Selbstkonstitution und Gotteserfahrung: W. Elerts Deutung der neuzeitlichen Subjektivität im Kontext der Erlanger Theologie. Studien zur Erlanger Theologie 2 9783666562938, 3525562934, 9783525562932

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Selbstkonstitution und Gotteserfahrung: W. Elerts Deutung der neuzeitlichen Subjektivität im Kontext der Erlanger Theologie. Studien zur Erlanger Theologie 2
 9783666562938, 3525562934, 9783525562932

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VSR

NOTGER SLENCZKA

Selbstkonstitution und Gotteserfahrung W. Elerts Deutung der neuzeitlichen Subjektivität im Kontext der Erlanger Theologie Studien zur Erlanger Theologie II

VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN

Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie Herausgegeben von Wolfhart Pannenberg und Reinhard Slenczka Band 86

Die Deutsche Bibliothek -

CIP-Einheitsaufnahme

Slenczka, Notger: Studien zur Erlanger Theologie / Notger Slenczka. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht Zugl.: Göttingen, Univ., Habil.-Schr., 1997 2. Selbstkonstitution und Gotteserfahrung: W. Elerts Deutung der neuzeitlichen Subjektivität im Kontext der Erlanger Theologie. - 1999 (Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie; Bd. 86) ISBN 3-525-56293-4

Für die Drucklegung überarbeiteter zweiter Teil der Habilitationsschrift des Autors, Evangelisch-theologische Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen 1997. Der erste Teil erschien als Der Glaube und sein Grund, F.H.R. von Frank, seine Auseinandersetzung mit A. Ritsehl und die Fortfuhrung seines Programms durch L. Ihmels. - Studien zur Erlanger Theologie I (FSÖTh 85) 1998. Gedruckt mit Unterstützung der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers und der Vereinigten Ev.-luth. Kirche Deutschlands auf alterungsbeständigem Papier.

© 1999 Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. Printed in Germany. - Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Satz: Schwarz auf Weiß, Hannover. Druck- und Bindearbeiten: Hubert & Co., Göttingen.

Vorwort Die vorliegende Arbeit ist der zweite Teil einer Arbeit, die 1997 unter dem Titel ,Der Glaube und sein Grund. F.H.R. v. Frank, L. Ihmels, W. Eiert Studien zur Erlanger Theologie' von der Göttinger Theologischen Fakultät als Habilitationsschrift angenommen wurde. Der erste Teil erschien als Band 85 der .Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie' (Der Glaube und sein Grund. F.H.R. von Frank, seine Auseinandersetzung mit A. Ritsehl und die Fortführung seines Programms durch L. Ihmels - Studien zur Erlanger Theologie I). Ich mache auf eine gerade erschienene Studie zum Gottesbegriff Elerts aufmerksam, die hier nicht mehr berücksichtigt werden konnte: Th. Gerlach, Verborgener Gott - Dreieiniger Gott. Ein Koordinationsproblem lutherischer Gotteslehre bei Werner Eiert, EHS XXIII, 639, Frankfurt am Main/ Bern 1998. Dasselbe gilt für die jüngste Studie zum Verhältnis Elerts zum Nationalsozialismus: B. Hamm, Werner Eiert als Kriegstheologe, in: KZG 11 (1998) 2 0 6 - 2 5 4 . Ich verweise angesichts dieses Textes ausdrücklich auf meine ,retractatio': 227 204 . Den im Vorwort zu jenem ersten Teil ausgesprochenen Dank an meine theologischen Lehrer und Gutachter im Habilitationsverfahren — Herrn Professor Dr. Jörg Baur, Herrn Professor Dr. Joachim Ringleben und Herrn Professor Dr. Dietz Lange - , an die Herausgeber der Reihe — Herrn Professor Dr. Dr. he. mult. Wolfhart Pannenberg und meinen Vater, Herrn Professor Dr. Reinhard Slenczka - , an den Verlag - insbesondere an Frau Dr. Reinhilde Ruprecht und Frau Renate Hartog — und an den Bearbeiter der Disketten für den Druck - Herrn Andreas Schneider - kann ich hier nur ebenso unterstreichen wie den Dank an meine Frau, meine Familie und meine Freunde. Ich ergänze diese Danksagung um den Dank fur die großzügige Förderung der Drucklegung durch namhafte Zuschüsse der Hannoverschen Landeskirche und der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche in Deutschland. Weil ich gerade bei der Beschäftigung mit Eiert nicht nur von seinen Stärken, sondern auch in der - zuweilen verärgerten - Auseinandersetzung mit dem Unvollkommenen seines Werkes gelernt habe, hoffe ich, daß auch mein Text in derselben Weise als Anregung für künftige Arbeiten zu diesem Thema dient (Aristoteles, Met A el. 1, 993 b 11-16).

Die in den Anmerkungen zitierte Literatur ist zumeist durch den Verfassernamen und ein Titelkürzel (im allgemeinen das erste Substantiv im Nominativ) gekennzeichnet. Im Literaturverzeichnis sind die Bestandteile des Kürzels kursiviert, so daß eine rasche Identifizierung der jeweiligen Veröffentlichung gewährleistet ist. Hervorhebungen in Zitaten finden sich - sofern nicht anders gekennzeichnet - im Original. Durch [eckige Klammern] begrenzte Passagen in Zitaten sind durchweg eigene erläuternde Zufügungen; alle übrigen Klammerungen entsprechen dem Original.

Corrigenda zu Teil I der Studien S. 280, Zeile 1: statt,Eiert' lies: ,Ihmels'. Literaturverzeichnis: 325, Zeile 12: statt ,ders.' lies: Beyschlag, K. 328, Zeile 5 von unten: statt ,ders.' lies: Hirsch, E.

Inhalt Einleitung

15

1. Eiert und die Erlanger Theologie

15

2. Anliegen und Aufbau der Arbeit

20

A. Die Funktion des Gesetzesbegriffes bei Eiert

23

1. Zur Darstellung des Problems 1.1. Vorgriff: die ,Realdialektik' von Gesetz und Evangelium 1.2. Das Gesetz bzw. die Beschreibung der Erfahrung des Zornes Gottes als spätes Thema bei Eiert 1.3. Das Problem: Die Einfügung der Gesetzesproblematik in eine im wesentlichen unveränderte Theologie

25 25

2. Genese und Sinn der Aufnahme des Gesetzesbegriffes 2.1. Die Veröffentlichungen und das zentrale Anliegen Elerts in der Frühphase 2.2. Das unlösbare Problem

32

2.2.1.

Das Problem des .Naturalismus'

2.2.2.

Das Problem als Grundthema der frühen Veröffentlichungen Elerts

2.3. Elerts neue Lösung in der Schrift ,Der Kampf um das Christentum'

26 30

32 35 35 37

41

2.3.1.

Das Programm der Schrift

42

2.3.2.

Der Einfluß Spenglers

44

2.3.3.

Der Gewinn der Spengler-Rezeption

49

2.4. Die Aufnahme der Erfahrung des Zornes Gottes 3. Folgerungen für den Gesetzesbegriff bzw. die Funktion der Thematisierung der Erfahrung Gottes extra Christum 3.1. Die Funktion des Gesetzesbegriffes 3.2. Verifikation

50

53 53 56

3.2.1.

Referat einer Manifestation der erreichten Position

56

3.2.2.

Zusammenfassende Auswertung

60

8

Inhalt

4. Das Zentrum der Beschreibung der .Erfahrung extra Christum' 61 4.1. Das Problem der Uneinheitlichkeit der Darstellungen 61 4.2. Die Willensproblematik als Zentrallinie des Elertschen Werkes .. 63 4.2.1.

Die Böhme-Schrift ( 1 9 1 3 )

64

4.2.2.

Das christologische Spätwerk (1954)

65

4.2.3.

Die Schrift zur Russischen Religionsphilosophie (1925)

67

4.3. Der Gegensatz zweier Willen als das Zentralphänomen der Passagen zur Situation des Menschen extra Christum

69

5. Zusammenfassung

71

B. Evangelium und Dogma

74

1. Theologische Lehre und christliche Erfahrung in der Frühzeit Elerts (1912 und 1920) 1.1. Lehre und Erfahrung in der religionspsychologischen Schrift von 1912 1.2. Lehre und Erfahrung in ,Dogma, Ethos, Pathos' von 1920

75 76 79

1.2.1.

Die Bestimmung des ,Pathos'

79

1.2.2.

Das Verhältnis von Evangelium und Dogma

82

1.2.3.

Zusammenfassung

1.3. Die Vorgängigkeit des Glaubensgrundes 2. Die ausgearbeitete Bestimmung von Erfahrung und Dogma nach ,Die Lehre des Luthertums im Abriß' (1924/26) 2.1. Die Zielrichtung des Gedankens 2.1.1.

Der Rahmen

2.1.2.

Der Hauptteil des Textes

2.2. Glaube und Dogma 2.2.1. 2.2.2.

Gegenpositionen

88 90

92 92 93

Detailanalyse I: Der Glaube als extern vermitteltes Selbstverhältnis

2.2.4.

88 88

Der notwendige Zusammenhang von Dogma und Glaube die Grundposition

2.2.3.

85

86

94

Detailanalyse II: Die Notwendigkeit des Dogmas als Rechenschaftslegung vom Glauben

2.3. Zusammenfassung

98

102

Inhalt

3. D i e K o n t i n u i t ä t des D e n k e n s Elerts

9

104

3.1. Die Rückbezüge zur Schrift über die Religionspsychologie (1912)

104

3.1.1. Analyse

104

3.1.2.

106

Bezug zur Erlanger Tradition

3.2. D i e Lehre des L u t h e r t u m s im A b r i ß

107

3.2.1.

Transzendentalität und Transzendenz des Geistes

107

3.2.2.

Die Korrelation von Glaube und ,Glaubensgegenstand'

112

3.3. Die Vorgriffe auf die D o g m a t i k (1940)

113

3.3.1.

Dogma und Kerygma

113

3.3.2.

Die Methode der Dogmatik

116

3.3.3.

Das,Erstarrungsgesetz des Protestantismus'

120

3.4. Erlanger Theologie

122

3.5. D e r O r t der Begegnung m i t Christus

122

4. Z u s a m m e n f a s s u n g

126

C . Die Wahrheit der neuzeitlichen Subjektivität

128

1. Das Konzept einer .Morphologie des L u t h e r t u m s ' 1.1. D e r B e g r i f f , M o r p h o l o g i e ' 1.1.1.

Die Absicht des Werkes

1.1.2.

Spenglers Verständnis einer .Morphologie'

1.1.3. Vergleich mit Goethe 1.2. Die B e s t i m m u n g der .konfessionellen D y n a m i s '

129 129 129 131 133 139

1.2.1.

Das religiöse Erlebnis

139

1.2.2.

Das Evangelium als Dynamis

141

1.2.3.

Glaube und Christus. Zum Aufbau von Kapitel 2

146

1.3. D i e Rolle der .natürlichen Theologie' 1.3.1.

Die Logik der Geschichte der lutherischen Kultur

1.3.2.

Die .natürliche Theologie' als Depravation des .Evangelischen Ansatzes'

1.3.3. Erlanger Theologie 2. Subjektivität zwischen S ü n d e u n d Versöhnung

148 148 150 151 153

2.1. D e r H i n t e r g r u n d der V e r w e n d u n g der U n t e r s c h e i d u n g von .empirischem' u n d .transzendentalem' Ich in der M o r p h o l o g i e . 154 2.1.1.

Das Auftreten der Unterscheidung von .transzendentalem' und .empirischem' Ich

154

2.1.2.

Die Unterscheidung in der Schrift zur Religionspsychologie

155

2.1.3.

Die Unterscheidung in der Böhme-Studie

161

10

Inhalt 2.1.4.

Zusammenfassung

2.1.5. Verifikation durch die Schrift zur russischen Religionsphilosophie 2.2. Der Zusammenhang der Rede vom transzendentalen Ich mit dem Begriff eines ,punctum mathematicum' als Ausdruck des Zusammenhangs von Gesetz und Evangelium

166 167

170

2.2.1.

.Punctum mathematicum' und transzendentales Ich'

170

2.2.2.

,Unter dem Zorne Gottes'. Der Aufbau des Kapitels

171

2.2.3. 2.2.4.

,Das Urerlebnis'- Grundstruktur Das Grauen und die Transzendenz

172 175

2.2.5. Transzendenz 2.2.6. Zuordnung der Rede vom .punctum mathematicum': Ausdruck der Totalität der Verlorenheit Das .punctum mathematicum' und der menschliche Autonomieanspruch 2.2.8. Das Thema des göttlichen Gebietens: Die Sünde als Autonomieanspruch

177 179

2.2.7.

183 186

2.2.9. Der Zusammenhang zur Rede vom .punctum mathematicum' . 190 2.2.10. Reduktion auf das .punctum mathematicum'und der Tod 192 2.2.11. Die Neuzeitkritik 194 2.3. Das .transzendentale Ich' Das .transzendentale Ich' als Instanz des .... absque operibus legis' 2.3.2. Transzendentales Ich und die imputative Rechtfertigung

196

2.3.1.

2.3.3. Der Glaube und das .transzendentale Ich' 2.3.4. Christus als Bedingung der Möglichkeit des .transzendentalen Ich' 2.3.5. 2.3.6.

196 199 202 204

Das .tranzendentale Ich' als Instanz der Rezeptivität Das Christusgeschehen als Grund der Vermittlung zwischen Gottes Zorn und Gottes Liebe bzw. zwischen dem negativen und dem positiven Sinn des .transzendentalen Ich'

206

2.3.7. Zusammenfassung 2.4. Zusammenfassung: Die These über den ursprünglichen Sinn der neuzeitlichen Subjektivität

215

3. Transzendentalität und Transzendenz 3.1. Der Begriff der Transzendenz 3.2. Luther und die Neuzeit 3.2.1. Luthers Urerlebnis in den Termini von Kausalität und Freiheit . 3.2.2. Kants 3. Antinomie als Gestalt der Präsenz des Urerlebnisses.... 3.2.3. Luther und die deutsche Philosophiegeschichte

209

216 217 217 219 220 221 226

Inhalt

11

3.3. D e r Ü b e r g a n g zur Transzendenz

228

3.3.1.

Die Behauptung einer notwendigen Verbindung der Antithetik von Notwendigkeit und Freiheit zum Gottesgedanken

229

3.3.2.

Kants,Flucht' vor dem Deus absconditus

230

3.3.3.

Das Evangelium als Instanz der Einführung einer

3.3.4.

Das Evangelium als Erkenntnisgrund der Antithetik von

.Transzendenz' Schicksal und Freiheit als von Gott gesetzter 3.3.5.

235 238

Die Deutung der natürlichen Situation als hermeneutische Brücke des Evangeliums

4. Z u s a m m e n f a s s u n g 4.1. Die M o r p h o l o g i e im Kontext der Erlanger Theologie 4.1.1.

Zusammenfassung der erreichten Position

4.1.2.

Einordnung in die Erlanger Tradition

4.2. Die Grenzen der Position D . D e r christliche G l a u b e

239 244 244 244 246 250 254

1. D e r A u f b a u der D o g m a t i k u n d seine theologischen Implikationen... 2 5 6 1.1. D i e D o g m a t i k als Darstellung der Begegnung des Evangeliums mit d e m natürlichem Selbstverständnis

256

1.1.1.

256

1.1.2. 1.1.3.

Der Aufbau der Dogmatik Der Einsatz mit dem Selbstverständnis des Menschen ,extra Christum'

257

Die .Grundsituation'der Dogmatik

258

1.2. D i e zirkuläre Struktur der D o g m a t i k

259

1.2.1.

Natürliche und christologisch vermittelte Gotteserkenntnis

259

1.2.2.

Die Grundstruktur der Elertschen Dogmatik

261

1.3. Die Christologie als das organisierende Z e n t r u m der Dogmatik

262

1.4. D e r Ausgangspunkt der D o g m a t i k

263

1.5. Z u s a m m e n f a s s u n g

265

2. Gesetz u n d Evangelium. D i e Prolegomena der D o g m a t i k

266

2.1. Gesetz u n d Evangelium als Instanzen der unmittelbaren Begegnung m i t G o t t

266

2.1.1.

Die Identifikation des Abschnitt 2. als .Prolegomena'

266

2.1.2.

Die Intention der Passage zu Gesetz und Evangelium

266

2.1.3.

Glaube und Glaubensgrund

268

2.2. Evangelium u n d G l a u b e 2.2.1.

Der Aufbau des Kapitel IV

270 270

12

Inhalt

2.2.2.

Die Bestimmung des Verhältnisses von Subjektivität und Glaubensgegenstand als Ziel des § 20

2.2.3.

Die Bezüge zur Erlanger Tradition

2.3. Die Begründung des Glaubens in seinem ,Gegenstand' 2.3.1.

Der erste Gedankengang

2.3.2.

Der zweite Gedankengang: Die Auseinandersetzung mit

2.3.3.

Der Existenzwandel als das Zentrum der Antithetik von

Ritsehl Gesetz und Evangelium

2.4. Glaube als Anerkennung und als Herrschaftswechsel

271 273

274 274 280 284

286

3. Die Bedeutung des Glaubens: Bedingung der Erkenntnis und passive Konstitution 3.1. Evangelium und Glaube 3.2. Der Begründungszirkel 3.3. Der Grund für den Zirkel 3.4. Die Zuordnung der Definition des Verhältnisses von Glaube und Evangelium in § 20 3.5. Die weiterführende Frage

291 292

4. Die Lehre von der Rechtfertigung 4.1. Christologie und Rechtfertigungslehre

292 293

4.1.1.

288 288 289 290

Der Zusammenhang als Entsprechung zum Zusammenhang der §§ 18-20

293

4.1.2. Aufbau und Intention der Christologie

294

4.1.3.

,Christologie von unten'

295

4.1.4.

Die Rekonstruktion des Dogma

298

4.2. Die Lehre von der Rechtfertigung (§ 83)

299

4.2.1.

Rechtfertigung und Versöhnung

300

4.2.2.

Die Bestimmung der Rechtfertigung als Existenzwandel

302

4.3. Zusammenfassung 5. Zwei-Naturen-Lehre und Deus absconditus 5.1. Die Lehre von den zwei Naturen bei Eiert

312 314 314

5.1.1.

Der Sinn der Zwei-Naturen-Lehre

314

5.1.2.

Die Rekonstruktion Elerts

315

5.2. Der Sinn des Gottesbegriffes 5.2.1.

Noch einmal Ritsehl

5.2.2. Was heißt ,Gott'?

325 325 326

Inhalt 5.3. Zusammenfassung 5.3.1. Die Interpretation und ihre Implikationen 5.3.2. Das Verhältnis zur Selbstdeutung Elerts 6. Ertrag 6.1. Zusammenfassung 6.2. Auswertung 6.2.1. Gott in Gesetz und Evangelium 6.2.2. Der Zusammenhang zu Elerts apologetischem Programm 6.2.3. Die subjektivitätstheoretische Intention: Gott als Grund des Subjekts 6.3. Verhältnis zur Morphologie

13 332 332 333 335 335 336 336 337 339 339

E. Zusammenfassung

341

Schluß

343

1. Die Einheit der Erlanger Tradition bis hin zu Eiert 1.1. Frank 1.2. Ihmels 1.3. Eiert 2. Der Entwicklungsgang der Erlanger Tradition in den Positionen 2.1. Frank 2.2. Ihmels 2.3. Hunzinger 2.4. Eiert 3. Zur Auseinandersetzung mit dem neuzeitlichen Verständnis der Subjektivität 3.1. Frank 3.2. Eiert 3.3. Fazit

343 343 344 345 346 346 347 348 348

Literatur

355

350 350 351 353

Einleitung 1. Eiert und die Erlanger Theologie. Ein Einfluß der Erlanger Theologie des vergangenen Jahrhunderts auf die Position Werner Elerts ist häufig behauptet worden; selten aber wurde der Versuch unternommen, Elerts Theologie aus dem Zusammenhang mit dieser Tradition heraus tatsächlich auch zu interpretieren.1 Mehr noch: In vielen Darstellungen werden derartige Zusammenhänge erwähnt, Eiert aber dann als gleichsam isoliertes Phänomen, als erratischer Block in der theologischen Landschaft des 20. Jahrhunderts wahrgenommen und zumeist als Gegenpol zu den Positionen, die sich als wirkmächtiger als Eiert herausgestellt haben, interpretiert: Im Zentrum des Interesses steht damit seine Lehre von Gesetz und Evangelium einerseits und sein scharfer Widerpruch gegen die Theologie Barths - namentlich gegen dessen Zuordnung von Evangelium und Gesetz - andererseits.2 Ein zweites Interesse gilt der Haltung Elerts im Kirchenkampf und seiner Rolle als treibender Kraft hinter dem Ansbacher Ratschlag'.3 Die Gründe dafür, daß Eiert zumeist als isolierte Figur wahrgenommen wird, liegen sicher einerseits an der Schärfe der Polemik, die nicht nur in seinem Werk auffällt, sondern auch in Erinnerungen an den persönlichen Umgang mit ihm immer wieder benannt wird4 - es handelt sich offenbar um 1 Hinweise auf den Einfluß: Th. Harnacks Lutherdarstellung für die Antithetik von Gesetz und Evangelium: Hauber, Zorn 119; Hauber, Eiert 122; Eyjolfsson, Rechtfertigung 16f; Bayer, Theologie 287; Keller-Hüschemenger 99-101; Beyschlag, Theologie l49f, bes. 149-151; Kaufmann, Eiert 199f; Kantzenbach, ihmels 104f; Beyschlag, Eiert 12f; Peters, Heimsuchung 258; Meier, Kulturkrise 296f. Das Werk, das sehr weitgehend Einflüsse der Erlanger Tradition auf Eiert identifiziert, ist das hervorragende opus des katholischen Theologen Langemeyer: Gesetz, bes. 13-26, bes. 18f; 21-23 - merkwürdigerweise nicht 54-57; 65f. 2 Vgl. die Darstellungen unter dem Vorzeichen dieses Topos: Kroetke, Gesetz; Duensing, Gesetz; Langemeyer, Gesetz (dazu aber Anm. 25); zur Auseinandersetzung mit Barth: Thiemann, Conflict; Owen, Mensch. Verweise auf den Zusammenhang mit der Tradition der Erlanger Theologie etwa bei: Owen, Mensch I, 33ff; Langemeyer pss. Lediglich Kaufmann (Eiert) und vor ihm Kantzenbach (Evangelium 242fF) haben einen Zugang zu Eiert als Kirchenhistoriker bzw. Dogmengeschichtler gefunden. 3 Etwa: Hamm, Schuld; Eyjolfsson, Rechtfertigung 23-35; Meier, Kirchenkampf 1,193f und ff; Scholder, Kirchen II, 208ff; Kaufmann, Eiert 240-242. 4 v. Loewenich, Theologie 117-122, bes. 120f; Trillhaas, Theologie 42f; vgl. im Werk Elerts etwa die beständige Auseinandersetzung mit Troeltsch in der Morphologie, unter der Eiert die Nähe seiner Lutherdeutung zu der Troeltschs - bewußt oder unbewußt - verdeckt (unten S. 141145; zur Form: Morph. I, 357); vgl. die Auseinandersetzung mit Barth, die in hohem Maße unsachlich ist und zuweilen den Unwillen verrät, die Gegenposition überhaupt zur Kenntnis zu nehmen (Gesetz 53 - dazu unten S. 270Ρ"; vgl. Index); dazu auch Thiemann, Conflict 178; vgl. auch die Auseinandersetzung mit Ritsehl (Glaube 157). Dazu auch Brunner, Kritisches 59f.

16

Einleitung

einen Theologen, der den Gegensatz sucht und eben dann auch wesentlich als Gegenpol eingeordnet wird. Damit geht ein weiteres Charakteristikum einher: Eiert selbst verhält sich eigentümlich spröde gegenüber den großen Fragestellungen, die seine theologischen Zeitgenossen bewegten. Es ist bereits von Ratschow vermerkt worden, daß Elerts Ausführungen zum Problem der Geschichtlichkeit Jesu in seiner Dogmatik jede tiefere Vertrautheit mit der Problematik kritischer Exegese oder der Problematik der Rückfrage nach dem ,historischen Jesus' vermissen lassen.5 Auch in die theologischen Auseinandersetzungen um die dialektische Theologie' greift Eiert nicht bzw. erst im Rahmen des Kirchenkampfes ein: In Veröffentlichungen der 20er Jahre erfolgt zuweilen ein Seitenblick auf Repräsentanten und Theologumena der ,Theologie der Krise';6 Eiert, der ein dem Barthschen Gegensatz gegen den theologischen Liberalismus verwandtes Programm vertritt, sucht aber mit seinem spätestens seit 1920 formulierten scharfen Einspruch gegen jeden Versuch, die Inhalte des Christentums mit dem allgemeinen Wahrheitsbewußtsein zu vermitteln und so zu begründen, 7 weder zu Beginn der 20er Jahre noch im Laufe der späteren Entwicklung der eigenen Theologie — auch nicht angesichts der Spaltung der ,Dialektischen Theologie' - Bundesgenossen unter diesen Theologen. In seiner Theologiegeschichte (,Der Kampf um das Christentum', 1921) finden zwar die jüngeren Vertreter der Erlanger Theologie bis hin zu Jelke Erwähnung; Barth, Thurneysen, Gogarten und Brunner werden mit Schweigen übergangen, wiewohl sie zu dieser Zeit bereits aufsehenerregende Texte veröffentlicht hatten, 8 die als Indikatoren der von Eiert projektierten neuen Verselbständigung der Theologie (Kampf 469ff) auch dann in Anspruch hätten genommen werden können, wenn diese Verselbständigung andere Wege geht als die Elerts.9 Man hat aber bereits hier den Eindruck, daß Eiert dieser Neuorientierung eigentlich nicht zu bedürfen glaubt, sondern die im Rahmen der Erlanger Theologie vollzogene und in der Schrift ,Der Kampf um das Christentum' ausführlich

5

Vgl. Ratschow, Christus 65ff; Owen, Mensch I, 59ff; vgl. auch Hauber, Christologie 137. Etwa im Aufsatz über die Transzendenz Gottes: Transzendenz 521f - dort werden Barth, Brunner und Gogarten neben Schaeder und Girgensohn als Repräsentanten eines theologischen Neueinsatzes genannt, in dem Gott als Voraussetzung des Glaubens bzw. der Schriftauslegung zur Geltung komme, und zwar Gott als der ,ganz Andre' (522). 7 Eiert, Irrwege; ders., Kampf - vgl. dazu unten A, 2.3. 8 Zur Zeit des Erscheinens des .Kampf um das Christentum' erschien Barths Römerbrief gerade in zweiter Auflage - das 1919 erstmals veröffentliche Werk hätte Eiert eigentlich ebenso zur Kenntnis nehmen können wie Gogartens .Zwischen den Zeiten' (1920) und Bultmanns .Religion und Kultur' - zumal er Literatur bis 1921 berücksichtigt (vgl. [jeweils die Literaturangaben in den Anm.] Kampf 447 - Stephan 1921! vgl. 461 [Ihmels, Girgensohn]; Lit. von 1920: 447 [Heim]; 453 [Vollrath]; 1919: 425; 435; 447). Selbst wenn man berücksichtigt, daß die Titel von 1921 spätere Auflagen bereits veröffentlichter Werke sind, sind doch die Verweise auf Literatur von 1920 Zitate von Erstveröffentlichungen. 9 Allenfalls könnte man den Passus zur Kierkegaard-Renaissance als eine ferne Anspielung auf die frühe Dialektische Theologie verstehen - Kampf 431-434. 6

Eiert und die Erlanger Theologie

17

beschriebene Diastasierung von Kultur und Christentum bereits als Realisierung dieses Programms betrachtet. 10 Man könnte dies noch als einen zufälligen blinden Fleck in der Literaturrezeption oder eine Fehleinschätzung unscheinbarer Anfänge verzeichnen aber es bleibt bei diesem Schweigen. Die Rezeption der Dialektischen oder der Barthschen Theologie vollzieht sich - von wenigen Andeutungen abgesehen — spät und dann ausschließlich im Widerspruch. 11 Bereits P. Brunner hatte beim Erscheinen der ersten Auflage der Dogmatik Elerts seinem Befremden darüber Ausdruck verliehen, daß Eiert theologische Verwandtschaften zu Barth und den dialektischen Theologen nicht differenziert wahrzunehmen in der Lage sei12 - verwunderlich in der Tat im Rahmen einer Dogmatik, die selbst den Widerspruch gegen jede natürliche Theologie als ihr Zentrum betrachtet, die ausschließlich christozentrisch von Gott zu reden beabsichtigt und dies eben nicht als eine 1940 neugewonnene Position vertritt.13 Auch hinsichtlich der von Eiert trotzdem vertretenen Notwendigkeit einer theologischen Rezeption des .natürlichen' Selbstverständnisses des Menschen sucht Eiert keinen Kontakt zu den über genau dieser Frage mit Barth zerfallenen Vertretern der Dialektischen Theologie 14 , die in seiner Dogmatik lediglich in Gestalt von Literaturverweisen vorkommen. Dieses Faktum ist mit konfessionellen Ressentiments nicht zu erklären, auch nicht mit politischen Vorbehalten - denn auch Gogarten erfährt in dieser Hinsicht keine andere Behandlung als Barth oder Bultmann; auch innerhalb des Bereiches der lutherischen Theologie und der Lutherforschung im engeren Sinne sucht Eiert - etwa in seinen Veröffentlichungen zum Verständnis der Angst bei Luther und im Luthertum oder in der Morphologie des Luthertums - weder wissenschaftlichen Anschluß noch die Auseinandersetzung im Detail — auch dort nicht, wo es sich der gemeinsamen Anliegen wegen nahegelegt hätte, etwa in der weiter unten nachzuvollziehenden Einzeichnung der Rechtfertigungslehre in die Probleme der Konstitution menschlicher Subjektivität, die eine Bezugnahme auf Karl Holl und seine Schüler sachlich gerechtfertige hätte15. Es ist im Rah10

Zu .Kampf um das Christentum' vgl. unten A, 2.3.; dazu S. 148f, bes. Anm. 54; zur Einordnung der Erlanger Theologie: ebd. 285ff; vgl. das Uberwiegen Erlanger Autoren bzw. Theologen Erlanger Provenienz (Ihmels, Bachmann, Girgensohn, Grützmacher, Jelke; daneben Otto, Heim, Schaeder, Schlatter) in der Darstellung 443ff, bes. 462ff. 11 Eiert, Index; ders., Gesetz; ders., Glaube § 17; 18ff ohne Namensnennung. 12 Brunner, Kritisches 59f. 13 Genauer s.u. D, 1.3.; vgl. vorläufig Eiert, Glaube 249; vgl. die Absage an eine Vermittlung des Christuszeugnisses mit dem .vorchristlichen Selbstverständnis' des Menschen ebd. 63 unten; vgl. die Absage an eine .natürlicheTheologie' in der Morphologie: I, 44fF; vgl. bereits ders., Irrwege14 Gestrich, Denken, bes. 295ff; 342ff. 15 S.u. C. 2.; Eiert bezieht sich in der Morphologie auf Holl oder Emanuel Hirsch entweder in den Literaturhinweisen zu Beginn der Paragraphen oder anderen summarischen Literaturverweisen (etwa: Morph. I, 31, Anm. 1; 68 Anm. 1; 79, Anm. 1; II, 37, Anm. 1; 66, Anm. 1; 366, Anm. 3; u.ö.) oder im Rahmen der Diskussion von Detailproblemen (etwa: Morph. I, 71, Anm. 1; 76, Anm. 2, bes. 78, dies. Anm.; 151, Anm. 1, hier bes. 152 dies. Anm.; an den Stellen aber,

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Einleitung

men der Morphologie Ernst Troeltsch, der den implizit und explizit präsenten Gegenpart spielt 16 , nicht die Theologen der von Holl ausgehenden Lutherrenaissance. Es handelt sich bei Elerts Theologie um eine Theologie in der selbstgewählten Isolation - jedenfalls was das wissenschaftlich-theologische Gespräch mit seinen Zeitgenossen angeht. Theologische Stellungnahmen finden sich zu aktuellen kirchlichen Fragen - zur Kirchenkonferenz von Lausanne 1927, 17 und schließlich im Rahmen des Kirchenkampfes, in dem Eiert insbesondere die Forderung nach einem neuen Bekenntnis einerseits und verfassungsrechtliche Fragen andererseits behandelt. 18 Als Gesprächspartner einer wissenschaftlichen Diskussion aber bleiben die Zeitgenossen unberücksichtigt; so steht die Christologie Elerts im Gespräch mit Ritsehl (Glaube 396f, vgl. 252f), den Erlanger Kenotikern des 19. Jahrhunderts (382f) und - abgrenzend an einer Stelle - E.Brunner (356f); Gogarten und Barth (um nur diese zu nennen) fehlen. Im Rahmen der Lehre von Gesetz und Evangelium kommt es zu keiner über die Kundgabe von Aversionen hinausgehende Auseinandersetzung mit Barths Prolegomena; 19 Brunners Anthropologie oder Gogartens Ansätze zur Anthropologie fristen ihr Dasein in Literaturverweian denen sich das Anliegen Elerts mit dem Holls berührt, nämlich in der Behandlung der Rechtfertigungslehre, der damit zusammenhängenden Probleme der Gotteslehre und des Verhältnisses von Rechtfertigungslehre und Subjektivitätstheorie, schweigt sich Eiert hartnäckig über dessen Position und der Hirschs aus, bietet auch implizit keine Hinweise auf Einflüsse, so daß anzunehmen ist, daß er diese Nähe des Anliegens ihm verborgen geblieben ist. Freilich geraten - und darin dürfte der Hintergrund seiner Distanz zu Holl und Hirsch liegen - die beiden Genannten natürlich als Vertreter eines Gegensatzes zwischen dem jungen Luther und der späteren lutherischen Theologie im Gefolge Melanchthons von vornherein in die Rolle von Gegnern (vgl. implizit Morph. I, 6f; dazu z.B. Holl, Rechtfertigungslehre 18ff); vgl. insgesamt: Barth, Christologie 19ff, zum Zentralthema der religiösen Subjektivität 28fF; Assel, Aufbruch, hier bes. 164fF. Näher dazu unten Teil C. Dazu unten Teil C . Dazu Eiert, Kirchenkonzil; ders., Ruf. 18 So greift der wichtige Aufsatz .Politisches und kirchliches Führertum' (1934) in die Debatte um das Amt des Reichsbischofs bzw. die Frage nach der Stellung des Bischofs in den Landeskirchen ein; die Stellungnahme ,Zur Frage eines neuen Bekenntnisses' setzt sich mit der von verschiedenen Seiten erhobenen Forderung nach einem neuen Bekenntnis angesichts des nationalsozialistischen Staates auseinander; vgl. dann auch die Auseinandersetzung mit der Barmer Erklärung (Confessio); dazu natürlich das wesentlich von Eiert bestimmte Gutachten zum Arierparagraphen (dazu Scholder, Kirchen I, 616) und der Ansbacher Ratschlag. " Dies trotz nächster Nähe der Ausführungen Elerts zum Wort Gottes zu der dreifachen Gestalt des Wortes Gottes bei Barth: Glaube 144f; 147; Thiemann (Conflict) betrachtet die Elertsche Dogmatik als Auseinandersetzung mit Barths Christlicher Dogmatik bzw. mit den Prolegomena zur K D - es handelt sich aber um eine Auseinandersetzung, in der der ,Gegner' nicht zu Wort kommt und seine Position ganz offensichtlich nicht verstanden ist; dazu auch Owen, Mensch I, 80fF. Man muß insgesamt sagen, daß mindestens eine - tiefer als in ,Index' gehende Auseinandersetzung mit den Diskussionen um eine .natürliche Theologie' unter seinen Zeitgenossen der Dogmatik Elerts gutgetan hätte insofern, als sie ihn zur Klärung der massiven Selbstwidersprüche hätte anleiten können, denen seine Dogmatik gerade in dieser Frage verfällt - vgl. unten D , S. 2 5 9 f f und 328. 16

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Eiert und die Erlanger Theologie

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sen, spielen aber - und sei es als Gegner - keine erkennbare Rolle in der positiven Darstellung. Ganze Problembereiche der zeitgenössischen Debatte - etwa Fragen der Hermeneutik - haben Eiert vollständig unberührt gelassen. Es ist - das lassen diese wenigen Bemerkungen erkennen - in der Tat unfruchtbar, Eiert in zeitgenössischen wissenschaftlichen Diskussionen außerhalb der kirchenpolitischen Auseinandersetzungen zu verorten. Es wird der Eigentümlichkeit seiner Position gerecht, wenn er als erratischer Block in der zeitgenössischen Theologie wahrgenommen wird, denn genauso stellt er sich dar. In einem solchen Falle bleiben zwei Möglichkeiten: entweder die der systematischen Rekonstruktion im Abgleich mit von Eiert selbst kaum bzw. nicht adäquat wahrgenommenen Gegenpositionen. 20 Auf diese Weise kommt es zu Interpretationen, die - im Zusammenhang einer Interpretation von Elerts Lehre vom Gesetz bzw. seiner Analyse des menschlichen Selbstverständnisses unter der Verborgenheit Gottes - diese Position als Indikator der unverzichtbaren Notwendigkeit einer natürlichen Theologie bzw. als Instanz der Integration gegenwärtiger Kulturphänomene deuten 21 - dies eben dann im direkten Widerspruch zu der Selbstverortung Elerts als Gegeninstanz gegen eine .natürliche Theologie', der Eiert gerade mittels der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium zu widersprechen beansprucht. 22 Angesichts derartiger dem Selbstverständnis Elerts auf den ersten Blick widersprechender Ergebnisse wird deutlich, daß hier - um beim Beispiel zu bleiben - ein jeweils unterschiedliches Verständnis dessen, was allenfalls natürliche Theologie' ist, zugrundeliegt; dieses Verständnis der ,natürlichen Theologie' hat bei Eiert seine Wurzeln in seiner in den 20er Jahren formulierten Ablehnung der Apologetik, die ihrerseits wieder auf Grundmotive der Erlanger Tradition - direkt auf Hunzinger, Ihmels und Frank - zurückgeht. 23 Solch ein systematischer Vergleich setzt — dies gibt das Beispiel zu erkennen — den Versuch voraus, Elerts Theologie nun eben nicht aus dem unmittelbaren zeitgenössischen Kontext, sondern im Rückgang auf ihre Wurzeln zu verorten.24

20 Vgl. etwa in der Frage von Gesetz und Evangelium die Hinweise auf die Tatsache, daß die Position Barths von Eiert zutiefst mißverstanden wurde: Thiemann, Conflict 178 und Kontext; Owen, Mensch I, 27 und Kontext. 21 Kinder, Problem; Meier, Kulturkrise. 22 Glaube § 17, vgl. Morph. I, 44ff; vgl. zu dem hier zugrundeliegenden Begriff der natürlichen Theologie unten C, 1.3. Die Feststellung schließt keine Kritik an den genannten Arbeiten ein; Kinder legt keine Elert-Interpretation vor, sondern eine systematische Entfaltung von bei Eiert grundgelegten Positionen in steter Auseinandersetzung nicht nur mit den Vertretern der Dialektischen Theologie, sondern der Theologie im Gefolge Ritschis; Meier beschreibt die faktische Funktion des Gesetzesbegriffes Elerts in seinem Fragehorizont zu Recht ohne Rücksicht auf die Frage nach Elerts ausdrücklichem Selbstverständnis. 23 Genauer s.u.; zunächst vgl. nur: Eiert, Kampf 291-296; 462—469; ders., Irrwege. Zur zuvor vertretenen Position hinsichtlich der Apologetik und der Bezugnahme auf die Erlanger: Grenzen 244fF; Prolegomena 97-106. 24 Von den in Anm. 21 apostrophierten Arbeiten vollzieht gerade die Meiers in herausra-

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Damit wird man des letzten Grundes ansichtig, warum Elerts Theologie wie ein erratischer Block in der theologischen Landschaft des 20. Jahrhunderts steht: Es gibt praktisch keine Arbeiten, die Elerts theologische Position wirklich detailliert in ihrer Entwicklung verfolgen und den Versuch unternehmen, die großen und bekannten Veröffentlichungen auf dem Hintergrund der kleineren Arbeiten bis zurück in die Jahre zwischen 1910 und 1920 zu lesen.25 Diese Abstinenz gegenüber den frühen Veröffentlichungen Elerts hat ihr Recht - die späteren Arbeiten sind qualitativ ungleich besser, und die sachlich entscheidenden Werke liegen in der Tat mit den großen Veröffentlichungen vor, auf die sich Werküberblicke gern beschränken;26 es ist daher grundsätzlich auch richtig, wenn Trillhaas feststellt, daß Eiert „von dem Beginn seiner Erlanger Lehrtätigkeit... erst die ausgeprägte Gestalt darstellt, ... als die er sich in die Geschichte der Theologie eingezeichnet hat. ... Von seiner Erlanger Antrittsvorlesung ab erscheint uns Eiert als ,er selbst', und er hat es wohl immer auch so verstanden." 27 Das heißt aber eben nicht, daß man ihn nur als solchen, isoliert gegen seine Herkunft, sachgemäß interpretieren kann. 2. Anliegen und Aufl>au der Arbeit. Im hier vorliegenden zweiten Teil der Studien zur Erlanger Theologie' soll der Versuch unternommen werden, Eiert im Ausgang von seinen Ursprüngen in der Erlanger Theologie zu verstehen. Die

gender Weise diesen Rückgang (dazu unten S. 2 4 ) ; die Kinders bedarf dessen nicht, weil es ihm nicht um eine Elert-Interpretation zu tun ist, sondern um ein Durchdenken der Problematik einer natürlichen Gotteserfahrung im Ausgang vom Lösungsangebot Elerts. 25 In neuerer Zeit hat R . Hauber diesen Versuch unternommen; er teilt das Werk Elerts in ,Perioden' der theologischen Entwicklung mit jeweiligen thematischen Schwerpunkten ein (vgl. Hauber, Eiert 1 1 9 - 1 3 4 ; vgl. insbesondere die Analysen zum Zorn Gottes: ders., Zorn; genauer unten S. 240fF). Der Durchgang durch praktisch sämtliche Veröffentlichungen, den Birmele (Interpretation) vorlegt, identifiziert zwar entscheidende thematische Verbindungen, auch die Rückbeziehungen zur Erlanger Theologie in den Veröffentlichungen zwischen 1 9 1 0 und 1 9 2 0 (etwa: 5 3 - 5 6 ; 70!; 7 8 ) , konstatiert aber in der Zeit nach 1 9 1 2 eine Abkehr von der Erlanger Tradition (56). Insgesamt bleibt seine Arbeit stark an dem Referat der einzelnen Schriften orientiert und sucht selten das zu leisten, was in der vorliegenden Arbeit intentiert ist: das Verfolgen von thematischen Verbindungen von der Frühzeit Elerts bis zu den späteren Jahren. Dabei ist es nach meinem Eindruck eben auch verfehlt oder hinderlich, Elerts Werk von vornherein periodisieren zu wollen; entscheidend sind nicht die inhaltlichen Schwerpunktverlagerungen, sondern die Kontinuitätslinien - vgl. insgesamt unten S. 2 4 1 ff. In gewisser Weise leistet dies die vorbildliche Arbeit von L. Langemeyer; Langemeyer orientiert sich im Aufbau an der die spätere Theologie Elerts bestimmende Abfolge von Gesetz und Evangelium, zieht aber in weitem Umfang Texte aus den 20er und auch aus der Zeit zwischen 1 9 1 0 und 1 9 2 0 heran, vgl. 54ff; 63—66 etc.; auch K. Meiers hervorragender Aufsatz zur Ausbildung und zur kulturkritischen Funktion des Gesetzesbegriffes bei Eiert geht in dieser wichtigen Einzelfrage aus von einer Analyse der frühesten Veröffentlichungen und zeigt so die Fruchtbarkeit dieses Einsatzpunktes. Owen (Mensch) und T h i e m a n n (Conflict) beziehen in ihren auf die Analyse der großen Veröffentlichungen Elerts konzentrierten Analysen immerhin an einigen Passagen die Werke der Frühzeit ein. 26 27

Althaus, Werk 4 0 1 f und ff; Trillhaas, Theologie 3 7 - 4 0 ; Beyschlag, Eiert 13ff. Trillhaas, Theologie 3 7 .

Anliegen und Aufbau der Arbeit

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Arbeit trägt zur zur Deutung der Theologie Elerts dadurch bei, daß sie diese in einen theologischen Diskussionszusammenhang einordnet, der von dem Erlanger Systematiker Franz Hermann Reinhold von Frank über dessen Schüler, den zunächst Erlanger, dann Leipziger Systematiker und späteren ersten sächsischen Landesbischof Ludwig Ihmels zu dessen Schüler Werner Eiert fuhrt. Die Positionen v. Franks und Ihmels' waren Gegenstand des ersten Bandes der ,Studien zur Erlanger Theologie'; auf die dort erhobenen Motive und Theologumena wird immer wieder zurückzugreifen sein. Es zeichnete sich bei der Behandlung der Position Ihmels' ab, daß der Gesetzesbegriff, der das Zentrum der Position Elerts darstellt, dort bereits vorgebildet ist. Die Darstellung der Position Elerts erfolgt so, daß in einem ersten Schritt die Genese des Gesetzesbegriffes und dessen Funktion bei Eiert erarbeitet wird; hier liegt das Hauptgewicht der Darstellung auf der Frühzeit Elerts und den Bezügen zum bei Ihmels und Hunzinger neukonzipierten Programm einer ^Apologetik'28, das Eiert zunächst übernimmt, dann aber zugunsten einer Besinnung auf die Funktion des Gesetzes ablegt (Α.). Der zweite Teil (B.) identifiziert bei Eiert das Grundthema der Erlanger Theologie, nämlich das spezifische Verhältnis von Dogma und Erfahrung und weist nach, daß diese typische Verhältnisbestimmung eine Grundkonstante der Theologie Elerts bis hin zur Dogmatik bildet. In einem dritten Schritt (C.) wird dann das Programm der ,Morphologie des Luthertums' zunächst dieser Grundkonstante zugeordnet, dann als Wiederaufnahme der Auseinandersetzung der Erlanger Theologen - insbesondere Franks - mit dem neuzeitlichen Konzept eines autonomen Subjektes identifiziert; hier erweist sich die von Eiert intendierte Leistungsfähigkeit des Gesetzesbegriffes, und es zeigt sich, daß die bei Eiert hinsichtlich der genauen Bestimmung des Verhältnisses von Gesetz und Evangelium bestehenden Probleme ererbte - aus der Erlanger Tradition geerbte - Ambivalenzen darstellen. Der letzte Teil (D.) bietet eine Analyse der Dogmatik Elerts zum einen auf die dort in Auseinandersetzung mit Ritsehl unternommenen Versuche einer Begründung der Subjektivität des Glaubens in seinem gegenständlichen Bezugspunkt; zum anderen wird die systematische Funktion der Darstellung der Erfahrung Gottes unter dem Gesetz bzw. unter der Verborgenheit Gottes aufgehellt. Es wird sich an vielen Punkten die Feststellung nicht umgehen lassen, daß Elerts Gedankengänge und seine Begriffsbildung ebenso wie seine Darstellung und Verarbeitung von Gegenpositionen oder philosophischen Gesprächspartnern in hohem Maße defizitär sind. 29 Ich werde durchweg den

Studien Bd. 1, 295ff. Unklare Texte: 78 22 ; 80 28 ; B, 2. pss.; 104 81 ; 104 83 ; 115 103 ; 123 127 ; 136 22 ; 170 105 ; 172 113 ; 182 132 ; 186" 4 ; 187' 42 ; 208' 7 7 ; 21 Iff; 217 188 ; 241 218 ; 254 3 ; 318" 6 ; D pss; mißverstandene Positionen: 38 52 ; 141f; 200 167 ; 205 174 ; 210 180 ; 270 46 ; 281 67 ; ein Hauptphänomen ist immer wieder zu beobachten: das Vermischen von Gedankengängen: 92 59 ; 94 63 ' 64 ; 97 69 ; 119 116 ; 189 150 ; 198 165 ; 2 3 3 2 " ; 2 7 4 » ; D. pss. Vgl. entsprechende Hinweise in der Sekundärliteratur auf defizitäre Gedan28

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Einleitung

Versuch unternehmen, die Position Elerts auf eine möglichst schlüssige Lesart hin zu interpretieren um so die Stärke der Konzeption herauszuarbeiten, die unter der oft mangelhaften Durchführung verloren zu gehen droht.

kengänge und inadäquate Referate fremder Positionen bei Eiert: Owen, Mensch I, 27 und Kontext; 116; 124ff; 138 und Kontext; 180 und Kontext; II, 22; 46 und Kontext; 135 und Kontext; Thiemann, Conflict 178FF u.ö.

Α. Die Funktion des Gesetzesbegriffes bei Eiert Das oben zitierte Urteil Wolfgang Trillhaas', nach dem Eiert „von dem Beginn seiner Erlanger Lehrtätigkeit... erst die ausgeprägte Gestalt darstellt... als die er sich in die Geschichte der Theologie eingezeichnet hat ..."' ist - was die Wirkungsgeschichte und was das Selbstverständnis Elerts 2 angeht - unbestreitbar. Die Literatur zu Eiert gedenkt der frühen Veröffentlichungen aus der Zeit vor und unmittelbar nach dem Kriege selten. 3 Die Deutung Trillhaas' ist repräsentativ für die Forschungsgeschichte, und dies Urteil schlägt sich implizit und auch explizit in der Ansicht nieder, daß sich Elerts theologische Entwicklung in ,Phasen' vollzogen habe, die relativ scharf voneinander unterscheidbar sind und durch thematische Schwerpunkte ein je eigenständiges Gepräge erhalten. 4 Diese zuweilen relativ schematisch durchgeführten Unterscheidungen sind nach meinem Eindruck wenig hilfreich, sofern sie die Differenz der Phasen zu Lasten der Frage nach der Kontinuität im Übergang von der einen zur nächsten Phase betonen. Die Entwicklung eines Denkens voll-

Trillhaas, Theologie 37. Eiert nimmt in seinem weiter unten noch zu erwähnenden Eintrag in das Goldene Buch der Universität Erlangen (1927; veröffentlicht bei Kaufmann, Eiert 2 3 6 f f ) selbst eine eindeutige Gewichtung seiner theologischen Entwicklung zu einer Zeit vor, in der er bereits an der .Morphologie' arbeitete (vgl. den Hinweis [Kaufmann, Eiert 238] sowie den Rückverweis auf bereits veröffentlichte Vorarbeiten zu diesem Projekt, deren erste 1925 datiert [Angst] in Morph. I, 4). Er bezeichnet den .Kampf um das Christentum' als die Schrift, mit der das Interesse an der Apologetik bzw. genauer: an der Vermittlung von Christentum und Kultur einen „vorläufigen Abschluß" fand und resümiert: „Neu gewonnene Erkenntnisse und Perspektiven weisen in andere Richtungen." (aaO. 237). 1

2

3 Vgl. aber als Gegenbeispiele: Peters, Heimsuchung 2 5 7 - 2 5 9 ; Hauber, Eiert. Die meisten der Arbeiten stellen nach dem Vorbild Althaus' (Werk 40 l f und ff) die vier großen Hauptwerke (Lehre; Kampf; Morph.; Glaube) in das Zentrum einer Darstellung, in der Elerts Frühzeit keinen Platz findet: knapp geht Eyjolfsson, Rechtfertigung auf die frühen Ansätze ein (13ff, bes. 17f); Beyschlag orientiert sich an den Hauptwerken (Beyschlag, Eiert 15ff); Bayer (Theologie 281 flf) geht — als einziger unter den Beiträgen zu Eiert im Rahmen der Reihe ,Handbuch der Systematischen Theologie' - auch auf den . K a m p f und auf ,DEP' ein. - Als Ausnahme ist Langemeyer zu verzeichnen, der zu Eingang seines Buches (Gesetz 13ff) auf den theologischen Werdegang Elerts eingeht (16f), im Laufe seiner Darstellung aber ausführlich neben den Hauptwerken - insbesondere in den Fußnoten - frühe Veröffentlichungen Elerts heranzieht. 4 Etwa Langemeyer, Gesetz l6f, der allerdings gegenüber dieser entwicklungsgeschichtlichen These die Einheit der Theologie Elerts im Auge hat; anders Hauber, Eiert 119ff, der von relativ scharf geschiedenen Phasen ausgeht und seine thematischen Querschnitte zur Christologie und zum Zorn Gottes auch an diesen Phasen orientiert (der., Christologie; ders., Zorn); ebenso Birmele, Interpretation (vgl. die Kapiteleinteilungen, vgl. in der methodischen Einleitung 10f)· Ferner die an der Wandelung der Verhältnisbestimmung von Gesetz und Evangelium in der Auseinandersetzung mit Barth interessierten Arbeiten von Owen und Thiemann.

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Die Funktion des Gesetzesbegriffes bei Eiert

zieht sich aber selten in unvermittelbaren Brüchen, sondern im allmählichen Ubergang von einer zur nächsten Phase, und jedes Konstatieren von Brüchen bleibt vordergründig, das nicht zugleich die Frage nach der Kontinuität im Ubergang oder nötigenfalls die Frage stellt, wo die zuvor als bedrängend erfahrenen Fragen oder als interessant empfundenen Themen denn unter dem Vorzeichen einer Neuorientierung bleiben und wodurch sie in der Neuorientierung an Gewicht verloren haben. Eine glänzende Arbeit dieser Art hat Kurt Meier vorgelegt,5 der die Aufnahme des Gesetzesbegriffes bei Eiert als modifizierte Weiterführung des apologetischen Anliegens der Frühzeit Elerts beschreibt: Der Gesetzesbegriff hat dieselbe Funktion wie die apologetischen Bemühungen der Frühzeit, nämlich das Christentum in ein Verhältnis zur Kultur zu setzen. Zunächst mittels des Schicksalsbegriffes Spenglers, dann unter Aufnahme desselben in den Gesetzesbegriff integriert Eiert die zeitgenössische Wirklichkeitserfahrung unter den Bedingungen einer ebenfalls von Spengler übernommenen neuen Deutung der Moderne: Das Gesetz sei die Instanz, die unter Wahrung einer Antithese von Christentum und Kultur die theologisch verantwortliche Integration natürlicher Welterfahrung erlaube.6 Zu einem ähnlichen Ergebnis wird auch die folgende Analyse kommen. Meier hat mit seiner Arbeit ein Problem aufgegriffen, das in den Arbeiten zu Eiert zwar an der einen oder anderen Stelle notiert worden 7 , nie aber eigens behandelt worden war: daß Eiert den Gesetzesbegriff im Laufe seiner theologischen Entwicklung erst relativ spät aufnimmt und entfaltet. Dieser Sachverhalt ist gerade im Blick auf den hier relevanten Zusammenhang Elerts mit der ,Erlanger Schule' von Bedeutung, da dieser Zusammenhang in Fragestellung und Position in der Frühzeit in ausdrücklichen Bezugnahmen gut belegbar ist, seit der Aufnahme des Gesetzesbegriffes aber bzw. seit der konstitutiven Bezugnahme auf das diesem Begriff entsprechende Gotteserlebnis nur noch implizit präsent ist.8 Den Punkt der Kontinuität in der Entwicklung auf die Aufnahme des Gesetzesbegriffes hin zu finden bedeutet, auch den Zusammenhang dieses zentralen und wirkmächtigsten Themas Elerts mit der Erlanger Schule identifizieren zu können. Im folgenden soll zunächst der werkgeschichtliche Zeitpunkt der Aufnahme des Gesetzesbegriffes und das damit gestellte Problem umrissen werden (1.). Es soll dann versucht werden, das Problem durch eine Einordnung der

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Meier, Kulturkrise. Vgl. bes. Meier, Kulturkrise 301-305, dazu auch Langemeyer, Gesetz 75 und Vorangehen-

des. 7 Owen, Mensch I, 4; die folgende Darstellung der Genese des Gesetzesbegriffes (ebd. 90fif) analysiert aber lediglich die Verbindung von Gesetz und Schicksalsbegriff auf dem Hintergrund der Spenglerrezeption in der,Lehre des Luthertums im Abriß' (ebd. 93-113), läßt aber die Bezüge zu den Themen der Werke vor 1918 außen vor. 8 Vgl. als Beleg vorläufig etwa Hauber, Eiert 124ff, der in der .dritten Phase' keine Verweise auf die Erlanger Schule mehr bringt; vgl. zum Gesetzesbegriff ders., Zorn 121; zum Schicksalsbegriff ebd. 118ff. Vgl. Langemeyer, Gesetz 129ff, zum Schicksalsbegriff 57ff, bes. 63-69.

Zur Darstellung des Problems

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Aufnahme der Gesetzesproblematik in die leitende Fragestellung der Veröffentlichungen Elerts vor und direkt nach dem Krieg zu lösen (2.)· In einem dritten Abschnitt soll die behauptete Entwicklung durch eine Analyse eines Aufsatzes, in der sich das Ergebnis der Entwicklung niederschlägt, verifiziert werden (3·). Schließlich (4.) soll in einem Vergleich einiger Passagen, in denen Eiert die Erfahrung Gottes extra Christum beschreibt, versucht werden, das Zentrum der Erfahrung des Gesetzes bzw. des Zornes Gottes bei Eiert zu erfassen. Das Kapitel insgesamt hat vorbereitenden Charakter; es werden Probleme identifiziert, die in späteren Passagen schärfer gefaßt und genauer behandelt werden.

1. Zur Darstellung des Problems 1.1. Vorgriff: die,Realdialektik' von Gesetz und Evangelium. Die Aversion, die der Name Eiert in Theologenkreisen zuweilen weckt, stützt sich auf die von Eiert selbst als „Realdialektik" bezeichnete Diastase von Gesetz und Evangelium. Der unglückliche Begriff,Realdialektik' hebt darauf ab, daß die Erfahrung Gottes in der „Gesamtwirklichkeit unseres Lebens" - so der Ansbacher Ratschlag über das Gesetz — und die befreiende Wirkung der Gerechtsprechung des Sünders um Christi willen - das Evangelium - einen Gegensatz darstellen. Ausdrücklich vor dem Evangelium und außerhalb desselben (Glaube 62 u.v.ö.) gibt es die im Gesetz enthüllte, aber auch ohne das Sinaigesetz beständig präsente Erfahrung Gottes als Widersacher des Sünders. Diese Erfahrung ist ausdrücklich nicht eine Fehlinterpretation Gottes durch den Sünder, die durch das Evangelium aufgeklärt wird; die Diastase hat vielmehr ihren Grund in Gott selbst, und insofern handelt es sich um eine ,/fed£lialektik'. 9

9 Der Begriff, Dialektik' bei Eiert hat keinerlei Beziige zu Hegels Bezeichnung der Bewegung des Begriffes, sondern nimmt eher ein platonisches Verständnis auf, wenn er Dialektik als das Kennzeichen eines Geschehens von Rede und Gegenrede versteht und in diesem Sinne auf das .Gespräch' von Gesetz und Evangelium anwendet, die einander so widersprechen, daß das eine das andere zum Schweigen bringt und umgekehrt (Glaube 175 im Zusammenhang vonl71ff). Zum Epitheton ,real-' vgl. Eiert, Gesetz 5Iff, hier bes. 53, wo Eiert die .Realdialektik' als .Sachdialektik' gegen ein .verbaldialektisches' Verständnis des Gegensatzes abgrenzt: „Es fragt sich nur, was man unter Dialektik versteht. Meint man damit eine Sachdialektik, so besagt es ..., daß wenn das eine redet, das andere schweigen muß und umgekehrt. Gesetz und Evangelium sagen Entgegengesetztes und können daher niemals unisono reden." (53) Eine Realdialektik liegt somit vor, wenn Gesetz und Evangelium Unterschiedliches bzw. Gegensätzliches sagen und meinen, eine Verbaldialektik hingegen, wenn Gesetz und Evangelium - so versteht Eiert Barth - in unterschiedlicher Weise einen identischen Sachverhalt (nämlich Gottes Gnade) zum Ausdruck bringen. Eine .Realdialektik' liegt also dann vor, wenn der gegensätzlichen Rede je eine unterschiedliche bezeichnete Sache entspricht (zu der Passage vgl. auch unten D, 2. S. 270 4S ).

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Die Funktion des Gesetzesbegriffes bei Eiert

Der Dialektik in Gott selbst entspricht eine Antithetik von Angst und Vertrauen auf Seiten des Menschen - Eiert kann im Ausgang von der Bußanfechtung Luthers das Grauen des Menschen angesichts des verborgenen, den Menschen zur Rechenschaft für seine unentrinnbare Sünde fordernden Gottes in eindrücklichen Sätzen formulieren, oder die Wirklichkeit des Menschen extra Christum auf diese Grunderfahrung des Grauens vor einem unentrinnbar verhängten Todesgeschick hin durchsichtig machen. 10 Der übliche Einwand gegen diese Position verweist auf eine damit angeblich vertretene natürliche Theologie', eine Rede von Gott außerhalb der Christusoffenbarung - Eiert hat dies Verdikt immer und mit Gründen abgelehnt;11 die Kritik verweist zudem auf die unausweichlichen ordnungstheologischen Implikationen des Programms: die faktisch den Menschen umgebende Wirklichkeit wird nicht nur als Offenbarung des Zornes Gottes über den Sünder ausgelegt, sondern sie ist zugleich - im usus politicus - die von Gott gesetzte und in ihrer Faktizität gewollte Schöpfung, der das Handeln des Christen verpflichtet ist.12 Gerade angesichts des Ansbacher Ratschlags und dessen positiven Votums für die nationalsozialistische Revolution und den Führer als gute Obrigkeit ist dieser Einwand gegen die Verbindung von usus elenchticus und usus politicus nicht von vornherein von der Hand zu weisen. Wir können es bei dieser Skizze und dem Hinweis auf das Problem belassen, da diese knappen Anmerkungen ohnedies lediglich einen Vorgriff auf die spätere Entfaltung der mit diesem Ansatz verbundenen Probleme bildet. 1.2. Das Gesetz bzw. die Beschreibung der Erfahrung des Zornes Gottes als spätes Thema bei Eiert. Elerts erste separate Veröffentlichung fällt in das Jahr 1910 — seine philosophische Dissertation über die Geschichtsphilosophie Rudolf Rocholls. Seine Licentiatenarbeit - ,Prolegomena der Geschichtsphilosophie' - erscheint 1911 im Druck. Von 1911 bis zu seiner Berufung nach Erlangen 1923 ist er als Hauslehrer, dann als Pastor in der Nähe von Kolberg und - seit 1918 - als Direktor des Seminars der Altlutherischen Kirche in Breslau beständig theologisch tätig, wie die Liste seiner Veröffentlichungen ausweist selbst in den Kriegsjahren, in denen er als Feldprediger zunächst an der Ost-, dann an der Westfront tätig ist, erscheinen Aufsätze aus seiner Feder.13 Allerdings: bis 1924 nennt keine einzige dieser Veröffentlichungen auch nur den Terminus ,Gesetz'. Und man hat es mit einem — später so genann10 Vgl. Morph. I, l6ff; Forderung 420f; Angst. Verweise aufTexte ohne Autornamen setzen im folgenden durchweg Eiert als Autor voraus. 11 Dazu unten, z.B. C, 1.3.2., S. 150ff. 12 Dazu nur: Glaube 608; Ethos Kap. 8; zum ganzen Komplex: Eyjolfsson, Rechtfertigung, bes. 219ff; 229-245. Vgl. auch Peters, Gesetz 179ff; bes. 182-185. 13 Zur Biographie vgl. den genannten Eintrag ins Goldene Buch der Universität Erlangen (Kaufmann, Eiert 236ff) sowie Hauber, Eiert 113-119; Peters, Eiert. U.ö. Zu den Veröffentlichungen vgl. die vollständige Bibliographie von Wagner (Bibliographie); diese Sammlung hat Hauber (Eiert 138fif) korrigiert und ergänzt.

Zur Darstellung des Problems

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ten14 - .Lutheranissimus' zu tun, der bis 1920 nicht nur keinen einzigen seiner Aufsätze der Theologie Luthers widmet, sondern in dessen Veröffentlichungen auch nur Zitate Luthers fehlen. Diese Feststellung über das Fehlen von Hinweisen für eine intensive Beschäftigung mit Luther gilt mit einer Ausnahme: Der Aufsatz ,1m Kampf um die Reformation' von 1910 nennt einige Lutherschriften - die Adelsschrift und die Freiheitsschrift - ohne deren Kenntnis man auch damals durchs Examen gefallen wäre. Der Aufsatz selbst aber stellt einerseits eine Auseinandersetzung mit der von Troeltsch vertretenen Zuordnung der Reformation zum Mittelalter dar - hier fuhrt Eiert die Befreiung des natürlichen Lebens vom Einfluß der Kirche und die Eröffnung des weltlichen Lebens als Bereich des Gottesdienstes als die kulturelle Leistung ins Feld, die die Reformation vom Mittelalter scheidet; und er setzt sich mit der Deutung des Glaubens bei Luther als Entdeckung des Wertes der Individualität auseinander - hier verweist Eiert auf die Abgrenzung Luthers gegen die Schwärmer und die damit gesetzte bewußte Bindung des individuellen Glaubens an das Erbe der christlichen Tradition und die geschichtlichen Instanzen des Wortes Gottes, der Person Christi, etc. Dieses zweite Thema wird sich im Laufe des theologischen Weges Elerts als ein Hauptmotiv erweisen15; insgesamt aber handelt es sich um einen ,Kampf an zwei Fronten mit mehr als gängigen Argumenten, genährt aus mehr als gängigen Lutherbildern, dessen Grundelemente sich samt und sonders bei seinen theologischen Lehrern, insbesondere bei Hunzinger und Ihmels, 16 finden. Aber es findet sich

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Doerne, Glaube 101. Zur Fragestellung des Aufsatzes: Eiert, Reformation 107f; zu den genannten beiden Motiven vgl. ebd. 123-125; 126f. Dazu parallel die Auseinandersetzung mit der ,sogenannte[n] Persönlichkeitskultur', wo Eiert in kulturkritischer Absicht gegen den Willen zur Eigenheit und die ,Vermassungskritik' (vgl. Persönlichkeitskultur 532) auf die externe Bedingtheit jeder individuellen Ausdrucksform hinweist und gegen das Bewußtsein der Individualität und Originalität die Faktizität der Abhängigkeit von der Geschichte - meint: der Herkunft, der Ausdrucksmittel, alles dessen, was der Mensch nicht selbst gesetzt hat - zur Geltung bringt und mit dem Satz schließt: „Und die Geschichte, von der wir abhängen, die uns trägt, erscheint uns nicht als Kaltes, Unpersönliches. Sie ist doch die Fülle alles diesseitigen Lebens. Denn sie stammt von Gott, Gott regt sich darin, sie trägt uns auch zu Gott. Auf das kleine, kleine Ich verzichten und sich in die Geschichte einfügen, ist darum für uns auch ein Stück unserer Frömmigkeit." (aaO. 540). Gerade an diesem sich mit der späteren Kritik der .Mittelpunktsexistenz' bis in die Terminologie hinein eng berührenden Text (vgl. bes. 538f mit den Ausführungen zur Mittelpunktsexistenz Glaube § 6ff [72ffj 95ff; 99ff usw.]) wird die Differenz zu den späteren Explikationen der Gesetzeserfahrung bzw. des Deus absconditus schlagend deutlich, denn was dort eine bedrohliche Anfechtung sein wird, die alle Menschen trifft und die nur unter dem Evangelium zu einer Lösung kommt - die Negation des Individuums nämlich —, ist hier nur für eine überspannte, an der eigenen Individualität interessierte (und .jüdisch' beeinflußte! ebd. 533) Minderheit ein Problem; dieser Minderheit wird die .Frömmigkeit' und - ohne Bezug auf das Evangelium - die Erfahrung Gottes in diesen geschichtlichen Vorgegebenheiten werbend entgegengehalten. 15

16 Der gegen Troeltsch gewendete Hinweis auf das positive Verhältnis der Reformation zur säkularen Kultur geht vermutlich auf Hunzinger zurück, der das Ende der Bevormundung der Kultur und der Wissenschaft durch die Theologie bzw. die Kirche und die Ausbildung einer freien Wissenschaft und einer säkularen Kultur als Wirkung der Reformation betrachtet, in der die mit-

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keinerlei Indiz für eine eigenständige, etwa auf die spezifisch Elertsche Gesetzestheologie vorausweisende Beschäftigung mit Luther. Man kann noch weiter gehen: kennzeichnend für die spätere Theologie Elerts ist die Aufnahme der emotiven Komponenten der Erfahrung der Verborgenheit und des Zornes Gottes bei Luther - die Evokation der Angst, des Grauens angesichts der Unentrinnbarkeit des von Gott über den Sünder verhängten Todes: .Aber über all dieser Vernünftigkeit der Welt und Verständlichkeit des Sollens fährt der Mensch plötzlich zusammen. Ihn packt das Grauen. ... Es ist ... das Grauen, das einer empfindet, wenn ihn in der Nacht plötzlich zwei dämonische Augen anstarren, die ihn zur Unbeweglichkeit lahmen und mit der Gewißheit erfüllen: es sind die Augen dessen, der dich in dieser Stunde töten wird." (Eiert, Morph. I, 18)

Diese weiter unten noch näher zu analysierende Aufnahme der Erfahrung Luthers und die Beschreibung Gottes als mysterium tremendum findet sich in schmalen Andeutungen erstmals in dem Büchlein ,Dogma — Ethos — Pathos' von 1920, auf das ich später noch eingehen werde. Der religionspsychologische Aufsatz über die .Steigerung der Religiosität im Kriege' (1918) ist auf den ersten Blick vom Titel her vielversprechend, bei näherem Hinsehen aber eine Fehlanzeige: Eiert legt die Erfahrung des Krieges gerade nicht als Gotteserfahrung aus, sondern faßt die Erlebnisse der Soldaten lediglich als Motive für die Frage nach dem helfenden Gott bzw. - in Situationen der Bewahrung — als Ansatz zum Vertrauen. Entscheidend kommt es ihm aber gerade darauf an, festzuhalten, daß ausschließlich die Verkündigung des Evangeliums zum Glauben führen kann, während der Krieg darin seinen die Religiosität steigernden Wert hat, daß er die Intensität des Glaubens (etwa des Blickes auf das Jenseits) steigert.17 Eiert benennt durchaus die Sinnlosigkeit des Todes im

telalterliche Kultur an ihr Ende kommt: Vgl. Hunzinger, Weltanschaung 6ff, bes. lOf; ders., Aufgabe 15 ff; auch das zweite Argument ist in Hunzingers Auseinandersetzung mit Troeltschs Lutherdeutung präfiguriert - vgl. Hunzinger, Glaube 21f im Kontext von 15ff; vgl. auch Ihmels, Christentum 32-34 im Kontext von 20-36 und die Auseinandersetzung Ihmels' mit einem , dogmenfreien' Christentum: Centralfragen 6 und Kontext, wo es Ihmels darauf ankommt, zu zeigen, daß es einen Glauben ohne gegenständlichen Bezugspunkt nicht geben kann. Die Fronten und die Argumente entstammen - nicht ausschließlich - der Erlanger Tradition. 17 Eiert, Steigerung; Der Text gehört in den Zusammenhang der zeitgenössischen Extrapolationen der religiösen und mentalitätsgeschichtlichen Folgen und auch der Möglichkeiten, die der Weltkrieg in volksmissionarischer Hinsicht eröffnete, vgl. etwa Harnack, Religion; Holl, Aufgaben, sowie Holls Darstellung des Niederschlages des Dreißigjährigen Krieges und der Befreiungskriege in der kirchlichen Wirklichkeit und der Ekklesiologie (Holl, Bedeutung). - Der gegenüber dem späteren Eiert völlig andere Ton ist bereits aus folgender Passage erkennbar: „Dahin gehört zweitens der seelische Zwang zum Deuten des Todesrätsels. In Friedenszeiten ist der Mensch ... nur wenige Male im ganzen Leben, vielleicht niemals Zeuge beim Sterben eines andern. ... Dagegen steht er [der Tod] mit seiner ganzen schneidenden Sinnlosigkeit vor denen, die das plötzliche Aufhören der körperlichen und scheinbar auch seelischen Lebensäußerungen fallender Kameraden hundertfach mitansehen müssen. Weist jenes [zuvor beschriebene] angstvolle Gedenken [der Angehörigen] in die Richtung der Flucht [i.S.v. Zuflucht] zu dem weltüberlegenen Gott, so

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Zeitalter des technischen Krieges - aber diese Sinnlosigkeit kommt ausschließlich als psychologische Voraussetzung einer tieferen Frage nach dem helfenden Gott, als Ursprung eines neuen Erwachens der Frage nach dem Weiterleben der Seele nach dem Tod oder als psychologische Bedingung des Vertrauens auf Gott in den Blick; von Gott ist ausschließlich als Gegeninstanz dieser Erfahrungen die Rede - der Gedanke, daß Gott in Tod und Vernichtung erfahren werden könnte, liegt Eiert offenbar fern18. Ausdrücklich findet sich das Thema ,Gott als mysterium tremendum' in einer knappen Andeutung im ,Kampf um das Christentum', auf die ich noch eingehen werde; in ausgebildeter Gestalt läßt es sich erst 1922 in der Schrift über die .Forderungen des Zeitalters' und dann 1923 in einem Aufsatz über die Transzendenz Gottes nachweisen, schließlich in der 1924 in erster Auflage erschienenen ,Lehre des Luthertums im Abriß'; es durchzieht von da an die meisten Veröffentlichungen Elerts. Oder umgekehrt: 1927 veröffentlicht Eiert einen Aufsatz über Angst und Einsamkeit im Luthertum', in dem das in der Morphologie eindrücklich skizzierte Urerlebnis als Erfahrung Luthers und anderer Theologen der Lutherischen Tradition mit fast wörtlichen Anklängen vorweggenommen wird. In diesem Zusammenhang wird auch Böhme als Parallelinstanz aufgerufen. 19 Nun hatte Eiert sich vor dem Krieg bereits in zwei Veröffentlichungen mit Böhme beschäftigt, und zwar ausdrücklich in religionspsychologischer Absicht. Der Topos ,Angst' wird in diesen Veröffentlichungen in der Tat ungefähr 7 mal erwähnt 20 , spielt aber keinerlei tragende Rolle in der Darstellung; das ganze Interesse Elerts liegt hier auf dem Nachweis, daß Böhmes Mystik voluntaristische Züge trägt, daß bei Böhme Gott als Grund des menschlichen Ich, und des Willens, bestimmt sei. Es liegt in keiner Weise auch nur ein zentrales Interesse auf diesen später als Reflex des Lutherschen Urerlebnisses gedeuteten Böhme-Passagen.21 Auch in den übrigen religionspsychologischen Veröffentlichungen Elerts finden negative Gotteserfahrungen keine Beachtung, wiewohl sich gerade eine Berücksichtigung der lutherschen Gotteser-

zwingt das Erlebnis des Kameradentodes zur Stellungnahme gegenüber dem Seelenproblem." im Sinne der Frage nach dem Weiterleben der Seele und dem Ewigen Leben (aaO. 155). Keine Spur des Deus absconditus im Todesschicksal! Eiert geht es lediglich um die Feststellung, daß die ferngerückten oder nur als gewußte Inhalte mitgeführten christlichen Inhalte- eben der Vorsehung Gottes, des Vertrauens, der Reue, des Ewigen Lebens - nun erlebte Realitäten werden. 18 Eiert, Steigerung 154f. Zum späteren Umgang mit vergleichbaren Phänomenen vgl. nur Eiert, Index; ders., Heimsuchung. " Eiert, Angst; zu Luther: 6f; Böhme: 9f. 20 Mystik 24 f; 72; 90; 96; 99; 100 - hier führt Eiert die Angstzustände Böhmes auf seine körperliche Anlage zurück! - 102; vgl. die Passage, die in nächster Nähe zur später vertretenen Position steht, aber doch himmelweit davon entfernt ist: 133 - dazu unten 4.2.1, S. 64f. 21 Das eine Interesse Elerts liegt darauf, daß es sich bei Böhme nicht um begriffliche Spekulation, sondern um die Selbstaussage religiöser Erfahrung handelt (etwa: Mystik 106f), denn nur so kann er die Untersuchung überhaupt als religionspsychologische durchführen; zur Identifikation Gottes mit dem Phänomen des Willens vgl. 87 u.ö.

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fahrung nahegelegt hätte: William James stellt Luthers Religiosität an zentraler Stelle seiner Schrift zur religiösen Erfahrung als Erfahrung des Zornes und der Gnade Gottes dar. Eiert zitiert 1 9 1 2 in einer religionspsychologischen Veröffentlichung eben jenes Kapitel der Jamesschrift, in dem sich die Passage findet, hat aber an dieser Lutherpassage selbst offenbar kein Interesse.22 Wohl wird in demselben Aufsatz von den psychologischen Bedingungen der Annahme des Evangeliums gesprochen (Grenzen 204) - ohne daß des Gesetzes oder der Erfahrung des Deus absconditus auch nur andeutungsweise Erwähnung getan wird.

1.3. Das Problem: Die Einfiigung der Gesetzesproblematik in eine im wesentlichen unveränderte Theologie. Damit dürfte die Problemstellung klar sein: Wie kommt es eigentlich zur Aufnahme einer .Theologie des mysterium tremendum' bei Eiert? Wie kommt es zur Lutherrezeption? Warum rückt das Thema des Gesetzes in das Zentrum einer Theologie, die zuvor fast beharrlich von diesem Thema schwieg? Das Problem ließe sich leichter lösen, wenn es bei Eiert wirklich Hinweise auf einen lebensgeschichtlichen Bruch gäbe, in dem sich ihm unwiderstehlich das Thema des Gesetzes und des Deus absconditus aufgedrängt hätte. Bei Eiert gibt es aber solche Brüche nicht. Es gibt kein Kriegserlebnis, das ihm den Bruch mit ,der' Theologie des 19. Jahrhunderts nahegelegt hätte 23 —

22 Vgl. Grenzen 157ff; 201 bezieht sich Eiert auf das dem Phänomen der .Bekehrung' gewidmeten Kapitel des Jamesschen Werkes, wo James eben auch auf Luthers Anfechtungserfahrung eingeht: James, Erfahrung 157fif, hier 198-200. 23 Es ist bezeichnend, daß derartige in der Literatur zuweilen geäußerten Vermutungen ohne Beleg bleiben: Weder gibt es biographische Hinweise, noch schlägt sich an irgendeiner Stelle im Kontext der Ausführungen über den Deus absconditus bzw. dessen Erfahrung das Kriegserlebnis so nieder, daß man von einem genetischen Zusammenhang sprechen könnte; vgl. zu den Hinweisen in der Literatur: Hauber, Eiert 121; Peters (Heimsuchung, bes. 261, dort Anm. 54) verweist auf Morph. I, 52, Langemeyer (Gesetz 61) auf Morph. I, 418f - beide Passagen tragen darum nichts aus, weil Eiert hier gerade nicht eigene Erfahrung, sondern den anderen zustoßenden Zusammenbruch durch den verlorenen Krieg (und eben auch nicht etwa durch das Kriegserlebnis!) notiert. Gelegentliche Hinweise aus späterer Zeit (Eiert, Index 20) sind angesichts von Texten wie .Steigerung' rückblickende Interpretationen, nicht aber Hinweise auf den Ursprungsort dieser Entdeckung des ,Deus absconditus'. Eine völlige Fehlanzeige in dieser Hinsicht sind auch die Feldprediger-Berichte, die Eiert während seiner Zeit als altlutherischer Feldprediger im .Kirchenblatt für die Ev.-luth. Gemeinden in Preußen von 1914-1918 verfaßte; Hinweise auf die Schrekken und Ängste des Krieges werden an keiner Stelle auch nur andeutungsweise als Erfahrung Gottes beschrieben — vgl. etwa: „Das feierliche Schweigen des schneebedeckten Waldes im Mondschein, während die Granaten hinüber und herüberfauchten, wird mir unvergeßlich bleiben. Es war, als ob die Natur den Atem anhielt vor Grauen über dem furchtbaren Morden, das die Menschen untereinander anrichten." (Kirchenblatt 69 / 1914, 806); .Aber Gottes Engel liegen als drittes Heer über den Armeen und schützen die, deren Leben der HErr erhalten will." (ebd. 70 / 1915, 106); auf diesen Grundton der Ermutigung und der blossen Anknüpfung an menschliche Erfahrungen sind die wenigen Predigtreferate - jeweils nur ein bis zwei Sätze - gestimmt, die Eiert bietet: „Als ich an das Heimweh der Soldaten anknüpfte, um sie an das Heimweh nach der schöneren Ewigkeit zu erinnern, da schluchzten viele, und mir selbst kamen fast die Tränen, weil ich

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schon darum nicht, weil die Tradition, aus der er stammt, auch ohne den Krieg fur den sog. Kulturprotestantismus nichts übrig hatte. Mehr noch: In der 1920 veröffentlichten Schrift .Dogma, Ethos, Pathos', in der das Thema des ,Deus absconditus' seinen Ort gehabt hätte, findet sich - nach dem Ersten Weltkrieg! - das hier relevante Thema in einem knappen Hinweis auf den Zusammenhang des Affektes der Reue mit dem des Vertrauens.24 Ferner: Es handelt sich bei Eiert um alles andere als einen radikalen theologischen Umbruch, der auch nur annähernd mit dem Aufbruch der .Dialektischen Theologen' verglichen werden könnte. Vielmehr finden sich allenthalben Kontinuitäten, so daß sich in der Zeit nach 1920 zentrale Themen der Frühzeit identifizieren lassen: die Morphologie des Luthertums ist sicher von Spengler beeinflußt, ist m.E. aber auch nicht denkbar ohne die Unterscheidung des Christentums als religiöses Erlebnis und des Christentums als Weltanschauung, die Eiert in seiner Frühzeit ausdrücklich von seinem Lehrer August Wilhelm Hunzinger übernimmt. 25 Auch beispielsweise die Prolegomena des .Christlichen Glaubens' setzen die Erfahrung des Kerygma und das christliche Dogma in ein Verhältnis, das sich ebenso bereits in seinen ersten Veröffentlichungen findet.26 Man hat es eben insgesamt nicht mit einem theologischen Bruch zu tun, sondern mit der Einfügung eines Themas - des Gesetzes und des Erlebnisses des Zornes Gottes — in eine gewiß modifizierte, aber doch ungebrochene Theologie; oder vorsichtiger: in eine Theologie, die sich eines grundsätzlichen Wandels nicht bewußt ist. Damit ist natürlich nicht die Unterscheidung von .Phasen', sondern ihr Zusammenhang das entscheidende Problem. Interessant ist also nicht das nackte ,daß' eines neuen Themas, sondern die Frage nach der inneren Logik des Hinzutretens dieses Themas: welchen systematischen Ort nimmt es ein, und welcher Problemkonstellation bietet es sich als Lösung an?

von Elend umgeben war." (aaO. 69 / 1914, 756); oder: „An diesem Sonntage ließen wir uns durch die zweite Epistel des Tages ... drei Heimwehfragen beantworten: Wo kommt nur unsere Sehnsucht her? Wo willst du hin, mein Kamerad? Was kannst du noch erhoffen?" (aaO. 70 / 1915, 758). Im Laufe der Jahre treten immer stärker Berichte von Begegnungen mit einzelnen Soldaten in den Vordergrund, die die Leser in der Heimat eben auch am meisten interessierten, die Berichte werden stereotyp und gewinnen nur nach einem Urlaub (aaO. 71 / 1916, 430-432) etwas an Farbe und Anschaulichkeit; 1918 tritt als neues Element eine bislang ungewohnte und herabsetzende Beschreibung von Gefallenen der Gegenseite auf (aaO. 73 / 1918, 56-58). Insgesamt könnte gerade das Stereotype der Berichte und die relativ häufigen Erkrankungen Elerts bzw. Bitten um Beurlaubung (69 / 1914, 790, vgl. 773; 70 / 1915, 189; 71 7 1916, 154; 71 / 1916, 430—432) ein Hinweis auf die außergewöhnliche Belastung sein, die diese Berührung mit de Krieg bedeutete (vgl. auch 70 / 1915, 790-792 den Hinweis auf den Segen der Privatbeichte) - dafür aber, daß dem Kriegserlebnis seine Herausstellung der Erfahrung des Deus absconditus enstamme, bieten die Berichte keinerlei Anhaltspunkt. 24 DEP 34f; dazu unten S. 50f; vgl. den zwei Jahre später liegenden, völlig anderen Umgang mit der Gotteserfahrung in .Forderungen', bes. 420f. 25 Dazu unten C, 1, S. 134-139. 26 Dazu unten B, 3.3., S. 113ff.

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Die Funktion des Gesetzesbegriffes bei Eiert

2. Genese und Sinn der Aufrahme des Gesetzesbegriffes Damit ist der Weg des nun folgenden Lösungsversuches vorgezeichnet. Ihm liegt zunächst eine Beobachtung und eine These zugrunde. Die Beobachtung: die Beschäftigung mit Luther und das Aufkommen des Gesetzesthemas fällt in die Zeit nach 1920. Mit dem Jahr 1921 - der Veröffentlichung des,Kampf um das Christentum' - endet die Beschäftigung mit dem Thema der Apologetik in dem Sinne, in dem diesem zuvor das Hauptinteresse Elerts gegolten hatte (ich komme darauf zurück). Die These: beides hat miteinander zu tun. Oder: das Thema des Gesetzes ist fur Eiert die Lösung des Problems, die er zuvor in einer spezifischen Gestalt der Apologetik gesucht hatte. Dafür drei Schritte: Unter (2.1.) erfolgt eine Skizze der Veröffentlichungen und des Anliegens der frühen Phase der Theologie Elerts; unter (2.2.) die Darstellung eines darin nicht bewältigten Problems. Der Abschnitt (2.3.) umreißt den sich bei Eiert seit 1920 abzeichnenden Ansatz einer neuen Lösung des Problems und die Einfügung der Gesetzesthematik. 2.1. Die Veröffentlichungen und das zentrale Anliegen Elerts in der Frühphase. Äußerlich betrachtet behandeln die frühen Veröffentlichungen Elerts eine kaum miteinander vereinbare, disparate Themenvielfalt: Neben geschichtsphilosophischen Schriften - den beiden Dissertationen, 27 einem Aufsatz mit dem Titel ,Die Wendung zur Geschichte und die Apologetik' von 1912 sowie einem sehr wichtigen Aufsatz zur ,Geschichtsauffassung der alttestamentlichen Poesie' von 1911 - stehen unvermittelt religionspsychologische Veröffentlichungen: zwei Beiträge zur Mystik Böhmes (1913 und 1914), eine auf den ersten Blick völlig skurrile Schrift zur ,Religiosität des Petrus' (1911), in deren Verlauf unter gänzlich unkritischer Auswertung alles biblischen Materials über Petrus abschließend seine unter dem Einfluß der Person Jesu und der Auferstehungserfahrung sich wandelnden Willensstrebungen in einer Abfolge von Formeln zur Darstellung gebracht werden.28 Diese Arbeiten und einige weitere bis zum Erscheinen des ersten großen Wurfes — ,Der Kampf um das Christentum seit Schleiermacher und Hegel'

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Philosophisch: Rocholl (veröffentlicht 1910); theologische Licentiatenarbeit: Prolegomena (veröffentlicht 1911). 28 Vgl. Religiosität 67-71. Es ist nicht recht nachvollziehbar, was eigentlich diese Veröffentlichung will. Es steht zu vermuten, daß sowohl diese Veröffentlichung wie die Studien zu Böhme gleichsam Materialsammlungen für eine empirische Analyse des religiösen Erlebnisses an herausragenden Typen sind, die in irgendeiner Weise im Gefolge von W. James stehen (vgl. Grenzen 157ff, bes. auch 252ff). Man kann hier nicht weiter als bis zu Vermutungen kommen; ich möchte aber annehmen, daß seine Darstellung des lutherischen Urerlebnisses letztlich auf den Versuch einer religionspsychologischen Analyse Luthers im Stile der frühen religionspsychologischen Veröffentlichungen zurückgeht.

Genese und Sinn der Aufnahme des Gesetzesbegriffes

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(1921) - verbindet nun aber doch ein gemeinsames Thema, nämlich die Apologetik, oder genauer: nicht so sehr bzw. nicht nur das Interesse an einer materialen Apologetik, sondern daneben auch das Interesse an einer präzisen Bestimmung des Rechtes und der Grenze des apologetischen Anliegens. Diese genauere Problemstellung ist tief in den Grundintentionen der Erlanger Theologie verwurzelt, der sich Eiert ausdrücklich verpflichtet fühlt - in dieser speziellen Frage Ihmels einerseits, andererseits Hunzinger. 29 Wie Frank lehnen diese Lehrer Elerts - wie dargestellt - ein apologetisches Anliegen der Theologie explizit ab, sofern darunter eine Begründung spezifisch christlicher Aussagen im Rekurs auf die Kriterien des allgemeinen Wahrheitsbewußtseins verstanden wird. Oder wieder präziser: abgelehnt wird ein solches Verfahren, wenn es die Begründung des Glaubensaktes etwa durch den Nachweis der Existenz Gottes oder der Möglichkeit des Wunders zum Ziel hat. An die Stelle dieser Apologetik tritt die Gewißheitslehre, die - wie ebenfalls dargestellt30 nicht darauf ausgeht, die Überzeugung des Christen durch Argumente zu stützen, sondern sie sieht unter Voraussetzung der in einer unableitbaren Erfahrung begründeten Gewißheit des Christen bezüglich seines Heils und bezüglich der Existenz der Glaubensgegenstände ihre Aufgabe in der Entfaltung und bloß immanenten Begründung bzw. Entfaltung dieser Gewißheit bezüglich der Glaubensgegenstände. Die Frage geht also nicht darauf, worin eine mögliche Gewißheit ihren Grund finden könnte, sondern auf die Entfaltung der Fundamente der faktischen Gewißheit; das Ziel ist somit nicht die Herstellung, sondern die gänzlich unmissionarische Analyse der Gewißheit des Christen 31 . Während Eiert diesen Punkt in beiden Positionen sieht und die Ablehnung einer konstitutiven Funktion einer die Gegenstände des Glaubens erst vergewissernden Apologetik übernimmt, ist ihm die Differenz beider Positionen jedenfalls in seiner Licentiatenarbeit nicht deutlich geworden;32 er bestimmt sie in dem schon mehrfach genannten Aufsatz zur Religionspsychologie so, daß bei Ihmels im Gegensatz zu v. Frank der Eindruck des Subjektivismus' dadurch vermieden werde, daß Ihmels die Heilsgewißheit auch umgekehrt von der Gewißheit bezüglich der Inhalte des Glaubens abhängig mache: 29

Dazu Slenczka, Studien Bd. 1, 295ff. Ebd., 84-101. 31 Ebd., 98-101; 86f, vgl. 108f. 32 In der theologischen Licentiatenarbeit stellt Eiert die Differenz so dar, daß sowohl Frank wie Ihmels bei der religiösen Erfahrung des Christen einsetzten, daß v. Frank aber von hier aus die transzendenten Realitäten direkt erschlösse, während Ihmels von der religiösen Erfahrung aus zunächst die Gewißheit des Wortes Gottes und von da aus mittelbar die Gewißheit der transzendenten Realitäten erreiche (vgl. Prolegomena 102f). Eiert hat nicht gesehen, daß das wesentliche der Ihmelsschen Position darin liegt, daß er die .Gewißheit um das Wort Gottes' nicht als mitgesetztes Implikat der zunächst gewissen Subjektivität, sondern diese Subjektivität selbst untrennbar als Gewißheit um das Wort Gottes bestimmt (s. Slenczka, Studien Bd. 1, 225-230; 248ff). Die Darstellung in Eiert, Grenzen 248ff ist wesentlich korrekter. 30

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Die Funktion des Gesetzesbegriffes bei Eiert

„Während Frank aus der Gewißheit um die Wiedergeburt die Gewißheit um die Glaubensobjekte ableitet, legt Ihmels mit Recht Nachdruck darauf, daß die Gewißheit um die Wiedergeburt nur in der Gewißheit um die objektiven Realitäten begründet sein kann. Das Verhältnis kehrt sich also nahezu um. Die Gewißheit der objektiven Realitäten geht nicht darin auf, daß sie die grundlegliche Erfahrung erstmals bewirken, sondern nur der Glaube an sie vermag die Gewißheit um die Wiedergeburt dauernd zu begründen." 33

Gemeinsam sei beiden Positionen der Versuch, die Gewißheit des Christen um Existenz und Wesen der Gegenstände des Glaubens - bei Eiert reduziert auf ,die Transzendenz' - zurückzuführen auf die Heilsgewißheit des Christen und als Moment dieses unverrückbaren Erfahrungsdatums zu begründen; Eiert betrachtet dieses Erfahrungsdatum gleichsam als den Ursprung von Behauptungen über eine Transzendenz, die nun etwa der Geschichtswissenschaft — so das Programm der ,Prolegomena' — als Grundlage einer Geschichtsphilosophie dadurch zur Verfügung gestellt werden können, daß in dieser Erfahrung sich ein Ziel der Geschichte erschließt:34 „Dann aber dürfte sich diese Teilung der Aufgaben empfehlen: in der Gewißheitslehre gibt das christliche Subjekt Rechenschaft darüber, auf welchem Wege es der transzendenten Realitäten gewiß geworden ist. Das Resultat dieser Disziplin setzt der Apologet schon voraus und zeigt nun, wie die transzendenten Realitäten den metaphysischen Hintergrund dessen bilden, was ihm als Resultat der empirischen Wissenschaften zur Verfügung gestellt ist." (Prolegomena 101)

Mit diesem Anspruch, daß die im christlichen Glauben erschlossenen Realitäten zur Integration der Gegenstände naturwissenschaftlicher und historischer Forschung fähig seien, ist Eiert der Neubewertung der Apologetik bei Ihmels und besonders Hunzinger verpflichtet, die unter Aufnahme von Ansätzen bei v. Frank die Auseinandersetzung mit der zeigenössischen Bestreitung der grundlegenden Inhalte des Glaubens nun nicht als Voraussetzung, sondern als Folge der christlichen, binnenkirchlichen Vergewisserung zum Programm erhoben 35 . An diesem apologetischen Programm ist Eiert in den genannten Schriften zur Geschichtsphilosophie interessiert, und diesem Programm dienen auch seine religionspsychologischen Untersuchungen in doppelter Hinsicht: Zum einen ist in diesem Konzept die religiöse Erfahrung und in diesem Sinne ein der psychologischen Analyse grundsätzlich zugängliches Datum der Ausweisgrund der,Transzendenz', so daß die Psychologie die Analyse dieses Vorganges zur Aufgabe hat — bis eben auf den Punkt der individuell-erlebnishafiten Vergewisserung bezüglich eines transzendenten Faktors, die

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Grenzen 248; vgl. auch: „Das Unterscheidende ist aber, daß Ihmels die Heilsgewißheit auch umgekehrt von der Gewißheit um die objektiven Realitäten abhängig macht. Und das ist das zweite wichtige Moment. Es verleiht dem Objektiven eine größere Selbstständigkeit." (250f) 34 In der Tat so schlicht: Prolegomena 76ff, vgl. 99ff. 35 Zu den Ansätzen bei v. Frank: Slenczka, Studien Bd. 1, 98—101, bes. aber 109—120; zur Weiterführung bei Ihmels und Hunzinger: ebd. 295-314.

Genese und Sinn der Aufnahme des Gesetzesbegriffes

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unableitbar ist.36 Zum anderen hat die Religionspsychologie die Aufgabe der Erhebung der psychischen Randbedingungen und rein psychologischen Voraussetzungen für den erfolgreichen Vollzug des religiösen Aktes.37 Grundsätzlich gilt also fiir die apologetischen und für die religionspsychologischen Arbeiten Elerts, daß sie von folgender Voraussetzung ausgehen: Das religiöse Erlebnis im Zentrum des Christentums setzt Aussagen über dieses Erlebnis selbst, über Gott, den Menschen und die Welt aus sich heraus, die auch dem Nichtchristen nachvollziehbar sind und, verselbständigt gegen die spezifische Erfahrung des Christen, eine christliche Weltanschauung darstellen. Das Christentum als Weltanschauung stellt eine positive Kulturgröße dar, deren Nützlichkeit und deren Vereinbarkeit mit den Ergebnissen der modernen Kultur und Wissenschaft demonstrierbar ist. Die Apologetik hat die Aufgabe, vor dem Forum der Wissenschaften diesen Horizont der ihrerseits unableitbaren religiösen Erfahrung zu analysieren und deren Anspruch auf die Integration aller Wirklichkeit auszuweisen38. Diese Unterscheidung des Christentums als Religion und des Christentums als Weltanschauung bei Hunzinger stellt das ausdrückliche Fundament der apologetischen Ansätze Elerts und auch seiner Auseinandersetzung mit den apologetischen Programmen dar, die sich die Begründung des Christentums als Religion zum Ziel setzen39. 2.2. Das unlösbare Problem. 2.2.1. Das Problem des Naturalismus'. Versucht man nun, die von Eiert bis zum Ersten Weltkrieg erreichte Position auf ein ungelöstes Problem hin zu lesen, so springt sofort die offensichtliche Unfähigkeit ins Auge, sich zum Wirklichkeitsverständnis der Naturwissenschaften bzw. zu der von Eiert diagnostizierten Weltanschauung des,Naturalismus' zu verhalten. ,Sich zu verhalten' ist eine sehr allgemeine Formulierung, die einer Präzisierung bedürftig ist, denn seine apologetischen Veröffentlichungen tun nichts anderes als dies: die Theologie bzw. das Christentum ins Verhältnis zum naturwissenschaftlichen Denken bzw. zu seinen weltanschaulichen Theoriebildungen zu setzen. Seine Ausführungen zielen auf eine Selbstimmunisierung der Theologie gegenüber dem Kriterienapparat, dem die naturwissenschaftliche Forschung das Feld möglicher Wirklichkeit unterstellt, und aus

36 Grenzen 252f; Eiert geht offenbar davon aus, daß das religiöse Erlebnis zwar in seinem Zusammenhang mit den übrigen psychischen Funktionen beschreibbar ist, nicht aber selbst aus diesen Funktionen ableitbar ist: als religiöses Erlebnis ist es Wirkung einer .Transzendenz' - vgl. 203f und 252f, dazu auch unten B, 3.1. 37 Ebd. 253. Auch dieses Konzept einer Religionspsychologie geht letztlich auf Hunzinger zurück, ohne daß hier nun eine genaue Analyse der Mißverständnisse Elerts nötig ist - vgl. Slenczka, Studien Bd. 1, II, 4.3.2. (308ff). 38 Vgl. bes. Wendung 485; unter direkter Bezugnahme auf Hunzinger: Wendung 466f; vgl. dort allerdings auch die Kritik an den späteren apologetischen Ansätzen Hunzingers: 472f. Dazu weiter etwa: Grenzen 197f. 35 Slenczka, Studien Bd. 1, 295ff. Eiert, Wendung 466f.

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Die Funktion des Gesetzesbegriffes bei Eiert

dem die Theologie nicht nur im Blick etwa auf die Behauptung der Auferstehung Jesu herausfällt. 40 Genauer versteht Eiert unter diesem Naturalismus (den er nirgends eindeutig definiert 41 ) die These, daß alle Wirklichkeit, um als Wirklichkeit gelten zu können, allgemeingültigen Gesetzen unterliegen und dem Zusammenhang einer Entwicklung aus einem einheitlichen, naturwissenschaftlich faßbaren Grunde eingeordnet werden können muß (.Monismus'). 42 Eiert hingegen sucht nach der Möglichkeit, ohne inhaltliche Abstriche und ohne den reduktiven Verzicht der Theologie auf gegenständliche Feststellungen die Rede nicht nur von einer Transzendenz, sondern auch von einem bestimmenden Einwirken dieser Transzendenz auf bestimmte Bereiche der allen zugänglichen Erfahrung als Möglichkeit offenzuhalten, so nun aber, daß diese Möglichkeit nicht in einer Auseinandersetzung mit naturwissenschaftlichen Forschungsergebnissen und so auf dem Boden der Naturwissenschaften gewonnen wird, sondern durch eine grundsätzliche Bestreitung von deren Anspruch, die allein zur Erfassung dessen, was ,real' ist, befähigte Instanz zu sein 43 . Dabei geht es gerade nicht um die Begründung dieser Transzendenz und ihres Wirkens als Grund der Möglichkeit des Glaubens, sondern um die Konfrontation der dem Glauben unverbrüchlich feststehenden Tatsachenfeststellungen mit einer diese ausschließenden allgemeinen Weltanschauung - also eben um die Auseinandersetzung mit den weltanschaulichen Verallgemeinerungen des naturwissenschaftlichen Zuganges zur Realität, die sich auch Hunzinger zum Ziel gesetzt hatte.44 Rein formal bedeutet dies, daß Eiert innerhalb des natürlichen', wissenschaftlichen Weltverständnisses argumentieren muß, und er leistet dies, indem er nach Bundesgenossen gegen den Universalitätsanspruch der naturalistischen Realitätskriterien sucht und diese im Bereich der sich ebenfalls in Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften etablierenden Geisteswissenschaften — bei Simmel, Rickert und Dilthey — findet.45

Zu diesem Programm vgl. bes. Wendung, hier 4 6 5 ^ 7 5 . Insgesamt: 4 8 5 Am ehesten in der Beschreibung der ,Naturforschung 1 und der Naturphilosophie' in: Wendung 468. 42 Ebd. 4 9 6 - 4 7 4 , bes. 473; vgl. aus späterer Zeit auch Irrwege 9ff, in der die bereits im ersten Aufsatz geübte Kritik vorausgesetzt ist. 43 Der Sinn der Kritik, der Eiert die traditionelle Gestalt apologetischer Auseinandersetzung mit naturalistischen Weltanschauungen in .Wendung' unterzieht, liegt darin, daß sich nach Eiert die Theologie dem Anspruch naturwissenschaftlicher Forschung, allein Wissenschaft zu sein und die alleinige Instanz zur Erfassung der Wirklichkeit zu sein, unterstelle und auf dieser Grundlage die Möglichkeit (nicht aber die allein in Frage stehende Realität) der eigenen Aussagen zu etablieren suche: Wendung 465—475; von dieser Kritik ist nach Eiert auch der späte Hunzinger berührt (vgl. 4 7 2 f neben der positiven Bezugnahme 4 6 6 f ) . 40 41

4 4 Vgl. zu Hunzinger Slenczka, Studien Bd. 1, II, 4.3. (302ff); zur Bezugnahme Elerts auf dessen Terminologie: Wendung 466, 469. 45 Bes. .Wendung', 475ff; vgl. auch Prolegomena 28ff; 73ff.

Genese und Sinn der Aufnahme des Gesetzesbegriffes

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2.2.2. Das Problem als Grundthema der frühen Veröffentlichungen Elerts. Diese Problemstellung erlaubt eine mühelose Integration der meisten Veröffentlichungen bis 1920, die mit leicht unterschiedlichen Bundesgenossen nicht nur eine Absage an den Naturalismus, sondern in sich allmählich verschärfender Radikalität an die Kultur des 19. Jahrhunderts insgesamt formulieren. 2.2.2.1. Die theologische Dissertation - ,Prolegomena zur Geschichtsphilosophie' - behandelt im sehr kritischen Anschluß an Simmeis ,Probleme der Geschichtsphilosophie' die Grundfragen dieser Disziplin: nach der Gesetzmäßigkeit in der Geschichte, und nach dem Ziel derselben. Eiert sucht nun nachzuweisen, daß die geschichtliche Wirklichkeit adäquat nur erfaßt werden kann, wenn man neben der mechanischen Kausalität eine finale Kausalreihe und entsprechend eine causa ultima der Geschichte annimmt.46 Als Grundlage zur Bestimmung dieser causa ultima bietet er die christliche Religion an: sie ist als Erfahrung Gottes die der Wissenschaft entzogene Quelle eines Gottesbegriffes, der außerhalb des religiösen Kontextes die Integration nicht nur des Geschichtsverlaufes auf ein Ziel hin, sondern auch — qua Zuordnung von finaler Heilsgeschichte und Schöpfung — die Einheit der beiden Kausalreihen und somit die Einheit der Wirklichkeitserkenntnis insgesamt gewährleistet.47 Die von Eiert selbst rückblickend als „ebenso unreif wie innerlich unsolide" bezeichnete Arbeit48 verbindet eine hausbackene Kantrezeption und -kritik mit einer auch in der Kritik fragwürdigen Simmelrezeption und Indizien eines offensichtlich übersteigerten Selbstbewußtseins (Aufstellen eines kantianisierenden .Schema der Teleologien') und ist hier auch nur in einem Punkt interessant weil signifikant: Sie unternimmt den Versuch, nachzuweisen, daß neben dem von den Naturwissenschaften beanspruchten Bereich des kausalen Mechanismus ein Wirklichkeitsbereich offen bleibe: Der Bereich der teleologisch verfaßten Organismen und der Geschichte als der Bereich des individuellen und kollektiven Zweckhandelns,49 im Anschluß an den sich das Christentum als Weltanschauung im Kontext der Wissenschaften als unentbehrlich erweist dadurch, daß es mit dem Gottesbegriff ein (dem religiösen Erlebnis entstammendes) Ziel der Geschichte und damit allen Zweckhandelns beistellt; mit dieser wissenschaftlichen Unentbehrlichkeit ist allerdings lediglich ein Ausweis der Integrationsfähigkeit und wissenschaftlichen Vermittelbarkeit, nicht aber eine religiöse Rechtfertigung erreicht oder auch nur intendiert50. Dies ist die Zielsetzung des ersten Teils: Prolegomena 28ff. Vgl. nur Prolegomena 73ff; 77f; 99ff. 48 Vgl. die Selbsteinschätzung in dem bereits zitierten Eintrag in das Goldene Buch der Universität Erlangen: Kaufmann, Eiert 237. 49 Vgl. Prolegomena 48ff. 50 Die genannte Kantkritik hat den Sinn, neben den .Kausalitätsbegriff - gemeint ist die Unterstellung aller Realität unter die Ursächlichkeit im Sinne der causa efficiens, vgl. Prolegomena 3 7 f — auch noch die Möglichkeit einer teleologischen Betrachtung der Wirklichkeit zu stellen 46 47

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Die Funktion des Gesetzesbegriffes bei Eiert

2.2.2.2. Der genannte apologetische Aufsatz (,Die Wendung zur Geschichtsphilosophie') befaßt sich weniger mit dem Gebiet der Geschichtsphilosophie als vielmehr mit der Historik selbst. Eiert bezieht sich hier auf Rickerts Unterscheidung von Natur- und Kulturwissenschaften mit dem Ziel, die Theologie in den Kreis der Kulturwissenschaften (= Geisteswissenschaften) einzuordnen und so als mit dem Individuellen und seiner Besonderheit befaßte Wissenschaft von der Rücksicht auf allgemeine Gesetzmäßigkeiten zu befreien. Es seien die Geschichtswissenschaften, mit denen sich die Theologie in ein schiedliches Benehmen setzen könne - Probleme träten nur dann auf, wenn wie bei Troeltsch - der Betrachtung des Christentums das Gesetz der Analogie und damit eine generalisierende Methode zugrundegelegt und somit die Geschichtswissenschaft auf naturalistischer Basis begründet werde.51 Wieder: interessant ist nicht das völlige Mißverständnis der Position Rickerts, die übrigens einigermassen adäquat referiert und dann völlig gegen ihren Sinn angewendet wird,52 sondern das Anliegen: es geht Eiert auch hier darum, den Universalitätsanspruch eines naturwissenschaftlichen Weltbildes mit Hilfe anerkannter wissenschaftlicher Bundesgenossen einzugrenzen und so dem Christentum bzw. der Theologie ein wissenschaftliches Lebensrecht zu erhalten.

(ebd. 4lfif), die er durch den Nachweis zu etablieren sucht, daß es unter der Voraussetzung der Effektursächlichkeit nicht deutbare Phänomene gibt (etwa 47f - vgl. den handgestrickten .Beweis' 48!). Das Ziel besteht darin, zum einen die teleologische Sicht der Geschichte zu etablieren, zum anderen nachzuweisen, daß eine solche Deutung der Geschichte notwendig einen tranzendenten Grund anzunehmen hat (6 Iff), den dann die Theologie bzw. das religiöse Erlebnis zur Verfügung stellt. 51 Wendung 475-480: Rickert-Rezeption; 482f und 486f: Troeltsch-Kritik. 52 Referat: 475^ί80; Anwendung 480ff. Die Aufnahme der Rickertschen Begründung der Kulturwissenschaften hat mit der Intention Rickerts selbst wenig zu tun und ist einer der Punkte, an denen man der Tatsache ansichtig wird, wie wenig Sinn es hat, Eiert unter Bezugnahme auf die von ihm zitierten Positionen zu interpretieren. Rickerts Unterscheidung individualisierender und am Allgemeinen orientierter Wissenschaften hat das Ziel, die Kulturwissenschaften als methodischen Zugang zu der einen Wirklichkeit vom methodischen Zugang der Naturwissenschaften zu unterscheiden, und ist als rein methodische Differenzierung auf die Ergänzung durch das zweite, materiale Merkmal - die Orientierung an Werten - angewiesen (Rickert, Kulturwissenschaft 77 und Kontext; zum formalen Merkmal: 54ff; zum materialen 27ff; zum Zusammenhang 102ff). Es ist also gänzlich sinnlos, die Zugehörigkeit des Christentums zu den Geschichtswissenschaften mit dem Argument zu begründen, daß die materialen Inhalte des Christentums individuell' seien in dem Sinne, daß das Christentum es mit der individuellen Seele zu tun habe (Eiert, Wendung 48 lf); auf der anderen Seite ist eben die Orientierung der Geschichtswissenschaft an .Werten' keine Bestimmung, der sich das Christentum unter Hinweis darauf zuordnen kann, daß es ihm wesentlich sei, die Seele als .Wertindividuum' zu betrachten - dazu noch mit dem Argument, daß Gott ,die ganze Seele' haben wolle, womit „der eigentümliche Wertgesichtspunkt zusammenhängt], von dem aus der Christ die Seele sieht. Will Gott die ganze Seele haben, so muß sie, eben als ganze, für Gott einen Wert haben." (aaO. 482). Es ist hier wie sonst verblüffend, wie Eiert ein relativ korrektes Referat einer Position (zu Rickert: aaO. 476-480) mit einer Auswertung verbindet, die nur als absolutes Mißverständnis bezeichnet werden kann.

G e n e s e u n d S i n n der A u f n a h m e des Gesetzesbegriffes

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2.2.2.3. Unter dieser Prämisse eines Bündnisses mit den sich wissenschaftstheoretisch rechtfertigenden Geistes- bzw. Geschichtswissenschaften stehen nun auch die religionspsychologischen Versuche Elerts, in denen er sich nicht nur in Kritik und Zustimmung an William James anschließt, sondern ausdrücklich unter Berufung auf Diltheys verstehende im Gegensatz zu einer mit naturwissenschaftlicher Methodik erklärenden Psychologie zu arbeiten beansprucht. Es geht ihm hier darum, zu zeigen, daß religiöse Vorgänge nicht aus den immanenten Gesetzmäßigkeiten des seelischen Apparates als fundierte Phänomene ableitbar sind, sondern daß die wissenschaftlich faßbare und beschreibbare Neuausrichtung des Willens, die das religiöse Phänomen kennzeichnet, zurückgeht auf das Wirken äußerer Größen, die sich dem religiös Affizierten selbst als von einer die Welt übersteigenden Transzendenz bestimmt darstellen.53 2.2.2.4. Die Einordnung der eigenen Anliegen in das Feld der sich wissenschaftstheoretisch etablierenden Geisteswissenschaften — belegbar in der Berufung auf Simmel, Rickert, Dilthey und auch Windelband - sind Indizien für eine Theologie, die sich den Grenzen des von den Naturwissenschaften als mögliche Wirklichkeit Vorgezeichneten dadurch entziehen will, daß sie ihrerseits diesen Anspruch begrenzt, ohne aber in den Bereich einer ausschließlich .transzendenten' Realität auszuweichen. Bereits die wissenschaftlich zugängliche Wirklichkeit soll sich als mit den theologischen Aussagezusammenhängen vermittelbar erweisen. Eiert kommt es eben darauf an, das wiederzugewinnen, was er in einem 1911 erschienenen Aufsatz als Geschichtsauffassung der alttestamentlichen Poesie' beschreibt: dort skizziert Eiert ohne apologetische Tendenz die dem Glaubenden erschlossene Integration von Schöpfung und Heilsgeschichte in das umfassende Wirken Gottes, auf das die theologische Dissertation hinauslief: „... in aller Existenz u n d aller Geschichte findet er [der Israelii] denselben tragenden G r u n d , aber nicht wie ein flaches, ebenes F u n d a m e n t , a u f das die Wirklichkeit erst projiziert wird, sondern wie einen einzigen zentralen L i c h t p u n k t , der alle Wirklichkeit wie Strahlen aussendet u n d sich in j e d e m Strahl als dessen Erzeuger d o k u m e n t i e r t . U n d w i e d e r u m ist diese alles b e g r ü n d e n d e Einheit nicht der große Pan, in dessen tote, glanzlose A u g e n m a n nur mit Langerweile oder mit G r a u e n blicken kann, sondern ein persönliches Leben, dessen N ä h e unser B l u t heißer, unser H e r z schneller schlagen m a c h t , das uns mit fortreißt zu einer elementaren Stärke der Lebenskraft u n d des Lebensgefühls, zu einer weltüberlegenen persönlichen G e m e i n s a m k e i t " . 5 4

S.u. S. 52; auch B, 3.1, S. 104-106. Geschichtsauffassung 347. Wie der Kontext zeigt, ist der Hinweis auf ,den großen Pan' nicht eine Frühgestalt des ,Deus absconditus', sondern stellt eine Abgrenzung gegen ein pantheistisches Gottesverständnis dar, so daß also ,das' große Pan gemeint sein dürfte (vgl. ebd. 346f)· Eiert apostrophiert hier eben gerade nicht eine mit Grauen verbundene Gotteserfahrung, sondern er hebt ohne Vermittlung die christliche bzw. die alttestamentliche Gotteserfahrung von der pantheistischen ab - vgl. Wendung 24. 53 54

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D i e Funktion des Gesetzesbegriffes bei Eiert

Dieses Zitat soll hier zunächst nur eines zeigen: Es geht Eiert darum, in der Auseinandersetzung mit dem naturalistischen, streng immanenten Wirklichkeitsverständnis der Naturwissenschaften das Recht zu begründen, die Geschichte als eine Teleologie zu erfassen und damit die Möglichkeit der Deutung der Wirklichkeit als Manifestation Gottes des Schöpfers und Erlösers festzuhalten. 55 Dabei handelt es sich - darauf zielt das Zitat - ausdrücklich um ein Erlebnis, das nicht auf die rein subjektive Verbindung einer zunächst wahrgenommenen, säkularen Realität mit einem davon unterschiedenen Gott zurückzuführen ist, sondern um die unmittelbare Erfassung aller Wirklichkeit als Manifestation Gottes. Dieser Position dienen die apologetischen Veröffentlichungen. 2.2.2.5. Versucht man nun, das Problem präzise zu benennen, dessen Lösung Eiert nicht gelingt, so besteht es genau darin, daß er zu einer theologischen Bewältigung der Gegenposition des .Naturalismus' nicht fähig ist. Gewiß, Eiert gesteht das Recht naturwissenschaftlicher Forschung zu; er sucht daneben das Recht einer — im Gottesbegriff begründeten — teleologischen Erfassung der Wirklichkeit bzw. das Recht individuierender Gegenstandsbetrachtung zu etablieren - aber dieses Nebeneinander wird nicht vermittelt. Neben dem Christentum liegt gleichsam ein beständig zu Übergriffen neigender Bereich, dessen sich die Theologie zwar mit Hilfe der Grenzziehungen anderer Wissenschaften zu erwehren sucht, zu dessen Integration und Begrenzung Eiert aber keine theologischen Kriterien aufzubieten weiß. Signifikant für diese Problemkonstellation scheint mir ein Aufsatz von 1920 zu sein, in dem Eiert unter dem Titel ,Irrwege der Apologetik' 5 6 — gegenüber den Vorkriegsveröffentlichungen um ein weniges radikalisiert — das Programm des ,Kampfes um das Christentum' präludiert: Ein Referat aller möglichen apologetischen Ansätze - auch der Versuche der Vermittlung mit den Geistes- bzw. Kulturwissenschaften 57 - und der Aufweis von deren Scheitern, der zum Schluß des Aufsatzes bezüglich der Auferstehung Jesu zu einer schieren, völlig unfruchtbaren Konfrontation führt: „Die Auferstehung Jesu ist keine nur übersinnliche Tatsache, sondern eine Tatsache, deren Erfolg die Jünger auch mit ihren Sinnen wahrgenommen haben wollten. Zwischen der Auferstehung Christi und der Wissenschaft gibt es keine Versöhnung, keine

55 Vgl. die konstitutive Bedeutung der Teleologie in dem Aufsatz ebd. 344f; vgl. die in der Unterscheidung zweier Einflußnahmen Gottes auf die Geschichte vorbereitete (343f) Zuordnung von Schöpfung und Erlösung (344). Vgl. die vergleichbare Intention in .Persönlichkeitskultur' zit. oben Anm. 15. Es ist eben entscheidend, zu sehen, daß hier wie dort die Geschichte die Erfahrung einer positiven Transzendenz ist und daß der Abweis des ,Pan'-Gottes eine Grenzbestimmung darstellt, die nichts mit dem späteren Urerlebnis zu tun hat (vgl. Anm. 54). 56 Der Aufsatz ist doppelt paginiert (als Teil der von v. Walter herausgegebenen Reihe ,Zeitund Streitfragen des Glaubens...' und als selbständiger Text); hier werden die Seitenangaben nach der selbständigen Paginierung vorgenommen. 57 Irrwege 16f.

Genese und Sinn der Aufnahme des Gesetzesbegriffes

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Verständigung ... Wenn die Wissenschaft: von ihren Voraussetzungen aus diese Tatsache für unwirklich erklären muß, so muß der Christ urteilen, daß dann die Voraussetzungen der Wissenschaft falsch sind. Es kann nur eine Wahrheit geben. Der wissenschaftliche Satz, daß alles Geschehen in der Welt aus einem einzigen lückenlosen Kausalzusammenhang mit der Notwendigkeit eines unverbrüchlichen Gesetzes hervorgehe, und der Glaube des Christen an die Lenkung aller Dinge, auch des geringsten Geschehens durch einen persönlichen Gott sind unvereinbar miteinander." (Irrwege 22)

Dem Christen seien eben durch seine Erfahrung Tatsachen zugänglich, die dieses wissenschaftliche Weltbild und seine Kriterien möglicher Wirklichkeit durchbrechen. Das Ausweichen auf die bloße und gerade in diesem Aufsatz sehr platte Konfrontation (vgl. aaO. 22-24) ohne die Fähigkeit, sich der Gegenposition zu vermitteln, ist, so scheint mir, ein Indiz des Scheiterns einer Suche nach wissenschaftlichem Anschluß unter Bezugnahme auf die Geisteswissenschaften, und damit auch ein Indiz der Unfähigkeit zur Bewältigung eines Gegners mit genuin theologischen Mitteln; Eiert bewertet auch in der Darstellung der zuvor noch positiv bewerteten Versuche, das Christentum mit Hilfe der Geschichte bzw. der Geisteswissenschaften mit dem allgemeinen Wahrheitsbewußtsein zu vermitteln, als ,Umweg' gegenüber dem einzig tragfähigen Grund: der Gewißheit des Glaubens (Irrwege 17) bzw. einer im Glauben erreichten .Tatsachengewißheit' - Eiert stellt hier ohne weitere Umstände die dem Glauben erschlossenen Aussagen über Gott bzw. über die Auferstehung, über die Natur als Schöpfung und Ort der Gegenwart Gottes als Tatsachenerfahrungen gegen die angeblichen Hypothesenbildungen der Naturwissenschaften (ebd. 23f). Die bedenkenlose Schlichtheit dieser Position ist Ausdruck einer tiefen Ratlosigkeit. Elerts Absicht in dieser Situation ist die einer Verselbständigung des Christentums gegenüber der Wissenschaft und die Absage an eine Apologetik, der er nun ohne jede Differenzierung das Anliegen einer wissenschaftlichen Begründung der religiösen Gewißheit unterstellt. 58 Zugleich erklärt sich die Leichtherzigkeit, mit der Eiert diese Absage vollzieht, aus der hier nur angedeuteten Grundbehauptung, daß die abendländische Kultur ihrem Ende entgegengehe und für das Anliegen der Vermittlung des Christentums ohnedies der falsche Gesprächspartner sei der Einfluß Spenglers wird spürbar (ebd. l f ) . 2.3. Elerts neue Lösung in der Schrift ,Der Kampf um das Christentum'. Die entscheidende Modifikation des Denkens Elerts auf dem Weg zur Aufnahme des Gesetzesbegriffes markiert neben der Schrift,Dogma, Ethos, Pathos' das erste große opus ,Der Kampf um das Christentum seit Schleiermacher und Hegel', das den Einfluß Spenglers auf die Position Elerts und vor allem dessen Richtung zu erkennen gibt.

58

Irrwege 1; 13; 19; 20!

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Die Funktion des Gesetzesbegriffes bei Eiert

2.3.1. Das Programm der Schrift. Das Werk stellt eine Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts dar, und zwar im Blick auf das beständig in einem Wechsel von Synthese und Diastase, Verschmelzung und Verselbständigung sich wandelnde Verhältnis des Christentums zur dieses umgebenden Kultur - mit dem Ziel dabei, zu zeigen, daß die Logik der theologiegeschichtlichen Entwicklung für die Gegenwart die entschiedene Verselbständigung des Christentums zur Aufgabe mache 59 : im Anschluß an die großen, gelungenen Synthesen von Christentum und Kultur bei Schleiermacher und Hegel sieht Eiert eine Bewegung der Verselbständigung zunächst der Wissenschaften, dann der Kultur vom Christentum und - reaktiv — umgekehrt sich vollziehen, dem mit untauglichen Vermittlungen die zeitgenössische Apologetik zu wehren sucht. 60 Eiert selbst empfiehlt - in ausdrücklichem Anschluß an die Erlanger Theologie (Kampf 285ff; 462ff) - einen Verzicht auf die scheiternden Versuche, das Christentum im Rekurs auf natürliche Evidenzen zu rechtfertigen, und votiert für eine Besinnung auf die Selbständigkeit des Christentums, deren Möglichkeit er darin begründet sieht, daß das Christentum grundlegend eine subjektive, persönliche' und in diesem Sinne nicht allgemeinheitsfähige Gewißheit darstellt, die sich selbst als Wirkung Gottes weiß.61 Eiert verfolgt damit das Anliegen, das Christentum in zwei Hinsichten - im Blick auf das religiöse Erleben und im Blick auf die zentralen Inhalte — aus der Bindung an die gegenwärtige Kultur und ihre Wissenschaft zu lösen: „... das einzige Mittel, mit dem sich der Christ gegen den Vorwurf der Illusion schützen kann, ist die Tatsache, daß er das subjektive Erlebnis nicht selbst hervorgerufen hat, sondern daß ihm die Anregung dazu von außen gekommen ist. Was aber das eigentümliche Erlebnis im Christen hervorruft, das sind jene Tatbestände der geschichtlichen Offenbarung, auf deren Isolierung innerhalb der übrigen Geschichte F R A N K S Vorgänger unter den Erlanger Theologen ... ihre Interessen konzentrierten. Erst eine Kombination beider Gedankenreihen, der einen, die das Christentum in der Geschichte, und der anderen, die es als subjektives Erlebnis qualitativ verselbständigt, ist imstande, auch der Theologie diejenige Selbständigkeit zu geben, die ihr die Selbstbehauptung in der ihr sonst lebensgefährlichen Diastase mit der allgemeinen Kultur sichert." ( K a m p f 296)

Eiert intendiert dabei keinen vollständigen Verzicht auf eine Auseinandersetzung mit den .immanenten' Wissenschaften (vgl. Kampf 468 mit 291!),

Z u m P r o g r a m m s.u. S. 148 5 4 . Vorläufig 3f. S. auch.u. C , 1.3.1. Elerts Werk ist so aufgebaut, daß er eine fortschreitende B e w e g u n g der Entchristlichung der Kultur u n d eine einerseits ermattende, anderereits z u n e h m e n d problematische B e w e g u n g der Synthesebildung in der theologischen Apologetik nachweist (dazu genauer unten S. 148 5 4 ). D a b e i zeigt Eiert, daß sich in der Verselbständigung der Kultur selbst wieder religiöse Motive ausbilden u n d geltend machen, die als Versuche, das Z e n t r u m des C h r i s t e n t u m s - das religiöse Erlebnis - zu ersetzen, Konkurrenzinstanzen des C h r i s t e n t u m s darstellen. 59

60

61 Vgl. die Darstellung Franks in: K a m p f 2 9 I f f , bes. das R e s ü m e e 2 9 6 , das auf den S c h l u ß des Buches vorausgreift, w o Eiert gerade diese Erlanger T h e o l o g i e in ihrer Selbständigkeit gegen die Kultur bzw. das wissenschaftliche Wahrheitsbewußtsein als künftige Gestalt der T h e o l o g i e empfiehlt (497f; vgl. auch 4 6 2 f f ) .

Genese und Sinn der Aufnahme des Gesetzesbegriffes

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sondern plädiert für ein wissenschaftliches Bewußtsein der Theologie, das darauf basiert, daß die Theologie sich dessen bewußt ist, daß ihr zentraler Gegenstand Sachverhalte sind, die ihr aufgrund eines spezifischen sittlichen Erlebnisses erschlossen und zugänglich sind und als selbständige der theologisch-wissenschaftlichen Bearbeitung unterliegen (Kampf 4 6 8 f u.ö.)· 62 Die Apologetik hat in diesem Zusammenhang eine ausschließlich negative Aufgabe, nämlich die, das Christentum gegen die Kultur der Gegenwart zu profilieren.63 Elerts Anliegen ist es dabei, das Christentum aus der Verbindung mit einer untergehenden Kultur zu lösen und in den Anbruch einer neuen Kultur hinüberzuretten, so daß es dort wieder seine Wirksamkeit entfalten kann. 64 62 Eiert verzichtet dabei mitnichten auf den Anspruch der Theologie auf den Titel einer Wissenschaft; einen solchen Verzicht identifiziert er bei Vilmar (Kampf 291); er wendet sich gegen den Versuch des ,Brückenschlages' zu anderen Wissenschaften (469 und f im Kontext von 430^484) und deren Begründungsfunktion für die theologischen Inhalte. Die Position Elerts erklärt sich daraus, daß er den Begriff der Wissenschaft insgesamt pluralisiert, und zwar im Ausgang von der Unterscheidung von Natur- und Geisteswissenschaften, die er weiter differenziert und so das Bild einer methodisch wie in den Resultaten pluralen Situation der Wissenschaft heraufbeschwört. Er sieht durchaus die Gefahr einer Beliebigkeit der solchermassen jeder Kontrolle entzogenen theologischen Aussagen und stellt fest, daß es .Gemeinsamkeiten im Erkennen und Wissen der Menschen' gebe, an denen die Wissenschaften teilhaben müßten - daß diese Gemeinsamkeiten aber nicht rationalistisch reduziert werden dürften: ,Aber wie man auch über die kategorische [gemeint: kategoriale] Gemeinsamkeit der Zeit- und Raumempfindungen aller Menschen urteilen mag, in jedem Fall gibt es empirische Erkenntnis-, Empfindungs- und Willensgemeinschaften der menschlichen Kulturen. Und eine bestimmte Art solcher Gemeinschaften muß allerdings vorhanden sein, wenn es zur Wissenschaft kommen soll. Dies ist dasjenige Kennzeichen der Wissenschaft überhaupt, das sie vom zufälligen Wissen eines einzelnen unterscheidet: sie ist eine überindividuelle Organisation des Wissens." (493) In dem Konzert der Wissenschaften begründet sich das Recht der Theologie als Wissenschaft s.M.n. dadurch nicht durch einen Willkürakt, daß sie das Vorhandensein der Christenheit und so einer ,Erkenntnis- und Willengemeinschaft' voraussetzt. - Was Eiert offensichtlich nicht aufgegangen ist, ist dies, daß die faktische methodische Zersplitterung der Wissenschaft eben nicht das Ende ihres Anspruches bedeutet, auch die spezifische Methodik und das spezifische Ergebnis nicht nur einer spezifischen Gemeinschaft, sondern jedem Denkfähigen zugänglich und einleuchtend machen zu können. Der Anspruch der Voraussetzungsfreiheit in diesem Sinne unterscheidet die Wissenschaft von der Ideologie, und darin liegt das eigentliche Problem des Verhältnisses der Theologie zu den übrigen Wissenschaften, das Eiert hier generös übersieht. 63

Kampf 493f. Vgl. Kampf 489: „Darum gibt es in diesem Augenblick fur diejenigen, die von der Christenheit zu ihren Wortführern bestellt sind, nur ein einziges großes Gebot: Das Christentum aus den Verschlingungen mit einer untergehenden Kultur zu lösen, damit es nicht mit in den Strudel hinabgerissen werde."; bes. auch 490 - der Vergleich mit den Pilgervätern, die ausschließlich mit der Bibel unter dem Arm in die neue Welt gezogen seien. Das erste Zitat hat Hirsch in seiner Rezension (Rezension 281) zu folgender wunderbarer Replik veranlaßt: „Leider, leider beruft sich dann E. zum Schluß noch auf Spengler und fordert die christlichen Theologen auf, - gewissermassen als Ratten - das leckgewordene Schiff der Kultur zu verlassen. Das ist nicht fein empfunden, und bleibt hinter dem letzten Gesichtspunkt des Verf.s unnötig zurück. Es erniedrigt zu einem taktischen Verhalten, was ihm letztlich doch Ausdruck eines zur Gesinnung gewordenen Grundsatzes ist." - Es ist zu vermuten, daß auch Elerts zeitweiliges Interesse für die russische Religionsphilosophie (Religionsphilosophie, 1925) auf die Voraussage Spenglers zurückgeht, daß der russische Kulturkreis die im Aufbruch begriffene Kultur der Zukunft sei (Spengler, Untergang I, 152), so 64

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Die Funktion des Gesetzesbegriffes bei Eiert

2.3.2. Der EinflußSpenglers. Dem Programm liegt die von Spengler übernommene Diagnose des Unterganges des Abendlandes zugrunde; gerade die von Eiert als für das Christentum bedrohlich betrachteten Erscheinungen - der Rationalismus und Naturalismus - sind nach Spengler Indizien für den Greisenzustand einer Kultur: Es handle sich um die ausgebrannten Hüllen der einst von einer Kulturseele durchwalteten und belebten Gestaltungen derselben, wobei Spengler selbst diese Kulturseele auf einen nicht näher definierten göttlichen Ursprung zurückführt.65 Spenglers schillerndes und in seiner Intention vielschichtiges Werk ist wie das Vorwort zu erkennen gibt, zunächst getragen von der Behauptung, daß der Erste Weltkrieg und sein für Deutschland unglückliche Ausgang die Vollstreckung eines unausweichlichen Geschickes der abendländischen Kultur sei66. Spengler nimmt eine weitreichende und in Deutschland tiefverwurzelte Kritik an der westlichen Kultur insgesamt auf, die die Kriegsgegnerschaft gleichsam auf das ideologische Fundament hin durchsichtig macht und die den Kampf Deutschlands gegen England und Frankreich als Kampf gegen die westliche Kultur verständlich macht67. Man wird dessen ansichtig, wenn man die zur Illustration des Gegensatzes von ,Kultur' und .Zivilisation', der Kulturseele in ihrer vollen Gestaltungskraft und des Greisenzustandes der Kulturseele, angezogene Gegenüberstellung von Griechentum und Römertum analysiert: In genau diesen Stereotypen wurde in der zeitgenössischen Tagesmeinung der Gegensatz zwischen Deutschtum und der angelsächsischen Mentalität beschrieben: „Die Zivilisation ist das unausweichliche Schicksal einer Kultur.... Zivilisation sind die äußersten und künstlichsten Zustände, dem eine höhere A r t Mensch fähig ist. Sie

daß im Hintergrund das Projekt einer Erforschung der neuen Kultur, in der das Christentum zu stehen kommt, sich verbergen könnte - Eiert ist bis auf gelegentliche Verweise in seiner Dogmatik auf diese Ansätze nie mehr zurückgekommen. 65 Vgl. nur die methodischen Erörterungen Spenglers: Untergang I, 132-163, bes. 1 4 1 143; zum .göttlichen Ursprung' der Kulturseele 153-155; näher zur Konzeption unten C, 1.1.2, S. 131ff. 66 Diese Deutung der Intention der Schrift stützt sich auf das Vorwort, in dem Spengler das gesamte Werk in den Zusammenhang des Weltkrieges stellt — mit der Behauptung einerseits, daß der Titel seit 1912 festgestanden habe, mit der Behauptung andererseits, daß die Ereignisse (gemeint: der Krieg und sein Ausgang) seine Diagnose bestätigt hätten. ,Am Anfang einer Epoche' nämlich des Unterganges des Abendlandes - stehe die gegenwärtige Kultur - der Weltkrieg wird so als der Anfang des Unterganges, d.h. als der Übergang in den Greisenzustand der abendländischen Kultur beschrieben (alle Belege aus: Spengler, Untergang I, Vllf)· Der Titel, so Spengler, sei im Blick auf den Untergang der antiken Kultur gewählt, den Spengler eben - wie das im folgende gebotene Zitat (unten S. 45) zeigt - im Sieg des Römertums über das Griechentum sich vollziehen sieht; die deutlichen Parallelen zu den zeitgenössischen Stereotypien der Völkercharakteristika zeigt, daß Spengler den innerabendländischen Bruderkrieg als den Vollzug des Sieges der .Zivilisation' über die .Kultur' und in diesem Sinne als den Beginn des Unterganges des Abendlandes deutet. Vgl. auch Anm. 68. 67 Vgl. etwa die berühmte Rede Reinhold Seebergs: Seeberg, Krieg, bes. 142, dazu unten Anm. 68.

Genese u n d Sinn der A u f n a h m e des Gesetzesbegriffes

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sind ein Abschluß; sie folgen d e m W e r d e n als das G e w o r d e n e , d e m Leben als der Tod, der E n t w i c k l u n g als die Starrheit, d e m L a n d e u n d der seelischen Kindheit, wie sie D o r i k u n d G o t i k zeigen, als das geistige G r e i s e n t u m u n d die steinerne, versteinernde Weltstadt. Sie sind ein E n d e , u n w i d e r r u f l i c h , aber sie sind m i t innerster N o t w e n d i g k e i t i m m e r wieder erreicht w o r d e n . D a m i t erst wird m a n d e n R ö m e r als d e n Nachfolger des H e l l e n e n verstehen. ... D e n n was h a t es zu b e d e u t e n ..., d a ß die R ö m e r Barbaren gewesen s i n d , . . . die e i n e m g r o ß e n A u f s c h w u n g n i c h t vorangehen, s o n d e r n ihn beschließen? Seelenlos, unphilosophisch, o h n e Kunst, animalisch bis z u m Brutalen, rücksichtslos auf materielle Erfolge haltend, stehen sie zwischen der hellenischen K u l t u r u n d d e m Nichts. Ihre n u r auf das Praktische gerichtete E i n b i l d u n g s k r a f t — sie besassen ein sakrales Recht, das die Beziehungen zwischen G ö t t e r n u n d M e n s c h e n wie zwischen Privatpersonen regelte, aber keine S p u r t eines M y t h o s - ist eine Anlage, die m a n in A t h e n ü b e r h a u p t nicht antrifft. Griechische Seele u n d römischer Intellekt - das ist es. So unterscheiden sich K u l t u r u n d Zivilisation. D a s gilt nicht n u r von der Antike. I m m e r wieder t a u c h t dieser Typus starkgeistiger, v o l l k o m m e n unmetaphysischer M e n s c h e n auf. In ihren H ä n d e n liegt das geistige u n d materielle Geschick einer jeden Spätzeit. ... In solchen Perioden sind der B u d d h i s m u s , Stoizismus u n d Sozialismus zu endgültigen Weltstimm u n g e n herangereift, die ein erlöschendes M e n s c h e n t u m in seiner ganzen Substanz n o c h einmal zu ergreifen u n d umzugestalten v e r m ö g e n . D i e reine Zivilisation als historischer Prozeß besteht in e i n e m stufenweisen A b b a u anorganisch gewordener, erstorbener Formen." 6 8

68 Spengler, Untergang I, 43f. Die zeitgenössische Aktualität der Stereotypien wäre nur durch eine Auswertung zeitgenössischer Presseorgane und verwandter Erzeugnisse zu leisten; ich verweise hier nur auf: Seeberg, Krieg, der zunächst Typen der Kultur unterscheidet, als die großen Typen die .persönliche Kultur', die ,Kultur des Beamtenstaates' und die .Kultur des Idealismus', als deren Untertypen die Agrarkultur von religiöser, konservativer Grundstimmung, und die Oberflächlichkeit des veräußerlichten und an Materiellem und dessen Verbesserung interessierten Typus der .technischen Kultur'. Aus diesen Elementen zeichnet Seeberg dann das Bild einer Idealkultur, den Fortschritt zu dieser seinen Hörern als Bestimmung der Deutschen vorhaltend, und gleichzeitig an diesem Ideal die Kriegsgegner messend und zu leicht befindend: 136, und den Krieg Deutschlands insbesondere gegen England und Rußland als Krieg gegen die beiden imperialistischen Gefahren gegen die Kultur deutend - und hier tauchen in der Schilderung Englands die Elemente auf, mit denen Spengler die römische Zivilisation charakterisiert: „Wenn wir eben festgestellt haben, daß wirkliche Kultur nur die Kultur ist, die die menschlichen Dinge mit dem Höchsten in Beziehung setzt, die den Menschen auf die Höhe des geistigen Lebens erhebt und ihn zu einem Gliede der geistigen Welt macht, dann ist ein Land, das immer mehr in Merkantilismus, in Industrialismus, in technischer Kultur versinkt, bei dem infolgedessen immer stärker die Veräußerlichung und Vereinseitigung des ganzen Lebens wird - dann ist solch ein Land ... nicht der geeignete Hüter der Weltkultur." (ebd. 143) - der Verweis auf das .Versinken in technischer Kultur' macht eben deutlich, daß mit der zuvor gebotenen Skizze der .technischen Kultur' und den dort notierten Stereotypien bereits England im Blick war (ebd. 123f; 125f). Aus dem Kontext der Jugendbewegung: Natorp, Tag, hier 41, bes. aber der Vergleich der Kulturstufen der am Krieg beteiligten Völker: 66fF, bes. zu England: - 69ff, bes. 72! - , das charakterisiert wird als gelenkt vom Prinzip des ,do ut des', der Verwendung von Mitteln ohne höhere Ziele und Zwecke. Vgl. dazu die Charakteristik Deutschlands: 74ff. Vgl. vergleichbare Antithesen bei: Lagarde, Die graue Internationale, in: ders., Schriften 337-349; zum Gegensatz gegen die westlich-liberale Kultur in einer gerade nach 1918 wirksamen Geistesströmung: Stern, Kulturpessimismus; vgl. Graf, Kulturluthertum, bes. 6 4 - 6 9 im Zusammenhang mit 57-63. Dazu auch ders., Deutung, bes. 172178; 181fF; 189ff; 199ff.

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Die Funktion des Gesetzesbegriffes bei Eiert

Der Beschreibung liegen die großen Antithesen zugrunde, die die neuromantische Kulturkritik bewegten und die im Laufe des Ersten Weltkrieges auf den Gegensatz zu den Westmächten bzw. zum Bolschewismus übergegangen waren: Der Gegensatz von wesenlosem Intellekt und Gefühl. Wissenschaft gegen die Erfahrung des Lebens. Darüber das Thema der Jugendbewegung: Das Alter gegen die Gestaltungskraft und den Idealismus der Jugend. Die Deutung der eigenen Zeit als der Zeit eines solchen Uberganges, in dem eben der Römer über den Griechen siegt, damit eben einen weiteren Schritt auf den beiden bevorstehenden Untergang hin besiegelnd — das Geld, die Rechenhaftigkeit der Wirklichkeit, wird zur prägenden Macht der kommenden Zivilisation, der Verlust an Wertbewußtsein, die Reduktion der Weltdeutung auf den Journalismus in der Gegenwart und die Rhetorik in der Antike. Ich reduziere die Bedeutung Spenglers fur Eiert auf einen Punkt, den Eiert an entscheidender Stelle seines Werkes hervorhebt: Spengler behauptet, daß am Grunde des rationalen Denkens und insbesondere am Grunde des kausalmechanischen, naturwissenschaftlichen Weltbildes eine ursprüngliche Realität stehe: der irrationale Trieb des seelischen Lebens zur Entfaltung, zur Erfüllung eines vorgegebenen Schicksals im Laufe seiner Geschichte. Unter der erstarrten Außenform der Rationalität verdeckt sich das vergreisende Leben der Kultur diese Lebendigkeit: „Wer das Element der Empfindungswelt zergliedert, indem er es erkennt, durch das Medium der kausalen Erfahrung sich aneignet, es aus dem Zusammenhange eines mechanischen Ganzen deutet, wer also alles lebendige Werden dem starr Gewordenen einordnet, wird mit Notwendigkeit die ganze Summe des Daseins aus der Perspektive von Ursache und Wirkung übersehen, ohne inneres Gerichtetsein, ohne Geheimnis. Hier liegt der Machtbereich der ,Kategorien des Verstandes' die Kant mit Recht für a priori wirksam hielt, Formen des exakten Erkennens, welche eine Oberflächenwelt, ein Natursystem, einen Reflex des Geistes erzeugen. Wer aber, wie Goethe, wie beinahe jeder Mensch in gewissen Augenblicken seines Daseins, die Umwelt als ein Lebendiges anschaut, das Gewordene als Werden nachfühlt, die Weltmaske der Kausalität lüftet, für den ist die Zeit plötzlich kein Rätsel mehr, kein Begriff, keine Dimension, sondern etwas innerlich Gewisses, das Schicksal selbst; ihr Gerichtetsein, ihre Nichtumkehrbarkeit, ihre Lebendigkeit erscheint als der Sinn des historischen Weltaspekts. Schicksal und Kausalität verhalten sich wie Zeit und Raum." (Spengler, Untergang I, 166)

Es bedarf hier keiner weiteren Präzisierung des Spenglerschen Gedankens; Eiert sah hier offenbar die Möglichkeit, dem Allmachtsanspruch der Naturwissenschaften wirksam entgegenzutreten: er rezipiert Spengler im Rahmen des,Kampfes um das Christentum' als den Höhepunkt der Verselbständigung der Kultur gegen das Christentum, den Punkt, an dem sich die Vorstellung einer ,Natur an sich', die das naturwissenschaftliche Denken beherrsche und ermögliche, auflöse69.

69

Kampf 327; vgl. das Zitat S. 47f.

Genese und Sinn der Aufnahme des Gesetzesbegriffes

47

Spengler und die übrigen in der Schrift rezipierten Gestalten des Protestes gegen die vermeintlich abgewirtschaftete rationale Kultur des 19. Jahrhunderts70 geben Eiert die Möglichkeit an die Hand, nun wirksam nicht zu einer Nebenordnung der Wirklichkeitserfahrung des Christentums und des naturwissenschaftlich Faßbaren zu gelangen, sondern die naturwissenschaftliche Wirklichkeit als das Gemächte eines Verstandes zu erfassen, der sich selbst die Irrationalität und Unbeherrschbarkeit der Wirklichkeit verdeckt und übersieht, daß er selbst die von einem irrationalen Geschick bestimmte Gestalt des Greisenzustandes der Kultur ist. So verortet Eiert selbst die Spengler-Darstellung im Kontext einer Darstellung der neukantianischen Versuche einer Etablierung der Geisteswissenschaften neben den Naturwissenschaften, an die er zuvor wissenschaftlichen Anschluß und eine Basis des Ausweises eines wissenschaftlichen Rechtes der Theologie gesucht hatte.71 Eiert sieht dabei die Bedeutung Spenglers darin, daß er es erlaubt, die Erkenntnisse der Naturwissenschaften gerade nicht als Zugang zur .Wirklichkeit an sich', sondern als den einer Spätphase einer Kultur eigentümlichen Modus der Realitätswahrnehmung zu bestimmen und somit als eine Weltanschauung, die mit dem prognostizierten Untergang der abendländischen Kultur zu Ende gehen würde: „Daß Natur geworden sei, diese Erkenntnis bildet schon selbst bei HAECKEL und ein historisches Moment. Allein für diese ist die Natur doch auch unabhängig vom Menschen so vorhanden und so geartet, wie der Mensch von heute sie zu sehen glaubt. Für SPENGLER dagegen ist sie lediglich eine Funktion der Seele, nur so geartet, solange dieser seelische Typus, auf den sie bezogen ist, seine innere Form behält. Sie war für die antike oder die ägyptische Seele anders als für uns und wird ftir eine zukünftige Kultur wieder anders sein. Losgelöst von aller Seele gibt es keine Natur." 72 DARWIN

Diese Deutung des naturwissenschaftlichen Weltbildes als einer kulturell bedingten Reditixsivahrnehmung erlaubt es, die vermeintlicht Allgemeingültigkeit der naturwissenschaftlich beschreibbaren und gesetzlich geregelten Realität und der entsprechenden Limitationen des in dieser Denkbaren zu hintergehen: „Auch Spengler freilich kennt Natur als Gegensatz zur Geschichte. Natur ist ihm das Gewordene, Erkannte, in Gesetzen, Zahlen und Grenzen Faßbare, ein System, ein Mechanismus von Ursache und Wirkungen. Geschichte dagegen ist unmittelbarer Ausdruck des Werdens und Lebens, sie wird erschaut, sie kennt nicht die Notwendigkeit von Ursache und Wirkung, sondern allein diejenige des Schicksals. Aber für den Menschen der gegenwärtigen, der abendländischen Kultur löst sich doch auch die ganze Natur zuletzt in Geschichte auf. Er bemerkt, daß auch das scheinbar Starre, Unverän-

70

Kampf 350-365, bes. 360ff. Vgl. 321-326 - dort Referat der zuvor von Eiert aufgenommenen Positionen Rickerts, Diltheys etc.; vgl. dazu Eiert, Wendung. 72 Kampf 327; zu Spengler vgl. unten C, 1.1.2. Vgl. zur Bedeutung der Untergangsdiagnose auch bes. Eiert, Kritik 400. 71

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Die Funktion des Gesetzesbegriffes bei Eiert

derliche in der Natur, ihre Gesetze, ihre Zahlen, die Mathematik als reinster Audruck natürlichen Seins, ja selbst die erkenntnistheoretischen Begriffe erst geworden sind, Geschöpfe der Seele einer bestimmten Kultur, die das alles erlebt und in diesen scheinbar ewig gültigen Dingen nur gerade für ihr besonderes Erlebnis einen symbolischen Ausdruck gefunden hat. Welt gibt es immer nur in bezug auf eine bestimmte Seele. Es gibt keine Welt, keine Natur, keine Wirklichkeit an sicb."7i

Diese Möglichkeit, ,Natur' und ,Geschichte' nicht als zwei Realitätsbereiche - wie noch in der Licentiatenarbeit - oder als zwei Betrachtungsweisen der einen Wirklichkeit einander zu koordinieren, sondern das naturwissenschaftliche Denken selbst einem geschichtlichen Weltbild zu integrieren, es als geschichtlich geworden und wieder vergehend auszuweisen und so seinen Geltungsanspruch auf eine ursprünglichere, schicksalhafte, irrationale Realität hin zu hintergehen 74 - dies ist der Gedanke, den Eiert Spengler verdankt und der es ihm erlaubt, das naturwissenschaftliche Denken und dessen Gesetze als nur ,scheinbar' unverbrüchlich ausweisen zu können: Die Wirklichkeit ist nicht das helle Bild allseitiger Kausalität, das die Naturwissenschaft von ihr entwirft, sondern von einem Geschick beherrschte Bewegung lebendiger Gestaltung, dessen Moment lediglich das naturwissenschaftliche Weltbild darstellt. Dies Interesse Elerts läßt sich an einem Beispiel ausweisen: Bei Spengler ist diese Kritik des Rationalen verbunden mit einer Zeitspekulation. Er beschreibt die Abkehrbewegung, die der Vertreter des Rationalismus vollzieht, als eine Art Blick in die Vergangenheit: statt sich der Unentrinnbarkeit des Schicksals auszusetzen, betrachtet der Rationalist bzw. der Vertreter der exakten Naturwissenschaften das Werdende als Gewordenes, als toten, systematisierbaren Stoff, unterstellt es der .Kategorie des Raumes', womit er sich eben die Unentrinnbarkeit und Unumkehrbarkeit des ein Verhängnis exekutierenden Zeitablaufes zu verdecken sucht.75 Genau diese Elemente macht sich Eiert in relativ freier Anknüpfung in einer Reihe von Aufsätzen in den 20er Jahren zunutze — insbesondere in der Veröffentlichung ,Die Transzendenz Gottes' von 1923 - in denen er nach neuen, der Gegenwart angemessenen Möglichkeiten des Ausdrucks für die Transzendenz Gottes sucht. Als Gegeninstanzen und nicht mehr nachvollziehbare Möglichkeiten kommen dabei einerseits ethische Kategorien, zum anderen aber räumliche Bilder (,das Jenseits') zur Sprache; Elerts Vorschlag hingegen orientiert sich sichtlich am Phänomen der Zeit und beschreibt Gottes Transzendenz als die Ungreifbarkeit der die Gegenwart bereits bestimmenden, schicksalhaften Zukünftigkeit seines Zorngerichtes, die sich der Mensch eben durch eine Deutung der Transzendenz als eine Art räumliche Transzendenz verdecke; genau diese Umorientierung von 73 Kampf 326f; Kursivierung N.S.; zu Spengler selbst vgl. Untergang I, 183 und ff; dazu unten C, 1.1.2, S. 131ff. 74 Vgl. bes. Spengler, Untergang I, 167! 75 Vgl. Spengler, Untergang I, 164-181.

Genese und Sinn der Aufnahme des Gesetzesbegriffes

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.räumlichen' auf .zeitliche' Kategorien glaubt Eiert Spengler entnehmen zu können. 76 2.3.3. Der Gewinn der Spengler-Rezeption. Eiert verweist in diesem und ähnlichen Zusammenhängen des öfteren auf die oben zitierte Passage und das Kapitel des .Unterganges', dem sie entstammt: .Schicksalsidee und Kausalitätsprinzip'. Sie gehört zu den wirkungsvollsten dieses Werkes - auch Karl Heim ist davon beeinflußt. 77 Was er, Eiert und andere Theologen dort finden, ist eine radikale Relativierung des Geltungsanspruches des naturwissenschaftlichen Weltbildes, unter dessen rationaler Glätte sich der Abgrund einer irrationalen Wirklichkeit auftut, die anschlußfähig scheint fur religiöse Positionen: „Die Zeit des .allgemeingültigen' naturwissenschaftlichen Weltbildes ist nun aber unwiederbringlich dahin.... Spengler... hat uns gelehrt, daß das scheinbar starr-objektive Weltbild das Geschöpf einer ganz bestimmten Seele, der abendländischen in ihrem vorletzten Stadium, war. Es war freilich ein notwendiges Produkt dieser Seele, aber die Notwendigkeit lag in dieser Seele, nicht außer ihr, und diese Notwendigkeit hatte keine stärkere Kraft und darum auch kein höheres Maß von Allgemeingültigkeit, als die Notwendigkeit, mit der die Seele einer anderen Kultur zum Transzendenzglauben kommen mußte. Hiermit ist selbstverständlich positiv für das Recht des Transzendenzglaubens im Altprotestantismus nichts gewonnen.... Die Bedeutung der Anschauung Spenglers liegt vielmehr in ihrer Negation: es gibt keine wissenschaftliche Instanz zur Entscheidung der letzten Existenzfragen der Seele, der sich alle unterwerfen müßten. Nicht einmal die Mathematik, nicht einmal die Logik kann dafür gelten, denn jede Kultur schafft sich eine andere Mathematik und eine andere Logik, geschweige die Erkenntnistheorie Kants oder die Naturwissenschaft oder der Idealismus." (Eiert, Kritik 399f)

Die Möglichkeit, den Anspruch der Naturwissenschaften auf die Erfassung der unverbrüchlichen Gesetze der Natur zu bestreiten, diesen Anspruch der Naturwissenschaften selbst in ein geschichtliches' Weltbild zu integrieren: Der neuzeitliche Rationalismus ist ein Denken, das die Wirklichkeit als vergangene, als Gewordene, als .toten Stoff, als räumlich verfaßt und kausalmechanisch bedingt deutet und beherrscht. Er verdrängt die Irrationalität der Wirklichkeit, ihr schicksalhaftes Werden, und er verdrängt vor allem, daß er selbst eine schicksalhaft werdende und wieder vergehende Gestalt der Weltwahrnehmung ist. Gleichsam .unterhalb' seiner selbst ist auch das naturwissenschaftliche Denken beherrscht von dem Schicksal, das eine in bestimmter Weise geprägte Kulturseele von der Jugend über ihre Blüte und schießlich in den Greisenzustand und den Untergang gehen läßt. Die eigentliche Wirklichkeit, die sich das naturwissenschaftliche Denken verdeckt und die es verdrängt, ist das Schicksal, dessen Manifestation auch dieses Denken und seine Produkte sind. 76 77

Vgl. zu diesem Aufsatz unten S. 217f 188 . Vgl. die Aufnahme des Schicksalsbegriffes bei Heim, Spengler.

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Die Funktion des Gesetzesbegriffes bei Eiert

Eiert erhofft offenbar so wenigstens die Möglichkeit einer ,Weltsicht' zu etablieren, die dem Anspruch rationaler Realitätswahrnehmung nicht genügt. Es deutet sich - das zeigt das eben gebotene Zitat von 1921 mit dem Verweis auf die .Notwendigkeit', mit der eine ,andere Kultur' zum ,Transzendenzglauben' kommen mußte — bereits in Umrissen der Gedanke an, daß das Christentum selbst als Seele einer Kultur mit den ihm gemäßen Gestaltungen beschreibbar wäre - ein Gedanke, der in die Richtung der Konzeption der .Morphologie des Luthertums' vorausweist. 78 2.4. Die Aufnahme der Erfahrung des Zornes Gottes und deren Ansatzpunkt. Zeitlich genau diesen Zusammenhang gehört nun auch der Beginn der genuinen Lutherrezeption und der Aufnahme des Gesetzesbegriffes Luthers. Die Voraussetzungen zur Rede von der Erfahrung des Zornes Gottes sind noch nicht hinlänglich beschrieben, wenn die Aufnahme Spenglers nur als apologetisches Instrument zur Etablierung einer Rede vom Wirken Gottes in der Geschichte verstanden wird in dem Sinne, wie Eiert dies in der Licentiatenarbeit oder im Aufsatz über das Geschichtsverständnis der Psalmen skizziert: Während dort die positiven Seiten der Gotteserfahrung hervorgehoben werden, hat sich in den oben genannten Passagen das Gottesbild verdüstert: irrationale Negativerfahrungen beginnen die Gotteserfahrung zu prägen. Hier ist ein zweites Motiv zu notieren: Bereits im ,Kampf um das Christentum' bezieht sich Eiert im Rahmen der Darstellung der Uberwindung des Rationalismus in der Theologie auf Rudolf Otto, bei dem nach Eiert gegenüber dem Rationalismus Ritschis die Tiefe der nur dem religiösen Menschen zugänglichen Kategorie des Heiligen als des mysterium tremendum et fascinosum wiedergewonnen werde. Und hier folgt nun diese Passage: „Gegenüber den banalen Einwänden RITSCHLS gewinnt O T T O wieder gleich L U ein echtes Empfinden für das im Zorn Gottes liegende Mysterium wie fur das Mysterium des Sühnebedürfnisses und der Sühnung ..." (Eiert, Kampf 449). THER

Es wäre allerdings ein Irrtum, anzunehmen, daß hier die spätere Position bereits vollständig präsent ist. Die kurz zuvor (1920) und also vermutlich im Laufe der Ausarbeitung des .Kampfes um das Christentum' erschienene

78

Vgl. Kampf 327, dazu auch Kritik 400 - daß diese Andeutungen wenig durchdacht sind und mit der Position Spenglers wenig zu tun haben, der ja das Christentum selbst als kulturellen Ausdruck betrachten würde, ist deutlich; daß die Bemerkungen auch in keiner Hinsicht apologetisch etwas austragen, ist ebenfalls klar, da die sich in einem Menschen der Gegenwart treffenden Prägungen durch das Christentum mit seinen kulturellen Ausdrucksformen und durch die angeblich spätabendländische Rationalität irgendwie in dem einen Subjekt anders vermittelbar sein müssen als durch eine schlichte Diastase. Es bricht hier einfach wieder das Problem auf, das jede Apologetik bearbeitet, und beweist so die Beharrungskraft übersprungener Problemstellungen. Zur .Morphologie des Luthertums' und seinem Zusammenhang mit der Konzeption Spenglers vgl. unten C, S. 131 ff.

Genese und Sinn der Aufnahme des Gesetzesbegriffes

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Schrift ,Dogma, Ethos, Pathos', die als Meilenstein auf dem Weg zur Morphologie wichtig ist79, belegt dies: Eiert stellt hier - im sachlichen Rückgriff auf Schleiermachers Unterscheidung von Wissen, Tun und Gefühl - drei Ausprägungen des Christentums vor80: Die am Glaubensinhalt mit dem Kriterium der Wahrheit orientierte, die am christlichen Tun interessierte mit dem Kriterium der Normativität, und die am Gefühl bzw. Erleben und damit am Kriterium der Intensität orientierte Gestalt des Christentums. Entscheidend ist weniger die Differenzierung der nach Eiert untrennbaren Momente als vielmehr die genaue Bestimmung des gegenseitigen Verhältnisses. Dieses sieht so aus, daß Eiert gegenüber dem historisch wandelbaren Dogma und Ethos das christliche Erlebnis als das Fundament und die Korrekturinstanz beider betrachtet: in Dogma und Ethos gewinnt das Zentrum des Christentums, die vom Evangelium bewirkte Erfahrung, seine Gestalt und sein Kriterium. Die Schwankungen der Intensität des inhaltlich immer gleichen Pathos ist für die Depravationserscheinungen des Christentums verantwortlich, da eine Abnahme der Intensität zu den Fehlentwicklungen des Dogmatismus und des rein ethizistischen Christentums führt. In diesem Zusammenhang kommt Eiert auf Luthers Gotteserfahrung zu sprechen; sein religiöses Erleben als dasjenige dargestellt, das dem Ideal des Pathos am nächsten komme, d.h. den höchsten Intensitätsgrad aufweise: „Sünde, Reue über die Sünde, Sündenangst, all das war dem Mittelalter keineswegs fremd. Aber Luther erlebte es tiefer, intensiver. Gnade meinte auch der römische Christ zu erfahren, wenn ihm für Wallfahrt und Ablaß etwas erlassen wurde. Für Luther potenzierte sich auch das Erlebnis der Gnade, weil er ihre Spontaneität, ihre Bedingungslosigkeit und Absolutheit erfuhr. Luther ist dem Ideal des pathetischen Glaubens am nächsten gekommen. Man kann bei ihm von einem Pathos der Reue und einem Pathos des rechtfertigenden Vertrauens sprechen." (Eiert, D E P 24)

Dies dokumentiert eine Beschäftigung mit Luther, in der das spätere Zentrum der Theologie Elerts angelegt ist: der Rekurs auf die irrationalen Elemente des christlichen Erlebnisses als den eigentlichen Wurzelpunkt des Christentums. Noch immer aber spielt das Gesetz keine Rolle; vielmehr führt Eiert das christliche Erlebnis (von Reue und rechtfertigendem Vertrauen) allein auf das Evangelium und nicht etwa das Gesetz zurück: „Das christliche Erlebnis, die Inanspruchnahme des Affektes, wird verursacht durch das Evangelium" (DEP 33), oder noch deutlicher: „Pathos ist der Eindruck, den die Heilstatsachen des Evangeliums auf den Menschen machen. Er besteht im wesentlichen in einem doppelten Affekt, in der Reue und im Vertrauen." (DEP 34)

Damit ist deutlich: der Text bleibt völlig im Rahmen der Erlanger Tradition — auch bei Ihmels ist das Evangelium die entscheidende Instanz, in der die 79

Dazu unten S. 7 9 - 8 3 ; l45f. Für eine genauere Darstellung u n d Belege vgl. unten Β, 1.2, S. 79ff. Die Schrift orientiert sich ganz eindeutig am § 3 der Glaubenslehre, bes. Abschnitt 4. 80

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Die Funktion des Gesetzesbegriffes bei Eiert

Wirkung des Gesetzes aufgenommen wird und zu einem heilsamen Ziel kommt 81 : Diese Position, die die Erkenntnis der Sünde als Wirkung des Evangeliums aussagen kann, steht hier offenbar im Hintergrund, die Eiert auch in den frühen Jahren des zweiten Jahrzehnts des Jahrhunderts in den religionspsychologischen Untersuchungen vertrat. Dort bezeichnet er als Wirkung des Handelns Gottes in Christus ebenfalls den Gegensatz von alter und neuer Existenz und thematisiert in diesem Zusammenhang den Gegensatz zweier Willensrichtungen im Menschen und die Antithese von Reue und Vertrauen: So beschreibt Eiert etwa in einem Aufsatz von 1912 — ,Die Grenzen der Religionspsychologie' - , der durchgängig von den Problemstellungen und der Terminologie der Erlanger Schule - Ihmels und Frank - geprägt ist und diese ins Gespräch mit religionspsychologischen Fragestellungen bringt, im Anschluß an William James das allgemeinreligiöse Phänomen der Neubegründung des Subjektes: „Gerade in der N e u b e g r ü n d u n g des Ich, der eigensten Regung seines Innenlebens, wird es auf die Wirksamkeit einer Außengröße gestoßen, die seiner, des Subjekts, unbedingt mächtig ist." 82

Diese Neubegründung wird im unmittelbaren Kontext und im dritten Teil des Aufsatzes (ebd. 244ff) ausdrücklich unter Rekurs auf Frank thematisiert, der diese im Christen sich vollziehende Differenzierung von alter und neuer Existenz als Zustand der Mißbilligung der alten und der Zustimmung zur neuen Willensrichtung, als Reue und Glauben beschreibt83, sachlich also genau die Momente nennt, die Eiert in der zitierten Passage aus ,Dogma, Ethos, Pathos' an Luthers Erlebnis für wichtig hält; entsprechend beschreibt auch Ihmels den Bruch mit der Vergangenheit in der Erkenntnis der Sünde als Wirkung des Vertrauen schaffenden Evangeliums84. Vom Gesetz ist weder hier noch dort die Rede, sondern die Neubegründung des Ich wird allein auf das Wort von Christus als externe Instanz zurückgeführt. Von daher zeigt sich, daß der Eindruck, man habe es bereits mit dem Thematisieren von ,Reue und Vertrauen' in ,Dogma, Ethos, Pathos' mit der späteren Position Elerts zu tun, täuscht: Es dürfte unstrittig sein, daß diese Texte in der späteren Theologie Elerts undenkbar sind. Dennoch wird hier zum ersten Mal bei Eiert auf Luthers Bußkampf und sein Gotteserlebnis überhaupt abgehoben — zwar in einer Weise, die ganz dem Erlanger Rekurs auf eine spezifische Reaktion in der subjektiven Verfaßtheit als Korrelat einer göttlichen Einwirkung entspricht, die zugleich aber den Anknüpfungspunkt für eine Vertiefung der negativen Gotteserfahrung und einer entsprechenden Entdekkung zunächst der furchterregenden, antirationalen Seite des Lutherschen 81 82

Slenczka, Studien Bd. 1, 280-295. Grenzen 201; zu Frank und Ihmels in diesem Aufsatz vgl. den dritten Teil desselben: 2 4 4 -

255. 83 84

Eiert, Grenzen 244ff; Frank, SW II, 335f. Vgl. Ihmels, Wahrheitsgewißheit 229, dazu Slenczka, Studien 1, 280f.

Folgerungen fur den Gesetzesbegriff

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Gottesbegriffes (mysterium tremendum) bietet, die bei Otto eigens hervorgehoben wird 85 . Es ist eine nicht allzuweit hergeholte Vermutung, daß die Beschäftigung mit Luther ihren Auslöser in den religionspsychologischen Studien Elerts hatte, die ihn bereits zuvor zu einer Beschäftigung mit Böhme bzw. dem Apostel Petrus geführt hatte 86 . Entscheidend ist nun die Frage danach, was diese Elemente im Rahmen der Theologie Elerts austragen. Wenn die Beobachtungen richtig sind, dann wird Eiert in einem relativ knappen Zeitraum sowohl mit der Spenglerschen Relativierung des Anspruches der Naturwissenschaften als auch mit Luthers Theologie näher bekannt. Spenglers Deutung des naturwissenschaftlichen Weltbildes als Verdeckungsphänomen bietet ihm offensichtlich die Möglichkeit, dem Anspruch der Naturwissenschaften, über Wirklichkeit und NichtWirklichkeit von Sachverhalten entscheiden zu können, wirksam - durch eine vollständige Relativierung ihrer Gültigkeit - entgegenzutreten. Gleichzeitig und im Rahmen derselben kultur- und rationalitätskritischen Strömung kommt es zu einer Neubewertung des Vor- und Nichtrationalen in der Religion;87 diese wiederum bot Eiert den Hinweis auf die Möglichkeiten, die in einer - durch Otto sicher angeregten - Neubesinnung auf den Gesetzesbegriff Luthers bzw. auf die Erfahrung des außerhalb von Christus verborgenen Gottes liegen: Hier wird gerade diese Grenzerfahrung Gottes jenseits aller Rationalität thematisiert, und zwar mit dem Anspruch, den Menschen dieser Wirklichkeit, der Erfahrung des Zornes Gottes, die er sich verdeckt, zu überführen. Die Erfahrung des Zornes Gottes und damit das Thema des Gesetzes wird nach Anleitung der kulturpessimistischen Strömungen der Nachkriegsära selbst zum kulturkritischen Instrument.

3. Folgerungen fiir den Gesetzesbegriff bzw. die Funktion der Thematisierung der Erfahrung Gottes extra Christum 3.1. Die Funktion des Gesetzesbegriffes. Das apologetische Anliegen, wissenschaftlich gesprächsfähig zu bleiben auf der Basis einer gegen jede externe Instanz selbständigen Theologie, erfüllt sich somit in doppelter Weise: Z u m einen erlaubt die von Fritz Stern als ,Kulturpessimismus' gekennzeichnete und nach dem Ende des 1. Weltkrieges über Spengler hinaus und nicht nur in Deutschland virulente neuromantische radikale Kulturkritik 88 eine Relativierung aller Ansprüche des Nationalismus' und des .Naturalismus'; zum ande85

Otto, Heilige 121-127. S.o. S. 50. 87 Vgl. neben der Passage zu Otto auch Kampf 480ff. 88 Allgemeiner Hintergrund: Stern, Kulturpessimismus, bes. 1-22; Sontheimer, Denken; zum spezieller kirchlich-theologischen Hintergrund: Scholder, Geschichte; Graf, Kulturluthertum, bes. 64ff; vgl. speziell zu Eiert: Langemeyer, Gesetz 54; 60ff. 86

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Die Funktion des Gesetzesbegriffes bei Eiert

ren bietet der Rekurs auf Luther, seinen Gesetzesbegriff bzw. seine Erfahrung des Deus absconditus die Möglichkeit, diese Kritik als genuin theologisches Anliegen zu übernehmen und so von einem theologischen Fundament aus den naturalistischen Gegner zu beschreiben und zu überführen. Diese Einsicht ermöglicht eine neue Lesart des Gesetzesbegriffs bzw. der durch ihn bezeichneten Erfahrung des Zornes Gottes bei Eiert, und zwar von der Funktion her, die er in seiner Ursprungssituation hatte: er ist - das ist die erste Beobachtung - nicht zunächst ein Gegenbegriff zu .Evangelium', zum Wort von Christus, sondern hat eine ursprüngliche Bedeutung als Instanz einer radikalen Kulturkritik. Unter dieser Perspektive werden dann in Passagen der späteren Theologie Elerts, die das Urerlebnis beschreiben, übersehene Nebensätze zu Hauptsätzen — so etwa in der eben bereits zitierten berühmten Passage aus der Morphologie: „Alles, was er [Luther] denkend u n d erkennend besaß, war selbstverständlich, d.h. in sich u n d aus sich selbstverständlich ... alles ist selbstverständlich, geradeso wie die Philosophie des Aristoteles, von der sein D e n k e n geschult, sein Wissen gespeist ist, in der alles vernünftig zugeht." (Eiert, M o r p h . I, 17)

Genau dieses „in sich und aus sich selbstverständlich" ist entscheidend, denn dies war das Kennzeichen des monistischen Naturalismus nach Eiert; und Aristoteles ist in der berühmten Passage über ,Schicksalsidee und Kausalitätsprinzip' bei Spengler der Vertreter des Rationalismus in der Antike parallel übrigens zu dem von Eiert als die Grundfigur neuzeitlicher Rationalität gedeuteten Kant in der Gegenwart.89 Eiert fährt fort: „Aber über all dieser Vernünftigkeit der Welt u n d Verständlichkeit des Sollens fährt der Mensch plötzlich zusammen. Ihn packt das Grauen. Wovor? Mit einem Grauen fängt vielleicht jede Religion an. Aber hier ist es nicht ein bloßes G e f ü h l weltlichen Unbehagens, das G e f ü h l für die Unheimlichkeit, Rätselhaftigkeit, Irrationalität der Umwelt. Auch nicht die bloße Furcht vor der eigenen Unzulänglichkeit, vor Altern u n d Sterbenmüssen. U n d auch nicht n u r das G e f ü h l v o m Unendlichen erdrückt zu werden. Es ist das Grauen, das einer empfindet, wenn ihn in der N a c h t plötzlich zwei d ä m o n i sche Augen anstarren, die ihn zur Unbeweglichkeit lahmen u n d mit der Gewißheit erfüllen: es sind die Augen dessen, der dich in dieser Stunde töten wird." (ebd. 18)

Das Erlebnis des Gesetzes bzw. des Deus absconditus ist offensichtlich auch hier noch eine kulturkritische Instanz, mit deren Hilfe Eiert versucht genau das zu leisten, was ihm mit den Anknüpfungen an die neukantianische Begründung der Geisteswissenschaften nicht gelang: Ein wirksames Hintergehen des Anspruches der Naturwissenschaften, die Kriterien des möglichen Seienden darzustellen ebenso wie der als Anknüpfungspunkt für die Theologie in der Kampf-Schrift verworfenen Ethik. Die Erfahrung des Deus absconditus ist genau die Erfahrung, in der sich das gesicherte, rationale Verständnis der Wirklichkeit als brüchig erweist. Das Christentum begründet sich auf Vgl. zur Kant-Rezeption unten C, S. 221-235.

Folgerungen für den Gesetzesbegriff

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eine Erfahrung jenseits des Wissens und der Moral, auf die Irrationalität einer Transzendenzerfahrung, die nicht - wie in den Texten Elerts vor 1920 - erst mit dem Evangelium gegeben ist, sondern die sich als unter der Rationalität der natürlichen Weltorientierung liegende, verdeckte und durch die .Sprecher der Christenheit' aufzudeckende Realität ausweisen läßt: die Erfahrung des Deus absconditus durchbricht die „Vernünftigkeit der Welt und die Verständlichkeit des Sollens", wie bei Spengler das rational-naturwissenschaftliche Weltbild hintergangen wird auf die sich der Rationalität entziehende Schicksalhaftigkeit des Weges einer Kultur in den Tod. Zugleich verbindet sich damit aber - das ist ein neues Element - ein Uberbietungsanspruch auch noch den gängigen Prophetien des Irrationalismus gegenüber. Signifikant sind dafür die - im gerade gebotenen Zitat, aber auch im Aufsatz über ,Die Transzendenz Gottes' auftretenden - Negationen, die eben als den treibenden Grund des Grauens nicht innerweltliche Ereignisse oder existentielle Verfaßtheiten, sondern den Zorn Gottes namhaft zu machen wissen. Das Grauen vor Gott greift tiefer als die Kulturkritik der Propheten der Kontingenzerfahrung. Der Gesetzesbegriff Elerts bzw. die Aufnahme der Gotteserfahrung Luthers treten im Rahmen der Formierung seiner Theologie ursprünglich als die theologische Gestalt einer radikalen, von Spengler inspirierten Kulturkritik auf und lösen Elerts Versuche ab, mit Hilfe der geisteswissenschaftlichen Erkenntnistheorie den Behauptungen des christlichen Glaubens einen Bereich neben den scheinbar übermächtigen Ansprüchen der Naturwissenschaften zu verschaffen. Die These ist also folgende: Mit Hilfe der Bezugnahme auf Spengler gelingt Eiert die Integration der Naturwissenschaften bzw. die Entschärfung des Anspruches, die Kriterien des Wirklichen und Möglichen zu formulieren. Die Bezugnahme auf Spengler löst die Versuche ab, diesen Anspruch mittels der Etablierung eines eigenen Gesetzen gehorchenden .Wirklichkeitsbereiches' - der individuellen Realität, die Gegenstand der Geisteswissenschaften sei - zu relativieren; an die Stelle dieses Versuches tritt eine Art Entlarvungsprogramm: Die Naturwissenschaften stellen ein Verdeckungsphänomen dar; sie verdecken sich den Grundcharakter der Realität, der ein schicksalhaftes Werden ist, und sie verdecken sich ihr Einbezogensein in diesen schicksalhaften, irresistiblen und vorrationalen Geschehenszusammenhang, nach dem sie selbst nicht die Wirklichkeit ,an sich' darstellen, sondern die Weltsicht einer zum Untergang bestimmten Spätform einer Kultur. Dieses Aufdecken der Irrationalität und Geschickhaftigkeit der Wirklichkeit, das Durchbrechen des geordneten und überschaubaren Weltentwurfes ist die Funktion, die nun theologisch mittels der Rede vom Deus absconditus bzw. unter dem Titel des,Gesetzes' gefüllt wird; die negative, irrationale Seite des Gottesbegriffes wurde Eiert von Positionen wie Otto, aber auch im Rahmen der Erlanger Schultradition von Theodosius Harnack 90 angeboten. 90

Harnack, Theologie. Dazu unten S. 175ff. Dafür, daß auch Harnack bei dieser Neuent-

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Die Funktion des Gesetzesbegriffes bei Eiert

Dies kann nun durch eine Schrift verifiziert werden, die im Jahr nach dem ,Kampf um das Christentum' erschien und die als erste Gestalt der neuformierten Theologie alle beschriebenen Momente und deren Zusammenhang erkennen läßt: 3.2. Verifikation. 3.2.1. Referat einer Manifestation der erreichten Position. „Das Christentum aus den Verschlingungen mit einer untergehenden Kultur zu lösen" hatte Eiert in der Kampf-Schrift (489) denen zur Aufgabe gemacht, „die von der Christenheit zu ihren Wortführern bestellt sind" (ebd.). Unter dem Titel „Die Forderung unseres Zeitalters an die Sprecher der Christenheit" veröffentlicht Eiert 1922 einen Artikel, an dem sich die neugewonnene Position und die Funktion des Rekurses auf die ,Verborgenheit Gottes' verifizieren läßt. Das Anliegen dieses Aufsatzes ist zunächst eine Zeitdiagnose, die eindeutig von Spengler beeinflußt ist und darauf hinausläuft, daß weder eine Eindeutigkeit der weltanschaulichen Prägung noch eine Einheitlichkeit der Wissenschaft, auf die hin das Christentum zu vermitteln wäre, in der Gegenwart gewährleistet ist: „Es eröffnet sich im Hinblick auf unser Zeitalter eine unheimliche Diffusion unserer Kultur, ein ungeheurer Pluralismus der Weltanschauungen." (Forderung 402). Es ist deutlich, daß hier nicht nur Spengler, sondern auch der Weltanschauungsbegriff Hunzingers und seine Diagnose der Neuzeit nachwirkt 91 . Eiert deutet nun diese Diffusität als geschichtliche Einheit in dem Sinne, daß sich die Vielfalt als - von unterschiedlichen, auch fremden Einflüssen bewirkte Ausdifferenzierung eines gemeinsamen Ursprungs bildet. Der Vergleich dieser Differenzierung mit dem Wachstum eines Baumes mit einem Stamm erlaubt Eiert dann den relativ zwanglosen Übergang zu der ausdrücklich auf Spengler begründeten These, daß diese Kultur über kurz oder lang ihrem Untergang entgegengehe (ebd. 403f)· Die Frage nach den Folgen dieser Diagnose für das Christentum, das in den allgemeinen Relativismus hineingezogen zu werden droht, stellt die Themenfrage des Aufsatzes dar (ebd. 404). Eiert bietet als Ausweg aus den für den christlichen Glauben negtiven Folgen des Relativismus und als Alternative zu apologetischen Versuchen der Vermittlung des Glaubens mit dem allgemeinen Wahrheitsbewußtsein nach

deckung Luthers Pate stand, spricht der Kontext der oben zitierten Bezugnahme auf Rudolf Ottos Entdeckung der antirationalen Seite des Lutherschen Gotteserlebnisses: Im Kontext nämlich kommt die von Harnack durchgängig als Gestalt der Rationalisierung und Ethisierung des reformatorischen Christentums apostrophierte Theologie Ritschis ebenfalls als Instanz der Rationalisierung zu stehen, als eine Theologie, „in der es keine Dissonanzen, keine Spannungen, keine Ungereimtheiten, dafür aber auch keine Tiefe gibt, weil sie eben durchaus vernünftig ist." (Kampf 447); vgl. dazu bei Th. Harnack bes. das Vorwort zum 2. Band, das vollständig einer Kritik der Lutherdeutung Ritschis gewidmet ist (Theologie II, 1-19, hier bes. 13fzum Zorn Gottes; 17fzur Moralisierung der Religion). - Harnack wird allerdings in der Kampf-Schrift Elerts an keiner Stelle erwähnt. 91 Slenczka, Studien Bd. 1, 302ff.

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den Kriterien dieses Wahrheitsbewußtseins (ebd. 418) die Möglichkeit an, daß „sich Kräfte bemerkbar machen, die nicht von dieser Welt sind.": „Es muß eine Gewalt in unserem Denken und folglich auch in unserem Sprechen und Handeln zum Ausdruck kommen, die wie ein absoluter Fremdkörper wirkt in der gesamten Geisteswelt unseres Zeitalters." (ebd. 419)

Eiert rekurriert nun ganz im Sinne der Erlanger Theologie darauf, daß das religiöse Erlebnis diese Tranzendenz verbürge.92 Es komme nun aber darauf an, den Zeitgenossen diese Wirksamkeit zu vermitteln, und zwar so, daß im christlichen Zeugnis von diesem Gott die vom Glaubenden erfahrene Transzendenz Gottes auch für diese Zeitgenossen faßbar wird, Gott also gerade nicht mit der Immanenz vermittelt erscheint, sondern als Durchbrechung aller immanenten Ordnung erkannt wird. Dies ist also das Grundprogramm: Keine Apologetik im Sinne einer Vermittlung mit dem wissenschaftlichen oder kulturellen Kriterienapparat; dennoch eine Einwirkung auf die nichtchristlichen Zeitgenossen, die gerade darin bestehen soll, daß der Horizont der allgemeinen Weltorientierung durchbrochen wird und diese Durchbrechung als Erfahrung der Transzendenz Gottes faßbar wird. Diese Transzendenz Gottes im Sinne der Durchbrechung aller dem gegenwärtigen Menschen bekannten Inhalte einschließlich des Gottesbildes einer natürlichen Theologie (ebd. 419) bestimmt Eiert nun als das Gegenteil des Gottes der Offenbarung: den verborgenen Gott': „Dies erscheint nun auf den ersten Blick als eine rein negative Forderung: Gottes Transzendenz, seine Jenseitigkeit im strengen Sinne zu bekennen. Und es ist nicht zu leugnen, daß manche Vertreter dieser Forderung in unserer Zeit gerade den Gott der Christenheit dadurch verhüllen, statt ihn zu verkünden. Denn unser Gott ist der Gott der Offenbarung oder er ist überhaupt unerkennbar. Aber soviel muß doch unter allen Umständen festgehalten werden, daß er für den, der sich seinen Wirkungen nicht unterstellt, in der Tat für dieses Leben unerkannt bleiben wird. Er bleibt der .verborgene Gott'. Er bleibt Geheimnis, unerkennbar, in ewiger unfaßbarer Ferne. Gottes Transzendenz bekennen, das heißt wirklich den Menschen unserer Zeit zu bezeugen, daß ihnen der lebendige Gott verschlossen ist, wirklich in absoluter Ferne, getrennt durch alle Räume des Weltalls, verhüllt durch alles, was sie sehen und wissen." (ebd. 420)

Dieser Textabschnitt ist nicht nur dadurch interessant, daß sich hier unter dem Terminus .Offenbarung' eine erste Auseinandersetzung mit der dialektischen Theologie' andeutet, und auch nicht dadurch, daß hier bereits das Verhältnis dieser Lehre von der Verborgenheit Gottes zur natürlichen Theologie und zur Christusoffenbarung in die merkwürdig schwer greifbare Verschwommenheit gerät, die den Interpreten der späteren Schriften Elerts auf-

92 „Wer von uns im lebendigen Verkehr mit Gott steht, wird keinen Augenblick zweifeln, daß eine solche Gewalt wirksam ist, und wirksam sein wird, die nicht von dieser Welt ist." (aaO.

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Die Funktion des Gesetzesbegriffes bei Eiert

fällt.93 Vielmehr liegt der eigentlich interessante Punkt in der Wendung, daß Gott verborgen sei „durch alles, was sie sehen und wissen": Unter der erfahrbaren und geordneten Realität manifestiert sich eine Transzendenz und wird als Transzendenz im Gefühl der Angst erfahren; die Angst, die das Zeugnis des Christen von dem transzendenten Gott hervorruft, ist, so Eiert weiter, das Indiz dafür, daß dieser Gott wirklich als transzendenter zur Sprache kommt (ebd. 420). Und hier erhebt Eiert nun den Anspruch, diese Transzendenz nicht im Rekurs auf die Natur - von deren kausalmechanischer Ordnung der Zeitgenosse überzeugt ist - und auch nicht im Rekurs auf die sittliche Forderung, sondern im Rekurs auf den beides vereinenden Schicksalsbegriff zur Sprache zu bringen: „Er [der Zeitgenosse] m u ß vielmehr spüren, daß er mit seinem gesamten Dasein, nicht n u r mit seinem Körper u n d nicht n u r m i t seinen sogenannten moralischen oder unmoralischen H a n d l u n g e n abhängig oder verantwortlich, sondern auch mit seinem gesamten Besitz, mit seinem D e n k e n , seinem Wissen, seinem künstlerischen K ö n n e n u n d Schaffen in der Gewalt des transzendenten Gottes steht, dessen Motive u n d Absichten i h m zunächst völlig unberechenbar sind. Er m u ß von der Rätselhaftigkeit u n d Unentrinnbarkeit seines Schicksals ergriffen werden." (ebd. 4 2 0 f )

Eiert identifiziert hier die von Spengler übernommene unentrinnbare Bestimmung aller Realität durch das in allen Äußerungen der Geschichte wirksame Schicksal einer Kultur als die alles menschliche Wirken bestimmende Macht, die er dann mit Gott in eins setzt.94 .Schicksal' bezeichnet dabei zunächst den von Spengler beschriebenen Sachverhalt, daß der Verlauf einer Geschichte einer Notwendigkeit unterliegt, die nicht die einer kausalen Wirkung, sondern eines unentrinnbar sich vollziehenden Lebens ist, die Spengler zuweilen selbst als im religiösen Begriff der Vorsehung ausgedrückt bezeichnet.95 Erst auf diese mit Spenglerschen Termini verfahrende Analyse hin führt Eiert dann spezifisch christliche bzw. religiöse Termini ein: Als religiösen Ausdruck für diese Erfahrung identifiziert Eiert den Begriff des Zornes Gottes, als Ausdruck für die die Angst bewirkende Gottesferne des Menschen die christliche Lehre von der Erbsünde; es sind diese beiden Begriffe, die von der genannten Entfaltung der Angst auslösenden Schicksalserfahrung her gefüllt werden. 96 93 Vgl. nur Hauber, Zorn; es bleibt unklar, ob nun die .Verborgenheit Gottes' ein eigener Modus seiner Manifestation, oder ,nur' der Mangel der Erfahrung Gottes in Christus ist; dazu unten S. 240fF. 94 Vgl. zu dieser Operation auch die Spengler-Rezension: Eiert, Untergang 21 f. 95 Vgl. Spengler, Untergang I, 225f; 195ff; vgl. zur Abgrenzung gegen eine mechanisch gefaßte Kausalität: 164fF; zur Andeutung einer religiösen Deutung des Phänomens: 192; 194. 96 AaO. 421. Das Verhältnis der natürlichen Erfahrung des ,Deus absconditus' zu der durch das Gesetz eröffneten und damit das Verhältnis von Transzendenzerfahrung und Sündenerfahrung ist eine crux interpretum (vgl. Hauber, Zorn 126f; l47ff; vgl. auch Langemeyer, Gesetz 198212); an dieser Stelle ist das Verhältnis relativ unbestimmt, Eiert klärt das Verhältnis nicht auf,

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Diese Beschreibung ist - wie in der vorausgehenden Analyse der Genese des Gesetzesthemas bei Eiert vermutet - einmal durch Spengler inspiriert, der gleichsam mit der Umfassung der gegen die Rede von einer Transzendenz immunen modernen Weltanschauung durch den Schicksalsbegriff die Grundlage dafür darstellt, die scheinbare Rationalität der Wirklichkeit und die sittliche Freiheit des Menschen auf ihre Bedingtheit und Unfreiheit hin durchsichtig zu machen: Das Bedingtsein auch noch der Rationalität und der sittlichen Freiheit durch eine nicht berechenbare Gewalt. Auf der anderen Seite ist im Thema der,Angst' Rudolf Ottos Deutung der Gotteserfahrung als bestimmt durch das Moment des ,tremendum' gegenwärtig,97 was insbesondere dadurch erkennbar wird, daß Eiert die referierte Beschreibung der Transzendenz Gottes im folgenden ergänzt durch die Feststellung, „daß das ferne Geheimnis Gottes, das uns mit seinem Zorn in Angst hält, eine unwiderstehliche Anziehung auf uns ausübt." (ebd. 434) - Gott als mysterium fascinosum. Eiert verbindet beides miteinander: Die Durchbrechung eines rationalen Weltbildes auf die Irrationalität des Schicksals, das gerade in diesem rationalen Weltbild wirkt; und die Irrationalität der Gotteserfahrung, die Rudolf Otto bei Luther herausstellt. Mit Hilfe des Spenglerschen Gedankens erhebt Eiert einen Begriff der Transzendenz, der es - seiner Meinung nach einerseits durch seine wissenschafts- und rationalitätskritische Intention erlaubt, überhaupt von göttlichem Wirken zu sprechen, und der sodann anschlußfähig ist für eine Vermittlung mit der christlichen Rede vom Zorn Gottes und von der menschlichen Sünde bzw. Gottesferne; und genau dies ist die Vermittlungsaufgabe der ,Sprecher der Christenheit' - will sagen: der Apologeten: „Lassen wir uns aber von d e m transzendenten G o t t packen, mit Angst vor ihm erfüllen, aber auch mit der Kraft, Angst vor ihm zu verbreiten, so wird er die Skeptiker, die wieder Angst u n d Grauen vor diesem Geheimnis gelernt haben, mit unwiderstehlicher Gewalt anziehen." 9 8 sondern einerseits bezeichnet er die Rede vom Zorn Gottes als Zusammenfassung der Unberechenbarkeit und Furchtbarkeit des Schicksals, andererseits bringt er die Erfahrung der Transzendenz und des Zornes in ein Ergänzungsverhältnis (421, Abs. 2 - der erste Gedanke am Anfang des Absatzes, der zweite am Ende). Die Erbsünde wird „als eine unbegreifliche Bejahung der hoffnungslosen Ferne von Gott" bestimmt - insgesamt ist das Verhältnis wohl richtig beschrieben, wenn man es als das einer Aufnahme und Vertiefung der Transzendenzerfahrung bestimmt. 97 Spenglers Schicksalsbegriff allein vermittelt mitnichten den ,Widerfahrnischarakter' des göttlichen Gesetzes, wie Meier (Kulturkrise 303) das darstellt. Im Grunde müßte man sagen, daß Spenglers Begriff einerseits durch die rationalitätskritische Intention die denkerische Bedingung der Möglichkeit der Einführung einer Transzendenz überhaupt beistellt, zum anderen durch die Vorstellung einer umfassenden Determination auch scheinbar freier Handlungen und notwendiger Vorstellungen die Größe benennt, auf die Eiert dann den Widerfahrnischarakter der Transzendenz - das ,tremendum' vermittelt. 98 Ebd. 434; zu den .Sprechern' als .Apologeten' vgl. 386. Solche Passagen sind verräterisch, weil man den Eindruck nicht loswird, daß man es hier mit einem bloßen ästhetischen Phänomen zu tun hat, einem Schreibtischprodukt, das eben die Situation überwältigender Angst als ein ,sich erfüllen lassen 'wiedergeben kann. Man wird insgesamt in Elerts Veröffentlichungen aus den 20er

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Die Funktion des Gesetzesbegriffes bei Eiert

Auf diese mit Angst gepaarte ,Sehnsucht' hin sei nun das Evangelium als Erfüllung dieser Sehnsucht zu verkündigen, in dem der Zorn Gottes als in Christus ausgetragen verkündigt wird: „Hier e m p f i n d e n wir z u m zweiten Male die absolute Transzendenz Gottes. I n d e m er Christus töten läßt, packt er uns mit derselben überirdischen oder außerirdischen Gewalt wie damals, als sein Z o r n uns in Angst versetzte." (ebd. 435)

Das Christusgeschehen sei eben im Tod Christi die Bestätigung der hoffnungslosen Situation des Menschen vor Gott und des göttlichen Zornes, in seiner Auferstehung aber die Vermittlung seines Friedens (ebd.). 3.2.2. Zusammenfassende Auswertung. Mit dem Referat dieser Schrift wird die oben gebotene Beschreibung der Loslösung Elerts von dem ihm überkommenen Konzept der Apologetik und die Gewichtung der unterschiedlichen Einflüsse deutlich: Spengler vermittelte ihm die Möglichkeit, die Rationalität des modernen Weltbildes in der Irrationalität eines kulturellen Schicksals begründet zu sehen und so als bloße ,Sicht auf die Welt' in einer irrationalen Wirklichkeit — dem .Schicksal' bzw. dem determinierenden Gott — zu begründen. Die Unberechenbarkeit und Undurchschaubarkeit dieses Gottesbegriffes bietet die Möglichkeit einer Identifikation mit dem Numinosum Ottos, und zwar mit den Momenten des ,tremendum': Die rationale, jeder Möglichkeit der Einwirkung einer Transzendenz widersprechende Realität wird als blosses Weltbild durchsichtig auf die auch noch in dieser Realität bzw. ihrem Entwurf wirksame Determination Gottes. Diese natürliche, auch dem nichtchristlichen Zeitgenossen vermittelbare Erfahrung der Brüchigkeit seiner Welt und deren Bestimmtsein vom irrationalen Wirken eines Geschicks bzw. die durch sie ausgelöste Angst ist der negative Anknüpfungspunkt, auf den hin die christliche Rede vom Zorn Gottes und der menschlichen Sünde vermittelt wird. Diese Erfahrung ist nach Eiert selbst die Erfahrung des Zornes Gottes und der Sünde des Menschen. Es erfolgt eine Art natürlicher Verifikation dieser die natürliche Erfahrung deutenden Begriffe. Das Evangelium wiederum wird einerseits als Erfüllung der mit dem Moment des tremendum gesetzten Faszination gedeutet, stellt aber im Tod Chri-

Jahren den Eindruck bloß anempfundener, in merkwürdiger Unanschaulichkeit und Unkonkretheit verharrenden Verbalradikalismen nicht los - ganz deutlich etwa im Aufsatz über die .Transzendenz Gottes' von 1923, der im Hauptteil eine sonderbare Abfolge von Schlußfolgerungen aus absonderlichen und hergeholten Prämissen ablaufen läßt mit dem Anspruch, die Verfaßtheit Gottes herzuleiten, die zu erfahren eine Erfahrung der Transzendenz Gottes sei — vgl. Transzendenz 533-541, zu den .Schlußfolgerungen' vgl. die Konsekutivpartikel 534f; 535f.; angesichts der merkwürdigen Schlußverfahren (534f) hat man dann eben doch seine Zweifel daran, daß für Eiert zu dieser Zeit „das Erlebnis der Transzendenz nicht bloß eine neue Lehre oder gar bloß eine Repristination einer alten Lehre, sondern ein unerschütterliches Datum seiner persönlichen Existenz geworden ist." (Transzendenz 541); dazu unten 217188.

Das Zentrum der Beschreibung der .Erfahrung extra Christum'

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sti im Modus der Erlösung zugleich die Bestätigung der natürlichen Situation des Menschen dar. Auf den Zusammenhang mit der Erlanger Theologie hin betrachtet stellt die Position zum einen die Entfaltung der bereits von Ihmels als Voraussetzung der christlichen Erfahrung der Göttlichkeit des Evangeliums für unabdingbar erklärten Erfahrung des Gesetzes dar". Neben die durch das Evangelium ausgelöste Erfahrung tritt gleichsam eine zweite Gotteserfahrung, die ebenso wie der Glaube bzw. die Wiedergeburt und Bekehrung den Verifikationspunkt der inhaltlichen Aussagen des christlichen Glaubens darstellen — im Modus der Angst das existentielle Korrelat und damit der Verifikationspol für die Lehrinhalte des Zornes Gottes bzw. der menschlichen Sünde ist. Diese zweite Gotteserfahrung ersetzt zugleich jedes apologetische Bemühen um eine Verifikation einer christlichen Weltanschauung durch den Ausweis ihrer Integrationsfähigkeit hinsichtlich der Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung: Mit dem Auftreten des Themas des Gesetzes bricht die Beschäftigung mit der Apologetik im Sinne Hunzingers ab. Diese Gotteserfahrung ist eminent kulturkritisch in dem Sinne, daß sie die Instanz der Durchbrechung eines - im Sinne Elerts .immanenten', sich der Möglichkeit des Wirkens einer Transzendenz verweigernden — Weltbildes darstellt, auf die hin sich dann das Evangelium vermittelt. Nicht die Integration menschlicher Erfahrung in erster Linie ist das Anliegen dieses Gesetzesbegriffes, sondern der Versuch, ein rationalistisches Weltbild und - später betonter - eine optimistische Ethik auf die ihnen zugrundeliegenden Fremdbestimmungen, auf eine irrationale, unentrinnbar wirkende Macht hin durchsichtig zu machen - ein ganz ähnliches Verfahren übrigens wie das, mit dem Heidegger zur gleichen Zeit den zeitgenössischen Rationalismus ,hintergeht' 100 .

4. Das Zentrum der Beschreibung der ,Erfahrung extra Christum' 4.1. Das Problem der Uneinheitlichkeit der Darstellungen. Die Erfahrung des ,Zornes Gottes', des ,Deus absconditus' bzw. das ,Selbstverständnis des Menschen unter der Verborgenheit Gottes' thematisiert Eiert an vielen Stellen seines dogmatischen Werkes. Es handelt sich um Passagen, in denen Eiert — zumeist als Voraussetzung eines Durchganges durch die dogmatischen Stoffe überhaupt - das natürliche Selbstverständnis und die entsprechende Gotteserfahrung als Prämisse des Existenzwandels beschreibt, der sich im Ubergang von der nichtchristlichen Existenz zum Glauben vollzieht; allen diesen Passa99 100

Vgl. Slenczka, Studien Bd. 1, 280-290. Vgl. Slenczka, Realpräsenz 42Iff, bes. 424f; 441-446.

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Die Funktion des Gesetzesbegriffes bei Eiert

gen ist gemeinsam, daß sie der Darstellung des Inhaltes und der Wirkung des Evangeliums eine Analyse der vorchristlichen Existenz voranstellen, auf die hin das Evangelium zur Auslegung kommt 101 . Diese Passagen sind ihrerseits von erstaunlicher Vielfalt: Während Eiert in der ,Lehre des Luthertums im Abriß' diese Analyse unter das Vorzeichen des Gegensatzes zweier .Lebendigkeiten' - des menschlichen Freiheitswillens und der sich in den Hemmungen des Freiheitswillens äußernden Gesamtmacht des Schicksals - stellt,102 steht im Zentrum der entsprechenden Passage der Morphologie eine erlebnishafte Begegnung mit dem ,Deus absconditus', die als Situation des Freiheitsanspruches des Menschen vor dem das Gute fordernden und die Möglichkeit seiner Erfüllung versagenden Gott ausgeführt wird (dazu genauer unten C). In der Dogmatik Elerts wird erkennbar derselbe Sachverhalt unter dem Titel der ,Mittelpunktsexistenz' ausgeführt: Wieder geht es um den Menschen, dessen Autonomieanspruch sich angesichts der Nötigung, externen Anforderungen zu genügen, ebenso wie angesichts der schicksalhaften Bedingungen seiner Existenz als illusorisch, aber unentrinnbar erweist.103 Auch im ,Christlichen Ethos' finden sich die Grundmotive wieder: das Element des geängsteten Gewissens angesichts der Differenz von Sollen und Sein, die als Situation des Gesetzes in der auf den Tod gerichteten Existenz ausgelegt wird (Ethos §§ 22-26). Alle diese Passagen verbinden immer wiederkehrende Elemente: Die Zuspitzung der Analyse der natürlichen Existenz auf die Erfahrung des Versagens vor einer Forderung (Glaube; Morph.); die Auslegung des Todes als entscheidendes Indiz des gegen den Menschen gerichteten Schicksalslaufes;104 die Unumkehrbarkeit der Zeit als Indiz der Unausweichlichkeit des Schicksals105 etc. Die Passagen weisen allerdings auch derartige Differenzen auf, daß sie nicht ohne weiteres als Ausdruck einer einheitlichen Intention gefaßt werden können: So ist in der Morphologie das Grauen des Menschen als eine Art unmittelbarer Begegnung mit dem Vernichtungswillen einer göttlichen Transzendenz verstanden, dessen nachträgliche Interpretamente die Einsicht in die Unmöglichkeit der Erfüllung des göttlichen Willens sind - während Eiert in seiner Ethik umgekehrt die theologischen Elemente als Interpretamente der ursprünglicheren Erfahrung einer im Gewissen sich meldenden Erkenntnis der Differenz von Sollen und Sein beschreibt. 106 Während in der ,Lehre des Luthertums im Abriß' die Darstellung sich einem stringent durchgeführ-

101 Genauer s.u.; vorläufig: Ethos, Kap. 4, 6 und 7; Glaube §§ 6-11; 18-23; Morphologie I Kap. 1 und 2; Lehre §§ 1-19. Vgl. zur Intention der Passagen: Glaube 63. 102 Lehre2 §§ Iff; vgl. die Übertragung des Begriffes Lebendigkeit' (der den .Freiheitswillen' impliziert) auf Gott: § 7! - es geht um das Gegeneinander zweier Freiheitswillen. 103 Vgl. nur 69-75; 99ff; bes. 113-120; vgl. die Zusammenfassung § 16. 104 Glaube § 12; Morph. 1,16f und ff. 105 Etwa Glaube § 12; vgl. Morph. I, 16f. 106 Zur Morphologie vgl. unten C, 2.2., S. 174. Ethos 51ff.

Das Zentrum der Beschreibung der .Erfahrung extra Christum'

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ten Gedanken unterstellt - dem Gegensatz zweier Lebendigkeiten (§§ 1-14) - ist im entsprechenden Abschnitt der Dogmatik über der Vielfalt der angesprochenen Einzelerfahrungen der gemeinsame Nenner schwer erkennbar. Auch wenn man die Widersprüchlichkeit des Schicksals als die etwa die Morphologie und die Dogmatik verbindende Grundbehauptung identifizieren wollte, steht man doch sofort vor der Tatsache, daß die Widersprüchlichkeit unterschiedlich charakterisiert ist: Wenn der Widerspruch in der Morphologie die Antithetik in der Differenz zwischen der Forderung Gottes und der Verweigerung der Möglichkeit der Erfüllung derselben durch den Menschen liegt (Morph. I, 19f., bes. 25), hebt die Dogmatik auf die Differenz von Tun und Ergehen ab, in der sich die Widersprüchlichkeit im Sinne der Ungreifbarkeit und Unberechenbarkeit des Schicksals erweist (Glaube § 15). Hinzu kommt die Schwierigkeit, daß die Passagen teilweise bis zur Undurchschaubarkeit unklar sind, da sie nur unter großen Schwierigkeiten eine stringenten Gedankenfuhrung erkennen lassen.107 Das entscheidende Problem für eine Rekonstruktion des Sinnes der Passagen liegt darin, den Schlüssel zum Verständnis der alle Passagen verbindenden Aussageintention zu erfassen. Dieser Schlüssel besteht in einem von Eiert erfaßten oder .gesehenen' Sachverhalt, den er - unbekümmert um die Vereinbarkeit der Begrifflichkeit oder der Phänomenbeschreibungen - in allen diesen Passagen zu beschreiben sucht. Der einheitliche Sachverhalt ist, so läßt sich zeigen, die Antithetik zweier Willen, bzw.: des unentrinnbaren Versuches des Menschen, sich selbst zu behaupten vor der Übermacht des als vernichtender Gegenwillen erfahrenen Gottes. Dies ist im folgenden zu belegen: 4.2. Die Willensproblematik als Zentrallinie des Elertschen Werkes. Elerts Gesamtwerk wird - wenn man einmal von der theologischen und der philosophischen Qualifikationsarbeit absieht - gerahmt von zwei Monographien, die ein gemeinsames Thema verbindet und die den Schlüssel zum Verständnis der genannten Passagen bieten; es handelt sich um das 1913 erschienene Werk zur Willensmystik Böhmes (Die voluntaristische Mystik Jakob Böhmes) und die Fragmente des postum kompilierten und herausgegebenen Werkes über Theodor von Pharan (Der Ausgang der altkirchlichen Christologie). Beide Werke, die in der Sekundärliteratur zu Eiert entweder gar nicht oder nur am Rande behandelt werden, 108 verbindet ein gemeinsames Thema, 107 Vgl. die Analyse des Gedankenganges von Morph. § 1 unten C, 2.2.; vgl. etwa den Gliederungsversuch Eyjolfsson, Rechtfertigung 88, bes. Anm. 10; vgl. hinsichtlich der zumeist rätselhaften Absicht Elerts mit den Passagen Hauber, Zorn 137ff; die meisten Interpreten wählen das Verfahren des Referates der Passagen - etwa Langemeyer, der zunächst die Darstellung nach dem Abriß (Gesetz 78fif), dann die nach der Dogmatik (83-115) als Leitfaden nimmt und dann die übrigen Schriften zuordnet. 108 Hauber, der vergleichsweise ausführlich auf diese späten Schriften eingeht, ordnet den dogmengeschichtlichen Schriften eine eigene Phase zu (Hauber, Eiert 131-134), erklärt aber den Zusammenhang nicht und berücksichtigt auch in seiner Skizze des .Zentrums' der Elertschen

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Die Funktion des Gesetzesbegriffes bei Eiert

nämlich die Frage nach dem Verhältnis des menschlichen zum göttlichen Willen. 4.2.1. Die Böhme-Schrift (1913). Die Absicht des frühen Werkes ist zum einen der Nachweis, daß die Mystik Böhmes keine bloß intellektuelle, begriffliche Konstruktion darstellt, sondern als Erlebnismystik ihren Ursprung in der individuellen religiösen Befindlichkeit Jakob Böhmes selbst hat (Mystik 130f u.ö.)109. Die Arbeit verortet sich in dieser Rücksicht im Rahmen des religionspsychologischen Werkes Elerts. Als Zentrum dieser Mystik identifiziert er den Willen bzw. das Verhältnis von göttlichem und menschlichem Willen zunächst so, daß er als Zentrum der Böhmeschen Gotteslehre wie der Psychologie das Phänomen des Willens herausstellt; dann so, daß er die Herkunft des menschlichen Willens aus dem göttlichen und die Aufgabe der Wiedervereinigung beider Willen als das die Mystik Böhmes bewegende theologische Problem bestimmt 110 : In der Rückkehr in sich selbst, die sich als Abkehr von der Verlorenheit des Menschen an die äußeren Güter darstellt, erfährt der Mensch die Einheit mit dem göttlichen Willen in seinem Personzentrum 1 ". Das Recht dieser Böhme-Deutung ist hier ohne jedes Interesse; entscheidend ist, daß Eiert die Mystik Böhmes als Lösung eines ganz spezifischen Problems deutet: Böhme befasse sich mit dem Verhältnis des menschlichen Willens zur Weltzuwendung und des menschlichen Selbstbehauptungswillens zu dem von außen an den Menschen herantretenden Anspruch Gottes auf Unterwerfung unter seinen Willen: „Der Gottesgedanke legt ihm ein verpflichtendes Soll auf u n d zwar eins, das wirklich als von a u ß e n k o m m e n d e , übermächtig e m p f u n d e n e Verpflichtung erkannt wird. Das Ich soll sich beugen, ja a m liebsten ganz vergessen. D e m steht aber der unwiderstehliche D r a n g zur Selbstbehauptung des Ich gegenüber. Ja, es will sich nicht n u r behaupten, sondern es will sich über sich selbst hinaus erhöhen, es will alles sein, alles wissen, alles k ö n n e n . W i e das Ich ... gegenüber der Naturseligkeit wie gegenüber der Seligkeit in G o t t zu kurz k o m m t , so sträubt es sich auch gegen die sittliche Verpflichtung, die v o m rein metaphysisch gedachten Gottesgedanken ausgeht. ... Der von außen k o m m e n d e n Verpflichtung kann es sich ebensowenig entziehen wie d e m gewaltigen Aufbegehren des eigenen Ich." (Mystik 133)

Diese Antithetik, in der noch alle Elemente der späteren Beschreibung der Verborgenheit Gottes fehlen, löst sich nach Eiert genau darin, daß Böhme in

Theologie (134— 137) diese Texte nicht. Allerdings hat Hauber in seinem Aufsatz zur Christologie Elerts gerade eines der Hauptinteressen Elerts bei der Rekonstruktion der Streitigkeiten - das Verhältnis von metaphysischem Gottesbegriff und einer vom Christusbild der Evangelien aus entworfenen Christologie - scharfsinnig herausgearbeitet und im Vergleich mit den Aussagen der Dogmatik in thematischen Querschnitten erarbeitet: Hauber, Christologie. 109 Vgl. unten C, 2.1.3., S. 161ff. 110 Vgl. Eiert, Mystik 33-40; 70-76; 80fF; 129-134, bes. 132f. 111 Vgl. nur Mystik 133f; 60f.

Das Zentrum der Beschreibung der ,Erfahrung extra Christum'

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sich selbst und in der Natur eben den Willen, der ihm als verpflichtendes Soll entgegentritt, als mit ihm selbst vereinte Wirklichkeit erfährt: „Er sah in einem kleinen Stückchen Natur den Glanz, die Schönheit, die Herrlichkeit, nach der ihn verlangte. Aber jäh überfällt ihn die Gewißheit: dahinter steht die Gottheit selbst.... Naturseligkeit und Gottseligkeit sind nicht Gegensätze, sondern dasselbe. ... dieser Ausgleich, diese Zusammenschau vollzieht sich nicht nur in ihm, sondern auch durch ihn. Er ist es ... der durch den fast gewaltsam durchgesetzten Blick durch die Natur hindurch in die Gottheit sich betätigt, der sich darin bewährt... durch seine Energie - sein Wollen hat er's erreicht: er hat Gott gefunden im Liebsten, was er hat, was sein eigenster Besitz ist, in der Natur. Gott ist ihm nicht mehr ein Fremder, sondern ist ihm vertraut geworden, ist in ihn selbst eingetreten, verbindet sich durch die Natur mit ihm. Was Gott hinfort von ihm will, ist nicht der Wille eines Fremden, sondern der Wille, der sich auch in der Natur regt, von der sich die Seele als ein Stückchen, als Abbild kennt. Gottes Wille und sein eigener Wille sind nicht mehr Konkurrenten, sondern ein und dasselbe." (133f)

Auf diesen letzten Punkt kommt es an: Böhme erlebt nach Eiert im mystischen Einswerden mit Gott eben das Problem als gelöst, das der kirchlichlutherische Christ im Vertrauen auf die externe Größe Christi gelöst weiß112: das Problem des Gegensatzes von göttlichem und menschlichem Willen; die Konkurrenz des göttlichen und des menschlichen Willens endet nach Eiert bei Böhme dadurch, daß der menschliche Wille als göttlicher Wille identifiziert wird. 4.2.2. Das christologische Spätwerk (1954). Dasselbe Problem steht im Zentrum der christologischen Studien des Spätwerkes, das von daher nicht eine dogmengeschichtliche Quisquilie darstellt, sondern das Lebensthema Elerts fortführt: Es geht hier um die Darstellung des Streites um das Verhältnis des göttlichen und des menschlichen Willens in der Person Christi und um die Darstellung der Lösung, die diese Frage im Konzil von Konstantinopel erfahren hat. Es ist fraglich, ob die Zusammenstellung der sehr unterschiedlichen Themen gewidmeten Untersuchungen Elerts zu einem geschlossenen Werk glücklich ist — diese auch von den Herausgebern aufgeworfene Frage braucht hier nicht entschieden zu werden113. Wohl aber erscheint es mir nicht unmög-

112

Vgl. den Vergleich der Böhmeschen Mystik mit dem lutherischen Christentum bei Eiert: „Es ist vielmehr gezeigt worden, daß sein [Böhmes] Kampf ausgesprochenermaßen der .historischen' Denkweise galt. Diese bedeutete bei ihm ... eine Religiosität, die am .Historischen', an geschichtlichen Tatsachen hängt. Er brauchte sie nicht für seine Willenseinheit mit Gott. ... So konnte er selbst des guten Glaubens leben, daß er das Christentum, auch das lutherische ... zur Vollendung brachte. ... Wäre er kritisch zu Werke gegangen, sein Urteil hätte anders lauten müssen. Es wäre ihm nicht verborgen geblieben, daß das .Hangen am Historischen', das grundlegliche Interesse an geschichtlichen Tatsachen, vor allem am geschichtlichen Christus, zum Wesen jeder lutherischen Frömmigkeit gehört." Vgl. näher unten C, 2.1.3. (l6lfF). 113 Vgl. Eiert, Ausgang 334ff — Nachwort der Herausgeberin.

66

D i e F u n k t i o n des Gesetzesbegriffes bei Eiert

lieh, den Ertrag zu identifizieren, den Eiert in den monotheletischen Streitigkeiten realisiert fand, der ihn zu den christologischen Untersuchungen motivierte, den er zwar in einem eigenen Abschnitt seiner Arbeit zu entfalten gedachte, aber nicht mehr ausdrücklich formulierte (Nachwort, Ausgang 337). Eiert kommt es darauf an, zu zeigen, daß in den monotheletischen Streitigkeiten nicht einfach die Gegensätze der chalcedonensischen Zeit sich forterben (Ausgang 230, 233, 235), sondern mit der Frage nach dem Verhältnis des göttlichen und des menschlichen Willens in Christus sich zum einen eine ,Personalisierung' der Christologie vollzieht: an die Stelle einer Verhältnisbestimmung, die sich am Begriff der .Natur', an den unpersönlichen Eigentümlichkeiten der Naturen oder den von außen betrachteten Ereignissen des Lebens Jesu orientiert, tritt nun der Wille; damit steht als Indiz der Naturen ein Phänomen im Zentrum, das das Verhältnis der beiden Naturen als Problem der Subjektivität zu erfassen erlaubt: „Jedenfalls wird m i t der Verlagerung a u f das W i l l e n s p r o b l e m ein Gesichtsfeld geöffnet, das außerhalb der bisherigen Kriterienpaare [fiir G o t t h e i t u n d Menschheit] liegt. Bei d e m ersten (passibilis - impassibilis) sind die Prädikatsträger nur passiv gedacht. Wille dagegen bedeutet Aktivsein. D a s zweite (finitum - infinitum) bilden Q u a n t i t ä t s kategorien, die einer anderen D i m e n s i o n als der Wille angehören. D a s dritte, W u n d e r u n d Leiden, läßt sich zwar u n g e z w u n g e n mit d e m Willen verbinden. Aber gerade hier wird die W e n d u n g sichtbar. W u n d e r u n d L e i d e n i m L e b e n Christi sind G e g e n s t a n d äußerer B e o b a c h t u n g . W a s dagegen Wille ist wissen wir nur aus unserer Innenerfahrung. I n d e m jetzt der Wille die N a t u r vertritt, wird das maßgebliche Kriterium nicht m e h r v o n außen, sondern an ihrer Innenseite gesucht." (Ausgang 2 4 1 , vgl. 2 4 0 f i m Zusammenhang von 230ff).

Eiert erkennt hier eine Abkehr von den metaphysischen Kategorien, in denen die Christologie sich in den chalkedonensischen Diskussionen bewegte, und eine sich für die chalkedonensische Orthodoxie eröffnende erneute Möglichkeit der Orientierung am Christusbild der Evangelien 114 . Wichtiger als dieser Fortschritt ist Elerts Gewichtung in der Darstellung des Streites und die Bewertung seines Ausganges: Es ist eigentlich nicht einzusehen, daß das opus im Titel den Namen Theodor von Pharans führt, denn selbst wenn diesem und seinem Umfeld eine ganze Reihe historischer Studien gewidmet sind, ist doch in dogmatischer Hinsicht Maximus Confessor der ,Held' Elerts (vgl. 246ff). Den dogmatischen Gewinn sieht Eiert eindeutig auf der Seite der chalkedonensischen Orthodoxie und damit in der dyothele114 1. Teil; 230, 2 4 l f ; Problem z.B. 151. Dieser Punkt ist für Eiert dogmatisch entscheidend - es ist gerade in seiner Dogmatik ein zentrales Anliegen, die Terminologie der Zwei-NaturenLehre und alle Bestimmungen der Christologie aus der Orientierung am Christusbild der Evangelien und so ,νοη unten' zu rekonstruieren - vgl. unten D, 4.1.3., vorläufig Glaube 355ff. Man sieht an diesem Beispiel, wie eng das dogmengeschichtliche Interesse mit dem dogmatischen zusammenhängt - vgl. in diesem Zusammenhang zur Bedeutung Theodor von Pharans: Ausgang 25; vgl. die Darstellung des Problems 71ff. Vgl. zum ganzen Komplex: Hauber, Christologie; zur Intention der dogmengeschichtlichen Arbeit Elerts auch: ders., Eiert 133f.

Das Zentrum der Beschreibung der ,Erfahrung extra Christum'

67

tischen Position realisiert, die den Willen nicht der Hypostase, sondern der Natur zuweist und somit von zwei Willen in Christus spricht. Denn hier - so arbeitet Eiert heraus - handelt es sich nicht nur um eine schematische Zuordnung der beiden Willen zur Person, die einmal mittels des göttlichen, einmal mittels des menschlichen Willens voluntative Akte vollziehe; es handle sich auch nicht um eine Position, in der der menschliche Wille nach Art eines Objektes vom göttlichen Willen bestimmt werde (253); die Einheit der beiden Willen stellt sich auch nicht als eine bloß äußerliche Einheit im gewollten Objekt her (ebd., vgl. 249f); vielmehr stellt Eiert heraus, daß gerade Maximus Confessor einerseits die Möglichkeit eines Gegensatzes des menschlichen gegen den göttlichen Willen ausschließt, dennoch aber andererseits von der Freiheit des menschlichen Willens ausgeht. Eiert erkennt als Lösung bei Maximus Confessor zwei christologische Grundbestimmungen: Zum einen die Wirksamkeit des Logos in der Freiheit des menschlichen Willens, so daß der Logos als Subjekt des menschlichen Willens erscheint; die menschliche Natur und damit auch ihr Wille hat seinen Ursprung in der Ewigkeit des Logos. Andererseits verbürgt das Theologumenon von der Sündlosigkeit Christi die unverbrüchliche Einheit des menschlichen Willens mit dem Gotteswillen im Sinne des non posse peccare, die eine Freiheit im Sinne der Möglichkeit einer anderen Selbstbestimmung als der zur Einheit mit dem Willen des Logos ausschließt, ohne die Unfreiheit dieses Willens zu implizieren: „In Wirklichkeit besteht diese Freiheit in der Selbstbestimmung der Menschennatur für den Gotteswillen." (256). Es ist auf den ersten Blick erkennbar, daß hier, im Rahmen der Christologie, in der Tat das Problem gelöst erscheint, das nach Eiert die Mystik Böhmes bewegt: Der Gegensatz zwischen dem Willen des Menschen und dem Willen Gottes ist in seiner Person aufgehoben, und zwar - dies im Gegensatz zu allen anderen Menschen - durch die unmittelbare, in der hypostatischen Einheit von göttlicher und menschlicher Natur gegebene Einheit mit Gott, die in der Einheit zweier Willen verwirklicht ist. Die Person Christi ist, so könnte man ohne weiteres sagen, die einzige, in der die vom Mystiker intendierte ursprunghafte Einheit mit dem göttlichen Willen (Mystik 8 5 - 8 8 ) realisiert ist und die dem Menschen als Sünder unentrinnbare Antithetik von göttlichem und menschlichem Willen aufgehoben - weil nie verwirklicht — ist.

4.2.3. Die Schrifi zur Russischen Religionsphilosophie

(1925). Der Bedeutung

dieser beiden Eckpunkte des Lebenswerkes Elerts wird man ansichtig, wenn man die 1925 erschienene Auseinandersetzung Elerts mit der russischen Religionsphilosophie, und hier eine zentrale Kritik der Position Florenskijs, genau liest. Eiert versucht hier die Nähe und die Ferne dieses Ansatzes zur Theologie Luthers herauszuarbeiten (Religionsphilosophie, bes. 572-579): Er stellt dar, daß Florenskij wie Luther das Problem des Verhältnisses von Vergebung und Gerechtigkeit in Gott bzw. Sünde und Gerechtigkeit auf Seiten des Menschen behandelt. Florenskij verstehe unter Sünde die von einem gottna-

68

D i e F u n k t i o n des Gesetzesbegriffes bei Eiert

hen Seelenzentrum unterscheidbare Sphäre empirischer Taten; dieses Seelenzentrum wiederum bestimme Florenskij als Träger des freien Willens: „Die von Gott geschaffene Persönlichkeit hat einen freien, schöpferischen Willen." (aaO. 576). Luther hingegen, so Eiert, sehe die eigentliche Antithetik in einem von Seiten des Menschen unüberbrückbaren Gegensatz von göttlichem und menschlichem Willen: „Aber die tiefste Not ist [für uns im Gegensatz zu den russischen Philosophen] doch der Konflikt unseres Willens mit dem Willen Gottes. Für uns ist Sünde nicht nur Disharmonie, Egoismus und Rationalismus, sondern Feindschaft wider Gott im allerernstesten Sinne." (aaO. 578) Aus diesem Verständnis der Sünde als das Personzentrum und damit den freien Willen betreffenden Phänomens ergebe sich nun ein anderes Verständnis der Person und des Werkes Christi: „Die unmittelbare Dramatik unseres Verhältnisses zu Gott, die sich in unserm empirischen Leben vollzieht, richtet unseren Blick zu allererst auf den geschichtlichen Christus, auf die Dramatik seines Lebens und die Bedeutung die ihm deshalb in der Geschichte der Menschheit überhaupt zukommt." (aaO. 579). Das Gewicht in dieser Aussage liegt auf dem Festhalten der Bedeutung des geschichtlichen' im Unterschied zum „Verhältnis zu seiner Gottheit" bzw. zu „seiner Bedeutung im Rahmen der Trinität", die die Einsicht in die Bedeutung des Lebens Jesu zur Voraussetzung hat (ebd.). Der Satz hebt also auf den soteriologischen Ansatz der Theologie Elerts („... die unmittelbare Dramatik unseres Verhältnisses zu G o t t . . . richtet unseren Blick ...) und auf die Vorordnung des geschichtlichen Lebens Jesu vor die Lehre von seiner Gottheit ab und damit eben auf den Ansatz einer ,'Theologie von unten', die die Morphologie (I, 101) und die Christologie seiner Dogmatik bestimmt (Glaube 355ff). Dort ist nun der entscheidende Ausgangspunkt der christologischen Entfaltung die Sündlosigkeit Christi in dem Sinne, daß der das menschliche Existieren prägende Gegensatz von göttlichem und menschlichem Willen in seinem Leben keinen Ort hat: „ U n d d o c h m u ß es mit alledem [ d e m Leiden u n d Sterben des M e n s c h e n Jesus] bei d e m M e n s c h e n C h r i s t u s noch eine andere B e w a n d t n i s haben. D e r Fluch seines Lebens s t a m m t e nicht aus d e m Z u s a m m e n s t o ß zwischen seinem Streben nach A u t o n o m i e u n d d e m göttlichen Z o r n - er kannte keine , H o f f a h r t ' " . ( M o r p h . I, 9 8 ) „ D e n n ,der' S o h n G o t t e s steht zu G o t t in einem Verhältnis, das den Willenswiderstreit mit ihm, das S ü n d i g e n , schlechterdings ausschließt." ( G l a u b e 3 6 5 ) .

Die Sündlosigkeit Christi ist darum für Eiert ein zentrales Theologumenon, in dem sich die Anerkennung der Gottessohnschaft und zugleich die Erkenntnis des Stellvertretungscharakters des Leidens und Sterbens Jesu vermittelt 115 . Die Sündlosigkeit - das ist der hier entscheidende Aspekt - faßt Eiert als Fehlen des dem natürlichen Menschen eigentümlichen Willensgegensatzes, positiv als genau die Einheit des menschlichen Willens mit dem Willen Gottes, die er in der Studie zu Böhme als die Sehnsucht des Mystikers

115

S . u . S . 213f.

Das Zentrum der Beschreibung der ,Erfahrung extra Christum'

69

und in seinen Studien über die theologische Bedeutung des monotheletischen Streites als dessen dogmengeschichtlichen Ertrag herausgearbeitet hatte. 4.3. Der Gegensatz zweier Willen als das Zentralphänomen der Passagen zur Situation des Menschen extra Christum. Damit wird insgesamt deutlich, daß die erste und die Fragmente der letzten Veröffentlichung von derselben Problematik bewegt sind und gleichsam das Grundthema der Elert'schen Theologie vorgeben: Der Gegensatz zwischen Gott und Mensch als WzY/iMjgegensatz und seine Lösung in der Person des Gottmenschen Jesus Christus, in dem die Antithetik zu einer Einheit des göttlichen mit dem menschlichen Willen aufgehoben ist. Dieses Thema ist nun der die genannten Abschnitte über die Existenz des Menschen unter der Verborgenheit Gottes strukturierende Grundgedanke, von dem her die einzelnen Aussagen und Passagen zu lesen sind. Am besten erkennbar ist diese Intention in dem vergleichsweise streng strukturierten ,Abriß', in dem Eiert in einem ersten Kapitel unter der Vorgabe, daß der Freiheitswille die Wesensbestimmung des Menschen sei (§ 1), über den Gedanken der Gegenwirkungen gegen diesen Freiheitswillen (§ 2) die Situation der Reaktion auf diese Erfahrung differenziert (§ 3). Die folgenden Kapitel bieten eine fortschreitende Entfaltung dieses Widereinander von Freiheitswillen und Erfahrung der Gebundenheit, indem zunächst im Ausgang von der Schicksalserfahrung der Gottesbegriff (Kapitel II), dann die Auseinandersetzung zwischen menschlichem und göttlichem Freiheitswillen (Kapitel III), die Möglichkeiten des Ausganges in der Selbstaufgabe oder der Leugnung Gottes expliziert (Kapitel IV) und schließlich die Rede der Schrift von der dem Evangelium vorausgehenden Gotteserfahrung mit der Schicksalserfahrung identifiziert wird (Kapitel V: Offenbarung). Zum einen bietet dieser Ubergang von der Schicksalserfahrung zur christlichen Rede vom Zorn Gottes noch einmal einen instruktiven Beleg für die Richtigkeit der oben erarbeiteten Bestimmung des ursprünglichen Sinnes des Elertschen Gesetzesbegriffes. Diese sorgfältig gearbeitete Darstellung einer Willensantithetik erschließt dann aber auch die Grundstruktur der Darstellung in der Morphologie, in deren Hintergrund die Auseinandersetzung Luthers mit dem Anspruch des Erasmus auf die Willensfreiheit vor Gott in ,De servo arbitrio' steht - das Urerlebnis und dessen Explikation ist die Frustration eben dieses Anspruches angesichts der übermächtigen Determination Gottes (Morph. I, 22f) 116 . Auch die sehr verzweigten Darlegungen der Dogmatik kreisen um das Thema der Ubermacht des Schicksals als Gegenwille gegen den Freiheitsanspruch des Menschen, der autonomer Mittelpunkt seiner Wirklichkeit nicht etwa sein will, sondern ist (§ 6; bes. 113-120) 117 . Alle

116 117

Dazu unten S. 183-190. Vgl. unten S. 256fF.

70

Die Funktion des Gesetzesbegriffes bei Eiert

diese Passagen haben die Aufgabe, im Ausgang von der Darstellung einzelner Erfahrungen oder Bestimmtheiten der menschlichen Existenz hinzuführen auf dieses Zentrum eines unentrinnbaren W?//f«jgegensatzes zwischen Gott und Mensch und dessen für den Menschen tödlichen Folgen. Der entscheidende Schritt ist dabei jeweils der Rückgang von einzelnen Momenten auf die diese erfahrbaren Elemente begründende und in ihr faßbare Willensrichtung: Wie auf Seiten des Menschen nach Eiert alle empirischen Taten ihr Zentrum finden im widergöttlichen Streben nach Autonomie 118 , so findet die den Menschen umgebende und seine Freiheit einschränkende Wirklichkeit ihr Zentrum in einer gegen den Menschen gerichteten, einheitlichen Intentionalität (Lehre §§ 4-7). Dies ist der Grundgedanke und das organisierende Zentrum auch der Passage, die in Kapitel C auf eben die Beschreibung der menschlichen Subjektivität hin zu analysieren ist. Der Gegensatz des menschlichen Autonomieanspruches und die Erfahrung der Unentrinnbarkeit des Bestimmtwerdens durch das, was Eiert im Anschluß an Spengler ,Schicksal' nennt - ursprünglich - wie dargestellt - die Einsicht, daß alles menschliche Leben und alle Vollzüge dem Lebensprozeß einer Kulturseele unterliegen — und als Determination aller menschlichen Wirklichkeit durch Gott beschreibt, führt dann zu der letzten Zuspitzung dieses Konfliktes in der Feststellung, daß auch das menschliche Autonomiestreben, damit der menschliche Widerspruch und die menschliche Feindschaft gegen Gott schicksalhaft ist, ohne daß damit die Verantwortlichkeit aufgehoben werde: „Dieser Gott, der uns verantwortlich macht für Forderungen, die wir nicht erfüllen können, der uns Fragen stellt, die wir nicht beantworten können, der uns schuf für das Gute und uns doch keine andere Wahl läßt, als das Böse zu tun - das ist der Deus absconditus. Es ist der Gott der absoluten Prädestination." 119

Dies gilt in dem Sinne, daß die Instanz der Feindschaft gegen Gott das Ich selbst ist: Sowohl die Instanz der Verantwortlichkeit und damit eben der Schuldzurechnung, als auch - und zwar qua Ich und daher nur um den Preis der Selbstaufgabe vermeidbar - die zentrale Instanz des Widerspruches gegen Gott: „Die Autonomie hat vor Gott keine Möglichkeit der inhaltlichen Erfüllung. Sie bleibt nur als Anspruch unseres Ego. Aber in diesem Anspruch liegt mit der Verantwortlichkeit auch unsere Schuld vor Gott." 120

Der entscheidende Punkt bei diesem etwas kryptischen Satz liegt, wie unten noch weiter zu belegen sein wird, darin, daß die Instanz der Freiheit und Verantwortlichkeit, die Subjektivität selbst, unverlierbar diesen Anspruch auf 118

Religionsphilosophie 576; vgl. die Analyse der Morphologie unten Kap. C., S. 170—

195ff. 119 120

Vgl. Morph. I, 19; dazu unten S. 173ff. Morph. I, 23; derselbe Gedanke in der Dogmatik: Glaube 118-120.

Zusammenfassung

71

Autonomie und somit auf Verantwortlichkeit erhebt, gerade in diesem als Freiheitswille notwendig gegen Gott gerichteten Anspruch aber ihrerseits schicksalhaft - durch Setzung Gottes - unfrei ist: „... wenn das Schicksal meinen gesamten Lebensgehalt bestimmt, so ist dies nur mein Lebensinhalt, weil ich das empfangene Leben aus dem Grunde meines Ich lebe, das, indem es empfängt, etwas anderes ist als das Empfangene. Dieses Ich ist ,reine' Subjektivität. Aber es besitzt eine verhängnisvolle Macht. Es bezieht alles, was ihm begegnet, auf sich selbst und gibt ihm das Ich-Vorzeichen. Ich werde angerufen, ich bin an die Zeit gefesselt, mir wird gegeben, mir wird genommen, mein ist das Schicksal. An diesem ,Mein und mir und ich' hat das Schicksal seinen Gegenspieler. Diese Erkenntnis bildet den Ausgangspunkt der Mystiker. ... sie erkannten nicht, daß dieses Widereinander unaufhebbar ist. Wir können mit dem ,Einen', das uns entgegensteht, nicht eins werden ... Das Schicksal wird den Widersacher, den es sich selbst setzte, nicht los, so lange ich lebe - ebenso wie wir bis zu dem gleichen Zeitpunkt das Schicksal nicht loswerden." (Glaube 120).

Hier wird der Zusammenhang der in 4.2. analysierten Passagen erkennbar: Die Lösung der Antithetik bei Böhme nimmt eine Einheit des menschlichen Willens mit Gott in Anspruch, die illusorisch ist und die menschliche Sünde überspringt; sie nimmt zugleich eine Einheit in Anspruch, die nur in der Person Christi — des Sündlosen — gelöst ist. Der Gegensatz wiederum ist selbst geschickhaft in dem Sinne, daß der Mensch ihn so wenig ablegen kann, wie er seine Subjektivität aufgeben kann. Mit seiner Subjektivität ist der Freiheitswille (Lehre) untrennbar verbunden; Subjektivität, die nicht widergöttlicher Wille wäre, gibt es nur in Christus selbst. Es wird sich im folgenden zeigen, daß diese Bezugnahme auf die Subjektivität als Freiheitswille im Rahmen der Deutung der Existenz vor dem Deus absconditus das Zentrum für das theologische Gesamtprogramm Elerts ist.

5. Zusammenfassung Die Aufgabe dieses Kapitels bestand darin, zu untersuchen, warum Eiert im Laufe seiner theologischen Entwicklung die Gotteserfahrung unter dem Deus absconditus bzw. das Thema der Erfahrung Gottes im ,Gesetz' aufnimmt und in das Zentrum seiner Theologie stellt. Es wurde erkennbar, daß der Anlaß dafür eigentlich nicht die Entdeckung der Antithetik von Gesetz und Evangelium war, sondern eine Aporie der theologischen Apologetik auch in der ermäßigten Gestalt, in der Eiert sie von seinen Erlanger Lehrern übernahm: Die von Eiert aufgenommene Unterscheidung von Geistes- und Naturwissenschaften erwies sich jedenfalls so, wie Eiert sie rezipierte, als unfähig zur Begrenzung des Anspruches der Naturwissenschaften, den Bereich der Realität und die Gesetze und Grenzen des in ihm Möglichen abzustecken (2.2.1.). Eine Lösung dieses Dilemmas bot sich durch Spenglers Morphologie, die es erlaubte, diesen Anspruch selbst als eine bestimmte, zwar unentrinnbare, aber

72

Die Funktion des Gesetzesbegriffes bei Eiert

geschichtlich gewordene, überholbare, relativierbare Sicht der Wirklichkeit in einem bestimmten Stadium der Kulturentwicklung zu interpretieren. Es bot sich fiir Eiert einerseits die Möglichkeit, dieser kulturell bedingten Sicht ein anderes ,seelisches' Zentrum mit einer anderen Wirklichkeitswahrnehmung gleichen Rechtes zur Seite zu stellen (2.2.3.); andererseits bot sich die Möglichkeit zu zeigen, daß hinter dem ,kausalmechanischen NaturbegrifF eine andere, vermittelbare Wirklichkeitsebene ihr Recht behauptet, die die Rationalisierung der Wirklichkeit als Moment eines geschickhaften geschichtlichen Prozessen einzuordnen und so in ihrem Recht zu relativieren erlaubt: als Moment des Weges einer Kulturseele in ihren Untergang. Diese Argumentationsfigur, in der der naturwissenschaftliche Anspruch nicht beiseitegestellt, sondern integriert und entschärft wird, erlaubt die Aufnahme der von Eiert bei Rudolf Otto neu entdeckten Irrationalität Gottes und des Widerspruches von Gott und Kultur, Theologie und Wissenschaft: Die determinierende Macht wird als .mysterium tremendum' und somit als Korrelat der Angst erfahren (3.2.1.); neben das Zentrum des Korrelatverhältnisses von christlicher Erfahrung und Evangelium in der Erlanger Schule tritt als Modifikation des apologetischen Anliegens eine gegenläufige Gotteserfahrung, deren Zentrum in einer kulturkritischen Intention besteht, die es erlaubt, die gegenwärtige, transzendente Wirklichkeit ausschließende .Weitsicht' auf die Realität (im Sinne von Erfahrbarkeit) dessen hin durchsichtig zu machen, was die theologische Tradition als Zorn Gottes angesichts der menschlichen Sünde beschreibt (3.2.1.). Man könnte den Vorgang so beschreiben, daß das Anliegen der Erlanger Theologen, die im Dogma gegenständlich formulierten Inhalte des christlichen Glaubens im Rekurs auf den Ort ihrer Erfahrung zu verifizieren, in Gestalt der Elertschen Analyse der Erfahrung des Menschen extra Christum auf das ,Schicksalserlebnis' hin ein Seitenstück erhält: hier wird die Realität Gottes extra Christum erfahren, oder anders: Die Themata der menschlichen (Erb)Sünde und des Zornes Gottes werden auf die Erfahrung hin durchsichtig gemacht, der sie entspringen und die sie formulieren: 121 „Gott ist plötzlich aus einem Gegenstande des Nachdenkens, aus einem Paragraphen der Dogmatik zu einer Person geworden, die mich persönlich anruft. Und sie ruft mich an, um mir zu sagen, daß meine Zeit abgelaufen ist."122 Die Durchführung der Beschreibung dieser Erfahrung Gottes extra Christum hat ihr Zentrum in einer Beschreibung des Widereinander zweier Willen, des unentrinnbaren Anspruches des Menschen auf Autonomie, die in eins seine Schuld und seine Verantwortlichkeit konstituiert; und der Gegenwirkungen gegen diesen Willen in der Erfahrung menschlicher Abhängigkeit, die - nach Maßgabe des Schicksalsbegriffes - universal ist und noch die ver-

121 122

Dazu bes.: Transzendenz 528—533. Morph. I, 18, vgl. dieselbe Intention: Transzendenz 537; 541; vgl. Erstarrungsgesetz.

Zusammenfassung

73

meintliche Freiheit des Menschen als Gesetztsein entlarvt: eine von Gott gesetzte Unfreiheit in der Schuld des Autonomieanspruches (4.). Damit zeigt sich, daß das Zentrum des Elertschen Werkes - der Gesetzesbegriff - mit dem Thema des Autonomieanspruches menschlicher Subjektivität unmittelbar verbunden ist. Der genaue Modus dieser Verbindung wird in Teil C . erhoben werden.

Β. Evangelium und Dogma Als Grundzug der Erlanger Tradition erwies sich in den vorangehend besprochenen Positionen die Verhältnisbestimmung von Theologie und Glaube, der gemäß jeder Rede von Gott die Erfahrung des in dieser Rede bezeichneten Inhaltes zugrundeliegt1; entsprechend besteht die Grundbewegung in einem verifizierenden Rückgang von der Ebene bloßer Begriffe auf die Ebene der Erfahrung, in der sich das Bezeichnete als eigentlich und gegen mögliche Verzeichnungen Gemeintes gibt2. Diese Erfahrung ist bei Frank als Neusetzung oder Neubestimmung des Subjektes qualifiziert3; dasselbe gilt grundsätzlich für Ihmels, der diese Neubestimmung näher als den — im Hören des Evangeliums in der Situation des Gesetzes geweckten — Glauben und so als Erfüllung der Bestimmung des Menschen zur Gottesgemeinschaft faßt 4 . Der folgende Abschnitt stellt sich die Aufgabe, diese Grundfigur bei Eiert zu identifizieren und damit eine zentrale und unabdingbare Manifestation seiner Zugehörigkeit zur ,Erlanger Schule' zu erfassen. Ich werde dabei zu zeigen versuchen, daß die Fragestellung und Elerts Lösung chronologisch alle Etappen seines Werkes durchzieht und sich von der frühen Veröffentlichung zur Religionspsychologie (1912) bis hin zur ausgebildeten Gestalt seiner Theologie in der Dogmatik (1940) verfolgen läßt. In einem ersten Abschnitt soll nach einer kurzen Problemskizze das Verhältnis von Lehre bzw. Dogma und Erfahrung in der genannten frühen Veröffentlichung sowie in der Schrift ,Dogma, Ethos, Pathos' von 1920 bestimmt und die expliziten Verbindungen zur Erlanger Tradition identifiziert werden (1.). Der zweite Abschnitt (2.) bietet eine detaillierte Analyse der ersten expliziten Stellungnahme Elerts zu dem genannten Problem, die in der zweiten Auflage der ,Lehre des Luthertums im Abriß' als Teil des Anhanges erschien (1926). In einem letzten Abschnitt (3.) wird die mit der Dogmatik von 1940 erreichte Position in diese Entwicklung eingezeichnet und damit die Kontinuität zur Erlanger Schultradition in einer für den Ansatz der Dogmatik Elerts entscheidenden Passage deutlich gemacht. 5 1

Slenczka, Studien Bd. 1, 28-31; 317-319. Ebd., 95f; 23ff. 3 Ebd. 84ff. 4 Ebd. 283-290. 5 Die Literatur zu diesem Problemzusammenhang, in dem es um die Deutung Elerts als .Erfahrungstheologe' in einem noch näher zu kennzeichnenden Sinne geht, ist spärlich; der eigentümliche Zusammenhang von .Dogma und Pathos' wird von Duensing (Gesetz 13, Anm. 5) knapp erwähnt und einerseits auf Dilthey, andererseits auf die „alte Erlanger .Erlebnistheologie'" [!] zurückgeführt. Eyjolfsson (Rechtfertigung) kommt ohne Reflexionen des Elertschen erfah2

Lehre und Erfahrung in der Frühzeit Elerts

75

1. Theologische Lehre und christliche Erfahrung in der Frühzeit Elerts (1912 und 1920) „Das Dogma ... ist der Ertrag jener inneren Nötigung des Glaubens, die Wahrheit des Evangeliums auszusprechen." (Lehre 111). Eiert unterscheidet mit diesem Satz das Evangelium a u f der einen v o m D o g m a auf der anderen Seite. Beide werden in ein jeweils unterschiedliches Verhältnis z u m G l a u b e n gesetzt: W ä h r e n d das D o g m a als Produkt des Glaubens erscheint, erweist sich das Evangelium als d e m G l a u b e n vorgeordnet, u n d zwar als dessen B e d i n g u n g der Möglichkeit. D e n n der G l a u b e - genauer: das Widerfahrnis von Reue und Vertrauen - entspringt d e m Evangelium und ist nach Eiert ohne dieses nicht denkbar. 6 D a m i t stellt sich die Frage, in welches Verhältnis nach Eiert nun eigentlich „das Evangelium" und das D o g m a treten; denn das Evangelium ist - im Vorgrifif a u f die D o g m a t i k - die Verheißung eines Existenzwandels, der den Bericht von Christus u n d der in ihm geschehenen Versöhnung mit G o t t zur G r u n d l a g e hat. A u c h im Falle des Evangeliums hat m a n es d e m n a c h mit formulierter Rede zu tun, in der ein Bericht von Christus (Demonstrativ) als A u f f o r d e r u n g z u m G l a u b e n (Adhortativ) an den Hörer ergeht. 7 Genauer

rungstheologischen Ansatzes insgesamt aus (13ff zur Erlanger Theologie); vgl. auch Beyschlag, Theologie l49ff, der Eiert und Althaus als diejenigen kennzeichnet, die über Ihmels' Relativierung der Subjektivität des Glaubens wieder, und zwar im Rekurs auf die natürliche Erfahrung, die Erlanger Tradition fortsetzen. Ferner zum Dogmenbegriff Elerts im Verhältnis zum Begriff des ,Christusbildes' und unter fast ausschließlichem Bezug auf die Spätzeit (Eiert, Die Kirche und ihre Dogmengeschichte, als Anhang in: Eiert, Ausgang 3 1 3 f f ) : Kantzenbach, Evangelium 242ff; ders., Beitrag. Keller-Hüschemenger ordnet Eiert relativ knapp in die von ihm diagnostizierte Bewegung auf eine .objektivistische' Begründung der Heilsgewißheit im Laufe der Erlanger Schule und zwar als Endpunkt - ein, bezieht sich aber dafür auch ausschließlich auf die Dogmatik Elerts. Ferner ist die umsichtige Analyse Bayers zu notieren, der die Schrift .Dogma, Ethos, Pathos' sachgemäß als Ausgangspunkt seiner Rekonstruktion des Elertschen Programms wählt. Zuletzt: Die unübertroffene Elertanalyse von Langemeyer hat auch zu diesem Problem die entscheidenden Beobachtungen bereits herausgestellt (Gesetz, bes. 35ff; 43ff, vgl. die Hinweise auf die zugrundeliegende Erlanger Tradition 1 9 0 · Die entscheidenden, auch im folgenden herausgearbeiteten Zuordnungen: Das D o g m a ist eine abkünftige Gestalt des christlichen Heilserlebnisses, das seinerseits sich als subjektives aber einem nur in ihm erschlossenen Grund - dem Evangelium verdankt, werden auch von Bayer (Theologie 2 8 5 - 2 8 7 ) und Langemeyer (Gesetz 3 4 - 3 9 ) herausgestellt. - Zur Erlanger Position zum T h e m a .Bekenntnis' und .Glaubenserfahrung' insgesamt vgl. neben der Einleitung von Slenczka, Studien Bd. 1: Hirsch, Geschichte 5, 416 und Kontext; Hein, Bekenntnis, bes. 82ff. 6 D E P 33 und 34. Bereits in jener frühen Schrift „ D o g m a - Ethos - Pathos" (1920) stellt Eiert das durch das Evangelium hervorgerufene Pathos von Reue und Vertrauen dem D o g m a und damit dem Wissen als Bedingung der Möglichkeit voraus (genauer s.u. 1.2., S. 79fF). 7 Glaube § 18 und 19; genauere Analyse dieser Passagen vgl. unten D , 2. Das Heranziehen der Ausführungen aus der Dogmatik rechtfertigt sich gegenüber den Hinweisen Langemeyers (Gesetz 3 8 0 auf geringfügige Verschiebungen durch den Verweis auf die unten (3.3. [113ff]) erfolgende Einordnung der späteren Position in das hier nachzuvollziehende Programm.

76

Evangelium und Dogma

noch: die kirchliche Verkündigung, in der das Evangelium ergeht,8 hat selbst das Dogma zur Norm insofern, als das Dogma den Sollgehalt formuliert, in dem alle öffentliche Verkündigung der Kirche übereinzustimmen hat. 9 Dogma und Kerygma bzw. Evangelium stehen also — jedenfalls in der Dogmatik Elerts - in einem erheblich engeren Verhältnis als im oben gebotenen Zitat erkennbar, und es wird fraglich, wie das eine als Voraussetzung, das andere hingegen als Ausdruck des Glaubens bezeichnet werden kann, wie das erste eine prinzipiell wandelbare und überholbare Größe 10 , das Evangelium aber die unüberholbare und unverzichtbare Grundlage der Kirche sein sollte. 11 Dem damit benannten Problem des Verhältnisses von Evangelium bzw. Erfahrung und Lehre ist nun in der angekündigten Weise nachzugehen12. 1.1. Lehre und Erfahrung in der religionspsychologischen Schrift von 1912. Eine erste Aufklärung des Verhältnisses bietet der Aufsatz von 1 9 1 2 zur Religionspsychologie, auf dessen Nähe zu der acht Jahre später in „Dogma, Ethos, Pathos" vertretenen Position ich bereits hingewiesen habe.13 Eiert schlägt in jener frühen Veröffentlichung im Zusammenhang einer Auseinandersetzung mit dem Anspruch Georg Wobbermins, mit Hilfe religionspsychologischer Untersuchungen auch die Wahrheitsfrage der christlichen Religion zu beantworten, 14 vor, die Frage nach der Wahrheit von der Frage nach der Wirklich-

8 Zum genauen Verhältnis von Verkündigung und .Evangelium' vgl. unten 3.3.1., S. 113ff. Vorläufig: Glaube 42f; 45f; 140; 145; Schrift 5ff. 9 Glaube § 5 , vgl. Schrift 11-13. 10 Vgl. DEP 2 1 - 2 6 ; dazu auch Schrift 12. " DEP 33f; Glaube 42; vgl. im folgenden. 12 Die Problemstellung insgesamt dürfte, ohne daß Eiert das vermerkt, auf Adolf v. Harnacks Deutung des Verhältnisses von Evangelium und Dogma zurückgehen, nach der das Dogma eine Bildung des durch das schlichte Evangelium geweckten Glaubens unter bestimmten Bedingungen (des griechischen Geistes nämlich) ist; vgl. Harnack, Wesen 126f; dazu Lehrbuch I, 6 7 - 6 9 zum Evangelium; zum Programm: ebd. 15-25; 4 8 - 6 4 . Die im Konzept Elerts in der im folgenden skizzierten Weise problematische Zuordnung von Dogma und Evangelium stellt sich bei Harnack nicht, da hier das Evangelium und das Dogma nach einem klaren Kriterium unterscheidbar sind: Das Evangelium hat bei Harnack eigentlich keine gegenständlichen Bestimmungen zum Inhalt, sondern Bestimmungen der Subjektivität, derer mittels der Verkündigung der Glaubende vergewissert bzw. zu deren Verwirklichung er aufgerufen wird (die Vaterliebe Gottes und der unendliche Wert der Menschenseele; das Reich Gottes wesentlich als präsentisches, inneres Reich [vgl. Wesen 43]; die bessere Gerechtigkeit; vgl. Wesen 40 und die Explikation im folgenden).

S.o. 51f. Grenzen 164-166. Für Wobbermins Ansatz vgl. neben der Einleitung in die deutsche Ubersetzung von W. James, Die religiöse Erfahrung (G.Wobbermin, Erfahrung III-XXXI) auch: ders., Theologie II, 1 - 6 ; 21f 25 zurTrennung von Wesens- und Wahrheitsfrage; 3 1 7 - 3 2 6 ; vgl. I, 405ff, bes. 409—413. Während Eiert bei Wobbermin den Versuch einer Legitimation des Christlichen vor einem allgemeinen Wahrheitsbewußtsein sieht, geht es Wobbermin lediglich um den Nachvollzug der inneren Logik des religiösen Bewußtseins, das, indem es thematisiert wird, sich als gegenständliches Bewußtsein erweist: „Die Wahrheitsfrage, die hier in Betracht kommt, ist also immer nur die innerreligiöse Wahrheitsfrage." (James, Erfahrung XXIII); Wobbermins Interesse geht darauf, die Religion strikt als psychologische Erfahrung auszulegen, alle gegenständli13 14

Lehre und Erfahrung in der Frühzeit Elerts

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keit zu unterscheiden.15 Eiert differenziert damit zwischen einem unmittelbaren und einem durch Behauptungen anderer vermittelten Zugang zu etwas: „Wirklich ist alles, was der Erfahrung des Forschers unmittelbar zugänglich ist. Die Prüfung, ob etwas wahr sei, setzt dagegen voraus, daß es schon von anderer Seite als wirklich behauptet ist." (Grenzen 193)

Der Begriff der Erfahrung bezeichnet die subjektiven Vollzüge, in denen sich ein dem Subjekt transzendenter Gegenstand erschließt, wobei die religiöse Erfahrung nicht primär durch spezifische Eigentümlichkeiten des subjektiven Erlebnisses, sondern durch ihren Gegenstand als religiös charakterisiert ist.16 Eiert zielt mit dieser Unterscheidung von Wirklichkeit und Wahrheit auf die These ab, daß es die Theologie in erster Linie mit der Darstellung und Entfaltung von Sachverhalten zu tun hat, die sich im Vollzug einer Erfahrung als wirklich verbürgen. Die Aufgabe der Theologie besteht somit nicht darin, den Realitätsgehalt theologischer Behauptungen nachzuweisen, sondern vielmehr darin, religiöse, einen Gegenstand unmittelbar erschließende Erfahrung zur Auslegung zu bringen.17 Diese Aufgabenstellung unterscheidet Eiert von einer nachgeordneten Aufgabe, nämlich dem Nachweis der Wahrheitsfähigkeit dieser religiösen Wirklichkeitsbehauptungen vor dem Forum der Wissenschaften.18 Ausdrücklich reformuliert Eiert mit dieser Aufgabenstellung das oben referierte, auch in seiner theologischen Dissertation rezipierte apologetische bzw. religionsphilosophische Programm Hunzingers,19 womit deutlich wird, daß im Hintergrund der Unterscheidung von Wahrheit und

chen Aussagen als Selbstaussagen des Glaubens zu bestimmen und diese - vorwiegend durch den Nachweis des Scheiterns aller wissenschaftlichen Kritik dieser Inhalte einerseits und den Ausweis der Kompatibilität mit dem wissenschaftlichen ,Weltbild' andererseits — zu rechtfertigen; vgl. Theologie II, 322-326, bes. 325f, dazu die Durchführung im folgenden; vgl. Theologie I, 2 1 6 242. Die von Wobbermin intendierte Nachordnung der (apologetischen) Wahrheits- hinter die Wesensfrage zielt eben darauf, die Beantwortung jener durch diese vorzubereiten (Theologie II, 3230Grenzen 193f. Ebd. 161; Eiert setzt sich hier mit der von ihm beobachteten Tendenz der neueren Religionspsychologie auseinander, sich in ihren Untersuchungen auf das Gebiet der psychischen Funktionen unter Absehung von deren Gegenstandsbezug zu beschränken; vgl. ebd. 160-165 sowie 199f; im Blick sind dabei — wie der allerdings erheblich spätere Aufsatz zur Dogmengeschichte (vgl. Eiert, Kirche 314) ausweist - insbesondere die Relativierungen des formulierten Dogmas unter Hinweis auf den ,subjektiv-personalen' Glauben etwa bei Adolf v. Harnack und - s.u. - bei Troeltsch; etwa: Harnack, Lehrbuch 3, 861 ff; vgl. 8 2 0 f f - d a z u knapp oben Anm. 12; Eiert hingegen kommt es darauf an, die Begründung des Glaubens in einem ihm vorgegebenen und so Gegenständlichen auszuweisen. Daß das religiöse Erlebnis nicht als rein psychisches Vorkommnis ohne Bezugnahme auf seinen Gegenstand analysierbar ist, ist ein Grundthema, das sich durch das gesamte Werk Elerts hindurchzieht. 17 Grenzen 196f, vgl. 247 und 244, Anm. 1. 18 AaO. 197 und ff. " Vgl. ebd. 198; s. Slenczka, Studien Bd. 1, 308ff. 15

16

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Wirklichkeit eben jene Erlanger Differenzierung zwischen einem nachgeordneten apologetischen Interesse und der Selbsterschließung des Gegenstandes des Glaubens in der religiösen Erfahrung steht. Entsprechend limitiert Eiert die Möglichkeit, den Realitätsanspruch der Behauptungen des Christentums auszuweisen, indem er jenen letzten Punkt individueller Erfahrung als der wissenschaftlichen Uberprüfung und damit der Verifikation ,νοη außen' entzogen betrachtet.20 Nur in dieser notwendig individuellen, unvertretbaren Erfahrung aber erschließt sich die Transzendenz des als wirklich behaupteten Gegenstandes. Die subjektive religiöse Erfahrung hat in dieser Zuordnung von Wirklichkeit und Wahrheit eine doppelte Bestimmtheit: auf der einen Seite entspringt sie selbst dem unmittelbaren Kontakt mit einer ,transsubjektiven', gegenständlichen Realität, die sich in dieser Erfahrung erschließt. Auf der anderen Seite findet sie Ausdruck in einer Reihe von Selbstaussagen, die einerseits mit der Religion „unauflöslich verbunden" sind, andererseits aber Produkte des Glaubens sind, die ihren letzten Verifikationsgrund in der die Wirklichkeit des .Transzendenten' unmittelbar erschließenden subjektiven Erfahrung haben ,21 Die eigentliche Verifikation der Behauptungen über die in einer Religion erschlossene Wirklichkeit ist der Eintritt in den Vollzug der Wirklichkeitserfahrung,22 die im theologischen Vollzug vorausgesetzt und ausgelegt bzw. vor dem Forum der Wissenschaften so weit wie möglich ausgewiesen wird (Grenzen 205).

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Vgl. Grenzen 200-205. Ebd. 194f; 202-205. 22 Ebd. 200-205. Der Text Elerts ist nicht dazu angetan, diese Aussageintention ohne jede Schwierigkeit zu erkennen zu geben. Eiert kommt es darauf an, zu zeigen, daß die Faktizität der psychischen Wirksamkeit religiöser „Gegenstände" - des Wortes von Christus etc. - und die allgemeine Regelhaftigkeit dieser Wirkung nachvollziehbar ist, daß aber die Behauptung, in diesem Wort werde eine transzendente Kausalität vermittelt, ihren Verifikationsgrund in einem letztlich subjektiven Akt hat, den Eiert als ,,individuelle[s], bejahendefs] Urteil" oder als „Jasagen" bezeichnet (205 und 204). Im Fortgang des Aufsatzes findet Eiert einen erheblich viel gelungeneren Ausdruck für denselben Sachverhalt (vgl. 244, Anm. 1): Er nimmt hier den Begriff der Währheitsgewißheit von Ihmels auf und bezeichnet die Gewißheit um die Wahrheit als „ein subjektiv bejahendes Urteil über rein objektive Behauptungen ..., gewissermassen die Anerkennung der Behauptuugen [!] des vorstellenden Subjektes durch das erfahrende Subjekt. Auf der Unterscheidung beider Seiten beruht die Gewißheitslehre." (ebd.). Die „Anerkennung" oder „Bejahung" vollzieht sich also genau im unmittelbaren Kontakt mit der Realität, die sich in der christlichen Erfahrung gibt, d.h. im individuellen Eintritt in diese Erfahrung selbst. - Eiert rezipiert mit diesem Begriff der .Bejahung' natürlich eines der Momente des Glaubens in der klassischen lutherischen Theologie (assensus); dieser Aspekt steht auch in der Dogmatik von 1940 unter dem Titel der .Anerkennung' im Zentrum - es wird sich zeigen, daß Eiert dort ebenfalls die Zuordnung zu den übrigen Momenten (fiducia, notitia) nicht gelungen ist, deren Notwendigkeit er in der Schrift von 1912 offenbar gar nicht sieht, so daß die .subjektive' Seite des religiösen Aktes in pitoyabler Weise unterbestimmt erscheint. 21

Lehre und Erfahrung in der Frühzeit Elerts

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1.2. Lehre und Erfahrung in ,Dogma, Ethos, Pathos' von 1920. 1.2.1. Die Bestimmung des .Pathos'. Diese Zuordnung von unmittelbarer Erfahrung der Wirklichkeit und deren Auslegung und Verantwortung vor dem Forum der Wissenschaft entspricht nun der Unterscheidung von Dogma und Pathos im Rahmen des genannten Aufsatzes von 1920. Eiert unterscheidet dort, wie bereits skizziert, in lockerem Anschluß an Schleiermacher23 die Ebene des Gefühls bzw. Erlebens von Wissen und Tun.24 Wesentlich ist dabei der Versuch einer wechselseitigen Zuordnung dieser Momente des Christlichen, die der Untertitel etwas irreführend als „Dreierlei Christentum" bezeichnet.25 Die Grundintention Elerts ist die These, daß das Pathos, der vorprädikative, durch das Evangelium ausgelöste Affekt von Reue oder Sündenbewußtsein und Vertrauen oder Gnadenbewußtsein die grundsätzlich unveränderliche, im Laufe der Geschichte des Christentums lediglich in ihrer Intensität schwankende Basis ist, die sowohl das Dogma wie das christliche Ethos regiert und aus sich heraussetzt. Die inhaltlichen Wandlungen, denen das Dogma im Laufe seiner Geschichte unterworfen ist, erklären sich nach Eiert aus den Schwankungen der Intensität des zugrundeliegenden Pathos; seit der Aufklärung wiederum ergeben sich dogmatische Wandlungen, die auf den Versuch zurückzuführen seien, an die Stelle des Pathos die Moral zu setzen und die einer grundsätzlichen Orientierung des Christentums an den Anforderungen des Ethos entgegenstehenden dogmatischen Bindungen zu eliminieren.26 Interessant ist nun zunächst die Frage, was genau Eiert eigentlich unter dem Pathos versteht: Gemeint ist ganz offensichtlich das Innewerden einer Einheit mit Gott, ein Gotteserleben, das allerdings durch sinnliche Medien vermittelt wird: „Man spricht v o m Erleben Gottes. Handelt es sich dabei um eine sinnliche Erfahrung, so könnte selbstverständlich nur gefragt werden, ob die Erfahrung den Tatsachen entspricht, oder auf Täuschung beruht. In Wirklichkeit handelt es sich dabei aber nur um eine Erfahrung des Ubersinnlichen, die aber wie jede Erfahrung durch das Sinnliche vermittelt werden muß. Infolgedessen muß man fragen, ob das Ubersinnliche in dem vermittelnden Sinnlichen deutlich oder undeutlich wahrgenommen wird ... Frömmig-

23 Dazu Bayer, Theologie 285; allerdings ist die Anknüpfung an Schleiermacher wenig aussagekräftig, da der völlig unklare Gefühlsbegriff bei Eiert das Niveau Schleiermachers nicht annähernd erreicht. 24 Vgl. DEP 8 zur Formulierung sowie pss. im folgenden. Seitenverweise im fortlaufenden Text beziehen sich im folgenden auf diese Schrift. Zur Nähe zu Schleiermacher vgl. bes. die Beschreibung der Idealität des „Pathos" aaO. 13-17, bes. 15. 25 Irreführend ist der Untertitel, da er den Gedanken an drei Arten des Christlichen nahelegt (so noch im ersten Abschnitt DEP 5-8). Eiert kommt es im folgenden aber auf die Feststellung an, daß jede Gestalt des Christlichen immer eine Vermittlung aller dieser Momente darstellt, so daß die von ihm vorgenommene Differenzierung von Typen des Christlichen nicht mehr als der Ausdruck fur eine unterschiedliche Gewichtung dieser Momente ist (vgl. z.B. ebd. 20f)· 26 Ebd. 27-32, bes. 31.

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Evangelium und D o g m a

keit bedeutet in diesem, d.h. weder intellektualistischen noch ethischem [!] Sinne ein Empfinden der N ä h e Gottes. Das fromme Herz fühlt entweder, daß Gott fern ist, oder ihm näher kommt, oder ganz nahe ist, ja es gibt ein Stadium dieses Empfindens, wo eine völlige Verschmelzung zwischen Gott und Seele erlebt wird.... Je näher das Empfundene desto stärker das Gefühl, mit dem es wahrgenommen wird." ( D E P 16) Eine über die negative A b g r e n z u n g gegen Wissen u n d T u n hinausgehende B e s c h r e i b u n g d e r U n m i t t e l b a r k e i t des G e f ü h l s -

e t w a in A u f n a h m e

der

S c h l e i e r m a c h e r s c h e n v o r t h e m a t i s c h e n R e f l e x i v i t ä t 2 7 - s u c h t m a n bei E i e r t v e r g e b e n s 2 8 ; der B e g r i f f des G e f ü h l s o d e r des E r l e b e n s bleibt in s o l c h e m A u s m a ß unerhellt, d a ß s o g a r d i e I d e n t i f i k a t i o n der E r f a h r u n g bzw. des G e f ü h l s m i t d e m G l a u b e n , d i e ein Z e n t r u m d e r P o s i t i o n I h m e l s ' bildete 2 9 , erst a u f d e n

27 Schleiermacher, Glaube § 3.2. Dazu Albrecht, Theorie 232ff, bes. 236f; Cramer, Prämissen 130ff; 157f. 28 Einen Ansatz zu einer Definition findet der Leser bestenfalls in der - nach einer Aufzählung möglicher Näherbestimmungen des pathetischen Modus vollzogenen - Rückführung der unter der dritten Form befaßten Bestimmungen des Christlichen auf drei: „Christentum als Gefühl, Christentum als Erleben und Christentum als Frömmigkeit." (DEP 14) Die spezifische Differenz des .pathetischen1 Modus der Frömmigkeit wird im ,Affekt' und in der ,Wärme des Herzens' gesehen (ebd.), womit Eiert das Phänomen des .Gefühls' umschrieben zu haben beansprucht. Das ,Erleben' verbinde mit dem Gefühl in diesem Sinne die Irrationalität und die Unwillkürlichkeit („Es sind beides Ausdrücke für ein ungewolltes und unreflektiertes Innewerden.", 15), während Frömmigkeit und Erleben sich als Habitualität und Aktualität eines Sachverhaltes unterscheiden lassen (ebd.). - Im Grunde erfolgt aber in dem gesamten Abschnitt keinerlei Definition - alle diese genannten Phänomene sind rein negativ gegen Rationalität und Sittlichkeit definiert: Die drei Bestimmungen (Pathos als Frömmigkeit, als Gefühl, als Erleben), die Eiert als Aspekte eines Sachverhaltes bezeichnet, werden eingeführt als Bündelung eines größeren Sets von möglichen Bestimmungen, die - wenn man das folgende Zitat genau liest - eine lediglich negative Kennzeichnung durch die zweimal wiederholte Feststellung erhalten, es handle sich dabei weder um Angelegenheiten der Rationalität noch um solche der Sittlichkeit: „Religion ist Gefühlssache, wird geantwortet. Religion und Christentum als Gefühl, als absolutes Abhängigkeitsgefühl, als gesteigertes Lebensgefuhl, als Gefühl der Gottesnähe, als Präsenzempfindung des Göttlichen, als Erfahrung von Gotteswirkung, Religion als innige und unmittelbare, d.h. nicht intellektuelle und nicht ethische Vereinigung mit Gott, als Sache des Herzens, als Frömmigkeit — das sind eine Reihe von Bestimmungen, die man der Religion und dem Christentum gibt, sofern sie nicht Verstandessache und nicht Sache des sittlichen Willens sein soll." (14, kursiv von mir). Der Verdacht, daß hier eine ganze Tradition der theologischen Rezeption des Gefühlsbegriffes nicht etwa bewußt überschritten, sondern - angesichts der umstandslosen Einordnung Schleiermachers (in der Wendung .absolutes Abhängigkeitsgefühl') neben eine .Erfahrung von Gottesberührung' - schlicht nicht bekannt ist, läßt sich schwerlich vermeiden. Solche bei Eiert immer wieder anzutreffenden Unstandslosigkeiten berühren doch merkwürdig, da man nach seinem wenig später erschienenen .Kampf um das Christentum' dergleichen eigentlich nicht erwartet (vgl. Kampf 50; auch hier vertritt Eiert allerdings die Sondermeinung, daß die unmittelbare Reflexivität des Gefühls bei Schleiermacher intentional verfaßt und als .Wirkung' Gottes bzw. des Universums, das sich seine Bewunderer bilde, verstanden sei; er versteht den Gefühlsbegriff Schleiermachers offenbar gerade nicht, wie dieser, als zunächst reflexive Bestimmung, in der ein .woher' dieser Selbstgegebenheit erschlossen ist, sondern unter dem Vorzeichen einer Auswirkung eines transzendenten Gegenstandes am Subjekt - vgl. auch Kampf 497f)· 29

Slenczka, Studien Bd. 1, 26Iff.

Lehre und Erfahrung in der Frühzeit Elerts

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letzten beiden Seiten des Aufsatzes nachgetragen wird:30 Das Gefühl ist in der Tat zunächst nichts anderes als eine emotive, vorrationale Sensation im allerlandläufigsten Sinne. Deutlich ist allerdings, daß sich Eiert mit dieser Begründung des Ethos und des Dogma auf das Pathos nicht nur faktisch in die Tradition der Erlanger Theologie stellt, sondern stellen will, denn er formuliert die einleitend noch als trennbare Modi des Christentums dargestellten Momente gleich im ersten Absatz der Schrift als alternative Antworten auf die Frage, wer ein Christ sei, und kennzeichnet die Antwort des vom Pathos bestimmten Christentums unter Verwendung der zentralen Termini der Erlanger Tradition: „Ein Christ ist, wer das Erlebnis der Bekehrung oder der Wiedergeburt gemacht hat."31 Deutlich ist ferner, daß sich im zuvor gebotenen Zitat zusätzlich Elerts Beschäftigung mit der Mystik Böhmes niederschlägt, und zwar sowohl in der positiven Beschreibung der „Verschmelzung" des frommen Herzens mit Gott, als auch in der negativen Abgrenzung gegen die Möglichkeit einer nicht durch die „Sinnlichkeit" vermittelten Erfahrung Gottes; Eiert knüpft damit an die bereits in den Böhme-Darstellungen vorgetragene Kritik an der Unmittelbarkeit des mystischen Gottesverhältnisses an.32 Deutlich ist damit auch dies: das Gefühl ist nicht nur nicht Selbstbewußtsein, sondern — ohne daß dies irgendwo problematisiert wird — ausdrücklich Gegenstandsbewußtsein: „Es sind beides [die das ,Gefühl' explizierenden Begriffe ,Fühlen' und ,Erleben'] Ausdrücke für ein ungewolltes und unreflektiertes Innewerden,"33 Im irrationalen Erlebnis oder im Gefühl vermittelt sich ein Transzendentes im Sinne des „Übersinnlichen", das Gefühl erscheint als das Organ für die Erfahrung des Göttlichen, das seinerseits sich entweder dem Menschen auf dies Gefühl hin erschließt - oder aber verweigert (vgl. DEP 25f). Es ist gerade das Pathos, das irrationale christliche Erleben, das unwillkürlich und daher von einer transzendenten Größe hervorgerufen ist34. Der Begriff des ,Gefühls' ersetzt den im Aufsatz zur Religionspsychologie ebenso umstandslos eingeführten Begriff der .Erfahrung', den Eiert der Erlanger Tradition entlehnte und

30 DEP 34 und f: Das Gefühl wird als durch das Evangelium geweckte ,Reue und Vertrauen' näherbestimmt; Eiert weist selbst darauf hin, daß dies eine ,neue Begriffsbestimmung' für das Pathos sei. 31 DEP 5; vgl. ausdrücklich 8. Es ist ganz deutlich, daß es Eiert nicht um eine genaue terminologische Anknüpfung oder eine präzise Übernahme des Sachverhaltes von Wiedergeburt und Bekehrung bei v. Frank geht - sonst hätte er kaum .Bekehrung oder Wiedergeburt' formulieren können. Eiert kommt es auf das Element des .Erlebens' an; in der Bezugnahme auf dieses, nicht in der genauen Näherbestimmung, weiß er sich mit den Erlanger Theologen verbunden. 32 Vgl. das Zitat, dazu: Christentum 10-17; 22-29 sowie Mystik 62fif, bes. 67-85 und 94— 102; zur Kritik am Verzicht Böhmes auf Vermittlungsinstanzen: 134—136. Das Anliegen Elerts bei seinen Forschungen zu Böhme ist allerdings dies: zu zeigen, daß die Mystik bei Böhme nicht auf ein quietistisches, „intellektualistisches" Einswerden mit Gott abzielt, sondern als Willensvereinigung vorgestellt ist (bes. Mystik 33-40; 70-76; 80ff; 89ff; 94-99). 33 DEP 15; Kursivierung: N. Sl. 34 Vgl. D E P 2 5 f , I4f, 33.

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Evangelium u n d D o g m a

d o r t - a n a l o g zur s i n n l i c h e n E r s c h l i e ß u n g e i n e s G e g e n s t a n d e s - als I n t e n t i o nalität b e s t i m m t e . 3 5 D a s „ E r l e b e n d e s G ö t t l i c h e n " b e s c h r e i b t Eiert als w e s e n t l i c h i n d i v i d u e l l e s E r e i g n i s — o f f e n s i c h t l i c h h a n d e l t es s i c h h i e r g e n a u u m j e n e s der w i s s e n s c h a f t l i c h e n V e r i f i z i e r u n g e n t z o g e n e M o m e n t d e s r e l i g i ö s e n Erlebnisses, das i m A u f s a t z zur R e l i g i o n s p s y c h o l o g i e

d i e Z u r ü c k f ü h r u n g der W i r k u n g e n

Christusverkündigung auf eine darin erfahrene Transzendenz

der

begründete.36

D a s Korrelat d e s S ü n d e n - bzw. G n a d e n b e w u ß t s e i n s ist also e i n e e n t s p r e c h e n de Selbstvermittlung Gottes, die n u n offenbar mit d e m Evangelium zusamm e n h ä n g t u n d durch dieses ausgelöst wird.37 1 . 2 . 2 . Das Verhältnis

von Evangelium

und Dogma.

D a m i t ist n a c h d e m Ver-

h ä l t n i s v o n D o g m a u n d E v a n g e l i u m z u fragen. Eiert hält fest, d a ß s o w o h l das E v a n g e l i u m , das G r u n d d e s P a t h o s sei, als a u c h das D o g m a , das d e m P a t h o s erst e n t s p r i n g t , „ m i t d e n o b j e k t i v e n H e i l s r e a l i t ä t e n " z u t u n h a b e u n d s i c h s o m i t d i e Frage s t e l l e n k ö n n e , o b n i c h t b e i d e i d e n t i s c h s e i e n ( D E P 3 3 ) : „Allein zwischen d e m Evangelium, sofern es das Pathos erzeugt, u n d d e m D o g m a ist ein grundsätzlicher Unterschied. W ä h r e n d aber das Evangelium die objektiven Heilsrealitäten in geschichtlicher Unmittelbarkeit, in irrationaler Tatsächlichkeit enthält u n d an d e n H ö r e r h e r a n b r i n g t , b e d e u t e t das D o g m a d e n Versuch, das U n m i t t e l b a r e der Geschichte metaphysisch zu d e u t e n u n d die Tatsachen u n t e r d e m G e s i c h t s p u n k t ihrer H e i l s b e d e u t u n g f ü r das Subjekt zu interpretieren. D i e E n t s t e h u n g des D o g m a s setzt also voraus, d a ß der C h r i s t bereits die H e i l s b e d e u t u n g jener Tatsachen an sich erfahren hat." 3 8

35 „Das ganze seelische Gebiet, das nicht von innerseelischen sondern von außerseelischen Ursachen seine Bestimmtheit erhält, nennen wir Erfahrung." (Grenzen 161). Eiert kommt es gerade darauf an, die Religiosität in diesem, aufTranszendentes verweisenden Sinne als Erfahrung zu bestimmen, und eben nicht als rein innerpsychische Realität. Den Begriff ,Intentionalität' verwendet Eiert nicht; zur hier vorausgesetzten Bedeutung vgl. Slenczka, Realpräsenz 365f. 36 Vgl. oben Anm. 22; Grenzen 203-205, bes. 204. Dazu DEP 15 Mitte, wo Eiert das Erleben des Göttlichen als ein wesentlich .zeitlich' Individuelles, einmaliges Phänomen von der eher .habituellen' Frömmigkeit unterscheidet. 37 DEP 32f; „Das christliche Erleben, die Inanspruchnahme der Affekte, all das, was wir im Begriff des Pathos zusammengefaßt haben, sind Vorgänge im Subjekt, die transsubjektive Ursachen haben.... Das christliche Erlebnis, die Inanspruchnahme des Affektes, wird verursacht durch das Evangelium." (DEP 32) 38 DEP 33f. Die Passage steht in folgendem Zusammenhang: Eiert hatte Dogma und Ethos auf das Pathos zurückgeführt, nun aber das Pathos in der objektiven Gegebenheit des Evangeliums begründet. Damit muß aber das Evangelium, wiewohl es eine .objektive' und in Sätzen beschreibbare Wirklichkeit ist, irgendwie vom .Dogma' unterscheidbar sein, und auf diese Frage antwortet der zitierte Passus. Es kommt hier nicht auf die Entscheidung darüber an, ob die Zuordnung befriedigend ist; das ist sie natürlich nicht, denn: Wenn das Evangelium eine .objektive', das Pathos begründende Größe sein soll, dann muß es identifizierbar sein - wie anders als durch Aussagen, die irgendwie dem Dogma ähneln? Die von Eiert unternommene, eben zitierte Unterscheidung beider Größen ist ja denn auch ausgesprochen unbefriedigend und nach meinem Dafürhalten eher Ausdruck der Verlegenheit; die Intention versuche ich im folgenden über Elerts Versuch hinaus aufzuklären.

Lehre und Erfahrung in der Frühzeit Elerts

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Die ,metaphysische Deutung' des ,Unmittelbaren der Geschichte' ist die für die Frage nach dem Verhältnis von ,Dogma', ,Evangelium' und .Glaube' interessante Wendung, da in ihr die Möglichkeit erkennbar wird, daß ein identischer Sachverhalt - Dogma und Evangelium unterscheiden sich der Sache nach ja für Eiert nicht - in unterschiedlicher Weise sich ins Verhältnis zum Subjekt setzt. Eiert bezeichnet damit offenbar dasselbe, was er kurz zuvor als den Gegenstand der „Wahrheitserkenntnis" umschrieben hatte: „Das Dogma behauptet eine bestimmte Wahrheitserkenntnis. Der höchste Gegenstand dieser Wahrheitserkenntnis ist Gott oder auch die Gottesoffenbarung, die nach christlicher Überzeugung in Jesus Christus vollendet und in der Schrift bezeugt ist. Diese objektiven Dinge sind nun ein für allemal und unabänderlich in der Geschichte festgelegt, infolgedessen auch nicht mehr der Veränderlichkeit unterworfen. Die Bibel wird zu allen Zeiten dieselbe bleiben und auch der Christus, den sie bezeugt, wie der Gott, den der in der Bibel bezeugte Christus offenbar gemacht hat." ( D E P 2 3 )

Diese .historischen Tatsachen' werden nun offensichtlich durch Schrift und Verkündigung so vermittelt, daß es beim Hörer zu dem beschriebenen Erlebnis kommt - und genau dies scheint die Wendung besagen zu wollen, daß das Evangelium die ,objektiven Heilsrealitäten' in irrationaler Tatsächlichkeit' enthält: Diese Wendung bringt zwei Momente zusammen: im Adjektiv irrational' den Verweis auf die durch das Evangelium ausgelöste Wirkung, und im Substantiv,Tatsächlichkeit' oder ,Heils realität wie im Adjektiv ,objektiv' die Tatsache, daß da, wo diese Erfahrung selbst bewirkt wird, diese Realitäten als gegenständliche präsent sind. Diese erfahrenen Realitäten werden andererseits im Dogma „metaphysisch" gedeutet - das zielt offensichtlich auf den Weltanschauungscharakter des christlichen Glaubens, darauf also, daß das im unmittelbaren Erlebnis Erschlossene objektiviert und gegen das Erlebnis verselbständigt zur Aussage gebracht wird. Daß dies gemeint ist, wird erkennbar, wenn man der Bezüge dieser Passage zu einer bereits genannten apologetischen Veröffentlichung von 1912 heranzieht, in der Eiert unter Berufung auf Rickert der Theologie einen Ort in den Geschichtswissenschaften als individualisierender' Erkenntnis anzuweisen sucht39 und auf dieser Basis die Unterscheidung Hunzingers zwischen ,Glaubenssatz' und .Weltanschauung' aufnimmt: 40 Vgl. Eiert, Wendung 476ff. Vgl. oben A, 2.2.2.2., S. 38. Die Kritik an Hunzingers Begriff der Weltanschauung zu Beginn der Schrift wendet sich nicht gegen den Begriff insgesamt, sondern gegen eine von Eiert bei Hunzinger (m.E. zu Unrecht) bemerkte Wandlung des Begriffes der Apologetik, der s.M.n. zu einer Begründung der im Glauben erschlossenen Inhalte durch die Bezugnahme auf die allgemeine Wahrheitsorientierung führe (Wendung 466f, zu Hunzinger vgl. Slenczka, Studien Bd. 1, II, 4.3.). Eiert hält den Begriff als Bezeichnung für den auch dem allgemeinen Wahrheitsbewußtsein zugänglichen gegenständlichen Gehalt des Christentums für unverzichtbar, der dem Nichtchristen als mögliche Wahrheit bewiesen werden kann (aaO. 485), nicht aber Ausweisgrund des Rechtes dieser Inhalte ist - was Hunzinger aber eben auch nicht intendiert. Eiert hat nicht verstanden, daß es Hunzinger wesentlich nicht um den Ausweis isolierter Glaubensgegenstände, sondern um die Leistung dieser Inhal39

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„Unser Glaube ist Heilsglaube; und wenn er auch notwendig Vorstellungen von Gott und von der Seele einschließt, so sind doch diese Glaubenssätze nicht mit der Weltanschauung zu verwechseln. Wenn auch die Grenze äußerst schwierig zu ziehen ist, so muß man doch im Grundsatz davon ausgehen, daß die Glaubenslehre von jenen Wirklichkeiten in ihrer Heilsbedeutung handelt, die nur vom Glauben selbst bejaht werden kann; daß die Weltanschauung dagegen rein verstandesmäßige Urteile über die Wirklichkeiten darstellt, die auch dem Ungläubigen einleuchtend gemacht werden können. Der Christ wird zum Vollzug dieser Urteile religiös gezwungen. Trotzdem also unsere Weltanschauung religiös begründet ist, besteht eine ihrer Eigenarten gerade darin, daß sie auch vom Ungläubigen angenommen werden kann. Und darin schon liegt, daß sie selbst ihrem Inhalt nach nicht eigentlich religiös ist." 41 D i e Textpassage ist von merkwürdiger Unbestimmtheit, weil sich Eiert nicht recht entscheiden kann, ob er die gegenständlichen Inhalte des G l a u bens insgesamt unter das Vorzeichen der .Weltanschauung' stellen soll u n d als das eigentlich Religiöse das subjektive Erlebnis bestimmen soll, in d e m sie sich vermitteln; 4 2 abgesehen davon aber ist hinsichtlich des hier allein interessanten Vergleiches deutlich, daß Eiert hier noch die Heilsbedeutung als das nur d e m religiös Affizierten Zugehörige bestimmt, während es in der zitierten Passage a u s , D o g m a , Ethos, Pathos' A u f g a b e des D o g m a ist, die christlichen Inhalte „unter d e m Gesichtspunkt ihrer Heilsbedeutung für das Subjekt", d.h. a u f das Z e n t r u m des Heilserlebnisses hin zu interpretieren. 4 3 D i e Interpretation a u f das Heilserlebnis hin scheint hier genau der M o d u s zu sein, nach d e m im Aufsatz über die Religionspsychologie die Verifikation der christlichen WäArÄfzßbehauptungen erfolgt: dort sollen offenbar die Ebene

te für eine die wissenschaftlichen Ergebnisse anderer Diszipinen integrierende Gesamtsicht der Wirklichkeit geht - auch hier eine merkwürdige Verzeichnung der Absichten Hunzingers im Vergleich mit der im wesentlichen korrekten Anknüpfung an dessen Konzept in der Licentiatenarbeit (Darstellung: Eiert, Geschichtsphilosophie 103ff, vgl. die Auswertung aaO. 107ff). 41 Eiert, Wendung 485. 42 In diesem Punkt bringt offensichtlich die Schrift zur Religionspsychologie eine gewisse Klärung, in der Eiert das subjektive Erlebnis als Bedingung der Einsicht in die Transzendenz des Grundes der auch dem natürlichen Bewußtsein zugänglichen Inhalte bestimmt; Grenzen 201f. 43 Ich halte auch diese Formulierung für eine Unklarheit im Gedanken - Eiert wirft die Sachverhalte (Dogma und Evangelium) durcheinander: Der ,Gesichtspunkt der Heilsbedeutung für das Subjekt' ist ja eigentlich etwas, was das Evangelium bereits charakterisiert und nicht - wie es nun klingt - etwas, was durch das Dogma allererst geleistet wird; das Epitheton .metaphysisch' indiziert in der Erlanger Tradition ebenso wie im zeitgenössischen Sprachgebrauch zudem eher eine Deutung eines religiösen Sachverhaltes, die von der,Heilsbedeutung' absieht - man erinnere sich an Ritschis Metaphysikkritik (s. dazu Slenczka, Studien Bd. 1, I, B, 2.5.). - Will man nicht davon ausgehen, daß Eiert hier eine Gedankenabirrung unterlaufen ist, so muß man in optimam partem interpretierend davon ausgehen, daß er darauf abheben will, daß in der Aufnahme des Erlebnisses im Dogma auseinandertritt und - zwar in gegenseitigem Bezug, wohl aber je für sich - das behandelt wird, was im Erlebnis der Wirkung des Evangeliums eine Einheit bildet: die inhaltliche Bestimmtheit des Dogmas, und seine Bezogenheit auf das Subjekt sowie seine Wirkung an demselben. Ich werde diesen möglichen Sinn der Passage als den Grundgedanken des (ebenfalls in dieser Hinsicht unklaren) Abschnittes .Dogmatik und Dogma' aus der .Lehre des Luthertums im Abriß' im folgenden herausarbeiten (s.u. 2.2.4. [98ff]).

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der geschichtlichen Gegenstände als Ursache des christlichen Erlebnisses sowie die allgemeinen Strukturen des christlichen Erlebnisses umschrieben werden, nicht aber dieses Erlebnis selbst als unverfügbares und unvertretbares Widerfahrnis andemonstriert werden - und erst im Vollzug dieses Erlebnisses liegt die Grundlage dafür, die Wirksamkeit der Gegenstände als Wirken eines transzendenten Grundes zu erfassen bzw. sich dieses transzendenten Grundes selbst zu versichern. 44 Im Hintergrund der Unterscheidung von .Evangelium' und ,Dogma' steht also die Unterscheidung Hunzingers zwischen dem Christentum als Weltanschauung und dem Christentum als unmittelbarer Erschlossenheit transzendenter Realitäten in einer religiösen Erfahrung (Christentum als Religion). 1.2.3. Zusammenfassung: Das Dogma und die Verkündigung und Wirksamkeit des Evangeliums weisen somit keine inhaltlichen Differenzen auf, sondern scheinen einander in Analogie zum Verhältnis von Begriff und Sache zu entsprechen. Unter Voraussetzung des Erlebnisses und des in ihm als wirksam — d.h. als Medium einer Transzendenz und so als Wort Gottes - erfahrenen Evangeliums zeichnet das Dogma dessen allgemeinen Inhalt nach und entfaltet ihn, der im individuellen Getroffenwerden von der Verkündigung zur notwendig individuellen Realisierung und Erfassung kommt. Der damit realisierte Glaube wiederum ist nicht Glaube an das Dogma, sondern die durch das Evangelium vermittelte,,erlebnishafte' Begegnung mit der im Dogma bezeichneten „Sache" selbst: „Dies [sc. daß Glaube und Dogma eng zusammengehören] kann freilich nicht heißen, daß der christliche Glaube ein Glaube an das Dogma wäre. Denn der Christ glaubt an Christus oder, was für ihn dasselbe ist, an Gott. Und Gott oder Christus ist kein Dogma, sondern eine lebendige Person.... Es gibt wohl ein Dogma, eine Lehre über die Vergebung der Sünden. Aber nicht diese Lehre über die Sündenvergebung, sondern diese selbst als Akt Gottes ist Glaubensgegenstand." (Lehre2 110, vgl. Religionspsychologie 196f).

Eiert unterscheidet also genau - das zeigen die bisherigen Rekonstruktionen — zwischen der in einem individuellen und unableitbaren Erlebnis — durch den Vollzug der Verkündigung des Evangeliums - sich vermittelnden Realität - Gottes bzw. Christi - einerseits, und der Aussprache und Formulierung dieser Wahrheit im Dogma andererseits. Der „Erfolg" der christlichen Verkündigung stellt den Christen in ein durch die Verkündigung vermitteltes, aber eigenständiges Verhältnis zu der Realität, die auch das Dogma zur 44 S.o. S. 78. „Gerade in dieser Verknüpfung des Individuellen mit dem Objektiven liegt aber in der christlichen Religion der letzte Angelpunkt für die Bejahung der überphänomenalen Wirklichkeit. So kann der ganze Bestand vom typisch Subjektiven durch das Geschichtliche hindurch bis zu der behaupteten transzendenten Wirklichkeit objektiv dargestellt und nachgeprüft werden: Das Jasagen ist dem von der Wissenschaft nicht erreichbaren Subjekt als einzigartigem Individuum vorbehalten." (Grenzen 204).

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Sprache bringt. Die Formulierung des Dogmas bringt die Allgemeinheit der Realität und des Ereignisses, in dem sie sich vermittelt, zur Sprache, und sie setzt diese Erfahrung immer als das Original und als Ursprung aller Formulierungen voraus45. 1.3. Die Vorgängigkeit des Glaubensgrundes. Dieses Verhältnis wird nun von Eiert in der im folgenden zu analysierenden Passage zum Dogma in seiner ,Lehre des Luthertums im Abriß' durch eine „erkenntnistheoretische" Überlegung näherbestimmt: Einsatzpunkt ist die Feststellung, daß die christliche Wahrheit bereits interkonfessionell strittig ist und die Ermittlung der christlichen Wahrheit somit vor die Aufgabe einer Prüfung von Geltungsansprüchen auf die Frage hin bedeutet, ob diese grundsätzlich geschichtlich bedingten Dogmen eine „ewig gültige Wahrheit" enthalten. Das Erkennen einer Wahrheit als Ergebnis dieser Suche nach der Wahrheit sei nun nicht ein willkürlicher Akt, sondern bedeute, daß der Erkennende von der Wahrheit ergriffen und überwältigt wird. Im Falle der christlichen Wahrheit meine dies ein Bestimmtsein bereits des nach der Wahrheit Suchenden durch diese Wahrheit selbst: „Wer die christliche Wahrheit finden will, muß die christliche Wahrheit suchen, muß also auch an die christliche Wahrheit glauben und folglich auch von ihr ergriffen sein. Die Erfüllung jener Aufgabe der Dogmatik setzt mithin voraus, daß der, welcher sie treibt, bereits ein positives Verhältnis zur christlichen Wahrheit hat. Er muß, konkret gesprochen, den Zug des Sohnes zum Vater verspürt haben. Dies ist, nach evangelischer Uberzeugung, der Glaube. Auch der Theologe kann nur durch den Glauben eintreten in die una sancta catholica."46

Eiert hebt bei dieser Zuordnung von Dogma, Evangelium und Glaube eben nicht nur auf den eben beschriebenen Sachverhalt ab, daß das Dogma in der Unmittelbarkeit des Getroffenseins durch die im Dogma beschriebene Wirklichkeit begründet ist; er hebt darüberhinaus darauf ab, daß hier nicht das Subjekt Akte des Erkennens vollzieht, sondern daß im Vollzug der Verkündigung diese Wirklichkeit über das getroffene Subjekt verfügt. Gerade die in der Schrift von 1920 (Dogma, Ethos, Pathos) vorgenommene Bestimmung des Begriffes des „Pathos", in dem die Nähe der Gottheit erfahrbar wird, hebt auf die Unwillkürlichkeit dieses Erlebnisses ab: „Es wurde aber früher als eines der hervorragendsten Merkmale des Erlebnisses festgestellt, daß es nicht wie das Ethos von unserem Wollen abhängt, sondern unwillkürlich gemacht wird. Es kommt unter einem transsubjektiven Zwang zustande." 47 45

Vgl. zur Abhängigkeit des Dogma vom Pathos: DEP 24-26; 32f. Lehre2 109f. Verweise auf diesen Text beziehen sich im folgenden - sofern nicht anders markiert - auf diese 2. Auflage, in der aliein sich - als Anhang I - die Reflexionen zum Verhältnis von Dogma und Glaube finden (Lehre 105ff). 47 DEP 25f; die Passage, auf die Eiert verweist, lautet: „Ferner stimmen Fühlen und Erleben darin überein, daß sie nicht als Erfüllung von Normen gedacht werden können, jedenfalls nicht 46

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Der Glaube bedeutet also das Überwältigtsein von der christlichen Wahrheit selbst - im Sinne der (hier nicht mehr explizit aufgenommenen) Unterscheidung von Wahrheit und Wirklichkeit aus dem Aufsatz zur Religionspsychologie doch vermutlich: die Unmittelbarkeit der unvertretbaren Erfahrung, in der sich eine Wirklichkeit erschließt, und die nun näher erscheint als Aktivität des Gegenstandes, der das erfahrende Subjekt bestimmt: „Christliche Wahrheit wird nur erkannt von dem, der von der Wahrheit ergriffen ist, was nur auf den Glaubenden zutrifft." (Lehre 110). Während das Dogma - nach ,Dogma, Ethos, Pathos' (ebd. DEP 24f) - interpretierende Leistung des Subjektes ist, liegt dieser Leistung des Subjektes die Erfahrung einer Realität zugrunde, in der dieses Subjekt zum Gegenstand der Bestimmung durch diese Realität wird - und eben diese vorthematisch erfahrene Realität formuliert das Dogma. Die ,Transsubjektivität' (vgl. ,transsubjektiver Zwang') des Glaubensgegenstandes hängt - wie in der referierten Passage des Aufsatzes zur Religionspsychologie dessen Transzendenz - an der Tatsache, daß er sich in einer Wirkung am Subjekt vermittelt, die schlechterdings keine Eigenaktivität desselben ist, sondern es zum passiven Objekt eines externen Bestimmens macht. In den drei bisher angezogenen Schriften hat man es also in jeweils unterschiedlicher Terminologie mit einer gemeinsamen These zu tun; die Unterscheidung von behaupteter Wahrheit und unmittelbarer Wirklichkeitserfahrung in einem unvertretbar individuellen Erlebnis (Grenzen, 1912) besagt dasselbe wie die Unterscheidung des Dogma vom Pathos, in dem die Wirklichkeit Gottes in den Affekten von Reue und Vertrauen unmittelbar zur Erfahrung kommt (DEP, 1920), und dasselbe besagt eben auch die Differenzierung von formuliertem Dogma und Glaube, der gemäß der Glaube der durch das Evangelium vermittelte Kontakt mit der Wirklichkeit ist, die im Dogma ebenfalls vom Glauben - zur Auslegung gebracht wird (Lehre, 1926). Das Dogma im Sinne der formulierten Lehre verweist selbst auf eine Erschließungssituation - die Verkündigung - , in der die im Dogma zur Sprache gebrachten Gegenstände unmittelbar vom Glauben erfahren werden. Diese Unterscheidung erweist sich als Konstante in Elerts Theologie, die auch im Grundansatz seiner Dogmatik feststellbar ist48. Die Fortführung des Erlanger Themas einer Begründung der lehrhaften Aussagen des Glaubens auf eine Erfahrung, in der sich die bezeichneten Gegentände selbst melden, ist hier ebenso erkennbar wie sich die spezifische Figur der Vergewisserung andeutet,

von Normen, deren Erfüllung in der Macht des Subjektes stände. Wie sie nicht Sache des Verstandes sind, so sind sie auch nicht Sache des Wollens. Es sind beides Ausdrücke für ein ungewolltes und unreflektiertes Innewerden." (DEP 15; vgl. 33). 48 Vorgreifend: Die referierte Unterscheidung und Zuordnung von Erfahrung unter der Verkündigung des Evangeliums und Dogma bestimmt bereits die Aufgabenstellung der Dogmatik, nach der diese das Dogma auf seinen zureichenden Grund hin zu befragen hat. Diese Befragung auf den zureichenden Grund hin habe ,νοη unten' zu erfolgen, was bei Eiert nichts anderes heißt als eine Rekonstruktion der christlichen Lehre von der Erfahrung der bezeichneten Gegenstände unter der Verkündigung des Evangeliums her. Dazu s.u. S. 118f.

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der gemäß sich die Realität und die Transzendenz der in der Erfahrung vergewisserten Gegenstände durch den Verweis auf die Passivität des Subjektes in der grundlegenden Erfahrung erweist49. Der Sinn der Position wird allerdings erst letztlich verständlich und die Problematik erkennbar, wenn der Weg zur Bildung des Dogmas durch den Glauben nachgezeichnet wird; dies soll nun in Orientierung an den weitestgehend ausgearbeiteten Ausführungen Elerts in seinem dogmatischen Abriß 50 erfolgen:

2. Die ausgearbeitete Bestimmung von Erfahrung und Dogma nach ,Die Lehre des Luthertums im Abriß1 (1924/26) 2.1. Die Zielrichtung des Gedankens. 2.1.1. Der Rahmen. Der Gedankengang des Abschnittes ist schwer nachvollziehbar, da sich, wie so häufig bei Eiert, mehrere Aussageintentionen überlagern; es ist am einfachsten, zunächst einmal diese Intentionen soweit hier notwendig zu identifizieren: Die Intention des Schlußabschnittes (Lehre 116-120) ist am klarsten bestimmbar; er verfolgt das Ziel, einen historisierenden, fremde Evidenzen bloß nachempfindenden Umgang mit dem Dogma abzuweisen (Lehre bes. 116f). Der Ausweis der Wahrheit des Dogmas bedarf des Nachweises der Bedeutung für den Menschen der Gegenwart, der selbst in ein eigenständiges Verhältnis zu dieser Wahrheit treten, nicht aber ein fremdes Evidenzerlebnis reproduzieren soll; es meldet sich hier noch einmal in anderem Gewand die Unterscheidung von .Wirklichkeit' und ,Wahrheit', die Eiert im Aufsatz zur Religionspsychologie dargestellt hatte, nun aber so, daß die Wahrheit des Dogmas sich in der Möglichkeit des existentiellen Nachvollzugs erweist.51 Die Beschreibung Elerts impliziert, daß der Dogmatiker die Gültigkeit des Dogmas für den Menschen der Gegenwart auszuweisen hat;52 es geht eben gerade darum, der einer natürlichen Situation entgegentretenden christlichen Wahrheit „Lebensnähe" zu verleihen, indem sie im beständigen Umbruch des Überlieferten „von vorn" anfängt und „immer wieder auf das unmittelbarste Glaubenserlebnis" zurückgeht „und immer aufs neue an die elementarsten Tatsachen und Notwendigkeiten unsers Lebens" anknüpft (Lehre 119f). Der dogmatische Ausweis der christlichen Wahrheit erfolgt also im Ausweis ihrer Relevanz, genauer im Rückgang auf das Erlebnis des Überganges vom Unglauben zum Glauben; die christliche Wahrheit erweist sich als etwas, was auf 49 50 51 52

Vgl. Slenczka, Studien Bd. 1, 92ff. Lehre 105-120. Zur Zitation s.o. Anm. 46. S. o. 1.1..S. 75ff. Vgl. Glaube § 5, 60 und 62f.

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diese gegenwärtige Situation des Glaubens bzw. des Übergangs zum Glauben bezogen ist.53 Das Dogma, die formulierte Lehre der Kirche, sei nun eine Größe, in der sich eine allgemeingültige Wahrheit mit geschichtlich Bedingtem und damit grundsätzlich Überholbarem verbindet (Lehre 116, vgl. 109). Die Frage nach diesem Allgemeingültigen - die Harnack noch als die vornehmste Aufgabe der historischen Forschung betrachtete54 - ist die Aufgabe der Dogmatik wobei allerdings die Allgemeingültigkeit nicht die Allgemeinheit des faktischen Für-wahr-Haltens durch jedermann meint, sondern den Bezug auf die Situation des Glaubens nicht aufhebt: Der Terminus ,Allgemeingültigkeit' erhebt den Anspruch auf die Gültigkeit für jeden Glaubenden und beansprucht damit, von jedem Glaubenden verifizierbar und somit Kirchenlehre zu sein. Allgemeinheit beansprucht das Dogma damit für die Kirche insgesamt. Diese Allgemeinheit im Sinne universaler Applizierbarkeit und der in der Gemeinschaft der Kirche erfolgenden Anerkennung, so hält Eiert fest, ist das Moment, das die christliche Wahrheit als Wahrheit kennzeichnet (Lehre 115). Dieser Schluß des Textes greift zurück auf den Eingang, in dem Eiert die Besonderheit des evangelischen Konzeptes der Kirchengemeinschaft dahin bestimmt hatte, daß diese durch die Einheit in der Lehre (und nicht etwa durch eine vorausgehende Einheit der Verfassung oder des Amtes) erkennbar wird; diese Einheit in der Lehre finde ihren Grund in einer „ideellen Gemeinsamkeit" (Lehre 107), die etwas später als Einheit des Glaubens bestimmt wird (Lehre 110). Die Gemeinsamkeit der Lehre ist das Bewußtwerden einer zugrundeliegenden Gemeinsamkeit des Glaubens, und genau darin begründe sich der evangelische Charakter eines Bekenntnisses, das eben nicht eine Glaubensnorm vorschreibe, sondern den indikativisch gegebenen gemeinsamen Glauben formuliere.55

53 118f. Eiert betrachtet diese Bezugnahme auf die gegenwärtige Situation nicht als apologetisches Unternehmen, sondern als eine durch den Glauben an das Evangelium erschlossene Deutung der gegenwärtigen Situation, deren Verlorenheit von der Position des Evangeliums her .rückblickend' erkennbar und ausweisbar wird, auch wenn dieser Ausweis u.U. den nicht Glaubenden nicht überzeugen wird: „Die Rücksicht auf unsre gegenwärtige geistige Gesamtlage hat keinerlei apologetische Bedeutung, weil sie ftir den Glauben selbst gar nichts beweisen soll. Bestenfalls wird sie ein Vakuum in der Gesamtlage aufzeigen können, das nur durch den Glauben aufgefüllt werden kann. Ihr Sinn ist vielmehr, unsre heutige Art von Weltlichkeit und Diesseitigkeit so deutlich wie möglich zu erfassen, damit ihr die Glaubenswahrheit um so schärfer entgegengesetzt werden kann. Die Lebensnotwendigkeit des Glaubens kann nur von ihm selbst begriffen werden. Aber wenn sie begriffen ist, läßt sich auch die ganze Verlorenheit der Welt ohne Glauben anschaulich machen. ... Man muß sich in Gedanken auf den Standpunkt der Glaubenslosigkeit zurückversetzen, wird aber als tatsächlich schon von der Glaubenswahrheit Ergriffener jenem Zustand der Verlorenheit solche Lichter und Betonungen verleihen, daß ein Unbeteiligter möglicherweise seinen eigenen Zustand hierin doch nicht wiederfinden will." (118f; vgl. Glaube 6 2 0 ·

Vgl. Harnack, Wesen 19. Vgl. 106f. Dazu Morph I, 8; und Langemeyer, Gesetz 30ff; zur Lehre als Grund der Kirchengemeinschaft vgl. weiter Schrift 18f im Zusammenhang von 13ff; Frage 32ff. Die Stellung54 55

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Der .Glaube' und die ,Lehre' stehen damit in einem Bedingungsverhältnis, das der Aufklärung bedarf, und das zunächst so gekennzeichnet ist, daß „nach evangelischer Auffassung die Gemeinsamkeit der Kirche in der ideellen Gemeinsamkeit besteht. Sofern diese im Wort oder im .Bekenntnis' sich ausdrückt, kann man endlich auch sagen, daß die gemeinsame Lehre die Kirche, nämlich die äußere Kirchengemeinschaft, begründet. Die ,Lehre' ist das Produkt der inneren, und der Produzent der äußeren Gemeinsamkeit." (Lehre 107). Das Dogma sei der in Worte gefaßte .ideelle' Besitz der Kirche, und das Wesentliche des Dogmas besteht darin, daß es das im Glauben Gegebene zum Ausdruck bringt bzw. - umgekehrt - der Glaube das ihm unmittelbar in der Erfahrung Zugängliche im formulierten Dogma wiedererkennt; in diesem Sinne kann Eiert auf die Erlanger Tradition in Gestalt eines Harleß-Zitates zurückgreifen, der bezüglich der lutherischen Bekenntnisse feststellt: „Ich kann die Überraschung und Rührung nicht beschreiben, mit welcher ich fand, daß deren Inhalt dem konform sei, wessen ich aus der Erfahrung des Glaubens gewiß geworden sei." (Lehre 108). Es deutet sich damit auch hier an, daß es offensichtlich zwei Modi der christlichen Wahrheit gibt — die unmittelbare, gegenwärtige Gegebenheit in der Erfahrung des Glaubens als die „ideelle Gemeinsamkeit" der Kirche, und die Formulierung dieser Gegebenheit im Dogma, in der die Glaubenden selbsttätig sind und die zugleich eine Veräußerlichung ist, die auf das Original - die Erfahrung des Beschriebenen im durch eine Gottesbegegnung geweckten Glauben — zurückverweist. 2.1.2. Der Hauptteil des Textes. Dieser Zusammenhang der beiden Gestalten der christlichen Wahrheit ist das Thema des Hauptteiles des Abschnittes (108-116), zunächst in Gestalt der immer wiederkehrenden Behauptung, daß Glaube und Dogma nicht trennbar seien (Lehre 110). Zunächst (108f) formuliert Eiert zwei Voraussetzungen: Z u m einen entsteht die Frage nach der Wahrheit des Glaubens und damit nach dem Dogma aus der Situation der Strittigkeit der formulierten christlichen Wahrheit. Die Frage der Dogmatik zielt nach Eiert auf die ewig gültige Wahrheit, die das Dogma in all seiner geschichtlichen Bedingtheit enthalte. 56 Zum anderen

nahmen Elerts in der Situation des Kirchenkampfes sind bestimmt von dem Anliegen, gegenüber allen Relativierungen durch die Bezugnahme auf die Schrift oder auf die Subjektivität des Glaubens als Grundlage der Kirche das Bekenntnis dadurch als die Geltungsgrundlage auszuweisen, daß er die Notwendigkeit aufzeigt, daß jene genannten alternativen Bestimmungen des Fundamentes der Kirche doch wieder zur Bekenntnisbildung führen; dazu etwa: Schrift; Bekenntnis 36 - eine Schrift, die in den Zusammenhang der Diskussionen um ein neues Bekenntnis nach 1933 gehört (dazu Scholder, Kirchen 1, 347ff; Schneider, Reichsbischof 110-120; Slenczka, Theologie 260, Anm. 4). 56 Der Gedankengang des kurzen Absatzes 108f: Zunächst stellt Eiert fest, daß die Strittigkeit des Dogmas zur Untersuchung der Gründe für die konfessionelle Differenzierung im Laufe der Dogmengeschichte nötige. Sodann schließt - motiviert offenbar allein durch das Stichwort

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(109f) setze die Erfüllung dieser Aufgabe voraus, daß der Dogmatiker bereits in einem positiven Verhältnis zu dieser Wahrheit steht in dem Sinne, daß er von dieser Wahrheit ergriffen ist - dies sei der Glaube. Offenbar ist hier in dem oben (s.o. S. 90) beschriebenen Sinne die ewig gültige ,Wahrheit' als der Gegenstand des Glaubens verstanden, der im Glauben seine Realität und Wirksamkeit bezeugt und im Dogma zur Sprache gebracht wird. Umgekehrt bedeutet dies natürlich implizit, daß das kirchliche Dogma der Kritik von diesem Original seiner Aussagen her unterliegt; die in ,Der christliche Glaube' explizierte Aufgabenbestimmung der Dogmatik deutet sich hier bereits an.57 Damit steht Eiert vor der Aufgabe der Klärung des Zusammenhanges von Dogma und Glaube, der er sich in zwei Schritten unterzieht: Zunächst wird in einem Absatz (Lehre 110) festgehalten, daß das Dogma den Glauben voraussetze, da nur der Glaube mit der Wirklichkeit, die im Dogma ausgedrückt sei, in unmittelbaren Kontakt trete.58 .Dogmengeschichte' - unmittelbar die Feststellung an, daß das Dogma, sofern es eine Geschichte habe, in die Bedingtheit geschichtlichen Geschehens verflochten sei und so vor die Aufgabe der Suche nach der „ewig gültigen Wahrheit" des Dogmas stelle, den es für den Fall haben müsse, daß es über alle Zeiten hin den Zweck der ,Sammlung' einer Kirche habe. Es stoßen hier ganz offensichtlich zwei nur durch das Stichwort,Dogmengeschichte' verbundene Problemgebiete zusammen: Die Strittigkeit des Wahrheitsanspruches des Dogmas einerseits, und die Frage nach dem Recht eines überzeitlichen Anspruches des Dogmas, die die folgenden Passagen beherrscht, andererseits. Der Zusammenhang beider Gedanken bleibt - abgesehen von der Stichwortassoziation unklar. - Zudem widerspricht die Formulierung, die dem Dogma den „Zweck der Sammlung, der Herstellung einer ideellen Gemeinsamkeit ... über alle Zeitalter hinweg" (109; kursiv von mir) zuschreibt, in eklatanter Weise der vorher vertretenen These, daß das Dogma Produkt der - ja doch bestehenden - inneren Gemeinschaft der Kirche sei und nur bezüglich der äußeren Gemeinschaft konstitutive Bedeutung habe (107, s.o. S. 89). - Diese Unklarheit des Textes liegt daran, daß Eiert hier den Begriff des Evangeliums bzw. der Verkündigung (Kerygma) nicht einfuhrt, der in der Veröffentlichung von 1920 gegen das Dogma abgegrenzt und als Ursprung des Glaubens gekennzeichnet wird, wie das Evangelium als Mitte des Kerygma in der Dogmatik Elerts den vorausgesetzten Bezugspunkt des Dogma darstellt. 57

Lehre 109. Vgl. unten 3.3. (113-119). Eine etwas genauere Analyse des Gedankenganges: Zunächst führt Eiert aus, daß der Glaube nicht das Dogma, sondern den Sachgehalt des Dogma zum Gegenstand habe (also nicht das Dogma über Christus, sondern die Person Christi). Zwischen Glaube und Dogma bestehe aber ein fester Zusammenhang: „Dogmen sind Kirchenlehren, die auf Wahrheit Anspruch erheben." (Lehre 110). Von den referierten Ausführungen im Absatz vorher legt sich die Vermutung nahe, daß mit „Wahrheit" gemeint ist, daß diesen Aussagen ein Gegenstand entspricht, der zur Erfahrung kommen kann. Eiert fährt nämlich fort: „Christliche Wahrheit wird nur erkannt von dem, der von der Wahrheit ergriffen ist, was nur auf den Glaubenden zutrifft." „Wahrheit" ist damit der Sachgehalt des Dogmas selbst, also die Realität, die sich dem Glaubenden unmittelbar zeigt (vgl. 109!). Von hier aus wird die Fortsetzung des Zitates 110 verständlich: „Dogmen können also wohl von jedem vernünftigen Menschen ... als Produkt der Kirchengeschichte begriffen werden. Aber ihr Wahrheitsgehalt erschließt sich prinzipiell nur dem Glaubenden. ... Kein Dogma - das seinen Sinn erfüllt [?] - ohne Glaube." Daß der Wahrheitsanspruch der Dogmen zu Recht besteht, ist somit nur dem Glaubenden verifizierbar, dem der vom Dogma beschriebene Gegenstand zugänglich ist bzw. der im Glauben von diesem ergriffen ist. - Der Wahrheitsbegriff Elerts schillert hier wie in anderen Veröffentlichungen; er entspricht in den Grundzügen zum 58

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Damit ist allerdings erst festgestellt, daß das Dogma mit dem Glauben zusammenhänge und auf diesen angewiesen sei, nicht aber der umgekehrte Zusammenhang von Glaube und Dogma und die Angewiesenheit des Glaubens auf das Dogma aufgezeigt; diesen Zusammenhang weisen die folgenden Passagen aus (Lehre 1 1 1 - 1 1 5 ) . 2.2. Glaube und Dogma. Auch in diesem damit zur Analyse anstehenden Abschnitt (Lehre 1 1 0 - 1 1 5 ) ist es wichtig, sich der übergreifenden Aussageintention zu versichern; sie liegt in der in mehreren Anläufen (Lehre 110; l l 4 f ) formulierten These, daß der Glaube selbst gebunden ist an eine gegenständliche Wahrheit und diese Wahrheit in einem Erkenntnisakt zum Ausdruck zu bringen genötigt ist - allerdings so, wie sie sich in Unmittelbarkeit dem Glauben erschließt. 2.2.1. Gegenpositionen. Der Weg zu diesem Ergebnis setzt ein mit der Auseinandersetzung mit zwei Einwänden gegen eine Bedeutung des Dogmas für den Glauben: zum einen mit der Behauptung, daß das Dogma angesichts des Rückbezuges auf die Bibel überflüssig sei, und zweitens mit einer Reduktion des Christlichen auf den Fiduzialglauben, die eine Auseinandersetzung um die Wahrheit gegenständlicher Behauptungen überflüssig mache.59 Die Aus-

einen dem in .Dogma, Ethos, Pathos' als Idealität des Dogmas bestimmten Begriffes von Wahrheit im Sinne der adaequatio intellectus ad rem: „Jeder dogmatische Satz enthält Urteile, einerlei ob Seins- oder Werturteile oder beides. Das letzte Interesse des Urteilenden geht aber immer dahin, daß sein Urteil den beurteilten Objekten adäquat ist." (DEP 10, vgl. die folgenden Sätze). Damit verbindet sich allerdings sowohl in .Dogma, Ethos, Pathos' wie auch in den Ausführungen über das Dogma in .Lehre' ein „gegenständlicher" Wahrheitsbegriff, dem gemäß eine im Glauben erfaßte Realität selbst „die Wahrheit" ist (sc. Christus oder Gott) - dazu vgl. DEP 10 und Lehre 113f. 59 Die Passage gehört leider zu den am schlechtesten formulierten des Textes. Die Aussageintention wird nur von dem Rückgriff auf diese Passage auf 114 her deutlich, wo Eiert beide Gegenpositionen folgendermassen charakterisiert: „Von der Wahrheitserkenntnis des Glaubens gilt nun alles, was oben unter Voraussetzung einer rein positivistischen Verwertung des Bibelwortes und einer .Glaubenslehre' gesagt wurde, die den Glauben selbst zum ausschließlichen Gegenstande haben will." Einerseits also ein biblizistischer Ansatz, andererseits eine Reduktion des Christlichen auf die Existenzhaltung des Glaubens unter Absehung von allen gegenständlichen Bestimmungen. Dies sind doch nun offensichtlich zwei Positionen, die einander gegenseitig ausschließen, so daß der erste Fehler Elerts in der fraglichen Passage darin besteht, daß er beide Fronten ineinanderschiebt und zu einer Gegenposition vereinigt: Er wendet gegen die biblizistische Position zunächst ein, daß gerade der Gehalt des biblischen Evangeliums strittig sei und damit die Formulierung der dem Glauben und nur ihm erschlossenen Realität bzw. die Untersuchung der Dogmengeschichte auf die Wahrheit der Formulierung dieser Wirklichkeit hin unabdingbar sei. Anschließend führt Eiert nun die zweite Gegenposition ein und stellt fest, „daß gerade auf evangelischem Boden die Betonung der Heilsbedeutung des Glaubens, vor allem seines fiduzialen Elementes, über diese Notwendigkeit hinwegtäuschen konnte." (112). Eiert tut nun so, als ob diese zweite Position (in der er sich faktisch mit Schleiermacher auseinandersetzt, vgl. 113 und DEP 10) von Anhängern des zunächst kritisierten positivistischen Biblizismus vertreten würde; denn er weist nun nach, daß derjenige, der diese Position der Reduktion des Christlichen auf den Fiduzi-

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einandersetzung mit der zweiten Position prägt die folgenden Ausführungen (Lehre 113-115), die eben darauf abzielen festzuhalten, daß der recht verstandene Glaube selbst einen Gegenstandsbezug impliziert und damit an dem Ausweis der Wahrheit dieser gegenständlichen Aussagen interessiert ist dies ist der Sinn der beständigen Bezugnahme auf die „Leitidee der Wahrheit" (Lehre 115, vgl. 113), unter der die theologische Arbeit steht. 60 2.2.2. Der notwendige Zusammenhang von Dogma und Glaube — die Grundposition. Die folgenden beiden Absätze (Lehre 113-115) sind das Zentrum des Textes, in dem Eiert den Zusammenhang von Glauben und Dogma bzw. Wahrheitserkenntnis erläutert. Der wesentliche Grundgedanke ist der, daß Eiert den Glauben im Anschluß an ein Zitat aus Luthers Auslegung des Ps 90 („ut transferamus nos extra tempus et Dei oculis inspiciamus nostram vitam." 61 ) als die Übernahme des Urteils Gottes über den Menschen bezeichalglauben vertrete, ebenfalls nach dem „richtigen" Glaubensbegriff fragen müsse. Nun wird wieder die biblizistische Position eingeführt: „Bezeichnet man als schlechthin gültige Norm die Bibel und beschließt man, ihr allein alle Kriterien zu entnehmen, so gilt es für den Sonderfall der Feststellung des „richtigen" Glaubensbegriffes, die Norm anzuwenden ..." (114) und folgert daraus: „Auch bei ganz positivistischer Auffassung der Normativität der Bibel bedarf es also gewisser Denkoperationen, die über die Fähigkeit des richtigen Lesens und Zitierens hinausgehen." - unversehens ist er von der Widerlegung der reduktionistischen Position zu der des Biblizismus übergewechselt. - Die Widerlegung einer Reduktion des Christlichen auf den Fiduzialglauben und die Widerlegung eines positivistischen Biblizismus, also einander doch faktisch auschließender Positionen, ist hier heillos ineinandergemengt. Dies hat zur Folge, daß das gegen die Position der Reduktion des Christlichen auf einen frommen Gemütszustand vermutlich beabsichtigte Argument überhaupt nicht erkennbar wird, das Eiert in einer ganz ähnlichen, ausschließlich mit der reduktionistischen Position befaßten Passage in ,Dogma' vorträgt und das er vermutlich auch in der hier referierten Passage intendierte: Eine solche Position könne sich, so führt er dort aus, gegenständlicher Aussagen und damit der Frage nach der Wahrheit nicht entziehen, weil sie eben den Glauben zum Gegenstand von Aussagen habe und somit die Ubereinstimmung von Gegenstand und Sache bzgl. des Glaubensaktes zu prüfen habe (DEP 10). Man kann - so das Argument - den gegenständlichen Wahrheitsansprüchen nicht durch den Rekurs auf den Glaubensakt entgehen, weil dieser selbst zum Gegenstand werden kann. Die Frage, ob die Beschreibung der Position oder das Argument Schleiermacher (der in DEP 10 ausdrücklich genannt wird) trifft, kann hier unentschieden bleiben. — Der sachliche Grund dafür, daß Eiert die beiden Positionen ineinanderschiebt, liegt ausschließlich in der gemeinsamen Gegnerschaft der Positionen gegen einen normierenden Geltungsanspruch des .Dogma' bzw. des Bekenntnisses - wie sehr schön aus dem späten Aufsatz über die Dogmengeschichte erkennbar wird (Ausgang, bes. 315, wo er Beck, Menken, Kahler und Schlatter unter diesem Gesichtspunkt mit A. v. Harnack in einen Topf wirft). Mögen die Positionen in diesem Punkt verwandt sein: Das Verfahren, sie in einem Gedankengang unter Vermischung ihrer Behauptungen zu widerlegen ist ein Indiz für die noch mehrfach zu notierende Schwierigkeit, die Eiert damit hat, Probleme und Gedankenlinien zu unterscheiden. 60 Der Begriff verdankt sich offenbar den Ausführungen in „Dogma, Ethos, Pathos", wo Eiert die „Wahrheit" als die Idealität des Dogmas bstimmt hatte: das wahre Dogma war dabei als das der bezeichneten Sache entsprechende Dogma verstanden worden (DEP 10, vgl. oben Anm. 59). 61 WA 43/111, 524,24ff; vgl. zur Bedeutung des Zitates für Eiert: Morphologie I, 17 und ff (dazu unten C). Im Rahmen der hier besprochenen Schrift wird das Zitat in demselben Sinne wie in Morphologie noch einmal verwendet: Lehre 82, § 46.

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net, das im Christusgeschehen ergangen ist.62 Eiert erreicht damit folgendes: der Glaube im Sinne des „Fiduzialglaubens" ist jene „Übernahme" des Urteils Gottes über das eigene Leben, in dem also das Urteil Gottes in Gericht und Gnade anerkannt wird. Eiert bestimmt nun diesen Glauben als Einnahme „der mit dem geschichtlichen Christus gesetzten Perspektive" (Lehre 114). Der Glaube wird also einerseits wesentlich durch einen gegenständlichen Inhalt bestimmt, nämlich das Christusgeschehen; und umgekehrt dieser Inhalt selbst wesentlich als Urteil über das je eigene Leben gefaßt, dem als göttlichem Urteil der Glaube zustimmt, der damit die Wahrheit des eigenen Lebens erfaßt. Der Gedankengang im folgenden leidet darunter, daß Eiert beständig beide Aspekte - die nur im Glauben erfolgende Erkenntnis der Wahrheit Christi, und die daher nur im Glauben gegebene Erkenntnis der Wahrheit des eigenen Lebens — ineinanderschiebt. Dies zeigt die nähere Analyse des Gedankenganges: 2.2.3. Detailanalyse I: Der Glaube als extern vermitteltes Selbstverhältnis. 2.2.3.1. So zitiert Eiert zustimmend Luthers Beschreibung des Glaubens: „Wahrheit ... ist nicht allein Christum hören oder von ihm viel waschen können, sondern auch im Herzen glauben, daß Christus uns frei und los machen wolle." (Lehre 114).

Christus ist somit kein mit dem Glauben nur akzidentell verbundener Gegenstand, sondern eine Realität, die wesentlich auf den Glauben bezogen ist; der Glaube (und nur er) erfaßt in diesem Geschehen nicht einen Gegenstand, sondern das Urteil Gottes über sich selbst. Der Gedankengang verfolgt in den anschließenden Sätzen zunächst allerdings offenbar diesen Zusammenhang des Glaubens an Christus und der damit verbundenen Erkenntnis des eigenen Lebens: „Wenn also der Glaube aus der Zeit heraustreten und das Leben mit Gottes Augen ansehen soll, so kann er dies doch nur tun, indem er sich der mit dem geschichtlichen Christus gesetzten Perspektive bedient. Infolgedessen müssen auch die Kriterien der Wahrheit, an der der Glaube interessiert ist, der geschichtlichen Christusoffenbarung entnommen werden. Ist diese aber nur für den Glauben da, so ist auch der Glaube selbst die einzige Instanz, die in der Wahrheitsfrage kompetent ist." (Lehre 114).

Dieser Satz wird überhaupt nur verständlich, wenn man sieht, daß die Wahrheit, „an der der Glaube interessiert ist" eben die Wahrheit über das eigene Leben bzw. die Welt insgesamt ist.63 Gegenstand der Wahrheitsfrage ist 62

Dazu s. Glaube § 82/3; Lehre § 31 b (48); vgl. genauer unten C, 2.3., S. 199-205. Geht man davon nicht aus, dann bleibt völlig unverständlich, was eigentlich die .Wahrheit, an der der Glaube interessiert ist', sein soll: Es kann ja nicht unmittelbar die Offenbarung in Christus sein, denn dann ist der Rekurs auf die ,mit dem geschichtlichen Christus gesetzte Perspektive' unverständlich: Daß die Wahrheit über Christus nur unter Bezugnahme auf den ge63

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eben zunächst die vita nostra, und nur in diesem Sinne wird verständlich, warum Eiert sagen kann, daß das Kriterium „der Wahrheit, an der der Glaube interessiert ist, der geschichtlichen Christusoffenbarung entnommen werden" müsse.64 Es geht dabei um die nur dem Glaubenden zugängliche Wahrheit über die vita nostra, eine Wahrheit, die eben darum ausschließlich dem Glauben zugänglich ist, weil nur der Glaube in Christus das Urteil Gottes über die Welt erkennt und übernimmt (Lehre § 31 b). Wenn Eiert formuliert, daß „Christusglaube und Wahrheitserkenntnis ... ihm [i.e. Luther] deshalb zwei verschiedene Ausdrücke für dieselbe Sache [sind]" (ebd.), dann ist eben auch zunächst damit gemeint, daß der Glaube an Christus die Einnahme der Perspektive ist, aus der heraus die Wahrheit der vita nostra erkannt wird. Identifiziert wird hier zunächst nicht Christus und Wahrheit, wie der vorangehende Satz nahelegt, sondern Glaube und Erkenntnis65. Gegenstand der Wahrheitserkenntnis ist zunächst die vita nostra, deren schichtlichen Christus in welchem Sinne auch immer erhältlich ist, ist keine tiefschürfende Einsicht; es ist aber allein semantisch schon schwer verständlich, was unter der genannten Voraussetzung die ,mit dem geschichtlichen Christus gesetzte Perspektive sein sollte - Perspektive worauf? Auf die mit Christus selbst identische Wahrheit? Was soll das heissen? - Die einzige Möglichkeit des Verständnisses dieser Passage besteht darin, zu vermuten, daß Eiert das Betrachten des eigenen Lebens .oculis Dei' dadurch präzisieren will, daß er es christologisch rückbindet. Die Perspektive ist dann die Perspektive des Blickes auf das eigene Leben, und die .Wahrheit, an der der Glaube interessiert ist', folgerichtig die Wahrheit über das eigene Leben; in diesem Sinne ist dann auch die Identifikation von Christus und Wahrheit zu verstehen. - Daß dieser Gedanke besonders klar hervorträte, wird man nicht behaupten können - es ist eben wieder das Elertsche Grundproblem: Die Unfähigkeit, zwei gleichzeitig wichtige Gedanken voneinander zu scheiden. 64 Versteht man den Text in dem Sinne, daß die Christusoffenbarung selbst mit der Wahrheit identisch ist und der Glaube an Christus Erkenntnis der Wahrheit im Sinne der wahren Erkenntnis über Christus ist, so wäre der eben zitierte Satz einfach tautologisch: Sofern der Glaube Erkenntnis Christi selbst ist, ist er bereits an die Christusofifenbarung verwiesen und bedarf dessen nicht, sich der Kriterien der Wahrheit Christi aus dieser erst zu versichern. Sinnvoll wird der Satz, wenn die Wahrheit, an der der Glaube interessiert ist, eben zunächst ein anderes der Christusoffenbarung, nämlich die wahre Einsicht in die vita nostra, ist; das Kriterium der Wahrheit derselben ist eben die Christusoffenbarung. Im Grunde ist hier ohne explizite Formulierung die Unterscheidung von Adhortativ' und ,Demonstrativ' des Evangeliums präsent, nach der das Evangelium ein geschichtliches Ereignis ist, das als (Versöhnung zusprechendes) Urteil Gottes über das menschliche Leben verkündigt wird. 65 Der Wahrheitsbegriff ist eine wirkliche crux dieser Passage. Der Ausgangspunkt ist die Feststellung Elerts, daß Luther keinen „platonischen oder halbplatonischen Wahrheitsbegriff" habe, was sich von der Wendung „ut transferamus nos extra tempus" her nahelegen könnte. Offenbar kommt es ihm im folgenden darauf an, festzuhalten, daß für Luther die Perspektive Gottes auf das menschliche Leben nicht außer und über aller Zeit liegt, sondern an das „geschichtliche" (vgl. 114) Christusgeschehen gebunden ist. Ohne zu erläutern, wer in welchem Sinne das Gegenteil behauptet habe (vgl.: „Alle Versuche, Luther für einen platonischen oder halbplatonischen Währheitsbegriff in Anspruch zu nehmen ..."; 114), stellt Eiert fest, daß diese Versuche an Luthers Auslegungen zum Johannesevangelium scheitern; er zitiert dann die bereits oben (S. 94) wiedergegebene Bestimmung der Wahrheit durch Luther (.erkennen, daß Christus uns frei machen wolle') und fährt fort: „Er [sc. Luther] hält sich an die johanneische Identifikation der Wahrheit mit der geschichtlichen Christuspersönlichkeit." Was immer Wahrheit hier bedeuten soll: das gibt zum einen das Lutherzitat genaugenommen nicht her, zum anderen ergibt sich

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Wahrheit eben darin erkannt wird, daß sie der Glaube in Übereinstimmung mit dem Urteil Gottes über sie erfaßt - eben in der „Perspektive" der „geschichtlichen Christusoffenbarung". 2.2.3.2. Diese ChristusofFenbarung sei nun „nur für den Glauben da". Dies ist nun das zweite Moment, das der Text impliziert, das aber erst im folgenden Abschnitt ausdrücklich zur Auslegung kommt: Nur der Glaube - die Übernahme der Christusoffenbarung als des Urteils Gottes über das eigene Leben („Im Wesen des Glaubens, sofern er Fiduzialglaube ist, liegt sein Bestreben, das Heil auf den glaubenden Einzelnen zu beziehen" 115) — hat es mit der Wirklichkeit Christi zu tun, oder: der fiduziale Glaube, als Erkenntnis der Wahrheit des eigenen Lebens in der Perspektive der Christusoffenbarung, ist wiederum der Modus, in dem Christus wahrheitsgemäß erkannt wird, nämlich als das Urteil Gottes über das menschliche - zunächst je eigene - Leben. Die Erkenntnis Christi als .Repräsentant' Gottes oder als Wort Gottes hängt eben daran, daß sich der Mensch im fiduzialen Glauben in der Übernahme des in Jesus ergangenen Urteils Gottes auf diesen bezieht.66 2.2.3.3. Was Eiert hier erreichen will, ist offensichtlich die untrennbare Verbindung von Christologie und Soteriologie: nur im Ausgang von Christus als dem Heil Gottes wird die Realität der vita nostra erkannt, und nur dann wird Christus recht erkannt, wenn er - im Glauben - als das Urteil Gottes über die vita nostra erfaßt ist - kurz: als Evangelium. Der Glaube erscheint als die Vermittlungsinstanz, durch die Christus auf das eigene Leben „bezogen" wird und durch die uno actu die Wahrheit dieses Lebens (sc. im Urteil Gottes) und die Wahrheit Christi als Urteil Gottes über den Menschen erfaßt wird. Diesen Zusammenhang leistet Eiert nun genau dadurch, daß er den Glauben als Selbstverhältnis im Sinne einer ,Selbstbeurteilung' bestimmt, die nichts anderes als ein Einstimmen in das in Christus ergangene Urteil Gottes ist: ein durch das Christusgeschehen vermitteltes Selbstverhältnis also, das ein vorhergehendes Selbstverhältnis ablöst.

daraus nicht als Folge („deshalb") die anschließende Behauptung, daß Christusglaube und Wahrheitserkenntnis für Luther zwei verschiedene Ausdrücke für dieselbe Sache seien. Oder besser: dieser Zusammenhang erschließt sich nur, wenn der Satz über die johanneische Christologie nicht so gemeint ist, daß Christus selbst „die Wahrheit" (in welchem Sinne auch immer) ist, sondern daß der Glaube an Christus die Erkenntnis der Wahrheit in dem Sinne ist, daß im Glauben an Christus die Wahrheit über unser Leben („daß Christus uns frei und los machen wolle") erkannt wird. Die Schwierigkeit dieser Passage besteht eben darin zu verstehen, daß Elerts Problem hier gar nicht die wahre Erkenntnis Christi ist, sondern die in der ChristusofFenbarung erschlossene Wahrheit über das menschliche Leben. 66 Vgl. dazu besonders das hermeneutische Prinzip, daß die Erkenntnis Christi nur so möglich ist, daß es dem Leser der Schrift gelingt, die Perspektive einzunehmen, in der die Apostel die Erscheinung Christi sehen - und dies ist eben die Erkenntnis Christi als Urteil Gottes: Lehre § 20c (32); § 31 (48).

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Diese hier von Eiert nur tastend vorgetragene Einheit von Christologie, Soteriologie und Glaube, mit der die gegenständlichen Inhalte des Christentums als auf den Glauben - als Einstimmung in das Urteil Gottes in Christus — wesentlich bezogen ausgewiesen werden sollen, faßt Eiert später im Rahmen seiner Dogmatik in die Zuordnung von Demonstrativ und Adhortativ des Evangeliums und den dem Adhortativ entsprechenden Glauben: Der Demonstrativ ist die Sachhaltigkeit des Christusgeschehens und der darin bezeugten Tat Gottes. Der Adhortativ ist die Aufforderung, diese Tat Gottes auf das eigene Leben zu beziehen; 67 und der Glaube ist, wie im Abriß, so auch in der Dogmatik die Übernahme des mit dem Christusgeschehen gesetzten Urteils Gottes über das Leben des Menschen und insofern ein extern begründetes und motiviertes Selbstverhältnis68. 2.2.3.4. In dieser Klärung des Glaubensbegriffes als extern begründetes Selbstverhältnis vollzieht sich ein entscheidender Schritt über die zuvor referierten Schriften hinaus: Zuvor hatte Eiert die religiöse Subjektivität als Gefühl und in deutlicher Analogie zur menschlichen sinnlichen Rezeptivität als den Modus eines einen Gegenstand erschließenden Verhaltens interpretiert: Im Geflihl vollziehe sich die Erfahrung eines nun eben nicht natürlichen, sondern transzendenten' Gegenstandes. Dieses Gefühl wurde in der Relation auf das Evangelium in der Weise spezifiziert, daß es sich im Kontext des Christentums eben um das Gefühl von Reue und Vertrauen handle; an der intentionalen Grundstruktur des Gefiihlsbegriffes allerdings änderte sich nichts. In der hier vorliegenden Schrift wird — im hier referierten Anhang zum Begriff des Dogma deutlicher als im Text der Kurzdogmatik selbst69 - der Glaubensbegriff als im Gegenstand des Glaubens ermöglichte Reflexivität näherbestimmt, und dies wird eben dadurch möglich, daß Eiert das Paradigma ergänzt, dem er in der Gesamtkonzeption des Abrisses die vorchristliche Existenz, das Versöhnungswerk und die Existenz im Glauben unterstellt hatte: Das Grundparadigma von Freiheitsanspruch und Knechtschaft — der Gegensatz zweier Autonomieansprüche, der Erfahrung der Unfreiheit seitens des Menschen, der in Christus erfolgten Auflösung des Widerspruches (Friede) und der Ermöglichung der Freiheit in der Unterwerfung unter den als Liebe

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So auch schon ohne den Begriff, Demonstrativ' im Abriß: vgl. Lehre § 28. Zur Dogmatik s.u. S. 272f. 69 Eiert hat in den Text des für den Begriff .Glauben' einschlägigen Paragraphen ( § 3 1 ) lediglich den in Anm. 71 zitierten Passus eingefügt; die tiefgreifende Umgestaltung des Glaubensbegriffes erschließt sich nur aus den in der 2. Aufl. angefügten, hier referierten Anhängen - offensichtlich wollte Eiert den Textbestand des Abrisses oder gar das Grundkonzept nicht ändern und hat möglicherweise die Nötigung eines Ausgleiches zwischen einer forensischen und einer am Motiv der .Erlösung aus einem frustrierten Autonomieanspruch' orientierten Versöhnungslehre nicht wahrgenommen, was wieder ein Indiz für ein Denken ist, daß der Wahrnehmung der Unterschiede zwischen Gedankengängen nur mit Schwierigkeiten fähig ist. 68

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neubestimmten Gott 7 0 - wird ergänzt durch das damit zunächst nicht vermittelte Thema der forensischen Rechtfertigung und des Urteils Gottes über den Menschen, in dessen Übernahme die reflexive Struktur des GlaubensbegrifFes ihren Grund hat. 71 Ich werde dem weiter unten nachgehen.

2.2.4. Detailanalyse II: Die Notwendigkeit des Dogmas als Rechenschaftslegung

vom Glauben. 2.2.4.1. Diese Wahrheitserkenntnis im Sinne der Simultaneität der Erkenntnis Christi und der Erkenntnis der Wahrheit über das eigene Leben wird im folgenden Absatz (Lehre 114f) weiter ausgeführt, und zwar so, daß Eiert nach der Bezogenheit des Gegenstandes auf den Glauben nun die Bindung des Glaubens an einen Gegenstand - nämlich Christus als den Deus incarnatus - in den Vordergrund stellt. Auch der Glaube ist kein bloß subjektiver Akt, der akzidentell bezogen ist auf den Gegenstand Christus, sondern er ist nichts anderes als die Übernahme des in Christus gefallenen Urteils Gottes über das Leben des Menschen: „Es gibt keine Möglichkeit, den Glauben losgelöst von seinem Gegenstande zu charakterisieren. Wie wir Christus als Deus incarnatus nur im Glauben haben, so haben wir umgekehrt nur den Glauben, wenn wir Christus als Deus incarnatus haben." (Lehre

114).

Der erste Teil des zweiten Satzes ist erkennbar eine Zusammenfassung der Ausführungen über die Bezogenheit Christi auf den Glauben. Der zweite Teil dieses Satzes hingegen bindet nun den Akt des Glaubens an die Person Christi als Deus incarnatus: der Glaube als Übernahme des Urteils Gottes über das menschliche Leben ist gebunden an das Urteil in dem Sinne, wie es im Christusgeschehen ergangen ist. Es handelt sich beim Glauben nicht um eine autonome Neubewertung des eigenen Lebens, sondern um ein Selbstverhältnis, das Einstimmung in ein fremdes, in Christus ergangenes Urteil ist.

70 Z u m Grundthema der ,Lehre des Luthertums' vgl. 1. Aufl § 1, § 8 - 1 2 sowie die Lehre vom Versöhnungswerk § § 24—27. Diese Grundkonzeption wird in der Neuauflage im Wesentlichen unverändert übernommen. 71 Eiert führt das entscheidende Zitat aus der Auslegung Luthers zu Ps 90 wie praktisch alle Lutherzitate erst in der zweiten Auflage ein. Der Glaubensbegrifif der ersten Auflage wird in der zweiten lediglich durch einen kurzen Hinweis auf den forensischen Charakter der Versöhnung und auf die im Christusgeschehen erfolgte Neubewertung des Menschen ergänzt („Wie für den Glaubenden die Unterwerfung nicht mehr Knechtschaft sondern Befreiung bedeutet, so empfängt er an Stelle des Gerichtes die Begnadigung und im Tode das Leben. Wie er im Menschen Christus an den ewigen Gott glaubt..., so tritt er mitten in der Zeit heraus aus der Zeit und lernt sein eigenes Leben mit Gottes Augen ansehen." [ 2 § 31, 47f, vgl. 1. Aufl. 37f]). Freiheitswillen und Unfreiheit, die Versöhnung zweier entgegenstehender Willen (Gottes und des Menschen) war, wie dargestellt, das Grundthema der ersten Auflage, das nun durch ein ,so ... wie' um den forensischen Aspekt der Versöhnungslehre ergänzt wird. Daß damit das geschlossene Konzept der,Lehre des Luthertums' durch ein auf den ersten Blick damit nicht recht vermitteltes T h e m a aufgebrochen wird, ist ein Eindruck, der sich in den weiter unten zu notierenden Brüchen, die die entsprechenden Passagen der Dogmatik kennzeichnen, fortsetzt (vgl. dazu D).

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2.2.4.2. Diesen zweiten Teil des Satzes legt Eiert nun im folgenden aus72; sofort anschließend formuliert er: „Dieses ,haben' ist einmal im Sinne der Rechtfertigungslehre fiduzial zu verstehen, zweitens aber im Sinne eines auf Wahrheit abzielenden Erkenntnisaktes." (Lehre 114).

Das ,fiduziale' Verständnis von ,haben' hebt offenbar auf die im Vertrauen auf Christus gegebene Unmittelbarkeit der Erfahrung des Glaubensgegenstandes ab, die Eiert bereits in .Dogma, Ethos, Pathos' hervorgehoben hatte (s.o. S. 81f) - bzw. im näheren Kontext darauf, daß der Glaubende im Akt des Vertrauens das in Christus ergangene Urteil Gottes auf das eigene Leben bezieht: „Im Wesen des Glaubens, sofern er Fiduzialglaube ist, liegt sein Bestreben, das Heil auf den glaubenden Einzelnen zu beziehen." (Lehre 115). Das Selbstverhältnis, in dem der Glaube besteht, vermittelt sich ausschließlich über die Person und das Werk Christi. Schwieriger ist die Bestimmung des ,habens' im Sinne des „auf Wahrheit abzielenden Erkenntnisaktes", in dem - so die Zielsetzung der Textpassage sich die Notwendigkeit des Dogmas begründen soll; der Absatz schließt nämlich mit den Worten: „Die Notwendigkeit des Dogmas liegt also im Wesen des Glaubens selbst begründet, sofern er ohne die Wahrheit nicht sein kann und sich um seiner selbst willen von ihr Rechenschaft geben muß." (Lehre 115).

Interpretiert man von diesem Schlußsatz her den zuvor zitierten Passus, so will Eiert offenbar zeigen, daß der Glaube selbst neben dem fiduzialen Aspekt ein noetisches Moment aufweist, und daß die Notwendigkeit des Dogmas mit diesem noetischen Moment zusammenhängt. Das noetische Moment des Glaubens hängt offensichtlich daran, daß der Glaube selbst einen Gegenstand hat und als Vertrauen das Beziehen dieses Gegenstandes (als Urteil Gottes) auf das eigene Leben ist. Das genaue Verhältnis des fiduzialen und des noetischen Elementes allerdings, auf dessen Bestimmung es eigentlich ankäme, bleibt im Dunkeln; beides wird - im zuvor gebotenen Zitat - lediglich mit „einmal" und „zweitens" einander zugeordnet. Dieses „Haben" im zweiten Sinne bereitet weitere Schwierigkeiten. Eiert hatte nämlich wenige Sätze zuvor bereits behauptet, daß im Anschluß an Luther der Glaube an Christus - im Sinne des fiduzialen Glaubens, der Christus „pro me" ergreift - und die „Wahrheitserkenntnis" zu identifizieren sei (Lehre 114); die nähere Auslegung hatte ergeben, daß dieser Glaube die Wahrheit Christi und die Wahrheit des eigenen Lebens erkennt, und zwar so, daß er

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Es wäre grundsätzlich nicht ausgeschlossen, die im folgenden unterschiedenen zwei Bedeutungen von „haben" als Auslegung jeweils eines Teiles des vorausgehenden Satzes zu verstehen - ich halte das angesichts dessen für unwahrscheinlich, daß der erste Satzteil die Bindung der Erkenntnis Christi an den Glauben resümiert und der weiterführende und im folgenden erläuterte Gedanke im zweiten Satzteil sich findet.

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Christus als Urteil Gottes über das eigene Leben erfaßt und als Wahrheit anerkennt. Im zu Beginn dieses Abschnittes 2.2.4.2. gebotenen Zitat allerdings erscheint die Wahrheit als etwas, was im Verlauf eines Erkenntnisaktes, der vom fiduzialen Glauben zu unterscheiden ist, erst zu erreichen ist. Der Begriff der Wahrheit droht äquivok zu werden - man wird darauf zu achten haben, ob die Bedeutungen vereinbar sind. 2.2.4.3 Zu dieser Wahrheitserkenntnis führt nun ein Weg, den Eiert einige Seiten zuvor (Lehre 112f) beschrieben hatte und nun in Erinnerung ruft: „Wollen wir uns im zweiten Sinne darüber Rechenschaft geben, so bedarf es jener Entwickelung und Anwendung von N o r m und Kriterium, der Aussonderung und Abstraktion des hierfür Wesentlichen, des Aufeinanderbeziehens geistiger Inhalte in der Form einer Relation zwischen Problem und Lösung." (Lehre 114f)

Als ,Norm' und .Kriterium' hatte er an der Stelle, auf die er mit der Wendung „jener Entwicklung" verweist, die Schrift eingeführt; die Notwendigkeit der Anwendung' und der Aussonderung des .Wesentlichen' beschreibt die zur Lösung einer konkreten Frage notwendige Gewichtung der Schriftaussagen, und das Verhältnis zwischen ,Problem' und ,Lösung' die Nötigung zur Transformation der Schriftaussagen auf ein konkret sich stellendes Problem hin. Die Passage, auf die Eiert damit zurückgreift, zielte darauf ab, zu zeigen, daß die gegenwärtige Fragestellung bzw. die gegenwärtige Situation ein notwendiges Moment einer Schriftinterpretation sei, und zwar in dem Sinne, daß auch eine streng biblizistische Position die Aussagen der Schrift auf eine bestimmte Fragestellung und damit auf eine bestimmte Gegenwart hin lesen muß. 73 Genau diese Tätigkeit umschrieb Eiert dort mit dem Satz: „Sie [sc. die mit diesen Operationen geleistete geistige Arbeit] fordert den Einsatz unserer eigenen Urteilskraft: und folgt der Idee der Wahrheit als Leitgedanken." (Lehre 113); ganz ähnlich formuliert er im Anschluß an das zuletzt gebotene Zitat: „Der Blick ist dabei einmal auf Christus als den Deus incarnatus gerichtet, und zweitens so, ,ut Dei oculis inspiciamus nostram vitam'. Die Aussagen, zu denen der Glaube hierbei unter der Leitidee der Wahrheit gelangt, sind die Glaubenssätze oder D o g m e n . " (Lehre 115; kursiv von mir)

73 Lehre 112f; Eiert versucht hier zu zeigen, daß auch dann, wenn die Schrift als schlechthin gültige Norm bezeichnet wird, die Interpretation der Schrift auf eine Frage hin erfolgt - genau die Bezugnahme auf diese Frage ist gemeint, wenn Eiert schreibt: „Auch bei ganz positivistischer Auffassung der Normativität der Bibel bedarf es also gewisser Denkoperationen, die über die Fähigkeit des richtigen Lesens und Zitierens hinausgehen." Denn diese Fähigkeiten werden zuvor als ,Anwendung" der Norm beschrieben und im folgenden als .Aussonderung der gerade hierfür [i.e. für eine bestimmte Fragestellung, hier der Frage nach dem richtigen GlaubensbegrifF] wesentlichen biblischen Gedanken" sowie als die Nötigung, die Antworten der Bibel in die Sprache der Gegenwart zu transformieren, präzisiert. Was Eiert hier mit zugegebenermassen untauglichen sprachlichen Mitteln beschreibt, ist die bei Bultmann und auch Gogarten als hermeneutisches Problem der Theologie formulierte Fragestellung.

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Hier nun ist das Wahrheitskriterium die (selbstverständlich durch die Schrift vermittelte74) „geschichtliche Christusoffenbarung", die also auf die vita nostra hin zur Auslegung kommt. Glaubenssätze und Dogmen ergeben sich also gerade dadurch, daß der Theologe das eigene Leben unter der Perspektive des Christusgeschehens und umgekehrt: das Christusgeschehen auf das eigene Leben hin deutet. 2.2.4.4. Damit wird aber völlig unklar, worin eigentlich die Differenz des Dogma zu jenem mit dem Heilsglauben selbst gegebenen ,»Ansehen des Lebens mit den Augen Gottes" liegen soll; etwas klarer wird der Gedanke, wenn Eiert, wie bereits zitiert, im Anschluß an das eben gebotene Zitat fortfährt: „Die Notwendigkeit des Dogmas liegt also im Wesen des Glaubens selbst begründet, sofern er ohne die Wahrheit nicht sein kann und sich um seiner selbst willen von ihr Rechenschaft geben muß." (Lehre 116)

Dieser Satz schließt die Explikation des ,zweiten Sinnes', den die Wendung .Christus haben' neben dem fiduzialen Sinn haben kann (oben S. 99), ab, und resümiert gleichzeitig, daß der Glaube in irgendeiner Weise auf explizit noetische Erkenntnis angewiesen ist. Offensichtlich will Eiert das ,haben' im zweiten Sinne als das Ergebnis einer Rechenschaft von der Wahrheit verstanden wissen75, deren der Glaube versichert ist - ein Gedanke, der gänzlich im Gefolge Franks und Ihmels' bleibt76. Da weder der Bezug Christi auf das eigene Leben noch die ,Erkenntnis' Christi als Grund des Rechtfertigungsurteils Gottes über das eigene Leben gegenüber dem fiduzialen Glauben neu ist, scheint die Ausdrücklichkeit der Bewährung dessen, was im Glauben an die Verkündigung unmittelbar erfaßt ist, an der geschichtlichen Christusoffenbarung' und der Bewährung der Christusoffenbarung am jeweils eigenen Leben der Fortschritt zu sein, den das Dogma erbringt. Es scheint hier zur ausdrücklichen, korrelativen Auslegung zu kommen, was in der Unmittelbarkeit des Erlebnisses eine Einheit bildet, oder anders: das Christusgeschehen wird als Heil der Welt, genauer als Grund des im Ubergang zum Glauben vollzoge-

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Vgl. nur: Lehre (§20) 31 f. Genauer ist also in dem schwer verständlichen, oben (S. 330) zitierten Satz „Wollen wir uns im zweiten Sinne [des „Habens" Christi, N.S1.] darüber Rechenschaft ablegen..." mit dem „darüber" das „Haben" Christi im „fiduzialen Sinne" gemeint. 76 Bei v. Frank wäre an das gesamte Verfahren der expliziten Vergewisserung der Glaubensinhalte bzw. der in der Dogmatik erfolgenden Explikation der Glaubensgegenstände aus der in der Glaubenserfahrung gegebenen impliziten Wahrheit Gottes zu erinnern; vgl. statt vieler Belege nur Frank, SG II, 289-291; bes. aber ebd. I, 319: „Der Process der kirchlichen Dogmenbildung ist im Grunde nichts anderes als ein Process der Selbstbesinnung und Selbstvergewisserung der Kirche hinsichtlich der Realitäten, welche sie als im Glauben beschlossene von Anfange an erfahrungsmässig besitzt." Auch SW I, l l 4 f u.ö.; vgl. Slenczka, Studien Bd. 1, 93fif. Zu Ihmels vgl. ebd. 248fF; auch bei ihm liegt der formulierten gegenständlichen dogmatischen Wahrheit die Unmittelbarkeit des Erfassens derselben im Glauben zugrunde. 75

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nen Existenzwandels77, und die gegebene und erfahrene Wirklichkeit unter der Prämisse des Christusgeschehens ausgelegt. 2.2.4.5. Daß diese Interpretation der (auch auf den zweiten und dritten Blick) schwer verständlichen Passage richtig ist, ergibt sich daraus, daß unter dieser Voraussetzung der oben als möglicherweise äquivok bezeichnete Wahrheitsbegriff Elerts eindeutig wird: Wenn Wahrheitserkenntnis und Christusglaube im Sinne des „nicht allein Christum hören oder von ihm viel waschen können, sondern auch im Herzen gläuben, daß Christus uns frei und los machen wolle" (Lehre 114) identisch ist, dann ist eben gerade dieser durch das Evangelium hervorgerufene Glaube selbst das vortheoretische Erfassen des Christusgeschehens in seiner Heilsbedeutung und das vortheoretische Erfassen seiner selbst als gerechtfertigten Sünders, das zunächst im Akt des fiduzialen Glaubens verwirklicht ist und von dort aus im Sinne einer ausdrücklichen Rechenschaftslegung seine Rechtfertigung erhält; dies so, daß nun ausdrücklich Christus als das Heil der Welt, und die Welt als die durch das in Christus ergangene Urteil Gottes gerechtfertigte zur Darstellung kommt. Der Begriff der Rechenschaft' scheint zu meinen, daß der Glaube die in der Unmittelbarkeit des fiduzialen Glaubens gegebene Bezüglichkeit des Christusgeschehens auf den Glauben und die entsprechende Selbstbeurteilung des Glaubenden zur Darstellung bringt, so daß sich die Selbstbeurteilung an der Christusoffenbarung, und umgekehrt die Christusoffenbarung an der vita nostra ausweist.78 2.3. Zusammenfassung. Die grundlegende Absicht des Textes besteht darin, die Notwendigkeit des Dogma für den Glauben auszuweisen, und zwar dadurch, daß der unabdingbare Gegenstandsbezug des Glaubens expliziert und das Dogma als entfaltete Rechenschaft über den im Glauben unmittelbar erfahrenen Zusammenhang bestimmt wird. Dabei wird der Glaube als begründet in einer Selbstvermittlung des Glaubensgegenstandes und so als die Bedingung der Möglichkeit der Entfaltung dieses Zusammenhanges in der Lehre bestimmt: Die Voraussetzung des Dogma bzw. der theologischen Lehre insgesamt ist die Begegnung mit dem dort beschriebenen Gegenstand, die sich in einem Glauben wirkenden .Ergriffenwerden' von diesem g e g e n ständ' vollzieht. Nur im Vollzug dieses Glaubens ist der Gegenstand des Glaubens überhaupt als Selbstvermittlung Gottes erfaßt, die in der Begegnung mit der Verkündigung erfahrene Transzendenz ist die Bedingung der Möglichkeit — weil das Original — des Urteils, daß in Christus Gott selbst präsent ist. Die Selbstvermittlung des ,Gegenstandes' des Glaubens ist dabei die Bedingung 77

Vgl. Glaube l40f. .Ausweisen' hat hier nicht den Sinn einer Art Beweis durch Entsprechung; das Verhältnis von Existenz und Christusoffenbarung ist durchaus als Gegensatz gedacht, wie weiter unten noch deutlich werden wird (s.u. C und D). 78

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der Möglichkeit des Glaubens selbst, der einerseits als Passivität gegenüber diesem .Gegenstand' gefaßt ist, der andererseits als durch seinen .Gegenstand' vermitteltes Selbstverhältnis (,Urteil über das eigene Leben') erscheint. Der entscheidende Punkt dabei ist die Deutung des Christusgeschehens als .Urteil' und des Glaubens als Übernahme dieses Urteils und in diesem Sinne eben als Selbstverhältnis, das durch die Begegnung mit Christus vermittelt und auf diese gegenständliche Vermittlung bleibend angewiesen ist. Die lehrhafte Entfaltung des Inhaltes des Glaubens hat die Korrelativität von Glaubensgegenstand und Glaubensvollzug insofern zur Bedingung, als sie den Gegenstand als Urteil über den Menschen und damit als bezogen auf die im Menschen sich vollziehende Übernahme dieses Urteils zur Darstellung bringt, damit aber eben nur die allgemeine Form dessen nach- bzw. vorzeichnet, was im Vollzug des Glaubens zur notwendig individuellen Realisierung kommen muß. Dabei besteht die Aufgabe der Dogmatik darin, das im Christusgeschehen eröffnete Selbstverhältnis auf die jeweils zeitgenössische Gestalt des natürlichen Selbstverhältnisses, und zwar als dessen Gegensatz, hin durchsichtig zu machen. Diese Aufgabe allerdings hat keine primär apologetische Funktion, denn der Übergang vom natürlichen Selbstverhältnis zu dem durch die Christologie vermittelten vollzieht sich ausschließlich durch die Selbsttätigkeit des Glaubensgegenstandes im Vollzug der Verkündigung; genau diese Selbstvermittlung des ,Glaubensgegenstandes' ist Grund und Bezugspunkt des Selbstverhältnisses des Glaubens. Zwei Punkte sind festzuhalten, die die Position Elerts mit der Erlanger Tradition verbinden: Zum einen die Behauptung, daß der lehrhaft formulierte Gehalt des Glaubens sein Original und den Ausweis seines Rechtes in einer zugrundeliegenden Erfahrung habe, in der unter der Wirkung der Verkündigung der Glaube Gott in derselben begegne.79 Alle lehrhaften Formulierungen setzen diese Prämisse voraus; die Behauptung der Einheit Gottes mit dem Menschen in Christus und die Beschreibung Christi als Urteil Gottes über den Menschen findet - zweitens - ihre Verifikation nicht im Abgleich mit dem natürlichen Wahrheitsbewußtsein und dem diesem zugänglichen Medium der Offenbarung, sondern ausschließlich in dieser notwendig individuellen Erfahrung, in der der Glaube entsteht 80 .

79 Vgl. dazu neben den in Slenczka, Studien Bd. 1 vorgenommenen Analyse der Positionen Franks (82ff; 120ff) und Ihmels' (247ff) die dortige Einleitung (28ff) sowie: Hein, Bekenntnis, bes. 82fF. Dazu auch Hirsch, Geschichte 5, 416. 80 Zusammenfassend Slenczka, Studien Bd. 1,317ff.

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3. Die Kontinuität des Denkens Elerts 3.1. Die Rückbezüge zur Schrift über die Religionspsychologie (1912). 3.1.1. Analyse. Diese genauere Analyse der von Eiert vorgetragenen Position führt wieder auf die erstaunliche Kontinuität seiner Position bei vollständigem Wandel der Terminologie, die sich bereits mehrfach gezeigt hatte. In einer Hinsicht ist nämlich mit diesen Ausführungen wieder die Position des Aufsatzes über die Religionsphilosophie von 1912 erreicht, der daher nun noch einmal unter anderem Gesichtspunkt als oben (1.1.) zu betrachten ist; dort hatte Eiert ebenfalls darauf hingewiesen, daß die christliche Religiosität gegenständliche Bezüge mit sich führe und somit - als „Beziehung des Subjekts zu außersubjektlichen Objekten" (Grenzen 200) — nicht nur auf .subjektive' Argumente zu rekurrieren habe, die „nur der Prüfung durch den Behauptenden selbst zugänglich" sind, sondern auch eines objektiven Wahrheitsausweises fähig sein müsse. Eiert zielt dabei selbstverständlich nicht auf einen Beweis der christlichen Inhalte ab, sondern auf eine Zuordnung subjektiver und objektiver Argumente, die sowohl den Vorwurf einer schlechten Subjektivität des Christentums wie den Versuch eines Beweises seiner Wahrheit ausschließen (vgl. Grenzen 196f und 250f)· Eiert vertritt dabei die bereits knapp dargestellte These (s.o. A, 2.4.), daß in der erfahrenen rein individuell-subjektiven Wirkung des Wortes auf den Glaubenden im Erlebnis der Neusetzung des Ich (Wiedergeburt und Bekehrung, ebd. 201) der Mensch „auf die Wirksamkeit einer Außengröße gestoßen" wird, „die seiner, des Subjekts, unbedingt mächtig ist." (Ebd. 201). Das innere Erlebnis der Neuschöpfung begründet für den Glaubenden und nur für ihn das Urteil, daß er es in den empirisch wirkenden Faktoren mit dem Wirken Gottes zu tun habe 81 . Der Ausweis der Wahrheit des Christentums - im oben referierten Sinne von Wahrheit: des Geltungsanspruches der Behauptungen des Christen über eine von ihm erfahrene Wirklichkeit — erfolgt nun offensichtlich als Nachvollzug des Weges, auf dem das christliche Subjekt zu seinem Wahrheitsurteil kommt - auch dies ausdrücklich im Gefolge der Erlanger Gewißheitsfrage in der Gestalt, die Ihmels ihr gab (vgl. Grenzen 247-250, bes. 249f). Genauer vollzieht sich diese Prüfung im Rekurs auf die Heilige Schrift, die sowohl Medium der erfahrenen Wirkungen als auch Zeugnis von den in diesen Wirkungen erfahrenen Wirklichkeiten ist82. Ausweisbar ist nun offensichtlich der Zusammenhang der erfahrenen Wirkungen mit der Schrift und den in ihr bezeugten

81 Vgl. 201f und 203f. Die Passage 201f, insbes. 203-205 gehört zu dem am wenigsten Durchsichtigen, was Eiert geschrieben hat. Ich gehe davon aus, daß die 204 von Eiert aufgewiesene Grenze des Nachvollzuges der Behauptungen des religiösen Subjektes durch die Wissenschaft nämlich das Urteil über einen transzendenten Ursprung der erfahrenen subjektiven Wirkungen mit den 20 lf dargestellten subjektiven Voraussetzungen identisch sind, die sich einer „allgemeinen Behandlung" (202), d.h. einer Überprüfung durch die Wissenschaft entziehen. 82 Grenzen 203f. Zur darin erfolgenden Bezugnahme auf Ihmels vgl. 251.

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Wirklichkeiten, ausgenommen das Urteil, daß diese Realitäten Medium des Wirkens Gottes am Subjekt sind. Dieses Urteil als Übergang vom „Phänomenalen" auf einen „übergeschichtlichen, transzendenten Grund" hat nach Eiert seinen Grund in der genannten, unvertretbaren und individuellen Erfahrung des Subjektes, die nach ihren „typischen sittlichen und transzendentalen, d.h. erfahrungsdiesseitigen" Voraussetzungen dargestellt und geprüft: werden kann, sich aber als unaufhebbar individueller Akt der wissenschaftlichen Prüfung entzieht. Es handelt sich also nach Eiert bei der religiösen Erfahrung um einen komplexen Zusammenhang von subjektiven und gegenständlichen Momenten, und sowohl auf der subjektiven wie auf der gegenständlichen Seite entzieht sich das Phänomen jeweils an einem Punkt dem wissenschaftlichen Nachvollzug und der Überprüfung: Nach der gegenständlichen Seite verweist die wissenschaftlich nicht prüfbare Behauptung, daß es sich in der Schrift und im Christusgeschehen um Medien der Wirksamkeit einer Transzendenz handelt, auf einen subjektiven Grund dieser Behauptung, nämlich - so ist doch anzunehmen - auf jene Erfahrung der Wirkung einer Macht, die das Subjekt neu setzt und darin seiner unbedingt mächtig ist. Diese Erfahrung selbst wiederum ist nach ihren „allgemeinen Voraussetzungen" subjektiver Art zwar wissenschaftlich darstellbar und „prüfbar", nicht aber in ihrem Bestand als unvertretbar subjektives Erlebnis 83 . Wissenschaftlich darstellbar, aussagbar,

83 Die Passage Grenzen 2 0 4 f ist — durch mangelnde Mühewaltung hinsichtlich des Ausdrukkes - praktisch unverständlich. Liest man sie von 2 0 1 f her (vgl. oben S. 104), so legt sich die Vermutung nahe, daß der den Schluß auf eine transzendente Kausalität der „empfangenen Wirkungen" motivierende subjektive Grund eben jene Erfahrung der Neubegründung des Subjektes ist, die dort erwähnt wurde. Was daran nun die „innerpsychischen, typischen Voraussetzungen" sein sollen, die der wissenschaftlichen Prüfung offenstehen, bleibt unklar. Noch unklarer aber ist die Fortsetzung, in der Eiert darauf hinweist, daß diese typischen Voraussetzungen „einer ganz bestimmten Spezialisierung durch das einzelne Subjekt ausgesetzt sind. Sie werden nämlich mit den jedem Subjekt eigentümlichen sonstigen Erfahrungen, die es als nur einmal existierendes Individuum macht, verknüpft und unter dem daraus resultierenden Gesichtswinkel betrachtet." (204). Es ist bereits verwirrend, wenn .Voraussetzungen' mit .Erfahrungen' .verknüpft' werden und sie (also doch die Voraussetzungen?) dann „unter dem daraus [also doch wohl aus der Verknüpfung von Voraussetzung und Erfahrung?] resultierenden Gesichtswinkel" betrachtet werden - Material für einen regressus ad infinitum. Ohne Antwort bleibt auch die wichtigere Frage, welche „sonstigen Erfahrungen" einem und nur einem Subjekt allein zukommen; schon die doch vermutlich gegebene Möglichkeit, diese Erfahrungen mit einem Abstraktbegriff zu kennzeichnen, zeigt, daß doch wohl nicht die Erfahrungen, sondern beispielsweise die Kombination von Erfahrungen oder nähere Umstände derselben individuell und unverwechselbar sein dürften. Vollends undeutlich wird das Gemeinte, wenn Eiert im später folgenden Referat der Position Ihmels' zustimmend (vgl. mit ebd. 251) daraufhinweist, daß die Erfahrungsgewißheit des Christen dadurch gestärkt werde, daß er „von unzähligen anderen hört ..., daß sie dieselbe Erfahrung gemacht haben." (ebd. 249). - An dieser Stelle wird aber auch deutlich, was Eiert offensichtlich meinen will, denn er unterscheidet davon das „stets erneute persönliche Innewerden der göttlichen Selbstbezeugung" (ebd., vgl. 250); Eiert will also doch wohl das wiedergeben, was er in „Lehre" mit dem „pro me" bestimmt (oben S. 94f): die notwendig und unvertretbar individuelle Übernahme der subjektiven Erfahrungen, auf die der Glaubensgegenstand zielt; diese Erfahrungen — etwa die

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nachvollziehbar und - in den Grenzen der allgemeinen Zugänglichkeit - begründbar ist also die allgemeine Form des Zusammenhanges von religiösem Erleben und den gegenständlichen Behauptungen des Christentums; dieser Zusammenhang hat allerdings seinen Grund in einer unvertretbaren Erfahrung, die das Original und die Realisation bzw. Limitation dieser allgemeinen und rein begrifflichen Form durch ein individuelles Subjekt darstellt. 3.1.2. Bezug zur Erlanger Tradition. Es ist damit angesichts der in dieser Schrift noch erhaltenen eindeutigen Rückbezüge auf den Umgang mit dem Gewißheitsproblem bei v. Frank und Ihmels eindeutig, daß sich die Verhältnisbestimmung von Glaube und Dogma als Verhältnis eines unverfugbaren Erlebnisses, in dem sich die Transzendenz des gegenständlich Gegebenen in einer .Umwandlung' des Subjektes erschließt, und dessen Explikation in lehrhaften Aussagen, die aber als Beweis fur die Wahrheit des christlichen Glaubens durch den Abgleich mit anderen theoretischen Aussagen nicht in Frage kommen, direkt der Erlanger Tradition verdankt 84 . Eiert übernimmt in dem genannten Aufsatz ausdrücklich von Ihmels die Korrektur der von ihm als .subjektivistisch' bezeichneten Frankschen Rekonstruktion der christlichen Gewißheit, deren Zentrum er einmal in der Konzentration der christlichen Gewißheit auf das Erlebnis der Wiedergeburt und dessen Begründung in einem Objektiven, nämlich in der durch die Schrift vermittelten Person Christi, sieht, und zweitens in der gegenseitigen Verwiesenheit von .Subjektivem' (die Erfahrung der Wiedergeburt) und ,Objektivem' (die Offenbarung in Christus). Dies stellt Eiert so dar, daß die objektiven Realitäten die Erfahrung der Wiedergeburt bewirken, daß diese Erfahrung ihrerseits aber nur in dem Glauben an diese Realitäten den Grund ihrer Gewißheit findet - das charakteristische Verweisungsverhältnis von subjektiver' und ,objektiver' Begründung geht auf die Rezeption der Theologie Ihmels' zurück: Wiedergeburt, der Glaube etc. können „objektiv" - als Wirkung der Schrift, des Christusereignisses etc. — dargestellt werden. Erst der individuelle Eintritt in diesen Zusammenhang — in späterer Terminologie: die Übernahme des Urteils Gottes in Gericht und Begnadigung durch den von der Verkündigung getroffenen Menschen - motiviert auch die Bejahung der Transzendenz - i.e. der Göttlichkeit - der wirkenden Faktoren. In diesem Sinne ist „die christliche Gewißheit um objektive Wirklichkeit letzten Endes eine individuell-subjektive Tat." (Grenzen 250). - Im Hintergrund dieses Versuches der Begrenzung der Zuständigkeit einer wissenschaftlichen Bearbeitung des religiösen Erlebnisses steht mit Sicherheit auch der in einer gleichzeitigen Veröffentlichung unternommene Versuch, mit Hilfe von Rickerts Zuordnung von generalisierender und individuierender Wissenschaft (übernommen von Rickert, dazu oben Anm. 52) das Christentum als wesentlich individuierend und somit als dem (natur-)wissenschaftlichen Zugriff entzogen auszuweisen; vgl. Wendung 476ff, vgl. im Aufsatz zur Religionsphilosophie bes. das Resümee: „Das letztlich entscheidende Urteil über die Wahrheit der christlichen Wahrheitsbehauptungen steht dem Individuum als solchem, nicht der generalisierenden Wissenschaft zu." (Grenzen 205). Dazu oben Anm. 52. 84 Vgl. die oben referierten, der gleichen Zeit entstammenden Absagen an die Apologetik im Sinne eines die christliche Wahrheit begründenden Abgleiches mit dem natürlichen Wahrheitsbewußtsein: .Wendung' (1912); .Geschichtsphilosophie' (1911) 97ff; etc.

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„Während Frank aus der Gewißheit um die Wiedergeburt die Gewißheit um die Glaubensobjekte ableitet, legt Ihmels mit Recht Nachdruck darauf, daß die Gewißheit um die Wiedergeburt nur in der Gewißheit um die objektiven Realitäten begründet sein kann. Das Verhältnis kehrt sich also nahezu um. Die Bedeutung der objektiven Realitäten geht nicht darin auf, daß sie die grundlegliche Erfahrung erstmals bewirken, sondern nur der Glaube an sie vermag die Gewißheit um die Wiedergeburt dauernd zu begründen; nicht nur die Wiedergeburt hat ihren Halt an den objektiven Realitäten, sondern auch die Gewißheit um die Wiedergeburt." 85

Genau dieses wechselseitige Verweisungsverhältnis prägt nicht nur die unter 2.4. referierte Aufnahme der .transzendentalphilosophischen' Begrifflichkeit in der zweiten Auflage der Kurzdogmatik, sondern die Verhältnisbestimmung von Evangelium, Glaube und Dogma insgesamt: das Dogma ist die Entfaltung dessen, was der Glaube als Realität in diesem durch die Schrift bzw. die Verkündigung vermittelten Erlebnis erfährt und daraufhin auf diese Erfahrung hin entfaltet. 3.2. Die,Lehre des Luthertums im Abriß3.2.1. Transzendentalität und Transzendenz des Geistes. Diese Position Elerts und insbesondere sein Insistieren darauf, daß der Glaube in einem unverfiigbaren, erlebnishaften Ergriffen uwden von seinem Gegenstand in der Verkündigung begründet ist, läßt sich noch einmal anhand eines Paragraphen aus dem Corpus der ,Lehre des Luthertums' verifizieren, in dem Eiert erstmals zur Beschreibung dieser Erfahrung auf transzendentalphilosophische Termini zurückgreift und der daher gerade im Blick auf das hier verhandelte Thema instruktiv ist. Es handelt sich um eine jener Passagen, in denen Eiert im Rahmen der zweiten Auflage sehr weitgehende Änderungen vorgenommen hat, nämlich um das Kapitel VIII, das dem Wirken des Geistes gewidmet ist. Eiert fügt hier einen Paragraphen ein, in dem er die in der ersten Auflage völlig vernachlässigte Bindung des Geisteswirkens an das Verbum externum herausstellt86, und faßt die §§ 28 und 29 der ersten Auflage, die den Geist als subjektiven Besitz (Lehre1 § 28) und als transsubjektive, selbsttätige Realität (Lehre1 § 29) zum Gegenstand hatten, unter dem Titel ,Transzendentalität und Transzendenz des Geistes' zusammen (Lehre2 § 29). Die Neufassung erschließt sich nur dann, wenn man sich die Intention der entsprechenden Paragraphen in der ersten Auflage verdeutlicht: Dort hatte Eiert das Ziel, im Ausgang vom Geist als subjektivem, aber unpersönlichem, d.h. nicht individuellem Phänomen (Lehre '§ 28) in einem zweiten Schritt

Grenzen 248; kursiv im Original gesperrt. Vgl. 248f. Vgl. Lehre 2 § 28 mit '§ 28! Die Vernachlässigung der Lehre von der Schrift als Wort Gottes gerade in Elerts Abriß hat Asmussen (Lehre) zu einer Auseinandersetzung mit diesem Werk geführt, in deren Rahmen er Elerts Ansatz als ,Erfahrungstheologie' apostrophiert (Asmussen, Lehre 23 und f ) und gegen Eiert bezeichnenderweise dieselben Monita geltend macht, die Ihmels gegen v. Frank ins Feld führt: aaO. 28 und ff. Dazu auch Langemeyer, Gesetz 31 ff, bes. 33. 85

86

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(Lehre '§ 29) den Geist als .überpersönliches' Phänomen zu beschreiben in dem Sinne, daß der Geist nicht Produkt des Menschen, sondern ein ,transsubjektiver Zeuge' von Christus ist, der dem Menschen das Wissen von Christus vermittelt und im Menschen den Glauben wirkt. Das Argument für diese Transsubjektivität des Geistes ist zum einen die Transsubjektivität der Vermittlungsinstanzen (die geschichtliche Reihe der apostolischen Zeugen), zum anderen die Tatsache, daß der Mensch sich dieser Vermittlung gegenüber rein rezeptiv verhält. In einem dritten Schritt schließlich (Lehre '§ 30) wird von dort aus die Personalität und Göttlichkeit des Geistes als neben dem Schicksal und dem Wort Christi dritter Manifestation Gottes begründet. Der Gedankengang verläuft so, daß von der unmittelbaren, subjektiven Erfahrung des Geistes ausgehend diese als begründet in einer mit dem Subjekt nicht identischen Größe und darüber hinaus in einer .Transzendenz', d.h. in Gott ausgewiesen werden; auch hier zeigt sich das Grundverfahren Elerts, der von der Unmittelbarkeit des subjektiven religiösen Phänomens her die gegenständlich-lehrhaften Aussagen der christlichen Tradition wiederzugewinnen sucht 87 . In der zweiten Auflage ist dieser klare Gedankenfortschritt, der sich in den drei Paragraphen vollzieht, nicht mehr auf Anhieb erkennbar bzw. der gesamte Gedankengang in den Paragraphen 29 integriert. Begriff und Sache des Pneuma war bereits in dem überarbeiteten § 28 eingeführt worden und dort einerseits als Wahrnehmung der Wirklichkeit unter einer gegenüber dem Schicksalserlebnis neuen Perspektive (s.u.), andererseits als Ursprung neuer Affekte - der Liebe, der Langmut, der Freude etc. - und so als Grundlage eines .geistlichen Charakters' gedeutet worden. Dieser Paragraph nimmt nun die Intention des ursprünglichen § 28 darin auf, daß er das Pneuma - soweit es die Wirklichkeit neu, nämlich unter dem Vorzeichen der Versöhnung mit Gott und nicht des Kampfes mit ihm zu sehen lehrt - als ein subjektives Phänomen deutet: „ D a aber die D i n g e selbst, an denen sich unsre Spannung gegen G o t t entfaltete, keine wahrnehmbare Veränderung zeigen, so ist die neue Wirklichkeit, die sich uns erschließt, rein geistiger Art. Sie ist nur da, sofern uns jener Adhortativ erreicht und wir ihm Folge leisten.... D a s Ergriffenwerden v o m pneuma, d.h. der neuen geistigen Wirklichkeit, bedeutet also eine neue Erkenntnis, die eine persönliche Entscheidung einschließt." 8 8

Diese Neubewertung der Wirklichkeit als Manifestation der Liebe und nicht des Zornes Gottes hat ihren Grund nach Eiert darin, daß der Bericht von der Person und dem Werk Christi im Vollzug der Verkündigung als Adhortativ - .Laßt euch versöhnen mit Gott' - verkündigt und ergriffen wird. Der Bericht wird so zum Evangelium, durch das die Versöhnung Gottes mit

87 88

Dazu oben S. 77f, 82ff, 93ffund unten S. 116ff. Lehre § 28, 44; .pneuma' im Original griech.

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dem Menschen vermittelt und im Glauben ergriffen wird. Dieses Ergreifen der Versöhnungsbotschaft wird bereits in § 28 als die Perspektive gedeutet, unter der Christus und sein "Werk als Manifestation Gottes und das Wort von ihm als Wort Gottes erkannt wird (Lehre 43). Der § 29 hat nun die Aufgabe, zu zeigen, daß dieses subjektive Phänomen der Erkenntnis Christi und des Wortes von ihm als Manifestation Gottes der menschlichen Subjektivität gegenüber .transzendente' Ursachen hat, und in diesem Sinne greift Eiert zur Kennzeichnung der in § 28 skizzierten Züge des Geistes auf den Begriff der ,Transzendentalität' zurück: Der Geist sei die Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis Christi in dem spezifischen Sinne, daß - ebenso wie durch die Verstandeskategorien die Beziehung von .Anschauungen' auf einen Gegenstand erst möglich sei - durch „das Pneuma und die mit ihm gegebene Entscheidung die Beziehung der Vorstellungen von Christus und seinem Werk auf Gott" ermöglicht werde: „Das Pneuma verhält sich zur Erfahrung von Christus und seinem Werk wie die Kategorien des natürlichen Denkens zu den Anschauungen. Wie die Kategorien des Verstandes erst die Beziehung der Anschauung auf einen Gegenstand, also Erkenntnis möglich machen, so das Pneuma und die mit ihm gegebene Entscheidung die Beziehung der Vorstellungen von Christus und seinem Werk auf Gott. Das Pneuma ist die Voraussetzung des Bekenntnisses: Jesus ist der Herr ... Im Verhältnis zur Erkenntnis des versöhnten Menschen als solchen trägt es also transzendentalen Charakter." 89

Die im Pneuma gegebene .Entscheidung' ist dabei die Entscheidung gegenüber dem .Adhortativ' (Lehre 44, § 28) des Evangeliums, die auf der Basis des Christusgeschehens sich der Versöhnung Gottes öffnet und zum Frieden mit Gott findet (Lehre §§ 26, 28 und 30); der Bezug zur Tradition einer Erfahrungstheologie ist immer noch präsent, wenn Eiert diese unter der Wirksamkeit des Pneuma sich vollziehende Entscheidung folgendermassen umschreibt: „Die Entscheidung fällt in Herz und Gewissen, sofern wir unter diesem das Bewußtsein der Verantwortlichkeit vor Gott, unter jenem das Organ gefühlsbetonter Entscheidungen verstehen." (Lehre 44, § 28)

In dieser .Entscheidung', mit der das Christusgeschehen als Manifestation des Versöhnungswillens Gottes und so als Wort Gottes erfaßt wird, gründet wie angedeutet - eine neue Sicht der Wirklichkeit - „... in der Gott seine Gewalt benutzt, nicht um uns zu knechten, sondern zu erlösen ..." (ebd.) — impliziert, in der „unsere gesamte Umwelt einen neuen Sinn erhalten" hat, „der zu unserer alten Weltauffassung im Gegensatz steht." (ebd.). Es ist auch hier - im Verhältnis der beiden Paragraphen - schon die in der Analyse des Abschnittes zu ,Dogmatik und Dogma' skizzierte Beziehung zwischen einer Selbst- und Weltbeurteilung als im Urteil Gottes neubestimmte einerseits (§

89

Lehre § 29 (45).

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28) und der in der Entscheidung gegenüber der Versöhnung mitgesetzten Erkenntnis Christi als Gott andererseits (§ 29) präsent90. Der Heilsglaube und damit der dem Menschen geschenkte Geist ist damit die zunächst subjektive Bedingung der Möglichkeit der Beziehung der Person und des Werkes Christi auf Gott, und diese Vermittlung des natürlicherweise an der Person und dem Werk Christi Wahrgenommenen auf den darin wirkenden Gott hin parallelisiert Eiert der Vermittlung des Mannigfaltigen des sinnlich Gegebenen auf die Einheit eines Gegenstandes und einer Welt hin, die nach Kant durch die Kategorien erfolgt. Der Geist ist diejenige Instanz, durch die das Erkennen des .versöhnten Menschen' einen anderen Charakter erhält, dem gemäß der versöhnte Mensch eben nicht nur eine natürliche Entität, sondern Gott in Christus erfaßt. Es handelt sich - so ist gerade nach den zitierten Bezügen auf das ,Herz', das ,Organ gefühlsbetonter Entscheidung' (s. Zitat oben) anzunehmen — um dasselbe Phänomen, das Eiert 1912 unter dem Begriff der vortheoretischen Erfahrung beschrieben hatte, in der als unvertretbar individueller sich eine Transzendenz vermittelt 91 . Es geht, wenn diese Deutung korrekt ist, um eine Beschreibung des Phänomens, in dem Eiert in seinem Aufsatz zur Religionsphilosophie von 1912 die Bürgschaft für die .Wirklichkeit' der Inhalte des christlichen Glaubens gesehen hatte, nämlich eine Erfahrung einer .Transzendenz' - dort vermittelt in einer Neusetzung des Ich, die als Neusetzung des Ich nur von einem anderen des Ich bewirkt sein kann, hier vermittelt in einer im Wort von Christus begegnenden Neubestimmung des Menschen zur Versöhnung92. Ganz dem inhaltlichen Anliegen dieses Aufsatzes zur Religionsphilosophie entsprechend und in Aufnahme des Programms der Abfolge der Paragraphen 28-30 in der ersten Auflage des Abrisses ergänzt Eiert diesen Gedanken durch den Verweis auf die Bedingtheit dieses Glaubens durch das Wort und in diesem Sinne auf die ,Transzendenz' des Geistes gegenüber den Medien, durch die er Glauben weckt: „Sofern es aber selbst wieder nur durch die Vermittlung des Wortes, also durch Erfahrung an uns herankommt..., trägt es transzendenten Charakter. D e n n es offenbart eine Wirklichkeit, die zu der natürlichen im Gegensatz steht. Z u dieser natürlichen Wirklichkeit gehören sowohl die Boten, die uns das Wort verkündigen, wie die Worte, mit denen sie es tun, sofern diese nach Analogie aller sonstigen Erfahrung unser Ohr berühren. Die Worte Christi bilden also ein unentbehrliches Hilfsmittel des Pneuma, dürfen aber nicht mit ihm selbst verwechselt werden." (Lehre § 29, 4 5 f )

So problematisch die Zuordnung von Wort und Geist in dieser Passage ist93: Es geht Eiert - wie in seiner Kritik an der Mystik Böhmes - darum, 90

S.o. S. 93-102. Vgl. oben S. 78; 104f (Grenzen). 92 S.o. S. 52; 104f. 93 An dieser Stelle ist sehr deutlich zu spüren, daß Eiert den Verweis auf die Heilsmedien und die jedenfalls nach lutherischem Verständnis konstitutive Verbindung von Medium und Geistwir"

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festzuhalten, daß sich der Geist durch äußere Medien, nicht unmittelbar der menschlichen Subjektivität vermittelt 94 . Es eröffnet sich in dieser Erfahrung darauf will Eiert hinaus - eine Realität, die zunächst als durch äußere Medien vermittelte wie diese Medien der Subjektivität gegenüber transzendent' ist, sodann aber als auch gegen diese Medien unterschiedene .transzendent' (im Sinne von .übernatürlich') ist95. Der entscheidende Punkt ist der, daß nach Eiert der Geist als Bedingung der Möglichkeit des im Glauben - im Modus der Aneignung bzw. (im Sinne des Passus ,Dogma und Dogmatik:) der Selbstbeurteilung - erfolgenden Erfassens der Gottheit Jesu vom Subjekt als anderes desselben zu unterscheiden ist, das im Blick auf die Medien, durch die er wirkt, als gegenständliches Gegenüber zu fassen ist. Es geht Eiert gerade um eine Blickwendung, nach der der Geist als Ursache des menschlichen Glaubens und des die natürliche Erkenntnis übersteigenden Erfassens Jesu von Nazareth als Manifestation Gottes so identifiziert wird, daß er nicht die in irgendeiner Weise mit dem Subjekt identische, sondern von ihr als anderes derselben unterschiedene Bedingung der Möglichkeit jenes Erfassens ist. In nuce handelt es sich hier um eben die Grundbewegung, die auch v. Frank in der Anlage seines .System der Wahrheit' vollzog, daß nämlich die Bestimmtheit der Subjektivität, die Erfahrung, in der sie der Transzendenz ansichtig wird, der Glaube also begründet wird in dem in ihr und nur in ihr erschlossenen anderen ihrer selbst, indem zunächst der Geist in den Termini einer Transzendentalphilosophie als Bedingung der Möglichkeit des Erfassens, sodann aber, die transzendentalphilosophische Terminologie durchbrechend, als gegenständlich anderes als das Subjekt bestimmt wird: Als Bedingung der Möglichkeit einer Verfaßtheit der Subjektivität ist der Geist vermittelt durch ein anderes - erfahrbare Medien — und als gegen diese Unterschiedener .transzendent'.

ken erst in der zweiten Auflage eingefügt hat und lediglich additiv vermittelt hat (vgl. den sachlich entsprechenden § 29 der ersten Auflage, der ohne jeden Hinweis auf das Wort mit der ausschließlichen Bezugnahme auf das Wirken des Geistes in der und durch die Gemeinde auskommt, mit dem § 29, Abs. 2 der zweiten Auflage). Diese additive Vermittlung reicht an die unter der Voraussetzung einer Art,Idiomenkommunikation' Geist und Wort identifizierenden Aussagen Luthers nicht heran und kann so auch die Exklusivität des Wirkens des Geistes durch Wort und Sakrament zwar mit Luther behaupten, nicht aber — auch gegenüber der in der ersten Auflage ursprünglich vertretenen diffusen Wirksamkeit des Geistes durch die Gemeinde - verständlich machen. Entsprechend liegt das Hauptgewicht der Aussage auch in der zweiten Auflage nicht auf der vergewissernden Betonung der Einheit, sondern auf der Unterscheidung von Geist und Wort. 94

S.o. S. 64f, vgl. 162f. Der Ubergang ist auch hier nicht ganz klar: Zunächst begründet Eiert die .Transzendenz' des Pneuma darauf, daß dieser sich durch natürliche Medien vermittle (vgl.: „Sofern es ..., trägt es transzendenten Charakter."). Die Fortsetzung gibt dem Begriff .transzendent' nun einen anderen Sinn und eine andere Begründung: .Transzendent' sei der Geist insofern, als er gegen seine Medien unterschieden und im Unterschied zu ihnen .übernatürlich' sei. 95

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3.2.2. Die Korrelation von Glaube und .Glaubensgegenstand'. Zum einen zeigt sich hier der Ansatzpunkt der Unterscheidung von ,Evangelium' und ,Dogma' in der Zuordnung zum Glauben: Nur im Glauben — im Ergriffenwerden durch die Verkündigung - wird das Evangelium als Medium einer Transzendenz erfaßt. Was die im Dogma formulierte Identität Christi mit Gott besagt - die,Wahrheit' derselben - hat nur der vom Geist in der Verkündigung gewirkte Glaube, ohne den die Formulierung des Dogma unverstanden bleibt. Es zeigt sich hier aber bereits in herausragender Weise eben das Grundproblem, auf das ich im Laufe der folgenden Darstellung immer wieder hinweisen werde: Eiert sieht die Wahrheit der Aussage, daß Christus selbst Gott sei und sein Werk die Manifestation göttlichen Wirkens, fundiert im Glauben, der den Charakter einer Bedingung der Möglichkeit dieser Erkenntnis hat. Dieser Glaube selbst wird aber in dem Gegenstand begründet, den er selbst allererst in seiner theologisch relevanten Verfaßtheit erschließt. Die Beschreibung des Glaubens als begründet im Wirken Gottes durch das Wort Gottes erfolgt selbst unter der Bedingung dieses Glaubens, der im Akt der Entsprechung gegenüber dem Anhortativ der Versöhnung allein dieses Wort allererst als Wort Gottes zu identifizieren weiß. Damit wird das unter Aufnahme des erkenntnistheoretischen Terminus der ,Transzendentalität' beschriebene konstitutive Verhältnis des Subjektes für die ihm erscheinende Wirklichkeit begründet in einem gegenläufigen Verhältnis der Einwirkung des .transzendenten' Gegenstandes auf das Subjekt, wobei aber dieser Gegenstand als Ursache jener Wirkung nur im Glauben selbst erkennbar ist. Diese Ausführungen sind nur darum nicht von vornherein in schlechtem Sinne zirkulär, weil Eiert die Darstellung des Glaubensgegenstandes und seine Erfassung als Grund des Glaubensaktes als den sekundären Schritt einer Explikation des unverfügbaren, notwendig individuellen, nicht auf der Initiative des Subjektes beruhenden Erlebnisses faßt, in dem durch natürliche Gegebenheiten (das Wort; die Geschichtlichkeit des Werkes und der Person Christi) hindurch Gottes Aktivität erfahren wird und Glaube entsteht; so schreibt Eiert in der ersten Auflage des Abrisses in dem in der Neuauflage ersetzten § 29: „Mit der Kunde von Christus wird es [sc. das Pneuma] durch Vermittlung einer langen geschichtlichen Reihe an uns herangebracht. ... Verhalten wir uns dabei [sc. bei der .Sendung des Geistes'] rezeptiv, so ist es nicht unser Erzeugnis, sondern es erzeugt umgekehrt von seiner Seite aus in freier Spontaneität unser Wissen von Christus und ... unsern Glauben an ihn." (Lehre1 35f).

Es ist hier offenbar die den Menschen im Vollzug der Verkündigung auszeichnende Rezeptivität das Indiz für die Begründung des Glaubensaktes im Gegenstand desselben, und es ist der Glaubensakt selbst, der dazu nötigt, ihn nicht nur als Bedingung der Möglichkeit der Erfassung der Medien göttlichen Handelns als Medien göttlichen Handelns zu deuten, sondern selbst als begründet in diesen Medien zu fassen.

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Jedenfalls aber hat auf diese Weise das Dogma - die explizite Entfaltung des Gegenstandes des Glaubens - seinen Grund in der Erfassung der Medien des göttlichen Wirkens als göttlicher durch den Glauben in einer unvertretbaren Erfahrung, in der sich eine ,Transzendenz' erschließt; dieser Glaube seinerseits erweist sich als so verfaßt, daß er Produkt der Wirksamkeit dieser Medien bzw. der Transzendenz ist. 3.3. Vorgriffe auf die Dogmatik (1940). 3.3.1. Dogma undKerygma. 3.3.1.1. In anderer Hinsicht greift die 1926 zum Verhältnis von Dogma und Glaube vertretene Position voraus auf die Dogmatik Elerts, und zwar auf die im Rahmen der Frage nach der Aufgabe der Dogmatik erfolgende Verhältnisbestimmung von Dogma und Kerygma. Als Aufgabe der Dogmatik formuliert Eiert die kritische Prüfung und Begründung des Dogmas der Kirche; dieses Dogma ist im Rahmen der Dogmatik der Verkündigung (dem ,Kerygma') als Formulierung von deren „Sollgehalt" zugeordnet; dieser „Sollgehalt" ist das Minimum des Sachgehaltes, bezüglich dessen alle öffentliche kirchliche Verkündigung übereinzustimmen hat.96 Dabei ist vorausgesetzt, daß die kirchliche Verkündigung - das Kerygma eine legitime Mannigfaltigkeit aufweist und sich nicht in der Wiederholung einer immer gleichen Formel erschöpft. 97 Ihre Norm allerdings hat sie am apostolischen Zeugnis, das seinerseits ebenfalls eine Vielfalt aufweist; dessen Einheit wiederum ist ,das Evangelium', das zwei Momente in sich begreift, nämlich zum einen den Hinweis auf ein geschichtliches Ereignis: die Person und das Werk Christi als „Wort Gottes" (Demonstrativ); zum anderen kommt diese Person in der Verkündigung nicht nur zur Darstellung, sondern wird als den Hörer betreffendes und seine Existenz wandelndes Wort Gottes zugeeignet (Adhortativ).98 Jede Verkündigung, durch die der Hörer in die Entscheidung vor dem Anspruch dieses Wortes gestellt ist, ist nach Eiert selbst Wort Gottes wie das der Apostel: „Jede echte Verkündigung des Evangeliums, also jedes Zeugnis, welches das persönliche Wort Gottes so zum Sprechen bringt, daß der Hörer darin die Paraklese des Parakleten vernimmt, ist ,Wort Gottes', gleichviel ob sie durch den Mund der Apostel, der Bischöfe oder anderer Christen erfolgt."99

Also: Der kirchlichen Verkündigung ist die in der Schrift greifbare Verkündigung der Apostel vorgegeben; diese Verkündigung ist wiederum von äußerster Mannigfaltigkeit, die ihre Einheit wieder darin hat, daß sie auf den Sachgehalt des Evangeliums, Jesus Christus hinweist; diesen Sachgehalt aber

96 97 98 95

Glaube § 3 ; Schrift 5-13. Glaube 42fu.ö.; Schrift 9f. Zur Terminologie (Demonstrativ und Adhortativ) vgl. Glaube § § 1 8 und 19. Glaube 216, vgl. Schrift 6 - 8 .

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Evangelium und D o g m a

verkündigt sie in unterschiedlichen geschichtlichen Situationen als fur die ganze Welt gültiges Urteil Gottes100. Der Begriff des ,Keiygma' verbindet somit die apostolische und die kirchliche Verkündigung, die als Wort Gottes in jeweils unterschiedlicher Situation die Aufgabe der Vermittlung des Zentrums, nämlich des Evangeliums im Sinne der Applikation des Christusgeschehens hat. Eben sofern diese Vermittlung erfolgt, handelt es sich um das Wort Gottes. Denn in den beiden Momenten des Evangeliums ist nun ganz offensichtlich die mit dem Lutherdiktum im Rahmen des Abrisses verfolgte Intention reformuliert: „ut Dei oculis inspiciamus vitam nostram" - der Bezug des Christusgeschehens auf das je eigene Leben bzw. auf die je eigene Gegenwart. Eiert unterscheidet hier offensichtlich zwischen jenem Sachgehalt und der Applikation: „Indessen bringt der adhortative Gehalt der apostolischen Rede doch insofern zu dem Bericht noch etwas hinzu, als er der persönlichen Beziehung auf die Hörer ganz bestimmte Inhalte gibt. Er erklärt die Bedeutung des Geschehenen für die Hörer und Leser." (Glaube 149)

3.3.1.2. Das Dogma hat auch hier - wie im Passus ,Dogmatik und Dogma' der Kurzdogmatik von 1926 - offensichtlich die Aufgabe, die in der legitimen Vielfalt wesentliche Einheit der kirchlichen Lehre zu formulieren, was zunächst überraschend ist, denn diese Einheit müßte ja dann mit dem Evangelium gleichsam in Reinform identisch sein; das Dogma wäre dann die explizite Formulierung des demonstrativen und adhortativen Gehaltes des Christusgeschehens: „Die Kirche kann sich nicht als einen Verband verstehen, der über die ihm geltenden Normen frei verfugt. Ihre Existenz ist nur kirchliche Existenz, solange und soweit sie durch Christus selbst und durch das ihn bezeugende Evangelium gedeckt ist. Von dieser Autorität ist sie daher auch in ihrem Kerygma und folglich auch in der Bildung des Dogmas, das den Sachgehalt des Kerygmas auszusprechen hat, abhängig. Wenn das D o g m a seinen Sinn vollkommen erfüllt, so kann man vielmehr geradezu sagen, daß das D o g m a die Kirche garantiert, nicht umgekehrt. Vollkommen erfüllt es seinen Sinn dann, wenn es den Sollgehalt des Kerygmas, das heißt: den in aller Mannigfaltigkeit der neutestamentlichen Zeugen gleichen Sachgehalt des Evangeliums vollkommen ausspricht." (Glaube 45)

Der kirchlichen Verkündigung ist die apostolische Botschaft vorgeordnet; deren Verbindlichkeit stützt sich auf den 5mVÄiJcharakter derselben, den Umstand, daß das Evangelium Inhalte vermittelt, deren unmittelbare Ohrenund Augenzeugen die Apostel waren (Glaube 2 l 6 f ) ; damit wird in ihrer Verkündigung der Sachgehalt dieses Wortes Gottes, d.h. das Christusgeschehen, vermittelt.101 Dieser in der Verkündigung der Apostel unmittelbar präsente 100

Glaube 147 „gemeint sein"; ebd. 151: Geltung; Glaube 2l6f; vgl. bes. auch die Vorordnung der Evangelienberichte vor die apostolische Verkündigung: 358; vgl. die Abfolge „Demonstrativ-Adhortativ" in den §§ 18f: Der Adhortativ 101

Die Kontinuität des Denkens Elerts

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Sachgehalt des Evangeliums wird im Dogma als Lehrgehalt formuliert, näher als Lehrverpflichtung in dem Sinne, daß dieser Sachgehalt in aller legitimen, situationsbedingten Mannigfaltigkeit der kirchlichen Verkündigung stabil sein soll: „... es gibt eine Substanz, die in allen neutestamentlichen Zeugnissen die gleiche ist und die darum auch in aller Mannigfaltigkeit der kirchlichen Verkündigung stabil sein soll." (Glaube 61; Schrift 1 1 - 1 3 )

3.3.1.3. Das Dogma ist in der Elertschen Dogmatik also in einer anderen Hinsicht entfaltet als in der früheren Kurzdogmatik, nämlich nicht bzw. nicht nur als Grund der äußeren Kirchengemeinschaft, sondern in der Relation zur kirchlichen Verkündigung. Dieses Verhältnis wird - zusammengefaßt - so bestimmt, daß das Dogma den aller Verkündigung unverbrüchlich aufgegebenen Sachgehalt zu formulieren hat; dieser Sachgehalt ist zunächst das Christusgeschehen, das das Zentrum der apostolischen Verkündigung darstellt; dieses ist nun aber nicht als bloßes historisches Ereignis relevant, sondern eben als ein den Hörer betreffendes und für ihn in bestimmter Weise bedeutsames, seine Existenz wandelndes Geschehen (Adhortativ). Diesem Anspruch des Evangeliums auf Geltung für den Hörer entspricht nun der Glaube, der sich im Hören der Verkündigung dem darin ergehenden Urteil Gottes ausliefert, und der so in der auf Christus verweisenden apostolischen bzw. kirchlichen Verkündigung das Wort Gottes hört.102 Eiert beschreibt in seiner Dogmatik mit diesem Verhältnis zwischen Glaube und dem Wort Gottes 103 also eben das im „Abriß" thematisierte Verhältnis zwischen

des Evangeliums findet seinen Grund immer im Demonstrativ, d.h. in der Christusoffenbarung selbst (Glaube 147). 102 Vgl. Glaube 148; l4lf; 151; dazu 238 zur Exegese; vgl. ebd. 201; 157f. 103 Wort Gottes bezeichnet bei Eiert zunächst Christus selbst (Glaube 144f u. pss.), an dem die apostolische und kirchliche Verkündigung, die auf Christus hinweist, „Anteil" habe. Die Verhältnisbestimmung des Wortes Gottes im christologischen und des Wortes Gottes im homiletischen Sinne scheint dabei unzureichend geklärt: Vom Wort Gottes im christologischen Sinne gilt, daß es Wort Gert« heißt, „weil ,Gott in Christo war'"; Wort Gottes hingegen heiße*es, weil „sich Gott in dieser Person so an uns wendet, wie wenn ein Mensch den anderen anspricht." (ebd. 145). Im Falle der apostolischen und kirchlichen Verkündigung unterbleiben derartig direkte Identifikationen. Eiert spricht davon, daß der „Sachgehalt" der apostolischen und kirchlichen Verkündigung „in der Person Christi besteht" (ebd. 145, 147 u.ö., vgl. zu entsprechenden Formulierungen im Rahmen der Frage nach der Autorität der Schrift: ebd. 208, vgl. § 30), wobei aber undeutlich bleibt, was das nun genau heißt; einerseits scheint ein reines Hinweisverhältnis zwischen dem Christusgeschehen und der menschlichen Rede zu bestehen („Weil das apostolische Zeugnis wie die Predigt der Kirche auf ihn hinweisen, der das Wort Gottes in Person ist, deshalb haben sie selbst Anteil an dem Charakter des Wortes Gottes." [ebd. 145, vgl. etwa auch 151] - was heißt das: Anteil haben am Charakter des Wortes Gottes?). Andererseits sei „die Kraft: des in dem Geschehen selbst [i.e. der Geschichte Christi] selbst erfolgenden Wortes Gottes und die Kraft der davon zeugenden Rede der Apostel die gleiche" (ebd.) - ohne daß deutlich wird, was genau Eiert mit dieser „Kraft" meint; vermutlich denkt Eiert an die vom Evangelium ausgehende Wirkung der Neusetzung der Existenz (ebd. I 4 l f ) . Wieder an anderer Stelle (ebd. 216) ist der „Erfolg" der

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Evangelium und Dogma

dem Christusgeschehen und dem Glauben, der das in diesem Geschehen ergehende Urteil Gottes über den Menschen in einem persönlichen Akt übernimmt, und der gerade darin die Wahrheit des eigenen Lebens und die Wahrheit Christi bzw. Gottes erkennt.104 Das Dogma formuliert gegenständlichlehrhaft und für die Verkündigung verbindlich eben die Botschaft von Christus als der Versöhnung mit Gott, dessen lebendige Erfahrung die kirchliche Verkündigung des Evangeliums vermittelt und der Glaube dadurch erfährt. Das Dogma formuliert dabei nicht nur die dem Glaubenden wie dem Nichtglaubenden nachvollziehbaren Inhalte - etwa die gegenständlichen Bestimmungen des historischen Lebens Jesu; vielmehr formuliert es eben dasjenige, was nur der Glaubende - der die Geltung des Wortes auf sich bezieht, sein Selbstverhältnis durch den Inhalt dieses Wortes vermittelt und in dieser Weise das Wort von Christus als Wort Gottes erfährt - an diesem Wort hat die Heilsbedeutung dieses Lebensvollzuges. Das Dogma formuliert gegenständlich das Kerygma bzw. seinen zentralen Inhalt so, wie ihn der Glaubende erfährt; oder - in der Terminologie der frühen religionspsychologischen Veröffentlichung: es formuliert die Wahrheit, die der Glaubende als Wirklichkeit erfährt.105 3.3.2. Die Methode der Dogmatik. Das „Getroffensein" von der Verkündigung des Evangeliums ist nun die entscheidende Voraussetzung für die dogmatische Arbeit, und zwar in dem Sinne, daß die inhaltlichen Aussagen des Kerygmas sich nur unter der Voraussetzung dieses Getroffenseins erschließen.106 Paraklese das Kriterium dafür, d a ß die V e r k ü n d i g u n g selbst W o r t Gottes ist ( 2 1 6 , vgl. Zitat oben S. 113). Der Begriff des Wortes Gottes bleibt unterbestimmt. 104 V g l . bes. die Korrelation zwischen der O f f e n b a r u n g Gottes in Gesetz u n d Evangelium u n d der O f f e n b a r u n g des Menschen als Sünder u n d Begnadigter: § § 2 4 f ; hier w i r d g e n a u der sachliche Gehalt des „ut Dei oculis inspiciamus vitam nostram" entfaltet: d a ß die O f f e n b a r u n g Gottes das Offenbarwerden des M e n s c h e n zur Kehrseite (Glaube 187) hat. M e r k w ü r d i g e r w e i s e entfaltet Eiert in § 2 5 allerdings das Offenbarwerden des M e n s c h e n ausschließlich unter der Rücksicht der Zornesoffenbarung Gottes i m Gesetz, nicht einmal andeutungsweise aber das entsprechende Selbstverständnis des M e n s c h e n unter d e m Vorzeichen des Evangeliums; vgl. dazu den Verweis auf die Dialektik auch des Offenbarwerdens des M e n s c h e n : ebd. 170! Grenzen 193ff, dazu oben 1.1. Als Voraussetzung der Schriftauslegung: Glaube 2 3 8 ; als „Bedingung des theologischen Denkens": 2 4 4 (dazu genauer unten D, 3., S. 2 5 6 f f ) ; vgl. 2 0 1 sowie 3 6 3 - 3 6 5 u n d 3 6 9 - 3 7 1 : die „Entscheidung" angesichts des Anspruches Jesu auf die Gottessohnschaft als Voraussetzung der Christologie ist identisch m i t der Ü b e r n a h m e der Geltung des Evangeliums, dazu bes. 3 7 1 u n d 152ff (genauer dazu ebenfalls unten D , S. 2 5 6 f f ) sowie 1 4 7 f u n d § 1 8 , b e s . 1 4 1 - 1 4 4 . Eiert unterscheidet zwar zwischen d e m Demonstrativ des Evangeliums, d e m er die Lehre von der Person Jesu zuordnet ( 3 5 8 ) u n d bezüglich dessen die A n e r k e n n u n g des Anspruches Jesu d u r c h den M e n s c h e n „gefordert" ist ( l 4 3 f f ) , u n d d e m Adhortativ, d e m das W e r k Christi zugeordnet ist ( 3 5 8 ) u n d bezüglich dessen die A n e r k e n n u n g der Geltung des in diesem W e r k vollzogenen Urteils Gottes über den M e n s c h e n gefordert ist ( l 4 7 f f ) ; das Evangelium selbst aber als „Wort von der Versöhn u n g " „ist beides zugleich. Es bezeugt den Versöhner, der die Versöhnung nicht verkündigt oder als gelegentliches W e r k vollbringt, sondern der die Versöhnung ist." ( 3 5 8 , vgl. 4 0 5 u n d 144). Entsprechend ist auch die „Anerkennung" des Anspruches Jesu unmittelbar mit der A n e r k e n n u n g 105

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D i e K o n t i n u i t ä t des D e n k e n s Elerts

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Eiert bestimmt - wie gesagt - als Aufgabe der D o g m a t i k die Prüfung des D o g m a s im Sinne des Sollgehaltes der Verkündigung; entsprechend bestimmt Eiert als Ansatzpunkt der damit der Dogmatik aufgegebenen kritischen Frage die Selbstunterstellung des Dogmatikers unter diese Verkündigung, die Anerkennung des dort Gehörten und die Rückfrage nach dessen Grund: „ D i e D o g m a t i k geht nicht v o n einer b e s t i m m t e n F o r m u l i e r u n g des kerygmatischen Sollgehaltes aus, sondern sie sucht ihn selbst zu entwickeln. Z u diesem Zweck m u ß sie das K e r y g m a selbst z u m R e d e n bringen, d.h. sie m u ß es sich gesagt sein lassen u n d , was sie dabei v e r n i m m t , als eigene S u b s t a n z in sich a u f n e h m e n . " 1 0 7

Der Einsatzpunkt für die dogmatische Arbeit ist also nicht das D o g m a selbst, sondern die Dogmatik rekonstruiert das D o g m a und seinen Geltungsanspruch aus dem Kerygma, und zwar unter der Voraussetzung, daß der Dogmatiker selbst durch das Kerygma getroffen ist 108 . Im Ausgang vom ,Getroffensein durch das Evangelium' in der Verkündigung soll somit der zentrale im gläubigen Hören des Evangeliums unmittelbar erfahrene Inhalt zur expliziten Formulierung gebracht werden und auf diese Weise das in der Kirche geltende D o g m a rekonstruiert bzw. verifiziert werden. Eiert vergleicht im folgenden die Aufgabe des Dogmatikers mit der des Juristen, der unter der Prämisse der Anerkennung der fraglosen Autorität des Gesetzgebers die Systematik des geltenden Rechtes untersuche und so anderen vernehmbar mache. D a s tertium comparationis zwischen beiden ist erkennbar die Anerkennung einer Autorität 1 0 9 . Die Grundfrage ist dabei die nach dem letzten Ursprung dieser Autorität: Als die das Kerygma selbst verkündigende Instanz verweise die Kirche angesichts der Frage nach dessen Autorisierung zunächst auf den Auftrag Christi und das im Kanon der Schrift

seiner Bedeutung für das menschliche Leben verbunden: als Anerkennung dessen, daß in seinem Werk das Urteil Gottes über das eigene Leben fällt: 4 2 I f f und Kontext, wo Eiert die Zwei-Naturen-Lehre zum Schlüssel der Entfaltung des Heilswerkes Christi macht. 107 Glaube 60. Eiert unterscheidet im Kontext zwei mögliche Verfahrensweisen der Dogmatik: zum einen den Ansatz bei bereits geltenden Dogmen, die auf ihre Entstehungsgeschichte und auf ihre Begründung hin befragt werden. Zum anderen eben die hier beschriebene und von ihm gewählte Methode (ebd. 58-60). 108 Glaube 58-60. 109 Ebd. 60f. Der Vergleich mit der Aufgabe des Dogmatikers mit der des Juristen, die Systematik des geltenden Rechtes auf der Basis der Anerkennung einer fraglosen Autorität, des staatlichen Gesetzgebers nämlich, zu entwickeln, setzt hier die Bestimmung der staatlichen Ordnung voraus, die Eiert in § 11 knapp umreißt, und die den Staat als diejenige Ordnung etabliert, die das „Chaos" der Beanspruchung durch zwischenmenschliche Ordnungen ihrerseits ordnet und den Menschen in das „Füreinandersein" zwingt, unter dem allein menschliches Existieren möglich ist. Diese Ordnung des Staates ist dabei ausdrücklich nicht auf die Beachtung höherer Werte („höchstes Gut", „ewiges Gesetz" etc., vgl. 103) verpflichtet, sondern lediglich daran orientiert, daß Ordnung sei - und eben im Verfolg dieses Anliegens ist sie gottunmittelbar (vgl. 103). Die Bindung des Juristen an den Willen des Gesetzgebers ist also die Bindung an die Quelle des Rechtes, von der her kein Appell an eine höhere Instanz möglich ist, und damit - im Modus der Verborgenheit - letztlich an Gott (103; 106).

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Evangelium und Dogma

vernehmbare apostolische Zeugnis, das seinerseits wieder zurückverweist auf Christus bzw. Gott selbst: „Und auch Christus und der neutestamentliche Kanon sind für sie nur Autorität, weil sie darin die Autorität Gottes vernimmt." (Glaube 61). In der dogmatischen Arbeit wird also dieser Zusammenhang, d.h. die im Getroffensein vom Evangelium unmittelbar gegebene Anerkennung der in der Verkündigung vernommenen Autorität Gottes, vorausgesetzt: „Aber die Verbindlichkeit dieses Sollens hängt weiter daran, daß es, weil es von Christus ausgeht, auch als ein Sollen von Gott her vernommen wird. Damit ist der letzte, der tiefste Punkt erreicht, an dem die Dogmatik einzusetzen hat, wenn sie in der Verfolgung des zweiten Weges [d.h. im Versuch, den Sollgehalt des Kerygma selbst zu entwickeln, vgl. zuletzt gebotenes Zitat] den Sollgehalt des Kerygmas von unten her, d.h. aus seinem tiefsten Grunde, entwickeln will." 110

Es ist sofort erkennbar, daß diese Anerkennung der Autorität Gottes in der Verkündigung eben den Zusammenhang der individuellen Erfahrung mit der Bestimmung der Verkündigung als Medium einer Tranzendenz wiedergibt, die bereits in der Schrift zur Religionspsychologie dargestellt wird. Dort war es ein unableitbares, individuelles Erlebnis, in dem über das natürlich Gegebene hinaus und durch dasselbe Gott erfahren wird.111 Dies wird hier für den Vollzug der Dogmatik vorausgesetzt. Die Bezeichnung des Ansatzes als Dogmatik ,νοη unten' legt zunächst Assoziationen an die auch von Eiert im Rahmen der Christologie rezipierte gängige Unterscheidung einer .Christologie von oben' von einer solchen ,νοη unten' nahe; dort allerdings bezeichnet die Wendung wie zumeist eine Christologie, die eben nicht von der Inkarnation und damit von der Voraussetzung des Dogmas der Zweinaturenlehre ausgeht, sondern diese vom Bild des .geschichtlichen Christus' her zu rekonstruieren unternimmt." 2 In der hier zugrundeliegenden Passage hingegen bezeichnet der Ansatz .von unten' zwar einerseits (wie in der Christologie) die Absage an einen Einsatz mit dem formulierten Dogma der Kirche und das Anliegen, das Recht dieses Dogmas erst durch die dogmatische Arbeit zu erweisen113; andererseits aber ist der Ausgangspunkt nicht etwas empirisch Gegebenes wie etwa der geschichtliche Jesus, sondern Eiert bezeichnet unter diesem Titel — wie zitiert — einen Einsatz mit der Voraussetzung der im Wort der Verkündigung bzw. im apostolischen

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Glaube 61. S.o. 1.1., S. 104-107. 112 Vgl. Glaube 365f; vgl. zum über Herrmann von Luther vermittelten Sprachgebrauch Ihmels': ders., Wahrheitsgewißheit 124ff, hier bes. 128f, dazu Herrmann, Verkehr 134ff, bes. 135-138. Schon Ihmels deutet auch im Rahmen der Christologie den Ansatz ,νοη unten' - im Gegensatz zu einem begründenden Ausweis beim .persönlichen Leben' Jesu (den er bei Herrmann erkennt) - als Ansatz bei der persönlichen Heilserfahrung (129) - was übrigens zu der Position Herrmanns, anders als Ihmels meint, keinen Gegensatz bildet; vgl. Herrmann, Verkehr 134f. 113 Glaube 58-60, vgl. unten Anm. 116. 111

Die Kontinuität des Denkens Elerts

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Wort vermittelten göttlichen Autorität. Warum Eiert nun ausgerechnet dies als ,Einsatz von unten' bezeichnen kann, wird nur verständlich von der entsprechenden Verwendung bei v. Frank her, der den Ausgangspunkt der Gewißheitslehre von der Erfahrung des Subjektes und den Ausgangspunkt der Wahrheitslehre von den in dieser Erfahrung erschlossenen transzendenten Faktoren der Erfahrung als Weg ,νοη unten' und ,νοη oben' einander zuordnete114. Der Weg ,νοη unten' ist auch bei Eiert der Einsatz bei der Erfahrung des Glaubenden115, die nun aber - das verbindet Eiert mit Ihmels und unterscheidet ihn von v. Frank - von vornherein nicht als eine zunächst nur subjektive Umwandlung, deren Ursachen in einem zweiten Schritt zu erfragen wären, sondern als das Innewerden und die Anerkennung der Autorität Gottes in der Verkündigung des Evangeliums gefaßt wird116.

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S. Slenczka, Studien Bd. 1, 103. Der oben zitierte Text (Glaube 61) ist ausgesprochen schwer verständlich; daß die gebotene Interpretation richtig ist, ergibt sich aus folgenden Überlegungen: Die Wendung „von unten her" scheint hier auf den ersten Blick anders verwendet zu sein als sonst in der Elertschen Dogmatik; im Rahmen der Christologie beispielsweise bezeichnet Eiert damit den Ansatz bei der Menschheit Christi im Gegensatz zu einem die Bestimmtheit der Person Christi aus einer spekulativen Gotteslehre ableitenden christologischen Ansatz (Glaube 355ff)· Der „tiefste Punkt", der im vorliegenden Paragraphen thematisiert wird und die Grundlage der Begründung des Sollgehaltes des Kerygma darstellen soll, scheint nun aber die den Sollgehalt des Kerygma verbürgende Autorität Gottes zu sein, so daß hier nun unter dem Titel „Weg von unten her" doch so etwas wie eine Ableitung dieses Sollgehaltes aus der Gotteslehre intendiert zu sein scheint. - Eine solche Interpretation der Passage legt sich vom Text her nahe: .Aber die Verbindlichkeit des Sollens hängt weiter daran, daß es, weil es von Christus ausgeht, auch als ein Sollen von Gott her vernommen wird. Damit ist der letzte, der tiefste Punkt erreicht, an dem die Dogmatik einzusetzen hat, wenn sie in der Verfolgung des zweiten Weges den Sollgehalt des Kerygmas von unten her, d.h. aus seinem tiefsten Grunde entwickeln will. Hier und nur hier kann der zureichende Grund fiir den Sollgehalt des Kerygmas, also für das Dogma der Kirche gesucht und gefunden werden." (Glaube 61) Liest man die Sätze unter der Prämisse, daß der „tiefste Grund", von dem her das Dogma seine Begründung findet, Gott selbst sei, so ergibt sich ein wenig einsichtiges Ableitungsverfahren aller verbindlichen Autorität aus der wie immer zugänglichen Autorität Gottes, das sich abgesehen von allen Fragen danach, wie sich aus einer schieren Behauptung je eine Begründung ergeben sollte, zudem mit der späteren Behauptung Elerts stößt, der Einsatz der Gotteslehre sei selbst wieder die Christologie (Glaube 249 u.ff.) bzw. der eben referierten Behauptung, eine Christologie sei gerade nicht im Ausgang von einer Gotteslehre zu begründen — wie sollte dann die Dogmatik zur Begründung des Sollgehaltes des Kerygma mit der auch noch die Autorität Christi begründenden Gotteslehre einsetzen? - Es ist ganz entscheidend fiir das Verständnis der Passage, daß nicht Gott, sondern der Umstand, daß die Kirche die Autorität Christi als Autorität Gottes vernimmt, der Einsatzpunkt der kritischen Prüfung des Dogmas ist. Nicht eine wie immer begründete materiale Gotteslehre, sondern das Getroffensein durch das Evangelium in der Weise, daß in ihm bzw. in der von ihm bezeugten Person Christi Gott selbst vernommen wird, ist der Ausgangspunkt des dogmatischen Verfahrens. Eiert rekurriert damit auf eben dieses Getroffensein durch das Kerygma, und eben die Entfaltung des Kerygma unter dieser Prämisse, daß im Evangelium von Christus Gott selbst spricht, ist der Weg der Begründung des Dogma. In dieser Weise ist die Wendung „von unten her" ebenso verwendet wie im Kontext der Christologie. 115

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Genaugenommen müßte man sagen, daß Eiert hier zwei unterschiedliche Bedeutungen der Antithese ,νοη oben - von unten' miteinander vermischt: die in den Bereich der Christologie gehörige Antithese eines Einsatzes beim Dogma vs. einen Einsatz bei der historischen Erschei-

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Evangelium und Dogma

Die für sich genommen ausgesprochen schwer verständliche Passage über das .Verfahren der Dogmatik' wird - auf dem Hintergrund der hier referierten Veröffentlichungen Elerts und damit auf dem Hintergrund eines im Sinne der Erlanger Schule erfahrungstheologischen Ansatzes gelesen - durchsichtig: Es geht Eiert darum, als Aufgabe der Dogmatik die beständige Rückbindung der kirchlichen Lehre - d.h. des lehrhaften Ausdrucks des im Glauben Erfahrenen - an die Glaubenserfahrung selbst zu leisten und das Recht des Dogma aus der Glaubenserfahrung und aus dem in ihr Erschlossenen heraus auszuweisen. Die Notwendigkeit dieser Operation hatte Eiert auch in seinem Aufsatz zum .Erstarrungsgesetz des Protestantismus' herausgestellt. 3.3.3. Das .Erstarrungsgesetz des Protestantismus'. 3.3.3.1. In dem unter diesem Titel 1925 erschienenen Aufsatz hatte Eiert die Phasen der Erstarrung der Aufbruchsbewegungen im Laufe der Kirchengeschichte nachgezeichnet, in denen ein regelmässiger Ablauf von einer die alten Formen durchbrechenden, neu erfahrenen Gotteswirkung hin zur Verkirchlichung und zur Ausbildung von lehrhaften Ausdrucksformen und Riten zu beobachten sei.117 Eiert betrachtet diese .Erstarrungs'-Bewegung einerseits als den legitimen Vorgang, daß der Geist sich Ausdrucksformen in geschichtlichen Gestaltungen verschafft (Dogma, Ritus, Kirchenverfassung).118 Andererseits ist mit dieser Veräußerlichung auch eine Differenz zwischen der unmittelbaren Erfahrung des Wirkens des Geistes und diesen Ausdrucksformen gesetzt, die sich eben von der Erfahrung des Geistes und damit vom Glauben ablösen können bzw. als Ausdrucksformen nicht mehr erkennbar werden.119 Eiert zielt nun in seinem Aufsatz auf die These ab, daß es - sofern die gewachsenen Formen ursprünglich Ausdrucksformen des Geistes sind - auch möglich sein müsse, die Formen als Formen des Geistes zu erleben: „Ist es richtig, daß das Erstarrungsgesetz des Protestantismus nach seiner positiven Seite nichts weiter ist als das Gestaltungsgesetz des Geistes, d.h. der Beweis dafür, daß

nung Jesu, und die Franksche Unterscheidung eines Einsatzes mit der christlichen Erfahrung gegen einen Einsatz mit den Faktoren dieser Erfahrung. Für Eiert ist das ,νοη oben' der Einsatz mit dem Dogma (christologische Antithese), das ,νοη unten' der Einsatz mit der Erfahrung, der gleichzeitig - gegen Frank - ein Einsatz mit der in der Verkündigung erfahrenen göttlichen Autorität ist. 117 Erstarrungsgesetz 900-905, vgl. ff. 118 AaO. 905-907. 119 Die Frage nach der Herkunft der immer wiederkehrenden Erweckungsbewegungen beantwortet Eiert folgendermaßen: „Sie rührt daher, daß die erzeugten kirchlichen Formen rein für sich genommen nicht Geist und nicht Kirche sind. Sie sind nur Ausdrucksmittel, eben als Mittel wandelbar und vielleicht in einer neuen geschichtlichen Situation schlechthin unbrauchbar. Haben sie ihre Eindrucksfähigkeit restlos eingebüßt, so können sie auch nicht mehr als Ausdrucksmittel gelten." (Erstarrungsgesetz 907; kursiv im Original vermutlich gesperrt, als Sperrung allerdings nicht ganz eindeutig erkennbar).

Die Kontinuität des Denkens Elerts

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der Geist gestaltend in die Welt hineinwirkt, daß er sich innerweltliche Formen schafft, so muß es auch möglich sein, die Lebendigkeit des Geistes in diesen Formen zu erhalten und zu erleben, die er selbst geschaffen hat."120 Ist die bisherige Deutung der Ausführungen zum Verfahren der Dogmatik richtig, dann ist eben der Vorgang der Vermittlung zwischen der Erfahrung der göttlichen Autorität unter der Verkündigung des Evangeliums und deren Anerkennung durch den Dogmatiker einerseits und der Prüfung des Dogmas - als N o r m der Verkündigung - auf der anderen Seite identisch mit dem Unternehmen, nachzuweisen, daß das Dogma Ausdruck einer Erfahrung des Geistes ist. Der Dogmatiker vollzieht gleichsam den Weg vom Hören der Verkündigung, in der der Glaube geweckt wird, zum Dogma als Ausdruck dieses Glaubens und als geschichtlichem Ausdruck des Geistes nach, der sich in der Dogmenbildung vollzogen hat. Und in diesem Sinne hat die Dogmatik dem kirchlichen Dogma und damit auch ihrer Verkündigung gegenüber eine kritische Funktion, und in genau diesem Sinne ist der Wahrheitsbeweis für die Inhalte der Dogmatik nicht ihre eigene Aufgabe, sondern liegt ihr in Gestalt der glaubenwirkenden Kraft der Verkündigung selbst voraus. 3.3.3.2. Dieser Aufsatz bietet die Grundformel, unter der sich die bisher referierten Passagen ordnen lassen: Der Glaube entsteht unter der Verkündigung des Evangeliums und stellt eine unmittelbare, erlebnishafte Erfahrung Gottes durch das Medium der Verkündigung des Evangeliums von Christus dar. In je unterschiedlicher Terminologie unterscheidet Eiert von dieser Grunderfahrung des Evangeliums die Explikation und Formulierung dieser Erfahrung, die den Inhalt des Wortes so, wie er dem Glauben erscheint, zur Sprache bringt. Der Glaube ist - in der Terminologie der zweiten Auflage des Abrisses' — die Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis des Wortes als Gotteswort und Christi als Gottes; der Glaube ist aber andererseits selbst durch das Wort und seinen Inhalt geweckt und so extern begründet. Das Dogma entfaltet den Sachgehalt des Evangeliums, d.h. dasjenige, was der Glaube im Evangelium unmittelbar hat. Das Dogma bringt dabei die wechselseitige Verwiesenheit von Glaube und Christusgeschehen zur Sprache, deren Zentrum darin liegt, daß der Glaube in den späteren Veröffentlichungen - spätestens seit der zweiten Auflage des Abrisses - nicht mehr nur als Intentionalität im Sinne einer Erfahrung einer Transzendenz in einem Ereignis (Verkündigung etc.) bestimmt wird, sondern als ein Selbstverhältnis (Selbstbeurteilung), das sich in der Erfahrung Christi vermittelt und gegen ein vorangehendes Selbstverhältnis durchsetzt (,das eigene Leben in der in Christus gesetzten Perspektive mit den Augen Gottes ansehen'). Dieses Selbstverhältnis ist der Modus, in dem das Wort bzw. Christus als Wort Gottes erfahren wird.

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Ebd. 909; kursiv im Original gesperrt.

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Evangelium und Dogma

Das Dogma ist die explizite, sich von dieser Unmittelbarkeit des Vollzuges ablösende Formulierung dieses wechselseitigen Verhältnisses, in dem das Christusgeschehen in der Perspektive des Glaubens zur Sprache kommt. Die Aufgabe der Dogmatik - so erschließt sich die angezogene Passage aus § 5 vor diesem Hintergrund - besteht darin, in der kritischen Prüfung des Dogmas der Kirche von der Erfahrung des Evangeliums im Glauben her die Vermittlung zu leisten zwischen diesen - der Gefahr der Veräußerlichung und Vergegenständlichung ausgesetzten - Formulierungen des Dogmas und der Erfahrung des Glaubens in der Verkündigung, auf die hin sie verifizierbar sind. 3.4. Erlanger Theologie. Diese Position entspricht der für Frank und Ihmels nachgewiesenen Vergewisserungsmethode121; im Grunde, so kann man formulieren, ist in der von Eiert an den Ausgangspunkt der Dogmatik gesetzten .kritischen Frage nach dem Grund des Dogmas' die Grundfrage der vorausgehenden Erlanger Tradition nach der Gewißheit der gegenständlichen Inhalte des Glaubens präsent, die bei Frank durch den Rückgang auf die Subjektivität der Erfahrung von Wiedergeburt und Bekehrung, und die bei Ihmels - dem sich Eiert in dieser Frage explizit anschließt122 - mit dem Hinweis auf die Unmittelbarkeit der Wirksamkeit des Wortes beantwortet wird. Es ist die Erlanger Tradition des Rückganges von der lehrhaften Formulierung der Inhalte des Glaubens auf die Erfahrung des Glaubens unter der Wirkung der Verkündigung, die hinter dem hier betrachteten Strang des Denkens Elerts steht. Die systematische Anknüpfung Elerts gerade an die Modifikation der Gewißheitsfrage bei Ihmels läßt sich nun noch weitergehend belegen, wenn man sich verdeutlicht, wo für Eiert der Ort der Begegnung mit Christus und damit der Vergewisserung des gegenständlich formulierten Glaubensinhaltes liegt. 3.5. Der Ort der Begegnung mit Christus. Die Aufgabe des Dogmatikers ist die kritische Prüfung der Verkündigung und der Lehre der Kirche von der Erfahrung der in Anspruch genommenen Autorität her. Die Erfüllung der Aufgabe des Dogmatikers hängt aber daran, daß er selbst die Frage, die sich nach Eiert in der Begegnung mit Christus unabweislich stellt - die Frage nämlich nach der Anerkennung des „Gott war in Christus" als Moment des „Wortes von der Versöhnung"123 — bereits beantwortet hat. Die Aufgabe des Dogmatikers vollzieht sich im Ausgang vom Getroffensein durch das Evangelium.124 Die Aufgabe der Dogmatik ist in dem beschriebenen Sinne die kritische Analyse des kirchlichen Kerygma bzw. der Festschreibungen seines Sollgehaltes im kirchlichen Dogma im Blick auf die Frage, ob dieses das Kerygma nor-

121 122 123 124

Vgl. Slenczka, Studien Bd. 1, S. 82ff; 93ff; 224f; 248ff. Eiert, Grenzen 248, vgl. Prolegomena 102f. Vgl. Glaube 370f; 364-367. Ebd. § 20, bes. 155f und § 83, bes. 583f.

Die Kontinuität des Denkens Elerts

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mierende D o g m a den Sachgehalt formuliert, unter dessen Verkündigung das Ereignis zustandekommt, v o n d e m der Dogmatiker h e r k o m m t : „Der letzte Grund ... der Kirche ... ist die Tatsache der Person Christi. Aber sie ist es nur, wenn oder weil wir darin von Gott selbst getroffen werden. Wenn oder weil! Der Unterschied zwischen diesem Wenn und Weil macht den Unterschied zwischen dem kirchlichen Kerygma und der theologischen Dogmatik aus. Das Kerygma verkündigt Christus, weilwii darin von Gott getroffen werden. Und wir werden von ihm damit [!] getroffen, indem uns Christus verkündigt wird. Die Dogmatik bestreitet das nicht. Aber sie stellt... die kritische Frage. Für sie ist das apodiktische Urteil des kirchlichen Kerygmas ein problematisches. Sie fragt kritisch nach den Bedingungen, unter denen es zustandekommt. "125 Als eine der Bedingungen identifiziert Eiert im folgenden dann die N o t wendigkeit einer Begegnung des Menschen mit Christus; unabdingbar f ü r diese Begegnung sei daher die Erschließung des menschlichen Selbstverständnisses, auf das die Verkündigung v o n Christus trifft. 1 2 6 Die Frage, was genau dieser Satz sagen soll, ist nicht eindeutig klärbar. 1 2 7

Ebd. 61 f. Ebd. 61f, vgl. 62f; genauer vgl. unten D, 1.1. 127 Auf den ersten Blick sieht es so aus, als führten die zitierten Eingangssätze des zweiten Abschnittes des § 5 die in 5.1 behandelte Problemstellung - die Frage nach der Voraussetzung dogmatischer Arbeit, die nach Eiert in der Anerkennung der göttlichen Autorisierung des Wortes bzw. der Gottheit Christi liegt - fort; unter dieser Voraussetzung ergibt sich eine Reihe von Problemen: Es ist zunächst einmal semantisch unklar, worauf sich im zitierten Satz die Pronomina beziehen: Was genau bezeichnet ,es' im letzten Satz: das .apodiktische Urteil' des kirchlichen Kerygmas? Worin besteht es? Doch vermutlich in der Behauptung, daß wir ,im' Kerygma von Gott getroffen werden. Warum aber ist die Bedingung dieses Urteils die Begegnung mit Christus und die Erschließung des vorchristlichen Existenzverständnisses? Ist überhaupt diese im folgenden entfaltete Bedingung - das Erheben des vorchristlichen Selbstverständnisses - identisch mit den Bedingungen, die in dem zitierten Textabschnitt gemeint sind? - Andere Möglichkeit: Es geht - von der inhaltlichen Füllung der Bedingung (das vorchristliche Existenzverständnis) her interpretiert um die Bedingung des Urteils, daß in der Verkündigung von Christus Gott selbst uns trifft, in dem Sinne, daß es um die Bedingungen des Erfolges der Verkündigung geht - also: In welcher Weise muß verkündigt werden, damit dieses Urteil und so der Glaube entsteht. ,Es' ist dann nicht das Urteil der Verkündigung, sondern das Urteil des von der Verkündigung Angesprochenen als Erfolg der Verkündigung. Die Aufgabe der Dogmatik wäre so die Erhebung des Sachgehaltes, der als verkündigter diese Wirkung hat. Aber ist Eiert wirklich ernsthaft der Meinung, daß sich der Sachgehalt von der Wirkung her identifizieren läßt? - Dritte Möglichkeit: Es geht nicht nur um die Verkündigung, sondern um die Christologie insgesamt (problematisch ist eben auch die Frage, was der Satz bedeuten soll: „Der letzte Grund ... der Kirche, ihres ... Redens ist die Tatsache der Person Christi. Aber sie ist es nur, wenn ... wir darin von Gott selbst getroffen werden." - Worauf bezieht sich ,darin'? Auf die Person Christi? Grammatisch fraglich. Auf die Verkündigung? Sachlich - nach den zuvor ausgeschlossenen Möglichkeiten - unwahrscheinlich). Wie in der materialen Dogmatik an einigen Stellen angedeutet (vgl. 253 und Kontext; 363ff; 396ff), geht es dann überhaupt um das Recht des Urteils des Glaubens, daß Jesus Christus Gott selbst ist. Was tut dann aber die Dogmatik, wenn sie das diesbezügliche apodiktische Urteil der Kirche als fraglich behandelt, und doch in der Person des Dogmatikers, wie referiert, - wie der Jurist - die Autorität, die ihn im Kerygma trifft, voraussetzt (vgl. 60)? Soll der Dogmatiker nun die Autorität anerkennen und von daher urteilen, oder soll er das Fundament der kirchlichen Verkündigung, die Behaup125

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Evangelium und Dogma

Es ist aber anzunehmen, daß Eiert der Dogmatik hier wie in anderen entsprechenden Passagen die Aufgabe der Prüfung der kirchlichen Verkündigung und des kirchlichen Dogmas unter dem Gesichtspunkt ihrer Bezugnahme auf eine unverwechselbare zeitgenössische Situation vorschreibt.128 Dies würde bedeuten, daß nun der Blick nicht auf die theologischen Quellen und die den Dogmatiker leitende Erfahrung gerichtet ist, sondern darauf, daß das Kerygma in bestimmter Weise verfaßte Adressaten hat und auf diese hin zur Sprache gebracht werden muß. Der Dogmatiker steht also gewissermassen zwischen zwei Polen, die als Gesichtspunkte einer kritischen Prüfung des Dogma in § 5.1 und 5.2 benannt werden: Zum einen unter der Frage nach der Sachgemäßheit der Verkündigung, zum andern unter der Frage nach der Vermittlung dieser Sache in einer theologisch gedeuteten Gegenwart.129 Gemeint ist

tung, daß Christus Gott selbst sei, in Frage stellen und - woher auch immer - begründen? - Diese drei unmöglichen Lesarten setzen voraus, daß in dem Abschnitt des § 5, den die zitierte Passage einleitet, dasselbe Problem wie in dem vorangehenden Abschnitt behandelt wird, der sich mit dem Modus der Prüfung des kirchlichen Dogmas durch den Dogmatiker befaßt. Die oben vorgeschlagene alternative Lesart ist eine Deutung der Passage ,in optimam partem'. Sie geht davon aus, daß in § 5.2 das zuvor behandelte Problem nicht weitergeführt wird, wie die Einleitung nahezulegen scheint, daß also das .kritische Verfahren' der theologischen Wissenschaft, das in der Frage nach der ,ratio essendi, fiendi, agendi und cognoscendi' besteht (58, vgl. die - in unserer Wiedergabe des oben zitierten Textabschnittes ausgelassene - Aufnahme dieser Wendung 61 f). in § 5.1 soweit abgeschlossen ist, daß dieses Fundament identifiziert ist: Die im Hören der Verkündigung erfahrene Wirksamkeit Gottes durch Christus bzw. das Wort von ihm. Diese Identität soll im folgenden gerade nicht in Frage gestellt werden. - Die im Zitat erwähnte .kritische Frage' ist eine andere als die nach dem Grund und dem Sachgehalt der kirchlichen Verkündigung, sondern die Frage, unter welchen Bedingungen die kirchliche Verkündigung die gegenwärtigen Adressaten wirklich als Wort Gottes trifft. Es handelt sich also um eine zweite Aufgabe oder einen zweiten Aspekt der kritischen Aufgabe der Dogmatik. In Frage steht also nicht die Christologie und auch nicht die Lehre von Gottes ,Sein in Christus'; es geht nicht darum, ob in Christus oder in der Verkündigung von Christus Gott gegenwärtig ist, sondern darum, unter welchen Bedingungen wir von Gott selbst getroffen werden. 128 Vgl. etwa Glaube 62—65; 33f; 53f mit: Erstarrungsgesetz 908; von daher würde sich auch das Einrechnen des vorchristlichen Existenzverständnisses unter die Bedingungen erklären, denn die Überprüfung der Verkündigung steht auf der einen Seite unter der Aufgabe, die Zerstörung der gewachsenen Ausdrucksmittel des Geistes durch einen aufkommenden ,fremden Geist' zu verhindern (909f), und auf der anderen Seite unter der Nötigung, nicht durch übergroßen Dogmatismus die Wirksamkeit der Verkündigung zu verhindern (908). Die Passage, mit der Eiert dort schließt, formuliert allerdings mehr ein Dilemma als eine Lösung: „Man soll die Formen, die sich der Geist der Reformation, von dem wir wissen, daß es der Heilige Geist, der Geist Christi war, schuf, elastisch genug handhaben, um die Kinder unserer Mutter, die Kinder unserer Reformation nicht hinauszutreiben - aber eisenhart, um die fremden Geister fernzuhalten oder auszuscheiden." (915). 129 Daß diese Fragen bei Eiert wenig trennscharf behandelt werden, wurde bereits in der Analyse der Passage aus dem Anhang der zweiten Auflage der ,Lehre des Luthertums im Abriß' deutlich, s.o. S. 88f. Im Grunde behandeln die beiden Abschnitte § 5.1 und 5.2 die Aufgabe der Dogmatik bezüglich des die Verkündigung normierenden Dogma in zwei Hinsichten, nämlich zum einen im Blick darauf, daß die Kirche und mit ihr der Dogmatiker selbst creatura verbi ist und damit von der Verkündigung herkommt, zum anderen im Blick darauf, daß die Kirche Subjekt der Verkündigung vor Adressaten ist: „Mit der rezeptiven wie mit der aktiven Wortverkündi-

Die Kontinuität des Denkens Elerts

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in der zitierten Passage also offensichtlich die Frage danach, unter welchen Bedingungen es zu diesem Getroffensein des Menschen durch die Verkündigung kommt; die Rekonstruktion des Dogmas aus dem Kerygma geht aus vom Erlebnis des Getroffenseins durch die Verkündigung und bestimmt von daher dessen Gründe, die einerseits in dem Sachgehalt der Verkündigung, andererseits in der Begegnung mit einer bestimmten Verfaßtheit des natürlichen' Menschen liegt.130 An dieser natürlichen Verfaßtheit des Menschen liegt es, daß ihn das Kerygma als Wort Gottes trifft. Darin begründet sich eben der auch den Aufbau der Elertschen Dogmatik bestimmende Ausgang von der Begegnung von Gott und Mensch131, so daß zunächst der Gott begegnende Mensch (Erster Abschnitt: Das Selbstverständnis des Menschen unter der Verborgenheit Gottes'), sodann aber Gott, wie er sich in dieser Begegnung als Heil des Menschen erschließt (Dritter bis Siebter Abschnitt), zur Sprache kommt. Die Aufgabe der Dogmatik, so könnte man die Position Elerts resümieren, ist die Explikation und die Bestimmung der Bedingungen dieses Geschehens, das der Dogmatiker selbst erfahren hat und unter dessen Prämisse bzw. auf das hin er den Geltungsanspruch der kirchlichen Dogmen rekonstruiert, die - so die Voraussetzung - eben dieser Situation der Erfahrung des Wirkens Gottes am Ort des Subjektes selbst entsprinEs ist eindeutig, daß mit diesem der gegenständlichen Inhalte vergewissernden Rekurs auf die Begegnung mit Christus in der Verkündigung der Ihmelssche Weg der Vergewisserung aufgenommen wird; es ist überdies erkennbar und wird noch weiter zu vertiefen sein, daß mit dieser zweiten Bedingung die oben in der Darstellung der Position referierte Bezugnahme Ihmels' auf die psychologischen Voraussetzungen' des Erfolges der Verkündigung aufgenommen wird, die Ihmels in der durch die Predigt des Gesetzes geweckte Erkenntnis der eigenen Sünde erfaßte, die das Evangelium voraussetzt, aufnimmt und vertieft.132

gung wacht aber jede Gemeinde über sich selbst hinaus. Rezeptiv: weil sie das Wort weder selbst produziert noch unmittelbar vom Himmel erhält sondern durch Vermittlung der schon vor ihr in der Wortverkündigung wirksamen Kirche, zu der sie damit in das Verhältnis der Tochter zur Mutter tritt... Aktiv: indem sie durch eigene Wortverkündigung in die Gemeinsamkeit aller Christengemeinden eintritt, die den Missionsbefehl Christi aufgenommen und erfüllt haben." (Erstarrungsgesetz 903). Von daher erklärt sich auch die für sich genommen überraschende, oben zitierte Feststellung, daß die Medien des Geistes mit ihrer fiwdrucksfähigkeit auch ihre Eignung als Ausdrucksmittel des Geistes verlieren (907, vgl. Zitat oben Anm. 119). 130 131 132

Genauer s.u. D, 1.1. Vgl. Glaube 62; 63f; 139; genauer unten D, S. 256fF. S. Slenczka, Studien Bd. 1, 280f.

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Evangelium und Dogma

4. Zusammenfassung Als Grundkonstante der Theologie Elerts, die sich von den Anfängen in dem Aufsatz zur Religionsphilosophie (1912) bis zum Ansatz der Dogmatik (1940) nachweisen läßt, ist eine Verhältnisbestimmung von verkündigtem Evangelium, Glaube und Dogma namhaft zu machen: Der (die Verkündigung normierenden) Lehrbildung der Kirche liegt die Situation der Begegnung mit dem Evangelium zugrunde, in dem sich in einer unableitbaren Erfahrung das verkündigte Wort und damit die im Zentrum dieses Wortes stehende Person Christi als Ort der Selbstvermittlung Gottes und damit als Ursprung einer Erfahrung Gottes erweist. Diese unter der Begegnung mit der Verkündigung erfolgende Erfahrung wird von Eiert zunächst (1910-1912) als Modus der Erfassung eines nicht dem Bereich der Natur angehörigen Gegenstandes, dann - ebenfalls intentional - als Gefühl und näher als ,Reue und Vertrauen' bestimmt (Dogma, Ethos, Pathos, 1920). Erst die zweite Auflage der ,Lehre des Luthertums im Abriß' (1926) deutet dieses Erlebnis als Selbstverhältnis, und zwar als eine durch den Glaubensgegenstand, der die Manifestation eines göttlichen Urteils über den Menschen ist, vermittelte Neubestimmung des Selbstverhältnisses des Menschen. Als ein zentrales Anliegen erwies sich die These Elerts, daß diese Erfahrung und damit die Religiosität insgesamt nicht als innerpsychisches Geschehen oder als menschliche Selbsttätigkeit gefaßt werden kann, sondern selbst die nur in dieser Erfahrung faßbare Manifestation und ausschließliche Wirkung einer zunächst jenseits des Subjektes liegenden, dann aber auch den Zusammenhang der Natur insgesamt transzendierenden - weil aus ihm nicht ableitbaren - Realität ist, der gegenüber das Subjekt der religiösen Erfahrung passiv bleibt. Auf die systematischen Bezüge dieser Position zu Erlanger Positionen und auch auf die im Aufsatz von 1912 noch faßbare direkte Anknüpfung an die Erlanger Tradition, insbesondere an Ihmels, habe ich verschiedentlich hingewiesen. Insbesondere ist von dieser Schule her der Ansatz der Dogmatik sachlich beeinflußt, der eben nur unter der Voraussetzung überhaupt verständlich wird, daß Eiert das Dogma als den Ausdruck einer in einem unentrinnbaren Erleben sich vermittelnden Begegnung des Menschen mit Gott betrachtet. Der Dogmatiker hat die Aufgabe, die Geltung des Dogmas von diesem Zentrum her und auf dasselbe hin zu rekonstruieren, d.h. zum einen deutlich zu machen, daß es sich hier in der Tat um die lehrhaft begriffliche Formulierung von etwas handelt, was sich im unmittelbaren Getroffenwerden von der Verkündigung als Realität vermittelt; zum anderen die anthropologischen Voraussetzungen bzw. die Verfaßtheit des Menschen, der diesem Inhalt in der Verkündigung begegnet, zu erheben (dazu genauer unten D, 1.1.3·). Insgesamt erweist sich die lehrhafte Formulierung der Inhalte des Glaubens im Dogma als die Explikation einer Wirklichkeit, die nur in der unmittelbaren Erfahrung der Begegnung mit ihr unter der Verkündigung des Evan-

Zusammenfassung

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geliums verifizierbar ist. Die Dogmatik vollzieht in der Frage nach dem Sollgehalt des Kerygma diesen Rückgang von der Lehre zu der Korrelation von göttlichem Wirken und menschlicher Erfahrung unter der Verkündigung.

C. Die Wahrheit der neuzeitlichen Subjektivität Mit dieser Verhältnisbestimmung von Evangelium, Glaube und Dogma ist die Grundlage erarbeitet, auf der die 1931/2 erschienene zweibändige .Morphologie des Luthertums' — noch vor der Dogmatik zweifellos das Hauptwerk Elerts1 - aufbaut. Das Werk stellt selbst den besten Beleg für die gerade vorgetragene These dar, daß Eiert als Fundament des Christentums eine Erfahrung betrachtet - die Unmittelbarkeit des Verhältnisses von Glaube und Evangelium - , von dem die christliche Lehre als Ausdrucksform abgeleitet und abhängig ist, in der der Glaube allerdings nicht sich selbst, sondern die im Urteil über ihn als Wort Gottes erschlossene Wirklichkeit entfaltet. Dies impliziert zum einen, daß diese lehrhaften Ausdrucksformen des Glaubens ihren Sinn nur von jenem Zentrum der unmittelbaren Erfahrung Gottes in seinem Wort her haben, daß auf der anderen Seite aber diese Ausdrucksformen ganz im Sinne des Hunzingerschen bzw. Ihmelsschen Begriffes der Weltanschauung eine gewisse Selbständigkeit gegenüber der ursprünglichen Erfahrung gewinnen (und diese so ggfs. verdecken) können. Das folgende Kapitel soll zunächst den Grundansatz und den Aufbau der .Morphologie des Luthertums' darstellen und dabei den Nachweis erbringen, daß dieses Werk ganz im Zusammenhang der klassischen Fragestellungen der Erlanger Theologie zu interpretieren ist (1.). Dabei wird sich zeigen, daß das Zentrum des Werkes jenes unter B. analysierte Verhältnis von Glaube und Evangelium bildet. Eine Interpretation des grundlegenden Abschnittes des Werkes (2.) wird zu dem Ergebnis fuhren, daß Eiert hier eine Auseinandersetzung mit dem neuzeitlichen Konzept der Subjektivität fuhrt, die darauf ab1 Nicht weiter gekennzeichnete Seitenangaben im Text und in den Fußnoten beziehen sich in diesem Kapitel auf die .Morphologie'. - Vgl. zur Beurteilung der Morphologie als Hauptwerk Elerts auch Loewenich, Theologie 119; Trillhaas, Theologie 39; Beyschlag, Eiert 19. Die Kennzeichnung als Hauptwerk nicht nur der zweiten Phase des Denkens Elerts (so Hauber, Eiert 122) ist nicht nur darum berechtigt, weil der Morphologie eine ganze Reihe von Aufsätzen seit 1925 als Vorstudien zuzuordnen sind (vgl. Morph I 4, wo Eiert der Morphologie folgende Studien zuordnet: Ehe [1927]; Angst [1925]; Geschichte des Ethos [1928]; Wirkungen [1927]; Luthertum [1925]), sondern auch im Blick darauf, daß die Dogmatik Elerts ebenso wie seine Ethik in entscheidenden Passagen der Morphologie (z.B. in der Lehre von der Existenz des Menschen vor Christus; von der Schrift; die Christologie; .Subjektivitätstheorie') verpflichtet sind. Auf der anderen Seite gehen Grundentscheidungen vorausgegangener Werke - etwa gerade die referierte Verhältnisbestimmung von Evangelium und Glaube in der zweiten Auflage der Kurzdogmatik - in die Morphologie ein (s.u. 1.2.2.3., S. 1450· Als direkte konzeptionelle Vorarbeiten sind der Aufsatz zur Transzendenz Gottes (1923) und die schon angesprochene Arbeit zum .Erstarrungsgesetz des Protestantismus' (1925) anzusehen (oben S. 120ff). Die Schrift stellt den Schnittpunkt der Linien des Werkes Elerts dar.

Das Konzept einer ,Morphologie des Luthertums'

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zielt, das Scheitern des Autonomieanspruches und die externe Konstitution des Subjektes als Korrelat der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium zu etablieren. Eiert verbindet diese Überlegungen mit einer expliziten Auseinandersetzung mit der kantischen und idealistischen Subjektivitätstheorie und dem Versuch, in diesem Kontext die Rede von einer ,Transzendenz' Gottes wieder zu etablieren; ein dritter Abschnitt (3.) soll dieses Unterfangen und dessen argumentatives Potential zum Gegenstand haben.

1. Das Konzept einer,Morphologie des Luthertums' 1.1. Der Begriff.Morphologie'. 1.1.1. Die Absicht des Werkes. Die ,Morphologie des Luthertums' ordnet sich auf den ersten Blick ein in das breite zeitgenössische Feld religions- bzw. konfessionsphänomenologischer Forschungen und der damit verbundenen Frage nach dem Wesen' konfessioneller Gebilde. 2 Der Titel ,Morphologie' allerdings steht für ein spezielleres Programm, das Eiert vorgreifend folgendermassen gegen die Tätigkeit des „Historikers, der das Geschehene selbst ermittelt und beschreibt", abgrenzt: „ W ä h r e n d aber dieser die einzelnen Ereignisse u n d W e n d u n g e n aus ihren nächstliegenden Ursachen abzuleiten sucht, u n t e r n i m m t es die Morphologie, in allen Veränderungen eine Konstante zu finden, die über die Einzelzusammenhänge hinaus wirksam ist u n d als D o m i n a n t e diese bestimmt oder m i t b e s t i m m t . " (I, 3)

Eiert unterscheidet zwischen der ,Morphe', dem einheitlichen Lebensganzen' eines kulturellen Zusammenhanges, und dem dieses Ganze bestimmenden und gestaltenden ,Lebensprinzip', einer ,Dynamis' (vgl. 1,3) - so die Bezeichnung im Blick auf die gestaltende Funktion des Lebensprinzips — bzw. der „konfessionellen Dominante" - so der Titel im Blick auf die Funktion des Lebensprinzips als .Wesensmerkmal' des jeweiligen kulturellen Zusammenhangs 3 . Die Aufgabe der Morphologie sieht Eiert im Ausweis dieser Grund-

2 Eiert selbst nennt als Vorgänger zum einen die Polemiken des nachreformatorischen Zeitalters, dann aber insbesondere Troeltschs ,Soziallehren' ( dazu s.u. 1.2.2.; 141 fF) und Heilers .Wesen des Katholizismus' (vgl. I, 1 - 3 u.ö.). Zum forschungsgeschichtlichen Kontext vgl. Kaufmann, Eiert 210-218. 3 Der Begriff .Dominante' taucht bei Eiert m.W. in verwandtem Sinne erstmals in seinem Aufsatz zur Geschichtsauffassung der Psalmen (1910/11) auf: Geschichtsauffassung 348: Eiert formuliert zunächst die Vorform des ,inspicere vitam nostram oculis Dei' (vgl. oben B, 2.2.), wenn er die Deutung der Geschichte als Gotteserfahrung resümiert: Die „Inanspruchnahme der innersten Lebensregung des Frommen schafft eine straff organisierte Sittlichkeit. Sie schafft auch die Grundbedingung jener überzeitlichen Stellungnahme zur Geschichte. Denn diese bedeutet eine Stellungnahme im Zentrum der Wirklichkeit, fur das tausend Jahre wie der Tag sind, der gestern vergangen ist" (347) [Stellungnahme meint hier: eine Perspektive einnehmen!]. Er fährt dann eine Spalte weiter mit Bezug auf diese Passage fort: „Die Forderung der,übergeschichtlichen Stellungnahme' muß ... dahin verstanden werden, daß die subjektiven Interessen als solche empfunden und eingestanden werden, nicht aber daß sie überhaupt ausgeschaltet werden müssen.

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D i e W a h r h e i t der neuzeitlichen Subjektivität

konstante als organisierenden Prinzips aller Momente eines Phänomenbereiches.4 Eiert sieht die Konstante offenbar auf einer anderen Ebene angesiedelt als die „Einzelzusammenhänge" und „Veränderungen", die sie bestimmt und aus sich heraussetzt. Eiert betrachtet nämlich ein bestimmtes religiöses Erlebnis die Erfahrung Gottes in Gesetz und Evangelium - als die Dynamis, aus der die Kulturgestalten des Luthertums hervorgehen. 5 Er vollzieht somit in der Begründung der Kultur des Luthertums einen Rückgang von den gegenständlichen kulturellen und religiösen Erscheinungsformen auf zugrundelieDiese subjektiven Interessen werden ... durch das Nationale und Soziale verstärkt. Je mehr nun hierdurch die Teilnahme an der Entwicklung des nationalen und sozialen Organismus zum Bewußtsein kommt, desto mehr wird die geschichtliche Auffassung zu einer geschichtlichen Lebensart, zu einem geschichtlichen Fühlen und Wollen. Der Kaufmann, der in seinem Handel die Traditionen seines Großvaters befolgt, die Regierung, die einen Vertrag auf hundert Jahre abschließt, der Greis, der Eichen pflanzt - sie handeln geschichtlich. Es tritt an die Stelle bloßer Berechnung der augenblicklich gegenwärtigen Situation ein bewußter Eintritt des gegenwärtig Handelnden in die Geschichte. Das beherrschende Interesse ist nicht das eines einzelnen, sondern gewissermassen die Dominante einer ganzen historischen Reihe, der sich die einzelnen ohne Rücksicht auf die Dauer und die schließliche Bedeutsamkeit ihrer Wirksamkeit unterordnen." (348) - Eiert geht es hier um die Vermittlung von Individualität und der Einbindung in überindividuelle Zusammenhänge, die auch den ungefähr zeitgleichen Aufsatz zur .Persönlichkeitskultur' bestimmt (vgl. dort 5390: Das individuelle Handeln ist bestimmt und eingefügt in überindividuelle Zusammenhänge, zu deren Wahrnehmung Eiert aufruft, und als deren überindividuelle Agenten er eben nicht nur ,das Soziale und Nationale', sondern - gerade im Falle des alttestamentlichen Geschichtsdenkens - darin die Religion sieht: „Die Religion ist ein ganz innerliches, subtil geistiges Ereignen. Aber sie organisiert Denken, Reden und Handeln ihres Besitzers. Sie braucht Vermittlung, um sich in diesen Außerungsformen durchzusetzen. Ein solches Hilfsmittel ... können geschichtliche Weltbetrachtung und geschichtliches Handeln sein." (3480 Man erkennt hier den unter A. skizzierten Kontext - die Unterscheidung von Religion oder religiösem Erleben und dem Weltanschauungsaspekt der Religion. Die Bezugnahme auf die Geschichtsphilosophie als Hilfswissenschaft der Theologie, nach der das geschichtliche Denken in diesem Sinne das Vermittlungsmedium der Einordnung des Individuums in überindividuelle Zusammenhänge sein kann, nimmt auch der Aufsatz zur Persönlichkeitskultur auf. Dies ist der Hintergrund, vor dem Eiert dann Spengler rezipiert - die geschickhafte, unentrinnbare Einordnung in überindividuelle Zusammenhänge —, und der Hintergrund, vor dem Eiert dann das religiöse Zentrum des Luthertums als die überindividuelle Formen aus sich heraussetzende .Dominante' bestimmen kann. 4 Die Unterscheidung der ,Morphe' von der Dynamis und die noch näher zu kennzeichnende Gestaltung der ersteren durch die letztere hat Eiert in ,Das Erstarrungsgesetz des Protetantismus' erstmals vorgetragen, wo alle Grundentscheidungen der Morphologie bereits prädisponiert sind (vgl. bes. ebd. 905-907). Das Anliegen Elerts in diesem Aufsatz besteht darin, die als entfremdende Erstarrung des ursprünglichen religiösen Impetus deutbaren äußeren Formen der Religiosität als Ausdrucksformen des Geistes zu deuten, der in diesen Ausdrucksformen weiterhin erfahrbar bleibt (909; vgl. oben B, 3.3.3., 120ff)-Um ein verwandtes Thema kreist der Aufsatz zur .Transzendenz Gottes', in dem Eiert die allmähliche Ausbildung einer mit Wesensprädikaten Gottes operierenden Gotteslehre als allmähliche Distanznahme von einer unmittelbaren Erfahrung Gottes und deren Ausdruck in unmittelbar anthropomorphen und anthropopathischen Begriffen deutet. — Das Thema allerdings ist bereits in den Veröffentlichungen vor dem Krieg, insbesondere in der Beschäftigung mit dem Zusammenhang von individuellem Handeln und überindividuellen Bedingungszusammenhängen präsent — vgl. S. 39f. 5 Diese Identifikation wird unten noch präzisiert werden.

Das Konzept einer .Morphologie des Luthertums'

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gende religionspsychologische Sachverhalte, bzw. genauer: eine bestimmte religiöse Erfahrung. 1 . 1 . 2 . Spenglers Verständnis einer,Morphologie'. Die Eigenart dieses Projektes w i r d am besten erkennbar, w e n n man es mit Oswald Spenglers Programm einer Kulturmorphologie vergleicht, der Eiert den Begriff einer .Morphologie' verdankt und die somit jedenfalls auf den ersten Blick die methodische Quelle f ü r die .Morphologie des Luthertums' darstellen könnte: 6 W i e Eiert betrachtet auch Spengler alle M o m e n t e einer K u l t u r als Ausprägungen und Manifestationen einer ,Kulturseele', deren Eigenarten in allen ihren Manifestationen ablesbar sind, und zwar nicht n u r in den künstlerischen Erzeugnissen oder den religiösen oder rechtlichen Institutionen, sondern gerade auch in den Eigentümlichkeiten des Weltverständnisses, der R a u m - und der Zeiterfahrung, etc. 7 Interessanter als die auf der Hand liegenden Analogien sind allerdings die Modifikationen, die dies Programm bei Eiert erfährt: W ä h r e n d Spengler in allen kulturellen Phänomenen - einschließlich der Religion - die W i r k s a m k e i t einer Kulturseele zu erfassen sucht, behauptet Eiert, daß ein bestimmter kultureller Bereich, nämlich die Religion, das Fundament eines kulturellen Gesamtphänomens darstellt; genauer: Eiert betrachtet sein opus als Beleg für die These, daß eine bestimmte, individualisierbare Gotteserfahrung die alle kulturellen Leistungen des Lu-

6 So - im Blick auf die Methode - Kaufmann, Eiert 218f; Hauber, Eiert 123; Beyschlag, Eiert 20f. Spengler wird nur ein einziges Mal im zweiten Band der Morphologie - und hier als Herkunft einer Charakteristik der Kantschen Ehedefinition als .unflätig' - genannt (114). In den methodischen Vorbemerkungen kommt Spengler an keiner Stelle zu Wort. Kein Zweifel, daß Eiert von Spengler mehr gelernt hat, als er zugibt - das zeigen bereits die hier nicht im einzelnen zu entfaltenden Bezüge des Ansatzes der Morphologie zu Elerts ausführlicher Rezension des Spenglerschen Hauptwerkes in der AELKZ von 1923 (Untergang). Ich werde im folgenden aber zu zeigen suchen, daß Eiert sein Programm möglicherweise bei Spengler zu präzisieren gelernt und in der Auseinandersetzung mit ihm ausgearbeitet hat, es aber nicht von Spengler, sondern in der Prägung durch die Erlanger Tradition erhalten hat; Eiert modifiziert das Programm Spenglers gleichgültig in welchem Ausmaß bewußt — von den Vorgaben der Erlanger Schule her. S.u. bes. Anm. 21. 7 „Hier [sc. beim Menschen im Unterschied zur Natur] vergleiche man, indem man die Welt menschlicher Kulturen rein und tief auf die Einbildungskraft wirken läßt, nicht indem man sie in ein vorgefaßtes Schema zwängt; man sehe in den Worten Jugend, Aufstieg, Blütezeit, Verfall, die bis jetzt regelmäßig und heute mehr denn je der Ausdruck subjektiver Wertschätzungen und allerpersönlichster Interessen sozialer, moralischer, ästhetischer Art waren, endlich objektive Bezeichnungen organischer Zustände; man stelle die antike Kultur als in sich abgeschlossenes Phänomen, als Körper und Ausdruck der antiken Seele, neben die ägyptische, indische, babylonische, chinesische, abendländische und suche das Typische in den wechselnden Geschicken dieser großen Individuen, das Notwendige in der unbändigen Fülle des Zufälligen und man wird endlich das Bild der Weltgeschichte sich entfalten sehen, das uns, den Menschen des Abendlandes, und uns allein natürlich ist." Spengler, Untergang I, 36. Vgl. 64f; 65-71; vgl. zum Programm bes. 135-163, daraus; 143-149; 152-155; 226; 228f; 24 lf; 249-253. Dazu: Schröter, Metaphysik 178-198; Koktanek, Spengler 150-157; Körtner, Morphologie 150ff.

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Die Wahrheit der neuzeitlichen Subjektivität

thertums zumindest mitbestimmende Dynamis darstellt.8 Doch die eigentliche Differenz liegt diesem Unterschied noch zugrunde: Bei Spengler findet sich an keiner Stelle die isolierte Beschreibung des movens einer Kultur, der Kulturseele selbst, die sich in allen äußeren Phänomenen Ausdruck verschafft. Spengler identifiziert vielmehr diese ,Kulturseele' eben durch die Strukturidentitäten kultureller Phänomene; die einheitliche ,Kulturseele' ist gleichsam ein Postulat, ohne daß diese ,Seele' nun in einem eigenen Gegenstandsbereich selbst sich zeigt. Die Einheit einer Kulturseele erfährt also ihren Ausweis durch den Nachweis von Struktureigentümlichkeiten der jeweiligen Kultur, manifestiert sich aber niemals anders als durch ihre kulturellen Leistungen. 9 Eiert hingegen bestimmt - wie noch näher darzustellen sein wird - die Erfahrung Gottes in Gesetz und Evangelium - den .Evangelischen Ansatz' (I, 8; vgl. 1. Abschnitt: I, 15-154) - als das treibende Element des Luthertums. Die Dynamis jenes Gesamtzusammenhanges wird damit material faßbar: diese Gotteserfahrung ist wie jede Erfahrung beschreibbar und bestimmbar. So erst, als eigenständiger religionspsychologischer ,Gegenstandsbereich', wird sie als Grundlage aller lehrhaften, sozialen und kulturellen Phänomene ausgewiesen. Auch wenn Eiert behauptet, die Entdeckung der grundlegenden

8

Eiert setzt sich an einer Stelle mit dem Einwand auseinander, daß es nicht ausgeschlossen sei, daß auch die Religion ihrerseits Ausdruck eines weitergreifenden kulturellen Zusammenhanges sein könnte (I, 3f)· Er gesteht dabei zu, daß neben dem religiösen auch weitere, „fremdgesetzliche" Dynamiken wirksam seien; er räumt sogar ein, daß es möglich sei, daß die Hypothese einer konfessionellen Dynamik nicht durchführbar ist - betrachtet dies aber offensichtlich nicht als hinreichenden Grund für eine grundsätzliche Reflexion der Frage, woran man überhaupt erkennen sollte, welches der Phänomene nun Ausdruck, und welches Dynamis ist. Zu diesem Problem s.u. S. 134fF. 9 Spengler betrachtet nicht nur die Phänomene einer Kultur als Veräußerlichungen und Selbstgestaltungen einer Kulturseele, sondern unterscheidet auch zwei Hinsichten auf diese Phänomene: den Blick des Historikers traditioneller Prägung, der die Phänomene als Gewordenes erfaßt und dem Kausalgesetz oder einer äußerlichen Teleologie unterwirft (Untergang I, 39f; 164— 172; 197f; 212-216 u.ö.), und den Blick des Morphologen, der in allem äußeren Geschehen das Gesetz des Werdens als Verwirklichung der Idee einer Kulturseele erfaßt: ebd. 35; 146; 219. Spengler kann zwar die Kulturseele selbst geradezu metaphysisch fundieren bzw. - faszinierend für Theologen wie Eiert (Eiert, Untergang 55-58), aber auch fur systematisierende Geschichtsphilosophen wie den Spengler-Schüler Schröter (Metaphysik 188f) - den Ausblick auf eine (von ihm selbst allerdings zugunsten der Annahme irreduzibler Kulturen ausgeschlossene) Metaphysik des ,Ewig-Seelischen' als das Erfassen des alle Kulturen bestimmenden einheitlichen Seelengrundes eröffnen (Spengler, Untergang I, 252, vgl. 192 und das als Motto gewählte Goethezitat). Allerdings: die faktischen Religionen und religiösen Vorstellungen rechnet Spengler eindeutig zu den Ausdrucksphänomenen bzw. diese unterliegen dem methodischen Prinzip der Symbolisierung, dem gemäß jede faßbare Realität als Symbol der Kulturseele erscheint: Spengler, Untergang I, 219f; bes. aber 223-229, bes. 228; vgl. die Deutung konkreter Religionen 257ff; 283f. - Das .Ursymbol' einer Kultur, das jedes Weltverhältnis prägende Grundgesetz und somit der ursprünglichste Ausdruck des Seelentums ist gerade nicht an ihm selbst, sondern nur in seinen Realisationen greifbar und identisch mit der ,Raum-' und .Zeiterfahrung' einer Kultur (aaO. 241-253, bes. 243).

Das Konzept einer ,Morphologie des Luthertums'

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Funktion jener religiösen Erfahrung sei ursprünglich im Ausgang von den kulturellen Phänomenen gewonnen worden (I, 4), so ist dies doch nicht dasselbe Verfahren wie das Spenglers, denn Spenglers Ziel besteht eben nicht darin, einen der kulturellen Bereiche als Grundlage aller anderen auszuweisen, sondern darin, die in allen Bereichen einer Kultur - und eben nur so sich manifestierende Kulturseele kenntlich zu machen. 1.1.3. Vergleich mit Goethe. Beide Positionen stellen jeweils eigentümliche Modifikationen des Goetheschen Morphologie-Begriffes dar; bei Goethe, auf den sich Spengler ausdrücklich bezieht, 10 hängt der Begriff an der Beobachtung der sich im Laufe der Entwicklung einer Pflanze vollziehenden Metamorphose eines Grundelementes in alle Bestandteile einer Pflanze. Die gesamte Entwicklung einer Pflanze läßt sich nach Goethe als Wandlung eines Grundelementes verstehen, wobei dies Grundelement in allen Teilen der Pflanze erkennbar bleibt". Die Übertragung dieses Modells auf die Geschichte, die der Diplombiologe Spengler12 vornimmt, übernimmt einerseits Goethes Weigerung, selbständige Arten auf einen gemeinsamen Ursprung zurückzuführen, wenn Spengler die Weltkulturen als jeweils in sich abgeschlossene und selbständige Größen betrachtet. 13 Auf der anderen Seite identifiziert

10 Vgl. nur die Bezugnahmen in methodischer Hinsicht: Spengler, Untergang I, 28f; 69, Anm. 1; l43ff,bes. 151f; 156ff. 11 Am instruktivsten für den Goetheschen Morphologiebegriff ist seine Arbeit zur .Metamorphose der Pflanzen', in der er das Wachstum einer Pflanze als Entfaltung eines Prinzips beschreibt, das sich durch ständige Wandlungen hindurch verändert und erhält und so im Laufe einer Geschichte ein Ganzes bildet (WA/N 70, 3-93, bes. 60, § 67; vgl. auch Artemis-Ausgabe, Bd. 17, 189ff, bes. 191-194 und ff). Der Begriff der Morphologie bei Goethe dient ebenso wie der Begriff der Metamorphose dem Versuch, die Gesetzmässigkeiten des Bereiches des Organischen ohne die Bezugnahme auf mechanistische Modelle zu beschreiben (bes. .Vorarbeiten zu einer Physiologie der Pflanzen', WA/N 70, 295 und Kontext; WA/N 71, 153ff)· Vgl. auch Goethes Abgrenzung gegen eine Zergliederung der prozeßhaften Einheit des Organismus und gegen den Versuch, das Modell einer Metamorphose auf die Entwicklung der Arten zu übertragen: WA/ Ν 71, 83 und Kontext - .Erwiderung' [von E. Meyer]); diese Anliegen sind der eigentliche Bezugspunkt Spenglers auf Goethe: vgl. bes. Spengler, Untergang I, 164ff - dort Abgrenzung gegen die Übertragung des Kausalmodells auf die Geschichte; der zweiten Intention Goethes entspricht Spenglers Verweigerung gegenüber einer - gar noch evolutionären - Gesamtschau der Geschichte, die die Grenzen der Kulturkreise überspringt: Spengler, Untergang I, 20ff. 12

Koktanek, Spengler 57ff; vgl. zum Einfluß der biologischen Prägung bes. ebd. 150. Spengler, Untergang I, 252f; die Unmöglichkeit, die unterschiedlichen Kulturen in einen Entwicklungszusammenhang zu bringen und das Postulat, daß sie als Ausdruck irreduzibler und eben auch nicht auf eine in allen Kulturen identische Kulturseele hin vermittelbarer ,Seelen' zu fassen seien, ist eines der Grundanliegen Spenglers in der Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Geschichtsphilosophie (etwa aaO. 20-24; 224; 249f)> die eben die Voraussetzung für den eigentümlichen .transzendentalistischen' Zug des Entwurfes ist: Spengler bezeichnet in zentralen Passagen sein Denken selbst nicht etwa als Einsicht in die Grundstruktur der Geschichte, sondern als die der spezifischen Kulturseele des Abendlandes in einer bestimmten Epoche angemessene Geschichtsphilosophie (z.B. 63f; vgl. das Zitat Anm. 7). Es ist eine merkwürdig - vitiös! - zirkuläre Denkweise, in der sich die Geschichtsphilosophie unter der Voraussetzung rechtfertigt, daß 13

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Die Wahrheit der neuzeitlichen Subjektivität

Spengler in der knapp umrissenen Weise in allen Bereichen der jeweiligen Kulturen wiederkehrende, zusammenpassende oder identische Grundstrukturen. 14 Das Interesse Spenglers ist dabei die Beschreibung jener Kulturen auf diese ,Kulturseele' hin, nicht aber das Nachzeichnen der Metamorphose einer einzigen Struktur in alle anderen Bereiche der Kulturen; 15 das Moment der Metamorphose verlagert sich bei Spengler in die Übertragung der Lebensalter auf die Kulturen, so daß also nicht die Wandlung eines identischen Elementes in unterschiedliche kulturelle Bereiche, sondern der Gesamtprozeß des Entstehens und Alterns einer Kultur und die damit in allen Kulturen verbundenen, strukturell identischen Vorgänge erkennbar werden.16 Elerts Modifikation des Spenglerschen Modells entfernt sich noch weiter vom ursprünglichen Gedanken Goethes: Er versucht, die Abhängigkeit aller Bereiche der lutherischen Barockkultur von jenem Grunderlebnis Gottes in der Dialektik von Gesetz und Evangelium nachzuweisen. Die Differenz wird am besten erkennbar, wenn man sich das Verhältnis zwischen Dynamis und Morphe bei Spengler und Eiert vergegenwärtigt: Bei Spengler liegt ein Verhältnis des Ausdrucks vor — die Kultur ist gleichsam der Leib, den sich eine in dieser wirksame ,Seele' schafft.17 Eiert übernimmt den Begriff des Ausdrucks' an vielen Stellen,18 faßt ihn aber faktisch ganz anders, nämlich im Sinne der kausalen Abhängigkeit etwa des Dogmas, der kirchlichen Strukturen und der sozialen Gestaltungen von jenem religiösen Erleben: Eiert betrachtet seine These dann als verifiziert, wenn er den ,Evangelischen Ansatz' als Motiv oder als Ursache der in Frage stehenden Morphe nachweisen kann. 19 Faktisch, so könnte man sagen, verbleibt Eiert methodisch bei der von ihm apostrophierten Arbeitsweise des Historikers, der „die einzelnen Ereignisse und Wendungen aus ihren nächsten Ursachen abzuleiten sucht" (I, 3); Eiert behauptet aber, daß eben jenes religionspsychologisch beschreibbare Erlebnis die ausweisbare, nächste oder zuweilen auch entferntere (I, 9) Ursache der „Ereignisse und Wendungen" sei. Von der dem Historiker unterstellten Arbeitsweise unterscheidet ihn nur dies, daß er mit spezifisch religiösen Erlebnissen als eigenständig wirksamen Motiven rechnet;20 mit der ,Kulturseele' Spenglers

sie Ausdruck einer Epoche ist, die als Epoche nur unter der Voraussetzung dieser Geschichtsphilosophie erkennbar und charakterisierbar ist. 14 Homologien bzw. das Phänomen der Gleichzeitigkeit', vgl. op. cit. I, 156-163, bes. 159f; an dieser .Beobachtung' hängt Spenglers Anspruch, Prognosen über den Geschichtsverlauf geben zu können: 163, vgl. 54, dazu die .Tafeln zur vergleichenden Morphologie der Geschichte'. 15 Z.B. Spengler, Untergang I, 150-155; 162f; 218-220; 252 u.ö. 16 AaO. 154f, vgl. 150f u.ö. 17 Vgl. die direkte Aufnahme der Analogie zum Verhältnis von ,Seele' und ,Leib' als Ausdrucksverhältnis: op. cit. 146; 150f. 18 Z.B. I, 4; I, 5 u.ö. " Z.B. die Rückführung bestimmter Züge des Naturverständnisses Goethes auf Luther I 392; vgl. auch etwa II, 149 und den gesamten Paragraphen; methodisch II, 3fif. 10 Dafür spricht auch, daß Eiert seinen morphologischen Ansatz Positionen parallelisieren

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als bewegender und gestaltender Grundlage einer Kultur hat dies methodische Konzept nur das eine gemeinsam, daß es bei jener Dynamis ebenfalls u m ein seelisches bzw. - in noch näher zu kennzeichnendem Sinne: - transzendentales Phänomen geht; dieses Phänomen ist aber selbst ein Teilbereich der kulturellen Morphe, so daß sich eben bei Eiert das Bild der Rückführung einer Kultur auf einen in bestimmter Weise ausgezeichneten Teil derselben — nämlich den Bereich religiöser Erfahrung - ergibt. 21

kann, die als Dynamis am Grunde der Bekenntnisbildung etwa die Interessen der Territorialfürsten (I, 6) oder wirtschaftliche Gegebenheiten bestimmen; er kann seine Position auch als das Namhaftmachen eines entscheidenden Faktors, der aber Mitfaktoren hat, kennzeichnen (11,3). Eiert hebt in der Darstellung der genannten und anderer (I,6ff) konkurrierender Positionen gerade nicht - wie Spengler (Untergang I, 39f u.ö.) - auf eine methodische Differenz ab, sondern betrachtet seine eigene Bestimmung der Dominante bzw. der Dynamis als materiale Modifikation einer der besprochenen Positionen (I, 8 vgl. mit 7 0 · - Darin verbindet ihn eben doch methodisch einiges mit dem von ihm als Antipode wahrgenommenen Troeltsch, dem es in seiner Analyse der .Bedeutung des Protestantismus für die moderne Kultur' ausdrücklich „auf die Darlegung des Kausalzusammenhanges" zwischen beiden Größen (eben Protestantismus und Kultur) ankam (Troeltsch, Bedeutung 101). - Vgl. auch unten Anm. 29. 21 Sein Uberzeugungspotential dürfte dieser Ansatz daraus ziehen, daß Eiert gleichsam einen Rückgang von ganz säkularen Phänomenen auf religiöse Grundlagen, und hier einen Rückgang von der Sphäre der Verleiblichung des Religiösen auf seelische bzw. dann transzendentale Grundlagen vollzieht (vgl. I, 123fif). - Wieweit Eiert selbst die Differenz zu Spengler bewußt war, muß offen bleiben. Vermutlich hat er die Hinweise Spenglers darauf, daß alle Kulturseelen letztlich von Gott gesetzt seien (vgl. Spengler, Untergang I, 155f; 191 f, dazu Eiert, Untergang 7), als Rechtfertigung seiner Rückführung der lutherischen Barockkultur auf eine bestimmte Gotteserfahrung verstanden - wiewohl eben Spengler nicht auf individuelle Gotteserfahrungen abhob. - Sodann dürfte für die Anlehnung an Spengler auch das sich in der genannten Besprechung abzeichnende Mißverständnis bestimmend sein, daß Spengler in seiner Kulturmorphologie kulturelle Phänomene auf .seelische' Phänomene zurückführe: „In Wirklichkeit bedeutet das intuitive Erfassen, da angeblich visionäre Erschauen eine sehr bestimmte Methode, die bewegenden Kräfte [PI.!] im Leben der Kulturen zu erkennen. Es ist nämlich die Methode des Analogieschlusses von der Struktur der eigenen Seele auf diejenige der Seelen anderer Menschen [!]. ... Was aber die Methode Spenglers [sc. vor dem von jedem Historiker beim Versuch, historische Dokumente im weitesten Sinne zu verstehen, geübten Analogieschluß] auszeichnet, ist die Grundanschauung, daß das eigentlich produktive Agens der Geschichte die Seele ist. Und das ist etwas anderes, als wenn man sagt, es sei die Persönlichkeit oder der Wille oder das wirtschaftliche Bedürfnis und dergleichen. Die gesamten Äußerungen der Kultur auf eine einheitliche .seelische' Wurzel zurückführen, kann nur einer, der den Zusammenhalt seiner eigenen vielfältigen Kulturinteressen eben in der Tiefe der eigenen Seele fühlt und der hier zugleich die schöpferischen Kräfte wahrnimmt, dies alles hervorzubringen." (Eiert, Untergang 7f)· Eiert scheint hier das bei Spengler intendierte blosse Analogieverhältnis zwischen dem Leib-Seele-Verhältnis des individuellen Menschen und der Rede von einer Kulturseele entgangen zu sein, denn er unterstellt Spengler, daß er methodisch die (Individual-) Psychologie als inhaltliche Prämisse seiner Untersuchungen einführe („Das entscheidende Wahrheitsmerkmal für Spenglers Einsicht liegt darin, daß er das, was er durch genaues Hinhorchen auf die Stimme der eigenen Seele ermittelt zu haben glaubt, beständig durch die Geschichte der Kulturen kontrolliert und umgekehrt: daß er das Bild, das er von dieser Geschichte zu entwerfen im Begriff steht, stets der Kontrolle durch seine Innenansicht von der Seele unterwirft."; ebd. 8). Offensichtlich ist Eiert der Meinung, daß bei Spengler die Individualpsychologie im Sinne der durch Selbstbeobachtung erhebbaren Grundstrukturen die Basis der Geschichte darstelle und daß die Rede von einer Kulturseele die ,Seele anderer Menschen' und so eine Art kollektiver Prägung

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D i e W a h r h e i t der neuzeitlichen Subjektivität

D a b e i h a n d e l t es s i c h s i c h e r u m e i n M i ß v e r s t ä n d n i s S p e n g l e r s ; i n s g e s a m t aber s p r i c h t g e r a d e dieses M i ß v e r s t ä n d n i s d a f ü r , d a ß Eiert o f f e n b a r S p e n g l e r in der Linie eines i h m v o n a n d e r w ä r t s ü b e r k o m m e n e n G e d a n k e n s interpretiert: D i e R ü c k f ü h r u n g der Lehre, der W e l t a n s c h a u u n g u n d der sozialen G e s t a l t u n g e n d e s L u t h e r t u m s a u f e i n religiöses G r u n d e r l e b n i s ist w e n i g e r e i n I n d i z f ü r e i n e g e d a n k l i c h e A b h ä n g i g k e i t v o n S p e n g l e r , als v i e l m e h r d a f ü r , d a ß hier wieder G r u n d p o s i t i o n e n

der Erlanger Theologie zugrundeliegen,

die

Eiert (fälschlich) bei Spengler bestätigt sieht: „Es w i r d sich an d e n verschiedensten P u n k t e n zeigen, d a ß die E n t w i c k l u n g [sc. des L u t h e r t u m s ] . . . die T e n d e n z hat, v o n der konfessionellen D o m i n a n t e abzugleiten. Allein auch an ihren E n d p u n k t e n findet m a n i m m e r n o c h m o r p h o l o g i s c h e G e m e i n s a m k e i t e n m i t d e n A n f ä n g e n , a u c h w o die evangelische D y n a m i k nachweisbar d a r u n t e r erloschen ist. Es zeigt sich hier, d a ß die v o m L u t h e r t u m ausgegangenen Motive eine ü b e r i n d i v i d u elle Lebenskraft besitzen, die auch da wirken u n d einzelne in ihren D i e n s t n e h m e n , w o persönliche B i n d u n g a n d e n evangelischen Ansatz nicht m e h r v o r h a n d e n ist." (I, 9) Eiert versteht unter „morphologischen G e m e i n s a m k e i t e n " hier offenbar22 schlicht d e n Sachverhalt, d a ß b e s t i m m t e Positionen (etwa ein Ehe- oder Zeitverständnis, oder etwa die lutherische Christologie i m G e w ä n d e der Hegelschen Philosophie23) a u c h o h n e B i n d u n g a n d e n evangelischen A n s a t z (die

meine, die eben im Unterschied zu wirtschaftlichen Interessen das movens der Geschichte darstellen - ein Mißverständnis, das natürlich seinen eigenen Gängen auf dem Gebiet der Religionspsychologie entspringt. Es zeigt sich in diesem Mißverständnis eben, daß Eiert Spengler an diesem Punkt als Denker interpretiert, der im Gegensatz zu materialistischen Engführungen die Bedeutung der menschlichen Seele für den Geschichtsverlauf wieder in ihr Recht setzt. - In beiden genannten Punkten wird erkennbar, daß Eiert die bei Spengler als Signaturen einer ganzen Epoche und als überindividuelle Größen verstandenen bewegenden Mächte individualisiert und als Auszeichnung eines Teilbereiches der Kultur versteht, den Spengler als Grundlage ganzer Entwicklungen betrachtet: der religiösen Erfahrung bzw. der in bestimmter Weise geprägten individuellen Seele. Spengler hätte beides als Ausdrucksphänomene und als Manifestationen der für sich nicht greifbaren Kulturseele betrachtet. - Es ist allerdings noch einmal ausdrücklich zu notieren, daß Eiert an keiner Stelle den Anspruch einer strengen Übereinstimmung mit Spengler erhebt: Weder beruft er sich in der Morphologie ausdrücklich auf diesen (einzige Nennung: II, 114 ohne Bezug auf methodische Fragen), noch erhebt er an anderer Stelle den Anspruch unkritischer Spengler-Nachfolge; er betrachtet vielmehr Spengler im wesentlichen als Hinweis auf die Erfahrung der Sinnlosigkeit der extra Christum betrachteten Geschichte und nimmt seine Position ohne jeden Anspruch getreuer Nachfolge auf. 22 Das Zitat ist im Grunde ausgesprochen merkwürdig, da Eiert ursprünglich, wie gezeigt, als Aufgabe der Morphologie den Rückgang auf die Dynamis eines durch diese Dynamis und nur durch sie als Ganzes ausgewiesenen kulturellen Zusammenhanges versteht (vgl. I, 3: „... soll es sich um eine Morphe, ein einheitliches Lebensganzes handeln, so muß sie [sc. die „Dominante" einer konfessionellen Dynamik] postuliert werden ..."). Es ist daher eigentlich nicht recht verständlich, warum er nun unter „morphologischer Gemeinsamkeit" lediglich eine identische Position im beschriebenen Sinne versteht; auch die „vom Luthertum ausgegangenen Motive", die „eine überindividuelle Lebenskraft besitzen", sind ja nicht etwa selbst eine überindividuelle Kulturseele, sondern nichts anderes als eben jene kulturellen Leistungen des Luthertums selbst. 23 Vgl. die Bezugnahme auf Goethes Naturauffassung: I, 391f; Zeit: 418; Ehe: II, 109-124, bes. 121; Christologie und Geschichte bei Hegel: II, 421. Praktisch alle Passagen am Ende der

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Erfahrung Gottes in Gesetz und Evangelium) vertreten werden. Morphologische Gemeinsamkeiten sind aber bei Spengler nicht die sich durchhaltenden Äußerungen einer Kultur - etwa ein durch eine spätere Zeit hin sich durchhaltendes Eheverständnis —, sondern vielmehr die Struktur oder das Gesetz, das ganz unterschiedliche Äußerungen einer Kultur - etwa die mathematischen Erkenntnisse und die politischen Einrichtungen - miteinander verbindet. 24 Elerts Rede von „Motiven" bzw. „morphologischen Gemeinsamkeiten" liegt ursprünglich offenbar ein ganz anderes Modell zugrunde, nämlich jener Bereich der,Weltanschauung', den A.W.Hunzinger als Folge der christlichen Erfahrung beschrieb und dessen Integrationsleistung hinsichtlich der Ergebnisse der Einzelwissenschaften auszuweisen und gegen konkurrierende Ansprüche zu verteidigen er als die eigentliche Aufgabe der Apologetik ansah: 2 5 „ D e r alte u n d zähe Irrtum ..., dass [das C h r i s t e n t u m ] ... auch mit einem b e s t i m m t e n Weltbild ... notwendig verknüpft sei, ist vielfach in der T h e o l o g i e einer reinen E r f a s s u n g des Weltanschauungsgehaltes des C h r i s t e n t u m s sehr i m Wege gewesen. Aber in Wirklichkeit wird n i e m a n d leugnen, dass das C h r i s t e n t u m o h n e b e s t i m m t e , i h m i m m a n e n t e Weltanschauungselemente ( S c h ö p f u n g s - , Vorsehungs-, Persönlichkeits-, W u n d e r g l a u b e usw.) niemals zu haben sein kann. Gewiss, das C h r i s t e n t u m als W e l t a n s c h a u u n g ist nicht identisch mit d e m C h r i s t e n t u m als Religion, als Heilsglauben. Es gibt gewiss Tausende v o n M e n s c h e n , die die christliche W e l t a n s c h a u u n g o h n e Religiosität besitzen." 2 6

Das genannte apologetische Motiv fehlt bei Eiert völlig - wenn man einmal von dem noch darzustellenden Anliegen absieht, durch den Ausweis der Abhängigkeit spezifisch neuzeitlicher Phänomene vom ,evangelischen Ansatz' Paragraphen verfolgen die Fernwirkungen des evangelischen Ansatzes in einem bestimmten Kulturbereich unter den Bedingungen der Säkularisierung. Zu den von Eiert unter diesem Gesichtspunkt rezipierten Phänomenen gehört auch das Verhältnis von theoretischer und praktischer Philosophie bei Kant, die Eiert als Nachklang des Schicksalserlebnisses betrachtet (II, 151, genauer vgl. unten C, 3.2.2., S. 221-226). 24 Spengler spricht von ,morphologischer Verwandtschaft', vgl. z.B. 8f; 154f. 25 Vgl. dazu Slenczka, Studien Bd. 1, 302-314. 26 Hunzinger, Apologetik 203f. Vgl. besonders auch Hunzingers Programm eines Nachweises der genetischen Verbindung zwischen den weltanschaulichen Elementen des Christentums und dem .Kernbereich' des Christentums als Religion: dem Verhältnis von Offenbarungswort und Glaube: „Mit anderen Worten, die vollständige Abstammung der christlichen Weltanschauung aus dem christlichen Glauben und seinen Grundlagen muß nachgewiesen werden." (Hunzinger, Aufgabe 23). Dieses Programm überträgt Eiert gleichsam auf den Bereich der Barockkultur - unter Berücksichtigung des Hunzingerschen Hinweises, daß es dabei immer um eine Verbindung der christlichen Weltanschauung mit außerchristlichen Motiven gehe (24, vgl. Morph. II, 3 und ff): „Eine solche Zurückführung der christlichen Weltanschauung als Ganzes auf seine Quellen, [!] kann aber nur geschehen durch eine prinzipielle Selbstbesinnung auf ihre in dem göttlichen Offenbarungswort ruhende objektive und subjektive Grundlage." (Hunzinger, aaO. 23f) — genau dies bezeichnet Eiert als die konfessionelle Dynamis. Auch an einer zweiten Stelle sind die Anknüpfungen an Hunzinger unübersehbar, nämlich in der Troeltsch-Kritik, in der Eiert bereits 1911 in seiner theologischen Licentiatenarbeit an Hunzinger anknüpft (vgl. Prolegomena 9 I f f ) und die er offenbar auch in der - im Rahmen der Morphologie vollzogenen - Abgrenzung Luthers gegen das Konzept eines Neuprotestantismus voraussetzt — vgl. Hunzinger, Glaube, bes. 28 zum .kulturoffenen' Christentum Luthers.

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Die Wahrheit der neuzeitlichen Subjektivität

die Antithese zwischen Luthertum und Neuzeit zu bestreiten (s.u. 1.2.2.2.). Die grundlegende Differenzierung aber zwischen einem religiösen Erlebnis und der darin erfahrenen Wirklichkeit Gottes (dem Christentum als .Heilsglauben', als religiöser Erfahrung im Erlanger Sinne) einerseits, und den spezifischen, gegen das ursprüngliche Erlebnis isolierbaren und selbständig lebensfähigen Folgen und gegenständlichen Aussagen dieser Erfahrung in Lehre und Kultur andererseits, die die Position Hunzingers prägt, steht auch im Hintergrund des Ansatzes der Morphologie und stellt den eigentlichen Grund für die skizzierte Modifikation des Spenglerschen Konzeptes einer Kulturmorphologie dar, die Eiert vornimmt 27 - erkennbar auch daran, daß der erste Niederschlag der in der .Morphologie' zur Anwendung kommenden .Methodik' im Werk Elerts der Aufsatz über das .Erstarrungsgesetz des Protestantismus' darstellt, dessen Verwurzelung in der Erlanger Tradition der Verhältnisbestimmung von religiöser Erfahrung und deren lehrhaftem, ethischem und kultischem Ausdruck ich oben aufgewiesen habe.28 Es ist das Verhältnis von religiöser Erfahrung und deren zur Verselbständigung neigendem Ausdruck in lehrhaften, liturgischen oder institutionellen Gestaltungen, das Eiert in die damals modern anmutende Terminologie Spenglers faßt, und das Eiert - darin gerade in der Abgrenzung von Troeltsch beeinflußt 29 - gewiß 27 Der Punkt, der fiir Eiert den Eindruck von der Identität oder wenigstens der gegenseitigen Nähe der Positionen nahelegt, liegt darin, daß er die Rede Spenglers vom ,Tod' einer Kulturseele und vom .Erlöschen des Feuers' derselben (etwa: Untergang I, 1540 mit der Ablösung der Kulturgestaltungen des Christentums von dem diesen zugrundeliegenden Erlebnis der Transzendenz identifiziert. Das Alter einer Kulturseele drückt sich nach Spengler allerdings immer noch in morphologisch verwandten Kulturleistungen aus, die nun aber strukturelle Ähnlichkeiten (Homologien) zu den .Altersleistungen' anderer Kulturkreise aufweisen; bei Hunzinger und eben auch bei Eiert hingegen ist das spezifische Erlebnis der historische Ausgangspunkt einer Kulturleistung, der enge Zuammenhang jeder Kulturleistung mit einer .Seele' und deren Entwicklung aber ist nicht im Blick. 28

S.o. B, 3.3.3., S. 120f. Zum Verhältnis Elerts zu Troeltsch vgl. jetzt Kaufmann, Eiert 202-205; 227ff. Über das dort Vermerkte hinaus ist thesenartig folgendes festzustellen: Elerts Kritik an Troeltsch hat ihr eigentliches Zentrum in der Einordnung Troeltschs unter die Vertreter der Theologie, die für eine Synthese von Christentum und Kultur votieren (Kampf 408—411), und zwar in dem weitestgehenden Sinne, daß das Christentum in den Rahmen des .modernen Denkens' und seiner Errungenschaften eingeordnet und mit diesem vermittelt werden müsse. Im Sinne Elerts kommt damit folgerichtig das Christentum an sein Ende, das eben nicht mehr aus dem Zentrum der Erfahrung der Transzendenz im Erlebnis von ,Buße und Vertrauen', sondern aus einem fremden Zentrum heraus bestimmt wird. An eben dieser Einordnung Troeltschs hängt die Kritik Elerts an der Unterscheidung von Alt- und Neuprotestantismus und damit an Troeltschs Einschätzung der Bedeutung des Luthertums für die moderne Kultur insgesamt (vgl. Eiert, Grützmacher; ders., Reformation). - Der zweite, damit verwandte Kritikpunkt hängt mit dem unterschwelligen apologetischen Programm der .Morphologie' zusammen, dem gemäß Eiert die Auseinandersetzung mit zwei Grundthesen Troeltschs sucht: der Behauptung, daß die eigentliche Leistung der Reformation die ,Subjektivierung' des Glaubens sei (Troeltsch, GS 1, 434ff, bes. 440f, vgl. auch ders., Luther 131 Off), die bereits bei Luther mit der Fragestellung und dem Hintergrund des mittelalterlichen Weltbildes wieder vermittelt werde (Troeltsch, Luther 131 Off, hier bes. 1319ff; Bedeutung 60), im Spiritualismus fortlebe (GS 4, 149ff; GS 1, 939ff) und erst in der westlichen Aufklärung 29

Das Konzept einer .Morphologie des Luthertums'

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auch ausweitet auf eine ausdrückliche Erfassung der religiösen Wurzeln sozialer Wirklichkeit hin, nicht aber durch die Bezugnahme auf Spengler wesentlich modifiziert. Vielmehr liest er das Konzept der Kulturmorphologie als Bestätigung des Programms der späten Erlanger; von Troeltsch, aber auch von Spengler übernimmt er allerdings das weit über die Erlanger Tradition hinausführende Anliegen, die spezifische Erfahrung Gottes in Gesetz und Evangelium als die Grundlage eines ganzen, relativ einheitlichen Kulturzusammenhanges auf weit über das Religiöse hinausgehenden Gebieten zu deuten30. 1.2. Die Bestimmung der ,konfessionellen Dynamis'. 1.2.1. Das religiöse Erlebnis. Der Aufbau der .Morphologie des Luthertums' entspricht dem damit angedeuteten Grundkonzept; Eiert selbst bezeichnet die Konzeption als .konzentrisch' in dem Sinne, daß er als Fundament eines kulturellen Zusammenhanges eine gestaltende Dynamis annimmt, die sich in weiteren, vom ursprünglich religiösen Zentrum sich entfernenden Gestaltungen Ausdruck verschafft. Diese Dynamis identifiziert Eiert im religiösen Erleben Luthers, speziell in seiner Anfechtungserfahrung und deren Lösung, grenzt aber diesen Zugang zu der Grundlage aller Kulturbildungen des Luthertums gegen eine bloße Darstellung der Theologie Luthers ab: „Die Morphologie schreibt aber nicht die Theologie Luthers. Sie sucht in ihr vielmehr nur denjenigen Punkt ausfindig zu machen, der den ganzen Bau des nachfolgenden geschichtlichen Luthertums zu tragen vermag. Das wäre dann der ,evangelische Ansatz'. O b seine Tragkraft hält, was ihm dabei zugemutet wird, hat sich alsdann in den verschiedenen Kategorien des geschichtlichen Ausdrucks zu bewähren, die dieses Zentrum in immer weiteren Kreisen umgeben." (I, 8)

Der Ansatz, die ,Dynamis' des Luthertums im Ausgang von der Theologie Luthers zu erheben, war von Eiert als Alternative zu einem Ausgang von den formulierten Bekenntnissen dargestellt und dieser zweiten Möglichkeit vordie Grundlage der bzw. Entsprechung zur spezifisch modernen Kultur darstelle (Troeltsch, Bedeutung 24ff, bes. 27ff 87ff; 92f; vgl. 26 zur Verbindung von Altprotestantismus und Mittelalter, 29ff; 33ff, bes. auch 95-101, hier bes. 99). Das Luthertum selbst - so die zweiteThese - sei im Unterschied etwa zu den - ursprünglich nicht intendierten - Wirkungen des Calvinismus mit säkularen kulturellen Leistungen auf dem Gebiet der Wirtschaft und Politik nicht hervorgetreten (dazu nur: Troeltsch, GS 4, 136-149; Bedeutung 57ff; 66ff). Im Gegensatz dazu sucht Eiert zum einen die kulturellen und sozialen Fernwirkungen der lutherischen Reformation auszuweisen (insbesondere auch im Hinblick auf die Aufgeschlossenheit gegenüber wissenschaftlichen Entwicklungen - vgl. Morph. I, 363ff [§ 30, vgl. auch § 29]); zum anderen sucht er die Bindung gerade der diesen Leistungen und damit diesem Bereich der modernen Kultur zugrundeliegenden Erfahrung an subjekttranszendente Faktoren auszuweisen - vgl. I, 65-67; 7 3 - 7 5 - , und so zu zeigen, daß die Unterscheidung eines eigentlichen religiösen Kerns - der religiösen Subjektivität - und einer Überfremdung durch mittelalterliche .objektivistische' Elemente nicht aufgeht; die Abgrenzung gegen die .Mystik' bei Eiert ist immer auch eine Auseinandersetzung mit dem .deutschen Idealismus', von dessen Kriterium einer Autonomie der Subjektivität' Eiert die Lutherdeutung Troeltschs und sein Verständnis der Reformation getrieben sieht - vgl. I, 360f; II, 15Iff. 30

Bes. Troeltsch, Soziallehren; ders., Bedeutung.

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gezogen worden (ebd.)· Schon das zu dieser Lösung fuhrende Argument widerspricht strenggenommen dem morphologischen Vorgehen: Eiert argumentiert damit, daß die als Dynamis auch der kirchlichen Bekenntnisbildung zu betrachtende Theologie Luthers rein historisch die Grundlage der lutherischen Bekenntnisse darstelle, so daß nach dem Zentrum dieser Theologie und damit nach dem diese Theologie prägenden religiösen Erleben zu fragen sei, das eben auch den von Luther selbst stammenden Bekenntnissen (etwa den Schmalkaldischen Artikeln und den Katechismen) noch zugrundeliege (I, 8).31 Bereits die Fragestellung Elerts, das zeigt sich hier noch einmal, ist die rein historische nach den Ursachen eines Phänomens und hat mit dem von Spengler entworfenen Konzept einer ,Morphologie' nichts zu tun. Unabhängig davon ergibt sich nach Eiert das Bild, daß dieses religiöse Erleben das bewegende Zentrum darstellt, das sich zunächst in den Lehraussagen Luthers, dann im Binnenbereich von Theologie und Kirche in Gestalt dogmatischer und kultischer Festlegungen Ausdruck verschafft, um dann in einem weiteren Bereich der Weltanschauung und des sozialen Lebens seine Wirksamkeit zu entfalten. Entsprechend ist rein äußerlich das Werk so aufgebaut, daß zunächst unter dem Titel ,Der evangelische Ansatz' dieses Erlebnis im Zentrum zur Darstellung kommt und dann in dem Dreischritt ,Dogma und Kirche', ,Weltanschauung' und ,Soziallehren und Sozialwirkungen des Luthertums' die Gestalten beschrieben werden, in denen dieser Ansatz Ausdruck findet.32 Die innere Logik dieser Abfolge ergibt sich aus dem Ubergang aus dem Zentrum des religiösen Erlebnisses zu den äußeren Gestalten der objektivierten Frömmigkeit, der religiös motivierten Weltsicht und sodann dem Bereich der (Sozial-) Ethik; ausdrücklich begründet Eiert die Abfolge des ersten und zweiten Bandes in einem theologischen Urteil, nämlich mit der Unableitbarkeit des religiösen Erlebnisses der Rechtfertigung und dem Folgeverhältnis von Rechtfertigung und deren Auswirkung im Tun des Menschen, das mit der lutherischen Rechtfertigungslehre gesetzt ist.33 In dieser Abfolge ebenso wie gerade in der Begründung des Luthertums in einer persönlichen Erfahrung manifestiert sich der oben in Abschnitt B. rekonstruierte Zusammenhang von religiöser Erfahrung und Lehre bzw. Be-

31 Dies Argument wirft nebenbei auch ein Licht auf die Beschreibung der Art u n d Weise, wie Eiert selbst zur Identifizierung des „evangelischen Ansatzes" gekommen sein will, nämlich im Ausgang von „solchen Erscheinungen der Geschichte, in denen die D y n a m i k des Luthertums n u r gerade noch fühlbar ist." (I, 4). Methodisch handelt es sich offensichtlich u m eine Art kausalen Rückgang von den Wirkungen zur Ursache (vgl. den Rückgang von den Bekenntnissen zu der diese motivierenden Dynamis, I, 4 - 8 ) , nicht aber u m jenes Identifizieren identischer Strukturen in allen Phänomenen einer Kultur, die das methodische F u n d a m e n t von Spenglers Beschreibung der jeweiligen „Kulturseele" bildet. 32 Mit dem zweiten Band wechselt die Bucheinteilung; formal bildet er im ganzen den vierten Abschnitt der Morphologie u n d ist damit nicht gleich den anderen Abschnitten in je zwei, sondern in insgesamt f ü n f Kapitel unterteilt (vgl. Vorwort II, V). 33 Vgl. II, 4, dazu I,123ff und I, 64ff, bes. 69fF.

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kenntnis und Dogma und eben damit die dort aufgewiesenen Bezüge zu den Grundlagen der Erlanger Theologie. 1.2.2. Das Evangelium als Dynamis. 1.2.2.1. Elerts Bestimmung der konfessionellen Dominante des Luthertums nimmt auf den ersten äußerlichen Blick mit den offensichtlichen Bezügen zum ,Turmerlebnis' den Rekurs zeitgenössischer protestantischer Theologen auf die Theologie des jungen Luther auf.34 Dieser Eindruck wird bereits dadurch konterkariert, daß die zentralen Belege Elerts aus relativ späten Luthertexten - aus ,De servo arbitrio' und der Auslegung des Ps 90 von 1534 - stammen. Eiert grenzt sich zudem im unmittelbaren Kontext der Begründung des eigenen Vorgehens gegen die Bezugnahmen auf den jungen Luther ab, indem er diesen Rekurs als Legitimationsstrategie für die Unterscheidung von Alt- und Neuprotestantismus identifiziert. 35 Mit dem Antipoden Troeltsch, der bei derartigen Abgrenzungen beständig im Blick ist,36 verbindet Eiert zunächst mehr, als er zu erkennen gibt oder weiß: Bereits 1917 37 hatte Troeltsch das religiöse Erleben Luthers als das Funda-

34 Dazu Kaufmann, Eiert 220; insgesamt: Assel, Aufbruch, bes. 8Iff; 90ff; 266-286; 470ff. Neben Holl ist allerdings an Johannes v. Walter zu denken, dessen Deutung des jungen Luther im Hintergrund der Elertschen Darstellung mit terminologischen Anklängen nachweisbar ist und bei dem exakt die Elertsche Verhältnisbestimmung von Mystik und reformatorischer Theologie bei Luther vorgebildet ist: Walter, Luther; ders., Abschluß; Eiert verweist in den Literaturangaben nur auf die beide Aufsätze zusammenfassende Schrift .Entwicklungsgang', dort am Ende weist wiederum Walter auf die beiden genannten Aufsätze hin. Daß Eiert zumindest den Aufsatz .Luther' gekannt und verwendet haben muß, beweist schlagend die dort wie bei Eiert vorgenommene Bestimmung des Verhältnisses der Anfechtung Luthers zur Mystik; Walter schreibt: „Luther hat das mere passive von der Mystik übernommen, hat aber den mystischen Gedanken sofort umgebogen, indem er den genannten Gegensatz ... zu einem ethischen umwandelt. Nicht mehr Schöpfer und Geschöpf, sondern gerechter Gott und Sünder stehen sich gegenüber. Der Sünder hat der Gnade gegenüber vollständig stille zu halten, sein freier Wille ist hier vollständig zu einem Nichts zusammengeschrumpft, wobei selbstverständlich die Betätigung der Willensfreiheit in der iustitia civilis ... auf einem andern Blatte steht." Den Terminus .zusammenschrumpfen zum Nichts' (des Ich, des freien Willens) verwendet Eiert sowohl zur Charakteristik des Erlebnisses Luthers wie der Mystik (Morph. I, 17; 23; 69-73); vgl. die zudem beständigen Abgrenzungen der Unfreiheit des Willens gegen die Freiheit in inferioribus: 21 f. 35

Vgl. I, 7; gemeint ist damit die Troeltschsche Unterscheidung von Alt- und Neuprotestantismus und dessen Beschreibung der Geschichte des Protestantismus als ein allmähliches SichLosringen der Grundeinsichten Luthers von der mittelalterlichen Theologie und Weltanschauung, der sie bei Luther selbst und insbesondere im Laufe der lutherischen Orthodoxie verhaftet bleiben - zur Deutung Luthers vgl. etwa: E.Troeltsch, Luther, bes. 1319f; ders., GS 1, 434ff (die ursprüngliche religiöse Idee); 448ff zur Zugehörigkeit zum ,Kirchentypus'; 455ff: ausdrücklich .spätere' Verobjektivierung; sowie zu Neu- und Altprotestantismus und der Bedeutung des .linken Flügels' der Reformation ders., Bedeutung, etwa 13-15; 18. 36 Vgl. etwa I, 65-67, 357. 37 Troeltsch, Luther. Der Abdruck des Aufsatzes in Band IV der Gesammelten Schriften fügt in den Aufsatz zum Reformationsjubiläum (Luther und der Protestantismus) Partien früherer Aufsätze zum Verhältnis von Luthertum und Moderne ein (.Luther und die moderne Welt', 1908); der Jubiläumsaufsatz unterscheidet sich allerdings von den sonstigen Stellungnahmen Troeltschs zu Luthers Theologie durch die umfängliche positive Wertung Luthers mit Bezug auf

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D i e Wahrheit der neuzeitlichen Subjektivität

ment und den bewegenden G r u n d der theologischen Neuorientierung der Reformation gegenüber der mittelalterlichen Theologie und Kirche bestimmt, dieses Erlebnis als „Buße und Glaubenstrost" 3 8 identifiziert und so, explizit als eine alle Gegenstände der Lutherschen Theologie bestimmende Antithetik, dieselbe theologische und anthropologische Dialektik in das Zentrum der Theologie Luthers gestellt, die Eiert unter den Titeln ,Unter dem Zorne Gottes' und ,Vom Evangelium' als den .evangelischen Ansatz' kennzeichnet. 39 Mit dem Titel des „Urerlebnisses" bzw. des „Grunderlebnisses"

das Werden des neuzeitlichen Geistes und das Hervorheben des Erlebnisaspektes der nach Troeltsch das mittelalterliche Weltgefüge sprengenden religiösen Gedanken Luthers: vgl. den editorischen Vorbericht von Baron in: Troeltsch, G S 4, XlfF. 38 Vgl. E.Troeltsch, Luther, zur Differenz des Protestantismus zum Mittelalter G S 4, 2 0 6 231 (aus: Luther und die modern? Welt, 1908), zur Begründung im religiösen Erleben Luthers: Luther 131 Off, etwa: Luther „ragt ... in die Region des Zeitlosen und Allgemein-Menschlichen hinein, allerdings nicht durch einen über alles bisher Geschilderte hinausgehenden philosophischen Hintergrund der Lehre oder durch unausgeführte, am Widerstand der Masse scheiternde Ideen, sondern durch die Ursprünglichkeit und Kraft seines religiösen Erlebnisses." Zum Stichwort „Buße und Glaubenstrost" und seinem dem Elertschen Gegensatz entsprechenden Sinn vgl. 1318. 3 9 Vgl. bes. E.Troeltsch, Luther 1318, wo Troeltsch die „Doppelseitigkeit aller lutherischen Grundgedanken" (1317) in dieser Dualität begründet und hier auch die Antithetik des Gottesbegriffes hervorhebt: „Vor allem aber trennen und einigen sich ihm im Gottesgedanken beide Seiten seines Empfindens. Gott ist in der Vernunft und Philosophie, im Gesetz und der Vorsehung der strenge, vernunftgemäße Richter, der das Allerschwerste, die volle Hingabe der Liebe verlangt und der an das Allerinnerste, die Verantwortlichkeit der Gesamtperson sich wendet. Derselbe Gott aber ist im Evangelium der Spender der sündenvergebenden Gnade, der Erwecker des seligen und guten neuen Lebens, der alles von sich aus schafft und dem endlichen Willen mit jeder Eigenkraft auch jede Unsicherheit über die eigenen Kräfte nimmt.... Die Welt außer Christo und die Welt in Christo ebenso wie Gott außer Christus und Gott in Christus sind vollkommene Gegensätze, die sich aufheben und die doch erst beide zusammen das Erlebnis der Gnadenseligkeit in allem Sündenschmerz ermöglichen." Unbeschadet der noch zu verzeichnenden Unterschiede wird man hier doch fragen müssen, ob nicht Elerts Verdikt über Troeltschs mangelhaftes Verständnis der Rechtfertigungslehre („Weil Troeltsch die Rechtfertigungslehre Luthers nicht ernst genug nahm - vielleicht auch, weil er sie gar nicht richtig kannte ...", I, 357) eine grundlegende Übereinstimmung der Positionen verdeckt oder verdecken soll; denn gerade der zuletzt zitierte Satz Troeltschs erinnert doch massiv an Elerts Darstellung des Glaubens als „Mediation" des Gegensatzes von Zorn und Liebe Gottes (I, 56). Für diese Ubereinstimmung Elerts mit Troeltsch läßt sich ferner die These einer Überfremdung der lutherschen Theologie durch die erneute Übernahme einer natürlichen Theologie anführen, die sich bei Troeltsch im unmittelbaren Kontext der zitierten Passage findet (vgl. auch bes. G S 4, 245f) - Troeltschs Lutherdarstellung erweist sich so als die Vorausahnung des an der Erfahrung von Gesetz und Evangelium orientierten Widerspruches Elerts gegen „die" natürliche Theologie (Glaube §§ 17-25), bzw. näher der noch zu erläuternden Grundthese der Morphologie, daß gerade die Aufnahme einer natürlichen Theologie das eigentliche Indiz für die Abkehr vom „evangelischen Ansatz" sei (vgl. etwa I, 44ff). Vgl. weiter Soziallehren 436f, wo Troeltsch den Erlebnisgehalt von Gesetz und Evangelium nicht so stark herausarbeitet wie in den gebotenen Zitaten; vgl. aber in diesem Werk (446f) bes. die festgehaltene Dualität des Gottesbegriffes als Gegenpol zur „Metaphysik" mit Eiert, Glaube 138f, die Vermittlung dieser Dualität in der Christologie mit ebd. 174f, und das Hervorheben des Anthropomorphismus der lutherischen Gotteslehre mit Morph I, 186-189, dazu bes. Eiert, Transzendenz. - Es legt sich der Verdacht nahe, daß Elerts geradezu bemühtes Abgrenzen gegen Troeltsch nicht nur Ausdruck theologischer

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findet sich bei Troeltsch auch terminologisch die Kategorie, mit der Eiert die Erfahrung des Deus absconditus bezeichnet40 - bei Troeltsch freilich als Terminus für das Erlebnis von Buße und Glaubenstrost im Ganzen. 1.2.2.2. Die Differenz zu Troeltsch liegt keinesfalls darin, daß Eiert dieses Erleben Luthers als Grundlage der Ausbildung der eigentümlichen theologischen Position Luthers deutet - darin steht ihm Troeltsch in nichts nach;41 näher kommt man dem grundlegenden Unterschied der Positionen, wenn man beachtet, daß Eiert die Bekenntnisbildung und die lehrhafte Ausgestaltung der lutherischen Position in den Dogmatiken der lutherischen Orthodoxie grundsätzlich als eine legitime, d.h. durch den evangelischen Ansatz gedeckte und geforderte Gestaltwerdung betrachtet, die Troeltsch insgesamt als Überfremdung des religiösen Erlebens und der daraus entspringenden religiösen Grundgedanken durch eine Rückkehr zu Grundelementen des mittelalterlichen Kirchentums versteht, aus denen sich der entscheidende neue religiöse Grundgedanke Luthers erst im Kontext der Aufklärung löst.42 Allein auch damit ist der Gegensatz noch unterbestimmt, denn auch Eiert verwendet den evangelischen Ansatz vielfach als kritisches Prinzip, an dem er auch nominell lutherische Positionen mißt und als zu leicht befindet. 43 Die entscheidende Differenz liegt vielmehr darin, daß Troeltsch als Zentrum der reformatorischen Entdeckung die Subjektivierung und Personalisierung der Religion betrachtet, die Schwerpunktverlagerung in der Frage der Heilsverge-

Differenzen ist, sondern auch von dem Bewußtsein zeugt, daß er bei diesem mehr Anregungen erhalten hat, als er zuzugeben bereit wäre. Dies läßt sich auch mit anderen - bei Eiert nicht notierten - inhaltlichen Ubereinstimmungen erhärten - ich nenne nur die Vereinnahmung der Tradition des kritischen und des deutschen Idealismus als Kulturwirkung des Luthertums (vgl. Troeltsch, Bedeutung 81 mit II, 151 ff); vgl. den Hinweis Troeltschs auf die Auseinandersetzung Luthers mit dem (in die Moderne vorausweisenden) Autonomiegedanken in Luthers De servo arbitrio (Troeltsch, Luther 1320fvgl. mit I, 20f; 22f). 40 Morph I, 15, Überschrift; E.Troeltsch, Luther 1311 (Urerlebnis) und 1312 (Grunderlebnis). Man kann sich angesichts dieser allen im folgenden darzustellenden Gegensätzen zum Trotz bestehenden Ubereinstimmungen wieder der Frage kaum entziehen, ob hier nicht doch die Übernahme zentraler Momente der Lutherdeutung Troeltschs von 1917 vorliegt; allerdings zitiert Eiert, wenn er sich in der Morphologie auf Troeltsch bezieht, lediglich die Soziallehren und die Schrift über die Bedeutung des Protestantismus (etwa I, 65')> so daß anzunehmen ist, daß er den Jubiläumsaufsatz nicht kannte. Die Beantwortung der Frage müßte damit die Möglichkeit gemeinsamer Quellen beider Theologen (etwa der Lutherdarstellung Th.Harnacks) in Rechnung stellen; sie ist zudem für die Zielsetzung der vorliegenden Arbeit ohne Bedeutung. Zum allgemeinen Hintergrund vgl. Assel, Aufbruch. 41 Vgl. die Rückführung der religiösen Grundgedanken Luthers auf dieses Erleben (Troeltsch, Luther 1310-1319), sowie GS 1, 436ff, bes. den Übergang zu den Folgerungen 439. 42 E.Troeltsch, Bedeutung 47ff, bes. auch 56ff; 87ff; vgl. ders., GS 4, 204-215. Der Angelpunkt ist nach Troeltsch die Fortsetzung des Kirchenbegriffes und des Wahrheitsverständnisses der mittelalterlichen Theologie bereits bei Luther: etwa GS 4, 207fif; Soziallehren 448ff, bes. 461 ff. Dazu: Pannenberg, Reformation; Fischer, Ambivalenz. 43 Programmatisch: 1,10; als Beleg vgl. nur: I, 40ff; 44ff; 168-176 u.ö.

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wisserung von der Anerkennung externer Autoritäten, Lehren oder Sachverhalte zur Innerlichkeit subjektiver Uberzeugung; genau dadurch weise Luther voraus auf die Grundsignatur der Neuzeit: die Autonomie der Subjektivität.44 Dies Zentrum erscheine allerdings auch bei Luther noch lediglich als die Modifikation der Methode des Heilserwerbes und bleibe in der Verbindung mit der Frage nach der Rettung des Sünders aus der ewigen Verdammnis dem mittelalterlichen Denken verhaftet, von dem es in der Folgezeit zunächst überfremdet werde und sich dann - im Zusammenhang der spiritualistischen Sekten und von dort aus im Zusammenhang der Aufklärung - wieder befreie. Der Neuprotestantismus habe somit sein Recht darin, daß er das entscheidende Zentrum der lutherschen Entdeckung — die Religion als Element persönlicher, individueller Uberzeugung - unabhängig von der bei Luther vorherrschenden Einbindung in den Problemzusammenhang mittelalterlicher Religiosität zur Geltung bringe und somit das, was bei Luther ein „neuer Weg zum alten Ziel" gewesen sei, selbst zur eigentlichen Signatur des Religiösen erhebe: „In d e m Maße, als der konfessionelle H a d e r den D r u c k des D o g m a t i s m u s unerträglich u n d damit das D o g m a ü b e r h a u p t verdächtig machte, rückte der Schwerpunkt von d e m mit allen trinitarisch-christologischen H a u p t d o g m e n eng verbundenen Heils- u n d Rechtfertigungsdogma auf die persönliche subjektive Uberzeugung, auf das stimmungsu n d gefühlsmäßige Erleben von Sündenangst u n d Seelenfrieden. D a m i t aber w u r d e der Blick frei für die rein subjektiv innerliche Begründung der Glaubensgedanken u n d damit weiter für ihre individuell verschiedene, an kein offizielles D o g m a gebundene Gestaltungsmöglichkeit. ... Jetzt vollzieht sich jene Verschmelzung des Protestantismus m i t d e n subjektivistisch-individualistischen, dogmatisch nicht autoritativ gebundenen Trägern einer Gefühls- u n d Uberzeugungsreligion, die den ganzen Protestantismus n u n mehr als die Religion des Gewissens u n d der Uberzeugung o h n e dogmatischen Zwang, mit freier, v o m Staat unabhängiger Kirchenbildung u n d mit einer von allen rationellen Beweisen unabhängigen inneren Gefühlsgewißheit erscheinen läßt." (Bedeutung 97).

Es ist diese Überzeugung von der wesentlichen Unabhängigkeit des religiösen Zentrums von transsubjektiven Größen, von der sich nicht nur Eiert, sondern die Erlanger Tradition insgesamt abgrenzt; und wenn Eiert der Betonung des Erlebnisaspektes und der Unabhängigkeit der „inneren Gefühlsgewißheit" von „rationellen Beweisen" ebenso wie v. Frank und Ihmels zustimmen könnte, so liegt das Interesse dabei doch darin, die Begründung der Subjektivität des Glaubens durch externe Größen herauszuarbeiten. Während bei Troeltsch die Unableitbarkeit der Subjektivität zum Zentraldatum des Religiösen wird, begründen die Erlanger Theologen diese Subjektivität in einem anderen ihrer selbst und in diesem Sinne Gegenständlichen; die fides qua creditur soll gerade als wesentlich konstituiert durch ihren Gegenstand zur Erfassung kommen, während Troeltsch die Begründung der fides quae 44 Dazu bes.: Becker, Subjektivität 180-188; Graf, Religion 213ff, bes. 226ff; bei Troeltsch: Bedeutung 95-103.

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creditur in der fides qua creditur als die Konsequenz des lutherschen Neueinsatzes betrachtet: „Es ist damit die fides qua creditur, als in welcher ja Gott jedenfalls im allgemeinen erreicht und persönlich ergriffen wird, der fides quae creditur übergeordnet, als welche Unerkennbares erkennen will und den Lebens- und Erkenntnisdrang in allzu enge Fesseln bindet. Überall ist es der Glaubensbegriff, der über den Glaubensinhalt triumphiert hat und der nur darum nicht Schwächlichkeit und Sentimentalität ist, weil in ihm das Metall des protestantischen Glaubensbegriffes letztlich durchklingt." (Bedeutung 99)

Für die Erlanger und so auch für Eiert ist eben die fides quae creditur - um bei dieser Terminologie zu bleiben - die explizite Formulierung der Realität, die in der fides qua creditur - in der Unmittelbarkeit des religiösen Erlebnisses - als dessen Ursprung und Grund zur Erfahrung kommt. Insofern könnten auch die Erlanger die fides qua creditur als der ,fides quae' übergeordnet bezeichnen, nur so aber, daß dieses fides qua selbst als fundiertes, und zwar in einem anderen seiner selbst, das die fides quae formuliert, fundiertes, zu stehen kommt. 1.2.2.3. Das Ziel Elerts ist somit im Vergleich mit diesem Programm unterbestimmt, wenn es nur so beschrieben wird, daß er den Ausdruck, den ein psychisches bzw. .transzendentales' Erlebnis in Dogma, Kirchentum, in der Weltanschauung und im sozialen Bereich findet, zum Thema habe. Das Dogma ist eben im bereits beschriebenen Sinne nicht die Objektivation eines ursprünglich rein subjektiven Sachverhaltes, sondern das explizite noetische Erfassen einer Realität, die sich in dieser subjektiven Erfahrung, in diesem .Pathos' (und nur dort) zeigt: „Was bisher als evangelischer Ansatz des Luthertums entwickelt wurde, erscheint als eine große seelische Umwälzung, als psychisches Ereignis, zuerst von dem großen Einzelnen elementar erlebt, von andern miterlebt und nacherlebt, gleichzeitig aber .erkannt' und in immer fester werdende theologische Formeln gefaßt. Unter den davon Ergriffenen würde aber keiner einen Augenblick mit der Antwort gezögert haben, wenn er nach der treibenden Dynamis der gewaltigen Umwälzung gefragt worden wäre. Sie lautet stets und konnte nur lauten: das Evangelium. Diese Dynamis wurde nicht als ein Hervorbrechen innerer Kräfte, als automatische Lösung seelischer Spannungen erlebt, sondern als ein Wort aus einer andern Welt vernommen." (I, 157)

Diese Erfahrung selbst, die im Dogma ihre Auslegung und Entfaltung erhält, ist somit als bloß subjektives Ereignis nicht darstellbar, ebenso wie der Gegenstand, der sich dort zeigt, als bloßer Gegenstand unterbestimmt ist ich hatte auf diesen Grundzug der frühen Theologie Elerts, der sich hier nun bestätigt, bereits hingewiesen:45 Nur in seiner Bezogenheit auf die unvertretbare Subjektivität des Glaubens ist der .Gegenstand' des Glaubens Evangelium: 45

S.o. B, 2.2., S. 96ff.

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„Melanchthon hatte in den Loci von 1521 definiert: Evangelium est promissio. Darin lag der entscheidende Bruch mit dem Evangelium als philosophia coelestis oder als lex Christi. Es ist auch keineswegs nur ein historischer Bericht. Es ist auch dies. Aber Evangelium ist es nur, weil ein bezwingendes Heute darin steckt." (I, 157) Die Anlage der Morphologie, die von einem .seelischen' bzw. in noch zu erläuterndem Sinne transzendentalen' Ereignis ausgehend die Kultur des Luthertums als Ausdruck und Gestaltung dieser Dynamis beschreibt, kann also nicht so verstanden werden, als ob erst mit diesen Ausdrucksformen die Ebene des Objektiven im Sinne des Nicht-Subjektiven erreicht und im Gegensatz dazu in den Paragraphen zum ,evangelischen Ansatz' von ,seelischen' Realitäten die Rede sei; vielmehr ist bereits die Beschreibung des Urerlebnisses selbst in eins und untrennbar die Beschreibung derjenigen Instanz, die sich in dieser Erfahrung zeigt. Bereits in der Beschreibung dieser Erfahrung erweist sie sich als bedingt durch etwas ,Transsubjektives', durch „ein Wort aus einer anderen Welt" (vgl. Zitat oben 145), und zwar so, daß nun dieses Transsubjektive selbst als ,Dynamis' bezeichnet werden kann; das Evangelium erscheint so als die wirksame Grundlage der Kulturgestalt des Luthertums. Die These Elerts ist also die, daß die Dynamis des Luthertums das in noch zu bestimmender Weise am Subjekt wirksame Evangelium sei.46 1.2.3. Glaube und Christus. Zum Aufoau von Kapitel 2. Im Zusammenhang des zweiten Kapitels des ersten Abschnittes - der Passage über das Evangelium — schlägt sich dies zunächst so nieder, daß die gesamte Darstellung um zwei bzw. drei Paragraphen 47 kreist, nämlich einerseits die Darstellung der Rechtfertigungslehre Luthers (§ 7), in der das Hauptgewicht auf der Klärung des Verhältnisses des Glaubens zu den ihn tragenden externen Instanzen liegt (vgl. die explizite Formulierung der Frage 73); die dabei erarbeitete Position kann man so zusammenfassen, daß Eiert zu zeigen versucht, daß gerade die recht verstandene Subjektivität ihre Bedingung der Möglichkeit in diesem Bezug auf das Evangelium von Christus hat. 48 Dem korrespondiert der Para46 So kann Eiert in dem im Programm mit der Morphologie nahverwandten Aufsatz zum .Erstarrungsgesetz des Protestantismus' den Heiligen Geist als die in den Gestaltungen des lutherischen Kirchentums bzw. in seinen Kulturwirkungen tätige Größe bestimmen (Erstarrungsgesetz 906f; 909); in demselben Sinne kann allerdings Eiert auch den Glauben als das in der Lehre sich ausdrückende Prinzip bezeichnen (913f)· - Es ist wichtig, diesen Punkt wahrzunehmen, daß nicht ein subjektives Erlebnis allein, sondern dieses als Wirkung der transzendenten Macht Gottes im Evangelium die Dynamis des Luthertums darstellt. Diese Position ist auch mitnichten eine Modifikation der bisherigen Veröffentlichungen Elerts (gegen Hauber, Eiert 124), wie bereits der Hinweis auf DEP und die dort erfolgende Rückführung des Pathos auf das Evangelium beweist; es handelt sich schlicht um das von Ihmels (vgl. Slenczka, Studien Bd. 1, 248ff; 268ff) überkommene Grundmodell. 47 Den Titel .Paragraph' und das Sigel ,§' wähle ich zur Bezeichnung der Unterabschnitte der Kapitel des Textes Elerts, die bei Eiert selbst in jedem der beiden Bände über die Kapitel- und Abschnittsgrenzen (nicht jedoch über die Bandgrenzen) hinweg durchgehend numeriert sind. 48 Vgl. vorläufig 75; genauer dazu unten S. 204fif.

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graph über das ,propter Christum' (§ 9), in dem Eiert im Ausgang von dem gegenständlichen Korrelat des Glaubens, dem Evangelium vom Menschen Jesus von Nazareth, dessen notwendige Beziehung auf die Annahme im Glauben und damit dessen Charakter als Moment der Rechtfertigung ausweist (I, 98, 100). Während also diese beiden Paragraphen die wechselseitige Verwiesenheit von Glaube und Christologie auszuweisen suchen, ist der dritte, davon abhängige Pol des Kapitels der § 12, in dem Eiert den Zusammenhang von imputativer und effektiver Rechtfertigung als Zusammenhang des noch näher zu erläuternden empirischen und transzendentalen Ichs bearbeitet und so den Übergang zum Verhältnis von Glaube und Werk gewinnt, in dem sich zuletzt die kulturelle und ethische Wirksamkeit des evangelischen Ansatzes begründet. 49 Mit diesen Paragraphen steht man somit im organisierenden Zentrum der Morphologie in dem Sinne, daß diese treibende Kraft auf der einen Seite - hinsichtlich des Ursprungs - auf das Evangelium und damit auf einen transzendenten Grund zurückgeführt wird (§§ 7 und 9), und in dem Sinne, daß auf der anderen Seite in der Neuformulierung des Verhältnisses von Glaube und Werk bzw. Glaube und Glaubensfolge (§ 12) der Modus der Wirksamkeit dieser treibenden Kraft im Bereich der Kultur im weitesten Sinne faßbar wird. Im Blick auf die hier leitende Fragestellung ist festzuhalten, daß sich in diesem Kapitel der Morphologie ein Ausweis des Zusammenhanges von Glaube und nicht nur dem in der Erfahrung des Glaubens sich erschließenden Gegenstand, sondern dem wirksamen Grund des Glaubens vollzieht; der Text stellt damit einerseits eine Fortführung des bei v. Frank und Ihmels angeschlagenen Themas einer externen Begründung der Subjektivität des Glaubens dar; weitergehend aber — in der knapp skizzierten Abgrenzung gegen Troeltschs Rückführung des neuzeitlichen Subjektivismus auf das religiöse Zentrum der Reformation — handelt es sich implizit um das Programm eines Nachweises, daß ursprünglich die reformatorische Entdeckung gerade nicht die Grundentdeckung der autonomen Subjektivität, sondern der externen Konstitution derselben — durch den im .Pathos' bzw. im Evangelium als Wort Gottes erfahrenen Gott - ist. Daß hierin auch explizit das eigentliche Beweisprogramm Elerts liegt, wird im folgenden deutlich werden; Eiert macht sich anheischig, zu zeigen, daß diese extern konstituierte Subjektivität nicht der Gegensatz, sondern die ur49 Vgl. I, 123f, 126f, 129f; vgl. die Bezugnahme dieses Paragraphen auf den Übergang zur Sozialethik des Luthertums: I, 134f. - Die übrigen, hier n u n nicht berücksichtigten Paragraphen ordnen sich dieser thematischen Polarität im Sinne einer Abgrenzung oder Präzisierung ein; das gilt gewiß von den „Vorfragen", in denen im Ausgang vom Verhältnis von Gesetz u n d Evangelium die Theologia crucis erläutert wird; das gilt von den beiden Paragraphen über die Z u o r d n u n g von Prädestination u n d Soteriologie (§§ 10 u n d 11); u n d das gilt ebenfalls von der Passage über die unio mystica (§ 13), in d e m Eiert die Vereinbarkeit der „Transzendentalität" des Glaubensaktes mit der Beschreibung eines Heilsweges untersucht (vgl. I, 135, 143f; Antwort 145f); der Zusamm e n h a n g mit § 12 u n d die Abhängigkeit von diesem erhellt aus der Passage I, 145 Mitte.

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sprüngliche Gestalt der neuzeitlichen Subjektivität ist. Genau darin entspricht sein Ansatz dem Frankschen Umgang mit der Relation zwischen dem Subjektivismus' Luthers und dem der neuzeitlichen Philosophie.50 Bevor der von Eiert vorgelegten Verhältnisbestimmung des religiösen Zentrums der lutherischen Theologie zum neuzeitlichen Konzept der Subjektivität genauer nachgegangen werden kann, ist noch ein letztes für das Verständnis des Gesamtprogramms der Morphologie entscheidendes Motiv zu notieren. 1.3. Die Rolle der ,natürlichen Theologie'. 1.3.1. Die Logik der Geschichte der lutherischen Kultur. Eiert betrachtet - darin Spengler folgend - das Luthertum nicht als einmal gesetzte und abgeschlossene, sondern als im Vollzug einer Geschichte begriffene Größe. Näher beschreibt er diese Geschichte nicht als Folge des Wachsens und Sterbens einer Kulturseele, als auf den Tod hin gerichteten Prozeß, sondern als einen Prozeß von Veränderungen, die sich aus dem „Schwächerwerden und Wiedererstarken der konfessionellen Dynamis" (I, 9) ergibt. Die Vorstellung dieser „Wellenbewegung" (ebd.) verbindet das Programm der Morphologie mit der Bewegung, die Eiert im ,Kampf um das Christentum' nachzeichnet: die Bewegung der Verbindung des Christentums mit der Kultur und der Verselbständigung dagegen51, und ist ein Indiz für die tiefe Abneigung Elerts gegen Theorien eines Fortschritts der Geschichte:52 Die Religions- bzw. Christentumsgeschichte bewegt sich nicht progressiv auf ein Ziel zu, sondern stellt eine von einer Transzendenzerfahrung ausgehende, diese verlierende und in einer neuen Erfahrung wiedergewinnende Bewegung der Einwirkung auf die säkulare Wirklichkeit dar.53 Die Wellenbewegung ergibt sich im ,Kampf um das Christentum' im Vollzug der Verselbständigung der säkularen Welt und der Versuche des Christentums, sich unter Bezugnahme auf die Wahrheitskriterien dieser Umwelt statt aus der Eigenständigkeit und Unableitbarkeit religiöser Erfahrung zu begründen.54 In der Morphologie dagegen gründet die Wellenbewegung darin, daß 50

S. Slenczka, Studien Bd. 1, 51 f. Vgl. Eiert, Kampf 3 - 5 im Kontext von 1 - 7 ; vgl. auch oben A, 2.3., S. 52ff. 52 Vgl. bes. die Auseinandersetzungen mit Troeltsch: Reformation 1 0 6 - 1 0 8 . Vgl. dieselbe Gesetzmäßigkeit in Eiert, Erstarrungsgesetz; im G r u n d e ist Eiert der Meinung, daß die Geschichte eine Geschichte der immer neuen Selbstmanifestationen Gottes im immer neuen, erweckenden Aufbruch der Evangeliumsverkündigung ist (vgl. Erstarrungsgesetz 896ff). Vgl. dazu auch Kaufm a n n , Eiert 213 72 . 53 Vgl. bes. das Geschichtsbild in .Erstarrungsgesetz' 896fif. 54 Vgl. ,Kampf' — am besten läßt sich das Programm durch einen Blick auf den Aufbau des Werkes belegen: Die Kapitelfolge ist zunächst chronologisch begründet u n d setzt ein (Erster Abschnitt) mit der Begründung der Synthese von Kultur u n d Christentum zu Beginn des 19. Jahrhunderts: Schleiermacher u n d Hegel, die - der eine von Seiten des Christentums, der andere von Seiten der Philosophie — Modi der d a n n zerbrechenden Synthese darstellen. Beide stehen für den Wiedergewinn einer positiven Stellung des Christentums, die ihre Entsprechung in der in Kap. III dargestellten Erweckungsbewegung hat - Indiz für die das ganze Werk durchziehende Bemü51

D a s K o n z e p t einer . M o r p h o l o g i e des L u t h e r t u m s '

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das Wirken der konfessionellen Dynamis in einer beständigen Konkurrenz und Auseinandersetzung mit „fremdgesetzlichen Motiven" (I, 9) erfolgt, in deren Verlauf insbesondere im Verlauf der Aufklärung - „die gewaltige Uberfremdung vor allem vom Westen her" 5 5 — der Verlust des evangelischen Ansatzes droht: „ D i e nächste Folge ist eine tiefgehende U m s t e l l u n g der g e s a m t e n T h e o l o g i e , z u m Teil a u c h des Kultus. D a s L u t h e r t u m lebt, wie es scheint, nur in den letzten peripherischen Kategorien seines A u s d r u c k s soziologisch u n d weltanschaulich fort. D i e Kirchen

hung, in der Darstellung der positiven wie der negativen Entwicklung nicht nur einen theologisch-wissenschaftlichen, sondern auch einen frömmigkeitsgeschichtlichen Prozeß zu beschreiben (vgl. neben dem genannten Kapitel auch Kapitel XI und Abschnitt 6); die Zuordnung entspricht der oben (Β, 1.2., S. 7 9 - 8 6 ) nachgezeichneten Zuordnung von Dogma und Pathos in DEP. - Es folgt auf diese Darstellung der wiedergewonnenen kulturellen Bedeutung und des Selbständigkeitsbewußtseins des Christentums die Skizze der theologischen Apologetik gegenüber den säkularen Wissenschaften im Gefolge Schleiermachers und Hegels - der Versuch der Bewahrung und der Einlösung dieser Synthese also (Zweiter Abschnitt). Steht dieser Abschnitt schon unter dem Vorzeichen der Auflösung der Synthese (.Diastase'), so beschreibt unter dem Titel .Das Auseinandertreten von Christentum und Wissenschaft' der ,Dritte[r] Abschnitt' die (ebenfalls nicht auf die Wissenschaft beschränkte) Bewegung der Auflösung jener Einheit: in der Linie von Kant zum Neukantianismus wird der Prozeß ebenfalls in zwei Richtungen nachvollzogen: als Verselbständigung der Theologie einerseits, der Philosophie andererseits, und als Entchristlichung von Weltanschauung und Lebensgestaltung (Kapp. X und XI). Die folgenden Abschnitte beschreiben die unterschiedlichen Modi der Reaktion auf diese Auflösung der Synthese: ,Die Apologetik als Versuch zur Rettung der Synthese' (Vierter Abschnitt); ,Die theologische Verselbständigung des Christentums' mit einer Darstellung der Ritschlschen und der Erlanger Schule (Fünfter Abschnitt); die Darstellung der Ausbildung einer .Kultur ohne Christentum' (Sechster Abschnitt), in der übrigens dem Judentum eine zentrale Rolle zugewiesen wird (vgl. 308f, vgl. von dort aus die Rolle des .Berliner Tageblattes': 315; 330); die Darstellung einer resignativen, d.h. unter Verzicht auf zentrale Inhalte und damit unter Anerkennung des .Sieges' des säkularen Bewußtseins unternommenen Anpassung des Christentums an den Zeitgeist (Siebter Abschnitt. Synthese aus Resignation), und schließlich die in die zeitgenössische Gegenwart ausgreifende Prognose einer neuerlichen Distanznahme des Christentums von der Kultur (Achter Abschnitt). Insgesamt also eine Darstellung der Synthese, der allmählichen Diastasierung und der mehr oder weniger hilflosen Versuche, die Synthese unter Aufgabe der Selbständigkeit des Christentums oder unter Aufgabe zentraler Inhalte zu retten, der gegenseitigen Verselbständigung von Christentum und Kultur, und der entschlossen ergriffenen Distanz des Christentums zur modernen Kultur und Wissenschaft. 55 Elerts Verhältnis zum „Westen" und westlichem Denken weist ihn als einen latenten Anhänger der kulturkritischen Strömung an, die sich in Spenglers .Untergang', im Kontext der .Konservativen Revolution' und auch in der Dialektischen Theologie manifestiert - dazu Scholder, Geschichte, bes. 76f; 96f; 82ff; Graf, Kulturluthertum, bes. 69 im Zusammenhang von 64fif; Sontheimer, Denken. Vgl. zu der zitierten Passage bes. die Passagen, in denen die Distanznahme des Christentums von der durch .Rationalismus', .Ethizismus' und .Immanenzdenken' charakterisierten Kultur beschrieben wird (§ 75ff). Die Kritik ist motiviert bzw. wird verschärft durch den Antipoden Troeltsch. Sein die Reformation als durch einen metaphysischen Objektivismus verfälschten religiösen Subjektivismus, dessen eigentliche Intentionen erst im Schwärmertum und von dort aus in der angelsächsischen Kultur zum Tragen kommen, deutender Ansatz gibt die beständige Negativfolie für die .Morphologie' ab (s.o. S. 143-145). Dazu auch Bayer, Theologie 282.

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erhalten sich zwar nominell ihre Bekenntnisse, aber sie schleppen damit anscheinend nur ein totes Gut weiter." (I, 9)

Als dritte Phase bestimmt Eiert die Zeit der lutherischen Restauration im 19. Jh., in der eben nicht nur der Bestand der lutherischen Theologie wieder aufgenommen wird, sondern es „wird auch der evangelische Ansatz selbst wieder lebendig, der vielfach ganz neue Formen des Ausdrucks erzeugt. Dies gilt sowohl von der Theologie wie von der Soziologie und Weltanschauung." (I, 10). Das Programm geht hier ausdrücklich in das Themengebiet des .Kampfes um das Christentum' über (vgl. bes. 1,10); bereits dort hatte Eiert die lutherische Restauration als ein Element der Wiederbesinnung auf die Selbständigkeit des Christentums gegenüber der Kultur verbucht. 56 Der Aufbau des Werkes trägt dem Bezug zum ,Kampf um das Christentum' dadurch Rechnung, daß die Darstellung der Theologie, der Lehre und der Weltanschauung des Luthertums im ersten Band im wesentlichen im 17. Jh. endet, während nur für die Darstellung der Soziallehren des Christentums Anschauungsmaterial aus dem 19. Jh. hinzugezogen wurde (I, 10). 1.3.2.

Die natürliche

Theologie' als Depravation des,Evangelischen

Ansatzes'.

Der hier zunächst allein interessante erste Band verwendet nun ausdrücklich den evangelischen Ansatz als „kritischen Maßstab" (I, 10) für die Darstellung der Theologie des nachreformatorischen Luthertums und sucht so die These zu begründen, daß nach den auch die Bekenntnisbildung bis zur Konkordienformel einbeziehenden Bemühungen um die Reinhaltung des evangelischen Ansatzes in der Geschichte der lutherischen Kultur neben der weiter wirksamen Konstanz der Dynamis ein .Abgleiten von der Dominante" erkennbar wird. 1.3.2.1. Ein zentrales, wenn nicht das zentrale Kriterium für dieses Abgleiten' ist die Aufnahme der natürlichen Theologie' und die Bestimmung des dem Menschen von Natur aus erschlossenen Wissens um Gott als eine Art ,Vorstufe' der mit dem Evangelium erschlossenen Gotteserkenntnis. Elerts Widerspruch gegen die natürliche Theologie wendet sich nicht gegen die These, daß bereits der natürliche Mensch mit Gott zu tun hat (I, 45), sondern kritisiert die Ablösung des Gottesbegriffes von der Erfahrung Gottes, insbesondere von der Erfahrung des Gegensatzes zwischen Gott und Mensch, und die damit sich ergebende Unterstellung des Wahrheitsanspruches der Evangeliumsoffenbarung unter die Grundstrukturen einer rationalen Gotteslehre: Gerade indem das natürliche Wissen um Gott als positives Verhältnis der rationalen und sittlichen Fähigkeiten des Menschen zu einem höchsten Wesen beschrieben werden, wird das Evangelium nicht mehr als Durchbrechung der Erfahrung des Zornes Gottes und der Situation des Gesetzes verstanden, sondern als Reinigung und Perfektionierung der natürlichen Gotteserkenntnis: 56

Vgl. Kampf § § 10-12; 4 5 - 4 8 .

Das Konzept einer .Morphologie des Luthertums'

151

„Sie [die orthodoxe Dogmatik] vergaß, daß die Erkenntnis des .natürlichen' Menschen zum Zweifel an Gott, also zum Unglauben führt, und ileshalb&t Buße notwendig macht, und daß also der Glaube unter allen Umständen den Bruch auch mit der natürlichen Erkenntnis voraussetzt. Im Lichte dieser Theologie konnte der Schein entstehen, als sei dem Menschen die evangelische Gotteserkenntnis geradezu angeboren. Die Aufgabe der kirchlichen Verkündigung konnte deshalb schließlich so aufgefaßt werden, als habe sie nur zu klären oder zum Bewußtsein zu bringen, was jedem Menschen ,νοη Natur' mehr oder weniger selbstverständlich ist. Diese letztere Folge zogen zwar erst Theologie und Predigt des Rationalismus. Die Voraussetzungen dazu schuf aber schon die orthodoxe Dogmatik." (I, 45f) Zum einen ist hier deutlich, daß hier eben die Frontstellung gegen eine Begründung der theologischen Aussagen im vergewissernden Rückgang auf außertheologische Evidenzen ihre Begründung findet, die zuvor im ,Kampf um das Christentum' als der Grundfehler der theologischen Apologetik beschrieben wurde. 57 Eiert sieht näher den Ursprung der positiven Wertung einer natürlichen Theologie darin, daß die lutherischen Theologen ursprünglich auch die natürliche Gotteslehre ,vom Standpunkt des Glaubens aus' entwarfen: Es fehlte ihnen, die unter der Verkündigung des Evangeliums aufgewachsen waren, der Ernst der Erfahrung des Deus absconditus; die vom Standpunkt des Glaubens aus thematisierte Erfahrung Gottes durch den natürlichen Menschen wurde somit nicht mehr als Gegensatz des Evangeliums, als Erfahrung der isoliert zum Unglauben führenden - Realität des Deus absconditus zur Sprache gebracht. 58 1.3.3. Erlanger Theologie. Damit wird noch einmal deutlich, daß das Programm der Morphologie dem tief in der Erlanger Tradition verwurzelten Programm entspricht, das Eiert in ,Dogma, Ethos, Pathos' 59 , in der Schrift zum ,Erstarrungsgesetz des Protestantismus' 60 und in einem Aufsatz zur .Transzendenz Gottes' 61 vorgetragen hatte; nach diesem Programm läßt sich in den Vgl. ebd. bes. Kapp. XIX-XXII. Dazu auch: Eiert, Irrwege. I, 45f; zur Erfahrung des Deus absconditus vgl. unten 2.2.3., S. 172ff. 59 Dazu oben S. 79ff. 60 Dazu oben S. 120ff. 61 Eiert, Transzendenz 5 2 1 - 5 3 3 ; Eiert beschreibt hier die theologische Begriffsbildung als die allmähliche Ablösung von der Unmittelbarkeit eines religiösen Erlebnisses, in dem Gott als das „Ganz Andre" (522) und in diesem Sinne „Transzendente" erfahren werde (vgl. 522, vgl. dort die bewußte Anknüpfung an die Grundfiguren der „dialektischen Theologie" sowie an Kierkegaard, dazu ders., Kampf 430ff). Während das religiöse Erlebnis eine Erfahrung des Wirkens Gottes bedeute und wesentlich in - notwendig anthropomorphen - Aussagen über das Handeln Gottes formuliert werde, signalisiere der Ubergang zu Attributaussagen und zuletzt deren Sublimation in Wesensprädikaten eine Distanznahme von der Unmittelbarkeit des Erlebnisses der göttlichen Transzendenz, zugleich aber einen Ubergang zu Gottesprädikaten, die ihre Legitimität ausschließlich aus dem Rückbezug auf das unmittelbare religiöse Erleben beziehen und abgesehen davon verlieren. - Eiert selbst versucht in dem Aufsatz, der traditionellen christlichen Gotteslehre diese Erlebnisqualitäten - freilich mit völlig untauglichen Mitteln - wieder abzugewinnen, die 57

58

152

Die Wahrheit der neuzeitlichen Subjektivität

Phänomenen der Religion, und so eben besonders im Luthertum eine Ablösung vom Widerfahrnis- bzw. Erfahrungscharakter der Gottesbegegnung beobachten; in diesem Sinne tritt eben an die Stelle der unmittelbaren Erfahrung des Zornes und der Gnade Gottes die Rede von einem neutrischen höchsten Wesen, dessen sekundäre Attribute oder Näherbestimmungen die Prädikate sind, die ihm aus der möglichen Begegnung mit dem Menschen zuwachsen. Dieser Prozeß wird von Eiert an anderer, verwandter Stelle als Abstraktion von der unmittelbaren Erfahrung beschrieben. An die Stelle des unmittelbar als Wirklichkeit erfahrenen Gotteshandelns tritt hier die distanzierte Frage nach Gott als dem Subjekt möglichen Handelns mit dem Menschen; so faßt Eiert die Versuche der lutherischen Orthodoxie, die Grundzüge eines metaphysischen Gottesbegriffes wieder zu integrieren, folgendermassen zusammen: „Gott ist hier also zuerst ein N e u t r u m - die personbildenden Züge wirken wie Akzidentien. Wer Gott so definiert, ist sich der Verantwortung für das, was er von ihm denkt, nicht mehr bewußt. Diese Definitionen abstrahieren von der unausweichlichen Alternative zwischen Unglaube und Glaube. Sie sind, wenn man sie ganz ernst nimmt, der Anfang der Gottlosigkeit der Aufklärung. Gottlos ist es, über Gott zu reden, als wäre er ein Gegenstand oder eine erweisbare oder unerweisbare Hypothese, während in Wirklichkeit jeder unserer Gedanken ein Ja oder Nein auf das göttliche Rufen ist." 62

Auf der einen Seite diagnostiziert Eiert also den Versuch, das unmittelbar erfahrene persönliche Handeln Gottes in Gesetz und Evangelium auf das dahinter stehende, von diesem Handeln nicht berührte Subjekt zurückzuführen und sich Gottes abgesehen von der Unmittelbarkeit und Unentrinnbarkeit der Situation der Begegnung mit ihm - auf dem Wege der Vermittlung mit dem natürlichen Weltverhältnis — zu vergewissern: Gott wird zur von einer erfahrenen Wirklichkeit zur erweisbaren oder nicht ausweisbaren Hypothese. Auf der anderen Seite die Distanznahme aus der Situation als Flucht aus der Verantwortung der Stellungnahme zu einem unabweisbaren Handeln Gottes. Die Kritik Elerts an einer natürlichen Theologie ist die Kritik an einer Theologie, die die Unmittelbarkeit der Situation der Erfahrung des Gotteshandelns verläßt zugunsten einer Rede von Gott als Gegenstand des distanzierten, unbeteiligten Erkennens. Der natürliche Gottesbegriff der metaphysischen Tradition, der damit im Blick ist und auf den sich die spätere lutherische Tradition nach Eiert wieder einläßt, ist nach Eiert die rationalisierte, leblose Gestalt einer ursprünglichen lebendigen Erfahrung, die jederzeit wieder lebendig werden kann, wenn - wie Eiert in seiner Beschreibung hier nicht referiert werden müssen (vgl. unten A n m . 188); das diagnostische Grundmodell auch dieses Aufsatzes entspricht dem von .Erstarrungsgesetz' (909) u n d eben auch der Morphologie: Im Verlaufe der Geschichte einer Religion vollzieht sich allmählich eine Ablösung ursprünglich erlebnishafter Gegebenheiten von ihrem Ursprung u n d die Erstarrung in der (lehrhaften) O b j e k tivierung. 62

1,50.

Subjektivität zwischen Sünde und Versöhnung

153

des Urerlebnisses, des .Grauens', „mit dem vielleicht jede Religion" anfängt (I, 18), schreibt, „Gott ... aus einem Gegenstande des Nachdenkens, aus einem Paragraphen der Dogmatik zu einer Person ... [wird], die mich persönlich anruft..., um mir zu sagen, daß meine Zeit abgelaufen ist." (ebd.). Damit sind die Grundzüge der Morphologie und deren Programm erläutert. Es ist deutlich geworden, daß im Hintergrund dieses Entwurfes die typische Erlanger Rückführung der lehrhaften Inhalte des Glaubens bzw. dessen gegenständlichen Realisationsgestalten auf die verifizierende Ursprünglichkeit religiöser Erfahrung steht. Es ist allerdings - gerade in der an vielen Stellen zu beobachtenden Auseinandersetzung mit Troeltsch und seiner Wertung des Verhältnisses von Luthertum und Neuzeit - deutlich geworden, daß es Eiert nicht nur um die Darstellung der dogmatischen, kultischen, weltanschaulichen und sozialen Realisationsgestalten des Luthertums aus seinem religiösen Zentrum heraus geht, sondern daß sich mit dieser Darstellung das Interesse verbindet, zu einer positiven Bestimmung des Verhältnisses des Luthertums und seines religiösen Zentrums, der Rechtfertigungslehre, zur Neuzeit zu gelangen, freilich so, daß dieses Zentrum selbst auch zur Instanz der Kritik der Neuzeit wird. Im Zentrum dieses Interesses steht der nun nachzuvollziehende Versuch, die neuzeitliche Subjektivitätstheorie als begründet in einer dem Kontext der Rechtfertigungserfahrung entspringenden Entdeckung Luthers - freilich als deren Depravation - auszuweisen und noch die kantische Transzendentalphilosophie als Fortwirkung der Problemstellung der Erfahrung des Deus absconditus zu beschreiben. Dem ist nun nachzugehen.

2. Subjektivität zwischen Sünde und Versöhnung Der Tiefendimension dieses Textes allerdings wird man erst ansichtig, wenn man sich der von Eiert vertretenen These zuwendet, daß auch die neuzeitliche Subjektivitätstheorie eine Fortwirkung der subjektivitätstheoretischen Implikate des lutherischen Rechtfertigungslehre sei. Diese - jeweils gegen Troeltschs Behauptung einer Fremdheit des Luthertums und insbesondere seiner Rechtfertigungslehre gegen die Grundeinsichten der Neuzeit profilierte63 - These vertritt Eiert in der Morphologie in zwei Gestalten - zum einen in der Weise, daß er die Beschreibung des ,Urerlebnisses' bzw. der Existenz unter dem Evangelium als Urentdeckung und als den eigentlichen Sinn der Unterscheidung von empirischem und transzendentalem Ich bestimmt 64 ; zum anderen in einigen Passagen, in denen er die subjektivitätstheoretische Position Kants als Umgang mit der Erfahrung unter dem Deus absconditus

63 64

Vgl. den Kontext der in Anm. 29 und 35 sowie 37 genannten Passagen. 1,69-78; 123f.

154

Die Wahrheit der neuzeitlichen Subjektivität

zu bestimmen sucht65. Ich gehe zunächst der Beschreibung der Rechtfertigungslehre unter Aufnahme der Unterscheidung von empirischem und transzendentalem Ich nach, die Eiert in den Passagen zum .Evangelischen Ansatz' bietet. 2.1. Der Hintergrund der Verwendung der Unterscheidung von ,empirischem' und,transzendentalem' Ich in der Morphologie. Weder der Aufbau der zentralen Passage über das transzendentale Ich in der Morphologie noch der Sinn der Unterscheidung von ,intelligiblem' (oder transzendentalem') und .empirischem' (oder .konkretem') Ich bei Eiert insgesamt ist sonderlich klar; es empfiehlt sich daher, zunächst die Frage nach dem Auftreten des Begriffes im Oeuvre Elerts zu stellen und dann eine etwas detailliertere Analyse der entsprechenden Passagen vorzunehmen: 2.1.1. Das Auftreten der Unterscheidung von ,transzendentalem' und ,empirischem ' Ich. Erstmals nennt Eiert in dem bereits mehrfach angezogenen Aufsatz über die .Grenzen der Religionspsychologie' (1912) diese Unterscheidung. Eiert nimmt hier unter der Differenzierung von intelligiblem und empirischem Ich in Bezug auf Troeltschs Aufsatz zum Verhältnis von Psychologie und Erkenntnistheorie in der Religionswissenschaft.66 Ein zweites Mal findet sich der Begriff im Rahmen der größeren BöhmeStudie von 1913; hier geht es Eiert allerdings gerade darum, die .Wiedergeburt' bei Böhme als Neuorientierung des Willens - im Unterschied zur Neusetzung von Ich-Instanzen - zu deuten.67 Daneben findet sich die Unterscheidung ohne die explizite Verwendung der Begriffe in der Studie zur russischen Religionsphilosophie, schließlich in breitem Umfang in der Morphologie. Nach Erscheinen des zweiten Bandes der Morphologie nimmt Eiert den Begriff nicht mehr auf, wohl aber thematisiert er - wie bereits angedeutet - in Gestalt der die ,Mittelpunktsexistenz' sensu negativo aus sich heraussetzenden ,reinen Subjektivität' den unter dem Begriff des intelligiblen oder transzendentalen Ich verhandelten Sachverhalt.68 65

1 , 3 5 8 - 3 6 3 ; II, 1 5 1 - 1 5 8 . Grenzen 201; zum Sinn der Unterscheidung beiTroeltsch vgl. unten. 67 „Das .eigene Ich', von dem er [der Mensch] sich abwenden soll, ist nicht im transzendentalen oder psychologischen Sinne zu verstehen, sondern sittlich: Selbstgenügsamkeit, Eitelkeit, G e n u ß der eigenen Persönlichkeit usw. Davon soll sich der Mensch abwenden und ein anderes wollen, das auch in ihm beschlossen liegt, ein unsagbares, unfaßbares Mysterium m a g n u m , G o t t selbst." (Mystik 78). 68 Die Auskunft Eyjolfssons (Rechtfertigung 152f, bes. A n m . 36), daß Eiert unter dem Titel der „Mittelpunktsexistenz" das „transzendentale Ich" weiterführe, ist so nicht richtig. Das , transzendentale Ich' ist unter d e m Titel der reinen im Unterschied zur konkreten Subjektivität - bzw. im Begriff des , Ich-apriori' - in der Dogmatik Elerts präsent (Glaube 116; 120). Das transzendentale Ich ist eben nicht, wie die „Mittelpunktsexistenz" - ein eindeutig negativ konnotierter Terminus, sondern ein Begriff, dessen Sachgehalt auch unter den Bedingungen der Neuen Existenz (die nicht „Mittelpunktsexistenz" ist) sein Recht behält. - Z u r Identifikation von transzen66

Subjektivität zwischen Sünde und Versöhnung

155

2.1.2. Die Unterscheidung in der Schrift zur Religionspsychologie (1912). 2.1.2.1. Troeltschs Unterscheidung von empirischem und intelligiblem Ich, auf die sich Eiert bezieht69, entstammt einem Aufsatz, in dem Troeltsch in einer Auseinandersetzung mit William James die Begründung einer Religionswissenschaft zwischen den Alternativen einer rein deskriptiven, empirististischen Religionspsychologie einerseits, die zur Behandlung von Geltungsfragen nicht in der Lage ist, und einer Geltungsfragen a priori und vor dem empirischen religiösen Phänomen - sei es auf dem Wege einer dogmatischen Festlegung, sei es auf dem Wege einer spekulativ-rationalen Deduktion - entscheidenden und an der Realität exekutierenden Religionstheorie unternimmt 70 . Die Grundfrage Troeltschs ist also — angesichts der sammelnden und kategorisierenden, zur Beantwortung von Geltungsfragen aber unfähigen empirisch-positivistischen Religionspsychologie (James, Starbuck: Psychologie 13ff), und angesichts der Versuche, die Religion insgesamt als fundiertes psychisches Phänomen in ihrem Geltungsanspruch zu bestreiten - die Frage nach dem Ausweis des Rechtes und der Geltung derartiger Phänomene71, der Rekurs also auf ein religiöses a priori, das aber gerade nicht abgesehen von den Feststellungen der empirischen Religionspsychologie gewonnen, sondern als das in der Mannigfaltigkeit der Manifestationen des Religiösen waltende und in ihm verborgene rationale Gesetz erfaßt und begründet wird.72 Für diesen Ausweis führt Troeltsch über die rein positivistische Sichtung des Materials den Gedanken eines religiösen apriori ein, und der Zugang zu diesem und dessen Begründung im Ausgang von den empirischen religiösen Phänomenen ist das eigentliche Problem der Arbeit.73 In allen konkreten Er-

dentalem u n d intelligiblem Ich bei Eiert vgl. I, 132: „Im Idealismus ist sie Urtat des intelligibeln, d.h. transzendentalen Ich ...". 69 Eiert gibt in dem Aufsatz zur Religionspsychologie, in dem er die Troeltschsche Unterscheidung von empirischem und transzendentalem Ich notiert, keinen Hinweis auf die Schrift, auf die er sich bezieht; inhaltlich ist aber deutlich, daß es sich n u r u m die genannte Schrift handeln kann, die er auch in .Kampf (408, A n m . 1, vgl. 4 l 0 f ) zitiert u n d mit der sich sein Lehrer Hunzinger verschiedentlich auseinandergesetzt hat (vgl. bes. Hunzinger, Probleme 17ff, bes. 3 3 f ) · Vgl. auch die referierende, an Hunzingers Auseinandersetzung anschließende Bezugnahme auf diese Schrift in der Dissertation Elerts: Prolegomena 9 0 - 9 2 , z u m Ansschluß an Hunzinger vgl. 92, A n m . 1. 70 Troeltsch, Psychologie 2 2 - 2 4 im Z u s a m m e n h a n g von 1 7 - 2 8 . Die Bestimmung des religiösen apriori hat den Charakter der Erhebung des Maßstabes, an d e m sich der Geltungsanspruch der empirischen Realisationen dieses apriori in Gestalt der Religionen ausweisen kann. Dazu auch Barth, Troeltsch 64ff. Z u William James vgl.: James, Varieties; dazu Herms, Empiricism, bes. 237ff. 71 Z u m Kontext der Schrift im Gesamtwerk Troeltschs, der hier ausgespart bleiben kann, vgl. die luzide Entfaltung bei Barth, Troeltsch. Z u m Ansatz der empirischen Religionspsychologie bei James vgl. Herms, Empiricism 237ff; zur Inhibierung von Geltungsfragen ders., Nachwort 5 1 2 - 5 1 7 , hier bes. 5 l 4 f . 72 Troeltsch, Psychologie 2 2 - 2 4 , vgl. 50f. 73 Vgl. ebd. 1 yfF. Dazu die Explikation bei Pfleiderer, Theologie 4 8 - 6 8 , hier bes. 6 4 - 6 8 .

156

Die Wahrheit der neuzeitlichen Subjektivität

scheinungsformen der Religion, so die These, lebe ein rationaler, aber genuin religiöser Kern, den die Vernunft in der religionswissenschaftlichen Beschreibung als verwandt, notwendig und somit legitim erkenne, der sich in der Vielfalt religiöser Phänomene realisiert und zu diesen in demselben Verhältnis steht wie eben die Leistungen des transzendentalen Ich bzw. die Verstandeskategorien zur Mannigfaltigkeit des empirischen Ich bzw. der ihm erscheinenden Welt.74 Troeltschs These in dieser Parallelisierung des Verhältnisses von apriori und Phänomenalität im Rahmen der Religion mit dem im Rahmen der Erkenntnistheorie ist somit die, daß Kants ursprüngliche Einsicht im Rahmen der theoretischen Philosophie die Vermittlung von Empirismus und apriorischem Rationalismus, die Manifestation des Intelligiblen im Empirischen sei, die Kant in der Zuordnung von intelligiblem und empirischem Ich im Rahmen der praktischen Vernunft bzw. der Religionsphilosophie verlasse; dort nämlich etabliere sich das rein formale apriori als inhaltlicher Ersatz und nicht als immanentes Gesetz und kritisches Prinzip konkreter Religion: „So ist i n s b e s o n d e r e s c h l i e ß l i c h d i e R e l i g i o n n i c h t z u r e d u z i e r e n a u f d e n V e r n u n f t g l a u b e n a n e i n e sittliche W e l t o r d n u n g , u n d allen v e r m e i n t l i c h e n R e l i g i o n e n a n d e r e r A r t e i n f a c h e n t g e g e n z u s t e l l e n , s o n d e r n d a s religiöse A p r i o r i soll n u r d a z u d i e n e n , d a s N o t wendigkeitselement in der e m p i r i s c h e n Erscheinung, aber o h n e A b s t r e i f u n g dieser A n s c h a u u n g ü b e r h a u p t , festzustellen u n d v o n diesem E l e m e n t aus Verworrenheiten u n d E i n s e i t i g k e i t e n d e r p s y c h i s c h e n L a g e z u b e r i c h t i g e n , o h n e sie selbst z u b e s e i t i g e n . " 7 5

Troeltsch sieht sich also in dieser Verhältnisbestimmung von Anschauung und Vernunft, Psychologie und Erkenntnistheorie, Kontingenz und Notwendigkeit in grundsätzlicher Ubereinstimmung mit dem Ansatz Kants, betrachtet aber das Empirische, Kontigente, das Psychologische des religiösen Phänomens als den Gegenstand, dessen Erforschung erst die Gesetzmässigkeiten des in ihm wirksamen und nur durch die Erfassung des empirischen Phänomens zugänglichen Apriori zu erfassen erlaubt76. Die empirische Religions74

Ebd. 2 2 - 2 8 ; es geht Troeltsch eben d a r u m festzuhalten, daß dieses ,apriori', das nur der psychologischen Analyse religiöser Phänomene überhaupt e n t n o m m e n werden kann (vgl.: „Die Psychologie ist das Eingangstor zur Erkenntnistheorie.", aaO. 34), nie an die Stelle der lebendigen, irrationalen, in den positiven Religionen manifestierten Religiosität treten kann — eine Absage an die Konstruktion einer .Vernunftreligion', die in der Tradition entsprechender Absagen bei Schleiermacher u n d Ritsehl steht; bes. 32ff; 45ff. 75

Troeltsch, Psychologie 45, vgl. 50f u n d bes. 27. „... die rationale Reduktion der psychologischen Tatsachen der Religion auf in ihnen waltende ... Bewußtseinsgesetze ist eine beständig neu aus d e m Studium der Wirklichkeit aufzunehm e n d e Aufgabe u n d folgt der Bewegung der naturwüchsigen Religion nach, u m in ihr den rationalen G r u n d erst zu finden ... Das Erkennen ist die G e w i n n u n g einer rationalen u n d gültigen Wahrheit durch Gesetze; aber diese G e w i n n u n g ist stets ein Kampf mit d e m Irrationalen u n d Ungültigen; es holt sich in der Tat des Denkens aus seiner Vermengung mit d e m bloß Tatsächlichen u n d mit dem Irrtümlichen heraus, und, einer objektiven Vernunftnötigung folgend, schafft es doch immer erst die d e m Menschen geltende Wahrheit durch die Tat." Troeltsch, Psychologie 32f. „Die Feststellung der Bewußtseinsgesetze, in denen wir die Erfahrung hervorbringen, ist ein Hervorholen dieser Gesetze aus der Erfahrung selbst, eine Selbsterkenntnis der in der Erfahrung 76

Subjektivität zwischen S ü n d e u n d V e r s ö h n u n g

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Psychologie ist also der Ort der Erfassung der Wesensgesetze des Religiösen, die zugleich das Kriterium und der Ausweis seiner Wahrheit sind 77 . Dieser auf dem Wege der empirischen Forschung gewonnene ,Transzendentalismus' Troeltschs impliziert eine Modifikation der Kantischen Unterscheidung von transzendentalem und empirischem Ich, und in diesem Zusammenhang ruft Troeltsch überhaupt diese Begriffe auf: Entsprechend der grundsätzlichen Verhältnisse von Kontingenz und Notwendigkeit, Empirie und Vernunft sind auch die Verhältnisse von .transzendentalem' und empirischem bzw. psychologischem Ich zu bestimmen 78 : Troeltsch betrachtet hier die Kantische Lösung der Dritten Antinomie, die Vermittlung von Freiheit und Notwendigkeit als unzureichende und schlecht widersprüchliche, die Freiheit eines intelligiblen Ich realiter aufhebende Position: Die .Handlungen des intelligiblen Ich' seien als zeitliche Manifestationen .rettungslos der Phänomenalität und ihrem Mechanismus verfallen' 79 . Im Rahmen der Relgigionspsychologie habe dies desaströse Folgen, so Troeltsch, da sie der im religiösen Vollzug in Anspruch genommenen und von der Religionspsychologie als Wesenseigentümlichkeit konstatierten Autonomie der Religion widerspreche: „ D i e Religionspsychologie zeigt uns durchaus die G r u n d e m p f i n d u n g aller Religion, nicht ein Produkt des mechanischen Ablaufes, sondern eine W i r k u n g des in ihr e m p f u n d e n e n Ubersinnlichen selbst zu sein, sie will aus d e m intelligiblen Ich s t a m m e n verm ö g e eines irgendwie gearteten Z u s a m m e n h a n g s mit der übersinnlichen Welt." 8 0

Das .intelligible' Ich erscheint hier als die dem Kausalzusammenhang der Immanenz entnommene Ich-Instanz und insofern und daraufhin als die Größe, auf die hin von einem .Zusammenhang' mit einer .übersinnlichen' Realität die Rede sein kann. Troeltsch nimmt nun den religionspsychologischen Befund der Autonomie des religiösen Bewußtseins - d.h. der Nichtreduzierbarkeit des religiösen Bewußtseins auf fundierende psychische Phänomene zum Anlaß, die zeitliche Manifestation von Akten des intelligiblen Ich zu vertreten, ohne daß diese Akte als zeitliche der Kausalnotwendigkeit unterliegen: enthaltenen Vernunft durch die sie herausziehende Analyse. Dann aber ist sie eine unendliche, in immer neuem Anlauf zu vollziehende und immer nur annähernd lösbare Aufgabe. Die völlige Scheidung des Psychologisch-Tatsächlichen und des Logisch-Notwendigen wird nie völlig gelingen ..." (ebd. 30, vgl. f). Vgl. dazu auch die sachlich entsprechende Fragestellung Troeltschs nach dem Maßstab der Beurteilung historischer Phänomene angesichts der Historizität der Maßstabbildung selbst: G S III, Kap. II (Über Maßstäbe zur Beurteilung historischer Dinge, 111-220), bes. 164-199, hier 179-183. 7 7 Zur Kantinterpretation Troeltschs vgl. Barth, Troeltsch 89-91; 93f, der zeigt, daß Troeltsch in seinem Begriff des apriori und damit in seiner Verhältnisbestimmung von Empirie und Rationalität die Deutung des apriori als Hypothese im Marburger Neukantianismus und die Deutung als Normbegriff bei den Badischen Neukantianern verbindet (91-93). 78 Zum folgenden vgl. Troeltsch, Psychologie 36-43. 79 AaO. 37. 80 AaO. 38.

158

D i e Wahrheit der neuzeitlichen Subjektivität

„ E s m u ß m ö g l i c h sein, daß in d e m p h ä n o m e n a l e n Ich durch schöpferische Tat des in i h m latenten intelligibeln Ich die Persönlichkeit als Verwirklichung der a u t o n o m e n Vern u n f t geschaffen u n d entwickelt werde, wobei das Intelligible aus d e m P h ä n o m e n a l e n , das Rationale aus d e m Psychologischen hervorbricht, es in der Zeit bearbeitet u n d gestaltet u n d zwischen beiden ein Verhältnis der geordneten Wechselwirkung, aber nicht des kausalen Z w a n g e s stattfindet." 8 1

Die Manifestationen des intelligiblen Ich und damit ein unableitbarer .Zusammenhang mit dem Ubersinnlichen' soll weder außer noch über dem Empirischen liegen, sondern selbst in der Reihe der Bewußtseinsmomente identifizierbar bleiben, ohne damit zum abhängigen Objekt des Naturmechanismus zu verkommen 82 . Für Troeltsch ist diese Modifikation Kants die Basis dafür, den dem psychologisch ausweisbaren Zusammenhang mit anderen psychischen Phänomenen entnommenen Bereich des religiösen Bewußtseins als Manifestation einer Transzendenz zu etablieren; die Eigenständigkeit und Unableitbarkeit des Phänomens der Religion wird dadurch zum Ausdruck gebracht, daß sie dem ,intelligiblen' Ich zugewiesen wird, so aber, daß sich diese religiöse Anlage immer nur anläßlich der psychologischen Manifestationen und den empirischen Medien einer konkreten Religion aktualisiert; die von der wirklichen Religion unabtrennbaren mystischen Zustände — Gebet, Kontemplation, Vision, Ekstase — „... sind ... die Aktualisierung des religiösen Apriori, die H e r v o r b r i n g u n g der wirklichen Religion i m Z u s a m m e n t r i t t des rationalen Gesetzes u n d der konkreten, individuellen psychischen T a t s ä c h l i c h k e i t . . . D i e wirkliche Mystik der Religion besteht aber [nicht, wie bei Schleiermacher, in der Abstraktion von der K o n t i g e n z der Anläße der f r o m m e n Erregung, sondern] in der inneren Verschmelzung von reiner Religion u n d Erregung, in der E r f ü l l u n g der Religion mit Inhalt aus der E r r e g u n g u n d in der Verbind u n g der Erregung mit der in ihr gegenwärtigen O f f e n b a r u n g u n d Selbstmitteilung der Gottheit."83

Die Aufnahme der kantischen Antithese von empirischem — d.h. in jeder Hinsicht dem Kausalgesetz und dem allseitigen immanenten Bedingungsgefüge unterliegenden - und dem in keiner Weise empirisch sich manifestierenden Ich modifiziert sich dahingehend, daß von der Religionspsychologie als empirisch nicht auf Gleichartiges zurückfiihrbar ausgewiesene religiöse (aber auch ethische und künstlerische) Phänomene als Manifestationen einer Tran-

AaO. 40. AaO. 3 6 - 4 3 ; bes. die Folgerungen aus dem Jneinandergreifen' von Rationalem und Empirischem: Das Ineinandergreifen selbst aber behauptet eben damit die Unterbrechung der kausalen Notwendigkeit und das Eingreifen der autonomen Vernunft in diesen Verlauf, ohne daß es selbst durch diesen Verlauf hervorgebracht wäre, auch wenn es durch ihn angeregt und gefördert oder gehemmt und geschwächt werden kann." (40) Auch mit Bezug auf diese Passage ist sicher U. Barth zuzustimmen, daß mit dieser Beschreibung des Verhältnisses von Abhängigkeit und Freiheit ein Problem eher markiert als gelöst wird, vgl. Barth, Troeltsch 74f. 83 AaO. 47. 81

82

Subj ektivität zwischen Sünde und Versöhnung

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szendenz bestimmt werden können. Das genaue Verhältnis dieser Transzendenz' bzw. dieser übersinnlichen Welt (s. Zitat oben) zu jener Intelligibilität des Ich wird von Troeltsch nicht erläutert; diese ,Transzendenz' ist aber jedenfalls kein gegenständlich anderes als die Intelligibilität des Ich selbst.84 2.1.2.2. Die weiteren Dimensionen der Unterscheidung von intelligiblem und empirischem Ich und das Recht dieser Kantlektüre können hier völlig außen vor bleiben,85 da Eiert in seiner Aufnahme der Termini einzig und allein an dem Faktum einer Diastase innerhalb des Ich interessiert ist, genauer: daran, daß auch die profane Philosophie (vgl. die Bezugnahme auf Fichte: Grenzen 200f) bzw. die mit allgemeinwissenschaftlichen Methoden arbeitende Religionswissenschaft (neben Troeltsch nennt Eiert W. James und E.D.

84 Troeltsch, Psychologie 57—40, bes. 42f; 50-55. Troeltsch äußert sich zu diesem Punkt nur am Rande, geht aber davon aus, daß sich im religiösen Erlebnis das Göttliche manifestiere, und daß dieses innerseelische Erlebnis durch äußere Faktoren angeregt werde - vgl. 28: die Bezeichnung einer ,apriorischen religiösen Vernunft und des in ihr gesetzten Objekts'; vgl. die Behandlung der Frage nach der gegenständlichen Wahrheit der Religiosität: 48ff, bes. 51 ff; 52: „Woher aber dasjenige kommt, das uns in der Einheit der notwendigen Idee eines Göttlichen und einer tatsächlichen Wirkung und Offenbarung entgegentritt, das vermögen wir nicht zu sagen. Dieses Etwas selbst, sein Kommen und Gehen, sein Dasein oder Nicht-Dasein, das bleibt im letzten Grunde das Geheimnis der Religion." (vgl. ff); 53: „Es bleibt zu Recht bestehen der grundlegende Glaube aller Religion, Offenbarung und Erleuchtung durch die Gegenwart des göttlichen Lebens in der Seele zu sein und aus verborgenen Gründen des unbewußten Lebens hervorzuwachsen, wo es zusammenhängt mit der Weltvernunft und aus denen heraus die Gottheit sich im aktuellen religiösen Vorgang offenbart."; genau dies ist die gleichsam gegenständliche Formulierung der .Wechselwirkung' des intelligiblen mit dem empirischen Ich in der oben analysierten Passage. Zum Programm Troeltschs, das auf eine von der Psychologie ausgehende Metaphysik zielt, und zu dessen Problemen vgl. die in Anm. 85 genannte Literatur (Pfleiderer zum Programm, Wagner zu den Problemen). 85 Vgl. zum Hintergrund der Kantinterpretation Barth, Troeltsch 88ff. Die Intention Barths ist es, die Theorie vom religiösen apriori als strukturelle Parallele zur Behandlung des Historismus-Problems beim späteren Troeltsch zu erweisen: bes. 94ff, und so die in der dort vorgelegten subjektivitätstheoretischen Begründung des Religiösen formulierte Kantrezeption als das Grundmodell des späteren religionsgeschichtlichen Ansatzes erkennbar zu machen. Vgl. auch die Kritik des Troeltschschen Projektes bei Wagner, Religion 135—153, hier bes. die Kritik Wagners an dem Versuch Troeltschs, den Folgen des Rekurses auf die Subjektivität als Geltungsgrund der Religion zu entgehen: Er identifiziert bei Troeltsch eine .metaphysische Wendung', nach der Troeltsch das religiöse Apriori selbst auf eine Selbstmanifestation des Göttlichen in der Seele zurückführt, um der Folge des Rekurses auf die Subjektivität als Geltungsgrund der Religion zu entgehen: daß nämlich die Religion bzw. deren gegenständliches Moment - die Gottesidee - zum Konstitut des Bewußtseins wird (aaO. 143-146); Wagners Kritik zielt auf die konsequente Durchführung dieses Programms ab, die nach Wagner dann möglich ist, wenn man in der Tat mit Troeltsch die Gottesidee als das Apriori bestimmt, nun aber eben nicht die Gottesidee des religiösen Verhältnisses, sondern eine Gottesidee, die als Bedingung der Möglichkeit des religiösen Verhältnisses im Sinne des Selbstoffenbarseins Gottes für sich selbst zu stehen kommt, als dessen Moment sich das religiöse Bewußtsein zu erweisen hätte und in das es aufzuheben wäre (aaO. 146). Zum Zusammenhang mit dem religionsphilosophischen Gesamtprogramm Troeltschs vgl. Troeltsch, GS II 452—499 (Wesen der Religion und der Religionswisenschaft), hier 492-497, dazu Pfleiderer, Theologie 64ff.

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Die Wahrheit der neuzeitlichen Subjektivität

Starbuck: ebd. 201) des Phänomens einer Brüchigkeit des Ich bzw. des Phänomens einer religiös motivierten Antithetik innerhalb des Ich ansichtig werden, die Eiert der Frankschen Unterscheidung von altem und neuem Ich (Wiedergeburt und Bekehrung) parallelisiert: „ W i e d e r u m von anderen Erwägungen, von erkenntnistheoretischen, aus gelangt Troeltsch, an Kant a n k n ü p f e n d , zur Notwendigkeit der Unterscheidung des empirischen u n d intelligibeln Ich. U n d es wird noch zu zeigen sein, von welcher f u n d a m e n t a len Bedeutung für den christlichen Wahrheitsnachweis auch bei Frank diese Spaltung im Ichbewußtsein ist." 86

Es ist zu vermuten, daß Eiert hier die Bezugnahme Troeltschs auf das intelligible - der Naturkausalität entnommene - Ich als Subjekt der Religion so rezipiert, daß er dieses intelligible Ich mit dem Ich der Wiedergeburt bei Frank identifiziert - darin den skizzierten Kontext und den Sinn der Troeltschschen Unterscheidung völlig verkennend. Es ist allerdings wichtig, dieses Mißverständnis zu notieren, da hier der Ursprung fur den noch zu belegenden Sachverhalt liegen dürfte, daß in den folgenden Bezugnahmen auf den Titel des transzendentalen' oder des ,intelligiblen' Ich dieses immer als das Subjekt des Gottesverhältnisses oder des Glaubens apostrophiert wird. Elerts nur angedeutete These ist die, daß sich die säkulare Subjektphilosophie der Einsicht in die „Spaltung, einen Riß, eine Unstimmigkeit, eine Neusetzung oder dergl. im Ichbewußtsein" (Grenzen 200) nicht entziehen, diese als religiösen Vorgang aber auch nicht in der dem religiösen Subjekt zugänglichen Tiefe erfassen kann; nur das religiöse Subjekt selbst erfahre in dieser ,Spaltung' das Wirken einer transzendenten 1 Größe: „Diese Spaltung ist n u n w i e d e r u m etwas, das von der allgemeinen Wissenschaft nicht in seiner ganzen Tiefe gewürdigt werden kann. Für die nichtreligiöse Betrachtung bleibt das Subjekt eins u n d dasselbe, durch i m m a n e n t e Fäden restlos verknüpft, m ö g e n seine Ä u ß e r u n g e n , seine Gemütszustände, seine Willensentschlüsse zu verschiedenen Zeiten noch so verschieden sein. U n d doch wird sich das religiöse Subjekt, wenn es wirklich den Unterschied zwischen beiden Ich als einen sein ganzes inneres Wesen von G r u n d aus umgestaltenden empfindet, niemals bei solchen Erklärungen beruhigen, die jede Neugestaltung aus d e m früheren Innersubjektlichen restlos u n t e r n e h m e n wollen. Gerade in der Neugestaltung des Ich, der eigensten Regung seines Innenlebens, wird es auf die Wirksamkeit einer Außengröße gestoßen, die seiner, des Subjekts, unbedingt mächtig ist." (Grenzen 201).

Die wesentliche Differenz einer religiösen bzw. christlichen Interpretation dieses Phänomens ist nun die Rückführung des ,neuen' Ich bzw. der religiösen Subjektivität auf die Einwirkung eines jenseits des Ich bzw. ganz „in der Transzendenz" liegenden Faktors - und es kommt Eiert gerade darauf an, zu zeigen, daß nicht die Beschreibung dieser Realität, sondern deren Begründung in einer Transzendenz das im Gespräch mit der Wissenschaft strittige 86

Eiert, Grenzen 201; Namen im Original gesp.

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Proprium der Religion ist.87 Intendiert ist, so sieht es aus, ein Schluß von der Unmöglichkeit einer immanenten Erklärung der Erfahrung von Wiedergeburt und Bekehrung auf darin wirksame externe Faktoren. Das Indiz dieser Unableitbarkeit scheint die Tiefe der Spaltung zwischen altem und neuem Ich zu sein, die eben die Annahme einer Selbstsetzung gerade nicht mehr zuläßt: Das ,alte Ich' kommt als Instanz der Neubegründung nicht in Frage88. Die Analyse bleibt hier somit gänzlich in den Bahnen der Erlanger Theologie, genauer des bei v.Frank vollzogenen Schlusses von der Unableitbarkeit der Erfahrung von Wiedergeburt und Bekehrung aus innerseelischen oder weltlichen Phänomenen auf deren Bedingtheit durch transzendente Faktoren (vgl. Slenczka, Studien Bd. 1, 92fF). 2.1.2.3. Insgesamt wird damit deutlich, daß die Unterscheidung von .intelligiblem' und .empirischem' Ich in dieser frühen Veröffentlichung Elerts zunächst nur dazu dient, die Neubegründung der Subjektivität, die sich mit dem Glauben vollzieht, terminologisch zu fassen, wobei der Titel des .intelligiblen Ich' die neubegründete Subjektivität bezeichnen soll; strittig ist zwischen dem theologischen und dem religionswissenschaftlichen Zugang im Blick auf das auch religionswissenschaftlich bzw. -psychologisch unabweisbare Phänomen einer religiösen Neukonstitution des Ich die Frage, ob diese Neubegründung sich aus den Möglichkeiten des Ich, oder aber durch eine externe Instanz vollzieht. 2.1.3. Die Unterscheidung in der Böhme-Studie. 2.1.3.1. In der Licentiatenarbeit Elerts wird erkennbar, daß er die unmittelbare Einheit der Transzendenz' mit dem ,intelligiblen Ich', die Troeltsch in der genannten Schrift vornimmt, wahrgenommen hat. Die Arbeit ist insgesamt der Frage nach der Begründung einer Teleologie der Geschichte gewidmet und erwartet diese Begründung von einer die Geschichte auf sich hin ordnenden ,Transzendenz'; diese sei nur im religiösen Erlebnis zugänglich und könne somit vom Christentum der Geschichtsforschung zur Verfügung gestellt werden. 89 In diesem Zusammenhang setzt sich Eiert mit dem hier angezogenen Aufsatz Troeltschs - als einem Modell zur Begründung eines Zuganges zur ,Transzendenz' -

87

Vgl. Grenzen 201f, vgl. zu demselben Topos: Eiert, Prolegomena 88-99. Vgl. im oben gebotenen Zitat: Es „wird sich das religiöse Subjekt... niemals bei solchen Erklärungen beruhigen, die jede Neugestaltung aus dem früheren Innersubjektlichen restlos unternehmen wollen." (Grenzen 201). 89 Vgl. Prolegomena 76 und ff sowie 97ff und oben S. 37. Die Arbeit ist von Eiert selbst, wie aaO. notiert, rückblickend als .unreif und innerlich unsolide' bezeichnet worden - was bereits damit zu begründen ist, daß sein Grundansatz, eine Philosophie der Geschichte im Ausgang von der im Christentum erschlossenen .Transzendenz' zu entwerfen, schlicht der - ihm eigentlich in den Arbeiten Troeltschs zugänglichen - relativierenden Kraft des historischen Denkens auch für das Christentum nicht annähernd ansichtig wird - vgl. nur: Troeltsch, GS III (Kap. II: Über Maßstäbe zur Beurteilung historischer Dinge) 164 unten. 88

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D i e W a h r h e i t der neuzeitlichen Subjektivität

auseinander und kommt eben unter Verweis auf diese Identifikation der Transzendenz mit dem ,intelligiblen Ich' zu der Behauptung, eine Transzendenz' im eigentlichen Sinne — gemeint ist: eine Transzendenz dem Subjekt und allem innerweltlichen Seienden gegenüber — werde hier nicht erreicht. 90 2.1.3.2. Die oben angesprochene, zunächst ganz unauffällige Verwendung des Begriffes in der größeren Böhme-Studie erweist sich unter diesem Aspekt als äußerst interessant: Eiert grenzt die Böhmesche Deutung der Neuschöpfung an dieser Stelle ab gegen die Vorstellung einer Abkehr des Wiedergeborenen vom empirischen oder transzendenalen Ich und deutet sie als eine Neubestimmung des Willens: 91 „Das .eigene Ich', von d e m er sich abwenden soll, ist n i c h t im transzendentalen oder psychologischen Sinne zu verstehen, sondern sittlich: Selbstgenügsamkeit,

Eitelkeit,

G e n u ß der eigenen Persönlichkeit usw. D a v o n soll sich der M e n s c h abwenden u n d ein anderes wollen, das auch in i h m beschlossen liegt, ein unsagbares, unfaßbares Mysteriu m m a g n u m , G o t t selbst." (Mystik 7 8 )

Auf den ersten Blick ist die Passage terminologisch nicht sonderlich klar; offensichtlich will Eiert darauf hinaus, daß die Hinwendung zu Gott bei Böhme keine Abwendung vom Ich im weitesten Sinne darstellt, sondern daß der Mystiker das ,Mysterium magnum' als etwas ,in ihm Beschlossenes' findet; weil der Ort der Begegnung mit Gott das eigene Ich ist, kann die Abkehr vom .eigenen Ich' nur ein sittliches Phänomen (im Unterschied zu einer Hinkehr zu einem vom Ich unterschiedenen Ort der Gottesbegegnung) meinen. Dies entspricht dem Gesamtprogramm der Untersuchung zur ,Willensmystik' bei Böhme: Eiert zeichnet den Prozeß der mystischen Vereinigung des Menschen mit Gott bei Böhme nach, wobei es ihm insbesondere darauf ankommt, diesen Prozeß als Wandlung des Willens und die Vereinigung des Menschen mit Gott wesentlich als eine Einheit des Willens auszuweisen (op. cit. 85): Der Wille kehre sich bei Böhme ab von allen äußeren Instanzen, richte sich auf das Innere des Menschen selbst und finde in diesem das Universum und Gott wieder (op. cit. 83, vgl. pss. und 132f). Dieses Einswerden mit Gott sei ein wesentlich, aber nicht ausschließlich voluntatives Phänomen 92 .

90 Vgl. Eiert, Prolegomena 76f; 90f. Der Begriff der Transzendenz wird im ganzen Werk nicht zufriedenstellend aufgeklärt und äquivok verwendet. 51 Vgl. zum folgenden auch die Analyse oben A, 4 . 2 . 1 . , S. 64f. 52 Eiert spricht von zwei Gedankenreihen bei Böhme, die dieser nicht identifiziere, sondern einander zuordne: die Einheit mit Gott im Willen, die es erlaubt, den Willen Gottes als Grund der Bekehrung des Menschen zu bezeichnen und so eine pelagianisierende Deutung der Bekehrung zu vermeiden (op. cit. 78); und die Einheit mit Gott in der beseligenden Schau (vgl. op. cit. 8 7 f [Moment]; 8 0 - 8 5 ) .

Subjektivität zwischen Sünde und Versöhnung

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2.1.3.3. Dem Sinn der Unterscheidung kommt man näher, wenn man sich die kritische Perspektive vergegenwärtigt, unter der Eiert die Mystik Böhmes in den Passagen betrachtet, in denen er einen Vergleich mit Grundtheologumena der lutherischen Heologie vornimmt. Eiert kommt es in diesen Randbemerkungen darauf an, festzustellen, daß bei Böhme im Unterschied zur lutherischen Tradition das Ich selbst - und nicht externe Instanzen (Wort und Sakrament) - der Ursprungsort der Offenbarung Gottes ist. Das Ich ist selbst der Ort der Gotteserfahrung, nicht Gegenstand einer ihm von außen zugefügten Neusetzung: „Die Seele geht bei ihrem Imaginationswechsel nicht aus dem eigenen Bewußtseinsinhalt heraus. Ganz anders, nebenbei gesagt, z.B. die lutherische Kirchenlehre. Nach ihr kommt der Anstoß zur Bekehrung usw. unter allen Umständen von außen, nämlich vermittelt durch ,Wort und Sakrament'. Während bei dieser Auffassung die Bewirkung der Wiedergeburt durch einen außermenschlichen Faktor wenigstens logisch sichergestellt ist, handelt es sich bei Böhme nur um eine dialektische Unterscheidung in der Benennung einzelner seelischer Inhalte. Seine Gottheit erreicht ihn nur im eigenen Innenleben und zwar nur von innen heraus. Wenn er ihr überhaupt Transzendenz zuschreibt, so kann sie für ihn nirgends anders in die diesseitige Welt hineinragen als in der eigenen Seele. Nur im eigenen Bewußtsein kommt sie zur Erfahrung." (132f)

Die oben als Ausgangspunkt zitierte Feststellung, daß die Abkehr vom Ich bei Böhme keine Abkkehr vom transzendentalen oder psychologischen Ich meine, zielt also genauer auf den Gedanken hin, daß gerade das Ich bei Böhme der Ort der Begegnung mit Gott sei, und zwar im Gegensatz zu einer Vermittlung dieser Begegnung durch externe Medien. Damit wird aber deutlich, daß die beiläufige Bezugnahme auf die Unterscheidung von transzendentalem' und psychologischem' Ich (von denen sich Böhme nicht abkehren wolle) eben um eine Unterscheidung handelt, die offensichtlich die angeblich bei Böhme vorgenommene .dialektische Unterscheidung einzelner seelischer Inhalte' wiedergeben soll; es ist zu vermuten, daß dabei das psychologische' Ich für das empirische menschliche Seelenleben, das transzendentale' Ich aber für die Instanz steht, in der ,im' menschlichen Innenleben die Transzendenz ,hineinragt'. Vom Ich im psychologischen Sinne hat sich der Mensch im Prozeß der Bekehrung gerade darum nicht abzuwenden, weil ,in' diesem Ich — vermutlich doch eben im transzendentalen' Ich - Gott begegnet. 2.1.3.4. Interessant ist dabei nun genau der weiterführende Umstand, daß Eiert die Beschreibung der Bekehrung bei Böhme - in einer oben bereits analysierten Passage - als Modus der Lösung eines Problems der Ich-Identität versteht: Böhmes Einsicht ergebe sich in der Auseinandersetzung mit einem Gottesbegriff, der gerade als externe Instanz die Vernichtung des Ich impliziere und somit dem Willen des Ich zur Selbstbehauptung widerspreche: „Der Gottesgedanke legt ihm ein verpflichtendes Soll auf und zwar eins, das wirklich als von außen kommende, übermächtig empfandene Verpflichtung erkannt wird. Das Ich

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Die Wahrheit der neuzeitlichen Subjektivität

soll sich beugen, ja am liebsten ganz vergessen. D e m steht aber der unwiderstehliche D r a n g zur Selbstbehauptung des Ich gegenüber. Ja, es will sich nicht nur behaupten, sondern es will sich über sich selbst hinaus erhöhen, es will alles haben, alles sein, alles wissen, alles k ö n n e n . ... Der von außen k o m m e n d e n Verpflichtung kann sie [i.e. die Seele] sich ebensowenig entziehen wie d e m gewaltigen Aufbegehren des eigenen Ich." (Mystik 133)

Der von Eiert nachvollzogene Bekehrungsprozeß bei Böhme verspricht die Lösung dieses Problems durch die Identifikation des Ich als den Ort der Begegnung mit Gott; diese Einswerdung mit Gott - dies ist die durchgängige These Elerts - ergibt sich mit einer Neubestimmung des Willens, in der sich diese und die weiteren existentiellen Spannungen lösen, denen das Ich sich ausgesetzt sieht.93 2.1.3.5. Die Bezugnahme auf das transzendentale Ich' erscheint unter dieser Perspektive als Bezugnahme auf die Instanz, durch die und in der sich bei Böhme die Gottesbegegnung vollzieht — und genau so ist der Vorbehalt Elerts in der einschlägigen zitierten Passage zu verstehen: in der von Böhme geforderten Abkehr des Willens vom Ich geht es nicht um eine Hinkehr zu einem dem Ich als anderes desselben gegenüberstehenden, vielleicht gar durch .Historisches' vermittelten Gott, sondern um eine sittliche Korrektur, die der Deutung Böhmes als Mystiker, der ,in sich selbst' Gott findet, nicht entgegensteht.

93 Eiert kommt es in seinem Böhme-Buch (Mystik) insgesamt darauf an zu zeigen, daß es sich in Böhmes Theorie der mystischen Erfahrung tatsächlich um die Wiedergabe einer Selbstbeobachtung und nicht um die Aufnahme einer ursprünglich fremde Erfahrungen wiedergebenden mystischen Terminologie handelt - dem dienen auch die Passagen, in denen er die Selbstzeugnisse und die Fremdberichte über Böhme auswertet (op. cit. 89-128, vgl. 129fF). Damit liegt also der Audruck ursprünglicher religiöser Erfahrung vor, den Eiert als Lösung dreier Probleme - des Verhältnisses von Naturbegeisterung und Selbstentfremdung; des Verhältnisses von Liebe zu Gott und Liebe zur Natur; des Verhältnisses von Selbstliebe und Ichsetzung - zusammenfaßt, und die gerade in der Entdeckung besteht, daß Gott die im Zentrum aller Realität als Grund gegenwärtige ,Größe' ist (op. cit. 132-134), so daß der Mystiker in sich selbst Gott und in Gott alle Wirklichkeit findet (die in der Zusammenfassung skizzierte Spannung und deren Lösung ist im Corpus des Werkes nur sehr schwach angedeutet: op. cit. 80fF, vgl. 77-79). - Eiert kommt es insgesamt darauf an, diesen jeder externen Vermittlung widersprechenden (50-59; 60f; 67) Typus von Frömmigkeit und seinen Gegensatz gegen die kirchliche Theologie rein zu fassen, wobei eben der letzte Sinn dieser Schrift darin besteht, die Orientierung an geschichtlichen Instanzen der Heilsvermittlung als Kriterium genuin lutherischer Theologie einzuführen und nicht nur gegen Böhmes Selbstverständnis als lutherischer Theologe (135f, vgl. 50-61; 40-50), sondern auch gegen den Subjektivismus seiner Zeitgenossen — voraus vermutlich Troeltsch — geltend zu machen (einen Hinweis darauf gibt nur ein Satz, der an die Einfuhrung des .Historischen' als Kriterium lutherischer Theologie anschließt: „Aber daran ist kein Zweifel: Die kraftvolle Gestaltung der eigenen Seele ... macht Jochen Böhme zum Genie - zum Genie, das wie jedes andere aller Nachahmer spottet." (136). Daß hier mehr als ein ,on dit' aufgerufen wird, macht die beständige Parallelisierung mystischer und neuprotestantischer Positionen in der ,Morphologie' deutlich — vgl. nur: I, 66ff und 357-361.

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Zugleich ist von der unter 2.1.3.4. besprochenen Passage her deutlich, daß Eiert bereits an dieser Stelle ein grundsätzliches Problem identifiziert - nämlich das Problem der Antithetik von menschlicher und göttlicher Subjektivität - das im Abriß', in der Dogmatik und eben auch in der Morphologie des Luthertums ins Zentrum tritt (dazu oben A, 4.). In der Mystik Böhmes wird dieses Problem durch die Negation eines Gottesbegriffes, der Gott als Gegenüber des Menschen beschreibt, gelöst und durch einen Rückgang des Menschen in ,sein Ich' bewältigt. Die Aufnahme der Unterscheidung von transzendentalem und empirischem Ich in der Rekonstruktion der .Psychologie' Böhmes weist eben auch voraus auf die in der Morphologie erfolgende Beschreibung der mystischen ,Lösung' des Problems der Antithetik von göttlicher und menschlicher Subjektivität durch die Rückkehr des empirischen Ich in seine Identität mit Gott, die der Titel des transzendentalen Ich' bezeichnet: „ TaulerYi&l das empirische Ich vernichtet werden - das ist auch Freiheit. Aber er läßt es ertrinken im Meer des ungeschaffenen Nichts, das der Mensch dann doch auch nirgends anders findet als in sich selbst. Der göttliche Abgrund erscheint nur als unvorstellbarer Grund des menschlichen Abgrundes. Er ist eine ins Wesenlose erweiterte Potenzierung des transzendentalen Ich selber."94

Dabei erklärt der Umstand, daß diese Terminologie - nicht ihr Inhalt ursprünglich von Troeltsch ererbt ist, die Tatsache, daß Eiert in der Morphologie eine Identifikation der an der neuzeitlichen Subjektivitätstheorie orientierten Theologie mit der Mystik vollziehen wird: Eiert deutet Troeltsch als einen Vertreter einer Einheit von Gott und menschlichem Bewußtsein95 und betrachtet Troeltschs Rekurs auf die Mystik als ,Urphänomen der Religion'96 als Ausdruck dieser Grundposition, nach der das religiöse Erlebnis das Innewerden der letzten Einheit der endlichen und der ungeschaffenen Vernunft sei. Dort - bei Troeltsch und in der Religionsphilosophie des Idealismus — werde dasselbe Programm wie in der Mystik verfolgt, nämlich das Ich zur Besinnung auf seine Identität mit Gott und damit zur Erlösung zu bringen. 97

94 Morph. 1,71, vgl. bes. auch 70. Mit dem Zitat soll nicht behauptet werden, daß sich mit diesen Sätzen irgendein unter den Bedingungen der korrekten Verwendung der Begriffe nachvollziehbarer Sinn verbindet. Zum Sinn der Verwendung der Begriffe bei Eiert werde ich noch kommen. 95 S.o. 2.1.3.1., S. 161f. 96 Troeltsch, GS II (Wesen der Religion und der Religionswissenschaft) 493; Troeltsch kommt es mit dieser Bestimmung darauf auf die Identifikation des Einsatzpunktes der wissenschaftlichen Behandlung des Phänomens der Religion an, der eben in der Analyse des psychologischen Phänomens auf das in ihm präsente Apriori hin liegt - was aber eben nicht aus-, sondern einschließt, daß dieses Programm abzielt auf eine zunächst geschichtsphilosophische, dann .metaphysische' Explikation der im religiösen Phänomen erfahrenen und sich offenbarenden Realität: ebd. 495—497; vgl. zur Haltung gegenüber der Mystik noch: Troeltsch, Psychologie 46-55, dazu auch Pfleiderer, Theologie 61—64. 97 Damit ist eben auch deutlich, woher die Terminologie ursprünglich stammt: aus einer

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Die Wahrheit der neuzeitlichen Subjektivität

Der lutherischen Theologie aber, der die Unterscheidung von Gott und Mensch und die Bindung der Erlösung an eine externe Instanz nach Eiert wesentlich ist, sei diese Position nicht nachvollziehbar. Gerade die von Eiert hervorgehobene Bindung der religiösen Subjektivität an die Externität des Heils in der Rechtfertigung stellt damit nun aber die lutherische Theologie vor das in der Böhmedarstellung herausgestrichene Problem und damit eben vor die Aufgabe, zu zeigen, in welcher Weise sich die von Eiert bei Böhme identifizierte Spannung lösen und die endliche mit der unendlichen Subjektivität vermitteln läßt, ohne zum bloßen Untergang der endlichen Subjektivität gegenüber dem vernichtenden Gott oder zur Behauptung einer letzten Einheit des menschlichen Ich — als transzendentalem - mit Gott zu führen. 98 2.1.4. Zusammenfassung. Die Unterscheidung von ,empirischem' bzw. ,intelligiblem' oder transzendentalem Ich' wird also in der Böhme-Studie und in der Passage aus der Schrift zur Religionspsychologie im Rahmen eines identischen Problemzusammenhangs aufgerufen, nämlich im Rahmen der Frage, ob eine religiöse Neubestimmung der Subjektivität durch eine externe Instanz bedingt oder aus den Mitteln der Subjektivität selbst zu begründen sei. In der Schrift zur Religionspsychologie übernimmt er die Terminologie von Troeltsch und verwendet sie unter ausdrücklicher Bezugnahme auf v. Frank zur Bezeichnung der Differenz von ,altem' und .neuem' Ich; den systematischen Gegenpol bildet hier die neuere Subjektivitätstheorie und Religionspsychologie, d.h. - so Eiert - der Versuch, das Phänomen der religiös begründeten Neusetzung des Ich aus den Mitteln der Subjektivität selbst zu begründen. In der Böhme-Studie kontrastiert Eiert dem Versuch, die Antithetik von Ich und Gott durch eine Rückkehr des Ich in sich selbst zu lösen, die lutherische Position, der gemäß die Bekehrung ein ausschließlich extern konstituiertes Phänomen sei. Genau diese beiden Fronten und diese Problemstellung bilden nun auch den Einsatzpunkt der Morphologie des Luthertums. Wie im ,Abriß' und in der Dogmatik steht auch hier — wie ich zeigen werde — das Problem des Gegensatzes von menschlicher und göttlicher Subjektivität im Zentrum; in den hier relevanten Passagen setzt sich Eiert mit dem Anspruch der Mystik, die Spannung im Verhältnis von Gott und Mensch durch den Rückzug aus dem .empirischen' oder ,konkreten' Ich und im Rückgang auf das .transzendentale Ich' zu bereinigen, auseinander und kontrastiert diesen Anspruch mit der Entdeckung des eigentlichen Sinnes des transzendentalen Ich bei Luther. Wie

Auseinandersetzung mit Troeltsch (gegen Langemeyer, Gesetz, der Erlanger Einfluß vermutet; ähnlich Eyjolfsson, Rechtfertigung 152, Anm. 36, ebenso ders., Rechtfertigung 197, Anm. 92). Zur Zuordnung Troeltschs und der Kantischen bzw. nachkantischen Philosophie zur Mystik vgl. Morph. I, 361, dazu 70f und 65; 67; dazu vgl. Morph II, 150-158 mit I, 71f. 98 Vgl. dazu die Darstellung der Gesamttendenz der Böhme-Studie in Anm. 93.

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die zeitgenössische Lutherforschung erkennt Eiert die Nähe Luthers zur Mystik an und identifiziert diese Nähe gerade durch die .Entdeckung' des transzendentalen Ich (vgl. I, 70ff, 123f, 371, vgl. Glaube 114-119); Eiert betrachtet aber gerade die Bindung der Unterscheidung von transzendentalem und empirischem Ich an die externen Faktoren von Wort und Sakrament als die eigentümliche Leistung Luthers, durch die diese Unterscheidung erst in ihre Wahrheit überführt wird (I, 71, bes. 73ff, vgl. Glaube 115). Wie die Mystik der negative Hintergrund ist, auf dem sich — bei aller Ähnlichkeit — die Position Luthers profiliert, so ist nach Eiert umgekehrt die Unterscheidung von transzendentalem bzw. intelligiblem und empirischem Ich in der neueren Transzendentalphilosophie und Subjektivitätstheorie eine Art Säkularisat der ursprünglichen Entdeckung Luthers und das Beharren auf der Einheit und Autonomie der Subjektivität in der Neuzeit die Gestalt, in der die ursprüngliche Einsicht Luthers wieder verloren geht." Dem ist im folgenden näher nachzugehen. Zuvor allerdings ist noch ein weiterer Modus der Verwendung des Begriffes zu notieren, der sich aus einer analogen Unterscheidung im Rahmen der Schrift zur russischen Religionsphilosophie ergibt. 2.1.5. Verifikation durch die Schrift zur russischen Religionsphilosophie. 1925 veröffentlichte Eiert einen Aufsatz zur russischen Religionsphilosophie, in dem er die Grundstrukturen der Unterscheidung von transzendentalem und empirischem Ich aufnahm, ohne die Begriffe explizit zu verwenden100. Ein Blick auf diese Passage ist darum unverzichtbar, weil hier ein Grundmotiv für diese Unterscheidung in aller Klarheit erkennbar wird, die in den späteren Veröffentlichungen von weiteren Motiven verdeckt wird. Eiert referiert im Kontext Florenskijs Lehre von Sünde und Erlösung: Sünde sei bei Florenskij der Verlust der .inneren Einheit der Seele' durch den Versuch, sich selbst zu begründen statt sich am .inneren Aufbau der göttlichen Schöpfung, der Weisheit, die den Sinn der Welt ausmacht', zu orientieren; diese schöpfungswidrige, selbstbezügliche Orientierung der Seele führe

99 Z.B. I, 360f; dort wird auch die Position des kritischen Idealismus in dieser Frage mit der Kants identifiziert. Vgl. dazu auch die zitierte Bezugnahme des Aufsatzes zur Religionspsychologie auf Fichte: Grenzen 200. 100 Eiert spricht hier in einem Referat der Position Florenskijs von der ,νοη Gott geschaffenen Persönlichkeit' im Unterschied vom .empirischen Charakter' - dem .System von Handlungen', in dem sich die .freie Persönlichkeit' entfalte. Diese Unterscheidung überfuhrt Eiert in die Differenzierung des „für sich" vom „an sich" des Menschen, um dann von der .nackten Subjektivität' zu sprechen, die als Ergebnis dieser Unterscheidung übrigbleibe (alle Zitate aus Religionsphilosophie 576). Die nächste Nähe zu den Aussagen der Morphologie und der Dogmatik über die Subjektivität markiert die zuletzt genannte Bestimmung (vgl. Glaube 79, 116 u.ö.) und ist damit zugleich ein Beleg dafür, daß die von Eiert vorgetragene subjektivitätstheoretische Position nicht an der Verwendung des Begriffes .transzendentales Ich' hängt: Vor (Religionsphilosophie) wie nach (Glaube) der Morphologie beschreibt er denselben Sachverhalt mit dem Begriff der .nackten' oder .bloßen' Subjektivität.

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D i e Wahrheit der neuzeitlichen Subjektivität

zum Selbstverlust der Seele in dem Sinne, daß die Seele sich gänzlich in ihre Zustände und Taten verliert und aufhört, deren Subjekt und so Substanz zu sein (573f). Das mit diesen Ausführungen Gemeinte wird besser verständlich, wenn man es von der Lösung Florenskijs fur die mit der Sündenverfallenheit des Menschen aufbrechende Aporie her liest, die Eiert im folgenden referiert: Der Ubergang vom Sündersein zur Gerechtigkeit setze voraus, daß in Gott der Wille zur Vergebung vermittelt sei mit der Wahrung der geschöpflichen Freiheit des Menschen; die Vergebung darf nicht an der im Menschen realisierten bösen Qualität vorbeisehen 101 . Eiert stellt die Position Florenskijs nun so dar, daß bei diesem die Vergebung genau darin bestehe, daß das in Taten realisierte Böse unterschieden werde von der „von Gott geschaffene[n] freie[n] Persönlichkeit." (576): „Soll die absolut wertvolle Persönlichkeit des M e n s c h e n gerettet werden, so m u ß es zu einer T r e n n u n g v o m empirischen Charakter k o m m e n . Z u einer S p a l t u n g i m Ich des M e n s c h e n . .Psychologisch bedeutet das', sagt Florenskij, ,daß der böse Wille des M e n schen, der sich in den Begierden u n d i m H o c h m u t des Charakters zeigt, sich v o m M e n schen selbst lostrennt, i n d e m er eine selbständige, nicht-substantielle Stellung i m Sein erhält u n d zugleich , d e m anderen' - d.h. d e m andern Teil des M e n s c h e n [!]- als absolutes N i c h t s erscheint. Anders gesagt, das wesenhaft heilige ,Αη sich' der Persönlichkeit trennt sich von ihrem ,Für sich', soweit es böse ist.'" ( 5 7 6 )

Die Antinomie von sittlicher Qualität bzw. Gerechtigkeit Gottes und vergebender Liebe löst sich eben auf die Weise, daß die Persönlichkeit ,Für sich' - die Selbstrealisation der Person in Werken — in diesem Trennungsvorgang ihren Halt in der .Realität' verliert und vergeht: „Die böse Selbstheit, die nur in sich selbst kreist, die also zur nackten Subjektivität geworden ist, hat zuletzt keinerlei Objektivität mehr. Sie hat keinen Anteil mehr am Leben der heiligen Dreifaltigkeit. Sie ist nichts Wirkliches mehr." Umgekehrt werde die „wesenhafte Persönlichkeit, das göttliche Ebenbild gerade dadurch gerettet" (ebd.). Unterschieden wird also das Subjekt von der Späre seiner Werke unter der Prämisse, daß diese Sphäre dadurch ihre Realität verlieren. Der Zusammenhang zur entsprechenden Böhme-Passage ist ebenso deutlich 102 wie die Bezüge zur Rede vom transzendentalen Ich bzw. zum Ich als .punctum mathematicum' in der Morphologie 103 ; in der hier referierten Pas101 Gemeint ist mit diesen Formulierungen offensichtlich die Notwendigkeit eines Ausgleichs der klassischen Antithetik von Gerechtigkeit und Liebe Gottes, wie aaO. 576 deutlich wird. Vgl. mit der Problemstellung in Morph I, 94ff und Glaube § 83. 102 Vgl. insbesondere den Verweis auf die Verkehrung des Willens als „Begierden und Hochmut des Charakters" mit der Charakteristik der Willensverkehrung bei Böhme: „Das .eigene Ich', von dem er sich abwenden soll, ist nicht im transzendentalen oder psychologischen Sinne zu verstehen, sondern sittlich: Selbstgenügsamkeit, Eitelkeit, Genuß der eigenen Persönlichkeit usw." (Böhme 78). Zur Ich-Spaltung vgl. den Aufsatz zur Religionspsychologie (oben S. 1 5 9 0 · 103 Vgl. bes. I, 123, die Rede vom empirischen Ich und von der Spaltung des Ich. Vgl. oben Anm. 100.

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sage wird deutlich, an welchem Punkt genau Elerts Widerspruch gegen derartige Positionen sich festmacht, nämlich eben darin, daß hier ein Personzentrum als mit Gott unmittelbar verbunden und somit der Korruption durch die Sünde entnommen ausgegeben wird, während Eiert selbst die Sünde als die gottwidrige Ausrichtung des menschlichen Willens, also des Personzentrums, bezeichnet104. Eben dies betrachtet Eiert als den entscheidenden Differenzpunkt zwischen Luther und der russischen Religionsphilosophie, der dann auch verantwortlich ist für die andere Sicht der o.g. Aporie im Verhältnis von Gerechtigkeit und Liebe in Gott: „ W i r haben hier bei d e m russischen D e n k e r [Florenskij] einen Punkt erreicht wie etwa L u t h e r in seiner Schrift D e servo arbitrio ... Wobei wir nebenbei feststellen, daß sich f ü r den Russen das ganze P r o b l e m aus d e m G l a u b e n an die menschliche Freiheit, für Luther aus der E r f a h r u n g der menschlichen Unfreiheit ergibt. Aber auch Luther endigt in einer g a n z analogen Aporie: G o t t verlangt von uns das G u t e u n d zwingt uns doch, das B ö s e zu tun. Er verstockt uns u n d m a c h t uns d o c h verantwortlich. E r m a c h t uns verantwortlich für etwas, was wir gar nicht leisten k ö n n e n . Hier wird G o t t für uns z u m D e u s absconditus, d.h. die große sittliche Aporie m a c h t auch die Erkenntnis G o t t e s v o m M e n s c h e n aus u n m ö g l i c h . D i e L ö s u n g erfolgt für Luther allein darin, d a ß G o t t aus seiner Verborgenheit heraustritt u n d in C h r i s t o z u m fleischgewordenen G o t t wird. In der G o t t e s o f f e n b a r u n g in C h r i s t o wird der Sinn der A p o r i e deutlich. Sie ist über uns verhängt, d a m i t wir den G l a u b e n lernen. I m G l a u b e n an Christus haben wir die G n a d e , d.h. die V e r g e b u n g . " ( 5 7 5 )

Hier ist die im folgenden zu analysierende Position der Morphologie schon 1925 — ganz präsent. Die Aporie nach Luther ist somit nicht die von sittlicher Freiheit bzw. göttlicher Gerechtigkeit und göttlicher Vergebung, die Situation vor der göttlichen Forderung und angesichts der verhängten Unfähigkeit, dieser Forderung zu genügen, die - so Eiert ausdrücklich - erfahren und nicht, wie die angebliche menschliche Freiheit, geglaubt wird (vgl. das Zitat). Nach Luther gibt es, so Eiert, kein dem Konflikt mit Gott entnommenes Ich neben der Sphäre eines in Werken realisierten gottwidrigen Willens, sondern der Widerspruch gegen Gott ist selbst unentrinnbar das Zentrum der Person, die darin unfrei ist. Diese Unfreiheit muß somit die Unfreiheit gegenüber der Selbstbezüglichkeit der Subjektivität sein. Die Aporie betrifft in diesem Sinne das Verhältnis von göttlicher Gerechtigkeit und menschlicher Sünde, die nun ausdrücklich nicht so gelöst werden kann, daß ein von der Sünde unberührter Personkern von der menschlichen Sünde unterschieden wird, sondern in irgendeiner Weise im ,Glauben'. In welcher Weise dies erfolgen soll, erhellt hier nicht; zur Klärung dieser Frage wende ich mich der Position der Morphologie zu. 104 Vgl. die bereits zitierte Passage: „Aber die tiefste Not ist [nach Luther] doch der Konflikt unseres Willens mit dem Willen Gottes." (578) Der Verweis auf den , Willen' nimmt hier die Bezeichnung des Personzentrums als „freier Wille" auf, die Eiert zuvor (576) referiert hatte. Der „Konflikt unseres Willens" ist damit die Bestimmung der Sünde als Konflikt des Personzentrums mit Gott, nicht nur der Spare der Taten.

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2.2. Der Zusammenhang der Rede vom transzendentalen Ich mit dem Begriff eines ,punctum mathematicum' als Ausdruck des Zusammenhangs von Gesetz und Evangelium. Der Sinn des Begriffes des transzendentalen im Unterschied zum empirischen Ich bei Eiert ist nicht ganz ohne Schwierigkeiten zu erheben. Am besten ist es, wenn man sich über die Beschreibung zunächst äußerlicher Momente an den Kern heran-arbeitet, zumal ein schlichter Eintrag einer textexternen Bedeutung zu Fehlinterpretationen führen muß. 105 2.2.1. ,Punctum mathematicum' und,transzendentales Ich'. Zunächst ist bezeichnend, daß der Begriff transzendentales Ich' ausschließlich im Rahmen der Passage über das Evangelium verwendet wird. Der Begriff bezeichnet vorerst noch ganz ungenau gesprochen - das Subjekt des Glaubens (69). Terminologische und ausdrückliche Bezüge verweisen allerdings immer wieder zurück auf die Passage über das Gesetz; Eiert erklärt dort, daß das ,Urerlebnis' des Zornes Gottes und die Betrachtung des ganzen Lebens ,oculis Dei' dem Subjekt seine konkrete Fülle und Erstreckung nehme und es vor Gott auf ein ,punctum mathematicum', einen Punkt ohne Ausdehnung „schrumpfen" lasse.106 Zum .punctum mathematicum' wird der Mensch, der sein Leben mit den Augen Gottes betrachtet107 und eben darin seiner Unfreiheit, seiner Verantwortlichkeit vor Gott und seiner Todesverfallenheit ansichtig wird108 - zu-

' 05 Um die Schwierigkeit zu exemplifizieren: Eiert verweist selbst auf Kant (361, vgl. II 151) und Fichte (II 152f); mit dieser Bezugnahme paßt aber seine Herleitung des Begriffes nicht zusammen, in der er das „transzendentale Ich" als Ergebnis eines Prozesses der Abstraktion von allen konkreten Bewußtseinsinhalten erklärt, nach deren „Abzug" eben das transzendentale Ich übrigbleibe (69 unten). Wenig hilfreich ist auch die für sich genommen unklare Fortsetzung des Satzes, die besagt, daß dieses von allen Bewußtseinsinhalten freie transzendentale Ich „die Setzung dieses Bewußtseins als seines [?] Selbstbewußtseins erst ermöglicht." (ebd.) Möglich, daß hier gemeint ist, daß das transzendentale Ich eben die Struktur der Reflexivität selbst, das „Ich denke" ist, das alle Vorstellungen, damit sie in einem Bewußtsein zusammenstehen können, begleiten können muß; dem widerspricht allerdings die relativ umstandslose Art und Weise, in der anschließend das „transzendentale Ich" als „Subjekt des Glaubens" ausgegeben wird. Es zeigt sich schon hier, daß präzise zu fragen ist, in welchem Sinne Eiert vom transzendentalen Ich spricht, da sich hier auf den ersten Blick der Verdacht nahelegt, daß Eiert eine Art immanent-gegenständlicher Ich-Instanz im Unterschied zum „empirischen Ich" beschreibt, die nun fähig ist, „Subjekt" eines Glaubensaktes zu werden. Ein Vergleich mit der Verwendung des Begriffes in der kritischen Philosophie und im Idealismus ist daher notwendig ein zweiter Schritt, der diesen ersten voraussetzt. — In der Literatur wird die Begrifflichkeit notiert und zuweilen auf summarisch benannte Traditionen zurückgeführt; ihr Sinn wird nirgends auch nur annähernd zufriedenstellend diskutiert: Langemeyer, Gesetz 252; Eyjolfsson, Rechtfertigung 15Iff; Hauber, Eiert 124. 106 I, 17f, vgl. 124 und 72. DerTerminus,schrumpfen' wird in der Tat - und zwar nicht nur einmal - verwendet. Er stammt - s.o. Anm. 34 - aus der Darstellung der Mystik bei Johannes von Walter. 107 Dasselbe Zitat wie in Lehre 113; vgl. I, 23 und 72. Auch hier ist der Sinn der, die Rechtfertigung in den Zusammenhang einer in der vorausgehenden Buße begründeten reflexiven Struktur einzuzeichnen: die Wahrheit über das eigene Leben erkennen. - Zur Identität von punctum mathematicum und „transzendentalem Ich" vgl. bes. 123 und 124. 108 I, 17; 23 und Kontext.

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sammengefaßt: angesichts der Erfahrung der Verborgenheit Gottes, die Eiert mit der Erfahrung des Gesetzes Gottes identifiziert.109 Dieses,geschrumpfte', zum .punctum mathematicum' gewordene Ich ist die Voraussetzung der Rede vom transzendentalen Ich' im Rahmen der Entfaltung des Verhältnisses von Evangelium und Glaube (vgl. I, 71). Die Unterscheidung von transzendentalem und empirischem Ich beschreibt somit offenbar auf der einen Seite das ,Ergebnis' der Begegnung des Menschen mit dem Zorn Gottes, auf der anderen Seite aber das Subjekt des Glaubens und des Freispruchs Gottes (I, 71 und f) : „Zu dieser Einschätzung des eigenen Lebens mit den Augen Gottes gelangt man beim Innewerden des göttlichen Zornes .... Es ist derselbe mathematische Punkt, an dem sich jenes arripere iustitiam vollzieht. ... Die Gerechtigkeit, die uns zuteil wird, ... ist niemals in dem Sinne etwas Empirisches, daß sie an den Inhalten unseres Bewußtseins aufgezeigt werden könnte. Dennoch wird sie von Luther ... auf,mich' bezogen ... Dann ist aber auch hier das Ich, das die iustitia empfängt, als .mathematischer Punkt', das transzendentale. Die Identität des mathematischen Punktes, zu dem unser Leben unter dem Zorn Gottes wird, mit dem mathematischen Punkt, an dem uns die iustitia Dei erreicht, ist zu verstehen nach dem Kanon, auf den sich Luther in den Decern praecepta von 1518 bezieht: iustitia est accusatio sui in principio et iustus primum est accusator sui..." (I, 72)

Eben darin — so wird sich zeigen — thematisiert Eiert mit dieser Instanz den Punkt der Identität zwischen dem natürlichen Ich .unter dem Zorne Gottes' und dem Subjekt des Bekehrten.110 Dies ist nun inhaltlich nachzuvollziehen. 2.2.2., Unter dem Zorne Gottes'. Der Aufbau des Kapitels. Das Verständnis dessen, was Eiert mit dem Begriff .transzendentales Ich' bezeichnen will, hängt somit an dem Verständnis dessen, was diese .Reduktion auf das punctum mathematicum' besagen soll. Es ist daher zunächst auf das Kapitel über den ,Zorn Gottes' einzugehen: Dies erste Kapitel der Morphologie (,Unter dem Zorne Gottes') ist so aufgebaut, daß im ersten Paragraphen ,Das Urerlebnis', die unmittelbare Erfahrung des gegen den Menschen stehenden, seinen Tod wollenden Gottes als die Grundlage jeder Religion evoziert wird (I, 15—25. bes. 17f). Dieses Urerlebnis wird in den folgenden drei Paragraphen entfaltet, und zwar dergestalt, daß Eiert zu zeigen sucht, daß die Grundbegriffe, mit denen die theologische Tradition die Verfaßtheit des Menschen extra Christum und seine Gottesbeziehung beschreibt, ursprünglich die Widersprüchlichkeit dieses unmittelbaren Erlebens der Begegnung mit Gott zur Sprache bringen wollen111. Bereits

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Vgl. dazu zu Recht kritisch: Duensing, Gesetz 33ff. Vgl. etwa in demselben Sachzusammenhang: Glaube 587; dazu 583. 111 Abschnitt 2. Sünde; 3. Gesetz und Zorn Gottes; 4. Angst. Zur Bezugnahme dieser Abschnitte auf die Beschreibung des Urerlebnisses vgl. 25; 26; 29 neg.; 31; 34; 39; neg.: 40 und 41; 42f. 110

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in diesen einzelnen Abschnitten verbindet sich diese Absicht der Auslegung des Urerlebnisses mit dem Anliegen, zu zeigen, daß im Laufe der Theologiegeschichte des Luthertums einzelne Momente des Erlebnisses isoliert (z.B. I, 21; 26f; 29), umgedeutet (I, 41) oder unzulässigerweise psychologisiert (I, 40ff) werden; es geht Eiert also darum, im Verfolg der oben skizzierten Gesamtintention der Morphologie zu zeigen, daß und inwiefern das ursprüngliche Erlebnis einerseits durch Theologen, die ihm nicht mehr unmittelbar ausgesetzt waren, verzerrt und verdeckt wird; auf der anderen Seite aber darum, nachzuweisen, daß und wo die Grundstrukturen dieses Erlebnisses bis in die fernsten Gestaltungen des Geisteslebens lebendig bleiben und auch in bewußt nichttheologischen oder nichtchristlichen Positionen fortwirken (I, 30f; 43f). Diese dem Gesamtanliegen der Morphologie entsprechende Intention tritt im letzten Paragraphen ins Zentrum, in dem Eiert die Ablösung der Gotteserfahrung als Fundament jeder Theologie durch die Versuche der Vermittlung mit der natürlichen Rationalität und dem von ihr aus erarbeiteten, von der Dialektik von Gesetz und Evangelium nicht bestimmten, Gottesbegriff nachzeichnet (5. Natürliche Theologie). Im Ganzen geht es also darum, nachzuvollziehen, wie im Erleben Luthers „Gott plötzlich aus einem Gegenstande des Nachdenkens, aus einem Paragraphen der Dogmatik zu einer Person geworden [ist], die mich persönlich anruft" (I, 18), und wie diese Unmittelbarkeit des Erlebnisses sich forterbt, weiterwirkt, um dann in der BegrifHichkeit der theologischen Reflexion fortschreitend verlorenzugehen, indem Gott - wieder - zu einem Gegenstand des Nachdenkens wird.112 2.2.3. ,Das Urerlebnis' — Grundstruktur. Die Beschreibung der Grundstruktur des .Urerlebnisses', in dem sich die Reduktion des Menschen auf das .punctum mathematicum' vollzieht, ist allerdings wenig durchsichtig und scheint sich im wesentlichen an den aus Lutherzitaten erhebbaren positionellen Aussagen zu orientieren, die zuweilen durch eigene Gedankengänge gestützt werden.113

112 Wie oben bereits vermerkt, ist diese Ablösung des ursprünglich in einem irresistiblen Geschehen sich vermittelnden Gottes von dieser Erfahrung und die Domestizierung dieser Erfahrung im Prozeß der theologischen Reflexion die Grundstruktur des , Transzendenz'-Aufsatzes (ebd. 528-533); ein vergleichbares Programm bestimmt den Gedankengang von , Erstarrungsgesetz', s.o. B, 3.3.3., S. 120ff. 113 Es scheint mir ganz unbestreitbar zu sein, daß sich der Gedankengang nicht nur der Paragraphen des Kapitels 1 der Morphologie nicht einem stringenten Konzept, sondern eher dem Zufall des Einfalls verdankt. Den Text beispielsweise des § 1 (Das Urerlebnis, 15-25) strukturieren die eingestreuten Fragen, die den Gedankengang weitertreiben (etwa die „Warum"-Fragen 17; 18, Abs. 2 - Antwort auf beide Fragen in 19 Abs. 1; 2 3 0 oder insbesondere Einwände, die Eiert beim Leser vermutet (etwa 21-23). Insgesamt sind die Abschnitte so strukturiert, daß nicht ein Gedankengang zu einem bestimmten Ergebnis fuhrt, sondern eine These durch Zitate belegt (zur Sünde [26fF] z.B. 26; 27), gegen Mißverständnisse abgegrenzt (zur Sünde etwa 2 8 0 oder mit der

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Der organisierende Grundgedanke des Abschnittes über das ,Urerlebnis' ist nach dem oben (A, 4.) Ausgeführten die Beschreibung des Willensgegensatzes zwischen Gott und Mensch. Näher strukturieren offenbar zwei Grundanliegen den Text, die Eiert folgendermassen bestimmt: „ D i e Schrift gegen E r a s m u s enthält die B e g r ü n d u n g jener düsteren Lebensauffass u n g , die Luther zu Ps. 9 0 entwickelt. Es wird sich freilich zeigen, d a ß unter d e m Eind r u c k des Evangeliums ein völlig anderes Bild entsteht u n d daß also alles dies nur vorläufige G e l t u n g hat. Es wäre d e m n a c h verfehlt, hieraus allein etwa a u f unbelehrbaren W e l t p e s s i m i s m u s Luthers zu schließen. Aber auch bei dieser weiteren Zergliederung des bisher Entwickelten entsteht die G e f a h r von M i ß d e u t u n g u n d Fehlentwicklung - wie

späteren theologischen Entwicklung verglichen (zur Sünde etwa 30f) wird; so liegt die eine These im genannten Abschnitt über die Sünde in der Behauptung, daß die Sünde bei Luther nicht als Gesetzesübertretung, sondern als negatives Gottesverhältnis (Feindschaft gegen Gott) verstanden werde (27; vgl. 24). - Sobald der Gedankengang diskursiv wird, stellen sich unglaublich schwache Argumentationen ein: So setzt sich Eiert in der Passage über „Gesetz und Zorn Gottes" (3., 3 1 39) mit der Möglichkeit, mit Gott über einen Ausgleich von Verdienst und Schuld auf der Basis des fixierten Gesetzes ins Reine zu kommen, auseinander (33—35) und führt hier aus: „Allein er [i.e. Gott] ist ja nicht nur der Gesetzgeber. Er ist auch der Richter. Gott aber zum Richter zu haben, verbietet wieder, sein Urteil nur auf Einzelnes in unserem Leben und Tun zu beziehen, ihm Taten oder Entschuldigungen, Werke oder Verdienste anzubieten. Er steht jenseits der Grenzen unseres Lebens, sieht es also stets als Ganzes und muß es dementsprechend auch stets als Ganzes beurteilen ..."; Eiert stellt dann fest, daß dieses Faktum ein „Moment der Unsicherheit" in die Selbstbeurteilung des Menschen bringe, die „sehr schnell" zu der „schrecklichen Gewißheit" werde, daß „ich nicht nur Einzelnes verfehlt, also Sünden getan habe, sondern daß ich ein Sünder bin," Nun schließt unvermittelt eine weitere Begründung für den Totalitätsaspekt der Sünde an: „Die sittliche Qualität des Menschen ist nicht feststellbar aus der Summe seiner Gedanken und Handlungen, sondern umgekehrt; diese können nur aus der Gesamtpersönlichkeit ihren sittlichen Charakter erhalten ... [Belege aus Luther]... Das Gesetz will nicht nur getan, sondern geliebt sein." (I, 33f)· Hier ist vieles unklar: Der Begriff einer Transzendenz als dem „Jenseits der Grenzen des Lebens" ist bestenfalls unreflektiert und greift auf eine Definition der Transzendenz zurück, die Eiert zu Recht bereits in seinem einschlägigen Aufsatz in Frage gestellt hatte (vgl. Transzendenz 523f; zu diesem Aufsatz vgl. unten Anm. 188). Daß die „Transzendenz" impliziert, daß Gott das Leben zwangsläufig (vgl. „muß ... beurteilen") „als Ganzes" beurteilt, ist ohne Begründung nicht einzusehen. Warum das „Moment der Unsicherheit" nun plötzlich „sehr rasch" wieder zur „schrecklichen Gewißheit" der völligen Sündhaftigkeit wird, ist nicht klar, wie auch nicht deutlich wird, wie die zweite Argumentationsreihe, die nicht mit dem Gottesbegriff, sondern mit der Notwendigkeit einer Gesetzeserfüllung aus Liebe zum Gesetz argumentiert, mit der zitierten Argumentation aus dem Gottesbegriff zusammenhängt. Der Gedanke wird hier offensichtlich einerseits von oberflächlichen, weil vorstellungsmäßigen (vgl. Transzendenz und „Das Leben als Ganzes Betrachten") Evidenzen, andererseits aber von Lutherzitaten, die einen zentralen Gedanken belegen (nämlich den der völligen Sündhaftigkeit des Menschen) getragen, ohne daß sich ein eigener, stringenter Ablauf des Gedankens oder gar der - offensichtlich angestrebte - Plausibilitätsgewinn für die Aussagen Luthers ergibt. Entscheidend ist offenbar die aus Luther gewonnene These des jeweiligen Abschnittes; dies ist der Grundgedanke, den die Abgrenzungen und eigenen Überlegungen lediglich umspielen, aber nicht begründen. - Vgl. die Systematisierungsversuche in der Sekundärliteratur: Langemeyer, Gesetz 7 6 - 1 1 5 vollzieht den Gedankengang nach dem Abriß und nach der Dogmatik einfach nach; Duensing (Gesetz 29f) greift wie Bayer, Theologie 292, zum ausführlichen Zitat; Detailinterpretationen des Kapitels gibt es nicht - am nächsten kommt dem Hauber, Zorn 130f.

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die Geschichte lehrt. Unbedingt festzuhalten ist jedenfalls die strenge Bezogenheit des Urerlebnisses auf Gott und zweitens die unlösliche Verknüpfung der schicksalhaften und der sittlichen Elemente." (I, 20) Die Passage trennt den ersten (I, 18-20) vom zweiten Teil (I, 20-25) des Paragraphen. Es wird im Zitat zunächst erkennbar, daß Eiert in diesem Abschnitt zwei Schriften Luthers aufeinander bezieht: die Enarratio Psalmi 90 und De servo arbitrio, und zwar so, daß er die erstgenannte Schrift als den unmittelbaren Niederschlag eines Erlebnisses, die zweite als die Entfaltung und Begründung dieses Erlebnisses betrachtet. 114 Es wiederholt sich hier der Grundzug des Verständnisses der Theologie als Reflexion eines ursprünglichen Erlebnisses, das ich oben entfaltet habe 115 , und es wird sichtbar, daß nicht erst die Abschnitte 2 - 5 den ersten Abschnitt über das Urerlebnis auslegen, sondern daß dieser erste Abschnitt intern bereits so aufgebaut ist, daß er eine Gotteserfahrung (I, 17f; Enarratio Ps. 90) und deren Explikation (I, 1 8 20; De servo arbitrio) zum Gegenstand hat. Zweitens nennt Eiert in dem zuletzt gebotenen Zitat die entscheidenden Elemente des Erlebnisses und seiner Auslegung (die Bezogenheit des Urerlebnisses auf Gott und die Verknüpfung von schicksalhaften und sittlichen Elementen), die er vor und nach der zitierten Passage entfaltet, und zwar so, daß zunächst die Elemente beschrieben werden, wie sie sich nach Eiert in De servo arbitrio darstellen (18-20), dann aber abgegrenzt werden gegen „Mißdeutungen und Fehlentwicklungen" (Zitat oben), die die strenge Bezogenheit des Urerlebnisses auf Gott bzw. den Zusammenhang von sittlichen und schicksalhaften Elementen auflösen 116 . Dieser Zusammenhang strukturiert die inhaltlichen Ausführungen: Das Gegeneinander von geforderter Sittlichkeit (Gesetz) und schicksalhafter Unfähigkeit zum entsprechenden Handeln (Erbsünde 117 ) prägt den ersten Abschnitt (I, 18—20), wobei jedes dieser Momente auf Gott zurückgeführt bzw. in die Situation des Menschen vor Gott eingezeichnet wird. 118 Der zweite Teil 114 Vgl. auch S. 18: „Aber warum graut denn dem Menschen so, wenn er unmittelbar von Gott angerufen wird? Luther hat Antwort darauf gesucht und gefunden in dem Buch De servo arbitrio. Unter der Oberfläche der exegetischen Kontroversen ringt er um das Verständnis seines Grauens vor Gott." Mit der Frage nach der Angemessenheit der Lutherinterpretation brauche ich mich nicht zu befassen - vgl. Duensing, Gesetz 27ff; Lohse, Gesetz 38 lf; 393f. 115 Vgl. oben B, 2.2.4., S. 98ff. 116 I, 20ff, vgl. bes. z.B. 21. Eine der Mißdeutungen ist etwa durch Behauptung, Luther leugne die menschliche Verantwortlichkeit, womit die sittlichen Elemente des Erlebnisses eliminiert werden (20f)· 117 Dazu unten; vorläufig Abschnitt 2. (,Sünde'), bes. 25f; Eiert betrachtet den Begriff der Erbsünde unter dem Aspekt, daß er die Schuldhaftigkeit und die schicksalhafte Unentrinnbarkeit der Sünde gleichermassen festhält, als den Grundbegriff, in dem das Wesen der Sünde zusammengefaßt ist - und nicht etwa als einen Begriff, der unter anderweitige Strukturen der Sünde zu fassen ist (28f) oder der ein Erklärungsmodell für die Sünde abgibt. Der Begriff .Erbsünde' faßt die Grundstruktur der Erfahrung des Urerlebnisses zusammen. 118 Vgl. das strukturierende Element: zuerst auf den Menschen blicken (18), dann: „In seiner

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des Paragraphen (I, 20-25) setzt sich mit dem Vorwurf auseinander, die Theologie Luthers habe libertinistische oder fatalistische Konsequenzen,119 stellt diesen Abgrenzungen aber innerhalb der Frage nach dem Verhältnis der Theologie Luthers zum Libertinismus-Vorwurf einen Abschnitt voran, in dem er die Durchbrechung jeder .Immanenz' als entscheidendes Moment der Position Luthers beschreibt (I, 21f): Eiert kommt es unter dem Terminus der „Durchbrechung der Immanenz" insbesondere darauf an, festzuhalten, daß das Erlebnis in keiner Weise auf innerpsychische Faktoren oder auf die menschliche Vernunft zurückgeführt werden kann: „Das Sollen trifft ihn unter allen Umständen von außen, bedeutet also eine Durchbrechung der Immanenz. Das sittliche Urteil geht schon dann fehl, wenn es den Menschen nach dem M a ß seiner Übereinstimmung mir der sich selbst setzenden sittlichen Vernunft' messen will.... Der Bruch mit der Immanenz, der im Anspruch des göttlichen Gebotes liegt, zerstört zugleich die sittliche Autonomie." 1 2 0

Damit wird deutlich, daß die zitierte Wendung „strenge Bezogenheit des Urerlebnisses auf Gott" (I, 20) darauf abhebt, daß es die Beschreibung des Erlebnisses nicht mit der Analyse psychologischer Vorkommnisse oder mit der Selbstgesetzgebung der Vernunft, sondern in diesen Vorkommnissen mit der Wirkung einer transzendenten, auch die Welt übersteigenden Ursache zu tun hat. Das Urerlebnis als das schicksalhafte Scheitern an einer sittlichen Forderung, das selbst eine Erfahrung Gottes als des Fordemden und des die Erftillung der Forderung Versagenden ist, stellt die inhaltliche Grundfigur des Abschnittes der Morphologie dar und will selbst nichts anderes sein als die Entfaltung der Grundstrukturen eines ursprünglichen Erlebnisses. Diese Grundelemente sind nun daraufhin zu betrachten, was in ihnen die Rede vom .punctum mathematicum' besagt: 2.2.4. Das Grauen und die Transzendenz. Zunächst geht es in dem Abschnitt also um die Entfaltung des Erlebnisaspektes der Begegnung mit dem göttlichen Zorn, deren Niederschlag Eiert in der Enarratio Psalmi 90 erkennt. Den Erlebnisaspekt repräsentiert der Begriff des .Grauens', das den Menschen im Angesicht des Gottes, der seinen Tod will, überfällt: „Aber über all dieser Vernünftigkeit der Welt und Verständlichkeit des Sollens fährt der Mensch plötzlich zusammen. Ihn packt das Grauen. Wovor? Mit einem Grauen

Angst blickt der Mensch auf Gott..."; jeweils: es geht nicht um ein psychologisches, sondern um ein transzendentes Phänomen, d.h. um etwas, was den Menschen , von außen', von einer Transzendenz her, trifft. 119 Libertinistisch: 21-23; fatalistisch: 23ff. 120 Es geht in der Unterscheidung von Immanenz und Transzendenz für Eiert also nicht in erster Linie um den Gegensatz von Gott und Welt, sondern um den Gegensatz des „Innerpsychischen", der autonomen Vernunft, zu dem .von außen' an den Menschen herantretenden Gotteswillen. Die entscheidende Bedeutung dieser Abgrenzung wird weiter unten noch deutlich werden.

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f ä n g t vielleicht j e d e Religion an. Aber hier ist es nicht ein bloßes G e f ü h l weltlichen U n b e h a g e n s , das G e f ü h l für die Unheimlichkeit, Rätselhaftigkeit, Irrationalität der U m w e l t . A u c h nicht die bloße Furcht vor der eigenen Unzulänglichkeit, vor Altern u n d S t e r b e n m ü s s e n . U n d a u c h nicht nur das G e f ü h l v o m U n e n d l i c h e n erdrückt zu werden. Es ist vielmehr das G r a u e n , das einer e m p f i n d e t , wenn ihn in der N a c h t plötzlich zwei d ä m o n i s c h e A u g e n anstarren, die ihn zur Unbeweglichkeit lähmen u n d mit der Gewißheit erfüllen: es sind die A u g e n dessen, der dich in dieser S t u n d e töten w i r d . " (I, 18)

Mit dieser berühmten Passage 121 werden die emotiven Momente des Willengegensatzes zwischen Mensch und Gott beschrieben, die Entdekkungssituation also, die Erfahrung im Sinne des ,Pathos', in dem sich diese Feindschaft in ihrem charakteristischen Gefalle erschließt: das Grauen des Menschen als Grauen vor dem Gott, der den Tod des Menschen will. Es ist entscheidend, zu sehen, daß hier das ursprüngliche religiöse Phänomen das Grauen ist, das erst die Frage nach dem , Wovor' provoziert, bzw. das selbst so strukturiert ist, daß es auf kein innerweltliches Phänomen zurückgeführt werden kann, sondern sich als von einem transzendenten Wesen ausgelöste Emotion erweist; ohne daß Eiert darauf näher eingeht, zeigt sich hier eine Grundfigur der Frank'schen Gewißheitslehre, und es zeigt sich wieder das dieser Erlanger Tradition verhaftete Anliegen, religiöse Phänomene als Manifestationen des Wirkens einer .Transzendenz' und eben nicht als rein psychische Regungen zu beschreiben, das bereits die religionspsychologischen Schriften der Frühzeit bestimmte. 1 2 2 121 Die .dämonischen Augen' nehmen natürlich einerseits die in der Folge ins Zentrum tretende Wendung .oculis Dei inspiciamus vitam nostram' vorweg (vgl. 17; 92 u.ö.). Auf der anderen Seite dürfte die Passage in der Tat ein Indiz für die in der Sekundärliteratur vielfach vermutete Rezeption der .Theologie Luthers' von Theodosius Harnack durch Eiert sein - vgl. das Motiv des .Sehens' und des gegen den Menschen stehenden .Gesichtes' in diesem Text: Harnack, Theologie I, 250 im Rahmen des Nachvollzuges der - der Elertschen Darstellung zugrundeliegenden Psalm-90-Auslegung Luthers (vgl. 246ff, bes. aber 239-241); zur Vermutung eines Einflusses vgl. nur Hauber, Zorn 124f. Vgl. auch den Hinweis auf den als Hintergrund möglicherweise durchaus mitschwingenden Vers Hi 16,9 bei Bayer, Theologie 292, Anm. 69. 122 Vgl. den referierten Aufsatz zur Religionspsychologie: Grenzen 202. - Etwas genauer zum Gedankengang der Passage: Es geht in diesen Bestimmungen darum, festzuhalten, daß im Grauen der Mensch vor Gott steht: „Ihn packt das Grauen. Wovor? Mit einem Grauen fängt vielleicht jede Religion an. Aber hier ist es nicht ein bloßes Gefühl weltlichen Unbehhagens, das Gefühl ftir die Unheimlichkeit, Rätselhaftigkeit, Irrationalität der Umwelt. Auch nicht die bloße Furcht vor der eigenen Unzulänglichkeit, vor Altern- und Sterbenmüssen. Und auch nicht das Gefühl, vom Unendlichen erdrückt zu werden." Dieses Moment des im Grauen implizierten Transzendenzerlebnisses entfalten die Passagen, die die „strenge Bezogenheit des Urerlebnisses auf Gott" festhalten, und hier wird auch die Intention der Abgrenzung gegen eine rein psychologische Deutung des Erlebnisses deutlich: „Es ist natürlich, daß man in dieser Situation zuerst auf den Menschen blickt. Man versucht sich dieses Grauen psychologisch verständlich zu machen. Aber unter den Augen Gottes kommt der Mensch zu einem ganz andern Ergebnis. Er ist ja völlig in einer Gewalt, die nicht er selbst ist, die ihm also gegenübersteht. Und zwar in doppeltem Sinne." — hier folgt nun der Verweis auf die göttliche Forderung und auf das göttlich gesetzte Geschick, der Forderung nicht entsprechen zu können (18). Ebenso 22: „Das Sollen trifft ihn aber unter allen

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Es geht hier somit um die Unterscheidung des religiösen Grauens von i m manenten' Furchtphänomenen, und diese Unterscheidung vollzieht sich durch die Identifikation des Objektes des Grauens. Diese Differenzierung durchzieht den gesamten Abschnitt, in immer neuen Anläufen versucht Eiert abzusichern, daß nur einer ,Transzendenz' dieses Grauen entspringen kann 123 . 2.2.5. Transzendenz. 2.2.5.1. Der Sinn dieser Rede von einer Transzendenz ist einigermassen wohlbestimmt, wenn Eiert ihn auch nicht ausdrücklich hervorhebt; er zeigt sich, wenn man die Momente des Urerlebnisses weiter analysiert: Es geht Eiert darum, festzuhalten, daß alle menschliche Wirklichkeit unter das Verdikt der Sünde fällt, daß der gegen Gott gerichtete Wille ausnahmslos alles Menschliche umfaßt, und daß umgekehrt der göttliche Vernichtungswille sich gegen die Sünde und damit gegen das Ganze des menschlichen Lebens richtet: „Es gibt keinen Menschen ohne Sünde. Es gibt auch keine Neutralität zwischen Sünde und Gerechtigkeit. U n d es gibt keine Sünde, die nicht Feindschaft gegen Gott wäre. Diese Sätze ... sind der Grund seiner [Luthers] erbitterten Bekämpfung jeder Art von Pelagianismus.... Sie scheiden den späteren Idealismus vom Luthertum. Weder das Sichversenken in das eigene Denken noch das Sichselbstsetzen der sittlichen Persönlichkeit' kann zu einem anderen Ergebnis fuhren als zum Widerspruch gegen Gott. D e n n alles, was der Mensch in sich vorfindet und alles, was er setzt, ist Sünde und also von Gott gerichtet." (I, 15f)

Diese Totalität der Sündenverfallenheit sichert Eiert nun (I, I6f) insbesondere dadurch ab, daß er Momente in der Beschreibung dieses Urerlebnisses durch Luther hervorhebt, die das Leben als Ganzes in diesem Urerlebnis in Frage gestellt sehen: zum einen durch die Aufnahme des bereits in der zweiten Auflage der ,Lehre des Luthertums im Abriß' rezipierten (s.o. 93ff) Adagium „ut transferamus nos extra tempus et Dei oculis inspiciamus vitam nostram" - nun als Anweisung, das Leben ,νοη außen' und damit als Ganzes in den Blick zu nehmen; zweitens durch den Rekurs auf die Bedeutung des Todes bei Luther: In der Perspektive der Todesverfallenheit erst komme das Le-

Umständen von außen, bedeutet also eine Durchbrechung der Immanenz. ... Der Bruch mit der Immanenz, der im Anspruch des göttlichen Gebotes liegt, zerstört zugleich die sittliche Autonomie." Hier liegt ein zentrales Anliegen der Elertschen Theologie, wie ich weiter unten noch zeigen werde (s.u. 2.2.7., S. 183ff). 123 Dabei ist deutlich, daß es um eine Argumentation im eigentlichen Sinne nicht geht: Daß Gott keines Beweises bedürftig ist, daß die Aussagen über ihn und die Verkündigung von ihm in Gesetz und Evangeliumvon absoluter Geltung sind, setzt er mit der Confessio Augustana voraus (15) und .folgert' daraus lediglich, daß - da die Geltung des Gesetzes auch den Menschen, der von ihm nichts weiß, umfaßt - „Gott jedenfalls unabhängig von unserm Bewußtsein" ist (ebd.). Es geht in den hier zu analysierenden Passagen nicht um einen Beweis, sondern um den theologischen Ausdruck dessen, was nicht durch diesen Ausdruck, sondern lediglich durch das Erlebnis selbst plausibilisierbar ist. Vgl. dazu Glaube 280.

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ben als Ganzes in den Blick; drittens durch den Verweis darauf, daß der Widerspruch Gottes die sittliche Autonomie und so das am Grunde der Persönlichkeit liegende und in allen ihren Taten verwirklichte Zentrum des Menschseins treffe. .Transzendent' ist also das in keiner Weise als Teil des menschlichen Lebens faßbare Andere'; ,transzendent' in diesem Sinne ist es gerade darin, daß es alle Bestandteile des Menschen und seiner Welt mit seiner Negation trifft. 2.2.5.2. Diese Transzendenz bildet den Gegenbegriff zu einer ,Immanenz' im doppelten Sinne: Unter .Immanenz' versteht Eiert einerseits die Immanenz des menschlichen Bewußtseins und hebt mit dieser Unterscheidung darauf ab, daß die Aussagen über Gott bei Luther nicht als Bestimmungen der Subjektivität gelesen werden können: Das Gebieten und der Zorn Gottes realisiert sich nicht in der Subjektivität, sondern ist das Ende der autonomen Subjektivität.124 Auf der anderen Seite bezeichnet .Immanenz' den Bereich der ,inferiora', den Bereich also der legitimen und unbestreitbaren Autonomie der ratio. Als .Transzendenz' ist der im Urerlebnis erfahrene Gott also einerseits das andere der Subjektivität, nicht das in ihren höchsten Fähigkeiten, ihrer Selbstgesetzgebung sich Meldende; und Gott ist das andere der ,Welt' (I, 21f). Beide Bestimmungen hängen miteinander zusammen: „Denn auch Luther betonte .... der Mensch sei Herr über die Dinge, die unter ihm seien; ihnen gegenüber habe er jus et liberum arbitrium.... Luther meinte mit den inferiora, die er der menschlichen Freiheit unterstellt wissen wollte, dasselbe wie Melanchthon, der dies von den Dingen sagte, die der ratio Untertan seien: den inneren Bereich des menschlichen Daseins, der Welt, des menschlichen Bewußtseins, soweit es sich auf die Welt erstreckt. Solange man den Standort der Immanenz wahrt, kann man Gedanken und Entschlüsse spielen lassen, wie man will. Hier ist der Mensch autonom. Immanenz und Autonomie gehören zusammen." (21f)

Damit, daß der Mensch im Urerlebnis es mit einer Instanz zu tun hat, der gegenüber keine Selbstbestimmung zur Wechselwirkung möglich ist, erweist sich die Transzendenz als Transzendenz. Während die inferiora sich dadurch auszeichnen, daß sie der menschlichen Verfügung unterliegen, hat es der Mensch in dem Moment mit Gott zu tun, in dem sich ihm eine Wirklichkeit entgegenstellt, die sich in jeder Weise seiner Verfügung entzieht und diesem Verfügenwollen selbst widerspricht.125

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Bes. 22, vgl. Zitat S. 175; dazu unten 2.2.7., S. 183ff. Vgl. das Zitat. Eiert schöpft hier wie anderswo die in diesem Gedanken angelegten Möglichkeiten nicht aus: Es bleibt ungeklärt, ob er nun die Immanenz durch die Möglichkeit der Autonomie oder umgekehrt identifizieren will — ob er also den Gedanken intendiert, daß alles, mit Bezug worauf autonomes Handeln möglich ist, Immanenz ist, oder ob der Gedanke intendiert ist, daß alles, was immanent ist, autonomes Handeln zuläßt. Im ersten Fall wäre die Differenz von Immanenz und Transzendenz vorausgesetzt, im zweiten Fall ergäbe sich die Möglichkeit, die Diflfe125

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2.2.5.3. Mit dem Urerlebnis wird also nach Eiert der Bereich des Innerweltlichen, des der ratio Unterworfenen einschließlich des rational erschlossenen Gottes und des über die Sittlichkeit geregelten Verhältnisses zu ihm durchbrochen.126 Der Mensch hat es in dieser Begegnung mit Gott gerade mit einer Macht zu tun, der gegenüber die Autonomie des Menschen versagt und die ihm also nicht aus dem „Bereich der Immanenz", d.h. aus seinem Weltverhältnis, entgegentritt. Eiert hebt damit darauf ab, daß dem Menschen eben darin eine Macht begegnet, die nicht in den Rahmen der ihm zugänglichen und von ihm zu bewältigenden ,innerweltlichen' Realität gehört, und der der Mensch völlig ausgeliefert und von der er völlig abhängig ist: „Er ist ja völlig in einer Gewalt, die er nicht selbst ist, die ihm also gegenübersteht." (I, 18) Ohne daß Eiert an auch nur einer Stelle auch nur andeutungsweise darauf eingeht, formuliert er hier in der gedanklichen Linie des Gefühls der schlechthinnigen Abhängigkeit und hebt - im Gegensatz zu Schleiermacher - gerade die bedrohlichen Aspekte dieser Struktur hervor: Während bei Schleiermacher das Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit das Fundament der Person ist, dessen Hemmung als Unlust erfahren wird, 127 bestimmt Eiert die im Urerlebnis erfahrene Abhängigkeit nicht als Bedingung der Möglichkeit, sondern als Gegensatz der Autonomie, und zwar genau dadurch, daß er den in diesem Erlebnis erfahrenen Gott als externe Instanz faßt.128

2.2.6. Zuordnung der Rede vom,punctum tät der Verlorenheit.

mathematicum':

Ausdruck der Totali-

In den Kontext dieses Gedankens gehört nun die Rede

renz von Transzendenz und Immanenz durch die Möglichkeit von Autonomie zu identifizieren und zu definieren. Eiert ist dieser Möglichkeiten nicht ansichtig geworden - erkennbar bereits an der schwammigen Feststellung, daß Immanenz und Autonomie .zusammengehören'. 126 Vgl. die vorangehende Passage, vgl. die Einleitung zu dem zitierten Abschnitt: „"Aber über dieser Vernünftigkeit der Welt und Verständlichkeit des Sollens fährt der Mensch plötzlich zusammen. Ihn packt das Grauen." (18) Vgl. auch die Rede vom „Ende der,sittlichen Persönlichkeit'" (19). 127 Vgl. Glaube 2 § 5,4 128 Es ist schwer zu sagen, ob Eiert sich dieser systematischen Bezüge bewußt war; die Darstellung der Glaubenslehre in ,Der Kampf um das Christentum' konzentriert sich im wesentlichen auf die Frage, ob Schleiermachers Einführung des Gottesbewußtseins über das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit im Sinne einer .Auflösung' des Gottesbewußtseins in eine Bestimmung der Subjektivität zu lesen sei, oder ob hier eine der Frankschen analoge Schlußfigur vorliege (Kampf 38^41, vgl. 46ff). So wenig wie diese Passage lassen die wenigen Bezugnahmen auf Schleiermacher in der Morphologie eine Aussage darüber zu, ob hier eine bewußte Anknüpfung an Schleiermacher vorliegt: vgl. neben den bloßen Nennungen in Buchtiteln: I, 30f und 392 hier kontrastiert Eiert das Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit der Theologie Luthers — wobei der durch Sperrung betonte Verweis auf die Deutung der Sünde als Bewußtseinsbestimmung S. 31 und der Kontext des zweiten Beleges deutlich machen, daß Eiert das Verhältnis Schleiermachers zu Luther auch hier unter die Frage .Immanenz des Bewußtseins oder Bewußtseinstranszendenz' zwängt. Die Belege des zweiten Bandes zu Schleiermacher tragen nichts aus. Auch die Bezugnahmen auf Schleiermacher in .Dogma, Ethos, Pathos' lassen Rückschlüsse auf einen Einfluß Schleiermachers auf die hier vorgetragenen Gedanken Elerts nicht zu.

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D i e Wahrheit der neuzeitlichen Subjektivität

vom .punctum mathematicum'; die Ausführungen Elerts lassen sich allerdings nur schwer auf einen konzinnen Gedanken vereinigen, so daß der folgende Nachvollzug des Gedankens notwendig unbefriedigend bleiben wird 129 . Der Grund dafür, so wird sich zeigen, liegt darin, daß die Rede vom ,punctum mathematicum' unterschiedliche Phänomene beschreibt. 2.2.6.1. Am einfachsten ist es, mit den Eigentümlichkeiten des Begriffes zu beginnen, die alle Passagen prägen; so ist das .punctum mathematicum' gekennzeichnet dadurch, daß in diesem Begriff die ,Totalität' des menschlichen Lebens zur Sprache kommt; Ausgangspunkt ist dabei die Frage nach dem Status dessen, was am menschlichen Leben wertvoll erscheint: „... Luther duldet hier kein A b w ä g e n des E d l e n u n d S c h ö n e n gegen das Schlechte u n d S c h l i m m e . D e n n ein solches A b w ä g e n setzt die Z e r s t ü c k e l u n g des Lebens voraus, die an der Kernfrage gerade vorübergleitet. D a s L e b e n will als G a n z e s g e n o m m e n werden. Als Ganzes aber ist es unzweifelhaft begrenzt v o m T o d e . " (I, I 6 f )

Zunächst ist hier die Totalität der Sündenverfallenheit des Menschen im Blick und damit genau das Moment, das auch nach Erich Seeberg Luthers Anthropologie von der der Mystik unterscheidet — und durch die Ausführungen Seebergs dürfte Eiert auf die Rede Luthers vom,punctum mathematicum' aufmerksam geworden sei: Auch er profiliert Luthers Rede von der Reduktion auf das ,punctum mathematicum' gegen den Prozeß der mystischen ,Entwerdung'. 130 129 Es hat wenig Sinn, hier die zugrundeliegenden Passus aus der .Enarratio Psalmi 90' (WA 40 / III, 559,2 ff// 20ff; 572,6f // 21ff; 573,1 If) fur die Interpretation heranzuziehen. Luthers Verwendung der Unterscheidung von .punctus mathematicus' und , - physicus' tritt einmal im Rahmen der Auslegung von v. 10 auf, wo Luther auf die Angabe .siebzig oder achzig Jahre' hinweist und feststellt, daß es sich hier um die Angabe eines ungefähren Bereiches der Lebensdauer handle: „Porro septuaginta et octoginta annos intelligas secundum punctum Physicum et non Mathematicum. Neque enim praecise significat septuaginta aut octoginta, quasi nihil infra aut supra sit, Sed, cum fere hoc tempus attingant homines, ponit hunc communem terminum." (55, 23ff). An den späteren Stellen verwendet Luther den Begriff des ,punctus mathematicus', um die Kürze des Lebens angesichts der Ewigkeit des Zornes Gottes zum Ausdruck zu bringen (573) hier ist die Konnotation lediglich die der Nichtigkeit des Lebens: „Homo cogitat 100 annos vite, qui posset hoc punctum Mathematicum etc. Q u i d est 80 anni? Punctus mathematicus, i.e. nihil." (572, 3ff). Auf der Terminologie liegt erheblich viel weniger Gewicht, als dies in der Aufnahme des Begriffes durch Eiert der Fall ist. 130 Vgl. z.B. I, 70f; l46f; vgl. dort auch den Hinweis, daß die .Entwerdung' eine .Technik' des Denkens und nicht das Widerfahrnis des Gerichtes wie bei Luther sei — genauso auch Seeberg genau vor der Seite, auf der er vom .Punkt' des Ich spricht: Theologie I, 47. Seeberg faßt das Ziel der ,Entwerdung' so zusammen: Die Notwendigkeit der Entwerdung beruhe auf dem Gegensatz von Gott und Kreatur bzw. Sünder; dieser Gegensatz sei allerdings an einer entscheidenden Stelle „sozusagen abgeplattet": „Schließlich ist es doch die metaphysische Verwandtschaft zwischen Gott und Mensch im tiefsten Grunde ... auf der die Berührung zwischen Gott und Mensch beruht. Das Ich muß zugrunde gehen, und das Ich ist doch in seiner feinsten, punktförmigen Reduktion der Träger Gottes und sein Ort; über diesen Gegensatz ist die Mystik niemals hinweggekommen." (Theologie I, 48, Hervorhebung von mir). Es hängt nichts daran - aber es spricht doch

Subjektivität zwischen S ü n d e u n d V e r s ö h n u n g

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2.2.6.2. Damit tritt im folgenden Absatz (der erstmals den Begriff des .punctum mathematicum' bietet und daher nun einer Detailanalyse unterzogen werden muß) das Thema des Todes - motiviert durch die Zusammenhänge der zugrundeliegenden Psalmenauslegung Luthers - in das Zentrum der Darstellung, dessen Funktion im folgenden allerdings ganz unklar bleibt. Es geht Eiert im Ganzen darum, den Totalitätsaspekt des menschlichen Lebens — die Totalität der Gerichtverfallenheit - zu wahren, und für diesen Zweck greift er auf eine ganze Reihe von Motiven zurück, die alle auf diesen Gedanken zielen. Zunächst argumentiert Eiert mit dem Verhältnis der Endlichkeit des Lebens zur Unendlichkeit des Todes: Der Tod erweist sich als stärker, das „Leben flieht wie ein Schatten." Das damit angeschlagene Thema der Zeitlichkeit und Kürze des Lebens führen die beiden nächsten Gedanken fort: „Es [das Leben] ist identisch mit der Zeit, die gar keine Ausdehnung hat, die niemals ,ist'." D.h.: Weil die Zeit keine Ausdehnung hat, weder Fläche, noch Raum, ,ist' es nicht - so fährt der folgende Satz fort: „Das Leben als Zeit ist, selbst wenn es hundert Jahre dauert, nur ein punctum mathematicum ..., nur ein Schnittpunkt, ohne Fläche, ohne Raum." 131 Nun folgt die theologische Auswertung: „Die Anerkennung unseres Lebens als eines mathematischen Punktes ist gemeint, wenn Moses fordert, ut transferamus nos extra tempus et Dei oculis inspiciamus nostram vitam! Hier also stoßen wir auf Gott." (I, 17). Was damit gemeint ist, bleibt undeutlich. Entscheidend scheint der Terminus Anerkennung' zu sein: Die Anerkennung dieses für sich unbestreitbaren Sachverhaltes scheint dadurch möglich zu sein, daß das Leben von einem anderen Standpunkt her betrachtet wird, ,νοη außen' nämlich, und damit als Einheit. Eiert fährt dann mit einem Lutherzitat fort: „Denn der Tod des Menschen ist etwas anderes als der Tod der Tiere, die nach dem Naturgesetz sterben; er hat auch seinen Grund nicht im Zufall oder in der Zeit, sondern er ist eine Drohung Gottes, er hat seinen Ursprung im Zorn und in der Entfremdung Gottes..." (I, 17) Offenbar wird nun das Thema des Todes mit Gott verbunden, indem Gott als der Ursprung des Todes bestimmt wird; Eiert fährt fort: „Indem man also das Leben als Ganzes, das heißt als mathematischen Punkt nimmt, begreift man, warum es beständig von der Todesdrohung begleitet wird." (ebd.). 2.2.6.3. Damit zur Analyse der Passage: Es ist zum Verständnis, so scheint mir, entscheidend, zu sehen, daß Eiert einen doppelten Erschließungsgrund einiges dafür, daß die - für sich genommen ja wenig naheliegende - Idee, Luthers .Situation vor dem Gesetzes' im Ausgang von der Rede vom .punctum mathematicum' in der Enarratio Psalmi 90 zu reformulieren, von dieser Seeberg-Passage mitbeeinflußt ist. 131 Alle Zitate I, 17. Das letzte Zitat formuliert für sich genommen natürlich keinen nachvollziehbaren Gedanken, denn etwas zeitlich Verfaßtes ist ja nicht darum nichts, weil es nicht räumlich ist - ein Indiz dafür, daß es gar nicht auf einen nachvollziehbar-argumentativen Gedankengang ankommt, sondern darauf, die Nichtigkeit verbal zu evozieren.

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für die ,Punktualität' des menschlichen Lebens ins Auge faßt: Zum einen die Zeidichkeit des Lebens im Sinne der Tatsache, daß das Leben beständig vom Tod umgeben ist. Zum anderen die Einnahme der Perspektive Gottes, von der aus das Leben als punctum mathematicum erscheint. Seine Ausführungen zielen genau darauf ab, beide Ausgangsphänomene zur Deckung zu bringen. Das Wahrnehmen des Lebens aus der Perspektive Gottes ist eben das Wahrnehmen des Lebens als dem Tode verfallener Wirklichkeit, weil Gott die Negation des Lebens ist. Und umgekehrt: In der Wahrnehmung der Unentrinnbarkeit des Todes und in diesem Sinne der Punktualität des Lebens meldet sich die Negation des Lebens durch Gott. 132 Und eben diesen Zusammenhang beschreibt Eiert in der dann folgenden, oben zitierten berühmten Passage (I, 18) als etwas, was nicht der Reflexion auf die Endlichkeit des Lebens und den Zorn Gottes sowie den Zusammenhang des Todes mit Gott entspringt, sondern einem unabweisbaren Widerfahrnis, in dem Gott als derjenige erfahren wird, der den Tod des Menschen will. In diesem Widerfahrnis ist der Zusammenhang von Tod und Gott, den die referierten Passagen mühsam nachvollziehen, uno actu da. 133 Die Wendung ,punctum mathematicum' bietet sich eben darum an, weil die geometrische Figur des Punktes die völlige Negation jedes Inhaltes ansagt, ohne daß schlechthin nichts da ist. Es ist etwas da, was keiner näheren inhaltlichen Bestimmung unterliegt und unterliegen kann. Was dieses ,etwas' dann noch sein soll, wird im folgenden zu fragen sein. Zunächst ist festzuhalten: unter dem Begriff des .punctum mathematicum' bringt Eiert zunächst den Sachverhalt zur Sprache, daß kein Moment

132 Der Absatz ist darum so schwer nachvollziehbar, weil gar nicht klar ist, worauf Eiert nun eigentlich hinauswill und der Zusammenhang der aufgerufenen Motive etwas wirr wirkt (alle Zitate im folgenden aus I, 16f): Zum einen führt er den Tod als eine Grenze des Leben ein, die dann in den Blick kommt, wenn das Leben, das als Ganzes genommen werden ,will', auch als Ganzes genommen wird - also: nimmt man das Leben, seinem eigenen Sinn entsprechend („will"), als Ganzes, dann trifft man auf die Grenze des Todes. - Dann aber wird wiederum der Tod als Entdeckungsgrund dafür aufgerufen, daß das Leben ein ,punctum mathematicum' sei, und darin wiederum ,stößt man auf Gott'. Das ist offensichtlich der Leitgedanke: Im Todesgeschick wird Gott erfahren. - Dennoch ist es wenig schlüssig, wenn Eiert zunächst das ,das Leben als Ganzes nehmen', das er mit dem ,das Leben als punctum mathematicum nehmen' identifiziert (1,16), als Voraussetzung dafür markiert, daß der Mensch der Todesgrenze ansichtig wird, und dann wieder den Tod als Voraussetzung dafür, daß der Mensch das Leben als,punctum mathematicum' sieht. Auch die Verbindung von Todesmotiv und .inspicere oculis Dei' ist höchst assoziativ - vermittelt lediglich durch die Behauptung, daß das Leben „identisch mit der Zeit" ist und das ,transferre extra tempus' die Einnahme eines Standpunktes außerhalb des Lebens sei, von dem aus es als Einheit und so als .punctum mathematicum' betrachtet werden kann. Aber ist etwas von außen Betrachtetes notwendig ,punctum mathematicum'? 133 Der Zusammenhang der referierten Passagen und der dann folgenden Beschreibung der Erfahrung des ,Deus absconditus' ist nur unter der Voraussetzung verständlich, daß die Beschreibung des Deus absconditus die erfahrene Wirklichkeit dessen ist, was in den referierten Passagen entfaltet wird. Vorausgesetzt ist also die in B. dargestellte Unterscheidung von Lehre und Erfahrung Gottes.

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des menschlichen Lebens vom Zorn Gottes und der Negation durch Gott ausgenommen ist. 2.2.7. Das ,punctum mathematicum' und der menschliche Autonomieanspruch. 2.2.7.1 Der Begriff des .punctum mathematicum' bringt also - zunächst im Ausgang vom Phänomen des Todes - den Totalitätsaspekt des menschlichen Lebens zur Sprache: „Jene beständige Bedrohung des Lebens, die es auf den mathematischen Punkt zusammenschrumpfen läßt, von dem aus man nach allen Seiten in die Abgründe des Todes blickt, will wirklich auf das ganze Leben bezogen sein, auf die Gesamtheit seiner naturhaften und ethischen Beziehungen ,.."134

Der Begriff signalisiert einen Perspektivenwechsel: Aus der ,Innenperspektive' des innerweltlich engagierten Menschen ist der Mensch kein punctum mathematicum, sondern vielfältig bestimmt und tätig (I, 21f). Aus der Perspektive Gottes bzw. unter dem Vorzeichen des beständig möglichen Todes hingegen scheint genau dieses erstreckte und vielfältige Leben zu einer Einheit zusammengefaßt zu werden, und zwar gerade nicht im summativen Sinne einer vollständigen Ubersicht, sondern „als übergreifende Totalität" (I, 22) — gemeint ist vermutlich, daß dieses Leben als ein Ganzes dem Tod verfallen ist und insofern als Punkt ohne Ausdehnung in den Blick kommt. 2.2.7.2. Damit ist allerdings weder der Begriff des punctum mathematicum noch der Sinn der Rede von der Totalität des menschlichen Lebens zureichend erfaßt. Denn in diesem Begriff wird nun eben nicht nur die neutrale Totalität des menschlichen Lebens thematisiert, sondern die Totalität der unentrinnbaren Schuldverhaftung des Menschen vor Gott. Erst mit diesem Gedanken sind die drei von Eiert genannten unverzichtbaren Momente des Urerlebnisses erreicht: die Beziehung des Urerlebnisses auf Gott, und die Verschränkung sittlicher und schicksalhafter Elemente135. Der Perspektivenwechsel impliziert nämlich nun auch ein unterschiedliches Verständnis der menschlichen Autonomie: während der Mensch „von innen her gesehen" gemeint ist: im Blick auf die inferiora - autonom ist und diesen Anspruch dann auch Gott gegenüber erhebt, erweist das ,Urerlebnis' selbst ihn als unentrinnbar unfrei gegenüber dem göttlichen Gebot - das ist das Moment des .Schicksals — und als verantwortlich für genau diesen Zustand — dies ist das ethische Moment (I, 22f). 2.2.7.3. Dies wird von Eiert als Bestandteil der Reflexion Luthers über sein Urerlebnis thematisiert - d.h.: mit den im folgenden von Eiert aufgerufenen 134 17: „Indem man also das Leben als Ganzes, das heißt als mathematischen Punkt nimmt ..."; dort auch der Zusammenhang mit dem Perspektivenwechsel und der „Ausdehnungslosigkeit" des mathematischen Punktes. Vgl. auch 23 in Verbindung mit 22; 123f (dazu s.u. S. 196f); 72. 135 I, 20, vgl. oben 174.

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Momenten bewegt sich Luther bereits auf der Ebene der expliziten Selbstdeutung in der Beschreibung der Voraussetzungen des unmittelbar Erlebten:136 Die völlige Abhängigkeit von der Macht, der sich der Mensch im Urerlebnis ausgesetzt sieht, realisiert sich in zwei Aspekten: Zum einen in einer unentrinnbaren Rechenschaftsforderung, zum anderen in der Einsicht in die Unmöglichkeit, diesen Forderungen zu entsprechen, bzw. in der Einsicht, daß diese Macht selbst das Gegenteil der Forderungen im Menschen wirke (I, 18f). Dieses Gegeneinander von Verantwortlichkeit und Unfähigkeit bzw. die Einsicht, daß die Rechenschaftsforderung Gottes immer einen - und zwar von Gott selbst - gebundenen Willen trifft, ist das Moment am Urerlebnis, das den Menschen, der vor Gott steht, zugleich vor den Tod im Sinne des Endes der sittlichen Persönlichkeit stellt: „Der Mensch W/das Gute tun, aber er mußAzs Böse tun. Wir verstehen, warum Luther graut. Wir verstehen jetzt den Zusammenhang zwischen Tod und Gott. Wir verstehen, daß dieser Tod noch etwas anderes ist als das äußere Ende. Es ist das Ende der sittlichen Persönlichkeit'." (I, 19)

Das heißt: mit diesem von Eiert als unverzichtbar zum Verständnis des Urerlebnisses deklarierten Zusammenhang von schicksalhaften und sittlichen Elementen sind genau die Bedingungen dafür genannt und expliziert, daß das Urerlebnis die Erfahrung des den Menschen tötenden Willens Gottes ist: Der Tod ist das ,Ende der sittlichen Persönlichkeit' im Sinne des Endes eines Verständnisses der Persönlichkeit als autonomer, der Selbstrealisation fähiger Wirklichkeit (I, 27f). Die Begegnung mit Gott widerspricht also der sittlichen Autonomie, die der Mensch in inferioribus beansprucht und genießt, und zwar genau dadurch, daß der Mensch von Gott zur Verantwortung gezogen wird für etwas, was er — und zwar durch einen Bestimmungsakt Gottes — nicht leisten kann: „Der Mensch soll das Gute tun, aber er muß das Böse tun." (s. Zitat oben). Der Tatbestand des Urerlebnisses sei widersprüchlich: Auf der einen Seite werde die sittliche Freiheit im Sinne der Verantwortlichkeit des Menschen vor Gott - durch die Rechenschaftsforderung - bestätigt, auf der anderen Seite durch das Aufdecken der Unmöglichkeit der Erfüllung des Gesollten bestritten137. Gerade die Widersprüchlichkeit des Erlebnisses bzw. des darin erfahrenen Wirkens Gottes bestreitet die sittliche Persönlichkeit und ist in diesem Sinne ihr ,Tod'. Eiert bezeichnet in genau diesem Sinne die Erbsünde als die Urgestalt — 136

I, 18 - direkt anschließend an die Passage über den Deus absconditus: „Aber warum graut denn dem Menschen so, wenn er unmittelbar von Gott angerufen wird? Luther hat Antwort darauf gesucht und gefunden in dem Buch De servo arbitrio. Unter der Oberfläche der exegetischen Kontroversen ... ringt er um das Verständnis seines Grauens vor Gott." 137 Darauf zielt der abgrenzende Gedankengang I 22f, in dem Eiert auf der einen Seite die libertinistischen, auf der anderen Seite die fatalistischen Folgerungen aus diesem Urerlebnisses bestreitet und die Verantwortlichkeit des Menschen als das zentrale Moment des Urerlebnisses hervorhebt.

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und eben nicht als die Erklärungsgrundlage - der Sünde, da sie beide Momente - die Verantwortlichkeit und den Verhängnischarakter der Sünde - zur Sprache bringt (vgl. I, 25). 2.2.7.4. Diese beiden Elemente - die göttliche Forderung und die von Gott verhängte Unfähigkeit zur Erfüllung - sind die Momente, in denen der Wille Gottes, den Menschen zu töten, erfahren wird: „Das Urerlebnis endigt vor d e m v e r b o r g e n e n G o t t ' . Allein die Verborgenheit Gottes besagt nicht, d a ß wir von ihm ü b e r h a u p t nichts wissen. Zweierlei wissen wir n u r zu gut: daß er gebietet: D u sollst! u n d d a ß er uns in einem Z u s t a n d geboren werden läßt, der uns die Erfüllung des Sollens unmöglich macht." (I, 31, vgl. 20)

Es wird erkennbar, daß das Thema des Autonomieanspruches des Menschen und mit ihm das Thema des Menschen als .sittlicher Persönlichkeit' im Zentrum steht, daß es also eigentlich nicht um eine bloße Darstellung Luthers, sondern in diesem Gewände um eine Auseinandersetzung mit zeitgenössischen bzw. neuzeitlichen Positionen — eben auch mit Troeltsch — geht; so wendet sich Eiert in einer Passage, in der er sich zunächst mit der Abkehr der Aufklärung vom als juridisch abgelehnten alttestamentlichen Gesetz auseinandersetzt, in einem zweiten Schritt dem Autonomieanspruch des .deutschen Idealismus' zu: „Das ,Sittengesetz' des deutschen Idealismus, von dessen Ethik Troeltsch u n d seine Vorläufer zehrten, beansprucht zwar auch unbedingte Geltung. I n d e m es aber auf die A u t o n o m i e der praktischen V e r n u n f t begründet wurde, erschien der Mensch hier nicht n u r als sein eigener Gesetzgeber, sondern auch als sein eigener Richter. Infolgedessen verlor m a n hier wie in der Aufklärung die Erkenntnis des reatus culpae et poenae ..., damit aber auch den Begriff der Vergebung der Sünden, der die Idee des Rechtsbruches logisch voraussetzt." (I, 67)

Die von Eiert apostrophierten Positionen gehen also so mit der im Urerlebnis' aufbrechenden Aporie um, daß sie die Forderung - das Gesetz - als Ich-Instanz und unter Absehung von der verhängten Unfähigkeit zur Erfüllung das Ich als fähig zur Entsprechung und so als autonom bestimmen. Es ist nach Eiert gleichsam ein Teilaspekt des Urerlebnisses — die sittliche Forderung —, die hier unter Absehung von der .Transzendenz' des Ursprunges der Forderung und der Erfahrung der Unfähigkeit zur Erfüllung (d.h. unter Absehung von zwei essentials des Urerlebnisses, s.o. S. 174) zur Lehre von der Autonomie des letztlich mit Gott identischen Ich führt. Eben diese Position einer innersten Ubereinstimmung des Menschen mit Gott am Grunde seines ,Ich' identifiziert Eiert auch in der Deutschen Mystik, gegen die er den .Evangelischen Ansatz' an vielen Stellen der Morphologie kontrastiert.138 Die Rekonstruktion des .Urerlebnisses' als ,Tod der sittlichen Persönlichkeit' ist eine im

38

Vgl I, 70f; 357ff.

Die Wahrheit der neuzeitlichen Subjektivität

186

Medium der Auseinandersetzung Luthers mit der Mystik geführte Auseinandersetzung Elerts mit dem neuzeitlichen Anspruch der .sittlichen Persönlichkeit' und deren Autonomie, in deren Absage an die Transzendenz des Göttlichen (im Gesetz) Eiert einen mystischen Typus der christlichen Frömmigkeit wiedererstehen sieht.139

2.2.8. Das Thema des göttlichen

Gebietens: Die Sünde als

Autonomieanspruch.

2.2.8.1. Den Hintergrund des Urerlebnisses stellt — soviel ist nun deutlich geworden - der jeweils auf Gott zurückgeführte Gegensatz von Sollen und .Nicht-Können' dar. Nun bleibt der Inhalt dieses Sollens oder der göttlichen Forderung positiv ebenso völlig im Dunkeln140, wie nach der negativen Seite hin schwer faßbar ist, worin nun eigentlich nach Eiert ,das Böse' oder ,die Sünde' liegen soll, die den Menschen schicksalhaft in der Totalität seines Lebens bestimmt. Mag auch Eiert in der eben zitierten Auseinandersetzung mit der Aufklärung für die Bedeutung des Gesetzes votiert haben — deutlich ist jedenfalls, daß es im Begriff,Sünde' nicht um den Widerspruch des Menschen gegen einzelne Gebote geht - wenn Eiert an einer Stelle auch mit Luther die ,Gebote Gottes' als Kriterium der Unterscheidung von gut und böse benennt141. Es ist nun aber bereits oben erkennbar geworden, daß es Eiert wesentlich gerade darum geht, die Sünde nicht unter Rekurs auf die Sphäre der Akte des Menschen im Unterschied zu seiner Person oder einem Aktzentrum zu fassen, Vgl. I, 65 und 357ff, dazu unten 3. (S. 229). Dieses ,„Du sollst!', das über unserem ganzen Leben steht" (I, 19) bleibt bei Eiert inhaltlich völlig leer. Es wird weder deutlich, wofür Gott eigentlich Rechenschaft verlangt, noch wird deutlich, wie das Gebot verfaßt ist, dem der Mensch nicht entsprechen kann. An die Stelle dieser inhaltlichen Füllung treten Leerformeln („Der Mensch soll Aas Gute tun, aber er mußdas Böse tun.", 19, vgl. weiter unten auf der Seite, vgl. 22), zuweilen ein unmotivierter Plural („Forderungen", ebd.). An einer Stelle wird mittels eines Lutherzitates auf die Gebote verwiesen, aus denen der Wille Gottes zu lernen sei (22) - aber Eiert ist ja nun gerade nicht der Meinung, daß die Unfreiheit des Willens aus der Verfehlung der Einzelvorschriften des Dekalog abzulesen sei: Er bestimmt Sünde ja gerade nicht als Gebotsübertretung, sondern als Verhältnis der „Feindschaft gegen Gott" (27; 29). Insgesamt wird das Thema des göttlichen Forderns mit dem Urgrauen, das doch eher den Aspekt des tremendum der Transzendenzerfahrung überhaupt aufruft, nicht eigentlich vermittelt - das Thema wird eingeführt durch die These, daß Luther in De servo arbitrio nach der Ursache seines Grauens vor Gott frage. Ob aber nun das Grauen angesichts des göttlichen Gebietens entsteht oder umgekehrt der Rekurs auf das Gebot lediglich die Ebene des theologischen Nachvollzuges des Urerlebnisses sei; und wenn ersteres: welchen Inhaltes dieses Gebot sei, oder ob es sich nicht vielmehr um eine Tiefendimension jedes göttlichen Gebotes handle - all dies bleibt offen und wird auch in § 3 nicht erläutert. Vgl. auch Duensing, Gesetz 5 7 - 5 9 mit der ausgezeichneten, knappen Zusammenfassung: „Die Funktion des Gesetzes hat den Inhalt verschlungen ..." (58). 139

140

141 Vgl. I, 22 Mitte. Der Zusammenhang ist hier nicht die Absicht der inhaltlichen Füllung des Gesetzesbegriffes oder der göttlichen Forderung, sondern der Hinweis darauf, daß nicht die eigene Subjektivität, sondern das subjekttranszendente Gebieten Gottes der Ursprung der Forderung sei, somit die Situation der Immanenz .durchbrochen' werde, da das Gebot den Menschen ,νοη außen' treffe.

Subjektivität zwischen Sünde und Versöhnung

187

sondern eben dieses Aktzentrum selbst, den Willen des Menschen, als gegen Gott gerichtete Größe darzustellen: „Die Buße soll gerade aus der Sphäre der nur menschlichen Überlegungen herausführen. Sie soll die Totalität des Menschentums vor Gott stellen. Der Anruf Gottes trifft uns unter allen Umständen von außen ... weil er gerade ... die autonome Selbstbestimmung vernichtend trifft. Ist die Gesamtheit unseres sittlichen Lebens das Ergebnis dieser Selbstbestimmung, so trifft er damit ζχιάι den ganzen Menschen vernichtend, nicht nur einzelne seiner Handlungen. Von innen her gesehen sind wir autonom - also auch verantwortlich. Wenn wir aber, wie Luther fordert, ,mit den Augen Gottes unser Leben anschauen'..., so schrumpft das Leben und mit ihm die Autonomie auf den ,mathematischen Punkt' zusammen. Die Autonomie hat vor Gott keine Möglichkeit der inhaltlichen Erfüllung. Sie bleibt nur als Anspruch unseres Ego. Aber in diesem Anspruch liegt mit der Verantwortlichkeit auch unsere Schuld vor Gott. Damit wird ganz deutlich, was Luther ... ausführte: das Außen unseres Lebens ist der Tod." (I, 22f). Daß dieser Abschnitt voller Widersprüche steckt, ist hier nur am Rande interessant. 142 Der Text muß offenbar so gelesen werden, daß Eiert hier bestimmt, was eigentlich Sünde ist, nämlich der Anspruch des Ich auf Autonomie selbst. Offenbar ist gerade der Anspruch des Ich auf einen freien, selbstbestimmenden Willen und dessen Behauptung im Gegenüber zu Gott bzw. gegen den göttlichen Widerspruch die eigentliche Grundfigur der Sünde: Die unvermeidbare, aber schuldhafte Sünde scheint demgemäß gerade die Ichhaftigkeit - im Sinne des Anspruches darauf, Herr seiner selbst zu sein - darzustellen 143 : „Auch in der Schrift gegen Erasmus hat er [Luther] trotz aller Betonung der Schicksalsthese aktiven Widerspruch des Menschen gegen Gott behauptet. Von Pharao sagt er, er habe wegen der Bosheit seines Willens nicht anders gekonnt als das contrarium sibi zu 142 Es ist völlig unmöglich, den zuvor (I, 22) geäußerten Gedanken („Das Sollen trifft ihn aber unter allen Umständen von außen, bedeutet also eine Durchbrechung der Immanenz.... Der Bruch mit der Immanenz, der im Anspruch des göttlichen Gebotes liegt, zerstört zugleich die sittliche Autonomie.") mit dem eben zitierten Gedanken („Der Anruf Gottes trifft uns unter allen Umständen von außen - auch wenn er uns im .eigenen' Gewissen trifft - weil er gerade die reine Innerlichkeit, die autonome Selbstbestimmung vernichtend trifft.") miteinander zu vereinbaren: Im ersten Fall ist die Transzendenz des Gebotes der Grund für die Bestreitung der Autonomie, im zweiten Fall ist die Bestreitung der Autonomie der Grund für die Transzendenz des Gebotes. Das ist nicht vereinbar. - Ebenfalls unklar bleibt, inwiefern nun genau der ,ganze Mensch' vom Anruf Gottes getroffen ist. Zunächst sieht es so aus, als sei der ganze Mensch getroffen, weil und insofern die ,reine Innerlichkeit, die autonome Selbstbestimmung', die der Produzent der Gesamtheit des menschlichen Lebens ist, getroffen ist. Zwei Sätze später kehrt er im Anschluß an ein Zitat der Aufforderung Luthers, das Leben mit den Augen Gottes zu betrachten, die Begründungsrichtung um: Nun wird nicht mehr das Ganze des Lebens getroffen, indem die Autonomie zerstört wird, sondern umgekehrt: Indem das Ganze des Lebens in den Blick kommt, „schrumpft das Leben und mit ihm die Autonomie auf den mathematischen Punkt' zusammen." (23, alle Hervorhebungen von mir). Und was im zitierten Passus der Satz: „Die Autonomie hat vor Gott keine Möglichkeit der inhaltlichen Erfüllung" allein semantisch sagen soll, ist doch nicht recht nachvollziehbar: Was ist die inhaltliche Erfüllung einer Autonomie? 143

Vgl. Glaube 120.

188

Die Wahrheit der neuzeitlichen Subjektivität

hassen ... Dieses contrarium sind die verstockenden Wirkungen Gottes. Indem Luther Pharao mit Haß darauf [gemeint ist doch wohl: auf das Gesetz Gottes] erwidern sieht, schreibt er ihm nicht nur - trotz des Determinismus - eine relative Selbständigkeit neben Gott zu, sondern auch eine aktive Betätigung seines Ich, die mehr ist als bloße Überschreitung gesetzlicher Grenzen. Pharao wird so verhärtet, daß er Gott Widerstand leistet... Auch sonst schreibt Luther ... von Krieg, Kampf, Feindschaft, Haß der Menschen gegen Gott. Das alles ist ihm notwendige Folge des Anspruchs auf Autonomie,

der mit dem Irrwahn des liberum arbitrium gegeben ist." (I, 270 Die Sünde scheint gerade in dem Widerstand gegen das Fordern und damit gegen die in diesem Fordern sich manifestierende bestimmende Macht Gottes zu liegen und ihren Grund in dem unentrinnbaren Anspruch des Menschen zu haben, ein seiner selbst mächtiges Zentrum der Wirklichkeit darzustellen. Die Begegnung mit Gott im Urerlebnis ist die Begegnung mit der Instanz, die als absolut bestimmende Größe diesen Anspruch bestreitet, und zwar zum einen dadurch, daß sie überhaupt als externe Instanz auftritt, fordert und den Menschen so unter heteronome Ansprüche stellt; sodann dadurch, daß sie dem Menschen die Erfüllung der Forderung unmöglich macht: ihn so konstituiert, daß er selbst zur Erfüllung derselben nicht fähig ist. Inhaltlich zielt diese - mit der von Gott verhängten Unfähigkeit zur Erfüllung einhergehende — Forderung somit nicht auf Einzeltaten, sondern durch alle Einzelforderungen hindurch auf die Aufgabe des Autonomieanspruchs; dieser Verzicht aber ist dem Menschen - als Subjekt - eben darum unmöglich, weil er die Selbstaufgabe des Menschen bedeuten würde144. Im unentrinnbaren ,Subjektsein' des Menschen, d.h. im unentrinnbaren Willen, über sich selbst zu bestimmen, liegt die Sünde im Sinne des aktiven Widerspruchs gegen Gott, auf den Gott seinerseits „mit Tod und Vernichtung antworten muß" (I, 28); zugleich ist aber diese Unentrinnbarkeit des gegen Gott gerichteten Willens nicht der Modus der Entschuldigung des Menschen, sondern da es sich um den Anspruch handelt, sich selbst zu setzen — die Instanz der Schuld: Der Mensch, der Subjekt zu sein beansprucht, kann sich nur unter Aufgabe des Subjektseins (und damit durch den Tod) seiner Verantwortung für sich selbst entziehen - dies meint Eiert mit der Wendung, daß ,in diesem Anspruch mit der Verantwortlichkeit auch unsere Schuld vor Gott liegt'145. 2.2.8.2. Für diese Interpretation spricht entschieden das Verhältnis von ,Schicksalserlebnis' und ,Gesetz' in der Kurzdogmatik: Eiert hatte dort zunächst als vortheologische Beschreibung menschlicher Existenz den Konflikt des unentrinnbaren Selbstbehauptungswillens des Menschen mit dem Herrschaftsanspruch einer Gegenmacht als Konflikt zweier unbegrenzter .Lebendigkeiten' und entsprechend zweier ,Freiheitswillen' (des Menschen und

H4 145

Vgl. bes. Lehre 1 13! I, 23, zitiert zu Beginn des Abschnittes 2.2.8.1. (S. 187).

Subjektivität zwischen Sünde und Versöhnung

189

Gottes) beschrieben. 1 4 6 Alle theologischen Inhalte waren unter dem T i t e l , O f fenbarung' erst in einem zweiten Schritt u n d so als A u f k l ä r u n g eben dieses Verhältnisses eingeführt worden, das nun ,geklärt u n d erklärt' werde. 1 4 7 Das Gesetz f ü h r t Eiert dann als A n t w o r t auf die Frage nach dem Maßstab, durch den die Verschuldung des Menschen vor G o t t festgestellt wird, ein, und zwar so, daß das Gesetz in seinen Einzelformulierungen lediglich die Manifestation des göttlichen Herrschaftsanspruches, die einzelne Übertretung das Indiz f ü r den menschlichen, gegen G o t t stehenden Freiheitswillen darstellt. 1 4 8 D a durch, daß Eiert die Beschreibung der Existenz des Menschen vor G o t t extra C h r i s t u m in der Morphologie als Lutherdarstellung faßt und so von vornherein das T h e m a des Gesetzes unumgänglich ist, gehen die im A b r i ß ebenso wie in der Dogmatik 1 4 9 getrennten Aspekte durcheinander: Es w i r d nicht recht klar, wie das T h e m a des Autonomieanspruches mit dem T h e m a des Gesetzes, u n d wie das T h e m a der Sünde als A u t o n o m i e mit dem T h e m a der Sünde als Gesetzesübertretung verbunden ist. 150 V o m A b r i ß ' her gelesen wird aber Lehre1 §§ 1-14. Lehre1 §§ 15-19; zum Zitat S. 19. 148 „Müssen wir uns darum schweren Herzens entschließen, die gesamte Verschuldung [!] an unserem Konflikt mit ihm auf unserer Seite zu suchen, so bleibt doch noch die nicht unbillige Forderung übrig, auch den Maßstab kennen zu lernen, nach dem der Richter seinen Spruch fällt. Die Bibel kommt dieser Forderung durch den Nachweis göttlicher Gesetze entgegen ... Wir müssen ihr ferner darin beistimmen, daß auch da, wo man von formulierten Gesetzen Gottes nichts weiß, doch eine Gebundenheit an göttliche Herrschaft über unser sittliches Leben ... gefühlt wird ... Hierin liegt eine unleugbare Einengung unseres Freiheitswillens von Seiten Gottes. Der Konflikt mit Gott erscheint uns nunmehr als ein Hinausstreben ... unseres Freiheitswillens über die von Gott gesetzlich festgelegten Grenzen. Die einzelnen Akte der Grenzüberschreitungen, von der Bibel als Sünden bezeichnet, sind Verletzungen der gesetzgeberischen Hoheit Gottes ..." (Lehre1 146 147

21) 149 Dort in der Abfolge der Analyse der Existenz unter der Verborgenheit Gottes (Erster Abschnitt) und des Gesetzes (Glaube 158fF, zur Bezugnahme auf den ersten Abschnitt vgl. bes. die Aufnahme der dort geschilderten Momente in 181-184; 184-189). 150 Sehr deutlich wird das in den ausdrücklichen Passagen über die Sünde und über das Gesetz: Eiert stellt mehrfach fest, daß Sünde nicht Gesetzesübertretung, sondern .Feindschaft gegen Gott' sei (24; 27-30); ebenso stellt er fest, daß das Gesetz die Feindschaft gegen Gott aufdecke und nicht nur einzelne Uberschreitungen notifiziere; in alledem bleibt aber der beständig verwendete Begriff der Sünde inhaltlich leer - worin diese Feindschaft gegen Gott eigentlich besteht, wird nur an einer einzigen Stelle geradezu in einem Nebensatz deutlich, wenn Eiert die Verstockung des Pharao in ,De servo arbitrio' folgendermassen referiert: „Auch in der Schrift gegen Erasmus hat er trotz aller Betonung der Schicksalsthese aktiven Widerspruch des Menschen gegen Gott behauptet. Von Pharao sagt er, er habe wegen der Bosheit seines Willens nicht anders gekonnt als das contrarium sibi zu hassen ... Dieses contrarium sind die verstockenden Wirkungen Gottes. Indem Luther Pharao mit Haß darauf erwidern sieht, schreibt er ihm nicht nur ... eine relative Selbständigkeit neben Gott zu, sondern auch eine aktive Betätigung seines Ich, die mehr ist als bloße Überschreitung gesetzlicher Grenzen. Pharao wird so verhärtet, daß er Gott Widerstand leistet... Auch sonst schreibt Luther in diesem Buche von Krieg, Kampf, Feindschaft, Haß der Menschen gegen Gott. Das alles ist ihm notwendige Folge des Anspruchs auf Autonomie, der mit dem Irrwahn des liberum arbitrium gegeben ist."Der Ausgangspunkt des Zitates ist die Absicht, zu erklären, daß der Begriff der Erbsünde die Verantwortlichkeit des Menschen nicht ausschließt (I, 26): die Aktivität des Widerstandes des Pharao ist das primäre Thema [das contrarium

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Die Wahrheit der neuzeitlichen Subjektivität

deutlich, daß der Autonomieanspruch des Menschen als Gegeninstanz eines Herrschaftswillens Gottes das Zentrum und das ursprüngliche Phänomen ist, von dem her die Passage zu lesen ist und dessen theologische Auslegung die Bezüge auf das Gesetz darstellen — bzw. umgekehrt: Das Scheitern, aber auch die Unentrinnbarkeit des Autonomieanspruches ist die der Lehre von Gesetz, Zorn Gottes und Sünde zugrundeliegende Erfahrung. Dieser nur um den Preis der Selbstaufgabe des Subjektes verzichtbare Autonomieanspruch und sein Scheitern dürfte damit auch das Zentrum der hier besprochenen Passage der Morphologie sein. 151 2.2.9. Der Zusammenhang zur Rede vom,punctum mathematicum'. Wie verhält sich nun dazu die Rede von der Reduktion auf ein ,punctum mathematicum'? Zunächst wirkt der Zusammenhang der Passagen, wie gezeigt, so, daß das menschliche Leben insofern ein punctum mathematicum sei, als es als Ganzes, in seiner Totalität, zusammengefaßt werde, und damit als Ausdruck dieses Aspektes der reformatorischen Sündenlehre (s.o.). Liest man die Passagen allerdings von den entsprechenden Aussagen über das transzendentale Ich im Zusammenhang der Passage über das Evangelium in der Morphologie einerseits, und den Ausführungen Elerts über das Selbstverständnis des Menschen unter der Verborgenheit Gottes in der Dogmatik andererseits, so wird im Sinne einer Näherbestimmung deutlich, daß die Reduktion auf das punctum

ist bei Luther übrigens nicht eine verstockende Wirkung Gottes im allgemeinen, sondern das Auftreten des Mose selbst gegenüber dem Pharao, das ganz offensichtlich auch mit den Zügen des Evangeliums ausgestattet ist — vgl. den Verweis auf die humilitas Mosi und das ,confidere viribus suis': die Verstockung erfolgt durch das Wort in Gesetz und Evangelium, vgl. WA 18, 711,20-39]. Die ,aktive Betätigung des Ich, die mehr ist als bloße Überschreitung' soll offenbar auf die .Feindschaft gegen Gott' abheben, die die eigentliche Sünde ist, dabei aber - vgl. primäres Beweisziel Betätigung des Ich und nicht Fremdbestimmung ist. - Im folgenden Satz wird dann die PharaoPassage verlassen und verallgemeinert, und dann die Bestimmung der Sünde als Feindschaft gegen Gott mit dem Gesamtthema der Lutherschrift in Verbindung gesetzt: Die in Luthers Schrift beschriebene .Feindschaft gegen Gott' sei eben nicht nur Indiz der Unfreiheit des Willens, sondern ,Folge' des Autonomieanspruches, den Luther dann mit dem .Irrwahn des liberum arbitrium' identifiziert. Und hier wird nun von Eiert nicht etwa herausgestellt, daß damit das Zentrum der Sündenlehre und der Ursprung der Feindschaft gegen Gott erreicht ist, sondern Eiert ändert im folgenden Satz wieder das Thema und ruft die jeden der Schritte des Menschen bestimmende Universalität der Sünde auf. — Eiert hat, so mein Eindruck, zu Beginn der Bezugnahme auf die Passage eine Aussageabsicht, die er unter der Fülle der andrängenden Motive völlig aus den Augen verliert. Es sind vier Motive, die hier ineinandergreifen: Die Sünde als Feindschaft gegen Gott statt als Einzelübertretung. Die Sünde als verantwortliche Aktivität und nicht als Schicksal. Die Sünde als begründet im Autonomieanspruch. Die Sünde nicht als einzelnes Vorkommnis, sondern als den gesamten Lebensvollzug bestimmende Wirklichkeit. Alle vier Gedanken sind in diesen sieben Sätzen ineinandergemengt und wieder ein Indiz für die mangelnde Fähigkeit Elerts, zusammenhängende Motive zu trennen und je für sich zu behandeln (s.o. S. 2129). 151 Das Problem des Verhältnisses der Passagen, in denen Eiert die Erfahrung Gottes unter der Verborgenheit Gottes thematisiert, zu den Passagen, in denen er die Erkenntnis der Sünde aus dem Gesetz verhandelt, ist eine crux interpretum. Vgl. zum Problem: Hauber, Zorn 123ff; zu ,Lehre' bes. 1 3 7 f f - insgesamt unten Anm. 218.

Subjektivität zwischen Sünde u n d Versöhnung

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mathematicum offensichtlich nicht die Totalität des Lebens im Sinne einer wenn auch nicht summativen (I, 22), so doch integrativen Einheit meinen kann - denn das ergäbe nie ein punctum mathematicum. Bezeichnet wird vielmehr die Reduktion auf die bloße Ich-Instanz, auf den reinen Anspruch des Ich auf Autonomie ohne jede inhaltliche Füllung dieses Ich152: „Der A n r u f Gottes trifft uns unter allen U m s t ä n d e n von außen - auch w e n n er uns im ,eigenen' Gewissen trifft - weil er gerade die reine Innerlichkeit, die a u t o n o m e Selbstbestimmung vernichtend trifft. Ist die Gesamtheit unseres Lebens das Ergebnis dieser Selbstbestimmung, so trifft er damit auch den ganzen Menschen vernichtend, nicht n u r einzelne seiner H a n d l u n g e n . " (I, 23)

Hier gilt der negierende Widerspruch Gottes offensichtlich dem Anspruch des Menschen auf Autonomie, und nur indem diese Instanz getroffen ist, verfällt die Totalität des menschlichen Lebens der Negation Gottes. 153 Das .Ganze des Lebens' ist eben damit getroffen, daß Gott - mittels der Forderung und der Verhinderung der Erfüllung - jenem im Zentrum des menschlichen Lebensvollzuges wirksamen und jede Einzelheit des Lebensvollzuges unentrinnbar prägenden Anspruch des Menschen auf Autonomie oder Freiheit widerspricht; und nur, wenn man dies sieht, wird überhaupt verständlich, wie Eiert die umfassende Totalität des Lebens als punctum mathematicum bezeichnen kann: Die Gesamtheit des Lebens ist eben nichts anderes als der Selbstvollzug der Feindschaft gegen Gott, des Anspruches auf Autonomie, der Realisation eines Ich, das sich als Herrn seiner Taten betrachtet.154 Eiert reformuliert hier offenbar die reformatorische Lehre, daß das Entscheidende an der Sünde nicht die mangelnde Konformität der menschlichen Taten mit dem Gesetz Gottes sei, sondern der am Grunde alles Tuns liegende Anspruch des Selbst, seinerseits Gott - autonom - zu sein. Die Reduktion auf das punctum mathematicum ist die Reduktion nicht auf eine beliebige Ich-Instanz, sondern auf das Ich als den Widersacher Gottes, der in der Fülle dessen, was er ist und tut, sich als dieser Widersacher betätigt. Die Negation Gottes gilt nicht den einzelnen Taten, sondern dem Täter als Konkurrent Gottes und so der Gottesfeindschaft des Täters; die Reduktion ist die Reduktion auf den einen Punkt, der die Gesamtheit des Lebens prägt: daß der Täter frei zu sein, d.h. er selbst zu sein versucht im Widerspruch gegen die Macht, von der er abhängig ist155. Eiert reformuliert den internen Grundwiderspruch der Erbsündenlehre - Zurechenbarkeit und Unentrinnbarkeit; Schuldhaftigkeit und Verhängnis - gerade dadurch, daß er den Anspruch des Ich auf Autonomie einerseits identifi-

152

Vgl. I,69f; 75; 123; Glaube 120. Die bei Eiert üblichen Ungereimtheiten finden sich auch hier-vgl. oben Anm. 142: Der dort verzeichnete Selbstwiderspruch in einem Absatz ist wieder ein Indiz für eine offensichtlich an einer in sich unklaren Vorstellung orientierte Position, die hier in optimam partem und unter Aufnahme der weiterfuhrenden Lesart gedeutet werden soll. 154 Vgl. auch I, 28. 155 Vgl. oben 2.2.8., S. 187f. 153

192

Die Wahrheit der neuzeitlichen Subjektivität

ziert als die Grundfigur der Sünde bzw. des Widerspruches gegen Gott, auf der anderen Seite eben damit die Instanz der Verantwortlichkeit benennt, von der zugleich der Mensch nur loskommt, indem er nicht mehr ist156. Das Urerlebnis ist somit die Manifestation des Widerspruches und des den Tod des Menschen wollenden Gottes gerade darin, daß er den Menschen auf seinen Anspruch, Subjekt zu sein, hin zur Rechenschaft zieht, und ihn zugleich dadurch, daß der Mensch unentrinnbar und nur um den Preis seiner Selbstaufgabe aufhören kann, Subjekt zu sein, daran hindert, der Rechenschaftsforderung zu entsprechen. Zusammenfassend: das punctum mathematicum bezeichnet den Menschen als Gegenstand des Widerspruches Gottes, der sich nicht gegen die eine oder andere und auch nicht etwa gegen alle Taten im summativen Sinne richtet, sondern gegen die Verfaßtheit des Täters, die alles Tun bestimmt und die er in allem Tun realisiert: Gott gegenüber etwas zu sein, d.h.: einen freien Willen zu haben, autonom zu sein, Subjekt seiner Taten zu sein. Die Reduktion auf das punctum mathematicum bezeichnet eben dasselbe wie in der Dogmatik Elerts der Rekurs auf die ,reine Subjektivität'157: es ist das Ich-sein selbst, der Vorgang der Selbstzuschreibung, der die Sünde im Sinne des Widerspruches gegen Gott ist, der zugleich unentrinnbar mit dem Menschsein gesetzt bzw. nur im Tod beendbar ist, und der dennoch genau den Ort der unentrinnbaren Verantwortlichkeit des Menschen bezeichnet. Auf diese Position zielen die Bestimmungen des punctum mathematicum ab, und nur so wird verständlich, warum Eiert dies punctum mathematicum mit dem .transzendentalen Ich' identifizieren kann: es geht eben um die Ichhaftigkeit, die alle Vorstellungen und Taten begleitet und sie in der Einheit eines Bewußtseins als Vorstellungen und Taten eines Ich ausweist. 2.2.10. Reduktion auf das .punctum mathematicum' und der Tod. Damit ist das letzte Moment der Rede vom punctum mathematicum erreicht, das den Übergang zum Begriff des transzendentalen Ich' ermöglicht: Die Reduktion auf die ,reine Subjektivität', den Autonomieanspruch des Menschen vor Gott, impliziert zugleich die Unterscheidung des Menschen vom Bereich seiner Selbstverwirklichung. Der Widerspruch Gottes gilt nicht einzelnen Taten, sondern dem sich in allen Taten realisierenden Selbstbehauptungswillen. Zu Tode kommt der Sünder gerade darin, daß alle Inhalte seines Lebens der Negation verfallen, weil sie alle die Realisation eines gegen Gott gerichteten Anspruches auf Autonomie sind und durch diesen Willen zusammengehalten werden. 156 Die Morphologie nimmt somit unter dem Titel des Autonomieanspruches eben die Grundformel der natürlichen Subjektivität im Abriß' auf, der gemäß der Mensch als .Lebendigkeit' zugleich .Freiheitswille' sei - vgl. Lehre2 § 1 (3), der auch dort schon im Rekurs auf Luthers ,De servo arbitrio' entfaltet wird. 157 Glaube 113-120; 189; vgl. zum terminologischen Zusammenhang: 625 (zit. im folgenden).

Subjektivität zwischen S ü n d e u n d V e r s ö h n u n g

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„Wir k e n n e n irdisches Leben n u r in der Totalität seiner kosmischen Beziehungen. Diese Beziehungen w e r d e n zwar d u r c h die Einheitlichkeit unserer Subjektivität von inn e n her z u s a m m e n g e h a l t e n . Aber die Subjektivität besteht eben in diesem Z u s a m m e n halten. Sie weiß auch von sich selbst nur, i n d e m sie sich ihrer kosmischen Beziehungen b e w u ß t ist. H ö r e n diese auf, wie es im leiblichen T o d e der Fall ist, so bleibt n u r der m a t h e m a t i s c h e P u n k t übrig, der w o h l n o c h von anderen gedacht w e r d e n k a n n , der sich aber n i c h t m e h r selbst d e n k e n k a n n . D e r leibliche T o d ist der endgültige u n d vollständige Verlust der irdischen Existenz. Es steht nicht in unserer M a c h t , hier etwas abzuspalten, das ihn ü b e r d a u e r n k ö n n t e . " (Glaube 625) D i e s e s e h r viel s p ä t e r als d i e P a s s a g e n d e r M o r p h o l o g i e z u m p u n c t u m m a t h e m a t i c u m v e r f a ß t e n Z e i l e n f i n d e n sich in d e r Eschatologie d e r D o g m a t i k i m Z u s a m m e n h a n g d e r Frage n a c h einer U n s t e r b l i c h k e i t d e r Seele n a c h d e m T o d d e s M e n s c h e n u n d d a m i t n a c h d e m E n d e aller A u ß e n b e z ü g e . D i e P o s i t i o n Elerts wird mittels der U n t e r s c h e i d u n g der ,reinen Subjektivität' v o n ihren A u ß e n b e z ü g e n d u r c h g e f ü h r t . , P u n c t u m m a t h e m a t i c u m ' ist d a s S u b j e k t , a n sich', abgesehen v o n s e i n e m Leib u n d d a m i t abgesehen v o n seinen i m W e l t verhältnis realisierten u n d sich v e r w i r k l i c h e n d e n T a t e n . D a ß diese Subjektivität a m G r u n d e , unterschieden, aber nicht getrennt von der Sphäre ihrer Tat e n , W i l l e ist, u n d z w a r W i l l e z u r S e l b s t m ä c h t i g k e i t - d i e s ist d i e T h e s e , d i e Eiert in der M o r p h o l o g i e u n t e r d e m Titel des . p u n c t u m

mathematicum'

d u r c h f ü h r t . D a ß dieser W i l l e a u f e i n e n G e g e n w i l l e n s t ö ß t , v o r d e m er m a c h t l o s ist, d a ß d i e s e r W i l l e n i c h t z u r R e a l i s a t i o n s e i n e r s e l b s t k o m m t ,

sondern

bloßer A n s p r u c h bleibt, der Verwirklichung im Verhältnis zu G o t t nicht fähig ist, ist e b e n s e i n T o d . D e r T i t e l u n d d e r E i n h e i t s g r u n d flir e b e n d i e s e r v i e l f ä l t i g s i c h m a n i f e s t i e r e n d e n G e g e n w i r k u n g ist d a s , S c h i c k s a l ' . 1 5 8 D a ß

dieser

158 Dazu Lehre2 § 2; § 4ff (4ff). Eiert verwendet den Begriff anders als Spengler, von dem die Terminologie stammt: Bei Spengler kennzeichnet das .Schicksal' das mit der Kulturseele gesetzte Gesetz der unbeeinflußbaren Entwicklung einer Kultur; das Schicksal ist nichts anderes als die je eigene Entwicklung der Kulturseele nach den Stadien der Jugend, des Höhepunktes und des Zerfalls, zugleich aber nach ihrer inhaltlichen Ausgestaltung; das Schicksal ist dabei zugleich der fiir die in bestimmter innerer Einstellung an der Geschichte als Grundgesetz organischer Entwicklung wahrgenommene Gegenbegriff zur (mechanischen) Kausalität, auf der anderen Seite eben die Instanz, die die geschichtlichen Phänomene und Ereignisse abgesehen von der Freiheit des einzelnen bestimmt und auch den einzelnen ihrem Gesetz unterwirft. - Im Grunde ist es dieser zweite Begriffsaspekt, dessen sich Eiert bedient: Bei ihm ist der Begriff des Schicksals wesentlich dadurch geradezu definiert, daß darunter die dem Subjekt bestimmend vorgegebenen, seiner Freiheit entzogenen Bedingungen, denen jede Selbsttätigkeit von vornherein unterliegt, zu einer Einheit zusammengefaßt werden. Das Zentrum dieser Einheit ist die Ausrichtung aller dieser Faktoren gegen den Freiheitswillen des Subjektes: Lehre2 § 2; 5ff (4-8). Eiert hat auch in der Beschreibung des Spenglerschen Schicksalsbegriffes in seiner Rezension dieses Werkes (Eiert, Untergang, zum folgenden vgl. 21f) nicht verstanden, daß Spenglers Schicksalsbegriff die innere Gesetzmässigkeit der Entwicklung, nicht die von außen einwirkenden sinnlosen Störungen dieser Entwicklung oder gar ein von einem tranzendenten Gott gesteuertes Geschick umfaßt; nur weil er das nicht verstanden hat, kann Eiert gegen Spenglers Beschreibung des vorzeitigen Unterganges des Inkareiches als Manifestation der Sinnlosigkeit in der Geschichte einwenden, es könne ja sein, daß gerade dies frühe Sterben ihr Schicksal sei: Für Spengler ist Schicksal das dem Wachstum der Pflanze vergleichbare Gesetz der organischen Entwicklung, Abbruch dieser Entwicklung ist Sinn-

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Die Wahrheit der neuzeitlichen Subjektivität

Wille unentrinnbar ist, mit der Subjektivität selbst identisch, ist die Realität, die die christliche Theologie unter dem Titel der Unentrinnbarkeit der Sünde bzw. der Erbsünde zusammenfaßt. 2.2.11. Die Neuzeitkritik. Mit dieser Deutung der reformatorischen Lehre von der Sünde und der entsprechenden Lehre vom Gesetz als mit dem Autonomieanspruch der Subjektivität selbst gesetzter Widerspruch gegen den Herrschaftsanspruch Gottes zeichnet Eiert bewußt die neuzeitliche Grundbestimmung der Subjektivität in die Problemstellung der Reformationszeit ein. Erkennbar wird dies in der oben skizzierten Anlage des dogmatischen Abrisses, in dem die Situation der Feindschaft gegen Gott der Analyse des gegenwärtigen Selbstverständnisses entnommen und erst in einem zweiten Schritt mit der biblischen Theologie und Anthropologie - in der zweiten Auflage durch die Beifügung der Lutherzitate mit der reformatorischen Theologie so vermittelt wird, daß die biblischen bzw. reformatorischen Aussagen als Klärung und Bestätigung der menschlichen Selbsterfahrung lesbar werden.

losigkeit. Für Eiert ist Schicksal alles, was eine Entwicklung ,νοη außen' vorantreibt und bestimmt, die Entwicklung auf den Tod hin ebenso wie der vernichtende Abbruch derselben. Der Zusammenhang dieser Differenz im Schicksalsbegriff mit dem Gottesbegriff wird sehr schön deutlich, wenn Eiert gegen die von Spengler notierte Sinnlosigkeit des Unterganges der mittelamerikanischen Kulturen zunächst einwendet: „Aber das resignierende Eingeständnis, daß in dem Kampf zwischen Sinn und Unsinn ein immanenter Sinn höherer Ordnung nicht erkennbar ist - das ist es ja gerade, was uns als Christen zu dem Bekenntnis veranlaßt, diesen uns unerkennbaren Sinn ins Transzendente, in Gott zu verlegen." (22) - Fernwirkungen der Licentiatenarbeit von 1911 noch 1923! (Zur Licentiatenarbeit vgl. oben S. 37f)· Eiert fährt dann aber eben fort mit der Bemerkung, auch die Beziehungen der Kulturen untereinander könnten schicksalhaften Sinn haben - so etwa der tief in der .Kulturseele' verwurzelte Expansionsdrang der europäischen Nationen: „Von jenen Banditen aus gesehen war ihre Barbarei also kein Zufall, sondern schicksalhaft notwendig. Blickt man aber auf jene so brutal zerstörte mexikanische Kultur, so ist zwar hier das sinnvolle Schicksal der Einzelkultur noch nicht ausgeschöpft. Aber sollte man nicht dennoch von diesem frühen Sterben einer Kulturseele sagen können, es liege ein besonderes Schicksal darin?" Von Spengler her kann man ganz klar sagen, daß dieser Gedannke sinnlos ist und von einem völligen Unverständnis der Reichweite der Leistung des Schicksalsbegriffes zeugt, der eben nicht die von einer Jenseitsmacht gelenkte Interaktion der Kulturen erklären will, sondern das immanente Gesetz derselben, und seine Grenze im Programm der Goetheschen Morphologie hat, die ebenfalls eine Anwendung des Gesetzes der Entwicklung über die Grenze der Art hinaus nicht erlaubt. Aber Eiert übernimmt eben den Begriff und befaßt unter ihm - in der Absicht, ihn letztlich auf Gott selbst zurückzuführen - die immanente Gesetzmässigkeit einer Entwicklung ebenso wie die Einwirkungen von außen als Manifestationen eines transzendenten Willens. Vgl. Lehre2 § 2—7. Diese Einsicht ersetzt vollständig die sonst in der Literatur üblichen knappen Hinweise auf den Ursprung des SchicksasbegrifFes bei Spengler (z.B. Duensing, Gesetz 25f; Hauber, Eiert 22 u.ö.). — Vgl. zu der sachlich korrekten Darstellung des Spenglerschen Schicksalsbegriffes den von Eiert (aaO.) auch zitierten Heim (Bedeutung 21-25). Heim sieht auch richtig, daß der Begriff Gottes bei Spengler nichts zu tun hat mit der vergleichsweise naiven Vorstellung eines Lenkers der Realgeschichte, die Eiert anvisiert, sondern eben als Gottesvorstellung der Ausdruck des Bewußtseins der Bestimmtheit durch ein immanentes Gesetz ist (Heim, aaO. 27).

Subjektivität zwischen Sünde und Versöhnung

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Dies Verfahren ist zum einen Indiz eines von Eiert an keiner Stelle ausdrücklich formulierten hermeneutischen Programms, das die Erfahrung des Menschen vor dem Deus absconditus als grundsätzlich in allen Zeiten a n weisbare anthropologische Grundstruktur bezeichnet, die sich in der Gegenwart der Neuzeit eben im Autonomieanspruch der Subjektivität zeigt.159 Andererseits aber bedeutet dies, daß es keine theologische oder philosophische Position gibt, die nicht insgeheim die Reformulierung alter positioneller Gegensätze wäre. Entsprechend führt Eiert - dies deutet sich in der Identifikation des Grundprinzips neuzeitlicher Subjektivität mit der Grundsignatur der Sünde an - in den ersten Passagen der Morphologie eine Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen - Troeltschschen - Vereinnahmung Luthers für das Prinzip der Subjektivität als Grundcharakteristikum auch der Religiosität. Damit markiert Eiert den Gegensatz Luthers zur Neuzeit, der aber — dies ist im folgenden zu zeigen - zunächst verstärkt wird dadurch, daß er die Theologie Luthers gerade nicht den Typen der scholastischen Theologie entgegensetzt, sondern der Mystik, in der er, wie bereits mehrfach gezeigt, Grundaxiome der neuzeitlichen Subjektivitätstheorie präsent sieht. Eiert versucht allerdings im Gegenzug auch den Punkt der Identität Luthers und der Mystik bzw. den Punkt zu bestimmen, an dem Luther die Anliegen der Mystik aufnimmt und in einer gelungeneren Gestalt als diese bearbeitet160 - und eben damit bestimmt Eiert auch die Verwandtschaft und die Ferne Luthers zur neuzeitlichen Subjektivitätstheorie. Insgesamt zielt die hier eingeleitete Gedankenbewegung Elerts auf die These, daß die lutherische Lehre von der menschlichen Existenz unter der Erfahrung von Gesetz und Evangelium zur Neuzeit und gerade zur neuzeitlichen Subjektiv!tätstheorie eben nicht im Verhältnis der bloßen Antithese stehe, sondern daß in ihr gerade die ursprüngliche Entdeckung der kantischen Subjektivitätstheorie - die Unterscheidung von transzendentalem bzw. intelligiblem und empirischem Ich - im Rahmen der lutherischen Rechtfertigungslehre ihre Urstiftung erfahren habe, die sich zur Rezeption der Kantischen Unterscheidung in der zeitgenössischen Theologie ebenso wie zur entsprechenden mystischen Theorie des Ich wie die Wahrheit zur Verfälschung verhalte. Dem ist nun nachzugehen:

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Angedeutet ist dies Programm darin, daß Eiert in seiner Dogmatik die Zeitgebundenheit des Selbstverständnisses betont, auf das hin das Evangelium zur Darstellung kommt, und die Analyse dieses (und damit eben auch anderer) Selbstverständnisse auf die Grundstruktur der unentrinnbaren Rechenschaftspflicht des Menschen vor Gott intendiert (Glaube 62-64). Ein anderes Mal zeigt sich eine ähnliche Figur darin, daß Eiert im ,Transzendenz'-Aufsatz die je zeitgebundene Auslegung und Darstellung der Transzendenz hervorhebt: Transzendenz 523-528. 160 Darin ist Eiert natürlich auch von großen Vorgängern abhängig - E.Seeberg, Theologie I, 31ff; ders., Gottesanschauung 542ff; R. Seeberg, Religionsphilosophie 101; ders., Grundgedanken. Dazu: Metzke, Lutherforschung 359ff; nicht zuletzt - aber an diesem Punkt ohne feststellbaren Einfluß auf Eiert: Hunzinger, Lutherstudien. Zu v. Walter vgl. oben Anm. 34.

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Die Wahrheit der neuzeitlichen Subjektivität

2.3. Das,transzendentale Ich'. Ich gehe damit zur Analyse einer zweiten Passage über, in der Eiert nun den Begriff des transzendentalen Ich' ausdrücklich einführt 161 . 2.3.1. Das .transzendentale Ich'als Instanz des,... absque operibus legis'. 2.3.1.1. Der Ausgangspunkt ist die These, daß die lutherische Rechtfertigungslehre eine „doppelte Subjektivität" unterscheide, die nun gerade nicht subtilen philosophischen Differenzierungen entspringe, sondern dem Faktum der Selbstreferentialität des Menschen im Vollzug der Selbstkritik: „Diese Unterscheidung ... knüpft an die elementare Tatsache an, daß der Mensch sich selbst zum Gegenstand des Nachdenkens wird." (I, 123). Zu verstehen ist darunter genauer die in dieser Selbstreferentialität sich vollziehende Vergegenständlichung, in dem das Ich für sich selbst zum Gegenstand wird und sich in diesem Vollzug in sich unterscheidet in Subjekt und Objekt: „Denkt er hierbei in der Richtung auf das, was er ist, und in der Richtung auf das, was er sein könnte oder sollte, zu Ende, so steht er vor jener Verschlingung von Schicksal und Schuld, von Sollen, Wollen, Können und Nichtkönnen, die als Urerlebnis entwikkelt wurde. Nimmt man zuletzt die dabei angewandten Gesetze des Denkens selbst zum Gegenstand ... , so schrumpft das denkende Ich zum mathematischen Punkt zusammen, ohne Inhalt und ohne Ausdehnung. Gleichwohl ist der Inhalt meines Bewußtseins nicht verschwunden. Alles, was dazu gehört an seelischen Tatbeständen und Möglichkeiten, charakterisiert ,mich' ebenfalls. Es ist mein Besitz. Ich selbst bin dies alles. Ich stelle mir vor, ich weiß und will, ich empfinde und möchte. Damit ist eine doppelte Subjektivität gegeben: das transzendentale Ich als punctum mathematicum und das an Inhalten gesättigte seelische Ich." (Morph. I, 123) Diese Differenzierung vollzieht sich nach Eiert zunächst im Urerlebnis, in dem das Subjekt alle seine Inhalte im Urteil vor sich stellt: „Jene Scheidung von Ich und Ich wird durchgeführt als accusatio sui."162 Es ist hier das „denkende Ich", das in diesem Urteil über alle seine Bestimmungen (Bewußtseinsinhalte) zum mathematischen Punkt ,zusammen-

161 Es handelt sich hierbei u m eine Passage über das Verhältnis von Rechtfertigung u n d Heiligung (I, 123ff), in der Eiert die vorangehenden Aussagen zum transzendentalen Ich zusammenfaßt (vgl. die Rückverweise I, 123f)· Allerdings handelt es sich nicht im strengen Sinne u m eine Zusammenfassung: Der Begriff wird hier noch einmal ausdrücklich eingeführt, u n d zwar zur Beschreibung einer Situation, die mit der Passage, in der Eiert den Begriff bereits einmal verwendet hatte, nicht o h n e weiteres vereinbar ist (I, 69ff). Es handelt sich allerdings bei der in I, 123ff vorliegenden Einführungssituation des Begriffes u m die am leichtesten nachvollziehbare Passage, so daß deren Besprechung entgegen der natürlichen Abfolge des Werkes vorgezogen wird. 162

I, 123; hier in Abgrenzung zur Negation aller weltlichen Bewußtseinsinhalte in der Mystik, die gerade durch eine .Denktechnik', nicht durch den Nachvollzug des Gerichtes Gottes erreicht werde: I, 123, vgl. 70f.

Subjektivität zwischen Sünde und Versöhnung

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schrumpft:', wobei nach Eiert auch die den Vollzug der Selbstunterscheidung ermöglichenden „Gesetze des Denkens" diesem Denken zum Gegenstand und damit ein Bewußtseins/w/w/ί werden163. Das „denkende Ich", das als Ergebnis dieses Vollzuges bleibt, ist nun nach Eiert keine eigenständige Instanz oder eine Art Seelenvermögen, sondern ist nur in diesem Vollzug eines negativen Urteils über alle Inhalte seiner selbst. Dies ist nach Eiert das transzendentale' Ich im Unterschied zum empirischen Ich, d.h. zur Fülle der Qualitäten, des Besitzes, der Taten, die den Menschen empirisch qualifizieren. Als von alledem Unterschiedenes ist das .transzendentale Ich' ein mathematischer Punkt. ,Transzendentales Ich' sei das Subjekt im bloßen Vollzug der Selbstnegation, ein Subjekt also, das alle möglichen Inhalte und Bestimmungen immer wieder unter das Urteil der Sünde, der Feindschaft gegen Gott stellt.164 Der .mathematische Punkt' und das .transzendentale Ich' bezeichnen dasselbe, nämlich das Ich unter der Erfahrung des Gesetzes. Während allerdings in der zuvor referierten Passage das .punctum mathematicum' das Zentrum des Subjektes, seinen aller inhaltlichen Erfüllung baren Autonomieanspruch vor dem nichtenden Widerspruch Gottes zur Sprache brachte - das Ich also in seiner Feindschaft gegen Gott - , ist hier offensichtlich das transzendentale Ich die Instanz, die das Urteil Gottes übernimmt, in dieses Urteil einstimmt, in dieser Einstimmung sich von allen seinen Inhalten — traditionell: Werken, Qualitäten - unterscheidet und darin punctum mathematicum ist. 2.3.1.2. Die Identifikation des transzendentalen Ich' mit dem ,punctum mathematicum' ist allerdings, wie sich sofort im folgenden zeigt, nicht unproblematisch: Eiert identifiziert einerseits das im Vollzug der Selbstnegation resul-

163 I, 123: „Nimmt man zuletzt die dabei angewandten Gesetzes des Denkens selbst zum Gegenstand - für Luther die ratio im formalem Sinne - , so schrumpft das denkende Ich zum mathematischen Punkt zusammen, ohne Inhalt, ohne Ausdehnung." Dieser Satz muß so verstanden werden, daß in dem beschriebenen Vollzug auch die formalen Gesetze des Denkens nicht ein Bestandteil des Ich bleiben, sondern seine Punktualität erst mit der Vergegenständlichung auch der Verstandeskategorien erreicht ist. 164 Eiert war im zunächst referierten Abschnitt über das Leben als .punctum mathematicum' an einer Stelle knapp und unbetont auf die Struktur der Selbstreferentialität im Sinne der .accusatio sui' eingegangen: „Die Erkenntnis der Verantwortlichkeit vor Gott bedeutet aber zugleich accusatio sui des Sünders. Und zwar erstreckt sich das Eingeständnis der Verschuldung auf das gesamte Leben mit allen seinen Inhalten. Solange sich das ethische Urteil im Rahmen des nur Humanen hält, kann man Einzelnes an Einzelnem messen [was immer das semantisch bedeuten soll!]. Nach der ersten reformatorischen These soll aber das ganze Leben Buße sein ... Dieses ,ganz' darf nicht als Summe vieler Taten genommen werden. Die Buße soll gerade aus der Sphäre der nur menschlichen Überlegungen herausfuhren. Sie soll die Totalität des Menschentums vor Gott stellen." (I, 22). Hier ist keine Rede davon, daß die accusatio sui als selbstreferentielle Struktur das die Reduktion auf das punctum mathematicum im Sinne der Unterscheidung von Ich-Subjekt und Ich-Gegenstand begründende Faktum sei - wie Eiert in der nun referierten Passage den Sachverhalt darstellt. Es handelt sich hier wieder um eine in keiner Weise ausgleichbare Differenz in der Gedankenführung bei Verwendung identischer Begriffe: Die Einführungssituation fur den Begriff .punctum mathematicum' ist in entscheidenden Momenten völlig unterschiedlich bestimmt.

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tierende Ich als mathematischen Punkt mit der einigermassen einleuchtenden Begründung, daß eben dieses Ich von keinem Inhalt - also keiner zurechenbaren Bestimmung — erfüllt und somit leer sei. Andererseits verwendet Eiert einen Absatz später den Begriff des ,mathematischen Punktes' wieder als Bezeichnung für die Totalität des menschlichen Lebens: „Jene Scheidung von Ich und Ich wird durchgeführt als accusatio sui. Ich bin mir selbst Gegenstand des Nachdenkens, weil ich genötigt werde, mit den Augen Gottes das Konkretum meines Lebens oder, was dasselbe ist, meines Bewußtseinsinhaltes, anzuschauen. Dabei schrumpft freilich auch dieses Konkretum zum mathematischen Punkt zusammen, aber nicht, weil es vergessen oder ausgelöscht sein sollte, sondern weil das Urteil Gottes, dem das transzendentale Ich nachdenkt, in einer anderen Dimension liegt, indem es ,νοη außen' das ganze Leben als Eins nimmt." (I, 123f)·

Das Zusammenschrumpfen zum mathematischen Punkt' widerfährt hier eindeutig dem vom .denkenden Ich' unterschiedenen ,Bewußtseinsinhalt', während zuvor das Zusammenschrumpfen' des Ich sich gerade in der Selbstunterscheidung desselben von allen Inhalten vollzog.165 Es zeigt sich hier eben der bereits einleitend vermerkte Sachverhalt, daß weder die Position noch die verwendeten Begriffe eindeutig sind, sondern der Begriff des .mathematischen Punktes' ebenso wie der des .transzendentalen Ich' ganz unterschiedliche Phänomene jeweils unter einen Begriff zusammenführen, zudem noch untereinander identifiziert werden und so eine nicht nachvollziehbare Identität des mit ihnen Bezeichneten suggerieren. Die Intention Elerts aber ist deutlich: Er will die subjektive Verfassung des Selbstgerichtes als Einstimmung in das Urteil Gottes als Vollzug eines Selbstverhältnisses formulieren und nimmt dafür die selbstreferentielle Unterscheidung von transzendentalem und empirischem Ich auf, unter dem Titel,empirisches Ich' alle traditionell als Werke oder Qualitäten bestimmten Inhalte, unter dem Titel transzendentales Ich' den reinen Vollzug des Selbstverhältnisses fassend. 2.3.1.3. Die — im eben gebotenen Zitat erfolgende — explizite Bezugnahme auf das Luther-Dictum, demgemäß der Mensch sich ,extra tempus' zu stellen habe und das eigene Leben mit den Augen Gottes anzusehen habe, läßt er165 Der Text Elerts ist in keiner Weise vor diesem Widerspruch zu retten: Man könnte versucht sein, das „auch" („Dabei schrumpft freilich auch...") als Indiz dafür zu lesen, daß Eiert sich des Problems bewußt ist und sowohl das „transzendentale" als auch das „psychologische" Ich als mathematischen Punkt bezeichnen will - allerdings bezieht sich das „auch" im Kontext auf die zuvor erwähnte Mystik und parallelisiert nicht das transzendentale und das psychologische Ich, sondern die Reduktion auf das Nichts in der Mystik und bei Luther. Man könnte zweitens versuchen, das Schrumpfen auf den „mathematischen Punkt" gerade darin vollzogen zu sehen, daß sich das transzendentale vom psychologischen Ich unterscheidet - gemeint ist das allerdings nicht: Die Scheidung von Ich und Ich wird als vollzogen vorausgesetzt, und dann bezüglich des „Bewußtseinsinhaltes" festgestellt, daß dieser- von außen unter dem Urteil Gottes betrachtet - zum „mathematischen Punkt" schrumpfe.

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k e n n e n , w e l c h e n Stellenwert d i e unter d i e s e m D i c t u m v o r g e n o m m e n e N e u b e s t i m m u n g des G l a u b e n s b e g r i f f e s als Reflexivität hat, d i e sich bei Eiert i m Z e i t r a u m z w i s c h e n d e n A u f l a g e n des ,Abriß' v o l l z i e h t u n d d i e i c h o b e n referiert habe: N u r u n t e r dieser B e d i n g u n g ist d i e V e r m i t t l u n g der religiösen S u b jektivität m i t der Selbstreferentialität des t r a n s z e n d e n t a l e n Ich bei K a n t m ö g lich, u n d nur s o w i r d -

o h n e d a ß Eiert das thematisiert -

die f o l g e n d e

N e u z e i t k r i t i k u n t e r d i e s e m B e g r i f f ü b e r h a u p t formulierbar. 1 6 6 2.3.2.

Transzendentales

Ich und

die

imputative

Rechtfertigung.

2.3.2.1.

Die

m a n g e l n d e E i n d e u t i g k e i t des Begriffs u n d seiner V e r w e n d u n g zeigt sich insb e s o n d e r e d a n n , w e n n der w e i t e r e t h e o l o g i s c h e Sachverhalt e i n g e f ü h r t wird, d e n Eiert m i t der U n t e r s c h e i d u n g v o n t r a n s z e n d e n t a l e m ' u n d . p s y c h o l o g i s c h e m ' Ich reformuliert: „Diese Unterscheidung der doppelten Subjektivität ist weiter die formale Voraussetzung der Rechtfertigungslehre. Das Subjekt des Glaubens, das die justitia Dei empfängt, ist das transzendentale Ich ... Es ist völlig leer, n u r p u n c t u m m a t h e m a t i c u m . Die i h m zugesprochene Gerechtigkeit ist aliena im strengen Sinne..." (I, 124). Eiert u m s c h r e i b t hier z u n ä c h s t ganz o f f e n s i c h t l i c h das traditionelle T h e o l o g u m e n o n , n a c h d e m d i e z u g e s p r o c h e n e G e r e c h t i g k e i t e i n synthetisches, n i c h t e i n analytisches Urteil darstellt, u n d d e n n o c h einer Subjektivität z u g e s p r o c h e n w i r d bzw. v o n einer Subjektivität ,pro m e ' ergriffen sein will (vgl. I, 6 1 ; 7 2 ) . E b e n d i e s e n Sachverhalt, d a ß das Urteil G o t t e s keinerlei Q u a l i f i k a t i o n des beurteilten M e n s c h e n zur V o r a u s s e t z u n g hat u n d sich d e n n o c h a u f d e n M e n s c h e n als ,Ich' bezieht, gibt Eiert m i t der U n t e r s c h e i d u n g des trans z e n d e n t a l e n v o m e m p i r i s c h e n Ich wieder. D a s transzendentale Ich w i r d hier als ,leer' in d e m S i n n e b e z e i c h n e t , d a ß es keinerlei Q u a l i t ä t aufweist, d i e das

166 S.o. B, 2.2.3., S. 94-98. Es ist wenig sinnvoll, hier in einen ausfuhrlichen Vergleich der von Eiert gebotenen Herleitung der Unterscheidung von .transzendentalem' und .empirischem' Ich mit der Herleitung und dem Sinn der Begriffe bei Kant einzutreten. Es ist völlig eindeutig, daß hier lediglich eine rein und ausschließlich terminologische Anknüpfung vorliegt. Mit Kant - um nur die entscheidende Differenz zu benennen - wäre darauf hinzuweisen, daß alle Überlegungen Elerts zur Herleitung des .transzendentalen Ich' im Bereich der empirischen Psychologie bleiben. Bei Kant nämlich löst der Begriff im Rahmen der .Transzendentalen Deduktion' (KrV § 15ff Β 131 ff) das Problem, daß die Kategorien als Gestalten der Verbindung des Mannigfaltigen der Anschauung selbst einer Bedingung der Möglichkeit dieser Einheit bedürfen. Diese Einheit kann nicht das Produkt der Verstandestätigkeit sein, kann auch nicht selbst eine Kategorie sein, sondern ist selbst die notwendig formale Bedingung der Möglichkeit der durch die Kategorien erfolgenden Leistungen der Einheitsbildung (aaO. Β 130f)· Kant rekurriert dafür nun auf die Einheit des Selbstbewußtseins und so auf das .transzendenale Ich', das sich selbst als Bedingung der Möglichkeit kategorialer Einheitsbildung gegeben ist. Dieser Begriff bzw. diese intellektuale Selbsterfassung ist in demselben Sinne leer, rein oder formal wie jeder andere transzendentale Begriff, darin aber eben nicht die Instanz der Subjektivität im Rahmen einer Bezugnahme meiner selbst als Subjekt auf mich selbst (.meine Inhalte') als Objekt, sondern die Instanz einer transzendentalen Selbstgegebenheit als Bedingung der Möglichkeit der Einheit einer dem Subjekt geltenden Welt (vgl. aaO. § 16-20; 25).

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Urteil Gottes motivieren könnte; im Sinne der theologischen Tradition handelt es sich also im .transzendentalen Ich' um das ,bestimmungslose' Subjekt in dem Sinne, daß es sich dessen bewußt ist, daß es vor Gott keine Werke, Verdienste oder sonstige Qualitäten vorzuweisen hat. 2.3.2.2. Dies erhellt der unmittelbare Zusammenhang der ersten Passage, in der Eiert auf das .transzendentale Ich' zu sprechen kommt: Eiert arbeitet sich hier an der Einordnung der Lutherschen Rechtfertigungslehre in den Zusammenhang der mittelalterlichen Frömmigkeit ab, die er Troeltsch zuschreibt167 und die er zunächst aufnimmt und verstärkt: die unabdingbar juridische Fassung der Lehre vom Gesetz regiere die Rechtfertigungslehre und die Lehre vom Erlösungswerk Christi und gebe dieser selbst einen juridischen Charakter (I, 65f). Weitergehend stellt Eiert fest, daß auch der Widerspruch gegen die Möglichkeit eines der Gnade vorauslaufenden Verdienstes des Menschen und die Betonung der Alleinwirksamkeit Gottes Luther mit der mittelalterlichen Scholastik verbinde; auch die Bedeutung der Sakramente stelle die entscheidende Differenz nicht dar (I, 67f). Eiert erhebt im Gegenzug im Ausgang von der Beschreibung-der reformatorischen Entdeckung als Entdeckung der iustitia Dei passiva zwei artbildende Eigentümlichkeiten der Lutherschen Rechtfertigungslehre: die Passivität des rein empfangenden Menschen, und den Umstand, daß die von Gott verliehene Gerechtigkeit mit dem Glauben identisch sei, der als Gabe oder Wirkung Gottes bezeichnet werde, aber wiederum nicht eine „qualitas animi", eine Eigenschaft des Menschen sei. Eiert faßt diese Abgrenzungen, mit denen „man vor der entscheidenden Differenz gegenüber der mittelalterlichen Theologie" (I, 69) stehe, folgendermassen zusammen: „Der Glaube ist nicht qualitas, die Gerechtigkeit nicht habitus des Herzens oder der Seele. Glaube, Gerechtigkeit, G n a d e lassen sich v o m Bestand des menschlichen Seelentums aus überhaupt nicht qualifizieren." (ebd.)

Eiert beschreibt mit diesen Bestimmungen das Faktum, daß Glaube und Gerechtigkeit bleibend Gott, und nicht den Menschen, zum Subjekt haben, oder: die Feststellung, daß die Gerechtigkeit kein habitus des Herzens des 167

I, 65. Elerts Wiedergabe der Troeltschschen Position ist - wie häufig, wenn er auf Troeltsch zu sprechen kommt - ungenau: „Allerdings wollte Troeltsch die reformatorische Rechtfertigungslehre zu den Elementen des Protestantismus rechnen, die seine engere Verbundenheit mit dem antiken und mittelalterlichen Denken als mit der modernen .Kultur' erweisen. Sie sei nur ein neuer Lösungsversuch eines Problems der spezifisch mittelalterlichen Theologie." Die Behauptung ist schwer begründbar. Troeltsch differenziert sowohl in dem von Eiert herangezogenen Text (Troeltsch, Bedeutung) als auch bes. in einer dort ausdrücklich erwähnten Arbeit (Luther und die moderne Welt, vgl. Bedeutung 32, Anm. 1) die Luthersche Konzentration des Religiösen auf die subjektive, individuelle Glaubensentscheidung von der Luther leitenden Fragestellung nach der Heilsgewißheit. Nicht die Rechtfertigungslehre insgesamt, sondern die das sola fide als Zentrum der Religion insgesamt einschränkenden Rahmenbedingungen sind nach Troeltsch Reste mittelalterlicher Religiosität; vgl. oben Anm. 29.

Subjektivität zwischen S ü n d e u n d V e r s ö h n u n g

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Menschen sei, limitiert die Rechtfertigung auf das Modell der rein im Urteil Gottes sich vollziehenden Anrechnung der göttlichen Gerechtigkeit 168 und schließt den Gedanken aus, daß der Glaube als menschliche Leistung Grund der Gerechterklärung Gottes sei: „ D i e Gerechtigkeit ist justitia D e i i m strengen Sinne. Ihre Ü b e r m i t t l u n g an den M e n s c h e n geschieht, wie noch zu zeigen ist, d u r c h I m p u t a t i o n . I m m e r ist u n d bleibt G o t t dabei das einzige u n d ausschließliche S u b j e k t . " (ebd.)

Daß dies für die Eigenschaft der Gerechtigkeit gelten mag, ist nachvollziehbar; wie aber der als Akt des Menschen verstandene Glaube bleibend Gott zum Subjekt haben soll, ist nach Eiert eine problematische These, und genau zur Lösung dieses Problems greift Eiert auf die Unterscheidung von psychologischem und transzendentalem Ich zurück: „ D e r G l a u b e hat ebenso den M e n s c h e n z u m ausschließlichen Subjekt wie die G n a d e G o t t . Soll der G l a u b e d e n n o c h - wenigstens seinem Wesen nach - psychologisch nicht qualifizierbar sein, so kann in Luthers S i n n e sein Subjekt nur das transzendentale Ich des M e n s c h e n sein, das nach Abstraktion von allen Bewußtseinsinhalten übrig bleibt u n d d o c h die Setzung dieses Bewußtseins als seines Selbstbewußtseins erst e r m ö g l i c h t . " (ebd.)

Versteht man den Satz so, daß der Glaube ein Vollzug des transzendentalen Ich sein sollte, so wird die Feststellung sinnlos, da er den Glauben nun doch wieder als Bewußtseinsz«/w/i fassen würde: Welcher ,Bewußtseinsinhalt' hätte nicht das transzendentale Ich zum Subjekt in dem Sinne, daß das ,ich denke' alle Akte und Inhalte des Bewußtseins — sollen sie wirklich Momente desselben sein - begleiten können muß? 169 Eiert muß etwas anderes meinen, was nur von der Einführungssituation des Begriffes - dem Selbstgericht - her verständlich wird: Der Glaube hat seinen Ort im Menschen als demjenigen, der in der beständigen Selbstunterscheidung begriffen ist, der nichts anderes ist als der Vollzug des Selbstgerichtes und damit der Negation aller ,Bewußtseinsinhalte'. Dies impliziert nun aber, daß - da der Glaube nicht als Inhalt von diesem Subjekt abstrahierbar sein soll (sonst würde es sich in der Terminologie Elerts um eine Qualität handeln) - der Glaube dieses transzendentale Ich nicht nur zum Subjekt haben kann, sondern mit ihm identisch sein muß. Dies ist im folgenden zu belegen und verständlich zu machen. Insgesamt ist zunächst deutlich, daß die Rede von der Bestimmungslosigkeit des transzendentalen Ich' als Bezugspunkt des Rechtfertigungsurteils Gottes die Voraussetzung dafür ist, daß die Gerechtigkeit des Christen ein Ebd., vgl. 72; 75 u.ö. Man muß hier explizit festhalten, daß Elerts Begründung dafür, daß der Glaube das ,transzendentale Ich' zum Subjekt hat, nur so verstanden werden kann, daß Eiert gleichsam von einem .Nebeneinander' beider Ich ausgeht und den Glauben einem von beidem - und weil nicht dem empirischen, so dem transzendentalen - zuweist. Diese Operation ist völlig vorstellungshaft und ohne jeden Einblick in den Sinn der Unterscheidung vollzogen; die obige Interpretation ist ausdrücklich ein über Eiert hinausgehender .Rettungsversuch'. 168

169

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Die Wahrheit der neuzeitlichen Subjektivität

synthetisches und nicht ein analytisches Urteil bzw. einen imputativen Akt Gottes darstellt. 2.3.3. Der Glaube und das,transzendentale Ich'. 2.3.3.1. Auf die referierte Abgrenzung Luthers gegen die Scholastik läßt Eiert nun (I, 70f) einen Vergleich von Luthers Rechtfertigungslehre mit der mystischen ,Entwerdung' folgen: „In gewisser Hinsicht hatte Luther hierin Vorläufer an den deutschen Mystikern. Ihre Forderungen, der Mensch müsse, um den Weg zu Gott zu finden, sich ,entledigen von den creaturen', müsse bloß sein ,aller creaturen, alles trostes von den creaturen', sein Wille ,on alle Eigenschaft' sein, der Mensch müsse zum ,Nichts' werden, erscheinen wie technische Anweisungen zur Reduktion des Bewußtseins auf dasselbe transzendentale Ich des Menschen.... Dazu kommt noch, daß jene [sc. die Mystiker, N.S1.] genau so wie Luther gegen die seligmachende Kraft der äußeren Tugenden und der guten Werke polemisieren." (I, 70)

Eiert sieht den entscheidenden Unterschied zwischen den beiden Positionen darin, daß Luther keine Lehre von der geheimen Einheit des .transzendentalen Ich' mit Gott vertrete, so der Mensch im Verzicht auf alle Bewußtseinsinhalte zum Seelengrund gelange, der mit Gott identisch sei. Es gehe bei Luther eben nicht nur um die in einem Gerichtsakt - und nicht, wie bei den Mystikern, im ethisch motivierten Verzicht — sich vollziehende Negation des Bewußtseinsinhaltes, sondern um die Begründung des Ich außerhalb seiner selbst: um den Vorgang, daß das Ich ,aus sich komme' und von sich selbst getrennt werde (vgl. I, 70f): „Luthers Forderung geht dahin, ,daß du aus dir und von dir kommen mögest', und er macht ernst damit. Das schlechthin andere, das bewirkt, daß der Mensch ,νοη allen Dingen frei' sei, ist Christus, die Predigt des Evangeliums, der Glaube. Tauler läßt das empirische Ich vernichtet werden - das ist auch Freiheit. Aber er läßt es ertrinken im Meer des ungeschaffenen Nichts, das der Mensch dann doch auch nirgends anders findet als in sich selbst. Der göttliche Abgrund erscheint als unvorstellbarer Grund des menschlichen Abgrundes. Er ist eine ins Wesenlose erweiterte Potenzierung des transzendentalen Ich selber. Luthers Durchstoßen bis zu diesem Ich ist nicht Verzicht, sondern Gericht. Es ist ein Durchstreichen des gesamten Bewußtseinsinhaltes, nicht um ihn zu vergessen, sich seiner zu .entledigen', sondern um dafür die iustitia Dei einzutauschen. Das Selbstgericht und die iustitia Dei stehen dabei im genauen Wechselverhältnis." (I, 71)

Die zunächst entscheidende Differenz ist also die, daß bei Luther die Negation des Selbst eine andere Intention verfolgt als bei den Mystikern, nämlich die, das Ich an ein anderes seiner selbst zu verweisen, von dem her es seine Identität gewinnt, nämlich die ,iustitia Dei'. Das Selbstgericht und der Empfang der iustitia Dei seien, so Eiert, bei Luther jeweils ausschließlich verständlich unter der Prämisse des Gedankens des transzendentalen Ich': Das Selbstgericht sei das Gericht über alle Bewußtseinsinhalte, das aber dennoch vom Ich vollzogen werde (I, 71); ebenso sei umgekehrt die iustitia Dei eine extern bleibende Bestimmung dieses Ich, die rein synthetischen Charakter habe und

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in keiner Weise an Bestimmungen des Empfängers anknüpfe. „Dennoch wird sie von Luther doch nun ganz entschieden auf ,mich' bezogen, wobei an das oben ... über die magna emphasis des pro me, pro nobis [sc. Ausgeführte] zu erinnern ist. Dann ist aber auch hier das Ich, das die iustitia empfängt, als ,mathematischer Punkt', das transzendentale." (72). Das Ergebnis der Erfahrung des Zornes Gottes, die Reduktion auf das .punctum mathematicum', ist also selbst, als transzendentales', das Subjekt, das dem Urteil Gottes zustimmt, sich von sich selbst unterscheidet und so der subjektive Bezugspunkt einer externen Neubestimmung durch die iustitia Dei ist - und dieses Subjekt sei mit dem ,me', der Istanz der Applikation des Evangeliums bzw. der fremden Gerechtigkeit (pro me), gemeint. Es wird erkennbar, daß die Rede vom transzendentalen Ich eine Bewegung einführt: es bezeichnet das Subjekt als solches, das sich unter dem Urteil des Gesetzes von allen seinen Bestimmungen und so von sich selbst unterscheidet, und das Subjekt als solches, das in der Unterschiedenheit von sich selbst zum inhaltlich leeren Attributionssubjekt von Prädikaten, die nicht Eigentümlichkeiten an ihm, sondern ihm ausschließlich ab extra zugesprochen sind. ,Transzendentales Ich' bezeichnet also das menschliche Subjekt als den ichhaften, selbst bestimmungslosen Träger von ab extra zugeeigneten Prädikaten, der somit gerade dadurch ausgezeichnet ist, daß er einen Stand im anderen seiner selbst gewinnt: das Leben mit den Augen Gottes betrachtet: Zunächst als vollständig der Sünde verfallen; sodann als durch Christus extra se gerechtfertigt. Der Glaube ist in diesem Sinne das ,dem doppelten Urteil Gottes - Verurteilung und Rechtfertigung Beitreten'. 2.3.3.2. Dieser Punkt ist in mehrfacher Hinsicht ausgesprochen wichtig: Zum einen hatte Eiert den Glauben, der das transzendentale Ich zum Subjekt habe, als eine Eigentümlichkeit eingeführt, die sich ebenso wie die geschenkte Gerechtigkeit „vom Bestand menschlichen Seelentums aus ... nicht qualifizieren" lasse bzw. „psychologisch nicht qualifizierbar" sei.170 Es ist deutlich, daß sich hier der bereits referierte171 Widerspruch gegen die Möglichkeit, das Zentrum des religiösen Erlebnisses psychologisch zu beschreiben, wieder meldet, und zwar in derselben Intention wie dort: Der Glaube ist darum kein psychologisch qualifizierbares Ereignis, weil er keine Bestimmung der Seele ist, sondern extern konstituiert.172 Das .transzendentale Ich' bestimmt den Menschen in diesem Falle eben als solchen, der nicht psychologisch qualifizierbar ist, sondern der unter der Erfahrung des Zornes Gottes sich von sich selbst unterscheidet und in der Einstimmung in das Gerichtsurteil Gottes negiert;

1 , 6 9 , vgl. Z i t a t o b e n S . 201. Vgl. oben B, 1.1., S. 77f, vgl. 104f. 172 Vgl. den Kontext des Zitates, in dem es eben um die Frage geht, inwiefern Gott Subjekt des Glaubens ist. 170

171

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das transzendentale Ich' ist bereits im Vollzug der Selbstnegation bedingt durch eine externe Größe. Z u m anderen aber ist die Bestimmung, die das Subjekt in der Gerechtigkeit Gottes erhält, ebenfalls keine psychologisch feststellbare Eigentümlichkeit des Subjektes, sondern eine fremd bleibende und insofern externe Bestimmung, die dennoch dem Ich als Urteil zugesprochen wird, nämlich die ,Gerechtigkeit Gottes'. 2.3.3.3. Das transzendentale Ich' ist somit nach Eiert gerade nicht die Instanz der Selbstkonstitution oder der Autonomie, sondern diejenige Instanz, deren Entdeckungszusammenhang in der Theologie Luthers einerseits die Erfahrung des Todesurteils Gottes im Sinne der Negation der Autonomie, und die Konstitution ab extra im Sinne der Zueignung extern begründeter Prädikate ist. Dies sei der ursprüngliche Sinn des Begriffes eines,Transzendentalen Ich': Es ist das Ich, das sich von sich selbst unterscheidet und sich ,mit den Augen Gottes betrachtet', von ,außen' also, und so das doppelte Urteil Gottes über den Menschen als eigenes Urteil übernimmt. 2.3.4. Christus als Bedingung der Möglichkeit des, transzendentalen Ich'. 2.3.4.1. N u n stellt Eiert die weiterführende Frage, wie denn die Bindung des Glaubens an Christus mit der Reinheit des von allen Inhalten freien transzendentalen Subjektes vereinbar sein könne. Eiert vollzieht auf diese Weise eine Auseinandersetzung mit den Traditionen des Spiritualismus, denen gerade die Bindung des Heils an externe Instanzen ein Bruch mit der Bindung des Heils an die interne Größe des Glaubens ist; hinter den zunächst anvisierten Positionen der Mystik steht wieder Troeltschs angebliche Behauptung, daß die Konzentration auf die von allen externen Vermittlungsinstanzen unabhängige religiöse Individualität die eigentümliche Leistung der Position Luthers gegenüber dem Mittelalter sei — und genau um der Auseinandersetzung mit dieser Position willen verwendet Eiert zur Kennzeichnung der Position Luthers wie derjenigen der Mystik den Begriff des .transzendentalen Ich': Wie die Mystik im Prozeß der Entwerdung auf die Reinigung des Ich von allen Inhalten - darunter eben auch allen externen Vermittlungsinstanzen des Gottesverhältnisses — zielt, so intendiere Troeltsch die Selbständigkeit der religiösen Subjektivität gegen alle externen Vermittlungsinstanzen. 173 2.3.4.2. Eiert weist im Gegenzug daraufhin, daß Luther das Gericht über das eigene Werk als eine Wirkung des Werkes Christi bezeichne, so daß also die Bindung des Glaubens an Christus nicht die Aufhebung, sondern die Bestätigung der Reduktion des Menschen auf das von allen Eigenbestimmungen freie, sich selbst negierende Ich sei. Gerade dieses Selbstgericht sei die Voraus-

173

Vgl. I, 70f, vgl. auch die Darstellung Böhmes bei Eiert - dazu oben S. 164f.

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s e t z u n g d a f ü r , d a ß n u n d i e B e s t i m m u n g e n C h r i s t i als d i e f ü r das aller B e s t i m m u n g e n e n t l e d i g t e Ich allein g ü l t i g e n P r ä d i k a t e ins M i t t e l t r e t e n . G e r a d e u n d a u s s c h l i e ß l i c h in d e r B e z u g n a h m e a u f C h r i s t u s als die H e r k u n f t aller P r ä d i k a te des S u b j e k t e s v o l l e n d e t sich d i e i n d e r N e g a t i o n aller e i g e n e n B e w u ß t s e i n s i n h a l t e v o l l z o g e n e R e d u k t i o n a u f das t r a n s z e n d e n t a l e Ich': „Demnach vollendet sich gerade in der Erkenntnis Christi, im Glauben an den Christus crucifixus die Erkenntnis der eigenen Strafwürdigkeit, des eigenen Todes, die Kritik am eigenen liberum arbitrium, an der eigenen Weisheit und Gerechtigkeit. Sie vollendet also jenen Strich durch unseren gesamten seelischen Besitz, sodaß nur noch das völlig entleerte Ich als rein empfangendes Ich übrig bleibt." 174 D i e i m U r e r l e b n i s e r f a h r e n e R e d u k t i o n des M e n s c h e n a u f das , p u n c t u m m a t h e m a t i c u m ' w i r d also i m R a h m e n des R e c h t f e r t i g u n g s u r t e i l s - u n t e r d e m E v a n g e l i u m - v o r a u s g e s e t z t , a u f g e n o m m e n , b e s t ä t i g t u n d n u r so n e g i e r t . 1 7 5 2 . 3 . 4 . 3 . D a m i t w i r d sehr s c h a r f sichtbar, w a s Eiert e i g e n t l i c h m i t d e m t r a n s z e n d e n t a l e n Ich m e i n t : Es g e h t n i c h t n u r u m d i e R e d u k t i o n a u f d i e I n s t a n z d e r I c h - h a f t i g k e i t , d e n B e z u g s p u n k t u n d d e n possessiven Pol f ü r alle E i g e n t ü m l i c h k e i t e n des M e n s c h e n -

dies w a r d e r S i n n d e r , R e d u k t i o n a u f das

p u n c t u m m a t h e m a t i c u m ' i m Passus ü b e r d i e E r f a h r u n g des D e u s a b s c o n d i -

174 I, 75; Eiert mißversteht in dem Satzteil „die Erkenntnis ... des eigenen Todes" den zuvor zitierten Satz Luthers: „Christus vocatur mea mors" (WA 40,1,278,5f)· Eiert ist offensichtlich der Meinung, daß diese Wendung den Sachverhalt wiedergäbe, daß Christus die Negation des eigenen Bewußtseinsinhaltes des Sünders ist - i.S.v.: Christus vocatur mors personae meae. Der Satz faßt dann zusammen, was durch die Mitteilung der Eigenschaften Christi an den Glaubenden gilt: der Glaubende selbst und seine Bestimmungen werden negiert, und in diesem Sinne ist Christus der Tod des Menschen; der Tod des Menschen ist gleichsam Implikat der Rechtfertigung solo Christo. - Luther allerdings versteht den Satz als Beschreibung der erlösenden Wirkung des Todes Christi am Glaubenden: W i e alle Eigentümlichkeiten Christi wird auch der Tod Christi dem Sünder als Macht gegen seinen Tod zugeeignet, wie Eiert im Vorangehenden übrigens durchaus feststellt: .Allerdings spricht Luther bestimmt davon, daß Christus ein Gut ist, das wir besitzen ...". Er fährt dann allerdings adversativ fort: „Αί/er der Glaube, der das Subjekt dieses Besitzes ist, verlangt auch, daß man sich auf Christi Tun und Leiden so verlasse, als hätte man es selbst getan und gelitten ... Christus vocatur mea mors." Eiert versteht den Satz offenbar im beschriebenen Sinne: Christus ist unser Tod gerade dadurch, daß die Forderung des Glaubens den Selbstverzicht verlangt - und nicht so, wie es Luthers Intention adäquat wäre: Der Tod Christi wird dem Sünder zur Erlösung vom eigenen Tod. Denn aus diesem Satz f o l g e r t e n dann, daß Christus der Tod der Eigenheit des Menschen sei: „Demnach vollendet sich ..." (vgl. Zitat im Text). - Der Textabschnitt ist ein Beispiel eben dafür, wie Eiert offensichtlich im Schreiben der ursprünglich gefaßte Gedanke entgleitet und ein anderer an seine Stelle tritt: Der Luthersatz „Christus vocatur mors mea" ist vom Vorangehenden her durchaus im Sinne der ursprünglichen Intention Luthers zu lesen, erhält aber im folgenden einen textfremden Sinn. Vgl. dazu auch die oben gesammelten Instanzen für diese Eigentümlichkeit des Denkens Elerts: S. 21 29 . - Der Text bei Luther im Zusammenhang: „Mors ea ligat me, venit alia quae est vita, quae vivificat in Christo, et ilia vita quae liberat a funibus mortis. Tum mors quae me ligabat, iam ligata, quae me occidit, iam occisa per ipsam mortem i.e. vitam. Sic Christus dulcissimis vocabulis vocatur mea mors ..." 175

W i r werden dieser Grundfigur weiter unten noch mehrfach begegnen; s.u., S. 238ff.

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tus; sondern es geht nun weiterführend darum, daß dieses Ich in der Begegnung mit dem Evangelium als reine Rezeptivität neubestimmt wird. Gerade dies beschreibt Eiert als das neue Selbst, das sich unter der Einwirkung der Verkündigung herstellt: „... für Luther ist die Durchstreichung [sc. des .gesamten seelischen Besitzes', N.S1.] kein denktechnischer Akt, sondern ein Gerichtsakt im eigentlichen Sinne. Der Inhalt des Bewußtseins wird ebensowenig vernichtet, wie die böse Tat durch richterliches Urteil ungeschehen gemacht werden kann. Aber er ist jetzt nicht mehr Mittel zur Selbstbehauptung. Im Glauben wird ein Selbst des Menschen lebendig, das gerade auf Selbstbehauptung verzichtet, und zwar unter dem Urteil Gottes, das sich am Kreuz Christi vollzieht, verzichten muß und doch da ist, freilich nur da ist, um zu empfangen, und dadurch da ist, daß es empfängt."' 76

Die Bindung an Christus ist somit die Bedingung der Möglichkeit des ursprünglichen Sinnes des .transzendentalen Ich', der in der Christologie vermittelten Selbstreferentialität des Menschen, der - in der Zustimmung zum Urteil Gottes alles negierend, was in ihm ist - dennoch sich selbst als gerecht in einem anderen seiner selbst beurteilt. In diesem Sinne ist Christus bzw. die Bezugnahme auf Christus die Bedingung der Möglichkeit des transzendentalen Ich'. Der im Urerlebnis erfahrene Widerspruch Gottes gegen die Subjektivität als Autonomieanspruch und der dort erfahrene ,Tod' der Subjektivität wird bestätigt und aufgehoben in einer Gestalt der Subjektivität, die das Urteil Gottes in Gericht und Gnade übernimmt und sich ausschließlich aus dem anderen ihrer selbst konstituiert weiß. 2.3.5. Das ,tranzendentale Ich'als Instanz der Rezeptivität. Mit dem eben zitierten, in glücklicher Weise zusammenfassenden Text wird zum einen die Grundvoraussetzung der Elertschen Position deutlich sichtbar, zum anderen der Sinn seiner Rede vom .transzendentalen Ich': 2.3.5.1. Zunächst zur Grundvoraussetzung: Eiert kennzeichnet sowohl die Negation wie die externe Konstitution des Ich, die Reduktion also auf das transzendentale Ich wie den Aufbau des rein empfangenden Ich des Glaubens als Ergebnis eines Gerichtsaktes, eines zweifachen Urteils über den Menschen. Es ist das Urteil (Gottes) über den ,seelischen Besitz', in dem sich die Reduktion auf das transzendentale Ich als durch die Erfahrung des Widerspruches Gottes motiviertes Selbsturteil vollzieht, und es ist das Urteil der Zurechnung der Gerechtigkeit Christi, in dessen Übernahme sich das neue Ich als empfangendes und so als in einer neuen Selbstbeurteilung vollzogenes

176 I, 75, vgl. 132 u n d 361: „Die Gerechtigkeit Christi ist meine Gerechtigkeit, wie mir das Wort gilt. Es gilt mir aber nur, wenn diese Gerechtigkeit mit meinem empirischen Bestände unverworren bleibt. Der Glaube, der es vernimmt, hat keine andere Funktion als dieses Vernehmen u n d ist nur, indem er vernimmt."

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Subjekt konstituiert; gerade und ausschließlich diese Zurechnung der fremden Gerechtigkeit aber impliziert und erhält die Reduktion auf das transzendentale Ich und wird so zu dessen .Bedingung der Möglichkeit'. Die Rede vom transzendentalen Ich' hat so einen doppelten Sinn: Negativ das Selbstverhältnis als Selbstnegation, und positiv das Selbstverhältnis als Selbstbeurteilung gemäß der zugesprochenen Gerechtigkeit Christi. In beiden Hinsichten ist das Selbstverhältnis des Menschen eine Selbstbeurteilung in der Einstimmung in das doppelte Urteil Gottes. Eiert betrachtet nun das gesamte Verhältnis des Menschen zu Gott als ein Verhalten zu diesem Urteil: In der ,Selbstdistanzierung' des transzendentalen Ich vom .seelischen Besitz' vollzieht sich die Übernahme des Urteils Gottes, die in dem Versuch, sich angesichts des erfahrenen Zornes Gottes zu behaupten, also auf der menschlichen Autonomie zu bestehen, verweigert wird. Im Glauben wiederum wird das Urteil Gottes, in dem dieser den Sünder aufgrund der Gerechtigkeit Christi als gerecht beurteilt, übernommen und angeeignet, womit der Mensch im Absehen von sich selbst in der Person Christi eine neue Identität gewinnt: „Wollte man also, weil dem Glauben der Charakter einer Entscheidung anhaftet, folgern, der Mensch müsse in Luthers Sinne doch eine gewisse Freiheit der Wahl besitzen, so lehren diese Sätze, daß er gerade keine Wahl hat. Denn Subjekt der Entscheidung ist ja das gerichtete Ich, das - im oben ausgeführten Sinne - transzendentale Ich, das nur im Glauben und vom Glauben an Christus lebt, ohne ihn aber dem Gericht zum Tode verfallen ist. Die Entscheidung des Glaubens gilt also der Alternative Leben oder Tod im strengen Sinne. Das Ich aber, das sich für den Tod entscheiden wollte, ist eben damit auch erloschen, oder vielmehr: es kommt nicht zum Leben. Vernimmt es aber wirklich das sündenvergebende Wort Gottes in Christo, so gilt es ihm auch. Hier gibt es keine zweifende Frage. Denn mit dem Zweifel wäre das vernehmende Ich sofort wieder erloschen. Die fraglose Gültigkeit des Evangeliums ist identisch mit der Gewißheit des Glaubens." (I, 78)

Der Zusammenhang der Passage ist die Frage nach der Gewißheit, und zwar als Frage nach der Geltung der im Evangelium zugesagten Sündenvergebung. Eiert löst die Frage so, daß er daraufhinweist, daß es zwischen dem Ich des Glaubens und dem des Zweifels keine vermittelnde Subjektinstanz gibt. Das im Zweifel an der Geltung des in Christus über den Sünder ergehenden Urteils lebende Ich ist das gerichtete und zum Tode bestimmte, das nicht vor einer Entscheidung steht, sondern sich bereits entschieden hat. Umgekehrt ist das ,neue Ich' nicht Subjekt einer Entscheidung oder Subjekt möglichen Zweifels, weil es überhaupt nur in der Einstimmung in das Urteil Gottes und damit im Vollzug des Empfang'es der iustitia Christi ist. Diese Feststellungen sind nur dann sinnvoll, wenn Eiert der Meinung ist, daß Glaube und Zweifel jeweils die Wesensbestimmungen dieses Ich darstellen, der Glaube also nicht eine .Haltung' oder eine ,Tätigkeit' ist, dessen Subjekt das von dieser Haltung noch einmal unterscheidbare .transzendentale Ich' ist. Das transzendentale Ich ist der Glaube.

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2 . 3 . 5 . 2 . D a m i t hängt n u n der zweite P u n k t eng zusammen: Es geht Eiert insgesamt u m die Feststellung, d a ß es den G l a u b e n n u r u n d ausschließlich in der Bezugnahme a u f die externe Instanz Christi gibt, d a ß also die Bezugnahm e a u f Christus nicht das Ende der Punktualität des transzendentalen Ich ist, sondern im Gegenteil dessen Bedingung. 1 7 7 Traditionell gesprochen: Streng g e n o m m e n sind die W e r k e n u r d a n n abgetan, w e n n der G l a u b e seine Identität in keiner Weise aus sich selbst, sondern eben aus Christus gewinnt. Die Punktualität des transzendentalen Ich ist n u r d a n n gewahrt, w e n n die Stiftung der menschlichen Identität außerhalb des M e n s c h e n begründet ist u n d das jeweilige Ich n u r als Instanz der rein rezeptiven, passiven A n e i g n u n g u n d Ü b e r n a h m e dieser Identität in Frage k o m m t . D e r G l a u b e realisiert sich ausschließlich in der Bezugnahme a u f Christus, d.h. in der Ü b e r n a h m e des d o r t gefallenen Urteils G o t t e s über die menschliche Existenz, u n d u m g e k e h r t hat die Person u n d das W e r k Christi selbst den G l a u b e n z u m unabdingbaren Korrelat. D a m i t widerspricht Luther nach Eiert d e m Versuch der Mystik, in der Instanz des , ν ο η allen Inhalten gereinigten' transzendentalen Ich unter A u f g a b e des empirischen Ich m i t d e m i m transzendentalen Ich präsenten

177 Elerts Aussageintention ist wieder uneindeutig, und zwar schon in der Problemstellung: Auf der einen Seite zielen seine Ausführungen darauf, daß der Glaube an Christus den Grund seiner Gewißheit über die Geltung des Evangeliums hat: „Wird mir das Evangelium von Christus verkündigt, so gilt es mir auch: Christus pro me. Diese Geltung ist fraglos - denn die Frage nach Gott ist hier endgültig und erschöpfend beantwortet." (I, 76). Beantwortet ist damit, so Eiert weiter, die Frage nach der Gewißheit der Überwindung der Gewissensnot - also des Gegensatzes zwischen Gott und Mensch. Der Glaube hat in Christus den Grund für die Gewißheit, daß dieser Gegensatz überwunden ist; der Zweifel wird mit Verweis auf diesen Grund beruhigt. Die Leitfrage ist also die: wo findet der Mensch die Gewißheit des Friedens mit Gott; die Antwort: in Christus, der als Grund der Sündenvergebung verkündigt wird. - Die zweite Aussageintention markieren die Worte: „Glaube ich, so ist Christus da, denn er ist für mich da. Bin ich dessen nicht gewiß, so zweifle ich, habe also auch keinen Glauben." (I, 78) Der Unglaube oder der Zweifel erscheint nach dem Vorangehenden als der dunkle Hintergrund, als die Möglichkeit, von der sich der Glaube abhebt. Das Ergreifen des pro me verbürgt hier die Gewißheit der Gegenwart Christi - so wird man den ersten der beiden zitierten Sätze verstehen müssen: .Glaube ich, so ist - weil im Glauben Christus für mich da ist - Christus da'. Die zitierte Fortsetzung allerdings kann nur so verstanden werden, daß eben mit dem Zweifel am pro me der Glaube und damit Christus nicht da ist. Hier erscheint also plötzlich - ohne daß das vermittelt wird, der Glaube als Grund der Gewißheit der Gegenwart Christi; nicht Christus verbürgt die Geltung der evangelischen Zusage und ist damit Grund der Uberwindung des Zweifels, sondern wer glaubt, ist gewiß und hat Christus, wer zweifelt, glaubt eben nicht und ist demnach auch zu Recht der Gegenwart Christi nicht gewiß. Die Frage, die nur in der Situation der Anfechtung des Glaubens überhaupt sinnvoll ist, wird hier nicht durch den Verweis auf den die Gewißheit verbürgenden Christus, sondern durch die Exklusivität der Alternative von Glauben und Unglauben .beruhigt': Der Glaube ist eben die Gewißheit der Geltung der Zusage und hat diese Frage nicht. Eiert sistiert hier einfach die Frage, die er zuvor mit dem Hinweis auf Christus „gelöst" und damit zugelassen hatte: der Glaube ist jenseits dieser Frage, er hat im Vollzug die Gewißheit der Geltung und bedarf der Antwort nicht mehr. Der Zweifelnde ist diesseits dieser Frage und hat im Zweifel nicht die Ungewißheit, sondern die Gewißheit der Ferne Christi. Gewiß geht Eiert hier mit einem Problem um, das sich mit vielen Luthertexten stellt — dem berühmten „Wie du glaubst, so hast du" etwa; dies sollte allerdings eigentlich kein Anlaß sein, das damit gestellte Problem gar nicht zu sehen.

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Gott zu verschmelzen, im Vollzug der Selbstaufgabe unmittelbar - ohne externe Instanzen - eins zu werden mit Gott. Das ist abschließend durch einen Nachvollzug des von Eiert dargestellten Zusammenhanges von Christologie und gläubigem Subjekt verständlich zu machen: 2.3.6. Das Christusgeschehen als Grund der Vermittlung zwischen Gottes Zorn und Gottes Liebe bzw. zwischen dem negativen und dem positiven Sinn des, transzendentalen Ich'. Zur Diskussion steht damit der Paragraph 9 der Morphologie, der nur dann richtig verständlich wird, wenn man sieht, daß sich in ihm eine Gedankenbewegung vollzieht, die einerseits die Christologie als Grundlage der Rechtfertigung durch den Glauben darstellen und andererseits daraufhin den Glauben als Implikat der Christologie ausweisen will. 2.3.6.1. Das Grundproblem des Abschnittes ist die Frage, warum die Rechtfertigung durch den Glauben des ,propter Christum' bedarf; ausgewiesen werden soll die These, daß ohne das,propter Christum' die Rechtfertigungslehre eine „Lücke" aufweise (I, 93f). Diese „Lücke", so deutet sich an (ebd.), ist die Vermittlung des Uberganges von der Erfahrung des Zornes zur Erkenntnis der Liebe Gottes. Den Einsatzpunkt bildet die gestaffelte Auseinandersetzung mit einer Gegenposition - im Blick dürfte dabei Ritsehl sein178 - , die den Glauben als die den Ubergang im Gewinn eines neuen Gottesbegriffes vermittelnde Instanz sehen wolle: Der Mensch erreiche „durch die Kraft seines Geistes" einen neuen Gottesbegriff, indem an die Stelle der Vorstellung des Zornes die der Liebe Gottes trete (I, 94). Eiert wendet gegen diese Deutung der Rechtfertigung die ernsthaft so niemand vertreten haben dürfte - ein, daß sie angesichts der unabweisbaren Erfahrung des Zornes Gottes vor dem Vorwurf des Illusionismus zureichend nicht geschützt sei. Auch wenn sich diese Neufassung des Gottesbegriffes auf eine Belehrung über das Wesen Gottes als Liebe stütze, sei eine solche Belehrung unfähig zur Vermittlung dieses Gottesbegriffes mit der im Urerlebnis gegebenen Erfahrung Gottes und würde den Eindruck erwekken, „als sei Gott ein inkonsequenter Gesetzgeber und ein weichmütiger Richter."179 2.3.6.2. Eiert versucht mit diesen Ausführungen die Bindung des Überganges vom Grauen des Urerlebnisses zum Glauben an die Liebe Gottes an ein dem Glauben externes Ereignis auszuweisen; dieses externe Ereignis muß nun aber fähig sein, der Situation des Urerlebnisses und der in ihm präsenten Erfah178

Vgl. Glaube 411. Das Recht dieser Ritschl-Darstellung steht hier nicht zur Diskussion. I, 94. Das Verhältnis von göttlicher Gerechtigkeit u n d vergebender Liebe hatte Eiert bereits in der oben referierten Schrift zur russischen Religionsphilosophie als das den Russen u n d Luther gemeinsame, jeweils unterschiedlich gelöste Problem benannt - s.o. S. 67f. 175

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rung Gottes nicht nur einfach zu widersprechen, sondern diese Situation zu bewältigen - und dies ist nur dann der Fall, wenn der Widerspruch von Grauenerregendem und Liebe nicht im Subjekt des Glaubens, sondern in Gott selbst lokalisiert ist und zum Austrag kommt, denn nur so kann die Identität Gottes in zwei einander widersprechenden Erfahrungen desselben gewahrt bleiben: Nur dann, wenn der Zorn eine in Gott und durch Gott selbst bewältigte Wirklichkeit ist, ist die Behauptung vermieden, die unbestreitbar erfahrene Realität des Zornes Gottes sei eine menschliche Fehlvorstellung, und die Vorstellung vermieden, Gottes Liebe setze sich zu seinem Zorn in ein Verhältnis der arbiträren Regellosigkeit, nach der er vergibt oder zürnt: „Es steht hier primär gar nicht Glaube gegen Glaube, sondern G o t t gegen G o t t . U n d auch nicht G o t t gegen einen anderen Gott, sondern der Widerspruch liegt in d e m mit sich selbst identischen G o t t . Er ist also v o m Standort des Glaubens aus transzendenter, jedenfalls transsubjektiver Art." 1 8 0

Dieser Schritt ist darum wichtig, weil er ein nicht expliziertes Argument für die Notwendigkeit dieses Ubergangs in die Ebene des ,Transsubjektiven' zu erkennen gibt, nämlich die Wahrung der ,Punktualität' des Glaubenssubjektes: Ein nicht durch ein ,Transsubjektives' vermittelter Ubergang wäre ein durch die gläubige Subjektivität selbst geleisteter und damit die reine Rezepti180 I, 94. Der Gedanke auch im folgenden Absatz (I, 94f) zielt offensichtlich auf diese Feststellung, daß die Gewißheit der Uberwindung des Zornes Gottes dann nicht gegeben ist, wenn der Glaube darin besteht, zu erkennen, daß die Erfahrung des Zornes Gottes bloßer Schein und zugunsten eines adäquateren Gottesbegriffes zu transzendieren sei. Die Passage ist allerdings auch wieder typisch für die eigentümlich rationalisierende Argumentation Elerts - er weist daraufhin, daß in diesem Fall der Glaube nicht anzugeben wisse, warum nun ausgerechnet die Liebe diesem Wesen Gottes entspreche und somit dieser Behauptung die Gewißheit mangele. Es ist allerdings gar nicht einzusehen, warum dies Problem nicht durch eine von Christus gegebene Information oder - ebenfalls christologisch - in der in Bd. 1 der ,Studien' (Slenczka, Studien Bd. 1,1, B, 2.3.) für Ritsehl beschriebenen Weise gelöst werden sollte; weder ist nachvollziehbar, warum sich Eiert nicht mit Ritschis Position (die hier eindeutig im Hintergrund steht) ausdrücklich auseinandersetzt, noch ist erkennbar, daß seine als Alternative angebotene Lösung des Problems genau auf diese Frage eine Antwort vermittelt (s.u. Anm. 182). Im folgenden thematisiert Eiert an einer Stelle (I, 95f) die Möglichkeit, daß Christus selbst als Verkündiger der Bereitschaft Gottes zur Sündenvergebung diese Vermittlung leisten könnte, und wendet dagegen ein: „Damit würde aber das eigentliche Problem, wie nämlich der Widerspruch zwischen Gott und Gott trotz seiner Selbstidentität denkbar sei, nicht gelöst, sondern nur hinausgeschoben." (I, 96). Eine Position, die Christus als Informanten über die Wahrheit Gottes angesichts der täuschenden Vorstellung vom Zorn Gottes, verstehen würde, hätte allerdings genau dies Problem nicht, so daß das Argument Elerts nicht zieht. Eiert täuscht den Leser hier schlicht darüber hinweg, daß die von ihm bestrittene Position ohne jede Schwierigkeit und ohne den von ihm behaupteten Abbruch an der Gewißheit des Glaubens denkbar ist. - Ein Argument wäre eben dann erreicht, wenn Eiert nicht zeigen würde, daß der Glaube keine Garantie dafür hat, daß Gott die Liebe und nur im Modus der Täuschung Zorn ist, sondern nachweisen könnte, daß die Erfahrung des Zornes Gottes keine Täuschung sein kann. Nicht die mangelnde Verbürgung der Behauptung, daß Gott Liebe ist, wäre dann das entscheidende Argument, sondern vielmehr der Umstand, daß die reale Erfahrung des Zornes Gottes unbewältigt bleibt.

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vität zerbrechender Akt - denn andernfalls würde es sich, so Eiert, um die Bewältigung der Erfahrung des Deus absconditus durch eine „geistige Leistung" handeln (ebd.). 2.3.6.3. Eiert weist nun daraufhin, daß der Glaube zwar die Vermittlung der gegensätzlichen Erfahrung Gottes in Gesetz und Evangelium leiste, daß er dies aber ausschließlich aufgrund der Person Christi vermöge, in der primär die Vermittlung des Deus absconditus mit dem Deus revelatus sich ereigne: „Die aufgetauchte Frage, was denn den Christen versichere, daß sein Glaube an die Sündenvergebung nicht auf Illusion beruhe, ist also in Luthers Sinne ganz allgemein durch den Hinweis auf Christus zu beantworten. Er ist Erkenntnisgrund des Glaubens an Gottes Bereitschaft zur Sündenvergebung." (I, 95, vgl. Vorangehendes)

Die folgenden Passagen (I, 9 5 - 1 0 3 ) haben dann die Aufgabe, das Christusgeschehen als Vermittlung des Zornes Gottes mit seiner Liebe zu beschreiben, und zwar so, daß es einerseits z.B. gegen die Anselmsche Vermittlung zwischen Eigenschaften Gottes abgegrenzt wird (I, 97), zum anderen so, daß erkennbar wird, daß dieses Geschehen selbst die die Vermittlung des Glaubens zwischen Zorn und Liebe Gottes ermöglichende Grundlage ist (I, 100). 2.3.6.4. Eiert setzt zunächst so ein, daß er die „objektive Versöhnungslehre" als die Lösung des Luthertums einführt und als die Gestalt der Wahrung der Externität der Gerechtigkeit Gottes bestimmt: Gerade hier bleibe die Fremdheit der Gerechtigkeit gegenüber jeder Form der Mitteilung von dem Sünder eigenen Qualitäten durch Gott gewahrt. Die Weiterführung des Gedankens erfolgt dadurch, daß die Identifikation von Sündenvergebung und iustitia passiva, die Eiert als das entscheidende Moment der Lutherischen Rechtfertigungslehre gekennzeichnet hatte, problematisiert wird: Eiert zeigt, daß im Begriff der geschenkten iustitia (qua ius) der Verweis auf eine transsubjektiv geltende Ordnung stecke, und daß dieses Moment der Ordnung zur Geltung kommen müsse und nicht schlicht durch die Begriffe der „misericordia" oder „gratia" abgegolten sei. Die geschenkte Gerechtigkeit könne also nicht einfach die Durchbrechung und Aufhebung der geforderten iustitia zugunsten willkürlicher Unordnung sein, sondern müsse selbst Ordnungscharakter tragen bzw. einer Ordnung genügen: „Das ius, das im Begriff der iustitia steckt, ist selbstverständlich an sich identisch mit dem .Geltenden' in Luthers .Gerechtigkeit, die vor Gott gilt'. Insofern könnte man noch einwenden, es sei ein paradoxer Ausdruck dafür, daß Gott gerade nicht das ius anwende, sondern ,Gnade vor Recht ergehen lasse'. Aber dieser Wechsel des ius, das fordert und straft, in ein ius, das schenkt und vergibt, ist eben selbst eine Ordnung, vielleicht höherer Art, jedenfalls aber wieder eine Ordnung, die ebenfalls gilt, und deren Geltung vom Menschen aus gesehen schlechthin transsubjektiv ist." (I, 97)

Das eigentliche Problem aber, so zeigen die im folgenden entfalteten zwei Wege zur Lösung desselben, ist nicht die Bestimmung dieser iustitia als Ord-

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Die Wahrheit der neuzeitlichen Subjektivität

nung, wie Eiert ankündigt ( „ Z u ihrer näheren Bestimmung bieten sich zwei Wege an.", I, 97), sondern die Frage, wie die beiden O r d n u n g e n miteinander vermittelbar sind. D e n n nach einer knappen A b l e h n u n g der Anselmischen Versöhnungslehre, die das Problem als Aufgabe des Ausgleichs zweier Eigenschaften Gottes fasse (ebd.), k o m m t Eiert zu einem eigenen Lösungsvorschlag, der von der Situation des Menschen unter d e m Z o r n e Gottes ausgeht u n d den er - im Unterschied zur .deduktiven' Anselmischen L ö s u n g v o m Gottesbegriff aus - als ,induktiv' und damit d e m bisherigen Verfahren entsprechend kennzeichnet. 1 8 1 2 . 3 . 6 . 5 . Eiert ordnet dabei im folgenden zwei Aspekte des Lebensvollzuges Jesu einander zu; zunächst faßt er die Inkarnation selbst als Eintritt Christi in die Situation unter d e m Z o r n Gottes: „Hat demnach Christus wirklich unser Fleisch angenommen und damit Gesetz, Zorn und Fluch Gottes, Teufel und Hölle auf sich gezogen, so ist der Fluch, den er trägt, unser Fluch und der Tod, den er stirbt, unserToA. Und da endlich unser Fluch und unser Tod die unvermeidliche Folge unserer Sünde ist, so trägt er mit der Folge auch die Ursache: unsere Sünde." 182 181 Die gesamte Passage ist eine sonderbare Abfolge von eher skurrilen Plausibilisierungsversuchen (vgl. die vielen Konsekutiv- und Kausalsätze); eigentlich interessant ist nicht das merkwürdige, konsequenzmacherische Hantieren mit Erklärungsmodellen, sondern der darin verfolgte Leitgedanke, nach dem die gläubige Subjektivität nur möglich ist auf der Basis eines externen Fundamentes. 182 I, 98. Elerts Position gibt sich als Versuch der Plausibilisierung der lutherischen Soteriologie. Daß diese Gedankenreihung allerdings einleuchtend ist, wird man kaum behaupten können: Eiert geht davon aus, daß Christus in dieselbe Situation eintritt, in der die sündige Menschheit steht: „Indem er in das Fleisch ,eingewickelt' wurde, war er auch in den Zusammenhang von Sünden, Tod und all unsem Strafen verwickelt." (I, 98). Schon diese Folgerung ist zweifelhaft, zumindest aber klärungsbedürftig. - Eiert überführt diesen Gedanken des Eintritts in die Situation des Menschen dann mittels einiger Lutherzitate in den Gedanken der Identität Christi mit dem Sünder, der nicht nur Geselle des Sünders sei, sondern dieser selbst - und dieser Gedanke soll sich aus dem Gedanken des Abstiegs Jesu in die tiefste Tiefe ergeben: „Sein ganzes Leben war ein einziger Abstieg ... Damit ist Christus zu uns in ein so enges Verhältnis getreten, wie es zwischen Menschen nicht enger gedacht werden kann." (ebd.) Weder die Lutherzitate noch dieser Satz Elerts vermitteln diese Behauptungen miteinander, und so wird der folgende, oben im Text zitierte Satz zweideutig: Z u m einen ist er lesbar als die Zusammenfassung der Übernahme einer dem Menschen eigentümlichen Situation durch Christus in der Menschwerdung: das betonte „unser" (Fleisch etc.) meint dann: er hat Fleisch angenommen wie wir. Eiert ist aber offenbar der Meinung, daß Christus mit der angeblich in der Kondeszendenz begründeten Identität mit dem Sünder in der Tat das uns eigene Fleisch etc. angenommen hat, denn nur dazu paßt die anschließende, oben zitierte Behauptung, daß Christus mit dem Tod auch dessen Ursache - die Sünde - auf sich genommen habe - was auch für sich genommen eine unsinnige Behauptung ist: Wer eine Folge trägt, trägt doch noch längst nicht deren Ursache - einmal ganz abgesehen davon, was hier „Tragen" eigentlich heißen soll. Es ist deutlich, was Eiert sagen will, nämlich dies: daß Christus dadurch, daß er Mensch geworden ist, die gesamte Situation des Menschen und seine Verlorenheit auf sich genommen hat. Das Problem, mit dem er sich in seinen Folgerungen abmüht, ist das ganz schlichte, daß gar nicht klar ist, warum denn der Eintritt in die Bedingungen des Menschseins notwendig auch für Christus ein Eintritt in die Bedingungen des Menschseins unter der Sünde

Subjektivität zwischen S ü n d e u n d Versöhnung

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Die Übernahme dieser Situation wird von Eiert im Anschluß an Luther als Identifikation Jesu mit der Situation des Sünders und als „Tragen" der Sünde des Sünders verstanden - und zwar als Übernahme der Sünde durch den einzigen Sündlosen. Diese Sündlosigkeit ist nach dem Eintritt Christi in die Situation des Menschen der zweite entscheidende Aspekt: Jesu Existenz sei die vollkommene Erfüllung des göttlichen Gesetzes, die vollkommene Liebe zu dem Menschen und der vollkommene Gehorsam Gott gegenüber (I, 99); dieser Gedanke vollende sich „in der Tatsache, daß auch sein ,Fleisch' vom Moment der Fleischwerdung ab, [!] ohne Sünde war, daß er ohne Sünden von der Jungfrau empfangen und geboren wurde."183 Elerts Interesse mit dieser Wendung ist die Konzentration der beiden „Gedankenreihen" - der Kondeszendenz im Sinne der Übernahme des Geschickes des Sünders und der Sündlosigkeit auf den einen Punkt der Inkarnation, 184 und zwar darum, weil er hier den Punkt identifiziert, an dem Luthers,induktives Verfahren' zugunsten der Annahme einer ,transhumanen Initiative' überschritten wird: „Soll sich nämlich das Motiv der Freiwilligkeit Christi auch auf den Akt der Fleischwerdung erstrecken, so m u ß bei i h m in d e m personbildenden Willen eine t r a n s h u m a n e Initiative a n g e n o m m e n werden. Daraus ergibt sich für Luther der Anschluß an die neutestamentliche Logoslehre u n d die kirchliche Zweinaturenlehre."' 8 5

sein muß, und warum — wenn Christus nun in der Tat die Folgen der Sünde trägt — man sagen kann, daß er die Sünde selbst getragen hat. Die Identifikation des Geschickes Christi mit unserem Geschick und das .Tragen unserer Sünde' wird unter dem Deckmantel in Anspruch genommener Logik faktisch als Behauptung eingeführt. Zu kritisieren ist dabei nicht der Status einer theologischen Behauptung - wohl aber der mit den Scheinfolgerungen nicht eingelöste Anspruch einer logischen Folge. 183 Warum der Gedanke der Sündlosigkeit durch die unbefleckte Empfängnis vollendet sein soll, wird wohl nur dann verständlich, wenn man annimmt, daß Eiert die unbefleckte Empfängnis als Bestimmung Jesu und nicht als Qualifikation der Jungfrau Maria faßt, so daß im zitierten Satz das „ohne Sünden" Jesus und nicht den Modus der Empfängnis bestimmt. Im traditionellen Verständnis ist die .unbefleckte Empfängnis' eine Qualifikation der sündlosen Jungfrau, die allerdings - das ist richtig - als Bedingung der Möglichkeit der Sündlosigkeit Jesu verstanden wird (vgl. Campenhausen, Jungfrauengeburt, 54-66, zum Abschluß der altkirchl. Entwicklung bei Ambrosius und dem Sinn der Formel dort bes. 56f). Vgl. auch die Ausführungen Elerts in der Dogmatik, in der er mit gutem Grund die Verbindung von Sündlosigkeit Jesu und unbefleckter Empfängnis unberührt läßt und die unbefleckte Empfängnis in den Zusammenhang der Gottesohnschaft stellt (Glaube 378-380). ' 84 „Wie aber die erste Gedankenreihe auf der grundlegenden Tatsache ruht, daß er unser .Fleisch' angenommen hat und zwar in und mit der Fleischwerdung, so vollendet sich die zweite in der Tatsache, daß auch sein .Fleisch' vom Moment der Fleischwerdung ab, ohne Sünde war ..." (I, 99). 185 I, 99. Vgl. Glaube § 54; Eiert konzentriert dort die gesamte Christologie um das Thema des Zeugnisses von der Gottheit Jesu und limitiert alle Aussagen auf die Wahrung dieses Anspruches; entsprechend ist Präexistenz Christi nicht die spekulativ zu entfaltende Darstellung der Präexistenz der göttlichen Natur, sondern limitiert auf die Lehre von der Menschwerdung in dem Sinne, daß aus der Perspektive der Erfahrung der gottmenschlichen Person Jesu diese auf einen göttlichen Ursprung zurückgeführt wird. In genau diesem Sinne sei die Lehre von der Präexistenz

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Die Wahrheit der neuzeitlichen Subjektivität

Entfaltet bedeutet das, daß nach Eiert auch die Geburt Christi nicht - wie sonst bei jedem Menschen — ein fremdbestimmtes Schicksal, sondern ein im Gehorsam übernommener und damit göttlicher Akt war, und daß sich genau in diesem Akt die nicht mehr verifizierbare Behauptung des Christen, die ein innerweltliches Geschehen in einer transzendenten Ursache begründet, vollzieht, die Eiert bereits im Aufsatz zur Religionspsychologie von 1912 dargestellt hatte. 186 2.3.6.6. Diese beiden ,Gedankenreihen' - die Übernahme des Todesgeschikkes, das den Sünder trifft, und die Sündlosigkeit — dienen Eiert nun dazu, die Übernahme des Todesgeschickes der Sünder durch den einzig Sündlosen als Stellvertretung der Sünder durch den Sündlosen zu abzuleiten: 187 „Was aber weiter Christus betrifft, so gibt es - immer seine Freiwilligkeit vorausgesetzt - keinen anderen zureichenden G r u n d dafür, daß er den Zorn Gottes auf sich zog, als seine Liebe zu den Menschen, mit denen er sich vollkommen solidarisch erklären wollte. ... Die Motive der Freiwilligkeit und der Liebe unterstellen die unbegreifliche Verflochtenheit jener beiden Tatsachenreihen im Leben Christi dem Gesichtspunkt des Zweckes." (I, 100)

2.3.6.7. Mit dem Begriff,Zweck' ist nun der Punkt erreicht, an dem Eiert den Bezug des Christusgesche-hens auf den Glauben begründet sieht, denn dieser Zweck Christi realisiert sich — vermittelt durch die Verkündigung — im Glauben, der diese Absicht Christi auf sich bezieht und so zur Geltung bringt: „Die Kunde davon ist nicht eine bloße Mitteilung. Sie apelliert [!] vielmehr an den, der sie hört, und veranlaßt ihn, sie auf sich zu beziehen. Das ist der Sache nach selbstverständlich wegen der Solidarität aller Menschen, in die Christus eingetreten ist. Zugleich verlangt es aber auch die persönliche Individualisierung des Zweckes im Glauben. Bezeichnet Luther diesen Glauben ausdrücklich als den, der rechtfertigt, so ist hier jener oben noch vermißte transsubjektive G r u n d erreicht, an dem der Rechtfertigungsglaube vor Anker gehen kann." (I, 100) eine Lehre über den Logos ensarkos, nicht über den Logos asarkos (Glaube 3 7 5 im Kontext von 373-377). 186 Es ist anzunehmen, daß Eiert mit d e m Hinweis, daß die Begründung für beide ,Gedankenreihen' lediglich im W o r t der Schrift bzw. der Verkündigung liegt u n d diese ,transhumane Initiative' daher der Verweis auf eine .Transzendenz' ist, die nach dem zuvor von Eiert angeführten Lutherzitat ausschließlich im persönlichen Glauben ergriffen werden kann — wie auch der Ubergang vom historisch Bezeugten zum psychologisch Nachvollziehbaren im Text zur Religionspsychologie nur im Glauben vollzogen wird (vgl. oben B, 1.1., S. 7 6 f ) . 187

Die merkwürdig leblose u n d rationalisierende Deduktion aus fragwürdigen Voraussetzungen erreicht hier ihren H ö h e p u n k t , wenn Eiert mit Bezug auf die Sündlosigkeit Jesu u n d die Freiwilligkeit der Menschwerdung folgendermassen formuliert: „Wenn m a n aber vorläufig [!] die Freiwilligkeit Christi bei der Menschwerdung als erweisbar [!!] unterstellt, so ergibt sich aus der Gegenüberstellung der beiden entwickelten Tatsachenreihen das Folgende." (I, 99). Was solche u n d vergleichbare Schlüsse im weiteren Z u s a m m e n h a n g austragen sollen, ist nicht recht nachvollziehbar — vor allem ist nicht verstehbar, mit wem Eiert eigentlich spricht: Mit Christen, denen er die innere Logik der Versöhnungslehre begreiflich machen will, oder mit Nichtchristen?

Subjektivität zwischen Sünde und Versöhnung

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Die „Vermittlung der Gegensätze" von Zorn und Gnade - darauf zielt nun der Gedanke Elerts - , die der Glaube vollbringt, vermittelt sich ihrerseits durch die Person Christi, in dem Gott aus Liebe zum Menschen den Fluch trägt, und in dem Gott den Menschen liebt, indem er Christus den Fluch tragen läßt (I, 100). Was geschieht, ist eine imputative wechselseitige Mitteilung: des Fluches vom Sünder an Christus; und umgekehrt: dadurch gilt die Gnade Gottes - und nicht mehr der Fluch - dem Sünder. Eiert interpretiert hier sowohl das „pro nobis" der Heilstat Christi als auch die von Luther aus der mystischen Tradition übernommene Figur des „fröhlichen Wechsels" unter der Prämisse der forensischen Imputation bestimmter Eigentümlichkeiten: „Findet im Glauben ein so vollkommener Wechsel des Christen mit Christus statt, daß mein Fluch sein Fluch, mein Tod sein Tod, aber auch seine Gesetzeserfüllung die meinige ist, so bin ich in der Tat so gerecht, wie es Christus war. Es bleibt freilich Glau^mrgerechtigkeit, aber auch wirklich Glzvibemgerechtigkeit. Und wenn endlich der früher unlösbare Widerspruch ein Gegensatz zwischen Gott und Gott war, zwischen dem Gott, der die Gerechtigkeit fordert, und dem, der sie schenkt, so zeigt sich jetzt paradoxerweise, daß gerade die - dem Glaubenden - geschenkte Gerechtigkeit dasselbe ist wie die geforderte und - von Christo, propter Christum aber auch vom Glaubenden - erfüllte Gerechtigkeit." (I, 101)

Das Werk Christi ist die Erfüllung des durch das Gesetz geforderten Richtspruches Gottes durch den Sündlosen, d.h. durch den vollständig auf den Autonomieanspruch, der jedes menschliche Leben kennzeichnet, verzichtenden Christus; es ist als solches vollbracht in der freiwilligen Solidarität mit dem Sünder und damit zu dem Zweck, im eigenen Tod den Tod des Sünders zu tragen und in der eigenen Gerechtigkeit der Gerechtigkeitsforderung Gottes um des Sünders willen Rechnung zu tragen. Damit vermittelt sich in diesem Werk, in dem die Gerechtigkeitsforderung Gottes erfüllt wird, die geforderte mit der geschenkten Gerechtigkeit, und der Glaube, der im Verzicht auf das eigene Werk das Werk Christi als für sich geltend übernimmt, verifiziert fur die eigene Person die Gültigkeit dieser Gerechtigkeitsordnung. 2.3.7. Zusammenfassung. Eiert vollzieht also in dieser Passage eine Gedankenbewegung, die einerseits das Christusgeschehen als Bedingung der Möglichkeit des Glaubens ausweisen und die andererseits das Christusgeschehen selbst als auf den Glauben gerichtet darstellen will, in dem sich dessen immanente Intentionalität erfüllt. Die noch nicht ausdrücklich thematisierte Voraussetzung für diese wechselseitige Verwiesenheit des Glaubens und des Christusgeschehens ist die, daß sich in beiden Polen eine Bewegung vollzieht: Auf Seiten des Glaubens der Ubergang vom Grauen vor dem Deus absconditus zur Erkenntnis der Liebe Gottes bzw. die Vermittlung der beiden (des positiven und des negativen) Aspekte der Rede vom transzendentalen Ich': Vernichtung des Ich als Instanz der Autonomie und Selbstkonstitution in der Übernahme des Todesurteils Gottes über das Ich, und externe Konstitution;

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Die Wahrheit der neuzeitlichen Subjektivität

auf Seiten des Christusgeschehens erfolgt der Eintritt des Sündlosen in die Situation des Zornes Gottes und die Zurechnung der Gerechtigkeit Christi an den Sünder in der Verkündigung dieses Geschehens als Grund der Sündenvergebung. Elerts Ziel in der Darstellung ist dies, zu zeigen, daß nicht nur zwei Pole, sondern die beiden Bewegungen aufeinander angewiesen sind und jeweils am anderen die Bedingung ihrer Möglichkeit haben; daher steht am Ausgang des Gedankenganges die Feststellung, daß die Bewegung des Glaubens nur durch einen externen Grund möglich ist, und am Ende des Gedankenganges die Feststellung, daß dieser externe Grund selbst so verfaßt ist, daß er auf die Bewegung des Glaubens zielt, und zwar so, daß er sie ermöglicht und auslöst. 2.4. Zusammenfassung: Die These über den ursprünglichen Sinn der neuzeitlichen Subjektivität. Genau diese Position Luthers — in der die Subjektivität des Glaubens in der Selbstunterscheidung des Sünders von sich selbst in der Einstimmung in das Urteil Gottes entsteht und ihre Bedingung der Möglichkeit in einem anderen ihrer selbst (dem Christusgeschehen) ebenso findet, wie dieses andere selbst auf die Grundbewegung des Glaubens abzielt - betrachtet Eiert nun als die Instanz, die nicht nur gegen den Versuch geltend zu machen ist, die Bindung der Rechtfertigungslehre an gegenständliche Instanzen als Widerspruch gegen die ursprüngliche, mit dem neuzeitlichen Denken kompatible Subjektivierung des Gottesverhältnisses zu interpretieren, sondern die vielmehr geltend zu machen ist gegen die neuzeitliche Subjektivitätstheorie insgesamt, die - nach Eiert - ihre Urstiftung in der Theologie Luthers hat genauer in der dort erfolgenden negativen Bezugnahme des Ich auf sich selbst - , die aber als denkerische Realisation des menschlichen Autonomieanspruches das Produkt einer religiösen Grunderfahrung darstellt, das sich diametral gegen den Ort seiner Herkunft richtet, in der die transzendentale Subjektivität' als extern konstituierte Rezeptivität gefaßt ist. Dies impliziert eben die These Elerts, daß die neuzeitliche Subjektivitätstheorie ihren Ursprung bei Luther selbst findet: „Hier [mit der beschriebenen Etablierung des Unterschiedes von transzendentalem und empirischem Ich] stößt Luther durch die gesamte mittelalterliche Anthropologie hindurch und schafft mit seiner Rechtfertigungslehre die Voraussetzung der späteren kritischen Philosophie. Deshalb ist seine Justifikationslehre' eben nicht nur eine bloße Variation der mittelalterlichen, sondern sie eröffnet eine neue Epoche." (I, 69f; erster Satz kursiv).

Freilich - so wird sich zeigen: Die Voraussetzung der späteren kritischen Philosophie' wird dort gegen ihren ursprünglichen Entdeckungssinn interpretiert; dennoch weist sich die Luthersche Theologie gerade so als ,neuzeitfähig' aus - ohne daß daraus für das Recht der lutherischen Theologie etwas folge: „Unter ,modern' verstehen wir hier aber nicht das chronologisch Nachmittelalterliche, auch nicht wie Troeltsch die Aufklärung, sondern diejenige Weltanschauung, die

Transzendentalität und Transzendenz

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durch Kants Erkenntniskritik hindurchgegangen oder zum wenigsten an seinen Fragestellungen geschult ist - auch wenn sie zu entgegengesetzten Antworten kommt. Für die Wahrheit' oder das ,Recht' des Luthertums folgt hieraus gar nichts. Denn die Entscheidung darüber steht und fällt mit dem evangelischen Ansatz selber." (I, 358). Mit dieser Behauptung, daß der Ursprung der Entdeckung der neuzeitlichen Subjektivität die in der Erfahrung des Deus absconditus begründete Erfahrung des Widerspruches gegen den Autonomieanspruch, der Diastasierung des Ich im .Selbstgericht' und die in der Rechtfertigungsbotschaft begründete externe Konstitution des Ich zum Ich sei, erreicht Eiert einen entscheidenden Punkt, nämlich die Erhärtung der Feststellung, daß das transzendentale Ich selbst eine Bedingung der Möglichkeit hat, die ein anderes seiner selbst ist. Dieses Verhältnis muß abschließend aufgeklärt werden, damit deutlich werden kann, in welcher Weise Eiert diese theologische Herleitung des ,Transzendentalismus' zur Auseinandersetzung mit den Gestalten der neuzeitlichen Subjektivitätstheorie nutzbar macht.

3. Transzendentalität und Transzendenz 3.1. Der Begriff der Transzendenz. In den Passagen der Morphologie, die eine Beschreibung der menschlichen Subjektivität im Verhältnis zum Zorn Gottes zum Gegenstand haben, hebt Eiert darauf ab, daß die jeweilige Gotteserfahrung die Erfahrung einer .Transzendenz' sei. Der Begriff der .Transzendenz' kennzeichnet dabei - ohne Bezug auf den einschlägigen Aufsatz Elerts zum Begriff der Transzendenz Gottes von 1923 188 - das Urerlebnis als etwas, was den Menschen ,νοη außen' trifft:

188 Eiert, Transzendenz. Der Aufsatz trägt für die hier zu behandelnde Frage nichts aus; Eiert versucht dort die in der Gegenwart angeblich verlorengegangene .Transzendenz' wiederzugewinnen, die weder - wie in der Tradition - in Raumkategorien (Transzendenz 523ff) noch in ethischen Kategorien (524ff) evoziert werden könne; diese traditionellen Elemente haben nach Eiert ihre Kraft, Transzendenz zum Ausdruck zu bringen, verloren: „Folglich kann echtes Transzendenzgefiihl von uns nur gegenüber einer Wirklichkeit erlebt werden, die außer den Momenten des Ubernatürlichen, Uberweltlichen, Übersinnlichen und außer bestimmter ethischer Qualität noch etwas anderes in sich trägt, das für uns heute in diesem Augenblick ein schlechthin Unfaßbares ist." (526, vgl. 526-533). Eiert sucht also nach der für die Gegenwart gültigen Transzendenzerfahrung, die in einer Erfahrung göttlicher Tätigkeit liegen müsse, und entwirft: im folgenden ein etwas merkwürdiges Programm, das im wesentlichen auf der analogen Übertragung von Motiven der Erfahrung menschlicher Personalität via eminentiae auf göttliches Wirken beruht, wobei in wunderlicher Weise - angesichts des Beweisziels höchst umstandslose - Voraussetzungen (vgl. 534: „Gott ist uns bekannt, er ist uns offenbar, am höchsten in Christus. Wir kennen seine Eigenschaften ..."; 535: „Nun ist uns aber nach dem, was wir über den offenbaren Gott bereits wissen, gewiß, daß Gott, wie alles, so auch dies weiß, wie alle Faktoren auch diesen Faktor kennt." Wer solche Voraussetzungen machen kann, müßte eigentlich erklären, wonach er unter dem Titel der Transzendenz' noch sucht...) eingeführt werden und dabei mit einer ebenso merkwürdigen Entfaltung des Wissens Gottes um unser zukünftiges Handeln sein gegenwärtiges Handeln als Reak-

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D i e Wahrheit der neuzeitlichen Subjektivität

„ D a s Sollen trifft ihn [sc. den M e n s c h e n , N.S1.] aber unter allen U m s t ä n d e n von außen, bedeutet also eine D u r c h b r e c h u n g der I m m a n e n z . " (I, 2 2 ) D a s ,νοη außen' besagt dabei z u m einen - wie die unmittelbare Fortsetz u n g des bereits o b e n (S. 178) analysierten Zitates zeigt - , d a ß das Sollen n i c h t e i n e . i n t e r n e ' I n s t a n z , e t w a d a s d e m M e n s c h e n als A n l a g e g e g e b e n e S i t t e n g e s e t z sei, s o d a ß s i c h d e r M e n s c h m i t d i e s e r I n s t a n z i n p a r t i e l l e r U b e r e i n s t i m m u n g b e f ä n d e . A l l e r d i n g s ist d i e s e N e g a t i o n e i n e F o l g e b e s t i m m u n g d e s , ν ο η a u ß e n ' , d e n n in d e m s e l b e n A b s a t z w i r d die Z e r s t ö r u n g der A u t o n o m i e als I m p l i k a t der T r a n s z e n d e n z des Sollens a u s g e w i e s e n . D i e T r a n s z e n d e n z des S o l l e n s ist s o m i t e i n i n d i e s e m A b s c h n i t t b e r e i t s v o r a u s g e s e t z t e r G e d a n k e . V o m V o r a n g e h e n d e n her b e s t i m m t sich zunächst der Bereich der . I m m a nenz' näher: „Luther meinte mit den inferiora, die er der menschlichen Freiheit unterstellt wissen wollte, dasselbe wie M e l a n c h t h o n , der dies von den D i n g e n sagte, die der ratio Untertan seien: den inneren Bereich des menschlichen Daseins, der Welt, des menschlichen Bewußtseins, soweit es sich a u f die Welt erstreckt. Solange m a n den S t a n d o r t der I m m a nenz wahrt, kann m a n G e d a n k e n u n d Entschlüsse spielen lassen, wie m a n will. Hier ist der M e n s c h a u t o n o m . I m m a n e n z u n d A u t o n o m i e gehören z u s a m m e n . " (I, 2 2 ) tion auf unsere Zukunft bestimmt wird - und aus diesem Wissen Gottes wird dann die Transzendenz Gottes folgendermassen abgeleitet: „Indem aber Gott diesen Faktor [die Zukunft, die aufgrund der menschlichen Entschlüsse unberechenbar ist] schon jetzt kennt, stellt er ihn auch bei seinen Entschlüssen für die Zukunft jetzt schon in Rechnung. Folglich wirkt jener Faktor bereits in diesem Augenblick, obwohl er der Welt und unserem Bewußtsein noch nicht immanent ist, und folglich ist er transzendent. Transzendent nämlich, weil er wirkt und doch nicht in dieser Welt wirkt. Er ist in diesem Augenblick ein Moment in Gott. Indem wir aussagen, Gott wisse dies, er kenne diesen Faktor und stelle ihn für sein eigenes künftiges Wirken in Rechnung, sagen wir von Gott ein Stück [!!] echter Transzendenz aus." (536) Diese Reihung von Folgerungen und der eingetragene .Transzendenzbegriff (was nicht immanent ist, ist transzendent) soll dann zur Grundlage eines .Transzendenzgefiihls' werden: „Diese Kluft empfinden, das ist echtes Transzendenzgefühl." (537) — wobei aber eben diese ,Kluft' nicht für sich, sondern nur in Verbindung mit dem Bewußtsein der eigenen Sünde ein Transzendenzgefühl evoziert (538). - Hier ist alles, was erst aufgewiesen werden soll, bereits vorausgesetzt: Der Begriff der Transzendenz ergibt sich nicht mit der Rede vom Wissen von Zukünftigen, sondern aus der vorstellungshaften Entgegensetzung von Immanenz und Transzendenz, in der schlicht der von Eiert zunächst abgelehnte .räumliche' Begriff der Transzendenz in Anspruch genommen wird. Die Frage nach einer Transzendenz, die ganz unbekümmert von Gott und von der Sünde als Voraussetzung der Transzendenzerfahrung spricht, hat überdies nicht viel zu beweisen, sondern ist mit ihren Voraussetzungen bereits beim Ziel. - Ich gehe daher auf diesen Aufsatz nicht weiter ein; Eiert selbst ist nie wieder auf ihn zurückgekommen. — Es läßt sich übrigens auch die eigentliche Intention dieses mißglückten Versuches bestimmen: Der Feststellung, daß unter Verwendung von Raumkategorien und unter Verwendung ethischer Kategorien keine Transzendenzerfahrung zum Ausdruck gebracht werden könne, entspricht hier der von Spengler (vgl. Spengler, Untergang I, 164ff, bes. 172—181) inspirierte Versuch, die Zeit zur Grundlage der Evozierens einer Transzendenzerfahrung zu machen; die Zeit ist nach Spengler der Gegenbegriff des Raumes (Untergang I, 178) und somit die Kategorie, in der sich die morphologische, dem Kausalmodell entgegengesetzte Wirklichkeitswahrnehmung formuliert. Offensichtlich hatte Eiert im Sinn, die Transzendenz in diesen Kategorien zu wiederzugewinnen. - Dieser Text gehört zu den Rätseln, die das Denken Elerts in rein handwerklich-denkerischer Hinsicht zuweilen aufgibt.

Transzendentalität und Transzendenz

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Es ist festzuhalten, daß hier offensichtlich nicht eine B e s t i m m u n g der Imm a n e n z durch den Begriff der A u t o n o m i e intendiert ist in d e m Sinne, daß der Bereich der I m m a n e n z definiert wird durch die Möglichkeit der A u t o n o mie, sondern umgekehrt: der Bereich der I m m a n e n z wird als Bezugspunkt der A u t o n o m i e genannt, bedarf aber einer vorgreifenden Definition u n d Unterscheidung von der .Transzendenz', die hier nicht erfolgt. Ich habe bereits oben a u f den Z u s a m m e n h a n g der beiden Bedeutungen von ,Immanenz' - die Subjektivität im Unterschied z u m anderen ihrer selbst, u n d das Innerweltliche im Sinne des der ratio Unterworfenen im Unterschied z u m weltüberlegenen G o t t - hingewiesen, der allerdings über das dort Ausgeführte hinaus näherbestimmt werden kann, u n d zwar dann, wenn m a n sich nun das Verhältnis des Elert'schen Verständnisses des .transzendentalen Ich' zur B e d e u t u n g des Begriffes in der kantischen u n d nachkantischen Philosophie verdeutlicht: 3.2. Luther und die Neuzeit. D i e Identifikation der beiden Begriffe von ,Immanenz' findet ihre Erklärung darin, daß Eiert im Rückgriff auf Kant den Bereich d e r , N a t u r ' als Gegenstand der Erfahrung, so als Bereich der Gesetzg e b u n g durch den Verstand u n d in diesem Sinne als etwas der ,ratio' Unterworfenes faßt. D i e Gesetzgebung der Vernunft bzw. der menschlichen Erkenntnisvermögen erstreckt sich - wie auch bei K a n t - eben nicht nur a u f die ethische Selbstbestimmung, sondern umfaßt auch die Gesetzgebung der transzendentalen Vermögen des Verstandes und der Sinnlichkeit im Bereich der phänomenalen Natur. 1 8 9 Eiert beansprucht in d e m gebotenen Zitat also, mit

189 Nicht nur die Selbstbestimmung aus Freiheit, sondern auch das apriori der Kategorien hat normativen Charakter, wie nicht nur die berühmte Wendung Kants über den Verstand, der der Natur die Gesetze .vorschreibe' (z.B. KdU Β IVf), sondern folgender wunderbarer Text aus der .Kritik der Urteilskraft' zeigt (.Vom Gebiete der Philosophie überhaupt'): „So weit Begriffe a priori ihre Anwendung haben, so weit reicht der Gebrauch unseres Erkenntnisvermögens, und mit ihm die Philosophie. Der Inbegriff der Gegenstände aber, worauf jene Begriffe bezogen werden, um, wo möglich, ein Erkenntnis derselben zu Stande zu bringen, kann, nach der verschiedenen Zulänglichkeit oder Unzulänglichkeit unserer Vermögen zu dieser Absicht, eingeteilt werden. Begriffe, sofern sie auf Gegenstände bezogen werden, unangesehen, ob ein Erkenntnis derselben möglich sei oder nicht, haben ihr Feld, welches bloß nach dem Verhältnisse, das ihr Objekt zu unserem Erkenntnisvermögen überhaupt hat, bestimmt wird. - Der Teil dieses Feldes, worin für uns Erkenntnis möglich ist, ist ein Boden (territorium) für diese Begriffe und das dazu erforderliche Erkenntnisvermögen. Der Teil des Bodens, worauf diese gesetzgebend sind, ist das Gebiet (ditio) dieser Begriffe, und der ihnen zustehenden Erkenntnisvermögen. Erfahrungsbegriffe haben also zwar ihren Boden in der Natur, als dem Inbegriffe aller Gegenstände der Sinne, aber kein Gebiet (sondern nur ihren Aufenthalt, domicilium); weil sie zwar gesetzlich erzeugt werden, aber nicht gesetzgebend sind, sondern die auf sie gegründeten Regeln empirisch, mithin zufällig, sind. Unser gesamtes Erkenntnisvermögen hat zwei Gebiete, das der Naturbegriffe, und das des Freiheitsbegriffs; denn durch beide ist es a priori gesetzgebend ... Die Gesetzgebung durch Naturbegriffe geschieht durch den Verstand, und ist theoretisch. Die Gesetzgebung durch den Freiheitsbegriff geschieht von der Vernunft, und ist bloß praktisch. Nur allein im Praktischen kann die Verunft gesetzgebend sein; in Ansehung des theoretischen Erkenntnisses (der Natur) kann sie nur (als

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Die Wahrheit der neuzeitlichen Subjektivität

dem Verweis auf das Urerlebnis den Ort zu markieren, an dem dieser Bereich der Herrschaft der menschlichen ratio durchbrochen wird und die Selbstbestimmung an ihr Ende gelangt. Diese Position entfaltet Eiert in einer späteren Passage, in der er sich ausdrücklich das Ziel setzt, gegen Troeltsch zu zeigen, daß gerade in der Rechtfertigungslehre Luthers die .moderne Weltanschauung' ihre Urstiftung erfahre. Die Rechtfertigungslehre sei nicht der Ort, an dem die Theologie Luthers und das Luthertum insgesamt dem Mittelalter verhaftet sei, und der zugunsten des eigentlichen — auf die Moderne vorausweisenden - Zentrums der Entdeckung der Subjektivität aufgegeben werden könne: „In Wirklichkeit ist sie nicht nur das beherrschende Zentrum des Luthertums, sondern auch der Aufgang der .modernen Weltanschauung' ..."; unter .modern' versteht er dabei „nicht das chronologisch nachmittelalterliche, auch nicht wie Troeltsch die Aufklärung, sondern diejenige Weltanschauung, die durch Kants Erkenntniskritik hindurchgegangen oder zum wenigsten an seinen Fragestellungen geschult ist - auch wenn sie zu entgegengesetzten Antworten kommt." 190 Es deutet sich ein anspruchsvolles Programm an, nämlich der Versuch, zu zeigen, daß der Erkenntniskritik Kants und der mit ihr gesetzten neuzeitlichen Subjektivitätstheorie die lutherische Rechtfertigungslehre bzw. der ,evangelische Ansatz' — die .realdialektische' Gotteserfahrung — zugrundeliege, die in irgendeiner Weise ,zu entgegengesetzten Antworten' komme. Umgekehrt: die ,Kantische Erkenntniskritik' ist der Punkt, an dem das Zentrum der lutherischen Reformation fortwirkt, so aber, daß sie sich (,zu entgegengesetzten Antworten') in Gegensatz zu ihrem Ursprung stellt. Diese Passage ist im folgenden zu analysieren: 3.2.1. Luthers Urerlebnis in den Termini von Kausalität und Freiheit. Eiert geht dabei so vor, daß er zunächst zu zeigen sucht, daß bereits bei Luther — und zwar im Zentrum seiner Theologie, der Rechtfertigungslehre — Fragestellungen Kants präsent sind; er beschreibt dabei die in De servo arbitrio erreichte Position als Radikalisierung zweier Grundpositionen der scholastischen Theologie, nämlich der kausalen Determination alles Geschehens (durch Gott), und der im Gegenzug festgehaltenen ethischen Verantwortlichkeit des Menschen.191 Die Scholastik trenne diese Gedankenlinien, während Luther

gesetzkundig, vermittelst des Verstandes) aus gegebenen Gesetzen durch Schlüsse Folgerungen ziehen, die doch immer nur bei der Natur stehen bleiben." (B XVIf; Kursivierung N. Sl.). 190 I, 358. Zur Auseinandersetzung mit der Troeltschschen Zuordnung von Reformation und Neuzeit vgl. 357f, dazu 65. 191 Diese Deutung der Lutherschen Theologie bzw. der Anfechtungserfahrung als Zusammenprall zweier nominalistischer Theologumena dürfte übrigens auf Hermelink (Fakultät 108— 127, vgl. bes. 108ff; l l 4 f ; 116; 120; 1260 zurückgehen, dessen Position Walter - den Eiert gelesen haben dürfte (s.o. Anm. 34) - folgendermassen - ablehnend - zusammenfaßt: „Unter diesen Umständen vermag ich es auch nicht, Luthers Werdegang, so wie Hermelink ... das tut, aus einem Zusammenprallen der prädestinatianischen und der moralistischen Seite der Spätscholastik

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sie auf einander beziehe und mit Gott in Verbindung setze, der den Menschen unbedingt fordere einerseits, und ihn andererseits für die von ihm selbst gesetzte Unmöglichkeit der Erfüllung dieser Forderung verantwortlich mache. Eiert resümiert diese Position folgendermassen: „ Erstens. Die ,Welt' ist ein einheitliches Ganzes, in der kein Moment dem einzigen Kausalzusammenhang entnommen ist, der sie konstituiert und in dem - worauf es ihm vor allem ankommt - auch kein Punkt vorstellbar ist, an dem die menschliche Freiheit aus ihm ausbrechen könnte. Zweitens. Die im Gewissen sich bezeugende Verantwortlichkeit des Menschen verspricht zwar ein Reich der Freiheit, das über die empirischkausale Fatalität erheben könnte. Aber eine Erfüllung dieses Versprechens gibt es in der Welt nicht. Drittens. Jeder Versuch, die Erfahrung des kausalen Weltzusammenhanges mit der ethischen - unerfüllbaren - Forderung im Gottesgedanken zur Konkordanz zu bringen, scheitert. Er fuhrt auf nichts weiter als auf den Deus absconditus, d.h. in Wirklichkeit auf die Unerkennbarkeit Gottes." (I, 359).

Es handelt sich also um den Versuch, die Vorstellung einer umfassenden Bestimmung aller Wirklichkeit durch Gott als Vorläufergestalt der kausalen Determination der phänomenalen Welt, und die ethische Forderung, an der der Mensch scheitert, als Urgestalt der Freiheit des Menschen als intelligibles Wesen zu interpretieren. Beide ,Gedankenreihen', die Eiert dann als die Grundantithese in der Dritten Antinomie Kants identifizieren wird, seien also bei Luther als die unmittelbaren Bedingungen des ,Urerlebnisses' präsent. 3.2.2. Kants Dritte Antinomie als Gestalt der Präsenz des Urerlebnisses. Eiert will nun die kantische Philosophie selbst als einen Modus des Umganges mit der im Urerlebnis sich manifestierenden Antithese von Schicksal bzw. Determination und sittlicher Freiheit, und zwar genau in der Antinomie von Naturgesetzlichkeit und Freiheit bzw. im Nebeneinander von theoretischer und praktischer Vernunft, deuten: „Der Mensch ist das Maß aller Dinge. Dieser Satz ist richtig, wenn man mit Kant Naturerkenntnis und Ethos dualistisch nebeneinander stehen läßt. Sie scheitern aneinander, wenn man sie aufeinander bezieht. Das Freiheitsprinzip der autonomen Ethik und das Kausalprinzip der Naturerkenntnis schließen sich gegenseitig aus. Auch Kants Lehre von der Intelligibilität der Freiheit kann darüber nicht hinwegtäuschen. Denn auch der gesetzgebende Verstand ist intelligibel.... Es ist vielmehr dasselbe transzendentale Ich, das sowohl zur Welterkenntnis den Begriff der Ursache verwenden muß, wie zu

zu erklären." (Walter, Luther 70). Dies und das von Hermelink Ausgeführte entspricht so genau den beiden ,Gedankenreihen' - dem göttlichen Determinismus und der menschlichen Verpflichtung - die Luther nach Eiert zusammenhält und nicht miteinander versöhnt und die die Grundlage des .Urerlebnisses darstellen (I, 358), daß man an merkwürdige Zufälle glauben müßte, wenn Eiert nicht entweder Hermelink durch den Hinweis Walters, oder aber direkt dessen Ausführungen gelesen haben sollte (was auch denkbar ist: Hermelink setzt sich im unmittelbaren Kontext mit Elerts Lehrer Hunzinger und dessen Lutherdeutung auseinander: aaO. 121).

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D i e Wahrheit der neuzeitlichen Subjektivität

seiner ethischen S e l b s t b e h a u p t u n g die eigene Freiheit setzt. Beide Sätze sind unvermeidlich, aber sie verharren in u n a u f l ö s l i c h e m W i d e r s p r u c h . " 1 5 2

Die letzten Sätze reformulieren die Antinomienlehre Kants, während die vorangehenden die Kantische Lösung der Antinomie ausschließen: Es sei eben nicht möglich, so Eiert, die Möglichkeit einer Kausalität aus Freiheit mit Kant so zu erhalten, daß die Unterstellung aller Realität unter die Naturnotwendigkeit eine Gesetzmäßigkeit ist, die die phänomenale Welt betrifft, die Welt also, sofern sie Erscheinung für ein Subjekt unter den Bedingungen des Raumes und der Zeit ist, die Kausalität aus Freiheit - d.h. die Fähigkeit, eine Kausalreihe zu initiieren, ohne einem bestimmenden G r u n d zu unterliegen von dem Subjekt gilt, sofern es Noumenon, D i n g an sich ist. 193 Eiert deutet diese Unterscheidung als Analogie zu den Versuchen der scholastischen Theologen und Philosophen, göttliche Determination und menschliche Freiheit miteinander bestehen zu lassen (I, 358); Luthers Spezifikum sei, so Eiert, daß er den Gegensatz nicht durch die Unterscheidung zweier Hinsichten entschärft, sondern in der ,Reduktion' auf das punctum mathematicum ,ausgehalten' hat. N u n ist der Text für sich genommen erstaunlich, denn er behauptet - ohne 1,2 I, 360. Das Argument, daß auch der gesetzgebende Verstand intelligibel sei, trägt weder für noch gegen die Möglichkeit des Nebeneinander' von Kausalität und Freiheitsbegriff etwas aus. Elerts Einwand zielt offenbar darauf, daß mit dem Hinweis auf die, Intell igibilität' des gesetzgebenden Verstandes Freiheit und Gesetz gleichsam auf einer .Ebene' zu stehen kommen; der Einwand trüge aber nur dann etwas aus, wenn - per impossibile - damit der Verstand selbst diesen Gesetzen unterliegen würde und diese auf ihn selbst als gesetzgebenden Anwendung fänden. Die merkwürdige Wendung weist nach meinem Eindruck darauf hin, daß Eiert mit seiner Diagnose sich noch einmal auf die Auseinandersetzung Troeltschs mit der Kantischen Lösung der Dritten Antinomie bezieht (Troeltsch, Philosophie 36ff), wo Troeltsch folgendermassen formuliert: „Das intelligible Ich schafft die Gesetzeswelt und findet sich mit seinem Tun in dieser als empirisches Ich, das heißt, als Produkt des großen Weltmechanismus und seines kausalen Ablaufes. Es ist ein unerträglicher, gewaltsamer Widerspruch, und es ist keine Lösung dieses Widerspruchs, das empirische Ich der Erscheinung und das intelligible der an sich bestehenden Realität zuzuweisen, wenn doch die Handlungen des intelligibeln Ich als Bestandteile des seelischen Geschehens in die Zeit fallen und damit rettungslos der Phänomenalität und ihrem Mechanismus verfallen." (aaO. 37). Das Argument Troeltschs zielt allerdings darauf, daß die Freiheit des intelligiblen Ich mit Bezug auf Akte in Anspruch genommen wird, die als notwendig zeitliche im Moment der Realisierung nicht mehr als frei betrachtet werden können. Das ist in der Tat richtig - aber eben dies ist nach Kant eine ,Betrachtungsweise' realisierter Akte in der Zeit, in welcher Betrachtungsweise das Subjekt selbst die Möglichkeit einer andersartigen genau dadurch eröffnet, daß es sich als Subjekt jener Betrachtungsweise erweist. Nur wenn die empirischen Akte des Subjektes Teil des Weltmechanismus als Dinge an sich wären (und eben nicht nur als Erscheinungen des Subjektes für dasselbe dem Gesetz der Kausalität unterlägen), wäre die Antithetik nicht vermittelbar. Troeltsch hält gegen Kant und die Fortschreibungen seines Denkens fest, daß diese „den Anstoß nicht wegschaffen können, daß die zwei verschiedenen Betrachtungsweisen in Wahrheit nicht parallel nebeneinander gehen, sondern in demselben Objekt aufeinander stoßen" (37) - stellt aber offenbar wie Eiert nicht in Rechnung, daß es dieses Objekt nur in den .Betrachtungsweisen' überhaupt gibt.

"3 Yg| j ; e Auflösung des Widerstreites der Vernunft — Auflösung der Dritten Antinomie, KrV Β 560ff, bes. 566ff. Eine nähere Auseinandersetzung mit dem Gedankengang Kants findet bei Eiert nicht statt.

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jedes Eingehen auf die Argumentation Kants in der Dritten Antinomie - , daß die Lösung des Widerspruches der Vernunft mit sich selbst bei Kant nicht gelinge. Den entscheidenden argumentativen Gedankenschritt in der Auseinandersetzung mit Kant scheint die im zuletzt gebotenen Zitat ausgelassene Passage zu bieten, in der Eiert die Bedingung für ein Nebeneinander der Kausalität aus Freiheit und der Naturgesetzlichkeit extrapoliert: „Dem von Luther in der Idee des Deus absconditus ausgedrückten unauflöslichen Widerspruch von Notwendigkeit und Freiheit könnte man nur zu entgehen glauben, wenn man die Lehre von der intelligibeln [!] Freiheit mit einem naiven Empirismus verbände, der sich über die Apriorität des Kausalbegriffes nicht klar ist. Nur wer die ursächliche Verknüpfung der Dinge als Tatsache ,an sich' ansieht, kann sich ihr gegenüber kraft seiner intelligibeln Freiheit fur selbständig halten. Aber einem solchen naiven Empirismus hat Kant selbst ein für allemal ein Ende gemacht." (I, 360)

Zunächst ist deutlich: Eiert besetzt auch hier die Seiten des Gegensatzes von Notwendigkeit und Freiheit in der Dritten Antinomie mit den Seiten des im Urerlebnis erfahrenen Gegensatzes von Forderung und schicksalhafter Unfähigkeit zur Erfüllung derselben;194 sein Widerspruch gegen ein versöhntes Nebeneinander beider Aspekte entspricht der in Paragraph 1 erhobenen Forderung, daß der Sinn des Urerlebnisses nur dann gewahrt bleibe, wenn beides zugleich und als gleichsinnig geltender Gegensatz festgehalten werde: die Unbedingtheit der Forderung, und die schicksalhafte Unmöglichkeit ihrer Erfüllung (s.o. S. 174). Elerts Anliegen besteht somit darin, die Lösung Kants, nach der die beiden Gegensätze eben nicht gleichsinnig gelten, sondern die sittliche Freiheit mit der naturgesetzlichen Determination alles Geschehens vermittelbar ist, als unmöglich zu erweisen.195 Eiert ist sodann - im zuletzt gebotenen Zitat - offenbar der Meinung, daß eine Behauptung der Freiheit neben der Notwendigkeit des Kausalzusammenhanges nur um den Preis eines ,naiven Empirismus' möglich wäre, der so wird man die Passage doch wohl verstehen müssen - die Kausalität als .objektive' Bestimmung der Region der ,Dinge' betrachtete und mit diesem Argument die Subjektivität von dieser Bestimmung ausnähme. Umgekehrt scheint für Eiert die Einsicht in die Apriorität der Kausalität zugleich eine Einsicht in die Anwendung auch auf das Subjekt zu sein: Auch dieses unterliegt dem Gesetz der Kausalität und ist somit unfrei. Somit hebt Eiert darauf ab, daß kausale Determination und Freiheit jedenfalls nicht durch die Vermittlung in zwei Regionalontologien versöhnt werden kann, so daß der Be-

" 4 An sich ist diese damit vollzogene Identifikation von kausaler Notwendigkeit und .Schicksal' merkwürdig, da der Begriff des Schicksals ursprünglich - bei Spengler - der Gegenbegriff zur kausalen Determination war und gerade als solcher von Eiert rezipiert worden ist. Dazu oben A, 2.3., S. 44ff. 155 Der Passage geht ein Abschnitt voraus, in dem Eiert die Grundthemen des Urerlebnisses in die Terminologie von Kausalität und Freiheit überführt (bes. I, 359 unten) und die ratio als Instanz der Erfahrung dieser Antithetik apostrophiert.

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Die Wahrheit der neuzeitlichen Subjektivität

reich der Dinge dem Kausalgesetz, das Subjekt aber der Selbstbestimmung unterliege. Vielmehr ist die Apriorität der Kausalität der Grund dafür, daß alles Erfahrbare (und damit eben auch das Subjekt als Erfahrbares) dem Verhältnis von Ursache und Wirkung unterliegt, nach dem alle Erscheinungen nicht frei, sondern determiniert sind. Eiert fährt fort: „Es ist vielmehr dasselbe transzendentale Ich, das sowohl zur Welterkenntnis den Begriff der Ursache verwenden muß, wie zu seiner ethischen Selbstbehauptung die eigene Freiheit setzt." (ebd.). Es kommt hier offenbar zentral auf das ,muß' an, d.h. darauf, daß die Antithetik von Notwendigkeit und Freiheit zu setzen eine dem Subjekt als Subjekt unentrinnbare Nötigung ist. Eiert geht es also zunächst darum, die Freiheitsbehauptung als Akt der Selbstbehauptung zu fassen, als bloße, aber unentrinnbare Setzung, deren Anspruch die Nötigung desselben Ich, „zur Welterkenntnis den Begriff der Ursache verwenden" zu müssen (s. Zitat oben), entgegensteht. In dieser Nötigung, so wird man das unausgesprochene Implikat entwickeln müssen, manifestieren sich eben zwei der nach Eiert grundlegenden drei Momente des ,Urerlebnisses' in der kantischen Philosophie, nämlich die unlösliche Verknüpfung der schicksalhaften und der sittlichen Elemente'. 196 Dabei ist es nun entscheidend, zu sehen, daß Eiert in der gesamten Passage die Universalität der kausalen Determination und die Freiheit als Implikate der Teilbereiche der Philosophie, nämlich der Erkenntnis bzw. Erkenntnistheorie und der praktischen Philosophie behandelt: Es ist die ,Naturerkenntnis' bzw. die .Welterkenntnis', die die universale, auch das Subjekt einschließende Determination impliziert, und es ist das ,Ethos' oder die ,Ethik', die zur Annahme der Freiheit nötigt. Eiert ist offensichtlich der Meinung, daß die Subjektivität aufgrund der ,Apriorität des Kausalbegriffes' ungeschieden ebenfalls unter das Gesetz des Naturzusammenhanges gehört und deutet von daher das ,Freiheitsprinzip' als bloßen Anspruch der Subjektivität in ethischer Hinsicht, der in der theoretischen Philosophie keinen Anhaltspunkt habe: Die Lehre von der Freiheit als Bestimmung des intelligiblen Ich erscheint als bloßes Konstrukt zur Rettung der Möglichkeit der Freiheit in praktischer Hinsicht. Was Eiert nicht zu sehen scheint, ist die Sprengkraft, die in seiner Wendung „Auch Kants Lehre von der Intelligibilität der Freiheit kann darüber nicht hinwegtäuschen" und dem folgenden .Einwand': „denn auch der gesetzgebende Verstand ist intelligibel"197 und damit eben in dem Umstand liegt, daß Kants Unterscheidung des empirischen und des intelligiblen Ich gerade nicht im Rahmen der praktischen, sondern im Rahmen der theoretischen Philosophie als Notwendigkeit behauptet wird.198 Die Möglichkeit der Kausalität aus Freiheit - und so die Möglichkeit einer Sittlichkeit, die im 196 197 198

S.o. S.174. I, 360; vgl. Zitat oben. KrV Β 567f im Kontext von 566-569; vgl. 428-432 (die .allgemeine Anmerkung', die

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Erheben kategorischer Forderungen die Möglichkeit der Selbstbestimmung voraussetzt und sich nicht auf die sinnliche Affektion des Subjekts als Naturwesen in bloß hypothetischen Imperativen reduzieren läßt - die Möglichkeit der Kausalität aus Freiheit hängt eben an der in der theoretischen Philosophie aufgewiesenen Notwendigkeit, und zwar der theoretischen Notwendigkeit der Unterscheidung von Noumena und Phaenomena bzw. der Unterscheidung des Ich als Gegenstand des inneren Sinnes vom Ich als Subjekt alles dessen, was ihm erscheint.199 Daß der Begriff eines intelligiblen Ich, das Subjekt aller Erscheinung und nicht selbst Erscheinung ist, im Zusammenhang der theoretischen Philosophie auch hinsichtlich seiner Freiheit unbestimmbar blieb, ändert nichts daran, daß die im Rahmen der praktischen Philosophie Kants erfolgende Näherbestimmung seiner Kausalität als Kausalität aus praktischen Vernunftgesetzen - aus Freiheit - gerade nicht eine aus dem Interesse der Selbstbehauptung der Subjektivität gewonnene These von der Intelligibilität der Freiheit, sondern eine Fortbestimmung der aus dem Interesse der als Transzendentalphilosophie entworfenen theoretischen Philosophie unentrinnbaren Unterscheidung des Subjektes von seiner empirischen Erscheinung darstellt.200 Eiert betrachtet also die Philosophie Kants als den Ort der Aufbewahrung des Urerlebnisses: des transzendentalen Ich, das sich selbst als Teil der Welt und damit als unfrei bezeichnen muß und doch nicht anders kann, als sich selbst dem Kausal- bzw. Schicksalszusammenhang gegenüber als frei und insofern verantwortlich fur sich selbst zu bezeichnen,201 ohne daß - so Eiert diese Freiheit ausweisbar wird. Das Ich unterliegt — so deutet Eiert die Lehre von der Apriorität der Kausalität - unentrinnbar immer zugleich auch dem Kausalgesetz, der in der hier besprochenen Passage als Gegeninstanz der Freiheit die Instanz der schicksalhaften Gebundenheit darstellt. Diese Freiheit und damit Verantwortlichkeit ist nach Eiert ein - allerdings unentrinnbarer bloßer Anspruch.101

auf die Bedeutung der Unterscheidung eines intelligiblen vom empirischen Subjekt für die folgende Auflösung der Dritten Antinomie aufmerksam macht); vgl. bes. die Herleitung der transzendentalen Apperzeption bzw. des .intelligiblen Ich' als .Noumenon': §§ 16-20; 25. 1,9 Vgl. dazu KpV (,Von der Deduktion der Grundsätze') A 82 im Zusammenhang mit A 78-87. 200 Vgl. die in Anm. 198 gebotene Passage. 201 Die Reduktion auf das transzendentale Ich bezeichnet Eiert als die Kant mit Luther verbindende Einsicht (vgl. 360f); diese Reduktion vollzieht sich in der Anerkennung der Antithetik des Urerlebnisses. Daher ist der Verweis auf das transzendentale Subjekt als Ursprung des apriori der Kausalität wie der Freiheit zu verstehen im Rahmen des Versuches, die Grundzüge des Urerlebnisses in der Kant'schen Philosophie wiederzufinden. Das Problem bei diesem Versuch liegt wesentlich darin, daß sich Eiert zugunsten einer grosso modo erhobenen Behauptung der M ü h e entzieht, in detaillierter Auseinandersetzung die Lösung Kants auf den Punkt zurückzuführen, wo die von ihm behauptete Unmöglichkeit der Kantschen Lösung nachvollziehbar wird. 202 Vgl. oben S. 187f; dazu Morph II, 151; I, 23; diese Deutung der Kantschen Position dürfte auf die oben (Anm. 192) zitierte Passage Troeltschs zurückgehen.

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In der hier zitierten und ausgelegten Passage wird nun der letzte Grund dafür deutlich, daß Eiert zur Beschreibung der Rechtfertigung bzw. der Erfahrung des Zornes Gottes den Terminus des transzendentalen Ich' aufnimmt: Es ist nach seiner Deutung bei Kant genau der Punkt der Subjektivität, in dem es unausweichlich zum Konflikt beider Gedankenreihen - des Freiheitsanspruches und der Universalität der Determination - kommt: „Es ist ... dasselbe transzendentale Ich, das sowohl zur Welterkenntnis den Begriff der Ursache verwenden muß, wie zu seiner ethischen Selbstbehauptung die eigene Freiheit setzt. Beide Sätze sind unvermeidlich, aber sie verharren in unauflöslichem Widerspruch." (I, 3 6 0 )

Was Eiert eben nicht gesehen hat, ist dies, daß jenes transzendentale Ich als Ursprung der Kategorie der Kausalität auch deren Bedingung der Möglichkeit ist und ihr nicht restlos unterliegen kann. Oder anders: Es gehöft zur Bedingung der Möglichkeit einer Transzendentalphilosophie, daß sich das Subjekt in doppelter Weise - eben als Teil der Welt, die es (in diesem Fall qua innerer Sinn) erkennt, und als Subjekt jeder Welt, als das es sich im Erkennen erfaßt, aber nicht zum Gegenstand hat. Daß das Verhältnis der Kausalität als naturgesetzlicher Determination' und der ,Kausalität aus Freiheit' unterbestimmt ist, wenn man es als Verhältnis von theoretischer und praktischer Philosophie betrachtet, ja, daß es zum Beweisprogramm Kants gehört, die theoretische Möglichkeit einer Kausalität aus Freiheit durch den Ausweis der theoretischen Unabdingbarkeit der Unterscheidung des Ich von seiner Selbstvergegenständlichung zu erweisen, hat Eiert nicht gesehen; hier liegen - von vornherein — die Grenzen seiner Auseinandersetzung mit der neuzeitlichen Subjektivitätstheorie. 3.2.3. Luther und die deutsche Philosophiegeschichte. Die Deutung des Denkens Kants als Gestalt der Wiederentdeckung der konstitutiven Momente des Urerlebnisses ordnet Eiert an späterer Stelle in eine Darstellung der Philosophiegeschichte in den lutherischen Territorien als Geschichte der Säkularisierung der Dialektik des .evangelischen Ansatzes' ein - dies ist in den Grundzügen knapp zu skizzieren:203 Eiert faßt hier die ,optimistische' Philosophie der Aufklärung als Verselbständigung der positiven Seite des evangelischen Ansatzes, die eine Weltbejahung und Weltbewältigung aus sich heraussetze, die sich in der Folgezeit von der Verkündigung des Evangeliums ablöse und dagegen verselbständige (II, 150 und Vorausgehendes). Kant wiederum in der Wahrnehmung der Antithetik von Kausalität und Freiheit sei diejenige Position, in der sich das Denken vom schlichten Aufklärungsoptimismus abkehre und zwar im Postulat der Freiheit den Aufklärungsoptimismus fortsetze, in der Einsicht in die vollständige Bestimmtheit des Ich als empirisches durch das Gesetz der Kausalität 203

Vgl. zum folgenden ebd. II, 151-158.

Transzendentalität und Transzendenz

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die ,Tiefendimension' wiedergewinne, die Luther mit der Erkenntnis der unausweichlichen Antithetik von Gottes Bestimmen und göttlicher Forderung erreicht hatte (II, 1 4 9 - 1 5 2 ) . In der Folge unterstellt Eiert dann die Philosophie des deutschen Idealismus der Grundperspektive der Auseinandersetzung mit dem Widerspruch von Kausalität und Freiheit und deutet diesen damit als Umgang mit dem Grundproblem der Theologie Luthers (II, 1 5 2 - 1 5 8 ) . Das Besondere gegenüber den Aufklärungsphilosophen und -theologen sieht Eiert genau darin, daß hier überhaupt die Dimension der Unfreiheit - des .Schicksals' - und damit eben das Gesetz wieder wahrgenommen und bearbeitet werde - und wenn auch eine detaillierte Analyse keinen weitergehenden Ertrag bringt, so ist doch Elerts Folgerung für das Verständnis seines Anliegens in der Morphologie entscheidend: Die Diagnose nämlich, daß die deutsche Geistesgeschichte insgesamt eine Fernwirkung - Eiert spricht ausdrücklich von einer .Säkularisierung' - des Luthertums sei. Es ist der Niederschlag des evangelischen Ansatzes - der Verselbständigung der durch den Glauben ermöglichten Weltzuwendung und der wiederkehrenden Einsicht in den Gegensatz von Sollen und Müssen — unter den Bedingungen der Philosophie: „Die Entwicklung von der deutschen Aufklärung über die deutsche Nationalliteratur zum deutschen Idealismus ist eine Phase in der Geschichte des Luthertums. Sie ist die Geschichte seiner Säkularisierung. Sie ist von einer Dynamik beherrscht, die in der Reformation entsprang oder zum Durchbruch kam: vom Glauben an das universale Ja Gottes zu allem Menschentum. Dieser Glaube hat sich im 18. Jahrhundert das Deutschtum erobert. Dieses Deutschtum ist säkularisiertes Luthertum. In der idealistischen Philosophie liegt die Peripetie im tieferen Sinne. Sie endigt, wo Luthers Urerlebnis endigte: vor dem Deus absconditus." 204

204 II, 158. Die Passage insgesamt findet sich in einer Analyse des Verhältnisses des Luthertums zum Volkstum, und hier besonders des Verhältnisses von Luthertum und Deutschtum. Elerts Position hierbei ist denkbar unverdächtig, wiewohl man die Auseinandersetzungen der Zeit um das Verhältnis heraushört - er hält ganz eindeutig fest, daß der evangelische Ansatz mit dem Deutschtum nichts zu tun habe, sondern eine Wirkung des Evangeliums darstelle, wie seine negative Seite weder etwas spezifisch Deutsches noch ein spezifisches Erlebnis der Person Luthers sei. Nicht das Evangelium, wohl aber dessen Auswirkungen in Dogma, Kult, Weltanschauung etc. stellen nach Eiert eine spezifisch deutsche Leistung dar und weisen spezifisch deutsche Züge auf (II, 130f) - und in diesem Sinne sind auch die genannten philosophischen Strömungen spezifisch deutsche Manifestationen und Auswirkungen - Inkulturationen - des Evangeliums (II, 151). Diesen Purismus hat Eiert scheinbar in seiner Dogmatik nicht durchgehalten. Dort scheint sich in wenigen Bemerkungen die Position anzudeuten, daß zwar nicht das Evangelium, wohl aber die Erfahrung des Schicksalserlebnisses etwas Rassespezifisches sei - vgl.: „Es wurde früher daran erinnert, daß jede tiefere Weltanschauung etwas davon weiß, daß wir ungefragt Schuld übernehmen müssen und unser Leben lang zu tragen haben ... Das wußten die antiken Tragiker so gut wie das Nibelungenlied wie die Anhänger der Karmalehre - alles Arier." (Glaube 189). Der Passus ist aber auf den zweiten Blick völlig harmlos; Eiert schreibt diese Passage zum Zweck des Aufweises der Universalität und Unentrinnbarkeit der Schicksalserfahrung in einer bestimmten Situation, nämlich unter dem nationalsozialistischen Staat (Glaube 63f)· Eiert wendet sich mit diesem Diktum eben gegen Versuche, das Gottesverhältnis des Ariers oder des Germanen als schlichtes Ver-

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Damit ist deutlich, daß diese Passage zu Kants Antinomienlehre keine zufällige Markierung darstellt, sondern den entscheidenden Einschnitt in der deutschen Geistesgeschichte, in der sich in Gestalt der Ordnung alles Geschehens - nach Eiert: einschließlich der Subjektivität - unter dem Gesetz der Kausalität und der zugleich festgehaltenen Verpflichtung zum Handeln aus Freiheit die säkularisierte Gestalt des Urerlebnisses wieder meldet: als der Versuch der Selbstbehauptung der Freiheit gegen das Gesetz der Kausalität. Die kritische und idealistische Philosophie kommt allerdings im Vergleich mit der Aufklärungsphilosophie als eine Gestalt des Denkens in den Blick, in der die universale, auch das Ich einschließende Determination und somit die das Urerlebnis prägende Fremdbestimmtheit auch des Ich wieder erfaßt, dann aber zugunsten der grundsätzlichen Autonomie des Subjekts übersprungen wird. Die Differenz zwischen Kant und Luther liegt nun darin, daß ersterer diese Antithetik nicht als von Gott selbst gesetzte Antithetik versteht und somit einer der drei Anforderungen, die nach Eiert die Voraussetzung für eine adäquate Beschreibung des Urerlebnisses sind (s.o. S. 174) nicht entspricht. Eiert selbst plausibilisiert diese Beziehung der Antithetik auf Gott in einem eigenen Gedankengang; dieser ist im folgenden zu betrachten. 3.3. Der Ubergang zur Transzendenz. „Beide Sätze sind unvermeidlich, aber sie verharren in unauflöslichem Widerspruch. Dieser Widerspruch kann als nicht unerträglich erscheinen, solange der Gottesgedanke ferngehalten wird." (I, 360). Bei Kant, so die Diagnose Elerts, handelt es sich bei dem Widerspruch zwischen Freiheit und Unfreiheit um eine in der Struktur der Subjektivität verankerte Antithetik, die den Gottesbegriff nicht tangiert; der Widerspruch - der, so Eiert, einer Nötigung ,des transzendentalen Ich' entspringt (s.o.) wird bei Kant eben auf der Ebene der Subjektivität durch die Unterscheidung von empirischem und intelligiblem Ich vermittelt, deren Entdeckungszusammenhang Eiert in der Dritten Antinomie verortet und die nach Eiert offenbar die Funktion hat, das transzendentale Ich seiner - wenn auch empirisch nicht aufweisbaren - Freiheit gegenüber dem Naturzusammenhang zu versichern. Dies ist der Punkt, an dem Eiert Kant der Mystik parallelisiert: Auch die Mystik erfährt in ihrer der Unterscheidung von intelligiblem und empirischem Ich - nach Eiert — entsprechenden Unterscheidung des in die Welt verstrickten und des sich von aller Verbindung mit der Welt lösenden und in sich zurückkehrenden Ich nicht eine in Gott selbst begründete Antithetik von Notwendigkeit und Freiheit, sondern den Gegensatz von Geist und Welt,

trauen auf die Güte Gottes ohne jeden Zweifel an derselben darzustellen - vgl. etwa Glaube 347. Es ist unmöglich, diese Passage als Indiz für eine Affinität Elerts zur Rasselehre zitieren - ich nehme damit ausdrücklich eine entsprechende eigene Behauptung als gegenstandslos und vorschnell zurück: Slenczka, Rezension 705. - Zu den Voraussetzungen dieser Fragestellung: Maron, Luther, bes. 320-327.

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und zwar als Gegensatz der Materie zu dem im letzten Grunde in der Rückkehr zu sich selbst mit Gott identischen menschlichen Geist: „Luther hat die letzten Folgerungen des agnostizistischen Determinismus erst gezogen, nachdem er wie Kant das empirische vom transzendentalen Ich zu scheiden gelernt hatte. Aber der Weg, auf dem er dazu gelangte, war ein ganz anderer als bei Kant. Kants Vorläufer sind die deutschen Mystiker des Mittelalters, die wie er durch Reduktion des Bewußtseins das Apriori finden ... Das Ergebnis ist das reine Beisichselbstsein des Geistes. Das ist für den Mystiker die Erlösung vom empirischen, erfahrungsgesättigten Ich."205

Die Unterscheidung von transzendentalem bzw. intelligiblem und empirischem Ich dient Elerts nicht ausdrücklich ausgesprochener Diagnose nach dazu, das Ich des Residuums seiner Freiheit vom Kausalzusammenhang und damit - wie in der Mystik, als deren Nachfahren er Kant betrachtet - im Verlust der konkreten Existenz der Einheit mit Gott zu versichern.206 Beides sind Versuche, die Einheit mit Gott in einem Vollzug der Selbstaufgabe herzustellen, der insgeheim ein Akt der Selbstbestätigung und Selbstbehauptung des Ich ist.207 Eiert kann in diesem Sinne Kants Denken mit der Mystik identifizieren und als nicht zu Ende gedachte Manifestation des Problems des Deus absconditus interpretieren, das sich mit der Antithetik von ,Unbedingtheit und Unrealisierbarkeit des Sollens' ankündigt. Die Behauptung einer notwendigen Verbindung der Antithetik von Notwendigkeit und Freiheit zum Gottesgedanken. Der entscheidende Schritt im Gedankengang Elerts ist der Ubergang von dem Gegensatz der Kausalität und der Freiheitsbehauptung zur These, daß sowohl der Schicksalszusammenhang wie die ethische Forderung auf Freiheit hin ,transsubjektive', d.h. nicht in der Subjektivität begründete, sondern unabhängig von ihr geltende, Ordnungen seien und in diesem Sinne einen notwendigen Bezug zum ,Gottesgedanken' haben.208 3.3.1.

205

1, 361. Zu Kant als .Nachfahre' der Mystik vgl. das Zitat; vgl. 71: „Tauler läßt das empirische Ich vernichtet werden - das ist auch Freiheit. Aber er läßt es ertrinken im Meer des ungeschaffenen Nichts, das der Mensch dann doch auch nirgends anders findet als in sich selbst. Der göttliche Abgrund erscheint nur als unvorstellbarer Grund des menschlichen Abgrundes. Er ist eine ins Wesenlose erweiterte Potenzierung des transzendentalen Ich selber." Daß dies dem Sinn des oben zitierten Textes entspricht, weist die Identität der Zusammenhänge aus: An beiden Stellen geht es um die mit der .Entwerdung' erreichte Erlösung, und an beiden Stellen geht es darum, daß diese ,Befreiung' vom Ich bei Luther im Modus des ,νοη sich selbst Kommens' erreicht wird. - Im Hintergrund dieser Deutung steht natürlich insbesondere Fichtes Rezeption der Mystik in der Anweisung zum seligen Leben' bzw. seine Identifikation der Moralität des Willens mit der Einheit mit Gott in der achten Vorlesung - vgl. Fichte-Gesamtausgabe I, 8, bes. 148f, dort die Deutung der Einheit mit dem göttlichen Willen als Aufgabe der Selbständigkeit. Vgl. zu der - freilich eher oberflächlichen - Bezugnahme Elerts auf diesen Gedanken: II, 152f. 206

207 208

Vgl. 1,71; Glaube 119. I, 360f. In diesem nun zu analysierenden Gedankengang vollzieht Eiert die dritte der drei

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Die Wahrheit der neuzeitlichen Subjektivität

Dieser Umschwung vollzieht sich eben darin, daß Eiert den Widerspruch Gottes gegen den Selbstbehauptungswillen des Subjektes als den Tod der Subjektivität selbst auslegt. In der vollständig und konsequent ausgelegten Erfahrung der Situation extra Christum kommt der den Menschen auch noch in der Selbstaufgabe des Mystikers konstituierende Wille an sein Ende. Es m u ß im folgenden verständlich werden, in welcher Weise sich die Positionen der Mystik und die Kants diesem Schritt entziehen (3.3.2.) und inwiefern Eiert dies als ein ,Fernhalten des Gottesgedankens' bezeichnen kann; und es m u ß verständlich werden, in welcher Weise die Verbindung des Erlebnisses dieser ,Transzendenz' mit dem Gottesgedanken bei Luther nach Eiert sich vollzieht (3.3.3.), und inwiefern diese Verbindung mit der Unterscheidung von transzendentalem und empirischem Ich zusammenhängt (3.3.4.). 3.3.2. Kants,Flucht' vor dem Deus absconditus. 3.3.2.1. Eiert sieht als eigentliche, von Kant selbst vermiedene Konsequenz der Kantischen Position dieselbe Folgerung, die sich auch die vorreformatorischen Versuche, die Verantwortlichkeit des Menschen mit der Determination alles Geschehens durch Gott zu vermitteln, verbergen: die eines „agnostizistischen Determinismus": „Jeder Versuch, die Erfahrung des kausalen Weltzusammenhanges mit der ethischen - unerfüllbaren - Forderung im Gottesgedanken zur Konkordanz zu bringen, scheitert. Er führt auf nichts anderes als auf den Deus absconditus, d.h. in Wirklichkeit auf die Unerkennbarkeit Gottes. Das Produkt aus der rational-kausalen Weltbetrachtung und der Anerkennung der ethischen Forderung ist demnach für Luther ein konsequenter agnostizistischer Determinismus. Von hier aus eröffnet sich kein Weg und nicht einmal ein Blick in irgendeine andere Wirklichkeit." (I, 360, vgl. CG § 16)

.Determinismus' bezeichnet offenbar die in der ,Erfahrung des kausalen Weltzusammenhanges' und damit in der .rational-kausalen Weltbetrachtung' mitgesetzte Einsicht in die Unfreiheit des Subjektes als Teil der Welt. Ein .agnostischer Determinismus ergibt sich offenbar damit, daß diese Position verbunden wird mit der ,Unerkennbarkeit Gottes' - mit dieser Wendung beansprucht Eiert die Rede Luthers vom ,Deus absconditus' wiederzugeben; 209

Folgerungen nach, die Luther aus der von ihm vollzogenen Radikalisierung der kausal-deterministischen Weltanschauung auf der einen und der Verantwortlichkeit des Menschen auf der anderen Seite zieht (I, 359, vgl. Zitat oben S. 221). Wenn Eiert formuliert, daß der Widerspruch von Freiheit und Notwendigkeit erträglich erscheinen könne, solange man den Gottesgedanken fernhalte, und fortfährt, daß dieser Gottesgedanke für Luther an dieser Stelle notwendig sei, dann wird im folgenden eben dieser dritte Punkt in seinem Zusammenhang mit den vorangehenden aufgewiesen (I, 360). 209 Diese Aufnahme des Begriffes des ,Deus absconditus' entspricht in keiner Weise der Lutherschen Entgegensetzung von Deus absconditus und Deus revelatus; Eiert geht so weit, die Kantische Widerlegung der Gottesbeweise als Modus der Verborgenheit Gottes zu deuten — dazu unten S. 233 - sieht also unter diesem Begriff auch die Möglichkeit der Verweigerung gegenüber dem Gottesbegriff insgesamt abgedeckt (vgl. auch I, 359 Anm. 1, wo Eiert gegen die Rede vom Zorn Gottes den agnostizistischen Aspekt des Begriffes ,Deus absconditus' aufrecht zu erhalten

Transzendentalität und Transzendenz

231

inhaltlich ergibt sich diese Unerkennbarkeit Gottes damit, daß mit dem Determinismus die ethische Forderung verbunden wird und - dies ist der leider nicht zum Ausdruck gebrachte Gedanke: - die ethische Forderung und die Unfreiheit des Menschen als Setzungen Gottes, der sich selbst und darin dem Autonomieanspruch des Menschen widerspricht, verstanden werden. Vor demselben Widerspruch stehe die Position Kants - wie bereits zitiert: „Beide Sätze sind unvermeidlich, aber sie verharren in unauflöslichem Widerspruch. Dieser Widerspruch kann als nicht unerträglich erscheinen, solange der Gottesgedanke ferngehalten wird." (ebd.) Die Differenz zwischen Luther und Kant besteht also zunächst darin, so wird man den Gedanken ausführen dürfen, daß Kant mit der Antinomie von Freiheit und Naturgesetz einen Gegensatz in der Subjektivität verortet, den Luther als dem Menschen von Gott aufgenötigten Gegensatz beschreibt und so auf Gott zurückführt: als Gegensatz nämlich zwischen dem den Menschen auf seine Verantwortlichkeit und Freiheit ansprechenden Gott und seiner den Menschen in der Unfreiheit behaltenden Schicksalsmacht. Eiert stellt nun fest, daß für Luther bereits hier, im Schicksalserlebnis, der ,Gottesgedanke' eine notwendige Stelle habe. Dieser Punkt ist darum interessant, weil Eiert die für Luther bestehende Notwendigkeit', die Antithetik von Notwendigkeit und Freiheitsanspruch mit dem .Gottesgedanken' in Verbindung zu bringen, gerade gegen ein Verständnis abgrenzt, nach dem der Streit um die Freiheit oder Unfreiheit des Willens für Luther und Erasmus lediglich aus Gründen einer Vorprägung durch die christliche Tradition zu einem Problem des Gottesbegriffes geworden sei; vielmehr ist Eiert offenbar der Meinung, daß es hier eine sachliche Notwendigkeit für diese Verbindung gebe, deren Verständnis allerdings an Voraussetzungen gebunden sei. Es scheint in der Systematik des Problems liegende und damit auch heute nachvollziehbare Gründe für diese Fundierung des Gegensatzes von Freiheit und Notwendigkeit als Erfahrung einer Transzendenz zu geben, die aber, so Eiert, zur Voraussetzung hat, daß das Problem anders gefaßt wird: „Das kann an der bloß formalen Gegenüberstellung der naturgesetzlichen und der ethischen Betrachtungsweise noch nicht verdeutlicht werden." (ebd.) 3.3.2.2. Dieser zuletzt zitierte Satz stellt vor Interpretationsprobleme. Zunächst ist schwer zu sagen, wie Eiert die Abgrenzung gegen eine ,bloß formale Gegenüberstellung' versteht: liegt das Gewicht auf dem ,bloß formalen', liegt sucht; vgl. auch CG § 16, ähnlich Lehre 2 § 14). Bei Luther ergibt sich die Erfahrung des Deus absconditus nicht als Gegensatz zu seinem Handeln im Evangelium, sondern gerade in der Wahrnehmung der Willkürlichkeit seines Handelns in Evangelium und Gesetz. Daß Gott willkürlich den einen zum Leben durch das Evangelium, den anderen zum Tod bestimmt, und nicht der Sachverhalt, daß Gott überhaupt zum Tod bestimmt, ist der von Luther gemeinte Begriffsinhalt. Nicht die natürliche Situation überhaupt, sondern ihr das Evangelium relativierender Charakter ist nach Luther der Sinn dieses Begriffes. Mit einer Unerkennbarkeit Gottes im Sinne eines .Agnostizismus' hat das gar nichts zu tun.

232

D i e Wahrheit der neuzeitlichen Subjektivität

es auf dem Terminus .Gegenüberstellung', oder liegt es darauf, daß hier die ethische und die naturgesetzliche Betrachtungsweise (und nicht etwa andere) einander gegenübergestellt werden? Die Fortsetzung (es beginnt ein weiterer Absatz des Textes) macht deutlich, daß Eiert genau auf dieses letztgenannte Motiv das Gewicht legt - denn hier handelt es sich um eine .immanente' Betrachtungsweise, der Eiert bei Luther eine andere entgegengestellt sieht (vgl. I, 361). Diese leitet Eiert nun so ein, daß er feststellt, daß Luther „die letzten Folgerungen des agnostizistischen Determinismus erst gezogen" habe, „nachdem er wie Kant das empirische vom transzendentalen Ich zu scheiden gelernt hatte." (360f). Die letzten Folgerungen des .agnostizistischen Determinismus', die nach Eiert Luther aus der nicht mehr .bloß formalen Gegenüberstellung' zieht, bleiben unerläutert; man wird aber mit der Vermutung im Recht sein, daß Eiert hier die zuvor beschriebenen Folgerungen im Blick hat, die in der Verantwortlichkeit Gottes für die Situation des Menschen und damit im Begriff des ,Zornes' Gottes kulminieren: Dort stellt Eiert fest, daß Luthers Theologie die vorreformatorischen Versuche einer Vermittlung von Kausalität und ethischer Freiheit durchbricht, indem er beide im antithetischen Gedanken einer von Gott bedingten, aber schuldhaften Unfähigkeit des Menschen zum Guten, das Gott dennoch von ihm fordert, zusammenführt: „ N o n inviti tales s u m u s . . . jener Satz trifft zwar den Menschen - er macht ihn verantwortlich. Er trifft aber nicht minder Gott, der d e m Menschen ein Sollen vorschreibt, ihn also verantwortlich macht, gleichzeitig aber so determiniert, daß er an der Erfüllung des Sollens schicksalhaft verhindert wird." (I, 3 5 9 )

Diese dem .Urerlebnis' entspringende Folgerung, in der die Situation des Menschen auf Gottes Wirken zurückgeführt wird, unterscheidet Luther von der vorreformatorischen Tradition, und diese Folgerung dürfte Eiert auch für die Bestimmung des Verhältnisses Luthers zu Kant — den Eiert im gesamten Abschnitt der vorreformatorischen Theologie parallelisiert - im Auge haben: darin nämlich vollzieht Luther den nach Eiert unverzichtbaren Ubergang zum .Gottesgedanken'. Somit gilt also als Beweisziel für die folgende Interpretation Luthers: Bei Luther verschiebt sich nach Eiert der .bloß formale' Gegensatz von Notwendigkeit und Freiheit auf einen anderen Gegensatz hin, und darin wird die Notwendigkeit einer Verbindung dieses rein immanent erkennbaren Gegensatzes zum Gottesbegriff sichtbar. 3.3.2.3. Ein weiteres Argument für die Richtigkeit dieser Interpretation des vorletzten Zitates, das zugleich Elerts Identifikation des Vermittlungsversuches von Unfreiheit und Freiheitsanspruch bei Kant zu erhellen erlaubt, ist die Parallelisierung Kants mit Luther in einer verwandten Passage:210 Eiert 2,0

Vgl. zum folgenden II, 151f.

Transzendentalität und Transzendenz

233

deutet hier Kants Unterscheidung und Zuordnung von empirischer kausaler Bedingtheit des menschlichen Handelns und der empirisch nicht nachweisbaren, aber zu postulierenden Kausalität aus Freiheit bei Kant als Niederschlag der lutherischen Einsicht in die „unbedingte Geltung, aber empirische Unerfullbarkeit des Sollens" (II, 151). Fragen nach der Richtigkeit dieses Kantverständnisses auch nur zu diskutieren, führt nicht weiter.211 Wichtig ist die Intention Elerts: Er bezeichnet das Postulat der Möglichkeit einer .Kausalität aus Freiheit' als „Flucht vor dem Deus absconditus" (II, 151) und interpretiert die Absage Kants an einen Gottesbeweis aus den Möglichkeiten der theoretischen Vernunft als Ausdruck desselben Agnostizismus', der Luther zur Rede vom ,Deus absconditus' bestimme: „Das agnostizistische Moment, das dieser Begriff [sc. des Deus absconditus] bei Luther erhält, wird von Kant auf dem Boden der theoretischen Vernunft anerkannt." (II, 151 f)Entscheidend ist nun, daß Eiert Kant vorwirft, daß er den zugelassenen regulativen Gebrauch der Gottesidee im Zusammenhang der theoretischen Vernunft und den Gottesbegriff als Postulat der praktischen Vernunft nicht ins Verhältnis setze, d.h. über Gott im Ausgang jeweils von der praktischen bzw. der theoretischen Vernunft, nicht aber im Ausgang von der Antithetik von Notwendigkeit und Freiheit als im Subjekt erfahrener Antithetik handle. So komme es dazu, daß zwar Gott als causa prima des naturgesetzlichen Zusammenhanges und so als Ursprung der Instanz der Unfreiheit auch des (empirischen) Subjektes eine regulative Idee darstelle, die aber mit dem Gottesbegriff der praktischen Vernunft nicht vermittelt werde: „Würde er also die Gottesidee auf jenen unausgleichbaren Widerspruch anwenden, dann müßte er sein Postulat,eines allmächtigen, allwissenden, allgerechten und allgütigen Wesens' durch ein zweites ergänzen, das ein Wesen im Sinne des .zornigen Gottes' bei Luther postulierte. Damit würde der Widerspruch folgerichtig in die Gottesidee selbst hineinverlegt, die Idee als solche also nach dem Kanon der praktischen Vernunft als absurd erwiesen." (II, 152)

211 Der Gedanke ist kaum nachvollziehbar: Zum einen überträgt Eiert unkontrolliert die Bestimmungen, die für die Freiheit gelten, auf die Vorstellung einer .Erfüllung des Sollens' - nur dann nämlich ist die empirische Unausweisbarkeit der Freiheit überfuhrbar in eine empirische Unerfullbarkeit des Sollens. Bei Kant hätte man hier zu differenzieren: Die Legalität einer Handlung ist selbstverständlich empirisch ausweisbar, nicht aber deren Moralität, bei der sich eben die Frage nach dem Bestimmungsgrund des Willens stellt. Aus der empirischen Unausweisbarkeit der Moralität läßt sich aber nicht die empirische ,Unerfüllbarkeit' (noch dazu — wie Eiert das in der Identifikation mit Luthers Erfahrung des Scheiterns am Gesetz meint - mit dem Unterton: die faktische Unerfullbarkeit) folgern: Moralität bzw. Kausalität aus Freiheit hat eben dann statt, wenn der Bestimmungsgrund des Willens nicht der Inhalt einer Maxime, sondern deren Form die Allgemeinheitsfähigkeit - ist. Eiert vermischt - das ist das Grundproblem dieser Kantinterpretation - äußerlich aufgenommene Begriffe mit Theologumena Luthers; das Ergebnis ist eine Kantinterpretation, die bestenfalls originell ist. Alle hier referierten Parallelisierungen Kants mit Luther funktionieren nur dann, wenn man - wie Eiert überall, wo er Kant rezipiert - am originalen Entdeckungszusammenhang dieser Gedankengänge bei Kant nicht im geringsten interessiert ist.

234

Die Wahrheit der neuzeitlichen Subjektivität

D.h.: Eiert ist der Meinung, daß Kant zwar den Gegensatz von Notwendigkeit und Freiheitsanspruch sehe, ihn aber ungeachtet der Unfreiheit des .empirischen Subjekts' unter dem Postulat der Freiheit und damit - so Elerts Deutung - der Erfüllbarkeit des Sollens auflöse oder überspringe und entsprechend den Gottesbegriff nicht unter Bezugnahme auf die Erfahrung dieses Widerspruches, sondern unter dem Postulat der Freiheit bestimme. Das .Fernhalten des Gottesbegriffes' aus dem Widerspruch hat somit nicht den Sinn, festzustellen, daß von Gott nicht gesprochen werde, sondern den, festzuhalten, daß von Gott nicht mit Bezug auf diesen Widerspruch, sondern jeweils — in der theoretischen und in der praktischen Philosophie - im Ausgang von einer der beiden Seiten des Widerspruchs gesprochen werde; und dies hat seinen Grund darin, daß der nach Eiert auch von Kant erfaßte Gegensatz von Freiheitspostulat und Unfreiheit im Naturzusammenhang illusorisch zugunsten des Autonomieanspruches aufgelöst - d.h. unter die Prämisse der Erfüllbarkeit der Forderung gestellt - und von Gott unter der Bedingung der autonomen Subjektivität gehandelt wird 212 . 3.3.2.4. Genau diesem .Uberspringen' dient nun nach Eiert bei Kant die Unterscheidung von transzendentalem (bzw. - Eiert identifiziert dies - intelligiblem) und empirischem Ich: Durch diese Unterscheidung will Kant nach Eiert den Konsequenzen des .Determinismus' entgehen und in Gestalt einer Instanz der Autonomie die Möglichkeit einer Entsprechung zum göttlichen Sollen und damit einer Einheit mit Gott ungeachtet ihrer empirischen Unausweisbarkeit etablieren — wie auch die entsprechende Unterscheidung in der Mystik die Einheit des sich von allen weltlichen Inhalten abkehrenden Ich mit Gott garantiert. Ungeachtet der von Kant thematisierten Unfreiheit des Subjektes - als Teil der Natur - halte Kant unter dem Titel des intelligiblen Subjektes an einer empirisch nicht ausweisbaren Kausalität aus Freiheit fest, die — so liest Eiert den Gottesbeweis Kants in der Kritik der praktischen Vernunft - der Bezugspunkt des Sollens und der Punkt der Übereinstimmung von göttlichem und menschlichem Willen ist (II, 151): „... das Ergebnis [ist] demnach dasselbe wie bei Luther, unbedingte Geltung, aber empirische Unerfüllbarkeit des Sollens." (ebd.). Dies ist der eigentliche Zielpunkt der Kritik Elerts an Kant: daß sowohl die Erfahrung der Determination und Unfreiheit des menschlichen Willens wie die Freiheitsforderung thematisiert werden, daß der Gegensatz aber in der Unterscheidung von intelligiblem bzw. transzendentalem und empirischem Ich übersprungen wird und zu einer Unterbestimmung des Gottesbegriffes führt, der rein auf das Phänomen der ethischen (und als erfüllbar gedachten) Forderung hin gedeutet werde.

212 Eiert berücksichtigt hier nicht, daß die .Unfreiheit' des empirischen Subjektes bei Kant mitnichten die theologischen Konsequenzen bei sich führt, die Luthers Frage nach dem unfreien Willen konnotieren.

Transzendentalität und Transzendenz

235

3.3.2.5. Nach Eiert sind bei Kant also alle Momente des ,Urerlebnisses' präsent, werden aber völlig anders als bei Luther zugeordnet: die Unentrinnbarkeit des Gegensatzes von Freiheit und Determination - allerdings als im Subjekt begründete Antinomie; die Beziehung beider Gedankenreihen auf Gott - als Idee in der theoretischen und als Postulat in der praktischen Vernunft die allerdings nicht miteinander in Verbindung gesetzt würden; der - den scholastischen Ausgleichsversuchen entsprechende — Versuch, das Problem durch die Unterscheidung eines der Determination unterliegenden unfreien und eines intelligiblen Ich zu lösen, der die unausgesprochene Einsicht impliziere, daß die Freiheit bzw. das Sollen .empirisch unerfüllbar' sei. Eiert scheint der Meinung zu sein, daß alle diese Vermittlungsversuche eben nur darum nicht zur Erfahrung des Deus absconditus führen, weil - wie oben dargestellt - ,die Folgerung des agnostizistischen Determinismus' nicht gezogen werde, die den Blick auf einen anderen Gegensatz als auf den einer ,ethischen und naturgesetzlichen Betrachtungsweise' zur Voraussetzung habe (s.o. S. 231). Dem ist nun nachzugehen. 3.3.3. Das Evangelium als Instanz der Einfuhrung einer , Transzendenz'. Die .letzten Folgerungen des agnostizistischen Determinismus' zieht Luther nach Eiert erst, als er „wie Kant das empirische vom transzendentalen Ich zu scheiden gelernt hatte." (I, 361), dazu nun aber auf einem anderen Weg als Kant und die deutschen Mystiker gelangt. 213 Damit scheint Eiert sagen zu wollen, daß Luther der Einsicht in die Unfreiheit des Menschen nichts entgegensetzt, sondern die Antinomie von Forderung und Unfähigkeit zur Entsprechung als im Subjekt nicht vermittelbare Antithetik respektiert. Die Positionen Kants und der Mystik sind - wie dargestellt - nach Eiert Versuche, diese Antithetik im Subjekt so zu vermitteln, daß neben die Unfreiheit des Subjektes in der Einbindung in die Welt eine Instanz der Subjektivität zu stehen kommt, die dieser Einbindung entnommen und mithin frei und gottunmittelbar ist (I, 361). 3.3.3.1. Damit ist über die angeblich darin begründete Notwendigkeit, diesen Gegensatz mit dem Gottesgedanken zu verbinden (I, 360), noch nichts ausgesagt - d.h.: Inwiefern hier .Transzendenz' erfahren wird und was dies, wie bei Eiert angekündigt, mit der bei Luther auf anderem Wege als bei Kant oder in der Mystik erreichten Unterscheidung von transzendentalem und empirischem Ich zu tun hat, ist noch nicht deutlich geworden. Dies müßte sich aus der folgenden Darstellung des Weges ergeben, auf dem Luther nach Eiert transzendentales und empirisches Ich zu scheiden lernt: Eiert setzt bei der Darstellung der Unterscheidung von ,empirischem' und ,intelligiblem' Ich bei Luther mit der Eigentümlichkeit ein, daß diese Diffe-

213

Vgl. Zitat oben S. 229.

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Die Wahrheit der neuzeitlichen Subjektivität

renzierung zu einer Unterscheidung des Subjektes von sich selbst führt, und diese Unterscheidung kennzeichnet Eiert nun ausdrücklich als eine - bei Luther — mit dem Evangelium gesetzte Unterscheidung: „Auch Luther fordert, ,daß du aus dir und von dir kommen mögest'. Aber diese Erlösung erfährt er im Evangelium."214

Diese - die mit dem Evangelium gesetzte — Unterscheidung von .transzendentalem' und ,empirischem' Ich führt also nach Eiert dazu, die Situation vor dem ,Deus absconditus' als notwendig mit dem Gottesgedanken verbundene Situation zu erfassen. Diese These, der viele weiterführende Perspektiven entspringen werden, ist nun nachzuvollziehen: 3.3.3.2. Die Unterscheidung von empirischem und .transzendentalem' Ich ergibt sich mit dem Evangelium als ,Wort von Christo' (I, 361). Hier erfolge nämlich zum einen die Bestätigung der Antithetik von Notwendigkeit und Freiheit („Das Wort von Christo bestätigt ... den unlöslichen Widerspruch von Notwendigkeit und Freiheit, von Schicksal und Schuld.", ebd.); auf der anderen Seite erfolge gerade in dem Zuspruch der Gerechtigkeit Christi die Unterscheidung von empirischem und transzendentalem Ich; dies so, daß diese Gerechtigkeit gerade nicht als analytisches Urteil über den .empirischen Bestand' des Ich ergeht, für das vielmehr der Widerspruch von Unfreiheit und Sollen bestätigt wird, sondern als synthetisches Urteil, das folglich von einem empirisch nicht qualifizierbaren - dem in diesem Sinne transzendentalen' Ich gilt: „Die Gerechtigkeit Christi ist meine Gerechtigkeit, weil mir das Wort gilt. Es gilt mir aber nur, wenn diese Gerechtigkeit mit meinem empirischen Bestände unverworren bleibt. Der Glaube, der es vernimmt, hat keine andere Funktion als dieses Vernehmen und ist nur, indem er vernimmt. Ist es gleichwohl mein Ich, das vernimmt und glaubt, so kann es nur das ,reine' Ich, d.h. empirisch-psychologisch nicht weiter qualifizierbare, also transzendentale Ich sein. Es wurde im Zusammenhang der Rechtfertigungslehre gezeigt, daß die logische [!] Voraussetzung für den Gedanken des transzendentalen Ich bei Luther nicht die Reduktion des Denkens auf das Kategoriale sondern das Selbstgericht ist, das zusammen mit dem Glauben die Buße ausmacht." (I, 361)

Die Unterscheidung von transzendentalem und empirischem Ich erfolgt also durch das Evangelium in genau der Weise, daß mit der Verkündigung des Evangeliums ein rein rezeptives Ich gesetzt wird, das eben dasjenige ist, das sich im Modus des Selbstgerichtes vom empirischen Ich unterscheidet; dieses Ich empfängt die durch einen externen Grund, nämlich die Verkündigung von Christus, vollzogene Erlösung aus der Situation der schicksalhaften Schuld gegenüber dem Sollen, die Kant und seine Vorgänger, die Mystiker, in

214 I, 361, vgl. 70f; hinsichtlich der Verbindung zur Entgegensetzung von empirischem und transzendentalem Ich vgl. den unmittelbaren Kontext des Zitates.

Transzendentalität und Transzendenz

237

der transzendentalen Reduktion auf die reine Subjektivität und darin in der Vereinigung mit dem ,Gott in mir' gesucht hatten. 3.3.3.3. Mit diesem Wort von Christus sei der ,agnostische Determinismus' die Situation der Unfreiheit angesichts der ethischen Forderung - zugleich bestätigt und überwunden; die Situation unter der Verkündigung dieses Wortes ist ein Verhältnis zweier Urteile: des Todesurteils über den Sünder, das gerade in der Unentrinnbarkeit des Widerspruches von Unfreiheit und Sollen erfahren wird, und des Wortes von der Vergebung: „Der agnostische Determinismus ist kein Irrtum, sondern die einzig mögliche und einzig richtige Interpretation der Weltwirklichkeit mit Einschluß der ethischen Forderung. Das Vernehmen des Evangeliums hebt diese Wirklichkeit nicht so auf, als ob sie damit für Irrtum erklärt würde. Das Jenseits Gottes offenbart sich vielmehr nur, wenn die rationale Weltbetrachtung ad punctum mathematicum durchgeführt und in der Todeserkenntnis ihren letzten Erfolg errungen hat." (36 lf). Die nationale Weltbetrachtung' zielt auf den Tod des Subjektes unter dem Widerspruch von Unfreiheit und Forderung (,ad punctum mathematicum durchgeführt ...'); das ,Urerlebnis' ist die Erfahrung der Unentrinnbarkeit dieser Situation so, daß angesichts der schicksalhaften Unfreiheit die Autonomie gegenüber dem Sollen nur als Anspruch ohne die Aussicht auf Erfüllung der Forderung bestehen bleibt. Es ist genau diese Situation, die der Sünder gerade in der eigenmächtigen Behauptung einer zur Erfüllung der Forderung fähigen oder letztlich mit Gott identischen Ichinstanz - sich verdeckt. Das Urerlebnis ist die Einsicht in die Unmöglichkeit dieser Behauptung und insofern die Reduktion auf das .punctum mathematicum': der Tod des Ich als Tod des Autonomieanspruches, dem unter dem Urteil Gottes das Ich als Selbstgericht über sich selbst zustimmt. Die Vergebung wiederum erweist sich als die Konstitution eines neuen ,neben' dem an sein Ende gekommenen Ich, so daß sich die Antithetik von Negation und Vergebung in der Diastasierung von empirischem und transzendentalem Ich vermittelt: ,Neben' das ,empirische', in der Erfahrung der Antithetik von Freiheitsforderung und Notwendigkeit zu Tode gekommene Ich tritt ein neues, ,empirisch nicht qualifizierbares' Ich, das nur und ausschließlich durch die Vergebung bzw. die Gerechtigkeit Christi und somit rein als Rezeptivität charakterisiert ist.215 Diesem ,neuen' Ich fehlt die Selbständigkeit; es ist - ganz im Gegensatz zum transzendentalen Ich der kritischen Tradition - nur, indem es an einem Konstitutionsgrund hängt. Genau diese Bewegung vermittelt den Ubergang von der ,Immanenz' zur .Transzendenz': Mit dem Wort von Christus meldet sich eine Instanz, von der das an sein Ende gekommene Ich neubegründet wird, die also darum transzendent' ist, weil sie die .immanenten' Ordnungen, die den Tod des Ich be215

1,361; vgl. Z i t a t o b e n S . 236.

238

Die Wahrheit der neuzeitlichen Subjektivität

deuten, durchbricht. Gerade in dieser Konstitution durch eine in diesem Sinne - also gegenüber der Antithese von Notwendigkeit und Freiheit - transzendente Instanz gründet bleibend die Möglichkeit dieses Ich. Die Unterscheidung von Transzendenz und Immanenz, Diesseits und Jenseits - darauf zielt die gesamte Passage ab — begründet sich hier nicht als Unterscheidung eines metaphysischen Jenseits vom Diesseits, der ,Natur' von Gott, sondern als Unterscheidung von Gesetz - dem Gegensatz von Kausalität und Freiheit - und Evangelium, bzw. als Gegensatz der ethisch-schicksalhaften Ordnung zur Ordnung der Vergebung: „Indem aber der Glaube im Wort von Christo die Vergebung der Sünden empfängt, wird der Deus absconditus in demselben Kreuz Christi zum Deus revelatus. Damit steht Luther vor dem Jenseits'. Dieses Jenseits' ist ,ganz anders' als die Welt des agnostizistischen Determinismus, in dem die Kombination von .theoretischer' und .praktischer Vernunft' endigt.... Determinismus heißt schicksalhafte Unerfüllbarkeit des Ethischen und deshalb auch Unüberwindbarkeit der Schuld. In der Vergebung der Sünden, der .anderen Gerechtigkeit' itfdas Ethische erfüllt und die Schuld überwunden."216

Es bestätigt sich hier also das flir den Zusammenhang des Glaubens — des .transzendentalen Ich' - mit der Verkündigung des Christusgeschehens nachgezeichnete Zusammenhang von Christologie und Subjektivität so, daß die unter natürlichen Bedingungen durch den unlösbaren Gegensatz von Notwendigkeit und Freiheit gekennzeichnete und so zum Tode kommende Subjektivität in der Erfahrung der passiven Neukonstitution durch das Evangelium der Transzendenz Gottes — im Sinne der Durchbrechung dieser Situation - ansichtig wird, und gerade darin rückblickend die Situation des natürlichen Subjektes als das erkennbar wird, was sie zuvor schon war: Erfahrung derselben Transzendenz im Modus des Zornes und des Widerspruches gegen den Anspruch des Menschen auf Autonomie.

3.3.4. Das Evangelium als Erkenntnisgrund

der Antithetik von Schicksal und

Freiheit als von Gott gesetzter. Die Wendung, daß die für Luther .notwendige' Stelle des Gottesgedankens unter der Voraussetzung der ,bloß formalen Gegenüberstellung der naturgesetzlichen und der ethischen Betrachtungsweise' nicht einsichtig gemacht werden kann (360, vgl. oben S. 231), zielt also auf einen andersartigen Gegensatz: das Gegenüber dieser naturgesetzlichen in Verbindung mit der ethischen Betrachtungsweise als Situation unter dem Gesetz gegenüber dem Evangelium. Erst vom Evangelium her, so die These, und damit von der durch das Evangelium ermöglichten Neusetzung des Ich her ergibt sich die Einsicht auch in die Bedeutung der Situation unter dem Gesetz als Situation vor Gott. Elerts Votum geht also in dieser Passage - ganz im Unterschied zu der zuvor referierten über das Urerlebnis - dahin, daß das Begründetsein der ethi2,6

1,361.

Transzendentalität und Transzendenz

239

sehen und der Schicksals-Ordnung im Willen eines persönlichen Gottes sich erst aus der Perspektive des Wortes von Christus ergibt. In der Erfahrung Gottes im Evangelium erweisen sich dadurch, daß diese Erfahrung die Geltung der ethischen und der Schicksals-Ordnung bestätigt, diese Ordnungen als in dem Willen dieses Gottes begründet: „Dieselbe göttliche Autorität sichert die ethische Forderung, wenigstens für den Glauben, der in der Sündenvergebung gerade die ethische Forderung bestätigt sieht. Indem aber die Vergebung zugleich die Entscheidung über Tod und Leben enthält, wird ebenfalls deutlich, daß auch die Schicksalshoheit über unser Dasein in derselben Hand liegt. Denselben Tatbestand, der ohne das Evangelium immanent-deterministisch aufgefaßt werden kann, rückt die Sündenvergebung in das Licht der göttlichen Zwecksetzung. Steht also unsere Verflechtung in den Kausalzusammenhang der Welt unter der Hoheit Gottes, so auch unsere Welterkenntnis. Für den Glauben gilt demnach sowohl die Sündenvergebung wie die ethische Forderung wie die Welterkenntnis wegen der persönlichen Autorität Gottes."217

Die Erfahrung der Situation der Gebundenheit angesichts eines unentrinnbaren Sollens ist somit vom Evangelium her als ausgerichtet auf das Evangelium erschlossen. Sie ist damit als durch dieselbe Transzendenz wie die im Evangelium erfahrene ausgewiesen, wobei sich das Evangelium gerade durch die Durchbrechung dieser unentrinnbaren Situation als Manifestation der Transzendenz - des Jenseits' von unentrinnbarem Sollen und schicksalhaftem Nichtkönnen - ausweist. Daß es der Mensch in der widersprüchlichen Situation der Erfahrung seiner Negation als autonomer Instanz mit einer transzendenten Macht zu tun hat, erschließt sich ihm erst aus dem Rückblick der Erlösung, in der diese Erfahrung eben zugleich auch als auf die im Evangelium erscheinende Liebe hin abzielende Intentionalität erschlossen wird: „Denselben Tatbestand, der ohne das Evangelium immanent-deterministisch aufgefaßt werden kann, rückt die Sündenvergebung in das Licht der göttlichen Zwecksetzung." (vgl. Zitat oben). 3.3.5. Die Deutung der natürlichen Situation als hermeneutische Brücke des Evangeliums. 3.3.5.1. Die Passage ist also dadurch ausgesprochen interessant, daß Eiert hier die Verkündigung des Evangeliums als den Entdeckungsgrund der Transzendenz insgesamt faßt; indem die Antithetik von Schicksal und Ethos transzendiert wird, manifestiert sich eine Realität, die das natürliche Subjekt und seine Welt bzw. deren immanente Widersprüche transzendiert: Eiert hatte gerade im Rückgriff auf die Kantische Transzendentalphilosophie die Unentrinnbarkeit dieser Ordnungen für das natürliche Subjekt begrün2 1 7 I, 3 6 3 . Die Position hat natürlich ihre Probleme, die insbesondere im Verhältnis zu den Eingangspassagen liegen, wo ja - wie referiert - die .Transzendenz' der im Urerlebnis erfahrenen Macht mitnichten im Evangelium und damit in der Durchbrechung dieser Situation, sondern in dieser Situation selbst begründet war - das Problem entspricht dem Grundproblem der Elertschen Theologie, das Hauber (Zorn, bes. 123AF) u.a. bereits aufgezeigt haben.

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Die Wahrheit der neuzeitlichen Subjektivität

det. In der Auseinandersetzung mit der Verweigerung des ,Gottesgedankens' in der kritischen Philosophie wird die Durchbrechung dieser Ordnung nun selbst zum Fundament der Einführung des Gottesgedankens überhaupt: Was Eiert im Rahmen der Passage über das Urerlebnis nicht nötig hatte - nämlich die Begründung eines Begriffes von Gott überhaupt - , da er dort noch unter der Voraussetzung der Selbstverständlichkeit des Topos ,De deo' argumentierte (vgl. I, 15f), leistet nun das Evangelium, durch das die im natürlichen Weltumgang geltenden und als rein .immanent' betrachteten Ordnungen nicht nur durchbrochen, sondern auch bestätigt und der Absicht des Evangeliums unterstellt werden. Diese Finalisierung auf das Ziel des Evangeliums hin begründet nach Eiert zugleich diese Ordnungen in Gott und erweist sie als unabhängig vom Subjekt geltende Größen. Die Aufnahme der Kantischen Antinomien und der Rekurs auf deren Begründung im Subjekt hat für Eiert offensichtlich nur den Sinn, in der natürlichen' Weltorientierung den Sinn für die Unentrinnbarkeit der Antinomie nachzuweisen. In der hier referierten Passage selbst dient ihm dieser Rekurs lediglich für eine Operation, deren nicht-explizites Ziel das Transzendieren einer Transzendentalphilosophie ist: „Damit ist für den Glauben die Zusammengehörigkeit von Diesseits und Jenseits ... sichergestellt. Aber sie ist aus dem empirischen Tatbestände [!] der Welt ebensowenig zu erschließen wie aus der ethischen Forderung. Alle Gottespostulate sind und bleiben bloße Fragezeichen. Auch die Sündenvergebung kann nicht postuliert werden. Vom Standpunkt der ethischen Forderung aus ist sie sogar unmöglich. Sie ist aber für den Glauben. Nur der Glaube weiß deshalb auch um die Hoheit des persönlichen Gottes über Welt und Schicksal. Er weiß es aber auch wirklich." (I, 363)

Die Passage zielt darauf, daß es nicht möglich ist, von der Erfahrung des Urerlebnisses her eine Durchbrechung eben dieser Erfahrung zu postulieren. Der Übergang von der Erfahrung vor der Unausweichlichkeit des Versagens angesichts der Unausweichlichkeit der Forderung zur Erfahrung des erlösenden, weil das Ich jenseits dieses Gegensatzes neusetzenden Gottes ist aus der Perspektive des Urerlebnisses nicht denkbar. .Transzendenz' zeigt sich damit, daß die unentrinnbare Erfahrung des Gegensatzes von Unfreiheit bzw. Determination und Freiheitsforderung, in der das Weltverhältnis des natürlichen Menschen mit Notwendigkeit kulminiert, durchbrochen wird. Eiert hebt nun aber auf mehr ab: Seine Ausführungen zielen nun darauf, daß eben nicht - wie es noch in den Ausführungen zum Urerlebnis klang - bereits das Urerlebnis selbst die Erfahrung einer Transzendenz Gottes ist. Vielmehr führt wie übrigens auch in der Dogmatik - das Urerlebnis nicht notwendigerweise auf den Gedanken eines persönlichen Gottes. 3.3.5.2. Im Vergleich der Schriften untereinander, aber auch im Blick auf die in der Morphologie vertretene Position im Vergleich der Passage über das Urerlebnis mit der hier analysierten, kann man eigentlich nur zu dem Ergebnis kommen, daß Elerts Position in dieser Frage in sich widersprüchlich

Transzendentalität und Transzendenz

241

ist.218 Dies gilt in dem Sinne, daß uneindeutig ist, was genau Eiert mit Transzendenz' bezeichnet: die mit dem Evangelium gegebene Erfahrung einer den natürlichen Zusammenhang von Schicksal und Schuld durchbrechenden Macht überhaupt, von der her die Erfahrung unter dem Gegensatz von Schicksal und Schuld erst .rückblickend' als Wirkung einer .transzendenten' Macht deutbar wird; oder die in einer .Transzendenzerfahrung' sowohl im Kontext der natürlichen Existenz - als negierende Größe in der Erfahrung des göttlichen Zornes und der menschlichen Verlorenheit - wie angesichts der neuschaffenden Macht des Evangeliums gegebene Wirkung gottheitlicher Macht. 219 218

Vgl. die Notiz dieses Widerspruches auch bei Langemeyer (Gesetz 132f; 198-212); Duensing (Gesetz) berücksichtigt die eben skizzierte Deutung des Schicksalserlebnisses unter der Prämisse des Evangeliums nicht; Peters, Gesetz 176f; Hauber, Zorn 123ff; 128ff; Krötke, Problem 9f. Langemeyer geht davon aus, daß eine zwar in sich widersprüchliche, einer Wandlung aber nicht unterworfene Position vorliegt, die darin ihre Schwierigkeit und daher ihre inneren Widersprüche hat, „daß Eiert den Sachverhalt, da er viele andere Anliegen hatte, nicht genügend durchdacht hat" (Gesetz 206); er sieht in der Antithetik einer von Eiert gelehrten Erkenntnis der Sünde und des Zornes Gottes auch in der Situation des natürlichen Menschen einerseits und der Lehre von einer Aufdeckung dieser Situation durch das Gesetz oder gar durch das Evangelium andererseits, die Eiert auch lehrt (Gesetz 205) einen Widerspruch, der zum einen seine Erklärung in einer Wandlung der Zeitsituation seit dem Ersten Weltkrieg finden könne (aaO. 207), der aber zugleich Indiz für die Probleme sei, vor die eine Erlösungsreligion insgesamt gestellt sei angesichts einer Zeitgenossenschaft, die sich keiner Erlösungsbedürftigkeit bewußt ist (aaO. 208). - Thiemann (Conflict) hat diese Analyse verschärft auf eine eindeutige Entwicklungs these hin, nach der Eiert seine Position zum Gesetz nach der Erfahrung des Zweiten Weltkrieges auf eine offenbarungstheologische Option hin modifiziert habe (Conflict 110-113; 178-180). Hauber hingegen nimmt zwar eine Umgewichtung der Position ebenfalls um die Zeit des Endes des Zweiten Weltkrieges an, beansprucht aber damit nicht, die Widersprüchlichkeit zu erklären, sondern rechnet mit einer die Phasen der Umgewichtung durchweg prägende Antithetik: Während Eiert in der Zeit von 1922-1944 in unterschiedlicher Konsequenz von einer Möglichkeit der induktiven, bei der Selbsterfahrung des Menschen ansetzenden Aufdeckung der Verlorenheit und des Zornes Gottes ausgegangen sei, die dann durch die Predigt des offenbarten Gesetzes verifizierend aufgegriffen werde, stehe später, nach 1944, ein offenbarungstheologischer Ansatz im Vordergrund, nach dem die Erkenntnis der Sünde und des Zornes Gottes erst aufgrund der ausdrücklichen, offenbarenden Predigt des Gesetzes bzw. in der Erkenntnis des Evangeliums zustandekommt (vgl. 124ff, dann die Einzeldurchfiihrung 130ff und 151 ff). - Die Ausführungen im folgenden versuchen, die Widersprüchlichkeit im Rahmen der Morphologie nicht nur zu beschreiben, sondern auch ein - allerdings vermutlich über das von Eiert explizit Wahrgenommene hinausgehendes, bei ihm nur angelegtes Lösungsmodell zu finden. 219 Im Rahmen des ersten Paragraphen der Morphologie (§ 1, Das Urerlebnis), der oben referiert wurde, zielt Eiert offensichtlich auf eine Deutung des Urerlebnisses als einer .Transzendenz' in dem Sinne ab, daß gegenüber der im Geschick erfahrenen Macht keine Gegenwirkung möglich ist. Es ist typisch für sein Denken, daß er im eben referierten § 30 diesen Zusammenhang offensichtlich wieder aus den Augen verloren hat und nun die Transzendenz' der im Schicksal wirkenden Macht erst der Erfahrung der Uberwindung des Geschickes entnehmen zu können glaubt. In der Dogmatik wiederum hält Eiert die Möglichkeit einer Interpretation der menschlichen Existenz außerhalb der Christuserfahrung mit Hilfe des GottesbegrifFes offen, vollzieht darin aber eine Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen, die konfessionelle Differenz und auch die eindeutige christliche Bindung des GottesbegrifFes vermeidenden Selbstbezeichnung als .gottgläubig', die seit 1938 als amtliche Eintragung die Stelle der Konfessionszugehörigkeit vertreten

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D i e Wahrheit der neuzeitlichen Subjektivität

Die Lösung des Problems, die der Textlage am ehesten gerecht wird, ist die Vermutung, daß Eiert der Meinung ist, daß die Wirkungen Gottes in seiner Verborgenheit sich erst unter dem Vorzeichen des Evangeliums und auf dieses hin als Wirkungen einer eindeutigen, gegen den Menschen der Sünde gerichteten Macht erschließen, daß aber umgekehrt diese erfahrenen Wirkungen der beständige negative Bezugs- und Verifikationspunkt der christlichen Rede von G o t t sind. Die Erfahrung Gottes in seiner Verborgenheit ist dem Menschen unentrinnbar - dafür steht die Dritte Antinomie Kants; es handelt sich aber u m eine Erfahrung, die sich der Mensch in ihrem transzendenten Ursprung verdeckt und erträglich macht durch Modelle, die die Möglichkeit menschlicher Freiheit verbürgen - dafür steht nach Eiert die Lehre von der Intelligibilität der Freiheit. Es handelt sich u m eine Erfahrung, die sich von ihrer Durchbrechung im Evangelium und von der damit eröffneten Transzendenz her als Gotteserfahrung identifizieren läßt und - darin scheint mir die Zielrichtung zu liegen - nun als solche in ihrer unentrinnbaren und unauflösbaren Antithetik zur Sprache gebracht werden kann. Die Faktizität der - beständig verdeckten - Erfahrung des Deus absconditus in der Antithetik von Determination und Freiheitsanspruch ist die hermeutische Brücke der christlichen Rede von Gott; in diesem Sinne bestimmt Eiert im Rahmen der Analyse des Selbstverständnisses des Menschen unter der Verborgenheit Gottes als eine Analyse, die der Christ vollzieht, indem er sich virtuell auf den Standpunkt des Nichtchristen stellt und dabei die Züge dieser Situation hervorhebt, die er vom Evangelium her als die entscheidenden Kennzeichen dieser Situation erfaßt: „ D e r D o g m a t i k e r kennt, weil er seine A u f g a b e nur lösen k a n n , w e n n er sich selbst das E v a n g e l i u m gesagt sein läßt, i m voraus den Punkt, an d e m das W o r t von C h r i s t o konnte (Glaube 132, bes. 91-95, vgl. dazu den Anspruch der Dogmatik, das Selbstverständnis des Menschen unter Berücksichtigung der besonderen Bedingungen der Gegenwart zur Sprache zu bringen, und die dazu angegebene Literatur: 64f. Zum angesprochenen Hintergrund des Begriffes .gottgläubig' vgl. LThK s.v.; so auch Hauber, Zorn 135, Anm. 128); Eiert zeichnet hier das Schwanken zwischen expliziter Übernahme des Gottesbegriffes und der Übertragung dieses Begriffes auf säkulare oder jedenfalls auch säkular deutbare Sachverhalte nach (vgl. bes. 80ff; 108), die auch neutrisch gefaßt werden können. Eiert kommt es hier darauf an, daß unter den Bedingungen der .Mittelpunktsexistenz' keine Eindeutigkeit bezüglich der Existenz und des Wesens Gottes erreichbar ist, daß diese Eindeutigkeit auch für die Deutung der natürlichen Existenz sich gleichsam erst im Rückblick aus der Perspektive des Christen ergibt (vgl. unten 3.3.4.; vorläufig 62f; 181-184). Eiert ist hier offenbar der Meinung, daß sich in der Unentrinnbarkeit des Gegensatzes von Forderung und schicksalhafter Unfähigkeit zur Erfüllung eine Begegnung mit Gott ereignet, die sich der Mensch allerdings verbergen kann auch im Blick darauf, daß er es darin mit einem einheitlichen, personalen Willen zu tun hat (181 f) · - Dasselbe Schwanken in der Frage, ob im Evangelium überhaupt erst Gott oder nur eine Modifikation der Erfahrung Gottes gegeben ist, prägt die Kurzdogmatik, in der Eiert zum einen darauf abzielt, im Ausgang von der Selbsterfahrung der natürlichen Existenz die Konfrontation nicht nur mit einem neutrischen Geschick, sondern mit einem einheitlichen, personalen Gegenwillen zu dokumentieren, die es erlaubt, auf diese Manifestationen den Begriff ,Gott' anzuwenden; das Recht zur Anwendung dieses Begriffes allerdings entnimmt Eiert explizit dem christlichen Gottesbegriff (Lehre, 1. Aufl. § 7, 7).

Transzendentalität und Transzendenz

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einschlägt, um als Wort von Gott vernommen zu werden. Das ist die Tatsache, daß sich der Mensch vor Gott zu rechtfertigen hat. Er wird also nicht planlos menschliche Selbstverständnisse sammeln. Er sichtet sie vielmehr unter diesem Gesichtspunkt. Er prüft sie und er zeigt, wenn er es nach sorgfältiger Prüfung verantworten kann, daß es keines gibt, mit dessen Hilfe man sich der Rechtfertigungspflicht vor Gott entziehen kann." 220

Im Grunde ist die Auseinandersetzung Elerts mit Kant genau der Vollzug dieses Programmes, in dem das Problem der Situation vor dem Deus absconditus im Denken Kants bzw. in der Tradition des nachkantischen Idealismus aufgewiesen und der dort angebotenen Lösung widersprochen wird. 3.3.5.3. Elerts Bestehen auf der Differenz zwischen der von ihm bei Kant und in der Mystik diagnostizierten Position und der Luthers knüpft genau an diesem Punkt an: An mehreren Stellen besteht er - wie bereits dargestellt - darauf, daß sich bei Luther die Reduktion auf das transzendentale Ich nicht im Verzicht, sondern als .Gericht' vollziehe. Die Selbstunterscheidung vollzieht sich als Ansehen des Lebens mit den Augen Gottes', und das heißt: als Zustimmung zum Urteil Gottes über den .empirischen Bestand' des menschlichen Lebens, als Anerkennung der unentrinnbaren Sündenverfallenheit Gottesfeindschaft - und in diesem Sinne der Unfreiheit des gesamten Lebens und der Todesverfallenheit des .empirischen Ich'. Die .Transzendenz' meldet sich in der Verkündigung des Evangeliums; zunächst allerdings wird mit dem Zuspruch des Geschickes Jesu das Urteil über das .empirische' Ich bestätigt und in diesem Geschick Jesu die Geltung der Todesordnung bestätigt 221 - dies ist die Bestätigung der .immanenten' Lebens- und Welterfahrung. Auf der anderen Seite wird genau dieser Zusammenhang durchbrochen, und zwar genau so, daß durch die Verkündigung des Evangeliums von Christus auf Seiten des Subjektes ein Ich konstituiert wird, das in der umfassenden Einnahme der Perspektive Gottes und in der Übernahme seines Urteils über den Menschen ausschließlich aus der Selbstzusage Gottes in Christus her lebt, ein .transzendentales' Ich also, das im Gegensatz zum Autonomieanspruch der kritischen Tradition über die empirische Erfahrung der Unfreiheit hinaus nicht ein Indikator der menschlichen Autonomie gegenüber Gott, sondern reines Empfangen seiner selbst aus diesem fremden Konstitutionsgrund ist. In dem Maße, in dem dieses Ich sich als extern - von einer die Antithetik der natürlichen Situation durchbrechenden Macht - gesetzt erfährt, erfaßt es auch die natürliche Erfahrung als bestimmt von eben dieser Macht: Die Erfahrung des nicht eigentlich auflösbaren Gegensatzes von Determination und Freiheitsanspruch bzw. Sollensforderung ist selbst eine in Gott gesetzte Antithetik. Diese sich selbst widersprechende Macht hat ihre Einheit eben in der auf jene zweite Erfahrung hin gerichteten Ambiva-

220 221

Glaube 63. S.u. D, 4., S. 3 0 2 - 3 1 3 .

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D i e Wahrheit der neuzeitlichen Subjektivität

lenz ihrer Intentionalität, will sagen: sie ist nur in der .Dialektik' von Zorn und Liebe, wobei rückblickend der Zorn ist um der Liebe willen.222

4. Zusammenfassung 4.1. Die Morphologie im Kontext der Erlanger Theologie. 4.1.1. Zusammenfassung der erreichten Position. Eiert setzt das zuletzt gebotene Zitat mit folgender, den Paragraphen beendender Passage fort: „ D i e s ist der Z u s a m m e n h a n g von Rechtfertigung u n d Weltanschauung. D i e Welta n s c h a u u n g des L u t h e r t u m s ist nicht denkbar o h n e den G o t t e s g l a u b e n . Aber dieser bedeutet nicht ein Abbröckeln von den großen Tatsachen der natürlichen Welterkenntnis i m einzelnen. Er n i m m t diese vielmehr als G a n z e s in sich a u f u n d bejaht ihre Geltung. Aber er relativiert sie zugleich, i n d e m er sie in der H o h e i t G o t t e s a u f g e h o b e n sein läßt - zugleich bejaht u n d ü b e r w u n d e n . " (I, 3 6 3 )

Das Stichwort .Weltanschauung' signalisiert zunächst den Ort, den diese Ausführungen im Kontext des Gesamtwerkes einnehmen: Sie bilden den ersten Paragraphen des Dritten Abschnitts unter dem Titel .Weltanschauung' und markieren die generative Funktion der Rechtfertigungslehre für die Weltanschauung des Luthertums. Die Passage ordnet zugleich die vorangehenden Ausführungen des Paragraphen in die Frage nach dem Verhältnis der christlichen Rede von Gott zur .natürlichen Welterkenntnis' ein und stellt fest, daß das apologetische Verfahren, das die christliche Rede von Gott so zu legitimieren sucht, daß den Tatsachen der natürlichen Welterkenntnis' Abbruch getan wird, keine von der lutherischen Theologie vollzogene Möglichkeit ist. Dies hängt damit zusammen, daß es die Begründung der christlichen Rede von Gott nicht mit der natürlichen Welterkenntnis im einzelnen', sondern mit ihr ,im Ganzen' zu tun hat so, daß diese Welterkenntnis aufgenommen und in ihrer Geltung bejaht wird. Damit ist zunächst deutlich, daß diese Passage — unter dem Titel der Weltanschauung' auch terminologisch - an die Verhältnisbestimmung von christlicher Offenbarung und Weltanschauung durch Hunzinger anknüpft: Die Ergebnisse und Gesetzmäßigkeiten der einzelwissenschaftlichen Forschung werden nicht negiert, sondern unter der Voraussetzung der im Glauben ergriffenen Offenbarung Gottes aufgenommen und integriert. Integriert werden sie aber - in Analogie zur Bestimmung des Verhältnisses der Verkündigung des Evangeliums zur Erkenntnis der Sünde unter dem Gesetz bei Ihmels - so, daß die natürliche Weltorientierung bestätigt wird, indem ihr wider-

2 2 2 Zur Problematik dieser Deutung des Gesetzes als verborgener Ausdruck der Liebe Gottes vgl. Langemeyer, Gesetz 198.

Zusammenfassung

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sprachen wird. Dies läßt sich nur in mehreren Gedankenschritten nachzeichnen: 4.1.1.1. Eiert versucht zu zeigen, daß gerade unter der Voraussetzung der lutherischen Theologie die spezifisch neuzeitlichen Elemente der Welterfassung - der naturgesetzliche Determinismus und der Anspruch der Subjektivität auf Autonomie - konsequent zu Ende gedacht werden, indem beides im Widerspruch festgehalten wird: die Erfahrung der Determination aller Wirklichkeit, und der Freiheitsanspruch als Korrelat der ethischen Forderung (I, 359). Die Theologie Luthers insistiert nach Eiert gerade auf der Unlösbarkeit dieses Widerspruches gegen die verschiedenen Möglichkeiten, ihn zu durchbrechen - unter den Voraussetzungen der Kantischen Philosophie: gegen die Deutung des universalen Kausalitätsprinzips als Leistung der Subjektivität, die diesem Prinzip als empirische unterliegt, als intelligible aber entnommen ist. In diesem Sinne deutet Eiert die Geschichte der nachkantischen Philosophie als Geschichte der Versuche, gegen die Unabweisbarkeit der Schicksalserfahrung die Freiheit der Subjektivität unter dem Titel des transzendentalen Ich' zu wahren, zugleich aber als Indiz für die Unfähigkeit, der der Freiheit des Subjektes widersprechenden Determination alles Geschehens und auch des Subjektes als Teil des Weltzusammenhanges zu entgehen. 223 4.1.1.2. Es ist gerade diese Aporetik immanenter Weltanschauung, in der sich genau die Situation des Urerlebnisses wieder meldet, aber konsequent abgeblendet wird, auf die hin das Evangelium bestätigend und überwindend ausgelegt ist - in der Bestätigung der Unentrinnbarkeit beider: der Forderung und der Unfähigkeit zur Entsprechung. In der Anerkennung dieser Situation hat nach Eiert die Unterscheidung von transzendentalem und empirischem Ich bei Luther ihre Urstiftung erfahren: In der im Selbstgericht vollzogenen Übernahme des Urteils Gottes als Urteil des Ich über sich selbst. Die Bestätigung in der Überwindung dieser Situation durch die Zusage der fremden, mit dem Subjekt nicht identischen Gerechtigkeit Christi erfolgt in der Konstitution eines,neuen Ich', das weder mit dem unrettbar dem Kausalzusammenhang und der Forderung unterworfenen Ich identisch ist noch ein illusorischer, selbstmächtiger Überwindungsanspruch ist, sondern die Konstitution eines Ich, das nur im Vernehmen des Zuspruches der Vergebung und damit im Modus der passiven Konstitution überhaupt ist, und das im externen Konstituiertsein der beständige Nachvollzug des göttlichen Gerichtes über sich (das Ich) selbst ist. 4.1.1.3. Mit dem christologisch konzentrierten Zuspruch der Vergebung meldet sich die ,Transzendenz': Zunächst im Sinne der Überwindung der

223

II, 150ff- vgl. oben 3.2.3., S. 226ff.

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Die Wahrheit der neuzeitlichen Subjektivität

Aporien der menschlichen Selbsterfahrung, die zugleich bestätigt werden. Sodann im Sinne dessen, daß - .rückblickend' - auch die Strukturen der natürlichen Welterfahrung als Setzungen dieses in ihrer Durchbrechung erfahrenen göttlichen Subjektes bestimmbar werden. Die konsequent zu Ende gedachten und darin als existentiell aporetisch erfahrenen Strukturen der natürlichen Welterfahrung werden von ihrer Bestätigung und Durchbrechung im Evangelium her selbst als Erfahrungen Gottes lesbar und auslegbar, und dies ist die zunächst dem Ansatz Hunzingers entsprechende Wendung Elerts: Die durch das Evangelium vermittelte und im Glauben erfaßte Offenbarung ist fähig zur Integration der natürlichen Welterfahrung. Sie integriert dieselbe aber weder so, daß nun die Gottesoffenbarung des Evangeliums von der natürlichen Offenbarung her erschließbar würde, noch so, daß es zum harmlos harmonischen, argumentativ vermittelten Entwurf einer christlichen Weltanschauung kommt, sondern daß die natürliche Welterfahrung als Gotteserfahrung faßbar und als Gegensatz zur Gotteserfahrung des Evangeliums bestimmbar wird. 4.1.1.4. Es wird aber eben damit sichtbar, daß die Aporie der natürlichen Subjektivität zwischen Freiheit und Notwendigkeit in ihren unterschiedlichen Gestaltungen nicht auf der Ebene der Subjektivität lösbar ist, sondern daß auch die natürliche Subjektivität in diesem Gegensatz extern bestimmt ist: weder ist die Kausalität eine Leistung der Subjektivität, noch ist die Autonomie der Vernunft mehr als der Niederschlag einer extern konstituierten Verpflichtung. Erst vom Evangelium her wird die Situation unter dem Gesetz bzw. vor dem Deus absconditus erkennbar als das, was sie ist: die Situation, in der der Anspruch des Menschen auf Autonomie dadurch seiner Unmöglichkeit überführt wird, daß der Mensch durchgängig zum Gegenstand externer Einwirkung und Forderung wird. In diesem Sinne findet mit der rückwirkenden Deutung der Dritten Antinomie unter der Prämisse der im Evangelium erschlossenen ,Transzendenz' so etwas wie eine Bestreitung des Rechtes einer Transzendentalphilosophie statt: was eine Transzendentalphilosophie als mit der Subjektivität selbst gesetzte und in ihr begründete Antinomie bestimmt, erweist sich von der Durchbrechung dieser Situation im Evangelium her als Bestimmtsein des Subjektes durch die ,subjekttranszendente' Ordnungen der determinierenden Schicksalsmacht Gottes einerseits und der Unentrinnbarkeit der göttlichen Forderung andererseits. Dies ist - völlig abgesehen von seinem Recht gegenüber den bestrittenen Positionen - das Programm der Morphologie. Dieses Programm stellt systematisch eine modifizierte Fortführung der Hunzingerschen Apologetik ebenso wie der komplexen Zuordnung von Gesetz und Evangelium bei Ihmels dar. 4.1.2. Einordnung in die Erlanger Tradition. 4.1.2.1. Die Morphologie Elerts hat sich damit als die Fortführung mehrerer zentraler Fragestellungen und Antworten der Erlanger Schule erwiesen: In der Gesamtanlage fuhrt Eiert -

Zusammenfassung

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beeinflußt auch durch Spengler und Troeltsch - im wesentlichen die Erlanger Unterscheidung des Christentums als Religion und des Christentums als Weltanschauung fort und weitet diese Differenzierung aus auf den Nachweis, daß ein ganzer Kulturbereich als Ausdruck der Wirksamkeit eines ursprünglich religiösen Erlebnisses gedeutet werden kann (1.) In der Auseinandersetzung mit Troeltschs Zuordnung der ausgeführten Theologie Luthers zum Mittelalter entfaltet Eiert eine komplexe Theorie des Zusammenhanges der Erfahrung, die der Theologie des Luthertums zugrundeliegt, mit dem Zentrum der neuzeitlichen Philosophie, nämlich der Subjektivitätstheorie im Sinne der Autonomie des Subjektes. Zunächst behauptet Eiert, daß die Unterscheidung von transzendentalem und empirischem Ich bei Kant ihre Urstiftung im Zusammenhang von Gesetz und Evangelium bzw. in der Bewegung der Subsumtion aller Bestimmungen des Ich unter das Gericht Gottes hat, in der der Anspruch des Subjektes auf Autonomie als bloßer Anspruch ohne die Möglichkeit der Realisation bestehen bleibt (2.2.). Dieses Residuum der Subjektivität als Instanz der Ichhaftigkeit kommt in der Erfahrung der Unfreiheit angesichts des übermächtigen Bestimmens Gottes an sein Ende (2.2.7.-2.2.11.). In der Einstimmung in das Urteil Gottes vollzieht sich der Tod dieser Subjektivität, in der Zurechnung der Gerechtigkeit Christi erfährt zum einen diese Selbstnegation eine Bestätigung, aber so, daß nun ein Subjekt konstituiert wird, das in sich nichts ist, wohl aber aus der Zurechnung der Gerechtigkeit und aller Eigentümlichkeiten Christi ist (2.3.4.). Dieses — von Eiert aufgrund dieser Bestimmungslosigkeit transzendental' im Unterschied zu ,empirisch' genannte - Subjekt ist nach Eiert die Wahrheit der neuzeitlichen Subjektivitätstheorie in dem Sinne, daß hier jeder Anspruch auf Autonomie und Selbständigkeit verloren gegangen ist und das Subjekt im Vollzug einer Selbstbeurteilung und so Selbstreferentialität begriffen ist, die im anderen seiner selbst - nämlich in Christus — die Bedingung ihrer Möglichkeit hat (B, 2.). 4.1.2.2. Es wird damit erkennbar, daß Eiert zwei Themen der ihm vorausliegenden Erlanger Tradition aufnimmt und miteinander verbindet: Zum einen erkennbar die konstitutive Funktion der Predigt des Gesetzes für die Erkenntnis des Evangeliums als Wort Gottes bei Ihmels (Slenczka, Studien Bd. 1, 280ff). Zum anderen den Versuch einer differenzierten Wahrnehmung und Kritik des neuzeitlichen .Subjektivismus' bei v. Frank (dazu Slenczka, Studien Bd. 1, 50ff). Eiert kennzeichnet wie Frank die Subjektbezogenheit aller Realität als ein unverlierbares Kennzeichen der im menschlichen Lebensvollzug erschlossenen Wirklichkeit und damit als eine Grundkonstante des Menschen (etwa Glaube 113-120; Morphologie I, 72; 2.3.6.); wie Frank verbindet er das ,pro me' des Evangeliums mit genau diesem Gedanken der Subjektrelativität aller Wirklichkeit (vgl. I, 72 mit Slenczka, Studien Bd. 1, S. 66ff; 104). Eiert verbindet diese positive Bezugnahme auf die Neuzeit allerdings, wie Frank - mit einer Neuzeitkritik im Sinne einer Kritik des Anspru-

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Die Wahrheit der neuzeitlichen Subjektivität

ches des Subjektes, Schöpfer seiner selbst und seiner Wirklichkeit zu sein. Bei v. Frank vollzieht sich dieser Nachweis über den Ausweis der externen Konstitution des,Neuen Ich'; ich habe gezeigt, daß sich diese Einsicht bereits in der Darstellung der Theorie der natürlichen Erkenntnis bzw. der Theorie von der natürlichen Verfaßtheit der Subjektivität so niederschlägt, daß auch diese als .gesetzte Selbsttätigkeit' auf ihre externe Konstitution hin durchsichtig gemacht wird (Dazu Slenczka, Studien Bd. 1, 59-63). Es deutet sich bereits bei v. Frank die Möglichkeit einer - die christliche Gewißheit voraussetzenden und in diesem Sinne apologetischen - Auseinandersetzung mit dem natürlichen Selbstverständnis des Menschen und des Ausweises von dessen Scheitern im Rahmen der Vergewisserung der Normalität des christlichen Lebensstandes an (dazu Slenczka, Studien Bd. 1, 109ff). Bei Eiert wird für diese Auseinandersetzung mit dem natürlichen Selbstverständnis bzw. mit der neuzeitlichen Subjektivitätstheorie das Gesetz fruchtbar gemacht, dessen Bedeutung Ihmels herausgestellt hatte. Dies sieht nun so aus, daß Eiert im Zusammenhang der neuzeitlichen Subjektivitätstheorie das Aufbrechen derselben Problematik aufzuzeigen sucht, die am Ausgang der theologischen Entwicklung Luthers stand, und ferner zu zeigen sucht, daß die Lösungsversuche dieser Problematik ohne Rückgang auf das Evangelium zum Scheitern verurteilt sind (3.2. und 3.3.). 4.1.2.3. Dies ist das eine. Zum anderen aber ergibt sich hier ein komplexes Geflecht der Aufnahme der Selbstdeutung der Subjektivität unter den Bedingungen der Neuzeit und des Widerspruches dagegen. Eiert widerspricht einerseits den Versuchen, die Problematik - des Widerspruches von Determination und Freiheit - zu überspringen, wie den Versuchen, sie durch eine Identifikation des Ich mit Gott in der Behauptung intelligibler Freiheit zu lösen. Andererseits aber unterscheidet sich die theologische Erfassung der Situation des Menschen unter dem Widerspruch von Freiheit und Notwendigkeit signifikant von der natürlichen Erfassung dieser Situation, indem diese natürliche Erfassung gerade die Möglichkeit offenläßt, die Situation ohne Rekurs auf die darin sich manifestierende widersprüchliche Erfahrung Gottes zu beschreiben und als reines Problem der Subjektivität zu behandeln und zu lösen. Eiert geht nun von einer Neubestimmung dieser Situation unter dem Vorzeichen ihrer Durchbrechung und Bestätigung durch das Evangelium aus: Erst unter dem Evangelium wird ,Transzendenz' erfahren in dem Sinne, daß hier die unlösbare Antithetik von Notwendigkeit und Freiheit durchbrochen wird, indem das Subjekt der Freiheit negiert und aus dem anderen seiner selbst - der Verkündigung von Christus - neugesetzt wird. Die in diesem Geschehen als Transzendenz — eben als Durchbrechung dieser natürlichen Situation - erfahrene Macht erweist sich nun rückblickend als erfahrener Grund auch der natürlichen Situation, so daß die Antinomie von Kausalität und Freiheit als Widerspruch von Rechenschaftsforderung und geschickhafter Unfähigkeit zur Erfüllung keine Setzungen der Subjektivität, sondern

Zusammenfassung

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ebenfalls extern konstituierte Erfahrungen sind, deren Subjekt dieselbe Transzendenz wie die im Evangelium erfahrene ist. Das Scheitern des Selbstbegründungsanspruches des Subjektes in der Antithetik von Sollen bzw. nur als Anspruch realisierbarer Freiheit einerseits und kausaler Bedingtheit (bzw. Schicksal) andererseits erschließt sich von der Erfahrung Gottes im Evangelium her als Gottes Widerspruch gegen diesen Autonomieanspruch, als zu-Tode-Kommen des Subjektes in diesem Sinne in der Neubegründung der Subjektivität. Dieses neubegründete Subjekt bezeichnet Eiert seinerseits als transzendentales Ich', das aber eben darin ,rein' (im Unterschied zur Fülle konkreter Bestimmung und Inhalte) ist, daß es in der Übernahme des Gerichtes Gottes über alles eigene die Instanz der Voraussetzungslosigkeit des Handelns Gottes ist, der ungeachtet der empirischen Verfaßtheit - ,ohne Werke des Gesetzes' - Bestimmungen zueignet, deren Träger das Subjekt nur als rein rezeptives und so auf eine externe Bedingung seiner Möglichkeit Verweisendes ist. In diesen Zusammenhang gehört die Aufnahme und Umbestimmung des Begriffes des transzendentalen Ich' in den ersten Abschnitten der Morphologie: Der Begriff des .transzendentalen Ich', der unter dem Vorzeichen in Anspruch genommener Autonomie nach Eiert die unvermittelbare Antithese zur externen Konstitution des glaubenden Subjektes ,in Christus' ist, wird von Eiert aufgenommen als Bezeichnung des Ergebnisses eines Existenzwandels: des Scheiterns dieses Anspruches und der Neusetzung und Neubestimmung der Subjektivität ab extra. Gesetz und Evangelium als Korrelate dieser Erfahrung der Unmöglichkeit autonomer Subjektivität und deren Begründung in der Christologie sind die Fundamente, durch die sich die Überwindung des Anspruches neuzeitlicher Subjektivität vollzieht. Formal entspricht diese Verhältnisbestimmung von Gesetz und Evangelium derjenigen, die Ihmels vorgenommen hatte: Dort, so hatte ich in der Darstellung Ihmels' (Slenczka, Studien Bd. 1, II, 3.2.5. und 6. [S. 283ff]) zu zeigen versucht, faßt Ihmels die Verkündigung des Gesetzes bzw. die Erfahrung der Verfehlung der Bestimmung des Menschen als eine zwar unverzichtbare, aber vorläufige Erkenntnis, die erst in der Verkündigung des Evangeliums aufgenommen und bestätigt indem überwunden wird. Exakt dieses komplexe Verhältnis findet sich bei Eiert wieder, der ebenfalls in der zuletzt interpretierten Passage die in der Verkündigung des Evangeliums erfahrene Durchbrechung der Situation unter der Verborgenheit Gottes als die Prämisse der Erkenntnis, daß auch in dieser Situation eine von Gott gesetzte Aporie erfahren wird, faßt. 4.1.2.4. Diese strukturelle Analogie zeigt, daß Eiert hier durch die theologische Analyse der Verfaßtheit der Subjektivität ohne das Evangelium auf die Erfahrung der Verborgenheit Gottes hin mit den ihm von Ihmels her überkommenen Mitteln der Zuordnung von Gesetz und Evangelium genau das Problem - den Anspruch der neuzeitlichen Subjektivität auf Autonomie -

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Die Wahrheit der neuzeitlichen Subjektivität

bearbeitet, dem auch der Systementwurf Franks gewidmet ist. Dieser führt eine Analyse der christlichen Subjektivität mit dem Ziel durch, diese zunächst als Ausgangspunkt der gedanklichen Bewegung gewählte als gesetzt auszuweisen und so wieder in dem nur in ihr erschlossenen Gegenstand - der sich unter dem Begriff der Absolutheit als Grund der Subjektivität selbst erweist zu begründen. Eiert hingegen versucht die neuzeitliche Gestalt der Subjektivitätstheorie unter dem Begriff des transzendentalen Ich' als Säkularisat einer ursprünglichen Entdeckung — nämlich der externen Konstitution der Selbstreferentialität in der Übernahme der nur in Christus möglichen Gerechterklärung durch Gott - zu deuten und von daher die Gestalten der Vermittlung von Autonomieanspruch und Kausalität der Illusion zu überführen — so etwa zu Fichte: „Fichte übersah Luthers Erkenntnis, daß unser Leben als Ganzes gerichtet ist, in doppeltem Sinne: sowohl schicksalhaft in feste Richtung gezwungen und also unfrei, wie verurteilt, weil das absolute Soll unrealisierbar ist. Deshalb wußte er nichts von Schuld. Deshalb konnte er noch in der zweiten Epoche wie ein echter Aufklärer gegen den Gedanken der Erbsünde anrennen. Deshalb täuschte er sich über den Gerichtsernst des Todes. Fichte fand den Urdualismus des Lebens, den Kant für erträglich hielt, ebenso unerträglich wie Luther. Und dies ist der Anfang der neuen Wendung. Aber er suchte ihn im Traum zu überwinden. Er träumte sich selbst in die Freiheit Gottes hinein. Und dies war sein Irrtum." (II, 153) In diesem Sinne ist Elerts Morphologie zuletzt die modifizierende Aufnahme von Grundmotiven der Erlanger Tradition. Eiert erhebt gerade in der Behauptung einer Integration und Aufklärung der unter dem Gesetz erfahrenen Realität des Gegensatzes von Kausalität und Freiheit den Anspruch, die dem christlichen Glauben — und nur ihm — erschlossenen Inhalte für eine Deutung des Ganzen der Wirklichkeit aus der nur im Glauben als Erfahrung Gottes gegebenen Transzendenz leisten zu können. 4.1.2.5. Damit ist ein letzter Punkt der Kontinuität zur Erlanger Theologie zu notieren: Es hatte sich als ein Grundanliegen der Erlanger Theologen herausgestellt, die theologischen Lehrbildungen daraufhin durchsichtig zu machen, daß sie ihrerseits den Ausdruck ursprünglicher Erfahrung darstellen und in eine Situation der unmittelbaren Erfahrung der in ihnen beschriebenen Realitäten zurückverweisen. Im Rahmen der näher beschriebenen Positionen der Erlanger Tradition handelte es sich dabei um ein Programm der Vergewisserung hinsichtlich der spezifisch christlichen Aussagezusammenhänge aus dem Zentrum des spezifisch christlichen Erlebnisses. 4.2. Die Grenzen der Position. Schwer erträglich sind Elerts Darlegungen durch den auch im letzten Zitat herrschenden, von Spengler übernommenen Grundton des ,großen Uberblicks' oder der ,großen Linie', von der von vornherein deutlich ist, daß sie weder einer ums Detail bemühten Auseinandersetzung mit den Texten entstammt noch einer solchen standhält.

Zusammenfassung

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Die Interpretation der Position Kants bleibt - das dürfte insgesamt hinlänglich deutlich geworden sein - in höchstem Maße oberflächlich, und zwar genau dadurch, daß Eiert gerade nicht an der internen Logik der Position Kants interessiert ist, sondern an den gleichsam gegenständlichen Ubereinstimmungen mit der Theologie Luthers. Die naturgesetzliche Bestimmtheit aller erfahrbaren Realität einerseits und die universale Determination alles Geschehens durch Gott mag eine solche gegenständliche' Ubereinstimmung sein; ebenso mag dies für den Freiheitsanspruch des Sünders vor Gott und den Freiheitsanspruch, der sich im Autonomieanspruch des Subjektes meldet, zutreffen. Allerdings bedarf es eben, bevor die eine (Kants) Position auf die andere hin durchsichtig gemacht wird, einer detaillierten Analyse des inneren Zusammenhanges und des Kontextes der jeweiligen Bestimmungen. Daß die Dritte Antinomie lediglich die Rationalisierung eines ursprünglich religiösen Lebensproblems bzw. einer Grunderfahrung des Widerspruches von Notwendigkeit und Freiheit darstellt, wäre entweder durch systematische oder durch historische Argumente auszuweisen — andernfalls handelt es sich lediglich um eine Behauptung. Die Deutung der Kausalität als transzendentales apriori ist durch eine rückblickende Interpretation aus der Perspektive des Glaubens an das Evangelium nicht aus der Welt zu schaffen, sondern — wenn überhaupt - nur mit einer detaillierten Auseinandersetzung mit Kants Begründung dafür - und das heißt: mit seiner Erkenntnistheorie. Die Unterscheidung von transzendentalem bzw. intelligiblem Ich und empirischem Ich ist nicht dadurch zu erledigen, daß man sie für eine Flucht vor den Konsequenzen einer Determination auch des Ich erklärt, sondern - wenn überhaupt - nur dadurch, daß man sich mit der Begründung bei Kant auseinandersetzt und eben sieht, daß diese Unterscheidung ihren Ursprungsort nicht oder nicht nur in der Dritten Antinomie hat, sondern in der Erkenntnistheorie Kants, näher einmal in der Unterscheidung von Noumena und Phaenomena, sodann — im Eingang der transzendentalen Deduktion (nach B) — in der Bestimmung der Einheit des Subjektes als Leistung des Selbstbewußtseins, der transzendentalen Apperzeption (KrV B, § 16 und ff). Es wäre zu fragen, wieweit und um welchen Preis diese Unterscheidung verzichtbar ist, an der die Möglichkeit überhaupt hängt, daß Begriffe a priori .objektive Geltung' haben können (KrV Β 159-169 u.ö.). Es müßte zudem gefragt werden, ob es überhaupt ein im Sinne Kants sinnvoller Gedanke ist und mit der unabweisbaren Selbsterfahrung der Subjektivität vereinbar ist, sie — was Elerts Deutung der Intelligibilität der Freiheit als ,Illusion' voraussetzt - als Teil des Naturzusammenhanges zu fassen und die Freiheit dagegen als bloße Prätention der Subjektivität zu desavouieren — denn das würde im Zusammenhang der Kantischen Philosophie bedeuten, die Subjektivität als Erfahrenes eines Subjektes zu bestimmen. Das Zentrum der angedeuteten Einwände liegt in der relativen Umstandslosigkeit, mit der Eiert die philosophische und die theologische Problemstellung miteinander identifiziert. Der ,Entdeckungszusammenhang' des Ver-

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Die Wahrheit der neuzeitlichen Subjektivität

hältnisses von empirischer und ,intelligibler' Subjektivität bei Kant bzw. in allen Positionen des kritischen Idealismus ist allerdings, wie bereits angedeutet, komplexer; Eiert hätte mindestens zeigen müssen — wenn nicht in der Morphologie, so in einer weiterführenden Auseinandersetzung —, daß auch der erkenntnistheoretischen Position des transzendentalen Idealismus, die das Subjekt als Konstituenten einer nur als dessen Korrelat sich realisierenden Welt bestimmt, jener Wille zur Autonomie zugrundeliegt. Diese Behauptung müßte eben dadurch sich ausweisen, daß der Anspruch dieser Position, die einzig mögliche Lösung erkenntnistheoretischer Probleme zu sein, durch eine andere Position ersetzt wird; an Kant exemplifiziert: Es wäre zu zeigen, daß die Allgemeinheit und unentrinnbare Notwendigkeit der Urteilsfunktionen bzw. der entsprechenden Verstandesbegriffe anders als durch die Deutung derselben als subjektive Bedingungen der Möglichkeit einer Welt zu wahren ist - das ist die Voraussetzung dafür, daß dem transzendentalen Idealismus insgesamt widersprochen werden könnte. 224 Es wäre dann entweder zu zeigen, daß die Unterscheidung, die den Begriff einer Kausalität aus Freiheit ermöglicht - zuletzt die Unterscheidung von Phaenomena und Noumena 225 — andere Lösungen zuläßt; an dieser Unterscheidung hängt allerdings unter der Voraussetzung jenes transzendentalen Idealismus (den Eiert ja übernimmt, I, 360) die Möglichkeit, daß Begriffe a priori objektive Geltung haben können: indem sie nicht von Dingen an sich gelten, sondern von Erscheinungen. 226 Oder aber zu zeigen, daß die wechselseitige Verbürgung von Vernunftgesetz und Freiheit interne Probleme aufweist (KpV 59-54), wobei eben in Rechnung zu stellen ist, daß dieser Entdeckungsgrund der Freiheit sich gar nicht im Bereich der Freiheit vor Gott, sondern in dem Bereich abspielt, in dem auch Eiert das Gegebensein von Freiheit einräumt (I, 22). Insgesamt: neben dem - möglicherweise zutreffenden - Ausweis der Antithetik von Autonomieanspruch und externer Konstitution der Subjektivität unter den Bedingungen des durch das Evangelium ausgelösten Existenzwandel müßte ein Ausweis der internen Logik und des internen Scheiterns der neuzeitlichen Subjektivitätstheorie erfolgen. Dies gilt gerade unter der Prämisse des Elertschen Ansatzes, der jedenfalls in der Morphologie das Evangelium als die Bedingung der Einsicht in die Unmöglichkeit des Freiheitsanspruches der neuzeitlichen Subjektivität versteht, die dann in der Deutung und Auslegung dieser Situation geltend gemacht werden kann. Entsprechend wäre die Auseinandersetzung so zu führen, daß nicht nur die neuzeitliche Subjektivitätstheorie als Gegenfigur in den antithetischen Zusammenhang von vorchristlicher und christlicher Existenz eingeordnet und integriert wird, sondern es müßte umgekehrt die Leistungs224 225 226

163ff.

Vgl. nur KrV Β 124 und ff. Vgl. KrV Β 294-315, hier bes. 31 Of mit Β 567-586, hier bes. 585f; 595ff. Vgl. KrV Β 124ff; die transzendentale Deduktion, deren Ergebnis eben dies ist: bes. Β

Zusammenfassung

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fähigkeit eines im Sinne Elerts verstandenen Konzeptes einer ,extern konstituierten' transzendentalen Subjektivität vor den nicht übergehbaren Fragestellungen einer neuzeitlichen Subjektivitätstheorie zum Ausweis kommen wobei entscheidend eben die - bereits an Frank gestellte (Slenczka, Studien Bd. 1, 2 1 5 0 _ Frage danach wäre, wie etwas - das Christusgeschehen - , was nur unter den Bedingungen dieser Subjektivität und unter deren Voraussetzung thematisierbar ist, seinerseits Konstitutionsgrund dieses Subjektes sein kann. Es mag sein, daß Eiert unter der spezifischen Fragestellung, unter der er im Rahmen der Morphologie das Phänomen der Neuzeit betrachtet, mit der erreichten geistesgeschichtlichen Zuordnung zufrieden sein kann; dieses Verfahren ist aber nur dann überhaupt aussagekräftig, wenn es durch systematische Überlegungen in der beschriebenen Richtung ergänzt wird. Derartige Überlegungen müßte man in der Dogmatik Elerts erwarten.

D. Der christliche Glaube Erst auf dem Hintergrund dieser Analyse des zweifellos stärksten Textes aus Elerts Oeuvre erschließt sich die Dogmatik, die erstmals 1940, bereits 1941 in zweiter Auflage erschien.1 Es handelt sich allem Anschein nach um ein ausgearbeitetes Vorlesungsmanuskript - darauf lassen Passagen schließen, die allenfalls in der Situation gesprochener Rede denkbar sind. 2 Allerdings finden sich eben auch die bereits in anderen Werken Elerts aufgewiesenen Mängel in Ausdruck und Gedankenführung 3 , die in der folgenden Interpretation insgesamt einer interpretatio in optimam partem unterzogen werden sollen. 1

Der christliche Glaube, Berlin. Seitenverweise ohne Titelangaben im folgenden beziehen sich auf dies Werk. Zur nach Elerts Tod erschienenen 3. Auflage (hg. v. E. Kinder) vgl. Hauber, Eiert 125, Anm. 92 und Slenczka, Rezension 705, dazu allerdings oben S. 227 204 . 2 Vgl. als ein Beispiel 73: „Ethisch können wir uns nur stabilisieren, wenn wir bereit sind, uns vor anderen zu verantworten. Diese Bereitschaft wäre das Ende unseres Mittelpunktsdaseins. ... Denn wollten wir vorbehaltlos auf jeden eingehen, der uns zur Verantwortung zu ziehen versuchte, so gerieten wir aus dem Regen in die Traufe. Wir gerieten dann zwischen lauter Existenzen, die ... ebenso inkonstant sind wie wir. Und die könnten dann mit uns Fußball spielen. [!!]" (kursiv von mir). Vgl. die am Anfang jedes Satzes im folgenden gehäuften temporal-konsekutiven Anschlüsse mit ,dann'; vgl. das völlig mißglückte Bild am Ende desselben Absatzes: „Auf diesen Punkt, der genaugenommen gar kein Punkt, sondern ein Strich an der Wandtafel ist, der morgen wieder ausgelöscht wird ..." - denkbar ist gerade dieser Satz nur in der Situation des Vortrages, in dessen Verlauf Eiert vermutlich doch diesen Vorgang an der Wandtafel des Hörsaals exekutiert hat. Auch der relativ lebendige Stil der ersten drei Kapitel (Erster Abschnitt, Das Selbstverständnis des Menschen unter der Verborgenheit Gottes) weist - insbesondere mit den vielen Selbsteinwänden und Gegenfragen - Eigentümlichkeiten mündlicher Rede auf. 3

Noch einmal am Beispiel des 1. Abschnittes ausgewiesen: In § 16 faßt Eiert die Intention des gesamten Abschnittes in vier Thesen zusammen - was eben auch deshalb notwendig ist, weil weder die einzelnen Paragraphen intern noch die Kapitel noch der Abschnitt insgesamt klar und eindeutig einem leitenden Gedankengang oder Motiv zugeordnet sind, so daß ihnen diese Thesen ohne ausdrückliches Resümee zu entnehmen wären. - Es ist auch für eine Dogmatik ein nicht gänzlich unerheblicher Einwand, wenn eine genaue Lektüre nicht darüber hinwegsehen kann, daß der Anspruch, eine Gotteslehre ohne Zuhilfenahme der Metaphysik und aus den Mitteln der Christologie zu entwerfen (vgl. bes. 249 und ff), unverbunden neben einer die metaphysischen Grundbestimmungen der Tradition - und zwar ohne jeden christologischen Bezug - aufnehmenden Definition Gottes (246) und einer .Ergänzung' der von der Christologie her entworfenen Trinitätslehre durch Aussagen über das .Wesen' Gottes verbindet (278). Zu kritisieren ist nicht in erster Linie der eine oder der andere Ansatz, wohl aber, daß dieser Widerspruch nicht nur unaufgelöst, sondern offensichtlich unbemerkt bleibt. Es ist unmöglich, folgende beiden Passagen nebeneinander stehenzulassen: „Im Gegensatz hierzu [i.e. zur .natürlichen Gotteserkenntnis] soll aber die Dogmatik so von Gott reden, wie er zu uns redet. Spricht er aber zu uns in seinem persönliche Wort, d.h. in Christo, so kann die Theologie an keinem Punkt so von Gott reden, als ob er nicht ,in Christo war' ..." (249; Hervorhebungen bis auf .nicht' von mir). Und: „Er [Gott] bezeugt sich selbst trinitarisch, darum können wir auch nur [!] trinitarisch von ihm reden. Aber damit ist selbstverständlich [?] sein Zeugnis über sich selbst nicht erschöpft. Er bezeugt sich durch

Der christliche Glaube

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Der folgende Nachvollzug der Dogmatik soll zeigen, daß und wie die Gewißheitsfrage und von dort aus das Verhältnis von Glaubenserfahrung und Glaubensgegenstand ein nicht auf den ersten Blick erkennbares Hauptanliegen des Werkes darstellen, so daß damit erkennbar wird, daß auch das dogmatische Hauptwerk Elerts sein eigentümliches Profil erst im Zusammenhang mit der Grundfragestellung der Erlanger Schule erhält, dem Ausgang von der gläubigen Subjektivität und deren Begründung in einem dem Glauben vorgängigen, als solchem aber in ihm erschlossenen Grund. Ich werde zunächst den Aufbau der Dogmatik und dessen theologische Implikationen erläutern (1.), dann die gemeinhin als Zentrum der Elertschen Theologie betrachtete Zuordnung von Gesetz und Evangelium als Moment einer übergeordneten theologischen Intention darstellen (2.). Dieser Intention entspringt eine Problemstellung hinsichtlich des Verhältnisses von Glaubensgegenstand und Subjektivität, die zunächst skizziert (3.) und dann entfaltet und gelöst werden soll. Diese Entfaltung erfolgt durch eine Analyse der sein gesamtes Wirken, durch Schöpfung und Gericht..." (278, vgl. auch 286 - es ist schon allein erstaunlich, daß eine Lehre vom Schöpfungswirken Gottes die [bei der Ökonomie ansetzende] Trinitätslehre ergänzen soll, in der ja eigentlich doch vom Schöpfer die Rede gewesen sein sollte). Wir werden auch diesem Widerspruch noch einen Sinn abgewinnen - aber der reine Textbestand erlaubt nichts anderes als das Konstatieren dieses Widerspruches; vgl. auch Hauber, Christologie 129; 130-134; auch ders., Zorn 124f. - Es ist weiter erstaunlich, daß man in einer Dogmatik, in der der Glaube eine so zentrale Bedeutung hat, der Begriff ausgesprochen unscharf und zuweilen in unterschiedlicher Bedeutung verwendet wird (s.u. etwa 2.4.); gegen einen durchdachten Aufbau spricht auch die Tatsache, daß Eiert sich gegen die Annahme verwahrt, seine Darstellung des ,Selbstverständnisses des Menschen unter der Verborgenheit Gottes' sollte eine Anthropologie darstellen und ankündigt, daß diese erst „an späterer Stelle" folgen werde. Man sucht sie allerdings im ganzen Werk vergeblich: Die Schöpfungslehre gilt ausschließlich ,der Welt'; die Passagen in der Prinzipienlehre zum .Offenbarwerden des Menschen' als Korrelat der Offenbarung Gottes (§ 25) ersetzen so wenig eine Anthropologie wie die parallelen Aussagen zum Offenbarwerden Gottes (§ 24) eine Gotteslehre ersetzen (vgl. Dritter Abschnitt), und so hat man es mit dem Phänomen einer Dogmatik ohne Anthropologie zu tun — wenn man nicht die schmalen Bemerkungen in § 48 als Ersatz der Anthropologie im Rahmen der Lehre vom Verhältnis von Gott und Geschichte gelten lassen will (vgl. 329f)· Vgl. dazu auch die Annahme Haubers (Eiert 126), daß Eiert diesen Stoff für die Ethik vorgesehen habe; die Annahme ist freundlich, angesichts des eben genannten ausdrücklichen Verweises nicht auf die Ethik, sondern auf eine Behandlung der Anthropologie an späterer (nicht an anderer!) Stelle (und so doch wohl in der Dogmatik) wenig wahrscheinlich, zumal Eiert in der Ethik selbst etwa für Literaturangaben zur Anthropologie auf die Dogmatik (und zwar auf den genannten § 48) verweist (Ethos 43, Anm. 1). Zudem hat Eiert für die Ethik zu dieser Zeit offenbar nicht - wie in der späteren Durchführung in .Ethos' - das Thema der Anthropologie vorgesehen, sondern die klassischen Inhalte der Orientierung des christlichen Lebens (vgl. die Themenbestimmung in Ethos [§ 1; § 2, bes. 33f] - Der Mensch unter dem Urteil Gottes - mit dem Vorausblick auf die Ethik in Glaube 608, wo Eiert feststellt, daß die Ethik von der Realisation der Freiheit des Christen in den Bindungen der Ordnung ihren Ausgang nehme). - Vgl. zu den gedanklichen Inkonsistenzen bei Eiert auch die Darstellung der Christologie durch Ratschow (Christus 65-82), der allenthalben gedankliche Mängel, systematische Schwächen und Fehlargumentationen verzeichnet; vgl. den Verweis auf gedankliche Brüche bei Krötke, Problem 37f; 42f, bes. 9f; bei Langemeyer, Gesetz bes. 20Iff; 206ff sowie 27—42 u.ö.; Hauber, Christologie 130f; 132 und f; 137; ders., Zorn 124ff. Vgl. bereits die ersten Rezensenten: Brunner, Kritisches 48f; 59; bes. aber Schulze, Rezension 326f!

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Der christliche Glaube

Rechtfertigungslehre (4.) und der Gotteslehre auf dem Hintergrund der Zwei-Naturen-Lehre (5.)· Unter (6.) folgt eine Zusammenfassung.

1. Der Aufbau der Dogmatik und seine theologischen Implikationen In diesem ersten Abschnitt soll durch eine Darstellung des Aufbaus der Dogmatik die Prägung derselben durch eine Erfahrungstheologie in Erlanger Tradition ausgewiesen werden. 1.1. Die Dogmatik als Darstellung der Begegnung des Evangeliums mit dem natürlichem Selbstverständnis. 1.1.1. Der Außau der Dogmatik. Eiert erhebt den Anspruch, daß seine Dogmatik, die etwa nach den Kategorien Barths als der Inbegriff natürlicher Theologie erscheinen müßte, nicht nur im Gegensatz zu einer .natürlichen Theologie' stehe, sondern in allen ihren Teilen einem streng christozentrischen Ansatz verpflichtet sei;4 so schreibt Eiert mit Bezug auf die Aufgabe der Dogmatik, den ,Sollgehalt' der christlichen Verkündigung zu umschreiben und zu begründen: „...es gibt eine Substanz, die in allen neutestamentlichen Zeugnissen die gleiche ist und die darum auch in aller Mannigfaltigkeit der kirchlichen Verkündigung stabil sein soll.... Das ist die Person Christi. Sie ist die unverrückbare Mitte, weil er sowohl Auftraggeber wie Inhalt des kirchlichen Kerygmas ist, weil also in ihm das formelle und das materielle Sollen der Verkündigung zusammenfallen." (61)

Diese Konzentration um das Zentrum der Christologie stellt eine Zentrierung nicht um die Mitte einer Lehre, sondern um die Begegnung des Menschen mit der Verkündigung von Christus dar (ebd., vgl. unten 1.1.3.). Die Dogmatik zeichnet — wie bereits oben entfaltet (vgl. S. 113ff) — die Voraussetzungen und Hintergründe dieser Begegnung des Menschen mit Gott nach (61-64), und zwar zunächst das Selbstverständnis des Menschen vor der Begegnung mit Christus (Erster Abschnitt, 67-133); diesem Selbstverständnis soll dann die Botschaft von Christus unvermittelt' — d.h. unter Verzicht auf jegliche Apologetik - entgegengesetzt werden.5 Der zweite Abschnitt enthält

4

Barth hat sich nur an wenigen Stellen überhaupt explizit zu Eiert geäußert, vgl. KD IV/3,1 427f; selbstverständlich aber ist Elerts Beharren auf der Gegensätzlichkeit zweier Worte Gottes von Barths Voten gegen eine .natürliche' Theologie implizit getroffen. Elerts Votum zur .natürlichen Theologie': vgl. oben C, 1.3. (S. I48ff) und unten 1.2. (S. 259ff); zum christozentrischen Ansatz vorläufig: Glaube 140f; 61; § 36; 3 5 8 f - ferner unten 1.3. (S. 262ff). Insgesamt Hauber, Christologie 130ff und ders., Zorn 124fF. 5 Vgl. 63f. Es liegt hier einer der vielen unausgeglichenen Widersprüche der Dogmatik vor, denn Eiert kündigt hier ein unvermitteltes Einsetzen mit dem .Zeugnis von Christo' an, das sogar eine methodologische Uberleitung ausschlösse (ebd.). In der .Ortsbestimmung', die den Abschnitt 2 (Der Grund des christlichen Kerygmas) einleitet, kündigt er allerdings Überlegungen

Der Aufbau der Dogmatik und seine theologischen Implikationen

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eine Reflexion über die Grundlagen (Zweiter Abschnitt) des Kerygma in dem Sinne, daß die Frage nach den Quellen desselben gestellt wird. 6 Die eigentliche materiale Dogmatik enthält der dritte bis siebte Abschnitt, konzentriert um die Lehre von der Person und dem Werk Christi als der Versöhnung des Menschen mit Gott (Abschnitt 5.) und um den durch ihn bewirkten Existenzwandel (Abschnitt 6.). Das Zentrum dieser Abschnitte ist nun zu skizzieren. 1.1.2. Der Einsatz mit dem Selbstverständnis des Menschen ,extra Christum'. Der zunächst dem Anspruch eines christozentrischen Ansatzes scheinbar widersprechende Einsatz mit der Analyse des Selbstverständnisses des Menschen unter der Verborgenheit Gottes erweist sich dabei als begründet in diesem Geschehen der Begegnung mit dem „Gott in Christus", und zwar sowohl formal wie inhaltlich: Eiert weist zum einen darauf hin, daß der mit dem Evangelium von Christus verheißene Existenzwandel als solcher (nämlich als Wandel der Existenz) selbst eine Bezugnahme auf eine ,vorevangelische' Existenz in sich schließt: „In der Selbstbezeichnung der apostolischen Verkündigung liegt aber bereits eine unvermeidliche Bezugnahme auf die wr-evangelische Existenz der Menschen, für die sie bestimmt ist. Es liegt darin nicht nur die Verheißung von etwas, das der Hörer noch nicht hat, sondern von etwas, das er noch nicht ist, also die Verheißung eines Existenzwandels und folglich auch ein Urteil über das, was voranging. Unvermeidlich muß deshalb auch auf das Alte, das sich wandeln soll, Bezug genommen werden." (141) Der Einsatz mit dem ,Selbstverständnis des Menschen unter der Verborgenheit Gottes' ist somit theologisch formal dadurch gerechtfertigt, daß das Evangelium selbst auf diese Verborgenheit Gottes und die damit gesetzten an, deren Funktion ausdrücklich den theologischen Prolegomena bzw. der Gewißheitslehre entsprechen soll (vgl. 138, Anm. 1); dort differenziert er zwischen der Unmittelbarkeit, mit der die Predigt das Kerygma dem menschlichen Selbstverständnis entgegensetzt, und der Dogmatik, die das Kerygma mit der .kritischen Frage' begleite und daher einleitend nach dem Grund des Kerygma zu fragen habe - in der zuvor genannten Passage hatte er aber - bezüglich des Aufbaus der Dogmatik und ihres Vorgehens und eben gerade nicht hinsichtlich der Verkündigung - anders geredet. Die Einfügung der .Grundbestimmung' ist um so erstaunlicher, als Eiert in der Erklärung der Anlage der Dogmatik (64) gerade die Auseinandersetzung um Recht und Grenze des Offenbarungsbegriffes, der das Zentrum der .Grundbestimmung' bildet, unter die Inhalte gerechnet hatte, die keinesfalls zwischen die Darstellung des Selbstverständnisses des Menschen und die Entfaltung des Christuszeugnisses treten dürften! - Vgl. auch Schulze, Rezension 326f. 6 Vgl. Anm. 34. Diese Besinnung auf den Grund des Kerygma ist in ihrer Intention alles andere als klar - bereits terminologisch: Wenn die Aufgabe der Dogmatik insgesamt die Frage nach dem .Grund' des Dogma sein soll, dann ist eben nicht klar, daß dem kritischen Verfahren „eine Grundbestimmung vorangehen" muß (138). Warum muß, was Gegenstand der ganzen Dogmatik und ihr eigentlicher Sinn ist (60ff), nun zum Gegenstand eines eigenen Abschnittes werden? Eiert konstatiert diese Doppelung, begründet sie aber in keiner Weise (138, vgl. f). Inhaltlich - s.u. - entspricht der Abschnitt den Prolegomena. Intendiert ist offenbar eine Klärung der Frage, inwiefern und in welchem Sinne die Quellen der christlichen Verkündigung überhaupt als solche in Frage kommen.

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Der christliche Glaube

Existenzbestimmungen sich bezieht; aber auch inhaltlich wird dies Existenzverständnis unter der Vorgabe des Evangeliums erhoben: Intendiert ist nicht eine allgemeine Beschreibung menschlicher Existenz, sondern eine Deskription auf die Strukturen hin, die das Evangelium voraussetzt, indem es auf sie antwortet: „Der Dogmatiker kennt, weil er seine Aufgabe nur lösen kann, wenn er sich selbst das Evangelium gesagt sein läßt, im voraus den Punkt, an dem das Wort von Christo einschlägt, um als Wort von Gott vernommen zu werden. Das ist die Tatsache, daß sich der Mensch vor Gott zu rechtfertigen hat. Er wird also nicht planlos menschliche Selbstverständnisse sammeln. Er sichtet sie vielmehr unter diesem Gesichtspunkt. Er prüft sie und er zeigt, wenn er es nach sorgfältiger Prüfung verantworten kann, daß es keines gibt, mit dessen Hilfe man sich der Rechtfertigungspflicht vor Gott entziehen kann." (63)

Möglich ist diese Beschreibung eben darum, weil der ,Dogmatiker' die Realität des Menschen außerhalb von Christus kennt und teilt, dieses Selbstverständnis aber von der Botschaft von Christus her ,liest' und deutet. Eiert nimmt damit die in der Verkündigung des Wortes von Christus erfolgende Bestätigung der natürlichen Situation des Menschen auf, die ich im Zusammenhang der Darstellung der Grundzüge der Morphologie herausgestellt habe.7 Dieses Verhältnis einer von der Offenbarung in Christus her erfolgenden Reinterpretation der .natürlichen' Voraussetzungen derselben wird sich im Laufe der Darstellung als eine Grundfigur der Dogmatik herausstellen.8 Mit dieser Zuordnung von vorchristlicher Existenz und durch das Evangelium neugesetzter Subjektivität bleibt Eiert gänzlich im Rahmen der Erlanger Theologie, in der die Aussagen über die ,alte Existenz' immer unter der Voraussetzung des Glaubens erfolgen und somit Bestimmungen aus der Perspektive der Erfahrung von Wiedergeburt und Bekehrung sind.9 1.1.3. Die ,Grundsituation' der Dogmatik. Der Einsatz mit dem ,Selbstverständnis des Menschen unter der Verborgenheit Gottes' und das Anliegen, diesem Selbstverständnis das Zeugnis von Christus als Grund einer neuen Existenzbestimmung entgegenzusetzen (63), gibt zu erkennen, daß diese Situation des Zusammenstoßes von .alter' Existenz und der Botschaft von Christus die Grundsituation ist, in der sich diese Dogmatik verortet: „Der Mensch, der in Christo von Gott getroffen wird, muß ihm begegnen. Die Begegnung erfolgt, indem ihm Christus bezeugt wird. Um aber zu ergründen, was sich ereignet, wenn der Mensch dabei von Gott getroffen wird, ist zuerst der Mensch selbst ohne diese Begegnung ins Auge zu fassen.... Dem menschlichen Selbstverständnis kann alsdann das Zeugnis von Christo nur unvermittelt entgegengesetzt werden. Denn nur so kann ergründet werden, was sich bei der Begegnung mit Christus ereignet, wenn der Mensch dabei von Gott getroffen wird." (62 / 63) 7 8 9

Vgl. oben C, 3.3.4. (S. 238ff). Dazu Langemeyer, Gesetz 198ff, bes. 199-201. S.u. 1.2.2., S.261ff. Vgl. Slenczka, Studien Bd. 1, 97; 98ff; 109ff.

Der Aufbau der Dogmatik und seine theologischen Implikationen

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In der Ablehnung einer Vermittlung' kehrt die typische, von Eiert mehrfach aufgenommene Erlanger Absage an eine Apologetik, die eine Begründung der christlichen Offenbarungsinhalte auf einen Abgleich mit natürlichen Evidenzen unternimmt, wieder.10 Die Dogmatik insgesamt intendiert somit eine Beschreibung der Antithetik von alter Existenz und der Offenbarung Gottes in Christus; diesem .Zusammenstoß' entspringt ein grundlegender Wandel der Existenz, dessen Darstellung in Abschnitt 6., diesem Zusammenhang entsprechend, auf die Entfaltung der Christologie folgt (5. Abschnitt). Es geht in den Ausführungen über die neue Existenz somit auch nicht um die Analyse eines menschlichen Selbstverständnisses, sondern um die Explikation des ,Zeugnisses von Christo', das dem natürlichen Selbstverständnis entgegengesetzt wird und den Realgrund der neuen Existenz darstellt." Damit wird deutlich, daß der Aufbau dieser Dogmatik im Ganzen unter dem Vorzeichen des durch das Evangelium bewirkten Existenzwandels steht. 1.2. Die zirkuläre Struktur der Dogmatik. 1.2.1. Natürliche und christologisch vermittelte Gotteserkenntnis. Die materiale Dogmatik ist, wie gesagt, ebenfalls von der Christologie strukturiert und auf sie hin konzipiert - erkennbar zunächst im gegenseitigen Verweisungsverhältnis von Gotteslehre und Christologie.12 Unter dem Vorzeichen der ,neuen Existenz' bzw. unter der ,Dialektik' von Gesetz und Evangelium steht auch die Lehre von der Schöpfung, die sich an die Gotteslehre anschließt,13 so daß Eiert im einleitenden Paragraphen der auf die Schöpfungslehre folgenden Christologie resümieren kann: „ M a n kann theologisch nicht von Christus sprechen, o h n e von G o t t zu sprechen. Aber die Lehre von G o t t selbst hat dabei die systematische Priorität. Sie wurde deshalb vorangestellt. Die Lehre von der S c h ö p f u n g u n d v o m Weltregiment schlossen sich sinngemäß an. Inwiefern dies alles vom Evangelium her zu verstehen ist, wurde gezeigt. I n d e m aber das Evangelium selbst n u r durch seinen Sachgehalt gilt, der kein anderer als Christus ist, kann die letzte Begründung der evangelischen Lehre auch von G o t t selbst

10 Zur Erlanger Tradition vgl. Slenczka, Studien I, Einleitung; zur Verbindung zu Eiert s.o. A, S. 32ff und: Eiert, Prolegomena; ders., Irrwege; ders., Kampf. 11 Es ist wohl kaum zufällig, daß Eiert in Glaube 63 nicht vom Gegensatz des alten und neuen Selbstverständnisses, sondern vom Gegensatz des menschlichen Selbstverständnisses und des Wortes von Christo spricht: es gibt, so wird man im Anschluß an die Morphologie (s.o. S. 204flF) und im Vorgriff auf die weiter unten zu entfaltende Rechtfertigungslehre (s.u. 4.; S.305ff) interpretieren dürfen, die neue Existenz nur in der Bindung an das Wort von Christo und als durch dieses .konstituierte' Größe. 12 § 3 6 , vgl. 373. 13 „Die Dogmatik muß von dem Augenblick an, wo sie das Evangelium dem Selbstverständnis des Menschen entgegenhält, von Christus sprechen. Und sie kann nirgends von ihm schweigen bis zur Lehre von den letzten Dingen. Ohne den christologischen Ansatz gibt es keine Lehre von Gott selbst, keine Pneumatologie, keine Trinitätslehre. Er bildet auch die Voraussetzung der Lehre von der Schöpfung, von der göttlichen Vorsehung, von der Erwählung, der Rechtfertigung, von der Kirche und ihren Sakramenten." (355). Vgl. 310.

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erst in der Christologie aufgezeigt werden. In diesem Sinne ist sie der Mittelpunkt der ganzen Dogmatik." (359) Die Christologie ist also genau in dem Sinne das Zentrum der Dogmatik, daß das Evangelium, das die Person Jesu als den mit Gott identischen Menschen zum Gegenstand hat,14 auch die vorangehenden Teile der Dogmatik bereits bestimmt. Dabei ist allerdings dieser Aufbau - erkennbar bereits im voranstehenden Zitat - ambivalent: Die Gotteslehre weist ein ganz eigentümliches Schwanken zwischen einem christozentrischen Ansatz und einer Vermittlung dieses Ansatzes mit Elementen natürlicher' Theologie auf 5 : Eiert insistiert einerseits darauf, daß eine christliche Gotteslehre ausschließlich von der Christologie her möglich sei,16 verbindet diese andererseits aber relativ umstandslos mit dem Postulat einer auch außerhalb von Christus gegebenen Offenbarung des Wirkens und damit des Wesens Gottes einerseits bzw. mit einem relativ freihändig entworfenen Gottesbegriff (246); von daher ist das eben gebotene Zitat genauer zu lesen: Es geht um die Entfaltung des D e m o n strativs' des Evangeliums,17 um das ,Gott war in Christo', in dem eine theologische Christologie kulminiert, die aber eben zu ihrem Verständnis ihrerseits ein Verständnis des mit ,Gott' Gemeinten bereits voraussetzt („Aber die Lehre von Gott selbst hat dabei die systematische Priorität.", vgl. Zitat oben). Andererseits wird dann die Fortsetzung des Satzes („Indem aber das Evangelium selbst nur durch seinen Sachgehalt gilt, der kein anderer als Christus ist, kann die letzte Begründung der evangelischen Lehre auch von Gott selbst erst in der Christologie aufgezeigt werden.") ausgesprochen schwer verständlich, da er ja auf den ersten Blick umgekehrt die Gotteslehre an die Christologie zu binden scheint und darin dem Anspruch Elerts, eine Gotteslehre unter der Voraussetzung der Christologie zu entwerfen, entspricht. 18 Ohne daß Eiert das ausdrücklich anmerkt, zeichnet sich hier eine zirkuläre Struktur bereits der Gotteslehre ab, die in irgendeiner Weise ihre spezifisch christliche Gestalt und so ihre .letzte Begründung' (vgl. Zitat) erst von der Christusoffenbarung her erhält, die ihrerseits aber ungeachtet dessen Bezug nimmt auf eine vorgängige Rede von Gott, die sie aufnimmt und umbestimmt. Diese Bewegung wechselseitiger Interpretation entspricht der Weise, in der auch die Christusoffenbarung insgesamt Bezug nimmt auf ein ,Selbstverständnis des Menschen 14 142; 244, vgl. 251; Eiert gibt sein Verständnis des Evangeliums gern mit der Passage 2 Kor 5,18ff wieder, in der er das Verhältnis von Person und Werk Christi (Gott war in Christus - und versöhnte die Welt mit sich selbst) und die Zuordnung dieses Demonstrativs zum Adhortativ (darum bitten wir an Gottes statt: Laßt euch versöhnen mit Gott) sowie den Charakter dieses Wortes als Wort Gottes (an Gottes statt) zum Ausdruck gebracht sieht: vgl. nur: 144f; 146 und ff; 249; 254; 370; 405; 4l5f; 51 lfetc.pp (vgl. auch Register). Vgl. auch Eiert, Schrift 6f; Lehre2 § 26 (41); § 28 (43 und f); § 31 (470; u-ö. 15 Vorläufig vgl. oben 241 218 sowie Hauber, Christologie 130f. 16 244; 249. 17 S.u. 2.2.1., S. 270ff und oben B, 3.2., S. 113ff. 18 Vgl. 249ff.

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unter der Verborgenheit Gottes': Offenbar ist genau dieses Selbstverständnis des Menschen und das mit ihm gesetzte (unausdrückliche) Verständnis Gottes der Bezugspunkt der Identifikation Christi mit Gott 19 und so der Grund der systematischen Priorität' der Gotteslehre vor der Christologie, zugleich aber ein Modus des Selbst- und Gottesverständnisses, das — als vorchristliches - der Klärung und der Neubestimmung auf der Basis der Christologie bzw. des Evangeliums bedarf.20 1.2.2. Die Grundstruktur der Elertschen Dogmatik. Die Gotteslehre ist somit von eben der Struktur geprägt, die ich bereits im Rahmen der Morphologie für das Verhältnis von natürlichem Weltbild und christlicher Weltanschauung aufgewiesen hatte: Es gibt ein natürliches, in sich widersprüchliches, wesentlich im Gegensatz von Schicksal und menschlichem Selbstbestimmungsanspruch bestehendes Selbstverständnis, das eine Erfahrung Gottes im Modus der Verborgenheit und der möglichen Unausdrücklichkeit darstellt.21 Diese Erfahrung Gottes stellt einerseits den Hintergrund der Behauptung dar, daß ,Gott in Christus' war - dieser Gott war in Christus - , so nun aber, daß erst von dieser Behauptung und ihren existentiellen Implikationen her das natürliche Existenzverständnis überhaupt als Erfahrung Gottes identifizierbar wird, indem es in Christus zu einer Neubestimmung eben dieses Gottes kommt. 22 Mit dieser Feststellung ergibt sich also die These, daß - wie im zuletzt gebotenen Zitat explizit die Lehre von der Schöpfung, so auch - die Gottes" Dieser Gedanke spielt im Rahmen der Christologie allerdings keine ausdrückliche Rolle die Einheit Christi mit Gott ist hier mit der eben entfalteten Antithetik innerhalb der Gotteslehre an keiner Stelle ausdrücklich vermittelt. 20 Vgl. dazu den Einsatz der auf die Trinitätslehre folgenden Lehre vom ,Wesen' Gottes, dessen Erkenntnisgrund offenbar die mit der Existenz des Menschen schon gesetzte Erkenntnis Gottes einschließt - wobei Eiert eben festhält, daß es sich dabei um ein als Offenbarung Gottes nicht notwendig explizit erkanntes Selbstzeugnis Gottes handelt: „Er bezeugt sich [i.e. über seine trinitarische Selbstbezeugung hinaus, vgl. oben Anm. 3] durch sein gesamtes Wirken, durch Schöpfung und Gericht, durch Schicksalsmächtigkeit, Weltregiment und durch Zwiesprache mit den einzelnen. Das alles ist Selbstzeugnis Gottes, auch wenn es als Gottes Wirken gar nicht erkannt oder anerkannt, wo es also von dem oder den dadurch Betroffenen gar nicht als .Offenbarung' vernommen wird. Wenn daher in der Trinitätslehre von Gottes ,Wesen' gesprochen wurde, so konnte es nur in aller Vorläufigkeit geschehen, mit dem Vorbehalt, daß der Begriff der Usia Gottes seine Sinnfiille erst aus seinem gesamten Selbstzeugnis erhalten kann." (278). 21

§§6-16. Mit diesem Gedanken und nur so erklärt sich die merkwürdige Tatsache, daß Eiert im Rahmen des IV. Kapitels die Abfolge .Evangelium und Gesetz' verfolgt: Das Gesetz erweist sich wesentlich als Klärung des natürlichen Existenzverständnisses aus der Perspektive seines Gegensatzes zur Offenbarung Gottes in Christus — vgl. 183: „Damit ist aus dem Tatbestande unserer natürlichen Existenz der gleiche Punkt erreicht, auf den die neutestamentliche Lehre vom Gesetz Gottes führt.": Es ist das von Christus her interpretierte Gesetz, das die Uneindeutigkeit der vorchristlichen Situation aufklärt, in der es eben noch möglich ist, die gesamte Erfahrung des Menschen unter der Verborgenheit Gottes auch .atheistisch' zu deuten. Vgl. 180-184 und die dort unschwer erkennbaren Bezüge auf die §§ 6-16. Dazu s.u., S. 284-286. 22

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lehre und damit die Inhalte der Dogmatik insgesamt unter das Vorzeichen des Gegensatzes der Verborgenheit Gottes und seiner Offenbarung zu stehen kommen: Im Rahmen der Gotteslehre, im Rahmen der Schöpfungslehre und in der Eschatologie kommen alle Sachverhalte als der natürlichen Existenz erschlossene und als in Christus neubestimmte zur Sprache, so nun aber, daß auch die theologischen Implikationen der natürlichen Existenz erst von der Offenbarung in Christus her und damit aus der Perspektive des ,Existenzwandels' ihre Eindeutigkeit als Gotteserfahrung erhalten und faßbar werden. Die Erschlossenheit der Inhalte unter der Perspektive der natürlichen Existenz' ist dabei aber allenthalben die Voraussetzung für das Verständnis der Inhalte des Evangeliums, durch die sie neubestimmt werden. 1.3. Die Christologie als das organisierende Zentrum der Dogmatik. Erst mit dieser,lectio in optimam partem' wird deutlich, inwiefern Eiert einerseits den Anspruch erheben kann, eine streng christozentrische Dogmatik zu entwerfen, auf der anderen Seite aber dieser christozentrischen Theologie nicht nur mit einer systematischen Priorität' der ,Lehre von Gott selbst' vor der Christologie verbinden (s. Zitat oben S. 259), sondern auch mit einem im natürlichen Selbstverständnis des Menschen vollzogenen Gottesverhältnis konfrontieren und dabei diesem Selbstverständnis des Menschen auch eine konstitutive — weil erschließende — Funktion fur die Inhalte der Dogmatik zuweisen kann: Alle diese auch der natürlichen' Existenz erschlossenen Bestimmungen werden erst in ihrer Interpretation unter der Perspektive des Existenzwandels zu Inhalten der Dogmatik, und zwar zu Inhalten, die der Offenbarung in Christus nicht als deren Verifikationsgrundlage, sondern als deren - in dieser Offenbarung selbst vorausgesetzter - Gegensatz vorausgehen. 23 Material bestimmt also zwar die Christologie, diese aber im Rahmen der Antithetik der ,Verborgenheit' Gottes und seines Offenbarseins in Christus und des entsprechenden Existenzwandels alle Teile der Dogmatik, wobei der systematische Grundgedanke aber von der Christologie getragen ist: Die Anlage ist offenbar so gedacht, daß der 5. und 6. Abschnitt das Zentrum bildet, in dem die Christologie unter den Titeln der Person und des Werkes Christi, die Lehre von den Medien des Heils in Gestalt der Abendmahlslehre, der Ekklesiologie und der Tauflehre, und schließlich der Existenzwandel in Gestalt der Rechtfertigungslehre zur Darstellung kommen. 24 Alle übrigen Ab23

141, vgl. 138f. Fünfter Abschnitt: Kap. XI: Die Person des Versöhners; Kap. XII: Das Werk des Versöhners; Kap. XIII: Das Abendmahl. Sechster Abschnitt: Kap. XIV: Die Kirche; Kap. XV: Die Taufe; Kap. XVI: Paraklese und Rechtfertigung. Zur Zuordnung der Sakramente: 433f; zur Kirche und den Sakramenten als Medien des Evangeliums: 433f. Die Begründung dafür, daß die Behandlung des Abendmahls und der Taufe auf zwei Abschnitte verteilt wird, ist wenig einsichtig: Der Christ werde im Abendmahl auf Christus direkt, in der Taufe auf den Leib Christi und auf das Werk des Heiligen Geistes bezogen (4330 - erstaunlich angesichts der Tatsache, daß Eiert schließlich auch die Verkündigung der Kirche als direkte Begegnung mit Christus bezeichnen will (144) und gera24

Der Aufbau der Dogmatik und seine theologischen Implikationen

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schnitte stehen unter der Prämisse dieses Bezuges von Evangelium und Glaube,25 und zwar so, daß sie unter der Antithetik von Offenbarung und Verborgenheit bzw. ,alter' und ,neuer' Existenz sowohl die Voraussetzung als auch Folgebestimmungen der Christologie darstellen - das gilt für die der Christologie und der Lehre vom Existenzwandel vorausgehende Gottes- und Schöpfungslehre gleichermassen wie für die dem genannten Zentrum folgende Eschatologie. Der hier vorgetragene Deutungsversuch löst zum einen einigermassen die von einigen Interpreten notierte Aporie der Verhältnisbestimmung einer emphatischen Behauptung eines christozentrischen Ansatzes einerseits und einer konstitutiven Bezugnahme auf eine dem natürlichen Menschen erschlossene Gotteserkenntnis 26 ; es ist aber eindeutig eine über Elerts Intention, der diesen Gedanken nirgends angedeutet hat,27 hinausgehende Interpretation - ich halte nicht dafür, daß Eiert hier überhaupt ein Problem wahrgenommen hat. Zum anderen aber erlaubt die Zuordnung, wie sich zeigen wird, Elerts Theologie als eine Neubestimmung des Verhältnisses der Erlanger Tradition zur Apologetik zu bestimmen - darauf laufen die folgenden Analysen hinaus. 1.4. Der Ausgangspunkt der Dogmatik. Der komplexe Zusammenstoß der - als Neubestimmung der Existenz in der Neubestimmung der Gotteserfahrung gedeuteten - Offenbarung Gottes in Christus mit dem ,Selbstverständnis des Menschen unter der Verborgenheit Gottes' bestimmt also den Gesamtaufbau der Dogmatik. Der Ausgangspunkt ist — wie oben dargestellt28 - die Frage nach dem ,Grund' des ,Sollgehaltes' der kirchlichen Verkündigung. Der Dogmatiker kommt von der Erfahrung dieser Verkündigung her und hat deren Inhalt als für sich geltend anerkannt; von dieser Erfahrung her (und so ,νοη unten') entfaltet er den ,zureichenden Grund' des kirchlich als Norm der Verkündigung geltenden Dogmas.

de unter der Prämisse der Vermitdung des Evangeliums, das natürlich auch das Zentrum der Sakramente bildet (vgl. 434ff), das Bezogenwerden auf Christus im Falle der Taufe nicht weniger ausdrücklich sein dürfte als im Abendmahl. 25 Zur Identifikation der christologischen Paragraphen mit dem .Evangelium' vgl. 358f; 405 mit § § 1 8 und 19; zum Zusammenhang von Christologie und Rechtfertigungslehre unter dem Titel .Evangelium und Glaube' vgl. § 20 mit § 82f. Dazu näher unten. 26 Z.B. bei Hauber (Zorn 124fF; Christologie 130f) oder bei Langemeyer (Gesetz 198ff). Vgl. dazu die oben (S. 241218) angegebene Literatur. 27 Am ehesten könnte man die Passagen, in denen ein Inhalt - etwa die Geschichte (§§ 48f) unter der Prämisse des Gesetzes und des Evangeliums zur Darstellung kommt, als Hinweis darauf nehmen - allerdings wird hier die doppelte Funktion des unter dem Vorzeichen des Gesetzes erschlossenen Phänomens nicht reflektiert, nach der es zunächst Voraussetzung für das Evangelium, dann aber eben nur unter dem Vorzeichen des Evangeliums als dessen Gegensatz erschlossene und eindeutige Voraussetzung ist (auch 344f nicht!). - Ein - oben bereits notierter (Anm. 22) Hinweis auf diese Struktur ist sicher die Aufnahme der Inhalte des natürlichen Selbstverständnisses (§§ 6-16) in der Passage zum Gesetz (§ 24 und 25) 28

S.o. B, 3.3.2., S. 116ff.

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Dieser Ansatz impliziert zweierlei: Erstens verbindet das Anliegen, den als verbindlich formulierten ,Sollgehalt' des Kerygma - das Dogma als Lehre im Ausgang von der Situation des Getroffenseins durch die Verkündigung als Wort Gottes zu rekonstruieren und so zu verifizieren, den Ansatz Elerts mit dem von Ihmels und mittelbar mit dem Franks - darauf habe ich bereits hingewiesen (s.o. B, 3.3.). Damit hängt ein ebenfalls bereits angedeuteter Punkt unmittelbar zusammen: Die Dogmatik hat das Ziel, kritisch nach dem Grund des kirchlichen Dogmas, das die öffentliche Verkündigung der Kirche normiert, zu fragen. Diesen Grund ermittelt der Dogmatiker in der ebenfalls bereits dargestellten Weise so, daß er im Ausgang vom Getroffensein durch das Evangelium das Dogma rekonstruiert' - er beantwortet so die Frage nach dem Grund der Gewißheit der kirchlich formulierten Glaubensinhalte in der bei Ihmels vorgegebenen Weise durch den Rekurs auf die Situation ihrer Erfahrung unter der Verkündigung des Evangeliums.29 Zugleich aber fragt Eiert nach den Grundlagen der Geltung dieses Evangeliums (welche Autorität verbürgt mir das? - 60f); das Evangelium erweist sich dabei als autorisiert durch Christus - der aber wieder die Autorität Gottes selbst darstellt (ebd.). Es ist unschwer erkennbar, daß nicht nur in dieser Frage nach dem Grund der .Geltung' des Evangeliums und in der Frage nach dem Grund der Lehrinhalte der Kirche die Frage der Erlanger Theologen nach der Gewißheit der Glaubensinhalte präsent ist. Darüber hinaus ist nämlich auch in der spezifischen Antwort Elerts - dem Rekurs vom kirchlichen Dogma auf die durch das Evangelium vermittelte Begegnung mit Christus, und hier der Begründung des dort entstandenen Glaubens in diesem Inhalt selbst — die Antwort Ihmels' nachgezeichnet, nach der es das Wort Gottes selbst ist, das die Gewißheit so begründet, daß es sich in der Glauben wirkenden Verkündigung als solches durchsetzt.30 Es hat sich ferner bereits angedeutet, daß die Funktion des Gesetzes als Instanz der Erkenntnis der Verlorenheit vor Gott - wie bei Ihmels, so auch bei Eiert — die Voraussetzung darstellt, auf die hin die Verkündigung ergeht und gleichsam der Problemhorizont ist, vor dem sie ihre Überzeugungskraft entfaltet. 31 Die Grundfrage der Erlanger Theologie nach der .Gewißheit' hat sich bei Eiert somit in die Frage nach dem Grund der kirchlichen Lehrinhalte und nach der die Geltung des Evangeliums verbürgenden Autorität modifiziert; die Antwort auf diese Frage wird, wie in der Erlanger Tradition insgesamt, nicht durch den Abgleich mit dem natürlichen Wahrheitsbewußtsein, sondern - in unmittelbarer Nähe zur Position Ihmels' - durch den

29 Hier wiederholt sich im Grunde die Gedankenfigur, die Eiert in seiner theologischen Licentiatenarbeit, besonders aber in dem oben (B, 1.1., S. 75 ff) referierten Aufsatz zur Religionspsychologie entfaltet hatte, in dem er einen verifizierenden Rückgang von der im Dogma formulierten Wahrheit auf die nur in individueller Erfahrung gegebene Wirklichkeit des lehrhaft Dargestellten konzipierte. 30 Slenczka, Studien Bd. 1, 264ff; 268f; 276-285. 31 Dazu näher unten 2., S. 266ff.

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Verweis auf die Verkündigung gegeben, unter der sich die Inhalte dadurch vermitteln, daß sie Glauben wirken. Zweitens: Der Glaube als Korrelat des Evangeliums ist die beständige Prämisse dieser gesamten Dogmatik, nicht etwa das Ergebnis, auf das diese Dogmatik hinführen oder von dem sie überzeugen will. Die Dogmatik selbst ist Rechenschaft (s.o. S. 259f) von den Gründen dieses Glaubens, indem sie die ihm (und nur ihm) erschlossenen Gegenstände entfaltet, in denen sich dieser Glaube selbst begründet, sich so als Lehre objektiviert und die kirchliche Lehre verifiziert. Hier deutet sich eine weitere Grundstruktur an, deren Bedeutung für die hier verfolgte Fragestellung auf der Hand liegt und die Eiert unmittelbar in die Tradition der Erlanger Theologen im allgemeinen stellt bzw. als Schüler Ihmels' im besonderen ausweist: Die Dogmatik ist der Vollzug des Glaubens, der Rechenschaft ablegt von dem Grund, von dem er herkommt und der ihm in der dieser Rechenschaft vorausliegenden, durch die Verkündigung vermittelten Erfahrung erschlossen ist. Es ist sofort erkennbar: Der Glaube erweist sich als Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung einer Realität, die er seinerseits als Bedingung der Möglichkeit nicht nur seiner selbst als Glaube, sondern als Existenzbedingung überhaupt erfaßt. Die Vermittlung des noetischen mit dem konstitutiven Verhältnis wird die entscheidende und wie sich zeigen wird — bei Eiert nur unzureichend wahrgenommene und gelöste Fragestellung sein müssen. 1.5. Zusammenfassend ergibt sich folgendes: Elerts Dogmatik ist als eine komplexe Verbindung eines christozentrischen Ansatzes mit der Behauptung einer der Offenbarung in Christus vorausgehenden Selbstbezeugung Gottes interpretierbar: Eiert nimmt die Selbsterfahrung der natürlichen Existenz aus der Perspektive der Christusoffenbarung - als deren Gegensatz - nicht nur als Voraussetzung des Verständnisses der Christusoffenbarung auf, sondern klärt sie als Erfahrung Gottes allererst auf. Die damit gesetzte Ambivalenz aller Wirklichkeit unter der Alternative der Verborgenheit und der Offenbarung Gottes, des Zornes und der Gnade, der natürlichen Existenz und der Existenz im Glauben prägt alle materialen Teile der Dogmatik; Eiert vollzieht damit den bereits im Kontext der Morphologie aufgewiesenen zirkulären Bezug auf die natürliche Erfahrung nach, die der von der Offenbarung her in seinem eigentliche Sinn erschlossene antithetische Bezugspunkt und so die Voraussetzung dieser Offenbarung ist. Diesen Bezug habe ich bereits als Erbe der Erlanger Tradition, insbesondere der Hunzingerschen Zuordnung des Christentums als Religion und als Weltanschauung, ausgewiesen (s.o. C, 4.1.2., S. 246ff). Ein zweites der Erlanger Tradition verdanktes Moment der Dogmatik ist die Grundvoraussetzung, nach der die Dogmatik der Ausweis eines Inhaltes ist, der nur dem Glauben erschlossen ist und dessen Bedingung der Erkenntnis also der Glaube ist, der aber gleichzeitig in diesem Inhalt seinen Grund findet und expliziert. Das der Situation der Verkündigung entspringende Er-

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schlossensein der Gegenstände des Glaubens im Glauben ist die Voraussetzung und das Kriterium der beständig zu erneuernden Uberprüfung des Kerygma.

2. Gesetz und Evangelium. Die Prolegomena der Dogmatik 2.1. Gesetz und Evangelium als Instanzen der unmittelbaren Begegnung mit Gott. 2.1.1. Die Identifikation des Abschnitt 2. als,Prolegomena'. Als das eigentliche Zentrum der Elertschen Dogmatik gilt gemeinhin die Passage, in der er das Verhältnis von Gesetz und Evangelium erarbeitet.32 In der Tat bildet diese Passage den ersten Teil des im Sinne des Anliegens Elerts entscheidenden zweiten Abschnittes der Dogmatik, in der Eiert unter dem Titel „Der Grund des kirchlichen Dogmas" im Anschluß eben an die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium (Kap. IV) in zwei weiteren Kapiteln das Problem der Geschichtlichkeit Jesu (Kap. V) und die Schriftautorität (Kap. VI) behandelt. Inhaltlich entspricht der Abschnitt den dogmatischen Prolegomena. Das wird insbesondere dann deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, daß das eigentliche Thema des ersten dieser drei Kapitel die Offenbarung 33 ist und somit unter Einschluß der .Vorfragen' über die Aufgabe der Theologie sowie des ersten Abschnittes über das Selbstverständnis des Menschen unter der Verborgenheit Gottes - die Themen der klassischen Prolegomena (de theologia, de religione, de revelatione, de scriptura sacra) verhandelt und um das neuzeitliche Thema der Geschichtlichkeit Jesu erweitert werden.34 2.1.2. Die Intention der Passage zu Gesetz und Evangelium. Eiert will - wenn man den in Frage stehenden Abschnitt nun vom Thema der .Offenbarung' her liest - den Offenbarungsbegriff unter das Vorzeichen der Unterscheidung 32 Vgl. etw die Einschätzung und Gewichtung der Rezensionen etwa von Peters (Kritisches 53); Noth, Randbemerkungen 157f; Bergdolt, Grundlinien 450f. 33 Vgl. 138; § 22f. 34 Vgl. den Aufbau der ,Grundlegung der Dogmatik' bei Althaus (Wahrheit), der ebenfalls diesem Schema folgt; sodann von den klassischen Dogmatikern: Quenstedt, Theologia: cap. 1: de theologia; cap. 2: De objecto theologiae (= de religione); cap. 3: de principio theologiae (= de revelatione); cap. 4: de scriptura sacra; cap. 5: de articulis fidei. Oder Hollaz, Examen: cap. 1: de theologiae constitutione, cap. 2: de religione (ab q 2: christiana!; ab q 12: de articulis fidei)·, cap. 3: de theologiae principio (= de revelatione, ab q 2: de scriptura sacra). Der Grund für den Wegfall des Abschnittes ,De articulis fidei' bei Eiert liegt am Elertschen Programm einer Prüfung des kirchlichen Dogmas, 46, s.o. Merkwürdigerweise stellt Eiert in dem conspectus, dem Uberblick über die Abfolge der theologischen loci, den er der Kurzdogmatik von 1924 nach- und von 1926 voranstellt (Lehre '80f; Lehre 2 XIII), die loci in der Abfolge ,de theologia; de scriptura sacra; de revelatione (!); de symbolis ecclesiasticis' dar; diese Abfolge einer Ordnung der Lehre von der Offenbarung hinter die Lehre von der Schrift finde ich in keiner der mir bekannten klassischen lutherischen Dogmatiken.

Gestz und Evangelium. Die Prolegomena der Dogmatik

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von Gesetz und Evangelium stellen;35 wie im entsprechenden Abweis eines die Unterscheidung von Zorn und Gnade übergreifenden Gottesbegriffes 36 geht es darum, den Zusammenhang der Rede von Gott mit der Erfahrung Gottes in Gesetz und Evangelium zu wahren und zu verhindern, daß diese Erfahrung Gottes auf einen den Zorn und die Gnade begründenden und gegen diesen Gegensatz gleichgültigen Gottesbegriff hin hintergangen wird. Der Grund für diesen Vorgang liegt darin, daß Eiert in diesem Rückgang auf einen Gott .hinter' Zorn und Gnade den Versuch des Menschen erkennt, sich aus der Entscheidungssituation herauszustehlen, in die der Mensch vor Gott gestellt ist: „Gibt es keine Offenbarung ,an und für sich', sondern nur in der Zwiespältigkeit von Gesetz und Evangelium, so gibt es auch keine Erkenntnis Gottes ,an und fur sich', sondern nur im konkreten GetrofFenwerden durch Gesetz und Evangelium. Es besteht ein Unterschied zwischen Erkennen und Kennen. Kenntnis kann ohne Risiko, d.h. ohne persönlichen Einsatz des Subjektes erworben werden ... In diesem Sinne kann es vielleicht Kenntnis, niemals aber Erkenntnis Gottes geben. Das Erkennen entspricht im neuen Testament dem Offenbarwerden." 3 7

Es ist die Differenz zwischen dem Verharren in der Distanz, die den bloß intellektuellen Zugang zum Phänomen Gottes bzw. der Offenbarung kenn35 „Daraus [i.e. aus der vorangehenden Analyse des biblischen Sprachgebrauches] folgt, daß der Begriff der Offenbarung selbst dann, wenn darunter ausschließlich ein Offenbarwerden Gottes verstanden wird, den Gegensatz von Evangelium und Gesetz nicht aufheben und nicht einmal überbrücken kann. Es ist nur sinnvoll, beide darunter zusammenzufassen, wenn man dadurch die ganze Schärfe des Gegensatzes ausdrücken, nicht aber, wenn man ihn dadurch verschleiern will." (169 im Kontext von 162-176). 36 Vgl. 280; 281; 288ff; 296-298. 37 176f. Während das den § 24 einleitende Zitat so verstanden werden könnte, daß Eiert die zunächst festgestellte Dialektik der Offenbarung \on der erst daraus folgenden Dialektik der Erkenntnis Gottes abhängig sieht, wird im vorangehenden Paragraphen, in dem die Dialektik der Offenbarung begründet wird, deutlich, daß Eiert die Dialektik von Zorn und Gnade als unmittelbares Korrelat der entsprechenden existentiellen Dialektik betrachtet und die Differenz zwischen der Offenbarung unter dem Vorzeichen dieser Dialektik und der Offenbarung als Vermittlung von Kenntnissen eben in jenem existentiellen Bezug des Offenbarungsinhaltes sieht: „Das dialektische Verhältnis zwischen der Offenbarung des Gesetzes und der Offenbarung des Evangeliums wird vielmehr erst verstanden, wenn beide eben nicht nur Offenbarung, d.h. Enthüllung von Geheimnissen, sind. Beide sind keineswegs nur Mitteilung von irgend etwas, wobei es uns überlassen bliebe, welcher von beiden wir den Vorzug geben. Beiden haftet vielmehr das Merkmal der Geltung an, der wir uns keinesfalls entziehen können." (172) Entsprechend charakterisiert Eiert den Zweifler, der als Bedingung für die Anerkennung des Gesetzes bzw. des Evangeliums Gewißheit über die Existenz des hier redenden Gottes verlangt und so nach dem Gott als .Bedingung' des Evangeliums fragt, als denjenigen, der in der .Mittelpunktexistenz' verharrt: „Er wird einwerfen, es sei gerade das Fragliche, ob hier wirklich einer redet, der kein Gedankenprodukt ist.... Wir können darauf nur mit der Gegenfrage erwidern, warum sich denn der Zweifler nicht vom Evangelium gemeint weiß. Denn wüßte er, daß er gemeint ist, dann bestünde ja auch für ihn die Geltung. Er könnte antworten, daß er eben nur Beobachter sein wolle. Das heißt aber, daß er in fragender Haltung verharrt, die ihre Entscheidung bis zur Beantwortung der Frage, ,ob Gott ist', vorbehält... Er will sich also aus seinem Mittelpunktsdasein nicht hinauswerfen lassen, mit dem er seine irdische Existenz zu sichern glaubt." (155). Vgl. auch 289f; 280.

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zeichnet, und dem existentiellen Getroffenwerden von Gesetz und Evangelium, die Elerts Ablehnung einer Überordnung der Offenbarung bzw. eines natürlichen Gottesbegriffes über die Antithetik von Gesetz und Evangelium motiviert.38 Verbindet man dieses Anliegen mit dem Titel des Abschnittes (,Der Grund des kirchlichen Kerygmas') und vermittelt man diesen Titel mit dem Anliegen der Dogmatik, nach dem Grund des kirchlichen Dogmas zu fragen — und zwar im Ausgang ,νοη unten', von der Situation des Getroffenseins durch das Kerygma als Wort Gottes39 - , dann wird deutlich, daß diese Paragraphen eben mit jener Ausgangssituation der Dogmatik und in diesem Sinne mit dem Grund des kirchlichen Dogmas befaßt sind: mit dem Menschen unter der Anrede durch das Evangelium, und mit der vom Evangelium her als gegensätzliche Erfahrung Gottes erfaßten Situation unter dem Zorn Gottes. Systematisch entspricht das Kapitel IV der Elertschen Dogmatik dem bei Frank und in der dargestellten Weise modifiziert bei Ihmels projektierten Rückgang von den theologischen blossen Begriffen zu der Erfahrung, in der sich das mit den Begriffen Bezeichnete im Original zeigt: zu der Erfahrung also der natürlichen Situation des Menschen und der Verkündigung des Evangeliums als Manifestationen des Wirkens Gottes. Damit ist der in den Überlegungen Elerts in § 5.1 markierte ,tiefste Punkt' erreicht, an dem der Dogmatiker bei der Frage nach dem Grund des kirchlichen Dogmas anzusetzen hat: bei der Tatsache nämlich, daß das dieses Dogma vermittelnde Kerygma sich im Vollzug dem Dogmatiker als Wort Gottes erwiesen hat und weiter erweist.40 Allerdings — dieser Punkt wird noch wichtig werden — wird bei Eiert diese Erfahrung ambivalent bestimmt: Es handelt sich um eine ausdrücklich doppelte Erfahrung Gottes, die ausdrücklich nicht nur der Christ, sondern eben auch der Nichtchrist unter dem Vorzeichen des Gesetzes macht, das nicht nur als psychologische Anknüpfung', sondern als notwendiger Gegenpol der Verkündigung des Evangeliums entgegengesetzt und ihr so koordiniert ist.41 2.1.3. Glaube und Glaubensgrund. Eiert zeichnet in der genannten, unter anderem Aspekt bereits analysierten (s.o. S. 113ff) Passage zum Verfahren der Dogmatik einen sukzessiven Rückgang in der Frage nach dem Grund des Dogmas nach, der zunächst vom Kerygma zu der dieses Kerygma mittels des Dogmas normierenden Kirche weist, die selbst aber nicht als die Verkündigung inhaltlich normierende Autorität in Frage kommt: „Sie will gar nicht selbst die Autorität sein, die ihrem Kerygma fraglose Gültigkeit verleiht. Sie begründet seinen Vollzug mit dem Auftrag Christi und seinen Sachgehalt

38 35 40

120. 41

S.o. C, 1.3..S. I48ff. Vgl. 60f, dazu oben 1.4., S. 263ff und B, 3.3.2., S. 116ff. Vgl. 60f. Zum Ansatz der Dogmatik: 60; zum .tiefsten Grund': 61. Dazu oben S. 118179 und 181ff.

G e s t z u n d Evangelium. D i e P r o l e g o m e n a der D o g m a t i k

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mit d e m Z e u g n i s des neutestamentlichen K a n o n s . Sie weiß sich also selbst in A b h ä n g i g keit von einer anderen Autorität. U n d auch Christus u n d der neutestamentliche K a n o n sind fiir sie nur Autorität, weil sie darin die Autorität G o t t e s v e r n i m m t . " (61).

Von der Kirche wird der nach dem Grund des Dogmas Fragende also zunächst auf den Auftrag Christi und das Zeugnis der Apostel verwiesen, von dort aus auf den Inhalt und Vollzug der Verkündigung autorisierenden Gott. In der Abfolge des IV. bis VI. Kapitels werden in Gestalt der Quellen der Verkündigung eben diese Instanzen der Autorität behandelt: In Kap. V. wird die Frage nach der Verbürgung der Geschichtlichkeit Jesu behandelt, und zwar eben genau unter dem Aspekt der Frage, wie eine historische Tatsache selbst Offenbarung Gottes (§ 26), wie die Exzeptionalität dieses Gegenstandes vergewissert werden (§ 27) und wie dieser vergangene Gegenstand der Grund des gegenwärtigen Glaubens sein kann (§ 28). Eiert beantwortet eben diese Fragen im wesentlichen mit dem Verweis auf die Kraft dieses Geschehens, im Medium der Verkündigung in der Gegenwart Glauben und so Gewißheit zu wirken und sich auf diese Weise als Offenbarung Gottes zu vergewissern. 42 In Kap VI. behandelt Eiert das Zeugnis der Schrift und begründet deren Autorität im Rekurs auf den Inhalt der Schrift - in ihrem Charakter als Zeugnis von Christus - , betrachtet als Grundlage des richtigen Verständnisses derselben als Wort Gottes die Bereitschaft, sich von deren Inhalt gemeint zu wissen und sich dem hier redenden Herrn auszuliefern'. 43 Das heißt: Die als Instanzen für die Gültigkeit der kirchlichen Verkündigung in Anspruch genommenen Größen erweisen sich ,im Glauben' als Instanzen der Gültigkeit, dann nämlich, wenn sie — im Glauben — als Medien der Wirksamkeit bzw. der Gegenwart Gottes erfaßt sind; sie sind Medien der Wirksamkeit und der Gegenwart Gottes für den Glauben, der die in ihnen wirkende und gegenwärtige Autorität Gottes erfährt und sich diesen Medien als Medien Gottes unterstellt. Daß diese Entfaltung zirkulär ist, ist nur in der Verbindung mit dem Grund dafür interessant:44 als Indiz dafür, daß Eiert den Glauben ebenso wie die bereits behandelten Vertreter der Erlanger Theologie als ein nicht durch den Abgleich mit dem rationalen Uberzeugungspotential

42 Vgl. zu § 26 (Problem der Zufälligkeit): 194 - das Zufällige bezeugt sich selbst in der Begegnung mit ihm; ; zu § 27 (Problem des historischen Zweifels): 2 0 0 f - das Getroffensein von der Selbstbezeugung des Auferstandenen als Grund der Überwindung des Zweifels am Inhalt des Kerygma; § 28 (Problem des historischen Abstandes): 206 - Verweis auf das Werk des Heiligen Geistes, durch das Gott das Zeugnis von Christus auf gegenwärtigen Glauben hin erschließt. 4 3 Vgl. 238, zur Autorität §§ 29 und 30. 44 Zirkulär ist bereits die genannte Passage aus den .Vorfragen': Unter der Voraussetzung, daß sich ,der Dogmatiker' dem Kerygma und seinem Anspruch als Wort Gottes (60) unterstellt, stellt sich die Frage nach der Autorität' des Kerygma nur noch in höchst unernsthafter Weise (60f); auch der Verweis auf den Glauben, der die Schrift oder das Zeugnis der Apostel als Autorität erfaßt oder dem historischen Zweifel nicht unterliegt (§ 27), ist als Antwort auf die von einem nicht Glaubenden gestellte Frage höchst unbefriedigend, als Antwort auf die Frage eines Glaubenden höchst überflüssig. Vgl. auch Ratschow, Christus 6 6 - 6 8 .

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Der christliche Glaube

der Glaubensgegenstände, sondern lediglich durch den Verweis auf die Situation der Begegnung, in der sich diese Gegenstände als Ort der Gegenwart und der Erfahrung Gottes imputieren, begründbar betrachtet. So verweist Eiert im Falle der Vergewisserung der Schrift auf deren Inhalt - Jesus Christus - im Falle Christi aber auf das diesen vergegenwärtigende und als Wort Gottes selbst verbürgende Werk des Heiligen Geistes, der Christus eben so vergegenwärtigt, daß er in der Verkündigung von ihm Glauben wirkt.45 Das Zentrum dieses Abschnittes (Abschnitt 2.) stellt also in der Tat das den beiden genannten Kapiteln vorangehende Kapitel IV (Gesetz und Evangelium) dar, da hier dieser ereignishafte Zusammenhang von Verkündigung des Evangeliums und Glaube selbst zur Darstellung kommt, auf den die gegenständlichen Instanzen - die Selbstoffenbarung Gottes in Christus ebenso wie die Schrift: - verweisen: Hier verifiziert sich sowohl die Lehre von der Schrift als Wort Gottes, die Verkündigung der Apostel als auch die Christologie selbst. Das Zentrum der Theologie Elerts ist diese Passage damit aber eben genau darum, weil Eiert ein Erfahrungstheologe im Sinne der Erlanger Tradition ist: Alle Inhalte und Medien des Glaubens haben den Grund ihrer Gewißheit darin, daß sie sich in der unmittelbaren Begegnung mit ihnen der christlichen Erfahrung im Bewirken eines Existenzwandels verbürgen. 2.2. Evangelium und Glaube. 2.2.1. Der Aufbau des Kapitel IV. Dieser Zusammenhang der Selbstmitteilung Gottes unter dem Vorzeichen von Gesetz und Evangelium mit einer existentiellen Wirkung dieser Selbstmitteilung ist nun das Element, das die Paragraphen dieses Kapitels zusammenhält und strukturiert: Die drei ersten Paragraphen thematisieren zunächst den Sachgehalt des Evangeliums (Evangelium als Bericht, § 18), dann den Zuspruchcharakter desselben (Evangelium als Anrede, § 19) und schließlich seine .existentielle' Wirkung (Evangelium und Glaube, § 20); Eiert zeichnet so in drei Schritten den unlösbaren und notwendigen Konnex des Evangeliums nach Sachgehalt (§ 18) und applikativer Intention (§ 19) mit seiner,Wirkung' nach, wobei die entscheidende Bestimmung in § 19 erfolgt, der den Glauben als die intendierte Wirkung des Evangeliums bestimmt. Der § 21 behandelt - an zweiter Stelle!46 - das Gesetz und entfaltet hier in drei Schritten die den §§ 18-20

45

204—206, vgl. 201. Vgl. zu dieser .Argumentationsfigur' auch Ratschow, Christus 66. Die Ubereinstimmung mit Barth ist in diesem Punkt zunächst selbstverständlich völlig äußerlich; näher betrachtet allerdings weisen die Positionen stärkere Ähnlichkeiten auf, als Eiert lieb sein dürfte: Man wird nicht behaupten können, daß Eiert in seiner Auseinandersetzung mit Barth (Gesetz 53) das Anliegen Barths auch nur richtig wiedergegeben hat. Er gibt in jener Passage zum einen nicht zu erkennen, daß er verstanden hat, in welchem Sinne Barth Gesetz und Evangelium als Form und Inhalt einander zuordnet, nämlich in exakt dem Sinne, in dem Eiert selbst den Demonstrativ (Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selbst) und den Adhortativ (Laßt euch versöhnen mit Gott) des Evangeliums unterscheidet und einander zuordnet (vgl. Eiert, Glaube § § 1 8 und 19, dazu Barth, Evangelium 7-9). Eiert scheint davon auszugehen, daß Barth Gesetz und Evangelium als inhaltlich unterschiedene Worte, deren eines jeweils 46

Gestz und Evangelium. Die Prolegomena der Dogmatik

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entsprechenden Bestimmungen für das Gesetz: Es handelt sich um eine .Zwangsordnung', die unabhängig vom Selbstverständnis des Menschen gilt und deren Sinn darin liegt, den Menschen zur Verzweiflung zu führen (162, vgl. 160-162). In den Paragraphen 22f wiederum stellt Eiert im Ausgang vom neutestamentlichen Zeugnis das .dialektische' Offenbarwerden Gottes - in Zorn und Gnade - ins Verhältnis zum entsprechenden Offenbarwerden des Menschen - als Sünder und als Gerechtfertigter - und entfaltet diese korrelative .Dialektik' - unter fast ausschließlicher Berücksichtigung des Gesetzes in den Paragraphen 24 (Gotteserkenntnis) und 25 (Das Offenbarwerden des Menschen). Die Abfolge der Paragraphen 18-25 insgesamt orientiert sich offenbar daran, daß Eiert zunächst Gesetz und Evangelium je für sich (§§ 1 8 20; 21), dann den Sinn der .Dialektik' von Gesetz und Evangelium (§§ 2 3 25) zu erörtern beabsichtigt. 2.2.2. Die Bestimmung des Verhältnisses von Subjektivität und Glaubensgegenstand als Ziel des § 20. Für unseren Zweck ist zunächst die getrennte Behandlung des Evangeliums und des Gesetzes interessant, denn hier bestimmt Eiert

das andere impliziert, verstehe (vgl. Gesetz 53 den an Barth herangetragenen Ausdruck .Redeweisen'!). Zum anderen ist nicht zu erkennen, daß Eiert auch nur das Anliegen Barths zur Kenntnis genommen hat, auch unter der Voraussetzung der Identifikation des Wortes Gottes als Wort der Gnade diese Gnade als immer schon erfolgte Überwindung des Gerichtes, das theologisch nur von der Gnade her verstanden werden könne, auszuweisen, so daß die von Eiert inkriminierte Wendung ,Das Gericht ist die Gnade' eben darauf abzielt, daß die Gnade Gottes gegenüber dem Menschen sich selbst als Gericht über den Sünder und als dessen Zurechtbringung zu der der Gnade Gottes entsprechenden Geschöpflichkeit vollzieht (KD 11,2, § 39, hier 854-875, bes. 862fif). Insofern entspricht Barths Position ungefähr der auch von Eiert vertretenen rückblickenden Bewertung der Gotteserfahrung unter dem Gesetz als Ausdruck des Heilswillens Gottes, insbesondere aber der oben (C, 3.3.4.; S. 238ff) nachvollzogenen Bestätigung des Gesetzes im Evangelium, die auch Eiert vertritt. Zudem ist den kritischen Bemerkungen Elerts nicht zu entnehmen, ob er überhaupt zur Kenntnis genommen hat, daß auch Barth unter dem Vorzeichen der .Wirklichkeit' des sündigen Menschen die ganz traditionelle Abfolge zweier als Gegensatz erfahrener Worte zur Geltung zu bringen weiß (ders., Evangelium 25 im Zusammenhang von 20fif).Das Verhältnis beider Positionen ist bei näherem Hinsehen nicht so antithetisch, wie es scheinen könnte; die Differenz liegt in der unterschiedlichen Bewertung des erfahrenen Zornes Gottes, den Barth als .Wirklichkeit' der .Wahrheit' des der Erfahrung entgegengesetzten ursprünglich intendierten Verhältnisses von Evangelium und Gesetz integriert, dabei aber eben auch entwertet. Eiert verweigert sich im Grunde diesem Rückgang von der Situation der Erfahrung des Wirkens und des Werkes Gottes auf eine Perspektive, die die menschliche Erfahrung im Umgang mit Gott immer nur als eine Depravation einer ursprünglich und eigentlich aus der Perspektive Gottes und nur so wahrzunehmenden Wahrheit überspringt. Grob gesprochen ist Elerts Theologie eine Darstellung des Verhältnisses von Gesetz und Evangelium, die die Erfahrung beider Worte Gottes als den nicht hintergehbaren Ausgangspunkt jeder Dogmatik betrachtet und sich insofern der Nivellierung des - auch bei Barth als sachgerechter Ausdruck der Erfahrung des Menschen betrachteten Gegensatzes zweier Worte oder Erscheinungen Gottes, des Zornes und der Liebe - verweigert. Barth situiert sich gleichermassen immer schon jenseits dieser Erfahrung und betrachtet den dem Sünder unentrinnbar scheinenden Zorn als Schein, denn in Wirklichkeit und aus der Perspektive der mit diesem gesetzlichen Wirken Gottes verfolgten Intention handelt es sich um die ,Glut der Liebe' Gottes. Vgl. dazu auch Kinder, Problem 324ff.

Ill

Der christliche Glaube

das genaue Verhältnis von Subjektivität und Glaubensgegenstand - und darin liegt das eigentliche organisierende Zentrum des Abschnittes: Bereits in der Abfolge der Paragraphen 18—20 nimmt Eiert eine Zuordnung dieser Momente vor, indem er den Glauben den beiden Grundmomenten des Evangeliums - dem .Demonstrativ' und dem Adhortativ', d.h.: der inhaltlichen Bestimmung durch die Person und das Werk Christi und dessen Geltungsanspruch für den Hörer - nachordnet und in § 20 auf dieser Basis die Unabhängigkeit der Geltung des Evangeliums von der Subjektivität - der Entscheidung zur Anerkennung dieses Geltungsanspruche im Glauben - auszuweisen sucht; hier wird somit explizit entfaltet, was in der bisherigen Darstellung unter dem Titel .Erfahrung' - der unmittelbaren Begegnung des Hörers mit dem Demonstrativ und Adhortativ des Evangeliums - firmierte und ja bereits bei Frank und Ihmels in sehr unterschiedlicher Weise bestimmt wurde. Der wichtigste Schritt ist dabei das Überführen der Zuordnung von Evangelium und Glaube in das Verhältnis der Geltung einer Ordnung und der Anerkennung dieser Geltung; der Terminus ,Geltung' organisiert inhaltlich die drei Momente des Verhältnisses von Evangelium und Glaube (Demonstrativ, Adhortativ und Glaube): Auf der einen Seite begründet sich der Geltungsanspruch der Ordnung in dem Inhalt des Evangeliums (Demonstrativ), nämlich in dem berichtenden Hinweis auf Christi Person und Werk, in dem Gott selbst gegenwärtig und versöhnend tätig ist; auf der anderen Seite erfolgt die Zuordnung des Glaubens zu Person und Werk Christi gerade über den Gedanken, daß diese Verkündigung - qua Adhortativ - einen Anspruch auf Geltung für den Menschen erhebt: „Wenn also der evangelische Adhortativ ausdrückt, daß der Hörer mit dem Bericht von Christo gemeint ist und daß dieser Bericht ihm gilt, so ist der Glaube die Bereitschaft, sich gemeint zu wissen und die Geltungaufsich zu beziehen. Er ist die Gewißheit, daß das gepredigte Wort und also auch dessen berichtender und ermahnender Inhalt mir gilt."

(154) Eiert gewinnt die Begründung für den Zusammenhang von Demonstrativ und Adhortativ des Evangeliums aus dem in 2 Kor 5 hergestellten Zusammenhang von Christologie bzw. Soteriologie (Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selbst) und Zueignung (darum bitten wir an Christi statt: laßt euch versöhnen mit Gott); 47 wie der Demonstrativ den Adhortativ aus sich heraussetzt und diesen begründet, so verlangt der Adhortativ ausdrücklich nach dem Glauben, der die Geltung des Adhortativ übernimmt. Es ist dabei deutlich, daß in dem Verhältnis von Anspruch' und ,Geltung' einer Ordnung die bereits mehrfach in diesem Zusammenhang (hier aber nicht eigens erwähnte) genannte Wendung des ,das eigene Leben mit den Augen Gottes ansehen' mitschwingt, so daß vor diesem Hintergrund die von Eiert

47

Vgl. den häufig zitierten Passus etwa in Glaube 144f und 146, vgl. auch Lehre, 2. Aufl. 43.

Gestz und Evangelium. Die Prolegomena der Dogmatik

273

beschriebene Erfahrung die bereits analysierte Struktur eines im anderen seines selbst vermittelten Selbstverhältnisses gewinnt. Der für Eiert in dieser Passage entscheidende Punkt ist allerdings der Hinweis darauf, daß eben in dieser Formulierung des Verhältnisses von Glaube und Evangelium sichergestellt ist, daß der Adhortativ nach dem Glauben verlangt, ohne aber vom Glauben abhängig zu sein (154). Der Glaube kann auf diese Weise als Modus der Selbstunterstellung unter diesen Geltungsanspruch und damit als von dem Geltungsanspruch der Ordnung gefordert ausgewiesen werden, ohne daß er für die Geltung oder für die Ordnung konstitutiv wird. 2.2.3. Die Bezüge zur Erlanger Tradition. Mit der Fragestellung steht Eiert exakt im Zentrum der Erlanger Frage nach dem Grund der Gewißheit des Glaubensgegenstandes. Die Ablehnung einer der persönlichen Übernahme des Geltungsanspruches des Evangeliums vorauslaufenden Vergewisserung des Glaubensgegenstandes bzw. der göttlichen Autorität des Wortes48 entspricht der auch in der frühen Auseinandersetzung um Recht und Grenze der Apologetik von Eiert vertretenen Erlanger Position, die den Ubergang zum Glauben nicht als Ergebnis einer vorauslaufenden, etwa intellektuellen Vergewisserung, sondern als ein unableitbares und unbegründbares Ereignis betrachtet, in dem allein sich die Gewißheit um den Gegenstand begründet: „Die Frage ist..., ob sie [i.e. die Apostel] aus einer so oder so vorher vorhandenen Gotteserkenntnis die Geltung des Evangeliums begründet haben. Das ist zweifellos nicht der Fall. ... Sie waren vielmehr durch die Erfahrungen ihrer Missionspraxis zu der Erkenntnis gekommen, daß dem Evangelium selbst die Kraft innewohnt, sich so an den Herzen aller τα bezeugen, daß sich die Hörer darin vom Wort Gottes getroffen fühlen. Das Evangelium ist Kraft Gottes ... Wer davon getroffen wird, erfährt damit άie Kraft Gottes. Man kann sich dabei nur gemeint wissen, wenn man sich von Gott gemeint weiß." (158).

Diese Passage impliziert den Gedanken, daß sich der Glaubensgegenstand als Kraft Gottes in der Tat nur dem erschließt, der den Geltungsanspruch des Evangeliums im Glauben übernimmt, daß aber dem Zweifler die Gewißheit einer göttlichen Autorisierung nicht vorauslaufend vermittelt werden kann. 49 Diese im Rahmen der Erlanger Fragestellung bleibenden und im Ansatz der 48

155 unten, vgl. 152f und bes. I42ff. 1 58. Der Zusammenhang der Passage ist ein etwas anderer: Es geht darum, ob für das Verständnis des Evangeliums bereits ein dieses Verständnis vermittelndes Wissen von Gott vorausgesetzt wird - etwa in Gestalt der spezifisch jüdischen Gotteserkenntnis, und Eiert weist darauf hin, daß die vorchristliche Situation und die in ihr beschlossene Gotteserkenntnis für die Apostel zwar ein zu berücksichtigender Bezugspunkt der Verkündigung sei, nicht aber die Begründung für die Geltung des Evangeliums. Die Begründung für die Geltung ist vielmehr die,Selbstbezeugung Gottes an den Herzen aller' und insofern die Wirkung der Verkündigung. In diesem Sinne vollzieht sich hier eine Ablehnung jeder Apologetik und die Reduktion des Vergewisserungsgrundes für das Evangelium auf die Erfahrung seiner Wirkung. 45

274

Der christliche Glaube

Dogmatik ,νοη unten' sich methodisch niederschlagenden50 Gedanken stehen nun im bereits referierten Gesamtzusammenhang eines Kapitels, das auf die Begründung des Glaubens in seinem Gegenstand abzielt und damit ganz im Sinne der Ihmelsschen Position - das Evangelium als Fundament des Glaubens ausweisen will. Dieser Paragraph ist damit von beiden fundamentaltheologischen Intentionen der Erlanger Schule bestimmt: dem Rekurs auf die Situation des Getroffenwerdens vom Evangelium als Erschließungs- und Gewißheitsgrund des Glaubensgegenstandes, und der Begründung dieser gegenständlichen Gewißheit im Gegenstand des Glaubens selbst. Dieser zweite Gedanke manifestiert sich in zwei miteinander zusammenhängenden Aussagenreihen: zum einen in der Feststellung, daß das Evangelium keinen anderen Grund seiner Vergewisserung hat als seinen Inhalt selbst;51 zum anderen in der Anwendung dieses Grundsatzes auf das Verhältnis von Evangelium und Glaube: Es ist das Evangelium, in dem sich der Glaube begründet, und nicht umgekehrt der Glaube, der den Geltungsanspruch des Evangeliums verbürgt. Eiert trägt in im wesentlichen zwei Gedankengängen im Laufe des § 20 Argumente für die Begründung des Glaubens in seinem Gegenstand und für die unumkehrbar konstitutive Funktion des Glaubensgegenstandes für den Glaubensvollzug vor, wobei es im folgenden Nachvollzug der beiden Gedankengänge (2.3.1 und 2.3.2.) insbesondere darauf ankommen wird, den von Eiert vorausgesetzten Glaubenbegriff zu erfassen. 2.3. Die Begründung des Glaubens in seinem ,Gegenstand' (§ 20). 2.3.1. Der erste Gedankengang. 2.3.1.1. In der ersten hier relevanten Passage sucht Eiert zu zeigen, daß das „Getroffenwerden ... immer nur vom Inhalt des Gehörten her verstanden werden" kann und so der Glaubensakt im Glaubensgegenstand begründet ist. „Jeder Versuch einer Analyse des Glaubensbegriffes, die davon absieht, muß notwendig den Christusglauben in die Nachbarschaft irgendeines anderen Glaubens bringen." (154) - und einen solchen Versuch erkennt Eiert in der Kantschen Bestimmung des Glaubens als „Zwischending zwischen Wissen und Meinen" (ebd.). Diese Parallelisierung des christlichen Glaubens mit anderen Glaubenshaltungen, so die Voraussetzung der Elertschen Ausführungen, ist nur möglich, wenn der Glaube als eine ,innerpsychische' Tatsache ohne Berücksichtigung seines externen Grundes betrachtet wird.52 Eiert hebt nun darauf ab, daß der Glaube als Übernahme des Gel50

Vgl. zur Unterscheidung ,νοη oben' und ,νοη unten' Slenczka, Studien Bd. 1, 103f. Vgl. 142-144. 52 154; die Passage im Zusammenhang: „Dieses Getroffenwerden kann aber immer nur vom Inhalt des Gehörten her verstanden werden. Jeder Versuch einer Analyse des Glaubensbegriffes, die davon absieht, muß notwendig den Christusglauben in die Nachbarschaft irgendeines andern Glaubens bringen. Insbesondere hat die einseitige und zusammenhanglose Verwendung der scheinbaren Definition von Hebr. 11,1 zu der Mißdeutung Kants Anlaß gegeben, als ob der Glaube ein Zwischending zwischen Wissen und Meinen sei... Auch die langen Auseinandersetzungen über das Verhältnis von Glauben und Wissen im neunzehnten Jahrhundert beruhen auf dieser 51

Gestz u n d Evangelium. D i e P r o l e g o m e n a der D o g m a t i k

275

tungsanspruches einer fremden R e d e zwar ein psychologisch faßbares P h ä n o m e n ist, d a ß a b e r d a s S p e z i f i k u m d e s c h r i s t l i c h e n G l a u b e n s -

der mit

ihm

gesetzte Existenzwandel - ein psychologisch n i c h t m e h r einholbarer V o r g a n g ist: „ W a s sich h i e r [ b e i m G l a u b e n ] v o l l z i e h t , liegt d e m P s y c h o l o g e n als l ü c k e n l o s e r psychischer Z u s a m m e n h a n g offen vor Augen: die R e d e eines anderen wird gehört, u n d der H ö r e r ist g e w i ß , d a ß er d a m i t g e m e i n t ist u n d d a ß das G e h ö r t e i h m g i l t . . . . W e n n also i m N e u e n T e s t a m e n t d i e W e n d u n g z u m G l a u b e n als t o t a l e U m w a n d l u n g d e r E x i s t e n z a u f g e f a ß t wird, so k a n n das n i c h t aus d e m f o r m a l e n p s y c h i s c h e n G e s c h e h e n v e r s t a n d e n w e r d e n , d e n n alle p s y c h i s c h e n V o r g ä n g e v e r l a u f e n in d e n B a h n e n d e r n a t ü r l i c h e n E x i stenz." ( 1 5 4 ) D e r Satz n i m m t die bereits i m Aufsatz zur Religionspsychologie

(1912)

vollzogene A b g r e n z u n g gegen d e n V e r s u c h auf, die E n t s t e h u n g des G l a u b e n s als e i n e n r e i n p s y c h i s c h - i m m a n e n t e n , a u f e i n e n . t r a n s z e n d e n t e n ' F a k t o r n i c h t angewiesenen V o r g a n g zu verstehen.53 E r m u ß offenbar so gelesen

werden,

d a ß d i e T a t s a c h e , d a ß es s i c h b e i d e r , W e n d u n g z u m G l a u b e n ' u m e i n e , totale U m w a n d l u n g d e r E x i s t e n z ' h a n d e l t , d i e Begründung

dafür bietet, d a ß er nicht

aus d e m ,formalen psychischen G e s c h e h e n ' verstanden w e r d e n k a n n . 5 4 A b g r e n z u n g zielt d a b e i a u f die T h e s e h i n , d a ß diese

Die

,Existenzumwandlung'

ihren G r u n d in e i n e m a n d e r e n ihrer selbst bzw. - u m d e n in f r ü h e r e n Schriften v o n Eiert v e r w e n d e t e n B e g r i f f a u f z u n e h m e n : - in e i n e m finden

.Transzendenten'

m u ß , d e n n die psychischen V o r g ä n g e setzen die Existenz voraus

und

Verfälschung." - Eiert rutscht hier wieder in der für ihn typischen Weise in einen anderen Gedankengang ab: Kant wird herangezogen als eine Gestalt der Nivellierung des christlichen unter die übrigen Formen des Glaubens; den Grund dafür sieht Eiert offenbar darin, daß der Glaube als psychischer Akt unter Absehung von seinem Gegenstand betrachtet wird. Darauf zielen die Sätze vor dem Kant-Exkurs, und auch die daran anschließenden Sätze. Eingeschoben sind einige Bemerkungen zum Verhältnis von Glauben und Wissen, die an diesem O r t nichts verloren haben und ausschließlich durch die knappe Bemerkung über Kants Zuordnung von Glauben, Wissen und Meinen motiviert sind. 53 Vgl. dort 2 0 2 : „Damit ist nicht gesagt, daß der Weg, auf dem sich das Subjekt dieses Urteils bemächtigt hat, überhaupt nicht objektiv vorgestellt und aufgewiesen werden kann. D a ß dies vielmehr wenigstens in gewisser Weise möglich sei, hängt gerade daran, daß das Subjekt seine Erlebnisse unter der Einwirkung von Außengrößen gemacht haben will. Insofern kann die wissenschaftliche Prüfung diesem Weg ein Stück parallel gehen. Sie ist aber nach zwei Seiten hin begrenzt. Erstens sind ihr die das Urteil begründenden rein subjektiven Voraussetzungen unzugänglich, sofern sie eine einzigartige Spezialisierung des Allgemeinmenschlichen im Subjekt darstellen. Sodann hört ihre Vollmacht da auf, wo das Urteil des Subjekts die Einwirkungen von außen auf einen jenseits der Erfahrung liegenden Grund projiziert, auf ein der Empirie Transzendentes, das als solches nie Objekt der phänomenologischen Wissenschaft sein kann." 54 Irreführend ist hier das ,also', mit dem der dritte Satz des gebotenen Zitates einsetzt. Es läßt an eine Folgerung denken - der Satz folgt aber mitnichten aus dem vorangehenden, sondern stellt eine Antithese dazu dar. Angemessener wäre ein adversatives ,aber' gewesen, denn inhaltlich geht es darum, daß sich in diesem Hören und in der Anwendung des Gehörten auf den Hörer etwas vollzieht, das psychologisch nach Eiert nicht verrechenbar ist - eben jene .Existenzumwandlung'.

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Der christliche Glaube

können also nicht als Ursache einer Umwandlung ihrer eigenen Voraussetzung in Frage kommen. 5 5 Bei dem externen Grund, der diese Umwandlung setzt und auf den die Argumentation Elerts abzielt, handle es sich um dasjenige, was die Geltung des Gehörten verbürgt: „Die Grenze fiir den Psychologen liegt hier bei dem Begriff der Geltung. O b ein Strafbefehl gilt oder ob er mir gilt, kann der Beobachter nicht mehr entscheiden. Diese Fragen sind nur zu beantworten, wenn zwischen dem Befehlenden und dem Betroffenen noch eine andere Ordnung besteht als die der psychologischen Gesetze." (154)

Die Geltung eines Strafbefehls ist selbstverständlich durch einen Beobachter nachprüfbar. Man wird die Passage daher so zu verstehen haben, daß dem Psychologen als Psychologen die Geltung nicht mehr nachprüfbar ist, weil es sich bei diesen Ordnungen und damit bei der Frage ihrer Geltung um etwas anderes als ein psychologisches Problem handelt: „Die Geltung dieser Ordnungen kann bejaht, verneint oder gebrochen werden. Aber sie ist ebenso wie ihre Anerkennung oder ihr Bruch etwas anderes als ein psychischer Vorgang." 56 Selbstverständlich ist das Brechen oder Anerkennen einer Ordnung ein ,psychischer Vorgang'; Eiert will doch wohl sagen, daß die Ordnung selbst, ihre Gültigkeit und die Kriterien dafür, ob ein Bruch vorliegt bzw. durch welche Vollzüge sie gebrochen oder anerkannt wird, kein Gegenstand der Psychologie sind und darüber mit den Mitteln der Psychologie nicht entschieden werden kann; es liegt hier eine die Ebene der Psychologie transzendierende Ordnung vor, wie auch die Geltung eines Strafbefehls kein psychologisches, sondern ein juristisches Problem ist. 2.3.1.2. Mit dieser Wendung hat Eiert eine Blickverschiebung vorgenommen, die das Geschehen des Glaubens dem Bereich der Psychologie entnimmt und die für das Verständnis dieses subjektiven Vollzuges konstitutive Bedeutung der Ordnung hervorhebt, auf die der Glaube sich bezieht, indem er sie anerkennt. Die beiden entscheidenden Argumente sind dabei im Textverlauf fast verdeckt: Es ist zum einen die referierte Feststellung, daß der

55

Dies dürfte der Sinn des Satzes „... denn alle psychischen Vorgänge verlaufen in den Bahnen der natürlichen Existenz." sein: Als Argument formuliert: Weil die Wendung zum Glauben eine totale Umwandlung der Existenz ist, und weiltr damit nicht mehr die natürliche Existenz ist, darum kann der Glaube nicht aus dem Zusammenhang der dem Psychologen zugänglichen psychischen Realität — darum handelt es sich vermutlich bei „dem formalen psychischen Geschehen" - verstanden werden. 56 155. Der Satz ist wieder mißverständlich. Denn daß die Anerkennung einer Ordnung ein .psychischer Vorgang' ist, hatte Eiert wenige Sätze zuvor festgestellt (vgl. 154, Zitat S. 275 oben). Gemeint ist offensichtlich, daß das Brechen oder das Anerkennen der Ordnung nur im Abgleich mit den Ordnungen, nicht aber beschränkt auf den psychischen Vorgang, als solche identifizierbar ist. Ob ich einer Ordnung entspreche oder nicht, entscheidet sich an der Ordnung, nicht an dem psychischen Vorgang - das Anerkennen oder Brechen der Ordnungen ist also ein nicht nur psychischer Vorgang; und dies ist die im Text gemeinte .andere Ordnung'.

Gestz und Evangelium. Die Prolegomena der Dogmatik

277

Glaube als völlige Wandlung der Existenz seinen Grund nicht in den natürlichen Gegebenheiten des Subjekts selbst haben kann, sondern in einem anderen; dem entspricht umgekehrt die Beschreibung des Evangeliums als Grund des Endes der alten und des Beginns einer neuen Existenz.57 Es ist zum anderen der Hinweis darauf, daß gerade die Bestimmung des Glaubens als bloßer Anerkennung der Geltung einer Ordnung jede konstitutive Funktion dieses subjektiven Vollzuges für seinen Gegenstand ausschließt. Es wird weiter unten noch deutlich werden, daß die Bestimmung des Glaubens als .Anerkennung einer Ordnung' ihren Sinn gerade darin hat, ihn als bloße Anerkennung ohne jegliche inhaltliche Bedeutung für diese Ordnung zu bestimmen.58 Entsprechend kommt es Eiert in diesem Paragraphen auch alles darauf an, den Glauben nicht als eine Art innerer Einstellung, sondern unter beständiger Bezugnahme auf das Evangelium als die diesem entsprechende und von diesem her definierte Haltung zu explizieren, was aber zur Folge hat, daß die Näherbestimmung des Glaubens erstaunlich blaß bleibt: Er kommt nur als Anerkennung der Geltung einer Ordnung für den jeweils Glaubenden und in

der Folge als heteronome

Unterstellung unter eine absolute Autorität in den

Blick;59 und nur im Zusammenhang einer weiterführenden Frage kommt es im Rahmen von § 20 - hier im 2. Teil des Paragraphen (155ff) überhaupt zu dieser etwas gefüllteren Definition des Glaubens als ,Unterstellung unter einen Herrn'; dies ist nun nachzuvollziehen. 2.3.1.3. Eiert stellt hier - § 20.2 - die Frage nach dem Geltungsgrund des Evangeliums, den er im Inhalt des Evangeliums und damit in der Autorität

1 53. S.u. S . 2 9 1 f . 59 Die einzige definitionsähnliche Bestimmung, die in diesem Abschnitt, in dem man vom Titel her eigentlich eine Art Definition erwarten darf, erfolgt, ist die Bestimmung des Glaubens als Bereitschaft, sich gemeint zu wissen', oder als ,Getroffenwerden' (153f)· Elerts Interesse besteht erkennbar darin, den Glauben eben nicht als eine psychologisch feststellbare ,Haltung', sondern unter konstitutivem Bezug auf die Verkündigung des Evangeliums zu definieren - ,Glaube' liegt nur dann vor, wenn das Evangelium als für den jeweils Angesprochenen geltend anerkannt wird. - In der Folge wird dann eigentlich lediglich das Evangelium und von ihm her der Glaube näherbestimmt, interessanterweise aber eben so, daß nicht primär der christologische oder soteriologische Gehalt des Evangeliums profiliert und so der Glaube etwa als Vertrauen bestimmt wird, sondern so, daß das Evangelium als Wort Gottes und der Glaube als Ende der Mittelpunktsexistenz und insofern als Wandlung der Existenz definiert wird: Der Aspekt des Verhältnisses von erfahrener, unentrinnbarer Autorität und Heteronomie bestimmt diesen Glaubensbegriff. - Es werden in dieser Passage - der einzigen, in der eine Definition des Glaubens zu erwarten wäre - im Grunde lauter Nebenfragen behandelt, aber nirgends gesagt, was der Glaube eigentlich ist; auch der Zusammenhang der Lehre von der Rechtfertigung ( § § 79ff, bes. § § 8 3 f f ) läßt nur das Konstatieren einer Fehlanzeige zu, und so bleiben die gelegentlichen emphatischen Feststellungen, daß das .Vertrauen' geradezu die Definition des Glaubens darstelle (vgl. auch 178), gegenüber der sterilen Anerkennung einer Ordnung' oder den Metaphern eines Heroismus (vgl. 179; 3 4 6 - 3 5 1 ! ; 484, vgl. dazu 6 5 2 ; 6 2 0 f ) bzw. eines bedingungslosen Gehorsams (155; 589; 201; 420f; 371; 5 8 5 f ) ohne Durchsetzungskraft. 57 58

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Der christliche Glaube

Gottes selbst identifiziert. Immer noch geht es um die Auseinandersetzung mit einer Position, die den Glauben selbst in irgendeiner Weise als Geltungsgrund des Evangeliums bezeichnet („Denn es gilt ihm, wie er [i.e. der Glaube] anerkennt, weil hier Gott zu ihm redet und weil also Gott, dessen Rede wir vernehmen, nicht ein Erzeugnis unserer Gedanken ist"60). Rückfragen an diese Position - im Sinne der Frage, ob denn Gott wirklich existiere und kein ,Gedankenprodukt' sei - deklariert Eiert als den Versuch, angesichts des Evangeliums in Beobachterhaltung und damit in der ,Mittelpunktsexistenz' zu verharren, die die Anerkennung des Evangeliums auf den Zeitpunkt der endgültigen Klärung des Rechtes seines Autoritätsanspruches aufzuschieben erlaubt; der Glaube hingegen sei gerade der Verzicht auf die Mittelpunktsexistenz: „Er [i.e. der Zweifler] will sich also aus seinem Mittelpunktsdasein nicht hinauswerfen lassen, mit dem er seine irdische Existenz zu sichern glaubt. Denn wenn uns das Evangelium gilt, so sind wir darin von Gott aufgerufen, den wir aus unserer irdischen Existenz nicht kennen. Folgen wir seinem Anruf, so geben wir damit auch alle Sicherungen auf, die sie uns bieten kann, mit Einschluß aller sicheren psychologischen Erkenntnisse und aller vermeintlich oder wirklich zwingenden Syllogismen. Wogegen sich der Zweifler sträubt, daß er sich nämlich nicht aus dem Mittelpunktsdasein hinauswerfen lassen will, das ist gerade ein notwendiges Kennzeichen des Glaubens. Er vollzieht das allerdings nicht selbst, denn sonst bliebe er immer noch Subjekt, also Mittelpunkt. Vielmehr wird er herausgerufen und in dem Augenblick, wo er den irdischen Halt losläßt, in einen Strom hineingerissen, in dem er nicht mehr sein eigener Herr ist." (155f)

Der Glaube ist also in dem Sinne ein Existenzwandel, daß er den Verzicht auf Autonomie und die bedingungslose Unterstellung unter einen fremden Anspruch darstellt, wobei auch dieser Verzicht kein Akt, sondern selbst noch fremdbestimmt ist (vgl. Zitat). Der Glaube ist geradezu nichts anderes als das Sich-Ausliefern an die göttliche Herrschaft, das sich eben darin vollzieht, daß der Mensch gegenüber dem Anruf Gottes im Evangelium alle Vorbehalte fallen läßt: „Er [der Beobachter des Glaubenden] sieht auch richtig, daß der Glaubende nicht mehr sein eigener Herr ist. Denn dieser gerät tatsächlich unter einen anderen Herrn, indem er seinem Anruf ohne Vorbehalt folgt." (156)

Mit diesem Gehorsam ist auch die Frage entschieden, ob es Gott ,gibt' oder nicht — darin liegt der von Eiert selbst nicht explizierte Grund dafür, daß er diese Passage im Zusammenhang der Frage nach dem Grund des Geltungsanspruches des Evangeliums behandelt und die Passage - ohne den Bezug zu genau dieser Frage ausdrücklich herauszustellen — als Antwort auf die o.g. Frage des .Zweiflers' nach der Existenz Gottes betrachtet. Der Anruf des Evangeliums erweist sich selbst als (im Evangelium ergehender!) Anruf einer 60 1 55. Das ,also' ist eine typisch Elertsche Scheinrationalität, die die Zirkularität des Gedankens verbergen soll.

Gestz und Evangelium. Die Prolegomena der Dogmatik

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Macht, die sich gegen den Menschen durchsetzt und sich als Mittelpunkt behauptet, indem sie den Menschen seiner Mittelpunktsexistenz beraubt und dieser Lebensvollzug, der auf die Selbstbehauptung als Mittelpunkt verzichtet, ist der Glaube; so entfaltet Eiert in der Gotteslehre seiner Dogmatik den Begriff Gottes folgendermassen: „Müssen wir, um uns verständlich zu machen, das Wort Gott gebrauchen, so kann es nur in der absoluten Totalität gemeint sein, die eine Selb-Ständigkeit von irgendwem oder irgend etwas nicht neben sich duldet." (246, vgl. 2900 Dies Zitat und der eben entfaltete Glaubensbegriff machen natürlich das Problem klar, unter dem die Ausführungen Elerts leiden: Es ist gerade nicht der Inhalt des Evangeliums, von dem her der Glaubensbegriff bestimmt wird. Der .Inhalt des Evangeliums' ist ja in diesem Paragraphen in keiner Weise christologisch oder soteriologisch gefüllt. Bezugnahmen auf die vorangehenden Paragraphen, in denen diese Füllung erfolgt, finden sich nicht, sondern der Begriff des Glaubens wird profiliert als Korrelat des Evangeliums als Ordnung, näher als durch die Autorität Gottes verbürgter Ordnung; dieser Gottesbegriff wiederum ist nicht christologisch, sondern lediglich aus seinem Widerspruch gegen den menschlichen Autonomieanspruch näherbestimmt. 61 Entsprechend geht gerade das Spezifische des Glaubens an das Evangelium verloren, in dem es der Mensch schließlich nicht mit dem schieren Herrschaftsanspruch Gottes, sondern mit der Herrschaft seiner Liebe zu tun hat; der Glaube, den Eiert hier beschreibt, könnte nach seinen Prämissen ebensogut Glaube unter den Voraussetzungen des Herrschaftanspruches Gottes im Gesetz sein - Bezugnahmen auf die fiduzialen Aspekte des Glaubens fehlen völlig. Der Grund für diese Eigentümlichkeiten wird weiter unten (s. u. 4.2., S. 299ff und 5.1., S. 331) noch erörtert werden.

61 Es kommt erst in § 24 zu einer einigermaßen befriedigenden Explikation des Glaubensbegriffes vom Inhalt des Evangeliums her, wenn Eiert das Evangelium als Durchbrechung der Situation des Zornes Gottes bezeichnet und den Glauben als Vertrauen auf Gottes Erbarmen im Gegensatz zur Erfahrung des Zornes entfaltet; aber auch hier steht der Glaubensbegriff unter dem Vorzeichen des Gehorsams gegenüber einem Anspruch: „Ist Glauben das Folgeleisten gegenüber dem Adhortativ des Evangeliums, so ist es ein immer erneutes Niederkämpfen der knechtischen Furcht des Gesetzesempfängers, des Menschen, über den die Todesordnung verhängt ist. Es ist ein Hinüberspringen über jenen Abgrund, der den Zorn Gottes von seiner Gnade und Liebe trennt." (179, vgl. im folgenden). Genaugenommen dürfte Eiert von seinen Voraussetzungen her den Sachverhalt auch so nicht beschreiben, denn der Glaube ist ja gerade kein .Sprung' zwischen zwei Ordnungen oder ein .Niederkämpfen der Furcht', sondern das Getroffen- und Uberwältigtwerden von der .Ordnung' des Evangeliums. Trotz der Bezugnahme auf die .Liebe Gottes' erfährt der Glaubensbegriff keine Näherbestimmung auf diese Eigenschaft hin - er bleibt das .Wagnis' oder der .Sprung' in die Arme Gottes gegen den Augenschein des Zornes Gottes; lediglich im Rahmen der Klärung des Momentes der .notitia' wird das Erkennen mit dem Verhältnis der Liebe in Verbindung gebracht ( 1 7 8 ) - allerdings in der gesamten Passage, in der es immerhin um die Bestimmung des Glaubens und seines Grundes geht, nur in diesem einzigen Absatz!

280

Der christliche Glaube

2.3.1.4. Das Evangelium, so wird man nun abgesehen von diesen Schwächen die Intention Eiert rekonstruieren müssen, ist darin Wort Gottes, daß es diese Kraft der Selbstdurchsetzung hat, und umgekehrt: Im Glauben als der fremdbestimmten Anerkennung des Anspruches des Evangeliums auf Geltung für den Menschen setzt sich die Autorität Gottes durch. Die Erkenntnis, daß der Anspruch des Evangeliums, Wort Gottes zu sein, zu Recht besteht, geht der Anerkennung seines Anspruches auf Geltung für den Menschen nicht voraus, sondern ist mit dieser Anerkennung gesetzt,62 so nun aber, daß diese Anerkennung in jeder Hinsicht extern, durch ihren Gegenstand, konstituiert ist und nicht etwa das Evangelium erst zum ,Wort Gottes' macht; in diesem Sinne ist also der Glaube in seinem Gegenstand (und nicht umgekehrt) begründet. Diese Zuordnung wird allerdings mit einem völlig autoritären Begriff des Glaubens einerseits, des Evangeliums andererseits erkauft, dessen Verbindung zum Glauben als Vertrauen und zum Evangelium als Ausdruck der Liebe Gottes nicht mehr erkennbar ist. Die Intention Elerts ist es aber, in der Beschreibung des Glaubens als Unterstellung unter einen Herrschaftsanspruch den Glauben so zu fassen, daß er als Konstituent seiner Inhalte nicht in Frage kommt. 2.3.2. Der zweite Gedankengang: Die Auseinandersetzung mit Ritschi. Damit könnte nun die Position dennoch so verstehbar sein, daß diese Anerkennung selbst der Grund der Göttlichkeit des Wortes sei; im Sinne etwa der Werturteilslehre Ritschis könnte die Haltung des Glaubens gegenüber dem Wort des Evangeliums die Bedingung der Möglichkeit von dessen Göttlichkeit sein in dem Sinne, daß das Prädikat der .Göttlichkeit' seinen Sinn nur aus der Erfahrung eines durch die Begegnung mit dem Evangelium gesetzten Existenzwandels - des Verlustes der Autonomie als Korrelat der absoluten Autonomie gewinnt und dieser in diesem Sinne die Göttlichkeit des Evangeliums konstituiert: Nur wo das Ende menschlicher Autonomie ist, ist Gott erfahren; der Gottesbegriff wäre so aus seiner Wirkung auf das Subjekt her und unter konstitutivem Bezug auf diese definiert. Genau mit dieser Möglichkeit setzt sich Eiert im folgenden Absatz (156) auseinander. Eiert wendet sich gegen den von ihm bei Ritsehl diagnostizierten Versuch, den Glauben als ein ausschließlich subjektiv begründetes ,Fürwahrhalten' zu identifizieren: „Daran war n u r richtig, daß der Glaube irgend etwas mit seinem Subjekt zu t u n hat u n d daher auch ein .subjektives' M o m e n t enthält. Allein seine Subjektivität besteht nicht darin, daß er n u r subjektive G r ü n d e hätte, sondern darin, d a ß hier ein Ich getroffen wird. Der Glaube ist weder ein bloßes Fürwahrhalten noch sonst irgendein Urteil, sondern ein Widerfahrnis, bei d e m die Aufspaltung zwischen Subjekt u n d O b j e k t das Wesentliche verschleiert." 63 62 63

Vgl. 158. 156. Daß hier die Position Ritschis auch nur annähernd gerecht dargestellt und widerlegt

Gestz und Evangelium. Die Prolegomena der Dogmatik

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Der Verweis darauf, daß der Glaube nicht in dem Sinne subjektiv' sei, daß er der Geltungsgrund seines Gegenstandes sei, sondern in dem Sinne, daß in der Verkündigung des Evangeliums ein ,Ich' getroffen werde, bestimmt bereits die Auseinandersetzung mit dem neuzeitlichen Subjektivismus in der Morphologie. 64 Das eigentliche Argument in diesem Textabschnitt verwischt Eiert im folgenden Vergleich des Geltungsanspruchs des Evangeliums mit dem Geltungsanspruch einer Briefanschrift wieder: Im Widerfahrnischarakter des Evangeliums setzt sich sein Geltungsanspruch und damit eben seine göttliche Autorität durch; in diese Richtung weisen auch die vielen Passagen, in denen Eiert das Ergehen des Evangeliums mit einem tödlichen Gewehrschuß vergleicht.65 Wenn Eiert im zuletzt gebotenen Zitat formuliert, daß der Glaube kein Urteil sei, dann hebt er genau auf diesen Sachverhalt ab, daß die vom Evangelium ausgelöste Wirkung nicht als Akt des betroffenen Subjektes verstehbar ist.66 Eben darauf zielt auch die Formulierung des Zitates, daß ,die Aufspaltung zwischen Subjekt und Objekt das Wesentliche verschleiert': Es handelt sich eben um ein Geschehen, dem es zwar wesentlich ist, daß ein Subjekt getroffen wird, das allerdings so getroffen wird, daß diese Wirkung nur als extern bedingt verstehbar ist. Und eben diese externe Bedingtheit des ,Getroffenseins' - und nur dies - sucht der anschließende Vergleich mit der Briefanschrift festzuhalten, der für sich genommen für die dabei intendierte Auseinandersetzung mit Ritsehl in geradezu grotesker Weise ungeeignet ist:67

würde, wird niemand behaupten können; vgl. zur Polemik Elerts Peters, Kritisches 59f, zu seinem Umgang mit Gegenpositionen: Ratschow, Christus 69f u.ö. 64 S.o. C, 2.3., S. 199ff. Zum Hintergrund bei v. Frank vgl. Slenczka, Studien Bd. 1, 5Iff. 65 1 52f; 177 unten; 179 u.ö. 66 Denn der Glaube ist nach Eiert selbstverständlich auch ein Urteil: Wie das Evangelium ein Urteilsakt Gottes ist (583 im Kontext), so vollzieht ihn der Mensch nach (vgl. eben 157, vgl. auch 583). Es kommt Eiert darauf an, daß es sich beim Glauben nicht um einen autonomen Urteilsakt des Menschen handelt, in dem Gott zum Gegenstand eines Urteils wird - zur Intention: 157; 253; 277; 280; 371. 67 Ritschis Begriff des .Werturteils' hat mitnichten die Funktion, den Glauben bzw. die ihm erschlossenen Gewißheiten als etwas ,nur subjektiv Zureichendes' zu bestimmen, wie Eiert es will, wenn er Ritsehl und Kaftan unterstellt, der Begriff des Werturteils sei der entsprechenden Definition des Glaubens bei Kant im Unterschied zum ,Wissen' .substituiert' (156). Es geht Ritsehl auch nicht darum, daß der Glaube .subjektiv' oder ein .subjektives Urteil' sei (im Unterschied zu etwas .objektiv' Gültigem), sondern es geht ihm um eine Definition dessen, was Gott ist, aus dem Zusammenhang der religiösen Situation. Wenn Eiert nun feststellt, die Situation des Glaubens entspreche dem Empfangen eines Briefes und der Glaube sei ein ,Seinsurteil' in dem Sinne, wie ein Briefempfänger feststelle, er .sei' in der Tat der in der Anschrift Bezeichnete, dann ist festzuhalten, daß es in der Frage des ,Werturteils' nicht um diese Feststellung geht; vielmehr geht es um die Frage, welchen Status die diese Feststellung auch nach Eiert begleitende Behauptung des Glaubens hat, in diesem Wort bzw. in der Person Jesu, die ihn da anspreche, habe es der Glaubende mit Gott zu tun. - Das dann folgende Argument ist wenig überzeugend: Eiert weist gegen die Ritsehl unterstellte Deutung des Glaubens als .subjektives' Urteil daraufhin, daß - wie eine Briefanschrift — auch das Evangelium gelte, weil es vom .Objekt' dem Glaubenden wie dem Briefempfänger

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D e r christliche Glaube

der Geltungsanspruch des Evangeliums gründe wie der Geltungsanspruch einer Briefanschrift nicht im Empfänger, sondern im .Gegenstand': „Die Anschrift gilt aber sowohl objektiv wie subjektiv - subjektiv, weil sie gerade darin besteht, d a ß sie mich, den Empfänger, meint; objektiv, weil sie mir vom .Objekt', nämlich von der Anschrift, zudiktiert wird. Ebenso wird die G e l t u n g des Evangeliums sozusagen jedem zudiktiert, der es vernimmt. Niemals kann der Glaube zugeben, sie sei n u r ,subjektiv'. Es gilt ihm, weil es allen gilt. Insofern besteht hier ein Unterschied von der Briefanschrift. W e n n einer das allen Geltende nicht auf sich bezieht, so ist das ein subjektivistisches Verhalten, das aber an der .objektiven' Geltung nicht das Geringste ändert." 6 8

Einmal abgesehen davon, ob das Argument viel wert ist: Die Intention des Absatzes ist die Feststellung, daß gerade darum die Aufipaltung zwischen Subjekt und Objekt das Wesentliche verschleiert, weil es sich im Getroffenwerden des Subjektes vom Geltungsanspruch des Evangeliums um ein Subjekt wie Objekt verbindendes und beide engagierendes Geschehen handelt; auf der anderen Seite geht es Eiert aber darum, festzuhalten, daß dieses Engagement nicht das einer gleichmässigen Wechselwirkung ist, sondern daß es sich um das Verhältnis von exklusiver Aktivität und reiner Passivität, von Herrschaftsantritt und Selbstaufgabe handelt, um den Verzicht des Menschen auf die Autonomie angesichts des .Objektes', das einen Bestimmungsanspruch erhebt. Die Beschreibung des Glaubensgegenstandes - des Evangeliums - als Einheit von Demonstrativ und Adhortativ beschreibt eben den .Gegenstand' - Christus - als Anspruch Gottes und damit als Widerspruch gegen das Auto-

,zudiktiert' werde, und insofern sei die Geltung der Anschrift .objektiv'. Unbestreitbar - aber eben kein Argument, das in irgendeiner Weise die Position Ritschis auch nur streift. Ritschis Lehre vom .Werturteil' zielt auf den Status, den die Identifikationen empirischer Entitäten mit Gott haben und Eiert fährt unmittelbar im Anschluß an das Scheingefecht mit Ritschis Position fort: „Die Geltung des Evangeliums für den Glauben besteht also [!!!] darin, daß er sich dabei von Gott angesprochen weiß." Genau dies - die Frage nach dem Status dieses Satzes, die Frage, was .Geltung^?· den Glauben' und .angesprochen weiß meint — ist die Problemstellung, die Ritsehl bearbeitet und auf die Eiert nicht nur keine befriedigende Antwort gibt, sondern die er in der zitierten Wendung implizit wie Ritsehl beantwortet. 68 157. Der Vergleich ist wenig befriedigend und im Blick auf das Argumentationsziel nicht leistungsfähig. Er funktioniert nur, wenn man Unterschied zwischen einer Geltung und einem Geltungsanspruch einerseits und andererseits den Unterschied zwischen der Geltung des .pro me' (der Anschrift) und der Gültigkeit des auf Geltung für mich Anspruch erhebenden Inhaltes (des Briefinhaltes oder des Evangeliums) unterschlägt: Daß eine Briefanschrift mir den Brief .zudiktiert', ist das eine. Daß mir — Richtigkeit der Anschrift vorausgesetzt — der Brief dann auch gilt, ist zuzugeben. Daß allerdings dadurch der - damit analogisierte - Glaube mehr als ein .subjektives Für-wahr-halten' ist, ist nicht recht einleuchtend, denn der Glaube bezieht sich nicht oder nicht allein auf das ,pro me' - also das Faktum eines Geltungsanspruches - sondern als Glaube eben auf den Inhalt der Botschaft. Umgekehrt: was der Unglaube bezweifelt, ist nicht, daß ihm mit dem Evangelium etwas zugesagt wird, sondern daß es mit dieser Zusage inhaltlich etwas auf sich hat. Das Argument und die Analogie Elerts trüge überhaupt nur dann etwas aus, wenn man aus der Gültigkeit der Briefanschrift ein positives Urteil bezüglich der Gültigkeit des Briefinhaltes für den Empfänger ableiten könnte. Das ist - nebenbei: zum Glück - nicht der Fall.

Gestz und Evangelium. Die Prolegomena der Dogmatik

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nomiepostulat des Menschen. Näherbestimmt wird mit dem Vergleich des Geltungsanspruches des Evangeliums mit dem einer Briefanschrift der Begriff der .Geltung', und zwar in der Richtung, daß die Geltung als nicht erst durch den Empfang konstituiert, sondern als dessen Bedingung der Möglichkeit darstellender vorsubjektiver Anspruch ausgelegt und so im Gegenstand des Glaubens verankert wird. Der Glaube ist lediglich die Rezeption - im Sinne von Anerkennung - dieses im Evangelium selbst begründeten Anspruches, die Resignation und der Verzicht darauf, diesem Anspruch etwas entgegenzusetzen. Diese implizite Näherbestimmung des Begriffes der Geltung entfaltet lediglich die im Aufbau der Paragraphen zum Evangelium bereits angelegten systematischen Implikationen, denn gerade die Zuordnung des Adhortativs zum Demonstrativ des Evangeliums und die damit vertretene These, daß der Adhortativ - der Geltungsanspruch - ein konstitutives Moment des Evangeliums sei, schließt es aus, die subjektive Geltung als Leistung des Subjektes zu betrachten: „Dieser Existenzwandel vollzieht sich, wie gesagt, im Glaubenden, weil er vom Inhalt des Evangeliums ins Herz getroffen wird. Er weiß sich gemeint, wenn er den Adhortativ vernimmt. Und er weiß, daß der Bericht ihm gilt. Das apostolische Zeugnis drückt das so aus, daß der, von dem es berichtet, y«> uns, unsertwegen, um unsertwillen gelebt, gelitten habe, gestorben und auferweckt sei. Und Christus selbst hat es bestätigt. Nur weil das ,für uns' geschah, kann uns der Adhortativ persönlich anreden. Und umgekehrt sind wir nicht nur von dem Adhortativ angeredet, sondern auch von dem Bericht gemeint, weil das Berichtete ,für uns' geschah. Der Glaube endlich, der von diesem Bericht getroffen wird, macht aus dem ,fiir euch' der Anrede das ,fur mich' des Angeredeten. Diese Wendung des ,für euch' in das ,für mich' ist allerdings gar keine Tat des Glaubens, sondern nur eben ein Vernehmen des Berichtes so, wie er gemeint ist, denn die Beziehung auf den Hörer liegt ja bereits in dem Zusatz ,für euch'." (156)

In diesem Abschnitt begründet Eiert den Subjektbezug des Evangeliums nicht nur im Adhortativ des Evangeliums, sondern beschreibt diesen Adhortativ selbst als integrales Moment des Demonstrativs und führt so den Geltungsanspruch und die Zueignungsabsicht des Evangeliums auf seinen Gegenstand zurück. Die Beschreibung des Glaubensgegenstandes - des Evangeliums — als Einheit von Demonstrativ und Adhortativ beschreibt diesen in eins als mit dem ,Gegenstand' — Christus - selbst gesetzten und geltenden Anspruch Gottes, als Anspruch auf die Anerkennung dieser Geltung und eben damit als Widerspruch gegen das Autonomiepostulat des Menschen. Diese Bestimmung des Glaubensgegenstandes expliziert ihn damit auch als Widerspruch gegen jeden Versuch, den Glauben als Konstitutionsgrund seines Gegenstandes zu fassen.69 69 Darin wiederholt sich - wie unten noch deutlicher werden wird - die Aufnahme der Intention des Gesetzes - der Autonomie des Menschen zu widersprechen - durch das Evangelium, die ich oben im Rahmen der Interpretation der Morphologie nachgezeichnet habe; s.o. S. 238ff.

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Der christliche Glaube

Damit ist die Erfahrung, in der sich die Inhalte des Glaubens vergewissern, beschrieben; Eiert sieht das Zentrum der Erfahrung und damit des in dieser Situation geweckten Glaubens darin, daß dieser das Korrelat der Einwirkung irresistibler Macht - eben die Resignation und Passivität angesichts dieser Macht - ist. Die Erfahrung ist wesentlich dadurch geprägt, daß sie ,Bestimmtwerden', ,Konstituiertwerden' ist, und zwar so, daß sich in diesem Bestimmtwerden ein fremder Anspruch gegen den Menschen durchsetzt. 2.3.3. Der Existenzwandel als das Zentrum der Antithetik von Gesetz und Evangelium. Damit ist die entscheidende Bestimmung des Verhältnisses von Glaubensgegenstand und Glaubenssubjekt bei Eiert erreicht, und damit gleichzeitig der Rahmen beschrieben, in den sich die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium einzeichnet: Das Zentrum der Elertschen Position ist nicht nur das Verhältnis von Gesetz und Evangelium, sondern dieser Existenzwandel, in dem sich - in der Anerkennung der Geltung des Evangeliums - eben der Ubergang vom Autonomieanspruch des Subjektes zur Fremdbestimmung vollzieht: „Der Glaube entsteht aus der im Evangelium ergehenden Paraklese. Daß dabei der Hörende aus seinem Mittelpunktsdasein herausgerufen wird, daß er, indem er den Ruf aufnimmt, seinen irdischen Halt losläßt und daß eben hierdurch der Rufende Herr über ihn wird, das ist das Wunder des Existenzwandels, der aus dem alten einen neuen Menschen macht." (589).

Eben darum kann der christliche Glaube nicht als Konstituent seines Gegenstandes verstanden werden, nicht als ,innere Haltung' in Parallele zu anderen Modi des Glaubens. Der Glaube besteht gerade darin, von seinem Gegenstand bestimmt und eben damit nur noch rezeptiv zu sein: „... dieses letzte Verstummen [des Menschen vor Gott] ist zugleich die Voraussetzung dafür, daß er [der Mensch] nur noch zu hören vermag. Und hier scheidet sich nun Glaube und Unglaube. Der Unglaube ist das verstopfte oder zugehaltene Ohr ... Der Glaube dagegen kommt ,aus dem Gehör'... Er ist das offene Ohr. Er ist die Bereitschaft des Menschen, der nur noch hört, weilet nichts, wirklich nichts mehr zu sagen weiß, der durch sein Verstummen sein Schuldigsein anerkennt und der bereit ist, das Urteil zu vernehmen ... Er ist die Bereitschaft zum Sterben. Dieses Verstummen des glaubenden Sünders ist die große Stille, die Gott gewissermassen braucht, um nun selbst zu Wort zu kommen. Er fällt sein paradoxes Urteil: Der Mensch des Glaubens, der vor seinem Schöpfer verstummt, weil er schuldig ist, der Sünder also, der nichts anderes mehr ist noch sein will, als dieses, der ist gerecht." (583)

Was Eiert hier als Glaube beschreibt, ist allerdings doch wohl eher die Wirkung des Gesetzes und so die negative Voraussetzung der Evangeliumsverkündigung und des Glaubens.70 Die Passage macht - so gelesen — deutlich, daß 70 Diese Passage - aus dem Zentrum der Rechtfertigungslehre - ist in erstaunlicher Weise defizitär: Das Verstummen des Menschen ist eindeutig - erkennbar schon daran, daß es die Vor-

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die Zuordnung von Gesetz und Evangelium ihr Zentrum in dem Übergang einer sich als Mittelpunkt der Wirklichkeit verstehenden zu einer rein rezeptiven, auf ein fremdes Zentrum ausgerichteten und von ihm her bestimmten Subjektivität hat. Diese Neubestimmung des Subjektes, der Existenzwandel ist - im Rückblick - der Sinn des Gesetzes, das die Unmöglichkeit ausweist, den Menschen als autonomes Zentrum der Realität auszugeben; unmöglich deshalb, weil sich der Mensch einer seinem Autonomieanspruch widersprechenden Gegenmacht ausgesetzt sieht - ob er diese nun als ,Gott' bezeichnet oder nicht: „Ob die Mystiker diese Macht das .Eine' nennen oder die Tragiker das fatum oder die Edda die Urd oder Wurd oder andre das Schicksal oder ob heutige Gottlose ihr den Namen Gottes ausdrücklich verweigern, das macht in diesem Zusammenhang keinen großen Unterschied. Es ändert jedenfalls nichts an der Tatsache, daß ihnen allen diese Macht und Herrschaft tatsächlich offenbar ist. In diesem Sinne ist auch die allgemeine Religionsgeschichte ein Zeugnis für die Realität natürlicher Gotteserkenntnis. Denn überall begegnen die Menschen tatsächlich Gott im Leben und im Sterben, weil sie darin der Macht begegnen, die das eine wie das andre über uns alle verhängt." (182)

Und dieser Existenzwandel ist die Wirkung des Evangeliums, das diese negative Intention des Gesetzes festhält und bestätigt, indem es den Menschen in einem anderen seiner selbst begründet. 71 Gerade die Verfaßtheit dieser neuen Existenz, die sich ganz im anderen ihrer selbst begründet und von ihm bestimmt weiß, ist das Argument dafür, daß in keiner Weise der Glaube seinen Gegenstand, sondern dieser den Glauben begründet: Bevor der Glaube Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung Gottes ist, ist Gott Bedingung der Möglichkeit des Glaubens — und in eben diesem Sinne nimmt Eiert im Sinne von 1 Kor 13,13 das Erkennen Gottes in das diesem vorausgehende Erkanntsein durch Gott auf: „Der persönliche Einsatz, der bei der Kenntnis [Gottes] fehlt, ist für die Erkenntnis grundlegende Voraussetzung. Er besteht darin, daß wir vom Gesetz wie vom Evangelium persönlich getroffen werden, d.h. daß wir nicht zweifeln können, daß wir es sind, die gemeint sind. Einen Einsatz bedeutet das insofern, als der Hörer es nicht bei dem bloßen Hören bewenden läßt, sondern seine Existenz jenem Herzschuß ... preisgibt. Allein das ist nicht der einzige Unterschied zwischen Kenntnis und Erkenntnis. Wer sich mit dem Anruf durch einen andern gemeint weiß, erkennt damit an, daß ihn der andere schon vorher erkannt hat. Denn sonst könnte ja nicht gerade er, der Angerufene,

aussetzung der Unterscheidung in Glaube und Unglaube ist - die Wirkung des Gesetzes - vgl. auch den vorangehenden Text. Es wird hier somit eine Grundbestimmung des Glaubens als Voraussetzung des Rechtfertigungsurteils Gottes bestimmt. Daß Eiert den Passus unmöglich so gemeint haben kann und lediglich vom emotionalen Schwung der ausgemalten Situation fortgerissen wird, ist vom Gesamtduktus der Dogmatik her ebenso eindeutig wie es signifikant ist, daß Eiert diese nicht etwa nebensächliche, sondern ganz zentrale Passage nicht im Laufe der Bearbeitung des Textes oder wenigstens der zweiten Auflage geändert hat. 71 Dazu s.o. C, 2.3.4., S. 204fF.

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Der christliche Glaube

gemeint sein. Deshalb fügt Paulus, wo er von unserer Erkenntnis Gottes spricht, hinzu, daß wir vorher von Gott erkannt seien." (1770 Die Zuordnung von Gesetz und Evangelium ist also der Modus, in dem sich die Grundfragestellung der Erlanger Theologie wiederholt: Die Gegenstände der Theologie erweisen sich — schon im Aufbau dieser Dogmatik — als konstitutiv bezogen auf den Vollzug eines Existenzwandels, in dem allein sie in ihrer Realität und göttlichen Dignität erfahren werden und mit Bezug auf den allein sie bestimmbar werden. Dieser Existenzwandel hat Widerfahrnischarakter, er ist — nach Eiert — die Folge einer dem Subjekt angetanen Negation. Er ist so verfaßt, daß er als Ende des Anspruches des Subjektes auf Autonomie die Unterstellung des Subjektes unter einen Herrn so darstellt, daß sich in der Analyse dieser Erfahrung der Gegenstand als Ursprung aller Bestimmungen des Subjektes erweist. Die Abfolge von Gesetz und Evangelium ist damit aber, wie in der Morphologie des Luthertums, der Modus, in dem sich Elerts Auseinandersetzung mit der unter dem Titel der Autonomie' und damit des Widerspruches gegen den göttlichen Anspruch präsenten neuzeitlichen Subjektivitätstheorie vollzieht. 2.4. Glaube als Anerkennung und als Herrschaftswechsel. Eine gewisse Schwierigkeit beim Nachvollzug der Position liegt darin, daß Eiert die Momente des Glaubensbegriffes — das Moment der Anerkennung' einer Ordnung, das Moment des (als Existenzwandel ausgelegten) ,Herrschaftswechsels' und das von ihm ebenfalls genannte Moment des Glaubens als Vertrauen oder als Liebe zu Gott (178) - an keiner Stelle ausdrücklich miteinander vermittelt wiewohl doch auf den ersten Blick nicht recht einsichtig ist, inwiefern die Anerkennung einer Ordnung' einen Herrschaftswechsel oder eine Wandlung der Existenz darstellen sollte, oder wie die emotional aufgeladenen Beschreibungen des Glaubens als Sprung oder Wagnis unter Aufgabe aller Sicherheiten sich mit der im Blick auf den emotionalen Gehalt doch eher distanzierten Anerkennung einer Ordnung vermitteln lassen.72

72

Vgl. 153f, wo Eiert die Identifikation eines mit der einer Gewehrkugel verglichenen Wirksamkeit des Evangeliums und der im Blick auf den emotionalen Gehalt doch eher steifen und wenig existentiellen Anerkennung einer Ordnung vornimmt: Eiert vergleicht dort zunächst die Wirkung des Evangeliums im Blick darauf, daß der Mensch davon getroffen wird und der Anerkennung seiner Geltung nicht ausweichen kann, mit dem Getrofifenwerden durch eine Gewehrkugel und wehrt dadurch die für ihn mit Lessings Ringparabel verbundene Vorstellung ab, die Entscheidung zum Glauben komme als Wahl zwischen eingehend geprüften Alternativen zustande: „In Wirklichkeit verhält es sich aber mit der Entscheidung, die der Christ, der wirklich einer ist, trifft, doch wesentlich anders. Jene drei Religionen ... sehen einander von außen allerdings recht ähnlich. So ähnlich wie die fünf Gewehrpatronen in einem Ladestreifen. Wer sie betrachtet ..., merkt überhaupt keinen Unterschied. Und doch besteht er. Eine von ihnen ist vor allen andern ausgezeichnet. Es ist die, von der einer ins Herz getroffen wird. Da gibt es dann kein Wählen, Vergleichen, Bewerten mehr. Er liegt am Boden. ... Das Getroffenwerden ist der Glaube. Der

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Es ist zunächst entscheidend, daß das Gemeinsame aller Kennzeichnungen des Glaubens in der Fremdbestimmtheit liegt: das gilt für die Unterstellung unter einen Herrn ebenso wie für den Wandel der Existenz, der gerade darin besteht, daß der Mensch zu reden aufhört, um nur noch zu vernehmen, oder darin liegt, daß sich der Mensch völlig einem fremden Herrn unterstellt (155; 589; 420f; 565; 630); an diesem Herrschaftswechsel bzw. dem Charakter des Glaubens als Selbstaufgabe oder Aufgabe jeder Sicherung hängt auch der Charakter des völligen Vertrauens gegen jede Vernunft; 73 wie gezeigt hängt auch die Auslegung des Glaubens als ^Anerkennung der Gültigkeit einer fremden Ordnung' damit zusammen. Der Glaube ist wesentlich Verlust der Selbständigkeit und Unterstellung unter eine fremde, absolute Herrschaft, der der Mensch auf Gedeih und Verderb sich hingibt (vgl. bes. 3 4 6 351). Eiert kommt es in der Identifikation des Herrschaftswechsels mit der Anerkennung einer Ordnung eben darauf an, daß es ein bestimmter Inhalt - die Verkündigung des Evangeliums - ist, der sich in einer unableitbaren Erfahrung als Wort Gottes am Menschen durchsetzt: „Der Existenzwandel vollzieht sich ... im Glaubenden, weil er vom Inhalt des Evangeliums ins Herz getroffen wird." (156). Nicht eine beliebige emotionale Erschütterung, sondern die mit diesem Inhalt vermittelte Gewißheit, daß dieser Inhalt das für den Menschen geltende Wort Gottes ist - und insofern der Glaube an die Geltung dieses Wortes ist selbst der Herrschaftswechsel und damit der Existenzwandel vom Autonomieanspruch zur Heteronomie. Der Glaubens-,akt' selbst erweist sich — darin die negative Intention der Gesetzeserfahrung bestätigend — als so — nämlich heteronom - verfaßt, daß er als Konstituent seines Gegenstandes nicht in Frage kommt, sondern seinerseits das Fremdbe-

Adhortativ des Evangeliums sagt, daß der Hörer betroffen wird. Der Glaube ist die Antwort. Er meldet, daß er getroffen ist." (152f) Eiert kommt es in der Folge allerdings darauf an, daß dieses irrationale Moment der unmittelbaren Begegnung mit dem Evangelium keine Selbständigkeit neben der Beschreibung des Verhältnisses von Evangelium und Glaube als Zumutung einer Ordnung und deren Anerkennung erlangt; der Glaube als .Antwort' auf den Bericht von Christus sei „die Bereitschaft, sich gemeint zu wissen und die Geltung auf sich zu beziehen. Er ist die Gewißheit, daß das gepredigte Wort und also auch dessen berichtender und ermahnender Inhalt mir gilt. In diesem Sinne wird der glaubende Hörer ... ins Herz getroffen ... Dieses Getroffenwerden kann aber immer nur vom Inhalt des Gehörten her verstanden werden." (154) Die Begegnung mit Gott, deren Wirkung das .Getroffenwerden' und damit der Glaube ist, vollzieht sich somit nicht als Voraussetzung der Anerkennung der Geltung oder als inneres Erlebnis, dem das Anerkennen der Versöhnung in Christus erst folgte, sondern der Glaube ist nichts anderes als das im Hören der Verkündigung vollzogene Erfassen derselben als inhaltlich geltendes Wort Gottes an den Menschen. Der Glaube ist als Übernahme des Geltungsanspruches eben identisch mit dem Existenzwandel, der sich durch die Verkündigung des Evangeliums vollzieht, und die von Eiert beschriebenen existentiellen Wirkungen (Gewehrschuß, Herrschaftswechsel, in einen fremdbestimmten Strudel gerissen werden [155f]) vollziehen sich eben gerade in der Anerkennung der Ordnung und sind mit ihr identisch. 73 Eiert verwendet hier wie dort dieselben Metapher des ,Loslassens' aller Sicherungen und des .Sprunges' in Gottes Arme: vgl. 155f mit 350 und 179 u.ö.

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Der christliche Glaube

stimmtsein ist, das Erfaßtwerden von einer anderen Macht, ein Existenzmodus des Menschen ohne den Anspruch auf Autonomie neben Gott. Genau dies ist das Thema der Erlanger Schule: die Analyse des subjektiven Glaubens bzw. der Begegnungssituation von Wort und Glaube so, daß er sich in dieser Analyse als Gewißheitsgrund seines Gegenstandes, und dieser Gegenstand sich als Korrelat des Glaubens erweist und als Konstituent des Glaubens verifiziert. Dieses Thema wiederholt sich bei Eiert: Das Evangelium wird in strenger Korrelation zum Glauben eingeführt, die göttliche Autorisierung des Evangeliums findet den Grund ihrer Gewißheit im Glauben. Dennoch kommt gerade der Glaube nicht als Produzent seines Gegenstandes in Frage, sondern ist selbst nichts anderes als das Konstituiertsein durch seinen Gegenstand.

3. Die Bedeutung des Glaubens: Bedingung der Erkenntnis und passive Konstitution Unterstellt man die Position Elerts der im Einsatz der Dogmatik präsenten Gewißheitsfrage, so stellt sie die Frage nach dem Grund der in der Kirche (als Norm der kirchlichen Verkündigung) geltenden Lehrsätze und beantwortet diese Frage durch den Rückgang auf die Situation, in der es - mit seiner Veröffentlichung von 1912 zur Religionspsychologie zu sprechen - zur Begegnung mit der Wirklichkeit kommt 74 , für deren Formulierung das Dogma Wahrheitsanspruch erhebt; es handelt sich also um ein Programm der Verifizierung des Inhaltes des christlichen Glaubens im Sinne v. Franks und Ihmels'.75 Die Frage nach dem Grund der Gewißheit der Verkündigung wiederum führte zunächst auf die Kirche, sodann auf den Inhalt ihrer Verkündigung — Jesus Christus — und zwar als den, in dem Gott präsent ist.76 3.1. Evangelium und Glaube. Die bisherige Analyse der näheren Bestimmung des Verhältnisses von Evangelium und Glaube hat ergeben, daß Eiert jedenfalls nicht von einer dem Glauben vorauslaufenden Vergewisserung der Göttlichkeit des Wortes oder der Gottheit Jesu Christi ausgeht, sondern davon, daß sich im Vollzug der Verkündigung das Evangelium als Wort Gottes dadurch durchsetzt, daß es Glauben weckt. Der Glaube ist die Bedingung der Möglichkeit dafür, die Inhalte des Glaubens in ihrer göttlichen Dignität überhaupt zu erfassen. Der Glaube ist so gleichsam die noetische Bedingung der Möglichkeit der ihm gewissen Inhalte. Andererseits sind die Inhalte als solche

74 75 76

Glaube § 5; s.o. S. 77f. § 5, 60f; s.o. B, 1.1. (S. 77f)· Ebd.; vgl. oben B, 3.3.1. (S. 113ff).

Die Bedeutung des Glaubens

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die Bedingung der Möglichkeit des Glaubens, der so entsteht, daß sich diese Inhalte in einem unableitbaren Geschehen am Menschen durchsetzen. Dabei steht fest, daß sich der Glaube auf Inhalte bezieht, die auch dem Nichtglaubenden zugänglich sind und deren Anspruch auch ihm nachvollziehbar ist - die biblischen Schriften; die Verkündigung; die Person Jesu. Diese Inhalte offenbaren die Realität ihrer göttlichen Dignität erst ,für den Glaubenden', das heißt: für denjenigen, der sich dem von diesen Inhalten erhobenen Geltungsanspruch und damit ihrer göttlichen Dignität unterstellt. Dem nicht Glaubenden ist wohl dieser Anspruch, nicht aber sein Recht zugänglich. Eiert hält damit ganz im Sinne der Erlanger Schultradition fest, daß sich der Ubergang vom Unglauben zu Glauben nicht in der Weise vollzieht, daß dem Menschen im Ausgang von den natürlichen Evidenzen und damit von den Medien des göttlichen Wirkens oder der göttlichen Gegenwart die vom Glaubenden bejahten Prädikate erst andemonstriert und vergewissert werden, bevor sie zu Gegenständen des Glaubens werden. 3.2. Der Begründungszirkel. Auf der anderen Seite beharrt Eiert aber in der bereits referierten Weise darauf, daß der Glaube nicht Konstitutionsgrund seiner Gegenstände ist. Der Glaube ist im Gegenteil selbst das Konstituiertsein durch diese Gegenstände, die eher Grund seiner selbst als Gegenstände sind: Er ist selbst das Ende des Anspruches, autonomer Mittelpunkt aller Realität zu sein. So führt Eiert die Gewißheit des Christen - wie referiert - darauf zurück, daß Gott die die Gültigkeit des Evangeliums letztlich verbürgende Autorität ist, daß also das Zeugnis der Apostel und Christus selbst darum Autorität und Grund der Gewißheit des Glaubens sind, weil in ihnen das Wort Gottes vernehmbar wird (60f). Die Gewißheit, daß in ihnen das Wort Gottes vernehmbar wird, hat aber nur der Glaube, der sich wiederum zu seiner eigenen Vergewisserung auf das stützen soll, was als Gewißheitsgrund nur für den in Frage kommt, der selbst glaubt. Diese zirkuläre Struktur, die dann erkennbar wird, wenn man den Elertschen Entwurf auf die schlichte Einsicht Franks hin befragt, die besagt, daß gegenständliche Instanzen kein nicht mehr hinterfragbares Fundament subjektiver Gewißheit sein können, zeigt sich an vielen Stellen bei Eiert — ich biete als Beispiel noch eine weitere: Eiert leitet seine Ausführungen zur Schrift mit den Worten ein: „Was bisher über Gesetz und Evangelium, über Christus, über Glauben und Existenzwandel gesagt wurde, stand bereits unter der Autorität der Schrift." (207) Das Stichwort Autorität' zeigt, daß es in der Tat um die Gewißheitsfrage geht, die Frage also, wodurch die bisherigen Ausführungen ihr Recht und ihre Geltung beziehen. Nun fährt Eiert auf der folgenden Seite mit der Feststellung fort, daß selbstverständlich der Dogmatiker auch hinsichtlich des Grundes der Schriftautorität auskunftspflichtig sei und stellt fest: „Auch hier ist die Frage nach d e m zureichenden G r u n d e zu beantworten. N a c h allem, was bisher v o m Evangelium gesagt wurde, kann die Antwort nur in einer bestimm-

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Der christliche Glaube

ten Richtung gesucht werden. Ist es der Sachgehalt des Evangeliums, der uns bezwingt, so kann es auch nur der Sachgehalt der Schrift sein, der sie uns zur Autorität macht." (208).

Diese Auskunft - die Schrift verbürgt das Evangelium, das Evangelium verbürgt die Schrift - ist eindeutig zirkulär und zwar so eindeutig, daß es sich empfiehlt, nach einem Grund für einen bewußt eingegangenen Zirkel zu fragen: 3.3. Der Grundfür den Zirkel. Eiert hatte in dem eben gebotenen Zitat die Frage nach der Schriftautorität und in diesem Zusammenhang das Verhältnis des Evangeliums zum Glauben folgendermassen beschrieben: „Ist es der Sachgehalt des Evangeliums, der uns bezwingt, so kann es auch nur der Sachgehalt der Schrift sein, der sie uns zur Autorität macht." (208). Als ,Sachgehalt' des Evangeliums hatte Eiert die Person Christi bezeichnet, als Zeugnis von ihm gewinnt die Schrift ihre Autorität: Die Schrift hat insofern Autorität, als durch sie die unmittelbaren Zeugen Jesu diesen vergegenwärtigen.77 Und auch - so hatte Eiert herausgestellt - die Person Jesu ist für den Glauben nur darum relevant, weil er in ihm die Autorität Gottes selbst hört (61). Das entscheidende Stichwort allerdings ist der Verweis auf den ,Sachgehalt des Evangeliums, der uns bezwingt': Die Person Jesu ist von göttlicher Autorität dadurch, daß sie den Menschen bezwingt - hier hat man sich nun die genannten Bilder Elerts zu vergegenwärtigen: ihn wie eine Gewehrkugel trifft (152f), ihn einer fremden Herrschaft unterstellt (155f), ihm die Anerkennung einer in ihm selbst gesetzten Ordnung abnötigt (156f). Zuvor (61) hatte Eiert eben diesen Sachverhalt so ausgedrückt, daß Jesus Christus insofern Autorität ist, als er selbst das Wort Gottes ist. Verbindet man beide Gedanken, so ergibt sich eine von Eiert nicht ausdrücklich hervorgehobene Korrelation der beschriebenen Formalstruktur des Glaubens und der göttlichen Autorität. Dann genau erweist sich die göttliche Autorität Jesu, der Schrift, der Verkündigung, wenn sie sich am Menschen in einem irresistiblen Geschehen so durchsetzt, daß dieser diesem Wort und damit einer fremden Herrschaft unterstellt wird. Es ergibt sich so eine Parallele zu dem von Eiert an keiner einzigen Stelle seines Werkes ausdrücklich aufgenommenen Gedanken Luthers, daß Gott und Glaube ,korrelativ' sind, und zwar in einem bestimmten Sinne: Nur der Glaube — als Unterstellung unter die Herrschaft - hat es mit Gott zu tun, der eben wesentlich dadurch ausgezeichnet ist, daß er eine Selbständigkeit und Autonomie neben sich nicht duldet.78 Als solche, die Glauben wirkt - nämlich das Ende des Anspruches auf Autonomie — erweist sich die Person Jesu als Gott, und der Glaube, der sich dem hier erhobenen Anspruch unterstellt, und

77 78

21 1; 213f; 145 u.ö. 246; 290; Zitat s.o. S. 279.

Die Bedeutung des Glaubens

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nur er hat in ihr Gott. Es zeichnet sich hier die Möglichkeit ab, daß das von Eiert offenbar bewußt in Kauf genommene zirkuläre Verhältnis der Begründung (nämlich der Bedeutung des Glaubensgegenstandes für den Glauben in der Voraussetzung des Glaubens und des Glaubens ,an' diesen Gegenstand in der Glauben wirkenden Potenz des Glaubensgegenstandes) ihren Grund in dem sachlichen Verhältnis von Glaube und Gott hat, dem gemäß nur im Glauben Gott als solcher erfaßt ist und nur in der Selbstdurchsetzung Gottes der Glaube (als Unterstellung unter die absolute Autonomie) entsteht. Das impliziert eben - wie oben bereits angedeutet - eine eindeutige inhaltliche Bestimmung Gottes wie des Glaubens: Gottes als der Macht nämlich, die keine Selbständigkeit neben der eigenen duldet und sich gegen jeden Autonomieanspruch durchsetzt, und des Glaubens als des Verzichtes auf den Anspruch auf Selbständigkeit und Freiheit neben Gott. 3.4. Die Zuordnung der Definition des Verhältnisses von Glaube und Evangelium in § 20. Genau daran liegt es, daß das Verhältnis des Glaubens zum Evangelium - wie oben bereits herausgestellt - beschrieben wird als Verhältnis der Anerkennung zu einer Ordnung, und so als Verhältnis der bedingungslosen Unterstellung unter einen Herrn. Jegliche explizite Bezugnahme des Glaubens auf die vorausgehende inhaltliche Bestimmtheit des Evangeliums unterbleibt.79 Das Verhältnis des Glaubens als Vertrauen zum Evangelium als Botschaft von der Vergebung und der Überwindung des Zornes Gottes tritt völlig zurück gegenüber den formalisierten Strukturen von Ordnung und Anerkennung sowie Herrschaftsanspruch und Unterwerfung, die ,formal' in dem Sinne sind, daß sie nicht spezifisch für die inhaltliche Füllung des Evangeliums sind. Dieser Punkt ist nun ausgesprochen interessant: Es ist mit der vorausgehenden Analyse erkennbar geworden, daß Eiert diese Reduktion auf die genannte Formalstruktur eben in dem Interesse unternimmt, mittels dieser formalen Beschreibung des Glaubens sicherzustellen, daß der Glaube in keiner Weise Produzent des Glaubensinhaltes, sondern vielmehr die existentielle Bestimmtheit der vollständigen Abhängigkeit und Heteronomie gegenüber diesen Inhalten ist. Eiert löst mit genau dieser Bestimmung des Glaubens das Grundproblem der ihm vorausliegenden Tradition: die christliche Subjektivität, bestimmt als ,Existenzwandel', einerseits als Bedingung der Möglichkeit

79 Eiert geht an einer einzigen Stelle darauf ein, daß das Evangelium mit gegenseitiger Liebe des Menschen zu G o t t und umgekehrt zu tun habe, hebt hier aber fast ausschließlich auf die Liebe Gottes zum Menschen ab und überfuhrt das Verhältnis auf der folgenden Seite sofort wieder in eine Beschreibung des Glaubens, der ein Sprung ins Ungewisse sei (vgl. 178f)· D e m entspricht, daß die § § 2 4 und 2 5 , die die Auslegung der Erschlossenheit Gottes einerseits, des Menschen andererseits jeweils unter dem Gesetz und dem Evangelium behandeln, praktisch ausschließlich von der Gotteserfahrung des Gesetzes und der Selbsterfahrung des Menschen unter dem Gesetz handeln.

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Der christliche Glaube

einer Erkenntnis der Glaubensinhalte zu bestimmen, sie in der Analyse ihrer internen Bestimmtheit aber andererseits eindeutig als Produkt dieser Inhalte kenntlich zu machen. 3.5. Die weiterführende Frage. Die entscheidende weiterführende Frage besteht somit darin, wie es bei Eiert zu dieser .formalen' Beschreibung des Verhältnisses von Evangelium und Glaube kommt, mit deren Hilfe er das genannte Problem der Erlanger Tradition bearbeitet, und wie sich diese zur inhaltlichen Bestimmtheit des Evangeliums verhält. Dies Problem soll im folgenden durch eine Analyse der Rechtfertigungslehre auf dem Hintergrund der Christologie und der Gotteslehre Elerts bearbeitet werden.

4. Die Lehre von der Rechtfertigung Im folgenden ist nach der Ursache für die analysierte ,formale' Struktur des Verhältnisses von Glaube und Evangelium zu fragen. Dafür soll zunächst die Funktion des Glaubens im Rahmen des Paragraphen über die Rechtfertigung analysiert werden (4.2.), und zwar im Zusammenhang mit einem knappen Blick auf das Verhältnis dieses Paragraphen zu Elerts Ausführungen zur Person und zum Werk Christi (4.1.). Ich werde in diesen beiden Abschnitten - die Position Elerts in optimam partem interpretierend - versuchen zu zeigen, daß Elerts Ziel in den Ausführungen zur Rechtfertigung darin besteht, als Wirkung des Evangeliums den beschriebenen Existenzwandel vom Autonomieanspruch zur externen Konstitution eben so zu beschreiben, daß dieser Existenzwandel nie zur habituellen Eigentümlichkeit des Menschen wird, sondern bleibend an die Verkündigung der Person und des Werkes Christi als deren Wirkung gebunden bleibt. Die Verfaßtheit des Glaubenden wird in keiner Weise eine von der Person Christi ablösbare Eigentümlichkeit, sondern bleibt gebunden an die Formalstruktur einer externen Konstitution. Das Ziel der Ausführungen Elerts in der Darstellung der Rechtfertigungslehre, so wird sich zeigen, liegt genau darin, festzuhalten, daß in dem unter dem Evangelium erfolgenden Tod der alten ,Mittelpunktsexistenz' und der — bleibend externen - Konstitution eines ,neuen', im Empfangen lebenden Menschen die Intention des Gesetzes erfüllt wird und die Situation des Widerspruches des Menschen gegen den Herrschaftsanspruch Gottes an ihr Ende kommt; es wird sich zeigen, daß in dieser Intention die formale, inhaltlich autoritäre Deutung des Glaubens als .Unterstellung unter einen Herrschaftsanspruch' oder .Unterstellung unter eine Ordnung' begründet ist. (4.3.) faßt das Ergebnis zusammen. Der dann folgende Abschnitt 5. wird versuchen, diese subjektive' Seite des Verhältnisses von Evangelium und Glaube durch eine Analyse der .objektiven' Seite zu ergänzen.

Die Lehre von der Rechtfertigung

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4.1. Christologie und Rechtfertigungslehre. Bevor also die Lehre von der Rechtfertigung und damit der Glaubensbegriff analysiert werden kann, muß zunächst knapp der Zusammenhang von Christologie, Versöhnungslehre und der Lehre vom ,Existenzwandel' skizziert werden: 4.1.1. Der Zusammenhang als Entsprechung zum Zusammenhang der §§ 18— 20. Das Zentrum der Elertschen Dogmatik liegt in der Verbindung von Christologie, Versöhnungslehre und Rechtfertigungslehre; zunächst gilt es, die große Linie zu identifizieren, die — von Eiert nur sehr schwach betont — die drei genannten Lehrstücke zusammenhält: Die Zwei-Naturen-Lehre, die in § 57 als Lehre von der realen und nicht nur verbalen Partizipation des göttlichen Subjektes am Leiden des Menschen und des Menschen an der Herrlichkeit der Gottheit entfaltet wird, ist die Voraussetzung dafür, daß Eiert im Rahmen der Lehre vom Werk Christi das Werk der Versöhnung um den Sachverhalt gruppieren kann, daß Christus in seinem Leiden Vertreter Gottes vor den Menschen und der Menschen vor Gott und insofern der sühnende Stellvertreter sei, wobei eben der entscheidende Umschwung darin liegt, daß der Tod Christi nicht nur als menschliches Geschick, sondern als Werk Gottes selbst verstanden wird (§ 60, 420f); zugleich ist die in diesem Tod liegende Erlösung der Modus, in dem die Menschen der Herrschaft des Erhöhten unterstellt werden (§ 61, 431). Mit diesem Zusammenhang von Versöhnungstat und Herrschaftsanspruch wird nicht nur das genus apotelesmaticum und das genus maiestaticum der Idiomenkommunikation, in denen sich die communio naturarum konkretisiert (§ 57), aufgenommen, sondern auch die Deutung der Rechtfertigung als Urteilsgeschehen und Herrschaftsergreifung vorbereitet (§ 83); dieser zuletzt genannte Zusammenhang ist bereits darin erkennbar, daß Eiert ausdrücklich die Versöhnungslehre als Entfaltung des generellen ,pro me' und damit des Adhortativs des Evangeliums charakterisiert (424f; 427ff) und in diesem Paragraphen 60 selbst auf die Lehre von Rechtfertigung und Wiedergeburt vorausweist (425), in der sich die in Christus erworbene Freiheit realisiere. Insgesamt entfalten die Kapitel zur Christologie, zur Versöhnungslehre und zur Lehre von der Rechtfertigung (XI., XII. und XVI.) das Evangelium in den drei konstitutiven Hinsichten, die Eiert in den §§ 18-21 vorgreifend skizziert hatte: das Kapitel XI über die Person Jesu enthält den um das ,Gott war in Christo' konzentrierten Demonstrativ (§ 18), das Kapitel XII. über das Werk Christi die um das ,pro nobis' bzw. das ,pro me' konzentrierte Versöhnungslehre, die Eiert hier - wie bereits dargestellt - als Adhortativ (§ 19) identifiziert, und der Abschnitt über die Rechtfertigung entspricht dem § 20) der Prolegomena über .Evangelium und Glaube' (dazu unten 4.2.). Die genannten Lehrstücke hängen also dergestalt zusammen, daß jeweils die Bedingung der Möglichkeit der folgenden Paragraphengruppe einerseits und die Erkenntnisgrundlage der vorangehenden andererseits entfaltet wird: Die Lehre von den zwei Naturen bzw. der communio naturarum stellt die

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Der christliche Glaube

Gottheit Jesu als Subjekt des Leidens und die Menschheit als Teilhaberin an der Herrschaft des Logos dar und bildet so die Bedingung der Möglichkeit für die Versöhnungslehre, in der das Werk Jesu als Stellvertretung des Menschen vor Gott und umgekehrt und vor allem als Grund der gegenwärtigen Herrschaft über den Menschen beschrieben wird; auf diese Versöhnungslehre greift die Darstellung der Rechtfertigung als Urteilsgeschehen und als Herrschaftsantritt Christi über den Menschen zurück und begründet sich darin. Umgekehrt ist in den Abschnitten über die Person und das Werk Christi, wie zu zeigen sein wird, der Glaube als Erkenntnisbedingung bereits vorausgesetzt, der sich in beiden erst begründet. Dieser Sachverhalt markiert noch einmal das hier relevante Problem der Zirkularität des Verhältnisses von Glaube und Gaubensgegenstand. 4.1.2. Auflyau und Intention der Christologie. Elerts Christologie im engeren Sinne zerfällt also in zwei Kapitel, nämlich die Lehre von der Person und die Lehre vom Werk Christi als Lehre von der Person und vom Versöhnungswerk. Die Lehre von der Person Christi, die nun zunächst im Blick auf den christologichen Grundansatz im Zentrum stehen soll, stellt ein in sich ausgesprochen widersprüchliches Gebilde dar. Sie ist so aufgebaut, daß Eiert in zwei Paragraphen zunächst den Bericht der Evangelien vom Leben und der Person Jesu, und zwar erst im Blick auf sein Menschsein, dann auf das Zeugnis von der Gottheit Jesu (§ 52, Der Mensch Jesus Christus; § 53, Der Sohn Gottes) nachvollzieht. Diesen Ausführungen folgt eine Zuordnung der Lehre von der Menschwerdung und der Jungfrauengeburt, die er als Lehren, die aus der Perspektive des Glaubens an den Fleischgewordenen ihre Gültigkeit haben, die also die Christologie voraussetzen und eben nicht diese aus anderen Prinzipien herleiten, 80 kennzeichnet. Darauf folgt die Lehre von den Status Christi (§ 55, Die Lehre von der Entäußerung; § 56, Die Lehre von der Erhöhung), in der Eiert in Abgrenzung gegen Thomasius 81 den Logos ensarkos als Subjekt

80 Der entscheidende Punkt in Elerts Rekonstruktion dieser Lehrstücke besteht darin, daß er diese Stücke als Implikationen des Anspruches Jesu, nicht aber als diesem Anspruch vorausgehende und ihn begründende Erklärungsmodelle betrachtet. So ist das Subjekt der Menschwerdung der Logos ensarkos in dem Sinne, daß alle menschlicherseits gültigen Aussagen über sein Gekommensein diese auf eine beanspruchte Herkunft hin vermitteln, nicht aber aus dieser .ableiten'; es ist das Faktum der Person Jesu, von dem her sich die Aussagen über seine Präexistenz und Menschwerdung gleichsam als dessen Horizont begründen, nicht umgekehrt die Präexistenz und Menschwerdung, von der her sich das Faktum der Person Jesu begründet (375-377). - Ahnliches gilt für das Theologumenon der Jungfrauengeburt (378). 81 Vgl. 382f. Gegen die Position des Thomasius allerdings kann man die Eigenart Elerts insofern sehr schön profilieren, als hier ein identischer Ausgangspunkt vom Faktum der durch Christus vermittelten Gottesgemeinschaft vorliegt (vgl. Thomasius, Person I, bes. §§ 3 und 4 sowie § 6 [4-8; 11 ]). Im Ausgang von diesem Ansatz erschließt Thomasius aber die Voraussetzungen und Hintergründe dieses Faktums als dessen gegenständliche Voraussetzungen (I, 11), nicht also aus der Perspektive der bestehenden Gottesgemeinschaft, sondern — in der Terminologie Elerts - ,νοη oben'. In diesem Ansatz hat dann seine eigentümliche Lehre vom Verzicht des logos

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der Kenose beschreibt, und zwar um die Nötigung des Menschen zur Anerkennung der vollen Gottheit Christi im Menschen Jesus von Nazareth zu erhalten. Der letzte der Paragraphen ordnet der so entfalteten Christologie die Zwei-Naturen-Lehre zu unter der Prämisse, daß dieser die Aufgabe der Wahrung der Einheit der Person zukomme (§ 57, Die Lehre von den beiden Naturen). Der Aufbau ist eindeutig von dem Ziel bestimmt, im Ausgang von der irdischen Erscheinung des Menschen Jesus (§ 52) das Urteil über seine Gottessohnschaft zu begründen und die traditionellen Lehrstücke dieser Grundsituation der Begegnung mit Jesus und des in dieser Begegnung entstehenden Glaubens an ihn als Sohn Gottes zuzuordnen. 4.1.3. ,Christologie von unten. Eiert kennzeichnet seine Christologie genau in diesem Sinne als Christologie ,νοη unten': Diese Selbstcharakteristik zielt darauf ab, das Urteil des Glaubens über Jesus von Nazareth - dieser ist Gottes Sohn - im Ausgang vom in den evangelischen Berichten faßbaren irdischen Leben Jesu zu begründen. Sowohl die Lehre von der Person wie die Lehre vom Werk Christi begründet sich daher, unter Verzicht auf den möglichen Ausgang von der traditionellen christologischen Terminologie, auf eine Analyse der Evangelienberichte vom Leben Jesu: „Christologie ,νοη unten her' heißt..., auch noch durch die Lehre der Apostel über Christus hindurch auf den Grund dieser Lehre und ihres Glaubens an Christus hindurchschauen. Das ist aber kein anderer als der geschichtliche Christus von der Geburt bis zur Auferstehung, den sie gehört und gesehen hatten. ... Bei diesem elementarsten Bericht, der selbstverständlich nicht auf die vier Evangelien beschränkt, sondern auch in den anderen Zeugnissen des Neuen Testaments vernehmbar ist, hat die Christologie einzusetzen. Nur von ihm her kann die Lehre der Apostel über Christus verstanden und das christologische D o g m a der Kirche zuverlässig geprüft werden." (358).

Wenn auch die Wendung .Christologie von unten', mit der Eiert seine Christologie kennzeichnet, nicht gänzlich mit dem Ansatz der gesamten Dogmatik ,νοη unten' (60f) vermittelbar ist,82 so sind doch Grundintentionen

asarkos auf seine relativen göttlichen Eigenschaften im Vollzug der Menschwerdung ihren Ort, in der Thomasius in der Tat die Bedingung der Möglichkeit eines einheitlichen Selbstbewußtseins und so der Einheit der Person Jesu sieht (II, 142-144 [Entfaltung des mit dem Rechtfertigungsglauben Gesetzten - dazu I, § 5 - ; Schriftbeweis vgl. 145ff; Ubereinstimmung mit dem consensus ecclesiae 159ff]; zum Anliegen der Wahrung der Einheit der Person vgl. aaO. 14 lf)· Zur kenotischen Christologie des 19. Jh.s vgl. Breidert, Christologie, zu Thomasius 52ff. 82 Dies gilt in dem Sinne, daß Elerts Position auf den ersten Blick so aussieht, als wolle er ,νοη unten' im Sinne von ,mit dem historisch unabhängig vom Glauben Feststellbaren' einsetzen - vgl. zum Problem des Begriffes und der Aufnahme bei Eiert Ratschow, Christus 73 f. Eiert meint aber hier etwas anderes, nämlich den Ausgang von der Situation der Begegnung mit Christus im Vollzug der Verkündigung von ihm, d.h. eben die Begegnung mit der Verkündigung, die auch den Einsatz der gesamten Dogmatik als .Dogmatik von unten' kennzeichnen sollte (s.o. S. 263f und

118f)-

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Der christliche Glaube

dieses Begriffes auch hier identifizierbar: Es geht Eiert auch hier um den Entwurf einer Christologie, die nicht mit dem formulierten Dogma einsetzt und dieses entfaltet, sondern die hinter das Dogma und das apostolische Zeugnis zurück nach der - in diesem Zeugnis dargestellten - Person Jesu selbst und nach der Begegnung mit ihr fragt und an ihr — das heißt an den Berichten der Evangelien über das Leben, den Tod und die Auferstehung Jesu - das Recht und vor allem den Sinn der apostolischen Lehre und des kirchlichen Dogmas ausweist (357f, vgl. 394ff). Dieser Rückgang auf die Berichte vom Leben Jesu soll vor allem den Sinn der dogmatischen Begrifflichkeit klären, die Eiert in der Gefahr der Überfremdung durch die Gehalte der entsprechenden philosophischen Begriffe — insbesondere einen entfremdenden Gottesbegriff sieht. Die Verwendung des Logosbegriffs, die Terminologie der Zwei-Naturen-Lehre etc. erhält ihre Legitimation nach Eiert ausschließlich dadurch, daß sie eine Auslegung dieses Lebens Jesu darstellt.83 Diese Aufnahme einer philosophischen Begrifflichkeit sei zwar unvermeidlich, stelle die Theologie aber in die beständige Gefahr, daß ihr Lehren nicht vom Erscheinungsbild der Person Jesu und ihres Werkes, sondern von den philosophischen Konnotationen des Begriffes her bestimmt werden und so die Lehre über die Person Jesu vom Gehalt dieser Begriffe, und nicht der Gehalt der Begriffe von der Person Jesu her bestimmt wird: „Das letzte Kriterium der Reinheit der theologischen Begriffe ist... dasWon Gottes, das er in der Person Christi, nicht nur in dem, was sie lehrte, sondern auch in dem, was sie tat und was ihr widerfuhr, zu uns geredet hat." (357f) Diese Absicht klärt nun den Sinn der Rede von einer ,Christologie von unten': Es handelt sich um eine Christologie, die mit dem von den Augenzeugen Jesu faßbaren Eindruck einsetzt und von dort aus die spezifisch theologischen Aussagen über Jesus - im Zentrum eben den Sinn und das Recht der Rede von seiner Einheit mit Gott und der Bedeutung seines Werkes vor Gott - auslegt und legitimiert. Ein Rückgang hinter die Situation der Erfahrung der Verkündigung des Evangeliums etwa auf den .historischen Jesus' ist gar nicht intendiert, sondern die Möglichkeit der Rückfrage gründet sich darauf, daß innerhalb der apostolischen Verkündigung eine Unterscheidung des Adhortativs bzw. der Lehre von der Heilsbedeutung Jesu und des Demonstrativs bzw. der Lehre von seiner Person möglich ist und sich erstere auf letztere begründet. Der geschichtliche Christus von der Geburt bis zur Auferstehung' ist Christus so, wie er in der Verkündigung (der Apostel und der Kirche) mit dem Anspruch auf Glauben begegnet. Der Ausweis der Heilsbedeutung am .geschichtlichen Christus' vollzieht sich sozusagen innerhalb des Evangeliums so, daß die verkündigte Heilsbedeutung am verkündigten Geschehen ausgewiesen wird. Eine ,Christologie von unten' ist eine Christologie im Ausgang 83 Vgl. 356 zum Begriff der .Naturen', dazu auch 395; 357f zum Gottesbegriff, dazu bes. auch Eiert, Ausgang 32-51, bes. 48fF, dazu Hauber, Christologie 139ff und 154ff.

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von dieser Situation der Begegnung mit der Verkündigung.84 Eine Christologie ,νοη oben' würde demgegenüber nicht nur die kirchlichen Dogmen und deren Terminologie in das Zentrum der Christologie stellen, sondern eben dadurch mit dem göttlichen Ursprung Christi und so mit der Lehre von der göttlichen Natur Jesu einsetzen, die dann über die Lehre von der Menschwerdung mit der menschlichen Natur Christi vermittelt würde. Im Rahmen der Lehre von der Person und vom Werk Jesu impliziert dies den den vorläufigen Verzicht auf die traditionelle Terminologie der Zwei-Naturen-Lehre, der Lehre von der Menschwerdung bzw. genauer: es impliziert deren Reformulierung als Ausdruck des in der Begegnung mit Christus entstehenden Glaubens an das Evangelium. Im Rahmen der Versöhnungslehre wiederum verzichtet Eiert auf die Unterstellung des Werkes Christi unter die Amterlehre sowie darauf, den Tod und die Auferstehung Jesu von vornherein unter den Kategorien der Sühne und der Herrschaft zu erfassen; wie im Rahmen der Zwei-Naturen-Lehre ist auch hier jeweils die Absicht leitend, die traditionelle Terminologie von Person und Werk Christi her und als Beschreibung desselben zu rechtfertigen und damit zu vermeiden, daß das Werk Christi unter das Vorzeichen an ihm selbst nicht ausgewiesener Voraussetzungen zu stehen kommt. Das Ziel ist - wie überall im Bereich der Erlanger Tradition (vgl. Slenczka, Studien Bd. 1, 28ff) - nicht die kritische Reduktion, sondern die Rechtfertigung der wesentlichen Bestimmungen der traditionellen Christologie anhand des Lebens Jesu, wie es sich im apostolischen Zeugnis dar-

84

Damit ermässigen sich eine Reihe von Problemen, die die Dogmatik Elerts aufgibt: Es wird des öfteren moniert, daß Eiert zwar einen Rückgang vom Dogma der Kirche und von der Verkündigung der Apostel auf die .geschichtliche Person Jesu' als den Weg der Vergewisserung bezüglich der Inhalte des Dogmas und der apostolischen Verkündigung projektiere, diese .geschichtliche Person Jesu' aber nicht .hinter' den Evangelien, sondern in ihnen und in den auf Christus bezogenen gegenständlichen Aussagen der apostolischen Briefe suche (358 - vgl. etwa Ratschow, Christus 73f u.ö.; Hauber, Christologie 137). Diese auf den ersten Blick eigenartige Verweigerung gegenüber einer Rückfrage nach dem historischen Jesus hat ihren Grund darin, daß Eiert das Epitheton .von unten' eben nicht als Ausgang vom historisch Feststellbaren, sondern von der Entscheidungssituation angesichts der Verkündigung des Evangeliums versteht, so daß auch der Rückgang auf die geschichtliche Erscheinung' Jesu der Rückgang auf den .Demonstrativ' des Evangeliums ist, d.h. den Sachgehalt, wie er sich in der Verkündigung, nicht als deren Voraussetzung manifestiert (vgl. oben S. 272f)· Daher übersieht Eiert die Tatsache, daß auch das Christusbild der Evangelien .Verkündigung' ist, gerade nicht (vgl. Ratschow, Christus 82), sondern stellt genau dies als Bedingung der Möglichkeit seiner Rückfrage in Rechnung. Die Rückfrage nach dem Demonstrativ beruht eben nicht auf der Unterstellung, daß es .hinter' der apostolischen Verkündigung noch einen Gegenstand dieser Verkündigung gibt, sondern setzt voraus, daß in der apostolischen Verkündigung zwischen der Person Jesu und seiner Heilsbedeutung unterschieden werden kann. Daß damit das historische Problem nicht erledigt ist, ist völlig richtig - es stellt sich bei Eiert allerdings an anderer Stelle, nämlich in der Behauptung, daß die Apostel als erste und normative Zeugen (213f; 216f) den unmittelbaren Reflex der Person und des Werkes Jesu bieten (bes. 217, vgl. 358) - und die Rückfrage nach der Zuverlässigkeit dieses Zeugnisses wird mit dem Hinweis auf den Heiligen Geist beruhigt: 213 — eine klassische petitio principii — 206 u.ö. Hier hat Eiert das historische Problem versteckt!

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Der christliche Glaube

stellt - was eine antispekulative Reduktion auf das soteriologisch Relevante nicht ausschließt (vgl. 4.2.1.4.). Eben darin manifestiert sich jener Weg ,νοη unten' zur Begründung des kirchlichen Dogmas, den Eiert zu Beginn der Dogmatik projektiert hatte. 4.1.4. Die Rekonstruktion des Dogmas. Entsprechend konzentrieren sich alle Abschnitte um jeweils unterschiedlich gewichtete Darstellungen zentraler Momente des Lebens Jesu: Im Rahmen der Lehre von der Person geht es darum, festzuhalten, daß Gott selbst das Subjekt des Lebens Jesu ist; die Darstellung hebt auf den sich in der Sündenvergebung manifestierenden Anspruch Jesu ab, der auf die Anerkennung oder Ablehnung desselben im Glauben hinzielt (genauer s.u., S. 300). Im Rahmen der Versöhnungslehre ist das Ziel des Gedankens die Darstellung des Todes Jesu als stellvertretende Sühne im Rahmen einer Deutung des Lebens Jesu als Stellvertretung Gottes vor den Menschen und der Menschen vor Gott, des Lebens Jesu nach der Auferstehung aber als gegenwärtiger Herrschaft über die Welt, die das ,pro me' des Lebens und Sterbens Jesu zur Sprache bringen und entsprechend auf das im Glauben sich vollziehende ,Verstehen des Werkes Christi von Gott her' abheben. Im Rahmen der Versöhnungslehre zeigt sich dabei im Paragraphen über die Herrschaft Christi ein weiteres Element der methodischen Reduktion der traditionellen christologischen Terminologie und deren Reformulierung von der soteriologischen Relevanz her: Eiert betrachtet als Zentrum dieser Lehre das regnum gratiae, von dem aus die Herrschaft Christi über den Kosmos - das regnum potentiae und auch das regnum gloriae — als dem menschlichen Zugriff entzogenes Geheimnis zur Sprache kommt; 85 dies entspricht dem Abweis aller christologischen Spekulation im Rahmen der Lehre von der Person Christi, dem zufolge die Lehre von der Menschwerdung und von der Jungfrauengeburt nur als Moment der Anerkennung des Anspruches Jesu, nicht aber als eigenständige Theorie über das .Zustandekommen' der Person Jesu oder gar im Sinne einer Spekulation über die Person des Logos asarkos in den Blick kommt. 8 6 Insgesamt vollzieht sich in der Christologie der Elertschen Dogmatik also nicht nur eine Neubegründung der christologischen Terminologie im Ausgang von den Evangelienberichten über das Leben Jesu, sondern zugleich eine soteriologische, antispekulative Reduktion. Das Zentrum, von dem her diese Christologie entworfen ist, ist die Begegnung des Menschen mit Christus in

85 „Besteht also der Zusammenhang zwischen der Herrschaft Christi und seinem Erlösungswerk in jeder Hinsicht, auch in kosmischer, so dürfen und müssen wir von seiner Herrschaft überhaupt so reden, wie er nach seinen eigenen Worten unser Herr geworden ist. Sofern seine kosmische Herrschaft darüber hinausgeht, müssen wir sie zu den Geheimnissen Gottes rechnen, die unsern Augen verborgen sind. ... Ein anderes als dieses soteriologische Verständnis der Herrschaft Christi kann es nicht geben." (432). 86 S.o. S. 295f.

Die Lehre von der Rechtfertigung

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der Verkündigung des Evangeliums, das hier nach Person und Werk Christi in die Momente des Auftretens, des Wirkens und des Geschickes Christi einerseits (Demonstrativ, Lehre von der Person Christi) und in die Bedeutung seines Lebens, Sterbens und Auferstehens für den Menschen (Adhortativ, Versöhnungslehre) andererseits unterschieden wird. Oder anders: Der Glaube an das Evangelium - Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selbst; laßt euch versöhnen mit Gott 87 - ist der Bezugspunkt der Ausführungen. 4.2. Die Lehre von der Rechtfertigung (§ 83). Damit ist deutlich geworden, daß die Lehre von der Versöhnung in der Tat den Charakter eines Bindegliedes zwischen der Lehre von der Person Christi und der Rechtfertigung hat, wie der Adhortativ des Evangeliums zwischen dem Demonstrativ und dem durch das Evangelium geweckten Glauben steht. Dieser Adhortativ des Evangeliums entfaltet die Bedeutung des Lebens bzw. des Todes Christi für den Glaubenden, so nun aber, daß er die Bedeutung dieses Todes für Gott bzw. das Verhältnis Gottes zum Menschen entfaltet. Der Tod Christi erscheint als Grund einer Neubestimmung Gottes im Verhältnis zum Menschen, in der Gott die Feindschaft dem Sünder gegenüber aufgibt und sich zur Liebe ihm gegenüber bestimmt. Es ist dabei weiter deutlich geworden, daß diese Auslegung des Todes Jesu gänzlich auf der .objektiven' Seite verbleibt. Eiert kommt es durchaus darauf an, die durch den Tod Christi konstituierte Realität des Verhältnisses Gottes zum Menschen als eine auf den Menschen und die Uberwindung seiner Feindschaft gegen Gott abzielende Wirklichkeit zu beschreiben, die aber — das ist der entscheidende Punkt — ihren Bestand auch ohne diese Rezeption am O r t des Menschen hat (425). Die Versöhnung ist zunächst die Versöhnung Gottes mit dem Menschen, die die Versöhnung im Sinne der Erlösung des Menschen intendiert und zur Folge hat, nicht aber selbst ist. Dieser Versöhnungsakt zielt allerdings als ,für uns' geschehener Akt auf den Menschen und auf den Glauben ab. Der Glaube wiederum - darunter verstanden die Rezeption des Todes Christi als den jeweils betroffenen Menschen selbst meinenden Geschehens (Anerkennung) — ist nach Eiert einerseits eindeutig die Folge des Evangeliums; auf der anderen Seite aber ist er die noetische Voraussetzung für das Verständnis des Werkes Christi als eines stellvertretenden, indem er allein in die Bezüge eintritt, die dieses eröffnet (425f); er ist die Anerkennung und die Übernahme einer Herrschaft, dabei aber eben in etwas unklarer Weise bezogen auf den Inhalt des Evangeliums und darin eben doch wohl nicht nur Anerkennung' sondern auch Vertrauen (178). Unter dieser Prämisse ist nun die Rechtfertigungslehre Elerts zu betrachten, in der man eine Zusammenführung der disparaten Momente und Bezüge des Glaubensbegriffes erwarten darf: 87

Vgl. § 18 und 19.

300

Der christliche Glaube

4.2.1. Rechtfertigung und Versöhnung. 4.2.1.1. Eiert stellt den Zusammenhang der Rechtfertigungs- mit der Versöhnungslehre an zwei Stellen her: zum einen im Rahmen der Versöhnungslehre durch den bereits genannten Hinweis darauf, daß die in Christus geschehene Versöhnung Gottes mit dem Menschen die Versöhnung des Menschen als Befreiung vom Gesetz aus sich heraussetze, ohne daß dies weiter erläutert worden war (425); zum anderen im Rahmen der Rechtfertigungslehre durch den Hinweis darauf, daß die Rechtfertigungslehre die Aufgabe habe, die Frage zu beantworten, inwiefern die in Christus geschehene Versöhnung Gottes mit dem Menschen nicht einfach der Verzicht Gottes auf seine Rechtfertigungsforderung ist, wieweit also in der Versöhnung des Menschen das Recht nicht gebrochen, sondern auch am Ort des Menschen erfüllt wird: „Das Gesetz fordert, daß sich der Mensch vor Gott zu rechtfertigen hat. Dann erhebt sich aber sofort die Frage, ob er durch das Evangelium von dieser Verpflichtung vor seinem Schöpfer befreit ist. Diese Folgerung ist, weil sie dem Gesetz Gottes jeden Ernst nehmen müßte, ganz unmöglich. ...Die Frage nach der Rechtfertigung ist demnach durch das ganze Neue Testament gestellt. Sie ist daher auch ein Zentralproblem der gesamten christlichen Theologie. Wenn sie, dem Evangelium folgend, die Person Christi und die durch ihn vollzogene Versöhnung zwischen Gott und dem Menschen in den Mittelpunkt stellt, so kann das wie eine willkürliche Entlastung des Menschen klingen, solange nicht deutlich wird, daß damit die Urforderung des Schöpfers an seine Kreatur, sich vor ihm zu rechtfertigen, nicht verletzt oder vergleichgültigt wird." (573 und 574)

Der Zusammenhang ist deutlich: die Rechtfertigungslehre ist die Instanz, in der das Evangelium von der durch Gott geschehenen Versöhnung nicht als Vergleichgültigung des Gesetzes, sondern als Erfüllung der göttlichen Rechenschaftsforderung beschreibbar wird. Das heißt aber: Der Bezugspunkt der Lehre von der Rechtfertigung und das Schwergewicht ihrer Darstellung ist nicht die Zueignung der in Christus geschehenen Versöhnung, in der des ,Ernstes des Gesetzes Gottes' hinlänglich gedacht wurde, sondern die Wahrung und Erfüllung des Anspruches des Gesetzes am Ort des Menschen·, Eiert zielt offenbar darauf ab, daß die in Christus geschehene Versöhnung ein den Zorn Gottes und seine Feindschaft den Menschen gegenüber beseitigendes Geschehen ist, das - wie er ausdrücklich festhält - gilt, auch wenn der Mensch im Widerstreit gegen Gott verharrt (425); die Rechtfertigungslehre ist dementsprechend die Lehre von den Folgen dieser Versöhnung Gottes mit dem Menschen am Ort des Menschen, in denen der Widerstreit des Menschen gegen Gott nicht nur ignoriert werden darf, sondern zum Ende gelangen muß: Das grundsätzlich und für Gott ratifizierte Ende der Feindschaft muß nun sich am Menschen wirklich durchsetzen: Die ,Urforderung' des Schöpfers an seine Kreatur m u ß zur Durchsetzung gelan-

88

Vgl. das zuletzt gebotene Zitat, letzter Satz; dazu A22-A25.

Die Lehre von der Rechtfertigung

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4.2.1.2. Eiert verbindet mit dieser Frage nach dem Verhältnis von Rechtfertigung und Gesetz eine implizit bleibende Auseinandersetzung mit dem Vorwurf, die traditionelle Rechtfertigungslehre stelle eine juridische Verfremdung des religiösen Gottesverhältnisses dar;89 Eiert weist zunächst aus, daß der juridische Charakter der lutherschen Rechtfertigungslehre in dem ebenso forensischen Charakter der neutestamentlichen Terminologie seinen Grund und sein Recht hat (579f im Kontext). Den dabei entscheidenden Schritt der Auslegung dessen, was Rechtfertigung bedeutet, bildet Elerts These, daß Rechtfertigung bei Luther nicht die Selbstentschuldigung, auch nicht das ,Herstellen der Gerechtigkeit des Sünders', sondern die im Strafprozeß bzw. im Urteilsvollzug durchgeführte Realisierung des Rechtes am Beschuldigten meint: dem Beschuldigten geschieht - im positiven oder im negativen Sinne - sein Recht. Rechtfertigung' sei demgemäß im weltlichen deutschrechtlichen Kontext, dem Luthers Sprachgebrauch entstamme 90 , der Vollzug des Urteils über den Menschen. Der neutestamentliche Begriff der Gerechtmachung (dikaioun) entstamme ebenfalls dem Gerichtskontext und habe die entscheidende Spitze, daß damit nicht eine Veränderung des Menschen, auch nicht bloß das Vorliegen objektiver Gerechtigkeit und vollkommener Gesetzeserfüllung bezeichnet werde, sondern der Vollzug des Urteils, in dem die Gerechtigkeit nicht hergestellt und auch nicht bloß festgestellt, sondern anerkannt wird. Das .Gerechtmachen' ist der Urteilsakt, in dem die Gerechtigkeit des Menschen anerkannt wird - ein Urteil Gottes: „Der Akt Gottes kann hier also nur als Urteil Gottes verstanden werden, als Anerkennung des Tatbestandes (der vollkommenen Gesetzeserfiillung) durch den richterlichen Spruch Gottes: der Mann ist dikaios." (580, letztes Wort im Orig. griechisch).

,Gerechtmachung' habe im Neuen Testament einen ausschließlich deklaratorischen' Sinn, bedeute demgemäß nicht die empirische Veränderung des Menschen, sondern dessen ,Gerechterklärung', die gleichzeitig ein Urteil über das Gottesverhältnis des Menschen und damit sein Urteil über Leben und Tod sei. 4.2.1.3. Für die Rechtfertigung' im theologischen Kontext ergibt sich für Eiert damit die Aufgabe, das am Ort des Menschen nicht verifizierbare Urteil Gottes (,dieser ist gerecht' als ,Gerechtmachung / Gerechtsprechung bzw. erklärung des Sünders') mit diesem Begriff von Rechtfertigung im Sinne des Jemandem sein Recht zuteil werden lassen' zu vermitteln. Es darf eben dabei nicht der Fall eintreten, daß der Mensch so gerechtgesprochen wird, daß ihm dabei nicht sein Recht, sondern vielmehr Unrecht so geschieht, daß der Sünder nicht zugleich als Sünder verurteilt wird:91 89 Vgl. 575ff, bes. 576-580. Zum Hintergrund dieser hier nicht explizit eingeführten Kritik vgl. Morphologie I, 64-67. 90 Vgl. Eiert, Züge. 91 581.

302

Der christliche Glaube

„Wenn wir daher den Begriff der Rechtfertigung in dem von Luther in weltlichem Zusammenhang gebrauchten Sinne anwenden, so ließe sich jetzt fortfahren: Gott sorgt dafür, daß allen Menschen ,ihr Recht geschieht'. Er wird sie alle rechtfertigen. Diese Rechtfertigung, in der allen Menschen, auch den Verworfenen, ihr Recht zuteil wird, erfolgt im Endgericht ... Gebrauchen wir aber das Wort Rechtfertigung nur im Sinne der ,Gerechtmachung aus Glauben', also als Gerechtsprechung, dann entsteht die Frage, ob damit gemeint ist, daß den also Gerechtfertigten nicht ihr Recht geschieht." (581)

Die Grundfrage des Paragraphen ist also die Frage nach dem Verhältnis von Rechtfertigung und Recht bzw. dem göttlichen Willen, wobei eben einerseits gilt, daß die Rechtfertigung einerseits die ,Urforderung' des Schöpfers an das Geschöpf nicht bleibend frustrieren darf, und andererseits gilt, daß die Gerechtsprechung nicht die Sünde des Sünders bloß ignorieren darf. 4.2.2. Die Bestimmung der Rechtfertigung als Existenzwandel. Eiert entfaltet im folgenden drei Gedankenreihen, die nach Eiert untereinander zusammenhängen92 und in denen eine Gerechterklärung des Sünders ohne den Bruch des Rechtes zur Sprache komme: Der erste, nur knapp angerissene Gedanke sei der der Begnadigung; der zweite Gedanke stellt die .Gerechtsprechung' in einen Zusammenhang mit der Gerechtigkeit Gottes, während der dritte Gedankengang die Rechtfertigung mit der Buße verbindet (582). Weiterführend sind lediglich die beiden zuletzt genannten Gedankenreihen; beide stimmen darin überein, daß sie die Rechtfertigung mit dem Gedanken eines Existenzwandels, der im forensischen Urteil Gottes begründet ist, verbinden. 4.2.2.1. Die erste jener beiden Gedankenreihen (582-585) verläuft in drei Schritten: in einem ersten Schritt umschreibt Eiert den Sachverhalt, daß die Gerechtigkeit Gottes keine dem Sünder eigene Qualität oder eine dem Sünder mitgeteilte, in der Folge gegen Gott verselbständigte Eigentümlichkeit ist; vielmehr handle es sich um das Verhältnis, in das ein Urteil Gottes den Menschen bringt, indem er unter dem Vernehmen dieses Urteils zum Glaubenden wird. Dieses Urteil Gottes als Offenbarung der ,Gerechtigkeit' Gottes identifiziert Eiert mit dem Evangelium: Der Zusammenhang von Gerechtigkeit Gottes und Gerechtigkeit des Glaubens ist eben identisch mit dem Zusammenhang des Evangeliums mit dem Glauben überhaupt: „Die ,Gerechtigkeit Gottes' ist... Gegenstand seines eigenen Offenbarwerdens. Sie wird ,enthüllt', .geoffenbart', .gezeigt' ... Das ist wegen des stetigen Zusammenhangs von Offenbarung und Glaube ... die selbstverständliche Kehrseite ihres Charakters als

92 5 81 f. Eiert geht offenbar - ohne das zu erläutern - von einem gegenseitigen Ergänzungsverhältnis oder einer wechselseitigen Entfaltung der Modelle aus; der aaO. als .nicht ersichtlich' bezeichnete, aber nach Eiert doch wohl vorhandene .Zusammenhang' wird von Eiert im folgenden nicht expliziert.

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Gerechtigkeit des Glaubens. Als ,geoffenbarte' Gerechtigkeit steht sie daher auch zu Gottes ,geoffenbartem' Zorn ... in dem gleichen dialektischen Verhältnis wie das Evangelium zum Gesetz. ... so ist vollends klar, daß sie nicht eine von Gott losgelöste Sache sein kann. Sie gehört ebenso zu ihm selbst, wie er sie dem Sünder zuspricht. Sie ist ein Korrespondieren zwischen ihm und dem Sünder, indem dieser dadurch in das von Gott gewollte Verhältnis zu ihm gelangt, d.h. indem er sich als glaubender Sünder dem Gericht Gottes ausliefert und bereit ist, sein Urteil über sich ergehen zu lassen." (582f)

Eiert meint offensichtlich dies: Der Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes als Offenbarung des Urteils Gottes über den Sünder entspricht auf Seiten des Sünders der Glaube, der darum mit dem Terminus .Gerechtigkeit' vermittelt ist, weil er das durch das Urteil - die Gerechtigkeit - Gottes bewirkte Verhältnis des Menschen zu Gott ist, in dem der Mensch Gottes Offenbarung in positiver Weise entspricht93. Für die Ausgangsfrage nach der Vereinbarkeit des göttlichen ,Gerechtsprechens' mit dem Rechtfertigen' im Sinne von Jemandem sein Recht zuteil werden lassen' ist damit dies gewonnen, daß der Mensch eben durch das Gerechtsprechen Gottes in ein dem Recht entsprechendes Verhältnis zu Gott gebracht wird und eben darin gerecht auch ist.94 Dieses Korrespondenzverhältnis entfaltet Eiert im zweiten Schritt, indem er den Vollzug der Gerechtigkeit Gottes in Gottes Urteil als Gericht Gottes über den Menschen näherbestimmt, vor dem der Mensch zum Verstummen gebracht wird: „Dieses letzte Verstummenmüssen des Menschen vor seinem Richter Mi das Gericht. Ihm wird in der Tat sein Recht zuteil. Aber dieses letzte Verstummen ist zugleich die Voraussetzung dafür, daß er nur noch zu hören vermag. Und hier scheidet sich nun Glaube und Unglaube. ... Der Glaube ... ist das offene Ohr. Er ist die Bereitschaft des Menschen, der nur noch hört, weil er nichts, wirklich nichts mehr zu sagen weiß, der durch sein Verstummen sein Schuldigsein anerkennt und der bereit ist, das Urteil zu vernehmen, das ihm ,sein Recht tun' wird. Er ist die Bereitschaft zum Sterben." (583)

93 Der Ausdruck Elerts ist wenig glücklich: „Sie [die Gerechtigkeit] ist ein Korrespondieren zwischen ihm und dem Sünder, indem dieser dadurch in das von Gott gewollte Verhältnis zu ihm gelangt ..." (ebd., vollständiges Zitat s.o.) Das funktioniert schon semantisch nicht: die Gerechtigkeit kann nicht auf der einen Seite selbst ein ,Korrespondieren', also ein Verhältnis zwischen Gott und Mensch, und auf der anderen Seite der Grund dafür sein, daß der Mensch in ein Verhältnis zu Gott kommt. Eiert meint doch dies: indem Gott sein Urteil über den Menschen spricht und darin seine Gerechtigkeit realisiert, gelangt der Mensch, indem er diesem Urteil im Glauben entspricht, selbst zur Gerechtigkeit. Der Glaube ist als Entsprechung zum Urteil Gottes die aus diesem Urteil stammende Gerechtigkeit des Menschen. Die Gerechtigkeit des Menschen ist ein Entsprechen gegenüber der Gerechtigkeit Gottes — und insofern ist die Gerechtigkeit des Sünders ein Korrespondieren, die Gerechtigkeit Gottes hingegen ist der Vollzug seines Gerichtes am Sünder, durch den der Sünder zu dieser Korrespondenz gelangt. 94

Dieser Umstand, daß der Mensch im Glauben auch tatsächlich gerecht ist, wird nicht expliziert; strenggenommen ist er eben auch nur gerecht, indem er sich als Sünder erkennt, vgl. das folgende. Eiert wendet sich anschließend (584) auch sofort gegen die naheliegende Interpretation, daß die Haltung des Glaubens gleichsam das Motiv für eine - dann analytische! - Gerechterklärung Gottes sei.

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Der christliche Glaube

Elerts Ausführungen zielen nun darauf ab, daß gerade der in dieser Weise das Schuldurteil empfangende, sich als Sünder akzeptierende und in diesem Sinne seinen Selbstbehauptungsanspruch aufgebende Sünder der Gott entsprechende und damit gerechte Mensch ist: „Dieses Verstummen des glaubenden Sünders ist die große Stille, die Gott gewissermassen braucht, um nun selbst zu Wort zu kommen. Er fällt sein paradoxes Urteil: Der Mensch des Glaubens, der vor seinem Schöpfer verstummt, weil er schuldig ist, der Sünder also, der nichts anderes mehr ist noch sein will als dieses, der ist gerecht. Dem Menschen ist sein Recht widerfahren. Er empfängt das Urteil: Schuldig! Und er ist damit .gerechtfertigt'." (583)

Eiert will offenbar die dem in Gesetz und Evangelium ergehenden Urteil Gottes entsprechenden Existenzhaltungen umschreiben: Der Mensch verstummt angesichts des Gerichtes und ist, gerade indem er dieses Urteil .empfängt' und anerkennt, sich also als Sünder und sonst gar nichts betrachtet, selbst gerecht - man muß in dem zitierten Satz das .empfängt' betont (im Sinne eben von .anerkennt') lesen. Nun handelt es sich hier um eine ,Rechtfertigungslehre', die das Verhältnis von Gott und Mensch ausschließlich im Verhältnis von Gesetz und .Glaube' im Sinne der Anerkennung des Todes-Urteils Gottes - beschreibt. Im Zentrum steht das bei Eiert dem Gesetz als Wirkung zugeschriebene Verstummen des Menschen vor Gott, und genau dieses Verstummen scheint die ausschließlich durch das Gesetz hervorgebrachte Gerechtigkeit des Menschen zu sein. Wozu es noch der Versöhnung durch Christus bedarf, ist nach dem Wortlaut der Passage ebenso unklar wie unverständlich ist, in welchem Sinne denn nun das Evangelium — und doch gerade nicht das Gesetz — den Glauben des Menschen bewirkt — zumal Eiert im folgenden gerade feststellt, daß das Gesetz nicht im Glauben vernommen werden kann, sondern nur in Furcht. 95 Eiert scheint das Problem gar nicht zu sehen, behandelt es aber implizit, wenn er nun in einem dritten Schritt sich mit den Deutungen der Rechtfertigungslehre Luthers auseinandersetzt, die im Anschluß an gelegentliche Äußerungen Luthers eine .dialektische' Identität von Gericht und Gnade - der Sinn des Gerichtes sei die Gnade - behaupten, oder aber die Selbstauslieferung des Sünders als den Grund der Gerechterklärung Gottes betrachten; beide Positionen seien dabei sachlich Versuche, den Glauben selbst als Haltung und so als das intendierte Ziel des Handelns Gottes in Gesetz und Evangelium und als den Gegenstand des Urteils Gottes zu bestimmen; 96 das Recht95 Vgl. dagegen: „Das Verstummen und Hören allein ist noch kein Glaube." 584; der Abschnitt 584 ist mit dem Vorangehenden nicht vermittelbar. 96 Das bedarf im Falle der zuletzt genannten Position keiner Erklärung; die erste der beiden Positionen hingegen ist nur dann unter die Beschreibung Elerts zu subsumieren, wenn es Eiert nicht auf die dort behauptete Identität von Gericht und Gnade ankommt, sondern auf die Behauptung, daß die .dialektische Identität' von Gericht und Gnade die .salutaris desperado' aus sich heraussetze, so nämlich, daß die im Gericht bewirkte desperatio selbst salutaris sei. Die Iden-

D i e Lehre von der R e c h t f e r t i g u n g

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fertigungsurteil sei dann als analytisches Urteil und somit - in der Terminologie der Morphologie - als Urteil über den empirischen Bestand der menschlichen Seele verstanden: „Beide Meinungen fußen auf der richtigen Einsicht, daß sich der Glaube Gott gegenüber rein empfangend verhält. Aber beide schließen daraus zu Unrecht, daß dadurch das rechte Verhältnis der Kreatur zu ihrem Schöpfer hergestellt oder wiederhergestellt sei." (583f). Es handelt sich gleichsam um Positionen, die das Gesetz als den Modus des Heilswirkens Gottes identifizieren. Eiert sieht in diesen Positionen eine Wiederbelebung der mittelalterlichen Habituslehre: der Glaube werde in diesem Falle zu einer Art ,Haltung' des Glaubenden, die zum Gegenstand der Beurteilung Gottes werde und somit eine Art eigenschaftlicher Gerechtigkeit darstelle. Der Glaube, so stellt Eiert im Gegenzug fest, könne aber nicht ,nur von seinem Subjekt her verstanden' werden: „Er ist das o f f e n e O h r nicht f ü r irgendetwas, sondern für das Urteil Gottes. U n d zwar für das Urteil, das ihm als Evangelium, also i m Bericht von Christo verkündigt wird u n d das er als W o r t von der V e r s ö h n u n g v e r n i m m t . Dieser Bericht öffnet d e m M e n schen das O h r u n d läßt ihn v e r s t u m m e n . " ( 5 8 4 )

Daß hier dem Evangelium nun plötzlich die Funktion zugeschrieben wird, die zuvor das Gesetz hatte — den Menschen zum Verstummen zu bringen — findet vermutlich seine Erklärung in dem bereits oben analysierten Sachverhalt, daß nach Eiert das Evangelium von Christus die negative Intention des Gesetzes - den Ausschluß der Werke als Fundament der Gottesbeziehung aufnimmt und erhält97. Das Urteil Gottes über den Menschen ist damit durch das Evangelium von Christus näherbestimmt, womit aber eben auch deutlich wird, daß die zuvor (583) beschriebene ,Haltung' des Menschen, der vor Gott verstummt, eben nicht darin bestehen kann, daß der Mensch „sich als glaubender Sünder dem Gericht Gottes ausliefert und bereit ist, sein Urteil über sich ergehen zu lassen" (583) — somit als Glaubender das Evangelium (denn das ist das Urteil, vgl. im folgenden) noch vor sich hätte! - , sondern diese ,Haltung' entsteht eben erst dadurch, daß der Mensch das in Christus ergehende Urteil der Rettung aus dem Gericht hört und dieses zugleich als Urteil über seine Sünde und die in Christus erfolgte Sühne auf sich bezieht: „ G l a u b e tvjßteht nur aus d e m Vernehmen des Evangeliums, u n d er besteht nur in der Gewißheit, daß dessen Inhalt, also Person u n d Werk Christi, d e m G l a u b e n d e n gelten. N u r weil er d u r c h seinen Inhalt wesentlich b e s t i m m t ist, kann er die R e c h t f e r t i g u n g empfangen." (584)

tität von Gericht und Gnade identifiziert also nach dem Willen Elerts das Gericht als Gnade im Blick auf die Wirkung, die es am Ort des Menschen auslöst: daß es den Menschen in die Gottes Wesen entsprechende Haltung der desperatio an seinen eigenen Fähigkeiten bringt. 9 7 Vgl. zu dieser lectio in optimam partem 584.

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Der christliche Glaube

Worauf Eiert abzielt, ist deutlich: Die Aussage, daß der Glaube rechtfertigt, impliziert zwar einerseits, daß der Mensch durch den Glauben in das von Gott intendierte Verhältnis zu Gott gelangt: er ist der nur noch vernehmende, fremdbestimmte Mensch, der im Glauben dessen ansichtig wird, daß er angewiesen ist. Dies ist nun aber nach Eiert nicht so zu verstehen, daß der ,Haltung' des Glaubens selbst irgendeine positive Qualität eigne; sie ist vielmehr nur von der Sühnetat Christi her zu verstehen, die der Glaubende als für ihn geltend anerkennt: Der Glaube an Christus rechtfertigt nicht um des Glaubens, sondern um Christi willen, oder anders: die Gerechtigkeit durch Christus und die Gerechtigkeit durch den Glauben ergänzen einander nicht, sondern sind miteinander identisch: „Käme es auf die empfangende Haltung allein an, so wäre ganz unverständlich oder es müßte eine zweite Art von Rechtfertigung angenommen werden, die mit der ersten nichts zu tun hat, wenn es heißt, daß Christus für uns Gerechtigkeit ist ... Oder daß Gott ,den, der Sünde nicht kannte, für uns zur Sünde machte, damit wir Gerechtigkeit Gottes würden in ihm ..."' (584) Und hier liegt nun zumindest ein Grund für den als,spröde' apostrophierten Glaubensbegriff Elerts, dem gemäß der Glaube die Anerkennung' des im Werk Christi ergangenen Urteils ist. Gerade dieser Begriff des Glaubens erlaubt es, den Glauben ausschließlich als Bezugnahme auf einen verkündigten Inhalt und in keiner Weise auf einen durch diesen Inhalt möglicherweise ausgelöste, dann aber von diese Inhalt abstrahierbaren habitus zu beschreiben, der der Bezugspunkt eines analytischen Rechtfertigungsurteils wäre. 4.2.2.2. Damit bleibt aber eben die entscheidende Frage auf den ersten Bick jedenfalls offen: Was soll es denn heißen, daß Christus die Gerechtigkeit ,für' den Glaubenden ist, und in welchem Sinne werden denn die Glaubenden ,Gerechtigkeit Gottes' in ihm? Das Problem läßt sich näher im Sinne des oben bereits thematisierten Problems so beschreiben, daß Eiert wieder mit zwei Glaubensbegriffen operiert: Einerseits ist der Glaube die Gewißheit, daß sich das Versöhnungswerk Christi auch auf den Glaubenden erstreckt, die Selbstzueignung dieses Werkes somit. Andererseits ist der Glaube ein Existenzwandel, in dem der Mensch seinen Autonomieanspruch aufgibt und sich dem Urteil Gottes unterwirft. 98 Der Glaubensbegriff erscheint hier umgewichtet: er erscheint als Resignation des Menschen unter dem Schuldurteil Gottes und damit als eine Existenzhaltung, in der das geschöpfliche Verhältnis der Unselbständigkeit des Menschen vor Gott wiederhergestellt wird, und die Verbindung dieses Glaubensbegriffes zu jener spröden Selbstaneignung Werkes Christi stellt Eiert auch hier nicht her. Das bedeutet nicht, daß eine solche Verbindung unter den von Eiert expli98

Vgl. neben 5 8 6 : 5 8 9 ; 6 3 0 ; § 2 0 .

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zierten Voraussetzungen nicht denkbar wäre: Den Versöhnungsakt hatte Eiert, wie knapp umrissen, gänzlich unter das Vorzeichen der stellvertretenden Sühne gestellt: Der Tod Christi ist der von Gott gnadenhalber anerkannte Vollzug der Sühne für die Sünde des Menschen, den der Mensch im Glauben auf sich bezieht und durch den er frei wird von den Bindungen, in denen er durch das Gesetz steht (425f)· Dies Geschehen - darauf will Eiert doch in seinen Abbreviaturen offensichtlich hinaus - ist selbst ein Urteil über den Menschen: die Feststellung seiner Sündenverfallenheit im Zuspruch der Vergebung aufgrund der Sühneleistung Christi. Eiert zielt nun darauf ab, daß der Glaube im Sinne der Beziehung des im Tod Christi liegenden Urteils Gottes auf die eigene Existenz selbst einen Existenzwandel darstellt, durch den der Mensch auf seinen Autonomieanspruch (seine eigene Gerechtigkeit) verzichtet und Gottes doppeltes Urteil - das des Evangeliums, das die Verurteilung des Menschen als Sünder und so das Gesetz einschließt (583ff) — über das eigene Leben übernimmt. Dieser Glaube, der die in Christi Tod vollzogene Sühne auf sich bezieht, ist nicht der Gegenstand des — dann ja analytischen — Rechtfertigungsurteils: dieses geht ihm vielmehr in der Verkündigung des Evangeliums voraus. Wohl aber ist der Glaube der dem Rechtfertigungsurteil entspringende Existenzwandel, in dem das Ich in das rechte Verhältnis zu Gott tritt - nämlich in das der Angewiesenheit und Unselbständigkeit neben Gott — und in diesem Sinne selbst gerecht ist. Diese Gerechtigkeit aber ist nicht eine Eigenschaft des Menschen, sondern ein Gottesverhältnis, das bleibend an den Zuspruch des Urteils Gottes gebunden ist und von diesem durch die Person und das Werk Christi bestimmten Inhalt nicht abzulösen ist: „Daß die Gerechtigkeit aus Glauben kommt und daß Christus unsere Gerechtigkeit ist, kann nur so im Einklang stehen, daß der Glaube wegen seines Inhaltes, also wegen Christus oder, was hier dasselbe ist, wegen der Versöhnung rechtfertigt." (585) Der Glaube ist somit das beständige Sich-Zurechnen der Sühnetat Christi und eben darin die Anerkennung des Gerichtsurteils Gottes ebenso wie seines Freispruches; damit aber stellt dieser Glaube eine Wandlung der Grundstruktur der menschlichen Existenz dar, die nun - statt sich selbst zu sichern gegen die in der natürlichen Umgebung erfahrenen Einwirkungen des Zornes Gottes — sich diesem Gericht ausliefert und der in der Anerkennung des Schuldspruches ,ihr Recht geschieht', indem sie die Vergebung empfängt. Der Zielpunkt des Gedankens ist eben insgesamt der, daß das Rechtfertigungsurteil in keiner Weise ein analytisches Urteil ist, daß aber gerade indem die Gerechtigkeit des Glaubens allein in der Sühnetat Christi liegt und gerade indem der Glaube nichts als die Anerkennung der eigenen Unfreiheit und der fremden Tat Christi ist, das geschöpfliche Verhältnis von Gott und Mensch wieder hergestellt ist. Der Mensch verstummt vor Gott und wird im Verzicht auf den Autonomieanspruch rein zum Empfänger der Rechtfertigung durch den allein autonomen Gott. Der Glaube ist nicht als .innere Haltung' Gegenstand des Gerechtigkeitsurteils, sondern das paradoxe Urteil Gottes ergeht über den

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Menschen aufgrund des Werkes Christi. Die Wiederherstellung des geschöpflichen Verhältnisses zwischen Gott und Mensch - das Ende des Autonomieanspruches des Menschen und die Herrschaft Gottes - ist gleichsam ein in der Anerkennung dieses Urteils mitgesetzter Erfolg: die Erfüllung der ,Urforderung' des Schöpfers an das Geschöpf. 4.2.2.3. Ohne daß Eiert die Verbindung zu der - von ihm selbst an keiner Stelle thematisierten - Ambivalenz des Glaubensbegriffes herstellt, entfaltet er genau diesen Sachverhalt nun in der dritten ,Gedankenreihe', die auf die Verbindung des Begriffes der Rechtfertigung mit dem der Buße abhebt. Eiert rekonstruiert hier den Zusammenhang von Glaube und Buße in CA XII, indem er die Buße in eine unmittelbare Verbindung zum Glauben stellt: „Der hier gemeinte Begriff der Buße stellt noch vor Fragen, die über den Rahmen der Rechtfertigungslehre hinausgreifen (§ 84). Diese wird aber insofern davon betroffen, als die Untrennbarkeit von Glauben und Buße den forensischen Charakter der Rechtfertigung von einer neuen Seite beleuchtet. Gibt es keine Rechtfertigung ohne Glauben, so gibt es, das ist die Meinung der Bekenntnisse wie auch die Lehre Luthers, auch keine Rechtfertigung ohne Buße. Bußlehre und Rechtfertigungslehre, sagt die Apologie, sind cognatat (585)

Diese Sätze haben eine Fülle von Implikationen: Zum einen macht der Verweis auf § 84 deutlich, daß mit dem Verhältnis von Glaube und Buße der Zusammenhang von Rechtfertigung bzw. Glaube und ,Neuem Leben' angesprochen ist. Dennoch soll dieser Zusammenhang zunächst gerade nicht aus dem Verhältnis von Evangelium und Glaube und damit aus dem Zentrum der forensischen Rechtfertigung herausführen, so daß etwa nun eine auf die forensische Rechtfertigung folgende qualitative Veränderung des menschlichen Lebens thematisiert würde; vielmehr geht es - vgl. das zuletzt gebotene Zitat um die Beleuchtung der forensischen Rechtfertigungslehre von einer neuen Seite her. In diesem Zusammenhang von Buße und Glaube liegt nach Eiert vielmehr ein weiteres Moment einer Antwort auf die Frage nach der Vereinbarkeit von Gerechtsprechung und .Rechtfertigung' im Sinne von jemandem sein Recht zuteil werden Lassen': Diese dritte Gedankenreihe antwortet auf die Frage nach dem Verhältnis von Rechtfertigung und Gerechtigkeit gerade so, daß Eiert in den existentiellen Implikationen der forensischen Rechtfertigung die schöpfungsgemäße Zurechtbringung des Menschen realisiert sieht. Eiert sieht - nun inhaltlich - in der Verbindung von Buße und Glaube die Verbindung der Rechtfertigung aus Glauben zum Thema des .Existenzwandels' im Sinne der Abfolge von mortificatio und vivificatio vermittelt. Wenn auch die Begrifflichkeit ebenso wie der Zusammenhang mit den vorangehenden Ausführungen weiterer Aufklärung bedurft hätte," ist doch deutlich, daß Eiert hier durch die Verbindung von Buße und mortificatio einerseits, Glaube

"

Eiert knüpft zunächst an die Zuordnung von Gesetz und Evangelium an, die er in den

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und vivificatio andererseits den etwas sterilen Glaubensbegriff der .Anerkennung des Evangeliums' bzw. der .Übernahme des Urteils Gottes' mit dem Thema des Existenzwandels verbindet. Das Urteil Gottes ergeht eben in Gesetz und Evangelium als Todesurteil über den .alten Menschen', der im Vernehmen dieses Urteils wirklich zu Tode kommt; 100 der Glaube ist selbst das Aufleben eines .neuen Menschen', und zwar in dem Sinne, daß der die

Schmalkaldischen Artikeln realisiert findet: .„Und das heißt die rechte Buße anfahen, und muß der Mensch hie hören solch Urteil: Es ist nichts mit euch allen, ihr seid öffentliche Sünder oder Heilige'... So ist es unter dem Wort des Gesetzes." Die .evangelische Buße' hingegen verbinde die contritio passiva mit der fides; dem Einwand, damit werde der neutestamentliche Bußbegriff ausgeweitet, begegnet Eiert so, daß er daraufhinweist, daß in dieser Neuinterpretation das Thema der Buße mit dem paulinischen Zusammenhang von mortificatio und vivificatio verbunden werde. „Unter Buße wird also der totale Existenzwandelvtrstanden, der sich im glaubenden Empfang der Paraklese vollzieht." (586) Einerseits wird der Glaube und die ihm vorausgehende Buße in ein Abfolge- und Ergänzungsverhältnis wie mortificatio und vivificatio gebracht; andererseits soll die Buße mit dem glaubenden Empfang der Paraklese, also dem Glauben selbst, identisch sein; der ,totale Existenzwandel' wäre damit mit der Buße identisch, die Eiert dann auch in § 84 (590) selbst als mortificatio und vivificatio zugleich bezeichnen kann. - Wie dieser Gedanke dann mit der im folgenden emphatisch betonten Untrennbarkeit von ,non-imputatio der Sünde' und ,imputatio der Gerechtigkeit Christi' zusammenhängt, bleibt völlig unklar, zumal Eiert dieses Thema in dem genannten Absatz gar nicht behandelt, sondern sofort abschweift zu der Frage, ob die .Imputation' der Gerechtigkeit Christi lediglich eine .äußerliche Gutschrift' oder eine wirkliche Änderung des Menschen sei. Diese Frage wiederum, in der in der Tat das gesamte Sachproblem kulminiert, wird durch die bloße Zusammenstellung von paulinischen Aussagen über den Zusammenhang des Geschickes Christi mit dem neuen Leben der Christen beantwortet, ohne daß es in den vorangehenden oder folgenden Abschnitten der Elertschen Rechtfertigungslehre auch nur den Schatten einer Anschlußmöglichkeit an diese paulinischen Gedanken gegeben hätte: „Die .Zurechnung der Gerechtigkeit Christi' erfolgt, weil sie, wie gesagt, den Inhalt des Glaubens bildet. Aber gerade die in der Apologie herangezogenen Gedanken der mortificatio und vivificatio zeigen, daß die Gerechtigkeit Christi uns nicht äußerlich sozusagen gutgeschrieben wird. Paulus begegnet dem Gedanken, daß die Rechtfertigung eine einfache Entlastung des Menschen sei, mit der Bemerkung, wir seien ,der Sünde gestorben' ... Er begründet das mit der Verbindung, in die wir durch Glauben und Rechtfertigung mit Christus selbst geraten sind. Wir sind .gepflanzt zu gleichem Tode' und dadurch auch zu gleicher Auferstehung. Dieser im Neuen Testament oft wiederkehrende Gedanke hat für die positive Seite des Existenzwandels grundlegende Bedeutung. Er vollendet die Lehre von der Rechtfertigung." (5860· - Daß die Rechtfertigung rein imputativ ist, hat Eiert, wie referiert, so häufig in der Morphologie hervorgehoben, daß die hier angedeutete Relativierung der Position ungenügend ist; dies gilt insbesondere deshalb, weil die .Verbindung, in die wir durch Glauben und Rechtfertigung mit Christus selbst geraten sind', im vorangehenden und in seiner Beschreibung der Rechtfertigung keinen Ort hat und so auch nicht deutlich wird, wie dieser Gedanke - der auch nicht dem der unio mystica entspricht - die Lehre von der Rechtfertigung ,vollenden' kann. Das Merkwürdige in dieser Verbindung von Rechtfertigung und Buße liegt darin, daß Eiert hier das Thema des .neuen Lebens' selbst mit in die Rechtfertigungslehre hineinzieht, statt die Sachverhalte in Grund und Folge auseinandertreten zu lassen - so etwa 590: „Er ist vor Gott gerechtfertigt. Aber er ist es nur durch die Buße..." - die Fortsetzung widerspricht 584fl 100 Die unter dem Gesetz zustandekommende mortificatio wird von Eiert hier ebenso mit dem realen Tod identifiziert, wie er den leiblichen Tod als die Vollendung des Todes des ,alten Menschen' auslegt (6220·

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Grundstruktur der Existenz bestimmende Gegensatz gegen Gott aufgehoben ist: „Die Rechtfertigung aus Glauben ist das Gericht über den ,alten Menschen'. Ihm ist sein Recht geworden. Er empfängt den Tod. Das ist die in der Buße vollzogene Mortificatio. Und das ist nicht nur bildlich, sondern sehr realistisch zu verstehen. Der Mensch des Glaubens ist ein anderer als der Mensch der Sünde. Es bleibt da zwar eine letzte Identität des Ich. Aber es ist die Identität des Weizenhalmes mit dem Samenkorn, das zuvor begraben werden mußte. Indem der Sünder zum glaubenden Sünder wird, stirbt der Feind Gottes, der er war und der er nicht mehr ist, sobald er Vergebung empfängt." (587)

Die Rechtfertigung aus Glauben ist eben darum kein Widerspruch zum Recht, weil das Wort Gottes als Gesetz und Evangelium ergeht und somit die Negation des ,alten Menschen' als Moment der Gerechtmachung enthält; diese Negation wird nach Eiert vom Evangelium nicht aufgehoben, sondern bestätigt.101 Die Stringenz dieses Gedankens hängt an der von Eiert nicht bezeichneten Voraussetzung, daß Sünde und Glaube, Gottesfeindschaft: und Versöhntsein gerade nicht als Prädikate eines diesen Relationen zugrundeliegenden Ich, sondern als Grundstrukturen dieser Subjektivität selbst gefaßt werden. Dieser Voraussetzung genügt die Position Elerts genau dadurch, daß er die Subjektivität selbst in ihrer Selbstunterscheidung von Gott und in ihrem unverzichtbaren Anspruch auf Autonomie als den unentrinnbaren Widerspruch gegen Gott - Feindschaft gegen Gott - bestimmt. 102 Die Übernahme des Urteils Gottes über den Sünder ist in der Anerkennung des unentrinnbaren Gegensatzes der Verzicht auf eben diesen Autonomieanspruch: die Anerkennung der Unfreiheit und Gebundenheit vor Gott. Diese in der Erfahrung des Menschen unter dem Deus absconditus vermittelte und vom Sünder immer verdeckte Grundsituation wird vom Evangelium bestätigt, aber durch den Zuspruch der Vergebung auf Glauben hin überwunden. Dieser Übergang in die Existenzhaltung der reinen Rezeptivität ist es, in der der Mensch dem Evangelium entspricht und eben damit dem Anspruch des Gesetzes Gottes genügt. Dem Zusammenhang und der Abfolge von Gesetz und Evangelium entspricht auf Seiten des Menschen der Zusammenhang und die Abfolge von Tod und Leben in dem Sinne, daß der den Menschen als Subjekt konstituierende Autonomieanspruch unter dem Urteil des Gesetzes und in der Einstimmung in dies Urteil an sein Ende kommt und der Mensch zur reinen Passivität reduziert wird; auf der anderen Seite entsteht unter der Paraklese des Evangeliums ein ,neuer Mensch', dessen positive Grundbestimmung nun die Unterstellung unter Christus als Herrn ist. 4.2.2.4. Diese Grundbestimmung erörtert Eiert in § 84, in dem er die neutestamentlichen Begriffe der Buße, der Wiedergeburt und der Bekehrung dem

101 102

S.o. C, 2.3.4., S. 204ff; vgl. 238. S.o. C, 2.2.8., S. 186ff.

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in § 83 ansatzweise entfalteten Sachverhalt zuweist. Es kommt Eiert dabei wieder darauf an, daß diese Begriffe den mit der Rechtfertigung aus Glauben gesetzten Sachverhalt nicht überschreiten, sondern eben den mit dem Zusammenhang von mortificatio und vivificatio beschriebenen Ansatz des neuen Lebens zur Sprache bringen und entfalten; die Absicht Elerts ist somit die systematische Verortung der neutestamentlichen Terminologie in dem von ihm beschriebenen Phänomen. Elerts Anliegen ist hier u.a. die genaue Bestimmung des Sinnes einer Rede vom ,neuen Menschen' bzw. genauer die Bestimmung des Sinnes der Identität des Subjektes im Wandel vom ,alten' zum ,neuen Menschen'. Er sieht die Subjektidentität in den konkreten Lebensumständen gewahrt, die vor und nach dem Existenzwandel dieselben bleiben. Was sich gewandelt habe, sei die in diesen Lebensumständen realisierte Gottesbeziehung: „Als Geschöpf Gottes kann also der ,neue Mensch' nur als Konkretum mit erfahrbarem Lebensinhalt verstanden werden. Dieser ist jedoch objektiv, d.h. in seinen irdischen, biologischen und soziologischen Zusammenhängen gesehen, der gleiche wie vorher. Infolgedessen kann, was ,neu' daran ist, nur in seiner Beziehung auf Gott bestehen. Aber sie ist es nur durch die Buße, die zugleich mortificatio und vivificatio ist... Sie ist, insbesondere auch als ,Lebendigmachung', wiederum Werk des Heiligen Geistes, der sich darin als ,Kraft' erweist ... Das Kennzeichen dafür ist aber, daß wir Christus ,in heiligem Geiste Herrn' heißen ... Die Lebendigmachung des neuen Menschen bezeichnet demnach den Existenzwandel, sofern darin Christus über ihn Herr wird. Er ist Herr über die neue Kreatur, d.h. über den Glaubenden in seiner ganzen geschöpflichen Lebensfülle. Der neue Mensch lebt sein Leben unter den gleichen irdischen Bedingungen wie der alte. Aber dieses Leben ist nicht mehr sein eigener Besitz, sondern das Leben seines Herrn, der in ihm lebt ,.."103

Der Tod des ,alten Menschen' als Verlust der Autonomie hat das ,neue' Leben als Heteronomie unter Christus zur Kehrseite, und in diesem Sinne beschreibt Eiert den ,Existenzwandel' - im Gegensatz zu einer empirischen Veränderung des Menschen — als Wandel des Gottesverhältnisses.104 Diese Heteronomie kommt einerseits als Freiheit von allen Bindungen des Gesetzes zugunsten der Unterstellung unter den einen Herrn Jesus Christus zur Sprache. Die innerweltlichen Bindungen kommen dabei aber andererseits als Felder der Realisation dieses Herrschaftsverhältnisses in den Blick - hier liegt der Ansatzpunkt für den Ubergang in die Ethik.105 Das ,neue Ich' ist selbst die

103

590f, vgl. bes. 589. Eiert identifiziert hier in der Tat als den Punkt der Identität zwischen ,alter' und .neuer' Existenz dasjenige, was er in der Morphologie das .empirische Ich' genannt hatte. Diese Unterscheidung allerdings hatte er im Rahmen der Dogmatik nicht eingeführt; die zuvor zitierte Rede von einer .letzten Identität' des Ich bezog sich auch nicht auf das .empirische' Ich, sondern eben auf den Sachverhalt, daß auch der Zuspruch des Evangeliums eine Ich-Instanz anspricht, die zwar Ich, nicht aber Mittelpunktsexistenz sensu negativo ist - vgl. 120 mit 589, dazu Morphologie I, 75; 78. 104 588ff. 105 Vgl. § 86, bes. 608; zu dem ganzen Themenkomplex, in dessen Zusammenhang auch die

312

Der christliche Glaube

Subjektivität, die nicht mehr als von Gott unterschiedene ihren Autonomieanspruch durchzusetzen sucht, sondern selbst ein Unterstelltsein unter Christus, und steht als solche in beständigem ,Kampf mit der Sünde, d.h. dem Versuch des Menschen, Gott gegenüber aus der Haltung des bloßen Empfangens herauszutreten und sich vor ihm selbst zu konstituieren. 106 4.3. Zusammenfassung. Die Grundfrage, unter der die Analyse der Paragraphen zur Rechtfertigung stand, war die Frage nach dem Ursprung der formalisierten Struktur des Verhältnisses von Evangelium und Glaube, in der der Glaube als Anerkennung einer Norm und als Unterstellung unter eine Herrschaft, das Evangelium aber unter der Kategorie der Ordnung und im Blick auf seine Wirkung - nämlich die Beseitigung jeglicher Autonomie' in einer irresistiblen Wirksamkeit - zur Auslegung kommt. Elerts Position ist - von dieser Fragestellung her gelesen - dann in optimam partem gedeutet, wenn man sie als den Versuch betrachtet sicherzustellen, daß der als Existenzwandel oder Herrschaftswechsel verstandene Glaube nie als Eintritt in eine habituelle Selbständigkeit eines schöpfungsgemäßen Gottesverhältnisses verstanden werden kann, sondern an den Inhalt der Verkündigung - an die Zueignung der Person und des Werkes Christi untrennbar gebunden bleibt. Diese Bindung des Glaubens an den Inhalt der Evangeliumsverkündigung wahrt eben die oben als ,steril' gekennzeichnete Auslegung des Glaubens als ^Anerkennung einer Ordnung'. Elerts These wäre dann die, daß der Glaube ein Herrschaftswechsel oder ein Wandel der Existenzstruktur nur ist im Modus der Anerkennung der Gültigkeit des Heilswerkes Christi für den Glaubenden. Der Wandel der Existenzstruktur - die Aufgabe des Autonomieanspruches und der Übergang in den Modus der Rezeptivität gegenüber dem allein autonomen Gott - vollzieht sich ausschließlich in der Weise, daß der Mensch vom Evangelium getroffen wird, sich als Sünder - unfrei in seiner Gottesfeindschaft - erfaßt, indem er das Wort von der Versöhnung auf sich bezieht, und darin bzw. nur so als alter (autonomer) Mensch stirbt und als neuer in der Abhängigkeit von Gott lebt. Das Ziel des Gedankens ist somit derselbe wie in der Morphologie des Luthertums: zu zeigen, daß die Neubestimmung der Existenz nur auf der Basis des Evangeliums möglich ist, und umgekehrt: daß das Evangelium auf diese Neubestimmung der Existenz abzielt (s.o. C, 2.3. und oben 2.3.3.). Der Verzicht auf die Autonomie, der Übergang von der Selbstbestimmung gegen Gott zur Rezeptivität gegenüber Gottes Geben vollzieht sich im Modus der

Intention des Ansbacher Ratschlages zu verorten ist, vgl. jetzt Eyjolfsson, Rechtfertigung, bes. 215ff, spez. 23 lf und ff. Eyjölfsson sucht eben die hier sich andeutende Schöpfungslehre aus dem Zentrum der Rechtfertigung nachzuzeichnen, die sich auch im Aufbau von .Lehre' niederschlägt und in der alle unter der Verborgenheit Gottes als Instanzen der Feindschaft erfahrenen Ordnungen einen positiven Sinn gewinnen. 106 Bes. 592! im Zusammenhang von § 84 und 86.

Die Lehre von der Rechtfertigung

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Unterstellung unter die in Christus geschaffene Versöhnung; diese .Selbstunterstellung unter den Geltungsanspruch des Heilswerkes Christi' stellt gleichsam die Formalstruktur dar, die von diesem gegenständlichen Inhalt nicht abgelöst werden kann; dies gilt nun insbesondere deshalb, weil der als spröde' gekennzeichnete GlaubensbegrifF - Anerkennung der Geltung des Evangeliums ,für mich' — gerade, wie oben entfaltet, den Modus darstellt, in dem eben der Glaube nicht als inhaltliche Ergänzung des Werkes Christi, sondern als die Anerkennung von dessen Genügsamkeit und der damit gesetzten Einsicht in die eigene Unfähigkeit vor Gott bestimmt ist. Ebenso wichtig ist aber ein zweiter Gesichtspunkt: Eiert hebt genau darum auf diese Formalstruktur ab - die ja auch in den Ausführungen zur Rechtfertigung fast ausschließlich das Feld behauptet und in der hier gebotenen Rekonstruktion nur durch eine weitgehende Explikation schmaler Andeutungen mit der inhaltlichen Seite des Evangeliums vermittelt wurde (s.o S. 3 0 7 f ) - , weil genau in dieser Formalstruktur - dem Tod als Ende der menschlichen Autonomie, der entsprechenden Durchsetzung des Herrseins Gottes vor dem Schweigen des Menschen — der Rechtsanspruch des Gesetzes zur Realisierung kommt. Das Evangelium in seiner inhaltlichen Bestimmtheit ist das Ende der ,Mittelpunktsexistenz' und so die Durchsetzung des Anspruches Gottes gegen den Menschen; das Herausheben der Formalstruktur des Glaubens und entsprechend des Evangeliums dient genau dazu, zu sichern, daß eben durch das Evangelium die Situation von Gott und Mensch nicht mehr die des unheilvollen Widereinander zweier Willen, sondern die des Endes des Autonomieanspruches des Menschen ist. Die oben als ,Formalstruktur' des Verhältnisses von Glaube und Evangelium beschriebene Relation von Autonomieverlust und Herrschaft Gottes bzw. von Ordnung und deren heteronomer Anerkennung ist eben nichts anderes

als der Ausdruck dafür, daß das Evangelium nicht der bloße Widerspruch gegen das Gesetz ist, sondern seine Uberwindung nur so, daß es die Intention des Geset-

zes zum Ziel bringt. Und in diesem Sinne geschieht im Vollzug der Rechtfertigung Recht. Die Formalstruktur ist das Moment des Gesetzes am Evangelium, das Eiert für die Begründung der Subjektivität des Glaubens in ihrem Gegenstand nutzbar macht und darum auf Kosten der inhaltlichen Bestimmtheit des Verhältnisses von Gottes Liebe und Vertrauen fast exklusiv hervorhebt. 107 Bevor dieser Aspekt ausgewertet werden kann, muß von einer anderen Seite her das Ergebnis bestätigt werden.

107 Darin - und nicht in einer persönlichkeitsbedingten Ehrfurcht - dürfte der Grund liegen, daß Eiert von der Liebe Gottes (und entsprechend von der Liebe des Menschen zu Gott) an nur wenigen Stellen seines opus spricht - gegen die Deutung des richtig beobachteten Sachverhaltes bei Eyjolfsson, Rechtfertigung 171, vgl. 2 2 2 .

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Der christliche Glaube

5. Zwei-Naturen-Lehre und Deus absconditus Es gibt in der Dogmatik Elerts ein Lehrstück, in dem dieser noch einmal beansprucht, in einer Auseinandersetzung mit Ritsehl zeigen zu können, daß nicht der Glaube der Konstitutionsgrund seines Gegenstandes ist: Im Rahmen der Zwei-Naturen-Lehre unternimmt Eiert den Versuch, diese als Ausdruck dessen zu deuten, daß die Gottheit Jesu gerade kein Prädikat des Glaubenden im Vollzug des Vertrauens auf Jesus, sondern eine in der Person Jesu selbst begründete Verfaßtheit ist. Es soll somit eine Interpretation der ZweiNaturen-Lehre Elerts erfolgen (5.1.), die zu dem überraschenden Ergebnis führen wird, daß gerade im Vergleich mit Ritsehl gar nicht deutlich ist, was Eiert eigentlich unter ,Gott' und unter göttlicher Natur' versteht. Dies wird dann eine Rückfrage nach der Füllung dieses Begriffes notwendig machen, wobei durch eine Analyse der Gotteslehre Elerts eben deutlich werden wird, daß der Gottesbegriff von der Erfahrung des Deus absconditus her bestimmt wird; damit ist ein Indiz dafür gefunden, daß in der Tat die ja nicht nur formale, sondern geradezu autoritäre Struktur des Verhältnisses von Evangelium und Glaube ihren Grund in einem von der Erfahrung des Deus absconditus her geprägten Gottesbegriff hat (5.2.). Das Ergebnis, zu dem die Analyse des Glaubensbegriffes im Rahmen der Rechtfertigungslehre geführt hat - die Beschreibung des Glaubens hat sicherzustellen, daß der Widerspruch Gottes gegen die Mittelpunktsexistenz durch deren Ende befriedigt wird - findet sein Komplement in einem entsprechenden Gottesbegriff im Rahmen der Christologie. (5.3.) faßt das Ergebnis zusammen.

5.1. Die Lehre von den zwei Naturen bei Eiert. 5.1.1. Der Sinn der Zwei-Naturen-Lehre. Der Grund dafür, daß hier nun auf die Zwei-Naturen-Lehre zurückgegriffen werden soll, läßt sich am einfachsten durch einen Blick auf die Intention dieser Lehre verständlich machen: Eiert kennzeichnet die ZweiNaturen-Lehre, in der er das Zentrum des christlichen Glaubens - das ,Gott war in Christus' - zum Ausdruck gebracht sieht, als den Zentralpunkt des Bekenntnisses, in dem der Glaube aussagt, daß nicht er selbst der Produzent bzw. der Grund der Gewißheit des Glaubensgegenstandes ist, daß entsprechend die Aussagen über Christus nicht bloße Prädikationen sind, sondern „daß er ,Sohn Gottes' in qualitativer Unterschiedenheit von allen andern Menschen ist und daß er es auch ist und bleibt, wo ihm die Anerkennung versagt oder wo ihm die Gefolgschaft verweigert wird." (398) Die Zwei-Naturen-Lehre selbst kommt also offenbar zunächst als der Ort der Behauptung der Vorgängigkeit der Qualifikationen des Glaubensgegenstandes als Glaubensgrund vor jeder Bezugnahme des Glaubens auf diesen in Frage. Eiert ist der Meinung, daß die Zwei-Naturen-Lehre das Bekenntnis und der Ausdruck dessen ist, daß der Glaubende seinen Glaubensinhalt als diesem Glauben vorgängig und als dessen Bedingung der Möglichkeit be-

Zwei-Naturen-Lehre und Deus abconditus

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trachtet. Es stellt sich damit die Aufgabe, nach einer Begründung und nach dem Sinn dieser Behauptung zu fragen. Denn offensichtlich wird hier die Instanz, die den Glauben und den Adhortativ des Evangeliums zu tragen hat - der Demonstrativ des Evangeliums im Sinne der die Geltung des Evangeliums verbürgenden Gegenwart der göttlichen Autorität in Christus — eindeutig als Grund des Glaubens etabliert und nicht wiederum auf den Glauben als Grund der Gewißheit der Gottessohnschaft Jesu verwiesen.108 Vielmehr soll hier ausdrücklich festgestellt werden, daß mit der Einheit von Gott und Mensch in Christus der Punkt erreicht ist, wo die Gottheit Jesu nicht Ausdruck des Glaubens der Jünger, sondern der reale Grund des Glaubens selbst und seiner Urteile ist. Das heißt: Offenbar erhebt Eiert hier den Anspruch, nun im Inhalt des Evangeliums das auszuweisen, was er zuvor immer nur im Blick auf die Formalstruktur verständlich gemacht hat: daß der Glaube als Modus der Erkenntnis des Evangeliums auf keinen Fall dessen Realgrund ist, sondern selbst nichts anderes als das Konstituiertsein durch dieses. Die Bestimmtheit der Person Jesu ist dem Glauben vorgängig. 5.1.2. Die Rekonstruktion Elerts. Es ist ganz entscheidend, den Gesichtspunkt zu verstehen, unter dem Eiert die Zwei-Naturen-Lehre rekonstruiert. Eiert reduziert zunächst den Sachgehalt der Lehrstücke, die unter die Zwei-Naturen-Lehre fallen, auf Aussagen, die über die bereits in der Lehre von der Menschwerdung behandelten Themen hinausgehen: Während die Lehre von der unitio personalis dort bereits verhandelt wurde, formuliert nach Eiert die Lehre von den propositiones personales lediglich Folgebestimmungen der

108 Dies geschieht allerdings an der sachlich entsprechenden Passage im Rahmen der Gotteslehre, wo Eiert - und zwar in einer Passage, in der er sich wie im Rahmen der im folgenden zu referierenden Ausführungen zur Zwei-Naturen-Lehre mit Ritsehl auseinanderzusetzen meint folgendes schreibt: „... das Glaubensurteil der Jünger will nicht als autonomes Werturteil verstanden sein. Es ist vielmehr ,vom Vater geofifenbart'... Werturteil ist es nur insofern, als es Erkenntnis und Bekenntnis des eigenen Unwertes zur Voraussetzung hat ... Glaube an Christus heißt von ihm getroffen, heißt aus dem autonomen Mittelpunktsdasein herausgerufen zu sein, heißt: seinen Herrn gefunden zu haben ... Das Glaubensurteil über Christus ist Äußerung eines vollkommenen Existenzwandels, der nicht aus einer so oder so bedingten Weltanschauung stammt, sondern umgekehrt die gesamte Wirklichkeit mit andern Augen anschauen läßt." (253). Hier ist nun eindeutig genau die im Rahmen der Zwei-Naturen-Lehre verworfene Position vertreten, daß die Behauptung der Gottheit Jesu ein Urteil des Glaubens ist, mit dem er zum Ausdruck bringt, daß er seinen Herrn gefunden hat. Die von Eiert an dieser Stelle behauptete Differenz zur Ritsehl ist nicht erkennbar; wo für Ritsehl das Urteil, Jesus sei Gott, begründet ist in der von ihm her erfahrenen Konstitution des eigenen Selbstzweckes als Wert über der Natur, ist eben die bei Eiert dem Urteil zugrundeliegende Erfahrung der Umstand, daß der Mensch in Christus seinen Herrn gefunden hat. Eine prinzipielle Differenz sieht Eiert deshalb, weil er die Position Ritschis verzeichnet und ihm die These unterstellt, das Glaubensurteil sei ein autonomes' Werturteil, was natürlich schwer zu halten ist, wenn Eiert damit auf den Umstand abheben wollte, daß dieses Urteil in dem Sinne .autonom' ist, daß es seinen Grund nicht in der Verkündigung oder einer entsprechenden externen Instanz findet.

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Der christliche Glaube

Lehre von der communio naturarum. Es bleibe also lediglich der Bereich der Lehre von der unio personalis, der communio naturarum und der communicatio idiomatum (396) zu behandeln. Die Intention Elerts ist nun eine zweifache: einerseits hebt er darauf ab, daß die Lehre von der unio personalis das Zentralproblem der Zwei-Naturen-Lehre darstelle (5.1.2.1.); zweitens (5.1.2.2.) steht die gesamte Rekonstruktion der Zwei-Naturen-Lehre unter der Prämisse, daß diese Lehre als Lehre von der realen Einheit Gottes mit dem Menschen Jesus von Nazareth insgesamt keinen anderen Sinn habe, als die Vorordnung der Verfaßtheit Christi vor das Anerkennen des Menschen zu wahren, so daß die Einheit von Gott und Mensch in Christus im Sein Christi, nicht aber lediglich in der menschlichen Rede über Christus begründet sei, und daß damit allererst das eigentliche Problem dieser Lehre aufbreche. 109 Drittens deutet er die in der Lehre von der communicatio idiomatum konkretisierte Lehre von der communio naturarum als die Gestalt, in der die Tradition dieses Problem löse (5.1.2.3.). 5.1.2.1. Insgesamt steht die Lehre von den zwei Naturen im Ablauf der Elertschen Christologie darum am Ende der Lehre von der Person Christi, weil Eiert das oben (4.1.3. und 4.1.4.; 295ff) analysierte Programm verfolgt, nicht mit den im gewöhnlichen philosophischen Gebrauch gefüllten Begriffen die Person Christi zu beschreiben, sondern den Gehalt der Begriffe vom beschriebenen Phänomen, der Person Christi bzw. seinem Lebensbild her zu erarbeiten. Entsprechend setzt die Rekonstruktion der Lehre von den beiden Naturen auch mit der Frage nach dem Problem ein, das mit Hilfe dieser Lehre gelöst werden soll; Eiert weist daraufhin, daß es nur dann sinnvoll sei, von der ,unio personalis' „betont" zu reden, wenn diese von anderen Lehrstücken aus als gefährdet erscheine. Wie die Grundbestimmungen der Trinitätslehre als Lösung des Problems dargestellt werden, wie die Rede von drei gleichwesentlich göttlichen Personen vereinbar sei mit der .monotheistischen Verpflichtung' 110 , so unterstellt Eiert die Zwei-Naturen-Lehre der Frage, wie die Einheit der Person mit der bleibenden Göttlichkeit des Logos nach der Inkarnation vereinbar sei: „Die Zweinaturenlehre setzt voraus, daß der Logos Gottes auch in der Entäußerung der Logos Gottes ist und bleibt. Und sie fragt jetzt nicht, wie sich das mit der Kapazität der Menschennatur, sondern wie es sich mit der Einheit der Person vereinigen läßt. Die Antwort auf diese Frage bildet der Satz von der communio naturarum

ίο? 110

398

Vgl

j i e folgende Analyse.

265f u.ö. 111 399. Mit der Wendung ,Satz von der communicatio naturarum' dürfte Eiert eine der folgenden Definition Quenstedts vergleichbare Formulierung im Auge haben: „Communio naturarum est arctissima et intima divinae naturae tou logou et humanae assumtae koinonia et syndyasis, per quam ho logos humanam naturam personaliter sibi unitam intima et profundissima perichoresei permeat, perficit, inhabitat, sibique appropriat, ut ex utraque sibi invicem com-

Zwei-Naturen-Lehre und Deus abconditus

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D i e Frage besteht also darin, wie einander widersprechende Aussagen unter W a h r u n g der Einheit der Person von derselben möglich sein sollen. D i e .einfachste' L ö s u n g - nämlich die A n n a h m e , der Logos habe zumindest einige seiner göttlichen Eigenschaften im Vollzug der Inkarnation abgelegt - hatte Eiert abgewiesen, weil diese d e m A n s p r u c h Jesu a u f die Gottessohnschaft den G r u n d entziehe (382ff, bes. 3 8 5 ) . Eiert selbst stellt dabei - allerdings nur in einer N e b e n b e m e r k u n g - die Verbindung zu seinen späteren Untersuchungen z u m monotheletischen Streit her und definiert dabei die Problemstellung genauer: „Das Problem liegt, wie vollends die Kämpfe um den Monotheletismus zeigen, für alle Beteiligten allein in der Frage, wie es sich mit der inneren Einheit der Person Christi vereinigen läßt, daß der Sohn Gottes Mensch wurde, ohne damit aufzuhören, der Sohn Gottes zu sein."" 2 Eiert geht es somit z u m einen d a r u m , die gesamte Frage aus d e m Feld einer abstrakten O r d n u n g der Binnenverhältnisse einer ,unpersönlichen Substanzenmischung' (ebd.) herauszuführen. Dieser negativen Absicht entspricht auf der anderen Seite die Rede von der ,inneren Einheit der Person Christi'; gemeint ist damit offensichtlich i m Unterschied zu einer unpersönlichen' Substanzenmischung die Einheit einer durch .innere' B e s t i m m u n g e n charakterisierten Entität, die Bewußteins- oder Willenseinheit. 1 1 3 5.1.2.2. D i e Behauptung, daß ,Gott in Christus' ist, gefährdet nach Eiert die Einheit der Person Christi u n d ist somit der G r u n d für die Notwendigkeit, .betont' von der .persönlichen Einheit' zu sprechen. Diese Infragestellung der Einheit und somit der Sinn der Rede von einer .persönlichen Einheit' gewinnt nach Eiert einen Sinn je nach der genauen B e s t i m m u n g des Sinnes des Gottesprädikates. 1 1 4 Je nach d e m , welcher Sinn dieser B e h a u p t u n g - daß Je-

municante fiat unum incommunicabile, una seil, persona." (Griech. Begriffe im Orig. griech.; Quenstedt, Theologia p. III, cap. III, membr. I, sect. 1, Thesis X X X V I [III, 87]). 112 396; vgl. die Bezugnahme auf die unvereinbaren Aussagen ebd. mit Eiert, Ausgang 133ff. 113 Vgl. Eiert, Ausgang 230fif, bes. 239ff; dazu 133ff. Während er allerdings in seinen christologischen Untersuchungen das Bahnbrechende des monotheletischen Streites darin sieht, daß erst hier die Orientierung der Christologie am abstrakten, metaphysischen Begriff der .Natur' zugunsten einer Rückkehr zum biblischen Erscheinungsbild der Person Jesu von Nazareth überwunden worden sei (vgl. oben S. 6 6 f ) , behauptet er in der Christologie seiner Dogmatik noch, daß diese Orientierung an der .inneren Einheit der Person' das Grundanliegen der gesamten, auch bereits der chalkedonensischen, Christologie gewesen sei. 114 Der Ubergang zu den im folgenden von Eiert diskutierten drei Modellen der Zuordnung des Gottesprädikates zur Person Jesu ist ausgesprochen kompliziert, und zwar auch dadurch, daß sich Eiert in seinem eigenen Gedankengang nicht mehr zurechtfindet: Zunächst stellt er fest, daß die Betonung der Personeinheit nur dann notwendig ist, wenn sie in Frage gestellt erscheint. Dann fährt er fort: „Das Urteil über die ganze Zweinaturenlehre hängt zuletzt davon ab, wie der Anlaß zu dieser Infragestellung bestimmt wird." Der Anlaß für die Infragestellung ist, nach allem vorausgehenden ersichtlich, die Zweinaturenlehre selbst. Eiert fährt fort: „Es gibt dafür drei Möglichkeiten. Es kann erstens fraglich erscheinen, ob wir dem Menschen Christus das Prädikat

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Der christliche Glaube

sus selbst Gott bzw. Gottes Sohn sei - gegeben wird, sei die Personeinheit in jeweils anderer Weise in Frage gestellt.115 Bei den ersten beiden Modi handelt es sich um Positionen, die die Zuordnung der Gottheit in einem bloß verbalen Attributionsakt begründen und entsprechend die Frage bezüglich der Personeinheit als Frage nach dem Recht dieses Attributionsaktes verstehen. Diesen noch näher zu charakterisierenden Positionen steht eine Problematisierung der Personeinheit gegenüber, die die Lehre von den zwei Naturen nicht als einen bloß verbalen Attributionsakt, sondern als in der Sache des Evangeliums - der Person Jesu - selbst begründet sieht, nämlich in dem doppelten Sachverhalt, daß Jesus Christus in derselben Weise wie jeder Mensch Mensch ist und dennoch wesenhaft ein anderer als jeder andere Mensch. Während - so Eiert — in den ersten beiden Positionen die Frage nach dem Recht unserer Aussagen und so - nach Eiert - eine quaestio iuris gestellt werde, steht in der dritten Position der Sachverhalt selbst in Frage; es geht damit — laut Eiert — um eine quaestio factixl(\

,Gott'... beilegen dürfen ..." (Zitate 3960· - Nun sind aber die im folgenden vorgestellten Modelle nicht etwa die Modi, durch die die persönliche Einheit in Frage gestellt wird, sondern im Gegenteil zumindest im ersten und im zweiten Fall Modelle, durch die eine Gefährdung der Einheit der Person durch eine ,Verharmlosung' des Gottesprädikates gerade vermieden wird. Faktisch ist es nach Darstellung Elerts also nicht so, daß die drei Modelle Infragestellungen der Personeinheit sind, sondern die Aussage des Glaubens, der Anspruch Jesu und der Sachverhalt selbst erscheinen als Gründe für die Infragestellung, und die bei Eiert referierten Modelle limitieren eben das Gottesprädikat im ersten Fall auf einen Attributionsakt des Glaubenden, im zweiten auf eine blosse Deklaration Gottes und vermeiden so eine Infragestellung der Personeinheit. Erst im dritten Modus erscheint die Einheit der Person wirklich gefährdet und somit die Lösung des Problems durch die Lehre von der communio naturarum indiziert. — Die Darstellung wird dadurch so schwer verständlich, daß Eiert den Anlaß für die Infragestellung der Personeinheit und das auf dieser Basis angebotene Lösungsmodell zur Wahrung der Personeinheit ineinanderschiebt. 115

396f. So der Sprachgebrauch Elerts, 397f. Hier gehen derartig viele begriffliche Unterscheidungen bei Eiert durcheinander, daß es fast nicht der Mühe wert ist, sie zu differenzieren - der kurze Text ist ein Paradebeispiel für die zuweilen erkennbare Schwäche Elerts in der Differenzierung von Problemen und Gedankengängen: Die Unterscheidung von .quaestio iuris' und .facti' entstammt dem Sprachgebrauch des Rechtsprozesses und ordnet die Frage nach der richtigen Beschreibung des strittigen Sachverhaltes der Frage nach seiner Rechtmäßigkeit zu: Was liegt vor? im Unterschied zu: Liegt es zu Recht vor? Zumeist wird diese Unterscheidung im Anschluß an Kant (KrV Β 116) als Tatsachenfeststellung und Feststellung des zureichenden Grundes bzw. des Rechtes dieser Tatsachen aufgegriffen. - Während dieser Sprachgebrauch zwei Hinsichten auf einen Sachverhalt zu unterscheiden und nicht zu vermischen lehrt, verbindet Eiert die beiden Fragehinsichten im Rahmen der Christologie mit einer unterschiedlichen inhaltlichen Bestimmung des zugrundeliegenden Fragegegenstandes: Eine quaestio iuris liege dann vor, wenn das Prädikat der Gottheit dem Menschen Jesus nur verbaliter beigelegt werde, es sich bei der Aussage: .dieser ist Gott' um einen bloß verbalen Attributionsakt (ein Urteil) handle. In diesem Fall liege eine .quaestio iuris' im Sinne einer Frage nach dem Recht dieser Attribution vor, da durch diese die Einheit der Person fraglich werde. Im Hintergrund der Identifikation dürfte eine gedankliche Assoziation von dem im Kontext erwähnten Ritsehl zu seiner von Eiert referierten Wert«ri«'Mehre stehen. Eine .quaestio iuris' liegt also nach Eiert vor, wenn das Gottesprädikat als bloßes Urteil betrachtet wird. — Um eine quaestio facti hingegen handle es sich, wenn das Attribut der Gott116

Zwei-Naturen-Lehre und D e u s abconditus

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D i e drei P o s i t i o n e n s i n d e i n a n d e r n i c h t o h n e S i n n in d i e s e r W e i s e z u g e o r d n e t ; sie f o r m u l i e r e n n i c h t n u r b e z i e h u n g s l o s e A l t e r n a t i v e n , s o n d e r n ihre A b f o l g e v e r b i n d e t ein s a c h l i c h - s y s t e m a t i s c h e r Z u s a m m e n h a n g . D i e s w i r d a m besten a n h a n d der zweiten Position erkennbar: Sie geht aus v o m A n s p r u c h J e s u s e l b s t u n d b e z e i c h n e t d i e s e n A n s p r u c h als d e n G r u n d d e r P r o b l e m a t i s i e r u n g der persönlichen Einheit Christi: „ D i e zweite Möglichkeit der Problemstellung besteht darin, daß man die persönliche Einheit durch den Anspruch Christi selbst in Frage gestellt sieht. Kann ein und dieselbe Person von sich bezeugen, was wir andern auch von uns bezeugen müssen, daß der ,Vater größer als ich' ist... und zugleich den Anspruch erheben, daß wer sie selbst, diese menschliche Person, gesehen habe, den Vater gesehen habe?" (397) H i e r scheint die Einheit der Person J e s u durch den a u f eine E n t s c h e i d u n g des H ö r e r s d r ä n g e n d e n A n s p r u c h J e s u selbst -

d u r c h d e n Adhortativ des

E v a n g e l i u m s a l s o - in F r a g e gestellt z u sein. Ü b e r t r ä g t m a n d i e s e O r i e n t i e rung der Position a m Adhortativ des Evangeliums a u f die beiden anderen v o n E i e r t referierten P r o b l e m s t e l l u n g e n , s o w i r d leicht e r k e n n b a r , d a ß d i e erste P o s i t i o n d i e W i r k u n g d e s E v a n g e l i u m s , a l s o d e n G l a u b e n als G r u n d d e s G o t -

heit nicht als ein vom Menschen beigelegtes Prädikat, sondern als ,im Sachgehalt des Evangeliums' begründet erfaßt werde. Es gehe dann nicht um das Recht unserer Aussagen, sondern um das mit der Sache des Evangeliums gestellte Problem der Einheit der Person. — Nun handelt es sich bei der Zwei-Naturen-Lehre auch im Falle eines lutherischen Typus dieser Lehre um ein Urteil; in diesem Sinne ist natürlich auch die Lehre von einer realen Kommunikation der Naturen in Christus die Antwort auf eine .quaestio iuris'. Elerts höchst merkwürdige Identifikation des Sprachgebrauches (eine ,quaestio iuris' liege dann vor, wenn das Gottesprädikat als bloß verbales Urteil betrachtet werde) funktioniert nur unter der Zusatzbedingung, daß Eiert darüberhinaus die Wendung ,quaestio iuris' mit der Deutung des Gottesprädikates als Werturteil der Jünger durch Ritsehl einerseits und mit dem ,mere verbalis' des reformierten Modus der Lehre von den propositiones personales andererseits verbindet: Die ,quaestio iuris' besteht - so Eiert - nach Ritsehl in der Frage, ob und in welchem Sinne dem Menschen Jesus das Prädikat der Gottheit beigelegt werden dürfe. Diese Frage erlaube dann die Antwort Ritschis: „Man kann dann, wie es in der Schule Ritschis geschah, an dem Prädikat ,Gott' oder ,Sohn Gottes' so lange herumdeuten, bis die .persönliche Einheit' nichts Fragliches mehr enthält, weil sie sich von der persönlichen Einheit anderer Menschen nicht mehr unterscheidet." (397) Hier wird also die Frage nach dem Recht der Attribution angesichts der Notwendigkeit, die Einheit der Person zu wahren (nach Eiert: quaestio iuris) identifiziert mit dem Modus einer möglichen Antwort auf diese Frage (die Attribution habe darin ihr die Einheit der Person nicht verletzendes Recht, daß sie in einer urteilenden Bezugnahme der Jünger auf die Person begründet sei), und diese Antwort wiederum als eine Deutung der unio personalis als ,mere verbalis' gefaßt. Es ist diese letzte - Ritsehl in dieser Weise ganz zu Unrecht unterschobene - Identifikation der Werturteilslehre mit einer Deutung der unio als nur sprachlicher Einheit, die dann den Übergang zur Antithese der ,unio realis' erlaubt; nur von daher legt sich dann die parallele, nur als begriffliche Assoziation verständliche Identifikation von ,unio realis' mit der,quaestio facti' als Gegenpol der ,unio verbalis' und der damit assoziierten .quaestio iuris' nahe. — Nach Eiert impliziert offensichtlich in diesem christologischen Kontext eine quaestio iuris die Position Ritschis bzw. die der reformierten Tradition, nach der das Prädikat der Gottheit mit Bezug auf Jesus einem Attributionsakt der Jünger entspringe; eine quaestio facti hingegen liegt dann vor, wenn die Einheit von Gott und Mensch als in der Person Jesu selbst realiter vereint betrachtet werden.

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Der christliche Glaube

tesprädikates u n d d a m i t d e r Infragestellung d e r P e r s o n e i n h e i t d u r c h dieses P r ä d i k a t b e t r a c h t e t : H i e r w i r d die Frage ventiliert, o b das G o t t e s p r ä d i k a t ein d e r Person J e s u d u r c h die J ü n g e r beigelegtes P r ä d i k a t sei. D i e dritte Position h i n g e g e n sieht die Z w e i - N a t u r e n - L e h r e i m D e m o n s t r a t i v des E v a n g e l i u m s

-

g e n a u e r : in d e r v o m E v a n g e l i u m b e z e i c h n e t e n S a c h e selbst - b e g r ü n d e t ; die drei P o s i t i o n e n p r o b l e m a t i s i e r e n also die E i n h e i t d e r Person C h r i s t i jeweils i m A u s g a n g v o m D e m o n s t r a t i v , v o m A d h o r t a t i v u n d v o m subjektiven E r g e b nis des E v a n g e l i u m s . E i e r t leitet n u n a u c h jeweils v o n einer d e r referierten P o s i t i o n e n a u f die n ä c h s t e über: D e r V o r s c h l a g , das P r ä d i k a t d e r G o t t h e i t bezüglich d e r Person J e s u als blossen A t t r i b u t i o n s a k t des G l a u b e n s zu b e t r a c h t e n , w i r d d a m i t bes c h i e d e n , d a ß dieser Vollzug des G l a u b e n s seinen G r u n d i m A n s p r u c h J e s u selbst h a b e , u n d s o d a n n d a m i t , d a ß die G o t t e s s o h n s c h a f t n i c h t die Folger u n g , s o n d e r n die B e d i n g u n g des G l a u b e n s darstelle ( 3 9 7 ) . D e r A d h o r t a t i v des E v a n g e l i u m s erscheint so als G r u n d des G o t t e s s o h n p r ä d i k a t e s u n d d a m i t als die die P e r s o n e i n h e i t p r o b l e m a t i s i e r e n d e Instanz. D a m i t r ü c k t die zweite P o s i t o n ins Z e n t r u m , die n a c h E i e r t a m A n s p r u c h J e s u selbst u n d d a m i t a m A d h o r t a t i v des E v a n g e l i u m s o r i e n t i e r t ist u n d m i t d e r E n t s c h e i d u n g s f r a g e des E v a n g e l i u m s identisch ist. E i e r t weist hier d a r a u f hin, d a ß die so gestellte F r a ge m i t d e r A n e r k e n n u n g des A n s p r u c h e s J e s u n o c h n i c h t z u r e i c h e n d b e a n t w o r t e t sei, 1 1 7 d a die M ö g l i c h k e i t offenbleibe, a u c h hier die Z u o r d n u n g d e r G o t t h e i t als rein verbalen A t t r i b u t i o n s a k t zu v e r s t e h e n :

117 Es ist auch hier wieder eine Abirrung des Gedankens zu konstatieren: Eiert hatte eingesetzt mit der Frage danach, in welcher Weise die Personeinheit Christi in Frage gestellt sein könnte, und die drei Positionen galten ihm als Modi dieser Infragestellung. Eine Antwort auf diese Infragestellung soll, so die damit gesetzte Vorgabe, die traditionelle Lehre von der Einheit der Person in zwei Naturen sein. In welcher Weise könnte hier — wie Eiert voraussetzt — die Anerkennung des Anspruches Jesu eine Antwort auf die Frage nach der Vereinbarkeit der gegenläufigen Ansprüche Jesu sein? Mit der Anerkennung des Anspruches Jesu, der Sohn Gottes zu sein, stellt sich doch überhaupt erst das Problem! — Eiert wirft hier wieder einmal eine Reihe von Fragen durcheinander: Angesichts des Anspruches Jesu erhebt sich die Frage nach der Einheit einer diesem Anspruch entsprechend strukturierten Person. Wenn Eiert dann formuliert: „Wird die Frage so gestellt, dann wird sie zur quaestio juris des Anspruches Christi selbst. Sie ist dann mit der durch das Evangelium überhaupt gestellten Entscheidungsfrage identisch.", dann sind diese Sätze in mehrfacher Weise falsch: Die Frage nach der Wahrung der Personeinheit angesichts des Anspruches Christi ist nicht identisch mit der Frage nach dem Verhalten gegenüber dem Anspruch Christi. Eiert meint offensichtlich dies: Mit der negativen Beantwortung der im Anspruch Christi liegenden Frage ist die Frage nach der Personeinheit gelöst, weil sich kein Problem mehr stellt; mit der positiven Beantwortung des Anspruches stellt sich die Frage neu, und kann in unterschiedlicher Weise beantwortet werden, wie die Fortsetzung des Gedankens zeigt: Eiert verweist darauf, daß die Anerkennung des Anspruches Jesu nicht eindeutig ist, sondern unterschiedliche Möglichkeiten der Zuordnung der göttlichen Natur offenläßt — etwa die arianische bzw. die adoptianische Lösung einer nicht ursprünglichen oder - so deutet Eiert die Christologie des Arius - nur im rein verbalen Akt Gottes begründeten Würdebezeichnung. Gerade dies zeigt aber: Nicht die Anerkennung des Anspruches Jesu ist die Lösung des in Frage stehenden Problems der Personeinheit, sondern mit der Anerkennung dieses Anspruches stellt sich das genannte Problem und wird in unterschiedlicher Weise gelöst. Die Gedankenabirrung ergibt sich mit der Wendung „sie [die

Zwei-Naturen-Lehre und Deus abconditus

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„Ein Problem der unio personalis wird hier so wenig gesehen wie in der Schule Ritschis, weil auch hier ,Sohn Gottes' nur ein dem Menschen Christus nachträglich beigelegtes Prädikat sein soll. Der Unterschied besteht nur darin, daß in der Schule Ritschis der glaubende Mensch, bei den Adoptianern Gott selbst als Subjekt der Prädizierung gedacht wird." (397f)

Eiert verweist nun in der Abgrenzung gegen diesen Vorschlag darauf, daß dieser dem neutestamentlichen Zeugnis nicht entspreche, das den Anspruch Jesu darin begründe, „daß er ein qualitativ anderer wials wir, daß er zu Gott in einer wesenhaft anderen Beziehung steht als wir und daß ihm dieses qualitative oder wesenhafte Anderssein von seinem Ursprung her anhaftet" (398) und genau so werde die quaestio juris zur quaestio facti. Erst dieser der demonstrativen Intention des Evangeliums entsprechende Rückgang auf die wesentliche, interne Verfaßtheit Jesu Christi, so Eiert, wahre die Unabhängigkeit der Wahrheit des Anspruches Jesu von der menschlichen Anerkennung desselben. „Man kann seinen [Jesu] Anspruch nicht ernst nehmen, wenn man ihn nur als die Aufforderung versteht, ihm ein Prädikat beizulegen, ihm den Titel eines .Herrn' oder .Königs' zu bewilligen und sich dann entsprechend zu verhalten. Dder Anspruch besagt vielmehr, daß er ,Sohn Gottes' in qualitativer Unterschiedenheit von allen anderen Menschen ist und daß er es auch ist und bleibt, wo ihm die Anerkennung versagt oder wo ihm die Gefolgschaft verweigert wird." (398)

Damit sei nun die eigentliche Problemstellung der Zwei-Naturen-Lehre erreicht: die Frage nämlich, wie ein in sich realiter als Gott und als Mensch bestimmtes Wesen eine einheitliche Person sein könne, und die Antwort auf diese Frage sei die Lehre von der communio naturarum. Insgesamt also zielt die Behandlung der drei Modi der Bestimmung des Verhältnisses des Gottesprädikates zur Person Jesu - als Attributionsakt des Glaubenden, als im Anspruch Jesu begründetes Urteil und als im ,Sein' der Person selbst begründete Realität - auf die Unabhängigkeit der Gottessohnschaft von jeder externen Instanz, die als in der Person Jesu selbst begründete jedes Urteil des Glaubens über diesen und auch seinen eigenen Anspruch erst begründet, nicht aber selbst Ausdruck des Glaubens an die Person Jesu ist. Diesen Umstand bringe die klassische Zwei-Naturen-Lehre zum Ausdruck, die die Gottessohnschaft Jesu in der Person Jesu vor Urteil über diese begrünProblemstellung] [wird] zur quaestio juris des Anspruches Christi selbst" (ebd.). Das ist richtig in dem Sinne, wie Eiert .quaestio juris' versteht: Es stellt sich auf einer rein verbalen Ebene die Frage nach dem Recht der Aussage Jesu über seine Gleichheit mit Gott; diese Frage wird als rein verbales Problem behandelt und so die Frage nach der Personeinheit gelöst. Eiert setzt sich aber hier in einer Gedankenassoziation über sein Verständnis des Terminus .quaestio juris' hinweg und verwendet ihn im folgenden als .Frage nach dem Recht des Anspruches Jesu' statt als Frage nach der Vereinbarkeit des Anspruches mit der Personeinheit; so ergibt sich der gleitende Übergang in eine völlig andere Fragestellung, in der die ursprünglich aufgeworfene Frage nach der Personeinheit erst dann wieder thematisiert ist, wenn Eiert die das Prädikat der Gottheit als rein verbale Attribution verstehenden Positionen der Anerkennung des Anspruches Jesu beschreibt.

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Der christliche Glaube

de und die Einheit dieser Person in der Lehre von der communio naturarum wahre. Dies ist nun zu entfalten. 5.1.2.3. Eiert insistiert darauf, daß die communicatio idiomatum der Modus ist, in dem allein die communio naturarum sich vollzieht. Die Lehre von der communio naturarum stellt nach Eiert lediglich sicher, daß tatsächlich die zweite Person der Trinität das Subjekt der Akte des Jesus von Nazareth ist, findet ihr Zentrum daher in der Lehre von der Perichorese der Naturen bzw. in der Anhypostasie des Menschensohnes (401) und ihre eigentliche Konkretion in der Lehre von der communicatio idiomatum: „Ohne die Lehre von der communicatio idiomatum ist die communio naturarum nur ein Begriff, unter dem sich niemand etwas vorstellen kann." (403). Die Absicht, die Eiert mit dieser Abwertung des Begriffes der ,communio naturarum' zugunsten der communicatio idiomatum verfolgt, steht im Zusammenhang mit seinem Versuch, die traditionelle Begrifflichkeit ,νοη unten', von der Begegnung mit dem geschichtlichen Jesus her zu rekonstruieren. Hier will Eiert die Christologie von einer konstitutiven Funktion des Begriffes der .Naturen' entlasten, und zwar durch die Figur der Aneignung der menschlichen Eigentümlichkeiten durch den Logos und die Mitteilung der göttlichen Eigenschaften an den erhöhten Menschen Jesus von Nazareth. Eiert kommt es dabei darauf an, die Zwei-Naturen-Lehre als Darstellung allein des Sachverhaltes zu fassen, den er in den ersten materialen Paragraphen der Christologie (§ 52 und 53) entfaltet hatte: Daß nämlich die göttlichen und die menschlichen Prädikate und aktiven wie passiven Vollzüge nicht nur einem Menschen oder einem Gott, sondern durch die Initiative des Logos einem einheitlichen Subjekt nicht nur zugeschrieben werden können, sondern von ihm auch realiter vollzogen werden (40lf). Daß diese Durchführung nicht recht befriedigend ist, erhellt schon daraus, daß Elerts Hinweis auf die communicatio idiomatum nicht einmal die Frage beantwortet, zu deren Beruhigung sie nach Eiert konzipiert ist: Die Lehre von der communicatio idiomatum kann vielleicht sicherstellen, daß die Gottheit das Heilswerk ebenso mitvollzieht wie die Menschheit an der Glorie des Gottessohnes Anteil erhält, kann aber eben nicht gewährleisten, daß in welchem Sinne auch immer eine Person, die zugleich Gott und Mensch ist — über den Sachverhalt hinaus, daß ,beide' an den jeweiligen Vollzügen beteiligt sind eins ist. Eiert sieht das Problem gar nicht, weil er die Lehre von der communio naturarum auf die communicatio idiomatum - und hier auf das genus apotelesmaticum und das genus maiestaticum — limitiert und das Problem der propositiones personales überhaupt nicht in den Blick bekommt bzw. mit dem Hinweis auf die ,permeatio' der Naturen abtut. Elerts Position hat darin ihr vorläufiges Recht, daß er den Begriff der ,Natur' umbestimmt: er bezeichne das, „was ihn zum Menschen macht", wie auch das „was ihn zum Sohn Gottes macht" (396); für sich genommen und abstrahiert von dieser inhaltlichen Bestimmung sei er leer. Das ist schwer

Zwei-Naturen-Lehre und Deus abconditus

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nachvollziehbar. Schon die Wendung ,Was ihn zum Menschen / zu Gott macht' ist in sich unklar: entweder handelt es sich um ein gleichsam internes ,Prinzip', das allen den Naturen spezifischen Tätigkeiten ermöglichend zugrundeliegt, oder es bezeichnet die jeweils spezifischen Vollzüge selbst. Eiert intendiert letzteres, denn nur so wird seine Behauptung, die Lehre von der communio naturarum sei ohne die Lehre von der communicatio idiomatum ,leer', überhaupt verständlich. Die Lehre von der communio naturarum vollzieht sich als Lehre von der communicatio idiomatum und läßt keine davon unterschiedene Lehre von der Einheit der Naturen zu. - Das ist wieder nicht recht nachvollziehbar, denn unter dieser Voraussetzung wäre eine Lehre von der communio naturarum überhaupt nicht möglich: Wenn die communicatio idiomatum - so versteht es Eiert - sicherstellen soll, daß der Sohn Gottes Subjekt des Versöhnungstodes ist (402), die Natur aber lediglich ,in den Vollzügen besteht, die den Menschen zum Menschen und Gott zu Gott machen, so kann in keiner Weise und niemals Gott als Subjekt von Vollzügen gedacht werden, die einen Menschen zum Menschen machen (etwa des Todes), ohne daß Gott aufhört, Gott zu sein, der - nach Elerts Voraussetzung - ja nur in bestimmten Vollzügen und Eigenschaften überhaupt Gott ist und es abgesehen davon zu sein aufhört — et vc. vs. In der traditionellen Terminologie läge in diesem Fall (wenn Gott leidet und stirbt) eben — weil Eiert die Naturen und bestimmte Vollzüge identifiziert - eine Verwandlung der einen Natur in die andere vor; dies hat eben darin seinen Grund, daß sich Eiert durch die Identifikation von Natur und bestimmten Vollzügen ausdrücklich der Möglichkeit begeben hat, eine unveränderte Natur als Subjekt von Prädikaten zu kennzeichnen, die von ihr eigentlich und abgesehen von der unio nicht gelten. Man kann das ganz zugespitzt so formulieren: Ohne die Unterscheidung und Zuordnung von Natur und Eigenschaft ist eine Lehre von der communicatio idiomatum gar nicht möglich. Eiert versucht sich dem zu entziehen, wie immer ohne die Widersprüchlichkeit der eigenen Position überhaupt wahrzunehmen. Diese Christologie ist in der Durchführung wenig schlüssig118. Das gilt insbesondere darum, weil Eiert überdies dadurch, daß er die jeweils menschlichen und göttlichen Vollzüge Christus als Gott und als Mensch attribuiert (402) sachlich doch die Unterscheidung von Natur und Eigenschaft mitvollzieht; er behauptet nun aber eben dies, daß die Christus als Menschen zukommenden Eigentümlichkeiten von ihm als Gott gelten und umgekehrt, ohne sagen zu können, wie sich nun eigentlich die von ihm so nicht genannten, aber — in der Attribuierung der Eigenschaften an jeweils das eine oder andere Subjekt - vorausgesetzten Naturen zueinander verhalten. Ohne daß Eiert das will, vertritt er hier implizit eine extrem nestorianische Christologie, denn die Einheit der vorausgesetzten Naturen ist nicht, wie in der Konkordienformel, die Voraussetzung der communicatio idiomatum, 118 401. Vgl. die unzureichende Behandlung des Themenkomplexes der propositiones personales 396!

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Der christliche Glaube

sondern sie werden als unterschieden vorausgesetzt und über ihr Verhältnis verlautet über diese Unterschiedenheit hinaus nichts. Die Absicht, den mit irreleitenden Konnotationen überfrachteten Begriff der ,Naturen' oder der Perichorese der Naturen - vgl. die Schreibung in Anführungszeichen 401 - dadurch zu vermeiden, daß er die Naturen mit den jeweils spezifischen Vollzügen identifiziert und die Lehre von der communio naturarum auf diese Weise auf die Lehre von der communicatio idiomatum reduziert, verdeckt ihm selbst eben den Umstand, daß er selbstverständlich noch weiterhin von den beiden Naturen als Subjekt der jeweiligen Vollzüge spricht, die aber eben nur im Blick auf ihre von ihnen (als Subjekten) selbst ausdrücklich unterschiedenen Vollzüge, nicht an ihnen selbst vereinigt sind. 119 Eiert will also die Gottheit Jesu als einen dem Glauben an ihn zugrundeliegenden (und nicht mit der Prädikation des Glaubens erst gesetzten) Sachverhalt — die Einheit Gottes und des Menschen in Jesus von Nazareth - zur Aussage bringen, ohne damit die Einheit der Person Jesu zu gefährden. Die Tradition stelle dafür den Begriff der ,communio naturarum' zur Verfügung, den Eiert von den problematischen Implikationen des Natur-Begriffes befreien will. Er deutet daher die ,communicatio idiomatum' als das Lehrstück, durch das die Tradition die Möglichkeit bereitstellt, diesen Sachverhalt als die Konkretheit der communio naturarum auszusagen. Eiert spricht also ausdrücklich nicht über die der Gemeinschaftlichkeit der Idiomata zugrundeliegende Einheit der Naturen, stellt aber ausdrücklich fest, daß dem Phänomen der Idiomenkommunikation immer noch die wechselseitige Durchdringung der,Naturen' zugrundeliege (401); es nützt dabei überhaupt nichts, in diesem Zusammenhang den Begriff .göttliche Natur' in Anführungszeichen zu setzen, solange man nicht sagt, was man mit diesem Begriff und der die Gemeinschaftlichkeit der Vollzüge erst begründenden Perichorese der ,Naturen' meint. Hier vertritt Ritsehl, mit dem sich Eiert hier auseinanderzusetzen beansprucht, die konsequentere und schlüssigere Position, der eben die Gottheit durch eine bestimmte Vollzüge, und zwar durch vom Menschen erfahrene

119 Elerts Ausführungen sind ausgesprochen schwer zu durchschauen und lassen sich am besten von einem Satz her rekonstruieren: Eiert hält fest: „Ohne die Lehre von der communicatio idiomatum ist die communio naturarum nur ein Begriff, unter dem sich niemand etwas vorstellen kann." Diese Aussage begründet sich aus seiner Kritik an der Verwendung des Naturen-Begriffes im Rahmen der Christologie (vgl. 4 0 3 f , vgl. 395f)· - Eiert bezieht sich mit seiner Deutung der communio naturarum von der communicatio idiomatum her auf F C V I I I ( 4 0 1 ) , wo die lutherischen Väter in der Tat die unio und die communio der Naturen als einander gegenseitig interpretierende Begriffe fassen (bes. B S L K 1024,7ff)· Die communicatio idiomatum ist aber nach den Vätern eine Lehre, die aus der unio bzw. der damit gesetzten communio ,herfließt' ( B S L K 1 0 2 7 , 3 0 ; diese Wendung hält das nach der F C bestehende systematische Verhältnis fest, daß die wechselseitige Teilgabe der Naturen aneinander die unterschiedenen Naturen jedenfalls in dem Sinn voraussetzt, daß von ihrer bleibenden Unterschiedenheit gesprochen werden kann. Wer hier anders reden will, m u ß jedenfalls größeren Aufwand treiben, als Eiert dies tat.

Zwei-Naturen-Lehre und Deus abconditus

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Wirkungen, identifiziert, so aber gerade nicht, wie Eiert, behauptet, er könne die Gottheit Jesu als Voraussetzung des Glaubens zur Sprache bringen. 120 Dieser Mangel der Position hat Folgen, wie nun zu zeigen ist: 5.2. Der Sinn des Gottesbegriffes. Es ist erkennbar, daß Eiert durch die Begründung des Gottesprädikates in Jesus selbst und nicht in menschlichen Attributionsakten die Vorgängigkeit des Gegenstandes des Glaubens vor der Bezugnahme des Glaubens auf ihn sicherstellen will. Die Mängel in Elerts Christologie in der im Rahmen der Ausführungen über die Zwei-Naturen-Lehre vorliegenden Gestalt sind nun insbesondere darum gravierend, weil im Rahmen der Kritik der Ritschlschen Position ebenso wie im Versuch, den Sinn des Begriffes,Natur' auf die jeweils spezifischen (göttlichen und menschlichen) Vollzüge zu reduzieren, ein Problem angerissen ist, das Eiert weder als solches wahrnimmt noch bearbeitet, in dem aber der Schlüssel zur Klärung aller Probleme dieser Position verborgen liegt: Es ist die Frage, was eigentlich der Terminus ,Gott' bei Eiert bedeutet. Diese Frage ist darum für das Thema dieser Rekonstruktion der Elertschen Theologie entscheidend, weil Eiert das zentrale Bekenntnis des christlichen Glaubens das Bekenntnis zu Christus als Gott ist.121 Im Rahmen der Zwei-Naturen-Lehre wird die Frage, was das eigentlich heißen soll, so wenig beantwortet wie in den vorangehenden Paragraphen zur Person Jesu die Rede von Gott über die - scheinbare — Selbstverständlichkeit einer vorhandenen Person hinausgeht. Ich werde zunächst die Bedeutung dieser Frage für die von Eiert beabsichtigte Auseinandersetzung mit Ritsehl ausweisen (5.2.1.), dann die Bestimmung des Gottesbegriffes bei Eiert rekonstruieren (5.2.2.) und schließlich von daher den Zusammenhang von Glaube und der Feststellung, daß ,Gott in Christus' war, herausarbeiten (5.2.3.). Es wird so sichtbar werden, daß die spezifische Bestimmung, die der Gottesbegriff bei Eiert erhält, die Grundlage für die Inkonsistenzen seiner Position ist. 5.2.1. Noch einmal Ritschi. Zunächst ist deutlich, daß Eiert, wie dargestellt, nicht sieht, daß genau diese Frage das Grundmotiv der Ritschlschen Reformulierung der Christologie unter der Prämisse ist, daß das Gottesprädikat in seiner Anwendung auf Christus ein Werturteil darstellt. Indem Eiert Ritschis

120 Vgl. Slenczka, Studien Bd. 1, 159ff 182ff. Es ist hier darüber hinaus ausdrücklich zu notieren, daß Eiert dadurch, daß er die Tradition der Lehre von der Person Christi gänzlich auf die Lehre vom Versöhnungswerk konzentriert und diese Konzentration als limitatives Prinzip einbringt, dessen nicht ansichtig werden kann, daß gerade die von ihm zuweilen aufgerufene Tradition der klassischen lutherischen Theologie Möglichkeiten zur Auseinandersetzung um das Konzept der Subjektivität bereitstellt; vgl. dazu Baur, Streit; ders., Christologie; ders., Abendmahlslehre. 121 Vgl. bes. 244; 253.

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Der christliche Glaube

Position als Leugnung der Realität der Gottessohnschaft Jesu deutet, unterstellt er, daß es eine weiterhin sinnvolle Möglichkeit gibt, von Gottes Gegenwart in Christus zu sprechen, die vom Glauben unabhängig und so dessen Voraussetzung ist. Im Sinne Ritschis würde es sich dabei um .metaphysische' Aussagen handeln, die gerade der beständigen Prämisse, von Gott nur im Ausgang von einer spezifischen Situation zu sprechen, zu entgehen suchen, und darin um eine Rede von Gott als Naturgegenstand (und nicht als personaler Wille) handeln. Eiert teilt beide Bedenken Ritschis: Wie bereits dargestellt, vertritt auch Eiert die Kritik am Naturbegriff im Rahmen der Christologie und erhebt den Anspruch, die Zwei-Naturen-Lehre nicht vom Begriff einer göttlichen Natur her, sondern von den spezifisch göttlichen und menschlichen Vollzügen her zu rekonstruieren. Daß Eiert mit diesem Anliegen scheitert, ist offensichtlich; damit hängt aber eben auch die Behauptung völlig in der Luft, die ZweiNaturen-Lehre halte die Vorgängigkeit des Glaubensgegenstandes und eben insbesondere die Vorgängigkeit der Gegenwart Gottes in Jesus vor dem Glauben offen. In der Luft hängt diese Behauptung darum, weil nicht klar ist, in welcher Weise Gott und seine Gegenwart in Christus - Gott war in Christus - eigentlich als Bedingung der Möglichkeit des Glaubens gedacht wird, ohne daß Gott als seiner Wirkung auf den Menschen vorausliegender ,Naturgegenstand' gefaßt wird, als ,Ding an sich' am Grunde seiner Wirkungen und damit am Grunde der Erfahrung von ihm. Diese Deutung Gottes als,Naturgegenstand' betrachtet Ritsehl als die unvermeidliche Folge des Versuches, Gott nicht in für den Gottesbegriff konstitutiver Beziehung auf den Menschen, d.h. ausschließlich und unhintergehbar aus den am Ort des Menschen erfahrenen Wirkungen zu bestimmen, sondern von Gottes ,an sich sein' am Grunde bzw. als Voraussetzung der Erfahrung von ihm zu sprechen.122 Eiert teilt im Rahmen der Gotteslehre auch diese Kritik Ritschis am Konzept eines .metaphysischen' Gottesbegriffes, das er - darunter verstanden ein nicht der Christologie und damit der Situation der Erfahrung der Verkündigung des Evangeliums entnommener Gottesbegriff - a limine ablehnt. 123 Die Berücksichtigung des im Rahmen der Gotteslehre entworfenen Gottesbegriffes erlaubt es, die unübersehbaren Mängel der Elertschen Position in optimam partem zu deuten und damit in Richtung auf eine mögliche schlüssige Position zu lesen: 5.2.2. Was heißt,Gott'? Auszugehen ist von dem bereits oben notierten Sachverhalt, daß Eiert die Christologie als Basis der Gotteslehre bezeichnet,124 im Rahmen der Christologie aber diese Ankündigung nicht einmal ansatzweise einlöst. Tatsächlich verhält es sich vielmehr so, daß im Rahmen der Christolo122 123 124

Slenczka, Studien Bd. 1, 173f. § 3 4 , bes. 2 4 l f u . ö . Vgl. 251. Dazu oben 1.2.1. u n d A n m . 3.

Zwei-Naturen-Lehre u n d D e u s abconditus

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gie als völlig fraglos vorausgesetzt ist, was der Terminus ,Gott' und was die Behauptung, man habe es in Christus mit Gott selbst zu tun, besagen soll. Es ist an keiner Stelle auch nur problematisiert, was die zentrale Behauptung des Evangeliums als Demonstrativ - Gott ist in Christus - eigentlich besagen soll, und woran der Mensch das Recht dieser Behauptung erkennt. Diese Definition muß andernorts erfolgt sein, und dieser Vermutung nachzugehen bedeutet, das verborgene Zentrum der Elertschen Theologie zu entdecken: 5.2.2.1. Es findet sich bei Eiert durchaus so etwas wie eine ,Definition' Gottes, nämlich im Einsatz seiner Trinitätslehre: Eiert fuhrt die Trinitätslehre als die Vermittlung zweier unentrinnbarer Verpflichtungen ein: zum einen der .monotheistischen Verpflichtung', d.h. der Nötigung, Gott als ,den einen' unter Ausschluß von Konkurrenzinstanzen zu denken; zum anderen der mit dem Evangelium gegebenen Verpflichtung, von Gott als dem in Christus Erschienenen bzw. im Heiligen Geist Tätigen zu sprechen. 125 Eiert bestimmt die Trinitätslehre dabei als die Gestalt, in der die Kirche aussagt, daß sie im Evangelium, d.h. im Wort von Christus, von Gott getroffen wird: „ D a s trinitarische B e k e n n t n i s . . . ist das Bekenntnis, daß wir v o m E v a n g e l i u m G o t t e s getroffen wurden. Trinitarisch ist es, weil wir v o m Evangelium getroffen wurden. Es ist aber auch notwendig monotheistisch, weil dies eben das Evangelium Gottes ist. N i c h t eines G o t t e s , dessen Existenz wir aus irgendeinem Bezirk der Welterfahrung erschließen ..., sondern das E v a n g e l i u m G o t t e s , der seine S o n n e scheinen läßt über die B ö s e n wie über die G u t e n u n d der, wenn er sein Antlitz verhüllt, alles, was ist, in Schatten versinken läßt." 1 2 6

Das Evangelium - Gott war in Christus - hat somit zwei Bedingungen der Verständlichkeit: Zum einen ein Verständnis dessen, was der Terminus ,Gott' besagen soll, und zum anderen eine modifizierende Bestimmung dieses Inhaltes durch die Christologie: Denn das christliche Bekenntnis ist trinitarisch, weil die Bekennenden durch das Evangelium, und es ist monotheistisch, weil sie durch das Evangelium Gottes getroffen sind. Die Einheit Gottes und die Bestimmung dessen, was der Begriff ,Gott' unter allen Umständen bezeichnet, ist die Voraussetzung der christlichen Trinitätslehre; die Trinitätslehre selbst erscheint als die Gestalt, die dieser Gottesbegriff unter der Bedingung erhält, daß in Jesus Christus Gott offenbar geworden ist. Die Christologie erscheint damit — weit entfernt davon, Grundlage einer Gotteslehre zu sein — als Näherbestimmung eines Gottesbegriffes, der seinerseits durch unabhängig von der Christologie gültige und durch diese nicht relativierte Prädikate gekennzeichnet ist, die die Bedingung der Möglichkeit für die Rede von Gott überhaupt darstellen. Diese Prädikate sind nicht ,aus irgendeinem Bezirk der

§§ 36 / 37; dazu 38, bes. 265f; dazu 278. 248; was die Abgrenzung im letzten zitierten Satz sagen soll, ist mir zu erhellen nicht gelungen. 125 126

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D e r christliche G l a u b e

Welterfahrung erschlossen' - was aber eben nicht aus-, sondern gerade einschließt, daß es sich dabei um den Gott handelt, der das Leben und den Tod gibt — ,der seinen Odem zurückzieht'. Es ist — nach der angezogenen Psalmstelle (Ps 104, 29) - der in seiner Schöpfung präsente Gott und somit nicht eindeutig - um nicht zu sagen: eindeutig nicht - der Gott des Evangeliums. 127 Nur unter der Voraussetzung dieser Prädikate ist es somit nach Eiert überhaupt nur möglich, Christus als Gott zu bezeichnen, oder anders: Wo Christus als Gott bezeichnet wird, sind automatisch diese Inhalte mit aufgerufen. 5.2.2.2. Daß diese These richtig ist und die - entgegen der eigentlich intendierten christologisch begründeten Gotteslehre - verfolgte Grundlinie trifft, beweist die genauere Analyse dieser Gotteslehre: Eiert definiert nämlich den Sinn des Begriffes ,Gott' mit - immerhin! einem Satz: „ M ü s s e n wir, u m uns verständlich zu m a c h e n , das W o r t G o t t gebrauchen, so kann es nur in der absoluten Totalität g e m e i n t sein, die eine Selb-Ständigkeit von i r g e n d w e m oder irgendetwas nicht neben sich d u l d e t . " ( 2 4 6 )

Dieser Gottesbegriff bezeichnet die ausdrückliche Näherbestimmung, unter die die Begriffe ,Liebe', .Offenbarung', .Gericht' etc. als Epitheta Gottes zu stehen kommen, die Wesenseigentümlichkeit Gottes also, die alle Manifestationen als seine bestimmt. 128 Es handelt sich hier also um einen Gottesbegriff, der schon vom Begriff her jeden Gedanken an eine Vielzahl von Göttern ausschließen soll und von dem Eiert daher behauptet, es handle sich um einen Begriff, der in keiner Weise einer Entität als Prädikat beigelegt werden könne. Das heißt aber: Genau dies — der Ausschluß jeder Instanz neben sich — ist nicht ein Prädikat, sondern die Definition des Wesens Gottes. In gewisser Weise nimmt die Lehre Elerts vom ,Wesen und Wirken' Gottes diese Wesensbestimmung auf und führt sie aus; auch hier wird, wie referiert (s.o. 1.2.1.; 259ff), entgegen der ursprünglich konzipierten expliziten christologischen Festlegung der Gotteslehre mit der schlichten Feststellung, Gottes Wirken werde nicht nur in der Christusoffenbarung erfahren, der Bereich 278. Diese beiläufig gegebene Definition weist eine Reihe von bemerkenswerten Zügen auf: Es ist zum einen ganz unverständlich, warum Eiert sich gegen einen metaphysischen Gottesbegriff abgrenzt (243ff), der doch nur die Grundbestimmungen dessen, was Eiert hier als den Begriffsinhalt von ,Gott' ausgibt, formuliert - nun einmal abgesehen davon, daß gar nicht klar ist, was die Begriffe bei Eiert eigentlich sagen sollen: Wie kann der Begriff,Gott' „in der absoluten Totalität gemeinf sein - intendiert ist doch wohl nicht eine Näherbestimmung des Meinens, sondern die Feststellung, daß mit Gott die absolute Totalität gemeint sei. Was ist eine Totalität, und was im Unterschied dazu eine .absolute' Totalität? Will Eiert behaupten, daß Gott alle Wirklichkeit sei? Wenn nicht: Wie unterscheidet er sich gegen diese geschöpfliche Realität, wenn diese nichts .Selbständiges' neben ihm ist? In welchem Sinne wird .Selbständigkeit' ausgeschlossen? Diese und viele andere Fragen - etwa auch die Frage nach der Herkunft dieses Gottesbegriffes bleiben völlig ungeklärt. 127

128

Zwei-Naturen-Lehre u n d D e u s abconditus

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der Rede von Gott gegenüber der ursprünglichen Intention entgrenzt (278, vgl. 288). Damit stellt sich für Eiert das Problem einer Suche nach Eigenschaften, die das Wirken Gottes in Gesetz MW Evangelium als Wirken Gottes zu erkennen geben; die Prädikate, unter die Eiert das Wirken Gottes subsumiert, sind eben solche Wesensprädikate, die sein Wirken unter dem Vorzeichen sowohl des Gesetzes wie des Evangeliums kennzeichnen.129 Eiert hebt dabei im wesentlichen auf drei Begriffe ab, nämlich zum einen die Personalität Gottes (§ 40): In der Erfahrung seines Wirkens hat es der Mensch immer mit der Anrede eines ,Du an ein ,Ich' zu tun. Unter dem Vorzeichen der Personalität steht die Aktuosität des göttlichen Wirkens: Gott ist nicht die müssige Voraussetzung seines Wirkens, sondern dessen Vollzug selbst, er geht in dem auf, was der Mensch von ihm erfährt: „ E i n e essentia D e i jenseits seiner reinen Aktualität gibt es nicht. M a n kann deshalb auch v o n seinem Z o r n u n d von seiner Liebe nicht wie von einer p e r m a n e n t e n Essenz reden, sondern nur, i n d e m m a n operativ d a v o n betroffen wird." ( 2 8 3 )

Diese Einschränkung, die der Prinzipialisierung des Zornes und der Liebe und damit dem Konstatieren eines Widerspruches im Wesen Gottes wehren soll, hat darin ihre für unser Anliegen relevante Spitze, daß sie einmal mehr die Bindung der Theologie Elerts an die Situation der Erfahrung der Inhalte des Glaubens verdeutlicht. Unter dem Begriff der ,Doxa' oder ,Majestas' Gottes behandelt Eiert sodann (§ 41) - ausdrücklich im Anschluß an Otto - die in allen Manifestationen Gottes präsenten Momente des numinosum, des fascinosum und des tremendum, während er sich unter der Überschrift des ,Ethos Gottes' drittens (§ 42) die göttlichen Handlungsmöglichkeiten dadurch einer ethischen Limitation entzieht, daß er das göttliche Handeln als .heilig' im Sinne des ,ganz anderen', des dem menschlichen Urteil völlig Entzogenen bezeichnet130 5.2.2.3. Diese Epitheta haben ihre von Eiert nur an einzelnen Stellen, nicht aber als umfassende Charakteristik eingeführte Gemeinsamkeit darin, daß sie Momente der Erfahrung Gottes sind, nicht diesen selbst ,in seinem Wesen' kennzeichnen sollen. Es sind gleichsam Anweisungen, unter welcher Voraussetzung Erfahrungen als Erfahrungen Gottes identifiziert werden können, nicht aber Hinweise darauf, welcher Set von Eigenschaften eine Entität als ,Gott' kennzeichnet; Eiert widerspricht vielmehr der traditionellen Unterscheidung aktuoser von .ruhenden' Prädikaten im Rahmen der Gotteslehre

125 Vgl. 283-285, dazu 288f und bes. 296f Es ist eine crux dieser Position, daß Eiert einerseits jeden der Antithetik von Evangelium und Gesetz übergeordneten Gottes- und Offenbarungsbegriff ablehnt, auf der anderen Seite aber auf einen solchen Gottesbegriff nicht um der Identität Gottes, sondern um des Ausweises der Göttlichkeit beider Manifestationen willen nicht verzichten kann. 130 Bes. 297.

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Der christliche Glaube

und ist daran interessiert, die Beschreibungen des Wesens Gottes durch .ruhende' Prädikate entweder zu negieren oder aber den aktuosen Prädikaten zu unterstellen.131 Es ist deutlich, daß sich hier die These Elerts wiederholt, daß sich eine Lehre von den Eigenschaften und von den Wesenseigentümlichkeiten Gottes ursprünglich einer Erfahrung Gottes verdanke, die sich in Begriffen formuliere, die in unmittelbarer Weise diesem Erlebniswert Ausdruck verleihe und daher nicht anders könne als sich anthropopathisch zu formulieren. 132 Elerts Gotteslehre reduziert ganz eindeutig die Lehre vom Wesen Gottes auf die Lehre von seinem Wirken, und zwar von seinem Wirken an dem durch Gott getroffenen Menschen. 133 Entsprechend erklärt sich Eiert gleich in den die Gotteslehre einleitenden Überlegungen zur ,Möglichkeit der Theologie im engeren Sinne' (§ 34) gegen das Unternehmen einer Lehre von ,Gott an und für sich', das „mit der Bindung auch der Dogmatik an das Evangelium unvereinbar wäre." (241) Von Gott könne nur das ausgesagt werden, „was er in Bezug auf seine Geschöpfe ist, d.h. der Schöpfer, der Herr, der Erlöser, der Richter, der Vollender" (ebd.). Eine Lehre von Gott ,an sich', von Gott, wie er nicht auf seine Geschöpfe bezogen ist bzw. die sich nicht aus dem,Getroffensein durch das Evangelium' begründe, sei abzulehnen; dergleichen liege auch in der Trinitätslehre nicht vor, die zwar von Gott selbst, aber eben von ,Gott selbst' unter der Voraussetzung seiner Erfahrung in der Verkündigung des Evangeliums spreche. Die Position entspricht völlig nicht nur den Vorgaben der Erlanger Tradition, sondern eben auch den Grundlagen, aus denen sich Ritschis Deutung des Gottesprädikates als .Werturteil' folgerichtig ergibt. 5.2.2.4. Nun stellt sich allerdings die Frage, woher - d.h.: aus welcher Erfahrung Gottes - Eiert die referierten Bestimmungen des Wesens Gottes bezieht, die ausdrücklich nicht auf die Christologie bzw. auf die Erfahrung Gottes im Evangelium beschränkt sind und darin ihren Entdeckungsgrund nicht haben können. Es scheint mir eindeutig zu sein, daß Eiert hier Wesensprädikate zur Darstellung bringt, die praktisch ausschließlich die Eigentümlichkeiten und Merkmale der Erfahrung Gottes unter der Voraussetzung der Verborgenheit Gottes zur Darstellung bringen. So fuhrt Eiert beispielsweise den Begriff der ,Doxa' als ,echt evangelischen' und in der Christologie begründeten Begriff ein, bestimmt ihn dann aber auschließlich durch Begriffe, die ihren Ort in der Beschreibung der Erfahrung des Deus absconditus haben. 134 Der Begriff vom Wesen Gottes - insbesondere die vorlaufende Definition Gottes als der Totalität', die keine Selbständigkeit neben sich dulde - erklärt sich daraus, daß

131

Vgl. für die simplicitas u n d unitas: 281f; vgl.284 zu immensitas u n d immutabilitas; vgl.

287 u.ö. 132 133 134

Vgl. 282f mit Eiert, Transzendenz 5 2 8 - 5 3 3 . Vgl. 279f,zit. unten S. 331. Vgl. 288fl

Zwei-Naturen-Lehre u n d D e u s a b c o n d i t u s

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Eiert Gott im Rückgriff auf die Erfahrung des ,deus absconditus' - bzw. auf die Erfahrung des Widerspruches Gottes gegen den Autonomieanspruch des Menschen - definiert. 135 Die oben zitierte Deutung des Begriffes ,Gott' ist die Wesensbestimmung des Deus absconditus, 136 und die Eigentümlichkeiten des Wesens und Wirkens Gottes sind Näherbestimmungen dieser Wesensdefinition aus der Grunderfahrung des ,Menschseins vor dem Deus absconditus' heraus. 5.2.2.5. Insofern ist es sachgerecht, wenn Eiert sich gegen den Versuch eines Gottesbeweises mit dem Argument wendet, die Existenz Gottes sei nicht Gegenstand eines Beweises, sondern gesetzt mit dem Selbstzeugnis Gottes und der diesem entsprechenden Erfahrung des Menschen: „ E s verhält sich mit diesem Begriff [i.e. d e m des actus purus] wie m i t d e m der Usia, der H y p o s t a s e n , a u c h des L o g o s u n d m i t allen andern, die hier zu verwenden sind: er kann nicht aus sich selbst, sondern nur v o m Selbstzeugnis G o t t e s her verstanden werden. N u n trifft uns das Selbstzeugnis aber im G e s e t z u n d i m Evangelium. I m Gesetz, das heißt: er m a c h t uns schuldig, i n d e m er über unsere gesamte Existenz verfugt. I m Evangelium: es ergeht an uns die Paraklese zur V e r s ö h n u n g mit i h m . U n t e r d e m W o r t der V e r s ö h n u n g erfolgt der Existenzwandel des G l a u b e n s . S o oder so ist es , G o t t selbst', der uns ins natürliche L e b e n rief, der uns verantwortlich m a c h t , der S ü n d e n vergibt u n d uns das ewige L e b e n verheißt. E i n e n anderen ,Gottesbeweis' gibt es nicht. O d e r vielmehr: Wer so oder so v o n G o t t getroffen ist, b e d a r f keines ,Beweises' ftlr seine Existenz, sowenig wie der von der Kugel Getroffene, d a ß einer a u f ihn geschossen h a t . " ( 2 7 9 f )

Der Erschließungsgrund der Realität Gottes ist somit — wie bei v. Frank — die Erfahrung der Wirkung Gottes auf den Menschen; wie v. Frank die Wirkung Gottes in der Erfahrung von Wiedergeburt und Bekehrung als Grundlage der Gewißheit bezüglich der Existenz Gottes betrachtete, so bezeichnet Eiert hier die erfahrene Wirkung Gottes am Menschen als die Grundlage, die die Existenz Gottes vergewissert. Unzutreffend ist lediglich die im Zitat vorgenommene Parallelisierung des Selbstzeugnisses Gottes in Gesetz und Evangelium als Entdeckungsgrund der Eigenschaften des göttlichen Wirkens. Faktisch entnimmt Eiert die Eigentümlichkeiten, die ein Wirken Gottes als Wirken Gottes kennzeichnen, der Erfahrung des Gesetzes bzw. des Deus absconditus, und identifiziert das Wirken Gottes im Evangelium als Wirken Gottes durch eben die Erfahrungsmomente, die sein Wirken im Modus des Gesetzes kennzeichnen. Nur daraufhin ist im Evangelium wirklich Gott erkannt, daß er sich dort unter denselben Erfahrungselementen wie in der Erfahrung des Gesetzes bzw. des Deus absconditus präsentiert. So übrigens auch in .Transzendenz'. Vgl. bes. 120 und Vorausgehendes. Dies ist die einzige Möglichkeit, dieser völlig unbegründeten Definition ihren Entdekkungsort zuzuweisen. Eiert selbst stellt keinerlei Verbindung zwischen dieser Definition und den § § 6 - 1 6 her. 135

136

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Der christliche Glaube

Genau dieses Verfahren ist die Voraussetzung dafür, daß es im Rahmen der Darstellung des Verhältnisses von Evangelium und Glaube zu den auffälligen, merkwürdig schiefen und mit dem Inhalt des Evangeliums schwer vereinbaren Bildern für dessen Wirksamkeit bzw. für den Glauben - das Getroffenwerden durch eine Gewehrkugel, das Unterstelltwerden unter einen Herrn, die Heteronomie - kommt. 137 Der Sachverhalt scheint vielmehr dieser zu sein, daß gerade nicht der Inhalt des Evangeliums, wie Eiert immer behauptet, dieses als Wort Gottes verbürgt, sondern eben der Umstand, daß es der Mensch im Evangelium mit den Eigentümlichkeiten der Wirkung einer Macht zu tun hat, die er aus der Situation des Gesetzes kennt und in der Erfahrung des Evangeliums wiedererkennt. 138 5.3. Zusammenfassung: 5.3.1. Die Interpretation und ihre Implikationen. Diese Interpretation hat folgende wesentliche Implikationen: 5.3.1.1. Die Position Elerts wäre dann unterbestimmt, wenn man lediglich annehmen würde, daß Eiert die Züge der Gesetzeserfahrung gleichsam mechanisch auf die Erfahrung Gottes im Evangelium übertragen würde. Vielmehr kennzeichnet Eiert das Evangelium nicht nur als Widerspruch, sondern als Bestätigung der Erfahrung des Gesetzes, mehr noch: direkt als Realisation der Intention des Gesetzes. Der Mensch wird erst im Evangelium der Unmöglichkeit einer autonomen Existenz ansichtig und kommt unter dem Zorn Gottes als autonomes Subjekt zu Tode. Im Evangelium hat es der Mensch eben mit den die Göttlichkeit einer Erfahrung kennzeichnenden Eigentümlichkeiten auch im Modus des Gesetzes zu tun. Auf der anderen Seite erfährt der Mensch im Evangelium den Zuspruch der Versöhnung als die negierende Kraft des Gesetzes überwindende Gegenmacht. Das Evangelium hat in der endgültigen Überwindung des alten und in der Konstitution des empfangenden Subjektes im Positiven dieselbe überführende Wirksamkeit wie der negierende Vollzug des Gesetzes. 5.3.1.2. Der Begriff,Gott' wird durch das Evangelium bzw. durch die Offenbarung in Christus nicht allererst eingeführt. Vielmehr geht Eiert davon aus, daß die das Evangelium zusammenfassende Wendung ,Gott ist in Christus' mit dem Gottesprädikat Inhalte einführt, die einer anderweitigen Erfahrung entstammen, in Christus aber aufgenommen und umbestimmt werden — an-

137

Vgl. oben 2.4., S. 286-288. Letztlich ist auch diese Prävalenz des Gesetzes vor dem Evangelium und die Dominanz der Bestimmungen, die Gott im Gesetz erhält, im Rahmen der Theologie Elerts begründet in einem Mangel in der Christologie, in der eben aufgrund des leitenden Desinteresses an der Lehre von der Person Christi und deren Limitation auf die dem Werk Christi entstammenden Bestimmungen der Gottesbegriff keine eigentliche Neubestimmung erfährt — dazu wieder (wie Anm. 120) Baur, Abendmahlslehre; ders., Streit; ders., Christologie. 138

Zwei-Naturen-Lehre und Deus abconditus

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dernfalls könnte Eiert nicht davon sprechen, daß das Verhältnis der monotheistischen Verpflichtung zur Trinitätslehre sich in den beiden Aspakten der Wendung .Evangelium Gottes' manifestiere: als Evangelium Gottes und als Evangelium Gottes (vgl. Zitat oben S. 327) Dieser Begriffsinhalt von ,Gott' entstammt nicht der Christologie, sondern die Christologie ist eine Näherund Neubestimmung dieses Begriffsinhaltes. 5.3.1.3. Das Zentrum dieses Gottesbegriffes ist die Erfahrung einer irresistibel bestimmenden, jeden Anspruch auf Autonomie niederschlagenden Macht, die im Gesetz in ihrem Widerspruch gegen den Autonomieanspruch des Menschen erfahren und im Evangelium im Tod des alten und der Konstitution der extern bestimmten, dieser externen Bestimmung im reinen Empfangen entsprechenden Subjektivität erfahren wird. Das Evangelium ist genau darin Erfahrung eines Wirkens Gottes, daß es die - dem im Widerspruch des Gesetzes erfahrenen — Anspruch Gottes entsprechende Existenz, den Glauben, schafft. Die Wendung ,Gott war in Christus' ist selbst Ausdruck des Glaubens, der in der Verkündigung von Christus seine Autonomie verloren hat, indem er die jede Autonomie niederschlagende Macht in seiner Neukonstitution erfahren hat. Darin, daß die Verkündigung des Evangeliums das Ende des Autonomieanspruches der Subjektivität setzt, ist diese Verkündigung selbst Erfahrung Gottes. 5.3.2. Das Verhältnis zur Selbstdeutung Elerts. Diese Interpretation widerspricht der Selbstdeutung und dem Selbstverständnis Elerts an zentralen Punkten, die hier explizit aufzuzählen sind, die aber alle durch gegenläufige Gedankengänge bei Eiert im Sinne dieser Interpretation relativiert sind: 5.3.2.1. Eiert versteht die eigene Theologie an zentralen Stellen seiner Dogmatik als eine Theologie, die sich allein aus dem Evangelium von Gottes Versöhnungstat in Christus ergibt, dem natürlichen Welt- und Gottesverhältnis des Menschen aber keine positiven Bestimmungen entnimmt (244; 63f); das Evangelium und dieses allein sei die Grundlage der Theologie. Auf der anderen Seite relativiert Eiert selbst diese Reduktion auf das Evangelium als Erschließungsgrund christlicher Rede von Gott, indem er an anderen Stellen - z.B. 280 - die Erfahrung Gottes in Gesetz MW Evangelium als den Erschließungsgrund einer Gotteslehre etabliert bzw. im Rahmen der Gotteslehre selbst Instanzen der Erfahrung Gottes neben dem Evangelium als Quelle der Gotteslehre benennt (278). Die nähere Interpretation fiihrt allerdings in der eben vorgestellten Weise darauf, daß die Erfahrung Gottes im Gesetz bzw. die Erfahrung Gottes im natürlichen Weltverhältnis des Menschen, die Eiert in den §§ 6—16 als die Erfahrung einer den Autonomieanspruch des Menschen bestreitenden Übermacht beschreibt, der Erschließungsgrund für die Lehre vom Wesen und den Eigenschaften Gottes ist.

334

Der christliche Glaube

5.3.2.2. Eiert weist darauf hin, daß die Verkündigung des Evangeliums bei den Hörern kein Wissen von Gott voraussetze, daß vielmehr bereits die Apostel in der Verkündigung gegenüber den Heiden die Kraft der Selbstdurchsetzung des Evangeliums im Sinne des Berichtes von Christus erfahren hätten (158). Auf der anderen Seite verweist Eiert selbstverständlich und gleich im Anschluß an die erwähnte Passage darauf, daß auch die ,Heiden' mit Gott als Richter zu tun haben und auch ohne das offenbarte Gesetz der Erfahrung des Zornes und des Widerspruches Gottes ausgesetzt sind — insofern ist der Feststellung, daß die Apostel die Verkündigung des Evangeliums nicht auf einer zuvor gegebenen Gotteserkenntnis gegründet' haben, die Präzisierung beizufügen, daß die Apostel nach der Darstellung Elerts dennoch eine Erfahrung Gottes - ob diese nun so benannt wird oder nicht - und in diesem Sinne eine Erkenntnis Gottes voraussetzen (vgl. bes. 158f und 181 ff). Dem Evangelium gehe also eine Gotteserkenntnis voraus, so aber, daß das Evangelium dieser widerspreche und sie aufhebe, wie der Glaube das Ende der ,alten' Existenz bedeute. Nun ist dieses Verhältnis nach der vorstehenden Analyse nicht korrekt bestimmt. Das Gesetz ist in der Tat nicht die Begründung des Evangeliums in dem Sinne, daß dieses lediglich eine Näherbestimmung der vom Gesetz aus möglichen Aussagen über Gott wäre; wohl aber ist - darauf führte die Analyse der Ausführungen Elerts - das Evangelium nur dadurch überhaupt als Erfahrung Gottes und die Person Jesu nur dadurch als Gegenwart Gottes bestimmbar, daß in ihr dieselbe bestimmende, den Autonomieanspruch des Menschen bestreitende Macht erfahren wird wie im Gesetz - darauf zielt der Vergleich der Wirkung des Evangeliums mit der Wirkung einer Gewehrkugel; daß ferner die Modalität dieser Wirkung denselben Epitheta unterliegt wie die des Gesetzes (die Erfahrung freier Personalität und unwiderstehlicher Aktuosität; die Majestät im Sinne des ,numinosum, fascinosum und tremendum'; die Heiligkeit im Sinne der keiner menschlichen Kategorie unterworfenen handelnden Macht); und daß schließlich die entscheidende inhaltliche Bestimmung des Gesetzes - die Rechenschaftspflicht des Menschen vor Gott und die Unfähigkeit des Menschen, sich vor Gott als freies Subjekt zu etablieren - aufgenommen und bestätigt wird. Genau auf diesen letzten Punkt zielt die Rechtfertigungslehre Elerts insgesamt, die ja — wie referiert — ganz der Frage unterstellt ist, in welchem Sinne die Rechtfertigung die vom Gesetz etablierte Rechtfertigungspflicht des Menschen nicht überspringt, sondern an ihr Ziel fuhrt. 139

139

S.o. 4.2., S. 301ff.

Ertrag

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6. Ertrag 6.1. Zusammenfassung. Mit diesem Versuch einer Deutung in optimam partem muß nun der Gedankengang zusammengeführt werden und die Leistungsfähigkeit der Interpretation durch den Nachweis, daß diese die oben notierten Unvereinbarkeiten der Position löst, unter Beweis gestellt werden. Ich habe zu zeigen versucht, daß die Dogmatik Elerts insgesamt der Grundfrage der Erlanger Tradition nach Frank verpflichtet ist, nämlich der Frage nach der Gewißheit der Lehrinhalte des Glaubens, die er im Rekurs auf die durch die Verkündigung dieser Inhalte bewirkte Erfahrung beantwortet, auf die hin er die Lehrinhalte im methodischen Ansatz seiner ,Dogmatik von unten' durchsichtig machen will (1.). Auf der anderen Seite verfolgt er das zweite Anliegen der Erlanger Tradition, dennoch diese Inhalte als Voraussetzung und Grund der Erfahrung auszuweisen und so jeden prinzipientheologischen Subjektivismus zu vermeiden (3.)· Das Problem bestand darin, daß Elerts Begriff des Glaubens einerseits eingeführt wurde, um dieses Problem zur Auflösung zu bringen, indem er die Korrelation von Evangelium und Glaube unter Rekurs auf die allerformalste Verhältnisbestimmung als Verhältnis der Anerkennung der Geltung einer Ordnung einerseits, als Verzicht auf den Autonomieanspruch in der Unterstellung unter eine unbedingte Autorität andererseits beschreibt. Bei dieser Beschreibung war offensichtlich die Intention leitend, sicherzustellen, daß der Glaube, der die noetische Bedingung der Möglichkeit seines Gegenstandes darstellt, selbst nichts anderes ist als das ,Konstituiertwerden' durch denselben (2.2.; 3.). Die Problematik ließ sich hinsichtlich des Glaubensbegriffes in der Rechtfertigungslehre weiterverfolgen, in der erkennbar wurde, daß dieser .formale' Glaubensbegriff damit zusammenhängt, daß Eiert in dem im Glaubenden realisierten Existenzwandel den Widerspruch von Gott und Mensch als beseitigt ausweisen will, was eben nur möglich ist, wenn unter der Verkündigung des Evangeliums die autonome Existenz zu ihrem Ende kommt und eine im anderen ihrer selbst bleibend begründete Existenz zur Realisation kommt, die gegenüber dem Grund ihrer selbst keinen Autonomieanspruch erhebt (4.2.2.). Es wurde in der Verbindung von ,vivificatio' und .mortificatio', die sich unter der Verkündigung des Evangeliums ereignet, deutlich, daß sich hier die im Rahmen der Analyse der Morphologie notierte Grundstruktur wiederholt, daß das Evangelium die gegen die Autonomie des Menschen gerichtete Intention des Gesetzes nicht etwa aufhebt, sondern zur Realisation bringt (4.2.). Das Evangelium, so könnte man überspitzt und ganz gegen die Intention Elerts sagen, erschafft und erhält eine Existenz, die eben darum vom Gesetz nicht getroffen ist, weil sie dem Autonomie- und Herrschaftsanspruch Gottes nicht mehr widerspricht.

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Der christliche Glaube

Hinsichtlich des Gegenstandes des Glaubens führte eine Analyse der Christologie — näher der Zwei-Naturen-Lehre Elerts - zunächst zu der Feststellung, daß Eiert hier in einer Auseinandersetzung' mit Ritsehl die Zwei-Naturen-Lehre als Ausdruck des Glaubens interpretiert, daß die Gegenwart Gottes in Christus nicht Ausdruck eines menschlichen Attributionsaktes, sondern der Grund des Glaubens sei (5.1.)· Die Feststellung erwies sich als gegenüber der Position Ritschis nicht begründbar und leer dadurch, daß jegliche formale oder inhaltliche Bestimmung des Gottesbegriffes fehlte (5.2.1. und 2.). Eine daraufhin unternommene Rückfrage nach der Gotteslehre förderte dort eine Grundbestimmung des Gottesbegriffes zutage, die Eigentümlichkeiten der Erfahrung Gottes notiert, die eine Identifikation von etwas als Gotteserfahrung erlauben; sie förderte zweitens einen Gottesbegriff zutage, der Gott als die jede Selbständigkeit neben ihm ausschließende Macht bestimmt (5.2.2.). Sie wies schließlich nach, daß dieser Gottesbegriff die Grundlage der Christologie so bildet, daß die Christologie lediglich eine Näherbestimmung dieses grundlegenden Gottesbegrififes darstellt (5.3.). Die diesem Gott zugeschriebenen Epitheta stellen eindeutig Eigentümlichkeiten dar, die der Erfahrung Gottes im Gesetz bzw. unter der Verborgenheit Gottes entnommen sind; der Gottesbegriff läßt - insbesondere in der analysierten Definition des ,monotheistischen Gottesbegriffes' (s.o. S. 328) - die Grundbestimmungen des metaphysischen Gottesbegriffes wieder aufleben. 6.2. Auswertung. 6.2.1. Gott in Gesetz und Evangelium. Die oben als,formal' gekennzeichnete Bestimmung des Verhältnisses von Evangelium und Glaube rekurriert auf eben diesen Gottesbegriff und die diesem entsprechenden Züge des Glaubens. Das Evangelium weist sich genau dadurch als Erfahrung Gottes aus, daß ihm wie dem Gesetz die Grundzüge einer Gotteserfahrung eignen, nach der eine irresistibel den Anspruch auf Selbständigkeit niederschlagende Macht erfahren wird, so nun aber, daß es durch die Negation der Selbständigkeit neben Gott und somit durch den Tod des Subjektes hindurch zu einem Leben in der Unselbständigkeit und absoluten Abhängigkeit Gott gegenüber kommt. Genau im Gegensatz zu der in der Analyse der Morphologie erarbeiteten Verhältnisbestimmung, in der in der Tat eine ,Transzendenz' erst mit dem Evangelium als Durchbrechung der aporetischen Situation des Sünders zur Aussage kommt und erst von daher die Situation unter der Verborgenheit Gottes überhaupt erst als eine von Gott bestimmte Situation erkennbar wird, ist hier, in der Dogmatik Elerts, die Erfahrung Gottes extra Christum die Bedingung der Möglichkeit dafür, überhaupt erst Gott in Christus identifizieren zu können. Dem Gottesbegriff eignen gerade im Widerspruch Gottes gegen den menschlichen Autonomieanspruch Züge, die der Erfahrung der Deus absconditus entnommen sind und sich im Rahmen der Bestimmung Gottes in Christus durchhalten.

Ertrag

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In genau diesem Sinne ist die Erfahrung Gottes im Gesetz bzw. die Erfahrung des Deus absconditus die Realität, die das Kriterium und die Verifikationsinstanz dafür darstellt, daß der Mensch es im Evangelium wirklich mit Gott zu tun hat, und die den Sinn der Behauptung, ,Gott' sei ,in Christus', überhaupt erst erschließt. Das Evangelium gibt sich genau dadurch als Wort Gottes und Christus genau dadurch als Gott zu erkennen, daß es diesem von Eiert explizit als das Wirken Gottes in Gesetz und Evangelium gleichermassen charakterisierend bezeichneten - Wirken Gottes entspricht: Gott wirkt im Evangelium am Menschen in formal derselben Weise irresistibel und den Autonomieanspruch niederschlagend wie das Gesetz (Gewehrschuß), und es bestätigt die Erfahrung des Gesetzes, indem es sie - in der Begründung eines im Evangelium zentrierten und so extra se konstituierten Existierens überwindet, sich nur im Widerspruch gegen jegliche menschliche Autonomie aber - und nur so - als Erfahrung desselben Gottes erkennen gibt. Diese in der Erfahrung des Gesetzes gewonnene und im Evangelium erfahrenen Wesenseigentümlichkeiten Gottes sichern die Identität Gottes in Gesetz und Evangelium und erlauben es allererst, beide Erfahrungen als einander widersprechende Wirkungen desselben, darin mit sich zugunsten des Evangeliums im Streit liegenden Gottes zu beschreiben. 140 6.2.2. Der Zusammenhang zu Elerts apologetischem Programm. Damit ist aber deutlich, was sich hier vollzieht: Eiert begründet sachlich - aber weitgehend unabsichtlich - einen Gottesbegriff durch den Rekurs auf die Erfahrung des Gesetzes - bzw.: Neben den Erlanger Rekurs auf die Erfahrung der Wiedergeburt und Bekehrung, in der sich die gegenständlich formulierbaren Inhalte des Christentums vergewissern, tritt ein zweites Zentrum und eine zweite Erfahrung, auf die hin sich die Voraussetzungen der genannten Inhalte — die Lehre von Gott, die Lehre von der Sünde, die Lehre vom Gesetz - vergewissern. Diese - nach christlicher Uberzeugung die natürliche Existenz bestimmenden — Lehrinhalte werden von Eiert - ebenso wie die spezifisch christlichen Inhalte im Rahmen der Erlanger Tradition - auf die natürliche, vorchristliche Erschließungssituation hin durchsichtig gemacht, in der sie erfahren werden. Die Begriffe - Gott, Sünde, Gesetz, Verborgenheit - bezeichnen eben nicht, wie noch bei Frank - mit der Erfahrung von Wiedergeburt und Bekehrung und nur dort gesetzte Sachverhalte, sondern Erfahrungen, die jedem zugänglich sind und die eben dem natürlichen Menschen als Erfahrungen aufweisbar sind. Es ist deutlich, daß sich in diesem Ansatzpunkt das von Eiert nach dem Ersten Weltkrieg mit Hilfe des,Hintergehungsanspruches 1 Spenglers etablier140 Auch hier wäre, wie oben (Anm. 120 und 138), zu fragen, ob sich Eiert mit seiner limitativen Christologie nicht um die Möglichkeit bringt, diese von ihm zweifellos intendierte Neubestimmung Gottes durch eine ausgearbeitete Zwei-Naturen-Lehre zu fundieren - vgl. die oben angegebene Literatur, bes.: Baur, Streit.

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Der christliche Glaube

te apologetische bzw. kulturkritische Programm wieder Geltung verschafft, in dessen Verfolg Eiert als Voraussetzung der christlichen Verkündigung die Brüchigkeit der natürlichen Weltorientierung ausweisen und diese auf den Untergrund einer jede Rationalität durchbrechenden Gotteserfahrung hin durchsichtig machen will. Es ist auch deutlich, daß dieses ,Etablieren' einer zweiten, neben die spezifisch christliche tretenden natürlichen Erfahrung Gottes eine Art Wiederholung des ursprünglichen Erlanger Ansatzes — nun aber mit den Inhalten der metaphysischen Tradition — darstellt: „In diesem Augenblick [des Urerlebnisses] ist der ganze Plunder der Religionsphilosophie, die Gott definierte als to on, als ens infinitum, als actus purus, sind die ganzen Schutzlittel und Heiltümer der Kirche gegen Sündenstrafe, gegen zeitliches und ewiges Verderben - ist alles verflogen und vergessen. Gott ist plötzlich aus einem Gegenstande des Nachdenkens, aus einem Paragraphen der Dogmatik zu einer Person geworden, die mich persönlich anruft. Sie ruft mich an, um mir zu sagen, daß meine Zeit abgelaufen ist." (Morph. I, 18)

Es ist ja nicht wahr, daß hier die Religionsphilosophie .verfliegt'. Es wiederholt sich vielmehr — das zeigt eben die Gotteslehre Elerts — hier eben dasselbe, was die Erlanger Theologen mit den spezifisch christlichen Inhalten der Dogmatik vollzogen: Eiert behauptet, daß der — gerade der natürlichen — Gotteslehre eine ursprüngliche Erfahrung zugrundeliegt, in der sich diese Inhalte - eben als Ende der Subjektivität - erschließen. Der metaphysische Gottesbegriff wird als Korrelat des Selbstverständnisses und der Erfahrung des Menschen entfaltet und in der Verkündigung des Evangeliums neubestimmt: Gott als die Macht, die keine Selb-Ständigkeit neben sich duldet, ist auf der einen Seite der - in der natürlichen Situation des Menschen im beständigen Scheitern des Versuches, sich als Mittelpunkt der Wirklichkeit zu etablieren, erfahrene - Gegenwille, und Gott ist definiert als dieser Gegenwille. Umgekehrt ist Christus in der Tat nur dann in seiner Einheit mit Gott erfahren und verstanden, wenn es in der Begegnung mit ihm zum Glauben kommt, d.h. zum Ende des Autonomieanspruches und der Versuche des Menschen, sich selbst zu konstituieren, und zur Haltung des bloßen Empfangens gegenüber dem Zuspruch der Vergebung aufgrund des Todes Christi und in diesem Sinne zur Anerkennung seiner Herrschaft. Indem in einer unableitbaren Erfahrung Christus bzw. die Verkündigung von Christus als Ursprung dieses Glaubens erfahren wird, wird in eben dieser Wirkung der Verkündigung Gott - die .Totalität, die keine Selb-Ständigkeit neben sich duldet' (Glaube 246) - erfahren. Die Gottheit Christi bzw. der Grund der Gültigkeit des Evangeliums - daß Gott in Christus ist - ist in der Tat nicht durch ein äußerliches Postulat untrennbar mit dem skizzierten Glaubensbegriff, nach dem der Glaube Anerkennung der Heteronomie' ist, verbunden, sondern durch diese systematische Kongruenz der Definition des Glaubens und der korrelativen Bestimmung des Gottesbegriffes als Negation jedes Autonomieanspruches. Der Gottesbegriff hat den Glauben, und der Glaube diesen Gottesbegriff zur genauen Entsprechung.

Ertrag

339

6.2.3. Die subjektivitätstheoretische Intention: Gott als Grund des Subjekts. Damit ist eben aber auch deutlich, daß der Glaube, der die Anerkennung des Herrschaftsanspruches Gottes ist, selbst unfähig dazu ist, den Glaubensinhalt als wesentlich durch den Bezug auf die eigene Subjektivität konstituiert zu verstehen. Vielmehr ist der Gottesbegriff und der ihm entsprechende Existenzwandel selbst so bestimmt, daß die Begegnung mit Gott als Tod der Subjektivität und deren externe Neukonstitution erscheint. Allerdings ist dieser Begriff des ,Todes' der Subjektivität metaphorisch und schließt die Identität des Subjektes unter den Bedingungen der Sünde und unter den Bedingungen der externen Konstitution nicht nur nicht aus, sondern ausdrücklich ein (Glaube 587); eben diese Identität der Subjektivität hatte Eiert in der Morphologie als transzendentales Subjekt' bezeichnet, und auch wenn Eiert den Begriff dort in anderem Sinne als die klassische Subjektivitätstheorie verwendete, kann man doch notieren, daß sich eben hier die fundierende Funktion der Subjektivität wieder meldet, deren Entdeckung die Urstiftung dessen ist, was man als .neuzeitliche Subjektivitätstheorie' bezeichnen kann: daß es nicht möglich ist, diejenige Instanz, vor deren ichhaften Vollzügen alles erscheint, was wir als ,seiend' sinnvoll bezeichnen können, als Konstitut eines anderen ihrer selbst auszulegen, das nicht selbst wieder unter der Voraussetzung der Subjektivität stünde. Die Intention Elerts allerdings ist deutlich: Er zielt darauf ab, die Antithetik von Gesetz und Evangelium als den Modus der Auseinandersetzung mit der neuzeitlichen Konzeption des Subjektes zu etablieren; letztlich scheitert dieser Anspruch eben daran, daß Eiert diese Konzeption auf den Autonomieanspruch' reduziert und den Punkt der Stärke bzw. das systematische Zentrum derselben durch sein konsequentes Ausblenden der erkenntnisheoretischen Entdeckungszusammenhänge übersieht: daß sich im Rahmen des Weltverhältnisses dieses Subjekt auch im Untergang und im Scheitern noch als die Bedingung der Möglichkeit aller seiner mit ihm nicht identischen Voraussetzungen behauptet. 6.3. Verhältnis zur Morphologie. Es ist deutlich, daß sich hier ein anderes, in der skizzierten Entwicklung der Frühzeit Elerts (A.) begründetes Anliegen Raum schafft als in der am Ende des Abschnittes C. skizzierten Verhältnisbestimmung des Evangeliums zum Gesetz in der Morphologie. Dort bezog sich die christliche Verkündigung und die christliche Theologie eben auf die vorchristliche Erfahrung in der komplexen Weise, die ich für Ihmels' Verhältnisbestimmung von Gesetz und Evangelium ausgewiesen habe: sie setzt diese voraus als eine immer schon unter dem Vorzeichen der Sünde stehende Gotteserfahrung, die aber erst vom Evangelium her sich als solche erschließt, auf die sich das Evangelium bezieht und deren Grundbestimmungen das Evangelium bestätigt und aufnimmt, indem es sie überwindet. Man wird in der Interpretation Elerts über diese Janusköpfigkeit' der Position nicht hinwegkommen, die einfach darin begründet ist, daß seinem Denken zwei unter-

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Der christliche Glaube

schiedliche Anliegen in der Verhältnisbestimmung von Gesetz und Evangelium zugrundeliegen: Das genuine Anliegen der Erlanger Tradition, keine Instanz der Vergewisserung der christlichen Inhalte zuzulassen als die Erfahrung von Wiedergeburt und Bekehrung bzw. die den Glauben weckende Wirkung des Evangeliums. Auf der anderen Seite die skizzierte kulturkritische Modifikation des Hunzingerschen Konzeptes der Apologetik. Das zunächst genannte Anliegen hatte bereits Ihmels dazu geführt, die emphatische Betonung des Gesetzes als Voraussetzung der Entstehung des Glaubens immer wieder in die Verkündigung des Evangeliums als der einzigen Quelle der Offenbarung Gottes zu integrieren.

Ε. Zusammenfassung Die Analyse der Position Elerts hat folgendes ergeben: In den ersten beiden Teilen (A und B) konnte der Zusammenhang der Elertschen Theologie mit der Erlanger Tradition aufgewiesen werden: Unter Α wurde die Modifikation des Themas der Apologetik durch die - von Spenglers Vision inspirierte Entdeckung des Gesetzes bzw. der Erfahrung des Deus absconditus als kulturkritisches Instrument nachgezeichnet. Unter Β konnte das zentrale theologische Anliegen der Erlanger Tradition - die Deutung der gegenständlichen Lehrinhalte des Glaubens als Ausdruck des Glaubens einerseits, und die Erfassung dieser Inhalte als in einer unableitbaren Erfahrung gegebene Konstituenten des Glaubens andererseits - bei Eiert identifiziert werden. Die Auseinandersetzung mit dem neuzeitlichen Konzept der Subjektivität war in je unterschiedlicher Weise Gegenstand der folgenden Teile: Unter C wurde der im Rahmen der Morphologie unternommene Versuch Elerts dargestellt, den Glauben — als voraussetzungslose externe Konstitution — als das Original der Unterscheidung von transzendentalem und empirischem Ich auszuweisen und so die Kantische Philosophie und die folgende Tradition des deutschen Idealismus als das .entlaufene Kind' der Reformation zu identifizieren (C, 2.). Damit verbindet sich das zweite Anliegen, die Deutung der Situation des Menschen unter dem Gesetz für eine Auseinandersetzung mit dem transzendentalen Subjektivismus fruchtbar zu machen; Eiert will so innerhalb der Kantischen Philosophie - genauer: in der Dritten Antinomie — das Thema des ,Urerlebnisses' identifizieren und auf diese Weise das Scheitern des Konzeptes einer Subjektautonomie ausweisen (C, 3.). Damit verbindet sich ein origineller Versuch, das Evangelium als die Instanz der Einführung von Transzendenz überhaupt zu etablieren dadurch, daß das Evangelium als Durchbrechung der Aporetik des Gegensatzes von Autonomieanspruch und Freiheit und in diesem Sinne als ,Transzendenz' erscheint, die sich — rückblickend — als der Grund auch der Aporetik der Situation unter dem Gesetz erweist und so zur Sprache gebracht werden kann. In Teil D wurde das von Eiert im Rahmen der Morphologie vernachlässigte Thema der Verhältnisbestimmung von Glaube und Glaubensgegenstand unter ,erkenntnistheoretischem' Gesichtspunkt ins Zentrum gestellt; es zeigte sich der in einem bestimmten Glaubensbegriff und einer entsprechenden Fassung des Gottesbegriffes - die Existenz im Verzicht auf Autonomie als Korrelat der absoluten Autonomie - sich niederschlagende Versuch, den Glauben gänzlich als Konstitut seines Gegenstandes auszusagen; es zeigte sich aber auch in der scheiternden Auseinandersetzung mit Ritsehl, daß Eiert im Grunde - ohne es zu wollen - die Grundstruktur von dessen Position vertritt,

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Zusammenfassung

nämlich die exklusive Bestimmung Gottes als Korrelat einer menschlichen Erfahrung - bei Eiert der Erfahrung der externen Konstitution - so nämlich, daß Gott definiert wird als Grund dieser Erfahrung (D, 5.)· Dabei wurde deutlich, daß im Rahmen der Dogmatik Elerts ein Anliegen durchschlägt, das dem Versuch, den Gottesbegriff ausschließlich aus der Begegnung mit dem Evangelium einzuführen, widerspricht: Eiert definiert hier die Wesenszüge Gottes aus der Erfahrung des Gesetzes und als Korrelat des scheiternden Autonomieanspruches des Menschen und identifiziert Gott in Christus bzw. im Evangelium dadurch, daß sich diese ebenfalls als den menschlichen Autonomieanspruch niederschlagende und in diesem Niederschlagen eine extern konstituierte Existenz ermöglichende Größen erweisen. Hier meldet sich ganz offensichtlich das apologetische Anliegen der Erlanger Tradition (A), das im Rahmen der Morphologie zugunsten der — auch bei Ihmels beobachteten - systematischen Intention zurücktrat, auch die Voraussetzungen des Evangeliums — die Gotteserfahrung unter dem Gesetz - als erst rückwirkend als Gotteserfahrung erschlossene und erkannte Wirklichkeit zu identifizieren. Insgesamt zeigt sich bei Eiert das Problem, daß ein genuines Verständnis gerade der erkenntnistheoretischen Entdeckungszusammenhänge des neuzeitlichen Konzeptes der Subjektivität verlorengegangen ist, was sich eben darin niederschlägt, daß der Ort der Auseinandersetzung ausschließlich die praktische Philosophie ist, und was dafür verantwortlich sein mag, daß das Thema der ,Gewißheit', das Frank und Ihmels bewegt hatte, zwar noch im Hintergrund der Position eindeutig identifizierbar ist - vgl. D, 1.4. - , aber nicht mehr eigens thematisiert und reflektiert wird; dies ist ein Verlust an apologetischem Potential, der dazu nötigt, die Erlanger Tradition im Gefolge Franks insgesamt im Blick auf die Fähigkeit zur Auseinandersetzung mit neuzeitlichen philosophischen Positionen als eine absteigende Linie zu beschreiben.

Schiaß Die Zielsetzung des Gesamtprojektes war eine dreifache: Zum einen sollte nach Indizien fur den Zusammenhang des Denkens Elerts und damit eines Repräsentanten der jüngeren Erlanger Tradition mit den Ansätzen der älteren Erlanger Theologie gefragt werden. Zweitens sollte die Gedankenbewegung nachgezeichnet werden, die es erlaubt, die Positionen bei allen Unterschieden als Repräsentanten eines Traditionszusammenhanges zu lesen. Drittens sollte der Beitrag der Positionen zur Verhältnisbestimmung von Subjektivität und Glaubensgegenstand und damit zur theologischen Auseinandersetzung mit der neuzeitlichen Subjektivitätstheorie erhoben werden. Hinsichtlich dieser Punkte ist im folgenden die Arbeit auszuwerten. Ich wiederhole in dieser Auswertung die am Ende des ersten Bandes der ,Studien' gebotenen Zusammenfassungen der Positionen v. Franks und Ihmels', um so das intendierte Gesamtbild der theologischen Entwicklung dieser LehrerSchüler-Reihe zu erhalten.

/ . Die Einheit der Erlanger Tradition bis hin zu Eiert Die ursprüngliche Intention der Erlanger Tradition bestand im Zuge der kirchlichen Integration der Anliegen der Erweckungsbewegung zunächst darin, die als externe Lehrnorm erfahrene Bindung an das Bekenntnis mit der subjektiven Unmittelbarkeit eines im Glauben ergriffenen und gegenüber dieser Lehrnorm auf seiner Authentizität und Autonomie beharrenden persönlich-individuellen Gottesverhältnisses zu vermitteln. Dies erfolgt so, daß die kirchliche Lehre, das kirchliche Bekenntnis und die Schrift ebenfalls auf diese christliche Subjektivität in ihrer Unmittelbarkeit zurückgeführt werden so, daß sie als die Explikation und Entfaltung des ursprünglichen Tatbestandes einer subjektiv vermittelten Erfahrung bestimmt werden. 1 Diese Grundlinie ließ sich durch die drei besprochenen Positionen hindurch als konstitutives Element verifizieren: 1.1. Frank. Bei Frank wird das genannte Anliegen angesichts der Auseinandersetzung mit der wissenschaftlichen Bestreitung der Inhalte des Glaubens mit der Suche nach einem für den Christen unbezweifelbaren Fundament

' Slenczka, Studien Bd. 1, 28ff.

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Schluß

seiner Gewißheit hinsichtlich der Gegenstände seines Glaubens verbunden 2 und — in Analogie zum Programm eines ,fundamentum inconcussum' bei Descartes 3 - so radikalisiert, daß als zentraler Grund aller Gewißheit die christliche Subjektivität (Erfahrung von Wiedergeburt und Bekehrung) bestimmt wird, in deren Selbstgewißheit als gesetzter die Inhalte des Glaubens mitgesetzt sind und so an der unmittelbaren Evidenz der christlichen Subjektivität Anteil haben. 4 Wie in der Erlanger Tradition insgesamt fungiert bei Frank - freilich in der radikalisierten Gestalt eines rein subjektiven Erlebnisses - die christliche Subjektivität als Verifikationsgrund aller Inhalte des Glaubens. 5 Das Programm verbindet sich — wie bei den übrigen Erlangern — mit einer grundsätzlichen Verweigerung einer Vermittlung der Glaubensinhalte mit den Wahrheitskriterien der säkularen Gewißheit, was zwar eine Auseinandersetzung mit dem Widerspruch nicht ausschließt, die aber nur möglich ist auf der Grundlage der in der christlichen Erfahrung (und eben nicht im Abgleich mit den natürlichen Wahrheitskriterien) begründeten Gewißheit. 6 1.2. Ihmels. Die Kritik Ihmels' an der Begründung der Gewißheit des Christen hinsichtlich seiner Gegenstände bzw. gegenständlichen Bezugspunkte seines Glaubens 7 setzt eine Rückkehr zur Bestimmung des Zentrums des Glaubens als Gottesgemeinschaft bei den anderen Erlangern voraus 8 und führt zu einer Neubestimmung des Sinnes, in dem der lehrhaften Ausgelegtheit des Glaubens eine ,Erfahrung' zugrundeliegt: Diese Erfahrung ist nämlich der prozeßhafte Vollzug, in dem sich die gegenständlichen Instanzen der Schrift, der Verkündigung und darin der Offenbarung Gottes in Christus als Medien der Gottesgemeinschaft erschließen. 9 Auch hier ist der Ausweisgrund der spezifischen Behauptungen des Christen hinsichtlich der Dignität der Glaubensinhalte die Erfahrung, in der sich diese Inhalte erschließen. Diese Erfahrung ist allerdings nicht der Stand in der Gottesgemeinschaft, erst recht nicht die subjektive Realität von Wiedergeburt und Bekehrung, sondern vielmehr der Prozeß der Begegnung von Glaube und ,Glaubensgegenstand' in der Verkündigung, in der sich das Evangelium von der in Christus gewährleisteten Gottesgemeinschaft als Überwindung des erfahrenen Zornes Gottes einerseits und als Erfüllung der Bestimmung des Menschen zur Gottesgemeinschaft andererseits vergewissert.10 2 3 4 5 6 7 8 9 10

Slenczka, Studien Bd. 1, 35ff. Slenczka, Studien Bd. 1, 52f. Slenczka, Studien Bd. 1, 84ff. Slenczka, Studien Bd. l , 8 2 f . Slenczka, Studien Bd. 1, 9 8 f f u n d 109ff. Slenczka, Studien Bd. 1, 225ff. Vgl. Slenczka, Studien Bd. 1, 249f. Vgl. Slenczka, Studien Bd. 1, 225ff. Vgl. Slenczka, Studien Bd. 1, 280ff und 283ff.

Die Einheit der Erlanger Tradition bis hin zu Eiert

345

Der Rückgang auf diese Erfahrung ist der Grund — und zwar der einzige — der christlichen Gewißheit hinsichtlich der gegenständlichen Aussagen des Glaubens. Ihmels teilt mit Frank den Widerspruch gegen eine Apologetik, sofern darunter ein begründender Rückgang auf das natürliche Wahrheitsbewußtsein und ein Ausweis oder eine Ableitung der Inhalte des Glaubens von dessen Kriterien her verstanden wird." Ihmels führt aber - wie Hunzinger den bei Frank unter den Passagen zum ,Gegensatz' 12 angebahnten Abgleich mit dem Widerpruch des natürlichen Wahrheitsbewußtseins fort, indem er die christlichen, nur im Rückgang auf die religiöse Erfahrung ausweisbaren gegenständlichen Inhalte und Aussagen des Christentums als Grundlagen einer Weltanschauung anbietet, die der Integration der Ergebnisse aller empirischen Wissenschaften fähig sind und diesen den Rahmen einer Gesamtdeutung der Wirklichkeit bieten. 13 1.3. Eiert. Auch bei Eiert findet sich als ein durchgängiges Grundmotiv von den frühesten Veröffentlichungen bis zum Ansatz der Dogmatik die beschriebene Zuordnung von Dogma und .Erfahrung'. Einerseits zielt die Verkündigung des (Gesetzes und des) Evangeliums auf die Erfahrung, das .Pathos' der Reue und des Vertrauens, 14 die unvertretbar individuelle Erfahrung einer Transzendenz, 15 das Getroffensein vom Evangelium, das die Grundlage einer Rekonstruktion des Dogmas aus diesem Getroffensein heraus darstellt; 16 ich hatte schließlich gezeigt, daß diese Verhältnisbestimmung das Grundkonzept der Morphologie mitträgt. 17 Andererseits war deutlich geworden, daß bei Eiert das Anliegen dieser Verhältnisbestimmung darin liegt, zu zeigen, daß die Subjektivität der Erfahrung keine autonome Instanz ist, sondern diese Erfahrung sich immer von einer externen, in diesem Sinne gegenständlichen Instanz her ergibt. Diese — immer wieder in Auseinandersetzung mit Troeltsch vorgetragene 18 - Deutung des Glaubens als externe Konstitution nimmt zunächst die von Ihmels betonte Bindung der christlichen Subjektivität an die äußere Größe des Wortes auf so, daß diese Subjektivität an dieser die Bedingung ihrer Möglichkeit hat. In dieser Verhältnisbestimmung erbt sich in modifizierter Gestalt das Anliegen Franks fort, nachzuweisen, daß es die Bestimmtheit der christlichen Subjektivität nur gibt als durch ein anderes ihrer selbst bedingte, wobei allerdings die .Bedingtheit' bei Frank als Kausalverhältnis gefaßt war, bei Ihmels und Eiert

11 12 13 14 15 16 17 18

Slenczka, Studien Bd. 1, 233f. Dazu Slenczka, Studien Bd. 1, 98ff und 109f. Slenczka, Studien Bd. 1, 300-314. Oben Β, 1.2., S. 79ff. Oben B, 1.1., S.75ff. Oben B, 3.3., S. U3ff, vgl. D, 1., S. 256ff. Oben C, 1.1. und 1.2., S. 129-148. Oben 139ff u.ö.

346

Schluß

hingegen als eine bleibende Abhängigkeit und als Unselbständigkeit des Subjektes gegen das ihm erschlossene gegenständliche Korrelat. Bei Eiert hatte diese .Unselbständigkeit' nicht durchgängig, aber in einigen Schriften die nähere Spitze, daß es bei ihm im Rahmen der Überarbeitung des dogmatischen Abbrisses zu einer Neubestimmung des Selbstvollzuges des Christen als extern vermittelte Reflexivität kommt, als Selbstbeurteilung des Menschen aufgrund des in Christus ergangenen Urteils Gottes. 19 Schließlich wurde sichtbar, daß bei Eiert sich die Verweigerung der Erlanger Theologen gegenüber einem Abgleich mit den Kriterien des natürlichen Wahrheitsbewußtseins und insofern mit einer Apologetik fortsetzt. Eiert übernimmt zunächst das apologetische Programm in der Gestalt, die Ihmels und Hunzinger ihm gegeben hatten, radikalisiert diese Position allerdings in den Veröffentlichungen nach dem Ersten Weltkrieg zu einer Absage an jede Form der Apologetik und zu einer vollständigen Diastase von Christentum und Kultur.20 Von dieser Absage bleibt auch in späterer Zeit der Widerspruch gegen jede Gestalt von natürlicher Theologie', worunter Eiert eben den Versuch versteht, aus der Haltung der unbetroffenen Distanz heraus über Gott zu sprechen und sich seiner zu vergewissern. Eiert setzt dem ein Verständnis Gottes und seiner Wirklichkeit entgegen, die das Abstrahieren von einer bestimmten Situation seiner Erfahrung — in Gesetz oder Evangelium — nicht erlaubt.21 Es zeigte sich im Laufe der Interpretation insbesondere seiner Dogmatik, daß gerade dieser Widerspruch gegen eine .natürliche Theologie' selbst eine Fortsetzung der Erlanger Tradition in dem Sinne darstellt, daß die Grundbegriffe einer natürlichen Theologie bzw. Gotteslehre selbst als Korrelat der ihr zugrundeliegenden Erfahrung wiedergewonnen werden.22

2. Der Entwicklungsgang der Erlanger Tradition in den Positionen 2.1. Frank. Ich hatte zu zeigen versucht, daß die Position Franks selbst eine Radikalisierung des Rekurses der Erlanger Theologen von der formulierten und verbindlichen Lehre auf deren .Original' - die subjektive, unvertretbar individuelle christliche Erfahrung - darstellt: Dieser Rückgang wird explizit fruchtbar gemacht für eine Vergewisserung des Christen bezüglich der - von außen bestrittenen — Existenz der Inhalte, auf die er sich im Glauben bezieht. Es werden zwei Anliegen, die der Erlanger Theologie schon im Ansatz eigentümlich sind, explizit miteinander verbunden: die Vermittlung der Erwek-

" Vgl. oben, B, 2.2., S. 92ff. ObenA, 2.3., S. 41 ff. 21 Oben C, 1.3., S. 148ff; vgl. 266ff. 22 Oben D, 5.2., S. 325ff. 20

Der Entwicklungsgang der Erlanger Tradition in den Positionen

347

kungsbewegung mit den als externe Fremdbestimmung empfundenen normativen Lehrinhalten einerseits, und das Anliegen der binnenkirchlichen Vergewisserung der Glaubensinhalte angesichts der Verunsicherung durch die wissenschaftliche Kritik andererseits.23 Der Rekurs auf die christliche Subjektivität unter Absehung von ihren Inhalten dient nur dazu, dem Glaubenden den Grund seiner Gewißheit explizit darzustellen und eben insbesondere darzustellen, daß mit dem Bewußtsein des subjektiven Christseins die Inhalte des Glaubens — und zwar in dem vollen von Schrift und Bekenntnis vorgegebenen Umfang - nicht mehr in Zweifel stehen können. 2.2. Ihmels. Bei Ihmels wird dieses Anliegen - die Vergewisserung des Christen hinsichtlich des Rechtes seines Glaubensstandes und der Realität der ihm gewissen Inhalte - übernommen, zugleich aber der Modus dieser Vergewisserung neubestimmt: Nach Ihmels ist der Stand des Christen insgesamt intentional verfaßt in dem Sinne, daß der Christ um sich selbst und seinen .Stand' als gewissen nur weiß im Vertrauen auf die ihm im Wort begegnende Offenbarung Gottes. Diese Offenbarung, die den Glauben trägt, kann weder so vergewissert werden, daß man sie als Implikat des Glaubensstandes erhebt, da dieser nur unter der Voraussetzung dieser Inhalte überhaupt ist; sie kann aber eben auch nicht im Abgleich mit natürlichen Gewißheiten vermittelt werden, da die Offenbarung nur im Glauben als solche erfaßt werden kann. Ihmels projektiert in dieser Situation einen Rückgang auf die prozeßhafte Erfahrung, in der sich die Offenbarung als solche erschließt, und bestimmt diese Erfahrung als Situation unter der Erfahrung von Gesetz und Evangelium. Dabei ist deutlich geworden, daß die Situation des Gesetzes nicht der n a türliche' Anknüpfungspunkt sein soll, der der Geltung des Evangeliums vergewissert.24 Vielmehr beschreibt Ihmels diese Situation so, daß allein das Evangelium selbst den Glauben wirkt bzw. eben darin der Realität der Inhalte seiner Verkündigung vergewissert. Die Struktur des Gesetzes ergibt sich mit der geschöpflichen Bestimmung des Menschen zur Gemeinschaft mit Gott, die nur im Evangelium als von Gott realisierte zugesprochen wird, sonst aber als dem Menschen auferlegte Verpflichtung erfahren wird. Diese Verpflichtung gestaltet sich zu außerchristlichen Religionen, säkularen ethischen Entwürfen (und den innerchristlichen Antithesen zum Luthertum). 25 Das Evangelium ergeht auf diese immer schon bestehende und erfahrene natürliche Situation hin, die sich der Mensch zumeist verdeckt und deren Aufdeckung die Aufgabe des Gesetzes ist. Das Evangelium nimmt diese Situation auf und bestätigt sie, indem sie ihr widerspricht: Es negiert die Möglichkeit einer Realisation der Gemeinschaft mit Gott von Seiten des Menschen, indem sie diese 23 Vgl. Slenczka, Studien Bd. 1, 28f: Zum Erlanger Anliegen, ebd. 35ff (zum Verhältnis v. Franks dazu). 24 Slenczka, Studien Bd. 1, 283-288. 25 Dazu Slenczka, Studien Bd. 1, 285.

348

Schluß

als durch Gott verwirklichte zuspricht. 26 Es ist erkennbar, daß diese Bewertung zum einen die Anknüpfung' an den natürlichen Wahrheitsbesitz aufrechterhalten soll, die Ihmels als unverzichtbar für eine Vergewisserung gleich welcher Wahrheit betrachtet; auf der anderen Seite hält diese Verhältnisbestimmung die Unvermittelbarkeit des Gegensatzes des Evangeliums zu den natürlichen Wahrheitskriterien aufrecht, die Ihmels im Einklang mit der Erlanger Tradition vertritt. Dennoch: Es liegt hier der Punkt, an dem wenigstens rückblickend die Unmöglichkeit des natürlichen menschlichen Selbstverständnisses verifizierbar ist; wenigstens der Christ kann sich im Rekurs von der realisierten Gottesgemeinschaft her in der Besinnung auf die Erfahrung, in der ihm das Evangelium gewiß geworden ist, dessen vergewissern, daß der vorchristliche Stand ein in sich unmöglicher, weil unter dem Gesetz und dem Zorn Gottes stehender ist; diese vom Evangelium her erhobene Aussage bzw. die entsprechende Situation ist nun aber - so deutet es sich bei Ihmels an - der Verifikationsgrund des Evangeliums. 27 2.3. Hunzinger. Auf der anderen Seite erfolgt bei Ihmels und Hunzinger eine Wiederentdeckung des relativen Rechtes der Apologetik, die nun einerseits die Aufgabe hat, die Bestreitung der christlichen Inhalte durch die säkulare Wissenschaft zu entkräften und es dem Christen zu ermöglichen, über den schlichten Rückzug auf die seinen Behauptungen zugrundeliegende Erfahrung seine Aussagen mit dem allgemeinen Wahrheitsbewußtsein und dessen Kriterien zu vermitteln; dies bei Hunzinger ausdrücklich genau so, daß das Christentum als Instanz der Integration aller wahren Aussagen in ein ganzes der Wahrheit zu stehen kommt. 2 8 2.4. Eiert. Die mit Eiert eintretende Modifikation dieser Position ist kompliziert und hat mehrere Ansatzpunkte. Eiert übernimmt zunächst — wie skizziert - die grundsätzliche Verhältnisbestimmung von Dogma und Erfahrung in der Gestalt, wie er sie bei Ihmels vorfindet; zum anderen übernimmt er die Figur der Begründung aller inhaltlichen Aussagen des Glaubens auf diese Erfahrung ohne einen Abgleich mit dem natürlichen Wahrheitsbewußtsein zum Zweck der Begründung christlicher Gewißheit anzustreben. 29 Auf der anderen Seite knüpft Eiert an das apologetische Anliegen Hunzingers an, und zwar so, daß er die Theologie als Entfaltung der mit dem Glaubensakt gesetzten und in ihm verbürgten Wahrheitsbehauptungen actu secundo ins Verhältnis zu setzen sucht zur natürlichen Weltorientierung; dabei verknüpft er in seiner Frühzeit an die insbesondere im Bereich des Neukantianismus vollzogene Rechtfertigung der Geisteswissenschaften gegen den 26 27 28 29

Slenczka, Studien Bd. 1, 285. Dazu Slenczka, Studien Bd. 1, 280ff. Slenczka, Studien Bd. 1, 303ff. Oben A, 2.2. und 2.3., S. 35-50.

Der Entwicklungsgang der Erlanger Tradition in den Positionen

349

Universalitätsanspruch naturwissenschaftlicher Erklärungsmodelle an, versteht diese Begründungen aber gegen deren eigentliche Intention als Etablierung eines besonderen Gegenstandsbereiches neben dem der Natur. Diese Vermittlungsversuche scheitern daran, daß Eiert zur eigentlichen Integration des naturwissenchaftlichen Verständnisses der Wirklichkeit nicht fähig ist; die Grundfigur einer solchen Integration bietet ihm erst Spenglers Zuordnung von Kausalität und Schicksal, Werden und Gewordenes, Zeit und Raum. Eiert rezipiert diese Unterscheidung zweier Perpektiven auf die Realität so, daß er die im Begriff des Schicksals mitgesetzte Fremdbestimmtheit des Menschen gerade hinsichtlich seiner Bindung an ein bestimmtes, kulturell bedingtes .Weltbild' als Gegeninstanz des Autonomieanspruches zur Geltung bringt, das naturwissenschaftliche Weltbild und die rationale Kultur des 19. Jahrhunderts als geschickhafte, aber selbst zum Vergehen bestimmte Gestalten des Weltverständnisses entwertet: Hinter der Rationalität einer nach dem Kausalgesetz geordneten Welt und hinter dem Anspruch auf Autonomie zeigt sich eine schicksalhafte Gebundenheit des Subjektes gerade in dem Entwurf eines solchen Weltbildes. Diese Kulturkritik Spenglers bietet Eiert überhaupt erst die denkerischen Mittel, den naturwissenschaftlichen Weltentwurf nicht nur zu negieren und im unfruchtbaren Widerspruch zu verharren, sondern zu hintergehen und zu integrieren.30 Eiert verbindet nun diese Kulturkritik mit der Neubewertung der Irrationalität und des Furchterregenden der Gotteserfahrung, deren Thematisierung bei Rudolf Otto ihm zum einen die Mittel gab, den der Gegenwelt des Schicksals entsprechenden Gottesbegriff zu formulieren einerseits, und die ihn andererseits auf Luthers Anfechtungserfahrung, den ,Deus absconditus' und die Bedeutung des Gesetzes aufmerksam machte;31 die Beschreibung des Deus absconditus in der Morphologie stellt den Abschluß dieser Entdeckung des Gesetzes als kulturkritisches Motiv dar: die Durchbrechung der dem Verstehen zugänglichen Welt und die Durchbrechung des menschlichen Autonomieanspruches in der Erfahrung der Heteronomie und Abhängigkeit von der Irrationalität, Unberechenbarkeit und Unbestimmbarkeit des Schicksals.32 Ich habe zu zeigen versucht, daß dem Gesetzesbegriff bei Eiert die in der Literatur häufig vermerkte Ambivalenz eignet, nach der Eiert einerseits alle Rede von Gott und alle Gotteserfahrung auf das Evangelium und den ihm entsprechenden Glauben limitiert, andererseits aber die unter der Verborgenheit Gottes erfahrene Macht des Schicksals ebenfalls als gleichsam anonyme Gotteserfahrung verbucht. 33 Die Strukturähnlichkeit mit Ihmels gerade an

30

Oben A, 2.3.3., S. 49. Oben A, 2.4., S. 50ff. 32 Oben A, 3.2., S. 56ff. 33 Vgl. zur Limitation: oben C, 3.3.4., S. 238f sowie D, 1.2.1., S. 259f; zur außerchristlichen Gotteserfahrung D, 5.2., S. 325ff; zum Verhältnis beider: D, 6.3., S. 339f. 31

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diesem Punkt ist frappierend 34 und Ausdruck für eine sich selbst nicht ganz durchsichtige Position: Eiert hat - im Rahmen seiner Dogmatik - zu der Reduktion aller Rede von Gott auf die Bedingungen des Verhältnisses von Evangelium und Glaube, um die sich noch Ihmels bemüht, im Grunde kein Recht mehr, wiewohl er verhallter daran festzuhalten sucht: 35 Neben die Erfahrung Gottes im Evangelium tritt, und zwar als Grundlage der Erschlossenheit des Gottesbegriffes überhaupt, unter den dann auch die im Evangelium erfolgende Identifikation Gottes mit Christus zu stehen kommt, die Erfahrung Gottes im Gesetz, die das Evangelium durchbricht: Ich habe zu zeigen versucht, daß es im Rahmen der Dogmatik die Erfahrung des Deus absconditus ist, unter der überhaupt das Verständnis dafür, was Gott ist, erschlossen ist; Eiert rekonstruiert unter dieser Erfahrung die Grundbegriffe des metaphysischen oder natürlichen Gottesbegriffes; er vollzieht damit an dieser Stelle dieselbe Operation, die die Erlanger Theologie mit Bezug auf die lehrhaften Inhalte des Glaubens vollzogen hatte: Er macht den natürlichen Gottesbegriff durchsichtig auf die Erfahrung, die ihn erschließt. Ich habe zu zeigen versucht, daß im Rahmen der Morphologie ein insgesamt gegenläufiges Programm vorliegt, in dem für Eiert die Deutung der natürlichen Situation des Menschen in der unentrinnbaren Antithetik von Forderung und Determination bzw. Freiheitsanspruch und Fremdbestimmung als Gotteserfahrung eine überhaupt erst vom Evangelium her eröffnete Möglichkeit ist, in der sich in der Durchbrechung dieser Situation Transzendenz erschließt. Ein Ausgleich dieser Widersprüchlichkeit erfolgt im Rahmen der Elertschen Theologie nicht. Es ist aber deutlich, daß in dieser Widersprüchlichkeit sich das aus der Erlanger Tradition stammende Bemühen um eine rein in der Erfahrung des Evangeliums begründete Theologie mit der skizzierten Modifikation des apologetischen Anliegens stößt, die Eiert zur Aufnahme des Begriffes des Gesetzes bzw. der Erfahrung des Deus absconditus führte.

3. Zur Auseinandersetzung mit dem , neuzeitlichen Konzept der Subjektivität 3.1. Frank. Sowohl die Position Franks wie die Elerts zielt auf eine Auseinandersetzung mit den Grundfiguren der neuzeitlichen Subjektivitätstheorie, 36 zu der beide nicht nur und ausschließlich in Gegensatz treten, sondern die beide als die Depravation eines ursprünglichen religiösen bzw. theologischen Gedankens betrachten.

34 35 36

Oben D, 1.2., S. 259ff und Slenczka, Studien Bd. 1, 280fF. Oben D, 1.2.1., S. 259f. Zum Problemhintergrund vgl. Slenczka, Realpräsenz, bes. 534fF; 578ff.

Auseinandersetzung mit dem Verständnis der Subjektivität

351

Frank unternahm den Versuch, im Ausgang von einer Analyse der Verfaßtheit der christlichen Subjektivität diese als einen selbstreferentiellen Vollzug zu deuten, der im Vollzug (Bekehrung) ein Setzen seiner selbst als eines solchen ist, der sich nicht selbst gesetzt hat; diesem im Bewußtsein dieses Vollzuges mitgesetzten Bewußtsein des Gesetztseins entnahm Frank sodann die Berechtigung, dieses Bewußtsein selbst als gesetztes zu bestimmen und zur Basis einer Explikation der mitgesetzten Ursache dieser Wirkung zu nehmen, die zunächst als anderes des christlichen Selbstbewußtseins, dann als dessen Voraussetzung, und schließlich als dessen ausdrücklich gegen das christliche Selbstbewußtsein selbständige Ursache so zu stehen kommt, daß das christliche Bewußtsein in ihm seinen Grund findet. Ich habe zu zeigen versucht, daß diese eigentümliche Vermischung einer Analyse des frommen Selbstbewußtseins mit einem Schluß von diesem Selbstbewußtsein als Wirkung auf deren Ursache und die Verfaßtheit derselben an eben diesem Ubergang scheitert: Es ist eben nicht ohne weiteres möglich, die einer Analyse des Bewußtseins entnommenen Bestimmungen als Ursache dieses Bewußtseins auszulegen; es vollzieht sich in diesem Unterfangen ein unausgewiesener Perspektivenwechsel, in dem nicht mehr das Bewußtsein sich selbst und das mit ihm Gegebene auslegt, sondern in dem die Begründung dieses nicht mehr als ich-haft aufgefaßten Bewußtseins in einem anderen seiner selbst beobachtet wird. Allerdings zeigte sich auch, daß der das Gesamtsystem Franks bestimmende Versuch, im Ausgang von den Voraussetzungen eines subjektivitätstheoretischen Ansatzes das Subjekt selbst nicht nur als Bewußtsein seines Begründetseins und seinen Grund nicht nur als ihm bewußten, sondern als die reale, gegenständliche, ,bewußtseinsunabhängige' Voraussetzung seiner selbst — als Ursache einer Wirkung - zu erfassen, selbst ein genuines Anliegen des Glaubens als Vertrauen ist, das so verfaßt ist, daß es sich als beständig mitgesetzte Voraussetzung seiner Gegenstände nur um den Preis der Selbstaufgabe denken kann: Der ,Fels des Vertrauens' ist Gott nur für den, der - ganz schlicht in diesem Vertrauen davon überzeugt ist, daß Gott selbst die Ursache dieses Vertrauens ist und dieser Fels auch ohne jenes Vertrauen ist. Franks Ansatz ist zuletzt der - freilich scheiternde — Versuch, dieser Grundstruktur des religiösen Glaubens in der Auseinandersetzung mit der neuzeitlichen Subjektivitätstheorie gerecht zu werden. 3.2. Eiert. Elerts Einsatzpunkt fur eine Auseinandersetzung mit dem neuzeitlichen Konzept der Subjektivität ist ein anderer: Man hat insgesamt den Eindruck, daß er der erkenntnistheoretischen Implikationen und Entdeckungszusammenhänge des Begriffes nicht recht ansichtig geworden ist und daß er das Konzept insgesamt als .Autonomieanspruch' in einem allgemeineren Sinne der Unabhängigkeit gegenüber jeder externen Größe und der Fähigkeit zur unbegrenzten Realisation dieser Freiheit versteht, der theologisch die Behauptung einer auf Vermittlungsinstanzen nicht mehr angewiesenen unmit-

352

Schluß

telbaren Identität wo nicht des empirischen, so doch des .transzendentalen' Subjektes mit Gott entspricht. Ich habe zu zeigen versucht, daß Eiert die Zuordnung von Gesetz und Evangelium für eine Auseinandersetzung mit dem in dieser Weise als Vollendung des Widerspruches des Menschen gegen Gott verstandenen Autonomieanspruch der Neuzeit fruchtbar macht, und zwar so, daß er die zunächst als Instanz einer Kulturkritik entdeckte Kategorie des Gesetzes als die Erfahrung des Scheiterns dieses Anspruches angesichts der mit der Endlichkeit des Menschen gesetzten Kontingenz einerseits und als die Erfahrung der Unentrinnbarkeit dieses Anspruches im Sinne der Unentrinnbarkeit der Verantwortlichkeit des Menschen andererseits bestimmt und eben diese unentrinnbare Antithetik von ,Sich-selbst so nicht gesetzt-haben' und Verantwortlichkeit für sich selbst als Gotteserfahrung auslegt: Dies sei die Erfahrung, deren gegenständliches Korrelat die christliche Rede von der unentrinnbaren Sünde, dem Zorn und der Verborgenheit Gottes sei. Der apologetische Einsatzpunkt dieser Position schlägt darin durch, daß Eiert diese Erfahrung als die Einfuhrungssituation für den Gottesbegriff überhaupt etabliert in dem Sinne, daß aus dieser Situation ursprünglich bestimmbar wird, was Gott ist und unter welchen Prädikaten er erfahren ist — nämlich in der Niederschlagung des menschlichen Autonomieanspruches; genau diese Erfahrung ist dann normativ für die in Christus erfahrene Unterstellung unter eine Fremdherrschaft. Ein anderes Denkmodell faßt diese Erschließung der Antithetik der natürlichen Erfahrung des Menschen als Gotteserfahrung als eine Deutung, die sich erst rückblickend mit der Durchbrechung dieser Erfahrung im Evangelium ergibt. Jedenfalls faßt Eiert die Antithetik von Gesetz und Evangelium als Korrelat einer Neubestimmung der Subjektivität so, daß im Gesetz der Autonomieanspruch des Menschen an sein Ende komme — eine Bestimmung, die Eiert als Tod der Subjektivität faßt, deren Autonomie eben auf den bloßen Anspruch reduziert wird - und daß mit dem Evangelium ein Modus der Subjektivität etabliert werde, der zwar ichhaft sei, dabei aber so die Bedingung seiner Möglichkeit im Evangelium bzw. in Christus habe, daß er in diesem die beständige Negation seiner Selbständigkeit in der beständigen externen Konstitution erfahre, die ihn nicht mehr als Autonomie', sondern als reines Empfangen und als Selbstvollzug im Empfangen bestimme. 37 Ihr Problem hat diese Position darin, daß sie sich der adäquaten Wahrnehmung der Bedingungen und Voraussetzungen einer neuzeitlichen Subjektivitätstheorie entzieht und deren vorstellungshaft aufgenommene Versatzstücke - die Rede von der Autonomie, die Unterscheidung von transzendentalem und empirischem Ich usf. - lediglich unter theologischen Kategorien rezipiert und einordnet. Diesen eigentümlichen Grundzug kann man besonders gut an den Stellen beobachten, an denen Eiert in die Lage kommt, sich mit ansatzweise transzendentalidealistischen Denkfiguren auseinanderzusetzen — 37

S.o. S. 202-206; 216; 237-244; 278f; 310-313.

Auseinandersetzung mit dem Verständnis der Subjektivität

353

etwa in den Passagen einer Bezugnahme auf Ritsehl in seiner Dogmatik: Eiert geht ganz offensichtlich ein tieferes Verständnis für erkenntnistheoretische Fragestellungen völlig ab; das hat zur Folge, daß er zuletzt trotz seines Widerspruches gegen Ritsehl faktisch eine mit dessen Position strukturell identische Definition Gottes aus einer bestimmten Erschließungssituation heraus vertritt: Gott ist definiert als das Korrelat der Erfahrung des Widerspruches gegen den menschlichen Autonomieanspruch einerseits, und der Konstitution einer extern begründeten Subjektivität andererseits. Es ist aber ganz deutlich, daß Eiert es unternimmt, auf eben diese Weise jenem Korrelatverhältnis zu entgehen: Gott kommt gerade zur Auslegung als Korrelat des Todes des Subjektes und seiner (externen) Neukonstitution.38 Der Begriff des Todes ist hier allerdings in metaphorischer Bedeutung verwendet — es handelt sich um das Ende einer bestimmten Struktur der Subjektivität im durch das Evangelium motivierten neuen Struktur des bloßen Empfanges ab extra, so aber, daß auch Eiert noch von einer Identität des Ich zwischen Sünde und Erlösung zu sprechen genötigt ist (Glaube 587), und eben dieses Ich hatte Eiert zuvor als das .transzendentale' bezeichnet. Genau hier meldet sich nun im theologischen Gedanken das ungelöste philosophische Problem: Gott kommt auch hier nicht als zunächst existierende Ursache, sondern als das Korrelat eines Existenzwandels zur Sprache. Die Intention Elerts läuft dahin, die Subjektivität in dem als von ihr unabhängig bestimmten Gott auszuweisen; der Rückfrage nach der Subjektivität als Ursprungsort aller Bestimmungen Gottes hat er nichts entgegenzusetzen. Seine Position läuft darauf hinaus, im Insistieren auf der Erfahrung Gottes im durch Gesetz und Evangelium bewirkten Existenzwandel Gott als den Widerspruch zur menschlichen Autonomie zu etablieren; er bemerkt dabei nicht, daß sich gerade darin die Urentdeckung des neuzeitlichen Denkens behauptet: daß nämlich die Subjektivität auch im Modus der Rezeptivität die unhintergehbare Voraussetzung alles dessen darstellt, was ist, und selbst nie auf ein anderes zurückgeführt werden kann. Alle übrigen, unter dem summarischen Begriff des jAutonomieanspruches' faßbaren Bestimmungen des Subjektes sind Folgebestimmungen dieses systematischen Zentrums 3.3. Fazit. Es ist in der Erlanger Tradition der Wille erkennbar, in eine Auseinandersetzung mit der Tradition neuzeitlicher Deutung der Subjektivität zu treten; sowohl Frank wie Eiert markieren die Unvereinbarkeit des christlichen Selbstverständnisses mit einer Position, die das Subjekt als die unhintergehbare Voraussetzung seiner Inhalte versteht und versuchen je auf ihre Weise, sich mit dieser Konzeption auseinanderzusetzen: Frank im Rekurs auf das Bewußtsein des Gesetztseins und den in der Analyse dieses Bewußtseins begründeten Rückgang auf ein Absolutes als die selbständige Voraussetzung des

38

Oben D, 6.2., S. 336ff.

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christlichen Bewußtseins; Eiert im Versuch, die Erfahrung von Gesetz und Evangelium als Tod und externe Neukonstitution des Subjektes zu fassen. Es ist deutlich geworden, daß die Positionen so ihr Ziel nicht erreichen, und daß das Problem der konstitutiven Funktion der neuzeitlichen Subjektivität für alle ihr geltenden Inhalte (Slenczka, Realpräsenz 58 l f ) so einer Lösung nicht zuzuführen ist; das Ergebnis der Arbeit ist daher im wesentlichen begrenzt auf den Aufweis des theologiegeschichtlichen Zusammenhanges der hier verhandelten Positionen in einer systematischen Fragestellung, bietet aber hinsichtlich der Lösung dieser Fragestellung keine Handreichung. Es ist eben, wie Aristoteles vor dem Durchgang durch die metaphysischen Aporien und die Lösungsversuche seiner Vorgänger schreibt: „Wer einen Fortschritt will, muß zuvor in rechter Weise die Weglosigkeit erfahren haben. Das spätere Fortschreiten ist nämlich die Uberwindung des vorherigen Stillstandes. Die Lösung eines Knotens findet niemand, der die Fessel nicht sieht; gerade die Hemmung des Durchblickes klärt die Fessel hinsichtlich eines Sachverhaltes auf. Wer die Lösung eines gedanklichen Problems nicht hat, dem geht es eben wie dem Gebundenen: beide machen keine Fortschritte. Darum ist es unabdingbar, zunächst sich alle Schwierigkeiten vor Augen zu führen - darum einerseits, andererseits aber deshalb, weil diejenigen, die suchen ohne zunächst die Weglosigkeit erfahren zu haben, denen gleichen, die gar nicht wissen, wohin sie gehen sollen und daher auch nicht wissen, ob sie das Gesuchte nun gefunden haben oder nicht. Nicht jenem, sondern dem, der die Ausweglosigkeit aushält, zeigt sich das Ziel." (Aristoteles, Metaphysik Β 1 , 9 9 5 a 2 7 - 9 9 5 b 2).

Literatur

Angegeben werden fur Eiert nur die im Text der Arbeit zitierten Texte und einige weitere fur die Fragestellung wichtigen Arbeiten; auch aus der Sekundärliteratur werden nur die zitierten Texte angegeben. Eine annähernd vollständige Bibliographie der Werke Elerts bietet: Wagner, Bibliographie; Ergänzungen, Korrekturen und Sekundärliteratur (bis 1987): Hauber, Eiert 138-146. Alle Veröffentlichungen werden nach dem Haupttitel ohne eventuelle Untertitel geboten. Das im Text der Arbeit verwendete Kürzel des Titels ist kursiv gesetzt, ggfs. wird das Titelkürzel in [eckigen Klammern] beigefügt. Abkürzungen nach Schwertner, IATG = TRE-Abkürzungsverzeichnis. Althaus, P., Werner Elerts theologisches Werk, in: Hübner, Beiträge, 400-410. Apfelbacher, K.-E., Frömmigkeit und Wissenschaft, BÖT 18, München 1978. Asmussen, H „ Über lutherische Lehre, in: ZdZ 6 (1928) 2 2 ^ 5 . Assel, H „ Der andere Aufbruch, FSÖTh 72, Göttingen 1994 Axt-Piscalar, Chr., Der Grund des Glaubens, BHTh 79, Tübingen 1990. Barth, K., Evangelium und Gesetz, in: E. Kinder u.a. (Hgg.), Gesetz und Evangelium, WdF 142, Darmstadt 1968, 1-29. ders., Kirchliche Dogmatik, 4 Bde. in 13 [KDI Band / Teilband], Zürich 1932ff. ders., Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, Zürich '1985. Barth, U., Troeltschet Kant, in: P. Gisel (Hg.), Histoire et theologie chez ErnstTroeltsch, Lieux theologiques 22, Genf 1992, 63-99. ders., Die Christologie Emanuel Hirschs, TBT 68, Berlin / New York 1992. Baur, J., Einsicht und Glaube, Göttingen 1978. ders., Luther und seine klassischen Erben, Tübingen 1993. ders., Abendmahlslehre und Christologie der Konkordienformel als Bekenntnis zum menschlichen Gott, in: ders., Luther, 117-144. ders., Lutherische Christologie im Streit um die neue Bestimmung von Gott und Mensch, in: ders., Luther, 145-163. ders., Auf dem Wege zur klassischen Tübinger Christologie, in: ders., Luther 204—289. ders. , Einsicht und Glaube 2, Göttingen 1994. Bayer, O., Theologie, HST 1, Gütersloh 1994. Becker, G., Neuzeitliche Subjektivität und Religiosität, Regensburg 1982. Beißer, F., Hoffnung und Vollendung, HST 15, Gütersloh 1993. Bergdolt, J.,, Grundlinien der lutherischen Dogmatik', in: AELKZ 73 (1940) 448^453. Berge, W., Gesetz und Evangelium in der neueren Theologie, AVTRW 2, Berlin 1958. Beyschlag, K„ Werner Eiert in memoriam, in: HoLiKo NF 9 (1991 / 92), 5-35. ders., Die Erlanger Theologie, EKGB 67, Erlangen 1993. Birmeli, Α., Interpretation et actualisation d' une tradition confessionelle: Werner Eiert, theologien lutherien, Diss. Straßburg 1977. Bornkamm, H., Renaissancemystik, Luther und Böhme, in: LuJ 9 (1927) 156-197. Breidert, M., Die kenotische Christologie des 19. Jahrhunderts, Gütersloh 1977.

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