Über die Würde und Erhabenheit des Menschen 9783787327713, 9783787309580

Das Menschenbild der Renaissance findet einen bedeutenden Niederschlag in dem Traktat »De dignitate et excellentia homin

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Über die Würde und Erhabenheit des Menschen
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GIANNOZZO MANETTI

Über die Würde und Erhabenheit des Menschen De dignitate et excellentia hominis

Übersetzt von Hartmut Leppin Herausgegeben und eingeleitet von August Buck

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

PHILOSOPHISCHE BIBLIOTHEK BAND 426

Im Digitaldruck »on demand« hergestelltes, inhaltlich mit der ursprünglichen Ausgabe identisches Exemplar. Wir bitten um Verständnis für unvermeidliche Abweichungen in der Ausstattung, die der Einzelfertigung geschuldet sind. Weitere Informationen unter: www.meiner.de/bod.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliogra­phi­­ sche Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. isbn 978-3-7873-0958-0 ISBN eBook: 978-3-7873-2771-3 © Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 1990. Alle Rechte vor­ behalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§  53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Gesamtherstellung: BoD, Norderstedt. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruck­papier, hergestellt aus 100 % chlor­frei gebleich­tem Zellstoff. Printed in Germany.  www.meiner.de

INHALT

Einleitung des Herausgebers ............. .... .... ......... ...... VII Zur Übersetzung ...................................................... XXXV Auswahlbibliographie ................................... ........ .... XXXVII

GIANNOZZO MANETTI Über die Würde und Erhabenheit des Menschen De dignitate et excellentia hominis Zueignung. An Alfons, den weltbekannten und ruhmreichen König von Aragon ............................. Erstes Buch .. ........................ ......... ...... ......... ......... .... Zweites Buch ............................................................ Drittes Buch ... .............. ......... ........ ...... ..................... Viertes Buch .............................................................

3 7 36 65 98

Quellennachweise .....................................................

141

Namenregister ..........................................................

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EINLEITUNG

Der Begriff der Menschenwürde im Denken der Renaissance,

unter besonderer Berücksichtigung von Giannozzo Manetti

Die Menschenwürde ist ein Begriff, der in der Publizistik unserer Tage häufig begegnet. Immer wieder werden Verletzungen der Menschenwürde in aller Welt beklagt, womit der Inhalt des Begriffs »Via negationis« durch den Verletzungsvorgang bestimmt wird: Folter, vollständige Entrechtung, Sklaverei, Verschleppung, unmenschliche Strafen verletzen die Menschenwürde. Eine positive Definition des Begriffs mit dem Anspruch auf rechtliche Allgemeingültigkeit gibt es nicht. Wenn etwa in der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland, dem Grundgesetz, die Würde des Menschen für unantastbar erklärt wird, handelt es sich dabei nach Meinung der Kommentatoren um einen unbestimmten Rechtsbegriff, »der nicht absolut, sondern immer nur in Ansehung des konkreten Falles bestimmt werden kann.« 1 Diese Begriffsbestimmung wird jedoch gewisse Vorstellungen beinhalten, die mit dem Begriff der Menschenwürde verbunden sind, ohne ihn jeweils erschöpfend zu definieren. So wird man sagen dürfen, notwendige Voraussetzung für die Konzeption der Wesenswürde des Menschen ist dessen Anerkennung als geistig-sittliches Wesen, das in Freiheit sich selbst verwirklicht, ohne dabei seine Pflichten gegenüber der Gesellschaft zu vernachlässigen; eine Auffassung von Menschen, die auf einen geistesgeschichtlichen Vorgang an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit zurückgeht, auf die »Entdeckung des Menschen« in der Renaissance. Als Jacob Burckhardt diese von dem französischen Historiker Jules Michelet geprägte Formel übernahm, verstand er darunter in seiner »Kultur der Renaissance in Italien« die Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, erläutert von K.H. Seifert, D. Hömig, H. Ruhe, E Füßlein, H. Dellmann, M. Antoni, BadenBaden 1985, 37. 1

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sich zuerst in Italien vollziehende »Ausbildung des modernen Menschenc.2 Während im Mittelalter sich der Mensch »nur als Rasse, Volk, Partei, Korporation oder sonst in irgendeiner Form des Allgemeinen« erkannte, erhebt sich nunmehr »mit voller Macht das Subjektive, der Mensch wird geistiges Individuum und erkennt sich als solchesc. 3 Damit gewinnt der Mensch schlechthin eine eigene Bedeutung unabhängig von seinen transzendenten Bezügen, die nicht bestritten werden. Jedoch primär fragt man nicht mehr nach dem, was über das Individuelle hinausgeht, sondern nach dem, was der Mensch in der Einmaligkeit seines Lebens auf Erden ist. Als Prototyp des sich seiner selbst bewußt gewordenen Individuums gilt Francesco Petrarca, »der erste moderne Mensch«\ der verkündete: »Ego sum unus utinamque integer« - »Ich bin einer und möchte auch einer bleibenc.5 Mit der Betonung des eigenen Ichs und des Menschen im allgemeinen wurde durch Petrarca die Frage nach der Wesenswürde des Menschen neu gestellt. Sie gewann in der Folgezeit eine bis dahin nie erreichte Aktualität und zeitigte eine eigene Literatur:6 die Traktate über die »dignitas hominis«, die, von Italien ausgehend, ihre Nachfolge jenseits der Alpen gefunden haben. Als der Großprior der Grande Chartreuse Petrarca bat, die von Kardinal Lotbar von Conti, dem späteren Papst Innozenz

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Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien, Durchges. von W. Goetz, Stuttgan 1925, 123. 3 Ibid. Die Kritik hat fälschlich Burckhardt die Meinung unterstellt, das Mittelalter habe keine kriftigen Individuen gekannt. Burckhardt geht es bei Individualismus in erster Linie um eine im Mittelalter nicht anzutreffende Geisteshaltung, um ein neues Lebensgefühl, welche das Selbst- und Weltverständnis des modernen Menschen schlechthin bestimmen. Vgl. St. Skaiweit, Der Beginn der Neuzeit, Darmstadt 1982, Ertriige der Forschung, Bd. 178, 15. 4 B. Groethuysen, Philosophische Anthropologie, München 1928, 99. 5 Semiles XV, 11; in: F. Petrarca, Opera, Basileae 1554, 1046. 6 Eine ausführliche Analyse der italienischen •dignitasc-Literatur bei Ch. Trinkaus, In Our Image und Likeness, Humanity and Divinity in Italian Humanist Thought, London 1970, 2 Bde. mit reicher Bibliographie. 2

Einleitung

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III., zu seiner Abhandlung »De miseria humanae conditionisc? geplante Ergänzung »De dignitate hominis« zu schreiben, lehnte der Dichter diese Bitte zwar ab, setzte sich jedoch in einem Kapitel seines innerhalb und außerhalb Italiens viel gelesenen Traktats »De remediis utriusque fortune« 8 ausführlich mit der »dignitas humana« auseinander. Es ist die erste Behandlung des Themas im Humanismus, als dessen Vater sich Petrarca hier wie auch in anderer Hinsicht erweist. Viele der von ihm zur Begründung der Wesenswürde des Menschen angeführten Argumente kehren in der späteren »dignitas«-Literatur wieder. Sie konnten aus Petrarca entlehnt worden sein oder - wohl in der Regel - unmittelbar aus den von Petrarca benutzten Quellen. Die Quellen für die Vorstellung, daß dem Menschen eine besondere Würde eignet, liegen sowohl in der Bibel als auch in der heidnischen und christlichen Antike, d.h. in der Patristik. Nach dem Bericht der Genesis9 hat Gott den Menschen nach seinem Bilde erschaffen, ihn mit Vernunft und freiem Willen ausgestattet und dazu bestimmt, über die Erde zu herrschen. Ähnlich wird auch in der antiken Dichtung und Philosophie die Wesenswürde des Menschen als Mitgift seiner Erschaffung angesehen. So stellt Ovid 10 den Menschen als Gottes Ebenbild dar: Prometheus formt aus Erde und Wasser den Menschen nach dem Bilde der allversorgenden Götter und lehrt ihn sein Antlitz zum Himmel zu erheben. Seine aufrechte Haltung kennzeichnet ihn als Beherrscher der Erde; ein Gedanke, der sich auch bei Cicero findet. 11 Durch seiner Hände Werk schafft sich der Mensch auf Erden ein eigenes Reich und errichtet die »bunte Pracht der Bauten und Städte«. Dank seiner Vernunft vermag er auch die Geheimnisse einer höheren Welt zu erforschen; Lotharii Conti (Innocentii III) De miseria humanae conditionis, edidit M. Maccarrone, Lucani 1955. 8 K. Heitmann, Fortuna und Virtus, Eine Studie zu Petrarcas Lebensweisheit, Köln/Graz 1958. 9 Bücher Mose I, 1, 26. IO Ovid, Metamorphosen I, 72-84. 11 Cicero, De natura deorum II, 29, 73-65, 163. 7

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eine ihn vor allen Lebewesen auszeichnende Fähigkeit, die nach Cicero zugleich eine Verpflichtung bedeutet. Die Vergottung des Menschen als »magnum miraculum« im »Asclepius«, einem lateinischen Text aus dem bereits in der christlichen Ära entstandenen Corpus der hermetischen Schriften, hat sowohl die Kirchenväter als auch die mittelalterlichen Theologen beeinflußt. In der Patristik, 12 bei den griechischen wie bei den lateinischen Vätern, bei Gregor von Nyssa und Nemisios von Emesa, wie bei Augustin und Laktanz, vereinigen sich die Elemente des biblischen und des antiken Würdebildes. So definiert etwa Laktanz, der mii seiner Schrift »De opificio Dei« Ciceros Wesensbestimmung des Menschen ergänzen bzw. berichtigen will, die Sonderstellung des Menschen in der Natur wie folgt: »Dedit enim homini artifex ille noster ac parens deus sensum atque rationem, ut ex eo appareret nos ab eo esse generatos, quia ipse intelligentia, ipse sensu ac ratio est«, 13 und führt dann aus, wie der Mensch dank dieser Gaben den Tieren überlegen ist. Trotz offensichtlicher Beziehungen zu antiken Vorstellungen liegt der Schwerpunkt im Menschenbild der Patristik begreiflicherweise im biblisch-christlichen Begriff der »dignitas hominis«. Sein Fundament ist die Inkarnation Christi, kraft dessen Opfertod14 - wie Gregor von Nyssa und Nemesios von Emesa ausführen - die durch den Sündenfalllädierte ursprüngliche Wesenswürde wiederhergestellt wird; ein Vorgang, den die Konsekration in der Messe nachvollzieht entsprechend den Worten des begleitenden Gebetes: »Deus qui humanae substantiae dignitatem mirabiliter condidisti et mirabilius reformasti«, d.h. die Menschenwürde ist mit der Heilsgeschichte verknüpft, da sie durch die Menschwerdung Christi erneuert worden ist. E. Garin, La »Dignitas Hominis« e Ia letteratura patristica, in: Rinascita 1(1938), 102-146. 13 De opificio Dei 2, in: Laktanz, Opera omnia, ed. S. Brandt, Prag, Wien, Leipzig 1893, 7. 14 R. Javelet, Image et ressemblance au douzieme siede de Saint-Anselme aAlain de Lilie, Strasbourg 1967, 2 Bde. 12

Einleitung

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Das Mittelalter übernahm von der Patristik den biblischchristlichen Würdebegriff, der vor allem im Rahmen des Aufschwungs der gelehrten Studien während des 12. Jahrhunderts vielfach diskutiert wurde, so u.a. von Wilhelm von Saint.:rhierry, der den Menschen mahnend an seine Gottebenbildlichkeit erinnert: »Ü imago Dei, recognosce dignitatem tuam; refulgeat in te auctoris effigies.c 15 Petrus I.ombardus weist den Menschen eine höhere Würde zu als den Engeln, insofern Gott in seinem Sohn Menschengestalt angenommen hat; 16 das stärkste Argument, das der Christ für seine Wesenswürde ins Treffen führen kann. Auf dieses Argument greift Petrarca zurück: Kraft der Inkarnation hat Gott uns gezeigt, welchen hervorragenden und zugleich einzigartigen Platz der Mensch innerhalb der Schöpfung einnimmt. Von Gott mit Verstand, Gedächtnis, Voraussicht und Sprache ausgestattet, verfügt er über zahlreiche Künste und Fertigkeiten und macht sich die gesamte Schöpfung dienstbar, deren Schönheit er bewundert. Dank seines aufrechten Ganges Petrarca zitiert die entsprechenden Verse aus Ovid - erhebt der Mensch seine Blicke über die Erde hinaus zum Himmel, dem Ziel seiner unsterblichen Seele, die ihm allein unter allen Kreaturen vom Schöpfer verliehen worden ist. Das Bewußtsein der »dignitas hominis« verschrieb sich Petrarca als Heilmittel gegen das Wissen um die »miseria hominis«, 17 für welche wiederum wie für die Wesenswürde die Bibel und die Antike eindrucksvolle Belege lieferten. Was das pessimistische Menschenbild der Bibel anbetrifft, sei an Aussprüche des Predigers Salomonis erinnert: »Denn es gehet dem Menschen wie dem Vieh; wie dies stirbt, so stirbt er auch; und alle haben einerlei Odem; Und der Mensch hat nichts mehr denn das Vieh, denn es ist alles eitel«. Und ferner: »Da lobe ich die Toten, die schon gestorben waren, mehr denn die Lebendigen, die noch 15

Wilhelm von Saint.:rhierry, In cantica canticorum caput I; in: Migne

P. L. 180, col 494 C. 16 17

Trinkaus, vgl. Anm. 6, I, 180. Heitmann, vgl. Anm. 8, 208.

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das Leben hatten. Und der noch nicht ist, ist besser denn alle beide, und des Bösen nicht inne wird, das unter der Sonne geschiehet«.18 Ähnliche Töne stimmt Hiob in seinen Klagen an: »Der Mensch, vom Weibe geboren, lebt kurze Zeit und ist voll Unruhe; gehetauf und fällt ab; flieht wie ein Schatten und bleibt nicht.« 19 Wie ein Echo auf den Prediger Salomonis klingt ein im alten Griechenland weit verbreitetes Diktum, wonach es für den Menschen am besten sei, überhaupt nicht geboren zu werden; wenn er es aber ist, könne man ihm nur wünschen, er möge so rasch wie möglich zum Hades fahren. 20 In negativer Sicht erscheint der Mensch auch im Tiervergleich bei Plinius und Plutarch. Im Vorwort zum 7. Buch seiner »Naturalis historia« stellt Plinius der physischen Schwäche des Menschen die Stärke der Tiere gegenüber. Die Tiere sind mit natürlichen Waffen gegen ihre Feinde ausgerüstet, der Mensch hingegen nicht. Die Tiere haben gegen die Unbilden der Witterung einen Schutz, der dem Menschen fehlt. Dem Menschen allein sind die Tränen gegeben; weinend beginnt er sein Leben. Auch Plutarch hält die Tiere verglichen mit dem Menschen für überlegen. Im Dialog »Gryllus« sucht er nachzuweisen, daß die Tiere im Vollgenuß aller Tugenden seien, ja sogar Vernunft besäßen, jedoch frei von den Begierden, welche die Menschen unstet durch die Welt treiben. Daher sei der Mensch unglücklicher als das Tier. Sehr viel häufiger als die Antike beklagte das Mittelalter die Armseligkeit und das Elend des Menschen. Im Jammertal des Lebens »finden wir nichts anderes als die Schwäche unserer Natur, das Spiel des Zufalls, die Veränderlichkeit des Willens, den Unrat der Lüste und den immerwährenden Streit der Versuchungen«, so gibt Vincenz von Beauvais in seiner Enzyklopädie die »opinio communis« der Zeitgenossen über die menschliche Existenz wieder. 21 Alle negativen Aspekte des menschlichen Da18 19 20

21

Der Prediger Salomonis 3, 19; 4,2-3. Hiob 14, 1-2. R. Harder, Über Ciceros Somnium Scipionis, Halle 1929, 120. Vincenz von Beauvais, Speculum historiale 31, 107; vgl. G.Melville,

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seins, das voller Leiden und Mühsal ist, hat Kardinal Lotbar von Conti in seiner bereits erwähnten Abhandlung »De miseria humanae conditionis« zusammengefaßt und den Menschen als das erbärmlichste und verächtlichste aller Geschöpfe dargestellt. In seinen ausführlichen Beschreibungen der »miseria hominis« beruft sich Petrarca sowohl auf die Bibel als auch auf Plinius.22 Er läßt sich im Gespräch mit seinem fiktiven Beichtvater Augustin von diesem den Menschen in seiner ganzen Armseligkeit schildern: ein hinfälliger Körper und eine unruhige Seele, beherrscht von Gier wie von Angst, überdrüssig dessen, was er besitzt und voller Trauer um das, was er verloren hat. 23 Was ihn selbst anbetrifft, leidet Petrarca nach seinem eigenen Eingeständnis zeitlebens an der »accidia«, umschrieben als »odium atque contemptus humanae conditionis« - »Haß und Verachtung des menschlichen Daseins«. 24 Gegenüber den aus dieser Seelenkrankheit erwachsenden pessimistischen Stimmungen, die immer wieder Petrarcas optimistisches Selbstvertrauen erschüttern, versagte die Erinnerung an die »dignitas hominis« als Heilmittel. Den idealen Anspruch an den sich seiner Würde bewußten Menschen stellte die Einsicht in dessen Affektbedingtheit und Fremdbestimmung durch die Umwelt, begriffen als die anonyme Fortuna, in Frage. Das Bewußtsein der existentiellen Unsicherheit des Menschen, das auch nach Petrarca - obgleich meist unterschwellig - im Humanismus fortlebte, wurde in der um die Mitte des 15. Jahrhunderts aufkommenden »dignitas«-Literatur verdrängt durch den Glauben an den absoluten Primat der »dignitas« gegenüber Zur geschichtstheoretischen Begriindung eines fehlenden Niedergangsbewußtseins im Mittelalter, in: Niedergang, Studien zu einem geschichtlichen Thema, Hrsg. v. R.Kosellek u. P.Widmer, Stuttgart 1980, 103-136; Zitat 114. 22 Heitmann, vgl. Anm. 8, 163. 23 Secreturn 11, a cura di E.Carrara, in: F.Petrarca, Prose, Milano/Napoli 155, 92. 24 E. Loos, Die Hauptsünde der »acedia« in Dantes »Commedia« und in Petrarcas »Secretumc, Zum Problem der italienischen Renaissance, in: Petrarca 1304-1374, Beiträge zu Werk und Wirkung, Hrsg. v. F. Schalk, Frankfurt a. M. 1975, 177.

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der »miseria hominisc. Dabei änderte sich die Bedeutung der Wesenswürde. Sie blieb zwar eine von Gott verliehene Gabe, wurde aber nunmehr als eine Potenz angesehen, die zu verwirklichen, Aufgabe des Menschen ist, d.h. der Begriff erhält einen dynamischen Charakter. Seine Würde offenbart der Mensch in seiner Tätigkeit, sei es in der »Vita activac innerhalb der Gemeinschaft, sei es in der »Vita contemplativac als Meditation über die Welt und ihren Schöpfer. Mit Giannozzo Manetti, der nach dem Urteil seines Freundes und Biographen Vespasiano da Bisticci zu den ihr Jahrhundert zierenden »uomini singulari« gehörte,25 nimmt sich einer der bedeutendsten italienischen Humanisten der Frührenaissance des Themas der Menschenwürde an. Er wurde 1396 in Florenz als Sohn des Bernardo Manetti, eines reichen Kaufmanns aus adliger Familie, geboren und begann nach kurzer Tätigkeit im väterlichen Geschäft mit 25 Jahren seine Studien, denen er ein weit über die »studia humanitatis« hinausreichendes Wissen verdankt. Bei dem Kamaldulenser Mönch Ambrogio Traversari lernt er Griechisch und bei in Florenz ansässigen Juden, insbesondere bei Immanuel Abraham di San Miniato Hebräisch, welches er so gut beherrschte, daß er den Psalter ins Lateinische übersetzen konnte. Aufgrund seiner Teilnahme an den Zusammenkünften im Augustinerkloster Santo Spirito, einem Treffpunkt der gelehrten Welt, erwarb er philosophische und theologische Kenntnisse und wurde ein überzeugter Anhänger des Aristoteles, dessen Ethik er übersetzte und in öffentlichen Vorlesungen erläuterte. Die Ethik, die Briefe des Apostels Paulus und Augustins Gottesstaat waren die drei Bücher, die er nach Bisticcis Zeugnis auswendig wußte. 26 Das Material zu seinen Studien lieferte ihm seine für die damalige Zeit reichhaltige Bibliothek. 27 Dreizehn hebräiVespasiano da Bisticci, Le Vite, Ed.crit. con introduzione e commen· to di A. Greco, Vol. I, Firenze 1970, 485. 26 Ibid. 485 f. 27 G.B. Cagni, I codici vaticani Palatino-Latini appartenuti a Giannozzo Manetti, in: La Bibliofilia 51 {1960) 1-43; H. Wittschier, Giannozzo Manetti, Das Corpus der Orationes, Köln/Graz 1968, 27ff. 25

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sehe Handschriften hat man als zu Manettis Bibliothek gehörig identifizieren können. Unter den circa vierzig griechischen Handschriften ist Aristoteles am stärksten vertreten; an den über fünfzig antiken lateinischen Autoren hat Cicero mit siebzehn Handschriften einen ungewöhnlich hohen Anteil. Zahlreiche von Manettis Hand stammende Glossen in den Büchern zeigen, wie er sich mit den Texten auseinandergesetzt hat. Nach dem Vorbild des Sokrates, dessen Leben er auf lateinisch beschrieben hat, erfüllte er trotz seiner gelehrten Studien seine Bürgerpflichten gewissenhaft und war in dieser Hinsicht ein prominenter Repräsentant des Florentiner Bürgerhumanismus. Er betätigte sich in den politischen Gremien der Republik sowie als Stadtkommandant in den von der Republik abhängigen Kommunen, u.a. in Pistoia, dessen Geschichte er später schrieb. Ferner übernahm er zahlreiche diplomatische Missionen, u.a. in Genua, Siena, Neapel, Venedig und Rom. Als er infolge seiner kompromißlosen republikanischen Gesinnung mit Cosimo de'Medici, dem ungekrönten Herrscher von Florenz, in Konflikt geriet, mußte er ins Exil gehen, zunächst nach Rom an den Hof der P"äpste Nikolaus V. und Calixtus ill., sodann nach Neapel an den Hof Alfons' 1., Königs beider Sizilien, wo er eine ehrenvolle Aufnahme fand. Er verstarb 1459 und wurde in Neapel beigesetzt. Manetti hinterließ ein umfangreiches bisher nicht vollständig ediertes Werk, dessen Überlieferungsgeschichte noch ungeklärt ist, gibt es doch bisher nicht einmal ein endgültiges Opusverzeichnis.28 Das Werk enthält Traktate, historische Schriften, Übersetzungen aus dem Griechischen und Hebräischen, Reden und Briefe. Eine Anzahl von Schriften sind nicht erhalten. Sein wichtigstes und bekanntestes Werk, zugleich eins der bedeutendsten Zeugnisse der humanistischen Menschenkunde, ist die Lobrede auf die menschliche Würde. 29 Einzelne Züge des Ein dem damaligen Forschungsstand entsprechendes Opusverzeichnis bei Wittschier, vgl. Anm. 27, 36-40. 29 Der Traktat ist in sechs Handschriften überliefert; der Autograph ist nicht erhalten; die »editio princeps« erschien 1532 in Basel; vgl. Ianotii Manetti De dignitate et excellentia hominis, Edidit Elizabeth R. Leonard, Padova 1975, X-XXIX. 28

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in dem Traktat entworfenen Menschenbildes lassen sich bereits in den vorangegangenen Schriften erkennen, vor allem in dem 1438 verfaßten »Dialogus Consolatoriusc,30 einem Trostdialog anläßlich des frühzeitigen Todes von Manettis Sohn Antonio. Im Mittelpunkt des Dialogs steht die Rechtfertigung des Schmerzes als einer natürlichen Empfindung. 31 Damit widerspricht Manetti der stoischen Forderung, den Schmerz wie alle Empfindungen und Leidenschaften zu unterdrücken; eine Forderung, die sich Manettis Schwager Angelo Acciaiuolo als Gesprächspartner zu eigen macht und mit Argumenten aus Senecas Trostschriften begründet. In seiner Widerlegung stützt sich Manetti vornehmlich auf Cicero, den er antistoisch interpretiert, und auf Aristoteles, entweder unmittelbar oder durch Cicero vermittelt. Auf beide Autoren sollte er auch in »De dignitate et excellentia hominis« zurückgreifen. Im Dialog wie später im Traktat sind ihm Aristoteles und Cicero die Garanten für die Bestimmung des Menschen, handelnd und erkennend seine eigene Welt aufzubauen. Mit Cicero und Aristoteles erklärt er die von der Stoa verlangte Unterdrückung des Gefühlslebens für unmenschlich. Menschen ohne Gefühle gleichen Steinen. Seine Auffassung findet er auch in der christlichen Lehre bestätigt: Nach Augustin braucht der Mensch seinen Schmerz nicht zu verbergen und kann den Tränen ihren freien Lauf lassen. Wie dem Schmerz darf sich der Mensch auch der Freude hingeben. Trotz der nicht zu leugnenden Schattenseiten ist das Leben lebenswert. Diese Überzeugung kann die Berufung auf die »miseria vitae« in Manetti nicht erschüttern. So ist bereits sein Frühwerk ungeachtet des traurigen Anlasses Ausdruck jener optimistischen Lebensbejahung, die den Traktat »De dignitate et excellentia hominis« durchwaltet. 32 G. Manetti, Dialogus Consolatorius, a cwa di A. de Petris, Roma 1983. A.de Petris, ll ·Dialogus Consolatoriusc di G. Manetti e le sue fonti, in: Giornale storico della letteratura italiana 154 (1977), 76-106. 32 Die gleiche Gesinnung wie aus dem Trostdialog spricht aus dem unedierten •Symposium« von 1448, in welchem die in •De dignitate et 30 31

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Über den Anlaß zur Abfassung des Traktats haben Vespasiano da Bisticci, Manettis Biograph, und der Autor selbst in der »Praefatio« berichtet.33 Als man über die »dignitas hominis« in Neapel am Hofe König Alfons' I. diskutierte, kam die Rede auf den vom Hofhistoriker Bartolomeo Fazio um die Wende von 1447 zu 1448 verfaßten Traktat ,.De excellentia ac praestantia hominis«, dessen Lektüre den König nicht befriedigt hatte, weswegen er den als Florentiner Botschafter in den Jahren 1450/51 in Neapel anwesenden Manetti bat, seinerseits das Thema zu behandeln. Indem dieser der Bitte nachkam, schrieb er noch in Neapel sein Alfons gewidmetes bekanntestes und zugleich bedeutendstes Werk »De dignitate et excellentia hominis«, das dem König im Dezember 1452 vorlag. 34 Ein Vergleich zwischen Fazio und Manetti zeigt, daß dessen Traktat auf einem höheren geistigen Niveau steht.35 Charakteristisch für Fazio ist die starke Abhängigkeit von seinen theologischen Quellen, vor allem von Laktanz. Die ,.dignitas hominis« besteht primär in der Bestimmung des Menschen für die himmlische Seligkeit, weswegen sich dieser in erster Linie der Verehrung Gottes widmen soll. Die wertvollste Gabe, die den Menschen auszeichnet, ist die Unsterblichkeit seiner Seele, excellentia hominsc vertretene biblische These, alle Tiere seien dazu geschaffen, dem Menschen zu dienen, bereits auftaucht; vgl. Ch. Dröge, Giannozzo Manetti als Denker und Hebraist, Frankfurt a. M. 1987, 134f. 33 Vespasiano da Bistici, LeVite, vgl. Anm. 25, II (1976), 586; Manetti, De dignitate et excellentia hominis, vgl. Anm. 29, 2. 34 J. Ruysschaert, L'envoi au roi Alphonse du •de dignitate et excellentia hominis« de Giannozzo Manetti, in: La Bibliofilia (73), fase. 3 (1971), 229-234. 35 Zu Fazio vgl. P.O. Kristeller, The Humanist Bartolomeo Facio and His unknown Correspondence, in: From the Renaissance to The Counterreformation, Essays in Honor of Garrett Mattingly, Ed. by Ch.B. Carter, New York 1965,56-74. Eine ausführliche Analyse des Traktats in: Trinkaus, vgl. Anm. 6, I, 215-229. Fazio verfaßte seinen Traktat auf die Bitte des olivetanischen Mönchs Antonius Bargensis, der seinerseits das gleiche Thema im christlichen Sinn behandelt hat; vgl. Frater Antonius Bargensis and his treatise on the dignity of man, in: P.O. Kristeller, Studies in Renaissance Thought and Letters II, Roma 1985, 531-560.

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die nachzuweisen Fazio einerseits antike Philosophen wie Pythagoras, Platon, Aristoteles und Cicero bemüht, anderseits christliche Theologen wie Augustin, Hieronymus und Gregor den Großen zitiert. Im Hinblick auf die zu erwartenden Freuden des Paradieses verlieren alle irdischen Güter ihren Wert. Gegenüber dieser noch weitgehend dem Mittelalter verhafteten Zielsetzung des menschlichen Lebens treten humanistische Elemente wie der Erwerb von Wissen und die Übung der praktischen Tugenden in den Hintergrund. Während bei Fazio der Mensch in der Welt eine mehr passive Rolle spielt, ist Manettis Traktat das Hohe Lied des schöpferischen Menschen, der in der Betätigung der ihm verliehenen Gaben sein eigenes Reich auf Erden errichtet. In der Interpretation der überkommenen Quellen unter diesem Gesichtspunkt liegt die Originalität von »De dignitate et excellentia hominis«. Der Traktat, der, wie die Handschriften beweisen,36 von den zeitgenössischen Lesern sehr geschätzt worden ist, wurde später lange Zeit kaum beachtet, und erst Giovanni Gentile hat ihn in seiner grundlegenden Bedeutung für das humanistische Menschenbild wieder entdecktY Kritische Einwände 38 haben nicht vermocht, Gentiles Auffassung grundsätzlich zu widerlegen. In der »Praefatio« des Traktats resümiert der Autor den Inhalt der vier Bücher: Das erste handelt von den vortrefflichen Gaben des Körpers; das zweite von den außergewöhnlichen Vorrechten der Seele; im dritten Buch wird der Mensch als Ganzes in der Entfaltung seiner Fähigkeiten vorgestellt und im vierten die These von der Hinfälligkeit und dem Elend des Menschen zurückgewiesen, wobei - entsprechend der Ordnung der drei vorangegangenen Bücher - Manetti nacheinander die den Körper, die Seele und den ganzen Menschen betreffenden negativen Argumente widerlegt, um sich erneut vorbehaltlos zur »dignitas et excellentia hominis« zu bekennen. Manetti, De dignitate et excellentia hominis, vgl. Anm. 29, X-XXXI. TI concetto dell'uomo nel Rinascimento (1916), in: G. Gentile, n pensiero italiano nel Rinascimento, Firenze 1940, 47 -113; über Manetti 90-113). 38 »Contemptus mundic et »Dignitas hominis« nel Rinascimento, in: G. Di Napoli, Studi sul Rinascimento, Napoli 1973, 31-84. 36 37

Einleitung

XIX

Unter den im ersten Buch aufgezählten Gaben, mit denen Gott den menschlichen Körper ausgestattet hat, steht an erster Stelle der aufrechte Gang, gefeiert mit den bereits erwähnten Versen Ovids. Außer ihm sind Aristoteles, Cicero und Laktanz sowie der Mediziner Galen, aus dem Mittelalter Avicenna und Albertus Magnus weitere Quellen für den langen Katalog der beschriebenen Organe und Teile des Körpers. Unter den Organen hebt Manetti die Sinne hervor, insbesondere die Schärfe des Gehörs und des Gesichts. Die Beschreibung der Körperteile geht häufig bis in die anatomischen Details. Das gilt besonders für die Hände. Manetti preist ihre wunderbaren Fertigkeiten als Werkzeuge, deren sich der Verstand in den Künsten und in der Technik bedient. Mit erstaunlicher Präzision werden Hand und Finger beschrieben, unter denen der zweigliederige Daumen als »rector omnium et moderator« eine bevorzugte Stellung einnimmt. In seinem Bestreben, den menschlichen Körper als ein Wunder der Schöpfung möglichst überzeugend darzustellen, bietet Manetti nicht nur eine nach den damaligen Vorstellungen vollständige anatomische Beschreibung des Menschen, sondern geht auch auf physiologische Vorgänge wie Atmung, Verdauung, Funktion des Gehirns ein. Als Ganzes betrachtet, erscheint der Körper, »perfectissima humani corporis fabrica«, als ein Abbild der göttlichen Schönheit. »Welche Anordnung der Glieder nun, welche Harmonie der Formen, welche Gestalt, welche Erscheinung könnte schöner sein oder gedacht werden als die des Menschen?c39 Aufgrund dieser Erkenntnis haben die Alten ihre Götter in Menschengestalt dargestellt und die Christen Gott mit einem menschlichen Antlitz gemalt. Es versteht sich, daß Manetti bei der Beschreibung der Seele im zweiten Buch wiederum von der Tradition ausgeht, vor allem auf Aristoteles und Cicero zurückgreift, daneben auf die Bibel, die Kirchenväter und die mittelalterlichen Theologen. Wo er auf widersprüchliche Aussagen stößt, harmonisiert er sie im 39 Manetti, De dignitate et excellentia hominis I, 49, vgl. Anm. 29; Über-

setzung in allen Zitaten von Hartmut Leppin.

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Zeichen der christlichen Lehre. Gott schafft die vernünftige Seele aus dem Nichts und verleiht ihr Unsterblichkeit. Augustin folgend, unterscheidet Manetti in Analogie zur Trinität drei Potenzen der Seele: Intelligenz, Gedächtnis und freier Wille, deren Funktionen nacheinander behandelt werden. Wenn die Intelligenz im Zentrum der Darstellung steht und ihr gegenüber die beiden anderen Seelenkräfte, Gedächtnis und freier Wille, in den Hintergrund treten, so deswegen, weil Manetti im »subtile ingenium« die göttliche Gabe feiert, mit deren Hilfe der Mensch seiner Wesenswürde sichtbaren Ausdruck gibt, indem er den von Gott erteilten Auftrag, sich die Welt untertan zu machen, ausführt und das »regnum hominis«, das Reich der Kultur, begründet. »Wie groß und wie erhaben aber seine (des Verstandes) Kräfte sind, bezeugen einerseits sehr viele bedeutende, ungeheure Leistungen, anderseits die Instrumente, die er auf bewundernswerte Weise erfunden hat.«40 In hymnischen Tönen preist Manetti die schöpferischen Leistungen des Menschengeistes von der mythischen Vorzeit bis in die Gegenwart: In der Schiffahrt vom Bau der Argo, mit der die Griechen sich aufs Meer hinaus wagten, bis zu den Reisen der Portugiesen im Zeitalter der Entdeckungen; in der Architektur von der Errichtung der Pyramiden durch die Ägypter bis zur Konstruktion der Kuppel des Florentiner Doms durch Filippo Brunelleschi; in der Malerei von Zeuxis und Apelles bis zu Giotto; in der Bildhauerkunst von den Werken des Praxiteles und Phidias bis zu Lorenzo Ghibertis Bronzetür des Baptisteriums in Florenz. Auf höherer Ebene als die technischen und künstlerischen Zeugnisse menschlicher Schaffenskraft liegen die Werke der Dichter, der Rhetoren und der Historiker in den »artes liberales«, sowie der Philosophen, Theologen, Juristen, Astrologen und Mediziner in den anderen Wissenschaften. Obwohl Manetti hier nur antike Beispiele anführt und die Gegenüberstellung von »Anciens« et »Modernes« nicht fortsetzt, 41 dürfte er doch da40 41

Ibid. n, 36. A.Buck, Die »Querelle des Anciens et des Modernes« im italienischen

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von überzeugt gewesen sein, daß auch in diesen Bereichen die Moderne ähnliche Leistungen aufzuweisen hat wie die Antike, denn er glaubte an den unaufhaltsamen Fortschritt des schöpferischen Menschengeistes in der gesamten Kultur. An seine Ausführungen über die kulturschöpferische Tätigkeit des Menschen anknüpfend, fragt Manetti im dritten Buch nach der Bestimmung des Menschen in der Welt. Dank des »überragenden Scharfsinns« ihres Verstandes haben die Menschen nach der Erschaffung der »rohen Weite die Welt der Kultur geschaffen. Sie ist Menschenwerk, d.h. implizit eine Gemeinschaftsleistung, die aus dem Zusammenwirken aller im Laufe der Geschichte hervorgebracht worden ist. »Unser-bezeichnenderweise verwendet Manetti den Plural- sind die Bilder, unser die Skulpturen, unser sind die Künste, unser die Wissenschaften, unser ist ... die Weisheit; unser sind schließlich alle Erfindungen, ... unser sind alle Formen der verschiedenen Sprachen und Schriften.c42 Als Schöpfer der Kultur beherrscht der Mensch die ihm dienstbare Welt dank der Verbindung zweier Fähigkeiten »intelligere« und »agerec, »denken« und »handeln«. »Daher werden wir nicht zu Unrecht behaupten, daß das Denken und das Handeln die eigentlichen Aufgaben allein des Menschen sind, und wir meinen, daß dies in einer solchen Ausschließlichkeit das Spezifische des Menschen ist, daß das Denken und Handeln dem menschlichen Wesen mehr entspricht als das Lachen.c43 Dank dieser Funktionen ist er ,.fast ein sterblicher Gott«, d.h. er erreicht die höchste Stufe des Menschseins, die Gottähnlichkeit. Wenn Manetti bei der Verwendung des Begriffspaars meist das Handeln dem Denken voranstellt, betont er damit den Primat der konkreten Verwirklichung der Wesenswürde in der »Vita activa«, der gegenüber die »Vita contemplativa« nur auf den reliSelbstverständnis der Renaissance und des Barocks, Wiesbaden 1973 (S.B.d. Wissenschaftlichen Gesellschaft a.d. Johann Wolfgang Goethe-Universität

Frankfurt a. M., Bd. II, Nr. 1). 42 43

Manetti, De dignitate et excellentia hominis Ibid. II1, 46.

m, 20.

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giösen Bereich beschrinkt bleibt. Dementsprechend mißt er der Kardinaltugend der »iustitia«, welche die zwischenmenschlichen Beziehungen regelt, eine besondere Bedeutung bei. Mit Cicero (De legibus) erklärt er, die Menschen seien für die Übung der Gerechtigkeit bestimmt. Hier spricht der Florentiner Bürgerhumanist, der trotz intensiver gelehrter Studien es als seine Pflicht ansah, durch Übernahme von Ämtern im Stadtstaat sich politisch zu engagieren. Die Widerlegung der »miseria hominis«-Literatur, insbesondere des erwähnten Traktats von Papst Innozenz ill. nimmt Manetti zum Anlaß, im vierten Buch seine Beweisführung zugunsten der Wesenswürde des Menschen auszuweiten. Er polemisiert ganz allgemein gegen das pessimistische Menschenbild der Antike und der Bibel sowie der christlichen Autoren des Mittelalters, gegen die Abwertung des Menschen und seines Wirkens auf Erden. Dabei verdienen zwei gegen die Verachtung des menschlichen Körpers vorgebrachten Argumente hervorgehoben zu werden. Der im Mittelalter weit verbreiteten Aversion gegen die als häßlich und sündhaft verschriene Nacktheit begegnet er mit dem Lob der Schönheit des nackten menschlichen Körpers, die auch- unabhängig von Manetti - von der Kunst der Frührenaissance entdeckt wurde. Gegenüber der Verteufelung der Sinneslust fordert er den Menschen auf, sich am Klang der Musik und dem Duft der Blumen zu erfreuen, den Wohlgeschmack des Weines und der Speisen ebenso wie die Wollust des Liebesaktes zu genießen. Wenn die »miseria hominis«-Literatur zum Elend des Menschen auch die Arbeit zählte und sie als eine Last, gemäß der Bibel sogar als eine Strafe Gottes beklagte, sieht Manetti in ihr die unentbehrliche Voraussetzung für die Errichtung des »regnum hominis«, in dem der Mensch kraft seiner Tätigkeit seine Wesenswürde aktualisiert. Aus dieser Perspektive erscheint die Arbeit in einem neuen Licht: »Wir sind nämlich der Überzeugung, daß aus dem menschlichen Tun für uns, die wir handeln und tätig sind, sehr viel mehr Freuden als Belastungen entstehen. Der Grund dafür ist, daß wir zwar ... tatsächlich beim Handeln immer eine gewisse Mühe aufbringen, aber bei all unseren

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Tätigkeiten in gleichem Maße und sogar noch stärker Freude empfinden.«44 Die Arbeit ergötzt nicht nur, sie erhält einen positiven Wert im Einklang mit der neuen Wirtschaftsethik des Zeitalters, welche die Arbeit heiligt. Die Polemik gegen die »miseria hominis« bedeutet nicht, daß Manetti gegenüber den negativen Aspekten der menschlichen Natur blind gewesen wäre. Das geht aus einer bisher kaum beachteten Passage des dritten Buches hervor. 45 Insofern der Mensch die Gaben, die seine Würde ausmachen, mißbraucht, versündigt er sich an seinen Mitmenschen durch Neid, Ehrgeiz und Herrschsucht und gefährdet als rücksichtsloser Individualist das Zusammenleben in der Gesellschaft. Trotz dieser Einsicht in die Ambivalenz der »dignitas« überwiegt in Manetti die positive Einstellung zum Leben, begründet einerseits auf dem für die humanistische Mentalität charakteristischen Glauben an das Gute im Menschen, andererseits auf der diesseitsbejahenden Gesinnung der Renaissance. Manetti war seiner Mentalität nach kein Philosoph, sondern ein Humanist, d.h. es ging ihm in erster Linie um eine aus antiken und christlichen Quellen gespeiste Lebenslehre, die nur, insofern sie ethischen Fragen impliziert, einen philosophischen Aspekt hat. Jede philosophische Spekulation lag Manetti fern. Dagegen war Giovanni Pico della Mirandola,46 der Verfasser des berühmtesten Traktats über die Menschenwürde, primär an der Philosophie interessiert. Der Vierzehnjährige begann in Bologna ein Studium des kanonischen Rechts, studierte dann Philosophie, vor allem das Werk des Aristoteles in Ferrara und in Padua, dort auch arabische und hebräische Quellen, lernte in Florenz den wiederbelebten Platonismus kennen, um schließlich in Paris sich mit dem Gedankengut der Scholastik zu Ibid. rv, 57. Ibid. m, 56; vgl. Ch. Dröge, Giannozzo Manetti vgl. Anm. 32, 117f. 46 Eine ausführliche Würdigung Giovanni Pico della Mirandolas und seiner »Üratio de hominis dignitate« in der Einleitung zu Band 427 der ·Philosophischen Bibliothek«. 44 45

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beschäftigen. Nach seiner Rückkehr nach Italien verbrachte er seine letzten Lebensjahre in Florenz, wo er in engem Kontakt mit Marsilio Ficino und seinem Kreis stand und freundschaftliche Beziehungen zu Savonarola unterhielt. Eine auch für die an »Uomini universali« reiche Renaissance ungewöhnliche Spannweite der geistigen Interessen, die sich auf die klassische Antike wie auf die Philosophie des Mittelalters erstreckte und die hermetischen Schriften wie die Geheimlehren der Kabbala und die okkulten Wissenschaften umfaßte. In einer für das Jahr 1487 in Rom von ihm geplanten öffentlichen Diskussion wollte Pico seine wichtigsten philosophischen Vorstellungen in Form von 900 Thesen verteidigen und verfaßte als Eröffnungsrede eine »Üratio« nach dem Muster der Inaugu:-alreden zu den akademischen VorlesungenY Der erste Teil enthält ein Loblied auf die Menschenwürde, dem die Rede den ihr erst später gegebenen Titel »De hominis dignitate« verdankt; der zweite Teil gibt Hinweise auf die Gegenstände der Diskussion und bietet ein Bekenntnis zur Einheit der philosophischtheologischen Tradition seit ihren Ursprüngen im Zeichen der Wahrheitssuche. Noch deutlicher als Manetti hebt Pico die Sonderstellung des Menschen hervor, der in völliger Freiheit der Schöpfung gegenübersteht, wie Gott selbst es in seinen an Adam gerichteten Worten verkündet: »Wir haben dir keinen festen Wohnsitz gegeben, Adam, kein eigenes Aussehen noch irgendeine besondere Gabe, damit du den Wohnsitz, das Aussehen und die Gaben, die du selbst dir ausersiehst, entsprechend deinem Wunsch und Entschluß habest und besitzest .... Weder haben wir dich himmlisch noch irdisch, weder sterblich noch unsterblich geschaffen, damit du wie dein eigener, in Ehre frei entscheidender schöpfeKritische Ausgabe: Giovanni Pico della Mirandola, De hominis dignitate, Heptaplus, De ente et uno e scritti vari, a cura di E. Garin, Firenze 1942. Eine erste kürzere Fassung der Rede, die der endgültigen vorausging, unterscheidet sich von ihr nicht grundsätzlich; vgl. La prima redazione dell' »Üratio de hominis dignitate«, in: E. Garin, La cultura filosofica del Rinascimento italiano, Firenze 1961, 231-240. 47

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rischer Bildhauer dich selbst zu der Gestalt ausformst, die du bevorzugst. Du kannst zum Niedrigen, zum Tierischen entarten; du kannst auch zum Höheren, zum Göttlichen wiedergeboren werden, wenn deine Seele es beschließt.«48 Der aufgrund seiner Freiheit wandlungsfähige Mensch gleicht dem die Farbe nach Belieben wechselnden Chamäleon wie dem Meeresgott Proteus, der verschiedene Gestalten annehmen konnte. Indem der Mensch die in ihm liegenden Möglichkeiten ausschöpft, kann er, von einem »heiligen Ehrgeiz« getrieben, sich über alles Irdische erheben und in die Welt des Göttlichen emporsteigen; ein sich dauernd vollziehender Prozeß der Vergottung, der nicht wie die »unio mystica« ein Aufgehen der Persönlichkeit in Gott bedeutet, sondern höchste Steigerung des individuellen Bewußtseins der Gottähnlichkeit der Seele, die das Universum in sich aufnimmt. Es ist eine Selbsterlösung, wurzelnd in dem für den Humanismus konstitutiven Vertrauen in die Perfektibilität der menschlichen Natur aus eigener Kraft. Die Entfaltung der Wesenswürde des Menschen vollzieht sich im Studium der Philosophie, womit Pico im Unterschied zu Manetti der »Vita contemplativa« den Vorrang gegenüber der »Vita activa« einräumt. Indem die »Oratio« den Weg zum richtigen Philosophieren weist, legt sie sich auf keine bestimmte Richtung fest und läßt alle Schulen zu Worte kommen, weil damit der Glanz der Wahrheit um so heller erstrahlt. Was man zuweilen als einen der Originalität entbehrenden Synkretismus Picos kritisiert hat, erweist sich, richtig verstanden, als das Bemühen um eine »pax philosophica«, zu der sich alle Schulen zusammenschließen. Obgleich die Diskussion der von Pico aufgestellten Thesen vom Papst verboten und daher die Rede nie gehalten wurde und erst posthum erschien, hat sie doch als das wohl bekannteste philosophische Manifest des neuen Menschenbildes der Renaissance auch über die Grenzen Italiens hinaus zusammen mit Picos übrigen Schriften in ganz Europa gewirkt. Eine unmittelbare G. Pico della Mir.mdola, De hominis dignitate, in: »Philosophische Bibliothek«, Band 427, Übersetzung von Norbert Baumgarten. 48

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Nachfolge fand die »Üratio« in der »Fabula de homine« des größ. ten spanischen Humanisten Juan Luis Vives. Vives, der am 6. März 1492 in Valencia geboren wurde, fühlte sich wegen seiner jüdischen Abstammung durch die Inquisition bedroht - sie hatte seinen Vater zum Feuertod verurteilt - und verbrachte deswegen die meisten Jahre seines Lebens im Ausland, hauptsächlich in den Niederlanden. Dort hat er den größten Teil seines ebenso vielseitigen wie umfangreichen Werkes verlaßt, das ihn zu einem der am meisten gelesenen Humanisten des 16. Jahrhunderts machte. Er offenbart wie nur wenige seiner Gesinnungsgenossen die Durchdringung aller Gebiete des Geisteslebens durch die Ideen des Humanismus: Religion, Philosophie, Pädagogik, Politik, Jura und Wirtschaft. Allen Schriften mehr oder weniger gemeinsam ist die pädagogische Ausrichtung, die in der Forderung nach einer grundlegenden Reform des überalterten Erziehungswesens gipfelt. Bacon und Comenius standen in ihren pädagogischen Vorstellungen unter dem Einfluß von Vives. Die Voraussetzung für eine erfolgreiche Pädagogik ist der Glaube an die guten Gaben, mit denen die Natur den Menschen ausgestattet hat und die durch die richtige Erziehung entwickelt werden. Auf dieser optimistischen Einschätzung des Menschen, wie sie Vives bei Giovanni Pico della Mirandola antraf, beruht die »Fabula de homine« aus dem Jahre 1518. Wenn sie im vierten Band der Valentiner Ausgabe unter den »Moralia« eingeordnet ist 49 , entspricht diese Einordnung dem vom Autor intendierten Zweck der sittlichen Belehrung, die er grundsätzlich für die gesamte fiktionale Literatur fordert. Die Fiktion, die Vives für die Darstellung seines Menschenbildes gewählt hat, ist eine von ihm ersonnene mythologische Fabel. Damit befand er sich einerseits in Übereinstimmung mit der zeitgenössischen Beliebtheit der antiken Mythologie, die im Laufe der Renaissance »ZU einer der formenden Kriifte der neuen Kultur« wurde50, Fabula de Homine, in: Johannis Ludovici Vivis Opera Omnia, T. IV, Valentiae 1783, 3-8. 50 B. Guthmüller, Studien zur antiken Mythologie in der italienischen Renaissance, Weinheim 1986, IX. 49

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andererseits folgte er - wie bereits vor ihm der ihm wohl bekannte Marsilio Ficino - dem Vorbild Platons, sofern dieser gewisse Lehren in Mythen eingekleidet hat. Eine solche mythologische Verkleidung verbindet Vives mit einem bereits in der Antike bekannten und in der spanischen Literatur besonders beliebten Topos, dem Gleichnis Welt - Bühne. Man denke etwa an Calder6ns Auto sacramental »El gran teatro del mundo«, die Darstellung des menschlichen Lebens als eines Schauspieles vor Gottes Richterstuhl. Mag sein, daß Vives auch durch die Picos »Üratio« einleitenden Sätze angeregt worden ist: »Ich las in den Werken der Araber, ... der Sarazene Abdala habe auf die Frage, was es auf dieser irdischen Bühne ... als das am meisten Bewunderungswürdige zu sehen gebe, geantwortet: nichts Wunderbareres als den Menschen.« 51 Vives verlegt die Handlung auf Junos Geburtstag, auf deren Wunsch ihr Gatte Jupiter ein Schauspiel veranstaltet. Die Erde mit allen ihren Geschöpfen ist die Bühne, auf welche die Götter von ihren Sitzen im Himmel herabschauen. In den verschiedenartigen Spielen, die auf Jupiters Geheiß aufgeführt werden, zeichnet sich nach übereinstimmender Meinung der Götter der Mensch als der beste Schauspieler aus. Die Zuschauer erkennen aufgrund der großen Ähnlichkeit zwischen Jupiter und dem Menschen, daß dieser das Geschöpf des obersten Gottes ist: »Der Mensch erwies sich als gottähnlich, als der Unsterblichkeit, Weisheit, Klugheit, Gedankenfülle Jupiters so sehr teilhaft, daß leicht zu erkennen war, er habe diese höchsten Gaben ... aus der Person Jupiters selbst erhalten.«52 Das ist im Kleid der mythologischen Fabel die Gottebenbildlichkeit des Menschen in der biblischen Schöpfungsgeschichte, das Kernstück der »dignitas hominis«. Der Tradition entsprechend, werden aus der Gottebenbildlichkeit die gottähnlichen Eigenschaften und Fähigkeiten des G. Pico della Mirandola, De hominis dignitate, vgl. Anm. 46, Übersetzung von Norbert Baumgarten. 52 Fabula de Homine, vgl. Anm. 49, 4; Übersetzung in: Humanistische Geisteswelt von Kar! dem Großen bis Philip Sidney, Hrsg. v. J. v. Stacke!· berg, Baden-Baden 1956, 254. 51

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Menschen abgeleitet. Um dessen Wandlungsfähigkeit zu veranschaulichen, wählt Vives die gleichen Bilder wie Pico: den vielgestaltigen Proteus und das seine Farbe wechselnde Chamäleon. Der Mensch kann jede von ihm gewünschte Gestalt annehmen, kann Pflanze oder Tier sein. Als Mensch ist er klug, gerecht, gesellig, gütig und freundlich. Abweichend von Pico betont Vives die Sorge des Menschen um das Gemeinwohl, d.h. seine Funktion als Bürger eines Staatswesens: ..denique nullus non erat civilis sociusquec.53 Was die Leistungen des schöpferischen Menschengeistes anbelangt, erinnert Vives wie Manetti an die Städte und Häuser, sowie an die technischen Errungenschaften und hebt als besondere Leistung die Erfindung der Schrift hervor, ..die in wenigen Buchstaben die ungeheure Vielfalt der Töne menschlicher Zunge einzufassen« versteht 54 und dank derer alles Wissenswerte aufgezeichnet und überliefert werden kann, darunter auch die Religion nebst dem Kultus. Aus der Verbindung von Religion und Gedächtnis erwächst die Möglichkeit der Voraussicht: »ein Fünkchen des göttlichen Allwissens« - •scintilla ... divinae atque immensae scientiaec.55 Wiederum an Manetti erinnert die allerdings viel kürzere Beschreibung der Vorzüge des menschlichen Körpers, wobei seltsamerweise den Ohren der meiste Raum gewährt wird. Alle Teile des Körpers sind so passend zueinander gefügt, daß weder etwas weggenommen noch etwas hinzugefügt werden kann, ohne die Harmonie und damit die Schönheit des Ganzen zu zerstören. Also auch hier ein Bekenntnis zur Schönheit des Menschen als der Krone der Schöpfung. Angesichts des vom Menschen aufgeführten Schauspiels ist die Bewunderung der Götter so groß, daß sie Jupiter bitten, den Menschen zur Belohnung zu den Göttersitzen zu erheben; eine Bitte, die Jupiter gern erfüllt, hatte er doch selbst eine solche Ehrung des Menschen schon beschlossen. Der in eine 53 54

55

Fabula de Homine, vgl. Anm. 49,5. Ibid. 7, Übersetzung 257. Ibid.

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purpurne Toga praetexta gekleidete Mensch, der, an der Tafel der Götter sitzend, an ihrem Mahl teilnimmt, bietet seinen Bewunderernseine göttliche Natur unverhüllt dar. Damit endet die •Fabula de homine« mit der Vergottung des Menschen, der höchsten Steigerung der ,.dignitas hominisc, wie sie Vives aus Picos ,.Oratio« kannte. Es fehlt in der •Fabula« - wie übrigens auch in Picos ,.Qratio« jeder Hinweis auf die ,.miseria hominisc, und wäre es auch wie bei Manetti ,.via negationis«. Aber die auf die ,.Fabula« bezüglichen Bemerkungen in der allgemeinen Einleitung zu den ,.Moralia« relativieren das Bild des seine schöpferischen Fähigkeiten im •regnum hominis« entfaltenden Götter-Lieblings: •Alles, was das Leben bieten kann - ausgenommen lediglich die Tugend - ist ein kindliches Spiel, eine Posse, eine Nichtigkeit, die vergeht.c 56 Damit erscheint das Schauspiel des Lebens unter der negativen Perspektive seiner Vergänglichkeit. Es ist, obgleich nur angedeutet, das Spannungsverhältnis zur •miseria hominisc, in dem die Konzeption der »dignitas« von vornherein steht und das auch in der einschlägigen französischen Literatur wieder begegnet. In Frankreich war im Zusammenhang mit der Rezeption des Florentiner Neuplatonismus auch die italienische »dignitas«Literatur weiteren Kreisen bekannt gewordenY Sie fand auch Eingang in die volkssprachliche Literatur, die im Vergleich zu Italien in Frankreich einen sehr viel stärkeren Anteil an der Entwicklung der Renaissance gehabt hat. In der Volkssprache, d.h. auf französisch, 58 hat auch Pierre Boaistuau seinen lange Zeit

Johannes Ludovici Vivis Opera Omnia, vgl. Anm. 49, 2. L. Sozzi, La ,.dignitas hominis« dans la Iitterature fran~e de la Renaissance, in: Humanisme en France, Manchester 1970, 176-198; ders., La •dignitas hominis« chez les auteurs lyonnais du XVIe siede, in: Actes du colloque sur l'humanisme lyonnais ... Grenoble 1974, 295-338. 58 Der Vermerk auf den Titelblättern der Ausgaben des Traktats im 16. Jahrhundert ,.faict an Latin ... puis traduit ... en Fran~is« ist eine Fiktion. Der ,.ßref Discourse wurde erst später von Laucent Cyper und Langrois Benigne Poisserot ins Lateinische übersetzt. 56

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kaum beachteten, erst kürzlich kritisch edierten »Bref Discours de l'Excellence et Dignite de l'Homme (1558)« verfaßt, 59 den wir als Zeugnis der »dignitasc-Literatur in Frankreich vorstellen wollen. Damit wurde das Thema auch den des Lateins Unkundigen erschlossen, die dadurch einen Zugang zum Kreis der humanistisch Gebildeten fanden; ein Phänomen des sogenannten Vulgärhumanismus, der sich im Gefolge des Humanismus um die Popularisierung von dessen Ideen bemühte. Der aus der Bretagne stammende 1566 verstorbene Pierre Boaistuau gehört nicht zu den großen Autoren der französischen Renaissance. Er verfaßte außer dem »Bref Discoursc Erzählungen, Übersetzungen und einen Traktat »Theatre du mondec, 60 der in bezugauf unser Thema aus zwei Gründen bemerkenswert ist: Einerseits zeugt er von der humanistischen Bildung des Autors, andererseits behandelt er die traditionelle Komplementär-Idee zur »dignitas hominisc, nämlich die »miseria hominis«. Der innere Zusammenhang zwischen den beiden Traktaten äußert sich auch darin, daß sie kurz hintereinander verfaßt worden und zuweilen in einem Band mit fortlaufender Paginierung erschienen sind. Als Gegenstück zum »Theatre du mondec rekurriert der »Bref Discours« auf einen Teil der bereits vorher ausgewerteten Quellen und zieht weitere heran. Wenn Boaistuau unter den Autoren, die vor ihm über die »dignitas hominis« gehandelt haben u.a. Bartolomeo Fazio und Giannozzo Manetti nennt, war ihm Fazio vermutlich nur dem Namen nach bekannt aufgrund seiner Erwähnung durch Manetti, 61 während dessen Traktat ihm sicher vorgelegen hat und von ihm ausgewertet worden ist. Giovanni Picos »Üratio« wird nirgends erwähnt, was Simonin, der Herausgeber des »Discoursc, wohl mit Recht als eine Ablehnung 59

P.Boaistuau, Bref Discours de l'Excellence et Dignite de l'Homme (1558), Ed. crit. p. M.Simonin, Geneve 1982. 60 P. Boaistuau, The&tre du monde, Ed. crit. p. M. Simonin, Geneve 1981. 61 Es ist wenig wahrscheinlich, daß Boaistuau eine Handschrift von Fazios Traktat •De excellentia ac praestantia hominis« kannte, der bis 1611 unveröffentlicht blieb.

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erklärt: »le silence de Boaistuau ressemble plus un refus qu' une ignorancec. 62 In der Tat ist Boaistuau nirgends auf den für Pico zentralen Begriff der Freiheit eingegangen. Unter den neuen zeitgenössischen Quellen Boaistuaus verdienen Agrippa von Nettesheims »De occulta philosophia« und Girolama Cardanos Traktate »De subtilitatec63 und »De varietate rerum« hervorgehoben zu werden. Denn auf beide Autoren, vornehmlich auf Cardano gehen die von Manetti wie von Pico abweichenden Besonderheiten des »Bref Discours« zurück. Es sind gewollte Besonderheiten, denn Boaistuau ist sich bewußt, daß es angesichts der Tradition der »dignitas hominisc-Literatur schwer fällt, etwas Neues zu sagen, »Sachant que quelques anciens et modernes se sont si heureusement exercez en semblables subjects, qu'ils m'ont presque retrenche l'esperance de pouvoir adjouster quelque chose Ia generosite et noblesse de l'homme«. 64 Daher weicht er von seinen Vorgängern ab, indem er statt langer philosophischer Erörterungen zahlreiche »exemples memorables et faictz heroiques de plusieurs personnes illustres« anführt, welche in Geschichte und Gegenwart die Vortrefflichkeit und Würde des Menschen demonstrieren. Die Autoren, denen er solche Beispiele entnimmt, sind fast immer Agrippa und Cardano. Die Reihe der »exempla« eröffnen Alexander und Cäsar, die durch ihre Waffentaten unsterblichen Ruhm gewonnen haben. Es folgen die auch von Manetti genannten Künstler Zeuxis und Apelles, welche mit ihren Werken die Welt in Erstaunen versetzten; ferner Archimedes, der dank seiner technischen Erfindungsgabe allein ein mit Waren beladenes Schiff an einem Seil auf den Markt von Syrakus zog und mit Hilfe eines Spiegels feindliche Kriegsschiffe in Brand setzte; sodann Beispiele für handwerkliche Geschicklichkeit wie das von Pausanias beschriebene eherne Fferd, das seine Artgenossen täuschte, und die bei

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Simonin, vgl. Anm. 59, 18, Anm. 29. •De subtilitate« las Boaistuau in der französischen Übersetzung von R.Le Blanc (1556); vgl. Simonin, vgl. Anm. 59, 147. 64 Boaistuau, Bref Discours, vgl. Anm. 59, 36. 62

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Sonnenauf~ang tönende Statue, die de~. Sage nach Memnon, der

Fürst der Athiopier, bei Theben in Agypten errichten ließ. Nach den bewundernswerten Leistungen der Alten kommt Boaistuau auf die Gegenwart zu sprechen, damit sie nicht uDverdientermaßen gegenüber dem Altertum unterschätzt werde. Deutlicher als bei Manetti tritt hier die Fragestellung der »Querelle des Anciens et des Modernes« in Erscheinung, das Selbstbewußtsein der Renaissance, die sich der Antike ebenbürtig, wenn nicht gar überlegen fühlte. Eine der Errungenschaften der Moderne, der Boaistuau - wie auch seine französischen Zeitgenossen Rabelais und Louis Le Roy - höchstes Lob zollte, ist die Erfindung des Buchdrucks: »l'imprimerie, laquelle surmonte tout ce que l'antiquite a peu concevoir et imaginer d'excellent.«65 Wahrscheinlich unter dem Einfluß einer zeitgenössischen Quelle, der ins Französische übersetzten Dialoge »La Circe« von Giovan Battista Gelli geht Boaistuau ausführlicher als Manetti (der vor Gelli lebte) auf den aus der Antike überlieferten Tiervergleich ein, dessen sich die »miseria hominis«-Literatur bediente, um dem Menschen seine physische Unterlegenheit gegenüber den von Natur aus besser gerüsteten Tieren vor Augen zu führen. Obgleich der Mensch nackt auf die Welt kommt, ohne Schutz gegen die Unbilden der Witterung und ohne natürliche Waffen gegen seine Feinde, ist er - so Boaistuau - doch den Tieren weit überlegen dank seiner Intelligenz: »l'esprit qui est vif et subtil, pour mieux cognoistre parfaictement les choses«, 66 wie Boaistuau in enger Anlehnung an Gelli formuliert. Nach der Widerlegung der negativen Deutung des Tiervergleichs wendet sich Boaistuau überraschenderweise nochmals der »miseria hominis« zu, die er nunmehr als eine Strafe für die auf Adam zurückgehende Erbsünde erklärt und die den Menschen dazu ermahnen soll, sich nicht irdischen Vergnügungen hinzugeben, sondern seine Augen zu Gott zu erheben, der ihm die ewige Glückseligkeit gewähren kann. Aus dieser Perspekti65 Ibid. 61. 66 Ibid. 78 f.

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ve erscheint nur Adam vor dem Sündenfall als der Mensch, dem Gott die Gaben der Wesenswürde ungeschmälert verliehen und ihn zum Herrscher über alle Kreaturen eingesetzt hat. Nachdem der Mensch dank der göttlichen Gnade durch den Opfertod Christi neu erschaffen worden ist, soll er die Widrigkeiten dieses Lebens geduldig ertragen in der Hoffnung auf das ihm verheißene himmlische Jerusalem, wo der Leib von allen Gebrechen befreit sein wird. Wenn ähnliche Wendungen auch am Schluß von Manettis Traktat begegnen, so gehen ihnen jedoch weder eine Abwertung des irdischen Daseins noch eine Mahnung zur Abkehr von der Welt voraus, die im Widerspruch zu Boaistuaus vorangegangener Apologie des menschlichen Wirkens im Diesseits stehen; ein Widerspruch, der zeigt, daß Boaistuaus »Bref Discourse nicht die gleiche Homogenität der Gedankenführung aufweist wie Manettis Abhandlung über die Menschenwürde. Boaistuau gehörte zu den Autoren, die Montaigne bei der Abfassungseiner »Essais« verwertet hat. 67 So konnte er aus ihm oder auch aus anderen Quellen die Antithese von »dignitas« und »miseria hominis« entnehmen. Er gab ihr einen neuen Stellenwert im Rahmen seiner Kritik am Humanismus, 68 dessen optimistisches Lebensgefühl er in Frage stellte. Ihm diente der überlieferte Tiervergleich dazu, den Menschen als »alter deus in terris« zu entthronen und ihn in den kreatürlichen Zusammenhang einzuordnen. Angesichts der Erfahrung der konstitutionellen Schwäche der »conditio humana« lehnte Montaigne jede Überhöhung des Menschen als unrealistisch ab. Sowohl bei der Beobachtung des eigenen Ichs als auch beim Studium der antiken Lebensweisheit gelangte er zu der Einsicht, daß der Mensch nur im Einklang mit sich selbst und in Befolgung der P. Villey, Les sources et I' evolution des Essais de Montaigne, I, II, Deuxieme edition revue et augmentee, Paris 1933, passim. 68 A. Buck, Montaigne und die Krise des Humanismus, in: Das Ende der Renaissance, Europäische Kultur um 1600, Vortriige, hrsg. v. A. Buck u. T. Klaniczay, Wiesbaden 1987, Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung, Bd. 6, 7-22. 67

XXXIV

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Gesetze der Natur die eigentliche Erfüllung seines Daseins erreichen kann. Mit dieser Einsicht setzte Montaigne ein neues Maß des Menschlichen: den »homo humanus«. Seine Würde liegt in der Selbstbescheidung bei Wahrung der freien Entfaltung der Individualität innerhalb der durch die Gesellschaft gesteckten Grenzen. In Übereinstimmung mit den ihm vorangegangenen humanistischen Menschenbildern, die durch die Idee der »dignitas« geprägt worden waren, begriff Montaigne die Rangsteilung des Menschen in der Welt auch als eine an den Menschen gerichtete ideale Forderung, die das Gesetz seines Handeins vorschreibt. Die Wahrung der Menschenwürde, verstanden nicht nur als ein Recht gegenüber den anderen, sondern auch als eine Pflicht gegenüber sich selbst: diese Interpretation der Menschenwürde dürfte auch heute noch gültig sein.

ZUR ÜBERSETZUNG

Als Textvorlage für die Übersetzung diente: Ianotti Manetti de dignitate et excellentia hominis, Edidit Elizabeth R. Leonard, Padova 1975. An den folgenden Textstellen ist der Übersetzer von der Vorlage abgewichen; I 6 Z. 15: Bei »ad iecorem« ist die Form falsch (»iecur« ist Neutrum) und die Formulierung sachlich unangemessen (vgl. KapitelS Z. 1-4); sachlich geboten ist »a iecore«, wie es auch in bundbei Cicero (Pease, IT, S. 911, Z. 1) steht. I 12 Z. 7: »nervorum« statt »verborum«, vgl. Pease im Apparat. I 16 Z. 15: »noluit« statt »voluit«. Dies erfordert der Sinn; es entspricht dem Text bei Laktanz (vgl. CSEL XXVIT, S. 28, Z. 19). I 22 a.E.: »odoris« braucht ein Bezugswort (bei Laktanz »capio«, vgl. CSEL XXVIT, S. 36, Z. 20). I 28 Z. 15: Statt »quia is qui« »qui quia (so bei Laktanz, vgl. Laktanz, CSEL XXVII, S. 40, Z. 31). I 28 Z. 18: Der Sinn fordert »Veniens« statt »Venientis«; dies entspricht dem Text bei Laktanz (vgl. CSEL XXVII, S. 40, Z. 6). I 51 Z. 9: Der Sinn fordert »similes« statt »dissimiles«, so heißt es bei Augustin und in dem Zitat bei C. Trinkaus, In Our Image and Likeness 1970, I, 415, Anm. 13. II 15 Z. 25: »enimvero« statt »non enim«. (»referunt« (so Trinkaus I, 418, Anm. 26) wäre besser als »referant«). II 39 Z. 29: Vor »parietem« fehlt ein »ad«. III 38 Z. 4: »in« ist falsch, da »praeditus« mit dem bloßen Ablativ steht. III 49 Z. 24: »Ceterum« (b) statt »ceteris«; die falsche Form dürfte durch das korrekte »ceteris« in 49 Z. 2 hierher geraten sein. III 51 Z. 22: »Suspiciat« (b) statt »suscipiat«; denn die geforderte Bedeutung von »Suscipere« (anerkennen o.ä.) läßt sich nicht belegen, während das Empor-Blicken ein stehendes Motiv des Textes

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Zur Übersetzung

ist und auch in der nachfolgend zitierten Laktanz-Stelle auftaucht. IV 17 Z. 4: »eo« statt »quo« oder man muß das Kapitel als Nebensatz an Kapitel16 anschließen, vgl. E. Garin (Hrsg.), Prosatori latini del Quattrocento, Milano/Napoli 1952, 440/2. IV 29 Z. 13: »quod« (b) statt »quo«. IV 57 Z. 24: »quod« (E) statt »quid«. IV 68 Z. 18: »duodecim« statt »duodecima«, so auch Garin, 480/2. Elizabeth R.Leonard gibt in ihrer Edition detaillierte Nachweise der von Manetti herangezogenen und ausgewerteten Quellen. Die vorliegende Ausgabe beschränkt sich auf den Nachweis aller ausdrücklichen Zitate. Hochgestellte Ziffern im Text verweisen auf die nachgestellten Nachweise.

AUSWAHLBffiLIOGRAPHIE*

1. Ausgaben Clarissimi viri Ianocii de Manectis et lurisconsulti florentini ad inclytum Arragonum Regem Alfonsum de dignitate et excellentia hominis libri IV, Basileae 1532; Nachdruck, Frankfurt a. M. 1975. H:W. Wittschier, Giannozzo Manetti, Das Corpus der Orationes, Köln/Graz 1968, 50-175. De dignitate et excellentia hominis, Edidit Elizabeth R. I.eonard, Patavii 1975. Vita Socratis et Senecae, Introduzione, testo e apparati, a cura di A. De Petris, Firenze 1979. Apologeticus, A cura di A. De Petris, Roma 1981. Dialogus consolatorius, A cura di A. De Petris, Roma 1983.

2. Sekundärliteratur Auer, A., G.Manetti und Pico della Mirandola De hominis dignitate, in: Vitae et veritati, Festschr. f. K.Adam, Düsseldorf 1956, 83-102. Badaloni, N., Filosofia della mente e filosofia delle arti in G. Manetti, in: Critica Storica 1963, 395-445. Buck, A., Die Rangstellung des Menschen in der Renaissance: dignitas et miseria hominis, in: Archiv für Kulturgeschichte 42 {1960), 61-75. Cagni, G.H., I codici Vaticani Palatino-Latini appartenuti a G.Manetti, in: La Bibliofilia 52 (1960), 1-43. De Petris, A., ll »Dialogus Consolatorius« di G.Manetti e le sue fonti, in: Giornale storico della letteratura italiana 154 (1977), 76-106. Dröge, C., Giannozzo Manetti als Denker und Hebraist, Frankfurt a. M. 1987. Garin, E., La »dignitas hominis« e la letteratura patristica, in: La Rinascita 1 (1938) 102-146.

* Die Angaben betreffen nur Giannozzo Manetti.

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Auswahlbibliographie

-, La cultura filosofica del Rinascimento italiano, Firenze 1961. -, L'umanesimo italiano, Bari 31964. Garofalo, S., Gli umanisti italiani del secolo XV e Ia Bibbia, in: Biblica 27 (1946), 338-375. Gentile, G., ll pensiero italiano del rinascimento, Firenze 31940. Kristeller, P.O., The Humanist Bartolomeo Facio and His Unknown Correspondence, in: From the Renaissance to the Counterreformation, Essays in honor of G. Maningly, Ed. and with an introduction by Ch.H.Cater, New York 1965, 56-74. -, Das moralische Denken des Renaissance-Humanismus, in: Kristeller, Humanismus und Renaissance II, Hrsg. v. E.Keßler, München 1976, 30-84. -, Die Würde des Menschen, in: Kristeller, Studien zur Geschichte der Rhetorik und zum Begriff des Menschen, Göttingen 1981, 66-79. Saitta, G., ll pensiero italiano nell'Umanesimo e nel Rinascimento, Bologna 1949, Bd. I. Trinkaus, Ch., In Our Image and Likeness, Humanity and Divinity in Italian Humanist Thought, London 1970, 2 Bde. Wittschier, H.W., Vespasiano da Bisticci und G. Manetti, in: Romanische Forschungen 79 (1967), 271-287. -, G.Manetti, Das Corpus der Orationes, Köln/Graz 1968. Zorn, W., G.Manetti, Seine Stellung in der Renaissance, Diss. Freiburg i.Br. 1939.

GIANNOZZO MANETTI Über die Würde und Erhabenheit des Menschen De dignitate et excellentia hominis

An Alfons, den weitbekannten und ruhmreichen König, von Aragon

( 1) Seit jeher war es, durchlauchtigster Fürst, Brauch der Gelehrten, die ihre Gedanken dem Papier anvertrauten, daß sie die vorzüglichen Früchte ihrer Mühen Fürsten zueigneten. Dies taten sie, so meine ich, aus genau zwei Gründen: Zum einen, damit auf diese Weise den guten Fürsten ihre ergebene Liebe bekannt wurde, zum anderen, damit den Werken selbst durch die Widmung an die erlauchten Namen jener Fürsten ein größeres Ansehen zuwuchs. Bei mir jedoch, der ich von ganzem Herzen wünsche, diesem löblichen Brauch der Gelehrten jetzt zu folgen und auf ihren Spuren zu wandeln, kommen zwei andere Gründe hinzu, von denen veranlaßt, ja gleichsam genötigt, ich mich nicht länger davon zurliekhalten kann, ein neues, jüngst von mir entworfenes Werk, dessen Titel »Über die Würde und Erhabenheit des Menschen« lautet, mit aller Hochachtung Eurem Namen zuzueignen. Der erste Grund ist unser Wunsch, mit diesem Vorwort zu bekunden, daß alle Gaben des menschlichen Körpers und der Seele und überhaupt alle Vorzüge des Menschen als Ganzen, die ich vorher in den ersten drei Büchern beschrieben hatte, in Eurer erhabenen und bewunderungswürdigen Person vollständig zusammenkommen und sich im Überfluß vereinigen. Diese Qualitäten würden wir jetzt Punkt für Punkt durchgehen, wenn wir nicht, da wir ja an Euch schreiben, den Vorwurf der Schmeichelei fürchten müßten; außerdem sind wir uns bewußt, daß wir eben dies an mehreren Stellen unserer Schriften schon sehr gründlich getan haben. Eines können wir gleichwohl nicht mit Schweigen übergehen, daß nämlich all das, was wir in diesem Werk eingehend und ausführlich behandelt haben, uns immer dann sicher und wahr erscheint, wenn wir Geist und Sinn auf die ganz einzigartigen, ja wahrhaft bewundernswerten und fast göttlichen Gaben Eurer Persönlichkeit richten.

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Zueignung

(2) Der zweite Grund, der uns vor Augen stand, war folgender: Während ich mich kürzlich als Gesandter und Sprecher des florentinischen Volkes zu Verhandlungen bei Euch in Neapel aufhielt, geschah es, daß ich einmal ein wirklich hervorragendes und auch einer rühmenden Erwähnung würdiges Werklein überflog, das Bartolomeo Fazio, ein ebenso gebildeter wie sprachgewandter Mann, über eben dieses Thema geschrieben und Papst Nikolaus V. gewidmet hatte. Bald darauf waren wir beide zufällig bei jenem hochberühmten und weitbekannten Griechischen Turm zusammen und führten, wie es Eurer Bildung entspricht, ein ausführliches Gespriich über gelehrte und gebildete Menschen. Da traf es sich irgendwie, daß wir speziell auf das vorerwähnte Werklein zu sprechen kamen. Aus diesem Anlaß drangt Ihr wenig später - freilich mit großer Güte und Höflichkeit darauf, daß wir den Entschluß fassen möchten, über eben diese Dinge zu schreiben und dann das Werk Euch widmeten. Wir aber, die wir von Herzen wünschten, zumal Eurer Majestät besonders eifrig zu gehorchen, zögerten nicht, zu antworten, daß uns nichts lieber sein werde, als Euch einen Gefallen und einen Dienst erweisen zu können. Deshalb versicherten wir Euch, wie Ihr wißt, voller Freude, daß wir dieses Werk gerne schreiben und Eurem Namen dedizieren würden. (3) Nachdem wir infolgedessen wenig später zu schreiben begonnen hatten, bei der Kürze der Zeit aber nicht in der Lage gewesen waren, das begonnene Werk zum endgültigen Abschluß zu bringen, nahmen wir es später wieder vor, und wir hätten es sicherlich deutlich früher beendet, wenn nicht die plötzliche Ankunft des neuen Kaisers Friedrich III. in Italien uns bei unserer täglichen Arbeit einige Zeit aufgehalten hätte. Denn wir zogen als Gesandte unserer Republik zur Feier seiner Krönung nach Rom und hielten uns dort so lange auf, bis er selbst die Stadt verließ. Als wir nun später von dieser Gesandschaft in die Heimat zurückgekehrt waren, legten wir schließlich letzte Hand an das schon lange begonnene vorgenannte Werk, und weihten es aus den erwähnten Gründen Eurem Namen, um als verläßliche Schuldner für unsere Zusagen bei Euch, die Ihr gleichsam der wahre Gläubiger unserer

An Alfons, König von Aragon

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Versprechungen seid, die angesammelten Schulden endlich einmal einzulösen. (4) Unsere Einteilung des Werks in vier Bücher nun ist nicht unüberlegt und zufallsbedingt, sondern beruht auf einer bestimmten, konsequent durchgeführten Überlegung: Als wir nämlich jede einzelne Gabe, die erstens beim menschlichen Körper, dann in seiner Seele und schließlich an der ganzen Persönlichkeit des Menschen etwas deutlicher hervortritt, mit aller Sorgfalt betrachteten, schien es uns sowohl wegen der sehr großen Bedeutung des Stoffes als auch um der zuverlässigeren und klareren Erkenntnis aller Dinge willen gut, diese einzigartigen Gaben in einzelnen Büchern getrennt voneinander und dadurch angemessener und zweckmäßiger darzulegen. (5) Deshalb haben wir im ersten Buch allein über die herausragenden Gaben des menschlichen Körpers, im zweiten über bestimmte außerordentliche Vorzüge der Vernunftseele, im dritten über die bewundernswerten Eigenschaften des Menschen als Ganzen gehandelt, so gründlich und genau, wie es uns möglich war. Als wir dies alles mit den drei ersten Büchern abgeschlossen zu haben meinten, entschlossen wir uns, ein viertes hinzuzufügen, um das zu widerlegen, was - wie uns bekannt war - von einer Reihe tüchtiger Schriftsteller zum Lobe des Todes und über seine Vorteilhaftigkeit sowie über das Elend des menschlichen Lebens geschrieben worden war. Denn wir sind uns durchaus bewußt, daß dies unseren Ausführungen gewissermaßen feindlich entgegensteht. (6) Damit dieses unser kleines Geschenk Euch umso lieber sei, haben wir einiges, was wir teils vorher zum Lobe Eurer Majestät aufgeschrieben, teils Eurem Namen gewidmet hatten, in eben diesen Band mitaufgenommen, und lassen es mit tiefster Ergebenheit von Florenz nach Neapel zu Euch bringen. So bitten wir demütig und beschwören Euch flehentlich, daß Ihr diese unsere ganz geringe Gabe keineswegs mißachten möget, sondern wir ersuchen Euch, daß Ihr sie vielmehr deswegen umso lieber empfangen möget, weil sie Euch von uns, die wir Eurer Majestät wahrhaft zutiefst ergeben sind, zugleich mit der größten Freude und der äußersten Ehrerbietung übersandt wird.

ÜBER DIE WÜRDE UND ERHABENHEIT

DES MENSCHEN Erstes Buch

{1) Da wir also dieses unser- wie auch immer gelungenesWerk mit dem menschlichen Körper glücklich beginnen lassen müssen: Wir lesen in der Heiligen Schrift, daß er vom allmächtigen Gott auf wunderbare Weise geformt wurde, 1 und zwar entweder aus Lehm vom Boden und aus Erdreich (»humus«), wovon man die Bezeichnung »Mensch« (»homo«) ableitet, oder eher, wenn wir dem einheimischen Historiker der Juden {Flavius) Josephus glauben, aus roter gekneteter Erde, die auf Hebräisch »edon« heißt. 2 Daher hat, so meint er, nach einer geringen Änderung um des Wohlklanges willen, Adam seinen Namen erhalten, obwohl dieses Wort in jener Sprache »Mensch« heiße. Diesen Körper machte Gott selbst mit himmlischer Kraft lebendig, indem er die vernünftige Seele schuf und ihr seinen Atem einhauchte, und er richtete ihn auf zur Betrachtung seines Schöpfers, wie es, so scheint uns, zugleich sehr richtig und sehr schön ein vorzüglicher Dichter in diesen Versen ausgedrückt hat: »Während die übrigen Lebewesen nach unten auf die Erde blicken, verlieh er dem Menschen ein Gesicht in der Höhe und befahl ihm, den Himmel zu betrachten und sein Antlitz empor zu den Gestirnen zu erheben.«3 Daher haben die Griechen, weil der Mensch nach oben blickt, wohl richtiger und zutreffender die Bezeichnung »anthropos« gebildet als wir Lateiner den Ausdruck »homo«, der von »humus« kommt, oder die Juden das Wort »adam«, das sich von »Adam« herleitet. {2) Da wir also eingehende Forschungen und Untersuchungen über die Vollkommenheit der natürlichen Gestalt des Menschen anzustellen gedenken, wollen wir kurz sehen, was die beiden überragendsten Geister unter den unvergeßlichen Philosophen und Stilisten zu eben diesem Thema gedacht haben, damit wir verstehen und begreifen können, wie viel zwei überragende Männer, teils gestützt auf ihre bloßen natürlichen An-

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lagen, teils durch ein höheres Licht erleuchtet, zu eben dieser Frage zu sagen vermochten. Daher werden wir es uns angelegen sein lassen, lediglich die Worte von Cicero und Laktanz an dieser Stelle zu zitieren und mitzuteilen, während die übrigen Autoren beiseite bleiben sollen. (3) Als Cicero nämlich gegen Epikur erklärte, daß der Mensch vom unsterblichen Gott geschaffen sei, äußerte er sich im zweiten Buch seines Werkes »Über das Wesen der Götter« folgendermaßen 4: »Wenn nun durch drei Dinge die Existenz der Lebewesen bewahrt wird, nämlich durch Speise, Trank und Atem, so ist zur Aufnahme all dieser Dinge der Mund am geeignetsten, weil ihm dank der Verbindung mit der Nase reichlich Atem zugeführt wird. Mit den Zähnen, die in den Mund gesetzt sind, kaut man; von ihnen wird die Speise zermahlen und weich gemacht. Die scharfen Vorderzähne zerschneiden mit ihrem Biß das Essen. Die inneren aber, die Backenzähne heißen, zerkauen es, wobei sie offenbar noch von der Zunge unterstützt werden. Direkt an die Zunge schließt sich die mit ihren Wurzeln fest verbundene Speiseröhre an, in welche das, was aufgenommen worden ist, zuerst hineingleitet. Sie berührt an den beiden Seiten des Mundes die Mandeln und wird durch den äußersten und am weitesten innen liegenden Rand des Gaumens begrenzt; wenn sie die durch die Bewegungen und Wendungen der Zunge herabgestoßene und gleichsam nach unten gedrückte Speise aufnimmt, stößt sie sie ihrerseits nach unten weg. Die Teile von ihr nun, die unten liegen und in die das, was verschluckt wird, hinabgeht, werden gedehnt; die oben liegenden Teile hin~~gen ziehen sich zusammen. Weil aber die Luftröhre, von den Arzten »aspera arteria« (»rauhe Röhre«) genannt, eine mit den Zungenwurzeln verbundene Öffnung hat, die etwas oberhalb der Stelle liegt, bei der die Speiseröhre an die Zunge anschließt, wird sie, die bis zur Lunge reicht und die die Luft aufnimmt, sie, durch die der Atem herausgeführt worden ist und durch die er von der Lunge zurückgeht und zurückkommt, sozusagen von einem Deckel geschützt, der ihr deswegen gegeben ist, damit der Gang des Atems nicht dadurch, daß unversehens etwas von dem Essen in sie hineinfällt, behindert wird.

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(4) »Da aber der Magen, der unterhalb der Speiseröhre liegt, der Ort ist, wo Speise und Trank aufgenommen werden, Lunge und Herz wiederum den Atem von außen heranführen, ist im Magen, der fast ganz aus Muskeln besteht, vieles wunderbar gemacht: Er ist faltig und windungsreich, und er umschließt und bewahrt, was er empfängt, sei es trocken oder feucht, damit es umgewandelt und verdaut werden kann. Bald zieht er sich zusammen, bald dehnt er sich aus, und, was immer er bekommt, vermischt und vermengt er, so daß alles, was verdaut und verarbeitet ist, durch die Wärme, die ihm bei der Auflösung der Speise reichlich zur Verfügung steht, und außerdem durch den Lebenshauch in den übrigen Körper verteilt werden kann. In der Lunge aber ist eine gewisse lockere Struktur und eine schwammartige Weichheit festzustellen, die am besten geeignet ist, den Atem aufzunehmen. Die Lungenflügel ziehen sich bald bei der Ausatmung zusammen, bald dehnen sie sich durch das Einatmen aus, damit recht häufig die »Luftspeisec eingesogen werden kann, durch welche die Lebewesen am meisten genährt werden. (5) »Aus dem Gedärme aber fließt ein im Magen aus der verbliebenen Speise abgesonderter Saft - eben der, durch den es genährt wird - bis zur Leber hin, und zwar über einige zu ihr gehörige und mit ihr verbundene Kanäle, die von der Mitte des Unterleibs geradewegs bis zu den »Leberpforten« (so nennt man sie nämlich) geleitet sind. Und von dort führen andere weiter, durch welche die Speise abwärts geht, nachdem sie sich von der Leber gelöst hat. Wenn von dieser Speise die Galle und die Säfte, die aus den Nieren ausströmen, abgetrennt sind, verwandelt sich das übrige in Blut und fließt bei eben den Teilen der Leber zusammen, zu denen alle Blutbahnen führen. Die hier hindurch geglittene Speise strömt genau dort in die sogenannte Hohlvene, und gleitet - schon verdaut und zu einer Masse verarbeitet - durch sie zum Herz. Vom Herz aus aber wird sie durch die ausgesprochen große Zahl von Adern, die in alle Körperteile führen, in den ganzen Leib verteilt. Wie nun die Reste der Speise abgestoßen werden, indem sich nämlich das Gedärme zusammenzieht und bald wieder lockert, ist nicht eben schwer zu beschreiben, muß aber dennoch übergangen werden, damit

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unsere Darlegungen nicht einen unappetitlichen Zug bekommen. (6) »Besser ist es, das folgende unfaßliche Werk der Natur zu beschreiben: Die Luft nämlich, die durch das Atmen in die Lungen geführt wird, erwärmt sich zuerst durch das Atmen selbst, dann durch das Zusammenziehen der Lungen. Und ein Teil von ihr wird durch das Ausatmen wieder ausgestoßen, der andere wird in einen bestimmten Teil des Herzens aufgenommen, den man die Herzkammer nennt. An diese schließt sich eine ähnliche zweite Kammer an, in die das Blut von der Leber her durch die schon erwähnte Hohlvene hineinfließt. So wird von diesen Bereichen aus das Blut durch die Venen und der Atem durch die Arterien in den ganzen Körper verteilt. Beide Arten von Adern aber, die in großer Dichte und Zahl in den ganzen Körper eingewoben sind, zeugen von der wahrhaft unglaublichen Leistung des kunstreichen, göttlichen Werks. (7) »Was soll ich noch von den Knochen sprechen, die in dem Körper liegen und erstaunliche Gelenke aufweisen, die ihn einerseits zu stützen vermögen und andererseits nützlich sind für die Abgrenzung der Glieder, für Bewegungen und überhaupt zu allen körperlichen Verrichtungen? Bedenke ferner die Sehnen, von denen die Glieder zusammengehalten werden und deren Verflechtung, die sich über den gesamten Körper zieht, sie werden ja wie die Venen und Arterien, die vom Herz ausgehen und herkommen, in den ganzen Körper geführt. Außer diesen Dingen, in denen sich die fürsorgliche und erfinderische Vorsehung der Natur niederschlägt, kann vieles weitere genannt werden, das erkennen läßt, wie viele und was für hervorragende Dinge die Götter den Menschen zugeteilt haben: Die Vorsehung hat sie erstens vom Boden erhoben und sie groß und aufrecht hingestellt, damit sie durch die Betrachtung des Himmels die Götter erkennen können. Zur Erde gehören nämlich die Menschen, aber nicht als ihre bloßen Bewirtschafter und Bewohner, sondern gleichsam als Betrachter der höheren und himmlischen Dinge, deren Betrachtung keinem anderen Lebewesen zukommt. (8) ·Die Sinne aber, welche die äußeren Gegebenheiten vermitteln und weitermelden, liegen am Kopf wie auf einer Burg.

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Auf wunderbare Weise entsprechen ihren unerläßlichen Aufgaben sowohl ihre Bildung als auch ihre Anordnung. Denn die Augen nehmen wie Wächter den höchsten Platz ein, von dem aus sie ihre Pflicht erfüllen, indem sie sehr viel erblicken, und die Ohren sind, da sie Töne empfangen m~n, welche die Natur emporträgt, mit gutem Grund seitlich an hohe Stellen der Körper gesetzt worden. Ebenso liegt die Nase deswegen, weil jeder Geruch nach oben gettagen wird, zu Recht oben; und weil ihr Urteil über Speise und Trank von großer Wichtigkeit ist, suchte sie nicht ohne Grund die Nähe des Mundes. Der Geschmackssinn nun, der die Art unserer Nahrung erfühlen müßte, wohnt in dem Teil des Mundes, durch den die Natur dem, was gegessen und getrunken wird, einen Weg geöffnet hat. Der Tastsinn aber ist über den ganzen Körper gleichmäßig verteilt, so daß wir alle Stöße und alle größeren Einwirkungen von Kälte und Hitze bemerken können. Und wie bei Gebäuden die Architekten alle die Flüssigkeiten, bei denen es unvermeidlich ist, daß sie etwas Widerliches an sich haben, von Auge und Nase des Bauherren fernhalten, so hat die Natur den entsprechenden Dingen ihren Platz fern von den Sinnesorganen zugewiesen. (9) »Hätte aber irgendein anderer Handwerker außer der Natur, die einzigartig geschickt ist, mit einem so großen Erfindungsreichtum die Sinnesorgane einrichten können? Sie hat erstens die Augen mit ganz zarten Häutchen überzogen und bedeckt, die sie zum einen ganz durchsichtig machte, damit man durch sie sehen kann, zum andern aber fest, damit sie sich nicht lösen; die Augen selbst aber hat sie glatt und beweglich gestaltet, damit sie ausweichen können, wenn etwas Schädliches auf sie zukommt, und damit sie den Blick leicht wenden können, wohin sie wollen. Das eigentliche Sehorgan, das Pupille heißt, ist so klein, daß sie das, was schaden kann, leicht meidet, und die Lider, welche Bedeckungen der Augen sind, berühren sie ausgesprochen weich, damit sie das Augenlicht nicht zerstören. Dank ihrer zweckdienlichen Bildung kann man mit ihnen sowohl die Augen schließen, damit nichts auf sie trifft, als auch sie öffnen; und die Natur trug Sorge dafür, daß dies wiederholt

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geschehen kann, und zwar mit größter Geschwindigkeit. Die Lider sind mit dem »Wall« der Wimpern bewehrt, von denen auch bei geöffneten Augen abgehalten wird, was auf sie trifft, und die sich im Schlaf, wenn wir die Augen nicht zum Sehen brauchen, aneinander legen, so daß diese gleichsam eingehüllt ruhen können. Außerdem sind sie in sinnvoller Weise geborgen und werden auf allen Seiten von hervortretenden Teilen eingehegt; zum einen nämlich halten die höher gelegenen, von den Brauen bedeckten Teile den Schweiß ab, der von Kopf und Stirn herabfließt, zum anderen gewähren von unten her die tiefer liegenden und sich leicht wölbenden Wangen Schutz. Die Nase hat eine solche Position bekommen, daß sie wie eine Mauer zwischen die Augen gesetzt zu sein scheint. {10) »Die Ohren aber stehen immer offen; denn auch im Schlaf brauchen wir den Hörsinn, von dem wir geweckt werden, falls ein Laut empfangen wird. Sie haben einen gewundenen Gang, damit nicht etwas hineingeraten kann, wie es geschehen könnte, wenn er einen einfache gerade Bahn bildete; es ist sogar Sorge dafür getragen, daß ein kleines Tier, das vielleicht einzudringen versucht, im Ohrenschmalz wie in Vogelleim haftenbleibt. Außen aber treten die sogenannten Ohrmuscheln hervor. Sie sind einerseits eingerichtet, damit das Hörorgan bedeckt und geschützt wird, andererseits, damit die ausgesandten Laute nicht abgleiten und den Weg verfehlen, bevor der Hörsinn von ihnen angeregt worden ist. Sie haben aber harte und gleichsam hornartige Eingänge, die auch mit vielen Windungen versehen sind, weil durch diese natürliche Einrichtung der Ton zurückgeworfen und verstärkt wird. Ebenso wird auch bei Saiteninstrumenten mit der Schale einer Schildkröte oder mit dem Horn ein Resonanzkörper geschaffen, und werden überhaupt die Töne von gewundenen und eingeschlossenen Stellen stärker zurückgeworfen. Ähnlich besitzen die Nasenlöcher, die wegen ihrer unverzichtbaren Aufgaben immer offenstehen, ziemlich enge Eingänge, damit nichts Schädliches in sie eindringen kann, und sie haben ebenfalls immer einen Schleim, die sehr geeignet ist, um Staub und vieles andere abzuwehren. Der Geschmackssinn ist ausgezeichnet geschützt, er sitzt nämlich im Mund, was

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sowohl seinen Gebrauch erleichtert als auch beim Schutz gegen Verletzungen von Vorteil ist. Und jedes Sinnesorgan der Menschen übertrifft bei weitem die Sinnesorgane der Tiere. Erstens nämlich erkennen die Augen bei denjenigen Künsten, deren Beurteilung Sache der Augen ist, also bei Gemälden, Bildwerken und getriebenen Arbeiten, selbst bei den Bewegungen und Gesten des Körpers vieles genauer. Auch die Schönheit und Ordnung und, um dieses Wort zu gebrauchen, Angemessenheit von Farben und Gestalten beurteilen die Augen, und außerdem noch anderes, Größeres. Denn sie erkennen auch gute und schlechte Eigenschaften: Den Zornigen, den Wohlwollenden, den Fröhlichen, den Leidenden, den Energischen, den Trägen, den Kühnen, und schließlich den Furchtsamen erkennen sie. Den Ohren wiederum eignet ein erstaunliches und außerordentlich feines Urteilsvermögen, das beim Klang der menschlichen Stimme wie auch der Blas- und Saiteninstrumente Unterschiede erkennt hinsichtlich der verschiedenen Töne, der Intervalle, der Lautstärke und generell hinsichtlich der zahlreichen Klangfarben, der strahlenden, der dumpfen, der weichen, der groben, der tiefen, der hohen, der geschmeidigen, der starren - alles Dinge, die allein vom menschlichen Gehör beurteilt werden können. Auch die Nase spielt aufgrundder Verfeinerung des Geschmacks- und Tastsinnes bei der Urteilsbildung eine gewichtige Rolle. Zur Verlockung und Ausnutzung dieser Sinne sind sogar mehr Künste erfunden worden, als mir lieb wäre. Jeder weiß ja, bis wohin sich die Mixturen von Salben, die Würzung von Speisen, die verführerischen Reize von Körpern entwickelt haben. (11} »Was aber die Fähigkeit zu sprechen anbelangt, so ist es, wenn man nicht genau darauf achtet, unfaßlich, mit welcher Kunst die Natur zu Werke gegangen ist. Erstens nämlich führt von der Lunge aus die Luftröhre bis zum inneren Teil des Mundes. Sie nimmt die Stimme, die ihren Ausgangspunkt im Verstand hat, auf und läßt sie weiterströmen. Dann liegt im Mund die von den Zähnen umgrenzte Zunge. Diese formt und gliedert die ungesteuert hervorströmende Stimme, die nunmehr in kleine Einheiten geschiedene und deutlich artikulierte Laute

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hervorbringt, indem sie an die Zähne und an die anderen Teile des Mundes stößt. Deshalb sagt man bei uns gerne, die Zunge sei einem Plektrum ähnlich, die Zähne den Saiten, und die Nasenlöcher wiederum ähnelten den Hörnern der Kithara, die beim Spiel den Resonanzkörper für die Saiten bilden. (12) ."was für nützliche und wie vielseitige Dienerinnen aber hat die Natur dem Menschen in den Händen gegeben! Das Zusammenziehen der Finger nämlich und das leichte Ausstrecken strengt dank der geschmeidigen Verbindungen und Gelenke bei keiner Bewegung an. Daher ist die Hand durch den Einsatz der Finger geeignet zum Malen, zum Meißeln, zum Schnitzen und dazu, aus Saiten und Flöten einen Klang hervorzulocken. Und das fällt noch in den Bereich des Vergnügens, das folgende aber in den der Notwendigkeit, ich meine den Ackerbau und den Hausbau« und so weiter. (13) Das also hat Cicero über den menschlichen Körper gesagt, dem brillanten Stilisten Laktanz erschien es nüchtern und knapp5, mir aber- einem wenig sprachgewandten Mann- ist es immer wunderbar und göttlich vorgekommen. Jetzt wollen wir uns Laktanz selbst zuwenden, in dessen Werk »Über die Schöpfung des Menschen« man, wie wir uns erinnern, folgendes liest6: (14) ."Da also Gott beschlossen hatte, von allen Lebewesen nur dem Menschen eine himmlische Bestimmung zu geben, sämtlichen anderen aber eine irdische, schuf er ihn zur Betrachtung des Himmels als aufrecht stehendes Wesen und stellte ihn auf zwei Füße, zu dem Zweck nämlich, daß er eben den Ort betrachte, von dem er stammt. Die anderen aber drückte er auf die Erde nieder, damit sie, da sie ja keine Hoffnung auf Unsterblichkeit haben, mit dem ganzen Körper dem Boden zugewandt der Ernährung ihres Magens dienen können. Daher besitzt allein der Mensch eine richtiggehende Vernunft, einen aufrechten Körperbau und ein Antlitz, das dem seines Vaters in höchstem Maße gleicht. Sie bezeugen seine Herkunft und seinen Schöpfer. (15) ."Sein fast göttlicher Geist sitzt, weil er nicht nur die Herrschaft über die Lebewesen der Erde, sondern auch die über den

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eigenen Körper erlangt hat, ganz oben im Kopf wie in einer hohen Burg; er erspäht und betrachtet alles. Sein Gehäuse hat der Schöpfer nicht eingedrückt und länglich gebildet wie bei den stummen Lebewesen, sondern einem Kreis und einer Kugel ähnlich, weil das Rund des Kreises zur vollendeten Form und Gestalt gehört. Dadurch wird also der Geist und jenes göttliche Feuer wie durch ein Himmelsdach bedeckt. (16) •Nachdem Gott den obersten Teil des Kopfes mit einem natürlichen Kleid bedeckt hatte, hat er den vorderen Teil, der Gesicht heißt, mit den notwendigen Organen ausgerüstet und zugleich geschmückt. Zunächst hat er nun die Augäpfel in vertieften Höhlen (•foramen«) geborgen, von deren Aushöhlung (•foratus«) sich nach Varro das Wort •Gesicht« (»frons«) herleitet. Und er wollte, daß es nicht mehr und nicht weniger als zwei seien, weil für den Anblick keine Zahl vollkommener ist als die Zwei; entsprechend wollte er auch, daß es nur zwei Ohren gebe, deren Zweizahl die Schönheit in einem unglaublichem Maße erhöht, und das, obwohl beide Teile mit einer ähnlichen Gestalt geschmückt sind, damit die von außen ankommenden Laute leichter aufgefangen werden können. Auch ihre Gestalt selbst ist wunderbar gebildet, weil er nicht wollte, daß ihre Löcher nackt und ungeschützt seien. Dies wäre weniger schön und weniger zweckmäßig gewesen, weil ein Laut an den schmalen Engstellen der einfachen Höhlungen vorüberfliegen könnte, wenn ihn nicht zunächst die Muscheln auffingen, durch den Aufprall festhielten und ihn dann die Löcher selbst aufnähmen, ganz ähnlich wie es die gebriiuchlichen Trichter tun, mit deren Hilfe man engere Gefäße anzufüllen pflegt. Diese Ohren nun wollte der schaffende Gott nicht aus weichen Häutchen bilden, welche schlaff herabhängen und den schönen Anblick vernichten würden, aber auch nicht aus harten, festen Knochen, sonst wären sie durch deren Unbeweglichkeit und Starre für ihre Funktion ungeeignet. Statt dessen erdachte er etwas, was dazwischen liegt, so daß sie von einem ziemlich weichen Knorpel festgehalten werden und auf diese Weise ausreichend fest bleiben, aber zugleich beweglich sind. Die Ohren haben nur die Aufgabe zu hören, wie die Augen die zu sehen. Überhaupt nicht zu beschreiben

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und wunderbar ist die Feinheit der letzteren, weil der Schöpfer die Augäpfel, die eine Ähnlichkeit mit Edelsteinen aufweisen, an dem Teil, der sehen muß, mit durchsichtigen Häuten bedeckt hat, damit die Bilder der ihnen entgegentretenden Dinge wie in einem Spiegel aufscheinen und bis tief ins Bewußtsein eindringen.« (17) »Die7 unaussprechliche Macht der göttlichen Vorsehung hat. also zwei vollkommen gleiche Augäpfel geschaffen und sie so befestigt, daß man sie zwar nicht ganz umdrehen, sie aber doch in einem gewissen Maße bewegen und kreisen lassen kann. Er wollte nun, daß die Augäpfel selbst mit einer reinen und klaren Flüssigkeit erfüllt seien, und in ihrer Mitte sollten die Lichtfunken eingeschlossen sein, die wir Pupillen nennen. Auf deren Reinheit und auf ihrer feinen Bildung beruht überhaupt die Sehfähigkeit. Der Geist selbst bemüht sich nun, mit Hilfe dieser Augäpfel zu sehen, und auf wunderbare Weise wird zu einem Bild verbunden, was die beiden Augen sehen.« (18) »Um8 nun die Augen besser vor Verletzungen zu schützen, hat er sie mit der Hülle der Lider bedeckt (»occulere«), wovon laut Varro die Augen (»oculus«) ihren Namen erhalten haben. Und auch die Lider (»palpebrae«) selbst, die beweglich sind (von »palpitatio« (schnelle Bewegung) leitet sich das Wort ab), bieten durch die in einer Reihe stehenden Wimpern den Augen eine Einfriedung, welche sie hervorragend schmückt. Die ständige Bewegung der Lider, die sich mit unglaublicher Geschwindigkeit schließen, hindert einerseits nicht daran, den Gesichtssinn ununterbrochen einzusetzen, andererseits erfrischt sie ihn, wenn er erschöpft ist. Die Hornhaut nämlich, also jene durchsichtige Haut, die nicht ihre Feuchtigkeit verlieren und austrocknen darf, verkümmert, wenn sie nicht durch die beständige Anfeuchtung mit Flüssigkeit ihren reinen Glanz bewahrt. Ferner: Verleihen nicht die sich darüber erhebenden Bogen, die mit den kurzen Augenbrauen wie mit einem Damm geschmückt sind, den Augen Schutz davor, daß etwas von oben hineinfällt, und zugleich ein schönes Aussehen? Da, wo sie zusammenstoßen, beginnt die Nase und läuft weiter wie auf einem gleichmäßigen Gebirgskamm; sie trennt und schützt die

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beiden Augen. Weiter unten liegen auch die in ihrer gewölbten Form sehr anmutigen Wangen, welche ähnlich wie Hügel sich sanft erheben: Sie machen die Augen auf allen Seiten sicherer, und der höchste Künstler hat Sorge dafür getragen, daß ein heftigerer Schlag, der vielleicht einmal auf diese zukommt, durch die hervortretenden Teile abgewehrt wird. (19) »Der obere Teil der Nase bis zur Mitte hin hat eine feste Gestalt, der untere hängt an einem Knorpel und ist biegsam, damit er sich von den Fingern bearbeiten läßt. Bei diesem, wenn auch noch so einfachen Körperteilliegen drei Aufgaben, erstens, Luft einzuatmen, zweitens, Gerüche aufzunehmen, drittens sollen durch seine Öffnungen die Ausscheidungen des Gehirns abfließen können. Sie, die Nasenlöcher, hat Gott mit seiner ebenso wunderbaren wie himmlischen Überlegung so gestaltet, daß trotzihrer Öffnung die Nase nicht die Schönheit des Gesichtes verunstaltet, was ja eingetreten wäre, wenn nur ein Loch offenstünde. Er aber hat dieses Loch, indem er gleichsam eine Wand mitten hindurchzog, in zwei Hälften geteilt und es durch eben diese Zweiteiligkeit wunderschön gemacht. Daran können wir erkennen, wie viel die Zweizahl, der durch ein einziges, einfaches Gefüge Festigkeit verliehen ist, zur vollendeten Gestalt der Dinge beiträgt. (20) »Denn obgleich der Körper eine Einheit bildet, könnte er dennoch nicht zur Gänze aus einfachen Gliedern bestehen, ohne daß es rechte und linke Teile gäbe. Wie daher die beiden Füße und die zwei Hände nicht nur zu irgendeinem Zweck und Nutzen, also zum Gehen und Arbeiten dienlich sind, sondern auch zur herrlichen Haltung und Schönheit beitragen, so ist es auch am Haupt, das gleichsam die Krone des ganzen göttlichen Werks ist: Das Gehör ist auf zwei Ohren, die Sehfähigkeit auf zwei Augen, der Geruchssinn auf zwei Nasenlöcher verteilt, weil das Gehirn, der Sitz der Wahrnehmungsfähigkeit, obgleich es eines ist, zwei Teile aufweist, zwischen denen eine Haut hindurchläuft. Aber auch das Herz, das als Sitz der Weisheit gilt, hat, obschon es nur eines ist, in seinem Inneren dennoch zwei Kammern, in denen die Quellen des frischen Blutes liegen und welche dadurch getrennt sind, daß eine Wand dazwischenliegt:

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Wie daher sogar in der Welt eine höchste Gewalt, die entweder vom Einfachen her doppelgestaltig oder von der Doppeltheit her eingestaltig ist, alles lenkt und zusammenhält, so sollen im Körper alle Teile, auch wenn sie aus zwei Hälften zusammengefügt sind, eine unauflösliche Einheit darstellen. (21) »Wie zweckdienlich aber und zugleich schön die Gestalt des Mundes ist mit seiner Bewegung, bei welcher er sich quer öffnet, läßt sich nicht beschreiben. Seine Verwendung besteht in zwei Aufgaben, nämlich, darin, die Nahrung aufzunehmen, und darin, zu sprechen. Im Ionern befindet sich die Zunge, welche den Strom der Stimme durch ihre Bewegungen in Wörter teilt; sie dient zwar als Dolmetscherio des Geistes, kann jedoch ihre Funktion zu sprechen nicht allein und aus eigener Kraft erfüllen, ohne ihre Spitze an den Gaumen zu stoßen und ohne durch das Anschlagen an die Zähne und durch das Zusammenpressen der Lippen unterstützt zu werden. Die Zähne tragen allerdings mehr zur Artikulation bei. Denn die Kinder fangen nicht an zu sprechen, bevor sie nicht ihre Zähne haben, und Greise, die ihre Zähne verloren haben, lallen so, daß man den Eindruck hat, sie seien von neuem zur Kindheit zurückgekehrt.« (22) »Und9 damit die Zähne nicht nackt und entblößt sind und dadurch mehr Schrecken erregen als Schönheit verleihen, hat der Schöpfer sie mit weichem Zahnfleisch (»gingiva«), das so benannt ist, weil es die Zähne wachsen läßt (»gignere«), und außerdem noch mit den Lippen, die sie bedecken, geschmückt. Ihre Härte ist, wie es für einen Mühlstein paßt, größer und rauher als die der übrigen Knochen, damit sie für die Zerkleinerung der Speise und Nahrung ausreicht. Die Lippen nun, die vorher sozusagen zusammenhingen, wie herrlich hat er sie auseinandergeschnitten! Die Oberlippe hat er gerade unterhalb des Mittelteils der Nase mit einer sanften Vertiefung wie mit einem Tal geschmückt, die Unterlippe hat er um des schönen Anblicks willen leicht nach außen hin hervortreten lassen. Was nun die Feststellung des Geschmackes angeht, so täuscht man sich, wenn man glaubt, der entsprechende Sinn liege im Gaumen. Die Zunge ist es nämlich, mit welcher man den Geschmack spürt, al-

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lerdings nicht die ganze; sondern nur die Teile auf ihren beiden Seiten, die etwas weicher sind, nehmen den Geschmack mit sehr fein ausgebildeten Fühlern wahr, und obgleich weder von der Speise noch vom Trank irgendetwas abgetrennt wird, dringt der Geschmack dennoch auf eine unerklärliche Weise zum Sinnesorgan vor, genauso wie beim Riechen von keiner Sache irgendetwas abgespalten wird. (23) »Wie schön das übrige ist, läßt sich kaum zum Ausdruck bringen: Das sich sanft aus den Wangen lösende Kinn, welches weiter unten so abgeschlossen wird, daß ein zartes Grübchen seine äußerste Spitze kenntlich zu machen scheint; der feste und dabei schlanke Hals; die wie auf sanft abfallenden Gebirgskämmen vom Nacken herablaufenden Schultern; die strammen und zur Kraftentwicklung mit Sehnen umwundenen Unterarme; die robuste Stärke der von ausgeprägten Muskeln schwellenden Oberarme; die zweckmäßige und schöne Biegsamkeit der Ellbogen. (24) »Was soll ich noch über die Hände sagen, die Dienerinnen der Vernunft und der Klugheit, welchen der erfindungsreiche Künstler mit einer flachen, nur leicht gerundeten Wölbung ausgestattet hat, und die er, damit das, was gehalten werden soll, gut darin liegen kann, in Finger auslaufen ließ, bei denen sich schwer sagen läßt, ob ihre Schönheit oder ihr Nutzen größer ist? Denn ihre vollendete und vollständige Zahl, ihre herrliche Anordnung und Abstufung, die geschmeidige Krümmung der gleichartigen Glieder, die runde Gestalt der Nägel, die mit ihren gewölbten Bedeckungen die Fingerspitzen umfassen und stärken, damit das weiche Fleisch beim Halten nicht nachgibt, dies alles bildet einen großartigen Schmuck. Folgendes aber ist für den Einsatz der Hände außerordentlich hilfreich: Ein Finger, der von den übrigen abgesetzt ist, wächst an derselben Stelle wie die Hand hervor, geht aber ziemlich früh in eine andere Richtung. Er hat, indem er den anderen gewissermaßen gegenübertritt, jede Art des Passens und Tuns entweder allein oder hauptsächlich in seiner Gewalt, gleichsam als der ordnende Leiter aller Finger. Von daher stammt sogar seine Bezeichnung als Daumen (»pollex«), weil er nämlich durch seine Kraft und seine Auf-

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gabe mächtiger ist (»poliere«) als die anderen. Er hat freilich nur zwei herausstehende Glieder, nicht wie die übrigen drei, vielmehr ist eines um des schönen Anblicks willen mit dem Fleisch der Hand zusammengewachsen. Wenn der Daumen nämlich aus drei Gliedern bestünde und außerdem noch abgetrennt wäre, hätte sein häßliches und unschönes Aussehen den Händen ihre edle Gestalt genommen. (25) »Die breite Brust nun, die hoch sitzt und dem Blick ausgesetzt ist, zeigt in ihrer Haltung eine wunderbare Würde. Der Grund dafür ist folgender: Gott hat offenbar allein den Menschen gleichsam mit der Brust nach oben geschaffen (denn kaum ein anderes Lebewesen kann auf dem Rücken liegen), die stummen Tiere aber hat er anscheinend als vernunftlose Wesen auf einer Seite liegen lassen und zur Erde niedergedrückt. Daher ist ihre Brust schmal, nicht sichtbar und zur Erde hin gerichtet, die des Menschen aber breit und emporgerichtet; weil sie von der Vernunft, die der Himmel gegeben hat, erfüllt ist, hätte sie nicht niedrig und unschön sein dürfen. Auch die Brustwarzen, die etwas hervorstehen und von ziemlich dunklen kleinen Rundungen umgeben sind, verschönern die Brust nicht unbeträchtlich. Den Frauen sind sie gegeben, um ihre Kinder zu säugen, den Männern allein zur Zierde, damit ihre Brust nicht ungestalt und gleichsam verstümmelt erscheint. Unter der Brust liegt die ebene Fläche des Bauches, die ungefähr in ihrer Mitte vom Nabel mit einem nicht unschönen Mal geschmückt wird. Er ist dafür geschaffen, daß das Embryo durch ihn genährt wird, solange es sich im Mutterleib befindet. (26) »Es ergibt sich zwangsläufig, daß wir einmal damit beginnen, von den Eingeweiden zu sprechen, denen, weil sie verborgen sind, nicht Schönheit, sondern nur eine unfaßliche Zweckmäßigkeit zuteil geworden ist: Da es nun einmal notwendig war, daß dieser irdische Körper durch irgendeinen Saft aus Speise und Trank genährt wurde (so wie die Erde selbst von Regen und Reif), hat der so fürsorgliche Schöpfer in seiner Mitte ein Organ geschaffen, in das die Speisen aufgenommen werden konnten. Nach deren Verdauung und Verflüssigung sollte es die lebenserhaltenden Säfte allen Gliedern zuführen.

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{27) »Da aber der Mensch aus Leib und Seele besteht, das oben genannte Organ jedoch lediglich dem Leib Nahrung gewährt, hat der Schöpfer für die Seele eine andere Stelle eingerichtet. Denn er schuf unter den Eingeweiden eine bestimmte Sonderform, die weich und locker ist, nämlich die Lunge, und er hat sie nicht wie die Gebärmutter gestaltet, damit der gesamte Atem weder auf einmal ausströmen noch auf einmal die Lunge füllen kann; eben deswegen hat er das Fleisch fest gemacht, aber doch so, daß es sich dehnen und Luft fassen kann, damit es den Atem allmählich aufnimmt, während der lebenserhaltende Odem sich in jenen lockeren Stellen verteilt, und ihn dann allmählich wieder herausläßt, während es sich von ihm befreit. Dieser Wechsel des Ein- und Ausströmenlassens des Atems erhält das Leben im Körper. {28) »Da es nun im Menschen zwei Organe gibt, die etwas aufnehmen können, das eine für die Luft, das die Seele nährt, das andere für die Speisen, das den Körper nährt, ist es notwendig, daß durch den Hals zwei Röhren laufen, nämlich eine Speiseund eine Luftröhre, deren obere vom Mund zum Magen und deren untere von der Nase zur Lunge führt. Die Natur und Funktion der beiden Röhren ist verschieden. Jener Kanal nämlich, der vom Mund ausgeht, ist weich und haftet, wenn er geschlossen ist, immer zusammen, so wie der Mund selbst. Denn Trank und Speise schaffen als körperhafte Dinge sich selbst genügend Platz, um hindurchzukommen, indem sie den Gaumen auseinanderbewegen und öffnen. Im Gegensatz dazu hat der Atem, der körperlos und schwach ist und sich daher keinen Platz schaffen kann, einen offenstehenden Weg empfangen, der »Kehle« heißt. Diese besteht aus biegsamen und weichen Knorpeln, die gleichsam Ringe bilden, welche wie beim Schierling zusammengefügt sind und zusammenhängen, und dieser Kanal steht immer offen. Der Atem kann nämlich seinen Gang niemals unterbrechen: Weil er immer geht, wird er von einem Stück eines vom Gehirn ausgehenden Körperteils, dem sogenannten »Zäpfchen«, wie von einer Barriere aufgehalten. Es soll verhindern, daß der Atem, wenn er den Hauch einer Krankheit an sich gezogen hat und mit großer Stoßkraft kommt, die zarte Bildung

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seines Organs zerstört und die ganze schädliche Kraft bis zu den inneren Gefäßen trägt. Deswegen haben auch die Nasenlöcher (»nares«) nur eine schmale Öffnung; sie tragen ihren Namen, weil der Geruch und die Atemluft nie ablassen, durch sie hindurchzuschwimmen (»nare«). Gleichwohl führt jene Luftröhre nicht nur zu den Nasenlöchern, sondern es steht auch ein Weg zum Mund hin offen, und zwar im hintersten Teil des Gaumens, wo die Hügel der Kehle, die zum Zäpfchen hin orientiert sind, sich allmählich zu einer Schwellung erheben; der Grund und die Ursache dafür liegen nicht im Dunkeln. Die Fähigkeit zu sprechen besäßen wir nämlich noch nicht, wenn die Luftröhre, so wie die Bahn der Speiseröhre nur bis zum Mund reicht, lediglich in die Nasenlöcher führte. Der Erfindungsreichtum Gottes hat also der Stimme einen Weg aus jener Luftröhre eröffnet, damit die Zunge ihren Dienst versehen und den ungeminderten Klang der Stimme in Worte aufteilen kann. (29) »Die 10 Speise aber wird in den Magen aufgenommen und mit der Flüssigkeit des Tranks gemischt. Sobald die Wärme sie verarbeitet hat, wird ihr Saft auf eine Weise, die sich der Beschreibung entzieht, über die Glieder verteilt, er bewässert den ganzen Körper und belebt ihn so. Auch die mannigfachen Windungen des Darms und die Länge dieses Organs, das mit sich selbst verschlungen ist und nur durch ein Band zusammengehalten wird -welch ein wunderbares Werk Gottes ist das! Wenn nämlich der Magen die zu einer Flüssigkeit verarbeiteten Speisen aus sich hat ausströmen lassen, werden sie allmählich durch jene Biegung des Darms gedrückt, damit der ganze körpernährende Saft, der in ihnen ist, auf sämtliche Glieder verteilt werden kann. Und damit dennoch nicht etwa irgendwelche Teile hängenbleiben und sich festsetzen, was wegen der häufig in die entgegengesetzte Richtung zurücklaufenden Windungen dieser gekrümmten Wege hätte geschehen können, und zwar nicht ohne schweren Schaden hätte geschehen können, hat er sie innen mit einem dickflüssigen Schleim bestrichen, damit jene Ausscheidungen des Magens durch die glatte Bahn leichter zu ihren Ausgängen gelangen können. Auch die Einrichtung ist sehr scharfsinnig, daß die Blase (die die Vögel nicht besitzen), ob-

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gleich sie vom Darm getrennt ist und keinen Kanal hat, mit dem sie den Urin daraus ableiten kann, dennoch gefüllt und durch die Flüssigkeit geweitet wird. Wie das geschieht, läßt sich unschwer erkennen. Die Teile des Gedärms nämlich, die vom Magen Speise und Trank empfangen, stehen weiter offen als die sonstigen Windungen und sind viel weniger fest. Diese nun umfassen und halten die Blase; wenn hierher die Mischung aus Speise und Trank gelangt, wird einerseits der Kot dicker und wandert durch sie hindurch. Die gesamte Flüssigkeit jedoch sickert durch diese zarte Umhüllung, und die Blase, deren Haut ebenso zart und fein ist, saugt sie auf und sammelt sie, um sie da, wo die Natur eine Öffnung gemacht hat, hinauszulassen. (30) »Da wir von dem Inneren des Menschen sprechen, müssen wir auch auf die Gebärmutter und auf die Empfängnis eingehen, damit nicht der Eindruck entsteht, wir hätten etwas übergangen. Obwohl dies Dinge sind, die verhüllt und verborgen sind, kann dennoch ihr Sinn und ihre zweckmäßige Einrichtung nicht verborgen bleiben. Bei Männern sind zwei Samenleiter vorhanden, die etwas weiter innen liegen als jenes Gefäß, das die schmutzige Flüssigkeit aufnimmt. Wie es nämlich zwei Nieren und ebensoviele Hoden gibt, so gibt es auch zwei Samenleiter, die jedoch in einer einzigen Struktur miteinander verbunden sind«. »Einige sagen, daß der Samen aus dem ganzen Körper zum Kanal des Geschlechtsorgans zusammenfließe«, 11 führt Laktanz weiter aus, indem er noch andere ähnliche Dinge beschreibt; wenig später sagt er folgendes: »Ich könnte jetzt die erstaunliche Beschaffenheit der Geschlechtsorgane selbst darlegen, wenn mich nicht mein Schamgefühl von einer Abhandlung dieser Art abhielte. Daher wollen wir das, was zu Recht die »Schamteile« heißt, mit dem Mantel des Anstands bedecken.« 12 (31) »Was 13 ist mit den übrigen Körperteilen? Fehlt ihnen etwa eine Aufgabe oder mangelt es ihnen an Schönheit? Wie geeignet für die Aufgabe des Sitzens ist das am Gesäß sich verdickende Fleisch, das hier auch fester ist als an den übrigen Gliedern, damit es nicht, wenn es von der Last des ganzen Körpers gedrückt wird, den Knochen nachgibt. Ebenso die längli-

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ehe und dank der recht breiten Muskeln kräftige Form der Oberschenkel: Dank dieser Form können sie die Last des Körpers leichter tragen; sie werden allmählich schmaler, und ihr Ende bilden die Knie, deren schönes Gelenk das Anwinkeln ermöglicht, welches den Füßen beim Gehen hilft und das Sitzen erleichtert. Ebenso ziehen sich die Unterschenkel nicht gleichförmig herunter, andernfalls würde ihre unschöne Gestalt die Füße häßlich machen, sondern sie werden dadurch, daß die gerundeten Waden allmählich hervortreten und langsam wieder dünner werden, sowohl gestärkt als auch verschönt. (32) »Der Aufbau der Fußsohlen nun ist zwar grundsätzlich derselbe wie der der Hände, aber dennoch läßt er sich deutlich davon unterscheiden. Da sie ja die Fundamente des ganzen Werkes bilden, hat der wunderbare Künstler sie nicht mit einer runden Gestalt versehen, denn der Mensch könnte sonst auf ihnen nicht stehen und briiuchte wie die Vierfüßler noch weitere Füße, um stehen zu bleiben. Sondern der Schöpfer gab ihnen eine stärker gestreckte und länglichere Form, damit sie durch ihre Fläche (»planities«) den Körper fest stehen lassen können, wovon sich ihr Name (»plantae«) ableitet. Die Zahl der Zehen ist so groß wie die der Finger an den Händen, sie tragen mehr zur Schönheit bei, als daß sie einen besonderen Nutzen bringen; deswegen sind sie miteinander verbunden, kurz und stufenweise angeordnet. Weil es nicht nötig war, die größte der Zehen so von den anderen abzusetzen wie den Daumen von der Hand, ist sie in die Reihe eingeordnet worden, jedoch so, daß sie sich von den anderen durch ihre Größe und durch einen kleinen Zwischenraum sichtbar abhebt. Diese herrliche, doppelt vorhandene Reihe der Zehen unterstützt mit einer nicht geringen Wirkung die Füße beim Auftreten; wir können nämlich nicht zu einem raschen Lauf losstürmen, wenn wir nicht, indem wir die Zehen auf die Erde pressen und sie auf dem Boden abstützen, Schwung nehmen und den Startsprung machen.« (33) Dies alles nun hat, so stellten wir fest, Laktanz über den menschlichen Körper mit seiner wahrhaft wunderbaren und göttlich inspirierten Kunst ausgeführt, und gleichwohl erklärt er selbst mit Nachdruck, daß er vieles absichtlich beiseitegelas-

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sen habe, was ihm so unklar und dunkel erschien, daß niemand außer jenem allmächtigsten Baumeister selbst seine Wirkung und Ursache mit völliger Klarheit habe erkennen können. (34) Da wir also oben das wiedergegeben haben, was über den menschlichen Körper zwei göttliche Männer, die auch Meister der lateinischen Sprache waren, in unvergänglichen literarischen Werken ohne Vorbehalt niedergeschrieben haben, bleibt uns noch die Aufgabe, in aller Kürze zu betrachten, was die Naturforscher, die gründlich ausgearbeitete Schriften über die Anatomie des menschlichen Körpers hinterließen, zu eben diesen Dingen dachten. Weil aber dieser Bau des eben genannten Körpers viel würdiger und bewundernswerter erscheint als der der anderen Lebewesen, halten wir es nicht für unsinnig, noch bevor wir speziell zu den einzelnen Gliedern übergehen, einige erwähnenswerte Punkte über die Erhabenheit unseres Körpers und über seine Verschiedenheit von all den anderen kurz zu behandeln. (35) Wenn wir nun gründlich und genau die spezielle Beschaffenheit unseres Körpers und einige seiner hervorragenden Eigenschaften betrachten, so werden wir feststellen, daß er sowohl durch seine Gestalt als auch durch seine allgemeine und universale Könnerschaft als auch durch den zwangsläufigen NichtBesitz bestimmter überflüssiger Teile, somit durch drei spezifische und vorzügliche Gaben, alle übrigen Lebewesen bei weitem übertrifft und sich von den anderen erheblich unterscheidet. (36) Die Gestalt, um über die einzelnen Punkte einige wenige Worte so kurz wie möglich zu sagen, erscheint denen, die sie betrachten, so klar als die edelste von allen, daß dies überhaupt nicht bezweifelt oder bestritten werden kann. Denn sie ist in einer Weise aufgerichtet und hoch, daß offenbar zu Recht der Mensch über all die übrigen Lebewesen, die zur Erde geneigt und zum Boden gedrückt sind, gleichsam als ihrer aller alleiniger Herr, König und Kaiser im ganzen Erdkreis herrscht, regiert und gebietet. Als wir nun nach den Gründen für diese aufgerichtete Gestalt forschten, fanden wir wenigstens vier bei den Naturforschern. Der erste war die Leichtigkeit ihrer Substanz, die sich, wenn die anderen Ursachen hinzutreten, emporheben kann, da sie, zumal verglichen mit den übrigen Lebe-

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wesen, aus Schaum und Luft besteht. Als zweiter Grund wurde die große Wärme angeführt; denn man ist der Meinung, daß der menschliche Körper eine deutlich höhere und stärkere Temperatur habe als die der übrigen Lebewesen seiner Größe. Als dritter Punkt kam die Vollkommenheit der Schönheit hinzu. Denn die vollkommene Schönheit des menschlichen Verstandes edorderte eine herausragende und völlig gerade Gestalt. Mit dem vierten Argument wurde auf das Lebensziel hingewiesen. Denn der Mensch ist von seiner eigenen Natur her zur Erkenntnis geboren und eingerichtet, und bei dieser seiner eigenen und speziellen Aufgabe helfen und dienen ihm in erster Linie die Vorzüglichkeit und Vortrefflichkeit der Seh- und Hörorgane, der Späher- und Forschersinne, um es so zu formulieren. Die könnten ihre Aufgabe keinesfalls erfüllen, wenn sie nicht durch ihre Position irgendeinen herausgehobenen und hochgelegenen Platz erhalten hätten. Ein ähnliches Verlabren kann man bei den Oberhäuptern und Lenkern von Städten und Ortschaften gut beobachten, die gewöhnlich auf großen Türmen, also hohen Bauten, und auf den steil emporragenden Befestigungen von Burgen die Posten der städtischen Wächter anlegen und bauen. (37) Hinsichtlich des zweiten Unterschieds oder vielmehr Vorzugs aber ist zu bedenken, daß bekanntlich sehr viele Lebewesen durch einen natürlichen Instinkt zu einer Tätigkeit in irgendeiner Kunst oder in einem Handwerk getrieben werden, was sich bei Spinnen, Bienen und Schwalben sowie bei einigen anderen intelligenten Lebewesen deutlich beobachten läßt. Das vernunftbegabte Lebewesen aber ist, wie man glaubt, deswegen von der Natur so gemacht und so eingerichtet worden, damit es von Geburt an besser befähigt ist, jede beliebige Kunst und nicht nur eine allein zu begreifen. Wenn nämlich der Mensch sich mit einer bestimmten Kunst beschäftigen würde, weil er, wie es von den Spinnen und Bienen gesagt wird, von der Natur dafür eingerichtet worden wäre, so könnte er sicherlich fast alle anderen Verrichtungen und Tätigkeiten nicht ausüben, wie es offensichtlich bei jenen Lebewesen der Fall ist. (38) Dem Menschen aber wurden die Hände gegeben und zur Verfügung gestellt, damit er mit solchen nicht unbeseelten,

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sondern gleichsam lebendigen Instrumenten oder, wie Aristoteles sagt, mit den Organen der Organe, 14 die unterschiedlichen Werke und Aufgaben der verschiedenen Künste, die er schon kannte, auszuüben und zu verrichten vermochte. Deswegen erhielt er, so wird allgemein geglaubt, viele überflüssige und überschüssiger Körperteile überhaupt nicht, wie die Hörner, die Schnäbel, die Krallen, die zottigen Felle, die Federn und die Schuppen sowie die Schwänze und überhaupt die Verunstaltungen dieser Art. (39) Da wir nun über solche Besonderheiten beziehungsweise Vorzüge des menschlichen Körpers dies wenige berichtet haben, bleibt noch, daß wir uns seinen einzelnen Gliedern kurz zuwenden. Wir beabsichtigen jetzt nämlich nicht, all das wiederzugeben, was Aristoteles und Albertus Magnus, zwei höchst bedeutende Philosophen, in ihren bekannten und vielgerühmten Büchern über die I..ebewesen15 gesagt haben, oder außerdem noch das mitzuteilen, was Galen und Avicenna, zwei herausragende medizinische Schriftsteller, in den Spezialwerken über die Anatomie 16 gelehrt haben. Wir bewundern diesen Bau des menschlichen Körpers unaussprechlich und betrachten oftmals mit großem Staunen seine erhabene und göttliche Komposition aus verschiedenen Gliedern. Aus dieser Haltung heraus erschien es uns richtig, zunächst über die Knochen, die unverzichtbaren Fundamenten des künftigen Gebäudes, dann über die äußeren Glieder, die sinnlich wahrnehmbar sind, und drittens über die inneren und verborgenen Körperteile so kurz wie möglich zu schreiben und zu berichten. (40) Wir wollen uns, um nicht etwas bei überflüssigen Dingen allzu detailversessen und pedantisch zu wirken, unter Verzicht auf Einzelheiten mit einem allgemein gehaltenen Bericht zufriedengeben: Von der Gesamtheit der Knochen, die sich im ganzen menschlichen Körper finden lassen, gilt ein Teil gleichsam als das Fundament für die übrigen Körperteile, weil offensichtlich auf diesen wie auf einigen festen Fundamenten der Körper sicher errichtet und gebaut ist. Ein Beispiel sind die Wirbelknochen am Rücken, die beim menschlichen Körper anscheinend nichts anderes sind als der hölzerne Kiel, der bei

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einem Schiff als erstes Teil an seinen Platz gesetzt wird. Eine andere Gruppe der Knochen aber läßt sich mit einem Schild vergleichen, der dem zuverlässigen Schutz eines Soldaten dient. Ein Beispiel sind die Schädelknochen. Eine weitere Gruppe gilt darüber hinaus noch als eine Verteidigungs-waffe. Denn mit eben diesen Knochen kann man wie mit Waffen die in den vorderen Reihen Kämpfenden, die einem eine schmerzhafte Verwundung zufügen wollen, aus großem Abstand abwehren. Dieser Art sind, wie es heißt, einige kleine Knochen, welche die Ärzte »Sesambeine« nennen. Ein letzter Teil ist anscheinend wie Säulen und Postamente dafür eingerichtet, irgendwelche Glieder in der Höhe und aufrecht zu halten. Als Beispiel dafür wird der LambdaKnochen genannt, der wegen seiner Ähnlichkeit zu jenem griechischen Buchstaben so benannt ist. Wie groß und welcher Art der in bestimmten Notwendigkeiten begründete Nutzen all dieser Knochen ist, läßt sich schwer beschreiben, und wir würden allzu weitschweifig, wenn wir jeden einzelnen abhandeln würden; daher haben wir das absichtlich unterlassen, und gehen so schnell und so knapp wie möglich auf die äußeren Glieder über. (41) Die Füße, um bei den unteren Teilen zu beginnen, sind dem Menschen gegeben, damit er sich bewegen und laufen kann, und deshalb sind sie offenkundig in einer Weise gebaut und ausgerüstet worden, daß sie, wären sie anders gemacht, ihre Aufgabe überhaupt nicht erfüllen könnten. Bewundernswert ist in der Tat ihre Gestalt, wunderbarer noch die Zusammenfügung ihrer Muskeln, am wunderbarsten aber ist die mit so viel Schönheit verbundene Unterscheidung und Trennung aller Zehen. Was sollen wir noch über das Schienbein und die Waden, was über die Knie und die Hüften sagen? Sieht man denn nicht, daß dies alles durch ein feines, erfindungsreiches Kunstgeschick so gebaut und so aneinandergefügt ist, daß es sich aus eigener Kraft bewegen, und den restlichen Körper ohne Schwierigkeiten tragen und aufrechthalten kann? (42) Hinsichtlich der Hoden wiederum und der Schamteile wäre es schwierig, auszuführen, mit welchem Geschick sie für die Zeugung eingerichtet und geschaffen sind. Was sollen wir

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darüber hinaus vom Magen, vom Nabel, von der Speiseröhre, vom Brustkorb, ferner von der Brust und vom Darm denken? Was sollen wir außerdem über die Schulterblätter und die Oberarme, über die Ellbogen und die Hände, was über die Nieren und das Rückenmark, was schließlich über den Hals und die Kehle berichten? Erkennen wir nicht, daß jedes einzelne Teil mit einem so großen und so wunderbaren Geschick eingerichtet und gebaut ist, daß man auch nicht den allergeringsten Zweifel daran haben kann, daß Gott der Schöpfer des menschlichen Körpers ist? {43) Darüber hätte ich gerne manches Erwähnenswerte niedergeschrieben und aufgezeichnet, wenn ich nicht hätte fürchten müssen, daß meine Ausführungen allzu weitschweifig würden. Dies habe ich absichtlich vermieden, zumal ich daran dachte, daß ich oben längere Ausführungen hochgelehrter und sprachgewandter Männer wiedergegeben habe. Nun aber wollen wir nur den Kopf behandeln und einige hervorstechende und würdige Vorzüge mit etwas größerer Genauigkeit und Sorgfalt betrachten, die übrigen äußeren Körperteile aber wollen wir beiseitelassen, und ebenso die Lunge und die Leber, die Milz und das Herz, den Darm und die übrigen Eingeweide. Denn das Haupt gilt mit Recht allgemein unter allen Körperteilen als das edelste und beste. (44) Daher wollen wir zunächst einige einzigartige Eigenschaften, die der Kopf als Ganzer hat, kurz berühren, danach einige herausragende Qualitäten seiner Teile. Als wir mit großer Intensität über unser Haupt nachdachten, wurde es uns zur Gewißheit, daß ihm mehrere Vorzüge gegenüber den anderen Gliedern verliehen worden sind. Wir beobachteten nämlich, daß es erstens an eine besonders ausgezeichnete und herausragende Stelle gesetzt und gestellt ist, daß es zweitens den Schmuck einer würdigeren und edleren Gestalt besitzt und daß es schließlich größeres Volumen hat. Um nun allerdings über die einzelnen Punkte einiges wenige so kurz und zugleich so richtig wie möglich zu sagen: Man nimmt natürlich allgemein an, daß der Kopf einen höheren, ja den höchsten Platz auf dem Gipfel erhalten hat, weil die Sinne des Menschen dem Wissen und

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dem Verstande dienen. Seine kugelartige, runde Gestalt, die an beiden Seiten so eingedruckt ist, daß sie, wie man sieht, vorn und hinten etwas gewölbt, auf der rechten und der linken Seite aber leicht abgeplattet ist, erklärt man mit der Größe des Gehirnsund mit der Notwendigkeit einer Trennung seiner Ventrikel. Diese Form ist ja auch diejenige, die am meisten faßt, und sie kann, wie die Mathematiker ganz evident beweisen, von einer Tangente nur an einem Punkt berührt werden. Demnach erkennen wir, daß der Schädel mit dieser Gestalt ausgestattet geschmückt ist, damit er einerseits das Gehirn mit den Trennungen zwischen den verschiedenen Ventrikeln fassen und es zugleich vor äußeren Verletzungen schützen kann. Seine Größe und sein Gewicht schließlich, die zu der ungefähren Rundung jener Gestalt hinzutraten, waren deshalb notwendig, damit er das umfangreiche Gehirn und das, was von diesem ausgeht, in einer Weise fassen kann, die schön anzusehen und zweckdienlich ist. (45) Wie wir lesen, haben die Ärzte und die medizinischen Schriftsteller bei diesem edelsten und würdigsten Körperteil außerdem noch zehn vorzügliche und einzigartige Elemente untersucht. Über diese Dinge, also über das Haar und die Haut, über das Fleisch und das äußere Fettgewebe, über den Schädel, über die zwei inneren Fettgewebe, über das Gehirn und wiederum über die zwei unteren Fettgewebe, über das wunderbare Netz darüber und über den Pasillarknochen (dies ist der Fachausdruck der Mediziner) werden wir einiges berichten. Obgleich die Haare sich wohl zwangsläufig aus der Beschaffenheit der Materie ergaben - der Kopf sitzt ja an der Spitze, als wäre er der einzige und alleinige Schornstein eines ganzen Gebäudes, zu dem alle Dämpfe und der ganze Rauch des Körpers aufsteigen - werden sie dennoch, da sie einen Zweck haben müssen, darauf zurückgeführt, daß sie Schutz und Sicherheit gegenüber äußeren Verletzungen bieten sollen. Die Festigkeit und Dicke der Kopfhaut wurde mit mindestens zwei Gründen erklärt, zum einen damit, daß die Haare in ihr wie in einer starken Wurzel fester sitzen sollen, zum anderen, weil sie so für die Knochen und das Gehirn eine würdige und

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solide Hülle bildete, da über dem Schädel keine Muskeln zu erkennen sind. (46) Über das Fleisch, das an der Stirn, an den Schläfen und an den Kinnladen außen hervortritt, sagen wir um der Kürze willen nichts anderes, als daß wir es als einen hübschen, verhüllenden Überzug bezeichnen könnten. Das äußere Fettgewebe ist, so lehrt man, wegen dreier Aufgaben eingerichtet und gemacht worden: Erstens, damit weder der Schädel die Haut noch die Haut den Schädel unmittelbar berührt. Zweitens, damit der Schädel durch diese Fettgewebe die Fähigkeit zu fühlen bekam und fühlen konnte; andernfalls besäße er keine Gefühle und wäre, um es so auszudrücken, gefühllos geblieben. Drittens soll die Dura mater mittels dieser Fettgewebe am Schädel hängen. Dieses Fettgewebe nämlich wird aus Sehnen und Bändern erzeugt, die offenbar von der Dura mater aus durch Verbindungen und Öffnungen des Gehirns in den Bereich außerhalb des Schädels vordringen. (47) Die Ärzte definieren den Schädel als einen Knochen, der eben das Gehirn von außen ganz und gar umfaßt und in dessen Höhlung das Gehirn, von dem die Sinne und die Nerven ausgehen, gesetzt worden ist, wie sie ausdrücklich behaupten. Der Schädel konnte aber aus mehreren verschiedenen Gründen nicht zu einem einzigen durchgehenden Knochen gemacht werden. Denn wäre er ein einziger durchgehender Knochen gewesen, so hätte er in der Tat überhaupt keine, auch nicht die geringste Verletzung zu empfangen vermocht, ohne daß diese sich auf ihn als Ganzen ausgewirkt hätte, und deswegen hätte diese Geschlossenheit dem Schädel in einem erheblichen Maße geschadet; ein zweiter Grund ist, daß die Dämpfe, die recht oft zum Kopf emporsteigen, durch die verschiedenen Verbindungsstellen und Fugen aus dem Schädel hinausgelassen werden können; drittens können so die Heilmittel, sooft dies aufgrund einer dringlichen Notwendigkeit erforderlich ist, mit ihren Wirkungen und Kriiften zur Substanz des Gehirns vordringen. (48) Es ist klar, daß die zwei deckenden und verhüllenden Fettgewebe deswegen hinten am Schädel liegen, damit das weiche Gehirn nicht an irgendeiner Stelle vom harten und festen Schädel

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berührt wird. Eines von ihnen schließt sich unmittelbar an den Schädel an; es wird wegen seiner Härte und Festigkeit Dura mater genannt; dann kommt die Pia mater, die so genannt wird, weil sie weich und voller Flüssigkeit ist; sie wurde weich gebildet, damit sie durch ihre weiche Struktur das Gehirn nicht beschädigen konnte und außerdem einige Adern zu enthalten vermochte, die dem Gehirn seine Nahrung zuführen. Wir behaupten nun, daß das Gehirn drei Hauptteile besitzt, nämlich den vorderen, den mittleren und den hinteren. In ihnen hat offenbar tatsächlich der allgemeine Menschenverstand auf eine wahrhaft wunderbare und fast unglaubliche Art seinen verborgenen Platz, außerdem (um die gebräuchlicheren Ausdrücke der Naturforscher und Ärzte zu verwenden) das Vorstellungsvermögen, der Geschmack und das Gedächtnis, also die fünf inneren Sinne, nicht aber die drei äußeren. Es ist schwer zu beschreiben, wie groß und wie wunderbar die Verbindung und wechselseitige Verknüpfung der Nerven untereinander ist, denn sehr geeignete Kästchen, um es so auszudrücken, enthalten die fünf inneren, von allen Philosophenschulen schon längst abgehandelten und diskutierten Kräfte. So zeigt sich, daß dieses einzigartige, außergewöhnliche Kunstwerk nur vom allmächtigen Gott geschaffen worden sein kann. Wenn dieser nun uns Menschen einen Wunsch freigäbe und uns fragen würde, ob wir mit unseren vollständigen und vorzüglich entwickelten Gliedern, welche die Bildung des Körpers ausmachten, zufrieden seien, oder ob wir etwas Besseres fordern wollten, was wir noch zusätzlich wünschten, so muß ich zugeben, daß ich in der Tat überhaupt nichts wüßte. Über die unteren Fettgewebe, über das Netz und die Pasillarknochen, den verbleibenden drei Elementen, wollen wir, um nicht zu ausführlich zu werden, nichts mehr sagen. (49) Welche Anordnung der Glieder nun, welche Harmonie der Formen, welche Gestalt, welche Erscheinung könnte schöner sein oder gedacht werden als die des Menschen? Weil dies die alten, von tiefer Weisheit erfüllten Menschen beobachteten, wagten sie das Bekenntnis, die Götter besäßen eine menschliche Gestalt. Deren Spuren folgten ziemlich viele der unseren, und sie wollten darum in einigen Kirchen der Apostel, der

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Märtyrer und der übrigen Heiligen Gott wie einen Menschen malen, um die rohen und unwissenden Menschen bei der geistlichen Andacht etwas zu unterstützen. Deswegen fehlte es auch nicht an Männern von höchster Bildung und Weisheit, die, als sie all die oben erwähnten Dinge und andere vergleichbare Werkzeuge des menschlichen Körpers reiflich erwogen, zu der Meinung gelangten, dieser so geartete Bau sei wie die Welt geformt und gemacht worden, weswegen ihrer Ansicht nach der Mensch von den Griechen als Mikrokosmos, d.h. als kleine Welt, bezeichnet wurde. (50) Einige waren sogar der Auffassung, daß die hochberühmte und so heilbringende Arche Noah, auf der bekanntlich von der Menschheit, die in der ersten Sintflut schon fast vollständig ausgestorben war, nur die geringen überlebenden Reste, aus denen wir uns erneuert haben, geblieben waren, daß dieses Schiff also nach dem Vorbild jenes höchst vollkommenen Werkes des menschlichen Körpers gebaut worden sei, und diese Ansicht hatten sie deswegen, weil die Länge des Körpers vom Scheitel bis zur Sohle sechsmal so groß ist wie seine Breite von der einen Seite bis zur anderen und das Zehnfache der Höhe beträgt. Die Höhe stellt man fest, wenn man einen Menschen, der entweder auf dem Rücken oder auf dem Bauch liegt, an der Seite vom Rücken bis zum Bauch mißt: Der Mensch ist vom Kopf bis zu den Füßen sechsmal so groß, wie er von den Rechten zur Linken oder von der Linken zur Rechten breit ist, und zehnmal so groß, wie er von der Erde aus gemessen hoch ist. Entsprechend war die erwähnte Arche laut der Schrift 300 Ellen lang, 50 breit und 30 hoch. 17 Denn Noah war von Natur aus sehr klug und war auch durch die vielfältige Erfahrung, die er während seines so bedeutenden und so langen Lebens von fünfhundert Jahren (als er so alt war, überschwemmte nämlich, so lesen wir, die Sintflut den ganzen Erdkreis) gesammelt hatte, außerordentlich kenntnisreich, außerdem wurde er vom göttlichen Geist angehaucht; da er verstand, daß dieses wunderbare und vollendete Werk des Menschen vom allmächtigen Gott stammt und herkommt, nahm ·er sich zu Recht dieses Werk eines so großen Künstlers und herausragenden Meisters bei der Arbeit

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zum Vorbild, als er daran ging, die Arche zu bauen, jene Arche, welche die Menschheit rettete, die, wie er selbst als der größte Prophet seines Zeitalters von Gott vernommen hatte, eigentlich wegen ihrer Untaten und Sünden zugrundegehen sollte. (51) Und obschon wir genau wissen, daß wir bisher schon viel über diesen unseren Körper gesagt haben, können wir dennoch eines, was sich auf das menschliche Antlitz bezieht und was vielleicht noch erstaunlicher ist als das übrige, am Ende dieses ersten Buches nicht mit Schweigen übergehen. Der selige Augustin konnte sich darüber nicht genug wundern und faßte es an einer Stelle in folgende Worte: »Wer würde denn, wenn er es genau bedenkt, nicht sehen, daß bei einer solchen unzählbaren Vielzahl von Menschen und bei einer so großen natürlichen Ähnlichkeit, auf eine außerordentlich erstaunliche Art die einzelnen Menschen individuelle Gesichter haben, doch so, daß sie sich, wären sie nicht untereinander ähnlich, als Art keineswegs von den übrigen Geschöpfen unterscheiden ließen? Von denen, die wir ähnlich nennen, stellen wir also fest, daß sie unähnlich sind, aber viel erstaunlicher ist der Gedanke der Unähnlichkeit, weil die gemeinsame Natur die Ähnlichkeit doch wohl mit mehr Recht fordert.« 18 Das aber gilt zu Recht als erstaunlicher denn alles übrige, denn jedes einzelne Teil des menschlichen Körpers ist offenbar mit einer solch feinsinnigen Überlegung und mit einem so großen Kunstgeschick der göttlichen Vorsehung geformt worden, daß es wohl »ebensoviel zur Verrichtung einer notwendigen Aufgabe beiträgt wie zur Schönheit«. 19 (52) Wenn nun jemand, um diesen ersten kleinen Teil unseres Werkes endlich einmal abzuschließen, alle diese allgemeinen und besonderen Vorzüge des menschlichen Körpers und seine herausragenden Gaben wirklich gründlich betrachtet, wird er mit Recht zu der Auffassung gelangen, daß dieser vom allmächtigen Gott deswegen vorzüglich, ja wunderbar verfertigt wurde, damit er durch seine Gestalt ein würdiges und zugleich passendes Gefäß für die vernünftige Seele bilden könne. (53) Wenn wir daher sehen, daß die würdigen und vorzüglichen Gaben unseres Körpers so beschaffen und so groß sind,

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können wir uns nicht wundern, wenn für die Bestattungen der Gerechten der alten Zeit mit einem ausgepriigten Pflichtbewußtsein gesorgt wurde und wenn man Leichenzüge beging und Begräbnisstätten einrichtete. Dies wird mit aller Klarheit aus mehreren Stellen des Alten und des Neuen Testaments deutlich, auch wenn diese ganze Art und Weise der Beerdigung von sehr vielen Philosophen verurteilt wurde, weil sie glaubten, daß kein Körper eines Verstorbenen jemals wiederauferstehen würde. Denn »Tobias wird durch das Zeugnis eines Engels gepriesen, weil er sich mit der Bestattung von Toten Verdienste um den Herrn erworben hat«, und »unser Herr, der am dritten Tage auferstehen sollte, preist das gute Werk einer frommen Frau und rät, es künftig zu preisen, weil sie eine kostbare Salbe über seine Glieder gegossen hat und dies tat, um seine Bestattung vorzubereiten. Und im Evangelium werden auch die gelobt, die seinen Körper vom Kreuz nahmen und dafür sorgten, daß er mit der notwendigen Ehre und Würde verhüllt und begraben wurde.«20 Und, was noch erstaunlicher erscheinen muß, alldie Erzväter und die meisten Propheten übertrugen, noch während sie lebten, mit ihren eigenen Testamente die Sorge für Bestattung und Beerdigung ihrer Leichname den Hausgenossen und Nachkommen. (54) Wenn wir nun sehen, daß die Gefäße unserer Seelen so beschaffen und so wunderbar sind, daß wir an Gottes Schöpferturn nicht den geringsten berechtigten Zweifel haben können, was werden wir dann über die Seele selbst, dem einzigartigen, vorzüglichen Schatz aller Dinge sagen? Oder werden wir so dumm und töricht sein, in Frage zu stellen, daß es einen göttlichen Schöpfer der menschlichen Seelen gibt, wenn wir eben dies bei den menschlichen Körpern, die ja doch ihre Gefäße und Behälter sind, mit aller Gewißheit denken? Dies werden wir in dem nächsten Buch, soweit wir es mit der geringen Begabung unseres Verstandes erreichen oder wenigstens versuchen können, in etwas größerer Ausführlichkeit darlegen, so wie wir es eingangs versprochen haben.

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(1} Ich wollte, daß uns, wo wir jetzt im Begriff sind, kurz etwas über die menschliche Seele zu schreiben, so viel Geisteskraft und Stilkunst verliehen würde, daß wir - ach, ginge der Wunsch doch in Erfüllung - bei diesem so dunklen und so unergründlichen Stoff, über den die Philosophen offenkundig Verschiedenes und voneinander Abweichendes, ja beinahe Widerspriichliches geschrieben haben, einige herausragende und einzigartigeGedanken vortragen könnten. Nun sehen wir aber, daß den Dingen selbst eine sehr große Schwierigkeit verborgen innewohnt: Als Cicero, der Meister des römischen Stils, über die Seele sprach und in dem glänzenden Dialog der Tusculanen sehr grundliehe Forschungen dariiber anstellte, was sie sei, zeigte er auf, daß es eine große Meinungsverschiedenheit hinsichtlich ihrer Herkunft, ihres Sitzes und ihrer Beschaffenheit gab;21 und als dann auch Laktanz, der hochgelehrte und äußerst sprachgewandte Mann, in seinem schon erwähnten Werklein ,.über die Schöpfung des Menschen« Untersuchungen über dieselben Probleme vornahm, hat er, so stellen wir fest, folgendes niedergeschrieben: »Dariiber aber, was die Seele sei, herrscht unter den Philosophen keine Übereinstimmung, und vielleicht wird es sie nie geben.«22 Daher werden wir, um eine gebräuchliche Wendung aufzugreifen, mit all unseren geistigen und körperlichen Kräften einige Gedanken vortragen und erläutern, die es vielleicht wirklich wert sind, von Eurer Majestät gelesen zu werden. (2} Als wir uns deswegen mit Leidenschaft um eine, soweit möglich, vollständige und richtige Definition der Seele bemühten, entschieden wir uns dafür, das alte Vefahren, das Aristoteles bei Dingen von Ernst und Gewicht anwendete, als Vorbild zu wählen: Dieser referierte in fast allen seinen Büchern zunächst das, was friihere Philosophen über die Dinge gesagt hatten, über

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die er selbst Forschungen anzustellen gedachte; dann widerlegte er deren Auffassungen Punkt für Punkt. Und dies alles tat er, um seine eigenen Gedanken durch den Vergleich mit denen der anderen verständlicher und klarer hervortreten zu lassen. Wir werden daher den völlig zuverlässigen und klaren Spuren eines so großen Mannes wenigstens darin kurz folgen, daß wir die Auffassungen der Alten referieren. Weder sind wir nämlich so anmaßend und unverschämt, bei den so zahlreichen und so großen Schwierigkeiten der undurchdringlichen Probleme eine unabhängige Meinung äußern zu wollen, noch möchten wir einen derartigen Eindruck machen; sondern wir werden zuerst diese Dinge referieren und das Referierte knapp widerlegen. (Wir wissen ja, daß diese Gedanken von Philosophen stammen, die sich nur auf ihre eigenen natürlichen Kräfte stützen konnten.) Dann werden wir zu unseren Theologen übergehen, denen Gott mit Gewißheit diese und andere verwandte Geheimnisse der Natur offenbart hat, und werden, nachdem wir gleichsam von einem schweren Sturm geschüttelt worden waren, bei ihnen als dem einzigen Hafen des menschlichen Heils Zuflucht suchen. (3) Nun ist uns klar, daß gemäß einigen hochgelehrten und äußerst sprachgewandten Männer, namentlich Cicero und Laktanz, der Begriff »animus« sich von dem Begriff »anima« in dem Sinne unterscheidet, daß durch das eine die Lebenskraft, durch das andere aber das Denken und das Wissen bezeichnet wird.23 Da wir aber meinen, daß es genug und übergenug ist, wenn wir durch die großen Schwierigkeiten einer so komplizierten Materie bedrängt werden, glauben wir, daß man sich hinsichtlich des Wortes keinerlei Umstände machen darf. Obwohl wir daher, je nachdem, wie es uns an den einzelnen Stellen passender und geeigneter erscheint, die beiden Wörter in derselben Bedeutung benutzen, hielten wir es dennoch für besser, »anima« häufiger als »animus« zu gebrauchen, weil wir feststellten, daß die Lehrer unserer Kirche, sei es, daß sie die Heilige Schrift aus dem Hebräischen ins Lateinische übertrugen, sei es, daß sie dies vom Griechischen her taten, sei es, daß sie sie in anderer Weise irgendwie auslegten, immer dieses Wort gewählt haben. Nur auf ihren verehrungswürdigen und heiligen Spuren entschlos-

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sen wir uns zu wandeln, mochten auch die heidnischen Philosophen sehr oft »animus«, nur selten aber »anima« schreiben. (4) Wir wollen nun mit den Älteren24 beginnen: Von Thales aus Milet, der bekanntlich als einer der hochberiihmten Sieben Weisen zur Zeit des Königs Romulus auftrat und als erster in der Philosophie Ruhm erwarb, wird zwar überliefert, daß er nirgendwo speziell auf die Seele eingegangen sei. Nun war er aber der Meinung, daß das Wasser der Urstoff aller Dinge gewesen sei, und lehrte, daß von dort alle Elemente der Welt und die Welt selbst und was immer in ihr entsteht, seinen Ausgang nehme und herstamme. Daher kann man mit Recht davon ausgehen, daß seiner Meinung nach auch die Seele wie das andere aus dem Wasser entstanden sei. Sein Schüler Anaximander behauptete nicht wie sein Lehrer, daß sich alle Dinge vom Wasser ableiten ließen, sondern, daß sie sich aus ihren unbegrenzten Urstoffen entwickelten und aus ihnen hervorgingen. Ihm folgte Anaximenes, der diesen unendlichen Urstoffen seines Lehrers die Luft hinzugefügt haben soll. Anaxagoras, dessen Schüler, äußerte abgesehen davon, daß er meinte, einander ähnliche Teilchen seien der Ursprung der Dinge, hinsichtlich der Seele den Gedanken, daß sie etwas sei, was sich selbst bewege. Diogenes, ein weiterer Schüler des Anaximenes, hat, so lesen wir, die Seele wie das übrige auf die Luft als dem einzigen Ursprung aller Dinge zuriickgeführt. (5) Leukipp und Demokrit waren die ersten, die von Atomen sprachen, also von kleinen unteilbaren Korpuskeln, und sie behaupteten, daß sich alles aus ihnen zusammensetze, meinten aber nichtsdestoweniger, daß die Seele Wärme und Feuer sei. Heraklit, der (weil er über das Wesen der Dinge anscheinend so dunkel schrieb, daß die Philosophen jener Zeit über seine komplizierten Äußerungen ins Schwitzen gerieten und sie doch kaum verstehen konnten) den Beinamen Skotinos (»Der Dunkle«) trug, hielt die Seele für einen sehr feinen Dampf. Empedokles, der den Ruhm genießt, über die natürlichen Dinge in griechischen Versen geschrieben zu haben, wie es bekanntlich bei uns, im Lateinischen, Lukrez getan hat, Empedokles also sagt, wenn wir Cicero glauben, daß die Seele Blut sei, das unter

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dem Herz fließe. Wenn wir aber lieber Aristoteles folgen, läßt er sie aus Elementen bestehen. Der Sophist Hippias definierte sie als Wasser, Kritias aber als Blut. Archelaos, ein Schüler des Anaxagoras, war der Meinung, daß alles, was immer es gebe, aus einander ähnlichen oder unähnlichen Teilchen bestehe und so auch Geist und Seele. Für den Stoiker Zenon war die Seele Feuer; Aristoxenos, der zugleich Musikwissenschaftler und Philosoph war, hielt sie für Harmonie, wie es sie beim Gesang und beim Saitenspiel gibt, Pythagoras aber und Xenokrates, ein Schüler Platons, hielten die Seele für eine Zahl, die sich selbst bewege. (6) Sokrates, ein Schüler des Archelaos, kümmerte sich nicht um die schwierigen Probleme der Naturforschung, weil er nach Art der Akademiker meinte, daß sie überhaupt nicht gewußt oder erkannt werden könnten, und er stellte deshalb darüber, was die Seele sei, keine Untersuchungen an, sondern wandte sich dem Studium der Ethik zu. Dennoch erklärt er, daß sie unsterblich und ewig sei, wie es vorher ein gewisser Alkmeon und der Syrer Pherekydes gelehrt hatten. Jenem Sokrates folgte dann als sein berühmtester Schüler Platon. Obgleich er als der sprachgewandteste unter allen Philosophen gilt, hat er doch über die Seele nur dunkle, mit Metaphern und Tropen überladene Äußerungen gemacht, und zwar an mehreren Stellen seiner Bücher in einer Weise, daß man ihn kaum verstehen konnte. Am meisten hat er in dem Buch zusammengetragen, dessen Titel ,.über die Unsterblichkeit der Seele« lautet; aus seinen Äußerungen dort können wir wohl eher aufgrund ihrer Eindringlichkeit die Ahnung schöpfen, daß die Seele unsterblich sein werde, als aufgrund dessen, was zu den wirklichen Untersuchungen gehört. Das scheint Cicero am deutlichsten an der Stelle empfunden zu haben, wo er folgende Worte setzte: »Was brauchst du also unsere Hilfe? Können wir denn Platons Sprachgewalt übertreffen? Lies mit Sorgfalt sein Werk über die Seele; es wird nichts geben, was du darin vermißt.«25 Und wenig später schließt er folgendes an: »Bei Herkules, ich habe es getan, und zwar öfters; aber irgendwie geschieht es, daß ich überzeugt bin, solange ich lese; wenn ich das Buch beiseitegelegt habe und selbst über die Unsterblichkeit der Seele nachzudenken beginne, verschwindet diese

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Überzeugung völlig.c26 Dennoch läßt sich aus mehreren seiner Äußerungen die Erkenntnis hervorlocken, daß er dasselbe gedacht hat wie Pythagoras und Xenokrates, sei es im Sinne der Substanz, wie es der Philosoph Albertus Magnus lehrt, sei es im Sinne einer Zahl, die sich selbst bewegt, wie wir es etwas weiter oben ausgeführt haben. (7) Es fehlte nicht einmal an Denkern, die der Meinung waren, daß das Herz (»cor«) eben die Seele sei, weshalb viele Menschen »ex-cors« (dumm), »Vecors« (wahnsinnig) und »con-cors« (einträchtig) genannt wurden. Aristoteles erkannte dann,27 daß all das, was die älteren Denker über die Seele sagten, armselig und fast unbegründet war, weil offensichtlich fast alle ihre Lehren auf körperliche Dinge zurückgingen. Daher erklärte er, wenn man zwei andere Definitionsversuche von ihm beiseite läßt, daß es zusätzlich zu den Elementen, aus denen seiner festen Überzeugung nach jene Körper bestanden, ein fünftes geben müsse, aus dem die menschliche Seele bestehen soll. (Dies bezeichnete er mit einem griechischen und seinerzeit neuen, heute aber bei allen Philosophenschulen gebriiuchlichen Wort als »Entelechie«.) Und dieses Element sollte nicht, wie Cicero sagt,28 eine ununterbrochene, ewige Bewegung sein, sondern eher, so wie es Avicenna und Averroes darlegen und erläutern, die rein geistige Vollendung des menschlichen Körpers, mochte Aristoteles selbst auch mehr Worte für ihre Definition benötigen. Varro schließlich gilt zwar als der beste Kenner menschlicher und göttlicher Dinge, als er aber die Seele definieren wollte, bestimmte er sie als einen Lufthauch, der durch den Mund aufgenommen, in der Lunge •abgekocht« und im Körper auf eine mäßige Temperatur gebracht werde und der sich dann im ganzen Körper ausbreite. Seneca aber hielt sie für eine unkörperliche Substanz, die an der Vernunft teilhabe. (8) Diesen allen glauben wir kurz etwas entgegnen zu müssen. (Aristoteles nehmen wir immer aus, zum einen, weil wir einem so großen Philosophen die geziemende Verehrung schulden, noch mehr aber wegen seiner scharfsinnigen und durchaus wahrheitshaltigen, wenn auch nicht vollendeten und in jeder Beziehung vollkommenen Definition.) Und wie wir beim Nach-

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denken über Gott sowie über himmlische und göttliche Dinge leichter aussprechen und erfassen können, was das einzelne nicht sei, als, was es sei und welche Beschaffenheit es habe, so müssen wir zu der Ansicht kommen, daß es sich ungefähr ebenso verhält, wenn wir Überlegungen über die menschliche Seele anstellen, zumal wir sehen, daß sich bei allen dunklen Dingen viel leichter Falsches widerlegen als Wahres finden läßt. (9) Für eine leichte Widerlegung der vorgenannten Meinungen aber, wie wir sie angekündigt haben, war unserer Ansicht nach das am besten geeignet und tauglich, was, wie wir uns erinnern, Cicero teils in den Tusculanen geschrieben, teils auch in seiner Trostschrift niedergelegt hat; weil dessen Worte uns außerordentlich gefielen und wesentlich zu unserem Vorhaben beizutragen schienen, ließen wir es uns angelegen sein, sie an diese Stelle zu setzen und hier niederzulegen. Er sagt nämlich folgendes 29 : »Der Ursprung der Seelen kann nicht bei der Erde liegen, denn es gibt nichts Vermischtes und Festes in den Seelen, was aus Erde entstanden und gebildet erscheinen könnte, freilich auch nichts Feuchtes oder Luftiges oder Feuriges; diesen Elementen ist nichts eigen, was die Fähigkeit des Erinnerns, des Denkens und des Übedegens besitzen würde, wodurch es das Vergangene behalten und das Zukünftige vorhersehen könnte und das Gegenwärtige zu erfassen vermöchte. Diese Dinge sind ausschließlich göttlich, und wir sehen keine Möglichkeit, wie sie zum Menschen kommen können, außer von Gott her« usw. (10) Denn Aristoteles, dieser Mann von tiefer Weisheit, entwickelte den Gedanken, daß Verstand, Willenskraft und Gedächtnis, also bestimmte natürliche und den menschlichen Seelen gemeinsame Anlagen, nicht entstehen könnten, es sei denn sie würden von den Dingen übertragen, zu deren spezifischen Eigenschaften diese Gaben gehörten. 30 Deshalb genießt er den Ruhm, zu Recht alle Elemente und nicht allein die Elemente, sondern alle körperlichen Dinge vom geistigen Wesen der Seele richtig geschieden und getrennt zu haben, mochte auch die Erde als einziges schon nach den alten, von ihm selbst referierten Lehren der Philosophen von der Seele unterschieden worden sein. Diese vorzügliche Widerlegung fast aller obengenann-

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ter Auffassungen soll Cicero von Aristoteles, seinem Lehrer so nannte er ihn nämlich an einer Stelle ohne Vorbehalt -, aus dem zweiten Buch »Über die Seele«31 übernommen und sich zu eigen gemacht haben. Als freilich jener wahrhaftige Fürst der Philosophie in diesem Buch das Wesen (»essentia«) der Seele - für diese Übersetzung des griechischen Wortes ,.ousia« haben wir uns nämlich entschieden, obschon sie im antiken Latein keineswegs gebräuchlich war - etwas genauer erforschte, als es offenbar die übrigen Philosophen vor ihm gemacht hatten, sah und erkannte er mit aller Klarheit, daß sie nicht körperlich sein kann. Als er daher mit seinen Gedanken über sämtliche körperliche Dinge hinausging und vollkommen berechtigt zu der Meinung gelangte, daß sie etwas Hervorragendes und Vollkommenes sein müsse, entschloß er sich, sie unter den Begriff der Substanz einzuordnen und zu fassen, und er machte deutlich, daß sie seiner Ansicht nach keine Materie, wie die Philosophen aufgrund der Bezeichnung »Substanz« meinten, sondern eine Form sei, und zwar nicht die eines beliebigen Körpers, sondern genau die Form eines solchen, den wir den menschlichen Körper nennen. Als er dann später über ihre Vermögen handelte und den Verstand als etwas Ewiges von den übrigen, den vergänglichen Teilen schied, hat er offenbar zu den früheren Bestandteilen seiner Definition einen Zusatz in dem Sinne gemacht, daß er die Seele vollkommen klar als die vernünftige, unsterbliche und unvergängliche Form des menschlichen Körpers definierte. (11) Wenn er aber die festen Grenzen des Naturphilosophen, als welchen er sich selbst bezeichnete, hätte überschreiten und über sie hinauskommen wollen (sieh nur, welche Möglichkeiten ich dem Menschen zugestehe), dann hätte er, wie ich glaube, hinzugesetzt, daß die Seele vom allmächtigen Gott in wunderbarer Weise aus dem Nichts geschaffen worden ist. Hätte er nun dies getan, so hätte er natürlich allen Gesetzen der natur und auch allen Lehrsätzen und Dogmen der Naturphilosophen widersprochen, die es als unmöglich erachteten, daß aus dem Nichts etwas entstehen könne, und eben deswegen hätte er eine vollkommen wahre und vollendete Definition der Seele gegeben, daß sie nämlich die unsterbliche und unvergängliche

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Form des menschlichen Körpers sei, welche einen vernünftigen Verstand besitze und aus dem Nichts von Gott geschaffen sei. Diese Definition oder eher Beschreibung kann nämlich, so wird allgemein angenommen, aus den verehrungswürdigen Lehrsätzen der Kirchenväter erschlossen werden, obgleich solche Dinge, die durch ihre Natur den Blicken entzogen und dunkel sind, in einer Finsternis verborgen zu liegen scheinen, in die der schwache Scharfsinn des menschlichen Geistes nicht eindringen kann, es sei denn, er würde von einem höheren Licht erleuchtet. Dies ist, so behaupten wir, jenen vorzüglichen und hochheiligen Männern, deren Lehren wir jetzt aufnehmen und deuten wollen, zuteil geworden. {12) Denn von nur einem Menschen her, den Gott, wie wir in der Heiligen Schrift lesen, als ersten geschaffen hat und der daher auf Griechisch treffender »protoplastus« (»erstgeformter«) heißt, nahm - im Gegensatz zu den verfehlten Lehren einiger Philosophen über die Ewigkeit der Welt - das Menschengeschlecht seinen Ausgang, und zwar auf folgende Weise: Als Moses, der an der ganzen Weisheit der Ägypter gebildet worden war und der zugleich der erste und der bedeutendste der Propheten war, die ihre Prophetien schriftlich niederlegten, sich einst von der Sinnenwelt zurückziehen wollte, zögerte er nicht, bis zu den weite Einöden Äthiopiens zu wandern, wo er sich, ohne noch in irgendeiner Weise an die weltlichen Geschäfte zu denken, vollkommen in die Betrachtung allein der höchsten und göttlichen Dinge versenkte. Damit erregte er anscheinend beim allmächtigen Gott ein so großes Wohlgefallen, daß er für würdig befunden wurde, Gott nicht nur gleich den übrigen Propheten durch dunkle Andeutungen oder durch Träume und unklare Visionen, sondern von Angesicht zu Angesicht zu sehen und zu erblicken und außerdem noch erstaunliche Wunder zu vollführen, wie es die Heilige Schrift wohl in aller Klarheit berichtet und bezeugt. (13) Da nun der genannte Moses auf diese Weise vom göttlichen Geist angehaucht war, wagte er es, nicht als ein Lehrer der menschlichen Weisheit oder der weltlichen Philosophie, sondern vielmehr als ein berufener Zeuge und Vertreter der Werke

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Gottes, seinen Pentateuch so zu beginnen: »Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde.« 32 Dann folgte das übrige bis hin zum vollständigen Abschluß der Erschaffung all der vernunftlosen Lebewesen. Dann fuhr er fort und sagte endlich: »Lasset uns einen Menschen machen, nach unserem Bilde und in ähnlicher Gestalt.«33 Diese Worte beziehen sich freilich nach der gesicherten und übereinstimmenden Auslegung aller Theologen nicht auf den Körper, sondern nur auf die Seele. Denn: »Was ist der Gott, der so sprach, Fleisch oder Geist? Keinesfalls Fleisch, sondern Geist, dem Fleisch nicht ähnlich sein kann, weil er unkörperlich und unsichtbar ist; Fleisch aber läßt sich anfassen und ist sichtbar.« 34 (14) Hinsichtlich dieses Problems freilich scheint es viel, ja fast unendlich viel zu geben, was man mit großem Scharfsinn zu f~~en und zu untersuchen pflegt. Wir sind dennoch der festen Uberzeugung, daß die Seele nicht wie die Körper von den Eltern und von einem »tradux« (Schößling), um den theologischen Fachausdruck zu gebrauchen, herstammt, wie es einige Häretiker und besonders ein gewisser Apollonius zu Unrecht meinen, sondern daß sie von Gott aus dem Nichts erschaffen wurde und so in das Licht trat. Daran können wir überhaupt keinen, auch nicht den geringsten Zweifel haben, und es heißt, daß fast alle Ausleger der Heiligen Schrift und die Kirchenväter dieser Lehre anhängen und folgen - mit der Wahrheit nämlich stimmt alles überein. Daher dürfen wir ihre, um es so auszudrücken, Materie, die es offenkundig nicht gegeben hat, überhaupt nicht suchen noch nach ihr forschen. Wir wissen nämlich, daß es nichts gibt, was der Erde entspräche, von der wir sagen können, sie habe die Materie für den menschlichen Körper abgegeben und aus ihrem Schlamm oder angefeuchteten Staub sei er geschaffen. (15) Dadurch erweist sich, daß die törichte Lehre der Juden und Arianer falsch ist: Sie glauben, daß jene Worte Gottes »lasset uns machen« und »unserem« an die Engel gerichtet gewesen seien. In der Tat, sei es, daß sie das Wort »Bild« auf die Gestalt, sei es daß sie den Ausdruck »Ähnlichkeit« auf das Wesen beziehen (so lauten die verschiedenen Auffassungen unserer Theo-

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logen über diese Sache, wenn man die übrigen Erklärungen der eben genannten Worte beiseite läßt, von denen eine Unzahl vorgebracht wird): Sie haben zu wenig erwogen und bedacht, auf welche Weise es berechtigt sein könnte, daß man das Werk der Schöpfung den Engeln zuschrieb und zuordnete; denn dieses Werk kann nur von dem Schöpfer herrühren, dessen Allmacht bis dahin geht, daß er alles aus dem Nichts zu machen und zu schaffen vermochte, die Engel aber waren bekanntlich Schöpfungen. Wenn dies nun der Fall gewesen wäre, so wären ganz offensichtlich die Schöpfungen zugleich mit ihren Schöpfern erschienen. Hätten sich die Vertreter dieser Ansicht aber nur ein wenig überlegt, wie abwegig und wie unmöglich dies ist, so wären sie gewiß niemals auf einen so großen und so evidenten Irrtum verfallen. Und sie bemerkten nicht einmal, daß Gott und die Engel nicht dieselbe Gestalt oder Ähnlichkeit besitzen konnten. Wenn aber das Werk der Schöpfung Gott gemeinsam mit den Engeln durchgeführt hätte - hätten dann etwa Gott und die Engel eine gemeinsame Gestalt und Ähnlichkeit miteinander haben können? Die Engel sind nämlich weit davon entfernt, in Hinsicht auf Macht und Erhabenheit Gott gleich zu erscheinen; vielmehr stellen wir fest, daß sie durch einen sehr großen und sehr weiten Abstand von seinem Wesen getrennt sind. {16) Jener höchste Prophet aber, der nicht unbesonnen, sondern vielmehr überirdisch dachte und der sich in der Kontemplation über das menschliche Maß erhob, zögerte nicht, bei der Erschaffung der Seele im Plural zu sprechen, um eine tief verborgene V nterscheidung zwischen den göttlichen Personen in wenigen Worten und doch so klar und deutlich wie möglich zum Ausdruck zu bringen. Dies hatte er auch vorher getan, als er beim Satz »am Anfang schuf Gott« auf Hebräisch »eloyn« sagte, wobei er nicht unüberlegt oder zufällig den Plural verwendete, achtete er doch bei der Schilderung der Hervorbringung der übrigen Dinge und Lebewesen immer darauf, »Gott« im Singular zu verwenden. Daß dieser Gebrauch eben mit der einzigartigen Erhabenheit der Seele zu tun hat und sich darauf bezieht, ist deutlich zu erkennen: Offenbar sind nur bei ihrer

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Erschaffung alle göttlichen Personen ausdrücklich genannt worden. Und damit noch nicht zufrieden, sagt er, nachdem Gott die Menschen geschaffen hatte: »Er segnete siec35 und setzte sie als Herren ein über alles, was geschaffen war, und als Könige, ja als Kaiser über den gesamten Erdkreis. Und um die größere Vorzüglichkeit und Würde eben der Seele vor Augen zu führen, setzte der Autor schließlich ruhig und unbesorgt hinzu: »Da machte Gott, der Herr, den Menschen aus Lehm von der Erde und blies ihm den Lebenshauch in sein Gesichtc 36 und so weiter. »Gott, der Herrc 37 sagte er, das ist jener unaussprechliche Name, der griechisch »tetragrammaton« heißt und womit sein eigentliches Wesen (»essentia«) bezeichnet wird (diesen Begriff wollen wir nämlich an dieser Stelle lieber verwenden als das Wort »Substanz« (»substantiac)). Und dieser Name wird von den Juden in einem solchen Maße geachtet und geehrt, daß er so, wie er in ihren verehrungswürdigen Codices mit heiligen Buchstaben niedergelegt und aufgeschrieben ist, nur von den höchsten Priestern im Allerheiligsten und zwar nur einmal im Jahr ausgesprochen und erklärt werden darf. Darauf wurden die Manichäer aufmerksam, böse und scharfsinnige Häretiker, und sie legten jene Worte in dem Sinne aus, daß sie behaupteten, die Seelen seien aus der Substanz Gottes geschaffen. Dieser Meinung soll auch der Dichter Euripides sowie einige Philosophen gewesen sem. (17) Aber wahrhaftig, was sollen wir noch von unseren Theologen reden, wenn wir doch sehen, daß auch den Dichtern und Philosophen zufolge die menschlichen Seelen vom Himmel auf die Erde herabgekommen sind? Dies zeigt Vergil mit folgenden Versen: »Jenen Samen eignet Lebenskraft aus Feuer und eine himmlische Herkunft, soweit nicht die schuldhaften Körper sie schwerfällig machen und die irdischen Glieder und sterblichen Körperteile sie lähmen.c 38 Eben dies hat bekanntlich auch der Dichter Lukrez verkündet, als er folgende Verse sang: »Überhaupt aber stammen wir alle von himmlischem Samen, für alle ist er der eine Vater.c39 Und auch jener Hermes, der wegen seiner Erhabenheit den Beinamen »Trismegistus« erhalten hat, was in der griechischen Sprache »der dreimal größte Merkur« be-

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deutet, wußte sehr wohl, daß der Mensch von Gott und Gott ähnlich geschaffen worden ist. Denn er scheute sich nicht, die menschliche Gestalt als »theoid«, das heißt gottähnlich, zu bezeichnen und anzusprechen. Ihm folgte, wie wir lesen, später Platon, der dasselbe griechische Wort benutzte. 4 Cicero bezeugt sogar mehrfach, daß der allmächtige Gott dem Menschen nichts Besseres, nichts Vorzüglicheres, ja, nichts Göttlicheres als den Geist hätte geben können. 41 (18) Um aber die vielen sonstigen Überlegungen beiseitezulassen, die von den zahlreichen Lehrern der katholischen Kirche zu jener Stelle, welche die Schöpfung so darstellt, angeführt werden, wollen wir uns mit folgenden Worten des seligen Augustin bescheiden, um die erwähnten göttlichen Verse ebenso richtig wie kurz zu erklären: Als dieser im ganzen siebten und achten Buch seines Werkes »Von der Schöpfung im Literalsinn« über die Würde der Seelen sehr viele gedankenreiche Untersuchungen angestellt und sprachgewandte Erörterungen durchgeführt hatte, erklärt er schließlich, erschöpft von den langen Darlegungen, am Ende eben dieses Bandes im Kommentar zu der Stelle, laut der Gott dem Menschen die Seele eingehaucht hat, indem er ihm in sein Gesicht blies, daß er nur das eine mit Bestimmtheit behaupten könne: Sie sei in einer Weise von Gott gewesen, daß sie nicht die Substanz Gottes gewesen sei, und in einer Weise unkörperlich, daß sie kein Körper gewesen sei, sondern sie sei Geist gewesen, der weder aus der Substanz Gottes gezeugt noch aus der Substanz Gottes hervorgegangen, sondern von Gott geschaffen worden sei, und zwar nicht in solcher Weise geschaffen, daß die Essenz eines Körpers oder einer vernünftigen Seele in ihre Essenz umgewandelt worden sei; man kann mithin aus diesen und aus den sonstigen Bemerkungen dieser Art schließen, daß die Seele aus Nichts gemacht und geschaffen worden ist. 42 (19) Es machte also Gott den Menschen nach seinem Bilde und sich ähnlich; er schuf ihm nämlich eine Seele, durch die er, da sie Vernunft und Unsterblichkeit, Verstand, Gedächtnis und Willenskraft besaß, den anderen Lebewesen überlegen war und die Herrschaft über sie ausübte. Daß diese unsere, oder

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besser die katholische und, um es so auszudrücken, theologische Definition der Seele vollkommen wahr ist, können wir deswegen behaupten, weil wir sie in ihrer Kürze zusammengesetzt haben, indem wir auf verschiedene Quellen zurückgriffen und sie zusammenschmolzen, und zwar sowohl die obenerwähnten Auslegungen der mosaischen Worte, als auch besonders die sehr zahlreichen weiteren Definitionen von heiligen Männern, besonders von Ambrosius und von Gregor, von Oohannes) Damaszenus und von Remigius (von Auxerre). (20) Nachdem wir nun bislang im Vorhergehenden bewiesen haben, daß die Seele eine Substanz und eine unkörperliche Form ist und von Gott aus dem Nichts geschaffen wurde, bleibt noch, daß wir einiges über ihre Unsterblichkeit vorbringen. Danach werden wir über ihre drei natürlichen Vermögen, die wir weiter oben erwähnt haben, ganz kurz einige wenige Worte sagen. Da wir nun mit dem Ernst, welcher der Bedeutung des Themas entspricht, zu einer völlig sicheren und unbezweifelbaren Erkenntnis der Unsterblichkeit der Seele gelangen und vorwärtsschreiten wollen, werden wir sie zunächst durch einige überzeugende Vernunftgründe aufzeigen, sie dann mit einigen autoritativen Äußerungen von Dichtern und Philosophen untermauern und sie schließlich mit den ehernen Zeugnissen der Heiligen Schrift beweisen. In unserem Bestreben, uns fest auf Vernunftgründe zu stützen, haben wir im Folgenden aus ihrer großen Zahl nur wenige ausgewählt, und zwar solche, die glaubhafter sind als die anderen: (21) Die übrigen Lebewesen benutzen nur die drei gewissermaßen schweren und irdischen Elemente, allein der Mensch aber bedient sich für den Gebrauch im alltäglichen Leben des Feuers als des leichten und feinen, ja himmlischen Elements, ohne welches er nicht überleben könnte. Dies darf deswegen nicht, wie mancher einwenden mag, als ein geringer Beweis für die Unsterblichkeit gelten, weil wir wissen, daß Gott, der die einzelnen vernunftlosen Lebewesen ohne die Fähigkeit, das Feuer zu verwenden, beließ und dies andererseits allein dem Menschen zugestand, nichts blindlings oder grundlos bewerkstelligt und tut, zumal er offensichtlich genau auf gewisse allgemeine Er-

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scheinungsformen einzelner Gattungen, umso mehr aber auf sämtliche Eigenschaften aller Lebewesen achtete. Da er jedoch die übrigen Lebewesen sterblich machte, allein den Menschen aber unsterblich schuf, wollte er durch eine solche U nterscheidung der Elemente, die er zum Gebrauch und zum Nutzen der Lebewesen geschaffen hatte, bewirken, daß diejenigen, die mit einem feinen Verstand ausgestattet sind und sich etwas höher von den irdischen Gedanken erheben können, zu der Erkenntnis gelangten, daß die Lebewesen sich so, wie sie ihrem Wesen nach verschieden geschaffen worden waren, auch durch diese Aufteilung der verschiedenen Elemente voneinander unterscheiden. (22) Nun versuchen alle Menschen noch zu Lebzeiten, weit über ihren Tod hinauszublicken und, ermuntert und angetrieben durch ein natürliches Streben, bemühen sie sich immer, den künftigen Generationen mit großen Mühen und mit nicht geringeren Aufwendungen zu nützen, soviel sie können: Ein Teil, indem er viele hohe Bäume sät, ein Teil, indem er dauerhafte und große Gebäude errichtet, ein Teil, indem er fortwährend Kinder zeugt, ein Teil schließlich - Vollständigkeit streben wir nicht an - indem er beständig Abhandlungen über die freien Künste verfaßt, so wie es eben den unterschiedlichen Anlagen der verschiedenen Menschen entspricht, die Cicero in seinen Tusculanen mit viel größerer Ausführlichkeit und Breite vollständig beschrieben hat. 43 Dies ist ja sonnenklar und steht fest. Daher können wir in der Tat nicht den geringsten berechtigten Grund haben, daran zu zweifeln, daß die Seelen dieser Menschen unsterblich sein werden, zumal wir sehen, daß ein solches Streben allen Menschen, oder besser dem gesamten Menschengeschlecht von der Natur selbst, der Mutter aller Dinge, eingegeben ist. Andernfalls ergäbe sich ja, daß angeborene Wünsche und Bestrebungen derjenigen Lebewesen sinnlos wären, die Gott bei ihrer Erschaffung reicher ausgestattet hat als die übrigen. Wir sehen auch, daß eben diese Menschen, indem sie ihrer Natur folgen, nach Glück streben, was sie nur durch die Unsterblichkeit der Seele erreichen und erlangen könnten. Würden sie nämlich zur Gänze ausgelöscht, wären wir überhaupt nicht in der

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Lage zu erkennen und uns vorzustellen, wie sie glauben könnten, glücklich zu sein, da wir ja in diesem irdischen Leben wegen seiner einzigartigen Veriinderlichkeit in keiner Weise glücklich zu sein vermögen. Jene natürliche Neigung und Bestrebun~. würde sich mithin als ebenso sinnlos wie töricht erweisen. Uberdies wünschen und begehren wir alle aufgrund eines angeborenen natürlichen Verlangens, unsterblich zu sein, ein solches Verlangen in unserem Ionern aber, das die Philosophen als »vernünftigen Trieb« eingeordnet haben, kann überhaupt nicht getäuscht oder betrogen werden. Wenn dies geschähe, würden wir auf eben den abwegigen Gedanken verfallen, daß die Natur einen sinnlosen Wunsch eingegeben habe. Weil dies aber unmöglich ist und offensichtlich in aller Klarheit der Natur selbst widerstreitet, erweist sich in der Tat die Annahme, daß die Seelen mit den Körpern untergingen, als falsch. (23) Wäre es aber nun möglich, daß die Seele zugleich mit dem Körper untergeht, läge der Schluß auf der Hand, daß Gott ungerecht war. Denn er würde den verworfenen Mensc~en in einer äußerst unwürdigen und ungerechten Weise außerordentlich große Belohnungen für ihre Untaten gewähren, nämlich Reichtümer, Ehren, mächtige Stellungen, Königreiche, den charakterfesten und wirklich guten Männern aber, die alles das, was wir ein Gut zu nennen gewohnt sind, als bedeutungslos und nichtig von sich gewiesen haben und die aus eigenem Antrieb Hunger, Armut, Schläge, Folterbänke und jede Quälung des Körpers auf sich nahmen, um das himmlische, selige, unvergängliche Leben zu erlangen, ihnen böte er nicht nur keine würdige Belohnung für ihre Leiden, sondern er würde sogar gerechte und ruhmreich vollführte Werke mit allem Unglück dieses menschlichen Lebens, mit Qualen und mit dem Tod vergelten. Wir sind daher nicht imstande, uns vorzustellen, wie man etwas Abwegigeres sagen oder denken könnte. (24) Wir stellen also fest: Dikaiarch und Demokrit, Epikur und Panaitios und wer immer sonst geglaubt hat, daß die Seele zusammen mit dem Körper untergehe, haben sich zweifellos geirrt. Das wird im Folgenden durch die autoritativen Zeugnisse einer großen Zahl von Dichtern sowie von Philosophen und

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überhaupt von ehrwürdigen Männern noch deutlicher werden. Und, um uns rasch wieder von den Dichtungen und von den erfundenen Geschichten entfernen zu können: Daß alle griechischen und ebenso die lateinischen Dichter die unterirdischen Götter und die Unterwelt als Strafe für die Schlechten, die Felder des Elysiums aber und die Inseln der Seligen als Belohnungen für die guten Menschen hingestellt haben, ist offenkundig. Vergil hat dies mit folgenden Versen zum Ausdruck gebracht: »Dies ist die Stelle, wo der Weg in zwei Richtungen sich teilt: Der rechte Weg führt an die Mauern des großen Dis, hier führt uns der Weg zum Elysium; der linke aber leitet die Schlechten zu dem Ort, wo ihre Strafen vollzogen werden, und schickt sie zum gottlosen Tartarus.«44 Eben dies bestätigen offenbar auch die Sprüche der Sibylle, namentlich da, wo sie prophezeien, daß Gott das letzte Gericht über die Lebenden und die Toten halten werde. 45 (25) Wir wollen zu den Philosophen, den strengeren Lehrern und Vertretern der Wahrheit, übergehen. Von ihnen hat laut Cicero46 als erster der Syrer Pherekydes gesagt, daß die Seele des Menschen ewig weiterlebe; dieser Lehre stimmte sein Schüler Pythagoras nicht nur einfach zu, sondern er nannte außerdem einen Grund, warum es sich so verhalte. Die Philosophen vor Pperekydes nämlich meinten, weil sie sich nicht zu erklären vermochten, wie die Seele ohne Körper leben könne, daß beides zusammen untergehe. Pythagoras soll daher mit der bloßen Behauptung seines erwähnten Lehrers, daß die Seele unsterblich sei, den neuen Gedanken eines ewigen Kreislaufs in ganz verschiedene Körper verbunden haben; dadurch blieb seiner Ansicht nach die Seele ewig erhalten. Aber er selbst und die übrigen früheren Denker mögen zusehen, welche unkörperliche Gestalt sie im Körper selbst erkennen. Als unser Cicero nämlich die Natur der Seele betrachtete,47 erschien ihm zu Recht die Frage ungleich schwieriger und rätselhafter, wie die Seele im Körper als einem gleichsam fremden Haus existieren könne, als jene, wie sie bestehen bleiben könne, nachdem sie den Körper verlassen habe und in den freien Himmel als ihrem eigentlichen Haus gewandert sei. Alkmeon kommt als weiterer

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berufener Zeuge für die Unsterblichkeit der Seele hinzu. Jedenfalls berichtet Aristoteles, daß jener an einer Stelle eine solche Auffassung geäußert habe. 48 (26) Von Platon ist überliefert, daß er, um die Pythagoreer kennenzulernen, in den Teil Italiens gekommen sei, der einstmals »Magna Graecia« genannt wurde und in dem zunächst Pythagoras und dann seine Nachfolger berühmte Lehrstätten eingerichtet hatten; allerdings soll er hinsichtlich der U Osterblichkeit der Seele nicht nur dasselbe gedacht haben wie Pythagoras, sondern auch noch mehrere Gründe genannt haben, warum dies so sei; 49 wir glauben indessen, daß Platon es von seinem Lehrer Sokrates gehört hat, weil dieser bekanntlich im letzten Augenblick vor dem Tod mit göttlicher Kraft ein Gespräch und eine Disputation über die Unsterblichkeit der Seele geführt hat. 50 Und von demselben Lehrer hat unserer Meinung nach auch ein Mitschüler Platons, Xenophon, der den Beinamen »der Sokratiker« trägt, diese Lehre übernommen, wenn er den älteren Kyros, den ruhmreichen König der Perser, in jenem bekannten Werk der »Paideia«, dessen Titel wir auf Latein gewöhnlich mit »De infantia Cyri« (Über die Kindheit des Kyros = Kyrupädie) wiedergeben, über die ewige Dauer der Seele sprechen läßt. 51 Aristoteles, der Lehrer aller, zögerte nicht, in aller Deutlichkeit nachdrücklich dasselbe zu behaupten und zu äußern; ihm folgte in Hinblick auf diese Lehre Porphyrius; doch steht es fest, daß auch einige ältere, hochberühmte Männer gleichfalls dieser Ansicht waren. Denn auch der erwähnte Hermes war der Auffassung, daß im Menschen zwei verschiedene Naturen zusammengeschmolzen seien, von denen die eine sterblich, die andere aber unsterblich sei. Ein gewisser Polites aber befragte, so wird erzählt, den Apollo von Milet, ob die Seele sich nach dem Tod auflöse oder bestehen bleibe, und erkannte aus der Antwort des Orakels, daß sie nach der Trennung vom Körper unendlich lange bleibt und ewig lebt. Cicero schließlich und Seneca versuchen an mehreren Stellen ihrer Werke durch viele Gründe und verschiedene überzeugende Gedanken dieser Art die Unsterblichkeit der Seele zu beweisen und zu bezeugen.

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(27} Wenn wir nun aber allen diesen weisen Männern und großen Philosophen, die die ewige Dauer der Seele nur mit Worten und mit Schriften bezeugt haben, Glauben schenken, was sollen wir dann erst von denjenigen denken, die deswegen Selbstmord begangen haben, um, gelöst von den Fesseln des Körpers, freier leben zu können? Solche Männer waren, wie wir lesen, Kleanthes, Chrysipp, Zenon, Emf?.edokles, von dem es hei~t, daß er sich bei tiefer Nacht in die Offnung des brennenden Atnas gestürzt habe, solche Männer waren ferner der Römer Cato und der Ambrakiote Kleombrotos, die sich, weil sie Platons Buch über die Unsterblichkeit der Seele gelesen hatten, umgebracht haben sollen. 52 Dürfen wir denn nicht glauben, daß Männer von einer solchen Haltung und von einer solchen Bedeutung den Gedanken der ewigen Dauer der Seele ganz in sich aufgenommen haben, wenn wir Gewißheit darüber besitzen, daß sie von sich aus in einen freiwilligen Tod gegangen sind? (28} Nachdem wir nun mit einer Reihe von Vernunftgründen und mit sehr vielen Belegen von Dichtern und Philosophen einige erwähnenswerte Gedanken zur Unsterblichkeit der Seele kurz vorgetragen haben, bleibt noch, daß wir uns in aller Kürze den Zeugnissen der Heiligen und den Wahrsagungen Gottes zuwenden. Zwar setzt alles, was in den beiden Testamenten, also dem Alten und dem Neuen, geschrieben steht, offensichtlich die Unsterblichkeit der Seele voraus, doch werden wir von den vielen Stellen nur einige wenige, die klarer und priignanter sind, kurz anführen, um zugleich das Gebot der Knappheit zu beachten und die Wahrheit zu erhellen. (29} Um mit den Älteren zu beginnen: Moses hat an der erwähnten Genesis-Stelle53 aus der Heiligen Schrift mit großer Deutlichkeit erklärt, daß die Seele nicht sterben werde. Durch dies allein nämlich kann der Mensch unstreitig Gott näher und ähnlicher erscheinen als durch jedes andere. Was nämlich das Erkenntnisvermögen, die Weisheit, die Macht und alles sonstige angeht, so ist er Gott ausgesprochen unähnlich, während er einzig in Hinblick auf die Unsterblichkeit ihm vollkommen ähnlich erscheint; und in demselben Buch ist eben dies offenbar noch deutlicher zum Ausdruck gebracht worden, wenn bezeugt

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wird, daß Henoch, der siebte Mensch nach Adam, dem erstgeschaffenen, im fünfundsechzigsten Lebensjahr nicht gestorben, sondern mit Gott gewandelt und zum Himmel emporgestiegen sei. 54 Dies wurde nach den Büchern der Könige auch Elia zuteil: Er wurde auf einem Flammenwagen von feurigen Rossen lebendig zum Himmel getragen, 55 und zwar an der Stelle, wo, wie bekannt ist, der Prophet Elisa, der Schüler des erwähnten Elia, den ganz kleinen, kurz vorher gestorbenen Sohn einer Witwe aus Sunem von der Dunkelheit ins Licht zurückgerufen hat. 56 Auch in jenem heiligen und bewundernswerten Dialog des vielduldenden Mannes - ein Werk, das nach Meinung der Juden von dem erwähnten Moses verfaßt worden ist - zweifeln die Beteiligten, während sie über die sichere und ausdrücklich erwähnte Wiederauferstehung der Toten disputieren, in der Tat nicht daran, daß die Seele unsterblich seiY David gebraucht sogar an mehreren Stellen seiner Psalmen die folgende oder ähnliche Wendungen: »Die auf dich hoffen«, Herr, »Werden ewiglich jubelnc. 58 Daran läßt sich erkennen, daß er die Dauerhaftigkeit der Seele als selbstverständlich darstellt und erweist. Wenn Jesaja, während er von Gott spricht, sagt »Er wird den Tod auf ewig vernichtenc 59 und »Deine Toten werden leben«60 - woran sonst kann er bei diesen und vergleichbaren Äußerungen gedacht haben als an die ewige Dauer der Seele? Wenn sie nämlich zugrundeginge, wie könnte dann der Tod auf Dauer vernichtet werden? Und wie sollte man es sich vorstellen, daß die körperlich Toten anders leben könnten als dadurch, daß ihre Seelen ewig bestehen? (30) Wenn wir dann wissen, daß bei Jeremia oft vom Totenreich und von denen im Totenreich die Rede ist, dann verstehen wir dies mit Recht nicht im Sinne von »Leichen«, deren Beerdigung und Bestattung wir in dieser Welt täglich mit unseren Augen sehen, sondern im Sinne von »Seelen«. 61 Und wenn wir wiederum hören, daß Hesekiel mehrfach das »Land der Lebendigen«62 erwähnt und daß er sagt, der Gerechte werde sein Leben leben und nicht sterben,63 wie sollen wir dies anders korrekt interpretieren, als damit, daß die menschliche Seele nicht sterben werde? Daniel, der von Dareios, dem König der Meder,

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wegen jener bewundernswerten, göttlichen Deutung verschiedener Träume zu Recht über alle Provinzen des Reiches gesetzt worden war, hätte sich niemals in die Löwengrube werfen lassen, um von grausamen Bestien zerrissen zu werden, 64 sondern hätte lieber dem wilden und gottlosen Gebot der Satrapen jenes Volkes gehorcht, hätte er nicht an die Unsterblichkeit der Seele geglaubt. (31) Jene berühmten Worte des Propheten Hosea, der in Stellvertretung Gottes folgendes sprach: »Ich werde sie aus der Hand des Todes befreien; ich werde sie vom Tod freikaufen; ich werde dein Tod sein, Tod; ich werde dein Tod sein, Totenreich,«65 usw.- wonach klingen sie denn, wenn nicht nach der Unsterblichkeit der Seele, und verkünden sie sie nicht klar und eindeutig? »Bekehrt euch zu mir« 66 sagt der Herr durch Joel, mit Fasten, mit Weinen und Klagen und mit den übrigen Martern des menschlichen Körpers. Warum sagt er »Bekehrt euch«? Etwa damit durch diese harten Formen der Folter, zu denen er uns ermuntert und auffordert, die Seele schneller völlig zugrundegehe, indem sie sich von ihrer Verbindung mit dem Körper löst, oder nicht viel eher, damit sie auf ewig lebe? (32) Amos sagt, daß er den Herrn erblickt habe, wie er über dem Altar stand und folgendes sprach: »Die nämlich fliehen, werden nicht gerettet werden: Wenn sie in das Reich der Toten hinabsteigen, wird sie von dort meine Hand herausführen, und wenn sie zum Himmel emporsteigen, werde ich sie ebenso von dort losreißen«67 und so weiter. Aus diesen Worten erhellt, daß die Seelen der Toten keineswegs zusammen mit den Körpern untergehen, weil der Prophet bezeugt, daß sie von allen Orten losgerissen werden müssen. Diese seine Lehre nun hat er nicht nur durch Worte, sondern, so ist überliefert, auch durch Taten und durch den körperlichen Tod als wahrer Kämpfer für den allmächtigen Gottes bekräftigt. Denn zunächst setzte ihm der Priester Amasia mit vielen Schlägen zu, dann bohrte ihm dessen Sohn Usia, der König von Judäa, eine Stange durch die Schläfen, und trotzdem wollte er lieber unschuldig zugrundegehen denn als Übertreter des göttlichen Gesetzes leben. So hatte, wie wir lesen, vorher zu den grausamen Zeiten des Königs Manasse

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auch Jesaja gehandelt, als er es mit Gleichmut ertrug, daß man ihn mit einer Säge durchschnitt. 68 Niemals wären diese Propheten dazu gebracht worden, dies zu tun, wenn sie geglaubt hätten, daß die Seele in irgendeiner Beziehung sterblich sei, zumal sie beide ihrem gewaltsamen und grausamen Tod leicht hätten entkommen und entgehen können. (33) Daß ferner Obadja und Jonas, Micha, Nahum, Habakuk, Zephanja, Haggai, Sacharja, Maleachi, um mit dieser einen Aufzählung kurz und bündig die übrigen Propheten fast vollständig erfassen, in ihren Büchern die Unsterblichkeit der menschlichen Seele als sicher und unbezweifelbar bezeichnet und hingestellt haben, wissen wir. Sie bezeugen nämlich in aller Deutlichkeit, daß Menschen in Ewigkeit leben, indem sie dies teils von den Seligen sagen, teils von denen, die sich Gott zugewandt haben, teils von den viele Jahrhunderte zuvor gestorbenen Propheten und überhaupt von den gerechten, heiligen Männern, auch wenn diese gleichfalls längst tot waren; einige schließlich erklären, daß der Herr, bevor der große und schreckliche Tag komme, Elia schicken werden - alles Dinge, die, wenn die Seele unterginge, überhaupt nicht geschehen könnten. Was aber sollen wir von den Makkabäerbrüdern sagen? Ihre hochberühmten Taten und die harten, grausamen Foltern, die ihnen unter Antiochus, dem König der Armenier, für ihren Gehorsam gegenüber den göttlichen Gesetzen auferlegt wurden, zeigen daß es gewiß ein anderes Leben geben wird, als das, in welchem wir leben. (34) Wir wollen aus der fast unendlichen Zahl von verwandten Stellen des Alten Testaments die vielen noch verbleibenden beiseitelassen und uns jetzt summarisch und ganz knapp dem Neuen Testament zuwenden. Matthäus, Markus, Lukas und Johannes möchten in ihren ganzen Evangelien nichts anderes den Lesern, den Hörern und eigentlich dem ganzen Menschengeschlecht verkünden und bezeugen als die ewige Dauer der Seele. Denn Themen wie das Himmelreich, die verschiedenen Formen der Glückseligkeit, die Strafen im Totenreich, die Gebote, Unrecht zu erleiden und häufig zu fasten, die Feinde zu lieben und den eigenen Körper hart zu züchtigen, die mehr-

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fache Wiedererweckung von Toten, die Ankündigung der Wiederauferstehung aller Toten am Jüngsten Tag und andere vergleichbare Gegenstände, von all denen die Evangelien erfüllt sind, sie machen ganz deutlich, daß die Seele gewiß nicht untergeht, sondern vielmehr in Ewigkeit lebt. In Hinblick auf die Apostelgeschichte und auf die Briefe des Paulus, des Petrus, des Johannes und des Judas brauchen wir uns nicht mit ihren bloßen Behauptungen zufriedenzugeben. (Wozu bedarf es nämlich noch der Worte, wo man die sichtbaren und verläßlichen Zeugnisse der Taten erblicken kann?) Haben uns nicht die meisten Apostel sowohl durch ihre eigenen Martyrien, die sie, obschon sie ihnen leicht hätten entkommen und entgehen können, aus freiem Willen auf sich nahmen, als auch durch die sogar mehrfach vorgekommene Widerauferweckung der Toten gezeigt, daß die Seele nach dem Tode weiterexistiert? (35) Wir wollen die unzähligen Mengen der fast unendlich vielen Märtyrer beiseite lassen, die bei jenen berüchtigten elf Christenverfolgungen der gottlosen Kaiser sich zu den verschiedenen brutalen Martyrien förmlich drängten und dadurch das ewige Himmelreich für sich erhofften. Unberücksichtigt lassen wollen wir ferner Johannes Chrysostomus, Gregor von Nazianz, Basilius den Großen, Kyrill, Origenes und die sonstigen fremdsprachigen Theologen sowie Hilarius, Cyprian, Laktanz, Ambrosius, Hieronymus, Augustin, Papst Gregor und die übrigen Kirchenväter, seien sie Griechen oder Lateiner, da sie ja nun einmal alle schon selbst in ihren sämtlichen Werken, die sie in einer fast unendlichen Menge hinterlassen haben, nichts anderes taten und betrieben, als daß sie die wichtigsten, wahrhaftigen und festen Grundlagen beider Testamente, soweit sie irgendwie dunkel oder schwer verständlich sind, auslegten und, soweit möglich, etwas deutlicher erklärten. {36) Weil wir also bis jetzt in dem vorangegangenen Teil durch mehrere Vernunftgründe sowie durch zahlreiche heidnische, aber vor allem auch durch christliche Zeugnisse, die aus den Werken vorzüglicher Männer stammten, bewiesen haben, daß die Seele unsterblich ist, werden wir nun im Folgenden, so wie wir es versprochen hatten, von ihren drei natürlichen Vermögen

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sprechen. Und als erstes werden wir vom Verstand des Menschen so kurz wie möglich handeln. Wie groß und wie erhaben aber seine Kräfte sind, bezeugen einerseits sehr viele bedeutende, ungeheure Leistungen, andererseits die Instrumente, die er auf bewundernswerte Weise erfunden und erdacht hat. (37) Um nämlich mit Geringerem zu beginnen: Was für einen großen und bewundernswerten Verstand müssen wir nicht Jason, dem Anführer der Argonauten, zuschreiben, weil er jenes erste Schiff baute, mit dem die Argonauten, seine Gefährten, es wagten, sich auf das gräßlich dröhnende Meer zu begeben und - es klingt unglaublich - sicher und ohne jede Angst über die schrecklichen Fluten des wilden Meeres zu fahren. Dies konnte einem jeden als eine so bewundernswerte Leistung erscheinen, daß es alle die, die es sahen, in Staunen über diese Tat versetzte. So sprach beim Dichter Accius der Hirte, der niemals zuvor ein Schiff gesehen hatte, als er von einem hohen Punkt aus in der Ferne dieses göttliche, neue Fahrzeug erblickt hatte, voll Schrecken und Bewunderung folgendes: »Ein solches Riesenwerk schwimmt donnernd vom hohen Meer heran mit ungeheurem Dröhnen und Lärmen; vor sich her wälzt es die Fluten«69 usw. Wir sehen, daß diese Kunst der Schiffahrt allmählich über viele Zeiten hin bis zur Gegenwart so weit gereift ist, daß sie sich fast zu einem Wunder entwickelt hat. Denn man hat sich nicht nur daran gewöhnt, den britannischen und den, wie der Dichter sagt, »Eisozeancl0, tagtäglich zu befahren, sondern man hat sich jüngst sogar daran gemacht, über die vorher zu Schiff erreichbaren Grenzen hinaus bis fast ins tiefste Mauretanien vorzudringen, wo, so hört man, mehrere bebaute und bewohnte Inseln, die bislang gänzlich unbekannt waren, gefunden worden sind. (38) Mit welcher Energie die auch ungeheuren und hochberühmten ägyptischen Pyramiden gebaut worden sind wie auch der riesige, in der Gestalt einer Pyramide gebrachte Turm, der in Rom zu sehen ist, können wir uns vorstellen! Mit wie viel Kunstfertigkeit soll Philo für die Athener das Zeughaus gebaut haben, jenes von den griechischen Schriftstellern so sehr gepriesene »Werk«, das, wie es heißt, »wegen seiner Aufwendigkeit

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und wegen seiner Schönheit sehenswert ist«. 71 Mit wie viel Geschick muß ferner in alten Zeiten Noah die Arche gegen das Unwetter der Sintflut gebaut haben, der Bewahrer des Menschengeschlechtes oder eher sein Tröster, was sein Name aus dem Hebräischen ins Lateinische übertragen bedeutet! Und, um über die alten Wunderwerke, die es in einer fast unzähligen Menge gab, jetzt nicht noch mehr zu sagen, wollen wir uns ein wenig neuen und jüngeren Beispielen zuwenden: Mit wie viel Intelligenz hat Philipp, genannt Brunelleschi, der von allen Architekten unserer Zeit unstreitig der erste ist, die große oder besser die ungeheure Kuppel des Doms von Florenz errichtet, jenes wunderbare Werk, das - es klingt unglaublich - ohne irgendwelche Stützen aus Holz oder Eisen auskommt. {39) Daß mit nicht geringerem, sondern eher mit größerem Können die herausragenden Maler und vorzüglichen Bildhauer bedeutende Werke gemalt und gehauen haben, ist bekannt. Denn Zeuxis, Apelles und Euphranor schufen, wie überliefert wird, ihre Bilder mit so großer und so feiner Kunst, daß einer von ihnen den Ruhm genießt, beim Malen eine Helena durch künstliche Linien so dargestellt zu haben, wie sie wohl war, als ihre Mutter Leda bei der himmlischen Geburt mit ihr niederkam. Ein anderer hatte eine Stute und einen Hund so gemalt, daß Hengste und Hunde, die vorüberkamen und sich durch das gleichsam lebendige Bild gefangennehmen und anlocken ließen, bisweilen dazu gebracht wurden, zu wiehern und zu bellen, weil sie die Tiere, die man im Freien auf einer Wand gemalt sah, für echt hielten. Ein anderer gab Weintrauben und ihre Reben mit so viel Geschick wieder, daß er Vögel, die dort flogen, durch den falschen Schein täuschte und dazu trieb, mit ihren Schnäbeln an die bemalte Wand zu picken; denn sie glaubten, dort Nahrung zu finden. Was sollen wir noch von unserem Giotto sagen, dem besten Maler seiner Zeit, der in Rom, der in Neapel, der in Venedig, der in Florenz, der schließlich in mehreren anderen berühmten Städten bekanntlich vieles so hervorragend gemalt hat, daß es vollkommen berechtigt erscheint, ihn diesen alten hervorragenden Meistern seiner Kunst an die Seite zu stellen und sie miteinander zu vergleichen.

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(40} Über Praxiteles, Phidias und Polyklet, welche die besten und vorzüglichsten Bildhauer waren, denken wir genau das, was wir eben erst über die genannten Maler geäußert haben. Von ihnen hat der erste in einem knidischen Tempel eine Venus aus Marmor so schön gemeißelt, daß ihre Sicherheit und Ehre kaum vor den gierigen Blicken der Vorübergehenden bewahrt werden konnten. Irgendein anderer hat indessen in Syrakus eine Kuh aus Bronze so gegossen, daß sie einen Stier, der vorbeikam, dazu aufreizte, sie zu verlangen und zu bespringen. Auch von den beiden anderen gibt es noch sehr viele höchst bedeutende, erstaunliche Werke, die man in Rom sehen kann. Was sollen wir über Lorenzo (Ghiberti} sagen, den überragenden Bildhauer unserer Zeit, dessen wahrhaft hervorragenden und bewundernswerten Leistungen zumal auf den hochberühmten Toren unseres Heiligtums öffentlich gesehen werden können? (41} Um jedoch zu den erhabeneren und edleren Werken der freien Künste emporzusteigen: Was sollen wir von den Dichtern berichten, von Homer, von Hesiod, von Euripides, von Pacuvius, von Vergil, von Plautus, von Horaz, von Seneca und von den übrigen, die entweder in griechischer oder lateinischer Sprache schrieben? Haben sie doch ihre poetischen Werke unstreitig mit einer solchen Genialität geschaffen, daß sie sie, so meinen wir, nicht ohne eine gewisse Inspiration durch einen übermenschlichen Geist zur Vollendung und Vollkommenheit gebracht haben können. (42} Die berühmten Historiker, Redner und Rechtsgelehrten, etwa Thukydides und Polybios, Herodot und Diodor, Livius und Sallust, Curtius und Justin, Demosthenes und Aischines, Cicero und Hortensius, Scaevola und Paulus, und die übrigen hervorragenden Männer mit einer solchen Begabung wollen wir übergehen. Daß sie ihre außerordentliche Bildung und ihre breiten Kenntnisse auf vielen Gebieten nur durch eine einzigartige Begabung erwerben konnten, liegt auf der Hand. Auch die Philosophen, also Pythagoras, Platon, Aristoteles, Theophrast, Varro, Cicero, Seneca und Plinius, wollen wir beiseite lassen. Sie haben sich in der Philosophie zweifellos ausgezeichnet, und zwar in der Weise, daß sie über alle natürlichen Dinge erstaunliche

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Forschungen anstellten und ihre feinen und scharfsinnigen Überlegungen griechischen und lateinischen Schriften anvertrauten. Über Ärzte und medizinische Schriftsteller nun möchten wir gleichfalls schweigen; diese Kunst haben die Menschen freilich mit ihrer äußerst verfeinerten geistigen Gewandheit zu ihrem Nutzen wunderbar erdacht, damit sie ihre kranken und schwachen Körper durch Erfindungen und durch geeignete Medizinen gesund machen und heilen können. {43) Die Astrologen ferner, die die Bewegung und den Umlauf der Gestirne sowie den Auf- und Untergang der Sterne und Planeten mit großer Aufmerksamkeit am Himmel beobachten, gelangten zu einer so eingehenden Kenntnis dieser Dinge, daß sie die verschiedenen Sonnen- und Mondfinsternisse lange vorhersagen können und auch die künftigen guten und schlechten Erntejahre von Getreide, Öl und Wein vorher wissen. Aus ihrer Zahl sind viele bekannt, insbesondere Thales von Milet, der durch den Aufkauf großer Mengen von Oliven, für die er dank seiner astrologischen Kenntnisse eine Mißernte vorausgesehen hatte, von einem armen Mann zu einem reichen wurde; und von dem Syrakusaner Arehirnedes heißt es, daß er die verschiedenen Bahnen des Mondes, der Sonne und der fünf Wandelsterne in einer Kugel, die er mit unbegreiflicher Klugheit gebaut hatte, so angeordnet habe, daß eine einzige Umdrehung- es klingt unglaublich - alle ihre ganz unähnlichen Bewegungen gesteuert habe. Darüber äußerte Laktanz, der das Werk außerordentlich bewunderte, im zweiten Buch der Institutionen folgendes: »War nicht der Sizilianer Arehirnedes in der Lage, eine Nachbildung des Weltalls mit einer hohlen Bronzekugel zu schaffen, in der er Sonne und Mond so anordnete, daß er durch ihre Drehung ungleichartige, den Umläufen der Himmelskörper entsprechende Bewegungen gleichsam für einzelne Tage darstellen konnte, ja sogar nicht nur den Auf- und Untergang der Sonne und das Anwachsen und Abnehmen des Mondes, sondern selbst die ungleichen Läufe der Wandelsterne zu demonstrieren vermochte?c?2 (44) Wie viele und welch bedeutende Begabungen es unter unseren Theologen gegeben hat, werden wir leicht einsehen kön-

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nen, wenn wir uns entschließen, ihre zahlreichen Bücher mit aller Sorgfalt zu lesen und zu verstehen. In ihnen sind vor allem hervorragende Gedanken über die Erschaffung der Welt, über die Erzeugung der Engel, über die Vorsehung Gottes, über die Unterscheidung zwischen den göttlichen Personen und über die Fleischwerdung des Wortes und über die sonstigen verwandten Probleme enthalten. Dies sind freilich alles Mysterien, auch wenn wir glauben, daß sie seit Anbeginn der Welt den Propheten von Gott offenbart worden sind, durch deren Vermittlung sie ja später den erwähnten Theologen bekannt wurden. Gleichwohl sieht man, daß sie jene festen und sicheren Fundamente der Propheten mit einem so großen Können und mit einem so durchdringenden und so feinen Verstand bestätigt und abgesichert haben, daß sie diese dunklen, verborgenen, unsichtbaren, ja unbegreiflichen Dinge mit ihrer eigenen Geistesschärfe begriffen und gesehen haben müssen. Von wem man daher glaubt, daß er diese und die anderen Dinge dieser Art wahrgenommen habe, von dem kann man in der Tat behaupten, er habe gezeigt, daß sein Geist dem Geist dessen ähnlich ist, der diese Dinge im Himmel, auf der Erde, im Meer und im ganzen All geschaffen hat. (45) Um aber nicht noch mehr über den menschlichen Verstand zu sagen: Was sollen wir über das Gedächtnis berichten, der zweiten Gabe der Natur? Wie groß und wie wunderbar dessen Leistung ist, läßt sich schwer oder vielmehr überhaupt nicht knapp sagen, geschweige denn erklären. Wir fragen nicht danach, wie groß das Gedächtnis des Simonides war oder das des Theodoros oder das des Kyneas (der Pyrrhus vor dem Senat vertreten hat) oder das des Karneades oder das des Speusipp oder das des Metrodor oder das des Themistokles oder das des Kyros oder das des Mithridates (zweier äußerst mächtiger Könige) oder das des Lucullus oder das des Hortensius oder das des Seneca, oder das der anderen hervorragenden und gebildeten Männer war, von denen wir lesen, daß sie sich eben durch ihre Gedächtnisleistung ausgezeichnet haben. Von der allgemeinen Gedächtniskraft der Menschen sprechen wir, und am meisten von der jener Menschen, die, nachdem sie sich mit einigen be-

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deutenderen Materien und mit den Freien Künsten befaßt hatten, ihr edles Bemühen darauf gerichtet haben, hohe Dinge zu betrachten. Abzuschätzen, wie groß deren Geist gewesen ist, halten wir deswegen für schwierig und beinahe unmöglich, weil sie eine unendliche und gleichsam unzählbare Menge von Eindrücken, die Dinge und Worte hinterlassen haben, im Gedächtnis bewahren. (46) Die Gedächtniskraft ist also so groß, daß wir sie bei der gebotenen Kürze nicht mit der Ausführlichkeit beschreiben können, die ihrer Bedeutung entspricht. Doch ist uns immerhin überliefert, daß entweder der Dichter Simonides von Keos oder ein anderer hervorragender Mann eine Technik erfunden hat, die dem natürlichen Gedächtnis ein Höchstmaß an Klarheit verleihen konnte. In diesem so wunderbaren Schatz aller Dinge sollen neben den übrigen Teilen zwei Kräfte verborgen liegen, von denen sich wohl die eine auf die Gegenstände, die andere aber auf die Wörter bezieht. Sie stehen in einem solchen Verhältnis, daß einige Menschen, obgleich man durch dieses Vermögen zugleich Gegenstände und Wörter aufnimmt, in Bezug auf die eine Kraft sichtlich mehr können und leisten als in Hinblick auf die andere, wie wir es über Lucullus und Hortensius bei Cicero gelesen haben und noch genau wissen. Dies nämlich sind seine eigene Worte aus den »Academica«: »Es hatte ja Lucullus ein geradezu göttliches Gedächtnis für Gegenstände, für Wörter aber ein größeres Hortensius; doch in dem Maße, wie bei praktischen Tätigkeiten die Gegenstände von größerer Bedeutung sind als die Wörter, war jene Fähigkeit, sich an Gegenstände zu erinnern, vorzuziehen. Diese Fähigkeit soll bei Themistokles, den wir als den unstreitig ersten Mann Griechenlands ansehen können, einzigartig gewesen sein. Denn er soll jemandem, der sich erbot, ihm die Gedächtnistechnik, die damals gerade aufkam, beizubringen, geantwortet haben, er wolle lieber das Vergessen lernen, wahrscheinlich doch, weil ihm im Gedächtnis haften blieb, was immer er gehört oder gesehen hatte. Lucullus, der eine solche Begabung besaß, verband sie sogar mit jener Kunst, die Themistokles abgelehnt hatte; wie wir daher das, was wir dauerhaft bewahren wollen, schriftlich niederlegen,

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so waren die Dinge bei Lucullus in seinen Geist eingemeißelt.«73 usw. (47) Außer den zwei obenerwähnten einzigartigen und vorzüglichen Gaben, deren eine uns befähigt, jedes einzelne zu erkennen, und deren andere uns erlaubt, alles das, was wir erkannt haben, im Gedächtnis zu bewahren, ist uns bekanntlich, sei es von Gott, sei es von der Natur noch die Herrschaft über den freien Willen verliehen worden, und das nicht ohne S,Uten Grund. Denn durch eine solche Fähigkeit können wir ja Ubles vermeiden und fliehen, Gutes aber anstreben und wählen. Diese Entscheidungsmöglichkeit haben die Theologen die »Willensfreiheit« genannt. Darüber nun, wie diese vor und nach dem Sündenfall des ersten Menschen war und in welcher Form sie bei den Nachkommen bewahrt blieb, würden wir jetzt sehr viel vortragen, was die Kirchenväter kunstvoll ausgeführt haben, wenn wir glaubten, daß es am Ende dieses Buches noch genügend Raum für eine solche Darlegung gäbe. (48) Da wir aber bis zu dieser Stelle schon geraume Zeit, soweit wir es in kürzerer und doch genauerer Form vermochten, über die Definition der Seele und über ihre Unsterblichkeit sowie über ihre drei natürlichen Vermögen Erörterungen angestellt haben, halten wir es für viel besser, uns anzuschicken, mit der Hilfe und der Gunst Gottes über den Menschen als Ganzen zu handeln, weil wir uns bewußt sind, daß wir über seine beiden hauptsächlichen Teile, aus denen er zusammengesetzt ist, entsprechend unseren Möglichkeiten genug gesagt haben.

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(1) Wir haben erkannt, daß Körper und Seele die einzigen Bestandteile des Menschen sind, und haben gesehen, daß es einige spezifische, besondere Eigenschaften des Körpers sowie außerordentliche, bewundernswerte Qualitäten der Seele gibt, daß manches aber beiden Teilen in ihrer Verbindung gemein ist. Da wir nun nicht vergessen haben, daß wir bisher im ersten Buch einiges über die hervorragenden Gaben des menschlichen Körpers und im zweiten einiges über die vortrefflichen Anlagen und Vorzüge der vernünftigen Seele gesagt haben, werden wir von hier an, im dritten Buch, uns etwas über den Menschen als Ganzen äußern, soweit es die Zeit betrifft, in der er in diesem sterblichen Leben weilt. Daß dieser vom unsterblichen Gott wunderbar geschaffen wurde, können wir nicht begründet anzweifeln, da wir ja im Vorangegangenen bewiesen haben, daß jene Teile, aus denen, wie wir wissen, der Mensch selbst gebaut und zusammengesetzt ist, göttlich gemacht und geschaffen sind. (2) Wenn aber vielleicht irgendein ungebildeter Mensch, der die Sachlage nicht kennt, eben daran Zweifel hegt, dann würde in der Tat jeder Zweifel und jedes Bedenken aus ihm weichen, wenn er auch nur ein wenig bedenkt, daß diese zwei Naturen, also die körperliche und die geistige, die so verschieden und so ungleichartig, ja, einander entgegengesetzt sind, auf eine solch wunderbare und wahrhaftig übermenschliche Weise sich miteinander zu einem einzigen Wesen verbunden haben. Wir wissen mit völliger Gewißheit, daß dies in keiner anderen Weise als durch das Wirken des allmächtigen Gottes geschehen konnte, zumal diese beiden Naturen offensichtlich den stärksten Gegensatz bilden und einander widerstreben. Das ist aufgrund dessen, was wir in den vorhergehenden Büchern breit und ausführlich entwickelt haben, so sicher und klar, daß es wohl keiner weiteren Begründung und keiner Autorität bedarf, um

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bewiesen und bestätigt zu werden. Andererseits handelt es sich hier um eine bedeutende und schwierige Sache, auf der unsere ganze Erörterung ruht und aus welcher der ganze übrige Strom unserer Rede entspringen und hervorfließen wird; daher wollen wir etwas weiter ausholen und mit dem Ursprung beginnen. {3) Aber zunächst werden wir kurz zeigen, was der Mensch sei. »Jede Belehrung über irgendeine Sache, die man unternimmt, muß nämlich« einer alten berühmten Sentenz zufolge »Von einer Definition ihren Ausgang nehmen, damit man begreift, was das sei, worüber gehandelt wird.« 74 Daß der Mensch ein gemeinschaftsbewgenes Lebewesen sei, das Vernunft und Verstand besitzt, ist bekanntlich eine Definition der einäugigen und halbblinden Philosophen, die sich auf Irrwegen befinden. Als wir nun, denen das tiefverborgene Licht der Wahrheit - sichtbar gemacht durch die göttlichen Verse der Heiligen Schrift - deutlich erschienen ist, wieder und wieder über eben diese wie auch immer geartete Definition aus dem Mund von Heiden und Nichtchristen nachdachten, kamen wir zu der Auffassung, daß sie nicht in jeder Beziehung vollendet ist. Denn wir erkannten, daß sie einen Geist besaßen, der verbunden war mit dem zerbrechlichen und dunklen Gehäuse ihrer eigenen Körper und der allein nur von ihrem natürlichen Licht erleuchtet wurde, und sahen daher ein, daß sie durch ihre nur menschlichen Erörterungen das wirklich tiefe Dunkel um diese bedeutenden Dinge nicht völlig und zur Gänze lichten konnten. Deswegen werden wir, gestützt und gestärkt von einem übernatürlichen und göttlichen Glanz, es wagen die Definition in dieser Weise zu korrigieren und zu verbessern: Der Mensch ist ein Lebewesen mit den übrigen obengenannten zusätzlichen Bestimmungen, welches teils sterblich ist, nämlich solange es in diesem irdischen Leben steht, teils aber nicht sterblich, wenn es nämlich von den Toten auferstanden ist. Aber nachdem wir an mehreren Stellen gleichsam beiläufig gewisse Irrtümer alter Philosophen erwähnt haben, wollen wir diese Richtung ein wenig verfolgen, soweit es sich unserer Meinung nach auf das hier behandelte Thema bezieht und dazu gehört.

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{4) Viele glauben, daß die Welt zufällig entstanden sei, wie Leukipp, Demokrit, Dikaiarch und Epikur; viele andere aber, wie die Peripatetiker, meinen, daß sie immer bestanden habe; die Stoiker jedoch sagen, daß die Welt vom allmächtigen Gott geschaffen und gebildet worden sei. Diejenigen, die behaupten, daß sie zufällig entstanden sei, erklären mit Bestimmtheit, daß keine göttliche Vorsehung sie lenke und steuere. Obgleich es nun nach der Lehre der Peripatetiker die Welt immer gegeben hat, waren sie gleichwohl wie auch die Stoiker der Meinung, daß sie von einer göttlichen Vorsehung gelenkt und gesteuert werde. Damit aber nicht etwa irgendeine der erwähnten philosophischen Schulen, oder, um es deutlicher und klarer zu sagen, Sekten von menschlichen Irrtümern frei sei, haben die Stoiker, die freilich in den übrigen Dingen ernster zu nehmen sind, gerade über die Materie der Seele, wie wir feststellen, so verworrene Reden geführt, daß sie anscheinend Gott, den sie als den Schöpfer der Welt ansahen, mit seinem Werk vermischt haben, was wohl die Grundlage für die Entstehung der folgenden Verse Vergils war: »Der Geist, der durch die Glieder geströmt ist, bewegt die ganze Masse und vermischt sich mit dem großen Körper.•? 5 Die Akademiker übergehen wir völlig, weil sie aufgrund ihrer Überzeugung, daß man nichts wissen könne, an allem zweifeln; von den Epikureern, die die göttliche Vorsehung gänzlich aufheben, von den Peripatetikern, die die Erschaffung der Welt bestreiten, und von den Stoikern, die Gott mit seinem Werk vermischen, steht somit fest, daß sie sich geirrt haben. {5) Wir nun sind zwar kleine Menschen und unwissend, zumal wenn wir uns mit so bedeutenden und so großen Philosophen vergleichen, doch können wir, die wir durch die Heilige Schrift überirdisch belehrt und von einem göttlichen Glanz erleuchtet sind, es unternehmen, uns gegen die trügerische Weisheit heidnischer und paganer Männer auszusprechen, und zögern nicht, mit Nachdruck zu erklären, daß die Welt vom allmächtigen Gott aus dem Nichts geschaffen und um des Menschen willen eingerichtet worden ist. Daß nämlich die Auffassung, Gott habe ohne Sinn und Zweck so große und so

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bewundernswürdige Werke hervorgebracht, völlig abwegig ist und weitab von der Wahrheit liegt, wird niemand leugnen. Ebensowenig ist die Welt um ihrer selbst willen geschaffen worden, denn sie ist offensichtlich nicht darauf angewiesen, die Dinge der Welt zu verwenden, da sie keine Sinne hat. Und man kann auch nicht behaupten, daß Gott die Welt für sich selbst hervorgebracht habe, denn er konnte und kann sie entbehren, wie es ja eindeutig vor ihrer Erschaffung der Fall war. Es bleibt also nur, daß die Welt um der Lebewesen willen gemacht worden ist. Denn wir sehen, daß diese Lebewesen eben ihre Bestandteile verwenden, weil sie in der Lage sind, durch die Verwendung dieser Dinge sich selbst zu erhalten und auf diese Weise zu leben und zu existieren. Wenn nun erwiesen würde, daß die übrigen Lebewesen ausschließlich um des Menschen willen geschaffen worden sind, so könnte man daraus schließen, daß die Welt allein nur um des Menschen willen von Gott geschaffen und eingerichtet worden ist, weil wir dann ja sagen, daß die Welt wegen der Lebewesen und die Lebewesen wegen des Menschen gemacht worden sind. Und daß eben dies sicher ist, geht daraus hervor, daß alles, was immer geschaffen sein mag, nur dem Menschen unterworfen ist und ihm in wunderbarer Weise dient. Dies sehen wir, wie man sagt, klarer als das Mittagslicht. Wenn das nun bewiesen ist und ehrlich zugestanden wird, ist es offenkundig, daß der Mensch, um dessentwillen, wie wir damit bekennen, die Welt geschaffen wurde, von Gott gemacht ist. (6} Als nichtig und wertlos haben sich daher die Ansichten all der Dichter über die Erschaffung des Menschen erwiesen. Denn die Dichter dachten sich aus, daß der Mensch von Prometheus, dem Sohn des Iapetos, aus Lehm gemacht worden sei. Aber es wäre unmöglich gewesen, daß ein Mensch einen wirklichen, lebendigen Menschen machte, wo dieser doch von Prometheus auf dieselbe Art und Weise hätte geboren werden können wie Prometheus von Iapetos. Wer nun, wenn er wirklich ein Mensch war, einen Menschen zu zeugen vermochte, hätte ihn in der Tat nicht schaffen können. Weil man aber im allgemeinen glaubt, daß die Dichter gewöhnlich nicht reine Lügen erzählen, sondern ihre Gedanken in eine rätselhafte Sym-

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bolik hüllen und sie dadurch dunkel machen, meinten Laktanz und Augustin, die sich eng an diese im Volk verbreitete Ansicht anschlossen, daß die Dichter bei jener Geschichte nicht in jeder Beziehung gelogen hätten, sondern sie lehrten, daß Prometheus als erster von allen das Abbild eines Menschen aus weichem, fetten Ton geformt habe und daß ursprünglich von ihm die Kunst, Bildwerke und Statuen zu fertigen, ihren Ausgang genommen habe. Sie schreiben nämlich, daß er im Zeitalter Juppiters gelebt habe, in dem der Tempelbau begann und neue Götterkulte entstanden/6 {7) So ist die Erschaffung des Menschen das eigene Werk von Gott allein, denn er selbst, der Schöpfer aller Dinge, hat, nachdem er vorher das übrige geschaffen hatte, den Menschen gemacht und geschaffen. Dies hat Cicero offenbar, obgleich er die himmlischen Schriften nicht kannte, trotzdem mit aller Deutlichkeit wahrgenommen, denn im ersten Buch »Über die Gesetze« stehen, wie wir sehen, folgende Worte geschrieben: »Daß dieses vorausschauende, hellsichtige, vielseitige, scharfsinnige, von vernünftiger Überlegung erfüllte Lebewesen, das wir »Mensch« nennen und das unter ausgezeichneten Bedingungen auf die Welt gekommen ist, allein vom höchsten Gott herstammt, wissen wir. Unter den so zahlreichen Arten und Gattungen von Lebewesen hat nur dieses an der vernünftigen Überlegung teil, während alle anderen sie nicht kennen.« 77 Dies haben die Theologen, die alten und die neuen, um es so zu formulieren, viel klarer und deutlicher offenbart, denn sie haben gelehrt, daß Gott, nachdem er den Bau der Welt zur Vollendung geführt hatte, befohlen habe, daß große und kleine, verschiedenartige Lebewesen von unterschiedlicher Gestalt entstehen sollten. Daher entstanden jeweils zwei Wesen, also von beiden Geschlechtern je eines, deren vielfältige Nachkommenschaft die Luft, die Erde und die Meere erfüllte; und Gott gab ihnen allen entsprechend ihrer Art Nahrung von der Erde, damit sie den Menschen nützen konnten, die einen nämlich zur Speise, andere aber zur Kleidung, diejenigen aber, die große Kräfte besaßen, stellte er dem Menschen deswegen zur Verfügung, damit sie ihm bei der Bebauung der Erde helfen (»iuvare«) konnten, weswegen sie Zug-

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tiere (»iumenta«) heißen. Nachdem er nun alle Dinge dank einer wunderbaren Einteilung geordnet hatte, beschloß er, sich ein ewiges Reich zu schaffen. Dafür wollte er eine fast unzählbare Menge von Seelen erschaffen, denen er Unsterblichkeit schenkte. Da brachte er ein Ebenbild seiner selbst hervor, das Sinne und Verstand besaß, das heißt: Er schuf es nach seinem eigenen Bilde, welches das Höchstmaß der Vollendung darstellte. Dieses Ebenbild, den Menschen machte er aus dem Lehm vom Boden, woher der Mensch (»homO«) seinen Namen erhielt, weil er nämlich aus Erde (»humus«) geschaffen ist. Und das bezeugen alle Verse der Propheten, der Evangelisten und der Apostel und jeder einzelne Ausspruch der Kirchenväter mit größter Klarheit. Um nicht zu ausführlich zu werden, hielten wir es für besser, diese Äußerungen mit völligem Schweigen zu übergehen als sie in einer ausführlichen Rede darzulegen, zumal diese Dinge so beschaffen sind, daß wir an ihnen nicht einmal den geringsten Zweifel hegen können. (8) Jene weisen Männer der alten Zeit nun, Griechen wie auch Lateiner, pflegten ein Gemälde oder eine Skulptur deswegen besonders zu loben und zu empfehlen, weil sie glaubten, es sei ein Werk von Zeuxis, von Apelles, von Euphranor, von Fabius, also von einem überragenden Maler, oder eines von Phidias, von Praxiteles, von Polyklet, von Parrhasius, also von einem der besten Bildhauer jener Zeiten. Was müssen wir dann bei der Erschaffung des Menschen, der mit Gewißheit ein Werk des allmächtigen Gottes ist, sagen, wo wir doch mit völliger Berechtigung Gott als den wahren und alleinigen Begründer des Menschengeschlechtes rühmen? Auch wenn nämlich jene Männer die höchsten Meister ihrer Künste gewesen sein dürften, so waren sie doch Menschen, die leicht ausgleiten und vom Wege abkommen konnten, was wir zu Recht bei diesem unseren Kunstwerk überhaupt nicht zu argwöhnen oder zu befürchten brauchen, weil wir wissen, daß es von dem besten und höchsten Gott, der sein Schöpfer ist, stammt und herrührt: Er konnte nicht fehlgehen oder sich täuschen. (9) Aber vielleicht wird jemand einwenden, daß man bei den Alten eine Statue oder ein Gemälde nicht so sehr deswegen ge-

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lobt und empfohlen habe, weil seine Schöpfer hervorragende Bildhauer oder Maler waren, sondern eher deshalb, weil man sah, daß die Werke mit großer Kunst und mit Geschmack gestaltet und auch durch schöne Linien verziert waren. Wenn wir nun einriiumen würden, daß es tatsächlich von alters her vorkam, daß die angemessene Gestaltung der Glieder bei einem jeden Kunstwerk zum Ruf der Schönheit wesentlich beitrug (auch wenn gleichwohl das überragende Können der Meister den Ruhm eines jeden Kunstwerksam meisten förderte)- was werden wir dann in Hinblick auf die Erschaffung des Menschen antworten? Können wir nicht sowohl aufgrund der Körperteile, die außen am Körper sichtbar sind, als auch und noch mehr aufgrund dessen, was im ionersten wertvollen Schatz der menschlichen Seele eingeschlossen sein muß, behaupten, daß die Erschaffung des Menschen ein herrliches, wunderbares, göttliches Werk ist? Damit aber nicht der Eindruck entsteht, wir würden verlockt und hingerissen vom unermeßlichen, ja übergroßen Ruhmeswerk des menschlichen Wesens, allzu weit vom Thema abschweifen, wollen wir jetzt kurz zu unserem Ausgangspunkt zurückkehren. (10) Da wir nun im Vorhergehenden bewiesen haben, daß der Mensch vom allmächtigen Gott gemacht worden ist, bleibt noch, daß wir zunächst ein wenig ausführlicher zeigen, wie ihn jener höchste Meister gemacht hat; dann werden wir kurz darlegen, welche Aufgabe er ihm, den er so wunderbar geschaffen hat, zur Pflicht gemacht hat und wie es sich mit ihr verhält; schließlich werden wir dann erklären, warum er ihn so geschaffen hat. Wenn wir das entsprechend unseren Möglichkeiten nüchtern und dürr abgehandelt haben, werden wir versuchen, außerdem noch einige weitere ruhmvolle und vorzügliche Eigenschaften des menschlichen Wesens hinzuzunehmen und zusätzlich zu erörtern. (11) Erstens nun hat Gott offenbar seiner so würdigen und so hervorragenden Schöpfung einen solchen Wert beigemessen, daß er dem Menschen strahlen~ Schönheit, reichste Begabung, höchste Weisheit, äußersten Reichtum und schließlich größte Macht verlieh. Denn die Schönheit des Menschen ist, wie wir

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im ersten Buch mit größter Ausführlichkeit dargelegt haben, herrlich und erhaben. Daher wollten sehr viele sowohl der heidnischen als auch der christlichen Autoren, daß man in den Tempeln und Heiligtümern den unsterblichen Göttern auf Gemälden und bei Skulpturen keine andere Gestalt verleihe als die menschliche, da sie viel herrlicher und erhabener sei als alle übrigen. Sie meinten also, daß das Aussehen der Götter menschlich oder besser daß das unsere göttlich sein müsse, wie Cicero im ersten Buch seines Werkes »Über das Wesen der Götter« in aller Deutlichkeit erklärt. Er sagt folgendes: »Diese Auffassung bestärkten die Dichter, Maler und Bildhauer; es wäre aber nicht leicht gewesen, den Eindruck von handelnden und tätigen Göttern bei der Nachbildung anderer Gestalten zu bewahren.c 78 Denn solche nichtigen gemalte oder gehauene Bilder (»simulacrum«} der Götter haben ihren Namen von der Ähnlichkeit (»similitudo«) erhalten, aber das alleinige, wahrhaftige Bild Gottes ist der Mensch, in dem ja manche gebildete und zugleich fromme Denker den Widerschein der Ähnlichkeit mit Gott erkennen: »Welche Anordnung der Glieder, welche Linienziehung, welche Gestalt, welche Erscheinung« - um von äußerlichen, sichtbaren Dingen zu sprechen - »kann denn schöner sein als die menschliche?c 79 Wenn nämlich die Welt (»mundus«} selbst so herrlich und schön ist, daß man sie sich nicht schöner vorstellen kann, wenn sie denn wirklich von Schmuck und Zierde (»munditiae«} ihren Namen erhalten hat, welche Schönheit und welche Wohlgestaltetheit müssen wir dann dem zuschreiben, von dem wir wissen, daß die Schönheit der Welt um seinetwillen geschaffen worden ist? (12} Die Länder aber, die Meere, den mit Sternen und Gestirnen geschmückten Himmel, die wechselnden Formen des Mondund Sonnenlichtes, den Auf- und den Untergangall dieser Himmelskörper und ihre in aller Ewigkeit gültigen, unveränderlichen Bahnen, das alles wollen wir uns vor unsere Augen stellen, um es eingehend zu betrachten, damit etwas klarer hervortritt, wie geartet und wie groß diese Pracht des ganzen Alls ist. Deshalb wollen wir den verschiedenartigen Schmuck der genannten Dinge etwas betrachten und uns umschauen nach

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»den ewig sprudelnden kühlen Quellen, nach dem klaren Wasser der Flüsse, nach dem tiefgrünen Kleid der Ufer«, die verschiedene Farben haben und sozusagen mit unterschiedlichen Grüntönen geziert sind, dann »nach den tiefen Höhlungen der Grotten, nach den schroffen Felsen, nach den Höhen der überhängenden Berge, nach der unermeßlichen Weite der Ebene. Was für Arten von Tieren und wie verschiedene es gibt, seien es zahme oder wilde, welchen Flug und welchen Gesang der Vögel, welche Weiden und welch ein Leben der Waldtiere! Was sollen wir schließlich noch von der Menschheit sagen, die, weil sie gleichsam als der Pfleger der Erde eingesetzt ist, es nicht zuläßt, daß das Land durch die Rohheit der Tiere verwüstet wird oder wegen der zerstörerischen Kraft von Gestrüpp brach liegt, und durch dessen Arbeit Äcker, Inseln und Strände in ihrem Schmuck von Ländern und Städten erstrahlen? Wenn wir dies alles wie in unserem Geist so durch die Augen mit einem Blick sehen und wahrnehmen könnten«, 80 was für ein, welch wunderbares Schauspiel böte sich uns, die wir dies sähen und erblickten! Wir könnten es weder durch Worte genugsam beschreiben noch uns in unserem Innern wirklich vorstellen. (13) Wenn nämlich schon in den alten Zeiten die vorzüglichsten Männer glaubten, daß sie etwas Bedeutendes erreicht hätten, wenn sie den Zugang zum Schwarzen Meer gesehen hatten und die Meerenge, durch welche die Argo, das berühmte erste Schiff, hindurchgedrungen war, oder wenn sie den Kanal zum Ozean dort erblickt hatten, wo eine reißende Welle Europa und Afrika trennt und die beiden Erdteile auseinanderschneidet was für ein großes und schönes Schauspiel müßte sich dann ergeben, wenn wir die ganze Erde, ihre Lage, ihre Gestalt, ihren U mriß, ihre Schönheit auf einmal anschauen dürften! Da wir aber mit unserem physischen Sehvermögen nicht dies alles in einem Punkt vereint wahrnehmen und erblicken können, wollen wir wenigstens jedes einzelne Teil, das gewichtiger und bedeutender ist, etwas breiter beschreiben und ein wenig ausgiebiger rühmen, damit wir, wenn wir sie schon nicht erblicken können, wenigstens durch unsere Rühmen viel besser in den

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Stand gesetzt werden, eben diese so schönen und so herrlichen und so wunderbaren Dinge in unserem Inneren uns vorzustellen und zu betrachten. (14) Wie groß aber ist nun die Herrlichkeit des Ozeans und wie unfaßbar groß der Umfang dieses Meers, das offenbar den ganzen Erdkreis umgibt und umschließt; wie groß ist dann die Schönheit und der Reiz unseres Mittelmeeres hier, das aus dem Ozean wie aus einer richtigen Quelle hervorströmt und zahlreiche Länder und Gebiete bespült; welche Pracht besitzt es zudem, welche Größe, welche Wassermassen, welche Mannigfaltigkeit zeigt sich allenthalben, welche Lieblichkeit an den Küsten und Stränden, welcher Reichtum an verschiedenen Tierarten, die zum Teil unter seiner Oberfläche leben, und zum Teil auf ihr treiben und schwimmen. (15) Wie reich ist auch der Schmuck des Himmels! Die Sonne nämlich, die uns so klein vorkommt, daß sie Größe eines menschlichen Kopfes höchstens um ein Geringes zu überschreiten scheint, ist um ein Vielfaches größer als die ganze Erde, um die sie sich in einer dauerhaften, ununterbrochenen Bewegung dreht; sie verursacht durch ihren Auf- und ihren Untergang den Wechsel von Tag und Nacht, sie bewirkt, indem sie sich bald nähert und bald wieder zurückzieht, in jedem Jahr zwei vollkommen gegensätzliche Wendungen, durch deren Wechsel sie einmal die Erde wie in Trauer erstarren läßt, und dann wiederum für fröhliches Gedeihen sorgt, so daß der Eindruck entsteht, die Erde sei zusammen mit dem Himmel heiter geworden. Der Mond, der kleiner ist als unsere Erde, wandert in denselben Räumen wie die Sonne. Die übrigen Himmelskörper, die wir, da sie ständig ihre unregelmäßigen Bahnen ziehen, mit einem griechischen Wort als Planeten (»Wandelsterne«) bezeichnen, wandern um die Erde und gehen mit derselben Bewegung auf und unter, wobei die Bewegungen bald beschleunigt, bald verlangsamt und oft sogar unterbrochen werden. Es folgt die riesige Menge der Fixsterne, deren Schmuck in der Tat von einer solchen Natur und Größe ist, daß man nichts Schöneres, nichts Herrlicheres und nichts Großartigeres hätte machen, erfinden, ja auch nur erdenken können als dieses Schauspiel.

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(16) Dies hat der allmächtige Gott offenbar nicht nur zu dem Zweck gemacht, daß die Pracht dieses Universums stärker und deutlicher hervortrete, sondern auch, damit nicht, wenn die Sonne sich zum Untergang neigt, die dunkle, lichtlose Nacht durch ihre beängstigende und schreckliche Finsternis auf den Lebewesen laste und ihnen Eintrag tue oder dem Menschen schade, um dessentwillen Gott ja alles Lebendige eingerichtet und geordnet hatte. So mäßigte er diese Dunkelheit der Nacht durch die so große und so unglaubliche Zahl der kleinen Sterne mit ihren vielen kleinen Lichtern. (17) Fastall dieserfaßt und umgreift, so scheint uns, Cicero im ersten Buch der Tusculanen mit den folgenden Worten81 : ,.zuerst sehen wir den strahlenden Anblick des Himmels, dann die unvorstellbar große Schnelligkeit des Umlaufs, darauf den Wechsel von Tag und Nacht und den Wandel der vier Jahreszeiten, der dazu dient, die Früchte reifen zu lassen und den Körper durch die Veränderung gesund zu halten, und dann die Lenkerio und Herrin der Jahreszeiten, die Sonne, und den Mond, der durch die Zu- und Abnahme seines Lichtes gleichsam die Tage des Kalenders kennzeichnet und bestimmt, dann die fünf Sterne, die auf einem einzigen, in zwölf Abschnitte geteilten Kreis entlangziehen und bei ihren untereinander ganz verschiedenen Bewegungen ohne die geringste Abweichung dieselbe Bahn einhalten, wir erblicken die Schönheit des Himmels in der Nacht, wenn er überall mit Sternen geschmückt ist, dann die aus dem Meere ragende, in der Mitte des Alls ruhende Erdkugel, die man auf zwei gegenüberliegenden Seiten bewohnen und bebauen kann. Von diesen liegt die eine, die wir bewohnen, •Unter dem Pol bei dem Siebengestirn, dort, von woher der Nordwind mit seinem schrecklichen Pfeifen die kalten Schneemassen heranträgtantichthon< (•GegenerdeDer Himmel hellen Glanz annimmt, die Bäume Laub tragen, die frohmachenden Weinreben ihre Blät-

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ter sprießen lassen, die Zweige sich unter der reichen Fülle der Beeren krümmen, die Saaten Früchte spenden, alles blüht, die Quellen hervorsprudeln, die Wiesen sich in ein Pflanzenkleid hüllen.< 83 Dann sehen wir die Menge des Viehs, das teils der Ernährung dient, teils dem Ackerbau, teils zum Transport, teils schließlich zur Bekleidung der Körper, und den Menschen selbst, der gleichsam ein Betrachter und Verehrer des Himmels und der Götter ist, undalldie Äcker und die Meere, die dem Nutzen des Menschen dienen.« {18) Wenn man nun- um nicht etwa bei so klaren und so offensichtlichen Dingen zu weitschweifig zu werden - allgemein glaubt, daß der Schmuck dieser Welt so kostbar und so groß ist, welche Schönheit, welche Herrlichkeit, welche Pracht müssen wir dann dem Menschen zuschreiben, um dessentwillen allein, wie wir zweifelsfrei wissen, die Welt so wunderschön und so plichtig gemacht worden ist. Es nimmt daher nicht wunder, wenn in alter und neuer Zeit die Begründer anspruchsvoller Künste, eben in der Meinung, daß die göttliche Natur alle Dinge, die unbeseelten, aber auch die beseelten, übertreffe und überrage und daß keine Gestalt schöner sei als die des Menschen, offensichtlich übereinstimmend meinten, daß Götter in der Gestalt von Menschen gemalt und gemeißelt werden müßten. (19) Wie schön und wie prächtig aber das Aussehen des Menschen ist, können wir namentlich daran erkennen, daß jeder lieber sterben wollte, als in ein Tier verwandelt zu werden, selbst wenn er, falls dies möglich wäre, seinen menschlichen Geist behalten könnte, wie es von einem gewissen Apuleius aus Madaura erzählt wird, der, ohne seinen menschlichen Geist zu verlieren, in einen Esel verwandelt worden sein soll. Nachdem er aber auf wunderbare Weise seine frühere, wirklich menschliche Gestalt wiedergewonnen hatte, schrieb er über all das, was ihm in dieser Zeit zugestoßen war, ein Buch mit dem Titel »Der Goldene Esel«. Und fürwahr: Die so beschaffene, also wunderschöne und herrliche Gestalt dieses eher göttlichen als menschlichen Lebewesens mußte so werden und sein, wie sie wirklich geworden ist, damit sie zu Recht ein geeignetes und angemessenes Haus für den eher göttlichen als menschlichen Geist wer-

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den konnte, so, wie wir es im ersten Buch dieses Werkes viel breiter und ausführlicher entwickelt haben. Aber damit sei jetzt der Teil über die Schönheit der Gestalt abgeschlossen. (20) Was sollen wir aber über den feinen und scharfsinnigen Verstand dieses so schönen und wohlgestalteten Menschen sagen? Denn er ist wirklich so groß und so reich, daß nach der Erschaffung jener ursprünglichen, neuen, rohen Welt offenbar alles weitere von uns aufgrund des einzigartigen, überragenden Scharfsinns des menschlichen Verstandes hinzuerfunden und zur Vollendung und Vollkommenheit geführt worden ist. Folgendes ist nämlich unser, also Menschenwerk, weil es offensichtlich von Menschen hervorgebracht worden ist: Alle Häuser, alle großen und kleinen Städte, überhaupt alle Gebäude des Erdkreises, die ja in so großer Zahl und Qualität vorhanden sind, daß man wegen ihrer ungeheuren Pracht mit Recht zu dem Urteil gelangen müßte, sie seien eher das Werk von Engeln als das von Menschen. Unser sind die Bilder, unser die Skulpturen, unser sind die Künste, unser die Wissenschaften, unser ist (mögen es nun die Akademiker wollen oder nicht, laut denen man überhaupt nichts wissen kann, wobei sozusagen allein das NichtWissen ausgenommen wird) die Weisheit; unser sind schließlich sämtliche Erfindungen, um uns nicht zu lange bei den einzelnen aufzuhalten, die es in einer fast unzähligen Menge gibt, unser sind alle Formen der verschiedenen Sprachen und Schriften, deren unerläßlichen Nutzen zu bewundern und zu bestaunen wir umso mehr genötigt werden, je intensiver wir darüber nachdenken. Weil nämlich die ersten Menschen und ihre Nachkommen in alter Zeit bemerkten, daß sie durch sich allein, ohne gewisse wechselseitige Hilfeleistungen füreinander gar nicht überleben konnten, erfanden sie die feine und scharfsinnige Kunst des Sprechens, um mittels ihrer Zunge durch Wörter jedem Zuhörer all das mitzuteilen, was unsichtbar blieb und was sie im Innersten ihres Geistes dachten. Als sich dann, wie es geschieht, wenn die Zeit vergeht, das Menschengeschlecht in wunderbarer Weise vervielfachte und verschiedene Gebiete und Länder des Erdkreises bewohnte, wurde es notwendig, die Schriftzeichen zu erfinden, dank deren wir abwesende Freun-

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de über unsere Gedanken in Kenntnis setzen können. Daraus sind offenkundig die so verschiedenen Sprachen und Schriftarten hervorgegangen. Unser sind schließlich alle Maschinen, die der erstaunliche, ja fast unglaubliche Scharfsinn des menschlichen oder eher göttlichen Vestandes mit einzigartiger Tatkraft und überragendem Erfindungsreichtum ins Werk zu setzen und zu bauen begann. (21) Diese Dinge freilich und die übrigen dieser Art sind in so großer Zahl und Qualität überall sichtbar, daß es offenkundig wird, daß am Anfang Gott die Welt und all ihren Schmuck zum Nutzen des Menschen erfunden und eingerichtet, daß die Menschen aber sie dann voll Dank angenommen und viel schöner und viel prächtiger und weitaus feiner gemacht haben. Deswegen geschah es, daß die ersten Erfinder aller Künste von den alten Völkern wie Götter verehrt wurden. ,.In Bezug auf sie wird freilich«, wie Augustin im siebten Buch seines Gottesstaates sagt, »eine glaubwürdigere Erklärung angeboten, wenn es heißt, sie seien Menschen gewesen: Für jeden von ihnen begründeten dann die, die sie in schmeichlerischer Weise als Götter betrachten wollten, religiöse Riten, die jeweils ihrem Charakter, ihren Verhaltensweisen, ihren Taten und ihrem Schicksal entsprachen.« 84 (22) Was sollen wir noch zusätzlich über die menschliche Weisheit sagen, wenn man glaubt, daß eben die Tätigkeit des Ordnens in den Bereich der bedeutenden, ausschließlichen Pflichten allein der Weisheit gehört und fällt? Wir können nämlich nicht den geringsten berechtigten Zweifel daran haben, daß ein Weiser (»sapiens«) der sei, als dessen spezifische Aufgabe wir das Wissen (»sapere«) bezeichnen, dies aber beruht offenkundig auf nichts anderem stärker als darauf, beim Handeln eine bestimmte Ordnung zu beachten. Um aber etwas verständlicher zu sprechen: Man meint, daß es die spezifische Aufgabe des Weisen sei, daß er alles, was gemacht sei, mit seiner einzigartigen Weisheit einteile, ordne und steuere. Daß aber die Dinge, die wir in der Welt sehen, zum überwiegenden Teil vom Menschen geordnet und eingeteilt worden sind, wird niemand leugnen; die Menschen nämlich haben, da sie Herren über alles sind und die Erde bestellen·, diese mit ihren ganz verschiedenen Leistungen auf

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wunderbare Weise bestellt und Äcker und Inseln sowie Strände mit Ländern und mit Städten geschmückt. Wenn wir dies wie in unserem Geist so mit den Augen sehen und wahrnehmen könnten, würde niemand, der, wie wir es oben formuliert haben, alles mit einem Blick sieht, jemals davon ablassen, es zu bewundern und zu bestaunen. {23) Doch wir wollen, wie es nicht nur Redner, sondern auch Dialektiker zu tun pflegen, gelegentlich unsere Argumente zusammenfassen, um die Gründe deutlich hervortreten zu lassen: Die Weisheit selbst, über die wir jetzt sprechen, fällt allein den Menschen zu, mag man auch Schlauheit und Gerissenheit bei den stummen Tieren ebenfalls finden, wenn sie anderen auflauern und sie mit List fangen, um sie zu verschlingen, oder wenn sie der Falle der anderen durch irgendeine Form der Täuschung entkommen. ,.Die Weisheit besteht nämlich«, wie Aristoteles sagt, ,.darin, die Dinge zu kennen und zu verstehen, die von Natur aus am wertvollsten sind«, 85 oder sie ist, wie Laktanz meint, das Verständnis für gute und richtige Taten bzw. die Ablehnung von schlechten Worten und Taten,86 oder die wahre Weisheit ist, wie wir es etwas klarer formulieren wollen, in der Tat nichts anderes als die völlig sichere Kenntnis des einzigen und wahren Gottes. Alle Weisheit des Menschen nämlich hat wohl ihre Grundlage und ihr Fundament darin, daß man Gott vor allem anderen anerkennt und verehrt. (24) Außerdem vermag ich überhaupt nicht zu erkennen, wem anders die übrigen Werke der geistigen und sittlichen Kräfte zugehören und eigen sein können als dem weisen Menschen. Weil er sah, daß die beiden Triebe, also der Zorn und die Begierde, uns mit den Tieren gemein sind, hat er, offenbar um die zügellosen und widersetzlichen Regungen solcher Triebe zu bändigen, die genannten Kräfte des Verstandes und der Sittlichkeit hinzuerfunden. Durch sie konnte er wie mit Zügeln die verschiedenen und mannigfachen schmutzigen Begierden in Zaum halten, an denen nach seinem (Gottes) Willen der menschliche Instinkt fruchtbarer und reicher ist als der aller übrigen Lebewesen. Denn die übrigen Lebewesen fühlen keine Lust außer dem Geschlechtstrieb. Sie gebrauchen daher ihre Sinne für ihre un-

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erläßlichen natürlichen Verrichtungen: Sie sehen zu, daß sie sich um die Dinge kümmern, die für die Bewahrung ihres Lebens nötig sind, sie hören einander und erkennen sich, so daß sie eine Herde bilden können; was zutriiglich ist für die Ernährung, finden sie entweder durch den Geruch oder nehmen es aufgrund des Geschmackes wahr; Unverträgliches spucken sie aus und lehnen es ab; ihren Bedarf an Futter und Flüssigkeit bemessen sie daran, wie voll ihr Magen ist. (25) Um aber nicht noch länger von der menschlichen Weisheit zu sprechen, was sollen wir über den Reichtum und die Mittel der Menschen berichten?87 Unser sind die Länder, unser die Äcker, unser die Felder, unser die Berge, unser die Hügel, unser die Täler, unser die Weinstöcke, unser die Ölbäume, unser die Birnbäume, unser die Apfelbäume, unser die Feigenbäume, unser die Pfirsichbäume, unser die Kirschbäume, unser die Pflaumenbäume, unser die Nußbäume, unser die Haselnußbäume, unser die Orangenbäume, unser die Mispelbäume, unser die Speierlinge, unser die Kastanienbäume, unser die Sommereichen, unser die Steineichen, unser die Eschen, unser die Platanen, unser die Tannen, unser die Zypressen, unser die Pinien, unser sind schließlich, um nicht über noch mehr einzelne Arten zu sprechen, alle nutzbaren, aber auch die wilden Bäume. Endlich sind unser die Früchte aller Getreidesorten, von denen es freilich so viele Arten geben soll, daß sie wohl eine fast unendliche Menge sind. (26) Unser sind die Pferde, unser die Maultiere, unser die Esel, unser die Rinder, unser die Stiere, unser die Kamele, unser die Hunde, unser die Zugtiere, unser das Kleinvieh, unser alles Großvieh, unser die Schweine, unser die Schafe, unser die Ziegen, unser die Lämmer, unser die Böcke, unser die Widder, unser sämtliche Herden, und, damit man nicht meint, wir hätten lediglich von zahmen Tieren gesprochen, unser sind überdies die Hasen, unser die Rehe, unser die Wildschweine, unser die Hirsche, unser die Füchse, unser die Wölfe, unser die Wasserschlangen und die übrigen Reptilien, unser sind sämtliche wilden Tiere und alle, die im Wald leben, unser sind die Menschen; unser sind die Flüsse, unser die Gewässer, unser die Ströme, unser die

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Gießbäche, unser die Seen, unser die Teiche, unser die Quellen, unser die Bächlein, unser die Meere, unser sind alle Fische, bei denen die Menge der Arten als unzählbar gilt; unser sind s.leichermaßen die übrigen zwei Elemente, die Luft und der Ather, wenn denn unser die Vögel sind, von denen es so viele erheblich verschiedene Arten geben muß, daß die göttliche Vorsehung, welche die Griechen »pronoia« genannt haben, eine Anhängerin Epikurs gewesen zu sein scheint, weil sie so verschiedene und so unterhaltsame Arten teils belebter, teils aber unbelebter Dinge eben für den Menschen bereitstellen und ihm verfügbar machen wollte. Denn sie schuf ja die vielfältigen und unterschiedlichen Arten der verschiedenen einzelnen Lebewesen auf der Erde, im Wasser und in der Luft zum Nutzen des Menschen und setzte sie in reicher, ja in überreicher Zahl an ihren Platz und an ihren Ort. (27} Was bedarf es noch weiterer Worte? Unser ist das Firmament, unser sind die Himmelskörper, unser die Gestirne, unser die Sterne, unser die Planeten, und, waS erstaunlicher scheinen kann, unser sind die Engel, von denen man glaubt, daß sie, wie der Apostel sagt, als dienstbare Geister zum Nutzen des Menschen geschaffen wurden. 88 Als Dinoysios Areopagita, der überragende Schüler des Paulus, in den berühmten Bänden ,. Über die Hierarchie der Engel und der Kirche« diese Stelle erläutern und auslegen wollte, behauptete und erklärte er mit Entschiedenheit, daß unter sämtlichen Pflichten der Engel die die wichtigste und bedeutsamste sei, daß sie die Menschen mit ihren himmlischen Eingebungen erleuchten und die Erleuchteten reinigen und die Gereinigten zur Vollendung führen, 89 und man weiß, daß die Engel nicht allein durch die vorgenannten Aufgaben des Erleuchtens, des Reinigens und des Vollendens, sondern noch mit mehreren anderen Leistungen dem Menschengeschlecht dienen und willfahren. (28} Dies beweisen zahlreiche und auch berühmte Beispiele aus dem Alten und dem Neuen Testament in völliger Klarheit. Denn wir lesen, daß auch dem Abraham, als er bei der Eiche Mambre, wie sie in der Schrift genannt wird, saß, drei Engel

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erschienen seien, um ihm anzukündigen, daß er von der schon fast neunzigjährigen Sarah einen Sohn haben werde. Ihn nannte er deswegen Isaak, weil Sarah gelacht haben soll, als ob eine solche Geburt unmöglich wäre, da ihre Blutung schon lange vorher ausgesetzt hatte; der Name bedeutet nämlich, wenn man ihm aus dem Hebräischen ins Lateinische übertriigt, »Lachen«.90 Und wir wissen, daß ein anderer Engel später mit Jakob gerungen hat, um dessen außerordentlich bewundernswerte Tapferkeit zu zeigen, weswegen Jakob den Beinamen »Israel« erhielt. Denn er hatte einem Engel in einem Ringkampf gegeneinander, also in einem Engelskampf, mannhaft widerstanden. Als ferner der Sohn des Tobias von seinem Vater, der denselben Namen trug wie er, aus seiner Heimat Galiläa bis nach Medien geschickt wurde, um 10 Talente Silber einzutreiben, die der Vater einem Freund namens Gabael geliehen hatte, da trat ihm, so ist überliefert, auf der langen Reise in die Fremde Raphael als Führer und Begleiter zur Seite. Daniel dann, der auf Befehl des Darius, des Königs der Meder, in die Löwengrube geschickt wurde, um von wilden Tieren zerrissen zu werden, und auch die drei Männer, die seine Gefährten waren und die auf Weisung des Nebukadnezer, des Königs von Babylon, an Händen und Füßen gefesselt in die wahrhaft große Verbrennungsstätte des Feuerofens geworfen wurden, sie alle blieben durch die Dienste der Engel von den grausamen Tieren und den Flammen unversehrt und wurden schließlich, wie wir wissen, aus dem Feuer befreit. (29) Aber warum suchen wir noch mehr Beispiele aus dem Alten oder Neuen Testament zusammen, wo wir doch sehen, daß die Heilige Schrift allenthalben ganz voll ist von Engelsdiensten. Denn wir erinnern uns daran, daß Gabriel der Jungfrau Maria die heilbringende Empfängnis des Christus verkündete und daß auch den seligen Hirten nicht nur ein Engel, sondern eher eine Heerschar - denn es waren mit Gewißheit viele - die Geburt des Heilands kundtaten, daß auch seinen Vater Joseph Engel aufforderten, seinen Sohn nach Ägypten zu bringen, und wenig später mahnten, von dort zurückzukehren, und wir wissen, daß sich bei der Lektüre der Evangelien sechshun-

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dert andere Geschichten dieser Art feststellen ließen. Daß ferner in den Viten der heiligen Väter sehr viele Engel die Seelen der Gestorbenen in den Himmel getragen und oft bei den Bestattungen gehorsam Hilfe geleistet haben, kann man nicht bezweifeln. Damit wir nicht zu weitschweifig werden, wollen wir diese Berichte lieber beiseite lassen als vortragen, zumal sie von der Art sind, daß sie keinem, auch nicht dem mäßig Gebildeten, unbekannt sein können. {30) Aus all dem, was wir oben dargelegt und genug, ja übergenug untermauert haben, läßt sich mit völliger Klarheit schließen, daß der Mensch äußerst reich und mächtig ist, da er alles, was geschaffen ist, nach seinem Willen benutzen und kraft eigener Gewalt beherrschen und leiten kann. Weil die alten Römer erkannten, daß dies alles dem Menschengeschlecht von der Natur auf überirdische Weise gegeben worden ist, und erklärten, daß sie es von Jupiter selbst, der ja nach ihrer Auffassung der oberste der Götter war, empfangen hätten, nannten sie diesen »Üptimus Maximus« {»Bester und Größter«). {31) Dem Menschen, den die Vorsehung des höchst erfmdungsreichen Künstlers doch so schön, so begabt, so weise, so reich, und schließlich so außerordentlich mächtig und als einen so großen und überall gebietenden Herrscher geschaffen hatte, ihm hat sie überdies ein fast unendliches Lustgefühl verliehen, das er aus allen Arten des Geschaffenen gewinnen und schöpfen kann, das aber dem Laster zuzurechnen ist, weil Gott dem Menschen die Tugend als Ziel gesetzt hat, die immer mit der Lust wie mit einem inneren Feind kämpfen soll. Aus seinen einzelnen Sinnen nun, aus dem Sehen, dem Hören, dem Riechen, dem Schmecken und dem Fühlen, gewinnt der Mensch ein bestimmteres und heftigeres und überhaupt größeres Lustgefühl als alle übrigen Lebewesen. {32) Dies zeigt sich im Bereich der geschlechtlichen Liebe etwas deutlicher, wie es Laktanz im siebten Buch der Institutionen mit folgenden Worten festzustellen scheint: ,.Als Gott das Prinzip der zwei Geschlechter erdachte, gab er diesen die Eigenschaft, sich gegenseitig zu begehren und bei ihrer Vereinigung Lust zu empfinden. Daher verlieh er den Körpern aller

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Lebewesen die brenneneiste Begierde, damit sie sich voll Verlangen in diese Leidenschaft stürzten und sich auf diese Weise fortpflanzen und ihre Geschlechter vervielfachen könnten. Diese triebhafte Begierde ist beim Menschen nachweislich heftiger und leidenschaftlicher als bei den sonstigen Lebewesen, sei es, weil Gott wollte, daß die Menge der Menschen größer sei, sei es, weil er die Tugend allein dem Menschen gab, damit ihm aus der Zügelung von Begierden und aus dem Verzicht auf das eigene Lob und Ruhm erwachse«91 usw. {33} Ferner wurde einigen heiligen Menschen von Gott die Fähigkeit verliehen, viele Wunder zu tun und- es klingt wunderbar - zahlreiche Gestorbene sogar vom Tode zu einem wirklichen, sicheren Leben zu erwecken, wie es, so erinnern wir uns, in den Schriften zuverlässiger Autoren zu lesen ist. Genannt werden Moses, Josua, Elia, Elisa, Daniel und mehrere andere Propheten des Alten Testaments und ebenso Petrus, Paulus, Johannes und die übrigen Apostel, Stephan, Laurentius, Gervasius, Prothasius und viele andere Märtyrer. Überdies haben alle Priester von Gott her die Gewalt, nicht nur durch die Taufe mit einigen festen Formeln die Erbsünde, die jeden Menschen schon bei seiner Geburt beschmutzt, durch die verzeihende Gnade zu vergeben und auszulöschen, sondern auch die übrigen menschlichen Vergehen, Verbrechen und Untaten; und sie können ferner, was besonders wichtig ist, den heiligen Leib Christi bereiten und segnen. Die Bischöfe, die übrigen Prälaten der römischen Kirche und die Päpste wollen wir beiseite lassen: Auch ihnen wurde, wie wir lesen, das völlig sichere Recht, Menschen zu verdammen und zu erlösen, vom allmächtigen Gott gewährt und verliehen. {34} Dies alles, was wir oben dargelegt haben, bezeugen und bestätigen wohl sehr deutlich an mehreren Stellen ihrer Werke die Dichter, Philosophen und Theologen sowie die sonstigen Autoren, seien es Griechen oder Römer oder Juden. Nachdem Ovid nämlich, um uns bei den Dichtern allein mit seinem Zeugnis zufriedenzugeben, behauptet hatte, daß ein Gott die Welt geformt und ihre Teile voneinander getrennt habe (wir haben allerdings keinen Zweifel daran, daß die Welt göttlich geschaf-

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fen ist), schrieb er schließlich in Hinblick auf die Erschaffung des Menschen folgende Verse nieder: •Ein erhabeneres Wesen als diese fehlte noch, eines, das den Geist tiefer fassen konnte und das über die anderen zu herrschen vermochte. Es entstand der Mensch.c92 Platon hat im Timaios einen Gott als den Verfertiger der Welt eingeführt, und er war der Meinung, daß sie von diesem allein zum Nutzen des Menschen geschaffen und gestaltet worden sei. (35) Moses, der Erste und das Haupt der Propheten und aller alten Theologen - dies kann ich wohl, ohne den übrigen zu nahe zu treten, sagen - berichtete, nachdem er erzählt hatte, wie jedes einzelne Geschöpf, außer nur dem Menschen, vom allmächtigen Gott gemacht oder geschaffen worden war, daß Gott sprach: •Laßt uns einen Menschen machen, nach unserem Bild und uns ähnlich, damit er Herrscher sei über die Fische im Meer, die Vögel am Himmel, die Tiere auf der Erde, über jede Kreatur und über alle Reptilien, die auf der Erde kriechen.c93 Ihn schuf er nun, wie er es angekündigt hatte, im nachhinein als den einzigen Herrn und Besitzer von allem, was er vorher gemacht hatte, und er segnete ihn und sprach: »Wachset und mehret euch, füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer, die Vögel am Himmel und über alle Lebewesen, die sich über die Erde bewegen.c94 (36) Der Apostel Paulus, der Bürge der Erwählung und Erzieher der Heiden, der Lehrer der neuen Theologen und Ausdeuter der alten, er bestätigt, daß alles, was immer gemacht ist, uns gehört. Denn in einem Brief an die Korinther sagt er folgendes: •Alles nämlich gehört uns, es sei Paulus, es sei Apoll, es sei K.ephas, es sei die Welt, es sei das Gegenwärtige, es sei das Künftige; alles gehört nämlich uns, ihr jedoch Christus, Christus aber Gott.c95 Unsere kirchlichen Ausleger, die nun von dem Wunsch beseelt waren, diese Worte richtig zu verstehen und zu erklären, verleihen ihnen anscheinend einen solchen Wert, daß sie sie so untereinander differenzieren: Sie grenzen das Niedrigste, das Gleichhohe und das Höhere gegenseitig ab und beziehen sehr schön und gut das Niedrigste auf die Nutzung, das

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Gleichhohe auf das Zusammenleben und das Höhere auf die Erfüllung. (37} David schließlich, der diese ungeheure, überragende Würde des Menschen unaussprechlich bewunderte, schrieb in dem hochberühmten und allgemein bekannten Achten Psalm folgende Verse, so als befrage er Gott und gebe später sich selbst Antwort auf seine Fragen: •Was ist der Mensch, daß du an ihn denkst? Oder des Menschen Sohn, daß du ihn besuchst? Du hast ihn kaum geringer gemacht als die Engel und hast ihn mit Ruhm und Ehre bekrönt: Und du hast ihn über die Werke deiner Hände gesetzt. Alles hast du unter seine Füße gelegt: Die Schweine und alle Rinder, dann auch das Vieh auf dem Felde, und die Vögel am Himmel und die Fische im Meer, die auf den PFaden des Meeres wandeln.c96 An diese Worte hat Paulus offenbar gedacht, wenn er in dem Hebräerbrief'J7 erklärt, daß Gott, als er dem Menschen alles untertan machte, nichts davon ausgenommen habe, daß es seiner Macht zugeordnet sein solle, wobei der Apostel noch ein wenig vorher zur wohl größten Ehre des Menschengeschlechtes bezeugt hatte, daß Gott den ganzen Erdkreis nicht den Engeln, denen er in eine wunderbare, erhabene Stellung zugesprochen hatte, sondern nur den Menschen untertan gemacht und ihnen geschenkt habe. Und dies alles, was ich bisher genannt habe, erlangt der Mensch, während er in diesem sterblichen Leben wandelt, vom Herrn gleichsam unwillig und widerstrebend. (38} Den Menschen, die er, wie wir beschrieben haben, mit so vielen und so großen Gaben wunderbar geschaffen und ausgerüstet hatte, wollte Gott mit großem Ernst außerdem noch auch ein dauerhaftes Glück und ewige Seligkeit nach dem körperlichen Tod darbringen, versprechen und schenken, wenn sie sich nur nicht widersetzten; und er ermahnte sie oft und eindringlich, ihm, der die richtigen Gebote gab, zu glauben. Denn vor allem den beiden ersten Menschen, die eine größere Würde als alle anderen besaßen, nämlich, um den theologischen Ausdruck zu gebrauchen, die ursprüngliche Gerechtigkeit, und die er nach ihrer verwerflichen Verfehlung hatte in Erbsünde befangen sein lassen, ihnen hatte er außer den natürlichen Gaben des Verstandes, der Erinnerung und der Willenskraft auch die

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Fähigkeit, das wahre Gut deutlich zu erkennen, in ihre Sinne eingestanzt, und damit sie nicht seine Gebote überschritten, hat er sie nicht nur mit seinen eigenen Ratschlägen ermahnt, sondern ihnen auch schreckliche Furcht und die Angst vor dem Tod eingejagt, um sie mit umso mehr Kraft von bösen Taten abzuschrecken. (39) Doch er konnte offenbar weder durch Ratschläge noch durch Drohungen noch durch Schreckensbilder etwas ausrichten. Dadurch nämlich, daß sie, verstrickt in die Fangseile des Teufels, jäh hinabstürzten, verurteilten sie ja sich selbst und das Menschengeschlecht, das von ihnen ausgehen sollte, auf ewig. Die aber als Nachkommen nach vielen Jahrhunderten auf diese ersten Ahnen folgten, wurden durch einen noch schlimmeren Zustand der Sündhaftigkeit verdorben und beschmutzten sich durch ihre bösen Taten und frevelhaften Verbrechen so sehr, daß sie Gott zu einer allgemeinen Bestrafung des Menschengeschlechts reizten. Deswegen wurde ja der ganze Erdkreis von der ungeheuren Sintflut überschwemmt, bei der abgesehen von den Fischen und den Reptilien, alle Lebewesen unter das Wasser gerieten und zugrundegingen. Nur diejenigen blieben unversehrt, die auf jener hochberühmten Arche waren, welche Noah, der gerechte Tröster (dies bedeutet, wie wir ja schon im zweiten Buch des vorliegenden Werkes gesagt haben, sein Name offenbar, wenn man ihn aus dem Hebriiischen in unsere Sprache überträgt) mit der Hilfe Gottes gebaut hatte. Daß aus diesen Lebewesen alle Arten der verschiedenen Tiere neu entstanden sind, wissen wir mit Gewißheit. (40) Zur Zeit Abrahams erfolgten dann dieselben Gebote durch wechselnde Engel so lange, bis Gott dem Moses durch die beiden weltbekannten und vielgerühmten Tafeln das göttliche Gesetz gab. In diesem Gesetz nun schleuderte er gegen alle, die es übertraten, eine große Menge von Flüchen und Verwünschungen, denen aber, die sich an das Gesetz hielten, wollte er nach seinem Beschluß alle Arten von Segnungen und Gnadenerweisen versprechen und darbieten. (41) Als dann einige Jahrtausende vergangen waren, begannen die alten Gebote Gottes ihre Wirksamkeit zu verlieren. Um nun

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nicht das ganze Menschengeschlecht der gerechten Strafe für seine Untaten unterwerfen zu müssen, sandte Gott, als die Zeit, wie der Apostel sagt, erfüllt ward, seinen Sohn als den Erretter des Menschengeschlechtes.98 Denn er wollte eben die Gebote des alten Gesetzes erneuern, die erneuerten Gebote aber deutlicher und verständlicher erklären, zudem wollte er einerseits durch verschiedene Verfluchungen die zeitlichen Strafen für die Mißachtung und Geringschätzung seiner Gebote in ewige Höllenstrafen umwandeln, andererseits die alte Süße von Milch und Honig in eine vollkommen würdige Belohnung für ein tugendhaftes Leben verwandeln, nämlich in das ewige Himmelreich. Durch so viele Mittel, die zu den natürlichen und nicht erworbenen Eigenschaften des Menschengeschlechtes hinzutraten, wünschte und begehrte er also den Menschen, den er mit so vielen und so großen Würden geschaffen hatte, glücklich und selig zu machen, wenn dieser es nur wünschte, so wie wir es ja schon gesagt haben. {42) Um dies leichter durchführen, erreichen und erwirken zu können, gab er den einzelnen Menschen vom Moment der Geburt an jeweils einen Engel bei, welche die Menschen vor schlechten Taten und vor frevelhaften Verbrechen bewahren sollten, so als wären sie ihre Erzieher. Hierbei hat Gott also dem ganzen Menschengeschlecht gegenüber mit so viel Güte gehandelt, wie es liebevolle Väter gegenüber ihren Kindern und ihren herangewachsenen Söhnen zu tun pflegen, denen sie, solange sie im Kindes- und Jugendalter stehen, nicht nur Elementarlehrer, sondern auch jene Sittenlehrer als ständige Begleiter und Aufseher geben und zuordnen, die man mit einem griechischen Wort »Pädagogen«, also, um es in unsere Sprache zu übertragen, »Kindesführer« nennt. {43) Daran, daß diese Lehre von den einzelnen Engeln als den ständigen Begleitern bestimmter Menschen sicher und wahr ist, haben wir keinen Zweifel: Sie ist nicht nur kirchlich und beruht also nicht allein auf einer sorgfältigen Lektüre der Heiligen Schrift, sondern auch auf einigen heidnischen und paganen Autoren. Denn selbst wenn wir die Zeugnisse der älteren Geschichte über lautere Persönlichkeiten beiseite lassen, so ist im-

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mer noch bezeugt, daß im Krieg mit Pyrrhus, dem König von Epirus, Curius, Fabricius und Corruncanius auftraten, im Ersten Punischen Krieg Calatinus, Duellius, Metellus und Lutatius, im Zweiten Maximus, Marcellus, Africanus und später Paulus, Gracchus, Cato, Scipio und Laelius« und daß es außerdem viele überragende und außerordentliche Griechen und Römer gab, »von denen keiner ohne die Hilfe Gottes«, wie Cicero es ausdrückt, gemeint ist: ohne die Zuwendung eines Engels, der ihm Rat und Antrieb gab, »SO gewesen sein kannc. 99 Auch die Dichter erzählen, wenn sie sich ihre Dichtwerke ausdenken, in ihren Versen genau das gleiche. Welcher andere Grund konnte denn sie und insbesondere Homer dazu bringen, den führenden Helden, dem Odysseus, dem Diomedes, dem Agamemnon und dem Achill bestimmte Götter beizugesellen? Sie sind gleichsam ihre göttlichen Diener, die wir schon lange treffender mit dem Wort »Engel« zu bezeichnen pflegen, und ihre Helfer und Begleiter in bedrohlichen Gefahren. Ferner behaupten und unterstützen dies offenbar die Philosophen, wenn Sokrates, der in einem Orakelspruch Apollos als der weiseste aller Menschen beurteilt worden war, öffentlich lehrte, daß ihm ein Daimon zur Bewachung gegeben sei, dessen Rat er sich bei ernsten und bedeutsamen Dingen bediene, wie wir es mehreren Büchern und Dialogen Platons unzweideutig entnehmen können wie auch dem berühmten Werklein des vorerwähnten Apuleius aus Madaura, dessen Titel »Über den Gott des Sokrates« lautet. (44) Da nun Gott bestimmt hat, daß der Mensch so sein solle, wie wir es oben bei aller Kürze mit Worten zu bezeichnen und mit Bildern auszumalen vermochten, und da er ihn mit Schönheit, mit Verstand, mit Weisheit, mit Reichtümern und Mitteln, ferner mit Macht und Herrschaft und mit sehr vielen anderen erstaunlichen Vorzügen großzügigst ausgestattet hat, wollen wir jetzt ein wenig darüber nachdenken, welche Aufgabe er diesem göttlichen, himmlischen, so wunderbar eingerichteten Lebewesen zugeordnet hat und welcher Natur diese ist. (45) Nachdem Gott bei der Erschaffung der Welt vorher alles andere gemacht hatte, schuf er schließlich den Menschen. Ihn nennen wir mit einem hebräischen Wort »Adam«, denn wir

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wissen, daß der Name diesem unseren Ahnen am Anfang der Welt deswegen nicht zu Unrecht beigelegt worden war, weil er von Gott durch seine überirdische Gewalt als ein wirklicher, wahrhaftiger Mensch geschaffen worden war. Daher ist es in dieser heiligen Sprache eine alte Gewohnheit, für eine klare Unterscheidung von den übrigen Menschen Adam als den ersten zu bezeichnen und zu benennen. Um seinetwillen hatte Gott ja wenig zuvor alles eingerichtet, und ihm befahl er, über all diese vorher geschaffenen Dinge zu herrschen und sie so, wie er wolle, zu seinem Nutzen zu gebrauchen. Wie daher im Menschen, um dessentwillen nach unserem Nachweis die Welt selbst und alles, was in ihr ist, geschaffen wurde, die Kraft und die Vernunft und die Macht groß und aufrecht und bewundernswert sind, so ist unserer Ansicht nach seine Aufgabe gleichermaßen eindeutig und klar und nur eine einzige, nämlich die, daß er die um seinetwillen geschaffene Welt und namentlich alles, was wir in dem gesamten Erdkreis eingerichtet sehen, zu lenken und ZU regieren wisse und vermöge, was er überhaupt nicht wird vollbringen können, außer indem er denkt und handelt. (46) Daher werden wir nicht zu Unrecht behaupten, daß das Denken und das Handeln die eigentlichen Aufgaben allein des Menschen sind, und wir meinen, daß dies in einer solchen Ausschließlichkeit das Spezifische des Menschen ist, daß das Denken und Handeln dem menschlichen Wesen mehr entspricht als das Lachen (was alte und zeitgenössische Philosophen als das spezifisch Spezifische zu bezeichnen pflegen, wenn wir einmal um der Deutlichkeit und Klarheit willen ihre eigenen Worte gebrauchen dürfen). Obwohl wir nämlich keineswegs daran zweifeln, daß beides gleichermaßen allen Menschen zukommt, wissen wir gleichwohl, daß die Menschen, auch ohne zu lachen, ihre Aufgabe ganz einwandfrei verrichten und ausüben können und auch Menschen bleiben, während sie ohne ihre Denkfähigkeit ihre Aufgabe gewiß nicht erfüllen und ausführen könnten und außerdem aufhören würden, Menschen zu sein, deren einzige Aufgabe unserer Meinung und Überzeugung nach es ist, zu denken. (47) Und wenn diese Aufgabe, zu denken und zu handeln, die der allmächtige Gott, wie wir sehen und wissen, dem Menschen

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zugeordnet hat, und nicht das Lachen, offenbar auch anderen, nämlich den Engeln und dem Schöpfer zukommt, kann gerade deswegen der Mensch als ein Lebewesen gelten, das einen Vorzug und bessere Bedingungen hat, weil er in Hinblick auf seine spezifische Aufgabe mit den Engelsgeistern und mit Gott selbst eine Gemeinsamkeit hat, da er ja verständlicherweise sonst, also ohne die Fähigkeit, zu denken und zu handeln, die Welt, die um seinetwillen gemacht worden ist, überhaupt nicht nutzen könnte. Wir wissen auch, daß kein anderes Geschöpf außer allein dem Menschen von seinem Wesen her teilhaben kann an der Fähigkeit, zu handeln und zu denken. Diese Lehre hat Cicero, so stellen wir fest, im zweiten Buch aus dem Werk »Das höchste Gut und das schlimmste Übel«, als er gegen die Epikureer argumentierte, mit diesen, den folgenden Worten erklärt und erläutert. Er sagt nämlich: »Sie haben nicht gesehen, daß so wie das Pferd zum Laufen, wie der Ochse zum Pflügen, wie der Hund zum Jagen, daß so der Mensch zu zwei Dingen geboren ist, wie Aristoteles sagt, nämlich zum Denken-und zum Handeln, als wäre er ein sterblicher Gott.« 100 Und auch als Aristoteles selbst im ersten Buch der Nikomachischen Ethik Untersuchungen über die eigentliche Aufgabe und Pflicht des Menschen anstellte, beurteilte er es als abwegig, daß es spezifische Verrichtungen der Werkleute und der Schuster und überhaupt aller Handwerker geben solle und außerdem solche der menschlichen Glieder wie die des Auges, der Hand und des Fußes usw., daß man aber dem Menschen keine besondere und spezifische Tätigkeit zuordne, so als wäre er träge und zum Nichtstun geboren.101 Und den Lehrsatz, den Cicero elegant gefaßt hatte, formuliert er so, daß der Mensch natürlich wie ein sterblicher Gott zum Denken und zum Handeln geboren werde. (48) Wenn er dies richtig und angemessen täte, wie es sein müßte, würde er Gott wahrhaftig an den sichtbaren Dingen, die er geschaffen hat, erkennen und ihn, wenn er ihn erkannt hätte, zu lieben beginnen, würde ihn verehren und achten. Dies gilt nämlich als die spezifische Aufgabe allein des Menschen und nur darauf beruht das Wesen aller Dinge und jede Möglichkeit zu einem glücklichen Leben, da wir ja nicht etwa darum von

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ihm gemacht und geschaffen sind, daß wir den Himmel und die Sonne sehen, wie Anaxagoras glaubte, sondern zu dem Zweck, daß wir den Erschaffer der Sonne und des Himmels, Gott, mit reinem und unbeflecktem Sinn verehren. Denn Gott wollte, daß wir den Himmel erblicken, und durchaus nicht ohne Zweck- denn die Vögel und fast alle stummen Tiere können den Himmel sehen und zu ihm emporblicken - sondern uns ist es als Besonderheit gegeben, daß wir aufrecht stehend ihn betrachten können, um dort den Glauben zu suchen und Gott, dessen Sitz dort ist, mit unserem Geist zu schauen, da wir es mit den Augen nicht tun können. Denn Gott wollte, daß das Wesen des Menschen so sei, daß er zwei Dinge anstrebt und sich wünscht, den Glauben und die Weisheit, weil in diesen beiden Dingen, die untrennbar verbunden sind, die Aufgabe des Menschen und alle Wahrheit beschlossen liegt. {49} Daher gab der allmächtige Gott ihm, den er in eine so große und so erhabene Würde eingesetzt hatte, die natürliche Anlage, daß er sich selbst liebt, um sich am Leben zu halten, im übrigen aber erlegte er ihm durch die ganz festen und ausdrücklichen Gebote des geschriebenen Gesetzes die Verpflichtung auf, daß er all seine Nächsten, das heißt alle Menschen, liebe, ehre und achte; und damit er diese Pflicht zu lieben mit mehr Einsatz und Beständigkeit verfolge, erfülle und vollende, versprach er jedem, der das göttliche Werk ehrt und bewahrt, mit aller Klarheit, daß er ihm als einen wahrhaft würdigen Lohn für die wechselseitige Liebe das ewige Himmelreich geben werde; den übrigen aber, den Feinden seines Werks, und denen, die ein so großes Gebäude wie auch immer zu zerstören und zu verunstalten suchen, verkündete er in einer offenen und unzweideutigen Rede mit sehr vielen schrecklichen und gräßlichen Drohungen und auch mit manchen entsetzlichen Flüchen, daß er selbst ihnen die ewigen Höllenstrafen als angemessenen Lohn für ihre jeweils schlimmste Untat auferlegen werde. (50} Da nun also Gott dem Menschen, den er, wie wir gesagt haben, auf wunderbare Weise geschaffen hatte, die wahrhaft würdige Pflicht, zu handeln und zu denken, zu lenken und zu befehlen, zu regieren und zu herrschen zugeordnet hat, wollen wir

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im Folgenden, am Ende unseres dritten Buches, in wenigen Worten erklären, warum er ihn gemacht hat. (51) Wenn nun der Körper, der zeitlich ist, eine aufrechte Gestalt hat, ist es wahrscheinlich, ja sogar geziemend und wahr, daß dann die Seele des Menschen, die ewig ist, zwangsläufig noch aufrechter ist, da der Wuchs des Körpers und sein Bau nichts anderes bedeuten, als daß der Geist des Menschen dahin zu blicken hat, wohin das Antlitz blickt, und daß die Seele so aufrecht sein muß wie der Körper, damit sie dem, über welchen sie zu herrschen hat, entspricht und ihn übertrifft. Und es wird dem Menschen genug erscheinen, wenn er Gott und die göttlichen Werke versteht. Der Kern und der Hauptpunkt dieses Verständnisses ist freilich der, daß er zu ihm emporblickt als dem gemeinsamen Vater des Menschengeschlechtes und dem Verfertiger wunderbarer Dinge. Dies nun erklärt und stützt wohl Laktanz in seiner Schrift ,. Über den Zorn Gottes« am eindrucksvollsten. Seine Worte lauten folgendermaßen 102 : »Wie Gott die Welt um des Menschen willen geschaffen hat, so diesen selbst um seinetwillen; gleichsam als den Priester des Tempels Gottes und als den Betrachter seiner Werke und der himmlischen Dinge. Er allein ist es nämlich, der als denkendes und vernünftiges Wesen Gott erkennen kann, der seine Werke zu bewundern, seine Kraft und seine Macht wahrzunehmen vermag. Deswegen ist nämlich er mit Einsicht, mit Geist und mit Klugheit ausgerüstet; darum hat nur er unter allen Geschöpfen einen aufrechten Körperbau bekommen, damit er nämlich erkennbar zur Betrachtung seines Vaters emporgehoben ist; darum hat er allein die Fähigkeit zu sprechen erhalten und die Sprache als die Dolmetscherin der Gedanken, damit er nämlich von der Majestät seines Herren erzählen kann. Schließlich ist dem Menschen deswegen alles untertan, damit er selbst Gott, dem Künstler, der ihn geschaffen hatte, untertan sei. Wenn nun Gott wollte, daß der Mensch ihn verehre, und ihm dafür so viel Ehre verliehen hat, daß er über alle Dinge herrschen kann, ist es gewiß das Gerechteste, daß der Mensch Gott liebt (denn er hat uns ja so vieles verfügbar gemacht) und ebenso den Menschen, der mit uns durch die Gemeinschaftlichkeit des göttlichen Rechtes verbunden ist;

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denn es widerspricht dem göttlichen Gebot, daß ein Verehrer Gottes von einem anderen Verehrer Gottes verletzt wird. (52) »So wird es verständlich, daß der Mensch um des Glaubens und der Gerechtigkeit willen geschaffen worden ist. Dies bezeugt Cicero in seinem Werk •Über die Gesetze He< oder >ha< sagt, wer immer von Eva stammt.« 129 Und diesen Namen deutet er so: Eva ist nichts anderes als »heue und »ha«, zwei Interjektionen, die, wie er unterstreicht, beide Schmerz anzeigen, und abschließend setzt er hinzu, daß die erste Frau es verdient habe, vor dem Sündenfall »Jungfrau« genannt zu werden, nachher aber »Eva«. Nachdem er diese Bemerkungen gleichsam als feste und, wie er meinte, vorzügliche Fundamente eines künftigen Bauwerks mit welcher Berechtigung auch immer zugrundegelegt hatte, ging er weiter und behandelte breit und ausführlich die Nacktheit, die Läuse, den Speichel, den Harn, den Kot, die Kürze der Lebenszeit, das Alter, die verschiedenen Mühen und Schmerzen der Sterblichen, die mannigfachen Leidenschaften der Menschen, die Nähe des Todes, die vielfältigen Arten von Qualen und noch mehr ähnliche Nachteile des menschlichen Körpers. (19) Wenn wir dies also mit der Hilfe des gnädigen Gottes so, wie wir es uns vorstellen und wie es unseren begrenzten Gaben entspricht, widerlegt haben, wird ein günstiger Zeitpunkt da sein, unser Werk abzuschließen. Doch vorher werden wir noch uns selbst und all die Leser unseres vorliegenden Werkes ganz nachdrücklich gewissenhaft ermahnen, doch anzuerkennen, daß die beglückenden und vorzüglichen Eigenschaften des mensch-

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liehen Wesens, über die wir in den drei vorangegangenen Büchern ausreichend breit und hinlänglich gedankenreich gehandelt haben, vom allmächtigen Gott stammen. Dadurch nämlich werden wir in der Lage sein, durch gute Werke in dieser Welt glücklich und heiter zu leben und dann in unserem künftigen Leben bei der göttlichen Dreieinigkeit, von der alles, was wir geschildert haben, hergekommen ist, dauerhaft Edüllung zu finden. {20) Wir nun, die wir von Herzen wünschen, alles das, was wir weiter oben angeführt haben, zu widerlegen und zurückzuweisen, werden für die Widerlegung derselben Ordnung folgen, wie wir sie auch bei der Darstellung der Vorwürfe zugrundegelegt haben. Wir beginnen daher mit dem Körper und zögern nicht, auf das Argument, er sei schwach und habe noch weitere Gebrechen, so, wie folgt, zu antworten: Unsere kirchlichen Lehrer bezeugen, daß der menschliche Körper, den, wie wir oben sagten, der allmächtige Gott aus dem Lehm vom Boden gemacht hat, zunächst so geartet war, daß er teils sterblich war, für den Fall, daß jener erstgeformte Mensch sündigen würde, wie er es bekanntlich getan hat, teils aber, falls er nicht sündigen würde, unsterblich. Der erste Mensch soll nämlich einen sterblichen und zugleich irgendwie unsterblichen Körper gehabt haben. Daher stellt man gerne die Frage, ob er beide Eigenschaften aufgrund der Beschaffenheit des Körpers selbst besessen habe oder ob ihm nicht eher die Unsterblichkeit durch die Gunst und die Wohltat der Gnade zuteilgeworden sei. Wie dem auch sei, die Kirchenlehrer sagen, daß der Mensch in seiner ersten Phase so geschaffen gewesen sei, daß er, wenn er es nur gewollt hätte, überhaupt nicht hätte sterben müssen. In seiner zweiten Phase aber, nachdem er durch den Sündenfall jenen ursprünglichen Zustand verlassen habe, sei er so verkommen und herabgesunken, daß er unter die Herrschaft des unverbrüchlichen und unzweifelhaften Gesetzes des Todes geraten sei. In der dritten Phase der glorreichen Wiederauferstehung aber werde er durch die Gnade eine solche Natur und eine solche Größe erlangen, daß er nicht mehr wird sterben können, wie wir es mit der Hilfe Gottes am Ende dieses Werkes etwas ausführlicher und reicher

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zeigen werden. Der Mensch kam also zu dieser ganzen Schwäche seines Körpers und zu all seinen Krankheiten und zu seinen sämtlichen sonstigen Gebrechen, die wir oben erwähnt haben, nicht aufgrund seines Wesens, sondern vielmehr durch die Befleckung des Sündenfalls. Was immer man daher gegenwärtig als lästige Eigenschaft und Nachteil ansieht, darf also richtigerweise nicht seinem Wesen zugeschrieben werden, sondern man muß es vielmehr, wie wir es oben ausgeführt haben, auf die erste Sünde zurückführen. Daher sollte bei den heidnischen und bei den christlichen Autoren alles Klagen und Jammern über den Vorzug und das Gut des Todes und über ihre sonstigen Gebrechen aufhören und ein Ende nehmen, da wir wissen, daß diese Eigenschaften nicht von Gott selbst oder vom menschlichen Wesen herkommen und stammen, sondern vom Sündenfall. (21) Allerdings wird vielleicht jemand einwenden: Auch wenn er zugestehe, daß es sich so verhalte, erscheine es ihm dennoch nicht schlüssig, daß alle Körper der Menschen, sei es aufgrund ihres Wesens oder vielleicht doch wegen des Sündenfalls, wie du es zu zeigen und zu beweisen suchst, zwangsläufig diese Schwäche, die Kränklichkeit, die Sterblichkeit und die übrigen Gebrechen bekommen hätten und sie dann weitergeben müßten; ja, die Menschen waren sogar verurteilt, eine so geartete und so schwere Last zu tragen, daß diese, wie immer sie sei und woher immer sie komme, offenbar schon am Beginn der Schöpfung zu einem Wesensbestandteil gemacht worden ist. Denn man kann nicht daran zweifeln, daß dieses Gesetz, sterben zu müssen und die übrigen beschwerlichen Eigenschaften zu tragen, alle menschlichen Körper vom Augenblick ihrer Entstehung an, und zwar zu jeder Zeit, bedroht und seine Schatten vorauswirft. (22) Auch wenn wir vielleicht zugeben würden, daß alle diese Überlegungen wie auch die sonstigen Einwände dieser Art richtig seien, würden wir es doch wagen, mit Entschiedenheit zu erklären und zu behaupten, daß wir in diesem unserem normalen und gewöhnlichen Leben mehr Formen des Vergnügens als der Mühe erreichen würden, wenn wir nur nicht allzu nörglerisch und allzu undankbar, starrsinnig und verwöhnt wären.

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Kein menschliches Tun läßt sich nämlich- es klingt wunderbar - beobachten, bei dem man nicht, wenn man sich dessen Natur genau und sorgfältig ansieht, wenigstens ein bißeben Freude finden kann, gewinnt man doch durch die einzelnen äußeren Sinne des Sehens, des Hörens, des Riechens, des Schmeckens und des Tastens immer so große und so heftige Lustgefühle, daß einige bisweilen überflüssig und allzu groß und übermäßig zu werden drohen. Denn es wäre s'Die große Hoffnung trägt mich, hohes Gericht, daß es für mich von Vorteil ist, in den Tod geschickt zu werden. Eine von folgenden zwei Möglichkeiten muß nämlich eintreten: Entweder beseitigt der Tod jedes Gefühl oder man wandert durch den Tod von hier in eine andere Gegendc« 138 usw. Dies läßt sich auch daraus schließen, daß Kleombrotos Platons Buch über die Unsterblichkeit der Seele gelesen hat. Dieser tötete sich nämlich aus keinem anderen Grund, als daß er Platon, der in dem erwähnten Buch über die ewige Dauer der Seele schrieb, glaubte. Denn der heilige Augustin bezeugt im ersten Buch aus dem Gottesstaat, daß er es gelesen habe, bevor er sich tötete. Hinsichtlich Catos, dieses überragenden und heldenmütigen Mannes, muß man derselben Auffassung sein; andernfalls wäre seine Verfehlung größer als die der übrigen Selbstmörder, wenn er nämlich, allein um den Übeln auszuweichen, mit denen er nach dem Sieg Caesars zu rechnen hatte, sich selbst getötet hätte. Und er würde nicht sogar von heidnischen Autoren mit so vielen und so großen Lobreden wegen seiner Seelenstärke in den Himmel erhoben werden. Genau dasselbe scheint Augustin in demselben Buch des Gottesstaates da am deutlichsten zu denken und festzustellen, wo er folgendes sagt: »Cato Uticensis hat sich selbst getö-

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tet; sei es, weil er es für schimpflich hielt, unter einem siegreichen Caesar zu leben, sei es, weil er Caesar den Ruhm neidete, ihn zu schonen, was Caesar selbst behauptet haben soll.c 139 Plutarch bezeugt überdies in seiner Biographie, daß Cato eben jenes Buch Platons gelesen habe, bevor er Hand an sich legte. 140 (40) Auf die heiligen Zitate von Salomon, Hiob und Ambrosius muß man, so meinen wir, verschieden antworten. Denn Salomon äußerte sich in dem vorerwähnten Predigerbuch mit einem solchen Gestus, daß er zu allen Menschen auf der ganzen Welt öffentlich, wie ein offizieller Herold oder ein allbekannter Volksredner, sprach, was der hebriiische Titel ,.Koheleth« und der griechische »Ekklesiastes« in aller Deutlichkeit zeigen. Daher trägt er gemäß den ganz verschiedenen Verhältnissen der Menschen unterschiedliche Gedanken vor, so daß er an mehreren Stellen sich deutlich gegen seine eigenen Aussagen zu wenden und sich selbst eklatant zu widersprechen scheint. So steht zu jener Lehre vom vollkommen gleichen Tod bei Mensch und Vieh, die wir weiter oben zitiert haben, das in einem völligen Gegensatz, was er später, am Ende seines Werkes, anschließt, wo er, während er vom Menschen spricht, unter anderem folgendes sagt: ,.und er wird im Hause seines ewigen Lebens wandeln, und sie werden klagend auf der Gasse herumgehen, bevor das silberne Seil zerreißt, das Goldgefäß besiegt schwindet, das Ungeheuer über der Quelle vernichtet wird, das Rad über der Zisterne bricht, der Staub auf seine Erde, von der er stammte, zurückfällt und der Geist zu Gon, der ihn gab, zurückkehrt.c 141 Ebenso verhält es sich bei zwei weiteren Stellen, bei der einen nämlich, wo er sagt: »Ich habe die Toten mehr gelobt als die Lebenden und den als noch glücklicher beurteilt, der noch nicht geboren ist und der nicht die Übel gesehen hat, die unter der Sonne sindc 142 und dann bei der anderen, als er erklärt: ,.Besser ist der Tag des Todes als der Tag der Geburtc143 usw. Diesen Zitaten widersprechen mehrere Stellen sehr stark und namentlich zwei weitere, die folgen, in aller Deutlichkeit: Die eine, als er sagt: ,.ßesser ist ein lebendiger Hund als ein toter l..öwec144 und die andere, bei der er folgendes erklärt: »Gehe also hin, iß dein Brot in Freude und trink mit Fröhlichkeit deinen Wein, weil deine Werke Gott gefallen.c 14S

Viertes Buch

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(41) Aufgrund dieser Verschiedenheit, Inkonsequenz und Gegensätzlichkeit der so disparaten und einander so klar widersprechenden Sätze nun, noch mehr aber aufgrund der schlimmen und bisweilen wahnwitzigen Lehre dieses Buches, war das Werk umstritten: In den Anfängen der jüdischen Urkirche waren sich die alten Lehrer und Meister, die kurz nach dem Tode Christi, unseres Heilandes, die heilige, noch heute gültige Ordnung der hebräischen Bücher entwarfen, also die Männer, die auf Hebräisch »Rabbi« heißen, lange unsicher und stritten, ob sie das vorerwähnte Buch zusammen mit den übrigen Werken der Propheten in den festen und grundlegenden Kanon der Heiligen Schrift aufnehmen oder es eher verdammen und auf einem Scheiterhaufen verbrennen sollten. Und hätten sie nicht am Ende dieses Buches folgende Worte beigefügt gefunden: »Fürchte Gott und wahre seine Gebote, darin besteht nämlich das ganze Menschsein« 146 usw., so wäre ohne Zweifel dieses Werk, das eben noch der Spruch der vorgenannten Lehrer zur Verbrennung verurteilt hatte, nirgendwo mehr vorhanden. (42) Auf die so zahlreichen, aber auch so mannigfaltigen Zitate und Lehrsätze des vielduldenden Mannes können wir antworten, daß dieses Buch von Moses, der das heilige Gesetz eingeführt hat, in der Form eines Dialogs über die göttliche Vorsehung geschrieben wurde, bei der es unumgänglich ist, daß die Unterredner verschiedenen und gegensätzliche Auffassungen vertreten. Da wir nun feststellen, daß all jene oben angeführten Stellen entweder aus Hiobs eigenem Munde stammen oder mit den Worten seiner drei Freunde, die ihn trösten wollten, gesprochen wurden, zögern wir nicht, zu erklären und zu erklären, daß man sie deswegen als falsch und als täuschend ansehen muß, weil, offenkundig sowohl Hiob selbst als auch alle seine drei Freunde in ihren sämtlichen erwähnten Äußerungen von Elihu, einem Mann von tiefer Weisheit und großer Sittlichkeit, völlig einleuchtend widerlegt und später vom allmächtigen Gott derartig gescholten und gerügt wurden, daß sie alle vorerwähnten Äußerungen in andere, wahre und gesicherte Lehren geändert und damit völlig gewandelt haben.

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Über die Würde und Erhabenheit des Menschen

(43) Als Antwort auf Ambrosius und die anderen kirchlichen Lehrer, wenn es denn noch welche gab, die ihre Gedanken über das Gut des Todes dem Papier anvertrauten, können wir sagen, daß sie so schrieben, weil sie an das künftige, das selige und glückliche Leben der guten Seelen nach ihrer Loslösung vom Körper glaubten und die wunderbare, fast unglaubliche Herrlichkeit voraussahen, die nach der Wiederauferstehung der menschlichen Körper am Jüngsten Tag sein wird und über die wir uns am Ende dieses Buches etwas breiter und ausführlicher äußern werden. Diese Erklärung ergibt sich ja in aller Deutlichkeit aus ihren eigenen Schriften. (44) Da wir nun meinen, im Vorangegangenen alle weiter oben angeführten Belege aus heidnischen und christlichen Autoren, soweit wir konnten, widerlegt zu haben, bleibt noch, daß wir uns jetzt kurz den Gedanken von Papst Innozenz zuwenden. Es ist nun klar, daß das erste und wichtigste Fundament, über dem unser Innozenz offensichtlich sein ganzes elendes Gebäude, das Anlaß zu dem Titel »Vom Elende gab, errichtet und erbaut hat, den Vorgang der Geburt eines jeden Menschen betrifft. Diesen Gedanken hat er mit Recht ziemlich an den Anfang seines erwähnten Werkes gestellt. Dort äußert er sich über die Widrigkeiten des menschlichen Lebens und setzt folgende Worte: »Wir alle heulen bei unserer Geburt, um das Elend der Natur zum Ausdruck zu bringen. Der eben geborene Junge sagt nämlich >hahehe< oder >ha< sagt, wer immer von Eva stammt. Was ist denn Eva anderes als >heu ha