Kulturen des Streits: Deutungsmachtkonflikte zwischen Konsens und Zerwürfnis 9783839454800

Streit ist Teil des menschlichen Zusammenlebens. Doch inwiefern lässt sich von Streitkulturen sprechen? Die Beiträge des

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Kulturen des Streits: Deutungsmachtkonflikte zwischen Konsens und Zerwürfnis
 9783839454800

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Martina Kumlehn, Stephanie Wodianka (Hg.) Kulturen des Streits

Edition Kulturwissenschaft  | Band 245

Martina Kumlehn (Prof. Dr. theol.), geb. 1966, ist Professorin für Religionspädagogik an der Theologischen Fakultät der Universität Rostock. Seit 2015 ist sie Sprecherin des DFG-Graduiertenkollegs 1887 »Deutungsmacht. Religion und belief systems in Deutungsmachtkonflikten« und Mitglied des Interdisziplinären Departments »Wissen – Kultur – Transformation« an der Universität Rostock. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Kulturtheorie und Hermeneutik, Theorie religiöser Bildung, Ästhetik und Religion. Stephanie Wodianka (Prof. Dr. phil.), geb. 1971, ist Professorin für Französische und Italienische Literaturwissenschaft an der Universität Rostock. Sie war Sprecherin des Rostocker Graduiertenkollegs »Kulturkontakt und Wissenschaftsdiskurs« sowie des Interdisziplinären Departments »Wissen – Kultur – Transformation« und ist Gründungsmitglied des laufenden Rostocker Graduiertenkollegs »Deutungsmacht«. Ihre komparatistisch perspektivierten Forschungsschwerpunkte sind Mythentheorie und Mythenforschung, Erinnerungskulturen, frühneuzeitliche Betrachtungsliteratur sowie das Verhältnis von Literatur und Kunst in literarischen Texten des 19. Jahrhunderts.

Martina Kumlehn, Stephanie Wodianka (Hg.)

Kulturen des Streits Deutungsmachtkonflikte zwischen Konsens und Zerwürfnis

Der Band ist im DFG-GRK 1887 »Deutungsmacht. Religion und belief systems in Deutungsmachtkonflikten« entstanden. Wir danken der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die Finanzierung der Drucklegung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2022 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: »Dispute between Hotspur, Glendower, Mortimer and Worcester« (Henry Fuseli). Photo by Birmingham Museums Trust, licensed under CC0 Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5480-6 PDF-ISBN 978-3-8394-5480-0 https://doi.org/10.14361/9783839454800 Buchreihen-ISSN: 2702-8968 Buchreihen-eISSN: 2702-8976 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschaudownload

Inhalt

Einleitung: Streitkulturen Deutungsmachtkonflikte zwischen Konsens und Zerwürfnis Martina Kumlehn/Stephanie Wodianka ..................................................... 7

Streit und Kultur Vorüberlegungen zu einer Soziologie des Streits Youssef Dennaoui/Daniel Witte ............................................................ 15

Über Ursachen und Folgen des Streits Die Rolle von Überzeugungssystemen in Auseinandersetzungen Joshua Folkerts/Tobias Götze.............................................................. 41

Aufgeklärt streiten Linda Stiehm............................................................................. 67

Öffentliche Religion und Streitkultur in der Demokratie Reiner Anselm ........................................................................... 83

Komparative Theologie als interreligiöse Streitkultur Chancen und Grenzen von Dialog und Vergleich Klaus von Stosch......................................................................... 95

Islamisierung des Extremismus oder Radikalisierung des Islam? Nina Käsehage .......................................................................... 109

Rechtspopulismus und Massenmedien: eine explosive Mischung Paula Diehl.............................................................................. 135

Streitkultur und (Rechts-)Populismus als Problemfelder liberaler Demokratie Marian Pradella/Ronny Rohde ............................................................ 147

Streitkultur im Konflikt um kollektive Identität Eine Analyse der Leitkulturdebatte Dawid Mohr/Valerian Thielicke ........................................................... 173

Wissen im Widerstreit Narrative Konstruktion von kolonialer Identität in der Encyclopédie von Diderot und d’Alembert Karen Struve ............................................................................ 193

E. Rostands Cyrano de Bergerac (1897) als metafiktionales Streitstück Deutungsmachtverzicht des Autors im Konfliktfeld literarischer und bürgerlicher Paradigmen des späten 19. Jahrhunderts Stephanie Wodianka...................................................................... 211

»Un petit livre trop précieux pour qu’on en fasse du cinéma« Die Résistance im Spiegel von Medienkonflikten: Le Silence de la mer (1941/1949) Jennifer Roger .......................................................................... 233

Auseinandersetzungen um Abtreibung in Deutschland 2017-2020 im Kontext digitaler Medien Kultur- und medienwissenschaftliche Perspektiven Katharina Alexi.......................................................................... 249

Einleitung: Streitkulturen Deutungsmachtkonflikte zwischen Konsens und Zerwürfnis Martina Kumlehn/Stephanie Wodianka

Die Frage, wie es um die Debatten- und Streitkultur in der Gesellschaft bestellt ist, ist hochaktuell und zeigt ihre Dringlichkeit nicht zuletzt im Kontext der CoronaPandemie, in der in hochgradig ungesicherter und komplexer Ausgangslage um angemessene Deutungen und Handlungsmaximen im Kontext von Wissenschaft, Politik und Gesellschaftsöffentlichkeit konfliktreich gerungen wird. Erstrittene Entscheidungen werden zwar von vielen weitgehend konsensuell mitgetragen, jedoch sind durchaus auch Kommunikationsabbrüche und Formen des öffentlichen Zerwürfnisses zu konstatieren. Im Spannungsfeld von Faktizität, Deutung und Geltung werden konkurrierende Interessenlagen im Abwägen verschiedener Grundwerte der demokratischen Gesellschaft, des Gesundheitsschutzes und anderer Güter ausgehandelt. Exemplarisch lassen sich dabei auch Fragen der Verteilung von Macht und im speziellen von Deutungsmacht verfolgen. Vor allem jedoch verschärfen sich unter diesen Ausnahmebedingungen folgende Problemanzeigen: Drohen wir im Kontext von erstarkenden Populismen, Nationalismen und religiösen Fundamentalismen sowie neuen radikalisierten und radikalisierenden Kommunikationsformen im digitalen Raum die Fähigkeit zu einem kultivierten Streit, einer differenzierten Debattenkultur, einem ambiguitätstoleranten Gespräch zwischen unterschiedlichen individuellen und kollektiven belief systems einschließlich unterschiedlicher religiöser Orientierungen zu verlieren? Und wenn dem so wäre, welche Anstrengungen bräuchte es dann, um diese Bedrohungen demokratisch notwendiger Streitkulturen sowohl bewusst zu machen als auch konstruktiv zu wenden? Welche Formen des Streits lassen sich unterscheiden und welche etablierten Streitkulturen auf unterschiedlichen Feldern, nicht zuletzt dem der Wissenschaft gibt es? Welche Intentionen und Ziele kann ein gepflegter Streit im Spannungsfeld von Konsens, Kompromiss, bleibender Differenz, Aushalten von Widersprüchen sowie angesichts von Formen des schwachen und starken Pluralismus und den Ansprüchen an Respekt und Toleranz haben? Wie verortet sich Streit zwischen konstruktiven und destruktiven Elementen? Von welchen Normen und von welchem geteiltem Konsens lebt der Streit und der mit ihm markierte

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Dissens immer schon? Wie beeinflussen verschiedene Machtkonstellationen den Streit? Diese Fragen sind in dem DFG-Graduiertenkolleg »Deutungsmacht. Religion und belief systems in Deutungmachtkonflikten«, das 2014 an der Universität Rostock ins Leben gerufen wurde, allesamt von hoher Relevanz. In den verschiedenen Projekten und der Arbeit am grundsätzlichen Theoriedesign wird das komplexe Ineinander von Deutung und Macht multiperspektivisch zu erhellen versucht, um es an verschiedenen Phänomenfeldern in seiner analytischen Kraft zu erproben und zu bewähren. Erforscht wird, wie bestimmte Deutungsmachtformationen in Religion und belief systems entstehen, funktionieren und vergehen; wie sich in verschiedenen Deutungspraktiken semantische, performative, mediale, rhetorische und das heißt im weitesten Sinne kommunikative Machtstrukturen zeigen; und unter welchen Bedingungen diskursgrundierende Narrative und Mythen Deutungsmacht entfalten. Die Grundthese ist dabei, dass sich gerade da, wo Glaubensund Überzeugungssysteme zur Disposition stehen, Deutungsmachtkonflikte mit besonderer Vehemenz entfalten können, weil konkurrierende Geltungs- und Wahrheitsansprüche im Kontext von Gewissheitserfahrungen aufeinandertreffen, die nicht im strengen Sinne wissenschaftlich zu verifizieren oder zu falsifizieren sind, sondern sich eben in Bildern, Symbolen und Erzählungen Ausdruck verschaffen. Der Arbeit des Kollegs liegt ein differenzierter Deutungsbegriff zugrunde, wonach Deutungen Bedeutung generieren: Indem etwas als etwas gedeutet wird, werden Phänomene der Wirklichkeit im Repräsentationsmodus konstruiert. Dabei sind unterschiedliche Komplexitätsgrade zu unterscheiden, denn gedeutet wird von ersten lebensweltlich vermittelten Wahrnehmungs- und Bezeichnungsakten bis hin zu wissenschaftlich reflektierten Interpretationsvorgängen. Deutungen sind notwendigerweise perspektivisch und selektiv. Sie nehmen nur Ausschnitte der Wirklichkeit in den Blick. Sie erfassen Bestimmtes und anderes nicht, zeigen oder sagen etwas und anderes nicht. Aufgrund dieser Mehrdeutigkeit von etwas und dem perspektivischen Blick auf die Wirklichkeit ergeben sich zwangsläufig Deutungskonflikte, die sich mit Fragen nach Geltung und Wahrheit verbinden können. Je komplexer Deutungen werden, umso strittiger werden sie. Zu Deutungskonflikten muss man sich verhalten und ihr Ausagieren kann sich elementar mit der Frage nach der Angemessenheit oder (Neu)Bestimmung von Streitkulturen verbinden. Wir gehen davon aus, dass Deutungen und Deutungskonflikte über die in ihnen implizit oder explizit kommunizierten Geltungs- und Wirkabsichten, über ihre Möglichkeiten, Wirklichkeit nicht nur abzubilden, sondern zu setzen und zu verändern, immer schon mit Machtfragen verbunden sind. Vice versa ist davon auszugehen, dass alle Formen von Macht auf Deutungsprozesse und Sinnkommunikation angewiesen sind, wenn sie auf individuelle und gesellschaftliche Anerkennung setzen wollen. Im Kontext von Deutungsmacht kann man sowohl fra-

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gen, wer die Macht zur Deutung hat, als auch, welche Macht Deutungen selbst aufgrund ihrer kommunikativen Strukturen entfalten. Im ersten Fall sind Formen von akteursbezogener oder institutioneller Macht im Blick, d.h. Formen eines bestimmten Vermögens (potestas): Wer spricht? Wer spricht in wessen Namen? Woher speist sich die Autorität des jeweiligen Sprechenden? Im zweiten Fall sind vor allem modale und relationale Machtformen im Sinne von potentia im Blick. Sie zielen auf Ermöglichungs- und Verwirklichungsstrategien und verbinden sich besonders mit Sinnstiftung und Symbolisierung. Deutungsmacht in diesem Sinne ermöglicht eine bestimmte Weltsicht, kann Ordnungsstrukturen verschieben und umdeuten bzw. neudeuten, so dass Welt und Wirklichkeit anders gesehen und verstanden werden. Dazu sind insbesondere die narrativen, metaphorischen und rhetorischen Strategien sowie mediale Kontexte und Repräsentationsformen genauer zu betrachten. Das Nachdenken über Streitkulturen kann mit deutungsmachtsensiblen Wahrnehmungen der strittigen Positionen und ihren Kommunikationsstrategien verknüpft werden. Denn wer sich im Streit befindet, ist in der Regel auch in Deutungsmachtkonflikte involviert. Angestrebt wird von daher aus interdisziplinär orientierter Deutungsmachtperspektive ein differenzierteres Verstehen von Prozessen der Auseinandersetzung und des Streits. Den Komplex der theoretisch-systematisch orientierten Artikel eröffnen Youssef Dennaoui und Daniel Witte, die Vorüberlegungen zu einer Soziologie des Streits vorlegen. Sie konstatieren zunächst den überraschenden Befund, dass trotz einer grundlegenden Konflikthaftigkeit des Sozialen und einer streitaffinen soziologischen Theoriebildung das Thema Streit im sozialwissenschaftlichen Kontext selbst relativ wenig Beachtung findet. Dieses Desiderat nehmen die Autoren zum Anlass, um nach dem eigenen kategorialen und epistemischen Status des Streits zu fragen sowie die Ausdifferenzierung von Streitsphären zu entwickeln. In Auseinandersetzung mit den Positionen von Simmel, Coser, Dahrendorf, Giddens und Collins ist ihnen dabei vor allem daran gelegen, den Streit als Konfliktform sui generis zu verstehen und ihn nicht einfach im übergeordneten Konfliktparadigma aufgehen zu lassen. Sie verstehen und entfalten Streit entsprechend als eine »auf einer spezifischen Differenz beruhende, sprachlich verfasste Praxis von zwei oder mehr Akteur*innen in Interaktionskontexten«. Streit ist demnach »sozial strukturiert«, d.h. »symbolisch kommuniziert«, »rituell reproduziert«, »normativ stabilisiert« und »in Organisationen verdichtet«. Die Autoren nehmen eine Streit-Typologisierung nach Handlungsorientierungen vor und zeigen dann, wie den ausdifferenzierten Sphären der Gesellschaft verschiedene Streitsphären korrespondieren können. Abschließend eröffnen sie als weitere soziologische Perspektive, wie über Figuren des Dritten Prozesse der Vermittlung, der Übersetzung, Koordination und Transformation von Streit erfolgen können und wie intrikat Streit und Kultur aufeinander bezogen sind.

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Joshua Folkerts und Tobias Götze nehmen in ihrem Beitrag »Über Folgen und Ursachen des Streits« die schon bei Dennaoui/Witte aufgerufene Frage nach den notwendigen Voraussetzungen der Entstehung eines Streites auf und wollen erhellen, welche »zugrunde liegenden epistemischen und normativen Aspekte von Überzeugungssystemen« Streitkonstellationen präfigurieren. Überzeugungssysteme (belief systems) tragen zur Strukturierung der Wahrnehmung der komplexen Wirklichkeit bei. Wenn Überzeugungssysteme konfligieren, führt ihre hierarchische Verfasstheit nach den Autoren dazu, dass sie den Streit auf unterschiedlichen Ebenen tangieren und auf unterschiedliche Felder führen können, die ursprünglich gar nicht im Blick waren. Folkerts und Götze schlagen schließlich die Unterscheidung von Streitdimensionen in Korrespondenz zu entsprechenden Überzeugungstypologien vor. Sie arbeiten dabei auch die Rückwirkungen von Streit auf die Überzeugungssysteme heraus und fokussieren dabei insbesondere die konstitutive Funktion des Zweifels im Streitverlauf. Entsprechend führen sie ihre Typologie des Streits anhand unterschiedlicher Formen des Zweifels weiter. Der Beitrag von Linda Stiehm versteht sich aus philosophischer Perspektive als grundsätzliches Plädoyer für den Streit – unter der durchaus normierenden Voraussetzung, dass er (über die historische Epoche hinaus) ›aufgeklärten‹ Prinzipen folgt. Was ›aufgeklärten‹ Streit ausmacht, könnte also selbst zum Gegenstand des aufgeklärten Streits werden. Nach Stiehm lässt sich die menschliche Streitkultur durch die Vernunft und die Reflexionsfähigkeit, die zur Schaffung jener Rahmenbedingungen befähigt, von tierischen Auseinandersetzungen unterscheiden. Eine in diesem Sinne ›positive‹ Streitkultur sei gekennzeichnet durch sprachlich vermittelte Argumentation, die auf Befriedung des Konflikts zielt und nicht anderen (Selbst)Zwecken dient. Ferner erfordert nach Stiehm der ›aufgeklärte‹ Streit die Akzeptanz von Werten der Freiheit, Gleichheit, Solidarität und Toleranz – so dass sich im Falle eines mit Vernunft und Argument nicht konsensuell lösbaren Streits im demokratischen Rahmen nicht Feinde, sondern argumentative Gegner gegenüberstehen. Nach den vorgestellten Diskursen einer sich selbst aufklärenden Streitkultur wechselt der Beitrag von Rainer Anselm auf die Ebene konkreter Streit- und Konfliktlinien im Spannungsfeld von öffentlicher Religion und Demokratie. Er verweist auf das nicht unproblematische Verhältnis von Protestantismus und Demokratie, insbesondere hinsichtlich der Frage, ob sich die Kirche als Stimme unter anderen in demokratischen Aushandlungsprozessen begreift oder als »Letztinstanz«, die sich als Anwältin von Gruppen darstellt, die sie dazu u.U. gar nicht ermächtigt haben. Entsprechend sieht er bei den Kirchen ein »partizipatives Defizit«, eine »Tendenz zur Bevormundung« und moniert kritisch einen mitunter kommunizierten Anspruch der »Alleinvertretung des moralischen Common Sense«. Angesichts des Erstarkens populistischer Positionen zeichnet er sodann nach, wie die evangelische Kirche ihr Verhältnis zur Demokratie unter Einbezug der »theologisch-

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ethischen Rahmenkonzepte« neu zu bestimmen versucht. Eine besondere Auseinandersetzung muss nach Anselm in diesem Zusammenhang mit der lutherischen Theologie und einer Verhältnisbestimmung von Gesetz und Evangelium erfolgen. Gerade angesichts unauflösbarer Konfliktlinien im demokratischen Parteienstreit solle die Evangelische Kirche ihre »politische Ekklesiologie« überprüfen und dabei unbedingt zwischen Idealen für die Gemeinde und gesellschaftlichen Realitäten unterscheiden. Gesellschaft dürfe nicht mit Gemeinschaft verwechselt werden und entsprechend wären Homogenisierungsansprüche aufzugeben. Streitkultur ist nicht nur im Spannungsfeld von öffentlicher Religion und Demokratie sorgfältig zu entfalten, sondern auch in interreligiösen Begegnungssituationen ein heikles Thema. Das zeigt der Beitrag von Klaus von Stosch, der komparative Theologie als interreligiöse Streitkultur profiliert. Er geht von der Beobachtung aus, dass im interreligiösen Dialog häufig eine Streitvermeidungsstrategie verfolgt wird, weil man Dissens für missverständlich oder gar gefährlich hält. In Abgrenzung von dem nach Lyotard so bezeichneten Phänomen des unproduktiven »Widerstreits« soll die komparative Theologie zu einer »Kultivierung von Dissensbereichen zwischen den Religionen« beitragen. Dabei ist nach von Stosch zunächst nach den verbindenden Grundannahmen und Grundregeln des Streits zu fragen. Sodann verweist er auf das produktive Potential von Grenzen, die sowohl wahrgenommen als auch transzendiert werden können. Damit verknüpft sich die Entdeckung der transformierenden Kraft des Streits nicht zuletzt im Kontext von Glaubensfragen und interreligiösen Aushandlungsprozessen, die allerdings nur entfaltet werden kann, wenn »gepflegt« gestritten wird. Dafür bieten nach von Stosch insbesondere die Methoden der komparativen Theologie wichtige Impulse, wie z.B. Eingrenzung auf hoch relevante Einzelprobleme, Eingestehen von Schwächen der eigenen Position, Perspektivenwechsel und Lernen vom Anderen, Implementierung der vermittelnden Figur eines Dritten. Schließlich stellt von Stosch in Anlehnung an Cornille Haltungen vor, die den interreligiösen Streit kultivieren lassen. Dazu gehören grundlegend eine Haltung »der Demut«, zugleich jedoch auch die Bereitschaft, klare Standpunkte zu vertreten, der Wille zu verstehen sowie Empathie und Gastfreundschaft. Der Beitrag von Nina Käsehage wendet sich im interreligiösen Kontext dem anderen Pol des Diskurses zu, indem er Konfliktlinien innerhalb der Extremismusund Radikalisierungsforschung in Bezug auf den Islam und seine Vertreter*innen aufnimmt. Die Autorin fragt, ob statistische Daten eine medial vermittelte Radikalisierung des Islam belegen können oder ob es vielmehr eine »Islamisierung des Extremismus« im Sinne eines Zuschreibungsphänomens gebe. Dabei weist sie darauf hin, dass Positionen des Rechts- oder Linksextremismus nicht vergleichbar erforscht und dargestellt werden. Zudem wird die Strategie der Stigmatisierung durch bestimmte Begriffe bzw. deren »terminologische Deutungsmacht als (gezielte) Ausgrenzungsstrategie« herausgearbeitet. Nina Käsehage plädiert dafür,

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die vielfältigen Erscheinungsformen des Extremismus differenziert wahrzunehmen, die begrifflichen Konzepte von Extremismus und Radikalisierung trotz ihrer Schnittmengen genau zu unterscheiden und vor allem die Stigmatisierungseffekte des Begriffs »Islamismus« kritisch zu reflektieren. In Korrespondenz zu dem Anliegen einer differenzierten Extremismusforschung wird auch die Notwendigkeit einer differenzierten Wahrnehmung von Radikalisierungsphänomenen bzw. einer entsprechenden Radikalismusforschung betont. Am Beispiel des Islamischen Staats, seiner Genese und seiner Radikalisierungsstrategien einerseits und den widerständigen Reaktionen auf ihn in der muslimischen Gelehrtenwelt andererseits führt die Autorin schließlich vor, wie komplex und differenziert auch dieses Phänomen zu erhellen ist und wie eine solche Betrachtungsweise zu einer gehobenen Streitkultur in den zugehörigen Diskursen führen könnte. Paula Diehl nimmt aus politikwissenschaftlicher Perspektive die Extremismusproblematik auf und analysiert am Beispiel dreier exemplarischer »Symptome« das synergetische Zusammenwirken von Rechtsradikalismus, Populismus und Massenmedien: ein Trump-Video, ein Statement des AfD-Vorsitzenden Gauland und die Moderation von Politdiskussionen in Fernsehen und Radio. Sie zeigt die verblüffende Kompatibilität der Aufmerksamkeitsregeln der Massenmedien mit funktionalen Charakteristika des Populismus. Dessen Narrativ vom »betrogenen Volk« dient dem rechtsradikalen Ideologem des »Volks-Körpers« als Trojanisches Pferd, das rechtsradikale Überzeugungen – über massenmediale Verbreitung und entsprechendes Framing politischer Auseinandersetzungen – in die demokratische Streitkultur trägt und diese dadurch scheinbar salonfähig macht. Der Beitrag endet mit einem Appell an die medialen und politischen Akteure, sich ihrer streitkulturellen Instrumentalisierbarkeit bewusst zu werden und sich nicht zu strategischen Handlangern in der Logik der (Rechts)populisten zu machen. Ihre Studie zeigt, dass das Funktionieren des (Rechts)Populismus auf der Nutzung streitkultureller Grundlagen demokratischer Systeme basiert und diese aus sich selbst heraus verkehrt, wenn diese Strategien unreflektiert bleiben. Der Beitrag von Marian Pradella und Ronny Rohde richtet den kritischen Blick auf den Zustand und das Funktionieren bundesrepublikanischer Streitkultur der Gegenwart. Bedeutet die festzustellende Polarisierung des politischen Konfliktfeldes, insbesondere in Auseinandersetzung mit dem Rechtspopulismus und der Neuen Rechten, das Versagen von Streitkultur oder ist sie als deren Teil, gar als Symptom ihres Versagens zu verstehen? Die Autoren argumentieren zum einen für einen synthetisch-analytischen Blick auf das Wie des Streitens und seiner Gegenstände, der sich insbesondere in Bezug auf eine differenzierte Bestimmung des rechten (aber auch linken) Populismus als erhellend erweist – im Sinne einer streitkulturellen Definition. Zum anderen plädiert ihr Beitrag für eine Streitkultur-Analyse, die nicht selbstvergessen in der Aufdeckung von Strukturen und Mechanismen das

Einleitung: Streitkulturen

Heil der Welt sucht, sondern tiefer gräbt und sich der sozioökonomischen Bedingtheit von Streitkonstellationen bzw. Streitursachen bewusst bleibt. Dawid Mohr und Valerian Thielicke entfalten in ihrem Beitrag, wie die Konstruktion kollektiver Identität mit Formen der Streitkultur zusammenhängt und illustrieren das anhand der Debatte um den Begriff der »Leitkultur«. Dabei werden an ausgewähltem Material zwei oppositionelle Lager in der Leitkulturdebatte identifiziert. Deutlich wird, dass sich die diversen Bestimmungen einer möglichen Leitkultur immer eher über die Negation des konstruierten Anderen bestimmen als über Konkretionen des vermeintlich Eigenen. Exklusionsstrategien führen dazu, dass den Anderen auch das Recht der Beteiligung am Streit um die kollektive Identität abgesprochen wird, d.h., dass ein Ausschluss aus der gemeinsamen Debattenlage bzw. aus der entsprechenden Streitkultur erfolgt. Die Codes und Normen der kollektiven Identität entscheiden über mögliche Positionen im zugehörigen Streit. Die folgenden Beiträge haben gemeinsam, dass sie die ästhetische Dimension streitkultureller Funktionsweisen und Dynamiken fokussieren. Karen Struve wählt als Beispiel die »Encyclopédie« von Diderot und d’Alembert, die als das herausragende Repräsentationsprojekt der europäischen der Aufklärung und seiner Streitkultur gelten kann. Sie betont bei ihrer Lektüre die Konstruktion kolonialer Alterität und arbeitet drei wesentliche über ihren konkreten Untersuchungsgegenstand auch hinausweisende Einsichten heraus. Erstens zeigt sie, dass nicht nur durch das Was, sondern auch durch das Wie, die Art und Weise der Narration koloniale Alterität im enzyklopädischen Text konstruiert und inszeniert wird. Zweitens führt sie in Anlehnung an Edward Said eine »kontrapunktische Lektüre« enzyklopädischer Einträge vor, die jenseits eindeutiger Zuschreibungen von Macht und Ohnmacht (die ja im engeren Sinne kaum Raum für Streit eröffnen würden) verdeckte Gegendiskurse sowie latente Formen des Streits sichtbar zu machen vermag. Auf diese Weise gelangt sie drittens zum Vorschlag, Ambivalenz in das Konzept von Streitkulturen einzubeziehen, um jenseits dialektischer Konstellationen Dynamiken (theoretisch) sichtbar und (praktisch) verhandelbar zu machen. Edmond Rostands berühmtes Theaterstück »Cyrano de Bergerac« von Edmond Rostand (1897), dessen großnasigen und streitlustigen Protagonisten viele vor allem durch die Verfilmung mit Gérard Dépardieu kennen (F 1990), scheint auf den ersten Blick nur im Sinne eines romantischen Fecht- und Degenstückes etwas zum Thema »Streitkulturen« beizutragen. Die Analyse von Stephanie Wodianka arbeitet jedoch heraus, inwiefern der Konflikt des Dramas nicht nur um die begehrte Roxane und die verborgene Autorschaft der Liebesbriefe kreist, sondern um die in der Moderne auf neue Weise strittig gewordene Frage nach grundlegenden beliefs literarischer Symbolsysteme: Was bedeuten die im 18. und 19. Jahrhundert verhandelten Deutungskonflikte um die ›modernen‹ beliefs Eigentum, Nützlichkeit, Freiheit und Gerechtigkeit für Rechte, Pflichten, Selbstverständnis des Autors und die Anspruchshaltung seiner Leserinnen und Leser? Die das Stück bei aller schein-

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baren Leichtigkeit prägende Metafiktionalität legt literarische Autorschaft in ihrer Strittigkeit offen, ohne bis zum Fall des Vorhanges Ambivalenzen zu glätten und Konsens zu suggerieren: performative Offenheit des Streitausgangs. Der Beitrag von Jennifer Roger macht deutlich, inwiefern erinnerungskulturelle Konflikte um die Deutung nationaler Vergangenheit mit Medienkonflikten in Wechselwirkung treten können. Sowohl die Résistance als auch der ›nationale‹ Medienparagone zwischen Literatur und Film werden in ihrer Bedeutung für identitätsbildende beliefs Frankreichs aufgezeigt. Anhand der Novelle »Le silence de la mer« von Vercors (1941) und die gleichnamige Literaturverfilmung von Jean-Pierre Melville (1949) lässt sich beispielhaft illustrieren, dass Streitkulturen insofern mit doppeltem Boden funktionieren, als das »Was« und das »Wie« des Deutungsdissenses semantisiert überblendet werden können: Das Ringen um die ›richtige‹ Erinnerung des Zweiten Weltkrieges zwischen Kollaboration und Résistance geht einher mit dem Ringen um die privilegierte bzw. zu privilegierende mediale Form der Erinnerung. Katharina Alexi untersucht aus einer medien- und kulturwissenschaftlichen Perspektive digitale Auseinandersetzungen um Schwangerschaftsabbruch in den Jahren 2017-2020. Sie zeigt erstens, inwiefern die ästhetische Gestaltung von Webseiten desorientierende Funktionspotentiale entfaltet, die auf der Sichtbarbzw. Unsichtbarmachung von Informationen und Argumenten basieren. Zweitens zeigt ihr Beitrag beispielhaft die streitkulturelle Bedeutung der Diskurssprache auf: In den öffentlichen Debatten in Bezug auf die Erweiterung des Paragraphen 219a werden die Begriffe Konflikt und Kompromiss zu Streit-Werkzeugen, die den Verlauf der Auseinandersetzungen wesentlich prägten. Drittens zeigt Alexi durch die Analyse eines Videoclips, inwiefern performative, personelle, thematisch-argumentative und kontextuelle Verfahren Streitverläufe lenken und die Gesteuertheit dieser Streitverläufe zugleich invisibilisieren können. Das Wie (inszenierter) streitkultureller Dynamiken steht in untrennbarem Wechselverhältnis zum thematisch-argumentativen Streitverlauf. Der Impuls zu dieser Publikation geht auf ein Nachwuchsforum des Graduiertenkollegs im Sommer 2019 zurück, bei dem über die Vorträge von namhaften Referent*innen aus den Bereichen der Soziologie, Theologie, Politik- und Literaturwissenschaft hinaus insbesondere auch junge Wisssenschaftler*innen des Kollegs Workshops mit eigenen Projekten gestaltet haben, aus denen ihre Beiträge für diesen Band erwachsen konnten. Die je eigenen Akzentsetzungen und Stile sowie die intensiven Diskussionen im Zuge der Genese zeigen dabei im besten Sinne, dass auch ein Sammelband als ein streitkulturell geprägtes, konsensuelles Ergebnis verstanden werden kann.

Streit und Kultur Vorüberlegungen zu einer Soziologie des Streits Youssef Dennaoui/Daniel Witte

1.

Einführung1

Die multiplen Geschichten von (Sozial-)Philosophie und Soziologie lassen sich mühelos als Geschichten des Konflikts lesen und rekonstruieren. Von Heraklits Diktum über »polemos« als den Urquell alles Seienden,2 über den Hobbes’schen Kampf aller gegen alle oder den Beginn modernen sozialwissenschaftlichen Denkens im Klassenkampfparadigma Marxens bis hin zu Bourdieus Theorie der sozialen Kämpfe3 oder den gesellschaftsdiagnostischen Versuchen eines Huntington (1993) finden sich immer wieder zentrale Beiträge der Geistesgeschichte, die wesentlich auf der Vorstellung fußen, dass in der grundsätzlichen Konflikthaftigkeit von Sozialität deren zentrales Merkmal auszumachen sei.4 In der soziologischen Theoriediskussion ist die Einteilung unterschiedlicher Ansätze anhand der Leitunterscheidung eines »Konsens«- oder »Integrationsparadigmas« von einem diesem konträr gegenüberstehenden »Konfliktparadigma«5 zumindest

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Bei diesem Text handelt es sich um eine geringfügig überarbeitete Fassung eines Beitrags, der zuerst erschienen ist in: Gebhard, Gunther Gebhard/Geisler, Oliver Geisler/Schröter, Steffen Schröter: StreitKulturen, 2008, S. 209-230. Was im Griechischen sowohl »Streit« wie auch (ganz allgemein) »Auseinandersetzung« oder (sehr spezifisch) »Krieg« bedeuten kann, womit die im Sprachenvergleich deutlich werdenden begrifflichen Ambiguitäten bereits in der antiken Tradition verwurzelt sind. Diese Deutung des Werkes Bourdieus verdankt sich für den deutschen Sprachraum zu nicht unwesentlichen Teilen den Beiträgen Markus Schwingels (vgl. insbesondere Schwingel, Markus: Analytik der Kämpfe, 1993.). Differenzierter als dies hier möglich ist führt Bonacker, (Bonacker, Thorsten: Sozialwissenschaftliche Konflikttheorien, 2005b.) in die jüngere Geschichte des Konfliktbegriffs in den Sozialwissenschaften ein. Deutlich als theoretische Opposition formuliert etwa bei John Rex: »Entgegen der Vorstellung, daß soziale Systeme um einen Konsensus über Werte organisiert sind, kann man sie sich so denken, daß sie Konfliktssituationen an zentralen Punkten enthalten« (Rex, John: Grundprobleme der soziologischen Theorie, 1970, S. 165.).

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zeitweise plausibel gewesen6 .7 Vor diesem Hintergrund mag es überraschen, dass der »Streit« in der sozialwissenschaftlichen Literatur so gut wie keine Beachtung findet. Bereits ein erster Blick auf einschlägige deutschsprachige Lehrbücher mag dies verdeutlichen: Im Sachregister einer ebenso bewährten wie umfangreichen Einführung in das konflikttheoretische Denken8 finden sich »Interessen«- und »Wertekonflikte«, »Konkurrenz« und »Unterdrückung«, freilich auch »Gewalt« und »Krieg«, nicht jedoch der »Streit«. Und auch in der allgemeinen Einführungsliteratur in die Soziologie sucht man vergeblich: Weder in eher begriffssystematischen Einführungen oder Wörterbüchern9 noch in stärker gegenstandsbezogenen Lehrbüchern10 taucht der Streit als eigenständiger Topos auf.11 Bei allem Interesse am Konflikt scheint der Streit als wichtige Form der Konfliktaustragung in der gesellschaftstheoretischen Debatte weitgehend unterbelichtet. Anders formuliert: Der hohen Konfliktaffinität insbesondere der soziologischen Theorie steht eine weitreichende Streitblindheit gegenüber. Im Folgenden wollen wir einige Gedanken formulieren, die dem Streit einen eigenständigen kategorialen und epistemologischen Status zuerkennen, um im weiteren Verlauf die These von einer Ausdifferenzierung von Streitsphären unter den Bedingungen moderner Kultur und Gesellschaftsstruktur zu präsentieren.

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Vgl. etwa Dahrendorf, Ralf: Konflikt und Freiheit, 1972, S. 28ff.; Giddens, Anthony: Die Klassenstruktur fortgeschrittener Gesellschaften, 1979b, S. 12f.; Nollmann, Gerd: Konflikte in Interaktion, Gruppe und Organisation, 1997, S. 29ff.; zuletzt noch Müller, Hans-Peter: Max Weber, 2007, S. 120, FN 53. Wobei schon die einseitige Zurechnung von Theorieproduzenten – Locke, Durkheim, Parsons, Habermas einerseits, Hobbes und Machiavelli, Marx, Weber, Simmel und die so genannten ›Konflikttheoretiker*innen‹ des 20. Jahrhunderts andererseits – Zweifel an der Reichweite einer solchen Unterscheidung aufkommen lässt. Insbesondere darf ihre Tauglichkeit wohl hinterfragt werden, weil sich die Differenzen theoretischer Traditionen kaum in einer einzigen Dichotomie auflösen lassen und zudem eine moderne Gesellschaftstheorie Konflikt und Konsens – analytisch wie empirisch – gleichermaßen zu berücksichtigen hätte. Jede vorsätzliche Beschränkung auf eine der beiden Seiten käme dem (zwangsläufig unglücklichen) Versuch gleich, die Theoriekonstruktion einseitig auf die ›Statik‹ oder aber die ›Dynamik‹ sozialer Systeme zu stützen. Vgl. hierzu die klassischen Kritiken etwa bei Lockwood, David: Some Remarks on ›The Social System‹, 1956, S. 134-146; Lockwood, David: Soziale Integration und Systemintegration, 1971, S. 124-137; oder besonders eindringlich auch bei Elias, Norbert: Was ist Soziologie?, 2004, insb. S. 121ff., 162ff. Bonacker, Thorsten: Sozialwissenschaftliche Konflikttheorien, 2005b, S. 529ff. Vgl. Korte, Hermann/Schäfers, Bernhard: Einführung in Hauptbegriffe der Soziologie, 1998; Schäfers, Bernhard: Grundbegriffe der Soziologie, 1998; Endruweit, Günter/Trommsdorff, Gisela: Wörterbuch der Soziologie, 2002. Vgl. Giddens, Anthony: Soziologie, 1995. Auch die Verwendung des Begriffs in Joas, Hans: Lehrbuch der Soziologie, 2001, S. 203 bleibt marginal.

Streit und Kultur

2.

Zu Georg Simmel und darüber hinaus: Eine selektive Bestandsaufnahme

Der soeben formulierte Befund einer streitblinden Soziologie mag auf den ersten Blick verwundern, hatte sich doch mit Georg Simmel bereits einer der Gründerväter der Soziologie des Streits als eines eigenständigen und mit besonderen Qualitäten ausgestatteten Phänomens in ausführlicher Weise angenommen. In dem berühmten Streit-Kapitel seiner »großen Soziologie« formuliert Simmel12 eine Reihe von Thesen, die heute wie damals zunächst kontraintuitiv oder gar als Provokation erscheinen. Nicht nach den zentrifugalen Kräften des Streits, seinen destruktiven Wirkungen und den gesellschaftlichen Möglichkeiten seiner Vermeidung etwa fragt Simmel, sondern vielmehr nach dessen möglicherweise positiven, nämlich für soziale Gebilde funktionalen Eigenschaften und Auswirkungen.13 Die sich daraus ableitenden Annahmen können und müssen hier nicht in Gänze wiederholt werden, lediglich einige zentrale Punkte lassen sich schlagwortartig andeuten. Zunächst ist die positive Funktionalität des Streits in seinen Wirkungen auf die Binnenstruktur von sozialen Systemen (oder, wenn man mag: ›Gruppen‹) zu suchen. Streit wirkt demnach nicht (lediglich) dissoziativ, sondern setzt in gleichem Maße auch Kohäsionskräfte frei, die den Zusammenhalt von Gruppen, die sich im Streit mit anderen befinden, festigen und so zu deren Integration beitragen können.14 Weiterhin kann der Streit auch über diese Auswirkungen auf Binnenstrukturen hinaus soziale Beziehungen stiften und strukturbildende Wirkungen entfalten: So ist nach Simmel auch die Beziehung zwischen verschiedenen Gruppen und Parteien selbst in vielen Fällen dem Streit zu verdanken: er bringt Koalitionen hervor15 , lässt unbeteiligte Dritte als potenzielle Partner*innen in Erscheinung treten16 und produziert in vielen Fällen sogar zwischen den antagonistischen Streitparteien selbst soziale Verbindungen, die ohne ihn nicht vorhanden wären17 , von möglicherweise dauerhafteren und stabileren Ligaturen nach dem Ende des Streits ganz zu schweigen.18

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Simmel, Georg: Soziologie, 1992, S. 284-382. Mit der Frage nach dieser grundlegenden Ambivalenz schließt Simmel im Übrigen an Traditionen an, die ebenfalls bis in die Antike zurückreichen. Die potenzielle Produktivität des Streits ist schließlich nicht nur Gegenstand des berühmten Ausspruchs Heraklits, sondern findet sich etwa auch in der Unterscheidung von zwei Typen der ›eris‹ bei Hesiod (Hesiod: Werke und Tage, 1965, S. 101f.). Vgl. Simmel, Georg: Soziologie, 1992, S 349ff. Vgl. ebd., S. 360ff., 367; hierzu auch Sofsky, Wolfgang/Paris, Rainer: Figurationen sozialer Macht, 1994, S. 248ff. Vgl. Simmel, Georg: Soziologie, 1992, S 327ff. Vgl. ebd., S. 302ff., 360. Vgl. ebd., S. 362ff.

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Ein dritter funktionaler Komplex lässt sich schließlich mit Blick auf die emotive Dimension des sozialen Lebens sowie die Simmel’sche Konzeption des Menschen als eines »Unterschiedswesens«19 herausarbeiten: Streit wirkt zum einen regelmäßig als ein Ventilmechanismus, der – in Maßen eingesetzt bzw. ausgetragen – zum Bestand von Sozialsystemen beitragen kann20 : »So ist z.B. die Opposition eines Elementes gegen ein ihm vergesellschaftetes schon deshalb kein bloß negativ sozialer Faktor, weil sie vielfach das einzige Mittel ist, durch das uns ein Zusammen mit eigentlich unaushaltbaren Persönlichkeiten noch möglich wird«21 . Zum anderen kann die Austragung eines Streits zwischen zwei Streitparteien – wohlgemerkt: nach seiner versöhnlichen Beendigung – schließlich zu einer Bewusstwerdung und Selbstvergewisserung über die positiven Seiten der gemeinsamen Sozialbeziehung führen: »Man hat freilich gesagt, daß intime Verhältnisse, wie Liebe und Freundschaft, gelegentlicher Zerwürfnisse bedürften, um sich an dem Gegensatz gegen die erlittene Entzweiung erst ihres ganzen Glückes wieder bewußt zu werden«22 .23 So anregend der genuin soziologische Blick Simmels auf den Streit auch ist, seine Studie blieb innerhalb der Theorieentwicklung weitgehend unbeachtet. Erst Lewis Coser griff seine Ausführungen 1956 auf und formalisierte sie zu einer Abfolge von Hypothesen über The Functions of Social Conflict 24 .25 Bereits im Titel wird 19 20 21 22 23

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Vgl. ebd., S. 312, 369; Simmel, Georg: Die Großstädte und das Geistesleben, 1995, S. 116f. Vgl. Simmel, Georg: Soziologie, 1992, S. 288ff., ferner ebd., S. 371; und ausführlicher Coser, Lewis A.: The Functions of Social Conflict, 1964, S. 39ff. Simmel, Georg: Soziologie, 1992, S. 289. Ebd., S. 371. Simmel bleibt in seiner Deutung dieser Annahme ambivalent, ist aber der Ansicht, dass für besonders intime Beziehungen dieser Mechanismus nicht von Nöten sei. Wir wollen dieser Einschränkung Simmels nicht folgen, sondern glauben vielmehr, dass der beschriebene funktionale Zusammenhang sogar über intime Beziehungen wie Liebe und Freundschaft hinaus gedacht werden muss. Hier drängt sich nun freilich die Parallele zu Durkheims (Durkheim, Emile: Die Regeln der soziologischen Methode, 1984, S. 155ff.) These von der Normalität des Verbrechens und dessen positiven Auswirkungen auf die ›conscience collective‹ auf (vgl. hierzu Gephart, Werner: Strafe und Verbrechen, 1990.). Die gleiche Parallele beschreibt auch Coser (Coser, Lewis A.: The Functions of Social Conflict, 1964, S. 127f.), jedoch ohne sich auf die hier angeführte, besonders auffällige Passage zu beziehen. Coser, Lewis A.: The Functions of Social Conflict, 1964. Es ist dabei keineswegs zufällig, noch für eine disziplingeschichtlich orientierte Einführung belanglos, von welchem Lager der Theorieproduktion aus diese kongeniale Weiterentwicklung der Studie Simmels lanciert wurde und welchen Titel sie trägt. Lewis Coser befand sich – vermittelt über Robert K. Merton – in einem Lehrer-Schüler-Verhältnis zweiten Grades zu Talcott Parsons, der dominanten Figur soziologischer Theoriebildung in der Mitte des 20. Jahrhunderts und dem Hauptvertreter dessen, was als so genanntes ›Konsensparadigma‹ bezeichnet wurde bzw. wird. Coser etabliert sich hier gewissermaßen mit Parsons gegen Parsons, wenn er innerhalb des funktionalistischen Denkens verbleibt, den theoretischen Anschluss aber bei Simmel und der (positiven) Funktionalität des Konflikts sucht. Parsons (Parsons,

Streit und Kultur

die paradigmatische Umstellung des Simmel’schen Ansatzes auf Konflikt vollzogen, was sich bezeichnenderweise in der deutschen Übersetzung des Werkes als Theorie sozialer Konflikte erhalten hat.26 Ein Blick in die Studie zeigt jedoch, dass es sich bei dieser Umstellung nicht lediglich um eine terminologische Entscheidung handelte. Coser liefert bereits im Vorwort eine Definition seines Begriffs von ›Konflikt‹, die hier in Gänze wiedergegeben werden soll: »For the purpose of this study, it [social conflict, Y.D./D.W.] will provisionally be taken to mean a struggle over values and claims to scarce status, power and resources in which the aims of the opponents are to neutralize, injure or eliminate their rivals. This working definition serves only as a point of departure«.27 Wenn es also hiernach das Ziel von Konfliktparteien sein soll, »to […] injure or eliminate their rivals«, so lässt sich bereits mit Blick auf diese Definition in Zweifel ziehen, ob sich die hierauf basierenden Thesen ohne Weiteres auf den Streit, wie wir ihn verstehen wollen, und wie er im Übrigen in diesem Fall auch allgemein umgangssprachlich verstanden wird, übertragen lassen. Cosers faszinierende Arbeit lässt im weiteren Verlauf keinen Zweifel an der Ausrichtung seines eigentlichen Interesses: Politische Konflikte im Allgemeinen28 , die Besonderheiten des indischen Kastensystems gegenüber Klassengesellschaften29 und das Ausbleiben des Klassenkampfes in den Vereinigten Staaten30 , die Häufigkeit von interethnischen Konflikten in verschiedenen Regionen der USA31 , Abspaltungsprozesse in religiösen oder politisch-ideologischen Organisationen32 , die Rolle der Intellektuellen im Klassenkonflikt33 und immer wieder die Konflikte zwischen ethnischen Minoritäten und Majoritäten34 oder Gewerkschaften und Arbeitgeber*innen35 – das sind

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Talcott: The Social System, 1952, S. 249ff.) verhandelt Konflikt im Wesentlichen unter der Kategorie des devianten Verhalten, und so rückt unmittelbar die Frage nach Mechanismen der sozialen Kontrolle in den Mittelpunkt seiner Perspektive, die schließlich primär an der Frage nach den Möglichkeiten der Bestandswahrung von Sozialsystemen interessiert ist. Zur sukzessiven Tilgung des Konfliktbegriffs bei Parsons siehe Coser, Lewis A.: The Functions of Social Conflict, 1964, S. 22f.; zum problematischen Verhältnis von Simmel und Parsons vgl. insbesondere die wegweisenden Arbeiten von Donald Levine (z.B. Levine, Donald: Simmel and Parsons Reconsidered, 1991.). Eine Übersetzung, deren Ungenauigkeiten zu diskutieren hier nicht der Ort ist. Coser, Lewis A.: The Functions of Social Conflict, 1964, S. 8. Vgl. ebd., S. 35. Vgl. ebd., S. 36. Vgl. ebd., S. 75ff. Vgl. ebd., S. 82ff. Vgl. ebd., S. 95ff. Vgl. ebd., S. 111ff. Vgl. ebd., S. 108f. Vgl. ebd., S. 129ff.

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die Themen und Beispiele, die für Coser eine Soziologie des Konflikts zu illustrieren vermögen. Den historischen und nationalen Kontext der Studie in Rechnung gestellt, besteht freilich kein Zweifel an der Relevanz der hier beschriebenen ›issues‹.36 Doch wie viel hat dies alles mit ›Streit‹ im engeren Sinne zu tun? Die terminologische und konzeptionelle Umstellung auf eine Soziologie des Konflikts bringt es unseres Erachtens mit sich, dass einige der von Coser aufgestellten Thesen und viele der von ihm postulierten Zusammenhänge mit Blick auf den Streit im hier verstandenen Sinne einer Revision bedürfen oder sich im empirischen Forschungsprozess als unhaltbar erweisen dürften.37 Zwei Beispiele sollen zur Illustration genügen: Coser38 geht von der Annahme aus, dass in pluralistisch verfassten Gesellschaften gerade die Vielzahl von einander überlagernden und mitunter auch gegenläufigen Spannungslinien39 zur Integration und Stabilität des Gesamtsystems beitragen kann, da sich die dissoziative Wirkung der Konflikte in der Regel nicht in einer Leitunterscheidung bündeln lässt: »Similarly, many a professional society seems to owe its structural stability partly to the fact that, although it may include a number of sharply differing views, these ›cancel out‹ because they do not cumulate around one central issue«40 . Was hier in gut nachvollziehbarer Weise für große Gesellschaftsgebilde behauptet wird, scheint seine Plausibilität in Hinsicht auf den Streit zwischen Einzelakteur*innen einzubüßen.41 Es ist vielmehr anzunehmen, dass im Streit zwischen Interaktionspartner*innen genau das Gegenteil der Fall ist: Konfliktthemen verhalten sich hier gerade kumulativ, d.h. bei einer ausreichend hohen Anzahl von streitigen Themen (bzw. einem genügend geringen Ausmaß an Konsens) wird die Beziehung zunehmend unmöglich. Ein zweites Beispiel betrifft erneut den konzeptionellen Zuschnitt des Konfliktbegriffs. So ist Coser der Ansicht, dass zwischen dem Konflikt selbst und den ihm

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Coser beschreibt die zentralen gesellschaftspolitisch brisanten Fragen einer multikulturellen Gesellschaft vor dem Eindruck zweier Weltkriege und des auf seinen Höhepunkt zusteuernden ›kalten‹ Konflikts zweier Ideologien. Die sich auf Simmel stützenden Thesen bleiben also stets auf Tuchfühlung mit einem gesellschaftstheoretischen Großentwurf, wie ihn in den Jahren zuvor Talcott Parsons als Messlatte vorgelegt hatte. Was freilich einschließt, dass andere sich dennoch als plausibel erweisen können. Eine zu entwickelnde Streitsoziologie hätte unter Anderem genau dies zu leisten: Autor*innen wie Simmel und Coser kritisch auf ihre relevanten Beiträge zu befragen und zwischen brauchbaren und weniger brauchbaren Argumenten und Thesen zu differenzieren. Vgl. ebd., S. 76ff. Politikwissenschaften und politische Soziologie sprechen auch von so genannten ›cleavages‹. Der zentrale theoretische Bezugspunkt hierfür ist unverändert (Lipset, Seymour/Rokkan, Stein: Cleavage Structures, Party Systems and Voter Alignments, 1967.). Coser, Lewis A.: The Functions of Social Conflict, 1964, S. 77. Wir müssen hier auf kategoriale Unterscheidungen vorgreifen, die wir erst im definitorischen Teil des nächsten Abschnitts explizieren können.

Streit und Kultur

zugrunde liegenden Emotionen und Gemütsregungen scharf unterschieden werden müsse. Die behauptete Beziehung beider Elemente mag jedoch überraschen: »A distinction between conflict and hostile sentiments is essential. Conflict, as distinct from hostile attitudes or sentiments, always takes place in interaction between two or more persons. Hostile attitudes are predispositions to engage in conflict behaviour; conflict, on the contrary, is always a trans-action«.42 Die Auszeichnung jedweder Form des Konflikts als einer Interaktionsform ist freilich noch plausibilisierbar – sie wird uns in unserem eigenen Definitionsversuch unten wieder begegnen. Interessanter scheint jedoch, was hier eher en passant postuliert wird, wenn nämlich feindliche Gesinnung als eine notwendige Bedingung für das Eintreten in einen Konflikt behauptet wird. Wer schon einmal mit einem Freund oder einer Freundin, der Partnerin oder dem Partner gestritten hat, der wird dieser Unterstellung einer ›feindlichen‹ Grundhaltung wohl mit Skepsis begegnen. Und vielleicht ist der Streit gerade dadurch gekennzeichnet, dass er die Möglichkeit zur Instrumentalisierung, zur Simulation und zum spielerischen Umgang mit seiner Dynamik erlaubt. Streit lässt sich gezielt und im beiderseitigen Einvernehmen initiieren und in einem Modus des ›Als-Ob‹ austragen, er vermag die Grenzen zwischen Realem und Virtuellem zu verwischen und hybride Formen anzunehmen – all dies ist für den Konflikt und die meisten seiner Spielarten eher unwahrscheinlich. Die angeführten Thesen Cosers machen in exemplarischer Weise deutlich, dass mit der terminologischen Umstellung der Theoriebildung auf den zentralen Begriff des Konflikts auch inhaltliche Verschiebungen verbunden sind; einer analytisch leistungsfähigen Soziologie des Streits ist diese Entwicklung dabei eher abträglich. Wie sich jedoch leicht zeigen lässt, ist mit der hier angedeuteten, historisch ebenso wie theoriegeschichtlich leicht nachvollziehbaren Schwerpunktsetzung Cosers die weitere Entwicklung des konflikttheoretischen Paradigmas vorgezeichnet. Als einer der vielleicht wichtigsten, sicherlich aber als einer der ambitioniertesten Konflikttheoretiker des 20. Jahrhunderts, was die Ausrichtung seines Gesamtwerkes auf das Thema betrifft, kann vermutlich Ralf Dahrendorf gelten. In einer bekannten Typologie differenziert Dahrendorf zwischen verschiedenen Konfliktarten, die sich unter anderem mit Blick auf die jeweilige Systemgröße oder -ebene voneinander unterscheiden lassen:43 Konflikte treten demnach innerhalb

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Ebd., S. 37, die erste Hervorh. von uns, Y.D./D.W. Das zweite Differenzierungskriterium betrifft die am Konflikt beteiligten Parteien und ihre hierarchische Stellung zueinander. Ironischerweise erinnert diese Formalisierung wiederum an die Logik, in der Simmel Ungleichheits- und Herrschaftsverhältnisse formal als ›Über- und Unterordnung‹ bestimmt (vgl. Simmel, Georg: Soziologie, 1992, S. 160ff.).

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von Rollen, Gruppen, ›Sektoren‹44 , Gesellschaften oder so genannten ›übergesellschaftlichen Verbindungen‹ auf.45 Wenngleich sich eine versuchsweise Zuordnung des Phänomens ›Streit‹ hier anzubieten scheint, so ist doch der Fokus Dahrendorfs ausdrücklich ein gänzlich anderer: Diesem ging es über viele Jahrzehnte stets um die Zusammenhänge von gesamtgesellschaftlichen (Klassen-)Konflikten46 und gleichfalls im gesamtgesellschaftlichen Maßstab gedachtem sozialen Wandel.47 Vor diesem Hintergrund lässt sich dann freilich auch die These formulieren, dass grundsätzlich »Konflikte […] aus der Struktur von Gesellschaften, insoweit diese Herrschaftsverbände sind [erwachsen]«48 .49 Und es erscheint dann auch nur noch als konsequent, wenn für das eigene Forschungsprogramm die entsprechenden Schlüsse gezogen werden: Dahrendorfs Theorie des sozialen Konflikts bezieht sich »strenggenommen nur auf Gruppenkonflikte innerhalb ganzer Gesellschaften, insoweit diese zwischen Rangungleichen bestehen«50 , und zwar noch genauer: auf Konflikte innerhalb der Herrschaftsverbände ›Staat‹ und ›Industriebetrieb‹.51 Anthony Giddens teilt mit Dahrendorf nicht nur eine langjährige und prägende Beschäftigung mit der Marx’schen Theorie, sondern zudem (bzw. gerade deshalb) ein zentrales Interesse an der Bedeutung von gesellschaftlichen Konflikten und ihrer Analyse. Doch auch bei Giddens finden sich unter dem Stichwort des Konflikts 44

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Gemeint sind hier regionale, organisationelle und funktionale Teileinheiten gleichermaßen, was aufgrund mangelnder Differenzierung auf dem gegenwärtigen Stand der Theoriebildung kaum noch zufriedenzustellen vermag. Vgl. Dahrendorf, Ralf: Konflikt und Freiheit, 1972, S. 23ff. Dabei ist Dahrendorfs Klassentheorie im Wesentlichen eine primär gegen Parsons gerichtete, von Marx inspirierte und um die Kategorien der Weber’schen Herrschaftssoziologie (vgl. grundlegend: Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft, 1980, S. 122ff.) ergänzte bzw. durch diese modifizierte Analyse. Zum theoretischen Gesamtprojekt Dahrendorfs vgl. die guten Überblicksartikel von Lamla (Lamla, Jörn: Die Konflikttheorie als Gesellschaftstheorie, 2005.) und Niedenzu (Niedenzu, Heinz-Jürgen: Konflikttheorie: Ralf Dahrendorf, 1997.). Zur Auseinandersetzung mit Parsons vgl. v.a. Dahrendorf (Dahrendorf, Ralf: Zu einer Theorie des sozialen Konflikts, 1971.) sowie dazu Nollmann (Nollmann, Gerd: Konflikte in Interaktion, Gruppe und Organisation, 1997, S. 38ff.). Dies ausdrücklich als die zentrale Aufgabe der Sozialwissenschaften schlechthin formuliert bei Dahrendorf (Dahrendorf, Ralf: Konflikt und Freiheit, 1972, S. 73; besonders eindringlich Dahrendorf, Ralf: Zu einer Theorie des sozialen Konflikts, 1971, S, 114.). Dahrendorf, Ralf: Konflikt und Freiheit, 1972, S. 37. Wobei anzumerken ist, dass Dahrendorf durchaus den Formalismus der Weber’schen Herrschaftsdefinition genau nimmt und somit Raum für ihre Anwendung schafft (vgl. Dahrendorf, Ralf: Zu einer Theorie des sozialen Konflikts, 1971, S. 115f.). Dass dabei die Betonung einer »grundsätzlich dichotomischen Verteilung von Herrschaft« (z.B. Dahrendorf, Ralf: Konflikt und Freiheit, 1972, S. 13.) gerade am Kern der Konzeption Webers vorbei geht, kann hier nicht weiter diskutiert werden. Ebd., S. 26. Vgl. Dahrendorf, Ralf: Zu einer Theorie des sozialen Konflikts, 1971, S. 118ff.

Streit und Kultur

kaum Ansatzpunkte für eine Soziologie des Streits, so sehr Giddens auch um eine ›Mikrofundierung‹ seiner Gesellschaftstheorie bemüht ist. Auch sein konflikttheoretisches Denken bezieht sich eindeutig auf die großen, Gesellschaften als ›Ganzes‹ durchziehenden Konflikte zwischen Fraktionen von Akteur*innen. Giddens unterscheidet dabei klar zwischen ›Konflikt‹ und dem, was er im Anschluss an Marx als ›Widerspruch‹ (›contradiction‹) bezeichnet (vgl. Giddens 1979: 131).52 Unter ›Konflikt‹ wird demnach ausdrücklich eine Form der menschlichen Praxis verstanden – in den Mittelpunkt des Interesses rücken dabei jedoch schnell verschiedene Formen des Klassenkonflikts in modernen Gesellschaften.53 Unter ›Widerspruch‹ versteht Giddens demgegenüber primär den immanenten Konflikt zwischen unterschiedlichen Strukturprinzipien moderner Gesellschaften, also etwa demjenigen zwischen Nationalstaatlichkeit und Privatwirtschaft.54 Bei allem Interesse an den Ritualen des Alltags und aller (mitunter auch irritierender) Betonung der Physis und Räumlichkeit des Sozialen55 steht doch der Konflikt in Interaktionssituationen auch für Giddens nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit. Ein letzter hier exemplarisch zu erwähnender Theoretiker ist der amerikanische Soziologe Randall Collins, der zunächst insbesondere mit seinem 1975 erschienenen Buch Conflict Sociology56 stark rezipiert wurde. Auch Collins verbleibt mit seinem konflikttheoretischen Ansatz jedoch weitgehend in traditionellen Fragestellungen verwurzelt. So widmet sich zwar ein großer Teil des Werkes dem Versuch, ausgehend vom Konzept der ›Interaction Ritual Chains‹ eine radikal mikrofundierte Soziologie zu entwickeln57 , und tatsächlich ließe sich ein Streitfall im Lichte seiner Theorie auch als »Minikonfliktsituation«58 auffassen. Doch die eigentliche Konfliktsoziologie Collins’ bleibt eindeutig an klassischen makrosoziologischen Explananda orientiert, seine Konflikttheorie explizit in schichtungsbzw. klassentheoretische Annahmen eingebettet, in denen die Verteilungskämpfe um Macht und Status einen zentralen Platz einnehmen59 – und so richtet sich das Interesse eher auf die Frage nach den (des)integrativen Kräften und Entwicklungen moderner Gesellschaften, die durch eine möglicherweise stabilisierend

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Vgl. Giddens 1979: 131 Vgl. Giddens, Anthony: Die Klassenstruktur fortgeschrittener Gesellschaften, 1979b. Vgl. hierzu Giddens, Anthony: Central Problems in Social Theory, 1979a, S. 131ff.; Ders.: Die Konstitution der Gesellschaft, 1988, S. 248ff., 366ff.; ferner Tucker, Kenneth: Anthony Giddens and Modern Social Theory, 1998, S. 87ff.; Lamla, Jörn: Anthony Giddens, 2003, S. 78ff. Vgl. Giddens, Anthony: Die Konstitution der Gesellschaft, 1988, S. 91ff., 161ff. Collins, Randall: Conflict Sociology, 1975. Vgl. Collins, Randall: Interaction Ritual Chains, 2004; dazu insbesondere die Arbeiten von Jörg Rössel, z.B. Rössel, Jörg: Konflikttheorie und Interaktionsrituale, 1999; Ders.: Die Konflikttheorie der Theorie der Interaktionsrituale, 2005. Rössel, Jörg: Konflikttheorie der Theorie der Interaktionsrituale, 2005, S. 431. Vgl. Collins, Randall: Conflict Sociology, 1975, S. 49ff.

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wirkende Pluralisierung von Konfliktlinien gekennzeichnet seien60 , ganz so, wie dies als These bereits bei Coser formuliert worden war. An dieser Stelle wollen wir ein kurzes Zwischenfazit wagen. Auch wenn die vorangegangenen Darstellungen notwendig exemplarisch bleiben müssen, riskieren wir doch folgende verallgemeinernde Aussagen: Eine soziologische Theorie des Streits muss erst noch formuliert werden. Eine solche Theorie kann sich an vielen Stellen auf die Arbeiten Simmels und Cosers stützen, sollte jedoch auch die dort gemachten Aussagen kritisch befragen und Punkt für Punkt auf ihre Übertragbarkeiten überprüfen. Darüber hinaus liefern die verschiedenen Ansätze der klassischen soziologischen Konflikttheorie einer Soziologie des Streits allerdings nur geringe Anschlusspotenziale. Um auf Streitfälle im hier verstandenen Sinne anwendbar zu sein, neigen diese durchweg zu stark zur einseitigen Konzentration auf gesamtgesellschaftliche Konfliktlinien, Klassen- und Herrschaftskonflikte sowie strukturelle Widersprüche innerhalb komplexer Sozialsysteme. Die diesem Beitrag zugrunde liegende These lautet demgegenüber, dass es sich beim Streit um eine Konfliktform sui generis handelt. Wir gehen davon aus, dass dem Streit als einer typischen Form des Konflikts spezifische Qualitäten eigen sind, die ihn von anderen Konflikttypen (etwa latenten Klassenkonflikten oder kriegerischen Auseinandersetzungen) unterscheiden. Wir behaupten, dass er eigenen Gesetzmäßigkeiten unterliegt, eigenständige Dynamiken aufweist und das Phänomen ›Streit‹ vor diesem Hintergrund konsequenterweise auch nach eigenen begrifflichen Werkzeugen und methodischen (Beobachtungs-)Instrumenten verlangt. Was also ist ausgehend von diesen Annahmen nun unter ›Streit‹ zu verstehen?

3.

Dimensionen und Formen des Streits

»Eine Definition dessen, was Streit ›ist‹, kann unmöglich an der Spitze, sondern könnte allenfalls am Schlusse einer Erörterung wie der nachfolgenden stehen.« So oder ähnlich ließe sich in einer Paraphrasierung Max Webers61 das Problem einer genaueren Begriffsbestimmung umreißen: Die hier vorzuschlagende Annäherung an eine mögliche, soziologisch brauchbare Definition des Phänomens ›Streit‹ dient in erster Linie als Diskussionsvorschlag. Sie bedarf damit der kritischen Reflexion und vor allem: der empirischen Überprüfung am Gegenstand; erst auf diesem Wege könnte sich eine längerfristig tragfähige Begriffsbestimmung hervorbringen lassen.

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Vgl. auch Collins, Randall: What Does Conflict Theory Predict about America’s Future?, 1993. Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft, 2005, S. 1.

Streit und Kultur

Als eine erste Annäherung möchten wir folgenden Definitionsvorschlag formulieren, der den ›Streit‹ als soziologisches Phänomen ausdrücklich auf Interaktionskontexte62 beschränkt: Unter ›Streit‹ im hier beschriebenen Sinne verstehen wir demnach eine auf einer spezifischen Differenz beruhende, sprachlich verfasste Praxis von zwei oder mehr Akteur*innen in Interaktionskontexten. Wir glauben, damit eine erste Annäherung an den Gegenstand formuliert zu haben, die den Streit als eine konflikthafte Praxis- bzw. Interaktionsform sui generis qualifiziert und zugleich verdeutlicht, weshalb sie gegenüber der traditionellen Konfliktsoziologie nach neuen Mitteln und Wegen der soziologischen Analyse verlangt.63 Die soziologische Beobachtung von historischen und gegenwärtigen Streitfällen kann nun über die soziale Struktur und Organisation von Streit und darüber, welche Dimensionen sich intern unterscheiden lassen, Aufschluss geben. Es hat sich als fruchtbar herausgestellt, bei der Analyse unterschiedlicher sozialer Phänomene zwischen einer symbolischen und einer normativen Dimension, einer Dimension der Interaktionen und Rituale sowie einer Organisationsdimension zu differenzieren.64 Der Streit ist dieser analytischen Unterscheidung zufolge sozial strukturiert, d.h. erstens symbolisch kommuniziert, zweitens rituell reproduziert, drittens normativ stabilisiert und viertens in Organisationen verdichtet. 1. Dem Streit sind in seiner symbolischen Dimension eigenständige Qualitäten abzugewinnen. So ist etwa das Symbolsystem Sprache nicht bloß ein logisches Instrument bzw. Medium der Streitaustragung, sondern in seiner Eigenschaft als gruppenbildendes Teilungsprinzip und Klassifikationssystem immer auch ein potenzielles Streitobjekt:

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Ein alternativer definitorischer Kandidat wäre der Begriff der ›Kopräsenz‹, wie er von Goffman (Goffman, Erving: Interaktionsrituale, 1971, S. 7.) vorgeschlagen und etwa auch von Giddens (Giddens, Anthony: Die Konstitution der Gesellschaft, 1988, S. 116ff.) verwendet wird. Ganz ähnlich wie der Begriff der Interaktion bei Luhmann (vgl. etwa Luhmann, Niklas: Soziale Systeme, 1987, S. 560ff.; Luhmann, Niklas: Interaktion, Organisation, Gesellschaft, 1991a, S. 10; Luhmann, Niklas: Einfache Sozialsysteme, 1991b; Luhmann, Niklas: Schematismen der Interaktion, 1993.) bezieht sich auch dieser auf die reflexive wechselseitige Wahrnehmung von Akteur*innen; aufgrund seiner (noch) stärkeren (und für den vorliegenden Kontext verzichtbaren) Betonung der physischen Präsenz erschien er jedoch weniger brauchbar. An dieser Stelle sei betont, dass wir uns hier vorerst mit einem definitorischen Minimalkonsens begnügen müssen. Für weitere Anreicherungen dieses Verständnisses von Streit sei auf die nun folgenden Dimensionierungs- und Typologisierungsversuche verwiesen. Wir knüpfen hier an ein theoretisches Modell von Gephart an, der im Anschluss insbesondere an Durkheim von vier elementaren Dimensionen des sozialen Lebens spricht (vgl. Gephart, Werner: Strafe und Verbrechen, 1990; Gephart, Werner: Recht als Kultur, 2006.). Zu Weiterentwicklungen dieser Analytik vgl. mittlerweile auch Witte/Bucholc (Witte, Daniel/Bucholc, Marta: Verfassungssoziologie als Rechtskulturvergleich, 2017.) sowie Suntrup (Suntrup, Jan: Umkämpftes Recht, 2018.).

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»In der Auseinandersetzung und für die Bedürfnisse der Auseinandersetzung funktionieren die untrennbar logischen wie soziologischen Teilungsprinzipien, die mit Begriffen zugleich Gruppen schaffen […]. Darum geht es in den Auseinandersetzungen um die Definition des Sinns der Sozialwelt: um Macht über die Klassifikations- und Ordnungssysteme, die den Vorstellungen und damit der Mobilisierung wie Demobilisierung der Gruppen zugrundeliegen. Es geht um das Evokationsvermögen der sprachlichen Äußerung, das anders sehen lässt […] oder das, indem es Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata modifiziert, anderes sehen lässt, andere, bislang unbemerkte oder in den Hintergrund verbannte Eigenschaften […]; es geht um das Trennungsvermögen, Distinktion, diakrisis, discretio, das aus der unteilbaren Kontinuität diskrete Einheiten auftauchen lässt, aus dem Undifferenzierten die Differenz.«65 Neben diesem Evokationsvermögen der sprachlichen Äußerung kommt, Bourdieu zufolge, der Durchsetzung legitimer Benennungen, der eigenen Weltsicht und ihrer Anerkennung durch den oder die Gegner*in eine ebenso große Bedeutung als symbolische Strategie zu. Die auf Symbolen basierenden Strategien der Distinktion und Legitimierung können dabei den Ausgang des Streits in gravierender Weise beeinflussen. Die im Streit praktizierten Trennungsakte, die immer einen ausgeprägten Unterscheidungssinn voraussetzen, sind zudem entscheidend bei der Schaffung und Stabilisierung kollektiver und individueller Identitäten. Im Streit erzeugen Kollektive und Individuen zugleich Selbstbilder, die je nach Streitfall in Stellung gebracht werden, um sich nach außen abzugrenzen und von anderen zu unterscheiden und nach innen den Zusammengehörigkeitsglauben und die Integrationskraft der Gruppe zu schärfen bzw. zu stärken.66 Auch durch die Verweigerung des Streits, d.h. auch dort, wo keine Streitakte vollzogen werden, können schließlich Gefühle der Einheit und Zusammengehörigkeit, der Abgrenzung und Unterscheidung erzeugt und damit über die Grenzen der eigenen Gruppe hinaus als ein Exklusionsmechanismus wirksam werden. 2. Normative Positionen sind generell dazu prädestiniert, zu Streitobjekten zu werden. Wie unten noch eingehender erläutert werden soll, bedarf der Streit allerdings stets eines »Konsenses im Dissens«, einer grundlegenden Einigkeit,

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Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede, 1987, S. 748. Hervorh. im Orig. Wir gehen davon aus, dass Kollektive (zumindest nach unserem Verständnis) nicht unmittelbar miteinander streiten können, sondern Streit stets im Medium der Stellvertretung austragen. Die hier gemeinte Stellvertretung lässt sich jedoch nicht auf ihre juridische Dimension reduzieren, sondern sie schließt alle denkbaren Formen von Freiwilligkeit und Unfreiwilligkeit, bewusster und unbewusster, legitimer und nicht-legitimierter Stellvertretung ein.

Streit und Kultur

mindestens über die Streitbarkeit der umstrittenen Objekte. Darüber hinaus bedingt er aber auch die Schaffung neuer sowie die Modifizierung alter Normen und Regeln. Streit als ein regulatives Konzept entwickelt die normativen Elemente seiner eigenen Begrenzung und Regulierung aus sich selbst heraus, er ist zugleich Gegenstand und Erzeugungsprinzip kognitiver, ethischer, juridischer und ästhetischer Klassifikationen und Bewertungen. Streitakte können, je nach Streitfall und Streitsphäre, eine spezifische normative Kraft, eine Art Streitkodifikation hervorbringen, die in der kompletten internen Organisation des Streits ablesbar bleibt. Dabei können die normativen Verhältnisse je nach Streitposition anders gedeutet und in Anspruch genommen werden; der Streit kann seine eigenen Normen und Codes affizieren und diese selbst zum Gegenstand werden lassen. 3. Der Streit kann in sinnvoller Weise als Ritual, als eine Form der rituellen kommunikativen Praxis aufgefasst werden. Er kennt verschiedene Phasen, unterschiedliche Logiken des Übergangs, vielfältige Techniken und Strategien des Streit-Beginns und des Streit-Endes sowie schließlich eine Vielzahl von auf den Streit folgenden Phasen und Anschlussmöglichkeiten.67 Die für den Streit charakteristischen Distinktionsrituale sind habitualisierte Kanäle der Streitaustragung, Komplexe aus Gesten, körperlichen Posituren, Wörtern und Metaphern, die ein umfassendes Verhältnis zur Welt darstellen. 4. Die vierte analytische Dimension schließlich lenkt den Blick auf den Umstand, dass die normativen Ordnungen des Streits zumeist einer Verfestigung und Verdichtung in Institutionen und Organisationen bedürfen. Selbst wo er nicht zur Bildung formaler Organisationen im engeren Sinne führt, bedarf der Streit jedoch eines Mindestmaßes an sozialer, zeitlicher, räumlicher und sachlicher Koordination.68 Es ist diese gesellschaftliche Strukturiertheit, die dem Streit auch seinen »Lebensprozeß«69 , seine dynamische Qualität bzw. seine Prozessualität verleiht. Eine besondere und vielleicht auch besonders interessante Eigenschaft des Streits, in der normative und in Organisationsformen gerinnende Ordnungsleistungen zu67

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Eine dies berücksichtigende Analytik würde vermutlich auf fruchtbare Weise an klassische und moderne Ansätze der sozialanthropologischen und soziologischen Ritualtheorie anschließen können (etwa Turner, Victor: The Ritual Process, 1969; Douglas, Mary: Ritual, Tabu und Körpersymbolik, 1981; Goffman, Erving: Interaktionsrituale, 1971; oder auch wiederum Collins, Randall: Interaction Ritual Chains, 2004.). Wir schließen hiermit in loser Weise an die Sinndimensionen von Kommunikation an, wie sie etwa bei Luhmann (Luhmann, Niklas: Soziale Systeme, 1987, S. 112ff.) formuliert und später bei Autoren wie Nassehi (Nassehi, Armin: Geschlossenheit und Offenheit, 2003, S. 152ff.) um die Raumdimension erweitert worden sind. Simmel, Georg: Soziologie, 1992, S. 285.

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sammenfließen, betrifft schließlich die notwendigen Voraussetzungen seiner Entstehung. Der Streit – so lässt sich argumentieren – erfordert gerade als eine Form des artikulierten Dissenses selbst ein hohes Maß an konsensuellen Übereinkünften. Um streiten zu können ist es zwingend erforderlich, bestimmte Prinzipien als unstrittig anzuerkennen, von rudimentären Logiken der Rede und Gegenrede bis hin zu elaborierten Ethiken des Streitens. Doch die konsensuellen Grundlagen des Streits reichen noch viel tiefer. Er verlangt selbst nach einem hohen Maß an Einmütigkeit über das Objekt und die Relevanz des Streits. Um nämlich einen Streit beginnen zu können, müssen die Streitpartner*innen zumindest diese Übereinkunft treffen: Dass der umstrittene Gegenstand oder allgemeiner: das Thema des Streits eines Streits überhaupt wert ist.70 Schließlich – und wir wollen hier nur erste Andeutungen machen – setzt der Streit auch auf der Ebene der Interaktionspartner*innen ein Mindestmaß an wechselseitiger Anerkennung voraus: Das Ende jedes Streits (oder gar schon den kategorischen Ausschluss jedweder Möglichkeit für seine Entstehung) bedeutet es, wenn der oder die Andere als streitunwürdig abqualifiziert, in Streitfragen zur persona non grata degradiert oder sogar: überhaupt nicht als Person anerkannt wird.71 Der Streit setzt also einen relativ umfangreichen »Konsens im Dissens« voraus72 , der sich mindestens auf den Gegenstand und die Teilnehmer*innen des Streits, vermutlich aber weit darüber hinaus erstreckt.73 Dass dabei die wechselseitige Anerkennung der oder des Anderen als notwendige Bedingung für den Eintritt in einen Streit gelten kann, stellt sicherlich eine der faszinierendsten Paradoxien des Phänomens dar und bedürfte weiterer Reflexion. Ausgehend von der oben vorgeschlagenen Arbeitsdefinition und der dort anschießenden Dimensionierung relevanter Gesichtspunkte lassen sich nun ver-

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»Schön sein muss Helena, wenn ihr sie täglich schminkt mit eurem Blut« (Shakespeare, William: Troilus und Cressida, 1967, I, 1.). Hier ließe sich möglicherweise fruchtbar an die Arbeiten von Gesa Lindemann (Lindemann, Gesa: Das Soziale von seinen Grenzen her denken, 2009.) anschließen, die die prinzipiell kontingente Zuschreibung des Akteur*innenstatus an spezifische historische und gesellschaftsstrukturelle Voraussetzungen knüpft. Vgl. Bourdieu, Pierre: Künstlerische Konzeption und intellektuelles Kräftefeld, 1974, S. 123; Bourdieu, Pierre: Über das Fernsehen, 1998, S. 88f.; Bourdieu, Pierre: Das politische Feld, 2001, S. 45; ähnlich auch schon Simmel, Georg: Soziologie, 1992, S. 306f. Dieser Konsens geht weit über ein gemeinsam geteiltes Symbolsystem wie etwa die gemeinsame Sprache (oder: ›Kultur‹) hinaus, schließt aber zugleich Verständigungsorientiertheit der Kommunikation im Sinne von Habermas (Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns, 1981.) keineswegs mit ein. Bei Habermas finden sich freilich ganz andere Anschlusspotenziale, die eine zu entwickelnde Streitsoziologie aufzugreifen hätte, wobei hier nur die differenzierten Ausführungen zur Argumentationstheorie (ebd., S. 25ff.) sowie die unten angedeuteten, streittheoretischen Weiterführungen seiner Diskurstheorie des Rechts genannt werden sollen.

Streit und Kultur

schiedene idealtypische Formen des Streits voneinander unterscheiden. Einige mögliche Differenzierungskriterien sollen hier genannt werden. In einer ersten Dimension wäre es möglich, den Streit hinsichtlich der Rationalitätsgrade seiner Akteur*innen, der in ihm zum Ausdruck kommenden ZweckMittel-Relationen bzw. der ihm zugrunde liegenden Handlungsorientierungen zu klassifizieren. Demnach wäre – in loser Anlehnung an Webers Handlungstypologie74 – zunächst zwischen reflexiven und nicht-reflexiven Formen und sodann zwischen einer primär zweck- und einer stärker wertrationalen, einer sich aus Konflikttraditionen speisenden und einer primär affektuell motivierten Streitform zu unterscheiden:

Abbildung 1: Differenzierung von Streittypen nach Handlungsorientierungen

Quelle: Eigene Darstellung.

Mit Blick auf eine zweite basale Dimension ließe sich der Streit nach den jeweils umstrittenen Objekten näher qualifizieren. Es wäre etwa, mit jeweils zunehmendem Abstraktionsgrad, zu unterscheiden zwischen dem Streit um materielle sowie immaterielle Objekte, dem Streit um Interessen, Macht und Einfluss, dem Streit um Prinzipien und Argumente, dem Streit um Werte und schließlich weiteren Formen, die gewissermaßen auf einer Metaebene anzusiedeln wären, so etwa

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Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft, 1980, S. 11ff.

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dem Streit als reiner Machtdemonstration75 oder auch dem Streit um eine/n (bis dato in der Regel: unbeteiligte/n) Dritte/n76 .77 Schließlich wäre es möglicherweise sinnvoll, in einer dritten Unterscheidung, die wiederum quer zu den bislang vorgeschlagenen verläuft, Streitprozesse hinsichtlich ihrer Dynamik sowie entlang der Dimension von Offenheit und Geschlossenheit zu differenzieren. So wäre dem ›gewöhnlichen‹ Streitfall der Typus des ›entgrenzten‹ und sodann der des ›totalen‹ Streits entgegenzustellen. Auf der anderen Seite dieses Kontinuums lägen entsprechend ›verhinderte‹ und ›erstickte‹ oder auch ›stille‹ Typen des Streits. Hier wäre freilich eine präzise Abgrenzung von verwandten Phänomenen, insbesondere vom vollständig ›latenten‹ Streit78 sowie (am anderen Ende des Kontinuums) von bestimmten Formen der Eskalation von Nöten; gleichsam kritischen Punkten, an denen der Streit aufhört, Streit zu sein. Über den Sinn von Typologisierungen wie den hier vorgeschlagenen lässt sich freilich stets streiten. Idealtypische Konstruktionen können jedoch nicht nur die empirische Wahrnehmung leiten oder strukturieren, sondern sind zudem geeignet, aufgrund ihrer jeweiligen Implikationen heuristische Funktionen zu erfüllen. So könnte etwa mit einiger Plausibilität die Hypothese aufgestellt werden, dass ein Streit um materielle Objekte und ein Streit um fundamentale Werthaltungen mit jeweils unterschiedlichen Intensitäten, variierenden Tempi und unterschiedlichem emotionalen Engagement geführt werden. Diese und andere Anschlussthesen lassen sich freilich wiederum nur im Rahmen empirischer Forschung prüfen.79 Zudem lassen sich diese und vergleichbare Typen schließlich mit einer gesellschaftstheoretischen Ebene in Beziehung setzen. Aus einer kultursoziologischen Warte betrachtet kann ihnen nur dann ein Sinn abgerungen werden, wenn sie an die Struktur und die kulturellen Spezifika einer gegebenen gesellschaftlichen Figuration rückgebunden werden. Diese Perspektive soll im Folgenden skizziert werden.

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Wobei dieser mit dem oben genannten Typus des ›Streits als Selbstzweck‹ zusammenfallen könnte. Dies verdeutlicht die Notwendigkeit der Berücksichtigung möglicher Zweck-MittelVerkettungen (vgl. Parsons, Talcott: The Structure of Social Action, 1949, S. 229ff., 740ff.). Vgl. hierzu Simmel, Georg: Soziologie, 1992, S. 327ff. Die Figur der/s Dritten findet besondere Berücksichtigung auch in der schönen Studie von Utz (Utz, Richard: Soziologie der Intrige, 1997.). Die dortige Verwendung des Simmel’schen Streitbegriffs vermeidet es jedoch, diesen einer genaueren Klärung zu unterziehen. Den die Alltagssprache unpräzise mit der Wendung ›mit jemandem Streit haben‹ bezeichnet. Eine genaue Grenzziehung scheint hier notwendig aber nicht unproblematisch: Vollständige Latenz schließt ein Verständnis von Streit im hier vorgeschlagenen Sinne aus, dieser bedarf – zumindest vorübergehend – Phasen der Performanz. Doch auch hier gilt die an Kant angelehnte Aussage: Empirische Forschung ohne theoriegeleitete Hypothesen ist blind (vgl. Bourdieu, Pierre/Wacquant, Loïc: Die Ziele der reflexiven Soziologie, 1996, S. 198.).

Streit und Kultur

4.

Gesellschaftsstruktur und Streitsemantik: Streitsphären der Moderne

Die ideellen und institutionellen Folgen des Investiturstreits80 in Form der Unterscheidung von politischer und religiöser Sphäre setzten eine Differenzierungsdynamik in Gang, die unmittelbar danach auch zur Verselbständigung anderer Bereiche wie Recht und Wissenschaft führte und weitere Differenzierungsschübe begünstigte. Eines der zentralen Ordnungsprinzipien moderner Gesellschaften: sachliche Differenzierung, lässt sich somit als ›Nebenfolge‹ eines Streits begreifen und führt selbst wiederum zur Ausbildung von verschiedenen Streitsphären: In seiner Folge differenzierte sich die öffentliche Sphäre in eine Vielzahl von unterschiedlichen Streitarenen. Eine direkte Folge dieser Ausdifferenzierungsprozesse ist die Herausbildung unterschiedlicher ›Eigenkulturen‹, die nicht länger aufeinander reduzierbar und füreinander nicht mehr ohne Weiteres verfügbar sind: Teilbereiche also, die nach eigenen Regeln und unter Rückgriff auf unterschiedliche Semantiken operieren und in denen, in der Zuspitzung Luhmanns, »für Politik nur noch Politik, für Kunst nur noch Kunst, für Erziehung nur noch Anlagen und Lernbereitschaft, für die Wirtschaft nur noch Kapital und Ertrag zählen«81 . Ein gemeinsamer Handlungszusammenhang, der diese Eigenkulturen restlos synchronisieren kann, scheint unter der Bedingung moderner Kultur und Gesellschaftsstruktur nicht mehr möglich. Wenn sich allerdings Gesellschaft in Sphären82 , Felder oder Teilsysteme differenziert, die nicht mehr durch eine gemeinsame Grundsymbolik integriert werden können, kann Streit in diesem Kontext mithin als eine Vergesellschaftungsform interpretiert werden, die unter Modernitätsbedingungen an Wahrscheinlichkeit gewinnt. Die zunehmende Streithaftigkeit oder gar Streitfreudigkeit moderner Gesellschaften lässt sich insofern begründen, als die Durchsetzung ihres zentralen Strukturmerkmals sachlicher Differenzierung mit der Relativierung eines hierarchischen, häufig Konsens begünstigenden (oder auch erzwingenden) Strukturprinzips erkauft werden musste.83 Vor diesem Hintergrund scheinen moderne Gesellschaften die 80

81 82 83

Vor allem Schwinn (Schwinn, Thomas: Differenzierung ohne Gesellschaft, 2001, S. 259ff.) hat die Bedeutung des Investiturstreits für die Entstehung des okzidentalen Differenzierungsmusters herausgearbeitet und dabei auf die unmittelbaren und langfristigen, ideellen und institutionellen Konsequenzen dieser epochalen Trennung von kirchlicher und weltlicher Macht hingewiesen. Der damit angedeutete grundsätzliche Zusammenhang von Streit und Differenzierung wäre für eine zukünftige Streitsoziologie jedoch noch herauszuarbeiten. Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, S. 708. Zur ›vergessenen‹ Sphärenmetapher bei Weber vgl. Gephart, Werner: ›Sphären‹ als Orte der okzidentalen Rationalisierung, 2005. Hinzuzufügen ist mindestens noch ein weiterer Faktor, dass nämlich die Wahrscheinlichkeit, in einen Streit einzutreten, in dem Maße steigt, wie seine Eskalation und Entgrenzung, insbe-

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Form einer Arena anzunehmen: Anstelle einer Perspektive auf Gesellschaft, die vor allem Entwicklungsprozesse auf der Ebene von Sinn in den Vordergrund rückt, geraten somit Kampfschauplätze und Frontlinien in den Blick. Die beschriebenen Bedingungen moderner Kultur und Gesellschaftsstruktur – also insbesondere die Ausdifferenzierung der Gesellschaft in verschiedene Handlungssphären mit je eigenen Funktionscodes, Teilrationalitäten, Spielregeln, Rechtfertigungslogiken und Wahrheitsregeln84 – affizieren auch die Praktiken und Formen des Streitens. Je nach Sphäre, d.h. je nach den spezifischen Einsätzen und Gewinnmöglichkeiten, können die symbolischen Streitstrategien, ihre rituellen Handlungsformen, die Normierung von Aushandlungsprozessen und ihre Verdichtung in Organisationen andere sein. So sind ein Familienstreit von einem Rechtsstreit und ein Gelehrtenstreit von einem Nachbarschaftsstreit strikt zu unterscheiden. Die Eigenlogik der Sphäre entscheidet über die Form, die Dauer, die Heftigkeit und die ›Rhythmik‹, die Austragungsorte und das Ende des Streits. Sie entscheidet auch darüber, was als streitenswert gilt und was nicht, über Eintrittsrituale und Einsatzmöglichkeiten, über Sieg und Niederlage, über Versöhnung und Unversöhnbarkeit. So gehorcht ein Streit unter Eheleuten der Logik der privaten Sphäre, ein akademischer Streit der Logik der wissenschaftlichen Sphäre, ein Rechtsstreit der Logik der Rechtssphäre und ein Streit über Klimapolitik der Logik der politischen Sphäre. Dies schließt ein, dass es unter bestimmten Bedingungen zu einer Überlappung oder Durchdringung unterschiedlicher Streitsphären kommen kann, die dazu führt, dass aus einem Streit unter Eheleuten ein Rechtsstreit wird, und ein Streit unter Historiker*innen kann unter Umständen eine Steigerungsdynamik entwickeln und in einen politischen Streit münden. Diese sphärentheoretische Lesart des Streits lässt sich unter Verweis auf die räumliche Differenzierung von Streitorten untermauern, jener Orte bzw. Räume (z.B. Parlament, Gerichtssaal oder Börse), die eine Verdichtung von Streitpraktiken und Streitritualen hervorbringen und eine Grenze markieren zwischen Streitbarem und Unstreitbarem. Streitorte sind also Orte, an denen Streitereignisse sichtbar werden, welche einen Raum eröffnen, der als legitimer oder auch illegitimer Ort des Streitens erscheinen kann. Die Ausdifferenzierung des Streits und seine damit einhergehende Komplexitätssteigerung lässt sich zudem daran beobachten, dass sich für die Reduktion dieser Komplexität seit einiger Zeit die Figur des/r Streitexpert*in und ganze Berufsgruppen etabliert haben,

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sondere aber der Einsatz physischer Gewaltmittel systematisch unwahrscheinlicher gemacht und damit auch das individuelle Risiko verringert werden (vgl. Luhmann, Niklas: Soziale Systeme, 1987, S. 539f.; dazu Nollmann, Gerd: Konflikte in Interaktion, Gruppe und Organisation, 1997, S. 175ff.). Boltanski, Luc/Thévenot, Laurent: De la justification, 1991; Latour, Bruno: Existenzweisen, 2014.

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die sich vor allem als Übersetzer*innen zwischen den Streitenden verstehen und somit zur Etablierung einer modernen Streitkultur beitragen. Diese nehmen den formalen Status eines ›Dritten‹ an, desjenigen Elementes also, das blind für die konkreten Lebenswelten der Beteiligten ist und eine neue gesellschaftliche Realität imaginiert, in die die jeweiligen Streitigkeiten überführt und sphärenimmanent entschieden werden können.

5.

Figuren und institutionalisierte Formen der/s Dritten

Für die Soziologie scheint also Streit nicht nur dahingehend interessant zu sein, wie er in sozialen Interaktionszusammenhängen hergestellt wird, soziale Beziehungen konstituiert, innovative Praktiken stiftet und sich unter der Bedingung moderner Kultur ausdifferenziert hat, sondern auch welche Vermittlungsfiguren und Versöhungskonfigurationen polykontexturale Kulturen der Moderne hervorgebracht haben. Die Figur des Dritten ist ein generalisiertes Vermittlungsmedium: Ihr Auftritt im Streit bedeutet Übergang, Versöhnung, Unterbrechung, sinnhafte Reduktion von Komplexität, Verlassen des absoluten Gegensatzes oder die Stiftung eines solchen, und soziologisch setzt die Beobachtung dort an, wo solche Figuren den Eigengesetzlichkeiten gesellschaftlicher Handlungssphären folgen. Eine ganze Reihe von ›Dritten‹ tummeln sich in der Grenzzone zwischen streitenden Parteien: Beobachter*innen, Zeug*innen, Stellvertreter*innen, Anwält*innen, Richter*innen, lachende oder herrschende Dritte, Fürsprecher*innen, Mediator*innen, Sündenböcke, Vormunde, Übersetzer*innen, Überläufer*innen, Therapeut*innen, Sachverständige, Fremde, Berater*innen usw. Der Streit erhält somit in diesem Grenzbereich eine triadische Interaktionsstruktur, in der ein drittes Element entlang »trifunktionaler Ordnungsprinzipien« agiert85 . Wenn man nun die oben genannten Beispiele möglicher ›Dritter‹ genauer betrachtet, so wird schnell deutlich, dass es sich bei einer großen Zahl von ihnen (wenngleich nicht bei allen) um institutionalisierte Dritte aus der Rechts- oder der politischen Sphäre handelt. Der Rechtsstreit gilt in diesem Zusammenhang als paradigmatische Form der Institutionalisierung einer dritten Perspektive im Streit. Dem Recht wird vor diesem Hintergrund gewöhnlich neben der Politik eine zentrale Stellung in der Verwaltung moderner Streitarenen zugeschrieben, da es die Streitfähigkeit der Streitparteien absichert und dauerhaft ein weitreichendes Streitpotenzial garantiert. Charakteristisch für die Streithaftigkeit der Moderne ist also eine weitreichende Selbsteinschränkung ihrer Mittel zur Streitaustragung auf

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Dumézil, Georges: Mythos und Epos,1989, zitiert nach Fischer, Joachim: Der Dritte, 2000, S. 128.

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das Recht86 .87 Dabei behandelt das Recht soziale Streitigkeiten unter höchst artifiziellen Verfahrensbedingungen und mit einer höchst artifiziellen Sprache: Der Ursprungsstreit wird in eine Kunstsprache übersetzt88 . Das Kamel des Richters ist eben anders als die elf Kamele des Scheichs, wie es in einer von Luhmann89 rechtssoziologisch fruchtbar gemachten arabischen Erzählung heißt. Wenn soziale Streitfälle in Rechtsfälle überführt werden, so bringt diese reflexive Überführung zugleich eine Transformation der Streitsprache mit sich, denn Recht kann erst dann seine Rechtswirksamkeit entfalten, wenn es Streitfälle mithilfe seiner selbst produzierten Fiktionen verfremdet. Genau hier soll dann auch nach Luhmann die Modernität des modernen Rechts begründet sein. Demgegenüber entwirft Habermas eine prozedurale Theorie des demokratischen Rechtsstaats, eine Diskurstheorie des Rechts also, die gleichsam »der Kategorie des Rechtes einen zentralen Stellenwert einräumt«90 .91 Er zeichnet darin das Bild einer dezentralen Gesellschaft, die mit der politisch vielstimmigen Öffentlichkeit eine Arena für die Wahrnehmung, Identifizierung und Behandlung gesamtgesellschaftlicher Konflikte ausdifferenziert hat. »Sobald eine existentiell relevante Frage […] auf die politische Arena gelangt, prallen die Bürger […] mit ihren weltanschaulich imprägnierten Überzeugungen aufeinander und erfahren so das anstößige Faktum des weltanschaulichen Pluralismus. Wenn sie mit diesem Faktum im Bewusstsein der eigenen Fehlbarkeit gewaltlos umgehen lernen, erkennen sie, was die in der Verfassung festgeschriebenen säkularen Entscheidungsgrundlagen in einer postsäkularen Gesellschaft bedeuten. […] [D]ie pluralisierte Vernunft des Staatsbürgerpublikums folgt einer Dynamik der Säkularisierung nur insofern, als sie im Ergebnis zur gleichmäßigen Distanz von starken Traditionen und weltanschaulichen Inhalten nötigt. Lernbereit bleibt sie aber, ohne ihre Eigenständigkeit preiszugeben, gleichsam osmotisch nach beiden Seiten, zur Wissenschaft und zur Religion, hin geöffnet«92 . Moderne demokratische Gesellschaften können demzufolge nur anschlussfähig bleiben, wenn sie imstande sind, diese Vielstimmigkeit und Heterogenität zuzulassen, ja sogar zu fördern, doch dafür ist eine reflexive Öffentlichkeit notwendig, die 86 87 88 89 90 91

92

Vgl. Luhmann, Niklas: Das Recht der Gesellschaft, 1995, S. 124ff. Wenngleich auch Luhmann in diesem Zusammenhang freilich der alteuropäischen Konfliktsemantik verhaftet bleibt. Vgl. Teubner, Gunther/Zumbansen, Peer: Rechtsverfremdungen, 2000, S. 189ff. Luhmann, Niklas: Die Rückgabe des zwölften Kamels, 2000, S. 3ff. Habermas, Jürgen: Faktizität und Geltung, 1998, S. 21. Eine in diesem Sinne integrative Funktion des Rechts in modernen Gesellschaften betont auch Gephart (Gephart, Werner: Gesellschaftstheorie und Recht, 1993; Gephart, Werner: Recht als Kultur, 2006.). Habermas, Jürgen: Glauben und Wissen, 2001, S. 14.

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mit polysemen Lebensformen und unterschiedlichen »Nebenvernünftigkeiten«, widerstreitenden Ideen und antagonistischen Interessen umzugehen weiß. Helmut Willke schließlich hat mit seinem Konzept einer reflexiven Kontextsteuerung die Notwendigkeit und Faktizität gesellschaftlicher Steuerung durch die Politik hervorgehoben. Sein Konzept zielt genau auf jene Koordinierungsvorgänge, die sich faktisch vollziehen und bis dahin keinen Platz in der Systemtheorie Luhmann’scher Prägung gefunden haben. Integration und Steuerung sind Prozesse, die mit Koordination und Verhandlung, Abstimmung und Regulierung zu tun haben, jenen Verfahren also, die für den gesellschaftlichen Umgang mit Streitthemen und Streitfällen notwendig sind. Allen drei Ansätzen ist gemein, dass sie auf die Reflexivisierung institutioneller Formen der Streitaustragung abstellen. Die hier gemeinte ›Reflexivität‹ ist jedoch keine formal-rationale, sondern eine solche, die Differenzen erlaubt und für die »Institutionalisierung von Heterogenitäten«93 in den Teilbereichen der Gesellschaft Sorge trägt, sowie dafür, dass diese für die Ansprüche anderer sensibel bleiben. Die formale Bestimmung der Figur des Dritten schließlich verweist darauf, dass diese sich nicht lediglich in den hochgradig institutionalisierten Bereichen von Recht und Politik tummelt, sondern vielmehr auch im ›subinstitutionellen Bereich‹94 eine tragende Rolle für die Vermittlung, Übersetzung95 , Koordination oder Transformation von Streitfällen spielt. Eine Kartographie dritter Perspektiven im Streit könnte sich gerade deshalb als ein fruchtbares Forschungsfeld für eine Soziologie des Streits erweisen.

6.

Schluss

Streit setzt nicht nur Kultur voraus, Streit schafft auch Kultur. Der Streit bringt Regeln, Regelmäßigkeiten, Rituale, symbolische und normative Codes sowie soziale Ordnungskonfigurationen, Institutionen und Organisationsformen hervor, die Erwartbarkeiten im Streit schaffen und als Ausgangspunkt neuer Gruppenbildung, also als »Keim künftiger Gemeinschaft«96 fungieren können. Der Streit kann insofern sozial produktiv und funktional sein, als er auch Elemente seiner eigenen Normierung und Regulierung, die wir dann als Kultur bezeichnen, in sich selbst entwickelt, stabilisiert und verändert. In diesem Beitrag haben wir im Anschluss an einige grundbegriffliche Klärungen versucht, eine Arbeitshypothese zu formulieren, die es empirisch zu überprü-

93 94 95 96

Willke, Helmut: Systemtheorie, 1993, S. 277. Vgl. Utz, Richard: Soziologie der Intrige, 1997, S. 13, 24. Renn, Joachim: Übersetzungsverhältnisse, 2006. Simmel, Georg: Soziologie, 1992, S. 296.

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fen gälte: Diese geht von der Beobachtung gesellschaftsstruktureller und kultureller Zusammenhänge aus, die nicht nur die Bedingungen vorgeben, unter denen Streit sozial hergestellt wird, sondern auch die Determinanten seiner gesellschaftlichen Austragungsformen bestimmen, seiner Orte und Rituale, seiner Akzeptanz usw. Unter Modernitätsbedingungen erscheint eine einheitliche Streitkultur, die für alle Streitkontexte gleichermaßen gilt, zunehmend als unwahrscheinlich. Vielmehr ist von einer Pluralisierung und Fragmentierung von Streitkulturen auszugehen, d.h. von unterschiedlichen kulturellen Formen, Orten, Zeiten und Logiken des Streits, die von Sphäre zu Sphäre unterschiedlich ausgeprägt sein können und zugleich die Grenzen legitimer Streitbarkeit markieren: Nicht jede/r kann und darf mit jedem jederzeit, überall und über alles streiten. Moderne Streitkulturen sind vielfältiger und komplexer geworden. Der Beitrag einer zukünftigen Streitforschung hat nicht zuletzt dieser Komplexität Rechnung zu tragen, die sich unter Kontingenzbedingungen zu bewähren hat. Die Kontingenzannahme lässt dabei nämlich den Schluss zu, über den Kontext okzidentaler Kultur und Gesellschaftsstruktur hinaus von alternativen streitkulturellen Formen und Mustern zu sprechen. Gerade in transnationalen oder globalen Interaktionszusammenhängen schließt hier eine ganze Reihe von Fragen an: Wie verändern sich der Streit, seine Form und Dynamik, wenn Mitglieder unterschiedlicher Streit-Kulturen in einen Streit miteinander eintreten? Welche Gefahren lauern in der Pluralität von Streitkulturen selbst – und welche Potenziale stecken gerade in einer reflexiv geführten Debatte über eine mögliche und wünschbare gemeinsame Kultur des Streitens? Wie schließlich ist vor dem Hintergrund von Anerkennungs- und Alteritätsdebatten ein solcher transkultureller Streit zu denken und sozial zu strukturieren, der gerade im Streit die plurale Verfasstheit von Streit, seine spezifischen Logiken und deren möglicherweise unterschiedlichen Werthorizonte und Traditionen, vielfältige Sprechweisen und Körperposituren, Umgangsformen, Rhythmen und variierende Grade der Lust am Streit mitzureflektieren hätte? Hier eröffnet sich eine interessante Forschungsperspektive, nämlich »Streitkultur« auch als eine Vergleichskategorie in die Diskussion einzuführen.

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Über Ursachen und Folgen des Streits Die Rolle von Überzeugungssystemen in Auseinandersetzungen Joshua Folkerts/Tobias Götze

1.

Einleitung

Wie konnte es nur so weit kommen? – diese Frage steht oft genug als resignierende Reflexion der Beteiligten einer Auseinandersetzung am Ende eines Streits, der eskaliert ist und in dem es zu einer unversöhnlichen Entzweiung gekommen ist. Diese Frage ist darüber hinaus Ausdruck einer Ratlosigkeit, Hilflosigkeit und nicht zuletzt eines Unwissens sowie der Annahme, dass im Verlauf des Streits irgendetwas außer Kontrolle geraten ist. Das Streitgeschehen hat sich verselbständigt und ist den Beteiligten über den Kopf gewachsen, wodurch der Eindruck entsteht, die Streitdynamik eigentlich gar nicht völlig durchdrungen und durchschaut zu haben. An dieses Moment schließen unsere Überlegungen mit einer These an: Der Streit beginnt nicht erst bei der konfliktiven Auseinandersetzung. Insbesondere ein emotional geführter Streit hat oftmals eine lange, meist nicht weniger emotional aufgeladene Vorgeschichte, welche die Art und Weise des Führens eines Streits maßgeblich beeinflusst. In diesem Beitrag wollen wir uns entsprechend den Voraussetzungen eines Streits, mithin den einem Streit zugrundeliegenden epistemischen und normativen Aspekten von Überzeugungssystemen und deren Dynamik, also den Entstehungs-, Vergehens- und Veränderungsprozessen widmen. Worum streiten wir eigentlich, wenn wir streiten? Welche Änderungen im und welche Ausgänge von Streit sind möglich oder unter welchen Umständen auch unwahrscheinlich? Auf welcher Grundlage führen oder vermeiden wir Streit? Allerdings geht es uns nicht vornehmlich um die alltäglich geführten Streite. Diese dienen im Folgenden lediglich als Beispiele. Wir beabsichtigen eine abstraktere Herangehensweise bei der Untersuchung von Streit. Dabei interessieren uns insbesondere seine Voraussetzungen, seine Ermöglichungsbedingungen sowie seine zugrundeliegenden Überzeugungssysteme. Um diese Aspekte zu verfolgen, subsumieren wir zunächst den Streit unter dem Begriff des Konflikts. Mit dem

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Joshua Folkerts/Tobias Götze

Konfliktbegriff ist demnach die Theoretisierung des Streits intendiert,1 die erst solche zugrundeliegenden Strukturen zugänglich macht. Wie verhalten sich aber Streit und Konflikt genauer zueinander? Zur Annäherung verwenden wir zunächst die folgende an Youssef Dennaoui und Daniel Witte angelehnte Minimaldefinition zum Erfassen von Streit: Demnach ist der Streit eine auf einer spezifischen Differenz basierende Auseinandersetzung zwischen mehreren Parteien.2 Streit und Konflikt sind prominente Untersuchungsgegenstände der Soziologie, die Konflikte als menschliche Grunderfahrung auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens begreift.3 Als einer der ersten einschlägigen Texte, ja gewissermaßen Gründungstext einer Konfliktsoziologie, wird regelmäßig das Kapitel Der Streit aus Simmels Soziologie angeführt.4 Demnach gibt es große Überschneidungen zwischen den Begriffen Streit und Konflikt, sie sind aber nicht identisch. Anschließend an Youssef Dennaoui und Daniel Witte, die Streit als Form der Konfliktaustragung verstehen,5 nutzen wir folgende begriffliche Unterscheidung der beiden Begriffe: Konflikt und Streit gehören zu einer Taxonomie. Der Begriff ›Konflikt‹ gilt als Oberbegriff, unter dem wir eine latente Auseinandersetzung zwischen mehreren Akteuren verstehen. Er hat zwei Unterbegriffe (diese Trennung ist idealtypisch zu verstehen), die verschiedene Arten von Auseinandersetzungen bezeichnen, welche manifest geworden sind: einerseits den Streit und andererseits die Gewalttätigkeit.6 Ein Konflikt kann sich demnach als Streit oder Gewalttätigkeit manifestieren, wobei in dieser Arbeit die Gewalttätigkeit nicht weiter thematisiert wird. Genauer soll der Konflikt – und damit indirekt auch der Streit – hier entlang einiger Leitgedanken der Deutungsmachttheorie gefasst werden. Entsprechend begreifen wir den Streit als Auseinandersetzung zwischen Akteuren in Bezug auf Deutungen und Überzeugungen. Es soll gezeigt werden, dass Streite auf Deutungen und (mitunter wiederum verschiedentlich aufeinander bezogenen) Überzeugungen basieren und die Dynamik (im Sinne von Entstehens-, Vergehens- und Veränderungsprozessen) von bestimmten Streiten demnach auch von der Dynamik bestimmter Deutungen und Überzeugungen abhängt. Es gibt, so unsere These, kein Verstehen einer Streitdynamik ohne ein Verstehen der Dynamiken des Entstehens,

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So auch bei Bonacker, Thorsten: Konflikttheorien, 1996, S. 13. Vgl. Dennaoui, Youssef/Witte, Daniel: Streit und Kultur, 2008, S. 217. Vgl. Detjen, Joachim: Streitkultur, 2012, S. 15-19; Dahrendorf, Ralf: Konflikt und Freiheit, 1972, S. 7. So etwa bei Schneider, Martin: Kampf, Streit und Konkurrenz, 2020, S. 19. Vgl. Simmel, Georg: Soziologie, 1908, S. 247-336. Vgl. Dennaoui, Youssef/Witte, Daniel: Streit und Kultur, 2008, S. 210. Zur Gewalt als Abgrenzungskriterium siehe Gebhard, Gunther/Geisler, Oliver/Schröter, Steffen: Streitkulturen, 2008, S. 14f.

Über Ursachen und Folgen des Streits

Vergehens und Veränderns von Deutungen und Überzeugungssystemen. Um die zugrundeliegenden Strukturen des Streits zu fassen, müssen also Deutungen und Überzeugungen untersucht werden. Daher sollen im Folgenden zunächst kurz die Deutungen thematisiert werden, bevor wir uns den hier fokussierten Überzeugungen und Überzeugungssystemen widmen. Dabei könnte man Deutungen als ontologisch grundsätzlich einstufen.7 Gemäß dieser Auffassung sind wir in unserem alltäglichen In-der-Welt-sein immer und überall schon von Deutungen umgeben und mit ihnen in Kontakt. Sie leiten unser Denken und Handeln jeden Tag und sind in unserer Umwelt omnipräsent. Unsere Realität ist nur durch Deutungen erschließbar, die ständig angepasst, verändert, ent- oder verworfen werden. Deutungen sind unsere mehr oder weniger kontingenten Orientierungen in einer komplexen Umwelt. Und so unterschiedlich die Orientierungen sind, so divers ist auch das Orientierungsangebot. Es gibt eine Vielzahl von Deutungsangeboten, da einerseits die Objekte und Sachverhalte, denen wir begegnen, deutungsoffen sind und andererseits die Deutenden in ihrer Kreativität relativ uneingeschränkt.8 Wäre beides nicht gegeben, so hätten wir es lediglich mit feststehenden, eindeutigen Tatsachen zu tun. Es gäbe keine Deutungen und alle Aussagen über die Welt basierten auf feststehenden Fakten, beinhalteten keine Interpretationsleistung und gäben die Realität genauso wieder, ›wie sie ist‹. Deutungen geraten in Konflikt, wenn sie konträr sind. Über und mit Deutungen wird gestritten. Allerdings muss das nicht zwangsläufig der Fall sein. Nur wenn die Anerkennung der einen Deutung die Anerkennung der anderen Deutung ausschließt und von diesen beiden überhaupt auch nur eine anerkannt werden kann (also eine Exklusivität der Deutungen besteht), geraten sie in Konflikt miteinander. Die Pluralität der Deutungen muss demnach nicht zwangsläufig in Konfliktivität münden. Entsprechend lässt sich in der Deutungsmachttheorie der Normalfall der Deutungsmacht vom Konfliktfall unterscheiden.9 Im Normalfall wird der Deutung ungefragt gefolgt und sie gilt als selbstverständlich. Im Konfliktfall ist diese Anerkennung der Deutung gebrochen und bereits problematisiert bzw. strittig. Ein wichtiger, aber hier nicht weiter zu vertiefender Faktor in der Untersuchung von Deutungen und ihrer Konfliktivität ist daher Macht. Anhand verschiedener Machtbegriffe und -konzeptionen lässt sich untersuchen, welche Deutungen warum einen Konflikt für sich entscheiden können (Ausgang eines Konflikts), aber auch viel grundsätzlicher, welche Deutungen überhaupt konfliktfähig sind (Beginn

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Zur Differenzierung verschiedener Hermeneutikbegriffe siehe Keil, Geert: Von der Kunstlehre des Verstehens zur radikalen Interpretation, 2016, S. 223; Hoy, David C.: The Critical Circle, 1982, S. 1f. Zur ontologischen Grundsätzlichkeit des Deutens siehe Heidegger, Martin: Sein und Zeit, 1939, S. 15-20, 315; Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode, 2010, S. 271-286. Vgl. Stoellger, Philipp: Deutungsmachtanalyse, 2014, S. 23. Vgl. ebd., S. 41f.

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Joshua Folkerts/Tobias Götze

eines Konflikts) und warum andere womöglich schlicht überhört oder invisibilisiert werden. Macht beeinflusst unter anderem, was als Methode gilt, was im Bereich des Sagbaren liegt und was als außerordentlich klassifiziert wird. Ohne Macht würde im Streit immer der zwanglose Zwang des besseren Arguments gelten.10 Aber so, wie die Deutungen omnipräsent sind, so ist es auch die Macht – es gibt keinen machtfreien Raum.11 Deutungen geraten aufgrund der ihnen zugrundeliegenden Überzeugungen in Konflikt. Konflikte und Streite als manifeste Formen von Konflikten sind entsprechend immer deutungs- und überzeugungsbezogen. Wie sind sie zu fassen und was können wir davon für den Streit im Allgemeinen lernen?

2.

Streit als Ausdruck des Konflikts zwischen Überzeugungssystemen

Um Ursache, Prozess und Funktionsweise des Streits zu verstehen, müssen wir unsere Aufmerksamkeit den latenten Strukturen zuwenden, die ihm zugrunde liegen. Streite mögen sich zwar oftmals an externen und dabei kontingenten Auslösern entzünden, ihre Ursachen liegen in diesem Moment jedoch bereits vor. Ein ausgebrochener Streit weist auf tieferliegende, manchmal grundsätzliche, konfliktive Differenzen zwischen den beteiligten Parteien hin, die durch den jeweiligen Auslöser lediglich in einen manifesten Zustand versetzt werden. Sicherlich gibt es Streite, die einigermaßen simple Entscheidungen oder einfache Missverständnisse zum Gegenstand haben und sich durch rationale Diskussion restlos auflösen lassen. In vielen Fällen stehen jedoch hinter dem offensichtlichen Streitgegenstand grundlegende Unterschiede der Streitparteien in ihren Überzeugungen. Selbst auf den ersten Blick schlichte alltägliche Streitfragen können bei genauerem Hinsehen tieferliegende Differenzen in der auf unterschiedliche epistemische Erfahrung zurückgehenden normativen Evaluation des Streitgegenstands offenbaren – von den emotionalen Komponenten im Beziehungsgeflecht der Streitenden einmal ganz abgesehen. Besonders deutlich werden diese Differenzen jedoch in

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Vgl. Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns, 1981, S. 52. Vgl. Foucault, Michael: Dispositive der Macht, 1978, S. 210. Vieles weitere wäre zu der Verknüpfung von Macht, Deutung und Streit zu sagen, das in diesem Beitrag aufgrund der Fokussierung auf das Thema Überzeugungssystem nicht weiter vertieft werden kann. Zur Deutungsmachttheorie siehe: Kumlehn, Martina: Deutungsmacht, 2020; Stoellger, Philipp: Einleitung: Sprachen der Macht zwischen potentia, impotentia und potentia passiva, 2008, S. 132; Gehring, Petra: Macht und Kritik, 2016, S. 83-103; Folkerts, Joshua: Zur Theorie der Deutungsmacht, 2020, S. 211-232.

Über Ursachen und Folgen des Streits

philosophischen und politischen Streiten um ebenso wichtige wie auch vage Kernkonzepte des sozialen Lebens wie etwa Wahrheit, Freiheit oder Demokratie.12 Eine Möglichkeit, die zugrundeliegenden Strukturen des Streits analytisch und systematisch zu fassen, bietet der Ansatz des belief system oder Überzeugungssystems.13 Überzeugungssysteme sind Bündel von interdependenten Annahmen, Vorstellungen, Überzeugungen und Glaubensfragen über die materielle wie auch soziale Welt mit epistemischen sowie normativen Auswirkungen.14 Sie fungieren als ›Linse‹, durch welche Menschen die komplexe Realität wahrnehmen und sie auf eine fassbare Wirklichkeit reduzieren.15 Der epistemische Aspekt lässt sich dabei nicht vom normativen Aspekt trennen, weil die Art der Wahrnehmung überhaupt erst die Möglichkeit zu normativem Handeln eröffnet oder verschließt. Fällt eine externe Information, die Gegenstand einer normativen Reaktion werden könnte, gar nicht erst in den Bereich der Wahrnehmung, kann auch nicht auf sie reagiert werden. Umgekehrt lenken die normativen Überzeugungselemente die Wahrnehmung auf bestimmte Objekte, die dann eher in die Aufmerksamkeit der jeweiligen Person geraten. Überzeugungssysteme sind es, die im Streit aufeinanderprallen und mittels derer sich plausibilisieren lässt, warum manche Streite trotz klarer Faktenlage nicht zu einer sachlichen Klärung kommen. Es sind eben nicht nur vereinzelte Deutungen, die von den Parteien ins Feld geführt und rational gegeneinander abgewogen werden, sondern auch die dahinterstehenden komplexen Systeme aus epistemischen und normativen, rationalen und emotionalen Überzeugungen, die sich durch ihre innere Verbindung nicht ohne Weiteres ändern lassen. Das Aufgeben oder Ändern eines Elements kann Auswirkungen auf das gesamte System nach sich ziehen und ist daher einer viel höheren Schwelle ausgesetzt, als dies die Vorstellung von rein vernünftigem, gegenstandsorientiertem Streit vermuten lassen würde. Überzeugungssysteme können Menschen sowohl aus einer philosophisch orientierten ontologischen16 wie auch einer psychologischen17 Perspektive zugeschrieben werden. Für den hier verfolgten analytischen Ansatz ist es jedoch zweitrangig, ob die impliziten, oft durch Einübung erworbenen gedanklichen Struktu-

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14 15 16 17

Vgl. Gallie, Walter B.: Essentially Contested Concepts, 1956, S. 167-198; Britton, Karl: The Language of Controversy, 1941, S. 412-418. Für einen Überblick der vorwiegend englischsprachigen Verwendung siehe Cobb, Roger W.: The Belief-Systems Perspective, 1973, S. 121-153. Die Übersetzung orientiert sich am Überzeugungssystem bei Sandkühler, Hans J.: Wissen als gerechtfertigte wahre Überzeugung?, 2008, S. 149-157. Vgl. Rokeach, Milton: Beliefs, Attitudes and Values, 1989, S. 2; Usó-Doménech, Josep L./ Nescolarde-Selva, Josué A.: What are Belief Systems?, 2016, S. 148. Vgl. Holsti, Ole R.: The Belief System and National Images, 1962, S. 245-250. Vgl. Wolterstorff, Nicholas: Historicizing the belief-forming self, 2006, S. 136; Wolterstorff, Nicholas: Ought to believe, 2010, S. 66; Plantinga, Alvin: Reason and Belief in God, 1983, S. 80. Vgl. Rokeach, Milton: Beliefs, Attitudes and Values, 1989, S. 2f., 123.

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Joshua Folkerts/Tobias Götze

ren der Menschen tatsächlich in dieser Weise konstituiert sind. Entscheidend ist die Frage, inwieweit ihre analytische Modellierung als Überzeugungssystem für die Untersuchung, Beschreibung und Erklärung des Streits von Nutzen ist. Überzeugungen weisen bestimmte Eigenschaften auf, mittels derer sie eingeordnet werden können. Diese Einordnung der im Streit jeweils relevanten Überzeugungen kann dabei helfen, die Ursachen, den möglichen Verlauf und einige typische Ausgänge eines Streits zu prognostizieren. Die wichtigste Eigenschaft von Überzeugungssystemen ist ihre interne Interdependenz. Sie sind »a configuration of ideas and attitudes in which the elements are bound together by some form of constraint or functional interdependence.«18 Dies bedeutet, dass die einzelnen Elemente miteinander verknüpft sind und daher eine vereinzelte Thematisierung kaum möglich ist. Unter anderem lässt sich damit erklären, warum ein Streit selten bei seinem ursprünglichen Gegenstand stehenbleibt. Eine einzelne Überzeugung mag zwar am Beginn eines Streits stehen, durch die Verknüpfung werden jedoch schnell andere Überzeugungen aktiviert und nehmen damit Einfluss auf den Streit. Streit tendiert dazu, sich auszubreiten. Auch auf Grundlage einer zunächst relativ unwichtigen Überzeugung kann er sich in der Folge auf grundsätzlichere Aspekte erstrecken, die mit ihr verbunden sind. Interdependenzen können, so Philip Converse, in drei Varianten auftreten.19 Neben logischen treten ebenso psychologische Verknüpfungen auf, bei denen die Träger der Überzeugungen diese als aufeinander bezogen erleben, ohne dass notwendigerweise eine strikt logische Verbindung bestehen muss. Typisch für diese Variante sind die Elemente von Ideologien oder Religionen, die oftmals von einer zentralen Überzeugung zusammengehalten werden. Die soziale Interdependenz weist schließlich darauf hin, dass Überzeugungen ›im Paket‹ weitergegeben werden und stark von Erziehung sowie Sozialisation geprägt sind. Hierdurch existiert ebenso eine Verknüpfung von bestimmten sozialen Gruppen mit spezifischen Überzeugungssystemen. Die Art der Interdependenz, die bei den umstrittenen Überzeugungen vorliegt, gibt bereits Auskunft über den zu erwartenden Ablauf des Streits. Während logische Verbindungen mittels rationaler Argumentation infrage gestellt werden können und damit die Herauslösung einzelner Überzeugungen möglich erscheint, ist dies bei vor allem auf Erfahrung basierenden und stärker in sich geschlossenen psychologischen und sozialen Interdependenzen weitaus schwieriger. Die in solchen etwa ideologischen Systemen vorhandenen Überzeugungen enthalten zudem an zentraler Stelle emotional aufgeladene Elemente, die nicht ohne Weiteres rationaler Argumentation zugänglich

18 19

Converse, Philip E.: The nature of belief systems in mass publics, 2006, S. 3. Vgl. ebd., S. 5-10.

Über Ursachen und Folgen des Streits

sind.20 Es ist daher wichtig, Streit nach einer rationalen und einer emotionalen Seite zu unterscheiden.21 Allerdings weist die Perspektive des Überzeugungssystems darauf hin, dass sich diese Seiten selten sinnvoll trennen lassen. Durch die Interdependenz der Elemente werden auch bei anfänglicher Thematisierung rein rationaler Fragen in der Regel ebenso verknüpfte emotional Elemente aktiviert. Wie die Aktivierung weiterer Überzeugungen erfolgt, kann mit der Eigenschaft der Zentralität erklärt werden.22 Der Aufbau eines Überzeugungssystems im hier gemeinten Sinne kann wie folgt modelliert werden: Um eine zentrale Überzeugung (den ›Kern‹) sind weitere periphere Elemente angelagert, die mit diesem in Wechselwirkung stehen.23 Die über die peripheren Elemente verknüpften Kerne sind demnach Knotenpunkte im Netz des Überzeugungssystems. Eine zentrale Überzeugung ist durch die Zahl an peripheren Elementen definiert, die von ihr abhängen. Operationalisieren lässt sich dieses Verhältnis auf zweierlei Weisen. Erstens meint Zentralität die Resistenz von Überzeugungen gegen Änderung durch neue externe Informationen. Jene besonders widerständigen Überzeugungen sind die Kerne, von denen die Stabilität des Gesamtsystems abhängt. Zweitens bestimmt sich die Zentralität durch die Menge an abhängigen peripheren Überzeugungen, die aufgegeben werden müssten, würde der zentrale Kern wegfallen sowie die Tiefe ihrer Verwurzelung. Die Abhängigkeit zwischen Zentrum und Peripherie ist jedoch nicht erst im Falle möglicher Änderungen relevant, sondern hat epistemische und normative Auswirkungen. Die hierarchische Struktur des Überzeugungssystems bedeutet den Bezug peripherer Elemente auf den Kern.24 Entsprechend der komplexitätsreduzierenden Funktion des Systems üben zentrale Überzeugungen Einfluss auf die von ihnen abhängenden peripheren Elemente aus und sorgen so für eine epistemisch einheitliche Wahrnehmung von externen Informationen sowie eine normativ einheitliche Reaktion. Die in Überzeugungssystemen angelegten Einstellungen zu Situationen oder Objekten prädisponieren zu spezifischen Handlungen.25

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21 22

23 24 25

Vgl. Griffiths, Edmund: Towards a Science of Belief Systems, 2014, S. 3, 107; Sartori, Giovanni: Politics, Ideology, and Belief Systems, 1969, S. 404f.; Price, Henry H.: Belief ›In‹ and Belief ›That‹, 1965, S. 25. Vgl. Schneider, Martin: Kampf, Streit und Konkurrenz, 2020, S. 19. Vgl. Simmel, Georg: Soziologie, 1908, S. 268; Zuber, Marta S.: Dialectic, Dialogue, and Controversy, 1998, S. 181f. Vgl. Rokeach, Milton: Beliefs, Attitudes and Values, 1989, S. 3-5; Converse, Philip E.: The nature of belief systems in mass publics, 2006, S. 3f.; Wolterstorff, Nicholas: Thomas Reid and the story of epistemology, 2001, S. 235; Plantinga, Alvin: Reason and Belief in God, 1983, S. 48-50. Vgl. Rokeach, Milton: Beliefs, Attitudes and Values, 1989, S. 2f., 123. Vgl. Mader, Matthias/Pötzschke, Jana: National Identities and Mass Belief Systems on Foreign and Security Policy in Germany, 2014, S. 61. Vgl. Rokeach, Milton: Beliefs, Attitudes and Values, 1989, S. 112-122.

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Joshua Folkerts/Tobias Götze

Aus den beiden Faktoren der Zentralität und der emotionalen Aufladung lässt sich eine analytische Typologie der Überzeugungen konstruieren. Typologie von Überzeugungen Emotionale Aufladung der Überzeugung

Zentralität der Überzeugung

Stark

Schwach

zentral

Existentielle Überzeugung: basal, abgeschirmt, hohes emotionales Potenzial, nur unter traumatischem Stress änderbar

Prinzipielle Überzeugung: beständig, abgeschirmt, kaum emotional konnotiert, eher rational

peripher

Affektive Überzeugung: wenig beständig, offen für Änderungen, emotionales Potenzial

Pragmatische Überzeugung: wenig beständig, handlungsorientiert, offen für Evidenz und Argumentation, wenig emotionales Potenzial

Quelle: Eigene Darstellung

Ein Streit fällt in der Regel umso intensiver aus und bietet umso weniger Aussicht auf eine Lösung, je zentraler und emotional aufgeladener die umstrittenen Überzeugungen sind. Jedoch können auch bei der Thematisierung peripherer Elemente aufgrund der hierarchischen Struktur von Überzeugungssystemen Ausbreitungstendenzen konstatiert werden. Insbesondere Streit, der auf unterschiedliche Einstellungen und Präferenzen zurückzuführen ist, kann sich rasch auf zentrale Elemente erstrecken und damit grundsätzliche Differenzen zwischen den Parteien offenbaren.26 Bisher wurden die konkreten Gegenstände, an denen sich Streit entzündet, hier nicht näher thematisiert. Der Fokus auf die mit dem Streit verbundenen Überzeugungen führt von der Betonung des Streitgegenstands weg. Ihm kommt in dieser Perspektive keine besondere Relevanz zu. Der Abstraktionsgrad des Gegenstands27 kann jeweils mit unterschiedlich zentralen Überzeugungen verknüpft sein und gibt nicht unbedingt Aufschluss über die Intensität des Streits. So können sehr materielle Streitobjekte durchaus mit zentralen Überzeugungen verbunden sein – man denke etwa an religiös konnotierte Objekte einer Glaubensgemeinschaft – während Streit um abstrakte Werte nicht notwendigerweise zentrale Elemente des Überzeugungssystems betreffen muss. Die Streitgegenstände selbst sind zutiefst deutungsabhängig: »The issues in a controversy are whatever things people think are

26 27

Vgl. Dascal, Marcelo: The Study of Controversies and the Theory and History of Science, 1998, S. 150. Vgl. Dennaoui, Youssef/Witte, Daniel: Streit und Kultur, 2008, S. 221.

Über Ursachen und Folgen des Streits

important.«28 Die spezifischen Verknüpfungen in den Überzeugungssystemen der Streitparteien können dazu führen, dass bei gleichbleibendem Streitgegenstand höchst unterschiedliche Elemente aktiviert werden und der Streit sich somit keineswegs um eine klar definierte Sache dreht. Der gleiche Gegenstand kann aufseiten der jeweiligen Parteien verschiedene Positionen besetzen und die Wahrnehmung des Streits – und dessen Inhalts – deshalb divergieren. Während eine Seite einen klar umgrenzten, sachlich zu lösenden Aspekt erblickt, sieht sich die andere Seite in ihren zentralen, emotional aufgeladenen Überzeugungen angegriffen. Was aber macht Streit überhaupt erst möglich? In der Perspektive eines Überzeugungssystemansatzes braucht es bestimmte geteilte zentrale Überzeugungen, damit eine streitbare Kommunikation entstehen kann. Diese sind nicht in erster Linie sachlich definiert, sondern zeichnen sich durch ihre Zentralität innerhalb des Systems beider Streitparteien aus. So können theoretisch ebenso philosophische Prämissen der rationalen Vernunft wie auch die Einigkeit im (irrationalen) Glauben die funktionale Basis für einen Streit liefern. Von besonderer Bedeutung für den ›Konsens im Dissens‹ sind die Einigkeit in der Argumentationslogik, der Relevanz des Streitgegenstands sowie einer gewissen gegenseitigen Anerkennung der Streitparteien.29 Wenn die Wahrnehmung der gegnerischen Streitpartei etwa als Feinde oder Unwürdige dominierend ist, kann die grundlegende Beziehung, die für einen Streit vonnöten ist, nicht aufgebaut werden. Unterscheiden sich die Argumentationslogiken zu stark, ist keine sinnvolle Kommunikation – und schon gar kein Überzeugen der anderen Streitpartei – möglich. Wird ein Streitgegenstand aus verschiedenen Überzeugungssystemen grundsätzlich unterschiedlich gedeutet – in dem Sinne, dass er nicht Teil desselben Bedeutungsfelds ist – kommt kein Streit zustande, da sich die Positionen der Parteien dann nicht widersprechen. Ihre Verständnisse vom Streitgegenstand laufen parallel und unberührt nebeneinander her.30 Wenn trotz des Fehlens grundlegender geteilter zentraler Überzeugungen Streit besteht, dann handelt es sich um einen vor allem emotional geführten Streit, der nicht ohne Weiteres einen konsensuellen oder kompromisshaften Ausgang haben kann.

3.

Funktionen des Streits und Streitdimensionen

Eine gewisse Einigkeit in den zentralen Überzeugungen ist dann auch Grundlage für jede funktionierende Gesellschaft, die nicht auf den beiden Alternativen des

28 29 30

Martin, Brian: The Controversy Manual, 2014, S. 25. Vgl. Dennaoui, Youssef/Witte, Daniel: Streit und Kultur, 2008, S. 118-120; Gebhard, Gunther/ Geisler, Oliver/Schröter, Steffen: Streitkulturen, 2008, S. 21. Vgl. Freudenthal, Gideon: Controversy, 1998, S. 157.

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obrigkeitsstaatlich verordneten reinen Zwangs oder des Nebeneinanderlebens in isolierten Gruppen basieren soll. Eine Gesellschaft der pluralistischen Demokratie gründet sich demgegenüber weder auf der verordneten einen ›Wahrheit‹ oder der selbstgewählten Abschottung noch auf der bloßen Sehnsucht nach Harmonie und Konsens, sondern auf der Bereitstellung von Institutionen, Normen und Regeln zur gewaltfreien Austragung von Konflikten durch Streit.31 Selbst wenn dieser Streit nicht (unmittelbar) zu einem Ergebnis führt, kann seine institutionell geregelte Austragung doch zumindest als Überdruckventil fungieren, das die Gefahr des Umschlagens latenter Konflikte in Gewalttätigkeiten verringert. Aber warum wird in Fällen, in denen aufgrund der zu unterschiedlichen Überzeugungssysteme kaum eine sinnvolle Kommunikation möglich und ein konsensualer oder zumindest kompromisshafter Ausgang daher sehr unwahrscheinlich ist, überhaupt gestritten? Zunächst müssen Streitparteien nicht unbedingt das Ziel verfolgen, ihren Gegner zu überzeugen. Es kann ihnen ebenso wichtig sein, die Signalfunktion des Streits zu nutzen, um Mitgliedern der eigenen und der gegnerischen Partei sowie Dritten ihre Überzeugungen deutlich zu machen. Insbesondere wenn mit ihr eine deutungsmächtige Position angestrebt wird, kann diese Dissemination der Überzeugungen sogar im Zentrum einer Strategie stehen. Der Streit eignet sich hierfür besonders gut, weil er in der Abgrenzung zu anderen Positionen die eigenen Überzeugungen besonders scharf konturiert. Neben der Wirkung nach außen auf möglicherweise interessierte Dritte hat dies Auswirkungen nach innen. Streitparteien, die aus mehr als einer Person bestehen, zeichnen sich selten durch vollkommen homogene Überzeugungssysteme aus. Die für den Streit relevanten Überzeugungen nehmen zwar vermutlich eine ähnliche Stellung hinsichtlich Zentralität und emotionaler Aufladung in den Systemen der Mitglieder ein, kommen aber ansonsten kaum zur vollständigen Deckung. Streitpositionen sind eben keine monolithischen Blöcke, sondern Konglomerate aus verschiedenen Elementen, die immer wieder neu angeordnet, kombiniert, formuliert und mit anderen Positionen vermischt werden.32 Abgrenzung durch Streit erfüllt dann die Funktion einer stärkeren (Selbst-)Definition und internen Homogenisierung der streitenden Parteien und ihrer Positionen oder bringt manchmal überhaupt erst zuvor unverbundene Gruppen und Personen zusammen.33 Die Fokussierung auf einen Streitpunkt erhöht die interne Vereinheitlichung und Kohäsion der Streitpartei, sie erzeugt Gruppeniden-

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Vgl. Sarcinelli, Ulrich: Auf dem Weg in eine kommunikative Demokratie?, 1990, S. 35-37; Detjen, Joachim: Streitkultur, 2012, S. 45-48; Leggewie, Claus: Bloß kein Streit, 1990, S. 52-62; Coser, Lewis A.: The Functions of Social Conflict, 1956, S. 39-48. Vgl. Dascal, Marcelo/Chang, Han-liang: Crossing borderlines, 2007, S. XIVf. Vgl. Simmel, Georg: Soziologie, 1908, S. 251; Coser, Lewis A.: The Functions of Social Conflict, 1956, S. 139-149.

Über Ursachen und Folgen des Streits

tität und -grenzen.34 In der Perspektive eines Überzeugungssystemansatzes erklärt dies die Ausbreitung und Vereinheitlichung von Systemen. Nach Philip Converse weisen die meisten Menschen ein wenig konsistentes, eher vages und tendenziell idiosynkratisches Überzeugungssystem auf.35 Besonders konsistente, stark hierarchisch gegliederte und geschlossene Überzeugungssysteme seien hingegen nur bei einer kleinen Elite zu finden. Je nach gemeintem System können hierunter ganz verschiedene Personen fallen, sie ist jedenfalls nicht mit der in der jeweiligen Gesellschaft sozial konstruierten Elitenschicht gleichzusetzen. Elite in diesem Sinne ist immer eine theorie- und methodengeleitete analytische Konstruktion, die zum Zwecke der wissenschaftlichen Untersuchung mit Blick auf das Forschungsinteresse getroffen wird. Eine kleine Gruppe Eingeweihter mag beispielsweise bei der Erforschung eines bestimmten Überzeugungssystems als Elite zu bezeichnen sein, während zugleich ihre Einstellung zu anderen Themen relativ inkonsistent sein kann. Im Konflikt und insbesondere in dessen manifester Form des Streits sind die Überzeugungssysteme der Eliten vornehmlich dafür geeignet, in Konfrontation zu anderen Positionen zu stehen, eben weil sie nach Philip Converse konsistent und geschlossen sind. Der Kohäsionseffekt innerhalb der Gruppe führt dann zur Übernahme dieser Systeme durch die anderen Gruppenmitglieder. Die Effizienz und Effektivität der vormaligen Elitensysteme im Streit begünstigen ihre Übernahme durch die gesamte Gruppe. Auf diese Weise können im Konflikt individuelle Überzeugungssysteme zu kollektiven werden. Von einem solchen innerhalb der Gruppe geteilten Überzeugungssystem ausgehend kann etwa auch erklärt werden, warum, wie Lewis Coser konstatiert, die Intensität eines Streits mit der Stärke der Beziehung steigt.36 Die Mitglieder einer Gruppe weisen eine hohe Konvergenz ihrer Überzeugungen auf, was deren Existenz, Zentralität und Interdependenz betrifft. Folglich fallen auch geringfügige Differenzen viel stärker ins Auge, als dies bei Personen mit grundsätzlich unterschiedlichen Überzeugungssystemen der Fall wäre. Hier verliefen die beiden Systeme viel eher parallel und streitlos nebeneinander her. Eine Differenz zwischen Personen, die ein Überzeugungssystem weitgehend teilen, birgt zudem die Gefahr, eine substanzielle Erschütterung im gesamten System hervorzurufen und die Identität der Gruppe zu untergraben. Deshalb treten bei Streiten innerhalb solcher Überzeugungsgruppen Ausschlüsse oder Spaltungen häufiger auf, je konvergenter die sonstigen Überzeugungen der Mitglieder sind.

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Vgl. Simmel, Georg: Soziologie, 1908, S. 306-314; Coser, Lewis A.: The Functions of Social Conflict, 1956, S. 33-38, 87-95. Vgl. Converse, Philip E.: The nature of belief systems in mass publics, 2006, S. 66. Siehe auch Bishop, George D./Hamilton, David/McConahay, John B.: Attitudes and Nonattitudes in the Belief Systems of Mass Publics, 1980, S. 61-63. Vgl. Coser, Lewis A.: The Functions of Social Conflict, 1956, S. 67-72.

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Doch wie kann Streit, ob innerhalb oder zwischen Gruppen, in seiner Wirkung untersucht werden? Die unterschiedlichen Bestandteile von Streit lassen sich unter Zuhilfenahme der oben vorgestellten Überzeugungstypologie analytisch trennen und in einzelne Streitdimensionen einteilen. Diese Dimensionen treten in der Realität selten ausschließlich auf, sondern bilden in ihrer Kombination und Verklammerung den Komplex des Streits. Um jedoch Streit zu verstehen, kann die Trennung der Dimensionen zum Zwecke der wissenschaftlichen Untersuchung hilfreich sein. Dabei gilt: je mehr Überzeugungen eines bestimmten Typs in den Streit einbezogen sind, desto mehr tendiert der gesamte Streit zu der entsprechenden idealtypischen Dimension. Damit kann unter anderem ermittelt werden, welche Streitausgänge erwartbar oder wahrscheinlich sind. Streitdimensionen Streitdimension

Dominierender Überzeugungstyp

Typische Streitausgänge

Idealtypische Beispiele

Existentieller Streit

Existentielle Überzeugungen:(zentral, emotional aufgeladen)

– Erhöhung der internen Gruppenkohäsion – Umschlagen in Gewalttätigkeit – Etablierung von Deutungsmacht – Abbruch

Glaubensstreit, Ideologischer Streit

Prinzipieller Streit

Prinzipielle Überzeugungen: (zentral, wenig emotional aufgeladen)

– Sieg/Überzeugung einer Partei – Abbruch – Aufhebung – agree to disagree

Methodenstreit, wissenschaftliche Grundsatzdiskussion

Affektiver Streit

Affektive Überzeugungen: (peripher, emotional aufgeladen)

– gegenseitige Anerkennung – Abbruch – Vermittlung durch Dritte – Kompromiss

Beziehungsstreit, Streit über Geschmacksfragen

Pragmatischer Streit

Pragmatische Überzeugungen: (peripher, wenig emotional aufgeladen)

– Konsens/Klärung von Missverständnissen – Kompromiss

Verständnisproblem, Streit um Gewohnheiten

Quelle: Eigene Darstelllung

Über Ursachen und Folgen des Streits

4.

Auswirkungen von Streit auf das Überzeugungssystem

Nachzuvollziehen war hier bisher, wie Überzeugungssysteme und einzelne Typen von Überzeugungen in verschiedene Dimensionen von Streit involviert sind. Es wurde gezeigt, wie Überzeugungssysteme strukturiert sind, und es wurde eine mögliche analytische Trennung von Überzeugungstypen vorgeschlagen. Zuletzt wurden, daraus abgeleitet, mögliche Streitdimensionen unterschieden. Nun lässt sich dieser Einfluss von Überzeugungssystemen mit ihren einzelnen Typen von Überzeugungen auf Streit aber auch umgekehrt denken – ja es besteht ein reziprokes Transformationsverhältnis. Nicht nur die Überzeugungen wirken, beeinflussen und formen das Streitgeschehen sowie die Streitbereitschaft der Streitparteien, sondern auch der Streit wirkt auf die Überzeugungssysteme zurück. Um diesen Gesichtspunkt zu vertiefen, ist nun zu fragen, welche Transformationen von Überzeugungssystemen angesichts welcher Dimensionen von Streit und welcher Streitausgänge möglich bzw. wahrscheinlich sind. Denn es gibt verschiedene Streite, die offenkundig ganz verschieden enden. Ein Streit kann die Überzeugungen der Streitenden festigen oder sie eben auch in weiten Teilen labilisieren. Demnach kann unter dem Oberbegriff der Transformation auch so Unterschiedliches wie die Verstetigung, Stärkung, Abänderung oder Eliminierung von Überzeugungen verstanden werden. Welche Ausgänge es geben kann, ist eng verbunden mit der Frage, wie die Überzeugungssysteme transformiert werden können. Aufgrund der Vielzahl an denkbaren Streitausgängen müssen die nachfolgenden Überlegungen notwendigerweise exemplarisch und idealtypisch an der oben angeführten Typologie orientiert ausfallen. Will man den Einfluss von Streit auf Überzeugungssysteme betrachten, so lohnt sich zunächst allgemeiner zu bestimmen, was ein Streit eigentlich bei den Streitparteien auslöst, das heißt, welchen Effekt er bei den Streitparteien zeitigt. In den Überzeugungssystemen kommt es womöglich zu Transformationen oder auch zu Festigungen – wobei in den Streitparteien ein Streit zunächst einmal Zweifel auslösen dürfte. Mit Odo Marquard: »Der skeptische Zweifel ist […] jenes […] Verfahren, zwei gegensätzliche Überzeugungen aufeinanderprallen und dadurch beide so sehr an Kraft einbüßen zu lassen, daß der Einzelne […] als lachender oder weinender Dritter von ihnen freikommt in die Distanz, die je eigene Individualität.«37 Selbstverständlich können Streite verschiedene Ausgänge nehmen, doch interessiert uns im Folgenden insbesondere jener Streit, der in Zweifel versetzt. Ein Streit kann so geführt werden, dass er keine Zweifel hervorruft, doch transformiert sich 37

Marquard, Odo: Skeptiker, 1986, S. 7. Siehe auch: Sommer, Andreas U.: Die Kunst des Zweifelns, 2005, S. 10-12.

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darin das Überzeugungssystem nur sehr gering. Selbst eine Bestätigung von bestehenden Überzeugungen dürfte dann umso stärker ausfallen, je stärker der Zweifel war, durch den hindurch man nach Abwägungen, Überlegungen und Bedenken anderer Positionen zu den einst sicheren Überzeugungen zurückgekehrt ist. Bei einem Streit in Ungewissheiten und Zweifel zu geraten, ist keine Selbstverständlichkeit, weshalb diese Verknüpfung hier explizit hergestellt wird. Um also den Einfluss von Streit auf unsere Überzeugungssysteme zu betrachten, wählen wir den Umweg über die Verknüpfung von Streit mit Zweifel, da somit erst der eigentlich transformative Effekt des Streits, sein ›Stachel‹, herausgearbeitet wird. Der Fokus auf Lösungen des Streits im Folgenden erklärt sich somit eben durch ihre Bedeutungen für die Beseitigung dieses Stachels.38 Darüber hinaus plausibilisiert dieser Umweg unseren Ansatz, ein Wechselverhältnis zwischen der Dynamik der Transformation von Überzeugungssystemen und Streit anzunehmen, da erst über die Betonung des Zweifels als Bestandteil eines Streits deutlich wird, dass Streite eben nur in den wenigsten Fällen als rein faktisch geführte Auseinandersetzungen um und mit Argumenten anzusehen sind.

5.

Die Rolle des Zweifels

Überzeugungssysteme bedingen den Streit und so auch den Zweifel, der als Bestandteil des Streits gelten kann. Umgekehrt transformiert oder festigt der Streit durch den Zweifel ein Überzeugungssystem. Der Zweifel ist die intervenierende Variable zwischen dem Streit und dem Überzeugungssystem. Zweifel gibt es in vielen Formen und er hat in verschiedenen Traditionen eine bedeutsame Rolle gespielt.39 Wir begreifen Zweifel dabei als einen »Zustand der Unsicherheit […] der durch gleichzeitiges ernsthaftes Miterwägen«40 anderer, konträrer oder mitunter auch kontradiktorischer Überlegungen, Ansichten, Meinungen usw. bestimmt ist. Die Gegenstände des Zweifelns können dann ganz verschiedene sein. Man kann an verschiedenen Sachen zweifeln, so wie man über verschiedene Dinge streiten kann. So wie es Streitdimensionen gibt, gibt es Dimensionen des Zweifels. Gemäß der oben erörterten Streitdimensionen gehen wir davon aus, dass ein existentieller Streit auch existentielle Zweifel auslösen kann

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Sowie der Annahme, dass sich in gelöstem Streit die Transformationen der Überzeugungssysteme besser fassen lässt als im ungelösten. Vgl. Descartes, René: Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, 1992 [1641]; Hume, David: Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, 2015 [1748]; Wittgenstein, Ludwig: Über Gewißheit, 1989 [1969]. Löffler, Winfried: Zweifel, 2008, S. 704.

Über Ursachen und Folgen des Streits

und demnach jeder Dimension von Streit eine Dimension von Zweifel zuzuordnen ist. Worüber sich streiten lässt, daran lässt sich zweifeln – und umgekehrt. Zweifel kann uns auch dort begegnen, wo wir in eine Auseinandersetzung geraten und mit einer Verstehensanforderung konfrontiert sind, die erfordert, dass wir andere Inhalte, Standpunkte etc. als die bisher bekannten und geteilten aufnehmen, bedenken und an uns heranlassen. Wo diese neuen Inhalte nicht deckungsgleich mit den uns vertrauten sind, können sie Ungewissheiten auslösen und uns ins Zweifeln führen. Entsprechend den vier Streitdimensionen, die wiederum anhand der vier Typen von Überzeugungen gewonnen wurden, lassen sich ebenso Typen von Zweifel bestimmen und unterscheiden. So wie es existentielle Überzeugungen gibt, so können diese fraglich werden und eine existentielle Ungewissheit der eigenen existentiellen Annahmen kann entstehen. Dies ist etwa der Fall, wenn ich zweifle, ob ich denn eigentlich Herr im eigenen Hause bin41 oder mein Glaube an einen Gott plötzlich und unerwartet erschüttert wird. Weiterhin können Ungewissheiten ob der eigenen logischen Schlüsse und prinzipiellen Überzeugungen auftreten. Wenn ich nicht mehr sicher bin, ob dieses und jenes Prinzip etwa überhaupt logisch widerspruchsfrei zusammenpassen, so kann ich in eine Ungewissheit fallen, die mich ratlos und meine Prinzipien grundsätzlich hinterfragt zurücklässt. Sicherlich kann ich auch ins Zweifeln geraten über das, was ich alltäglich und im gewöhnlichen Zusammenleben mit anderen annehme. Meine pragmatischen Überzeugungen werden etwa dann brüchig und herausgefordert, wenn ich plötzlich bemerke, dass die andere Person mich gar nicht versteht und ich, womöglich ausgelöst durch einen Streit, bezweifle, dass die andere Person das unter einem Begriff versteht, was ich darunter verstehe. Zuletzt, so zumindest nach unserer hier erarbeiteten Typologie, kann ich auch an meinen affektiven Überzeugungen zweifeln, also in Ungewissheit darüber gelangen, ob mein Gefühl meine Erfahrung noch adäquat repräsentiert. Ein ad personam geführter Streit kann affektive Überzeugungen erodieren lassen, etwa wenn ich plötzlich in Unsicherheit darüber gerate, ob meine Gefühle in Bezug auf eine andere Person noch zutreffen. Nach Charles Peirce wollen solche Ungewissheiten schnellstmöglich ausgeräumt werden: »Doubt is an uneasy and dissatisfied state from which we struggle to free ourselves«42 . Wir ringen mit der Unsicherheit und sehnen uns danach, ins Überzeugtsein zurückzukehren, mit Peirce: »to free ourselves and pass into the state of belief«43 . Wie verändern nun also solche Ungewissheiten, die häufig

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Wie Sigmund Freud die letzte der drei diagnostizierten großen Kränkungen der Menschheit bezeichnet. Vgl. Freud, Sigmund: Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse, 1917, S. 1-7. Peirce, Charles S.: The Fixation of Belief, 1966 [1877], S. 99. Ebd.

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durch Streit überhaupt erst erzeugt werden, ein Überzeugungssystem und die Überzeugungen? Als Anhaltspunkt gelten uns die Streitformen und mögliche Streitausgänge. Es soll nachvollzogen werden, welche Transformationen oder eben auch ausbleibende Transformationen (unter den vielzähligen möglichen) bei verschiedenen Streitausgängen eher plausibel sind als andere. Doch hier ist Vorsicht angemessen. Wir nehmen Abstand davon, anzunehmen, auf diesen oder jenen Streitausgang würde diese oder jene Transformation folgen – denn dies wäre viel zu deterministisch gedacht. Ebenso wenig wollen wir vorschlagen, es gäbe aufgrund dieser und jener möglichen Transformationen in Überzeugungssystemen lediglich diese oder jene möglichen Streitausgänge – auch das wäre zu eingeschränkt. Wir versuchen lediglich eine Plausibilität herzustellen zwischen bestimmten ausgewählten Streitausgängen und bestimmten ausgewählten Dynamiken in und von Überzeugungssystemen. Das heißt, wir gehen von einer Korrelation aus. Es scheint uns wahrscheinlich, dass wenn diese und jene Transformation unseres Überzeugungssystems im Streit ansteht, dieser und jener Ausgang eines Streits wahrscheinlicher bzw. unwahrscheinlicher wird.

6.

Streitausgänge und Transformationsmöglichkeiten der Überzeugungssysteme

Die existentielle Dimension eines Streits kommt besonders dann zur Geltung, wenn über existentielle Überzeugungen gestritten wird, das heißt, wenn diese für eine oder beide Streitparteien ungewiss werden. Welche Ausgänge sind nun bei einem solchen Streit wahrscheinlich und wie verändern sie unsere Überzeugungssysteme? Ein existentieller Streit ist nie harmlos. Er wird ernst und mit Eifer geführt, als anstrengend wahrgenommen, da es in ihm ums Ganze geht. Er fordert persönlich heraus und wird daher mitunter auch hitzig ausgetragen. Bei diesem Streittyp besteht großes Interesse an Klärung, da er grundsätzlich und fundamental verunsichert zurücklässt. Lösungen eines solchen Streits sind erst dann Lösungen, wenn sie die ersehnte Beruhigung verschaffen. Dies ist etwa dann der Fall, wenn sich abzeichnet, dass die eigenen existentiellen Überzeugungen bestehen bleiben können bzw. sich bewähren. Stellt sich dieses Sicherheitsgefühl auf Ebene der existentiellen Streitdimension im Verlauf des Streits ein, so vervielfältigen sich die möglichen Streitausgänge für alle anderen Streitdimensionen. Können existentielle Überzeugungen bestehen bleiben, kann der Streit gewissermaßen zu einem prinzipiellen Streit abkühlen. Gegenseitige Akzeptanz wird dann beispielsweise wahrscheinlicher, Argumentationen ruhiger ausgetauscht und gewaltfreie Ausgänge aussichtsreicher. Zeichnet sich auf der anderen Seite ab, dass Veränderungen der eigenen

Über Ursachen und Folgen des Streits

existentiellen Überzeugungen nötig werden, ist womöglich eher mit einer Fight-orflight response zu rechnen. Als Ergebnis kann das erbitterte Festhalten an den eigenen Überzeugungen und damit verbundenen Standpunkten stehen, ein Versteifen auf die eigene Position ob der großen Änderung, die ein Verlust oder ein Abrücken davon implizieren würde. Daher sind Ausgänge wie ein Abbruch in solchen Streitkonstellationen nicht selten. Ein Abbruch des Streits ist dann wahrscheinlich, wenn er in zu großer Unsicherheit resultiert und die Kapazitäten fehlen, ihn zu führen. An diesem Punkt kann es aber auch zum Umschlagen des Streits in Gewalttätigkeit kommen. Von einem Sieg einer Streitpartei kann gesprochen werden, wenn sie erfolgreich ihre Deutungsmacht etabliert und ihr Überzeugungssystem zur allgemein anerkannten, unhinterfragten Orthodoxie aufsteigt. Dabei erfolgt eine Umdeutung der zentralen Konzepte im Sinne des siegreichen Überzeugungssystems, die jegliche Opposition verstummen lässt.44 Brechen hingegen doch, ob unter Gegenwillen oder mit Akzeptanz, die eigenen existentiellen Überzeugungen weg, so resultiert dies in Verwirrung, tiefer Erschütterung und womöglich einer daraus wiederum resultierenden fundamentalen Handlungsunfähigkeit, die auf die Fraglichkeit sonst selbstverständlicher Grundannahmen zurückzuführen wäre. Gelähmt und zutiefst verunsichert bleibt das Individuum, um wesentliche Orientierungsannahmen beraubt, gleichsam schutzlos ausgeliefert zurück. Existentielle Überzeugungen sind zentrale und emotional aufgeladene Knotenpunkte in unserem Überzeugungssystem. Wenn sie herausgefordert werden oder gar wegbrechen, sind immer auch andere Überzeugungen betroffen, die gleichsam miterodieren. Die Fraglichkeit existentieller Überzeugungen strahlt aus und bewirkt immer auch die Fraglichkeit vernetzter Überzeugungen. Gerade darum sind die Veränderungen in existentiellen Überzeugungen auch so gravierend und einschneidend. Wegen ihrer Vernetzung sind sie darüber hinaus nur sehr langsam zu ersetzen. Eine Ersatzüberzeugung muss sich bewähren und es benötigt Zeit, bis auch diese annähernd gleichermaßen vernetzt ist. Ein spontaner Austausch von existentiellen Überzeugungen ist daher nicht möglich. Aufgrund ihrer Vernetzung kommt ihnen außerdem eine zentrale Bedeutung in unserem Überzeugungssystem zu. Entsprechend ist es auch eher unwahrscheinlich, alle existentiellen Überzeugungen auf einmal zu revidieren, oder mit Charles Peirce: »We cannot begin with complete doubt. We must begin with all the prejudices which we actually have«45 . Und auch mit Ludwig Wittgenstein ließe sich behaupten: »Das Spiel des Zweifelns selbst setzt schon die Gewißheit voraus.«46 Ein Leben in vollkommenem Zweifel zu führen, ist unmöglich. Lösungen von Streit, in dem die

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Vgl. Britton, Karl: The Language of Controversy, 1941, S. 417. Peirce, Charles S.: Some Consequences of four Incapacities, 1966 [1868], S. 40. Wittgenstein, Ludwig: Über Gewißheit, 1989 [1969], S. 144 (§ 115).

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existentielle Dimension besonders thematisiert wird, setzen allerdings große Änderungsbereitschaft voraus und wo diese nicht gegeben ist, endet er oftmals, ohne eine Transformation der Überzeugungssysteme zu bewirken. Ähnlich verhält es sich mit prinzipiellem Streit. Auch prinzipielle Überzeugungen sind tief verankert und vernetzt, weshalb Änderungen an ihnen weitreichend und folgenreich wären. Allerdings sind sie, nach oben genannter Definition, weniger emotional geladen und im Umkehrschluss eher rational zugänglich. Entsprechend funktioniert ein mögliches Überzeugtwerden und damit auch der Streit anders, als wenn im Streit existentielle Überzeugungen herausgefordert werden. Im Streit über prinzipielle Überzeugungen spielen Logik und rationale Argumente eine große Rolle, wohingegen existentielle Überzeugungen nicht unbedingt logisch zugänglich sind, sondern vielmehr als persönliche Gewissheiten empfunden werden. Prinzipielle Überzeugungen können ähnlich tief verankert sein, sind aber im Regelfall kognitiv einfacher zugänglich und daher auch leichter veränderbar. Im Streit, in dem diese Überzeugungen besonders herausgefordert werden, spielt daher auch die Argumentation eine entscheidende Rolle. Die logische Vereinbarkeit der eigenen einzelnen prinzipiellen Überzeugungen wird angenommen und der Gegenbeweis kann zur Verunsicherung und zu Zweifel an den prinzipiellen Überzeugungen führen. Wird etwa in einem Streit die Frage aufgeworfen, ob diese prinzipielle Überzeugung überhaupt mit jener prinzipiellen Überzeugung zusammenpasst oder diese sich nicht gegenseitig ausschließen, so kann das in große Ungewissheit stürzen. Die Ausgänge eines solchen Streits können ganz verschieden sein. So kann es wegen des Bezugs zur Logik als eines Regelsystems klare Sieger oder Verlierer geben, etwa, wenn eine Partei des Fehlschlusses überführt ist. Das Bewähren der eigenen Schlussfolgerungen aufgrund prinzipieller Überzeugungen kann zur Stabilisierung der Überzeugungen führen. Umgekehrt führt der Verlust eines solchen Streits zur Verunsicherung der eigenen Prinzipien und prinzipiellen Überzeugungen. Da auch diese Überzeugungen aber stark untereinander und mit anderen Überzeugungstypen vernetzt sind, ist es unwahrscheinlich, dass alle zeitgleich aufgegeben werden. Die Einsicht von Widersprüchen mag demnach die Abkehr von eigenen Überzeugungen bedeuten und je nachdem, wie stark diese vernetzt und eingebunden waren, eine mehr oder weniger starke Irritation auslösen. Ein Abbruch ist bei einem Streit, in dem wesentlich über prinzipielle Überzeugungen gestritten wird, dann eher unwahrscheinlich, wenn es um ihre logische Vereinbarkeit geht – da diese geklärt werden kann. Allerdings ist der Abbruch nicht völlig unplausibel. Bedenkt man nämlich, dass prinzipielle Überzeugungen hier als stark vernetzt und damit verankert gedacht werden, so muss man zugestehen, dass Veränderungen die Bereitschaft zur Veränderung erfordern und, so diese nicht vorliegt, ein Abbruch des Streits ebenso ein möglicher und wahrscheinlicher Ausgang ist. Auch der Kompromiss übereinzustimmen, in dieser Angelegenheit

Über Ursachen und Folgen des Streits

keine Lösung zu finden (agree to disagree) ist wahrscheinlich, insofern auch damit keine Änderung des eigenen Überzeugungssystems verbunden ist. Außerdem ist eine Aufhebung eines Streits, bei dem wesentlich über prinzipielle Überzeugungen gestritten wird, möglich, etwa wenn ein den Streit lösendes Rahmenkonzept gefunden wird, bei dem zwar beide Seiten ihre Standpunkte behalten, diese jedoch in einen größeren Kontext eingebettet werden.47 Die einzelnen Überzeugungssysteme werden somit gewissermaßen auf ihren jeweiligen Platz innerhalb des Rahmenkonzepts verwiesen. In einem affektiven Streit werden die eigenen affektiven Überzeugungen thematisiert und herausgefordert. Affektive Überzeugungen sind emotional aufgeladene Überzeugungen, also Gewissheiten, die bei ihrer Aktivierung Gefühle evozieren. Dabei können ganz unterschiedliche Überzeugungen affektiven Anteil generieren, sofern sich mit ihnen ein Gefühl verbindet. Wie bei allen Streitfällen tritt nie nur eine Streitdimension exklusiv auf. Affektiver Streit zeichnet sich jedoch durch die Dominanz emotional aufgeladener Überzeugungen aus. Zu einem affektiven Streit kann es kommen, wenn die Gefühle, die mit bestimmten Überzeugungen verbunden sind, grundsätzlich divergieren. Sofern diese Divergenz der affektiven Überzeugungen zwischen zwei Personen auszumachen ist, kann es zum Streit darüber kommen, welche Überzeugung angemessen sei, etwa die Neugierde einer neuen Situation gegenüber oder doch die Angst, darin eine Verletzung zu erleben. Ein Streit kann aber auch zu einem affektiven Streit werden, in dem solche mit Gefühlen besetzten und damit eben affektiven Überzeugungen involviert werden. Dies wird besonders deutlich in Fällen, in denen affektive Überzeugungen einseitig eingebracht werden. Im Mikrokosmos der Paarbeziehung kann ein Streit über Unordnung dann etwa zu einem affektiven Streit werden, wenn es darin gar nicht länger darum geht, ob die Schuhe an ihrem vorgesehenen Platz stehen, sondern mit ihrem flüchtigen Abstellen im Flur der Verdacht verbunden wird, dass die mühevoll hergestellte Ordnung egal sei und – pauschal verallgemeinernd – die Mühen und Anstrengungen des Partners ja ohnehin viel zu wenig Wertschätzung bekämen. Weil es bei affektivem Streit insbesondere um die Anerkennung der jeweils eigenen Gefühle geht, selten jedoch um rationale Überzeugungen oder gar den Streitgegenstand selbst, gestaltet sich dessen Lösung schwierig. Ein möglicher Ausgang eines solchen Streits ist deshalb der Abbruch. Dieser ist insbesondere dann wahrscheinlich, wenn die affektiven Überzeugungen nicht vereinbar sind, was etwa dann der Fall ist, wenn bestimmte starke affektive Überzeugungen nur bei einer Partei vorliegen und der anderen Partei gänzlich fremd sind und bleiben. In einem affektiven Streit wäre aber auch die Vermittlung durch

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Vgl. Freudenthal, Gideon: Controversy, 1998, S. 157-159.

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Dritte ein alternativer Ausgang. In der Vermittlung können die implizit mitlaufenden affektiven Überzeugungen eines Streits offengelegt und thematisiert werden. Im Gespräch darüber können Missverständnisse ausgeräumt und die dem Streit zugrundeliegenden affektiven Überzeugungen ausgetauscht, bearbeitet und verändert werden. Dies ist die Voraussetzung für die Schlichtung eines affektiven Streits. Zuletzt ist auch der Kompromiss bei affektivem Streit ein wahrscheinlicher Ausgang, zumindest insofern dafür die Überzeugungen differenziert und somit die affektive Dimension des Streits separiert und von der sachlichen Ebene getrennt behandelt werden. Der Kompromiss wäre dann ein Zugeständnis sowohl an die sachliche als auch die affektive Dimension des Streits. Eindeutige Ausgänge hingegen, wie Sieg oder Niederlage, sind im affektiven Streit eher unwahrscheinlich, da es an den Kriterien mangelt, einen affektiven Streit zu entscheiden und affektiver Streit in der Regel nicht geführt wird, um Recht zu bekommen, sondern um Unmut auszudrücken und Anerkennung einzufordern. Man könnte nun meinen, dass ein pragmatischer Streit auch relativ schnell zu einer Lösung kommt, weil pragmatische Überzeugungen eben nicht sonderlich stark mit anderen Überzeugungen vernetzt sind. Allerdings sind viele pragmatische Überzeugungen stark beansprucht. Sie orientieren unser tagtägliches Handeln und werden daher häufig benutzt. Routinen beispielsweise beziehen sich zum Großteil auf pragmatische Überzeugungen, die irgendwann erfahren und erlernt wurden und seitdem gebraucht werden. Durch die häufige Wiederholung dieser Abläufe sind sie inkorporiert und fest eingeprägt, womöglich sogar stärker als durch ihre Vernetzung mit anderen Überzeugungen. Diese Überzeugungen aufzugeben dürfte daher relativ schwerfallen.48 Die möglichen Ausgangsformen sind demnach auch davon abhängig, wie funktional die Überzeugungen sind. Eine pragmatische Überzeugung bemisst sich wesentlich an ihrer Nützlichkeit, ihrem Nutzen für die (alltägliche) Handlungsorientierung. Wenn sie nach einem Streit nicht mehr gebräuchlich ist und ihre handlungsorientierende Funktion einbüßt, dann wird sie vermutlich auch relativ schnell ausgetauscht bzw. abgelegt. Missverständnisse etwa basieren oft auf nicht-funktionalen pragmatischen Überzeugungen, die wiederum auf Fehlwahrnehmungen zurückgehen. Pragmatischer Streit dient häufig zur Klärung solcher Missverständnisse. Streit über Funktionalitätsunterschiede kann durch Kompromisslösungen beendet werden. Da die Funktionalität das Entscheidungskriterium für pragma-

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Wie sich auch mit der Habitustheorie Pierre Bourdieus belegen ließe. Vgl. Bourdieu, Pierre: Sozialer Sinn, 1987, S. 98-105. Im Sinne der Deutungsmachttheorie könnten solche inkorporierten, unhinterfragten Gewohnheiten auch als Normalfall von Deutungsmacht bezeichnet werden.

Über Ursachen und Folgen des Streits

tischen Streit darstellt, kann der Streit um der Funktionalität Willen auch schnell zum Kompromiss gebracht werden.

7.

Schluss

Der Bezug auf das Konzept der Überzeugungssysteme kann helfen, das Phänomen Streit besser zu verstehen. Streit wird dabei als manifester, nicht gewalttätiger Unterbegriff des Konflikts verstanden. Die hier vorgestellten Überlegungen nehmen ihren Anfang in der These, dass Streit nicht erst mit der ausgebrochenen konfliktiven Auseinandersetzung beginnt, sondern ihm Überzeugungssysteme zugrunde liegen. Streit ist demnach immer ein Konflikt um Deutungen, die auf spezifische Überzeugungen zurückgehen. Daher ist es für ein Verständnis des Streits notwendig, ebendiese in ihren Eigenschaften, ihrem systematischen Zusammenhang sowie ihrer Dynamik, den Entstehungs-, Vergehens-, und Veränderungsprozessen, zu begreifen. Überzeugungssysteme als ›Linse‹ der menschlichen Weltwahrnehmung beinhalten dabei eng verkoppelte epistemische sowie normative Aspekte. Im Sinne einer analytischen Modellierung werden sie als interdependente Netzwerke aufgefasst. Die einzelnen Überzeugungen lassen sich vermittels der beiden Eigenschaften Zentralität und emotionale Aufladung idealtypisch in vier Typen einteilen. Allgemein gilt dementsprechend, dass die Intensität eines Streits sowie die Wahrscheinlichkeit bestimmter Ausgänge von der Menge geteilter Überzeugungen zwischen den Streitparteien und der Ausprägung ihrer Eigenschaften Zentralität und emotionale Aufladung abhängen. Die Betonung dieser Aspekte grenzt die hier vertretene Perspektive auch von den vorherrschenden rationalistischen Betrachtungen des Streits ab, die vor allem auf eine argumentative, vernunftorientierte Streitlösung abstellen. Streit, auch wenn er nicht wirklich an einer Überzeugung des Gegners interessiert ist oder Zweifel hervorruft, kann eine wichtige Rolle für die involvierte soziale Gruppe spielen, indem er zur Gruppenidentifikation und internen Kohäsion der Überzeugungen beiträgt. Anhand der konstruierten Streittypen lassen sich vier Streitdimensionen differenzieren, die als Teile real auftretenden Streits identifiziert werden können. In den Fällen, in denen der Streit in Zweifel versetzt, können anhand bestimmter Streitausgänge die verschiedenen Transformationen von Überzeugungen und Überzeugungssystemen herausgearbeitet werden. Beispielsweise führt ein gewonnener Streit zur Verstetigung herausgeforderter Überzeugungen und ihrer weiteren Vernetzung (Stärkung des Systemcharakters), während ein verlorener Streit die Änderung bestehender Überzeugungen und ihre Entkoppelung (Schwächung des Systemcharakters) von anderen zur Folge hat. Verstanden als Transformationskategorie lässt sich ein Kompromiss weiterhin als eine synchrone und parallel verlaufende Transformation der jeweiligen Überzeu-

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gungen zweier Streitparteien auf das gleiche Ziel hindeuten. Die Aufgabe mehrerer zentraler Überzeugungen auf einmal bei negativen Streitausgängen ist hingegen unwahrscheinlich, insofern dies als Verlust zentraler Selbstverständlichkeiten die Instabilität der jeweiligen persönlichen Orientierungsmöglichkeiten bedeuten würde. Insofern ist die Transformation des gesamten Überzeugungssystems einer Person als Ganzes unmöglich. Die Transformationen können aber auch Überzeugungen betreffen, welche die Positionierung gegenüber der anderen Streitpartei beinhalten. Der Ausgang einer Übereinstimmung im Dissens (agree to disagree) ist deswegen bemerkenswert, weil darin zwar nicht die umstrittenen Überzeugungen transformiert werden, aber sehr wohl die Überzeugungen über die andere Streitpartei – nämlich indem das eigene Überzeugungssystem in seinen Grenzen wahrgenommen wird und damit die Möglichkeit der Anerkennung des konfligierenden Überzeugungssystems und somit die Bedingungen für die Akzeptanz zwischen im Konflikt stehenden Gruppen geschaffen werden. Diese Transformation von Überzeugungen der Anerkennung anderer weist auch auf die große Relevanz des Streits hin, um gesellschaftliche Konflikte gewaltlos zu kanalisieren – umso mehr, je unterschiedlicher die vorhandenen Überzeugungssysteme sind. Wie die hier dargelegte Perspektive auf Streit anhand von Überzeugungssystemen zeigt, erschöpft sich die Wirkung des Streits dabei keineswegs in seiner äußeren Manifestation als Konfliktaustragung, sondern resultiert in einer teils weitgehenden Transformation von Überzeugungen, von Annahmen, Wahrnehmungen und Prinzipien der beteiligten Streitparteien. Umgekehrt gewährleisten geteilte Überzeugungen den Einstieg in einen Streit. Die Herstellung dieser beiden Bedingungen der Möglichkeit des Streits sind damit stetige Aufgabe und Herausforderung der Streitkulturen jeder liberalen und pluralistischen Gesellschaft sowie jeder zwischenmenschlichen Beziehung.

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Aufgeklärt streiten Linda Stiehm

Streit ist ein Phänomen zwischenmenschlichen Handelns, das häufig mit ambivalenten Assoziationen einhergeht: Einerseits ist Streit verbunden mit Uneinigkeit, die eine Kluft zwischen zwei Parteien erzeugt. Andererseits ist er auch das Mittel, das den Ausgleich herzustellen sucht. Wenn Streit nur das Symptom, nicht aber die Ursache für Meinungsverschiedenheiten ist, sollte dieser Möglichkeit der Schaffung von anschließender Einigkeit das größere Gewicht zukommen, wenn danach gefragt wird, wie mit Streit umgegangen werden sollte. Im vorliegenden Beitrag wird daher dafür plädiert, dass Streit ein notwendiges sowie empfehlungswürdiges Mittel zur Verhandlung von Auffassungsunterschieden darstellt – unter der Voraussetzung, dass er in einem dabei näher zu bestimmenden ›aufgeklärten‹ Rahmen stattfindet. Es soll mithin ein Verständnis von Streit Verwendung finden, dem bestimmte Vernunftüberlegungen ebenso wie die damit verbundene Wertschätzung von Vielfalt bereits inhärent sind und das nicht etwa, weil sie künstlich hineingelegt wären. Vielmehr ist Streit an sich in diesem Verständnis ein Mittel, das vernunftorientierten, insofern aufklärerischen Forderungen entspricht und dies sogar unabhängig vom Streitgegenstand und den Details seines Austrags. Es ist die äußere Form des Streits, die ihn als Konfliktaustrag so besonders macht.

1.

Zusammen leben, zusammen streiten – Teil 1

Streit ist wohl keine Erfindung der Menschheit. Das Internet erfreut seine Anwender zwar durchaus mit zahmen Tiervideos, doch ebenso lassen sich zahlreiche Aufnahmen von Zoobesuchern, Abenteurern und Experten finden, die zeigen, mit welcher Vehemenz auch andere Tiere für sich einstehen. Der Streitgegenstand kann dabei nahezu alles sein: Futter, Ruhe, Platz, Sexualpartner, der Rang innerhalb einer Gruppe. Nicht immer drehen sich Konflikte im Tierreich direkt um den Selbsterhalt oder die Weitergabe eigener Gene, auch zum Training wird gestritten, gekeift und gerangelt, was vor allem an Jungtieren zu beobachten ist. Die Minimaldefinition von Streit als eine auf einer spezifischen Differenz basieren-

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de Auseinandersetzung zwischen mehreren Parteien1 erfüllen Tiere damit allemal. In Gruppen lebende Tiere, der Mensch inbegriffen, streiten aber unter einer wichtigen Maßgabe, die das Phänomen Streit erst deutlich von anderen Formen des Konflikts unterscheidet. Der Blick ins Tierreich zeigt, dass vor allem Tiere derselben Art miteinander streiten können, während es nicht als Streit gelten kann, wenn ein Huhn einen Wurm frisst, auch wenn hierbei sicherlich Interessenverschiedenheiten vorliegen. Es dürfte sich ebenfalls um keinen Streit handeln, wenn ein Oktopusweibchen das Männchen, das sich ihm paarungsbereit nähert, mitleidslos angreift oder sogar verspeist. Die meisten Oktopusse sind schlicht ausgesprochene Einzelgänger. Das führt uns näher zu dem, was einen Streit so besonders macht: Wer streitet, möchte verhandeln. Nur dann, wenn der andere als potentieller Teil der Gruppe (an-)erkannt wird, wird der Möglichkeitsraum für Streit überhaupt eröffnet. Das ist auch der Grund dafür, warum Hunde Postboten anbellen oder sogar angreifen, Wölfe sich aber kaum für Menschen interessieren. Der Hund, seit Jahrzehntausenden an der Seite des Menschen, sieht in ihm ein potentielles Gruppenmitglied und verteidigt entsprechend vorsorglich sein Revier und seinen Rang gegen den möglichen Konkurrenten. Wer streitet, nimmt sich wechselseitig als relevant wahr, als vollwertiges Gegenüber. Und in dieser Erkenntnis liegt die Möglichkeit sowie das Ziel eines Streits. Die Ermöglichung von Streit ist gegeben durch das Aufeinandertreffen in etwa kräftegleicher Gegner2 , die das Ziel der Aushandlung, Schlichtung, des Kompromisses, letztlich der Befriedung des Unmuts anstreben. Die Ausgewogenheit der »Kräfte« muss dabei nicht in physischer Kraft bestehen, sondern generiert sich aus dem Interesse des Einen an dem, was der andere ihm bieten bzw. entgegensetzen kann. Nicht umsonst heißt es in dem geflügelten Wort über die Liebe, dass ihr Gegenteil nicht der Hass (und analog auch nicht der Streit), sondern die Gleichgültigkeit ist. Lebewesen, die gemeinsam einen begrenzten Lebensraum nutzen, geraten in Interessenkonflikte, und Streit ist eine Form der Aushandlung. Es wäre zwar möglich, andere Strategien zu verfolgen, etwa die Eliminierung aller Konkurrenten, aber die konsequente Umsetzung bezahlte der Letzte seiner Art unter anderem genau damit: Er wäre der Letzte seiner Art. Auch wenn die Strategie, Konkurrenten auszuschalten, nicht die klügste zu sein scheint, ist sie doch nicht verschwunden und wird nach wie vor angewandt3 , auch der Mensch kann sich hiervon nicht ausnehmen. Für soziale Tiere wirkt sich ein solches Verhalten umso fataler aus, als sie im Überlebenskampf aufeinander und eine funktionierende Gruppendynamik angewiesen sind.4 Streit

1 2 3 4

Dennaout, Youssef/Witte, Daniel: Streit und Kultur, 2015, S. 217. Metaphorisch: »You never see a fight between a cow and a cat«. Craig, Albert: Fukuzawa Yukichi, 2005, S. 706. Vgl. Sachser, Norbert: Der Mensch im Tier, 2020, S. 225. Vgl. ebd., S. 61.

Aufgeklärt streiten

hingegen ist ein Mittel, die Gruppendynamik stabil zu halten, selbst wenn es zunächst einen anderen Anschein erwecken mag. Bei in Gruppen lebenden Tieren werden deswegen auch die Streitgegenstände komplexer. Gestritten wird über unsoziales Verhalten, wenn Nahrung nicht geteilt wird, bei der Nahrungssuche nicht kooperiert wird oder sich mehrere Weibchen aus Eifersucht streiten – bei Pavianen greift dann das umschwärmte Männchen ein und streitet mit den wütenden Weibchen darum, dass sie sich untereinander vertragen sollen, ein Streit zweiter Ebene sozusagen.5 Und es wird um Gerechtigkeit gestritten, genauer um Verteilungsgerechtigkeit. Dieses so abstrakt erscheinende Prinzip ist in intuitiver Form auch für andere Tiere ein Grund zu wüten. Werden zwei Affen für gleiche Arbeit unterschiedlich belohnt, etwa ein langweiliges Stück Gurke versus eine leuchtende, pralle Traube, opfert der übervorteilte Affe lieber sein Stück Gurke, um sie nach dem Verteilenden zu werfen, als diese Ungerechtigkeit einfach im Raum stehen zu lassen.6 Eine funktionierende Gruppendynamik ist in diesem Fall anscheinend wichtiger, als etwas zu essen. Bemerkenswert ist, dass Streit nur in den seltensten Fällen Verletze hervorbringt. Drohende Gesten, Fauchen, Schreien, Anrempeln, Anknurren, die Haare aufstellen, Zähne zeigen, den anderen auf den Boden drücken, Schmollen, Arbeitsverweigerung, Liebesentzug, Anstarren, die Augenbraue hochziehen, all das und mehr gehört zur tierischen Streitkultur. Der Mensch, soweit es seine Physis zulässt, wendet diese Gesten nach wie vor in Streitsituationen an, doch können seine Streitgegenstände noch einmal komplexer und komplizierter sein. Hinzu kommt, unter dem Zeichen des globalen Zeitalters, dass nicht nur ein Haushalt, eine Nachbarschaft oder ein Dorf sich organisieren müssen, sondern auch Ansammlungen von mehreren Hundert bis Milliarden Individuen. Eine aufgeklärte Streitkultur könnte es ermöglichen, auch große Gruppen nicht friedlich, aber gewaltfrei zusammenzubringen, denn Menschen können auf eine Sprache zurückgreifen, die hoch abstraktes Streiten überhaupt nur möglich macht. Diese Sprache ermöglicht es, von sich selbst zu abstrahieren. Auch wenn es im Tierreich durchaus Empathie und Mitleid zu geben scheint7 , ist es erst durch komplexe Sprache möglich, Mitleid durch Vernunft in ihrer Wirkweise zu erweitern. Ganz ohne das Gefühl von Mitleid können zudem durch abstrakte Gedankenexperimente so-

5 6 7

Liebsch, Marika: Konflikte bei Affen. https://www.planet-wissen.de/gesellschaft/kommunika tion/konflikte/pwiestreitaufdemaffenfelsen100.html Dieses und weitere Beispiele anschaulich bei: de Waal, Frans: Moral behavior in animals. htt ps://www.ted.com/talks/frans_de_waal_moral_behavior_in_animals/up-next Siehe beispielhaft: De Waal, Frans/van Roosmalen, Angeline: Reconciliation and consolation among chimpanzees, 1979, S. 55-66.

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wie intersubjektiv einsehbare und vernünftige Überlegungen zumindest die ganz grundlegenden Regeln für die soziale Gruppe »Menschheit« begründet werden.8 Dass wir und wie wir im Einzelfall streiten, ist also nicht das Besondere an der menschlichen Streitkultur. Erst die Fähigkeit zur Reflexion und die damit eröffnete Möglichkeit, dem Phänomen »Streit« einen vernünftigen Unterbau zu geben, ermöglicht es, Streit auch in größerem Rahmen, etwa im Sinne einer demokratischen Streitkultur, nutzbar und nutzbringend zu machen.

2.

Streit als Form des Disputs

Einem Streit liegt stets ein Konflikt zugrunde, doch ist der Streit etwas von ihm Verschiedenes. Streit kann in Form eines Disputs ausgetragen werden, in dem sich ein Konflikt äußert und dadurch manifest wird.9 Konflikte werden durch den Disput jedoch noch nicht zur Gänze abgebildet, der Konflikt kann sehr viel tiefer reichen, als es der zugehörige Disput vermuten lassen würde; umgekehrt wird ein Streit manchmal sehr hitzig geführt, obwohl der Streitgegenstand banal ist. Das kann von der Vorgeschichte der Beziehung der Streitenden abhängen, aber auch von ihrem Charakter oder ihrer Tagesverfassung. Das bedeutet aber auch, dass Dispute enden können, ohne dass der eigentliche Konflikt behoben worden wäre. Streit, als gewaltlose, auf Einigung zielende Form des Disputs, bildet hier keine Ausnahme. Ein Scheinkonsens »um des lieben Friedens willen« mag manchmal verhindern, dass ein Streit zu einem Kampf wird und schiebt den Disput zu einem Zeitpunkt auf, an dem die Bedingungen hoffentlich andere geworden sind. Ein im Sinne dieses Beitrags ›aufgeklärter‹ Streit zielt aber in letzter Konsequenz auf eine tatsächliche Befriedung des Konflikts. »Aufgeklärtheit« ist hier keineswegs als ein exklusives Attribut einer bestimmten zeitlichen Epoche zu verstehen.10 So wenig wie sich Beginn und Abschluss eines »Zeitalters der Aufklärung« finden lassen, so wenig lässt sich die Aufklärung auf nur einen speziellen Wert oder nur eine thematische Linie reduzieren. Für Kant war seine eigene Zeit zwar kein aufgeklärtes Zeitalter, aber insofern ein Zeitalter der Aufklärung, als »die Hindernisse der allgemeinen Aufklärung, oder des Ausganges aus ihrer selbst verschuldeten Unmündigkeit allmählich weniger werden«11 . Historisch früher lässt sich eine »gründliche Besinnung auf die Er-

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9 10 11

Allerdings wird kaum eine Ethik ohne Gefühle als Motivation zu ethischem Handeln konzipiert, Vernunft wird vor allem für die Plausibilisierung und Legitimierung einzelner Normen gebraucht. Vgl. Frick, Marie-Luisa: Zivilisiert streiten, 2017, S. 38f. Namentlich das Zeitalter der Aufklärung, das auf ca. 1650 bis 1800 datiert wird. Kant, Immanuel: WA, AA 08: 40.24-26.

Aufgeklärt streiten

scheinungsformen des Vernünftigen […], wobei diese Besinnung ihrerseits schon vernünftig sein muß«12 , bereits in der europäischen Antike finden. Dies beinhaltet die prinzipielle Überprüfbarkeit von Behauptungen durch zureichende, also ebenfalls überprüfbare Gründe, welche eine Unermüdlichkeit in den Begründungsbemühungen gebietet.13 Keineswegs müssen oder sollen diese Bemühungen monologisch stattfinden – tritt der Gesprächspartner als Person doch hinter seinen Argumenten zurück. Ein jeder kann also Partner eines vernünftigen Dialogs sein, den er nicht durch seine Stellung oder rhetorische Gewandtheit, sondern nur durch die Güte seiner Argumente bereichert. Dieser Austausch kann durchaus auch in Form eines Streits vorliegen. So wünscht sich Prodikos, nachdem er Sokrates und Protagoras einige Zeit über die Lehrbarkeit von Tugend und die richtige Unterhaltungsweise hat streiten hören, dass die beiden weiter stritten – hatten sie sich doch zuletzt missmutig angeschwiegen und damit die vernünftige Aushandlung ihres Streitgegenstandes riskiert. Prodikos unterscheidet hier zwischen Streiten und Zanken, denn wohlmeinend streiten könnten auch Freunde mit Freunden, zanken hingegen nur die, welche sich uneinig und feindselig gegenüberstünden.14 Prodikos bittet also nicht um Zank, sondern explizit um Streit, den er als beste Möglichkeit zur Beilegung des Konflikts sieht. Bei bestehendem Konflikt ist Streit dem Schweigen also vorzuziehen und wird dadurch positiv gewendet. Bereits in der Antike wurde zwischen den verschiedenen Formen des Disputierens unterschieden und diese auf ihren Wert hin geprüft. Argumentationsverfahren, die nicht auf Wahrheitsfindung oder auch nur auf Schlichtung aus waren, sondern einzig das Rechthaben sichern oder das Übervorteilen Anderer möglich machen sollten, wurden stark kritisiert.15 Den richtigen Regeln folgend kann jedoch selbst ein fingiertes Streitgespräch, wie das zwischen Sokrates und Protagoras, wünschenswerte Effekte hervorbringen: Wenn das Denken in einem Streit zu argumentativem Handeln wird, kann es sich der argumentativen Kontrolle des Gesprächspartners stellen. Das bedeutet auch, dass im Verlauf des Disputs Positionen revidiert werden können.16 Rhetorisches Handeln aber, z.B. in Form der Eristischen Dialektik, als »die Kunst zu disputieren, und zwar so zu disputieren, daß man Recht behält, also per fas et nefas (mit Recht und mit Unrecht)«17 , schließt Revision aus. Das Interesse dahinter ist nicht Aushandlung, sondern »Eitelkeit: wahr soll falsch und falsch 12 13 14 15 16

17

Mittelstrass, Jürgen: Neuzeit und Aufklärung, 1970, S. 17. Vgl. ebd. Vgl. Platon: Protagoras 337 b. Etwa von Aristoteles: Sophistische Widerlegungen, 1883. Vgl. auch Geiger, Rolf: sophistikê/ Sophistik, 2005, S. 530f. Zu einem modernen Vergleich und einer Einordnung von rhetorischem und argumentativem Handeln an einem praktischen Beispiel siehe auch: Schimmelfennig, Frank: The Community Trap, 2001, S. 47. Schopenhauer, Arthur: Die Kunst, Recht zu behalten, 2009, S. 10.

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soll wahr scheinen.«18 Streitgespräche erscheinen damit als besondere Form des Streits, der argumentativ geführt wird, sich also vor allem der Sprache bedient. Da wir aber Intention und Ziel unseres Gegenübers nicht ohne weiteres erkennen können, bleiben wir ohne eine genauere Analyse der Argumentstruktur unwissend zurück, ob es sich um ein vollwertiges Streitgespräch oder um ein rhetorisches Spiel um Eitelkeiten, Rechthaben und Macht handelt.

3.

Vernünftig streiten

Empirisch lässt sich das Phänomen »Streit« also nicht ohne Weiteres als solches identifizieren. Ein bestimmendes Charakteristikum des Streits, das ihn von anderen Formen des Konfliktaustrags unterscheidet, ist die Intention der Streitenden, doch die vollständige Erkennbarkeit des mentalen Innenlebens anderer Entitäten ist unerreichbar. Soll nur dann von Streit gesprochen werden, wenn eine Schlichtung oder Einigung angestrebt wird, so ist es möglich, dass auch dann faktisch gestritten wurde, wenn die Intention zwar bei allen Teilnehmenden vorhanden war, aber keine Einigung gefunden werden konnte. Umgekehrt wäre denkbar, dass einer der Akteure eines vermeintlichen Streits nur vorgibt, nach für alle annehmbaren Lösungen zu suchen, aber eigentlich andere Interessen verfolgt, etwa nur seine eigene Position zu stärken. Da beide Fälle möglich sind, ist es schwierig, ein empirisch erkennbares Merkmal zu finden, das einen Streit auszeichnet. Sehr wohl aber lassen sich Kriterien ausmachen, die der Intention und damit dem Ziel eines Streits – Einigung oder Schlichtung, und in größerem Rahmen das gerechte und friedliche Zusammenleben – sowie der positiven Wendung des Phänomens eher gerecht werden als andere. Diese Kriterien sind es, die die Rede von einer Streitkultur erst ermöglichen. Nun sollen die zugehörigen Regeln zwar recht allgemein Gültigkeit beanspruchen können, lange erprobte und funktionierende Streit-Routinen jedoch nicht abwerten. Wie eingangs gezeigt wurde, kann Streit durchaus auf einer intuitiven Ebene und sogar ohne (viele) Worte, gemessen an Intention und Ziel von Streit, für die Beteiligten funktionieren. Gesucht werden demnach rahmende Kriterien einer Streitkultur, und das Projekt der Aufklärung bietet sich bei dieser Suche auf Grund eines ähnlich gelagerten Interesses besonders an. Dies wiederum führt zur Vernunft als erhellendes Mittel der Wahl. Die historische Epoche der Aufklärung wird allerdings durchaus kritisch betrachtet, steht sie doch mit der Moderne als scheinbar praktisch gewordene Aufklärung in Verbindung und somit mit den historischen Zivilisationsverbrechen des

18

Ebd., S. 11.

Aufgeklärt streiten

Westens. In diesem Kontext ist der Vernunft in Form einer instrumentellen Vernunfthörigkeit verstärkt seit Mitte des letzten Jahrhunderts eine inhärente Selbstzerstörung diagnostiziert worden.19 Dies verfehlt sowohl das Anliegen vieler Aufklärer als auch die theoretischen Inhalte ihrer Schriften. Stattdessen wurden häufig die Grenzen der Vernunft reflektiert. Viele Aufklärer haben sogar immer wieder auf die Bedeutung dessen hingewiesen, was jenseits der Vernunft liegt: Erfahrung, Empfindlichkeit, Gefühle, Sinneseindrücke, Glauben und sogar auf Esoterik, Geisterglauben und höhere Weltweisheit. Die hier relevanten Stränge der europäischen Aufklärung fordern aus Vernunftgründen einen gesellschaftlichen und politischen Rahmen, der einen Streit erst möglich macht: Varianten von Freiheit, Gleichheit, Solidarität. Zu fordern, dass Menschen streiten statt kämpfen sollen, heißt auch, fordern zu müssen, dass Freiheit und Gleichheit garantiert werden – die Solidarität mag auf dem Fuße folgen. Eine Streitkultur kann nur dort ent- und bestehen, wo die Akteure eines Konflikts sich als gleichwertige Personen begegnen können. Der Gebrauch der Vernunft soll daher eine »universelle Farbenblindheit«20 herstellen, welche die Gleichrangigkeit an erster Stelle garantiert. Solche Überlegungen haben durchaus ihren Eingang in die Realität gefunden, wie das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland zeigt: Artikel 1, Abs. I, Satz 1 ist an Kants kompromisslose Vernunftethik angelehnt: »Die Würde des Menschen ist unantastbar« leitet sich aus der Objektformel, die die Überlegungen zur praktischen Vernunft bei Kant aufgreift, ab.21 Die abstrakte Selbstzweckformel Kants, nach der jeder Mensch Zweck an sich ist und niemals bloß als Mittel zu Zwecken Anderer benutzt werden darf22 , beruht auf der Natur des guten Willens, der sich qua Vernunft die Regeln selbst vorgibt und entsprechend »praktische Vernunft« ist.23 Sie garantiert somit die egalitäre Basis, auf der Streit als solcher sich nur realisieren kann.

19 20 21

22 23

Vgl. etwa: Adorno, Theodor W./Horkheimer, Max: Dialektik der Aufklärung, 1969. Kritisch dazu: Diner, Dan: Aufklärungen, 2017, S. 11ff. Diner, Dan: Aufklärungen, 2017, S. 14. U.a. »Die Vernunft bezieht also jede Maxime des Willens als allgemein gesetzgebend auf jeden anderen Willen, und auch auf jede Handlung gegen sich selbst und dies zwar nicht um irgendeines andern praktischen Bewegungsgrundes oder künftigen Vorteils willen, sondern aus der Idee der Würde eines vernünftigen Wesens, das keinem Gesetze gehorcht, als dem, das es zugleich selbst gibt. Im Reich der Zwecke hat alles entweder einen Preis, oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes, als Äquivalent, gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde.« Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. AA IV, S. 434. Ebd., S. 429. Ebd., S. 412.

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4.

Worüber streiten?

Der Mensch ist kein reines Verstandeswesen ohne sinnliche Attribute24 , er funktioniert nicht starr nach den Gesetzen der Logik oder Vernunft. Vielmehr ist es so, dass es größeren Aufwand, Anstrengung und bisweilen Mut erfordert, vernünftig zu handeln. Ist ein Handeln schnell, instinktiv oder emotional – und menschliches Handeln gestaltet sich auf diese Weise wohl die meiste Zeit des Tages25 – entspricht es höchstens zufällig dem vernünftigen Sittengesetz und zwar immer dann, wenn Gefühl und Vernunft zu gleichen Schlüssen kommen. Da wir beim müden Feierabendeinkauf, beim schnellen Online-Shopping oder beim ausgelassenen Einkaufsbummel mit Freunden weder die widrigen Umstände sehen, unter denen unsere Waren häufig produziert werden, noch die zukünftigen Auswirkungen unseres Konsums akut spürbar sind, ist dies in solchen Fällen aber unwahrscheinlich. Das gilt auch für alltägliche Themen. Streiten sich Paare um herumliegende getragene Socken, muss der Ordnungsfreund davon ausgehen, dass keine Absicht, keine Überzeugung, sondern der Autopilot 26 hinter den textilen Relikten steckt. Abgesehen von den Fällen, in denen der verärgerte Partner nie gelernt hat, wie sich Konflikte gewaltfrei austragen lassen, muss der Verursacher der Unordnung aber nicht befürchten, für seine Tat ernstlich verletzt zu werden. Der Ordnungsliebhaber wird das in seinen Augen grenzüberschreitende Verhalten jedoch sanktionieren und seinen Partner den Unmut spüren lassen. Der Ausgang des begonnenen Streites ist völlig offen. Der Partner kann sofort mit Einsicht reagieren und dem eigentlichen Streit somit zu entgehen versuchen, er kann aber auch eine Grundsatzdiskussion beginnen. Der dann folgende Streit kann laut oder leise, ruhig oder vehement, auf emotionaler oder abstrahierender Ebene geführt werden, er kann sehr konkret oder ausufernd sein, voller Verständnis oder Unverständnis, Ziel bleibt aber, solange weiter von Streit gesprochen werden soll, immer die Versöhnung. Beim zwischenmenschlichen Streit kann diese auch durchaus unproduktiv in Bezug auf den Streitgegenstand ausfallen und der Stress durch bindungsfördernde Interaktionen abgebaut werden (eine lange, feste Umarmung beispielsweise). Lässt sich der Streit aber nicht schlichten, kann im schlimmsten Fall die Beziehung zum Anderen stark darunter leiden. Das wiederum hat negativen Einfluss auf den Verlauf

24 25 26

Ebd., S. 453. vgl. Kahneman, Daniel: Schnelles Denken, langsames Denken, 2015, S. 31ff. Gemeint ist hier das kognitive System, das Verhaltensökonomen mit dem »System 1« bezeichnen und für das schnelle, automatische Handeln zuständig ist und in dem spontan Eindrücke und Gefühle entstehen. Bewusstes, logisches Denken und das bewusste Kontrollieren von Handlungen wären hingegen dem mit mentalem Mehraufwand verbundenem System 2 vorbehalten. Vgl. ebd.

Aufgeklärt streiten

weiterer Streitfälle. Es zeigt sich, dass der Vertrauenskredit dabei hilft, Streitigkeiten schnell und schadlos zu schlichten.27 Eine erste mögliche Antwort auf die Frage nach den Streitgegenständen wäre also der Hinweis auf die oft nicht intendierten Grenzüberschreitungen in lebensweltlichen wie moralischen Gefilden. In gewissen Situationen stehen uns die Konsequenzen unseres Handelns entweder nicht klar (genug) vor Augen oder wir können nicht wissen, wo die Grenze des Wohlbefindens bei unseren Mitmenschen beginnt. Ein Streit kann in beiden Fällen für die nötige Aufmerksamkeit sorgen und einen ohnehin bestehenden Konflikt somit bearbeitbar machen, so anstrengend einem der Streit auch vorkommen mag. Schließlich zwingt er zum Verlassen des automatischen Modus’ und ermöglicht es, Bedürfnisse aufzudecken und nachhaltig zu verhandeln. Dabei ist es nicht von Belang, ob wir uns mit einer Gruppe Aktivisten um den Kauf ethisch vertretbarer Waren streiten oder mit unserem Partner um eine aufgeräumte Wohnung. Vielleicht haben wir eine innere höhere Motivation, jeweils dem einen oder dem anderen mehr entgegenzukommen, doch ohne den Streit wäre es gar nicht möglich, eigene Überzeugungen mit denen anderer Menschen zu verhandeln.28 Es kann und sollte über all das gestritten werden, was sich entweder nicht (eindeutig und schnell) mit Vernunft verhandeln lässt und über das, was nicht aus vernünftigen Überlegungen heraus gewollt und getan wurde, sondern z.B. aus Gewohnheit, unbewussten Entscheidungen u.ä.

5.

Vernunft verhindert keinen Streit

Streit hat einen Wert an sich. Diese These baut auf den Überlegungen zu der Unumgänglichkeit der Existenz von Konflikten auf. Wenn Konflikte unvermeidlich sind, dann ist Streit die beste Form der Aushandlung. Müsste nun aber ein aufgeklärter Streit nicht bedeuten, den Streit streng nach als vernünftig erkannten Maximen zu führen und zu beenden? Und wäre es dann nicht möglich, jeden Konflikt, bevor es zu einem Streit oder einem anderen Konfliktaustrag kommt, an eine Stelle auszulagern, die nichts anderes macht, als starr nach diesen Regeln den vernünftigsten Ausgang zu bestimmen? Ein weiterer Konflikt, an dem sich zeigen lässt, dass einerseits Vernunft nicht automatisch einen Konflikt löst, sondern nur das beste Mittel und die Rahmenbedingungen für die Aushandlungen finden lässt, und dass es andererseits von außen besehen gar nicht so leicht ist, festzustellen, wer noch streitet und wer wohl an-

27 28

Sachse, Rainer: Konflikt und Streit, 2017, S. 41. Deswegen finden Paartherapeuten Eheleute besonders problematisch, die nach eigener Aussage nie streiten. Konflikte bestehen in den meisten Fällen trotzdem. Vgl. ebd., S. 48.

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dere Interessen als die faire Aushandlung verfolgt, findet sich in der Epoche der Aufklärung selbst: Der sogenannte Lavater-Streit. Dieser Streit ist zwar allein schon aus geisteswissenschaftlicher Sicht interessant29 , an dieser Stelle soll es aber um die Form gehen. Moses Mendelssohn ist einer seiner Protagonisten, und was dem deutschen Philosophen (Kaufmann, Dichter, Schriftsteller u.a.) zugemutet wurde, lässt sich eher an der Form des Streits und nicht am Inhalt festmachen. Im Oktober 1769 erhält Mendelssohn eine Teil-Übersetzung der »Palingénésie philosophique«, eine geisteswissenschaftliche Entwicklungstheorie der lebendigen Wesen von Charles Bonnet, in deren letzten Kapiteln eine biologische Theorie mit dem christlichen Gottesglauben verbunden wird. Der Züricher Theologe Johann Kaspar Lavater stellt Mendelssohn den von ihm übersetzten Teil unter dem Titel »Philosophische Untersuchung der Beweise für das Christentum« nicht ohne Hintergedanken zur Verfügung. Lavater sieht in Bonnets Werk nichts weniger als den Beweis über die Richtigkeit seiner Religion – des Christentums.30 Mendelssohn, selbst jüdischen Glaubens, schätzt Bonnet als Naturforscher, dürfte aber von der Widmung Lavaters überrascht gewesen sein. Denn dieser widmet Mendelssohn das Buch und offenbart in dieser sein eigentliches Anliegen: Mendelssohn soll auf Grundlage der ihm vorgelegten Schrift versuchen, die Argumente für die Richtigkeit des Christentums zu widerlegen und wenn er das nicht kann, nichts weniger als seinen jüdischen Glauben aufgeben und zum Christentum konvertieren.31 Mendelssohn bringt das, vermutlich von Lavater intendiert, in ein Dilemma. Er kann als Jude in seiner Zeit unter einer verengten deutsch-christlichen Leitkultur nicht folgenlos versuchen, das christliche Glaubensfundament zu widerlegen, seinen eigenen Glauben unüberzeugt aufzugeben, ist jedoch ebenfalls keine Option. Bliebe noch die Möglichkeit, Lavaters Aufforderung zu ignorieren, doch für den aufklärerischen Denker ist das Ausweichen dieses wissenschaftlichen Streites, zumal bereits in die Öffentlichkeit getragen32 , nicht der rechte Weg. Mendelssohn jedoch hält den je eigenen Glauben für Privatsache. Zusammen mit seinem guten Freund Gotthold Ephraim Lessing setzt er sich zeitlebens für Toleranz unter den Anhängern verschiedener Glaubensrichtungen ein. Trotz dessen Mendelssohn als Philosoph hochgeschätzt wird, hoffen viele christliche Gelehrte darauf, dass er sich mit der Zeit dem Christentum annähern und konvertieren würde. Lavaters 29 30 31 32

Siehe etwa: Jacobs, Robert A.: A Jewish Reading of Moses Mendelssohn’s Response to Lavater, 2000, S. 91. Vgl. Luginbühl-Weber, Gisela: Johann Kaspar Lavater – Charles Bonnet – Joseph Benelle, 1997, S. 10. Mendelsohn, Moses: Gesammelte Schriften, 1930, S. 3. Lavater hatte seine Bonnet-Übersetzung bereits veröffentlicht, bevor Mendelssohn auf die Widmung hatte reagieren können. Vgl. Michaelis-König, Andree: Mendelssohn, Lavater, Lessing, 2019, S. 280.

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wahre Intention, ob er nun philosophisch-theologische Absichten hatte oder auf eine Bekehrung Mendelssohns hoffte, lässt sich in einer Spurensuche nur mühsam und wenig eindeutig rekonstruieren. Zu versuchen, unter der Berufung auf Naturwissenschaft und Vernunft jemandes tiefste Überzeugung, jemandes Glauben ungeachtet aller Folgen belasten zu wollen, wäre demungeachtet nur scheinbar ein aufklärerisches Unterfangen. In diesem Fall erschwerte der Disput die Emanzipation von vorherrschenden Überzeugungen und versucht mehr über äußeren Druck als über gute Argumente zu überreden, wenn nicht sogar dazu zu nötigen, eine andere Meinung als die eigene öffentlich zu vertreten. Und auch wenn die aus Lavaters Forderung erwachsende Debatte stellenweise als der »Lavater-Streit« bezeichnet wird, ist es fraglich, ob hier die Schlichtung eines Interessenkonfliktes angestrebt war. Ein sinnvoller Streitgegenstand ist jedenfalls schon dadurch nicht gegeben, dass Mendelssohn in seinem eigenen Glauben nicht den einzigen gangbaren Weg zur Erlösung sah. Von der Person Mendelssohn ging keine Gefahr für Lavaters Glauben aus. Lavaters Aufforderung und auch weitere darauf bezugnehmende Schreiben verschiedener Autoren an Mendelssohn waren somit keine Reaktion auf eine soziale oder theologische Grenzüberschreitung Mendelssohns, sondern zielten eher auf das Durchsetzen eigener Interessen – ohne Rücksicht auf die Wunden, die sie ihrem Gegenüber damit zufügten. In der Tat geht der Streit, der zunächst keiner ist, für Mendelssohn nicht gut aus. Er schafft es zwar, seiner toleranten Haltung treu zu bleiben und diese geschickt in seinen Antworten an Lavater zu verpacken, doch das anfängliche Duell extendiert, immer mehr Akteure betreten die Szene und es entbrennt ein Kulturkampf zwischen Christentum und Judentum, bei dem auch starke antisemitische Aggressionen ihren Ausdruck finden. Mendelssohn selbst hält eine aufgeklärte Streitkultur hoch indem er durchweg seine tolerante Haltung beibehält und beendet im Jahr 1771 in einem letzten Brief den Zwist mit dem Appell, den alten Religionshass zwischen Juden und Christen aus der Welt zu schaffen und das beste beider Religionen anzunehmen.33 Die jahrelange Debatte, in der manche gestritten und andere bloß Zwietracht gesät hatten, hat Mendelssohn viel Kraft gekostet. Das Umfeld, in dem er sich befand, war keines, in dem Konflikte frei von der Angst vor Macht(-missbrauch) und Gewalteinsatz ausgetragen werden konnte und das anstrengende Austarieren des schmalen Grades zwischen dem, was gesagt werden durfte und dem, wovon Mendelssohn überzeugt war, dürfte an seinem psychischen und physischen Zusammenbruch im gleichen Jahr des letzten Briefes nicht unbeteiligt gewesen sein.34

33 34

Vgl. Geier, Manfred: Aufklärung – Das europäische Projekt, 2012, S. 198. Zu einer detaillierten Beschreibung und modernen Diagnose für Mendelssohns Leiden siehe: Schwarz, Hans-Joachim/Schwarz, Renate: Moses Mendelssohn und die Krankheit der Gelehrten, 2014, S. 161.

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Der Verlauf des Lavater-Streites macht deutlich, wieso ein Verweis auf die Vernunftfähigkeit des Menschen das Vorhandensein von zwischenmenschlichen Konflikten nicht unplausibel macht. Selbst in der Epoche der Aufklärung, zwischen Personen, die sich der Aufklärung verpflichtet hatten, entstehen Konflikte durch unser Wollen, dass sowohl von der Vernunft als auch durch Neigungen und Interessen geformt wird35 . Das wäre eine weitere mögliche Antwort auf die Frage, warum überhaupt Streitgegenstände existieren: Menschliche Interessen sind nicht immer vernünftiger Art. Die Vermittlung zwischen diesen Interessen kann zwar vernünftiger Natur sein, weil sie etwa vernünftigen Prinzipien Folge leistet; dass ein Streit aber überhaupt entsteht, ist dadurch nicht zu verhindern. Der Wert von Toleranz für eine aufgeklärte Streitkultur kann ebenfalls kaum überschätzt werden, wie Lavater im negativen und Mendelssohn im positiven Sinn demonstrieren. Eine tolerante Haltung sollte ursprünglich ein Nebeneinander verschiedener Glaubensrichtungen ermöglichen, um gewaltsame Auseinandersetzungen vermeiden zu können.36 Diese Haltung lässt sich gut übertragen auf die unterschiedlichsten Weltanschauungen und eröffnet die Möglichkeit, auch über tiefsitzende Überzeugungen und zugehörige Handlungen zu reden und sogar zu streiten, ohne die (Menschen-)Rechte des Gegenübers zu verletzen.

6.

Der Wert von Dissens

Auch wenn es lebensweltlich ausgesprochen schwierig zu sein scheint, einen Konflikt zu verhindern, selbst wenn versucht wird, vernünftig zu handeln, könnte es theoretisch möglich sein, durch eine bestimmte Form der Vernunft den Konfliktaustrag stark zu verkürzen. An diese Überlegung anschließend gibt es, speziell eine liberale Demokratie betreffend, zwei Ansichten, die sich hier gegenüberstehen: Einerseits die Überzeugung, politische Konflikte würden sich in Konsens auflösen (und damit befrieden) lassen, andererseits das postulierte Erfordernis, Meinungsverschiedenheiten in kultiviertem Dissens auszutragen. Erstere nehmen als deliberative Demokratietheorien an, dass es einen vernunftorientierten, öffentlichen Austausch von Argumenten erfordert, um Interessenkonflikte auszugleichen. Bei strukturellen Theorien deliberativer Demokratie bezieht sich dies vor allem auf die Errichtung von Institutionen, wie es z.B. nach John Rawls der Fall sein müsste.37 Bei substanziellen Theorien wird die konsensorientierte Deliberation weiter gefasst. Hier handelt es sich um die »Idee der freien und vernunftgeleiteten Ausbil-

35 36 37

Horn, Christoph: Die Menschheit als objektiver Zweck, 2004, S. 202. Vgl. Weissberg, Liliane: Toleranzidee und Emanzipationsdebatte, 2015, S. 363. Siehe dazu: Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1979.

Aufgeklärt streiten

dung des gemeinsamen Willens«.38 Unter idealen Bedingungen, unter denen alle Betroffenen eingebunden ohne Zwang diskutieren würden, sollte nach einer gewissen Zeit ein vernünftiger Konsens gefunden werden. Anders als in einem Streit ist das Ziel der Deliberation nicht vordergründig die Schlichtung des Streits durch wechselseitiges Abstimmen und Ausloten der Grenzen des Gegenübers, sondern das Finden einer vernünftigen Lösung, der alle (vernunftbegabten) Personen zustimmen können müssten.39 Nicht die pure Übereinstimmung setzt dem Prozess ein Ende, sondern erst die Vernunft setzt den Maßstab für den »wahren« Konsens.40 Letztlich wird hier nur dem Umstand Rechnung getragen, dass die Vernunft nicht wie eine unendlich schnell wirkende und alles erfassende Kraft einen Konflikt beenden kann, bevor er begonnen hat, sondern Zeit und den Austausch von Meinungen benötigt, um wahrlich wirksam zu werden. Sie bestimmt jedoch weiterhin nicht nur die Mittel, sondern auch die Güte des Ergebnisses eines Konfliktaustrags. Für einen aufgeklärten Streit ist das aber nicht ausreichend. Die kommunikative Vernunft greift hier zu kurz, wenn auch weniger vernünftige Bedürfnisse zu ihrem Recht kommen sollen. Es existieren, wie gezeigt wurde, Konflikte, für die es wohl keine vernünftige Lösung geben kann, der alle zustimmen müssten, solange sie nur guten Willens und bei Verstand wären. Chantal Mouffe folgend werden durch das Kriterium der Rationalität Konflikte dann nur scheinbar gelöst, da es die guten Kräfte innerhalb des politischen Scheinkonsenses von den bösen Kräften, die sich dem Konsens verweigern, trennt. Es verunmöglicht jede Streitkultur, wenn »der Gegenspieler nur als zu vernichtender Feind wahrgenommen«41 werden würde und Gewalt zu einem vorstellbaren Mittel wird. Es ist unwahrscheinlich, auf diesem Weg eine Einigung zu erzielen, wenn die Bedürfnisse einer Partei von vornherein als nichtig erklärt werden. Mouffe entfaltet stattdessen eine agonistische Struktur von Dissens, dem ein konfliktualer Konsens zugrunde liegt: Der demokratische Rahmen wird von allen akzeptiert, Konflikte werden gewaltfrei innerhalb dieses Rahmens ausgetragen. Das macht aus Feinden Gegner, die sich als legitime Kontrahenten achten, ohne ihre Auffassungsunterschiede beilegen zu wollen.42

38 39 40 41 42

Habermas, Jürgen: Im Sog der Technokratie, 2013, S. 69. Habermas, Jürgen: Faktizität und Geltung, 1998, S. 138. Vgl. Frick, Marie-Luisa: Zivilisiert streiten, 2017, S. 27. Mouffe, Chantal: Über das Politische, 2007, S. 12. Vgl. ebd., S. 158.

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7.

Zusammen leben, zusammen streiten – Teil 2

Auch das wäre allerdings kein Streit in dem Sinne, wie er hier verstanden werden soll, denn wer streitet, will den Zustand der Gegnerschaft möglichst verlassen und zielt auf Konsens – aber gleichwohl ohne die legitimen Auffassungsunterschiede des Gegenübers zu neutralisieren. Eine aufgeklärte Streitkultur setzt daher auf die Vernunft, wenn es um den großen Rahmen geht, in dem ein Streit ausgetragen werden kann. Das Beispiel Mendelssohns zeigt zwar, dass auch unter existenzbedrohenden Umständen das Ideal des aufgeklärten Streits hochzuhalten möglich ist, doch gehen in der Aufklärung Vernunft, die (Abwehr-)Rechte des Einzelnen und Toleranz Hand in Hand. Sie halten das Verletzungsrisiko des Streitpartners gering. Unterschiedlichen Lebens- und Strebenszielen, aber auch den aus ihnen resultierenden politischen Leidenschaften und Zugehörigkeiten, Fehlurteile eingeschlossen, wird dann nicht trotz, sondern aus Gründen der Vernunft ihre Berechtigung zugesprochen.43 Der Ausgang des Streits bleibt aber offen. Auch ein aufgeklärter Streit ist nicht erst dann beendet, wenn die eine vernünftige Lösung als zwangloser Zwang des besseren Arguments44 gefunden und eingesehen wurde. Er ist beendet, wenn die Streitparteien zufrieden sind und mit dem Ergebnis – zusammen – leben können. Nach dem Streit ist dann vor dem Streit, selbst wenn es sich erneut um den gleichen Streitgegenstand handelt. Niemand soll befürchten müssen, dass der Ausgang eines Streits in Stein gemeißelt wäre, um schon deswegen den eigenen Standpunkt von vornherein mit Unnachgiebigkeit zu vertreten. Bei einem aufgeklärten Streit ist das Ziel, so paradox es zunächst anmuten mag, nicht die eine Wahrheit zu finden und zu verabsolutieren, nicht im Recht zu sein und für immer zu bleiben, nicht die vernünftigste Lösung, die für alle Zeiten Patentlösung bleibt. In einem aufgeklärten Streit gibt es keine Gewinner und Verlierer, nur Menschen, die zusammenleben müssen – und wollen.

Bibliographie Adorno, Theodor W./Horkheimer, Max: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a.M. 1969. Aristoteles: Sophistische Widerlegungen. Übersetzt von Rolfes, Eugen. Heidelberg 1883. Brumme, Robert: Zur Entfaltung des »Digitalen« in der Welt. Strukturen, Logik und Entwicklung. Weinheim 2020. 43 44

Das gilt analog auch für eine demokratische Ordnung an sich. Vgl. Frick, Marie-Luisa: Zivilisiert streiten, 2017, S. 40f. Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns, 1999, S. 52.

Aufgeklärt streiten

Cavallar, Georg: Gescheiterte Aufklärung. Ein philosophischer Essay. Stuttgart 2018. Craig, Albert: Fukuzawa Yukichi. In: de Bary, Wm. Theodore/Gluck, Carol/ Tiedeman, Arthur (Hg.): Sources of Japanese Tradition. Volume Two: 1600 to 2000. New York 2005, S. 706. Dennaout, Youssef/Witte, Daniel: Streit und Kultur. Vorüberlegungen zu einer Soziologie des Streits. In: Gebhard, Gunther/Geisler, Oliver/Schröter, Steffen (Hg.): StreitKulturen. Polemische und antagonistische Konstellationen in Geschichte und Gegenwart, Bielefeld 2015, S. 209-230. Diner, Dan: Aufklärungen. Wege in die Moderne. Stuttgart 2017. Frick, Marie-Luisa: Zivilisiert streiten. Zur Ethik der politischen Gegnerschaft. Ditzingen 2017. Geier, Manfred: Aufklärung – Das europäische Projekt. Reinbek bei Hamburg 2012. Geiger, Rolf: Art.: sophistikê/Sophistik. In: Höffe, Otfried (Hg.): Aristoteles-Lexikon. Band 459. Stuttgart 2005. Habermas, Jürgen: Faktizität und Geltung. Frankfurt a.M. 1998. Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns. Band I. Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung. Frankfurt a.M. 1999. Habermas, Jürgen: Im Sog der Technokratie. Kleine Politische Schriften XII. Frankfurt a.M. 2013. Horn, Christoph: Die Menschheit als objektiver Zweck – Kants Selbstzweckformel des kategorischen Imperativs. In: Ameriks, Karl/Sturma, Dieter (Hg.): Kants Ethik. Paderborn 2004, S. 195-212. Jacobs, Robert A.: A Jewish Reading of Moses Mendelssohn’s Response to Lavater. In: Albrecht, Michael/Engel, Eva J. (Hg.): Moses Mendelssohn im Spannungsfeld der Aufklärung. Stuttgart-Bad Cannstatt 2000, S. 89-100. Kahneman, Daniel: Schnelles Denken, langsames Denken. München 2015. Kant, Immanuel: Kant’s gesammelte Schriften. Hg. von der königlich preussischen Akademie der Wissenschaften [=AA]. Berlin: G. Reimer, 1900ff. Liebsch, Marika: Konflikte bei Affen. https://www.planet-wissen.de/gesellschaft/k ommunikation/konflikte/pwiestreitaufdemaffenfelsen100.html (zuletzt abgerufen am: 08.02.2021) Luginbühl-Weber, Gisela: Johann Kaspar Lavater – Charles Bonnet – Joseph Benelle. Briefe 1768-1790. Band I. Bern 1997. Mendelsohn, Moses: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe, Bd. 7. Herausgegeben von Elbogen, Ismar/Guttmann, Julius/Mittwoch, Eugen. Berlin 1930. Michaelis-König, Andree: Mendelssohn, Lavater, Lessing. Von Freundschaftskrisen und stützenden Netzwerken. In: Knapp, Lore (Hg.): Literarische Netzwerke im 18. Jahrhundert. Bielefeld 2019, S. 269-294. Mittelstrass, Jürgen: Neuzeit und Aufklärung. Studien zur Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft und Philosophie. Berlin/New York 1970.

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Öffentliche Religion und Streitkultur in der Demokratie1 Reiner Anselm

1. Das Verhältnis des Protestantismus zur Demokratie war nicht immer einfach. Nur mühsam und mit tätiger Nachhilfe fand der deutsche Protestantismus nach 1945 zu einer positiven Einschätzung der Bonner Republik: Der Staat des Grundgesetzes gewährte nicht nur den Kirchen große Handlungsspielräume, er erkannte sie auch als maßgebliche Instanzen für die sittliche Grundierung von Recht und Politik an. Beide Kirchen deuteten diese Anerkennung als Beleg für ihr Selbstverständnis: In der Bonner Republik sehen und profilieren sie sich als die Instanzen, die dem politischen System Legitimität verschaffen und für die moralische Orientierung zuständig sind. Die entsprechende Interpretation des Böckenförde-Theorems, dem zufolge der moderne, freiheitliche Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht schaffen kann und nicht geschaffen hat, fand und findet große Zustimmung in den evangelischen Kirchen – auch wenn sie keineswegs die einzige Deutung dieses bekannten Diktums darstellt.2 Im Hintergrund dieses Denkens stehen unübersehbar Überzeugungen, die – wie übrigens schon bei den meisten Widerstandskämpfern gegen die nationalsozialistische Diktatur3 – eher zu einer christlichen Aristokratie denn zu einer Demokratie passen. Die Demokratie der jungen Bundesrepublik, die die Kirchen unterstützen und zu ihrer Sache machen, ist im Grunde eine spezifische Form der Elitedemokratie, bei der es darum geht, dem Wankelmut, Individualismus und auch der Irrationalität der Wähler die orientierungsstiftende Kraft der eigenen Soziallehre entgegenzuhalten. Demokratische Verfahren sollen zwar zur Auswahl des Führungspersonals genutzt werden, aber nicht oder nur sehr zögernd für weitergehende partizipative Elemente.

1 2 3

Eine erste Fassung dieses Beitrags ist erschienen in: Albrecht, Christian/Anselm, R.: Differenzierung und Integration, 2020, S. 41-58. Vgl. dazu bes. Menke, Christoph: Am Tag der Krise, 2017, S. 49-57. Vgl. Buchhaas-Birkholz, Dorothee: »Zum politischen Weg unseres Volkes«, 1989.

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Bis heute sehen sich die Kirchen eher als moralische Letztinstanzen denn als gleichberechtigte Akteure im demokratischen Wettstreit. Sie reklamieren für sich einen gewissen moralischen Paternalismus, indem sie in Anspruch nehmen, zu wissen und darüber zu wachen, was das moralisch richtige Verhalten ist. Durchaus aufschlussreich ist dabei die Rede von der Anwaltschaft für die Schwachen: Hier zeigt sich sicherlich ein hoher und in Vielem zustimmungsfähiger Anspruch. Allerdings dürften die wenigsten Schwachen die Kirche als ihre Anwältin beauftragt haben, vielmehr handelt es sich um eine Art Selbstermächtigung als Vertreterin der Moral.

2. Es stimmt: Das in der christlichen Soziallehre verankerte Politikmodell der Bundesrepublik hat zur Prosperität und zu einem so zuvor nicht gekannten inneren Frieden geführt. Aber: Wir sehen heute auch sehr klar die Schattenseiten dieser Entwicklung, nämlich ihr partizipatives Defizit und ihre Tendenz zur moralisierenden Bevormundung. Die Etablierung einer rechtspopulistischen Partei ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Das Gefühl der Bevormundung schlägt hier um in die mit der Aura des Emanzipatorischen vorgetragene Parole »Wir sind das Volk« – wir lassen uns nicht länger übergehen, sondern begehren selbst gehört zu werden. Dass diese Formel in ihrem Antipluralismus zutiefst undemokratisch ist, da gerade die populistischen Positionen für sich in Anspruch nehmen, als Einzige das Volk zu repräsentieren4 , wird dabei überspielt und übergangen. Allerdings erweisen sich die Populisten als gelehrige Schüler der Kirche, die mit ihrem Anspruch auf die Alleinvertretung des moralischen Common-Sense selbst faktisch antipluralistisch agierten und mitunter noch agieren. Solange die Gesellschaft der Bundesrepublik recht homogen und die Kirchenmitgliedschaft der Regelfall war, mochte diese Strategie der Kirchen noch akzeptabel sein. Doch schon die Studentenproteste Ende der 1960er Jahre zeigten die Probleme, die diesem Demokratieverständnis zu eigen sind: Konsens wird dadurch erreicht, dass abweichende Positionen aus der Debatte ausgeschlossen werden – und zwar mit moralischen Argumenten. In einer pluraler gewordenen Gesellschaft führt das dazu, dass immer mehr Positionen an den Rand gedrängt werden – und ebenso der Anteil derer kleiner wird, die sich von der Politik und auch den Kirchen repräsentiert fühlen. Das Auftreten neuer politischer Gruppierungen, das Entstehen neuer zivilgesellschaftlicher Akteure, die sich nicht nur im linksliberalen, sondern auch im rechten politischen Spektrum verorten, ist die logische Konsequenz dieser Entwick4

Vgl. dazu Müller, Jan Werner: Was ist Populismus, 2017, S. 26.

Öffentliche Religion und Streitkultur in der Demokratie

lung. Es kann nicht verwundern, dass diese Veränderung in den vergangenen Jahren zu erheblichen Irritationen in den evangelischen Kirchen geführt hat. Das Erstarken populistischer Politikmuster, die beanspruchen, die Elitendemokratie zu überwinden und zugleich größere Partizipation versprechen, hat diese Irritationen noch verstärkt.

3. Vor diesem Hintergrund sehen sich die evangelischen Kirchen vor der Herausforderung, ihr Verständnis von und ihr Verhältnis zur Demokratie neu zu bestimmen.5 Diese Herausforderung beinhaltet zugleich eine Neubesinnung auf die eigenen theologisch-ethischen Rahmenkonzepte. Blickt man unter dieser Perspektive auf die Selbstverortung gerade der evangelischen Kirche gegenüber der Politik in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten, dann zeigt sich eine interessante Schwerpunktsetzung, die aber zugleich eine Defizitanzeige darstellt: Gehörte es zu den Identitätsmarkern des Luthertums, die eigene Stellung zum Politischen in erster Linie über das Gesetz zu definieren und auf den Ordnungs- und Disziplinierungscharakter des Politischen gegenüber der Selbstbezogenheit des Einzelnen zur Geltung zu bringen, so dominiert in der jüngeren Vergangenheit eine Herangehensweise, die das Politische vom Evangelium her thematisiert und die Würde des gerechtfertigten Menschen in den Mittelpunkt stellt. In der Zukunft wird es darauf ankommen, beide Dimensionen sachgerecht zu unterscheiden, aufeinander zu beziehen und ihre gegenseitige Korrektur zur Geltung zu bringen. Anders als es von der lutherischen Theologie lange Zeit vertreten wurde, darf dabei nicht das Gesetz an erster Stelle stehen, sondern das Ziel politischen Handelns wird vom Evangelium und dem aus ihm abgeleiteten Menschenbild bestimmt, ohne darüber die Notwendigkeit des Gesetzes aus dem Auge zu verlieren. Denn westliche, menschenrechtsbasierte Demokratien leben von der keineswegs selbstverständlichen Voraussetzung, dass entgegen dem Augenschein allen Menschen gleiche Rechte zukommen. Diese Voraussetzung ist eng mit der Botschaft von der Versöhnung als dem Kern des Evangeliums verbunden und muss, soll die Demokratie vital bleiben, immer wieder aktualisiert werden. Diese Botschaft bildet auch die Grundlage dafür, den Kreis derer, die als Gleichberechtigte zu einer Demokratie gehören, immer weiter auszudehnen. Wie bedeutsam diese Umstellung ist, wird deutlich, wenn man sich die politische Funktion und die politischen Konsequenzen verdeutlicht, die aus der traditionellen Vorordnung des Gesetzes vor das Evangelium in der lutherischen Theologie 5

Vgl. dazu z.B.: Evangelische Kirche in Deutschland (Hg.): Konsens und Konflikt: Politik braucht Auseinandersetzung, 2017.

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resultierten. Denn über diese Figur wurde versucht, die Freiheitsrechte und auch die politische Rolle des dritten Standes zurückzudrängen. Das Einfallstor dafür lieferte die Lehre von der konstitutiven Sündhaftigkeit des Menschen. Als solche nämlich neigen die Einzelnen dazu, ihre eigenen Interessen und Ziele ins Zentrum zu rücken, ein Zustand, dem über das Gesetz entgegengetreten werden müsse. Der Skepsis gegenüber dem durch die Sünde getrübten Urteilsvermögen korrespondiert dann der Gedanke, dass nur ein von Gott eingesetzter Repräsentant für das Gemeinwohl und damit für das Ganze stehen könne. Denn wenn evangelische Fürsten und Obrigkeiten schon als von Gott eingesetzt geltenund dadurch eben auch den Willen Gottes zum Ausdruck bringen –wie sollte dieser Wille Gottes sich denn nicht am allgemeinen Wohl orientieren? Ein gefährlicher Irrweg, da die Sündhaftigkeit auch der Obrigkeit und der innerweltlichen Ordnungsstrukturen zu wenig beachtet wurde. Parallel dazu fand die Vorstellung, dass die Anerkennung aller Menschen als freie und gleiche der Versöhnung korrespondiert und sich in den Menschen- und Bürgerrechten zeigt, lange Zeit im Protestantismus viel zu wenig Widerhall. Noch fataler wirkte sich im 19. und 20. Jahrhundert dann die Vorstellung aus, dass auch die Adressaten des Gemeinwohls sich aus einer göttlichen Ordnung ergeben müssten, und zwar nicht mehr nur durch den Wohnort, sondern durch eine bestimmte Volks- oder gar Rassezugehörigkeit. Die Barbarei des Nationalsozialismus konnte auf diesem Gedanken aufbauen. Hier nun wird das Gemeinwohl exklusiv über die (vermeintlichen) Interessen eines Volkes und einer Rasse definiert. Diesem Denken war man bereit, die junge Demokratie der Weimarer Republik zu opfern, vor allem aber erwächst aus ihm eine Politik, die die elementaren Rechte der Einzelnen negiert und buchstäblich mit Füßen tritt. Erst im Gegenüber zum Nationalsozialismus und vor allem durch die Bestrebungen der westlichen Siegermächte erwächst in Deutschland, erwächst auch im Protestantismus die Einsicht, wie problematisch es ist, von einem im Gesetz festgelegten und von einzelnen Autoritäten festgelegten Gemeinwohl auszugehen, anstatt zuvörderst auf die Rechte und die Freiheiten des Einzelnen zu setzen und das gemeine Wohl als Kompromisssuche zwischen den verschiedenen unterschiedlichen Positionen zu verstehen. Die Anerkennung der durch das Grundgesetz beschriebenen politischen Ordnung als einer Ordnung, die wesentliche Aspekte des christlichen Menschenbilds zum Ausdruck bringt, ist die konsequente Folgerung, die die Demokratiedenkschrift der EKD von 1985 gezogen hat. Eine an Grund- und Menschenrechten ausgerichtete politische Ethik, die Akzeptanz von Demokratie und Rechtsstaat sind seitdem im deutschen Protestantismus vorherrschend. Diese Akzeptanz demokratischer und rechtsstaatlicher Verfahren hat auch in der Kirche selbst Einzug gehalten. Die Hinwendung zu einer positiven Sicht der Demokratie ist getragen von der bereits angesprochenen Umstellung, die das (politische) Gesetz in den Interpreta-

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tionshorizont und den Dienst des Evangeliums stellt. Es ist die Überzeugung, dass die Heilsbotschaft Gottes allen Menschen gleichermaßen zukommt und dass die Christinnen und Christen sich im Glauben an das Evangelium mit allen Menschen als gleichberechtigten Kindern Gottes verbunden wissen – auch wenn sie natürlich in Verhältnissen und Bindungen leben, die ihnen bestimmte Handlungsweisen und Perspektiven vorgeben. Locus classicus dieser Sichtweise ist die zweite These der Barmer Theologischen Erklärung: »Wie Jesus Christus Gottes Zuspruch der Vergebung aller unserer Sünden ist, so und mit gleichem Ernst ist er auch Gottes kräftiger Anspruch auf unser ganzes Leben; durch ihn widerfährt uns frohe Befreiung aus den gottlosen Bindungen dieser Welt zu freiem, dankbarem Dienst an seinen Geschöpfen«. Die Bindungen der Welt, nicht zuletzt die Bindung an Ort, Gesellschaft und Geschichte, werden nicht negiert, aber sie werden – im Unterschied zur klassischen Tradition des Protestantismus – durch das Evangelium relativiert. So sehr daher in dieser Weise das Evangelium eine Zielrichtung vorgibt, so sehr muss sich konkretes Handeln an den Bedingungen einer noch nicht erlösten Welt ausrichten: Konflikte anzuerkennen, zu akzeptieren, dass uns in politischen Fragen immer nur vorläufige Antworten zur Verfügung stehen und wir mit Vernunft, Pragmatismus und Sachverstand nach den besten Lösungen suchen müssen. Demokratie ist nach dem überwiegenden Urteil evangelischer Ethiker diejenige Staatsform, die beide Elemente, Evangelium und Gesetz, am besten miteinander verbindet. Führt man sich dies vor Augen, dann wird das theologische und politische Defizit, das sich mit dem Selbstverständnis der Kirchen in der Demokratie, mit ihrem Anspruch, moralische Letztinstanz zu sein, verbindet, vollends deutlich: Über der – berechtigten – Vorordnung des Evangeliums vor das Gesetz wird diese Dimension des Christseins, die sich aus der Tatsache der noch nicht erlösten Welt ergibt, tendenziell ignoriert, anstatt sie relativierend, aber doch anerkennend weiterzuentwickeln.

4. Die gesellschaftliche Pluralisierung und die politischen Verschiebungen der jüngsten Vergangenheit haben deutlich gemacht, dass es in einem solchen freiheitlichen, demokratischen und rechtsstaatlichen System immer auch Konflikte gibt, die sich auch nach langer Debatte nicht in einen Konsens auflösen lassen. Hinter dieser Herausforderung verbirgt sich dabei zunächst ein Problem des politischen Systems: Wie ist im Raum des Politischen mit konfligierenden Interessen umzugehen? Die demokratischen Staaten Europas haben durch die Etablierung, auch durch die Auffächerung ihres Parteienspektrums auf solche Konfliktlinien reagiert. Denn die großen Parteien bzw. Parteienfamilien sind entlang solcher Konfliktlinien entstanden: dem Gegensatz von Arbeit und Kapital sowie dem Gegensatz zwischen religi-

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ös Gebundenen und Atheisten, zwischen Wirtschafts- und Umweltinteressen. Über diese Strukturierung ist es dann zugleich gelungen, diese Konflikte zu domestizieren – wobei die Frage virulent bleibt, ob dies besser durch Mehrheitswahl-Systeme oder durch Koalitionszwang geschieht. Führt man sich das vor Augen, dann ist deutlich, dass das Auftreten neuer gesellschaftlicher Konfliktlinien auch zur Ausbildung neuer Parteien führen muss. Die Auseinandersetzung um die Umweltpolitik war hier der erste Prüfstein, aus dem die »Grünen« als Partei hervorgegangen sind. Die Sozialpolitik, insbesondere die Arbeitsmarktreformen der rot-grünen Koalition unter Gerhard Schröder bildeten den nächsten Prüfstein, aus denen die »Linke« gestärkt hervorgeht. Und die AfD wäre ohne Zweifel ohne die Auseinandersetzungen um die Flüchtlingspolitik nicht möglich gewesen. Das bedeutet insgesamt und etwas generalisierend: Homogenisierungen im Bereich des Politischen führen zu neuen Konfliktlinien und Institutionalisierungen – ein Vorgang, der für freiheitliche Demokratien eigentlich nichts Bedrohliches in sich trägt, auch wenn das für die in den Fokus geratenen etablierten Parteien misslich sein mag und von diesen auch mit dem entsprechenden apokalyptischen Szenario kommentiert wird.

5. Für die Kirche bedeutet diese Fragmentierung und Pluralisierung die Aufgabe, die eigene politische Ekklesiologie zu überprüfen und auch hier einer möglichen Vermischung von Evangelium und Gesetz in derselben Weise entgegenzutreten wie der Relativierung des Evangeliums durch das Gesetz: Denn die Gesellschaft ist nicht die »Gemeinschaft von Brüdern« (Barmen III), als die sich die christliche Gemeinde versteht. Dementsprechend ist auch der Gedanke, dass in der Gesellschaft eigentlich der Konsens und nicht der Konflikt herrschen sollte, unsachgemäß und unzutreffend. Schon die Demokratiedenkschrift der EKD von 1985 betont die Notwendigkeit des politischen Streits, kritisiert aber fast im selben Atemzug die Rolle der Parteien und betont das menschliche Streben nach Harmonie und Eindeutigkeit.6 Gesellschaft ist hier im Grunde immer Gemeinschaft – und dementsprechend fungiert dann die Kirche auch als Institution der Herstellung dieser Homogenität. In genau dieser Rolle verstehen sich in meinen Augen zahlreiche evangelische Akteure im Augenblick. So sehr eine solche Vorstellung der Gesellschaft als Gemeinschaft attraktiv sein mag, die Schattenseiten dieses Programms sind doch unübersehbar: Homogenität geht immer mit Exklusion einher. Um es am Beispiel der Flüchtlingsfrage zu 6

Evangelische Kirche in Deutschland (Hg.): Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie, 1985, S. 32f.

Öffentliche Religion und Streitkultur in der Demokratie

buchstabieren: Hier zeigt sich, dass die Kirchen zwar mit gutem Grund sich ganz an die Seite der Schutzbedürftigen gestellt haben, aber gleichzeitig die vielleicht größte Errungenschaft der letzten Jahrzehnte, nämlich über alle Parteien hinweg Ansprechpartnerin und damit integratives Element der Gesellschaft zu sein, zu verspielen drohen. Dabei muss man in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, dass es das historische Verdienst des sog. Linksprotestantismus war, im Verbund mit der Gruppe um Gustav Heinemann den Graben bzw. die Trennlinie zwischen den Kirchen und der politischen Linken überwunden zu haben. Denn erst dies legte die Grundlagen für die politische Rolle gerade der evangelischen Kirche in der Bundesrepublik, bei der sich diese tatsächlich als wertgebende Instanz über die Trennlinien der politischen Parteien etablieren konnte. Wenn die Kirchen diese Rolle behalten möchten, dann sind sie gezwungen, auch auf die Kritiker der kosmopolitischen Position in der Frage der Personenfreizügigkeit zuzugehen – und damit möglicherweise die Parteinahme für die Schutzbedürftigen zu relativieren. Im Blick auf die politische Ekklesiologie bedeutet das, die Illusion einer res publica als societas perfecta aufzugeben und stattdessen – in gut lutherischer Tradition übrigens – von der Gesellschaft als corpus permixtum auszugehen, in dem unterschiedliche Positionen und konfligierende Interessen der Normalfall sind. Hier die Versöhnung zu verkündigen, heißt nicht, die politische oder moralische Homogenität erreichen zu wollen, sondern den Fokus auf das Ermöglichen des Zusammenlebens der Verschiedenen zu legen – und damit übrigens auch auf das Zusammenleben in Freiheit. Das bedeutet, den Kompromiss als den Königsweg demokratischer Meinungsbildung zu akzeptieren – auch wenn dabei Ergebnisse erzielt werden, die sich mit den eigenen Überzeugungen nicht decken. Der Kompromiss entspricht dabei dem Ansinnen der Versöhnung in ethischer Perspektive, nämlich als Etablierung einer Gemeinschaft unter Anerkennung der Verschiedenheiten.7 Erneut zeigt sich hier die Vorordnung des Evangeliums vor das Gesetz, das nur der faktischen Pluralität, die sich aus der Selbstsucht der Einzelnen ergibt, entgegentreten wollte. Die Aufgabe der Kirchen in der Demokratie besteht daher darin, das eigene Demokratieverständnis der fortgeschrittenen Pluralisierung anzupassen und für ein solches, modifiziertes Demokratieverständnis, das auf zivilisierten Streit statt auf normativen Konsens setzt, zu werben. Nur dann kann es auch gelingen, den auseinanderstrebenden Polen der Gesellschaft einen Gedanken des Zusammenhalts in der gemeinsamen Kompromisssuche entgegenzusetzen. Das bedeutet aber, auch die eigenen Grundsätze auf dem Weg der Kompromisssuche ein Stück weit zur Disposition stellen zu können. Genau diese Kompromisssuche hat allerdings in Deutschland einen schlechten Ruf, auch wenn sie dazu führen kann, die Elitendemokratie zu überwinden und ein breites positionelles Spektrum in die politische 7

So auch Hein, Martin: Versöhnung – Toleranz – Kompromiss, 2017, S. 131-146.

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Meinungsbildung zu integrieren. So abstoßend manche Positionen und Personen gerade am rechten Rand des politischen Spektrums sind, so sehr rassistische und diffamierende Äußerungen gerade auch aus einer moralischen Perspektive nicht hingenommen werden können, unabhängig davon, was der Anstand ge- und das Recht verbieten: Die Tatsache, dass das politische Meinungsspektrum breiter geworden ist, stellt durchaus auch einen Gewinn für die Demokratie dar. Die Optionen einer Drei- bzw. Vier-Parteien Koalition sind aus dieser Perspektive durchaus reizvoll, und zwar vor allem durch den Versuch und die Notwendigkeit, beispielsweise in der Migrations- und Flüchtlingspolitik einen politischen Kompromiss zwischen den Positionen der CSU und der von Bündnis 90/Die Grünen zu finden. Ein solches Bündnis birgt Spannungen und Herausforderungen, es kann aber eben auch dazu führen, dass mehr Menschen sich im Regierungshandeln repräsentiert sehen. Es ist zu hoffen, dass Wahlenthaltung, Protestverhalten, Mobilisierbarkeit für volatile Positionen direkter Bürgerbeteiligung in der Folge geringer werden, weil die Dominanz des Mainstreams schwächer wird. Die Kirchen sollten diese Veränderungen aufmerksam beobachten – nicht freilich in der Rolle des moralischen Schiedsrichters, sondern mit der selbstkritischen Frage, ob nicht das von ihnen vertretene Meinungsspektrum zu eng geworden ist. Denn vergleicht man gegenwärtige Debatten über ethisch-politische Konfliktfelder mit den Auseinandersetzungen etwa um die Friedenspolitik in den 1980er Jahren, aber auch um die richtige Politik der Wiedervereinigung, so fällt sofort auf, dass das Meinungsspektrum in der evangelischen Kirche kleiner geworden ist. Distanzierung und Gleichgültigkeit sind die Folge – Demobilisierung ist hier das Äquivalent zur Mobilisierung im Raum des Politischen: Die Menschen kehren der Kirche den Rücken. Dies vor Augen gilt es, Kirche und Politik gleichermaßen auseinandersetzungsbereiter zu machen. Es geht darum, mehr Menschen in die Auseinandersetzung um den richtigen Weg zu verwickeln, sie zu involvieren, sie auch zu motivieren, ihre Sicht einzubringen, auch wenn diese unbequem und emotional vorgetragen sein mag. Dazu gehört, auf die Rahmenbedingungen zu achten, damit sich Menschen für politische Fragen mobilisieren lassen und sich in der Debatte artikulieren können. Dazu gehört aber auch, deutlich zu machen, dass mangelnde Repräsentation keine Entschuldigung dafür ist, sich nicht zu beteiligen.

6. Demokratie ist keine Veranstaltung nur für Intellektuelle! Diese Erkenntnis sollte auf das Selbstverständnis der Kirche ausstrahlen: Sie kann und soll den Raum bereit stellen für politische Kontroversen. Die Bereitstellung von Räumen ist dabei zunächst ganz gegenständlich zu verstehen. Über ihre Präsenz in der Fläche und

Öffentliche Religion und Streitkultur in der Demokratie

ihre Immobilien eignen sich die Kirchen wie kaum ein anderer Akteur der Zivilgesellschaft für ein Beleben des vorpolitischen Raumes. Mit ihrer Bildungsarbeit und ihren in der Moderation und der Vermittlung ausgebildeten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern können sie zudem in diesen Bereichen eigene Impulse setzen. Den Raum, das klingt in dem bisher Ausgeführten bereits an, stellen die Kirchen aber auch in einem übertragenen Sinne bereit, nämlich indem sie die Voraussetzungen für eine demokratische Streitkultur, die auf der gegenseitigen Anerkennung als Freie und Gleiche beruht, präsent halten und einüben helfen: Das Bewusstsein von der Weltlichkeit der Welt, die das Wissen um die Vorläufigkeit und die Gestaltbarkeit ihrer Ordnungen und Bindungen ebenso umfasst wie das Wissen, dass wir aus diesen Bindungen und Verpflichtungen nicht einfach aussteigen können; sodann die Freiheit in der Gemeinschaft, als Konkretion der christlichen Botschaft von der Versöhnung und die Ausrichtung auf die Zukunftsfähigkeit menschlichen Lebens, die sich dem Zwang der Geschichte widersetzt. Mit diesen ethischen Aktualisierungen des dreigliedrigen Gottesgedankens und der Artikel des Credo bestimmen die Kirchen nicht einzelne Entscheidungen im Politischen, hier sollten und müssen sie sich zurückhalten. Aber sie stehen für die Voraussetzungen des demokratischen Miteinanders und stellen die Räume bereit, in denen diese Überzeugungen eingeübt und in Praktiken eines demokratischen Ethos überführt werden können. Damit erfüllen sie zugleich in besonderer Weise die normativen Orientierungen, die für ein positives Wirken eines zivilgesellschaftlichen Akteurs in der Demokratie notwendig sind.8 Vor diesem Hintergrund kann und soll die evangelische Kirche selbstbewusst darauf hinweisen, dass eine liberale, rechtsstaatliche Ordnung keine naturwüchsige Selbstverständlichkeit ist. Sie ist tief in Grundprinzipien des Christentums verankert – auch wenn das die Kirchen lange nicht erkannt haben. Die Kirchen setzen sich für diese Grundprinzipien und Rahmenbedingungen ein, die einen klaren, gleichzeitig aber auch weiten Raum für den Diskurs aufspannen und schützen. Sie vertreten in diesem Diskurs legitimerweise ihre eigenen institutionellen Interessen, aber sie erkennen an, dass in politischen Fragen Christenmenschen zu sehr unterschiedlichen, konkurrierenden Einschätzungen kommen können. Über sie zu befinden, ist Sache der politischen Auseinandersetzung. Dies ist kein Schaden, sondern eine Auszeichnung einer lebendigen Demokratie. Es ist wichtig, dass die Grundlagen und die künftige Gestalt unseres Gemeinwesens kontrovers diskutiert werden müssen – streitbar in der Sache, aber fair im Umgang miteinander. Damit ein solche »demokratische Streitkultur« gelingt und damit auch das anspruchsvolle Ziel, dass aus dem Streit heraus die beste Position 8

Zum theoretischen Hintergrund vgl. Grande, Edgar: Zivilgesellschaft, politischer Konflikt und soziale Bewegungen, 2018, S. 52-60. Zur Praxis Ohlendorf, David/Rebenstorf, H.: Überraschend offen, 2019.

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für alle gewonnen werden kann, ist es notwendig, die Diskussion nicht nur mit denen zu führen, mit denen man sich einer Meinung weiß. Dass die damit verbundenen Herausforderungen durch die Social Media tendenziell verschärft werden und auch die Kirchen nicht davor gefeit sind, in einer Filterblase zu agieren, brauche ich nicht eigens zu betonen. Angemerkt sei jedoch ausdrücklich, dass gerade die Parteien wichtige Instrumente für eine solche übergreifende Diskussion sein können. Des Streits um den besten Weg bedarf es vor allem deswegen, weil wir in den letzten Jahrzehnten eine bislang so nicht gegebene Überschreitung vorgegebener Grenzen erlebt haben. Diesen Wandel gilt es zu gestalten. Dabei muss ein besonderes Augenmerk auf den Bedingungen des sozialen Ausgleichs und des Zusammenhalts liegen. Dazu gehört auch, die Räume des Vertrauten und des Vertrauens zu erhalten. Sich daran zu beteiligen, ist die Aufgabe aller, denn der Wandel wird nicht nur erfahren, jeder Einzelne arbeitet auch an ihm mit. Wer über den Rückgang der lokalen Traditionen klagt, muss sich auch fragen lassen, was er zu ihrem Erhalt beiträgt. Zu dem Wandel und den Fragen, die unsere Gesellschaft intensiv beschäftigen, gehören Fragen der Zugehörigkeit, die Fragen also, die durch die verstärkte Migration der letzten Jahre so stark in den Fokus geraten sind. Diese Fragen müssen selbst in einem demokratisch-rechtsstaatlichen Verfahren geregelt werden – also weder über einen ethnozentrischen Exklusivismus, noch durch einen kosmopolitischen Universalismus, die sich beide auf je eigene Weise der demokratischen Meinungsbildung entziehen möchten. Die besondere Herausforderung, das soll nicht verschwiegen, sondern in aller Deutlichkeit herausgestellt werden, liegt darin, einen Ausgleich zwischen dem universalistischen Anspruch der Menschenrechte und deren notwendig partikular-nationalstaatlicher Implementierung zu finden. Gerade wegen dieser Spannung darf der Diskurs nicht vorschnell durch den Verweis auf nicht verhandelbare Standards abgebrochen werden, sondern es ist konsequent die politische Auseinandersetzung zu suchen. Wenn es durch die Neugründung von Parteien zu einer besseren Repräsentation der Bürgerinnen und Bürger kommt, dann ist dies ausdrücklich zu begrüßen – unter der Voraussetzung freilich, dass solche Parteien und Bewegungen nicht das freiheitlich-demokratische System selbst infrage stellen, also etwa nur allenfalls rechtspopulistisch, nicht aber rechtsradikal oder gar rechtsextremistisch sind. Gerade hier dürften nach dem Weg der AfD in der jüngsten Vergangenheit erhebliche und berechtigte Zweifel bestehen. Denn bei allem Werben für eine konfliktbereitere, vielstimmigere Demokratie: Es gibt Grenzen der Auseinandersetzung. Dort nämlich, wo Gewalt zum Bestandteil der Auseinandersetzung wird. Grenzen sind aber auch an anderer Stelle zu ziehen: Dort nämlich, wo mit vorschnellem Verweis auf grundlegende Überzeugungen andere, abweichende Positionen aus dem politischen Wettstreit aus-

Öffentliche Religion und Streitkultur in der Demokratie

geschlossen werden sollen, wo Fakten nicht sorgsam abgewogen und berücksichtigt werden, und wo anstelle politischer Entscheidungsfindung eine personalisierte Auseinandersetzung erfolgt.

7. Wie können die Kirchen die demokratische Beteiligung stärken? Zunächst ist hier zu konstatieren: Die Kirchen sind ein Spiegel der Gesellschaft: Vorbehalte und Ängste finden sich auch in der Kirche – und doch wollen und müssen sie die politische Dimension der Botschaft von der Versöhnung zum Ausdruck bringen. Die Kirchen sind mitverantwortlich für die politische Kultur unseres Landes. Daher müssen sie sich immer wieder fragen lassen, ob sie in ihrem Verhalten wirklich zu einer partizipativen Demokratie beitragen. Zu hohe moralische Ansprüche, die andere politische Positionen ausschließen oder als orientierungsbedürftig disqualifizieren, sind daher selbstkritisch zu hinterfragen. Die Kirchen müssen insofern selbst dazu beitragen, die Elitendemokratie zu überwinden und die demokratische Auseinandersetzung zu fördern. Das können sie, weil sie nach wie vor viele Menschen erreichen und ihnen auch ein Forum für die Auseinandersetzung bieten können. Das können sie aber auch, indem sie engagiert für die Voraussetzungen einer politischen Kultur eintreten, die in jedem Menschen ein gleichberechtigtes Kind Gottes sieht und das Gemeinsame im Prozess der Auseinandersetzung immer wieder sucht.

Bibliographie Albrecht, Christian/Anselm, Reiner: Differenzierung und Integration. Fallstudien zum Öffentlichen Protestantismus. Tübingen 2020. Buchhaas-Birkholz, Dorothee: »Zum politischen Weg unseres Volkes«. Politische Leitbilder und Vorstellungen im deutschen Protestantismus 1945-1952: Eine Dokumentation. Düsseldorf 1989. Evangelische Kirche Deutschland (Hg.): Konsens und Konflikt: Politik braucht Auseinandersetzung. Zehn Impulse der Kammer für Öffentliche Verantwortung der EKD zu aktuellen Herausforderungen der Demokratie in Deutschland. Hannover 2017, https://www.ekd.de/Konsens-und-Konflikt-Politik-braucht-A useinandersetzung-27676.htm (zuletzt abgerufen am: 02.06.2019). Grande, Edgar: Zivilgesellschaft, politischer Konflikt und soziale Bewegungen. In: Forschungsjournal soziale Bewegungen 31 (2018), S. 52-60. Hein, Martin: Versöhnung – Toleranz – Kompromiss. Eine Verhältnisbestimmung. In: Großhans, Hans-Peter/Selderhuis, Herman J./Dölecke, Alexander/Schleiff,

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Matthias (Hg.): Schuld und Vergebung. Festschrift für Michael Beintker zum 70. Geburtstag. Tübingen 2017, S. 131-146. Kirchenamt im Auftrag des Rates der EKD (Hg.): Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie. Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe. Eine Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland. Hannover 1985. Menke, Christoph: Am Tag der Krise. In: Merkur 71 (2017), S. 49-57. Müller, Jan Werner: Was ist Populismus. Berlin ⁵2017. Ohlendorf, David/Rebenstorf, Hilke: Überraschend offen. Kirchengemeinden in der Zivilgesellschaft. Leipzig 2019.

Komparative Theologie als interreligiöse Streitkultur Chancen und Grenzen von Dialog und Vergleich Klaus von Stosch

1.

Vom Fehlen interreligiöser Streitkultur in Dialog und Vergleich

Wenn Menschen unterschiedlicher Religionen zusammentreffen, um in den Dialog über ihren Glauben zu kommen, versuchen sie normalerweise Streit zu vermeiden. Dahinter steckt die Erfahrung, dass es im Streit oft nur darum geht, Recht zu behalten und auf diese Weise durch den Streit eine unangenehme apologetische Atmosphäre aufkommt. Hinzu kommt, dass gerade andere Religionen oft so fremd sind, dass der Streit voreilig ist und man eigentlich besser erst einmal zu verstehen versuchen sollte, was die andere überhaupt meint. Schließlich ist es so, dass Streit leicht in Gewalt umschlagen kann. Gerade in Gesellschaften, die sich leidvoll an solche religiös verstärkten, gewaltsamen Auseinandersetzungen erinnern, gilt der Streit aus verständlichen Gründen als Tabu. So habe ich im Libanon, das ja durch einen langen grausamen Bürgerkrieg entlang der Religionsgrenzen immer noch traumatisiert ist, erlebt, wie behutsam die Menschen im interreligiösen Dialog miteinander umgehen. Oft geht es einfach nur um den Dialog des Lebens, um das gegenseitige Verstehen und Zugehen aufeinander. Kontroverse Punkte werden ausgeklammert und die Konsensbereiche zwischen den Religionen werden betont. Theologisches Streiten über Religionsgrenzen hinweg ist verpönt, und ich wurde immer wieder davor gewarnt, Dissensbereiche zwischen den Religionen auch nur anzusprechen, geschweige denn einer diskursiven Auseinandersetzung zuzuführen. Auch beim Dialog auf Gemeindeebene in Deutschland erlebe ich es immer wieder, wie der Dialog zur Konsenssuche wird und theologische Dissensbereiche tunlichst vermieden werden, um ja nicht in Streit zu geraten. Wenn sich die Feststellung eines Dissenses nicht vermeiden lässt, darf man auf keinen Fall für die eigene Position eintreten, weil dies als Missionierung verstanden wird und oft schon in der Präambel interreligiöser Dialoginitiativen ausgeschlossen wird. Ich will dieses Fehlen einer interreligiösen Streitkultur an dieser Stelle nicht bewerten. In der Tat kennen wir ja sicher alle Momente des Streitens zwischen Menschen verschiedener Religionen, die einfach nur unangenehm sind und letzt-

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lich nur darin bestehen, auf der eigenen Wahrheit zu beharren. Der französische Philosoph Jean-François Lyotard hat das schöne Wort vom Widerstreit für Streitigkeiten eingeführt, die argumentativ nicht gelöst werden können, weil die Streitenden weltanschaulich so weit voneinander entfernt sind, dass ihnen gemeinsame Urteilsregeln fehlen, die einen Streit erst sinnvoll machen.1 Ein Widerstreit ist eine Diskurskonstellation, der nur Machtverhältnisse offenlegt und keine Aussicht hat, durch den zwanglosen Zwang des besseren Argumentes entschieden zu werden. Widerstreit lähmt und führt uns unsere eigene Ohnmacht vor Augen. Und natürlich sind religiöse Menschen immer in der Gefahr, sich in solchen Situationen des Widerstreits zu verfangen. Von daher will mein Text natürlich nicht für die Provokation von Situationen des Widerstreits werben, weil ich durchaus auch aus eigener Erfahrung weiß, wie wenig damit geholfen ist, unvereinbare Positionen gegeneinander in Stellung zu bringen und wie gefährlich eine solche Situation ist, wenn ein Machtgefälle zwischen den Diskutierenden besteht. Allerdings gibt es auch nach Lyotard ja das Phänomen des Rechtsstreits, der eben durchaus argumentativ entschieden werden kann, weil genügend gemeinsame Diskursregeln zwischen den Streitenden zur Verfügung stehen.2 Wir werden gleich auf diesen Fall zurückkommen. An dieser Stelle will ich nur erst einmal darauf aufmerksam machen, dass der interreligiöse Dialog bisher in den seltensten Fällen eine produktive Streitkultur ausgebildet hat. Das sieht mit der Kultur des interreligiösen Vergleichens nicht anders aus. Denn Komparatistik wird in Religionszusammenhängen meistens als Religionswissenschaft verstanden und die Religionswissenschaft klammert die religiöse Wahrheitsfrage schon aus methodischen Gründen aus ihren Fragestellungen aus.3 Zumindest werden sich ReligionswissenschaftlerInnen bemühen, ihre »spezifischen Glaubensüberzeugungen nicht in die wissenschaftliche Arbeit einfließen zu lassen.«4 Dadurch ist dann aber auch ein Streit um den eigenen Glauben von vornherein ausgeschlossen. Streit über theologische Fragen findet schon aus methodischen Gründen nicht statt. Eine Streitkultur, die auch den eigenen Glauben diskursiv ins Gespräch bringt, ist damit in der religionswissenschaftlich verfahrenden Komparatistik von vornherein ausgeschlossen. Gegen diese Vermeidung von Streit bei Dialog und Vergleich ist zunächst einmal gar nichts einzuwenden. Dadurch wird im Dialog die Chance des gegenseitigen Verstehens erhöht, und beim Vergleich entsteht die Möglichkeit einer Ur-

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Vgl. Lyotard, Jean François: Der Widerstreit, 1989, S. 9. Vgl. Lyotard, Jean François: Der Widerstreit, 1989, S. 27. Vgl. Mohn, Jürgen: Komparatistik als Position und Gegenstand der Religionswissenschaft, 2009, S. 273. Tworuschka, Udo: Selbstverständnis, Methoden und Aufgaben der Religionswissenschaft und ihr Verhältnis zur Theologie, 2001, S. 131.

Komparative Theologie als interreligiöse Streitkultur

teilsenthaltung, die viele Phänomene erst angemessen zu sehen erlaubt. Doch die Chancen, die durch die Streitvermeidung entstehen, implizieren zugleich Grenzen, die uns oft nicht bewusst sind und die in diesem Artikel im Mittelpunkt stehen. Wir verlieren durch die methodische Sistierung des Streits die Möglichkeit, eine interreligiöse Streitkultur auszubilden und durch das Streiten zu lernen. Hier könnte die Komparative Theologie Abhilfe schaffen und zu einer Kultivierung von Dissensbereichen zwischen den Religionen beitragen. Ja, vielleicht könnte man Komparative Theologie insgesamt als interreligiöse Streitkultur verstehen. Um die Produktivität der lustvollen Arbeit an Unterschieden zu verstehen, ist es wichtig, sich zu vergegenwärtigen, welche Chancen im Streit liegen, wenn er in eine Streitkultur eingebettet wird.

2.

Plädoyer für das Streiten in religiosis

Im Unterschied zum Konflikt bezeichnet die Soziologie den Streit als eine friedliche Bearbeitung von Dissensbereichen5 und hat das Streiten bisher vergleichsweise wenig erforscht.6 Zumindest eine Beobachtung ist eindeutig: Um streiten zu können, braucht es Regeln, die den Streit leiten und die von den Streitenden anerkannt werden. Es braucht gewissermaßen Präsuppositionen des Argumentierens, die von allen respektiert werden müssen, damit der Streit diskursiv ausgetragen werden kann. Daraus lässt sich folgern, dass der Streit als artikulierter Dissens »selbst ein hohes Maß an konsensuellen Übereinkünften [benötigt]. Um streiten zu können, ist es zwingend erforderlich, bestimmte Prinzipien als unstrittig anzuerkennen.«7 Wenn beispielsweise Christen gegenüber Muslimen und Juden die Trinitätslehre als monotheistisch verteidigen, erkennen sie implizit an, dass es gut ist, nur an einen Gott zu glauben, sodass im Streit um die richtige Auslegung eines konkreten Monotheismus die Grundidee des Monotheismus von allen Streitenden anerkannt wird.8 Und wenn darum gerungen wird, wie Gott als Liebe zu denken ist, besteht ein Konsens darüber, dass Liebe ein anstrebenswertes Ideal ist.9 Schon diese Beispiele machen deutlich, dass der genannte Konsens immer nur zwischen konkret Streitenden existieren kann, nicht zwischen Religionen insgesamt oder gar zwischen allen Menschen. Denn natürlich gibt es auch heute noch viele Menschen, die dem Monotheismus kritisch gegenüberstehen oder die dem Wert der Liebe misstrauen. Aber jeder Streit braucht sprachliche und sachliche Gemeinsamkeiten,

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Vgl. Orlich, Max: Don’t be nice, 2008, S. 100. Vgl. Dennaoui, Youssef/Witte, D.: Streit und Kultur, 2008, S. 210. Vgl. Dennaoui, Youssef/Witte, D.: Streit und Kultur, 2008, S. 219. Vgl. Tatari, Muna/von Stosch, K.: Trinität, 2013. Vgl. von Stosch, Klaus: Nachdenken über das Geheimnis der Liebe, 2016.

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um ausgetragen werden zu können und so kann jeder Streit auch gegen den Strich auf diese gemeinsamen tragenden Grundlagen hin befragt werden. Erst wenn der Rechtsstreit in den Widerstreit umschlägt, werden auch diese Gemeinsamkeiten in Frage gestellt und es wird unmöglich, eine produktive Kultur des Streitens zu entwickeln. In der Regel gibt es beim interreligiösen Streit aber durchaus einen gemeinsamen Boden, der sich aus dem Streiten rekonstruieren lässt. Im Mittelalter bestand dieser gemeinsame Boden stark in Grundannahmen griechischer Philosophie. Heutzutage dürfte dieser gemeinsame Boden für viele in der freiheitlich demokratischen Grundordnung liegen. Auch hier lässt sich nichts verallgemeinern. Aber man kann feststellen, dass sich rekursiv aus dem jeweiligen Streit rekonstruieren lässt, welche Gemeinsamkeiten den Streit möglich machen und kulturell einhegen. »Der Streit bringt Regeln, Regelmäßigkeiten, Rituale, symbolische und normative Codes sowie soziale Ordnungskonfigurationen hervor.«10 Gerade wenn Streit im Rahmen universitärer Studien ausgetragen wird, darf man davon ausgehen, dass Grundregeln diskursiver Auseinandersetzung beim Streiten beachtet und vorausgesetzt werden. Von daher dürften die Präsuppositionen des Argumentierens tatsächlich normativen Charakter für theologisches Nachdenken über Religionsgrenzen hinweg haben – zumindest, wenn dieses Nachdenken im universitären Kontext stattfindet. Nicht umsonst ist die quaestio disputata, also die Streitfrage, eine grundlegende Denkfigur theologischen Nachdenkens schon seit der Scholastik, und es ist sehr zu hoffen, dass sie auch interreligiöse Forschung zu beflügeln vermag. Natürlich macht Streit immer auch Grenzen sichtbar. Aber gerade diese Grenzen ermöglichen Selbstreflexion und sie helfen, »Kultur nicht zwangsläufig mit dem Begriff der Identität verknüpfen zu müssen«11 . Vor allem rufen aber Grenzen danach, überschritten zu werden und lassen auf diese Weise das TheologInnenherz höher schlagen. Denn das Transzendieren von Grenzen ist einer der typischen Anknüpfungspunkte, die die moderne Theologie an säkulare Diskurse heranträgt, um die Gottesfrage thematisierbar zu halten. Auch in interreligiösen Zusammenhängen ist das Transzendieren scheinbar unveränderlicher Sprachspielgrenzen ausgesprochen aufschlussreich. In der Avantgarde war gerade die Bewegung des Transzendierens immer Quelle des Streits,12 sodass der Streit noch enger an theologische Bestimmungen herangerückt wird, als man das zunächst ahnt. Streit erscheint so als Begleiterscheinung des Überschreitens von Grenzen und damit des Versuchs, sich auf Gott auszurichten – ein Gedanke, der ja auch der Bibel nicht fremd ist (vgl. etwa Mt 10,34). Entsprechend verweist Susanne Krahe darauf, dass 10 11 12

Vgl. Dennaoui, Youssef/Witte, D.: Streit und Kultur, 2008, S. 225. Orlich, Max: Don’t be nice, 2008, S. 97. Vgl. Orlich, Max: Don’t be nice, 2008, S. 99.

Komparative Theologie als interreligiöse Streitkultur

die christliche Glaubensweise »immer anstößig, ärgerlich, als Gegenentwurf angelegt« war und zu Widerspruch provozierte.13 Und die Bibel erzählt immer wieder von persönlichen Konflikten (wie bei Kain und Abel oder bei Saul und David) sowie von Konflikten um Recht, Ordnung und Tradition (wie den Streit um den Elternsegen bei Esau und Jakob, oder den Streit von Jesus mit der Syrophönizerin). Auch der Streit um Glaubensfragen und der Streit mit Gott hat in der Bibel Raum, wenn man etwa an das Buch Ijob denkt.14 D.h., Streiten in all diesen Facetten kann durchaus hilfreich sein und im Glauben weiterführen. Streit – so zeigt die Auseinandersetzung mit der Avantgarde aber auch15 – ist zudem ein Motor der Theorieentwicklung und kann von daher auch in der Theologie das Reflexionsniveau steigern. So scheinen mir buddhistische Einsprüche gegen das dualistische Denken im Westen bestens geeignet zu sein, um die christliche Reflexion auf das Gott-Welt-Verhältnis auf ein höheres Niveau zu heben, wie man beispielsweise an den Debatten um den Monismus in der Gegenwart sehen kann.16 Und der Streit um die rechtliche Dimension des Glaubens zwischen Islam und Christentum wirkt offenkundig schon jetzt als Motor für die Theorieentwicklung in beiden Religionen.17 Streit kann also offensichtlich beflügeln – auch in religiosis. Er macht uns nicht nur auf die eigene Begrenztheit und Kontingenz aufmerksam, sondern hilft uns auch, die eigene Herangehensweise an die Welt besser verstehen und einordnen zu können. Unter Umständen kann er dazu beitragen, blinde Flecken der eigenen Grammatik zu erhellen. In jedem Fall erhöht er die Reflexivität des eigenen Weltzugangs und hilft so der diskursiven Vermittlung des Glaubens. Doch diese Chancen des Streits ändern nichts an den Problemen und Verwerfungen, die durch Streit entstehen können. Von daher kommt es gerade in interreligiösen Begegnungen darauf an, den Streit gepflegt auszutragen, indem eine interreligiöse Streitkultur entwickelt wird. An dieser Stelle scheinen mir Methoden und Haltungen der Komparativen Theologie hervorragend geeignet zu sein, um eine solche Streitkultur zu inspirieren. Von daher will ich im Folgenden versuchen, zunächst die Methoden und dann im vierten Abschnitt die Haltungen der Komparativen Theologie auf ihren Wert für eine interreligiöse Streitkultur hin zu befragen.

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Vgl. Krahe, Susanne: Aug‹ um Auge, Zahn um Zahn?, 2005, S. 10. Vgl. zur ausführlichen Schilderung dieser Dimensionen das Buch von Krahe insgesamt. Vgl. Orlich, Max: Don’t be nice, 2008, S. 116. Vgl. Nitsche, Bernhard/von Stosch, K./Tatari, M.: Gott – jenseits von Monismus und Theismus?, 2017. Vgl. Ralston, Joshua B.: Law and the rule of God, 2020.

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3.

Die Methodik Komparativer Theologie als Lernfeld interreligiöser Streitkultur

Komparative Theologie ist entscheidend charakterisiert durch die sogenannte mikrologische Wende, also durch den Versuch die theologische Auseinandersetzung auf Einzelprobleme zu fokussieren. Zugleich empfiehlt sie, diese Einzelprobleme so auszuwählen, dass sie Probleme aufnehmen, die den Menschen unter den Nägeln brennen und deren Lösung zum Wohl des Menschen von zentraler Bedeutung ist.18 Beide Aspekte sind von größter Bedeutung auch für das Anliegen einer interreligiösen Streitkultur. Denn Streit kann nur produktiv werden, wenn er auf ein überschaubares Feld begrenzt ist. Wir alle kennen sicher Streitsituationen, in denen immer neue Vorwürfe hervorgeholt werden, sodass der Streit ausufert und unbeherrschbar wird. Als Streitender fühlt man sich dann oft wie im Kampf mit Hydra, dem vielköpfigen Ungeheuer der griechischen Mythologie, dem immer zwei neue Köpfe nachwachsen, wenn man einen abgeschlagen hat. Von daher ist die mikrologische Wende auch für eine interreligiöse Streitkultur von zentraler Bedeutung. Wenn die Trinitätslehre diskutiert wird, führt es nicht weiter mitten in der Debatte über den Zölibat zu sprechen oder die Kreuzzüge zu problematisieren, auch wenn sicher alle drei Themen in einer Auseinandersetzung mit dem Christentum thematisiert werden können. Es ist nur eben wichtig, sich auf überschaubare Themen zu verständigen und andere Themen für ein anderes Mal aufzuheben, wenn die Auseinandersetzung gepflegt und lösungsorientiert vonstattengehen soll. Die Auswahl von echten Problemen, die beide Seiten als Problem anerkennen, kann zudem dazu führen, aus der Falle der Rechthaberei herauszuführen. In der Komparativen Theologie begibt man sich gerne in eine Position der Schwäche, die gar nicht behauptet, alle Probleme bereits gelöst zu haben. Für einen Streit scheint das alles andere als eine optimale Ausgangsbedingung zu sein, weil Streit oft so verstanden wird, dass es dabei um Gewinnen und Verlieren geht. Aber wenn der Streit Dinge klären soll, kann es durchaus helfen, auch die eigenen Schwächen offen auszusprechen und zu erleben, wie diese in einem Streit wirken, der an der Klärung von Sachfragen orientiert und nicht auf Sieg oder Niederlage fokussiert ist. Hilfreich kann ein solcher Streit gerade dann sein, wenn alle Streitenden bereit sind, die eigenen Schwächen offen einzugestehen und den Streit als Chance zu sehen, Probleme offenzulegen und gemeinsam an ihnen zu arbeiten. Oft kann es der Theologie ja nur darum gehen, Probleme offenzuhalten und kontroverse Diskurskonstellationen zu stabilisieren. Von daher wird beim Streiten viel darauf ankommen, diesen nicht rein agonal zu verstehen, sondern als Ringen um die Sache zu kultivieren und dabei voneinander zu lernen. 18

Vgl. von Stosch, Klaus: Komparative Theologie als Wegweiser in der Welt der Religionen, 2012, S. 194-203.

Komparative Theologie als interreligiöse Streitkultur

Dieses Moment der Lernens voneinander wird in der Komparativen Theologie dadurch methodisch eingeübt, dass man versucht, in die Position der anderen hineinzugehen.19 Entsprechend studieren komparative Theologinnen und Theologen nicht nur ihre eigene Theologie, sondern sie studieren auch die fremde Theologie bei der anderen Religion. Natürlich kann das Hineingehen in die fremde Perspektive niemals vollkommen gelingen, wir können nicht um unsere Ecke sehen, wie Nietzsche das so schön gesagt hat.20 Es ist eine hoffnungslose Neugierde, als jemand anders sehen zu wollen. Aber fremde Theologien sind durchaus erlernbar. Und es ist eine interessante Übung, wenn ein Streit so inszeniert wird, dass beispielsweise die Muslimin die Trinitätslehre verteidigen muss und die Christin für die Anerkennung von Muhammad als Propheten wirbt. Im Streiten für die Position der anderen merke ich erst, ob ich sie richtig verstanden habe, und so kann Streit auch gespielt werden und das Hineingehen in andere Rollen kann als Mittel des Lernens verwendet werden. Ich selbst habe damit in interreligiösen Dialogzusammenhängen ausgesprochen gute Erfahrungen gemacht. Dazu braucht es aber natürlich ein akademisches Lernsetting, wie es durch den Kontext Komparativer Theologie gegeben ist. Durch den Tausch der Rollen wird erlebbar, dass es wirklich darum geht, die jeweilige Position möglichst stark und authentisch zu präsentieren, bevor man sich kritisch mit ihr auseinandersetzt. Ein vierter Methodenschritt, der im Bereich der Komparativen Theologie gerne angewendet wird, ist die Etablierung der Instanz eines Dritten oder die Instanz vieler weiterer Perspektiven, die die Debattenlage dynamisieren und blinde Flecken des Diskurses minimieren soll. Robert Neville spricht an dieser Stelle von einer kritischen Wolke von Zeugen, die zu befragen sind.21 Im Hintergrund steht die auch von Habermas aufgestellt Forderung nach einer universalen Diskursgemeinschaft, die zwar nie vollständig realisierbar ist, aber dadurch zumindest angezielt werden kann, dass immer die dritte Position hinzugezogen wird, die einen erzielten Konsens der Streitenden in Frage stellt und noch einmal herausfordert. Auf diese Weise kann vermieden werden, dass ein Streit auf Kosten Dritter geschlichtet wird, indem die Dritten selbst zu Akteuren des Streits werden. Die Figur des Dritten kann aber auch helfen, unproduktiven Streit zu beenden. Sie kann fehlende Informationen geben, die die Diskurssituation wieder verflüssigen oder Anregungen geben, die neue Aspekte in den Diskurs hineinnehmen und ihn dadurch produktiv wenden. In diesem Sinne kann man zur Figur des Dritten sagen: »Sein Auftritt im Streit bedeutet Übergang, Versöhnung, Unterbrechung,

19 20 21

Vgl. von Stosch, Klaus: Komparative Theologie als Wegweiser in der Welt der Religionen, 2012, S. 204. Vgl. Nietzsche, Friedrich: Die fröhliche Wissenschaft, 1999, S. 626. Vgl. Neville, Robert C.: Philosophische Grundlagen und Methoden der Komparativen Theologie, 2009, S. 42.

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sinnhafte Reduktion von Komplexität, Verlassen des absoluten Gegensatzes.«22 Die Instanz des Dritten sorgt also dafür, dass der Streit immer wieder in produktive Bahnen gerät, hilft aber zugleich auch, vorschnelle Ergebnisse zu korrigieren und kann den Streit auch wieder neu anfachen. Der Dritte ist also nicht Richter, sondern gewissermaßen Anwalt des Streits, der darauf achtet, dass dieser produktiv bleibt und nicht durch einen faulen Kompromiss beendet wird. Wenn der Streit zur Ruhe kommt und ein Problem geklärt werden konnte, ist es der Komparativen Theologie immer sehr wichtig, dass diese Ergebnisse auch in die eigene religiöse Community zurückgebracht werden und sie zu einer Veränderung der eigenen Praxis führen. Damit ist neuer Streit vorprogrammiert, weil die eigenen Lernerfahrungen nicht immer anerkannt werden. Oft hilft es deshalb, Streit auch stellvertretend für Religionsgemeinschaften zu führen und Theologinnen und Theologen Mandate zu geben, damit erzielte Ergebnisse dann auch für ein neues Miteinander der Glaubenden verschiedener Religionen genutzt werden können. Entsprechend ist vor dem interreligiösen Streit immer zu klären, ob man in einer solchen Delegation für die eigene Glaubensgemeinschaft zu sprechen versucht oder es letztlich nur um den Streit einzelner Gelehrter geht, der dann ja auch durch die Entwicklung hybrider Glaubensformen gelöst werden kann. Methodisch führt im deutschen Universitätssystem die Mandatierung der Theologien durch ihre jeweilige Glaubensgemeinschaft zur Möglichkeit, auch stellvertretend für andere zu streiten, sodass Ergebnisse eines solchen Streits von mehr als privater Bedeutung sind. Allerdings ist die Möglichkeit solcher Mandatierungen in allen Glaubensgemeinschaften umstritten und so bleibt der Theologie wohl keine andere Möglichkeit, als auch hier immer neu zu erproben, wie weit gefundene Lösungen in der Glaubenspraxis implementierbar sind oder nicht. Die methodisch disziplinierte interreligiöse Streitkultur als solche kann aber als universitäre Lernform auch dann eingeübt und fortgeschrieben werden, wenn ihre Rezeption in den Glaubensgemeinschaften immer neu auf dem Spiel steht. Für die Einübung der interreligiösen Streitkultur scheint mir nicht nur die soeben ausgeführte methodische Disziplinierung wichtig zu sein. Vielmehr scheint es mir auch wichtig zu sein, bestimmte Haltungen zu erlernen, die dem Streiten zugrunde liegen. Diese Haltungen übernehme ich von Catherine Cornille, die sie als Haltungen für den interreligiösen Dialog profiliert hat.23 Sie scheinen mir aber gerade auch für das Streiten in religiosis einschlägig zu sein.

22 23

Dennaoui, Youssef/Witte, Daniel: Streit und Kultur, 2008, S. 224. Vgl. Cornille, Catherine: The im-possibility of interreligious dialogue, 2008. Zusammengefasst habe ich Cornilles Überlegungen in von Stosch, Klaus: Komparative Theologie als Wegweiser in der Welt der Religionen, 2012, S. 155-168. Im folgenden Kapitel nehme ich Teile dieser Zusammenfassung wieder auf und modifiziere sie leicht, damit sie zum Kontext dieses Aufsatzes passen.

Komparative Theologie als interreligiöse Streitkultur

4.

Haltungen als Grundlage für die Etablierung einer interreligiösen Streitkultur

Wenn es gelingen soll, produktiv miteinander zu streiten, ist es wichtig, zuallererst eine Haltung epistemischer Demut einzunehmen. Nie wird es dem Menschen gelingen, das Unbedingte als Unbedingtes in all seinen Dimensionen zu erfassen, so dass der Mensch zeit seines Lebens immer Lernender bleibt – auch im interreligiösen Dialog – und das sollte man auch im Streiten nicht vergessen. In epistemischer Hinsicht ist jeder Mensch so sehr durch seinen kulturellen und lebensweltlichen Hintergrund geprägt, dass die Begegnung mit anderen Kulturen und Lebensformen immer helfen kann, die eigene Wahrheit neu und tiefer zu verstehen. Entsprechen kann man schon rein philosophisch begründen, warum wir demütig in das Gespräch der Religionen hineingehen sollten, gerade dann, wenn es zum Streit kommt. Demut spielt zudem in der christlichen Spiritualität und anderen religiösen Traditionen seit jeher eine große Rolle. Dabei bezieht sie sich Cornille zufolge traditionell meistens nur auf die menschliche Stellung Gott gegenüber und nicht auf die epistemischen Ansprüche des Glaubens. Es gehe also oft um Demut der Wahrheit gegenüber, ohne zu bezweifeln, dass man sie habe.24 Dies ändere sich grundsätzlich erst durch das typisch moderne Bewusstsein von der Gewordenheit und Historizität aller sprachlichen und symbolischen Ausdrucksformen des Glaubens. Im christlichen Glauben sind es aber nicht nur diese geistesgeschichtlichen Entwicklungen, die für eine epistemische und doktrinale Demut sprechen. Vielmehr ergebe sich eine derartige Demut auch aus dem eschatologischen Vorbehalt und der Tradition apophatischer Theologie.25 Bei aller berechtigten und notwendigen epistemischen Demut braucht der interreligiöse Dialog auch klare Standpunkte und eine gewisse Treue zu der eigenen Tradition. Wenn man nicht gerade heraus die Wahrheit bezeugt, von der man meint ergriffen zu sein, wird Dialog langweilig und Streit unmöglich. Religionen beziehen ihre Kraft ja aus der Einsicht, dass wir es hier mit etwas zu tun bekommen, das uns unbedingt angeht.26 Diese Unbedingtheit will auch bezeugt werden und erklärt, warum sich Streit in religiosis nicht vermeiden, wohl aber kultivieren lässt. Allerdings macht es einen großen Unterschied, ob ich den anderen von meiner Position überzeugen will, weil ich seine Position für objektiv defizitär halte und keine epistemische Demut kenne, oder ob ich für die eigene Wahrheit eintrete, ohne deswegen schon vorher zu wissen, was dies für das Verhältnis zum anderen 24 25 26

Vgl. Cornille, Catherine: The im-possibility of interreligious dialogue, 2008, S. 29f. Vgl. Cornille, Catherine: The im-possibility of interreligious dialogue, 2008, S. 31-42. Vgl. Tillich, Paul: Systematische Theologie, 1966, S. 155.

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bedeutet. Denn wenn ich mit dem Verstehen beider Seiten nie zum Ende komme, werde ich auch im Streiten immer um die Fallibilität des eigenen Zeugnisses wissen und entsprechend in einer dialogorientierten und lernbereiten Haltung bleiben. Ein dritter Punkt scheint mir wichtig zu sein. Streiten ergibt nur Sinn, wenn wir unterstellen, dass wir einander zumindest prinzipiell verstehen können. Denn jede Behauptung einer prinzipiellen Nichtverstehbarkeit oder Unvergleichbarkeit von Religionen würde jede Verständigung unmöglich machen.27 Natürlich lässt sich durch derartige Hinweise die Kommensurabilität unterschiedlicher Lebensformen und Sprachspiele nicht beweisen. Interessant ist allerdings die Beobachtung, dass wir immer wieder versuchen, auch noch so fremdartige Zeichen und Lebensäußerungen zu verstehen. Der österreichische Philosoph Ludwig Wittgenstein verweist im Zusammenhang dieses Phänomens auf die gemeinsame menschliche Handlungsweise, die uns offenbar hilft, uns auch in noch so fremde Gebräuche und Lebensformen hineinzudenken.28 Dabei denkt er an kein festes kulturübergreifendes Handlungsmuster, sondern an je neu sichtbar werdende Anknüpfungspunkte im Handeln, die es uns ermöglichen, zueinander zu finden. Komparative Theologie wird sich in allen Dialog- und Streitsituationen nie damit zufrieden geben, dass Verstehen unmöglich ist, sondern je neu im Vertrauen auf die gemeinsame menschliche Handlungsweise und über die Grenzen von Sprachspielen und Lebensformen hinweg nach Wegen des Verstehens suchen. Eine Garantie für das Gelingen dieses Unternehmens gibt es nicht. Aber zur Grundhaltung Komparativer Theologie gehört es, dieses Gelingen auch durch Probleme hindurch immer wieder zu suchen. Und deswegen wird sie auch immer wieder nach Wegen suchen, vom Widerstreit zum Rechtsstreit zu finden und diesen kultiviert auszutragen. Eine vierte Tugend, die für den interreligiösen Dialog und die Komparative Theologie unerlässlich ist, ist die Fähigkeit und Bereitschaft zur Empathie mit dem Fremden. Gerade sie scheint mir beim Streiten oft vergessen zu werden und doch unerlässlich zu sein, wenn das Streiten produktiv werden soll. Religiöses Verstehen ist kaum denkbar ohne Sympathie mit der anderen bzw. ohne von ihr berührt zu werden.29 Dieses Berührtwerden kann dabei nicht nur die Person der Fremden unter Absehung von ihrer Religiosität meinen, sondern muss sie auch in ihren 27

28 29

Vgl. Cornille, Catherine: The im-possibility of interreligious dialogue, 2008, S. 95: »Any notion of the radical singularity or the fundamental incomparability of religions would render dialogue superfluous, if not impossible.« Vgl. Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen, 1993, S. 225-485, hier Nr. 206. Vgl. Cornille, Catherine: The im-possibility of interreligious dialogue, 2008, S. 138. Pate von Cornilles Überlegungen in der klassischen Hermeneutik sind die Hinweise auf die Bedeutung der Empathie bzw. des Erlebens für das Verstehen bei Dilthey. Das Bemühen um liebevolles Verstehen des anderen hat aber noch eine viel ältere Tradition hinter sich (vgl. nur das principium caritatis bei Thomas von Aquin) und wird auch heute immer wieder als Orientie-

Komparative Theologie als interreligiöse Streitkultur

religiösen Dimensionen betreffen. Von daher kann diese Empathie nicht an der Religion und den religiösen Vollzügen der anderen vorbeigehen. Empathie versucht also, sich so sehr für die andere zu öffnen, dass ich mich von ihr und ihrer Religion berühren und affizieren lasse. Das bedeutet nicht, dass ich ihre Religion übernehme oder für wahr halte. Aber es bedeutet, dass ich sie und ihre religiöse Praxis an mich heranlasse, ohne mich zugleich innerlich davon zu distanzieren. Natürlich darf man eine innerliche Affizierung durch die andere Religion nicht zur Voraussetzung machen, um Komparative Theologie betreiben zu können und in den interreligiösen Dialog oder Streit eintreten zu dürfen. Sie bleibt letztlich unverfügbar und kann nicht mittels einer Technik erlernt werden. Solange sie nicht theologisch durchdrungen ist, bleibt sie auch in besonderer Weise angefochten und verwirrend. Aber man wird schon erwarten dürfen, dass sich die Teilnehmenden im interreligiösen Dialog füreinander öffnen und empathisch für die Sehnsüchte und Hoffnungen der je anderen sind – auch und gerade, wenn dabei eine spirituelle Ebene erreicht wird. Wenn eine solche Offenheit und Empathie spürbar ist, wird auch der interreligiöse Streit von dem Suchen nach der je größeren Wahrheit Gottes geprägt sein und niemals die andere Streitpartei herabwürdigen. Streit würde dann um der Sache willen geführt und wäre gerade Zeichen des Respekts füreinander. In eine ähnliche Richtung weist eine letzte Tugend für den interreligiösen Dialog, auf die Cornille aufmerksam macht: die Gastfreundschaft. Auch sie stünde einer interreligiösen Streitkultur gut an und wird gerne vergessen. Gastfreundschaft versteht Cornille als Einstellung »großzügiger Offenheit für die (mögliche) Gegenwart von Wahrheit in der anderen Religion.«30 Beim Streit ginge es also darum, offen dafür zu sein, dass die andere möglicherweise in entscheidenden Punkten Recht hat und mir etwas zu sagen hat. Dafür gilt es sich zu öffnen und gewissermaßen eine Willkommenskultur zu entwickeln. Bei dieser Offenheit geht es darum, sich in einer grundsätzlichen Gastfreundschaft dem Fremden zu öffnen und ihm als Gast ein Wohnrecht im eigenen Denken einzuräumen. Die Bereitschaft, hierzu entsprechende Umräumaktionen im eigenen Denken und Glauben zu vollziehen, geht auf die Bedürfnisse und Eigenarten des jeweiligen Gastes ein. Es geht also nicht darum, ein Gästezimmer abzuspalten, in dem man den Gast für sich lässt, sondern darum, ihn in der eigenen Wohnung ein- und ausgehen zu lassen, und damit zu rechnen, dass er mich in meinem Leben an jeder nur denkbaren Stelle bereichern kann. Dadurch kann er dann auch beim Streiten vielfältig an meine Überzeugungen anknüpfen und sich zu ihnen verhalten.

30

rungspunkt des interreligiösen Dialogs genannt (vgl. etwa Neuer, Werner: Der ökumenische und der interreligiöse Dialog, 2011, S. 154). Cornille, Catherine: The im-possibility of interreligious dialogue, 2008, S. 177.

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Wirkliche Gastfreundschaft – so Catherine Cornille – »beinhaltet die Anerkennung des anderen als des anderen sowie die Offenheit für die Möglichkeit, sich von dieser Differenz verwandeln zu lassen.«31 Dabei sei es einfach, Gastfreundschaft den Ansprüchen gegenüber zu entwickeln, die der andere mit mir gemeinsam hat; letztlich handele es sich hier nur um »eine Zähmung der Wahrheit der anderen Religion.«32 Die eigentliche Herausforderung für die Gastfreundschaft stelle die Differenz und Fremdheit des Gastes dar, die gerade im Streit erfahrbar wird. Hier fordere die Gastfreundschaft dazu heraus, auch in dieser Fremdheit Elemente möglicher Wahrheit zu sehen, von der der Gastgeber bisher kein Wissen und zu der er auch noch keinen Verstehenszugang hat. Der Streit würde gerade darauf abzielen, diese Dimensionen benennbar zu machen. Wenn man einen Gast dazu auffordert, sich in den eigenen Räumen wie zu Hause zu fühlen, dann meint das nicht, dass der andere sich so verhalten soll wie ich und ich ihn nur bei einer solchen Anpassung anerkenne.33 Vielmehr bedeutet Gastfreundschaft anzuerkennen, dass mein Haus anders wird, damit die andere darin sein kann als die, die sie in ihrem eigenen Haus ist. Um auf ehrliche Weise zu diesem Zustand zu finden, braucht es auch die Bereitschaft zum Streiten. Diese fünf Anregungen beanspruchen selbstverständlich keine Vollständigkeit. Sie sind einfach Haltungen, die sich im interreligiösen Dialog und in der Komparativen Theologie bewährt haben. Entsprechend könnte es sich lohnen, sie auch in eine interreligiöse Streitkultur zu implementieren.

Bibliographie Cornille, Catherine: The im-possibility of interreligious dialogue. New York 2008. Dennaoui, Youssef/Witte, Daniel: Streit und Kultur. Vorüberlegungen zu einer Soziologie des Streits. In: Gebhard, Gunther/Geisler, Oliver/Schröter, Steffen (Hg.): StreitKulturen. Polemische und antagonistische Konstellationen in Geschichte und Gegenwart. Bielefeld 2008, S. 209-227. Ders.: Nachdenken über das Geheimnis der Liebe. In: Dürnberger, Martin (Hg.): Leidenschaften. Salzburger Hochschulwochen 2016. Innsbruck/Wien 2017, S. 11-41. Krahe, Susanne: Aug‹ um Auge, Zahn um Zahn? Beispiele biblischer Streitkultur. Würzburg 2005.

31 32 33

Cornille, Catherine: The im-possibility of interreligious dialogue, 2008, S. 178. Cornille, Catherine: The im-possibility of interreligious dialogue, 2008, S. 195. Cornille, Catherine: The im-possibility of interreligious dialogue, 2008, S. 197: »It involves a recognition that there might be elements of truth in the other religion of which one’s own tradition has no previous knowledge or understanding.«

Komparative Theologie als interreligiöse Streitkultur

Lyotard, Jean François: Der Widerstreit. Übersetzt von Joseph Vogl. Mit einer Bibliographie zum Gesamtwerk Lyotards von Reinhold Clausjürgens. München 2 1989. Mohn, Jürgen: Komparatistik als Position und Gegenstand der Religionswissenschaft. Anmerkungen zum religionswissenschaftlichen Vergleich anhand der Problematik einer Komparatistik des Zeitverständnisses im Christentum (Augustinus) und im Buddhismus (Dōgen). In: Bernhardt, Reinhold/von Stosch, Klaus (Hg.): Komparative Theologie. Interreligiöse Vergleiche als Weg der Religionstheologie. Beiträge zu einer Theologie der Religionen, Bd. 7, Zürich 2009, S. 225-276. Neuer, Werner: Der ökumenische und der interreligiöse Dialog. Gemeinsamkeiten und Unterschiede. In: Kerygma und Dogma 57 (2011), S. 140-162. Neville, Robert C.: Philosophische Grundlagen und Methoden der Komparativen Theologie. In: Bernhardt, Reinhold/von Stosch, Klaus (Hg.): Komparative Theologie. Interreligiöse Vergleiche als Weg der Religionstheologie. Beiträge zu einer Theologie der Religionen, Bd. 7, Zürich 2009, S. 35-54. Nietzsche, Friedrich: Die fröhliche Wissenschaft. In: ders., Kritische Studienausgabe, Bd. 3, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München 1999, S. 343651. Nitsche, Bernhard/von Stosch, Klaus/Tatari, Muna (Hg.): Gott – jenseits von Monismus und Theismus?, Beiträge zur Komparativen Theologie, Bd. 23, Paderborn 2017. Orlich, Max: »Don’t be nice. It’s the kiss of death«. Streitlust und Streitkultur der Avantgarden. In: Gebhard, Gunther/Geisler, Oliver/Schröter, Steffen (Hg.): StreitKulturen. Polemische und antagonistische Konstellationen in Geschichte und Gegenwart. Bielefeld 2008, S. 97-124. Ralston, Joshua B.: Law and the rule of God. A Christian-Muslim Exchange. Cambridge 2020. Tatari, Muna/von Stosch, Klaus (Hg.): Trinität – Anstoß für das islamisch-christliche Gespräch. Beiträge zur Komparativen Theologie, Bd. 7, Paderborn 2013. Tillich, Paul: Systematische Theologie, Bd. 3. Stuttgart 1966. Tworuschka, Udo: Selbstverständnis, Methoden und Aufgaben der Religionswissenschaft und ihr Verhältnis zur Theologie. In: ThLZ 126 (2001), S. 123-138. Von Stosch, Klaus: Komparative Theologie als Wegweiser in der Welt der Religionen. Beiträge zu einer Komparativen Theologie, Bd. 6, Paderborn 2012. Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen I. In: ders.: Werkausgabe Bd. 1. Neu durchges. v. J. Schulte. Frankfurt a.M. 9 1993, S. 225-485.

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Islamisierung des Extremismus oder Radikalisierung des Islam? Nina Käsehage

Vor dem Hintergrund einer zunehmenden Diversität von Identität, Kultur, Sprache, Sexualität, Religionszugehörigkeit und -orthopraxie, scheinen sich gegenwärtig viele Menschen einfache Deutungsmuster hinsichtlich komplexer Fragestellungen zu wünschen. Dies erklärt – zumindest teilweise – den immensen Zulauf, den populistische Strömungen und fundamentalistische Religionsinterpretationen derzeit zu verzeichnen haben. Damit korrespondierend wächst die Zahl unterschiedlicher Deutungsmachtstrategien, bspw. in Bezug auf den angemessenen Umgang mit ideologischen und religiösen Extremismen, stetig an und es werden vielerorts spezifische Deutungsmachtansprüche mit Blick auf die ›richtige‹ sprachliche und konzeptionelle Beschreibung von Radikalisierung(-sprozessen) artikuliert. Das Rostocker Nachwuchsforum »Streitkulturen. Deutungsmachtkonflikte zwischen Konsens und Zerwürfnis« des DFG-Graduiertenkolleg Deutungsmacht. Religion und belief-systems in Deutungsmachtkonflikten definiert die Komplexität von Konflikten wie folgt: »Konflikte können […] als lästig und störend empfunden werden – begleitet von der Intention, Streit zu vermeiden und Konsens als Idealzustand des Zusammenlebens zu stilisieren und anzustreben. Konsensorientierung impliziert, dass Konflikte tatsächlich erhebliche destruktive Dynamik entfalten und im Zerwürfnis enden können. Das droht vor allem dann, wenn die dem Konflikt zugrundeliegenden konkurrierenden Vorannahmen und Überzeugungen (beliefs) sich als grundsätzlich unvereinbar darstellen. Doch die kritische Auseinandersetzung in und zwischen Religionen, Wissenschaftsdisziplinen und Gesellschaftsformen ist als zugleich konflikt- und streitfrei nicht nur undenkbar, sondern sie ist vielmehr so-

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gar produktiv auf Konflikt und Streit als zentrale Momente der Ermöglichung von Neu- und Andersverstehen angewiesen.«1 Dieser Prämisse folgend, versucht sich der folgende Beitrag den unterschiedlichen Konfliktlinien thematisch anzunähern, die gegenwärtig innerhalb der Extremismus- und Radikalisierungsforschung in Bezug auf die Religion des Islam bzw. seine Vertreter*innen erkennbar sind. Dabei wird zum einen die Frage erörtert, ob die politisch und medial vermittelte Dominanz gewaltbereiter Taten aus dem sogenannten ›islamitischen‹ Milieu tatsächlich der Realität entspricht oder es sich dabei um eine künstlich kreierte Islamisierung des Extremismus handelt. Um einer ›gefühlten‹ Realität wissenschaftlich fundierte Fakten gegenüberzustellen, werden exemplarisch ausgewählte statistische Daten betrachtet, die neben den Informationen zu ›islamistisch-motivierten‹ Straftaten auch Straftaten aus den links- und rechtsextremistischen Milieus enthalten. In diesem Zusammenhang bietet sich zudem die Diskussion der möglichen Instrumentalisierung einer gesamten Religion durch die Verknüpfung gewaltbereiter Taten mit ihrem Namen – adressiert durch den Begriff Islamisierung – an, die an dieser Stelle skizziert werden soll. Zum anderen wird untersucht, inwiefern gegenwärtig eine (grundsätzliche) Radikalisierung des Islam feststellbar sein könnte oder ob lediglich eine radikalisierte Minderheit von Muslimin*innen das Bild einer gesamten Religion (inter-)national zu prägen vermag. Zu diesem Zweck werden zunächst ausgewählte Grundzüge des IS betrachtet, die von essentieller Bedeutung für das Verständnis der Zielsetzungen dieser jihadistischen Bewegung waren bzw. es für dessen verbliebene Anhänger*innen noch immer sind. In einem Folgeschritt werden wichtige Bestandteile des Offenen Briefs islamischer Gelehrter an Abū Bakr al-Baġdādī, den selbsternannten Kalifen des IS, analysiert. Diese verdeutlichen, dass der IS der theologisch und rechtlich angemessenen Auslegung islamischer Quellen (un-)bewusst2 1

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Ausschreibungstext des Rostocker Nachwuchsforums »Streitkulturen. Deutungsmachtkonflikte zwischen Konsens und Zerwürfnis« des DFG-Graduiertenkolleg Deutungsmacht. Religion und belief-systems in Deutungsmachtkonflikten vom 11.06.2019. Die Einschätzung, ob die Auslegung islamischer Quellen durch sämtliche Vertreter*innen der IS-Führungsebene bewusst entgegen deren tatsächlicher Aussagen erfolgte, kann nicht vollständig validiert werden. Da im Kontext der Betrachtung jihadistischer Organisationen davon ausgegangen werden kann, dass deren Versuch ihre Gewaltbereitschaft religiös zu legitimieren, eine subjektive Interpretation der religiösen Quellen einschließt und in der Tat nicht sämtliche Mitglieder der Führungsriege über die rechtliche oder theologische Ausbildung verfügten, die es ihnen ermöglicht hätte, eine Gelehrtenmeinung zu spezifischen Fragen, bspw. die Kriegsführung oder den Umgang mit Andersgläubigen betreffend, zu vertreten, ist es naheliegend anzunehmen, dass in diesem Zusammenhang sowohl auf der Sach- als auch auf der Personalebene bewusste und unbewusste Entscheidungen durch ISRepräsentanten getroffen worden sein könnten.

Islamisierung des Extremismus oder Radikalisierung des Islam?

zuwiderhandelte und damit zur Radikalisierung des Islam beitrug. Hierdurch wurde das Ansehen der gesamten islamischen Religion massiv beschädigt. Darüber hinaus trug die selektive Islaminterpretation des IS dazu bei, dass einige Muslimin*innen sich dem IS und dessen radikaler Lesart des Islam anschlossen, da sie selbst über mangelnde religionsbezogene Fachkenntnisse verfügten.

Die Islamisierung des Extremismus Gemäß Rapoports Hypothesen hinsichtlich der unterschiedlichen Ausprägungsformen des Terrorismus3 hat die ›Religiöse Welle‹ gegen Ende der 1970er Jahre eingesetzt und ist gegenwärtig noch nicht abgeebbt.4 Folgt man dieser Theorie, könnte die von Rapoport beschriebene ›Religiöse Welle‹ einen ihrer Höhepunkte in der Entstehung des so genannten ›Islamischen Staates‹ (IS) im Sommer 2014 gefunden haben. Der ›globale Terror‹ wurde nun nicht mehr ausschließlich von der Terror-Organisation Al-Qaida (AQ) betrieben, sondern durch einen weiteren jihadistischen Akteur zu einem transnationalen Phänomen, mit dem sich nicht nur Extremismus-Forscher*innen beschäftigten, sondern dessen Existenz auch zu ideologischen Auseinandersetzungen zwischen Vertreter*innen und Sympathisant*innen des jihadistischen Milieus führte. Der Diskurs über den Begriff ›Extremismus‹5 wird gegenwärtig, insbesondere im Zuge öffentlicher Debatten über IS-Rückkehrer*innen und der damit korrespondierenden Sorge über mögliche (weitere) IS-motivierte Anschläge innerhalb Europas, zunehmend von dem Begriff ›Islamismus‹ dominiert. Obwohl in der Forschung Einigkeit darüber besteht, dass keine universell anerkannte Definition des Begriffs Extremismus – ebenso wenig wie hinsichtlich des Terminus Terrorismus – existiert, lässt sich ein gesteigertes Interesse an Gewalt, das in unterschiedlicher Art und Weise artikuliert werden kann, als ein Charakteristikum des Extremismus identifizieren, über das ein Konsens in der Wissenschaftsgemeinde besteht. Eine gesteigerte Gewaltbereitschaft ist demzufolge auch dem links- oder rechtsextremen Milieu inhärent. Trotzdem wird die öffentliche Rezeption des Extremismus, auch seit der verstärkten medialen Berichterstattung über die salafistische Szene in Deutschland, bspw. infolge der gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen

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Vgl. Rapoport, David C.: Modern Terror, 2004, S. 46-73. Vgl. Käsehage, Nina: Die gegenwärtige salafistische Szene in Deutschland – Prediger und Anhänger, 2018, S. 50. Die Vielzahl der Definitionsmöglichkeiten des Begriffs ›Extremismus‹ kann an dieser Stelle nicht diskutiert werden. Eine kurze Einführung in diesen Begriff findet sich bei Käsehage, Nina: Die gegenwärtige salafistische Szene in Deutschland – Prediger und Anhänger, 2018, S. 45-48.

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Polizei und gewaltbereiten salafistischen Akteuren im Jahr 2012, häufig automatisch mit radikal-islamischen Bewegungen und Ereignissen verknüpft. Diese zunehmende Islamisierung des Extremismus ist durchaus dazu geeignet, eine gesamte Religion und deren Glaubensanhänger*innen zu diskriminieren und nachhaltig zu stigmatisieren. Dass eine solche Entwicklung im kompletten Gegensatz zu den Leitlinien einer pluralistischen und heterogenen Gesellschaft steht, die darum bemüht ist, unterschiedliche Lebens- und Glaubensüberzeugungen zu respektieren und allen Menschen ein friedliches Zusammenleben unter dem Dach der Demokratie6 zu ermöglichen, leuchtet ein. Neben der zuvor erwähnten gesteigerten Gewaltbereitschaft (Militanz) und der tatsächlichen Anwendung von Gewalt zur Erreichung ideologischer Zielsetzungen, bspw. gesellschaftlicher Umbrüche,7 unterscheidet Neumann mit Blick auf den Extremismus dessen kognitive und gewaltbereite Varianten. Der gewaltbereite Extremismus spalte sich in die folgenden drei Erscheinungsformen auf: die ›Sabotage‹, verbunden mit dem Ziel der Sachbeschädigung, den ›Straßenkampf‹, in Form einer gewalttätigen Auseinandersetzung verschiedener Gruppen oder mit der Polizei und die ›terroristische Gewalt‹, verbreitet über gezielte Angriffe im Dienst einer spezifischen Ideologie, bei denen der Tod von Menschen miteinkalkuliert werde.8

Unterschiedliche Bewertungskriterien für Extremismusformen Trotz der zuvor erwähnten Definitionsoffenheit hinsichtlich des Konzepts des Extremismus ist seit einiger Zeit innerhalb der Forschung eine Tendenz der Islamisierung des Extremismus erkennbar. Dabei verleihen einige Forscher*innen durch ihre Publikationen der Vermutung Gestalt, dass aufgrund der Vielzahl jihadistisch motivierter Anschläge in der jüngsten Vergangenheit davon ausgegangen werde oder werden ›müsse‹, dass Attentate aus dem Umfeld radikal-islamischer Bewegungen das gegenwärtige Gesicht des Extremismus prägen.9 Die Tatsache, dass sich in einigen Ländern, bspw. in Kanada, die Zahl rechtsextremistischer Gruppen im Jahr 6

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Dieses Beispiel ist insbesondere auf die Länder anwendbar, in denen eine Demokratie als Staatsform anzutreffen ist. Es sollte jedoch nicht den Blick dafür verstellen, dass auch in Ländern, in denen es keine Demokratie gibt, ähnliche Ideale mit Blick auf die friedliche CoExistenz verschiedener Gruppen angestrebt werden (können). Vgl. Scruton, Roger: »Extremism«, 2007, S. 132-145. Vgl. Neumann, Peter: Radikalisierung, De-Radikalisierung und Extremismus, 2013, S. 5. Vgl. Käsehage, Nina: Die gegenwärtige salafistische Szene in Deutschland – Prediger und Anhänger, 2018, S. 46. Vgl. Schmid, Alex P.: Religion and Violent Extremism – with a Focus on Islamist Jihadism, 2020, S. 78.

Islamisierung des Extremismus oder Radikalisierung des Islam?

2019 verdreifacht hat10 und in den USA die größte Terrorgefahr von rechtsextremen Gruppen ausgeht11 , demnach also die meisten extremistischen Taten nicht aus dem radikal-islamischen Milieu, sondern aus dem Umfeld rechtsradikaler Bewegungen resultierten12 , scheint bislang nicht dazu beigetragen zu haben, diesen Eindruck zu relativieren. Ebenfalls dürfte die in mehr als 70 Ländern aktive QAnon-Bewegung, eine Vereinigung von Menschen, die diverse Verschwörungsnarrative vertreten u.a. die Vorstellung, dass die Impfung gegen »SARS-COV-2« »ein Instrument der Regierung zur Kontrolle der Massen« sei,13 und die aufgrund ihrer Taten vom Federal Bureau of Investigation (FBI) als extremistische Organisation eingestuft wird, zukünftig zu einer der größten extremistischen Gefahren heranwachsen. Dass ihr Einfluss steigt, lässt sich anhand der Zunahme ihrer Follower und Tweets, die sich in den sozialen Medien auf QAnon-Inhalte beziehen, belegen. Die Zahlen der Follower von QAnon liegen gegenwärtig bei mehr als 1,5 Millionen in den USA und bei 500.000 Millionen in Europa, wo QAnon u.a. in Deutschland, England, Frankreich, Italien und den Niederlanden vertreten ist. Die Tweets, die QAnon-Inhalte multiplizieren, stiegen von »5 Millionen im Jahr 2017 auf über 12 Millionen im Jahr 2020« an.14 In Anbetracht dieser Entwicklung merkt Molle an, dass in Bezug auf QAnon dieselbe (staatliche) Vorgehensweise angewendet werden müsste wie in Bezug auf »extreme religious movements.«15 Dennoch verbinden viele Menschen mit dem Begriff ›Extremismus‹ automatisch Taten aus dem radikal-islamischen Milieu. Dies hängt zum einen damit zusammen, dass die mediale Berichterstattung über extremistische Gruppen und Taten, die einen radikal-islamischen Hintergrund aufweisen, omnipräsent ist. Die öffentliche Fokussierung auf den radikal-islamischen Extremismus ruft wiederum anti-muslimische Ressentiments hervor, die nicht nur gegenüber radikal-islamischen Extremist*innen artikuliert werden, sondern auch auf die friedliche Mehrheit der Muslim*innen appliziert werden. Der Jahresbericht der European Com-

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Vgl. Kielburger, Craig/Kielburger M.: Hate is Canada’s National Crisis, 2019, https://www.we. org/en-GB/we-stories/opinion/hate-crimes-national-crisis-canada. Vgl. Gruenewald, Jeff et al.: Far-Right Lone Wolf Homicides in the United States, 2013, S. 10051024.; Vgl. Kurzman, Charles/Schanzer, D.: The growing right-wing terror threat, 2015, https: //www.nytimes.com/2015/06/16/opinion/the-other-terror-threat.html?_r=0. Vgl. Abdulla, Namo: Report: Far-Right Terrorism Rises as Islamist Terrorism Declines, 2020, https://www.voanews.com/extremism-watch/report-far-right-terrorism-rises-islamist-t errorism-declines. Molle, Andrea: The terrorist movement of QAnon, 2021, https://www.startinsight.eu/en/reac t-qanon-molle-en/ (zuletzt abgerufen am: 15.01.2021). Molle, Andrea: The terrorist movement of QAnon, 2021. [Ibid.] Molle, Andrea: The terrorist movement of QAnon, 2021. [Ibid.]

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mission against Racism and Intolerance (ECRI) aus dem Jahr 2018 kommt in diesem Zusammenhang zu dem folgenden Ergebnis: »In public discourse, Islam and Muslims continue to be associated with radicalization, violence and terrorism. There is, generally, only very little positive media coverage of Muslim communities in Europe. Islamophobic hatred is often spread via the Internet. […] In many member states, a dangerous ›normalisation‹ of Islamic prejudices can be observed.«16 Diese Entwicklung stellt insofern ein ›hausgemachtes‹ Problem der zuvor erörterten misslichen Begriffsbildung Islamismus dar, weil dieser Begriff dazu beiträgt, die Spirale aus anti-islamischer Diskriminierung, die ursächlich für eine Hinwendung zu radikal-islamischem Gedankengut sein kann, weiter in Bewegung zu halten. Dieser Kreislauf könnte jedoch durch die Verwendung eines präziseren Begriffs wie ›radikaler Islam‹ durchbrochen werden, der wenig Raum für Stereotypisierungen ermöglicht, weil er nur den für Extremismus und Radikalisierung verantwortlichen Teilbereich fokussiert.17 Daneben wäre es mit Blick auf das Erstarken rechtsextremistischer und linksextremistischer Kräfte innerhalb Europas wichtig, die öffentliche Wahrnehmung für diese Entwicklungen im Extremismus-Bereich ebenfalls zu sensibilisieren. In Bezug auf Deutschland lässt sich konstatieren, dass rechtsextreme Bewegungen, bspw. die Gruppen ›Revolution Chemnitz‹ oder ›Freital‹, in der jüngsten Zeit für zunehmende Attacken auf Geflüchtete und linke Politiker verantwortlich zeichneten.18 Im Jahr 2019 wurde zudem ein rechtsextremes Netzwerk innerhalb der Bundeswehr Sondereinheit Kommando Spezialkräfte (KSK) aufgedeckt, dessen Mitglieder über ein erhebliches Waffen- und Sprengstofflager verfügten und zum Teil der rechtsextremen paramilitärischen Gruppe ›Hannibal‹ angehörten, die einen gewaltsamen Umsturz der deutschen Regierung plante. Als Konsequenz dieser staatsgefährdenden Entwicklungen, die im rechtsextremistischen Milieu anzusiedeln waren, wurde das KSK durch das Verteidigungsministerium im Juni 2020 aufgelöst. Diese Entscheidung war zwar folgerichtig, dürfte jedoch nicht zwangsläufig das Problem der partiell zu konstatierenden Vulnerabilität einiger BundeswehrAngehöriger in Bezug auf rechtsextreme Radikalisierung gelöst haben. Im Bereich des Linksextremismus sind bspw. innerhalb Europas ebenfalls eine gesteigerte Militanz sowie der transnationale Zusammenschluss gewaltbereiter

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European Commission against Racism and Intolerance (ECRI) und Council of Europe (Hg.): Annual Report on ECRI´s Activities Covering the Period from 1 January to 31 December 2018, 2019, S. 10ff., https://rm.coe.int/annual-report-2018/168094d6fe. Vgl. Käsehage, Nina: Die gegenwärtige salafistische Szene in Deutschland – Prediger und Anhänger, 2018, S. 63. Europol: EU Terrorism Situation and Trend Report (TE-SAT), 2020, S. 60, 23.

Islamisierung des Extremismus oder Radikalisierung des Islam?

Linksextremist*innen in Dänemark, Deutschland, Griechenland, Norwegen und Schweden zu konstatieren.19 Die Auswirkungen dieser internationalen Zusammenarbeit der linksextremistischen Protagonist*innen konnten bspw. im Zuge der gewalttätigen Ausschreitungen im Rahmen des G-20-Gipfels in Hamburg konstatiert werden, bei dem alle drei von Neumann aufgeführten ExtremismusErscheinungsformen durch Vertreter*innen des Linksextremismus zu beobachten waren.

Stigmatisierungseffekte von Begriffen Zum anderen weist Neumann darauf hin, dass die Begriffe ›Extremismus‹ sowie ›Radikalisierung‹ häufig inhaltliche Überschneidungen aufwiesen und in autoritären Ländern keine Reflektion von Begriffen im Zuge gesellschaftlicher Weiterentwicklung vollzogen würde. Infolgedessen könnten potenzielle Gegner*innen und ihre Ideen durch eine gezielte Stigmatisierung als ›Radikale‹ oder ›Extremisten‹ diskreditiert werden, um ihre persönliche Glaubwürdigkeit zu untergraben. Diese Diskreditierung würde häufig durch den Einsatz sozialer Medien unterstützt werden, um den öffentlichen Druck auf die Andersdenkenden zu erhöhen. Durch diese Vorgehensweise würden sich Oppositionelle willkürlichen Diskriminierungen ausgesetzt sehen, die zumeist von den jeweiligen Staatsoberhäuptern initiiert worden seien.20 Gegenwärtig ist diese Praxis mit Blick auf die Türkei und Ungarn in Bezug auf sämtliche Protagonist*innen und Gruppen zu konstatieren, die keine regimekonforme Meinung vertreten. Der Frage, ob diese Strategie auch innerhalb Deutschlands Anwendung findet, ist ein weiterer Aspekt, der auszugsweise am Terminus ›Islamismus‹ betrachtet werden soll. Gemäß der Definition von Schirrmacher bedeutet »Islamismus […] nicht unbedingt Gewalt, im Gegenteil: Der Extremismus steht für Gewalt, der Islamismus für Politik im Namen der Religion.«21 Die Islamisierung des Extremismus könnte demnach als Versuch der Konstruktion eines Begriffs auf der Basis zweier unterschiedlicher Konzeptionen gewertet werden, die zwar einige Schnittmengen aufweisen (können), dies jedoch nicht zwingend tun müssen. Die bewusste Verquickung beider Konzepte im öffentlichen Diskurs könnte somit dazu geeignet sein, die grundsätzliche Unterscheidbarkeit beider in Bezug auf ihre wesentlichen Zielsetzungen zu unterminieren.

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Europol: EU Terrorism Situation and Trend Report (TE-SAT), 2020, S. 59. Vgl. Neumann, Peter: Radikalisierung, De-Radikalisierung und Extremismus, 2013, S. 5. Vgl. Käsehage, Nina: Die gegenwärtige salafistische Szene in Deutschland – Prediger und Anhänger, 2018, S. 48. Schirrmacher, Christine: Die Scharia. Recht und Gesetz im Islam, 2007, S. 68.

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Mohagheghi thematisiert die mögliche Beeinflussung der öffentlichen Rezeption des Islam und seiner Glaubensanhänger*innen vor dem Hintergrund der Erschaffung des Begriffs Islamismus. Dieser führe zu Vorverurteilungen gegenüber sämtlichen Muslim*innen, was im direkten Gegensatz zum allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz aller Bürger*innen Deutschlands stehe.22 Hafner-Al-Jabaji weist ebenfalls auf die Negativeffekte einer Gleichsetzung der Termini ›Islam‹ sowie ›Islamismus‹ für Muslim*innen hin. Als Muslima werde sie mitunter als ›Islamistin‹ bezeichnet, weil ihr Gegenüber durch den unreflektierten (medialen) Umgang mit diesem Begriff oftmals nicht in der Lage sei, zwischen ihrer Religionszugehörigkeit und einer Ideologie, die von einer Minderheit im Namen des Islam betrieben werde, zu unterscheiden.23

Die Gefahren terminologischer Deutungsmachtstrategien Der Umstand, dass eine terminologische Deutungsmacht als (gezielte) Ausgrenzungsstrategie gegenüber politischen Oppositionellen eingesetzt wurde, lässt sich am Beispiel des Bürgerrechtlers Martin Luther King illustrieren. Laut Neumann sei King zur damaligen Zeit in den USA durch das FBI offiziell zur ›persona non grata‹ erklärt und in der Folge beobachtet, zum Teil sogar in unangemessener Weise behandelt worden, weil man sein gesellschaftspolitisches Engagement für die afroamerikanische Bevölkerung in die Nähe des Extremismus gerückt habe. Obwohl diese Vorgehensweise mittlerweile für die Mehrheit der US-Amerikaner*innen und ihre Regierung wohl kaum mehr nachvollziehbar sein dürfte, lässt sich die Fragilität einer Demokratie wie in den USA anhand ihrer Haltung gegenüber Andersdenkenden demonstrieren und hängt entscheidend von der jeweiligen Landesführung ab. Wie machtvoll bestimmte Terminologien in den Händen der Staatsführung sein können und wie sehr sie für subjektive Zwecke instrumentalisiert werden können, zeigt sich anhand des Verhaltens des früheren US-Präsidenten Trump mit Blick auf den Fall des ermordeten Afroamerikaners George Floyd. Trump unterstützte nicht etwa das Anliegen der Demonstrant*innen, die willkürliche Gewalt gegenüber Afroamerikaner*innen in den USA zu stoppen oder drückte den Hinterbliebenen des Opfers sein Beileid aus, sondern besuchte stattdessen die Gegendemonstrant*innen – darunter zahlreiche Vertreter*innen der sogenannten ›White Supremacy‹-Bewegung.

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Mohagheghi, Hamideh: Frauen für den Dschihad, 2015, S. 8. Vgl. Käsehage, Nina: Die gegenwärtige salafistische Szene in Deutschland – Prediger und Anhänger, 2018, S. 62. Vgl. Blau, Gisela: Islamisch oder islamistisch?, 2014, https://www.journal21.ch/islamisch-ode r-islamistisch-0 (zuletzt abgerufen am: 29.06.2016).

Islamisierung des Extremismus oder Radikalisierung des Islam?

Im Zuge einer Demonstration in Washington D.C. vom 1. Juni 2020, die von Vertreter*innen der Black Lives Matters (BLM) Bewegung organisiert wurde, einer Gruppe, die sich für die Rechte von Afroamerikanner*innen – insbesondere vor dem Hintergrund von Polizeigewalt gegenüber Afroamerikanner*innen wie George Floyd – einsetzt, wurden gemäß Mehra und Cook im Vergleich zu der Erstürmung des US-Kapitols am 6. Januar 2021 fünf Mal so viele Demonstrant*innen verhaftet. Dies hänge auch damit zusammen, dass die Polizeipräsenz im Kontext der BLM-Demonstration sehr hoch war, während die U.S. Capitol-Polizei am Tag der Erstürmung des Kapitols sogar unterbesetzt gewesen sein soll.24 Obwohl der Capitol Police Chief Steven Sund eigenen Angaben zufolge aufgrund eines Vorberichts des US-Geheimdienstes bereits zwei Tage vor der Erstürmung des Kapitols mehr Polizeieinsatzkräfte zu dessen Absicherung angefordert und diese Bitte am Tag der Erstürmung wiederholt habe, als sich die Erstürmung ereignete, habe er keinerlei Unterstützung erhalten: »six calls for backup during the riot were rejected or delayed.«25 Diese Beispiele belegen, wie zerbrechlich der vermeintliche Frieden zwischen den Vertreter*innen unterschiedlicher Gruppen in vielen Ländern ist, indem sie, wie im Fall von George Floyd, bspw. die schwelenden Konflikte um die Hautfarbe eines Menschen sichtbar machen, die eine Nation wie die USA einst entzweiten und die sie seit langer Zeit hinter sich gelassen zu haben glaubten, während diese Konflikte in der Tat nur unter der Oberfläche schlummerten.26 Der Appell Trumps an seine Anhänger*innen, ihren Unmut gegen den Präsidentschaftswechsel durch ›Stärke‹ zu demonstrieren, den er mit den Worten »You’ll never take back our country with weakness.«27 verknüpfte, führte dazu, dass die ›Trumpisten‹ das US-Kapitol erstürmten. Obwohl sich unter den Personen, die das Kapitol erstürmten, Vertreter*innen der QAnon-Bewegung befanden, die das FBI als ›extremistische Organisation‹, von der eine mögliche innenpolitische Gefahr

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Vgl. Mehra, Tanya/Cook J.: An attack on the Capitol and democracy: an act of terrorism?, 2021, https://icct.nl/publication/an-attack-on-the-capitol-and-democracy-an-act-of-terrorism/ (zuletzt abgerufen am: 18.01.2021). Thrush, Glenn/Cooper, H.: The Capitol Police chief says his pleas for backup were ignored by the sergeants-at-arms and the Pentagon, 2021, https://www.nytimes.com/2021/01/11/us/capi tol-police-backup-ignored.html (zuletzt abgerufen am: 12.01.2021). Die wachsende Zahl von Rechtsextremisten in den USA und die Vergleichbarkeit rechtsextremistischen und jihadistischen Handelns illustriert Weill, K.: America Under Attack by White Supremacists Acting Like ISIS, 2019, https://www.thedailybeast.com/poway-synagog ue-shooting-america-under-attack-by-white-supremacists-acting-like-isis (zuletzt abgerufen am 10.12.2021). Mehra, Tanya/Cook J.: An attack on the Capitol and democracy: an act of terrorism?, 2021.

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ausgehen könne28 , eingestuft hatte, fand der republikanische Präsident Trump noch freundliche Worte für diese Personen. Molle fasst Trumps Verhalten wie folgt zusammen: »Despite his constitutional duties, the outgoing President failed to condemn them and the violence that would later cause four victims among the protesters. Instead, he asked them to leave and return home, expressed loved and admiration, and, most importantly, took once again the opportunity to repeat his unfounded claims of voting fraud.«29 Dieses Zitat verdeutlicht die Tatsache, dass nicht nur in autoritären Ländern die Abwesenheit einer Reflexion bestimmter Begriffe im Zuge gesellschaftlichen Wandels zu beklagen ist, sondern dieses Versäumnis auch auf scheinbar intakte Demokratien wie die USA zutreffen kann, wenn grundlegende Machtpositionen eines Landes von Individuen bekleidet werden, die nicht willens oder in der Lage sind, objektiv zu handeln. Die Islamisierung des Extremismus könnte demnach zum Teil als das Ergebnis einer (weltweit) und subjektiv als besonders bedrohlich wahrgenommenen Entwicklung betrachtet werden, die Forscher*innen dazu verleitet haben könnte, ihre Forschungsbemühungen auf diesen Teilbereich des Extremismus zu konzentrieren, währenddessen andere Extremismen unbeobachtet blieben und hierdurch ungebremst wachsen konnten, wie am Beispiel der QAnon-Bewegung erkennbar wird. Im Sinne einer ausgewogenen Betrachtung sämtlicher Extremismen und deren spezifischen Gefährdungspotentials für die Gesellschaft, wäre es folglich ratsam, in der einschlägigen Forschung das Extremismus-Verständnis zu erweitern und Formen des Extremismus differenzierter zu betrachten. Durch diesen Kurswechsel könnte bislang unterschätzten Teilbereichen aus dem Phänomenbereich ›Extremismus‹ weniger Entwicklungsmöglichkeiten geboten und ihr Einfluss auf vulnerable Individuen begrenzt werden.

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Zitat: »The growing number of cases has resulted in the designation of QAnon as an extremist organization and a potential internal terrorist threat by the FBI.« Molle, Andrea: The terrorist movement of QAnon, 2021. Vgl. Vidino, Lorenzo: Countering Radicalization in America, 2010, S. 4f.

Islamisierung des Extremismus oder Radikalisierung des Islam?

Der Versuch der Radikalisierung des Islam In der Literatur wird sowohl zwischen individuellen30 und gruppenbezogenen Radikalisierungs-Prozessen31 als auch zwischen kognitiver und gewaltbereiter Radikalisierung32 unterschieden. Jenkins beschreibt Radikalisierung als einen Prozess, von dem Menschen betroffen sein könnten, die sich auf der Suche nach Identität und Zugehörigkeit befänden: »The more vulnerable are those who are at a stage of life where they are seeking an identity, while looking for approval and validation. They are searching for causes that can be religiously and culturally justified, that provide them a way to identify who they are, and that provide a clear call for action.«33 Aus dieser Aussage kann geschlussfolgert werden, dass eine besonders hoch ausgeprägte Vulnerabilität eines Individuums die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass dieses sich durch eine spezifische Ansprache von einer radikalen Bewegung rekrutieren und zur Umsetzung derer Zielsetzungen bewegen lassen könnte. Religiöse Radikalisierung kann u.a. mit dem Wunsch nach Rückbesinnung auf die ursprünglichen religiösen Quellen und der Ablehnung, Verbannung oder im schlimmsten Fall mit der Verfolgung Anderer einhergehen, die eine davon abweichende Glaubensvorstellung und -praxis aufweisen.34 Der Anschlag von 9/11 und die Attentate von Madrid und London in den Jahren 2004 und 2005 führten laut Clycq et al. dazu, dass Radikalisierung überwiegend mit der Religion Islam assoziiert worden sei. Durch diese (unter-)bewusste Assoziation würden andere Formen von Radikalisierung außer Acht gelassen werden35 : »Since its emergence in policy circles, the concept of radicalisation has come to be seen as a process that is almost exclusively related to Islam ideology and Muslimrelated phenomena.«36

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Vgl. McCauley, Clark/Moskalenko, S.: Mechanisms of political radicalization, 2008, S. 418. Vgl. Vidino, Lorenzo: Countering Radicalization in America, 2010, S. 3-5. Aufgrund des vorgegebenen Rahmens dieses Beitrags kann die Diskussion des Begriffs ›Radikalisierung‹ an dieser Stelle nur in Kürze erfolgen. Eine detailliertere Diskussion dieses Begriffs, seiner Definitionsmöglichkeiten und Mechanismen bietet Käsehage, Nina: Die gegenwärtige salafistische Szene in Deutschland – Prediger und Anhänger, 2018, S. 37-45. Vgl. Schmid, Alex P.: Radicalisation, de-radicalisation and counter-radicalisation, 2013, S. 22. Jenkins, Brian M.: Building an Army of Believers. Radicalization and Recruitment, 2007, S. 3. Vgl. Schiffauer, Werner: Reislamisierung und Radikalisierung, 2008, S. 269-288. Vgl. Sedgwick, Mark: The concept of radicalisation as a source of confusion, 2010, S. 479-494. Ravn, Stiene et al.: Rethinking Radicalisation: Addressing the Lack of a Contextual Perspective in the Dominant Narratives on Radicalisation, 2019, S. 26.

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Neben dieser konzeptionellen Konzentration37 auf eine mögliche Erscheinungsform von Radikalisierung, wird auch der Beginn dieser Fokussierung oder vielmehr der Eingrenzung der Forschungsbemühungen auf den Islam und dessen Glaubensanhänger*innen reduziert.38 Diese Vorgehensweise wurde durch die zunehmende Bedeutsamkeit der Erforschung jener spezifischen Radikalisierungsform für die Innenpolitik der Länder von Bedeutung, die von radikal-islamisch motivierten Anschlägen betroffenen waren.39 Folglich sei die Deutungshoheit über das Phänomen der Radikalisierung von ›policy circles‹ ausgeübt worden, deren Focus auf islambezogene Radikalisierung seitdem den Diskurs über Radikalisierung bestimme.40 Neben der zuvor bereits erläuterten jihadistischen Organisation Al-Qaida, trägt auch der sogenannte Islamische Staat aufgrund seiner fundamentalistischen und gewaltbezogenen Islaminterpretation sowie den damit korrespondierenden Rekrutierungsmechanismen dazu bei, vulnerable (junge) Menschen im Sinne der Rückkehr zu einer vermeintlich ›richtigen‹ Religionspraxis zu radikalisieren. Der Zuwachs von Anhänger*innen, den beide Bewegungen in den letzten Jahren weltweit zu verzeichnen hatten, führte – zusätzlich zu den zuvor erwähnten terroristischen Anschlägen – dazu, dass von einer Radikalisierung des Islam gesprochen wurde.

Entstehung und Zielsetzungen des Islamischen Staates Um die besondere Bedeutung des Islamischen Staates in Bezug auf diese Entwicklung nachvollziehen zu können, werden im Folgenden die Entstehung des IS und dessen Zielsetzungen ab dem Jahr 2014 skizziert. Im Sommer 2014 rief der selbsternannte Kalif Ibrahim (Abū Bakr al-Baġdādī) das Kalifat aus41 und benannte die jihadistische Organisation ISIS/ISIL42 in Isla-

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Vgl. Coolsaet, Rick: »All radicalisation is local«, 2016. Vgl. Ravn, Stiene et al.: Rethinking Radicalisation: Addressing the Lack of a Contextual Perspective in the Dominant Narratives on Radicalisation, 2019, S. 24. Vgl. Githens-Mazer, J.: The rhetoric and reality: radicalisation and political discourse, 2012, S. 556-567. Vgl. Ravn, Stiene et al.: Rethinking Radicalisation: Addressing the Lack of a Contextual Perspective in the Dominant Narratives on Radicalisation, 2019, S. 24, 26. Die vorliegende Schilderung der Entstehung sowie der Darstellung ausgewählter Grundzüge und Zielsetzungen des IS kann aufgrund des vorgegebenen Rahmens dieses Beitrags lediglich sehr allgemein erfolgen. Eine detaillierte Diskussion dieses Themas findet sich bspw. bei Lahoud, Nelly: Metamorphosis, 2014, S. 8-26 und bei Milton, Daniel: The Islamic State: An Adaptive Organization Facing Increasing Challenges, 2014, S. 36-76. Islamischer Staat im Irak und Syrien bzw. in der Levante.

Islamisierung des Extremismus oder Radikalisierung des Islam?

mischer Staat (IS)43 um, da deren territoriale Ansprüche sich fortan auch »auf die Regionen des Mittleren Ostens« erstrecken sollten.44 Seit diesem Zeitpunkt bekleidete al-Baġdādī die Rollen des »Anführers« und »Vorstehers« des Kalifats.45 Zu den Zielen des IS gehörten u.a. geographische Expansionsbestrebungen in der Region, die mit dem Versuch der administrativen Neustrukturierung der Umgebung in Gouverneursbezirke des Kalifats einhergingen46 , welche die Shari´a als Verfassung aufweisen sollten, der Kampf gegen spezifische ›Feinde‹ wie Schiit*innen und Jesid*innen, sowie die Implementierung fundamentalistischer religiöser und gesellschaftlicher Normen, die besondere Rollen für Männer und Frauen vorsahen.47 Während die jihadistische Organisation AQ sich zunächst gegen das globale »System« wandte, weil sie dieses als un-islamisch und folglich als ungerecht empfand, versuchte der IS seine Vorstellung einer »gerechten Gesellschaft« nach dem Vorbild des islamischen Staates von al-Zarqawi umzusetzen.48 Diese Vorgehensweise praktizierte der IS zunächst in Bezug auf Länder wie den Irak und Syrien, die bereits mehrheitlich muslimisch waren, jedoch weder mit Blick auf die individuelle Lebensführung seiner Bürger*innen noch in Bezug auf die politische Führung der Islaminterpretation des IS entsprachen. Es folgte eine gewaltsame ›islamische Umerziehung‹ durch den IS, die primär eine Radikalisierung des Islam bzw. der islamischen Religionspraxis in den geschilderten Regionen vorsah. Die mediale Popularisierung der Vorgehensweise und Ideologie des IS über die sozialen Medien, die den Appell al-Baġdādīs multiplizierte, sämtliche Muslim*innen auf der Welt sollten sich dem Kalifat anschließen, um dieses nach besten Kräften administrativ, akademisch, medizinisch, militä-

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In Frankreich und den USA wird der IS als Daesh (Al-Daula al-Islamiyya fil-Iraq wa Sham) bezeichnet, da dieser eine starke Nähe zu dem Begriff »Daeshi« aufweise, womit »scheinheilige Glaubenseiferer« bezeichnet würden, die ein Zerwürfnis unter den Mitgliedern der ummah (der idealisierten, weltweiten islamischen Gemeinschaft) hervorzurufen versuchten: Vgl. Käsehage, Nina: Die gegenwärtige salafistische Szene in Deutschland – Prediger und Anhänger, 2018, S. 129. Vgl. Käsehage, Nina: Die gegenwärtige salafistische Szene in Deutschland – Prediger und Anhänger, 2018, S. 129. Vgl. Käsehage, Nina: Die gegenwärtige salafistische Szene in Deutschland – Prediger und Anhänger, 2018, S. 129. [Ibid.] Vgl. Abdullah al-Masri, Abu: Chapter Five – Organisation of the provinces und Administration of wealth, zitiert nach The Guardian: The Isis paper, 2015, https://www.theguardian.c om/world/2015/dec/07/islamic-state-document-masterplanfor-power (zuletzt abgerufen am: 09.12.2015). Vgl. Käsehage, Nina: Die gegenwärtige salafistische Szene in Deutschland – Prediger und Anhänger, 2018, S. 130. Lahoud, Nelly: Metamorphosis, 2014, S. 17.

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risch und (verwaltungs-)technisch auszubauen,49 erweiterte den Sendungsradius des IS erheblich. Diese Nutzung der sozialen Medien zur Rekrutierung neuer Anhänger*innen trug dazu bei, dass eine zunächst regional begrenzte Radikalisierung des Islam in Syrien und dem Irak als eine Blaupause für al-Baġdādīs ›universelle‹ Botschaft an sämtliche Gläubigen, sich dem ›wahren‹ Islam anzuschließen, fungierte, für die sich weltweit zahlreiche Unterstützer*innen und Multiplikator*innen fanden. Die Bestrebungen des IS, seine (regional erworbene) Deutungshoheit über den Islam, dessen Entstehungsgeschichte sowie die ›angemessenen‹ islamischen Lebens- und Rechtsvorschriften weltweit als die ›einzig wahre‹ Auslegung zu zementieren, führte zu einem Dissens innerhalb der ummah. Darüber hinaus führte die weltweit zu verzeichnende Solidarisierung einiger Muslim*innen mit der Islamauslegung des IS und die damit zum Teil verbundenen Attentate, die diese IS-Anhänger*innen in ihren Herkunftsländern oder den Herrschaftsgebieten des IS in dessen Namen verübten, zu einer verzerrten öffentlichen Wahrnehmung, die sich insbesondere in mehrheitlich nicht-muslimischen Ländern durchsetzte: die Annahme, dass die Entstehung des IS das Zeitalter des radikalen Islam markiere. Damit hatte der IS zugleich zwei Ziele erreicht: die Terrorisierung irakischer und syrischer Muslim*innen im Namen des Islam und die Manipulation der öffentlichen Meinung in Bezug auf sämtliche Muslimin*innen, die seit dem Jahr 2014 vielerorts als vermeintliche IS-Sympathisant*innen – und damit zugleich als potenzielle Gefahr für die öffentliche Ordnung – stigmatisiert wurden, obwohl weltweit die Mehrheit der Muslim*innen keinerlei Interesse an der Islaminterpretation des IS50 , geschweige denn an dessen Organisation zeigten. El-Menouar führt dazu im Kontext der Wahrnehmung des Islam in Deutschland das Folgende aus: »Der Anteil an Muslimen mit radikalen Einstellungen ist verschwindend gering, und diese stehen genauso wenig für das Gros der Muslime, wie Rechtsextreme für die Mehrheit der Deutschen stehen. Dass Muslime für die Taten einer Minderheit unter Generalverdacht geraten, ist für den gesellschaftlichen Zusammenhalt Deutschlands eine bedenkliche Entwicklung und würdigt darüber hinaus auch nicht die weitreichenden Integrationsleistungen, die große Teile von ihnen bereits vollzogen haben.«51

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Vgl. Milton, Daniel: The Islamic State: An Adaptive Organization Facing Increasing Challenges, 2014, S. 75. Vgl. Sandberg, Sveinung/Colvin, S.: ISIS IS NOT ISLAM, 2020, S. 1-21. Vopel, Stephan/El-Manouar, Yasemin:Einleitung, 2015, S. 9, https://www.bertelsmann-stiftun g.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/imported/leseprobe/1_578_Leseprobe.pdf (zuletzt abgerufen am 10.12.2021).

Islamisierung des Extremismus oder Radikalisierung des Islam?

Die einseitig betriebene Radikalisierung des Islam, die von einer gewaltbereiten Minderheit von Muslim*innen aktiv – und ohne Rücksicht auf mögliche individuelle Verluste oder Einbußen in Bezug auf die öffentliche Reputation einer gesamten Religion – vorangetrieben wurde, führte vielerorts zu einer Spaltung der Gesellschaft, der Ausbildung eines anti-muslimischen Rassismus und daraus resultierenden anti-muslimischen Straftaten. Diese Entwicklung wiederum führte mit Blick auf diejenigen Muslim*innen, die besonders vulnerabel für radikal-islamische Rekrutierung(-snarrative) waren, dazu, dass sie ihren vermeintlich ›einzigen Ausweg‹ aus dieser Diskriminierungssituation im Anschluss an das Kalifat sahen.52

Widerstand gegen den IS – Der Offene Brief der islamischen Gelehrten Am 27. September 2014 wurde ein »Offener Brief an Dr. Ibrāhīm ʿAwwād al-Badrī alias »Abū Bakr al-Baġdādī« und An die Kämpfer und Anhänger des selbsternannten »Islamischen Staates«53 veröffentlicht, der von über 120 islamischen Gelehrten unterzeichnet wurde. Darin werden 24 religiöse Vorschriften sowie Ge- und Verbote innerhalb des Islam von international renommierten islamischen Gelehrten konkretisiert, die von al-Baġdādī, in seiner Funktion als (selbsternannter) Kalif, der jihadistischen Organisation Islamischer Staat (IS) und dessen Anhänger*innen – auch aufgrund fehlender sprachlicher und religiöser Kenntnisse – zum Teil sinnentleert oder fehlgeleitet interpretiert wurden. Insbesondere die folgenden Aussagen des Offenen Briefes sind im Kontext des vorliegenden Beitrags, mit Blick auf den Versuch jihadistischer Protagonist*innen den Islam zu radikalisieren, besonders bedeutsam, da sie verdeutlichen, dass die Jihadist*innen des IS die Religion des Islam und dessen Lehren für subjektive und gewalttätige Zwecke instrumentalisierten und zur Rechtfertigung ihrer Handlungsweisen und der Rekrutierung Gläubiger heranzuziehen versuchten: »1. Es ist im Islam verboten, ohne die dafür jeweils notwendige Bildung und Kenntnis zu haben, fatwā (Rechtsurteile) zu sprechen. Sogar diese Fatwās müssen der islamischen Rechtstheorie, wie sie in den klassischen Texten dargelegt wurde, folgen. Es ist ebenfalls verboten, einen Teil aus dem Koran oder eines Verses zu zitie-

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Vgl. Khosrokhavar, Farhad: Radicalisation, 2014. Vgl. Kunst, Jonas R. et al.: Coping with Islamophobia, 2012, S. 518-532. Vgl. Kunst, Jonas R./Sam, D.: Relationship between perceived Acculturation Expectations and Muslim Minority Youth’s Acculturation and Adaptation, 2013, S. 447-490. Vgl. Schmid, Alex P.: Data to Measure Sympathy and Support for Islamist Terrorism, 2017. Madrasah.de/.at (Hg.): Offener Brief An Dr. Ibrāhīm ʿAwwād al-Badrī alias »Abū Bakr alBaġdādī« und An die Kämpfer und Anhänger des selbsternannten »Islamischen Staates«, 2014, S. 1.

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ren, ohne auf den gesamten Rest zu achten, was der Koran und die Hadithe über diese Angelegenheit lehren. […] 2. Es ist im Islam vollkommen verboten, Recht zu sprechen, wenn die Arabische Sprache nicht gemeistert wurde. [sic!]54 3. Es ist im Islam verboten, Scharia Angelegenheiten zu stark zu vereinfachen und festgelegte islamische Wissenschaften zu missachten. 4. Es ist im Islam [den Gelehrten] gestattet, Meinungsverschiedenheiten über bestimmte Angelegenheiten zu haben, außer in all jenen, welche als die Fundamente der Religion gelten, die allen Muslimen bekannt sein müssen. 5. Es ist im Islam verboten, bei der Rechtsprechung die Wirklichkeit der Gegenwart zu missachten. 6. Es ist im Islam verboten, Unschuldige zu töten. 7. Es ist im Islam verboten, Sendboten, Botschafter und Diplomaten zu töten; somit ist es auch verboten, alle Journalisten und Entwicklungshelfer zu töten. 8. Jihad ist im Islam ein Verteidigungskrieg. Er ist ohne die rechten Gründe, die rechten Ziele und ohne das rechte Benehmen verboten. […] 17. Es ist im Islam verboten, Menschen zu foltern. […] 22. Es ist im Islam verboten, ohne den Konsens aller Muslime ein Kalifat zu behaupten. 23. Loyalität zur eigenen Nation ist im Islam gestattet. 24. Nach dem Tod des Propheten – Frieden und Segen seien auf ihm – verpflichtet der Islam niemanden, irgendwohin auszuwandern.«55 Diese Konkretisierungen waren nicht nur im Hinblick auf Muslim*innen oder Individuen, die besonders vulnerabel für eine jihadistische Rekrutierung sind, bedeutsam, sondern verdeutlichten darüber hinaus auch der Weltöffentlichkeit, dass die islamische Praxis des al-Baġdādī sich von dem Religionsverständnis einer Vielzahl anerkannter islamischer Gelehrter erheblich unterschied. Der Offene Brief der islamischen Gelehrten wurde weltweit als Zeichen dafür gedeutet, dass die Lebensweise der Mehrheit der Muslimin*innen, die in einer friedlichen Koexistenz mit Nicht-Muslim*innen lebten, der adäquaten Auslegung des Islam folgte. Darüber hinaus sollte der Offene Brief als inhaltlicher Leitfaden für all´ diejenigen fungieren, die aufgrund mangelnder islamischer Quellenkenntnisse verunsichert waren und sich fragten, ob die Islaminterpretation des IS wohlmöglich der ›richtige‹ Weg zu einem ›wohlgefälligen‹ Leben im Sinne Allahs sein könnte. 54

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Die Übersetzung des Offenen Briefes enthält einige (deutsche) Rechtschreibfehler bzw. missverständliche Stellen, die jedoch aufgrund der Zitation der Originalquelle nicht korrigiert oder inhaltlich verändert wurden. Madrasah.de/.at (Hg.): Offener Brief An Dr. Ibrāhīm ʿAwwād al-Badrī alias »Abū Bakr alBaġdādī« und An die Kämpfer und Anhänger des selbsternannten »Islamischen Staates«, 2014, S. 2f.

Islamisierung des Extremismus oder Radikalisierung des Islam?

Neben der Möglichkeit der religiösen Orientierung schien der Offene Brief ebenfalls dazu geeignet zu sein, der Mehrheit der weltweit lebenden Muslim*innen inhaltlich öffentlich beizustehen. Seit der Entstehung des IS waren Muslimin*innen aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit tagtäglichen Diskriminierungen ausgesetzt, da vielerorts fälschlicherweise angenommen wurde, dass die Interpretation des Islam durch al-Baġdādī auch der individuellen religiösen Orthopraxie sämtlicher Muslim*innen entspräche.

Die Funktion islamischer Prophezeiungen als Counter Narratives Des Weiteren hatte sich eine respektable Gruppe von islamischen Gelehrten offiziell gegen die Gewaltausübung im Namen des Islam und somit gegen eine Radikalisierung des Islam, die im Fall des IS von einer gewaltbereiten und wenig islamkundigen Minorität praktiziert wurde, ausgesprochen. Ihre öffentliche Positionierung gegen die Islaminterpretation des IS stützte sich dabei auf eine überaus prominente Quelle, die Überlieferung (arab. Hadīth) des vierten Kalifen ʿAlī b. Abī Ṭālib. Diese besagt das Folgende: »Wann auch immer ihr die schwarzen Fahnen seht, bleibt auf euren Sitzen und bewegt weder eure Hände noch Füße. Danach werdet ihr eine kraftlose unbedeutende Schar sehen. Ihre Herzen werden wie Eisenstücke sein. Sie werden die Herrschaft haben. Sie werden weder einen Vertrag noch ein Abkommen einhalten. Sie werden zur Wahrheit aufrufen, doch sie werden nicht die Leute der Wahrheit sein. Ihre Namen werden elterliche Bezeichnungen sein und ihre Zuschreibungen werden zu Städten sein. Ihre Haare werden herabhängen wie die einer Frau. Dieser Zustand wird anhalten, bis sie untereinander streiten. Danach wird Gott die Wahrheit hervorbringen durch wen auch immer Er will.«56 Diese Quelle war von den Verfassern des Offenen Briefs mit Bedacht ausgewählt worden, da Weissagungen im Islam einen hohen Stellenwert besitzen und die vorliegende Überlieferung in etlichen Aspekten Bezug zur Entstehung des IS, dessen Symbolik, Vorgehensweise und Anhänger*innen nahm. Die islamischen Gelehrten verknüpften aufgrund dessen die korrespondierenden Stellen, die als Hinweis auf den IS verstanden werden könnten, miteinander und beantworteten die möglichen Fragen der Gläubigen hinsichtlich dieser Überlieferung wie folgt: »›Die Menschen fragen: Bezieht sich diese Überlieferung von ʿAlī b. Abī Ṭālib – welche überliefert wird von einem der Lehrer al-Buḫārīs, Nuʿaym b. Ḥammād und zwar vor 1200 Jahren in seinem Buch al- Fitan – auf den »Islamischen Staat‹?

56

Ḥammād, Nuʿaym b.: Kitāb al-fitan, Hadith Nr. 573, zitiert nach: Madrasah.de/.at: 2014, S. 37.

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Ist es möglich die Überlieferung wie folgt zu verstehen? ›Wenn ihr die schwarzen Fahnen seht‹: Die Fahnen des ›Islamischen Staates‹ sind schwarz. ›Bleibt wo ihr seid‹, d.h., bleibt wo ihr seid, oh Muslime, und schließt euch nicht ihnen an. ›Bewegt nicht eure Hände und Füße‹, d.h. helft ihnen weder mit Geld noch mit Ausrüstung. ›Daraufhin wird eine kraftlose unbedeutende Schar auftreten‹, d.h. ›schwach‹ und ›unbedeutend‹ bezüglich ihrem Verständnis der Religion, ihrer Sittlichkeit und religiösen Praxis. ›Ihre Herzen werden wie Eisenstücke sein‹, d.h. sie werden kaltblütig Kriegsgefangene töten und Menschen brutal foltern. ›Sie werden die Herrschaft haben‹, seit einem Jahrhundert hat niemand behauptet ein Islamisches Kalifat zu sein, außer dem »Islamischen Staat« in Irak und der Levante. ›Sie werden weder ein Vertrag noch Abkommen einhalten‹: Der ›Islamische Staat‹ hat sein Abkommen mit dem Schaitat Stamm nicht eingehalten, nachdem der Stamm ihnen die Treue geschworen hat. Der ›Islamische Staat‹ metzelte sie zu Hunderten nieder. Sie töten auch Journalisten. ›Sie rufen zur Wahrheit‹: Der ›Islamische Staat‹ ruft zum Islam. ›Doch sie werden nicht Leute der Wahrheit sein‹: Die Leute der Wahrheit sind barmherzig. Der Prophet – Frieden und Segen seien auf ihm – sagte: ›Seid barmherzig und euch wird Barmherzigkeit gezeigt werden.‹ ›Ihre Namen sind elterliche Zuschreibungen‹: Wie: Abū Mutanna (Vater von Mutanna), Abū Muḥammad, Abū Muslim usw. ›Ihre Zuschreibungen gehen auf Städte zurück‹: wie: al-Baġdādī (der Bagdader), alZarqāwī, al-Tūnīsī usw. ›Ihre Haare hängen herab wie die der Frauen‹: Soldaten des ›Islamischen Staates‹ tragen ihre Haare genauso. ›Bis sie untereinander streiten‹: Wie der Streit zwischen dem ›Islamischen Staat‹ und seinem Vater, der Al-Nusra-Front (al-Qaidah in Syrien). Die Kämpfe zwischen diesen zwei führte zu zehntausend Toten in einem einzigen Jahr. ›Daraufhin wird Gott die Wahrheit hervorbringen durch wen immer Er auch will‹: durch einen klaren und richtigen islamischen Ausruf (wie dieser offene Brief). Der weise Luqmān sagt im Koran: ›O mein lieber Sohn, gewiss, wäre es auch das Gewicht eines Senfkorns und befände es sich in einem Felsen oder in den Himmeln oder in der Erde, bringt es Allah bei. Gewiss, Allah ist Feinfühlig und Allkundig.‹ (Luqmān, 31:16).«57 57

Ebd., S. 38.

Islamisierung des Extremismus oder Radikalisierung des Islam?

Bereits im Jahr 2014 wurde demnach der Versuch von Seiten ausgewählter islamischer Autoritäten unternommen, weitere Rekrutierungen durch den IS zu verhindern – mit dem impliziten Argument, dass dieser keineswegs im Einklang mit den Vorschriften des Islam handle, sondern vielmehr eine Gruppe repräsentiere, die gegen Gottes Wille agiere. Wichtig ist hierbei auch die Konstruktion der eigenen Gegenposition: Die 125 Gelehrten führen in ihrem Offenen Brief an, dass sie nicht nur aufgrund ihres islambezogenen Wissens, sondern auch infolge der Prophezeiung handelten, ihr Brief demnach ›vorhergesagt‹ worden und deshalb ebenfalls als göttliche Determination zu verstehen sei. Ihr Aufruf an die gläubigen Muslim*innen, sich vom IS und dessen Zielsetzungen fernzuhalten, könnte demnach als religiös legitimiert verstanden werden und islamische Prophezeiungen in diesem Zusammenhang als Counter Narratives gewirkt haben. Diese religiöse Legitimation könnte auch dazu gedient haben, die Verfasser des Briefes selbst vor möglichen Anschlägen des IS oder seiner Anhänger*innen zu schützen, denn welcher ›wahrhaft‹ Gläubige würde die Überbringer göttlicher Voraussagen (ungestraft) angreifen? Da die thematisierten Auszüge der Überlieferung, bspw. in Bezug auf die schwarze Flagge und die Selbstbezeichnung der IS-Anhänger*innen, sich bereits bewahrheitet hatten, wäre ein Anzweifeln des Wahrheitsgehalts dieser Voraussagen innenperspektivisch kaum möglich für ›wahrhaft‹ gläubige Muslim*innen gewesen. Diese vermeintlich religiöse Legitimation des Offenen Briefes erfüllte demnach eine doppelte Funktion: Sie sollte weitere gläubige Muslim*innen aufgrund theologischer Überlegungen bzw. Beweisführungen davor bewahren, sich der ›fehlgeleiteten‹ Islaminterpretation des IS und dessen Repräsentant*innen anzuschließen und die Gelehrten selbst ›unangreifbar‹ machen, da Prophezeiungen im Islam selten infrage gestellt werden. Hierdurch hätte dem Zerwürfnis innerhalb der universellen islamischen Gemeinschaft, das sich im Zuge der Entstehung des IS eingestellt hätte, durch einen universellen islamischen Konsens entgegengewirkt werden können. Dieser beabsichtigte universelle Konsens, der durch die Botschaft des Offenen Briefs in der islamischen Welt gegenüber der (nicht-islamischen) Vorgehensweise des IS erzielt werden sollte, wurde jedoch nur zum Teil erreicht. In diesem Zusammenhang sollte der Vollständigkeit halber nicht unerwähnt bleiben, dass einige, zumeist jihadistische Gruppierungen wie Al-Qaeda auf der Arabischen Halbinsel, Ansar Bayt al-Maqdis und Boko Haram58 , aber auch gemäßigte islamische Glaubensvertreter*innen, die zu Beginn der Entstehung des IS zunächst die Hoffnung hegten, dass der Idealzustand des islamischen Kalifats, in dem sämtliche (Nicht-)Muslime miteinander nach islamischem Gesetz in Frieden

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Vgl. Käsehage, Nina: Die gegenwärtige salafistische Szene in Deutschland – Prediger und Anhänger, 2018, S. 131.

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leben könnten, durch al-Baġdādīs Vorstoß erreicht werden könne, und sich infolgedessen anfänglich dem IS anschlossen. Viele dieser jihadistischen Bündnisse zerfielen noch während der Blütezeit des IS aufgrund ideologischer Dissonanzen und Streitigkeiten hinsichtlich regionaler Führungsansprüche, während andere Gruppen ihre Abkehr vom IS erst infolge seines Zerfalls erklärten. Die Heterogenität der Motivlagen moderater Muslimi*innen, ihre individuelle Hinwendung zum IS sowie die spätere Abwendung vom IS betreffend, ist vielfach in der Literatur konstatiert worden.59 Eine detaillierte Diskussion derer an dieser Stelle würde den vorgegebenen Rahmen dieses Beitrags sprengen. Es bleibt somit abschließend zu konstatieren, dass die Radikalisierung des Islam demnach von unterschiedlichen muslimischen Gruppen und Protagonist*innen, aufgrund unterschiedlicher Bedürfnisse und Zielsetzungen vorangetrieben wurde. Dies führte zu großen Zerwürfnissen innerhalb der islamischen Welt und wirkt mit Blick auf die öffentliche Wahrnehmung des Islam bis heute nach.

Fazit Die Frage, ob gegenwärtig eine Islamisierung des Extremismus oder eine Radikalisierung des Islam zu konstatieren sei, ist sowohl zu bejahen als auch zu verneinen. Zu bejahen ist sie insofern, als dass erkennbar wurde, dass aufgrund einer größeren öffentlichen und medialen Aufmerksamkeit, die dem Phänomen des radikal-islamischen Extremismus zuteil wird, der Eindruck entsteht, dass die Zahl der sogenannten ›islamistisch‹ begründeten Extremismen bzw. die daraus resultierenden Straftaten sich im Vergleich zu den Extremismen aus anderen Milieus exponentiell vergrößert habe. Hierdurch erscheint die automatische Gleichsetzung des Extremismus mit Taten aus dem radikal-islamischen Milieu legitimierbar. Mit Blick auf das links- und rechtsradikale Milieu konnte jedoch belegt werden, dass dieser Automatismus im europäischen und internationalen Vergleich der Extremismen nicht gerechtfertigt ist. Dies bedeutet, dass die Islamisierung des Extremismus, die nicht nur in Deutschland, sondern weltweit erfolgt, demnach vielmehr eine (un-)bewusste Konstruktion bzw. Eingrenzung eines vielschichtigen Phänomens darstellt. Mit Blick auf die Frage der möglichen Radikalisierung des Islam ist diese Entwicklung ebenfalls einerseits zu bejahen, da die Taten, die von AQ und IS nahen

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Vgl. Speckhard, Anne et al.: Using Counter Narrative Campaigns on Facebook to »Breaking the ISIS Brand« in Iraq, 2018; Vgl. Speckhard, Anne et al.: Intervening in and Preventing Somali-American Radicalization with Counter Narratives, 2018, S. 32-71.; Vgl. Kržalić, Armin et al.: TRAVELERS TO SYRIA, 2020, S. 51-76.

Islamisierung des Extremismus oder Radikalisierung des Islam?

Gruppen und Protagonist*innen begangen wurden, wie zuvor aufgezeigt, tatsächlich dazu beitrugen, dass eine radikale Islaminterpretation sich weltweit für eine gewisse Zeit ausbreitete. Andererseits wurde diese Entwicklung ebenfalls medial stark aufgebläht, so dass der Eindruck entstehen könnte, dass die Mehrzahl der Muslim*innen sich radikalisiert hätte. Dies ist nicht der Fall. Im Gegenteil handelt es sich um eine Minderheit radikalisierter Muslim*innen, die für diesen Eindruck verantwortlich zeichnet. Diese Tatsache belegt der zuvor thematisierte Offene Brief der islamischen Gelehrten, in dem diese die Islamauslegungen des IS mit Hilfe ihrer theologischen Expertise öffentlich konterkarierten. Folglich muss auch diese Frage abschließend verneint werden. Die Entscheidung, ob man gegenwärtig entweder von einer Islamisierung des Extremismus oder einer Radikalisierung des Islam sprechen müsse, ist in der Tat nicht abschließend zu beantworten, weil beide Tendenzen wie aufgezeigt zwar grundsätzlich erkennbar sind, jedoch nicht die einzig möglichen von zahlreichen vorstellbaren, zukünftigen Entwicklungen innerhalb der Extremismus- und Radikalisierungsforschung abbilden. Der Versuch, eine professionelle Deutungshoheit über Begriffe wie ›Extremismus‹ oder ›Islamismus‹ auszuüben, ist nicht nur spezifischen Arbeitsbereichen inhärent, sondern spiegelt häufig auch den innenpolitischen Wunsch der Ausübung einer Deutungsmacht gegenüber einem bestimmten Phänomenbereich wider. Dieser Wunsch mag innenperspektivisch betrachtet ›folgerichtig‹ erscheinen, kann jedoch nicht die Realität ausklammern, die mehr als nur eine Erklärung für spezifische Phänomene und Akteur*innen bereithält. Diese Einsicht kann mitunter ›ernüchternd‹ wirken, wenn vermeintlich ›einfache‹, da scheinbar schnell ›notwendige‹ oder vielmehr politisch erwünschte Lösungen eingefordert werden und Befehlsketten wenig Raum für individuelle Lösungsansätze lassen. Dennoch oder gerade aufgrund der besonderen Verantwortung, die mit der Entscheidung über (Forschungs-)Ansätze, Konzeptbildungen und darüber hinausgehende Maßnahmen im Kontext der Extremismus- und Radikalisierungsprävention einhergehen, ist es unabdingbar, langfristig wirksame Lösungsansätze zu entwickeln und übereilte Entscheidungen zu verhindern, die in den seltensten Fällen von substantiellem Wert sind. Im Sinne der vom Nachwuchsforum Streitkulturen postulierten »notwendigen Selektivität und Perspektivität von Deutungen« und der Berücksichtigung der »Pluralität von Geltungsansprüchen, zu sichtbaren und unsichtbaren Deutungsmachtstrategien, um die eigenen Geltungsansprüche durchzusetzen, bis hin zu offenen Deutungskonflikten, die bearbeitet werden müssen«,60 wurden innerhalb 60

Ausschreibungstext des Rostocker Nachwuchsforums »Streitkulturen. Deutungsmachtkonflikte zwischen Konsens und Zerwürfnis« des DFG-Graduiertenkolleg Deutungsmacht. Religion und belief-systems in Deutungsmachtkonflikten vom 11.06.2019.

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dieses Beitrags verschiedene Ansichten und Strategien zu den gegenwärtigen Entwicklungen im Bereich der Erforschung von Radikalisierung und Extremismus thematisiert. Es hat sich dabei gezeigt, dass diese Ansätze durchaus heterogen sind. Diese Diversität der Meinungen sollte jedoch die unterschiedlichen Protagonist*innen nicht davon abhalten, einen gemeinsamen Diskurs über beide Phänomenbereiche anzustreben. Ein Dissens muss nicht zwangsläufig zu einem Zerwürfnis führen, sondern kann zugleich die Quelle neuer (Forschungs-)Ansätze darstellen, wenn die gewählte Streitkultur es den Diskutant*innen ermöglicht, sich sachlich und vor allem sachbezogen in Bezug auf den Sachverhalt auszutauschen. Die Diskussion über die Sache sollte hierbei keinesfalls als persönlicher Affront betrachtet werden. Entscheidend für eine gehobene Streitkultur ist demnach das rationale Verständnis für die Position seines Gegenübers sowie die Artikulation eines Meinungsaustauschs jenseits von Deutungsmachtkonflikten in Bezug auf die Deutungshoheit über einen Phänomenbereich. Die wechselseitige Lösung von ideologischen oder apologetischen Ansätzen hinsichtlich spezifischer Termini und Konzepte könnte somit zu einer Entzerrung der Konfliktlinien führen und die Diskutant*innen im Sinne der möglichen gemeinsamen Schnittmengen dazu bringen, sich lösungsorientiert auf deren Konkretisierung zu konzentrieren. Im Falle der Extremismus- und Radikalisierungsforschung könnte dieser Ansatz in dem Bemühen gesehen werden, einem weiteren Anstieg extremistisch motivierter (Gewalt-)Taten und Radikalisierungszahlen in sämtlichen extremistischen bzw. radikalen Milieus, die erforscht werden, durch spezifische Präventionsansätze und (gemeinsame) Strategien entgegenzuwirken. Darüber hinaus sollte der Blick für neue und bislang wenig oder noch gar nicht erforschte Extremismen geschärft werden, um die sich daraus ergebenden Gefahrenquellen möglichst frühzeitig erkennen und ihnen präventiv entgegenwirken zu können.

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Rechtspopulismus und Massenmedien: eine explosive Mischung1 Paula Diehl

Symptom 1: Trump Donald Trump ist dafür bekannt, die Grenzen des Sagbaren in der Politik zu verschieben. Ob es rassistische Sprüche, Angriffe gegen Frauen oder Minderheiten sind, seine aggressiven Tiraden und Witze achten nicht die demokratischen Prinzipien, die den Rahmen für die politische Auseinandersetzung darstellen. In der letzten Woche im Juni 2017 verbreitete der US-Präsident ein Video in einem Tweet. Man sieht einen im Anzug gekleideten Mann, der eindeutig als der aktuelle Präsident der USA zu erkennen ist. Der Mann prügelt auf einen anderen, ebenfalls Anzug tragenden, Mann ein. Trump schlägt den Mann zu Boden, wobei das Opfer nicht erkennbar ist. Denn auf seinem Kopf erscheint das Logo des Fernsehsenders CNN. Dieses Video wurde einige Tage zuvor auf dem rechtsradikalen Internetforum ›Reddit‹ gepostet. Das Video machte Karriere in den Zirkulationsdynamiken der Massenmedien und wurde von Trump selbst auf seinem persönlichen TwitterAccount gepostet. Anschließend versendete der Präsident dasselbe Video durch den offiziellen Präsidenten-Twitter-Account Potus.2 In allen Fällen handelt es sich um die Manipulation eines älteren Videos aus dem Jahr 2007. Hier tauchte Trump als Person der Reality-Shows auf und verprügelte niemand anderen als Vince McMahon, den Chairman des Medienunternehmens World Wrestling Entertainment, bekannt durch WrestleMania.3 Das Originalvideo von 2007 sollte für die Unterhaltungsfirma werben und radikalisierte die Tendenzen der Massenmedien zur Vermischung von Realität und Fiktion, zur Verwischung der Grenze zwischen Öffentlichem und Privatem und zur Vermengung

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Der vorliegende Text ist eine erweiterte Version der Artikel Diehl, Paula: Einfach, emotional, dramatisch, 2016 und Diehl, Paula: Populismus, Rechtspopulismus und die Medien, 2017. Vgl. Potus: President Trump, 2017. Inzwischen ist der o.g. Tweet aus dem Potus-Account gelöscht worden. Vgl. Dagalagas: Donald Trump bodyslams beats and shaves Vince McMahon at Wrestlemania XXIII, 2015.

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von Politik und Unterhaltung. Es skalierte sogar das Erniedrigungsritual des Kopfrasierens von McMahon zum Höhepunkt der Inszenierung. Erniedrigungspraxen sind nicht selten in Reality-TV-Shows. Das Publikum bekommt das Gefühl, unmittelbar dabei zu sein, denn das Video erscheint als ungefiltertes rohes Material. Auch wenn die Grenzen zwischen Realität und Fiktion in Reality-Shows fluide sind, werden hier die massenmedialen Aufmerksamkeitsregeln deutlich: das Gefühl von Unmittelbarkeit, Skandal, Außergewöhnlichem, die agonale Struktur des Geschehens, Emotionalisierung, Dramatisierung, Unterhaltung, Komplexitätsreduktion und Personalisierung. In dem von Trump geposteten Video ist die Szene der Kopfrasur nicht mehr zu sehen. Stattdessen sendet er aber eine Warnung an die Massenmedien bzw. an den Journalismus insgesamt: Ein Präsident schlägt die Verkörperung des Fernsehsenders CNN zu Boden. War das Original ein reines Unterhaltungsprodukt, trägt das manipulierte Video von 2017 nun eine eindeutige Botschaft: CNN, als Stellvertreter für die Massenmedien und für den Journalismus, wird vom Präsidenten verprügelt, weil der Sender angeblich ›Fake News‹ produziert. Auf dem Präsidenten-Account heißt es sogar #FraudNewsCNN. In der Tat ist dieses Video eines der Elemente, womit Trump versucht, die Massenmedien und die Journalisten im Lande zu diskreditieren. Populisten sind dafür bekannt, keine Mediation zwischen Führer und Volk zu wollen. Für sie erscheinen Parteien, politische Institutionen und auch die Massenmedien als Mediatoren, die den Volkswillen und die Volksmeinung verzerren. Auch Rechtsextremisten greifen die Massenmedien an, um die demokratische Öffentlichkeit zu diskreditieren. Ihre Gründe sind nicht mit denen der Populisten identisch, jedoch mit ihnen kompatibel. Rechtsextremisten wenden sich gegen die demokratische Öffentlichkeit und bauen nicht selten Gegenöffentlichkeiten auf, was im Internet u.a. durch die Erzeugung von Echokammern nicht schwerfällt. Beide Logiken, die des Populismus und die des Rechtsextremismus, treffen sich im Fall des Rechtspopulismus. In der Tat werden Trumps Angriffe auf die Massenmedien stark von den rechtsradikalen Medien unterstützt. Der rechtsradikale Medienkonzern Breitbart News ist dafür bekannt, die etablierten Medien als ›Fake News‹ zu diskreditieren. Wichtiger noch: das manipulierte Video von Trump ist zuerst in einem rechtsradikalen Internetforum (Reddit.com) erschienen ist und wurde dann vom Präsidenten gepostet. Die neue Version des Videos wurde zur Sensation nicht nur in Blogs und sozialen Medien, auch die etablierten Massenmedien wie die Fernsehsender CNN, MSNBC oder Fox, Radiosender und Zeitungen kommentierten die skurrile Kommunikation des Präsidenten.

Rechtspopulismus und Massenmedien: eine explosive Mischung

Symptom 2: AfD In Deutschland nehmen verbale und symbolische Gewalt in der politischen Auseinandersetzung zu. Vor allem im rechtspopulistischen Lager ist dies ein prominentes Kommunikationsmittel, um Skandale zu provozieren und die demokratischen Selbstverständnisse zu destabilisieren. Die Worte des AfD-Vorsitzenden Gauland nach der Wahl sind dafür symptomatisch: »Wir werden Frau Merkel jagen«. Die Jagd auf Tiere ist eine gewalttätige Aktion, die meistens zum Tod des Tieres führt. Auf Menschen gerichtet, ist das Wort ›Jagd‹ in der deutschen politischen Kultur aus der nationalsozialistischen Propaganda und terroristischen Praktiken bekannt. Beide Gedankenassoziationen ›Gewalt‹ und ›Nationalsozialismus‹ sind besonders explosiv und werden sofort von den Massenmedien kommentiert und verbreitet. Kurz vor der Wahl provozierte Gauland die Öffentlichkeit mit einem Kommentar zur Äußerung der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung, Aydan Özoguz, dass keine spezifische deutsche Kultur jenseits der Sprache identifizierbar sei: »Das sagt eine Deutsch-Türkin. Ladet sie mal ins Eichsfeld ein, und sagt ihr dann, was spezifisch deutsche Kultur ist. Danach kommt sie hier nie wieder her, und wir werden sie dann auch, Gott sei Dank, in Anatolien entsorgen können.«4 Auch diese Äußerung wurde zum Bestseller in den etablierten Massenmedien und Internetblogs.

Symptom 3: Die Massenmedien Der Funke der rechtspopulistischen Kommunikation ist bereits vor den Wahlen auf die Massenmedien übergesprungen und beeinflusst die politische Auseinandersetzung vor allem, wenn es um Themen wie Ausländer, Muslime oder Flüchtlinge geht. Das eine-Stunde-siebenunddreißig-minütige Kanzler-Duell ist dafür ein gutes Beispiel. Die Sendung widmete ein Drittel der Zeit allein dem Themenkomplex ›Flüchtlinge, Ausländer, Muslime, Integration‹. Viele Zeitungen fragten sich aber, ob die Konzentration auf diese Themen zum Nachteil von Themen wie Digitalisierung und Klimawandel führen würde und generell zu rechtfertigen sei.5 Doch das Problematische daran war der Tenor, der von den Moderatoren vorgegeben wurde: Flüchtlinge, Ausländer und Muslime sind als Problem dargestellt worden. Die Fragen wurden so gerahmt, dass die Kandidaten sich mit Annahmen auseinandersetzen mussten, wonach die Flüchtlinge unerwünscht, Muslime eventuell nicht mit der deutschen Gesellschaft ›kompatibel‹ seien und die Grenzen geschlossen werden 4 5

Vgl. Bender, Justus: Gauland: Özoguz in Anatolien entsorgen, 2017. Vgl. dazu beispielsweise: Schulte, Ulrich: Merkel routiniert, Schulz angespannt, 2017 und Der Westen: »AfD fragt, Merkel und Schulz antworten«, 2017.

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sollten. Je nach Moderator wurde der Rahmen neutraler oder aggressiver gesetzt. Dies war deutlich an der Frage des Sat.1-Moderators Strunz zu sehen. Strunz wollte wissen, wann die Gefährder unter den Flüchtlingen abgeschoben werden sollten. Immerhin handelt es sich bei ›Gefährder‹ um einen kriminalisierenden Status, der eine prekäre Legalität genießt und mit der Unschuldsvermutung des Grundgesetzes schwer zu vereinbaren ist. Doch war es vor allem die Formulierung des Moderators, die zur Verschiebung der Diskussionsrahmung beitrug: »Wann gehen diese Leute endlich weg?« In der Fachliteratur nennt man dies ›Framing‹. Der Wahlkampf war nicht der einzige Ort, in dem man die verbale Eskalation und eine Verschiebung demokratischer Selbstverständnisse beobachten konnte. Als die Vergewaltigung einer Flüchtlingshelferin durch einen Flüchtling 2016 in Freiburg stattfand, widmete der Deutschlandfunk dem Thema ›Die Gewalttaten von Freiburg, Bochum und Köln. Bedrohen Flüchtlinge unsere Lebensweise?‹ eine Stunde. Die Vergewaltigung in Freiburg war brisant und musste diskutiert werden, aber wie? In dem Fall formulierte bereits die Frage eine These: ›Flüchtlinge bedrohen unsere Lebensweise. Das zeigen die Ereignisse in Freiburg, Köln und Bochum‹. Obwohl der Moderator und die eingeladenen Gäste der Sendung sich darum bemühten, keine xenophoben, rassistischen oder anti-muslimische Töne von sich zu geben, konnten sie kaum die Eingangsthese entschärfen. Das Framing war gesetzt. Die Annahme, dass Flüchtlinge bedrohlich sind, war bereits Bestandteil der Selbstverständnisse im Diskussionsraum geworden – und zwar durch die Titelfrage der Sendung.

Die Frage Der massenmediale Erfolg von Trumps Tweet und Gaulands Äußerungen sind symptomatisch für die Beziehungen zwischen Rechtspopulismus und Massenmedien. Schon die Übernahme von rechtspopulistischen Framings durch die Medienmacher, selbst wenn es nur graduell geschieht, deutet auf ein komplexeres Phänomen hin: Die Beeinflussung der demokratischen Öffentlichkeit durch antidemokratische Selbstverständnisse. Bereits hier sind zwei Elemente sichtbar, die die politische Kultur in der aktuellen Situation so komplex machen: die Aufmerksamkeitslogiken der Massenmedien und die Zunahme des Populismus bzw. des Rechtspopulismus. Wie sind sie miteinander verbunden? An dieser Stelle sollen drei Hauptthesen plausibel gemacht werden: Erstens sind Massenmedien und Populismus miteinander besonders kompatibel und zwar nicht aufgrund der Intention von politischen Akteuren oder Journalisten, sondern weil die Aufmerksamkeitslogik der Massenmedien und die Logik des Populismus systemisch affin sind. Die zweite These lautet: Rechtspopulismus ist eine Mischung aus Populismus und Rechtsextremismus. Drittens: Populismus dient hier als Brü-

Rechtspopulismus und Massenmedien: eine explosive Mischung

cke zwischen rechtsextremen, anti-demokratischen Ideologien einerseits und der demokratischen Öffentlichkeit andererseits. Am Ende erläutert der Text die Konsequenzen des Rechtspopulismus für die demokratische Öffentlichkeit und für die politische Kultur.

Populismus und Massenmedien Populismus kann nicht monokausal erklärt werden. Die Gründe für den Erfolg des Rechtspopulismus sind vielfältig und lassen sich keinesfalls nur mit seinen massenmedialen Aspekten erklären. Zum Nährboden des Populismus und des Rechtspopulismus gehören Politikverdrossenheit, soziale Ungleichheiten und postdemokratische Verhältnisse, wie sie von Colin Crouch beschrieben wurden.6 Doch ein wichtiger und weniger beachteter Faktor für den Erfolg des Rechtspopulismus liegt in seiner Medienkompatibilität. In der Tat enthält der Populismus viele Komponenten, die die Aufmerksamkeitskriterien der Massenmedien erfüllen: Populisten sind schrille Gestalten, sie brechen gerne mit Tabus und produzieren Skandale, wecken Emotionen und dramatisieren Zusammenhänge, die sie zugleich in einer manichäischen Struktur vereinfachen. Der Populismus konstruiert ein konfliktträchtiges Narrativ, in dem das Volk von den Eliten – dazu gehören ökonomische Eliten, die Presse und etablierte Politiker – betrogen wurde. Politische Akteure, die den Populismus übernehmen, erzählen die Geschichte des betrogenen Volkes. In dieser Geschichte ist zwar das Volk der Souverän, doch es wird unterdrückt und verkommt zur ›silent majority‹. Die korrupten Eliten beuten es aus und zusammen mit den etablierten Politikern und Parteien aber auch mit den Massenmedien arbeiten sie daran, das Volk ›klein‹ zu halten und rauben ihm seine politische Macht. Nicht selten verlangen Populisten, die Macht dem Volke zurückzugeben. Doch das Volk schafft es nicht allein. Wie in einem Märchen wird das Volk durch den charismatischen Führer geweckt und kann sich von den ›Mächtigen‹ befreien.7 Angesichts dieser Dramatisierung sind komplexe Argumentationen oder die Berücksichtigung mehrerer Standpunkte überflüssig. Das Narrativ des betrogenen Volkes teilt die Gesellschaft in zwei antagonistische Blöcke auf: das Volk und die Elite. Es emotionalisiert ihre Verhältnisse und produziert eine moralische schwarz-weiß-Argumentation. Populisten glauben, den Willen des Volkes genauer zu kennen, und dieser Wille ist für sie immer homogen und eindeutig. Meinungspluralismus wird als Zerstreuung des Volkswillens betrachtet, während eine interpretative Auseinandersetzung mit politischen Problemen zur Verzerrung der Wahrheit führe. Stattdessen stehen 6 7

Vgl. Crouch, Colin: Postdemokratie, 2008. Zum Narrativ des betrogenen Volkes vgl. Diehl, Paula: Die Komplexität des Populismus, 2011.

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die Unmittelbarkeit und der enge Kontakt zwischen Volk und Führer im Vordergrund. Der populistische Führer dient hier als Personalisierung des Volkswillens und kommuniziert ihn direkt. Denn, so die populistische Logik,8 gerade weil der Populist, anders als die Politiker der etablierten Parteien, einer aus dem Volke ist, kann er wissen, was das Volk eigentlich will. Populismus lehnt jegliche Art der Mediation ab, sei es durch etablierte Parteien, Politiker oder Journalisten. Diese erscheinen den Populisten als überflüssige und gefährliche Verzerrer des Volkswillens und sind dem Vorwurf der Verfälschung und des Verrats ausgesetzt. Weil die Kommunikation ohne Mediation erfolgen soll, verpflichtet die populistische Logik zur Vereinfachung und Komplexitätsreduktion und appelliert an den ›common sense‹. Dieser muss nicht erklärt werden, sondern ist jedem ›ersichtlich‹ und fühlbar. Populistische Akteure geben vor, die Stimme des Volkes wiederzugeben, und können dadurch mit Tabus brechen, ohne dafür haftbar gemacht zu werden. Denn vox populi, vox Dei.9 Das Verhältnis des Populismus zur Demokratie ist ambivalent. Positiv ist zu unterstreichen, dass der Populismus die Bürger zu mehr Partizipation und Kontrolle der politischen Repräsentanten animiert, wenn an die Volkssouveränität appelliert wird. Der Populismus macht die Schwachstellen der Demokratie sichtbar, indem er auf die fehlende Umsetzung des Volkssouveränitätsprinzips in der Praxis aufmerksam macht. Rhetorisch drückt sich dieser Anspruch zum einen durch die Kritik an Machtmissbrauch und Korruption und zum anderen durch die Forderung nach politischer Veränderung aus.10 Indem Populismus auf konkrete Defizite der Demokratie verweist, kann er zu deren Korrektur beitragen. Zur negativen Seite gehört, dass durch Komplexitätsreduktion, manichäische Struktur und Ausblendung des Pluralismus die politische Debatte verzerrt wird. Die populistische Logik hält sich zwar an den demokratischen diskursiven Rahmen. Sie geht von der Meinungsfreiheit, von der Gleichheit zwischen den Individuen und von der Macht des Volkes aus. Aber sie verzerrt diesen Rahmen, denn sie arbeitet mit Kurzschlüssen. Die große Gefahr des Populismus liegt in der Verschiebung des politischen Diskurses. Die populistische Kommunikation wird so vereinfacht, dass wichtige Komplexitäten ausgeblendet werden und die Welt in manichäischer Gestalt auftritt. Es gibt nur Gut oder Böse, entweder oder. Für die demokratische Debatte bedeutet dies vor allem einen Verlust an Pluralität der Meinungen und das Verschwinden von Kompromissen. Steht die populistische Logik zu stark im Vordergrund, sind öffentliche deliberative Prozesse schwer möglich. Die demokratische Öffentlichkeit

8 9 10

Vgl. Laclau, Ernesto: On Populist Reason, 2005, sowie Diehl, Paula: Die Komplexität des Populismus, 2011 und Müller, Jan-Werner: Was ist Populismus?, 2016. Zu einer zusammenfassenden Auseinandersetzung mit der Logik des Populismus vgl. Diehl, Paula: Die Komplexität des Populismus, 2011. Vgl. Mény, Yves/Surel, Y.: Par le peuple, pour le peuple, 2000.

Rechtspopulismus und Massenmedien: eine explosive Mischung

braucht eine gewisse Offenheit, um politische Auseinandersetzungen zu führen und eventuell gemeinsame Lösungen zu finden. Mit der Polarisierung baut die populistische Rhetorik zwei unversöhnliche Blöcke auf. Das Risiko ist hier, dass der ›common ground‹ für politische Auseinandersetzungen verschwindet. Die populistische Logik generiert Kommunikationstechniken, die mit den Aufmerksamkeitsregeln der Massenmedien besonders kompatibel sind. Dies wird deutlich, wenn man die Komponenten des Populismus mit den Selektionskriterien der Massenmedien vergleicht. Denn Massenmedien bilden zwar ein Forum für den öffentlichen Diskurs, doch ihre Rolle ist keineswegs unschuldig. Sie entscheiden erheblich darüber, was gesendet wird und was nicht. Ferner geben sie auch den veröffentlichten Bildern und Botschaften eine ästhetische Form und bestimmen die Art und Weise, wie Politik diskutiert und präsentiert wird. Spezialisten der politischen Kommunikationsforschung haben die Selektionskriterien der Massenmedien untersucht. Dazu zählen »Personifikation, mythisierender Heldenkonflikt, Drama, archetypische Erzählung, Wortgefecht, Sozialrollendrama, symbolische Handlung, Unterhaltungsartistik, sozialintegratives Nachrichtenritual«.11 Privilegiert werden Inszenierungen und Kommunikationsstile, die Personalisierung, Komplexitätsreduktion, Appel zum Außergewöhnlichen, Emotionalisierung, Dramatisierung und eine Konfliktstruktur aufweisen. Stellt man diese Kriterien neben die Elemente des Populismus, sind die Ergebnisse verblüffend:12 Gegenüberstellung von Kriterien der Massenmedien und Elemente des Populismus Kriterien der Massenmedien

Elemente des Populismus

Personalisierung

Zentralität des charismatischen Leaders

Komplexitätsreduktion

Vereinfachung der Argumentation

Appell zum Außergewöhnlichen

Produktion von Skandal und Tabubrüchen

Emotionalisierung

Emotionalisierung

Dramatisierung

Narrativ des betrogenen Volkes

Konfliktstruktur

Manichäisches Denken

Unmittelbarkeit

Ablehnung von Mediation

Quelle: Eigene Darstellung.

Es wird dadurch klar, dass es sich um eine systemische Übereinstimmung zwischen massenmedialen Aufmerksamkeitsregeln und populistischer Logik handelt.

11 12

Meyer, Thomas: Populismus und Medien, 2006, S. 38. Vgl. Diehl, Paula: Populismus und Massenmedien, 2012.

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Politische Akteure, die sich des Populismus bedienen, haben daher höhere Chancen, Medienaufmerksamkeit zu erzeugen. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass die Massenmedien solchen Akteuren, und dazu gehören Rechtspopulisten, besondere Aufmerksamkeit schenken.

Populismus und Rechtspopulismus Rechtspopulismus ist nicht gleich Populismus, sondern eine besondere Variante des Populismus. In der Tat gibt es unterschiedliche Formen des Populismus, die je nach ideologischer Richtung als Agrarpopulismus, Linkspopulismus, Rechtspopulismus oder Mainstream-Populismus bezeichnet werden. Im Rechtspopulismus ist die populistische Logik mit rechtsextremistischen Ideologien, besser gesagt mit Ideologemen, kombiniert. Ideologeme sind Versatzteile von Ideologien, sie sind Vorstellungen und Gedanken, die keine umfassenden Erklärungsmuster bieten, aber punktuelle Einstellungen zu bestimmten Themen geben. Die Vorstellung, dass Ausländer nicht zur Gesellschaft gehören, dass sie ihr gefährlich sein können, ist ein solches rechtsextremistisches Ideologem. Die Kombination von Populismus und Rechtsextremismus ist möglich, weil der Populismus ideologisch unterbestimmt ist; nicht umsonst wird er als »dünne Ideologie«13 definiert. Der Populismus preist zwar das Volk als moralische Instanz an und stellt es ins Zentrum seines Narrativs, doch wer zum Volke gehört, bleibt zunächst offen. Erst in der Kombination mit anderen Ideologien kann der Populismus das Volk definieren. Im Linkspopulismus wird das Volk aus der Arbeiterklasse, ausgebeuteten und diskriminierten Gruppen, gebildet, für den liberalen und neo-liberalen Populismus ist das Volk die Summe der Kleinunternehmer und Alleinkämpfer, die sich dem Aufstieg in der kapitalistischen Gesellschaft verpflichtet fühlen. Der Rechtspopulismus wiederum definiert das Volk durch die Zugehörigkeit zu einer ethnischen, manchmal sogar rassistisch definierten Gruppe und rekurriert auf rechtsextremistische Ideologeme. Typisch für den Rechtsextremismus sind »übersteigerter Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, ein autoritär-konservatives, hierarchisches Familien- und Gesellschaftsbild und die Ablehnung der Demokratie«.14 Dazu gehören auch die Vorstellung einer ethnisch homogenen Gesellschaft, die Überzeugung, dass ihre Mitglieder einen höheren Wert als Nicht-Zugehörige haben, und somit auch die Negierung der demokratischen Gleichheit, und die Ablehnung des Wertepluralismus. Zentral dabei ist, dass das Volk als eine Art Körper imaginiert wird, der von Fremden bedroht 13 14

Mudde, Cas: The Populist Zeitgeist, 2004. Jaschke, Hans-Gerd: Rechtsextremismus, 2006.

Rechtspopulismus und Massenmedien: eine explosive Mischung

werden. Sie gelten als nicht zugehörige Elemente, die den Volkskörper ›infizieren‹ und ›verderben‹ können. Daher gehört die Angst vor Ausländern zu den Topoi rechtsextremistischer Ideologien. Rechtspopulismus ist eine regelrechte Kombination aus populistischer Logik und rechtsextremistischen Ideologemen. Er schreibt die diskriminierende Auffassung des Volkes als Körper in das populistische Narrativ des betrogenen Volkes ein. Die Elite, etablierte Politiker und Medien erscheinen zwar weiterhin als Verräter, doch sie werden so porträtiert, dass sie entweder aus eigenem Interesse oder aus Missachtung des Volkes eine Allianz mit Ausländern, Muslimen, Juden oder ›Fremden‹ eingehen, die Feinde des Volkes tolerieren und sogar privilegieren. Dies wird in der Migrationsdebatte in Deutschland deutlich.

Die Effekte auf die politische Kultur Im Rechtspopulismus dient der Populismus als Brücke zwischen der demokratisch konstituierten Öffentlichkeit und rechtsextremistischen Positionen. Standen rechtsextremistische Ideologeme bisher außerhalb der demokratisch konstituierten Öffentlichkeit, werden sie nun durch die populistische Logik dorthin transportiert. Rechtspopulismus dient somit als Eintrittstor für rechtsextreme Ideologien in die demokratische Öffentlichkeit. Denn die systemische Begünstigung des Populismus in den Massenmedien führt dazu, dass rechtsextremistische Ideologeme immer öfter transportiert werden. Die Auswirkungen dieses Prozesses auf die Demokratie sind verheerend. Durch die Privilegierung rechtspopulistischer Akteure aufgrund ihrer Affinität zu den Aufmerksamkeitsregeln der Massenmedien kommt es zur Wiederholung ihrer Botschaften. Es entsteht ein Gewöhnungseffekt an antidemokratische Selbstverständnisse. Rechtsextremistisches Gedankengut wird salonfähig. Besonders problematisch sind zwei miteinander verbundene Entwicklungen: Die erste findet statt, wenn Politiker etablierter Parteien nicht nur auf die populistische Logik, sondern auch auf rechtspopulistische Ideologeme zugreifen, um den Wettbewerb gegen die Rechtspopulisten zu gewinnen. Die zweite findet statt, wenn die Massenmedien die Meinung, die durch Rechtspopulisten vertreten wird, mit der Stimme des Volkes gleichsetzen und diese in der Formulierung von Fragen und Auswahl von Themen integrieren. Es ist ein typischer rhetorischer Zug von Populisten und Rechtspopulisten zu behaupten, sie artikulierten die Stimme des Volkes. Dies für bare Münze zu nehmen bedeutet, bereits in die Falle der Populisten zu tappen. Wer unterstellt, dass Flüchtlinge per se die deutschen Lebensweisen bedrohen oder Muslime nicht integrierbar sind, gibt nicht die Volksmeinung wieder, sondern die der Rechtspopulisten. Das Problem dabei ist, dass damit diese rechtsradikalen Ideologeme salonfähig gemacht und zur Normalität der demokratischen

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Öffentlichkeit werden. Findet kein Widerspruch der Medien, Politiker und Zivilgesellschaft statt, kann sich dauerhaft ein ›Framing‹ der politischen Auseinandersetzung etablieren, das mit den demokratischen Prinzipien wie Pluralität, Freiheit und Gleichheit bricht. Dann kann eine Situation entstehen, in der der demokratische diskursive Rahmen so verschoben wird, dass er nicht mehr demokratisch ist. Damit dies nicht passiert, müssen sowohl politische als auch Medienakteure selbstkritisch mit ihrer eigenen Rolle umgehen. Sie dürfen nicht zum Teil der rechtspopulistischen Strategie werden.

Bibliographie Bender, Justus: Gauland: Özoguz in Anatolien entsorgen. In FAZ vom 28.08.2017, https://www.faz.net/aktuell/politik/bundestagswahl/afd-alexander-gauland-t raeumt-von-entsorgung-aydan-oezoguz-15171141.html (zuletzt abgerufen am: 02.10.2017). Crouch, Colin: Postdemokratie. Frankfurt a.M. 2008. Dagalagas (2015): Donald Trump bodyslams beats and shaves Vince McMahon at Wrestlemania XXIII. https://www.youtube.com/watch?v=MMKFIHRpe7I (zuletzt abgerufen am: 11.07.2017). Der Westen (2017): »AfD fragt, Merkel und Schulz antworten« – Harte Kritik am TVDuell im Netz. https://www.derwesten.de/kultur/fernsehen/langweilig-afdnaher-moderator-harte-kritik-am-tv-duell-im-netz-id211810129.html (zuletzt abgerufen am: 02.10.2017). Diehl, Paula: Die Komplexität des Populismus. Ein Plädoyer für ein mehrdimensionales und graduelles Konzept. In: Totalitarismus und Demokratie 8 (2011), N° 2, S. 273-291. Diehl, Paula: Einfach, emotional, dramatisch. Warum Rechtspopulisten so viel Anklang in den Massenmedien finden. In: Die Politische Meinung 61 (2016), N° 539, S. 78-83. Diehl, Paula: Populismus und Massenmedien. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 62 (2012), S. 16-22. Diehl, Paula: Populismus, Rechtspopulismus und die Medien. In: Polar (2017), N° 23, S. 35-40. Jaschke, Hans-Gerd: Rechtsextremismus. In: Bundeszentrale für Politische Bildung (Hg.): Dossier Rechtsextremismus. Bonn 2006, S. 288-291. Laclau, Ernesto: On Populist Reason. New York 2005. Mény, Yves/Surel, Yves: Par le peuple, pour le peuple. Le populisme et les démocraties. Paris 2000. Meyer, Thomas: Populismus und Medien. In: Frank Decker (Hg.): Populismus. Gefahr für die Demokratie oder nützliches Korrektiv? Wiesbaden 2006, S. 81-96.

Rechtspopulismus und Massenmedien: eine explosive Mischung

Mudde, Cas: The Populist Zeitgeist. In: Government & Opposition 39 (2004), N° 4, S. 541-563. Müller, Jan-Werner: Was ist Populismus? Ein Essay. Frankfurt a.M. 2016. Potus: President Trump. https://twitter.com/potus (zuletzt abgerufen am: 10. 07.2017). Schulte, Ulrich (2017): Merkel routiniert, Schulz angespannt. https://www.taz.de/! 5444327/ (zuletzt abgerufen am: 02.10.2017).

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Streitkultur und (Rechts-)Populismus als Problemfelder liberaler Demokratie Marian Pradella/Ronny Rohde

1.

Streit in der Demokratie: Bedingungen und Konfliktzonen

Die Frage nach dem Zustand und der Verfasstheit einer bundesrepublikanischen politischen Streitkultur stellt sich seit einigen Jahren in verstärkter Weise. Während Ulrich Sarcinelli als Herausgeber eines 1990 erschienenen Sammelbandes, der eine erste (deutschsprachige) politikwissenschaftliche Aufstellung zu möglichen Fragestellungen im Feld darstellte, noch bescheiden bis rechtfertigend einleitete, dass über Streitkulturen nachzudenken angesichts einer sich einstweilen als alternativlos präsentierenden Homogenisierung globaler politisch-ökonomischer Ordnung und im Falle der Bundesrepublik geschichtspolitischer Anmahnung eines nationalen Konsenses im Inneren »nicht en vogue«1 sei, darf mit drei Jahrzehnten Abstand im zeitgeschichtlichen Rückblick auf die »Große Transformation«2 und mit kritischer Bestandsaufnahme der Gegenwart das Gegenteil konstatiert werden. Über Streitkulturen nachzudenken, ist nicht nur überaus en vogue, wie es Veranstaltungen politischer Bildungsträger und wissenschaftlicher Einrichtungen sowie mediale Schwerpunktsetzungen deutlich anzeigen3 , sondern als polarisiertes politisches Konfliktfeld ein zweifellos notwendiger Gegenstand analytischer Betrachtung. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund eines in Teilen zu konstatierenden Rechtsrucks in der bundesdeutschen Gesellschaft in Gestalt einer konsolidierten außerparlamentarischen Protestbewegung sowie der Etablierung der AfD als parlamentarische Kraft und der hiermit verbundenen Auseinandersetzung mit 1 2

3

Sarcinelli, Ulrich: Einleitung, 1990, S. 11-26, hier S. 11. So lautet in Anlehnung an Karl Polanyi die Chiffre des Sozialhistorikers Philipp Ther für die globalen Strukturwandlungsprozesse mit dem Ende der Blockkonfrontation und der Expansion und Konsolidierung neoliberaler Hegemonie, die er u.a. als Triade aus Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung charakterisiert. Ther, Philipp: Das andere Ende der Geschichte, 2019, S. 23. So etwa 2018 das Projekt »Deutschland spricht« von u.a. ZEIT ONLINE, Der Spiegel und Tagesspiegel unter Schirmherrschaft des Bundespräsidenten.

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den Phänomenen des Rechtspopulismus und der Neuen Rechten werden Grundfragen politischer Streitkultur wie unter einem Brennglas deutlich, wie sie 1990 bereits weitsichtig formuliert wurden und wonach »es nicht nur auf das ›Was‹ des politischen Streits, sondern zunehmend auf das ›Wie‹, also auf die Formen, Modalitäten und Stile«4 ankäme. Verbale Enthemmungen, wie sie (spätestens) seit Beginn der PEGIDA-Proteste in der Breite rechten Straßenprotestes geläufig geworden sind, das rhetorische Spiel mit Semantiken als gezielte Provokation, wie es die AfD besonders exponiert eingeübt hat, die in den Sozialen Medien vielfältig auftretenden Phänomene affektiver Komplexitätsreduzierung und auch der hiermit eng verbundene Nexus von verbaler Enthemmung und physischen Gewalttaten, zeichnen für das vergangene Jahrzehnt und die Gegenwart ein zweifellos konfliktträchtigeres Bild, als es Sarcinelli mit Blick auf in Deutschland als Protestpotential mobilisierbare Antiparteienaffekte5 befürchtete. Streitkulturen – nicht nur in der Bundesrepublik – sehen sich folglich auf Ebene ihrer Modalitäten und insbesondere hinsichtlich deren Implementierung im Feld neuer Kommunikationsmedien dynamischen Veränderungen ausgesetzt6 , die antizipatives, die Streitkultur schützend regulierendes, politisches Handeln erschweren, welches ohnehin nur begrenzte Einflussmöglichkeiten auf die diskursive Arena abseits der Institutionen hat. Sofern eine solche Einflussnahme überhaupt wünschenswert ist oder nicht – hierüber ließe sich freilich streiten – gewinnen die außerinstitutionellen Foren an Relevanz, die konventionelle politische Handlungsabfolgen vor Herausforderungen stellen. Die beispielsweise gesetzgeberischen Bemühungen um Regulierungen im Bereich der Sozialen Medien können zwar auf eine zukünftig vorbeugende Wirkung hoffen, bereits entfaltete Wandlungen in der Streitkultur aber freilich nicht mehr umkehren. Zugleich verdient das »Was« des Streits, der Streitgegenstand, keinesfalls weniger Beachtung. Schließlich, auch dies wusste Sarcinelli prägnant zu formulieren, ist Streit, wenn er als Instrument politischer Auseinandersetzung und Teilhabe liberaler Demokratie konzipiert werden soll, entgegen einem alltagsweltlichen Verständnis nicht ausschließlich durch den Dissens gekennzeichnet, sondern bedarf neben vereinbarten Regeln, die insbesondere im institutionellen Setting zur Wahrung der Funktionalität politischer Prozesse beitragen, gleichfalls eines Minimums an Konsens hinsichtlich nicht zur Disposition zu stellender Wertegrundlagen, wie in beispielhafter und besonderer Weise die Anerkennung demokratischer Grundprämissen.7 Die konstitutive Bedeutung des Dissens für den Streit wird hiermit

4 5 6 7

Sarcinelli, Ulrich: Demokratische Streitkultur, 1990, S. 12f. Ebd., S. 11f. De Saint Victor, Jacques: Die Antipolitischen, 2015. Sarcinelli, Ulrich: Auf dem Weg in eine kommunikative Demokratie? Demokratisch Streitkultur als Element politischer Kultur, 1990, S. 29-51, hier S. 35.

Streitkultur und (Rechts-)Populismus als Problemfelder liberaler Demokratie

allerdings keineswegs geschmälert. Denn welche Deutungsmuster in den Rang regulativer Beschränkung gehoben werden, muss, so möchten wir im Folgenden akzentuieren, als eine Frage der Hegemonie und des (nicht nur) symbolisch-diskursiven Bemühens um diese verstanden werden. Chantal Mouffe weist darauf hin, dass die jeweils etablierten inhaltlich-semantischen Regularien im Feld liberal-demokratischer Politik zwar als Konsens imaginiert und hierdurch vergewissert werden, allerdings notwendig den immanenten Ausschluss anderer Deutungsangebote respektive normativer Setzungen bedeuten.8 Der politische Streit kann daher mit Mouffe als eine »artikulatorische[n] Verfahrensweise[n]«9 beschrieben werden, welche zugleich als »hegemoniale Verfahrensweise[n]«10 charakterisiert werden muss, »die eine bestimmte Ordnung etabliert und die Bedeutung der gesellschaftlichen Institutionen«11 festlegt. Vor dem Hintergrund spätmoderner Strukturwandlungsprozesse12 , der sich ändernden Legitimationsbedingungen politischen Handelns13 sowie hiermit verbunden neuerer identitätspolitischer und sozialer Konfliktlinien14 ist es demnach nur folgerichtig, dass auch die normativ-semantischen Grundbestimmungen demokratischer Steitkultur zunehmend diskutabel werden. In Hinblick auf den hegemoniepolitischen Charakter des Streits wird deutlich, dass die hier voneinander unterschiedenen Ebenen des Streits und der hieran anschließenden Grundlinien in Frage stehender Streitkultur nur in operationalisierender Absicht bzw. Perspektive voneinander getrennt werden können, im empirischen Feld jedoch von ihrer konstruktiven Interferenz bzw. Symbiose her gedacht werden müssen. Die vielfach thematisierte Verschiebung des Sagbaren, die in der bundesdeutschen Debatte den verschiedenen Akteuren des neurechten und rechtspopulistischen Milieus nicht selten als instrumentelles Interesse am Streit attestiert wird15 , hebt eindrücklich auf einen solchen Konnex von Form und Inhalt bzw. die strategische Dimension sprachlich-rhetorischer Invektiven ab. Streit, so wir unter ihm als empirisches Phänomen in Abgrenzung zu einem normativen, die regulative Übereinkunft voraussetzenden Streitbegriff auch jene diskursiven

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15

Mouffe, Chantal: Über das Politische, 2010, S. 27. Mouffe, Chantal: Über das Politische, 2010, S. 27 [Ibid.] Mouffe, Chantal: Über das Politische, 2010, S. 27[Ibid.] Mouffe, Chantal: Über das Politische, 2010, S. 27 [Ibid.] Analog zur identitätspolitischen Konfliktlinie hat Reckwitz in soziologischer Perspektive diesbezüglich das Schlagwort bzw. Theorem der Kulturalisierungsregime geprägt: Reckwitz, Andreas: Die Gesellschaft der Singularitäten, 2017, S. 75ff. Habermas, Jürgen: Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, 1976, S. 276. Bizeul, Yves: Ein neuer politischer Cleavage: die Konfliktlinie zwischen offener und geschlossener Identität, 2019, S. 1-21, hier 2ff. sowie Heitmeyer, Wilhelm: Autoritäre Versuchungen, 2018, S. 147. Salzborn, Samuel: Angriff der Antidemokraten, 2017, S. 187ff.

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Auseinandersetzungen fassen wollen, die sich eines regulativen Konsenses entziehen bzw. einen solchen neu auszuhandeln suchen und die nicht (vollends) in institutionellen Modalitäten verortet werden können, darf daher nicht nur als Seismograf verschiedene Bevölkerungsgruppen tangierender Problemstellungen verstanden werden, wie sie von den jeweiligen Streitparteien repräsentiert werden und es für die Oberflächenstruktur des institutionalisierten Streit, etwa der Parlamentsdebatte, zentrale Eigenschaft ist. Vielmehr zeigt der politische Streit in seiner gegenwärtigen Polarisierung deutlich an, dass mitunter grundsätzliche soziale, kulturelle, politische und freilich auch ökonomische Deutungsparadigmen miteinander konkurrieren, durch welche vor allem auch eine instrumentelle Dimension des Streits als symbolisch-kommunikativer Kulminationspunkt von Deutungsmachtkonflikten kenntlich wird; der Streit also als Panoptikum zuweilen antagonistischer spätmoderner Wirklichkeitswahrnehmungen und -beschreibungen seines dialogischen Prinzips beraubt wird.16 Insbesondere eine vor allem für deliberative Verfahren bzw. Demokratiemodelle kennzeichnende Bestimmung des Streits als prinzipiell offenes Verfahren17 , dem allerdings die regulativen Grundbestimmungen entzogen bleiben müssen, ist folglich nur innerhalb eines entsprechend theoretisierten, normativen Streitbegriffs gültig, der das Feld zwar in pragmatischer Perspektive analytisch begrenzen mag, gegenüber der empirischen Wirklichkeit und ihren hier skizzierten Herausforderungen jedoch unzulänglich erscheint und dem potentielle praktische Dilemmata inhärent sind. Denn obgleich in einer praktischen demokratiepolitischen Perspektive zweifellos einleuchtend erscheinen mag, dass mittels präventivem Ausschluss ausgewählter Dispositive dem Eindruck vorgebeugt werden müsse, dass konstitutive Grundwerte demokratischer Ordnung lediglich eine machtpolitische Verfügungsmasse seien18 , über die im Kontext diskursiver Verfahrensweisen mit offe16

17 18

Der Streit und die Streitkultur weisen folglich auch eine Nähe zu Fragen politischen Kultur auf und werfen ein Schlaglicht auf Strukturen und Charakteristika derselben, wenn für diese die basale wie dennoch polyvalente Einsicht gelten soll, dass sich in ihr, kommunikativ vermittelt, Deutungsangebote sozialer Wirklichkeit als Bezugspunkte individueller politischer Orientierung wie auch kollektiven politischen Handelns manifestieren; in ihnen also jene Semantiken, Begriffe und sprachlichen Konventionen identifiziert werden können, welche die Minima eines regelgeleiteten demokratischen Aushandelns bilden, welche als Grundlinien einer Streitkultur zu bezeichnen wären, und Auskunft geben über politische Konzeptionen des Gemeinwohls, der Teilhabe und der Demokratie selbst. Einschlägig ist hinsichtlich eines solchen gewissermaßen spiegelbildlichen Verhältnisses die Unterscheidung politischer Kultur in Deutungskultur und Symbolkultur nach Karl Rohe. Schmidt, Manfred G.: Demokratietheorien, 2006, S. 260. Die Notwendigkeit einer solchen diskursiven Einschränkung wird in der Bundesrepublik unter dem Konzept der wehrhaften Demokratie subsumiert. Vor allem rechtliche Regularien sind hierbei hervorstechende Charakteristika einer auch erinnerungspolitisch begründeten bundesrepublikanischen Streitkultur, womit zugleich eine Besonderheit, etwa in Vergleich

Streitkultur und (Rechts-)Populismus als Problemfelder liberaler Demokratie

nem Ausgang zu befinden sei, bedarf die Sedimentierung solcher regulativen Bestimmungen des Rückgriffs auf die Mittel kommunikativer Vermittlung und dabei auch des Streits selbst, um in Anbetracht virulenter Gegennarrative, wie etwa jener einer vermeintlichen Meinungsdiktatur, aktuell und zugänglich zu bleiben. Streit unbesehen auszuschlagen, scheint demnach in hegemonie- wie auch demokratiepolitischer Perspektive zunächst wenig ratsam, kann jedoch dysfunktional werden, wenn er vornehmlich als Modus der Aufhebung von Differenz verstanden und pejorativ grundiert »im Hinblick auf Überwindung und Beendigung«19 gedacht und ausgetragen wird. Ganz im Gegenteil scheint ein anderes Strukturmerkmal des politischen Streits stärker zu fokussieren sein, auf das Mouffe aufmerksam macht, wenn sie ausgehend von ihrer Kritik des »›postpolitischen‹ Zeitgeists«20 und einer hieran anschließenden Charakterisierung des Politischen als »Ort von Macht, Konflikt und Antagonismus«21 für einen verstärkten Streit plädiert. Dies fügt sich grundsätzlich ihren gemeinsam mit Laclau entwickelten diskurs- bzw. hegemonietheoretischen Überlegungen22 , welche herausstellen, dass Hegemonie in Gestalt des Diskursiven nicht allein durch die Materialität konstituiert würde, sondern auf einer sprachlich-symbolischen Ebene zu verorten sei.23 Doch auch Mouffe kann die Relevanz von Kontrollmechanismen nicht gänzlich aus ihren Überlegungen dispensieren. Zwar kritisiert sie an von ihr zusammengetragenen rationalistischen, individualistischen, konsensorientierten und deliberativen Denkansätzen, dass diese »die pluralistische Natur der Welt des Sozialen, samt den Konflikten, die zum Pluralismus gehören«24 , verkennen würden und folglich nicht angemes-

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zu den USA oder Großbritannien, sichtbar wird. So verweist bspw. die radikale Auslegung der free speech in den USA auf einen Liberalismus spezifischer ideengeschichtlicher Prägung, während die Speakers’ Corner in London als symbolträchtiger Ort der freien Rede bei gleichzeitiger Tabuisierung des Sprechens über die königliche Familie wiederum die Relevanz politischer Mythen für die Konstitution etwaiger Streitkulturen greifbar macht und zugleich die hierdurch begründeten Ambiguitäten demokratischer, im Grunde republikanischer Ideale im Kontext einer konstitutionellen Monarchie anzeigt. Die bundesrepublikanische Streitkultur scheint demgegenüber von einer Ambivalenz aus historischen Erfahrungen geschuldeter Regulierung einerseits und eine hierdurch zuweilen begründete pejorative Perspektive auf die leidenschaftliche politische Auseinandersetzung andererseits geprägt zu sein, die sich auch in den Politikfeldern jenseits der auf den Nationalsozialismus bezogenen erinnerungspolitischen Verständigung niederschlägt. Sinnfällig erscheint diesbezüglich beispielsweise das Schlagwort der »Kampfkandidatur«, das im Grunde eine konkurrenzlose Akklamation als Idealzustand von Repräsentationsverfahren impliziert. Gebhard, Gunther/Geisler, O./Schröter, S.: Streitkulturen 2008, S. S. 11-33, hier S. 11. Mouffe, Chantal: Über das Politische, 2010, S. 7f. und S. 16. Ebd., S. 16. Siehe hierzu vor allem: Laclau, Ernesto/Mouffe, C.: Hegemonie und radikale Demokratie, 1991, S. 127ff. Jörke, Dirk: Die Agonalität des Demokratischen, 2004, S. 164-184, hier S. 166ff. Mouffe, Chantal: Über das Politische, 2010, S. 17.

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sen auf die politische Bedeutung von Affekten, Leidenschaft und Identitätstopoi reagieren könnten.25 Sie zeigt sich zugleich aber auch davon überzeugt, dass die der sozialen Wirklichkeit implementierten Konfliktszenarien im Feld der politischen Teilhabe- und Aushandlungsmodi auf steuernde Instrumente angewiesen sind, mittels derer ein antagonistischer Ausbruch gesellschaftlicher Konflikte zugunsten einer (von ihr an anderen Stellen konkretisierten26 ) Kanalisierung in agonale Formen vermieden werden kann.27 Vor dem Hintergrund dieser theoretischen Überlegungen zu Struktur und Funktionalität des Streits sowie angesichts der Abwägungen zu seinen praktischen Problemen zeichnen sich potentielle Dilemmata demokratischer Streitkultur in Zeiten des Populismus deutlich ab. Durchaus folgerichtig fokussiert die öffentliche Debatte daher verstärkt die Frage, ob der Streit überhaupt ein geeignetes Mittel der Auseinandersetzung mit Populisten sei, ob Bedingungen für einen für die Demokratie gedeihlichen Streit gewährleistet werden können, ob die etablierte Streitkultur überhaupt vital genug ist oder möglicherweise gar selbst eine Mitverantwortung für die Polarisierung öffentlicher Meinung trägt. Die spiegelbildliche Frage lautet dagegen jedoch: Muss man nicht mehr denn je den Streit suchen? Als diskursive Spitze einer solchen öffentlichen Verständigung kann beispielhaft auf die Frankfurter Buchmesse 2017 verwiesen werden, welche aufgrund der Tumulte rund um die Inszenierungsbemühungen politischer Reizfiguren und einschlägiger rechter Verlage denkwürdig geworden ist. Hier kristallisierte sich in sinnfälliger Weise die Frage nach dem Ob und Wie eines Diskurses mit der Neuen Rechten und rechtspopulistischen Akteuren, die als solche nicht nur den konkreten Umgang mit politisch einschlägigen Verlagen der nationalkonservativen, neurechten und verschwörungsideologischen Milieus auf einer auch diesen zugänglichen Ausstellermesse adressierte, sondern an einen gesteigerten Verständigungsbedarf darüber anschloss, wie mit einer Politik der permanenten Provokation und »metapolitischen« Raumnahme, auch vor dem Hintergrund einer zu jenem Zeitpunkt neuen, in der politischen Topografie Rechtsaußen angesiedelten Opposition im Bundestag, umzugehen sei. Zu den (unfreiwilligen?) Stichwortgebern einer solchen Debatte wurden dabei Pascal Zorn, Per Leo und Maximilian Steinbeis, die im Herbst 2017 pünktlich zur Frankfurter Buchmesse ihren Band »Mit Rechten reden. Ein Leitfaden«28 vorlegten. In feuilletonistischen Besprechungen wurde das 25 26 27

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Ebd., S. 42ff. Mouffe, Chantal: Agonistics, 2013. Mouffe, Chantal: Über das Politische, 2010, S. 12 und S. 157f. Grundsätzlich erscheint im Kontext der Mouffschen Konzeptionalisierung erklärungsbedürftig, inwieweit die Ambiguität aufgelöst werden kann, einerseits auf einer Untilgbarkeit des Antagonismus zu insistieren, andererseits aber antagonistische Konfliktausbrüche vermeiden zu wollen. Leo, Per/Steinbeis, M./Zorn, P.: Mit Rechten reden, 2017.

Streitkultur und (Rechts-)Populismus als Problemfelder liberaler Demokratie

Buch außerordentlich kontrovers diskutiert. Einerseits war zu lesen, dass es sich um ein geistreiches Buch handele, das nach Auswegen aus einer reflexhaften Unterstellung eines intellektuellen Mimikry gegenüber Teilen der radikalen Rechten suche29 , während es an anderer Stelle hieß, dass die Autoren Grundmuster neurechter beziehungsweise rechtspopulistischer Debattenstrategie verkennen, mitunter gar reproduzieren würden und ihr Bemühen daher von Unzulänglichkeiten durchdrungen sei.30 In jedem Falle nahmen die Autoren einen sich distanzierenden Standpunkt gegenüber jener von ihnen beschriebenen Auffassung ein, dass aus der Beobachtung, dass die Neue Rechte jedwedem Gesprächsangebot instrumentell und als Mittel einer propagandistischen Bühne begegnen würde, abzuleiten sei, sich nicht unnötig um eine diskursive Auseinandersetzung bemühen zu müssen. Zwar sei der Titel des Buches, wie Autor Zorn gegenüber dem Deutschlandfunk auf der Frankfurter Buchmesse zu Protokoll gab, nicht als Imperativ zu verstehen31 , ein (vermeintlicher) Diskursausschluss, so gab das Autorenkollektiv an anderer Stelle zu verstehen, habe allerdings »offenbar nicht gefruchtet«32 . Ungeachtet einer etwaigen Bewertung der von den Autoren vorgetragenen Problemanalyse darf die Diskussion um »Mit Rechten reden« als ein stellvertretender heuristischer Fingerzeig verstanden werden, der an verwandte Debatten anschließt, wie etwa jene um die mitunter als überproportional empfundene Präsenz von AfD-Vertreter*innen in den politischen Talkshows der öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten, und Anlass bietet, über das Verhältnis von Streit und Demokratie, über Bedingungen und Grenzen politischen Streits vor dem Hintergrund der Virulenz des Rechtspopulismus zu reflektieren. Für ein solches Bemühen ist eine genauere Betrachtung des Rechtspopulismus in Hinblick auf Fragen des Streits jedoch unerlässlich und in derlei Debatten mitunter zu wenig problematisiert.

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Mangold, Ijoma: Besuch von anderen Planeten, 2017, https://www.zeit.de/2017/43/neue-rech te-frankfurter-buchmesse-antaios-verlag (zuletzt abgerufen am: 10.11.2020). Lessenich, Stephan: Mit der Kraft des besseren Arguments?, 2017, https://www.faz.net/aktu ell/feuilleton/buecher/mit-rechten-reden-mit-der-kraft-des-besseren-arguments-15301832.ht ml (zuletzt abgerufen am: 10.11.2020). Speit, Andreas/Zorn, D.: Wenn die Faust spricht, ist bei uns Schluss, 2017, https://www.deuts chlandfunkkultur.de/umgang-mit-der-neuen-rechten-wenn-die-faust-spricht-ist-bei.1270.de. html?dram:article_id=398230 (zuletzt abgerufen am: 10.11.2020). Rühle, Alex/Leo, P./Steinbeis, M.: Männer contra Schneeflöckchen, 2017, https://www. sueddeutsche.de/kultur/mit-rechten-reden-maenner-contra-schneefloeckchen-1.3706351 (zuletzt abgerufen am: 10.11.2020).

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2.

»Der« Populismus – eine Spurensuche

Die Rede von »dem Populismus« erscheint heute tatsächlich allgegenwärtig. Im Zuge aktueller politischer Ereignisse – bspw. der erfolgreichen Brexit-Kampagne, den Wahlkämpfen von Donald Trump oder in Betrachtungen der Alternative für Deutschland (AfD) – wird im öffentlichen Diskurs nahezu täglich der Terminus Populismus als Beschreibungs- und Erklärungskategorie aufgerufen. Das Wort »erklärt« jedoch zunächst relativ wenig, und Populismus erscheint oftmals lediglich als eine Kategorie, unter der »ungewöhnliche« Formen der Politik subsumiert werden. Der Begriff wird dabei vorwiegend als eine pejorative Zuschreibung verwendet, als verunglimpfende Beschreibungskategorie für den politischen Gegner. Diesem wird vorgeworfen, eine Politik unrealistischer oder nicht einhaltbarer Versprechungen zu prägen, unsachliche Stimmungsmache zu verfolgen oder demagogische Selbstdarstellung zu betreiben. »Populismus« erscheint somit zuvorderst als »ein schillerndes Schlagwort, mithin ein politischer Kampfbegriff«.33 Dies wird insbesondere deutlich, wenn sich diverse politische Akteure gegenseitig vorwerfen, »populistisch« zu handeln und damit demokratische Normen oder Verfahren zu verletzen. Der Terminus erscheint somit nicht nur allgegenwärtig, sondern zunehmend beliebig, und es fragt sich mit Blick auf den öffentlichen Diskurs von daher eher, wer eigentlich kein Populist ist oder wie Ralf Dahrendorf es ausdrückt: »des einen Populismus ist des anderen Demokratie, und umgekehrt«.34 Vor diesem Hintergrund wird im Folgenden zu fragen sein, was den Populismus genauer auszeichnet und wie dieser in Hinblick auf ein demokratisches Setting von Streitkultur zu betrachten ist. Während in nahezu allen sozialwissenschaftlichen Publikationen zum Themenfeld einleitend über die Schwammigkeit des Konzepts geklagt wird, so sollte nicht aus den Augen verloren werden, dass mittlerweile zumindest von einem relativen Konsens über bestimmte grundlegende Strukturmerkmale des Populismus die Rede sein kann.35 Als kennzeichnend für den Populismus soll zunächst eine relationale Beziehung der Kategorie »Volk« mit einer – wie auch immer definierten – »Elite« hervorgehoben werden, wodurch eine antagonistische Zweiteilung sowie Vereinfachung des politischen Raumes erzeugt wird.36 Als Minimaldefinition erscheint daher ein Vorschlag von Cas Mudde hilfreich, der den Populismus definiert als »[…] a thin-centered ideology that considers society to be ultimately separated into two homogeneous and antagonistic camps, ›the pure people‹ versus ›the corrupt elite‹, and which argues that politics should be an expression of the volonté

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Rensmann, Lars: Populismus und Ideologie, 2006, S. 59-80, hier S. 59. Dahrendorf, Ralf: Acht Anmerkungen zum Populismus, 2003, S. 156-163, hier S. 156. Woods, Dwayne: The Many Faces of Populism: Diverse but not Disperate, 2014, S. 1-25, hier S. 3. Laclau, Ernesto: Populism: What’s in a Name, 2005, S. 32-49, hier S. 43f.

Streitkultur und (Rechts-)Populismus als Problemfelder liberaler Demokratie

générale (general will) of the people [H.i.O.]«.37 Neben den Kernkategorien »Elite« und »Volk« wird hier auf die Zentralität eines »allgemeinen Willens« hingewiesen, der in letzterem verankert sei. In Folge dieser vagen Kernthemen kann der Populismus jedoch nicht als ein eigenständiges politisches Ideensystem (wie bspw. der Liberalismus) verstanden werden, worauf die Formulierung der »thin-centered ideology« hinweist. Da sich der Populismus somit weder durch spezifische wiederkehrende Inhalte noch durch einen spezifischen weltanschaulichen Kern auszuzeichnen scheint, ist es sinnvoll, ihn eher als eine Art politische Mobilisierungsstrategie zu verstehen, die mit unterschiedlichsten politischen Ideensystemen verknüpft sein kann. Grundlegend kann festgestellt werden, dass der Rekurs auf »das Volk« innerhalb des populistischen Diskurses diesem eine demokratische Legitimation verschaffen kann, denn: Sollte »das Volk« nicht de facto als der zentrale Akteur jeder demokratischen Politik gelten? Tatsächlich erscheinen Populismus und Demokratie zunächst untrennbar verbunden, teilen sie sich doch die Zentralität eben jener Kategorie: »(a) both have firm and solid roots in the people and (b) both indicate the paramount importance of the people«.38 Entscheidend ist jedoch, dass das Demokratische niemals ausschließlich und hinreichend auf das Prinzip der Volksherrschaft zurückgeführt werden kann, sondern vielmehr stets aus einem konfliktiven Zusammenspiel diverser, mitunter entgegengesetzter Elemente besteht.39 Neben einem solchen Ideal der vollständigen Volksherrschaft sind dies bspw. liberale Prinzipien wie etwa der Minderheitenschutz oder das Prinzip der Repräsentation. Es könnte somit vielmehr von einer »Unbestimmtheit der Demokratie« gesprochen werden, d.h., »dass die Begriffe, die sie noch am ehesten zu begründen und zusammenzufassen scheinen […] stets für viele, mitunter widersprüchliche Interpretationen offen geblieben sind«.40 Mit Mény und Surel kann gesagt werden, dass alle populistischen Bewegungen zentral mit der für das Demokratische konstitutiven Spannung »between its ideology (the power of the people) and its functioning (the power of the elites chosen by the people)« spielen – maßgeblich, indem hier ausschließlich »das Volk« als legitimer Akteur anerkannt wird.41 37 38 39 40 41

Mudde, Cas/Kaltwasser, C.: Populism, 2017, S. 6. Pasquino, Gianfranco: Populism and Democracy, 2008, S. 15-29, hier S. 15. Rosanvallon, Pierre: Das Jahrhundert des Populismus, 2020, S. 228. Ebd., S. 136. Mény, Yves/Surel, Y: The Constitutive Ambiguity of Populism, 2002, S. 1-21, hier S. 8. Mudde & Kaltwasser beschreiben den Populismus daher als eine Form des Rousseauismus. JeanJaques Rousseau unterscheidet zwischen einer »volonté générale« und einer »volonté de tous«. Erstere beschreibt die Möglichkeit »des Volkes« eine Gemeinschaft zu bilden und sich eigene Gesetze zu erlassen, um somit ihre geteilten Interessen durchsetzen zu können. Zweitere beschreibt lediglich die Summe partikularer Interessen an einem spezifischen historischen Zeitpunkt. Populistisches Denken setze die Annahme voraus, dass eine »volonté gé-

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Mit Muddes Definition kommt zentral eine dyadische Struktur zum Vorschein, d.h. eine vertikale Trennlinie, die »das Volk« moralisch von »der Elite« abgegrenzt. Mit Blick auf jene politischen Projekte, die in den heutigen europäischen Gesellschaften zumeist als »rechtspopulistisch« beschrieben werden, muss diese Grundstruktur indes um eine horizontale Dimension erweitert werden, denn diese weisen stets eine triadische Struktur auf: Einerseits konstruiert die vertikale Trennlinie einen Antagonismus im Inneren einer Gesellschaft, der in der Behauptung »das Volk« gegen »die-da-oben« vertreten zu müssen zum Ausdruck gebracht wird. Andererseits wird diese erste Abgrenzungslinie im Rechtspopulismus um eine horizontale Dimension gegenüber einem »Außen« ergänzt, d.h., zu dem antielitären Element im Inneren kommt ein tendenziell xenophobes Element gegen »dieda-draußen« als dritte Dimension hinzu.42 Die konkrete inhaltliche Manifestation dieses Außens zeigt sich hoch variabel und ist prinzipiell – je nach Kontext – relativ frei austauschbar, immer jedoch ist es ein als »fremd« definierter Anderer. Bzgl. der diskursiven Form, in der dieser Andere hervorgebracht wird, lässt sich heute maßgeblich ein »differentialistisch argumentierender Nativismus« konstatieren, d.h. »der Fremde« wird durch Verweise auf bestimmte »kulturelle Veranlagungen« plausibilisiert, die vorgeblich nicht mit »dem Eigenen« vereinbar seien (bspw. Vorstellungen, die den Fremden »natürliche« Neigungen zu Kriminalität oder anderem abweichenden Verhalten zusprechen).43 Hieraus folgt ein Ideal des Ethnopluralismus, wobei kulturelle Entitäten als homogen gedacht werden und als »natürliche« geschlossene Container miteinander unvereinbar erscheinen. Weder »klassische« ethno-rassistische noch sozioökonomische, sondern kulturelle Deutungen gesellschaftlicher Konfliktlinien dominieren – ein Phänomen, das von Hellmuth auch als »Kulturfundamentalismus« bezeichnet wird.44 Wenn der Rechtspopulismus durch eine solche zweifache symbolische Grenzziehung gekennzeichnet ist, stellt sich die Frage, wie man sich »dem Eigenen«, d.h. einer solch unbestimmt erscheinenden Kategorie wie »dem Volk«, annähern kann. Für eine Präzisierung ist das Konzept des heartlands von Paul Taggart hilfreich, der aufgrund der Diffusität der Kategorie proklamiert: »The association of populism

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nérale« tatsächlich existiert. Müller merkt hingegen an, dass sich der Populismus von Formen des Rousseauismus dennoch unterscheide, denn Rousseau folgend sei die Partizipation der Menschen in der Hervorbringung der »volonté générale« tatsächlich vorgesehen. Der Populismus hingegen reklamiere die »wahre« Identität, die Substanz »des Volkes«, a priori zu kennen. Vgl. Mudde, Cas/Kaltwasser, C.: Populism, 2017, S. 16; Müller, Jan-Werner: What is Populism?, 2016, S. 29. Vgl. Jörke, Dirk/Selk, V.: Theorien des Populismus, 2017, S. 68; vgl. Hartleb, Florian: Gibt es einen europäischen Kern des populistischen Diskurses?, 2018, S. 97-112, hier S. 98. Betz, Hans-Georg: Rechtspopulismus in Westeuropa: aktuelle Entwicklungen und politische Bedeutung, 2002, S. 251-264, hier S. 253. Hellmuth, Thomas: ,Patchwork‹ der Identitäten, 2002, S. 9-43, hier S. 24.

Streitkultur und (Rechts-)Populismus als Problemfelder liberaler Demokratie

with ›the people‹ is a potential dead end«.45 Mit dem Konzept des heartlands soll gefragt werden, worin die grundlegenden Gemeinsamkeiten einer solchen Berufung auf »das Volk« liegen – bspw. innerhalb der durchaus heterogen erscheinenden rechtspopulistischen Projekte Europas. Der Rechtspopulismus kann dann verstanden werden als stets mit einem idealisierten »Kern-« oder »Herzland« in Verbindung stehend, einem imaginierten Ort, an dem das »wahre Volk« zu Hause sei: »We see it in political discourse as the resort to ›Middle America‹ or ›Middle England‹ as imagined constituencies characterised by moderation, dutifulness and ›ordinariness‹«.46 Das heartland ist kaum argumentativ begründbar, es erscheint vielmehr als gefühlter Ort, wo die positiven Aspekte des alltäglichen Lebens vorgeblich ihren Ausdruck finden und wo (vorgeblich) »a virtuous and unified population resides«.47 Mit dieser Fokussierung einer bestimmten Örtlichkeit ergibt sich zentral das Thema der Grenzziehungen, d.h. die Frage, wer oder was dem heartland in politischen Diskursen (nicht) zugerechnet wird. Hieraus ergeben sich Legitimationen für Ausschlüsse aus einem Kollektiv, denn jenen Subjekten, die aus einer Definition des heartlands herausfallen, wird abgesprochen, Teil »des Volkes« sein zu können. Neben dem räumlichen Aspekt besitzt das heartland zudem eine zeitliche Dimension, d.h., die Bedeutung des heartlands wird stets mit einer »glorreichen« Zeit eines Kollektivs in Verbindung gesetzt. Im Rückblick erscheint diese als frei von Widerständen und somit einer als kritisch empfundenen Situation der Gegenwart gegenüberstehend. Sowohl in Bezug auf die räumliche als auch die zeitliche Dimension erscheint das heartland innerhalb rechtspopulistischer Diskurse als ein starres Zentrum.48 Da die Mitglieder des heartlands als fundamental Gleiche erscheinen, kann ein gemeinsamer Wille als ein Gegebenes vorausgesetzt werden: »›The people‹ are portrayed as a unity. They are seen as a single entity devoid of fundamental divisions and unified and solidaristic. ›The people‹ are, in populist thinking, already fully formed and self-aware«.49 Das aus einer Definition des heartlands abgeleitete »Volk« erscheint somit als eine von internen Differenzen befreite Einheit, es wird tendenziell verabsolutiert und kann in der Folge als eine Quelle politischer Wahrheit angesehen werden. Indem der Rechtspopulismus jeglichem politischen Konkurrenten vorwirft, gegen den vorgeblich evidenten Willen des Volkes zu handeln, präsentiert er sich als Stimme jener Wahrheitsquelle:

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Taggart, Paul: Populism, 2000, S. 98. Taggart, Paul: Populism and Representative Politics in Contemporary Europe, 2004, S. 269288, hier S. 274. Ebd., S. 95. Ebd., S. 278. Ebd., S. 92.

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»Interessenskonflikte sind somit in das eingebettet, was als der eigentlich entscheidende Kampf beschrieben wird, der zwischen Wahrheit und Lüge, der eine scharfe Trennung der öffentlichen Meinung vollzieht. Tatsachen und Argumente treten damit tendenziell hinter das zurück, was in die Rubrik eines urteilsleitenden Glaubens fällt und jeden rationalen Austausch erschwert.«50 Der Streit über politische Anschauungen erscheint in der Folge als überflüssig, und ein diskursiver Rechtfertigungszwang ist kaum mehr gegeben. Denn wenn davon ausgegangen wird, dass ein evidenter Volkswille gegeben ist, muss jedweder Widerspruch als ein Widerspruch gegen »das Volk« als Ganzes und damit als illegitim verstanden werden.51 Das populistische Projekt erscheint daher auch als der einzige Weg, jener »wahren« Stimme des Volkes Ausdruck verleihen zu können. Im Anschluss an Jan-Werner Müller kann als ein Kernelement des rechtspopulistischen Diskurses daher die Behauptung identifiziert werden, dass dieser »das Volk« als Ganzes vertrete, und zwar unmittelbar.52 Im demokratischen Streit beanspruchen die Akteure zwar ebenfalls, die »richtige« Meinung zu besitzen und diese für eine Mehrheit zu vertreten, dennoch steht die populistische Behauptung, die »wahre« Meinung »des Volkes« als Ganzes – d.h. ausnahmslos Aller – zu repräsentieren, diesem diametral gegenüber. Da im rechtspopulistischen Diskurs die Konzeption »des Volkes« aus einer Definition des heartlands folgt, ist darüber hinaus entscheidend, dass dieses »Alle« stets von vornherein als exklusiv konzipiert zu verstehen ist, d.h. jene, die aus einer Definition des heartlands herausfallen, können auch nicht als legitime Streitpartner angesehen werden. Ein prominentes Beispiel im deutschen Kontext lieferte Alexander Gauland, als er die damalige Integrationsbeauftragte Aydan Özoguz in einer Debatte zur Leitkultur angriff: Man (d.h. »das Volk«) solle ihr sagen, »was spezifisch deutsche Kultur ist. Danach kommt sie hier nie wieder her, und wir werden sie dann auch, Gott sei Dank, in Anatolien entsorgen können«.53 Neben einer Abwertung nach Kriterien der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit sowie der Terminologie des »Entsorgens« ist in diesem Zusammenhang charakteristisch, dass bestimmte von rechtspopulistischen Akteuren abweichende Meinungsäußerungen nicht mehr geduldet werden sollen.54 Es findet – wie hier im Zitat von Gauland – keinerlei »Anerkennung des Anderen als

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Rosanvallon, Pierre: Das Jahrhundert des Populismus, 2020, S. 222. Priester, Karin: Wesensmerkmale des Populismus, 2012, S. 3-9, hier S. 5. Müller, Jan Werner: What is Populism?, 2016, S. 20. Fiedler, Maria: Gauland will Integrationsbeauftragte Özoguz ›in Anatolien entsorgen‹, 2017, https://www.tagesspiegel.de/politik/afd-spitzenkandidat-gauland-will-integrationsbea uftragte-oezoguz-in-anatolien-entsorgen/20244934.html (zuletzt abgerufen am: 10.11.2020). Pfahl-Traughber, Armin: Die AfD ist (mittlerweile) eine rechtsextremistische Partei, 2020, S. 87-91, hier S. 88.

Streitkultur und (Rechts-)Populismus als Problemfelder liberaler Demokratie

Streitenden« statt, und somit wird eine grundsätzliche Bedingung des Zustandekommens eines Streits von vorneherein nicht erfüllt.55 Während im rechtspopulistischen Diskurs umstrittene Äußerungen häufig mit dem Recht auf Meinungsfreiheit legitimiert werden, zeigt sich, dass dieses Recht immer häufiger als ein exklusives Recht gedeutet wird, als Recht, Meinungen ohne Widerspruch zu äußern. In jedem als demokratisch zu bezeichnenden Diskurs muss der »Fluchtpunkt des Streits – sein Ergebnis – […] reversibel, restlos neu verhandelbar« sein, jedoch erscheint ein solches Ergebnis im Rekurs auf einen vorgeblichen evidenten »wahren« Volkswillen stets von vorneherein feststehend.56 Ein hiermit im Zusammenhang stehendes Phänomen im Zuge des Aufstiegs rechtspopulistischer Projekte ist die Herausbildung der sogenannten »alternativen Medien«. Etablierte Medien werden als »Systemmedien« verunglimpft und Forderungen nach deren Regulierung oder gar Abschaffung werden laut: Diesen wird vorgeworfen, »das Volk« systematisch zu belügen, ausschließlich man selbst gebe »der Wahrheit« Ausdruck.57 Anstatt einer allgemeinen Diskursarena, in der – für einen demokratischen Streit unabdingbare – Für- und Gegenrede stattfinden kann, bilden sich Räume, in denen Einheit suggeriert wird. Als eine weitere Konsequenz der Zentralität des heartlands im rechtspopulistischen Diskurs lassen sich Narrative des Untergangs und der Erlösung identifizieren. Wenn davon ausgegangen wird, dass ein »wahrer« Volkswille vorhanden ist, so erscheint es folgerichtig, dass dieser in der herrschenden Politik zum Ausdruck kommen soll. In der Oppositionsrolle wittert der Rechtspopulismus daher stets den Betrug an »dem Volk« durch »die Eliten«, die intentional gegen den vorgeblich evidenten Willen »des Volkes« agierten. In Folge des Antagonismus gegenüber »denen-da-oben« wird »die Elite« für alle Entwicklungen verantwortlich gemacht, die zum scheinbaren Niedergang des heartlands beitragen. So kann – wie Arlie Hochschild am Beispiel der Tea Party in den USA zeigt – als ein Kernnarrativ des Rechtspopulismus identifiziert werden, dass »die Fremden« von »der Elite« illegitimer Weise Unterstützung erfahren, während die »eigentlichen« autochthonen Bewohner des heartlands vernachlässigt werden.58 Der Rechtspopulismus proklamiert hingegen, einen hierdurch vorgeblich verloren gegangenen Zustand der

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Gebhard, Gunther/Geisler, O./Schröter, S.: Streitkulturen, 2008, S. 21. Ebd., S. 15. Konsequenterweise sind für populistische Projekte an der Macht daher auch Versuche der Kolonialisierung des öffentlichen Raumes charakteristisch: oppositionelle Medien sollen mundtot gemacht und demokratischer Streit somit verhindert werden. Vgl. Rosanvallon, Pierre: Das Jahrhundert des Populismus, 2020, S. 220; vgl. Zywietz, Bernd/Sachs-Hombach, K.: Einführung: Propaganda, Populismus und populistische Propaganda, 2018, S. 1-13, hier S. 5. Vgl. Hochschild, Arlie Russell: Strangers in their own Land, 2016, S. 137ff.

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Harmonie wiederherstellen zu können, d.h. die Rückkehr zu einer Zeit zu ermöglichen, in der der Wille des Volkes noch seinen Ausdruck fand. Hierfür müsse der »allgemeine Volkswille« in einer (unmöglichen) Identität von Regierenden und Regierten aufgehen, d.h. nur die rechtspopulistischen Anführer seien noch in der Lage, den Betrug »der Eliten« am Volk zu stoppen:59 »Der Angriff der Elite muss abgewehrt, die Invasion der Fremden gestoppt werden. Der rechtspopulistische Diskurs zeichnet ein apokalyptisches Szenario. Die Gegenwart erscheint als ›finale Schlacht um die Zukunft Europas‹ (Orbán), als ›Kampf um das Überleben unserer Nation‹ (Trump) oder als ›finale Phase‹ des ›Großen Austauschs‹ (Sellner). Die Macht der Feinde und die Dringlichkeit der Situation lassen drastische Abwehrmaßnehmen notwendig und legitim erscheinen. Die gesamte Dynamik folgt einer Logik des Ausnahmezustandes. Die Unterscheidung von Freund und Feind verlangt klare Grenzen und Zuordnungen.«60 Auffallend ist vor allem ein Diskurs der Unaufschiebbarkeit, d.h. Zeit für Ver- und Aushandlungen von verschiedenen Positionen scheint nicht mehr gegeben: »The ›slow politics‹ of consensus and negotiation are presented as ineffectual, while strong and decisive political action, unencumbered by procedural checks and balances, are seen as desirable«.61 In diesem Sinne sind auch die oftmals geforderten Volksabstimmungen zu verstehen, da »[…] mit ihm [dem Referendum] die Wortergreifung vermeintlich einen unmittelbar tätigen Willen zum Ausdruck bringt, ganz im Gegensatz zu dem ewigen parlamentarischen Hin und Her«.62 Die hervorgebrachten Narrative der Krise und der Erlösung versprechen die Überwindung des doppelten Antagonismus gegenüber »denen-da-oben« und »denen-da-draußen«, nur so sei die Wiederherstellung einer vorgängigen Harmonie des heartlands möglich. Insgesamt lehnt der Populismus damit liberal-demokratische Mediation zugunsten von Versprechungen der radikalen Veränderung ab. In letzter Konsequenz stellt eine solche Sehnsucht nach Harmonie – die aus der radikalen Veränderung ja folgen, bzw. »wiederhergestellt« werden soll – jedoch gleichermaßen den Wunsch nach dem Ende des Streits dar, der jedoch für sämtliche gesellschaftliche Entwicklung als notwendig gelten muss. So wird bereits bei Georg Simmel – der vielleicht den wichtigsten Grundlagentext zu jeder Betrachtung von Streitkultur hervorgebracht hat – formuliert: Eine Gruppe oder Gesellschaft, die nur harmonisch wäre,

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Vgl. Detering, Heinrich: Was heißt hier »wir«?, 2019, S. 30f. Roepert, Leo: Rechtspopulismus als mythologische Krisendeutung, 2020, S. 173. Moffitt, Benjamin: How to Perform Crisis: A Model for Understanding the Key Role of Crisis in Contemporary Populism, 2015, S. 189-217, hier S. 201. Rosanvallon, Pierre: Das Jahrhundert des Populismus, 2020, S. 38.

Streitkultur und (Rechts-)Populismus als Problemfelder liberaler Demokratie

»ist nicht nur empirisch unwirklich, sondern würde auch keinen eigentlichen Lebensprozess aufweisen«.63 Im Zuge der Negation des demokratischen Streits wird im Rechtspopulismus zumeist eine Opferposition eingenommen, die als Grundlage einer Rechtfertigung von Gewalt dienen kann. Man präsentiert sich als fundamental unterdrückt durch eine elitäre demokratische Politik, die vielmehr – so äußerte bspw. Björn Höcke – zu einem Regime mutiert sei. Im deutschsprachigen Diskurs des Rechtspopulismus lassen sich so dann auch vielfältige Vergleiche der Bundesregierung mit dem DDR-Regime vernehmen, und bei den Landtagswahlen der östlichen Bundesländer im Jahr 2019 erhielt der AfD-Slogan »Vollende die Wende« sowie der Ruf nach »Widerstand« eine zentrale Stellung. Es entsteht hier die Idee von »dem Volk« als Schicksalsgemeinschaft mit dem historischen Auftrag der Verteidigung des heartlands. Während solche Opfer- bzw. Heldenerzählungen zunächst noch relativ harmlos erscheinen, erfahren diese innerhalb weit verbreiteter Verschwörungstheorien – wie bspw. der Rede vom »Großen Austausch« – gefährliche Intensivität. Die Ansicht eines durch »die Eliten« intentional gesteuerten »Bevölkerungsaustauschs« geht auf Renaud Camus zurück und beschreibt bzgl. des europäischen Kontextes, wie eine weiße und christliche Mehrheitsgesellschaft durch muslimische Einwanderer abgelöst werden solle. Ein solches Narrativ erscheint im Diskurs der AfD weit verbreitet, gleichzeitig dient es als Rechtfertigungsgrundlage rechtsterroristischer Anschläge, wie bspw. im Fall von Walter Lübcke, den Anschlägen in Halle und Christchurch oder dem Angriff auf das US-Kapitol. Gewalt erscheint zunehmend gerechtfertigt, »[…] als Gegengewalt eines vermeintlichen Opfers, ja als existenzielle Kollektivnotwehr gegen den ›Volksverrat der Eliten‹ und gegen eine ›Invasion‹ […]. Kriegsmetaphorik, Selbstviktimisierung und heroische Pose eines quasi-märtyrerischen Rechtspopulismus und Rechtsterrorismus gehen Hand in Hand. Vor dem eschatologischen Szenario des untergehenden Abendlandes wird echter Widerstand, wenn nicht gar Bürgerkrieg beschworen.«64 Zwar können Gewalttaten nicht pauschal oder unmittelbar auf verbreitete rechtspopulistische und verschwörungstheoretische Narrative zurückgeführt werden, es wird jedoch durchaus ein entsprechender Resonanzraum hervorgebracht. Dies kann mit Heitmeyer durch ein Konzept der »Gewalt-Membran« beschrieben werden, d.h. während der Rechtspopulismus die Distanz zu gewaltvollen Handlungen beteuert, dienen die hier verbreiteten Narrative als Legitimation

63 64

Simmel, Georg: Soziologie, 1992, S. 285. Séville, Astrid: Vom Sagbaren zum Machbaren? Rechtspopulistische Sprache und Gewalt, 2019, S. 33-38, hier S. 36.

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für gewaltsame Akte.65 Mit anderen Worten: Gewalt erscheint zunehmend in dem Maße legitimiert, als es zur – vorgeblich akut notwendigen – Verteidigung des heartlands dient.66 Während die Dimension des Streits Gewalt als Mittel kategorisch ausschließt, finden sich in den rechtspopulistisch befeuerten Verschwörungsnarrativen somit zumindest potenziell die Ursprünge gewaltförmiger Arten des »Widerstands«. Die Ebene des legitimen demokratischen Streits wird hierbei endgültig verlassen, denn »[w]o Streit in Gewalt mündet, hat der Streit aufgehört, Streit zu sein«.67 Durch den strikten Antagonismus zwischen »uns« und »denen-da-oben« werden im rechtspopulistischen Diskurs aus politischen Gegnern und potentiellen Streitpartnern erneut Feinde, und in Folge des strikten Antagonismus gegenüber »denen-da-draußen« wird die Gruppe jener, die überhaupt als potenziell legitime Streitpartner anerkannt werden, von vorneherein eklatant eingeschränkt. Zentral ist, dass die Berufung auf die Kategorie »das Volk« nicht an sich problematisch genannt werden kann, das Problem ist vielmehr darin zu sehen, wie dieses Volk im rechtspopulistischen Diskurs konstruiert wird.68 Durch die Zentralität eines als stabil gedachten heartlands wird »das Volk« zentral an primordiale Kategorien gebunden, d.h. auf vorgeblich feste und unveränderliche Größen zurückgeführt, wobei bspw. nationale Zugehörigkeit als »Naturkonstante« erscheint.69 Indem der Rechtspopulismus von der fundamentalen Stabilität einer nationalen und/oder kulturellen Identität ausgeht, erscheint der Streit darüber, wer oder was das demokratische Volk ist oder sein sollte als überflüssig. Im Gegensatz hierzu besteht demokratische Praxis jedoch »zu einem nicht geringen Anteil aus genau diesem Streit, wer zum Volk gehört«.70 Denn, in den Worten von Jacques Rancière: »›das Volk‹ existiert nicht. Es gibt nur unterschiedliche, ja widerstreitende Gestalten des Volkes, Gestalten, die konstruiert werden, indem bestimmte Versammlungsweisen, gewisse Unterscheidungsmerkmale, gewisse Fähigkeiten oder Unfähigkeiten bevorzugt werden«.71 Gerade weil das Volk im demokratischen Diskurs nicht aus substanziellen Größen ableitbar ist und ausschließlich als ein heterogenes Ensemble betrachtet werden kann, muss es stets umstritten bleiben, 65

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Heitmeyer, Wilhelm: Autoritärer Nationalradikalismus: Ein neuer politischer Erfolgstypus zwischen konservativem Rechtspopulismus und gewaltförmigen Rechtsextremismus, 2018, S. 117-136, hier S. 130. Vgl. Heitmeyer, Wilhelm: Autoritäre Versuchungen, 2018, S. 269. Gebhard, Gunther/Geisler, O./Schröter, S.: Streitkulturen – Eine Einleitung, 2008, S. 15. Mouffe, Chantal: The ›End of Politics‹ and the Challenge of Right-wing Populism, 2005, S. 5071, hier S. 69. Giesen, Bernhard: Kollektive Identität, 1999, S. 32; Heitmeyer, Wilhelm: Autoritäre Versuchungen, 2018, S. 263. Flügel-Martinsen, Oliver: Radikale Demokratietheorien, 2020, S. 15f. Rancière, Jacques: Der unauffindbare Populismus, 2017, S. 97-101, hier S. 98.

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d.h., was der Gemeinwille oder das Gemeinwohl ist, kann nicht a priori definiert werden, dies kann nur ein (stets vorläufiges) Ergebnis des Streits hierüber sein. Die rechtspopulistisch beanspruchte Volkssouveränität hingegen leugnet »den konstitutiven Streit um das demokratische Volk, weil sie dieses aus festen, substanziellen Größen gleichsam ableiten wollen. Sie sind deshalb nicht im Mindesten an einem pluralistischen und deutungsoffenen Verständnis des demos interessiert […]«.72 Vor diesem Hintergrund muss die verallgemeinernde Rede von »dem Populismus« jedoch in Frage gestellt werden. Während bis hier hin maßgeblich seine rechte Spielart in den Blick genommen wurde, zeigt sich, dass sich seine linke Spielart in mindestens einem Punkt eklatant unterscheidet. Zwar wird in linkspopulistischen Diskursen ebenfalls zentral eine vertikale Trennlinie konstruiert, doch erscheint diese weniger mit jener, im rechtspopulistischen Diskurs entscheidenden, horizontalen verknüpft. Mit anderen Worten: Nur der Rechtspopulismus erscheint grundlegend auf einer Weltanschauung zu basieren, die »schon konzeptionell auf die Unterjochung und Vernichtung all derjenigen [zielt], die aus ideologisch grundsätzlichen, nämlich völkischen und rassistischen Gründen nicht Teil der Einheit [»das Volk«] sein können. […] Bei linken ist dies eben nur in bestimmten Gestalten […] der Fall, während sie per se keineswegs menschenverachtend sind«.73 Infolgedessen erscheinen Argumente von De Cleen und Stavrakakis bedenkenswert, die es vehement ablehnen, die horizontale Dimension überhaupt als ein Charakteristikum des Populismus anzuerkennen.74 Da ein in/out-Antagonismus (horizontale Dimension) für die meisten der heutigen als »rechtspopulistisch« beschriebenen Projekte wichtiger als ein down/up-Antagonismus (vertikale Dimension) sei, müssten diese als Phänomene gedacht werden, die zwar mitunter populistische Elemente beinhalten, letztendlich jedoch in erster Linie als nationalistische und radikal-rechte Parteien auftreten.75 Übereinstimmend mit der oben vorgestellten Definition von Mudde lässt sich somit sagen, dass der Populismus nicht per se als eine exklusive politische Logik verstanden werden kann, sondern er dies erst in der Verbindung mit anderen Diskursen bzw. Ideologien wird.76 Von Mouffe wird darauf hingewiesen, dass heute eine weltweite neoliberale Hegemonie zu konstatieren ist, die erfolgreich auf Konsens, Technokratie und Sachpolitik setzt und somit ihrerseits ebenfalls kaum – den für ein Demokratisches

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Flügel-Martinsen, Oliver: Radikale Demokratietheorien, 2020, S. 17. Ebd., S. 141. De Cleen, Benjamin/Stavrakakis, Y.: Distinctions and Articulations: A Discourse Theoretical Framework for the Study of Populism and Nationalism, 2017, S. 301-319, hier S. 312. De Cleen, Benjamin: Populism and Nationalism, 2017, S. 342-362, hier S. 349. Ebd., S. 352.

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stets notwendigen – Streit über Alternativen zulässt: »This consensus, which is the result of the unchallenged hegemony of neo-liberalism, deprives democratic citizens of an agonistic debate where they can make their voices heard and choose between real alternatives«.77 Indes gelingt es heute vermehrt gerade dem Rechtspopulismus, sich als eine solche »echte« politische Alternative darzustellen, und er findet hierfür beste Bedingungen vor, denn »[w]enn die etablierten Parteien unterschiedlicher politischer Ausrichtung gleichermaßen das Narrativ des Weltmarkts und seiner Notwendigkeiten akzeptieren, dann kann es rechten Positionen leicht gelingen, sich als Alternativen zu inszenieren«.78 Nicht nur im Anschluss an Mouffe kann das Phänomen des Rechtspopulismus innerhalb der zeitgenössischen Gesellschaften Europas somit als eine Reaktion auf die Hegemonie eines »postdemokratischen Liberalismus« gedeutet werden, der seinerseits Formen des Streits über die Ausgestaltung des Demokratischen zu verhindern strebt.79 Vor diesem Hintergrund ist es jedoch nicht nur geboten, die rechtspopulistischen Narrative zu hinterfragen, sondern vielmehr gleichfalls jene pauschalisierten Vorwürfe »des Populismus«, die von (neo-)liberaler Seite heute schnell auf solche politischen Projekte angewandt werden, die den Status quo herausfordern.80 Die Gefahr besteht darin, dass sämtliche Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen gefährdet erscheint, sich dem Populismusverdacht auszusetzen, wodurch jegliche Form von Kritik (vorschnell) delegitimiert werden kann.81 Ein pauschalisierter Vorwurf des Populismus erscheint infolgedessen mitunter als genau das, was zuvor für den rechtspopulistischen Diskurs diagnostiziert wurde: als ein Mittel, um ein Aufkommen des Streits zu verhindern. Vor dem Hintergrund der Identifikation einer möglichen Hegemoniekrise der zuvor konstatierten neoliberalen Postpolitik im Zuge der Weltfinanzkrise seit 2007 plädiert Mouffe in ihrem jüngsten Werk daher dafür, ein linkspopulistisches Gegenprojekt hervorzubringen, dass seinerseits eine »Alternative« anbieten kann. Erstaunlicherweise wendet sich Mouffe hierfür nun jedoch ebenfalls jenem zu, was mit Taggart als heartland bezeichnet wurde. In For a Left Populism führt sie aus, dass die libidinösen Anziehungskräfte der Nation von »den Linken« nicht aufgegeben werden sollten und ein Gegenprojekt nicht zuletzt unter dem Banner der Nation hervorgebracht werden müsste, d.h. »[…] mobilizing them [»die Linke«] around a patriotic identification with the best and more egalitarian aspects of the national

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Mouffe, Chantal: Agonistics, 2013, S. 119. Flügel-Martinsen, Oliver: Radikale Demokratietheorien, 2020, S. 113. Jörke, Dirk/Selk, V.: Theorien des Populismus, 2017, S. 158. Vgl. Marchart, Oliver: Liberaler Antipopulismus. Ein Ausdruck von Postpolitik, 2019, S. 11-16, hier S. 12. Müller, Jan-Werner: ›Das wahre Volk‹ gegen alle anderen, 2019, S. 18-24, hier S. 21.

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tradition«.82 Sie fordert nichts weniger als einen an der Nation orientierten »linken Patriotismus«83 , womit der progressive Charakter eines solchen Populismus äußerst fraglich bleibt: »Auszublenden, dass der Egalitarismus, wenn er im nationalen oder patriotischen Register artikuliert wird, konstitutiv von Abgrenzungen und Ausgrenzungen zehrt […], scheint mir geradezu fahrlässig zu sein«.84 Wenn der Populismus somit auch nicht per se als exklusive Logik verstanden werden kann, gehören horizontale Ausgrenzungsmechanismen dennoch häufig zu seinen prägnanten Erscheinungsformen. Insbesondere dem Rechtspopulismus ist eine Dominanz horizontaler Antagonismen und somit sozialen Ausgrenzungsdiskursen inhärent. Jedoch können auch in linkspopulistischen Projekten gelegentlich ähnliche Mechanismen festgestellt werden. Mit etwaigen Hinwendungen zu Formen eines starren heartlands werden stets Vorauswahlen »legitimer« Streitpartner getroffen und mitunter eklatante Verengungen einer pluralistischen Arena des Streits hervorgebracht.

3.

Schlussbetrachtung: Grenzen des Streits

Wie gezeigt werden konnte, ist der (Rechts-)Populismus hinsichtlich seines Verhältnisses zum deliberativen Ideal der konsensorientierten, partizipativen Entdifferenzierung von Streitparteien, womöglich gar von Regierten und Regierenden85 , überaus problematisch. Er tritt als ein Gegenkonzept auf den Plan, für welches die Betonung dichotomer Konstellationen konstitutiv ist, so dass eine Integration in deliberative Verfahren im Grunde nahezu unmöglich erscheint. Sinnfällig wird dies in besonders prägnanter Weise in dem virulenten Diktum einer vermeintlichen Meinungsdiktatur, die in der auf Meinungsfreiheit basierenden und zum politischen Streit inhärent dazugehörenden Möglichkeit des Widerspruchs vermutet wird. Populistische Akteure entziehen sich mit Hilfe einer solchen Rhetorik folglich den Grundbedingungen des Streits, der zuvorderst ein von Differenz getragenes Verfahren darstellt. Dabei treten keineswegs nur operative Fragen etwaiger Modalitäten als diskutable Herausforderungen in Erscheinung, sondern zunehmend die Frage nach

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Mouffe, Chantal: For a Left Populism, 2018, S. 71. Möller, Christian/Mouffe, C.: Es braucht einen linken Populismus, 2018, https://www.deutsch landfunkkultur.de/philosophin-chantal-mouffe-es-braucht-einen-linken.2162.de.html?dram: article_id=429852 (zuletzt abgerufen am 10.11.2020). Flügel-Martinsen, Oliver: Radikale Demokratietheorien, 2020, S. 153. Vgl. Cramer Walsh, Katherine: The Democratic Potential of Civic Dialogue, 2007, S. 45.

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dem Souverän und entsprechend legitimierter Streitgemeinschaft. Der im (deutschen) Rechtspopulismus zentrale Begriff des mythischen ethnos als Souverän, wie er insbesondere von der neurechten Ideologieproduktion konstruiert wird, repräsentiert dabei ein monistisches Verständnis von Staat und Gesellschaft, in welchem der Streit im obigen Sinne keinen angemessenen Platz einnehmen kann. Das Insistieren auf Streit, Meinungsfreiheit und Kontroverse wird als ein Instrument kenntlich, das geeignet ist, das Feld zu bereiten, den Streit als demokratisches Aushandlungsverfahren zu sabotieren und mittel- bis langfristig zu verunmöglichen. Wollte man dagegen den Versuch unternehmen, eine Minimalbestimmung zu formulieren, die für den Streit charakteristisch wie auch notwendig ist, so wäre folglich die Pluralität als für die Demokratie86 und den Streit gleichermaßen zentrales Strukturmerkmal hervorzuheben. Eine Politik des Identischen, wie sie der Populismus propagiert, ist in Hinblick auf den Streit folglich nicht satisfaktionsfähig. Auch eine die konstitutive Dimension von Antagonismen und Pluralität hervorhebende Konzeption des Streits stellt sich daher nur bedingt als eine überzeugende Alternative dar, da die Pluralität als Bedingung des Politischen und des Streits der Anerkennung durch alle Streitparteien bedarf. Diese Pluralität wird vom (Rechts-)Populismus jedoch radikal negiert. Ihre Grenzen findet die Möglichkeit des Streits sodann notwendig an jenen Punkten, die darauf abzielen, unter Ausschluss der Pluralität dem Streit als demokratischen Aushandlungsmodus das Fundament zu entziehen. Der notwendig regulative Ausschluss von derlei Dispositiven kann sich daher in Gemeinschaft mit dem Toleranzparadoxon wissen, so dass jene Versuche, für beispielsweise rassistische Aufwiegelung mit Verweis auf die Meinungsfreiheit öffentliche Resonanz einzufordern, die demokratische Verfasstheit der vermeintlichen Zensoren keineswegs erschüttern sollte.87 Ein Schluss könnte daher lauten, dass für den politischen Streit vor dem Hintergrund der Polarisierung öffentlicher Meinung und der Vereinnahmungsversuche durch den Rechtspopulismus nicht zuletzt in praktischer Perspektive in gewisser Weise auch eine Abwandlung des Böckenförde-Diktums88 gilt; der Streit also von Voraussetzungen, namentlich der miteinander geteilten Anerkennung von Pluralität und Kontroversität lebt, die in Auseinandersetzung mit populistischen Anwürfen nicht gewährleistet werden können. Sich im Versuch der Übertragung theoretischer Überlegungen auf das praktische Feld abzeichnende Dilemmata können hier somit nicht ohne Weiteres aufgelöst werden.

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Vgl. Fraenkel, Ernst: Deutschland und die westlichen Demokratien, 1991, S. 297ff. Einschlägig ist in diesem Zusammenhang die Unterscheidung Fraenkels von kontroversen und der Kontroverse notwendig entzogenen Sektoren. »Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.«

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Gleichwohl bedeutet dies nicht, dass eine Auseinandersetzung mit Fragen der Notwendigkeit des Streits und seinen Grenzen als müßig zu verstehen wäre. Stattdessen muss eine um den Streit als politisches Integrationsinstrument zirkulierende Fragestellung womöglich gänzlich anders akzentuiert werden. Liegt den Bekenntnissen zur Notwendigkeit einer vitalen Streitkultur in Zeiten des Populismus nicht womöglich der epistemische Trugschluss zu Grunde, dass Polarisierungen und Enthemmungen Folge einer Kontroverse und Pluralität nicht hinreichend Rechnung tragenden Streitkultur seien? Ist es nicht eine unzulängliche Annahme, eine Kausalität zwischen einer wenig belebten Streitkultur einerseits und neuerer Polarisierung andererseits zu vermuten und in der Folge anzunehmen, dass eine politische wie soziale Integration der für den Populismus anfälligen Bevölkerungsteile ausgerechnet vorrangig im Modus des Streits zu erreichen sei? Ist eine solche Perspektive womöglich sogar dazu geeignet, einem rechtspopulistischen Narrativ zuzuarbeiten? Abschließend wie vorausschauend möchten wir stattdessen für eine verstärkte Auseinandersetzung mit den im vorliegenden Text kursorisch skizzierten Ursachen und Bedingungen des Populismus werben. Wir plädieren dafür, die Anfälligkeit für populistische Ansprachen als Indikator für vor allem sozioökonomisch grundierten Verwerfungen und gesellschaftliche Frakturen89 zu begreifen, die auf tatsächliche wie auch imaginierte oder antizipativ befürchtete soziale Desintegrationserfahrungen verweisen. Beispielhaft sei hierfür auf jüngere sozialwissenschaftliche Arbeiten von Andreas Reckwitz90 , Wilhelm Heitmeyer91 und Philipp Ther92 verwiesen. Zu unterscheiden ist nach unserer Auffassung demnach zwischen der etwaigen populistischen Streitpartei auf der einen und den Adressaten der populistischen Deutungsangebote auf der anderen Seite. Während Letzteren in demokratiepolitischer Perspektive ein besonderes Maß an Aufmerksamkeit gelten muss, gilt es gegenüber populistischen Streitpartnern genau auszuloten, ob nicht die Gefahr überwiegt, mit dem eigentlich auf argumentative Überzeugungskraft setzenden Streit ungewollt in dysfunktionale Fahrwasser zu geraten. Die Beziehung zwischen diesen beiden Akteursgruppen hat Steffen Mau im Kontext seiner Analyse der in besonderer Weise mit einer Anfälligkeit für populistische Politikangebote assoziierten ostdeutschen Transformationsgesellschaft prägnant formuliert: »Populistische Bewegungen kapitalisieren […] Gefühle der ökonomischen und kulturellen Zurücksetzung. Sie versprechen den vermeintlichen Verlierern nicht nur materielle Kompensationen, sondern auch Respekt, symbolischen Status und

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Vgl. Mau, Steffen: Lütten Klein, 2019, S. 13f. Reckwitz, Andreas: Das Ende der Illusionen, 2019. Heitmeyer, Wilhelm: Autoritäre Versuchungen, 2018. Ther, Philipp: Das andere Ende der Geschichte, 2019.

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Selbstwertgefühl. […] Das ›Leiden an der Welt‹ ist plötzlich nicht mehr stumm, sondern findet ein Ventil, durch das es lautstark entweichen kann.«93 Es könnte nun mit Recht eingewendet werden, dass ausschließlich auf sozioökonomische Aspekte abstellende Ursachenanalysen des Populismus keinesfalls frei von Unzulänglichkeiten sind.94 Gleichwohl lenken sie die Aufmerksamkeit darauf, dass soziale Desintegrationserfahrungen nicht einzig auf die Oberflächenstrukturen partizipativer Verfahrensweisen und Repräsentationsmodi zurückzuführen sind. Allein der Streit als Mittel sozialer Reintegration dürfte somit wohl nicht genügen, um dem Rechtspopulismus dauerhaft politisch begegnen zu können.

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93 94

Mau, Steffen: Lütten Klein, 2019, S. 235f. Vgl. Knobloch, Jörn: Die Identitäten des Populismus, 2019, S. 227-248, hier. S. 234.

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Streitkultur im Konflikt um kollektive Identität Eine Analyse der Leitkulturdebatte Dawid Mohr/Valerian Thielicke

1.

Einleitung

Zu den wenigen unumstrittenen Erkenntnissen der Sozialwissenschaften gehört die Einsicht, dass Feindbilder bzw. die Wahrnehmung des Anderen konstitutiv für gesellschaftlich manifestierte Konflikte sind, wobei sich das Phänomen nicht immer auf die schlichte Ablehnung des Anderen reduzieren lässt.1 Dennoch spielen die Feindbildkonstruktionen für Streitkulturen eine besondere Rolle, die im Folgenden herausgearbeitet wird. Im Zentrum steht die Beschäftigung mit einem Konflikt um die imaginierte kollektive Identität einer Gesellschaft am Beispiel der Debatte um die sogenannte Leitkultur. Denn gerade in Zeiten einer kontroversen Selbstvergewisserung sollte sich Streitkultur in diesem Kontext besonders gut beobachten lassen. Die Idee einer Leitkultur findet 1996 im Beitrag Multikultureller Werte-Relativismus und Werte-Verlust von Bassam Tibi Einzug in die bundesrepublikanische Debatte. In diesem spricht sich der Autor für eine vage Vorstellung einer europäischen Leitkultur aus. Populär wird sie in ihrer explizit deutschen Form erst im Jahr 2000 durch Friedrich Merz (Christlich Demokratische Union, CDU), der das Konzept zur Polemik gegen Einwanderung und zur Einforderung von Assimilation nutzt. Dabei beruft er sich auf seinen Parteifreund Jörg Schönbohm sowie auf Theo Sommer, den ehemaligen Herausgeber der Wochenzeitung Die Zeit. Mit dem Aufgreifen der Debatte 2005 durch den damaligen Bundestagspräsidenten Norbert Lammert (CDU) wird der Begriff zu einem ständig wiederkehrenden Begleiter der Identitätsdebatten der Berliner Republik.2 Ob im Kontext des rassistischen Bestsellers Deutschland schafft sich ab des ehemaligen Berliner Finanzsenators

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2

Vgl. Lipset, Seymour/Rokkan, Stein: Cleavage Structures, Party Systems, and Voter Alignments, 1967, S. 6; Mouffe, Chantal: Über das Politische, 2015, S. 24; Scholz, Annegret: Kulturelle Identität, 1997; Giesen, Bernhard: Kollektive Identität, 1999. Vgl. Lammert, Norbert: Verfassung. Patriotismus. Leitkultur, 2006. In diesem Sammelband finden sich verschiedenste Beiträge bundesrepublikanischer Eliten zum Begriff Leitkultur.

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Thilo Sarrazin (Sozialdemokratische Partei Deutschlands, SPD), in der Debatte der Fluchtbewegungen im Sommer 2015, im Wiederaufgreifen durch Thomas De Maizière (CDU) im Jahr 2017 oder in den kürzlichen Äußerungen des christdemokratischen Nachwuchspolitikers und Bundestagsabgeordneten Philipp Amthor3 – der Begriff der Leitkultur ist aus der bundesrepublikanischen Debatte nicht mehr wegzudenken. Trotzdem hat der Begriff über die Jahre Bedeutungsverschiebungen erfahren und dient heute zumeist als Chiffre für eine deutsche Identität. Damit ist er zu einem der zentralen Begriffe der Selbstthematisierungsdebatten um eine gemeinsame kollektive Identität avanciert.4 In Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Beiträgen zur Leitkulturdebatte wollen wir der Frage nachgehen, welche Funktionen der Begriff der Leitkultur und die dazugehörigen Fremdbilder für die Identitätskonstruktion erfüllen. Auf diese Weise legen wir Verbindungen zwischen der zugrundeliegenden Debatte und der sie rahmenden Streitkultur offen. Im Folgenden wird zunächst das Phänomen kollektiver Identitäten theoretisch eingegrenzt und bestimmt, bevor Verbindungen zwischen der politischen Kultur und Streitkultur diskutiert werden. Daran schließt sich eine ausschnitthafte Betrachtung der deutschen Leitkulturdebatte an. In Berücksichtigung der theoretischen Überlegungen lassen sich schließlich Zusammenhänge zwischen beiden Phänomenbereichen (kollektive Identität und Streitkultur) herausarbeiten. Es kann bereits festgehalten werden, dass sich die Durchsetzung der jeweiligen Vorstellung der kollektiven Identität immer auch auf Teilaspekte der Streitkultur auswirkt.

2.

Kollektive Identität und Streitkultur

Schon die Rezeptionsgeschichte der Leitkultur zeigt, dass das Konzept insbesondere zur Diffamierung scheinbar integrationsunwilliger Fremder, im Speziellen von Muslim:innen, in Anschlag gebracht wird. Damit geht die Konstruktion einer vermeintlich gemeinsamen deutschen Kultur einher. Denn ihre normative Aufladung avanciert in Verbindung mit der mitschwingenden Assimilationsaufforderung zum Versuch einer Reformulierung der gemeinsamen deutschen Identität unter der Chiffre Leitkultur. Um die Leitkulturdebatte in der Bundesrepublik theoretisch erfassen zu können, ist der Begriff ›kollektive Identität‹ zu elaborieren, wobei man sich jenseits hoch problematischer (kultur-)essentialistischer, rassistischer

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Vgl. Amthor, Philipp: In guter Verfassung?, 2020. Vgl. Rohgalf, Jan: Kollektive Identität als Mauer, 2016, S. 277.

Streitkultur im Konflikt um kollektive Identität

oder metaphysischer Ansätze auf einen gewissen sozialwissenschaftlichen Konsens berufen kann.5 Einführend ist festzuhalten, dass kollektive Identität im Wesentlichen das Produkt eines kollektiven Konstruktionsprozesses ist, welches erst durch die Praxis ihrer Mitglieder, die Affirmation ihrer Zugehörigkeit, Realität wird.6 In Anbetracht der Binnendifferenzen größerer Gruppen sollte man daher jede dieser Konstruktionen als Identifikationsmöglichkeit und nicht als Identität bezeichnen.7 Analytischen Zugang zu diesem kollektiven Konstruktionsprozess erhält man generell über die dazugehörigen Narrationen, welche mittels Codes, boundary markers, historischer Ereignisse etc. eine Kollektivgeschichte zu formen versuchen. Sie verknüpfen die einzelnen Elemente zu einer vermeintlich kohärenten Erzählung, welche stets auf einen sogenannten valorativen Endpunkt zustrebt. Mit seiner Hilfe werden Normen und Werte transportiert, deren Nichteinhaltung von dem Kollektiv sanktioniert wird.8 Gleichzeitig entsteht eine In- und Outgroup – ein wir und sie.9 Ab einer gewissen Gruppengröße ist es kaum zu verhindern, dass die identitätskonstruierenden Erzählungen untereinander zu differieren beginnen, weshalb einerseits immer ein gewisser Pluralismus vorherrscht, andererseits jedoch die Entstehung von Konflikten möglich ist. Daher können die Erzählungen nur auf deutungsoffenen Signifikanten fußen, damit sich weiterhin genügend Menschen mit ihnen identifizieren. Daneben besteht die Notwendigkeit der Integration neuer Ereignisse in die kollektiven Erzählungen, weshalb sie sich in einem kontinuierlichen Aktualisierungsprozess befinden. Folglich kann die Bedeutung einer bestimmten kollektiven Identifikationsmöglichkeit nur kurzzeitig in einem gewissen Rahmen fixiert werden.10 Darüber hinaus konnte die bisherige Forschung zeigen, dass die Definition der Outgroup konkreter als diejenige der eigenen Gemeinschaft ist. Pointiert gesagt: Ein Kollektiv bestimmt sich viel mehr durch die Konstruktion des nichtdazugehörenden Anderen als durch die Feststellung einer Gemeinsamkeit. Das konstitutive Außen hält die Gemeinschaft somit zusammen.11 In jedem Kollektiv besteht ein potenzieller Konflikt um die Deutungshoheit über die Bestimmung des Eigenbildes. Die Behauptung, dass im Zentrum einer 5

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Vgl. Giesen, Bernhard: Kollektive Identität, 1999, S. 24-69; Bizeul, Yves: Gemeinschaft mit Eigenschaften?, 1993, S. 33-41; Straub, Jürgen: Personale und kollektive Identität, 1998, S. 98104. Vgl. Straub, Jürgen: Personale und kollektive Identität, 1998, S. 97-99. Vgl. Mouffe, Chantal: Agonistik, 2014, S. 79. Vgl. Gergen, Kenneth: Erzählung, moralische Identität und historisches Bewusstsein, 1998, S. 199-202; Giesen, Bernhard: Kollektive Identität, 1999, S. 24-26. Vgl. Bizeul, Yves: Gemeinschaft mit Eigenschaften?, 1993, S. 42. Vgl. Giesen, Bernhard/Seyfert, Robert: Kollektive Identität, 2013, S. 41f. Vgl. Mouffe, Chantal: Agonistik, 2014, S. 25f.

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solchen Auseinandersetzung die Erzählungen stünden, greift zu kurz, da sie die funktionale Ebene der kollektiven Identität übersieht. Mit den wert- und normenkonstituierenden Narrationen wird stets eine Ordnung mit internen und externen Hierarchien, Grenzziehungen, Vorschriften und Handlungsmaßgaben gesetzt.12 An dieser Stelle überschneidet sich der Begriff der kollektiven Identität mit dem der politischen Kultur nach dem Verständnis von Karl Rohe, denn er definiert politische Kultur als »grundlegende Vorstellungen über die Welt der Politik und damit verknüpfte operative Normen […], die sich insgesamt auf das mit spezifischem Sinn gefüllte ideelle Design eines Kollektivs für sein politisches Leben begreifen lassen.«13 Sie stellt »einen mit Sinnbezügen gefüllten politischen Denk-, Handlungsund Diskursrahmen dar, innerhalb dessen sich das Denken, Handeln und öffentliche Reden politischer Akteure vollzieht.«14 Dieser Rahmen bestimmt prinzipiell, wie ein Konflikt innerhalb eines gewissen kulturellen Kontextes ausgefochten wird, weshalb wir Streitkultur als einen Teil politischer Kultur verstehen. Entgegen Gebhard, Geisler und Schröter sehen wir im Streit keine besondere gewaltfreie Form der Konfliktaustragung15 , sondern plädieren dafür, Gewalt stets mitzudenken. Einerseits besitzt der Begriff Streit in der deutschen Sprache eine militärischgewaltvolle Konnotation, bedenkt man Worte wie Streitaxt, Streitmacht und Streitkräfte. Andererseits hängt die Bewertung von Militanz und Gewalt vom jeweiligen politisch-kulturellen Kontext ab. So sind in Frankreich im Gegensatz zur Bundesrepublik militante Ausschreitungen bei Protesten keine Seltenheit16 und stoßen nicht auf dieselbe Ablehnung.17 Gewaltfreiheit ist folglich kein Wesensmerkmal der Streitkultur, sondern eine graduell auftretende Eigenschaft und stellt einen normativen Anspruch an sie dar. Die Zusammenhänge zwischen kollektiver Identität, Streit- und politischer Kultur lassen sich am Begriff der Ordnung verdeutlichen, die nicht nur die rechtlich festgelegten Institutionen, sondern auch die nicht verschriftlichten Hierarchien, Normen, Regeln etc. einer Gesellschaft umfasst. Während die kollektive Identität die Zugehörigkeitsfrage, interne Hierarchien zwischen den Subjekten,

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17

Vgl. Leggewie, Claus: Ethnizität, Nationalismus und multikulturelle Gesellschaft, 1996, S. 60f.; Rommelspacher, Birgit: Identität und Macht, 1997, S. 252-257. Rohe, Karl: Politische Kultur und der kulturelle Aspekt von politischer Wirklichkeit, 1987, S. 39. Rohe, Karl: Politische Kultur, 1994, S. 1. Vgl. Gebhard, Gunther u.a.: StreitKulturen, 2008, S. 14. Sie scheinen die individuelle Ebene zu fokussieren und einen sehr engen Begriff des Streites und somit der Streitkultur zu besitzen. Wir bevorzugen für eine sozialwissenschaftliche Perspektive eine weite Definition. Darunter verstehen wir auch Entführungen oder Geiselnahmen zur Stärkung der eigenen Verhandlungsposition, die beispielsweise bei französischen Arbeitskämpfen stattfinden. Vgl. Le Cain, Blandine: Attacke auf Air-France-Personalchef, 2015. Vgl. Kempf, Udo: Das politische System Frankreichs, 2007, S. 29.

Streitkultur im Konflikt um kollektive Identität

Normen und Wertungen fokussiert, konzentriert sich die politische Kultur insbesondere auf die prozessualen Aspekte der Ordnung, wobei die Streitkultur im Speziellen den politischen Denk-, Handlungs- und Diskursrahmen für gesellschaftliche Konflikte beschreibt. In der Realität, d.h. bei einem Konflikt um die Deutungshoheit über die gemeinsame Identifikationsmöglichkeit, sind die Ebenen allerdings nur schwerlich zu trennen. Angesichts dessen ist es nachvollziehbar, dass eine Auseinandersetzung um die gemeinsame kollektive Identität Implikationen für die Streitkultur miteinschließt, wie wir im Folgenden an der Leitkulturdebatte zeigen.

3.

Die Debatte um die deutsche Leit- und Streitkultur – eine Analyse diverser Debattenbeiträge

Mit dem Beitrag wird keinesfalls der Anspruch erhoben, generalisierbare und repräsentative Aussagen über den konkreten Gegenstand, ergo die bundesrepublikanische Leitkulturdebatte, zu fällen. Vielmehr geht es um die Illustrierung der theoretischen Überlegungen zur Konstruktion kollektiver Identitäten und ihrer Zusammenhänge mit der Streitkultur. Daher entspricht ein hermeneutisches Analyseverfahren des empirischen Materials dem Erkenntnisinteresse am besten. Hierfür bedarf es verschiedener Diskursfragmente, in denen unterschiedliche Teilnehmer:innen des öffentlichen Diskurses ihre Vorstellungen der kollektiven Identität darstellen, anhand derer es möglich wird, die zugrundeliegenden Imaginationen zu rekonstruieren. In Anbetracht der Tatsache, dass die Leitkulturdebatte seit mindestens zwei Jahrzehnten kontinuierlich zu wechselnden Anlässen auftritt und daher schon verschiedenste Positionen vertreten wurden, haben wir bei der Materialauswahl darauf geachtet, dass die Beiträge Beispielcharakter besitzen. Wir wählen vor allem aktuellere Wortmeldungen zur Leitkulturdebatte von verschiedenen Akteur:innen (z.B. Parteien, Journalist:innen etc.)18 , die 2017 von Thomas De Maizière in der BamS (Bild am Sonntag) mit zehn Thesen im Sinne eines Diskursereignisses angestoßen wurde. Allen ist gemein, dass sie die Frage der Leitkultur verhandeln und sich somit über ihre gemeinsame Identität verständigen. Die Leitkulturdebatte erweist sich in zwei oppositionelle Lager geteilt. Auf der einen Seite stehen die Verfechter:innen einer mehr oder weniger eng definierten Leitkultur, der sich alle unterwerfen sollen. Die andere Seite lehnt hingegen das Konzept entweder grundlegend ab oder mindestens dann, sobald es über das

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Es handelt sich um Transkriptionen mündlicher Beiträge. Sie wurden nur minimal sprachlich geglättet, um ihre Authentizität zu erhalten.

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Grundgesetz oder andere Minimaldefinitionen hinausgeht. Ein exponiertes Beispiel für die erste Seite stellt der thüringische AfD-Landtagsabgeordnete Stefan Möller dar, der in einer Rede folgendermaßen formuliert: »Deutsche Leitkultur ist nämlich im Wesentlichen eine in unserer Gesellschaft immer noch verbreitete innere Einstellung, die man einmal annimmt und dann im Leben nicht mehr wesentlich ändert. Sie umfasst viele Facetten. Die bekannteste ist sicherlich das Streben unter anderem nach Bildung und Erkenntnissen. Dadurch unterscheiden wir uns durchaus von anderen Gesellschaften. Und – ja, selbstverständlich ist das so. Das mag Sie vielleicht erstaunen, aber da können Sie sich mal belesen.«19 Indem er die Leitkultur zu einer Art gemeinsamen psychologischen Disposition erklärt, die man Zeit seines Lebens nicht ändert, wird sie zu einer Essenz eines imaginierten deutschen Wesens. Offenbar erkennt er, dass eine solche Essenz schwer zu definieren ist, da er ihr bereits eine gewisse Komplexität durch verschiedene Aspekte zuschreibt. Daher greift er auf den Mythos der Deutschen als Dichter und Denker zurück, der Teil des mythologischen Arsenals deutscher Identitätskonstruktion ist, womit er seine Ausführungen zu legitimieren und illustrieren versucht.20 Das dabei von ihm als deutsch deklarierte Streben nach Wissen und Erkenntnis, welches ›die Deutschen‹ von anderen Gesellschaften unterscheiden solle, zeigt aber sofort das grundsätzliche Problem der Konstruktion kollektiver Identifikationsmöglichkeiten: Konkrete Aussagen sind zum Scheitern verurteilt. Selbstverständlich wäre es wünschenswert, wenn eine gesamte Gesellschaft sich vorwiegend durch individuelles Wissensstreben auszeichnen würde, doch fällt uns kein nationales Kollektiv ein, dem in Gänze diese Eigenschaft zugesprochen werden kann. Insgesamt ist es unklar, was das Postulat in der Praxis bedeuten soll. Betrachtet man diese Konstruktion aus instrumentell-funktionaler Perspektive, wird ihr Zweck deutlich. Erstens zieht sie Grenzen zu anderen Gruppen, die sich nicht durch diese Eigenschaft auszeichnen sollen. Zweitens setzt Stefan Möller Menschen mit anderen kulturellen Hintergründen, denen er diesen Aspekt abspricht, herab. Sich selbst und sein imaginiertes Kollektiv wertet er hingegen auf. Drittens schafft der AfD-Abgeordnete eine interne Hierarchie, die vermeintlich bildungsferne Schichten als weniger bzw. fehlerhaft deutsch brandmarkt. Es wird schnell klar, wen er damit ausschließen will, wenn er ausführt, dass

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Möller, Stefan: Landtagsrede zur Leitkultur, 2019. Das Video wurde leider innerhalb der letzten zwölf Monate vonseiten der AfD entfernt. Interessierte Leser:innen können aber die Rede im Plenarprotokoll des Thüringer Landtags nachlesen. Siehe Thüringer Landtag: Plenarprotokoll 6/95. Vgl. Münkler, Herfried: Die Deutschen und ihre Mythen, 2010, S. 330.

Streitkultur im Konflikt um kollektive Identität

»die Sozialversicherung [.] schließlich eine Erfindung aus Deutschland [ist], die [.] eben wirklich Bedürftigen zugutekommen [soll] – nicht solchen, die durch zig andere Länder mit viel Geld und ohne Pass, aber mit Handy hierhergereist sind und dann sozusagen das Asylrecht für sich nutzen und hier Forderungen stellen. Meine Damen und Herren, es zählt nämlich nicht zur deutschen Leitkultur, sich verarschen zu lassen. Zur deutschen Leitkultur zählt hingegen der Schutz des Schwächeren, das habe ich schon gesagt, die Pflege echter Bedürftiger und die Schonung des Unterlegenen.«21 Stefan Möller öffnet eine Konkurrenz zwischen echten und unechten Bedürftigen. Letztere scheinen für ihn eindeutig Asylsuchende zu sein, denen er vorwirft, das Sozialsystem mit bösen Absichten auszunutzen. Sie gehören zum konstruierten Anderen, dem Außen des Kollektivs, welches im Gegensatz zu den echten Bedürftigen stehe, bei denen zu vermuten ist, dass es sich um Mitglieder des eigenen Kollektivs handelt, da er ausführt, dass es zur Leitkultur gehöre, nur »echten Bedürftigen« zu helfen. Was der Nachsatz zur »Schonung des Unterlegenen« bedeuten soll, bleibt offen. Aber die Verwendung des Begriffs Unterlegener offenbart bereits seine Annahme der Überlegenheit des ›deutschen Kollektivs‹, welche oft als Legitimation gerade für das Gegenteil, z.B. die Euthanasiepolitik, hergehalten hat.22 Es zeigt sich auch hier, dass innerhalb der Narration eine Fixierung der Identität nicht möglich ist und kaum über deutungsoffene Signifikanten wie »Schutz des Schwächeren« oder »Pflege echter Bedürftiger« hinausgeht. Gegen Ende seiner Parlamentsrede macht der AfD-Abgeordnete klar, dass sich seine Ausführungen gegen eine multikulturelle und offene Gesellschaft richten: »[D]as Gegenkonzept dazu [zu seinen Ausführungen], das sind die Begriffshülsen von Toleranz, von Buntheit und Vielfalt, und damit kann ich ehrlich gesagt nicht viel anfangen. Diese Begriffshülsen, die stehen eben nicht für Respekt, sondern bestenfalls für desinteressiertes Nebeneinanderherleben an und für sich inkompatibler Kulturen und Religionen. Und faktisch werden diese Begriffshülsen zur Verdrängung all dessen missbraucht, was dieses Land für uns zur Heimat werden lässt.«23 Obschon Stefan Möller nicht den Begriff der multikulturellen Gesellschaft nennt, lehnt er die damit verbundene kulturelle Pluralität in der Bundesrepublik ab, die durch die jahrzehntelange Einwanderung entstanden ist. Dabei essentialisiert er wiederum die anderen als fremdartig deklarierten Kulturen und Religionen, denen er jedwede Anpassungsmöglichkeit als Inkompatibilität »an und für sich« ab-

21 22 23

Möller, Stefan: Landtagsrede zur Leitkultur, 2019. Es sei auch an die diversen Kriegsverbrechen seit 1871 erinnert. Möller, Stefan: Landtagsrede zur Leitkultur, 2019.

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spricht. Eine Analyse der gesamten Rede legt nahe, dass er insbesondere Menschen mit einem – zumindest zugeschriebenen – islamischen Glauben eine Unvereinbarkeit mit der deutschen Leitkultur unterstellt. In Verbindung mit dem Mythos der sogenannten Parallelgesellschaften24 , den die Chiffre »desinteressiertes Nebeneinanderherleben« impliziert, offenbart er einen ethnopluralistischen Standpunkt, der den kulturellen Kontext eines Menschen zu einer angeborenen Eigenschaft macht, von dem man sich nicht lösen könne. Kultureller Wandel und Weiterentwicklung werden für unmöglich erklärt und abgelehnt. Die Begriffe »Toleranz, Buntheit und Vielfalt« gelten für ihn als Begriffshülsen, die die imaginierten Vertreter:innen einer multikulturellen Gesellschaft gegen seinen Heimatbegriff in Stellung bringen. Er unterstellt ihnen sogar, dass sie die Identität des Landes in Gefahr brächten. In dem Abzulehnenden findet sich die Gemeinsamkeit der Apologet:innen der Leitkultur – das Lager, dem auch signifikante Anteile der bundesrepublikanisch konservativen Parteien CDU und CSU zuzuordnen sind. Zum Beispiel ruft der damalige CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer das Feindbild einer multikulturellen Gesellschaft in dem parteiinternen Videoformat »CSUtv« unter dem Titel »Deutsche Leitkultur statt Multikulti!« auf: »Die deutsche Leitkultur ist weit mehr als das Grundgesetz. Das Grundgesetz ist die Hausordnung. Aber Leitkultur bedeutet viel, viel mehr, was aus der christlichjüdisch-abendländischen Kultur geprägt ist. Und wir kämpfen darum, dass wir nicht ein Wischiwaschi, ein Multikulti bekommen, sondern dass die, die zu uns kommen, mit uns leben und nicht neben uns oder gegen uns. Und dazu muss eine Diskussion geführt werden, die deutsche Leitkultur ins Zentrum der Integrationsbemühungen zu rücken. Und gesetzliche Rahmenbedingungen sind Fakt in unserer Demokratie und in unserem Staat. Aber es gibt auch eine kulturelle Herangehensweise und daran haben sich alle zu richten, die zu uns kommen und bei uns leben wollen.«25 Genauso wie der AfD-Politiker Stefan Möller befürchtet er eine Parallelgesellschaft, die Folge von »Multikulti« sei, weshalb eine deutsche Leitkultur über das Grundgesetz hinaus Integrationsvorgabe sein solle. Eine nähere Definition des »christlich-jüdischen Abendlandes« oder einer »kulturellen Herangehensweise« bleibt er schuldig. Die Beschreibung des YouTube-Videos, aus dem der Wortbeitrag stammt, offenbart eine weitere Gemeinsamkeit.26 Dort heißt es: »Wer seine Frau mit der Burka auf die Straße schickt, verstößt nicht gegen das Grundgesetz, aber achtet

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Vgl. Nikodem, Claudia/Schulze, Erika/Yildiz, Erol: Routine in der differenzgeprägten metropolitanen Stadt, 2007, S. 95-98. Scheuer, Andreas: Deutsche Leitkultur statt Multikulti, 2015. Den entsprechenden Link finden Sie im Literaturverzeichnis.

Streitkultur im Konflikt um kollektive Identität

nie und nimmer unsere Leitkultur.«27 Das Konzept richtet sich folglich – genauso wie bei seinem Vorredner – insbesondere gegen Muslim:innen. Trotzdem findet sich ein wichtiger Unterschied. Im Gegensatz zum AfD-Politiker besteht aus Andreas Scheuers Sicht für Muslim:innen eindeutig die Möglichkeit der Integration und Anpassung an eine deutsche Leitkultur. Sein Parteikollege Edmund Stoiber verdeutlicht in ähnlicher Weise, dass sich das Konzept der Leitkultur gegen eine imaginierte islamische Religionspraxis richtet, da er stets positiv besetzten Begriffen negativ konnotierte mit oft islamischem Hintergrund gegenüberstellt. »Das ist deutsche Leitkultur. Hier gilt nur das Gesetz in Deutschland und nicht die Scharia. Deutschland ist eine Demokratie. Hier gibt es kein Kalifat. Und wer das errichten will, muss raus. In Deutschland gelten Meinungsfreiheit und Pressefreiheit. Hier gibt es keine Peitschenhiebe für Blogger. Und in Deutschland gilt die Religionsfreiheit. Andere Religionen werden nicht als minderwertig betrachtet. Und in Deutschland gilt die Gleichberechtigung, die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Keine Zwangsehe, keine Zwangsburka, keine Behandlung von Frauen als Menschen zweiter Klasse. Das, meine Damen und Herren, ist deutsche Leitkultur. Wer hier leben muss [sic!], muss das hundertprozentig akzeptieren oder er kann hier nicht leben.«28 Für seine positive Definition der Leitkultur, die ausdrücklich auf dem Grundgesetz beruhe, kann er ebenfalls nur auf bedeutungsoffene Signifikanten zurückgreifen, weshalb das Abzulehnende wieder hervortritt. Dabei greift er ein fragmentarisches Sammelsurium an Ereignissen und Begriffen auf, die in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit hauptsächlich pejorativ mit dem Islam verbunden werden (Auspeitschungen, Zwangsehe und Burka). Insbesondere seine Ausführungen zur Gleichberechtigung von Mann und Frau, die klarer Teil der Leitkultur sei, ohne deren Akzeptanz man hier nicht leben könne, stehen in einem Spannungsverhältnis mit bestimmten Auffassungen z.B. im Kontext der katholischen Kirche. Diese Widersprüchlichkeit ist keineswegs einzigartig, da Dieter Oberndörfer schon 2005 für die Leitkulturdebatte feststellt, dass »[a]lles, was im Westen an bestimmten Formen des Islam kritisiert wird, wie z.B. die Unterordnung der Frau oder die »heiligen Kriege«, […] sich spiegelbildlich auch in der westlichen Kultur [findet]. Politisch-religiöser Fundamentalismus hat in ihr eine mindestens ebenso lange Tradition wie im Islam.«29 Edmund Stoibers ursprüngliches Vorhaben, Leitkultur mit dem Grundgesetz gleichzusetzen, kann nicht aufgehen, da sie dadurch zu seinem Synonym und 27 28 29

Ebd. Stoiber, Edmund: Edmund Stoiber spricht Klartext Leitkultur, 2015. Oberndörfer, Dieter: Deutschland in der Abseitsfalle, 2005, S. 55.

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somit obsolet wird.30 Bereits die vorliegenden Ausführungen zeigen daher, dass Leitkultur für ihn mehr als das Grundgesetz sein muss, da der Mehrheitsgesellschaft und ihren Institutionen bereits die Erfüllung ihrer normativen Ansprüche qua Existenz unterstellt wird.31 Insgesamt eint die Befürworter:innen der Leitkultur ihre Ablehnung fremder Elemente, welche meist in der islamischen Religion verortet werden. Selbstverständlich liegen interne Binnendifferenzen zwischen einzelnen Akteur:innen einerseits hinsichtlich der Möglichkeiten der Integration und andererseits bezüglich der Definitionsressourcen vor. Dennoch ist ihnen gemein, dass sie gewisse kulturelle Ausformungen bestimmter migrantischer Gruppen aus der Bundesrepublik ausschließen wollen. In Opposition zu ihnen stehen die Kritiker:innen der Leitkultur, die ein grundsätzliches Unbehagen gegenüber dem Konzept hegen, welches Claudia Roth von der Partei Bündnis90/Die Grünen auf den Punkt bringt: »Ich weiß nicht, warum die CDU in die Mottenkiste greift und die deutsche Leitkultur wieder hervorzieht. […] Es ist brutal gefährlich, was die CDU damit tut, weil sie ausgrenzt und nicht integriert, weil sie Menschen heimatlos erklärt, die schon lange in Deutschland leben, die in Deutschland geboren sind, deren Heimat Deutschland ist.«32 Sie stellt fest, dass sich das Konzept insbesondere gegen Menschen richtet, die schon länger in Deutschland leben, die trotzdem nicht die volle Akzeptanz als Mitglieder der Gesellschaft erfahren. Es dient daher ihrer Ausgrenzung, was erkannt und kritisiert wird. Damit geht immer eine Abwertung der Exkludierten einher, da sie nicht die Ansprüche der Leitkultur erfüllen, wie der taz-Journalist Lukas Wallraff in einer phoenix-Debatte ausführt: »Finde ich alles [nationale Gefühle] soweit gut und schön, solange es eben nicht irgendwie gegen jemanden gerichtet ist oder jemanden abwertet. Und das ist das – was mich seit Anfang an – an dem Begriff Leitkultur stört. Dass es tendenziell die anderen abwertet, weil sonst wäre es nicht die Leitkultur. Das ist einfach kein Beginn, wo man gleichberechtigt schaut.«33 Er erkennt ebenfalls, dass das Konzept der Abwertung und Ausgrenzung dient. Zusätzlich begründet er sein Unbehagen konkret: Ihn stört die missachtete Gleichberechtigung, die mit der Leitkultur und der dazugehörigen Abwertung des Anderen

30 31 32 33

Vgl. Rohgalf, Jan: Kollektive Identität als Mauer, 2016, S. 283. Vgl. Rohgalf, Jan: Kollektive Identität als Mauer, 2016, S. 295. Roth, Claudia: CDU und Leitkultur, 2010. phoenix: Ja, wer sind wir denn? – Debatte um Leitkultur, 2015.

Streitkultur im Konflikt um kollektive Identität

einhergeht. Es handelt sich hierbei keineswegs nur um eine Unterstellung gegenüber dem Leitkulturkonzept, sondern es ist ihr genuiner Teil.34 Dazu gesellt sich die Kritik der Schriftstellerin Hilal Sezgin an dem der Leitkultur zugrundeliegenden essentialistischen Kulturbegriff: »Kulturelle Prozesse und kulturelle Praktiken, das ist etwas Prozessuales sozusagen – das ist immer im Laufen und darin entsteht das Neue – wird variiert, wird wiederholt und dadurch entsteht Kultur. Man kann es aber nicht irgendwie essentialisieren und sagen, das ist jetzt das und das und das. […] und nicht als ein wir nageln es jetzt mal fest und schreiben das in zehn Thesen auf [de Maizières zehn Thesen zur Leitkultur]. Das geht nicht. Das ist eigentlich eine Form von Fundamentalismus, weil man sich vorstellt, das und das ist rein deutsch. Das gibt es überhaupt nicht. Das reicht doch gar nicht so lange zurück.«35 Hilal Sezgin wirft den Fürsprecher:innen der Leitkultur berechtigterweise vor zu versuchen, kulturelle Identität auf diverse Punkte zu fixieren. Dabei ist es egal welche, da bereits das Vorhaben problematisch ist. Kultur ist das Produkt menschlicher Interaktion und Produktion und somit permanent im Fluss. Alle Aspekte, die in der Erzählung kollektiver Identifikation aufgerufen werden, sind nicht ihr Besitz, sondern eine kulturelle Ressource, auf die sich jeder Mensch in seiner eigenen Identitätskonstruktion berufen kann. Es ist schlichtweg wissenschaftlich unmöglich, einer kollektiven Identifikationsmöglichkeit das Anrecht auf eine bestimmte Ressource zuzusprechen.36 Jeder Versuch einer essentialistischen Fixierung einer Identität muss daher misslingen. Diese Unmöglichkeit erklärt sie ihrem Publikum zusätzlich am Beispiel des Leistungsbegriffs: »Da würde ich aber auch sagen, so wie Herr de Maizière Leistungsdenken – Leistungsgesellschaft betont, darüber haben wir eine Diskussion. Man kann auch sagen, die Art, wie wir Leistungsgesellschaft betonen, ist auch problematisch […] Selbst darüber kann man keine Einigkeit erzielen. Es gibt also sehr viele Unterschiede und die Sachen sind immer im Fließen.«37 De Maizières Versuch, der deutschen Leitkultur eine gewisse Leistungsaffinität zuzuschreiben38 , ist von Anfang an zum Scheitern verurteilt, da das Konzept unklar bzw. so facettenreich ist, dass es sich schnell selbst widersprechen kann. Darüber hinaus sind viele Definitionen auch innerhalb eines Kollektivs umstritten – wie die Existenz der Debatte beweist.

34 35 36 37 38

Vgl. Oberndörfer, Dieter: Deutschland in der Abseitsfalle, 2005, S. 54-59. phoenix: Ja, wer sind wir denn? – Debatte um Leitkultur, 2015. Vgl. Jullien, François: Es gibt keine kulturelle Identität, 2017, S. 45-52. phoenix: Ja, wer sind wir denn? – Debatte um Leitkultur, 2015. Vgl. De Maizière, Thomas: Wir sind nicht Burka, 2017, These 3.

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Wie ihre Kontrahent:innen definieren sich die Gegner:innen der Leitkultur über das, was sie ablehnen: eine essentialistisch-homogenisierende, exkludierende und andere Menschen abwertende Definition der deutschen Leitkultur, die das Gleichberechtigungsprinzip des Grundgesetzes missachtet. Wäre die Leitkultur wirklich nur das Grundgesetz, wie einige ihrer Befürworter:innen behaupten, dann müssten sie wie Oberndörfer feststellen, dass »[k]ulturelle Freiheit [.] im Rahmen der Rechtsordnung und ihrer Werte allen Bürgern, auch ursprünglich fremden, ohne Ansehung ihrer ethnischen Herkunft, ihrer Religion oder Weltanschauung gewährt werden [muss].«39 Dementsprechend bieten sie auch kein Gegenkonzept an, mit dem sie versuchen, die kulturelle Identität zu fixieren. Denn ein solcher Versuch kann nur fehlschlagen, wie die angeführten Beispiele verdeutlichen. Jede Fixierung muss deutungsoffene Signifikanten füllen, wie z.B. das »Streben nach Wissen und Erkenntnis«, wozu wieder auf deutungsoffene Signifikanten zurückgegriffen werden muss. Andernfalls, d.h. bei einer Überdeterminierung der kulturellen Identifikationsmöglichkeit, stößt sie auf Widerspruch, da sie alle Elemente, die nicht die engen Kriterien erfüllen, ausschließt, womit der Zwang zur Homogenisierung des entsprechenden Kollektivs einhergeht. Dieses strukturelle Problem verbindet die Argumentationen beider Lager. Denn die beiden Fraktionen definieren sich jeweils eher darüber, was sie ablehnen, als über das, was sie selbst zu sein vorgeben. Gerade in der Formulierung des von ihnen Abgelehnten werden sie spezifischer: Die Befürworter:innen lehnen eine kulturelle Offenheit insbesondere gegenüber Muslim:innen sowie ihrem kulturellen Kontext ab und befürchten eine Überfremdung, was letztlich zum Ausschluss der als fremd Imaginierten führt.40 Was für sie aber die gefährdete Leitkultur konkret sein soll, bleibt offen. Ihre Gegner:innen lehnen entsprechend diese Schließung und Exklusion ab und verweisen auf den Gleichberechtigungsgrundsatz und die Unmöglichkeit der Formulierung einer Leitkultur. In diesem Sinne findet sich bei ihnen auch keine Bestimmung der kollektiven Identität über ethnische oder religiöse Merkmale. Auf diese Weise wird es möglich, ein politisches Kollektiv im Sinne Chantal Mouffes zu bilden, das dank einer ausreichenden Binnendifferenz einen agonistischen Konflikt ermöglicht.41 Die Leitkultur stellt den zentralen deutungsoffenen Signifikanten dar, der mit weiteren gefüllt wird. Auf diese Weise schafft er eine Identifikationsmöglichkeit, unter der sich verschiedene Menschen vereinen können. Blickt man in theoretischer Perspektive auf diese Debatte, zeigt sich, dass nicht die kollektive Identität im Zentrum der Auseinandersetzung steht, sondern die mit ihr verbundene Ordnung der Gesellschaft. Wie eingangs erwähnt, fungieren 39 40 41

Oberndörfer, Dieter: Deutschland in der Abseitsfalle, 2005, S. 54. Vgl. ebd., S. 51. Vgl. Mouffe, Chantal: Agonistik, 2014, S. 27-32.

Streitkultur im Konflikt um kollektive Identität

die normativen Setzungen und Grenzziehungen der Identifikationsmöglichkeit als (Re-)Produktionsmechanismen der entsprechenden Ordnung der Gemeinschaft. Je nachdem wie sehr eine Identitätsnarration in den Sozialisationsinstanzen und Medien Verbreitung findet, setzen sich die jeweiligen Hierarchien und Normen durch und werden in ihrer Anwendung real.42 Als Verbindungselement zwischen der kollektiven Identität und der politische Kultur transformiert die Ordnung die jeweiligen Hierarchien, Grenzen und Normen zu legitimen Sprecher:innenpositionen, Argumentationsmustern, Diskussionsregeln etc. Diese prozessualen Aspekte der Ordnung sind ein wesentlicher Teil der politischen Kultur und im Speziellen der Streitkultur.43 Am Beispiel der Leitkulturdebatte können wir diese Zusammenhänge offenlegen. In ihrer Konsequenz würde eine Umsetzung der dominanten Leitkulturkonzeption die Ordnung der bundesrepublikanischen Gesellschaft verändern. Indem insbesondere Menschen mit muslimischem Glauben abgesprochen wird, sich in das konstruierte nationale Kollektiv einzufügen, werden sie ausgeschlossen.44 Da sie zu Fremden erklärt werden, d.h. nicht von der kollektiven Identifikationsmöglichkeit miteingefasst sind, wird vor allem Muslim:innen die Berechtigung entzogen, an der Debatte bezüglich der nationalen Identität oder Leitkultur teilzunehmen. Diese Exklusion wird von der Gegenseite abgelehnt. Ein Kriterium, das die Partizipation an dem Aushandlungsprozess einer gemeinsamen Identität ermöglicht, definieren sie nicht. Dennoch lehnen die Gegner:innen der Leitkultur es ab, dass Menschen, die schon länger vor Ort leben, exkludiert werden, was das Gleichberechtigungsprinzip aller Staatsbürger:innen im Sinne kultureller Freiheit unterminiert. Daraus kann man schließen, dass für sie zumindest der Besitz der Staatsbürger:innenschaft oder ein langfristiger Aufenthalt innerhalb der Grenzen der Bundesrepublik ausreicht, um sich an der Debatte zu beteiligen. Jede Verschiebung der Grenzen einer kollektiven Identität wirkt sich auch auf die entsprechende Streitkultur aus, da auf diese Weise die Möglichkeiten einer legitimen Sprecher:innenposition limitiert werden. Wer nicht zum Kollektiv gehört, kann eben nicht an seiner Definition mitwirken. Zudem sind mit den jeweiligen Vorstellungen der nationalen Identifikationsmöglichkeit verschiedene Codes und Normen verbunden, die sich ebenso auf die Ordnung auswirken. Vor allem sie erzeugen die interne Hierarchiestruktur eines Kollektivs, indem sie definieren, was gut, erwünscht oder schlecht und unerwünscht ist. Im Rahmen einer national verfassten Gesellschaft entstehen dadurch

42 43 44

Vgl. Althusser, Louis: Ideologie und ideologische Staatsapparate, 2016, S. 42f. Hiermit meinen wir den politischen Denk-, Handlungs- und Diskursrahmen für gesellschaftliche Konflikte. Diesbezüglich gibt es ein Spektrum an Positionen, die von der Assimilationsforderung hin zur rassistischen Ablehnung reichen.

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Milieus, welchen unterschiedliches Prestige zugeschrieben wird.45 Beispielsweise rekurrieren die Vertreter:innen der Leitkultur auf traditionalistische und primordiale Codes, wodurch Menschen, die sie erfüllen, eindeutig dem Kollektiv zugerechnet werden. Damit geht eine Abwertung derer einher, die die notwendigen Maßgaben nicht oder nur teilweise erfüllen. Beteiligen sie sich an der Debatte, ist es wahrscheinlich, dass ihr Argument weniger ins Gewicht fällt als das derjenigen, die die Normen und Codes erfüllen. Letztere, also diejenigen, die in das konstruierte Idealbild der kollektiven Identität passen, verfügen über mehr symbolisches Kapital.46 Auf diese Weise wird ihre Sprecher:innenposition innerhalb der Streitkultur gestärkt. In unserem Beispiel erzeugt die Verwendung primordialer beziehungsweise traditioneller Codes eine Marginalisierung der Sprecher:innenposition von Bürger:innen ›mit Migrationshintergrund‹. Schon allein die Bezeichnung stellt die Zugehörigkeit der entsprechenden Person zum Kollektiv zur Disposition. Es wird ein Unterschied zwischen vollwertigen und defizitären Bürger:innen gemacht. Insbesondere der Zeitpunkt bzw. die Definition, ab der man ›vollwertige:r Deutsche:r‹ sei, wird über die Codes bestimmt.47 Während primordiale Codes versuchen, eine gemeinsame, natürliche Physis (Abstammungsgemeinschaft, ius sanguinis) im Kollektiv zu finden, präferieren traditionelle Codes die Praktizierung kultureller Gewohnheiten also auch Zugehörigkeitszeiten. Die Befürworter:innen der Leitkultur greifen vor allem auf diese beiden Codeformen zurück, wenn sie Muslim:innen die Möglichkeit zur Zugehörigkeit verweigern. Ihre Beteiligung an der Debatte und folglich ihre Argumente erfahren dadurch eine Abwertung. Demgegenüber stehen ihre Gegner:innen, die eigentlich eine Debatte der gemeinsamen Identität ablehnen. Wenn überhaupt kann in ihren Augen das universelle Kriterium der Staatsbürger:innenschaft oder des Wohnortes als Vorbedingung zur Teilnahme an der Debatte dienen, was zu einer offeneren Streitkultur führt. Die Codes und Normen der kollektiven Identität und somit der Ordnung erzeugen innerhalb der Streitkultur einen weiteren Effekt. Sie definieren legitime

45 46 47

Vgl. Bourdieu, Pierre: Die verborgenen Mechanismen der Macht, 2015, S. 49-80. Vgl. Göhler, Gerhard/Speth, Rudolf: Symbolische Macht, 1998, S. 32-36. Dass auch auf der gemäßigten Seite der Leitkulturbefürworter:innen primordiale Codes ertüchtigt werden, zeigt folgendes Zitat Andreas Scheuers: »Das Schlimmste ist ein fußballspielender, ministrierender Senegalese, der über drei Jahre da ist. Weil den wirst Du nie wieder abschieben. Aber für den ist das Asylrecht nicht gemacht, sondern der ist Wirtschaftsflüchtling.« Seine klare Ablehnung des besagten Senegalesen kann nicht auf traditionellen oder universellen Codes beruhen, da er als Katholik dem Mehrheitsglauben in Bayern angehört. Da seine Anwesenheit trotz Integrationsbemühungen als nicht wünschenswert erachtet wird, kann Andreas Scheuer ihm nur etwas Fremdes an sich zuschreiben. Woran das für ihn außer an seiner Hautfarbe erkennbar sein soll, bleibt offen. Vgl. Bayerischer Rundfunk: Dokumentation: Das sagte Andreas Scheuer im Regensburger Presseclub, 2017.

Streitkultur im Konflikt um kollektive Identität

Argumentationsmuster, indem sie vor allem Legitimations- und Begründungsweisen aus- oder einschließen. So lehnen die Gegner:innen der Leitkultur Rechtfertigungen ab, die sich auf traditionelle oder primordiale Codierungen stützen. Ihre Grundlage einer kollektiven Identifikationsmöglichkeit kann nur etwas sein, dass für jede:n erreichbar ist. Eine Leitkultur, wie sie von ihren Apologet:innen imaginiert wird, impliziert mindestens traditionelle Codes. Wenn sich ihre Befürworter:innen durchsetzen würden, so wären Argumentationsmuster zulässig, die sich auf traditionelle oder primordiale Begründungsressourcen stützen. Letztere sind offen für rassistische bzw. essentialisierende Abgrenzungen. Offensichtlich wird dieser Aspekt beim AfD-Politiker Stefan Möller, der die Leitkultur zumindest als eine Einstellung bezeichnet, die – einmal angenommen – nicht verloren gehen könne.48 Ihre Ausgestaltung begründet er mit traditionellen Codes bzw. Argumenten.49 Eine solche Konstruktion der Identität lehnt die Gegenseite ab, da sie sich einerseits nicht auf universalistische Ressourcen stützt und andererseits als dauerhafter Fixierungsversuch zum Scheitern verurteilt ist. Auf diese Weise bestimmt die jeweilige Konstruktion der kollektiven Identität, welche Argumente innerhalb einer Streitkultur herangezogen werden müssen, um das eigene politische Projekt zu legitimieren, damit es Anerkennung finden kann. Während in der Realität die kollektiven Identifikationsmöglichkeiten keine Reinformen aufweisen, kann man diesen Aspekt anhand der Idealtypen verdeutlichen. Im Falle einer Dominanz traditioneller Codes in der kollektiven Identität können sich politische Projekte in der dazugehörigen Streitkultur aus Traditionen begründen, wie zum Beispiel der Verweigerung der Ehe für alle aufgrund traditioneller religiöser Normen. Bei einem Primat universeller Codes ist das schwer vorstellbar. Hier hätte eher ein Argument, das sich auf universalistische Begründungsressourcen (z.B. Menschenrechte) stützt, Chancen auf Anerkennung. Ein Bezug auf Traditionen würde hingegen auf Unverständnis stoßen, da ihr universeller Charakter hinterfragt würde.

4.

Die Leitkulturdebatte – Gift für eine offene Streitkultur?

In unserem Beitrag haben wir gezeigt, dass die Definition einer kollektiven Identifikationsmöglichkeit, hier in der Chiffre der Leitkultur, Auswirkungen auf die politische Kultur und im Speziellen auf die Streitkultur hat. Eine Debatte um Identität ist immer auch ein Konflikt um die grundlegende Ordnung der Gesellschaft und somit auch eine Auseinandersetzung um Aspekte der zugrundeliegenden Streitkultur. Je nach ihrer durchgesetzten Definition kann sich in der Gesellschaft die

48 49

Siehe obiges Zitat von Stefan Möller. Siehe unsere Argumentation auf S. 179.

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Streitkultur hinsichtlich der Zulässigkeit verschiedener Sprecher:innenpositionen und Argumentationsmuster verändern. Bezeichnenderweise tritt in der Bundesrepublik auf Seiten der Gegner:innen der Leitkultur ein ambivalentes Moment zu Tage. Obwohl sie die Debatte um ihre Festsetzung nicht führen wollen, da sie ihre Folgen für die Gesellschaft und Streitkultur erkennen, lassen sie sich darauf ein.50 Sie werden geradezu in die Debatte gezwungen, was uns zu der Annahme verleitet, dass es sich hier um ein Thema handelt, dem eine gesamtgesellschaftliche Bedeutsamkeit zugemessen wird. Die Leitkulturdebatte kann entsprechend in die mutmaßliche neue gesellschaftliche Konfliktlinie zwischen geschlossenen und offenen Identitätskonzeptionen eingeordnet werden.51 Dabei vertreten die Leitkulturbefürworter:innen die erstere Seite innerhalb des Cleavage, wohingegen ihre Gegner:innen für letztere stehen. Die Festsetzung einer Leitkultur führt in verschiedenen Graden abhängig von ihrer Determinierung zur Schließung der Identität vor neuen Einflüssen und zu einer Einfrierung ihrer Definition. Änderungen werden durch die Fixierung – auch von innen – erschwert oder gar verunmöglicht. Ihre Gegner:innen wünschen sich viel mehr ein Kollektiv, das offen für neue Einflüsse ist und dessen Mitgliedschaft von einer voluntaristischen Zustimmung und der Partizipation an den gemeinsam definierten Grundlagen abhängt. Auch auf die Streitkultur haben beide Identifikationsmöglichkeiten große Einflüsse. Eine Setzung der Leitkultur verhindert eine Debatte über die gemeinsamen universellen Werte, indem sie Menschen, die hier leben, von der Debatte ausschließt. Die offene Definition der kollektiven Identität auf Grundlage universalistischer Werte wie der Würde des Menschen hält die Streitkultur hingegen offen und kann eher einen Diskurs im Sinne Habermas’‹52 ermöglichen. Dennoch befinden wir uns in einem Dilemma: Solange sich Gesellschaften innerhalb von Nationalstaaten organisieren, ziehen sie ihre eigene Existenzberechtigung aus einem traditionellen und teilweise primordialen Fundus, was immer die Gefahr des Rückfalls in die Marginalisierung, Exklusion und im Extremfall Vernichtung von als fremd Imaginierten birgt. Erst eine republikanische Definition in dem Sinne, dass die Zugehörigkeit allein auf der Willensbekundung und Affirmation der grundlegenden zwingend universalistischen Werte beruht, ermöglicht es, diese gemeinsam in einer offenen Streitkultur weiterzuentwickeln. Die permanente Auseinandersetzung um und die Aktualisierung gemeinsamer universeller Werte ist gerade ein republikanischer Anspruch, in dessen Debatte man sich einschalten muss. Natürlich muss nicht jede:r Citoyen·ne sein, aber niemandem darf

50 51 52

Siehe obiges Zitat von Hilal Sezgin. Vgl. Bizeul: Offene oder geschlossene Kollektividentität, 2019, S. 2-5. Vgl. z.B. Habermas, Jürgen: Erläuterungen zur Diskursethik, 2015.

Streitkultur im Konflikt um kollektive Identität

das Recht verwehrt werden. Das zu tun, schließt dagegen die Streitkultur und auch die kollektive Identität ab.

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Wissen im Widerstreit Narrative Konstruktion von kolonialer Identität in der Encyclopédie von Diderot und d’Alembert Karen Struve

Streit als Salz in der Suppe unserer Diskussionen: Das scheint ein Grundprinzip von politischen Fernseh-Talkshows, Podcasts oder Twitter-Threads zu sein und ist sogar für das im September 2019 eingeführte Ressort »Streit« in der Wochenzeitung Die Zeit titelgebend. Doch schon im XVIII. Jahrhundert ist Streit eine wichtige, aber wohl zu dosierende Ingredienz. »La dispute peut donc devenir le sel de nos entretiens«, heißt es im Eintrag »dispute« im Schlüsselwerk der europäischen Aufklärung, der Encyclopédie von Diderot und d’Alembert aus der zweiten Hälfte des XVIII. Jahrhunderts.1 Aber welche Funktion hat Streit in der ›enzyklopädischen Suppe‹? Was ist da umstritten? Findet etwa streitbares Wissen Eingang in die Encyclopédie? Welchen Quellen kann man trauen? Inwiefern wird in der Encyclopédie um Wissen gestritten, um unterschiedliche Weltsichten oder belief systems,2 inwiefern sind sie gegeneinander abzuwägen, um Wissen im Widerstreit entstehen zu lassen? Geht es nicht in erster Linie um die Durchsetzung und persuasive Konstruktion europäischen Machtwissens? Haben da Kontroversen überhaupt einen Platz? Eine Annäherung an diese Fragen soll im Folgenden vor dem Hintergrund meiner Forschungen zu den Konstruktionen kolonialer Alterität im großen Schlüsselwerk der europäischen Aufklärung, die Encyclopédie von Diderot und d’Alembert (1751-72), erfolgen. In den Einträgen über die koloniale Welt und den kolonialen Anderen artikulieren sich inmitten des europäischen Wissensdiskurses zahlreiche Widersprüche. Diese Widersprüche sind schon in der Anlage der Aufklärung begründet, die einerseits durch Widerrede gegen jegliche Autorität gekennzeichnet ist, andererseits in Kolonialfragen durch »exotische Faszination und philosophischen Denkimpetus«3 wie Hans-Jürgen Lüsebrink es pointiert. Der koloniale An1 2 3

Formey, M.: Dispute, 1754, S. 1044b. Zum Konzept der belief systems vgl. Stoellger, Philipp: Deutungsmachtanalyse, 2014, bes. S. 6ff. Lüsebrink, Hans-Jürgen: Das Europa der Aufklärung, 2006, S. 10.

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dere ist eine veritable Herausforderung für den Enzyklopädisten: Ist der koloniale Andere Mensch oder Tier, Freund oder Feind, Fakt oder Fiktion, über- oder unterlegen? Diese Widersprüche liegen auch in den Oppositionen von Europa und kolonialer Welt, von Wissen und Irrglauben, von philosophe und dem Wilden, von Fakt und Fiktion avant la lettre, von Narration und Deskription, von Weltwissen und Wissenswelten. Im folgenden Beitrag möchte ich in der Perspektive auf Streitkulturen die Konstruktionen kolonialer Alterität in der französischen bzw. europäischen Aufklärung akzentuieren, indem einerseits die Methode der kontrapunktischen Lektüre vorgestellt und exemplarische Analysen skizziert werden. Andererseits möchte ich für die Analyse von Streitkulturen ein spezifisches Konzept postkolonialer Ambivalenz zur Diskussion stellen, das in einem besonderen Spannungsverhältnis zum Streit steht und insbesondere die kulturellen Dimensionen von Streit betont.

1.

Die Encyclopédie ou Dictionnaire Raisonné des Sciences et des Arts – einige einführende Überlegungen

Die Encyclopédie sollte zunächst nur eine Übersetzung werden: des englischen Dictionary of Arts and Sciences von Ephraim Chambers, das 1728 in England erschienen war. Die beiden Herausgeber sind Denis Diderot, der als Sohn eines Klingenschmieds nach Paris gekommen war, um als Kopist und philosophe sein Glück zu machen, und Jean Baptiste Le Rond d’Alembert, Adoptivsohn eines Glasers und (und im Gegensatz zu Diderot) bereits angesehener Mathematiker seiner Zeit.4 Diderot und d’Alembert machten sich daran, das Wissen der Zeit zu sammeln, zu ordnen und aufzuschreiben. Das Werk sollte alles enthalten und verständlich erläutern, was sich als Wissen der Zeit darstellen ließ – und zwar in alphabetischer Systematisierung (die etwa den »roi« nicht weit vom »rogue«, vom Fischrogen und seiner Nutzung beim Fischen platziert) und verortet in einem Wissenssystem, das die Gebiete des menschlichen Wissens unter »mémoire«, »raison« und »imagination« rubrizierte. Das Projekt stemmte sich als Schlüsselwerk der französischen Aufklärung gegen jegliche Autorität und schien derart antiklerikal und monarchie-gefährdend, dass sich die Encyclopédie vielen Anwürfen, Zensurangriffen und Feinden ausgesetzt sah. Das Werk suchte Streit und war von Beginn an äußerst umstritten. 4

Die Encyclopédie-Forschung ist ein international intensiv beforschtes Feld, das nicht mit dem Hinweis auf wenige Referenzwerke abzubilden ist. Für die (insbes. deutschsprachige) Encyclopédie-Forschung seien bspw. Gipper, Andreas: Wunderbare Wissenschaft, 2002; sowie Semsch, Klaus: Abstand von der Rhetorik, 1999. genannt; ferner: Darnton, Robert: Glänzende Geschäfte, 1993; Eybl, Franz M.: Enzyklopädien der frühen Neuzeit, 1995. und Blom, Philipp: Das vernünftige Ungeheuer, 2005.

Wissen im Widerstreit

Von daher war die Publikationsgeschichte des Werkes war denkbar wechselhaft. Schon während der Arbeit am ersten Band der Enzyklopädie wurde Diderot erstmals verhaftet und verbrachte viele Monate im Château de Vincennes. 1751 erschien der erste Band der Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des Arts et Métiers, par une société de gens de lettres. Mis en ordre par M. Diderot de l’Académie Royale des Sciences et Belles-Lettres de Prusse; et quant à la partie mathématique, par M. d’Alembert de l’Académie Royale des Sciences de Paris, de celle de Prusse et de la Société Royale de Londres.5 Doch schon nach dem Erscheinen des zweiten Bandes wurde die Encylopédie 1752 kurzzeitig verboten, 1759 vom Papst Clemens VIII. auf den Index gesetzt. Die Herausgeber gingen ein Jahr zuvor im Streit auseinander. Das Geld war knapp, und die Gunst diverser Adliger und Salondamen musste gewonnen werden (zu den Förderern der Encyclopédie gehörte nicht nur Madame de Pompadour, sondern interessanterweise auch der oberste Zensor Malesherbes). Trotz dieser Widrigkeiten verfolgte Diderot das Projekt hartnäckig und arbeitete unermüdlich daran weiter. Bei ihm liefen alle Fäden zusammen: Er redigierte, korrigierte und lektorierte die Artikel, schickte Korrekturfahnen an die Autoren, er entwarf das diffizile Verweissystem zwischen den Artikeln und verfasste nicht zuletzt selbst mehr als 1000 Artikel zu unterschiedlichen Themenbereichen. Gleichwohl ist die Encyclopédie ein Werk einer ganzen société des hommes de lettres: Das Projekt wurde von zahlreichen (etwa 180) Enzyklopädisten geschrieben,6 darunter Voltaire, Rousseau, Montesquieu oder de Jaucourt.7 Zudem wirkten an dem Werk etliche Handwerker und Juristen, Architekten und Mediziner mit; Menschen, die den Enzyklopädisten ihr tägliches Handwerk schilderten und sie in ihre Werkstätten ließen. 1772 liegt das Werk mit 28 Bänden vor. 17 Foliobände und 11 Bände mit Kupferstichen zeigen das gesamte Wissen im Sinne der Aufklärung.8 Die Zielsetzung wird klar benannt: Die Encyclopédie soll ein Werk der logischen und sachlichen Verknüpfung der Wissensgebiete als Nachschlagewerk sein und der öffentlichen Aufklärung und Weiterbildung für die kommenden Generationen dienen. Man wolle das Wissen der Zeit aufzeichnen, »rassembler les connoissances éparses sur la surface de la terre« (»die auf der Erdoberfläche verstreuten Kenntnisse sammeln«), so Diderot in seinem berühmten Eintrag »Encyclopédie«.9 Und das bedeutet auch, – und damit knüpfe ich wieder an meine Fragen zur enzyklopädischen Konstruktion des kolonialen Anderen an – das Wissen über die koloniale 5 6 7 8

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Diderot, Denis/D’Alembert, Jean le Rond: Encyclopédie, 1751-1772. Vgl. die aktuellste Auflistung der Enzyklopädisten/Beiträger: http://enccre.academie-science s.fr/encyclopedie/documentation/?s=75&. Stand: 10.03.2021. Zur Biographie von de Jaucourt vgl. Haechler, Jean: L’Encyclopédie de Diderot, 1995. 1772-1777 erschienen, allerdings nicht mehr unter der Mitwirkung Diderots, vier weitere Supplément-Bände und ein weiterer Planches-Band; 1780/81 erschienen in Amsterdam noch 2 Registerbände. Diderot, Denis: Encyclopédie, 1755, S. 635r.

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Welt aufzuzeichnen, zuzuordnen, zu kategorisieren und normativ zu verankern. Der Aufklärer selbst, so schreibt es d’Alembert in seiner berühmten Einleitung zur Enzyklopädie, steht dabei hoch über dem Labyrinth des Wissens, welches er in der Encyclopédie in eine Weltkarte verwandelt.10 Doch was sieht er nun auf dieser Weltkarte des Wissens, welche bekannten Völker erkennt er wieder, welche Stereotype bestätigen sich, und welche Unbekannten verschlagen selbst dem Enzyklopädisten die Sprache?

2.

Konstruktionen kolonialer Alterität in der Encyclopédie: Ein- und Unterordnungen

Der koloniale Andere tritt in der Encyclopédie grosso modo in zwei Rollen auf: als barbarischer Dämon oder als Edler Wilder. Dem Barbaren begegnet die Leserschaft auf jedem Kontinent: Der Mensch in der kolonialen Welt wird beschrieben als aphasisch, er hat keine oder unverständliche religiöse Überzeugungen und Praktiken, er ist faul und lasziv, er ist infantil und tanzt viel umher, er ist unabhängig, unberechenbar und rebellisch, bisweilen nahezu absurd kannibalisch und damit eher animalisch denn menschlich. Diese barbarische Alteritätsschablone lässt sich in Hunderten von geographischen oder naturgeschichtlichen Artikeln in der Encyclopédie über Afrika, Indien, Asien oder die Indes (gemeint sind die beiden Amerikas und Indien) für die Beschreibung der Einwohner_innen finden. Auch in anthropologischen Artikeln, die sich mit Stereotypen und Figuren wie dem Barbaren, dem Wilden oder der menschlichen Art beschäftigen, finden sich diese Beschreibungen. Exemplarisch sei der von Diderot verfasste Eintrag zur Humaine Espèce11 genannt, weil in diesem Artikel die Welt von Nord nach Süd durchmessen und die dort ansässigen Völker beschrieben werden. In diesem Eintrag ist der Gestus des über der Weltkarte sinnierenden philosophe sehr deutlich zu erkennen: Dieser schaut auf das Gewimmel auf den Kontinenten ordnend herab. Ob Dänen oder Lappen, ob Samen, Tataren oder Eskimos: Alle Völker seien ungehobelt, abergläubisch und dumm. Die topischen Attribute des Barbarischen, Heidentum, Aphasie, mangelnde Zivilisation und z.T. auch Anthropophagie werden schematisch an den unterschiedlichsten Völkern nachvollzogen. Die fremden Völker werden normativ auf der Weltkarte verortet, und zwar keinesfalls auf horizontaler Ebene, sondern mit einem mächtigen Gefälle. Diese Hierarchisierung ließe sich, so Diderot, sehr klar mit der Hautfarbe der Menschen plausibilisieren:

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d’Alembert, Jean le Rond: Discours préliminaire de l’Encyclopédie, 1751, S. 84/86. Diderot, Denis: »Humaine Espece«, 1765, S. 344b–348a.

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Klimatheoretische, degenerationistische und monogenistische12 Theorien werden hier aufgegriffen, veranschaulicht und rassistisch legitimiert. Der weiße Europäer bleibt demzufolge das physische Ideal und der Endpunkt der menschlichen Entwicklung. Die enzyklopädischen Beschreibungen der fernen Völker weisen Tendenzen zum Exotisierenden, Skandalisierenden und Erotisierenden auf: Die bengalischen Frauen etwa seien die laszivsten in ganz Indien, bei den Naires de Calicut etwa dürften Männer nur eine Frau, ihre Frauen hingegen so viele Ehemänner haben, wie es ihnen beliebt; und die Patagons in Chile seien wahre Riesen mit einer Größe bis zu neun Fuß. Die Welttour durch die Völker der Erde zeigt deutlich: Der Europäer hält den kolonialen Anderen machtvoll mittels Animalisierung, Barbarisierung und phylogenetischer Infantilisierung auf Distanz und nutzt ihn als negative Kontrastfolie für die eigene Selbstversicherung, wenn nicht gar für die Selbstidealisierung. Die postkoloniale Theorie belegt diesen Mechanismus mit dem Begriff des »othering«.13 Selbstverständlich finden sich in der Encyclopédie auch immer wieder Passagen, in denen ganz explizit Kulturrelativismus oder Sklavereikritik artikuliert wird: Auch im Eintrag zur Humaine Espece klagt Diderot die selbstherrliche und antichristliche Reduktion der Menschen in den Kolonien auf den Status von Tieren an.14 Aber: Diese Gegenargumente erscheinen aus einer postkolonialen Perspektive weiterhin als machtvolle Gesten des Kolonialdiskurses und als durchaus sehr eurozentristisch und selbstbezüglich. Doch das enzyklopädische »othering« funktioniert nicht nur in den Diskurslogiken von Dämonisierung und Diskriminierung. Ein weiterer Diskurs, der ganz in der Tradition der aufklärerischen Selbstkritik steht, ist ebenso präsent: der bon sauvage oder homme naturel Rousseau’scher Prägung. In diesem Falle bildet der ko-

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Im Artikel wird auch ein explizites Bekenntnis zur Monogenismus-These formuliert – diesmal unter expliziter Berufung auf Buffon. Auf den ersten Blick wird hier die Alterität als veritable Parallellinie akzeptiert (« Les Américains sortent d’une même souche. Les Européens sortent d’une même souche.«), jedoch werden im gesamten Artikel permanent Bezüge zu den anderen Völkern hierarchisierender und zumeist abschätziger Art hergestellt. Seit der Lancierung des othering-Konzepts durch Spivak (Spivak, Gayatri Chakravorty: The Rani of Sirmur, 1985, S. 247-272; bes. die Passagen zu drei Beispielen des othering aus dem britisch-indischen Kolonialkontext, S. 252-257) hat dieser postkoloniale (bei Spivak zunächst noch deutlich lacanistische) Mechanismus der Alterisierung einen starken Einfluss auf die Postcolonial Studies genommen. Zur ersten Orientierung vgl. Ashcroft, Bill/Griffiths, Gareth/ Tiffin, Helen: »OTHERING«, 2007, S. 156-158. »Nous les avons réduits, je ne dis pas à la condition d’esclaves, mais à celle de bêtes de somme; & nous sommes raisonnables! & nous sommes chrétiens !« Diderot, Denis: »Humaine Espece«, 1765, S. 347.

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loniale Andere die positive Kontrastfolie für ein Selbstbild des Europäers,15 der als nun als zivilisatorisch deformiert und gesellschaftlich selbstentfremdet kritisiert wird. Diese Figur tritt etwa in einem Artikel auf, in dem man Ausführungen zum Edelmut und zur Natürlichkeit des bon sauvage vielleicht zunächst einmal nicht erwartet: im Artikel Laine. Nach langen Ausführungen über die Herstellung und die Beschaffenheit der Wolle in unterschiedlichen Ländern wird unter dem Lemma Laine, Manufacture en Laine, ou Draperie (»art mechanique«) eine interessante Szenerie evoziert. »[L]a laine habille tous les hommes policés«, also: »Wolle kleidet alle zivilisierten/kultivierten Menschen«, heißt es dort bereits im ersten Satz, während im Gegensatz dazu die Wilden nackt oder mit Tierhäuten bekleidet sind. Unmittelbar darauf erfolgt dann ein Perspektivwechsel, der die Sicht der Wilden auf die Mühen der Europäer imaginiert und sogar in einer fingierten Figurenrede gipfelt, denn: Ein Wilder streift durch eine Wollmanufaktur. Mitleidig lässt er seinen Blick über die mühevolle Arbeit an den ausgetüftelten Maschinen schweifen, fühlt kurz die Oberfläche eines gewebten Stoffes, lässt diesen dann aber mit freundlichem Kopfschütteln liegen. Sein Appell richtet sich an die Handwerker und an die französischsprechende Leserschaft: »Laisse à la brebis sa toison.« (»Lasst den Schafen doch ihre Wolle!«), ruft er ihnen zu.16 Sie sollten sich stattdessen mit Fell kleiden und in einfacher natürlicher Bescheidenheit leben. Diese klare Absage an vermeintlichen Errungenschaften der europäischen Zivilisation aus dem Mund eines Edlen Wilden kennt man aus exotischen Erzählungen, aus philosophischen Essays oder selbstkritischen Märchen; in einem Enzyklopädie-Eintrag ist sie jedoch bemerkenswert. Unter Rückgriff auf literarische Traditionen und Vorbilder (etwa die Lettres Persanes von Montesquieu, L’ingénu von Voltaire oder Diderots Supplément au voyage de Bougainville) wird hier eine Sprechsituation inszeniert, die die Leserschaft involvieren, überzeugen, vielleicht anrühren oder womöglich authentisch wirken soll. Hier tritt ein Aspekt der enzyklopädischen Alteritätskonstruktionen in den Vordergrund, der in der Encyclopédie-Forschung nicht unumstritten ist und der das Komplement zu meinem postkolonialen Zugang ist: die wissenspoetologische, man könnte auch sagen: narrative Konstruktion des kolonialen Anderen. Mich interessiert in meiner Forschung also nicht nur das »Was«, sondern auch »wie« koloniale Alterität im enzyklopädischen Text konstruiert, inszeniert wird. Und da wartet die Encyclopédie doch mit einigen Überraschungen für die moderne Leserschaft auf. Exemplarisch seien hier jene Encyclopédie-Artikel genannt, in denen direkte Rede stattfindet, wenn sich etwa der Edle Wilde an die Wollproduzenten wendet; oder 15 16

Da es sich zeithistorisch um einen männlich dominierten Diskurs handelt, wird hier nicht gegendert. N.N.: Laine, Manufacture en Laine, ou Draperie, (Art méchan.), 1765, S. 184b.

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in denen sich eine afrikanische Frau mit ihren Stammesgenossinnen unterhält; oder in denen die Ansprache einer fürchterlichen afrikanischen Königin an ihre Soldaten in indirekter Rede reinszeniert wird. Ebenso überraschend für ein modernes Lesepublikum ist oftmals, dass in vielen Einträgen konsequent ein »Ich« zu Wort kommt. Die Konstruktion kolonialer Alterität in der Encyclopédie erschöpft sich demnach nicht in der Ausgestaltung der Figuren des Kannibalen, des Barbaren, des Wilden oder aber des Naturnahen und Sanftmütigen. Alteritätskonstruktionen finden sich vielmehr auch auf der formal-ästhetischen Ebene des »Wie«. Im vorliegenden Beitrag möchte ich an die eben skizzierten Formen der Redeinszenierung anknüpfen, also in den Blick rücken, inwiefern der enzyklopädische Erzähler sich artikulieren kann und inwiefern der koloniale Andere sprechen darf oder schweigen muss. Ich habe diesen Fokus gewählt, weil ich denke, dass diese Inszenierungen von Rede innerhalb des Kolonialdiskurses auch für Fragen der Artikulation und Konstruktionen von Streitkulturen aufschlussreich sein könnte. Die Redeanteile von enzyklopädischem Erzähler und kolonialem Anderen sind auf den ersten Blick erwartungsgemäß ungleich verteilt: Der Erzähler inszeniert sich als sprechende Instanz, die über den Anderen spricht, im sicheren Abstand und aus einer subjektiven Perspektive (interne Fokalisierung). Der koloniale Andere hingegen schweigt: Seine Worte werden oftmals paraphrasiert, es gibt aber auch dialogische Anteile und Inszenierungen, in denen der koloniale Andere zu Wort kommt. Aber wie ist das zu verstehen? Wird der koloniale Andere hier ermächtigt, auch einmal auf der Bühne des Enzyklopädieartikels aufzutreten und eine kleine Sprechrolle einzunehmen? Ist das die adäquate Textfigur für das aufklärerische Anliegen, seine eigene Weltsicht auch zu relativieren und eine Pluralisierung von Weltsichten zuzulassen? Ob es sich hier um Redeermächtigung oder eher um Redeerteilung handelt, ist in der Forschung umstritten.17 Die Redeinszenierung kann auf der einen Seite verstanden werden als ein »zu Wort Kommen«, d.h., der koloniale Andere fungiert als gleichwertiger Dialogpartner (oder zumindest als Sprecher), als Stimme aus der kolonialen Welt außerhalb Frankreichs und Europas. Auf der anderen Seite kann die Inszenierung der Rede des kolonialen Anderen verstanden werden als ein »Sprechen durch«, d.h., dass der koloniale Andere nur eine Art Handpuppe ist, schlicht als alteritärer, unterentwickelter Exot karikiert oder als Instrument zur Selbstkritik benutzt wird (im Sinne des bon sauvage).

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Vgl. weitere Forschungen zu postcolonial enlightenment bspw. Carey, Daniel/Festa, Lynn: The Postcolonial Enlightenment, 2009; D’Aprile, Iwan-Michelangelo: Aufklärung global, 2016, S. 159-164; Sala-Molins Louis: Dark side of the light, 2006; Eze, Emmanuel Chukwudi: Race and the enlightenment, 1996.

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Insbesondere diese zweite, gewissermaßen »subalterne« Lesart der enzyklopädischen Redeinszenierung liegt aus postkolonialer Perspektive im Sinne Spivaks18 zunächst auf der Hand. Die Redeinszenierungen des kolonialen Anderen, auch in der direkten Rede, finden stets unter der Regie des enzyklopädischen Erzählers statt. Die Rede ist immer eingebettet in den explizierenden, kommentierenden oder bewertenden Diskurs der enzyklopädischen Erzählinstanz. Eine veritable Rücknahme der Erzählinstanz, ein Beiseite-Treten, um den kolonialen Anderen sichtbar werden und zu Wort kommen zu lassen, scheint es auf den ersten Blick nicht zu geben. Demgemäß bringen diese anderen Stimmen die Position des philosophe zu keinem Zeitpunkt nachhaltig ins Wanken; die enzyklopädischen Artikel kommen stets zu einem Fazit, einem kritischen Schluss, nicht immer zu einer definitorischen Entscheidung, immer aber zur epistemologischen Selbstbestätigung. Kurz gesagt: Das, was der Enzyklopädist wissen kann, das scheint spätestens seit der kolonialen Expansion zwar relativierbar; dass er aber über das gültige (und wahre) Wissen verfügt, entscheidet und urteilt, das scheint unverhandelbar. Für die Konstruktionen kolonialer Alterität bedeutet dies also: Ob als Edler Wilder idealisiert oder als Barbar dämonisiert: Stets wird der Andere also – so scheint es – in eine kolonialistische, eurozentristische und egozentristische Diskurslogik eingebaut:19 als selbst erschaffenes Spiegelbild des europäischen philosophe, aufklärerisches Konstrukt, zivilisatorisches, phylogenetisches Phantasma, souveräne, literarische Fiktion und Antithese zur europäischen Machtposition zugleich. Oder doch nicht?

3.

Zwischenfiguren des kolonialen Anderen: Ambivalente Unordnungen

Ich habe Herausforderungen des kolonialen Anderen an die Denkkategorien des europäischen philosophe angekündigt; aber bisher lediglich Wissens- und Textfiguren kolonialer Alterität beschrieben, welche sich relativ ungebrochen in das aufklärerische Wissensregime einfügt. Ich habe narrative Verfahren skizziert, in de18 19

Spivak, G. C.: »Can the Subaltern Speak?«, 1987,S. 271-314. Nun scheint es gerade in der Zeit der Aufklärung kein Zufall zu sein, dass der Barbar vermehrt auftaucht. Da gerade in jener Zeit jegliche Sinn stiftenden Systeme angegriffen und kritisiert werden, liegt für Bitterli die »Vermutung […] nahe, daß die Beschäftigung mit dem Barbaren und seinem attraktiven Doppelgänger [der edle Wilde] in Zeiten an Interesse gewinnt, da der Mensch sich in seiner eigenen Kultur nicht mehr fraglos geborgen fühlt«, Bitterli, Urs: Die Wilden und die Zivilisierten, 2004, S. 374). »Jedenfalls ist auffällig«, fährt Bitterli fort, »wie die Beschäftigung mit dieser Thematik genau zu dem Zeitpunkt, da wohlbegründete, stabile Weltideen der Klassik der radikalen Infragestellung der Aufklärungsphilosophen weicht, erhöhte Aktualität gewinnt« (ebd.).

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nen Macht und Ohnmacht eindeutig zugewiesen zu sein scheinen. Es sieht nicht nach Widerstand, nach Gegendiskursen oder gar Streit aus. Die Herausforderungen, die der koloniale Andere für das enzyklopädische Projekt bereithält, werden jedoch dann sichtbar, wenn man den Kolonialdiskurs einer zweiten Lektüre unterzieht und dekonstruiert. Eine solche Lektüre nimmt die kulturellen Differenz- oder Bruchlinien innerhalb kolonialistischer Diskurse und Selbstbilder in den Blick. Mit Said gesprochen kommt hier eine kontrapunktische Lektüre zum Einsatz. Said legt nämlich in Culture and Imperialism Modellanalysen britischer und französischer kanonischer Texte des 19. und 20. Jahrhunderts vor, in denen er das Ausgeschlossene, Verstummte, Marginalisierte wie eine kontrapunktische Stimme zum Klingen bringen will. Said will das europäische kulturelle Archiv gegenlesen, »not univocally but contrapuntally, with a simultaneous awareness both of the metropolitan history that is narrated«.20 Innerhalb dieser Gleichzeitigkeit von Imperialismus und Widerstand gegen ihn sind für Said kulturelle Identitäten demgemäß »kontrapunktische Phänomene, denn es ist nun einmal so, daß Identität nicht aus sich selbst und ohne Widerparts, Negationen und Oppositionen existiert: Griechen brauchen Barbaren, Europäer brauchen Afrikaner, Orientalen usw.«21 Said räumt Literatur und Kultur eine besondere Rolle im Machtsystem des Imperialismus ein: Er sieht sie nicht als abgetrennte Sphäre, in der imperialistische Phänomene mimetisch abgebildet oder eben im Sinne ästhetischer Autonomie nichts damit zu tun haben wollen. Literatur und Kultur sind immer immanent mit den Ebenen von Macht und Politik verbunden.22 Dies allein macht aber noch nicht die Schlagkraft der Said’schen Analysen europäischer Romane aus. Bemerkenswert ist seine Annahme, dass Kunst bzw. Literatur und Imperialismus in einem wechselseitigen, sich bedingenden Verhältnis stehen und sich gegenseitig legitimieren. Said behauptet, dass es ohne den Imperialismus23 keinen europäi-

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Said, Edward: Culture and Imperialism, 1994, S. 59. Daher müssen auch jene Gleichzeitigkeit von Imperialismus und der Widerstand gegen ihn bzw. die gewaltsamen Ein- und Ausschlussverfahren stets in ihrer Wechselwirkung in den Blick genommen werden. Said betont die Dialektik von Kolonialismus und Antikolonialismus, von Macht und Ohnmacht und betrachtet etwa Alteritätskonstruktionen »[…] as contrapuntal ensembles, for it is the case that no identity can ever exist by itself and without an array of opposites, negatives, oppositions: Greeks always require barbarians, and Europeans Africans, Orientals etc.«, ebd., S. 52. Said [1993] 1994, S. 93. Vgl. ebd., S. 14. Zur Differenzierung von Kolonialismus und Imperalismus führt Said folgende Kriterien an: »As I shall be using the term, ›imperialism‹ means the practice, the theory, and the attitudes of a dominating metropolitan center ruling a distant territory; ›colonialism‹, which is almost always a consequence of imperialism, is the implanting of settlements on distant territory« (Said, Edward: Culture and Imperialism, 1994, S. 9).

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schen Roman gegeben hätte24 und mehr noch: Ohne den europäischen Roman hätte es auch den Imperialismus in dieser Form nicht gegeben. Der Roman also treibt die Ideen des Imperialismus legitimierend voran: »Empire follows Art and not vice versa«.25 Mit dieser Literatur wäre nun Said zufolge in einer kontrapunktischen Lektüre folgendermaßen vorzugehen: »Deshalb müssen wir die großen kanonischen Texte, ja vielleicht das ganze Archiv der modernen und vormodernen europäischen und amerikanischen Kultur mit dem Vorsatz lesen, alles, was in solchen Werken stumm, nur marginal präsent oder ideologisch verzerrt dargestellt ist, herauszustellen, zu bezeichnen und ihm Nachdruck und Stimme zu verleihen […]«.26 An dieser Stelle wird ein Problem bereits recht deutlich: Eine textanalytische Methode im streng wissenschaftlichen Sinne ist das nicht.27 Seine Vorgehensweise beschreibt Said daher eher als Perspektive (»read […] with an effort«, »give emphasis and voice to what is silent«28 ). Diese Perspektive entwickelt Said anhand der Metapher des Kontrapunktes, die er aus der Musikwissenschaft entleiht.29 Neben

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»To regard imperial concerns as constitutively significant to the culture of the modern West is, I have suggested, to consider that culture from the perspective provided by anti-imperialist resistance as well as pro-imperialist apology. What does this mean? It means remembering that Western writers until the middle of the twentieth century, whether Dickens and Austen, Flaubert or Camus, wrote with an exclusively Western audience in mind, even when they wrote of characters, places, or situations that referred to, made use of, overseas territories held by Europeans.« (ebd., S. 78). Zur kontrapunktischen Lektüre vgl. weiterhin Dunker, Axel: Kontrapunktische Lektüren, 2008. Said, Edward: Culture and Imperialism, 1994, S. 13. Ebd., S. 112. Dubiel und Dunker haben sich kritisch mit der Frage auseinandergesetzt, wie verschwiegene Stimmen überhaupt aufgefunden und artikuliert werden können, ohne mit einer Lesehaltung eines Generalverdachts oder in seinen Worten: denunziatorisch vorzugehen. Dubiel betont, dass nicht jede Leerstelle im Text entweder subjektivistisch (Dubiel nennt dies eine »›paranoische Lektüre‹« (Dubiel, Jochen: Dialektik der postkolonialen Hybridität, 2007, S. 218) oder gar »›paranoische Spekulation‹«, ebd., S. 219) oder (kultur-)kolonialistisch ausdeutbar ist, sondern textimmanent und textadäquat belegt werden muss (vgl. ebd., S. 218). Dubiel fordert nachdrücklich eine textindizienindizierte Lektüre und Interpretation: »Strebt er [der Leser, K.S.] eine ›kontrapunktische Lektüre‹ an, darf er in solcher Absicht also getrost mit dem Wissen um die Mechanismen des kolonialen und die Probleme des postkolonialen Diskurses an die Texte herantreten, muß sich aber davor hüten, es in sie hineinzulegen« (ebd., S. 219). Said, Edward: Culture and Imperialism, 1994, S. 66. Vgl. dazu die Erläuterungen von Honold, Alexander: Poetik des Fremden?, 2014, S. 86ff. und Osthues, Julian: Literatur als Palimpsest, 2017, bes. S. 93f.

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der Hauptstimme, die der Imperialismus machtvoll übernimmt, wird eine zweite Stimme bzw. werden mehrere Stimmen hörbar, die als Gegenstimme(n) den imperialen Verlautbarungen unterliegen. Es gilt, diese unterdrückte Stimme herauszuhören oder anders formuliert: den Text aufzuschließen für all das, wogegen der Autor ihn abgedichtet hat (»In reading a text, one must open it out both to what went into it and to what its author excluded«).30 Das Ergebnis der kontrapunktischen Lektüre soll für Said keine nunmehr isolierte Gegeninterpretation zu bestehenden Textanalysen sein, sondern es geht ihm darum, bestehende Analysen zwar zu ergänzen, jedoch nicht zu beeinträchtigen oder zu ersetzen, um so die Rezeption umzuschreiben und zu vervollständigen.31 Doch wo lassen sich inmitten souveräner Bestimmungen und Einordnungen des kolonialen Anderen inhärente Fragilität und Instabilität kolonialistischer Wissensordnungen finden? Ich möchte dafür zwei Spuren verfolgen. Zum einen kann man sich auf die Suche nach den explizit widerständigen Figuren machen: dem Rebellen, dem Charlatan, dem Jongleur, aber auch den Zwischenfiguren der Tiermenschen und Phantasievölker, der Zwerge und Lotophagen, der Mulatten und des »nègre blanc«, des Hermaphroditen etc.pp. In diesen Encyclopédie-Einträgen werden schillernde und rätselhafte Figuren gezeichnet wie freiwillige Menschenopfer, Fanatiker oder Atheisten, sich entziehende Nomaden, schweigende oder allophone Andere, wissende Magier und Betrüger oder aber wahre Zwischenwesen. Sie bestätigen und negieren gleichzeitig die europäische Vergleichsfolie. Faszination und Abwehr werden ex aequo in den Beschreibungen artikuliert und so normative, anthropologische und definitorische Entscheidungen oftmals in der Schwebe gehalten. Noch näher aber an der von Said entwickelten Kontrapunktik liegt eine Relektüre der vermeintlich kolonial-autoritären Artikel. In dieser kontrapunktischen Lektüre zeigt sich dann zum einen, dass der koloniale Andere gar nicht mehr nur in den Einträgen zur kolonialen Welt, sondern inmitten europäischer Wissenshorizonte steckt; wie in den Artikeln zu Europa oder zur Wolle. Zum anderen bröckelt die definitorische Autorität, mit der die kolonialen Anderen kategorisiert werden. In einem close reading erkennt man dann bspw. im Falle der Hottentotten, dass die rassisch und rassistisch markierten Hottentotten in Formulierungen gekleidet werden, die gar keine definitorische Souveränität transportieren, sondern mit Wendungen der Annäherung32 (»rapprocher«) operieren und des »fast«: also des »à

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Said, Edward: Culture and Imperialism, 1994, S. 67. »I think of such a reading as completing or complementing others, not discounting or displacing them« (ebd., S. 95). Wie etwa im Eintrag zum »Mulatre«: »On pourrait les regarder dans la race des noirs comme une espece qui tend à se rapprocher des blancs, ainsi que dans la race des blancs, […] comme une espece qui tend à se rapprocher des noirs.« Jaucourt, Louis de: »Mulatre«, 1765, S. 853.

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peu près« oder des »pas tout-à-fait«. Diese Formulierung ist ganz ähnlich denen, die Bhabha als »quite but not white«-Formulierung33 für seine Ausführungen zur kulturellen Differenz, zu Hybridität und Mimikry fruchtbar gemacht hat. Der Kontrapunkt wäre demgemäß keine antirassistische Gegenrede, sondern die sensible Lektüre der Unsicherheit und des Ausweichens des Enzyklopädisten, der im Kontakt mit dem afrikanischen Anderen nicht anders kann, als vage zu bleiben oder aber massiv auf der rassistischen Degradierung zu beharren. Legt man die kontrapunktische Lektüre an die Verfahren der Redeinszenierung nochmals an, dann zeigt sich, dass das Schweigen des kolonialen Anderen gar keine so eindeutig ohnmächtige, domestizierte Aphasie ist, die der Etablierung der Sprach- und Wissensmacht des philosophe dient. Kontrapunktisch bringt das Schweigen des kolonialen Anderen – oder das Nicht-Wissen über ihn – den enzyklopädischen Erzähler durchaus in eine schwierige Lage. Und so weicht er aus: Mit zahlreichen naturgeschichtlichen Informationen, mit zahlreichen Warenlisten und mit zahlreichen Gedankenschleifen über die Wahrscheinlichkeit der Informationen aus den Quellen, über konkurrierende Lehrmeinungen etc. flankiert, vielleicht sogar: überdeckt der enzyklopädische Erzähler dieses Schweigen, damit überhaupt Wissen entstehen kann. Der enzyklopädische Erzähler legt in vielen Artikeln durch die kritische Reflexion über Informationen oder über den eigenen Wissenshorizont (selbst-)kritisch dar, dass die Übersicht über das Wissen nicht mit Allwissenheit gleichzusetzen ist. Dies ist eine wichtige Dimension der enzyklopädischen Programmatik und der Aufklärung insgesamt: Wissen über die Welt zu erlangen bedeutet, die eigenen Wissensgrenzen immer vor Augen zu haben und dann mithilfe anderer Experten, mithilfe von kritischer Reflexion oder schlichter Benennung der eigenen epistemischen Beschränkungen jenes Wissen immer mehr zu erweitern. Narratologisch gesprochen muss sich die aufklärerische Selbstkritik von der Nullfokalisierung in die interne Fokalisierung zurückziehen. Genau diese Attitude soll den Aufklärern ja die Hybris (oder den theologischen Nimbus) von Allwissenheit nehmen und die Selbstermächtigung über Andere, die unwissend sind. So versteht es sich für den enzyklopädischen Erzähler fast von selbst, dass er nicht in die Innenwelt der kolonialen Anderen blicken und von dort berichten kann. Aber das bedeutet auch, dass diese Innenwelten des kolonialen Anderen dem enzyklopädischen Erzähler auch verschlossen, rätselhaft und unheimlich bleiben. Und damit ist das Monologische in der Encyclopédie, wenn man es einmal mit Bachtin beschreiben wollte, wesentlich unsouveräner und vielstimmiger, als es zunächst den Anschein hatte. Und damit ist die eigene Horizontbeschränkung des Enzyklopädisten eben keine souveräne Geste mehr, sondern eine, die in der Diskursivierung im enzyklopädischen Artikel zu Momenten der Verunsicherung führt. Diese 33

Vgl. Bhabha, Homi K.: The Location of Culture, 2007, S. 157f.

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Momente sind dann kein ausformulierter Gegendiskurs, keine widerständige laute Stimme, sondern inhärente Differenzlinien, eine Dekonstruktion von Machtartikulationen. Diese Inkongruenzen innerhalb des Kolonialdiskurses sind schon mit unterschiedlichen Termini beschrieben worden. Die postkoloniale Theorie spricht hier etwa im Sinne Bhabhas von kultureller Differenz und Hybridität (Mimikry, Third Space), in Anlehnung an Deleuze und Guattari von Palimpsesten, kulturphilosophisch von Ambiguität,34 literaturtheoretisch von Dialogizität/Polyphonie mit Bachtin; in meiner Terminologie zeigt sich hier eine Ambivalenz; in der Perspektive der Streitkultur wäre das Phänomen als ein Selbst-Streit-Gespräch oder Artikulationsformen ›diffärenter‹ Streitkulturen zu benennen. Für meine Forschungen habe ich einen heuristischen Ambivalenzbegriff angelegt, der sich grosso modo aus zwei Quellen speist: Zum Ersten lehnt er sich an die alteritäts-phänomenologische und postkoloniale Theoriebildung an, die (wiederum von der Psychoanalyse inspiriert) mit dem Ambivalenzbegriff auf die (durchaus widerständige) Dekonstruktion kolonialer Binarismen abzielt. Zum Zweiten rekurriert mein Ambivalenzbegriff auf jenen von Bauman, der ihn in Moderne und Ambivalenz als Schlüsselbegriff der Moderne-Analyse und sogar an den Anfangspunkt der Moderne setzt.35 Damit ist der Terminus der Ambivalenz ein moderneimmanenter und -kritischer Begriff zugleich. Die Unbehagen auslösende Ambivalenz ist bei Bauman mit dem Bestreben der westlichen Moderne verknüpft, Unordnung und Chaos durch Systematisierung und Klassifizierung Herr zu werden. Dass diese Systematisierung in der Encyclopédie am kolonialen Anderen nun scheitert, dass in der Encyclopédie Wissen konstruiert und erzählt, statt definiert und objektiv geschildert wird, transformiert sich in der kontrapunktischen Lektüre von einer Möglichkeit zu einer Notwendigkeit. Die Fremdkonstruktionen sind keine (mimetischen) Abbilder oder objektiven Wiedergaben vermeintlich verlässlicher Quellen. Sie sind komplexe, ideologisch aufgeladene Konstruktionen. Ihre Darstellungen erfordern narrative Verfahren, die kein bloßes Dekor sind, die auch nicht nur argumentativ-logisch zur Persuasion der Leserschaft eingesetzt werden, sondern die – wissenspoetologisch und postkolonial gesprochen – den philosophe geradezu zwingen, zu erzählen, auszuweichen, eigene Bilder zu kreieren und sich damit immer selbst mit in Szene zu setzen. Die Konstruktionen des kolonialen Anderen sind auf relationale und reziproke Weise stets mit den Selbstkonstruktionen des europäischen philosophe verknüpft. Der Mensch aus der kolonialen Welt ist damit kein schlichter Wissenszuwachs und

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Vgl. Berndt, Frauke/Kammer, Stephan: Amphibolie – Ambiguität – Ambivalenz, 2009, hier S. 11-14. Vgl. Bauman, Zygmunt: Moderne und Ambivalenz, 2005.

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spannender Importartikel, sondern dem europäischen Selbstverständnis schon inhärent, er ist Prüfstein für die Werte und Ideale der Aufklärung und nicht zuletzt auch Experimentierfeld für die Grenzzonen zwischen Literatur und Wissen. Weiterhin aber ist die Encyclopédie damit nicht nur Kompendium und Wissensspeicher, sondern generiert geradezu Wissen.

4.

Abschluss und Ausblick. Wissen im Widerstreit

Wenn man nun versucht, sich mit der kontrapunktischen Lektüre nach Said und einer postkolonialen Ambivalenz dem im vorliegenden Sammelband diskutierten Konzept von Streitkulturen zu nähern, dann wirft das wiederum neue Fragen auf. Ich möchte drei Problemaufrisse skizzieren: 1. Die kontrapunktische Lesart ist machtkritisch nicht ganz unproblematisch, läuft die kontrapunktische Analyse von Widerstandsmomenten doch Gefahr, entweder die Unterdrückung und veritable Ohnmacht auf Seiten der Subjekte als Wissens»objekte« zu bagatellisieren oder aber deren Präsenz in der Encyclopédie als Konterdiskurs zu überhöhen. Abgesehen davon, dass sie durch das etwas vage Detektieren von ungehörten als überhörten Stimmen Gefahr laufen könnte, in eine »denunziatorische« Lektüre zu kippen (Dunker36 ) oder gar als »paranoische Lektüre« (Dubiel37 ). Mein Begriff der Ambivalenz versucht hier keine normative Lesart zu favorisieren, sondern in der analytischen Beschreibbarkeit der Gleichzeitigkeit und der relationalen Verstrickung einen Mehrwert zu generieren. Aber ist das dann noch als Streit zu beschreiben? 2. Ein kontrapunktisches Zerwürfnis ist m.E. vorstellbar, ein kontrapunktischer Konsens muss in sich brüchig, kann höchstens ephemer sein – und im schlimmsten Falle ist er illusorisch oder gewaltvoll. Und damit ist es fraglich, ob der Begriff in kolonialen Zusammenhängen zielführend ist, oder ob man sich den Vorwurf kolonialer Machtlogiken gefallen lassen muss, wenn man konsensuelle Szenarien annimmt. 3. Mit dem Ambivalenzbegriff ist nicht nur eine Art ›Phänomenkontur‹ dafür angeboten, was man bei einer kontrapunktischen Lektüre aus dem Text herausarbeiten kann. Ambivalenz beharrt – und dies nun in kritischer Fortschreibung der kontrapunktischen Lektüre – auf ephemeren, instabilen, schmerzhaften Reibungseffekten in kulturellen Kontaktzonen, die wesentlich komplexer sind, als nur von Imperialismus und einem Widerstand gegen ihn zu sprechen. Lässt sich das auf das Konzept von Streitkulturen übertragen, das im vorliegenden 36 37

Dunker, Axel: Kontrapunktische Lektüren, 2008, S. 171. Dubiel, Jochen: Dialektik der postkolonialen Hybridität, 2007, S. 218.

Wissen im Widerstreit

Band ja zwischen Konsens und Zerwürfnis als Endpunkte von Streitdynamiken angenommen wird? Wäre es möglich, dass die Ambivalenz in das Konzept von Streitkulturen eine Form postdialektischen Denkens einführt, das nicht in Parallelwelten oder in parallele Monologe (Koschorke38 ), sondern weiterhin in Kontaktzonen mündet? Anders als in der klassischen Dialektik39 müssten sich weder Reihung von Widersprüchen noch eine teleologische Synthese ergeben, sondern könnte das Streitgespräch das Feld von Konsens und Zerwürfnis auf Spannung halten und gleichzeitig Differenzlinien in die Kontrahenten selbst einziehen. Dann wäre Streit nicht nur das das Salz in den Debatten und Diskussionen, das diese auf besondere Weise würzt, sondern das diese grundlegend prägt und Streitpositionen verhandelbar macht.

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Koschorke, Albrecht: Wahrheit und Erfindung, 2012, S. 100. Im gleichnamigen Eintrag in der Encyclopédie: »DIALECTIQUE, s.f. (Philosophie.) l’art de raisonner & de disputer avec justesse.« N.N.: »Dialectique«, 1754, S. 934b.

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Wissen im Widerstreit

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E. Rostands Cyrano de Bergerac (1897) als metafiktionales Streitstück Deutungsmachtverzicht des Autors im Konfliktfeld literarischer und bürgerlicher Paradigmen des späten 19. Jahrhunderts Stephanie Wodianka

Cyrano de Bergerac ist ein bemerkenswertes Theaterstück: Es scheint nicht in seine Zeit zu passen, spielt es doch im absolutistischen Frankreich des 17. Jahrhunderts, zu Zeiten jener Klassik, von der sich die Romantiker des 19. Jahrhunderts abzugrenzen trachteten. Dabei stellt Edmond Rostand den damals relativ unbekannten Dichter Cyrano de Bergerac (1619-1655) als Protagonisten in den Mittelpunkt – was also sollte die Zuschauer daran interessieren? Rostand selbst fürchtete den Misserfolg seines Stückes und entschuldigte sich vor der Erstaufführung am 28. Dezember 1897 beim Schauspieler der Hauptrolle dafür, ihm dieses zum Scheitern verurteilte Unternehmen zugemutet zu haben: »Pardon! Ah! pardonnez-moi, mon ami, de vous avoir entraîné dans cette désastreuse aventure!«1 Entgegen seiner Befürchtungen nahm das Publikum das Stück jedoch begeistert auf, und Cyrano de Bergerac wurde innerhalb von drei Monaten 400 Mal im Pariser Théâtre de la Porte Saint Martin gespielt.2 Noch heute zählt diese comédie héroïque Rostands zu den bekanntesten Theaterstücken der französischen Literaturgeschichte, und nicht zuletzt mehrere Verfilmungen3 haben zur Popularität des Dichterprotagonisten mit der großen Nase beigetragen.4 1 2 3

4

Gérard, Rosemonde: Edmond Rostand, 1935, S. 14. Zum Erfolg des Stückes s. Simard, Jean-Claude: »Cyrano«. Les dessous d’un accueil triomphal, 1996, S. 238. S. v.a. die US-amerikanische Produktion von Jean-Paul Rappenau (1990) mit Gérard Depardieu in der Hauptrolle. Zur cinematographischen Geschichte Cyranos s. auch Barrot, Olivier: Ce que le cinéma a retenu de Rostand, 2009, S. 131-134. Vordergründig lässt sich dieser Erfolg, der sich auch weit über Paris hinaus zeigte und sich in zahlreichen Übersetzungen niederschlug, mit der im Fokus stehenden romantischen Liebesgeschichte erklären: Das an das realistische Theater gewöhnte Publikum mag nach einer ergreifenden, dabei aber nicht oberflächlichen Herz-Schmerz-Geschichte gedürstet haben –

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Im Folgenden soll jedoch eine Erklärung für das Erfolgspotential des Cyrano de Bergerac plausibel gemacht werden, die Rostands Theaterstück in einen in der einschlägigen Forschung bisher unberücksichtigten kulturgeschichtlichen und literaturtheoretischen Kontext stellt und für diesen Band einschlägig macht: »Cyrano de Bergerac« ist ein Streitstück, das nicht nur durch den degensicheren Protagonisten, sondern auch metafiktional Konflikte auf die Bühne bringt. Die tiefgründige Aktualität des Stückes basierte auf der Problematisierung von Autorschaftskonzepten, die es vor dem Hintergrund der Werte und Normen, die das bürgerliche 19. Jahrhundert im Zuge der Industrialisierung und Kapitalisierung debattierte, neu auszuhandeln galt.5 Bürgerlicher Leistungsgedanke, Eigentumsrecht, Nützlichkeitspostulat, (sozialer) Gerechtigkeitsbegriff, Freiheitsideal und nationale Identitätsfindung stellten als ideengeschichtliche Parameter des industrialisierten und kapitalisierten Frankreich das (Selbst)Verständnis von Autoren und Autorschaft, aber auch das der Leser vor neue Herausforderungen. Die Zuschauer konnten sich mit dem von Liebesdingen getriebenen Protagonisten Cyrano und seinem Konkurrenten Christian sowie der umworbenen Roxane auch deshalb so gut identifizieren, weil deren Schicksal – trotz der klassischen Kulisse – bürgerliche Herausforderungslagen im Umgang mit neu gewonnenen bzw. neu verhandelten beliefs des 19. Jahrhunderts am Autorschaftskonzept kristallisieren lässt. Die comédie héroïque von Rostand führt die Vielfalt kultureller Erscheinungsformen von Streit vor Augen. Die exponierten und alle fünf Akte durchziehenden Wort- und Waffengefechte des Protagonisten Cyrano sind nicht nur klassisches Lokalkolorit und nostalgisch-troubadoureske Effektinszenierung, sondern sie heben die im Drama verhandelte Konfliktlage im Spannungsfeld zwischen literarischen und gesellschaftlicher Grundüberzeugungen performativ auf die Bühne. Dass es im Stück um die Historizität und Dynamik kultureller Konzepte geht, wird von Beginn an augenfällig gemacht. Nicht nur durch das auch für die Zuschauer des 19. Jahrhunderts fremdartige Setting im 17. Jahrhundert, sondern auch durch die permanente Juxtaposition von körperlichen und sprachlichen Formen der Auseinandersetzung: Fechtkunst und Wortkunst. Die Historizität und kulturgeschichtliche Modifikation von Autorschaftskonzepten wird durch die offensichtlich gemachte Historizität von Praktiken des Streits unterstrichen, indem gewaltfreie sprachbasierte und gewalthaltig-körperliche Auseinandersetzung ostentativ vorgeführt werden. Beide Formen der Auseinandersetzung sind kulturell domesti-

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insofern war das Stück in seiner scheinbaren Epigonalität ›aktuell‹. In diesem Sinne deutet auch schon Schulz-Buschhaus den Erfolg des scheinbar unzeitgemäßen romantischen Versdramas (s. Schulz-Buschhaus, Ulrich: Rostand, Cyrano de Bergerac, 1971, S. 70f.) Vgl. dazu auch Vogel, Géraldine: Rostand, entre théâtre naturaliste et théâtre idéaliste, 2012, S. 99-118. Zur Geschichte und Dynamik des Autorschaftskonzepts in Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft s. Jannidis, Fotis et al.: Rede über den Autor an die Gebildeten unter seinen Verächtern Historische Modelle und systematische Perspektiven, 1999, S. 1-35.

E. Rostands Cyrano de Bergerac (1897) als metafiktionales Streitstück

ziert, sowohl rhetorischer Disput als auch Duell sind literarische Symbolformen des Streits. Über die Zulässigkeit bzw. juristische Sanktionierung des damals noch häufig realiter praktizierten Duells als ›ritterlicher‹ Streitform wurde in Kontinentaleuropa im späten 19. Jahrhundert jedoch noch heftig gestritten.6 Wenn Rostand in Cyranos berühmtem Refrain »À la fin de l’envoi, je touche.«7 Fechtkunst und Dichtkunst performativ zusammenfallen lässt,8 plädiert er nicht ahistorisch für deren Statusgleichheit, sondern stellt metafiktional vor Augen, dass Dichtung und Fechten in einer Hinsicht ›eins sind‹: Sie sind Formen und Gegenstand von Auseinandersetzungen, die im Kontext sich wandelnder kulturgeschichtlicher Kontexte unterschiedliche Bewertungen erfahren und Konnotationen tragen. Objekt des Streits in Cyrano de Bergerac ist vordergründig die schöne Roxane, hintergründig aber die Frage, was eigentlich im Kontext sich historisch wandelnder, nunmehr bürgerlich-kapitalistischer Wertesysteme der Autor und sein Werk (noch) wert ist – und wie es mit den Rechten der Leser im Verhältnis zur Deutungsmacht (und Deutungspflicht) des Autors steht. Rostand verweist von Beginn des Dramas an überdeutlich auf die grundsätzlich metafiktionale Tiefendimension seiner comédie héroïque, indem er es mit einem »Theater im Theater«9 beginnen lässt und somit ein reflexives Verhältnis zur eigenen Machart mitinszeniert. Die Figur Cyrano de Bergerac wird den Zuschauern schon im ersten Akt unter dem Vorzeichen einer selbstreflexiven mise en abyme vorgestellt. Rostand markiert sein Drama als Literatur, die Literatur in ihrem Funktionieren thematisiert: Als vom Publikum zu rezipierendes Artefakt (metonymisch realisiert durch das anonyme Theaterpublikum, aber in individualisierter Form auch durch den Bourgeois und seinen zu initiierenden Sohn), als Performanz (durch die brillante Figurenrede Cyranos, aber auch durch die verfehlte Deklamation Montfleurys) und als Institution in ihrem Verhältnis zu Repräsentation. Zudem als Kanonisierung und Normalisierung (Sehen und Gesehenwerden

6

7 8

9

Gebhard et al. (im Rückgriff auf Simmel) zählen die Sprachlichkeit bzw. Gewaltfreiheit des Streits zu seinen Definitionskriterien (12), machen aber auch auf die Historizität von Streitkulturen aufmerksam. Rostands Stück reflektiert in diesem Sinne auch, dass die Grenzverläufe des Streits in Bezug auf körperliche Gewalt und deren kulturell geregelten Einsatz historisch dynamisch sind. Vgl. Gebhard, Gunther et al.: Eine Einleitung, 2009, S. 12. Rostand, Edmond: Cyrano de Bergerac, 1996, I, 4, V. 416, 424, 432, 437. Wörtlich ins Deutsche übersetzt lautet dieser Refrain, der von Cyrano im laufenden Gefecht mit dem Vicomte wiederholt gesprochen wird »Am Ende des Abgesanges [der Kanzonenstrophe] treffe ich«. »toucher« meint im Französischen sowohl das »Treffen« im Fechten als auch das »Berühren« bzw. Berührtsein des Herzens in der/durch die Dichtung, so dass die Zweideutigkeit des Wortes auf die zweifache, in dieser Szene performativ in eins fallende Begabung Cyranos verweist: Wortkunst und Fechtkunst. S. dazu Bourgeois, Jean: Cyrano de Bergerac d’Edmond Rostand, 2008, S. 607-620.

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im Theater, Mitglieder der Académie Française im Publikum, bewundernde Nennung bekannter Autoren im Gespräch mit dem Knaben) und als Handwerk (durch den an den Fingern Verse zählenden Bäcker-Dichter Ragueneau). Damit wird sein das Stück beherrschende Schicksal abstrahierend erhoben zur exemplarischen Problematisierung einer Grundfrage von öffentlichem Gewicht, die den notwendigen ›tragischen‹ Gehalt in der comédie héroïque stellt: Was bedeutet Autorschaft, welche Rechte, Pflichten, Legitimationen und Implikationen hat sie in der industrialisierten, kapitalisierten, nationalisierten Moderne? Welche Grundfesten der Literatur und des literarischen Systems werden durch das bürgerlich-kapitalistische belief system der Moderne berührt oder sogar bestritten?

1.

Fallhöhe des Helden: Autorschaft und/als Eigentum

Im ersten Akt des Stückes wird Cyrano als kompetenter und in gesteigertem Maße sichtbarer Dichter aufgebaut. Sein dichterisches Können zeigt er gleich zwei Mal: In der sogenannten Nasentirade und der sogenannten Fechtballade.10 Improvisation, Variationsfähigkeit und Spontaneität zeichnen ihn als Dichter aus: Er trifft den Ton im Streit, vermag reflektiert alternative Tonlagen durchzuspielen und er wäre in der Lage, seinen Ton je nach Sache, Kontext und Streitgegner anzupassen.11 Er verbindet Handwerk (Verse im paargereimten Alexandriner, rhetorische Variation) mit geistreichem und situationsbezogenem Witz, Sprachkomik mit Tiefsinn. Doch nicht nur seine Kompetenz als Autor wird hier profiliert: Edmond Rostand steigert auch Cyranos Sichtbarkeit als Autor. Cyrano tritt uns mit potenzierter Körperlichkeit entgegen, sie bestimmt sein in der Exposition konstituiertes Wesen ebenso wie sein Esprit. Seine übergroße Nase steht metonymisch für den Autor als Person, als menschlicher Körper mit Gesicht und Biographie. Komplettiert wird dieses Insistieren auf der Körperlichkeit des Autors durch die akzentuierte Schönheit des unwidersprochen schlechten Wortfinders in Liebesdingen, Christian de Neuvillette. Auch er wird über seine physischen Charakteristika wesentlich definiert. Der »Autor hinter dem Text«12 kann rezeptionsästhetisch steigernde (Christian) oder störende (Cyrano) Wirkung entfalten. Das »Gesicht des Autors«13 kann – so zeigt Rostand eindrücklich – sowohl faktisch (z.B. in Cyranos Nasenparade im ersten Akt) als auch als Konstruktion (s. fälschlich angenommene Autorschaft Christians beim Lesen der Briefe) wirksam werden.

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Vgl. Schulz-Buschhaus, Ulrich: Rostand, Cyrano de Bergerac, 1971, S. 75. Verweis auf Einleitung. Zum Verhältnis von Biographie und Literatur in der Literaturtheorie und Literaturgeschichtsschreibung s. Jannidis, Fotis et al.: Texte zur Theorie der Autorschaft, 2000, S. 49-51. Jannidis, Fotis et al.: Texte zur Theorie der Autorschaft, 2000, S. 49-51. [Ibid.]

E. Rostands Cyrano de Bergerac (1897) als metafiktionales Streitstück

Cyrano wird deshalb als potenziert sichtbarer und hochkompetenter Dichter aufgebaut, weil damit sein Verzicht auf Autorschaft umso mehr ins Gewicht fällt: Seine Fallhöhe ist umso größer. Sein Verzicht auf die Autorschaft der Liebesbriefe an Roxane ist eine Sache von großer Bedeutung, sie macht das Stück zur ›Tragödie‹. Streitig gemacht und verhandelt wird in Rostands Stück nicht das individuellkonkrete, sondern das grundsätzliche Verhältnis von Autorschaft und Eigentum. Der Protagonist erklärt das Werk selbst explizit zu seinem idealen Gut: »N’écrire jamais rien qui de soi ne sortît,/Et, modeste d’ailleurs, se dire: mon petit,/Sois satisfait des fleurs, des fruits, même des feuilles,/Si c’est dans ton jardin à toi que tu les cueilles!«14 Das Werk ist ein Besitz, für den besondere Rechte geltend gemacht werden können. Der Protagonist Rostands positioniert sich damit selbstbewusst im Kontext einer rezenten Debatte, die dem zeitgenössischen Publikum nicht ganz fremd gewesen sein dürfte: Das Recht auf geistiges Eigentum war zwar schon in den Jahren 1791-1793 als Teil der bürgerlichen Persönlichkeitsrechte in Frankreich festgeschrieben worden, erlebte aber eine Diskussionskonjunktur gegen Ende des XIX. Jahrhunderts, von der zahlreiche Publikationen zeugen, etwa der Traité théorique et pratique de la propriété littéraire et artistique von Eugène Pouillet aus dem Jahr 1894, der in den Folgejahren mehrfach aufgelegt wurde.15 Um das Thema ›Autorschaft und Eigentum‹ in seiner Streitwürdigkeit zu betonen, führt Rostand ein ganzes Repertoire von grenzwertigen Werkaneignungen vor. So wird der fraglos im Vordergrund stehende freiwillige Verzicht Cyranos auf die LiebesbriefAutorschaft zugunsten des rhetorisch wenig begnadeten Liebhabers Christian von Rostand komplementiert durch eine unfreiwillige Infragestellung urheberrechtlicher Eigentumsverhältnisse im letzten Akt: Kein geringerer als Molière, so berichtet Freund Ragueneau in Cyranos Sterbestunde, habe Cyrano eine ganze Szene gestohlen und in seinen Scapin eingefügt. Cyrano wiegelt ab und wehrt sich nicht gegen dieses Unrecht: »- Molière te l’a pris!/– Chut! Chut! Il a bien fait …/La scène, n’est-ce pas, produit beaucoup d’effet?«16 Rostand modifiziert hier die historische Chronologie, nach der Molière tatsächlich Teile aus Cyrano de Bergeracs Le pédant joué (1654) in seine Komödie Les fourberies de Scapin (1671) unmarkiert übernommen hatte. Die historische postume Text-Enteignung wird im Stück somit in ein fiktionales Plagiat bei lebendigem Leibe transformiert und 14 15

16

Rostand, Edmond: Cyrano de Bergerac, 1996, II, 8, V. 392-395. Vgl. Pouillet, Eugène: Traité théorique et pratique de la propriété littéraire et artistique, 1908. Die Eigentumsrechte des Autors wurden juristisch bereits seit dem 17. Jahrhundert diskutiert, dann aber in der Revolutionsgesetzgebung von 1793 bestritten – sie traten fortan in Widerstreit mit den Besitzansprüchen der Öffentlichkeit an Kulturgütern (Jannidis, S. 8f.). Das Eigentumsrecht des Autors ist keine bürgerliche Erfindung, aber es gerät Ende des XIX. Jahrhunderts zunehmend in den Blick. Rostand, Edmond: Cyrano de Bergerac, 1996, V. 6, V. 257.

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Cyranos Milde, angesichts der ihm von seinen Freunden Le Bret und Ragueneau mit Entrüstung vorgetragenen Information, erscheint dem Publikum umso unverständlicher und sensibilisiert es für die Diskussion um literarische Eigentumsrechte. Diese seien – so wurde um die Jahrhundertwende lebhaft diskutiert – in ihren Urheberrechtsansprüchen möglicherweise von z.B. naturwissenschaftlichen und juristischen Texten zu unterscheiden.17 Bereits im Spannungsfeld von Aufklärung und Französischer Revolution war die Frage aufgekommen, ob Werke im Geiste der Individualisierung von Eigentumsrechten dem Autor bzw. seinen Erben zu gelten hätten, oder aber im Geiste des patrimoine18 dem Kollektiveigentum zugeschrieben werden müssten. Ende des 19. Jahrhunderts war diese Werte abwägende Diskussion keineswegs abgeschlossen. Das von Rostand gebotene Fall-Repertoire nimmt entsprechend auch in den Blick, dass für das dichterische Werk Sonderkonditionen innerhalb des Rechts auf geistiges Eigentum gelten, die mit bürgerlich-kapitalistischen Grundüberzeugungen kollidieren. Diese Sonderkonditionen werden bei Rostand profiliert durch die fast penetrante Intertextualität des Stückes,19 die eine kulturell bzw. literarisch konventionalisierte Aneignung des fremden Wortes umsetzt, die nicht als wertmindernd, sondern als wertsteigernd für das enteignete Gut wirkt. So weist Ragueneau seine banausische Frau Lise im Rückgriff auf die berühmte Fabel von Jean de La Fontaine zurecht, um seine von ihm durchgefütterten Dichterfreunde zu beschützen: »Fourmi! … n’insulte pas ces divines cigales ! ».20 Eine nicht den Bedeutungs-Mehrwert steigernde, sondern diesen mindernde Text-Aneignung 17

18 19 20

So berichtet eine von den Herausgebern Georges Maillard und Charles Claro zur 3. Edition des o.g. Rechtswerkes von Eugène Pouillet im Vorwort abgedruckte Anekdote von einer Sitzung der Internationalen Künstlervereinigung, in der Pouillet mit Nachdruck auf der Unterscheidung zwischen den erbrechtlichen Eigentumsverhältnissen künstlerischer und juristischer Texte bestanden habe: »Un jour qu’on discutait, à un Congrès de l’Association littéraire et artistique internationale, sur le droit moral de l’auteur et les modifications que les héritiers font subir à l’œuvre, comme un des congressistes soutenait qu’après la mort de l’auteur, l’œuvre devait être intangible et qu’il fallait interdire par la loi toutes modifications quelconques, M. Pouillet, qui présidait la séance, se jeta dans la discussion avec vivacité et s’écria: Mais il faut bien que les ouvrages d’enseignement, de science, de droit, soient tenus au courant des idées, des découvertes nouvelles, de la doctrine et de la jurisprudence. Je serais navré si je savais que mes ouvrages doivent mourir avec moi ; et ils ne pourront demeurer vivants que si on les alimente sans cesse d’actualité, si on les rajeunit au fur et à mesure des changements de législation et du développement de la doctrine et de la jurisprudence, en perpétuelle transformation.« (S. VI). S. dazu den einschlägigen Aufsatz von Lüsebrink, Hans-Jürgen: Du »Patrimoine national« au »Patrimoine interculturel«, 2018, S. 97-114. Intertextuelle Bezüge bestehen u.a. zu Shakespeare, Molière, Corneille und Cervantes. S. dazu Bourgeois, Jean: Cyrano de Bergerac d’Edmond Rostand, 2008, S. 610f. Rostand, Edmond: Cyrano de Bergerac, 1996, II, 2, V. 30. Etwas subtiler erfolgt der intertextuelle Verweis auf diese Fabel in Akt V, wenn die Figurenrede von Le Bret den darbenden

E. Rostands Cyrano de Bergerac (1897) als metafiktionales Streitstück

wird in Rostands comédie héroïque hingegen durch die misslungen-deformierende Deklamation des Schauspielers Montfleury thematisiert (s. die Regieanweisung »s’étranglant«21 ). Zugleich unterstreicht Rostand mit der künstlerisch scheiternden Figurenrede Montfleurys die theatrale Deklamation metafiktional als konventionellen, sogar in jedem dramatischen Werk selbst im Sinne seiner Performativität angelegten ›Eigentumsverzicht‹ bzw. Aneignungsappell. Die DeklamationsStimme wird als Medium der Textaneignung zudem hervorgehoben durch den Umstand, dass Cyrano seinem Konkurrenten Christian nicht nur die Autorschaft, sondern auch seine Stimme leiht,22 wie es sich besonders eindrücklich in der berühmten Balkonszene zeigt.23 Dass die Stimme ein Medium ist, an dessen Authentizität des Ausdrucks trotz der scheinbaren Unvermitteltheit auch gezweifelt werden kann, kommt zusätzlich durch die durch Dialekt verstellte Stimme Cyranos im Täuschungs-Gespräch mit Comte de Guiche zum Tragen24 , mit der er den lüsternen Nebenbuhler düpiert und für eine ungestörte Trauung von Roxane und Christian sorgt. Rostand zieht noch weitere Register, um Autorschaft mit dem bürgerlichen Recht auf Eigentum in ein strittiges Verhältnis zu bringen: Cyrano stellt in Akt II, 7 klar, dass er sich jede Zensur oder ›Korrektur‹ seines Werkes durch Dritte verbittet, und sei es Kardinal Richelieu als Gründer der Académie Française persönlich oder um den Preis finanzieller Einbußen.25 Der gedichtete Text ist ein Werk im Sinne einer künstlerischen Entität, das mit Stolz zu verteidigen ist: »Impossible, Monsieur, mon sang se coagule/En pensant qu’on y peut changer une virgule.«26 Und nicht zuletzt sei erwähnt, dass Rostand schon zu Beginn des Dramas im ersten Akt die mögliche Kollision von öffentlich-demokratischem Wunsch nach Teilhabe an Literatur als Kulturgut und von dadurch bewirkter künstlerischer ›Enteignung‹ ins Feld führt: Das launische, laute Publikum verschafft sich gleich zu Beginn des Stückes Gehör und verlangt nach seinem ›Recht auf die Aufführung‹ von La Clorise (I, 4, V. 213f), hat es doch für seine Nutzungsansprüche mit dem Eintrittsgeld bezahlt.

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Dichter Cyrano erneut als Grille erscheinen lässt, die den ganzen Sommer über gesungen hat und nun im Dezember hungern muss (Ibid., V, 2, V. 63-68). Ibid., I, 4, V. 93. S. Mielke, Ulrike: Der Schatten und sein Autor, 1995, S. 169. Rostand, Edmond: Cyrano de Bergerac, 1996, III, 7. Ibid., III, 13, V. 415. Ibid., V. 322-324. Ibid., V. 320f.

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2.

Grenzverläufe der Freiheitsrechte

Cyrano de Bergerac bezieht die Tiefe seiner Problematik und die Aktualität des dramatischen Konflikts für das Publikum der Jahrhundertwende auch aus einer (zur Disposition gestellten) Kollision des Rechts auf Eigentum mit den Freiheitsrechten. Rostands Stück ist vor dem Hintergrund einer im Vergleich zur Aufklärung bzw. der Französischen Revolution festzustellenden Ausweitung des Freiheitsbegriffs im 19. Jahrhundert zu sehen, die ihn sowohl für die konstitutionelle Gesellschaftsordnung als auch für ökonomische Kontexte relevant machte. Cyrano beharrt nicht nur auf seiner individuellen Freiheit im Sinne von Selbstbestimmung (wenn er jedes Mäzenatentum zurückweist), sondern er geht in einem politischgesellschaftlichen Sinne auch deutlich über die Grenzen der Freiheit hinaus: Unter Missachtung aller lautstarken Zuschauer-Forderungen nach ›ihrem‹ Stück stoppt er die Aufführung von La Clorise und vertreibt den deklamierenden Montfleury von der Bühne. Cyranos Recht auf individuelle Meinungsäußerung kollidiert hier ganz offensichtlich mit dem demokratischen Willen des Publikums. Dass er schließlich nach der Nasenparade und der Fechtballade als Held gefeiert wird, kann diesen Umstand nicht ganz heilen, zumal sich später auch noch herausstellt, dass er Montfleury nicht aus ästhetischen, sondern aus persönlichen Gründen nicht als Schauspieler auf der Bühne zulassen wollte. Rostand scheint jede Glättung des Charakters zu vermeiden, um ihn zur umstrittenen Figur zu gestalten: Cyrano ist ein programmatischer Freiheits-Grenzgänger, er bewegt sich auf jener dünnen und kaum sichtbaren Linie, die die eigene Freiheit vom Schaden anderer trennt, und zwar auch im ökonomischen Sinne. Er unterbreitet Christian seine Idee des Autorschafts-Verzichts unter Bedingungen der freien Marktwirtschaft, in der Angebot und Nachfrage den Preis bestimmen. Er hat die dichterische Kompetenz als Ware anzubieten und Christians Leidensdruck durch offensichtliche Inkompetenz bestimmt die Nachfrage und den Preis, welcher von Christian zu bezahlen ist und der darin besteht, selbst nur noch die ›Hülle‹ dichterischen Liebesausdrucks zu sein. Dass der Preis an die Grenzen der Konzessionsbereitschaft geht und somit ein in den Wirtschaftstheorien des späten 19. Jahrhunderts so bezeichneter »Grenzpreis«27 ist, zeigen die von Christian mehrfach geäußerten Skrupel. Cyrano nutzt hingegen skrupellos seine unternehmerische und vertragliche Freiheit, auf seine an das dichterische Werk gebundene Autorschaft zu verzichten und somit das Recht auf geistiges Eigentum auf einen anderen – Christian – zu übertragen. Während Rostand in Akt II einigen Aufwand betreibt, um die Freiwilligkeit des Vertragsabschlusses und die Win-win-Situation für beide Seiten hervorzuheben und so die juristische und moralische Rechtmäßigkeit des Paktes für sein Publikum gerade noch so zu gewährleisten, wird die Freiheit in Akt IV zur Kippfigur: Cyrano 27

Ein bedeutender Vertreter dieser Theorie war in Frankreich der Ökonom Léon Walras.

E. Rostands Cyrano de Bergerac (1897) als metafiktionales Streitstück

schreibt ohne das Wissen von Christian in dessen Namen Liebesbriefe und somit fehlt nunmehr auf Seiten Christians der freie Vertragswille.28 Hinzu kommt auch noch nachweislich (durch die Träne auf dem Brief) die nicht nur formale, sondern auch intentional-expressive Autorschaft Cyranos, die nicht zu den Vertragsbedingungen gehörte: Cyrano hatte in Akt II, 10 ausdrücklich vom »plaisir‹« gesprochen, das ihm diese dichterische »expérience« bereite, und innerliche Distanzhaltung zum Geschriebenen behauptet. Wie alle Dichter habe er solche Verse in der Schublade, wie bei allen Dichtern einer als gehauchtem, nur in eine Namenshülse gekleideten, traumhaft vorgestellten Geliebten gewidmet.29 Sein Text sollte die ›Hülle‹ der Gefühle Christians sein, so wie Christian die äußere Autoren-Hülle für den Text sein sollte: »Prends, tu changereas en vérités ces feintes/Je lançais au hasard ces aveux et ces plaintes: /Tu verras se poser tous ces oiseaux errants./Tu verras que je fus dans cette lettre – prends!/D’autant plus éloquent que j’étais moins sincère«.30 Cyrano hat spätestens bei der nicht autorisierten konkreten ›Füllung‹ der physischen Hülle Christians mit eigenem subjektivem Ausdruck die Grenzen seiner Freiheit zum Schaden Christians überschritten – und damit dem bürgerlichen Publikum das Kollisionspotential von Freiheits- und Eigentumsrechten vor Augen gestellt.

3.

Die ›fibres du cœur‹ der romantischen Dichtung: zwischen Authentizitätsdeutung und Deutungsmanipulation

Damit ist ein weiteres kulturelles Paradigma des 19. Jahrhunderts problematisiert, das allerdings nicht die Ökonomie oder das Recht, sondern die Ästhetik betrifft: Autorschaft und subjektiver Ausdruck. Die Literaturgeschichtsschreibung des späten 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts sieht den literarischen Text als ›Werk‹ des Dichters und deutet ihn als künstlerische Gestaltung subjektiven Empfindens.31 »Erlebnis und Dichtung« werden in einen Bedeutungszusammenhang gerückt.32 Die romantische poésie du coeur der französischen Romantik und die in ihrer Tradition stehende ›Herzensdichtung‹ ist mit dieser Perspektive besonders gefährdet, die Grenzen zwischen lyrischem Ich und Autor-Ich verschwimmen zu lassen. Entsprechend dominiert seit Mitte des XIX. Jahrhunderts (verstärkt durch den Einfluss des Positivismus) eine biographische Interpretationsweise, 28 29

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Entsprechend kündigt Christian in IV, 10 den Vertrag: »Tu vas lui dire tout!« (V. 458). Nous avons toujours, nous, dans nos poches/Des épîtres à des Chloris …. De nos caboches,/Car nous sommes ceux-là qui pour amante n’ont/Que du rêve soufflé dans la bulle d’un nom!… (II, 10, V. 538-541). Rostand, Edmond: Cyrano de Bergerac, 1996, II, 10, V. 542-548. S. Jannidis, S. 10f. Z.B. Dilthey, Wilhelm: Das Erlebnis und die Dichtung, 1906.

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die – insbesondere bei lyrischen Texten – einen Zusammenhang zwischen Erleben des Dichters und dessen ›Ausdruck‹ in der Literatur konstruiert.33 Rostand erweist sich hier als problembewusst, wenn er in Cyrano de Bergerac diese theoretische Grundüberzeugung als fragwürdige Konstruktion entlarvt. Er greift das romantische Ideal der poésie du coeur 34 auf, präsentiert es aber als ambivalent und übernimmt es keinesfalls naiv: Roxane liest die Liebesdichtungen aus der Feder Cyranos als authentische Äußerungen des angenommenen Autors Christian und deklamiert selbst wiederum die Verse des Briefes, um Cyrano von der scheinbaren Liebes-Eloquenz ihres Geliebten zu überzeugen. Die Komik der gespielt-kritischen Einwände Cyranos, die Roxane als Autorschafts-Neid deutet, kleidet Rostands theoretische Infragestellungen in Heiterkeit. Dass innerhalb von 15 Versen fünf Mal das Wort cœur ausgesprochen wird, macht die Szene als kritische Anspielung auf die als Autor-Aussage verstandene Herzensdichtung umso deutlicher.35 Denn das Beispiel Roxane zeigt mit der Rezeption der Briefe als authentische Dokumente des durch sie repräsentierten Autors nur scheinbar, dass die romantische poésie du cœur funktioniert: Es zeigt vielmehr, dass die Mittelbarkeit des literarischen Textes ihn als Gefühls-Dokument in jedem Falle ›fehleranfällig‹ macht und literarischer Gefühlsausdruck immer nur rezeptionsästhetisch konstruierte Authentizität ist. Das bei der Lektüre hinter dem Text vermutete Subjekt, dessen fibres du cœur in der Literatur schwingen,36 ist gar nicht der tatsächliche Autor. Rostands maximale Skepsis gegenüber der Authentizität 33

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Noch bis in die 50er Jahre des 20. Jahrhunderts finden sich Spuren dieser Überzeugung, etwa wenn die romantische Lyrik von Alphonse de Lamartine und das im Gedicht performativ nachvollzogene ›Mitsterben‹ des lyrischen Ich mit der Natur auf die Tatsache zurückgeführt wird, dass Lamartines Gesundheitszustand zur Zeit der Gedichtabfassung schlecht gewesen sei. Diese biographistische Interpretationsweise und Literaturgeschichtsschreibung wurde bereits in den 1920 Jahren von Tomasevskij prominent kritisiert, s. dazu Tomasevskij, Boris: Literatur und Biographie, 2012, S. 49-51. S. programmatisch De Lamartine, Alphonse: Méditations poétiques, 1860, Préface. Cyrano: Il sait parler du cœur d’une façon experte? Roxane: Mail il n’en parle pas, Monsieur il en disserte! Cyrano: Il écrit? Roxane: Mieux encore! Écoutez donc un peu: ›Plus tu me prends de cœur, plus j’en ai!‹ … Cyrano: Peuh! … Roxane: Et ceci: ›Pour souffrir, puisqu’il m’en faut un autre,/Si vous gardez mon cœur, envoyez-moi le vôtre!‹ Cyrano: Tantôt il en a trop et tantôt pas assez./Qu’est-ce que au juste qu’il veut, du cœur? … Roxane: Vous m’agacez!/C’est la jalousie… Cyrano: Hein! Roxane: … d’auteur qui vous dévore!/– Et ceci, n’est-il pas du dernier tendre encore?/›Croyez que devers vous mon coeur ne fait qu’un cri,/Et que si les baisers s’envoyaient par écrit,/Madame, vous liriez ma lettre avec les lèvres! …‹ Cyrano: Ha! Ha! Ces lignes-là sont …hé! He! Mais bien mièvres! Roxane: Et ceci … Cyrano: Vous savez donc ses lettres par cœur? Roxane: Toutes! Cyrano: Il n’y a pas à dire: c’est flatteur!« (III, 2, V. 45-60) Vgl. Lamartines Préface der Médiations poétique: »Je suis le premier qui ai fait descendre la poésie du Parnasse, et qui ai donné à ce qu’on nommait la muse, au lieu d’une lyre à sept cordes de convention, les fibres mêmes du cœur de l’homme, touchées et émues par les innombrables frissons de l’âme et de la nature«.

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lyrischen Selbstausdrucks wird auch dadurch betont, dass es sich in seinem Stück um Liebesdichtung in Briefform handelt – also in jenem Genre, das wie kein anderes für Intimität und Authentizität des Ausdrucks steht. Jede dichterische Überformung – selbst im Sonderfall Brief – bewirkt die unhintergehbare Differenzierung zwischen lyrischem Ich und Autor-Ich. Cyrano macht sich diese Einsicht argumentativ zunutze, wenn er den Skrupeln Christians angesichts des Paktes entgegnet: »Tiens, la voilà, ta lettre! […] Hormis l’Adresse, il n’y manque plus rien. […] Tu peux l’envoyer. Sois tranquille. Elle est bien. […] Nous avons toujours, nous, dans nos poches,/Des épîtres à des Chloris … de nos caboches,/Car nous sommes ceux-là qui pour amante n’ont/Que du rêve soufflé dans la bulle d’un nom! …/Prends, et tu changeras en vérités ces feintes; Je lançais au hasard ces aveux et ces plainte s:/Tu verras se poser tous ces oiseaux errants./Tu verras que je fus dans cette lettre – prends! –/D’autant plus éloquent que j’étais moins sincère!/Prends donc, et finissons!«37 Cyrano übertreibt und pervertiert hier die konzeptionelle Trennung von lyrischem Ich und Autor-Ich, indem er dem Dichter grundsätzlich (»nous«) jede Authentizität in Liebesdingen abspricht und vorgibt, den Brief an Roxane als Passe-partoutVersion in der Tasche zu haben, wobei die künstlerische Eloquenz entsprechend zur Unaufrichtigkeit der dichterischen Haltung steige. Christians nachvollziehbare Nachfrage, ob man nicht wenigstens ein paar authentifizierende Detailanpassungen vornehmen müsse, wird von Cyrano verworfen, und zwar mit einem bemerkenswerten Argument. Roxanes von ›Selbstsucht‹ bestimmte Lektürehaltung werde – wie bei allen Rezipienten – die Liebesdichtung zum individualisiert adressierten Text transformieren: »La crédulité de l’amour-propre est telle,/Que Roxane croira que c’est écrit pour elle!«38 Damit formuliert Cyrano einerseits (vor der Zeit) eine rezeptionsästhetische Prämisse, nach der die Lektüre die Bedeutung des Textes bestimmt,39 und andererseits postuliert er das grundsätzliche Vorhandensein einer ›selbstsüchtigen‹ Leseweise, die zur individualisierten Aneignung des lyrischen Du führt. Dieses Missverständnis gehe auf das Konto konventioneller Leichtgläubigkeit der Leserin, die (wie alle Leser?) alles auf sich bezieht, was an ein Du gerichtet

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Rostand, Edmond: Cyrano de Bergerac, 1996, II, 10, V. 535-547. Großartig ist die Zweideutigkeit, die durch den Einschub »Prends!« in Vers 545 entsteht: Cyranos gesteht für einen Moment lang ›im Brief zu sein‹ und somit doch seine emotional-authentische Beteiligung am Geschriebenen. Ibid. II, 10, V. 550f. Die Hochzeit der rezeptionsästhetischen Literaturtheorien war in den 1960er und 1970er Jahren, ihre prominentesten Vertreter Hans Robert Jauß, Wolfgang Iser, Wolfgang Preisendanz und Manfred Fuhrmann.

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ist. Mit der Verwendung des im Unterschied zu »amour de soi« (›Selbstliebe‹) negativ konnotierten Begriffs »amour-propre« (›Selbstsucht‹) lässt Rostand das von Cyrano behauptete Rezeptionsphänomen wiederum im Kontext ökonomie- und gesellschaftsphilosophischer Überlegungen des 18. und 19. Jahrhunderts erscheinen und unterstreicht damit die Bedeutung bürgerlich-kapitalistischer Paradigmen für die neuen Herausforderungslagen in der Beziehungstrias von Autor, Werk und Leser. Rostand provoziert sein Publikum durch die Infragestellung von konventionellen Gewissheitserfahrungen und Deutungspraktiken bei der Lektüre, indem er Cyrano das Spiel mit diesen tiefsitzenden Überzeugungen erlaubt: Hat Roxane nicht das literaturkonventionell wie textpragmatisch verbürgte Recht, die lyrischepistolaren Äußerungen auf sich zu beziehen? Wer agiert hier eigentlich motiviert durch amour-propre: der Autor Cyrano, der die Deutung seines Werkes manipulativ einsetzt, oder die Rezipientin Roxane? Geht Cyranos Eigentumsrecht als Autor so weit, dass er mit der Akteursbezogenheit der ›Text-Stimme‹ spielen darf? Darf er der vorausgesetzten und konventionellen Rezeption der Verse als authentischen Gefühlsausdruck ihren Lauf lassen, umfasst seine Deutungsmacht somit (auch) die Zurückweisung einer Deutungspflicht? Oder bringt das Eigentumsrecht am literarischen Text jene im 19. Jahrhundert diskutierte ›obligation sociale‹, Sozialpflichtigkeit mit sich, die ihn – übertragen auf das literarische geistige Eigentum – verantwortlich macht für die Rezeptionsweise seines Werkes? Hat der (literarische) Autor ggf. nicht nur die Macht, sondern auch das Recht, die Textdeutung so grundlegend zu manipulieren?

4.

Entrechtung und Gerechtigkeit: der Autor und seine Leser

Die damit evozierten Streitfragen nach der aus Deutungsmacht resultierenden Deutungspflicht des Autors im Verhältnis zu den Rechten bzw. der möglichen Entrechtung Roxanes als Leserin gewinnen eine zusätzliche Tiefendimension, wenn man ein weiteres Charakteristikum des Jahrhunderts mit einbezieht: Rostand stößt sein Publikum geradezu leitmotivisch auf Gerechtigkeit als weiteres kulturelles Paradigma des 19. Jahrhunderts. Dabei betont er zum einen die Spannungsverhältnisse zwischen bürgerlicher Leistungsgerechtigkeit und sozialer Gerechtigkeit, und zum anderen die Ambivalenz und Unentscheidbarkeit der Gerechtigkeitsfrage. Besonders augenfällig ist dies bereits im zweiten Akt, der das Prekariat der Dichter auf die Bühne bringt: Sie werden von Pâtissier Ragueneau durchgefüttert, eine gesellschaftliche und monetäre Anerkennung wird ihnen nicht zuteil. Ihr Dichten wird nicht als Leistung anerkannt, wie Ehefrau Lise in ihrer Missachtung der Gedichtmanuskripte zum Ausdruck bringt, somit ist nicht an bürgerliche

E. Rostands Cyrano de Bergerac (1897) als metafiktionales Streitstück

Leistungsgerechtigkeit zu denken. Ragueneau übt mit seiner caritativen Verköstigung soziale Gerechtigkeit gegen den Widerstand seiner allzu sehr an bürgerlichen Werten orientierten Frau – und wird dabei seinerseits in ›ungerechter‹ Weise für seine Freigebigkeit bestraft, indem die durchgefütterten Dichter sich als äußerst undankbar erweisen und nicht einmal bereit sind, im Gegenzug als ansonsten fehlendes Publikum für Ragueneaus Dichtungen zu dienen.40 Das Gerechtigkeits-Paradigma wird in Rostands comédie héroïque über diese offensichtliche Thematisierung hinaus aber auch in den Momenten aufgerufen, in denen wir geneigt sind, Mitleid mit Cyrano zu entwickeln. Die scheinbare Winwin-Situation des Autoren-Pakts zwischen Cyrano und Christian erweist sich zum ersten Mal in der Balkonszene als unsicher: Cyrano muss von unten miterleben, wie der schöne Christian oben in Roxanes Gemach die süßen Früchte seiner eloquenten Liebestiraden erntet. Wir teilen als Zuschauer seinen Herzschmerz, den er selbst herbeigeführt hat: »Aie! Au cœur, quel pincement bizarre!/– Baiser, festin d’amour dont je suis le Lazare!/Il me vient de cette ombre une miette de toi, –/Mais oui, je sens un peu mon cœur qui te reçoit,/Puisque sur cette lèvre où Roxane de leurre/ Elle baise les mots que j’ai dits tout à l’heure! »41 Und für einen Moment mag die Aussicht darauf, dass Roxane im vierten Akt nun doch den ›richtigen‹ Autor liebt und der schönen Seele den Vorzug vor der schönen Nase gibt, den Gerechtigkeitssinn der zeitgenössischen Zuschauer befriedigt haben, würde ihm doch dann der ›gerechte Lohn‹ für seine dichterische Leistung zuteil. Doch auch bei der Inbezugsetzung von Autorschaft und Gerechtigkeit ist Rostands Stück tiefgründiger und weist auf einen verborgenen Streitpunkt hin. Denn schnell wird klar, dass diese ›Gerechtigkeit‹ hinkt. Sie steht auf tönernen Füßen, weil sie auf einer doppelten Täuschung basiert: Auf der Fehlannahme Roxanes, Christian habe die Briefe geschrieben, und auf der Fehlannahme Christians, dass Cyrano gar keine tatsächlichen Gefühle für Roxane hege und in seinen Versen nicht das Autor-Ich, sondern das lyrische Ich spreche. Diese in Aussicht gestellte (und durch den Tod von Christian auch kurz darauf als nicht diskursivierbar zurückgenommene) ›Gerechtigkeit‹ basiert somit auf doppeltem Unrecht. Verfolgt man die Frage der Autorschafts-Gerechtigkeit bis zum Schluss des Stückes, so zeigt sich ein ebenso ambivalentes Bild. Auch wenn Roxane entgegen ihrer früheren Überzeugung42 während der Belagerung von Arras behauptet, dass sie den Autor der Briefe als Hülle der schönen Seele auch bei nachweislicher äußerlicher Hässlichkeit lieben würde,43 bleibt das letztlich unbelegt. Zwar fördert die Dunkelheit, die in der Balkon-Szene die wahre Autorschaft verborgen hatte, nun in

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Vgl. Rostand, Edmond: Cyrano de Bergerac, 1996, II, 4. Rostand, Edmond: Cyrano de Bergerac, 1996, III, 10, V. 362-366. »Comme il me déplairait que vous devinissiez laid.« (Ibid., II, 6, V. 168). Vgl. ibid., IV, 8.

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der Schlussszene die wahre Autorschaft zutage44 und suggeriert, nun sei die (den Zuschauern noch im Mitleids-Schmerz in frischer Erinnerung präsente) verletzte Gerechtigkeit spiegelkongruent wiederhergestellt. Doch auf den zweiten Blick zeigt sich, dass Roxane zwar die wahre Autorschaft erkennt, sie sich durch diese Erkenntnis aber nicht zu einem Liebesgeständnis hinreißen lässt. Stattdessen wiederholt sie zwei Mal »Vous m’aimiez!«45 und kommentiert ihre (vorgezogene) Trauerarbeit mit den Worten »Je n’aimais qu’un seul être et je le perds deux fois!« Für Gerechtigkeit kommt ihre Erkenntnis zu spät (deshalb im Präteritum), und dafür erklärt sie zu früh Cyrano für verloren:46 Als sie sich schließlich dennoch ein »Je vous aime, vivez!« abringt, entlarvt Cyrano ihre Rede als fiktive MärchenRede: »Non! Car c’est dans le conte/Que lorsqu’on dit: Je t’aime! Au prince plein de honte,/Il sent sa laideur fondre à ces mots de soleil…/Mais tu t’apercevrais que je reste pareil.«47 Gerechtigkeit auf Erden gibt es für Cyrano in Rostands Stück nicht, und wer angesichts dieser Ungerechtigkeit noch keine Tränen im Auge hat, der muss spätestens dann weinen, wenn Cyrano bekennt, dass seine Hässlichkeit zeitlebens nicht nur potentielle Ehefrauen vergraulte, sondern auch seine Mutter ihn hässlich fand, und dass in Ermangelung einer Schwester auch kein sonstiges weibliches Wesen seinen Lebensweg begleitet hatte, das ihn über seine Hässlichkeit hätte hinweg trösten können. Und so scheint Le Bret den Zuschauern aus der Seele zu sprechen: »Non! Non! C’est trop stupide à la fin, et c’est trop/Injuste! Un tel poète! Un cœur si grand, si haut!/Mourir ainsi! … Mourir!«48 Und auch für das Jenseits scheint die Gerechtigkeits-Frage nicht geklärt – die Gedächtnis-Figur Cyrano bleibt unbestimmt. Der Tod nimmt ihm, so die treffende Selbstdiagnose Cyranos, Lorbeer und Rose, Dichterruhm und Liebe. Denn Cyrano stirbt nicht nur von Roxane ungeliebt, sondern auch als Personifikation eines überholten Dichtermodells, für das die ersehnte, aber unerfüllte Liebe geradezu Voraussetzung ist: Als mittelalterlicher Trobador. Cyrano lebt den fin’amors als Tugendideal und übt sich zeitlebens bei den Gascogner Kadetten in aventiure. Dieses Wertesystem mag zwar beim bürgerlichen Publikum des ausgehenden 19. Jahrhunderts noch schwache nationale Assoziationen wachrufen, aber letztlich ist und

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Cyranos Autorschaft offenbart sich gegenüber Roxane dadurch, dass er die lyrischen Liebesbriefe trotz Dunkelheit lesen bzw. rezitieren kann. (Ibid., V, 6, V. 219-220) Ibid. V, 6, V. 227-228. Überhaupt ist Roxane bei näherem Hinsehen eine utilitaristisch orientierte Figur (77f. und 81), die Cyranos Werte nur unvollständig teilt. Sie schmeichelt Cyrano und instrumentalisiert ihn für ihre Zwecke, ihre Gewitztheit und Menschenkenntnis setzt sie ohne Rücksicht auf andere zur Durchsetzung ihrer Interessen ein (s. mit Cyrano, s. mit de Guiche, s. mit Spaniern). Rostand, Edmond: Cyrano de Bergerac, 1996, V, 6, V. 271-273. Ibid., V, 6, V. 289-291.

E. Rostands Cyrano de Bergerac (1897) als metafiktionales Streitstück

bleibt Cyrano ein Auslaufmodell, das – wie auch sein halluzinierendes Luft-Fechten gegen den Tod final zeigt – realitätsfern und funktionslos geworden ist.49 Am Ende von Rostands comédie héroïque steht die fundamentale Frage: Was bleibt vom Autor, von der Autorschaft? Im Falle von Cyrano nicht viel, denn er wiederholt insofern das Schicksal seines Namensvetters aus dem 17. Jahrhundert,50 als dass sein Name nicht mit einem bekannten Werk zusammenfällt.51 Nicht nur der Autor macht das Werk, sondern das Werk macht auch den Autor, und die WerkVerleugnung löscht den Autor mit aus. Es bedarf des Amalgams von ›Werk‹ und ›Gesicht‹, doch bis zum Schluss bleibt alles in den Schatten gestellt,52 Cyranos Gesicht bleibt auch in der letzten Szene im Verborgenen: Mit der anhaltenden und auszuhaltenden Verweigerung dieser Amalgamierung von Werk und Gesicht verweigert Rostands Stück jede umfängliche oder pragmatisch durchsetzbare Gerechtigkeitsherstellung für Autorschaft. Oder doch nicht? Liegt in Cyranos Schlussworten eine Gerechtigkeitsidee verborgen, im von ihm genannten »Panache«,53 im Schneid und Elan, in der unbeugsamen Haltung, die den Protagonisten in seiner Kompromisslosigkeit so sympathisch macht und die ihm und dem Publikum Aussicht auf zumindest postmortale Gerechtigkeit gibt? Doch auch hier gibt Rostands Stück Bedenken auf, denn Cyrano ist kein ›glatter‹ Held, sondern ein mittlerer oder sogar recht zweifelhafter – und vielleicht auch gar keiner. Cyrano ist als Figur defizitär: Sein Widerstand gegen den Auftritt Montfleurys ist der Eifersucht, nicht der Verteidigung künstlerischer Ideale geschuldet; sein Nasen-Komplex macht ihn Frauen gegenüber (wenn er sich nicht hinter einem lyrischen Ich verstecken kann) sprachlich und performativ hilflos, und er kompensiert diese Schwäche mit misogynen Äußerungen.54 Sein Pakt mit Christian ist zumindest zu gleichen Anteilen altruistisch und egoistisch motiviert, im Gegensatz zum nur scheinbar stumpfen Christian schlägt er dabei auch

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Vgl. ibid., V, 6, V. 323. Zu Bezügen zwischen dramatischer Figur und historischer Person s. Dubois, Claude-Gilbert: Un souffle dramatique, 1998, S. 91-111 und Meurillon, Christian: Du Cyrano de Bergerac au Cyrano de Rostand, 2003, S. 41-55. Vgl. Galli Pellegrini, Rosa: L’image de Cyrano au XIXe siècle, 1996, S. 831-849. Der historische Autor Cyrano de Bergerac ist Verfasser zweier fiktiver Reiseberichte (zum Mond und zur Sonne), die ihre Bekanntheit vor allem der intertextuellen Nennung in Rostands Stück verdanken – eine Finesse, die schon zu Rostands Zeiten nur wenige Kenner zu goutieren wussten. Zur Bedeutung des Autornamens für die (literaturwissenschaftliche) Kanonisierung s. Heydebrand, Renate von: Kanon Macht Kultur, 1998, S. 615. S. die Didascalies zum letzten Akt, in dem Dämmerung und Dunkelheit vorherrscht. S. letzter Vers des Stückes (V, 6, V. 334). Panache bezeichnet einen federgeschmückten stolzen Hut, steht metonymisch aber auch für positionsstarke, unerschrockene Haltung, Stolz und Schneid. Vgl. Rostand, Edmond: Cyrano de Bergerac, 1996, I, 4, V. 256.

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noch alle Skrupel in den Wind und macht sich bei seinem Vorwurf an die ›selbstsüchtigen‹ Rezipienten keine Freunde im Publikum. Er wird vertragsbrüchig und hintergeht Christian, und noch sein letzter Satz zu ihm ist eine Lüge (»J’ai tout dit. C’est toi qu’elle aime encor!«55 ) über deren moralischen Wert man streiten kann. Sein Panache müsste diese Defizite aufwiegen – und er hat gute Aussichten darauf, denn er streitet in seiner beharrlich-aufrechten Widerständigkeit gegen eines der mächtigsten Paradigmen an, die das 19. Jahrhundert hervorgebracht hat: den materialistisch-bürgerlichen Utilitarismus.

5.

Der panache Cyranos: Autorschaft und Kunst in Zeiten bürgerlichen Nützlichkeitsdenkens

Personifikation des materialistisch-kapitalistischen Utilitarismus ist in Rostands Stück die Figur Lise, Ehefrau des Dichter-Bäckers Ragueneau. Lise ist Banausin im Sinne griechischer Kultur: Sie hat für die Früchte der Muße nichts übrig und ist ausschließlich an materiellen Gütern und Werten orientiert, für die sie ihr Streben einsetzt. Weder für die Dichtungen ihres Mannes noch für die Dichter im Allgemeinen hat sie etwas übrig. Unerschrocken wickelt sie beim Verkauf das Gebäck in die Gedicht-Manuskripte, die ihr sonst zu nichts nütze scheinen. Die aus Hefeteig gebackene Lyra, die für ihren Gatten die ideale Verbindung seiner Passionen zum Ausdruck bringt, verachtet sie als ridicule, und dass Ragueneau nicht nur mit einer verständnislosen, sondern auch zur Untreue tendierenden Gattin geschlagen ist, entlarvt Cyrano, der sie beim Flirten mit einem der Musketiere stört. Dass die Ehe des Bäckerpaares aufgrund mangelnder Schnittmengen ihrer belief systems nicht von Dauer sein konnte und zerbricht, vermag zu Beginn des dritten Aktes sogar der ansonsten eher naive Ragueneau selbst zu reflektieren. Lise wäre in der Fabelwelt La Fontaines eine typische Repräsentantin der Ameisen, wie Rostand durch seine intertextuelle Anspielung in der Figurenrede Ragueneaus nahelegt:56 Fleißig, aber espritfrei, uncharmant, aber gut organisiert, und gegenüber sämtlichen Dichter-Grillen – Ragueneau, Cyrano und den von Ragueneau durchgefütterten prekär lebenden Dichterfreunden – herzlos. Ihr Gatte, Cyranos Freund Ragueneau ist nicht etwa ihr Gegenteil, sondern vielmehr ein personifiziertes Amalgam: Sein Ideal ist es, Dichtung und materiell-bürgerliche Nützlichkeit zu verbinden, er versucht beständig Bäcker-Beruf und dichterische Berufung in Einklang zu bringen. Zwar hat er als erwiesener Freund Cyranos und gepeinigter Ehemann von Lise die Sympathien des Publikums auf seiner Seite und ist als Gourmet und Dichterfreund ein den sinnlichen Freuden zugewandter Mensch, aber dennoch ist er weit davon 55 56

Ibid., IV, 10, V. 495. Vgl. Rostand, Edmond: Cyrano de Bergerac, 1996, II, 1, V. 30.

E. Rostands Cyrano de Bergerac (1897) als metafiktionales Streitstück

entfernt, als ›ideale Figur‹ zu erscheinen. Als Autor erscheint er wenig tiefgründig inspiriert und eher im ›handwerklichen‹ Sinne ein Dichter (poeta faber), sein gereimtes Rezept57 ist zwar nicht ohne Witz, aber doch etwas schwer verdaulich, und sein Verhältnis zu Literatur und Dichtung ist naiv-devot: Protagonist Cyrano hat deutlich weniger Skrupel, die Gedichtmanuskripte in Gebäcktüten zu transformieren und macht sie kurzerhand zur ›Gebrauchslyrik‹, um die Anstandsdame von Roxane von seinem vermeintlichen Rendez-vous fernzuhalten. Ragueneau ›erkauft‹ sich die prekär lebenden Dichter als Publikum, doch selbst sie scheinen seine Dichtung nicht wirklich zu schätzen, zumindest ist auch ihnen ein voller Magen wichtiger als ein mit mittelmäßiger Lyrik gefülltes Ohr.58 Ragueneau wird ob seiner interesselosen Literaturverehrung ausgenutzt und steht sowohl dieser Tatsache als auch den Zumutungen seiner Ehefrau wehr- und hilflos gegenüber. Er ist ein treuer Freund, aber ein idealer Autor mit optimiertem Verhältnis zu bürgerlichem Nützlichkeitsdenken ist er nicht. Protagonist Cyrano macht aus seiner Abneigung utilitaristisch-materiell orientierter Werte keinen Hehl: Er weigert sich nachhaltig, sein dichterisches Können unter das Protektorat eines ihn finanzierenden Mäzens zu stellen, er lehnt es ab, seine Kunst dem Ziel finanzieller Absicherung zu unterstellen und will sich von allen Abhängigkeiten fernhalten.59 Er lebt geradezu asketisch und nimmt das gut gemeinte Angebot der Buffetverkäuferin im Theater (erster Akt) nur widerwillig und auch nur zur Hälfte an. Die bei der Belagerung von Arras darbenden Soldaten tröstet er nicht mit der prospektiven oder praktischen Aussicht auf Nahrung, sondern mit der nostalgischen Erinnerung an ihre Heimat, die sie ihren Hunger vergessen lässt.60 Selbst im Alter scheint Cyranos Dichtkunst nicht den Lebensunterhalt zu sichern, die Nonnen des Klosters wissen von seinem (unfreiwilligen) Fasten zu berichten.61 Von materiellem ›Nutzen‹ ist seine Dichtung also nicht, und sein Selbstverständnis als Autor ist auch nicht an diesem Ideal orientiert. Cyrano ist bei Vertretern aller gesellschaftlichen Schichten beliebt, wie die Reaktionen des Theaterpublikums, der ihm am Ende des ersten Aktes zur Porte de Nesle folgenden ›kleinen Leute‹, der Bäcker Ragueneau und die Kadetten zeigen. Er ist in diesem Sinne ein poète populaire, doch dabei weniger am bürgerlichen denn am aristokratisch-ritterlichen Wertesystem orientiert. Sein Dichten hat dem Selbstverständnis nach keinen außerhalb seiner selbst liegenden ›Zweck‹, lässt sich nicht funktionali-

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Vgl. ibid., I, 1. Vgl. ibid., II, 4. Vgl. ibid., II, 7. Vgl. ibid., IV, 3. Vgl. ibid., V, 1. Zur motivischen Bedeutung von Essen und Fasten im Stück s. Bourgeois, Jean: La nourriture et la faim dans »Cyrano de Bergerac« de Rostand, 2010, S. 83-92.

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sieren,62 ist l’art pour l’art ohne Elitarismus, so wie sein halluzinatorisches Gefecht in der Todesstunde, das zum künstlerischen Bekenntnis wird: »Mais on ne se bat pas dans l’espoir du succès!/Non ! Non, c’est bien plus beau lorsque c’est inutile !«63 Cyranos Dichtungs- und Autorschaftskonzept steht insofern nur zum Teil im Gefolge der Parnassiens und ihres Diktums l’art-pour l’art, denn er ist programmatisch nicht verbunden mit deren elitaristischem Anspruch: Cyrano ist ein Einzelkämpfer (notfalls allein gegen Hundert, gegebenenfalls auch gehasst von den Feinden seiner Überzeugungen64 ), aber seine Dichtung erklingt nicht aus dem Elfenbeinturm, sie steht thematisch und performativ mitten im Leben, ist im wahrsten Sinne ›zwischenmenschlich‹ (in der Liebe wie im Gefecht) orientiert.

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Am Ende des Streits: Was bleibt?

Cyranos panache steht aufrecht gegen die Utilitarisierung der Kunst, er ziert den Kopf dessen, der die Autorschaft im Konfliktfeld zwischen literarischen und bürgerlichen belief systems (immer wieder) neu verhandelt und konzeptionell bestimmt. Literatur ist auch im Kontext bürgerlich-kapitalistischen belief-systems der Moderne zweckfrei, aber nicht wertlos – selbst wenn weder Text noch Autor für Moralisierung taugen. Roxane, Christian, das Publikum seiner Nasentirade und der Fechtballade, auch Rostands Rezipienten, sie und wir alle profitieren von seinen Versen. Nur Cyrano selbst geht leer aus, ist der Rose und des Lorbeers beraubt – wenn ihn nicht wenigstens sein Panache über die Zeiten trägt. Die comédie héroïque von Rostand verhandelt mit der Frage nach der Bedeutung von Autorschaft vor dem Hintergrund der kulturellen Paradigmen der bürgerlichen Moderne eine Frage von ›öffentlichem Gewicht‹. Am Schluss steht deshalb ein ›tragisches‹ Ende des allenfalls mittleren Helden, dessen klassischer éclat in den Schatten des von Düsternis beherrschten letzten Aktes gestellt ist,65 und dessen Schicksal we-

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Hierin zeigt sich die Ambivalenz der Figur Cyrano als mittlerer Held, die das Stück zum (unentschiedenen) Streitstück und nicht zum klaren Plädoyer geraten lässt: Er wehrt sich zwar prinzipiell gegen jede Form der Nutzbarmachung seiner Dichtung, ihre Funktionalisierung für Liebeszwecke bzw. zur Kompensation seines physisch bedingten Grundkomplexes reflektiert er jedoch nicht. Rostand, Edmond: Cyrano de Bergerac, 1996, V. 6, V. 321. Vgl. ibid., II, 7. In den ausführlichen Regieanweisungen des letzten Aktes legt Rostand die Szenerie fest, die von der Düsternis der »superbes ombrages« bestimmt ist, die von einem »arbre énorme« und einem »double rideau d’arbres« geworfen werden – und den ›Glanz‹ des Helden verschlucken. Zum Begriff des heroischen éclat s. Gelz, Andreas: Der Glanz des Helden – Darstellungsformen des Heroischen in der französischen Literatur vom 17.-19. Jahrhundert, 2018, S. 5-13.

E. Rostands Cyrano de Bergerac (1897) als metafiktionales Streitstück

der den überkommenen Anhängern des Parnasse noch den Utilitaristen Recht zu geben scheint.66 Es bleibt die Ambivalenz des ›heroischen‹ Cyrano, die das Stück zum (unentschiedenen) Streitstück und nicht zum klaren Plädoyer geraten lässt: Er wehrt sich zwar prinzipiell gegen jede Form der Nutzbarmachung seiner Dichtung, ihre Funktionalisierung für Liebeszwecke bzw. zur Kompensation seines physisch bedingten Grundkomplexes reflektiert er jedoch bis zum letzten Atemzuge nicht. Die Macht des Autors Cyrano, der zunächst alle Fäden in der Hand hatte und im Unterschied zu allen anderen Figuren des Stückes keiner Täuschung bezüglich der Autorschaftsverhältnisse unterlag,67 ist zerbrochen, oder besser: Sie hat ihn überholt, sich von ihm verselbständigt, weil er den Konflikt um die Autorschaft zwar schmerzlich gespürt, aber den Streit an einem wichtigen Punkt vorbei geführt hat: Cyrano bewegt sich an den konfliktiven Grenzverläufen zwischen der Deutungsmacht und der Deutungspflicht des Autors, ohne sich verantwortlich gegenüber seiner Rezipientin Roxane zu positionieren. Rostand entwirft seinen Helden als umstrittenen Dichter der Moderne, der nicht mehr ungebrochen mit seinem Werk in eins zu setzen ist, der sich gegenüber der Rezeption seines Werkes aber auch nicht aus der Verantwortung stehlen kann – und dessen Grabstein, jener kulturelle Ort des minimalen Konsenses, leer bleibt, weil der Autor als Konzept unsicher geworden ist.68 Was bleibt, ist ein Gedächtnis-Text in Form eines literarischen Streitstücks – ohne Konsens, Ausdruck einer noch unentschiedenen Gemengelage der Überzeugungen im belief system der bürgerlichen Moderne. Vielleicht ist es gerade dieser unentschiedene Schluss, der das Stück bis heute aktuell und für das Publikum weiterhin attraktiv hält: In welchem Verhältnis der theoretische Tod des

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Rostands Cyrano fällt auch nicht zurück in jenes Bild, das Baudelaire vom Dandy als Amalgam von Künstler- und Heldenfigur im »Peintre de la vie moderne« gezeichnet hatte (vgl. zum Heroischen bei Baudelaire Gelz, S. 11. Cyrano ist kein provozierender Luxusgenießer und Müßiggänger, er ist ein volksnaher Mann der Tat. Das von Cyrano herbeigeführte Wissensgefälle der Figuren (um die Autorschaft der Liebesbriefe, aber auch bzgl. seiner Haltung zum Inhalt der Briefe (die nicht nur von dichterischem Experimentiergeist, sondern von Liebe zu Roxane getragen ist) entgleitet seiner Kontrolle, er ist dem daraus resultierenden Machtgefälle zunehmend nicht gewachsen. Einzig die Figur Le Bret, Freund Cyranos und Identifikationsfigur des Publikums, wahrt ihre Integrität und ihr vollumfängliches Wissen über alle Autorschaftsverhältnisse bis zum Schluss des Stückes. Als ›unbeteiligter Dritter‹ im Streitstück kann Le Bret insofern gelten, als er keine persönlichen Interessen an die von ihm mitgewusste wahre Autorschaft knüpft. Er greift jedoch nicht vermittelnd, sondern eher pointierend ein, wenn er die ›Ungerechtigkeit‹ des Geschehens beklagt. Eine Mediationsfunktion hat er für das Publikum inne, dessen Positionsnahme er zugleich bewirkt und stellvertretend artikuliert. Rostand grenzt seinen Cyrano mit der Brechung seines Helden-Charakters deutlich vom romantischen Dichter René de Chateaubriand ab, der sich selbst wenige Jahre zuvor mit den »Mémoires d’outre-tombe« (1849/51) unter Heroisierung der eigenen Person ein AutorenMonument gesetzt hatte.

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Autors zur Reichweite seiner Verantwortung steht, ist mit Blick auf die Literatur unserer Gegenwart ungeklärt und bleibt umstritten.69

Bibliographie Barrot, Olivier: Ce que le cinéma a retenu de Rostand? In: Histoires littéraires (2009), N° 38, S. 131-134. Bourgeois, Jean: Cyrano de Bergerac d’Edmond Rostand: Le théâtre dans le théâtre. In: Revue d’histoire littéraire de la France 108 (2008), N° 3, S. 607-620. Bourgeois, Jean: La nourriture et la faim dans »Cyrano de Bergerac« de Rostand. In: Revue d’histoire littéraire de la France, 110 (2010), N° 1, S. 83-92. De Lamartine, Alphonse: Méditations poétiques. Œuvres complètes de Lamartine. Paris 1860. Dilthey, Wilhelm: Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing, Goethe, Novalis, Hölderlin. Leipzig 1906. Dubois, Claude-Gilbert: Un souffle dramatique. De Savinien Cyrano (1619-1655) à »Cyrano de Bergerac« (1897). Clairs de lune et éclipses de soleil. In: Leoncavallo, Ruggero et al. (Hg.): Alfred de Vigny, un souffle dramatique. Pessac 1998, S. 91111. Galli Pellegrini, Rosa: L’image de Cyrano au XIXe siècle. In: Kanceff, Emanuele (Hg.): Studi di storia della civiltà letteraria francese. Paris 1996, S. 831-849. Gebhard, Gunther/Geisler, Oliver/Schröter, Steffen: Streitkulturen: Eine Einleitung. In: Dies. (Hg.): StreitKulturen. Polemische und antagonistische Konstellationen in Geschichte und Gegenwart. Bielefeld 2009, S. 11-33. Gelz, Andreas: Der Glanz des Helden – Darstellungsformen des Heroischen in der französischen Literatur vom 17.-19. Jahrhundert. In: Französisch heute 49 (2018), N° 2, S. 5-13. Gérard, Rosemonde: Edmond Rostand. Paris 1935. Heydebrand, Renate von: Kanon Macht Kultur. Versuch einer Zusammenfassung. In: Heydebrand, Renate von (Hg.): Kanon Macht Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildungen. Stuttgart/Weimar 1998, S. 612-625. Jannidis, Fotis et al. (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Leipzig 2000. Jannidis, Fotis et al.: Rede über den Autor an die Gebildeten unter seinen Verächtern Historische Modelle und systematische Perspektiven. In: Jannidis, Fotis et

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Vgl. den am Beispiel Michel Houellebecq sehr differenziert argumentierenden Artikel von Agnieszka Komorovska: »Mais c’est d’une ambiguité étrange«: die Rezeption von Michel Houellebecqs Roman ›Soumission‹ in Frankreich und Deutschland, 2015, S. 131-163, http://romani schestudien.de/index.php/rst/article/view/116.

E. Rostands Cyrano de Bergerac (1897) als metafiktionales Streitstück

al. (Hg.): Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. Tübingen 1999, S. 1-35. Komorovska, Agnieszka: »Mais c’est d’une ambiguité étrange«: die Rezeption von Michel Houellebecqs Roman ›Soumission‹ in Frankreich und Deutschland«. In: Romanische Studien 3 (2015), S. 131-163, http://romanischestudien.de/index.ph p/rst/article/view/116. Lüsebrink, Hans-Jürgen: Du »Patrimoine national« au »Patrimoine interculturel«: Concepts et formes d’institutionnalisation, depuis la Révolution Française jusqu’au Musée National d’Histoire de l’Immigration. In: Arregui, Aníbal/ Mackenthun, Gesa/Wodianka, Stephanie (Hg.): Decolonial Heritage. Natures, Cultures, and the Asymmetries of Memory. Münster/New York 2018, S. 97-114. Meurillon, Christian: Du Cyrano de Bergerac au Cyrano de Rostand. Une infidélité scrupuleuse. In: Bauer, Franck/Ducrey, Guy (Hg.): Le Théâtre incarné. Etudes en hommage à Monique Dubar. Villeneuve d’Ascq 2003, S. 41-55. Mielke, Ulrike: Der Schatten und sein Autor. Eine Untersuchung zur Bedeutung des Ghostwriters. Bern 1995. Pouillet, Eugène: Traité théorique et pratique de la propriété littéraire et artistique. Paris 1908. Rostand, Edmond: Cyrano de Bergerac. Comédie en cinq actes en vers. Stuttgart 1996. Schulz-Buschhaus, Ulrich: Rostand, Cyrano de Bergerac. In: Pabst, Walter (Hg.): Das moderne französische Drama. Interpretationen. Berlin 1971, S. 70-80. Simard, Jean-Claude: »Cyrano«. Les dessous d’un accueil triomphal. In: Urgences 32 (1991), S. 127-139. Vogel, Géraldine: Rostand, entre théâtre naturaliste et théâtre idéaliste. In: Cedergren, Mick/Cadars, Marie-Cécile (Hg.): Le Naturalisme spiritualiste en Europe. Développement et rayonnement. Paris 2012, S. 99-118.

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»Un petit livre trop précieux pour qu’on en fasse du cinéma« Die Résistance im Spiegel von Medienkonflikten: Le Silence de la mer (1941/1949) Jennifer Roger

Nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges spielte die Erinnerung an die Résistance eine zentrale Rolle in Hinblick auf die Identität Frankeichs und dessen Zukunftsgestaltung. Die schnelle Niederlage im Mai 1941 und der abrupte Übergang zur Kollaborationsregierung verursachten einen Bruch im politischen System. Die damit verbundene Identitätskrise schien nach einer konsensuellen Deutung der Besatzungsjahre zu verlangen und fand Ausdruck in einem mythisierenden Verständnis der Widerstandsbewegung. Die feste Überzeugung vieler Franzosen, in der Mehrheit aus Résistance-Kämpfern zu bestehen und dass Kollaborateure die Ausnahme in der Bevölkerung darstellten, wurde zum Heilmittel, um nach dem Krieg zu einer gefühlten Normalität zurückzufinden. Seitdem kennzeichnen unterschiedlich intensive Phasen der Aufarbeitung die Deutung der Résistance. Insbesondere die bis heute fortwährende Instrumentalisierung für politische Zwecke lässt durchblicken, dass es sich um einen andauernden, in Konjunkturen verlaufenden Deutungsmachtkonflikt handelt. Mit der Funktionalisierung des Widerstands als Ursprungserzählung1 nimmt das Résistance-Narrativ (im Sinne eines festen Erzählformulars2 ) auch Formen eines modernen Mythos an, der typischerweise mit einer hohen medialen Präsenz verbunden ist und als belief system tief verankerte kulturelle und individuelle Überzeugungen miteinander vernetzt – auch solche,

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Zur Paradoxie und Konstruiertheit der Erzählung von Ursprüngen vgl. Koschorke, Albrecht: »Zur Logik kultureller Gründungserzählungen«, 2007, S. 10f und S. 12: »Ursprungsmythen […] geben dem kollektiven Imaginären eine Fassung und unterlegen ihm ein nachträgliches Fundament. Damit entscheiden sie zugleich über die Grenzen dessen, was innerhalb einer Kultur erzählt, symbolisiert oder überhaupt wahrgenommen werden kann«. Zum Begriff des Narrativs im Sinne eines »Erzählformulars« vgl. Koschorke, Albrecht: Wahrheit und Erfindung, 2012, S. 38.

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die den kulturellen Status verschiedener Medien und künstlerischer Ausdrucksformen betreffen.3 Literatur und Film haben sich schon unmittelbar nach dem Ereignis des Zweiten Weltkriegs als die beiden dominanten Medien herausgestellt, in denen die Frage nach der »richtigen« Deutung der Résistance Ausdruck gefunden hat. Henry Rousso hat in seinem Buch Le Syndrome de Vichy überzeugend dargelegt, wie Filme als Indikatoren der Erinnerung an die Zeit der ›Occupation‹ fungieren und das Potenzial besitzen, eigenständig den Anstoß für Aufarbeitungsphasen der Erinnerung zu geben.4 Diese Etappen der Erinnerung sowie die Erinnerungsverläufe im Spiegel von Literatur und Film sind bereits gut erforscht worden.5 Das Interesse gilt hier dem Verhältnis dieser beiden Medien, die besondere Aufmerksamkeit im kulturellen Selbstverständnis Frankreichs genießen. Sowohl Literatur als auch Film haben identitätsstiftende Wirkung und gelten aufgrund der nationalen Zuschreibungen, die sie erfahren haben, als fester Bestandteil des patrimoine culturel. Beide Medien stehen deshalb seit jeher auch in einem Spannungsverhältnis zueinander, das sich besonders in der Adaptationsproblematik gezeigt hat: Die Literatur stellt einerseits einen wichtigen Bezugspunkt in der frühen Geschichte der Filmkunst dar, da die Verfilmung literarischer Werke ein wichtiger Wegbereiter war. Andererseits behinderte das Genre Adaptation auch die weitere ästhetische Entwicklung des Kinos, weil das Gütekriterium der Texttreue die Entstehung medienspezifischer Ausdrucksmittel erschwerte.6 Es ist zu beobachten, dass sich diese querelle des médias wie ein Dialog im Genre der Literaturverfilmung entfaltet, dort wo sich der Film unmittelbar auf die Literatur bezieht.7 Der Medienwechsel zwingt notwendigerweise zu Kürzungen, Auslassungen, Ergänzungen oder Modifikationen etwa hinsichtlich des Figureninventars und bringt damit unvermeidbar eine Interpretation mit sich. In diesen Bezugnahmen offenbaren sich mediale Dynamiken, die auch durch außerfiktionale Diskurse (zusätzlich) inspiriert werden und

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Zur Bedeutung der Résistance als moderner Mythos, vgl. Roger, Jennifer: Résistance, 2014, S. 316-321. Vgl. Rousso, Henry: Le Syndrome de Vichy, 1990, Kapitel 6. Vgl. Vgl. Langlois, Suzanne: La résistance, 2001; Vatter, Christoph: Gedächtnismedium Film, 2009; Dürr, Susanne: Strategien nationaler Vergangenheitsbewältigung, 2001; Walter, Klaus-Peter: Schwierige Vergangenheitsbewältigung, 2000, S. 129-144; Reichelberg, Ruth/ Kauffmann, Judith: Littérature et Résistance, 2000. Zur problembehafteten Geschichte der Literaturverfilmung in Frankreich vgl. Albersmeier, Franz-Josef/Roloff, Volker: Literaturverfilmungen, 1989; Albersmeier, Franz-Josef: Theater, Film und Literatur in Frankreich, 1992; siehe auch Paech, Joachim: Literatur und Film, 1997, S. 30, 35 und 44. Der Begriff querelle drückt aus, dass es sich um ein spezifisch französisches Konfliktfeld handelt. Zum Konzept der querelle des médias s. Roger, Jennifer: Querelle des médias, 2020, Kapitel 2.2 und 2.4.3.

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Aufschluss geben über das Konkurrenz- und Komplementaritätsverhältnis von Literatur und Film.8 Die bedeutsame Funktion, die den beiden Medien in der Kultur Frankreichs zugeschrieben wird, spielt auch eine Rolle in Erinnerungsdiskursen. Über ihren Sonderstatus rechtfertigen Literatur und Film ihre Deutungskompetenz und -relevanz für die Aufarbeitung historischer Ereignisse.9 Auch im Streit um die Deutungshoheit des Zweiten Weltkriegs tritt deshalb die Literaturverfilmung als ein dominanter Ort in den Vordergrund, an dem der Konflikt ausgetragen wird. Mediale Veränderung ist hier gleichbedeutend mit Geschichtsdeutung bzw. Transformation bestehender Erinnerungskulturen. Der Blick soll hier also auf die Literaturverfilmung als ein spezifisches Phänomen französischer Mediengeschichte gerichtet werden, an dem sich Deutungsmachtkonflikte im Allgemeinen kristallisieren und an dem somit auch die Auseinandersetzung mit der Résistance ablesbar ist. Der oftmals als »Bibel der Résistance« bezeichnete Text Le Silence de la mer von Vercors (1941),10 der in den ersten Jahren nach Kriegsende verfilmt wurde (Melville 1949), erscheint ein vielversprechender Untersuchungsgegenstand für die Verzahnung beider Felder der französischen Streitkulturen zu sein. In einer Radioansprache in der BBC durch Maurice Schumann, Sprecher der Exilregierung, wird Vercors namentlich erwähnt und die Bedeutung der Literatur für die Résistance hervorgehoben: »Les journaux clandestins ne suffisent pas, il faut aussi des livres; et j’en appelle à vous, Vercors, encore inconnu et déjà célèbre…«11 . Der Literatur wird somit auch von politischer Seite das Potenzial zugeschrieben, den Widerstand aktiv mitgestalten zu können. Die besondere Bedeutung, die dem Text für die Résistance-Bewegung beigemessen wird, dient als Ausganspunkt der Überlegung, dass sich der oben skizzierte Streit um die mediale Hoheit in besonderem Maße in der Verfilmung dieses Werkes offenbart. Da sich die Diskussion um den Stellenwert der Résistance (auch als Gründungsmythos) zum Zeitpunkt der filmischen Adaptation noch in einer empfindlichen Phase befindet, liegt umgekehrt die Vermutung nahe, dass die Literaturverfilmung als ein kulturell codierter Ort die Funktion übernimmt, diesen Deutungskonflikt auszutragen.

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Das Ausloten medialer Konkurrenzverhältnisse äußert sich in einem für die Gattung typischem Oszillieren zwischen bejahender Rezeption und Rejektion der literarischen Vorlage. Dem liegt die These zugrunde, dass Medien selbst eine übergeordnete Rolle für Repräsentationen der Vergangenheit spielen. Lux, Nadja: Alptraum, 2008, S. 321 und 325; Dürr, Susanne: Strategien nationaler Vergangenheitsbewältigung, 2001, S. 127. Vercors zit. in Delblat, Jean-Luc: Le métier d’écrire, 1994, S. 234. »Die Untergrundzeitschriften reichen nicht aus, wir brauchen auch Bücher; und ich richte den Appell an Sie, Vercors, noch ein Unbekannter und doch bereits berühmt…« [Übers. d. Verf.].

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1. Die strenge Zensur seit der Besetzung Frankreichs durch die deutsche Wehrmacht ab 1940 brachte drei Formen des literarischen Widerstands zutage: Die Emigration ins Ausland, das innere Exil oder die schriftstellerische Tätigkeit und Publikation im Untergrund. Letztere galt als ein wesentlicher Bestandteil der allgemeinen Widerstandsbewegung.12 Jean Bruller, alias Vercors, der vor der ›Occupation‹ als Zeichner und Karikaturist gearbeitet hatte, widmete sich mit Beginn der Zensur dem literarischen Schreiben und trat damit der sogenannten intellektuellen Résistance bei. Le Silence de la mer, sein erster unter Pseudonym veröffentlichter Text, wurde retrospektiv als der Inaugurationstext des literarischen Widerstands bezeichnet.13 Zwar wurden im Untergrund zahlreiche Zeitschriften gegründet, doch die Verbreitung eines Textes von der Länge eines Romans realisierte sich erst mit Vercors Text. Trotz der scharfen Restriktionen und Kontrollen gelangte er schnell in Umlauf und wurde dann von London aus, auch per Flugzeug, weiterverbreitet. Desgleichen sorgte die mediale Erwähnung durch die BBC für das Publikmachen des Textes. Sein Erfolgspotenzial wurde gerne – auch vom Autor selbst – auf diese besonderen Umstände seiner Verbreitung zurückgeführt.14 Auch Jean-Paul Sartre hatte das Werk 1949 im existenzialistischen Sinne als œuvre de circonstance bezeichnet, das seine Bedeutung erst durch seine Leserschaft erlangt, und zwar jener Rezipienten in der besetzten Zone Frankreichs im Jahr 1941.15 Auf die Bedeutung, die der Literatur für die Résistance-Bewegung attestiert wird (wie etwa in obigem Zitat von Maurice Schumann), geht der Autor auch retrospektiv in Bezug auf seine Biografie ein: »C’est l’Occupation qui m’a fait prendre la plume«16 beteuert er in einem Interview und gibt somit vor, dass die Umstände ihn zum Schriftsteller gemacht haben. Er habe zwar schon zuvor daran gedacht zu schreiben, die Besatzung habe seinen Wunsch aber beschleunigt.17 Warum aber leistete Jean Bruller nicht mit seinem Beruf als Zeichner Widerstand? Obwohl der Autor auch als Karikaturist tätig war – d.h. ein per se gesellschaftskritisches Medium zur Verfügung hatte – bekennt er sich mit seiner Selbstbezeichnung als »écrivain de circonstance« zur Literatur. Diese erscheint ihm als das geeignetere Medium für den Widerstand. Die Auffassung, dass man mit dem Zeichnen nicht die

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Vgl. Kohut, Karl: Literatur der Résistance, 1982, Kapitel 1. Vgl. Beigbeder, Yves: Nachwort zu Le Silence de la mer, 2008; Cressard, Armelle: »Le Silence de la mer«, 2004. Hier auch als »livre symbole de la Résistance« bezeichnet. Vgl. Plazy, Gilles: À dire vrai, 1991, S. 35. Vgl. Sartre, Jean-Paul: Qu’est ce que la littérature, 2010, S. 79-82 und159. Vercors zit. in Delblat, Jean-Luc: Le métier d’écrire, 1994, S. 234. »Es war die Besatzung, die mich dazu veranlasste, die Feder in die Hand zu nehmen.« [Übers. d. Verf.]. Vgl. ebd, S. 241.

»Un petit livre trop précieux pour qu’on en fasse du cinéma«

gleiche Wirkung erzielen kann wie mit dem Schreiben, zeigt einmal mehr die traditionelle Dominanz der Literatur gegenüber den visuellen Medien in Frankreich. Sicherlich trugen auch eine Reihe inhaltlicher Elemente dazu bei, im besetzten Frankreich Begeisterung für den Text auszulösen. Der konkrete Bezug zur außerfiktionalen Wirklichkeit – die Handlung spielt 1941 nach dem Waffenstillstand und der Teilbesetzung Frankreichs – eröffnete der Leserschaft eine Möglichkeit der Identifikation, und das Genre Novelle hat seit jeher in Krisenzeiten Konjunktur. Mit der handlungsreduzierten, klaren und wiederkehrenden Struktur und der minimalistischen Figuren- und Raumkonstellation ist der sozialkritische Text novellentypisch aufgebaut:18 Ein deutscher Offizier (Werner von Ebrennac) wird in das Haus eines älteren Mannes und seiner Nichte einquartiert und begegnet ihnen täglich in ihrem Wohnzimmer. Die Handlung gleicht einem Experiment, denn von Ebrennac steht dem Anschein nach der Figur des »bösen Deutschen« diametral entgegen. Er ist ein frankophiler Intellektueller und Musiker und glaubt aufrichtig und verklärt an die Vereinigung Deutschlands und Frankreichs im Namen der Kultur. Tagtäglich hält er den unfreiwilligen Gastgebern lange Monologe über seine Vision einer deutsch-französischen Partnerschaft. Diese Reden wiederholen sich, bis die Handlung, durch eine zweiwöchige Reise des Offiziers nach Paris eingeleitet, einen tragischen Wendepunkt nimmt:19 »Pendant longtemps, – plus d’un mois, – la même scène se répéta chaque jour«.20 Der Leser beobachtet experimentell durch eine homodiegetische und damit nicht unbedingt zuverlässige Erzählinstanz (die Figur des Onkels) die Reaktionen der jungen Frau, die dem Charme des Offiziers zu widerstehen sucht. In der Andeutung dieser Liebschaft entwickelt der Text auch eine für die Novelle gattungstypische »unerhörte« Begebenheit und bedient sich so des Motivs der Versuchung als Metapher der Kollaboration. Der repetitiv-geordnete und ritualisierte Ablauf (Klopfen – Eintreten – Monolog) wird zudem mit den formelhaften Worten »Je vous souhaite une bonne nuit« begleitet, die auch den Höhepunkt vorbereiten, weil die Nichte seinen letzten Abend- und Abschiedsgruß mit einem kaum hörbaren »Adieu« erwidert. Der Deutsche wird als naiver Ignorant entlarvt, der das Wesen der Freiheit nicht begreift, und so findet die gattungstypische Rückkehr zur inhaltlichen Ordnung statt: »Il était parti quand, le lendemain, je descendis prendre ma tasse de lait matinale. Ma nièce avait préparé le déjeuner, comme chaque jour […].«21

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Zu den Gattungsmerkmalen der französischen Novelle vgl. Blüher, Alfred: Die französische Novelle, 1985; Krömer, Wolfram: Die französische Novelle, 1976. Das lebhafte Sprechen sowie die Monologe des Deutschen (im Gegensatz zum rebellischen Schweigen der Franzosen) steht auch symbolisch für die Propaganda der Nationalsozialisten. Vercors: Le Silence de la mer, 1951, S. 31. Ebd., S. 77.

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Der Text ist – auch dies ist ein Merkmal der Gattung – nicht eindeutig in seiner Moral, da die Nichte zuletzt ihr Schweigen zwar kaum merklich, aber dennoch bricht.22 An dieser Ambivalenz haben sich die Kritiker der Novelle lange abgearbeitet, weil sie für die Haltung gegenüber den Nationalsozialisten von großer Bedeutung schien.23 Aus medienästhetischer Perspektive betrachtet, ist die Polyvalenz der Schlussgebung insofern spannend, als Vercors damit konsequent die Merkmale der Gattung beherzigt. Damit räumt er der literarischen Tradition Priorität ein – zu Ungunsten einer eindeutigen Positionierung bezüglich des außerfiktionalen Kontexts. Der Erfolg der Novelle in den Kreisen der Résistance zeigt aber, dass ein Gros der Leserschaft sie als Widerstandstext und literarisches Beispiel passiver Résistance verstand. Der Gegensatz »Besatzer und Besetzte« spiegelt auch ein universelles Wertesystem, das, in der Gattungskonvention beleuchtet, an die berühmte Novelle Maupassants Boule de Suif erinnert, in der die Protagonistin bei der Begegnung mit den preußischen Soldaten bei der Besatzung Frankreichs 1872 ebenfalls durch ihr Schweigen und ihre Verweigerungshaltung temporär für die Umkehrung der Machtverhältnisse sorgt.24 Gattungsgeschichtlich betrachtet erweckt Vercors also mit der Novellenstruktur in Le Silence de la mer eine wichtige Etappe spezifisch französischer Literaturgeschichte. Mit dieser Systemreferenz ruft er auch frühere historische Ereignisse auf bzw. zieht implizite Parallelen zu vorangehenden Krisen (z.B. dem deutsch-französischen Krieg), die novellistisch bearbeitet wurden. Die ›années noires‹ werden so in einen kulturhistorischen Kontext gestellt. Diese medienästhetische Finesse trug vermutlich dazu bei, dass sich Sartres Prognose, der Text würde entsprechend seiner Aktualität schon bald in Vergessenheit geraten, nicht bewahrheitet hat:25 Zahlreiche Auflagen des Buches, die erfolgreiche Verfilmung, Bühnenadaptationen und ein Fernsehfilm (2004) zeugen von der Re-Aktualisierung des Textes in der kollektiven Erinnerung Frankreichs.26 Die Rezeptionsgeschichte von Le Silence de la mer ist damit auch immer eine Geschichte der medialen Transformation. Der folgende mediengeschichtliche und ästhetische Fokus arbeitet heraus, wie sich die Reflexion von Medialität auch in Bezug auf die Verfilmung als zweite Bedeutungsschicht über Le Silence de la mer als französische Gründungserzählung legt: Das identitätsbildende belief system Résistance als Mythos und der belief an die kulturelle Überlegenheit der Literatur über 22 23 24 25 26

Zur Ambiguität des Textes vgl. Machabéïs, Jacqueline: Le Silence de la mer de Vercors, 2006, S. 75-101. Vgl. Ritzenhofen, Medard: Wieder gelesen, 1991, S. 59-63, hier S. 62. Zur Novellistik des 19. Jahrhunderts vgl. Wolfzettel, Friedrich: 19. Jahrhundert, 1999. Vgl. Sartre, Jean-Paul: Qu’est ce que la littérature, 2010, S. 82: »Dans un demi-siècle il ne passionnera plus personne […] les ouvrages de l’esprit […] doivent se consommer sur place«. Zu den Bühnenadaptationen von Le Silence de la mer s. Kowzan, Tadeus in Cesbron, Georges/ Jacquin, Gérard: Vercors et son œuvre, 1999.

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den Film werden auf diese Weise miteinander ins Verhältnis gesetzt und neu verhandelt.

2. Die Verfilmung durch Jean-Pierre Melville verlief keineswegs unproblematisch, denn die Idee des Regisseurs, die Novelle auf die Leinwand zu bringen, stieß zunächst auf massiven Widerstand seitens des Autors. Seine Argumentation gründete auf dem unterschiedlichen Status beider Medien: »C’était pour respecter le sentiment que m’avaient exprimé mes amis résistants, le déplaisir qu’ils éprouveraient à voir porté à l’écran un petit livre qui leur était resté trop précieux pour qu’on en fasse du cinéma«.27 Das Zitat bezeugt den elitären Status, den die Literatur damals gegenüber dem Film reklamierte.28 Bruller hatte dem Regisseur sogar die Erlaubnis verwehrt, den Film zu persönlichen Zwecken zu drehen. Erst der erneute Vorstoß mit dem Vorschlag, den Film einer Jury ehemaliger Widerstandskämpfer zu unterstellen, war erfolgreich. Vercors allein bestimmte die Zusammensetzung dieser Kommission und nur deren einstimme Billigung sollte dazu führen, den Film auf die Leinwand zu bringen, ansonsten müsse Melville die Negative verbrennen.29 Aufgrund der Vorbehalte hatte Melville also auch nicht die notwendige Dreherlaubnis des Centre cinématographique national erhalten, um seinen Film zu realisieren. Er begann daher ohne jegliche materielle Unterstützung mit den Dreharbeiten. Durch diese Abmachung stilisiert der Autor seine Novelle, die er als Teil des »patrimoine de la France« und als ›Bibel in Kriegszeiten‹ bezeichnet, in der Öffentlichkeit zu einem Kollektivgut.30 Mit der Entkopplung des Werkes von seiner Autorschaft hebt er außerdem die Literatur als besonders in der Verantwortung stehendes Medium für die Deutung der Vergangenheit heraus und verknüpft den Erfolg der Novelle mit deren Medialität. Die absolute Überlegenheit der Literatur gegenüber dem Film tritt hier deutlich zu Tage. Ihre historisch gewachsene Dominanz erscheint zu diesem Zeitpunkt unbestritten zu gelten.31 Gerade weil die Materialität des Textes von Anfang an bestimmend für sein Gelingen war, dominierte die Angst, das ehrwürdige Werk könne seine Grandeur im Medienwechsel einbüßen. Denn nicht nur die Länge des Textes bekräftigte seine Sonderstellung unter 27 28 29 30 31

Vercors, zit. in Plazy, Gilles: À dire vrai, 1991, S. 37. il faut rappeler que l’article Pour un cinéma impur d’André Bazin, qui défend l’adaptation, n’est paru qu’en 1959, vgl. Bazin, André: Qu’est-ce que le cinéma?, 1959, S. 7-32. Nogueira, Ruy: Le cinéma selon Melville, 1973, S. 32. Jean Bruller zit. durch Melville, in: ebd. Zur historischen Dominanz der Literatur vgl. Jurt, Joseph: Sprache, Literatur und nationale Identität, 2014.

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den Schriften des Widerstands. Auch die Tatsache, dass die Novelle der Ausgangspunkt für die Gründung des bis heute existierenden Untergrundverlags Éditions de Minuits war, machte den Text in den Augen der damaligen Zeitgenossen unantastbar. In der Historie des Verlags wird später auf die kompositorische Einmaligkeit des Buches verwiesen: »remarquablement présenté, sur beau papier, d’une typographie parfaite«.32 Der kunstfertige Druck wird dahingehend gedeutet, den widrigen Umständen der Illegalität einen Kontrapunkt entgegengesetzt zu haben. Tatsächlich war die Beschaffung eines solchen hochwertigen Papiers zu illegalen Zwecken eine große Herausforderung. Die kulturelle Valorisierung des Mediums, von der auch das obige Zitat des Autors zeugt, – ›ein kleines für eine Verfilmung zu kostbares Buch‹ – wird so in einen unmittelbaren Zusammenhang mit der Bedeutsamkeit der Résistance gestellt. Aufgrund der genannten Aspekte und der damaligen Geringschätzung des Films als Erinnerungsmedium im Vergleich mit der Literatur erschien der Medienwechsel also hoch problematisch. Dass Jean Bruller dem Regisseur zuletzt aber sein eigenes Haus für die Dreharbeiten zugestanden hatte, dürfte entscheidend dazu beigetragen haben, dass schließlich ein einstimmiges positives Ergebnis der elitären Kommission den Film in die Kinosäle brachte. Melville besiegelte das Angebot des Autors mit der Aussage, die Übereinstimmung von Drehort und Entstehungsort des Textes erlaube es, den Geist der Novelle besser bewahren zu können – auch wenn ihm dies keine Rechte in den Augen der Jury einräumen würde.33 Hiermit zeigt der Regisseur seinerseits ein Problembewusstsein dafür, dass ein Gelingen oder Scheitern der Literaturverfilmung an eine elementare Überzeugung der Nachkriegszeit geknüpft ist: Der Glaube der Franzosen an die Résistance als einer stabilen moralischen Grundhaltung, die den Geist der gesamten Nation bestimmt. Diese Überzeugung war der Ausweg aus der Verunsicherung über die Unordnung der Kriegsjahre und der Destabilisierung ihres politischen Konstrukts. Mit der Wahl des Drehortes beteuert Melville – im Sinne eines Authentizitätspaktes – nach bestem Wissen und Gewissen den Widerstands-Geist der Romanvorlage zu adaptieren, damit die Zuschauer dem Film ihr Vertrauen schenken.34 Trotz der Hierarchisierung der beiden Medien hat Jean Bruller mit der Überantwortung seines geistigen Eigentums an die Veteranen der Résistance und mit dem Zugeständnis an die ganz praktisch räumliche Verbindung beider Werke auch 32

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Debû-Bridel, Jacques: Les Éditions de Minuit, 1945, S. 33. Anzumerken ist, dass die hier zitierte Biografie des Verlages Éditions de Minuit die Geschichte von Le Silence de la mer medienwirksam mitkonstruiert. Vgl. Nogueira, Ruy: Le cinéma selon Melville, 1973, S. 34. »Als Authentizitäts-Pakt wird die Bereitschaft des Rezipienten bezeichnet, medialen Produkten aufgrund bestimmter narrativer Verfahren (discours) und Inhalte (histoire) den Status ›authentisch‹ zuzuschreiben«, Weixler, Antonius: Authentisches erzählen, 2012, S. 1-32, hier S. 23.

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den Weg dafür geebnet, dass Text und Film nachträglich als gemeinschaftlich erschaffenes Œuvre betrachtet wurden. Der Wunsch nach Bewahrung der Einzigartigkeit des Résistance-Textes tritt somit in Konkurrenz mit dem Reiz der Verbreitung und des Fortbestehens von Le Silence de la mer über mediale Grenzen hinweg. Das Zusammentreffen beider Konflikte – jenem der Medienhoheit bzw. der Deutungsmacht von Literatur und Film einerseits und jenem der Neuorientierung Frankreichs nach dem Krieg andererseits –, verstärkt auf wirkungsvolle Weise die Auseinandersetzung mit Fragen der kulturellen Identität. Mit seinem hohen Engagement, den Film trotz des anfänglichen Gegendrucks und der hohen Anforderungen auf eigenes finanzielles Risiko zu produzieren, schreibt Melville die Geschichte des Textes gewissermaßen fort, denn die schwierige Entstehungsgeschichte des Films erinnert auch an die problematische Genese des Prätextes. Retrospektiv stilisiert Melville seine Dreharbeiten selbst zu einem Akt der Résistance: »Mais la sensation de réaliser quelque chose d’important, tout en étant complètement démuni était merveilleuse […] il n’est pas nécessaire d’espérer pour entreprendre, ni de réussir pour préserver! […] À vrai dire, j’ai eu des moments de découragement […] Il fallait avoir du courage, il faut bien l’admettre, pour tenir bon jusqu’au bout sans se laisser intimider par chaque sorte de menace et de critique!«35 Seine Wortwahl (›etwas Wichtiges vollbringen‹/›völlig entwaffnet‹/›handeln‹ und ›erhalten‹/›Mut‹/›bis zum Schluss durchhalten‹/›jegliche Art der Bedrohung‹) erinnert auffällig an jene Handlungen, die auch einen politischen Widerstand beschreiben. Auch die nachträglich erzählte Rivalität zwischen dem Schriftsteller und dem Regisseur untermauert die Vehemenz der querelle des médias. Bei Melvilles Schilderung des Vorfalls während der Vorpremiere, die ausschließlich für die Jury vorgesehen war und bei der versehentlich eine Reihe von Journalisten erschienen, fällt ebenfalls die Kriegs-Lexik ins Auge: »Vercors a décidé alors de faire une déclaration de guerre aux journalistes […] Moi, je vous assure, j’étais plus mort que vif.«36 Damit offenbart sich eine deutliche Analogie zwischen dem Streit um die Medienhoheit und dem Glauben an die Résistance und damit die Interaktion zweier belief 35

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Melville zit. in: Nogueira, Ruy: Le cinéma selon Melville, 1973, S. 44f. »Aber das Gefühl etwas sehr Wichtiges zu vollbringen, obgleich ich völlig entwaffnet war, war wunderbar […] es ist weder notwendig zu hoffen, um zu handeln, noch erfolgreich zu sein, um etwas zu erhalten! […] Um ehrlich zu sein, hatte ich Momente der Entmutigung […] Man musste zugegebenermaßen Mut haben, um bis zum Schluss durchzuhalten ohne sich von jeglicher Art von Bedrohung und Kritik einschüchtern zu lassen!« [Übers. d. Verf.]. Melville zit. in: ebd., S. 46. »Vercors entschloss sich also den Journalisten den Krieg zu erklären […] Ich kann ihnen versichern, dass ich in diesem Moment eher tot als lebendig war.« [Übers. d. Verf.].

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systems. Der nachfolgende Abschnitt soll darlegen, wie sich diese Überzeugungen einerseits im Erzähltext selbst entfalten und wie sie auch durch den innerfiktionalen Mediendiskurs, als einem eigenständigen Deutungsmachtkonflikt, bestärkt werden.

3. Schon der Vorspann des Films weist eine deutliche Hommage an das Buch auf, die sich in Form einer mise en abyme darstellt. Der Film beginnt mit einer kurzen Szene, in denen die Kofferträger der Résistance ins Licht gerückt werden, die für die Verteilung illegaler Schriften zuständig waren. In einem der Koffer befindet sich, versteckt unter Résistance-Zeitschriften, das Buch Le Silence de la mer, wodurch an den Verbreitungskontext der Novelle erinnert wird. Der Protagonist dieser kurzen Szene öffnet das Buch und beginnt mit dessen Lektüre, die den Übergang zur Binnenerzählung markiert. Durch diese Verbindung von intermedialer Einzelreferenz (Visualisierung von Le Silence de la mer) und Systemreferenz (Medium Buch und Lektüre) werden Literatur und Film offensichtlich miteinander verschränkt.37 Die Seiten des Buches dienen auch als Medium für den Vorspann, da beim Blättern der Seiten die Namen der an der Produktion Mitwirkenden eingeschrieben sind, wodurch der Film Leser und Zuschauer miteinander assimiliert und beide Medien zu einem Gesamtwerk vereint. Mit der prominenten Position dieser Reminiszenz wird die Verfilmung unter dem Vorzeichen des Textes präsentiert und auf diese Weise das oben genannte Vertrauensverhältnis zum Zuschauer besiegelt.38 Über die gesamte Dauer behält der Film außerdem durch ein Voiceover seine metareflexive Dimension bei. Die Stimme begleitet dauerhaft die Bildspur und zitiert zu Dreiviertel den Originaltext. Der Erhalt der Erzählstimme stellt auch wieder eine Systemreferenz dar und verleiht dem Film dadurch einen literarischen Charakter. Auf diese Weise unterstreicht die Verfilmung die Gemeinsamkeiten mit dem Buch und den Erhalt des Prätextes. An verschiedenen Stellen weicht die Adaptation aber auch von der Novelle ab. Semantische Unterschiede lassen sich gerade dort feststellen, wo die Novelle zweideutig ist. Mit den spezifisch kinematographischen Mitteln erzeugt Melville beispielsweise eine Dramatisierung der Figur des Deutschen, die sich mit dem ersten Auftreten des Offiziers darbietet. Während die Figur im Text zwar als ›riesengroß‹

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Zur verwendeten Terminologie vgl. Rajewsky, Irina O.: Intermedialität, 2002, S. 65-69. Rezeptionsästhetisch betrachtet, kann von einem Pakt gesprochen werden, den der Regisseur mit dem Publikum eingeht. Zum Konzept des pacte de l’adaptation, das über ein bloßes Vertrauensverhältnis (wie es etwa der pacte autbiographique umschreibt) hinaus geht, vgl. Roger, Jennifer: Querelle des médias, 2020.

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und in Andeutungen auf die Wehrmachtsuniform beschrieben wird (»Je vis l’immense silhouette, la casquette plate, l’imperméable jeté sur les épaules comme une cape«39 ), tritt Werner von Ebrennac im Film wesentlich bedrohlicher in Erscheinung, was auf die filmisch erzeugte Hierarchie zurückzuführen ist. Als Kameraperspektive werden extreme Vogel- und Froschperspektiven gewählt, um die Bedrohung, die vom deutschen Offizier ausgeht, zum Ausdruck zu bringen (s. Abb. 1 und 2). Auch die Überbelichtung des starren Gesichts (s. Abb. 3) und die Tonspur unterstreichen die dramatische Situation der Ankunft von Ebrennacs. Das Ticken der Standuhr im Hintergrund wird von einer Streichmusik übertönt, die im Crescendo einen drastischen Höhepunkt erzeugen und deren abruptes Ende mit dem Auftritt des Deutschen zusammenfällt. Es folgt ein langer Moment der Stille, die durch das Ticken der Uhr eindrücklich herausgearbeitet wird und mit Nachdruck auf das leitmotivische und titelgebende Schweigen von Le Silence de la mer verweist. Abbildung 1 & 2: Melville, Le Silence de la mer: Filmisch erzeugte Hierarchie durch Froschund Vogelperspektive.

Während Vercors Text darauf abzielt, die zeitgenössischen Leser subtil vor der Verführung durch einen sanftmütigen, zurückhaltenden Deutschen zu warnen,40  ist die filmische Deutung offensichtlich – es wird ein bedrohlicher deutscher Offizier gezeigt, dem von seinem ersten Auftritt an nicht zu trauen ist. Die medienspezifisch erzeugten Veränderungen der Verfilmung gegenüber der literarischen Vorlage werden genau an der Stelle eingesetzt, die im Text für Kritik gesorgt hatten: Dem Autor wurde aufgrund der Freundlichkeit der Figur Ebrennacs vorgeworfen, sich in Bezug auf die Haltung gegenüber den Deutschen nicht eindeutig positioniert zu haben. Die Skepsis erscheint insofern widersinnig,

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Vercors: Le Silence de la mer, 1951, S. 25. Vgl. Langlois, Suzanne: La résistance, 2001, S. 145.

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Abbildung 3: Melville, Le Silence de la mer: Dramatisierung durch Überbelichtung des Gesichts.

als gerade hier das Genie des Textes liegt. Erst die paradoxe Konzeption der Figur erlaubt es, die schwerwiegende Herausforderung der Nichte und ihres Onkels herauszustellen, selbst dem ›Besten aller Deutschen‹ (»le meilleur Allemand possible«) wie Vercors später sagen wird, widerstehen zu müssen.41 Wenn es aber schon schwierig war, den Leser mit einem freundlichen Deutschen zu konfrontieren, so war es vermutlich noch problematischer – zu einer Zeit, als das Kino noch nicht immer als fiktionalisiertes Medium betrachtet wurde –, die Zuschauer eine solche Figur auf dem Bildschirm erleben zu lassen. Tatsächlich sorgten selbst die Dreharbeiten für Unruhe, weil es nicht ungefährlich war, mit deutscher Uniform in Paris aufzulaufen.42 Auch die damalige Rolle des Films als wichtiges Propagandainstrument dürfte dazu beigetragen haben, dass die Zuschauer dem Kino gewissermaßen misstrauisch gegenüberstanden. Wenn Melville der Figur ein bedrohlicheres Erscheinungsbild verleiht, kommt er somit dem Wunsch eines Publikums entgegen, welches das Trauma der Besatzungszeit durch ein eindeutiges Feindbild und den Glauben an ein mehrheitlich aus RésistanceKämpfern bestehendes Volk zu überwinden versucht. Der Medienwechsel weist somit substantielle Veränderungen durch medienspezifische Darstellungsmittel an solchen Stellen auf, an denen es um den Kern des belief systems Résistance als Gründungsmythos geht. Dass der Wandel vom subtil

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Vercors, zit. in Plazy, Gilles: À dire vrai, 1991, S. 32. Vgl. Nogueira, Ruy: Le cinéma selon Melville, 1973, S. 39f.

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dargestellten ›Besten aller Deutschen‹ im Text zum offensichtlich furchteinflößenden Deutschen im Film keineswegs als Verrat am Prätext wahrgenommen wurde, sondern den Erwartungen des Publikums entgegenkommt, davon zeugt auch folgende Mahnung, die vor Beginn des Films als Texttafel eingeblendet wird: »Ce film n’a pas la prétention d’apporter une solution au problème des relations entre la France et l’Allemagne, problème qui se posera aussi longtemps que les crimes de la barbarie nazie, perpétré avec la complicité du peuple allemand, resterons dans la mémoire des hommes…«43 Hier wird nicht nur Deutschland als politische Macht zum Feind erklärt. Auch jegliche Aussicht auf Versöhnung wird, begründet durch die Mitschuld des Volkes, das die Figur Ebrennacs verkörpert, ausgeschlossen. Das darauffolgende Bild eines ländlich-idyllischen französischen Dorfes macht die Dichotomie »kriegerisches Deutschland« versus »friedliches Frankreich« auch auf der Ebene der Darstellung sichtbar. Doch auch an dieser Stelle scheint die visuelle Ebene nicht auszureichen. Damit die Zuschauer auch wirklich keine Zweifel an der richtigen Absicht des Films hegen, entscheidet sich Melville auch noch für eine Prolepse, die den unwiderruflichen Fall Ebrennacs vorwegnimmt. Es handelt sich um die letzte Begegnung der unfreiwilligen Gastgeber mit dem Offizier, der sich dazu entschieden hat, sich zum Sterben an die Ostfront versetzen zu lassen. In der Novelle lauten die Gedanken des Onkels: »Ainsi il se soumet. Voilà donc tout ce qu’ils savent faire. Ils se soumettent tous. Même cet homme-là«44 . Diese Schlusspointe wird im Film also noch vor die Ankunft des Offiziers platziert und auch sprachlich angereichert: »Ainsi il se soumettait lui aussi. Comme les autres, comme tous les autres. Comme tout ce malheureux peuple. Et je tentait de fixer dans ma mémoire tout ce qui s’était passé durant ces six mois. Ces soirées, ces paroles et cette révolte que même cet homme là n’avait pas eu le courage de maintenir contre les ordres de son maitre«.45 Das Wirkungspotenzial des Films scheint nicht auszureichen, im Gegensatz zur Literatur, allein auf der Ebene der ›narration‹, metaphorisch und durch subtile vi43

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»Dieser Film hat nicht den Anspruch das problematische Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich aufzulösen, ein Problem, das solange weiterbestehen wird, wie die NSVerbrechen der nationalsozialistischen Barbarei, die unter Mitschuld des deutschen Volkes begangen worden sind, im Gedächtnis der Menschen bleiben werden…« [Übers. d. Verf.]. Vercors: Le Silence de la mer, 1951, S. 75. Melville, Jean-Pierre: Le Silence de la mer, 1949, 0'02:30 – 0'02:56. »Und so unterwarf auch er sich. So wie die anderen, so wie all die anderen. So wie dieses ganze unglückliche Volk. Und ich versuchte alles, was sich in diesen sechs Monaten abgespielt hatte, in meinem Gedächtnis festzuhalten. Diese Abende, diese Worte und diese Revolte, die selbst dieser Mann nicht im Stande war gegen die Befehle seines Herren zu verteidigen.« [Übers. d. Verf.].

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suelle Anspielungen das Verhältnis zu den deutschen Besatzern darzustellen. Die offensichtlich als notwendig erachtete vorangestellte Warnung sowie die Prolepse verdeutlichen das Misstrauen in die mimetische Kompetenz des Films. Das manifestiert sich auch an einer weiteren Abweichung vom Prätext auf der Handlungsebene. Es handelt sich um die Ergänzung einer Szene, auf die der Text nur anspielt, und zwar den Parisaufenthalt Ebrennacs, bei dem sich die Figur mit den Intentionen Hitlers konfrontiert sieht, den Vernichtungslagern und der Absicht der Nationalsozialisten, Frankreich zu zerstören. Auf die Gesamtlaufzeit des Films betrachtet, ist die zweigeteilte Szene von beträchtlicher Dauer (ein Drittel der Laufzeit). Im ersten Teil beleuchtet eine Kutschfahrt des Offiziers durch Paris dessen ›lieux de mémoire‹. Bei seiner Fahrt betrachtet von Ebrennac die glorreiche Geschichte Frankreichs im Lichte seiner Denkmäler, die von Errungenschaften, Mythen und Traditionen erzählen. Die Kamera verweilt lange auf den einzelnen Denkmälern und stellt dadurch die historische Größe Frankreichs heraus.46 Die Symbolträchtigkeit der Bilder hebt aber darauf ab, die drohende Gefahr zu verdeutlichen, denn die gezeigten Monumente sind entweder von der Präsenz der Militärkappe von Ebrennacs oder deutschen Panzern unterbrochen und überschattet. Die Gefahr, die vom deutschen Volk ausgeht, so die Deutung des Films, und über die auch ein intellektueller Deutscher nicht hinwegtäuschen kann, wird hier auch über die visuelle Ebene vermittelt. Im zweiten Teil des Parisaufenthalts wendet sich der Film jedoch wieder von der symbolischen Seite ab. Die Inszenierung einer Versammlung von Wehrmachtsoffizieren etwa besteht aus Stellungsnahmen, die konkret von den ›wahren‹ Absichten der Nationalsozialisten handeln. So redet beispielsweise ein Offizier auf den ungläubigen von Ebrennac ein: »Wir haben die Gelegenheit, Frankreich zu vernichten und wir werden es tun. Nicht nur seine Macht, auch seinen Geist […] einen kriechenden Hund werden wir aus Frankreich machen«.47 Weitere Szenen unterstreichen die Gefahr wiederum mit der Verbindung von filmästhetischen Mitteln und ikonografischen Elementen des historischen Kontextes: Hakenkreuze in Nahaufnahme; der Zoom auf das Portrait Hitlers, das in Großaufnahme fixiert wird, während die Vernichtungsstrategien für das Konzentrationslager Treblinka verlesen werden; die Büste der Marianne, die – auf den Boden verbannt – mit dem Kopf gegen die Wand schaut etc.48 Die gattungstypischen Elemente der Novelle, die der Text stringent verfolgt, wie etwa Handlungsreduktion und repetitive Struktur, werden im Film zugunsten

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Vgl. Dürr, Susanne: Strategien nationaler Vergangenheitsbewältigung, 2001, S. 138. Melville, Jean-Pierre: Le Silence de la mer, 1949, 0'59:40 – 0'60:00. Ebd., 0'50:15 – 0'50:45 und 0'46:24 ; weitere Szenen, die auf den Widerstand gegenüber der intellektuellen deutschen Verführung anspielen vgl. Langlois, Suzanne: La résistance, 2001, S. 144-146.

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einer umfangreichen Inszenierung von Ereignissen außerhalb der Haupthandlung aufgelöst. Das huis clos und die Figurentrias weicht Nebenschauplätzen und einer Erweiterung des Figureninventars, die zu einer stärkeren Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Nationalsozialismus führen. Der Film räumt dadurch mit der moralischen Ambivalenz des Prätextes auf und macht Platz für demonstrative Bezugnahmen auf die außerfiktionale Wirklichkeit. Auf diese Weise wird das Bild einer französischen Nation, die ihre Identität während der deutschen Besetzung auf einem allgemeinen Widerstandsgedanken gründet und die Kollaboration mit dem »bösen Deutschen« kategorisch ausschließt, profiliert und bekräftigt. Sicherlich hat die Literaturverfilmung durch Konkretisierung in Bezug auf die außerfiktionale Wirklichkeit und die Dramatisierung der Figur des Offiziers den Erfolg der Novelle, die ihrerseits allein mit literarischer Symbolik, Metaphorik und literarischer Gattungstradition auskommt, gesteigert. Vielleicht hat die Verfilmung auch das Weiterleben der Novelle überhaupt nur möglich gemacht: Im Sinne eines Translationsprozesses, in dem auch das transkribierte ›Original‹ nachträglich mitverändert wird, gelingt durch die filmische Neuperspektivierung die eigentliche Ausprägung und Verankerung kollektiver belief systems der Nachkriegszeit.49

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Zum Denkmodell der Transkription vgl. Lethen, Helmut/Jäger, Ludwig: »Erst Transkription macht Wissen anschlussfähig«, 2012, S. 81-92, hier S. 81 und 87.

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Koschorke, Albrecht: »Zur Logik kultureller Gründungserzählungen«. In: Zeitschrift für Ideengeschichte (2007), Heft I/2, S. 5-12. Krömer, Wolfram (Hg.): Die französische Novelle. Düsseldorf 1976. Langlois, Suzanne: La résistance dans le cinéma français 1944-1994. Paris 2001. Lethen, Helmut/Jäger, Ludwig: »Erst Transkription macht Wissen anschlussfähig«. In: transcript. Zeitschrift für Kulturwissenschaften (2012), N° 6/2, S. 81-92. Lux, Nadja: »Alptraum: Deutschland«. Traumversionen und Traumvisionen vom »Dritten Reich«. Göttingen 2008. Machabéïs, Jacqueline: »Le Silence de la mer de Vercors: ›métaphore filée‹ de la France sous l’Occupation«. In: French Studies in Southern Africa 36 (2006), S. 75-101. Melville, Jean-Pierre: Le Silence de la mer. Frankreich 1949 [87 Minuten]. Nogueira, Ruy: Le cinéma selon Melville. Paris 1973. Paech, Joachim: Literatur und Film. Stuttgart 1997. Plazy, Gilles (Hg.): À dire vrai. Entretiens de Vercors avec Gilles Plazy. Paris 1991. Rajewsky, Irina O.: Intermedialität. Tübingen 2002. Reichelberg, Ruth/Kauffmann Judith (Hg.): Littérature et Résistance. Reims 2000. Ritzenhofen, Medard: »Wieder gelesen: ›Das Schweigen des Meeres‹. Vercors’ Meisterwerk der literarischen Résistance Frankreichs«. In: Dokumente. Zeitschrift für den deutsch-französischen Dialog 47 (1991), N° 1, S. 59-63. Roger, Jennifer: Querelle des médias und pacte de l’adaptation. Die ›Grande Guerre‹-Erinnerung in Romanen und Filmen der Jahrtausendwende. Würzburg 2020. Roger, Jennifer: Résistance/Resistenza/Widerstand. In: Wodianka, Stephanie/ Ebert, Juliane (Hg.): Metzler Lexikon moderner Mythen. Stuttgart 2014, S. 316321. Rousso, Henry: Le Syndrome de Vichy. De 1944 à nos jours. Paris 1990. Sartre, Jean-Paul: Qu’est ce que la littérature. Paris 2010 [1948]. Vatter, Christoph: Gedächtnismedium Film. Holocaust und Kollaboration in deutschen und französischen Spielfilmen seit 1945. Würzburg 2009. Vercors: Le Silence de la mer. Paris 1951 [1941]. Walter, Klaus-Peter: »Schwierige Vergangenheitsbewältigung. Die Okkupation Frankreichs (1940-1944) im Spiegel von Kinofilm und Roman«. In: DeutschFranzösisches Institut (Hg.): Frankreichjahrbuch. Wiesbaden 2000, S. 129-144. Weixler, Antonius: »Authentisches erzählen – authentisches Erzählen. Über Authentizität als Zuschreibungsphänomen und Pakt«. In: ders. (Hg.): Authentisches Erzählen. Produktion, Narration, Rezeption. Berlin/Boston 2012, S. 1-32. Wolfzettel, Friedrich (Hg.): 19. Jahrhundert: Roman. Tübingen 1999.

Auseinandersetzungen um Abtreibung in Deutschland 2017-2020 im Kontext digitaler Medien Kultur- und medienwissenschaftliche Perspektiven Katharina Alexi

Im Sommer 2019 veröffentlichte das Magazin Stern in seiner »Diskuthek«, einem Diskussionsformat auf Youtube, das Video »Abtreibung: Sollte sich der Staat raushalten? Feministin vs. Abtreibungsgegnerin«. Dem bis dato über eine Million Mal aufgerufenen Video vorausgegangen waren viele andere Beiträge zum Themenkomplex in digitalen Medien und im Print-Diskurs. Mediale Konjunktur erhielt die Abtreibungsdebatte in Deutschland nach einer langen Diskurspause auch innerhalb feministischer Strömungen,1 die ihr Ende erst im Zuge der zunächst drohenden und dann erfolgten Verurteilung der Gießener Ärztin Kristina Hänel fand. Hänel wurde Ende 2017 zu einer Geldstrafe über 6.000 Euro verurteilt, wobei das Urteil im Juli 2019 aufgehoben und im Dezember 2019 erneuert wurde; lediglich die Geldstrafe wurde gesenkt. Basis ihrer und weiterer Verurteilungen ist der im deutschen Strafgesetzbuch verankerte Paragraph 219a, nach dem auch informative Angaben auf Webseiten von Ärzt_innen zum Schwangerschaftsabbruch als Werbung gelten, wenn sie mit ärztlichen Leistungen in Verbindung gebracht werden können. Weitere Anklagen wurden u.a. gegen digitale Angaben der Medizinerinnen Bettina Gaber (Berlin) und Nora Szász (Kassel) eingereicht.2 Sowohl die funktionelle und strukturelle Transformation des öffentlichen Abtreibungsdiskurses in jüngeren öffentlichen Teil-Diskursen als auch die situative Zuspitzung einer gesundheitlichen Unterversorgung für Personen, die ungewoll-

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Vgl. Krolzik-Matthei, Katja: §218, 2015. Zwei der Kläger waren die Abtreibungsgegner Yannic Hendricks, der im April 2019 eine Unterlassungsklage gegen die Hamburger Profamilia-Vorsitzende Kersten Artus verlor, und Klaus Günter Annen, Betreiber der Webseiten babycaust.de und abtreiber.com. Annen war bereits 2003 und 2004 zu einer Bewährungs- und Ordnungsstrafe u.a. nach der Beschreibung eines Arztes, verurteilt worden sowie zu mehreren Unterlassungen und Schadensersatz bzw. Entschädigungen an Ärzt_innen, zuletzt an Kristina Hänel, der er 6.000 Euro zahlen musste.

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te Schwangerschaften abbrechen wollen,3 führen in diesem Aufsatz zu der Frage, wie Abtreibung gegenwärtig insbesondere in den digitalen Medien dargestellt und umstritten ist, welche Strategien des Streitens erkennbar und welche Akteur_innen sichtbar werden – und welche unsichtbar bleiben. Der Beitrag beleuchtet an ausgewählten Beispielen die jüngere deutschsprachige mediale Verhandlung von Abtreibung und widmet sich in einem ersten Schritt überblicksweise Webseiten als wichtigen digitalen Medien. Deren – wie zu zeigen sein wird – zum Teil desorientierender Charakter wird anhand der ästhetischen Gestaltung der Portale abtreibung.de und schwanger-in-konflikt.de inhalts- und kontextanalytisch untersucht. Im Fokus des Beitrags steht zweitens die sprachliche Organisation von Streitkultur. Ausgegangen wird davon, dass Diskurssprache in den Medien eine tragende Bedeutung für Verläufe von Auseinandersetzungen haben kann. Als zwei diskursive Werkzeuge der jüngeren öffentlichen Verhandlungen des Komplexes lassen sich der Begriff des Konfliktes, aber auch des Kompromisses in der öffentlichen Diskussion um die Erweiterung des Paragraphen 219a identifizieren und erläutern. Dieser Teildiskurs wurde ausgewählt, da er sich explizit auf digitale Medien bezieht. Unter Zuhilfenahme eines videoanalytischen Verfahrens wendet sich der Beitrag drittens einem audiovisuellen Erzeugnis zu, um zu veranschaulichen, wie sich mediale Streitkultur um den Themenkomplex der Abtreibung mitunter als choreografierter Streit vollzieht, in dem (ebenfalls) eine problematische Selektion sichtbarer Akteur_innen evident wird. Illustrierendes Beispiel ist für diesen Aspekt das oben angesprochene, vom Stern-Magazin produzierte populäre Video.

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Eine zentralisiert geführte Liste, verwaltet von der Bundesärztekammer, vermerkte Ende Juli 2019 zunächst nicht einmal 100 Selbstangaben von 1200 Ärzt_innen. Eine spätere Auszählung (Listendatum 5.10.2020) ergab im Herbst 2020 334 Angaben – bundesweit. Die Liste stagnierte 2020. Vgl. https://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_u pload/downloads/pdf-Ordner/Liste219a/20210405_Liste____13_Abs_3_SchKG.pdf (zuletzt abgerufen am: 02.12.2020). Die Verschlechterung der gesundheitlichen Versorgung zeichnet sich in Deutschland dabei schon seit der Jahrtausendwende ab. Seit 2003 ist die Zahl der Mediziner_innen, die Abtreibungen durchführen, um 40 % gesunken. Als Begründung führte die Ärztekammer 2018 selbst »massiven Druck militanter Abtreibungsgegner an«; Präsident Frank U. Montgomery (bis 2019) habe »großes Verständnis für jeden Arzt, der unter den derzeit herrschenden Bedingungen keine Schwangerschaftsabbrüche vornehmen möchte«. Vgl. Riese, Dinah: Nur 87 von 1200 Ärzten gelistet, 2019, https://taz.de/Ae rztinnen-die-Abtreibungen-vornehmen/!5610018/; Iser, Jurik C.: 300 Ärzte als Anbieter von Schwangerschaftsabbrüchen registriert, 2020, https://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2020 -01/schwangerschaftsabbruch-bundesaerztekammer-liste-anlaufstellen-frauen; Schmidt, Fabian: In Deutschland gibt es immer weniger Ärztinnen und Ärzte, die Abtreibungen vornehmen, 2018, https://www.spiegel.de/panorama/abtreibung-immer-weniger-aerzte-fuehren-sc hwangerschaftsabbrueche-durch, (zuletzt abgerufen jeweils am: 03.06.2021).

Auseinandersetzungen um Abtreibung in Deutschland 2017-2020 im Kontext digitaler Medien

Finden sich grundsätzlich wenige jüngere wissenschaftliche Beiträge zu Abtreibung aus einer medien- und kulturwissenschaftlichen Forschungsperspektive,4 so kann auf die einschlägige Analyse ihrer öffentlichen Aushandlung durch die Sexualwissenschaftlerin Katja Krolzik-Matthei zurückgegriffen werden, die die Autorin in mehreren Arbeiten dargelegt und aktualisiert hat.5 Eine umfassende Bearbeitung erfahren mediale Verhandlungen von Abtreibung seit den späten 1990er-Jahren auch in den diskursforschenden Sozialwissenschaften.6 Allerdings liegen explizit medienbezogene Beiträge bislang nicht für den hier analysierten Zeitraum der Erweiterung des Paragraphen 219a vor. Außerdem gehen sozialwissenschaftliche Arbeiten fachgemäß selten auf medienspezifische Auseinandersetzungs-Kulturen, Ästhetiken und auch deren Konsequenzen ein. Der Beitrag wendet sich deshalb medialen Angeboten zu Abtreibung mit einem kultur- und medienwissenschaftlichen Ansatz zu. Zwar sind Darstellungen und Missrepräsentationen von Frauenkörpern und Frauenrechten7 in Medien vielfach untersucht worden, es können aber kaum Analysen zur Bedeutung deutschsprachiger Medien, vor allem digitaler und audiovisueller Angebote, für die jüngere Sichtbarwerdung von Abtreibung identifiziert werden. Auf beide ist künftig näher einzugehen, gerade angesichts der sich im Untersuchungszeitraum abzeichnenden Schlüsselrolle von Medien für diskursive wie nichtdiskursive Praxen.

Abtreibung in deutschsprachigen digitalen Medien – unter besonderer Berücksichtigung von Webseiten Im Folgenden wird die polyvalente Funktion von Medien im aktuellen Abtreibungsdiskurs anhand deutschsprachiger digitaler Medien sichtbar. Zunächst ist hierfür die streitkulturelle Bedeutung digitaler Medien im Zusammenhang mit der Erweiterung des Paragraphen 219a aufzuzeigen. Mit Kristina Hänel und Bettina Gaber wurden auf der Grundlage auch des erweiterten »Werbeparagraphen« 219a des deutschen Strafgesetzbuches 2019 (min-

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Eine Ausnahme bildet Diehl, Sarah: Auch das gehört zum Leben dazu, 2007. Krolzik-Matthei, Katja: § 218, 2015; dies.: Abtreibungen in der Debatte in Deutschland und Europa, 2019, S. 4-11. Busch, Ulrike/Hahn, D.: Abtreibung, 2015. Als basale medienbeforschende Beiträge sind außerdem die Studien Zwischen Palaver und Diskurs, Öffentlichkeitsrhetorik und Shaping Abortion Discourse hervorzuheben. Gerhards, Jürgen/Neidhardt, F./Rucht, D.: Zwischen Palaver und Diskurs, 1998; Franz, Barbara: Öffentlichkeitsrhetorik, 2000; Ferree, Myra M.: Shaping Abortion Discourse, 2002. Der Begriff Frauen ist hier inklusiv gesetzt und bezieht sich gleichermaßen auf trans- und intergeschlechtliche Frauen wie alle anderen. Zudem nehmen auch Transmänner Abtreibungen in Anspruch.

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destens) zwei Ärztinnen verurteilt, Hänel zum zweiten Mal. Beide Medizinerinnen hatten auf Webseiten konkrete Angaben zu Verfahren des Schwangerschaftsabbruchs in ihren Praxen gemacht. Die Erweiterung des Paragraphen 219a bezog sich bereits explizit auf Webseiten von z.B. Ärzt_innen mit informativen Inhalten, die als Werbung gedeutet werden können. Im Urteil über Kristina Hänel vom Dezember 2017, digital veröffentlicht auf einer Petitionsseite für die Ärztin, heißt es zur Unterscheidbarkeit von Information und Werbung seitens des Amtsgerichtes Gießen: »Selbst eine aufklärende Information erfüllt den Tatbestand des §219a, wenn das Anbieten mit der Leistung verknüpft ist. Dabei ist es entgegen der amtlichen Überschrift des §§219 a StGB nicht notwendig, dass diese Information einen besonders werbenden Charakter besitzt«.8 Überschrieben war das Urteil indes mit dem Vermerk: »Strafsache […] wegen Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft«. Der Begriff der Werbung als »anpreisen« ist mit dem Paragraph 219a 1933 durch die nationalsozialistische Gesetzgebung verankert worden; das bevölkerungspolitisch motivierte Abtreibungsverbot im Paragraph 218 fand indes ab 1871 im Zuge einer Reihe von Paragraphen, die kriegsbedingte Bevölkerungsverluste ausgleichen sollten, Eingang in das Strafrecht des neu konstituierten Deutschen Reiches.9 Die Information über Abbrüche ist in Deutschland somit schon seit vielen Dekaden streng reglementiert. Der Umfang verfügbarer Informationsquellen änderte sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts allerdings durch neue Sichtbarkeiten feministischer Positionen im breiteren Journalismus. Im 21. Jahrhundert steigerte sich dieser nochmals; auf Webseiten und in audiovisuellen Medien werden nunmehr niedrigschwellig auch Beratungs- und Diskussionsinhalte zur Praxis der Abtreibung angeboten. Besonders Webseiten mit beratenden Inhalten sind, nicht erst seit 2017, ein bedeutsames Medium im Kontext von Abtreibung. Sie finden daher auch hier besondere Berücksichtigung. Seit wenigen Jahren zeigen sich diverse (weitere) Medien um eine Klärung und Einordnung der Fülle an neuen wie alten Informationen bemüht. Dazu zählt die Organisation praktischer Hilfe für ungewollt Schwangere in Ländern, in denen Abtreibungsrechte massiv eingeschränkt werden. So vermittelt das Abortion Support Network Hilfe beispielsweise in Polen und 8

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Amtsgericht Gießen: Im Namen des Volkes. Urteil. Strafsache gegen Kristina Gisela Hänel, https://solidaritaetfuerkristinahaenel.files.wordpress.com/2018/01/urteil-haenel.pdf, S. 4, (zuletzt abgerufen am: 03.06.2021). Die Entstehungsgeschichte des Paragraphen 219a ist in einem 2017 erstellten Text des Deutschen Bundestages mit dem Unterkapitel-Titel Die Einführung des Werbeverbots im Zeitalter des Nationalsozialismus umfassend (digital) dargelegt. Deutscher Bundestag/Wissenschaftliche Dienste: Sachstand, 2017, https://www.bundestag.de/resource/blob/538834/60779eb2c0eaa6 5571152a3354b7fca3/wd-7-159-17-pdf-data.pdf (zuletzt abgerufen am: 03.06.2021).

Auseinandersetzungen um Abtreibung in Deutschland 2017-2020 im Kontext digitaler Medien

bietet finanzielle Unterstützung und Unterbringung bei derzeit obligatorischen Reisen in das Ausland an.10 Produziert wurden in den letzten Jahren vermehrt auch audiovisuelle Medien, darunter Videos, in denen vor allem junge Frauen von ihren Abbrüchen von Schwangerschaften berichten. Abseits der audiovisuellen Medien, von denen eine starke öffentliche Rezeption durch Abrufzahlen weitestgehend nachvollzogen werden kann, besteht Unklarheit über die Nutzung und die Orientierungsbedeutung weiterer medialer Angebote, besonders derer, die bislang wenig evaluiert wurden. Die quantitative Zunahme von Webseiten, die Abtreibung zum Thema haben, hat jedoch nicht zu zu einem besseren Überblickfür Frauen geführt. Von fast jeglicher Regulierung ausgenommen schaffen einige dieser Webseiten seit mehreren Jahren ein digitales Überangebot an ideologiebedingter Desinformation (verstanden im Anschluss an Whitney Philipps)11 zum Schwangerschaftsabbruch.12 Zumeist sind sie interaktiv gestaltet und richten sich gezielt an junge weibliche Personen mit Beratungsbedarf. Über diese Webseiten bestehen nur wenige wissenschaftliche Erkenntnisse; allerdings liegen zahlreiche journalistische Hinweise vor.13 Die folgende Analyse orientiert sich an kontextanalytischen inhaltsbezoge-

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Ende Januar 2021 ist in Polen auf Initiative der nationalkonservativen Regierung ein Verbot von Abtreibungen in Kraft getreten, wodurch sich die Situation für ungewollt Schwangere im Land während der Covid-19-Pandemie weiter extrem verschlechterte. In Polen wurden bereits 2019 nur noch 1.100 registrierte Abtreibungen erfasst; Frauenrechtsorganisationen gehen von 200.000 tatsächlich durchgeführten Abbrüchen ungewollter Schwangerschaften aus. Vgl. Ketter, Tobias: Polen: Abtreibung ab sofort faktisch verboten – Proteste im ganzen Land, 2021, https://www.fr.de/politik/polen-warschau-abtreibung-protest-gericht-urteil-r egierung-demonstration-verfassung-schwangerschaft-90183561.html (zuletzt abgerufen am: 03.06.2021). Die Medienwissenschaftlerin Whitney Phillips differenziert im Kontext »verschmutzter Information« mis-and disinformation wie folgt: »Misinformation is spread inadvertently because the person thinks the information is true and is trying to get the word out. Disinformation is spread intentionally because the person knows the information is false and is looking to sow chaos, confusion or harm«. Enslin, Rob/Phillips, W.: Navigating Polluted Information Amid Covid-19, https://www.syracuse.edu/stories/whitney-phillips-media-polluted-informati on/ (zuletzt abgerufen am: 03.06.2021). Ein Problembewusstsein (»knows the information is false« ist indes als Kernmerkmal von Desinformation näher zu hinterfragen. Vgl. Diehl, Sarah: Auch das gehört zum Leben dazu, 2007. Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf deutschsprachige Webseiten. Bisher auf Webseiten für die deutschsprachigen Länder eingegangen sind Sybill Schulz und Petra Schweiger. Zuvor machten journalistische Beiträge schon seit 2013 auf die medialen Strategien von Abtreibungsgegner_innen aufmerksam, z.B. auf das Sichern der Domains abtreibung.de und abtreibung.ch in Deutschland und der Schweiz. Eine aktuelle Analyse bezieht sich auf die Webseite VitaL und wurde für die taz von Kirsten Achtelik verfasst. Schulz, Sybill: Information oder Werbung? Juristische Verfahren zum Schwangerschaftsabbruch, 2012, S. 86-92, hier 88f. Schweiger, Petra: Schwangerschaftsabbruch, 2015, S. 235-257, hier S. 240f.,

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nen Verfahren, wie sie u.a. von Philipp Mayring als qualitative Technik zur Verfügung stellt werden.14 Von Interesse ist hierbei auch die Verknüpfung mit weiteren digitalen Medien wie den sozialen Medien und anderen Webseiten. Sowohl die Webseite abtreibung.de wird von Gegner_innen der Möglichkeit zum Schwangerschaftsabbruch betrieben als auch das Beratungsportal schwanger-in-konflikt.de.15 AlfA,16 Betreibungsorganisation von abtreibung.de, wurde 1977 gegründet und wird mit nach eigenen Angaben 11.000 Mitgliedern als aktivste Vereinigung der sogenannten »Lebensschutz«-Bewegung eingestuft.17 Gegenwärtig »liken« über 1700 Personen die facebook-Seite von AlfA. Tiqua, betreibender Verein der Webseite schwanger-in-konflikt.de, hat deutlich weniger digitale Anhänger_innen im sozialen Netzwerk, lediglich 26 Personen haben die bis 2018 mit Inhalten erneuerte Seite gelikt (Stand jeweils: April 2021). Allerdings ist die Vorsitzende Sonja Dengler seit den 1980er-Jahren als radikale Abtreibungsgegnerin organisiert und war als solche sowohl an der Gründung der Vereine »Birke« (1986) sowie »Pro Femina« (1999) beteiligt. Nach Eigenangaben auf Anfrage des Magazins BuzzFeed News beschäftigte Pro Femina 2018 64 Personen in Teil- und Vollzeit; davon waren 37 Personen für Schwangerschaftskonfliktberatung zuständig. Beide Webseiten verfügen über ein professionelles Design und lassen oberflächlich auf ihrer Startseite zunächst keine explizit wertende Tendenz erkennen. Bei näherer Lektüre wird allerdings deutlich, dass in einseitiger Weise durchweg vom Schwangerschaftsabbruch abgeraten und dessen Verwerflichkeit suggeriert wird. Dies entspricht weder dem Offenheits- noch dem Subjektivitätsgebot der Beratung ungewollt Schwangerer, die in Deutschland für abtreibende Personen obligatorisch ist. Über die Träger-Webseite (www.tiqua.org) finden sich im Fall von schwanger-in-konflikt.de schließlich auch offensiv pronatalistische Slogans wie »Wir retten Kindern das Leben«. Auf einer facebook-Page, bewirbt abtreibung.de den sogenannten »Marsch für das Leben«, der von einer breiten Protestgemeinschaft aus fundamentalistisch-religiösen und antifeministischen Akteur_innen getragen wird.18 Im Beratungs-Team der »Lebenshelfer« auf abtreibung.de schreiben fast ausschließlich Mütter mehrerer Kinder, die zum Teil ihre Dankbarkeit für deren Le-

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mit Bezug auf den Beitrag »Abtreibungsgegner verbergen sich hinter ›neutralen‹ Webseiten«, in: FrauenSicht Mai Nr. 2/13 2013. Achtelik, Kirsten: Vermeintlich harmlos, 2020, https:// taz.de/Website-von-Abtreibungsgegner_innen/!5726128/ (zuletzt abgerufen am: 03.06.2021). Mayring, Philipp: Qualitative Inhaltsanalyse, 1995, hier S. 70-74. Vgl. Loeffler, Juliane: Dein Bauch gehört mir, 2018, https://www.buzzfeed.com/de/julianeloef fler/schwanger-profemina-beratung-abtreibung-218 (zuletzt abgerufen am: 03.06.2021). Der Name ist die Abkürzung von »Aktion Lebensrecht für Alle«. Vgl. Achtelik, Kirsten: Vermeintlich harmlos, 2020. Sanders, Eike/Jentsch, U./Hansen, F.: Deutschland treibt sich ab, 2014.

Auseinandersetzungen um Abtreibung in Deutschland 2017-2020 im Kontext digitaler Medien

ben artikulieren.19 Neben einer Selbstvorstellung informieren sie 2018 als Erstes über die »Entwicklung des Kindes«. Suggestiv fragten die »Lebenshelfer« im Bereich »Erste Hilfe-Maßnahmen« zu einer ungewollten Schwangerschaft unter dem Punkt »Information ist alles«: »Schlägt das Herz schon?« Nicht allein das emotionalisierende Bedeutungspotential des Herzens wurde hier aufgerufen, vielmehr werden Geltungsansprüche der Deutung und Definition des Gezeigten im Kontext von Abtreibung formuliert. So wurde ein schlagendes Herz als Hinweis auf die Lebendigkeit des Embryos kommuniziert, der Leser_innen in die Richtung der Austragung einer Schwangerschaft manipuliert. Ein Vergleich der Gestaltung der Webseite abtreibung.de 2018 gegenüber 2020 zeigt, dass sich diese Medienangebote sich kontinuierlich erneuern und womöglich dem öffentlichen Diskurs anpassen. Um einen Eindruck des digitalen Mediums im Wandel der jüngeren Debatte zu geben, erfolgt eine beispielhafte Analyse eines Webseiten-Auszugs. 2018 wie auch 2020 ist die Webseite in Grün-Weiß gehalten; eine Veränderung kann aber anhand der Inhalte und auch der ästhetischen Gestaltung der Unterseite »Abtreibung« nachvollzogen werden. Auf der Sub-Seite »Abtreibung« der Webseite wurde zum Beispiel der unmittelbare Verweis auf Gesetzestexte in der MenüÜbersicht links entfernt, möglicherweise nach großer teilgesellschaftlicher Kritik am Paragraphen 219a, und dafür ein bunteres Layout mit vielen Fragezeichen eingefügt. Die »Regenbogen«-Farbgebung lehnt sich ausgerechnet an typische Codes sexueller und geschlechtlicher Vielfalt an,20 obwohl diese im politischen Spektrum, in dem Abtreibungsgegner_innen agieren, zumeist abgelehnt bis bekämpft wird. Neben dieser Änderung wird auf die Strafbarkeit der »Überredung« hingewiesen und ein suggerierter »Zwang« zur Abtreibung kriminalisiert. Derlei Formulierungen beziehen sich weniger offensichtlich, aber möglicherweise durchaus auch weiter auf den juristischen Diskurs der aktuellen Erweiterung des Paragraphen 219a, um die Verschärfung von Anti-Abtreibungs-Positionen durch eine kriminalisierende Sprache voranzutreiben. Auffällig ist auch, dass der Unterpunkt »Fragen« modernisiert wurde und als Q&A nun an oberster Stelle steht. Somit wird nun noch stärker auf die eigene Beratungskompetenz rekurriert und die Möglichkeit eines offenen Austauschs suggeriert. Die Betreibenden der Webseite schwanger-in-konflikt.de greifen sprachlich direkt auch negative Gefühle, die mit ungewollter Schwangerschaft verbunden sein

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Die nachfolgend zitierten Inhalte wurden im September 2018 bis November 2020 auf den angegebenen Seiten abgerufen. Der Symbolgehalt des Regenbogens selbst – der hier allerdings nicht direkt zu sehen ist – ist sicher nicht auf diese politischen Kontexte beschränkt. Zu seiner poetologischen Symbolkraft siehe z.B. Redling, Erik: Regenbogen, 2008, S. 291f.

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Abbildung 1: Unterpunkt »Abtreibung« auf abtreibung.de., Betreibende: ALfA e.V., Screenshot September 2018.

können, auf. So platzieren sie die Worte »ungewollt schwanger« im oberen Teil ihrer Startseite. Sie modifizieren auf geschickte Weise einen Selbstbestimmungsdiskurs,21 lenken die Idee der Selbstbestimmung allerdings eindeutig auf eine Entscheidung gegen den Abbruch einer Schwangerschaft. Unterlegt werden die beiden Worte mit einer Slideshow von Bildern, auf denen als Erstes eine in Weiß gekleidete professionelle Beraterin zu sehen ist, die einer jungen Frau gegenübersitzt. Die 21

Susanne Kinnebrock hat mit Verweis auf Barbara Franz’ Studie diskursforschend herausgestellt, wie sich in den 1980er-und 1990er-Jahren der frame »Abtreibung ist zu allererst eine Frage der Selbstbestimmung der Frau« zum primären Deutungsmuster [entwickelte]. Dies hatte zur Folge, dass sich schließlich auch Abtreibungsgegner[_innen] auf diesen frame einließen und zumindest in der Presse mit dem Selbstbestimmungsrecht argumentierten, das heißt die Freiheit der Frau[en], sich gegen die Abtreibung zu entscheiden, als Problemlösung nahelegten. Kinnebrock, Susanne: Warum Frauenbewegungen erinnert werden oder auch nicht, 2019, S. 376-402, hier S. 396., vgl. auch Franz, Barbara: Öffentlichkeitsrhetorik, 2000, S. 229f.

Auseinandersetzungen um Abtreibung in Deutschland 2017-2020 im Kontext digitaler Medien

Abbildung 2: (Nur) optisch bunter. Die Webseite zwei Jahre später, https://www.abtreibung.de, Screenshot September 2020.

Farbe Weiß und die Anordnung der sozialen Situation evozieren ganz offensichtlich Assoziationen zur Inanspruchnahme ärztlicher Expertise.22 Weiter bezeichnet die Webseite sich als »Ihre Schwangerschaftskonfliktberatung«, weist auf eine eigene Hotline hin und wirbt mit kostenfreien Schwangerschaftstests. Auf dem vierten Foto der Slideshow (dazwischen sind zwei blonde weiße Frauen mit ebendiesen Schwangerschaftstests zu sehen) wird eine Frau auf einem Sofa inszeniert, die auf ihrem Smartphone schwanger-in-konflikt.de ansieht. Konkret wird hier die Unterseite »Kontakt« visualisiert. Die Suggestion von Neutralität durch Anonymität löst sich erst bei einer Anschlussrecherche bis zum Träger der Webseite auf, der offenkundig zum »Abtreibungsausstieg« mobilisiert. Dieses Weiterklicken wird von Tiqua aber selbst durch die Verlinkung zu facebook angeregt. Die facebook-Seite wies bis zum Jahr 2018 inhaltlich-redaktionelle Beiträge auf; die sich offen fundamentalistisch-religiös präsentierten, während dies zumindest auf den ersten Ebenen der oberen Webseite unterlassen wird.

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Die Bedeutung von Weiß als symbolischer Farbe für Reinheit und der Unschuld in der westlichen visuellen Kultur ist nicht zu vernachlässigen, allerdings wird sie hier durch die Kleidung und Umgebung der gezeigten Personen sowie die thematisch-textliche Verknüpfung klar in den Kontext der Beratung gesetzt.

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Abbildung 3: »Anonyme kompetente« Beratung, symbolisiert von einer Frau in Weiß auf schwanger-in-konflikt.de, Betreibende: Tiqua e.V., Screenshot Oktober 2020.

Die Formulierung »Abtreibungsausstieg« verwendete der Träger Tiqua in mehreren Posts vom Juli bis Dezember 2017. Ende Dezember 2017 gab der Verein via facebook auch die Veröffentlichung der weiteren eigenen Webseite abtreibungsausstieg.org an. In diesem Zuge verkündeten die Betreibenden, einen offenen Brief an »alle Gynäkologen in Deutschland« geschrieben zu haben.23 Letztere Webseite wird aktuell betrieben und richtet sich im Gegensatz zu schwanger-in-konflikt.de explizit an »Ärzte, medizinisches Personal, Beraterinnen«. Wird die Seite aufgerufen, erscheint im Browser-Reiter der Aufruf »Mitwirkung an Abtreibung verweigern«. Auf der in Grün-Weiß gehaltenen Startseite befindet sich oben rechts außerdem eine digitale Spendenmöglichkeit. Das angezeigte Titelbild zeigt starkes Sonnenlicht durch einen Knoten hindurch, weitere Fotos sind eine als Arzt gekleidete Person

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Siehe Tiqua: Post: Im Rahmen unserer Kampagne schreiben wir an alle Gynäkologen in Deutschland […], 2017, https://www.facebook.com/permalink.php?story_fbid=7730910928983 16&id=550780025129425 (zuletzt abgerufen am: 03.06.2021).

Auseinandersetzungen um Abtreibung in Deutschland 2017-2020 im Kontext digitaler Medien

sowie ein leeres Kinderbett (Stand: November 2020). Gefragt wird: »Es ist Ihre Entscheidung […] Verweigern Sie Ihre Mitwirkung an der Tötung eines Kindes?«. Die Unterstellung des »Kindsmords« verbindet sich mit der selbstaffirmativen Bestürzung über immer wieder argumentativ ins Feld geführte24 Bedrohungsszenarien. So schreiben die Akteur_innen in einem facebook-Post: »medial aufgebauschte Drohkulissen machen Angst«25 . Radikale Abtreibungsgegner_innen wissen um potenzielle Effekte ihrer Einschüchterungsstrategien, die indes nicht bei allen Adressierten Resonanz finden.26

Abbildung 4: Weiter unten: »Es ist Ihre Entscheidung«, abtreibungsausstieg.org, Betreibende: Tiqua e.V., Screenshot November 2020.

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Da bisher keine Bannmeilen um Scheinberatungsstellen oder vergleichbare Verhinderungsstrategien von Demonstrant_innen organisiert wurden, sondern die Maximalform des Protests Sitzblockaden beim »Marsch für das Leben« (2019) war, ist die Formulierung einer Angst vielmehr als Umdeutung der selbst strategisch angewendeten physischen, vor allem aber auch psychischen Einschüchterung zu verstehen. Ebd. Vgl. neben den bereits angegebenen Ärztinnen u.a. Fiala, Christian/Arthur, J.: Die Verweigerung einer medizinischen Behandlung ist keine Frage des Gewissens, 2015, S. 311-323.

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An beiden Pseudo-Aufklärungsseiten sowie der parallel betriebenen Seite abtreibungsausstieg.org zeigt sich, wie im Anti-Abtreibungs-Diskurs ästhetische Gestaltung zu einer sanften, Seriosität simulierenden Auftrittsweise eingesetzt wird. Sie entspricht einer Verschleierung anderenorts weit offensiver ausgetragener Auseinandersetzungen. Die angesprochenen Plattformen grenzen sich damit ästhetisch bewusst von ihnen inhaltlich nahestehenden, offen rechten Webseiten wie babycaust.de27 ab, auf der Schwangerschaftsabbruch offenkundig mit dem Holocaust in Relation gesetzt wird. Eine begriffliche Nähe zu radikalisierten Abtreibungsgegner_innen, die sich selbst »Lebensschützer« nennen, bleibt indes bestehen, wenn auf abtreibung.de die Rede von »Lebenshilfe« ist. Webseiten wie schwanger-in-konflikt.de verschleiern derweil, dass Abtreibungsgegner_innen Patient_innen,Angehörige, Mitarbeitende und Ärzt_innen bestimmter Praxen in Deutschland mittlerweile derart bedrängen, dass das Innenministerium des Landes Hessen im August 2019 einen Erlass anordnen musste, der fortan regulierte, dass »keine ratsuchenden Frauen vor Beratungsstellen angesprochen, bedrängt oder belästigt werden [dürfen]. Zudem dürfen ihnen keine Gespräche oder Infomaterialien aufgezwungen werden. Abtreibungsgegner müssen auf Abstand gehalten werden«.28 Auf eine qualifizierte29 Beratung verweisen bzw. verlinken digitale Scheinberatungs-Portale indes nicht. Stattdessen haben sie den Weg einer Inszenierung

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Gegenwärtig schreibt sich die Seite selbst mit »k« als babykaust; auch der Abruf über babycaust.de ist weiter möglich. Die Webseite babycaust.de wurde in ihren Inhalten bis zum Jahr 2020 kaum eingeschränkt, bis auf eine Indizierung durch die BPjM auf Antrag der Kommission für Jugendmedienschutz (KJM) 2007. Erst durch eine Unterlassungsklage der Ärztin Kristina Hänel wurde sie zuletzt in ihrer Verbreitung eines Holocaust-Vergleiches eingeschränkt. Hänel erhielt juristische Bestätigung vom Landgericht Hamburg. Siehe Ärzteblatt: Hessen will Schwangerenberatungen vor Abtreibungsgegnern schützen, 2019, https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/105465/Hessen-will-Schwangerenberatungenvor-Abtreibungsgegnern-schuetzen (zuletzt abgerufen am: 03.06.2021). Nur staatlich anerkannte Beratungsstellen stellen Beratungsscheine als Nachweis der vorgeschriebenen »Schwangerschaftskonfliktberatung« aus. Pro Familia legt zudem qualifizierte Beratung wie folgt fest: »Nach Übereinkunft zwischen dem Bundesverband und den pro familia-Landesverbänden wird für die Beschäftigten, die Schwangerschaftskonfliktberatung durchführen, eine abgeschlossene (Fach-)Hochschulausbildung als SozialarbeiterIn oder PädagogIn oder PsychologIn oder eine vergleichbare Qualifikation oder eine abgeschlossene Ausbildung als Ärztin/Arzt oder Hebamme vorausgesetzt. Ebenfalls vorausgesetzt wird, dass die TeilnehmerInnen psychosoziale Beratungskompetenz bereits mitbringen.« pro familia (o.A.): Grundlagen der Sozial- und Konfliktberatung bei Schwangerschaft, https://www.profamilia.de/fachpersonal/fortbildung-bei-pro-familia/fortbildungsang ebot/grundlagen-der-sozial-und-konfliktberatung (zuletzt abgerufen am: 03.06.2021).

Auseinandersetzungen um Abtreibung in Deutschland 2017-2020 im Kontext digitaler Medien

gewählt, die gewalttätige und -nahe30 Auseinandersetzungen erfolgreich invisibilisiert, aber Verknüpfungen zu diesen anbietet. Medien wie die genannten fungieren daher als desorientierende Schnittstellen zwischen informationssuchenden Personen und rechtsfundamentalistischen gesellschaftlichen Kräften. Andere Medien, besonders audiovisuelle, entwerfen zwar zum Teil differenzierte Verständnisse von Abtreibung als Praxis, allerdings ist in popularisierten Formaten ebenfalls eine Invisibilisierung gewisser Akteur_innen und Auseinandersetzungslinien31 zu erkennen. Bevor auf sie eingegangen wird, sind die Begriffe ›Konflikt‹ und ›Kompromiss‹ für den medialen Abtreibungsdiskurs in Deutschland abzugrenzen, denen 2019 mit der Erweiterung des §219a größere Bedeutung zukam. Anhand diskurssprachlicher Analysen wird deutlich, dass auch dem Begriff ›Erleichterung‹ mehr Aufmerksamkeit zuteilwerden muss.

Kompromiss, Konflikt, (keine) Erleichterung? Die Diskurssprache im Zuge der Erweiterung des Paragraphen 219a Eine Vielzahl digitaler Medien überschrieb Berichte zur Erweiterung des Paragraphen 219a im Februar 2019 zeitnah und zum Teil bereits vorab als »Kompromiss«, darunter faz.net (21.2.19), spiegel.de (13.12.18), süddeutsche.de (21.2.19), zeit.de (30.1.19) und taz.de (1.2.19), letztere mit dem Hinweis: schlimmer als vorher.32 Das Portal netzpolitik.org titelte: »Kompromiss zu §219a: Informationsverbot soll bleiben«, was 30

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Karola Maltry, Renate Rausch und Christian Fiala zählen psychische Gewalt explizit zu den Strategien von Abtreibungsgegner_innen, neben tätlichen Angriffen auf Personen, Arbeitsräume und -gebäude, dazu siehe unten. Maltry und Rausch führen hierbei das sogenannte »Totenglockenläuten« an, mit dem einzelne katholische Pfarreien 1982 ihren auditiven Protest gegen Abtreibung führten. Den Begriff »gewaltnah« gebraucht der Soziologe Armin Nassehi im Kontext »körpernahe[r] Empfindungen« (95) allgemeiner für die Asymmetrie von Geschlechterordnung. Maltry, Karola/Rausch, R.: Der Konflikt um den §218, 1999, S. 329-352, hier S. 333; Fiala, Christian: Psychische Gewalt getarnt als freie Meinungsäußerung, 2012, S. 55-60; Nassehi, Armin: Geschlecht im System, 2003, S. 80-105, hier S. 95. In diesem Aufsatz ist bezogen auf die mediale Aushandlung von Abtreibung kontextanalytisch von Auseinandersetzungen die Rede, denn zumindest im deutschsprachigen Gebrauch transportiert dieser Begriff, eher als der Konflikt, eine Komponente physischer wie psychischer Angriffe. Angesprochen sind damit nicht »Auseinandersetzungen zwischen« Akteur_innen aus einer interaktionsanalytischen Perspektive, sondern vielmehr Auseinandersetzungen als (kollektiv)akteur_innenspezifische Einschüchterung und Bedrohung. Warum der Begriff der Auseinandersetzung trotz dieses Erläuterungsbedarfs adäquater scheint als eine fortgesetzte Rede vom (zumeist als persönlich oder zwischen zwei Parteien ausgetragen verstandenen) Konflikt, wird im Anschluss ausgeführt. Siehe https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/bundestag-beschliesst-kompromiss-zu-219a -16054018.html, https://www.spiegel.de/politik/deutschland/219a-grosse-koalition-verstaend igt-sich-auf-kompromiss-die-diskussion-a-1243481.html, https://www.sueddeutsche.de/politi

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das Dilemma um die Auslegbarkeit des Kompromisspotenzials der juristischen Erneuerung aufzeigt, denn zu fragen ist, für welche Akteur_innen der Fortbestand des Paragraphen (überhaupt) einen Kompromiss darstellte und was unter Kompromiss grundlegend verstanden werden kann. Es ist evident, dass die Bezeichnung zunächst vordergründig die Aushandlung von Positionen zwischen den beteiligten politischen Parteien SPD und CDU/ CSU bezeichnete, jedoch zunehmend generalisierend gesetzt wurde. Akteur_innen wie Patient_innen, Ärzt_innen, Angehörige und Aktivist_innen diverser politischer Spektren wurden in diesen Teil-Diskurs unwesentlich einbezogen, mit Ausnahme der durch sie selbst angestoßenen Medienarbeit einiger Ärzt_innen. Wie bereits aufgezeigt, bezog sich die Erweiterung des Paragraphen §219a indes ausdrücklich auf die Gestaltungsmöglichkeiten digitaler Medien wie die Webseiten von Ärzt_innen, die häufig als erste lokale Ansprechpersonen der Beratung zum Schwangerschaftsabbruch fungieren. So war auf www.spdfranktion.de bis 2021 zu lesen: »In Zukunft dürfen Ärztinnen und Ärzte, Krankenhäuser und sonstige relevante Einrichtungen selbst darüber informieren, dass sie Schwangerschaftsabbrüche unter den gesetzlichen Voraussetzungen durchführen. Zum Beispiel auf der eigenen Internetseite. Das wird in § 219a StGB klargestellt. Diese Information ist künftig ausdrücklich nicht strafbar.«33 Dazu schrieb die SPD-Fraktion im Bundestag: »Mit diesem Gesetz sorgt die Koalition für Rechtssicherheit« (ebd.). Dem gegenüber stand, dass Ärzt_innen weiter keine spezifischen Angaben wie diejenige machen durften, dass und wie sie Abtreibungen als Leistungen durchführen. So wurde im Juni 2019 die Ärztin Bettina Gaber allein für den Satz »Auch ein medikamentöser, narkosefreier Schwangerschaftsabbruch in geschützter Atmosphäre gehört zu unseren Leistungen« verurteilt, nach der Erneuerung des Paragraphen 219a.34 Die zentralisierte digitale Liste der Bundesärztekammer dagegen nahm die Unterscheidung medikamentös/operativ ungestraft vor.35 Letzten Endes stützte sich die Strafbarkeit der Ankündigung ärztlicher Handlungen also weniger auf eine etwaige Konzeption von Werbung mittels Sprache und/oder Medien, als auf den bloßen Anwendungsbegriff der ärztlichen Leistung.36

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k/abtreibung-paragraf-219a-bundestag-1.4340458, https://taz.de/Kompromiss-zu-Paragraf-21 9a/!5567165/ (zuletzt abgerufen jeweils am: 03.06.2021). Siehe https://www.spdfraktion.de/themen/kompromiss-ss-219a-beschlossen (zuletzt abgerufen am: 03.06.2021). Siehe https://pro-choice.de, https://www.rbb24.de/panorama/beitrag/2019/11/paragraf-219averurteilung-frauenaerztin-abtreibung-schwangersch.html (zuletzt abgerufen am: 03.06. 2021). Siehe https://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/downloads/pdf-Ordner/ Liste219a/20210405Liste13Abs3SchKG.pdf (zuletzt abgerufen am: 03.06. 2021) Wenn die Verurteilung von Ärzt_innen nicht auf den Angaben medikamentös/narkosefrei basierte, ergibt sich mit Blick auf Gabers Formulierung daraus die Frage, ob allein das Wort

Auseinandersetzungen um Abtreibung in Deutschland 2017-2020 im Kontext digitaler Medien

Um noch einmal zum Diskursbegriff des Kompromisses zurückzukehren: Ulrich Willems klassifiziert den Kompromiss grundsätzlich als Instrument der Zivilisierung von Wertkonflikten und kritisiert, dass Kompromisse bislang vor allem als Behelfsmittel der Lösung von Interessenkonflikten verstanden werden.37 Weiter differenziert Petra Schweiger in Wertkonflikte und Informations- als Machtkonflikte.38 Ebenfalls konflikttheoretisch argumentiert Krolzik-Matthei mit Luc Boltanski, in der universalen Praxis der Abtreibung sei der Konflikt menschheitsgeschichtlich nicht erst in der Moderne angelegt.39 Nicht zuletzt unterteilen Gerhards, Neidhardt und Rucht (ebenfalls im Singular) »den Abtreibungskonflikt« als politischen und moralischen Konflikt – politisch in dem Sinne, dass »fast alle Interventionen der Konfliktparteien […] letztlich darauf [abzielten], gesetzliche Regelungen beizubehalten oder aber zu verändern«.40 Der moralische Konflikt um Abtreibung nehme in deren Charakter als »obtrusive issue« seinen Ausgangspunkt, das eine »dilemmatische Ausprägung besitzt bzw. als solche gedeutet wurde«.41 Dieser Hinweis auf die Anwesenheit von Deutungen ist hervorzuheben, zumal der konfliktive Charakter von Abtreibungspraktiken zuletzt in der Fachliteratur zugleich betont und infrage gestellt worden ist. So bemerkt Jutta Franz zum Terminus der »Schwangerschaftskonfliktberatung«, der Begriff suggeriere, »es gehe vor allem um einen intrapersonellen persönlichen Konflikt der ungewollt schwangeren Frau, ob sie die Schwangerschaft austrägt oder nicht«,42 wodurch gesellschaftlichjuristische Konfliktdimensionen stets eine nachrangige Bedeutung erhielten. Sowohl Beratene als auch Beraterinnen seinen indes von einem »mehrdimensionalen Konfliktgeflecht«43 betroffen. Barbara Franz hält in ihrer Studie fest: »Problematisch ist nicht ihre philosophische Lösung [der Debatte über die gesetzliche Regelung der Strafbarkeit von Schwangerschaftsabbrüchen, d. Verf.], sondern die Einigung über die Gültigkeit von Rechtfertigungsgründen auf der Ebene der politischen, massenmedial vermittelten Alltagskommunikation«.44

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»Leistung« als Grundlage für die Anwendung des 219a als »Werbeparagraphen« angemessen war. Willems, Ulrich: Wertkonflikte als Herausforderung der Demokratie, 2015, S. 249. Statt von »Zivilisierung« kann aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive besser auch von einem »Instrument des potenziellen Verlaufs« von Konflikten gesprochen werden, wenn nachstehend auf die Problematik der Einhegung von Konflikten in medialen Kulturen eingegangen wird. Schweiger, Petra: Schwangerschaftsabbruch, 2015, S. 239f. Krolzik-Matthei, Katja: Abtreibungen in der Debatte, 2019, S. 4. Gerhards, Jürgen/Neidhardt, F./Rucht, D.: Zwischen Palaver und Diskurs, 1998, S. 173. Ebd. Franz, Jutta: Beratung nach 219 StGB, 2015, S. 257-279, hier S. 260f. Ebd., S. 261. Franz, Barbara: Öffentlichkeitsrhetorik, 2000, S. 69.

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Um abschließend einen Blick auf diese Alltagskommunikation zu werfen: Der 2019 amtierende deutsche Gesundheitsminister und CDU-Politiker Jens Spahn kündigte unmittelbar im Zuge der Erweiterung des Paragraphen 219a eine Studie zu den »psychischen Folgen« von Abtreibungen an, die mit einem großzügigen Etat von fünf Millionen Euro ausgestattet werden sollte. Im digitalen Presse-Diskurs zeigten sich deutliche Ablehnungen der Ausrichtung und Kontextualisierung einer solchen Studie: Süddeutsche.de deutete sie als Misstrauen gegenüber Frauen,45 auch wenig politisierte Medien wie das Modejournal Vogue nannten sie im Titel eines Beitrags gar eine dumme Idee, und die konservative faz fragte titelgebend danach, was Spahn sich damit erhoffe. Manche Medien verwiesen auch auf längst vorgelegte angloamerikanische Studien. In einer solchen Langzeit-Studie zu individuellen Empfindungen nach selbst entschiedener Abtreibung bei Patientinnen hält Diana G. Forster fest: »By five years, only 14 % of women felt any sadness, 17 % any guilt, and 27 % any relief, with relief remaining by far the most commonly felt emotion five years after«.46 Der hier dokumentierte und eingeführte Begriff der Erleichterung ist in den digitalen Medien bisher allerdings kaum zu finden (er wird in einigen Einzelerzählungen47 von Patientinnen verwendet),48 obwohl Fosters Studie umfassend rezipiert wurde. Der Begriff der Erleichterung hat trotz Berichterstattung zur Studie keinen Einzug in die Überschriften von Artikeln erhalten. Auch diskursive und nicht-diskursive Folge-Handlungen nach der juristischen Reformulierung des Paragraphen 219a wie die Aussagen von Spahn haben möglicherweise Anteil daran, dass der in wissenschaftlichen Studien identifizierte Begriff der Erleichterung im Kontext von Abtreibungs-Erfahrungen noch nicht in die mediale Alltagssprache eingegangen ist. Artikel hießen stattdessen beispielweise »Wie es Frauen geht, die

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Siehe https://www.sueddeutsche.de/politik/spahn-schwangerschaftsabbruch-abtreibung-stu die-1.4326510, https://www.vogue.de/lifestyle/artikel/jens-spahn-abtreibung-studie, https:// www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/studie-zu-abtreibungen-was-erhofft-sich-jens-spah n-davon-16035903.html (zuletzt abgerufen am: 03.06.2021). Foster, Diana G.: The Turnaway Study, 2020, S. 123. Die Studie abgeschlossen haben 37,5 % der Teilnehmerinnen an 30 Einrichtungen, als Tendenz bewertet u.a. Annette Kersting vom Uniklinikum Leipzig sie als wichtig. Vgl. Lanzke, Alice: Nach der Abtreibung überwiegt Erleichterung, 2020, https://www.neues-deutschland.de/artikel/1132476.schwangerschaftsabbruech e-nach-der-abtreibung-ueberwiegt-erleichterung.html (zuletzt abgerufen am: 03.06.2021). Mitunter kommt einer einzeln repräsentativen Akteurin wie Hähnel eine ähnliche Kommunikationsmacht zu wie medial weitaus alltäglicher präsenten Akteuren wie Jens Spahn. Es ist davon auszugehen, dass eine kollektive Zirkulation der vielen selbst initiierten medialen Äußerungen Hänels aber erheblich zu dieser Sprech- und Sichtbarkeitsposition beiträgt. Ein Beispiel: https://magazin.hiv/2019/03/07/schwangerschaftsabbruch-ich-habe-grosse-erlei chterung-empfunden/ (zuletzt abgerufen am: 03.06.2021). Eine Ausnahme im Pressediskurs bildet der oben angegebene Beitrag des Neuen Deutschlands.

Auseinandersetzungen um Abtreibung in Deutschland 2017-2020 im Kontext digitaler Medien

abgetrieben haben«.49 Die konkrete Perspektive von Patientinnen als zentraler Akteurinnengruppe im Diskurs ist marginal, zumindest im medialen Kontext der Erweiterung des Paragraphen, der über ihren informativen Zugang zum medizinischen Eingriff der Abtreibung entscheidet. Mit Blick auf audiovisuelle Medien ist manche konflikttheoretische Überlegung für den behandelten Kontext angesichts neuer Streitformen in digitalen Medien zu aktualisieren. So vermochte Albert O. Hirschmann Mitte der 1990er-Jahre noch eine Zunahme des Gewichts »unteilbare[r] Konflikte« in demokratischen Staaten zu erkennen, besonders in den USA, als spezifisches »Ergebnis der Bedeutung, die Fragen wie Abtreibung oder Multikulturalismus angenommen haben«.50 Er grenzte das Aufeinandertreffen von Positionierungen zu Abtreibung deutlich von den Konflikten ab, die er teilbar nannte.51 Mittlerweile kontrastiert die mediale Streitkultur zum Abtreibungsdiskurs auf Youtube eine solche Einordnung auf pointierte Weise. Im nachfolgend zu analysierenden Format »Diskuthek« zeigt sich schließlich gerade Abtreibung als VorzeigeThema, zu dem gesittet streitbare Argumente ausgetauscht werden. Abtreibung wird somit medial (auch) als demonstrativ teilbarer Konflikt erkennbar. Dies wird allerdings spezifisch für audiovisuelle Medien festgestellt werden; wie zuletzt beschrieben lässt sich für die analysierten Webseiten hingegen die Verschleierung von Auseinandersetzung (als ausgeübte Einschüchterungsversuche) durch ästhetische Gestaltung identifizieren.

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Eine interessante Aufteilung von Diskurssprache lässt sich bei faz.net beobachten. Während via Google ein Teil der Artikel-URL als Überschrift angezeigt wird (»Amerikanische Studie untersucht, wie es Frauen fünf Jahre…«), lautet sie (erst) auf der Webseite selbst: Studie zu Abtreibungen. Fünf Jahre nach der Abtreibung überwiegt die Erleichterung. https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/gesundheit/amerikanische-studie-unte rsucht-wie-es-frauen-fuenf-jahre-nach-einer-abtreibung-geht-16588752.html (zuletzt abgerufen am: 03.06.2021). Hirschmann, Albert O.: Wieviel Gemeinsinn braucht die liberale Gesellschaft, 1994, S. 293304, hier S. 301. Yves Bizeul differenziert in Wertekonflikte und ökonomische Konflikte, wobei erstere sich »deutlich schwieriger […] mit Hilfe von Kompromissen befrieden lassen«; weiter geht er nicht von einer rigiden Abgrenzbarkeit von teil- und nichtteilbaren Anteilen von Konflikten aus, die sich vielmehr vermengen. Mit Blick auf das hier behandelte Thema ist vor allem seine Analyse des Kompromisses als mangelhaftes Hilfsmittel in der Reduzierung der »besondere[n] Sprengkraft« von Konflikten zu beachten. Bizeul, Yves: Ein neuer politischer Cleavage, 2019, S. 1-20, hier S. 3f.

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Analyse des »Diskuthek«-Videos »Abtreibung: Sollte sich der Staat raushalten?« (2019) im diskursiven und nichtdiskursiven Kontext Auf der Plattform Youtube finden sich viele professionell produzierte Videos zum Themenkomplex Abtreibung. Neben Medienredaktionen öffentlich-rechtlicher wie privater journalistischer Instanzen agieren einzelne junge Medienproduzent_innen hier als zweite große Gruppe. Über den Gegenstand des Aufsatzes hinaus kommt Youtube mittlerweile eine wesentliche Bedeutung für den Nachrichtenund Informationskonsum zu. Das zu analysierende Video »Abtreibung: Sollte sich der Staat raushalten? Feministin vs. Abtreibungsgegnerin«52 ist Mitte August 2019 veröffentlicht worden und gehört zu den zehn am meisten angesehenen Beiträgen zum Suchbegriff »Abtreibung« auf Youtube. Noch populärer sind u.a. die Beiträge »Das Kind, das die Abtreibung überlebte« (WDR Doku) oder »Abtreibung für die Liebe meines Lebens – Story Time« (KELLY/missesvlog). Produziert wurde der hier behandelte VideoBeitrag vom Stern, aufgerufen wurde er seitdem über 1.200.000-mal (Stand: April 2021). Der Stern ist dasjenige deutschsprachige Medium, das 1971 auf Initiative der Autorin Alice Schwarzer den titelgebenden Kollektiv-Beitrag »Wir haben abgetrieben« publizierte und damit den deutschsprachigen Diskurs und die Veränderung der Gesetzgebung zu Abtreibung entscheidend prägte. Vorbild des Beitrags war eine vorausgegangene Veröffentlichung in Frankreich im Nouvel Observateur, in der sich 343 Frauen des illegalen Schwangerschaftsabbruchs bekannt hatten, darunter die prominente Philosophin Simone de Beauvoir.53 Fast fünfzig Jahre später, nun allerdings in den digitalen Medien, ist Stern erneut einer der Akteur_innen, die massive Aufmerksamkeit zum Themenkomplex generieren können. Indes waren es zwischen 2017 und 2020 zwei andere Medien, die den Satz »Wir haben abgetrieben« fast direkt wiederholten.54 2017 veröffentlichte die taz ein vergleichbares Cover in aktualisierter Form – nun nicht aus der Sicht von Frauen als gesundheitlich zu versorgenden Bürgerinnen und Patientinnen, sondern in Solidarität mit 52 53 54

Stern: Abtreibung: Sollte sich der Staat raushalten?, 2019, https://www.youtube.com/watch?v =ptvn_J4T5r0 (zuletzt abgerufen am: 03.06.2021). Kolb, Ingrid: Öffnungen. Erinnerungen an die Abtreibungs-Bekenntnisse, 2010, S. 83-85, hier S. 83. Der Stern veröffentlichte am 2. Juni 2021 auch einen neuen Artikel mit dieser Aussage, erhalten waren darin nur Fotos von acht Frauen. Zu ihnen gehören die Ärztinnen Kristina Hänel und Alicia Baier. Auf der Webseite stern.de war am 3. Juni 2021 eine Abbildung mit zwölf Personen zu sehen. Vgl. Ritter, Andrea et al.: Noch immer sind Abtreibungen rechtswidrig, 2021, https://www.stern.de/politik/abtreibungen--es-ist-unsere-entscheidung--30551176. html?fbclid=IwAR13uswvRnyAOVXVHheWnSJoaK0BlPBzvRi0fx-jFa5QdorKMO4S2wis5-Y (zuletzt abgerufen am: 03.06.2021).

Auseinandersetzungen um Abtreibung in Deutschland 2017-2020 im Kontext digitaler Medien

den zunehmend angezeigten und repressiv bedrängten Ärzt_innen.55 Öffentlich »bekannten sich« 2017 damit noch 37 Personen zur Abtreibungspraxis gegenüber 329 Mediziner_innen im Spiegel56 1974 und gegenüber 37457 (ehemaligen) Patientinnen im Stern 1971. 2018 erklärten sich außerdem vier junge Frauen im Video »Wir haben abgetrieben!« des Youtube-Edutainment-Formats »Auf Klo« zu ihrer Entscheidung, eine ungewollte Schwangerschaft nicht ausgetragen zu haben. Das Format behandelt diverse Lebensgestaltung, psychische Gesundheit und Krankheitsbilder vor allem Jugendlicher. Dieses Video erzielte bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt ca. 120.000 Aufrufe.58 Um das »Diskuthek«-Video analysieren zu können, wird im Folgenden die Methode der wissenssoziologischen59 Videohermeneutik nach Jürgen Raab und Marija Stanisavljevic als »interpretatives Verfahren zur sozialwissenschaftlichen Analyse von Videodaten unabhängig von deren jeweiligen Inhalten und Erscheinungsformen« kulturwissenschaftlich adaptiert.60 Eine solche »Rekonstruktionsarbeit der interpretativen Sozialforschung sucht nach Antworten auf die Frage der gesellschaftlich-kommunikativen, inzwischen vermehrt technisch-medialen und damit nicht zuletzt audio-visuellen Konstruktion von sozialem Sinn und sozialer Bedeutung«.61

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O.A.: Wir machen Schwangerschaftsabbrüche. Kollegen-Solidarität mit Kristina Hänel, 2017, https://taz.de/Wir-machen-Schwangerschaftsabbrueche/!5465347/ (zuletzt abgerufen am: 03.06.2021). Vgl. ebd. Unter anderem seitens der Beteiligten Nori Möding erfolgte später eine Revision, nicht selbst abgetrieben zu haben; nach ihren Angaben sei das für mehrere an der Aktion partizipierende Frauen zutreffend gewesen. Auch sei sie keine Hausfrau, sondern Studierende am Otto-Suhr-Institut gewesen, habe sich aber aus klassenkämpferischen Ambitionen so ausgewiesen. Vgl. Kramm, Jutta: Sie war eine der Frauen, die vor 30 Jahren bekannten, 2001, https://www.berliner-zeitung.de/sie-war-eine-der-frauen-die-vor-30-jahren-bekannten-wir-h aben-abgetrieben-heute-in-der-gendebatte-faellt-nori-moeding-das-argumentieren-schwer er-zwei-leben-li.42788 (zuletzt abgerufen am: 03.06.2021). Auf Klo: Wir haben abgetrieben!, 2018, https://www.youtube.com/watch?v=VDxWLP-EIos. In ihrer theoretischen Ausrichtung steht die Methode der Wisssoziologischen Diskursanalyse nahe, die zur diskurssprachlichen Organisation von Streitkulturen zahlreiche Auswertungsinstrumente bereitstellt. Raab, Jürgen/Stanisavljevic, M.: Wissenssoziologische Videohermeneutik, 2018, S. 57-73, hier S. 57f. Zum einen handelt es sich hierbei um eine Methodologie, die Deutungen handelnder/gezeigter Personen einschließt, zum anderen eine fächerübergreifend anwendbare Methode, die für den behandelten Themenkomplex mit zahlreichen Akteur_innen und somit auch Analyseperspektiven adäquat scheint. Zudem weiß die Methode um die Spezifik einer Analyse audiovisueller Medien, versteht es aber, Videos neben anderen »dauerhaft fixiert[en]« (59) Kulturerzeugnissen zu verorten. Ebd., S. 58.

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Analysiert wird das »Handlungs- und Darstellungsgeschehen«62 des Videos, wobei zusätzlich zu der sich zeitlich aufbauenden Sinnkonstitution, die auch sprachliche und textförmige Kommunikation auszeichnet, das Neben- und Ineinander von Bedeutung bzw. Sinn konstituierenden Einzelelementen in der Analyse berücksichtigt wird.63 Als Einzelelemente bzw. Sinneinheiten des Videos werden einbezogen: 1.) der Verlauf von Darstellungen und Handlungen im Sinne eines Ablaufes, 2.) die Videobeschreibung (Text) und schriftliche Meta-Einblendungen in die gefilmte Diskussion wie Faktenchecks sowie ihre Visualisierung, 3.) die räumliche und soziale Anordnung gezeigter Akteur_innen sowie 4.) der Zeitpunkt des Erscheinens im (Anti-)Abtreibungsdiskurs einschließlich nicht-diskursiver Ereignisse im Zeitraum der Veröffentlichung. Analysierte Bestandteile des Videos sind somit das Video selbst und sein Begleittext, weitestgehend vernachlässigt bleiben User_innen-Kommentare.64

Abbildung 5: Dritte Diskussionsfrage des Stern-Videos, Screenshot November 2020.

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Ebd., S. 60. Ebd. Kontext- und diskursanalytisch bezüglich präsentierter Inhalte fragt die Analyse erneut auch nach Nichtgezeigtem und Nichtgesagtem, um Erkenntnisse zur ästhetisch-audiovisuellen Gestaltung mit einer Analyse von Sprechpositionen und ihren Präsenzen verbinden zu können. Orientierende Fragen sind zum Beispiel: Womit beginnt und endet das Video? Worauf verteilt sich die Redezeit? Wer oder was hat Raum, wer oder was nicht? Die Frage nach (unbewussten gegenüber strategischen) Unsichtbarkeiten und Abwesenheiten ist schließlich für den Kontext der oben identifizierten Desorientierung in digitalen Medien relevant wie auch für einen medialen Wandel, in dem sich Verschiebungen der Sichtbarkeit von Akteur_innen (auch gegenüber Medien des 20. Jahrhunderts) vollziehen.

Auseinandersetzungen um Abtreibung in Deutschland 2017-2020 im Kontext digitaler Medien

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Analyse des Video-Verlaufs

Das Diskuthek-Video beginnt mit einem selbstreferenziellen Rückblick, in dem der Moderator sich auf die außerordentliche Publikationsleistung des Stern bezieht, in der BRD 1971 die politisch brisante Titelstory »Wir haben abgetrieben« veröffentlicht zu haben (0:41). Das Video hat drei unmittelbar sichtbar Handelnde: die als Journalistin und Feministin vorgestellte Akteurin Teresa Bücker,65 die Vorsitzende des Bundesverbands »Lebensrecht« Alexandra Maria Linder und drittens den Moderator Aimen Abdulaziz-Said.66 Eine vierte Sprechposition ergibt sich durch einen »Faktencheck«, der die Aussagen von Bücker und Linder prüfend überlagert (siehe 3).67 Das Video beginnt und endet mit der Abtreibungsgegnerin, die Argumente vortragen darf. Letztgesprochene Worte richtet der Moderator an die Zusehenden. Zwischenzeitlich beziehen die beiden Diskutantinnen zu drei Statements Stellung. Diese sind: 1. »Das Leben der Mutter hat Vorrang vor dem Leben des ungeborenen Kindes«,68 2. »Ärzte sollten uneingeschränkt über Abtreibungen informieren dürfen«. 3. »Der Paragraf 218 soll abgeschafft werden«.

Die längste thematische Redezeit, über fünfzehn Minuten, erhält der dritte SubKomplex, der auch einen Wandel des Videotitels zu einer neuen Schlussfrage enthält. So wendet sich die ursprüngliche Titelfrage »Abtreibung: Sollte sich der Staat raushalten« hin zu: »Wie seht ihr das? Sollte der Paragraph 218 Strafgesetzbuch abgeschafft werden? Ist der noch zeitgemäß?« (35:55).69 Die kürzeste Diskussions65 66 67

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Teresa Bücker diskutierte in Anne Will am 3. Februar 2019 zudem mit dem häufig als harmlos verlachten CDU-Jungpolitiker Philipp Amthor über dessen »Lebensschutz«-Engagement. Aimen Abdulaziz-Saids Name ist nur dem beigefügten Text zum Video zu entnehmen. Für diesen verantwortlich zeichnet laut Eigenangabe des Sterns zur Videoproduktion der Mitarbeiter Dirk Liedtke. Männliche Vornamen (10 von 15) überwiegen in den Angaben zur Videoproduktion, unklar ist die Medienfunktion sogenannter (und ebenfalls männlicher) »Explainer«, die möglicherweise beratend-informative Funktion einnehmen. Vgl. Stern: Sollte sich der Staat raushalten?, 2019, https://www.youtube.com/watch?v=ptvn_J4T5r0 (zuletzt abgerufen am: 03.06.2021). Bei einer abgebrochenen Schwangerschaft greift der Begriff Mutter bereits zu weit. Zudem empfiehlt es sich, zwischen prä- und postnatalem Status von Embryo über Fötus bzw. Baby/(Klein-)Kind zu differenzieren. Im Kontext von ungewollter Schwangerschaft sind prinzipiell eher Begrifflichkeiten des pränatalen Zeitraums zu verwenden, zumal die Konfrontation Betroffener mit dem ungewollten Mutter-Status, insbesondere in Informationsangeboten, potenziell belastend sein kann. Die titelgebende Frage, ob der Staat sich »raushalten« sollte, ist insofern interessant, als dieses Deutungsmuster vor zwanzig Jahren sowohl bei Kollektiv-Akteur_innen (u.a. Parteien und Interessensgruppen) als auch Medien noch je nur 13-14 Prozent einer Erhebung ausmachte.

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zeit, keine sieben Minuten, entfällt auf die Teildiskussion, wie Ärzt_innen über Abtreibung informieren dürfen. Diese befasst sich explizit mit digitalen Medien, auch der Webseite babycaust.de (16:06). Die Auswahl der drei Fragen deckt sich nicht mit einem Zwischenteil des Videos (19:17), in dem vor der dritten Diskussionsfrage die »vier wichtigsten Fakten zu Abtreibungen in Deutschland« von der Stern-Video-Redaktion zusammengetragen werden. Eingesprochen von einer Frau, werden in diesem Fakteneinschub Informationen bereitgestellt zum a) juristisch andauernden Verbot von Abtreibungen und seinen Ausnahmen, b) der Zwölf-Wochen-Fristenregelung und darüber hinausgehenden Möglichkeiten bei Gesundheitsgefahr für betroffene Frauen bzw. vorausgehender Strafhandlung, c) der in Deutschland zwischen 1998 und 2018 um mehr als 30.000 Behandlungen gesunkenen Anzahl von Abtreibungen, also ihrer Rückläufigkeit, sowie d) der kompletten Kostenübernahme von Abtreibungen durch Patientinnen, außer bei kriminologischer und medizinischer Indikation.

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Text zum Video, Visualisierungen, Audio-Marker und inhaltliche Erweiterungen

Im Begleittext zum Video wird zunächst hervorgehoben, dass Schwangerschaftsabbrüche keine »rein medizinische Entscheidung« seien, es wird eine Kausalität zwischen dieser Gegebenheit und dem öffentlichen Diskurs hergestellt. Zweitens wird konstatiert, für Schwangere wäre die Frage vordergründig, ob sie die Schwangerschaft mit einem »Menschen« oder Embryo, hier zugespitzt mit dem Begriff »Zellhaufen«, abbrechen. Vom Begriff des »Zellhaufens« wird sich durch Anführungszeichen allerdings ebenso distanziert wie von dem Begriff der »Werbung«. Dabei ist zu fragen, auf welcher Basis diese Annahme zur Patientinnen-Perspektive erfolgt. Die Frage »Wo kann ich überhaupt abtreiben« spielt an dieser Stelle beispielsweise keine Rolle, obschon sie durch die Bereitstellung von diversen Auflistungen in den digitalen Medien auch für staatliche Stellen implizit vordergründig

Die Erhebung ergab, dass diesbezüglich »Deutungen der kollektiven Akteur[_innen] […] eine strukturäquivalente Abbildung in der medialen Arena« erhalten. Damals zeigte sich die höchste Abweichung von Kollektivgruppen und Medien (9,3 Prozent bzw. 18,2 Prozent) im Deutungsrahmen »Konflikt zwischen Schutz des Lebens und Rechten der Frau«, wobei Medien diese Abwägung in doppeltem Ausmaß vornahmen. Dieses Auseinanderklaffen scheint sich in der Positionierung der gewählten Einstiegsthese in die Diskussion »Leben von Mutter [sic!] vs. Kind [sic!]« im Video fortzusetzen. Gerhards, Jürgen/Neidhardt, F./Rucht, D.: Zwischen Palaver und Diskurs, 1998, S. 121f.

Auseinandersetzungen um Abtreibung in Deutschland 2017-2020 im Kontext digitaler Medien

ist.70 Wer den Text verfasst hat, geht aus einer Aufzählung am Video Beteiligter nicht eindeutig hervor. Abbildung 6: Begleittext zum Video. Screenshot November 2020.

Außerdem werden unter dem Video die groben Abschnitte anhand von Timecodes zu den drei Diskussionsfragen angegeben, weiter wird intermedial für den Diskuthek-Podcast geworben.

Zwei stellvertretende Zitate von Linder, erneut als Erstes mit einer Sprechposition sichtbar, und zuletzt Bücker verdeutlichen im Begleittext die audiovisuell aufgezeichnete Diskussion. Fast werbend verspricht der Text abschließend »viele Emotionen sowie Argumente« und auch eine konsensuelle Übereinkunft der streitenden Akteurinnen. Letztere bezieht sich aber nicht auf die diskutierte Abschaffung der Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen, sondern eine nicht näher erläuterte »Sozialpolitik«. Der Begriff der Sozialpolitik ist implizit und ohne Kennzeichnung zudem übernommen worden aus einem der Abschlussargumente Linders (35:20-35:22).

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Aktuelle Adressen für Abbrüche versammeln über die deutsche Bundesärztekammer hinaus auch https://www.abtreibung.at bzw. https://abtreibung-adressen.eu (zuletzt abgerufen am: 03.06.2021).

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Im Video selbst wird die Sprechposition der beiden diskutierenden Frauen kontinuierlich durch Einblendungen von Faktenchecks einerseits und InfoEinblendungen andererseits überlagert. Sie sind durch rote und grüne Häkchen, Kreuze und Blasen visualisiert und verlaufen zum Teil ineinander. Die Texte und teils auditiven Symbole, die über oder um das audiovisuelle Material gelegt sind, versammeln etwa juristische Quellen. Auch die Positionen Pro und Contra zu den Diskussionsfragen zur Abtreibung sind durch die Farbgebung Rot/Grün organisiert. So sitzen Bücker und Linder je nach selbstgewählter Platzierung nach dem Anhören einer These entweder vor einem in Rot oder Grün beleuchteten Hintergrund mit rissiger Beton-Optik, der z.T. mit einem Streifenmuster versehen ist. Abbildung 7: Streiten 2.0. – Korrektur einer Aussage. Screenshot November 2020

Auditiv wird in einem Vorspann der Diskussion der angekündigte Schlagabtausch zunächst durch TV-Umschaltgeräusche untermalt. Später werden die Stern-Infos mit einem Papierrascheln und Stern-Checks jeweils von einem »Pling« bei korrekter Aussage und einem »Wrong-Buzzer«, wie sie in Quiz-Shows eingesetzt werden, begleitet. Diese Geräusche legen sich wahrnehmbar über die Redeanteile von Bücker und Linder. Es erfolgen jeweils drei Checks und drei Info-Einblendungen, während beide Diskutantinnen sprechen. Korrigiert wird dabei ausschließlich Linders Aussage, Ärzt_innen müssten Abbrüche melden und würden sonst mit Bußgeldern belangt, da eine solche Meldepflicht abtreibender Ärzt_innen in Deutschland nicht besteht. Die ästhetisch-mediale Gestaltung mit ihren begrenzten, aber andererseits auch überbordenden Möglichkeiten

Auseinandersetzungen um Abtreibung in Deutschland 2017-2020 im Kontext digitaler Medien

Abbildung 8: Gleichberechtigungs-Check 2.0. Screenshot November 2020.

führt bisweilen dazu, dass Aussagen auf kuriose Weise als faktische Gegebenheit »angezeigt« werden; dies betrifft zum Beispiel die Unterscheidung zwischen juristischer Gleichstellung und gesellschaftlich umgesetzter Gleichberechtigung. Ein weiteres Element der Einblendung besteht in der Umformulierung der drei Diskussionsthesen zu Fragen an das Publikum (s. auch Abb. 5.).

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Räumliche Anordnungen der Akteur_innen des Videos

Anordnungen im Video sind zeitlicher, räumlicher und geschlechtsspezifischer Art. Ein wie bereits beschrieben frühes, angekündigtes Element des Videos ist die angedeutete Versöhnung als notwendiger Teil der Dramaturgie des Streitens. Sie wird räumlich umgesetzt, indem sich beide Diskutantinnen einmal auf eine Seite setzen und am Schluss nach argumentativen Gemeinsamkeiten befragt werden. Ein anderer Ausgang als der angedeutete »Konsens« ist im Format nicht vorgesehen. Die gesamte Dramaturgie korrespondiert mit geschlechtsspezifischen Zuständigkeiten; so tritt der männliche Moderator durchweg als »Streitschlichter« auf, obwohl es zu keinem Zeitpunkt des Videos zu schlichtungsbedürftigen Elementen einer Streitsituation kommt. Eine vollständige Verweigerung der Fortsetzung von Kommunikation oder gar ein Verlassen des Raums drohen im Verlauf keineswegs. Ungeachtet dessen wird am Video-Anfang mit einer der wenigen Situationen geworben, in denen ein Ausredenlassen eingefordert wird (0:15). Die Inszenierung diskutierender Frauen, die einer (männlichen) Schlichtungsinstanz bedürf-

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ten, knüpft so an klischeehafte Geschlechterfiguren wie die »streitsüchtige Feministin«71 an. Die inszenierte Gleichzeitigkeit der Absenz und Anwesenheit von Streit – letztere wird eben suggeriert durch angekündigte Emotionen der vielfach mit Wissenschaftsbezügen argumentierenden bzw. auf Quellen verweisenden Diskutantinnen – ist dabei durch eine klare räumliche Aufteilung organisiert: Der Mann sitzt salomonisch in der Mitte, zu seinen Seiten nehmen die Diskutantinnen Platz. Sag- und Zeigbares bzw. streitende und nicht streitende Akteur_innen sind im Video auch in Hinsicht abwesender Repräsentation von männlichen Sprechpositionen verteilt. Der Moderator verkörpert den Typus des elaborierten, differenzierten Mannes im Diskurs; neben dieser Zuständigkeit bleiben spezifische andere, überwiegend männliche Akteure, die den Diskurs außerhalb des medialen Erzeugnisses dominieren, fast gänzlich ausgeblendet und unthematisiert, bis auf Klaus Günter Annen und dessen Aktivitäten, auf die Bücker eingeht. Bücker verschafft feministischen Argumenten zweifelsohne Raum; unter dem Video finden sich anerkennende Aussagen zu ihrer Expertise, die z.T. auf den Feminismus als soziale Bewegung verallgemeinert werden. Die gezeigten Kontrahentinnen erscheinen jedoch zugleich als Repräsentantinnen zweier radikaler Außenseiten im Sinne von Mitte-Rand-Extremismustheorien und zugleich als harmlos in der medialen »Weichzeichnung«, begleitet durch die audiovisuelle Inszenierung im Video.72 Im Titel des Videos werden die Akteurinnen nicht anhand ihrer Namen, sondern ihrer Haltungen exponiert. Ein weiteres Video des Formats »Diskuthek« mit zwei männlichen Funktionsträgern (Philipp Amthor und Kevin Kühnert) hingegen kommuniziert explizit und nur deren Nachnamen.73 Die zugespitzte Zwei-Parteien-Diskussion blendet neben diverser akut betroffener Akteur_innnen zudem im Feminismus intern diskutierte Problematiken aus.74 So bewegen sich weibliche Akteurinnen in den digitalen Medien wieder einmal im Spannungsfeld

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McRobbie, Angela: Das Geschlecht des Postfordismus, 2015, S. 51-75, hier S. 52. Die Suggestion einer qualitativ gleichwertigen Radikalisierung ist indes zu hinterfragen, nicht nur im soziohistorischen Kontext der Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen und ihrer gesundheitsbedrohlichen Konsequenzen. Weniger prominente Männer werden allerdings in anderen Videos auch nur als Richter bzw. Polizist angegeben, wobei die Verteilung gesellschaftlicher Positionen/Aufgaben und befragter Personen (Männer werden als Politik- und Rapmusik-Machende adressiert, junge Frauen in Ernährungs- und religiösen Kontexten) im allen zwölf bis dato ansehbaren Videos des Formats nähere Betrachtung aus einer geschlechterforschenden Perspektive verdient. Behinderungspolitische Einwände zu Pränataldiagnostik und Selbstoptimierung wurden vor allem von Achtelik eingebracht. Siehe Achtelik, Kirsten: Selbstbestimmte Norm, 2015.

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zwischen Selbstermächtigung und Normierung, wie Studien für selbstproduzierte Videos bereits herausgestellt haben.75

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Zeitpunkt und Kontext der Video-Veröffentlichung

Der Video-Beitrag vom 15. August 2019 spricht nicht an, dass es im Monat der Veröffentlichung im Bundesland Hessen erforderlich wurde, erstmals eine »Bannmeile« um Praxen zu ziehen, um die Rechte von Patientinnen vor Abtreibungsgegner_innen zu schützen. Der hessische Erlass war seit dem Frühjahr vorbereitet worden.76 Aktuelle politische Entwicklungen einzubeziehen ist dabei durchaus Absicht des Videos, so werden die jüngere Verschärfung des Paragraphen 219a und auch die Aufhebung der Verurteilung der Ärztin Kristina Hänel im Juni 2019 behandelt (13:01). Der Aktualität andeutende mediale Streit macht die zeitgleiche physische Präsenz und psychische Gewaltausübung von Gegner_innen der Möglichkeit zum Schwangerschaftsabbruch vor ärztlichen Einrichtungen potenziell unsichtbar, indem er sie (auch nachträglich, etwa im ergänzenden Text) nicht aufgreift. Gewalt durch Einschüchterung und Angriffe von medizinischen Einrichtungen ist indes schon seit Langem Strategie von Abtreibungsgegner_innen bei den Auseinandersetzungen um den Zugang zum Schwangerschaftsabbruch. Soziohistorische Kontexte bleiben im Video insgesamt überwiegend invisibilisiert.77 Völlig unberücksichtigt sind somit Anschläge auf US-amerikanische Kliniken in den Jahren 1983 und 1984, in denen Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt wurden,78 oder auch in Deutschland. Nachdem Ende der 1970er-Jahre feministische Gruppen die ersatzlose Streichung des Paragraphen 218 gefordert hatten, mobilisierte die katholische Kirche »die Abtreibungsgegner und -gegnerinnen mit Demonstrationen gegen die Einrichtung von Beratungszentren und Unterschriftensammlungen gegen die Krankenkassenfinanzierung von Abtreibungen aufgrund einer Notlagenindikation. Mit Attacken und Anschlägen auf Profamilia-Zentren in Bremen, Hamburg

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Vgl. Prommer, Elizabeth/Wegener, C./Linke, C.: Geschlechterdarstellungen auf YouTube, 2019, S. 11-15. Zwar lässt sich berechtigt einwenden, redaktionelle und technische Videoproduktion benötigt einen gewissen Vorlauf. Indes hat etwa die Partei Die Linke im hessischen Landtag bereits im März 2019 einen Gesetzesentwurf vorgelegt, der die Einführung einer »Schutzzone« von 150 Metern vor ärztlichen Praxen, Kliniken und Beratungsstellen vorsah, was medial an zentraler Stelle begleitet wurde, zum Beispiel durch das Ärzteblatt. Eine Einordnung des seit 1871 bestehenden §218 und seiner bevölkerungspolitischen Absichten siehe u.a. von Behren, Dirk: Die Geschichte des §218 StGB. Tübingen: Edition Diskord 2004. Rucht, Dieter: Soziale Bewegungen, 1991, S. 35.

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und Kiel sowie Androhungen von Bombenanschlägen auf weitere Beratungszentren nahm der Konfliktaustrag eine neue, direktere Form der Aggressivität und Gewalt an«.79 Diese gewalttätigen »Vorarbeiten« antifeministischer Bewegungen finden keinen Eingang in das Format, als fände der deutschsprachige Diskurs in der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts gänzlich gelöst von den nicht nur als Streitkulturen aufgetretenen wichtigen Referenzbewegungen wenige Jahrzehnte zuvor statt.

Fazit: Neue Medienstrategien, alte Geschlechtsspezifik und nicht sichtbare Bedrohung Untersucht wurden anhand ausgewählter Beispiele sowohl das digitale Medienformat der Webseite, um das im Kontext von Abtreibung gestritten wird, als auch das Medium des Videos, in dem gestritten wird. Festgestellt werden kann, dass die mediale Komplexität die gesellschaftlich-konfliktive Komplexität potenziert; aber auch eine angestrebte Domestizierung von Konflikten wird deutlich. Anhand der zunächst analysierten Webseiten abtreibung.de und schwangerin-konflikt.de, über deren Popularität bzw. Nutzung Unklarheit besteht, zeigt sich erstens eine gezielte Desinformation durch ästhetisch-spielerische Inszenierung bei gleichzeitig nicht-gezeigten radikaleren Anti-Abtreibungs-Positionierungen, die Betreiber_innen in anderen, z.B. sozialen Medien äußern. Im behandelten Video der Stern-Diskuthek wurde zweitens eine gewollte Simplifizierung und Reduzierung der Auseinandersetzung um Abtreibung deutlich, die zugleich über aktuelle politische Entwicklungen aufklärt als auch neue Sichtbarkeiten und erhaltene geschlechterbezogene Stereotypiserungen (re-)produziert. Feministische Argumentation bekommt in Formaten wie der Diskuthek zwar Aufmerksamkeit, sie bleibt zwischen der Auflösung gesellschaftlicher Abseits-Positionierungen und der qualitativ-argumentativen Gleichsetzung mit der Anti-Abtreibungs-Bewegung jedoch im Format stecken. Auch die bewusste Kultiviertheit von Streitkultur im audiovisuellen Medium ist tückisch, da die Engführung auf »vorzeigbare« Akteur_innen Gewalt zu übersehen droht, trotz ansonsten aktueller Bezüge. In dieser Darstellung von Auseinandersetzungen um Abtreibung als moderat aushandelbares Gespräch wurde die gleichzeitig (stattfindende) Bedrohung durch Abtreibungsgegner_innen vor ärztlichen Praxen außer Acht gelassen. Diese Invisibilisierung wurde anhand kontextanalytischer Ergänzungen kritisch befragt. Die Schwerpunktsetzung und ästhetische Anordnung einer solchen Konfliktkultur hat weitere Leerstellen: Im audiovisuellen Medium geht es weniger

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Maltry, Karola/Rausch, R.: Der Konflikt um den §218, 1999, S. 333.

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um massive gesundheitliche Versorgungslücken80 als Folge stigmatisierender Informationspolitik denn um performativ-vorzeigbares Streiten, an dessen Ende fast zwangsläufig ein Konsens steht. Diese Dramaturgie der Versöhnung als einzig möglichem Ausgang medialer Streitkultur ist in ihrer Sinnhaftigkeit zu hinterfragen – denn sie begünstigt eine Stagnation des Diskurses, die gerade ausgehend von populären audiovisuellen Medien problematisch werden kann. Die außerhalb der Medien zentralen81 Akteur_innen der Praxis Abtreibung sind im Diskussions-Format kaum repräsentiert: Patientinnen, die abtreiben wollen, und Ärzt_innen. Waren erstere im medialen deutschsprachigen Diskurs der 1970er-Jahre noch die wichtigsten Stimmen, hat sich ihre Sichtbarkeit in den digitalen Medien verschlechtert, wo ihre Videos zumindest seltener angesehen werden als die des Sterns. Die neuen Möglichkeiten der Medienproduktion haben eine Auslagerung von Selbstpositionierungen begünstigt,82 sie wären aber auch in journalistische Formate einbeziehbar, wenn hieran ein Interesse bestünde. Ob und in welchen spezifischen Kontexten in Bezug auf Abtreibung überhaupt von Konfliktkultur bzw. Konflikten gesprochen wird und werden kann, hat der Beitrag ebenso versucht aufzuschlüsseln. So ist nicht jeder Schwangerschaftsabbruch pauschal und gleichermaßen ein Konflikt im Sinne einer psychischen Belastung für Patientinnen, wie jüngere Langzeitforschung hervorhebt. Als Abgrenzung zum Konflikt wurde der Arbeitsbegriff der Auseinandersetzung angelegt, mit der Einschränkung, dass nicht Interaktion, sondern akteur_innenspezifische Gewalt als politisches Mittel der Einschüchterung und Bedrohung darunter subsumiert wird. Neben der weiter zunehmenden Bedrängung von Patient_innen, Ärzt_innen und Beratenden, die zur Erfordernis von Schutzabschnitten um ärztliche Praxen in Teilen Deutschlands führte, ist auch eine Umakzentuierung der zentral betroffenen Akteur_innen im Abtreibungsdiskurs zu identifizieren: »Wir haben abgetrieben« 80

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Diese betrifft auch die ärztlich-gynäkologische Ausbildung. Die Gruppe Doctors for Choice, die sich selbst als Netzwerk von Ärzt_innen und Medizinstudierenden sowie Menschen aus anderen Gesundheitsberufen beschreibt, gleicht u.a. mit angebotenen »Papaya-Workshops« die sich zuspitzende Vernachlässigung des Lehrgebiets Schwangerschaftsabbruch im Medizinstudium aus, nach Eigenangabe an vielen medizinischen Fakultäten, siehe https://doctor sforchoice.de/unsere-arbeit/aus-und-fortbildung/ (zuletzt abgerufen am: 03.06.2021). Diese Einschätzung erneuert die Akteur_innenaufstellung nach Gerhards/Neidhardt/Rucht, der zufolge Exekutive, Legislative, Judikative, Administration und Parteien zentral seien, kirchliche, feministische und antifeministische Gruppen jedoch peripher. Patientinnen und Ärzt_innen waren in dieser Unterscheidung nicht explizit aufgeführt, dafür »Journalisten« und andere Interessensgruppen. Gerhards, Jürgen/Neidhardt, F./Rucht, D.: Zwischen Palaver und Diskurs, 1998, S. 151f. Nicht unterschätzt werden sollte die massive Präsenz von hate speech als (anti-)kommunikative Praxis in den digitalen Medien, die solche Sprechpositionen wiederum schon vorab erschwert, besonders dann, wenn sie nicht mit dem Schutz (größerer) medialer Strukturen, u.a. juristischer Begleitung, geäußert werden können.

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sagten in den Jahren 2017 bis 2020 in Deutschland mit einem nicht unerheblichen Rechtfertigungsdruck vor allem Ärzt_innen – die auf Basis des erweiterten §219a weiterhin verurteilt werden – statt (ehemalige) Patientinnen oder potenziell von der Versorgungslücke betroffene Personen.83 Es bestehen weiter Desiderate hinsichtlich ästhetisch-medialer Strategien, (Audio-)Visualisierung von Abtreibung und der spezifischen Auseinandersetzungskulturen, die ihnen zugrunde liegen. Diskurssprachlich ist weiter zu analysieren, welche Begriffe öffentlich zirkulieren und Einzug in (temporäre) Alltagssprache erhalten – wie der Kompromiss – und welche marginal bleiben – wie die Erleichterung. Auch ist weiterhin zu fragen: Wer darf öffentlich sichtbar streiten? Wer übertritt die Schwelle des Streitens und übt Gewalt aus, in welchen Medien wird dies (nicht) sichtbar? Welche Folgen hat eine »zivilisierte« Ausblendung von Gewalt wiederum womöglich auf diskursive und nicht diskursive Praxen? An einige bestehende Forschungsperspektiven kann dabei angeknüpft werden: So forschen die Kommunikationswissenschaften zur digitalen Gesundheitskommunikation,84 beispielsweise zur Ärzt_innenwahl auf Basis digitaler Portale, in deren Auswertungsfundus digitale Medien wie Webseiten über Abtreibung künftig einbezogen werden könnten. Nicht nur die feministischen Medienwissenschaften85 sind methodologisch in der Lage, sich eingehend mit digitalen Angeboten zu Abtreibungen zu befassen, um auch die Resonanz desinformierend beratender bis offen manipulativer Webseiten bei potenziellen Patientinnen, ggf. auch Angehörigen, Ärzt_innen und beratendem Personal zu erfassen. Der aufgezeigten Relevanz von Webseiten und Videos als einschlägigen Analysematerialien ist inter- und transdisziplinär weiter nachzugehen, wofür dieser Beitrag mit seinen kulturwissenschaftlichen, auf Ästhetik und Diskurssprache fokussierenden Fragestellungen versucht hat, einige Vorschläge zu machen.

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Ausgenommen wie beschrieben einige junge Frauen im audiovisuellen Medium Youtube, die sich selbst sichtbar machen. Kalch, Anja/Wagner, A.: Gesundheitskommunikation und Digitalisierung, 2020; Schäfer, Markus et al.: Gesundheitskommunikation im gesellschaftlichen Wandel, 2020. U.a. Dorer, Johanna/Geiger, B.: Feministische Kommunikations- und Medienwissenschaft, 2002.

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Abbildungen Abbildung 1: ALfA e.V. (2018): https://www.abtreibung.de, Screenshot der Verfasserin. Abbildung 2: ALfA e.V. (2020): https://www.abtreibung.de, Screenshot der Verfasserin. Abbildung 3: Tiqua e.V. (2020): https://www.schwanger-in-konflikt.de, Screenshot der Verfasserin. Abbildung 4: Tiqua e.V. (2020): https://www.abtreibungsausstieg.org, Screenshot der Verfasserin. Abbildungen 5-8: Stern (2019): »Abtreibung: Sollte sich der Staat raushalten? Feministin vs. Abtreibungsgegnerin«. In: Youtube, https://www.youtube.com/watc h?v=ptvn_J4T5r0, Screenshots der Verfasserin.

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