Deutschlands kulturelle Entfaltung. Die Neubestimmung des Menschen: Die Neubestimmung des Menschen. Die Wandlungen des anthropologischen Konzepts im 18. Jahrhundert 9783787330485, 9783787305889

Die Zeit zwischen Siebenjährigem Krieg und Französischer Revolution hat ein Potential an Menschen und Ideen bereitgestel

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German Pages 272 [288] Year 1987

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Deutschlands kulturelle Entfaltung. Die Neubestimmung des Menschen: Die Neubestimmung des Menschen. Die Wandlungen des anthropologischen Konzepts im 18. Jahrhundert
 9783787330485, 9783787305889

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ST U DI E N Z U M ACH TZ EH N T E N JA H R H U N DERT BA N D 2/3

ST U DI E N Z U M ACH TZ EH N T E N JA H R H U N DERT Herausgegeben von der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts Band 2/3

Deutschlands kulturelle Entfaltung Die Neubestimmung des Menschen

Herausgegeben von Bernhard Fabian, Wilhelm Schmidt-Biggemann und Rudolf Vierhaus

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

Im Digitaldruck »on demand« hergestelltes, inhaltlich mit der ursprünglich 1980 bei Kraus International Publications (München) erschienenen Ausgabe identisches Exemplar. Wir bitten um Verständnis für unvermeidliche Abweichungen in der Ausstattung, die der Einzelfertigung geschuldet sind. Weitere Informationen unter: www.meiner.de/bod.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliogra­phi­­sche Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-0588-9 ISBN eBook: 978-3-7873-3048-5

© Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 2016. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§  53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Gesamtherstellung: BoD, Norderstedt. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruck­papier, hergestellt aus 100 % chlor­frei gebleich­tem Zellstoff. Printed in Germany.  www.meiner.de

INHALTSVERZEICHNIS

Deutschlands kulturelle Entfaltung 1763-1790

Seite Einführung: RudolfVierhaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . :IX Reinhart KoseHeck Sprachwandel und sozialer Wandel im ausgehenden Ancien Regime . . . . . . . . 15 Manfred Riede! Historizismus und Kritizismus: Kants Streit mit G. Forster und J. G. Herder . . 31 Manfred Fuhrmann Die , Querelle des Anciens et des Modernes', der Nationalismus und die Deutsche Klassik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . .

Stefan Kunze Die Wiener Klassik und ihre Epoche: Zur Situierung der Musik von Haydn, Mozart und Beethoven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andreas Kleinert Physik zwischen Aufklärung und Romantik: Die "Anfangsgründe der Naturlehre" von Erxleben und Lichtenberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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69

. . . . . . . 99

Die Neubestimmung des Menschen: Wandlungen des anthropologischen Konzepts im 18.Jahrhundert

Seite Einführung: Richard Toellner

I

Bernhard Fabian Newtonische Anthropologie: Alexander Popes

Essay on Man

. . . . . . . . . . . . . 117 .

Jürgen von Stackelberg Das Bild der Frau im französischen Roman des achtzehnten Jahrhunderts . . . . 135 Christian Probst Das Menschenbild der praktischen Medizin im 18. Jahrhundert, gezeigt an den Beispielen der latromechanik und des Epidemismus . . . . . . . . . . . . . . . 155 Wilhelm Schmidt-Biggemann Mutmaßungen über die Vorstellung vom Ende der Erbsünde . . . . . . . . . . . . . 171 Odo Marquard Der angeklagte und der entlastete Mensch in der Philosophie des 1 8. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 3 Wolf Lepenies Naturgeschichte und Anthropologie im 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Gerd Kleinheyer Wandlungen des Deliquentenbildes in den Strafrechtsordnungen des 18. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 .

Hans-Jürgen Schings Der anthropologische Roman. Seine Entstehung und Krise im Zeitalter der Spätaufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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. . . . . . . . . . . . 247 .

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Victor Link "A monopoly contrary to the nature and reason of things": Frühe literarische Opposition gegen Maschinen in England . . . . . . . . . . . . . . . 277

Zur Einführung

Perodisierung ist der Versuch, einen geschichtlichen Prozeß nachträglich nach in­ haltlichen Kriterien zu gliedern. Jahreszahlen können dabei nur als Markierungen und Signale gelten; denn aufeinander folgende Epochen lassen sich nicht von ihren Rändern, sondern nur von ihrer Mitte her inhaltlich bestimmen - nämlich von den besonderen, für sie charakteristischen Konstellationen der historischen Kräfte. In der deutschen Geschichte des 1 8. Jahrhunderts hat es zwischen dem Ende des Siebenjährigen Krieges und dem Beginn der Ausstrahlungen der Französischen Revolution nach Deutschland hinein eine Konstellation gegeben, die es berechtigt erscheinen läßt, diese Zeit als eine eigene Epoche zu bezeichnen. Zunächst ist suf die außenpolitische Entlastung Deutschlands hinzuweisen. Mit dem Verlust der nordamerikanischen Besitzungen und der Niederlage in Indien war Frankreich als Kolonialmacht endgültig von England überflügelt; aber auch auf dem Kontinent war seine Stellung geschwächt, seitdem es sich 1 756 mit Österreich verbündet und damit der Freiheit seiner Politik in Mittel- und Osteuropa begeben, im Kampf gegen Preußen an militärischem Ansehen verloren hatte. Seine alten Verbündeten Schweden und das Osmanenreich waren längst aus der großen Politik ausgeschieden ; in Polen hatte sich der Einfluß Rußlands durchgesetzt. Wie sehr durch den Aufstieg Rußlands, Preußens und den Wiederaufstieg Österreichs die Kräfteverhältnisse in Europa verändert waren, erwies sich am eklatantesten darin, daß Frankreich die 1 772 beginnende Aufteilung Polens unter den drei östlichen Großmächten nicht nur nicht verhindem konnte, sondern an diesem diploma­ tischen Geschäft überhaupt nicht beteiligt wurde. Auch seine Unterstützung der nordamerikanischen Kolonisten in ihrem Unabhängigkeitskampf lenkte es von Mitteleuropa ab, während sich zugleich die innere Krise seines Regierungssystems infolge mißlungener Reformen verschärfte. England war von den Vorgängen in Nordamerika und dem innenpolitischen Streit darüber in Anspruch genommen. Der Friede von Versailles 1 783 stellte den Pariser Frieden von 1 763 in den Schatten, und mit der Bewaffneten Seeneutralität ( 1 780) zeichnete sich eine antienglische Koalition der Festlandstaaten ab : eine Reaktion gegen das Übergewicht der Seemacht, die von einer wachsenden Kritik an England als dem nur vorgeblichen Land der Freiheit begleitet war. - Rußland, das sich nur IX

langsam aus dim Wirren des Regierungsantritts Katharinas II. erhob, war zunächst mit innenpolitischen Reformen und dem Vordrängen zum Schwarzen Meer beschäf­ tigt. Die Lösung der Gottorper Frage, die Stabilisierung der "Ruhe des Nordens" und das Auftreten als Garantiemacht des Teschener Friedens ( 1778) ließen die Ab­ sicht der Zarin erkennen, in Mitteleuropa den Frieden zu erhalten. Das gleichwohl der Einfluß Rußlands auf die deutsche Politik stetig wuchs - seit dem Sieben­ jährigen Krieg waren gute Beziehungen zum Zarenreich ein Gebot der preußischen Staatsräson; Joseph II. warb um die politische Gunst der Zarin, um dem preußischen Rivalen den Rang abzulaufen und um aus der Zurückdrängung des Osmanenreiches Vorteil zu ziehen; der Gewinn aus der ersten polnischen Teilung ließ Rußland weit nach Westen vorrücken! - wirkte noch nicht wie später als hemmender Druck auf die deutschen Verhältnisse, sondern trug eher dazu bei, den preußisch-öster­ reichischen Dualismus zu dämpfen. In Deutschland selber hatte sich die Machtkonstellation von 17 45 bestätigt. Preußen war neben dem "Hause Österreich" eine selbständige Großmacht geworden, gab dem deutschen Norden und dem protestantischen Deutschland ein neues Schwer­ gewicht; überdies war es in den engen Kreis der "Großen Mächte" Europas einge­ treten - ein Vorgang, der von Zeitgenossen als eine politische "Revolution" empfunden wurde. Friedrich II. wußte aber auch, daß alles darauf ankam, die erreichte Stellung zu halten und alles zu unterlassen, was sie gefährden konnte. Österreich hatte zwar Schlesien verloren, war aber doch in seiner inneren staatlichen Organisation gefestigt und mit gestärktem politischen Bewußtsein aus dem Kampf mit Preußen hervorgegangen. Beide Mächte machten die europäische Mitte stärker als zuvor. Während in Preußen eine aufgeklärt-absolutistische Regierung im "Reta­ blissement" und im inneren Staatsausbau eine ausgreifende, aber doch nur vorsich­ tig reformierende administrative Aktivität entfaltete, kamen in Österreich nach 1763 die theresianischen Reformen langsam zu Geltung; von 1 780 an steigerte Joseph II. sie zur "Revolution von oben". Die Regierungen vieler kleinerer - weltlicher und geistlicher - Staaten in Deutschland haben entweder aus eigenen Antrieben oder im So� der großen Mächte ebenfalls die Bahn einer aufgeklärten Politik betreten. Zweifellos begünstigten die relative außenpolitische Ruhe und der relative innere ·Friede - der gefährlich erscheinende Bayerische Erbfolgekrieg blieb ein begrenzter Konflikt! - für fast drei Jahrzehnte die verstärkte Hinwendung deutscher Regie­ rungen zur inneren Entwicklung ihrer Länder und zu administrativen Reformen, wozu sie ebenso durch fiskalisch-ökonomische und politisch-pädagogische wie durch aufgeklärt-humanitäre, aber auch machtpolitische und Prestigeinteressen veranlaßt wurden. Sie erkannten die Nützlichkeit einer solchen Politik für die Stär­ kung des bestehenden politischen Systems. Angeregt und unterstützt wurde die Hinwendung zur inneren Politik durch die allgemeine Bewußtseins- und Meinungs­ entwicklung, die Bildungsbewegung und den Kulturprozeß der Zeit. Daß gerade diese den entscheidenden Inhalt der Zeit ausmachten, daß ein breiter und tiefer X

"geistiger" Wandel sich damals in Deutschland vollzogen habe, wichtiger und fol­ genreicher als alle politischen Reformen, war die Überzeugung von nicht wenigen Zeitgenossen, die die "Revolution des Geistes" in Deutschland mit der politischen Revolution von 1 789 in Frankreich verglichen haben. Und auch die spätere These, daß die Deutschen sich in jener Zeit als Kulturnation bewußt geworden und damit die Grundlagen ftir die Ausbildung einer Staatsnation gelegt worden seien, hebt die allgemeine Bedeutung der kulturellen Entfaltung im späten 1 8 . Jahrhundert hervor. Die Fülle individueller Zeugnisse, wonach ftir die gebildeten Deutschen jener Zeit, also ftir die Schreibenden und Lesenden, diese Entfaltung - das Aufblühen der deutschen Literatur und Philosophie, aber auch die Entstehung eines Publikums, die zunehmende Zahl von Büchern und Zeitschriften, die Ausbildung einer litera­ rischen Diskussion und Kritik, das wachsende Interesse an Information über Ergeb­ nisse der Wissenschaften - zur prägenden Erfahrung wurde, ist überwältigend. Mit zunehmender Publizität, also der öffentlichen Behandlung eines immer mehr sich erweiternden Umkreises von Themen, über die vorher kirchliche und staatliche Autoritäten gewacht hatten, wuchs das Bewußtsein der Freiheit im Denken, wuchsen aber auch die Sicherheit im Ausdruck, der Mut zur Meinung. Dabei festigte sich die Überzeugung, daß mit Publizität, Aufklärung, Belehrung und Kritik der wesentliche Schritt zur Beseitigung von Unwissenheit und Unmündigkeit, zur Ver­ hinderung von Machtmißbrauch, zum Abbau von Vorurteilen, zur Verbesserung der Lebensverhältnisse, zur Reform auf allen Gebieten getan sei. Aufklärung der Menschen durch Erziehung und freien Meinungsaustau sch, Befähigung der Men­ schen zu verbesserndem Handeln durch Bildung, so glaubt man, mache den Unter­ tan zum Bürger, zum Patrioten. Solche Vorstellungen waren keineswegs bloß Utopien realitäts- und politikferner Schriftsteller. Sie fanden sich bestätigt durch Reformsätze aufgeklärter Regierungen, zu denen auch die freiere Handhabung der Zensur gehörte ; sie fanden aber auch darin einen Realitätsbezug, daß diejenigen, die solche Vorstellungen entwickelten und verbreiteten, als Beamte, Lehrer, Professoren, Pfarrer, Juristen etc. zu einer wenn auch meist nur engen praktischen Wirkung gelangten. Diese Gebildeten waren es, die die kulturelle Bewegung des späten 1 8. Jahrunderts trugen: nicht "das" Bürgertum, sondern eine Gruppe Gebildeter vornehmlich bürgerlicher, aber auch adeliger und klein-, selbst unterbürgerlicher Herkunft. Sowohl die eigene· intellek� tuelle, moralische und Bildungsentwicklung als auch die Erfahrung der Zugehörig­ keit zu einer wachsenden Gruppe Gleichdehkender und -strebender ließ sie an die Ausbreitung der "Aufklärung", des kulturellen Fortschritts auf die ganze Gesell­ schaft und auch in die Politik, die Justiz, das Wirtschaftsleben hinein glauben. Sie hielten die Begrenzung der Macht durch Eirtsicht der Regierenden und durch den Druck der öffentlichen Meinung auf sie f1.lr möglich; und sie glaubten an die Macht der Vernunft, wenn ihr Weg freigeräumt werde, wenn vor allem die Menschen XI

durch Erziehung in den Stand versetzt würden, von ihr den ihnen möglichen Ge­ brauch zu machen. Mehr oder weniger waren sie überzeugt, daß das Vernünftige auch das Nützliche, das gute auch das Praktische, das Schöne auch das Bessere sei. Das alles war und sollte nicht nur Theorie sein, sondern die Praxis erreichen. Der "Patriotismus", den sie forderten, war ein politischer Moralismus in praktischer Absicht; was sie schrieben, sollte die Leser mit Kenntnissen ausstatten, zum Denken und zum besseren Leben anleiten, zu ihrer moralischen und ästhetischen Bildung beitragen; die Wissenschaften sollten praktische Verbesserungen bewirken. Wie weit aber wurde Praxis wirklich erreicht? Im Schulwesen, im Strafvollzug, im Landbau etc. kam vieles in Gang. Patriotische und gemeinnützige Gesellschaften traten zusammen, sorgten für die Verbreitung nützlicher Kenntnisse und stießen technische Innovationen an. Moderne Vorstellungen der Zeit drangen in Gesetz­ gebung und administrative Praxis ein. Es war also nicht bloß Wunschdenken und Selbsttäuschung der Gebildeten, wenn sie der Überzeugung vielfachen Ausdruck gaben, daß ihre Gegenwart mehr als frühere Zeiten von der tagtäglichen Arbeits­ praxis bis zur politischen Verfassung offen für Reformen sei. Ihr Optimismus erfuhr jedoch, schon vor 1 789, schwere Rückschläge. Dadurch, daß die tatsächlichen Machtverhältnisse kritisiert und uminterpretiert, z. B. die Monarchie auf das Prinzip des Gesellschaftsvertrags gestellt und die Ständeordnung staatsfunktionalistisch begriffen wurden, konnten sie allenfalls infragegestellt und vielleicht in Bewegung gebracht, aber noch nicht wirklich verändert werden. Die administrative Praxis war nicht dadurch schon eine andere, daß sie einer aufgeklärten Zielsetzung diente. Aufgeklärte Regierungen erhoben in der Ausübung ihrer Gewalt nicht weniger absolute Ansprüche als ihre Vorgänger, sondern hielten sich zur Bevormundung und zum Eingriff in alle Lebensbereiche dadurch eher noch mehr berechtigt, daß sie Reform zu ihrem Ziel machten. Die Gebildeten mußten überdies erkennen, daß sie große Teile der Bevölkerung, vor allem die Unterschichten, noch nicht erreichten, ihre Sprache nicht sprachen, das Werk der Aufklärung und Bildung also viel lang­ fristiger und schwieriger war als sie angenommen hatten. Dadurch aber wurde die verbreitete Neigung verstärkt, den Fortschritt im wesent­ lichen von der Verwaltung und von der Erziehung zu erwarten. Denn zu einer revolutionären Änderung des politischen und sozialen Systems waren die Gebil­ deten weder bereit noch in der Lage; sie fürchteten revolutionäre Vorstöße aus der Masse der Bevölkerung ebenso wie sie sich scheuten, die Massen zur Unterstützung ihrer Reformziele aufzurufen. Glaubten sie doch - und sahen sich durch die Vor­ gänge in Frankreich seit 1789 darin bestätigt - , daß Volksrevolutionen den be­ tretenen Weg der kontinuitätssichernden Reform verschütten und den Despotismus einzelner durch den Despotismus der Masse ersetzen müßten. Ich will die einführenden Bemerkungen über die Eigenart der Epoche zwischen 1 763 und 1790 hier abbrechen. Soviel mag deutlich geworden sein, daß XII

1 . Deutschland im späten 18. Jahrhundert in der Situation eines "Entwicklungs­ landes" war, in dem das Bewußtsein für die Notwendigkeit politischer und sozialer Reformen sich ausweitete. Da viele, die so dachten, diese Reformen sich nur als Maßnahmen der Regierungen erfolgversprechend vorstellen konnten, ist diesen eine große Erwartung entgegengebracht worden, die bei den Regierungen und Verwaltenden das Bewußtsein verstärkte, das allgemeine Wohl besser als die Bevölkerung selber zu kennen und zu fördern. 2. Die am stärksten motivierte Gruppe in der deutschen Gesellschaft des späten 1 8. Jahrhunderts, die Gebildeten, erfuhren in jener Zeit eine außerordentliche Stärkung ihres Selbstbewußtseins; ihre Bereitschaft zu .,patriotischem" Engage­ ment aber lief sich vielfach an den Verhältnissen fest. 3. Die Zeit zwischen 1 763 und 1 790 war - sozial und politisch gesehen - weniger eine solche der Emanzipation als der Antizipation. Sie hat jedoch ein Potential an Menschen und Ideen bereitgestellt, das für die weitere Entwicklung von ent­ scheidender Bedeutung war, wenngleich diese Entwicklung noch lange durch Traditionen behindert blieb und spezifische Verspätungen aufwies.

4. Das Urteil über die allgemeine Bedeutung der kulturellen Entfaltung in Deutsch­ land zwischen Siebenjährigem Krieg und Französischer Revolution kann sich mit der pauschalen Feststellung ihrer politischen Folgenlosigkeit oder ihrer kompensatorischen Funktion oder mir der Erklärung, die Deutschen seien wohl zu geistigen, nicht aber zu politischen Innovationen geeignet, nicht begnügen. Vielmehr ist die sensibilisierende Wirkung der kulturellen Entfaltung auch für den Bereich des sozialen und politischen Lebens hervorzuheben. Es muß erkannt werden, was sie für die Ausbildung des öffentlichen und des nationalen Bewußt­ seins, für das Selbständigwerden des Denkens und Empfindens, für die allge­ meine Bildungsentwicklung bedeutet hat. Allerdings muß auch gefragt werden, ob deutsche Möglichkeiten durch die Auswirkungen der Revolution im Nachbar­ land, vor allem durch Napoleons Intervention abgebogen und überlagert oder welche dadurch erst freigelegt worden sind. RudolfVierhaus

XIII

Reinhart Kosetleck Sprachwandel und sozialer Wandel im ausgehenden Ancien Regime

Im November 1782 bewarb sich der Baron von Massenbach, aus dem Kraichgau kommend, bei Friedrich dem Großen um eine Offiziersstelle. Nach bestandener Prüfung in Trigonometrie, Mathematik und Fortification wurde er vom König in Sanssouci empfangen. Dabei fragte ihn der König: ",In der Gegend von Heil­ bronn wohnt Sein Vater? - Hat Er das Lager gesehen, das die Österreicher in dieser Gegen gehabt haben?' (Der Baron antwortete) : ,Ja ! Eure Königliche Majestät, es war eigentlich bei Sontheim ; die rechte Flanke war durch den Neckar gedeckt, die linke stand in der Luft. Ein Angriff auf die linke Flanke hätte die Kaiserlichen ich korrigierte mich und sagte, die Österreicher in den Neckar geworfen.' Der König 1 sah mich mit durchdringendem, forschem Blicke an. -"

Der Baron von Massenbach hat uns nicht verraten, was hinter des Königs Stirne vor sich ging. Aber wir dürfen es vermuten. Stellte sich da nicht ein fragwürdiges Subjekt vor, ein Süddeutscher, der reichstreu von den Kaiserlichen sprach statt von den Österreichern? Immerhin, er hat sich korrigiert. So wechselte der Alte Fritz das Thema und stellte schließlich den Baron ein, der dem preußischen Staat später noch viel Ärger bereiten sollte. Der Benennungswechsel von den ,Kaiserlichen' auf die ,Österreicher' enthielt eine politische Option. Wir kennen einen ähnlichen Wortverdrängu ngsvorgang und Wortgebrauchswechsel im Laufe unserer Generation: von der SBZ bzw. Ostzone über die "DDR" zur DDR pur. - Wer 1782 im Kaiser nur den Österreicher sah, der partizipierte durch seine Sprechweise an einem schleichenden, aber du rch die Schlesischen Kriege schubweise vorangetriebenen Verfassungswandel des Deut­ schen Reiches. Nicht mehr der Kaiser wurde apostrophiert, denn das hätte seine Rangstellung über dem Kurfürsten von Brandenburg herausgestrichen, sondern sein Lager wurde politisch-geographisch verortet Die Österreicher rückten in ein räum­ liches Gegenüber zu Peußen, so daß dessen potentielle Gleichrangigkeit zumindest sprachpragmatisch hergestellt wurde. In der zeremoniell normierten Umgangssprache der höfischen Welt und ihrer stän­ dischen Rangordnung, der unser Zeugnis entstammt, hatte eine solche Wortwahl großes Gewicht. Mit der Umbenennung des gegnerischen Lagers veränderte sich 15

perspektivisch auch der Sachverhalt. Eine Auseinandersetzung zwischen Berlin und Wien vollzog sich dann nicht mehr zwischen rangverschiedenen Fürsten des Deutschen Reiches, sondern wurde zum Konflikt zwischen zwei Ländern, genauer gesagt, zwischen zwei gleichberechtigten Staaten. - Nun besteht freilich historisch gesehen kein Zweifel daran, daß diese Umbenennung, die der Baron von Massen­ bach im Gespräch mit Friedrich II. nachvollzog, nur möglich war, weil die euro­ päische Politik des Hauses Habsburg seit langem und weil die vergangeneo vierzig Jahre Friederizianischer Politik den Sachverhalt bereits de facto geändert hatten. Sonst hätte sich vermutlich unser Baron gar nicht nach Berlin begeben, um unter den Fahnen des von ihm verehrten Monarchen zu dienen. Unser Beispiel liefert den authentischen Fall geänderter Sprechweise - um nicht schon den ,Sprachwandel' zu bemühen - , der zum Wandel des politischen und sozialen Sachverhalts in einer bestimmbaren Beziehung steht. Wir lassen hier zu­ nächst die Frage nach der Priorität offen, ob die veränderte Redeweise dem Sach­ wandel vorausgegangen sei oder umgekehrt. Denn diese Frage kann für den Ber­ liner Hof, wenn überhaupt, sinnvoll nur gestellt werden, wenn wir die despektier­ lichen Ausdrücke des jungen Fritz über die ungarische Majestät der Maria Theresia kennenlernten, bevor er seine machtpolitischen Erfolge hatte. Kehren wir uns vom ersten Beispiel ab, das mehr außenpolitische und völkerrecht­ liche Implikationen hatte und wenden wir uns einer Beispielreihe zu, die staats­ rechtliche Fragen aufrollt. Es ist seit der antiken Sophistik und in der christlich-stoischen Tradition ein abend­ ländisches Thema geblieben, - freilich nicht nur ein Thema des Abendlandes wie der gute Fürst zu bestimmen sei. Die daraus entfachte Diskussion gelangte nun im 1 8. Jahrhundert durch die aufklärerische Kritik an der Despotie auf einen Höhe­ punkt, der zugleich eine epochale Peripetie einleitete. Denn die fürstliche Herr­ schaft wurde zunehmend mit Despotie schlechthin gleichgesetzt, so daß die monarchische Verfassungsform schließlich aus der Zahl theoretisch legitimierbarer Verfassungen ausgeschieden wurde. Dafür einige Zeugnisse. 1 779 veröffentlichte der Göttinger Briefwechsel meist historischen und politischen Inhalts ein semantisches Vademecum für reiselustige Deutsche.2 Der Artikel, - ,Varianten in der politischen Terminologie' über­ schrieben - stellte fest: "Die Staatswissenschaft hat ihre eigene Terminologie . . . In ihren Hauptsätzen ist man jetzt in dem aufgeklärten Teile Europas so ziemlich eins: Aber in dem Ausdruck dieser Sätze gibt es immer noch Varianten. Und diese Varianten sind in der Politik bei weitem wichtiger als injeder anderen Wissenschaft." Der Privatmann müsse sich deshalb "zu seiner eigenen Sicherheit ein geographisch­ politisches Variantenregister" halten, und das wolle der Artikel liefern. Die Grund­ frage, die der Privatmann zu seiner Sicherheit jeweils richtig beantworten können muß, lautete, ob der Fürst nur Fürst, also Despot, oder ob er auch Mensch sei. 16

Offen blieb hier, was für ein Mensch. Moser hat die Frage bald darauf präzisiert: "Der Mensch steckt nicht im König, der König steckt im Menschen, und wie der Mensch ist, so ist der König. "3 Diese Bestimmung blieb noch tief in der stoischen Tradition und im Herkommen der christlichen Zweiweltenlehre aufgehoben, - eine Bestimmung, die im gleichzeitigen Frankreich sehr viel radikaler formuliert wurde, worauf ich gleich zu sprechen komme. Jedenfalls wurde der Monarch als Souverän auch in Deutschland Kriterien unter­ worfen, die seine Souveränität naturrechtlich, moralisch oder ·nach Maximen des gesellschaftlichen Wohles einzuschränken geeignet waren. Wenn man so will, nahm Friedrichs des Großen geflügeltes Wort vom ,Ersten Diener seines . Staates' die Einschränkung als Selbstbindung vorweg. Der Bedeutungsraum des Begriffs ,König' wurde nicht nur moralisch, sondern auch politisch in neue Sinnhorizonte gestellt. Beide Vorgänge 'verweisen auf einen langfristigen und langsamen Wandel des ihm zuzuordnenden sozialen und politi­ schen Sachverhaltes. Der Wandel manifestiert sich schließlich im staatsrechtlich normierten Wortgebrauch, der im Preußischen Allgemeinen Landrecht den Monar­ chen und das Gemeinwesen in einen Zusammenhang brachte, wie er im Zeitalter des Absolutismus so nicht gesehen werden konnte. Ich spreche vom 13. Titel des Zweiten Teils dieses berühmten Gesetzbuches, der die ,Rechte und Pflichten des Staates überhaupt' festlegte. Dieser Titel wurde von vielen Zeitgenossen stürmisch begrüßt, aber ebenso von anderen als ungeheuerlich empfunden und zurückgewiesen. Da war die Rede von Rechten und Pflichten, die nicht etwa einer Person zugeordnet wurden, sondern einem Abstraktum : dem Staat. Und um diesen Überschritt zu verdeutlichen, sprach der Gesetzgeber sogar vom ,Staat überhaupt' obwohl das Landrecht selber in legaler Sprechweise für die Summe derverschiedenen preußischen Staaten im Plural erlassen worden war. Gleichwohl wurde einer der modernen, damals zahlreich entstandenen Kollektivsingulare in den Gesetzestext eingeschleust, nämlich der ,Staat überhaupt', der Rechte und Pflichten zu wahren hatte. Kein Wunder, daß dieser Titel noch lange umstritten blieb, staatsrechtliche j edenfalls bis zur Verfas­ sungsstiftung von 1850 und im politischen Diskurs noch lange darüber hinaus,

man brauche nur an die von Bismarck bevorzugte Wortverwendung von König vor Staat zu erinnern.

Die sprachliche Innovation wird deutlicher, wenn gezeigt wird, wie dieser Titel vom ,Staat überhaupt' den politischen Stellenwert des Monarchen, zumindest potentiell, verschoben hat. Der Paragraph 1 des genannten Titels lautete : "Alle Rechte und Pflichten des Staates gegen seine Bürger und Schutzverwandten verei­ nigen sich in dem Oberhaupte desselben." Dieser Satz läßt sich zunächst traditionell lesen, daß nämlich der Monarch Repräsentant des Gemeinwesen sei, für das er

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persönlich einsteht. Dann konnte er auch ,Souverän' genannt werden, ihm gebührte dann die Anrede der Majestät. Aber die Verfasser des Landrechts vermieden es geflissentlich, vom ,Monarchen' zu sprechen, weil dann die Bestimmung der Staatsform theoretisch festgelegt worden wäre. Das hätte ihrer aufgeklärten Sichtweise widersprochen, die auch eine Monarchie nur vom Staatszweck her, mit Kant zu sprechen, republikanisch legiti­ mierte. Ebenso vermieden sie den völker- und staatsrechtlichen Titel ,Souverän', weil dann die strittige Frage aufgedeckt worden wäre, ob es sich um eine persönliche oder um eine staatlichen Souveränität handele. Ferner vermieden sie den Aus­ druck ,König', weil damit eine ständische Rangbezeichnung, im Reich gar minderem Grade als des Kaisers, und ein Titel staatsrechtlich festgeschrieben worden wäre, der sich nur von der außerhalb des Reiches gelegenen Provinz Preußen ableiten ließ. Selbstverständlich verzichteten sie schließlich darauf, die persönliche Anrede ,Majestät' in einen Gesetzestext einzubringen, der generelle Normen aufstellte. Statt dessen führten sie den Ausdruck des ,Oberhauptes im Staate' (§ 2) ein. Sie sprachen nicht einmal vom Oberhauptes des Staates, um die vorgeordnete Stellung des Staates vor seinem Oberhaupt ja nicht zu vertuschen. Was ist nun der semantische Befund dieses Titels? Rein wortgeschichtlich gesehen kann man sagen, daß alte Ausdrücke weiter verwendet wurden. Ich erspare mir, die Konvergenzzone von ,überhaupt' und ,Oberhaupt' zu apostrophieren. Hier lag, heim Wort genommen, sogar politischer SprengstofT verborgen. Vom Staat im juristisch gemeinten Sinne einer überständischen Organisation mit letzter Instanz wurde schon vorher gesprochen und auch von seinem Oberhaupt konnte zuvor ge­ sprochen werden. Insofern liegt wortgeschichtlich scheinbar kein Wandel vor. Und doch ist in der Wortverwendungsweise, vor allem in der Zusammensetzung des ,Oberhauptes im Staate' und in der Begriffsbildung des ,Staates überhaupt' eine Neuerung zu erkennen. Es handelt sich um Nuancen der Wortverwendung, die gleichwohl zu einem neuen Staatsbegriff hinführten und insofern auch einen neuen Sachverhalt registrierten, jedenfalls intendieren sollten. Das sei kurz erläutert. Der Ausdruck des Oberhauptes entstammt der organologi­ schen Metaphorik, es handelt sich um das ,caput', französisch den ,eher, um den Kopf, der den Staatskörper von oben nach unten innerviert und leitet. Insoweit war es zunächst eine Metapher des politischen Diskurses, die seit der Antike und im christlichen Sinnzusammenhang immer weitergereicht und verwendet worden war, um die Aufgaben eines Herrschers zu umschreiben. Diese metaphorische Um­ schreibung rückt nunmehr im Gefolge der aufklärerischen Staatsformdebatte auf zu einer Funktionsbestimmung in staatsrechtlicher Absicht. Wenn mit Kant nicht mehr nach der persönlichen Herrschaftsweise (forma imperii) gefragt wird, sondern nach der Regierungsform (forma regiminis), dann verschiebt sich der Sinn des weiter­ verwendeten Wortes ,Oberhaupt'. Der Monarch wird zum Oberhaupt, indem er auf 18

seine Aufgaben festgelegt wird, im vorgegebenen Staate dessen Rechte und Pflichten zu wahren und zu verwalten. Anders gewendet, die Funktionsbestimmung wird staatsrechtlich normiert, das Oberhaupt gewinnt seine Stellung aus dem neuen Begriff des Staates überhaupt. Von göttlichen oder erblichen Rechten des Souveräns ist keine Rede mehr, der ,König' wird verdrängt, die aufgeklärte Staatstheorie ver­ wandelt ihn in einen Funktionsträger, und diese Verwandlung wird juristisch fest­ geschrieben .. Was also wortgeschichtlich unscheinbar war, indizierte begriffs­ geschichtlich einen Wandel, der insofern auch Sprachwandel genannt werden mag, als er etwas Neues auszudrücken erlaubte. Aus der Metapher wird ein eigen­ ständiger, staatsrechtlich einlösbarer Begriff. Nun wird man sofort die Frage aufwerfen, ob der neu e Wortverwendunszusammen­ hang, der einen neuen Begriffvom Staat festschrieb, auch einen gewandelten Sach­ verhalt aufzeigt. Man mag füglieh bezweifeln, ob der zitierte staatsrechtliche Titel überhaupt mit dem persönlichen Regiment des Alten Fritz vereinbar war. Sicher hat der Titel auch versucht, dessen moralische Aura eines ersten Staatsdieners in einen Paragraphen zu bannen. Noch mehr wird man anzweifeln können, ob die staats­ rechtlichen Paragraphen von Friedrichs Nachfolger, von Friedrich Wilhelm II., jemals akzeptiert worden sind. Dann aber hätten wir einen authentischen Fall dafür, daß hier von den Juristen eine Sprachregelung getroffen wurde, die oberhalb aller ständischen Rechtstitel einen modernen Staat intendierte, ohne daß seine Verfassungswirklichkeit schon auf die Höhe dieser Norm gebracht worden wäre. - Freilich stellt im gesamten Sprachhaushalt diejuristische Terminologie, speziell die des Staats- und Verfassungsrechtes immer einen besonderen Fall dar. Denn die Wirklichkeit hängt in administrativ und jurisdiktioneil vollziehbarer Weise auch von der Geltungskraft der sprachlichen Satzungen ab. Wenn nun die sprachliche Neusetzung mehr zu normieren versuchte, als damals empirisch einlösbar war, so wäre der Begriffswandel dem intendierten sozialen und politischen Wandel vorausgeeilt. Aber lassen wir auch hier die delikate Frage nach der Priorität von Sprach- oder Sachwandel zunächst ruhen. Sicher kann man sagen, daß ohne das zeitlich vorausgegangene Regiment Friedrichs des Großen der neue Begriff eines ,Staates überhaupt' und seines ,Oberhauptes' 179 1 nicht hätte legalisiert werden können. Ebenso sicher läßt sich dagegen sagen, daß der neue Begriff des Staates überhaupt der ständischen Wirklichkeit der preußischen Gesell­ schaft von 179 1 unangemessen war und insofern deren Wandel oder Reform zu provozieren geeignet schien. Die Erfahrungen der vorausliegenden Zeit und eine zukunftgerichtete Intention gingen aufunterscheidbare Weise in den normierenden Sprachgebrauch ein. Wir dürfen deshalb festhalten, daß die sprachliche Innovation und der empirische Sachverhalt, der normiert und das hieß unter Wandlungsdruck gesetzt wurde, nicht rundum übereinstimmten. 19

Jenseits des bisher geschilderten moralischen und juristischen Sprachgebrauchs sei noch auf eine weitere Innovation hingewiesen, die die Monarchen im letzten Drittel des Jahrhunderts unter andere, provokative, Kriterien zu stellen geeignet war. Im Maße, als der ,Mensch' von den sogenannten Stürmern und Drängern empathisch aufgeladen wurde, gerieten auch die Herrscher unter einen Individuali­ sierungszwang : sie mußten sich sozusagen ganz persönlich ausweisen, wenn sie vor der Kritik bestehen wollten. Im Horizont des Geniekultes erwiesen sich dann die verschiedenen Verhaltens­ weisen und Eigenschaften der Herrscher nicht mehr als Fügung und Schickung, die der Untertan hinzunehmen hatte. Vielmehr gerieten die Herrscher unter eine Urteilsskala, die vom Bösewicht bis zum Hochmenschen, zum Kraftmenschen, zum Übermenschen reichte. So empfand auch unser Kronzeuge, Baron von Massen­ bach, als er sich dem Alten Fritz gegenüber sah. Er fühlte sich so, "als näherte sich (ihm) ein überirdisches Wesen".4 Damit war nicht mehr die absolutistische Gott-Königsanalogie beschworen worden, sondern die Einzigartigkeit des Genies. Das zeigt uns auch das Attribut, das Friedrich als Herrscher kennzeichnen sollte. Friedrich II. erhielt von seinen Zeitgenossen noch nicht, jedenfalls nicht nur, den Beinamen des Großen. Zunächst wurde er - seit der Jahrhundertmitte - als ,Friedrich der Einzige' stilisiert. In der langen topologischen Reihe der Herrscher­ Epitheta ist dieser Ausdruck nun ebenfalls neu. Er ist weder allgemein und wieder­ holbar wie die Auszeichnung ,des Großen', noch nennt er nur individuelle Eigen­ schaften, wie etwa dick, faul oder klumpfüßig zu sein, welche Attribute an der Be­ nennung früherer Monarchen hängenblieben. Vielmehr wird hier d!e Einmaligkeit als solche apostrophiert. ,Friedrich der Einzige' wird gleichsam historistisch an der ganzen Geschichte gemessen und zum unvergleichbaren, unverwechselbaren Herr­ scherindividuu m hochstilisiert. Damit wurde eine Begriffsbestimmung getroffen, die seitdem, besonders im Kontext der cäsaristischen Führerfiguren, nicht mehr aus dem politischen Wortschatz verschwunden ist. Sie läßt nur noch Superlative zu. In der damaligen Situation war das neue Epitheton des Einzigen gleichsam eine bescheidene Vorausdefinition für "Napoleon", der von seinen Anhängern als schlechthin einmalig erachtet wurde. Und der Baron von Massenbach gehörte denn auch zu jenen Preußen, die nach der Katastrophe von 1 807 beide Figuren kritisch gegen den reformbedürftigen preußischen Staat ausspielten. So steht neben der moralischen Perspektive und der juristischen Normierung des Staatsoberhauptes eine umgangsprachliche Innovation, die den absoluten Herrn und König neu stilisiert hat. Dabei fällt ein Schlaglicht auf die brüchig werdende absolutistisch-ständische Sozialordnung. Der Monarch, speziell der Alte Fritz, ge­ wann nolens volens eine Legitimität, die sich, statt auf göttlichem oder erblichem Recht zu gründen, auf den geschichtlichen Erfolg berief, dessen Akklamations­ raum sich ständischer Zuordnung entzog. 20

Wenn wir jetzt unseren Blick auf das Frankreich in der gleichen Zeitlage lenken, so stoßen wir auf eine Kritik an Friedrich II. von Preußen, die es in anderer Weise natürlich im deutschen Reiche auch gab. Aber die französische Kritik enthält theore­ tische Verfassungsansprüche, die sehr viel weiter reichten, als es im damaligen Deutschland denkbar war. Das sei an sogenannten Sprachhandlungen erläutert, kraft derer sich eine revolutionäre Verfassungstheorie praktisch äußerte. So heißt es z. B. bei Raynal in seiner berühmten ,Histoire ... des deux Indes', Europa habe Friedrich den Namen des Philosophenkönigs gegeben. Gut, aber er täte besser daran, sich den Titel eines Bürgerkönigs, des ,roi citoyen', zu verdienen. s Dies war das Signalwort, mit dessen Hilfe die Monarchie grundsätzlich in Frage gestellt werden konnte. Die angegriffenen Vertreter der oberen Stände, speziell das Pariser Parla­ ment und die Theologische Fakultät der Sorbonne haben das unschwer erkennen können und dementsprechend gehandelt. Raynals Buch wurde 178 1 verboten und verbrannt, weil es die monarchische Souveränität schlechthin mit Tyrannei und Des­ potie gleichgesetzt habe, 6 was darzutun ohne Zweifel die politische Absicht von Raynal gewesen war. Um seine revolutionäre Wortbildung des ,roi citoyen' richtig zu placieren, bediente sich nun Raynal einer weiteren sprachlichen Innovation, deren polemische Pointe verletzten sollte. In seinem Aufruf an Friedrich hat er nämlich den König geduzt. Mehr noch, einige Seiten zuvor hat er sogar seinen eigenen ,Herrn', Ludwig XVI., geduzt, um ihn moralisch frontal angreifen zu können. Damit bediente sich Raynal einer Sprechweise, die grammatisch natürlich immer möglich, von den antiken Autoren stets verwendet und in der Panegyrik auch standesgemäß gepflegt wurde. Als Wendung der sozialen und politischen Umgangs­ sprache freilich war das Duzen des Königs tabuiert. Die Sonderstellung des alten Fritz läßt sich deshalb daran messen, daß er von seinen Soldaten und von der Berliner Unterschicht geduzt werden konnte. In die französische Schriftsprache transponiert sollte dagegen das Duzen des Monarchen einen kritischen Aufklärungs­ effekt erzielen und längerfristig gesehen einen sozialen und politischen Wandel in. duzieren. Diderot griff in einem seiner letzten, in einem großartigen, Brief mit Verve diese Passagen auf. Friedrich sei ein großer Mann, gewiß, aber ein schlechter Mensch, ein Tyrann, ein gefährlicher Nachbar und ein verachtenswerter Monarch. Wer Könige duze - tutoier les rois - , verwandele sich aus einem Untertan in einen ,depute de Ia nation', in einen Vertreter der Tugend, der Vernunft, der Gleichheit und der Humanität. Das Ziel war, einen Verfassungswandel zu erreichen. Wer den König als seinesgleichen behandelt, mehr noch, wer ihn durch das Duzen seiner Majestät entkleidet, der wird im gleichen Akt zum ,depute de Ia nation', womit Diderot gleich den Namen schuffür den kommenden Träger der neuen verfassungs­ politischen Rolle.7 Diderot, der im anonymen, im geheimen Hintergrund verbleibende Pointenstifter von Raynals Werk, hat damit erläutert, warum die Könige geduzt werden sollten. 21

Mit diesem Sprachakt verändert sich spontan das soziale und politische Umfeld. Es werden bisher geperrte sprachliche Möglichkeiten aktualisiert, die zunächst Bewußtsein und Verhalten der Sprechenden verändern sollten - und auch tatsäch­ lich verändert haben. Halten wir einen Moment inne und stellen wir die öfters aufgeschobenen Frage nach der Priorität des sozialen oder des sprachlichen Wandels. Schon die früheren Beispiele, aber gewiß das letzte hat uns gezeigt, daß es offenbar falsch ist, einen sprachlichen und einen sozialen Wandel antithetisch gegenüber zu stellen. Es ist trivial, aber wichtig festzuhalten, daß die gesprochene Sprache immer intersubjektiv, sozial ist. Das gilt natürlich in fortwirkender Weise für die gedruckte Schriftsprache, die auf Konsum und Lenkung zwischenmenschlicher Kommunikation angelegt ist. Insofern fallen in unserem letzten Beispiel, im Appell, den König zu duzen, der Wandel der Sprechweise und sozialer Wandel unmittelbar zusammen. Ändert sich die Sprechweise, so ändert sich eo ipso auch das eigene Verhalten und mit ihm der zwischenmenschliche Kommunikationsraum. Als Raynal den König duzte, jedenfalls schriftlich ihn so anredete und in hoher Auflagenzahl diese Anrede publizierte, da formulierte er einen Satz, der jedes hö­ fische Zeremoniell durchschlug, jede ständische Schranke niederlegte, den König vom Thron holen und den künftigen Brutus rechtfertigen sollte. Seine Sprach­ handlung im schriftlichen Medium war selbst schon ein sozialer Änderungsschub, denn zuvor hätte niemand in Frankreich so zu schreiben oder gar zu drucken gewagt. Jedenfalls beim Schreiber, potentiell auch beim Leser, wurde ein neuer Bewußtseinsstand erzielt. Denn Ludwig XVI wurde durch Raynals Sätze zunächst nur indirekt tangiert. Erst zwölf Jahre später versuchte er vergeblich - und zu spät -, sich dem neuen Sprachgebrauch anzupassen, indem er sich als Angeklagter auf die Position eines ,Citoyen', eines ,homme accuse' zurückzog. Er wurde in St. Justs Worten nicht mehr als Mensch anerkannt, sondern als Monarch behandelt und d. h. als Feind vernichtet e .

Wenn wir schon die Prioritätsfrage stellen wollen, so haben wir hiermit ein Zwischen­ ergebnis, das uns zu einer differenzierenden Antwort nötigt: sprachlicher und sozialer Wandel fallen zusammen, soweit jede Änderung einer Sprechweise selbst immer schon sozialer Natur ist. Aber sprachlicher und sozialer Wandel sind offen­ bar immer auch etwas Verschiedenes und unterscheidbar. Darüber hat uns die zeit­ liche Differenz belehrt, die zwischen dem Duzen der Könige und deren Beseitigung liegt ; und darüber hat uns ebenso die zeitliche Differenz belehrt, die zwischen der staatsrechtlichen Definition der Rechte und Pflichten eines Oberhauptes im Staate herrscht und der tatsächlichen Rolle, die Ludwig XVI königlicher Bruder, Friedrich Wilhelm II. in Preußen gespielt hat. .

Was jeweils wo gesprochen wird, verweist uns immer zugleich auf mehr und auf weniger als in der sozialen Lage der Sprechenden enthalten ist. Veränderungen 22

in den Sprechweisen können sowohl im Rückgriff auf veränderte Situationen ein­ treten wie im Vorgriff auf erst in Zukunft zu verändernde Situationen erfolgen. Wie sahen nun die französischen Aufklärer selbst das Verhältnis an, das zwischen Sprachwandel und s�ialem-politischem Wandel herrsche? Dazu nur ein Hinweis, ohne auf die Forschungslage einzugehen. e Es kennzeichnet die französische Aufklärung, daß sie in hohem Maße sprachbewußt gehandelt hat, die Sprache instrumentell in provokativer Weise zu handhaben lernte. Insofern verwundert es nicht, daß die Aufklärer selber ihre Sprachhandlungen als Vorgriff auf sozialen und politischen Wandel begriffen und deuteten. Diderot gestand, daß ihm diese Funktion der Sprache erst während der Arbeit an der Enzyklopädie ganz klar geworden sei. Er definierte es als Aufgabe dt'l" Enzyklopädie, den vermutlich endlich begrenzten Raum aller möglichen Fortschritte auszu­ messen, um der tatsächlichen Entwicklung vorauseilend schon heute "ftir die kom­ menden Generationen zu arbeiten". "Aber die Kenntnis der Sprache ist die Grund­ lage ftir alle diese großen Hoffnungen; sie werden unerftillt bleiben, wenn die Sprache nicht in ihrer ganzen Vollkommenheit festgelegt und der Nachwelt überlie­ fert wird, und deshalb ist dieser Gegenstand der allerwichtigste, mit dem Enzyklopädisten sich gründlich beschäftigen sollten. Wir haben dies leider zu spät bemerkt, und diese Unachtsamkeit hat zur Unvollkommenheit unseres ganzen Werkes geführt". Es geht hier nicht darum, die normative Utopie dieses Programms herauszustreichen. Diderot behielt selber seine Zweifel, ob �s überhaupt möglich sei, die gesamte Sprache durch Definitionen verständlich zu machen. Immer wieder entziehe sich die Sprache einem solchen Unterfangen. Wie könnten z. B. fest­ geschriebene, isolierte Wörter überhaupt Wandel und Veränderung erfassen? So solle man wenigstens alle sprachlichen Möglichkeiten ausschöpfen, etwa zu den vor­ handenen Adjektiven alle denkbaren Substantive bilden wie umgekehrt zu allen Substantiven die entsprechenden Adjektive. "Das bedeutet ein ergiebiges Reservoir, aus dem unsere Sprache noch sehr viel zu ihrer Bereicherung schöpfen kann". 1 o Diese Sprachtheorie steht jedenfalls im Bann einer Perfektion, deren Zielbestim­ mung endiich begrenzt blieb. Es handelte sich hier noch um Aktualisierung von vorgegebeHen Möglichkeiten, nicht um Sprachstiftungen und Innovationen in eine offene Zukunft hinein. Aber der Vorgriff in die Zukunft, auf den zu erreichenden technischen, sozialen und politischen Wandel wird jedenfalls von Diderot grund­ sätzlich als eine primär sprachliche Aufgabe definiert, als eine Aufgabe, genauer gesagt, die ohne Reflexion auf die zu ordnende Sprache selber nicht zu lösen sei. Wir haben Diderots programmatische Analyse von Raynals Sprechhandlungen kennengelernt Mit wachsendem Erfolg in der Öffentlichkeit steigerte sich dann der Erwartungsgrad der politischen Sprachplaner. In der Französischen Revolution selbst findet sich alsbald eine ganze Klasse optimistischer Sprachpolitiker, der ,propagandistes' um sie unter ihrer neuen Selbstbenennung zu zitieren. Es war 23

"une espece d'Association, ayant pour but de Propageries principes et les mouve­ mens revolutionnaires." 1 1 Aus· ihren Reihen entstammte das Nouveau Diction­ naire Historique 1 79 1 , das glaubte, die Worte, die Parolen als letzte Instanz des politischen Lebens definieren zu können." Les paroles nationales seront souverains de tous des souverains". 1 2 Was war nun an diesem unübertrefflichen Diktum neu? Es ist nicht die Macht der Worte, sondern die Macht der gemachten Worte. Seit Thukydides' politischer Semantik ist es eine immerwieder bestätigte Erfahrung, �aß sich politische Entscheidungsprozesse im Medium von Wortbedeutungs­ änderungen vollziehen. So sprach etwa Babeufvom dictionnaire der Paläste, dessen Wortbedeutungen das genaue Gegenteil dessen meinten, was man in den Hütten darunter verstünde. Was die französischen Propagandisten auszeichnete, war die Stiftung oder die geplante Verwendung solcher Worte und ihrer neuen Definitionen. Aufgrund ihrer Erfahrungen aus dem vergangeneo Jahrhundert glaubten sie sich berechtigt und imstande zu sein, mit Hilfe ihrer Parolen den revolutionären Prozeß souverän vorantreiben zu können. Anders gesagt, der sprachliche Vorlauf vor den zu erzielenden Änderungen in der sozialen und politischen Welt gehörte zu ihrer progressiven Selbstvergewisserung. Dazu ein letztes Zeugnis - die Selbstdarstel­ lung des republikanischen Autorenkollektivs des französischen Akademiewörter­ buches von 1799. Die Autoren, deren Reihen sich im verflossenen Jahrzehnt durch Gouillotine oder Emigration gelichtet hatten, schrieben und definierten schon im Schutz und Schatten des Direktoriums. Sie standen unter dem Rechtfertigungszwang, an eine Tradition seit RiebeHeu anzuknüpfen, die gerade beendet zu sein schien. Um so aufschlußreicher ihre Selbstdarstellung. Sie beruft sich auf den Vorlauf der Sprach­ handlungen vor den tatsächlichen Ereignissen, der dem bisherigen Gang von Auf­ klärung und Revolution eigentümlich sei. "Die Exzesse" so beginnt das Vorwort, "die Exzesse, über die man am meisten erzittern und erröten muß, waren Exzesse der Handlungen, der Taten (des actes): aber ihnen gingen immer voraus die Exzesse der Meinungen, (des opinions)". Genau diese Meinungen präpariert zu haben, sei die große Leistung der drei Aka­ demieen gewesen: der Academie des Sciences, die die Naturgesetze der sozialen Ordnung aufgedeckt habe; der Academie des Inscriptions, die den republikanischen Geist der Alten gepflegt habe und schließlich der Academie Fran�ise, die nur scheinbar der Nährboden royalistischer Schmeichelei gewesen sei. In Wirklichkeit habe gerade diese Akademie, die Academie Francaise, aufgrund ihrer Reden und ihrer Wörterbücher am meisten dazu beigetragen, den Geist der Monarchie zu ver­ treiben, die Revolution vorzubereiten und die Republik zu errichten. Denn hier zählten nie.Rang und Titel, sondern nur noch der Mensch und seine Leistung. Vom König sei selten, vom Untertan nie die Rede gewesen, vielmehr sei der König stillschweigend gemessen worden an den Werken der großen Geister. Denn hier 24

herrschte zuerst geheim, dann offen der Geist der Philosophen: seitdem er die Mit­ glieder erfaßt hatte, wurden die Diskussionen gründlicher, dauerten die Sitzungen länger. Denn seitdem sei es darum gegangen, die schöne Sprache des Hofes durch die gute, die w'ahre Sprache zu ersetzen. Nicht nur der Sprachgebrauch, sondern die Sprache selbst sei von ihnen geordnet worden, neue Jahrhunderte wurden so vorbereitet. Denn die Gesetze des Wortgebrauchs seien vielleicht wichtiger als die Gesetze der sozialen Organisation. So nahmen die Akademiker für sich in Anspruch, was Diderot mit seiner Enzyklopädie verpaßt zu haben glaubte: es ist die Sprache der Vernunft, die durch die Akademiewörterbücher zur Sprache des Volkes aufbe­ reitet worden sei. In einem Satz : "cette espece de democratie litteraire etoit donc dejä, en petit, un exemple de Ia grande democratie politique". 1 3 Die neue Auflage des Akademiewörterbuches ziehe nunmehr endgültig die Grenze zwischen der Iangue monarchique und der Iangue republicain. Und in einem Annex wird diese Epochenschwelle erläutert, er registriert die revolutionären Errungen­ schaften: die neuen Bezeichnungen, die für die neuen Maße und Kalendereinheiten erfunden wurden, ferner mehrere Anglizismen, die in der Verfassungssprache über­ nommen wurden und vor allem zahlreiche Wortbildungen für die neuen revolutio­ nären oder von der Revolution hervorgerufenen Sachverhalte. Einige seien genannt: activer, bureaucratie, centralisation, contre-Revolutionnaire ( Staatsfeind ( !)), demoraliser, deporter, desorganisateur, fanatiser, federaliser, Incivisme, maximer (- dem Höchstpreis unterwerfen), philosophisme, der schon genannte propagan­ diste, regulariser, le revolutionnaire (- Staatsveränderungsfreund), terrorisme, oder arbeiten, travailler, im neuen Sinne von ,Aufruhr anstiften'. Dieser Liste hinzu­ zufügen bleibt nur noch, daß die Sammler und Definiteure der neuen Worte unge­ nannt bleiben wollten. Aber das war 1 799, am Vorabend vor Napoleons Staatsstreich. =

Halten wir hier inne, nachdem uns unsere Zitatenreihe schon aus der vorrevolutio­ nären in die Zeit der Revolution hineingetragen hat. Wir finden unter den zitierten Neologismen schon eine erkleckliche Zahl von Ausdrücken, die offenbar erst ge­ prägt werden konnten, nachdem die Revolution die damit bezeichneten Sach­ verhalte hervorgetrieben hatte. Die aktive Wendung des Fanatisierens, der geplante Terrorismus, der zielstrebige Revolutionär, der Propagandist, das demoralisieren, aktivieren oder deportieren, all das sind Handlungen und Sachverhalte, die man vielleicht auch in früheren Zeiten wiedererkennen kann, deren spezifische Nuance aber erst in der Französischen Revolution sprachlich artikuliert worden ist. Jeden­ falls handelt es sich um Ausdrücke, die von den Aufklärern sicher nicht antizipiert worden sind, schon gar nicht die damit beschriebenen Sachverhalte. Wenn wir aber nach dem Verhältnis von Sprachwandel und sozialem Wandel überhaupt fragen, so kann uns dieser Befund nicht überraschen. Daß neue Sachverhalte neue Dennnungen provozieren, ist eine alte Erfahrung. "Rebus enim novis nova verba imponenda sunt". 1 4 25

Neu vielmehr und für die zitierten Worte des ausgehenden 18. Jahrhunderts charak­ teristisch ist, daß es eine Fülle neuer Ausdrücke und neuer Wortbedeutungen gibt, die neue Sachverhalte hervorrufen sollten. Es gibt seitdem zahlreiche Begriffe, die nicht mehr nur bündeln, was in der Erfahrung vorfindbar ist, die vielmehr Hoff­ nungen und Erwartungen artikulieren, die die bisherige Geschichte zu hegen noch nicht erlaubt hatte. Aus Begriffen werden Vorgriffe. Ich erinnere nur an Diderots ,depute de la nation' oder an den preußischen ,Staat überhaupt'. Hier handelt es sich um Begriffe vor ihrer empirischen Einlösung, um Vorgriffe in die Zukunft. Der sprachgeschichtliche Befund neuer Wortstiftungen, die neue Horizonte er­ schließen halfen, ist im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts enorm. 1 s Und doch wollen wir uns mit diesem empirisch richtigen Ergebnis, das der sprach­ lichen Innovation einen zeitlichen Vorsprung vor der Verwirklichung des jeweils Gemeinten einräumt, nicht zufrieden geben. Wir hatten schon das Zwischen­ ergebnis erreicht, daß sprachlicher Wandel und sozialer Wandel nicht in simpler Antithese oder Parallele gedeutet werden können. Jeder sprachliche Wandel ist per definitionem immer schon sozial. Aber nichtjeder soziale Wandel ist eo ipso sprach­ lich. Lassen Sie mich diese Kurzformel noch etwas erklären. Wer versucht, sozialen Wandel und sprachlichen Wandel aufeinander zu beziehen, der operiert mit zwei Größenordnungen, die nur theoretisch zu trennen sind. Aber auch, wer die Trennung vornimmt, um mit den beiden Größen historische Erkennt­ nis zu gewinnen, muß davon ausgehen, daß die Sprache und ihr Wandel ein soziales Phänomen ist, was umgekehrt nicht ohne weiteres behauptet werden kann. Denn in jedem sozialen Wandel wirken außersprachliche Faktoren, sogar solche, die sich der sprachlichen Vergewisserung entziehen. Es handelt sich also um zwei theoretisch zu trennende Bereiche, die sich verschieden weit überlappen und deshalb nicht zur Gänze aufeinander beziehbar sind. Ich kann mich hier nicht auf Forschungsergeb­ nisse der Sprachpragmatik oder der Soziolinguisten einlassen. Vor allem harrt noch das großartige Werk von Coseriu über ,Synchronie, Diachronie und Geschichte', 16 das sich mit dem Problem des Sprachwandels befaßt, einer analogen sozialhistori­ schen Aufbereitung. So wie die gesprochene Sprachnorm und das Sprachsystem in­ einander verschränkt sind, ohne aufeinander reduzierbar zu sein, so verhalten sich offenbar in der Geschichte Ereignisse und Strukturen zueinander. Auch Strukturen enthalten - begrenzte - Möglichkeiten, die sich in Ereignissen verwirklichen, so wie sich ein Sprachsystem in einer jeweils gesprochenen Sprache realisiert, ohne darin völlig aufzugehen. Was sich dann jeweils ändert, ändert sich in verschiedenen Tempi. Auf der Ereignisebene kann sich Erstaunliches abspielen, was die Lage der Betroffenen oder Beteiligten tiefgreifend umstürzt, ohne daß sich deshalb die struk­ turellen Bedingungen gründlich verschieben müßten. Analog mag sich eine schich­ tenspezifisch gesprochene Sprache, etwa in revolutionären Lagen, rapide ändern, ohne daß deshalb das Sprachsystem und seine Funktionsweise gravierend erschüt­ tert und erneuert würden. Redeweisen und Ereignisse indizieren oder evozieren 26

schnellere Änderungen im Leben als gesellschaftliche Strukturen und Sprachsyste­ me. Deren Wandel vollzieht sich - freilich im Medium der Redeweisen und lere Änderungen im Leben als gesellschaftliche Strukturen und Sprachsysteme. Deren Wandel vollzieht sich - freilich im Medium der Redeweisen und Ereignisse - langsamer und la11gfristiger. Aber mit dieser - hier nur apodiktisch vorgetragenen Feststellung - ist noch gar nichts ausgemacht über das gegenseitige Verhältnis, das Sprachwandel und sozialer Wandel auf den verschiedenen Ebenen der strukturellen Bedingungen oder systemgebundenen Möglichkeiten, bzw. der gesprochenen Äußerungen und tatsächlichen Verwirklichungen zueinander haben. Hier liegt ein Desiderat für weitere Forschung vor. Deshalb seien jetzt nur einige Folgerungen gezogen aus den wort- und begriffsgeschichtlichen Beispielen, die wir vorgeführt haben. Offensichtlich ist es nicht möglich, von einer Identität des Sprach- und Sozial­ wandels auszugehen. Denn der tatsächliche Verfassungswandel vollzog sich in Preußen sowenig in den Bahnen seinerjuristischen Sprachnormierung wie in Frank­ reich entlang den aufgeklärten Zukunftsentwürfen. Aber auch die These von dem sprachlichen Vorgriff vor den tatsächlichen Ände­ rungen, wie sie von den französischen Aufklärern und auch von den preußischen Gesetzesstiftern vertreten worden ist, enthält nur eine Teilwahrheit Denn es ist vorauszusetzen, daß die vehemente sprachliche Polemik und die utopische Über­ ziehung der damaligen Möglichkeiten in Frankreich nur hochtauchten, weil die ständische Ordnung bereits seit langem dysfunktional geworden war. Und das gilt, freilich in geringerem Ausmaß, auch für Preußen. Die Privilegien verhinderten die Erfüllung ökonomischer Bedürfnisse, deren Vehemenz mitjeder Agrar- und Finanz­ krise anwuchs. Die sprachpolitischen Ereignisse der französischen Aufklärung und der juristischen Legislative in Preußen ließen sich demnach, je nach Blickwinkel, sowohl als Aktion wie als Reaktion deuten. Dann käme ein kausales Erklärungsmodell in Betracht, das die Wirkungen aus dem außersprachlichen sozialen Bereich auf die Sprache oder umgekehrt die sprachlichen Wirkungen in den sozialen Raum zu analysieren versprechen könnte. Ein solches Modell kann aber nicht die Schwierigkeit beheben, die darin liegt, daß Sprachwandel und sozialer Wandel als ungleich sich überlap­ pende Größen nicht direkt aufeinander beziehbar sind. Denn was sich in der Ge­ sellschaft und ihrer Geschichte ereignet, ist immer auch etwas anderes als das, was sprachlich davon erfaßt und dazu gesagt wird. So sei die Arbeitshypothese angeboten, die von einer elastischen Korrespondenz ausgeht. Sprachwandel und sozialer Wandel korrespondieren miteinander, ohne daß das eine im andern aufgeht, ohne daß das eine auf das andere kausal zurückzuführen ist. Vielmehr verweist das eine auf das andere, ohne es hinreichend begründen oder gar ersetzen zu können. Vor allem die Zeitfristen, in denen sich sprachlich oder gesellschaftlich etwas ändert, sind verschiedener Art. 27

Das liegt zunächst an der temporalen Zwieschlächtigkeit der Sprache. Sie ist sowohl - zukunftsgerichtet - Faktor des sozialen Wandels, sie treibt ihn voran, wenn sich die Sprechweisen ändern. Aber ebenso ist die Sprache - vergangenheits­ bezogen - Indikator des sozialen Wandels, sie stellt fest, was sich außersprachlich vorfindet oder schon geändert hat. Man könnte auch sagen, die Sprache produziert und registriert Wandel. Insofern korrespondiert die Sprache mit der Wirklichkeit auf eine zwieschlächtige Weise, die es . verhindert, die eine Ebene an die andere kausal zurückzubinden. Das sei zum Schluß an einem Beispiel erläutert, das sowohl die geschichtliche Wirklichkeit und ihren Wandel thematisiert wie auch deren sprachliche Konsti­ tution. Ich meine die Entstehung des modernen Begriffs von Geschichte. Diese Entstehung läßt sich auf drei Ebenen beschreiben: 1 . handelt es sich aufder grammatischen Ebene um die Bindung eines neuen Kollek­ tivsingulars. Während ,die Geschichte' bis in die Jahrhundertmitte noch den Plural regierte, war sie seit rund 1790 nur noch mit Tätigkeitsworten im Singular zu ver­ einbaren. Die Grammatik selbst hat sich nicht gewandelt, aber im Rahmen der grammatischen Vorgaben hat sich die syntaktische Zuordnung zwischen ,Ge­ schichte' und zugehörigem Numerus geändert. Seitdem wurde es möglich, daß man von der ,Geschichte an und für sich' oder von der ,Geschichte überhaupt' sprechen konnte, ohne daß sie auf ein Objekt oder Subjekt bezogen wurde. Seitdem wurde in einer Geschichte nicht mehr nur erzählt, was sich in der Geschichte ereignet hatte; die ,Geschichte überhaupt', die ihr eigenes Subjekt und Objekt geworden war, konnte seitdem, wie etwa bei Hegel ,zu arbeiten' anfangen. - Mit derartigen Änderungen in der geschriebenen und gesprochenen Sprache wurde noch nicht das Sprachsystem verändert. Vielmehr stellte das Sprachsystem Möglichkeiten bereit, neue Erfahrungen und Erwartungen zu artikulieren. Damit erreichen wir die zweite Ebene.

2. Mit dem Wechsel des Numerus, den ,die Geschichte' seit dem Ende des acht­ zehnten Jahrhunderts nach sich zog, wurde der Weg erschlossen für einen neuen Begriff, den es so zuvor noch nicht gegeben hatte. ,Die Geschichte', die innerhalb des Syntax freigesetzt wurde, war so einmalig wie allumfassend. Sie stand seitdem nicht mehr in Opposition zum Plural der vielen Einzelgeschichten. Vielmehr han­ delte es sich seitdem um einen Oberbegriff, der sowohl die einzelne Geschichte wie die vielen Geschichten im Plural übergreift. In dieser Begriffsbildung lag, bei Identität des Wortkörpers, eine enorme Abstraktionsleistung enthalten. Die ,Geschichte überhaupt' ist einer jener zahlreichen neuen Kollektivsingulare, die gegen Ende des 18. Jahrhunderts entstanden sind. Es sei nur an die flankierenden Begriffe der ,Entwicklung', des ,Fortschritts' oder der ,Revolution' erinnert. Der sprachgeschichtlich unscheinbare Wandel indiziert also einen Begriffswandel, der einen neuen Erfahrungsraum erschlossen hat. Damit komme ich zur dritten Ebene. 28

3. Was leistete der neue Begriff im Hinblick auf die politische und soziale Wirk­ lichkeit? Er ist parallel und sinngleich entstanden zu den Ausdrücken ,Theorie der Geschichte' oder ,Philosophie der Geschichte', die beide so etwas wie die ,Ge­ schichte überhaupt' meinen und deren Gegenstandsbereich die neu entdeckte , Welt­ geschichte' war. Der neue Begriff diente dazu, einen neuen Erfahrungsraum zu erschließen, nämlichjenen Erfahrungsraum, dessen ökonomischen, politischen und sozialen Bedingungen sich der unmittelbaren Erfahrung entziehen. Anders ge­ wendet, der vielschichtige Zusammenhang einer Weltgeschichte, die sich etwa im Siebenjährigen Krieg als Weltkrieg ankündigte, überstieg den Erfahrungskreis des normalen Bürgers. Um die zunehmende Komplexität bewältigen zu können, be­ durfte es der Theoriebildung, die die Bedingungen möglicher Erfahrung in die Geschichtsbetrachtung einbezog. Die Philosophie oder die Theorie der Geschichte und der Begriff ,Geschichte überhaupt' umfassen jene zunehmend komplexe Wirk­ lichkeit, deren inneren Zusammenhänge nicht mehr durch die herkömmliche historische Empirie erkennbar waren und die deshalb zu einer theoretischen Be­ stimmung herausforderten. Die neue Begriffsbildung suchte also Faktoren und Be­ dingungen in ihre Aussagefähigkeit einzubeziehen, die sich bisher der sprachlichen Erfassung entzogen hatten. 1 7 Ob sich dabei - temporal gesprochen - die neue Begriffsbildung unter dem Vorgebot eines Erfahrungsdrucks vollzogen hat oder ob sie im Sog kommender Erwartungen entstanden ist, läßt sich nur schwer ausmachen. Jedenfalls bleibt es unzureichend, um unsere Ausgangsfrage nach dem Verhältnis vom Sprachwandel zum sozialen Wandel wieder aufzugreifen, die geschilderten drei Ebenen der Wortgeschichte, der Begriffsbildung und der damit erfaßten ge­ schichtlichen Sachverhalte, kausal aufeinander zu beziehen. Gewiß leistete es der neue Begriff, neue Erfahrungen zu bewältigen. Aber umgekehrt läßt sich nicht schlüssig zeigen, daß es bereits neue Erfahrungen waren, die den Begriff zwingend herausgefordert hätten: der spezifisch deutsche Geschichtsbegrifffehlt z. B. im eng­ lischen und französischen Sprachraum, wo nur nach Äquivalenten gesucht werden kann, die etwa in den Ausdrücken ,development' oder ,revolution' zu finden sind. Schließlich kann man auch der Interpretation zuneigen, daß die neue Erfahrung zunehmender Komplexität überhaupt erst gemacht werden konnte, weil ein begriff­ liches Instrumentarium es ermöglichte, die Bedingungen der Erfahrung, die sich der unmittelbaren Erfahrung entziehen, überhaupt zu thematisieren. So mag man mit der Hypothese einer zeitlich variierbaren Korrespondenz zwischen Wirklichkeit und Sprache bzw. zwischen Wirklichkeitswandel und Sprachwandel zu arbeiten versuchen. Diese Hypothese hält es methodisch offen, wie sich die beiden Ebenen j eweils zueinander verhalten. Denn daß sie immer ineinander verschränkt bleiben und aufeinander verweisen, ist selbstverständlich. Das zeigt uns auch die umgangssprachliche Rezeption des neuen Geschichtsbegriffs. Er wurde schnell zum Modewort. Es handelte sich um eine sprachliche Innovation,

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die zwar nicht die Grammatik oder gar das Sprachsystem tangiert hatte, die aber gleichwohl geeignet war, die Krise des Ancien regime zu deuten und mittelbar beeinflussen zu helfen. Kein Wunder, daß der Ausdruck zu einem Modewort wurde, und das innerhalb von zwanzig Jahren, ohne daß man den Stifter des neuen Wortes dingfest machen könnte. Was sagte doch Klopstock von den Modewörtern? "Der­ j enige erhält die Belohnungen der Republik (der Gelehrten) schwerer als andere, der solche Modewörter aufbringt, die, unter dem Scheine etwas Neues zu sagen, das Alte nur verwirren, oder die wegtm des Wenigen, das hinter ihnen ist, über­ flüssig sind". 1 8 Wenn Klopstock den Erfinder des neuen Begriffs der ,Geschichte' hätte ausfindig machen können, so wäre es ihm vermutlich leicht gefallen, eine hohe Belohnung auszuteilen.

Anmerkungen

1 Christian von Massenbac h : Friedrichs des Großen Unterredungen mit mir im Jahr 1 782 bei meiner

Anstell u ng in den p reußischen Dienst. Die Lage der Wel t und Preu ßens seit dem Tode Friedrichs des Großen. Zwey Fragmente aus den Rückerinnerungen an große Männer, Amsterdam 1 809, S . 35.

2 IV. Teil, H. XXI , Göttingen 1 779, S . 206 11 3 Politische Wahrheiten, Zürich 1 796, I, S. 3 1 . Vgl. dazu R. Koselleck, Vergangene Zukunft, Frank­

furt/Main 1 979, S . 244 11'.

4 Vgl. Anm. 1 , S . 1 0. 5 Guillaume-Thomas Raynal : Histoire phi losophique et politique des etabl issemens et du commerce

des Europeens dans I es deux Indes, ed. La Haye 1 776, t. II, p. 276 11'.

a l'Histoire philo­ sophique et politique des etablissement et du commerce des Europeens dans les deux I ndes, Neu­ chätel und Geneve 1 784, S . 4 1 4 .

6 Guillaume-Thomas Raynal : Recueil d e diverses pieces, servant de suplement

7 Diderot: Lettres apologetique de l'Abbe Raynal a Monsieur Grimm, in Oeuvres Philosophique, ed. Paul Verniere, Paris 1 956, S . 623 - 644. Über das Duzen in der Revo lution selber vgl. Crane Brinton:

Europa im Zeitalter der Franzö sischen Revo lution, egl . 1 934, dt. Wi en 1 948, 2. Aufl . , S. 259.

8 St. Just: Oeuvres, ed. J. Gratin, Paris 1 946, S . 1 20. 9 Dazu j etzt Brigitte Schlieben-Lange: Die Französische Revolution und die Sprache (MS 1 979). 10 Diderot, Art. , Encyclopedie' aus dem gleichnamigen Lexikon (Paris 1 75 1 11'. ), hier zit. nach der dt.

Ausgabe von Diderot: Philosophische Schriften, hg. Th eodor Lücke, Berlin-Ost 1 96 1 , Bd. 1, s. 1 6 1 , 1 63 , 1 8 3 .

1 1 Dictionnaire de I'Acad6mie Fran�oise . . . nouvell e Edition enrichie de Ia traduction allemande des mots par S. H. Catel, Berl in 1 800, Bd. 3, Suppl. S. 4 1 8. 12 Nouveau Dictionnaire Historique, 1 79 1 , Art. Abondance. 1 3 Siehe Anm. 1 1 , Discours Prel iminaire. 1 4 G. A. Viperano, De scri benda Histo ria Liber, Antwerpen 1 569, p. 50, zit. nach der Ausgabe von

Eckard Kessler: Theoretiker Humanistischer Geschichtsschreibung, M ünchen 1 97 1 .

1 5 Vgl. Ko selleck: Vergangene Zukunft, Frankfurt/Main 1 979, S . 339 11'. 1 6 Eugenio Coseri u : Synchronie, Diachronie u n d Geschichte. Das Problem des Sprachwandels,

dt. von Helga Sohre, München 1 974.

17 Für die Einzelheiten siehe den Art. ,Geschichte' in Gesch ichtliche Grundbegriffe, hg. Otto Brunner u. a., Stuttgart 1 975, Bd. 2, S. 647 11'. 1 8 F. G. Klopstock, Sämtl. Werke, Karl sruhe 1 82 1 , Bd. 12, S. 85 (Die deutsche Gelehrtenrepubl ik).

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ManfredRiede/ Historizismus und Kritizismus

Kants S treit mit G. Forster und]. G. Herder

Nach dem Sprachgebrauch von Karl R Popper und seiner Schule, die sich selbst gern in der Nachfolge des Kritizismus stehen sieht, ist Historizism u s ein Sammel­ name für eine Vielzahl geschichtlich-soziologischer Theorien, deren Gemeinsam­ keit in der Suche nach "Trends" und "Gesetzen" des universalhistorischen Verlaufs mit prognostischem Aussagegehalt besteht. 1 Nach dieser Definition wäre Kant, der Begründer des philosophischen Kritizismus, ein Historizist gewesen. Je nach­ dem, ob eine Theorie der Geschichte den Naturgesetzen vergleichbare Gesetze zuschreibt oder nicht, unterscheidet Popper bekanntlich innerhalb des Historizis­ mus zwischen einer "pronaturalistischen" und einer "antinaturalistischen Rich­ tung". Unter diesem Gesichtspunkt fällt Kants Einordnung in einer der histori­ zistischen Fraktionen schwer. Ja, sie ist, genau genommen, unmöglich, da Kant noch vordieser Unterscheidung denkt: Seine Geschichtstheorie ist sowohl naturali­ stisch als auch antinaturalistisch fundiert. Es ist die gleiche Schwierigkeit, der sich bereits E. Troeltsch und F. Meinecke zu Beginn unseres Jahrhunderts gegenübersahen. Beide haben die Geschichte der antinaturalistischen Richtung des Historizismus geschrieben, den sie abweichend von Popper, Historismus nennen und im Gegensatz zu ihm als einen der großen Wissenschaftsfortschritte der modernen Welt verteidigen. Nach ihrem Begriffs­ gebrauch ist der Historizismus die geisteswissenschaftliche Gegenbewegung zum Naturalismus der Naturwissenschaft. Historismus und Naturalismus, so sagt E. Troeltsch, sind moderne Wissenschaftsschöpfungen. Die eine hat es mit letztlich rein gegebenen, unbegreiflichen Körpergrößen des Raumes zu tun, während die andere das Selbstverständnis des Geistes ist, sofern es sich um die eigenen Hervor­ bringungen seiner in der Geschichte handelt. 2 Das Wort "Historismus" ist daher von seinem schlechten Nebensinn, der Assoziation mit dem naturwissenschaft­ lichen Positivismus, zu lösen und "in dem Sinne der grundsätzlichen Historisierung alles unseres Denkens über den Menschen, seine Kultur und seine Werte zu ver­ stehen".3 Sein Kern, so heißt es dazu bei Meinecke, besteht in der "Ersetzung einer generalisierenden Betrachtung geschichtlich-menschlicher Kräfte durch eine indivi­ dualisierende Betrachtung". 4 Mit ihr geht die Ausbildung "entwickelnder" Methoden einher, - Beschreibung und Interpretation als Mittel der Erfassung 31

des individuell Gegebenen aus der Individualität seines historischen Werdens und Verlaufs. "Individualität" und "Entwicklung" sind die beiden neuen Grundgedanken des Historismus, als dessen Wegbahner J. G. Herder erscheint. In Anlehnung an Troeltsch kommt bei Meinecke der Name von Kant ganz am Rande, als eine Fuß­ note zu Herder, vor. Gehört der Kritizismus in diesem Zusammenhang tatsächlich, wie man nach Troeltsch und Meinecke immer wieder gemeint hat, einer versin­ kenden Welt an? Hat er zur Ausbildung entwickelnder Methoden nichts beige­ tragen? Oder bleibt er gar vor der historizistischen Epochenschwelle stehen, die sein Schüler Herder überschreitet? Um diese Fragen zu klären, sind die Begriffe zunächst in jenen wissenschafts­ geschichtlichen Kontext zurückzuübersetzen, in dem sich der "Historismus" zuerst als Problem gestellt hat: in den umgreifenden Vorgang einer Verzeitlichung der Eifahrung, der als solches nicht auf die Geschichte beschränkt ist. Statt weiter von "Historismus" im Sinne einer anti-naturalistischen "Weltanschauung" zu sprechen, reden wir von "Historizismus" als Inbegriff eines historischen Wissens, das sich im 18. Jahrhundert im Prozeß der Erweiterung bisheriger Wissenschaftsbegrenzungen und -Schranken ausgebildet hat. Was "historisiert" wird, ist nicht nur das Denken des Menschen von sich selbst, seiner Kultur und seinen Werten, sondern die außermenschliche Natur. Unter "Historizismus" verstehen wir daher die Reflexion auf den Prozeß einer Verzeitlichung der Erfahrung, der im 17. Jahrhundert zunächst auf dem Gebiet der Geschichte, der Literatur und Kunst, der Wissenschaft und Technik beginnt und im 1 8 . Jahrhundert auch die Natur erfaßt. In diesem Sinne ist Kant ebenso "Historizist" wie Herder oder Goethe und Forster, deren Denken auf je eigene Weise die "Historisierung" der Natur, das von ButTon paradigmati­ sierte Konzept einer ,Histoire naturelle', reflektiert. Kants Anfänge - ich kann darauf, auch auf die Differenzen zu ButTon, nicht näher eingehen - sind eng mit diesem Konzept, einer weitangelegten Geschichte des Planetensystems, der Erde und des Lebens auf der Erde, verknüpft, so daß man, im Gegensatz zu Troeltsch und Meinecke, sagen darf: Kants Reflexion auf den Zeitaspekt der Erfahrung bleibt nicht noch einmal im Rationalismus der Aufklärung stecken; sie ist der erste metho­ dische Versuch, das neu ausgebildete historische Wissen von Natur und Geschichte des Menschen begrifflich zu rechtfertigen und der kritischen Wissensbegründung zu öffnen. Es i!!t gerade ein Verdienst des Kritizismus, durch seine Theorie des Ur­ sprungs und der Prinzipien menschlicher Erkenntnis das Faktum der VerzeitHebung philosophisch aufgearbeitet und Natur- wie Menschengeschichte als Problem ver­ nünftiger Wissensbegründung exponiert zu haben. Bevor ich aufden Problemkontext zu sprechen komme, sei vorweg kurz die Situation des Streits und seine literarische Abfolge charakterisiert. Kants Auseinandersetzung mit Forster und Herder fällt in die Zeit nach dem Erscheinen der ,Kritik der reinen Vernunft' ( 1 78 1). Sie beginnt mit der in der ,Berlinischen Monatsschrift' gedruckten Abhandlung ,Bestimmung des Begriffs der Menschenrasse' ( 1 785), die an den 32

Aufsatz ,Von den verschiedenen Rassen der Menschen' ( 1 775) anschließt, - Kants einziger Veröffentlichung zwischen der ,Dissertation' von 1 770 und dem kritischen Hauptwerk. Sie steht in thematisch engem Zusammenhang mit dem 1. Teil von Herders ,Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit' ( 1784), den Kant gleichzeitig in der ,Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung' rezensiert. Ab­ handlung und Rezension verwickeln Kant in einen Streit mit seinem ehemaligen Schüler Herder, der teils literarisch offen, teils mit versteckter Feder ausgetragen wird. Streitakten sind einmal die anonyme, auf C. L. Reinhold zurückgehende Verteidigungsschrift Herders in Wielands ,Teutschem Merkur', die Kant mit einer kurzen Zuschrift im ,Anhang zum Märzmonat der AL.Z.' und wenig später (im November 1 785) mit der Rezension des 2. Teils der Herder'schen ,Ideen' beant­ wortet. Der Abhandlung in der ,Berlinischen Monatsschrift' und ihrem geschichts­ philosophischen Gegenstück, dem ,Mutmaßlichen Anfang der Menschen­ geschichte' ( 1786), folgt Forsters Replik ,Noch etwas über die Menschenrassen' ( 1786), die ebenfalls im , Teutschen Merkur' erscheint, - sicherlich nicht ohne Zutun von Herder, der brieflich auch Jacobi und Hamann zum Eingreifen zu bewegen sucht. s Auf rasche Entgegnung verzichtend, antwortet Kant darauf knapp zwei Jahre danach an gleicher Stelle mit dem Aufsatz : ,Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosphie' ( 1 788). Obwohl Kants Kontroverse mit Forster chronologisch an die Herder-Kritik an­ knüpft, wird sie hier aus sachlichen Gründen vorgezogen. Auf das Gebiet der Natur­ geschichte beschränkt, verstattet sie einen verhältnismäßig sicheren Einblick in die Motive, die dem Streit zugrundeliegen, nämlich die Abwendung Kants von seinem eigenen, vorkritischen Geschichtsbegri.ff, der ihm in seinem Hauptkontrahenten Herder entgegentritt. Sieht man von dem Anstrich kleinlicher Gelehrtenzänkerei auf beiden Seiten und material-anthropologischen Aspekten des Rassenproblems ab, e so handelt es sich bei der Forster-Kontroverse um einen wissenschafts­ geschichtlich höchst bedeutsamen Methodenstreit, der sich im wesentlichen um Unterscheidungen im Begriff der Naturgeschichte (a), das Verhältnis von Theorie und Beobachtung (b) sowie um die Logik teleologischer Begriffsbildung (c) bewegt.

I Um das während der späten 50er und frühen 60er Jahre - der Zeit, als Herder Hörer der Vorlesungen Kants gewesen war - entworfene Konzept einer Geschichte der Natur und des Lebens auf der Erde zu realisieren, hatte Kant bereits in dem Auf­ satz ,Von den verschiedenen Rassen der Menschen' ( 1 775) zwischen Natur­ beschreibung und Naturgeschichte unterschieden. Diese ist die bloß empirische "Kenntnis der Naturdinge, wie siejetzt sind', jene die auf Prinzipien a priori begrün­ dete Erkenntnis von dem, "was sie ehedem gewesen sind, und durch welche Reihe von Veränderungen sie durchgegangen, um anjedem Ort in ihren gegenwärtigen Zu-

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stand zu gelangen". 7 Kants Unterscheidung ist einerseits wissenschaftsgeschicht­ lich durch das Anwachsen des historischen Wissens, andererseits methodisch, in­ folge mangelhafter begriffiicher Durchdringung der gesammelten Tatsachen, zwin­ gend geworden. Die "Naturgeschichten" seiner Zeit hält Kant in ihrer Mehrzahl für bloße Beschreibungen von Naturvorkommnissen, die sich von der Beobachtung zur Stufe der Klassifikation erhoben haben, ohne die Stufe der Theorie, d. h. genetischer Begriffsbildung, erreicht zu haben. Geschichte ist mehr als Beschreibung, sie fordert Erklärung, die ihrerseits der Prinzipien und eines methodischen Leitfadens bedarf, der die Mannigfaltigkeit des Beschriebenen strukturiert. Die Naturbeschreibung erscheint in der Weitläufigkeit eines "Schulsystems", eines bloß klassifikatorischen Tableaus der Pflanzen- und Tierarten nach Ähnlichkeiten, um die ,jetzigen" Natur­ dinge im Gedächtnis zu bewahren, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, daß sie in der Zeit geworden sind. "Die Naturbeschreibung (Zustand der Natur in der jetzigen Zeit)", so lautet Kants programmatischer Schluß "ist lange nicht hinreichend, von der Mannigfaltigkeit der Abartungen Grund anzugeben. Man muß . . . eine Ge­ schichte der Natur wagen, welche eine abgesonderte Wissenschaft ist, die wohl nach und nach von Meinungen zu Ansichten fortrücken könnte". 8 Daß die Stufe der Klassifikation für die "Naturgeschichte" nur Vorbereitung, daß sie um den genetisch-erklärenden Aspekt zu erweitern sei, diese These hatte Forster bereits vor dem Streit mit Kant vertreten. Er teilt sie mit Herder, der ihr im 1. Teil der ,Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit' den Nachweis an einen breiten astronomisch-geologischen und botanisch-zoologischen Material gab. In dem für J. H. Campe vorbereiteten Konzept eines Handbuchs der Naturgeschichte stellt Forster explizit die Frage, ob nicht die "Teile der Wissenschaft besonders abge­ handelt werden müßten; zuerst die bloße U nterscheidungslehre, nämlich die Klassi­ fikation und Beschreibung der Naturalien . . . ; dann zweitens die eigentliche Natur­ geschichte, das ist Geschichte der einzelnen Arten, ihr Lebenslauf, Lebensweise, Verwandlung, Triebe, Kräfte, Nutzen; - endlich nun erst drittens, als Corollarium aus dem Vorhergehenden, das Zusammenfassen unter einen Gesichtspunkt, die Betrachtung der Natureinrichtung und Ökonomie im großen, des Zusammenhangs des Weltalls, und so höchstens noch allenfalls, als letzte Folge der Anstrengung des menschlichen Denkens und Beobachtens, ein dunkles Hindeuten auf eine letzte Ursache und Quelle alles dieses in die Sinne fallenden Vielfachen". 9 Die Ge­ schichte der einzelnen Arten, - das ist, wohlgemerkt, nicht "Abstammungs­ geschichte" (im Sinne Darwins, dem Kant naturgeschichtliches Konzept präludiert), sondern Beschreibung der Lebensweise der Spezies, - ButTons histoire naturelle, und hinter ihr, wie bei Herder und dem frühen Kant, die Zusammenfassung der Ein­ zelbeschreibungen unter einem Gesichtspunkt, dem von Leibniz' universeller Har­ monie, der den bruchlosen Übergang von der Physik zur Metaphysik ermöglicht. Auf der Grundlage des so verstandenen, sowohl dogmatisch-empirischen als auch dogmatisch-rationalistischen Naturgeschichtsbegriffs opponiert Forster gegen die 34

kritischen Distinktionen von Kant. Er wendet gegen Kant ein, von Begriffen a priori ("Abstraktionen") naturgeschichtliche "Tatsachen" gesichtet zu haben, statt die Begriffe aus einer unvoreingenommenen Betrachtung der Tatsachen zu gewinnen. 1 o Forsters Einwände hat Kant auf mißverständliche Ausdeutungen des Verhältnisses zwischen Theorie und Erfahrung zurückgeführt und an ihnen gezeigt, daß hier nur eine Rechenschaftgabe über die methodische Eigenart einer Natur­ geschichte und geklärte Begriffsbildung weiterhelfen kann. Erfahrung ist nicht ge­ geben, sie wird gemacht, und schon das bloße Beobachten führt ohne Fragestellung, ohne "leitende Prinzipien, wonach man zu suchen habe", zu nichts. Es gibt keine "theorielose" Beobachtung, da "beobachten" gerade heißt, Erfahrung methodisch anzustellen. Kant verweist Forster aufdas von ihm selbst befolgte Linne'sche Prinzip der Beharrlichkeit des Charakters der Befruchtungsteile der Pflanzen, ohne welches die systematische Naturbeschreibung der Botanik nicht die Fortschritte gemacht hätte, die seit Linne erreicht worden sind. 1 1 Aus dem mißverstandenen Verhältnis zwischen Theorie und Erfahrung erklärt Kant weiter die Mißverhältnisse auf, die sich bei Forster mit dem Konzept der "Naturgeschichte" verbinden. Eine Geschichte der Natur in dem von Kant gefor­ derten Sinn - so hatte Forster repliziert - ist ohne Fundament, da ein Wissen von den "Anfangen" des Lebens auf der Erde empirisch nicht zu gewinnen sei. "Naturgeschichte" ist keine dem Menschen mögliche Wissenschaft, sondern eine "Wissenschaft für Götter", die gegenwärtig oder selbst Urheber waren. 1 2 Das Miß­ verständnis folgt nach Kant aus der von Forster undurchschauten Abhängigkeit von einem herkömmlichen Sprachgebrauch, der unter "Geschichte" soviel wie "historischer Bericht", nämlich Erzählung von Naturbegebenheiten versteht. Dazu gehört dann immer auch das Berichten von jenem "ersten Entstehen" der Pflanzen und Tiere, wohin in der Tat weder Erfahrung noch Vernunft reichen. Kant pariert diesen Einwand durch eine Präzisierung des Begriffs "Naturgeschichte". Wie Geschichte überhaupt, so ist auch Naturgeschichte nicht die Wissenschaft von "Anfangen", sondern von sich veränderten Zuständen der Dinge. Mit Anfängen das folgt aus Prämissen der transzendentalen Ästhetik, Kants Lehre von der Zeit als subjektiver Form der Anschauung - hat es die Wissenschaft überhaupt nicht zu tun. 13 Gegenstand des historischen Wissens ist Zustandsänderung des in der Erfah­ rung Gegebenen, die von gegenwärtig erfahrbaren Zuständen her im buchstäblichen Sinn re-konstruiert werden: "Allein nur der Zusammenhang gewisser jetziger Beschaffenheilen der Naturdinge mit ihren Ursachen in der älteren Zeit nach Wirkungsgesetzen, die wir . . . aus den Kräften der Natur, wie sie sich uns jetzt darbietet, ableiten, nur bloß so weit zurückverfolgen, als es die Analogie erlaubt, das wäre Naturgeschichte und zwar eine solche, die nicht allein möglich, sondern auch z. B. in den Erdtheorien (worunter des berühmten Linne seine auch ihren Platz findet) von gründlichen Naturforschern versucht worden ist, sie mögen nun viel oder wenig damit ausgerichtet haben." 1 4 Geschichte ist eine Erfahrungswissen35

schaft, die sich ausschließlich auf raumzeitlich Gegebenes beziehen muß, nämlich gewisse konstante Zustände der Lebewesen, z. B. die Rassenbildungen, die nicht vor unseren Augen "geworden" sind. Will man ihr Werden verstehen, muß man Zustandsänderungen in der Zeit unterstellen und nach Erklärungen solcher Ände­ rungen suchen. Erklären der "Ursachen" veränderter Zustände, d. h. Veränderungs­ erklärungen, bilden das eigentliche methodische Problem des historischen Wissens. Der Historiker will Zustände nicht bloß beschreiben oder von ihrem Wechsel er­ zählen, er sucht den Übergang eines Zustands in einen anderen, den genetischen Verlauf von Veränderungen, darzustellen, wozu er der "Naturgeschichte" oder "Physiogonie" bedarf. 1 5 Die Hauptdifferenz im Streit zwischen Forster und Kant liegt freilich auf einem anderen Felde, nämlich in der These, daß physikalische, in der Erdgeschichte wirk­ same Ursachen zur Erklärung von Zustandsänderungen der Arten, speziell der Men­ schenrassen, hinreichend sind. Forster bestreitet die Anwendbarkeit des Zweck­ begriffs zur Erklärung der Rassenentstehung und der Bauformen der Lebewesen überhaupt. Er argumentiert als Anhänger der Theorie der Urzeugung (generatio aequivoca), der die Entstehung des Lebens in die "kreisende Erde", eine "Grund­ kraft der Materie", verlegt. 1 6 Kant verwirft diese Theorie nicht aus moralischen oder theologischen Gründen. Mit Forster ist er sich ganz darin einig, daß "alles in einer Naturwissenschaft natürlich müsse erklärt werden, weil es sonst zu dieser Wissenschaft nicht gehören würde". Weit davon entfernt, sie deshalb zu verwerfen, weil sie Veränderungserklärungen zu weit treibt, verwirft er sie, weil sie die Grenzen der Erfahrung überschreitet. Kurz : Kant kritisiert nicht den Naturalismus als metho­ disches Erklärungsprinzip, sondern den unkontrollierten Gebrauch einer Methode, die Wissenschaft wieder in Metaphysik umschlagen läßt, indem sie materielle Grundkräfte erdichtet, die sich in keiner möglichen Erfahrung nachweisen lassen. Derselbe Grundsatz, so argumentiert Kant gegenüber Forsters dogmatischem Naturalismus, "daß alles in der Naturwissenschaft müsse natürlich erklärt werden, bezeichnet zugleich die Grenze derselben. Denn man ist zu ihrer äußersten Grenze gelangt, wenn man den letzten unter allen Erklärungsgründen braucht, der noch durch Erfahrung bewährt werden kann. Wo diese aufhören, und man mit selbst erdachten Kräften der Materie nach unerhörten und keiner Belege fahigen Gesetzen es anfangen muß, da ist man schon über die Naturwissenschaft hinaus". 1 7 Wie Anorganisches die "Ursache" für "Organisches" sein, wie das bloße Gedankending "Materie" es fertigbringen soll, Leben hervorzubringen, erscheint Kant unverständ­ lich. Begriffsbildungen wie die einer mit Kraft begabten, sich selbst erzeugenden Materie kann der Mensch nicht verstehen, da sie gar keine Verstandesbegriffe, sondern Produkte seiner mit der Einbildungskraft und den Sinnen vermischten Vernunft sind. Kant widerlegt Forster nicht, indem er sagt, seine Theorie sei logisch widersprüch­ lich. Er behauptet lediglich, daß sie aus methodischen und begriffskritischen Grün36

den unbeweisbar und empirisch nicht zu belegen sei. Die physikalische Erklärung des Organischen nach der Wirkursache widerspricht der Beschaffenheit des mensch­ lichen Erkenntnisvermögens, den Bedingungen möglicher Erfahrung. Der Ge­ danke, daß der physisch "erste" Ursprung des Lebens auf der Erde, der Übergang des Anorganischen ins Organische überhaupt der Menschenvernunft unzugänglich bleibt, ist der methodisch relevante Gesichtspunkt der Kontroverse. Der unkontrol­ l ierte Naturalismus in der historisch-genetischen Methode läßt Forster zum dogma­ tischen Historizisten werden, dessen Begriffe allesamt erschlichen sind. Was er nachzuweisen hätte, wäre die wissenchaftliche "Befugnis", "organisierende Kräfte" oder "Ursachen" der Materie anzunehmen, um dann aus ihr organische Wesen ableiten zu können. Die auch bei Herder vorherrschende Rede von "organisie­ renden" Kräften der Natur bedient sich teleologischer Begriffe, die offenbar zu der Beschreibung der Lebewesen, sei es absichtlich, sei es unabsichtlich, gebraucht werden. Das methodische Problem der Naturgeschichte betrifft also den methodolo­ gisch gerechtfertigten oder ungerechtfertigten Gebrauch dieser Begriffe. Gerecht­ fertigt ist der Gebrauch, wenn er mit der Möglichkeit von Erfahrung auf geschicht­ lichem Gebiet übereinstimmt; Kant nennt dies den kritischen Gebrauch von Begrif­ fen. Ungerechtfertigt ist er, wenn er ihr widerstreitet; dieser Begriffsgebrauch heißt "dogmatisch". So kann Kant am Ende seiner Abhandlung den Metaphysik-Vorwurf an seinen Kritiker zurückgeben. Er unterscheidet zwischen wahrer Metaphysik, welche die Grenzen der menschlichen Vernunft kennt, und Pseudometaphysik. Während diese für jede Wissenschaft förderlich und zur kritischen Klärung ihrer Grundbegriffe unerläßlich ist, führtjene zur Verwirrung der Begriffe, die notwendig auch die Sachen, d. h. Grundlagen und Tragfähigkeit der Geschichte als einer Erfahrungswissenschaft verwirrt. Es folgt jedenfalls schon analytisch aus dem "Be­ griff eines organisierten Wesens", ein "materielles Wesen" zu sein, was nur durch die "Beziehung alles dessen, was in ihm enthalten ist, auf einander als Zweck und Mittel möglich ist". Daraus ergibt sich weiter, daß eine "Organisation" bewirkende Grundkraft der Natur notwendig als eine nach Zwecken wirkende Ursache, d. h. teleologisch gedacht werden muß. Der Begriffvon einer "Zweckursache" entspringt der Erfahrung, nämlich an unserem "Verstand und Willen" als "Ursache der Mög­ · lichkeit gewisser ganz nach Zwecken eingerichteter Produkte, nämlich der Kunst­ werkt!'. Beide deuten wir als Kräfte, die aufeinander wirken, und zwar so, daß der Wille, sofern er durch den Verstand bestimmt wird, "ein Vermögen ist, etwas gemqß einer Idee, die Zweck genannt wird, hervorzubringen. Unabhängig von aller Erfahrung aber", so schließt Kant gegen Forster (und Herder) Rede von "organisie­ renden" Naturkräften, "sollen wir uns keine neue Grundkraft erdenken, dergleichen doch diejenige sein würde, die in einem Wesen zweckmäßig wirkte, ohne doch den Bestimmungsgrad in einer Ideezu haben. Also ist der Begriffvon dem Vermögen eines Wesens aus sich selbst zweckmäßig, aber ohne Zweck und Absicht . . . zu wirken - als eine besondere Grundkraft, von der die Erfahrung kein Beispiel 37

gibt - völlig erdichtet und leer, d. i. ohne die mindeste Gewährleistung, daß ihr überhaupt irgend ein Obj ekt korrespondieren könne". 1 e Kant klärt hier nicht nur den Sprachgebrauch von Forster und dessen Gewährs­ mann Herder, sondern seine eigenen Redefiguren von "Zwecken" und "Absichten", die er - ein Erbteil der vor-kritischen Periode - noch in der Schrift: ,Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht' (1 784) allzu sorglos der Natur im Ganzen übergeworfen hatte. Begriffe wie "Absicht", "Zweck", "Mittel" usf. haben nur in Übereinstimmung mit der uns möglichen Erfahrung Sinn und Bedeutung. Auf das Naturganze übertragen sind sie sinnlos und ungeeignet, histori­ sches Wissen zu vermehren oder zu sichern. Kant argumentiert folgendermaßen: Jeder Organismus zeigt der empirischen Beobachtung eine solche Einrichtung und Verknüpfung seiner Teile, daß wir genötigt sind, diese als "Zweck" und "Mittel" aufeinander zu beziehen und so "organisierende Kräfte" oder "Ursachen" anzu­ nehmen, die zweckmäßig wirken. Erfahrung gibt die Gelegenheit zur Erzeugung des Zweckbegriffs; das besagt aber nicht, daß ihre Bedingungen diesen Begriff kon­ stituieren. In dem vollständigen Inventar der Verstandesfunktionen, der Tafel der Ka­ tegorien, die den Begriff einer Natur überhaupt umreißen, ist der Zweckbegriff nicht verzeichnet; er hat, mit anderen Worten, keine objektive Bedeutung. Seine Bedeutung ist nur subjektiv, auf den Menschen bezogen. Innerhalb der Erfahrung finden wir dergleichen "Zweckursachen" nur in uns selbst bzw. an unseren Hervorbringungen, den Werken der "Kunst", vor. Alles menschliche Hervorbringen geschieht geplant, gewußt und gewollt. Also dürfen wir uns aus empirischen Gründen Zweckursachen nicht als planlos vorstellen, einen Plan können wir, soweit die Erfahrung reicht, in der Natur auch nicht als gewußt und gewollt entdecken. Daraus ergibt sich eine Aporie : die natürliche Grundkraft der Materie, die zur Er­ zeugung der Lebewesen führt, muß entweder mechanisch-planlos oder zweckmäßig­ planvoll wirken. Da sie innerhalb der uns möglichen Erfahrung weder auf diese noch auf jene Art gegeben ist, kann sie überhaupt nicht näher bestimmt werden. Sie ist, wieKantsagt, kein Gegenstand eines Erkenntnisurteils. Jeder Versuch, eine solche zweckmäßig wirkende Grundkraft der Materie zu bestimmen, greift ins Leere; er vollzieht sich unabhängig von der Erfahrung und hat lediglich den Wert einer Erdichtung. Deshalb muß der Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Natur der Erfahrung eingeschränkt bleiben. Zweckbegriffe sind auf dem Gebiet der Wissen­ schaft nur empirisch zu gebrauchen und so auch zu rechtfertigen; in allen anderen Fällen bleibt ihr Gebrauch metaphysisch. Ein Beispiel ftir den metaphysischen Gebrauch liefert die naturgeschichtliche Theorie von Forster, die blinden Natur­ kräften Planmäßigkeit zuspricht. Das Fazit, das Kant aus der Kontroverse mit Forster zieht, ist ftir das Methoden­ problem der Naturgeschichte höchst bedeutsam. Nachdem der erste Entwurf der Geschichtsphilosophie von 1784 das teleologische Prinzip in der Rede von der "Naturabsicht" ungeklärt und das Verhältnis zwischen Natur und Freiheit in dem 38

mehr essayistisch-spielerischen Aufsatz : ,Mutmaßlicher Anfang der Menschen­ geschichte' ( 1786) im Grunde dezisionistisch zugunsten der Freiheitsgeschichte ge­ löst hatte, trifft Kant dazu jetzt begrifflich nötige Unterscheidungen. Gegenüber Forsters Naturalismus hält er noch einmal fest, daß "Zwecke" der "Natur" nicht zuzusprechen sind - sie haben vielmehr eine "gerade Beziehung auf die Vernunft, sie mag nur fremde, oder unsere eigene sein. Allein um sie auch in fremder Ver­ nunft zu setzen, müssen wir unsere eigene wenigstens als ein Analogon derselben zum Grunde legen: weil sie ohne diese gar nicht vorgestellt werden können". 1 9 Eine zwecktätige Natur bleibt für uns unerkennbar, weil nach Kants kritischer Einsicht alle Rede von Zwecken nur insoweit gerechtfertigt ist, als sie sich auf die uns mögliche Erfahrung bezieht, - neben der Erfahrung außer uns, nämlich der Lebe­ wesen als empirisch gegebenen Sonderformen der Natur die "Erfahrung in uns selbst", die Kant im Rückgang auf die Sprache der praktischen Vernunft aufklärt. Am Schluß seiner Replik auf Kant hatte Forster die theoretische Argumentation auf die praktisch-moralische Ebene verschoben. In Kants Hypothese von zweck­ mäßig "anerbenden" Unterschieden der Rassen sieht Forster die Gefahr des Abfalls vom aufgeklärten Humanitätsgedanken, der er, in seltsamer Mischung von Naturalismus und christlichem Schöpfungsglauben als Anhänger des Leibnizianis­ mus emphatisch vertritt. Die Gefährlichkeit des naturgeschichtlichen Theorems, das zur Rechtfertigung der Sklaverei dienen kann, läßt sich nach Forster nicht mehr ethisch kompensieren, da der Grundsatz des "Moralisten", als "einzige Stütze des Systems unserer Pflichten" angenommen, keine Schandtat verhindert hat. Die Alternative zum Kategorischen Imperativ ist die von Herder: das Gefühl des Men­ schen, frei geschaffen und durch praktische Erziehung nach Erfahrungsbeispielen jener Humanität fähig zu sein, die das Christentum verkündet. 20 Gegenüber dieser Mischung von dogmatischen Naturalismus und Gefühlsmora� is­ mus mußte es Kant darauf ankommen, seine eigene Position zu klären und die Ver­ einharkeil seines naturgeschichtlichen Ansatzes mit der Grundannahme der Frei­ heit darzutun. Ohne Forsters Argumente näher zu kritisieren, untersucht Kant unter der Voraussetzung des Moralprinzips der ,Kritik der praktischen Vernunft' die Mög­ lichkeit teleologischer Begriffsbildung überhaupt, indem er hier zunächst die me­ thodisch gebotene Unterscheidung zwischen "Naturzwecken" und "Zwecken der Freiheit" einführt. Ihre Grundlage ist jene "allgemeine Verzeichnung der Elemente der Erkenntnis", die der Kritizismus im Aufbau des theoretischen und praktischen Vernunftwissens als Prinzipien a priori erwiesen hatte. Damit verbindet sich das systematische Problem des Verhältnisses von Verstandes-. und Vernunftbegriffen, dessen Lösung für die Exposition der teleologischen Prinzipien und ihren ver­ schiedenartigen Gebrauch in der Philosophie von entscheidender Wichtigkeit ist. Der Prinzipienlehre der ,Kritik der Urteilskraft' präludierend; ordnet Kant das teleo­ logische Begriffspaar der Unterscheidung zwischen apriorischen und aposteriori­ schen Prinzipien zu: "Daß es in der Natur Zwecke geben müsse, kann kein Mensch 39

a priori einsehen, dagegen er a priori ganz wohl einsehen kann, daß es darin eine Verknüpfung der Ursachen und Wirkungen geben müsse. Folglich ist der Gebrauch des teleologischen Prinzips in Ansehung der Natur jederzeit empirisch bedingt".2 1 Mit der Rede von "Zwecken der Freiheit" meint Kant dagegen Zwecke, die nicht wie die natürlichen Sonderformen der Lebewesen von Natur vorgegeben, sondern die kraft praktischer Vernunft dem menschlichen Handeln aufgegeben sind. Wenn der Mensch freilich sich auch hier von der Natur Zwecke vorgeben, wenn er die Mög­ lichkeit seines Handeins aufbloße Bedürfnisbefriedigung einschränken läßt, entfällt alle Prinzipienunterscheidung : "Ebenso würde es mit den Zwecken der Freiheit bewandt sein, wenn dieser vorher die Gegenstände des Wollens durch die Natur (in Bedürfnissen und Neigungen) als Bestimmungsgründe gegeben werden müßten, um bloß vermittelst der Vergleichung derselben unter einanderund mit ihrer Summe dasjenige durch Vernunft zu bestimmen, was wir uns zum Zwecke machen". Womit ist es zu begründen, daß der Gebrauch von "Zwecken der Freiheit" nicht empirisch bedingt ist? Wie läßt sich die eingeführte Unterscheidung als vernünftig rechtfer­ tigen? Kants Antwort lautet: durch die Kritik der praktischen Vernunft, die in ihrem Grundsatz, dem Kategorischen Imperativ, die gerade Beziehung des "Zwecks der Freiheit" auf die Vernunft nachweist:"Wenn also der Gebrauch des teleologischen Prinzips zu Erklärungen der Natur darum, weil es auf empirische Bedingungen eingeschränkt ist, den Urgrund der zweckmäßigen Verbindung niemals vollständig und für alle Zwecke bestimmt genug angeben kann: so muß man dieses dagegen von einer reinen Zweckslehre (welche keine andere als die der Freiheit sein kann) erwarten, deren Prinzip a priori die Beziehung einer Vernunft überhaupt auf das Ganze aller Zwecke enthält und nur praktisch sein kann. "22 Kant formuliert hier im Kontext des Streits mit Forster das Programm einer Methodenlehre der teleologi­ schen Urteilskraft. 23 Daraus läßt sich entnehmen, welche systematische Tragweite die Erörterung eines besonderen teleologischen Prinzips der Natur ftir die Entste­ hung dieser Kritik haben mußte, da es von Kant nicht isoliert betrachtet, sondern im Rahmen des universellen Freiheitsprinzips und damit einer "reinen Zwecklehre" behandelt wurde. Mit ihrer Exposition klärt sich nun auch die Stellung der Ge­ schichtsphilosophie innerhalb des allgemeinen Problems des historischen Wissens auf. Das vermeintliche Sonderproblem des Gebrauchs der teleologischen Prinzipien steht in einem größeren systematischen Zusammenhang, dem sich das Kantische Geschichtsdenken einordnet. Am Anfang seines Aufsatzes erinnert Kant an eine doppelte Erörterung teleologischer Prinzipien: einmal an die Lehre vom höchsten Gut (Ethik), zum anderen an das naturgeschichtliche Lehrstück über den Begriff der Menschenrasse. 24 Beides scheint nur lose zusammenzuhängen, wenn Kant im Blick auf die Ethik dem naturgeschichtlichen Lehrstück eine "ähnliche Befugnis, ja Bedürfnis" zuerkennt, von einem teleologischen Prinzip auszugehen. Tatsächlich bewegt sich das Konzept der Menschengeschichte zwischen den Grenzbegriffen "Natur" und "Freiheit". In ihm sind der Begriff der Menschenrasse und der Begriff 40

des höchsten Gutes auf eine nicht leicht durchschaubare Weise miteinander ver­ bunden. Deutlich ist, weshalb Kant im Anschluß an die Prinzipienlehre der Kritik der praktischen Vernunft zwischen Natur- und Freiheitsgeschichte einen Schnitt legt. Die Menschen�eschichte ist beides zugleich. Die Naturgeschichte des Menschen ist an der Menschengattung al s einem Produkt der Natur orientiert; sie muß not­ wendig retrospektiv verfahren. Davon unterscheidet sich die Menschengeschichte, die sich am "Zweck der Freiheit" orientiert, - an j enem apriorischen Vernunft­ zweck des höchsten Gutes als einer vom Menschen selbst entworfenen Idee, die zu realisieren ihm aufgegeben ist; sie verfährt retrospektiv und prospektiv zugleich. Der Klärung ihres methodologischen und systematischen Status ist die Kontroverse mit Herder gewidmet. Der erste Teil von Herders ,Ideen zur Philosophie der Geschichte der Mensch­ heit' erschien gleichzeitig mit Kants ,Idee zu einer allgemeinen Geschichte in welt­ bürgerlicher Absicht' ( 1 784). Als "Kantianer vom Jahre 1 765" 25 zitiert Herder am Beginn seiner Schrift Kants ,Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels', in deren naturgeschichtliches Konzept er die eigene Geschichtskonzep­ tion eingebettet sieht. Die Geschichte erscheint bei Herder als eine Art Natur­ geschichte, die das historische Wissen der Aufklärung auf einer zwischen Empiris­ mus und Rationalismus unentschieden hin und her schwankenden Grundlage in sich aufnimmt, um es zuletzt der biblisch-christlichen Tradition anzunähern. Die Welt - so läßt sich der Leibnizianische Grundriß des Buches kurz zusammen­ fassen - ist ein Stufenbau, ein sichtbarer der Körper, ein unsichtbarer organi­ sierender Kräfte. Die Erde nimmt unter den Weltkörpern einen mittleren Platz ein, der Mensch unter den Weltbewohnern eine mittlere Stellung; er ist ein Mittel­ geschöpf im Stufenreich aller Geschöpfe. In ihm erreicht das Leben auf der Erde seine höchste Entwicklung, danach entfaltet sich das Reich höherer Geister. Der Mensch ist Glied zweier Reiche : er schließt das sichtbare ab und eröffnet das un­ sichtbare Reich der Geister. Kant tritt dieser Auffassung, einem Versöhnungsversuch zwischen Aufklärung, Wissenschaft und Tradition, mit einer Schärfe entgegen, die zuletzt wohl nur als schonungsloses Abrechnen mit sich selbst, d. h. der in seinem Schüler "aufbe­ wahrten" vorkritischen Periode, erklärlich sein mag. Die Kontroverse dreht sich vor allem um die Aufgabe einer Philosophie der Geschichte (a), die Frage ihres methodischen Leitfadens (b) und die Grundlagen geschichtsphilosophischer Be­ griffsbildung (c). Geschichtsphilosophie, seit Voltaire eine der Modedisziplinen des Zeitalters der Aufklärung, kann nach Kant nur die Anwendung der Methode des Philosophierens auf einen besonderen Erfahrungsbereich, eben den der Geschichte, sein. Philo­ sophie heißt allgemein "Erkenntnis aus Begriffen", - Begriffsanalyse im transzen­ dentalen Sinne einer "Deduktion" der Grundbegriffe eines Gebiets, nämlich des 41

Nachweises ihres Ursprungs und der Rechtmäßigkeit und Grenzen ihres Gebrauchs. Obwohl Kant die schriftstellerische Eigentümlichkeit des "sinnreichen und beredten Verfassers" rühmt, dessen Genie eine große Ideenmasse mit leichter Hand bewegt und dem eigenen Denken anverwandelt, hält er fest, daß Herder nicht der "Regel der Gründlichkeit im Philosophieren" folgt. Er verletzt die Pflichten der "logischen Pünktlichkeit in Bestimmung und Begriffe" und der "sorgfaltigen Unterscheidung und Bewährung der Grundsätze", so daß Kant sogar so weit geht, seinem Unter­ nehmen den Titel einer "Philosophie der Geschichte" streitig zu machen. Ohne Klärung der Begriffe "gibt" es keine Geschichtsphilosophie, was Kant in die Worte faßt: "Daher möchte ich wohl, was ihm Philosophie der Geschichte der Menschheit heißt, etwas ganz anderes sein, als was man gewöhnlich unter diesem Namen versteht. "26 Mit diesem vernichtenden Urteil beginnt Kants Rezension, die nun Punkt für Punkt die Schwächen der Herdersehen Schrift nachweist. Infolge mangelnder Begriffs­ klärung bedient sich Herder unkritisch der Sprache und der Materialien der Natur­ geschichte. Er verwendet die "Betrachtungen der Naturbeschreiber zu seiner Absicht", beschreibt mit ihrer Hilfe die überall wahrnehmbare fortschreitende Organisation von den unbelebten Mineralien über Pflanzen und Tiere bis zum Menschen, ohne ein genetisches Prinzip anzugeben, das die begrifflichen Mittel der Beschreibung als Konstruktionselemente einer Geschichte verwenden ließe. "Der Verfasser rechnet nicht auf Keime, sondern auf eine organische Kraft, so bei Pflanzen als Tieren". Ja mehr noch: Herder verlegt diese Kraft - wie auch Forster ­ in die anorganische Materie. Er erdichtet eine materielle Grundkraft, die als ein­ heitliches teleologisches Prinzip alle Glieder der Natur verbindet: "Je mehr das eine organische Prinzipium der Natur" - so lautet einer der Herdersehen Grundsätze, "das wir jetzt bildend (im Stein), jetzt treibend (in Pflanzen), jetzt empfindend, jetzt künstlich bauend nennen und im Grunde nur eine und dieselbe organische Kraft ist, in mehr Werkzeuge und verschiedentliehe Glieder verteilt ist, je mehr es in denselben eine eigene Welt hat, - desto mehr verschwindet der Instinkt, und ein eigener freier Gebrauch der Sinne und Glieder (wie etwa beim Menschen) fängt an". 27 Die Annahme eines solchen Prinzips läßt Herders Konzept der Natur­ geschichte nicht nur auf den Standpunkt einer (oft hymnisch preisenden) Natur­ beschreibung zurückfallen; es nötigt auch dazu, daß sich Herder einer begrifflich ungeklärten Schlußfolge aus der Analogie der Natur überläßt, welche die Bedin­ gungen der Möglichkeit des historischen Wissens gänzlich übersteigt und Teleologie irt Theologie überführt. Das ist der Punkt, auf den sich Kants Haupteinwand in der Rezension des 1. Teils konzentriert. Herders Lehre vom "Reich unsichtbarer Kräfte", der Schluß von einer naturhistorischen Stufenfolge der Lebewesen auf eine konti­ nuierliche, immer vollkommenere Organisation, die ihm für die Geschichte des Menschen weitere, sein irdisches Leben überschreitende, Stufen erwarten läßt, wird von Kant als Folge mangelnder sprachlicher und logischer Disziplin erklärt. 42

Kurzum : auch Herder ist dogmatischer Historizist; statt Geschichtsphilosophie methodisch zu betreiben, treibt er weiter Geschichtsmetaphysik. 2B Philosophie, mit dieser Erklärung hatte Kant seine erste Rezension abgeschlossen, bedarf zuerst der Kritik, wie überall, so besteht auch auf dem Gebiet der Geschichte die Besorgung ihres Geschäfts mehr im Beschneiden als Treiben üppiger Schöß­ linge. 29 Die Unklarheit der Herdersehen Geschichtsphilosophie besteht nun in der Tat darin, daß in ihr die Prinzipien der Natur- und Menschengeschichte fortwährend durcheinander laufen. Um das Begründungsproblem der Geschichtsphilosophie lösen zu können, bedarf es zunächst der methodischen Auflösung des Problems einer Anthropologie. Nach Kants Auffassung, die mir der Sache nach richtig und wohl begründet erscheint, ist Herder dazu außerstande, und zwar im wesentlichen aus zwei Gründen. Einmal, weil Herder sich, wie alle anderen "philosophischen Unter­ nehmen einer allgemeinen Naturgeschichte des Menschen" auch hier wieder Sprache und Material vom faktischen Stand der zeitgenössischen Anthropologie und Ethnologie, der "unermeßlichen Menge von Völkerbeschreibungen oder Rei se­ erzählungen und allen ihren mutmaßlich zur menschlichen Natur gehörigen Nach­ und Ethnologie, der "unermeßlichen Menge von Völkerbeschreibungen oder Reise­ erzählungen und allen ihren mutmaßlich zur menschlichen Natur gehörigen Nach­ richten", vorgeben läßt. Dieses Material wäre nach Kant nur dann wissenschaft­ l ich verwertbar, wenn ein "historisch-kritischer Kopf" dem Geschichtsphilosophen vorgearbeitet hätte. Zum anderen leidet Herders Anthropologie an einem Dilemma, in das sich dann die eigentliche Philosophie der Menschengeschichte zunehmend tiefer verstrickt. Herders Anthropologie hat einen doppelten Leitfaden. Sie betrach­ tet den Menschen einerseits als ein Produkt der Natur (in Kants Sprechweise: als einen Naturzweck). Und sie betrachtet ihn gleichzeitig als ein von Gott geschaf­ fenes Wesen, wiederum mit Kant geredet : als einen Endzweck der Schöpfung. In ihrer Sprache laufen physiologische und metaphysisch-theologische Begriffs­ bildungen durcheinander, so daß Herder prinzipienlos alles mit allem, Wi ssen­ schaft mit Theologie, Aufklärung mit Tradition, Physik mit Metaphysik, verknüpfen kann. Geschichtsphilosophie bleibt ohne methodischen Leitfaden, während Kant davon ausgeht, im Besitz eines solchen Leitfadens zu sein. Der für diesen Punkt entscheidende Satz findet sich in der Entgegnung auf Reinholds Metakritik. Da der Rezensent, so erwidert Kant auf den Metaphysik-Vorwurfvon Herder und Reinhold, die "Materialien zu einer Anthropologie ziemlich zu kennen glaubt, imgleichen auch etwas von der Methode ihres Gebrauchs, um eine Geschichte der Menschheit im Ganzen ihrer Bestimmung z u versuchen; so ist er überzeugt, daß sie weder in der Metaphysik noch im Naturalienkabinett durch Vergleichung des Skeletts des Men­ schen mit dem von anderen Tiergattungen aufgesucht werden müssen; am wenigsten aber die letztere gar auf seine Bestimmung für eine andere Welt führe; sondern daß sie allein in seinen Handlungen gefunden werden können, dadurch er seinen Charakter offenbart". ao Liegt die Aufklärung des Begründungsproblems der 43

Geschichtsphilosophie nach der Einführung dieses Leitfadens, der menschlichen Handlung, in der Prinzipienlehre der EthiK! Diese Frage ist m. E. nicht uneinge­ schränkt zu bejahen. Ich versuche sie zu beantworten, indem ich mich dem dritten Punkt im Streit mit Herder zuwende. Herders anthropologische Grundsätze - so hatte Kant in der ersten Rezension bereits ausgeführt - übersteigen alle menschliche Vernunft, "sie mag nun am philosophischen Leitfaden tappen oder·am metaphysischen fliegen wollen". 31 Nach Kant bedarf die Methode des Gebrauchs anthropologischer Prinzipien in der Ge­ schichtsphilosophie des Leitfadens zweckorientierter Handlungen, sie bedarf einer methodisch begründeten, am Primat der praktischen Vernunft orientierten Teleolo­ gie. Kant hat diese erst in der ,Kritik der Urteilskraft' ( 1 79) exponiert (§§ 79 - 85). Der Streit mit Herder gab dazu den für die Ausführlichkeit dieses letzten transzen­ dentalen Lehrstücks vermutlich ausschlaggebenden Anlaß. Denn er dreht sich, prin­ zipien-theoretisch gesehen, um zwei Begriffe aus den Konfinien zwischen Ethik und Anthropologie: den Begriff der "Glückseligkeit" ( I ) und den der "Gattung" (2). Um ihr systematisches Gewicht zu verstehen, sei daran erinnert, daß Herders Ge­ schichtsphilosophie den Endzweck der Schöpfung - in Übereinstimmung mit der traditionell-christlichen Metaphysik - in die Glückseligkeit der Individuen (ein­ schließlich der Völker und Staaten) verlegt. Dieser Zweck ist empirisch bedingt, er ist zugleich Naturzweck Daraus ergibt sich die Einbettung seiner Teleologie in die Kosmo-Theologie der Leibniz-Woltrschen Schule. Die Gleichsetzung des phy�iologischen mit dem metaphysischen Leitfaden wird erzwungen durch den Zweck der Glückseligkeit, der sowohl als Naturzweck aller Geschöpfe wie als Schöp­ fungswerk verstanden wird. In seiner Schrift ,Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht' ( 1784) hatte Kant in die philosophische Deutung der Menschengeschichte einen Zweckbegriff eingeführt, der weder physiologisch noch metaphysisch abgeleitet, aber auch nicht eindeutig auf dem Primat der praktischen Vernunft begründet war. Kant hatte von einer "Naturabsicht" ,ja von einem "Plan der Natur" gesprochen, der auf die "vollkommene bürgerlicher Vereinigung in der Menschengattung" abziele (9. Satz).32 Es handelt sich hierbei um einen praktisch­ politisch bedingten Endzweck, der die ihm gemäße geschichtliche Realisierung nur über die Institution "Staat" und deren Übertragung auf das Ganze der Menschen­ gattung, also gerade nicht im Individuum erreichen kann. Gegen diese geschichts­ philosophische Prinzipienlehre, die sich aus mehreren Quellen (nicht nur der Ethik, sondern auch des Naturrechts und der politischen Philosophie) speist, polemisiert Herder im 2. Teil der ,Ideen'. Kants kritische Replik verdeutlicht, daß zwischen beiden geschichtsphilosophischen Ansätzen eine unauthebbare Prinzipiendifferenz besteht. Gütig dachte die Vorsehung, so hatte Herder gegenüber Kants praktisch­ politischer Sinndeutung des universalhistorischen Verlaufs ausgerufen, "da sie den Kunstendzwecken großer Gesellschaften die leichtere Glückseligkeit einzelner Menschen vorzog und jene kostbaren Staatsmaschinen, so viel sie konnte, den 44

Zeiten ersparte". 33 Kant stimmt damit ganz überein, daß der Glücksbegriff allein individuell realisierbar und seine Erreichung nicht Zweck der Geschichte sein kann. "Glück" ist ein Sinnbegriff, den jede Zeit, sowohl lebens- als auch weltgeschicht­ lich, anders interpretiert: "In allen Epochen der Menschheit, so wie auch zu der­ selben Zeit in allen Ständen findet Glückseligkeit statt, die gerade den Begriffen und der Gewohnheit des Geschöpfs an die Umstände, darin es geboren und er­ wachsen ist, angemessen ist; es ist sogar, was diesen Punkt betrifft, nicht einmal eine Vergleichung des Grades derselben und ein Vorzug einer Menschenklasse oder einer Generation vor der anderen anzugeben möglich". 34 Jedes historische Individuum, so dürfen wir diesen Satz verstehen, ein Volk, ein Zeitalter, eine Generation, ist dem anderen gleich wert; es . ist, um in der Sprache des Historismus zu reden, unmittelbar zu Gott. Herders Fehler liegt jedoch darin, den Begriff des Glücks als letzten Zweck der Natur wie als Endzweck der Geschichte bestimmt und diese damit im Individuum zentriert zu haben. Wenn jemand sagte, so hatte Herder im Blick sowohl auf Lessing wie auf Kant argumentiert, daß nicht der ein­ zelne Mensch, sondern das Menschengeschlecht erzogen werde, so würde er "unver­ ständlich" sprechen, da "Geschlecht" und "Gattung" nur "allgemeine Begriffe sind, außer sofern sie in einzelnen Wesen existieren. - Als wenn ich von der Tierheit, der Steinheit, der Metallheit im Allgemeinen spräche und sie mit den herrlichsten, aber in einzelnen Individuen einander widersprechenden Attributen aus­ zierte!"35 Herder unterstellt der Kantischen Geschichtsphilosophie, das Individuelle zugunsten des Allgemeinen zu verleugnen und dieses "begriffsrealistisch" zu hypostasieren. An diesem Punkt weiß sich Kant schlicht mißverstanden, weil das Allgemeine im Sinne des "Genus" logisch nichts anderes implizieren kann, als "das Merkmal, worin gerade alle Individuen untereinander übereinstimmen müssen".36 Kants Begriff der Menschengattung hat aber mit dem logischen Begriff "Gattung" nichts zu tun. Kant führt ihn gar nicht über den Begriff "Individuum", sondern über den Begriff "Generation" ein. Das Wort "Gattung" stellt im Kontext der Geschichtsphilosophie einen historischen Grundbegriff und keinen logischen Begriffdar. Es bezeichnet also nicht die Gesamtheit der Merkmale, die den Kollektiv­ begriff "Mensch" bilden, sondern die Reihenfolge der Generationen ("Zeugungen"), in denen sich die Menschengeschichte in Raum und Zeit aufbaut. Nach dem logi­ schen Begriffwären die Individuen lediglich gleichgültige Exemplareeines formalen Ganzen, nach dem historischen Begriff sind sie als Glieder der Generationen Teile des realen Ganzen einer ins Unendliche (Unbestimmbare) gehenden Reihe von Zeugungen. 37 Wenn diese Unterscheidung festgehalten wird, dann ist es nach Kant kein Widerspruch mehr zu sagen, daß die Gattung in allen ihren Teilen der Linie ihrer Bestimmung asymptotisch sei und doch im Unendlichen mit ihr zusammen­ treffe. Oder anders ausgedrückt: daß die Bestimmung der Menschengeschichte reales, unaufhörliches Fortschreiten in der Zeit sei, während ihre Vollendung ein ideales Ziel bleibe. Damit wird nicht, wie der im dogmatischen Historizismus des 1 9. Jahrhunderts befangene Neukantianismus gemeint hat,36 "die Entwicklung 45

selbst . . . zu einer Idee". Entwicklung ist der in der Generationsreihe ablaufende Prozeß in der Zeit, der sich der politisch-praktischen Vernunftidee einer vollkom­ menen Gesellschaft immer nur annähern kann, ohne sie je ganz zu erreichen. Die bereits von Herder verkannte Begründungsleistung des Kritizismus besteht viel­ mehr in dem methodischen Prinzip, das als theoretisch nicht erreichbar ausgewie­ sene Ziel praktisch als erreichbar zu postulieren, 39 - Geschichtsphilosophie unter dem Primat der praktischen Vernunft (in praktischer Absicht) zu treiben. III Als Nietzsche unter dem Eindruck des sich im Bismarck-Reich formierenden Neu­ kantianismus während der 80er Jahre die Auseinandersetzung mit der klassischen deutschen Philosophie an Hand der beiden Leitbegriffe "Historismus" und "Kriti­ zismus" noch einmal aufnahm, da hatte sich für ihn der eine auf die Gestalt von Hegel, der andere auf die von Kant zusammengezogen. Nietzsche reproduziert nur die communis opinio seiner Zeit, wenn er notiert: "Kant : ein Reich der morali­ schen Werte, uns entzogen, unsichtbar, wirklich. - Heget : eine nachweisbare Ent­ wicklung, Sichtbarwerdung des moralischen Reichs". Hegels Philosophie ist der durchgeführte Historizismus, seine populäre Seite die Lehre von Krieg und den großen Männern : "Das Recht ist bei den Siegreichen : er stellt den Fortschritt der Menschheit dar. Versuch, die Herrschaft der Moral aus der Geschichte zu beweisen". Wir wollen uns, so schließt Nietzsche für sich selbst, weder auf die Kantische noch Hegeische Manier betrügen lassen - "wir glauben nicht mehr, wie sie, an die Moral und haben folglich auch keine Philosophien zu gründen, damit die Moral recht behalte. Sowohl der Kritizismus als der Historizismus hat für uns nicht darin seinen Reiz - nun, welchen hat er denn? - " 40 Wenn Nietzsche darauf keine Antwort weiß, so erklärt sich das nicht zuletzt daraus, daß er das Problem des histori­ schen Wissens auf ein Moralproblem und dieses auf Glaubensfragen reduziert. Die Verlegenheit des dogmatischen Historizismus, den wir mit Troeltsch und Mei­ necke "Historismus" nennen können, ist damit freilich ebensowenig aufgehoben, wie der dogmatische Naturalismus, der ihn als Schatten begleitet. Historismus und Naturalismus sind in der Tat, wie Troeltsch gesagt hatte, die beiden großen Wissenschaftsschöpfungen der modernen Welt; sie ersetzen die vormaligen Diszi­ plinen der theoretischen und praktischen Philosophie, der Metaphysik und Logik auf der einen, der Ethik und des Naturrechts auf der anderen Seite, die seither verfallen oder subj ektivistisch verwüstet sind. Um das Denken vor solchen Konse­ quenzen einer grundsätzlichen Historisierung zu bewahren, wird die Parole einer neuen Rückkehr zu Kant sicherlich nicht genügen. Aber die Erinnerung an ihn mag .

hilfreich dafür sein, wenn es gilt, das Problem des Historismus in systematischer Ursprünglichkeit und methodisch so zu formulieren, daß auf seine Überwindung zumindest Aussicht besteht. Darin liegt, vielleicht, der Reiz, den für uns heute erneut der Kritizismus bietet. 46

Anmerkungen 1 K. R. Popper, The Poverty of Historicism, London 1957 1, dt. Ausgabe. Das Elend des Historizismus. 2 Der Historismus u n d seine Probleme, Tübingen 1 922, S. 1 04 fT. 3 a.a. O . , S . 102 4 Die Entstehung des Historismus, M ünchen 1 9462, S . 2 fT. 5 An Jacobi, 25. Februar 1 785, i n : H. Düntzer/F. G. Herder (Hrsg.), Aus Herders Nachlaß, Ungedruckte Briefe, Frankfurt 1 857, Bd. 2, S . 267 - 270. An Hamann, 28. Februar 1 785, in: 0. Hoffmann (Hrsg.) Herder, Briefe an J. G. Hamann, Hildesheim/New York 1 975, S . 2 1 0 - 2 1 3 . 6 Vgl. dazu die Ausführung zur Forster-Kontroverse in den älteren Arbeiten v o n T h . Elsenhans,

Kants Rassentheori e und i h re bleibende Bedeutu ng, Leipzig 1 904, S . 1 6 - 1 8, und 3 8 - 44; W. Scheidt, Allgemeine Rassenkunde, München 1 926, S . 3 8 - 4 1 . Ein guter Überblick über die verhandelten Strei tfragen fi ndet sich bei K. Fischer, Immanuel Kant und seine Lehre, 2. Tei l, München 1 883, S. 22 1 - 233. 7 Kants Werke, Akad. -Ausg. Bd. II, 434 (es wird d u rchgehend nach dieser Ausgabe zitiert). 8 Akad. II, 443. 9 An Heyne, den 10. Juli 1 786, i n : Werke in vier Bänden, hrsg. von G. Steiner, B d . 4, Leipzig a.o.J.,

s. 4 1 7 f.

1 0 Noch etwas über die Menschenrassen, i n : Werke Bd. 2 , S . 75 1 . 1 1 Über d e n Gebrauch teleologischer Pri nzipien i n der Philosophie, i n : Akad. VIII, 1 6 1 . Daß Fo rsters

Naturalismus zur "Herabsetzung und Unterschätzung des Abstrakten im Erkenntnisprozeß" führen muß, wird auch von marxisti schen Interpreten der Kontroverse ei ngeräumt, die sich sonst auf die Seite von Forster bzw. des vorkritischen Kant zu stellen geneigt sind. Vgl. E. Lange, Georg Forsters Kontroverse mit Kant, in: Deutsche Zeitschrift fü r Philosophie 1 2 ( 1 964), S. 969.

12 Werke, Bd. 2, S . 87. 1 3 Vgl. dazu meinen Aufsatz : Historischer, metaphysischer und transzendentaler ZeitbegrifT, i n : R KoseHeck (Hrsg.), Studien z u m Beginn d e r modernen Welt, Stuttgart 1 977, S . 300 - 3 16. 1 4 Akad. VIII, 1 6 1 f. 1 5 Akad. VIII, 1 63. 1 6 Werke, Bd. 2, S . 87

f.

17 Akad. VIII, 1 79. 18 Akad. VIII, 1 80 f. 1 9 Akad. VIII, 1 82. 20 Noch etwas über Menschenrassen, a.a. O . , S . 99 f. 2 1 Akad. VIII, 1 8 2 22 Akad. VIII, 182 23 Vgl. Kritik der Urtei lskraft, 2. Teil, Anhang, §§ 79 - 9 1 2 4 Akad . VIII, 159 25 Vgl. R. Haym, Herder, hrsg. von

W. Harich, Bd. 1 , Berlin 1 954, S . 55.

26 Akad. VIII, 45. 27 Ideen zur Philosophie der Geschichte der M enschheit, 3 . Buch, IV, in: J. G. Herder, Sämtliche W(lrke, hrsg. von J. v. M ü l ler, Bd. 4, Stuttgart (Tübingen 1 827, S . 1 1 5). 28 Beilage zur 1. Rezension, Akad. VIII, 53 fT. 29 Akad. VIII, 55. 30 Akad. VIII, 56. 31 Akad . VIII, 55.

J2 Akad. VIII, 29. 33 Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, 8. Buch, V 3, Sämtliche Werke, Bd. 5, S . 1 72. 34 Akad. VIII, 64. 35 Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, 9. Buch, I. Sämtliche Werke, Bd. 5. 36 Akad. VIII, 65.

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37 Akad. VIII, 65. 38 H. Cohen, Kants Begründung der Ethik, 1910 2 , S. 5 10. 39 Vgl. K. Weyand, Kants Geschichtsphilosophie. Ihre Entwicklung und ihr Verhältnis zur Aufklärung. Köln 1964 (- Kant-Studien Ergänzungsheft 85), S. 125.

40 Aus dem Nachlaß der Achtzigeljahre, Werke Bd. 3, hrsg. von K. Schlechta, München 1956, S. 479.

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Manfred Fuhrmann Die 'Querelle des Anciens et des Modernes', der Nationalismus und die Deutsche Klassik *

I.

ANTIK-MODERN

Die Querelle des Anciens et des Modernes hat das Geschichtsbild der Renaissance zur Voraussetzung; sie ist der Disput über dessen Richtigkeit. Sie übernimmt daher vom Geschichtsbild der Renaissance den universalen Zuschnitt: es geht hier wie dort um den ganzen Menschen, um alle Bereiche menschlicher Tätigkeit, um die Künste und Wissenschaften, um die Philosophie, die Technik, die Politik und die Moral, kurz, um die gesamte Kultur. Die Querelle übernimmt weiterhin vom Ge­ schichtsbild der Renaissance den Bezugspunkt einer fernen Vergangenheit, der An­ tike: es geht hier wie dort darum, am Vor- und Gegenbild der Antike den eigenen Standort zu bestimmen. Das Denken der Renaissance operierte freilich mit einem Dreiphasens chema, und es genügte ihm, die Überlegenheit der eigenen Zeit über die soeben beendete Phase, das Mittelalter, zu behaupten - über die Antike wagte es sich nicht zu erheben. Die Querelle hingegen dachte polar oder antithetisch; das Mittelalter war ihr entrückt, und sie beschränkte ihre Aufmerksamkeit im wesentlichen auf die beiden Gipfel des überkommenen Geschichtsbildes, auf die Antike und die Gegenwart. Hierbei begnügte sie sich nicht damit, ehrfurchtsvoll zum früheren Gipfel, zur Antike, aufzublicken; dieses Erbstück der Renaissance war vielmehr kontrovers: die Anciens behaupteten nach wie vor, daß der frühere Gipfel höher sei, die Modernes hingegen beanspruchten flir die eigene Gegenwart den Primat. König Ludwig XIV. war von einer Operation genesen; Charles Perrault verlas, um dieses Ereignis zu feiern, am 27. Januar 1687 in der Akademie zu Paris sein Gedicht ,Le siede de Louis le Grand'. Das Datum wird mit Recht so oft genannt. Zwar waren die Motive von Perraults Gedicht durchaus nicht originell - seit zwei Jahrhunderten schon hatte man immer wieder im Namen einer überlegenen Gegen­ wart gegen den Kult der Antike protestiert. 1 Einzelen beriefen sich hierbei auf den Fortschritt des Wissens und der Wahrheit - so z. B. Giordano Bruno und Francis Bacon. Andere behaupteten, die poetischen Leistungen ihrer Zeit seien allem Bis­ herigen überlegen - so die Anhänger eines G6ngora oder eines Marino. Wieder andere argumentierten systematisch und universal, d. h. sie suchten in allen oder 49

möglichst vielen Bereichen menschlicher Tätigkeit den Vorrang der Gegenwart zu erweisen. So schon im Jahre 1460 der Florentiner Benedetto Accolti in seinem Depraestantia virorum sui aevi dialogus; so während der Blüte des Barocks, im Jahre 1620, Alessandro Tassoni in seinem Paragone deg/ 'ingegni antichi e moderni. Aber es hatte sich bei alledem nur um einzelne Stimmen gehandelt, die an der von der Renaissance behaupteten Vorbildlichkeit der Antike nicht zu rütteln vermochten. Perraults Gedicht hingegen war ein Funke, der einen mächtigen Brand entfachte; der Streit um den Rang der Antike wurde seither mit schwankenden, aber nicht mehr allzu ungleichen Kräften und vor den Augen der europäischen Öffentlichkeit geführt. Das Gedicht Perraults geht aufs Ganze: es sucht wie die Schriften eines Accolti oder Tassoni die Antike in allen Bereichen der Kultur zu entthronen. 2 Geschickt stellt es das stärkste Argument, die unleugbaren Fortschritte in den Naturwissen­ schaften, an die Spitze. Dann folgen die Künste, von denen sich die Überlegenheit der Gegenwart teils mit größerem Recht (wie im Falle der Musik), teils mit gerin­ gerem Recht (wie im Falle der Plastik) dartun ließ; am Schluß findet sich wieder eine - jedenfalls für die Zeitgenossen - unanfechtbare Position: die innen- und außenpolitischen Erfolge Ludwigs XIV., das Prestige seiner Herrschaft. Perraults Gedicht macht kein Hehl aus seiner panegyrischen Bestimmung: es feiert das Zeit­ alter Ludwigs als den Höhepunkt der nationalen Kultur Frankreichs; es bekräftigt den französischen Hegemonieanspruch in Europa. Schon der Anfang läßt diese frankozentrische Tendenz deutlich hervortreten - es heißt dort nach einigen ein­ leitenden Versen, die von der bedingten Größe der Antike handeln: 3 Et l'on peut comparer, sans crainte d'etre injuste, Le siecle de Louis au beau siecle d'Auguste. Dieselbe Tendenz kehrt innerhalb des Gedichts allenthalben wieder: Homer hätte, wäre er in unserem Jahrhundert, und zwar in Frankreich, geboren, die Fehler, die seine Werke entstellen, vermeiden können; den antiken Dichtern wird eine lange Liste von literarischen Größen der Moderne gegenübergestellt, die durchweg franzö­ sische Nam e n enthält; in der Malerei gilt dem Verfasser Le Brun, in der Musik Lully als Kulminationspunkt der Entwicklung; der Abschnitt über die Plastik nennt nur Franzosen, der Abschnitt über den Gartenbau preist die Wunder von Versailles. Diese nationale Tendenz hat indes, so aufdringlich sie ist, das überkommene Epochenschema nicht gesprengt und nicht beseitigt; antiquite und (notre) siec/e ­ so lautet auch bei Perrault die zumindest vordergründig dominierende Antithese. Mit dieser Diktion beanspruchte der Autor, jedenfalls expressis verbis, nur die dia­ chrone Überlegenheit Frankreichs; er hütete sich hingegen, zugleich so etwas wie eine synchrone Überlegenheit, den Vorrang seines Landes vor den übrigen euro­ päischen Ländern, zu beanspruchen. Der Charakter des Epochenvergleichs blieb somit trotz der nationalen Färbung gewahrt; Perraults Preisgedicht suchte keinerlei 50

Exklusivität, kein Privileg Frankreichs geltend zu machen - es hielt die Türen zu den europäischen Nachbarn offen. Diese Tonart setzte sich während der ganzen Debatte, die Perraults Gedicht ent­ fesselte, während der eigentlichen Querelle des Anciens et des Modernes, fort. Die Titel der Streitschriften hoben, sofern sie überhaupt etwas von dem Inhalt verrieten, den Epochendualismus hervor: Digression sur /es anciens et /es modernes (von Fon­ tenelle), Parallele des anciens et des modernes (von Perrault), Histoire poetique de Ia guerre nouvellement dec/aree entre /es anciens et /es modernes (von Callieres). Die Schriften selbst pflegten mit einer weniger neutralen Diktion aufzuwarten: man sprach nicht nur von modernes und notre siecle, sondern auch von Franc;ais und notre natio n ; man exemplifizierte fast nur mit französischen Geistesgrößen, und auch, wenn man schlicht nous sagte, dachte man im allgemeinen nous, /es Franc;ais. So verfährt z. B. die erwähnte Abhandlung von Fontenelle, die Digression sur /es anciens et /es modernes ( 1 688), ein vortreffliches Paradigma ftir den Standpunkt der Modernes, das während des ganzen 18. Jahrhunderts in ganz Europa immer wieder Leser fand. Fontenelle verwendet meistens die Ausdrücke modernes und siec/e; einmal jedoch läßt er die Katze aus dem Sack : ,Nous voila donc tous parfaitement egaux', schreibt er, ,anciens et modernes, Grecs, Latins et Fran�ais', und gegen Ende der Schrift werden den poetischen Leistungen der Antike einzig und allein Titel zeitgenössischer französischer Werke gegenübergestellt: ,Les meilleurs ouvrages de Sophocle, d'Euripide, d'Aristophane, ne tiendront guere devant Cinna, Ariane, An­ dromaque, Le Misanthrope' (von Pierre Corneille, Thomas Corneille, Racine, Moliere).4 Die eigentliche Querelle des Anciens et des Modernes endete nach etwa zehnjähriger Dauer im Jahre 1697; damals erschien der vierte und letzte Band von Perraults großangelegtem Dialog Parallele des anciens et des modernes. Eines der wichtigsten Ergebnisse des Streites bestand offenbar darin, daß es sich als schwierig erwiesen hatte, ftir die Künste in gleichem Maße den Primat der Gegenwart zu beanspruchen wie ftir die Wissenschaften, und beide Bereiche - sowohl die Künste als auch die Wissenschaften - in dieselbe Perspektive stetiger Vervollkommnung zu rücken. 5 Denn selbst Perrault sah sich genötigt, immerhin zwei Künsten, der Beredsamkeit und der Dichtung, eine besondere Stellung zuzubilligen. 6 ,Nous conclurons', schreibt er am Schluß des Para/tele, ' . . . que dans tous les arts et dans toutes les sciences, a Ia reserve de l'eloquence et de I a poesie, les modernes sont d e beau­ coup superieurs aux anciens, comme je croy l'avoir prouve suffisamment, et qu'a l'egard de l'eloquence et de Ia poesie, quoy-qu'il n'y ait aucune raison d'en j uger autrement, il faut pour le bien de Ia paix ne rien decider sur cet article.' 7 Dieser Schluß des Paralteie war wohl mehr als eine Floskel - jedenfalls hat die folgende Zeit, das 18. Jahrhundert, so geurteilt. 8 Die Kontinuität des Antike­ Moderne-Vergleichs blieb nämlich gewahrt, und man knüpfte immer wieder an die 51

große Debatte des ausgehenden 17. Jahrhunderts an. Hierbei fehlte es zwar nicht an radikalen Modernisten vom Schlage eines Terrasson, die nach wie vor erklärten, daß sich der Fortschritt auf alle Bereiche der Kultur erstrecke; ferner destillierte sich die Richtung eines Turgot und Condorcet heraus, die vornehmlich auf eine progressistische Geschichtsauffassung, auf perfektionistische politisch-soziale Modelle zielte. Im ganzen aber hatte man zu differenzieren gelernt, und die vor­ herrschende Tendenz lief darauf hinaus, daß zumindest die Dichtung von der Ge­ wißheit oder dem Wunschbilde des Fortschritts ausgenommen werden müsse. So hat sich der nächste große französische Streit, der vom Jahre 1 7 1 3 an zwischen Madame Dacier und La Motte als Protagonisten ausgetragen wurde, die Querelle d 'Homere, auf das umstrittene Teilgebiet, auf die Dichtung, und aufHomer als dessen wichtigsten Exponenten beschränkt. Vor allem aber bekannten sich in den folgenden Jahrzehnten gewichtige Einzelstimmen zur Trennung, ja zum Antagonismus, zur gegenläufigen Entwicklung von Dichtung und Wissenschaft, von Dichtung und Zivilisation - so Marivaux, Dubos und Voltaire, ferner, nach der Jahrhundertmitte, Diderot und Marmontel. Die Modernes der großen Querelle zielten, so wurde gesagt, mit der von ihnen ge­ priesenen Gegenwart zuallererst auf den Höhepunkt, den die nationale Kultur Frankreichs erreicht hatte; sie warenjedoch klug genug, zumindest äußerlich an der epochalen Nomenklatur, an der Antithese antik-modern festzuhalten und hiermit das kulturkritische Schema als für ganz Europa verbindlich hinzustellen. Der Funke sprang denn auch sofort nach England über und entfachte dort eine der Querelle analoge Auseinandersetzung - mit Temple und Wotton als den Hauptbeteiligten und mit Bentleys Dissertation upon the Epistles ofPhalarisals deren wichtigstem wis­ senschaftlichem Ertrag. Auch in Deutschland wurde die Querelle rasch bekannt. e Dort rief sie freilich keine selbständigen Streitschriften hervor; man machte sich lediglich mit ihrem Inhalt vertraut und neigte bald mehr der einen, bald mehr der anderen Seite zu. Immerhin war der Epochenvergleich während des ganzen 18. Jahrhunderts ein konstitutives Element auch des deutschen Kulturbewußtseins; er war Hintergrund und Voraussetzung vielfältiger Betrachtungen über die neuzeit­ liche Zivilisation, zumal über Kunst und Literatur der Gegenwart. Zunächst, wäh­ rend des Übergangs vom Barock zur Aufklärung, überwogen die Stimmen, die sich aufdie Seite der ,Modernen' schlugen; hierbei vermischte sich der neue Fortschritts­ glaube mit christlicher Abneigung gegen die heidnischen Mythen und machten sich zugleich erste patriotische Ansprüche auf eine eigene nationale Literatur be­ merkbar. So z. B. beim jungen Gottsched in einer Ode vom Jahre 1724: 1 0 Umsonst erhebt man dich, berufnes Altertum ! Umsonst ist man bemüht, die graue Welt zu preisen. In reiferen Jahren hat sich Gottsched freilich stärker zur Musterhaftigkeit der Alten bekannt; so versah er die von ihm herausgegebene Übersetzung der Digression Fontenelles mit kritischen Anmerkungen. 1 1 Vor der Jahrhundertmitte plädierte 52

man öfters für jene differenzierte Auffassung, die auch im zeitgenössischen Frank­ reich - zumal durch den Einfluß von Dubos - vorherrschte: in den Naturwissen­ schaften sei die Gegenwart der Antike, in der Dichtung und Beredsamkeit die Antike der Gegenwart überlegen. So etwa von Haller in seinem Sermo academicus ostendens quantum antiqui eruditione et industria antecellant modernis (vom Jahre 1 734); so auch der junge Lessing in seinem Gedicht ,An den Herrn M . . .' (vom Jahre 1 748) : 1 2 Das Alter wird uns stets mit dem Homer beschämen, Und unsrer Zeiten Ruhm muß Newton auf sich nehmen. 2.

GRIECHISCH-MODERN

Im Jahre 1755 erschienen Winckelmanns Gedanken über die Nachahmung der grie­ chischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst. Schon der Titel deutet auf die beiden Postulate, um die es in dieser Programmschrift geht: es geht - einmal um Nachahmung, also um Vorbildlichkeit, indes - zum anderen - nicht um die Vorbildlichkeit der Antike schlechthin, sondern um die Vorbildlichkeit der Griechen. Mit dem ersten Postulat ergreift Winckelmann gegen die ,Modernen' Partei; er verwirft implizite den freundlichen Kompromiß, zu dem die Querelle während der ersten Hälfte des 1 8 . Jahrhunderts verebbt war: ,Der einzige Weg für uns, groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten.' Das zweite Postulat, die These von der exemplarischen Bedeutung der Griechen, enthält in dieser Schärfe und Unbedingtheit etwas Neu es: ,Eine Bild­ säule von einer alten römischen Hand wird sich gegen ein griechisches Urbild allemal verhalten, wie Virgils Dido, in ihrem Gefolge mit der Diana unter ihren Oreaden verglichen, sich gegen Homers Nausicaa verhält, welche jener nach­ zuahmen gesuchet hat. ' 1 3 Das zweite Postulat (dem sich diese Skizze zunächst zuwendet) richtet sich gegen Rom, gegen das nicht ur- und vorbildl iche, sondern seinerseits schon abbildliehe Rom; es richtet sich ferner gegen alles, was von Rom abgeleitet ist, gegen die ro­ manische Kultur, gegen Frankreich, gegen Barock und Rokoko. Die Franzosen des absolutistischen Zeitalters hatten, wenn sie von der Antike sprachen, im wesentlichen Rom gemeint: 1 4 der Staat und die Geschichte, die Kultur und die Schriftsteller der Römer waren der Fixsternhimmel, an dem sich, wie die italienische Renaissance, so auch das klassische Frankreich zuallererst orientierte, und Griechisches wurde meist nur in der mehr oder minder starken Umprägung aufgenommen, die die vermittelnden Römer ihm hatten angedeihen lassen. Die Franzosen des absolutistischen Zeitalters hatten überdies, wenn sie von der Antike sprachen, ein bestimmtes Rom, das Imperium der Kaiserzeit, gemeint: Perraults Vergleich des siede de Louis mit dem siede d 'Auguste war ein Topos der Epoche. Dieses romanozentrische Antikebild herrschte bis zum Auftreten Winckelmanns 53

auch in Deutschland: Gottscheds Critische Dichtkunst nennt in einem Katalog vor­ bildlicher ,Poeten von gutem Geschmacke' Terenz, Virgil, Ovid und Horaz, ferner Italiener, Franzosen, Holländer und Deutsche - jedoch keinen einzigen Griechen. 1 5 Zwei Wege standen d em zu Gebote, der sich von dem Antikebild der französischen Klassik distanzieren wollte : er konnte das republikanische Rom gegen das kaiserzeit­ liche Rom, oder er konnte die griechische Kultur gegen die gesamte römische Kultur ausspielen. Beide Wege sind während der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts einge­ schlagen wq rden. Der eine, der zum republikanischen Rom führte, war nicht zuletzt politisch bedingt; er wurde vor allem in England und Frankreich begangen. 1 e Den anderen, den zu den Griechen führenden Weg hingegen wählten diejenigen, die nicht so sehr am absolutistischen Herrschaftssystem wie an der gesamten Zivili sation ihres Zeitalters litten : wer immer die simplicite, die symplicity, die Einfalt Homers und der Griechen schlechthin auf den Schild erhob - einzelne Franzo sen wie schon Fenelon, Engländer wie Blackwell, 1 7 und seit Wi nckelmanns Programmschrift mit erstaunlicher Radikalität die meisten Deutschen. Nicht alle Deutschen. Lessing z. B. hat sich in seinen frühen Schriften nur mit römischen Autoren befaßt; wenn bei ihm später, etwa im Laokoon und in der Harnburgischen Dramaturgie, die Griechen überwogen, so beabsichtigte er hiermit keine grundsätzliche Abkehr von Rom. 1 8 Auch Schiller hat sich trotz seines Bekenntnisses zu den Griechen vom hero ischen Pathos der römischen Dichtung angezogen gefühlt; das wichtigste Zeugnis seiner Neigung zu Rom ist seine Ü ber­ setzung des zweiten und vierten Buches der Än eis. 1 9 Derlei Ausnahmen ändern indes wenig am Ge�amtbild: Winckelmanns Propaganda für die Griechen hat in Deutsch­ land Epoche gemacht - so sehr, daß nunmehr der Antike-Moderne-Vergleich nicht selten ausdrücklich als Vergleich der Gegenwart mit den Griechen vorge­ führt wurde, und auch, wenn man die überkommene Formulierung beibehielt und weiterhin vom Altertum, von den Alten sprach, dachte man gewöhnl ich zu­ allererst an die Griechen. So viel zu Winckelmanns zweitem Postulat, zu seinem Rückgriff auf die griechischen Ursprünge, zu seiner Abkehr von Rom. Auch mit dem ersten Postulat hat Winckel­ mann - jedenfalls in Deutschland - Epoche gemacht. Die seit langem schwe­ benden Waagschalen neigten sich durch sein Wi rken wieder den Alten (d. h. nun­ mehr : den Griechen) zu - eine Entwicklung, die nicht nur das Gebiet ergriff, dem sein Wirken gegolten hatte, die bildenden Künste, sondern das Ganze der Kultur. Dieser Erfolg war zunächst dadurch bedingt, daß die grundsätzliche Antithese der französischen Querelle auch während der zweiten Jahrhunderthälfte als maß­ gebliches Schema der geistigen Standortbestimmung diente. 20 Im Jahre 1779 ver­ öffentlichte der Popularphilosoph Garve eine Betrachtung einiger Verschiedenheiten 54

in den Werken der ältesten und neueren Schriftsteller - eine Abhandlung, die der absichtslosen Simplizität von einst das ausgeklügelte Verfahren neuerer Di chter gegenüberstellte. Im Jahre 1790 kam der Philosoph Bouterwek in seinem Fragment vom griechischen und modernen Genius zu Resultaten, die für die Gegenwart noch ungünstiger ausfielen : während die Griechen echte Poeten waren, hat sich der Mensch der Gegenwart dem Räsonnement und Raffinement, dem Witz, dem Frap­ panten und Interessanten ergeben. Im Jahre 1796 erschienen Herders Sieben te und Achte Sammlung der Briefe zur Beförderung der Humanität, ein geschlossenes Ganzes, das von Hinweisen auf die französische Querelle umrahmt ist 21 und als eine Art Anti-Perrault zu beweisen sucht, daß sich die Literaturen der verschiedenen Völker und Zeiten nicht miteinander vergleichen lassen. Goethe zeichnete im Jahre 1 8 13

in der Skizze Shakespeare und kein Ende ein Schema auf, das die Differenzen zwi­ sch�n dem Antiken u nd dem Modernen verdeutlichen sollte; 22 im Jahre 1 8 1 8 wollte e r i n dem Essay Antik und Modern die beiden Kategorien als überhistorische Archetypen, als zwei grundverschiedene Weisen künstlerischen Produzierens aufge­ faßt wissen - dort fällt das berühmte Wort ,Jeder sei auf seine Art Grieche ! Aber er sei 's.' 23 Die ungebrochene Wirkung der französischen Querelle erklärt freilich nur den uni­ versalen Zuschnitt der kulturkritischen Erörterungen, die zumal gegen Ende des 18. Jahrhunderts eine üppige Blüte erlebten; sie erklärt jedoch nicht die verän­ derte Wertung, das Maß an Bewunderung, das man für die Griechen aufbrachte und das Maß an Geringschätzung, dem die Gegenwart anheimfiel. Hierin machte sich ein Zeitbewußtsein geltend, das den Fortschrittsglauben der Aufklärung be­ zweifelte und schließlich verwarf, ja ihn gewissermaßen auf den Kopf stel lte und in d ie Perspektive des Verfalls rückte. Der wichtigste und erfolgreichste Repräsentant dieses Zeitbewußtseins war Rousseau. Seine beiden Discours der Jahre 1750 und 1755 verkündeten die Lehre vom glücklichen naturhaften Urzustand des Menschen; 24 der erste Discours rügte vor allem die Künstlichkeit der Kultur, der zweite behauptete, daß zwei einander bedingende ökonomische Ursachen, das Eigentum und die Arbeitsteilung, den Menschen um seine ursprüngliche Freiheit, um den Status einer vollen Existenz gebracht hätten. Winckelmanns Griechenglaube und Rousseaus Glaube an einen glücklichen Ur­ zustand ergänzten einander;2s sie ließen sich zu jener umfassenden Kulturkritik verbinden, für die das überlieferte Schema der Querelle als Rahmen diente. Erst beides zusammen ergab die Lebensanschauung der deutschen Klassik: Rousseau bestimmte die Richtung des Denkens; Winckelmann stellte für das neue Humanitätsideal ein historisches oder richtiger quasi-historisches Modell bereit. Ein wichtiger Beitrag Rousseaus bestand in der Lehre von der Arbeitsteilung, der fortschreitend en Spezialisierung. Diese Theorie gab die Möglichkeit an die Hand, die ,Modernen' mit den eigenen Waffen zu schlagen : man konnte die mannig­ faltigen Fortschritte, die in der Neuzeit erzielt worden waren, anerkennen und 55

gleichwohl behaupten, daß der Mensch das Menschsein immergründlicherverfehle. So zumal Schiller im 6. Bri�e über die ästhetische Erziehung; der Grieche besaß Ganzheit; jedes Individuum entfaltete den Reichtum seiner natürlichen Anlagen zu einer Totalität harmonischer Kräfte und repräsentierte so die gesamte Mensch­ heit; der moderne Mensch hingegen mußte seine Erfolge mit dem Verlust der Totalität, mit der einseitigen Ausbildung einzelner Anlagen, kurz, mit Beschränkt­ heit, Zerrissenheit, Verkrüppelung bezahlen.2e Schiller ist indes bei dieser für die Moderne so ungünstigen Antithese nicht stehen geblieben;27 gerade er hat einen überaus folgenreichen Schritt getan: er hat das Zweiphasenschema der Querelle um eine dritte Phase, um die Dimension der Zukunft erweitert. Seine Lehre, wie er sie am Nachdrücklichsten in der Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung dargestellt hat, fand über die rückwärts gewandte Sicht sowohl Winckelmanns als auch Rousseaus hinaus: der naturhaft­ naive Zustand der Griechen sei unwiederbringlich verloren; der moderne, senti­ mentalische Mensch habe indes die Aufgabe, das Verlorene durch bewußte Wahl und bewußtes Ringen auf einer höheren, nicht mehr physischen, sondern moralischen Stufe wiederherzustellen. Diese Lehre enthielt bei aller Kritik eine deutliche Rechtfertigung der Gegenwart: sie bestritt, daß die Gegenwart der Antike überlegen sei, und räumte ihr zugleich die Chance ein, sich über die Antike zu erheben. Die Problematik der Querelle, die während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in der hier skizzierten Weise abgewandelt wurde, behielt bei alledem den Charakter eines Epochenvergleichs bei, d. h. es ging nach wie vor um die Frage, wie man die diachronen Unterschiede innerhalb der gesamten europäischen Kultur beurteilen solle; es ging hingegen nicht um das synchrone Verhältnis einzelner europäischer Nationen. So stand esjedenfalls bei einem Teil der deutschen Autoren, insbesondere bei Schiller und Goethe. Und wenn der Epochenvergleich bei den Franzosen des 17. Jahrhunderts eine unverkennbare nationale Färbung gezeigt hatte, so läßt sich hiervon bei den beiden Hauptrepräsentanten der Weimarer Klassik nichts fest­ stellen: Schiller und Goethe meinten offenbar die Modernen oder Neueren, wenn sie von den Modernen oder Neueren sprachen - sie meinten keine bestimmte Nation, etwa die Deutschen. Schillers Besprechung der goetheschen lphigenie vergleicht das moderne Stück mit der Fassung des Euripides. Sie bemerkt zum Monolog Orests im dritten Akt: Hätte die neuere Bühne auch nur dieses einzige Bruchstück aufzuweisen, so könnte sie damit über die alte triumphieren. Hier hat das Genie eines Dichters, der die Vergleichung mit keinem alten Tragiker fürchten darf, durch den Fortschritt der sittlichen Kultur und den milderen Geist unserer Zeiten unterstützt, die feinste, edelste Blüte moralischer Verfeinerung mit der schönsten Blüte der Dichtkunst zu vereinigen gewußt.2& 56

Die Briefe über die ästhetische Erziehung mit der großen Anklage der modernen Kultur bedienen sich derselben, einzig den Unterschied der Epochen hervor­ hebenden Diktion. ,Die Zeitumstände, das Jahrhundert, das Zeitalter' : so heißt es alsbald im ,2. Brier, und die vergleichende Analyse von Antike und Moderne im ,6. Brier - beginnt mit dem Satz : ,Aber bei einiger Aufmerksamkeit auf den Zeitcharakter muß uns der Kontrast in Verwunderung setzen, der zwischen der heutigen Form der Menschheit und zwischen der ehemaligen, besonders der grie­ chischen, angetroffen wird.'29 So geht es fort durch die ganze Schrift; das Wort deutsch oder ein anderer Name einer europäischen Nation kommt nirgends vor. Als drittes Beispiel diene die Abhandlung Über n aive und sentimentalische Dichtung. Sie setzt mit dem Gegensatz von künstlichen Verhältnissen und einfältiger Natur (worunter Schiller die Kinder, das Landvolk, das ferne Altertum subsumiert) ein und leitet daraus das die Zukunft einbeziehende Dreiphasenmodell ab : ,Sie (d. h. die Kinder, usw.) sind, was wir waren; sie sind, was wir wieder werden sollen.' Im weiteren Gang der Argumentation bringt Schiller den üblichen Epochen­ kontrast: ,die alten Griechen - wir Neuern' ; er operi ert sodann mit der Antithese ,alte und moderne Dichter'. Die Beispiele entnimmt er der gesamten europäischen Tradition, z. B. bei der Erörterung der These, daß dem Genie stets etwas Naives, Kindliches eigne (er nennt dort Sophokles, Archimed, Hippakrates u nd ,aus neuern Zeiten' Ario st, Dante, Tasso, Raphael, Dürer, Cervantes, Shakespeare, Fielding und Sterne), ferner bei der Behandlung der drei Formen sentimentalischer Dich­ tung, der Satire, Elegie und Idylle. Eine Bemerkung über die Franzosen enthält Tadel und Lob zugleich : die Franzosen, meint Schiller, hätten es in der Unnatur, aber auch in der Reflexion darüber am weitesten gebracht. 3o Für Goethes ,weltbürgerliche' Betrachtungsweise (so hieß ja das übernationale Ideal der Zeit) mögen zwei Beispiele genügen - ihnen ließen sich leicht weitere programmatische Äußerungen, etwa die erwähnte Skizze Antik und Modern, zur Seite stellen. In der ,Einleitung zu den Propyläen ', einer von Goethe gegrü ndeten Zeitschrift, macht der Kontrast der Epochen den roten Faden aus : den Griechen, heißt es sogleich am Anfang, war eine Vollkommenheit, die wir wünschen und nie erreichen, natürlich; wir hingegen vermögen die griechische Bildung nur als Stück­ werk vorübergehend zu verwirklichen. Dann freilich scheint Goethe auf eine Art nationaler Sendung zielen: ,Welche neuere Nation', schreibt er, ,verdankt nicht den Griechen ihre Kunstbildung? und, in gewissen Fächern, welche mehr als die deutsche?' Ein späteres Aper�u zeigt indes, daß diese Äußerung eher einen nega­ tiven Sinn hat: ,Dem deutschen Künstler, sowie überhaupt jedem neuen und nor­ dischen, ist es schwer, ja beinahe unmöglich, von dem Formlosen zur Gestalt überzugehen' - mit anderen Worten : die mangelnde Formkraft des deutschen Künstlers bedarf in besonderem Maße der Anleitung durch die Griechen. 31 Ein überaus eindrucksvolles Zeugnis fü r die Denkart Goethes sind die Skizzen zu einer Schilderung Winckelmanns, Goethes Beitrag zu dem Sammelband Winckel57

mann und sein Jahrhundert.32 Diese Skizzen enthalten zumal in den ersten fünf Kapiteln - sie tragen die Ü berschriften ,Eintritt', ,Antikes', ,Heidni sches', ,Freund­ schaft' und ,Schönheit' - mancherlei kategoriale Bestimmungen. Der Begriff deutsch indes findet sich nicht darunter, was um so mehr ins Auge fallt, als die Zeit­ genossen, z. B. Herd er, mit großem Nachdruck den Deutschen Wi nckelmann geprie­ sen hatten. Goethehält sich vielmehr ganz und gar an den traditionellen Epochen­ vergleich ; er verwendet die Antithese antik-modern, und zwar in der Bedeutung, die Winckelmann ihr verliehen hatte: ,antik' steht für ,griechisch'. Die Alten, schreibt Goethe, wobei er sich dem geschichtsphilosophischen Konzept Schil lers verpflichtet zeigt, suchten die gleichmäßige Vereinigung sämtlicher Eigenschaften und waren bestrebt, mit aller Kraft auf die Gegenwart zu wirken; die Neueren hi ngegen kranken an i hrer Partikularität und an ihrem Hang zur Transzendenz. Sie können i ndes, glaubt Goethe, ihr Stigma überwinden, wie es zum ersten Male von Winckelmann überwunden worden sei - Wi nckelmann, eine ,antike Natur',33 ist Paradigma und Sinnbild für die Wi ederherstellbarkeit menschlicher Existenz schlechthin.

3 . GRIECHISCH-DEUTSCH Unter allen europäischen Nationen sei es ohne Wi derrede die deutsche, die sich am meisten bestrebe, den französischen Geschmack nachzuahmen; bei ihr habe sich auch die französische Sprache am allgemeinsten verbreitet. So urteilte ein franzö­ sischer Beobachter der deutschen Szene, Le Guay de Premontval, in seiner Abhand­ lung Contre Ia gallicomanie ou le faux gout franrais ( 1 759). Unter den Gründen, die Premontval für die deutsche Gallikomanie anführt, ist wohl der triftigste der Hinweis auf die große Anzahl von Höfen und Souveränen, die den deutschen Staats­ körper teilten : gerade sie hätten mächtig zur Verbreitung der französischen Kultur beigetragen. Viele Deutsche, fahrt Premontval fort, läsen nur französische Bücher, so daß sie ihre eigenen Schriftsteller nicht mehr verstehen könnten - er wundere sich daher nicht über den Verdruß und Unwillen, mit dem mehrere Gelehrte Deutschlands dem ausschweifenden Geschmack an der französischen Literatur begegnet�n. 34 Die Höfe, die Adligen sprachen und lebten französisch, und das gebildete Bürgertum las zumindest französisch : sowohl der Absolutismus als auch die Aufklärung waren über den Rhein nach Deutschland gekommen. Für deutsche Gelehrte und Literaten, wie sie sich im Laufe des 18. Jahrhunderts mit wachsendem Können und wachsen­ dem Selbstbewußtsei n regten, ergaben sich aus di esen Verhältnissen überaus un­ günstige Wettbewerbsbedingungen, und so bemächtigte sich ihrer in der Tat nicht selten Verdruß und Unwillen über die Franzosen und die deutsche Französelei. Die Franzosen, meint z. B. Wi nckelmann i n seinen Briefen, seien Esel, Tröpfe, Ignoranten, sie seien gar nicht gemacht, etwas Ernstl iches zu treiben; ,alle Fran­ zosen', berichtet er einem Freunde aus Rom, ,sind hier lächerlich als eine elende 58

Nation, und ich kann mich rühmen, daß ich mit keinem von der verachtungs­ würdigsten Art zweiflißiger Kreaturen eine Gemeinschaft habe'. Und derselbe Winckelmann bedenkt folgerichtig auch die französische Mode der Höfe mit seinem Ressentiment : ,ich weiß', schreibt er jenem Freunde, ,daß Du mit der französischen Seuche eine wenig angesteckt bist, welches Ü bel an deutschen Höfen, wo ein fran­ zösischer Harlequin mehr als ein wahrer Deutscher gilt, nicht leicht zu heilen ist. '35 Nicht lange vor seinem Tode, im Jahre 1 765, erfuhr Winckelmann am eigenen Leibe, wie ein deutscher Fürst, sein Landesherr Friedrich II. von Preußen, die deut­ schen Gelehrten einschätzte. Er hatte sich um die vakante Stelle des königlichen Bibliothekars beworben und, von seinem Berliner Mittelsmann hierzu ermuntert, ein Gehalt von zweitausend Talern gefordert. Der König bot ihm die Hälfte, wozu er bemerkt haben soll: ,Für einen Deutschen sind tausend Taler genug. ' 36 Der Konkurrenzkampf der deutschen Intellektuellen erzeugte ein Klischee vom französischen Nationalcharakter, dem man in der Publizistik jener Zeit allerorten begegnet - selbst so verschiedene Naturen wie Lessing und Herder stimmen in ihrem Urteil über ,die Franzosen' genau überein.37 Die Franzosen, heißt es, sind korrekt, höflich, auf Konventio nen und einstudi erte Umgangsformen versessen ; sie kultivieren den Spott, den Witz, die Pointe; sie tragen Eitelkeit und Arroganz zur Schau ; sie vernünfteln und ergehen sich in Sophistereien; sie vernachlässigen über dem Außen, dem Schein, der Schale das Innen, das Wesen, den Kern sie sind unnatürlich, kraftlos, geflihlskalt und wahrer Empfindungen nicht fähig. Diesem Bilde mag manche Beobachtung zugrundeliegen: der französelnde Kultur­ betrieb an den deutschen Fürstenhöfen hatte gewiß seit der Jahrhundertmitte ein recht epigonenhartes Aussehen. Die Gegenwartserfahrung wurde nun aber in die Vergangenheit zurückprojiziert; zumal Herder unterwarf nahezu alles, was in der deutschen Geschichte von Frankreich, von den Romanen, von Rom ausgegangen war, einer herben Kritik - sie läuft darauf hinaus, daß die Deutschen durch diese Einflüsse sich selbst entfremdet worden seien. 3B Offensichtlich bedurften die rückständigen Deutschen, um vor ihren westlichen und südlichen Nachbarn bestehen zu können, einer historischen Legitimation, einer Art geistigen Stammbaums. Hierin lag flir sie gewiß ein wichtiger Antrieb, sich nicht nur von der römischen Antike ab- und der griechischen Antike zuzu­ wenden, sondern auch so etwas wie eine griechisch-deutsche Wesensverwandtschaft zu behaupten. Diese These hob nun wirklich das überkommene Epochenschema antik (oder griechisch) - modern auf; sie ersetzte es durch eine überhistorische Perspektive, mit der die Deutschen zwar nicht schlankweg den Vorrang vor den übrigen Europäern, wohl aber eine besondere Qualifikation, ein bestimmtes Charis­ ma, kurz, etwas Exklusives beanspruchten. Die Transformation des Epochenvergleichs in den Parallelismus zweier Völker ging schrittweise vonstatten. Man stellte z . B. Betrachtungen über das Verhältnis 59

der deutschen Sprache zur griechischen an; Klopstock etwa meinte, das Deutsche könne besser als das Englische, Französische oder Italienische die Fülle der grie­ chischen Periode wiedergeben. 39 Größeres Gewicht kommt wohl der Tatsache zu, daß man sich daran gewöhnte, bedeutende deutsche Schriftsteller als ,Griechen' zu bezeichnen. Derartige Identifikationen zeitgenössischer Persönlichkeiten mit einem überzeitlichen Wesensbild mußten auf diese Persönlichkeiten zurückwirken und sie ebenfalls als Verkörperungen eines überzeitlichen Wesens erscheinen lassen - man brauchte dann nur noch einen kleinen Schritt weiterzugehen und von der Person auf die Nation, der sie angehörte, zu schließen, und das Denkbild von der Wesensnähe des griechischen und deutschen Nationalcharakters war voll­ endet. Die Entwicklung hat offenbar auch hier mit Winckelmann begonnen. Dieser schrieb selbst einem Freunde, daß er in Rom als der größte Grieche gelte. 40 Herder nahm alsbald das Stichwort auf, um es auf mancherlei Weise zu variieren. Das früheste Zeugnis preist Winckelmann ,als einen würdigen Griechen . . . , der aus der Asche seines Volkes aufgelebt ist, um unser Jahrhundert zu erleuchten', als ,den Griechen unserer Zeit'. Wie ersichtlich, geht es hier vor allem um die epochale, weniger um die nationale Figur Winckelmann ; immerhin deutet der wie Phönix aus der Asche seines Volkes Aufgelebte patriotischen Stolz an. So nachdrücklicher Herders nächste Äußerung ; sie bezeichnet Winckelmann als den ,edlen Griechen unsres Vaterlandes', verbindet freilich dieses Lob mit gemessenem Tadel - Winckelmann, dem allzusehr auf die Griechen Fixierten, sei das Größte entgangen: ,wie die Kette der Mitteilung Zeiten und Völker verknüpft habe', ,wie ein Volk das andre bildete'. Weitere Verlautbarungen erheben Winckelmann in die Höhen der Transzendenz. In dem ,Lobgesang auf meinen Landsmann Winckelmann' apostrophiert Herder seinen Helden rnit den Worten: Noch tast' ich schwere Träume! Du webst schon als Griechengott i n hoher, stiller Ruh der zweiten Jugend.

Äh nlich spricht Herder im Denkmal Johann Winckelmanns vom Geist des Geprie­ senen als einem ,griechischen Dämon', und er wünscht, daß j emand dessen Theorie zur Tat mache, einen ,neuen RatTael und Angelo der Deutschen, der uns grie­ chische Menschen und griechische Kunst schaffe'.41 Goethe, der Winckelmann eine ,antike Natur' nannte, wurde selbst von seinen Zeitgenossen als Reinkarnation griechischen Geistes gedeutet. So Schiller in seinem berühmten Geburtstagsbriefvom Jahre 1 794. Wenn Goethe als ein Grieche geboren wäre, schreibt Schiller, so hätte er mit viel geringerer Mühe sein Künstlerturn vollenden können; Schiller fährt fort: nun, da Sie ein Deutscher geboren sind, da Ihr gri echischer Geist in diese nordische Schöpfung geworfen wurde, so blieb Ihnen keine andere Wahl, als entweder selbst 60

zum nordischen Künstler zu werden, oder Ihrer Imagination das, was ihr die Wirk­ l ichkeit vorenthielt, durch Nachhilfe der Denkkraft zu ersetzen und so gleichsam von innen heraus und auf einem rationalen Wege ein Griechenland zu gebären. 42 Wie ersichtlich, zielt Schiller eher auf einen Gegensatz als auf eine besondere Nähe d es Deutschen zum Griechischen; es geht um die ungünstigen physischen Bedingungen des Genies Goethe, die im Sinne der überkommenen Klimatheorie gedeutet werden - Goethe selbst argumentierte vier Jahre später, in der ,Einleitung zu den Propyläen ', ähnlich, wenn er von den Schwierigkeiten des deutschen, ja überhaupt jedes neuen und nordischen Künstlers sprach. Wie Schiller, so meinte auch der Philologe Friedrich August Wolf, in Goethe sei griechisches Wesen wieder­ gekehrt ; er feierte ihn als jemanden, in dem ,sich der das Leben verschönernde wohltätige Geist des Altertums eine zweite Wohnung genommen' habe. 43 Derlei Identifikationen waren damals offenbar - jedenfalls in bestimmten, für das Alter­ tum aufgeschlossenen Kreisen - gängige Münze; ein Student erklärte z. B. von Wolf: ,Wenn ich mit ihm spreche, glaube ich immer einen Griechen reden zu höreo., so ganz auf griechische Weise allseitig ausgebildet ist sein Geist. Und sein Charakter selbst ist ganz antik, leicht kindlich, gemütlich und zugleich tief, so wie unseres Winckelmanns. '44 Doch patriotische Töne hat man hierbei wohl im allgemeinen nicht angeschlagen - eine Ausnahme sind die folgenden Verse des Homerüber­ setzers Voss : 4s Auch, Lessing, deins (nämlich dein Lied), der deutsche Art mit Griechheit, unerkannt, gepaart. So war die Atmosphäre beschaffen, als Wilhelm von Humboldt - w� hrend der produktivsten Phase der deutschen Klassik - den letzten Schritt vollzog, als er auch in die deutsche Seite des Vergleichs ein Abstraktum einbrachte und die Verwandtschaft zweier Wesenheiten, des griechischen und deutschen National­ charakters, verkündete. 46 Das früheste Zeugnis scheint ein Bri ef des Jahres 1 795 zu enthalten; Humboldt äußert dort Schiller gegenüber die Absicht, seine ,Grille von der Ähnlichkeit der Griechen und Deutschen ins Licht zu setzen'. 47 Er ist dieser ,Grille', wie Bri efe an Goethe beweisen, auch weiterhin nachgegangen ; die ausführlichsten Bemerkungen über sie finden sich in der Geschichte des Veifal/s und Untergangs der griechischen Freistaaten, die im Jahre 1 807 in Rom entstand. Hum­ boldt stellt dort fest, daß man lange nicht rein und sorgfältig zwischen grie­ chischem und römischem Geist geschieden habe; er fährt fort : Die Deutschen besitzen das unstreitige Verdienst, die griechische Bildung zuerst treu aufgefaßt und tief gefühlt zu haben . . . Andere Nationen sind hierin nie gleich glücklich gewesen . . . Deutsche knüpft . . . ein ungleich festeres und engeres Band an die Griechen, als an irgendeine andere, auch bei weitem näher liegende Zeit oder Nation. Bald darauf heißt es, daß ,Deutschland (fremde Leser' - setzt Humboldt hier hinzu - ,mögen der wehmütigen Seite dieser Vergleichung die ehrenvolle ver61

zeihen) in Sprache, Vielseitigkeit der Bestrebungen, Einfachheit des Sinnes, in der föderalistischen Verfassung und seinen neuesten Schicksalen eine unleugbare Ähn­ lichkeit mit Griechenland' zeige. 4B Mit den neuesten Schicksalen ist offensichtlich die napoleonische Besetzung gemeint; der Anspruch auf Ähnlichkeit mit den Griechen sucht also die politi sch-militärische Niederlage auf kulturellem Gebiet zu kompensieren. Humboldt ist sich bewußt, daß dieser Anspruch vom Ausland für Anmaßung gehalten werden könnte; beschwichtigend fügt er den Hinweis auf den hohen Preis ein, den die Deutschen für ihren Ehrentitel bezahlen müssen. 49 Während Schiller an seiner Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung schrieb und Humboldt sich zum ersten Male zu seiner ,Grille' bekannte, in dem­ selben Jahre 1 795 verfaßte Friedrich Schlegel die Schrift Über das Studium der griechischen Poesie, eine Schrift, die auf eigentümliche Weise beides vereinigt: das Dreiphasenmodell Schillers und die ,Grille' Humboldts. Er geht darin von der traditionellen Problematik der Querelle aus ; er wolle versuchen, schreibt er, ,den langen Streit der einseitigen Freunde der alten und neuen Dichter zu schlichten'. 5° Seine Lehre läuft auf die Erwartung hinaus, daß sich die Bildung, welche die Griechen in zeitlichen Grenzen verwirklicht hätten, auf höherer Stufe und ohne zeitliche Grenzen nochmals verwirklichen lasse - hierin entspricht sie den Spekulationen Schillers.s1 Am Schluß aber heißt es, gerade die Deutschen seien berufen, die erwünschte dritte Phase der Rückkehr zum Obj ektiven und Schönen einzuleiten : ,In Deutschland', schreibt Schlegel, ,und nur in Deutschland hat die Ästhetik und das Studium der Griechen eine Höhe erreicht, welche die gänzliche Umbildung der Dichtkunst und des Geschmacks notwendig zur Folge haben muß' - zur Begründung beruft er sich, hierin Humboldt sekundierend, auf die Griechennähe der Deutschen, insbesondere eines Goethe. 52 Neu ist - im Verhältnis zu Humboldt - der Wechsel auf die Zukunft, eine Konsequenz des Dreiphasenmodells : Schlegel prophezeit, daß gerade Deutschland die von ihm erwartete Selbsterlösung des Menschen durch die Kunst vollziehen werde. 53

Herders Winckelmannprei s stellte das Paradigma für einen deutschen Griechen bereit; Humboldts ,Grille' zog sowohl hieraus als auch aus der literarischen Blüte, wie sie sich in Deutschland entfaltet hatte, allgemeine Konsequenzen - dieses Fazit ergibt sich wohl im wesentlichen für die deutsche Sonderentwicklung des europäischen Epochenschemas antik-modern zur nationalen Parallele griechisch­ deutsch. Das Denkbild widersprach im Grunde den Ü berzeugungen Herders wie Humboldts : der Einsicht in die Vielfalt und Unvergleichbarkeil alles Geschicht­ lichen, dem Konzept individueller und somit unnachahmbarer Nationalcharaktere. Während sich die Erscheinung bei Herder in engen Grenzen hielt, gaben Humboldt und erst recht Schlegel in einem nicht unbedenklichen Maße einen deutschen Exklusivanspruch, ein deutsches Sendungsbewußtsein zu erkennen, das aus über­ geschichtlichen Wesenheilen abgeleitet war; hier begann sich - wohl durch deut­ sche Kompensationsbedürfnisse bedingt - ein nationaler Mythos zu entfalten. 62

Schlußbemerkung Man könnte fortfahren und etwas Hölderlins Glauben an die Wiederkunft der Griechengötter in Deutschland e rwähnen. Man könnte sich außerdem mit weiteren Transformationen des Begriffspaares antik-modern befassen, mit der Dichotomie griechisch-romantisch, wie sie Jean Paul in der Vorschule der Äs thetik verwendet, und mit der analogen Dichotomie klassisch-romantisch, die lange Zeit als Schlüssel ftir die Deutung der Goethezeit gedient hat. Das Bisherige mag genügen - eine Skizze, der es nicht darum ging, die Vielfalt der Reflexionen über die Nachahmung der Alten, zumal der Griechen, und über die Grenzen dieser Nachahmung zu beschreiben, die vielmehr lediglich gewisse Rahmenbedingungen und Leitbegriffe zum Vorschein bringen wollte. Die Skizze hat Folgendes ergeben. Es ist einerseits richtig, daß - wie gemeinhin angenommen wird - die deutschen Schriftsteller seit Winckelmann mit der römisch und romanisch vermittelten Antikerezeption brachen und sich ziemlich einseitig den Griechen zuwandten. Hiermit wurde das erste Gl i ed des Epochenschemas antik­ modern abgewandelt, j edenfalls der Sache nach, d. h. man pflegte auch dann die Griechen zu meinen, wenn man weiterhin von den ,Alten', usw., sprach. Anderer­ seits aber ist nicht richtig, was vielerorts behauptet und nirgends dementiert wird : daß sich die deutsche Klassik auf monolithische Formeln wie griechisch-deutsche Verwandtschaft, griechisch-deutsche Begegnung, usw., bringen lasse. Das Selbst­ verständnis der deutschen Klassiker war durchaus nicht so einseitig aufeine derartige nationale Perspektive fixiert. Die Terminologie der Quellen gibt vielmehr zwei Hauptrichtungen, zwei Traditionsstränge zu erkennen. Die Repräsentanten des einen Traditionsstranges, zuallererst Schiller und Goethe, halten an der überkom­ menen Problematik fest; sie argumentieren also bei ihren Versuchen, die eigenen Leistungen und Möglichkeiten am Gegenbild der Griechen abzuschätzen, als ,Moderne', d. h. als aufgeklärte Europäer des späten 1 8. und beginnenden 19. Jahr­ hunderts, nicht als Deutsche. Die Repräsentanten des anderen Traditionsstranges ­ etwa Wilhelm von Humboldt und Friedrich Schlegel - haben hingegen in der Tat begonnen, die überkommene Opposition auf eine national gefärbte Perspektive, auf die Opposition griechisch-deutsch einzuengen und so ftir die Deutschen einen besonderen Rang zu beanspruchen. Allerdings handelt es sich hierbei nicht - wie bei Schiller und Goethe - um zusammenhängende theoretische Reflexionen, son­ dern um Aper�us, um, wie Humboldt sich ausdrückt, eine ,Grille'. Die deutsche Rezeption der Goethezeit, zumal ihr Sprachrohr, die deutsche Ger­ mani stik, hat diese Zweisträngigkeit ignoriert ; sie hat ignoriert, daß die Haupt­ repräsentanten der Weimarer Klassik europäisch, nicht national gedacht haben, und statt dessen einseitig die national gefärbte Perspektive, die Opposition grie­ chisch-deutsch, hervorgehoben. Diese nationalistische Verzerrung der historischen Wirklichkeit beruht vornehmlich auf zwei Ursachen: 63

1 . Die deutsche Klassik wurde als Erscheinung von größter Originalität betrachtet; man deutete sie weithin nach dem Bilde, das schon Herder auf die Gründerfigur Winckelmann anwandte: als Phönix aus der Asche. So pflegte man die Bedeutung ihres europäischen Hintergrundes, zumal die enorme Beisteuer der französischen und englischen Aufklärung zu unterschätzen.

2. Die Aussagen der d eutschen Klassiker selbst wurden parteiisch interpretiert, ja unter Mißachtung des eindeutigen WortJauts verfälscht - im Sinne einer natio­ nalistischen Einstellung, die so sehr Allgemeingut geworden war, daß der einzelne Interpret sie nicht mehr zu durchschauen vermochte. Die wichtigste Darstellung des hier behandelten Themas ist noch stets Rehtns Werk Griechentum und Goethe­ zeit, das im Jahre 1936 die erste, im Jahre 1 968 wenig verändert die vierte Auflage erlebt hat. Es pflegt um seines Leitmotivs, der deutsch-griechischen Begegnung willen drei Dinge miteinander zu vermengen: einmal das Querelle-Problem, die Frage des Ranges der Epochen, zum anderen das imitatio-Problem, die Frage nach der Nachahmbarkeit der Griechen, und schließlich das sich in einem idealen Bild von den Griechen spiegelnde deutsche Nationalbewußtsein. Überdies ist die Goethezeit selbst ein einmaliger Ablauf, ein Prozeß von großer Dynamik gewesen - ein vielstimmiges öffentliches Gespräch über vielerlei Themen, das von sehr verschiedenartigen Individuen auf immer neue Weise geführt wurde, eine Periode einer reichen literarischen Produktion und mannigfaltiger Ent­ würfe eines Humanitätsideals ; diese Zeit ging, wie schon Heine erkannte, mit Goethes Tod zu Ende. Die nationalistische Rezeption der Goethezeit aber - die wissenschaftliche und populäre Schriftstellerei, die Schule bis zum Zeitalter der Weltkriege - wollte dieses Ende nicht wahrhaben: sie suchte gleichsam stillzu­ stellen und ins Überzeitliche zu erheben, was ein einmaliger Ablauf gewesen war. Als Beispiel kann abermals das Buch von Rehm dienen: es beginnt - nach einer Einleitung - mit einem Kapitel über Winckelmann und endet mit einem Kapitel über Hölderlin; aller weiteren Entwicklungen wird mit keinem Worte gedacht. Man kann hiermit Eliza Butlers Werk The Tyranny of Greece over Germany ver­ gleichen, das dem Jahre 1935 entstammt. Auch Butler beginnt mit Winckelmann; sie läßt jedoch auf das Hölderlinkapitel eine ausführliche Behandlung Heines sowie einen Ausblick folgen, der bis zu George reicht. Der Unterschied des Aufbaus zeigt die unterschiedlichen Absichten: während Butler eine - wenn auch in vieler Hinsicht anfechtbare - historische Darstellung gibt, die sich bis zur Gegenwart der Autorio erstreckt und deren Perspektive offen erkennen läßt, sucht Rehm als zeitloser Autor eine Reihe von zeitentrückten Bildern vorzuführen, die ein ebenso zeitentrückter Leser andächtig in sich aufnehmen soll. Wer derlei Kritik an der deutschen Rezeption der deutschen Klassik, an der Mythisierung dieser Epoche übt, rennt heutzutage überall offene Türen ein. Hiermit ist freilich nicht gesagt, daß die Spuren der Vergangenheit bereits beseitigt, die ein64

stigen Unzulänglichkeiten behoben seien, jedenfalls nicht im Bereich der wissen­ schaftlichen Literatur. Auf der deutschen Klassik scheint - wegen des Mißbrauchs, der mit ihr getrieben wurde - jedenfalls in Westdeutschland noch stets ein Bann zu liegen; die gegenwärtige westdeutsche Germanistik weicht ihr im allgerneinen aus und wendet sich teils früheren Epochen, dem Barock, dem Humanismus, usw., teils der Gegenwart zu. Meines Erachtens besteht kein Anlaß, diesen Bann aufrecht­ zuerhalten; die deutsche Klassik ist nach Leistung und Seihtsteinschätzung nicht nur eine deutsche, sondern durchaus auch eine europäische Angelegenheit. 54 Anmerkungen *

Erstveröffentl ichung: Classical Influences on Western Thought A. D. 1 650 - 1 870, ed. R. R. Bolgar, Cambridge University Press 1979, S. 1 07 - 1 29. Zum Folgenden s. A Buck, Die , Querelle des Anciens et des Modernes ' im italienischen Selbst­ verständnis der Renaissance und des Barocks (Sitzungs berichte der wissenschaftlichen Gesellschaft Frankfurt/M., XI. I, Wiesbaden 1 973) ; W. Kraus, , Der Streit der Altertumsfreunde mit den An­ hängern der Moderne und die Entstehung des geschichtl ichen Weltbildes', i n Antike und Moderne in der Literaturdiskussion des 18. Jahrhundens, h rsg. von W. Krauss und H. Korturn (Berlin, 1966), S. ixff. ; G. Finsler, Homer in der Neuzeit (Leipzig und Berlin, 1 9 1 2), S. 48 tT. 2 Zum Folgenden s. Kortum, Antike und Moderne, S. lxiff. 3 Zitiert nach H. Rigault, Histoire de Ia Querelle des Anciens et des Modernes (Paris, 1 859), S. 1 50. 4 Entreliens sur Ia pluralite des mondes - Digression sur /es anciens et /es modernes, hrsg. von R Shackleton (Oxford, 1 955), S. 1 63 und 174; s. ferner S. 1 69: ,il faut pouvoir digi:rer que l'on compare Di:mosthime et Cici:ron a un homme qui aura un nom fran�ais, et peut-etre bas'.

5 Hierzu H. R. Jauss, ,Ästheti sche Normen und geschichtliche Reflexion in der " Querelle des Anciens et des Modernes" ', Ein leitung zum Faksimiledruck des Parallele von Ch. Perrault (München, 1964), bes. S. 21 ff., 46 f., 63 f. 6 Schon Accolti und Tassoni hatten nicht alles über einen Kamm geschoren, sondern den Vergleich von Antike und Gegenwart nach den einzelnen Künsten und Wissenschaften gegliedert und den Leistungsstand einer j eden Disziplin gesondert beurteilt. Und Fantenelle hatte in seiner Digression die Kü nste, den Bereich der imagination, von den Wissenschaften und der Philosophie, dem Bereich des raisonnement, abgehoben. Er hatte dann zwar geglaubt, beides demselben Gesetz des Fo rt­ schritts unterstellen zu können ( Digression, S. 1 66 und 1 7 1 f.) - hierbei war indes offengeblieben, wie sich der stetige Fortschritt bei den Künsten vollziehe. 7 Para/tele, S. 445

-

Bd. IV, S . 292 f. des Originals (Paris, 1688 - 97).

8 Zum Folgenden vgl . Krauss, ,Der Streit der Altertumsfreunde', S. xxxvff. ; zur Querelle d 'Homere s. Finsler, Homer in der Neuzei� S. 2 1 2 ff. 9 Zum Folgenden s. F. Martini, , Modern, die Moderne', in Reallexikon derdeutschen Literaturgeschichte, hrsg. von W. Kohlschmidt und W. Mohr, Bd. II (Berlin, 1 965), S. 393 f. 1 0 Zitiert nach Krauss, ,Der Streit der Altertumsfreunde', S. lvi. 11 S. G. Waniek, Gottsched und die deutsche Literatur seiner Zeit (Leipzig, 1 897), S. 6 1 . 1 2 Werke, hrsg. von H. G . Göpfert, B d . I (Darmstadt, 1970), S. 1 591T. ; vgl. 1 8 2 tT. S. hierzu V. Riede), Lessing und die römische Literatur (Weimar, 1 976), S. 29 f. 13 ,Der einzige Weg' : ,Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bild­ hauerkunst', in Kleine Schriften - Vorreden - Entwürfe, hrsg. von W. Rehm (Berlin, 1 968), S. 29. ,Eine Bildsäule' : ibid. S. 30. 14 Zum Folgenden s. W. Rehm, , Römisch-französischer Barockheroismus und seine Umgestaltung in Deutschland', in Götterstille und Göttenrauer (Bern, 195 1), S. 14 ff. 1 5 Versuch einer critischen Dichtkunst, 4te Aufl. (Leipzig, 1 75 1 ), S. 130 f. Vgl. H. Rüdiger, Wesen und Wandlung des Humanismus, 2te Aufl. (Hildesheim, 1966), S. 1 60 f. 16 Vgl. K. Borinski, Die Antike in Poetik und Kunsttheorie (Leipzig, 1 9 1 4 - 24), Bd. II, S. 1 10 f.

65

17 Fenel o n : s. Finsl er, Homer in der Neuzeit, S. 22 1 fT. ; B lackwel l : ibid. S. 332 fT und M. Fuh rmann, , Friedrich August Wolr, Deutsche Vierteljahrsschri!i für Literaturwissenscha/i und Geistesgeschichte, XXXI II ( 1 959), S. 2 1 1 fT. 1 8 Vgl . Riede!, Lessing, S. 2 1 0 f. 19 S. W. Reh m, Griechentum und Goethezeit, 4te Au fl . (Bern und München, 1 968), S. 1 94. 20 Zum Folgenden vgl . Martini, , Modern, die Mo derne', S . 394 fT. S. ferner H. D. Weber, Friedrich Schlegels , Transzendenta/poesie ' (Theorie und Geschichte der Literat ur und der schönen Kü nste, XI I , München, 1973), S . 108 fT. 2 1 S. N r. 8 1 : , I h nen ist der berühmte Streit bekannt', usw. und N r. 107: ,Sehr leer war daher der Streit', usw. Herder hat die Querelle noch öfters erwähnt; s. Hodegelische Abendvorträge ( 1 799), in Sämtliche Werke, hrsg. von B. Su p han (Berl in, 1877 - 1 9 1 3), Bd. XXX, S. 5 1 6 f.; Adrastea I ( 1 80 1 ), in ibid. Bd. XXIII, S. 72 f. Vgl. J. G. S u l zer, Allgemeine Theorie der schönen Künste, 2te Au fl. (Leipzig, 1 792), Bd. II, S. 647 fT. 22 Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche. hrsg. von E. Beutler, 2te Aufl . (Zürich und Stutt­ gart, 196 1 -6), Bd. XIV, S. 755 f. ; das Schema au f S . 760. 23 Gedenkausgabe der Werke, Bd. XIII, S. 841 fT. ; ,Jeder sei auf seine Art' : S . 846. 24 Discours sur /es sciences et /es arts, Discours sur / 'origine de / 'inegalite parmi lrs hommes, oder Schriften zur Kulturkritik, französisch-deutsch, h rsg. von K. Weigan d, 2te Au t1 . (Philosophische Bibl iothek, CCXLI II, Ham burg, 197 1 ) . 25 Wi e s c h o n Did erot und Goethe erkannten ; s. H. Hatfi eld, Aesthetic Paganism ill German Literature (Cambridge, Mas s. , 1964), S. 2 1 . 2 6 Vgl . M. Fuhrmann, ,Selbstbesti mmung u n d Fremdbestimm ung', i n A lte Spr(lchen i n der Krise ? (Stuttgart, 1976), S. 2 1 fT. 27 Zum Fo lgenden s. H. R. Jauss, ,Schlegels und Schil lers Rep l ik auf d i e "Querelle des Anciens et des " Modernes ', in Literaturgeschichte als Provokation (Frankfurt/M . , 1970), S. 67 11'. , bes. 95 fT. 28 ,Über d i e Iph igenie auf Tau ris', i n A usgewählte Werke (Darmstadt, 1 954 - 9), Bd. VIII, S. 478 fT. ; ,Hätte die neu ere Bühne' : S. 503 f. ; s. ferner S. 505: ,Was für ein glücklicher Ge: ::; =,:==-o.= :�=: - f-·- : ?li'� •r - - o ��y::::�:: =·- - ;-�'-=_ ,�e:y:�� ��:���':''"::"F�� :: i'J _ �---- LG �·:':_� •r��-�- --�" - --. - ---

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Die fiktive Willkür der Eingriffe, deren "Freiheit in der Erscheinung" (Schiller), steht in engster Beziehung zum Werkcharakter der Wiener klassischen Musik. Durch sie nämlich wird das So-und-nicht-anders, der Charakter des Notwendigen, der in­ neren Logizität des Ablaufs begründet: Eine weitere Antinomie - Notwendigkeit durch Freiheit - welche die Musik der Klassiker kennzeichnet. Freiheit ist dabei 90

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