Über den Zufall [Erlanger Forschungen ed.] 9783930357093

170 96 30MB

German Pages 127 [131] Year 1996

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Über den Zufall [Erlanger Forschungen ed.]
 9783930357093

Citation preview

Universitätsbund Erlangen-Nürnberg

Universitätsbibliothek Erlangen-N ürnberg

Über den Zufall Fünf Vorträge von

Severin Koster • Konrad Jacobs Helga Kersten • Helmut Neuhaus • Manfred Seit/.

herausgegeben von I I ENNING KÖSSLER

Erlanger Forschungen Reihe A Band 75

Uber den Zufall • Henning Kößler (Hrsg.)

ERLANGER FORSCHUNGEN ■Reihe A • Geisteswissenschaften • Band 75

Über den Zufall Fünf Vorträge

von S everin K oster • K onrad J acobs H elga K ersten • H elmut N euhaus • M anfred Seitz

I lerausgegeben von Henning Kölner

Erlangen 1996

Die wissenschaftliche Buchreihe ERLANGER FORSCHUNGEN wurde gegründet mit Mitteln der Jubiläumsspende der Siemens AG Erlangen

CIB-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Über den /ulall: fünf Vorträge / [Universitätsbund Erlangen-Nürnberg e. V ; Universitätsbibliothek Erlangen], Von Severin Koster ... Hrsg, von Henning Kössler. - Erlangen : Univ.-Bibliothek 1996 (Erlanger Forschungen : Reihe A, ( icisleswissensr lufteil , lid. 75) ISBN .1-9.10357-09-7 NE:

Kössler, Henning [llrsg.J; Koster, Severin; l Inivcrsitälsbund ^Erlangen; Nürnberg''; Erlanger Eorschungcn / A

Verlag:

Auslieferung:

l Iniversilälsbund Erlangcn-Niirnbcrg e. V.

I Inivcrsilatsbibliothek Erlangen

Kochst ralie 4, 91054 Erlangen

llniversilatsstraßc 4, 91054 Erlangen

basersalz: B. MAYHR, Schreibservice, Piirth I)ru( k: Ji iN< I & St n in , Erlangen

ISBN: 3-930357-09-7 ISSN: 0423-3433

INIIALTSVERZEICI IN ES

Seite

Vorwort

7

Einleitung

Si VI RIN K< >MT,R

Vom Zujall in der Antike

1>

K( )NRAI> JA( :lü« k und Zufall".

Iavorimis);(>5.

21

S hve rin K< jsi i .r

dings damit eine Schwächung seiner Schlagkraft. Sofort nutzten di‘ Gallier diese Gelegenheit, den Aufstand zu proben und die Lager anz.d greifen. Dem Eburonenfürsten Ambiorix gelang es, Caesar, wenn auch iE seiner Abwesenheit, die größte Schlappe dieses Krieges beizubringen. H' verlockte die Legaten Sabinus und Cotta, das Winterlager zu verlassen» und so geschah das, was sich später, 9 n. Chr., am Feutobttrger WaÜ wiederholen sollte, die Vernichtung der Legionen auf ihrem Zug durc h unwegsames Gelände. Von diesem Erfolg getragen, richtete sich die nächste Attacke gegeh das Lager des Quintus Tullius Cicero, des Bruders des berühmten Reck ners, der im Gebiet der Nervier, im heutigen belgischen longeren, la^ gerte. Cicero ließ sich jedoch nicht, wie Sabinus und Cotta, nach den) überraschenden Überfall aus der Stellung locken, sondern nahm die' Umzingelung und die Not einer siebentägigen Belagerung auf sich. Dei siebte lag war der schlimmste der schlimmen. Denn die Gallier nutz/ ten geschickt eine stürmische Wetterlage, um Brandsätze ins Lager zu werfen, das dadurch völlig ausbrannte. So kämpften die Soldaten mit dem Feuer im Rücken und den Feinden vor sich ums Letzte und hat' ten insofern einen kleinen Erfolg, als sie einen bedrohlich nähergertick ten Belagerungssturm der Gallier nun ihrerseits in Brand stecken und den Feind mit einem Steinhagel vom Wall aus Zurückschlagen konn­ ten. Die kleine Gefechtspause wurde zur großen Stunde zweier Centn rionen, des Pttllo und Vorenus, die sozusagen im abziehenden Qualm der Brände auf dem Feld vor den Wällen ihren schicksalhaften Auftritt i .4. hatten Doch zuvor noch der weitere Verlauf der Geschichte: Die Bedräng­ nis nimmt erneut zu, und nach vergeblichen Versuchen gelingt es schließlich doch, eine Nachricht durch die Fronten an Caesar durch­ zubringen. Dieser rückt in Eilmärschen heran, lenkt die Gallier von >4

v^l liicrzu (i Maurarh, Caesar t5Ci 5,44 Der ZeiiHirioneneweUslieil. Ciyiiinasiiim XV (1482) 46X478. V|>l. auch (Jyinnasitim 85 (1678) 160-178.

?2

V i )t.r Z i h:ai

i

1933: KOI.Mt XJOROV, A. N., Grundbegriffe der Wahrscheinlichkeits­ rechnung, Berlin (Springerverlag) 1937: WAID, A., Die Widerspruchsfreiheit des Kollektivbegriffs der Wahrscheinlichkeitsrechnung, Erg. e. niath. Kolloq., 38-72 1939: Ville, f. Etüde critique de la notion du collectif, Paris (GauthierVi 11ars) 1965: Kc )| M(KR )R< >V, A. N., Drei Vorschläge zur Definition des Be­ griffs „Informationsinhalt“, Probl.pered.inf. 1, 3-11 (russ.) 1966: MARTIN-L()l:, P., The deflnition of random sequences, Inf. and Control 9, 602-619 1977: SCHNORR, C. P., A Survey of the theory of random sequences, Basic Problems in Methodology and Linguistics (ed. Butts and Hintikka), 193-211, Dordrecht (Reidel)

61

Gesetzmäßigkeit und Zufall im Verlaufe der Evolution 1 l! i ( ;A K l' RS'l !!N

Die Menschen haben sich schon zu frühen Zeiten ihrer Geschichte für die Frage nach dem Ursprung des Lebens und nach ihrem eigenen Ursprung interessiert und tun es bis heute. Das Ziel meines Vortrages ist es, vom derzeitigen Stand unserer Erkenntnisse ausgehend, dem Wechselspiel zwischen Gesetzmäßigkeit und Zufall während der Evolu­ tion zu folgen. Karl Popper schreibt in seinem Buch "Logik der Forschung" über Gesetz und Zufall: "Man pflegt zu sagen, daß die Planetenbewegung strengen Gesetzen gehorcht, während das Würfelspiel vom Zufall be­ herrscht wird. Der angedeutete Gegensatz besteht darin, daß wir die Planetenbewegung (bis jetzt) mit Erfolg prognostizieren konnten, nicht aber einzelne Würfelspiele. Zur Prognosededuktion braucht man Randbedingungen. Ein Würfelspiel ließe sich nur bei hinreichend ge­ nauen Randbedingungen - bei entsprechenden Spielregeln - prognosti­ zieren. Der Biophysiker Manfred Eigen und seine Mitarbeiterin Ruthild Winkler befassen sich in ihrem Buch "Das Spiel" mit der Molekular! heorie der Evolution und damit im Zusammenhang entwickelten Spichnodellen zur Simulation naturgesetzlicher Erscheinungen, ln der Einleitung schreiben sie: "Wir wollen dem aus der liefe der Zeiten überkommenen und in der Lhierschöpflichkeit von Ideen sich vollen­ dendem Wechselspiel von Zufall und Gesetz nachgehen. Es ist das Gleichnis vom Glasperlenspiel dessen Ideen wir in die Wirklichkeit zu­ rückversetzen. Hermann Hesse beschrieb es als Spiel mit sämtlichen Werten unserer Kultur. Die Glasperlen bergen etwas Geheimnisvolles in sich: Spiegelung und Brechung des Lichtes bringen sie zum Leuchten. In der Reflexion unserer Spielidee werden sie zum Leuchten gebracht. Ihre symbolhafte Bedeutung ist dem ständigen Wandel der ständigen

H h i .u a K h r st I'N

Metamorphose unterworfen: Vom Atom zum Kristall; vom Molekül zum Gen; von der lebenden Zelle zum intelligenten Wesen." Um das Wechselspiel zwischen Gesetzmäßigkeit und Zufall im Wandel der Evolution nachzuzeichnen habe ich meinen Vortrag in folgende Teilthemen gegliedert. 1. Historischer Rückblick über die Evolution auf der Erde. 2. Prozesse der Selbstorganisation. .1 Chemische Revolution. 4. Entstehung informationstragender Moleküle durch Mutation und Selektion. .5. Biologische Evolution und Bildung der Saiterstoßdtmosphäre. 6. Selbstorganisation und Morphogenese vielzelliger Lebewesen. 7. Muster und Netzwerke bei der Evolution höherer Organismen.

1. Historischer Rückblick über die Evolution auf der Erde Die Entdeckung der natürlichen radioaktiven Isotope durch Marie und Pierre Curie und daraus gewonnene Kenntnisse über den zeitli eben Verlauf des radioaktiven Zerfalls ermöglichten in unserem Jahr hundert die Berechnung des Alters unseres Planeten, danach ist die Er­ de 4,7 Milliarden Jahre alt. In der präbiotischen, chemischen Phase der Evolution entstanden aus Atomen und einfachen Molekülen nach und nach komplexere Mole­ külstrukturen.

G fsi-t / mässic;ki :i r i jni i Zi jf ali im Vi .ri.ai ifk i )i:r Ev7

Hhi.mut N kwhaus

lies großen europäischen Konfliktes gebannt, als der 37j.ihrige kinder­ lose König Karl II. von Spanien, der von frühester Kindheit an herz kranke, später impotente letzte spanische Habsburger, in Absprache mit Ludwig XIV. von Frankreich, Wilhelm III. von Großbritannien und den niederländischen Generalstaaten den bayerischen Kurprinzen Josef Ferdinand testamentarisch zu seinem Nachfolger bestimmte, da starb kein halbes Jahr später - der erst siebenjährige Wittelsbacher völ lig unerwartet. Der Zufall seines Todes verhinderte die Auf rechterhaltung des Friedens und ließ den Spanischen Erbfolgekrieg ausbrechen, sobald König Karl II. von Spanien am 1. November 1700 in Madrid gestorben war. Auch exorzistische Praktiken in den letzten Lebensmonaten vermochten die Impotenz nicht zu beseitigen, die dy­ nastische Katastrophe nicht zu verhindern, die wenig später auch die deutsche Linie der Habsburger heimsuchte. ~ Sie starb am 20. Oktober 1740 mit dem Tod Kaiser Karls VI. im Mannesstamm aus. Schon 1713, als der mit Elisabeth Christine von Braunschweig-Wolfenbüttel (16911750) verheiratete letzte männliche Habsburger noch nicht ganz 28 Jahre alt und kinderlos war, befürchtete er den Fall, keinen Sohn mehr zu bekommen, und ließ die „Pragmatische Sanktion“, das neue habs­ burgische Erbfolgegesetz verkünden, wonach bei Ausbleiben männli­ cher Nachkommen auch die weiblichen erbberechtigt sein sollten. Karl VI. bekam dann zwar mit Maria Theresia (1717-1780) und Maria Anna (1718 1744) noch zwei Töchter, die ihn auch überlebten, aber ein Sohn blieb langfristig aus, denn der am 13. April 1716 geborene Leopold starb bereits nach knapp sieben Monaten am 7. November.1 Diesem ( Uni-Lasthenbüt'her, Bd. 1426), (iöttingen 1986; grundsätzlich Johannes Klinisch, Staatsverfassung und Mät hlepolit ik. Zur (ienese von Staatenkonflikten im Zeitalter des Absolutismus ( Historische Forschungen, Bd. 15), Berlin 1979; Der dynastische l-ürstenstaat Zur Bedeutung; von Sukzessionsordnungen lür die Entstellung des (riilimodernen Staates, hrsg. von Johannes Klinisch in Zusammenarbeit mit I lelmul Neuhaus ( 11islorisc he Forst Innigen, ßd. 21), Berlin 19X2. 12

Siehe w.a. Klinisch, Absolutismus (wie Anm. 41), S. 140 ff.; Horst Pietschm ann, Von der (Gründung der spanist heil Monarc hie bis zum Ausgang des Ancicn Regime, in: Walt her / Peruecker, Horst Pietschmann, Cieschichte Spaniens. Von der frühen Neuzeit bis zur (iegenwart, Stuttgart, Berlin, Köln 1994, S. 14-197, hier S. 148 ff.

15

Hanns I so Mikoletsky, Österreich. Das große IX. Ja hrhundert. Von Leopold I. bis Leo­ pold II., Wien 1967, S. 111.

Dr.R I IlSTORIKHR UND l)LR Zl MALI

Fall schon sehr früh Rechnung tragend, suchte er bis in die 1730er Jah­ re die Erbfolge seiner ältesten Tochter staats- und völkerrechtlich abzu­ sichern, um Maria Theresia als zukünftiger I lerrin des 1Luises 1labsburg einen Erbfolgekrieg zu ersparen, aber gleich nach seinem Tode lö­ ste diesen Friedrich II. von Brandenburg-Preußen mit seinem Ein­ marsch in Schlesien am 16. Dezember 1740 aus.4445 Schließlich gilt es nach den Beispielen aus den Kontexten von Un­ glücksfällen sowie Leben und Tod noch einen dritten Bereich anzufüh­ ren, in dem man mit „dem blinden und unvermittelten Eingriff des Zufalls“ rechnete, ja ihn mehr fürchtete als den Feind: den Umkreis des Kriegswesens.^ „Als ein verstandesmäßiger Bewältigung [sich] ent­ ziehender Restbestand des Ungeformten [übte der Zufall]“ - so Johan­ nes Klinisch - „eine derart magische Wirkung auf die Kriegskunst des späten 18. Jahrhunderts aus, daß man seine Eingrenzbarkeit völlig aus dem Auge verlor und statt der kühlen Rationalität, der man sich [im Zeitalter der Aufklärung] glaubte verschrieben zu haben, einer irratio­ nalen Sehen vor jedem Wagnis anheim fiel. Man sah sich deshalb ver­ anlaßt, alle nur denkbaren Vorkehrungen zu treffen, um die Unwägbar­ keiten des Krieges von vornherein und so weit als möglich auszuschalten, und erreichte damit, daß der Aktionsradius militärischer Operationen auf ein Mindestmaß zusammenschrumpfte. Dadurch er­ gab sich eine Gebundenheit des Handelns, eine durch die Unzuverläs­ sigkeit der zu den Waffen gepreßten Truppen und das Magazinwesen erzwungene Schwerfälligkeit, die nur noch kleine und wohlüberlegte

44

Dazu zuletzt Helmut \■euham% Mit Österreichisch - hier Lritzisch. Die Wende der 1740er Jahre in der (leschichte des Alten Reic hes, in: Aufbruch aus dein Anc ien rep nie. Beitrage zur (leschichte des IX. Jahrhunderts, hrsg. von Helmut Neuhaus, Köln, Weimar, Wien 199.^ S. 57-77.

45

Nach Reinhard W/ttram, Das Interesse an der ( lese luchte. Zwbll Vorlesungen übet Fragen des zeitgenössisc hen ( iesc hichtsvrrständnisses ( Kleine Vandenhoec k-Reihe, IM. 54-61), (.'oftmgen 1958, S. 14, „begegnet |der (>esc hichtsbelrac hter| dem Zufall am unmittelbarsten dort, wo die persönlichen Schicksale walten: (ieburt und lod, Krankheit und langes Leben, treffende oder fehlgehcnde Kugeln, das blitzen i h r ge­ nialen Begabungen oder das Ausbleiben des Blitzes, Sinneswandel oder Verstockung, Kraft und Schwache.“

Hui-MUT N li ii iai is

Schritte zu tun gestattete“^’. Unter Hinweis auf Friedrich den Großen, der seit den 1750er Jahren dem Zufall „eine unumschränkte Macht zu­ schrieb“, hat Eberhard Kessel resümiert: „Der Hasard nahm im Den ken des 18. Jahrhunderts deshalb einen so breiten Raum ein, weil man ihn im Bestreben nach rationalistischer Klarheit einerseits überschätzte, andererseits als unerträglich empfand, was unter Umständen sehr weit, auf jeden Fall aber zu Anschauungen führte, die sich ebenso von dem Vorsehungsglauben der vorhergehenden wie von dem kritischen Rea­ lismus der Folgezeit unterschieden.“ Ein Heer des Absolutismus war zu wertvoll, um es dem Zufall zu opfern, nicht immer, aber immer öf­ ter schon im Siebenjährigen Krieg. Der Zufall, das Rechnen mit dem Unberechenbaren, beeinflußte Strategie und Taktik, aber es verhinderte keine Kriege. III. Der Historiker begegnet dem Zufall aber noch in einem ganz an­ deren, seine wissenschaftliche Arbeit noch sehr viel unmittelbarer be­ rührenden Kontext. Du* für Berthold I. von Tücher und seine gesamte Familie ent­ scheidende Situation des Jahres 1364 ist uns im Großen Tucher-Buch aus dem Jahre 1592 überliefert, dem Geschlechterbuch der Gesamtfami­ lie Tücher, verfaßt in einer an Virtuosität kaum zu überbietenden Schreibmeisterschrift. Von dem „Frankenburger Würfelspiel , das am 15. Mai 1625 in so grausamer Weise über I’od oder Leben entschied,

46

Johannes Klinisch, Iriedensidec und Kriegshandwerk im Zeitalter der Aufklärung, jetzt in: den., Fürst - Gesellst hall - Krieg. Studien zur bellizistisrdien Disposition des abso­ luten Fürstenstaates, Köln, Weimar, Wien 1992, S. 131-159, hier S. 14.1 f. (zuerst in: Der Staat 27 |1988|, S. 547-568).

47

Eberhard Kessel, Georg Heinrich von Bercnhorst. hin Anhaltinis« her Theoretiker und Geschichtsschreiber der Kriegskunst am linde des 18. Jahrhunderts, jetzt in: ders., Mililärgcschichte und Kriegstheorie in neuerer Zeit. Ausgewählte Aufsätze, Itrsg. und eingel. von Johannes Kultisch ( Historische Forschungen, Bd. .1.1), Berlin 1987, S. 80115, hier S. 98 (zuerst in: Sachsen und Anhalt 9 119.1.11, S. 161-198).

48

Wie Anm. 1.

100

D l R HlSTC )RIKHR UNI) I )I'.R Z l IFAI.I

erfahren wir aus einem von Adam Graf von Herberstorff eigenhändig verfaßten Konzept zu seinem Bericht an seinen Herrn, den Kurfürsten Maximilian I. von Bayern, ferner aus einem ebenfalls gleichzeitigen Be rieht des Oberpflegers Abraham Grünbacher an seinen Herrn Franz Christoph Graf Khevenhüller, aus einer Flugschrift des Jahres lfa2b und aus anderen Akten.1 Das „Mirakel des Hauses Brandenburg“ ist erstmals von Friedrich dem Großen selbst in einem Brief vom 1. Sep­ tember 1759 an seinen Bruder Heinrich verkündet worden, der im Hausarchiv der Hohenzollern überliefert ist. Und die Interpretation des Scheiterns der Attentate, die ihm gegolten hatten, als „Zufälle“ durch Hitler persönlich ist in den von Dr. Henry Picker gemachten Aufzeichnungen der „Tischgespräche im Führerhauptquartier“ erhal­ ten. 1 Zufälle - diesmal der Überlieferung - auch dies? Angesichts der zahlreichen Verluste von Archivgut durch Zerstörungen in Naturkata Strophen und Kriegen, durch Verlagerungen, durch absichtliche und unabsichtliche Vernichtungen sind sie jedenfalls nicht auszuschließen und immer wieder zu konstatieren. Und dies hat nicht nur sachliche Konsequenzen für die adäquate Erfassung eines Ereignisses, sondern auch methodische. 1listorische Forschung ist Grundlagenforschung, ist ohne Quellen nicht möglich, nicht ohne das, was uns an Texten, Bildern und Gegen­ ständen überliefert ist und was uns Kenntnisse aus vergangenen Zeiten gewinnen läßtü Set bruchstückhaft die Überlieferung über Jahrhunder­ te und Jahrtausende ist, so bruchstückhaft ist unser historisches Wis­ sen. Sicher: Vieles ist einfach auf uns gekommen, und wir verfügen darüber wie selbstverständlich; vieles haben wir aufgrund planvollen Suchens (neu) erworben und dabei so manche Überraschung erlebt. Von vielem aber haben wir auch nur - es läßt sich nicht anders erklären 49

Zur Überlieferung siehe (IriiU, Das Pranken hu rger Würfelspiel (wie Amu. 2), S. 4-9.

50

Wie Anm. 6.

5I

Wie Am». 12.

52

i.rnst Bertiheim, Lehrbuch der I listorische» Methode und der ( lest hichtsphilosophie. Mil Nachweis der wichtigsten Quellen und 11ilfsmittel /u m Studium der Ciesc liichte, Leipzig "1908; Paul K nu, Linführung in die ( ieschic htswissensc halt, Berlin *1959.

101

I lld.MUT NlUII IM IS

- durch Zufall Kenntnis erlangt. Erinnert sei etwa an farbenprächtige Felsbilder in den Höhlen von Altanlira (bei Santillana del Mar/Spanien), wo 1879 die ersten Beispiele der Altsteinzeit - also von vor ca. 60 000 Jahren - entdeckt wurden, von Lascaux (bei Montignac im Südwesten Frankreichs), wo 1940 eine 120 Meter lange Grotte ge funden wurde, oder von Niaux in den französischen Pyrenäen. Die Darstellungen von Tieren und Menschen, von Jagd, Kampf und Tanz, von Waffen und Geräten haben der prähistorischen Forschung enorme Impulse gegeben. Was solche Zufallsfunde auslösen können, haben wir im und seit dem Herbst 1991 erlebt, nachdem das Nürnberger Ehepaar Erika und Helmut Simon einem 5200 bis 5300 Jahre alten Mann begegnet war. ' Sie stießen auf ihn, nachdem sie unplanmäßig in einer Berghütte un­ terhalb des 3606 Meter hohen Similaun in den Ötztaler Alpen an der österreichisch-italienischen Grenze übernachtet hatten, am Mittag des 16. September 1991 auf ihrem - ebenfalls nicht vorgesehenen - Rüc kweg zu ihrem Ferienquartier im Vinschgauer Schnalstal. In einer Felsrinne am 3279 Meter hohen Ilauslabjoch, in unmittelbarer Nähe des Alpen hauptkammes auf italienischer Seite ragte der Mann mit Kopf und Sc hultern aus dem abschmelzenden Gletschereis heraus, ein l Jnbekannter, der sehr bald den Kosenamen „Ötzi“ erhielt und der in der Prä­ historie nun als „Jungneolithische Mumie aus dem Gletscher vom 1lauslabjoch, Gemeinde Schnals, Autonome Provinz Bozen Südtirol, Italien“ bezeichnet wird. Der Körper des Mannes, seine Bekleidung und seine Ausrüstung haben viele Fragen aufgeworfen und die wissen schaftliche Besc häftigung mit der Jungsteinzeit im Alpenraum neu be­ lebt durch einen Zufall, denn wer wollte das Kreuzen des Weges eines

5.i

Andre Uroi-üomhan, Prähistorische Kumt, Die Ursprünge der Kunst in Huropa, Frei­ burg ihr. 1971; (!for]>es Bataille, Die I löhlcnbilder von lascaux oder die Geburt der Kunst, Stuttgart, Münc hen 19X4; Lascaux, I lölile der Hiszeit |Ausstellungskatalog!, Mainz 1982.

54

Vgl. dazu Konrad Spindler, Der Mann im Fis. Die Ötztaler Mumie verrat die Geheim­ nisse der Steinzeit, München 1994.

55

Fbd., S. 86.

102

D hr H istc )RIki-.r

uni ) i )i;r

Z i iuai

i

Ehepaares im Jahre 1991 n.Chr. mit dem eines Mannes, der 3300/3200 v. Chr. gelebt haben muß, anders erklären? Die Uberlieferungsgeschichte von historischen Quellen ist voll von solchen Zufällen. Erst am 18. Dezember l ‘>94 entdeckten - durch einen Luftzug auf unterirdische Gänge aufmerksam gemacht - französische Archäologen und Höhlenforscher in der Höhle Combe d'Arc bei Montelimar Wandmalereien mit ca. 300 Fierbildern, die zwischen 17000 und 20000 Jahren alt und aufgrund ihrer Farbigkeit einzig de­ nen von Lascaux vergleichbar sein sollen. Am 19. Februar 1995 mel­ dete die Presse, daß bei Bauarbeiten in der nordchilenischen Küsten­ stadt Arica zwei Mumien aus der Chinchorro-Periode - zwischen 6000 und 2000 v. Chr. - gefunden worden seien, deren gute Erhaltung auf die Einbalsamierung der Körper in Tonerde und das trocken-heiße Klima der Gegend zurückzuführen sei. Und die Entdeckung eines weitgehend zerpflügten Verwahrfundes römischer Silbermünzen am Kalkrieser Berg bei Bramsche im Osnabrücker Land im Sommer 1987 durch Captain J.A.S. Clunn hat die die Althistoriker seit Jahrhun­ derten bewegende Frage nach dem genauen Ort der berühmten Schlacht im Teutoburger Wald im Jahre 9 n.Chr. neu belebt. Auf­ grund zahlreicher weiterer, sehr verschiedenartiger Funde von Waffen­ teilen, Trachtzubehör sowie Resten von Geräten und Gegenständen des römischen Alltags - dann auch infolge systematischer Grabungen steht heute fest, daß der Cherusker Arminius die unter dem Oberbefehl des römischen Statthalters Publius Quint tilius Vartts kämpfende römi­ sche Armee nicht dort vernichtend geschlagen hat, wo heute das Her­ mannsdenkmal bei Detmold steht, sondern am Nordrand des westli dien Teutoburger Waldes in der Kalkrieser-Niewedder Senke. Seit der römische Historiker Tacitus in seinen „Annalen“, die 1505 im Kloster Corvey in einer Abschrift aus dem 9. Jahrhundert wiede56

Vgl. die Berichterstattung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 20, Januar Iuns Nr. 17, S. ,!9.

57

Vgl. dazu: Kalkriese - Römer im Osnabrücker fand. Archäologische Forschungen zur Varusschlacht, hrsg. von Wolfgang Schlüter, Bramsche 199.!.

103

Hl'[.MUT Nl'.Wi IAUS

rentdeckt worden sind, davon berichtet hatte, daß Varus seine Legionen im „saltns Teutoburgiensis“ verloren habe , wußte man, wo ungefähr sich diese militärische Katastrophe abgespielt hatte, aber den Weg /um exakten Ort der Varus-Schlacht wies - trotz der Theorie 1hcodor Mommsens von 1885 - erst der Zufallsfund vom Sommer 1987. Die ses Ereignis unterscheidet sich denn auch von Entdeckungnen z.B. in unseren Römerstädten wie Köln, Trier, Augsburg, Regensburg oder Mainz, wo bei Bauarbeiten immer wieder Fußboden-Mosaike, Keramik, Münzen und vieles andere gefunden werden; dort ist man auf solche Funde gefaßt, weniger schon in der nahe der Lippe gelegenen westfä lischen Stadt Haltern, wo - ausgerechnet bei Ausschachtungsarbeiten für ein Römermuseum - ein Grab mit 24 Toten entdeckt wurde, mögli cherweise die letzte Ruhestätte von späten Opfern der Varus-Schlaclit. Der Münzfund im Osnabrücker Land unterscheidet sich aber auch von planvollen Ausgrabungen wie denen von Herculaneum und Pompeji, die infolge des Vesuvausbruchs am 24. August 79 n.Ghr. unter den enormen Lavamassen begraben worden waren. 1 Freilich: Was da seit 1738 am Golf von Neapel wieder freigelegt wurde, dokumentiert mit dem zerstörerisch wirkenden Einbruch der Naturgewalten in das All tagsleben der Vesuvstädte auch den Zufall, dem nicht entronnen wer den konnte. So wie uns zufällig entdeckte, gefundene Gegenstände und Bilder neue Einsichten vermitteln, neue Forschungen anstoßen, Streufunde von Münzen aus allen Epochen nicht nur geldgeschichtliche Bedeu­ tung haben, sondern auch Einsichten in Verkehrsverbindungen, I lau 58

I d dargebracht von I reunden, Kollegen und Schülern, hrsg. u m I lans-Joachim Drexhage und Julia Sims kes, St. Katharinen S. 92-101. Sir Mortim fr Wheeler, Her Pemhandel des Römisehen Reiches in Huropa, Afrika und Asien, München, Wien 1965. - Mir Hinweise danke ich Herrn Privatdozcnten l)r. Wolfgang I.eschhorn, Universität des Saarlandes, sehr her/lit h.

105

H lil.M l !T New! !Al IS

Reihenfolge der durcheinandergeratenen Blätter wiederherstellen und durch Einordnung bereits bekannter Fragmente im Jahre 1822 die erste Edition von „De re publica“ publizieren. Außer auf Palimpsesten, wiederbeschriebenen Handschriften, sind uns Texte zufällig überliefert, weil die sie tragenden Pergamentblätter als Bucheinbände benutzt worden sind. So war erst Ende des Jahres 1995 der Presse zu entnehmen, daß der Anglist Michael Benskin beim Blättern in einem lateinischen Urkundenregister in dessen Einband auf einige französische Verse von alter Hand gestoßen sei, die sich als be­ deutender Fund eines verloren geglaubten Fragments einer „Tristan“ Dichtung entpuppten. " Und im Würzburger Diözesanarchiv entdeckte Arc hivrat Norbert Kandier das etwa 1000 Jahre alte Fragment einer Ab schrift der zeitgeschichtlich wichtigen Briefe Marcus Tullius Ciceros an seinen wohl vertrautesten Freund, den hochgebildeten Historiographen Titus Pomponius Athens aus den Jahren 68 bis 44 v.Chr. Bedeutsam auch, daß im Jahre 1910 (oder kurz davor) der Darmstädter Stadtbi bliothekar Karl Noack auf die Einbände von sechs Rechnungsbänden für die Jahre 1630 und 1632 bis 1636 aufmerksam geworden war. Sie bestanden aus sechs pergamentenen Doppelblättern, oben und am rechten Rand unter Textverlust für ihren neuen Zweck beschnitten, bei denen es sich um einen zusammenhängenden Teil der verschollenen „Chronica Fuldensis“ handelte, wie sie nach dem paläographischen Be­ fund uni die Mitte des 14. Jahrhunderts entstanden war/ Hatte sie der 64

Vgl. dazu / .herhard Heck, Die Bezeugung von (uceros Schrift De re publica ( Sputl.fsm.it.i, IM. 4), Ilildcsheim 1966, S. 5; M. Tullius Cicero, De re publica. Kom m entar von K.irl Biiclmer, Heidelberg 1984, S. 62 I.

64

frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15. November 1995, Nr. 266, S. N6. - Uber den I und eines Alburnblattes (ieorg Büchners aus dem Jahre 1844, von dem 1994 /.B auch zwei bisher unbekannte Briefe auf einem Butzbar her Speicher gefunden wurden, berichtete die frankfurter Allgemeine Zeitung am 12. April 1995, Nr. 87, S. 45.

65

Vgl. die Berichterstattung der Nürnberger Nachrichten vom 8. Dezember 1995, S. |9; die insgesamt überlieferten 16 Bücher der Briefe ( hcero.s an Atticus waren nach bishe­ riger Kenntnis im Jahre 1445 von Petrarca in Verona wiederentdeckt worden.

()()

Uhronica luldensis. Die Darmslädter hragmenlc der Puldaer (ihronik , bearb. von Walter I leinemeyer ( Archiv für Diplomatik, Schriftgeschichte, Siegel- und W appe n­ kunde, Beiheft 1), Köln, Wien 1976.

106

D i:R I IIST( )RIKHR (INI) I)KR Zl J| AI I

Jesuit Christoph Brower noch für seine 1612 publizierte erste moderne Geschichte Fuldas, die „Fuldenses Antiquitates“, nachweislich ausführ­ lich benutzt, so ist sie danach verloren gegangen, zum Teil im ver­ stümmelten Zustand in den erst drei Jahrhunderte später wiedergefun­ denen Rechnungsbüchern, zum Teil gänzlich bis heute. Zweifellos ein Zufall, denn mit Recht hat Walter Heinemeyer, der Editor der Darm­ städter Fragmente, 197b festgestellt: „In der Tat schien die Fuldaer Chronik rettungslos verloren zu sein. Denn wer möchte auf einem so stark zerpflügten Felde, wie es die Quellenkunde des frühen und hohen Mittelalters ist, mit der Entdeckung auch nur eines Bruchstücks rech neu?“ 7 Zufall aber wohl auch ihre weitere Überlieferung: Edmund E. Stengel, der Gründer des Marburger „Lichtbildarchivs älterer Origi nalurkunden“, ließ von den sechs pergamentenen Doppelblättern im Jahre 1932 maßstabgerechte photographische Aufnahmen herstellen, bevor er sie an der Stadtarchiv Darmstadt zurückgab. Dort wurden sie beim Bombenangriff vom 11. September 1944 endgültig vernichtet. Der wohl bekannteste zufällige Textfund verbindet sich mit dem Namen eines Ortes am Nordwestrande des Toten Meeres, mit Qumran. Dort entdeckte im Jahre 1947 ein Hirtenjunge in in Höhlen ge­ lagerten, verschlossenen, ca. 60 Zentimeter hohen irdenen Gefäßen bis dahin unberührt gebliebene Schriftrollen. Sie waren in diesem doppel­ ten Versteck von Mitgliedern der ordensähnlichen jüdischen Gemein­ schaft der Essener zu Beginn des 1. Jüdischen Aufstandes gegen die Römer in den Jahren 66 bis 70 n.Chr. verborgen worden und haben Hst zwei Jahrtausende überdauert, während das zwischen Totem Meer und Höhlenfelsen auf einem Plateau errichtete Wüstenkloster, in dem die hexte geschrieben worden waren, wohl im Jahre 68 n. Chr. voll­ ständig zerstört worden ist. Weitere Funde und Forschungen haben er­ geben, daß es sich bei den teilweise vollständig erhaltenen Schriftrollen 67

liW., S. 17.

68

übel., N. 17 t.

69

Vj»l. Il.irlninl Siegern(tun. Die Lssener, Q um ran, Johannes der Täufer und Jesus, l i n Sachbuch ( I leider Spektrum, I3d. 4128), Lreiburg i.ßr. 1992, Phillip R. (\tllawuy, I he histry o f l he Q u m r a n communily. An investigation, Sheffield 1988; Die Iexie aus Q u m r a n , hrsj;. von Kduard Loh.se, München 1986.

107

H ki mi i t N m.iiiiaws

aus zahlreichen Höhlen mit Texten in hebräischer, aramäischer und griechischer Sprache um Teile der Bibliothek der seit dem Ende des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts bestehenden essenischen Gemein de handelt, die unsere Kenntnisse über die Geschichte, Religion, Kultur und Lebensform der Juden und Essener in großem Umfang erweitert haben. Darüber hinaus haben sie eine kaum zu überschätzende theologie-, sprach- und literaturgeschichtliche Bedeutung vor allem mit Blick auf das Alte Testament. Daß solche Zufallsfunde von Texten im übrigen - wenn auch mit selten mit der angedeuteten Tragweite - immer wieder gemacht werden können, wird jeder Historiker bestätigen, der viel Aktenmaterial in Ar­ chiven gesichtet hat. Wer hat da noch nicht zwischen nicht gezählten Blättern unzähliger Konvolute einzelne Seiten oder gar ganze Doku­ mente gefunden, die nicht in den jeweiligen Aktenzusammenhang ge­ hörten, Originale oder Abschriften, die falsch abgelegt worden sind oder bei späteren systematischen Umordnungen von Archivbeständen und Auflösungen von Entstehungszusammenhängen verlegt wurden. Auch das Konzept des Grafen Herberstorff zu seinem Bericht an Kur­ fürst Maximilian von Bayern über das „Frankenburger Würfelspiel“ ist dafür ein Beispiel, fand es sich doch in dem Rest eines Archivs - des Herrschaftsarchivs Ort -, das 1880 als Altpapier verkauft worden war. IV. Bei so vielen Zufällen in der Geschichte wie in ihrer Überlieferung drängt sich geradezu die Frage auf, was geworden wäre, wenn sie nicht geschehen wären, eine Frage, über die die Geschichtswissenschaft nach Leopold von Ranke und seiner erstmals 182d erhobenen Forderung, ' . . . . -71 nur darzustellen, „blos |zuJ zeigen, wie es eigentlich gewesen“ ist , ge radezu ihr Anathema gelegt hat, weil sie spekulativ und nicht tatsa 7(1

(Iriill, Das I r.inkt-nhni>;i-r Würfelspiel (wie Anm. .i), S. 4.

71

Isa/mld non Ranke, Ciesr liichlen iler romanischen lind germanischen Völker von I I" I bis |514 ( d e n ., Siininitlir lie Werke, /weile Ciesatnlaüsgabe, lief, t.i/44), l.eip/ig 11X74, S. VII.

108

Dr.R

H ink jrikhr und di:r Z i ;iai i

chenorientiert ist.7“ Gleichwohl erscheint sie mir legitim zu sein, gerade im Kontext von Zufällen. Wenn „Ötzi“ und die römischen Münzen im Osnabrücker Land, Ciceros „De re publica“ und die Fuldaer Chro­ nik nicht zufällig gefunden worden wären, besäßen wir sie nicht, wären wir erkenntnisärmer und verständen vieles noch weniger als ohnehin. Wenn Berthold I. von Tücher eine andere Botschaft seines Münzora­ kels erhalten hätte, hätte es die Familie nicht gegeben, aber daraus ist nicht zu schließen, daß immer alles ganz anders gekommen wäre, als es gekommen ist. Wenn das Markgraftum Brandenburg-Ansbach nicht durch Losentscheid an Friedrich IV. gefallen wäre, dann hätte er es im Jahre 1495 nach dem frühen Tod seines Bruders Markgraf Sigmund von Brandenburg-Kulmbach geerbt, aber welche Auswirkungen hätte das auf die frühneuzeitliche Geschichte Frankens gehabt? Was wäre geworden, wenn Ansbach an Kulmbach gekommen wäre und nicht Kulmbach an Ansbach? Wäre dann die Bayreuther Linie 1769 nicht ausgestorben und das Markgraftum Brandenburg-Kulmbach-Bayreuth nicht an das Markgraftum Brandenburg-Ansbach gefallen? Ein Sohn Kaiser Karls VI. wäre mit Sicherheit nicht der Anlaß für den Österrei­ chischen Erbfolgekrieg ab 1740 gewesen, aber auch kein Garant für Frieden zwischen Brandenburg-Preußen und Österreich in der Zeit Friedrichs des Großen. Ein Erfolg des Elsersrhen Attentats auf Adolf I Iitler vom 8. November 1939 hätte der Geschichte wohl einen anderen Lauf gegeben, denn der Zweite Weltkrieg befand sich noch in einem überschaubaren Anfangsstadium, Auschwitz war noch nicht eingerich­ tet, die historische Beurteilung Hitlers müßte anders ausfallen, viel­ leicht so wie bei Joachim C. Fest: „Wenn Hitler Ende 1938 einem At­ tentat zum Opfer gefallen wäre, würden nur wenige zögern, ihn einen der größten Staatsmänner der Deutschen, vielleicht den Vollender ihrer Geschichte, zu nennen.“

72

Siehe aber Prnuwdf, Ungeschehene Geschichte (wie Anin. 12); ferner: i'riedrtch Mfinekk f%Z u r I licorie und Philosophie der Geschichte, hrsg. und eingel. von liberhard Kes­ sel, Stuttgart 1959, S. 261 I.

11

lest, I Iitler (wie Anin. I 1), S. 25.

109

H hi.mi rr N hui jaus

Kurzum: Der Zufall als Auslöser der Frage nach dem alternativen Geschehen rückt für den Augenblick die Möglichkeiten eines anderen Verlaufs der Geschichte ins Blickfeld. Und diese gehören mit zu einer sachgerechten historischen Betrachtung, denn sie können Debatten attslösen, zumindest das Nachdenken von einem anderen Standpunkt aus. Gerade die Zufälle widersprechen einem gesetzmäßigen planvol­ len Geschichtsverständnis, auch wenn Ereignisse immer wieder mit „Das kann doch kein Zufall sein!“ kommentiert werden. Der Historiker kann die von den Instrumenten des Zufalls herbeige­ führten Erkenntnisse nur zur Kenntnis nehmen, auch den Erfolg oder Mißerfolg von Attentaten von dem auf Cäsar, über die auf Lincoln, Rathenau, Erzberger, Gandhi oder die beiden Kennedys bis hin zu den terroristischen Anschlägen unserer Tage auf Politiker, Militärs oder Wirtschaftsführer. Sie - wie Zufälle überhaupt - als Ausdruck eines gro­ ßen Planes akzeptieren, wird er nur dann, wenn er eine historische Ge­ setzmäßigkeit unterstellt, die zugleich den Handelnden zum Instru­ ment degradiert und ihm Freiheit abspricht. Geschichte aber folgt kei­ ner von uns erkennbaren Gesetzmäßigkeit, wie wir im Herbst 1989 ganz unmittelbar erfahren haben. Der Einbruch des Unerwarteten des Mauerfalls in Berlin, des so sehr Unerwarteten, daß es in Bonn keiner­ lei Eventualpläne für den Fall einer wie auch immer zu gestaltenden Vereinigung von Bundesrepublik Deutschland und Deutscher Demo­ kratischer Republik gab, der Einbruch des Unerwarteten ließ auch die von gesetzmäßigen Abfolgen ausgehende marxistische Geschichtstheo­ rie einbrechen und bestätigte jene Geschichtsauffassung, die mit dem Unberechenbaren rechnet. Und diese epochale Wende, „ein Wunder, das wir erleben“, von dem Bundespräsident Roman Herzog unmittel­ bar nach seiner Wahl ins höchste deutsche Staatsamt am 23. Mai 1994 im Berliner Reichstagsgebäude gesprochen hat , weil auch er keine an­ dere Erklärung für das Geschehen im Herbst 1989 hat, diese epochale7 7t 75

Vgl. z.B. zu Vnis (cbtl.) geäußerter Meinung Sebastian Hajjner, Anm erkungen zu I Hier, München 1978, S, 54 (f. Abdruck der Rede in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25. Mai 1994, Nr. 119, 5,

4.

110

Dl'.R HlSTC )RIKIiR I INI) I)i;R Zl II AI I

Wende bestätigte die grundsätzliche Freiheit des handelnden Individu­ ums in der Geschichte. Anders als der Naturwissenschaftler, der den Zufall in seinen Versuchen ausschalten kann, muß sich der Historiker ihm in jedem Falle stellen, denn in der Geschichte gibt es keine Ver­ suchsserien. Für ihn stellt der Zufall eine ständige Herausforderung dar, neue Fragen zu stellen und neue Zusammenhänge zu sehen, ihn bei der immer wieder neuen Suche nach der historischen Wahrheit einzugrenzen und - vielleicht zu entzaubern.

das kann doch nicht bloß Zufall sein Ein theologischer Versuch über die Zufälligkeiten unseres Lebens Manfrhd Shit/

I. Sehr verehrte Damen und Herren! Es ist reiner Zufall, daß ich jetzt hier vor Ihnen stehe und über den Zufall sprechen soll. Wie kam es dazu? Geboren in Winterhausen am Main bei Würzburg, war ich 15 fahre Pfarrer, von 1966-1972 Professor für Pastoraltheologie in Heidel­ berg und seit 1972 in Erlangen. Dort lernte ich Herrn Professor Kößler kennen und über das Kollegiale hinaus schätzen. 1978 hätte ich nach Tübingen gehen können und wäre heute nicht hier. Da ich aber blieb ich war schon einmal bei Ihnen - forderte mich Herr Kößler erneut auf, heute hier vorzutragen - nicht einen systematischen Theologen, ei­ nen Dogmatiker, in dessen Fach das Thema „Zufall“ eigentlich gehört. Er hätte ca. 15 meiner Kollegen der Theologischen Fakultät dafür ge­ winnen können. Warum mich? Er konnte nicht ahnen, mit was für ei­ ner verwickelten Aufgabe er mich da betraute - oder doch? Aber Sie werden es merken. Sie sind eigentlich auch nur zufällig hier, weil Sie heute nichts anderes vorhatten und es aus mir unbekannten Erwägun­ gen vorzogen, hierher zu kommen, statt anderen Beschäftigungen nachzugehen. So wie an meiner Stelle ein anderer liier stehen könnte, könnten Sie heute abend woanders sein. Wir begegnen uns nur, weil eine Reihe von Gründen zusammenfiel und dieses Miteinander mög­ lich machte. Wir nennen es mit dem Gießener Philosophen OlX) MARQ I I A R I ) das „Belielngkeitszufällige“, weil es auch anders sein könnte und durch Herrn Kößler, durch mich - ich mußte sogar um Verlegung bit­ ten - und durch Sie änderbar gewesen wäre1.

1

O d o M a RQUARD, Apologie des ZufiM iffn, Philosophische Überlegungen zum Men­ schen; in: Apologie des Zufälligen. Philosophische Studien. Stuttgart 1986, 117-1.19.

12«.

113

Manfriid Sr.ny,

Vor einigen Wochen, als ich mich schon gedanklich mit dem Zufallsthema befaßte, gab mir meine Frau einen Artikel aus dem FAZ (Frankfurter Allgemeine Zeitung) - Magazin über Jutta Limbach, die Präsidentin des Bundesverfassungsgerichtes. Da hieß es: „Die großen Ereignisse der Gegenwart kommen auf leisen Sohlen daher. Manchmal gar verkleiden sie sich als Zufall. Denn was war es, wenn nicht ein Zu lall, daß Roman Herzog, der neue Bundespräsident, vor seiner Wahl ausgerechnet Präsident des Bundesverfassungsgerichts war? Und war es nicht ebenso ein Zufall, daß Richter Ernst Gottfried Mahrenholz dem zweiten Senat desselben Gerichts vorsaß? Ohne diese Zufälle nähme heute nicht eine Frau eines der höchsten Ämter im Staate ein“ . Dabei war Frau Limbach keineswegs eine Zufallskandidatin. Sie kam aus einer Familie, die dem Politischen und dem Juristischen schon von den El­ tern und Großeltern her zugeneigt war. Als Justizsenatorin von Berlin h.me sie unmittelbar mit der jüngsten deutschen Vergangenheit zu tun. Und ihre Aufmerksamkeit galt überhaupt seit geraumer Zeit den juri­ stischen Knotenpunkten des modernen Lebenswandels. Man kann also rückblickend sagen: Hinter dem, was als „zufällig“ angesprochen wur­ de, steht eine verborgene Lebenslinie, die durch die Berufung ins hochstrichterliche Amt zum Vorschein kam. Wir können so etwas Ähnliches vielleicht auch in unserem eigenen Leben finden; z. B. war­ um wir aus Millionen von Möglichkeiten diesen einen Menschen fürs Leben wählten oder warum wir wenn auch aus weniger, aber doch vie­ len Möglichkeiten - in diesen Beruf oder in diese Lebensaufgabe ka­ men. Wir nennen es das „FühriwgszujaUige“, weil da vielleicht einiges halte anders sein können und änderbar gewesen wäre; aber das meiste traf doch wohl mit solcher Notwendigkeit ein, daß wir - obwohl wir da und dort wählen konnten - rückblickend sagen müssen: Der, die, das Gewählte wurde gegeben, fiel uns zu, war Führung. Von wem auch immer - das lassen wir noch offen. Damit nähern wir uns einer dritten Gruppe von Zufällen, die unser Leben am häufigsten bestimmen. Es kommt mir aber so vor, als sei da in unserer Sprache ein Zögern, offen davon zu sprechen, auf das wir K kis/

114

iina

Klu-Nl-N, Julia l.imhiu It; in: l;A'/,-M.ina/in 44. Woche 1994, 76h: 1 I.

... D as kann i x x:i i n k :i rr bk xssZ i ;i ai i , si:in ...

richten müssen. Vor etwa 14 Tagen wollte ein kleines Flugzeug von Rosenlieim zur Hannover-Messe fliegen. Es kam aber aus bisher ungeklär­ ten Gründen vom Kurs ab, flog auf die Kampenwand zu und mußte dort notlanden. Zufällig hatte es am Tag zuvor so viel geschneit, daß der Pilot auf einem Schneefeld notlanden konnte, ohne in den Wald zu stürzen oder an den Felsen zu zerschellen. Die Insassen kamen mit dem Leben davon. Die Berichte darüber sprachen auffälligerweise nicht von „ Z ifair, sondern von „Glück'" und sagten, sie hätten „Glück" ge­ habt. Das stimmt ja auch; aber in Wirklichkeit handelte es sich um ei­ ne Koinzidenz, um ein Zusammenfällen von Tatsachen, die nicht not­ wendig miteinander verbunden sind, so daß es zu diesem Ausgang kam. In einem anderen Fall, als ein Weißenburger Bürger beim Um­ graben in seinem Garten auf einen Schatz aus der Römerzeit stieß, er­ schien sofort das Wort „Zufall“ bei denen, die darüber berichteten. Woher rühren diese Unterschiede im Benennen der Vorkommnisse? Die gängige Rede vom „blinden“ Zufall führt uns vielleicht auf die richtige Fährte. „Blind“ bedeutet: ohne Sehvermögen und Einsicht. Der Zufall scheint davon etwas an sich zu haben. Wieviel Generationen haben den Acker oder Garten schon umgegraben ohne Absicht und sind nicht fündig geworden; aber dieser eine Mensch stößt jetzt eben­ falls absichtslos auf den Fund; er fallt ihm blindlings zu; aber es geht nicht um Leben oder Tod. Im Falle des Flugzeugs jedoch oder über­ haupt, wenn jemand - und nun sage ich - wie durch ein „Wunder' da­ vonkommt, dann sprechen wir von „Glück“ oder von einem „glücklichen“ Zufall, als ob da eine Verkettung von unwahrscheinlich günstigen Voraussetzungen im Spiele sei und habe sich gegen die sicht­ lich ungünstigen durchsetzen können. Daraus ergibt sich, daß offenbar im Begriff des Zufalls etwas Verneinendes, das Empfinden des Nicht Notwendigen und eine Neigung zum Negativen wohnt. Ich bin Inh­ aber nicht sicher; ich versuche nur den Unterschied im Benennen der Dinge zu verstehen. Sicher können wir darin sein, daß „Zufälle“ unser Leben begleiten, denen wir schicksalhaft ausgesetzt sind, die uns unberechenbar überfal­ len, alles durchkreuzen und uns entmachten. So saß vor etwa einem halben Jahr in Korea eine Frau in ihrem Holzhaus beim Fernsehen.

115

M A N L R b D Sb.l 17

Vor einigen Wochen, als ich mich schon gedanklich mit dem Zu­ fallsthema befaßte, gab mir meine Frau einen Artikel aus dem h'AZ (Frankfurter Allgemeine Zeitung) - Magazin über Jutta Limbach, die Präsidentin des Bundesverfassungsgerichtes. Da hieß es: „Die großen Ereignisse der Gegenwart kommen auf leisen Sohlen daher. Manchmal gar verkleiden sie sich als Zufall. Denn was war es, wenn nicht ein Zu fall, daß Roman Herzog, der neue Bundespräsident, vor seiner Wahl ausgerechnet Präsident des Bundesverfassungsgerichts war? Und war es nicht ebenso ein Zufall, daß Richter Ernst Gottfried Mahrenholz dem zweiten Senat desselben Gerichts vorsaß? Ohne diese Zufälle nähme heute nicht eine Frau eines der höchsten Ämter im Staate ein“ . Dabei war Frau Limbach keineswegs eine Zufallskandidatin. Sie kam aus einer Familie, die dem Politischen und dem Juristischen schon von den El­ tern und Großeltern her zugeneigt war. Als Justizsenatorin von Berlin hatte sie unmittelbar mit der jüngsten deutschen Vergangenheit zu tun. Und ihre Aufmerksamkeit galt überhaupt seit geraumer Zeit den juri­ stischen Knotenpunkten des modernen Lebenswandels. Man kann also rückblickend sagen: Hinter dem, was als „zufällig“ angesprochen wur­ de, steht eine verborgene Lebenslinie, die durch die Berufung ins höchstrichterliche Amt zum Vorschein kam. Wir können so etwas Ähnliches vielleicht auch in unserem eigenen Leben finden; z. B. war­ um wir aus Millionen von Möglichkeiten diesen einen Menschen fürs Leben wählten oder warum wir - wenn auch aus weniger, aber doch vie­ len Möglichkeiten - in diesen Beruf oder in diese Lebensaufgabe ka men. Wir nennen es das „Fiibningsziifiillige“, weil da vielleicht einiges hätte anders sein können und änderbar gewesen wäre; aber das meiste traf doch wohl mit solcher Notwendigkeit ein, daß wir - obwohl wir da und dort wählen konnten - rückblickend sagen müssen: Der, die, das Gewählte wurde gegeben, fiel uns zu, war Führung. Von wem auch immer das lassen wir noch offen. Damit nähern wir uns einer dritten Gruppe von Zufällen, die unser Leben am häufigsten bestimmen. Es kommt mir aber so vor, als sei da in unserer Sprache ein Zögern, offen davon zu sprechen, auf das wir ’

Kl IS/1 INAKc«NUN, futU Limb« h; in: LAZ-Mafta/m 44. Worbe 1994, 7Ci(>: t.t.

... Das kann i >ou i ni75, (>I.

I 18

... D as KANN IX)CI1 NICHT m.n,SS ZUFAIJ SPIN...

der Zulall eine Art von Ordnung“ darstelle" und fragen mit dem Er langer Kliniker Ludwig Demling „Wie zufällig ist der Zufall?“, dei auch mitteilt: „Die Neurowissenschaften haben noch an keiner Stelle aus dem Determinismus herausgefunden, ganz int Gegenteil, Bewußt sein und das Gefühl einer freien Entscheidung hinken den jeweiligen Hirnpotentialen hinterher Das berührt sich mit dem, was wir von eien Psychologen hören: Natürlich seien wir frei z. B. jetz.t aufzuste­ hen, weil ich immer noch beim Fragen bin und nach Hause zu gehen oder zu bleiben, weil vielleicht doch noch etwas Aufbauendes kommt •; natürlich seien wir frei, ein Haus zu bauen, ein Auto zu kaufen oder eine Reise anzutreten; aber dann fahren sie fort und bemerken, ob wir es tatsächlich tun oder unterlassen, resultiere nur aus einer relativen Freiheit; denn wir seien von der äußeren Situation abhängig, in die wir uns wie wir sagten - „zufällig“ hineinbegaben und von den Entscheidungsmöghehkeiten, che sie gewährt; und dann vor allem auch abhän­ gig von der inneren Situation, die sich aus unseren Anlagen, unserer Erziehung, unseren Werten und unseren Interessen zusammensetzt, die unsere Entscheidungen beeinflussen. Also sind wir doch unheimlich abhängig, gesteuert, stoßen dauernd auf Wände und bewegen uns frei nur in einem winzigen Raum? Wie groß ist dieser Raum? Es ist dann eine philosophische Frage, an der wir nicht vorüberge­ hen können. Das Schicksalszufällige wurde schon vom antiken Men­ schen als etwas äußerst Unangenehmes und Beklemmendes empfun­ den. Aristoteles schrieb in seiner „Metaphysik“: „Zufällig kam jemand nach Ägina, wenn er nicht deshalb hinkam, weil er wollte, sondern vom Sturm verschlagen oder von Räubern verschleppt“. Daß „wir Menschen ... nicht nur unsere - absichtsgeleiteten - Handlungen, son­ dern auch unsere Zufälle sind“*, ist für das Autonomiebedürfnis des modernen Menschen noch viel schwerer zu ertragen. Unter Autonomiebedürfnis - vielleicht das Hauptmerkmal des neuzeitlichen Men 6

l’Ait! D aVU-.s, Prinzip Chaos. Die nein' Ordiiuilj' des Kosmos. München 1988, 1I.t.

7

| unwic; I)l:.MI IN’;, Xiillrll, Chaos, freier Wille. Wie zulliilif; isi der /aü.ill? in: l orlsehrilte der Medizin 111. Üt'ht, 28:55-57.55.

tt

( ). Mac aiAI.it), a.a.C 1l'i

119

M

anfred

Si i t z

sehen - verstehen wir den erklärten Willen, sich seihst von innen heraus das Gesetz des Handelns zu geben oder wie Immanuel Kant formuliert, „daß der sittliche Mensch seinen Willen allein dem Sittengesetz der Vernunft unterordnet“'. In der entstellten Form der politischen Gruppe der ,rAutonomen“ heißt das, unabhängig von den geltenden Gesetzen selbst festzusetzen, was Recht und Unrecht ist. Oder gehobener gesagt: Autonomie bedeutet, das Geschaffensein des Menschen zu leugnen, ihn aus dem Gehorsamsverhältnis zu Gott herauszunehmen, sein Angeru­ fensein abzutun, souverän zu machen, was möglich ist und selbstbe­ stimmt zu leben bis hin zum neuerdings propagierten selbstbestimm­ ten Sterben. Dieses Programm ist mit der Zufallsbestimmtheit des menschlichen Lebens schlechterdings nicht zu vereinbaren. Daß unse­ ren Absichten und Plänen etwas Unvorhergesehenes, Unberechenbares dazwischenkommen kann, das weder gewollt noch gewünscht wird, seinerseits aber vielleicht sogar determiniert, vorausbestimmt ist, muß als die denkbar größte Störung erscheinen. Das ertrug schon Hegel nicht und verwahrte sich mit dem programmatischen Satz gegen die Zumutung des Zufälligen: „Die philosophische Betrachtung hat keine andere Absicht, als das Zufällige zu entfernen“. Ihm folgten viele: z. B. Jean Paul Sartre mit seiner Formel von der „Wahl, die wir sind“; das soll heißen: Wir Menschen sind durchgängig nicht unsere Zufälle, sondern wir sind ganz und gar nur unsere Wahl; oder tn.a.W. „Der Mensch ist - oder soll sein - ausschließlich das Wesen, dem nichts mehr widerfährt. Nichts Menschliches darf unbeabsichtigt, nichts Menschli dies darf ungewählt geschehen; nichts mehr darf dem Menschen zu­ stoßen“1". Mir ist es rätselhaft, wie man so an der Realität vorbeiphilo­ sophieren kann; aber es wird verständlich, seit man weiß, unter wel dien psychologischen Zwängen Sartre aufgrund seiner Lebensgeschich­ te existierte. Die Folgen dieser Selbstsetzung oder Absolutsetzung des Menschen sind greifbar und liegen auf der Hand. Sie bestehen in einer ungeheuren Überlastung des autonomen Menschen. Der voraufgeklärte, nach neuzeitlicher Meinung unmündige Mensch „mußte ... die ent­ scheidenden existentiellen Akte - Begründung der Wahrheit und der910 9

Brix kbaus - Enzyklopädie. Wiesbaden 1967, 2: 159.

10

zit. n. C). M akq UARI), a.a.O., 117. 119.

120

... D as kann doch nicht bloss Z ita li . sein..

Werte; Urteil über Gut und Böse; die Verfügung über die Welt; Füh­ rung des Schicksals usw. - einem absoluten Wesen überlassen. Nun er mündig geworden ist, nimmt er diese Befugnis an sich und bestimmt sein Dasein selbst“". Wo man sich - modern - nicht mehr darauf ver­ lassen mag, daß die Teilhabe an Gott dem Menschen Absolutheit (Freiheit) - zufallsfreies und absolut (gelöst) richtiges Leben - garantiert ... auch weil Gott als mäßigende Größe philosophisch zunehmend aus­ fällt ... muß die Absolutmachung des Menschen zunehmend auf den Menschen selbst gegründet werden Er ist nun für alles verantwort­ lich, auch für die Übel der Welt, den Inbegriff des Zweckwidrigen, für die früher Gott verantwortlich war. Wenn etwas passiert, heißt es im­ mer wieder „menschliches Versagen“; selbst bei Naturkatastrophen und Erdbeben landet man schließlich bei diesem Befund. Er findet sich vor in einem Netz von Vorschriften und Gesetzen, die sein gefährdetes Le­ ben regeln müssen, das sich immer mehr zuzieht und ihn zum Gefan­ genen seiner eigenen Schöpfungen macht. „Freier Stau für freie Bürger ‘, die Freiheit, zufällig im Stau zu stehen, heißt der ironische Titel eines vor kurzem erschienenen verkehrspolitischen Buches". Er ist überan­ strengt in seinem innersten Kern und wird mit seinen Erzeugnissen und Errungenschaften nicht mehr fertig. Die Selbstbestimmtheit und Zufallsunabhängigkeit, die er meinte, schlug um in eine Vergitterung der Welt. Wir Menschen sirnl nicht unsere Wald. Das ist der Irrtum der Zufallsentferner von Hegel bis heute. Wir wählen unser Leben nicht, jedenfalls überwiegend nicht. Es ist gegeben und zwar als befristet, end­ lich und begrenzt. Lind ein letztes Mal Odo Marquard: „Für die abso­ lute Wald ist das Menschenleben zu kurz; ganz elementar: die Men­ schen haben einfach nicht genug Zeit, das, was sie - zufälligerweise schon sind, absolut zu wählen oder abzuwählen...“H. Gegen das Pro­ gramm von der „Wahl, die wir sind“, steht unsere sterblichkeitsgepräg11

R o m a n G l IA R D IN I, Hthik. Vorlesungen an der Universität München. Band 2. (1 lg. H a ns Mercker). Mainz/Paderborn 1993, 999.

12

O.

l.i

"Freier Stau für freie Bürger". Die Geschichte der bundesdeutse Verkehrspolitik 1949-1994. Darmstadt 1995.

14

C). M arquard , a.a.O., 121.

M

arquard,

D IETM AR K

a.a.O., 121.

if .NKE,

MAN i RHI) Si I I/

te Wirklichkeit. Wer waltet über sie? Damit stehen wir vor der theolo­ gischen Frage. Ich habe die theologische Frage noch nicht ausdrücklich gestellt. Unausdrücklich war sie immer da und lief mit, sozusagen bedingt durch die Natur der Sache. Ich rufe Ihnen die Stellen, an denen sie vorkam, schnell in Erinnerung. Im Bereich des „Bc/ii’/ngl-eih/.n/n/ligcn“, in dem, was auch anders sein könnte und durch uns änderbar ist, er­ schien ein Stück menschlicher Freiheit; ist der Raum, in dem wir uns bewegen und verantwortlich handeln können nach Gottes Willen viel­ leicht doch größer, als die Wissenschaf teil wahrhaben wollten? Im Be­ reich des „Fiilinnigszußilligen“, in dein wir da und dort wählen konnten, rückblickend aber das Gewählte als das Gegebene erkennen mußten, war es die Frage nach der Führung, von Rainer Maria Rilke unüber­ bietbar schön gefaßt: „Auf welches Instrument sind wir gespannt / und welcher Spieler hat uns in der Hand?“ Im Bereich des „Si/urksn/s/njal/i gen“, in dem, was auch anders sein könnte, aber durch uns nicht än­ derbar ist, war es der Gedanke eines überwirklichen Waltens: Sind wir ihm machtlos unterworfen? Zusammengefaßt und ausdrücklich lautet dann die theologische Frage: Ist Gott der Herr der Zufälle, der unab­ wendbar auf uns zukommenden Ereignisse, die wir nicht erklären, nur erleiden können? Und wenn er es ist, wie ist das, was uns Menschen als hast, Lebenserschwerung und Leid unberechenbar zufällt, mit der l iebe Gottes zu vereinbaren? Oder ganz einfach mit Hiob 7,20 gesprochen: „Warum machst du mich zum Ziel deiner Anläufe?“ Ich muß hier ein retardierendes Moment einschalten und den Ver such einer Antwort verzögern. Vielleicht kennen Sie die Hiob Erzählung so weit, daß Sie wissen: Die gescheiten Verteidigungsreden Gottes seiner drei Freunde überzeugten Hiob in keiner Weise; er wei­ gerte sich, ihren Trost anzunehmen, weil er ihn als mit der Wirklich keil nicht übereinstimmend empfand. Eine Lösung für das Problem des Verhältnisses von menschlichem Schicksal und Gottes fürsorgli ehern Sein bietet das Hiob-Buch nicht. Ich werde Ihnen deshalb auch keine Theodizee vortragen und nic ht versuchen, Gott zu verteidigen, so sehr ich mich vor Ihnen bemühe, Theologie auch für die ernstnehmbar

122

.. D as

kann i x >c:i i nici it bi.Sl ' i /

len haben, weiterginge und worüber eine Fortsetzung der Vorlesung zu handeln hatte. Sie hätte I) über die Freiheit zu sprechen. Es ist damit zu rechnen, daß es den Human - und Naturwissenschaften gelingt, nachzuweisen, daß unsere Willensfreiheit nur eine scheinbare und lückenlos determi­ nierte ist. Im Gegensatz dazu steht, daß wir „aneinander handelnde, untereinander leidende und darin verantwortliche Menschen“ sind und uns auch so erfahren. „Keiner der beiden Aspekte kann logisch mit dem anderen verrechnet werden, auf dem „Bildschirm“ des einen tritt der je andere nicht in Erscheinung. Und doch gehören beide zusam­ men, wenn vom wirklichen Menschen die Rede sein soll. Auch die re formatorische Theologie hat nie bestritten, daß es „eine Freiheit ... zum Tun von Gutem im Sinne eines vernünftig geordneten irdischen Le­ bens und Zusammenlebens (iustitia civilis)“ gibt1“ Sie hätte 2) über die Führung zu sprechen. Auch da, wo es kein Mensch mehr annehmen kann, behält Gott alle Fäden in der I Lind. In tiefer Weltlichkeit verborgen durchwirkt er alle Bereiche des Gesche­ hens, auch die Sünden, ohne den Zusammenhang des menschlichen Tuns zu stören. Er macht die Planungen des Menschenherzens seinen Zielen dienstbar, ohne sie zu entschuldigen oder zu hemmen. Dabei bleibt das Wie dieses Ineinanders Geheimnis, das nicht gelüftet wird. Fs genügt, daß es von Gott gewolltes und gelenktes Geschehen ist: Füll rung wie in der klassischen Führungserzählung der Josephsgeschichte (Gen. B7-.S0) -, die in Obhut nimmt und ans Ziel geleitet. „Er ist es, dei uns führt“ (Ps. 48, 15). Sie hätte 3) über die Vorsehung oder die providentia Dei zu spre­ ellen, eines der schwierigsten Themen der Theologie. „Vorsehung“ wäre ganz falsch oder mindestens sehr einseitig verstanden, wenn man wie es meistens geschieht - heraushört, daß Gott alles vorhersieht und im Grunde dadurch den Menschen so festlegt, daß er gar nicht mehr an­ ders handeln kann, als es seine Vorhersicht bestimmt. Das wäre Prävi 18

Wll l-Kltu> |> il.si, Ilojciii.itik. Bei. 2.. Oer Weg (Rittes mit dein Mcnsclicn 19X6, .W). 861.

126

.. D as KANN

DOCH

NICHT Blx )SS ZlH'Al I SEIN...

denz. Providenz ist ihrem Wesen nach fürsorglich gemeint; sie be­ zeichnet das, was Gott vorsieht, daß wir unser Leben in Freiheit sinn­ voll und heilvoll gestalten, ihm begegnen und uns vertrauensvoll auf ihn verlassen könne, um gerettet zu werden. Aber - wir kehren zum Freiheitsproblem zurück - der Mensch hat die Potenz, nein zu sagen, bitte Choralzeile, mit der wir schließen, bittet um das ,,(a“, „damit, was immer sich zutrag,/ wir stehn im Glauben bis ans End/ und bleiben von dir ungetrennt“ (EG 440/1).