Sozialgeschichte Erlanger Professoren 1743-1933 9783666351617, 3525351615, 9783525351611

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Sozialgeschichte Erlanger Professoren 1743-1933
 9783666351617, 3525351615, 9783525351611

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Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 146

V&R.

Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft

Herausgegeben von Helmut Berding, Jürgen Kocka Hans-Peter Ullmann, Hans-Ulrich Wehler

Band 146

OlafWillett Sozialgeschichte Erlanger Professoren 1743-1933

Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen

Sozialgeschichte Erlanger Professoren

1743-1933

von OlafWillett

Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen

Umschlagabbildung:

Ehrenpromotion von Leopold IV, Fürst zur Lippe, am 14. Dezember 1917 Original im Besitz der Universitätsbibliothek Erlangen-Nürnberg, Porträtsammlung (Sign.: Port. Repr. 4°).

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Wittel, Olaf: Sozialgeschichte Erlanger Professoren: 1743-1933 / von OlafWillett. Göttingen : Vandenhoeck und Ruprecht, 2001 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; Bd. 146) Zugl.: Berlin, Univ., Diss., 1999 ISBN 3-525-35161-5 © 2001, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. - Printed in Germany. http://www.vandenhoeck-ruprecht.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Umschlag: Jürgen Kochinke, Holle. Satz: Text Sc Form, Pohle. Druck und Bindung: Guide-Druck G m b H , Tübingen. Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier.

Inhalt

Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen

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Vorwort

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Einleitung

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1. Untersuchungsgegenstand und Schauplatz 1.1. Der Untersuchungsgegenstand 1.2. Der Schauplatz 1.2.1. War Erlangen eine Universität? Der Hochschulstandort Erlangen 1.2.2. Eine kleine Universität in einer kleinen Stadt

29 29 42 42 53

2. Herkunft 2.1. Herkunftsorte 2.1.1. Lage 2.1.2. Größe 2.2. Konfession und Konfessionswechsel 2.3. Soziale Herkunft

65 65 65 79 86 91

3. Ausbildung, Laufbahn, Beruf 3.1. Schulbesuch und Studium 3.1.1. Schulbesuch 3.1.2. Studium 3.1.2.1. Studien- und Promotionsorte 3.1.2.2. Studienfächer 3.1.2.3. Studienabschlüsse 3.1.2.4. Studiendauer sowie Lebensalter bei Studienabschluß 3.2. Zwischen Studienabschluß und erstem Ruf 3.2.1. Dauer der Phase zwischen Studienabschluß und erstem Ruf 3.2.2. Tätigkeiten zwischen Studienabschluß und erstem Ruf (ohne Privatdozentur)

110 110 110 114 114 128 137 144 148 148 150 5

3.2.3. Qualifikation zum Professorenberuf und Privatdozentur 3.2.3.1. Zur Entwicklung des Habilitationsverfahrens in Erlangen 3.2.3.2. Zur Entwicklung der Zahl der Habilitierten.... 3.2.3.3. Orte der Privatdozentur und Habilitationsuniversitäten 3.2.3.4. Lebensalter der Privatdozenten und Abstand zwischen Promotion und Privatdozentur 3.3. Das Extraordinariat 3.4. Berufung ins Ordinariat 3.4.1. Ort des ersten Ordinariats und Berufsposition vor dem Erlanger Ordinariat 3.4.2. Lebensalter bei Antritt des ersten und des Erlanger Ordinariats 3.4.3. Berufungsvorgang 3.5. Erlangen als Karrierestation 3.5.1. Dauer des Erlanger Ordinariats 3.5.2. Abschluß der Amtstätigkeit als Erlanger Ordinarius 3.5.2.1. Bei Verbleib in Erlangen 3.5.2.2. Durch auswärtigen Ruf 3.5.3. Position nach dem Erlanger Ordinariat 3.5.4. Abgelehnte Rufe

158

182 184 201 201 202 202 205 207 214

Soziales Verhalten 4.1. Konnubium 4.1.1. Familienstand 4.1.2. Die Schwiegerväter 4.1.3. Die Ehefrauen 4.2. Nachkommenschaft 4.2.1. Kinderzahl 4.2.2. Die Söhne 4.2.3. Die Töchter 4.3. Ökonomische Situation 4.3.1. Gehalt 4.3.2. Nebeneinnahmen und Vergünstigungen 4.3.3. Allgemeine materielle Verhältnisse 4.4. Private Lebensführung 4.4.1. Wohnen 4.4.1.1. Wohntopographie 4.4.1.2. Wohnsituation 4.4.2. Der Professor und seine »Freizeit«

225 225 225 231 240 255 255 258 261 266 267 276 284 291 291 291 294 300

158 161 163 168 171 176 176

4.5. Gesellschaftliche Aktivität in Erlangen 4.5.1. Erste Stationen der Vergesellschaftung: Teutsche Gesellschaft, Freimaurerloge, Lesegesellschaft 4.5.2. Politische Partizipation und soziale Integration im Vormärz 4.5.3. Auffächerung und Wandel der gesellschaftlichen Aktivitäten seit 1848 4.5.3.1. Parlamente, Parteien, politische Vereine und Verbände 4.5.3.2. Gemeinnütziges Engagement

304 304 313 323 323 334

5. Universität, Wissenschaft und Gesellschaft 5.1. Akademisches Selbstverständnis und Wissenschaftsauffassung 5.1.1. Zwischen Tradition und aufgeklärtem Utilitarismus: Pragmatiker 5.1.2. Das Primat der Persönlichkeit: Universalisten 5.1.3. Funktionäre der Wissenschaft: Experten 5.1.4. Hintergründe, Ubergänge und Nuancen 5.2. Politisch-kulturelle Werturteile und Deutungssysteme 5.2.1. Nation, Außenpolitik und Krieg 5.2.2. Staatsverfassung, Innenpolitik und soziale Frage

348 348 348 354 364 368 377 378 393

Zusammenfassung

412

Abkürzungen

425

Quellen- und Literaturverzeichnis

426

Register

450

7

Verzeichnis der Abbildungen und Tabellenn

Abbildungen Abb. 1: Abb. 2: Abb. 3: Abb. 4: Abb. 5: Abb.6: Abb. 7: Abb. 8: Abb. 9: Abb. 10: Abb. 11: Abb. 12: Abb. 13: Abb. Abb. Abb. Abb. Abb.

14: 15: 16: 17: 18:

Abb. 19: Abb. 20: Abb. 21:

Lehrkörpergliederung Erlangen 1750-1930 Index der Studentenfrequenz 1830-1930 Erlanger Hochschullehrer nach Fakultäten 1750-1930 Hochschullehrer der Philosophischen Fakultät 1750-1930 Erlanger Ordinarien nach Fakultäten 1750-1930 Erlanger Nichtordinarien nach Fakultäten 1750-1930 Lage der Geburtsorte 1743-1810 Lage der Geburtsorte 1811-1848 Lage der Geburtsorte 1849-1890 Lage der Geburtsorte 1891-1933 Geburtsorte nach Ortsgrößen 1743-1933 Konfessionelle Zusammensetzung 1743-1933 Dauer des Studiums nach Ernennungszeiträumen 1743-1933 Lebensalter beim Studienabschluß Dauer der Phase zwischen Studienabschluß und erstem Ruf Lebensalter bei Beginn der Privatdozentur Zeitlicher Abstand zwischen Promotion und Habilitation ... Gründe für das Ende der Erlanger Amtstätigkeit (bei Verbleib in Erlangen) Besoldung laut Bestallungsdekret 1743-1848 Besoldung laut Bestallungsdekret 1849-1913 Wohntopographie Erlanger Ordinarien 1871-1933

29 31 34 35 36 37 68 70 72 76 80 90 145 148 149 168 170 203 269 275 293

Tabellen Tab. 1: Tab. 2: Tab. 3: Tab. 4: 8

Landeskinder Landeskinder Landeskinder Landeskinder

und und und und

Nichtlandeskinder Nichtlandeskinder Nichtlandeskinder Nichtlandeskinder

1743-1810 1811-1848 1849-1890 1891-1933

66 69 71 75

Tab. 5: Tab. 6: Tab. 7: Tab. 8: Tab. 9: Tab. 10: Tab. 11: Tab. 12: Tab. 13: Tab. 14: Tab. 15: Tab. 16.: Tab. 17: Tab. 18: Tab. 19.: Tab. 20.: Tab. 21: Tab. 22: Tab. 23.: Tab. 24: Tab. 25: Tab. 26.: Tab. 27.: Tab. 28: Tab. 29: Tab. 30: Tab. 31: Tab. 32: Tab. 33: Tab. 34: Tab. 35: Tab. 36: Tab. 37:

Geburtsortklassen nach Epochen und Fachbereichen Konfessionelle Zusammensetzung nach Fachbereichen Beruf des Vaters 1743-1810 Beruf des Vaters 1811-1848 Beruf des Vaters 1849-1890 Beruf des Vaters 1891-1933 Besuchte Hochschulen vor Studienabschluß 1743-1810 Promotionsuniversitäten 1743-1810 Besuchte Hochschulen vor Studienabschluß 1811-1848 Promotionsuniversitäten 1811-1848 Besuchte Hochschulen vor Studienabschluß 1849-1890 Promotionsuniversitäten 1849-1890 Besuchte Hochschulen vor Studienabschluß 1891-1933 Promotionsuniversitäten 1981-1933 Studierte Hauptfächer und Hauptfachwechsel 1743-1810 Studierte Hauptfächer und Hauptfachwechsel 1811-1848 Studierte Hauptfächer und Hauptfachwechsel 1849-1890 Studierte Hauptfächer und Hauptfachwechsel 1891-1933 Qualifikation zum Professorenberuf 1743-1933 Orte der Privatdozentur 1743-1810 Orte der Privatdozentur 1811-1848 Orte der Privatdozentur 1849-1890 Orte der Privatdozentur 1891-1933 Lebensalter bei Ersternennung zum Ordinarius/bei Ernennung zum Erlanger Ordinarius Dauer des Erlanger Ordinariats (Jahre) Die Quote wegberufener Ordinarien in Prozent (und nach absoluten Zahlen) Wechsel von Erlangen an andere Universitäten (Ernennungszeitraun 1743-1810) Wechsel von Erlangen an andere Universitäten (Ernennungszeitraun 1811-1848) Wechsel von Erlangen an andere Universitäten (Ernennungszeitraum 1849-1890) Wechsel von Erlangen an andere Universitäten (Ernennungszeitraum 1891-1933) Abgelehnte Rufe von anderen Universitäten (Ernennungszeitraum 1743-1810) Abgelehnte Rufe von anderen Universitäten (Ernennungszeitraum 1811-1848) Abgelehnte Rufe von anderen Universitäten (Ernennungszeitraum 1849-1890)

.. .. .. ..

83 90 93 97 101 105 116 117 119 120 123 124 126 128 130 131 133 135 162 163 164 166 167 182 202 206 208 209 212 213 216 218 220

9

Tab. 38: Tab. 39: Tab. 40: Tab. 41: Tab. 42: Tab. 43: Tab. 44: Tab. 45: Tab. 46: Tab. 47: Tab. 48: Tab. 49: Tab. 50: Tab. 51:

Abgelehnte Rufe von anderen Universitäten (Ernennungszeitraum 1891-1933) Heiratsalter nach Fachbereichen und Epochen Beruf des Schwiegervaters 1743-1810 Beruf des Schwiegervaters 1811-1848 Beruf des Schwiegervaters 1849-1890 Beruf des Schwiegervaters 1891-1933 Heiratsalter der Ehefrauen nach Jahren Altersunterschied der Ehepartner nach Jahren Durchschnittliche Kinderzahl 1743-1848 Durchschnittliche Kinderzahl 1849-1933 Durchschnittliche Kinderzahl nach Fakultäten und Fachbereichen 1743-1933 Berufe der erwerbsfähigen erstgeborenen Söhne 1811-1848 Die soziale Herkunft von Pragmatikern und Universalisten 1743-1848 Beruf des Schwiegervaters bei Pragmatikern und Universalisten 1743-1848

223 227 231 233 236 238 241 241 256 256 257 260 370 371

Vorwort

Die vorliegende Untersuchung wurde 1999 von der Philosophischen Fakultät I der Humboldt-Universität zu Berlin unter Dekan Professor Dr. W. Kaschuba als Dissertation angenommen und für die Drucklegung geringfügig überarbeitet. Gutachter waren Professor Dr. Wolfgang Hardtwig, Professor Dr. Rüdiger vom Bruch und Professor Dr. Hartmut Kälble. Die Disputation fand am 07.07.1999 statt. Bei der Durchführung des Projektes erhielt ich unverzichtbare Hilfe von einer Vielzahl an Personen, die in unterschiedlicher Weise zum Fortgang und Gelingen beigetragen haben. Z u einer ersten Beschäftigung mit der Geschichte der Erlanger Professorenschaft kam es während meiner Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter des Stadtmuseums Erlangen. Seinem Direktor, Dr. Christoph Friederich, bin ich für die Unterstützung und die zahlreichen fruchtbaren Anregungen verbunden, mit der er diese frühe Phase der thematischen Auseinandersetzung begleitet hat. Mein besonderer Dank gilt Professor Dr. Wolfgang Hardtwig, der den Anstoß zu der Dissertation gab und das Projekt stets mit großem, umfassenden Engagement betreute. Seine Anleitung und Kritik waren mir immer wieder ein entscheidender Ansporn. Professor Dr. Hartmut Kälble, Professor Dr. Rüdiger vom Bruch und Professor Dr. Rainer A. Müller möchte ich dafür danken, daß sie mir die Möglichkeit gaben, vor ihrem Doktorandenkreis zu referieren und meine Thesen zu erproben. Ohne die kompetente Unterstützung zahlreicher bibliothekarischer und archivarischer Fachkräfte wäre die Untersuchung nicht zu realisieren gewesen. Mein Dank gilt den unermüdlich hilfsbereiten Damen und Herren des Universitätsarchives Erlangen, des Stadtarchivs Erlangen, des Staatsarchivs N ü r n berg, des Archivs des Erzbistums Bamberg, der evangelisch-reformierten Gemeinde Erlangen, des evangelisch-lutherischen Pfarramts Erlangen-Neustadt und nicht zuletzt der Erlanger Universitätsbibliothek. Monika Wahl, M.A., und Dr. Friedhelm Auhuber bin ich für das kritische Gegenlesen des Manuskripts verbunden, den Herausgebern der »Kritischen Studien zur Geschichtswissenschaft« für die Aufnahme der Arbeit in diese Reihe, für das Vertrauen in den Gehalt meiner Forschungen und nicht zuletzt für zahlreiche wichtige Anregungen zur Druckfassung. 11

Die Konrad-Adenauer-Stiftung e.V hat mit einem Graduiertenstipendium die entscheidende materielle Grundlage für diese Untersuchung geschaffen. Dafür sowie für die fachliche und menschliche Unterstützung durch Vertrauensdozent Professor Dr. Helmut Neuhaus bedanke ich mich sehr. Ohne den kontinuierlichen Beistand meiner Frau würde ich vielleicht noch jetzt in einer der vielen fast schon vergessenen Talsohlen hängen. Ihr widme ich dieses Buch. Besonders herzlicher Dank geht an Irene Stolte und Dorothea Zimpel für ungezählte Stunden der liebevollen Betreuung meines Sohnes Jonathan. Wiesbaden, im Januar 2001

12

Olaf Wille«

Einleitung

Zu Recht wurde lange Zeit ein spezifisches Defizit der deutschen Universitätsund Wissenschaftshistoriographie beklagt: das einseitige Beharren auf »nur ideenhaft-geistesgeschichtlichen Vorstellungen von Bildung und Wissenschaft«1 bzw. die strikte Trennung von Ideen-, Personen- und Institutionengeschichte. Die Vorherrschaft des Historismus, die bis in die Frühzeit der Bundesrepublik wirksam war, hatte mit ihrer Fixierung auf die »einfühlende« Individualbiographie »großer Persönlichkeiten« und deren Leistungen die überfällige Integration empirisch-sozialwissenschaftlicher Fragestellungen und Methoden in die Erforschung der eigenen Institution auf Dauer behindert; unter dem Deckmantel des Ideals autonomer Wissenschaft wurde die gegenseitige Durchdringung von geistiger und sozialer Welt in ihrer Bedeutung für den universitärwissenschaftlichen Raum nicht nur unterschätzt, sondern vielfach überhaupt ausgeblendet. Teils nicht ohne einen Anflug bitteren Spotts machten daher Kritiker auf die Ironie der Tatsache aufmerksam, daß gerade im Bereich der deutschen Universität mit ihrer idealistischen Forderung nach kritischen, unabhängigen Persönlichkeiten die Fähigkeit zu Kritik und Selbstdistanz vor den eigenen Mauern aufgehört habe.2 N u n haftet diesem Phänomen gewissermaßen etwas Allzumenschliches an. Pierre Bourdieu hat auf die Problematik hingewiesen, die darin begründet liegt, daß der Anspruch von Wissenschaft, die eigene Umwelt zu objektivieren, immer auch ein Machtverhältnis zwischen dem Beobachter und seinem Objekt impliziert. N i m m t der Wissenschaftler sich ein bestimmtes Personenkollektiv zum Gegenstand, ist es nur zu verständlich, daß die »zu Objekten degradierten« Individuen darauf mit Unbehagen reagieren.3 Auch durch die Wahl von Gegenständen, die der Vergangenheit angehören, ist dieses Problem nicht automatisch aus der Welt geschafft. Gerade im Spektrum akademischer Wissenschaft kann der traditionell hohe Grad instititutioneller und personeller Kontinuität die aktuelle Brisanz historischen Geschehens nicht unwesentlich erhöhen. Bezogen auf Erlangen hat das die neu entbrannte Diskussion um die Rolle der Erlanger Theologie im Nationalsozialismus deutlich gemacht. 4

1 2 3 4

Schelsky, S. 10. Vgl. ebd.; Prahl, S. 14; McClelland, State, S. 16f. Vgl. Bourdieu, H o m o academicus, S. l l f . , S. 36f., Zitat: S. 12. Vgl. Hamm; Beyschlag (BA 1).

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Neben dieser allgemeinen Schwierigkeit, sorgen auch strukturelle Voraussetzungen der Universitätsgeschichtsschreibung für deren methodisch-kritisches Defizit. Nach wie vor entsteht ein erheblicher Teil des Schrifttums aus Anlaß von Jubiläen. Die Begleiterscheinungen - das Uberwiegen personenbzw. instititutionenzentrierter Veröffentlichungen, Anlaß- und Standortgebundenheit, Mangel an methodischer Überlegung und Theoriebildung, Neigung zu harmonisierender Rückschau - können als bekannt gelten,5 ohne daß man dem beklagten Zustand prinzipiell beikommen konnte. Das 250. Universitätsjubiläum Erlangens im Jahr 1993 hat das Phänomen zumindest in wichtigen Teilen erneut bestätigt. Zwar wird in den offiziösen Darstellungen, die aus diesem Anlaß erschienen sind, 6 in wohltuender Weise auf hagiographische Heldenlieder älteren Stils verzichtet, und auch die unbequemen Kapitel der Erlanger Universitätsgeschichte bleiben keineswegs außen vor.7 Weiterhin dominiert allerdings vor allem in der Festschrift jene Art von Einzelfachgeschichte, welche die »innere« Entwicklung der Disziplin als lineare Erfolgsgeschichte präsentiert und sie von sozialen Rahmenbedingungen weitgehend isoliert. Selbst dort, wo einmal auf die Unerläßlichkeit einer entsprechenden Untermauerung der Fachhistoriographie explizit hingewiesen wird, bleibt das Postulat uneingelöst. 8 Auch die Gesamtdarstellung Alfred Wendehorsts erhebt trotz partieller Darbietung sozialgeschichtlichen Datenmaterials keinen Anspruch darauf »äußere« und »innere« Universitätsgeschichte zu integrieren. 9 N u n haben die genannten Faktoren sicherlich nicht nur innerhalb der deutschen Universitäts- und Wissenschaftshistorie zu eingeschränkter Selbstdistanz geführt. Erklärungsbedürftig bleibt jedoch, warum neue Forschungsimpulse, die auf eine Einbindung von Universität und Wissenschaft in ihren sozialen Kontext abzielten, Deutschland von außerhalb - insbesondere aus dem angelsächsischen Raum - erreichten und, gemessen auch am Zurückbleiben hinter dem Stand der wissenschaftstheoretischen Diskussion 10 sowie hinter den Erkenntnissen etwa von Ethnologie und Psychoanalyse,11 erst unverhältnismäßig spät, teils nicht einmal bis heute, rezipiert wurden. Einleuchtend ist hier sicherlich der Hinweis auf die starke geistesaristokratische Konnotation des neuhumanistischen deutschen Wissenschaftsbegriffes; diese sollte allerdings - und das wird wesentliche Teile der folgenden Untersuchung beanspru5 Vgl. Hammerstein, Jubiläumsschrift, S. 603; ders., N o c h m a l s Universitätsgeschichtsschreib u n g , S. 322, S. 366; vom Bruch, Universität, S. 527f.; ders., Die deutsche H o c h s c h u l e , S. lf.; McClelland, State, S. 16f. 6 Vgl. Kassier; Wendehorst, Geschichte. 7 Vgl. Jasper; Wendehorst, Geschichte, S. 179-216. 8 Vgl. Forschner, S. 437f. 9 Hinsichtlich der Erlanger Hochschullehrerschaft beschränken sich die e n t s p r e c h e n d e n Abschnitte größtenteils auf die Zeit von 1848 bis 1912. Vgl. Wendehorst, Geschichte, S. 129-135. 10 Vgl. Weingart, insbes. S. 2 2 - 2 5 . 11 Vgl. Oestrich, S. 6f.

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chen - wiederum auf ihre sozial- und kulturhistorischen Voraussetzungen rückbezogen werden. Am Anfang soll indes der Versuch stehen, die Auswirkungen der verzögerten Rezeption sozialgeschichtlicher Methodik und Theorie auf den Stand der heutigen Gelehrtengeschichte nachzuzeichnen, um von da aus auf spezifische Desiderate der Forschung eingehen zu können. Das düstere Bild, das noch zu Beginn der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts vom Stand der Universitätsgeschichte und speziell der Geschichte der Professorenschaft gezeichnet wurde, ist in jüngerer Zeit einer eher hoffnungsfrohen Bestandsaufnahme gewichen. Rüdiger vom Bruch, der 1980 das Fehlen von »umfassenden, empirisch gesättigten Analysen« zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte der deutschen Hochschullehrer zu konstatieren hatte,12 konnte schon knapp ein Jahrzehnt später auf eine Blütephase der Bildungssozial-, Universitäts- und einzelfachbezogenen Wissenschaftsgeschichte zurückblikken.13 Sind in der Tat seit etwa zwanzig Jahren beachtliche Anstrengungen zur sozialhistorischen Erforschung der akademischen Intelligenz zu verzeichnen, die sich in zahlreichen Einzelarbeiten, einer fortgeschrittenen Theoriebildung und Methodenanwendung sowie wissenschaftsorganisatorischen Formierungsbemühungen ausdrücken, hat dieser Anschub doch auch viele Desiderate erst deutlich werden lassen: Da ist erstens das Gefälle zwischen den erforschten Fachdisziplinen. Der Aufschwung der empirisch-sozialhistorischen Gelehrtengeschichte geht wohl zu wesentlichen Teilen auf die bahnbrechende Untersuchung Fritz K. Ringers über die deutsche akademische Intelligenz in den Jahren 1890 bis 1933 zurück.14 Ringer gelang es, spezifische gesellschaftlich-kulturelle Einstellungsmuster deutscher Gelehrter mit außerakademischen Faktoren, etwa der sozialen Herkunft oder der schulischen Sozialisation, in Zusammenhang zu stellen. Im Gegensatz zu vielen anderen Studien, welche die politischen Haltungen isoliert betrachten, 15 bezog er auch wissenschaftsgeschichtliche Entwicklungen in die Untersuchung mit ein. Durch diesen neuen Ansatz konnten strukturelle Zusammenhänge zwischen den wissenschaftlichen, religiösen, ästhetischen oder politischen Stilen der Professoren festgestellt werden. Allerdings stützt sich die Analyse vornehmlich auf eine Untersuchung von Geistes- und Sozialwissenschaftlern. Ringer befindet sich damit in der Tradition der klassischen Wissenschaftssoziologie, welche von einer relativ starken Unabhängigkeit der Naturwissenschaften von ihrem gesellschaftlichen Kontext ausging und sie daher weitgehend ignorieren zu können glaubte.

12 13 14 15

Vgl. vom Bruch, Wissenschaft, S. 11-13, S. 424f., Zitat: S. 425. Vgl. den., Bildungssystem, S. 439, S. 442. Vgl. Ringer, The Decline. Vgl .Jansen; Schönwälder, Schwabe, Wissenschaft; Töpner, Döring, Der Weimarer Kreis.

15

Auch nach Ringer ist es weithin bei der geschilderten Fixierung geblieben. Abgesehen von fehlenden Untersuchungen über die Sozialgeschichte älterer naturwissenschaftlicher Epochen, etwa der Naturromantik des 19. Jahrhunderts, wurden - die jüngst erschienene Arbeit Marita Baumgartens ausgenommen - auch die modernen Naturwissenschaften und ihre Vertreter von der deutschen Historiographie in dieser Hinsicht eher stiefmütterlich behandelt. 16 So konzentrieren sich etwa die Beiträge der zweiten »Büdinger Gespräche« über deutsche Hochschullehrer trotz des Ziels, allen Disziplinen gerecht zu werden, vorwiegend aufVertreter der Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften und unter ihnen wiederum vor allem auf die politisch exponierten Nationalökonomen und Historiker. 17 Nach vom Bruch legt die neuere Forschung ihren Schwerpunkt außer auf Historiker zunehmend auch auf die Soziologen.18 U m nicht mißverstanden zu werden: Keinesfalls soll hier der wissenschaftliche Wert einzelfach- bzw. fächergruppenbezogener Arbeiten in Frage gestellt werden. Es gehört zu den vornehmsten Pflichten der Geschichtswissenschaft, sich über ihre eigene Entwicklung Rechenschaft zu geben, und die bis heute nicht abgeschlossene Diskussion über Definition, Ursprünge, Bedingungen oder nur die zeitliche Abgrenzung etwa des Historismus belebt immer wieder die Theoriedebatte der historischen Disziplin.19 Auch von der »sich derzeit vollziehenden Aneignung von Kulturwissenschaft um 1900« werden bedeutende Impulse für eine theoretische Neuorientierung der Geschichtswissenschaft erwartet.20 Trotzdem sollten jedoch, einmal ganz abgesehen von der interessanten Frage, wie es sich z. B. mit der medizinischen Wissenschaft und ihrem seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zu beobachtenden Oszillieren zwischen naturwissenschaftlicher Grundlagenforschung und der in höchstem Maße gesellschaftlich bestimmten Rolle des Arztes oder Klinikchefs in sozialgeschichtlicher Hinsicht verhält,21 gerade auch die Naturwissenschaftler aufgrund neuerer Erkenntnisse mehr Aufmerksamkeit erwarten dürfen. Wiederum kommen hier die entscheidenden Anstöße aus dem angelsächsischen Raum, wo seit etwa zwei Jahrzehnten die Soziologie der Naturwissenschaften stärker ins Blickfeld rückt. Als wesentliches Ergebnis dieser Bemühungen kann festgehalten werden, daß man bisher den Zusammenhang zwischen Naturwissenschaft, naturwissenschaftlichen Fachvertretern und ihrem sozialen Umfeld sowie umgekehrt den Einfluß

16 Vgl. Engelhardt, D., S. 209; Baumgarten, Professoren. 17 Vgl. Schwabe, Deutsche Hochschullehrer. 18 Vgl. vom Bruch, Bildungssystem, S. 442f. 19 Vgl. zuletzt: Oexle / Riisen. 20 Oexle, Geschichte, S. 16. 21 Soweit ich sehe, ist diesem Aspekt, wie überhaupt einer sozial- und kulturgeschichtlichen Würdigung der medizinischen Hochschullehrerschaft, bisher nur wenig Aufmerksamkeit gewidmet worden. Einige Anstöße: Bourdieu, H o m o academicus, S. 103-126.; Schmeiser, S. 205-212.

16

der Fachdisziplin auf das jeweilige »Weltbild« unterschätzt hat.22 Die komparatistische Studie Jonathan Haarwoods, die tendenziell unterschiedliche Denkstile deutscher und amerikanischer Genetiker im frühen 20. Jahrhundert in den Kontext einer divergierenden gesellschaftlichen Modernisierung stellt, gewinnt vor diesem Hintergrund eine konzeptionelle Bedeutung, die über den Bereich der Naturwissenschaft weit hinausgeht. 23 Wer wie Ringer auf eine im Max Weberschen Sinn idealtypisierende Analyse der deutschen akademischen Intelligenz abzielt, kann die Naturwissenschaftler nicht aussparen. Dann gibt es zweitens das Gefälle zwischen den erforschten Epochen. Augenfällig ist die Konzentration der Forschung auf die »>Achsenzeit< moderner Wissenschaft« zwischen etwa 1880 und 1930.24 Auch hier folgt sie im wesentlichen dem Vorbild Ringers, der sich zwar explizit der Tradition des deutschen Gelehrtentums vor 1890 zuwendet, diesen Teil seiner Studie aber »beinahe ausschließlich retrospektiv«, aus dem Blickwinkel der Professoren der Jahrhundertwende, behandelt. 25 Daneben sind in jüngster Zeit verstärkte Bemühungen um eine Erforschung des Verhältnisses von Universität, Hochschullehrern und Nationalsozialismus festzustellen, wobei nach dem Urteil Peter Chrousts allerdings auch hier an empirisch-quantifizierenden Untersuchungen über die Zeit vor und nach 1933 weiterhin Mangel besteht. 26 Es sprechen zweifellos gute Gründe dafür, gerade den »seismic shift«, den die deutsche höhere Bildung und mit ihr die Universität zwischen der Mitte des 19. Jahrhunderts und dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts im Kontext der Industrialisierung vollführt hat, aus sozialgeschichtlicher Perspektive näher unter die Lupe zu nehmen. 27 Nicht zufällig richtet denn auch die Disziplin der Historischen Sozialwissenschaft ihr Hauptaugenmerk auf die Zeit nach 1850.28 Demgegenüber haben allerdings verschiedene Ansätze auch den Wert von Analysen gezeigt, die historisch tiefer ausgreifen. Nachdem die frühe, bis 1976 ungedruckt gebliebene Dissertation Hans H. Gerths aus dem Jahre 1935 weitgehend unbeachtet geblieben war29 und Schelsky eine empirisch-sozialwissenschaftliche Untersuchung der deutschen Universität um 1800 zunächst ver-

22 Vgl.K2a«ia, S. 330; Harwood, >MandarineMandarineeuropäisch< gewesen und »jene Masse« habe sich viel auf einen »Anflug von Bildung« zugute gehalten. Da daraus seiner Meinung nach eine Tendenz zur »inneren Unruhe und Unordnung« folgte, die wegen des Niedergangs der lokalen Hauptgewerbezweige nicht mehr durch die Sicherheit ökonomischen Wohlstandes habe aufgefangen werden können, sei eine Neigung zum Aufbegehren spürbar gewesen. An dieser Stelle soll weniger die Stimmigkeit von Schuberts Analyse von Interesse sein als die Konsequenzen, die er daraus zog: »Mit den >Europäern< in Erlangen, Alt und Jung, lebte ich in Frieden, weil ich ihnen durch keinerlei Berührung Gelegenheit zum Kriege darbot, und außer ihnen gab es da, Gott lob, auch noch gar manche andere Leute, welche mehr und noch etwas ganz Anderes waren als bloße Europäer.«88

Die Devise »keinerlei Berührung« liest sich wie eine Fortsetzung der Abgrenzungsbemühungen, die für die ältere Professorengeneration festgestellt worden sind, allerdings mit nicht unwesentlichen Akzentverschiebungen. Wenn die Autoren des 18. Jahrhunderts die heterogene Zusammensetzung der Flüchtlingsstadt noch nicht als störend bewerteten, ja, in der Anwesenheit eines französischen Bevölkerungsteils sogar einen Vorteil sahen, wurde die Pluralität jetzt als Ursache äußerlicher Bildung gedeutet, die Unausgeglichenheit und Aufruhr zur Folge gehabt habe. Vor allem trat neben die alte ständisch-korporative Distanz zur eingesessenen Stadtbevölkerung eine Abgrenzung, die ihre Begründung in unterschiedlichen Persönlichkeitsstrukturen der gebildeten und der gewerblichen Einwohnerschaft fand. Die Stellungnahmen, welche die Professoren seit etwa 1800 zum Thema Erlangen abgaben, können diesen Befund implizit bestätigen. Für sie waren die lokalen Milieuverhältnisse nämlich offenbar nur insoweit von Interesse, als sie eine Wirkung auf die Entwicklung akademisch gebildeter Persönlichkeiten entfalten konnten. Damit stieg auch der geistig-moralische Führungsanspruch der Universität, speziell der Professoren, was nicht ohne Auswirkungen auf ihr Verhältnis zur Stadt blieb. Gerade was die Nationalidee anging, wurde die Autorität der Hochschule am deutlichsten zur Schau getragen und sogar der offene Eklat nicht gescheut. Sehr gut läßt sich das an einem Beispiel aus dem Jahr 1895 verdeutlichen: Die Professorenschaft zeigte sich damals offen verärgert über den Magistratsbeschluß, zum 80. Geburtstag Bismarcks von einer besonderen Ehrung des Reichsgründers abzusehen. Mehrere Hochschullehrer unterzeichneten eine Adresse an die Stadtverwaltung, die sehr scharf formuliert 88 Schubert, D e r Erwerb, Bd. 3, S. 2 6 2 - 2 6 6 (BA 316); Schubert gibt an gleicher Stelle auch einen Brief seines Kollegen, des Physik- u n d Chemieprofessors Schweigger (BA318) wieder, d e m die gleichen Ansichten zu e n t n e h m e n sind.

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war.89 Im Senat wurde, um »namentlich auch dem verletzten Vaterlandsgefühl unserer Studierenden eine Genugtuung zu verschaffen«, beschlossen, die Fläche östlich des Schlosses in Bismarckplatz und die Krankenhausstraße in Bismarckstraße umzubenennen. 90 89 In der Adresse vom 7.3.1895 forderten die Unterzeichnenden, »in der Erwägung, daß es ihr patriotisches Gefühl verletzen wurde, wenn die Universitätsstadt Erlangen den 1. April 1895 vorübergehen ließe, ohne des Mannes zu gedenken, welcher die deutsche Einheit herbeigeführt und das Reich gegründet hat«, ein Überdenken der Magistratsentscheidung. Der Text schloß mit den Worten: »Es wäre doch zu traurig, wenn die klägliche Haltung Nürnbergs in unserer Universitätsstadt Nachahmung fände!« Unterzeichner waren neben mehreren Studenten, einem Pfarrer, einem Gymnasialprofessor, zwei Privatdozenten und einem Extraordinarius die Ordinarien Eversbusch, E. Beckmann, Sehling, Varnhagen, L. Gerlach und Strümpell (BA 134,207, 116,329, 141, 190). UAE, I/3a/461 Die Feier. 90 Beide Areale befanden sich im Besitz der Hochschule. Konnte der Magistrat die Eskalation dieses Konfliktes vorerst noch abwenden, indem er nachgab und dem Senat die Umbenennung der bisherigen Kasernenstraße in Bismarckstraße bekanntgab, führte das Verhalten des Anglisten Varnhagen (BA 329) dazu, daß der Streit weiter eskalierte. Varnhagen hatte Studenten zu einem demonstrativen Vorgehen gegen den Magistrat aufgestachelt und bei der Stadtverwaltung ein höhnisches Spottgedicht eingereicht. Nachdem das Gedicht veröffentlicht worden war und der Magistrat in München Beschwerde geführt hatte, konnte das Ministerium nicht umhin, über Varnhagens Vorgehen, »auch bei Würdigung der veranlassenden und begleitenden Umstände«, seine Mißbilligung auszusprechen. Das Spottgedicht Varnhagens, publiziert in den »Fränkischen Nachrichten« vom 13.4.1895: »Ein jeder blamiert sich, So gut er kann So hat man's in Landstuhl Und Nürnberg gethan. Frei ist nun noch grade Narrenstuhl Nummer drei: Mein gutes Erlangen Komm schnell nur herbei! Was hat denn der Bismarck Für dich auch gethan? Was geht dich denn Deutschland, Was Preußen dich an? Und Deutschland zu einen, War das denn >ne Kunst? Kommt mir doch nicht immer Mit dem blauen Dunst. Der heilige Eugen Hat's längst schon gezeigt, Daß der Bismarck ihm nicht >mal An die Waden >ran reicht. Zum ersten April denn, Da rühr sich kein Mann!Ein jeder blamiert sich So gut er kann.« Antrag Prof. Hellwigs (BA 86) an den Senat, 20.3.1895; Senat an Stadtmagistrat, 22.3.1895; Stadtmagistrat an Senat, 25.3.1895; Mdl an Senat, 28.6.1895; Zeitungsausschnitt. UAE, I/3a/461 Die Feier.

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Die Vorgänge verdeutlichen die nach wie vor erhebliche Distanz zwischen universitärer und städtischer Gesellschaft. Eine Integration von Stadt und Universität war denn auch, sieht man sich die einschlägigen Stellungnahmen der Professoren zu Erlangen daraufhin durch, nicht vorgesehen. Vielmehr wurde ganz selbstverständlich von der Voraussetzung ausgegangen, daß die bürgerliche Oberschicht, und das hieß in Erlangen von wenigen Ausnahmen abgesehen: die Universitätsmitglieder, im wesentlichen unter sich zu bleiben hatte. Emil Fischer formulierte knapp, aber treffend: »Die Enge der kleinen Stadt führte die Angehörigen der Universität zu innigem Zusammenschluß.« 91 In den Autobiographien und Briefen fehlt darüber hinaus jede Nachricht über nähere Bekanntschaften zu Mitgliedern der lokalen Bevölkerung, während die Kollegen- und Schülerschaft jeweils eine ausführliche Charakterisierung erfährt. Beredt ist auch das Schweigen der Professoren zu den zwar späten, aber schließlich doch unübersehbaren Industrialisierungsvorgängen in Erlangen. Mochte die Stromeyersche Stilisierung der sandigen Einöde noch ihren realen Hintergrund gehabt haben, ist die Hartnäckigkeit, mit der das Bild von dem kleinen und stillen Musenstädtchen bis ins 20. Jahrhundert hinein tradiert wurde, doch auffällig. Noch für das Jahr 1920, als Erlangen durchaus ein modernes Antlitz, eine teils hochmoderne Industriestruktur und obendrein ein überdurchschnittliches Bevölkerungswachstum aufzuweisen hatte, konnte Ludwig Robert Müller, der als Ordinarius an seinen Habilitationsort zurückkehrte, seine Eindrücke in die Worte kleiden: »Es war noch das kleine, nüchterne, bescheidene, ja fast ärmliche mittelfränkische Städtchen geblieben.«92 In den Fällen, in denen überhaupt einmal Äußerungen zu Fortschritten Erlangens vorliegen, wurde lediglich der gestiegene Wohnkomfort der Professorenquartiere angesprochen. 93 Eine gewisse Belebung der gehobenen Geselligkeitskreise brachte gewiß das Jahr 1868, in dem die Erlanger Garnison eingerichtet wurde, und es liegen auch in der Tat Informationen vor, wonach sich der Umgang zwischen Offizierskorps und Hochschuldozentenschaft hier zunächst um einiges intensiver und enger gestaltete als etwa in großen Universitätsstädten. Aber ganz abgesehen davon, daß diese Kontaktpflege schon relativ bald in anlaßgebundene Respektsbezeugungen überging und Rangkonflikte zwischen beiden Institutionen nicht ausblieben,94 wird auch das Vorhandensein einer Garnison in den Rückblicken oder Zustandsbeschreibungen der Professoren nahezu völlig übergangen. 91 Fischer, Aus m e i n e m Leben, S. 95 (BA 230). 92 Müller, L e b e n s e r i n n e r u n g e n , S. 119 (BA 170). M ü l l e r w o h n t e damals übrigens in der Loewenichstraße 19, keine zwei M i n u t e n zu F u ß von d e n m o d e r n e n Fertigungshallen Reiniger, Gebbert & Schalls oder der Bürstenfabrik Kränzlein entfernt. Adresse nach: Uebersicht des PersonalStandes, 1920-1933. 93 Vgl. Hegel, Leben, S. 176 (BA 245); Strümpell, Aus d e m Leben, S. 170 (BA 190). 94 N a c h d e m Urteil der n e u e r e n F o r s c h u n g stand diese Entwicklung, nach d e m Abklingen

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Wenn also in den Stellungnahmen bis zuletzt von der Kleinheit und Stille des Universitätsstandortes die Rede ist, bezog sich das ganz offenbar auf einen begrenzten Wirklichkeitsbereich, während alles, was nicht mit bestimmten unmittelbaren Lebenskreisen der Professorenschaft zusammenhing, mehr oder weniger ausgeblendet wurde. Sieht man sich insbesondere die Autobiographien daraufhin durch und vergleicht die Aussagen zu Erlangen mit denen zu anderen Universitätsstädten, fällt auf, daß in den Schilderungen neben der beruflichen und wissenschaftlichen Entwicklung vor allem folgende Lebensweltbereiche im Mittelpunkt standen: der soziale Kontakt mit dem lokalen Großbürgertum, die Mitgliedschaft in intellektuellen Zirkeln sowie die Partizipation an einem sublimen Kultur- und Freizeitleben. Auf diesen Feldern aber mußte Erlangen - und insofern ist das Urteil der Professoren durchaus realistisch - bis ins 20. Jahrhundert ein vergleichsweise blasses Bild abgeben. Wenn es unter den Bedingungen der Erlanger Milieukonfiguration zweifellos keine >integrierte Gesellschaft und keine Salonkultur wie in großen Universitätsstädten geben konnte, 95 sollte man sich andererseits von der Tatsache, daß die hiesigen lokalen Verhältnisse für die Konventionen professoraler Selbststilisierung nur wenig Berichtenswertes hergaben, nicht dazu verleiten lassen, ohne weiteres auf eine entsprechende Selbstisolierung in der Realität zu schließen. Ging es in diesem Abschnitt nur um die Frage, wie sich die Dozenten zu ihrem Universitätsstandort äußerten, werden sich die folgenden Kapitel damit beschäftigen, wie es »tatsächlich« um die soziale Situation und die sozialen Verhaltensweisen der Professoren bestellt war. Insbesondere in den Passagen, die sich der gesellschaftlichen Verflechtung der Professoren im lokalen Umfeld näher zuwenden, wird deutlich werden, daß das Abrücken von der städtischen Gesellschaft keineswegs immer so deutlich ausfiel, wie es angesichts der präsentierten Stellungnahmen erscheinen mag.

der Reichseuphorie und im Gefolge wachsender sozialer Gegensätze, mit dem Rückzug sowohl des Offizierskorps als auch der Professorenschaft aus dem öffentlichen Leben in Zusammenhang. In Erlangen seien zudem, angesichts des Fehlens sonstiger bedeutender politischer, kultureller oder wirtschaftlicher Einflußgruppen, die Präpotenzansprüche beider Institutionen mit besonderer Direktheit aufeinandergetroffen. Vgl. Wahl, S. 42-48. 95 So das Urteil von Wendehorst, Geschichte, S. 134.

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2. Herkunft 2.1. Herkunftsorte

2.1.1. Lage Die Lage des Geburtsortes in regionaler, landsmannschaftlicher und territorialstaatlicher Hinsicht ist als wichtiger Faktor des individuellen Sozialisationsprozesses anzusehen. 1 Folgt man Schelsky, nach dem die »Exilierung« des Wissenschaftlers aus den Bezügen der heimatlichen Bindung schon immer am Ursprung von Universität samt ihrer geistigen und sozialen >Freiheit< stand,2 sollten dabei nicht nur Aufschlüsse über Veränderungen in der Rekrutierung, sondern auch über Wandlungen der Hochschule insgesamt - inklusive ihrer Beziehungen zur Umwelt - zu erwarten sein. Bislang wurden hierzu allerdings nur wenige fundierte Analysen vorgelegt. 3 Ein zentrales Kriterium für die Offenheit des Ordinarienkollegiums muß das zahlenmäßige Verhältnis von Landeskindern und Nichtlandeskindern sein. Was die Professoren des 18. Jahrhundert (1743-1810) 4 angeht (Tab. 1), fällt 1 Vgl. Weber, W., Priester der Klio, S. 32f.; allgemein: Walter. 2 Vgl. Schelsky, S. 16f. 3 Vorbildlich: Weber, W., Priester der Klio, S. 59-67; einige vage Hinweise zur geographischen Herkunft einer unklar abgegrenzten Gruppe »bayerischer Gelehrter« 1799 bis 1964: Weis, S. 334—341; zu Erlangen, allerdings nur für 1848 bis 1912 und nicht nach Fachbereichen differenziert: Wendehorst, Geschichte, S. 130; zu aufschlußreichen Ergebnissen kommen Studien, die das Thema vorwiegend unter dem Gesichtspunkt der Bildung bzw. Auflösung der frühneuzeitlichen »Familienuniversität« behandeln, dabei aber nur zwischen Landes- und Nichtlandeskindern unterscheiden: Vgl. Baumgarten, Vom Gelehrten, S. 36-149; dies., Professoren, S. 119147; Euler, grundlegend dazu: Moraw, Aspekte, S. 14-23. 4 Die Wahl des Zeitsegmentes 1743 bis 1810 erfolgte aufgrund der Tatsache, daß der Übergang der ehemals markgräflichen Universität an das Königreich Bayern 1810 gegenüber den kurzen Herrschaftsperioden Preußens (1792-1806) und Frankreichs (1806-1810) den tieferen Einschnitt markierte. Hatten zuvor sowohl Elemente der alteuropäischen Universitätstradition als auch der aufgeklärt-absolutistischen Hochschulreform das Leben der Friderico-Alexandrina bestimmt, trat sie nun in eine Phase ein, in der sich ihre Identität zu wesentlichen Teilen aus ihrer Eigenschaft als einzige protestantische Universität im Königreich Bayern und, damit einhergehend, aus einer Art Vermittlungsposition zwischen N o r d - und Süddeutschland ableitete. Allgemein gilt zudem das Jahr 1810, in dem die Berliner Hochschule gegründet wurde, als Zäsur, die in der Folge ihre bekannten katalysatorischen Wirkungen auf die gesamte deutsche Universitätslandschaft entfalten sollte. Zugleich fand das Hochschulsystem des Alten Reiches mit der Schließung zahlreicher Kleinstuniversitäten ein sichtbares Ende; zu Erlangen vgl.: Kolde, Die Universität, S. 3-23; allgemeinen: Moraw, Aspekte, S. 18f.

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dabei der geringe Anteil derer au£ die z u m Zeitpunkt ihrer Erhebung ins Erlanger Ordinariat Untertanen des landesfürstlichen Hochschulträgers waren, gilt doch gerade jene Zeit noch als geprägt von einer Entwicklung, die als »Territorialisierung der Geistigkeit« umschrieben worden ist.5 Tab.l: Landes- und Nichtlandeskinder 1743-1810 6 Landeskinder 1743-1810 1743-1791 1792-1806 1743-1810 Theol. Fak. Jur. Fak. Med. Fak. »Phil. Sek.« »Nat. Sek.«

18 (23,1) 13 (23,2) 4 (20,0) Landeskinder 6 1 4 5 2

(37,5) (4,3) (30,8) (33,3) (18,2)

Nichtlandeskinder 60 (76,9) 43 (76,6) 16 (80,0) Nichtlandeskinder 10 22 9 10 9

(62,5) (95,7) (69,2) (66,7) (81,8)

Quelle: Vgl. Seite 66, Fußnote 6. Auch bei einer Zerlegung des Abschnitts in die Zeiträume der markgräflichen und der königlich-preußischen Herrschaft ergeben sich keine aussagekräftigen Abweichungen von diesem Gesamtbild. Ja, in der preußischen Zeit, für die man angesichts des sehr viel größeren territorialen Rekrutierungsgebietes eine deutlich höhere Quote an Landeskindern hätte vermuten können, liegt diese gegenüber der Markgrafenzeit sogar geringfügig tiefer. Ein Vergleich mit Bevölkerungszahlen zeigt, daß der Anteil der Landeskinder unter den Ordinarien, die 1792 bis 1806 ernannt wurden, mit zwanzig Prozent sogar deutlich unter dem demographischen Gewicht lag, das Preußen damals in »Deutschland« hatte. 7 5 Schelsky, S. 26f.; vgl. auch: Oexle, Alteuropäische Voraussetzungen, S. 49-54. 6 Diese u n d künftige Tabellen, Zahlenangaben u n d Graphiken b e r u h e n , sofern nicht andere H i n w e i s e erfolgen, auf der Materialsammlung des Verfassers ü b e r die G r u n d g e s a m t h e i t v o n 341 Erlanger Ordinarien. Als deren Grundlage dienten z u m einen die i m A n h a n g a u f g e f ü h r t e n Q u e l len, z u m anderen die Q u e l l e n , die als Biographischen Apparat (BA) in d e n Zentralbibliotheken der Universität E r l a n g e n - N ü r n b e r g u n d der H u m b o l d t - U n i v e r s i t ä t zu Berlin u n t e r d e m Titel: Willett, Olaf: Biographischer Apparat zur Sozialgeschichte Erlanger Professoren 1743-1933, h i n terlegt sind. Maßgeblich für die Z u o r d n u n g der Fälle zu einzelnen Zeitabschnitten ist hier wie k ü n f t i g das Jahresdatum, zu d e m der - ggf. erstmalige - Antritt des O r d i n a r i e n a m t e s in Erlangen erfolgte. I m vorliegenden Fall gilt dies auch f ü r die B e s t i m m u n g der territorialstaatlichen Z u g e h ö rigkeit des jeweiligen Geburtsortes. Die Tabelle gibt die Ergebnisse der Auszählung in absoluten Z a h l e n wieder; Prozentwerte, jeweils bezogen auf die S u m m e der Zeilenwerte, sind in K l a m m e r n beigefügt. Fehlende Werte: keine. 7 Die Bevölkerungszahl der Gebiete, die u n t e r der preußischen M o n a r c h i e vereinigt waren,

66

Von einiger Signifikanz sind die Unterschiede zwischen den einzelnen Fachbereichen. Medizinische und Philosophische Fakultät zeigen eine ähnliche Verteilung wie die Gesamtheit. Dabei läßt sich allerdings feststellen, daß die Geschlossenheit der Mediziner und der Angehörigen der »Philosophischen Sektion« etwas stärker war als die der Mathematiker und Naturwissenschaftler. Während bei den Theologen die Herkunft aus dem heimischen Territorium offenbar am ehesten eine Berufung begünstigte, spielte sie für die Juristen praktisch keine Rolle. Abb. 7 gibt wieder, wie sich die Geburtsorte der Untersuchungspersonen im 18. Jahrhundert nach einzelnen Territorien respektive Regionen verteilten. Neben der eindeutigen Vorherrschaft mittel- und norddeutscher Herkunftsgebiete fällt insbesondere deren breite Streuung auf. Nahezu gleichmäßig rekrutierten sich die Erlanger Ordinarien aus einem Großteil der deutschen protestantischen Regionen und Staaten. Auch unter Einbeziehung der Fürstentümer Ansbach und Bayreuth, die aus naheliegenden Gründen verhältnismäßig stark vertreten sind, läßt sich hinsichtlich der territorialen Verteilung der Geburtsorte keine hegemoniale Konzentration erkennen. Von einer sogenannten Familienuniversität, die sich - wie bei vielen älteren Hochschulen des Reiches der Fall - bei der Ergänzung des Lehrkörpers auf ein lokal eng begrenztes Netz von Verwandtschaftsbeziehungen stützte, konnte schon gar keine Rede sein. So stammte nur ein einziger der 78 Ordinarien aus der Universitätsstadt selbst.8 Beim Blick auf die einzelnen Fakultäten bestätigt sich im wesentlichen das, was schon bei der Unterscheidung von Landeskindern und Nichtlandeskindern zu beobachten war. Während die Mediziner und die Mitglieder der Philosophischen Fakultät den Gesamteindruck der heterogenen Verteilung auf das protestantische Deutschland im großen und ganzen widerspiegeln, zeigen Juristen und Theologen gewisse Abweichungen. Auffällig ist bei den Theologen die relativ enge Beschränkung auf den näheren Umkreis des protestantischen Frankens. Allein 15 von 16 kamen aus Ansbach-Bayreuth (8), Thüringen (4), Sachsen (1) oder einer süddeutschen Reichsstadt (2). Die Juristen stammten auffallend häufig aus Württemberg. Zunächst verblüffen muß gegenüber der territorialen Offenheit im 18. Jahrhundert die Enge in der Zeit des Vormärz (1811-1848) .9 Der Anteil der Landeskinder, nunmehr des Königreiches Bayern, stieg auf 57,4 Prozent (Tab. 2). wird für das Jahr 1780 auf 5,75 Millionen geschätzt, diejenige »Deutschlands« für die Jahre 1750 und 1800 auf 17 bzw. 23 Millionen. Demnach machte die Bevölkerung Preußens in dieser Zeitspanne zwischen etwa einen Drittel und einem Viertel der »deutschen« Gesamtbevölkerung aus. Zahlen nach: Mieck, S. 49; Kaufliold, S. 531. 8 Der Orientalist A. F. Pfeiffer (BA 295). 9 Für die Wahl des Zeitsegments 1811 bis 1848 ist maßgeblich gewesen, daß in der übergreifenden und in der universitätsgeschichtlichen Forschung die Zeit des Vormärz als Einheit betrachtet wird. Auch für die Erlanger Hochschule gilt das Jahr 1848 als Zäsur. Vgl. Wendehorst, Geschichte, S. 106.

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Abb. 7.: Lage der Geburtsorte 1743-1810"' Sonst. Süddt. Territorien

Ansbach-Bayreuth Württemberg i

K

^

^

H

N

«

Sonst. Norddt. Territorien Preußen

Hannover Hessische Staaten ^ ^

[T(Ì3%1

Sachsen

17,9% Thüringische Staaten

Quelle: Vgl. Seite 66, Fußnote 6.

Gerade also in jener Epoche, für die allgemein vom Beginn der Entterritorialisierung der deutschen Universitäten gesprochen wird, 11 machten sich die Schranken der Landesherrschaft in Erlangen besonders deutlich bemerkbar. Ein näherer Blick zeigt, daß diese Entwicklung massiv erst in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts einsetzte, während zuvor die Nichtlandeskinder noch gut zwei Drittel der Ordinarien gestellt hatten. Sehr gravierend war der Umschwung bei den Juristen, die jetzt sogar überdurchschnittlich viele Landeskinder in ihren Reihen hatten. Erheblichen Z u wachs und ein deutliches Ubergewicht wiesen nun auch die Landeskinder in der Theologischen und insbesondere in der Medizinischen Fakultät auf Im Gegensatz dazu behaupteten die Nichtlandeskinder in der Philosophischen Fakultät das Feld, und zwar in der »Naturwissenschaftlichen Sektion« - bei allerdings sehr geringen Fallzahlen - deutlicher als in der »Philosophischen«. N i m m t man die Verteilung der Geburtsorte im Vormärz näher in den Blick (Abb. 2), zeigt sich, daß die Landeskinder zum überwiegenden Teil aus Bayerns neuen fränkischen Provinzen stammten. Allein 27 von 61 Ordinarien (44,3 Prozent) hatten hier ihren Geburtsort. Der ohnehin schon geringe Anteil der 10 Fehlende Werte: keine. Die Verteilung absolut: Ansbach-Bayreuth: 19; Preußen (ohne Ansbach-Bayreuth): 7; Thüringische Staaten 14; Kursachsen: 8; Hessische Staaten: 4; Hannover: 4; Sonstige Norddeutsche Territorien [Braunschweigische Staaten: 2; Mecklenburgische Staaten: 2; Schwedisch-Pommern: 1]: 5; Württemberg: 8; Süddeutsche Reichsstädte: 5; Sonstige Süddeutsche Regionen und Territorien [Katholisches Franken: 2; Elsaß: 1; deutschsprachiges Osterreich: 1]:4. 11 Vgl. Moraw, Humboldt, S. 49-51, S. 70; dm., Aspekte, S. 14-23.

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Tab. 2: Landeskinder und Nichtlandeskinder 1 8 1 1 - 1 8 4 8 1 2 Landeskinder 1811-1848 1811-1823 1824-1836 1837-1848 1811-1848 Theol. Fak. Jur. Fak. Med. Fak. »Phil. Sek.« »Nat. Sek.«

35 7 16 12

(57,4) (33,3) (80,0) (60,0)

Landeskinder 8 9 10 6 2

(66,7) (60,0) (76,9) (42,9) (28,6)

Nichtlandeskinder 26 14 4 8

(42,6) (66,7) (20,0) (40,0)

Nichtlandeskinder 4 (33,3) 6 (40,0) 3 (23,1) 8 (57,1) 5 (71,4)

Quelle: Vgl. Seite 66, Fußnote 6. preußischen Vertreter sank noch weiter. Auch die anderen mittel- und norddeutschen Staaten verloren deutlich. Besonders sticht der Bedeutungsschwund der Thüringischen Region hervor, deren Anteil von zuvor fast 18 a u f nurmehr 3,3 Prozent zurückging. In etwa gleich stark blieb der süd- und südwestdeutsche Einfluß, allerdings mit der alles andere als unwesentlichen Veränderung, daß sich jetzt anstelle der Vertreter der nicht mehr existenten Reichsstädte eine größere Gruppe von Ordinarien im Lehrkörper befand, die aus Altbayern kamen. Schlug sich hierin offensichtlich der Herrschaftsübergang an das wittelsbachische Königreich nieder, wird doch bei einem Blick auf die gesamte Verteilung deutlich, daß die Universität unter der Ägide M ü n c h e n s nicht einfach auf das südliche Staatszentrum ausgerichtet wurde, sondern eine besondere regional-fränkische Rollenzuweisung erhielt, die auf die Bedürfnisse der protestantischen Bevölkerungsteile zugeschnitten war. Dabei erfuhren die hergebrachten Verbindungen zum protestantischen Mittel-, N o r d - und S ü d westdeutschland zwar eine merkliche Einschränkung, wurden aber keinesfalls gekappt. Unübersehbar ist im Vormärz die Heimatnähe der meisten Erlanger T h e o l o gen. Sieben von zwölf kamen aus dem protestantischen Franken. Ansonsten zeigten sie indes mit j e einem Vertreter der Bayerischen Pfalz, Preußens, Sachsens, Schleswig-Holsteins und der Hansestädte eine weitgestreute Verteilung auf das protestantische Deutschland. In der Medizinischen Fakultät gewannen die katholischen Regionen des Königreichs Bayern mit vier von dreizehn O r d i narien eine relativ starke Stellung. Allerdings stammten drei dieser vier Personen aus dem katholischen Frankenland, nur eine aus Altbayern. Zugleich re12 Fehlende Werte: keine.

69

Abb. 8: Lage der Geburtsorte 1811-1848 13 Österreich

i

Norddeutsche Staaten Protestantisches Franken

Mitteldeutsche Staaten

Bayerische Pfalz

Katholisches Franken Altbayern

Quelle: Vgl. Seite 66, F u ß n o t e 6.

krutierten sich die Mediziner mit fünf Personen vergleichsweise häufig aus dem protestantischen Franken. Bei den Theologen und Medizinern läßt sich also eine Regionalisierungstendenz feststellen. Was die Juristen angeht, so fällt zunächst ähnlich wie bei den Medizinern eine Konzentration auf die katholischen Gebiete des Königreichs Bayern auf Allerdings stammten hier vier von fünf Personen aus Altbayern, nur eine aus dem katholischen Franken. Zwar gewann daneben das protestantische Franken mit vier Personen beachtlich an Gewicht. Die Franken insgesamt blieben aber mit fünfPersonen, gemessen am Gesamtdurchschnitt aller Fakultäten, deutlich unterrepräsentiert. Die relativ hohe Anzahl von Professoren altbayerischer Herkunft wurde zudem, mit immerhinje zwei Vertretern aus Mittel- und Südwestdeutschland sowieje einem aus Norddeutschland und Preußen, durch eine recht offene Rekrutierung ergänzt. In der Philosophischen Fakultät lag der Anteil des protestantischen Franken mit genau einem Drittel in etwa im Durchschnitt, allerdings war das übrige bayerische Staatsgebiet nur mit einem Altbayern vertreten. Dagegen zeigten sich mit vier Sachsen, drei Württembergern sowieje einem Ordinarius aus Preußen, Thüringen, Hessen, Braunschweig sowie einem Hansestädter relativ starke Fraktionen aus Nord-, Mittel- und 13 Fehlende Werte: keine. Die Verteilung absolut: Protestantisches Franken: 23; Katholisches Franken: 4; Altbayern: 6; Bayerische Pfalz: 2; Preußen: 4; Mitteldeutsche Staaten [Sachsen: 5; Thüringische Staaten: 2; Hessische Staaten: 2]: 9; Norddeutsche Staaten [Schleswig-Holstein: 2; Braunschweigische Staaten: 2; Hansestädte: 2; Hannover: 1]: 7; Süddeutsche Staaten [Württemberg: 4; Badische Staaten: 1]: 5; Österreich: 1.

70

Südwestdeutschland. H i e r w u r d e also n o c h a m ehesten die hergebrachte O r i e n t i e r u n g auf das gesamte protestantische Deutschland beibehalten. War die Q u o t e der Landeskinder gegen E n d e des Vormärz bereits wieder etwas zurückgegangen, setzte sich diese Entwicklung in der Zeit v o n 1849 bis 1890 14 weiter fort (Tab. 3). D e r Anteil der Landeskinder sank wieder auf 32,2 Prozent. Bei den Fachbereichen zeichnete sich eine Zweiteilung in juristische u n d »philosophische« Fachvertreter auf der einen Seite u n d ihre theologischen, medizinischen sowie naturwissenschaftlich-mathematischen Kollegen auf der anderen Seite ab. Bei j e n e n blieben die Landeskinder weiterhin relativ stark vertreten, bei diesen k a m e n sie über ein Viertel nicht hinaus.

Tab. 3: Landeskinder u n d Nichtlandeskinder 1849-1890 1 5 Landeskinder 1849-1890 1849-1860 1861-1870 1871-1880 1881-1890 1849-1890 Theol. Fak. Jur. Fak. Med. Fak. »Phil. Sek.« »Nat. Sek.«

29 8 8 4 9

(32,2) (36,4) (42,1) (17,4) (34,6)

Landeskinder 4 5 5 10 5

(25,0) (41,7) (23,8) (47,6) (25,0)

Nichtlandeskinder 61 14 11 19 17

(67,8) (63,6) (57,9) (82,6) (65,4)

Nichtlandeskinder 12 7 16 11 15

(75,0) (58,3) (76,2) (52,4) (75,0)

Quelle: Vgl. Seite 66, Fußnote 6.

Beim Vergleich mit der vorangegangenen E p o c h e fällt auf daß der Anteil der Landeskinder in der »Philosophischen Sektion« gegen den allgemeinen Trend anstieg. W ä h r e n d die T h e o l o g e n u n d Juristen d e n Rückgang der Landeskinder proportional in etwa mitvollzogen, löste sich die Medizinischen Fakultät besonders deutlich aus den B i n d u n g e n der Landesherrschaft. G e n a u in der Phase, 14 Was das Ende des Zeitsegments 1890 angeht, fiel die Entscheidung damit auf ein Datum, das wegen seiner in politischer und wirtschaftlicher, aber auch in wissenschafts- und universitätsgeschichtlicher Hinsicht einschneidenden Bedeutung in einschlägigen Veröffentlichungen zur Professorengeschichte schon wiederholt gewählt wurde. Vgl. Ringer, The Decline; Mehrtens, Abstrakte Außenseiter?; Schmidt, A.\ vom Bruch, Wissenschaft, S. 16-24, bietet eine ausführliche Begründung der zäsurbildenden Qualität des Jahres 1890 für die deutsche Professorengeschichte. 15 Fehlende Werte: keine.

71

in der sich die Erlanger Medizin auf die empirisch-experimentelle Naturforschung umstellte, setzte man verstärkt auf den »Import« entsprechender Kapazitäten. Das läßt sich auch daran ablesen, daß allein drei der fünf Landeskinder unter den Medizinern dieses Zeitabschnittes in den damals noch eher h a n d werklichen« Disziplinen Chirurgie (2) und Geburtshilfe (1) tätig waren, während sich die Nichtlandeskinder in den Bereichen konzentrierten, die intensiver Verwissenschaftlichung und Spezialisierung ausgesetzt waren: Innere Medizin (6), Anatomie (2), Physiologie (1), Pathologie (1) und Augenheilkunde (2). 16 Ähnliches läßt sich für die »Naturwissenschaftlichen Sektion« sagen, in der weiterhin relativ wenige Landeskinder saßen. Interessanterweise wurde auch hier der Bedarf an Vertretern des ausgesprochen praxisnahen Faches angewandte Chemie ausschließlich mit innerbayerischen Kandidaten abgedeckt. Abb. 9 dokumentiert, daß es nicht nur insgesamt, sondern auch innerhalb Bayerns zu einem Bedeutungsverlust der fränkischen Region kam. Zwar blieb es

Abb. 9: Lage der Geburtsorte 1849-1890' 7 Sonstiges Schweiz

Protestantisches Franken

Österreich S ü d d e u t s c h e Staaten Katholisches F r a n k e n

Altbayern

N o r d d e u t s c h e Staaten

Bayerische Pfalz Bayerisches S c h w a b e n M i t t e l d e u t s c h e Staaten

Preußen Quelle: Vgl. Seite 66, F u ß n o t e 6. 16 Vgl. zur E i n o r d n u n g der medizinischen Fächer ausführlich: Eulner, insbes. S. 180-321. 17 Fehlende Werte: keine. Die Verteilung absolut: Protestantisches Franken: 14; Katholisches Franken: 4; Altbayern: 5; Bayerische Pfalz 5; Bayerisches Schwaben: 1; Preußen [östliche Provinzen: 15; westliche Provinzen 6; 1866 annektierte Staaten: 5]: 26; Mitteldeutsche Staaten [Sachsen: 4; Thüringische Staaten: 2; Hessische Staaten: 4]: 10; Norddeutsche Staaten [Schleswig-Holstein: 1; Mecklenburgische Staaten: 2; Hansestädte: 3; Hannover: 1; Braunschweigische Staaten: 1]: 8; Süddeutsche Staaten [Württemberg: 3; Badische Staaten: 3]: 6 ; Österreich [deutschsprachiges Österreich: 2; B ö h m e n : 2]: 4; Schweiz: 4 ; Sonstiges [Baltikum: 2; Außerdeutscher Sprachraum:

1]:3. 72

zahlenmäßig bei der Dominanz des protestantische Franken, gegenüber dem Vormärz sankjedoch sein Anteil am bayerischen Kontingent von fast zwei Dritteln auf knapp die Hälfte. Der Anteil der gesamten fränkischen Region an den Professoren mit Geburtsort im Königreich Bayern ging von 77,1 auf 62,1 Prozent zurück, derjenige Altbayerns blieb bei gut 17 Prozent, während die Pfalz mit ebenfalls gut 17 Prozent ihren Einfluß mehr als verdoppeln konnte. Fundamental gestiegen war Preußens Bedeutung. Erstmals wurden nun auch Personen aus seinen westlichen Provinzen (Rheinprovinz, Westfalen) berufen, die ihrer Anzahl (6) nach indes weit hinter den 15 Vertretern des östlichen Preußen (Provinz Sachsen, Brandenburg, Pommern, Ostpreußen, Posen, Schlesien) zurückblieben. Gesondert zu berücksichtigen sind überdies die fünf Professoren, die in den Staaten geboren worden waren, die Preußen 1866 annektiert hatte. Auch ohne dieses >Erbe< weiter nord- und mitteldeutscher Gebietsteile hätte sich sein Anteil beachtlich auf 23,3 Prozent gesteigert. Gemessen an seinem demographischen Gewicht blieb Preußen allerdings in Erlangen nach wie vor deutlich unterrepräsentiert. 18 Rechnet man die genannten fünf Personen aus den neuen preußischen Provinzen dem mittel- und norddeutschen Raum zu, so hatte dieser seine Stärke von etwa einem Viertel halten können. Im Süden wandelten sich die Verhältnisse nur geringfügig, allerdings trat die Schweiz als neuer Einflußfaktor mit immerhin vier Vertretern (4,4 Prozent) hervor. Erkennbar gewann also das Rekrutierungsgebiet an Weite. Trotzdem blieb die Erlanger Hochschule bei der Suche nach neuen Lehrkräften neben der umliegenden fränkischen Region vor allem auf das Gebiet der protestantischen Staaten Mittel-, Nord- und Südwestdeutschlands ausgerichtet. Nachdem die Theologen über mehr als hundert Jahre hinweg ein Rekrutierungsverhalten gezeigt hatten, das sich stark auf das regionale Umland stützte, kam es bei ihnen nun zu deutlichen Veränderungen. N u r noch ganze drei von insgesamt 16 waren Franken, während Preußen mit vier Personen jetzt das größte Kontingent stellte. Ansonsten zeigte sich eine weitgestreute Verteilung über die Bayerische Pfalz (1), Sachsen (2), Thüringen (1), die Hansestädte (1), das Baltikum (1) und den außerdeutschen Sprachraum (1). Daß obendrein zwei Theologen aus der Schweiz den Weg nach Erlangen fanden, erklärt sich unmittelbar aus der reformierten Konfessionsausrichtung der Alpenrepublik. Sie besetzten den Lehrstuhl für Reformierte Theologie, der 1847 für die Bedürfnisse des Pfälzischen Landesteils eingerichtet worden war. Unter den Juristen blieb es bei einem starken Anteil bayerischer Landeskinder. Bemerkenswert ist dabei, daß gegen den allgemeinen Trend die anteilige Stärke der gebürtigen Franken gehalten werden konnte. Mit vier von zwölf 18 Die E i n w o h n e r s c h a f t des Königreichs P r e u ß e n machte 1875 62,3 P r o z e n t der deutschen Reichsbevölkerung ( o h n e Elsaß-Lothringen) aus. Berechnet nach: Köllmann, Q u e l l e n . Bd. 1, S. 226, S. 330.

73

Rechtswissenschaftlern, je zwei aus den protestantischen und den katholischen Gebieten, machten diese weiterhin ein Drittel aus. Altbayern hingegen verlor mit nur einem Vertreter immens an Bedeutung. Stark wurde bei den Juristen auch die Rolle Preußens, das mit vier Personen ein Drittel stellte. Daneben waren nur noch Württemberg, Schleswig-Holstein und die Hansestädte mit je einem Ordinarius repräsentiert. Eine beachtliche Heterogenität wies 1849 bis 1890 das geographische Herkunftsprofil der Medizinischen Fakultät auf. Abgesehen von einer gewissen Konzentration auf Preußen, das fünf von 21 Ordinarien stellte, verteilten sich die Geburtsorte nahezu gleichmäßig auf die Staaten und Regionen des deutschen Sprachraumes: Das protestantische Franken sowie Hessen waren mit je zwei Personen vertreten, Altbayern, Bayerisch-Schwaben, die Bayerische Pfalz, Baden, Württemberg, Sachsen, Thüringen, Mecklenburg, das Baltikum, das deutschsprachige Osterreich, Böhmen und die Schweiz mit je einer. Von der regionalen Bindung an Franken, welche die Mediziner im Vormärz gekennzeichnet hatte, konnte keine Rede mehr sein. Die territorial offene Rekrutierung, welche die Philosophische Fakultät im Vormärz ausgezeichnet hatte, wurde nur von den zwanzig Mathematikern und Naturwissenschaftlern fortgeführt. Franken war bei ihnen mit zwei Personen aus dem protestantischen Gebietsteil vertreten. Von den Regionen des Königreiches Bayern zeigte ansonsten lediglich die Pfalz mit drei Personen Präsenz. Als überaus stark erwies sich mit neun Ordinarien der preußische Einfluß, wobei hervorzuheben ist, daß die westlichen Provinzen mit drei Vertretern überproportional vertreten waren. Baden und Hessen stellten je zwei, Hannover, Braunschweig und das deutschsprachige Osterreich je einen Hochschullehrer. Unter den 21 Mitgliedern der »Philosophischen Sektion« stärkte dagegen der Süden seinen Einfluß. Altbayern stellte hier allein drei Personen, Württemberg, Böhmen und die Schweiz je eine. Dagegen zeigten sich Preußen mit vier sowie das sonstige Nord- und Mitteldeutschland mit ebenfalls vier Vertretern eher unterrepräsentiert. Das größte Kontingent, nämlich genau ein Drittel, machten die sieben Professoren aus Franken aus, von denen sechs aus dem protestantischen Teil stammten. Wie bei den Juristen wurde hier gegen den Trend der Anteil der Umlandregion auf einem relativ hohen Niveau gehalten. In der Periode 1891 bis 193319 blieb der Anteil derer, die im Staat Bayern 19 Die Begrenzungen des letzten Zeitabschnittes ergeben sich aus den oben erörterten Zäsuren der Jahre 1890 und 1933. Sie umfassen in etwa den Epochenabschnitt, der als sozial- und kulturgeschichtliche Einheit der »Jahrhundertwende« von der Forschung im letzten Jahrzehnt zunehmend ins Blickfeld gerückt worden ist. Vgl. Nitschke; Ringer, Das gesellschaftliche Profil, S. 99-103, weist dem Abschnitt 1890-1933 hinsichtlich einer sozialgeschichtlichen Betrachtung des deutschen Professorentums einen Einheitscharakter zu, gegenüber dem die Zäsuren des Weltkrieges und der Revolution von eher geringer Bedeutung gewesen seien.

74

geboren w o r d e n waren, bei etwa e i n e m Drittel (Tab. 4). U n t e r Z e r l e g u n g in kleinere Zeitabschnitte zeigt sich indes, daß nach einer den Landeskindern ern e u t sehr vorteilhaften Berufungspolitik u m 1900 in der Vorkriegs- u n d Kriegsepoche ein signifikanter Einschnitt zu ihren U n g u n s t e n erfolgte.

Tab. 4: Landeskinder u n d Nichtlandeskinder 1891-1933 2 0 Landeskinder 1891-1933 1891-1904 1905-1918 1919-1933 1891-1933 Theol. Fak. Jur. Fak. Med. Fak. »Phil. Sek.« »Nat. Sek.«

35 16 6 13

(31,3) (48,5) (20,0) (26,5)

Landeskinder 3 4 16 6 6

(18,8) (28,6) (50,0) (23,1) (25,0)

Nichtlandeskinder 77 17 24 36

(68,7) (51,5) (80,0) (73,5)

Nichtlandeskinder 13 10 16 20 18

(81,2) (71,4) (50,0) (76,9) (75,0)

Quelle: Vgl. Seite 66, Fußnote 6.

D e r Blick auf die einzelnen Fakultäten ergibt, daß sich die Landeskinderquote überall bei etwa e i n e m Viertel - bei den T h e o l o g e n leicht darunter - einpendelte. N u r unter den M e d i z i n e r n zeigten sich mit e i n e m Anteil v o n genau f ü n f z i g Prozent deutliche A b w e i c h u n g e n . Juristische Fakultät u n d »Philosophische Sektion« paßten sich damit im wesentlichen den Werten an, welche die T h e o logen u n d Naturwissenschaftler schon in der vorangegangenen Epoche vorgelegt hatten, w ä h r e n d die Medizinische Fakultät e r n e u t deutlich an Bayern gebunden wurde. Wie aus Abb. 10 hervorgeht, hat zuletzt die B e d e u t u n g Frankens, besonders des protestantischen Teils, nicht n u r insgesamt, sondern auch innerhalb Bayerns n o c h einmal a b g e n o m m e n . Z u g l e i c h stieg der bayerninterne E i n f l u ß Altbayerns u n d vor allem der des schwäbischen Landesteiles, w ä h r e n d die Pfalz mit lediglich zwei Vertretern an Stärke einbüßte. I m m e r h i n aber m a c h t e n die 15 Franken im bayerischen Kontingent sowie im gesamten O r d i n a r i e n kollegium n o c h beachtliche 42,9 bzw. 13,4 Prozent aus.

20 Fehlende Werte: keine.

75

Abb. W: Lage der Geburtsorte 1891-193321 Sonstiges n i

Protestantisches Franken Katholisches Franken

Süddeutsche Staaten Altbayern N o r d d e u t s c h e Staaten Bayerische Pfalz

Bayerisches Schwaben

Mitteldeutsche Staaten

Preußen

Quelle: Vgl. Seite 66, Fußnote 6. Neben dieser fortgesetzten Entregionalisierung zeigten sich gegenüber der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nur eher geringfügige Veränderungen. Der Anteil Preußens wuchs zwar noch einmal nicht unwesentlich. Abgesehen von der leicht gestiegenen Bedeutung seiner westlichen Provinzen, läßt sich das indes vor allem auf die Tatsache zurückführen, daß die Annexionen von 1866 nunmehr voll zu Buche schlugen. Zählt man die 13 Personen aus den neuen preußischen Provinzen den Bereichen Mittel- und Norddeutschlands zu, ergibt sich für diese Regionen wiederum die altbekannte Quote von fast genau einem Viertel (29 Personen bzw. 25,9 Prozent), während der Anteil der älteren preußischen Provinzen mit lediglich 24,1 Prozent (27 Personen) ebenfalls in etwa den Verhältnissen des vorangegangenen Zeitabschnitts entspricht. Im Süden blieben die Anteile der Donaumonarchie sehr niedrig. Im gleichen Maße, in dem die Staaten des deutschen Südwestens, Baden und Württemberg, an Stärke zunahmen, fiel die Schweiz wieder auf Null zurück. Das Baltikum sowie der außerdeutsche Sprachraum waren nach wie vor von geringer Bedeutung. 21 Fehlende Werte: keine. Die Verteilung absolut: Protestantisches Franken: 10; Katholisches Franken: 5; Altbayern: 9; Bayerische Pfalz: 2; Bayerisches Schwaben: 9; Preußen [östliche Provinzen: 16; westliche Provinzen 11; 1866 annektierte Staaten: 13]: 40; Mitteldeutsche Staaten [Sachsen: 6; Thüringische Staaten: 2; Hessische Staaten: 4]: 12; Norddeutsche Staaten [Mecklenburgische Staaten: 2; Hansestädte: 2]: 4; Süddeutsche Staaten [Württemberg: 7; Badische Staaten: 5]: 12; Österreich [deutschsprachiges Österreich: 4; Böhmen: 1]: 5; Sonstiges [Baltikum: 1; Außerdeutscher Sprachraum: 3]: 4.

76

Bei den Theologen blieb jene Unabhängigkeit vom protestantisch-fränkischen Umland gewahrt, die im Laufe des 19. Jahrhunderts erreicht worden war; mit lediglich zwei von 16 Ordinarien fiel der Anteil Frankens sogar noch einmal leicht ab. Dagegen wuchs das preußische Kontingent überproportional auf acht Personen; allerdings gilt es auch hier zu beachten, daß der Löwenanteil dieser Steigerung (4) den 1866 hinzugewonnenen Provinzen zu verdanken war. Neben Sachsen, das mit drei Vertretern nach wie vor relativ gut repräsentiert war, stellten ansonsten noch die Mecklenburgischen Staaten und Altbayern je einen Theologen. In der Juristischen Fakultät wurde der Anteil Frankens mit zwei von 14 Personen auf das Durchschnittsmaß zurückgeführt. Hingegen war das preußische Kontingent wie bei den Theologen mit sieben Vertretern deutlich überrepräsentiert. Württemberg stellte zwei, Baden, Altbayern und das Bayerische Schwaben je einen Erlanger Rechtswissenschaftler. Die deutlichsten Abweichungen von der Gesamtverteilung wies die Medizinische Fakultät auf Nachdem sie sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gerade durch ihr offenes Herkunftsprofil hervorgetan hatte, war nun die fränkische Umlandregion mit sieben von 32 Personen wieder klar überrepräsentiert. Interessanterweise vertraten sechs dieser sieben Franken medizinische Grundlagenfächer oder Spezialdisziplinen: Hygiene und Bakteriologie (2), Pharmakologie (1), Oto-Rhino-Laryngologie (1), Hautkrankheiten (1) und Psychiatrie (1). Vernaturwissenschaftlichung und Spezialisierung begünstigten jetzt offenbar den einheimischen Nachwuchs. Für das auch ansonsten insgesamt überaus starke Kontingent Bayerns waren daneben weniger Altbayern (3) und die Pfalz (1) verantwortlich als die fünfVertreter des schwäbischen Landesteils. Preußen zeigte demgegenüber mit sieben Personen nicht nur insgesamt eine schwache Präsenz, sondern auch intern eine ungewöhnliche Verteilung: Die östlichen Provinzen, ansonsten dominierend, stellten hier lediglich einen, der Westen sowie die annektierten Staaten hingegen je drei Mediziner. Während die neue bayerische Vorherrschaft vor allem zu Lasten Preußens ging, wiesen die übrigen Regionen bei den Medizinern keine signifikanten Abweichungen vom Gesamtdurchschnitt auf: Sachsen (1), Hessen (2), Hansestädte (1), Baden (1), Württemberg (2), außerdeutscher Sprachraum (2). Die Betrachtung der Philosophischen Fakultät zeigt, daß sich ihre »Philosophische Sektion«, was die Entregionalisierung angeht, dem allgemeinen Trend angeschlossen hatte. Mit nur zwei Franken bei insgesamt 26 Fachbereichsmitgliedern war das Umland hier sogar leicht unterrepräsentiert. Mit je einem Vertreter der Klassischen und der Orientalischen Philologie lehrten sie in Fächern, die in diesem Abschnitt auch fünfvon den sechs bayerischen Landeskindern stellten. Bei den Altphilologien, eng mit dem staatlichen Erziehungswesen verknüpften Disziplinen, stützte man sich mithin nach wie vor mit Vorliebe auf das regionale und landesinterne Reservoir, während jüngere oder starker 77

Verwissenschaftlichung und Differenzierung ausgesetzte Disziplinen (Moderne Fremdsprachen, Deutsche Philologie, Geschichte, Philosophie, Nationalökonomie) nunmehr fast ausschließlich sprachgebietsweit rekrutiert wurden. Dabei trat der zuvor relativ starke Einfluß des südlichen Deutschlands deutlich hinter dem Mittel-, Nord- und Nordostdeutschlands zurück. Preußens Anteil lag mit zehn Personen leicht über dem Durchschnitt. Sachsen (2), Hessen (2), Thüringen (1) und die Hansestädte (1) ergänzten die nord- und mitteldeutsche Dominanz, der nur jeweils ein Vertreter Altbayerns, der Pfalz und des deutschsprachigen Österreichs sowie zwei Badener gegenüberstanden. In der »Naturwissenschaftlichen Sektion« setzte sich das Herkommen einer schwachen regionalen Bindung mit ebenfalls nur zwei fränkischen Lehrstuhlinhabern fort. Ein Novum stellte hier allerdings die Berufung von drei Ordinarien dar, die aus Altbayern kamen. Ebenfalls drei Abkömmlinge des deutschsprachigen Österreichs sowie die Vertreter Böhmens (1), des Bayerischen Schwaben (1), der Badischen Staaten (1) und Württembergs (3) verstärkten das süddeutsche Element nicht unerheblich. Stellt man dem die lediglich durchschnittliche Präsenz Preußens gegenüber, dominiert wiederum von den westlichen Provinzen (4) (östliche Provinzen und annektierte Staaten je 2), sowie das schwache Kontingent Mittel- und Norddeutschlands mit nur einem Mecklenburger, ergibt sich für die gesamte Fakultät das Bild einer bemerkenswerten Umkehrung der Herkunftsbereiche: Während in der »Philosophischen Sektion« der Süden seine Hegemonie zugunsten Mittel- und Nordostdeutschlands einbüßte, wurde bei Mathematikern und Naturwissenschaftlern die Vernachlässigung der südlichen Regionen durch ihre ausgesprochene Bevorzugung abgelöst. Resümierend kann festgehalten werden, daß die Berufungsbilanzen Erlangens in den einzelnen Epochen Spezifika aufweisen, die zum Teil quer zu dem Bild stehen, das von der Entwicklung der deutschen Universitätslandschaft im allgemeinen gezeichnet wird. So erfolgte im Vormärz eine deutliche Einschränkung der Rekrutierungsbasis, nachdem sich die Hochschule im 18. Jahrhundert durch relativ große Offenheit ausgezeichnet hatte. Man wird das indes nicht als >Rückfall< in die soziale und territoriale Beengtheit der frühneuzeitlichen Landesuniversität werten dürfen. Mit einiger Deutlichkeit kommen hier vielmehr die besonderen Entwicklungsbedingungen einer Universität zum Ausdruck, der nach dem Start als aufgeklärt-absolutistisches Projekt eines kleinen Fürstentums unter der Krone Bayerns eine Integrationsfunktion für die protestantischen Landesteile zukam und die infolgedessen im 19. Jahrhundert nur langsam den sprachgebietsweiten Rekrutierungsbedingungen des deutschen Universitätssytems ausgesetzt wurde. Im Zuge dieser Entwicklung stärkte sich Preußens Position zwar merklich, blieb aber stets hinter seinem demographischen Gewicht zurück. Abgesehen von der Bevorzugung bayerischer Landeskinder und der ebenfalls bis zuletzt beachtlichen Rekrutierung aus den 78

deutschen Mittelstaaten, dürfte dafür die merkliche Zurückhaltung bei Berufungen von Personen aus den katholischen Westprovinzen Preußens verantwortlich sein. Neben dem Westen Deutschlands konnte auch der katholische Süden einschließlich Österreichs keinen entscheidenden Einfluß im Erlanger Ordinarienkollegium gewinnen. Insgesamt kam er über etwa ein Viertel der Lehrstuhlinhaber nie hinaus. Als vergleichsweise unbedeutend sind auch die Schweiz und die übrigen Staaten außerhalb der Reichsgrenzen anzusehen. Wie wenig regelmäßig und linear bei allen übergreifenden Trends die Entwicklungen verliefen, hat auch die vergleichende Betrachtung der einzelnen Fakultäten und Fachbereiche offenbart. So stand beispielsweise der relativ kontinuierlichen Entterritorialisierung und Entregionalisierung der Theologischen Fakultät die zeitweise nahezu umgekehrte Entwicklung des Juristischen Fachbereichs gegenüber. Während bei den Medizinern und den Mitgliedern der »Philosophischen Sektion« Phasen erstaunlicher geographischer Offenheit mit solchen ebenso auffälliger Geschlossenheit wechselten, war die »Naturwissenschaftliche Sektion« praktisch über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg von einer heterogenen Herkunft geprägt. Derartigen Diskontinuitäten und Verschiebungen, resultierend aus einem komplexen Ursachengeflecht verschiedener Faktoren wie der differierenden Zugkraft, konfessionellen Orientierung, Staatsnähe, Integrationsfunktion, Spezialisierung und Professionalisierung der Fakultäten und Einzelfächer, wird auch in den kommenden Abschnitten nachzugehen sein.

2.1.2. Größe Es liegt auf der Hand, daß abgesehen von der geographischen Lage der Geburtsorte auch ihre Größe und, damit einhergehend, ihre Bevölkerungsdichte sowie politische, wirtschaftliche und kulturelle Potenz eine unmittelbar sozialisationsrelevante Bedeutung hat.22 Aus Abb. 11 geht hervor, daß sich in Hinsicht auf die Ortsgrößenklassen zum Teil erhebliche Wandlungen, aber auch überraschenden Kontinuitäten feststellen lassen.

22 Vgl. Weber, W., Priester der Klio, S. 32f., S. 67-71, dem ich methodisch im wesentlichen folge. Wie bei der geographischen Lage der Geburtsorte herrscht ansonsten ein Mangel an einschlägigen Studien.

79

Abb. 11: Geburtsorte nach Ortsgrößen 1743-1933 23 100%

Geburtsortklasse fl • • •

1473-1810

1811-1848

1849-1890

Landgemeinde Land-/Kleinstadt Mittelstadt Großstadt

1891-1933

Berufungsjahr

Quelle: Vgl. Seite 66, Fußnote 6. Vom 18. Jahrhundert bis zum Vormärz gewannen die Mittelstädte gegenüber dem ländlich-kleinstädtischen Raum leicht an Gewicht. Dabei zeigt eine weitere zeitliche Untergliederung, daß dieser Vorgang eigentlich erst in den zwanziger Jahren des 19. Jahrunderts einsetzte und besonders im Jahrzehnt vor der Märzrevolution massiv wurde. In beiden Epochen spielten die Großstädte, korrespondierend mit dem erst seit der Jahrhundertmitte voll einsetzenden Verstädterungsprozeß, 24 praktisch keine Rolle. Seit etwa 1840 verlor sich das Ubergewicht des ländlichen und kleinstädtischen Herkunftsmilieus, allerdings blieben bis 1933 - bei intern fast unveränderter Relation zwischen Landge23 Ortsgrößenklassen: Landgemeinde: u n t e r 2.000 E i n w o h n e r ; Land-/Kleinstadt: 2.000 bis u n t e r 10.000; Mittelstadt: 10.000 bis u n t e r 100.000; Großstadt: 100.000 u. m e h r ; vgl. ebd., S. 67. Als verbindliche Einwohnerzahl des Geburtsortes w u r d e diejenige gewählt, die f ü r das G e b u r t s j a h r der betreffenden Person bzw. ein zeitlich möglichst nahe daran liegendes D a t u m festgestellt w e r d e n konnte. N e b e n den einschlägigen Historischen Atlanten u n d Ortsverzeichnissen war dabei vor allem das Sammelwerk: Keyser/Stoob hilfreich. Es sei darauf hingewiesen, daß etwaige, d u r c h U m z ü g e in f r ü h e n Lebensjahren bedingte Wechsel des Sozialisationsmilieus unbeachtet blieben. Die in Abb. 11 a u f g e f ü h r t e n Prozentangaben in absoluten Zahlen: 1743-1810: Landgemeinde: 27; Land-/Kleinstadt: 28; Mittelstadt: 19; Großstadt: 1; fehlende Werte: 3; 1811-1848: Landgemeinde: 18; Land-/Kleinstadt: 18; Mittelstadt: 23; Großstadt: 1; fehlende Werte: 1; 18491890: Landgemeinde: 23; Land-/Kleinstadt: 20; Mittelstadt: 36; Großstadt: 8; fehlende Werte: 3; 1891-1933: Landgemeinde: 28; Land-/Kleinstadt: 23; Mittelstadt: 32; Großstadt: 23; fehlende Werte: 6. Angesichts der n u r sehr wenigen u n d relativ gleichmäßig verteilten Fälle, f ü r die die Ortsgröße nicht festgestellt w e r d e n konnte, erscheint die statistische Aussagekraft hinreichend gesichert. 24 Vgl. Wehler, D e u t s c h e Gesellschaftsgeschichte. Bd. 3, S. 12.

80

meinden und Land-/Kleinstädten - nahezu die Hälfte der Erlanger Ordinarien von ihm geprägt. Etwa seit der Jahrhundertwende verschob sich das Verhältnis von Mittel- und Großstädten zum Vorteil der Großstädte, wobei beider Stärke zusammengenommen seit den vierziger Jahren des 19. Jahrunderts bei knapp über fünfzig Prozent stagnierte. Obwohl die langfristige Entwicklung der Herkunftsmilieus anhand der gewählten Ortsgrößenklassifikation recht gut sichtbar gemacht werden können, leidet die Interpretation doch darunter, daß hier Modell, das für das Zeitalter der Industrialisierung entwickelt wurde, zum Teil vorindustriellen Epochen aufgesetzt wird. 25 U m deren Spezifik vor allem im Hinblick auf das kulturelle Potential eines Herkunftsortes näher betrachten zu können, bietet sich eine Erweiterung des Schemas an. Zählt man nämlich die Orte, die zum Zeitpunkt der Geburt der jeweiligen Person Universitätsstandorte waren, unabhängig von ihrer Einwohnerzahl der Kategorie der Großstädte zu, zeigt sich ein verändertes Bild: Sowohl im 18. Jahrhundert als auch im Vormärz entstammte immerhin über ein Fünftel der Erlanger Ordinarienschaft einem groß- oder universitätsstädtischen Milieu. Auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lag der Anteil derer, die der neuen Kategorie zuzuordnen sind, mit einem guten Viertel klar über dem jener, die aus einer Großstadt mit mehr als hunderttausend Einwohnern kamen. Nach 1890 ging diese Differenz merklich zurück, da nunmehr Städte, die eine Hochschule beherbergten, in der Regel auch bevölkerungsmäßig als Großstädte einzustufen waren. 26 Es kann festgehalten werden, daß das Herkunftsmilieu eines erheblichen Teils der Erlanger Lehrstuhlinhaber im gesamten Zeitraum eine große Universitätsnähe und damit eine besondere kulturelle Prägekraft aufwies. Es erhebt sich die nicht ganz einfach respektive nur mit einiger Unzulänglichkeit zu klärenden Frage, ob die Verschiebungen im Verhältnis der Ortsgrößenklassen, die Abb. 11 entnommen werden können, einfach nur den säkularen Prozeß der Verstädterung widerspiegeln, oder ob - und wenn ja wie - sie von diesem Vorgang abweichen. Bei aller gebotenen Behutsamkeit kann soviel gesagt werden, daß die Erlanger Ordinarien, gemessen an der Ortsgröße ihrer Geburtsorte, die allgemeine Urbanisierung in Deutschland nur unterproportional mitvollzogen. Während etwa im Reich der Bevölkerungsanteil der Landgemeinden 1871 bis 1910 dramatisch um fast 15 Prozent zurückging, vergrößerten die Erlanger Professoren mit ländlicher Herkunft ihre anteilige Stärke sogar wieder leicht. Dem rasanten Ausbau der deutschen Groß- und Mittelstädte um etwa 16 bzw. 25 Prozent wurde dagegen nicht gefolgt; vielmehr blie-

25 Vgl. Weber, W, Priester der Klio, S. 67. 26 In Groß- oder Universitätsstädten geborene Erlanger Ordinarien in absoluten Zahlen (in Prozent): 1743-1810: 17 (22,7 Prozent); 1811-1848: 14 (23,3); 1849-1890: 23 (26,4); 1891-1933: 32 (30,2).

81

ben hier die Verhältnisse in der untersuchten Gruppe etwa gleich.27 Aufschlußreich ist darüber hinaus eine Gegenüberstellung mit den Zahlen, die Wolfgang Weber über deutsche Historiker vorgelegt hat. Hat schon er für seine Untersuchungsgruppe einen nach Maßgabe der deutschen Durchschnittszahlen deutlich gemäßigten Zuwachs an Historikern mittel- und großstädtischer Herkunft konstatiert, gilt das für die Erlanger Ordinarien noch stärker.28 Bei allen Mängeln, die solchen Vergleichen anhaften, läßt sich doch mit einiger Sicherheit das Ergebnis einer relativ geringen großstädtischen wie überhaupt Urbanen Prägung der Erlanger Professoren ableiten. Differenziert nach Fakultäten und Fachbereichen (Tab. 5), erweisen die Daten für das 18. Jahrhundert zunächst ein relativ ländliches Herkunftsmilieu von Theologischer Fakultät und »Philosophischer Sektion«; in beiden machten die Landgemeinden um fünfzig Prozent aus. Während die »Naturwissenschaftliche Sektion« den allgemeinen Schnitt von etwas über einem Drittel fast genau widerspiegelte, zeigten Juristen und Mediziner mit ungefähr einem Viertel unterproportionale Werte. Entsprechend unterschiedlich fielen auch die Anteile derer aus, die in einem städtischen Umfeld aufwuchsen. Hierbei bewährt sich die Ergänzung der Klassifikation um den Faktor Universitätsstandort. Besonders >universitätsnah< sozialisiert waren die Juristen; annähernd die Hälfte von ihnen wurde in einer Groß- oder Hochschulstadt geboren. Dagegen fielen alle anderen Fachbereiche, besonders die »Philosophische Sektion«, deutlich ab. Im Vormärz blieb es bei der eher ländlichen Zusammensetzung von Theologischer Fakultät und »Philosophischer Sektion«, wenngleich der Anteil der Landgemeinden in beiden auf etwa ein Drittel abfiel. Bei den Juristen und Medizinern kamen weiterhin nur relativ wenige vom Lande. In der Kategorie Groß-/Universitätsstadt lagen erneut die Rechtswissenschaftler vorne, diesmal knapp gefolgt von den Medizinern. Deutlich geringer fielen die entsprechenden Quoten bei den Theologen und in der »Philosophischen Sektion« aus. Der Werte der »Naturwissenschaftlichen Sektion« sind angesichts einer sehr kleinen Personenzahl nur bedingt aussagekräftig. 27 Z u r besseren Vergleichbarkeit wurde in diesem Fall das Geburtsjahr als zuordnungsrelevantes Datum gewählt. Von allen Erlanger Ordinarien, die zwischen 1851 und 1880 geboren wurden, stammten 24,7 Prozent aus Landgemeinden, während der gleiche Anteil aller von 1881 bis 1910 Geborenen 33,3 Prozent betrug. Machte der Anteil aller gebürtigen Mittel- und Großstädter der älteren Gruppe 53,9 Prozent aus, fiel er bei der jüngeren Gruppe auf 48,1 Prozent; zu den Vergleichswerten der deutschen Bevölkerung vgl. Köllmann, Bevölkerungsgeschichte, S. 22; Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 3, S. 512f. 28 Vgl. Weber, W, Priester der Klio, S. 70; nach ebd., S. 69, betrug der Anteil der Mittel- und Großstädter an der von 1851 bis 1880 geborenen Historikergeneration 54 Prozent und stieg bei den von 1881 bis 1910 Geborenen auf 55 Prozent. Bei den Erlanger Ordinarien, deren Werte dem Zuordnungssystem sowie der Generationenabgrenzung Webers genau angeglichen wurden, fiel der gleiche Anteil von 53,9 auf 48,1 Prozent.

82

Tab. 5: Geburtsortklassen nach Epochen und Fachbereichen 29 LandLand-/Klein- Mittelstadt Großstadt Groß-/Universitätsstadt gemeinde stadt 1743-1810 Theol. Fak. Jur. Fak. Med. Fak. »Phil. Sek.« »Nat. Sek.«

27 7 5 3 8 4

(36,0) (46,7) (22,7) (25,0) (53,3) (36,4)

28 (37,3) 2 (13,3) 12 (54,6) 5 (41,7) 6 (40,0) 3 (27,2)

19 6 5 3 1 4

(25,3) (40,0) (22,7) (25,0) (6,7) (36,4)

1 (1,3)

1811-1848 Theol. Fak. Jur. Fak. Med. Fak. »Phil. Sek.« »Nat. Sek.«

18 4 3 3 5 3

(30,0) (33,3) (20,0) (23,1) (38,5) (42,9)

18 4 4 3 4 3

(30,0) (33,3) (26,7) (23,1) (30,8) (42,9)

23 4 7 7 4 1

(38,3) (33,3) (46,6) (53,8) (30,8) (14,2)

1 (1,7)

1849-1890 Theol. Fak. Jur. Fak. Med. Fak. »Phil. Sek.« »Nat. Sek.«

23 8 3 6 5 1

(26,4) (50,0) (25,0 (30,0) (23,8) (5,0)

20 (23,0) 1 1 5 6 7

(6,3) (8,3) (25,0) (28,6) (35,0)

36 6 7 8 7 8

(41,4) (37,4) (58,3) (40,0) (33,3) (40,0)

1891-1933 Theol. Fak. Jur. Fak. Med. Fak. »Phil. Sek.« »Nat. Sek.«

28 7 2 7 7 5

(26,4) (46,7) (14,3) (24,1) (28,0) (21,7)

23 2 5 11

(21,7) (13,3) (35,7) (37,9)

32 3 4 5 12 8

(30,2) (20,0) (28,6) (17,3) (48,0) (34,9)

-

5 (21,7)

17 2 10 2 1 2

(22,7) (13,3) (45,5) (16,7) (6,7) (18,2)

-

14 2 5 4 2 1

(23,0) (16,7) (33,3) (30,8) (15,4) (14,2)

8 1 1 1 3 2

(9,2) (6,3) (8,3) (5,0) (14,3) (10,0)

23 5 2 2 6 8

(26,4) (31,3) (16,7) (10,0) (28,6) (40,0)

23 3 3 6 6 5

(21,7) (20,0) (21,4) (20,7) (24,0) (21,7)

32 4 5 7 8 8

(30,2) (26,7) (35,7) (24,1) (32,0) (34,9)

-

1 (8,3) -

-

1 (6,7) -

Quelle: Vgl. Seite 66, Fußnote 6.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stieg der Anteil von Theologen aus Landgemeinden gegen den allgemeinen Trend erneut auf genau fünfzig Prozent an. Die Theologenschaft blieb überwiegend ländlich-kleinstädtisch geprägt, allerdings stammte nun im Gegensatz zu früher ein relativ großer Prozentsatz von ihnen aus Groß- oder Universitätsstädten.

29 Die Tabelle gibt die Werte in absoluten Zahlen wieder; die in Klammern beigefügten Prozentwerte beziehen sich auf die Zeilensumme der Spalten Landgemeinde, Land-/Kleinstadt, Mittelstadt, Großstadt.

83

In der Juristischen Fakultät hatten die Landgemeinden einen Anteil von einem Viertel. Das entsprach in etwa den Werten der vorangegangenen Epochen, lag aber erstmals nicht signifikant unter dem Durchschnitt der Gesamtheit. Zählt man indes die bei ihnen sehr schwach mit 8,3 Prozent vertretenen Landund Kleinstädte dem ländlichen Raum zu, war dieser nach wie vor unterrepräsentiert. Das Übergewicht der größeren Kommunen ging dabei vornehmlich auf das Konto der Mittelstädte; die Großstädte lagen mit 8,3 Prozent lediglich im Durchschnitt. Erstmals gewinnen die Juristen auch nicht durch die Einbeziehung des Faktors Hochschulstandort an urbanem Profil. N u r 16,7 Prozent sind dem groß- oder universitätsstädtischen Herkunftsmilieu zuzuordnen, fast zehn Prozent weniger als bei der Gesamtheit. Die Verhältnisse der Medizinische Fakultät spiegeln nahezu exakt den Gesamtschnitt wider. Allerdings ist der Anstieg des Anteils der Landgemeinden auf dreißig Prozent sowohl gegenüber der Entwicklung der Erlanger Ordinarienschaft als auch gegenüber der allgemeinen Urbanisierungswelle jener Zeit als trendgegenläufig einzustufen. Im Gegensatz zu Theologen und Juristen wiesen die Mediziner obendrein einen hohen Bestand an Vertretern aus Landund Kleinstädten auf Dem standen acht Ordinarien aus Mittelstädten und nur ein einziger aus großstädtischem Milieu gegenüber. Auch hier blieb die Gruppe der Groß- oder Universitätsstädter mit zwei Vertretern deutlich unterhalb des Schnitts. Waren also die Verhältnisse der drei klassischen berufsbildenden Fakultäten, was die urbane Sozialisation ihrer Mitglieder anging, insgesamt eher von einer stagnierenden oder gar rückläufigen Entwicklung geprägt, galt für die Philosophische Fakultät das Gegenteil. Innerhalb der »Philosophischen Sektion« lag der Anteil der Landgemeinden in diesem Zeitabschnitt erstmals nicht signifikant über dem Durchschnitt, sondern sogar leicht darunter. Der Anteil der Mittel- und Großstädte stieg deutlich auf zusammen annähernd fünfzig Prozent. Noch prägnanter war die Urbanisierung des Herkunftsprofils in der »Naturwissenschaftlichen Sektion«. In ihr verlor der ländliche Raum insgesamt am stärksten Gewicht und sie wies mit deutlichem Abstand den größten Anteil an Groß- oder Universitätsstädtern auf Der Blick auf den Zeitabschnitt 1891 bis 1933 festigt noch einmal den Eindruck einer vorwiegend ländlichen Herkunft der Theologen. Der Anteil der Landgemeinden war nicht signifikant gesunken, derjenige der Landund Kleinstädte sogar leicht nach oben gegangen. Allerdings kam hier der Kategorie der Groß- oder Universitätsstädte wiederum ein relativ großes Gewicht zu. Ähnliches gilt für die Juristen, bei denen das Aufwuchsmilieu der Landgemeinde anteilig zwar wieder auf 14,3 Prozent zurückging, dafür aber das der Land- und Kleinstädte um so deutlicher zulegte. Wenn die Vertreter der Mittelund Großstädte dementsprechend prozentual leicht unter dem Gesamtschnitt

84

lagen, zeigte sich mit immerhin fünf Groß- oder Universitätsstadtkindern im Endergebnis doch erneut eine vergleichsweise Urbane Prägung. Ländlich-kleinstädtisch blieb auch die Herkunft der medizinischen Fachvertreter. Hier stand dem leichten Rückgang des Anteils der Landgemeinden auf den Durchschnittswert von knapp einem Viertel der ausgeprägte Anstieg der Land- und Kleinstädte auf 37,9 Prozent gegenüber. Im Gegensatz zu Theologen und Juristen gewinnen die Mediziner auch durch Zuziehung der Variable Universitätsstandort nicht an urbanem Profil. Erstmals zeigen sich allerdings bei einer differenzierten Betrachtung der medizinischen Einzelfächer signifikante Unterschiede. Die sieben Ordinarien, die aus Landgemeinden stammten, vertraten ausschließlich medizinische Grundlagenfächer oder junge Facharztdisziplinen. 30 Dagegen lehrten die Großstädter in fünf von sechs Fällen klinische Fächer oder ältere Spezialdisziplinen.31 Im Bereich der »Philosophischen Sektion« fällt auf, daß fast drei Viertel ihrer Mitglieder dem mittel- und großstädtische Milieu entstammten. Angesichts des völligen Fehlens von Land- bzw. Kleinstädtern wies der ländliche Raum mit sieben Personen aus Landgemeinden insgesamt nur magere 28 Prozent auf. Wie bei den Medizinern lohnt sich auch hier ein näherer Blick auf die Einzeldisziplinen. Die sieben Ordinarien, die in Landgemeinden aufwuchsen, waren allesamt Vertreter der Philosophie und Philologie,32 während f ü n f v o n sechs Großstädtern den historischen Fächern und der Nationalökonomie zugeordnet werden können. 33 Dieser Befund gewinnt an Aussagekraft, wenn man berücksichtigt, daß Historiker und Nationalökonomen auch schon 1849 bis 1890 zwei von den drei Großstädtern gestellt hatten. 34 Unter den Mathematikern und Naturwissenschaftlern fiel die anteilige Steigerung der Mittel- und Großstadtkinder deutlich geringer aus als bei den Kollegen der »Philosophischen Sektion«; allerdings wiesen auch sie mit insgesamt 56,6 Prozent einen deutlich überproportionalen Wert auf Angesichts eines fast 35prozentigen Anteils von Groß- und Universitätsstädten kann von einem ausgesprochen Urbanen Aufwuchsmilieu gesprochen werden. Bezieht man die Ergebnisse des Kapitels 2.1.1. ein, ergibt sich für die Theologen, daß die durchgehende Entregionalisierung ihrer Herkunft nicht mit einer Urbanisierung ihres Aufwuchsmilieus einherging. Sie rekrutierte sich fortgesetzt vorwiegend aus dem ländlichen Raum, wenngleich die Universi30 Anatomie (1), Physiologie (1), Pharmakologie (1), Hautkrankheiten (1), Zahnmedizin (1), H N O (2). 31 Geburtshilfe/Gynäkologie (2), Poliklinik (2), Augenheilkunde (1), Physiologie (1). 32 Philosophie (2), Klassische Philologie (2), Germanistik (2), Orientalische Sprachen (1). 33 Mittlere u. neuere Geschichte (2), Alte Geschichte (1), Archäologie (1), Nationalökonomie (1), Orientalische Sprachen (1). 34 Den Historiker Friedrich Bezold (BA 211) und den Nationalökonomen Karl Theodor Eheberg (BA 223), beide in München gebürtig.

85

tätsstandorte ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine relativ starke Position einnahmen. Bei den Juristen ging hingegen die Regionalisierung der geographischen Herkunft während des 19. Jahrhunderts - relativ gesehen - mit einer Tendenz zur Verländlichung des Sozialisationsmilieus einher. Im Bereich der Medizinischen Fakultät hing ähnlich wie bei den Theologen die geographische Offenheit im späten 19. Jahrhundert nicht mit einer Lösung aus eher ländlichen Herkunftsbereichen zusammen. Insbesondere seit der Jahrhundertwende läßt sich bei ihnen eine Aufspaltung in den Sektor der vorwiegend ärztlich-klinischen Medizin auf der einen und die Grundlagen- und Spezialdisziplinen auf der anderen Seite konstatieren. Verband sich bei jener eine größere Heterogenität hinsichtlich der geographisch-territorialen Abkunft mit eher mittel- und großstädtischer Sozialisation ihrer Mitglieder, korrespondierte bei diesen das vorwiegend ländliche Milieu mit der Tendenz zu regional begrenzter Rekrutierung. In der »Philosophischen Sektion« ist bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts eine relativ weitgestreute Verteilung der Geburtsorte bei gleichzeitig schwachen städtischem Profil feststellbar. Ging dann ab etwa 1850 eine merkliche Tendenz zur Urbanisierung des Aufwuchsmilieus zunächst mit einer gewissen Begrenzung des Rekrutierungsgebietes einher, wurde seit der Jahrhundertwende auch dieses wieder geöffnet. Dabei stachen auf der einen Seite Historiker und Nationalökonomen als besonders urban und geographisch unabhängig hervor, während die alten philologischen Fächer eher durch das Gegenteil gekennzeichnet waren. Eindeutiger verlief die Entwicklung in der »Naturwissenschaftlichen Sektion«. Ihre durchgehend große geographische Offenheit ging seit der Mitte des 19. Jahrhunderts mit einer relativ Urbanen Herkunft ihrer Mitglieder einher.

2.2. Konfession u n d Konfessionswechsel Konfession stellt einen bedeutenden einstellungs- und verhaltensregulierenden Einflußfaktor dar.35 Als wichtiges Berufungskriterium hatte die Frage des Bekenntnisses außerdem auch durchweg einen hohen Einfluß auf die Zusammensetzung der Ordinarienschaft. Das quantitative Verhältnis der Konfessionen im Lehrkörper kann also als aussagekräftiger Maßstab für die Beziehungen der Universität zu ihrer Umwelt gewertet werden. Allerdings ist daraufhinzuweisen, daß der Indikator in seiner Operationalisierbarkeit insoweit eingeschränkt ist, als die Quellen in der Mehrzahl der Fälle nicht Auskunft geben, ob es sichjeweils um ein praktiziertes Glaubensbekenntnis oder nur eine Kirchenmitgliedschaft eher formaler Art handelte. 36 35 Z u den bis weit ins 20. Jahrhundert wirksamen sozialisations-, milieu- und mentalitätsprägenden Einflüssen der Konfessionen zuletzt: Kuhlemann, S. 187-207. 36 Vgl. dazu: Weber, W., Priester der Klio, S. 83. Die einzige einschlägige Studie, die neben

86

N u r für die Theologen war bei der Gründung der Erlanger Hochschule die Zugehörigkeit zur Augsburger Konfession statuarisch vorgeschrieben worden. In den Fakultäten der Juristen und Mediziner sollten die Lutheraner lediglich die Mehrheit stellen, für die Philosophische Fakultät gab es keine Anordnungen.37 Wie aus Abb. 12 hervorgeht, wurde aber bis zum Ubergang Erlangens an das Königreich Bayern eine Berufungspraxis gepflegt, die zumindest die Ordinariate nur Lutheranern offen ließ. Bei dem ersten Nichtlutheraner, der in eine ordentliche Professur aufrückte, handelte es sich 1816 um den Katholiken Johann Paul Harl. Er war bereits seit 1805 als Extraordinarius der Kameralistik in Erlangen tätig gewesen.38

Abb. 12: Konfessionelle Zusammensetzung 1743-193339 100%

Konfession

80%

«

cV

• ohne Konfession • mosaisch • katholisch • evangelisch-ref. H evangelisch-luth.

60% -

N

o 40% -

20%

0%

1743-1810

1811-1848

1849-1890

Berufungsjahr

1891-1933



Quelle: Vgl. Seite 66, Fußnote 6.

Weber (ebd., S. 83-93) eine materialreiche, statistisch aufbereitete Analyse bietet: Baumgarten, Professoren, S. 116-145. 37 Vgl. Wendehorst, Geschichte, S. 25f. 38 BA 241. 39 Im Falle von Konfessionswechseln w u r d e dasjenige Bekenntnis gewählt, dem der Betreffende z u m Zeitpunkt seines - ggf. erstmaligen - Amtsantrittes als Erlanger Ordinarius angehörte. Die in Abb. 12 wiedergegebenen Prozentwerte in absoluten Zahlen: 1743-1810: Ev.-luth.: 77; fehlende Werte: 1; 1811-1848: Ev.-luth.: 42; ev.-ref.: 7; kath.: 10; fehlende Werte: 2; 1849-1890: Ev.-luth.: 53; ev.-ref.: 8; kath.: 15; mosaisch: 2; ohne Konf.: 1; fehlende Werte: 11; 1891-1933: Ev.luth.: 77; ev.-ref.: 4; kath.: 24; fehlende Werte: 7.

87

In bayerischer Zeit sollte es bei einer eindeutigen Hegemonie des Protestantismus bleiben, was von Seiten Münchens im Zuge des Grundsatzes einer konfessionellen Aufgabenteilung der drei Landesuniversitäten durchaus beabsichtigt war.40 Auch nach 1810 stellten die Lutheraner stets mindestens zwei Drittel, die Protestanten insgesamt mindestens dreiviertel der Erlanger Ordinarien. Selbst im frühen 20. Jahrhundert erreichten die Katholiken nur einen Anteil von etwas mehr als zwanzig Prozent. Nahezu völlig blieben alle sonstigen Glaubensrichtungen außen vor. So hatten insbesondere Angehörige der jüdischen Religionsgemeinschaft auch nach der staatsbürgerlichen Gleichstellung der Juden in Bayern (1861) so gut wie keine Berufungschancen. 41 Gemessen an der konfessionellen Zusammensetzung der Bevölkerung im Deutschen Reich und vor allem im gesamten deutschen Sprachraum waren damit die Protestanten bei weitem überrepräsentiert. 42 Im Gegensatz zur geographischen und zur sozialen Herkunft, wovor allem seit der Jahrhundertwende eine gewisse Offenheit festzustellen ist, blieb die konfessionelle Geschlossenheit der Erlanger Ordinarienschaft fast unverändert gewahrt. Bei der Größe der Geburtsorte wiesen die beiden großen konfessionellen Gruppen nur relativ geringe Unterschiede auf 4 3 Unter den Protestanten waren zwar die Großstädter etwas stärker vertreten als bei den Katholiken. Dafür stammten diese aber häufiger aus Mittelstädten. Bei den Klein- bzw. Landstädten sowie bei den Landgemeinden zeigte sich keine besondere Differenz. Daß die Katholiken deutlich häufiger in einem ländlichen Milieu aufwuchsen, wie es Weber bei seiner Untersuchung deutscher Historiker ermittelt hat,44 kann für die Erlanger Ordinarien nicht bestätigt werden. 40 Vgl. Wendehorst, Geschichte, S. 130f. 41 Die beiden einzigen Juden unter den untersuchten Personen waren der Mediziner Herz (BA 153) und der Mathematiker Nöther (BA 287), ernannt 1869 bzw. 1888. Bei dem einzigen Konfessionslosen handelte es sich laut Eintrag im Personalbogen um den 1872 berufenen Physiologen Rosenthal, der ursprünglich ebenfalls der jüdischen Glaubensrichtung angehört hatte (Personalakt Rosenthal, BA 175). 42 Im Deutschen Reich (in den Grenzen von 1937) betrug 1910 der Anteil der Protestanten an der Gesamtbevölkerung 61,6 Prozent, derjenige der Katholiken 36,7 Prozent und derjenige der Sonstigen 1,7 Prozent (darunter der jüdischen Religionsgemeinschaft: 1 Prozent). Angaben nach: Petzina, S. 31; unter Zusammenrechnung der Bevölkerung der deutschen Schweiz, des Deutschen Reiches und der österreichischen Hälfte des Habsburgerreiches machten die Protestanten um 1900 44,4 Prozent aus, die Katholiken 53,6 Prozent und die Juden 0,2 Prozent. Angaben nach Weber, W., Priester der Klio, S. 86. 43 Geburt in Großstädten: Protestanten: 12,4 Prozent; Katholiken: 8,7 Prozent; Mittelstädte: 34,4 : 43,5; Klein-/Landstädte: 24,2 : 21,7; Landgemeinden: 29 : 26,1. Die Prozentangaben beziehen sichjeweils auf die Summe aller Personen, die ein und derselben Konfession angehörten, nach 1810 - ggf. erstmals - zu Erlanger Ordinarien ernannt wurden und für die die Größenklasse des Geburtsortes ermittelt werden konnte. In absoluten Zahlen war das insgesamt der Fall bei 186 Protestanten (Lutheraner und Reformierte zusammengenommen) und 46 Katholiken; fehlende Werte: 27. 44 Vgl. Weber, W., Priester der Klio, S. 89.

88

Allerdings gab es klare Unterschiede im sozialen Herkunftsprofil. So hatten die Katholiken nur zu 42,6 Prozent einen akademischen Beamten zum Vater, die Protestanten hingegen zu 59,3 Prozent. 45 Dabei ging diese Differenz nicht nur auf das Konto des Pfarrerberufes, der bei den Katholiken fehlte, sondern machte sich auch in anderen bildungsbürgerlichen Berufen wie denen des Gymnasial- (Katholiken: 2 Prozent; Protestanten: 8,5 Prozent) oder Hochschullehrers (8,2; 12,7) bemerkbar. Die Katholiken wuchsen dafür häufiger in eher universitätsfernen (40,8; 33,3) respektive der Mittelschicht zugehörigen Milieus (24,5; 20,6) auf 4 6 Das von der historischen Forschung diagnostizierte >Bildungsdefizit< der katholischen Bevölkerung schlug sich also im Sozialprofil des Erlanger Lehrkörpers erkennbar nieder, wenngleich auch für diesen Bereich gilt, daß die Unterschiede hier deutlich gemäßigter ausfielen als in der vergleichbaren Untersuchungsgruppe der deutschen akademischen Historikerschaft.47 Die Frage nach der Verteilung der Bekenntnisse in den einzelnen Fachbereichen ist für die Theologen aus naheliegenden Gründen schnell beantwortet. N u r während des Vormärz wurde hier die statuarische Begrenzung auf Lutheraner unter den nachwirkenden Einflüssen des aufklärerischen Rationalismus kurzzeitig in Frage gestellt. 1832 kam es zur Aufnahme eines Reformierten in die Fakultätsgemeinschaft. 48 Nachdem der erstarkende Neukonfessionalismus dieser Entwicklung alsbald einen Riegel vorgeschoben hatte, siedelte man den Lehrstuhl für Reformierte Theologie, der 1847 für die Bedürfnisse der Pfälzer Unierten eingerichtet wurde, ausdrücklich »extra facultatem« an, wobei es bis 1970 blieb.49 Von den Theologen abgesehen, war die protestantische Vorherrschaft in der »Philosophischen Sektion« am stärksten (Tab. 6). Die Anteile der Protestanten von etwa 78 bis 85 Prozent respektive der Katholiken von 15 bis 22 Prozent stimmen in etwa mit denen überein, die Baumgarten für die Geisteswissen-

45 Prozentangaben hier bezogen auf die Summe aller einer Konfession zugehörigen Personen, die nach 1810 - ggf. erstmals - zu Erlanger Ordinarien ernannt wurden und für die der Beruf des Vaters ermittelt werden konnte. In absoluten Zahlen: Protestanten (Lutheraner und Reformierte zusammengenommen): 189; Katholiken: 49; fehlende Werte: 21. 46 Als eher universitätsfern definiert hier Vaterberufe, die unten, Kap. 2.3.1., Tab. 7 - 1 0 , unter den N u m m e r n 13-23 aufgeführt werden; zur schichtenspezifischen Zuordnung siehe ebenfalls Kap. 2.3.1. 47 Vgl. Weber, W., Priester der Klio, S. 89-91; zum soziokulturellen Rückstand des damaligen Katholizismus allgemein: Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 3, S. 394-396, S. 1190f.; Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866-1918, S. 444-451. 48 Isaac Rust (BA 46); zu den näheren Umständen vgl. Simon, S. 55f.; zur vorübergehenden konfessionellen Indifferenz der Erlanger Theologenschaft vgl. Hein, S. 37. 49 Es handelte sich in der Abfolge der Lehrstuhlinhaber u m die Ordinarien Ebrard, Herzog, Sieffert, Usteri und K. Müller (BA 10, 22, 50, 54,37); zur Lehrstuhlgründung und zum neukonfessionalistischen Umschlag in der Fakultät vgl. Haas, S. 28-34; Beyschlag, S. 207-212.

89

schaftler an den protestantischen Universitäten Gießen, Heidelberg, Göttingen u n d Berlin ermittelt hat. 50

Tab. 6: Konfessionelle Z u s a m m e n s e t z u n g nach Fachbereichen 5 1 Ev.-hith. 1811-1848 Jur. Fak. Med. Fak. »Phil. Sek.« »Nat. Sek.«

9 8 10 5

(60,0) (66,7) (76,9) (71,4)

1849-1890 Jur. Fak. Med. Fak. »Phil. Sek.« »Nat. Sek.«

6 11 14 9

(66,7) (61,1) (77,8) (50,0)

1891-1933 Jur. Fak. Med. Fak. »Phil. Sek.« »Nat. Sek.«

9 22 17 14

(69,2) (73,3) (70,8) (63,6)

Ev.-ref 2 1 1 1

(13,3) (8,3) (7,7) (14,3)

1 (5,6) 4 (22,2)

1 (3,3) 2 (8,3)

Rath. 4 3 2 1

(26,7) (25,0) (15,4) (14,3)

3 4 4 4

(33,3) (22,2) (22,2) (22,2)

4 7 5 8

(30,8) (23,3) (20,8) (36,4)

Mosaisch

ohne Konf.

-

1 (5,6)

-

1

(5,6)

1 (5,6)

-

Quelle: Vgl. Seite 66, Fußnote 6.

D a ß die zwei J u d e n sowie die eine konfessionslose Person in den eher b e k e n n t nisneutralen Fachgebieten der M a t h e m a t i k u n d Medizin zu O r d i n a r i e n aufstiegen, überrascht nicht. Deshalb von konfessioneller O f f e n h e i t zu sprechen, wäre indes nicht n u r angesichts der zahlenmäßigen Außenseiterposition verfehlt, sondern auch a u f g r u n d der Tatsache, daß nach 1888 wieder eine Begrenz u n g auf die drei großen christlichen Bekenntnisse erfolgte. I m m e r h i n gewann e n aber bei d e n N a t u r w i s s e n s c h a f t l e r n die Katholiken z u m i n d e s t ab der J a h r h u n d e r t w e n d e größere Anteile hinzu. Als relativ o f f e n f ü r Personen katholischer H e r k u n f t erwiesen sich bereits seit d e m Vormärz auch die Rechtswissenschaften. Was einzelne Disziplinen angeht, fällt auf, daß es in der Medizin eine Art protestantisches M o n o p o l auf die klinischen Zentralfächer Innere M e d i z i n u n d Chirurgie gab. N u r e i n e m Katholiken (gegenüber n e u n Protestanten) ge50 Vgl. Baumgarten, Professoren, S. 116. 51 Die Tabelle gibt die Werte in absoluten Z a h l e n wieder; die in K l a m m e r n beigefügten P r o zentwerte beziehen sich jeweils auf die Z e i l e n s u m m e .

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lang es nach 1848, in diesen Bereich vorzurücken. Wesentlich erfolgreicher waren konfessionelle Außenseiter dagegen in den medizinischen Grundlagenund Spezialfächern. Der bekenntnislose Isidior Rosenthal lehrte Physiologie; allein vier von elf katholischen Medizinern, die nach 1848 berufen wurden, waren Anatomen; zwei arbeiteten als Augenheilkundler und je einer als Pathologe und Pharmakologe. In der »Philosophischen Sektion« waren noch am ehesten die Archäologie (Protestanten: 2; Katholiken: 2 nach 1848 berufene Ordinarien) und die Nationalökonomie (0 : 2) konfessionell offen, während der Protestantismus in der Philosophie (6 : 1), der Geschichte ( 9 : 1 ) und den philologischen Disziplinen (16:3) nahezu uneingeschränkt herrschte. Das Ubergewicht des Protestantismus, speziell des Luthertums, ist auch daran erkennbar, daß in den wenigen Fällen, bei denen es zu Konfessionswechseln kam, meist das evangelisch-lutherische Bekenntnis angenommen wurde. Bei drei Personen erfolgte dieser Ubertritt aus der jüdischen Religionsgemeinschaft, und zwar vor ihrer Erlanger Berufung. 52 Die Konversion aus den Reihen der beiden anderen großen christlichen Konfessionen, zu der es in ebenfalls drei Fällen kam, spielte sich indes in der Regel erst einige Zeit nach der Ankunft in Erlangen ab, womit der spezifische Einfluß des lutherischen Milieus unterstrichen wird.53 Ähnlich läßt sich das Verhalten des Anatomen Joseph Gerlach sowie des Nationalökonomen Franz Makowiczka deuten, die beide nach dem Ersten Vatikanischen Konzil von der römisch-katholischen zur altkatholischen Gemeinde Erlangens übertraten. 54 Der einzige Austritt aus der evangelischlutherischen Kirche war der des Theologen Karl Müller, der 1892 den Lehrstuhl für Reformierte Theologie übernahm. Die Konversion des reformiert getauften Indogermanisten Julius von Negelein zum Buddhismus ist wohl als skurrile Ausnahmeerscheinung einzustufen. 55

2.3. Soziale H e r k u n f t Wenn die moderne Soziologie die Sozialisationsbedingtheit allgemein-kultureller und kognitiver Kompetenzen betont, ordnet sie dabei den Einflüssen des Elternhauses eine entscheidende prädisponierende Wirkung zu.56 In der Fami52 D e r Staatsrechtler Stahl, der Kliniker Canstatt u n d der Mathematiker G o r d a n (BA119,128, 236). 53 D e r evangelisch-reformierte Naturgeschichtler C . v. R a u m e r (BA302), der 1827 sein E r langer A m t antrat, wechselte 1835 zur lutherischen Konfession, der Kriminalrecht lehrende Katholik Schmidtlein ( B A I 13), Erlanger O r d i n a r i u s seit 1834, im Jahre 1845. Das genaue D a t u m , an d e m der Botaniker Reeß (BA 304), getaufter Katholik, konvertierte, ließ sich nicht ermitteln. 54 BA 140, 276; vgl. Wendehorst, Geschichte, S. 131. 55 In e i n e m Schreiben an d e n Rektor v o m 15.9.1932. Personalakt v. Negelein (BA 285). 56 Vgl. Bourdieu, Die feinen Unterschiede, S. 17-27.

91

lie wird nicht nur Wissen weitergegeben, sondern auch normativ imprägniert; hier finden grundlegende Weichenstellungen für spätere Verkehrskreise und ganz allgemein für die Gestaltung des eigenen Lebensstiles statt. Als Indikator, der im Hinblick auf diese wichtige Sozialisationsinstanz am besten operationalisierbar ist, hat sich der Beruf des Vaters durchgesetzt. Im Gegensatz zu den bislang behandelten Themenkomplexen liegen hierzu auch schon einschlägige Abhandlungen in größerer Zahl vor.57 Das soziale Herkunftsmilieu der Erlanger Ordinarien wies im 18. Jahrhundert (Tab. 7) eine mehr als deutliche Konzentration auf das akademisch gebildete Beamtentum (Kat. 1-6) auf Insgesamt machte es fast drei Viertel der Väter aus, zusammen mit den Offizieren sowie den sonstigen Beamten (Kat. 16, 21, 22), also allen übrigen Staats- und Kirchendienern, sogar fast achtzig Prozent. Innerhalb dieses Sektors dominierten vor allem die akademischen Verwaltungsbeamten, erst in relativ weitem Abstand gefolgt von Geistlichen und Hochschullehrern. Angesichts von 13,2 Prozent Hochschullehrern wird man daher kaum von einer übermäßig signifikanten Selbstrekrutierungsrate sprechen können. Als nennenswert große Berufsgruppe des gewerblichen Bereiches (Kat. 9 - 1 3 , 1 8 - 1 9 ) , dessen Anteil insgesamt nur knapp 21 Prozent betrug, sticht allein das Handwerkertum hervor. Bemerkenswert ist darüber hinaus auch das völlige Fehlen des Agrarsektors, wie überhaupt festgehalten werden kann, daß die soziale Herkunft der Professoren quer zur Schichtung der damaligen deutschen Bevölkerung lag.58

57 Wiederum weitgehend vorbildlich durch die klärende Zusammenfassung epistemologischer und methodischer Gesichtspunkte sowie in bezug auf die Durchführung einer empirischhistorischen Analyse: Weber, W., Priester der Klio, S. 32-83. Als gut erforscht kann die soziale Herkunft der deutschen Hochschullehrerschaft im Zeitraum 1864 bis 1954 gelten. Sie fußt auf der umfassenden statistischen Erhebung: Ferber, Sp.l77f. Dabei heben sich die Darstellungen von Kaelble, Soziale Mobilität, insbes. S. 46-51, sowie von Ringer, Das gesellschaftliche Profil, dadurch hervor, daß sie die Herkunft von Professoren vor dem Hintergrund des zeitgenössischen Erwerbstätigenprofils der Gesamtbevölkerung schildern. Ergänzende Ergebnisse zur Hochschullehrerschaft einzelner Universitäten bzw. Staaten bieten für Zeit ab etwa 1850: Jansen, S. 21f. (Heidelberg); Gundler, S. 70-73 ( T H Braunschweig); Schmidt, A., S. 82-97 (Großherzogtum Baden); für die Zeit vor der Mitte des 19. Jahrhunderts neuerdings für die Geistes- und Naturwissenschaftler der Universitäten Gießen, Kiel, Heidelberg, Göttingen, München und Berlin: Baumgarten, Professoren, S. 110-290; daneben auch für Gießen: Dies., Vom Gelehrten, S. 36-152; für IngolstadtLandshut-München: Müller, für Erlangen zum Zeitraum 1848 bis 1912 Schätzungen bietend: Wendehorst, Geschichte, S. 129. 58 Uber diese liegen freilich nur ungefähre Schätzungen vor. Nach einer Aufstellung, die an den Begriffen der Ständegesellschaft orientiert ist, machten die unterständischen und bäuerlichen Schichten an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert 84 Prozent der Bevölkerung aus. Wies demgegenüber das Bürgertum mit insgesamt nur 15 Prozent ohnehin schon ein demographisch vergleichsweise geringes Gewicht auf, bezifferte sich der Anteil der bürgerlichen Oberschicht, zu dem neben Patriziern und sehr vermögenden Stadteinwohnern auch die akademisch gebildeten Staatsbeamten und mithin das weitaus größte Rekrutierungsreservoir der Erlanger Ordinarien gehörte, auf nur vier Prozent. Vgl. Kaufltold, S. 540-547.

92

Tab. 7 : B e r u f d e s V a t e r s 1 7 4 3 - 1 8 1 0 5 9

Vaterberuf

Gesamt

Theol.

Jur.

2 5 (32,9)

5 (31,3)

10 (47,6)

Med.

»Phil.«

»Nat.«

1. Akad. B e a m t e r in Verwalt./Reg. 3.

Hochschullehrer 10 (13,2)

4.

Lehrer (höhere Schule)

4

(5,3)

5 (23,8)

3 (23,1) 1 (7,7)

-

2

(9,5)

1

2

(9,5)

4 (25,0)

(7,7)

3 (20,0)

4 (36,4)

1

(6,7)

2 (18,2)

1

(6,7)

-

Geistlicher

6.

Leibarzt

2

(2,6)

9.

Prakt. Arzt

2

(2,6)

-

10. Apotheker

2

(2,6)

-

13. Großhändler

1

(1,3)

-

1

(4,8)

-

-

-

16. O f f i z i e r

1

(1,3)

-

1

(4,8)

-

-

-

18. Kaufmann/Wirt

2 (2,6) 9(11,8)

1 (6,3) 4(25,0)

2

(2,6)

1

2

(2,6)

-

3 (20,0)

3 (27,3)

5.

19. H a n d w e r k e r

14 (18,4)

(6,3)

1

-

2 (15,4) 1 (7,7)

-

2 (15,4)

-

-

2 (15,4)

-

-

-

-

1

(7,7)

-

-

-

-

-

-

-

1

-

(9,1)

-

5 (33,3)

-

21. N i c h t a k a d . Beamter

(6,3)

-

1

(9,1)

22. Lehrer (niedere Schule) T O T A L ( = 100 %) Quelle:

76

-

16

21

13

2 (13,3) 15

-

11

Vgl. Seite 66, Fußnote 6.

59 Zur Tabellenanlage: Die unregelmäßige Abfolge der Kategorienummern erklärt sich daraus, daß einerseits Vaterberufe, die erst in späteren Zeitabschnitten auftraten, in ihrem groben beruflichen Umfeld eingeordnet werden sollen, und andererseits die Einheitlichkeit der Numerierung aller Tabellen angestrebt wird (siehe unten, Tab. 8,9,10). Prozentwerte, die den absoluten Zahlen in Klammern beigefügt sind, beziehen sich jeweils auf die Summe der Spaltenwerte. Da der Vaterberuf in nur zwei von insgesamt 78 Fällen nicht zu ermitteln war, kann die statistische Aussagekraft als hinreichend gesichert gelten. Zur Behandlung der Berufsangaben: In den Fällen, in denen den Quellen mehrere verschiedene Vaterberufe zu entnehmen waren, wurde derjenige gewählt, der in die maßgebliche Phase der Ausbildungswahl der Untersuchungsperson (ca. 10. bis 25. Lebensjahr) fiel; konnte die zeitliche Abfolge der unterschiedlichen Berufe nicht ermittelt werden, fandjeweils der sozioökonomisch höher einzuschätzende Beruf Berücksichtigung. Unter der Kategorie Akademischer Beamter der Verwaltung/Regierung wurden auch Kommunal- und Finanzbeamte (nicht dagegen Justizbeamte) subsumiert, sofern sie ein akademisches Studium absolviert hatten; ansonsten erfolgte ihre Zuordnung in die Gruppe der nichtakademischen Beamten. Den Geistlichen, in der Regel Pfarrer, wurden die Konsistorialräte zugezählt, den akademisch gebildeten Lehrern an höheren Schulen die Schulräte. Die relativ unspezifische Berufsbezeichnung »Kaufmann«, die vor allem in späteren Zeitabschnitten häufiger begegnete, mußte, da in den meisten Fällen keine weiteren Angaben vorhanden waren, als Kategorie übernommen werden; lagen ergänzende Informationen vor (z. B. »kaufmännischer Angestellter« oder »Großhändler«), wurde entsprechend alternativ zugeordnet. 93

Die Theologische Fakultät zeigte eine deutlich überproportionale Offenheit für das nicht akademisch gebildete Bürgertum, besonders für die Handwerkerschaft. Neben den akademischen Verwaltungsbeamten, die in etwa dem Gesamtdurchschnitt entsprechend vertreten waren, nahm in der Gruppe des höheren Beamtentums die Geistlichkeit eine auffallend starke Stellung ein. Die Tatsache, daß der einzige Hochschullehrer unter den Vätern Theologe war, verstärkt den Eindruck einer starken Beziehung zum Berufsmilieu der Geistlichkeit. Ausgesprochen exklusiv wirkt das Sozialprofil der Juristen. Die nur zwei Nichtakademikersöhne aus ihren Reihen stammten aus einem eher privilegierten Milieu (Großhändler/Offizier). Innerhalb des akademischen Beamtentums besaßen die juristisch geschulten Verwaltungs- und Regierungsbeamten ein klares Übergewicht. Auch kann bei annähernd einem Viertel Hochschullehrersöhnen von einer signifikanten Selbstrekrutierungsrate gesprochen werden, vor allem, wenn man bedenkt, daß immerhin drei der fünf Betreffenden im Hause eines Rechtsprofessors aufwuchsen. Schwach waren Pfarrer und Gymnasiallehrer vertreten, in damaliger Zeit sozial und ökonomisch eher untergeordnete Mitglieder des akademischen Bürgertums. 60 Die soziale Herkunft der Mediziner war ebenfalls von akademischer Exklusivität geprägt. Innerhalb dieses Spektrums wies sie allerdings eine relativ weite Streuung auf. Bemerkenswert ist auch, daß der gewerbliche Sektor (Kat. 9,10) einen Anteil von 30,8 Prozent hatte. Eingeschränkt gehört das allerdings insofern, als - abgesehen von der noch eher handwerklich geprägten Tätigkeit des Apothekers - der Beruf des Praktischen Arztes seinerzeit nur wenige freiberuflichen Merkmale aufwies und noch stark in die Grenzen des ständischen Gesellschaftssystems eingebunden war.61 Wenn Leibärzte, praktische Arzte und Apotheker zusammen einen Anteil von annähernd vierzig Prozent ausmachten, zeigt sich darin vor allem eine Nähe zum berufsständischen Umfeld, wie sie schon bei Theologen und Juristen beobachtet werden konnte. Die Verhältnisse der Philosophischen Fakultät sind vor dem Hintergrund ihrer seinerzeit vorwiegend propädeutischen Funktion zu verstehen. Unter Betonung der Tatsache, daß die Messung von sozialer Mobilität anhand einer Berufsklassifikation überhaupt, besonders aber angesichts einer ständischen Gesellschaftsschichtung, wie sie damals noch die Berufsbilder überlagerte, lediglich als grobes heuristisches Hilfsinstrument anzusehen ist, muß doch der hervorstechende Charakter dieses Fachbereichs als Aufstiegsort universitätsferner und relativ unterprivilegierter Bevölkerungsgruppen angesprochen werden. Das traf besonders für die »Philosophische Sektion« zu. In ihr nahm das 60 Z u r relativ geringen Stellung u n d Besoldung v o n Pfarrern u n d Gymnasiallehrern vgl. McClelland, T h e G e r m a n experience, S. 43-45; Schmeiser, S. 161f.; Führ, S. 437-441. 61 Vgl. zu d e n Apothekern: McClelland, T h e G e r m a n experience, S. 52f.; zu den Ärzten: Huerkamp, Die preußisch-deutsche Ärzteschaft, S. 360-363.

94

nichtakademische Bürgertum mit 46,6 Prozent den breitesten Raum ein; allein ein Drittel ihrer Mitglieder entstammte dem Handwerk. Hier waren die beiden einzigen Ordinarien zu finden, deren Väter in einer Volksschule lehrten. Das eher niedrige soziale Herkunftsmilieu läßt sich auch an der internen Verteilung des akademischen Beamtentums ablesen: Geistlichkeit und Lehrerschaft waren stark präsent, während Verwaltungsbeamte und Hochschullehrer deutlich unter dem Schnitt blieben. Als exklusiver erwies sich dagegen die soziale Herkunft der Mathematiker und Naturwissenschaftler. In ihren Kreis fand lediglich ein einziger Ordinarius aus nichtakademischen Hause Eingang, und höhere Verwaltungsbeamte sowie Hochschullehrer waren sogar leicht überrepräsentiert. Bezieht man überdies die Disziplinen der Hochschullehrer mit ein - beides waren Mathematiker und zählt den einen Leibarzt unter den Vätern dazu (insgesamt 27,3 Prozent), ergibt sich auch hier ein relativ fachaffines, berufsständisches Aufwuchsmilieu, das allerdings hinter den Werten der Mediziner und vor allem der Rechtswissenschaftler zurückblieb. Insgesamt ist die weitgehende Begrenzung des sozialen Herkunftsmilieus auf die bürgerlichen Sphären der akademisch gebildeten Staats- und Kirchendiener festzuhalten. Das hofnahe, in die Amtshierarchie integrierte Verwaltungsbeamtentum dominierte eindeutig. In größerer Zahl gelang allenfalls dem Handwerksbürgertum - und zwar ausschließlich in der Theologischen und der Philosophischen Fakultät - das Eindringen in diese geschlossene Gesellschaft, die neben dem Faktor der Hoforientierung auch noch stark berufsständischkorporative Züge aufwies. Vergleichbare Erhebungen liegen nur für die Universität Ingolstadt vor. Die altbayerische Landesuniversität erweist sich bei einer Gegenüberstellung in allen Fachbereichen als sehr viel offener für Söhne aus nichtakademischen Elternhäusern; deren Anteile in der Theologischen und Philosophischen Fakultät lagen dort, bereinigt um den Faktor der fehlenden Werte, um über zwanzig bzw. über dreißig Prozent höher. Auch war in Ingolstadt das Bauerntum in allen Fakultäten mit deutlich über zehn Prozent vertreten. Einzig die Medizinische Fakultät erreichte mit etwa siebzig Prozent Vätern aus der Akademiker- und Beamtenschaft einen Wert, der sich den Erlanger Verhältnissen einigermaßen, wenn auch bei weitem nicht völlig annäherte. 62 Daraus generell eine besonders exklusive Zusammensetzung der Erlanger Hochschullehrerschaft abzuleiten, wäre indes angesichts der Spezifik Ingolstadts, zum Beispiel seine sehr viel ältere und katholisch-jesuitische Tradition, voreilig. 62 Z a h l e n f ü r den Z e i t r a u m 1773-1800 nach: Müller, S. 316. I m Fall der Juristischen Fakultät ließ die mangelhafte Ingolstädter Datenlage einen aussagekräftigen Vergleich nicht zu; eine G e genüberstellung mit d e n zu M a r b u r g vorgelegten Ergebnissen von Niebuhr, S. 46f., erschien w e gen des d o r t sehr viel weiter gesteckten, nicht weiter unterteilten Z e i t r a h m e n s (1653-1806) u n d der infolgedessen anders angelegten Berufskategorisierung nicht ratsam.

95

Das Herkunftsmilieu der Erlanger Ordinarien des Vormärz war gegenüber der vorangegangenen Epoche eher von Kontinuität als von Wandel geprägt (Tab. 8). Die Berufsgruppe des akademischen Beamtentums (Kat. 1-7) erreichte mit insgesamt 73,3 Prozent fast exakt den gleichen Stand wie im Zeitraum 1743 bis 1810. Es ergab sich aber intern insofern eine Verschiebung, als die erstmals auftretenden Richtersöhne ihren Einfluß vor allem auf Kosten des höheren Verwaltungsbeamtentums geltend machten. Beim näheren Blick auf die Berufungssequenz erweist sich, daß der Zustrom dieser neuen Gruppe erst nach 1825 einsetzte, also in den letzten zwei Dritteln des Zeitabschnittes einen um so höheren Anteil, etwa 15 Prozent, ausmachte; dementsprechend verlor ab diesem Zeitpunkt nicht nur der Nachwuchs höherer Verwaltungsbeamter noch etwas stärker, um sich bei ebenfalls etwa 15 Prozent einzupendeln, sondern es ging vor allem auch der Anteil der Hochschullehrersöhne, der bis 1825 mit etwa einem Viertel sehr bemerkenswert gewesen war, auf unter zehn Prozent zurück. Pfarrersöhne waren jetzt mit knappem Vorsprung die größte Gruppe, Söhne von Gymnasiallehrern, Leib- und Amtsärzten nahmen weiterhin eine eher unbedeutende Position ein. Aus dem nichtakademischen Beamtentum (inklusive Volksschullehrer) wurde überhaupt nicht mehr rekrutiert. Auch der gewerbliche Sektor (Kat. 9-14, 18-19) blieb mit zwanzig Prozent fast genau in seiner alten Größenordnung. Während hier das >freiberufliche< Akademikertum mit nur einem praktischen Arzt keine große Rolle spielte, konnte der kaufmännisch->industrielle< Bereich (Kat. 13-14,18) seine Position geringfügig, mit etwas stärkeren Anteilen seit den zwanziger Jahren des 19. Jahrhundert, auf 6,7 Prozent ausbauen. Dagegen ging der anfangs mit fast zwanzig Prozent beachtliche Anteil des Handwerkertums vor der Märzrevolution auf unter zwanzig Prozent zurück. Erstmals war auch der Agrarsektor (Kat. 17,23) vertreten, allerdings nur mit bescheidenen 6,7 Prozent. Insgesamt blieben damit wiederum die größten Gruppen der Erwerbsbevölkerung bei weitem unterrepräsentiert. 63 Die Theologische Fakultät wahrte ihre relativ große soziale Offenheit. Die Hälfte ihrer Mitglieder entstammten einem nichtakademischen Elternhaus, allein fünf davon aus einem sozial und ökonomisch eher unterprivilegierten Milieu. Abgesehen davon fällt die herausragende Stellung der Pfarrerssöhne auf, denen nun innerhalb der Gruppe der Akademiker quasi eine Monopolstellung zukam. Fächerwahl und berufliche Tätigkeit des Vaters blieben eng verknüpft. Ahnliches gilt auch für die Juristen. Zählt man bei ihnen die höheren Verwaltungsbeamten, Richter sowie die zwei Hochschullehrer unter den Vätern, die Recht lehrten, dem berufsnahen Umfeld des Faches zu, machte dieses

63 So betrug 1849 im Durchschnitt der deutschen Staaten ohne Österreich der Anteil der landwirtschaftlich Tätigen an der Gesamtzahl der Beschäftigten 56,7 Prozent, der in Industrie, Handwerk, Bergbau und Verkehr Tätigen 24,5 Prozent. Vgl. Conze, Sozialgeschichte, S. 437.

96

Tab. 8: Beruf des Vaters 1811-1848 64

Vaterberaf

Gesamt

1. Akad. Beamter in Verwalt./Reg. 11 (18,3) 2. Richter 6 (10,0) 3. Hochschullehrer 9 (15,0) 4. Lehrer (höhere Schule) 3 (5,0) 12 (20,0) 5. Geistlicher 6. Leibarzt 1 (1,7) 7. Bezirks-/ Militärarzt 2 (3,3) 9. Prakt. Arzt 1 (1,7) 13. Großhändler 2 (3,3) 14. Fabrikant 1 (1,7) 17. Gutsbesitzer 1 (1,7) 18. Kaufmann/Wirt 1 (1,7) 19. Handwerker 7(11,7) 23. Bauer 3 (5,0) T O T A L ( = 100 %)

60

Theol. -

1

(8,3) -

-

5(41,7)

Jur. 3 (20,0)

3 (23,1)

2 (13,3) 4(26,7)

1 (7,7) 2(15,4)

1 1

1 1 1

(7,7) (7,7) (7,7)

1 1

(7,7) (7,7)

-

1 (6,7)

-

-

1 (8,3) -

1 (6,7) 1 (6,7)

-

-

1 (8,3) 3 (25,0) 1

(6,7) (6,7) -

-

(8,3) 12

Med.

-

1

15

1 (7,7) 3(23,1)

2 (28,6) 1 (14,3) 1 (14,3) -

2 (28,6) -

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

(6,7)

3(23,1) 1 (7,7) 2(15,4)

»Nat.«

-

2 (15,4)

-

»Phil.«

-

13

-

-

1 (14,3) -

2(15,4)

-

1 (7,7)

-

13

7

Quelle: Vgl. Seite 66, Fußnote 6.

immerhin 46,7 Prozent aus. Auffallig ist wieder die sozioökonomische Exklusivität der Rechtswissenschaftler. Pfarrer- und Lehrerberuf blieben schwach vertreten, unter den universitätsfernen Berufsgruppen war das Großgewerbe dominierend. Berufsnah blieb auch die Herkunft der Medizinordinarien. Drei Ärzte und ein Medizinprofessor unter den Vätern ergaben einen Anteil von 30,8 Prozent. In die Fakultät, in der nun die Sphäre des höheren Staatsdienstes ein größeres Gewicht erhielt - nur einer der Arztväter war >freiberuflich< tätig - , vermochten lediglich noch zwei Handwerkersöhne aufzusteigen. Bedeutungszugewinn und Autonomisierung der Philosophischen Fakultät im 19. Jahrhundert gingen offenbar auch mit der Anhebung sozialer Hürden einher. Gegenüber dem 18. Jahrhundert zeigte sich das Herkunftsprofil der »Philosophischen Sektion« deutlich akademisiert. Die Rekrutierung von Personen aus sozial und ökonomisch vergleichsweise unterprivilegierten Sozialmilieus reduzierte sich praktisch u m die Hälfte. Allerdings kann im Vergleich mit 64 Die statistische Aussagekraft kann angesichts nur eines nicht ermittelten Vaterberufes (bei insgesamt 61 Fällen) als gesichert gelten. Ergänzend zur Datenbehandlung: Der Kategorie der Gutsbesitzer wurden die Domänenpächter zugezählt.

97

Juristen und Medizinern die etwas stärkere Rolle des Pfarrhauses hervorgehoben werden. Unter zusätzlicher Berücksichtigung der zwei Hochschullehrer beides Theologen - , war hier eine klare Dominanz des protestantisch-theologischen Milieus spürbar.65 Bei den Mathematikern und Naturwissenschaftlern zeigte sich wie schon in der vorangegangenen Epoche eine weitgehende Beschränkung auf das akademische Beamtentum; eine differenzierte Interpretation wird allerdings durch sehr geringe Fallzahlen erschwert. Muß insgesamt die Fortwirkung eines geschlossenen, akademisch-staatszentrierten Herkunftsmilieus wie auch einer berufsständischen Ausrichtung der Fakultäten konstatiert werden, zeigen sich doch auch einige Anzeichen der Auflockerung. Zu veranschlagen ist dabei auch ein nur unvollkommen zu fassendes Moment, nämlich mögliche Veränderungen in den Bedeutungsgehalten der Berufsgruppen. Das Aufwachsen im Hause eines Verwaltungsbeamten oder Pfarrers konnte sich im Vormärz, zum Beispiel durch Rezeption und Weitergabe der neuhumanistischen Bildungsauffassung, ganz anders gestalten als im 18. Jahrhundert. Aber auch unabhängig davon muß auffallen, daß das hof- und amtshierarchisch stark eingebundene höhere Verwaltungsbeamtentum Anteile an akademische Berufe verlor, die eher universalen Bildungs-, Wissenschafts- und Rechtsprinzipien verpflichtet waren (Richter, Hochschullehrer, Gymnasiallehrer, Pfarrer). Als zukunftsweisend sollte sich daneben der leichte Zugewinn des Gewerbesektors erweisen. Da gleichzeitig indes der Anteil der nichtakademischen Beamtenschaft auf Null zurückging, kann vermutet werden, daß die Quote schichtenspezifischer Aufstiegsmobilität sehr gering ausfiel. Legt man das Modell Hartmut Kaelbles66 zugrunde, gelang 1811 bis 1848 lediglich elf Personen (18,3 Prozent) aus der Mittelschicht (Kat. 18-19, 23) der Aufstieg in den Professorenberuf; die Unterschicht blieb ganz außen vor. Die beginnende Rezeption und Wirksamkeit der humboldtschen Universitäts- und Wissenschaftsidee, die ja im Prinzip sozialnivellierend angelegt war, ging also in Erlangen nicht mit einer entsprechenden Öffnung der Hochschule einher; gerade am Beispiel der »Philosophischen Sektion« wird das deutlich. Zumindest in Theologie, Rechtswissenschaften und Medizin war darüber hinaus die Nähe des Elternhauses zum berufsständischen Umfeld des Fachbereiches ein weiterhin wirksamer Selektionsfaktor.

65 D e r T e n d e n z nach s t i m m t das m i t d e n Beobachtungen Baumgartens über die Geisteswissenschaftler an protestantischen Universitäten überein u n d läßt sich u.a. w o h l auf eine U b e r f ü l lungskrise geistlicher A m t e r am E n d e des 18. J a h r h u n d e r t s z u r ü c k f ü h r e n . Vgl. Baumgarten, Professoren, S. llOf. 66 Vgl. Kaelble, Soziale Mobilität, S. 43—45, w o auch bezüglich der methodischen Problematik bzw. der erkenntnistheoretischen G r e n z e n einer solchen Vorgehensweise das N o t w e n d i g e ausgef ü h r t wird; die A n w e n d u n g dieses f ü r die Zeit der Industrialisierung e n t w o r f e n e n Modells auf den Zeitabschnitt 1743 bis 1810 erschien schon wegen der damals noch ubiquitären U b e r l a g e r u n g des Berufs- d u r c h das Ständesystem nicht ratsam.

98

Beim Vergleich mit den Daten, die zu deutschen Geschichtsprofessoren vorliegen, zeigt sich eine auffallende Offenheit der historischen Disziplin. Gegenüber den von Weber anhand desselben Modells zugeordneten 49 Prozent Aufsteigern aus den Mittel- und Unterschichten nehmen sich die entsprechenden 18,3 Prozent in Erlangen so bescheiden aus, daß sich der Unterschied nicht einfach mit dem Hinweis auf die leicht differierende Segmentierung beiseite schieben läßt. Die Zuordnung zu einzelnen Berufssektoren erbringt ebenfalls ein signifikantes Auseinanderfallen der Ergebnisse. Während der Agrarsektor bei beiden Gruppen eine eher unbedeutende Rolle spielte (Grundgesamtheit deutsche Historiker: 2,9 Prozent; Grundgesamtheit Erlanger Ordinarien: 6,6 Prozent), machte der gewerblich->industrielle< Sektor bei den deutschen Historikern mit 44,1 Prozent mehr als das Doppelte aus als bei den Erlanger Ordinarien (20 Prozent). Entsprechend deutlich war deren Vorsprung im Sektor des Staats- und Kirchendienstes (Deutsche Historiker: 52,9 Prozent; Erlanger Ordinarien: 73,3 Prozent). 67 Von Interesse sind daneben die Daten, die zu den Universitäten Landshut (1800-1826) und München (1826-1849) vorliegen. Abgesehen von der dort jeweils um gut 15 bis 30 Prozent höheren Rekrutierung aus eher unterprivilegierten Teilen der Bevölkerung (Handwerker, Bauern, Kaufleute) zeigen sich doch auch einige Parallelentwicklungen zu Erlangen. So ist in Landshut und München eine deutliche Stärkung des Anteils an Akademiker- und Beamtensöhnen in der Philosophischen Fakultät bei gleichzeitig weiterhin großer sozialer Durchlässigkeit des theologischen Fachbereichs erkennbar. Die Juristen zeigten an der altbayerischen Landesuniversität eine ähnliche Exklusivität wie in Erlangen, während die deutliche Öffnung der dortigen Mediziner für das Handwerkertum, die allerdings in der Münchner Phase wieder stark zurückgenommen wurde, an der fränkischen Hochschule keine Nachahmung fand. 68 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Tab. 9) bewies die Gruppe des akademisch gebildeten Beamtentums (Kat. 1-8) mit insgesamt 57,9 Prozent der Vaterberufe erneut ihre dominierende Position, wenngleich ihr Anteil gegenüber dem Vormärz um etwa 15 Prozent zurückging. In kleineren Zeitabschnitten betrachtet, bewahrte sie bis ungefähr zur Reichsgründung einen Anteil von gut sechzig Prozent, um dann bis 1890 auf gut fünfzig Prozent abzusinken. Dieser leichte Abwärtstrend traf weniger die höheren Verwaltungsbeamten, Hochschullehrer, Gymnasiallehrer und beamteten Arzte als die Richter und vor allem die Geistlichkeit. Zusammen mit der nichtakademischen Beamtenschaft und dem Offiziersstand (Kat. 16,21-22) stellte der Sektor

67 Vgl. Weber, W., Priester der Klio, S. 73, S. 76. Die dortigen Daten der Schichtungsanalyse gelten fiir den Zeitraum der Ersternennungsjahre 1800 bis 1860. Zur Berechnung der Prozentwerte der Sektoren wurden die Angaben zu den Ersternennungsjahren 1811 bis 1850 entnommen. 68 Vgl. Müller, S. 317.

99

des Staats- und Kirchendienstes immer noch 63,6 Prozent der Erlanger Ordinarienväter, also einen Anteil, der über sein Gewicht in der Erwerbsbevölkerung weit hinausging. 69 Was die akademische Beamtenschaft prozentual verlor, wurde vom gewerblich-industriellen Sektor (Kat. 9-14, 18-19) übernommen. Dessen Nachwuchs machte nunmehr 32,9 Prozent aus. Zeitlich gestaffelt lag sein Anteil vor 1871 bei etwa einem Viertel, danach bei etwa vierzig Prozent. Intern erwiesen sich die >freien< akademischen Berufe (Kat. 9-12) als Gewinner, da sie mit nun insgesamt 9,1 Prozent aus ihrer unbedeutenden Stellung herausrückten. Ihre Einordnung in den gewerblichen Sektor muß indes insofern mit einem gewissen Vorbehalt versehen werden, als die klassischen freien Berufe des praktischen Arztes, Rechtsanwaltes und Notars mindestens bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein einen beamtenähnlichen Status besaßen. Die wirksamen Ausbildungs-, Kontroll- und Richtlinienkompetenzen des Staates gingen hier mit einer Grundausrichtung der Berufsinhaber einher, die den Kräften freier Marktbeziehungen mißtrauisch gegenüberstand und regulierende Maßnahmen des Staates durchaus befürwortete. 70 Beim Aufwuchsmilieu ist demnach in den betreffenden Fällen von einer Situation auszugehen, die der des akademischen Beamtentums ähnlich war. Auch die kaufmännischen und industriellen Vaterberufe (Kat. 13-14,18) verzeichneten einen Z u wachs auf insgesamt 20,5 Prozent. Dagegen setzte sich der Bedeutungsschwund des Handwerkertums fort. Der Agrarsektor (Kat. 17,23) blieb mit 3,4 Prozent in untergeordneter Position. In der Theologischen Fakultät bestätigte sich die Tradition einer relativ universitätsfernen Herkunft. Allerdings ging der Anteil der entsprechend einzustufenden Elternhäuser (Kat. 13,17, 18-19) gegenüber dem Vormärz deutlich auf 31,3 Prozent zurück. Gestiegen war daneben die soziale Exklusivität, denn es gelang nur noch drei Söhnen (18,8 Prozent) aus den bürgerlichen Mittelschichten des kaufmännischen und handwerklichen Bereichs, in das theologische Hochschullehramt aufzusteigen. Dagegen wuchs der Anteil des akademischen Beamtentums auf 62,5 Prozent an. Gegen den allgemeinen Trend blieb dabei die Quote der Pfarrerssöhne auffällig hoch. Zählt man ihnen den einen Hochschullehrersohn hinzu, dessen Vater Theologe war, so wuchsen beachtliche 43,8 Prozent in einem sehr fachaffinen Umfeld auf.

69 Vergleichswerte zur deutschen Erwerbsstatistik: Ringer, Das gesellschaftliche Profil, S. 97f. 70 Vgl. Huerkamp, Die preußisch-deutsche Ärzteschaft, S. 379; Siegrist, S. 307-313.

100

Tab. 9: B e r u f des Vaters 1849-1890 7 1

Vaterberuf

Gesamt

1. Akad. Beamter in Verwalt./Reg. 14 (15,9) 2. Richter 4 (4,5) 3. Hochschullehrer 12 (13,6) 4. Lehrer (höhere Schule) 5 (5,7) 5. Geistlicher 10(11,4) 7. Bezirks-/ Militärarzt 5 (5,7) 1 (1,1) 8. Techn. Beamter 9. Prakt. Arzt 4 (4,5) 11. Rechtsanwalt 3 (3,4) 12. Privatgelehrter 1 (1,1) 13. Großhändler 6 (6,8) 14. Fabrikant 5 (5,7) 16. Offizier 1 (1,1) 17. Gutsbesitzer 1 (1,1) 18. Kaufmann/Wirt 7 (8,0) 19. Handwerker 3 (3,4) 21. Nichtakad. Beamter 3 (3,4) 22. Lehrer (niedere Schule) 1 (1,1) 23. Bauer 2 (2,2) TOTAL ( = 1 0 0 % )

88

Theol. 1 (6,3) 1 (6,3) 1 (6,3) 1 (6,3) 6 (37,5) -

1 (6,3) -

1 (6,3)

Jur. 4 (36,4) 1 (9,1) 1 (9,1) -

-

1 (9,1) 2(18,2) -

1 (9,1)

Med.

5 (23,8) 1 (4,8) 3(14,3)

2 (10,5)

1 (4,8) 2 (9,5)

2 (9,5) 2 (9,5)

1 (5,3)

3 (14,3) -

2 1 1 2

1 (4,8)

-

-

-

-

-

-

16

-

(9,5) (4,8) (4,8) (9,5)

-

2 (9,5)

-

2 (9,5) -

-

-

3 (14,3) 1 (4,8)

-

-

1 (4,8)

-

-

-

1 (9,1) 11

»Nat.«

2 (9,5) 1 (4,8) 3 (14,3)

-

1 (6,3) 2(12,5) 1 (6,3)

»Phil.«

-

21

-

1 (4,8) 21

-

4(21,1)

-

2 (10,5) -

1 (5,3) -

2 (10,5) 2 (10,5) 1 (5,3) -

1 (5,3) 2 (10,5) 1 (5,3) -

19

Quelle: Vgl. Seite 66, Fußnote 6.

Ausgesprochen exklusiv blieb das Herkunftsprofil der Juristen. Daß hier kulturelles Kapital in der Regel nicht ausreichte, belegt auch der Umstand, das Pfarrer- und Gymnasiallehrersöhne völlig fehlten. Mit den akademischen Berufen der höheren Verwaltungsbeamten, Richter und Hochschullehrer wurde hingegen der Rekrutierungsbedarf größtenteils abgedeckt. Die leicht überdurch-

71 Die statistische Aussagekraft kann angesichts von nur zwei nicht ermittelten Vaterberufen (bei insgesamt 90 Fällen) als gesichert gelten. Ergänzend zur Datenbehandlung: Der Kategorie der Rechtsanwälte wurden die Notare zugezählt. Bei den Technischen Beamten handelt es sich um staatlich angestellte Personen mit akademischer Ingenieursausbildung, meist Bauräte oder leitende Bahnbedienstete.

101

schnittliche Offenheit für die >freien< akademischen Berufe ging mit einer nahezu völligen Ausgrenzung nichtakademischer Milieus einher. Im übrigen zeigten die Juristen erneut ein Sozialisationsmuster, das stark berufsständisch geprägt war. Die juristisch geschulten Verwaltungs- und Justizbeamten stellten allein 45,5 Prozent der Professorenväter. Weiterhin wenige Möglichkeiten zum sozialen Aufstieg bot auch die Medizinische Fakultät. Lediglich zwei Kaufmannssöhne (9,5 Prozent) sind hier zu verbuchen. Die Gruppe des akademischen Beamtentums war hingegen sehr heterogen zusammengesetzt. Darüber hinaus stellten sowohl die >freie< Akademikerschaft als auch das Großgewerbe überproportionale Anteile. Unter Summierung derjenigen Väter, die Arzte waren, sowie des einen, der an einer Hochschule Medizin lehrte, kommt man auch auf einen geringeren, wenngleich noch beachtlichen Anteil (28,6 Prozent) an Personen, die im nahen berufsständischen Umfeld aufgewachsen waren. In der »Philosophischen Sektion« wurde die Tradition einer relativ großen Offenheit für universitätsferne Herkunftsmilieus (Kat. 14,18-21,23), darunter auch viele Personen aus der Mittelschicht (Kat. 18-21, 23), wiederaufgenommen: Stattliche 38,1 Prozent sind den eher universitätsfernen Bereichen zuzuordnen, 28,6 Prozent der Mittelschicht. Interessanterweise erreichten sieben der insgesamt acht Aufsteiger ihre Position in den Fächern Philosophie, Klassische Philologie, Alte Geschichte und Archäologie, also eher dem klassisch-humanistischen Bildungskanon verpflichteten Disziplinen; nur einer entschied sich für die Nationalökonomie. In der Gruppe des akademischen Beamtentums, die insgesamt wieder etwas schwächer geworden war (61,9 Prozent), zeigte sich eine ähnlich vielfältige Verteilung wie im Vormärz. Dabei fällt auf, daß das höhere Verwaltungsbeamtentum und die Hochschullehrerschaft fünf von insgesamt sieben Fachvertreter der Mittleren und neueren Geschichte, der Neuphilologie (Germanistik, Romanistik, Anglistik) sowie der Nationalökonomie stellten, der Nachwuchs des Pfarrhauses und der Gymnasiallehrerschaft sich dagegen in drei von vier Fällen der Philosophie und Klassischen Philologie widmete. Grob gesehen spaltete sich die »Sektion« also in die von ihrem Herkunftsprofil her relativ exklusiven >modern-spezialisierten< Disziplinen und die diesbezüglich eher unterprivilegierten, aber bildungsbeflissenen >klassisch-allgemeinbildenden< Fächer auf Auch bei den Vertretern der mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächer ist eine deutliche Öffnung gegenüber universitätsfernen Herkunftsbereichen (Kat. 13-16,19-22) feststellbar. Der entsprechende Anteil von 47,1 Prozent ist sogar um einiges höher als bei Kollegen der Theologischen Fakultät und der »Philosophischen Sektion«. Was die Aufstiegsmöglichkeiten aus der bürgerlichen Mittelschicht (Kat. 19-22) angeht, blieben sie indes mit 21,1 Prozent ebenso deutlich hinter beiden zurück. Mit je zwei Hochschuldozenten der Mathematik und Physik, einem Gymnasiallehrer der Geographie sowie zwei 102

beamteten Ärzten (insgesamt 36,8 Prozent) zeigte die Gruppe des akademischen Beamtentums hier eine relativ große Nähe zum fachlich-beruflichen Umfeld. Bezeichnenderweise fehlten denn auch hier Pfarrer- und Richtersöhne völlig, und die höhere Verwaltungsbeamtenschaft war nur unterproportional vertreten. Es ist im übrigen interessant, daß sich der Nachwuchs der akademischen Beamtenschaft in sechs von neun Fällen den damals noch wenig anwendungsbezogenen Disziplinen Mathematik und Experimentalphysik zuwandte, das praxisnahe Fach Chemie dagegen völlig mied. Dieses rekrutierte sich mit zwei Fabrikanten-, einem Rechtsanwalts- und einem Offizierssohn zwar sozial exklusiv, aber eher staats- und universitätsfern. Die sozialen Aufsteiger aus der Mittelschicht erhielten ihre Chance zu drei Vierteln in eher forschungsintensiven, teils auch schon sehr anwendungsnahen Bereichen: Angewandte Chemie, Botanik und Zoologie. Obwohl Bewegung in die Zusammensetzung der Herkunftsmileus gekommen war, muß in der Gesamtbetrachtung vor allem das Maß an Kontinuität erstaunen, zumal vor dem Hintergrund der Industriellen Revolution, die sich zu gleicher Zeit vollzog. Das Ubergewicht des akademisch gebildeten Beamtentums wurde allenfalls in der Medizinischen und Philosophischen Fakultät sachte angetastet. Auch führte der nun etwas stärkere Ausbau der Lehrstuhlzahlen allenfalls zu einer leichten Erhöhung der sozialen Mobilität; die meisten neuen Stellen konnten aus dem Reservoir des gehobenen Bürgertums gedeckt werden. So blieb denn auch der Anteil sozialer Aufsteiger aus der Mittelschicht mit 18,2 Prozent fast exakt auf dem Stand des vorangegangenen Zeitraumes, und ein direkter Aufstieg aus dem Unterschichtenmilieu konnte nach wie vor nicht bewerkstelligt werden. Bei den Theologen machte sich schichtenspezifisch eine leichte Tendenz zur sozialen Abschließung bemerkbar, was von der Philosophischen Fakultät in etwa ausgeglichen wurde; während sich in der »Philosophischen Sektion« dabei eher die klassisch-humanistischen Fächer als Aufstiegsschleuse erwiesen, boten bei den Mathematikern und Naturwissenschaftlern vor allem die spezialisierten, praxisnahen Disziplinen eine ähnliche Chance. Rechtswissenschaft und Medizin behielten ihren ausgesprochen exklusiven Status. Bei anhaltend geringer Rekrutierung direkt aus der Hochschullehrerschaft spielte doch in den meisten Bereichen die Nähe des Vaterberufes zum beruflichen Umfeld des gewählten Faches nach wie vor eine große Rolle; ein wirklicher Bruch mit dem Herkommen familienbestimmter Berufsvererbung hatte noch nicht stattgefunden. Erstmals ist ein Vergleich mit Untersuchungsergebnissen zur deutschen Hochschullehrerschaft insgesamt möglich. Er ergibt, daß die Erlanger Verhältnisse in ihrer groben Entwicklung mit denen der deutschen Hochschulen in Einklang standen. Allerdings waren die Aufstiegsmöglichkeiten in Erlangen offenbar relativ gering. Der Q u o t e von etwa einem Drittel sozialer Aufsteiger, die sich aus den Zusammenstellungen Kaelbles und Ringers errechnen läßt, 103

standen an der fränkischen Hochschule nur 18,2 Prozent gegenüber.72 Zwar muß man aufgrund unterschiedlicher chronologischer Ansätze, biographischer Stichjahre oder Zuordnungs- und Abwägungsgesichtspunkte damit rechnen, daß derartige Vergleiche von Unschärfen nicht freizuhalten sind. Andererseits bestätigt aber auch ein Blick auf die Ergebnisse analoger Einzelstudien das relativ geschlossene Sozialprofil der fränkischen Hochschule. 73 Im Zeitabschnitt 1891 bis 1933 (Tab. 10) betrug der Anteil der akademisch gebildeten Beamtenschaft (Kat. 1-8) an den Vaterberufen immer noch beachtliche 41,7 Prozent; gegenüber der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bedeutete das allerdings noch einmal ein Absinken um mehr als 15 Prozentpunkte. Während die höheren Verwaltungsbeamten, Hochschullehrer, Geistlichen und beamteten Arzte die Verluste etwa gleichmäßig unter sich aufteilten, konnten die Gymnasiallehrer und Technischen Beamten ihre Position sogar leicht ausbauen; die Quote der Richter stabilisierte sich bei knapp fünf Prozent. Erstmals gewann die Gruppe der nichtakademischen Beamtenschaft (Kat. 21-22), bedingt vor allem durch die große Zahl an Volksschullehrersöhnen, merklich auf 8,9 Prozent hinzu. Zusammen mit dem weiterhin schwach repräsentierten Offiziersstand stellte der gesamte Sektor des Staats- und Kirchendienstes demnach immer noch deutlich überproportionale 52,7 Prozent der Erlanger Hochschullehrerväter. Einen erneuten Zuwachs auf 44,6 Prozent konnte der gewerblich-industrielle Sektor (Kat. 9-14,18-20) verbuchen. Diese Steigerung ging zum erheblichen Teil auf die >freien< akademischen Berufe (13,4 Prozent) und die neue Gruppe der Angestellten bzw. Privatbeamten (4,5 Prozent) zurück. In der Gruppe des gehobenen Wirtschaftsbürgertums (Kat. 13-14), das seine Stellung mit insgesamt 14,3 Prozent nur leicht verbesserte, dominierten nun eindeutig die Fabrikantensöhne. Kaufleute und Handwerker konnten ihre alte Position fast exakt halten. Insgesamt blieb der gewerblichindustrielle Sektor aber immer noch weit unterproportional vertreten. Gleiches gilt für den Agrarbereich (Kat. 23). In der Theologischen Fakultät stiegen sowohl die Anteile der eher universitätsfernen Elternhäuser (Kat. 14,18-20,22) als auch der Mittelschicht (Kat. 1820, 22) auf beachtliche 43,8 bzw. 37,5 Prozent. Neben den hier traditionell zahlreichen Kaufmanns- und Handwerkersöhnen gewann nun auch erstmals der Nachwuchs der unteren Beamtenschaft an Stärke. Dagegen verschwanden die Söhne >freier< Akademiker, die hier ohnehin nie bedeutend gewesen waren, völlig. In der Gruppe des akademischen Beamtentums, das leicht auf 56,3 Prozent schrumpfte, dominierte mit vier Söhnen des Pfarrhauses und einem

72 Vgl. Kaelble, Soziale Mobilität, S. 49-51; ders., Sozialer Aufstieg, S. 288f.; Ringer, Das gesellschaftliche Profil, S. 95-97. 73 Vgl. Weber, W., Priester der Klio, S. 76; Baumgarten, Professoren, S. 110-115, S. 139-143; Schmidt, A, S. 82-88; Gundler, S. 70f.

104

Tab. 10: Beruf des Vaters 1891-1933 7 4

Vaterberuf 1. Akad. Beamter in Verwalt./Reg. 2. Richter 3. Hochschullehrer 4. Lehrer (höhere Schule) 5. Geistlicher 7. Bezirks-/ Militärarzt 8. Techn. Beamter 9. Prakt. Arzt 10. Apotheker 11. Rechtsanwalt 12. Privatgelehrter 13. Großhändler 14. Fabrikant 16. Offizier 18. Kaufmann/Wirt 19. Handwerker 20. Angestellter 21. Nichtakad. Beamter 22. Lehrer (niedere Schule) 23. Bauer TOTAL ( = 100 %)

Gesamt

Theol.

10 (8,9) 5 (4,5) 8 (7,1)

2(12,5)

9 (8,0) 10 (8,9)

2(12,5) 4 (25,0)

1 (0,9) 4 (3,6) 8 (7,1) 2 (1,8) 4 (3,6) 1 (0,9) 2 (1,8) 14 (12,5) 2 (1,8) 10 (8,9) 4 (3,6) 5 (4,5) 1 (0,9)

-

1 (6,3)

-

Jur.

1 (3,1) 1 (3,1) 2 (6,3)

4(15,4) 1 (3,8)

1 (7,1)

2 (6,3) 1 (3,1)

2 (7,7) 5(19,2)

-

-

2 (14,3) 1 (7,1) 1 (7,1) 1 (7,1)

-

-

-

2(12,5) 1 (6,3) 1 (6,3) -

9 (8,0) 3 (2,7)

2(12,5)

112

16

-

»Phil.«

2 (14,3) 2(14,3) 2 (14,3)

-

1 (6,3)

Med.

1 (7,1) -

1 (7,1)

1 (3,1) 1 (3,1) 4(12,5) 1 (3,1) -

1 (3,1) -

6 (18,8) 1 (3,1) 6 (18,8) 1 (3,1) -

-

1 (3,1)

-

1 (3,1)

-

1 (3,1)

14

32

-

-

1 (4,2) 1 (4,2) 3 (12,5) 2 (8,3) -

-

-

1 (3,8) -

1 (4,2) 2 (8,3) -

1 (3,8) -

2 1 1 2 1 1

»Nat.«

2 (8,3) -

(7,7) (3,8) (3,8) (7,7) (3,8) (3,8) -

5 (20,8) -

1 (4,2) 2 (8,3) -

4(15,4) -

26

-

2 (8,3) 2 (8,3) 24

Quelle: Vgl. Seite 66, Fußnote 6.

Theologieprofessorensohn (insgesamt 31,3 Prozent) nach wie vor das nähere beruflich-kulturelle U m f e l d protestantischen Theologentums, wenngleich sein Einfluß klar gesunken war. Wenig änderte sich an der Hegemonie sowohl kulturell als auch ökonomisch privilegierter Vaterberufe im Bereich der Rechtswissenschaften. Entsprechend stark waren hier neben den höheren Verwaltungsbeamten, Richtern, H o c h schullehrern und Technischen Beamten die >freien< Akademiker vertreten. Gegenüber diesem Block, der 85,7 Prozent des ohnehin zahlenmäßig geringen Nachwuchsbedarfes versorgte, blieben alle sonstigen Berufsgruppen in einer 74 Fehlende Werte: keine.

105

Außenseiterposition. Daneben wurde der Anteil derjenigen, die im berufsnahen Umfeld der Rechtswissenschaft aufgewachsen waren (Kat. 1-2, 11), mit 35,7 Prozent nur wenig schmäler. Sehr auffällig waren die Veränderungen in der Medizinischen Fakultät. Die Q u o t e an sozialen Aufsteigern (Kat. 18-19, 21-23) hob sich hier auf 31,3 Prozent; gegenüber dem vorangegangenen Zeitraum anteilmäßig mehr als eine Verdreifachung. Der gewerblich-industrielle Sektor (Kat. 9-10,12, 14,18-19) konnte mit 59,8 Prozent erstmals die Mehrheit stellen. Für diesen Zugewinn zeichneten weniger die >freien< akademischen Berufe als die kaufmännischen und unternehmerischen Berufsgruppen (Kat. 14,19) verantwortlich. Demgegenüber sank der Anteil des akademischen Beamtentums auf klar unterdurchschnittliche 28,1 Prozent. Nahezu die gleiche Rolle wie zuvor spielte dagegen die Nähe zum berufsständischen Umfeld des Faches; zusammen mit den Söhnen der beiden Hochschullehrer, die Medizin lehrten, entstammte noch genau ein Viertel der Personen diesem Milieu (Kat. 3, 7, 9,10). Es waren die medizinischen Grundlagen- und jüngeren Spezialfächer, 75 welche die soziale Mobilität am stärksten begünstigten. Sieben von zehn Aufsteigern aus der universitätsfernen Mittelschicht (Kat. 21-23) suchten und erhielten hier ihre Chance. Das klassische Rekrutierungsreservoir des akademischen Beamtentums machte unter den 19 Vertretern dieser Disziplinen hingegen nur 21,1 Prozent aus, und das kulturelle Kapital der bildungsbürgerlichen Herkunft (Kat. 1-12) hatte der vergleichsweise geringe Anteil von 42,1 Prozent mit auf den Weg bekommen. Deutlich exklusiver blieb hingegen das Sozialprofil der propädeutischen und ärztlich-klinischen Disziplinen. 76 In diese Positionen gelangten lediglich drei Aufsteiger aus der Mittelschicht, allesamt zudem Kaufmannssöhne, so daß ein ökonomisch etwas besser gestelltes Elternhaus zumindest vermutet werden kann. Akademisches Beamtentum und Bildungsbürgertum insgesamt entsprachen dagegen mit Anteilen von 38,5 bzw. 53,8 Prozent an den 13 Vertretern dieser Disziplinen in etwa denen des Gesamtdurchnittes aller Fakultäten. Während Vernaturwissenschaftlichung und Spezialisierung in der Hochschulmedizin seit der Jahrhundertwende offenbar soziale Mobilität begünstigten, blieb es im Sektor der ärztlich-klinischen Medizin, die auch in der Regel lukrativer war, bei einem klaren Übergewicht privilegierter Bevölkerungsteile. Unter den Mitgliedern der »Philosophischen Sektion« steigerte sich der ohnehin schon relativ hohe Anteil an Aufsteigern aus der bürgerlichen Mittelschicht (Kat. 18-20,22) nur unwesentlich auf 30,8 Prozent. Intern jedoch vermochte die Berufsgruppe des nichtakademischen Beamtentums, vertreten 75 Anatomie, Physiologie, Pathologie, Hygiene und Bakteriologie, Pharmakologie, Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde, Augenheilkunde, Hautkrankheiten, Zahnmedizin, Psychiatrie, Gerichtsmedizin. 76 Innere Medizin, Chirurgie, Geburtshilfe und Gynäkologie, Medizinische Propädeutik und Geschichte der Medizin.

106

durch vier Volksschullehrer, gegenüber der gewerblichen Mittelschicht deutlich an Boden zu gewinnen. Das akademische Beamtentum verlor über 15 Prozentpunkte; es machte jetzt 46,6 Prozent aus. Besonders auffällig ist das völlige Fehlen von Hochschullehrern und die sehr starke Position des Pfarrhauses. Aufgelockert hatten sich die Unterschiede im Herkunftsprofil der einzelnen Disziplinen. Es zeigten sich sowohl schichten- als auch berufsgruppenspezifisch kaum signifikante Schwerpunkte. Einzig in den Klassischen und Orientalischen Sprachen, in denen auch das Pfarrhaus und die Gymnasiallehrerschaft gut vertreten blieb, waren noch deutliche Merkmale der traditionellen Verbindung von propädeutisch-untergeordneter Funktion mit sozialer Durchlässigkeit erkennbar. Ansonsten wurde ähnlich wie bei den Medizinern Aufstiegsmobilität durch die zunehmende Verwissenschaftlichung und Spezialisierung einzelner Disziplinen, wenn auch in engen Grenzen, befördert. In der »Naturwissenschaftlichen Sektion« verlor das akademische Beamtentum ebenfalls etwa 15 Prozent und pendelte sich bei dem deutlich unterproportionalen Wert von genau einem Drittel ein. Neben dem Nachwuchs des >freien< Akademikertums (16,7 Prozent) und der industriellen Unternehmerschaft (20,8 Prozent) konnten demgegenüber auch die Aufsteiger aus der bürgerlichen Mittelschicht (29,2 Prozent), und zwar vor allem aus dem Gewerbs- und dem Agrarsektor, ihre Anteile ausbauen. Das Fehlen von Pfarrerssöhnen, die geringe Präsenz des Verwaltungs- und Justizbeamtentums, gleichzeitig hingegen das Auftreten zweier Hochschullehrer der Medizin, zweier Naturkundelehrer an Realgymnasien, eines Technischen Beamten sowie zweier praktischer Arzte (insgesamt 29,2 Prozent) bestätigt die Beobachtung einer spezifischen Affinität auch der akademisch gebildeten Väter zu den Berufsbereichen, die im weitesten Sinne naturwissenschaftlich-technisch geprägt waren. Bezogen auf die einzelnen Disziplinen blieb vor allem der Nachwuchs des akademischen Beamtentums bei seiner Vorliebe für die theoretischen Fächer Mathematik und Physik: Fünf von acht Vertretern dieser beiden Fächer kamen aus einem entsprechenden Elternhaus, zwei entstammten als Söhne praktischer Ärzte einem ähnlichen Milieu, während lediglich ein Angestelltensohn aus dieser Phalanx des Bildungsbürgertumes herausstach. Die praxisnahen und zugleich lukrativen Lehrstühle für theoretische und angewandte Chemie rekrutierten sich mit drei Fabrikanten- sowieje einem Rechtsanwalts-, Gymnasiallehrer- und Hochschullehrersohn zwar weiterhin sozial exklusiv, wurden aber nun auch für den Nachwuchs des akademischen Beamtentums interessant. Die sozialen Aufsteiger konzentrierten sich hingegen in sechs von sieben Fällen in den teils hochspezialisierten, ökonomisch indes meist weniger bevorteilten Sparten der Botanik, Zoologie und Geographie, in denen bis auf einen Gymnasiallehrersohn kein einziger Abkömmling des akademischen Beamtentums oder der >freien< Akademikerschaft Einzug hielt. Analog zur Medizinischen Fakultät ist demnach hier in der Tendenz eine Scheidung in junge respektive intensiver Verwis-

107

senschaftlichung ausgesetzte Spezialistenfächer, die zumindest zeitweise Aufstiegschancen boten, sowie in sozial stärker abgeschlossene, teils auch ökonomisch lukrativere Disziplinen mit eher universaler Ausrichtung zu konstatieren. Insgesamt zeichnet sich also seit der Jahrhundertwende ein von Fakultät zu Fakultät, teils auch von Fach zu Fach in seiner Intensität unterschiedlicher Kontinuitätsbruch ab. Erstmals wurde vor allem die Vorherrschaft des akademischen Beamtentums ernsthaft in Frage gestellt, während die starken Zugewinne des gewerblich-industriellen, aber auch des nichtakademischen beamteten Bürgertums als deutliche Indikatoren sozialer Öffnung angesehen werden können. Es gilt indes auch einige Einschränkungen zu machen: 1. Gemessen an seinem eigentlichen demographischen Gewicht war das akademische Beamtentum nach wie vor sehr viel stärker überrepräsentiert als das Wirtschaftsbürgertum. Ebenso spiegelten die 28,6 Prozent soziale Aufsteiger (Kat. 18-23) das demographische Gewicht ihrer Berufsgruppen bei weitem nicht wider; gleiches gilt für den Agrarsektor.77 2. Die soziale Affinität der >freien< akademischen Berufe zur akademischen Beamtenschaft blieb auch in diesem Zeitabschnitt noch wirksam und macht ihre Einordnung in den gewerblich-industriellen Sektor zumindest zweischneidig. 78 3. Nicht zu unterschätzen ist die Tatsache, daß sich durch zunehmende Akademisierung des höheren Wirtschaftsbürgertums auch die allgemein-kulturelle Ausrichtung jenes Bevölkerungsteils der des hergebrachten Bildungsbürgertumes angenähert hatte respektive die Scheidelinie zwischen beiden Milieus nicht mehr so eindeutig zu ziehen war. So hatten etwa nach Zunkel im Jahr 1929 47,3 Prozent aller selbständigen Unternehmer ein Hochschulstudium absolviert79 4. Schließlich bildete auch die berufsständische Nähe des Vaterberufes zum gewählten Fachbereich des Sohnes fast überall noch einen Selektionsfaktor, der sich statistisch eindeutig nachweisen ließ. Insgesamt kann also trotz beachtlicher Wandlungen in diesem Zeitraum von einer massiven >Plutokratisierung< oder gar >Demokratisierung< der Erlanger Hochschullehrerschaft keine Rede sein. Von Interesse muß insbesondere die Beobachtung sein, daß Spezialisierung und Verwissenschaftlichung, also Spielarten der von Max Weber diagnostizierten Entwicklung zum >Fachmenschentumnur< etwa 46 Prozent der Wochenstunden für die alten Sprachen vorgesehen. Vgl. Liedtke, S. 36. 8 So nachweislich bei Kolde, Kußmaul und Bäumler (BA 33, 163, 126). 9 Gutachten der Philosophischen Fakultät, 21.10.1865; Senat an König, 29.10.1865 (Zitat); Separatvotum der Senatoren Hofmann, Harnack, Schmid, Frank, Thomasius und Delitzsch (BA

112

hatte, hinderte sie drei Jahre später nicht daran, den Physiker Lommel abzulehnen, weil angeblich ungewiß war, »ob er die für das Universitätslehramt erforderliche humanistisch-classische Vorbildung besitzt.«10 Im letzten Zeitabschnitt (Ernennungszeitraum 1891 bis 1933) fand sich das Gros der nachmaligen Erlanger Ordinarien mehr oder weniger nahtlos in das staatlich verordnete Schulcurriculum eingefügt. Häuslicher Privatunterricht wird nur noch bei zwölf von 112 Personen (10,7 Prozent) erwähnt, zudem bei sieben davon in Kombination mit dem Besuch öffentlicher oder privater Schulen. Privatunterricht bis an die Schwelle der Hochschulreife kam soweit ersichtlich überhaupt nicht mehr vor. Es stimmt mit dem geschilderten Trend überein, wenn für wenigstens 53 Personen (47,3 Prozent), und zwar relativ gleichmäßig über die Fachbereiche verteilt, der zumindest vorübergehende Besuch einer öffentlichen Grundschule nachgewiesen werden konnte. Die Vertrauenswürdigkeit und Verbindlichkeit dieser Anstalten scheint deutlich größer geworden zu sein, wenngleich mindestens acht Elternpaare (7,1 Prozent) ihren Sohn in den ersten Schuljahren in eine Privatschule schickten oder einige wie erwähnt nebenher Privatstunden erteilen ließen. Bei den studienqualifizierenden Abschlüssen konnte das humanistische Gymnasium seine herausragende Stellung behaupten. 1870 hatte der Chemiker Ernst Beckmann das Reifezeugnis des Realgymnasiums Solingen erhalten, war nach der Absolvierung eines Pharmazie- und Chemiestudiums 1878 in Leipzig zum Dr. phil. promoviert worden und habilitierte sich schließlich 1882 an der T H Braunschweig. Da die nun von ihm gewünschte Umhabilitierung nach Leipzig zur Voraussetzung hatte, daß das Maturitätszeugnis eines humanistischen Gymnasiums vorgelegt wurde, begann sich der Dr. habil., der mittlerweile in den dreißigern stand, in die klassischen Sprachen zu vertiefen und holte 1884 die geforderte Abiturprüfung nach.11 Fälle solchen offenkundigen Widersinns gehörten im Prinzip erst ab dem Zeitpunkt zur Vergangenheit, an dem die höheren realistischen Schulanstalten bei der Vergabe der allgemeinen Hochschulreife mit den humanistischen Gymnasien gleichgestellt wurden. In Preußen war das endgültig im Jahr 1900 der Fall; in Bayern sogar erst 1914.12 Diese Gesetzesänderungen erfolgten zu spät, um in ihren Auswirkungen auf

24, 20, 47, 15, 52, 9), 28.10.1865. Personalakt Zoeller (BA 341); vgl. auch: Jaenuke, S. 654. Die Theologen stellten in ihrem Separatgutachten auch den wissenschaftlichen Charakter des Lehrstuhls in Frage: die Universität solle sich auf ihre »eigentliche Aufgabe« beschränken, »für den wissenschaftlichen und geistigen Lebensberuf auszubilden«, und sich »anderweitiger Vorbildung für das gewerbliche Leben möglichst enthalten.« Zu Beetz siehe BA 209. 10 Gutachten, 26.9.1868. Personalakt Beetz (BA 209); zu Lommel, der übrigens sehr wohl das Gymnasium absolviert hatte, siehe BA 274 11 BA 207. 12 Vgl. Alhisetti/Lundgreen, S. 253.

113

die untersuchten Personen merklich durchzuschlagen. So waren es denn außer dem Historiker Gustav Beckmann und dem Nationalökonomen Moeller nur einige wenige Mediziner und Naturwissenschaftler, die sich mit dem Absolutorium eines Realgymnasiums oder einer Oberrealschule für die Universität qualifiziert hatten, alles in allem neun Personen bzw. 8,9 Prozent aller 101 Erlanger Ordinarien, für die sich im fraglichen Zeitraum der studienqualifizierende Abschluß ermitteln ließ.13 Insgesamt blieb es also während des gesamten Zeitraumes bei einer relativ exklusiven Schullaufbahn der Erlanger Professoren. Die Barrieren zum öffentlichen Elementarschulwesen wurden zwar mit der Zeit abgebaut, bestanden aber vielfach durch die gezielte Auswahl leistungsstarker Anstalten respektive flankierende Privatlektionen unterschwellig weiter. Erst spät und gegen manche Reserven vor allem aufseiten der Theologen begann man sich den Absolventen höherer Realschulen zu öffnen, bevorzugt im Bereich der Naturwissenschaften. Freilich ist auch zu berücksichtigen, daß die extrem altsprachliche Ausrichtung des humanistischen Gymnasiums bereits im 19. Jahrhundert teilweise zurückgenommen worden war und einer stärkeren Berücksichtigung des realistischen Lehrkanons Raum gelassen hatte.14

3.1.2.

Studium

3.1.2.1. Studien- und Promotionsorte Studierten im 18. Jahrhundert noch weniger als die Hälfte der untersuchten Personen an mehr als einer Hochschule, wurde dieser Anteil bei den folgenden Generationen stetig größer und lag am Ende bei über achtzig Prozent. Ein ähnlicher Anstieg zeigte sich auch hinsichtlich des Besuches einer dritten Universität. Ein Studium an insgesamt vier Universitäten, das im 18. Jahrhundert noch überhaupt nicht vorkam und während des 19. Jahrhunderts sehr selten war, absolvierten im Ernennungszeitraum 1891 bis 1933 immerhin fast 15 Prozent der untersuchten Personen. Alles was darüber hinausging, etwa der Fall des Zoologen Fleischmann, der es auf den Rekord von sechs frequentierten Hochschulen brachte, blieb seltene Ausnahme. 15 Es ist insgesamt festzuhalten, daß sich die studentische Mobilität in allen Fakultäten fortlaufend steigerte. 13 Das Realgymnasium absolvierten der Pharmakologe Schübel, der Pathologe Kirch, die B o taniker Solereder und Schwemmle sowie die Chemiker Busch und Henrich, die Oberrealschule der Chemiker Paal (BA 1 8 4 , 1 6 1 , 3 2 1 , 3 1 9 , 2 1 7 , 2 4 8 , 2 8 9 ) ; zu G. Beckmann und Moeller siehe BA 208, 281. 14 Vgl.Jäger, insbes. S. 199-202. 15 Mindestens zwei besuchte Universitäten vor Studienabschluß: 1743-1810: 46,2 Prozent (36 von 78 Personen); 1811-1848:57,4 Prozent (35 von 61); 1849-1890:68,9 Prozent (62 von 90);

114

Welche Hochschulen waren es, die von den späteren Erlanger Ordinarien aufgesucht wurden? Im 18. Jahrhundert (Tab. 11) hatten fast dreißig Prozent in Erlangen, also am Ort ihres nachmaligen Ordinariats, studiert. Uberdurchschnittlich stark waren die Theologen und die Vertreter der »Philosophischen Sektion« vertreten. Hält man sich vor Augen, daß die Professoren der Gründungszeit keine Chance gehabt hatten, in Erlangen zu studieren, gewinnen diese Zahlen zusätzlich an Gewicht. Daneben sticht die starke Position der Universität Jena heraus. Mit Ausnahme der Rechtswissenschaftler, von denen auffallend viele in Tübingen studierten, hatte in sämtlichen Fachbereichen etwa ein Drittel des Lehrkörpers mindestens ein Semester in Jena absolviert. Gerade unter den Professoren der Gründungszeit war Jena mit knapp über fünfzig Prozent besonders gut vertreten, um gegen Ende des Jahrhunderts auf etwa ein Fünftel zurückzufallen. 16 Als auffallend stark frequentiert, insbesondere von Juristen und Medizinern, erwiesen sich daneben die beiden großen Reformuniversitäten Halle und Göttingen, an denen sich insgesamt dreißig der untersuchten Personen (38,5 Prozent) immatrikuliert hatten. War unter den Professoren der Gründungsphase vor allen Dingen Halle der Vorzug gegeben worden, entwickelte die jüngere Göttinger Hochschule ihre volle Anziehungskraft erst einige Jahre später.17 Der überwiegende Teil der Professoren des 18. Jahrhunderts hatte mithin zumindest vorübergehend an einer der Reformhochschulen Halle, Göttingen oder Erlangen studiert; fast ein Drittel war zudem in Jena eingeschrieben gewesen, einer Universität, die damals der Aufklärung besonders verpflichtet war.18 Gemessen am Studienverhalten des Lehrkörpers wurde Erlangen also ohne Zweifel stark von der aufgeklärten Universitätsreform des 18. Jahrhunderts geprägt; die meisten der bejahrten und »im Zunftwesen erstarrten« Hochschulen des Alten Reiches19 spielten als akademische Ausbildungsstätten hingegen eine eher geringe Rolle. Einen entscheidenden Einflußfaktor bildete bei der Wahl des Studienorts außerdem die Frage der Konfession: Katholische Universitäten wurden völlig gemieden.

1891-1933: 81,3 Prozent (91 von 112). Fehlende Werte: keine; mindestens drei besuchte Universitäten vor Studienabschluß: 1743-1810: 10,3 Prozent (8 von 78); 1811-1848: 14,8 Prozent (9 von 61); 1849-1890:31,1 Prozent (28 von 90); 1891-1933:40,2 Prozent (45 von 112). Fehlende Werte: keine; mindestens vier besuchte Universitäten vor Studienabschluß: 1743-1810:0 Prozent; 1811— 1848:3,3 Prozent (2 von 61); 1849-1890:7,8 Prozent (7 von 90); 1891-1933:14,3 Prozent (16 von 112). Fehlende Werte: keine; zu Fleischmann siehe BA 234. 16 Jenaer Studenten: 1743-1753: 52,4 Prozent (11 von 21); 1754-1810:21,1 Prozent (12 von 57). 17 Hallenser Studenten: 1743-1753: 28,6 Prozent (6 von 21); 1754-1810: 14 Prozent (8 von 57); Göttinger Studenten: 1743-1753: 0; 1754-1810: 28,1 Prozent (16 von 57). 18 Vgl. Neuhaus, S. 32; Wendehorst, Geschichte, S. 20. 19 Schelsky, S. 21.

115

Tab. 11: B e s u c h t e H o c h s c h u l e n v o r S t u d i e n a b s c h l u ß 1 7 4 3 - 1 8 1 0 2 ' 1 Hochschule

Gesamt

Theol.

Altdorf Erlangen

7 (9,0) 22 (28,2)

3 (18,8)

Frankfurt/O. Gießen Göttingen Greifswald Halle/S. Heidelberg Helmstedt Jena Kiel Leipzig Marburg Rostock Straßburg Tübingen Wittenberg Ausland 100 % =

1 3

6 (37,5)

(1,3) (3,8)

16 (20,5)

-

2(12,5)

1 (1,3) 14 (17,9) 1

(1,3)

1 (1,3) 23 (29,5) 1 (1,3)

3 2

(3,8) (2,6) 78

-

4(17,4) 1 (4,3) 1 (4,3) 7(30,4)

-

1

-

5 (21,7) 1

-

6 (37,5)

Med. 2 (15,4) 3 (23,1)

2 (15,4)

1 (4,3)

-

1 (6,3) 2(12,5) -

16

1

(4,3)

7 (30,4) 1 (4,3) -

23

-

-

-

-

1

(8,7)

1 (9,1) 3 (27,3)

4 (26,7)

-

3 (13,0) -

-

1 (6,7) 2(13,3)

(7,7)

-

2

2 (18,2) 2 (18,2)

-

-

(6,3)

7 (46,7)

-

5 (38,5)

4 (30,8)

-

-

»Nat.«

-

-

4 (17,4) 1 (4,3)

1

»Phil.«

-

(4,3) -

-

9(11,5) 3 (3,8) 2 (2,6) 3 (3,8) 9(11,5)

Jur.

-

5 (33,3)

-

4 (36,4)

-

(7,7) -

-

-

-

2 (15,4) -

2 (15,4) 13

-

2(13,3)

1

(9,1) -

-

1

3 (27,3)

-

(6,7)

-

-

-

-

-

15

11

Quelle: Vgl. Seite 66, Fußnote 6.

I n s g e s a m t bestätigt wird der B e f u n d d u r c h eine statistische B e t r a c h t u n g der P r o m o t i o n s u n i v e r s i t ä t e n (Tab. 12), a l s o d e r j e n i g e n I n s t i t u t i o n e n , a n d e n e n d i e U n t e r s u c h u n g s p e r s o n e n d e n i m H i n b l i c k a u f i h r e a k a d e m i s c h e K a r r i e r e in d e r Regel wichtigsten Hochschulabschluß machten.

20 Die absoluten Zahlen in den einzelnen Zellen geben die Summe der Personen wieder, die an der betreffenden Universität als Studenten eingeschrieben waren. Die in Klammern beigefügten Prozentwerte beziehen sich auf die Anzahl von Personen, die im betreffenden Zeitabschnitt zu Erlanger Ordinarien ernannt wurden (insgesamt und aufgegliedert nach Fachbereichen; jeweils aufgeführt in der untersten Zeile). Da nicht wenige Personen wie geschildert an mehreren Hochschulen studierten, ist die Summe der aufgelisteten Universitätsbesuche pro Spalte größer als die jeweilige Personenanzahl; entsprechend ergibt auch die Summe der Prozentwerte pro Spalte einen Wert über 100. Unter der Rubrik »Ausland« sind sämtliche Hochschulen außerhalb des deutschen Sprachraumes zusammengefaßt; fehlende Werte: keine. 116

Tab. 12: Promotionsuniversitäten 1743-181021 Hochschule

Gesamt

Altdorf Erfurt Erlangen Göttingen Halle/S. Heidelberg Helmstedt Jena Leipzig Rostock Straßburg Tübingen Wittenberg Ausland keine Promotion

1 (1,3) 2 (2,6) 32 (41,0) 8 (10,3) 9(11,5) 1 (1,3) 1 (1,3) 7 (9,0) 4 (5,1) 1 (1,3)

TOTAL ( = 100 %)

1 (U) 6 (7,7) 3 (3,8) 1 (1,3) 1

(L3) 78

Theol. -

1 (6,3) 8 (50,0) 1 (6,3) -

3 (18,8) -

1 (6,3) -

2 (12,5)

Jur. -

4(17,4) 3 (13,0) 5(21,7) -

1 (4,3) 2 (8,7) 1 (4,3) -

1 (4,3) 5 (21,7) 1 (4,3)

-

-

-

-

16

23

Med.

»Phil.«

1 (7,7)

-

-

3 (23,1) 2 (15,4) 2 (15,4)

11(73,3) -

2(13,3)

-

2 (15,4) 1 (7,7)

-

-

-

-

-

13

-

2 (18,2)

-

1

1 (7,7) 1

-

-

-

1 (9,1) 6 (54,5) 2 (18,2)

-

-

-

-

-

1 (7,7)

»Nat.«

-

(6,7)

-

-

-

-

-

(6,7) 15

-

11

Quelle: Vgl. Seite 66, Fußnote 6.

Erlangen zeigte sich hier deutlich besser vertreten als unter den Studienorten. Alles in allem blieb man aber weit entfernt von der monopolistischen Bevorzugung des eigenen akademischen Nachwuchses, wie er für die Landesuniversitäten älteren Typs kennzeichnend war.22 Nur mit Einschränkung gilt das jedoch für die Philosophische Fakultät, in deren Gesamtverband die Erlanger Promovenden beachtliche 65,4 Prozent (17 von 26 Personen) ausmachten und die damit ihrer Rolle als Aufstiegsschleuse treu blieb. Während daneben auch die Theologen verhältnismäßig stark an Erlangen gebunden waren, erwiesen sich die Studien- und Promotionsorte der Mediziner sowie vor allem der Juristen als räumlich breit gestreut. Insgesamt fällt die vielfache Ubereinstimmung zwischen frequentierter Universität und territorialer Herkunft auf So korrespondieren etwa die starken Positionen der Universitäten Jena und Leipzig unmittelbar mit der großen Anzahl an Geburtsorten in den thüringischen Staaten respektive in Kursachsen.

21 Bei mehreren Promotionen ein und derselben Person galt die früheste als maßgeblich; die Grade eines Lic. theol., Lic. jur. und Magister phil. wurden als äquivalente akademische Titel miteinbezogen, nicht dagegen die Ehrenpromotionen. 22 Vgl. Baumgarten, Vom Gelehrten, S. 149f.; dies., Z u r Sozialgeschichte, S. 43f.

117

Von den insgesamt zwanzig Personen, die beispielsweise Altdorf oder Erlangen als ersten Studienort wählten, stammten zwölf aus den Fürstentümern Ansbach und Bayreuth, weitere vier aus süddeutschen Reichsstädten; sieben von acht gebürtigen Württembergern nahmen ihr Studium in Tübingen auf, die beiden Mecklenburger gingen zunächst nach Rostock und so fort. Neben dem Vorteil der Heimatnähe dürften für ein solches Verhalten die damals üblichen Regelungen verantwortlich sein, die Untertanen vor der Anstellung durch den Staat einen Besuch der jeweiligen Landesuniversität zur Pflicht machten. Bei den Studienorten der vormärzlichen Professoren (Tab. 13) wurde die Position Erlangens leicht gestärkt. 41 Prozent (25 von 61 Personen) verbrachten hier mindestens ein Studiensemester. Dieser Anteil verteilte sich relativ gleichmäßig über den gesamten Zeitraum. 23 Was die einzelnen Fachbereiche angeht, sind allerdings Verschiebungen erkennbar. So blieb Erlangen bei den Theologen zwar auch weiterhin überdurchschnittlich vertreten. Die entsprechende Quote der »Philosophische Sektion« gingjedoch deutlich zurück. Während nun die Philosophische Fakultät insgesamt mit 28,6 Prozent (6 von 21 Personen) einen unterdurchschnittlichen Anteil ehemaliger Erlanger Studenten aufwies, war bei den Juristen das Gegenteil der Fall. In beiden Fakultäten kehrten sich damit die Verhältnisse des 18. Jahrhunderts um. Von den Hochschulen, die 1743 bis 1810 eine sehr starke Position eingenommen hatten, konnte im Grunde nur Göttingen seine Stellung nachhaltig und mit Ausnahme der Theologen - in allen Fachbereichen behaupten. Jena und Halle setzten demgegenüber ihren Abwärtstrend fort und stiegen weiter ins Mittelfeld ab. Halle übte jetzt allerdings auf die späteren Erlanger Theologievertreter große Anziehungskraft aus, die das Zentrum des Pietismus im 18. Jahrhundert auffallend gemieden hatten. 24 Als nahem bayerischen Hochschulort kam nun Würzburg ein größerer Anteil zu. Die katholische Stadt, die sich im 19. Jahrhundert vor allem auf dem Gebiet der Medizin überregionales Ansehen erwarb, zog bevorzugt spätere Erlanger Medizindozenten an. Im Einklang mit ihrem Ruf als ausgesprochene »Juristenuniversität« wurde hingegen Heidelberg auffällig oft von den nachmaligen Erlanger Rechtsprofessoren aufgesucht.25 Würzburg und Heidelberg gewannen insbesondere ab den Ernennungsjahrgängen der zwanziger Jahre des 19. Jahrhunderts an Bedeutung. Leipzigs Anteil hingegen, zu Beginn noch relativ stark, sackte im Verlauf des

23 Erlanger Studenten: 1811-1823: 38,1 Prozent (8 von 21); 1824-1836: 45 Prozent (9 von 20); 1837-1848: 40 Prozent (8 von 20). 24 Göttinger Studenten: 1811-1823: 23,8 Prozent (5 von 21); 1824-1836: 25 Prozent (5 von 20); 1837-1848: 15 Prozent (3 von 20); Jenaer Studenten: 1811-1823: 19 Prozent (4 von 21); 1824-1836:10 Prozent (2 von 20); 1837-1848: lOProzent (2 von 20); Hallenser Studenten: 18111823: 0; 1824-1836: 10 Prozent (2 von 20); 1837-1848: 15 Prozent (3 von 20). 25 Vgl. zu Würzburg und Heidelberg: Titze, Wachstum, S. 300, S. 544.

118

Vormärz deutlich ab und auch Tübingen konnte nicht an seine frühere Stellung anknüpfen. 26

Tab. 13: Besuchte Hochschulen vor Studienabschluß 1811-1848 2 7 Hochschule

Gesamt

Altdorf Berlin Breslau Erlangen Bergakad. Freiberg Gießen Göttingen Halle/S. Heidelberg Helmstedt Jena Kiel Landshut Leipzig Marburg München Salzburg Tübingen Wien Würzburg

1 (1,6) 10 (16,4) 1 (1,6) 25 (41,0) 1 (1,6) 1 (1,6) 13 (21,3) 5 (8,2) 9 (14,8) 1 (1,6) 8(13,1) 1 (1,6) 1 (1,6) 7(11,5) 2 (3,3) 6 (9,8) 1 (1,6) 4 (6,6) 1 (1,6) 10 (16,4)

100 % =

61

Theol. -

4 (33,3) -

7 (58,3) -

1 (8,3) 3 (25,0) 1 (8,3) -

2(16,7) 1 (8,3) -

2(16,7) -

Jur. -

2 (13,3) -

7(46,7) -

4(26,7) -

5 (33,3) -

1 (6,7) 1 (6,7) 1 (6,7) 4(26,7)

-

-

-

-

-

-

-

12

Med. -

3 (23,1) 1 (7,7) 5 (38,5) -

1 (7,7) 3 (23,1) -

1 (7,7) 2(15,4)

»Phil.« 1 (7,1) 1 (7,1) -

5 (35,7) -

3(21,4) 1 (7,1) 3 (21,4) -

1 (7,1)

-

-

-

-

-

1 (7,7) 1 (7,7) -

2 (13,3)

1 (7,7) 1 (7,7) 6 (46,2)

15

13

3(21,4) -

1 (7,1) 1 (7,1) 2(14,3) -

2(14,3) 14

»Nat.« -

1 (14,3) 1 (14,3) -

2 (28,6) 1 (14,3) -

3 (42,9) -

1 (14,3) -

1 (14,3) -

7

Quelle: Vgl. Seite 66, Fußnote 6.

Die beiden großen Neugründungen des 19. Jahrhunderts, Berlin und München, entfalteten ihre Zugkraft erst am Ende des Vormärz, gaben aber bereits einen ersten Vorgeschmack auf ihre spätere Hegemonialstellung. Nicht weniger als acht der zwanzig Ordinarien, die zwischen 1836 und 1849 berufen wur-

26 Würzburger Studenten: 1811-1823: 4,8 Prozent (1 von 21); 1824-1836: 30 Prozent (6 von 20); 1837-1848: 15 Prozent (3 von 20); Heidelberger Studenten: 1811-1823: 4,8 Prozent (1 von 21); 1824-1836: 25 Prozent (5 von 20); 1837-1848: 15 Prozent (3 von 20); Leipziger Studenten: 1 8 1 1 - 1 8 2 3 : 23,8 Prozent (5 von 21); 1824-1836: 0; 1837-1848: 10 Prozent (2 von 20); Tübinger Studenten: 1811-1823: 9,5 Prozent (2 von 21); 1824-1836: 0; 1837-1848: 10 Prozent (2 von 20). 27 Fehlende Werte: keine.

119

den, hatten Studiensemester in Berlin verbracht. Die bayerische Zentralhochschule München, ja erst 1826 inauguriert, strahlte zunächst noch überwiegend auf die staatsnahe Fakultät der Rechtswissenschaftler aus.28 Allgemein bestätigt die Verteilung den sachten Trend zur fränkischen Regionalisierung, der auch schon bei der Analyse der Geburtsorte festgestellt werden konnte. Der gestiegene Anteil Erlangens wurde durch den der Universität Würzburg ergänzt, während die meisten anderen Hochschulen prozentual an Bedeutung einbüßten. Daneben fälltauf, daß Universitäten, die in katholischen Bevölkerungsgebieten lagen (Landshut, München, Salzburg, Würzburg), noch fast ausschließlich von Juristen und Medizinern besucht wurden.

Tab. 14: Promotionsuniversitäten 1811-1848 29 Hochschule

Gesamt

Theol.

Jur.

Med.

Berlin Breslau Erlangen Gießen Göttingen Heidelberg Helmstedt Jena Leipzig Marburg München Tübingen Würzburg keine Promotion

4 (7,0) 2 (3,5) 20 (35,1) 2 (3,5) 3 (5,3) 3 (5,3) 1 (1,8) 3 (5,3) 3 (5,3) 1 (1,8) 4 (7,0) 2 (3,5) 5 (8,8) 4 (7,0)

1 (8,3)

1 (6,7)

2(15,4) 1 (7,7) 4 (30,8) 1 (7,7)

TOTAL (= 100 %)

57

-

6 (50,0) -

1 (8,3) 1 (8,3)

-

4(26,7) -

1 (6,7) 2 (13,3)

-

1 (7,7)

-

-

-

-

-

-

-

1 (8,3) -

1 (8,3)

1 (6,7) 4 (26,7) -

-

4 (40,0) -

1 (10,0) -

1 (10,0) 2 (20,0)

-

-

-

-

-

-

1 (6,7) 1 (6,7)

4 (30,8)

1 (8,3) 12

15

13

-

»Phil.«

-

-

2 (20,0) 10

»Nat.« -

1 (14,3) 2 (28,6) 1 (14,3) -

2 (28,6) -

1 (14,3) -

7

Quelle: Vgl. Seite 66, Fußnote 6.

Entgegen der Entwicklung bei den Studienorten, wo der Anteil Erlangens gegenüber dem 18. Jahrhundert nach oben ging, fiel derselbe bei den Promotionsuniversitäten (Tab. 14) merklich auf 35,1 Prozent (20 von 57 Personen) ab. Da sich die sonstigen Doktoranden relativ gleichmäßig über die übrigen U n i 28 Berliner Studenten: 1811-1823: 0; 1824-1836: 10 Prozent (2 von 20); 1837-1848:40 Prozent (8 von 20); Münchener Studenten: 1811-1823: 0; 1824-1836: 5 Prozent (1 von 20); 18371848: 25 Prozent (5 von 20). 29 Fehlende Werte: vier von insgesamt 61 Fällen.

120

versitäten verteilten, verlor der Promotionsort im Hinblick auf die akademische Karriere offenbar an Stellenwert. Der Regionalisierungstrend, der bezüglich der geographischen Herkunft und des Studienverhaltens beobachtet werden konnte, ging also keineswegs mit einer Begrenzung im Bereich des Studienabschlußwesens einher. Zumindest was die Promotionsorte seiner Ordinarien angeht, ist vielmehr tendenziell die Integration Erlangens in das deutsche Universitätssystem festzustellen. Diese Entwicklung war unter Juristen, Medizinern, Mathematikern und Naturwissenschaftlern deutlicher ausgeprägt als unter den Theologen oder den Mitgliedern der »Philosophischen Sektion«; im Vergleich zum 18. Jahrhundert näherten sich allerdings auch hier die Werte der einzelnen Fachbereiche einander an. Der Anteil ehemaliger Erlanger Studenten unter den Personen, die in zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ernannt wurden (Tab. 15), blieb mit genau einem Fünftel zwar immer noch beachtenswert. Prozentual bedeutete das gegenüber dem Vormärz aber doch mehr als eine Halbierung. Erlangen verlor in der Rangliste seinen herausgehobenen Spitzenplatz. Es wurde von Berlin klar überflügelt, München, Leipzig und Göttingen zogen in etwa gleich, Bonn, Heidelberg, Tübingen und Würzburg standen nur noch wenig nach. Daß Erlangen überhaupt noch einigermaßen gut vertreten war, verdankte es zu großen Teilen dem Studienverhalten der Theologieprofessoren. Im Gegensatz zu den vorangegangenen Epochen kann man deren Vorliebe für den fränkischen Universitätsstandort allerdings kaum mit dem Faktor der geographischen Herkunft in Zusammenhang bringen, da gerade für sie eine bemerkenswert heterogene Verteilung der Geburtsorte festgestellt werden konnte. Offensichtlich spielte vielmehr eine Rolle, daß die Theologische Fakultät den einzigen Erlanger Fachbereich mit bedeutender überregionaler Ausstrahlungskraft darstellte. Wer an der protestantischen Universität Frankens Theologie studierte, brachte damit oftmals schon seine Affinität zu einer spezifischen Wissenschafts- und Glaubensrichtung zum Ausdruck, was für das spätere Berufungsverfahren alles andere als nebensächlich war.30 Das Studienverhalten der Theologen war also stark von der Frage des Bekenntnisses beeinflußt. Aber auch in den übrigen Fachbereichen ist die Beobachtung zu machen, daß protestantische Universitäten weiterhin eindeutig bevorzugt wurden. Das läßt sich insbesondere am Beispiel der damals frequenzstärksten Hochschulen zeigen. In München, immerhin die nahe Zentraluniversität des bayerischen Trägerstaates, studierten kaum mehr untersuchte Personen als in Leipzig oder Göttingen, von Berlin ganz zu schweigen. Es fällt zudem auf, daß Wien, seinerzeit eine der größten Universitäten des deutschsprachigen Raumes und europäische Metropole, lediglich von einem Mediziner und einem Naturwissenschaftler aufgesucht wurde. 30 Vgl. Beyschtag, S. 210.

121

Auf der anderen Seite wird bei der Studienortwahl jedoch kaum noch von einer konfessionellen Hermetik die Rede sein können. Dagegen sprechen die ansehnlichen Anteile katholischer Universitätsstädte, insbesondere Bonns, Münchens und Würzburgs, wie auch der Umstand, daß sich nicht mehr nur Rechtswissenschaftler und Mediziner, sondern auch nicht wenige Mitglieder der »Philosophischen Sektion« katholischen Milieus aussetzten. Die Hochschulwahl war zwar weiterhin sichtlich durch die geographische und konfessionelle Herkunft prädisponiert. Daneben flössen aber offenbar verstärkt zusätzliche Aspekte wie die Ausstattung der Lehr- und Forschungsstätten, die Zugkraft großer Professorenpersönlichkeiten oder der Reiz des modernen Großstadtlebens in den Entscheidungsprozeß ein. Die Entterritorialisierung und Entkonfessionalisierung des Studienverhaltens setzten sich weiter fort. An der üblichen Abfolge des Studiums lassen sich diese Tendenzen weiter verdeutlichen. So blieb es auch ferner die Regel, das Studium in Heimatnähe aufzunehmen, wodurch vor allem die breite Streuung auf kleine und mittlere Universitäten mit regional begrenzter Anziehungskraft, etwa Dorpat, Königsberg, Gießen, Basel oder auch das für die Erlanger Ordinarienschaft früher so bedeutende Jena, zu erklären ist.31 Bei Universitätswechseln wählten die späteren Ordinarien dann überwiegend die frequenzstarken Hochschulen in bevölkerungsreichen Städten, vor allem Berlin, München und Leipzig.32 Von den 28 Personen etwa, die sich in Berlin immatrikulierten, nahmen nur fünf ihr Studium dort auf. Erlangens Randposition im deutschen Universitätssystem wird umgekehrt daran erkennbar, daß es zwölf seiner 18 Besucher zum ersten Studienort machten und nur sechs von anderen Hochschulstädten ausgehend den Weg in die fränkische Provinz fanden. Das trifft allerdings nicht auf die Theologen zu. Von denjenigen sechs, die die Universität Erlangen besuchten, begannen hier lediglich zwei ihr Studium, während die übrigen vier sich zunächst anderswo einschrieben. Für die Theologen war Erlangen demnach keine Hochschule, die man der Heimatnähe oder der ersten Orientierung wegen aufsuchte, sondern die aus den genannten Gründen gezielt ausgewählt wurde.

31 Zur Frequenzentwicklung der einzelnen Universitäten seit 1830 vgl. Titze, Wachstum, S. 30-36. 32 Zur herausragenden Sonderstellung dieser drei Großuniversitäten vgl. ebd., S. 31.

122

Tab. 15: Besuchte Hochschulen vor Studienabschluß 1849-1890" Hochschule

Gesamt

Theol.

Basel Berlin Bonn Breslau Dorpat Erlangen Freiburg i. Br. Gießen Göttingen Graz Greifswald Halle/S. Heidelberg Jena Kiel Königsberg Leipzig Marburg München Prag Rostock Straßburg Tübingen Wien Würzburg Zürich Ausland

5 (5,6) 28(31,1) 10(11,1) 2 (2,2) 3 (3,3) 18 (20,0) 1 (1.1) 2 (2,2) 16 (17,8) 1 (14) 3 (3,3) 4 (4,4) 11 (12,2) 3 (3,3) 2 (2,2) 2 (2,2) 16(17,8) 2 (2,2) 18 (20,0) 2 (2,2) 1 (14) 5 (5,6) 9 (10,0) 2 (2,2) 13 (14,4) 4 (4,4) 4 (4,4)

3 (18,8) 6 (37,5) 1 (6,3) 1 (6,3) 2(12,5) 6 (37,5)

100 % =

90

Jur. -

5(41,7) 1 (8,3) -

1 (8,3)

Med. -

5 (23,8) -

»Phil.« 2 (9,5) 6 (28,6) 4(19,0)

-

1 (4,8) 3 (14,3)

-

-

-

-

-

-

-

-

2 (16,7)

-

-

-

-

3 (18,8) -

1 (6,3) 5(31,3) 1 (6,3) 1 (6,3)

-

4 (33,3) 1 (8,3) 2(16,7) -

2 (16,7) 1 (8,3) 3 (25,0)

-

-

-

-

-

2(12,5) -

1 (6,3) 1 (6,3) 16

1 (8,3) 1 (8,3) -

2(16,7) -

1 (8,3) 12

3 (14,3)

-

2 (9,5) 1 (4,8) -

4 (19,0) -

3 (14,3) 1 (4,8) 1 (4,8) 1 (4,8) 4 (19,0) 1 (4,8) 5 (23,8) 3 (14,3) -

21

-

7 (33,3)

-

2 (9,5)

-

6 (30,0) 4 (20,0) 1 (5,0)

-

5 (23,8)

-

-

»Nat.«

-

1 1 1 1

(4,8) (4,8) (4,8) (4,8) -

3(14,3) -

6 (28,6) 1 (4,8) -

1 (4,8) 2 (9,5) -

3 (14,3) -

1 (4,8) 21

3 1 2 4 1

(15,0) (5,0) (10,0) (20,0) (5,0) -

4 (20,0) -

1 (5,0) 2 (10,0) -

5 (25,0) -

2 (10,0) -

1 (5,0) 3 (15,0) -

1 (5,0) 20

Quelle: Vgl. Seite 66, Fußnote 6.

33 Fehlende Werte: keine. 123

Tab. 16: Promotionsuniversitäten 1849-189034 Hochschule Basel Berlin Bonn Dorpat Erlangen Gießen Göttingen Greifswald Halle/S. Heidelberg Jena Königsberg Leipzig Marburg München Prag Rostock Straßburg Tübingen Wien Würzburg Zürich keine Promotion TOTAL ( = 1 0 0 % )

Gesamt 2

(2,3)

6 (6,9) 3 (3,4) 2 (2,3) 14(16,1) 1 7 2 2 4 4 1 9

(1,1) (8,0) (2,3) (2,3) (4,6) (4,6) (1,1) (10,3)

1 (1,1) 8 (9,2) 2

(2,3)

1 (1,1) 4 (4,6) 3 (3,4)

Theol. 1 (6,7)

Jur.

Med.

»Phil.«

-

-

2

(9,5)

1 (4,8) 2 (9,5)

-

-

1 (4,8)

1 (4,8)

2 (13,3) 2(13,3) -

1 (6,7) -

2(13,3) -

1 (6,7) 1 (6,7) 3 (20,0)

-

-

4 (36,4) 1 (9,1) -

1 (9,1) -

-

-

-

-

2 (13,3)

87

15

-

1 (9,1) 1 (9,1) -

1 (9,1) -

11

3(14,3) -

1 (4,8) 1 (4,8)

2 (9,5) 1 (4,8)

-

-

-

-

1 (4,8)

-

-

1 (1,1) 6 (6,9) 2 (2,3) 2 (2,3)

-

2 (18,2) -

-

3 (14,3)

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

2 (9,5) -

2

(9,5)

1 (4,8) 1 (4,8) -

1 1

2 (9,5)

(4,8) (4,8)

1 (4,8) 1 (4,8) 4(19,0) 1 (4,8) -

1 (4,8) 1 (4,8) -

3 (14,3)

-

1

-

(4,8) -

21

-

21

»Nat.« -

2 (10,5) 1 (5,3) -

2 (10,5) 1 (5,3) 2 (10,5) -

2 (10,5) -

2 (10,5) -

2 (10,5) -

2 (10,5) -

2 (10,5) 1 (5,3) -

19

Quelle: Vgl. Seite 66, Fußnote 6.

Vor diesem Hintergrund wundert es nicht, wenn nicht nur die Anzahl sowie die räumliche und konfessionelle Vielfalt der Promotionsuniversitäten (Tab. 16) erweitert wurde, sondern sich auch hier der Anteil Erlangens gegenüber dem Vormärz mehr als halbierte. Die Hochschule, an der man den Doktorgrad erwarb, wurde für die Professorenkarriere immer unerheblicher. Bei den Ordinarien des frühen 20. Jahrhunderts hatte sich Erlangens Anteil an den Studienorten insgesamt gut behauptet (Tab. 17). Gegenüber dem vorangegangenen Zeitabschnitt stieg er sogar wieder von etwa einem Fünftel auf gut ein Viertel. Neben den Theologen, von denen jetzt sogar mehr als die Hälfte in Erlangen studiert hatten, waren dafür vor allem die Mediziner verantwortlich. 34 Fehlende Werte: in drei von insgesamt 90 Fällen.

124

Bei ihnen stieg der Prozentsatz ehemaliger Erlanger Studenten fast genau um das Doppelte. Auch in der »Naturwissenschaftlichen Sektion« verbesserte sich Erlangens Stellung, während sie unter den Juristen unbedeutend blieb und im Bereich der »Philosophischen Sektion« deutlich zurückging. Während bei den Theologen weiterhin zu beobachten ist, daß sie Erlangen trotz geographisch ausgesprochen breit gestreuter Herkunft, also relativ gezielt, aufsuchten, ist der bemerkenswerte Bedeutungszugewinn der fränkischen Hochschule unter den Medizinern sehr viel stärker mit der Lage ihrer Geburtsorte in Zusammenhang zu bringen. Unter denjenigen zehn, die in Erlangen studierten, waren acht bayerische Landeskinder, fünf davon stammten aus Franken; sieben der acht Landeskinder bzw. vier der fünf gebürtigen Franken nahmen ihr Studium in Erlangen auf Wie schon bei den Geburtsorten gesehen, handelte es sich dabei vorwiegend um die Vertreter der Grundlagen- und Spezialdisziplinen, weniger um die der klinischen Medizin. N u r sehr bedingt wird man daraus allerdings auf eine fränkisch-protestantische Regionalisierung ähnlich der des Vormärzes schließen können. Hatte Erlangen damals unter den Ordinarien aller Fakultäten einen einsamen Spitzenplatz eingenommen, war es jetzt nicht mehr nur hinter Berlin, sondern auch hinter München weit zurückgefallen. Leipzig lag mit Erlangen immer noch nahezu gleich auf, und ein breites Mittelfeld gut frequentierter Hochschulen, unter denen Tübingen, Freiburg, Würzburg, Göttingen, Heidelberg und Straßburg besonders hervorragen, spricht dafür, daß der Gesamttrend weiter in Richtung einer Mobilisierung des Studienverhaltens ging. Im übrigen hatte die Mehrheit der ehemaligen Erlanger Studenten die fränkische Hochschule wiederum als Einstiegsuniversität genutzt - erneut mit Ausnahme der Theologen - , während etwa Berlin seine überregionale Ausstrahlungskraft dadurch unter Beweis stellte, daß es vorwiegend als Folgestation des akademischen Curriculums gewählt wurde. 35 Obwohl die protestantischen Hochschulstädte insgesamt immer noch stärker in der Gunst der späteren Erlanger Ordinarien standen, spielte das Bekenntnis bei der Wahl des Hochschulortes, von den Theologen abgesehen, eine offenbar immer geringere Rolle. Dafür spricht vor allem der eklatante Zugewinn Münchens, das nun sogar Berlin hinter sich lassen konnte. 36 Die Attraktivität, die München als akademisches, urbanes und administratives Zentrum in Süddeutschland entfaltete, überlagerte nun eindeutig den konfessionellen

35 16 von 30 ehemaligen Erlanger Studenten besuchten Erlangen als erste Universität (darunter vier von neun Theologen); dagegen war Berlin nur für vier von 36 Personen Einstiegsuniversität. 36 Vgl. zur Frequenz Berlins und Münchens: Titze, Wachstum, S. 30. Danach nahm Berlin seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts bei der Studentenfrequenz die unangefochtene Führungsposition vor München ein.

125

Tab. 17: Besuchte Hochschulen vor Studienabschluß 1891-1933' 7 Hochschule

Gesamt

Theol.

Berlin Bonn Breslau Dorpat Erlangen Frankfurt/M. Freiburg i. Br. Gießen Göttingen Greifswald Halle/S. Heidelberg Innsbruck Jena Kiel Königsberg Leipzig Marburg München Rostock Straßburg Tübingen Wien Würzburg Zürich TH Aachen TH Berlin TH München Ausland

36 (32,1) 5 (4,5) 6 (5,4) 1 (0,9) 30 (26,8) 1 (0,9) 13 (11,6) 4 (3,6) 12 (10,7) 5 (4,5) 6 (5,4) 11 (9,8) 2 (1,8) 2 (1,8) 6 (5,4) 1 (0,9) 27 (24,1) 2 (1,8) 41 (36,6) 5 (4,5) 11 (9,8) 16(14,3) 4 (3,6) 13(11,6) 1 (0,9) 1 (0,9) 2 (1,8) 1 (0,9) 3 (2,7)

1 (6,3)

100%=

112

Quelle: Vgl. Seite 66, Fußnote 6.

37 Fehlende Werte: keine.

126

-

1 (6,3) -

9 (56,3) -

4(25,0) 3(18,6) 3 (18,6) 1 (6,3)

Jur. 6(42,9) 1 (7,1) -

1 (7,1) -

3 (21,4) -

1 (7,1) -

1 (7,1) -

-

-

-

-

1 (6,3) -

7 (43,8) -

1 (6,3) 1 (6,3) -

4 (25,0) -

-

5 (35,7) -

7 (50,0) -

1 (7,1) 2 (14,3) -

1 (7,1) 1 (7,1)

-

-

-

-

-

-

-

-

16

14

Med.

»Phil.«

»Nat.«

8 (25,0) 11(42,3) 10 (41,7) 3(11,5) 1 (4,2) 2 (6,3) 2 (7,7) 1 (4,2) 1 (4,2) 10(31,3) 4(15,4) 6 (25,0) 1 (3.8) 4(12,5) 4(15,4) 2 (8,3) 2 (6,3) 1 (3.8) 1 (4,2) 2 (6,3) 1 (3.8) 4 (16,7) 1 (3,1) 1 (3.8) 1 (3,1) 1 (3.8) 4 (12,5) 4(15,4) 2 (8,3) 2 (6,3) 1 (3,1) 1 (3.8) 3 (9,4) 1 (3.8) 1 (4,2) - 1(3.8) 5 (15,6) 5(19,2) 5 (20,8) 2 (6,3) 17 (53,1) 9 (34,6) 7 (29,2) 1 (3,1) 1 (3.8) 2 (8,3) 4 (12,5) 3(11,5) 3 (12,5) 5 (15,6) 2 (7,7) 3 (12,5) 1 (3.8) 3 (12,5) 8 (25,0) 4 (16,7) -

1 (3,1) -

1 (3,1) 32

-

2 (7,7) 26

-

2 (8,3) 1 (4,2) -

24

Einflußfaktor. Daneben konnte Würzburg seine starken Anteile im wesentlichen halten, und mit Freiburg erstand im Südwesten sogar ein zusätzliches Ausbildungszentrum mit katholischem Umfeld. Während sich so also der Erlanger Lehrkörper seinem Studienverhalten nach in die entterritorialisierte und entkonfessionalisierte Universitätslandschaft Deutschlands weiter integrierte, ist zugleich eine gewisse Abschottungstendenz gegenüber den Hochschulen außerhalb des Reichsgebietes feststellbar. Wien vermochte beispielsweise lediglich auf die Mathematiker und Naturwissenschaftler nennenswerten Einfluß auszuüben. Die Schweizer Standorte Zürich und Basel fielen so gut wie gar nicht mehr ins Gewicht. Ahnlich erging es im Osten dem baltischen Dorpat. Die Universitäten außerhalb des deutschen Sprachraums blieben unbedeutend. Die Technischen Hochschulen hatten sich ihren Platz im deutschen Universitätssystem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erst mühsam erobern müssen. Obwohl an ihnen dessen ungeachtet während des Kaiserreiches doppelt so viele Naturwissenschaftler ausgebildet wurden wie an den klassischen Universitäten, konnten ihre Besucher keinen nennenswerten Anteil am Erlanger Lehrkörper erringen. Selbst unter den insgesamt 17 Naturwissenschaftlern dieses Ernennungszeitraumes stellten die zwei ehemaligen Studenten an Technischen Hochschulen, Paal und Busch, eine kleine Minderheit dar. Wohl nicht zufällig vertraten beide die Angewandte Chemie, also ein Fach, dessen Wissenschaftlichkeit bzw. Lehrstuhleignung gerade wegen seiner Ausrichtung auf die Bedürfnisse von Gewerbe und Industrie anfangs im Erlanger Lehrkörper äußerst umstritten gewesen war.38 Die offenkundige Bevorzugung von Absolventen der klassischen Universitäten dürfte demnach nicht zuletzt auf die Voreingenommenheit zurückzuführen sein, die damals in universitären Kreisen gegenüber den praxisnahen Konkurrenzanstalten herrschte. 39 Das Recht zur Vergabe des Doktorgrades erkämpften sich die Technischen Hochschulen gegen massiven Widerstand erst 1899.40 Insofern kann es nicht wundern, wenn sie unter den Promotionsuniversitäten der untersuchten Personen (Tab. 18) überhaupt nicht zu finden sind. Auch Paal und Busch, die 1884 bzw. 1889 den Doktorgrad erwarben, wechselten zur Promotion an die Universität Erlangen. Wie schon im vorangegangenen Zeitabschnitt sind ansonsten keine wesentlichen Unterschiede zwischen der Verteilungshierarchie der Studienorte und derjenigen der Promotionsorte zu erkennen.

38 Paal (BA 289) hatte sowohl an der T H München als auch an der T H Berlin studiert, Busch (BA 217) an der T H Berlin; zu den Absolventenzahlen der Technischen Hochschulen vgl. Jarausch, Universität, S. 320f. 39 Vgl. McClelland, State, S. 307. 40 Vgl. Jarausch, Universität, S. 320f.

127

Tab. 18: Promotionsuniversitäten 1891—1933 41

Hochschule

Gesamt Theol.

Berlin Bonn Breslau Erlangen Freiburg i. Br. Gießen Göttingen Greifswald Halle/S. Heidelberg Innsbruck Jena Kiel Königsberg Leipzig Marburg München Rostock Straßburg Tübingen Wien Würzburg Ausland keine Promotion

10 (8,9) 2 (1,8) 2 (1,8) 21 (18,8) 4 (3,6) 1 (0,9) 5 (4,5) 2 (1,8) 2 (1,8) 3 (2,7) 1 (0,9) 1 (0,9) 3 (2,7) 1 (0,9) 12 (10,7) 1 (0,9) 19 (17,0) 2 (1,8) 2 (1,8) 5 (4,5) 4 (3,6) 5 (4,5) 1 (0,9) 3 (2,7)

TOTAL ( = 1 0 0 % )

112

1 (6,3) 1 (6,3) -

3 (18,8) -

1 (6,3) 1 (6,3) 1 (6,3)

Jur. 3 (21,4) 1 (7,1)

Med.

»Phil.«

2 (6,3)

3(11,5)

-

-

1 (74) 1 (7,1)

-

9 (28,1) 1 (3,1)

-

1 (7,1) -

-

-

-

-

-

-

-

1 (3,1)

-

-

-

-

1 (3,1)

-

4 (25,0) -

1 (6,3) -

2 (12,5) 16

-

-

2(14,3) 1 1 3 (21,4) 10 1 -

-

1 (7,1) -

1 (7,1)

(3,1) (3,1) (31,3) (3,1) -

2 (6,3) -

2 (6,3)

-

-

-

-

14

1 2 1 1 1

1 (3,1)

-

1 (6,3)

-

32

1 (4,2) -

(3,8) (7,7) (3,8) (3,8) (3,8) -

1 (4,2) 6 (25,0) 1 (4,2) -

2 (8,3) -

1 (3,8) 2 (7,7) -

1 1 1 2

»Nat.«

-

1 (4,2) -

(3,8) (3,8) (3,8) (7,7)

3 (12,5)

4(15,4)

2 (8,3)

-

-

2 (7,7) -

1 (3,8) -

1 (3,8) 1 (3,8) 26

-

-

-

2 (8,3) 3 (12,5) 2 (8,3) -

24

Quelle: Vgl. Seite 66, Fußnote 6. 3.1.2.2. Studienfächer Bei der Betrachtung der studierten Fächer stellt sich ein quellenkritisches Problem. Was nämlich jeweils darunter verstanden wurde, beispielsweise die förmliche Belegung mit Examensziel oder lediglich der beiläufige Besuch einiger Vorlesungen, geht aus der Überlieferung oft nicht eindeutig hervor. Gleiches gilt für die Unterscheidung zwischen Haupt- und Nebenfächern oder zwischen Gesamt- und Teildisziplinen. Einer detaillierten Untersuchung entzieht sich im Rahmen dieser Arbeit schließlich auch die Frage, welche Wissensstrukturen und -inhalte beim Studium eines Faches zu einem bestimmten Zeit41 Fehlende Werte: keine.

128

punkt an einem bestimmten Ort von einem bestimmten Lehrer jeweils vermittelt wurden und wie die einzelnen Disziplinen an den verschiedenen Standorten überhaupt organisiert waren. 42 Notgedrungen ist also das Interpretationsraster entsprechend grobmaschig zu knüpfen und auf das Ziel eines allgemeinen Überblicks hin auszurichten. So werden Teildisziplinen unter übergeordneten Bezeichnungen zusammengefaßt und Nebenfächer außer Betracht gelassen. Im 18. Jahrhundert (Ernennungszeitraum 1743 bis 1810) richteten die späteren Professoren ihre Fächerwahl noch vorwiegend an den traditionellen Hierarchieabstufungen der alteuropäischen Fakultätsgliederung aus (Tab. 19). Etwa zur Hälfte begannen sie ihr akademisches Leben als Studenten der Philosophie. Dieser Anteil war zudem relativ unabhängig von den Fachbereichen, denen sie später als Ordinarien angehören sollten. Unter den nachmaligen Theologen fiel er mit genau drei Vierteln allerdings besonders hoch aus. Mit der Fächerangabe »Philosophie« war damals offensichtlich in den wenigsten Fällen das Studium der entsprechenden Einzeldisziplin gemeint, sondern vielmehr die herkömmliche Absolvierung des propädeutischen Curriculums an der Artistenfakultät. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch die Tatsache, daß der Anteil der >Philosophiestudenten< bei den älteren Professorenjahrgängen des 18. Jahrhunderts deutlich höher war als bei den jüngeren. 43 Allerdings sind die Quellenangaben, welche die studierten Fächer in der Philosophischen Fakultät gegen 1800 hin vereinzelt bereits etwas enger auf Philologie, Geschichte, Kameralistik, Mathematik oder Naturwissenschaften eingrenzen, insofern unter einem gewissen Vorbehalt zu sehen, als für diese Einzelgebiete damals in der Regel noch kein autonomer Studiengang im Angebot stand. Ein weiteres Indiz für die untergeordnete Position der Philosophischen Fakultät ist die Fächerwahl, die deren nachmalige Ordinarien trafen. Nicht weniger als sechzig Prozent von ihnen (15 von 25 Personen), darunter wohlgemerkt auch die Vertreter der mathematischen und naturwissenschaftlichen Disziplinen, hatten im Erst- oder Zweitstudium Theologie belegt, immerhin zwölf Prozent (3 von 25) die Jurisprudenz. Während sich sämtliche Ordinarien der drei »höheren« Fakultäten spätestens im Hauptstudium demjenigen Fachgebiet zugewandt hatten, das sie später in Erlangen auch lehrten, war bei insgesamt acht von 25 (32 Prozent) nachmaligen Mitgliedern der Philosophischen Fakultät vor dem Abschluß des Studiums ein Wechsel zu Theologie, Rechtswissenschaften oder Medizin erfolgt. Dem Studienverhalten ihrer Ordinarien nach zu schließen, wurde die Philosophische Fakultät also noch zu weiten Teilen als Durchgangsstation zu höheren akademischen Würden angesehen.

42 Vgl. ausfuhrlich zur Quellenproblematik: Weber, W., Priester der Klio, S. 108f. 43 Anteil der >Philosophiestudenten< (Erststudium) im Ernennungszeitraum 1743 bis 1791: 63,6 Prozent (35 von 55); im Ernennungszeitraum 1792 bis 1810: 27,3 Prozent (6 von 22).

129

Tab. 19: S t u d i e r t e H a u p t f ä c h e r u n d H a u p t f a c h w e c h s e l 1 7 4 3 - 1 8 1 0 4 4

Erststudium

Gesamt

Theol.

Jur.

Theologie

15 (19,5)

4 (25,0)

Jura

13 (16,9)

1 (4,3) H (47,8)

Medizin Philosophie

5

(6,5)

-

-

41 (53,2) 12 (75,0)

Med. 1

(7,7)

»Phil.« 6 (40,0)

-

11 (47,8)

7 (53,8)

-

-

Geschichte

1

(1,3)

-

-

-

7 (46,7) 1 (6,7)

Kameralistik

1

(1,3)

-

-

-

1

Naturwissenschaften

1

(1,3)

-

-

-

T O T A L ( = 100 %)

3 (30,0) 2 (20,0)

-

5 (38,5)

-

»Nat.«

(6,7)

4 (40,0) -

-

1 (10,0)

-

77

16

23

13

15

10

Zweitstudium

Gesamt

Theol.

Jur.

Med.

»Phil.«

»Nat.«

Theologie

18 (23,4) 12 (75,0)

Jura

13 (16,9)

-

Medizin

9(11,7)

-

-

Philosophie

1

(1,3)

-

-

-

Philologie

1

(1,3)

-

-

-

Geschichte

1

(1,3)

-

-

-

Kameralistik

1

(1,3)

-

Mathematik

4

(5,2)

-

Naturwissenschaften kein Fachwechsel T O T A L ( = 100 %)

-

12 (52,2)

1

5 (33,3)

-

1

8 (61,5)

(4,3) -

2 (2,6) 27 (35,1)

4 (25,0)

10 (43,5)

77

16

23

-

-

-

(6,7)

1

-

-

-

-

-

5 (38,5) 13

-

1 (10,0)

-

1 1

1 (10,0)

(6,7) (6,7)

-

(6,7)

-

-

6(40,0) 15

-

-

4 (40,0) 2 (20,0) 2 (20,0) 10

Quelle: Vgl. Seite 66, Fußnote 6.

44 Die Tabelle besteht aus zwei Teilen: der obere bezieht sich auf die Verteilung der Hauptfächer im Erststudium, der untere berücksichtigt etwaige Hauptfachwechsel vor Studienabschluß; die absoluten Zahlen in den einzelnen Zellen geben die Anzahl der Personen wieder, die das betreffende Fach studierten; die in Klammern beigefugten Prozentwerte beziehen sich auf die Anzahl der Personen, die im betreffenden Zeitabschnitt zu Erlanger Ordinarien ernannten wurden (insgesamt und aufgegliedert nach Fachbereichen; jeweils in der untersten Zeile der beiden Tabellenteile für jede Spalte aufgeführt). Zur Datenbehandlung: Ggf. genannte Teil- oder Spezialdisziplinen wurden unter übergeordneten Begriffen subsumiert (z.B. »Staatsrecht« unter »Jura«, »Klassische Sprachen« unter »Philologie« oder »Chemie« unter »Naturwissenschaften«); waren Angaben über mehrere gleichzeitig studierte Fächer vorhanden, fand dasjenige Berücksichtigung, das aus ergänzenden Informationen als Hauptstudienrichtung identifiziert werden konnte; wenn solche ergänzenden Informationen nicht vorlagen, wurde das in Selbstäußerungen oder in der biographischen Literatur jeweils an erster Stelle aufgeführte Fach ausgewählt. Fehlende Werte: einer von insgesamt 78 Fällen.

130

Zunächst fällt auf, daß die Professoren des Vormärz (Ernennungszeitraum 1811 bis 1848) allgemein weitaus seltener das Hauptfach wechselten als die Vorgänger des 18. Jahrhunderts. Gleichzeitig ging der Anteil derjenigen, für die im Erststudium das Fach Philosophie angegeben wurde, ebenfalls überall deutlich zurück (Tab. 20). Die strikte Zweiteilung des Studiums in einen vor- oder allgemeinbildenden »philosophischen« Kurs und ein anschließendes Fachstudium, die man gerade in Bayern durch behördliche Studienordnungen noch einige Zeit zu konservieren suchte, 45 wurde also weniger verbindlich. Hatte man früher zumindest dem ersten Stadium des Hochschulbesuches noch eine gewisse Erziehungsfunktion zugeordnet, rückte nun der wissenschaftliche Charakter des Studiums stärker in den Vordergrund. Das läßt sich auch an d e m U m s t a n d ablesen, daß die Studienfächer, die für die Mitglieder der Philosophischen Fakultät überliefert sind, mit d e m späteren Lehrauftrag sehr viel eher in Einklang stehen. Tab. 20: Studierte Hauptfächer und Hauptfachwechsel 1811-1848 4 6 Erststudium

Gesamt

Theol.

Theologie Jura Medizin Philosophie Philologie Kameral./Nat.ökon. Mathematik Naturwissenschaften

19 9 11 11 5

9 (75,0)

(32,8) (15,5) (19,0) (19,0) (8,6)

1 (1.7) 1 (17) 1 (1,7)

-

2(16,7) 1 (8,3)

Jur. 3 (20,0) 7 (46,7) -

4(26,7) 1 (6,7)

Med. -

9 (75,0) 3 (25,0) -

»Phil.« 6(46,2) 1 (7,7) 1 (7,7) 1 (7,7) 3(23,1) 1 (7,7)

»Nat.« 1 1 1 1

(16,7) (16,7) (16,7) (16,7) -

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

58

12

15

12

13

6

Zweitstudium

Gesamt

Theol.

Jur.

Med.

»Phil.«

»Nat.«

Theologie Jura Medizin Philologie Geschichte Mathematik Naturwissenschaften kein Fachwechsel

4 8 4 3 1 1 2 35

3 (25,0)

-

-

TOTAL ( = 100 %)

TOTAL ( = 100 %)

(6,9) (13,8) (6,9) (5,2) (1,7) (1,7) (3,4) (60,3) 58

-

8 (53,3)

-

3 (25,0)

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

1 (7,7) -

3 (23,1) 1 (7,7) -

9 (75,0)

7 (46,7)

9 (75,0)

1 (7,7) 7 (53,8)

12

15

12

13

-

1 (16,7) 1 (16,7)

-

1 (16,7) -

1 (16,7) 1 (16,7) 3 (50,0) 6

Quelle: Vgl. Seite 66, Fußnote 6. 45 Vgl. milett, »Brauchbare Subjekte«, S. 281. 46 Fehlende Werte: in drei von insgesamt 61 Fällen.

131

Was das Qualifikationsprofil ihrer Mitglieder angeht, emanzipierte sich die Philosophische Fakultät also zunehmend von ihrer alten propädeutischen Funktion. Gleichwohl müssen in ihren Reihen vor allem die sieben Ordinarien auffallen, die im Erststudium Theologie belegten. Immerhin auch drei Juristen hatten ihre akademische Ausbildung im theologischen Fach begonnen. Bei näherem Hinsehen entpuppen sich zwei dieser Personen, nämlich Kanne und Drechsler, als Vertreter der Orientalischen Sprachen, also eines Faches, das sehr eng mit der Theologenausbildung verbunden ist.47 Genauso war bei dem Kirchenrechtler Briegleb eine fachbedingte Nähe zur Theologie gegeben.48 Der Naturgeschichtler Schubert belegte die Theologie hingegen seiner Erinnerung nach nur auf Wunsch des Vaters und gegen den eigenen »Naturtrieb«, der ihn dann bald zur Medizin wechseln ließ. Ganz ähnlich rechtfertigte auch sein Lehrstuhlnachfolger von Raumer die Abwendung von der Juristerei. 49 Mit der Ausbreitung des Neigungsstudiums im Zeichen des humboldtschen Wissenschaftsideals begannen die überlieferten Superioritätsansprüche der »höheren« Fakultäten ins Wanken zu geraten. Hauptfachwechsel wurden im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts (Ernennungszeitraum 1849 bis 1890) immer seltener. N u r noch gut ein Fünftel der späteren Ordinarien sattelte vor dem Abschluß auf einen anderen Studiengang um. Die Fächerangabe Philosophie für das Erststudium ging prozentual noch einmal deutlich zurück und gab die Spitzenposition in der »Philosophischen Sektion« an die Sprachwissenschaften ab. Sehr geradlinig verlief nun etwa auch das Studium der späteren Mathematiker. Aber nicht nur, daß sich innerhalb der Philosophischen Fakultät die Fächerwahl der Mitgliedern beider »Sektionen« sichtlich weiter aufspaltete, auch ganz allgemein ist eine Rationalisierung und Spezialisierung des Studienverhaltens festzustellen. In aller Regel begannen die nachmaligen Hochschullehrer ihr Studium nun in dem Fachbereich, in dem sie später auch lehrten (Tab. 21). Betrachtet man die fachwechselnden Personen näher, wird das noch deutlicher. So war es etwa von der klassischen Philologie, für die sich der Jurist Brinz zunächst einschrieb, zum Römischen Zivilrecht, das er später lehrte, kein weiter Weg.50 Von den drei Mitgliedern der »Philosophischen Sektion«, die im Erststudiumjura belegten, lehrten zwei, nämlich Makowiczka und Eheberg, als Vertreter der Nationalökonomie in einer verwandten Disziplin, die injener Zeit noch vielfach in den juristischen Studiengang integriert war.51 Eine ähnliche Nähe bestand zwischen den orientalischen Sprachen und der Theologie. Insofern 47 Vgl. Bobzin/Forssmann, S. 475; zu Kanne und Drechsler siehe BA 258, 222. 48 BA 68. 49 Vgl. Schubert, Der Erwerb, Bd. 1, S. 296-331, Zitat: S. 330f. (BA 316); zu v. Raumer (BA 302) siehe ausfuhrlich: unten, Kap. 5.1.2. 50 Vgl. Schümann, S. 291f.; zu Brinz siehe BA 69. 51 Vgl. Winterstein, S. 462f.

132

kann auch die Tatsache, daß der Orientalist Spiegel zunächst ein Theologiestudium aufnahm, u m sich sodann der Philologie zu widmen, kaum als fundamentaler Wechsel der Studienrichtung angesehen werden. 5 2 D i e Tab. 21 entnehmbaren Zahlen, nach denen ein Hauptfachwechsel am häufigsten bei Mitgliedern der »Philosophischen Sektion« vorkam, sind also mit Vorbehalt zu sehen. Allerdings verdient festgehalten zu werden, daß starke Verbindungslinien der Erlanger Philosophie z u m theologischen Ausbildungsbereich vorhanden waren. Mit Heyder und Class lehrten hier wohl nicht zufällig zwei Philosophieordinarien, die ein abgeschlossenes Theologiestudium vorweisen konnten und auch in der theologischen Praxis Erfahrungen gesammelt hatten. 53 Tab. 21: Studierte Hauptfächer und Hauptfachwechsel 1849-1890 5 4 Erststudium

Gesamt

Theologie Jura Medizin Philosophie Philologie Geschichte Mathematik Naturwissenschaften

22 14 19 5 11 2 5 10

TOTAL ( = 100 %) Zweitstudium Jura Medizin Philosophie Philologie Geschichte Nationalökonomie Mathematik Naturwissenschaften kein Fachwechsel TOTAL ( = 1 0 0 % )

Theol.

Jur.

Med.

(25,0) 16(100,0) 1 (5,0) (15,9) 11 (91,7) (21,6) 15 (75,0) (5,7) 2 (10,0) (12,5) 1 (8,3) 1 (5,0) (2,3) (5,7) (11,4) 1 (5,0)

»Phil.« 4 (20,0) 3 (15,0) -

2 (10,0) 9 (45,0) 2 (10,0) -

»Nat.« 1 (5,0) -

4 (20,0) 1 (5,0) -

5 (25,0) 9 (45,0)

88

16

12

20

20

20

Gesamt

Theol.

Jur.

Med.

»Phil.«

»Nat.«

1 (8,3) 1 (1,1) 5 (25,0) 5 (5,7) 3(15,0) 3 (3,4) 1 (5,0) 1 (1,1) 3 (15,0) 3 (3,4) 1 (5,0) 1 (1,1) 1 (5,0) 1 (1,1) 3 (15,0) 3 (3,4) 70 (79,5) 16(100,0) 11(91,7) 15 (75,0) 12 (60,0) 16 (80,0) -

88

16

-

12

20

-

20

20

Quelle: Vgl. Seite 66, Fußnote 6. 52 Z u Makowiczka, Eheberg und Spiegel siehe B A 276, 223, 322. 53 Heyder (BA 251) hatte vor 1839 die theologische Aufnahmeprüfung in Bayern abgelegt und zwei Jahre im Münchener protestantischen Predigerseminar verbracht; Class (BA218) diente 1857 bis 1872 als Theologiedozent am Seminar der Brüdergemeinde in Gnadenfeld, bevor er sein Philosophiestudium aufnahm. 54 Fehlende Werte: zwei von insgesamt 90 Fällen.

133

Bei den Medizinern fallen immerhin vier Personen auf, die zunächst ein Theologie-, Philosophie- oder Philologiestudium aufgenommen hatten. Weniger ungewöhnlich ist hingegen die relativ große Anzahl ehemaliger Medizinstudenten in der »Naturwissenschaftlichen Sektion«. Sie ist vor allem eine Folge des Emanzipationsprozesses, der die Naturwissenschaften seinerzeit allmählich aus dem Verband der Medizinischen Fakultät herausführte. Von Gorup-Besänez hatte beispielsweise noch den Doktorgrad in der Medizinischen Fakultät erworben und dort als Extraordinarius das Fach der organischen und analytischen Chemie gelehrt, bevor er als ordentlicher Professor für Chemie 1855 in die Philosophische Fakultät überwechselte. Einstige Hilfswissenschaften der Medizin stellten auch die Fächer Botanik und Pharmakognosie dar, die der ehemalige Medizinstudent Reeß ab 1872 in Erlangen vertrat.55 Im übrigen waren die Grenzen zwischen beiden Fachbereichen in einer Zeit, in der sich die Medizin intensiv auf naturwissenschaftliche Grundlagen stellte, ohnehin fließend. 56 Die Quote der Hauptfachwechsler lag bei den Ordinarien des frühen 20. Jahrhunderts (Ernennungszeitraum 1891 bis 1933) erneut bei etwa einem Fünftel, wobei sich jetzt allerdings die Werte der einzelnen Fachbereiche deutlich einander anglichen (Tabelle 22). Das Bemühen um eine breite Anlage des Studiums ist noch am ehesten unter den Vertretern der Theologie und der Philosophie erkennbar. Der Praktische Theologe Ulmer und der Neutestamentler Bachmann belegten im Erststudium Philosophie bzw. Philologie, der Alttestamentler Lötz und der Dogmatiker Hunzinger schlössen ihren theologischen Studien philologische und historische an.57 In der »Philosophischen Sektion« waren es wiederum mit Leser und Herrigel die Philosophen, die sich zunächst der Theologie zugewandt hatten. 58 Ansonsten verlief das Studium nun meist überaus geradlinig. So absolvierten erneut alle späteren Mathematikdozenten ihren Hochschulbesuch ohne Fachwechsel, und unter den 13 Vertretern der verschiedenen sprachwissenschaftlichen Fächer stach lediglich der Klassische Philologe Stählin als ehemaliger Theologiestudent heraus.59 Von den neun Historikern und Archäologen hatten sich nur zwei zunächst in anderen als den historischen Disziplinen eingeschrie-

55 Z u v. Gorup-Besänez und Reeß siehe BA 237, 304. 56 Vgl. Wittern, Aus der Geschichte, S. 366f. 57 U l m e r studierte im Nebenfach auch Orientalistik, bevor er zur Theologie wechselte; Bachmann legte in der klassischen Philologie die bayerische Staatsprüfung ab; Lötz bestand die Prüfung für das höhere Lehramt in Göttingen; Hunzinger belegte im Zweitstudium neben Geschichte auch Philosophie (BA 53. 3 , 3 5 , 26). 58 Leser belegte neben Theologie auch Mathematik und besuchte historische, kunstgeschichtliche und medizinische Vorlesungen; Herrigel schloß sein Theologisches Studium mit dem Staatsexamen in Heidelberg ab, bevor er sein Philosophiestudium aufnahm (BA 272, 250). 59 Stählin (BA 323) legte im Fach Theologie auch die erste bayerische Aufnahmeprüfung ab.

134

ben: Schmeidler in Deutscher Philologie und Curtius in den Rechtswissenschaften. Aus Curtius' Erinnerungen weiß man, daß er nur Vorlesungen aus dem Bereich der Philosophischen Fakultät besuchte und die juristische Laufbahn nie ernsthaft in Erwägung gezogen hatte. Offenbar folgte er mit seiner Immatrikulation bei den Juristen lediglich elterlichen Wünschen.60

Tab. 22: Studierte Hauptfächer und Hauptfachwechsel 1891-1933 61 Erststudium

Gesamt

Theologie Jura Medizin Philosophie Philologie Geschichte Nationalökonomie Mathematik Naturwissenschaften Techn. Wiss.

19(17,1) 14 (87,5) 13 (11,7) 28 (25,2) 3 (2,7) 1 (6,3) 15 (13,5) 1 (6,3) 7 (6,3) 1 (0,9) 5 (4,5) 18 (16,2) 2 (1,8) -

TOTAL ( = 100 %)

Zweitstudium

Theol.

1 (7,1) 12 (85,7) -

1 (7,1)

Med.

»Phil.«

-

3(11,5)

-

1 (3,8)

26(81,3) 1 (3,1) -

-

-

-

-

-

-

-

»Nat.« 1 (4,3) -

2

(8,7)

1 (3,8) 13 (50,0) 7(26,9)

-

1 (3,8) -

-

4 (12,5)

-

-

1 (3,1)

-

-

5 (21,7) 14 (60,9) 1 (4,2)

111

16

14

32

26

23

Gesamt

Theol.

Jur.

Med.

»Phil.«

»Nat.«

Theologie 2 (1,8) 2 Jura 1 (0,9) Medizin 6 (5,4) Philosophie 2 (1,8) Philologie 2 (1,8) 1 Geschichte 3 (2,7) 1 Naturwissenschaften 3 (2,7) kein Fachwechsel 92 (82,9) 12

(75,0)

TOTAL ( = 1 0 0 % )

16

Quelle:

Jur.

111

(12,5)

-

1 (7,1)

-

-

-

-

-

-

-

6 (18,8)

-

-

-

-

-

-

-

-

-

(6,3) (6,3) -

-

2 (7,7) 1 (3,8) 2 (7,7)

-

(13,0) 13 (92,9) 26 (81,3) 21 (80,8) 20 (87,0)

14

32

26

23

Vgl. Seite 66, Fußnote 6.

60 Vgl. Curtius, Deutsche und antike Welt, S. 103, S. 150f. (BA 220); zu Schmeidler siehe BA 313. 61 Fehlende Werte: einer von insgesamt 112 Fällen.

135

Für die Mitglieder der Juristischen Fakultät läßt sich ebenfalls ein sehr homogenes Studienverhalten feststellen. Allerdings boten das Kirchenrecht und das Römische Recht nach wie vor Raum für Seiteneinsteiger. Dabei handelte es sich zum einen um den Staatsrechtler Rieker, der als Zögling des Tübinger Stifts zunächst sein Theologiestudium abgeschlossen und mehr als ein Jahrzehnt im Kirchendienst verbracht hatte, bevor er über das Kirchenrecht zur Jurisprudenz fand, zum anderen um den Zivilrechtler Kübler, ein habilitierter Altphilologe mit mehrjähriger Berufserfahrung als Gymnasiallehrer und Prinzenerzieher. Kübler, der seit 1887 am Wörterbuch für Klassische Römische Rechtswissenschaft der Preußischen Akademie der Wissenschaften mitarbeitete, wurde 1900 unter Einfluß seines Lehrers Theodor Mommsen zum Extraordinarius für Römisches Recht in Berlin ernannt, ohne jemals im Fach Jura eingeschrieben gewesen zu sein; die formale Voraussetzung der juristischen Promotion hatte zuvor die Greifswalder Fakultät mit ihrem Ehrendoktortitel beigesteuert.62 Ein Austauschverhältnis bestand auch weiterhin zwischen Medizin und Naturwissenschaft. Bei den vier Medizinordinarien, die zunächst ein naturwissenschaftliches Studium aufgenommen hatten, handelte es sich mit dem Pathologen Hauser, dem Dozenten für Haut- und Geschlechtskrankheiten Hauck, dem Hygieniker und Bakteriologen von Angerer und dem Pharmakologen Schübel wohl nicht zufällig in Mehrheit um Vertreter von Grundlagendisziplinen. 63 Gerade hier waren die Grenzen zu den Naturwissenschaften nach wie vor unscharf Gerade die Pharmakologie, in Erlangen erst unter Schübel zum ordentlichen Lehrstuhl erhoben, stellt ein gutes Beispiel für den Wandel von einer untergeordneten, vorwiegend auf die klinische Praxis orientierten Hilfswissenschaft zur autonomen Disziplin mit streng experimentell-naturwissenschaftlichen Methodeninstrumentarium dar.64 Eine große Nähe gab es auch noch zwischen Medizin und Botanik, hatten doch die beiden Botaniker Claussen und Noack ihre akademische Karriere als Medizinstudenten begonnen. 65 Die Verbindungslinien zwischen Philosophie und Theologie auf der einen Seite sowie Medizin und Naturwissenschaften auf der anderen waren hingegen jetzt praktisch vollständig gekappt. Lediglich der Kliniker Müller und der Geo-

62 Rieker (BA 106) trat 1890 aus dem Kirchendienst aus und habilitierte sich 1891 für Kirchenrecht; zu Kühlers Berliner Ernennung siehe insbes. Wenger, Bernhard Kübler, SXIIIf. (BA 92). 63 Siehe BA 1 4 8 , 1 4 7 , 1 2 5 , 1 8 4 ; Hauser führte sein zoologisches Studium neben dem medizinischen weiter und schloß es 1879 mit d e m Dr. phil. ab; ebenso Schübel, der 1908 die Lehramtsprüfung für Chemie und Naturwissenschaften bestand und 1909 z u m Dr. phil. (Chemie, Physik, Mineralogie) promoviert wurde. 64 Vgl. Knevelkamp, S. 4f., S. 77-181. 65 Siehe BA 219, 286; Noack legte 1909 auch die ärztliche Vorprüfung in München ab.

136

graph Gradmann hatten im Erststudium Philosophie bzw. Theologie belegt. Beide nahmen in Rückblicken ein äußerst distanziertes Verhältnis zu diesem akademischen Lebensabschnitt ein, während der Fachwechsel als glücklicher Durchbruch zur eigentlichen Passion geschildert wurde. 66 3.1.2.3. Studienabschlüsse Im 18. Jahrhundert (Ernennungszeitraum 1743 bis 1810) hatte das staatliche bzw. kirchliche Prüfungswesen noch sehr geringen Einfluß. N u r für sechs Mitglieder der Theologischen, zwei der Juristischen und vier der Philosophischen Fakultät, insgesamt also 15,4 Prozent der 78 Ordinarien, ließ sich ein entsprechendes Examen nachweisen. 67 Die späteren Professoren der Theologie beendeten ihr Studium meist als Magister der Philosophischen Fakultät. N u r für drei von ihnen ist dieser Titel nicht belegt.68 Den Grad eines Dr. theol. erhielten zwar nachweislich alle 16 Theologen jener Zeit. Diese Promotion erfolgte aber in aller Regel erst nach der Ernennung zum ordentlichen Professor und kann somit kaum als Studienabschluß angesehen werden. 69 Auch unter den Mitgliedern der Juristischen Fakultät waren Träger des philosophischen Magistergrades weit verbreitet. Mit zehn von 23 Personen (43,5 Prozent) lag ihr Anteil aber deutlich niedriger als bei den Theologen; zwei erhielten den Titel zudem erst einige Jahre nach ihrer Ernennung zum Erlanger Ordinarius, also ohne direkten Zusammenhang mit dem Studium. 70 Die Promotion zum Dr. jur. stellte hier die entscheidende Graduierung des akademischen Nachwuchses dar. In 21 von 23 Fällen erhielten die Betreffenden den Doktorgrad, bevor sie die juristische Lehrtätigkeit an einer Hochschule aufnahmen; er wurde auch ausdrücklich als unverzichtbare Lehrvoraussetzung ange66 Vgl. Müller, L e b e n s e r i n n e r u n g e n , S. 19-27 (BA 170); Gradmann, L e b e n s e r i n n e r u n g e n , S. 8 7 - 9 4 (BA 238). 67 T h e o l o g e n : C h l a d e n i u s (1732 1. theol. Examen in Wittenberg); Buttstett (1726 1. theologische Examen in Erfurt); Kiesling (1730 Kandidatenexamen in Dresden); Krafft (1762 Kandidatenexamen in Bayreuth); Seiler (1762 theologisches Examen); Berthold (Examen p r o licentia c o n cionandi); Juristen: W e r n h e r (1738 E x a m e n p r o candidatura in Wittenberg); Malblanc (1772 Examen o h n e nähere B e s t i m m u n g ) ; »Phil. Sek.«: Kripner (1733 Kandidatenexamen in Bayreuth); Abicht (1784 Kandidatenexamen in Rudolstadt); »Nat. Sek.«: Poezinger (1738 2. theologisches E x a m e n in Bayreuth); Statius-Müller (1745 Kandidatenexamen in Amsterdam) (BA 8, 6, 31, 34, 49, 4, 124, 100, 268, 204, 297, 324). 68 J. W . Rau, R o s e n m ü l l e r u n d Vogel (BA 44, 45, 55). 69 J. E. Pfeiffer (BA 39) w u r d e a m 17.10.1743 in Jena z u m D r . theol. promoviert. D a der Privatdozent bereits am 4.11.1743 seine ordentliche Professur in Erlangen antrat, stand auch seine P r o m o t i o n ganz offenbar in direktem Z u s a m m e n h a n g mit der E r h e b u n g ins Ordinariat; Zickler (BA 60) war z u m Z e i t p u n k t seiner P r o m o t i o n z u m D r . theol. (1758) Extraordinarius in Jena; alle 14 übrigen T h e o l o g e n erhielten diesen Grad erst im Anschluß an ihre E r n e n n u n g z u m O r d i n a r i us, meist nach n u r wenigen W o c h e n . 70 Elsässer (1777); J. B. Geiger (1777) (BA 71, 75).

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sehen.71 Inwieweit hier allerdings tatsächlich von einem Studienabschluß die Rede sein kann, ist insofern fraglich, als zwischen dem Ende des Hochschulbesuchs und der Verleihung des Doktortitels meist ein längerer Zeitraum verstrich, in dem sich die Personen in praktischen Rechtsberufen umtaten. Die Promotion erfolgte in fast allen Fällen erst unmittelbar vor dem Beginn der eigenen Vorlesungstätigkeit, stand also wohl in direktem Zusammenhang mit dem Entschluß, die akademische Laufbahn einzuschlagen. Ein formaler Studienabschluß schien hingegen vielfach überhaupt nicht notwendig. Die Promotionsbedingungen an der Erlanger Juristischen Fakultät sind genauer untersucht worden. 72 Danach hatten die Kandidaten im 18. Jahrhundert zwei mündliche Prüfungen zu überstehen, mußten die schriftliche Auslegung eines Textes aus dem Corpus Juris, eine feierliche Bittschrift sowie einen Lebenslaufin lateinischer Sprache vorlegen und eine öffentliche Disputation halten. Die Ausarbeitung der Dissertation übernahm meist ein Professor, in der Regel der Präses der Disputation, wofür er vom Doktoranden ein Geldhonorar erhielt. N u r zwei Träger des Magistergrades fanden sich unter den 13 Medizinern jener Zeit. 73 Alle führten hingegen den medizinischen Doktortitel. Im Gegensatz zu den Juristen verließ von ihnen kein einziger die Hochschule, ohne nicht zuvor promoviert worden zu sein. Der Doktorgrad hatte hier demnach tatsächlich den Charakter eines Studienabschlusses. In der Philosophischen Fakultät waren alle Mitglieder Inhaber des Magistertitels. Die einzige Ausnahme bildete kein Geringerer als der Philosoph Fichte, der sein Studium 1784 abgebrochen hatte. Der Naturwissenschaftler Hildebrandt, zugleich Ordinarius der Medizin, führte den Magistertitel in Kombination mit dem medizinischen, der Kameralist Bensen, zugleich Extraordinarius der Rechte, in Kombination mit dem juristischen Doktorgrad. 74 Der Titel eines Magisters wurde teils nach Absolvierung des propädeutischen Kurses, teils zum Ende des Studiums, vielfach aber auch überhaupt nicht während des Hochschulbesuches erworben, sondern anläßlich oder nach der Übernahme des akademischen Lehrfaches erteilt. Bestätigt wurde erneut die Rolle der Philosophischen Fakultät als untergeordnete Ausbildungs- und Laufbahnstation des akademischen Nachwuchses. 71 J. C . R u d o l p h w u r d e bei seiner E r n e n n u n g z u m Extraordinarius in der Juristischen Fakultät 1754 v o m Markgraf ausdrücklich v o n der P r o m o t i o n dispensiert. Bestallungsdekret, Bayreuth, 13.5.1754. Personalakt R u d o l p h (BA 109); Boll (BA 65) trug 1779 bei seiner E r n e n n u n g z u m Erlanger Ordinarius keinenjuristischen Doktortitel. Erst 1781 w u r d e er in Straßburg z u m j u r i s t i schen Lizentiaten promoviert. 72 Vgl. Poll, S. 168-174. 73 Schreber (BA 181) erhielt d e n Titel 1770 v o n der Erlanger Philosophischen Fakultät nach d e m Antritt seines Ordinariats, da er als Naturwissenschaftler u n d Kameralist auch m e h r e r e Lehraufträge in der Philosophischen Fakultät w a h r n a h m ; Schreger (BA 182) hatte seine akademische Lehrtätigkeit 1791 in traditioneller Weise als Magister legens in Leipzig a u f g e n o m m e n . 74 Siehe BA 228, 252, 210.

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Den Magistertitel trugen mindestens 49 Ordinarien, also 62,8 Prozent der Gesamtheit. Während der Magister im Bereich der Theologischen und Philosophischen Fakultät als Ausweis hinreichender Studien offenbar ausreichte, hatten die Juristen und Mediziner spätestens vor der Aufnahme der akademischen Laufbahn den Doktorgrad zu erwerben. Dieser Umstand verweist auch auf die soziale Hürde, welche die Promotion seinerzeit darstellte. Die erheblichen Kosten - ein Mediziner aus Zürich hatte in Erlangen beispielsweise 1774 Gesamtauslagen von insgesamt 459 fl.75 - dürften für die Juristen und Mediziner aufgrund ihrer relativ exklusiven Herkunft sehr viel eher tragbar gewesen sein als für die zahlreichen Aufsteiger in der Theologischen und Philosophischen Fakultät. Staats- und Kirchenexamen gewannen im Vormärz (Ernennungszeitraum 1811 bis 1848) eindeutig an Gewicht. Für 25 der 61 Ordinarien (41 Prozent) ist eine solche Prüfung belegt. Signifikante Unterschiede lassen sich hier zwischen der Theologischen, Juristischen und Medizinischen Fakultät auf der einen Seite und der Philosophischen auf der anderen ausmachen. Von zwölf Theologen absolvierten acht (66,7 Prozent) die theologische Aufnahmeprüfung, von 15 Juristen fünf das Referendars- und einer das höhere Lehramtsexamen (insgesamt vierzig Prozent), von 13 Medizinern brachten sieben (53,8 Prozent) die ärztliche Approbationsprüfung hinter sich. Intensivierte sich hier also die Einwirkung von Staat und Kirche, blieb die akademische Autonomie des Lehr- und Prüfungswissens in der Philosophischen Fakultät mit vier Staatsexamensabsolventen (darunter drei Kandidaten für das höhere Lehramt) bei insgesamt 21 Ordinarien (19 Prozent) deutlich stärker gewahrt. In diesen Zahlen kommt unter anderem zum Ausdruck, daß die Regulierung der Hochschulausbildung durch den Staat, ein gerade in Deutschland wichtiger Faktor bei der Professionalisierung akademischer Berufe, in den kirchlichen, ärztlichen und juristischen Arbeitsfeldern etwas früher griff als im Bereich des gymnasialen Lehramts. 76 Was die akademischen Abschlüsse angeht, blieb es unter den Theologen Brauch, zunächst den Magister- oder Doktorgrad der Philosophischen Fakultät zu erwerben. Er ließ sich für zehn von zwölf Theologen nachweisen und wurde meist in zeitlicher Nähe zur ersten theologischen Aufnahmeprüfung erteilt.77 Der Titel eines Lizentiaten der Theologie, den ebenfalls zehn von ihnen trugen, stand dagegen weniger in Zusammenhang mit dem Abschluß des Studiums als mit der Aufnahme theologischer Hochschulvorlesungen. 78 In der Juristischen Fakultät waren alle Mitglieder bis auf den Zivil- und Kriminalrechtler Borst Inhaber des juristischen Doktorgrades, der nach wie vor als feste Voraussetzung 75 76 77 78

Vgl. Meyer von Cnonau, S. 218-224; vgl. auch: Wendehorst, Geschichte, S. 101. Vgl. McClelland, T h e German experience, insbes. S. 39-46. Nicht belegt ist der Magister/Dr. phil. für Olshausen und Thomasius (BA 38, 52). N i c h t belegt ist der Lic. theol. für Ranke und Thomasius (BA 43, 52).

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rechtswissenschaftlicher Lehrtätigkeit galt.79 In Kombination mit dem Magister oder Dr. phil. trugen ihn vier Rechtsordinarien. 80 Im Gegensatz zum vorangegangenen Zeitraum verließen die Juristen aber die Universität nicht mehr ohne förmlichen Abschluß. Die einzigen drei Personen, die ihren Doktorgrad mehr als ein Jahr nach der Beendigung ihres Studiums erwarben, hatten dasselbe zuvor mit dem Staatsexamen abgeschlossen.81 Bei den akademischen Abschlüssen der Mediziner sind keine wesentlichen Veränderungen zu beobachten. Daß die Hochschule nicht ohne den Grad eines Dr. med. verlassen wurde, war hier nach wie vor selbstverständlich. In Kombination mit dem Magister oder Dr. phil. trugen ihn nur der Kliniker Harleß und der Zoologe Will.82 Ein sehr uneinheitliches Bild bietet die Philosophische Fakultät, in der nur für zwölf von 21 Personen (57,1 Prozent) der Titel eines Magister oder Dr. phil. nachgewiesen werden konnte. Soweit erkennbar, wurde dieser aber jetzt mit größerer Regelmäßigkeit als zuvor am Ende des Studiums erworben. Ohne jeden Abschluß blieb der Orientalist Kanne, der sein Studium zugunsten eines jahrelangen ruhelosen Wanderlebens aufgegeben hatte.83 Die beiden Altphilologen Kopp und Nägelsbach konnten lediglich die Staatsprüfung für das höhere Lehramt vorweisen. 84 Die Nähe zwischen Theologie und Philosophie bestätigte der Philosoph Koppen, der seinen Hochschulbesuch mit der Promotion in Theologie beendet hatte, diejenige zwischen Kameralistik und Jurisprudenz der Kameralist Harl, der sowohl in der Philosophischen als auch in der Juristischen Fakultät den Doktorgrad erwarb. Als Sonderfall ist Harls Lehrstuhlnachfolger Weinlig einzustufen. Er hatte ein Medizinstudium abgeschlossen und bereits sieben Jahre als praktischer Arzt in Leipzig gearbeitet, bevor er den Doktortitel in der Philosophischen Fakultät erwarb.85 Der Botaniker Nees von Esenbeck und der Naturgeschichtler Schubert unterstrichen mit dem Titel des Dr. med. die Verbundenheit zwischen den medizinischen und naturkundlichen Wissenschaften. Aufs Ganze gesehen läßt sich aus den Abschlüssen der vormärzlichen Ordinarien eine sachte Differenzierung der Studiengänge ablesen. Außerdem unterlag der Hochschulabgangjetzt stärkeren Reglementierungen. Die Quote der Staatsexamensabsolventen erhöhte sich signifikant, und auch bei den akademischen Abschlüssen ist eine gewisse Formalisierung zu beobachten. Allerdings 79 In Borsts Bestallungsdekret erfolgte ausdrücklich die Anweisung, den Grad des Dr. jur. zu erwerben. Dazu kam es aber nicht, da Borst schon im folgenden Jahr einem Ruf nach Tübingen folgte. Bestallungsdekret, München, 27.5.1817. Personalakt Borst (BA 66). 80 Lang, Schunck, v. Scheurl, C. E. v. Wendt (BA 93, 115, 111, 122). 81 Nämlich: C. E. v. Wendt, v. Scheurl, Briegleb (BA 122, 111, 68). 82 BA 145, 199. 83 Seine Berufung nach Erlangen erfolgte ungesucht. Vgl. Kanne, Leben und aus dem Leben, Bd. 2, S.XVf.; Schrey, Mythos, S. 249-252 (BA 258); Bobzin/Forssmann, S. 478. 84 BA 265, 283. 85 BA 332.

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hat hier in die Bewertung mit einzufließen, daß das Ansehen des Doktorgrades vor allem bedingt durch die Sportelinteressen der Fakultäten ungefähr seit dem Ende des 18. Jahrhunderts gewissen Verfallserscheinungen ausgesetzt war.86 Man konnte, erinnerte sich der 1826 in Berlin promovierte Chirurg Stromeyer, auf den Doktorgrad nicht einmal mehr den Anspruch gründen, »für einen Mann von guter Erziehung gehalten zu werden».87 U m so größere Bedeutung mußte nun den Testimonien des Staates zukommen, dessen Einfluß auf das Ausbildungscurriculum sich also nicht nur im Schulbereich erhöhte. Mindestens 58 von 90 Ordinarien (64,4 Prozent) des Ernennungszeitraumes 1849 bis 1890 legten während ihres Studiums ein Examen für den höheren Staats- oder Kirchendienst ab - gegenüber ihren Vorgängern aus der Zeit des Vormärz bedeutete das erneut eine Steigerung um etwa 25 Prozent. Dabei tat sich wiederum eine Schere zwischen Theologen, Juristen und Medizinern einerseits und den Mitgliedern der Philosophischen Fakultät andererseits auf 88 Zwar gewann hier die Prüfung für das gymnasiale Lehramt - vornehmlich bei Philologen und Historikern - an Boden, wurde aber längst nicht von allen Personen absolviert. Es fällt übrigens auf, daß die Lehramtskandidaten unter den Mitgliedern der Philosophischen Fakultät mehrheitlich aus ökonomisch eher schlecht gestellten Familien stammten, während das Herkunftsprofil der übrigen Fakultätsangehörigen deutlich exklusiver war.89 Das Lehramtsexamen stellte einen Abschluß dar, der nicht mit vergleichbarer Verbindlichkeit zu absol86 Vgl. Poll, S. 168-194; Wendehorst, Geschichte, S. lOOf. 87 Stromeyer, E r i n n e r u n g e n , Bd. 1, S. 206 (BA 189). 88 N i c h t belegt ist eine kirchliche A u f n a h m e p r ü f u n g des Praktischen T h e o l o g e n H a r n a c k u n d des Kirchenhistorikers Kolde (BA 20, 33), f ü r die übrigen 14 Mitglieder der Theologischen Fakultät ist sie nachgewiesen; v o n d e n zwölf Juristen legten mindestens n e u n die juristische Staatsprüfung ab, Brinz (BA 69) zusätzlich die höhere L e h r a m t s p r ü f u n g ; nicht nachweisen ließen sich Staatsexamen f ü r d e n Staatsrechtler M a r q u a r d s e n sowie die beiden Strafrechtler Lueder u n d H . M e y e r (BA 101, 99, 102); mindestens 20 v o n 22 M e d i z i n e r n absolvierten die medizinische Approbationsprüfung, lediglich f ü r d e n Gynäkologen Zweifel u n d d e n Zoologen Ehlers (BA 203, 133) ist sie nicht belegt; der Archäologe Flasch, die Historiker Hegel u n d P ö h l m a n n , die Klassischen Philologen Keil, I. M ü l l e r u n d Schöne sowie der Anglist u n d Romanist Varnhagen (BA 233, 245, 298, 260, 282,315, 329) hatten die P r ü f u n g f ü r das h ö h e r e Lehramt abgelegt, der Philosoph H e y d e r u n d der Historiker Weizsäcker (BA 251,333) die theologische A u f n a h m e p r ü f u n g u n d der N a t i o n a l ö k o n o m Eheberg (BA 223) das erste juristische Examen; in der »Philosophischen Sektion« m a c h t e n die nachgewiesenen Absolventen v o n Staats- u n d K i r c h e n p r ü f u n g e n d e m n a c h zehn v o n 21 P e r s o n e n (47,6 Prozent) aus; v o n den Mitgliedern der »Naturwissenschaftlichen Sektion« hatten die Physiker Beetz u n d L o m m e l sowie der Zoologe Selenka (BA 209, 274,320) das h ö h e r e Lehramtsexamen absolviert u n d die C h e m i k e r v o n Gorup-Besánez u n d Hilger (BA 237,253)) die medizinische A p p r o b a t i o n s - bzw. p h a r m a z e u t i s c h e Staatsprüfung; der Anteil nachweisbarer Staatsexamenskandidaten b e t r u g hier 25 P r o z e n t ( f ü n f v o n 20). 89 Sechs v o n zehn Lehramtskandidaten in der Philosophischen Fakultät hatten einen Pfarrer, Gymnasiallehrer, K a u f m a n n , H a n d w e r k e r o d e r Bauern z u m Vater; u n t e r d e n Mitgliedern der Fakultät o h n e nachweisbares Lehramtsexamen fiel der Anteil v o n Vätern, deren ö k o n o m i s c h e Möglichkeiten als vergleichbar unterdurchschnittlich einzuschätzen sind, m i t 30 Prozent ( n e u n v o n 30) u m die Hälfte niedriger aus.

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vieren war wie die einschlägigen Prüfungen der Theologen, Juristen und Mediziner. Außerdem wurde es eher von Personen ohne wirtschaftlichen Rückhalt als existenzsicherndes Standbein angestrebt. Die Philosophische Fakultät, besonders die »Naturwissenschaftliche Sektion«, bewahrte sich im Hinblick auf die Studiencurricula ihres Lehrpersonals die größte akademische Autonomie. Bei den Theologen blieb es dabei, daß der Titel eines Lizentiaten der Theologie, den 13 von 16 trugen, nicht den Charakter eines Studienabschlusses hatte, sondern immer erst im unmittelbaren Vorfeld eigener theologischer Dozententätigkeit erworben wurde. Als zunehmend überholt erwies sich jetzt hingegen die Tradition, das Studium als Doktor der Philosophie zu beenden. Dr. phil. waren nur noch fünf Theologen, und zwar vorwiegend die älteren.90 Die theologische Aufnahmeprüfung etablierte sich endgültig als die entscheidende Hürde des Studienabschlusses. Ähnliches gilt für die Juristen und Mediziner. Alle Rechtswissenschaftler waren Inhaber des juristischen Doktorgrades. Soweit ersichtlich, erfolgte die Promotion am Ende des Studiums, in der Regel in unmittelbarer zeitlicher Nähe zur ersten juristischen Staatsprüfung. In Kombination mit dem Doktorgrad der Philosophischen Fakultät wurde der Titel des Dr. jur. nur noch von Gengier erworben. 91 Unter den Medizinern war es jetzt fast selbstverständlich, das Studium mit der Approbationsprüfung zu beenden. Der Doktorgrad der Medizinischen Fakultät, den alle trugen, wurde meist einige Monate vorher erteilt. Inhaber mehrerer Doktortitel gab es hier überhaupt nicht mehr, Ehrenpromotionen immer ausgenommen. Wenn der Dr. phil. unter den Theologen,Juristen und Medizinern unüblich wurde, setzte er sich in der Philosophischen Fakultät immer mehr durch. Hier trugen den Titel jetzt mindestens 34 von 41 Personen (82,9 Prozent), während im Gegenzug die Graduierung durch andere Fakultäten prozentual zurückging.92 Die Promotion stand nun auch für die Mitglieder der Philosophischen Fakultät eindeutig am Ende des Studiums; lediglich der Altphilologe Müller und der Physiker Lommel ließen es zunächst beim Lehramtsexamen bewenden. 93 Im Kontext der seinerzeit erneut angehobenen Leistungsanforderungen im Promotionsverfahren, das nun insbesondere die Ausarbeitung einer selbständig verfaßten Dissertation zur Voraussetzung hatte,94 kann auch dies als 90 D r . phil. w a r e n Delitzsch, Frank, Köhler, S c h m i d u n d Kolde (BA 9, 15, 32, 47, 33); o h n e akademischen Grad blieben Caspari, A. H a u c k u n d Usteri (BA 7, 21, 54). 91 BA 77. 92 D e n D r . j u r . erwarb der N a t i o n a l ö k o n o m Makowiczka; sein Fachkollege E h e b e r g sowie der C h e m i k e r Zoeller w a r e n D r . rer. pol.; als D r . m e d . verließen der C h e m i k e r v. Gorup-Besänez u n d der Mineraloge F. P f a f f d i e H o c h s c h u l e (BA276, 223, 341, 237, 292). 93 I. M ü l l e r (BA 282) w u r d e erst 1865, im J a h r nach seiner E r n e n n u n g z u m Erlanger O r d i n a rius, z u m D r . phil. promoviert, L o m m e l (BA274) ebenfalls 1865, sieben J a h r e nach seinem Lehramtsexamen. Beide wirkten vor der P r o m o t i o n lange J a h r e als Gymnasiallehrer. 94 Vgl. Poll, S. 168, S. 191-196; Wendehorst, Geschichte, S. lOlf.

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Hinweis auf die zunehmende Verwissenschaftlichung und Spezialisierung der Studiengänge angesehen werden. Im Ernennungszeitraum 1891 bis 1933 kam es demgegenüber nur noch zu geringfügigen Veränderungen. Die Q u o t e der Absolventen von Staats- oder Kirchenexamen wies mit 70,5 Prozent (79 von 112 Personen) eine leichte Steigerung auf. Dabei fiel der entsprechende Anteil in der Philosophischen Fakultät - und besonders in ihrer »Naturwissenschaftlichen Sektion« - wiederum deutlich geringer aus als in den übrigen Fachbereichen. Historiker, Altphilologen, Mathematiker und Botaniker waren unter den Lehramtsanwärtern besonders gut vertreten, wenngleich nach wie vor längst nicht alle Fachkollegen diesen Abschluß anstrebten. 95 Es zeigte sich auch erneut das sozioökonomische Gefälle, das der Herkunft nach zwischen den ehemaligen Lehramtskandidaten und den übrigen Fakultätsmitgliedern bestand. 96 13 von 16 Theologen erhielten den Grad eines Lizentiaten der Theologie, wobei auffällt, daß dieser Titel gerade bei den Jüngeren nun oft in größerer Nähe zum Studiumsende, teils zwischen dem ersten und zweiten theologischen Examen, erworben wurde. 97 Daneben kam hier wieder stärker der Doktorgrad der Philosophischen Fakultät zu Ehren, den immerhin acht Theologen führten. Wie schon bei den Studienfächern zu sehen war, wurden also die tra95 Für 15 von 16 Theologen, mit Ausnahme nur des Systematikers Eiert (BA 11), ist die Absolvierung der theologischen Aufnahmeprüfung belegt, der Alttestamentler Lötz und der Neutestamentler Bachmann (BA 35, 3) bestanden zusätzlich das Examen fiir das höhere Lehramt. Zwölf von insgesamt 14 Juristen hatten das juristische Examen hinter sich gebracht, der Zivilrechtler Kübler (BA 92) die Prüfung für das höhere Lehramt. Keine staatliche Prüfung ließ sich für den Staatsrechtler Rieker (BA 106) nachweisen. Alle 32 Mediziner legten die ärztliche Approbationsprüfung ab, der Pharmakologe Schübel (BA 184) zusätzlich das höhere Lehramtsexamen; in der »Philosophischen Sektion« hatten die Historiker Judeich, Fester, Schulten und Brandt, die Altphilologen Heerdegen, Römer, Stählin, Klotz und Witte, der Indogermanist W. Geiger sowie der Germanist Saran (BA257,227,317,213,244,307,323,263,338,235,310) die Prüfung für das höhere Lehramt bestanden, Stählin und der Philosoph Herrigel (BA 250) die theologische Aufnahmeprüfung. Der Anteil der Staats- bzw. Kirchenexamensabsolventen betrug hier also mindestens 46,2 Prozent (zwölf von 36); unter den Mitgliedern der »Naturwissenschaftlichen Sektion« waren die Mathematiker Haupt und Radon, der Physiker Reiger und die Botaniker Solereder und Schwemmle (BA 243, 300, 305, 321, 319) Absolventen der höheren Lehramtsprüfung, der Chemiker E. Beckmann (BA 207) hatte die pharmazeutische Approbationsprüfung abgelegt, der Geograph Gradmann (BA 238) die theologische Aufnahmeprüfung. Der Zoologe Fleischmann (BA 234) strebte das höhere Lehramtsexamen an, fiel aber durch. Hier betrug der Anteil der Absolventen von Staats- und Kirchenprüfungen 29,2 Prozent (sieben von 24). 96 Von 15 Absolventen der höheren Lehramtsprüfung in der Philosophischen Fakultät entstammten neun (60 Prozent) dem Haushalt eines Pfarrers, Gymnasiallehrers, Volksschullehrers oder Angestellten; unter den Fakultätsmitgliedern, für die sich keine entsprechenden Examen nachweisen ließen, machte der Anteil von Vätern, deren ökonomisches Potential als unterdurchschnittlich einschätzen ist, 42,9 Prozent (15 von 35) aus. 97 Nicht nachweisen ließ sich der Lic. theol. bei dem Neutestamentier Bachmann (BA3), der offensichtlich ohne akademischen Grad blieb, und den Praktischen Theologen Bürckstümmer und Ulmer (BA 5, 53), die lediglich den Doktortitel der Philosophischen Fakultät führten.

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ditionell starken Verbindungen zwischen der Theologie und den philosophisch-philologisch-historischen Disziplinen keineswegs aufgegeben. Sehr einheitlich blieb der Hochschulabgang der späteren Rechtsordinarien. 13 von 14 erwarben den Doktortitel der Juristischen Fakultät, und zwar in aller Regel zwischen dem Referendars- und dem Assessorsexamen.98 Was die Mitglieder der Medizinischen Fakultät anbelangt, blieb es bei dem engen Zusammenhang von ärztlicher Approbationsprüfung und medizinischem Doktorgrad. Meist betrug die zeitliche Differenz zwischen beiden Abschlüssen nur wenige Monate, wobei das Staatsexamen in der Mehrheit der Fälle vorausging. Der einzige Mediziner, für den keine Promotion an einer Medizinischen Fakultät zu belegen war, ist der Physiologe Weinland, der den Dr. phil. aufgrund einer zoologischen Dissertation erhalten hatte. Weitere vier Mediziner nutzten die engen Verbindungen, die insbesondere zwischen den medizinischen Grundlagendisziplinen und den Naturwissenschaften bestanden, um neben dem Doktortitel der Medizinischen auch den der Philosophischen Fakultät zu erwerben. 99 Hingegen wurden die Mitglieder der Philosophischen Fakultät mit Ausnahme des Altphilologen Römer,100 der keinen akademischen Grad besaß, allesamt nur einmal promoviert, und zwarjeweils am Ende des Hochschulbesuchs aufgrund einer Dissertation im Bereich der Disziplin, die sie später als Hochschullehrer vertraten. Während also in den Kreisen der Theologen, Juristen und Mediziner wieder gewisse Ansätze zur Überschreitung der Fakultätsgrenzen zu bemerken sind, schritt die Spezialisierung unter den Mitgliedern der Philosophischen Fakultät sichtlich weiter fort. 3.1.2.4. Studiendauer sowie Lebensalter bei Studienabschluß Blickt man auf die Studiendauer der Erlanger Ordinarien (Abb. 13), fällt zunächst auf, daß in allen Ernennungszeiträumen ein Hochschulbesuch von vier bis fünfJahren am häufigsten vorkam und gerade gegen Ende hin nahezu zur Regel wurde. Vor allem die Personen mit kürzeren Studienzeiten gingen prozentual stark zurück. Nach Durchschnittszahlen stieg die Verweildauer, einhergehend mit der allgemeinen Entwicklung an den deutschen Universitäten,

98 Der einzige Jurist, der den Dr. jur. nicht zwischen den beiden juristischen Examen, sondern zu einem späteren Zeitpunkt erwarb, war der Vertreter des Deutschen und Bürgerlichen Rechtes Locher (BA98). 99 Hauser, Spuler, Schüber und Wintz (BA 148, 188, 184, 200); zu Weinland siehe BA 196; Hauser und Spuler befaßten sich wie Weinland mit einem zoologischen Dissertationsthema, Schübel mit einem chemischen und Wintz mit einem physikalischen. 100 BA 307.

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etwa seit dem letzten Drittels des 19. Jahrhunderts sachte aber beständig an.101 Man darf annehmen, daß die zunehmende Reglementierung des Hochschulaufenthaltes durch minutiöse Studienpläne 102 die Verlängerung und gleichzeitige Vereinheitlichung zu guten Teilen verursachte.

Abb. 13: Dauer des Studiums nach Ernennungszeiträumen 1743-1933103 1 0 0 %

r—j

80%

Studienzeit „60%

g |

9 über 5 Jahre « 4 - 5 Jahre r-i » t u • unter 4A Jahre

40%

20% -

0% 1743-1810

1811-1848

1849-1890

1891-1933

Ernennungszeitraum

Quelle: Vgl. Seite 66, Fußnote 6. 101 Durchschnittliche Studiendauer (Jahre) der Untersuchungspersonen, getrennt nach Ernennungszeiträumen und Fachbereichen: 1743-1810: Gesamt: 4,5; Theol.: 4,1; Jur.: 5,0; Med.: 4,9; »Phil Sek.«: 3,6; »Nat. Sek.«: 5,2; 1811-1848: Gesamt: 4,7; Theol.; 4,5; Jur.: 4,7; Med.: 4,9; »Phil. Sek.«: 4,6; »Nat. Sek.«: 4,6; 1849-1890: Gesamt: 4,4; Theol.: 4,2; Jur.: 4,4; Med.: 5,3; »Phil. Sek.«: 4,2; »Nat. Sek«.: 3,7; 1891-1933: Gesamt: 4,8; Theol.: 3,9;Jur.: 4,3; Med.: 5,4; »Phil. Sek«.: 4,8; »Nat. Sek.«: 5,2. Die Ermittlung der Studiendauer erfolgte durch die Subtraktion des Jahresdatums, zu dem das Studium aufgenommen wurde, von dem Jahresdatum, zu dem es beendet wurde. Davon in Abzug kam ggf. die Dauer von Studienunterbrechungen, nicht jedoch die Dienstzeit als sog. Einjährig-Freiwilliger. Was das Ende des Studiums angeht, so wurde das Jahr gewählt, in dem die jeweilige Person ihr erstes Staats- bzw. Kirchenexamen ablegte. Wurde kein solcher Abschluß gemacht, so galt das Promotionsjahr (soweit Informationen vorhanden waren: das Datum der mündlichen Prüfung; bei mehreren Promotionen die jeweils zeitlich früheste) als maßgeblich, allerdings nur dann, wenn die Promotion nicht mehr als ein Jahr nach dem Abgang von der Hochschule erfolgte. Ansonsten wurde, wie auch bei Fällen, zu denen keine Angaben über irgend einen förmlichen Abschluß vorlagen, das Jahr gewählt, in dem das zuletzt an der Hochschule verbrachte Semester endete; vgl. allgemein: Weber, W., Priester der Klio, S. 117. 102 Vgl. für Erlangen: Willett, »Brauchbare Subjekte«, S. 280-282. 103 Die Verteilung nach absoluten Zahlen: 1743-1810: unter 4Jahre: 21; 4 - 5 Jahre: 35; über 5 Jahre: 15; fehlende Werte: 7; 1811-1848: unter 4 Jahre: 10; 4 - 5 Jahre: 30; über 5 Jahre: 10; fehlende Werte: 11; 1849-1890: unter 4Jahre: 15; 4-5 Jahre: 49; über5Jahre: 12; fehlende Werte: 14; 1891-1933: unter 4 Jahre: 10; 4-5 Jahre: 75; über 5 Jahre: 12; fehlende Werte: 15.

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Im 18. Jahrhundert waren es relativ viele Theologen und Mitglieder der Philosophischen Fakultät, die ihr Studium zügig hinter sich brachten. Die Mediziner und besonders die Juristen ließen sich hingegen mehr Zeit. 104 Im 19. und frühen 20. Jahrhundert zeichnete sich folgende Entwicklung ab: Die Theologen, von denen im Vormärz weiterhin überproportional viele, nämlich genau ein Drittel, weniger als vier Jahre auf das Studium verwendeten, konnten ihre Verweildauer seit dem späten 19. Jahrhundert sogar gegen den allgemeinen Trend weiter verringern. Ahnlich verhält es sich mit den Juristen. Seit dem Ernennungsjahrgang 1849 studierte von ihnen kein einziger länger als fünf Jahre, 1891 bis 1933 konnte sogar ein Viertel seinen Hochschulaufenthalt in weniger als vier Jahren beenden. Bei Theologen und Juristen hatte die Systematisierung der Curricula also offensichtlich einen zeitsparenden Effekt. Was die Medizinordinarien angeht, ist dagegen eine sehr auffällige Steigerung der Studienzeit festzustellen. Sie absolvierten seit dem Vormärz alle ein Studium von mindestens vier Jahren. Der Anteil derjenigen, die über fünf Jahre an der Hochschule verbracht hatten, lag stets mindestens bei 29 Prozent, 1849 bis 1890 sogar bei 43,8 Prozent. Bedingt durch das Erfordernis, sich als Arzt auf sämtlichen Gebieten der Heilkunde auszukennen, zwang der Spezialisierungs- und Reglementierungstrend die Mediziner offensichtlich zu einem ausgesprochen langen Hochschulaufenthalt. Während die Mitglieder der »Philosophischen Sektion« keine vom Gesamtschnitt signifikant abweichende Studiendauer mehr aufwiesen, stachen die Mathematiker und Naturwissenschaftler in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch relativ kurze Verweilzeiten hervor. In über fünfzig Prozent aller belegbaren Fälle des Zeitraumes 1849 bis 1890 konnten sie ihre akademische Ausbildung in weniger als vier Jahren zu Ende bringen. Hier brachte also der Prozeß der Fächerdifferenzierung und -Spezialisierung sowie der weitgehende Verzicht auf Staatsexamina zunächst die Chance auf ein zügiges Studium mit sich. Allerdings glich sich die Entwicklung der Studienzeit im frühen 20. Jahrhundert jener der Medizinischen Fakultät deutlich an. Beim Studienabschlußalter nahm die anfängliche Schwankungsbreite zwischen extrem hohen und extrem niedrigen Werten mit der Zeit deutlich ab (Abb. 14). Im 18. Jahrhundert sorgten viele relativ betagte Absolventen dafür, daß das Durchschnittsalter trotz der großen Zahl sehr junger Hochschulabgänger eher hoch lag. Weil Anteil sowie Grad der Abweichung bei den extrem Jungen im Ernennungszeitraum des Vormärz noch nicht so stark zurückgingen wie bei den extrem Alten, fiel das Durchschnittsalter leicht ab. Vor allem der Umstand, daß Absolventen unter 22 Jahren seit der zweiten Hälfte des 19. Jahr104 Der Anteil an Ordinarien mit einer Studienzeit unter vier Jahren betrug 1743 bis 1810 bei den Theologen 40 Prozent (6 von 15 Personen mit nachweisbarer Studiendauer), bei den Juristen 14,3 Prozent (3 von 21), bei den Medizinern 27,3 Prozent (3 von 11) und in der Philosophischen Fakultät 37,5 Prozent (9 von 24).

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hunderts immer seltener wurden, sorgte dann für einen sachten, aber stetigen Wiederanstieg.105 Es war nicht nur die allmähliche Ausdehnung der Studienzeit, die für den Rückgang sehr junger Absolventen verantwortlich war, sondern auch die zunehmende Formalisierung des Hochschulzugangs. In den Ernennungszeiträumen 1743 bis 1810 und 1811 bis 1848 hatten immerhin 20,3 bzw. 17,9 Prozent der Personen ihr akademisches Studium vor der Vollendung des 17. Lebensjahres aufnehmen können, 1849 bis 1890 und 1891 bis 1933 betrug dieser Anteil nur noch 5,1 bzw. 3,9 Prozent. 106 Dabei fällt in der älteren Zeit das ausgesprochen niedrige Einstiegsalter der Juristen auf Von ihnen waren 1743 bis 1810 bei Studienbeginn nicht weniger als 30,4 Prozent jünger als 17, darunter zwei 14und vier 15jährige. Dieser Umstand dürfte zum guten Teil erklären, warum die Juristen seinerzeit im Schnitt deutlich länger studierten als die Kollegen der anderen Fachbereiche. Verständlich wird dadurch auch, daß die Rechtswissenschaftler trotz wie gesagt längeren Studiums die Hochschule meist in jüngeren Jahren wieder verließen als die Gesamtheit. Die deutliche Trennung, die im Rahmen der Humboldtschen Reformen zwischen Schule und Hochschule gezogen wurde, mußte sich auf die studentische Altersstruktur der späteren Rechtsprofessoren besonders einschneidend auswirken. Was den Studienabschluß der untersuchten Personen im Schnitt weiter hinauszögerte war außerdem die Tatsache, daß der Anteil der Militärdienstleistenden seit den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts deutlich anstieg.107 Die Theologen und Juristen, die von der Militärpflicht größtenteils entbunden blieben, verließen vor allem seit dieser Zeit die Hochschule meist deutlich j ü n ger als die Gesamtheit, wobei auch ihre im Schnitt etwas kürzere Studienzeit eine Rolle spielte. Bei Medizinern, Mathematikern und Naturwissenschaftlern 105 Durchschnittliches Lebensalter (Jahre) der Personen bei Studienabschluß, getrennt nach Ernennungszeiträumen und Fachbereichen: 1743-1810: Gesamt: 22,8; Theol.: 22,9; Jur.: 22,2; Med.: 24,3; »Phil Sek.«: 22,5; »Nat. Sek.«: 22,3; 1811-1848: Gesamt: 22,6; Theol.: 22,5;Jur.: 22,2; Med.: 22,8; »Phil. Sek.«: 22,8; »Nat. Sek.«: 23,4; 1849-1890: Gesamt: 22,8; Theol.: 22,l;Jur.: 22,1; Med.: 23,8; »Phil. Sek.«: 22,9; »Nat. Sek«.: 22,8; 1891-1933: Gesamt: 24,0; Theol.: 22,9; Jur.: 22,8; Med.: 24,5; »Phil. Sek«.: 24,2; »Nat. Sek.«: 24,6. 106 In absoluten Zahlen: 1743-1810: 15 von 74 Personen mit nachweisbarem Studieneinstiegsalter; 1811-1848: lOvon 56; 1849-1890:4 von 79; 1891-1933: 4von 102; fehlende Werte: 29 von 341. 107 Die zahlreichen Exemtionsmöglichkeiten, die das süddeutsche Konskriptionssystem und auch die allgemeine Wehrpflicht in Preußen boten, führten dazu, daß es vor den großen Heeresreformen der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts kaum einen Erlanger Ordinarius gab, der seiner Militärpflicht genügt hatte. Auch Kriegsfreiwillige blieben die Ausnahme. Für die Professoren, die nach der Reichsgründung ins wehrfähige Alter kamen, läßt sich der Anteil der Militärdienstleistenden durchgehend auf ein gutes Drittel beziffern; insgesamt betrug er 37,7 Prozent (43 von 114 Personen). Was die einzelnen Fachbereiche anbelangt, lag die Quote in der Medizinischen Fakultät (46,9 Prozent) sowie der »Naturwissenschaftlichen Sektion« (50 Prozent) klar über jener der Juristen (26,7 Prozent) und Theologen (16,7 Prozent); die »Philosophische Sektion« (36,0 Prozent) wies einen durchschnittlichen Wert auf.

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Abb. 14: Lebensalter beim Studienabschluß 108

Quelle: Vgl. Seite 66, Fußnote 6. führte hingegen die Kombination aus langen Hochschulaufenthalten und einem hohen Prozentsatz an Militärdienstleistenden zu einer hohen Altersstruktur. Entsprechend ihrer meist eher durchschnittlichen Studiendauer und Wehrdienstquote lagen die Werte der »Philosophischen Sektion« näher bei denen der Gesamtheit.

3 . 2 . Z w i s c h e n S t u d i e n a b s c h l u ß und e r s t e m R u f 3.2.1. Dauer der Phase zwischen Studienabschluß

und erstem Ruf

Der Beruf des Hochschullehrers war von jeher durch den Umstand geprägt, erst in relativ fortgeschrittenem Lebensalter berufliche und ökonomische Sekurität zu bieten. Von der Forschung ist die Spanne zwischen dem Ende des Studiums und der ersten Berufung auf eine besoldete Professur als »Durststrekke« oder »Risikopassage« bezeichnet worden. Vor allem wurde dabei der Zeitabschnitt der Jahrhundertwende in den Blick genommen, in dem sich das Ver-

108 Die Verteilung nach absoluten Zahlen: 1743-1810: unter 22 Jahre: 25; 22-25 Jahre: 40; über 25 Jahre: 7; fehlende Werte: 6; 1811-1848: unter 22 Jahre: 17; 22-25Jahre: 32; über 25 Jahre: 3; fehlende Werte: 9; 1849-1890: unter 22 Jahre: 17; 22-25 Jahre: 64; über 25 Jahre: 3; fehlende Werte: 6; 1891-1933: unter 22 Jahre: 3; 22-25 Jahre: 90; über 25 Jahre: 16; fehlende Werte: 3.

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hältnis zwischen Berufsanwärtern und verfügbaren Professuren zunehmend verschlechterte. 109 Aus Abb. 15 geht hervor, daß sich die Karenz, die vom Ende des akademischen Studiums bis zum Antritt einer besoldeten Professur zu bewältigen war, im Verlauf des Untersuchungszeitraumes fast kontinuierlich ausdehnte. Ein Zeitraum von bis zu fünf Jahren hatte im 18. Jahrhundert für knapp vierzig Prozent noch ausgereicht; im 19. Jahrhundert gelangten zunehmend weniger Personen so schnell ans Ziel, und zuletzt stellten derlei Fälle die große Ausnahme dar. Von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts abgesehen, wuchs dagegen die Gruppe derjenigen, die mehr als zehn Jahre benötigten, permanent an, um im frühen 20. Jahrhundert fast zwei Drittel der Erlanger Ordinarienschaft auszumachen.

Abb. 15: Dauer der Phase zwischen Studienabschluß und erstem Ruf110

Quelle: Vgl. Seite 66, Fußnote 6. 109 Zitate: Busch, Die Geschichte, S. 70; Schmeiser, S. 60-62; zur Stellensituation u m 1900 vgl. auch: Ringer, T h e Decline, S. 53f.; ders., Das gesellschaftliche Profil, S. 9 3 - 9 5 J a n s e n , S. 18f.; McClelland, State, S. 271 f. 110 U n t e r erstem R u f wird die erstmalige E r n e n n u n g z u m planmäßigen besoldeten Extraordinarius (keine Titelprofessuren) verstanden; w e n n die betreffende Person keine solche außerordentliche Professur innehatte, war die erstmalige E r n e n n u n g z u m O r d i n a r i u s maßgeblich. Die Verteilung in absoluten Zahlen: 1743-1810: u n t e r 6 J a h r e : 28; 6 - 1 0 Jahre: 24; ü b e r 10 Jahre: 20; fehlende Werte: 6; 1811-1848: u n t e r 6Jahre: 16; 6 - 1 0 J a h r e : 12; über lOJahre: 24; fehlende Werte: 9; 1849-1890: u n t e r 6 Jahre: 13; 6 - 1 0 Jahre: 45; ü b e r lOJahre: 26; fehlende Werte: 6; 1891-1933: u n t e r 6 Jahre: 3; 6 - 1 0 Jahre: 37; über lOJahre: 67; fehlende Werte: 5.

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Zerlegt man die zweite Hälfte des Untersuchungszeitraumes in kleinere Abschnitte, zeigt sich, daß nach teils gegenüber dem Vormärz sogar leicht kürzeren Wartezeiten im Ernennungszeitraum 1849 bis 1890 gerade die Jahrgänge ab 1891 von einer einschneidenden Verlängerung der Risikophase betroffen waren.111 Das Problem mangelnder Professorenstellen blieb also um die Jahrhundertwende auch in Erlangen nicht ohne Folgen.112 Ein Blick auf die Durchschnittszahlen bestätigt diese Ergebnisse. 113 Insgesamt dehnte sich die Risikophase von 8,4 auf 13,9 Jahre aus, wobei sie sich 1849 bis 1890 leicht verkürzte. Hinsichtlich der einzelnen Fakultäten läßt sich feststellen, daß die Spanne bei den Juristen zu allen Zeiten am kürzesten war. Bei den Medizinern, die immer schon sehr lange Wartezeiten aufgewiesen hatten, fiel der Anstieg zuletzt besonders deutlich aus.114 Die Theologen hatten im 18. Jahrhundert die längste Karenz zu überbrücken, glichen sich aber dann dem allgemeinen Schnitt an. Starke Ubereinstimmung mit den Werten der Gesamtheit wiesen durchweg die Mitglieder der Philosophischen Fakultät auf 115

3.2.2. Tätigkeiten zwischen Studienabschluß und erstem Ruf (ohne Privatdozentur) Wie unverbindlich die Berufslaufbahn des Professors im 18. Jahrhundert (Ernennungszeitraum 1743 bis 1810) noch definiert war, geht aus einer Betrachtung der Beschäftigungen hervor, denen die untersuchten Personen nach dem 111 Zeitspanne zwischen Studienabschluß und erstem R u f nach Ernennungszeiträumen in absoluten Zahlen (sowie in Prozent pro Ernennungszeitraum): 1849-1860: unter öjahre: 1 (4,8), 6 - 1 0 Jahre: 12 (57,1), über 10 Jahre: 8 (38,1); 1861-1870: unter 6Jahre: 2 (12,5), 6 - 1 0 Jahre: 8 (50), über 10 Jahre: 6 (37,5); 1871-1880: unter 6 Jahre: 7 (33,3), 6 - 1 0 Jahre: 9 (42,9), über 10 Jahre: 5 (23,8); 1881-1890: unter 6Jahre: 3 (11,5), 6 - 1 0 J a h r e : 16 (61,5), über 10Jahre: 7 (26,9); 1891-1905: unter 6Jahre: 0, 6 - 1 0 Jahre: 11 (35,5), über 10 Jahre: 20 (64,5); 1906-1918: unter 6 Jahre: 1 (3,4), 6-10Jahre: 10 (34,5), über lOJahre: 18 (62,1); 1919-1933: unter öjahre: 2 (4,3), 6 10Jahre: 16 (34), über lOJahre: 29 (61,7). 112 Erster Weltkrieg und Inflation, die vor allem die Qualifikationsphase der Ordinarien des Ernennungszeitraumes 1919-1933 beeinträchtigen mußten, führten hingegen, wie übrigens auch schon für Heidelberg festgestellt wurde, zu keiner statistisch signifikanten Ausdehnung der Karenzzeit. Offenbar fing man entsprechende Nachteile durch geringere Leistungsanforderungen ab.Vgl.Jamm, S. 22. 113 Durchschnittliche Dauer (Jahre) der Zeitspanne zwischen Studienabschluß und erstem R u f nach Ernennungszeiträumen und Fachbereichen: 1743-1810: Gesamt: 8,4; Theol.: l l , l ; J u r . : 6,6; Med.: 8,9; »Phil. Sek.«: 7,4; »Nat. Sek.«: 9,4; 1811-1848: Gesamt: 10,3; Theol.: 9,8; Jur..- 7,1; Med.: 12,1; »Phil. Sek.«: 11,8; »Nat. Sek.«: 13,2; 1849-1890: Gesamt: 9,5; Theol.: 10,4; Jur.: 7,4; Med.: 9,3; »Phil. Sek.«: 10,4; »Nat. Sek«.: 9,3; 1891-1933: Gesamt: 13,9; Theol.: 12,9; Jur.: 12,3; Med.: 15,6; »Phil. Sek«.: 13,9; »Nat. Sek.«: 12,9. 114 Dies bestätigt die Erkenntnisse, die Schmeiser, S. 205, zum unterschiedlichen Berufungsverhalten von Juristen und Medizinern vorgelegt hat. 115 Der relativ hohe Wert der »Naturwissenschaftlichen Sektion« 1811 bis 1848 ist aufgrund sehr geringer Fallzahlen (5) wenig aussagekräftig.

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Ende ihres Studiums nachgingen. Neben dem ja unbesoldeten Privatdozententum hatten die Hochschulen unterhalb der Professur so gut wie keine Laufbahnpositionen anzubieten, die eine Fortsetzung der wissenschaftlicher Arbeit im unmittelbaren akademischen Umfeld wirtschaftlich abfedern konnten. Ausnahmen bildeten im Grunde lediglich einige wenige Bibliothekarsposten sowie die Repetentenstellen, die zwei Theologen während ihres Aufenthaltes in Göttingen versahen. Insgesamt zogen vier Personen oder 5,1 Prozent der 78köpfigen Grundgesamtheit aus solchen Angeboten Vorteil.116 Die Möglichkeit zu Privatstudien oder Studienreisen hatten ebenfalls relativ wenige der späteren Professoren; ihr Anteil betrug 28,2 Prozent (22 von 78), und sie waren besonders häufig in der Medizinischen Fakultät zu finden, fast überhaupt nicht jedoch unter den Theologen. 117 Daß diese nach dem Studium offenbar am stärksten auf lückenlosen Broterwerb angewiesen waren, dürfte für ihre im Schnitt eher lange Risikopassage mitverantwortlich sein. Die weitaus größte Gruppe ging im Laufe der Karenzzeit vorübergehend als Hauslehrer bzw. Hofmeister in Dienst, eine Position, die man wegen ihrer geringen Achtung, Sekurität und Entlohnung in der Regel wohl nur mangels anderweitiger Möglichkeiten übernahm, die aber andererseits dazu geeignet war, die ständeübergreifende soziale Erfahrung und pädagogische Sensibilität der jungen Bildungsbürger erheblich zu bereichern. 118 Fast ein Drittel der Grundgesamtheit dieses Zeitabschnitts (32,1 Prozent/25 von 78) stand in einem solchen Verhältnis; deutlich am höchsten war der Anteil in der »Philosophischen Sektion«, am niedrigsten in der Medizinischen Fakultät.119 Diese Zurückhaltung der Mediziner läßt sich wohl darauf zurückführen, daß der Arztberuf eine relativ leicht zu ergreifende Alternative bot. Fast alle (84,6 Prozent/elf von 13) übten im Vorfeld der Professur eine privatärztliche Tätigkeit aus oder dienten als Bezirks-, Militär- oder Leibärzte. Ahnlich stand es bei den Juristen mit dem Beruf des Advokaten oder Notars (43,5 Prozent/zehn von 23). Derjuristische Vorbereitungsdienst spielte hier mit vier belegbaren Fällen (17,4 Prozent) noch eine eher geringe Rolle. Große Ubereinstimmungen zeigten die Theologische und die Philosophische Fakultät. Hier befand sich nämlich ein

116 Bibliothekare an der Universitätsbibliothek Erlangen waren in der betreffenden Lebensphase der Orientalist A. F. Pfeiffer und der Mathematiker Wiedeburg (BA295,334); Repetentenstellen an der Theologischen Fakultät in Göttingen hatten die Theologen J. W. Rau und Hänlein (BA 44, 18). 117 Privatstudienphasen bzw. Studienreisen: Theologen: 6,3 Prozent (1 von 16); Juristen: 26,1 Prozent (6 von 23); Mediziner: 46,2 Prozent (6 von 13); »Phil. Sek.«: 35,7 Prozent (5 von 14); »Nat. Sek.«: 33,3 Prozent (4 von 12); Privatdozenturen sind hier nicht berücksichtigt. 118 Vgl. Gerth, S. 51-60. 119 Hofmeister: Theologen: 31,3 (5 von 16); Juristen: 34,8 Prozent (8 von 23); Mediziner: 7,7 Prozent (1 von 13); »Phil. Sek.«: 50 Prozent (7 von 14); »Nat. Sek.«: 33,3 Prozent (4 von 12).

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relativ hoher Anteil an Mitgliedern, die vorübergehend im Kirchendienst gestanden oder das Lehramt an einer höheren Schule ausgeübt hatten.120 Insgesamt nahmen 73,1 Prozent (57 von 78) der Ordinarien, und zwar relativ gleichmäßig über die einzelnen Fakultäten verteilt, vor ihrer ersten Professur eine Berufsposition ein, die sie vorübergehend aus den Mauern der Universität herausführte. Diese beachtliche Quote gibt nicht nur zu erkennen, wie wenig der Beruf des Hochschullehrers seinerzeit professionalisiert war, sondern unterstreicht auch, daß die Universität nur einen unter vielen Aktionsorten des akademischen Gelehrtentums und nicht dessen hervorragenden Zielpunkt darstellte.121 Die Hochschulen verfügten im Ernennungszeitraum 1811 bis 1848 nach wie vor über sehr wenige Posten, welche die Uberbrückung der Risikophase erleichtern konnten. N u r acht von 61 Personen (13,1 Prozent) erhielten vorübergehend eine solche Stellung. Es handelte es sich in vier Fällen um theologische Repetentenstellen, in zwei Fällen um medizinische Prosekturen sowie in jeweils einem Fall um Bibliotheksdienst und die Assistentur in einem Naturalienkabinett. Gesteigert hatte sich allerdings gegenüber dem 18. Jahrhundert mit 41 Prozent (25 von 61) die Quote derer, die sich nach dem Abschluß vorübergehend nur eigener Forschung widmeten. 122 Besonders stark waren hier erneut die Mediziner vertreten; meist begaben sie sich unmittelbar nach Abschluß des Studiums in größere Städte des In- und Auslandes, wo große Kliniken das notwendige Krankenmaterial für Spezialstudien boten. Eine Hauslehrerexistenz hatten jetzt nur noch 11,5 Prozent (sieben von 61) zu fristen, nämlich vier Theologen, ein Jurist und zwei Mitglieder der »Philosophischen Sektion«. Während die Mediziner in diesem Lebensabschnitt den freien oder beamteten Arztberuf weiterhin nahezu ausnahmslos ausübten (84,6 Prozent/elf von 13), traten die typischen juristischen Berufsfelder des Rechtsanwaltes, Notars, Richters oder Verwaltungsbeamten unter den Rechtswissenschaftlern deutlich zurück (20 Prozent/drei von 15). Im Gegenzug gewann hier der juristische Vorbereitungsdienst an Bedeutung, der nun in sechs Fällen (vierzig Prozent) absolviert wurde. Bei den Theologen blieben sowohl der Kirchendienst als auch das Höhere Schullehramt mit jeweils 58,3 Prozent (sieben von zwölf) gut vertreten. In beiden »Sektionen« der Philosophischen Fakultät

120 Kirchendienst: Theologen: 56,3 Prozent (9von 16); »Phil. Sek.«: 14,3 Prozent (2 von 14); »Nat. Sek.«: 25 Prozent (3 von 12); Höheres Lehramt: Theologen: 31,3 Prozent (5 von 16); Juristen: 8,7 Prozent (2 von 23); »Phil. Sek.«: 21,4 Prozent (3 von 14); »Nat. Sek.«: 33,3 Prozent (4 von 12). 121 Vgl. Busch, Die Geschichte, S. 7-9. 122 Privatstudienphasen bzw. Studienreisen: Theologen: 8,3 Prozent (1 von 12); Juristen: 26,7 Prozent (4 von 15); Mediziner: 69,2 Prozent (9 von 13); »Phil. Sek.«: 50 Prozent (7 von 14); »Nat. Sek.«: 57,1 Prozent (4 von 7).

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nahm dagegen die Bedeutung des Gymnasiallehrerberufes signifikant zu, während zugleich kirchliche Ämter deutlich an Gewicht verloren. 123 Was die Laufbahnwege zur Professur anbetrifft, bahnte sich allmählich eine Auseinanderentwicklung dieser beiden Fachbereiche an. Berufsausübung außerhalb der Hochschule blieb im Vormärz in allen Fakultäten die Regel und ließ sich wiederum für knapp drei Viertel der Ordinarien (73,1 Prozent/45 von 61) nachweisen. Daß sich die Anforderungen an den akademischen Nachwuchs gleichwohl erhöhten, läßt sich an dem Zeitaufwand ablesen, den immer mehr Personen für eigenständige Forschungen betrieben. Die wissenschaftlichen Leistungsgebote wurden verschärft, ohne von wissenschaftsnahen Berufsangeboten flankiert zu werden. Die zeitliche Ausdehnung der Risikophase im frühen 19. Jahrhundert wird so erklärbar. Diesen Zusammenhang erweist insbesondere das Beispiel der Theologen, von denen sich relativ viele auf die fakultätseigenen Repetentenstellen stützen konnten. Obwohl die Theologen, was uneingeschränkte Privatstudien angeht, wiederum eindeutig das Schlußlicht bildeten, konnte hier die durchschnittliche Zeitspanne zwischen Studienabschluß und erstem Ruf gegen den allgemeinen Trend sogar verkürzt werden. 124 Die Mitte des 19. Jahrhunderts bildet eine deutliche Zäsur. 1849 bis 1890 stieg der Anteil an Personen, die während der Risikophase eine hochschulinterne Tätigkeit ausübten, auf mehr als ein Drittel (36,7 Prozent/33 von 90). Den Löwenanteil stellten darunter nun mit 28 Fällen die Hochschulassistenten, mit allen Folgen, die durch die verstärkte Abhängigkeit von der Weisungsmacht der Doppelfunktionsträger der Institutsleiter und Ordinarien zu gewärtigen waren.125 Fünf Personen versahen besoldete Lehraufträge, drei wirkten als medizinische Prosektoren, zwei als theologische Repetenten und einer als Universitätsbibliothekar.126 Es waren vor allem die Mediziner und Naturwissenschaftler, die von dem akademischen Stellenausbau profitierten. Bedingt durch die zunehmende Abhängigkeit dieser beiden Fächergruppen von den Forschungseinrichtungen moderner Institute und Kliniken entwickelte sich die Assistentur dort zu einer Laufbahnstation, der im Hinblick auf den Wissenschaftsberuf eine immer stärker vorselektierende Funktion zukam. Dünner gesät blieben entsprechende Stellen in Theologischer Fakultät und »Philosophischer Sektion« (dort auffal123 Kirchendienst: »Phil. Sek.«: 14,3 Prozent (2 von 14); »Nat. Sek.«: 0; Höheres Lehramt: »Phil. Sek.«: 57,1 Prozent (8 von 14); »Nat. Sek.«: 57,1 Prozent (4 von 7). 124 Bei den vier Theologen, die theologische Repetentenstellen besetzten (Meyer, Olshausen, H o f m a n n und Ebrard, BA 36, 3 8 , 2 4 , 10), war die durchschnittliche Karenzzeit mit sechs Jahren deutlich kürzer als bei der Gesamtheit der Theologen (9,8 Jahre). 125 Vgl. Bock, S. 217; Schmeiser, S. 48; Busch, Die Geschichte, S. 70; Burchardt, S. 165-167. 126 Die Summe der Stellen (39) übertrifft diejenige der Inhaber (33), da mitunter ein und dieselbe Person mehrere der genannten Positionen eingenommen hatte.

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lend konzentriert auf die Nationalökonomie), bei den Mathematikern und J u risten tauchten sie überhaupt nicht auf.127 Darüber hinaus gab es jetzt auch zahlreiche Personen, die ähnlich wissenschaftsnahe, wenngleich außeruniversitäre Posten einnahmen. Hierzu zählten etwa die Mitarbeiterstellen, mit denen die Historische Kommission der Akademie der Wissenschaften in München im Rahmen ihrer Quelleneditionen drei von vier Ordinarien der Geschichte die wirtschaftliche Grundlage der Habilitation bot. In eine ähnliche Richtung ging die Tätigkeit des Nationalökonomen Eheberg, der im Auftrag der Stadt Straßburg Akten zur kommunalen Verfassungs- und Wirtschaftsgeschichte herausgab.128 Daneben boten sich einigen Medizinern, vor allem aber Naturwissenschaftlern Arbeitsstellen im universitäts- und wissenschaftsnahen Bereich. 129 Der gesamtgesellschaftliche Trend zur Verwissenschaftlichung der Welterkenntnis bewirkte, daß sich die späteren Lehrstuhlinhaber in ihren Berufspositionen nicht nur innerhalb, sondern auch außerhalb der Hochschulgrenzen immer stärker auf forschungsintensive Tätigkeiten konzentrieren konnten. Im selben Zusammenhang ist im übrigen auch auf den mit 8,9 Prozent (acht von neunzig) beachtenswerten Anteil an Personen hinzuweisen, denen die Vorbereitung auf die Professur durch ein Stipendium erleichtert wurde. Es handelte sich ausnahmslos um Reisebeihilfen, die vor allem den Vertretern historischer und philologischer Disziplinen Archiv- und Feldforschungen im Ausland ermöglichten. 130 Privatstudienphasen legten insgesamt zwölf Personen (13,3 Prozent) ein, darunter drei von vier Philosophen und vier von fünf Mathematikern. 127 Inhaber hochschulinterner Berufspositionen nach Fachbereichen: Theologen: 12,5 Prozent (2 von 16); Juristen: 0; Mediziner: 90,5 Prozent (19 von 21); »Phil. Sek.«: 19 Prozent (4 von 21); »Nat. Sek.«: 40 Prozent (8 von 20); alle Inhaber von Assistentenstellen oder Lehraufträgen, die später der »Naturwissenschaftlichen Sektion« angehörten, waren Naturwissenschaftler, keiner Mathematiker; in der »Philosophischen Sektion« hatten die beiden einzigen Vertreter der Nationalökonomie Makowiczka und Eheberg (BA 276, 223) Lehraufträge versehen, die Klassischen Philologen Wölfflin und Luchs (BA 339,275) eine Bibliothekars- bzw. Assistentenstelle; zur späten und begrenzten Ausbreitung der Assistentur in Theologie, Jurisprudenz, Geisteswissenschaft vgl. Bock, S. 165-170. 128 Bei den Historikern handelte es sich um Weizsäcker, v. Bezold und Pöhlmann (BA 333, 211, 298); vgl. dazu auch: Riesinger/Marquardt-Rabiger, S. 259; zu Eheberg siehe BA 223. 129 Der Pathologe Zenker war Prosektor am Stadtkrankenhaus Dresden sowie Dozent an der dortigen medizinisch-chrirurgischen Akademie fiir Militärärzte; der Augenheilkundler Eversbusch wirkte zeitweise als Lehrer für vergleichende Augenheilkunde an der tierärztlichen Hochschule in München, die Physiker Beetz und Lommel als Dozenten an der vereinigten Artillerieund Ingenieursschule in Berlin bzw. der Land- und Forstwirtschaftlichen Akademie in Hohenheim; der Vertreter der angewandten Chemie Zoeller war Assistent im Chemischen Labor der Polytechnischen Schule in München, der Mineraloge Obbeke in gleicher Position an der dortigen geognostischen Untersuchungsanstalt; der Chemiker Volhard leitete in München eine landwirtschaftliche Versuchsstation (BA 201, 134, 209, 274, 341, 288, 330, 201). 130 So bei dem Alttestamentler Köhler, Kirchenhistoriker Kolde, dem Historiker Weizsäcker, den Altphilologen Keil und Luchs, dem Germanisten Steinmeyer, dem Archäologen Flasch und dem Kliniker Bäumler (BA 3 2 , 3 3 , 3 3 3 , 260, 2 7 5 , 3 2 6 , 233, 126).

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Mit der stärkeren Wissenschaftsausrichtung der Risikopassage nahm die Bedeutung anderweitiger Laufbahnstationen ab. Insgesamt ging mit 61,1 Prozent (55 von 90) ein deutlich geringerer Teil der Personen außeruniversitären Tätigkeiten nach. Zunehmend bedeutungslos wurde der Beruf des Hauslehrers, den lediglich zwei Theologen, ein Philologe, ein Archäologe und ein Physiker vorübergehend ausübten (5,6 Prozent/fünfvon 90). In der Medizinischen Fakultät gingen die ehemaligen freien oder beamteten Arzte prozentual erheblich zurück (28,6 Prozent/sechs von 21), während die Stellung des Volontärs oder Assistenten in nichtuniversitären Kliniken üblicher wurde (19 Prozent/vier von 21). Unter den Juristen stieg die Quote derer, die freie oder beamtete Berufe des Justiz- und Verwaltungswesens ausgeübt hatten, wieder auf 41,7 Prozent (fünf von zwölf), das juristische Referendariat ist für genau zwei Drittel (acht von zwölf) belegt. Was die Theologen anbetrifft, blieb der Kirchendienst mit 56,3 Prozent (neun von 16) nahezu gleich stark vertreten, wohingegen der Beruf des Gymnasiallehrers signifikant auf genau ein Viertel (vier von 16) zurückging. In der »Philosophischen Sektion« sank sowohl der Anteil ehemaliger Kirchendiener (9,5 Prozent/zwei von 21) als auch jener der ehemaligen Gymnasiallehrer (38,1 Prozent/acht von 21). Noch stärker verlor das Höhere Lehramt in der »Naturwissenschaftlichen Sektion« an Boden (25 Prozent/fünf von 20).

Insgesamt waren die Möglichkeiten, die Risikopassage ausschließlich oder doch überwiegend in Berufspositionen zu bewältigen, die der engeren Sphäre des wissenschaftlichen Fachbetriebs angehörten, in den Fächergruppen der Mediziner, Naturwissenschaftler, Nationalökonomen und Historiker am größten. Unter den Theologen, Juristen und Philologen gewann zwar ein zunehmender Anteil an Personen Zeit für eigene Forschungstätigkeit, zum Teil gestützt durch Stipendien. Die Quote an Quereinsteigern aus dem Kirchendienst, den praktischen Rechtsberufen oder dem Höheren Lehramt blieb hier aber relativ hoch. Die Vertreter der Universalfächer Philosophie und Mathematik hatten sich weitgehend auf Privatstudien zu stützen. 1891 bis 1933 steigerte sich der Anteil der Personen, die im Vorfeld der Professur einer bezahlten hochschulinternen Beschäftigung nachging, nochmals erheblich auf 63,4 Prozent (71 von 112). Damit sind umfaßt: 51 Assistenten an universitären Instituten, Kliniken oder Seminaren, sieben Privatassistenten von Professoren, fünf theologische Repetenten, vier Personen im Bibliotheksdienst, ein medizinischer Prosektor und 22 Lehrbeauftragte bzw. Lehrstuhlvertreter.131 Bei diesen handelte es sich in der Regel um relativ altgediente Privatdozenten, die in über der Hälfte der Fälle (12) zuvor eine der anderen Positionen bekleidet hatten. Sie mit besoldeten Unterrichtsaufgaben zu betrau131 Mehrfache Funktionsausübungen durch ein und dieselbe Person waren möglich; zur funktionalen Ausdifferenzierung der Assistenturpositionen im 19. Jahrhundert vgl. Bock, S. 7 7 170.

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en, stellte offenbar eine Strategie dar, die schwierige Stellensituation um die Jahrhundertwende abzufedern. Was die Verteilung der universitären Berufspositionen auf die einzelnen Fächergruppen angeht, zog die »Naturwissenschaftliche Sektion« mit der Medizinischen Fakultät prozentual weitgehend gleich. Das läßt sich vornehmlich auf den Umstand zurückführen, daß nun auch die Mathematiker in der Regel nicht ohne Assistentur blieben. In der »Philosophischen Sektion« waren neben dem einzigen Vertreter der Nationalökonomie die späteren Lehrstuhlinhaber der philosophischen, philologischen und historischen Disziplinen etwa jeweils zur Hälfte mit entsprechenden Stellen versorgt, in den Fakultäten der Theologen und Juristen jeweils zu einem knappen Drittel. 132 Trotz einer gewissen Annäherung blieb es also zwischen den einzelnen Fachbereichen bei einem beträchtlichen Gefälle. Zu beachten ist allerdings, daß den Historikern mit den Projekten der bundesstaatlichen Historischen Kommissionen weiterhin fachbetriebsnahe Alternativen zur Verfügung standen, die vier von insgesamt sechs wahrnahmen. Einen ähnlichen Stellenwert hatten wissenschaftliche Positionen in Bibliotheken, Archiven und Museen. Hier boten sich Möglichkeiten für Historiker, Archäologen und Philologen. 133 Ähnlich taten sich für die Naturwissenschaftler vielerlei wissenschaftsnahe Arbeitsfelder außerhalb der Hochschule auf, wobei allerdings die Forschungsstätten der Industrie eher gemieden wurden. 134 132 Inhaber hochschulinterner Berufspositionen nach Fakultäten und Fachbereichen: Theologen: 31,3 Prozent (5 von 16) Juristen: 28,6 Prozent (4 von 14); Mediziner: 90,6 Prozent (29 von 32); »Phil. Sek.«: 46,2 Prozent (12 von 26); »Nat. Sek.«: 87,5 Prozent (21 von 24). 133 Der Neuzeithistoriker Fester war Hilfsarchivar im Generallandesarchiv Karlsruhe und Bearbeiter der Regesten der Markgrafen von Baden für die Badische Historische Kommission; der Vertreter der Mittleren und Neueren Geschichte G. Beckmann wirkte als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter an den Stadtarchiven von Naumburg und Osnabrück und arbeitete für die Historische Kommission in München an der Herausgabe der Reichstagsakten; sein Fachkollege Schmeidler war Mitarbeiter der Monumenta Germania Histórica in Berlin; der Althistoriker J u deich bereiste im Auftrag der Preußischen Akademie der Wissenschaften kleinasiatische Gebiete, um deren archäologische Erforschung vorzubereiten; die Archäologen Bulle und Curtius arbeiteten als Kustoden am Museum für Abgüsse klassischer Bildwerke in München, der Orientalist Jacob als Assistent an der Kgl. Bibliothek in Berlin und Bibliothekar der Morgenländischen Gesellschaft in Halle, der Altphilologe Klotz als Assistent beim Unternehmen des »Thesaurus linguae Latinae« in München und der Anglist Brotanek als Assistent an der Wiener Nationalbibliothek (BA 272, 208, 313,257, 216, 220, 256, 263, 215). 134 Der Vertreter der angewandten Chemie E. Beckmann war Assistent im chemischen Labor von Fresenius in Wiesbaden, der Geograph Volz bereiste im Auftrag der Berliner Akademie der Wissenschaften den Ostindischen Archipel, der Botaniker Solereder wirkte als Kustos am Botanischen Museum des Bayerischen Staates in München, sein Lehrstuhlnachfolger Claussen war Mitglied und Regierungsrat in der Biologischen Reichsanstalt in Berlin-Dahlem; der Chemievertreter Pummerer arbeitete als Chemiker in einer Badischen Ancilin- und Soda-Fabrik, der Zoologe Zander war Leiter der Landesanstalt für Bienenzucht in Erlangen, der Vertreter der physikalischen Chemie G. Scheibe Assistent am Institut für Biochemie und Physiologie der Düsseldorfer Akademie für Medizin (BA 207, 331,321, 219. 299, 340,312).

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Zunehmend bildeten derartige Posten wie auch die Assistentur an der Universität nicht mehr nur die wirtschaftliche Grundlage der Qualifizierungsphase, sondern halfen auch über die im Schnitt immer längeren Wartezeiten bis zur Erstberufung hinweg. Andererseits boten sie in der Regel weder langfristige Sicherheit noch ein vollwertiges bürgerliches Auskommen.135 Als Hochschulassistent ergraute man nicht in Ehren, sondern stellte nach einer gewissen Zeit das Schreckbild der verkrachten akademischen Existenz dar. Die Institutsleiter forderten dann mehr oder weniger offen dazu auf, den Sessel zu räumen.136 Befristet war auch die Unterstützung durch Stipendien. Auf diese Weise wurden mindestens 10,7 Prozent (zwölfvon 112) der Untersuchungsgruppe gefördert. In Mehrzahl handelte es sich wiederum um Reisehilfen, mit denen bevorzugt Historikern und Archäologen, teils auch Altphilologen und Theologen mediterrane Schauplätze und Quellenbestände zugänglich gemacht werden sollten.137 Insgesamt ging der Anteil derer, die sich eine gewisse Zeit privat Forschungen widmeten, leicht auf 55,4 Prozent (62 von 112) zurück. Sie waren relativ gleichmäßig über die Fachbereiche verteilt.138 Personen, die sich während der Risikopassage ausschließlich mit Privatstudien beschäftigten, gab es jetzt so gut 135 Bezüglich des Entgeltes geht aus vereinzelten Nachrichten hervor, daß derartige Stellen als vorübergehende Abstützung der Qualifizierungsphase angelegt waren und zum Unterhalt einer Familie bei weitem nicht ausreichten. So erhielten der Mediziner Herz 1841 bis 1847 als Assistent der Erlanger Chirurgischen Klinik jährlich 150 fl., als Prosektor von 1847 bis 1852 300 fl. und von 1852 bis 1862 500 fl., der Neutestamentier Hofmann 1835 bis 1841 als Repetent am theologischen Ephorat in Erlangen 500 fl., der Polikliniker Jamin 1905 als I. Assistent der Medizinischen Klinik Erlangen 1.500 Mark plus freies Wohnrecht im Wert von 210 Mark und der Hals-, Nasen- und Ohrenheilkundler Brock 1913 als Assistent an der Erlanger HNO-Klinik 1.800 Mark. Ausnahmen bildeten sog. Assistenturen in Beamteneigenschaft, die auf Grundlage des bayerischen Beamtengesetzes von 1908 sehr vereinzelt vergeben wurden. Sie waren als Lebensstellungen konzipiert und mit 3.000 Mark pro Jahr annähernd so hoch besoldet wie ein planmäßiges Extraordinariat. Es wurden auf diese Weise 1908 der Histologe Spuler, 1909 der Zoologe Zander und 1911 der Vertreter der Haut- und Geschlechtskrankheiten L. Hauck versorgt. Personalakten Herz, Hofmann, Jamin, Brock, Spuler, Zander und L. Hauck (BA153,24,159,127,188, 340, 147); vgl. auch: Bock, S. 102-121.; Burchardt, S. 160f. 136 So der Kliniker Strümpell (BA 190) u m 1900 gegenüber L. R. Müller, der seit Ende 1895 Assistent der Erlanger Medizinischen Klinik war. Vgl. Müller, Lebenserinnerungen, S. 66 (BA 170). 137 So bei dem Praktischen Theologen Ulmer, den Historikern Judeich und Schulten, den Archäologen Bulle, Curtius und Lippold und dem Altphilologen Stählin (BA 53, 257, 317, 216, 220,273,323); der Alttestamentler Procksch (BA 42) suchte mit Unterstützung eines Stipendiums Archive in England und Dänemark auf, der Kirchenrechtler Liermann (BA 96) erhielt in Freiburg i. Br. ein sog. Privatdozentenstipendium, dem Pathologen Hauser (BA 148) wurde ein Studienaufenthalt in Wien und Leipzig, dem Mathematiker Haupt (BA 243) ein Studienaufenthalt in München und dem Zoologe Fleischmann (BA 234) der Besuch einer Zoologischen Station in Neapel ermöglicht. 138 Nach Fachbereichen: Theologen: 43,8 Prozent (7 von 16) Juristen: 50 Prozent (7 von 14); Mediziner: 46,9 Prozent (15 von 32); »Phil. Sek.«: 69,2 Prozent (18 von 26); »Nat. Sek.«: 62,5 Prozent (15 von 24).

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wie keine mehr (2,7 Prozent/drei von 112). Dafür war die durchschnittliche Wartezeit auf die Professur zu lange geworden. Darauf dürfte größtenteils auch zurückzuführen sein, daß der Prozentsatz an Personen mit vorübergehend außeruniversitärer Berufsausübung wieder leicht anstieg (69,6 Prozent/78 von 112). Bereinigt um diejenigen, die es in diesem Zusammenhang bei Vorbereitungsdiensten bewenden ließen oder sich auf die genannten wissenschaftsnahen Tätigkeiten beschränkten, betrug die entsprechende Quote 46,4 Prozent (52 von 112). Ehemalige Praxisinhaber oder beamtete Arzte fanden sich in der Medizinischen Fakultät nur noch zu einem Viertel (acht von 32 Personen). Mehr als doppelt so hoch fiel die Zahl derer aus, die als Volontär- und Assistenzärzte in NichtUniversitätskliniken gedient hatten und damit der wissenschaftlichen Sphäre näher geblieben waren (56,3 Prozent/18 von 32). Mit Ausnahme zweier Sonderfälle,139 absolvierten jetzt alle Juristen das Referendariat. Acht von zwölf schlössen daran die Tätigkeit in einem praktischen Rechtsberuf an. Bei den Theologen wurde die Bedeutung des Kirchendienstes mit 81,3 Prozent (13 von 16) größer, während das gymnasiale Lehramt (12,5 Prozent/zwei von 16) einbüßte. Sowohl in der »Philosophischen« als auch der »Naturwissenschaftlichen Sektion« ging der Anteil einstiger Lehrer auf 26,9 Prozent (sieben von 26) bzw. 8,3 Prozent (zwei von 24) zurück. Vom Ausnahmefall des Geographen Gradmann abgesehen, war in der Philosophischen Fakultät kein ehemaliger Kirchendiener mehr vertreten.' 40 Der Spezialisierungsprozeß der Wissenschaften brachte also entgegen der These Büschs nicht überall eine zunehmende Separierung der Universitätslaufbahn von den anderen gelehrten Berufen. 141 Vielmehr wurde die Kluft, die sich etwa seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zwischen einer eher fachbetriebsfernen Risikopassage der Theologen und Juristen sowie einer eher fachbetriebsnahen Risikopassage der Mediziner und Mitglieder der Philosophischen Fakultät aufgetan hatte, sogar eher noch weiter vertieft als wieder geschlossen.

3.2.3. Qualifikation zum Professorenberuf und

Privatdozentur

3.2.3.1. Zur Entwicklung des Habilitationsverfahrens in Erlangen In formaler Hinsicht änderte sich während des gesamten Zeitraumes an Position und Aufgabe des Privatdozenten kaum etwas. Er stellte durchweg einen nicht beamteten und unbesoldeten Universitätslehrer dar. Anstellungsgarantien oder Auffangpositionen existierten zu keinem Zeitpunkt, eine Beteiligung 139 Es handelte sich u m d e n Staatsrechtler Rieker u n d den Zivilrechtler Kübler (siehe oben, Kap. 3.1.2.2). 140 Z u G r a d m a n n siehe oben, Kap. 3.1.2.2. 141 Vgl. Busch, Die Geschichte, S. 59.

158

an der Selbstverwaltung wurde in Erlangen bis zum Ende des Untersuchungszeitraumes kategorisch ausgeschlossen.142 Es waren dagegen vor allem die veränderten Qualifikationsanforderungen, welche die Privatdozentur von einer ins allgemeine Gelehrtentum eingebetteten Lehrtätigkeit mit gesellenähnlichem Status zu einer festen und geachteten Laufbahnstation im professionell abgegrenzten Professorenberuf umwandelten. 143 In Erlangen bestand zwar von Beginn an statutengemäß eine Verknüpfung zwischen der Venia legendi und einem besonderen Leistungsnachweis; die Promotion, die seit dem Mittelalter als ausreichende Voraussetzung gegolten hatte, sollte durch eine Disputation pro loco ergänzt werden, bei der eine wissenschaftliche Abhandlung zu verteidigen war.144 Was im Hinblick auf die Trennung von Promotions- und Habilitationsverfahren als durchaus zukunftsträchtig angesehen werden kann, entpuppt sich indes bei näherer Betrachtung als eher formale Hürde. Denn erstens wurde die geforderte Prüfung, sofern sie sich überhaupt nachweisen ließ, sehr oft im nahen Anschluß an die Promotionsdisputation (pro gradu) durchgeführt, basierte also in der Regel auf keiner separaten Studien- und Forschungsleistung. 145 U n d zweitens nahm man es mit der Ableistungspflicht offenbar nicht allzu genau. So hatte Superville der Hochschullehrerschaft im Juli 1745 die ernsten Mahnungen des Markgrafen zu übermitteln. Dieser habe »mit nicht geringen Befremden vernommen, daß viele Professores [...] sich noch gar nicht durch eine Disputation legitimirt haben«. Wer das nicht binnen zwei Monaten nachhole, dem drohe der Verlust einer ganzen Quartalsbesoldung. Ahnliche Vorhaltungen und Drohungen sind in großer Zahl bis ins Jahr 1798 überliefert. 146 Schließlich geht aus derlei Mahnungen hervor, daß drittens die Disputation pro loco auch nachgereicht werden konnte. In der Untersuchungsgruppe ließen sich denn auch bis Anfang der 142 Die Frage einer Beteiligung der Nichtordinarien an der Selbstverwaltung wurde 1911/12, wohl in Reaktion auf die am 13.7.1910 erfolgte Gründung einer Nichtordinarien-Vereinigung in Erlangen ( U A E , I/3a/506 a die Vereinigung), v o m Senat diskutiert. Während man den Extraordinarien einige Zugeständnisse machte, wurden den Privatdozenten Mitwirkungsrechte ausdrücklich verwehrt. Prorektor Binder an Mdl, 29.7.1912. UAE, I/3a/506 b die außerordentlichen Professoren. 143 Vgl. Schmeiser, S. 30f.; Schubert, Die Geschichte, S. 118f.; Busch, Die Geschichte, S. 14f. 144 Vgl. zu Erlangen: Poll, S. 170f.; allgemein: Schubert, Die Geschichte, S. 119-122, S. 1 2 9 131. 145 Von 19 Personen ließ sich für die Zeit vor der eindeutigen Trennung von Promotion und Habilitation durch die kgl. Verordnung v o m 21.6.1842 sowohl das Datum des Promotionsexamens als auch das Datum der Disputation pro loco in Erlangen ermitteln. In acht Fällen fand beides binnen drei Tagen statt, in weiteren fünf binnen eines halben Jahres und nur die übrigen sechs Untersuchungspersonen ließen sich mehr als sechs Monate Zeit; Poll, S. 170f., hat dargelegt, daß die zwei Prüfungen häufig auf der Grundlage ein und derselben, für den Zweck lediglich zweigeteilten Abhandlung durchgeführt wurden. 146 Zitat: Superville an Prorektor und Senat, Eremitage, 28.7.1745. UAE, 1/1/23 b die Disputationen; weitere Ermahnungen finden sich in: UAE, I/3a/188 Die von einigen Herren Professoren.

159

dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts insgesamt elf Personen eruieren, die ihren »Qualifikationsnachweis« zum Teil erst Jahre nach Aufnahme der Vorlesungstätigkeit erbracht hatten.147 Nach Aussage des Staatsrechtlers Schunck pflegte die Disputation noch 1820 »fast von allen Docenten erst nach ihrer wirklichen Anstellung nachgeholt zu werden«.148 Daß dafür nicht allein mangelnde Leistungsbereitschaft verantwortlich war, läßt sich aus dem Inhalt einer Allerhöchsten Entschließung des Septembers 1827 ersehen. Das hergebrachte Habilitationsverfahren wurde hier ohne wesentliche Abweichungen bestätigt, aber hinsichtlich der besonderen Umstände in der Philosophischen Fakultät Verbesserungsvorschläge angefordert. Weil in ihr nämlich sehr viele ordentliche Mitglieder säßen, sei die Disputation pro loco mit außerordentlich großen Auslagen verknüpft; man laufe Gefahr, manches Talent abzuschrecken. 149 Ahnlich wie bei der Promotion führte also auch hier das Sportelwesen dazu, daß die relativ niedrigen Hindernisse, die sich qualitiativ-leistungsbezogener Hinsicht vor den Professorenberuf stellten, durch hohe sozioökonomische Barrieren ergänzt wurden. Einen markanten Einschnitt brachte für Erlangen das Jahr 1842. Nachdem das Innenministerium zwei Jahre zuvor regelmäßige Berichte über die Leistungen der Privatdozenten angefordert hatte, um Kandidaten ohne rechte Eignung beizeiten daran hindern zu können, die Laufbahn weiter zu verfolgen, wurde der selektierende Zugriffjetzt per staatlicher Habilitationsordnung auf die Erteilung der Venia legendi vorverlegt. Danach sollten nur noch die Personen die Privatdozentur beantragen dürfen, die erstens den Doktorgrad der Fakultät ihrer beabsichtigten Vorlesungstätigkeit besaßen, zweitens eine »gehaltvolle, wissenschaftliche Abhandlung in teutscher oder lateinischer Sprache« verfaßt hatten, die nach Approbation durch die betreffende Fakultät in Druck zu geben war, drittens diese Abhandlung in öffentliche Disputation in lateinischer Sprache verteidigt und viertens über ein von der Fakultät bestimmtes Thema binnen drei Tagen einen mindestens halbstündigen Vortrag gehalten hatten. Bewerber an der Juristischen und Medizinischen Fakultät mußten ferner das zweite Staatsexamen nachweisen.150

147 Dies trifft zu auf die Theologen J. E. Pfeiffer, Hufnagel, Ammon und Herzog, die Juristen Schierschmidt, Gros und Schunck, den Historiker Reinhard, den Orientalisten A. F. Pfeiffer, den Mathematiker und Physiker Succov und den Naturgeschichtler Esper (BA 39, 25, 2, 22, 112, 82, 115, 306,295,327,225). 148 Gesuch um Erteilung einer außerordentlichen Professur, 5.7.1820. Personalakt Schunck (BA 115). 149 München, 9.7.1827. UAE, I/3a/311 Die statutenmäßigen Leistungen; in dem zitierten Schreiben Schuncks (BA 115) entschuldigte dieser seine verspätete Disputation ausdrücklich mit Geldnöten. 150 Mdl an Senat, 1.11.1840; Mdl an Senat, 21.6.1842. UAE, I/3a/311 Die statutenmäßigen Leistungen.

160

Die auf eigenen Studien beruhende Habilitationsschrift stand nun im Vordergrund, die Disputation spielte nur noch eine Nebenrolle. Zudem wurden Promotion und Habilitation eindeutig voneinander abgegrenzt. Etablierung wissenschaftlicher Forschungskompetenz als Selektionskriterium, Fächerdifferenzierung und innerdisziplinäre Spezialisierung, Uberwindung des alten enzyklopädischen und autoritätsgeleiteten Gelehrtenideals, die Abgrenzung einer spezifischen Professorenlaufbahn - diese vom reformierten Habilitationsverfahren entscheidend begünstigten Entwicklungen erhielten also gegen Ende des Vormärz in Erlangen ihre institutionelle Grundlage, wobei allerdings mit Ernst Schubert zu betonen ist, daß die Erteilung der Venia legendi weit über die Jahrhundertmitte hinaus immer noch mit vergleichsweise geringen Anforderungen verbunden war und daß Statuten und ihre konkrete Umsetzung zweierlei sind.151 Ohne Zweifel mußte die Akzentuierung des Leistungsprinzips langfristig auch Elemente sozialer Dynamik und Demokratisierung in die ständische Welt der alteuropäischen Universität hineintragen helfen, wenngleich am Beispiel des Mediziners und bekennenden Juden Herz deutlich wird, daß auf diesem Feld gewisse Grenzen nach wie vor nicht überschritten wurden. 152 3.2.3.2. Zur Entwicklung der Zahl der Habilitierten Die Zahl der Personen, die vor ihrer ersten besoldeten Professur überhaupt keine Privatdozentur ausgeübt hatten, blieb nach Ernennungszeiträumen gemessen bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts konstant bei etwa fünfzig Prozent, ging dann schrittweise zurück, um sich seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts bei knapp über zehn Prozent einzupendeln. Das neue Habilitationsverfahren setzte sich ebenfalls in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gegen den alten Qualifikationshürden durch. Die ersten Habilitierten tauchten ver-

151 Vgl. Schubert, Die Geschichte, S. 132f.; zu den allgemeinen Auswirkungen des neuen Verfahrens vgl. Schmeiser, S. 30f.; McClelland, State, S. 166-169; ders., Deutsche Hochschullehrer, S. 30-32. 152 Herz' Habilitationsbemühungen scheiterten letztlich an dem Umstand, daß die Erfüllung der genannten Vorbedingungen keineswegs das Recht auf Ernennung zum Privatdozenten nach sich zog, sondern diese allein der Entscheidung des Monarchen überlassen blieb. Da es, wie es Herz resignierend schrieb, zweifelhaft sei, »ob einem Bekenner der mosaischen Religion die allerhöchste Genehmigung zum Habilitiren unter den gegenwärtigen politischen Verhältnissen ertheilt werden würde«, verband er sein Habilitationsgesuch mit der Bitte, im Falle der Ablehnung seine Lehrerlaubnis ohne Habilitation zu erweitern. Die Medizinische Fakultät lehnte das aus formalen Gründen ab, allerdings wurde sein Ersuchen vom Akademischen Senat befürwortet und durch das Ministerium genehmigt. Herz an Senat, München, 3.5.1854 (Zitat); Habilitationsantrag Herz, München, 2.5.1854; Gutachten der Medizinischen Fakultät, 17.6.1854; Senat an König, 6.7.1854; Mdl an Senat, 21.7.1854. Personalakt Herz (BA 153); vgl. auch: Schubert, Die Geschichte, S. 140f.

161

einzelt seit den späten zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts auf, machten unmittelbar nach der Jahrhundertmitte die knappe Mehrheit aus und steigerten ihren Anteil bis zu den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts auf knapp neunzig Prozent (Tab. 23). Erst am Ende des 19. Jahrhunderts stellte die Habilitation also eine Barriere dar, die fast alle Berufsanwärter zu nehmen hatten - ein Befund, der übrigens mit den bisherigen Forschungsergebnissen übereinstimmt. 153

Tab. 23: Qualifikation zum Professorenberuf 1743-1933154 Qualifik/Ernennungszeitraum

1743-1810

keine Privatdozentur Mag./Dr./Liz. legens Disputation pro loco Habilitation

34 (44,7) 27 (35,5) 15 (19,7)

TOTAL ( = 1 0 0 % ) Quelle: Vgl. Séfe

-

76

1811-1848 28 8 12 7

(50,9) (14,5) (21,8) (12,7) 55

1849-1890

1891-1933

19 (21,6)

12 (10,7)

1 (1,1) 1 (1,1) 67 (76,1

100 (89,3)

88

112

-

66, F u ß n o t e 6.

Es war die Medizinische Fakultät, die im 18. Jahrhundert die größten Unterschiede von den Werten der Grundgesamtheit aufwies. Hier lag der Anteil an Personen ohne Privatdozentur bei 92,3 Prozent (12 von 13), in den übrigen Fachbereichen hingegen nur bei etwa dreißig bis vierzig Prozent. Im Vormärz näherte sich die Quote der Mediziner deutlich dem Gesamtschnitt an, um danach keine signifikanten Abweichungen mehr aufzuweisen. Unter den Theologen und Juristen waren die Privatdozenten bzw. Habilitierten bis ans Ende des 19. Jahrhunderts durchweg eher überdurchschnittlich vertreten; während es bei den Juristen auch 1891 bis 1933 dabei blieb, ergänzte sich die Theologische Fakultät umgekehrt sehr viel stärker als die Gesamtheit, nämlich zu über einem Drittel, aus nicht habilitierten Personen. Die »Philosophische Sektion« 153 Vgl. Schmeiser, S. 30f.; Busch, Die Geschichte, S. 106; Weber, W., Priester der Klio, S. 130. 154 Die absoluten Ziffern geben die jeweilige Anzahl belegbarer Fälle, diejenigen in Klammern den jeweiligen Prozentsatz an der Spaltensumme, also der Gesamtzahl aller belegbaren Fälle pro Zeitabschnitt, wieder. Fehlende Werte: 1743-1810: 2; 1811-1848: 6; 1849-1890: 2; 18911933: keine; die Zerlegung des vom Ubergang gekennzeichneten Ernennungszeitraumes 18491890 ergab folgendes Ergebnis: 1849-1860 hatten 35 Prozent (7 von 20) keine Privatdozentur ausgeübt, 1861-1870: 21,1 Prozent (4 von 19), 1871-1880: 21,7 Prozent (5 von 23) und 18811890: 11,5 Prozent (3 von 26); die Anteile der Habilitierten steigerten sich in den gleichen Abschnitten von 55 Prozent (11) über 78,9 Prozent (15) und 78,3 Prozent (18) auf 88,5 Prozent (23).

162

wies im 19. Jahrhundert einen relativ niedrigen Anteil an Habilitierten auf, glich sich aber danach dem allgemeinen Professionalisierungstrend an. Im Einklang mit Ergebnissen, die zur Universität Gießen vorgelegt wurden, setzte sich demgegenüber unter Mathematikern und Naturwissenschaftlern die Habilitation nach 1848 offenkundig etwas schneller und umfassender durch. 155 3.2.3.3. Orte der Privatdozentur und Habilitationsuniversitäten Davon abgesehen, daß im Zeitraum 1743 bis 1810 nur etwa die Hälfte der untersuchten Personen als Privatdozenten an einer Hochschule lehrten, in der Medizinischen Fakultät sogar nur ein einziger, spiegelt die örtliche Verteilung der Privatdozenturen (Tab. 24) diejenige der Studien- und vor allem der Promotionsuniversitäten in den wesentlichen Grundzügen wider. Da die Promotion seinerzeit noch die entscheidende Qualifikationshürde zum Professorenberuf war und nicht weniger als 90,9 Prozent der Privatdozenten (40 von 44) ihre Lehrtätigkeit am Ort der Promotion ausübten, kann dieses Ergebnis nicht verwundern. 156 Die Konzentration auf die Reformuniversitäten, der Ausschluß katholischer Hochschulen, die herausragende, aber - mit Ausnahme der Philosophischen Fakultät - nicht hegemoniale Stellung Erlangens, die vergleichsweise heterogene Verteilung bei den Rechtswissenschaftlern - alles, was oben bereits angeführt wurde, gilt auch für die Orte der Privatdozentur. Die geographische Immobilität, die in früher Zeit das Verhalten während der Risikophase kennzeichnete, lockerte sich 1811 bis 1848 leicht. Immerhin blieben jetzt nur noch 75,8 Prozent der Privatdozenten (25 von 33) ihrem Promotionsort treu, während fast ein Viertel die Dozententätigkeit an einer anderen Hochschule aufnahm. Allerdings war diese neuartige Beweglichkeit noch ganz überwiegend, nämlich in sechs von acht Fällen, auf ein Austauschverhältnis unter den bayerischen Universitäten beschränkt. Zwei Münchener und ein Würzburger Doktorand gingen nach Erlangen, dieses gab wiederum je einen an München und Würzburg ab; von Würzburg wechselte darüber hinaus eine 155 O h n e Privatdozentur blieben: Theologen 1743-1810: 37,5 Prozent (6 von 16); 1811— 1848:27,3 Prozent (3 von 11); 1849-1890:20 Prozent (3 von 15); 1891-1933:37,5 Prozent (6 von 16);Juristen: 1743-1810: 30,4 Prozent (7 von 23); 1811-1848: 40 Prozent (6 von 15); 1849-1890: 16,7 Prozent (2 von 12); 1891-1933: 7,1 Prozent (1 von 14); Mediziner: 1743-1810:92,3 Prozent (12 von 13); 1811-1848:58,3 Prozent (7 von 12); 1849-1890:23,8 Prozent (5 von 21); 1891-1933: 9,4 Prozent (3 von 32); »Phil. Sek.«: 1743-1810: 42,9 Prozent (6 von 14); 1811-1848: 66,7 Prozent (8 von 12); 1849-1890: 30 Prozent (6 v o n 20); 1891-1933: 7,7 Prozent (2 von 26); »Nat. Sek.«: 1743-1810: 30 Prozent (3 von 10); 1811-1848: 80 Prozent (4 von 5); 1849-1890: 15 Prozent (3 von 20); 1891-1933:0; aufgrund geringer Fallzahlen sind die Werte der »Naturwissenschaftlichen Sektion« 1811-1848 wenig aussagekräftig; zur Universität Gießen vgl. Baumgarten, Vom Gelehrten, S. 138. 156 Zur Immobilität des Privatdozententums in der Frühen Neuzeit vgl. Schubert, Die Geschichte, S. 122.

163

Tab. 24: Orte der Privatdozentur 1743-1810 1 5 7 Hochschule

Gesamt

Theol.

Jur.

Erlangen Gießen Göttingen Halle/S. Helmstedt Jena Leipzig Rostock Tübingen Wittenberg

16 (36,4) 1 (2,3) 6 (13,6) 4 (9,1) 3 (6,8) 4 (9,1) 4 (9,1) 1 (2,3) 3 (6,8) 2 (4,5)

4 (40,0)

1 (6,3)

1 (10,0)

3 (18,8) 1 (6,3)

44

10

16

TOTAL ( = 100 %)

-

1 (10,0) -

1 (10,0) 2 (20,0) -

1 (10,0) -

-

3(18,8) 3 (18,8) 1 (6,3) 2 (12,5) 2(12,5) -

Med. -

1(100,0)

»Phil.« 7 (77,8) -

1(11,1) 1(11,1) -

»Nat.« 4 (50,0) 1 (12,5) 2 (25,0) -

1 (12,5)

-

-

-

-

-

-

-

-

-

1

9

8

Quelle: Vgl. Seite 66, Fußnote 6. Person nach München. Insgesamt wirkten fast zwei Drittel der Privatdozenten (63,6 Prozent/21 von 33) an bayerischen Hochschulen (Tab. 25). D a Erlangen von den Schwesteruniversitäten mehr Kandidaten empfing als es selbst verlor und obendrein noch ein Promovend aus Heidelberg hierher stieß, war die Q u o t e der Erlanger Privatdozenten mit mehr als fünfzig Prozent sogar noch deutlich höher als im 18. Jahrhundert. Alle anderen Universitäten wiesen dagegen nur sehr geringe Anteile auf Eindeutig bevorzugte man den eigenen akademischen Nachwuchs, Hausberufungen waren alles andere als die Ausnahme. D e r Trend zur Regionalisierung, der für den Vormärz beobachtet werden konnte, erstreckte sich also auch auf diesen Bereich. Das galt insbesondere für die Theologen und Mediziner. D a sich die Habilitation unter den Privatdozenten des Zeitraumes 1849 bis 1890, von nur zwei Ausnahmen abgesehen, durchgesetzt hatte, gibt die Aufstellung der Privatdozentur-Orte in Tab. 26 ohne nennenswerte Abweichungen auch die Verteilung der Habilitationsuniversitäten wieder. Zugleich wird dabei die eindeutige Trennung von Promotion und Habilitation sichtbar. N u r noch 54,9 Prozent der Privatdozenten (39 von 71) hielt es bis zur Habilitation an ihrem Promotionsort. D e r Austausch zwischen den bayerischen Hochschulen

157 Übte ein und dieselbe Person mehrere Privatdozenturen an verschiedenen Orten aus, so galt die erste als maßgeblich; die Art und Weise, in der sich jeweils für die universitäre Lehrtätigkeit qualifiziert wurde, war unerheblich; fehlende Werte (abgesehen von den unberücksichtigt bleibenden Nichtprivatdozenten): keine.

164

Tab. 25: Orte der Privatdozentur 1811-1848 1 5 8 Hochschule

Gesamt

Theol.

Berlin Erlangen Göttingen Jena Leipzig Marburg München Tübingen Würzburg

2 (6,1) 17(51,5) 2 (6,1) 3 (9,1) 3 (9,1) 1 (3,0) 2 (6,1) 1 (3,0) 2 (6,1)

1(11,1) 6 (66,7) 1(11,1)

33

TOTAL ( = 100 %)

-

1(11,1) -

Jur. 1(11,1) 3 (33,3) 1(11,1) 1 (H,l) -

1(11,1) 2 (22,2)

-

-

-

-

9

9

Med. -

5 (83,3) -

»Phil.« -

2 (33,3) -

1 (16,7) 2 (33,3)

»Nat.« -

1 (33,3) -

1 (33,3) -

-

-

-

-

-

-

-

1 (16,7) 6

1 (16,7) -

6

-

1 (33,3) 3

Quelle: Vgl. Seite 66, Fußnote 6.

fügte sich in ein breit gestreutes N e t z überregionaler Wechselbeziehungen ein. 159 Der Anteil der bayerischen Universitäten an den Orten der Privatdozentur ging ebenfalls deutlich auf 40,8 Prozent (29 von 71 Personen) zurück. Erlangen belegte nach wie vor den Spitzenplatz und war als Habilitationshochschule, die Juristen ausgenommen, in allen Fakultäten gut vertreten; insgesamt hatte sich sein Anteil gegenüber d e m Vormärz jedoch mehr als halbiert. Im Kontext eines leistungsbezogenen Berufsbildes wurden Hausberufungen offenbar zunehmend unüblich. München und Leipzig standen Erlangen nur noch u m weniges nach, und alles in allem dominiert der Eindruck einer breiten Verteilung auf nicht weniger als zwanzig Universitäten des deutschsprachigen Raums. Kein Zweifel, auch beim T h e m a Habilitation und Privatdozententum wird erkennbar, daß sich Entterritorialisierung und Entregionalisierung der Erlanger Hochschullehrerschaft respektive ihre Einfügung in das deutsche Universitätssystem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts weitgehend durchsetzten. Allerdings behielt die Frage der Konfession noch einen starken Einfluß. Von den bayerischen Städten M ü n c h e n und Würzburg abgesehen, hatten Privatdozenten katholischer Universitäten so gut wie keine Chance in Erlangen.

158 Fehlende Werte: keine. 159 Der Anteil derjenigen, die zwischen den drei bayerischen Universitäten Erlangen, M ü n chen und Würzburg hin und her gingen, machte unter allen Wechselnden 28,1 Prozent (9 von 32) aus.

165

Tab. 26: Orte der Privatdozentur 1849-1890 1 6 0 Hochschule Basel Berlin Bonn Dorpat Erlangen Gießen Göttingen Greifswald Halle/S. Heidelberg Jena Königsberg Leipzig Marburg München Straßburg Tübingen Wien Würzburg Zürich TOTAL ( = 100 %)

Gesamt

Theol.

2 (2,8) 2 (2,8)

1 (7,7)

1 (1,4) 2 (2,8) 14 (19,7) 1 4 3 4 4

(1,4) (5,6) (4,2) (5,6) (5,6)

1 (1,4) 1 (1,4) 9 (12,7) 1 (1,4) 10(14,1) 2 (2,8) 2 (2,8)

Jur.

Med.

-

-

-

-

-

-

2(15,4) 3(23,1) -

1 (7,7) -

1 (7,7) -

1 (7,7) 2(15,4) 1 (7,7) -

-

1 (10,0) -

1 (10,0) -

1 (10,0) 2 (20,0)

71

13

-

1 (6,3) -

2 (20,0) -

2 (20,0) -

1 (7,7)

-

1 (6,3) 2 (12,5)

-

-

-

3 (18,8)

-

-

-

-

-

1 (1,4) 5 (7,0) 2 (2,8)

1 (6,3) 1 (6,3)

-

1 (10,0) -

10

2 (12,5) -

3 (18,8) 1 (6,3) -

1 (6,3) -

16

»Phil.«

»Nat.«

1 (6,7) -

-

1 (5,9)

-

-

-

4(26,7) -

-

3 (17,6) 1 (5,9) 1 (5,9)

1 (6,7) 1 (6,7) -

-

1 (5,9) 1 (5,9)

1 (6,7)

-

-

1 (6,7) -

1 (6,7) 1 (6,7) 2(13,3) -

2(13,3) -

15

-

2(11,8) -

4 (23,5) -

2(11,8) 1 (5,9) 17

Quelle: Vgl. Seite 66, Fußnote 6.

1891 bis 1933 verblieben 62 Prozent (62 von 100) der Privatdozenten an ihrer Promotionsuniversität, die übrigen 38 Prozent wechselten zur Habilitation an eine andere Hochschule. D e r Anteil der Wechselnden ging also wieder leicht zurück. Daß sich die Ubereinstimmung von Promotions- und Habilitationsort im Laufe des 19. Jahrhunderts als Regelfall durchsetzte, bestätigen die Erlanger Daten entgegen der Vermutung Ernst Schuberts allerdings nicht. 161 D i e U n i versitätswechsel wurden gegen E n d e hin sogar deutlich variantenreicher. Rückläufig war insbesondere die Q u o t e der innerbayerischen Wechsel. 162 In der Verteilung der Habilitationsorte (Tab. 27) konnten Erlangen, M ü n chen und Würzburg mit insgesamt 43 Prozent ihre überaus starke Stellung 160 Fehlende Werte: keine. 161 Vgl. Schubert, D i e Geschichte, S. 137. 162 D e r Anteil derjenigen, die zwischen den drei bayerischen Universitäten Erlangen, M ü n chen u n d W ü r z b u r g hin u n d her gingen, machte unter allen Wechselnden 10,5 Prozent (4 v o n 38) aus.

166

Tab. 27: Orte der Privatdozentur 1891-1933 1 6 3

Hochschule

Gesamt Theol.

Berlin Bonn Breslau Erlangen Freiburg i. Br. Gießen Göttingen Graz Greifswald Halle/S. Heidelberg Jena Kiel Königsberg Leipzig Marburg München Münster Rostock Straßburg Tübingen Wien Würzburg TH Braunschweig TH Brünn TH Karlsruhe

4 3 1 21 3 1 3 1 4 3 1 1 3 2 9 1 18 1 1 4 5 3 4 1 1 1

TOTAL (= 100 %)

(4,0) (3,0) (1,0) (21,0) (3,0) (1,0) (3,0) (1,0) (4,0) (3,0) (1,0) (1,0) (3,0) (2,0) (9,0) (1,0) (18,0) (1,0) (1,0) (4,0) (5,0) (3,0) (4,0) (1,0) (1,0) (1,0) 100

-

1 (10,0) -

1 (10,0) -

2 (20,0) 1 (10,0)

Jur. 2(15,4) 1 (7,7) -

1 (7,7)

Med. 2 (6,9)

-

-

-

12 (41,4) -

-

-

-

-

1 (3,4) 1 (3,4)

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

1 (10,0) 1 (10,0) 3 (30,0) -

3 (23,1) -

3 (23,1)

-

-

-

-

-

1 (7,7) 1 (7,7) -

1 (7,7)

1 (3,4) -

6 (20,7) -

1 (3,4) -

2 (6,9) -

3 (10,3)

3(12,5) -

1 (4,2) 1 (4,2) -

1 (4,2) 1 (4,2) 1 (4,2) -

2 (8,3) 1 (4,2) 1 (4,2) 1 (4,2) 7 (29,2) 1 (4,2) -

2 (8,3) -

1 (4,2) -

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

10

13

29

»Nat.«

-

-

-

-

»Phil.«

24

-

1 1 6 2

(4,2) (4,2) (25,0) (8,3) -

1 (4,2) 1 (4,2) -

1 (4,2) -

1 (4,2) -

2 (8,3) -

1 (4,2) 2 (8,3) 2 (8,3) -

1 (4,2) 1 (4,2) 1 (4,2) 24

Quelle: Vgl. Seite 66, Fußnote 6.

wahren. Bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein wurde der bayerische akademische Nachwuchs eindeutig bevorzugt. Erlangen lag mit über zwanzig Prozent wiederum an der Spitze. Es fällt jedoch auf, daß es sich bei den ehemaligen Erlanger Privatdozenten jetzt ausschließlich um Mitglieder der Medizinischen und Philosophischen Fakultät handelte. Die Mediziner, und unter ihnen wiederum bevorzugt die Vertreter der Grundlagen- und Spezialfächer, habilitierten sich sogar zu über vierzig Prozent in Erlangen und zu über siebzig Prozent in Bayern. Man kann das vornehmlich darauf zurückführen, daß Hausberu163 Fehlende Werte: keine.

167

fungen jetzt zwar im allgemeinen verpönt waren, diese Regel aber nicht oder nur sehr eingeschränkt bei der erstmaligen Besetzung neuer Lehrstühle galt. Solche wurden aber seinerzeit fast ausnahmslos in der Medizinischen und Philosophischen Fakultät etabliert. 164 Trotz der eindeutigen Konzentration auf Bayern hatte sich die Zahl der Habilitationsorte nicht unwesentlich auf 26 erhöht. Dabei wurde die Palette nicht nur um die neuen Technischen Hochschulen erweitert, sondern es konnten nun auch die katholischen Hochschulstädte außerhalb Bayerns (Bonn, Freiburg i. Br., Graz, Münster, Wien) ihre Position auf immerhin elf Prozent (elf von hundert) ausbauen. Wie bei den Studien- und Promotionsorten läßt sich von der besonderen Entwicklung der Medizinischen Fakultät abgesehen - eine leichter Trend zur Entregionalisierung und Entkonfessionalisierung beobachten.

3.2.3.4. Lebensalter der Privatdozenten und Abstand zwischen Promotion und Privatdozentur Das Alter der angehenden Privatdozenten, seit der Mitte des 19. Jahrhunderts praktisch durchweg mit dem Habilitationsalter gleichzusetzen, nahm im gesamten Zeitraum kontinuierlich zu. Das geht sowohl aus der prozentualen Verteilung auf verschiedene Altersgruppen (Abb. 16) als auch aus den Durchschnittswerten hervor.165 Einhergehend mit den verschärften Qualifikationsanforderungen stellt die Zeit um 1850 eine markante Zäsur dar. Der sehr junge Privatdozent wurde danach immer mehr zur Ausnahme, während die Gruppe der über dreißigjährigen zu beachtlicher Stärke anwuchs. Im Schnitt stieg das Habilitationsalter seit dem Ernennungsjahrgang 1849 von etwa 25 Jahren auf etwa dreißig Jahre. 164 In Erlangen habilitierte Mediziner waren der Hals-, Nasen- und Ohrenheilkundler Brock, der Hygieniker v. Angerer, der Vertreter für Haut- und Geschlechtskrankheiten L. Hauck, die Gynäkologen Geßner und Wintz, der Histologe Spuler, der Kliniker L. R. Müller, der Anatom Hermann, der Polikliniker Jamin, der Chirurg Graser, der Vertreter der Medizinisch-propädeutischen Fächer R. Fleischer und der Pathologe Hauser (BA 127, 125, 147, 142, 200, 188, 170, 152, 159, 144, 136, 148); Brock, Angerer, L. Hauck und Graser stammten aus Franken, L. R. Müller, Jamin und Hauser aus Bayerisch-Schwaben, Wintz aus der Bayerischen Pfalz; aller außer v. Angerer, Spuler, L. R. Müller und R. Fleischer hatten in Erlangen studiert, alle außer v. Angerer, L. R. Müller und R. Fleischer erlangten in Erlangen ihren Doktorgrad; vgl. allgemein: Schubert, Die Geschichte, S. 142-144; für die Universität Gießen: Baumgarten, Vom Gelehrten, S. 150. 165 Durchschnittliches Lebensalter (Jahre) bei Beginn der Privatdozentur, getrennt nach Ernennungszeiträumen und Fachbereichen; lagen für eine Zelle nicht mindestens zu 5 Fällen Daten vor, so wurde von der Nennung einer Durchschnittszahl mangels Aussagekraft abgesehen: 17431810: Gesamt: 24,7; Theol.: 24; Jur.: 24,2; Med.: ; »Phil. Sek.«: 26,2; »Nat. Sek.«: 24,9; 18111848: Gesamt: 25,2; Theol.: 27,6;Jur.: 23,6; Med.: 26,2; »Phil. Sek.«: 24,3; »Nat. Sek.«: ; 18491890: Gesamt: 27,3; Theol.: 28,2; Jur.: 26,5; Med.: 27,6; »Phil. Sek.«: 27,8; »Nat. Sek«.: 26,4; 1891-1933: Gesamt: 29,8; Theol.: 27,8;Jur.: 29,2; Med.: 31,1; »Phil. Sek«.: 29,6; »Nat. Sek.«: 29,6.

168

Busch hat f ü r verschiedene Habilitationsjahrgänge deutscher Universitätslehrer Z a h l e n vorgelegt. Ein Vergleich zeigt, daß die Erlanger D a t e n m i t d e n e n der deutschen D o z e n t e n s c h a f t b e m e r k e n s w e r t ü b e r e i n s t i m m e n . Lediglich im Habilitationszeitraum 1910 bis 1930 war das Lebensalter der Erlanger G r u p p e etwas niedriger. 166

Abb. 16: Lebensalter bei Beginn der Privatdozentur 1 6 7 100%

80%

60%

ffl über 30 Jahre m 2 6 - 3 0 Jahre

40%

• unter 26 Jahre

20%

0% 1743-1810

1811-1848

1849-1890

1891-1933

Ernennungszeitraum

Quelle: Vgl. Seite 66, Fußnote 6. Was den zeitlichen Abstand zwischen P r o m o t i o n u n d beginnender Privatdozentur bzw. Habilitation angeht, ist die Entwicklung ebenfalls relativ eindeutig (Abb. 17). D a die P r o m o t i o n in f r ü h e r Zeit n o c h der entscheidende Qualifizierungsnachweis des a n g e h e n d e n Privatdozenten war u n d eine etwaig erforderliche Disputation pro loco o f t noch a m selben Tag absolviert w u r d e , fiel die zeitliche D i f f e r e n z biographisch gesehen n o c h k a u m ins Gewicht. A u s n a h m e n

166 Busch gibt für die Habilitationsjahrgänge 1850 bis 1869je nach Fachbereich ein Habilitationsalter von 26,5-28,4Jahren an; die entsprechenden Werte der Erlanger Ordinarien schwanken im gleichen Z e i t r a u m zwischen 26,7 und 28,8 Jahren; Habilitationszeitraum 1890-1909: Deutschland: 28,4-32,3 Jahre, Erlangen: 28,4-31,5 Jahre; 1910-1930: Deutschland: 33,3 Jahre, Erlangen: 30,1 Jahre; vgl. Busch, Die Geschichte, S. 107. 167 Die Verteilung nach absoluten Zahlen: 1743-1810: unter 26 Jahre: 31; 26-30 Jahre: 9; über 30 Jahre: 4; fehlende Werte: keine; 1811-1848: unter 26 Jahre: 20; 26-30 Jahre: 10; über 30 Jahre: 3; fehlende Werte: keine; 1849-1890: unter 26 Jahre: 18; 26-30 Jahre: 44; über 30 Jahre: 9; fehlende Werte: keine; 1891-1933: unter 26 Jahre: 4; 26-30Jahre: 61; über 35 Jahre: 16; fehlende Werte: keine.

169

bildeten im Grunde nurjene Personen, die zwischen beiden Prüfungen längere Zeit außerhalb einer Hochschule tätig waren. Im Laufe der Zeit nahm allerdings der Anteil an Personen mit sehr kurzen Habilitationsphasen stetig ab. Seit der Jahrhundertwende hatten fast alle Anwärter einen Zeitraum von mindestens zwei Jahren einzukalkulieren, fast die Hälfte benötigte mehr als vier Jahre. Durchschnittlich dehnte sich die Lebensphase von 0,4 auf fünfJahre aus.168

Abb. 17: Zeitlicher Abstand zwischen Promotion und Habilitation169 100%

80%

n |86|

„ 60% c i> N O

o • «1 CEI o ra

• über 4 Jahre

1 58 1

• 2 - 4 Jahre

^ 40% -

• unter 2 Jahre 130 1

20% -

no/ U/o _ 1743-1810

1811-1848

1849-1890

1891-1933

Ernennungszeitraum

Quelle: Vgl. Seite 66, Fußnote 6. Die soziale Brisanz dieser Entwicklung ist offenkundig. Immer mehr Zeit mußte aufgewendet werden, um in immer höheren Lebensalter eine Laufbahnstation ohne jede Anstellungsgarantie und hinlängliches Einkommen zu erreichen. Daß das gehobene Wirtschafts- und Gewerbebürgertum seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts unter den Vaterberufen deutlich zunahm, 168 Durchschnittlicher Abstand zwischen Promotion und Beginn der Privatdozentur, getrennt nach Ernennungszeiträumen und Fachbereichen; lagen für eine Zelle nicht mindestens zu 5 Fällen Daten vor, so wurde von der N e n n u n g einer Durchschnittszahl abgesehen: 1743-1810: Gesamt: 0,4; Theol.: 0,6;Jur.: 0,2; Med.: - ; »Phil. Sek.«: 1,0; »Nat. Sek.«: 0,4; 1811-1848: Gesamt: 2,3; Theol.: 3,3;Jur.: 1,0; Med.: 3,7; »Phil. Sek.«: - ; »Nat. Sek.«: - ; 1849-1890: Gesamt: 2,8; Theol.: 1,8; Jur.: 2,4; Med.: 3,4; »Phil. Sek.«: 2,9; »Nat. Sek«.: 3,2; 1891-1933: Gesamt: 5,0; Theol.: 2,1; Jur.: 4,2; Med.: 6,6; »Phil. Sek«.: 5,4; »Nat. Sek.«: 4,5. 169 Die Verteilung nach absoluten Zahlen: 1743-1810: unter 2 Jahre: 37; 2-2 Jahre: 5; über 4 Jahre: 1; fehlende Werte: 1; 1811-1848: unter 2 Jahre: 18; 2-4 Jahre: 9; über 4 Jahre: 4; fehlende Werte: 2; 1849-1890: unter 2 Jahre: 20; 2 - 4 Jahre: 32; über 4 Jahre: 14; fehlende Werte: 5; 18911933: unter 2 Jahre: 8; 2-A Jahre: 43; über 4 Jahre: 49; fehlende Werte: keine.

170

ist demnach sicherlich zu einem guten Teil auf die gestiegenen Risiken der Professorenkarriere zurückzuführen. Abgesehen davon konnte die Ausdehnung der Qualifizierungszeit auch nicht ohne Auswirkungen auf deren inhaltlich-wissenschaftsbezogene Zweckbestimmung bleiben. Habilitation und Privatdozentur, laut Martin Schmeiser im frühen 19. Jahrhundert unter der Prämisse eines charismatischen Forschungsbegriffes institutionalisiert, gerieten unter verstärkten Rationalisierungs- und Disziplinierungsdruck. Hoffnungen konnten sich jetzt vor allem jene Berufsanwärter machen, die ein Spezialgebiet bearbeiteten, das kurz vor der Etablierung zum eigenen Lehrstuhl stand. Unter solchen Rahmenbedingungen wandelte sich die Experimentierphase mit universaler Ausrichtung zu einer Qualifizierungs- und Spezialisierungsphase.170 Allerdings waren die einzelnen Fachbereiche in unterschiedlicher Intensität von diesem Prozeß betroffen. Stärker wirkte er sich offenbar auf das Qualifikationsprofil der Philosophischen, vor allem aber der Medizinischen Fakultät aus. Für Theologen und Juristen, die während der Risikopassage ohnehin nicht so stark in den wissenschaftlichen Fachbetrieb eingebunden waren, blieb die Habilitation hingegen noch eher charismatisch strukturiert.

3.3. Das Extraordinariat Der Extraordinarius war wie der Ordinarius ein beamteter Hochschullehrer. Man unterschied zwischen planmäßigen und nichtplanmäßigen Extraordinariaten. Jene waren im Etat festgeschrieben, diese einer bestimmten Person zugeordnet. Ein Kapitel für sich bilden die Titelprofessuren: altgediente Privatdozenten wurden seit dem späten 19. Jahrhundert oft mit dem Titel und Rang eines außerordentlichen Professors ausgestattet, blieben aber ohne Beamtenstatus und Gehalt. U m 1920 hatte sich in Erlangen der Brauch eingespielt, Privatdozenten nach etwa fünfjähriger Lehrtätigkeit zu Titelprofessoren zu ernennen. Da sie beamtenrechtlich gesehen nichts anderes als Privatdozenten darstellten, bleiben sie im folgenden unberücksichtigt. Dem Gehalt nach verdiente ein Erlanger Extraordinarius bis in die siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts hinein ungefähr ein Drittel bis die Hälfte dessen, was seinen Ordinarienkollegen zustand. Wie bei den Salären der ordentlichen Professoren herrschte allerdings ein ausgeprägtes Individualsystem vor. Bis zu den Reformmaßnahmen von 1804 ist in nahezu der Hälfte aller Fälle in den Bestallungsdekreten von einem Gehalt sogar überhaupt keine Rede; einige Personen wurden explizit auf die nächste Vakanz hingewiesen. Dergleichen kam auch noch bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts vor, gehörte da aber schon zu den 170 Vgl. Schmeiser, S. 34-45; Schubert, Die Geschichte, S. 146.

171

absoluten Ausnahmen. 171 Die Gehaltsordnungen, die nach der Reichsgründung die Einkommenssituation der Ordinarien kalkulierbarer machten, bescherten auch den außerordentlichen Professoren die Garantie einer Mindestbesoldung. Seit 1876 betrug sie 3.180 Mark, 1909 wurde sie auf 3.600 Mark aufgestockt. Im Verhältnis zu den Ordinariengehältern bedeutete das zunächst eine eindeutige Besserstellung auf 75,7 Prozent (3.180 : 4.200 Mark), die allerdings 1892 (3.180 : 4.560 Mark/69,7 Prozent) und 1909 (3.600: 6.000 Mark/60 Prozent) schrittweise wieder zurückgenommen wurde. 172 Diese Entwicklung ist um so bedeutsamer, als sich seinerzeit auch auf dem Gebiet der Hörgelder zunehmend eine Schere zugunsten der Ordinarien auftat. 173 In materieller Hinsicht wurde das Extraordinariat in früher Zeit offenbar als entbehrungsreiche Durchgangsphase aufgefaßt. Bot es im 19. Jahrhundert zunehmend ein geregeltes und hinreichendes Auskommen, blieben die Einkünfte doch hinter denen vergleichbarer Positionen in Verwaltung, Justiz oder Schulwesen zurück.174 Die Laufbahn war so strukturiert, daß die erbrachten Leistungen nur in der höchsten Karrierestation des Ordinariats angemessen abgegolten wurden. Unterhalb dieser Ebene hatten sich alle Dozenten mit dem hohen Reputationswert wissenschaftlicher Arbeit zu trösten. Eindeutig unterprivilegiert blieben die außerordentlichen Professoren auch in der Selbstverwaltung, in die sie überhaupt erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts einbezogen wurden. 1911 beschloß der Erlanger Senat, planmäßigen Extraordinarien bei Beratungen über sachliche Angelegenheiten ihres eigenen Faches eine beratende Stimme zuzugestehen. Seit 1912 verfügte dieselbe Personengruppe in solchen Angelegenheiten auch über eine beschließende Stimme und durfte sich in Personalfragen beratend äußern; letzteres sollte allerdings allein auf Fälle beschränkt bleiben, in denen es um die eigene Nachfolge ging.175 Zunächst ist zu klären, wie viele der untersuchten Personen die Laufbahnstation des Extraordinariats überhaupt ausfüllten. Kurz zusammengefaßt,

171 Für die Zeit vor 1804 lagen Bestallungsdekrete v o n insgesamt 23 Personen vor, die als Extraordinarien in Erlangen angestellt waren. In n e u n D e k r e t e n ist kein Gehalt erwähnt, in vier wird auf die nächste Vakanz hingewiesen, eine Person erhielt 500 fl., drei 200 fl., vier 150 fl., eine 75 fl. u n d eine 37 fl.; bei den 17 belegbaren Fällen des Z e i t r a u m s 1804 bis 1839 w u r d e n dreimal 800 fl. zugesprochen, einmal 700 fl., einmal 500 fl., sechsmal 400 fl., zweimal 350 fl. u n d einmal 200 fl.; dreimal blieb es bei der Vertröstung auf die nächste Vakanz; v o n 1840 bis zur Reichsgründ u n g k a m es zu einer gewissen Vereinheitlichung: 11 v o n 13 Personen erhielten mit ihrer Bestallung ein Salär v o n 600 oder 700 fl., eine 800 fl.; n u r der Jurist Gengier (BA 77) m u ß t e drei Jahre o h n e Besoldung a u s k o m m e n ; eine ungleiche B e h a n d l u n g der Fakultäten ist nicht erkennbar. 172 Siehe u n t e n , Kap. 4.3.1. 173 Vgl. Ringer, T h e Decline, S. 54. 174 Vgl. Ferber, Sp.112; Burchardt, S. 170f. 175 Prorektor B a c h m a n n an d e n Vorsitzenden der Nichtordinarien-Vereinigung v. Kryger, 5.7.1911; Prorektor Binder an M d l , 29.7.1912. UAE, I/3a/506 b, die außerordentlichen Professoren.

172

schwankte ihr Anteil vor der Mitte des 19. Jahrhunderts etwa zwischen vierzig und sechzig Prozent und danach etwa zwischen sechzig und 75 Prozent. 176 Dabei waren keine merklichen Unterschiede zwischen den einzelnen Fakultäten zu erkennen. In der Tendenz wurde die Laufbahnstation des Extraordinariats also nach der Mitte des 19. Jahrhunderts üblicher - ein weiteres Indiz für die professionelle Abgrenzung des Professorenberufs. Seit etwa 1900 kam es außerdem häufiger vor, daß vakante Lehrstühle, die eigentlich als ordentliche Professur dotiert waren, zunächst nur mit einem Extraordinarius besetzt wurden. Das betraf ausschließlich bisherige Privatdozenten, also Personen, die ansonsten die Laufbahnstufe des außerordentlichen Professors übersprungen hätten. Ihre Beförderung ins Ordinariat war dann nach einer Karenz von etwa zwei bis fünf Jahren nur noch eine Formsache.177 Wenn bei einem solchen Verfahren nicht zuletzt monetäre Überlegungen mit im Spiel gewesen sein dürften, spiegelt es doch auch eine Art informellen Konsens über den Normalverlauf einer professoralen Berufslaufbahn wider. Jedenfalls wurden meist auch Argumente in dieser Richtung, etwa das junge Alter der Kandidaten, ins Feld geführt.178 Was den Ort des Extraordinariats angeht, dominierte Erlangen bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts eindeutig. 1743 bis 1810 übten 70,6 Prozent (24 von 34) aller untersuchten Personen, die eine außerordentlichen Professur innehatten, diese in der Regnitzstadt aus, 1811 bis 1848 lag derselbe Anteil mit 66,7 Prozent (20 von 30) nur um weniges tiefer. Lediglich die Juristen bewiesen mit nur 44,4 Prozent (vier von neun) im 18. Jahrhundert erneut ihre vom geographischen Herkunfts- und Laufbahnprofil her relativ große Distanz zu Erlangen, glichen 176 Anteil ehemaliger Extraordinarien an der Grundgesamtheit: 1743-1791: 41,1 Prozent (23 von 56); 1792-1810: 50 Prozent (11 von 22); 1811-1823: 38 Prozent (8 von 21); 1824-1836: 60 Prozent (12 von 20); 1837-1848: 50 Prozent (10 von 20); 1849-1860: 72,7 Prozent (16 von 22); 1861-1870: 57,9 Prozent (11 von 19); 1871-1880: 69,6 Prozent (16 von 23); 1881-1890: 65,4 Prozent (17 von 26); 1891-1905: 72,7 Prozent (24 von 33); 1906-1918: 76,7 Prozent (23 von 30); 1919-1933: 61,2 Prozent (30 von 49); fehlende Werte: keine. 177 So der Fall bei dem reformierter Theologen K. Müller (Wartezeit: 1892-1896), den H i storikern Fester (1896-1899), Schulten (1907-1909) und G. Beckmann (1907-1909), den Archäologen Bulle (1902-1906) und Curtius (1908-1913), dem Orientalisten Hell (1911-1913), dem Geographen Volz (1912-1913) und dem Kirchenrechtler Liermann (1929-1931) (BA 37, 227, 317, 208, 216, 220, 246, 331, 96). 178 Bei K. Müller führte die Theologische Fakultät in ihrer gutachterlichen Äußerung ausdrücklich die große Jugend und geringe Zahl an Lehrsemestern an. 7.7.1892. Personalakt (PA) K. Müller (BA 37); G. Beckmann wurde im Gutachten der Philosophischen Fakultät zur Wiederbesetzung des Lehrstuhles Fester zunächst nur zum Extraordinarius empfohlen, um den großen Abstand zu Hermann Oncken deutlich zu machen, der sich auf Platz eins der Liste befand; außerdem würde Beckmanns sofortiger Aufstieg zum Ordinarius eine Unbilligkeit gegenüber dem hiesigen Historikerkollegen Schulten bedeuten. Gutachten vom 27.2.1907 und 30.5.1907. PA Fester (BA 227); Heils und Volz' Beförderung zum Ordinarius konnte nicht vor der Curtius' erfolgen, damit dieser sich nicht unverdient zurückgesetzt fühlen mußte. M d l an Senat, 12.11.1912; Senatsprotokoll, 13.12.1912. PAHell (BA246); Phil. Fak. an Senat, 8.1.1913. PA Volz (BA331).

173

sich aber während des Vormärz (sechzig Prozent/sechs von zehn) den Werten der Gesamtheit an. Die Palette alternativer Hochschulorte war 1743 bis 1810 noch sehr schmal und erweiterte sich 1811 bis 1848 geringfügig.179 Bei der Ergänzung der Erlanger Ordinarienschaft blieb die nationsweite Suche nach geeigneten Kandidaten demnach bis weit ins 19. Jahrhundert hinein eher die Ausnahme. Die Phase zwischen Privatdozentur und Extraordinariat war nicht von besonderer Mobilität geprägt. Von den 26 Personen, die 1743 bis 1810 sowohl die eine als auch die andere Laufbahnpositionen einnahmen, übte lediglich ein knappes Viertel (6) beide an einem unterschiedlichen Hochschulort aus; im Vormärz waren es nur sieben von 26. Die Spanne zwischen derAufnahme der Privatdozentur und der Erhebung ins Extraordinariat fiel allgemein kurz aus. Bei etwa der Hälfte der Personen war dieser Karriereschritt in weniger als drei Jahren getan, nur selten mußten mehr als fünf Jahre überbrückt werden. Durchschnittlich dauerte die Phase im Ernennungszeitraum 1743 bis 1810 3,4 Jahre und 1811 bis 1848 3,3 Jahre. Folglich handelte es sich damals meist um junge Extraordinarien, die bei der Ernennung im Schnitt 28,8 (1743-1810) bzw. 28,7 (1810-1848) Jahre alt waren. Das Extraordinariat dauerte 4,9 bzw. 4,2 Jahre. Anders stellte sich die Situation nach der Jahrhundertmitte dar. Die Erlanger Extraordinarien machten 1849 bis 1890 zwar immer noch beachtliche 45 Prozent (27 von 60) aus, das bedeutete jedoch auch einen markanten Rückgang; 1891 bis 1933 blieb der entsprechende Anteil mit 47,4 Prozent (36 von 76) dann praktisch gleich hoch. Während der Anteil der Erlanger Extraordinarien unter den Theologen und Juristen langfristig zurückging, erhöhte er sich in der Philosophischen und vor allem in der Medizinischen Fakultät signifikant.180 Der Prozeß der Fächerdifferenzierung, der seinerzeit die Zahl der Extraordinariate in den beiden letztgenannten Fakultäten rapide wachsen ließ, begünstigte also die heimischen Privatdozenten. Im Gegensatz zur statischen Stellensituation bei Theologen und Juristen brachte Spezialisierung hier die Chance, an derselben Universität vom Privatdozenten zum Professor aufzusteigen. Abgesehen von diesen Sonderbedingungen, die aus der ersten großangelegten Differenzierungsphase der Fachdisziplinen resultierten, ging der allgemeine Trend aber eindeutig in Richtung einer sprachgebietsweiten Rekrutierung

179 Orte des Extraordinariats (außer Erlangen): 1743-1810: Jena (3 Personen), Leipzig (3), Tübingen (2), Göttingen (1), Helmstedt (1); 1811-1848: Leipzig (2), Berlin (1), Heidelberg (1), Jena (1), Königsberg (1), Landshut (1), Marburg (1), Tübingen (1), Zürich (1). 180 Anteil der Erlanger außerordentlichen Professoren an den Extraordinarien insgesamt: 1849-1890: Theologen: 42,9 Prozent (6 von 14);Juristen: 22,2 Prozent (2 von 9); Mediziner: 53,8 Prozent (7 von 13); »Phil. Sek.«: 50 Prozent (7 von 14); »Nat. Sek.«: 50 Prozent (5 von 10); 18911933: Theologen: 33,3 Prozent (3 von 9); Juristen: 16,7 Prozent (2 von 12); Mediziner: 63,2 Prozent (12 von 19); »Phil. Sek.«: 55 Prozent (11 von 20); »Nat. Sek.«: 50 Prozent (8 von 16).

174

der Extraordinarien. 181 Seit der Jahrhundertwende zahlte sich außerdem zunehmend geographische Mobilität aus. Wechselten 1849 bis 1890 weiterhin nur etwa ein Viertel aller relevanten Personen zwischen Privatdozentur und Extraordinariat den Hochschulort (24,5 Prozent/13 von 53), stieg der entsprechende Anteil 1891 bis 1933 auf mehr als die Hälfte (55,5 Prozent/40 von 72). Ebenso verlängerte sich die Spanne zwischen beiden Karrierestationen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf im Schnitt 4,5 Jahre und im frühen 20. Jahrhundert noch einmal auf 5,6 Jahre. N u r noch ein gutes Viertel derer, die sowohl Privatdozent als auch außerordentlicher Professor waren, erreichte das Extraordinariat in weniger als drei Jahren, wohingegen ein Zeitraum von mehr als fünfJahren 1849 bis 1890 bereits für ein knappes Drittel, 1891 bis 1933 für etwa vierzig Prozent festzustellen ist. Entsprechend ging auch das Durchschnittsalter der neu ernannten Extraordinarien nach oben: auf 32,1 Jahre (1849-1890) und 35,7 Jahre (1891-1933). Was die Dauer des Extraordinariats angeht, ist in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunächst ein merklicher Rückgang auf den Mittelwert von 3,5 Jahren zu verzeichnen. Der Ausbau der Stellen, den die Entfaltung der Disziplinen besonders in der Medizinischen und Philosophischen Fakultät mit sich brachte, führte also vorübergehend zu Vorteilen, die sich im erhöhten Konkurrenzdruck in der Zeit der Jahrhundertwende rasch wieder verloren. 1891 bis 1933 währte die Berufsphase im Schnitt sogar 5,1 Jahre. Während sich diese Zeitfaktoren in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in allen Fakultäten mehr oder weniger gleichmäßig auswirkten, traten die Werte 1891 bis 1933 klar auseinander. Auf der einen Seite standen Theologen und Juristen mit relativ kurzer Wartezeit zwischen Privatdozentur und Extraordinariat (2,6/3,7 Jahre) sowie geringem Lebensalter bei Antritt der Professur (31,7/ 32,8 Jahre), auf der anderen Medizinische Fakultät, »Philosophische« und »Naturwissenschaftliche Sektion«, deren Mitglieder trotz weitaus stärkeren Stellenausbaus im Schnitt sehr lange Wartezeiten (6,6/6,5/6,5 Jahre) in Kauf nehmen mußten und in ausgesprochen hohem Lebensalter (38,3/36,6/35,9 Jahre) ernannt wurden. Eine ähnliche Ausdifferenzierung zeigt sich schließlich bei der Dauer des Extraordinariats, die bei Theologen und Juristen nur 3,4 bzw. 4,1 Jahre betrug, bei den Mitgliedern der Medizinischen Fakultät dagegen 5,8 Jahre und in den beiden »Sektionen« der Philosophischen Fakultät 5,3 bzw. 5,5 Jahre. Bei jenen 181 Orte des Extraordinariats (außer Erlangen): 1849-1890: Leipzig (7 Personen), Heidelberg (3), München (3), Dorpat (2), Gießen (2), Greifswald (2), Halle (2), Marburg (2), Rostock (2), Zürich (2), Berlin (1), Bonn (1), Göttingen (1) Jena (1), Straßburg (1), Tübingen (1); 1891-1933: Leipzig (6), Rostock (3), Berlin (2), Gießen (2), Greifswald (2), Halle (2), Heidelberg (2) Jena (2), Marburg (2), München (2), Würzburg (2), T H Brünn (2), Bonn (1), Czernowitz (1), Freiburg i. Br. (1), Göttingen (1), Graz (1), Hamburg (1), Kiel (1), Prag (1), Straßburg (1), Tübingen (1), Wien (1).

175

blieb der Charakter der außerordentlichen Professur als einer Durchgangsstation zum Ordinariat noch eher gewahrt, während sie in diesen zu einer professionell abgegrenzten, funktionalisierten Berufsposition modifiziert wurde, die bei ausbleibender U m w a n d l u n g in einen ordentlichen Lehrstuhl durchaus zu einer Lebensstellung werden konnte. Daß etwa der Mediziner Hermann, der sich dem engeren Gebiet der topographische Anatomie und Histologie zugewandt hatte, 1918 nach einem siebenundzwanzigjährigen Extraordinariat zum ordentlichen Professor ernannt wurde, war wohl kaum noch zu erwarten gewesen. 182

3.4. B e r u f u n g ins O r d i n a r i a t

3.4.1. Ort des ersten Ordinariats und Berufsposition vor dem Erlanger Ordinariat Nicht weniger als 87,2 Prozent (68 von 78) der untersuchten Personen nahmen im Ernennungszeitraum 1743 bis 1810 ihre erste Ordinariatsposition in Erlangen ein. Einen nennenswerten Anteil wies daneben nur das benachbarte Altdorf mit fünf Personen auf, jeweils eine war zunächst ordentlicher Professor in Erfurt, Jena, Leipzig, Wittenberg und Rostock. Die Quote erfolgreicher Ordinarienberufungen war also mit 11,5 Prozent (neun von 78) denkbar gering. 183 Z u d e m beschränkte sich die Erlanger Zugkraft überwiegend auf die relativ kleine Hochschule der Reichsstadt Nürnberg, wobei deren Nähe sicherlich keine geringe Rolle spielte. Da allein fünf der neun Ordinarienberufungen in die kurze preußische Periode fielen, liegt der Schluß nahe, daß sich die Erlanger Berufungschancen in dieser Zeit merklich erhöhten. Welchen Tätigkeiten gingen die übrigen Personen unmittelbar vor ihrer Ernennung zum Erlanger Ordinarius nach? Hier sind zunächst die unteren Laufbahnstufen des Professorenberufes anzusprechen: 37,2 Prozent der Grundgesamtheit (29 von 78) standen im Extraordinariat, 12,8 Prozent (zehn von 78) wirkten als Privatdozenten. 184 Sehr oft kam es auch zur direkten Rekrutierung aus den praktischen akademischen Berufen. Die Personen, die keine universitäre Position einnahmen, als der Erlanger Ruf sie ereilte, wiesen mit insgesamt 38,5 Prozent (30 von 78) einen bemerkenswert hohen Anteil auf Es handelte 182 BA 152. 183 Vergleichsmöglichkeiten fehlen, da Baumgarten, Professoren, erst mit d e m J a h r 1815 einsetzt. 184 Titelprofessuren blieben berücksichtigt; übte ein u n d dieselbe Person neben ihrer akademischen Position noch einen anderen B e r u f aus, so galt n u r j e n e als maßgeblich.

176

sich vor allem um freie oder beamtete Ärzte (9), Gymnasiallehrer (6) und Geistliche (4). Daneben kamen je drei Beamte der allgemeinen Verwaltung und Privatgelehrte, zwei Advokaten, der Sekretär einer wissenschaftlichen Gesellschaft, ein Gutsverwalter und ein Hauslehrer zum Zuge. N u r geringfügig niedriger war im Ernennungszeitraum 1811 bis 1848 mit 80,3 Prozent (49 von 61) der Anteil derer, für die Erlangen die erste Ordinariatsposition darstellte. Allerdings wies die Palette der sonstigen Ersternennungsorte mit je zwei Personen in Würzburg und Halle sowie je einer in Altdorf, Bern, Breslau, Heidelberg, Königsberg, Landshut, München und Rostock eine deutlich größere Variationsbreite auf als zuvor. Vier dieser zwölf auswärtigen Ordinarien wechselten vor dem Erlanger Ruf ihre Stellung, wobei zwei den Lehrstuhl einer anderen Universität übernahmen und zwei einen praktischen Beruf ergriffen.185 Insgesamt waren damit lediglich 16,4 Prozent (zehn von 61) der untersuchten Personen unmittelbar vor der Erlanger Karrierestation Hochschulordinarius, davon je zwei in München und Halle sowie je eine in Würzburg, Landshut, Bern, Bonn, Königsberg und Rostock. Im Rahmen des deutschen Universitätssystems kann Erlangen damit in der Tat als sogenannte Einstiegsuniversität eingestuft werden. 186 Das gilt um so mehr, als die ohnehin wenigen Ordinarienberufungen bei näherem Hinsehen vielfach unter besonderen Umständen vor sich gingen. So hatten insbesondere die innerbayerischen Universitätswechsel im Vormärz oft noch eher den Charakter einer Versetzung. Nicht selten geschah es auch, daß Professoren im Anschluß an ein kurzes auswärtiges Zwischenspiel nach Erlangen als dem Ort ihrer Ausbildung respektiven frühen Dozentenzeit zurückkehrten. 187 Derartiges kann nur sehr bedingt als Ergebnis 185 Der Altdorfer Theologieprofessor Meyer wurde 1809 mit der Schließung der Universität quiesziert und wirkte seit 1810 als Dekan der Altdorfer Gemeinde; der Naturgeschichtler C. v. Raumer, seit 1811 Ordinarius in Breslau, wechselte 1819 zunächst als ordentlicher Professor nach Halle, gab seinen dortigen Lehrstuhl aber 1823 wegen politischer Auseinandersetzungen mit der preußischen Regierung zugunsten einer Lehrstelle am privaten Dittmarschen Erziehungsinstitut in Nürnberg auf; der Physiker und Chemiker Kastner wurde 1812 von Heidelberg nach Halle wegberufen und 1818 von dort nach Bonn; der Staatsrechtler Link war seit 1832 Ordinarius in Würzburg und seit 1833 in München (BA 36, 302, 259, 97). 186 Baumgarten, Professoren, S. 293, gibt als Quote erfolgreicher Ordinarienberufungen je nach Geistes- und Naturwissenschaften im Ernennungszeitraum 1815 bis 1847 für die sog. Einstiegsuniversitäten Gießen und Kiel 10,0/25,0 bzw. 7,7/22,2 Prozent, für die sog. Aufstiegsuniversitäten Heidelberg und Göttingen 23,8/22,2 bzw. 24,8/22,2 Prozent und für die sog. Endstationsuniversitäten München und Berlin 25,2/16,7 bzw. 40,7/4,6 an; die entsprechende Erlanger Quote betrug unter Übertragung des von Baumgarten gewählten Ernennungszeitraumes auf den vorliegenden Datensatz in der »Philosophischen Sektion« 14,3 Prozent (2 von 14), in der »Naturwissenschaftlichen Sektion« 14,3 Prozent (1 von 7) und insgesamt 17,2 Prozent (10 von 58); zur Terminologie und zur Rangfolge der deutschen Universitäten vgl. ebd., S. 221-225, S. 264—266; speziell zur Einordnung Erlangens vgl. ebd., S. 202-204, S. 255f. 187 Der Altphilologe Döderlein kehrte 1821 von Bern nach Erlangen als seinem Studien- und Promotionsort zurück, der Staats- und Kirchenrechtler Stahl 1834 von Würzburg an seinen Stu-

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eines leistungsbezogenen Rivalitätsverhältnisses der deutschen Hochschulen gedeutet werden. Die neue bayerische Herrschaft brachte damit im Hinblick auf die Erlanger Berufungschancen zunächst einmal einen Rückschritt. Daß die Bedingungen der preußischen Blütephase noch in den ersten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts nachwirkten, wie Baumgarten vor allem aus der Abwerbung des namhaften Naturwissenschaftlers Kastner aus Bonn (1820) schließt, ist zumindest fraglich. Kastners Ernennung erfolgte, nachdem gerade von Bonn vier vielversprechende Erlanger Naturwissenschaftler abgezogen worden waren; sein außerordentlich hohes Gehalt war im schmalen Personaletat so eng kalkuliert, daß die schon damals überfällige Trennung der Disziplinen Physik und Chemie auf Jahrzehnte aufgeschoben werden mußte. Von daher ist der Vorgang wohl eher als isolierter Kraftakt gegen eine Entwicklung zu deuten, die bereits lange zuvor mit der preußischen Niederlage von 1806 eingesetzt hatte.188 Die Juristen waren mit fünf Ordinarienberufungen, was einer Quote von einem Drittel entsprach, noch am erfolgreichsten. Der entsprechende Anteil lag in der Theologischen Fakultät bei 16,7 Prozent (zwei von zwölf), in der »Philosophischen Sektion« bei 14,3 Prozent (zwei von 14) und in der »Naturwissenschaftlichen Sektion« bei 14,3 Prozent (einer von sieben). Der Medizinischen Fakultät glückte keine Abwerbung. Wenn auswärtige Ordinarien nicht zu haben waren, was lag näher, als auf den akademischen Nachwuchs zurückzugreifen? Ein näherer Blick zeigt indes, daß dieses Reservoir sogar noch etwas weniger genutzt wurde als im 18. Jahrhundert. Aus einer Extraordinariatsposition gelangte mit 37,7 Prozent der Personen (23 von 61) zwar ein fast genau gleich hoher Anteil wie zuvor ins Erlanger Ordinariat, die Quote der Privatdozenten, die den direkten Aufstieg schafften, ging allerdings merklich auf 4,9 Prozent (drei von 61) zurück. Kann das im Sinne einer allmählichen Verfestigung spezifischer Laufbahnabfolgen interpretiert werden, muß doch auffallen, daß die Quereinsteiger aus den praktischen Akademikerberufen das Feld gut behaupteten. Insgesamt sind 41 Prozent (25 von 61) zu dieser Gruppe zu zählen, was gegenüber dem 18. Jahrhundert sogar eine leichte Steigerung bedeutete. Erneut stellten die Arzte (6), Gymnasiallehrer (7) und Geistlichen (4) starke Anteile. Bei den Rechtsberufen gesellten sich als neue Berufsgruppe zwei Richter zu einem Rechtsanwalt, während die Bedien- und Extraordinariatsort und der Neutestamentier Hofmann 1845 von Rostock an den Ort von Studium, Promotion, Habilitation und Extraordinariat; nur bei den Berufungen des Zivilrechtlers Bücher (bis 1818 in Halle), des Physikers und Chemikers Kastner (bis 1820 in Bonn), des Strafrechtlers Schmidtlein (bis 1834 in München), des Dogmatikers Olshausen (bis 1834 in Königsberg) und des Privatrechtlers Laspeyres (bis 1844 in Halle) sind keine der genannten Sonderbedingungen erkennbar (BA 221, 119, 24, 70, 259, 113, 38, 94). 188 Vgl. Baumgarten, Professoren, S. 255f.; zur Berufung Kastners (BA 259) siehe auch unten, Kap. 4.3.1.; zur Abwanderung Erlanger Gelehrter nach Bonn siehe unten, Kap. 3.5.3.

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amten der allgemeinen Verwaltung nicht mehr vertreten waren. Dazu kamen drei Privatgelehrte, ein ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften in München sowie ein Hauslehrer. Auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Ernennungszeitraum 1849 bis 1890) blieb es dabei, daß Erlangen in aller Regel die erste Station einer Ordinarienlaufbahn darstellte. Das galt für achtzig Prozent der untersuchten Personen (72 von 90 Personen). Unter den Erstordinariatsorten war jetzt mit Basel (2), Zürich (2), Bern (1), Dorpat (1) und Leiden (1) auffällig oft das Ausland vertreten. Daneben dominierten kleine Universitäten wie Rostock (3), Gießen (3) und Kiel (1), während Hochschulen mittlerer Größe wie Jena (2) und Halle (1) nur eine relativ geringe Rolle spielten. Eine Person war Ordinarius an der T H Darmstadt gewesen. N u r drei der 18 auswärtigen Lehrstuhlinhaber, und zwar ausnahmslos Juristen, wechselten vor ihrem Erlanger Ruf ein weiteres Mal die Universität, zwei davon nach Greifswald, einer nach Kiel.189 Außer den insgesamt drei Abwerbungen aus Jena und Halle konnte Erlangen also nur Ordinarien von Standorten anlocken, die im damaligen Rangverhältnis der Hochschulen als Einstiegsuniversitäten anzusehen waren.190 Auch der Quote erfolgreicher Ordinarienberufungen nach (zwanzig Prozent/18 von neunzig) zählte die fränkische Hochschule klar zu den untersten Sprossen einer erfolgreichen Professorenkarriere. 191 Allerdings muß auffallen, daß Wechsel von den beiden anderen bayerischen Universitäten nach Erlangen jetzt nicht mehr vorkamen, womit sich auch Spekulationen über eine fortgesetzte Praxis versetzungsähnlicher Berufungsvorgänge erübrigen. Weitgehend unüblich wurde darüber hinaus auch der Rückruf einstiger Erlanger Studenten oder Dozenten. Von den 18 auswärtigen Ordinarien hatten 14 zuvor keine erkennbare Verbindung zur Regnitzstadt gehabt, zwei hatten hier lediglich studiert und weitere zwei als Extraordinarien gedient. Im Gegensatz zum Vormärz spielten also bei Ordinarienberufungen lokale Bindungen und Kontakte der Kandidaten nur noch eine untergeordnete Rolle. Erlangen hatte sich nun weitgehend deckungslos im konkurrierenden Feld der deutschsprachigen Universitäten zu behaupten.

189 Der Zivilrechtler Bechmann ging 1864 von Basel nach Marburg und wechselte noch im gleichen Jahr nach Kiel; sein Fachkollege Holder trat 1874 von Basel nach Greifswald über, der Zivilrechtler Seuffert 1876 von Gießen nach Greifswald (BA 63, 87, 117). 190 Vgl. zur entsprechenden Rangfolge der Hochschulen: Baumgarten, Professoren, S. 180— 266. 191 Ebd., S. 293, gibt für den Ernennungszeitraum 1848-1879je nach Geistes-und Naturwissenschaftlern folgende Quoten an: Gießen: 18,2/7,7 Prozent; Kiel: 29,6/18,2 Prozent; Heidelberg: 42,9/46,2 Prozent; Göttingen: 42,1/26,3 Prozent; München: 23,8/26,7 Prozent; Berlin: 68,0/50,0 Prozent; in Erlangen betrug im gleichen Zeitraum der Anteil der »Philosophische Sektion« 14,3 Prozent (2 von 14), der der »Naturwissenschaftliche Sektion« 13,3 Prozent (2 von 15), der der Gesamtheit 20,6 Prozent (13 von 63).

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Eine absolute Ausnahme bildete der Fall des Theologen Zahn, der 1892 von der Endstationsuniversität Leipzig auf den traditionsreichen Lehrstuhl der Einleitenden Wissenschaften und Neutestamentlichen Exegese berufen werden konnte, den er bereits von 1878 bis 1888 innegehabt hatte. Die Fakultät hatte in ihrem Gutachten ausdrücklich die Gewagtheit einer solchen Abwerbung betont. U m Zahn zumindest sein derzeitiges Gehalt von 9.000 Mark anbieten zu können, zeigte man sich sogar bereit, auf ein planmäßiges Extraordinariat zu verzichten. Zahn selbst hat seine Rückkehr im nachhinein mit dem Mangel an »wünschenswerter Einigkeit« unter den Leipziger Theologenkollegen begründet.192 Die Bedeutung der Theologischen Fakultät als konfessionell geschlossene Gemeinschaft, dazu ihre überproportionale Studentenzahl, brachten zweifellos sehr gute Berufungschancen mit sich. Insgesamt war die Quote erfolgreicher Ordinarienberufungen hier mit genau einem Viertel (vier von 16) über dem Durchschnitt, wurde aber nach wie vor von den sehr mobilen Juristen (58,3 Prozent/sieben von zwölf) übertroffen. Unter dem Mittelwert lagen die Anteile in der Medizinischen Fakultät (9,5 Prozent/zwei von 21), in der »Philosophischen« (9,5 Prozent/zwei von 21) und in der »Naturwissenschaftlichen Sektion« (15 Prozent/drei von zwanzig). Z u einer markanten Veränderung kam es bei der Rekrutierung aus dem akademischen Nachwuchs. Nicht weniger als 54,4 Prozent der untersuchten Personen (49 von neunzig) wurden jetzt aus einem Extraordinariat heraus zum Erlanger Ordinarius ernannt. Dazu kamen 18,9 Prozent (17 von neunzig) Aufsteiger aus der Privatdozentur. Während sich die Ochsentour durch die unteren akademischen Laufbahnstufen jetzt statistisch gesehen sehr viel stärker als zuvor auszahlte, gingen die Chancen für die Inhaber praktischer akademischer Berufe klar zurück. N u r noch 6,7 Prozent (sechs von neunzig) schafften den Seiteneinstieg, darunter neben zwei Privatgelehrten, einem Gymnasiallehrer und einem Arzt zwei Dozenten an staatlichen Fachhochschulen. Das frühe 20. Jahrhundert (Ernennungszeitraum 1891 bis 1933) brachte keine große Veränderung. Erlangen stellte für 79,5 Prozent (89 von 112) der untersuchten Personen den Ort des Erstordinariats dar. Mit Graz (1), Prag (1), Z ü rich (1) Leiden (1), Gießen (1), Kiel (1), Greifswald (3) und besonders Rostock (7) sowie den Technischen Hochschulen in Dresden (1) und Brünn (1) gelangen wiederum vornehmlich Abwerbungen von Einstiegsuniversitäten. Personen, die Erstordinariate an Aufstiegs- oder Endstationsuniversitäten wie Jena (1), Würzburg (1), Wien (2) und Berlin (1) ausgeübt hatten, blieben dünn gesät. Da nur zwei der 23 auswärtigen Lehrstuhlinhaber vor dem Erlanger Ruf ihre

192 Gutachten der Theologischen Fakultät, 28.6.1891. Personalakt Zahn; Zahn, Mein Werdegang, S. 243 (BA 58).

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Position wechselten, 193 kann der Befund fast nahtlos auf die damaligen Berufungschancen der Friedrich-Alexander-Universität übertragen werden. Diese blieben mit einer Quote erfolgreicher Ordinarienberufungen von 19,6 Prozent (22 von 112) ausgesprochen niedrig.194 Hinzu kommt, daß die vereinzelten Abwerbungen von Großuniversitäten wie Wien und Berlin durchweg von Sonderbedingungen beeinflußt waren. So handelte es sich bei den beiden Wiener Ordinarien um Theologen, denen die Entscheidung zwischen der Diaspora und einer der angesehensten evangelischen Fakultäten des Reiches mit Sicherheit nicht schwerfiel. Ausdrücklich merkte die Theologische Fakultät 1897 bei der Berufung des Alttestamentiers Lötz an, daß ein höheres Gehalt als in Wien nicht angeboten werden müsse.195 Von Berlin wechselte der Zivilrechtler Kübler nach Erlangen, nachdem er in der Reichshauptstadt über eine außerordentliche Professur zum Ordinarius aufgestiegen war.196 Im Falle der Hausberufung an einer der großen Universitäten galt nach den ungeschriebenen Gesetzen der Berufsgruppe die Annahme des Lehrstuhls einer rangniedrigeren Hochschule als nichts Ungewöhnliches. 197 Was die einzelnen Fachbereiche angeht, stabilisierten sich die Unterschiede, die sich bereits im 19. Jahrhundert abgezeichnet hatten. Relativ hohe Quoten erfolgreicher Ordinarienberufungen trennten die Theologen (37,5 Prozent/ sechs von 16) und Juristen (35,7 Prozent/fünfvon 14) von den Mitgliedern der »Philosophischen« (15,4 Prozent/vier von 26) und »Naturwissenschaftlichen Sektion« (20,8 Prozent/fünf von 24). Die Medizinischen Fakultät (9,4 Prozent/ drei von 32) bildete das Schlußlicht. 52,7 Prozent (59 von 112) der Erlanger Ordinarien wurden nun aus dem Extraordinariat heraus rekrutiert, 17,9 Prozent (20 von 112) aus der Privatdozentur. Ohne signifikante Veränderung blieb auch die Gruppe der Quereinsteiger aus den praktischen Berufen (9,8 Prozent/ elfvon 112), die aus drei Geistlichen, zwei Leitern eines Predigerseminars, zwei Gymnasiallehrern, einem Klinikchef, einem Arzt, einem Publizisten und einem Richter bestand.

193 Der Zahnmediziner Reinmöller (BA174) nahm 1920 in Rostock seinen Abschied, weil er von der Disziplinarkammer wegen Beleidigung der Weimarer Republik schuldig gesprochen worden war; unmittelbar vor seinem Erlanger Ruf betätigte er sich in der politischen Publizistik; der Strafrechtler Köhler (BA 91) wechselte 1923 von Jena nach Prag. 194 Baumgarten, Professoren, S. 293, gibt für den Ernennungszeitraum 1880 bis 1914 j e nach Geistes- und Naturwissenschaftlern folgende Quoten an: Gießen: 27,8/16,7 Prozent; Kiel: 28,9/ 19,2 Prozent; Heidelberg: 61,9/50,0 Prozent; Göttingen: 56,4/35,7 Prozent; München: 50,0/52,9 Prozent; Berlin: 69,8/55,5 Prozent; in Erlangen betrug im gleichen Zeitraum der Anteil der »Philosophische Sektion« 4,5 Prozent (1 von 22), der der »Naturwissenschaftliche Sektion« 13,3 Prozent (2 v o n 15), der der Gesamtheit 17,2 Prozent (15 von 87). 195 Gutachten der Theologischen Fakultät, 2.3.1897. Personalakt Lötz (BA 35); bereits drei Jahre zuvor war Lötz' Fachkollege Ewald (BA 14) aus Wien wegberufen worden. 196 Siehe oben, Kap. 3.1.2.2. 197 Vgl. Schmeiser, S. 250-255; Baumgarten, Professoren, S. 221.

181

3.4.2. Lebensalter bei Antritt des ersten und des Erlanger Ordinariats Von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts abgesehen, ging das Erstberufungsalter der Ordinarien im Schnitt durchgehend nach oben, bei besonders starker Zunahme in den Jahren 1891 bis 1933 (Tab. 28). Frischgebackene Ordinarien mit weniger als dreißig Lebensjahren, 1743 bis 1810 immerhin noch 35,9 Prozent (28 von 78) der Gesamtheit, gab es 1891 bis 1933 fast keine mehr (1,8 Prozent/zwei von 112). Im Gegenzug stieg der Anteil der über Vierzigjährigen in den einzelnen Ernennungszeiträumen von 9,0 (sieben von 78) über 21,3 (13 von 61) und 13,3 (zwölf von neunzig) auf 47,3 Prozent (53 von 112) an. Tab. 28: Lebensalter bei Ersternennung zum Ordinarius/bei Ernennung zum Erlanger Ordinarius 198 Fachbereich/Ernennungszeitraum Gesamt Theol. Fak. Jur. Fak. Med. Fak. »Phil. Sek.« »Nat. Sek.«

1743-1810

1811-1848

1849-1890

1891-1933

33,4/34,6

34,9/36,6

34,7/35,6

41,1/42,1

35,7/37,6

33,8/35,4

36,2/37,1

37,8/40,5

30,0/31,4

31,5/33,7

31,6/34,5

37,5/39,4

34,8/35,1

38,3/38,3

34,7/34,9

43,7/44,1

33,7/35,1

35,8/37,4

35,5/36,1

42,1/42,8

35,1/35,6

36,3/40,0

34,9/35,2

41,0/41,4

Quelle: Vgl. Seite 66, Fußnote 6.

Eindeutig am jüngsten waren von Beginn an die Juristen. Die Theologische Fakultät ausgenommen, erhöhte sich das Erstberufungsalter vom 18. Jahrhundert auf den Vormärz überall leicht. Im 19. Jahrhundert spaltete sich die Grundgesamtheit dann in zwei Gruppen auf: 1. Theologen und Juristen, deren Ernennungsalter bis ins frühe 20. Jahrhundert kontinuierlich zunahm, aber trotzdem 1891 bis 1933 erheblich unter dem Gesamtschnitt lag. 2. Medizinische und Philosophische Fakultät, wo vom Vormärz auf die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts das Ernennungsalter zunächst sank, 1891 bis 1933 aber dafür deutlich anstieg. In der Tendenz stimmt diese Gesamtentwicklung wie auch die Tatsache, daß die Extremwerte zuletzt nach oben hin durch die Medizinische und nach unten hin durch die Juristische Fakultät gebildet wurden, mit den vorhandenen Ver198 Die erste Zahl pro Zelle gibt das durchschnittliche Lebensalter bei der ersten Ernennung zum Ordinarius, die folgende dasjenige bei der Ernennung zum Ordinarius in Erlangen wieder. Fehlende Werte: keine.

182

gleichsdaten zur deutschen Professorenschaft seit 1860 überein. 199 In den Fächergruppen, in denen sich der Differenzierungsprozeß der Wissenschaften besonders intensiv bemerkbar machte, bewirkte die plötzliche Stellenvermehrung im letzten Jahrhundertdrittel offenbar zunächst den verstärkten Rückgriff aufjunge Kandidaten. Nachdem sich das Nachwuchsreservoir aber bald gefüllt hatte und die Stellen knapp wurden, konnten dort verhältnismäßig alte Kräfte aus einem Bündel an sozialen und leistungsbezogenen Erwägungen heraus, vor allem aber wegen der zunehmenden Bedeutung, die bei der Organisation wissenschaftlicher Arbeit im Zeitalter der Spezialisierung Faktoren wie Erfahrung, Routine und langjährige Einzelforschung zukamen, durchaus den jüngeren vorgezogen werden. 200 Die durchschnittliche Spanne zwischen der erstmaligen Ernennung in eine Ordinariatsposition und dem Erlanger Ruf war in allen Fachbereichen kurz und ging nur selten über zwei Jahre hinaus. Da der Erlanger Lehrstuhl für die Mehrheit der Personen der jeweils erste war, kann das auch kaum verwundern. In den Besetzungsvorschlägen der Fakultäten wurde bisweilen offen ausgesprochen, daß man vor allem wegen beschränkter Etatmittel die Umschau nach geeigneten Kandidaten von vornherein auf jüngere Fachvertreter konzentriert habe.201 Im Vergleich mit den Daten, die Baumgarten für sechs Hochschulen vorgelegt hat, zeigt das Berufungsalter der Erlanger Natur- und Geisteswissenschaftler insgesamt die größte Nähe zu dem der Kollegen in den Einstiegsuniversitäten Kiel und Gießen. Lediglich im Vormärz weichen die Daten teils stärker voneinander ab, was aber auch mit den sehr geringen Erlanger Fallzahlen zusammenhängen kann.202 199 Vgl. Ferber, Sp.121-138. 200 Vgl. ebd., Sp.l37f. 201 So etwa bei der Berufung des Historikers Böttiger (1820/21) des Zoologen Ehlers (1869) oder des Augenheilkundlers Michel (1872). Gutachten der Philosophischen Fakultät, 23.9.1820. Personalakt (PA) Böttiger (BA 212); Gutachten der Medizinischen Fakultät, 8.3.1869. PA Will (BA 199); Gutachten der Medizinischen Fakultät, 9.12.1872. PA Michel (BA 168). 202 Unter Übertragung der von Baumgarten, Professoren, S. 291f., gewählten Periodisierung und Fächergruppenbildung auf den vorliegenden Datensatz ergeben sich folgende Vergleichszahlen: Durchschnittliches Lebensalter bei Antritt des Ordinariats an der jeweiligen Hochschule/ Differenz zwischen erstem Ordinariatsantritt und demjenigen amjeweiligen Hochschulort: Geisteswissenschaftler: 1815-1847: Gießen: 32,9/0,4; Kiel: 37,3/0,1; Heidelberg: 37,7/0,6; Göttingen: 39,1/2,2; München: 43,9/2; Berlin: 42,2/6; Erlangen: 37,4/1,6; 1848-1879: Gießen: 39,1/0,6; Kiel: 34,5/1,2; Heidelberg: 39,5/4,2; Göttingen: 41,4/1,9; München: 40,7/1,4; Berlin: 44,3/8,2; Erlangen: 36,6/0,9; 1880-1914: Gießen: 37,9/1,3; Kiel: 41,4/2,6; Heidelberg: 41,0/4,4; Göttingen: 42,4/ 7,1; München: 45,0/7,4; Berlin: 47,5/11,6; Erlangen: 40,5/0,2; Naturwissenschaftler: 1815-1847: Gießen: 29,4/0,0; Kiel: 37,2^0,5; Heidelberg: 37,4/1,8; Göttingen: 39,0/1,5; München: 45,3/2,4; Berlin: 44,1/0,1; Erlangen: 40,0/3,7; 1848-1879: Gießen: 37,0/0,3; Kiel: 37,2/2,8; Heidelberg: 39,1/4,1; Göttingen: 39,0/2,0; München: 44,6/3,9; Berlin: 48,3/4,9; Erlangen: 35,3/0,5; 18801914: Gießen: 39,0/1,5; Kiel: 39,5/1,0; Heidelberg: 44,3/5,5; Göttingen: 38,1/2,7; München: 45,4/ 7,4; Berlin: 48,4/8,5; Erlangen: 39,4/0,1.

183

Im Einklang mit ihrer stets hohen Quote erfolgreicher Ordinarienberufungen dauerte in der Juristischen Fakultät die Zeitspanne zwischen Erst- und Erlanger Berufung durchweg länger als im Gesamtschnitt, und das, obwohl die Rechtswissenschaftler nach Maßstab ihres Erlanger Ernennungsalters immer den jüngsten Fachbereich darstellten. Hier war also die Mobilität während der Frühphase der Ordinarienkarriere verhältnismäßig groß. Gegen den allgemeinen Trend dehnte sich auch unter den Theologen die entsprechende Zeitdifferenz im frühen 20. Jahrhundert merklich aus, was sicherlich zum guten Teil damit zusammenhängt, daß die einzige Erlanger Fakultät mit einem bedeutenden überregionalen Ruf eine stärkere Anziehungskraft auf etablierte Fachvertreter ausüben konnte. In der Medizinischen und Philosophischen Fakultät, wo der starke Zug zur Entfaltung der Disziplinen eher die heimischen Kandidaten begünstigte - beispielsweise durch die Umwandlung planmäßiger Extraordinariate in ordentliche Professuren stimmten das Lebensalter beim Erlanger Ruf nahezu mit dem beim ersten Ruf überein.

3.4.3.

Berufungsvorgang

Die 16 Erlanger Ordinarien, die am 4. November 1743 ihre Arbeit aufnahmen, waren unter den besonderen Bedingungen der Gründungssituation berufen worden. Der Universitätsdirektor und -kanzler Daniel de Superville hatte eine umfangreiche Korrespondenz mit zahlreichen deutschen Gelehrten aufgenommen, eine große Menge Bewerbungen und Vorschläge gesichtet und die Verhandlungen weitgehend autonom geführt. 203 Wie frei der fürstliche Leibarzt auch noch nach der Inauguration in Personalfragen schalten und walten konnte, geht aus den näheren Umständen hervor, die zur Anstellung des Mathematikers und Physikers Succov führten. Succov, der eigentlich nur seinen Lehrer, den Theologen Pfeiffer, zur Erlanger Universitätseinweihung hatte begleiten wollen, fand an der Abendtafel unter seinem Teller einen Brief Supervilles, der die feste Zusicherung eines Extraordinariats mit einem Salär von 200 fl. enthielt, falls er die nächsten zwei Jahre Privatvorlesungen in Erlangen halten 203 Selbständige schriftliche Verhandlungen f ü h r t e Superville nachweislich mit d e n Juristen Braun u n d R o ß m a n n sowie d e m T h e o l o g e n J. E. Pfeiffer. Braun w u r d e dabei beispielsweise zugesichert, w e n n i h m an d e m Charakter eines Hofrates etwas gelegen sei, so engagiere er, Superville, sich, »Ihro H o c h f ü r s t l . D u r c h l . dahir zu disponiren, daß d e m H e r r Doctori solches Praedicat accordirt werde.« J. E. Pfeiffer u n d R o ß m a n n w a r e n Superville d u r c h d e n Jenaer Professor Reuch e m p f o h l e n w o r d e n , der Jurist G ö n n e v o n d e m Hallenser Kanzler v. Ludwig. Beworben hatten sich bei Superville der Jurist G a d e n d a m u n d der Mediziner Gebauer. Superville an Braun, Bayreuth, 8.10.1743 (Zitat). Personalakt (PA) Braun (BA 67); Superville an R o ß m a n n , Bayreuth, 2.4.1743. PA R o ß m a n n (BA 108); Superville a n j . E. Pfeiffer, Bayreuth, 14.9.1743. PA Pfeiffer (BA 39); vgl. auch: Engelhardt, Die Universität, S. 29; zu G ö n n e , G a d e n d a m u n d Gebauer siehe BA 81, 74, 139.

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würde. Ganz ähnlich lief etwa auch die Rekrutierung des Historikers Reinhard ab.204 Den Fakultäten war in den Statuten das Privileg zuerkannt worden, bei der Ergänzung der Lehrstellen jeweils zwei geeignete Personen vorzuschlagen. Überblickt man sämtliche Berufungsvorgänge bis 1810, stellt sich heraus, daß die fürstlichen Oberbehörden dieses Recht fakultativ auslegten. In zwanzig von 32 (62,5 Prozent) Fällen nahmen sie die Gutachten der Universitätsgremien zwar entgegen, in 17 Fällen (53,1 Prozent) beriefen sie sogar einen der Vorgeschlagenen. Bei den übrigen zwölf (37,5 Prozent) erfolgte die Einsetzung aber, ohne daß die betroffene Fakultät überhaupt konsultiert wurde. 205 Wie die Machtverhältnisse verteilt waren, bekamen die Medizinprofessoren schon bald nach der Inauguration zu spüren. Am 18. Februar 1749 erhielt Heinrich Friedrich Delius seine Bestallung als fünfter Ordinarius für Medizin. Superville hatte den Wernigeroder Arzt als Mitglied der Kaiserlichen Akademie der Naturforscher kennengelernt und 1747 als Landphysikatsadjunkt nach Bayreuth geholt. Die bittere Klage der Medizinischen Fakultät, nun hätten ihre Privilegien gleich beim ersten Besetzungsfall einen starken Riß bekommen, fertigte der Markgraf persönlich sehr ungnädig ab. Ein Verstoß gegen die Statuten wurde glattweg bestritten, Delius' Erudition und Lebenswandel seien einwandfrei, und die Fakultät solle sich vielmehr darum kümmern, die rufschädigende Großzügigkeit ihrer Promotionspraxis abzustellen.206 Bittere Pillen mußte auch die Juristische Fakultät schlucken. Zunächst wurde ihr im Jahr 1754 Johann Christoph Rudolph als Extraordinarius oktroyiert. Rudolph hatte zuvor die Interessen des Hauses Brandenburg in einem Rechtsstreit mit der Reichsritterschaft vertreten, eine Aufgabe, die von der Erlanger Fakultät pikanterweise abgelehnt worden war. Daß der Senat die Universitätsverfassung ins Feld führte, nach der Kandidaten sich »wenigstens per gradu [zu] legitimiren« hätten, half wenig. Rudolph wurde im Bestallungsdekret einfach von der Promotion dispensiert, und nur vier Jahre später erfolgte seine Beförderung ins Ordinariat. 207 Besonders erbost war man in Universitätskreisen über

2 0 4 Vgl. Willett, V o m Stubengelehrten, S. 237; zu Succov, Pfeiffer und Reinhard siehe B A 3 2 7 , 39, 306. 205 Z u 3 0 v o n insgesamt 62 Fällen des Zeitraumes 1744 bis 1810 lagen keine hinreichenden Angaben vor. D a i m wesentlichen nur die Berufungsgutachten und keine Diskussionsprotokolle überliefert sind, gingen Listenplatzunterschiede nicht in die Betrachtung ein; sie konnten unter U m s t ä n d e n rein taktischer N a t u r sein, etwa i n d e m eine Person auf Platz eins gesetzt wurde, v o n der man wußte, daß sie nicht nach Erlangen k o m m e n würde. V o n einer U b e r e i n s t i m m u n g v o n Fakultät und Oberbehörde wird insofern hier und künftig i m m e r dann ausgegangen, w e n n irgendeine der auf der Liste stehenden Personen den Zuschlag erhielt. 2 0 6 Bestallungsdekret, Bayreuth, 18.2.1749; Medizinische Fakultät an Senat, 14.3.1749; A n t wort des Markgrafen, 29.3.1749. Personalakt D e l i u s (BA 130). 207 Bestallungsdekrete, Bayreuth, 13.5.1754,27.7.1758; Senat an Markgraf, 21.5.1753. Personalakt J. C . Rudolph (BA 109).

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den Fall des Juristen Geiger, der 1763 als Zwanzigjähriger zum ordentlichen Professor ernannt worden war, weil sein Schwiegervater, der Universitätsquästor Johann Hieronymus Seidel, seinen Einfluß in Bayreuth geltend gemacht hatte. In einer Senatsmissive, die sich mit Geigers Gesuch um Aufnahme in den Senat auseinandersetzte, brandmarkten die Professoren den Vorgang scharf Notfalls sei unter Hinweis auf den drohenden Niedergang der Universität an den Fürsten zu appellieren. 208 Wie schon im Fall Rudolph stießen aber auch diesmal entsprechende Versuche ins Leere. Verwandtschaftliche Beziehungen spielten ebenfalls 1776 im Fall des Orientalisten August Friedrich Pfeiffer eine große Rolle. In aller Unschuld wurde sogar im fürstlichen Bestallungsdekret daraufhingewiesen, daß die Berufung unter anderem »zur consolation seines verdienstvollen Vaters«, nämlich des Theologieprofessors Joachim Ehrenfried Pfeiffer, erfolgt sei.209 Das waren jedoch Einzelfälle. Von einer systematischen Vernetzung der Personalpolitik mit den Interessen sogenannter Universitätsfamilien, wie an älteren Hochschulen noch gang und gäbe,210 kann in Erlangen insgesamt gesehen nicht die Rede sein. Ließen sich Unterschiede im Berufungswesen der markgräflichen und der preußischen Herrschaftsperiode feststellen? Ein Vergleich zeigt, daß die U n i versitätsgremien vor 1792 mehr Mitwirkungsmöglichkeiten hatten als danach. Berufungen, die dem Fakultätsvorschlag folgten, gab es 1744 bis 1791 in sechzig Prozent (neun von 15) aller belegbaren Fälle, 1792 bis 1806 nur in vierzig Prozent (sechs von 15). Gegen die Wünsche der Fakultäten wurde in markgräflicher Zeit zwar etwas häufiger entschieden (13,3 Prozent/zwei von 15) als in preußischer (6,7 Prozent/eine von 15), dafür kamen Berufungen ohne Konsultation der Fakultät vor dem Herrschaftswechsel weitaus seltener vor (26,7 Prozent/vier von 15) als danach (53,3 Prozent/acht von 15). 211 Wie wenig die Universität unter Hardenberg mitzureden hatte, belegt der gut dokumentierte Fall Fichtes. Daß der berühmte Philosoph 1805 ein Semester lang in Erlangen Vorlesungen gehalten hat, läßt sich letzten Endes auf ein intrigenähnliches Zusammenwirken Hardenbergs und Kabinettsrat Beymes gegen den zuständigen Minister von Massow zurückführen. Alle entscheidenden Vorgänge spielten sich im hermetischen Kreis des hohen Berliner Ministerialbeamtentums ab, von einer Einflußnahme der betroffenen Universitätsgre-

2 0 8 Senatsmissive v o m 21.3.1764. Personalakt Geiger (BA 75). 2 0 9 Bestallungsdekret, Ansbach, 18.4.1776. Personalakt A. F. Pfeiffer (BA 2 9 5 ) ; J. E. Pfeiffer: BA39. 2 1 0 Vgl. für Basel und Marburg: Euler, S. 2 1 0 - 2 3 0 ; für Gießen: Moraw, Baumgarten,

Humboldt, S. 49f.;

V o m Gelehrten, S. 9.

211 Es muß daraufhingewiesen werden, daß die statistische Aussagekraft durch eine relativ große Zahl an nicht dokumentierten Fällen ( 1 7 4 4 - 1 7 9 1 : 25; 1 7 9 2 - 1 8 0 6 : 5) getrübt wird, aus den präsentierten Mengenverhältnissen also nur grobe Entwicklungen abzulesen sind.

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mien ist nirgends auch nur entfernt die Rede.212 Entgegen Wendehorsts Ansicht läßt sich allerdings sehr wohl nachweisen, daß in preußischer Zeit Berufungsvorschläge der Universität nicht nur vorgelegt, sondern auch zur Kenntnis genommen wurden. 213 Das Beispiel Fichte macht deutlich, daß Hardenbergs autokratisches Gebaren keineswegs mit Günstlingswirtschaft gleichzusetzen war. Dergleichen kam zwar auch vor, etwa wenn mit Mehmel der Erzieher von Hardenbergs Söhnen, damals ohne jeden akademischen Abschluß, ins philosophische Extraordinariat gehievt wurde, 214 insgesamt zeugt die Personalpolitik aber doch von dem Bemühen, Koryphäen der jeweiligen Fachgebiete oder vielversprechende Talente zu gewinnen. Neben Fichte gelangten so gediegene Wissenschaftler wie der Naturkundler Hildebrandt, der Mediziner Horn oder der Jurist Gros nach Erlangen.215 Der Einzug wissenschaftlich-leistungsbezogener Beurteilungskriterien in das Berufungswesen war nach alldem weniger dem Entscheidungsspielraum der Universitätsgremien als dem spätabsolutistischen Regiment der preußischen Ministerialbürokratie in den fränkischen Departements zu danken. Warum das so war, wird bei einer näheren Betrachtung der einschlägigen Fakultätsgutachten deutlich. Die Medizinprofessoren äußerten sich beispielsweise in ihrer Beschwerde über die Ernennung Delius' mit keinem Wort zu dessen Fachkompetenz, sondern führten neben der Statutenverletzung allein die drohende Verringerung ihrer Hörgeld- und Gebühreneinnahmen ins Feld. Ahnlich argumentierte die Juristische Fakultät im Fall Geiger. Als dieser 1765 die Aufnahme in die Fakultät beantragte, wurde das von den Kollegen als Versuch gedeutet, »uns um unser Brod zu bringen.«216 Vor allem aus konkurrierenden ökonomischen Interessen, nach Max Weber das treibende Motiv zur Abgrenzung von Amtskompetenzen in einem patri-

212 Beyme und Oberfinanzrat Altenstein, die beide in Fichtes Berliner Privatvorlesungen saßen, hatten Hardenberg auf den Philosophen aufmerksam gemacht; Massow, von Hardenberg über seine Pläne bezüglich Fichte informiert, legte seine ablehnende Haltung zu einer Berufung dar und äußerte den Wunsch, »daß ich nie in den Fall kommen möge zur Anstellung des Professor Fichte auf einer Königlichen Universitaet mitwirken zu dürfen«. Bestärkt durch Beyme legte Hardenberg diese Formulierung dahingehend aus, daß ihm die Betreibung der Ernennung durch alleinigen Immediatvortrag gestattet sei. Die erbitterten Vorwürfe des vor vollendete Tatsachen gestellten Massow konnten anschließend mit der Beteuerung abgewehrt werden, es handele sich um ein bedauerliches Mißverständnis. Hardenberg an Massow, 4.3.1805; Massow an Hardenberg, 21.3.1805 (Zitat); Beyme an Hardenberg, 29.3.1805; Massow an Hardenberg, 13.4.1805; Hardenberg an Massow, 14.4.1805. Fuchs, Fichte im Gespräch, Bd. 3, S. 314-336; vgl. auch: Ders., Z u Fichtes Tätigkeit, S.LXXIIf.; Germann, Altenstein, S. 16 (BA 228). 213 Vgl. Wendehorst, Geschichte, S. 59. 214 Vgl. Kolde, Die Universität, S. 75f.; zu Mehmel siehe BA 279. 215 BA 252, 156,82. 216 Juristische Fakultät an Markgraf, 8.4.1765. Personalakt Geiger (BA 75).

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monial verfaßten Staatswesen,217 waren die eingesessenen Professoren nicht an einer Ausweitung des Kollegiums interessiert. Im Gegenteil, erledigte Professuren versuchte man möglichst im eigenen Kreise zu verteilen. Das begünstigte das Phänomen der Lehrstuhlkumulation. Typisch waren etwa Rechtsordinarien, die in der Philosophischen Fakultät den Lehrstuhl für Geschichte einnahmen. Als 1745 mit dem Abgang des Gründungsprofessors Gadendam diese Personalunion in Frage gestellt schien, beeilte sich die Philosophische Fakultät, Superville den Erlanger Juristen Roßmann als Nachfolger in der historischen Lehrstelle schmackhaft zu machen. 218 Geprägt waren die Personalvorstellungen der Universität außerdem von Ranggesichtspunkten. Vor allem das Dienstalter spielte eine Rolle. 1804 quittierte die Medizinische Fakultät die Anstellung Horns mit dem Vorwurf, dadurch seien »die billigen Erwartungen« einiger der hiesigen Extraordinarien »auf eine ihnen schmerzliche Art vereitelt worden«, zumal sie zum Teil lange ohne Besoldung gedient hätten. Der Senat gab die Beschwerde weiter, nicht ohne zusätzlich der Hoffnung Ausdruck zu geben, daß die Berufung des Wittenberger Ordinarius keinen Einfluß auf die Verordnung haben möge, »nach welcher jeder zuletzt in eine Fakultät tretende Lehrer die letzte Stelle in derselben einzunehmen hat, mithin die ältern Mitglieder wenn sie praestanda prästirt haben, nach Verhältniß der Zeit ihrer Aufnahme hinaufrücken.« 219 Was schließlich die Berufungsgutachten der Fakultäten angeht, enthielten sie ausnahmslos nicht viel mehr als die bloße Aufzählung der Kandidaten, ergänzt durch den formelhaften Zusatz, die Betreffenden hätten sich durch ihre Schriften hinreichend bekannt gemacht und würden zu Ehre und Vorteil der Universität beitragen.220 Wenig Beachtung fand auch der Statutenparagraph, der die Einreichung eine Zweierliste vorschrieb. Mitunter wurde nur eine Person aufgeführt, öfter wurden aber noch weitaus mehr als zwei in Vorschlag gebracht. Den Vogel schoß in dieser Hinsicht die Juristische Fakultät ab. Als hier 1781 die Wiederbesetzung der ordentlichen Lehrstelle Gmelins anstand, überreichte man der Kuratelbehörde eine Wunschliste, die nicht weniger als acht Namen enthielt. Die Voten der drei Fakultätsmitglieder, so die Erklärung, hätten »eine 217 Vgl. Weber, M., Wirtschaft und Gesellschaft, S. 596f. 218 Philosophische Fakultät an Superville, 17.8.1745. Personalakt Roßmann (BA 108); zu Gadendam siehe BA 74. 219 Medizinischen Fakultät, 21.9.1804; Senat an König, 24.9.1804. Personalakt Horn (BA 156). 220 So in den Gutachten: Theologische Fakultät: 28.7.1747. Personalakt (PA) J.E. Pfeiffer (BA 39); 27.7.1791. PA Hufnagel (BA 25); 4.2.1808. PA J.W. Rau (BA 44); Juristische Fakultät: 8.3.1779. PA Schierschmidt (BA 112); 31.3.1781. PA Boll (BA65); 20.3.1781. PA Gmelin (BA80); 2.2.1784. PA Elsässer (BA71); 1.11.1786. PA Häberlin (BA 84); 9.7.1790. PA Tafinger (BA 121); 14.3.1792. PA J.C. Rudolph (BA 109); 24.7.1793. PA Malblanc (BA 100); 14.5.1804. PA Klüber (BA90); Medizinische Fakultät: 20.3.1793. PAIsenflamm (BA 157); 14.3.1797. PAJ.P.J. Rudolph (BA 177); Philosophische Fakultät: 4.10.1752. PAJ.W. Hoffmann (BA255); 18.6.1779. PAReinhard (BA306) ; 8.7.1804. PA Langsdorf (BA 270).

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etwas merckliche Differenz veroffenbart« und seien wegen Zeitdrucks gleichberechtigt nebeneinander wiedergegeben worden. 221 Insgesamt waren also auch die Berufungsgutachten ihrem Inhalt und Aufbau nach wenig dazu angetan, die Position der Universität im Personalpoker gegen die vorgesetzten Behörden argumentativ zu stärken. Nach Kolde hatte die Münchener Ministerialbürokratie des Vormärz die Neigung, »sich um die Vorschläge der Universitäten nicht zu kümmern, ja sie gar nicht einmal abzuwarten.«222 Den Zahlen nach ist ihm zweifellos Recht zu geben. Ubereinstimmend mit dem Fakultätsvorschlag wurden 1811 bis 1848 sechzig Prozent (27 von 45) aller Personen, zu denen hinreichende Angaben vorlagen, berufen. Ernennungen gegen jenes Votum fanden in nahezu einem Viertel der Fälle statt (24,4 Prozent/elf von 45), ohne Konsultation der Fakultät zu 13,3 Prozent (sechs von 45).223 Damit stach die Erfolgsquote der Erlanger Korporation von den Vergleichsdaten der zeitgenössischen preußischen Universitäten klar negativ ab.224 Mit Fällen eines nicht einmal notdürftig verdeckten Nepotismus mußte nach wie vor gerechnet werden. Im April 1838 ernannte der König Paul Heinrich Joseph Schelling, den ältesten Sohn des Philosophen Schelling, zum außerordentlichen Professor der Rechte. Im Bestallungsdekret wurde ausdrücklich auf ein entsprechendes Gesuch des Vaters hingewiesen, der zum damaligen Zeitpunkt als Ordinarius und Akademievorsitzender in München wirkte. Im Erlanger Senat war man empört. So sehr man den Vater verehrte, glaubte man die Oberbehörde auf die ungeregelte Lebensführung hinweisen zu müssen, die der junge Schelling während seiner Studenten- und Referendarszeit in M ü n chen und Erlangen an den Tag gelegt hatte. Von exzessivem Schuldenmachen war die Rede und davon, daß der Vater es für notwendig gehalten hatte, den Sohn unter Aufsicht zu stellen. Was für ein Eindruck müsse entstehen, so der Senat, »wenn ein junger Mann dieser Art, der jetzt nach gewiesenermaßen unter der Curatel eines hiesigen theologischen] Repetenten steht, sogar ohne vorher Privatdocent gewesen zu seyn, mit einemmale zum öffentlichen Lehrer an unsere Universität] berufen würde.« Im übrigen sei auch Schellings wissenschaftliche Befähigung in keiner Weise nachgewiesen. Das Ministerium lehnte alle Einwendungen ab. Man mußte die Einsetzung und die Beförderung 221 Gutachten v o m 20.3.1781. Personalakt Gmelin (BA 80). 222 Kolde, Die Universität, S. 309. 223 In 16 Fällen lagen keine hinreichenden Angaben vor. Unberücksichtigt blieb die 1847 erstmals erfolgte Besetzung des Lehrstuhls für Reformierte Theologie, die aufVorschlag des reformierten Oberkonsistoriums erfolgte. Vgl. Haas, S. 28-34. 224 McClelland, State, S. 185, gibt für Preußen in den Jahren 1817 bis 1840 an: Ernennung in Übereinstimmung mit dem Fakultätsvorschlag: 68 Prozent; gegen das Fakultätsvotum: 10 Prozent; ohne Konsultierung der Fakultät: 22 Prozent; die entsprechenden Erlanger Prozentwerte im gleichen Zeitraum: 55,2 Prozent (16 von 29), 31 Prozent (9 von 29), 13,8 Prozent (4 von 29). Fehlende Werte: 13.

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zum Ordinarius Ende 1840 wohl oder übel hinnehmen, hatte allerdings im Vergleich zum ähnlich gelagerten Fall Geiger von 1763/64 ungleich stärker die Zähne gezeigt. Im Unterschied zu damals hatte die Regierungjetzt zudem mit öffentlicher Kritik zu rechnen. Einen spöttischen Artikel aus der »Staats-Gelehrten-Zeitung«, der sich mit den näheren Umständen der Schelling-Berufung auseinandersetzte, leitete der Senat dem Ministerium unverzüglich zur Kenntnis weiter.225 Andere Fälle waren weniger spektakulär, da die Qualifikation der oktroyierten Personen nicht so offensichtlich in Frage stand. Im Prinzip blieb es aber dabei, daß sich der Monarch oder seine Regierung jederzeit berechtigt fühlten, Stellen aus autonomer Machtvollkommenheit zu besetzen und die Proteste der Universität, die allerdings immer selbstbewußter und mutiger wurden, zu ignorieren. Wer direkte Kontakte zu Regierungskreisen besaß, brauchte den Erlanger Widerstand nicht zu fürchten. Der Naturgeschichtler von Raumer, der seine Berufung 1827 über Münchener Freunde betrieben hatte, beschrieb die Lage seiner protestierenden neuen Kollegen im nachhinein treffend: »man mußte sich's schon mit mir gefallen lassen.«226 Beliebt war im Rahmen der behördlichen Personalpolitik auch das Mittel der Versetzung von einer bayerischen Lehranstalt zur anderen; Engpässe und Uberkapazitäten ließen sich auf diese Weise bequem regulieren.227 Bei den Theologen kam darüber hinaus dem Votum des protestantischen Oberkonsistoriums entscheidende Bedeutung zu.228 225 Bestallungsdekret, München, 25.4.1838; Senat an König, 29.4.1838; M d l an Senat, 17.7.1838;«Staats-Gelehrten-Zeitung« (Abschrift), 19.10.1838; Senatsbeschluß, 24.10.1838. Personalakt Schelling (BA 110). 226 Karl von Raumer Leben, S. 329 (BA302); über gute Verbindungen verfügte auch der Kriminalrechtler C.E. v. Wendt, dem kurz nach seiner Ernennung der Titel eines Geheimen Hofrates verliehen wurde; der Senat versuchte im selben Schreiben, in dem er gegen die Berufung Wendts protestierte, die Ansprüche älterer Senatsmitglieder geltend zu machen, scheiterte aber. Senat an König, 15.12.1819. Personalakt C. E. v. Wendt (BA 122); nach Kotde, Die Universität, S. 337f., wurde auch der Staatsrechtler Stahl (BA 119) durch Einwirkung Schellings 1832 zum Extraordinarius ernannt, nachdem die Fakultät seine Bewerbung zuvor abgelehnt hatte; den Chirurgen Heyfelder (BA 154) brachte 1841 der mit dem bayerischen Königshaus verschwägerte Fürst von Siegmaringen in Erlangen unter, und dies, nachdem der Monarch selbst kurz zuvor erst dem Personalvorschlag Erlangens zugestimmt hatte. Vgl. Stromeyer, Erinnerungen, Bd. 2, S. 156f. (BA 189). 227 So wurde der mit der Schließung Altdorfs quieszierte Theologe Meyer (BA36) 1813 nach Erlangen versetzt. Vgl. Kolde, Die Universität, S. 126; der Philosoph Erhardt, Lehrer am Nürnberger Realinstitut bis zu dessen Auflösung, befehligte man 1817 auf ähnliche Weise nach Erlangen. M d l an Stadtkommissariat Nürnberg, 8.2.1817. Personalakt (PA) Erhardt (BA224) der Münchener Ordinarius Linck wurde 1837 auf Geheiß des Königs nach Erlangen versetzt, um das Fach Staatsrecht zu übernehmen, das Stahl (BA 119) aus politischen Gründen entzogen worden war. Bestallungsdekret, München, 25.11.1837. PA Linck (BA 97); den Philosoph Koppen (BA 266), bis 1826 Ordinarius in Landshut, traf die ungewollte Versetzung, da er nach der Verlegung der Landesuniversität nach München dort nicht benötigt wurde. Vgl. Kolde, Die Universität, S. 313. 228 Auf Ratschlag des Oberkonsistoriums und gegen die Fakultätswünsche wurden berufen: Winer, Harleß, Höfling und Ranke (BA 56, 19, 23, 43). Vgl. Simon, S. 52f., S. 59; Klaus, S. 301f.

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Im Gegensatz zur sprachgebietsweiten Rekrutierungspolitik Hardenbergs und Altensteins machte München von Anfang an unmißverständlich klar, daß freie Stellen mit »inländischen« Kandidaten besetzt werden sollten. Damit meinte man gebürtige Landeskinder oder Personen, die bereits in Bayern berufstätigwaren. Als es Ende 1810 u m die Wiederbesetzung des kameralistischen Lehrstuhls ging, formulierte die Philosophische Fakultät, sie wage es nicht, einen auswärtigen Lehrer zu benennen, und schlug den eigenen Extraordinarius Harl vor. 229 Stand kein Bayer auf dem Listenvorschlag, waren Erklärungen notwendig. Einen ersten Vorstoß in diese Richtung unternahm die Juristische Fakultät nach dem Weggang von Gros im Jahr 1817. Gros sei hauptsächlich im Zivilrecht kundig gewesen. Da man aber keinen tüchtigen Vertreter dieser Fachrichtung an den bayerischen Schwesteruniversitäten habe ausmachen können, ebenso keinen Privatdozenten, schlage man Kandidaten aus Halle und Rostock vor. Man wolle die Wiederbesetzung lieber der Oberbehörde zu überlassen, »als uns durch Anstellungeines uns unbekannten brauchbaren Subjekts Vorwürfe zuzuziehen.« Auf Antrag des Klinikers Harleß ergänzte der Senat das Gutachten um den Antrag, von dem bisherigen Prinzip der Regierung, nur Inländer zu berufen, abzugehen und der Hochschule wieder die Befugnis einzuräumen, auch Ausländer, sobald sie solche als »die Tauglichsten zur Wiederbesetzung erledigter Stellen und zur Emporhebung des Flors der Universität erkannt hat«, in Vorschlag zu bringen. Dieses »für das Heil unserer Universität unerläßliche Recht« beschloß man zusätzlich in einem besonderen Schreiben an Minister von Thürheim zu reklamieren. Ergebnis der Bemühungen war, daß München den nicht promovierten Nürnberger Stadtgerichtsassessor Borst ernannte, und zwar mit der Auflage, möglichst bald die Doktorwürde zu erwerben. 230 Da Borst diese Bedingung nicht erfüllte und nicht einmal ein Jahr später einem R u f nach Tübingen folgte, fühlte sich die Fakultät zu einer erneuten Kraftprobe ermutigt. Jetzt war keine Rede mehr davon, daß man die Besetzung zur N o t der Oberbehörde überlassen wollte. Der Kandidat müsse »ein geübter und in Rücksicht auf Anwendlichkeit erfahrener Lehrer des Civil- und Criminalrechts« sein. Das sei im Moment bei keinem Inländer der Fall, so daß man wiederum nur zwei auswärtige Personen, die Professoren Bucher in Halle und Hencke in Bern, vorschlagen könne. Diesmal gab das Ministerium grünes Licht, und die Unterhandlungen mit Bucher verliefen erfolgreich. 231 Von einem entscheidenden Durchbruch universitärer Kompetenzansprüche kann allerdings noch nicht gesprochen werden. N u r ein Jahr später oktroyierte die

229 Gutachten vom 24.12.1810. Personalakt Schreber (BA 181); zu Harl siehe BA 241. 230 Gutachten der Juristischen Fakultät, 10.4.1817; Senatsmissive, 12.4.1817. Personalakt (PA) Gros (BA 82); Bestallungsdekret Borst, München, 27.5.1817. PA Borst (BA 66). 231 Gutachten der Juristischen Fakultät, 5.3.1818. Personalakt (PA) Gros (BA82); Berufungsverhandlungen im PA Bucher (BA 70).

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Oberbehörde den Münchener Gerichtsrat von Wendt, vom Fall Schelling im Jahr 1838 ganz zu schweigen. Es verdient festgehalten zu werden, daß die Universitätsgremien nicht mehr als widerspenstige Objekte ministerieller Besserungsbemühungen erscheinen, sondern eher im Gegenteil zur treibenden Kraft einer wissenschaftlich-leistungsbezogenen Personalauswahl geworden waren. Inhalt und Anlage der Berufungsgutachten bestätigen den Wandel.232 Nicht nur, daß die Schriftstücke sehr viel stärker ins Detail gingen, es kristallisierte sich auch eine gewisse M u sterhaftigkeit heraus: Zunächst erörterte man die Aufgaben der Lehrstelle und steckte damit die allgemeinen Anforderungen ab; zweitens wurde eine Liste mit Namen präsentiert, meist zwei an der Zahl. Zu jedem einzelnem Namen folgten Angaben über Lehrerfahrung, Publikationen und Charaktereigenschaften. Während es sich beim letzten Punkt in der Regel um eine formelhafte Bestätigung persönlicher Integrität handelte - bei »Ausländern« allerdings oft ergänzt durch die Versicherung, der Betreffende sei Anhänger des monarchischen Prinzips wurden die beiden ersten Punkte meist individueller behandelt und teils auch mit positiven Gutachten auswärtiger Fachkoryphäen gespickt. Immer häufiger trifft man dabei auf die Formulierung, der Kandidat sei zu selbständiger wissenschaftlicher Arbeit respektive zur Gewinnung neuer Forschungsergebnisse in der Lage. Nicht erkennbar ist hingegen, daß einer der beiden Kompetenzbereiche Forschung und Lehre stärker als der andere gewichtet wurde. An den Auseinandersetzungen um die Lehrstuhlnachfolge von Gros läßt sich erkennen, daß die Rationalisierung des Auswahlprozesses in Zusammenhang mit der festen Abgrenzung der Lehraufträge stand. Wo immer das alte System der anciennitätsabhängigen Durchnumerierung der Lehrstühle zugunsten von Nominalprofessuren aufgegeben wurde - das war etwa zwischen 1815 und 1835 der Fall - , konnten die Anforderungsprofile präziser definiert und die Personalvorschläge genauer auf die sachlichen Bedürfnisse abgestimmt werden. Hier ist auch der Hauptgrund dafür zu suchen, daß der hergebrachte Aufstiegsweg der Theologen, Juristen und Mediziner über eine Dozentur der Philosophischen Fakultät im Vormärz allmählich als überholt angesehen wurde. Unter dem Primat eines forschungsgeleiteten Wissenschaftsbegriffes entwikkelte sich die jeweilige Disziplin zu einem »neuen Phänomen der sozialen Wirklichkeit«; im Rahmen einer eigenständig und überregional agierenden 232 Vgl. die Gutachten: Theologische Fakultät: 4.7.1816. Personalakt (PA) Kaiser (BA 30); 14.4.1845. Jordan, Beiträge zur Hofmannbiographie, S. 141f. (BA 24); Juristische Fakultät: 4.10.1817, 5.3.1818. PA Gros (BA 82); 9.5.1846; 8.2.1847. PA Laspeyres (BA 94); Medizinische Fakultät: 24.12.1810. PA Schreber (BA 181); 21.5.1816. Wiederbesetzung der Lehrstelle Hildebrandt. VAE, 11/6/14; 23.10.1840. PA Rud. Wagner (BA 195); 25.1.1841. PA Stromeyer (BA 189); Philosophische Fakultät: 10.10.1819. PA Kastner (BA 259); 23.9.1820. PA Böttiger (BA 212); 20.10.1842. PA Weinlig (BA332).

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Kommunkationsgemeinschaft konnte sie ihre Grenzen sehr viel stärker wissenschaftsimmanent abstecken als dies dem ständisch-korporativ verfaßten Gelehrtentum der frühen Neuzeit möglich war.233 Wie der Fall Johann Wilhelm Pfaffs exemplarisch belegt, wurde im selben Kontext auch die Verteilung der Lehrfächer entökonomisiert. Pfaff, bereits seit 1818 Ordinarius für Mathematik, bewarb sich 1823 um die Übertragung der Lehrfächer Technologie, Politische Arithmetik und Angewandte Physik, die durch den Weggang des Kameralisten Rau frei geworden waren. Die Philosophische Fakultät empfand das jedoch als nicht mehr zeitgemäß. Es sei nachteilig, »die Lehrfächer willkührlich hin und her zu werfen und in einem academischen Lehrer zu häufen.« Ein Professor müsse sein Gebiet »vollkommen umfassen und beherrschen«, er dürfe seine Kräfte nicht aufsplittern, nicht Vorrechte suchen, »um sich Bestallung und Absatz zu sichern.« Sehr wohl erkannte die Fakultät, daß Pfaff durch mangelnde Einkünfte zu seinem Antrag veranlaßt worden war. Man empfahl daher eine Besoldungserhöhung, gerade um ihn in der Wahl seiner Wissenschaftsgebiete zu emanzipieren.234 Nicht nur die Fächerabgrenzung sollte von Fragen der Einkünfte und des Dienstalters frei sein, sondern auch die Kandidatenauswahl. Das alte Verfahren, sich selbst um eine Professur zu bewerben, und zwar durchaus unter Hinweis auf langjährige Dienste bzw. wirtschaftliche Notlagen, kam vereinzelt noch vor,235 wurde aber immer seltener und galt zunehmend als verpönt. Ablesen läßt sich das auch an Beteuerungen, der Ruf habe einen völlig ungesucht ereilt oder man sei aufgrund immaterieller Umstände zu einer Bewerbung veranlaßt worden.236 Wofür die Professoren des Vormärz sich gegen große Widerstände stark gemacht hatten, setzte sich nach der Jahrhundertmitte endgültig durch. Von einzelnen Ausnahmen abgesehen, erkannte die vorgesetzte Behörde in München die Kompetenz der universitären Personalvorschläge an. Im Ernennungszeitraum 1849 bis 1890 wurden 95,3 Prozent (81 von 85) der Berufungen in Übereinstimmung mit dem Fakultätsvorschlag ausgesprochen, 4,7 Prozent (vier von 85) gegen ihre Wünsche. 1891 bis 1933 blieb dieses Zahlenverhältnis mit 95,4 Prozent zu 4,6 Prozent (82 bzw. vier von 86) nahezu unverändert.237 Auch im 233 Vgl. Stichweh, S. 238-241, Zitat: S. 241. 234 Gutachten der Philosophischen Fakultät, 16.1.1823. Personalakt Pfaff (BA 294). 235 So bei den Juristen Schunck und Lang, dem Mediziner Leupoldt, dem Orientalisten Drechsler und dem Philosoph Schaden. Schunck an König, 21.8.1824. Personalakt (PA) Schunck (BA 115); Lang an König, 25.1.1833. PA Lang (BA 93); Leupoldt an König, 5.6.1819. PA Leupoldt (BA 165); Drechsler an König, 27.1.1827. PADrechsler (BA222); Schaden an König, 8.5.1845. PA Schaden (BA311). 236 Vgl. Harfe/?, Nöthig gewordene Erklärung, S. 11 (BA 145); Stromeyer, Erinnerungen, Bd. 2, S. 113 (BA 189); Ranke, Jugenderinnerungen, S. 391 (BA 43); Jordan, Eine Selbstbiographie, S. 144 (BA 52). 237 Fehlende Werte: 1849-1890: 5; 1891-1933: 26.

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Vergleich zu den preußischen Kollegen standen die Erlanger Ordinarien jetzt relativ gut da.238 Seit der Jahrhundertmitte wurde keine Ernennung mehr vorgenommen, ohne daß die betroffene Fakultät zuvor nicht wenigstens ihre Stellungnahme abgeben konnte. Wenn das Ministerium den Vorschlägen nicht folgen wollte, wurde entgegen der früheren Praxis nicht einfach eine Person eingesetzt, sondern die Liste zur erneuten Berichterstattung zurückgegeben.239 Die Behörde versuchte dabei oft, eigene Kandidaten ins Spiel zu bringen, indem sie die Fakultät zur gutachterlichen Äußerung über bestimmte Fachvertreter aufforderte. Wie sich an dem Tonfall der Antworten ablesen läßt, wurden solche Personalvorschläge aber immer mehr als Zumutung empfunden. Als das Ministerium beispielsweise 1874 die Frage geklärt wissen wollte, ob der Dorpater Professor Vogel zur Nachfolge auf dem klinischen Lehrstuhl nicht geeigneter sei als der vorgeschlagene Leube, entgegnete die Medizinische Fakultät indigniert, man pflege seine Gutachten erst nach sorgfältiger Umschau anzufertigen, wie das von der Regierung auch nicht anders erwartet werde. Das Ministerium gab nach.240 Kam es dennoch zur Ernennung eines ausdrücklich nicht gewünschten Vertreters, beschränkten sich die Reaktionen nicht mehr unbedingt auf papierne Protestresolutionen. Senat und Theologische Fakultät waren 1848 in der Auseinandersetzung um die Besetzung des Lehrstuhls für Alttestamentliche Exegese kühn genug, das bereits ausgefertigte Ernennungsdekret für den Kandidaten des Oberkonsistoriums Heinrich Thiersch einfach nicht zuzustellen. Nicht zuletzt aufgrund zweier Immediateingaben an den Monarchen gelang es schließlich, den eigenen Favoriten Delitzsch durchzusetzen.241 Nachdem das Oberkonsistorium im Vormärz regelmäßig die Oberhand behalten hatte, war die Lage fortan umgekehrt.242 238 Nach McClelland, State, S. 185, wurden in Preußen in den Jahren 1850 bis 1858 in Übereinstimmung mit dem Fakultätsvorschlag berufen: 61 Prozent; gegen das Fakultätsvotum: 8,5 Prozent; ohne Konsultierung der Fakultät: 30,5 Prozent; dieselbe Verteilung im Zeitraum 18621895 wird mit 79 : 4 : 17 Prozent angegeben; die entsprechenden Prozentwerte der Erlanger Grundgesamtheit lauten: 1850-1858: 88,9 Prozent (16 von 18) : 11,1 Prozent (2 von 18) : 0. Fehlende Werte: 1; 1862-1895: 95,8 Prozent (69 von 72) : 4,2 Prozent (3 von 72) : 0. Fehlende Werte: 3. 239 Als das Ministerium im Jahr 1900 anläßlich der Ernennung des Augenheilkundlers Oeller gegen diesen Brauch verstieß, protestierte die Medizinische Fakultät sofort auf das schärfste; die Behörde rechtfertigte ihr Vorgehen mit Zeitmangel, erkannte also die Regelwidrigkeit im Prinzip an. Stellungnahme der Medizinischen Fakultät, 4.12.1900; Mdl an Senat, 20.1.1901. Personalakt Oeller (BA 171). 240 Mdl an Senat (Telegramm), 28.3.1874; Stellungnahme der Medizinischen Fakultät, 25.3.1874. Personalakt Ziemssen (BA 202); zu Leube siehe BA 164. 241 Vgl. Kolde, Die Universität, S. 378-384; Wagner, Franz Delitzsch, S. 74 (BA 9). 242 Gegen den Einspruch des Konsistoriums gelang der Fakultät 1866 auch die Berufung des Praktischen Theologen v. Zezschwitz (BA 59). Vgl. Klaus, S. 305f.

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Auch im August 1864 erwogen die Universitätsvertreter kurzzeitig, eine unerwünschte Berufung unvollzogen zu lassen. Die Philosophische Fakultät hatte als Nachfolger des Altphilologen Döderlein eigentlich den Greifswalder Professor Usener ausersehen, aber vom Ministerium die Nachricht erhalten, der König wolle auf diesem Posten einen Mann sehen, der mit dem bayerischen Schulwesen vertraut sei. Insgesamt dreimal wies die Fakultät anschließend die Aufforderung ab, sich über den vom Ministerium nominierten Erlanger Gymnasialprofessor Iwan Müller gutachterlich zu äußern. Als er schließlich dennoch ernannt wurde, ließ man es auf Anraten Prokanzler Schmidtleins nur deshalb nicht zum Äußersten kommen, weil ein unmittelbarer Befehl des Monarchen den Disput ausgelöst hatte. Statt dessen reisten Prorektor Harnack und Schmidtlein nach München, um dem König persönlich die schwere Besorgnis der Universität über die Begrenzung ihrer Kompetenzen vorzutragen. Laut telegrafischen Kurzbericht aus der Landeshauptstadt seien sie »sehr gnädig aufgenommen« worden; auch habe der König das Prinzip des richtungsweisenden universitären Vorschlagsrechtes ausdrücklich anerkannt. Die Entscheidung für Müller wurde allerdings nicht zurückgenommen. 243 In der Praxis blieb es dabei, daß die Spielräume der Fakultäten bei nichtbayerischen Kandidaten stark beschränkt waren. Die vorgesetzte Behörde nahm hier bis zuletzt eine sehr entschiedene Haltung ein. Der in Heidelberg gebürtige Historiker Brandt unkte noch 1928, als seine Berufung nach Erlangen quasi schon feststand, in Bayern sei immer die Gefahr vorhanden, »daß irgend ein bayerischer, meistens Münchner Privatdozent >versorgt< wird«.244 Favoriten des Ministeriums wurden zwar nicht mehr ungefragt oktroyiert, subtilere Druckmittel standen aber nach wie vor zur Verfügung. So konnte etwa ein Bayer, der auf dem Listenvorschlag stand, gleichgültig an welcher Stelle, so gut wie sicher mit seiner Ernennung rechnen. Den Fakultäten, denen das sehr wohl bewußt war, wurde zugleich eingeschärft, sich aufjeden Fall über mögliche bayerische Kandidaten zu äußern und ihre etwaige Nichtberücksichtigung eingehend zu rechtfertigen. 245 In Kombination mit dem Zwang, jeweils auch die Finanzierbarkeit der eigenen Vorschläge zu erläutern, sahen sich die Universitätsgremien damit einem Zangengriff ausgesetzt, der ihre Voten zwangsläufig zum Ergebnis einer sorgfältigen Machtabwägung werden ließ. Inwieweit dabei jeweils Konfliktbereitschaft oder vorauseilender Gehorsam überwogen, ist aufgrund feh243 Gutachten der Philosophischen Fakultät 31.12.1863, 20.6.1864; Mdl an Senat 13.6.1864; 15.7.1864; Prokanzler Schmidtlein an Prorektor Harnack, 8.8.1864. Personalakt (PA) Döderlein (BA 221); Gutachten der Philosophischen Fakultät, 25.6.1864, 30.7.1864; Telegramm Harnacks an Exprorektor Heyder, 19.10.1864 (Zitat). PA I. Müller (BA 282); zu Schmidtlein und Harnack siehe BA 113, 20. 244 Brief Brandts (BA 213) an Oncken, 6.2.1928. Zit. nach: Weber, W., Priester der Klio, S. 235f. 245 Mdl an die Senate der drei bayerischen Universitäten, 24.6.1913. UAE, I/3a/519 Vorschläge.

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lender Diskussionsprotokolle kaum zu klären. Daß aber bereits die Vorauswahl der Kandidaten immer schon durch entsprechende Überlegungen beeinflußt war, stellten die Mediziner 1913 aus Anlaß der ungewünschten Besetzung des physiologischen Lehrstuhls mit dem Münchener Privatdozenten Weinland klar. Das Ubergehen der eigenen Vorschläge, so ihre Klage, müsse um so mehr als unverdiente Kränkung empfunden werden, als die Fakultät es stets angestrebt habe, »ihre Vorschläge im Sinne des Kgl. Staatsministeriums zu gestalten.« Als Beweis führte sie an, daß bei der Besetzung der 16 planmäßigen Professuren, die in den letzten zehn Jahren auf ihr Votum hin erfolgten, nur sechs außerbayerische, hingegen zehn bayerische Dozenten zum Zuge gekommen seien.246 Besonders erbost war man, weil Weinlands Ernennung offenbar auf die Initiative eines Münchener Fachkollegen zurückging, der auf diese Weise seinen Assistenten unterbrachte. Prorektor Specht, als Vertreter der Psychiatrie selbst Mitglied der Medizinischen Fakultät, nahm Ende des Jahres eine Besprechung zwischen Vertretern der drei Landesuniversitäten zum Anlaß, um sich über Münchener Obergutachten zu beschweren, die »unsere wohlerwogenen Besetzungsvorschläge zunichte gemacht haben«. 247 Ganz so autonom, wie es beim Blick auf die Q u o t e erfolgreicher Besetzungsvorschläge zunächst scheinen mag, war die Universität in Personalangelegenheiten also doch nicht. Die Berufungsgutachten gingen nun noch ausführlicher als im Vormärz auf Qualifikation und Eignung ein.248 Interpretationsbedürftige Wendungen wie »tüchtiger Wissenschaftler«, »scharfsinniger Geist«, »gründliche Gelehrsam246 Medizinische Fakultät, 23.7.1913. Personalakt (PA) Rosenthal (BA 175); zu Weinland siehe BA 196; die Philosophische Fakultät hatte bereits 1884 versichert, daß sie bei Berufungen immer zuerst in Bayern Umschau halte. »Denn immer und von jeher haben wir als selbstverständlich angesehen, daß Berufungen von auswärts her nur dann in Aussicht zu nehmen und zu beantragen seien, wenn sich nicht gleich tüchtige wie bewährte Kräfte in oder aus unserem Heimatlande fänden.« Gutachten, 24.3.1884. PA Hegel (BA 243). 247 Bericht Spechts (BA 187) vom 1.12.1913. UAE, I/3a/519 Vorschläge. 248 Vgl. exemplarisch die Gutachten: Theologische Fakultät: 20.12.1847. Personalakt (PA) Schmid (BA 47); 26.6.1867. PA Delitzsch (BA Nr. 9); 25.5.1889. PA Seeberg (BA 48); 13.5.1902. PA Bachmann (BA Nr. 3); 19.12.1911. PA Hunzinger (BA 26); 10.7.1924. PA Procksch (BA 42); Juristische Fakultät: 19.2.1854, 23.6.1857. PA Brinz (BA 69); 21.1.1870. PA Bechmann (BA 63); 20.10.1873. PA H. Meyer (BA 102); 19.1.1889. PA Sehling (BA 116); 6.12.1900. PA Oertmann (BA 103); 5.3.1903. PA Rieker (BA 106); 22.10.1917. PA Lent (BA 95); Medizinische Fakultät: 5.4.1850. PA Canstatt (BA 128); 23.2.1862. PA Zenker (BA 201); 28.2.1876. PA Schröder (BA 183); 29.1.1897. PASpecht (BA 187); 1.10.1907. PA de la Camp (BA 129); 1.3.1911. PAA. Scheibe (BA 179); Philosophische Fakultät: 28.12.1848,23.6.1852. PASpiegel (BANr.322); 13.3.1863. PA Weizsäcker (BA333); 15.11.1864,21.10.1865. PAZoeller (BA341); 4.2.1869. PA Will (BA 199); 1.7.1869,16.2.1874. PAEhlers (BA 133); 16.10.1874. PAKißner (BA261); 7.3.1880. PAWölfilin (BA 339); 29.3.1882. PA Eheberg (BA 223); 4.8.1885. PA O. Fischer (BA 232); 12.5.1892, 26.2.1897. PA Paal (BA 289); 18.7.1900. PA Jacob (BA 256); 7.3.1901. PA Solereder (BA 321); 27.5.1913. PA Saran (BA310); 26.7.1921. PA Schmeidler (BA313); 16.11.1925, 6.12.1925. PA Gudden (BA 239); Naturwissenschaftliche Fakultät: 24.12.1929. PA G. Scheibe (BA 312); 29.1.1930. PA Noack (BA 286).

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keit«, die in ihnen dominierten, deuten allerdings daraufhin, daß bei aller Betonung des reinen Leistungskriteriums dem persönlichen Gesamteindruck der Kandidaten, also ein im Grunde nicht näher bestimmbarer Faktor, wichtige Bedeutung zukam. Zwar war der präzise Nachweis fachlicher Kompetenz ohne Zweifel zur Conditio sine qua non einer Berufung geworden. Abgesehen davon wird aber oft genug das intuitive Gefühl, daß eine bestimmte Person sich ihrem habituellen Erscheinungsbild nach besonders gut in die bestehende Gruppe einfüge, der entscheidende Punkt gewesen sein.249 Immerhin wurde es seit der Jahrhundertmitte mehr und mehr üblich, den Gutachten Veröffentlichungslisten der Kandidaten, und damit zumindest ein halbwegs objektives Beurteilungshilfsmittel, beizufügen. Was als Symptom einer weiteren Rationalisierung des Auswahlprozesses angesehen werden kann, nahmen allerdings manche der älteren Kollegen mit einer gewissen Skepsis zur Kenntnis. Der Kliniker Canstatt kritisierte 1845 die Philosophische Fakultät, weil sie ein Beforderungsgesuch des Privatdozenten der Philosophie von Schaden aus Kritik an einer seiner Buchveröffentlichungen nicht befürwortet hatte. Handele es sich um die Frage, ob ein Dozent für eine höhere Stufe der Hochschullaufbahn qualifiziere, könne seine schriftstellerische Tätigkeit bei guten Lehrerfolgen ganz in den Hintergrund treten. Es gebe wahrlich genug erfolgreiche und tüchtige Dozenten, die so gut wie nichts veröffentlicht hätten.250 Und als dem Kirchenhistoriker Plitt, der in Erlangen studiert hatte und seit 1862 Vorlesungen hielt, 1865 vom Dekan informell geraten wurde, keine Professur anzustreben, solange nicht ein größeres Werk vorliege, konnte das Fakultätsmitglied Hofmann nur den Kopf schütteln. Dieser Grundsatz sei ihm neu; man kenne den Mann doch von allen Seiten her so gut wie nur je einen Bewerber und dürfe ihn nicht nur um deswillen unbefördert lassen, »weil er zu gewissenhaft ist ein Buch von so und so viel Bogen aus dem Ärmel zu schütteln, oder seine Lehrthätigkeit zu vernachlässigen um Zeit zu schriftstellerischer Arbeit zu erübrigen.«251 Neben der Gewichtung, die Hofmann dem Faktor der persönlichen Bekanntschaft zuwies, ist auch seine hohe Einschätzung der Lehrkomptenz von Interesse. Daß dieses Eignungsmerkmal bei der Kandidatenauswahl immer mehr in den Hintergrund rückte, wie McClelland am Beispiel der preußischen Universitäten feststellt, läßt sich anhand der Berufungsvorschläge und sonstigen Quellen für Erlangen nicht bestätigen.252 Vielmehr wurde hier bis zuletzt

249 Vgl. allgemein: Bourdieu, Homo academicus, S. llOf. 250 Promemoria, 18.5.1845. Personalakt Schaden (BA311); zu Canstatt siehe BA 128. 251 Brief an Schmid (BA 47), München, 30.5.1865. Schmid, Briefe von J. Chr. V. Hofmann, S. 129f. (BA 24); zu Plitt siehe BA 40. 252 Vgl. McClelland, State, S. 183.

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der Stellenwert betont, der auf einer kleinen Universität mit vergleichsweise geringen Forschungsmitteln dem akademischen Unterricht zukomme. 253 Neben Forscherleistung und Lehrgeschick betonten die Fakultäten teils unterschiedliche Sekundärkompetenzen. So gewannen etwa bei den Medizinern und Naturwissenschaftlern zunehmend diejenigen Personen an Interesse, die Erfahrungen in der Klinik- oder Institutsleitung aufzuweisen hatten. Außerdem wurden vereinzelt zeichnerische oder technische Begabungen - beides vorteilhaft für Unterrichtsdemonstrationen - betont. Während der Faktor Allgemeinbildung von Medizinern und Naturwissenschaftlern zunächst hochgehalten worden war, etwa seit der Jahrhundertwende aber praktisch keine Erwähnung mehr fand, legten die Theologen, Juristen sowie die Vertreter der philosophisch-philologisch-historischen Disziplinen hierauf durchgehend großen Wert. Die Theologen hoben neben dem Ziel der Bewahrung konfessioneller und landeskirchlicher Geschlossenheit hervor, daß ihre Mitglieder zu einem guten persönlichen U m g a n g mit den Studenten befähigt sein müßten. Besondere Bedingungen herrschten in der Medizinischen und in der Philosophischen Fakultät. Denn hier wurden nicht nur vakante Stellen wiederbesetzt, sondern auch in großer Anzahl neue Professuren geschaffen. Dann lief die Berufungsprozedur meist so ab, daß ein Extraordinariat auf Fakultätsgutachten hin in ein planmäßiges oder persönliches Ordinariat umgewandelt und der bisherige Lehrstelleninhaber zum ordentlichen Professor befördert wurde. Gängig war dabei vor allem das Argument, den Vorstehern wichtiger Kliniken, Institute und Seminare den nötigen Einfluß in der Selbstverwaltung zu geben. Oft mußte man in Erlangen allerdings auswärtige Rufe abwarten, u m überfällige Lehrstuhlgründungen voranzutreiben. 254

253 So etwa noch 1925 anläßlich der Wiederbesetzung des Lehrstuhls für Physik. Gutachten der Philosophischen Fakultät, 16.11.1925. Personalakt Gudden (BA 239). 254 A u f dem Wege der U m w a n d l u n g eines Extraordinariats in ein Ordinariat kamen zu einem ordentlichen Lehrstuhl: der Germanist R. v. Raumer (1852), der Pharmazeut Zoeller (1865), der Augenheilkundler Michel (1874), der Pharmazeut Hilger (1875, der Lehrstuhl für Angewandte C h e m i e war nach Zoellers Abgang wieder in ein Extraordinariat verwandelt worden), der Nationalökonom Eheberg (1884), der Althistoriker Pöhlmann (1886), der Archäologe Flasch (1890), der Vertreter der Medizinisch-propädeutischen Fächer und der Geschichte der Medizin R. Fleischer (1897), der Hygieniker und Bakteriologe H e i m (1902), der Psychiater Specht (1903), der Hals-, Nasen- und Ohrenheilkundler Denker (1906), der Geograph Pechuel-Lösche (1908), der Vertreter der Semitischen Philologie Jacob (1910), der Vertreter der Romanischen Philologie Pirson (1912), der Patristiker Jordan (1914), der Gerichtsmediziner Molitoris (1921), der Hals-, N a s e n - und Ohrenheilkundler A. Scheibe (1922, sein Vorgänger Denker hatte nur ein persönliches Ordinariat innegehabt), der Vertreter der Theoretischen und Angewandten Physik Reiger (1923), der Vertreter der Haut- und Geschlechtskrankheiten L. Hauck (1924), der Chemiker Henrich (1926), der Pharmakologe Schübel (1927) und der Vertreter der Physikalischen Chemie G. Scheibe (1930) ( B A 3 0 3 , 3 4 1 , 1 6 8 , 2 5 3 , 2 2 3 , 2 9 8 , 2 3 3 , 1 3 6 , 1 4 9 , 1 8 7 , 1 3 1 , 2 9 1 , 2 5 6 , 2 9 6 , 2 9 , 1 6 9 , 179, 305,147, 248, 184, 312). Bei R. v. Raumer, Zoeller, Eheberg, Pöhlmann, Denker, Molitoris, Schübel und G. Scheibe geschah das unter dem Druck einer drohenden Wegberufung.

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Da Erlangen aufgrund seiner peripheren Stellung im deutschen Universitätssystem zu Ordinarienberufungen kaum in der Lage war, liefen die Verhandlungen meist unspektakulär ab. Viel Spielraum bestand für bisherige Privatdozenten oder Extraordinarien nicht. Sie mußten sich mehr oder weniger mit den angebotenen Bedingungen zufrieden geben und zur Verbesserung ihrer Lage auf einen auswärtigen Ruf hoffen. Nachfragen über die politische Einstellung der Kandidaten zog die Regierung seit der Jahrhundertmitte nicht mehr ein. Alles in allem konnte die Oberbehörde ohne weiteres darauf vertrauen, daß die Universität die Vorschläge in dieser Hinsicht ganz in ihrem Sinne gestalten würde. In den Fakultätsgutachten finden sich entsprechende Hinweise häufig. Als typisch kann etwa die Formel gelten, die 1901 bei der Berufung des Philosophen Hensel, seines Zeichens Mitglied des Alldeutschen Verbandes und entschiedener Gegner des parlamentarischen Prinzips, Anwendung fand: »Er wird als ein höchst achtenswerter und verträglicher Charakter, als eine in politischen und confessionellen Dingen ruhige, feste, nie provokatorische Persönlichkeit bezeichnet.«255 Politische Z u verlässigkeit im Sinne eines monarchietreuen Nationalismus wurde in diesem Diskurs als feste Begleiterscheinung guter Charaktereigenschaften abgehandelt. Vornehmlich die Universität selbst war es jetzt, die ohne äußeren Zwang das Prinzip wissenschaftlicher Leistungsfähigkeit konfessionell und politisch einschränkte. 1928 stand die Neubesetzung des Ordinariats für Mittlere und Neuere Geschichte an. Der Germanist Saran teilte dem früheren Lehrstuhlinhaber Fester »selbstverständlich streng vertraulich« den Fakultätsbeschluß mit, wonach »der zu Berufende Protestant, national unbedingt zuverlässig und politisch rechts sein« müsse; Bedingungen, die der anschließend ernannte Brandt voll erfüllte.256 Die Juristische Fakultät wollte ihre Reihen laut Berufungsgutachten vom Oktober 1917 von einem »gesunden Modernismus« geprägt sehen, worunter sie eine »aller Freirechtlerei und einseitigen >Sociologie< abgekehrte, mehr konstruktive Richtung« verstand. Bei der Wiederbesetzung des kriminalistischen Lehrstuhls im Jahre 1925 glaubte sie von allen Personen absehen zu müssen, »die für die sog[enannte] Gesinnungsstrafe eintreten, also in der Strafe keine Sühne für die begangene Tat, sondern lediglich eine Maßregel der Vorbeugung gegen Betätigung einer sozialgefährlichen Gesinnung erblicken.« Die akademische Jugend solle »mit dem geschichtlich überkommenen Begriff der Strafe vertraut gemacht« und nicht zu einer Richtung erzogen werden, »die notwendig zu einer Untergrabung des Strafrechts [...] führt«. Mit dem Zivilrechtler Lent und dem Strafrechtler Köhler wurden in beiden Fällen also nicht 255 Gutachten der Philosophischen Fakultät, 30.12.1901. Personalakt Hensel (BA 249). 256 Brief v o m 11.3.1928. Zit. nach: Weber, W., Priester der Klio, S. 2 3 5 f ; zu Brandt, Saran und Fester siehe BA 213, 310, 227.

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von ungefähr zwei ausgewiesene Vertreter der politischen Rechten vorgeschlagen und ernannt. 257 Diese Aussagen wurden zwar während einer Zeit getroffen, in der sich die politische Stimmungslage der Professorenschaft infolge von Krieg und Revolution bereits deutlich verschärft hatte. Ahnliche Vorbehalte, vor allem in konfessioneller Hinsicht, hatten aber auch schon lange zuvor die Chancen qualifizierter Bewerber beschnitten. So war etwa das Prinzip, wonach die Lehrer der Neueren Geschichte evangelischen Bekenntnisses sein mußten, bereits 1896 anläßlich der Berufung Festers betont worden. Nach Aussage der Philosophischen Fakultät hatte »bei aller geforderten Objektivität« die Überlegung im Vordergrund gestanden, daß viele Theologiestudenten, deren kirchliche Überzeugungen zu schonen seien, historische Vorlesungen frequentierten. 258 Von vornherein benachteiligt waren nicht nur Katholiken, sondern vor allem auch jüdische Gelehrte. Daß Jakob Herz nach der bürgerlichen Gleichstellung der Juden im Königreich Bayern (1861) im Jahr 1867 nicht zum Nachfolger des Chirurgen Thiersch vorgeschlagen worden war, hatte nach glaubhafter Versicherung der Medizinischen Fakultät allein auf dem Umstand einer inzwischen eingetretenen Schwerhörigkeit beruht. 259 Seine 1869 erfolgte Ernennung zum Ordinarius ohne Nominalfach kann von daher wohl als Kompensationsversuch verstanden werden. Auch bei der Nominierung des Physiologen Rosenthal und des Mathematikers Noether (1872 bzw. 1875) war das Glaubensbekenntnis offenbar noch nicht weiter von Belang gewesen.260 Als es indes 1895 darum ging, den Lehrstuhl des verstorbenen Strafrechtlers Lueder wiederzubesetzen, ließ die Juristische Fakultät »aus persönlichen Gründen« Personen unberücksichtigt, die sie ihrer Schriften und Lehrerfahrung wegen als »an sich geeignet« einstufte. Das Ministerium verlangte eine Erklärung und erhielt als Antwort, bei den Betreffenden handele es sich um Angehörige des mosaischen Bekenntnisses. Maßgeblich sei vor allem die Überlegung gewesen, daß das Amt »im nicht geringen Maße confessionell-christliche Anforderungen stellt«. Als Prokanzler habe der Betreffende die Korporation bei offiziellen Kirchgängen mit anzuführen, den Universitätslehrern und -beamten den Amtsschwur nach christlicher Eidesform abzunehmen und im Senat zu Berufungsangelegenheiten etwa auch der Theologischen Fakultät das erste Votum abzugeben. Da eine Mitgliedschaft zweiter Klasse, nämlich unter Ausschließung von Prorektorat

257 Gutachten, 22.10.1917. Personalakt (PA) Lent (BA95); Gutachten j u n i 1925. PA Köhler (BA 91). 258 Gutachten vom 6.7.1896. Personalakt Fester (BA 227). 259 Gutachten vom 7.3.1867. Personalakt Thiersch (BA 191); zum Fall Herz (BA 153) siehe auch oben, Kap. 3.2.3.1. 260 BA 175, 287.

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und Prokanzlerschaft, ebenso indiskutabel sei, müsse von der Nominierung israelitischer Gelehrter prinzipiell abgesehen werden. 261 Ernst zu nehmen war übrigens der zusätzliche Hinweis der Fakultät, daß ein solcher Besetzungsvorschlag im Senat sehr wahrscheinlich auf mehrheitliche Ablehnung gestoßen wäre. Der Germanist Steinmeyer hatte sich bereits 1882 bei der Nachfolge des Historikers Hegel privat sehr pessimistisch über die Berufungschancen von Juden geäußert und eine große Anzahl ausgesprochener Antisemiten in Fakultät und Senat angeführt. In jedem Fall würden die Theologen dafür sorgen, daß von ihren Studenten keiner bei einem jüdischem Historiker höre.262 Nach dem Ersten Weltkrieg, als der überwiegend religiös motivierte Antijudaismus zunehmend durch rassebiologische Ideologeme verschärft wurde, 263 blieben entsprechende Benachteiligungen auch in den eher konfessionsneutralen Disziplinen nicht aus. Als es 1918 um die Nachfolge Noethers ging, des letzten jüdischen Ordinarius im Erlanger Lehrkörper, versah der Chemiker und damalige Prorektor Busch die Namen aller jüdischen Kandidaten in seinem Tagebuch mit einem Kreuz.264 Von den Gekennzeichneten wurde keiner vorgeschlagen.

3.5. Erlangen als Karrierestation

3.5.1. Dauer des Erlanger

Ordinariats

An der durchschnittlichen Verweildauer der Ordinarien in Erlangen änderte sich insgesamt verhältnismäßig wenig. Sie pendelte zwischen etwa 16 und 18 Jahren (Tab. 29). Die Schwankungsbreite zwischen extrem kurzen und extrem langen Amtszeiten war allerdings gerade in früher Zeit enorm und verminderte sich erst im 20. Jahrhundert deutlich. Ordinarien, die mehr als dreißig Jahre in Erlangen dienten, hatten bis 1890 immerhin etwa ein Viertel der Gesamtheit ausgemacht, danach sank ihr Anteil auf unter zehn Prozent. 265 Die Aufenthalts261 Gutachten vom 5.5.1895 und 30.5.1895. Personalakt Allfeld (BA 62); zu Lueder siehe BA 99. 262 Brief an Prof. Scherer in Straßburg, 8.11.1882. Brunner/Helbig, Wilhelm Scherer/Elias von Steinmeyer, S. 230 (BA326); zu Hegel siehe BA 245. 263 Siehe unten, Kap. 5.2.2. 264 Tagebucheintrag vom 20.12.1918. Personalakt Busch (BA217). 265 Amtszeiten von mehr als 30 Jahren/von weniger als 5 Jahren: Ernennungszeitraum 17431810: 21,8/20,5 Prozent (17/16 von 78 Personen); 1811-1848: 26,2/27,9 Prozent (16/17 von 61); 1849-1890: 25,6/21,1 Prozent (23/19 von 90); 1891-1933: 8,9/15,2 Prozent (10/17 von 112). Etwaige Amtsunterbrechungen kamen nach der Anzahl vollendeter Jahre in Abzug. Fehlende Werte: keine.

201

dauer der Theologen und Juristen ging im Schnitt langfristig von etwa 16 auf über 18 Jahre nach oben. Bei den Medizinern, die im 18. Jahrhundert ungeachtet ihres relativ hohen Ernennungsalters klar die längste Amtszeit aufzuweisen hatten, war der Trend umgekehrt nach unten gerichtet. Ahnlich stand es mit der »Philosophischen Sektion«. Die Mathematiker und Naturwissenschaftler hielt es mit Ausnahme des Zeitraumes 1811 bis 1848 immer ausgesprochen kurz in Erlangen.

Tab. 29: Dauer des Erlanger Ordinariats (Jahre) Fachbereich/Ernennungszeitraum Gesamt Theol. Fak. Jur. Fak. Med. Fak. »Phil. Sek.« »Nat. Sek.«

1743-1810

1811-1848

1849-1890

1891-1933

17,6 16,1 16,2 22,5 20,1 13,5

16,3 15,3 14,1 17,3

18,1 18,6 16,8 16,1 22,4 15,9

16,0 18,8 18,2 14,7 16,6 14,0

17,1 19,0

Quelle: Vgl. Seite 66, Fußnote 6.

3.5.2. Abschluß der Amtstätigkeit als Erlanger Ordinarius 3.5.2.1. Bei Verbleib in Erlangen Eine Ruhestandsregelung existierte im 18. Jahrhundert nicht. Der einzige Ordinarius, der in Erlangen vor 1810 aus Alters- bzw. Gesundheitsgründen quiesziert wurde, war 1776 der Jurist Schierschmidt.266 Der Tod war also die Instanz, welche die teils schon über achtzigjährigen Professoren von ihren Pflichten abberief. In Kombination mit einem relativ jungen Ernennungsalter sorgte dieser Umstand in vielen Fällen für äußerst lange Amtszeiten. Im Laufe der Zeit schied ein immer geringerer Anteil an Personen durch Tod aus dem Amt (Abb. 3.6.). Die verschiedenen Formen der Amtsentbindung gewannen dagegen an Bedeutung. Bei der Emeritierung, die seit etwa 1850 üblicher wurde, handelte es sich lediglich um die Freistellung von der Verpflichtung, Lehrveranstaltungen zu halten. Im Unterschied zum quieszierten Ordinarius konnte der Emeritus weiterhin als vollberechtigtes Mitglied in den 266 BA 112.

202

Abb. 18: Gründe für das Ende der Erlanger Amtstätigkeit (bei Verbleib in Erlangen)267

Ü Emeritierung • Quieszierung • Tod

1743-1810

1811-1848

1849-1890

1891-1933

Ernennungszeitraum

Quelle: Vgl. Seite 66, Fußnote 6.

Selbstverwaltungsgremien wirken. Während die Emeritierung zum Normalfall der Dienstentbindung aus Altersgründen wurde, fand die zuvor gebräuchlichere Quieszierung nur noch bei vorzeitigen Entpflichtungen Anwendung, so etwa in den wenigen Fällen freiwilliger Amtsaufgabe, gesundheitsbedingter Dienstuntauglichkeit oder disziplinarrechtlicher Maßregelung. Laut Beilage IX der Bayerischen Verfassung von 1818 sollte jeder Staatsdiener, der nach der Vollendung des siebzigsten Lebensjahres aus dem Amt trat, im vollen Besitze seines Gehaltes sowie seiner Titel und Funktionszeichen bleiben, für vorzeitige Quieszierungen waren je nach Dienstalter anteilige Abzüge vorgesehen. In keinem Fall erfolgte die Amtsentbindung aber automatisch. Sie mußte jeweils eigens beantragt werden, und der Zeitpunkt lag bei Abwesenheit besonderer Umstände im Ermessen des einzelnen. Wie gesehen, stieg die durchschnittliche Amtsdauer der Erlanger Ordinarien 1849 bis 1890 trotz eines wachsenden Anteils an Pensionären an. Unter anderem läßt sich das darauf zurückführen, daß sich die überwiegende Zahl der Erlanger Emeriti (13 von 18) erst mehr als ein Jahr nach der Erreichung der Altersgrenze entpflichten ließ. 267 Die Verteilung nach absoluten Zahlen: 1743-1810: Tod: 38; Quieszierung: 5; fehlende Werte: keine; 1811-1848: Tod: 24; Quieszierung: 7; Emeritierung: 5; fehlende Werte: keine; 1849-1890: Tod: 23; Quieszierung: 5; Emeritierung: 18; fehlende Werte: keine; 1891-1933: Tod: 18; Quieszierung: 5; Emeritierung: 51; fehlende Werte: 1

203

Ein ausgedehnter Ruhestand entsprach nicht dem Berufsbild. Dabei hat mit Sicherheit eine Rolle gespielt, daß das Gehalt zwar weitergezahlt wurde, aber die teils nicht unbeträchtlichen Nebenbezüge der Kolleggelder und Funktionsremunerationen fortfielen. Es ist denn auch weniger auf ein verändertes Arbeitsethos der Ordinarien als auf die Regulierung des Beamtenrechts durch die NS-Regierung zurückzuführen, w e n n der Anteil der Emeriti 1891 bis 1933 schlagartig anstieg und zugleich das Emeritierungsalter deutlich herunterging. Die Altersgrenze w u r d e nämlich 1934 nicht n u r von siebzig auf 65 Jahre gesenkt, sondern auch z u m verbindlichen D a t u m der Entpflichtung erklärt. Das Amt mußte selbst dann abgegeben werden, w e n n noch kein Nachfolger eingesetzt war; der Form nach versah dann der Emeritus während des Interims die Vertretung des eigenen Lehrstuhls. In dieser Regelung ist auch der Hauptgrund dafür zu sehen, daß Anteil u n d Ausmaß extrem langer Amtszeiten signifikant zurückgingen. Ein besonderes Kapitel bilden die Amtsenthebungen, die während der N S Zeit aus politischen G r ü n d e n angeordnet wurden. Sie betrafen allerdings nur zwei Ordinarien, den Historiker Schmeidler u n d den Theologen Ulmer. Schmeidler hatte bereits 1931 wegen kritischer Kommentare zu einer Hitlerrede einen Konflikt mit d e m N S D S t B ausgetragen. Im S o m m e r 1935 äußerte er sich vor Studenten ablehnend zu der Art und Weise, mit der der Nationalsozialismus an die Macht gelangt war. Entgegen d e m Votum des Rektors Fritz Specht, der es bei einem Verweis belassen wollte, erfolgte auf Anweisung des Reichsstatthalters in Bayern im Einvernehmen mit d e m Reichserziehungsministerium im Frühjahr 1936 die Quieszierung. 2 6 8 Eine demokratische Ausrichtung k o n n t e U l m e r im Unterschied zu Schmeidler nicht nachgesagt werden. 1933 hatte er die Machtergreifung als Sieg des organisch-völkischen Staatsgedankens emphatisch gefeiert, u n d noch w ä h r e n d der Verhandlungen u m seine D i e n s t e n t h e b u n g bezeichnete ihn Specht als den theologischen Dozenten, »der seit vielen Jahren die nationalsozialistische Bewegung begrüßt und vertreten hat«. Angesichts der Schärfe, mit der er allerdings im Mai 1936 DAF-Reichsleiter Robert Ley wegen kirchenfeindlicher Äußerungen angegriffen hatte, zählte alles das wenig. N a c h U l m e r s Weigerung, die Kritik bedingungslos zurückzunehmen, wurde er zu Beginn des Wintersemesters 1937/38 in den Ruhestand versetzt. 269 268 Rektor Reinmöller an KuMi, 15.1.1934; Aussageprotokoll, 1.7.1935; Rektor Specht an KuMi, 10.7.1935; Rektor Specht an KuMi, 25.7.1936; Ruhestandsdekret, 19.3.1936. Personalakt Schmeidler (BA313); vgl. auch: Wendehorst, Geschichte, S. 186; Franze, S. 130-132; Sandweg, Der Verrat, S. 112. 269 Rektor Specht an KuMi, 1.6.1936; Abschrift von Ulmers Artikel »So geht's nicht« (»Lutherische Kirche«, Heft 10, 1936); Rektor Specht an KuMi, 30.3.1937 (Zitat); Ruhestandsdekret, 29.6.1937. Personalakt Ulmer; zu Ulmers Auffassung zur Machtergreifung von 1933 vgl.: Ulmer, Der Anspruch, S. 598-615 (BA53); vgl. auch: Wendehorst, Geschichte, S. 186; Sandweg, Der Verrat, S. 112.

204

In beiden Fällen fand Paragraph 6 des »Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« Anwendung. Dieser nach außen hin neutrale Passus, der vorgeblich im Interesse der Verwaltungserleichterung vorzeitige Quieszierungen ermöglichte, wurde von der NS-Regierung regelmäßig zur Ausschaltung mißliebiger Staatsdiener genutzt. Fielen die Konsequenzen für Schmeidler und Ulmer noch vergleichsweise glimpflich aus,270 stellte die politische Willkür, die hinter ihrer Entlassung stand, doch eindeutig eine Novum dar. Z u Amtsenthebungen aufgrund Paragraph 3 GWBB (sogenannter Arierparagraph) sowie der Paragraphen 2 und 4, die vor allem gegen die organisierte politische Linke gerichtet waren, ist es innerhalb der untersuchten Personengruppe allerdings nicht gekommen. Hier hatte die Universität selbst mit ihrer Berufungspolitik gründliche Vorarbeit geleistet. Gemessen an den Verhältnissen der deutschen Universitäten insgesamt, an denen bis 1938 28 Prozent der Ordinarien aus dem Amt gedrängt wurden, nimmt sich die Erlanger Bilanz ohnehin bescheiden aus.271 Wesentlich mehr Personen, nämlich 13, waren von den Amtsentbindungen betroffen, die die amerikanische Militärregierung 1945 bis 1947 im Zuge der Entnazifizierungspolitik anordnete. Es handelte sich hierbei um Entlassungen mit vollem Verlust der Pensionsrechte. Spätestens 1948 erfolgte allerdings die Wiedereinsetzung, oft bei gleichzeitiger Versetzung in den Ruhestand oder Emeritierung. Einzig der bald nach Kriegsende verstorbene Gynäkologe Wintz gelangte nicht mehr zurück in das Professorenamt. 272

3.5.2.2. Durch auswärtigen Ruf Der Anteil derer, die das Erlanger Ordinariat für eine andere Berufsposition aufgaben, bewegte sich zwischen etwa einem Drittel und knapp der Hälfte der Professoren (Tab. 30). Gegen Ende hin, als angesichts der peripheren Stellung des kleinen Erlangen im etablierten Austauschsystem der deutschsprachigen 270 Schmeidler erhielt Versorgungsbezüge in Höhe von 69 Prozent seines pensionsfähigen Diensteinkommens von 12.040 RM ( = 8.307,60 RM), Ulmer 80 Prozent von 13.040 RM ( = 10.432 RM). Regulierung der Versorgungsbezüge, 18.3.1936. Personalakt (PA) Schmeidler (BA 313); Dgl., 2.9.1937. PA Ulmer (BA 53). Beide wurden nach dem Krieg in ihr altes Amt zurückversetzt und gleichzeitig emeritiert. 271 Vgl. Seier, S. 252f. 272 Entlassungen auf Befehl der Militärregierung: Theologische Fakultät: Althaus, Strathmann, Preuß; Juristische Fakultät: Lent, Liermann, Wenzel; Medizinische Fakultät: Goetze, Wintz, Molitoris, Hasselwander, Kirch; »Phil. Sek.«: Herrigel; »Nat. Sek.«: Schwemmle (BA 1, 51, 95, 96, 41, 123, 143, 200, 169, 146, 161, 250, 319); Althaus, Liermann, Goetze und Schwemmle gelangten 1947/48 wieder auf ihre alte Lehrstelle; Strathmann, Lent und Hasselwander wurden gleichzeitig mit der Wiedereinsetzung emeritiert, Preuß, Wenzel, Molitoris und Herrigel in den Ruhestand versetzt; Kirch folgte 1949 einem Ruf nach Würzburg; vgl. Wendehorst, Geschichte, S. 219-242.

205

H o c h s c h u l e n eine besonders h o h e A b w a n d e r u n g s q u o t e hätte v e r m u t e t w e r den k ö n n e n , war diese am niedrigsten. I m Zeitalter der an sich von Immobilität geprägten Landesuniversitäten wechselten hingegen erstaunlich viele O r d i n a rien ihre Stellung. N i m m t m a n mit Baumgarten an, daß viele W e g b e r u f u n g e n v o n Einstiegsuniversitäten wie Erlangen auf deren qualitativ gute B e r u f u n g s politik schließen lassen, war es u m d e n Spürsinn der zuständigen G r e m i e n offenbar im Laufe der Zeiten unterschiedlich bestellt. 273 Tab. 30: Die Q u o t e w e g b e r u f e n e r O r d i n a r i e n in Prozent (und nach absoluten Zahlen) 2 7 4 Fachbereich/Ernennungszeitraum

1743-1810

1811-1848

1849-1890

Gesamt Theol. Fak. Jur. Fak. Med. Fak. »Phil. Sek.« »Nat. Sek.«

41,0(32/78) 37,5 (6/16) 56,5(13/23) 38,5 (5/13) 33,3 (5/15) 27,3 (3/11)

36,1(22/61) 41,7 (5/12) 40,0 (6/15) 30,8 (4/13) 28,6 (4/14) 42,9 (3/7)

46,7 31,3 66,7 57,1 33,3 50,0

(42/90) (5/16) (6/12) (12/21) (7/21) (10/20)

1891-1933 33,3(37/111) 12,5 (2/16) 50,0 (7/14) 28,1 (9/32) 30,8 (8/26) 47,8 (11/23)

Quelle: Vgl. Seite 66, Fußnote 6.

D a n e b e n wiesen die einzelnen Fakultäten große U n t e r s c h i e d e auf. Sehr mobil w a r e n d u r c h w e g die Juristen, seit d e m Vormärz auch die M a t h e m a t i k e r u n d Naturwissenschaftler. D i e entsprechenden Werte der »Philosophischen Sektion« blieben hingegen i m m e r u n t e r d e m Mittelwert. Die A b w a n d e r u n g s q u o t e der Mediziner fiel bis zur M i t t e des 19. J a h r h u n d e r t s relativ gering aus, schnellte d a n n sehr deutlich nach oben, u m 1891 bis 1933 wieder auf schwaches Durchschnittsniveau zurückzufallen. Die Theologen, die Erlangen n o c h im Vormärz relativ häufig verlassen hatten, zeigten dazu in der folgenden Zeit i m m e r weniger N e i g u n g . Vergleichszahlen liegen f ü r die G r u p p e n der Geistes- u n d N a t u r w i s s e n schaftler im 19. J a h r h u n d e r t vor. Erlangen lag hier die meiste Zeit in relativer N ä h e zu den Werten der ähnlich dimensionierten H o c h s c h u l e n Kiel u n d Gießen. 275 M i t den Verhältnissen M ü n c h e n s u n d Berlins, f ü r die Baumgarten sehr

273 Vgl. Baumgarten, Professoren, S. 172. 274 Fehlende Werte: keine. Berücksichtigt werden hier und im folgenden nur Fälle, in denen direkt aus dem Erlanger Ordinariat heraus und erkennbar freiwillig eine andere Position übernommen wurde. 275 Unter Übertragung der von Baumgarten, Professoren, S. 295 gewählten Periodisierung und Fächergruppenbildung auf den vorliegenden Datensatz ergeben sich folgende vergleichbare

206

geringe Abwanderungsquoten von null bis 13,2 Prozent festgestellt hat, konnte es nur die angesehene Theologische Fakultät aufnehmen. Für fast neunzig Prozent ihrer Mitglieder stellte Erlangen 1891 bis 1933 die Endstation des Karriereweges dar.

3.5.3. Position nach dem Erlanger

Ordinariat

Außeruniversitäre Berufe waren für die Professoren des 18. Jahrhunderts eine verlockende Alternative. 56,3 Prozent aller 32 Wegberufenen des Ernennungszeitraumes 1743 bis 1810 wechselten in folgende Berufssparten: Beamte der allgemeinen Verwaltung bzw. Regierung (5), Richter (3), Geistliche (6), Leibärzte (2) und Praktische Ärzte (2). 1811 bis 1848 fiel der entsprechende Anteil mit einem Regierungsbeamten, zwei Richtern und vier Geistlichen (31,8 Prozent der 22 Wegberufenen) schon sehr viel geringer aus, und von denjenigen, die ab 1849 ernannt wurden, hat nur noch ein einziger dem Professorenstand den Rücken gekehrt.276 Diese Abgrenzung des professoralen Berufsprofiles setzte sich in der Medizinischen und Philosophischen Fakultät relativ früh durch. Unter den sieben Ordinarien des Vormärz, die Positionen außerhalb der Universität übernahmen, befanden sich vier Theologen, zwei Juristen, keine Mediziner und mit dem Staatswissenschaftler Weinlig nur ein Mitglied der Philosophischen Fakultät. Im 18. Jahrhundert war die Verteilung noch sehr viel gleichmäßiger ausgefallen.277 Bezeichnend ist, daß Weinlig nach eigener Aussage lieber dem Wissenschaftsberuf treu geblieben wäre als dem Ruf ins Amt eines vortragenden Regierungsrates des sächsischen Innenministeriums Folge zu leisten. Es sei lediglich die Verweigerung materieller Konzessionen durch München gewesen, die ihn zur Rückkehr ins heimatliche Dresden bewegt habe. Speziell beklagte er an seiner neuen Stellung »dieses stete Abhängigsein vom Minister namentlich in Bezug auf Disposition über seine Zeit, Etwas, woran man sich sehr gewöhnen Abwanderungsquoten (in Prozent): Geisteswissenschaftler: 1815-1847: Gießen: 10; Kiel:69,2; Heidelberg: 33,3; Göttingen: 6,1; München: 8,3; Berlin: 3,7; Erlangen: 28,6; 1848-1879: Gießen: 27,3; Kiel: 70,4; Heidelberg: 33,3; Göttingen: 26,3; München: 4,8; Berlin: 4; Erlangen: 35,7; 18801914: Gießen: 72,2; Kiel: 50; Heidelberg: 23,8; Göttingen: 25,6; München: 13,2; Berlin: 9,3; Erlangen: 36,4; Naturwissenschaftler: 1815-1847: Gießen: 14,3; Kiel: 0; Heidelberg: 33,3; Göttingen: 0; München: 0; Berlin: 4,8; Erlangen: 42,9; 1848-1879: Gießen: 61,5; Kiel: 54,5; Heidelberg: 38,5; Göttingen: 31,6; München: 0; Berlin: 0; Erlangen: 53,3; 1880-1914: Gießen: 38,9; Kiel: 61,5; Heidelberg: 20; Göttingen: 28,6; München: 5,9; Berlin: 2,8; Erlangen: 46,7. 276 Der Dogmatiker Hunzinger (BA 26) übernahm 1912 die Stelle des Hauptpastors an der St. Michaeliskirche in Hamburg. 277 Ubertritt in praktische akademische Berufe 1743-1810: Theologen: 3; Juristen: 7; Mediziner: 4; Philosophische Fakultät: 4.

207

muß.«278 Die Möglichkeit zu autonomer Erkenntnisarbeit wurde den kompromiß- und weisungsgebundenen Berufen der Praxis zunehmend vorgezogen. Welche Universitäten waren es, die im 18. Jahrhundert Ordinarien von Erlangen weglocken konnten? Beim Blick auf Tab. 31 ist hier eine eher unspezifische Verteilung auf mehrere kleine und mittelgroße Hochschulen festzustellen. In der Einzelbetrachtung fällt jedoch eines auf: Sieben Personen, also genau die Hälfte der Wechselnden, kehrten in ihr Heimatterritorium und an den Ort ihres Studiums zurück, fünf von ihnen hatten an der abwerbenden Hochschule bereits als Dozent gewirkt. Der Mathematiker Wiedeburg nahm 1760 sogar die Rückstufung zum Extraordinarius in Kauf um an der Seite des Vaters in seiner Geburtsstadt Jena lehren zu können. Von daher ist es durchaus glaubhaft, wenn der Jurist Malblanc rückblickend versicherte, er habe den Ruf an die Heimatuniversität Tübingen vor allem aus Vaterlandsliebe angenommen.279 Als 1790 nach Malblanc und Gmelin mit Tafinger der dritte Jurist aus Württemberg einem Rückruf nach Tübingen Folge leistete, verfügte die Kuratelbehörde, künftig keine Landeskinder dieses Fürstentums mehr für Erlanger Professuren vorzuschlagen. Vor allem in finanzieller Hinsicht fühlte man sich ausgebeutet. Die Betreffenden hätten sich auf Kosten des Markgrafentums »zu tüchtigen Lehrern gebildet«, aber andere die Früchte ernten lassen.280 Von einem freien, primär leistungsbezogenen Konkurrenzverhältnis der Universitäten konnte also zu diesem Zeitpunkt noch kaum die Rede sein.

7ab. 31: Wechsel von Erlangen an andere Universitäten (Ernennungszeitraum 1743-1810)281 Hochschule Gesamt Gießen Göttingen Helmstedt Herborn Jena Marburg Tübingen Wilna Würzburg

1 2 1 1 2 1 3 2 1

Theol.

Jur.

Med.

Phil.

Nat.

1 1

-

1

3 -

-

-

1 1 1 -

-

1 1

-

1 -

1 1

Quelle: Vgl. Seite 66, Fußnote 6. 278 Brief an Bruder Ernst, Dresden, 30.12.1846.Albert Weinlig in Brufen, S. 20 (BA332). 279 Vgl. Malblanc, [Lebensbeschreibung], S. 373 (BA 100); zu Wiedeburg siehe BA 334. 280 Kuratelbehörde an Universität, Ansbach, 25.6.1790. Personalakt Tafinger (BA 121); zu Gmelin siehe BA 80. 281 Fehlende Werte sowohl bei diesem als auch bei allen anderen Zeitbschnitten: keine.

208

Im frühen Vormärz kam es zu einer Abwanderungswelle nach Preußen. Der Kliniker Harleß wechselte 1818 an die N e u g r ü n d u n g in Bonn, ebenso der Botaniker Nees von Esenbeck, der Zoologe Goldfuß und der Chemie- und Physikdozent Bischof Schweigger, der die Chemie und Physik seit 1817 als Ordinarius vertrat, folgte schon 1819 einem Ruf nach Halle. 282 Nach alter Manier legte die Philosophische Fakultät Schweiggers frühen Weggang als Folge treulosen Wankelmutes aus. Er habe die Ergebenheit gegen »sein ursprüngliches Vaterland«, gegen Kollegen, die ihn mit Liebe und Achtung aufgenommen hätten, gegen eine Regierung, »die ihn durch mehrjähriges Wohlwollen ehrte«, schließlich auch gegen »die Bande der Natur, welche ihn an seine GeburtsStadt Erlangen knüpfen«, der »Lebhaftigkeit eines unerfüllten Wunsches« zum Opfer gebracht. 283 Angesichts der noch kürzeren Verweilzeit Nees von Esenbecks sah Prorektor Mehmel die Universität gar zu einem Gasthof und Absteigequartier herabsinken. 284

Tab. 32: Wechsel von Erlangen an andere Universitäten (Ernennungszeitraum 1811-1848) Hochschule Gesamt Berlin Bonn Freiburg i. Br. Göttingen Halle Heidelberg Leipzig München Tübingen

2 2 2 2 1 1 1 2 2

Jur.

Med.

-

1



-

-

-

-

Theol.

Phil.

Nat.

1

_

-

1

1 1 1

-

-

-

-

1

-

-

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1

-

-

1

1

-

-

-

1

-

-

-

-

-

1

-

1

-

2

-

-

-

Quelle: Vgl. Seite 66, Fußnote 6.

282 Z u Harleß, N e e s v o n Esenbeck, Schweigger, Stahl u n d Rückert siehe BA 145, 284, 318, 119, 309; G o l d f u ß u n d Bischof gehören nicht zur U n t e r s u c h u n g s g r u p p e , da sie kein Erlanger Ordinariat bekleideten. Ihre baldige B e f ö r d e r u n g war j e d o c h damals beabsichtigt. Vgl. Kolde, Die Universität, S. 152; nach 1819 hatte P r e u ß e n seinen Bedarf an Erlanger Gelehrten zunächst gestillt. Erst 1840 bzw. 1841 m u ß t e n mit Stahl u n d Rückert wieder zwei O r d i n a r i e n d o r t h i n abgegeben w e r d e n , diesmal an die Berliner Universität. 283 Gutachten zur N e u b e s e t z u n g v o n Schweiggers Lehrstuhl, 10.10.1819. Personalakt Kastner ( B A 2 5 9 ) . 284 Vgl. Kolde, Die Universität, S. 152; zu M e h m e l siehe BA 279.

209

Schon etwa ein Jahrzehnt später aber hatte sich die Einstellung der Erlanger Professoren grundlegend gewandelt. Als der Neutestamentier Winer 1832 einen Ruf nach Leipzig annahm, wurde seine Begründung, dort erwarteten ihn ein größerer Wirkungskreis, als vollberechtigt angesehen und ohne jeden Vorwurf akzeptiert. Klage führte der Senat jetzt vielmehr über die vorgesetzte Behörde in München, die Erlangen durch die Verteilung ihrer Mittel daran hindere, »einen ehrenvollen Platz unter den deutschen Universitäten« einzunehmen. 285 Man war sich darüber klar geworden, in einem Konkurrenzkampf zu stehen, in dem das Gesetz von Angebot und Nachfrage zunehmend mehr, die alten Schutzmechanismen territorialer Abschottung immer weniger zählten. Dieser Neueinschätzung entsprach auch das Verhalten der Abwandernden. Von ihnen folgten nur noch zwei einem Ruf ihrer Heimatuniversität, während die übrigen 13 zu ihrem künftigen Arbeitsort keinen erkennbaren biographischen Bezug hatten. Bereitschaft zur Mobilität wurde für aufstiegswillige Professoren zur wichtigen Karrierebedingung. Symptomatisch ist die Art und Weise, wie der Privatrechtler Gerber 1851 seinen Weggang begründete. Dieser erfolge weniger wegen materieller Vorteile als aus dem »Gefühl der Nothwendigkeit einer Veränderung zur Förderung in meinem wissenschaftlichen Berufe«.286 Entscheidend war vor allem die Richtung dieser Veränderung. Insgesamt erweist Tab. 32, daß die Personen allesamt Orte ansteuerten, die im inoffiziellen Rangverhältnis der deutschen Universitäten vor Erlangen lagen.287 Wie bei Winer wurde das in den Entlassungsgesuchen häufig offen angesprochen. So war es beispielsweise nach der Erklärung Stahls vornehmlich die »besondere Bedeutsamkeit der Universität Berlin für den Stand der Wissenschaft«, die ihn zur Annahme des Rufes in die preußische Hauptstadt motiviert habe.288 Daneben konnten auch Faktoren wie der Zuschnitt der Nominalprofessur oder die Bedeutung und Ausstattung eines einzelnen Lehrstuhles maßgeblich sein. Siebold, der in der Medizinischen Fakultät Erlangens die Fächer Zoologie, Vergleichende Anatomie und Tierheilkunde vertrat, ging 1845 nicht nur wegen des größeren Wirkungskreises nach Freiburg, sondern weil dort obendrein das wichtige Fach Physiologie fester Bestandteil des Lehrstuhles war.289 Spätestens seit den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts hatte sich den Professoren das Bild einer klaren Hierarchieabstufung der deutschen Universitä-

285 Entlassungsgesuch Winers, 4.4.1832; Senat an König, 5.4.1832. Personalakt Winer (BA 56). 286 Gerber an Senat, 2.7.1851. Personalakt Gerber (BA 78). 287 Zur Rangabstufung der Universitäten vgl. Baumgarten, Professoren, insbes. S. 220-225, S. 264-266. 288 Entlassungsgesuch, 13.10.1840. Personalakt Stahl (BA 119); 289 Brief an seinen Erlanger Lehrstuhlvorgänger Rud. Wagner, Erlangen, 7.8.1845. Zit. nach: Körner, Carl Theodor von Siebold, S. 305 (BA 186).

210

ten eingeprägt. In Erlangen wußte man sehr wohl, wie niedrig die eigene Position in diesem System einzuschätzen war. Wenn ein Kollege den Ruf einer ranghöheren Hochschule erhielt, wurde oft gar nicht mehr der Versuch gemacht, ernsthafte Verhandlungen zu führen. 290 Es waren nicht nur die drei großen Zentralhochschulen Berlin, München und Leipzig oder besonders renommierte Aufstiegsuniversitäten wie Bonn, Göttingen, Halle, Tübingen oder Würzburg, die Lehrkräfte von Erlangen abzogen, sondern auch weniger bedeutende Institutionen wie Dorpat, Königsberg, Breslau, Freiburg oder Prag (Tab. 33). Sogar an eine Technische Hochschule mußten Ordinarien abgegeben werden. Drei Mitglieder der »Naturwissenschaftlichen Sektion«, der Physiker Beetz, der Mathematiker Klein und der Mineraloge Obbeke folgten Angeboten des Polytechnikums in München, das 1868 ins Leben gerufen worden war. Obwohl Beetz verhandlungsbereit war, sah sich die Universität zu einer Aufbesserung seiner Bezüge außerstande. Die Hoffnung der Philosophischen Fakultät, er werde die hiesigen Wirkungsmöglichkeiten für bedeutsamer halten als die in München, ging nicht auf.291 Offenbar vor allem motiviert durch die deprimierenden Zustände des Erlanger Mathematischen Seminars, folgte Klein dem Ruf1874 sogar ohne Verhandlungen. Ursache für das Schattendasein der Erlanger Mathematik war vor allem die Tatsache, daß sich der hiesige Fachvertreter von den Lehramtsprüfungen in München ausgeschlossen fand. Dieser Umstand, der Schülerzahlen und Wirkungskreis stark beschnitt, war schon 1869 maßgeblich für den Wechsel Hankels nach Tübingen verantwortlich gewesen.292

290 Nachweislich ohne solche Verhandlungen geführt zu haben, gingen von den Ordinarien des Ernennungszeitraumes 1849 bis 1890 der Systematische Theologe Seeberg 1898 nach Berlin, der Zivilrechtler Stintzing 1870 nach Bonn, der Strafrechtler H. Meyer 1873 nach Tübingen, der Kirchenrechtler Kahl 1888 nach Bonn, der Kliniker Kußmaul 1862 nach Freiburg, der Chirurg Thiersch 1867 nach Leipzig, der Zoologe Ehlers 1873 nach Göttingen, der Vertreter der Arzneimittellehre Bäumler 1874 nach Freiburg, der Frauenheilkundler Schröder 1876 nach Berlin, sein Nachfolger Zweifel 1887 nach Leipzig, der Augenheilkundler Sattler 1886 nach Prag, der Historiker Weizsäcker 1867 nach Tübingen, der Philologe Keil 1869 nach Halle, sein Fachkollege Wölfflin 1880 nach München, der Botaniker Kraus 1872 nach Halle, der Mathematiker Klein 1874 an die T H München, der Physiker Lommel 1886 nach München, der Chemiker Volhard 1881 nach Halle und der Chemiker E. Fischer 1885 nach Würzburg (BA 4 8 , 1 2 0 , 1 0 2 , 8 8 , 1 6 3 , 1 9 1 , 1 3 3 , 126, 183, 203, 178, 333, 260, 339, 267, 262, 274, 330, 230). 291 Beetz an Prorektor, 22.6.1868; Gutachten der Philosophischen Fakultät, 25.6.1868. Personalakt Beetz (BA 209). 292 Vgl. Klein, [Selbstbiographie], S. 17f. (BA262); Hankel an Senat, 11.1.1869. Personalakt Hankel (BA 240); die näheren Umstände der 1895 erfolgte Berufung Öbbekes (BA 288) sind nicht bekannt.

211

Tab. 33: Wechsel von Erlangen an andere Universitäten (Ernennungszeitraum 1849-1890) Hochschule Gesamt Berlin Bonn Breslau Dorpat Freiburg i. Br. Göttingen Halle Königsberg Leipzig München Prag Tübingen Würzburg T H München

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Quelle: Vgl. Seite 66, Fußnote 6.

Weitgehend immun gegen die Abwerbungsversuche kleiner und mittlerer Universitäten war die Erlanger Theologie. Die Abwanderung des Praktischen Theologen Harnack in das periphere Dorpat (1866) erfolgte unter Sonderbedingungen, da es sich hier um den Rückruf an seine Heimatuniversität handelte. Abgesehen davon war die Theologische Fakultät die einzige, die ernsthafte Versuche unternahm, die Abwerbungsversuche großer Universitäten abzuwenden. Zwar verlor sie insgesamt drei ihrer Mitglieder an Leipzig, konnte aber eines davon, nämlich Zahn, nach wenigen Jahren wiedergewinnen. Die anderen beiden, den Alttestamentier Delitzsch und den Kirchenhistoriker Hauck, ließ man nicht ziehen, ohne ihnen den Verbleib durch verbesserte Bedingungen schmackhaft gemacht zu haben.293 Auch 1891 bis 1933 mußte die fränkische Hochschule Gelehrte an typische Einstiegsuniversitäten wie Basel und Kiel oder weniger bedeutende Aufstiegsuniversitäten wie Breslau, Freiburg,Jena oder Marburg ziehen lassen (Tab. 34). Ein Naturwissenschaftler, der Vertreter der Physikalischen Chemie Scheibe,

293 Z u Zahn ( B A 5 8 ) siehe oben, Kap.3.4.1.; Gutachten der Theologischen Fakultät, 5.2.1889. Personalakt (PA) Hauck (BA 21); Delitzsch an Prorektor, 29.3.1867; Theologische Fakultät an Senat, 29.3.1867; Senat an König, 30.3.1867; M d l an Senat, 5.4.1867; Delitzsch an Senat, 11.4.1867. PA Delitzsch (BA 9).

212

ließ sich wiederum für die T H München gewinnen.294 In derlei Fällen gaben sich die Erlanger Fakultäten in der Regel nicht kampflos geschlagen, sondern setzten alle Hebel in Bewegung, um den Kollegen durch die Aufstockung der Gehalts-, Sach- oder Personalmittel zu halten. Letztlich hing hier allerdings alles von entsprechenden Bewilligungen des vorgesetzten Ministeriums ab. Der Botaniker Claussen ging 1922 nach Marburg, weil München trotz Empfehlung seitens der Fakultät und des Senates geforderte Verbesserungen der Institutsausstattung nicht sicher zusagen wollte. »Die Tatsache, daß ich nach Verzicht auf Marburg im Falle der Ablehnung meiner Wünsche mich um die vielleicht einzige - Möglichkeit gebracht hätte, hier gute Arbeitsbedingungen zu erreichen, ist für mich bestimmend gewesen«, begründete Claussen daraufhin seinen Weggang.295

Tab. 34: Wechsel von Erlangen an andere Universitäten (Ernennungszeitraum 1891-1933) Hochschule Gesamt Basel Berlin Breslau Frankfurt/M. Freiburg i. Br. Göttingen Halle Heidelberg Jena Kiel Köln Leipzig Marburg München Prag Straßburg Tübingen Würzburg T H München

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Quelle: Vgl. Seite 66, Fußnote 6. 294 Im Jahr 1932. Die näheren Umstände waren nicht zu ermitteln. Z u G. Scheibe siehe BA 312. 295 Gutachten der 2. Sektion der Philosophischen Fakultät, 1.10.1922; Senat an K u M i , 12.1.1922; Claussen an Prorektor, 21.2.1922 (Zitat). Personalakt Claussen (BA 219).

213

Obwohl man sich der bescheidenen Stellung Erlangens bewußt war, wurde der Wechsel in das randständige Basel offensichtlich doch als ungewöhnlich empfunden. Die kleine Schweizer Universität kam nur deshalb dieses eine Mal zum Zuge, weil sie dem Mediziner Voit, der in Erlangen die Poliklinik vertrat, die Leitung ihrer Medizinischen Klinik anbot. Fast schon entschuldigend erklärte Voit, er habe aus diesem Grund den Ruf annehmen müssen. Bereits im folgenden Jahr wechselte er dann weiter nach Gießen.296 Bessere Karten hatten Breslau und Kiel, weil sie sich zu günstigen Ausgangspunkten für den Aufstieg im innerpreußischen Hochschulsystem entwickelt hatten.297 Im Gegenzug kamen direkte Rufe an die preußischen Endstationsuniversitäten Bonn und Berlin nun merklich seltener vor. Bonn, das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auffallend oft Erlanger Juristen berufen hatte, war jetzt überhaupt nicht mehr vertreten; unmittelbar nach Berlin ging lediglich der Zivilrechtler Kipp.298 Daß die preußischen Universitäten weit häufiger Erlanger Geisteswissenschaftler abzogen als nichtpreußische, wie Baumgarten vermutet, kann nicht bestätigt werden. 299 Im großen und ganzen ergibt sich beim Blick auf Tab. 33 eher das Bild einer territorial unspezifischen Verteilung. Erlangen blieb insgesamt in seiner Position als Sprungbrett vielversprechender Hochschullaufbahnen. Allerdings konnte die Theologische Fakultät mit nur einer Abwanderung nach Leipzig ihre Ausnahmestellung noch sehr viel deutlicher als zuvor behaupten.

3.5.4. Abgelehnte Rufe

U m die Stellung Erlangens innerhalb der deutschen Universitätslandschaft noch präziser zu fassen, ist es sinnvoll, auch nach den abgelehnten Rufen zu fragen. Folgende erkenntniseinschränkende Faktoren sind zuvor anzusprechen: Vielfach kam es überhaupt nicht zu einem formellen Ruf da die gewünschte Person ihr Desinteresse bereits auf eine inoffizielle Anfrage hin deutlich gemacht hatte. Ahnlich schwer faßbar sind Rufe, deren Annahme von vornherein nicht beabsichtigt war, die aber zur Verbesserung der gegenwärtigen Stellung quasi inszeniert wurden. Auf beide Vorgänge gehen die überlieferten Schriftstücke in der Regel nicht ein.300 Der Anteil der ordentlichen Professoren Erlangens, die Rufe ablehnten, lag im 18. und frühen 20. Jahrhundert jeweils bei fast genau dreißig Prozent und 296 Voit an d e n D e k a n der Medizinischen Fakultät, A m m e r l a n d , 25.8.1906. Personalakt Voit (BA 193). 297 Vgl. Baumgarten, Professoren, S. 222, S. 264f. 298 Kipp (BA 89) n a h m d e n R u f 1901 o h n e weitere V e r h a n d l u n g e n m i t Erlangen an. 299 Vgl. Baumgarten, Professoren, S. 203. 300 Vgl. Weber, W., Priester der Klio, S. 175.

214

während des 19. Jahrhunderts bei etwa 45 Prozent.301 Trotz der Randposition der kleinen fränkischen Universität gab es unter den Ordinarien also durchweg eine beachtliche Gruppe, die Erlangen zumindest nicht bei der ersten sich bietenden Möglichkeit den Rücken kehrte. Insgesamt bestätigt wird die Attraktivität außeruniversitärer Berufsangebote im 18. Jahrhundert. Solche wurden von den Ordinarien des Ernennungszeitraumes 1743 bis 1810 deutlich öfter angenommen als ausgeschlagen. 1811 bis 1848 erwies sich das Verhältnis bereits als weitgehend ausgeglichen. Nach der Mitte des 19. Jahrhunderts hatten die seltenen Angebote, die von Seiten außeruniversitärer Institutionen gewagt wurden, so gut wie keine Erfolgsaussicht mehr, obwohl sie ihrem Berufsprofil nach der Sphäre von Forschung und Wissenschaft deutlich näher standen als in früheren Zeiten. 302 Dem Chemiker Emil Fischer hätte 1883 nach eigener Aussage die Leitung des wissenschaftlichen Laboratoriums der Badischen Anilin- und Sodafabrik geldlich sehr viel mehr eingebracht als jede Professur in Deutschland. Ihm sei indes »die akademische Tätigkeit mit der vollen Freiheit wissenschaftlicher Arbeit sympathischer« gewesen.303 Erlangen war im 18. Jahrhundert zahlreichen Abwerbungsversuchen anderer Universitäten des gesamten protestantischen Deutschlands ausgesetzt (Tab. 35). Von der »Philosophischen Sektion« abgesehen, überstieg die Zahl der abgelehnten Rufe dennoch in allen Fachbereichen die der angenommenen bei weitem.304 Auffällig sind vor allem die häufigen Absagen an damals verhältnismäßig bedeutende und frequenzstarke Lehrstätten, etwa Jena, Heidelberg und Leipzig sowie nicht zuletzt die beiden großen Reformuniversitäten Halle und Göttingen.305 Wenn im gleichen Zeitabschnitt dagegen Rufe an Hochschulen von 301 E r n e n n u n g s z e i t r a u m 1743-1810: 30,3 Prozent (23 von 76 Personen); 1811-1848: 46,6 P r o z e n t (27 v o n 58); 1849-1890:43,3 P r o z e n t (39 v o n 9 0 ) ; 1891-1933: 29,1 P r o z e n t (30 v o n 103); fehlende Werte: 1743-1810: 2; 1811-1848: 3; 1849-1890: 0; 1891-1933: 9; maßgeblich waren allein die erfolglosen Abwerbungsversuche, die w ä h r e n d des Erlanger Ordinariats gemacht w u r den, mit einer A u s n a h m e : Konnte sich eine Person im unmittelbaren Vorfeld ihrer E r n e n n u n g z u m ordentlichen Professor in Erlangen zwischen d e m Erlanger R u f u n d e i n e m anderweitigen Angebot entscheiden, so w u r d e auch dieses als abgelehnter R u f gewertet. A u ß e r d e m f a n d e n n u r offizielle R u f e u n d keine Privatanfragen Berücksichtigung 302 1743-1810 w u r d e n vier R u f e in h o h e geistliche Amter, j e drei Leibarzt- u n d Gymnasialrektor-Stellen sowie eine Position als Regierungsbeamter ausgeschlagen; 1811 bis 1848 kam es f ü n f m a l zu entsprechenden Absagen: drei als Gymnasialrektor u n d j e eine als Geistlicher u n d Richter; 1849 bis 1890 w u r d e n zwei Posten als leitende C h e m i k e r in Industrielaboratorien, das Direktorat einer landwirtschaftlichen Versuchsstation u n d ein geistliches A m t abgelehnt; 1891 bis 1933 blieb der Abwerbungsversuch einer wissenschaftlichen Akademie erfolglos, a u ß e r d e m w u r de zweimal der Posten eines Klinikchefs, einmal die Leitung eines pharmakologischen Industrielabors sowie ein geistliches A m t ausgeschlagen. 303 Fischer, Aus m e i n e m Leben, S. 98 (BA 230). 304 Z u berücksichtigen ist allerdings, daß ein u n d derselbe Ordinarius o f t m e h r e r e Angebote ausschlug, hingegen der Weggang v o n Erlangen n u r einmal pro Person gezählt w e r d e n konnte. 305 D e r Ruf, d e n der T h e o l o g e C h r i s t o p h Friedrich A m m o n (BA 2) 1810 an die n e u gegrün-

215

höchstens regionaler Ausstrahlungskraft wie Helmstedt, Herborn, Gießen oder Wilna zum Anlaß genommen wurden, um Erlangen zu verlassen, unterstreicht das den geringen Stellenwert, den seinerzeit leistungsbezogene Rangabstufungen innerhalb der deutschsprachigen Universitätslandschaft besaßen. Tab. 35: Abgelehnte Rufe von anderen Universitäten (Ernennungszeitraum 1743-1810)306 Hochschule Gesamt Altdorf Berlin Breslau Charkow Dorpat Gießen Göttingen Greifswald Halle Heidelberg Jena Kiel Königsberg Leipzig Marburg Rinteln Rostock Wittenberg Würzburg

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Quelle: Vgl. Seite 66, Fußnote 6.

Gleichwohl war man sich zumindest aufseiten der fürstlichen Oberbehörden durchaus schon des Prestigewertes abgewiesener Rufe bewußt. Im März 1775 wies die Universitäts-Deputation den Senat an, die Ablehnung eines Göttinger Angebotes durch den Mediziner Isenflamm in der Erlanger Gelehrten-Zeitung öffentlich bekannt zu geben. Solches gereiche der Universität zu Ehre und sei auch in den Anzeigern der anderen Hochschule üblich.307 dete Berliner Universität erhielt und ablehnte, ist in diesem Zusammenhang noch eher von geringer Bedeutung. 306 Da einzelne Ordinarien mehr als einen Ruf ausschlugen, übersteigen die wiedergegebenen Werte meist die Anzahl der rufablehnenden Personen. 307 Deputation an Senat, Ansbach, 18.3.1775. Personalakt Isenflamm (BA 157).

216

Isenflamm hatte zum Dank für seinen Verbleib übrigens eine Besoldungserhöhung von 200 fl. und ein ehrenvolles fürstliches Handschreiben erhalten. Nachweisen ließ sich, daß neben ihm auch den Theologen Huth, Seiler, Rosenmüller und Hufnagel, den Juristen Glück und Gros, den Medizinern Wendt und Schreger sowie den Naturwissenschaftlern Succov und Hildebrandt teils nicht unbeträchtliche Gehaltszulagen aufgrund abgelehnter Rufe zugestanden wurden. Die Theologen Krafft und Hufnagel und der Mediziner Rudolph erreichten auf demselben Wege ihre Erhebung ins Ordinariat, während sich der Philosoph Papst zum Dank in das Pfarramt von Zirndorf versetzen ließ. Schließlich stand auch eine Reihe an Ehrungsmöglichkeiten zur Verfügung: Huth, Seiler und Succov erhielten Ratstitel, dem Theologen Berthold und den Juristen Glück und Posse wurde wie Isenflamm ein Zeichen fürstlichen Wohlgefallens übermittelt. 308 Von den Ordinarien des Vormärz (Tab. 36) wurden ebenfalls deutlich mehr Angebote anderer Universitäten abgewiesen als angenommen. Im Gegensatz zu vorher handelte es sich aber nun in der Mehrheit um Absagen an relativ kleine oder randständige Universitäten wie Dorpat, Gießen, Greifswald, Kiel, Königsberg, Marburg, Rostock oder Zürich. Zwei der drei abgelehnten Rufe nach Berlin erfolgten vor 1820, also zu einer Zeit, in der die preußische Zentraluniversität noch nicht ihre volle Anziehungskraft entfaltet hatte. Hält man dem die Abwerbungen desselben Zeitraumes gegenüber, bei denen meist relativ bedeutende Hochschulen erfolgreich waren, ist im Verhalten der Professoren eine gewisse Rationalisierung festzustellen. Vokationen an Lehrstätten, die Erlangen im deutschen Universitätssystem übergeordnet waren, wurden eher angenommen, solche an untergeordnete oder gleichrangige eher ausgeschlagen. Damit soll keineswegs gesagt sein, daß die Entscheidungen determiniert waren. Gerade wenn es um einen biographisch so einschneidenden Vorgang wie den Berufsortwechsel geht, spielen zu allen Zeiten auch persönliche Faktoren eine bedeutende Rolle. So lehnte etwa der Philologe Nägelsbach im Zeitraum von 1845 bis 1857 allein fünf vorteilhafte Rufe auswärtiger Universitäten ab, jeweils zwei nach Halle und Tübingen und einen nach Kiel, und daß ohne jemals irgend eine Bedingung zu stellen. Darüber hinaus erstickte er je ein Angebot aus Marburg und Heidelberg durch die Ablehnung von Privatanfragen im Keim. Berücksichtigt man, daß Nägelsbach knapp wirtschaften mußte, um seinen drei Söhnen eine akademische Ausbildung zu ermöglichen, ist seine schon bei erster Gelegenheit geäußerte Versicherung, allein aus Verbundenheit mit der hiesigen Universität entschieden zu haben, in hohem Maße glaubwürdig.309 Eine Sache der Ehre war es 1839 nach eigener Aussage dem Chirurgen 308 Siehe BA27, 49, 45, 25, 79, 82, 198,182, 327, 252, 34, 177, 290, 4, 104. 309 Nägelsbach an Senat, 28.5.1845. Personalakt Nägelsbach (BA 283).

217

Tab. 36: Abgelehnte Rufe von anderen Universitäten (Ernennungszeitraum 1811-1848) Hochschule

Gesamt

Berlin Bonn Dorpat Freiburg i. Br. Gießen Greifswald Halle Heidelberg Jena Kiel Königsberg Leipzig Marburg Rostock Tübingen Würzburg Zürich

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Quelle: Vgl. Seite 66, Fußnote 6.

Stromeyer, Erlangen - »wo ich auf meinen eigenen Wunsch angestellt und sehr freundlich aufgenommen war« - trotz eines verlockenden Angebots aus Freiburg nicht gleich wieder zu verlassen. 310 Es blieb auch weiterhin Brauch, rufablehnende Professoren auf verschiedene Art und Weise zu belohnen. Gehaltsaufbesserungen erhielten neben Nägelsbach und Stromeyer die Theologen Kaiser und Harleß, der Jurist Gerber, der Mediziner Henke, der Kameralist Rau, der Philologe Döderlein und der Orientalist Rückert; Kaiser wurde darüber hinaus auf seinen Wunsch hin von allen pfarramtlichen Pflichten entbunden, Henke und Stromeyer erwirkten zusätzlich Verbesserungen für ihre Kliniken. Ihre Beförderung z u m Ordinarius erreichten Harleß, Rau und der Jurist Schunck. Mit d e m Adelsprädikat wurden Nägelsbach und der Theologe H o f m a n n , mit Ratstiteln die Theologen Winer und Olshausen ausgezeichnet. 311 Bei näherem Hinsehen wird offenbar, daß München mit Gratifikationen finanzieller Art sehr viel sparsamer umging als zuvor die markgräflichen und 310 Stromeyer, Erinnerungen, Bd. 2, S. 151f. (BA 189). 311 Angaben nach den Personalakten. Siehe B A 3 0 , 19, 7 8 , 1 5 1 , 3 0 1 , 2 2 1 , 3 0 9 , 1 1 5 , 24, 56,38.

218

preußischen Oberbehörden. Erleichtert wurde ihm das durch das uneigennützige Verhandlungsgebahren der Professoren, die Rufe häufig ohne Bedingungen ausschlugen. Offene Gehaltsforderungen, wie von seiten Rückerts, der den Monarchen 1832 ungeschminkt auf den wertsteigernden Effekt verstärkter Nachfrage aufmerksam machte, bildeten keinesfalls die Regel.312 Eine angemessene Entschädigung blieb also in vielen Fällen der freien Entscheidung des Ministeriums überlassen. Soweit ersichtlich, gingen die Betroffenen dabei oft genug leer aus. So setzte man Nägelsbachs Gehalt erst 1852, anläßlich seiner vierten Rufablehnung, herauf Oft genug wurde auch auf künftige Etatperioden vertröstet, ohne daß den Personalakten eine Einlösung des Versprechens zu entnehmen war.313 Ansehen und Stellung des Ordinarius definierten sich im Laufe des W.Jahrhunderts offensichtlich immer stärker über eine Art Prestige-Barometer, das die Zahl und Qualität auswärtiger Rufe zur Grundlage hatte. Aus dem Eintrag, den der Kirchenhistoriker Kolde unmittelbar nach Empfang einer Vokation aus Göttingen am 17. November 1889 seinem Tagebuch anvertraute, läßt sich die tief empfundene Erleichterung heraushören, endlich auch dem exklusiven Club anzugehören: »Ich kann nur sagen: >Ich will singen von der Gnade des Herrn ewiglich.« Wie hat er es nach den vielen Zurücksetzungen, die ich in den letzten Jahren erfahren, wieder so herrlich hinausgeführt! Wenn man nur lernen wollte, dankbar zu sein!«314 Tab. 37 zeigt auf den ersten Blick ein stark erweitertes Spektrum abwerbungsbereiter Hochschulen. Im Prinzip verfestigte sich dabei die Tendenz, nach der vor allem die Vokationen kleiner und peripherer Institutionen erfolglos blieben. Von insgesamt 54 abgewiesenen Angeboten entfielen nicht weniger als vierzig (74,1 Prozent) auf die Universitäten der Schweiz, Österreichs und des übrigen Auslandes, auf die Technischen Hochschulen sowie die relativ frequenzarmen Lehrstätten Gießen, Greifswald, Jena, Kiel, Königsberg, Marburg und Rostock. Unter den Universitäten, die im gleichen Zeitraum von Erlangen abwerben konnten, war der Anteil derselben Gruppe mit 16,3 Prozent (sieben von 43 erfolgreichen Rufen) erheblich geringer.

312 Rückert an König, 31.10.1832. Personalakt Rückert (BA309). Erst nach definitiver Ablehnung meldeten nachweislich folgende Personen auswärtige Vokationen: Winer, Thomasius, Ebrard, Bucher, Stahl, Briegleb, Rud. Wagner, Canstatt, Nägelsbach (BA 56, 52, 10, 70, 119, 68, 195,128,283). Verhandlungen vor einer definitiven Ablehnung führten nachweislich: A. Harleß, Gerber, Henke, Stromeyer, Heyfelder, Rau, Döderlein und Rückert (BA 19, 78, 151, 189, 154, 301, 221, 309). 313 So bei Winer, Thomasius, Bucher und Rud. Wagner (BA 56, 52, 70, 195). 314 Zit. nach Schornbaum, D. Dr. Th. von Kolde, S. 121 (BA 33).

219

Tab. 37: Abgelehnte Rufe von anderen Universitäten (Ernennungszeitraum 1849-1890) Hochschule Amsterdam Basel Berlin Bern Bonn Dorpat Freiburg i. Br. Gießen Göttingen Graz Greifswald Halle Heidelberg Jena Kiel Königsberg Marburg Moskau Prag Rostock Tübingen Wien Würzburg Zürich

Gesamt Theol. 2 5 4 3 2 3 1 2 2 1 3 1 2 2 3 1 1 1 2 3 1 2 1 2

T H Braunschweig 1 T H Zürich 3

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Quelle: Vgl. Seite 66, Fußnote 6.

Es muß besonders auffallen, daß Vokationen in die bayerische Hauptstadt jetzt wie auch in späterer Zeit niemals abgelehnt wurden. Da in solchen Fällen auf eine Unterstützung durch das Ministerium nicht zu bauen war, sondern dieses im Gegenteil sogar die Druckmittel der vorgesetzten Behörde gegen Erlangen einsetzen konnte, mußte man die Personalwünsche der Schwesteruniversität nach Möglichkeit schon im Vorfeld abzuwenden suchen. 1855 kam in Erlangen beispielsweise das Gerücht auf, dem Zivilrechtler Brinz stehe eine Vokation nach München bevor. Umgehend wendete sich der Senat direkt an den Monarchen, um eindringlich für den Verbleib des Kollegen zu bitten.315 315 Senat an König, 16.3.1855. Personalakt Brinz (BA 69); zum Versetzungscharakter Münchener Rufe vgl. Stromeyer, Erinnerungen, Bd. 2, S. 154 (BA 189).

220

Nach einer Ministerialentschließung vom 14. Januar 1858 mußte sich jeder Erlanger Ordinarius bei Amtsantritt per Handgelübde dazu verpflichten, keinen auswärtigen Ruf anzunehmen oder in Verhandlungen darüber einzutreten, bevor er nicht Universität oder Ministerium davon Anzeige erstattet hatte.316 Handelte es sich dabei um eine Vokation, deren Abwehr erhofft werden konnte, erfragten die Kollegen die Verbesserungswünsche des Betreffenden und leiteten sie befürwortend nach München weiter, wo sie jetzt in der Regel ohne weitere Anstände bewilligt wurden. Der meist reibungslose Ablauf läßt darauf schließen, daß sich bei allen Beteiligten ein Gespür dafür entwickelt hatte, was in der jeweiligen Situation möglich war und was nicht. Aufjeden Fall wurde es allgemein üblich, Bedingungen zu stellen und nicht auf das nachträgliche Wohlwollen der Oberbehörde zu bauen. Auf diesem Wege gelangten die Theologen Frank, Kolde, Hauck und Seeberg, die Juristen Stintzing, Bechmann, Meyer und Holder, die Mediziner Dittrich, J. Gerlach, Zenker, Ziemssen, Schröder, Michel und Zweifel, der Philologe Keil sowie die Naturwissenschaftler Gorup von Besänez, Beetz und Lommel zu teils beträchtlichen Gehaltserhöhungen; Frank, Stintzing, Dittrich und Ziemssen wurden zusätzlich mit dem persönlichen Adel belohnt; Hauck, Stintzing, Zenker, Michel, Gorup von Besänez und der Pharmazeut Hilger erreichten eine Verbesserung ihrer Forschungmittel, der Kirchenrechtler Kahl eine Erweiterung seines Lehrauftrags um das Staatsrecht. Ihre Beförderung zum Ordinarius konnten schließlich der Germanist von Raumer, der Nationalökonom Eheberg, der Historiker Pöhlmann und der Pharmazeut Zoeller durchsetzen.317 Beim Vergleich der einzelnen Fakultäten sticht von neuem die Exklusivität der Theologen mit allein drei abgelehnten Angeboten aus Berlin und zwei aus Göttingen hervor. Die Sonderbedingungen wie auch die Entwicklungen, denen die Theologische Fakultät im Hinblick auf auswärtige Rufe ausgesetzt war, können gut am Beispiel der Systematiker Frank und Seeberg veranschaulicht werden. Frank lehnte in den Jahren 1881 und 1892 zwei Berliner Rufe ab. Die Gründe dafür lagen weder in einer besonderen Verbundenheit mit Erlangen noch in einer abneigenden Haltung gegenüber Berlin. Im Gegenteil, Frank gab offen zu, den Gedanken an Berlin verlockend zu finden. Es war vielmehr die Forderung nach Eintritt in die unieite Landeskirche Preußens, die der strikt konfessionalistische Lutheraner als unüberwindliches Hindernis ansah. Berlin wiederum beharrte im Gefühl der eigenen Bedeutung auf dieser Bedingung, was Frank mit sichtlicher Verärgerung kommentierte: »Aber es sind wunderliche Leute, diese Berliner, sie stehen so hoch, daß sie in der Tiefe gar Nichts mehr sehen und von Nichts wissen.«318 316 Beispielhaft zu ersehen im Personalakt Althaus (BA 1), Eidprotokoll v o m 7.12.1925. 317 Siehe B A 15,33, 2 1 , 4 8 , 1 2 0 , 63,102, 8 7 , 1 3 2 , 1 4 0 , 2 0 1 , 2 0 2 , 1 8 3 , 1 6 8 , 2 0 3 , 2 6 0 , 2 3 7 , 2 0 9 , 274, 253, 88, 3 0 3 , 2 2 3 , 298, 341. 318 Frank an Oberkonsistorialrat Stählin, 17.10.1881; Frank an Oberkonsistorialrat B. Weiß

221

Seeberg war aus ganz anderem Holz geschnitzt. Bei seinem ersten Ruf nach Berlin im Jahr 1893 war von Gewissensnot in bezug auf die unierte preußischen Landeskirche überhaupt keine Rede. Er versuchte lediglich, bei Althoff ein höheres Gehalt auszuhandeln. Als dieser den Ruf daraufhin überraschend zurücknahm, mußte Seeberg den Erlanger Kollegen kleinlaut seinen Verbleib unter den bisherigen Bedingungen bekannt geben. Der Versuch Franks, nun wenigstens eine Zulage von 1.000 Mark für Seeberg zu erwirken, stieß auf starken Widerstand. Nach dem Votum des Alttestamentiers Köhler, dem sich die übrigen Fakultätsmitglieder außer Frank anschlössen, war nicht die Tatsache einer ehrenvollen Vokation allein anerkennungswürdig, sondern vor allem das Verhalten ihr gegenüber. Hätte Seeberg Bedingungen für seinen Verbleib gestellt, wären alle bereit gewesen, sie nach Möglichkeit zu erfüllen. Hätte er ohne Bedingungen abgelehnt, wäre man mit Sicherheit eine Entschädigung beantragt worden. Ein gescheiterter Gehaltspoker allein könne aber kein Anlaß für ein entsprechendes Vorgehen der Fakultät bieten. Fünf Jahre später nahm Seeberg dann den nächsten Ruf aus Berlin ohne weitere Verhandlungen an.319 Sein im Vergleich zu Frank sehr unterschiedliches Verhalten gibt gut zu erkennen, daß die Immunität, die die Theologische Fakultät ihrer konfessionalistischen Ausrichtung wegen vor Abwerbungsversuchen aus dem unierten Preußenjahrzehntelang geschützt hatte, gegen Ende des 19. Jahrhunderts deutlich an Wirkung verlor. Für den Ernennungszeitraum 1891 bis 1933 konnten bei 103 Ordinarien mit hinreichenden Angaben insgesamt 39 abgelehnte Rufe an andere Universitäten gezählt werden. 1849 bis 1890 hatte dasselbe Verhältnis noch neunzig zu 54 gelautet. Die Erlanger Chancen auf Abwehr auswärtiger Vokationen waren also im frühen 20. Jahrhundert klar gesunken. Dazu kommt, daß es sich bei den ausgeschlagenen Angeboten nach wie vor in etwa zwei Dritteln der Fälle um diejenigen relativ kleiner und randständiger Hochschulen handelte (Tab. 38). Beim Vergleich der Fakultäten stechen wiederum vor allem die Theologen mit zwei abgelehnten Rufen aus Leipzig und einem aus Göttingen hervor. Vereinzelt waren jedoch auch die Juristen und Mediziner in der Lage, die Personalwünsche renommierter Hochschulen, neben Leipzig und Göttingen etwa auch Bonn, Halle, Wien oder speziell für die Mediziner: Würzburg, zu durchkreuzen. Wie auch schon während der vorangegangenen Zeitabschnitte nimmt sich dagegen die Bilanz der Philosophischen Fakultät, insbesondere ihrer »Philosophischen Sektion«, bescheiden aus; das gilt sowohl für die Zahl als für die Qualität der abgewendeten Rufe. in Berlin, 19.11.1881; Frank an Genaralsuperintendent Hesekiel in Posen, 17.8.1882 (Zitat). Schmid, Frankbriefe (1923), S. 4 4 5 ^ 4 9 (BA 15); vgl. auch: Hein, S. 281. 319 Seeberg an den Dekan der Theologischen Fakultät, 6.1.1893; Missive der Theologischen Fakultät, 6.1.1893; Seeberg an den Dekan der Theologischen Fakultät, 21.2.1898. Personalakt Seeberg (BA 48).

222

Tab. 38: Abgelehnte Rufe von anderen Universitäten (Ernennungszeitraum 1891-1933) Hochschule Bonn Freiburg i. Br. Gießen Göttingen Graz Greifswald Halle Innsbruck Jena Königsberg Leipzig Marburg Münster Prag Tübingen Wien Würzburg Zagreb T H Darmstadt T H Hannover T H Prag T H Wien

Gesamt 1 1 4 2 1 1 3 1 3 1 4 1 2 3 2 2 2 1 1 1 1 1

Theol.

Jur.





-

-

1 1

-

-

-

-

4

-

-

-

1

1

Med.

Phil.

Nat





-

-

-

-

-

-

1

-

-

-

1

-

2

-

-

-

-

-

1 -

-

1 1

-

-

-

-

2 1

2

-

1

-

-

-

-

-

1 1

1

1 2

-

-

-

-

-

1

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

1 1 -

-

-

-

1 1 2 1

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

1 1

-

-

-

1

-

-

-

-

-

1

Quelle: Vgl. Seite 66, Fußnote 6.

Soweit ersichtlich, änderte sich an der Routine der Verhandlungsgänge wenig. Allerdings ist zu bemerken, daß der Frage der Personal- und Sachausstattung eine immer zentralere Bedeutung zukam. Das galt vor allem für die Mediziner und Naturwissenschaftler, deren Lehr- und Forschungsmöglichkeiten von der Mittelvergabe in besonderer Weise abhängig waren. So blieb beispielsweise 1906 der Mediziner Hauser deshalb in Erlangen, weil er in d e m jüngst fertiggestellten N e u b a u des Pathologischen Instituts gute Rahmenbedingungen für sich sah, während die Verhältnisse im werbenden Würzburg als sehr viel ungünstiger einzuschätzen waren. Hingegen nahm der Hals-Nasen-Ohren-Spezialist Denker 1910 ein Angebot aus Halle an, nachdem M ü n c h e n seinem Wunsch nach einer neuen H N O - K l i n i k nicht entsprochen hatte. 320 320 Vgl.Hauser, [Selbstbiographie],S. 157(BA148);DenkeranProrektor,29.12.1910.Personalakt Denker (BA 131).

223

Insgesamt fiel die Bilanz abgelehnter Rufe gegenüber der vorangegangenen Zeit deutlich schlechter aus. Gerade im sehr kostenträchtigen Bau- und Personalwesen konnte das kleine Erlangen mit der Konkurrenz offenbar kaum noch mithalten. Gerade auf diese Bereiche wurde aber von Seiten der Professoren immer mehr wert gelegt. Mit den altbewährten Mitteln der Gehaltszulage oder Beförderung war es vor allem bei wiederholten Angeboten an ein und dieselbe Person oft genug nicht mehr getan. Adelsprädikate oder sonstige Ehrungen spielten bei den Verhandlungen auch schon vor Ende der Monarchie praktisch keine Rolle mehr. 321

321 Gehaltszulagen aufgrund abgelehnter Rufe ließen sich laut Personalakten für die Theologen Ihmels, Eiert und Althaus, die Juristen Kipp und Riezler, die Mediziner Denker, Seitz und Schübel, den Philologen Klotz und die Mathematiker Schmidt und Radon nachweisen; der Theologe Jordan sowie Denker und Schübel wurden mit der Beförderung ins Ordinariat gehalten; Althaus, Seitz, Schübel, Radon und der Chemiker Paal erreichten eine Verbesserung ihrer Personal- und Sachmittel; um die Vergabe von Ratstiteln ging es nur bei den Unterhandlungen mit Seitz und Paal. Siehe BA 28, 11,1, 89, 107, 131, 185, 184, 263, 314,300, 29, 289.

224

4. Soziales Verhalten 4.1. K o n n u b i u m

4.1.1. Familienstand Geht es u m die Deskription der sozialen Grundlagen und Begleitumstände von Wissenschaft, darf die Frage nach dem Familienstand nicht ausgespart werden. Ehe oder Ledigenstand hatten als zentrale Faktoren der jeweiligen Lebensstildisposition und Sozialintegration nicht nur Einfluß auf die Kreise und Formen sozialen Umgangs oder die Organisation des Privatbereichs, sondern auch auf die kulturelle bzw. wissenschaftliche Produktion sowie die Einstellungen und Verhaltensweisen gegenüber den Ansprüchen staatlich-gesellschaftlicher O r d nung. Die Ehe löst einen »nomischen Prozeß« aus, der die Partner einer neuen Modalität ihrer sinnbedeutsamen Erfahrung der Welt im allgemeinen, der Mitmenschen und ihrer selbst zuführt. 1 Bei der Verheiratetenquote ergibt sich ein ziemlich eindeutiger Befund: Insgesamt 94 Prozent aller Personen, für die der Familienstand ermittelt werden konnte, befanden sich mindestens einmal im Stand der Ehe; dementsprechend blieben nur sechs Prozent Zeit ihres Lebens ledig.2 Auch in Anbetracht von nur sieben nachweisbaren Scheidungen 3 läßt sich als Ergebnis formulieren, daß der verheiratete Professor, der zumindest nach außen eine intakte Ehe führte, während des gesamten Zeitraumes den Normalfall darstellte. Mit der Sozialintegration des Mannes, ja wesentlicher Bestandteil des Allgemeingültigkeits- und Uberlegenheitsanspruches bürgerlicher Lebenskultur, 4 wurde also Ernst gemacht. Gröbliche Verletzungen der Integrität, die in die Öffentlichkeit drangen, konnten den Verlust des Lehrstuhles zur Folge haben. 5

1 Vgl. Bourdieu, H o m o academicus, S. 100f.; Berger/ Kellner, S. 226. 2 In absoluten Zahlen: Nachgewiesener Familienstand: 299 Fälle; davon verheiratet: 281, davon ledig: 18; fehlende Werte: 42. 3 Geschieden wurden der Chirurg Schreger, der Mathematiker Rothe, der Altphilologe Schöne, der Zivilrechtler Oertmann, der Altphilologe Witte, der Gynäkologe Wintz und der Zahnheilkundler Reinmöller (BA 182,308, 315, 103, 228, 200, 174). 4 Vgl. Habermas, S. 130f. 5 Der Orientalist Drechsler hatte sich laut Senatsbericht vom 16.9.1848 »mit einer übel berüchtigten Frauensperson in einen Verkehr« eingelassen, »welcher jedenfalls auf seine eheliche Treue einen Schatten dringenden Verdachts warf.« Schöne war 1874 in einem Verkaufsladen ei-

225

Z u m Teil erhebliche Unterschiede sind dagegen beim jeweiligen Heiratsalter zu verzeichnen (Tab. 39). Mit Ausnahme der im Vormärz ernannten Ordinarien, die insgesamt in außerordentlich jungen Jahren in den Stand der Ehe eintraten, hielt die Mehrheit der Personen erst nach Antritt des vierten Lebensjahrzehntes Hochzeit. Dabei fällt besonders die markante Anhebung des Heiratsalters im letzten Zeitabschnitt auf. War zuvor ein Eheschluß vor Vollendung des 26. Lebensjahres zumindest nicht ganz außergewöhnlich gewesen, wurde er nun nahezu völlig unüblich. Eine Hochzeit im Alter von über vierzig, früher die große Ausnahme, kam dagegen jetzt relativ häufig vor. Überhaupt ist seit dem Einschnitt im Vormärz der Tendenz nach ein schrittweiser Wiederanstieg des Heiratsalters feststellbar. Mit Ausnahme des 18. Jahrhunderts traten die Theologen durchweg überdurchschnittlich früh in den Ehestand ein. Ubertroffen wurden sie in dieser Hinsicht allenfalls noch von den Juristen, die in allen Zeitabschnitten relativ jung heirateten. Die Mediziner, von denen sich kein einziger unter 26 Jahren band, hielten auffallend oft im Alter zwischen 25 und 31 Hochzeit. Abgesehen davon, daß bei ihnen eine Hochzeit im gesetzten Alter von über vierzig insgesamt öfter vorkam als in den anderen Fachbereichen, stieg hier aber vor allem im letzten Zeitabschnitt das Heiratsalter wieder deutlich stärker an als bei Juristen und Theologen. Die Mitglieder der Philosophischen Fakultät, gerade der »Philosophischen Sektion«, traten in der Regel erst in einem höheren Alter als die Kollegen der anderen Fachbereiche in den Ehestand. Der Anteil derer, die erst nach Vollendung des dreißigsten Lebensjahres heirateten, war hier fast durchweg, besonders aber seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, höher. Während dieser Trend innerhalb der »Philosophischen Sektion« sehr deutlich auszumachen ist, glichen sich die Mathematiker und Naturwissenschaftler zuletzt im wesentlichen den Werten der Medizinischen Fakultät an. Insgesamt stand also der im Schnitt frühen ehelichen Sozialintegration der Theologen und Juristen, teils auch der Mediziner, ein relativ langes Junggesellendasein der Mitglieder der Philosophischen Fakultät gegenüber. Da vermutet werden kann, daß dieses Phänomen mit unterschiedlichen Laufbahn- und Berufsbedingungen in Zusammenhang steht, soll nun die äußere Situation der Personen zum Zeitpunkt ihrer Eheschließung in den Blick genommen werden. Zuvor muß allerdings auf einige Aspekte hingewiesen werden, die erkenntniseinschränkend wirken können. So ließ sich in vielen Fällen nicht klären, inwieweit ein zum Zeitpunkt der Hochzeit ausgeübter Beruf wirklich mit wirtnem jungen Mädchen gegenüber zudringlich geworden. Beide Male erfolgte die Versetzung in den Ruhestand, wobei in den entsprechenden Senatsanträgen an die Münchener Oberbehörde angeführt wurde, daß das Verhalten der Betreffenden zwar dienstrechtlich irrelevant sei, aber die gerechte sittliche Entrüstung vor allem der Studenten wie auch die Ehre und der Vorteil der Universität einer Weiterführung des Lehramtes entgegenstünde. Senat an König, 16.9.1848. Personalakt (PA) Drechsler (BA 222); Senat an Mdl, 28.12.1874. PA Schöne (BA 315).

226

Tab. 39: Heiratsalter nach Fachbereichen und Epochen 6 Heiratsalter unter 26 1743-1810 Theol. Fak. Jur. Fak. Med. Fak. »Phil. Sek.« »Nat. Sek.«

6(10,0) 2 (14,3) 2 (12,5)

1811-1848 Theol. Fak. Jur. Fak. Med. Fak. »Phil. Sek.« »Nat. Sek.«

11 (22,9) 4 (33,3) 2 (20,0)

1849-1890 Theol. Fak. Jur. Fak. Med. Fak. »Phil. Sek.« »Nat. Sek.«

4 (5,3) 1 (6,7) 2 (25,0)

1891-1933 Theol. Fak. Jur. Fak. Med. Fak. »Phil. Sek.« »Nat. Sek.«

1 (1,0)

-

2 (22,2)

-

3 (27,3) 2 (33,3)

-

1 (5,3) -

-

1 (4,0) -

26-30

31-35

36-40

über 40

19 2 6 5 4 2

(31,7) (14,3) (37,5) (45,5) (40,0) (22,2)

21 5 5 2 5 4

(35,0) (35,7) (31,3) (18,2) (50,0) (44,4)

10 (16,7) 4 (28,6) 3 (18,8)

4

1 (9,1) 1 (10,0) 1 (11,1)

3

19 4 4 7 2 2

(39,6) (33,3) (40,0) (77,8) (18,2) (33,3)

12 2 3 2 4 1

(25,0) (16,7) (30,0) (22,2) (36,4) (16,7)

4 (8,3) 1 (8,3) 1 (10,0)

2 1

26 5 4 8 5 4

(34,7) (33,3) (50,0) (47,1) (26,3) (25,0)

31 8 1 6 8 8

(41,3) (53,3) (12,5) (35,3) (42,1) (50,0)

12 1 1 2 4 4

(16,0) (6,7) (12,5) (11,8) (21,1) (25,0)

2

41 10 8 10 5 8

(41,8) (71,4) (61,5) (38,5) (20,0) (40,0)

30 3 4 10 6 7

(30,6) (21,4) (30,8) (38,5) (24,0) (35,0)

12 (12,2)

14 1 1 4 5 3

-

2 (7,7) 8 (32,0) 2 (10,0)

(7,3) -

(4,2) (8,3) -

2 (18,2)

-

(7,1) -

-

-

(6,7)

1

-

1 (16,7) (2,7) -

1 1

(5,9) (5,3) -

(14,3) (7,1) (7,7) (15,4) (20,0) (15,0)

Quelle: Vgl. Seite 66, Fußnote 6.

schaftlicher Unabhängigkeit verbunden war. Zum anderen hing das Datum der Eheschließung nicht allein von wirtschaftlichen Voraussetzungen ab, sondern wurde von zahlreichen Faktoren mitbestimmt, die empirisch schwer faßbar sind. 6 Die Tabelle gibt die jeweilige Anzahl an Personen wieder; die in Klammern beigefügten Prozentwerte beziehen sich jeweils auf die Zeilensumme, welche wiederum die Gesamtzahl derjenigen Ehemänner darstellt, f ü r die im betreffenden Zeitabschnitt bzw. Fachbereich das Heiratsalter ermittelt werden konnte. Das war in allen Segmenten bei über 80 Prozent der Verheirateten der Fall, ohne daß eine einseitig-selektive Uberlieferungslage vorliegt. Bei Personen, die sich mehrmals verehelichten, war alleine die erste Hochzeit maßgeblich.

227

Unter Berücksichtigung dieser Vorbehalte erbringt ein Blick auf die Berufe, die zum Zeitpunkt der Hochzeit ausgeübt wurden, aber doch greifbare Ergebnisse.7 So kann etwa das relativ hohe Heiratsalter im 18. Jahrhundert zum Teil damit erklärt werden, daß fast drei Viertel (73,3 Prozent) 8 der Personen des Ernennungszeitraumes 1743 bis 1810 sich erst verehelichten, nachdem sie mindestens eine besoldete außerordentliche Professur erlangt hatten, 55 Prozent sogar erst im Anschluß an die erstmalige Erhebung ins Ordinariat. Da aber auch in diesem Zeitabschnitt die Ernennung zum Extraordinarius bzw. Ordinarius in der überwiegenden Anzahl der Fälle erst jenseits des dreißigsten Lebensjahres, zum Teil auch erst lange danach, erfolgte, wurde auch entsprechend spät Hochzeit gehalten. Eine Ausnahme bildete allein die Juristische Fakultät, in der zwar der Anteil derjenigen, die erst nach Antritt einer besoldeten Professur heirateten, mit 93,8 Prozent (als Ordinarien: 68,8 Prozent) klar überrepräsentiert war, deren Professorenkarriere aber bis ins 20. Jahrhundert hinein den deutlich schnellsten Verlaufnahm. Das markante Absinken des Heiratsalters im Vormärz ist nicht etwa damit zu erklären, daß man nun schneller Professor wurde; das Einstiegsalter in die verschiedenen Laufbahnstufen blieb im Schnitt etwa gleich hoch. Vielmehr weitete sich das Berufsspektrum der Bräutigame erheblich aus. Besoldete Professorenstellen bekleideten zum Zeitpunkt ihrer Eheschließung nur noch 54 Prozent, Ordinariate 34 Prozent. Hingegen gewannen andere akademische Berufe, vor allem die des Pfarrers (acht Prozent), Gymnasiallehrers (16 Prozent) und Arztes (zwölf Prozent), jetzt deutlich an Boden. Da diese Tätigkeiten in der Regel in größerer zeitlicher Nähe zum Ende des Studiums angetreten werden konnten, liegt es nahe, daß ihre Inhaber auch früher in heiratsfähigen Verhältnissen standen. In der Tat zeigt auch ein Blick auf das Heiratsalter der Betreffenden, daß unter ihnen der Anteil derjenigen, die vor dem Ende des 7 Ein Z u s a m m e n h a n g zwischen d e m Heiratsalter u n d der sozialen H e r k u n f t der Personen, etwa die v o n Schmeiser, S. 143-145, aufgestellte T h e s e von der relativ späten Heirat der Professoren aus bildungsfernen Milieus, ließ sich dagegen anhand der vorliegenden Daten statistisch nicht nachweisen. Vielmehr zeigte das Heiratsalter der entsprechend unterteilten Personen in allen Zeitabschnitten keine signifikanten Abweichungen. Das gleiche gilt f ü r die Heiratskreise: A u c h hier ist eine eindeutige Korrelation zwischen d e m Alter z u m Z e i t p u n k t der Eheschließung u n d d e m ausgeübten B e r u f des Schwiegervaters nicht erkennbar. 8 Prozentwerte hier u n d im folgenden bezogen auf die Gesamtzahl der untersuchten Person e n im jeweils genannten Zeitabschnitt, bei d e n e n der Ehestand, das - ggf. erste - Heiratsdatum sowie die berufliche Tätigkeit z u m Z e i t p u n k t der H o c h z e i t ermittelt w e r d e n konnte. 1743 bis 1810 war das bei 60 v o n insgesamt 78 Personen der Fall; 1811-1848:50 v o n 61; 1849-1890:77 von 90; 1891-1933: 96 v o n 112; lagen f ü r d e n entscheidenden Z e i t p u n k t m e h r e r e Berufsangaben vor, w u r d e diejenige ausgewählt, v o n der a n z u n e h m e n ist, daß sie in größerem U m f a n g zur Sicherung des Lebensunterhaltes beitrug - so etwa bei gleichzeitiger Privatdozentur u n d Assistentur die Assistentur. W e n n eine H o c h z e i t b i n n e n drei M o n a t e n vor e i n e m Berufswechsel - also offenbar in Voraussicht auf eine n e u e Lebenssituation - stattfand, erfolgte die Z u o r d n u n g nach d e m n e u e n Beruf.

228

dreißigsten Lebensjahres die Ehe eingingen, mit 77,3 Prozent wesentlich über dem derjenigen lag, die denselben Schritt erst nach Antritt einer besoldeten Professur taten (fünfzig Prozent). Besonders stark bemerkbar machte sich das in den Reihen der Theologen, von denen über die Hälfte (58,3 Prozent) zum Zeitpunkt ihrer Heirat den Beruf des Pfarrers oder Gymnasiallehrers ausübten, während lediglich 41,7 Prozent als Professoren Hochzeit hielten. Blieben innerhalb der Medizinischen und Philosophischen Fakultät die besoldeten Hochschullehrer unter den Bräutigamen mit jeweils fast genau der Hälfte besser vertreten und lag hier dementsprechend auch das Heiratsalter im Schnitt etwas höher, bestätigte sich in der Juristischen Fakultät die Übereinstimmung zwischen dem sehr hohen Anteil an Professoren (81,8 Prozent) und äußerst früher Lehrstuhlberufung. Der Anstieg des Heiratsalters in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist zum guten Teil damit zu erklären, daß die Quote derjenigen, die sich erst als besoldete Professoren verehelichten, wieder auf 59,7 Prozent kletterte (Ordinarien: 40,3 Prozent). Das galt insbesondere für die Bereiche der Medizinischen Fakultät (besoldete Professoren: 64,7 Prozent; Ordinarien: 35,3 Prozent), der »Philosophischen« (57,9; 47,4) sowie vor allem der »Naturwissenschaftliche Sektion« (81,3; 50). In ihnen war zugleich das Berufungsalter vergleichsweise hoch. Unter den Theologen (43,8; 31,3) und Juristen (44,4; 33,3 Prozent) dominierten dagegen zum Zeitpunkt der Hochzeit andere akademischen Berufe, vor allem die des Pfarrers, Gymnasiallehrers und Anwalts. Außerdem erhielten sie im Schnitt in relativjungen Jahren besoldete Professuren. Wenn das Heiratsalter 1891 bis 1933 noch einmal deutlich nach oben ging, war dafür die Tatsache mitverantwortlich, daß sich in allen Fakultäten, besonders aber der Medizinischen und Philosophischen, der Lebensweg, der bis zum Antritt einer besoldeten Professur und speziell eines Ordinariats zurückzulegen war, deutlich verlängerte. Von daher wundert es nicht, daß die Quote derer, die sich bis dahin geduldeten, kräftig auf 28,1 Prozent herunterging (Ordinarien: 14,6 Prozent). Während sich aber für weit mehr als die Hälfte der Theologen erneut vor allem die Pfarrer- und Lehrerberufe als Alternative anboten und sich das Problem in der Juristischen Fakultät angesichts weiterhin relativ frühzeitiger Berufungen und eines ebenfalls großen außeruniversitären Berufsspektrums (allein 25 Prozent arbeiteten zum Zeitpunkt ihrer Trauung als Anwälte oder Richter) ohnehin nicht in der Schärfe stellte, belegt das Heiratsverhalten der Mitglieder der Medizinischen und Philosophischen Fakultät die veränderte Situation besonders nachdrücklich. Von den Medizinern, Mathematikern und Naturwissenschaftlern warteten nur noch 15,4 bzw. 26,3 Prozent die besoldete Professur ab, das Ordinariat 7,7 bzw. 21,1 Prozent. Geheiratet wurde hier jetzt meistens während der Tätigkeit als wissenschaftlicher Universitätsassistent (Medizinische Fakultät: 57,7 Prozent; »Naturwissenschaftliche Sektion«: 47,4 Prozent) oder in äquivalenten wissenschaftlichen Berufen au229

ßerhalb der Hochschule (6,3; 5,3 Prozent). 9 Stellte diese neue regelmäßige Laufbahnstufe in der Professorenkarriere also gewissermaßen das Auffangbekken für heiratswillige, aber mit langen Wartezeiten konfrontierte junge Dozenten dar, zeigt doch ein Blick auf das Hochzeitsdatum der Betreffenden, daß auch bei ihnen der Entschluß zur Ehe in der Regel nicht eben früh getroffen wurde. Das durchschnittliches Heiratsalter der 28 Untersuchungspersonen, die sich während ihrer Universitätsassistentur verehelichten, betrug stolze 31,9 Lebensjahre; die meisten (15) ließen sich jenseits des dreißigsten, zwei sogar erstjenseits des vierzigsten Lebensjahres trauen. Angesichts geringer Saläre und mangelhafter Sekurität bot die Assistentur offenbar eine so unattraktive Heiratsbasis, daß vor dem entscheidenden Schritt zumindest eine gewisse Wartephase eingelegt wurde. Näher erklärbar ist daneben auch, warum das Heiratsalter unter den Mitgliedern der »Philosophischen Sektion« jetzt noch einmal in besondererWeise nach oben ging. Da in ihr - bei ähnlichem Anstieg der Qualifikations- und Wartezeiten - die Assistentur in weitaus geringerem Maße zur Station der akademischen Laufbahn geworden war, mußte man sich bis zur Hochzeit noch vergleichsweise häufig auf die endgültige Versorgung durch die besoldete Professur (36 Prozent) gedulden. Daneben entschloß sich ein sehr großer Anteil an Personen (24 Prozent) schon während der Privatdozentenzeit zu heiraten, und zwar ohne daß eine ökonomische Absicherung durch anderweitige berufliche Tätigkeit erkennbar war. Aber auch das geschah verständlicherweise in der Regel erst zu einem relativ späten Zeitpunkt, nämlich in einem Durchschnittsalter von 37,8 Jahren. Die Universitätsassistentur oder ähnliche wissenschaftliche Mitarbeiterstellen außerhalb der Universität boten sich zwar einigen Bräutigamen als ökonomische Basis an (zwölf bzw. acht Prozent), aber doch in sehr viel geringerer Zahl als bei Medizinern und Naturwissenschaftlern. Das gleiche gilt für andere akademische Berufe (zwölf Prozent), die das Heiratsalter unter den Rechtswissenschaftlern, vor allem aber unter den Theologen herunterdrückten. Insgesamt ist also kaum zu übersehen, daß die großen Veränderungen, denen die universitäre Laufbahn unterworfen war, auf das Heiratsalter der Professoren großen Einfluß hatte. So verbreiterte die Auflockerung des berufsständisch isolierten professoralen Karrieremusters im frühen 19. Jahrhundert zunächst die ökonomische Basis für frühe Konnubien. Während sich diese Situation bei den Theologen und Juristen in wesentlichen Zügen bis ins frühe 20. Jahrhundert erhielt, standen die Mitglieder der Medizinischen und Philosophischen Fakultät zunehmend vor dem biographischen Problem, daß Professionalisierungsvorgänge zum einen das vorübergehende Ausscheiden aus dem akademi-

9 Damit sind gemeint: Privatassistenten; Assistenzärzte und wissenschaftliche Assistenten, die nicht an Universitätskrankenhäusern bzw. -instituten angestellt waren, sowie wissenschaftliche Mitarbeiter bei Historischen Kommissionen der deutschen Staaten und Länder.

230

sehen Betrieb immer weiter erschwerten, zum anderen die Qualifikations- und Wartephasen bis zur endgültigen Versorgung durch den Wissenschaftsberuf merklich verlängert wurden. Konnten sich die Mediziner und Naturwissenschaftler dieser Zwickmühle durch Assistentenstellen zumindest teilweise entziehen, waren die Mitglieder der »Philosophischen Sektion« vielfach zu einer langen zölibatären Lebensphase gezwungen.

4.1.2. Die Schwiegerväter Nachdem die soziale Herkunft der Ordinarien oben näher betrachtet worden ist, folgt nun der Versuch, die dort gewonnenen Ergebnisse mit einer Untersuchung des sozialen Konnubiums zu konfrontieren. Als Indikator dient der Beruf des Schwiegervaters. 10 Tab. 40 gibt die Auszählungsergebnisse für den Zeitraum 1743 bis 1810 wieder. Dabei bedarf es des Hinweises, daß die Zahlen aufgrund der relativ geringen Datendichte mit Behutsamkeit interpretiert sein wollen. Tab. 40: Beruf des Schwiegervaters 1743-1810" Schwiegervater

Gesamt

1. Akad. Beamter 20 (33,9) in Verwalt./Reg. 2. Richter 1 (2,3) 3. Hochschullehrer 15 (25,4) 5. Geistlicher 7(11,9) 7. Bezirks-/ Militärarzt 1 (L7) 9. Prakt. Arzt 1 (L7) 10. Apotheker 1 (L7) 11. Rechtsanwalt 1 (1,7) 13. Großhändler 1 (1,7) 16. Offizier 3 (5,1) 18. Kaufmann/Wirt 4 (6,8) 24. ledig 5 (8,5) T O T A L ( = 100 %)

59

Theol. 3 (21,4) -

Jur. 8 (44,4) -

4 (28,6) 2 (14,3)

5(27,8) 1 (5,6) 1 (5,6)

-

Med.

»Phil.«

»Nat.«

5 (62,5)

1 (8,3)

3(42,9)

-

1 (12,5) 1 (12,5)

-

4(33,3) 2(16,7)

1(16,7) 1(14,3) 1(14,3)

-

-

-

1

(7,1)

-

-

-

-

1

(7,1)

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

1 1

(7,1) (7,1)

1

(7,1) 14

1 (5,6) 2(11,1) 18

1 (12,5) -

8

1 (8,3) 1 (8,3) 1 (8,3) 2(16,7) 12

-

1(14,3) -

1(14,3) -

7

Quelle: Vgl. Seite 66, Fußnote 6. 10 Die bisher einzige Analyse auf breiterer Materialgrundlage bietet: Schmidt, A., S. 78-82, S. 99-108. 11 Tabellenanlage, Zuordnungskriterien und Berufskategorisierung dieser sowie der folgenden Tabellen gemäß der in Kap. 2.3.1., Tabellen 7 bis 10 dargelegten Vorgehensweise, ergänzt u m

231

Ein Vergleich der Schwiegervater- mit den Vaterberufen (Tab. 7) zeigt, daß die Gruppe des akademischen Beamtentums (Kat. 1-7) mit insgesamt 72,9 Prozent auch die Heiratskreise der damaligen Hochschullehrer dominierte. Der Befund einer ständisch weitgehend abgeschlossenen Sozialwelt bestätigt sich. Verstärkt wird der Eindruck durch die Tatsache, daß der Anteil der Hochschullehrer unter den Schwiegervätern - in zehn von 15 ermittelten Fällen Erlanger Kollegen - praktisch doppelt so hoch war wie bei den Vätern. Insgesamt brachte der akademisch gebildete Teil der Bevölkerung (Kat. 1-11) 85,2 Prozent der Professorengattinnen hervor. Vor allem aber suchten die untersuchten Personen, abgesehen von einigen Kaufmannstöchtern, deren sozioökonomischer Status nur sehr unscharf zu fassen ist, ihre Ehepartner nicht in jenen Kreisen des mittleren Bürgertums (Handwerker, nichtakademische Beamtenschaft, Kaufmänner und Wirte), denen ein nicht ganz kleiner Teil von ihnen ja entstammte. Die Schwiegerväter der Professoren dieses Herkunftsmilieus konnten in 14 Fällen ermittelt werden. Drei waren akademische Verwaltungsbeamte, zwei Hochschullehrer, drei Pfarrer, jeweils einer Arzt, Apotheker, Großhändler und Offizier; ihnen standen nur zwei Kaufmänner gegenüber. Die Professoren, die aus relativ einfachen Verhältnissen stammten, suchten sich also ihre Partnerinnen in dem Milieu, in das sie aufgestiegen waren. Es dürfte verfehlt sein, das exklusive Heiratsverhalten vornehmlich auf ein ökonomisches oder karrierorientiertes Kalkül zurückzuführen. Abgesehen davon, daß in jener Zeit die Zugehörigkeit zum akademischen Beamtentum, der weitaus größten Zielgruppe der konnubialen Verbindungen, in der Regel keineswegs mit einer besonders lukrativen wirtschaftlichen Ausstattung verbunden war, zeigen die Ergebnisse des vorangegangenen Teilkapitels eindeutig, daß in der überwiegenden Anzahl der Fälle eine Position abgewartet wurde, in der die eigenständige Versorgung der Ehefrauen gesichert schien. Insofern beeinflußte die Position des Schwiegervaters sowohl den Karriereverlauf als auch das Heiratsalter in eher geringem Maße. Obwohl die Bedeutung einer zumindest indirekten Unterstützung und Absicherung der Karriere durch konnubiale Beziehungen, die etwa durch entsprechende Heiratsversprechen auch schon lange vor dem Hochzeitstermin wirksam werden konnte, damit keinesfalls in Abrede gestellt werden soll und dergleichen sicher auch die Wahl des Ehepart-

den Zusatz, daß 1. die Berufskategorien um die Angabe »ledig« (Nr. 24) erweitert wurden, daß 2. bei mehreren Ehen einer Untersuchungsperson nur die erste maßgeblich war und daß 3. bei wechselnden Berufen des Schwiegervaters derjenige ausgewählt wurde, der zum Zeitpunkt der Heirat seiner Tochter ausgeübt wurde bzw. im Falle von Ruheständlern zuletzt ausgeübt worden war; mit 59 ermittelten Schwiegervaterberufen (bei insgesamt 78 Fällen) fiel die Erfolgsquote zwar deutlich geringer aus als bei den Vaterberufen; dennoch kann von hinreichender Aussagekraft ausgegangen werden, da zum einem eine sowohl chronologisch als auch fakultäts- bzw. fachspezifisch gleichmäßige Verteilung vorliegt, zum anderen eine einseitige Überlieferungssituation nicht erkennbar ist.

232

ners beeinflußt hat, ist die Beschränkung der Heiratskreise auf einen sehr engen Bevölkerungskreis doch in einem viel umfassenderen Sinne als allgemeine Isolierung der ständisch geprägten Beziehungsnetze zu verstehen. Zu einer ansatzweisen Erweiterung der Heiratskreise kam es hingegen im Vormärz (Tab. 41). Der Anteil des akademischen Beamtentums (Kat. 1-7) ging gegenüber dem 18. Jahrhundert auf 62,8 Prozent zurück, wobei besonders die geminderte Bedeutung des Professorenhauses - in vier von sechs nachweisbaren Fällen das eines Erlanger Kollegen - ins Auge fällt.

Tab. 41: Beruf des Schwiegervaters 1811-184812 Schwiegervater

Gesamt

1. Akad. Beamter in 14(32,6) Verwalt./Reg. 2. Richter 1 2,3) 3. Hochschullehrer 6(14,0) 5. Geistlicher 4 (9,3) 6. Leibarzt 1 (2,3) 7. Bezirks-/ Militärarzt 1 (2,3) 9. Prakt. Arzt 1 (2,3) 11. Rechtsanwalt 1 (2,3) 13. Großhändler 1 (2,3) 14. Fabrikant 3 (7,0) 2 (4,7) 17. Gutsbesitzer 18. Kaufmann/Wirt 5(11,6) 19. Handwerker 1 (2,3) 2 (4,7) 24. ledig T O T A L ( = 100 %)

43

Theol.

Jur.

Med.

»Phil.«

»Nat.«

2 (22,2)

3 (30,0)

5(50,0)

2 (25,0)

2 (33,3)

-

3 (33,3) 1(11,1) -

-

1 (10,0) 1 (10,0) 1 (10,0)

-

-

-

-

-

-

-

1(11,1) -

2 (22,2) -

9

-

1 (10,0) 1 (10,0) 1 (10,0) 1 (10,0) -

10

-

1 (10,0) -

-

1 (12,5) 2 (25,0)

-

-

-

-

1 (10,0) 1(10,0) 1 (10,0) -

1(16,7) -

1(16,7)

-

-

-

-

-

-

1 (12,5) -

1 (12,5) -

1 (10,0)

1 (12,5)

10

8

-

1 (16,7) 1 (16,7) -

6

Quelle: Vgl. Seite 66, Fußnote 6.

Der gewerbliche Sektor (Kat. 9-14, 18-19) konnte sich mit 27,8 Prozent prozentual praktisch verdoppeln, und erstmals war der Agrarbereich (Kat. 17) wenn auch schwach - vertreten. Nicht zuletzt zeigten sich die Berufe, die der bürgerlichen Mittelschicht zugeordnet werden können (Kat. 18-19), unter den Schwiegervätern mit fast 14 Prozent nahezu gleich stark vertreten wie unter den Vaterberufen desselben Zeitraumes (Tab. 8). Anzumerken ist dabei, daß die 12 Fehlende Werte: 18 (bei insgesamt 61 Fällen).

233

Q u o t e des gewerblichen Bürgertums eigentlich erst im letzten Drittel des Vormärz deutlich anstieg. Es stellte 1837 bis 1848 etwas mehr als ein Drittel der Schwiegerväter, während sein Anteil zuvor bei etwa 15 bis zwanzig Prozent gelegen hatte. Alles das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß die klassischen Berufe des Bildungsbürgertums (Kat. 1-11) sowie der bürgerlichen Oberschicht insgesamt (Kat. 1-17) bei weitem überrepräsentiert blieben. Sie versorgten stets mindestens zwei Drittel bzw. achtzig Prozent des professoralen Heiratsmarktes. Unter den sozialen Aufsteigern blieb es üblich, die erreichte Position konnubial abzusichern. Von den fünf Handwerker- oder Bauernsöhnen, für die der Schwiegervaterberuf ermittelt werden konnte, ehelichten drei die Tochter eines akademischen Verwaltungsbeamten und j e einer die Tochter eines Hochschullehrers und Kaufmannes. Wiederum bemühte sich auch der Nachwuchs des universitätsfernen Bereiches insgesamt (Tab. 8, Kat. 13-23) u m Heiratsbeziehungen zum Bildungsbürgertum. Sie verbanden sich in fünf von zehn Fällen mit dem Hause eines akademischen Verwaltungsbeamten, zweimal mit dem eines Hochschullehrers und j e einmal mit dem eines Pfarrers, Handwerkers und Kaufmanns. Demgegenüber blieben die Akademikersöhne (Kat. 1— 11) konnubial zwar in der Mehrzahl (in 21 von 31 Fällen bzw. 67,7 Prozent) ebenfalls auf das bildungsbürgerliche Milieu konzentriert, erweiterten aber allmählich ihre Beziehungsnetz, indem sie zu fast einem Drittel Verbindungen mit Töchtern von Großhändlern (1), Fabrikanten (3), Gutsbesitzern (2) und Kaufmännern (4) eingingen. Es kam also im Vormärz zu einer gewissen Steigerung der konnubialen M o bilität, vor allem seit den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts. Gilt das im großen und ganzen für alle Fachbereiche, läßt es sich am Beispiel der Juristischen Fakultät besonders gut belegen. In ihr, die im Hinblick auf die soziale Herkunft von besonderer Exklusivität geprägt war, wurden nun, abgesehen von Hochzeiten mit j e einer Fabrikanten- und Gutsbesitzerstochter, auch konnubiale Verbindungen zum mittleren Handwerks- und Gewerbebürgertum in immerhin zwei Fällen Wirklichkeit. Wie freilich das Beispiel des Staatsrechtlers Friedrich Julius Stahl belegt, betrachtete man dergleichen in dem engen Milieu der kleinen Universitätsstadt nach wie vor als Mesalliance. Stahls Heiratswünsche richteten sich 1835, also während er bereits als Ordinarius in Erlangen tätig war, auf Julie Kindler, die Tochter eines kleinen lokalen Handschuhfabrikanten. Die Frau seines Freundes und Kollegen Olshausen erinnert sich: »In der kleinen Stadt, in engen Verhältnissen tritt oft der Kastengeist am meisten hervor; so war es auch in Erlangen; die Universität war dort die Aristokratie und hatte mit dem >Bürgerstand< gar keine Gemeinschaft; Julie Kindler hatte also auch nie mit >zur Gesellschaft< gehört, und wurde, als sie nun Stahl in diese einführte, durchaus nicht als ebenbürtig betrachtet. Dies hätte sich bald ausgleichen können, wenn sie eine feinere, bil-

234

dungsfähigere Natur gewesen wäre; aber die war sie eben nicht; sie hatte viel Verstand, traf in ihrem Urteil immer den Nagel auf den Kopf, war praktisch tüchtig, - aber alle diese guten Eigenschaften überwanden doch nicht den Anstoß, den man an ihren gesellschaftlichen Taktlosigkeiten und an ihrem Mangel an jeglicher Bildung nahm. - Sie selbst fühlte bald Mißbehagen in den neuen Verhältnissen, doppeltes Mißbehagen, da sie in ihrem frühern Umgangskreise eine bedeutende Rolle gespielt hatte; und so zog sie sich denn so viel als möglich aus der Gesellschaft zurück und beschränkte sich nur auf ihr Haus; dies war allerdings das klügste, was sie thun konnte, indes blieb ihre Stellung in Erlangen doch immer eine schiefe und bodenlose.«

Von Interesse hinsichtlich der Spezifik der Erlanger Verhältnisse ist daneben die weitere Beobachtung, daß Julie Stahl nach der Berufung ihres Mannes nach Berlin dort bei unverändertem Auftreten keineswegs aneckte, sondern man ihr im Gegenteil manches Ungeschliffene als ursprüngliche süddeutsche Lebensart positiv anrechnete und ihr durchaus auch große geistige Fähigkeiten zuerkannte. Vor allem aber notierte Agnes Olshausen die offensichtliche Ignoranz, mit der Stahl selbst auf die soziale Brisanz der Lage reagierte, mit Verwunderung. 13 Belegt der Fall zum einem die eher zögerliche Bereitschaft des Erlanger akademischen Publikums, eine auch nur zaghafte Öffnung seiner Kreise zuzulassen, zeigt zum anderen Stahls Unbekümmertheit, daß die gesellschaftlichen Schranken des ständischen Heiratsmarktes bei weitem nicht mehr so festgefügt waren wie im 18. Jahrhundert. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Tab. 42) ging der Anteil des akademischen Beamtentums unter den Schwiegervätern (Kat. 1-7) noch einmal zurück, auf nurmehr 52,2 Prozent. Für diesen Vorgang war insbesondere der rapide Bedeutungsverlust der akademischen Verwaltungsbeamten verantwortlich, der sich auch nicht durch die Gymnasiallehrerschaft ausglich, die erstmals überhaupt als Zielgruppe konnubialer Beziehungen interessant wurde. Unter den Schwiegervätern, die Hochschullehrer waren, dominierten nun nicht mehr die Erlanger Kollegen. Aus ihren Häusern kamen nur fünf von 14 ermittelten Professorentöchtern. Insofern kann also auch auf eine gewisse Entregionalisierung der Heiratskreise geschlossen werden. Der erneute Zugewinn des gewerblichen Sektors (Kat. 9-15,18-19) auf 34,3 Prozent ging vornehmlich auf die >freien< akademischen Berufe (Kat. 9-11) und das gehobene Unternehmertum (Kat. 13-15) zurück, während die ohnehin geringen Anteile der Kaufmänner und Handwerker (Kat. 18-19) wieder leicht sanken. Da der Offiziersstand sowie der gesamte Agrarsektor nach wie vor nur schwach repräsentiert waren, konnten sowohl die klassischen bildungsbürgerlichen Berufe (Kat. 1-11) als auch die Oberschicht insgesamt (Kat. 1-17) ihre Anteile mit 64,2 bzw. 86,6 Prozent gut behaupten. Die Heiratsmöglichkeiten wurden demnach nur insofern weiter gelockert, als es innerhalb der bürgerli13 Erinnerungen an Stahl, S. 584f., S. 587 (BA 119); zu Olshausen siehe BA 38.

235

Tab. 42: Beruf des Schwiegervaters 1849-1890 1 4 Schwiegervater 1. 2. 3. 4. 5. 7. 9. 10. 11. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 24.

Akad. Beamter in Verwalt./Reg. Richter Hochschullehrer Lehrer (höhere Schule) Geistlicher Bezirks-/ Militärarzt Prakt. Arzt Apotheker Rechtsanwalt Großhändler Fabrikant Rentier Offizier Gutsbesitzer Kaufmann/Wirt Handwerker ledig

TOTAL ( = 100 %)

Gesamt 6 (9,0) 2 (3,0) 14(20,9) 6 (9,0) 6 (9,0) 1 (1,5) 5 2 1 3 5 2 2 3 4 1 4

(7,5) (3,0) (1,5) (4,5) (7,5) (3,0) (3,0) (4,5) (6,0) (1,5) (6,0) 67

Theol. -

-

4 (40,0) 2 (20,0) 3 (30,0) -

-

1 (10,0) -

Jur.

Med.

»Phil.«

»Nat.«

2(22,2)

1 (5,6)

1 (6,3)

2(14,3)

1 (5,6) 4(22,2)

1 (6,3) 1 (6,3)

4(28,6)

-

1(11,1) -

1(11,1) -

1(11,1) -

2(22,2)

-

-

-

-

-

-

1(11,1) 1(11,1)

-

-

10

9

-

1 (5,6) -

2(11,1)

3(18,8) 2(12,5) 1 (6,3)

-

1 (7,1) -

2(12,5)

-

-

-

2(14,3)

-

-

-

-

1 (7,1)

1 (5,6) 2(11,1) 1 (5,6) 1 (5,6) 1 (5,6) -

1 (6,3) -

1 (6,3) 2(12,5) -

3(16,7)

1 (6,3)

18

16

-

1 1 1 1

(7,1) (7,1) (7,1) (74) -

14

Quelle: Vgl. Seite 66, Fußnote 6.

chen Oberschicht zu einer Verschiebung zugunsten der ökonomisch bevorteilten >freien< Akademiker und Unternehmer kam. Was die sozialen Aufsteiger dieses Zeitabschnitts angeht (Tab. 9, Kat. 18-23), setzte sich unter ihnen der Brauch fort, bevorzugt Frauen aus dem Milieu des klassischen Bildungsbürgertumes zu ehelichen. In vier von elf Fällen heirateten sie in das Haus eines Hochschullehrerkollegen ein; drei wurden Schwiegersöhne von praktischen Ärzten, j e einer der eines Pfarrers und Apothekers; nur ein Handwerkersohn heiratete eine Kaufmannstochter. Als konnubial sehr mobil erwiesen sich die Unternehmersöhne (Kat. 13-14). Nur zwei von ihnen blieben im eigenen Umfeld des Unternehmertums, während sechs ins Bildungsbürgertum einheirateten. 15 Das konnubiale Verhalten des bildungsbürgerli14 Fehlende Werte: 23 (bei insgesamt 90 Fällen). 15 Akademische Verwaltungsbeamter: 1; Hochschullehrer: 2; Geistlicher: 1; Gymnasiallehrer: 1; Rechtsanwalt: 1; Fabrikant: 1; Großhändler: 1.

236

chen Nachwuchses (Kat. 1-12) zeigte nahezu die gleiche Verteilung wie die Grundgesamtheit dieses Zeitabschnitts. 16 Während demnach soziale Aufsteiger ihre Position konnubial sowohl in kultureller als auch in ökonomischer Beziehung zu festigen suchten, schritt beim Nachwuchs der bürgerlichen Oberschicht die Verflechtung zwischen Bildungs- und Wirtschaftsbürgertum, daneben auch die sehr behutsame Öffnung gegenüber den gehobenen Kreisen der Offiziere und Gutsbesitzer weiter voran. Dabei wurde allerdings die starke Mobilität der Unternehmersöhne in Richtung des klassischen Bildungsbürgertums nicht im selben Maße erwidert. Dieses blieb vielmehr in seinem konnubialen Verhalten noch stark auf die eigene Gruppe fixiert. Speziell für die Theologen fällt auf, daß sie von einer Ausnahme abgesehen ihre Ehebeziehungen ganz auf die Gruppe des beamteten Bildungsbürgertums beschränkten. Beim der erstmals möglichen Gegenüberstellung mit den Ergebnissen einer anderen Studie erhält man, unter Berücksichtigung eines gewissen Unschärfefaktors aufgrund leicht unterschiedlicher chronologischer und berufsklassifikatorischer Ansätze, ein in den wesentlichen Grundzügen deckungsgleiches Ergebnis.17 Bei den Ordinarien, die 1891 bis 1933 ernannt wurden (Tab. 43), setzten sich die Trends des 19. Jahrhunderts fort. Der Anteil des akademischen Beamtentums (Kat. 1-5), zumal der Hochschullehrer, ging weiter deutlich auf 34,3 Prozent zurück, während der gewerblich-industrielle Sektor (Kat. 9-14, 18-20), darunter wiederum besonders die >freien< Akademiker (Kat. 9-11) und das Unternehmertum (Kat. 13-14), mit 47,1 Prozent seine Position ausbauen konnte. Die beachtlichen Verluste des klassischen Bildungsbürgertums (Kat. 1-11), das >nur< noch 48,6 Prozent der Schwiegerväter stellte, wurden vor allem durch Verschiebungen innerhalb der Oberschicht (Kat. 1-17) ausgeglichen, wobei insbesondere das Kriterium des Besitzes an Bedeutung gewann, aber auch der erstmals nennenswerte Anteil an Offizierstöchtern auffällt. Der Agrarsektor blieb bedeutungslos. Eine Verbindung mit der Mittelschicht stellte weiterhin die große Ausnahme dar; an die Hochzeit mit einer Frau aus der Unterschicht war überhaupt nicht zu denken. Die beachtliche Erhöhung der Aufstiegsmobilität, die für diesen Zeitabschnitt hinsichtlich der sozialen Herkunft festgestellt wurde, ging also keineswegs mit einer entsprechenden Erweiterung der Heiratskreise einher. Wiederum gilt das auch und besonders für die sozialen Aufsteiger (Tab. 10, Kat. 18-23). In nur zwei von 18 Fällen ehelichten sie eine Kaufmanns- oder 16 Akademischer Verwaltungsbeamter: 5; Richter: 2; Hochschullehrer: 8; Geistliche: 4; Gymnasiallehrer: 5; Bezirks-/Militärarzt: 1; praktischer Arzt: 2; Apotheker: 1; Großhändler: 1; Fabrikant: 3; Rentier: 1; Gutsbesitzer: 3; Offizier: 1; Kaufmann/Wirt: 3; Handwerker: 1. 17 Vgl. Schmidt, A„ S. 99-103.

237

Tab. 43: B e r u f des Schwiegervaters 1891-1933 1 8 Schwiegervater 1. Akad. Beamter in Verwalt./Reg. 2. Richter 3. Hochschullehrer 4. Lehrer (höhere Schule) 5. Geistlicher 9. Prakt. Arzt 10. Apotheker 11. Rechtsanwalt 13. Großhändler 14. Fabrikant 16. Offizier 17. Gutsbesitzer 18. Kaufmann/Wirt 19. Handwerker 20. Angestellter 24. ledig TOTAL (= 100 %)

Gesamt 6 (8,6) 3 (4,3) 7 (10,0)

Jur.

Med.

»Phil.«

-

3(27,3)

2(13,3)

1 (5,6)

-

2(18,2)

-

-

1 (9,1)

1 (5,6) 4(22,2)

Theol.

3 (4,3) 5 (7,1) 7(10,0)

1(11,1) 3 (33,3)

1 (1,4) 2 (2,9) 4 (5,7) 11(15,7) 5 (7,1)

1(11,1)

1 (6,7)

»Nat.« -

-

1 (5,9) 2(11,8)

-

-

-

-

-

1 (5,6)

3(20,0)

-

-

-

-

-

-

-

1 (6,7) 2(13,3) 2(13,3)

-

-

-

1 (5,6) 1 (5,6) 4(22,2)

1 (1,4) 5 (7,1)

-

-

-

-

1 (1,4) 2 (2,9) 7(10,0)

-

-

-

-

-

1(11,1)

70

9

-

-

3 (33,3)

-

2(18,2) -

1 (9,1) -

1 (5,9) 2(11,8)

1 (5,9) 5(29,4) 1 (5,9) 1 (5,9) 1 (5,9)

1 (9,1)

1 (6,7) 2(13,3)

2(11,1) 1 (5,6) 1 (5,6) 1 (5,6)

2 (11,8)

11

15

18

17

1 (9,1)

1 (6,7)

-

-

Quelle: Vgl. Seite 66, Fußnote 6.

Handwerkerstochter, w ä h r e n d die übrigen Personen weiterhin vor allem das Milieu des beamteten (8 Fälle) u n d f r e i b e r u f l i c h e m Bildungsbürgertums (2) bevorzugten, aber sich auch teilweise mit d e m U n t e r n e h m e r t u m (4) u n d d e m Offiziersstand (2) a n z u f r e u n d e n begannen. Deutlich nachgelassen hatte dagegen das Bedürfnis der U n t e r n e h m e r s ö h n e (Kat. 13-14), sich d u r c h Heirat mit d e m klassischen Bildungsbürgertum zu verbinden. U b e r die Hälfte v o n i h n e n ( f ü n f von n e u n ) wählten sich n u n einen Ehepartner, der d e m eigenen H e r kunftsmilieu entstammte, j e einer eine Professoren-, Arzt-, Apothekers- oder Gutsbesitzerstochter. U n t e r d e m N a c h w u c h s des Bildungsbürgertums (Kat. 1 - 1 2 ) war der Anteil derer, die in die eigene G r u p p e einheirateten, zwar gesunken (21 v o n 35 Fälle bzw. sechzig Prozent), blieb aber überdurchschnittlich hoch. A u ß e r d e m kam der Verlust weniger d e m U n t e r n e h m e r t u m zugute, das hier n u r unterproportional gewinnen k o n n t e (sechs Fälle; 17,1 Prozent), als den Offizieren (drei Fälle; 8,6 Prozent). 1 9 18 Fehlende Werte: 42 (bei insgesamt 112 Fällen). 19 Akademischer Verwaltungsbeamter: 3; Richter: 3; Hochschullehrer: 4; Geistliche: 4; Gym-

238

Diese nachlassende Verflechtung zwischen den Heiratskreisen des gehobenen Wirtschafts- und Bildungsbürgertums mag zunächst überraschen, stand sie doch der Entwicklung entgegen, die für das 19. Jahrhundert beobachtet werden konnte. Einen ersten Hinweis auf eine mögliche Erklärung kann eine Betrachtung der einzelnen Fakultäten und Fachbereiche in Tab. 43 bieten. Wie bei der Theologischen Fakultät, für die schon im 19. Jahrhundert eine gewisse Konzentration auf das akademische Beamtentum, besonders die Pfarrerschaft, festzustellen war, zeigt hier erstmals auch das Heiratsverhalten der anderen Fächergruppen nicht nur soziale Exklusivität, sondern auch eine Orientierung am weiteren Berufsfeld des eigenen Faches. Unter den Theologenschwiegervätern waren etwa die Pfarrer weit überproportional vertreten, bei den Juristen die akademischen Verwaltungsbeamten, Richter und Rechtsanwälte, bei den Medizinern die Arzte und bei den Mathematikern und Naturwissenschaftlern die Fabrikanten. Gab es also, ähnlich wie bei der sozialen Herkunft, auch bei den Heiratskreisen einen Zusammenhang zwischen sozialer Mobilität und der zunehmenden Spezialisierung der Wissenschaften? U m diese zugegebenermaßen vagen Eindrücke zu überprüfen, bietet sich ein näherer Blick auf die einzelnen Disziplinen an. Betrachtet man zum Beispiel die vier Personen, die nicht nur dem Unternehmertum entstammten, sondern auch wieder in es einheirateten, waren allein drei von ihnen im Fach Chemie tätig, einer im Fach Botanik, allesamt also in betont wirtschafts- und praxisnahen Disziplinen. Die übrigen fünf Unternehmersöhne, die sich konnubial mit anderen Gruppen, vor allem dem Bildungsbürgertum, verbanden, vertraten dagegen neben ärztlich-klinischen Fächern eher universal bzw. theoretisch ausgerichtete Disziplinen wie Philosophie, neutestamentliche Exegese oder die damals gewerblich noch wenig angewendete Zoologie. 20 Eine ähnliche Zweiteilung wiesen die Söhne des Bildungsbürgertums auf. Unter denjenigen 21, die mit der Wahl ihrer Ehefrau im eigenen Sozialmilieu verblieben, war der Anteil der wenig spezialisierten und dem Wirtschaftssektor allgemein eher fernstehenden theologischen und juristischen Fächer mit 47,6 Prozent mehr als doppelt so hoch wie unter jenen 14, die eine konnubiale Verbindung außerhalb des Bildungsbürgertums eingingen (21,4 Prozent). Bei denen, die wieder ins Bildungsbürgertum einheirateten, fehlten die medizinischen Fächer fast gänzlich, während der humanistisch-allgemeinbildende respektive universal orientierte Fächerkanon der »Philosophischen Sektion« durch Vertreter etwa der Philosophie, der Klassischen Philologie und der Alten Geschichte gut abgedeckt war. Zwar fanden sich hier durchaus auch Mitglieder

nasiallehrer: 1; praktischer Arzt: 5; Rechtsanwalt 1; Großhändler: 2; Fabrikant: 4; Offizier: 3; Kaufmann/Wirt: 3; Angestellter: 2. 20 Neustestamentliche Exegese, Haut- und Geschlechtskrankeiten, Geburtshilfe und Gynäkologie, Philosophie, Zoologie.

239

der »Naturwissenschaftlichen Sektion«, allerdings bevorzugt Vertreter der theoretischen Disziplin Mathematik. 21 Diejenigen dagegen, die konnubial aus dem Bildungsbürgertum heraustraten, waren zu immerhin 28,6 Prozent in der Medizin tätig und vertraten im Bereich der Naturwissenschaften eher angewandte und spezialisierte Fächer. 22 O h n e von determinierten Zusammenhängen sprechen zu wollen, hatten wissenschaftliche Spezialisierungsvorgänge sowie die unterschiedlichen Anwendungsbezüge der Einzelfächer offenbar zur Folge, daß sich die Umgangsund damit auch die Heiratskreise der Professoren im frühen 20. Jahrhundert auseinanderentwickelten.

4.1.3. Die Ehefrauen Betrachtet man zunächst das Lebensalter, in dem die Frauen der Erlanger Ordinarien heirateten (Tab. 44), wird deutlich, daß es während des Untersuchungszeitraumes kontinuierlich, besonders einschneidend aber im Vormärz und dann wiederum seit der Jahrhundertwende, nach oben ging. Was die einzelnen Fachbereiche angeht, lassen die niedrigen Fallzahlen kaum seriöse Deutungen zu. Einzig für den letzten Zeitabschnitt zeichnet sich mit einiger Deutlichkeit eine Zweiteilung ab, die mit den Ergebnissen zum Heiratsalter der Männer übereinstimmt. Die Frauen der Theologen und Juristen heirateten in relativ jungen Jahren, wobei allerdings auch bei ihnen die Eheschließung unter 21 zunehmend zur Ausnahme wurde, die der Mediziner und Mitglieder der Philosophischen Fakultät eher später. Festzuhalten ist, daß der Zeitraum, den die Frauen durchschnittlich dem eigenen Individualisierungs- und Reifungsprozeß widmen konnten, ständig wuchs. Wenn demnach ein immer größerer Anteil von ihnen erst nach dem Abschluß der eigenen Persönlichkeitsbildung und nicht als Backfisch H o c h zeit hielt, blieb das mit Sicherheit nicht ohne Folgen für die eheinternen Gefühls-, Macht- und Rollenverhältnisse. In diesem Zusammenhang m u ß auch von Interesse sein, ob und inwieweit das Lebensalter der jeweiligen Ehepartner voneinander abwich (Tab. 45).

21 Neutestamentliche Exegese: 1; Historische Theologie: 1 ; Zivilrecht: 4; Staatsrecht: 2; Strafrecht: 1; Kirchenrecht: 1; Poliklinik: 1; Philosophie: 1; Klassische Philologie: 1; Deutsche Philologie: 1 ; Mittlere und neuere Geschichte: 1 ; Alte Geschichte: 1 ; Mathematik: 3; Experimentalphysik: 1; Theoretische Chemie: 1. 22 Neutestamentliche Exegese: 1 ; Alttestamentliche Exegese: 1 ; Zivilrecht: 1 ; Innere Medizin: 1 ; Geburtshilfe: 2; Pathologie: 1 ; Deutsche Philologie: 1 ; Orientalische Philologie: 1 ; Mittlere und neuere Geschichte: 1; Archäologie: 2; Angewandte Chemie: 1; Geographie: 1.

240

Tab. 44: Heiratsalter der Ehefrauen nach Jahren 23 Heiratsalter

unter 21

21-25

1743-1810

14(46,7)

11(36,7)

1 (3,3) 6 (20,0)

1849-1890

8 (26,7) 11(25,0)

15(50,0) 23 (52,3)

6(13,6)

1891-1933

6(10,2)

26 (44,1)

16(27,1)

1811-1848

26-30

31-35

über 35

3 (10,0)

1(3,3)

1 (3,3) 3 (6,8) 7(11,9)

1(2,3)

-

4(6,8)

Quelle: Vgl. Seite 66, Fußnote 6.

Tab. 45: Altersunterschied der Ehepartner nach Jahren 24 Altersunter- Ältere/gleichschied (Jahre) alte Frau 1743-1810 1811-1848 1849-1890 1891-1933

2 (6,1) 5(16,1) 2 (4,3) 4 (6,8)

1-5

6-10

11(33,3) 10(32,3) 13(28,3) 23(39,0)

8(24,2) 13 (41,9) 16 (34,8) 18(30,5)

11-15 8(24,2) 1 (3,2)

12(26,1) 11(18,6)

über 15 4(12,1) 2 (6,5) 3 (6,5) 3 (5,1)

Quelle: Vgl. Seite 66, Fußnote 6.

Auf diesem Feld ist wiederum vor allem im Vormärz eine Zäsur festzustellen. Deutlich näherte sich in dieser Epoche das Alter der Ehepartner an. Gleichzeitig verloren Ehen, in denen die Frau älter oder gleichaltrig war, ihren Ausnahmecharakter; da der Jahresunterschied in diesen Fällen meist gering ausfiel, 23 Die chronologische Zuordnung erfolgte gemäß dem bisherigen Vorgehen nach dem Erlanger Berufungsdatum des jeweiligen Ehemannes. Die Tabelle gibt die jeweilige Anzahl an Ehefrauen wieder; die in Klammern beigefügten Prozentwerte beziehen sich jeweils auf die Zeilensumme, welche wiederum die Gesamtzahl derjenigen Frauen darstellt, fiir die im betreffenden Zeitabschnitt das Heiratsalter ermittelt werden konnte. Dies war in allen Zeitabschnitten bei etwa der Hälfte aller verheirateten Ordinarien der Fall, ohne daß eine einseitig-selektive Uberlieferungslage vorliegt. Bei Professoren, die sich mehrmals verehelichten, war alleine die erste Hochzeit maßgeblich. Die Altersangaben beziehen sich auf die vollendeten Lebensjahre. 24 Die Zeilensumme gibt hier die Gesamtzahl der Professoren wieder, für die im betreffenden Zeitabschnitt sowohl das eigene Geburtsjahr als auch das der allein maßgeblichen ersten Ehegattin ermittelt werden konnte. Der Altersunterschied wurde durch Subtraktion des Geburtsjahres des Ehemannes von dem der Ehefrau ermittelt. Die vier rechten Spalten betreffen den jeweils in Fünfjahresabständen zusammengefaßten Altersunterschied zwischen älteren Ehemännern und jüngeren Ehefrauen; die zweite Spalte von links gibt Zahl und Anteil derjenigen Ehen wieder, in denen die Frau entweder in einem früheren oder im gleichen Jahr geboren wurde wie der Mann. Die Uberlieferungslage war hier fast exakt dieselbe wie beim Heiratsalter der Ehefrauen.

241

wurde hier auf eine weitere zeitliche Differenzierung verzichtet.25 Während sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Altersdifferenz wieder vergrößerte, ohne indes in den Extremwerten die Verhältnisse des 18. Jahrhunderts zu erreichen, kam es seit der Jahrhundertwende zu einer erneuten Homogenisierung der ehelichen Altersstruktur, die sich abermals bei Theologen und Juristen stärker auswirkte als bei den Mitgliedern der Medizinischen und Philosophischen Fakultäten. Sowohl im Heiratsalter der Frauen als auch im Altersunterschied der Partner spiegeln sich also zum einen die wandlungsreichen und von Fach zu Fach schwankenden Laufbahnbedingungen wider, welche die Männer in sehr unterschiedlichen Lebensphasen in die Lage setzten, sich zu verehelichen. Das kann beispielsweise am erneuten Anstieg des Altersunterschiedes in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts abgelesen werden. Zum anderen kam es aber doch auch zu gegenläufigen Entwicklungen, die auf ein allgemein verändertes Verhältnis zur Institution der Ehe schließen lassen. So sank im Vormärz das Heiratsalter der Männer deutlich, während das der Frauen fast ebenso deutlich zunahm. Obwohl der Heiratszeitpunkt bei den Professoren des Zeitraumes 1891 bis 1933 durchschnittlich weiter herausgezögert wurde, ging der Altersunterschied der Eheleute wieder zurück. Kurz gesagt, in der Tendenz heirateten die Professoren seit dem Vormärz bevorzugt Frauen, die der gleichen Generation wie sie selbst angehörten. Man darfvermuten, daß die Position der Gattinnen damit stärker und autonomer wurde, wie wohl überhaupt das »Moment der individualisierten und affektiven Gefährtenschaft« gegenüber der traditionellen patriarchalisch-unsentimentalen Versorgungsehe an Boden gewann.26 Dieser Zug zur Individualisierung der Gefühlskultur hatte indes seine spezifischen Grenzen, da auf der einen Seite weiterhin ökonomische und gesellschaftliche Faktoren vorselektierend auf die Partnerwahl wirkten, Liebe und Schichtzugehörigkeit also nur ausnahmsweise in Konflikt gerieten, auf der anderen die neuen Bewegungsspielräume der Frauen lange Zeit praktisch ausschließlich auf die hergebrachten Bereiche von Haus, Familie und Kinderaufzucht beschränkt blieben und sich nur sehr allmählich auch auf die Öffentlichkeit erstreckten. Damit sind die privaten und öffentlichen Tätigkeitsfelder der Professorenfrauen angesprochen. Hier stellt sich zunächst ein Uberlieferungsproblem. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein fehlen Quellen, anhand derer man die Alltagsvorgänge in einem Professorenhaushalt näher erfassen könnte. Allerdings liegen aus dem 18. Jahrhundert Stellungnahmen Erlanger Hochschullehrer zu

25 In neun von insgesamt 13 nachweisbaren Fällen war die Frau keine drei Jahre älter als der Gatte. Heraus stach allein Johann Gottlieb Fichte (BA228), der am 22.10.1793 die neun Jahre ältere Johanna Maria Rahn (1753-1819) aus Zürich heiratete. 26 Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800-1866, S. 114-122, Zitat: S. 119.

242

den Aufgaben der Ehefrau vor, bei denen zwar schwer zu entscheiden ist, inwieweit sie Idealbild waren oder der Wirklichkeit entsprachen, die aber klarstellen, welche Geschlechterrollen in einem Professorenhaushalt gesellschaftlich sanktioniert war.27 Demnach stellte die stille häusliche Zurückgezogenheit der Gattinnen, ihre moralische Integrität und Unterordnung sowie die sparsame und gewissenhafte Erledigung der hauswirtschaftlichen Aufgaben eine fraglose Selbstverständlichkeit dar. Bestand die Aufgabe der Frau vornehmlich darin, ihrem Gatten durch die emsige Bereitung des >häuslichen Glücks< die besten Voraussetzungen zur Erfüllung seiner beruflichen Aufgaben zu schaffen, hatte der Ehemann ihr das durch die bereitwillige Erfüllung seiner Ernährerpflichten, eine wohlwollende und harmonieorientierte Ausübung seiner Herrenrechte sowie einen sittlich einwandfreien Lebenswandel zu honorieren. Einigkeit herrschte darüber, daß die Frauen jede Art von selbständigem öffentlichen Umgang oder Auftreten, selbst harmlose Visiten, eher zu vermeiden hatten. So waren sie auch von den Institutionen der neuen bürgerlichen Öffentlichkeit wie der Harmonie oder der Musikgesellschaft, mit Ausnahme ausgewählter Veranstaltungen, ausgeschlossen.28 Bildung oder musische Kompetenzen der Ehefrauen galten offenbar als nebensächlich. Der scharfe Beobachter Georg Friedrich Rebmann wunderte sich ausdrücklich über die Scheu der Erlanger Frauen, singend aufzutreten und führte es auf ein öffentlich wirksames Vorurteil zurück.29 Kamen dergleichen Qualitäten einer Professorengattin doch einmal zur Sprache, wie im Fall Dorothea von Windheims (1726-1761), Ehefrau des Orientalisten Christian Ernst von Windheim, die als Tochter des Göttinger Universitätskanzlers von Mosheim wissenschaftliche Bildung genossen hatte, die Ehrenmitgliedschaft der Deutschen Gesellschaft Jena erlangte, eigenständig schrieb und übersetzte sowie die wissenschaftliche Arbeit ihres Mannes unterstützte, wurde das mit dem Wohlwollen gewürdigt, das man dem absoluten Kuriosum gerne zuzugestehen bereit ist.30

27 Es handelt sich in der Regel um Nachrufe auf verstorbene Kollegen oder Kollegengattinnen: Delius, Leben und Charakter, S. 21 (BA 130); Seiler, Denkmal, S. 20 (BA 49); Breyer, Ehrengedächtnis, S. 8 - 1 5 (BA 214); die Schilderungen des Juristen Johann Ludwig Klüber über seine verstorbene Gattin wiedergebend: Meyer, Gedächtnis, S. 22f. (BA 90); Hildebrandt, Ueber die Oekonomie, S. 186f., S. 2 1 0 - 2 1 4 (BA 252). 28 Z u m Ausschluß der Frauen vgl. Rebmann, Teil 1, S. 83-86, Teil 2, S. 85f. Im 19. Jahrhundert war Frauen die Teilnahme an Veranstaltungen der Harmonie ganz offenbar nur über die Mitgliedschaft des Ehemannes möglich. Der Theologe Schmid berichtet, er habe sich extra, um seiner Frau die Teilnahme an Gesangsvorführungen zu ermöglichen, in die Harmonie aufnehmen lassen. Brief an Hofmann, Erlangen, 15.12.1843. Schmid, Ch., Briefe von Heinr. Schmid, Nr. VIII, S. 95 (BA 47). Noch 1892 wurden weibliche Personen in der Erlanger Harmoniegesellschaft nur als außerordentliche Mitglieder geführt; in der Regel waren sie Witwen verstorbener männlicher Mitglieder. St4£,:32.248.A.4. Mitgliederliste. 29 Vgl. Rebmann, Teil 1, S. 85f. 30 Vgl. Nachruf auf Frau Windheim, S. 135f. ( B A 3 3 7 ) .

243

Trotz schlechter Überlieferungslage kann kaum Zweifel daran bestehen, daß die Besorgung der häuslichen Pflichten auch im 19. Jahrhundert und darüber hinaus im Mittelpunkt des Ehefrauenalltags standen. Die Briefe etwa, die Luise Rückert (1797-1857) in den Jahren 1830 bis 1838 an ihre Eltern in Coburg sandte, kreisen im Grunde um sehr wenige Themenbereiche: Wohnhaus und Garten, die Kinder, das Haushaltsbudget, die Einkaufsmöglichkeiten und Lebenshaltungskosten sowie die Sorge um die Gesundheit und seelische Ausgeglichenheit des Ehegatten. In diesen engbegrenzten Lebenskreisen hatte der überraschende abendliche Besuch einiger befreundeter Professorenfamilien großen Nachrichtenwert, was allerdings auch damit in Zusammenhang gebracht werden kann, daß Friedrich Rückert in Erlangen eine relativ zurückgezogene Existenz pflegte. Ansonsten gab es als Erholungsmöglichkeiten lediglich Spaziergänge oder gelegentliche Besuche bei den Eltern. Aus der Korrespondenz geht hervor, daß Luise Rückert in ihrem Bereich sowie auch in finanziellen Dingen relativ frei schalten und walten konnte. Wenn Fragen bedeutenderer Natur, zum Beispiel größere Ausgaben, zwischen den Ehepartnern durchaus unter Einbeziehung von Sachargumenten diskutiert und geregelt wurden, geschah das bei stillschweigender Anerkennung der letztlich männlichen Entscheidungsmacht, der aufseiten der Frau das Bewußtsein eines großen informellen Einflusses gegenüberstand. 31 Es existierte demnach zwischen den Partnern ein empfindlich ausbalanciertes Machtgefüge, unter dessen Bedingungen die Frau durch kluges Abwägen zwischen sanftem Druck und rechtzeitigem Zurückweichen durchaus Ansprüche durchsetzen konnte - allerdings begrenzt auf das Lebensspektrum von Haushalt und Familie und nur, sofern sie die Rolle, die ihr zugeordnet wurde, prinzipiell anerkannte und ausfüllte. Daneben regten sich seit dem Vormärz Anzeichen dafür, daß Professorenfrauen allmählich auch öffentliche Tätigkeitsfelder zugänglich wurden. Der am 19.11.1813 nach dem Aufruf Prinzessin Mariannes von Preußen auch in Erlangen begründete vaterländische Frauenverein, der sich Spitaldiensten und Verwundetensammlungen widmen sollte und dessen Vorstand neben anderen Honoratiorengattinnen die Ehefrauen der Ordinarien Wendt, Glück und Vogel32 angehörten, kann als erster Ausbruch aus der familialen Zurückgezogenheit gelten, wenngleich die Leitung einem männlichen Protektor, dem Landrichter Puchta, überlassen wurde und der Verein offenbar mit den meisten anderen lokalen Gründungen das Schicksal einer kurzen Lebensdauer teilte. 33 Seit den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts wurde der eingeschlagene Weg zunächst im karitativ-pädagogischen Umfeld der religiösen Erweckungs31 StAE, 25.B.2491 (Abschriften). 32 BA 198, 79, 55. 33 Zum Erlanger Frauenverein vgl. Kolde, Die Universität, S. 168; allgemein: S. 131f.

244

Habermas,

bewegung fortgesetzt. Prototypisch dürfte hier das Beispiel des Ehepaares von Raumer gewirkt haben, das seine umfassenden Aktivitäten - Missionskränzchen, Lesungen, Bibelkreise, Sonntagsschule, Kindergottesdienste, Betreuung verwahrloster Kinder und durchreisender Handwerksgesellen - in selbstverständlicher Zweisamkeit veranstaltete.34 Wenn so das Professorenhaus zunehmend in den Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens rückte, konnte das für Stellung und Lebenswirklichkeit der Frau nicht ohne Folgen bleiben. Das o f fene Haus< förderte ihre gesellschaftliche Integration, stellte aber gleichzeitig auch neue Repräsentations- und Kommunikationsanforderungen an sie. Das galt um so mehr, als sich der Aktionsradius karitativer weiblicher Tätigkeit bald auch außerhalb der eigenen vier Wände ausbreitete, und zwar erneut in der Organisationsform des Frauenvereins. Als am 6. November 1848 in Erlangen der Verein für freiwillige Armenpflege ins Leben gerufen wurde, gliederte man ihm auch einen »Frauenverein zur Erteilung von Strick- und Nähunterricht an arme Kinder« an. In dessen Ausschuß saßen neben einer Oberappellationsrätin auch die Ehefrauen der Professoren von Schaden, Hofmann und Ebrard. 35 Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts gab es in Erlangen eine Reihe lokaler Frauenvereine: Seit 1879 einen Erlanger Zweig des Bayerischen Frauenvereins vom Roten Kreuz, seit 1906 eine Ortsgruppe des Deutsch-evangelischen Frauenbundes und ebenfalls seit 1906 einen Verein Frauenwohl. 36 Ihnen war gemeinsam, daß sie sich, abzulesen an den Mitgliederverzeichnissen, vornehmlich aus dem Bildungsbürgertum, zu einem geringeren Teil aus dem mittleren und oberen Wirtschaftsbürgertum und dem Offiziersstand, überhaupt nicht hingegen aus den unteren Schichten rekrutierten. Diese bildeten vielmehr die Zielgruppe der Vereinsbemühungen, die allesamt darauf hinausliefen, durch religiös fundierte sozialkaritative Arbeit sowohl die innere Einstellungs- als auch die Lebensführungsmuster des gehobenen Bürgertums unter der Bevölkerung zu verbreiten. O b Näh- und Flickabende, Bestückung von Jugendbibliotheken, Armenbescherungen, Krippenanstalten, Schularbeitsbetreuung oder Kochund Haushaltskurse - den Vereinssatzungen und Jahresberichten nach zu schließen, sollte die materielle Hilfestellung stets mit einer innerlichen Beeinflussung und Vermittlung von Lebensweisen einhergehen. 37 Dabei machten sich allerdings im Laufe der Zeit zwei nicht unwesentliche Entwicklungen be3 4 Vgl. Karl von Raumers Leben, S. 3 2 8 - 3 3 6 (ESA 302); zur Erlanger Erweckungsbewegung vgl. Beyschlag, Die Erlanger Theologie, S. 207-212. 35 B A 3 1 1 , 2 4 , 1 0 ; StAE, 32.268.T.1. Verein für [freiwillige] Armenpflege; StAE, 32.268.T.2. Jahresberichte. Jahresbericht 1850. 36 StAE, 32.258.T.1 Bayerischer Frauenverein; StAE, 32.108.T.1 Deutsch-Evangelischer Frauenbund; StAE, 32.338.T.1 Verein Frauenwohl. 37 Dies gilt auch für den 1849 begründeten Verein für die Jugendheimstätte Puckenhof, der zwar ausschließlich von Männern geleitet wurde, an dem aber zahlreiche Professorenfrauen durch Übernahme von Aufgaben und Spenden Teilnahme zeigten. StAE, 32.227.T.1 Verein für die Jugendheimstätte Puckenhof.

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merkbar: Z u m einen wurden die Zusammenschlüsse der Frauen offenbar zusehends aus der unmittelbaren Aufsichtsgewalt der Männer entlassen. Bildeten sie nämlich ursprünglich lediglich einen Annex allgemeiner, männlich dominierter Sozialvereine oder hatten zumindest einige Herren als »Beistände« in ihren Vorstandsgremien, ist ein ähnlicher direkter Einfluß nach der Jahrhundertwende nicht mehr erkennbar. Die Frauen organisierten sich nun weitgehend selbst, wenngleich sicher nicht gegen den Willen ihrer Ehegatten. Z u m anderen zeichnete sich etwa gleichzeitig eine deutliche Säkularisierung der Frauenvereinsarbeit ab. Während der aus christlicher Wohltätigkeit und Ermahnung zusammengesetzte Grundton zurückgenommen wurde, trat das Bemühen in den Vordergrund, die soziale Tätigkeit mit einer eigenständigen Persönlichkeitsentwicklung zu verbinden. Die Mitglieder, hieß es um 1910 in einem Bericht des Vereins Frauenwohl, erhielten durch ihre Tätigkeit »den in unserer Zeit notwendigen Einblick in die Verhältnisse des Volks« und kämen mithin »aus eigner Anschauung zu dem richtigen Verständnis für die Verpflichtung, nicht als Gönnerin und Wohltäterin sich der Hilfsarbeit zuzuwenden, sondern aus Gerechtigkeitssinn etwas von ihrem eignen Leben und Behagen freudig hinzugeben, um ein kleines Scherflein zum Ausgleich zwischen Not, Glück und Elend beizutragen.«

Man stellte sich als Aufgabe, gerade junge Mitglieder durch die Vereinsarbeit zu einer »vertieften Lebensauffassung« zu führen. Durch das Erteilen von Kursen über Themen wie Moderne Fremdsprachen, Literatur, Kochen, Buchführung, deutscher Aufsatz, Geschichte, Erziehungslehre, Bürgerkunde, Kinderpflege oder Gesundheitslehre sollten sie sich selbst auf die »großen Aufgaben der heutigen Frau« vorbereiten. Damit war allerdings nicht etwa die Formulierung und Durchsetzung weiblicher Individual- und Gruppenansprüche gemeint, sondern nach wie vor die Ausbreitung der bürgerlichen Lebenskultur. 38 Trotz einer beachtlichen Erweiterung ihrer öffentlichen Spielräume ist denn auch in diesen Kreisen eine grundsätzliche Infragestellung der komplementären Geschlechterrollen respektive der nur sehr begrenzten Integration der Frau in die ökonomischen und politisch-rechtlichen Systeme der bürgerlichen Gesellschaft nirgends auszumachen. Sozialarbeit im beschriebenen Sinne stellte vielmehr ein Feld dar, auf dem sich teils widersprüchliche Leitbilder des bürgerlichen Frauenideals - >Mütterlichkeitoffenen HausesVorrechtschwarze Schafe< gerne der Mantel des Schweigens gebreitet wurde. Es liegt mithin eine einseitig-selektive Uberlieferungssituation vor. Diese an sich schon aufschlußreiche Beobachtung berücksichtigt, lassen sich aber doch einige aussagekräftige Erkenntnisse wiedergeben. So ist zunächst einmal in allen Zeitabschnitten, vor allem aber seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts, das Bemühen erkennbar, allen Söhnen gleichberechtigt eine akademische Ausbildung zu ermöglichen. Während der >Akademikeranteil< unter den Professorensöhnen im 18. Jahrhundert der Geburtenfolge nach klar abnahm, waren die zweit- und drittgeborenen Söhne seit dem Vormärz offenkundig nicht mehr oder doch wenigstens in sehr viel geringerem Maße benachteiligt. 73 Gestützt auf allerdings nur zwei vergleichbare Fälle, kann man daneben beobachten, daß in sehr kinderreichen Familien die Anstrengungen erhöht wurden, allen Söhnen eine akademische Ausbildung zu eröff73 Grundlage der folgenden Anteilswerte ist eine Auszählung derjenigen Fälle, für die in den betreffenden Zeitabschnitten der Beruf des ersten, ggf. auch des zweiten und dritten Sohnes ermittelt werden konnte. Dabei gingen nicht in die Berechnung ein: 1. Fälle, in denen keine oder nur unzureichende Angaben vorlagen; 2. Fälle, in denen der erste, ggf. auch der zweite oder dritte Sohn aufgrund eines frühen Todes oder wegen Erwerbsunfähigkeit nicht ins Arbeitsleben eintreten konnte. Angesichts des relativ hohen Anteils fehlender oder unzureichender Angaben (mit Ausnahme des Vormärz je nach Zeitabschnitt bei etwa 40 bis 55 Prozent der Personen, die nachweislich Väter von Söhnen waren) und wegen selektiver Uberlieferung geben die folgenden Zahlen über den »Akademikeranteil« unter den Söhnen also nur die möglichen Spitzenwerte wieder, die nicht mit den tatsächlichen Anteilen gleichgesetzt werden sollten. Ziel ist vielmehr, die Aufmerksamkeit auf die Differenz zwischen den »Akademikeranteilen« in der Geburtenfolge zu lenken.

258

nen.74 Wie sehr das Problem auf den Nägeln brannte, zeigt exemplarisch der Fall des Philologen Nägelsbach, der 1847 anläßlich eines auswärtigen Rufes die Zusicherung künftiger Erziehungsbeiträge für seine drei Söhne aushandeln wollte, was sich allerdings aufgrund gesetzlicher Bestimmungen nicht durchsetzen ließ.75 Da für die erstgeborenen Söhne der vormärzlichen Professoren eine relativ günstige Quellenlage vorliegt, sollen ihre Berufe näher betrachtet werden (Tab. 49). Es zeigt sich, daß mindestens drei Viertel einen akademischen Beruf (Kat. 1-9) ergriffen. Angesichts der immensen Kosten eines Studiums und des damals geringen demographischen Gewichts der Akademiker 76 manifestiert sich hier der beachtliche Stellenwert, der dem beruflichen Erfolg des männlichen Nachwuchses zugemessen wurde. Das gilt um so mehr, als sich auch mit den ansonsten gewählten Berufen des Offiziersstandes sowie des mittleren Beamtentums (je ein Förster und Universitätsgärtner) längere Ausbildungsphasen und gesellschaftliches Ansehen verbanden. Auch die Recherche-Ergebnisse zu den anderen Zeitabschnitten weisen aus, daß der Professorensohn, der einen akademische Beruf ergriff, gewissermaßen den Normalfall darstellte. Von Interesse ist in diesem Zusammenhang eine Vereinbarung, die 1868 zwischen den Senaten der drei bayerischen Universitäten getroffen wurde und nach der die Söhne von bayerischen Professoren und Dozenten von den Hörgeldern für private Vorlesungen befreit sein sollten.77 Fördernde Zuwendung im Hinblick auf die Karrierevorbereitung der Söhne bildete mithin eine zentrale Konstante in den Eltern-Kind-Beziehungen des Professorenhaushaltes. Das ist nicht nur im Sinne materieller Verzichtleistung zu verstehen, sondern ging auch mit einer Intimisierung der innerfamilialen Gefühlskultur einher, mit der prinzipiellen Bereitschaft, die kindheits- bzw. jugendspezifischen sowie individuell-persönlichen Eigentümlichkeiten der

»Akademikeranteil«

Erstgeborene Söhne

Zweitgeborene Söhne

Drittgeborene Söhne

1743-1810 100,0% 85,0% 77,8% 1811-1848 91,7% 86,4% 86,7% 1849-1890 92,5% 94,7% 90,0% 1891-1933 96,8% 92,9% keine Angaben 74 Von den fünf Söhnen des Philologen Harleß (1738-1815) (BA 242), die das Berufsalter erreichten, wurde einer Professor, die übrigen vier Kaufmänner. Die sieben erwerbsfähigen Söhne seines Lehrstuhlnachfolgers Döderlein (1791-1863) (BA221), ergriffen alle einen akademischen Beruf. 75 Senat an König, 1.11.1847; M d l an Senat, 23.5.1847. Personalakt Nägelsbach (BA 283). 76 Nach Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2, S. 515f., machten die Akademiker samt ihren Familienangehörigen im Vormärz nur etwa zwei Prozent der deutschen Bevölkerung aus. Vgl. ebd. auch zu den Kosten des Studiums. 77 Erlanger Senatsmemorandum vom 2.5.1916. UAE, III/5/21 Honorarienwesen.

259

Tab. 49: Berufe der erwerbsfähigen erstgeborenen S ö h n e 1811-1848 7H Berufskategorie 1. Akademischer Beamter in Verwaltung/Regierung 2. Richter 3. Hochschullehrer 4. Lehrer (höhere Schule) 5. Geistlicher 6. Bezirks-/Militärarzt 7. Praktischer Arzt 8. Privatgelehrter 9. Industriechemiker 10. Offizier 11. Nichtakademischer Beamter 12. Keine Angaben

Anzahl

Prozent

6 4 5 5 1 3 7 1 1 1 2 8

13,6 9,1 11,4 11,4 2,3 6,8 15,9 2,3 2,3 2,3 4,5 18,2

Quelle: Vgl. Seite 66, Fußnote 6.

S ö h n e ernst zu n e h m e n u n d in der E r z i e h u n g zu berücksichtigen. D a ß diese E n t w i c k l u n g der Familie zur g e f ü h l s b e t o n t e n »Ausbildungsgemeinschaft« 7 9 sich schon im 18. J a h r h u n d e r t abzeichnete, i m 19. J a h r h u n d e r t aber n o c h weiter vertieft w u r d e , dafür ergeben sich auch bei einer vergleichenden Betracht u n g der einzelnen Fakultäten Anhaltspunkte. So stellte der akademische Beruf zwar auch schon bei den ältesten S ö h n e n der Professoren des 18. J a h r h u n d e r t s den H a u p t z i e l p u n k t der B e m ü h u n g e n dar, es zeigte sich aber bei i h n e n noch eine sehr deutliche Ausrichtung a m Wissenschaftsfach des Vaters. Von den z e h n erstgeborenen S ö h n e n der T h e o l o g e n des 18. J a h r h u n d e r t s , deren B e r u f eruiert w e r d e n konnte, w u r d e n allein drei w i e d e r u m Theologie- bzw. Orientalistikprofessoren, zwei weitere Pfarrer. Die f ü n f nachweisbaren Berufe der ältesten S ö h n e Erlanger Juristen w a r e n sogar alle im Rechtswesen angesiedelt (drei akademische Verwaltungsbeamte sowie j e ein Richter u n d Advokat). Diese Praxis relativ direkter Berufsweitergabe scheint bereits im Vormärz deutlich zurückgegangen sein. D a f ü r läßt sich nicht n u r die vielfältige Vertei78 Von den insgesamt 61 Personen dieses Zeitabschnitts hatten 14 nachweislich keinen Sohn, bei dreien starb der älteste männliche Nachkomme vor Erreichen des erwerbsfähigen Alters. Subtrahiert man diese 17 Fälle von der Grundgesamtheit, bezieht aber andererseits die acht Ordinarien mit ein, bei denen keine hinreichenden Angaben über die Existenz, Erwerbsfähigkeit oder den Berufeines ersten Sohnes zu ermitteln war, stellen die prozentualen Werte den Mindestanteil dar, den die jeweiligen Berufsgruppen unter den erstgeborenen erwerbsfähigen Söhnen der Ordinarien des Ernennungszeitraumes 1811 bis 1848 einnahmen. 79 Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800-1866, S. 122.

260

lung der akademischen Sohnesberufe insgesamt ins Feld führen (Tab. 49), sondern auch die fakultätsweise Betrachtung. Die vier erstgeborenen Theologensöhne, deren Berufe sich feststellen ließen, wurden Richter, Medizinprofessor, Gymnasiallehrer und praktischer Arzt. Der väterlichen Profession eher indifferent standen jetzt auch die Juristensöhne gegenüber. Lediglich zwei von zehn ergriffen als akademischer Verwaltungsbeamter bzw. Richter einen juristischen Beruf; einer war als Professor für Nationalökonomie immerhin in einem damals noch stark verwandten Fach tätig; dagegen wurden drei Arzte sowie je einer Pfarrer, Industriechemiker, Offizier und Förster. Am Ubergang vom 18. zum 19. Jahrhundert läßt sich demnach bei den Söhnen eine Heterogenisierung der Berufswahl feststellen. Die traditional-ständische Einübung in die väterlichen Amtsgeschäfte wich einer Erziehungspraxis, die stärker individualitätsbetont war und eher auf die Übertragung einer allgemeinen bürgerlich-leistungsbezogenen Grundeinstimmung abzielte.

4.2.3. Die Töchter Während für die Söhne Ausbildung und Beruf entscheidend waren, stand und fiel das Schicksal der Professorentochter mit ihrer Verheiratung. Bei der Betrachtung des Familienstandes und der Heiratskreise der Professorentöchter gelten allerdings ähnliche überlieferungsbedingte Beschränkungen wie bei den Berufen der Söhne. Vertraut man den Quellen, verheirateten sich alle Professorentöchter standesgemäß oder gar nicht. Die wenigen Fälle, in denen der Bräutigam nicht dem Bildungsbürgertum angehörte, betreffen ausnahmslos Oberschichtenmitglieder wie Offiziere, Gutsbesitzer und gehobene Wirtschaftsbürger. Kurzum: Heiraten >unter Stand< waren nicht vorgesehen. Wenn es zu Mesalliancen kam, was in Anbetracht zahlreicher fehlender Angaben 80 zumindest nicht auszuschließen ist, schweigt sich die Uberlieferung darüber aus. Sowohl in der fakultätsweisen als auch zeitlichen Segmentierung der G r u n d gesamtheit ließen sich keine merklichen Unterschiede zwischen den Berufen der Schwiegersöhne ausmachen. Z u etwa siebzig bis achtzig Prozent übten sie typische bildungsbürgerliche Tätigkeiten aus, der Rest verteilte sich auf die übrigen genannten Berufsgruppen. Eine Bevorzugung der Inhaber bestimmter Einzelberufe ist nicht erkennbar. Angesichts des hohen Stellenwerts, den der Ehestand für das Schicksal der Töchter hatte, ist auch der Frage nachzugehen, wie viele von ihnen ledig blie80 Bei den erstgeborenen Töchtern je nach Zeitabschnitt zwischen etwa 45 und 70 Prozent der relevanten Gesamtheit (alle untersuchten Personen, die nicht nachweislich ohne Tochter waren oder deren erste Tochter nicht nachweislich durch frühen Tod oder außergewöhnliche Umstände an der Heirat gehindert wurde).

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ben respektive was für ein Schicksal ihnen dieser Stand bescherte. Die hohe und viel diskutierte Brisanz des Themas wird deutlich, wenn man sich vor Augen hält, daß die >Güte< des lokalen Heiratsmarktes sogar zum wichtigen Bewertungskriterium für dem universitären Standort werden konnte. Als der Chirurg Thiersch 1866 Anstalten machte, einen Ruf nach Leipzig abzulehnen, versuchte ihm sein Schwiegervater, kein geringerer als Justus von Liebig, mit dem Argument Beine zu machen, er möge auch die Pflichten gegenüber seinen vier Töchtern bedenken, die alle dereinst versorgt werden müßten: »In Erlangen aber heiratet Niemand.« 81 Thiersch nahm den Ruf kurz darauf an. Mag man an der Exaktheit der Liebigschen Einschätzung auch einen gewissen Zweifel haben, so war doch unbestreitbar, daß erstens in jener Zeit die Erlanger Sozialstruktur, in der >die Gesellschaft mehr oder weniger auf die Universitätsangehörigen beschränkt war, die Chancen der Professorentöchter auf eine standesgemäße Heirat in der Tat reduzieren mußte, und daß es zweitens deren Ledigenstand nach Möglichkeit zu vermeiden galt. Abgesehen von der minoren sozialen Position, die sich nach den damaligen Verhältnissen mit dem lebenslangen Alleinstehen der bürgerlichen Frau verband, konnte der Ledigenstand nämlich auch in wirtschaftlicher Hinsicht sehr schnell in die Deklassierung führen. Wie die Professorenwitwe saß die ledige Tochter in der Zwickmühle, einerseits aus Gründen der Standeswahrung keinem Berufserwerb nachgehen zu dürfen, andererseits kaum mit dem Nötigsten zum Leben ausgestattet zu sein. Davon legen nicht zuletzt die Personalakten einiger Erlanger Professoren Zeugnis ab, die ihren wuchtigen Umfang zum guten Teil den Auseinandersetzungen um die Versorgung hinterbliebener lediger Töchter verdanken. Bezeichnenderweise wurde dabei in den Dokumenten stets die Fiktion hochgehalten, die betreffenden Frauen seien »erwerbsunfähig«. Das empfahl sich, da die Bestimmungen der bayerischen Dienstpragmatik eine dauernde Pension nur für diesen Fall vorsahen. Wiewohl faktisch vom außerhäuslichen Erwerbsleben ausgeschlossen, unterlagen die betroffenen Frauen doch den Beurteilungsmaßstäben der bürgerlichen Leistungsethik. Ein Beispiel: Nachdem der Vertreter der Historischen Theologie, Heinrich Schmid, 1885 verstorben war, erhielt seine Witwe die ihr zustehende jährliche Pension von einem Fünftel des letzten Dienstgehaltes, in diesem Fall 1.056 Mark. Davon hatte sie unter anderem auch den Lebensunterhalt ihrer unversorgten Tochter Charlotte (1849-1922) zu bestreiten, der als Volljährige lediglich die einmalige Zahlung eines Fünftels des Witwengehaltes (211,20 Mark) zustand. Von einer Erwerbsunfähigkeit der Tochter war zu diesem Zeitpunkt noch nicht die Rede. Dazu kam es erst, als durch den Tod der Mutter die Lage 1890 erneut akut wurde. Der jährliche Unterhaltsbeitrag von 158,40 Mark (die 81 Brief Liebigs, München, November 1866. Zit. nach: Thiersch, J., Carl Thiersch, S. 77 (BA 191).

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Hälfte des minderjährigen Doppelwaisen zustehenden Anteils von drei Zehnteln des Witwengehaltes), welcher der Tochter nun vom Ministerium bewilligt wurde, war auf drei Jahre befristet. Charlotte Schmid nutzte diese Zeitspanne, um sich durch ärztliche Atteste ihre dauernde »Erwerbsunfähigkeit« bescheinigen zu lassen. Nach Ablauf der drei Jahre wurden ihr dann die 158,40 Mark auf Lebensdauer zugesprochen. 82 Es bedarf kaum der Erwähnung, daß solche hart erkämpften Pensionen kaum mehr als eine kärgliche Existenz ermöglichten. Die Pension Charlotte Schmids machte genau drei Prozent des letzten Gehaltes ihres Vaters aus, dessen Honorareinnahmequellen sowie nagende Inflationsverluste gar nicht eingerechnet. Auch die Töchterkasse, die zu dem 1865 begründeten Unterstützungsverein für die Hinterbliebenen bayerischer Staatsdiener gehörte, dürfte nur der größten Not gesteuert haben, sofern die Väter dem Verein überhaupt beigetreten waren. 83 Von den etwas großzügigeren Unterstützungen eines Spezialfonds des Verdienstordens der Bayerischen Krone profitierten nur die wenigsten.84 Es kann nicht wundern, wenn die betroffenen Töchter in der Regel auch noch im frühen 20. Jahrhundert ein bescheidenes Dasein fristeten. 85 Wie es demgegenüber um die Versorgung lediger Töchter während des 18. Jahrhunderts bestellt war, liegt weitgehend im Dunkeln. Da auch die Erlanger Professorenwitwenkasse satzungsgemäß nicht für sie aufkommen mußte, 86 dürften sie weitgehend privat mit getragen worden sein. Abgesehen davon spricht einiges dafür, daß das Problem in dieser Zeit, in der ein über die Kernfamilie hinausgehender Haushalt in der Regel noch nichts Ungewöhnliches darstellte, ohnehin nicht in der Schärfe empfunden wurde. Vor allem ging aber offenbar auch der Anteil an dauerhaft ledigen Töchtern erst seit dem Vormärz merklich nach oben und gerade den nun deutlich häufigeren kinderreichen Familien fiel es immer schwerer, alle Töchter >unterzubringenreichen< und >armen< Hochschullehrern dar, sondern führte lediglich zu einer breiten Anhebung am unteren Ende und zu einer sachten Begrenzung am oberen Ende der Einkommensskala. Viel wirkungsvoller dürften die nachfolgenden Krisen der Kriegs- und Inflationszeit die Ordinarienbezüge nivelliert haben, denn zweifellos waren die Personen mit hohen Honorareinnahmen von massiven Frequenzrückgängen 157 und rapider Geldentwertung am stärksten betroffen. Wie es um die Honorarverhältnisse während und nach dem Weltkrieg stand, darüber lassen sich allerdings angesichts der schlechten Uberlieferung keine übergreifenden Aussagen machen. Daß die Erfahrung der größeren Risikoanfälligkeit dieser Einnahmequelle aber gravierend war, läßt sich am Instrument der Kolleggeldgarantie ab-

samt 900 Mark. Dazu kamen 647 Mark an Kolleggeldern, je 180 Mark als Mitglied des Verwaltungsausschusses und als Vorstand des Philologischen Seminars und 790 Mark an Promotionsgebühren. Alles in allem betrugen seine Einkünfte also nur 6.897 Mark. Bestallungsdekret, 5.8.1901. Personalakt (PA) Siber (BA 118); Bestallungsdekret, München, 31.3.1880. PA Luchs (BA 275); Verzeichnis der bezahlten Nebenbezüge im Studienjahr 1902/03. UAE, II/4/18 das Einkommen. 156 M d l an Senat, 29.11.1908, Unterrichtung über die Allerhöchste Verordnung vom 21.11.1908. UAE, 11/4/19 Neuregelung. 157 Z u r Studentenfrequenz der Erlanger Universität im Ersten Weltkrieg vgl. Blessing, S. 89.

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lesen, mit dem man erstmals nach dem Ende der Krisenjahre ausgewählte Hochschullehrer an Erlangen binden wollte.158

4.3.3. Allgemeine

materielle

Verhältnisse

Welchen Lebensstil erlaubten die Einkünfte den Professoren? Wie schätzten sie selbst ihre materielle Situation ein? Wurde Vermögen angesammelt? Wenn ja, in welcher Form? Diese Fragen sind für das 18. Jahrhundert nur sehr schwer zu beantworten. Aus Ton und Anzahl der Gesuche um Gehaltsaufbesserung, die seinerzeit die Personalakten füllten, kann zwar geschlossen werden, daß die Lage nicht unbedingt rosig war.159 Relativiert gehört dieser Eindruck aber insofern, als die Bitten in der Regel ja nicht unerhört blieben und auch schon vor 1769 teils erhebliche Zulagen gewährt wurden. Ferner gehörte es zu den Konventionen des damaligen Systems, den Anspruch auf Zulagen nicht nur auf erbrachte Leistungen zu stützen, sondern auch an das persönliche Fürsorgeverhältnis des Landesherren zu seinen Fürstendienern zu appellieren und die eigene materielle Situation entsprechend dramatisch zu schildern.160 Freilich sollen die zweifellos echten Notsituationen einzelner Personen sowie die allgemein bescheidenen und unwägbaren Verhältnisse nicht bagatellisiert werden. In Krisenzeiten, etwa nach der Mißernte von 1770/71, konnte die Lage schnell prekär werden. 161 Im übrigen ist daraufhinzuweisen, daß hier nur von den relativ gut versorgten Ordinarien die Rede ist. Für diese deuten Indizien auf ein Subsistenzniveau hin, das nach damaligen Verhältnissen beachtlich war. So konnten sich etwa die Gehälter in der Gründungszeit mit denen Halles und Göttingens messen, nicht zuletzt auch in Anbetracht der eher niedrigen Erlanger Lebenshaltungskosten. 162

158 D e m Theologen Althaus gewährte man 1925 anläßlich eines abgelehnten Rufes Kolleggeldeinnahmen von jährlich 5.000 R M , eine Summe, die 1930 wegen einer weiteren Rufablehnung auf6.000 R M erhöht wurde. KuMi an Senat, 20.11.1925; KuMi an Senat, 10.9.1930. Personalakt (PA) Althaus (BA1); dem Mathematiker Radon wurden bei seiner Berufung nach Erlangen 1.250 RM garantiert. Bestallungsdekret, München, 30.6.1925. PA Radon (BA300); dem Historiker Brandt bei gleicher Gelegenheit 1.500 RM. Bestallungsdekret, München, 24.10.1928. PA Brandt (BA 213); dem Theologen Eiert bei seiner Ernennung z u m planmäßigen Ordinarius 3.000 R M (auf drei Jahre begrenzt). Bestallungsdekret, 30.1.1932. PAElert (BA 11); dem Vertreter der Physikalischen Chemie G. Scheibe wegen eines abgelehnten Rufes 1.000 RM. PA Scheibe (BA 312). 159 So für Erlangen: Wendehorst, Geschichte, S. 28; diesen Schluß allgemein für die deutschen Universitäten des 18. Jahrhunderts ziehend: McClelland, State, S. 90f. 160 Vgl. allgemein zur streng persönlichen Basis der Beziehungen des »patrimonialen Beamtentums« zu seinem Dienstherren. Weber, M., Wirtschaft und Gesellschaft, S. 580-605. 161 Vgl. Jaklin, S. 93. 162 Vg\. Jakob, A , Zur Vorgeschichte, S. 169.

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Für einige Ordinarien war es sogar möglich, in begrenztem Maße Vermögen zu bilden. Soweit erkennbar, wurde vorwiegend in Sachwerte investiert. Eine Durchsicht der Grundakten ergab, daß immerhin sechs von 19 Personen, die im Jahr 1810 als Ordinarien an der Erlanger Universität lehrten, Hauseigentümer waren.163 Immobilienbesitz von teils hohem Wert ist auch schon für Ordinarien sicher bezeugt, die vor 1810 in Erlangen lehrten..164 Herausragend war hier wiederum der Theologe Seiler, dem nicht weniger als sechs Erlanger Wohnhäuser gehörten.165 Viel Geld wurde in Bücher investiert. So soll etwa die Privatbibliothek des Historikers Meusel an die 10.000 Bände umfaßt haben. Große Summen konnten außerdem die naturkundlichen Sammlungen verschlingen. Die Witwe des Mediziners und Naturkundlers Schreber bot der Universität 1811 die Sammlung ihres Mannes sowie seine 3986 Bände umfassende Bibliothek für 12.786 fl. 51 kr. an, wobei sie betonte, daß die Anschaffungskosten bei weitem höher gelegen hätten.166 Die Sammlung seines Fachkollegen Esper, so versicherten dessen Erben, sei auf einen Wert von 30.000 fl. veranschlagt worden; ihre Aufrichtung und Unterhaltung habe indes zu Schulden und schließlich zum Verkauf unter äußerst ungünstigen Bedingungen geführt.167 163 Der Philologe G.C. Harleß (BA 242) übernahm 1776 aus der Erbmasse der Mutter seiner dritten Ehefrau Katharina Isabella Kießling das in der Grundakte auf5.000 fl. taxierte Haus U n i versitätsstr. 11 für 2.500 fl.; der Orientalist A.F. Pfeiffer (BA295) erwarb 1781 das Haus Friedrichstr. 37 für 2.000 fl. Darüber hinaus gehörten ihm zwei Morgen sog. Schloßgartenfelder, die er 1790 für 210 fl. kaufte; der Philosoph Breyer (BA 214) erwarb 1782 das Haus Bruckerstr. 4 für 1.700 fl.; der Mediziner Loschge (BA 166) 1787 das Haus Goethestr. 29 für 3.450 fl.; der Jurist Glück (BA 79) das Haus Friedrichstr. 35 für 7.500 fl.; der Jurist Gründler (BA 83) ist 1811 als Besitzer des Hauses Hauptstr. 20 aufgeführt, für das steuerlich ein Wert von 6.000 fl. angegeben war. Dieses Haus stellte die Mitgift seiner Frau Johanna Louise Henriette Seiler, der Tochter des Theologen Seiler, dar. STAN, Kataster 1811; Besitzfassionen 1811; Grundakten Hausnrn.: 198, 208, 459. 164 Braun (BA 67) erwarb 1744 das Haus Hauptstr. 15 u. 17 für 3.800 fl.; die Witwe Gonnes (BA 81) verkaufte 1764 das Haus Schloßplatz 5 für 3.500 fl. an J.B. Geiger (BA 75); Roßmann (BA 108) kaufte 1767 das Haus Hauptstr. 20 für 2.450 fl.; Schierschmidt (BA 112) im Jahr 1757 das Haus Hauptstr. 19 für 3.500 fl.; Delius (BA 130) 1763 das Haus Bruckerstr. 12 für 2.000 fl.; Isenflamm (BA 157) 1777 das Haus Marktplatz 6 (Kaufpreis unbekannt); J.P.J. Rudolph (BA 177) 1785 das Haus Friedrichstr. 7 u. 9 (Kaufpreis unbekannt); Papst (BA 290) die Hälfte des Hauses Dreikönigstr. 8 u. 10/Hauptstr. 39 u. 41 (Kaufpreis unbekannt); Mayer (BA278) war nach Kolde Besitzer des Hauses Untere Karlstr. 4, das er 1799 bei seinem Weggang gegen 6.000 fl. an die Universität verkaufte. SiAE, 2.B.69 I-III. Grundzins- oder Lagerbuch, S. 109, S. 117, S. 153, S. 169, S. 240, S. 247f., S. 303; StAE, 2.B.71. Kauf-Briefe, S. 359-361, S. 4 1 5 ^ 1 7 , S. 428f., S. 487f.; StAE, 23.12. Regesten der Kaufbriefe, S. 260f., S. 307f.; UAE, 1/1/84 Die Steuerfreiheit; Kolde, Die Universität, S. 24f. 165 1778 Hauptstr. 48, 1783 Hauptstr. 20, 1790 Schiffstr. 9, 1794 Vierzigmannstr. 6, 1801 Kuttlerstr. (alte Hausnr. 9), 1804 Heuwaagstr. 16 (Kaufpreise unbekannt). Sammelmappe Seiler. StAE, III.29.S. 1 (BA 49). 166 Witwe Schreber an Senat, 27.2.1811. UAE, 1/14/16 Den vorgeschl. Erkauf; 1813 erwarb der Bayerische Staat die Sammlung zum genannten Preis. Vgl. auch: Stählin, Bibliotheca (BA 181). 167 Espers Erben an den bayerischen König, Erlangen, 8.1.1811. Personalakt Esper (BA225).

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Gerade an diesem Beispiel wird deutlich, daß die Professoren bei der Anlage ihrer relativ bescheidenen Uberschüsse nicht unbedingt renditeorientiert vorgingen. Vielmehr wurden zur Befriedigung immaterieller Bedürfnisse, zu denen man neben der Wissenschaftsarbeit in mancherlei Hinsicht auch das Eigenheim zählen kann, ökonomische Verluste in Kauf genommen. Reichtum an irdischen Gütern, der nach Lage der Verhältnisse für die meisten ohnehin schwer zu akkumulieren gewesen wäre, entsprach nicht den maßgeblichen Lebenszielen. Damit soll allerdings nicht gesagt sein, daß den Ordinarien die Segnungen von Zins und Zinseszins unbekannt gewesen wären. Laut Protokollbüchern des Erlanger Justizratskollegiums legten der Theologe Huth, der Jurist Geiger, der Mediziner Delius, der Philologe Harleß und der Orientalist Pfeiffer Summen von bis zu 2.000 fl. in zinstragenden Schuldverschreibungen an.168 Gestützt wird die These vom bescheidenen Wohlstand auch von der Tatsache, daß Privatkonkurse nicht vorkamen. Diese Aussage läßt sich mit einiger Sicherheit treffen, da in solchen Fällen die Gläubiger sehr schnell auf Gehaltspfändung aus waren, was aktenkundig wurde. 169 Die Kriegs- und Nachkriegszeit seit 1806 brachte dann allerdings allgemein einen herben Rückschlag. Jahrelang wurden die Gehälter nicht ausgezahlt und dann nur schleppend rückerstattet. Zusammen mit sinkenden Studentenzahlen führte dies zu Verhältnissen, die nach einer Äußerung Breyers »muthig durchgekämpft« sein wollten.170 Auch als die Fortexistenz der Universität gesichert war, konnte von einer wesentlichen Besserstellung zunächst kaum die Rede sein. N i m m t man den Anteil der Hauseigentümer unter den Ordinarien als Meßlatte, hatten sich die Vermögensverhältnisse im Jahr 1828 sogar leicht verschlechtert. Von damals insgesamt 22 Ordinarien waren fünf ihr eigener Haus-

168 H u t h verlieh 1759 und 1760 jeweils den Betrag von 1.000 fl. zu 5% bzw. 6% Zinsen; Geiger 1767 1.000 fl. zu 6% Zinsen; Delius 1771 100 fl. zu 6% Zinsen; Harleß 1787 300 fl. zu halbjährlich 5% Zinsen; A.F. Pfeiffer 1786 750 fl. zu vierteljährlich 4,5% Zinsen, 1790 125 fl. zu halbjährlich 5% Zinsen, 1790 600 fl. zu vierteljährlich 4,5% Zinsen und noch einmal 1790 100 fl. zu halbjährlich 5% Zinsen. Die Laufzeit wurde nicht immer genannt, wo dies geschah, betrug sie immer drei Jahre. StAE, 2.B. 73 I-II. Vormerkungs-Buch, S. 618, S. 638, S. S. 859, S. 994; StAE, 2.B.75. Protocollum, S. 344f., S. 510-512; StAE, 2.B.76. Protocollum, S. 594f., S. 883-885, S. 899f.; StAE, 2.B.77. Protocollum, S. 924f. 169 Dergleichen spielte sich erst nach 1810 ab und betraf auch lediglich die Juristen Gründler und von Wendt, die beide offenbar im Zusammenhang mit den Kriegsereignissen ihr gesamtes Vermögen verloren hatten. Bei beiden wurde nach angezeigter Zahlungsunfähigkeit ein Drittel der Besoldung mit Beschlag belegt und über das Kreis- und Stadtgericht Erlangen an die Gläubiger abgeführt. Prorektor an Quästor, 17.7.1826. Personalakt Gründler (BA 83); UAE, 11/1/14 Lit. W Besoldungsabzüge Wendt betr. (BA 122). 170 Breyer an Senat, 14.8.1822. Personalakt Breyer (BA 214); vgl. allgemein zur damaligen Notsituation: Kolde, Die Universität, S. 129f.; Wendehorst, Geschichte, S. 69.

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herr, die übrigen 17 wohnten zur Miete.171 Nicht mehr knapp ein Drittel wie im Jahr 1810, sondern nur noch knapp ein Viertel der Personen verfügte also im Vormärz über Erlanger Immobilienbesitz. Die wohlsituierte Subsistenz mit allenfalls bescheidener Vermögensakkumulation entsprach auch ferner sowohl den objektiven Möglichkeiten als auch den subjektiven Leitbildern. Das läßt sich gut aus einem Schreiben ersehen, das Döderlein 1844 an den Kandidaten für den staatswissenschaftlichen Lehrstuhl Weinlig sandte. Richtig sei, so Döderlein, daß eine Familie mit vier Kindern von den 1.200 fl. Gehalt kaum leben könne, ohne sich sehr einzuschränken. Ein hiesiger Gymnasiallehrer beziehe zwar nur 600 bis 700 fl., »allein ein Universitätsprofessor hat für seine Bedürfnisse ein anderes Maaß und Gewicht.« Weinlig dürfe aber nicht die Honorare vergessen, die seine Einkünfte mit Sicherheit auf 1.600-1.800 fl. steigern würden. Die Miete für vier Zimmer und einige Kammern betrage nur 100-150 fl. Kurzum, ein Mann mit Frau und drei Kindern könne hier mit 1.600 fl. »anständig und bequem leben«. Weinlig, der den Ruf annahm, aber ein Jahr später als Regierungsrat nach Dresden wechselte, schwärmte rückblickend von den Erlanger Verhältnissen. N u r 2.000 fl. habe er für einen Haushalt von fünf Personen im ganzen gebraucht, dabei sehr gesellig gelebt und »alles mitgemacht«. Die Miete von jährlich 170 fl. für eine FünfZimmer-Wohnung und die 70 fl. pro Monat, mit der seine Frau »bei ganz gutem Leben« den Haushalt bestreiten konnte, empfand er als äußerst günstig.172 An beiden Stellungnahmen fällt auf, daß Rücklagen in nennenswerter Höhe offensichtlich nicht vorgesehen waren. Sieht man von den Beiträgen für die Witwenkassen ab, zehrten die Kosten einer standesgemäßen Lebenshaltung das Einkommen offenbar auf Als der Philosoph Mehmel 1840 starb, betrug der Wert seines Nachlasses nach Schätzungen des Kreis- und Stadtgerichts Erlangen 3.732 fl.. Nach über vierzigjähriger Dienstzeit entsprach das Portfolio eines Ordinarius also gerade einmal dem Zweieinhalbfachen seines letzten Jahressalärs.173 Dabei war Mehmel noch einigermaßen gut gestellt. Andere, etwa der Theologe Ranke, der sieben Kinder zu versorgen hatte, mußten schon nach kurzer Zeit bei Verwandten um Unterstützung nachsuchen. 174 171 1828 wurde als Stichjahr gewählt, da aufgrund eines überlieferten Adressenverzeichnisses vollständige Angaben vorliegen: Akademisches Adreßbuch ... 1828. 172 Döderlein an Weinlig, Erlangen, 5.6.1844; Weinlig an Wilhelm Roscher, Dresden, 20.11.1846. Albert Weinlig in Briefen, S. 188f„ S. 239f. (BA 332). 173 Mehmels letztes Gehalt betrug 1200 fl. als Ordinarius und 300 fl. als Bibliothekar. Kreisund Stadtgericht Erlangen an Senat, 22.1.1841; Prorektor an Quästorat, 27.8.1808; Gehaltsdekret, München, 27.4.1817. Personalakt Mehmel (BA 279). 174 Für Ranke bedeutete die Versetzung von der Stelle als Konsistorialrat, Dekan und Pfarrer in Thurnau bei Bayreuth in die Erlanger Professur nach eigenen Angaben nicht nur wegen mangelhaft beglichener Umzugskosten einen großen finanziellen Verlust. Sei er zuvor mit gut 1.200 £1. bei 30 fl. Mietausgaben gerade ausgekommen, erhalte er hier nur knapp 1.200 fl.; außerdem habe er für sein Logis nun 175 fl. zu berappen. Im Mai 1841 bat er daher seinen Bruder, den Historiker

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Es war die Auffassung verbreitet, daß die immateriellen Vorzüge des Professorenberufs für manche äußeren Nachteile zu entschädigen hatten. Jedenfalls gab es mehrere Fälle, in denen die freiwillige Annahme des Erlanger Ordinariats gegenüber der letzten Stellung einkommensmäßig einen deutlichen Rückschritt bedeutete. Wenn Privatvermögen darangegeben wurde, galt dies als nichts Ungewöhnliches. 175 D e m üblichen Eingangsgehalt nach rangierten die Ordinarien, die mit 1.200 fl. bedacht waren, in Bayern auf einer Höhe mit Registratoren in Ministerien, Landrichtern, Rentbeamten der I. und II. Klasse und Kommissären der Polizeidirektion, diejenigen, die nur 600 bis 900 fl. erhielten, zusammen mit Rentbeamten III. Klasse, Bauingenieuren I. und II. Klasse, Ministerialkanzlisten sowie Sekretären, Registratoren und Rechnungskommissären I., II. und III. Klasse.176 Die hohe Reputation, die der Professorenberuf seinerzeit bereits besaß, läßt sich nur bedingt an der Gehaltsskala ablesen. Erste größere Geldvermögen gab es im späten 19. Jahrhundert. So konnte etwa der Staatsrechtler Marquardsen ein Kapital von 100.000 Mark, also nahezu das 18fache seines letzten Jahresgehaltes, hinterlassen.177 Dabei spielte sicher der verstärkte Zustrom eine Rolle, den die Erlanger Professorenschaft von Seiten betuchter Unternehmer- und Freiberuflersöhne zu verzeichnen hatte. Für die Naturwissenschaftler Emil Fischer und Hans Lenk ist überliefert, daß sie schon als junge Männer aufgrund ererbter Vermögen wirtschaftlich unabhängigwaren. 178 Die gewandelten Verhältnisse lassen sich aber vor allem am Immo-

Leopold Ranke, um ein Darlehen von 100 Talern. Briefe an Leopold Ranke, Erlangen, 2.4.1841 (Nr. 79), 6.5.1841 (Nr. 80). Fuchs, Ranke, S. 202 (BA 43). 175 Schubert merkte 1818 zu seinem Gehaltes von 1.000 fl. an, daß er in seiner vorigen Stellung als Lehrer der Herzogin von Mecklenburg-Schwerin ohne »ziemlich bedeutende« Nebeneinnahmen 2.700 fl. bezogen habe. Er beantragte, wenigstens die ungefähre Hälfte davon, nämlich 1.400 fl., zugesprochen zu bekommen. O b das Versprechen des Ministeriums, ab dem nächsten Etatjahr auf ihn Rücksicht zu nehmen, eingehalten wurde, ist unklar. Schubert wählte die Erlanger Professur ohne äußere Not, da er zugleich Versuche ablehnte, ihn als Lehrer in Ludwigslust zu halten. Bestallungsdekret, München, 14.10.1818; Schubert an Senat, Ludwigslust, 3.11.1818; Senat an bayerischen König, 1.12.1818; M d l an Senat, 28.12.1818. Personalakt Schubert (BA 316); auch der Mathematiker v. Staudt (BA 325), der zuvor Gymnasiallehrer in Nürnberg gewesen war, nahm 1835 aus freien Stücken ein deutlich geringeres Salär in Kauf, um als Erlanger Professor wirken zu können; offensichtlich mußte er zu seinem Unterhalt auf Privatvermögen zurückgreifen. Vgl. Jacobs, S. 686f. 176 Nach einem Gehaltsregulativ des bayerischen Finanzministeriums vom 16.2.1826. Vgl. Schanz, Z u r Entwicklung, S. 183f. 177 Marquardsen erhielt zuletzt ein Gehalt von 5.640 Mark. Nach Mitteilung des Erlanger Stadtmagistrats stand die Witwe 1898 im Genuß einer Kapitalrente von jährlich 4.000 Mark, woraus man das Vorhandensein eines Kapitalstocks von ungefähr 100.000 Mark ableitete. Gehaltsdekret, 5.6.1881; VWA an Ernst Marquardsen, 17.1.1898. Personalakt Marquardsen (BA 101). 178 Emil Fischer, Sohn eines rheinischen Industriellen, erhielt mit 21 Jahren von seinem Vater eine Summe ausbezahlt, deren Zinsen nach eigenen Angaben bei nicht übertriebenen Ansprüchen zum Lebensunterhalt vollkommen ausreichte. Fischer, Aus meinem Leben, S. 60 (BA

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bilienbesitz ablesen. Von insgesamt 47 Ordinarien im Jahr 1910 wohnten 29 (61,7 Prozent) in den eigenen vier Wänden. Dabei ist mit zu veranschlagen, daß es sich in mindestens 21 Fällen nicht mehr um die Übernahme von Altbaubestand im historischen Kern der Neustadt handelte, sondern um aufwendige und repräsentative Neubauten in den Villenvierteln der damaligen Stadtränder.179 Professoren, die mit eigenen Geldmitteln den Unterricht trugen oder sich wegen vorhandener Kapitalien mit subsistenzunterschreitender Besoldung zufrieden gaben, gehörten der Vergangenheit an. Umgekehrt wurden auch Gehaltsforderungen nicht mehr wie früher mit fehlendem Privatvermögen gerechtfertigt. Soweit erkennbar, ging so letztmals der Kriminalrechtlers Hugo Meyer während der Berufungsverhandlungen im Jahr 1870 vor.180 Obwohl gerade um die Jahrhundertwende die Einkommensschere zwischen den Professoren infolge äußerst unterschiedlicher Honorareinnahmen weit auseinanderging, genossen nicht nur die Spitzenverdiener den neuen Wohlstand. Ohne jede Nebeneinnahme, sondern nur mit dem seit 1908 garantierten Anfangsgehalt von 6.000 Mark gehörte jeder Erlanger Ordinarius zu den 1,8 Prozent der bayerischen Steuerpflichtigen, die 1911 ein Jahreseinkommen von 6.000 oder mehr Mark aufwiesen.181 Auch im Vergleich zu anderen Beamtenberufen war ein Aufstieg erfolgt, da man 1909 mindestens mit den Regierungs-, Oberzoll- und Oberlandesgerichtsräten sowie den Landgerichtsdirektoren gleichrangig war, dagegen Rentbeamte, Land- und Amtsrichter sowie die beamteten Bauingenieure hinter sich gelassen hatte. Rechnet man die Honorare mit ein, die ja nun teils erheblich höher sein konnten als die Gehälter, standen die Spitzenverdiener unter den Ordinarien den Beamten der höchsten Gehaltsklassen, etwa Oberappellationsgerichtspräsidenten oder Regierungspräsidenten, einkommensmäßig in nichts nach.182 Gemessen am erreichten Wohlstandsniveau, waren die Einbußen der Kriegsund Nachkriegszeit beträchtlich, trafen die Professoren aber nicht härter als andere Bevölkerungsgruppen. Neben der relativ guten Gehaltsentwicklung sorgte dafür auch der weitverbreitete Immobilienbesitz, der die Geldentwer-

230); Hans Lenk, Sohn eines Geheimen Ministerialsekretärs und späteren Rechtsanwaltes, war nach dem Tod seines Vaters (1882) schon zu Beginn des Studiums aller geldlichen Sorgen ledig. Vgl. Freyberg, Hans Lenk, S. XXVf. (BA 271). 179 Adressen und Besitzverhältnisse nach: Uebersicht des Personal-Standes, WS 1909/10, SS 1910, WS 1910/1 i; Adreßbuch... Erlangen, Jg. 1911. Die grobe Einschätzung der Erbauungszeit und des Bauaufwandes erfolgte aufgrund einer persönlichen Inaugenscheinnahme, die in den meisten Fällen noch möglich ist. 180 Meyer (BA 102) an Staatsminister v. Lutz, Halle, 18.9.1870. Personalakt Schmidtlein (BA 113). 181 Vgl. Zorn, S. 847. 182 Vgl. Schanz, Z u r Entwicklung, S. 216-218.

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tung unbeschadet überstand. In Einzelfällen war auch weiterhin echter Reichtum möglich, wie der Fall des Gynäkologen Wintz erweist, der wohl nicht zuletzt wegen seiner sehr engen Verbindungen mit der lokalen Industrie über außerordentlich hohe Einkünfte verfügte und zwei Häuser in Erlangen sowie einen Landsitz in Zusmarshausen besaß.183 Andere Indizien zeigen aber, daß der Gürtel bei den meisten doch enger geschnallt werden mußte. Erstmals seit den energischen Reformen Hardenbergs184 begannen beispielsweise wieder Kredit- und Vorschußgesuche die Personalakten zu füllen. Der Historiker Brandt, der Philosoph Leser und der Theologe Althaus erbaten von der Universität mit unterschiedlichem Erfolg günstige Hypothekendarlehen in Höhe von 10.000 bis 25.000 RM.185 Ein ums andere Vorschußgesuch stellte der Indogermanist von Negelein in den Jahren 1928 und 1929,186 und nicht nur der Alttestamentier Procksch wird sich 1931 durch die Gehaltskürzungen der Brüningschen Deflationspolitik in eine echte Notlage versetzt gesehen haben.187 Wie knapp auch nach dem vorläufigen Ende der Krisenjahre in Gelddingen kalkuliert werden mußte, erweist ein Antrag von Althaus, der 1936 um vorschußweise Auszahlung seiner garantierten Hörgelder bat, da er im Sommer die meisten Zahlungen zu leisten habe. Dabei zählte Althaus aufgrund mehrfacher Rufablehnung eher zu den besser gestellten Ordinarien.188 Soweit erkennbar, wurden derlei Unerfreulichkeiten jedoch erstaunlich gelassen hingenommen. Das gilt nicht nur für die Kriegsphase, in der Opfer als Selbstverständlichkeit angesehen wurden, 189 sondern auch für die Zeit danach. Die Forschungsmeinung, die Modernefeindlichkeit deutscher Hochschullehrer, speziell ihre Ablehnung des Weimarer Staates, sei durch das Gefühl ver183 Vgl. Sandweg, D e r Verrat, S. 112; Friederich, S. 545f.; S a m m e l m a p p e W i n t z . StAE, III.54.W.1 (BA 200). 184 Vgl. Willett, Die Verwaltung, S. 215. 185 O b Brandts W u n s c h auf ein H y p o t h e k e n d a r l e h e n von 14.000 R M erfüllt w u r d e , ließ sich nicht ermitteln. Brandt an VWA, D e z . 1928. Personalakt (PA) Brandt (BA 213); Lesers G e s u c h u m 25.000 R M zur Finanzierung eines H a u s b a u s am Burgberg lehnte der Verwaltungsausschuß ab. VWA an Leser, 28.2.1930. PA Leser (BA 272); aus Anlaß eines abgelehnten Rufes nach Halle w u r d e hingegen Althaus 1929 ein Besoldungsvorschuß von 10.000 R M z u m Bau eines Familienw o h n h a u s e s gewährt, der bei sechsprozentiger Verzinsung in monatlichen, v o m Gehalt einzubehaltenden Tilgungsraten von 150 R M zurückgezahlt w e r d e n sollte. 1930 stundete das Ministeriu m Tilgung u n d Verzinsung u n d sicherte Althaus bei weiterem f ü n f j ä h r i g e m Verbleib in Erlangen zu, die Restschuld v o n 8.350 R M zu erlassen, was auch geschah. K u M i an VWA, 17.6.1929; K u M i an VWA, 10.9.1930; K u M i an Rektor, 18.10.1935. PA Althaus (BA 1). 186 Personalakt v. Negelein ( B A 2 8 5 ) . 187 Prockschs G e s u c h u m B e f r e i u n g von einer f ü n f p r o z e n t i g e n K ü r z u n g lehnte das Minister i u m aus prinzipiellen Erwägungen heraus ab. K u M i an Rektor, 15.10.1931. Personalakt Procksch (BA42). 188 Das G e s u c h w u r d e , u m keine Präzedenzfälle a u f k o m m e n zu lassen, v o m M i n i s t e r i u m abgelehnt. Althaus an Rektor, 4.7.1936; K u M i an Rektor, 17.7.1936. Personalakt Althaus (BA 1). 189 Vgl. Blessing, S. 94.

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stärkt worden, materiell ins Hintertreffen geraten zu sein,190 läßt sich nicht auf Aussagen Erlanger Ordinarien stützen. Deren Stellungnahmen lassen vielmehr den Schluß zu, daß man nüchtern genug war, die eigene Lage in Relation zur übergreifenden Misere angemessen einzuschätzen. Fast als sorgloses Idyll stellte der Geograph Gradmann im nachhinein die Situation während der Hyperinflation dar. Der Staat habe sich genügend u m Aufbesserung gekümmert und alle acht Tage eine zusätzliche Geldsendung überwiesen. Der Verlust des Vermögens sei leicht zu verschmerzen gewesen, da nie wirkliche N o t geherrscht habe und alle anderen Leuten ja schließlich genauso betroffen gewesen seien. Was ihn anginge, habe er 1923 vergnügt im Biergarten gesessen.191 Betont stoisch gab sich der Philosoph Hensel, der bereits im Krieg den Großteil seiner Ersparnisse verloren hatte, aber erfreut konstatieren konnte, daß es ihm nicht allzu schwer falle, auf seine alten Tage wieder »das einzelne Pfennigstück ansehen zu müssen, bevor ich es ausgebe«.192 Während Hensel ohne große Probleme an die alte idealistische Verbindung zwischen Gelehrtentum und Askese anknüpfen konnte, lagen bei dem Zivilrechtler Kübler die Nerven blank. Als auf dem Höhepunkt der Inflation eine Vorschußanweisung über 1,5 Billionen Mark nicht in voller H ö h e ausbezahlt werden konnte, überkam ihn am Rentamtsschalter ein Wutaubruch. Aber auch Kübler war weit davon entfernt, dem Staat eine Benachteiligung der höheren Beamten zu unterstellen, sondern führte sein überreiztes Verhalten auf die Verzweiflung über die allgemeinen politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse zurück. 193

4.4. Private L e b e n s f ü h r u n g

4.4.1. Wohnen 4.4.1.1. Wohntopographie U m zu klären, wie zu verschiedenen Zeiten Berufs- und Privatbereich aufeinander abgestimmt waren, muß zunächst der Frage nachgegangen werden, in welchen Teilen Erlangens die Ordinarien ihren Wohnsitz hatten. Für diejenigen, die vor 1871 ihr Amt antraten, lautet die Antwort einheitlich: im mauerumgrenzten historischen Kern, und zwar - von vereinzelten Ausnahmen abge190 Vgl. Ringer, T h e Decline, S. 63;Jansen, S. 27-31. 191 Gradmann, Lebenserinnerungen, S. 119 (BA238). 192 Brief an Fritz Medicus, 1921. Zit. nach: Medkus, Paul Hensel, S. 150 (BA249). 193 Kübler hatte die Vorschußanweisung zerknittert und den Beamten mit einem »Da habt ihr euren Fetzen« ins Büro geschleudert. Obersekretär Dirsch an den Vorstand des Universitätsrentamtes, 6.11.1923; Kübler an Prorektor, 9.11.1923. Personalakt Kübler ( B A 9 2 ) .

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sehen - nicht in der Altstadt, sondern in der markgräflichen Neustadt. Soweit sich in diesem engen Areal überhaupt eine Konzentration ausmachen läßt, sind für das Stichjahr 1775 neben der Hauptstraße die nähere Umgebung des Schloßplatzes sowie der Französisch-reformierten und der Neustädter Kirche zu nennen. Im Stichjahr 1828 waren lediglich die Ausläufer der Friedrichstraße dazugekommen, in der sich zahlreiche Adelspalais befanden. Daß sich daran bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein nichts wesentliches änderte, bestätigt auch die Auswertung aller ansonsten ermittelten Wohnadressen. 194 Im Einklang mit dem herkömmlichen Wohnverhalten der Oberschicht schlugen die Professoren ihr Quartier also mit Vorliebe im Stadtzentrum auf 195 Dabei wurde die Altstadt auffällig gemieden. Mit der räumlichen Entfernung oder wohnrechtlichen Bedingungen kann das kaum zusammenhängen, da beide Stadtteile baulich bereits weitgehend verbunden waren und seit 1812 auch kommunal eine Einheit bildeten. Die markgräfliche Neugründung, in der das enge Nebeneinander von gewerblichen, höfischen sowie universitären Gebäuden, Arealen und Bevölkerungsgruppen ein vergleichsweise urbanes Milieu erzeugten, besaß eindeutig eine größere Anziehungskraft als die agrarisch geprägte Altstadt. Die Ausweitung des bebauten Erlanger Stadtareals, die gestiegene finanzielle Potenz sowie eine übergreifende Umwandlung der allgemeinen Lebens- und Wohnkultur führte dazu, daß die Professoren die alte Stadtmauer, wohntopographisch gesehen, seit den Gründerjahren binnen weniger Jahrzehnte nahezu vollzählig überschritten. Wie Abb. 21 demonstriert, hielt es bereits annähernd vierzig Prozent derjenigen, die im Dezennium nach der Reichsgründung ihr Erlanger Amt antraten, nicht mehr zwischen den nüchternen Putz- und Sandsteinfassaden. In der Mehrzahl bevorzugte man allerdings noch nicht die neuen Villenviertel, sondern die »Außere Innenstadt«. Hier dominierten mehrstöckige, funktional gegliederte und geschlossene Häuserreihen, die seit den Gründerjahren in enger räumlicher Anbindung an die Kernstadt, vor allem in der Umgebung der Henkestraße und des Lorlebergplatzes, errichtet wurden. Die Berufungsjahrgänge 1881 bis 1890 entschieden sich dann nur noch zu einem knappen Fünftel für die alte Innenstadt. In seiner Anziehungskraft deutlich gestiegen war die »Äußere Innenstadt«, neben die sich nun aber vor allem das »Villenviertel Ost« im Bereich von Hindenburg-, Schiller- und Loewenichstraße mit seinen repräsentativen, freistehenden Wohnbauten der wohlhabenden Oberschicht schob.

194 Die Stichjahre wurden gewählt, da für sie jeweils vollständige Angaben vorlagen. 1775: Freyesleben, S. 10-13; 1828: Akademisches Adreßbuch ... 1828. Insgesamt konnten die Wohnadressen von 139 der insgesamt 180 Ordinarien (77,2 Prozent) ermittelt werden, die bis einschließlich 1870 ernannt wurden. 195 Vgl. Wendehorst, Die Entwicklung, S. 73; ders., Geschichte, S. 133f.

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Abb. 21: Wohntopographie Erlanger Ordinarien 1871-1933196 100%

80%

Wohnviertel ¡1 Sonstiges • Burg-/Rathsberg • Villenviertel Ost • Außere Innenstadt • Kernstadt

60%

40%

20%

Elm 1871-1880 1881-1890 1891-1905 1906-1918 1919-1933 Antritt des Erlanger Ordinariats Quelle:

Vgl. Seite 66, Fußnote 6.

Seit der Jahrhundertwende betrug der Anteil der Kernstadtbewohner nur noch etwa zehn Prozent. Bei näherem Hinsehen entpuppen sie sich obendrein in der Mehrzahl als Sonderfälle. Die Betreffenden verblieben teils nur sehr kurz in Erlangen und hatten mithin kaum Gelegenheit zur wohlüberlegten Etablierung eines Domizils. Bei anderen, vor allem Gynäkologen und Botanikern, lagen die Dienstwohnungen im Innenstadtbereich. Ansonsten waren nun überwiegend die Villenviertel gefragt, deren Schwerpunkt sich, einhergehend mit den Bebauungsphasen Erlangens, von den östlichen Stadtteilen in Richtung Norden zum Burgberg und Rathsberg verlagerte. Der Anteil der »Äußeren Innenstadt« ging im 20. Jahrhundert von etwa einem Drittel auf ungefähr ein Fünftel zurück. Vollends wurden selbstverständlich die neuen Industrieund Arbeiterviertel am Verlauf der Bahn und der östlichen Ausfallstraßen gemieden.

196 Falls eine Person innerhalb Erlangens umzog und somit mehr als eine Adresse vorlag, war diejenige maßgeblich, unter der zuletzt gewohnt wurde (dies gilt nicht bei besonderen Umständen wie Zwangsausquartierung, Zerstörung, U m z u g ins Haus der Kinder o.a.). Als Quellengrundlage d i e n t e n i n s b e s o n d e r e d i e A d r e s s e n a n g a b e n in: Uebersicht des Personal-Standes;

Adreßbuch...

Erlangen;

die Einteilung der Stadtviertel folgt Blüthgen, Die Erlanger Stadtviertel, S. 1 lf.

293

4.4.1.2. Wohnsituation Da die Professoren bis in die Gründerzeit hinein nicht als Bauherren auftraten, entsprachen ihre Wohngebäude ganz überwiegend dem Normtypus der zweioder dreigädigen Erlanger Bürgerhäuser, die sich dem Betrachter in geschlossener, schmuckloser und einheitlicher Bauweise darboten. Ihre Raumgliederung war entsprechend den Anforderungen des vorindustriellen Handwerks- und Gewerbewesens wenig differenziert. 197 Analog der Produktionsform der lokalen Hauptgewerbe gingen auch bei den Hochschullehrern Haushalt und Arbeitsplatz ineinander über. In der Wohnung fanden Vorlesungen statt; hier stellte man die Unterrichtsmaterialien auf selbst wenn sie im Besitz der Universität waren; hier wurde schließlich nach den bescheidenen Möglichkeiten der damaligen Zeit Forschung betrieben. 198 Daß sich damit in vielen Fällen ein Raumproblem stellte, liegt auf der Hand. Besonders scheint das für die Naturwissenschaftler gegolten zu haben. So weiß man von Schreber, daß er für Bibliothek, Herbarium und Naturalienkabinett je einen Raum benötigte und extra einen Durchbruch zum Nachbarhaus durchführen ließ, um ein Labor einzurichten. Die Sammlung seines Fachkollegen Esper nahm allein drei volle Zimmer in Anspruch; außerdem befanden sich noch viele Stücke in den Schränken der Wohnstube und des übrigen Wohngelasses.199 Die Uberschneidung von Berufs- und Privatbereich erweist sich hier deutlich. Auch wenn Bilder oder authentische Schilderungen kaum überliefert sind, kann davon ausgegangen werden, daß die familiale Konsum- und Lebenssphäre der Professoren noch wenig autark war. Weil der Wohnzuschnitt aus Platzmangel und wegen baulicher Vorgaben kaum sehr differenziert gewesen sein wird, zudem fortlaufend Studenten im Wohnbereich unterrichtet wurden und sich das Berufsutensil allgegenwärtig zeigte, blieben die Spielräume einer individualisierten bzw. repräsentativen Wohnkultur empfindlich beschränkt. Andererseits sind schon im 18. Jahrhundert Vorboten eines Wandels auszumachen. 200 So konnte sich der Professor, der sein Haus im größeren Stil als Studentenpension zur Verfugung stellte und für die Kostgänger auch naturalwirtschaftlich tätig war, trotz steuerlicher Anreize in Erlangen nicht mehr etablieren. Zwar arbeitete der Hochschullehrer noch überwiegend zu Hause, konzentrierte sich dabei aber zunehmend auf den Wissenschaftsberuf; zwar 197 Vgl .Jakob, A., Die Neustadt, S. 119-191. 198 Vgl. Ders., Vom Allzweckbau, S. 215f.; allgemein zur Wohnsituation des Hochschullehrers im 18. Jahrhundert: McClelland, State, S. 170f.; Busch, S. 29f. 199 Z u Schreber (BA 181) vgl. Martins, S. 128; zu Esper: Espers Erben an den bayerischen König, Erlangen, 8.1.1811. Personalakt Esper (BA 225) 200 Vgl. allgemein zum Wandel in der bürgerlichen wie auch professoralen Wohnkultur: Bödeker, S. 35f.; McClelland, State, S. 170f.; Busch, S. 29f.

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gingen die Studenten ein und aus, aber nur tagsüber und nicht an Sonn- und Feiertagen. Eine Brückenfunktion zwischen Wohnhaus und Arbeitsplatz konnte außerdem die Dienstwohnung ausfüllen. Markantes Beispiel ist der Fall des Mediziners und Naturwissenschaftlers Hildebrandt. Das Amtsdomizil in der Unteren Karlstraße, in dessen Genuß er sich 1799 laut Kolde mit »etwas rücksichtsloser Energie« brachte, nämlich unter Nutzung seiner guten Beziehungen zu Hardenberg ohne Konsultierung des Senats, umfaßte zwei zusammengebaute, zweigädige Häuser mit Hof und Hofgebäuden. Dadurch wurde eine Teilung in Amts- und Wohnbereich möglich. Ein Haus fungierte als Wohnung für die siebenköpfige Familie, in dem anderen waren die Unterrichtsräume, ein Laboratorium und die wissenschaftlichen Apparate untergebracht. Hildebrandt wirkte zwar auch als Mediziner und Arzt, aber er stellte diesen Bereich seiner Tätigkeit immer stärker zugunsten der naturwissenschaftlichen Forschung und Lehre zurück. Zudem war er der erste Erlanger Naturkundler, der seinen U n terricht mit Versuchsdemonstrationen anschaulich machte. Fichte saß 1805 unter seinen Hörern. Der zukunftsweisende Professorentypus, den Hildebrandt in mancherlei Hinsicht verkörperte, manifestierte sich demnach auch in seinem resoluten Streben nach getrennter Arbeits- und Privatsphäre.201 Schließlich gab es innerhalb des historischen Stadtkerns auch Häuser, die einigen wohlhabenden Professoren günstige Bedingungen zur Kultivierung verfeinerter Wohnformen boten. Der Jurist Glück, verheiratet und Vater von vier Kindern, erwarb 1805 von Hofkonditor Knab das Lyncker'sche Palais (Friedrichstraße 35) für 7.500 fl. Zwar fügte sich das zweigädige Gebäude wie andere Adelspalais seiner Außenansicht nach bruchlos in die Fassadengestaltung der Erlanger Normhäuser ein; in Anbetracht seiner Größe sowie einiger anderer Merkmale kann man es jedoch eindeutig einer anderen Qualitätsklasse zuordnen. Z u m Anwesen zählte nämlich neben ansehnlichen Wirtschaftsgebäuden auch ein langgestreckter Garten. Einer zeitgenössischen Lithographie nach zu schließen, diente er keinen naturalwirtschaftlichen Zwecken. Junge Bäume, Topfpflanzen, Zierbeete sowie eine kleine Teichanlage mit Sitzgruppe, alles durch hohes Mauerwerk abgeschirmt, deuten vielmehr daraufhin, daß er privater Rückzugsort der Professorenfamilie war und etwaigen Gästen vornehme Lebensverhältnisse zu demonstrieren hatte. Von besonderem Interesse ist schließlich die Nachricht, daß Glück für seine Vorlesungen noch zusätzlich ein eigenes Auditorium errichten ließ.202 201 Vgl. Kolde, Die Universität, S. 24f., Zitat: S. 24; STAN, Kataster 1811, Bd. 2; Besitzfassionen 1811, Bd. 9; Grundakte Hausnrn. 444 u. 445; Gehaltsdekret, 1.9.1804. Personalakt Hildebrandt; Bischof, Kurzer Bericht, S. 1 - 5 (BA 252); Martins, S. 142f. 202 STAN, Kataster 1811, Bd. 2; Besitzfassionen 1811, Bd. 7; Allgemeine deutsche Biographie, Bd. 9, S. 254; die Lithographie, die um 1825 von Christian Rothe angefertigt wurde, ist wiedergegeben in: Wendehorst/Pfeiffer, Erlangen, Tafelteil, Nr. 74. (Original: Stadtarchiv Erlangen); vgl. auch: Deuerlein, Das Lyncker'sche Palais, S. 28-31 (BA 79).

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Gerade an diesem Beispiel wird der Wandel der professoralen Wohnverhältnisse deutlich. Familien-, Konsum-, Wirtschafts- und Berufsleben spielten sich allesamt zwar noch in enger räumlicher Nähe ab, den einzelnen Bereichen wurden aber zunehmend funktional differenzierte Lokalitäten zugewiesen. Daß dies unter direktem Zugriff auf ehemalige Adelsgebäude geschah, ist sicher kein Zufall, hatte sich doch der Überlegenheitsanspruch der Nobilität jahrhundertelang auf eine Wohn- und Lebenskultur gestützt, deren integraler Bestandteil die demonstrative Freistellung von unmittelbaren hauswirtschaftlichen Pflichten gewesen war. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde die Wohnung des Professors immer mehr von den Unterrichtsbürden befreit. Der Residenzbesitz, der 1818 an die Universität fiel, war zwar in großen Teilen renovierungs- und umbaubedürftig, eröffnete auch keineswegs optimale Lehr- und Forschungsbedingungen, bot aber doch die Möglichkeit, Veranstaltungen, Bibliotheken und Sammlungen vom Privatbereich des Professors räumlich zu trennen. Der Entwicklungsschub, der seit der Jahrhundertmitte das bauliche Antlitz der Universität rapide veränderte, führte dann zur endgültigen Berufsentlastung der Hochschullehrerwohnstuben. 203 Konnte bereits im Vormärz die Etablierung des >offenen Hauses< als deutliches Zeichen dafür gewertet werden, daß der Schwerpunkt der professoralen Wohnkultur zunehmend vom arbeits- und berufsbestimmten auf den gesellschaftlich-repräsentativen und privaten Lebensbereich verlegt wurde, mußte doch die spezifische Bauweise der Erlanger Gewerbebürgerhäuser mit ihren wenigen Zimmern und niedrigen Decken den Bemühungen um verfeinerte Lebensführung Grenzen setzen. Döderlein hatte 1844 in dem schon mehrfach zitierten Werbebrief an den Staatswissenschaftler Weinlig einzugestehen, daß die hiesigen Wohnungen wohl »freundlich wie ganz Erlangen«, auch sehr preiswert, aber zweifelsohne nicht von »leipziger Eleganz« seien.204 Wesentliche Verbesserungen wurden hier erst seit der Gründerzeit möglich. Die Professoren konnten nun Neubauten beziehen oder sich das gewünschte Eigenheim nach eigenen Vorstellungen errichten zu lassen. Wie lebte es sich in den großzügig angelegten neuen Mietshäusern der »Äußeren Innenstadt«, die ja zunächst etwas stärker bevorzugt wurden? Als Beispiel sei das 1892 erbaute dreigeschossige Doppelgebäude Bismarckstraße 14 herausgegriffen, in dem nach der Jahrhundertwende gleich zwei Erlanger Ordinarien, der Strafrechtler Allfeld und der Historiker Beckmann, beide verheiratet und zwei Kinder, ihr Domizil hatten. Die zwei Teilhäuser hatten laut Bauplan beide einen eigenen Eingang und jeweils drei geräumige Hauptwohnungen, von denen jede eine Etage ausmachte. Kleiner war lediglich die eine Erdge203 Vgl .Jakob, A, Vom Allzweckbau, S. 218-221. 204 Döderlein an Weinlig, Erlangen, 5.6.1844. Albert Weinlig in Brufen, S. 188f. (BA 332).

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schoßwohnung, da hier Platz für einen kleinen Laden mit separatem Eingang ausgespart wurde. Alle übrigen Hauptwohnungen verfügten über einen Korridor, von dem aus vier große und hohe Zimmer zu erreichen waren. Dazu kamen Küche, Speisekammer, Badezimmer und Abort. Obwohl sich die exakte Wohnlage der beiden Ordinarien nicht ermitteln ließ, ist doch anzunehmen, daß jeder von ihnen zumindest eine der fünf großen Hauptwohnungen gemietet hatte. Neben Allfeld und Beckmann sind jedenfalls im Adreßbuch von 1909 als Bewohner nur noch die Hausbesitzerin, die Witwe eines Schieferdeckermeisters, sowie ein Porzellanmalermeister aufgeführt. Allerdings wurden in das Adressenbuch nur Personen eingetragen, die einem selbständigen Haushalt vorstanden. Neben den Familienangehörigen der Genannten konnten sehr wohl noch mehr Menschen im Haus wohnen, zumal im Souterrain und auf dem Dachboden noch einige Zimmer vorhanden waren. So ergab eine Durchsicht der Personalstandsverzeichnisse der Universität, daß 1909/10 allein vier Studenten unter der Adresse Bismarckstraße 14 gemeldet waren. Nicht zu vergessen ist im übrigen das Personal. Bei Allfeld waren 1907 gleichzeitig zwei, bei Beckmann ein Dienstmädchen angestellt. Da sowohl Allfeld als auch Beckmann das Gebäude mehrere Jahrzehnte lang bewohnten, familiär gewissermaßen in Durchschnittsverhältnissen standen, Allfeld obendrein zu den Spitzenverdienern unter den Professoren gehörte, hing diese Wohnsituation offensichtlich nicht mit irgendwelchen Sonder- oder Ubergangsbedingungen zusammen, sondern deckte alle seinerzeit üblichen Komfortansprüche eines Ordinarius voll ab.205 Spätestens seit der Jahrhundertwende stillte indes die Mehrzahl das Bedürfnis nach einem eigenen Wohnbau im villenbesetzten Außengürtel der Stadt. Maßstäbe dürfte hier sicherlich das monumentale Domizil gesetzt haben, das sich Max Busch 1905/06 in der Schillerstraße errichten ließ. Busch gehörte als Chemiker zweifellos zu den Professoren mit sehr hohen Einkünften und war zudem als Sohn und Schwiegersohn betuchter Unternehmer in der Lage, auf reiches Privatvermögen zurückgreifen. Seine Wohnverhältnisse können stellvertretend für diejenigen Personen betrachtet werden, die auf Kosten eher wenig Rücksicht zu nehmen hatten. Das Gebäude nahm eine Grundfläche von 340 qm ein und war von einem großen Garten umgeben. Die verwinkelte Fassade, die mit ihrem historisierend-eklektischen Ensemble aus Erkern, Baikonen, Giebeln, Fenstern und kleinen Türmchen den Eindruck eines kleinen Schlosses hervorruft, unterstreicht, daß auch bei Neubauten die Lebenskultur des Adels ein wichtiger Orientierungspunkt blieb und zudem der äußeren Schauseite des Wohnens nun verstärkte Aufmerksamkeit zugewendet wurde. Innen erreichte man eine 205 Allfeld (BA 62) lebte u n t e r der Adresse v o n 1901 bis 1934, Beckmann (BA 208) v o n 1907 bis 1928. Uebersicht des Personal-Standes', Adreßbuch ... Erlangen; StAE, 510 d. 1/2. Bauakte Bismarckstr. 14; StAE, 6.B.488.R.205.C.1. Einheberegister.

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strengen Differenzierung der Funktionsbereiche. Das Erdgeschoß diente, abgesehen von Küche und Speisekammern, der Pflege des gesellschaftlichen Lebens. An den Hauseingang schloß sich laut Bauplan zunächst eine geräumige Empfangsdiele (39,8 qm) an. Von hier aus konnten das Eßzimmer (37,5 qm) und der »Salon« (23,8 qm) betreten werden. Den Ehepartnern wurden für ihre komplementären Aufgabengebiete mit einem sogenannten »Damenzimmer« (22,5 qm) und der unentbehrlichen Bibliothek (40,5 qm) besondere Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt. Im Obergeschoß sollte sich das familiale Privatleben abspielen. Wohnzimmer, Bad sowie drei Schlafzimmer, die wohl zum Teil als Kinderzimmer verwendet wurden (Busch hatte drei Töchter), machen diese Zweckbestimmung deutlich. Dagegen war außer der Küche alles, was mit hauswirtschaftlicher Tätigkeit zu tun hatte, von den Wohn- und Repräsentationsbereichen der Professorenfamilie sorgsam abgetrennt: zum einem im Dachboden, wo neben Trockenraum und Abstellkammern mehrere Zimmer für die Dienstmädchen bereitgestellt waren; zum anderen im Souterrain, in dem sich Waschküche, Weinkeller, Bügelzimmer, Heizung sowie einige Vorratsräume befanden. Die Unterhaltung des riesigen Anwesens nahm offenbar soviel Arbeitskraft in Anspruch, daß sich Busch noch 1906 zur Einstellung eines eigenen Hausmeisters entschloß und ihm im Keller eine Wohnung, bestehend aus Wohn- und Schlafzimmer, einrichten ließ. Als im November 1941 kurz nach Büschs Tod ein städtischer Erhebungsdienst die Belegungsfähigkeit des Hauses überprüfte, weil Wohnraum benötigt wurde, mußte er feststellen, daß »infolge der Bauart des Hauses« neben der Witwe keine Familie mehr unterzubringen war. In Anbetracht der riesigen Fläche belegt das schlagend den Wandel der professoralen Lebens- und Wohnverhältnisse. An die Stelle barocker Altbauten, die durch unspezifischen Zuschnitt und Allzwecknutzung wenig Möglichkeiten für individuelle Ausdrucksmöglichkeiten geboten hatten, waren Anwesen getreten, die praktisch ausschließlich der Pflege und Präsentation einer fein differenzierten häuslichen Erlebniskultur dienten.206 Nicht alle Ordinarien konnten derart großzügig bauen. Der Philosoph Leser stand seinerzeit am unteren Ende der Einkommensskala. Fast genau zwanzig Jahre hatte er in Erlangen als unbesoldeter Dozent gewirkt, bevor 1921 endlich die Ernennung zum Ordinarius erfolgte. Da eine private Vermögensbasis für den Sohn eines früh verstorbenen Regierungsamtmannes und Schwiegersohn eines Provinzialrentmeisters nicht vorhanden war, beruhte seine wirtschaftliche Subsistenz über Jahrzehnte auf Kollegien-, Vortrags- und Schriftstellerhonoraren, deren Höhe er 1910 auf etwa 1.500 Mark pro Jahr schätzte. Dazu

206 Z u Busch siehe BA217; Baupläne und Schreiben des Erhebungsdienstes v o m 7.11.1941: StAE, 540.C.4/4. Bauakte Schillerstr. 17; Foto und Beschreibung des Anwesens in: Friederkh, S. 391.

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kamen Sonderbeihilfen der Universität sowie seit dem Wintersemester 1913/ 14 ein Lehrauftrag für Pädagogik gegen jährlich 1.200 Mark. Die vierköpfige Familie Leser mietete seit 1904 das Obergeschoß des Hauses Burgbergstraße 41. Nachdem so trotz notorischer Geldknappheit zumindest in vornehmer Wohnlage gelebt wurde, setzte Leser nach seiner Ernennung zum Ordinarius alles daran, in derselben Umgebung auch zu seinem eigenen Haus zu kommen. Dabei mußte Schritt für Schritt vorgegangen werden. 1926 erwarb er das 1913 qm große Grundstück Burgbergstraße 55, auf das ein Jahr später zunächst einmal nur ein Eingangstor gesetzt wurde. Bei der weiteren Bebauung kam es zu Schwierigkeiten. Lesers Gesuch, aus Universitätsmitteln ein Hypothekendarlehren von 25.000 RM »zu mäßigem Zinsfluß« zu erhalten, wurde im Januar 1930 vom Verwaltungsausschuß abgelehnt; man empfand den Finanzierungsplan des Kollegen als zu vage. Leser mußte sich fürs erste damit begnügen, eine Garage für seinen Kraftwagen auf dem Grundstück errichten zu lassen. Mit den Bauplänen, die erst im Dezember 1932 bei den städtischen Behörden eingereicht wurden, stieß er zunächst auf Genehmigungsprobleme, da das Haus offenbar aus Kostengründen in reiner Holzbauweise errichtet werden sollte, was in Erlangen völlig neu war. Das Eigenheim, das der Philosophiedozent endlich aber doch im August 1933 beziehen konnte, nimmt sich denn auch wesentlich bescheidener aus als die Busch-Villa. Die Fassade des zweigeschossigen Gebäudes mit einfachem Satteldach war unspektakulär, es umfaßte zudem mit 160 qm eine deutlich kleinere Grundfläche. Die innere Funktionsgliederung stand indes voll in Einklang mit den gewandelten Wohnbedürfnissen: Empfangsdiele, Eßzimmer, Bibliothek und Küche umgrenzten den beruflichen und repräsentativen Trakt im Erdgeschoß. Wohn-, Schlaf-, Kinder- und Badezimmer im Obergeschoß dienten der Kultivierung des familialen Innenlebens, während der hauswirtschaftliche Bereich in den Keller ausgelagert wurde. 207 Lange hatte Leser gebraucht, um in diese Verhältnisse zu gelangen; viele Hürden waren zu überwinden gewesen, bis seine Bemühungen ein relativ bescheidenes Ergebnis erbrachten. Die zähe Ausdauer, mit der das Ziel auch noch in hohem Alter verfolgt wurde, kann allerdings als um so deutlicheres Signal dafür verstanden werden, in welchem Ausmaß der großbürgerlich-distinguierte Wohnstil zu einem fundamentalen Lebensbedürfnis geworden war.

207 Einkommensverhältnisse nach Personalakte (PA) (BA272); zur Wohnadresse 1904-1933: Uebersicht des Personal-Standes; Adreßbuch ... Erlangen; zum Gesuch um ein Hypothekendarlehen: VWAan Leser, 28.2.1930. PALeser; Baumaßnahmen und Baupläne nach: StAE, 510.d.4/l. Bauakte Burgbergstr. 55.

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4.4.2. Der Professor und seine »Freizeit« Freizeitbetätigungen, etwa im musischen Sektor oder auf dem Felde der körperlichen Ertüchtigung, lassen unter der Annahme, daß der Umstand der Aktivität mit einer gewissen Passion oder Überzeugung verbunden ist, auf bestimmte Grunddispositionen der Lebensführung schließen. Aufgrund der lückenhaften Materiallage verbietet sich dabei eine streng quantifizierende Behandlung; es sollen vielmehr Tendenzen geschildert werden. Im 18. Jahrhundert dominierten erkennbar sachlich-pragmatische Tätigkeiten. So ließ sich nur für einen einzigen der Gründungsordinarien, den Juristen Braun, der die Violine beherrschte, eine aktive musische Betätigung nachweisen. Daneben beschäftigte sich Braun auch mit dem Handwerk des Glasschleifens. Der Mediziner Delius wandte seine Aufmerksamkeit der Pflege seltener Pflanzen zu, während sich sein Kollege Schreber nahezu ausschließlich darauf beschränkte, in einsamer und rastloser Emsigkeit die eigene Naturaliensammlung zu vervollkommnen. Auch von dem Pandektisten Glück wird mitgeteilt, er habe seine Studierstube nur für gelegentliche Spaziergänge verlassen. Persönliche Begabungen wurden pragmatisch in Dienst gestellt. So nutzte der Mediziner Loschge sein Zeichentalent, um naturhistorische Gegenstände abzubilden. Im Kontext eines unmittelbaren Praxisbezuges standen schließlich die Leidenschaften des Rechtswissenschaftlers Klüber, der sich mit so heterogenen Bereichen wie der Astronomie, Kryptographik, Referierkunst oder dem deutschen Postwesen beschäftigte. 208 Nicht nur was die Wohnraumnutzung, sondern auch was die Organisation des Zeitbudgets angeht, kann für die Professoren des 18. Jahrhunderts eine deutliche Uberschneidung von beruflicher und privater Sphäre konstatiert werden. Die Gelehrtenstube stand im Zentrum der Lebenswelt, stetiges Arbeiten kennzeichnete den Tagesablauf.209 Widmete man sich Gebieten, die nicht in unmittelbarer Nähe zur eigenen Fachwissenschaft standen, wurden meist solche mit direkten praktischen Anwendungsmöglichkeiten bevorzugt. Trotz eingeschränkter Uberlieferungslage fällt auf daß alle genannten Personen der Juristischen oder Medizinischen Fakultät angehörten. Das ist um so aussagekräftiger, als seit dem späten 18. Jahrhundert die ersten vereinzelten Indizien für die Kultivierung einer übergeordneten, >funktionslosen< Lebensführung fast ausschließlich aufseiten der Philosophischen und Theologischen Fakultät bemerkbar sind. So spielten die Theologen Seiler, Rosenmüller und Ammon sowie der Physiker Mayer Klavier. Ammon komponierte eigene Hymnen. Der Philosoph Breyer versuchte sich in Poesie und Dichtung. Daß zumin-

208 Siehe BA 67, 130, 181, 79, 166, 90; vgl. zu Schreber auch: Marius, S. 136f. 209 Mit ähnlichen Ergebnissen für Göttingen: Panke-Kochinke, S. 64f.

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dest Seiler und Ammon sowie der Philosoph Mehmel passionierte Reiter waren, kann als weiteres Indiz für das Aufkeimen einer Lebenskultur gesehen werden, die ihre Fundierung auch jenseits der Gelehrtenstube oder des unmittelbaren Nützlichkeitsanspruches hatte210 Zur Befreiung aus der Enge der Gelehrtenstube kam es auf breiter Basis, das heißt in allen Fakultäten, erst im 19. Jahrhundert. Recht deutlich wird das zunächst auf dem Gebiet des Sports. Professoren, die sich mit Leidenschaft zumindest in jüngeren Jahren dem Reitsport gewidmet hatten, zur Jagd gegangen, geschwommen, Schlittschuh gelaufen waren, geturnt oder gefochten hatten und diese Aktivitäten teils auch als gestandene Ordinarien weiter fortführten, bildeten nun bei weitem keine Ausnahme mehr. Seit der Jahrhundertwende kamen auch ausgefallenere Sportarten wie Segeln, Tennis oder Skilaufen hinzu.211 Zahlreiche Professoren vereinigten sich nun zudem in der gemeinsamen Leidenschaft für die Alpinistik. Die Erlanger Sektion des Deutschen Alpenvereins, die 1890 ins Leben gerufen wurde, war zunächst lange Jahre eine mehr oder wenige geschlossene Veranstaltung der Akademikerschaft. Mindestens 29 Erlanger Ordinarien gehörten ihr bis zum Ende des Untersuchungszeitraumes an.212 Bei der Betrachtung der Einzeldisziplinen zeigt sich, daß die Anzahl an Theologen sowie Mitgliedern der »Philosophischen Sektion«, die bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein bei dererlei Aktivitäten noch recht gut, zumindest aber durchschnittlich vertreten gewesen waren, seitdem merk-

210 Siehe BA 49, 45, 2, 278, 214, 279. 211 Regelmäßige körperliche Ertüchtigung (Spaziergänge ausgenommen) bzw. aktive Mitgliedschaft in einem Sportverein konnten nachgewiesen werden für: 1811-1848: Theologen: Engelhardt (Eislaufen), Harleß (Reiten, Turnen, Schwimmen, Fechten), Ebrard (Reiten, Turnen, Schwimmen, Fechten,); Juristen: Schelling (Reiten), Gerber (Jagd); Mediziner: Henke (Reiten), Roßhirt (Jagd), Stromeyer (Reiten,Jagd); »Phil. Sek.«: Raumer (Turnen, Eislaufen) (BA 13,19,10, 110, 78, 151, 176, 189, 302); 1849-1890: Theologen: Hauck (Turnen); Juristen: Seuffert (Schwimmen, Eislaufen), Sehling (Turnen); Mediziner: Ziemssen (Turnen, Schwimmen), Bäumler (Turnen), Penzoldt (Jagd), Hauser (Turnen, Schwimmen, Rudern); »Phil. Sek.«: Hegel (Turnen, Schwimmen, Eislaufen, Fechten), Bezold (Schwimmen), Eheberg (Jagd); »Nat. Sek.«: E. Fischer (Jagd, Schwimmen, Fechten) (BA21, 117,116, 202, 126, 172,148,245, 211, 223, 239); 1891-1933: Juristen: Siber (Turnen); Mediziner: Graser (Reiten, Schwimmen), Hasselwander (Segeln), Müller (Reiten), Molitoris (Bergsteigen), Goetze (Jagd, Turnen, Leichtathletik), Wagner (Tennis); »Phil. Sek.«: Klotz (Reiten); »Nat. Sek.«: Paal (Jagd), Lenk (Jagd), Gradmann (Reiten, Turnen, Schwimmen, Eislaufen), Pummerer (Tennis, Skilaufen) (BA 118, 144, 146, 170, 169, 143, 194, 263, 289, 271, 238, 299). 212 Mitglied waren nachgewiesenermaßen: Theologen: Köhler; Juristen: Hellwig, Sehling, Kipp, Rehm, Allfeld, Siber; Mediziner: Heineke, Hauser, Eversbusch, Graser, Hasselwander, Hermann, B. Fleischer, Spuler, Brock; »Phil. Sek.«: Class, Eheberg, Römer; »Nat. Sekt.«: Hilger, O. Fischer, Obbeke, Wiedemann, E. Beckmann, Fleischmann, Paal, Lenk, Busch, Pummerer (BA 32, 86, 116, 89, 105, 62, 118, 150, 148, 134,144,146, 152, 135, 188, 127, 218, 223, 307, 253, 232, 288,335,207,234,289,271,217,299). Ausgewertet wurden neben Einzelhinweisen die Verzeichnisse in: StAE, 32.8.A.1 D.A.V.; 100Jahre Sektion Erlangen.

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lieh zurückging. Anhaltend hoch respektive deutlich steigend war dagegen gleichzeitig das entsprechende Engagement unter den Vertretern der übrigen Fachbereiche, insbesondere unter Medizinern und Naturwissenschaftlern. Das 19. Jahrhundert wurde aber vor allem zu einer Hoch-Zeit kultiviertbildungsbürgerlicher Lebensführung. 213 Ablesen läßt sich das an dem veränderten Leseverhalten der Professoren. So wird noch für das 18. Jahrhundert berichtet, daß etwa der Naturgeschichtler Esper jeden Morgen aus dem griechischen N e u e n Testament gelesen habe oder auf dem Nachttisch des Mediziners Wendt stets die Schriften von Horaz, Vergil oder Ovid sowie ebenfalls das N e u e Testament bereit gelegen hätten.214 An die Stelle solcher »intensiver Wiederholungslektüre« kanonisierter Texte trat am Ende des 18. Jahrhunderts, wie allein schon die maßgebliche Rolle der Hochschullehrer in der Erlanger Lesegesellschaft erweist, die »extensive Lektüre neuer Lesestoffe«.215 Vor allem aber bemühten sich die Ordinarien um musische Aktivität. Für stolze 23 Prozent aller 1811 bis 1848 sowie 26,7 Prozent aller 1849 bis 1890 ernannten Ordinarien ließ sich eine solche nachweisen, wobei eine nicht geringe Dunkelziffer zu vermuten steht. Im 20. Jahrhundert (Ernennungszeitraum 1891 bis 1933) ging der entsprechende Anteil dann wieder auf 17 Prozent zurück. Bevorzugt wurden zu etwa gleichen Teilen das Verfassen literarischer Texte (meist von Gedichten) 216 und das Spielen eines Musikinstrumentes. 217 Auch der Gesang stand hoch im Kurs.218 Schwächer und erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts

213 Vgl. allgemein: Kosetleck, S. 23, S. 35-41; Bödeker, S. 3 6 - 3 9 . 214 Siehe BA 225, 198. 215 Zitate: Bödeker, S. 36f.. 216 Eigene literarische V e r s u c h e sind nachgewiesen f ü r f o l g e n d e P e r s o n e n : 1811-1848: T h e o l o g e n : Kaiser, Engelhardt, H o f m a n n , Ebrard; Mediziner: Harleß, Stromeyer; »Phil. Sek.«: Kanne; »Nat. Sek.«: Schubert (BA 30, 13, 24, 10, 145, 189, 258, 316); 1849-1890: T h e o l o g e n : Delitzsch; Mediziner: K u ß m a u l , Zenker, Penzoldt; »Phil. Sek.«: Schaden, Weizsäcker, Schöne (BA 9, 163, 201, 172, 311, 333, 315); 1891-1933: Mediziner: J a m i n ; »Phil. Sek.«: Jacob; »Nat. Sek.«: Fleischmann (BA 159, 256, 234). 217 Ein I n s t r u m e n t u n d spielten regelmäßig nachgewiesenermaßen folgende Personen: 18111848: T h e o l o g e n : Harleß, Ebrard; Juristen: Lang; Mediziner: Canstatt; »Phil. Sek.«: Kopp (BA 19, 10, 93, 128, 265); 1849-1890: T h e o l o g e n : Frank, Caspari; Mediziner: Ziemssen, Sattler, S t r ü m pell; »Phil. Sek.«: Müller, Wölfflin, Falckenberg, Flasch; »Nat. Sek.«: Hilger, E. Fischer (BA 15, 7, 202, 178, 190, 282, 339, 226, 233, 253, 230); 1891-1933: T h e o l o g e n : Müller, Preuß; Juristen: Allfeld; Mediziner: Graser, Specht, Reinmöller; »Phil. Sek.«: Lippold; »Nat. Sek.«: Fleischmann, Lenk, G r a d m a n n , S c h w e m m t e ( B A 3 7 , 41, 62, 144, 187, 174, 273, 234, 271, 238, 319). 218 Als Sänger bzw. Mitglieder eines Gesangsvereins sind nachgewiesen: 1811-1848: T h e o l o gen: H o f m a n n , Ebrard; Juristen: Lang; Mediziner: Siebold, Stromeyer; »Phil. Sek.«: H e y d e r (BA 24, 10, 93, 186, 189, 251); 1849-1890: Mediziner: Rosenthal, Strümpell; »Phil. Sek.«: Müller, Schöne, Eheberg, Falckenberg; »Nat. Sek.«: Hilger (BA 175, 190, 282, 315, 223, 226, 253); 1 8 9 1 1933: Juristen: Allfeld, O e r t m a n n , Rieker; Mediziner: Graser ( B A 6 2 , 103, 106, 144).

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waren Malerei und Bildhauern 219 , ganz vereinzelt auch die Theaterkunst 220 vertreten. Daß ästhetisch-künstlerische Bildung während des 19. Jahrhunderts zunehmend zu einem integralen Bestandteil der eigenen Identität wurde, läßt sich an neuartigen Geselligkeitsformen ablesen. Abgesehen von der Pflege einer entsprechenden Haus- und Familienkultur trafen sich Professorenehepaare nun regelmäßig zum gemeinsamem Musizieren und Singen, man las Theaterstücke in verteilten Rollen, unterhielt sich über Literatur oder besuchte gemeinsam Konzerte und Ausstellungen.221 Kunst diente außerdem als Medium bürgerlicher Vergesellschaftung. Mit teils äußerst intensivem Engagement versuchten gerade die Professoren, das Erlanger Kulturangebot für ein größeres Publikum zu erweitern. Juristen und Nationalökonomen öffneten sich dem Konzept einer aktiv durchkultivierten Lebensführung erst relativ spät und übten auch dann noch merkliche Zurückhaltung. Ebenfalls nur in Ausnahmen traten die Vertreter der medizinischen Grundlagenwissenschaften, der jüngeren fachärztlichen Disziplinen sowie der stark anwendungsbezogenen naturwissenschaftlichen Fächer hervor. Daß gerade diese Fächergruppen seit dem späten 19. Jahrhundert stark ausgebaut wurden, dürfte zum guten Teil für den anteiligen Rückgang der Personen verantwortlich sein, für die eine künstlerische Tätigkeit nachgewiesen werden konnte. Hauptträger einer ausgeprägt bildungsbürgerlichen Lebenskultur waren dagegen eher die Theologen, die klinischen Mediziner, die Vertreter der theoretischen Naturwissenschaften sowie der Philosophie, klassischen Philologie, Geschichte und Archäologie. Es kann aber noch weiter differenziert werden. Beim Blick auf die einzelnen Musen läßt sich Beobachtung machen, daß die Ordinarien, die sich der bildenden Kunst widmeten, von einer Ausnahme abgesehen, Mediziner und Naturwissenschaftler waren. Von ihnen nahmen mehrere (Sattler, L. Gerlach, Oeller, Lommel, A. Fleischmann) ihr Talent nachweislich auch für berufliche Zwecke in Anspruch, zum Beispiel zur eigenhändigen Illustration von Lehrbüchern oder Modellierung von Demonstrationsobjekten. Es korrespondierten also bis zu einem gewissen Grad Gegenstand und Praxisbezug der Einzelwissenschaften mit dem Verhältnis ihrer Vertreter zu einer

219 Der Zeichnung, Malerei oder plastischen Kunst widmeten sich nachgewiesenermaßen: 1849-1890: Theologen: Hauck; Mediziner: Sattler, L. Gerlach; »Nat. Sek.«: Lommel, Selenka (BA 21, 178, 141, 274, 320); 1891-1933: Mediziner: Oeller, Jamin, Reinmöller, Goetze; »Nat. Sek.«: Fleischmann, Pechuel-Lösche (BA 171, 159, 174, 143, 234, 291). 220 Schauspielerei bzw. Tätigkeit in der Theaterregie konnten nachgewiesen werden für: 1849-1890: »Phil. Sek.«: Flasch; »Nat. Sek.«: Selenka (BA 233, 320); 1891-1933: »Nat. Sek.«: Fleischmann (BA234). 221 Vgl. die Schilderungen bei: Hegel, Leben, S. 175f. (BA245); Strümpell, Aus meinem Leben, S. 176-200 (BA 190); Gradmann, Lebenserinnerungen, S. 120 (BA238).

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Lebenskultur, die dem Ideal der Persönlichkeitsveredelung verbunden respektive dem Anspruch unmittelbarer Nützlichkeit entzogen war. Unter heuristischer Verwendung des Max Weberschen Polaritätsmodells: »>FachmenschenKraft durch Freude™, Kreis Erlangen genannt. 1942-1944 kündigte er Veranstaltungen für die »Volksbildungsstätte

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Die Mathematiker und Naturwissenschaftler bildeten unter den Erlanger Ordinarien diejenige Gruppe, in welcher der Einsatz für Innere Mission und Kirche gegen Ende des 19. Jahrhundert am deutlichsten zurückging.350 Ahnlich wie einige Mediziner kümmerten sich hingegen der Chemiker und Pharmazeut Hilger sowie der Mineraloge Pfaff um den Zustand der hygienischen Einrichtungen Erlangens.351 Zugleich wurden hier die Verflechtungen mit den Interessen von Industrie und Wirtschaft enger. Hilger pflegte vielfältige Kontakte mit Wirtschafts- und Berufsverbänden sowie staatlichen Behörden und setzte sich überaus umfassend für die beruflichen Ansprüche von Apothekerschaft und Nahrungsmittelchemie ein.352 Der Physiker Gudden legte größten Wert darauf, daß in Erlangen Fachphysiker für die Wirtschaft herangebildet wurden. Intensive Verhandlungen mit Universitätsbehörden, Ministerium sowie Industriebetrieben waren notwendig, um das Institut entsprechend instand zu setzen. Seit 1935 verfügte Gudden außerdem über zwei Sonderlabors für optisches Kriegsgerät, die vom Heereswaffenamt und der Nürnberger Rüstungsfirma S.A.F. mit Mitteln ausgestattet wurden. 353 Die Aufnahme der Disziplin chemische Technologie in den Lehrkanon und die Einrichtung einer entsprechenden Abteilung im Chemischen Institut wurde von den Chemikern Busch und Pummerer gegenüber dem Ministerium mit dem Argument durchgesetzt, daß damit Anforderungen der Industrie entsprochen würde, die durch die Technischen Hochschulen nicht abgedeckt seien. Nach Pummerer bot sich das für Erlangen auch deswegen an, »weil viele unserer Studierenden aus Nürnberger Meister-Familien der Industrie oder des Handwerkes stammen und technischen Dingen zunächst viel größeres Interesse entgegenbringen als abstrakt wissenschaftlichen.«354 Das unbefangene Verhältnis zu den sozialen Veränderungen in der Studentenschaft manifestierte sich auch in den großen An-

Erlangen« an; Schmeidler (BA 313) wird im Winterprogramm 1932/33 des Erlanger Volksbildungsbundes als Referent aufgeführt. StAE, 32.33.T.1 Volksbildungsbund Erlangen. 350 Unter den nach 1890 zu Erlanger Ordinarien ernannten Personen waren lediglich Busch, Lenk, Pechuel-Lösche und Solereder Mitglieder des Armenpflegevereins; Kirchenengagement ist nicht bekannt. 351 Vgl. Will, G„ S. 7 - 1 0 ; zu Hilger und F. PfafFsiehe BA 253, 292. 352 Hilger (BA 253) gründete 1883 die »Freie Vereinigung bayerischer Vertreter der angewandten Chemie«, der er vorstand. In Zusammenarbeit mit dem bayerischen Landwirtschaftsverein unterhielt er in Würzburg ein Laboratorium zur Weiterbildung von Pharmazeuten, war Initiator staatlicher Untersuchungsanstalten für Nahrungs- und Genußmittel in Erlangen, Würzburg und München, regte Fortbildungskurse für bayerische Apotheker an, arbeitete bei der gesetzlichen Regelung des Konzessionswesens für Apotheker, an einer Revision der bayerischen Apothekerordnung und an gesetzlichen Regelungen des Nahrungsmittelwesens mit. 353 Zitat: Gudden, Über das Physikalische Institut, S. 49 (BA 239); vgl. auch: Friederkh, S. 362. 354 Pummerer, Nachruf aufMax Busch, S X L I V (BA 299); zu den Motiven für die Einrichtung der neuen Disziplin siehe auch die Lebensbeschreibung Büschs, S. 4f., in: Personalakt Busch (BA 217).

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strengungen, die Busch nach dem Ersten Weltkrieg zur Aufrichtung eines Studentenwerkes gegen manche Widerstände an den Tag legte.355 Was das Bildungsengagement angeht, waren die Mathematiker und die älteren Vertreter der theoretischen Naturwissenschaften offensichtlich stärker mit Fragen des gymnasialen Schulwesens beschäftigt,356 während einige jüngere Vertreter gerade der anwendungsnahen Disziplinen sich den Bedürfnissen der Volksbildung gegenüber relativ offen zeigten.357 In der Bilanz läßt sich festhalten, daß sich die Erlanger Ordinarien nach einer Hoch-Zeit relativ emsiger und einheitlicher Aktivität, die sie besonders in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts zusammengeführt hatte, etwa seit der Reichsgründung spürbar aus der Politik zurückzogen. Zudem begann sich gleichzeitig ihr gemeinnütziges Engagement entlang der verschiedenen Fächergruppen aufzufächern. Mit der nationalen Einheit war eine politische Hauptforderung erfüllt. Der Lehrstuhl bot in sozioökonomischer Hinsicht zunehmende Befriedigung und verlangte dem einzelnen im Kontext der allgemeinen Professionalisierung zudem eine intensive Konzentration auf das jeweilige Wissenschaftsgebiet ab. Das Ziel gesellschaftlicher Integration im Zeichen nationaler Einheit, das die einschlägigen Aktivitäten der Professoren spätestens seit dem Vormärz geleitet hatte, prägte zwar nach wie vor das Gesamtbild, die Wege dazu traten indes ab der Jahrhundertwende teils deutlich auseinander. Während das Gros, gestützt auf die tradierte Autorität von monarchischem Staat und Kirche, die Nationalintegration im Sinne geistig-ideologischer Homogenität, dagegen in der Praxis unter weitgehender Wahrung sozialer Abgeschlossenheit voranzutreiben gedachte, bewies eine Minderheit größere Offenheit gegenüber denjenigen 355 Busch war 1922 Anreger, Mitbegründer und Vorsitzender des »Vereins Erlanger Studentenhilfe«. Er sorgte für ein provisorisches Unterkommen der Mensa, bekämpfte die studentische Wohnungsnot, setzte sich für den Aufbau einer studentischen Stellenvermittlung und Berufsberatung ein und sammelte von Sponsoren etwa 580.000 R M zur Finanzierung des 1930 fertiggestellten Studentenhauses am Langemarckplatz. Wegen dieses Engagements wurde er offenbar von Kollegen kritisiert, die Nachteile für die studentischen Korporationen befürchteten. Näheres ist allerdings nicht bekannt. Lebensbeschreibung Büschs, S. 13f., in: Personalakt Busch; Sammelmappe Busch. StAE, III.125.B1 (BA 217). StAE, 32.547.T.1 Verein Erlanger Studentenhilfe. 356 Der Experimentalphysiker Wiedemann (BA 335) richtete Kolloquien und Ferienkurse zur Weiterbildung von Mittelschullehrern ein. N a c h Auskunft seines Lehrstuhlnachfolgers Gudden war das Institut, das Wiedemann 1926 übergab, größtenteils auf die Bedürfnisse von Lehramtsanwärtern zugeschnitten. Gudden, Über das Physikalische Institut, S. 49 (BA 239); der Mathematiker Haupt (BA 243) bemühte sich in der Erlanger Region intensiv u m den Kontakt zu den Schullehrern seines Faches. Seit 1927 veranstaltete er regelmäßige Treffen mit Gymnasiallehrern, um ihnen die neuesten Entwicklungen der Mathematik vorzustellen. 357 Busch (BA 217) hielt während des Ersten Weltkrieges für Arbeiterverbände Vorträge über die Kriegsrelevanz der Chemie; Gudden (BA 239) ist 1935/36 im Arbeitsplan der »Deutschen Arbeitsfront«, Gau Franken mit zwei gebührenfreien Vorträgen über Leuchttechnik und Lichtwirkung verzeichnet. StAE, 32.409.T.1 Deutsche Arbeitsfront; der Botaniker Schwemmle (BA 319) kündigte 1942 bis 1944 Veranstaltungen für die »Volksbildungsstätte Erlangen« an.

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Gruppierungen und Kräften, die durch die Entwicklung der modernen arbeitsteiligen Industriegesellschaft unübersehbar an Relevanz gewonnen hatten. War das tendenziell eher bei Medizinern, Naturwissenschaftlern und Nationalökonomen, teils auch bei den Juristen der Fall, verblieben die Theologen, die übrigen Vertreter der »Philosophischen Sektion« sowie die Mathematiker offenkundig noch stärker im Kraftfeld des eigenen bildungsbürgerlichen Milieus. Spürbar zeigt sich das auf dem pädagogischen Gebiet. So konnte der Unterschied zwischen den Anstrengungen der Theologen um die umfassende Betreuung der Schüler im Konvikt und dem unbekümmerten Entgegenkommen der Chemiker Busch und Pummerer gegenüber den rein technischen Interessen der Nürnberger Industrie- und Handwerkersöhne wohl größer kaum sein. Aber auch im parteipolitischen Sektor sind Unterschiede erkennbar. Während unter den deutsch-national engagierten Ordinarien nach dem Ersten Weltkrieg vor allem die Theologen den Ton angaben, vertraten die NSDAP-Mitglieder in Mehrheit Disziplinen, die vergleichsweise jung und spezialisiert waren oder einen starken Anwendungsbezug aufwiesen. Damit liegt die Vermutung nahe, daß die modernen Elemente des Nationalsozialismus, etwa die Technikbegeisterung oder das Bedürfnis nach unmittelbar verwertbaren Wissenschaftsergebnissen, auf die Angehörigen dieser Fächer einen gewissen Reiz ausüben konnten. In der offeneren Haltung gegenüber den Erfordernissen und Lebensverhältnissen einer Gesellschaft, die sich auf Massenbasis mobilisiert hatte, könnte auch eine Erklärung dafür zu suchen sein, warum etwa der Physiker Gudden, während der Weimarer Zeit die einzige untersuchte Person, die sich nachweislich in der linksliberalen Parteienlandschaft Erlangens engagierte, 1937 der NSDAP beitrat.

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5. Universität, Wissenschaft und Gesellschaft 5.1. A k a d e m i s c h e s Selbstverständnis u n d Wissenschaftsauffassung

5.1.1. Zwischen Tradition und aufgeklärtem Utilitarismus: Pragmatiker Programmatischer als am Gründungstag der Erlanger Hochschule hätte das akademische Selbstverständnis ihrer ersten Professorengenerationen kaum formuliert werden können: Die Universität, so der Theologe Ellrod in seiner Inaugurationspredigt, »muß eine Werkstätte seyn, worinnen für die Kirche und das gemeine Wesen tüchtige Arbeiter zubereitet werden.« U n d an die Dozenten gewandt, fuhr er fort: »Unser Beruf ist ein wichtiger Beruf. Wir sollen künftige Glieder der Kirche und des Staates bilden.« N u r wenige Tage später nahm Ellrods Fachkollege H u t h den Faden auf und bezeichnete die Hochschüler als »Pflanzen der Gerechtigkeit«, deren Studium insofern zu heiligen sei, als »durch sie die Kirche erbauet, der Staat gebessert, der Mensch aufgerichtet, die Natur der Gnade unterthan, und die Glückseligkeit über die Völker ausgebreitet werde.« Ganz ähnlich sprach der Mediziner Delius 1756 von der Erlanger Neugründung als einer »Pflanz-Städte«, die »wohlgerathene Bürger« hervorzubringen habe. Am radikalsten brachte im Jahr 1782 der Jurist Boll das pragmatische Hochschulkonzept auf den Punkt, indem er eine akademische Ausbildungsstätte postulierte, die einer Fabrik zu gleichen habe. Der jeweilige Fürst sollte als Eigentümer, der Kurator als Fabrikdirektor, die Lehrer als Gesellen, die Schüler bzw. deren Eltern als Käufer und die Wissenschaften als Waren fungieren. N o c h 1825 betonte der Kameralist Harl, nicht von ungefähr ein Günstling Montgelas, den Wert von Bildung allein an ihrer bürgerlichen Brauchbarkeit bemessen zu wollen. 1 Es blieb im übrigen nicht bei Worten. Ellrod etwa sammelte Studenten u m sich - noch in der privaten Organisationsform des »Kränzchens« - , die er durch »zweckmäßige« Übungen auf ihre künftige Wirksamkeit als Prediger und Seelsorger vorbereiten wollte. H u t h war Inaugurator der Erlanger »Teutschen Ge1 Bind, Predigt, S. 58f. (BA 12); Huth, Die Herrlichkeit, S. 214f. (Predigt bei Einweihung der Universitätskirche, 17.11.1743) (BA 27); Delius, Auszug einer Rede, S. 14 (BA 130); Boll, Das Universitätswesen, S. 4 (BA 65); Harl, Entwurf, S. 44; vgl. auch: Ders., Über die gemeinschädlichen Folgen, S. 29(BA241).

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sellschaft«, womit er einem genuinen Defizit des akademischen Ausbildungsprogrammes abzuhelfen suchte. 2 Direkt am praktischen Anwendungsbezug orientiert blieben auch die Institutsgründungen jener Zeit. Das Philologische Seminar, das 1777 durch Gottlieb Christoph Harleß eröffnet wurde, widmete sich ausschließlich der Verbesserung des fürstlichen Schulwesens. Harleß hatte es schon 1761 als Aufgabe des Staates bezeichnet, für gut präparierte Lehrer zu sorgen, da diese ihm wiederum »nützliche Bürger ziehen« könnten. 3 In dem vom Theologen Seiler um 1775 gegründeten Homiletischen Seminar wurde vor allem auf die Einübung einer rechten Deklamation geachtet. Der Vorsteher hörte sich Probepredigten an und achtete akribisch auf die rhetorischen Feinheiten. 4 Erwachtes Gespür für den Mangel an Praxis war es schließlich auch, das 1778 die Einführung des klinischen Unterrichts in Erlangen beförderte. Der Mediziner Wendt, der 1778 mit Unterstützung des Markgrafen eine ambulatorische Universitätsklinik eröffnete, kritisierte den überlieferten akademischen Ausbildungsbetrieb dafür, daß er »blos den Verstand beschäftigt und die Sinne weit weniger, oder wohl gar nicht.« Fehlende Übung könne bei jungen Medizinern, auch wenn sie noch so reiche Kenntnisse besäßen, zu Schwächen in Diagnose und Therapie führen. Notwendig sei also ein Hospital, in dem angehende Arzte »in Gegenwart erfahrener Lehrer Kranke sehen, ihre Zufälle untersuchen und unter der Leitung ihrer geübtem Anführer Arzneien verordnen.« Da Wendt arme Patienten kostenlos behandeln ließ, stellte er die medizinische Wissenschaft zudem in einer für Erlangen neuen Weise für die Zwecke des öffentlichen Wohls in Dienst. 5 Wenn in der Erlanger Neugründung auch noch manche Merkmale des tradierten alteuropäischen Universitätswesens übernommen wurden, etwa die propädeutische Unterordnung der Philosophischen Fakultät, die Anciennitätsabstufung der Professoren oder die Fächerabgrenzung nach konkurrierenden Sportel- und Honorarinteressen, wird man doch nur sehr bedingt unter die »im Zunftwesen erstarrten«6 Hochschulen einordnen dürfen. In allen Fakultäten war vielmehr eine Grundhaltung verbreitet, nach der die Universität unmittelbar für die zweckgerichteten Ziele des Staates, der Kirche und der Gesellschaft in Anspruch genommen werden sollte. Mit einer übergeordneten »funktionslosen« Lebensorientierung, etwa in ästhetisch-künstlerischer oder asketischer Richtung, konnten die damaligen Ordinarien wenig anfangen. Kennzeichnend für die allgemeine Tendenz zu einem pragmatisch-utilitaristischen Wissenschaftsverständnis ist auch der ausgeprägte Erziehungsoptimis2 Z u Ellrods Lehrbemühungen vgl. Engelhardt J.G.V. Die Universität, S. 21; zur »Teutschen Gesellschaft« und Huths Rolle darin siehe oben, Kap. 4.5.1. 3 Harleß, Gedanken, S. 24f. (BA 242); vgl. auch: Pöhlmann, S. 516f.; Füssel, S. 281-283. 4 Vgl. ebd., S. 283f.; zu Seiler siehe BA 49. 5 Wendt, Vorschläge (unpag.) (BA 198); vgl. auch: Lottes, S. 40. 6 Schelsky, S. 21.

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mus. Durch fast alle Stellungnahmen zieht sich die Vorstellung, akademischer Erfolg sei vor allem eine Frage der richtigen Einstellung und Methode. Auf persönliche Anlagen und Talente nahm man, wenn überhaupt, nur am Rande Bezug. Im Einklang mit der mechanistischen Auffassung der Hochschule als Fabrik wurde dabei immer wieder das Bild des emsigen Arbeitsmannes bemüht. Nach Gründungsprofessor Gebauer sollte es für die Universität Erlangen kein Problem sein, mit bedeutenden Konkurrentinnen wie Jena, Leipzig, Halle oder Göttingen mitzuhalten: »Wenn wir nur alle fleißige Arbeiter seyn werden«. 7 Als typisch kann auch der Ratschlag gelten, den Delius 1770 den Medizinstudenten mit auf den Weg gab: »Es kommt nur auf Lust, Fleiß, und eine gute Ordnung, an, in welcher man jedes von den Collegiis hören, und sich den weitern Unterricht der Lehrer, auch die Einleitung derselben, in das ganze Lehr-Gebäude, und die Schrift-Steller [...] zu Nutze zu machen hat.«8

Mühe und Arbeit waren nach Ansicht des Theologen Chladenius diejenigen »Fertigkeiten der Seele [...], die eigentlich die Gelehrten von den Ungelehrten, und insbesondere die Lehrer von den übrigen Hauffen der Menschen unterscheiden sollen.«9 Maßgebliches Gewicht wurde dementsprechend der pädagogischen Gestaltung des akademischen Unterrichts zugemessen. Der Jurist Häberlin forderte beispielsweise ein »Professoren-Seminarium« zur Besserung der Lehrkompetenzen. Nichts war den Vertretern des aufgeklärten Pragmatismus verhaßter als eine trockene Schulmethode und das sinnentleerte Einpauken lebensferner Wissensbestände. Eingängig und anschaulich sollten die Lehrstunden sein, mit Exempeln und Übungen aus der Praxis gespickt und vornehmlich an den konkreten Ausbildungsbedürfnissen der Zuhörer orientiert. Eine Verbindung von Forschung und Lehre erschien nicht notwendig, da es ja vornehmlich darum ging, nützliche Kenntnisse weiterzureichen. So bildeten etwa für den Juristen Elsässer Deutlichkeit und Ordnung des mündlichen Vortrags die höchsten Zierden des akademischen Lehrers. Der Student müsse vom Katheder aus ermuntert und angefeuert werden, und gerade die gelobtesten Schriftsteller seien hierzu oft nicht in der Lage. Hart ging Elsässer mit Kollegen ins Gericht, die ihren Unterricht so gestalteten, »als ob der grössere Theil der Zuhörer auch zu akademischen Lehrern [...] nachgezogen werden soll.« Für die meisten Schüler, die nur auf ihren Beruf vorbereitet sein wollten, mache das keinen Sinn. In dasselbe Horn stieß der Philosoph Papst. Stets, so

7 Zit. nach Engelhardt, J.G.V., Die Universität, S. 37; zum Mediziner Gebauer siehe BA 139. 8 Delius, Kurzer Unterricht, S. 15 (BA 130); ähnliche Aussagen finden sich in den ältesten Erlanger Studienratgebern für Theologen und Juristen: Ellrod, Kurze Anweisung, S. 338 (BA 12); Roßmann, Anweisung, S. 321f. (BA 108); vgl. auch die Werbeschrift des Theologen Krafft: Kraffi, Schreiben, S. 25 (BA34). 9 Chladenius, Von dem Geschmacke, S. 56 (BA 8).

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beeilte er sich 1791 zu versichern, sei es den Erlanger Dozenten darum zu tun gewesen, »die Wissenschaften nach den Bedürfnissen des Zeitalters auszuwählen und die gewählten auch wirklich für die Bedürfnisse der Zuhörer zu lehren.«10 Trotz aller Bekenntnisse, den Anforderungen der Hochschüler entgegenkommen zu wollen, erscheinen die Studenten in den Schriften aber eher als widerspenstige Objekte der Wissensweitergabe und Sozialdisziplinierung. Von dem Mißtrauen, das gegenüber dem studentischen Verbindungswesen gehegt wurde, ist bereits gesprochen worden. Es als Chance zur Selbsterziehung zu begreifen, lag im Kontext der pragmatischen Erziehungsabsichten ja keineswegs nahe. Das Verhältnis von Professoren und Studenten faßte man dementsprechend nicht als eine Gemeinschaft lehrender und lernender Wissenschaftler auf. Delius, von Hardenberg gefragt, ob er nicht eine studentischen Hilfskraft in seinem Laboratorium anstellen wolle, antwortete frei heraus: »wenn ich Jemand erst ein Ding in die Hände geben soll, so thue ich es lieber selbst.« Die Räume, in denen die Sammlungen des Naturkundlers Schreber untergebracht waren, haben nach Erinnerung des Hofapothekers Martius nur wenige Sterbliche gesehen. »Er bewachte sie mit einer nicht zu schildernden Aengstlichkeit.«11 Was den Unterricht anging, wurde klar nach Gebern und Empfängern nützlicher Kenntnisse geschieden. Die Definitionsmacht über deren Inhalt und damit über den Wissenschaftsgegenstand beanspruchten die Lehrer für sich. Typisch für die damaligen Stellungnahmen war auch die allgemeine Orientierung an der Hofwelt. Die weltgewandte Lebenskultur des Adels galt als nacheifernswertes Vorbild. Nicht zuletzt deshalb wurde die theoriegeleitete und dogmatische Gestaltung des akademischen Unterrichts massiver Kritik unterzogen. Für den Mathematiker Wiedeburg waren die deutschen Universitäten selbst schuld, wenn der deutsche Adel sich vorwiegend im Ausland bildete. Ein unstudierter Fürst, der an seinem Hof ständig Umgang mit Männern der Praxis pflege, könne mit seinem Wissen manchen Gelehrten beschämen. Wenn die Hochschulabsolventen zu den großen und wichtigen Geschäften der Höfe herangezogen und nicht länger für unfruchtbare Glieder des Staates gehalten werden wollten, sei die akademische Ausbildung zu reformieren. 12

10 Brief Häberlins an Klüber, Helmstedt, 9.8.1804. Schneider, Aus den Schicksalsjahren, S. 75 (BA 34); Elsässer, Einige Bemerkungen, S. 3-12, Zitat: S. 9f. (BA 71); Papst, Gegenwärtiger Z u stand, S. 49f. (BA 290); vgl. auch: Ellrod, Kurze Anweisung, S. 344 (BA 12); Delius, Versuch, S. 305 (BA 130); Wiedeburg, Nachricht, S. 8f. (BA 334); Wendt, Vorschläge (unpag.) (BA 198); Seiler, Grundsätze, S.VII-IX (BA 49); Boll, Das Universitätswesen, S. 71f. (BA 65); Hufnagel, [Lebensbeschreibung], S. 308f.; ders., Nachrichten, S. 2 8 6 - 2 8 9 (BA 25); Mörstadt, Nekrolog, S.IV (BA 90); Wendt, Aufruf (unpag.) (BA 122). 11 Martius, S. 127, S. 129, S. 136; zu Delius und Schreber siehe BA 130, 181. 12 Wiedeburg, Nachricht, S. 8f. (BA 334); zum Theologen Seiler (BA 49).

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Daß man auf entsprechende Vorzüge Erlangens, nämlich die Anwesenheit eines Hofes und französischsprachige Bevölkerungsteile, gerne hinwies, den Ausbildungsinteressen junger Edelmänner bereitwillig entgegenkam und sich vom eingesessenen Bürgertum sozial abzugrenzen suchte, ist bereits angesprochen worden. Man beließ es nicht nur bei Worten, sondern bemühte sich auch um die Schauseite erhabener Noblesse. Vom Mediziner Wendt berichtet Rebmann: »Im Umgang ist er ganz Hofmann, und jeder seiner Tritte nach der strengsten Etickette abgemessen.« Uber Schreber heißt es: »Sein ganzes Wesen war gravitätisch, gemessen und aristokratisch.« Wer ihn auf der Straße grüßte, dem wurde »mit fürstlicher Gravität« gedankt. Delius war nach seinen Erinnerungen ebenfalls ein Mann, der viel auf Rang und äußere Würde hielt: »wenn ihm bei der Tafel der Frau Markgräfin [...] nicht der Platz gegeben wurde, den er ansprechen zu können glaubte, so konnte ihn dieß in die übelste Laune versetzen.«13 Zwiespältig beantworteten die Pragmatiker vor diesem Hintergrund die Frage, wie die eigene Berufsgruppe in das zeitgenössische Gesellschaftssystem einzuordnen war. Natürlich wollte man ungern auf Privilegien verzichten, die sich aus der überlieferten korporativ-ständischen Hochschulautonomie ableiten ließen. Beifall für die Extremposition des Kameralisten Harl, der 1811 für alle Auswüchse unter der Studentenschaft die exemte Universitätsjustiz verantwortlich machte und deren völlige Beseitigung forderte, gab es seitens der Kollegen offensichtlich keinen.14 Es war auch durchaus nicht so, daß die lateinische Sprache als Exklusivitätsmerkmal des Gelehrtenstandes im Zeichen pragmatischen Zweckdenkens ohne weiteres aufgegeben wurde. Obwohl Delius schon 1744 eine Lanze für die populäre Vermittlung medizinischer Erkenntnisse in deutscher Sprache brach,15 reichen die Auseinandersetzungen über die Beibehaltung lateinischer Bestandteile in akademischen Prüfungen bis weit ins 19. Jahrhundert hinein. 1817 wurde der Nürnberger Stadtgerichtsassessor Borst gegen den Willen der Universität zum Ordinarius für Zivil- und Kriminalrecht ernannt. Borst, Sohn eines Bauern und bei seiner Ernennung noch nicht promoviert, suchte für seine Dissertation um Dispensation vom Lateinischen nach. Die Fakultät gab keinen Zentimeter nach: »Der geringste Beweis aber, daß man ihm zutrauen könne, ist daß er der Sprache sich mächtig zeigt, worin die Rechtswissenschaft entstanden, fortgebildet ist und fortleben wird, solange gelehrte Bildung unter den Menschen bleibt.«16 Diese Antwort atmet nichts von dem neuhumanistischen Pathos, mit dem seinerzeit die Vertiefung in die 13 Rebmann, Briefe, S. 40f.; Martius, S. 126, S. 132 u. S. 139; Wendt, Schreber, Delius: BA198, 181, 130. 14 Vgl. Harl, Über die gemeinschädlichen Folgen, S. 1-18 (BA 241). 15 Delius, Versuch (BA 130) 16 Mdl an Senat, 31.7.1817; Gutachten der Juristischen Fakultät, 20.8.1817. Personalakt Borst (BA 66).

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alten Sprachen und klassischen Schriften als Mittel wahrer Persönlichkeitsbildung anempfohlen wurde. Vielmehr pries man das Herkommen, um sich von ungewünschten Außenseitern abzuschotten. Noch um 1840 konnte der Kliniker Henke das Latein als »einziges Mittel« bezeichnen, um »uns die Barbiere vom Leibe zu halten«.17 Das Denken und Handeln der damaligen Hochschullehrerschaft war also bei allem Pragmatismus noch stark vom Faktor traditional-berufsständischer Abgeschlossenheit mitbestimmt. Auf der anderen Seite widersprachen die überlieferten Statussymbole und Rituale des akademischen Gelehrtenstandes sowohl dem aufgeklärten Zeitgeist als auch der sozialen Orientierung am Hof Symptomatisch für den Zwiespalt ist ein zeitgenössisches Ölgemälde des Juristen Rudolph. Nach Kleidung, Ausdruck und Hintergrundgestaltung meint man einen galanten Hofmann vor sich zu haben. Der purpurfarbige Talar der Juristischen Fakultät ist eher beiläufig u m die Person herumdrapiert, das zugehörige Barett sitzt nicht auf dem Haupt, sondern liegt seitlich auf einem Podest. Die hergebrachten Berufsattribute scheinen nur der Vollständigkeit halber in das Bild integriert worden zu sein.18 1791 kam es auf Initiative des Historikers Meusel zu einem Senatsbeschluß, durch den der »Zeitverderb« einer prunkvollen Prorektoratsübergabe abgeschafft und die zu »unmodischen Ornaten« bzw. »altväterischen Habiten« erklärten Talare verkauft wurden. Der Erlös sollte einem nützlichen Zweck zukommen. 19 Ferner dominierte in den Äußerungen ein ausgeprägt enzyklopädischer Wissenschaftsbegriff. Delius riet den Medizinstudenten, sich viel Wissen anzueignen, »um das gehörige zu rechter Zeit, und am rechten Ort, anzuwenden.« Der Naturkundler Statius-Müller sprach von der Universität als der »Residenz der Wissenschaften«, deren Hervorbringungen die Welt bereichern und die Völker auf viele tausend Jahre »versorgen« könnten. 20 Die Verwendung der Pluralform »Wissenschaften« ist überhaupt typisch für die Vertreter des Pragmatismus. Sie kennzeichnet eine Auffassung, für die eher das Wachstum zweckdienlicher Einsichten als deren Zusammenhänge im Vordergrund standen. 21 Programmatisch formulierte Meusel noch 1799: 17 Überliefert durch: Stromeyer, Erinnerungen, Bd. 1; S. 206 (BA 189); zu Henke siehe BA 151. 18 Original: Universitätsbibliothek Erlangen, Handschriftenabteilung; Abbildung in: Friederich, S. 243; vgl. auch Willett, Zwischen Adelswelt und Bürgertum, S. 379f; zu Rudolph siehe BA 109. 19 Zit. nach Kolde, Die Universität, S. 44f.; zu Meusel siehe BA 280. 20 Delius, Kurzer Unterricht, S. 26f. (BA 130); Statius-Müller, Einsame Nacht-Gedanken, Bd. 1,S. 51f. (BA 324). 21 Vgl. Ellrod, Predigt, S. 50, S. 62; ders., Kurze Anweisung, S. 344 (BA 12); Chladenius, Ob die Erkenntniß, S. 177 (BA 8); Kraffi, Schreiben, S. 6 (BA 34); Hänlein, Dankpredigt, S. 12-30 (BA 18); Berthold, Das Gedächtnis, S. 7-14 (BA 4); Roßmann, Anweisung, S. 321 (BA 108); Boll, Das Universitätswesen, S. 4, S. 71f. (BA 65); Delius, Versuch, S. 301-308 (BA 130); Wendt, Vorschläge

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»Die Gelehrsamkeit [...] ist der Inbegriffsolcher Kenntnisse, die wegen ihres Umfanges und ihrer Wichtigkeit verdienen mit Gründen schriftlich abgefasst und methodisch vorgetragen zu werden. [...] Ein Gelehrter ist folglich ein Mensch, der in dem Besitz des Inbegriffs solcher Kenntnisse ist. [...] Da es unmöglich ist, daß ein Mensch alle wichtige Wahrheiten sollte einsehen können; so nennt man denjenigen schon einen Gelehrten, der viele solcher Wahrheiten gründlich einsieht.«22 D i e Wertschätzung singulärer Kenntnisse schloß eine kritische B e h a n d l u n g des Tradierten u n d eigene Forschung jenseits der Auslegung v o n Autoritäten nicht aus. I m Gegenteil, der Wissenschaftsbegriff der aufgeklärten Pragmatiker war alles andere als statisch, w o f ü r gerade M e u s e l als Verfechter des empirischen Rationalismus sowie unbedingt zuverlässiger Sammler u n d K ü n d e r neuer Wissensbestände ein gutes Beispiel bietet. 23 Z u m einen aber flössen die Ergebnisse dieser Studien n u r bedingt in den akademischen U n t e r r i c h t ein, da die Einheit von Forschung u n d Lehre unter d e m Vorzeichen pragmatischer Erziehungsabsichten entweder nicht in E r w ä g u n g gezogen oder explizit abgelehnt w u r d e . Z u m anderen zeigt sich an Meusels letzter B e m e r k u n g , daß das polyhistorische Ideal der A u f k l ä r u n g von der Vielzahl der potentiell verwertbaren E r f a h r u n g e n allmählich erdrückt zu w e r d e n drohte. An der hergebrachten universitas aller Erkenntnisgebiete w u r d e zwar offiziell festgehalten. Jenseits der Brauchbarkeit fehlte es aber offensichtlich an e i n e m organisierenden Prinzip des Wissens. Meusel, d e m eingestandenermaßen w e g e n des »herkulischen Arbeitsaufwandes« seiner U n t e r n e h m u n g e n bange w u r d e , oder der Pandektist Glück, dessen ursprünglich auf sechs Teile angelegte K o m m e n t a r s a m m l u n g z u m C o r p u s J u ris nach der Herausgabe von 34 Bänden unvollendet blieb, sind n u r zwei Beispiele f ü r die Perspektivlosigkeit, mit der sich der Grundsatz des enzyklopädischen S a m m e i n s , Beschreibens u n d Klassifizierens a m E n d e des 18. J a h r h u n d e r t s konfrontiert sah. 24 Es war w o h l hauptsächlich das internalisierte Selbstverständnis als fleißiger Arbeiter, das die Betreffenden ihr Sysiphus-Geschäft o h n e j e d e realistische Aussicht auf Abschluß f o r t f ü h r e n ließ.

5.1.2. Das Primat der Persönlichkeit:

Universalisten

I m Jahre 1806 legte Chirurgieprofessor Schreger im Vorwort seines H a n d b u ches »Grundriss der chirurgischen Operationen« den Schülern dringend das S t u d i u m der Geschichte der Medizin ans H e r z , u n d das ausdrücklich nicht

(unpag.) (BA198); Harleß, Gedanken, S. 15f. ( B A 2 4 2 P a p s t , Gegenwärtiger Zustand, S. 53f. (BA 290); Wiedeburg, Nachricht, S. 4f. (BA334). 22 Meusel, Leitfaden, S. lf. (BA280). 23 Vgl .Jakob, R„ S. 229. 24 Meusel, Leitfaden, S.IV (BA 280); zu Glück siehe BA 79.

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bloß »zum Genüsse des Mehrkennens«. Gerade für den Praktiker hätten solche Studien Interesse: »Denn ein wohlgeordneter Reichthum vorschwebender Ideen und Handlungsweisen, vereint mit eingebohrnem künstlerischem Geiste, kann dem Chirurg im Entwerfen der technischen Plane jene Gewandtheit, Allseitigkeit und Bestimmtheit, im Ausführen derselben jene Erhabenheit über allen Zufall, jene Besonnenheit und Fassung geben, welche sein Handeln zum glücklichen Ziele leiten. O h n e dieses ist sein T h u n ein befangenes Handwerk, erhebt sich nie zur Universalität, Hand und Werkzeug wirken aufs Organ, wie Form auf Form, blind, mechanisch.« Gerade bei Operationen, wenn unvorhersehbare Situationen auftreten könnten, dürften Geist und Hand nicht »an eine Wirkungsnorm gefesselt« sein; dem »durch die Geschichte seiner Kunst Gebildeten«, der »sich innig die Erfahrung der Zeiten angeeignet« habe, sei demgegenüber eine Quelle geöffnet, »aus welcher er mit freier Hand die Mittel nach Verschiedenheit der Zwecke schöpft, sie selbst, noch im Momente des Handelns, der Individualität anbildet, und mit ihnen den unvorherberechneten Zufall bekämpft. In dieser Fülle der Kenntnisse liegt zugleich der Keim der Erfindungen, durch welche das Genie die Grenzen der Kunst erweitert, indem es das Mannigfaltige zur Einheit bringt, und das Eine zu mannigfaltigen Zwecken benutzt, Neues schafft und das Alte umformt.« 25

Schregers Ausführungen sind typisch für einen Denkstil, der dem der Pragmatiker teils diametral entgegengesetzt war. Sie verdienen um so stärkere Beachtung, als hier der Vertreter einer betont praktischen Disziplin bereits sehr früh Zeugnis davon ablegte, daß es um die Wende vom 18. auf das 19. Jahrhundert zu einem Paradigmenwechsel kam. Als zentrales Kernelemente der neuen Wissenschaftsauffassung ist zunächst der Holismus zu nennen. Zwar ging es auch Schreger letzten Endes um einen praktischen Endzweck: Die Verbesserung der Operationstechnik. Im Unterschied zu den Pragmatikern suchte Schreger dieses Ziel aber nicht durch einfaches Ansammeln von Kenntnissen und Fertigkeiten zu erreichen, denn dergleichen war seiner Meinung nach nur »Schulgelehrsamkeit« oder »befangenes Handwerk«. Ihm kam es vielmehr auf die rechte Ordnung der Erfahrungen an, die durch eine individuelle, forschende Konstruktionsleistung des Lernenden erreicht werden sollte. Denn wer »das Mannigfaltige zur Einheit bringt«, der konnte sich Schreger zufolge der Vielfalt drängender Anforderungen viel erfolgreicher stellen, sein Denken und Handeln mittels geschärfter Abstraktionsfähigkeit weitaus wirkungsvoller »der Individualität anbilden«. Nicht die Anwendung eines empirisch-kritischen Methodeninstrumentariums oder Forschertätigkeit machte das innovative Element dieser Denkfigur aus. Uber diese Möglichkeiten hatten auch schon die Vorgänger verfügt. Eine prinzipielle Weitabgewandtheit ist ebenfalls nicht festzustellen. Es war vielmehr die Forderung nach Einsicht in die Zusammenhänge, Prinzipien und 25 Schreger, Grundriss, S. 8-10 (»Vorerinnerungen der ersten Ausgabe an meine Zuhörer«) (BA 182).

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Wesensmerkmale der einzelnen Erkenntnisse, die das Hauptunterscheidungsmerkmal zu den Pragmatikern bildete. Angesichts der fundamentalen Wandlungsprozesse, denen der Staat und die Gesellschaft um 1800 ausgesetzt waren, sollte die Einzelperson auf der Basis einer inneren Grundeinstimmung verantwortlich und anpassungsfähig handeln lernen. 26 Praktiker von größerer Flexibilität waren für die Erneuerer allerdings nicht das alleinige Ziel. Hierin sahen sie sogar eher nur das wünschenswerte Nebenprodukt eines sehr viel allgemeineren Anspruches. »Allein auf Universitäten wird das Ganze gefunden«, formulierte der Mediziner Leupoldt 1820. Hauptziel des Hochschulbesuches sei nicht, für diesen oder jenen Zweck vorzubereiten, sondern »die Wissenschaftlichkeit selber, die innere organische Verknüpfung alles Wissens in so großem Umfange, als immer nur für das bestimmte Zeitalter möglich [...], die Weisheit im ganzen umfassenden Sinne des Wortes.«27 Musterhaft für diesen Standpunkt waren auch die Worte, die der Philosophievertreter Heyder über vierzig Jahre später in einer Prorektoratsrede wählte: Die Universität diene der Bildung der gesamten Persönlichkeit. Sie stünde damit im Gegensatz zu jedem »einseitigen nach Amt und Brod begierigen Betrieb der Fachstudien«, der sich allzuleicht in der Masse der Einzelerfahrungen verliere, der Kenntnisse, aber nicht Wissenschaft erzeuge. Die Universität müsse den Blick für jene Ideen öffnen, die, »auf die letzten Gründe der Forschung gerichtet, alle einzelnen Wissenschaften und ihre Methoden wie ein roter Faden durchziehen.« Erst in diesem Lichte lerne man sein Spezialfach »als Glied, als Organ eines großen Ganzen von Erkenntniß, eines Gesammtsystems des Wahren erkennen und schätzen«.28 Wissenschaft sollte also im Inneren des Akademikers eine Erfahrung von Zusammenhang und Ordnung erzeugen und auf diesem Wege den ganzen Menschen als Zweck seiner selbst zur Entfaltung bringen. Das war eine Auffassung, die bis ins 20. Jahrhundert von einem erheblichen Teil der Mitglieder aller Fakultäten und Fachbereiche, fortan als Universalisten bezeichnet, mehr oder weniger emphatisch vertreten werden sollte.29 Der idealistisch aufgeladene Begriff Bildung, der in diesem Kontext Verwen26 Vgl. Schelsky, S. 63-98. 27 Leupoldt, Über die Bedeutung, S. 59f. (BA 165). 28 Heyder, Rede beim Antritte, S. 6f. (BA 251). 29 Vgl. Harleß, Der Republikanismus, S. 72-81 (BA 145); Erhardt, Das Leben, S. 70-73 (BA 224); Bucher, Einige Worte, S. 8-14 (BA 70); Rust, Stimmen, S.Cf. (BA 46); Staudt, Mathematik, S. 3 - 5 (BA325); v. Raumer, Deutsche Versuche, S. 19-23 (BA303); Gorup vonBesänez, Rede beim Antritte, S. 5-20 (BA 237); Hegel, Die deutsche Sache, S. 4-7 (BA 245); Stintzing, Die deutsche Hochschule, S. 5-17 (BA 120); Frank, Rede beim Antritt [...] 1879, S. 3-17 (BA 15); Zenker, Rede beim Antritt, S. 3 - 1 6 (BA 201); Hilger, Rede beim Antritt, S. 4 (BA 253); Holder, Über das Wesen, S. 3 (BA 87); Wiedemann, Ein Beitrag, S. 49f. (BA 335); Geiger, Die kulturgeschichtliche Bedeutung, S. 3 - 7 (BA 235); Römer, Lebensfragen, S. 9-11 (BA 307); Veit, Geburtshilfe, S. 6-21 (BA 192); Bulle, Vom Wesen, S. 434-444 (BA 216); Grützmacher, Die Auffassung, S. 219, S. 227 (BA 17); Klotz, Nationale und internationale Strömungen, S. 19f. (BA 263)•, Radon, Mathematik, S. 8 3 89 (BA 300); Althaus, Vom Beruf, S. 207-210 (BA 1); Goetze, Das Problem, S. 204-210 (BA 143).

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dung fand, hob sich deutlich von den pragmatischen Erziehungskonzepten des 18. Jahrhunderts ab.30 Kennzeichnend ist für die Universalisten ferner das charismatische Persönlichkeitsideal. Glaube an Begabung, Sendung und innere Berufung, emotionale Vergemeinschaftung, Schöpfung neuer Ideen und Werke, Selbstsozialisation, Wirtschaftsfremdheit, Askese, noviziats-ähnliche Erweckung und Bewährung des Nachwuchses - alle diese Elemente, die nach Max Weber eine charismatische Struktur bedingen, 31 finden sich auch in ihrer Persönlichkeitsauffassung wieder. Der Lebenslauf des Naturhistorikers von Raumer bietet ein gutes Beispiel. Sein Studium in Halle und Göttingen verlief ziellos. Immer mehr wurde von den väterlich verordneten Rechtskollegien auf Sprachen und Geschichte übergewechselt, das Sommersemester 1803 mit gleichgesinnten Freunden sogar in »bewußtem Müßiggang« der breiten Lektüre gewidmet. An das Studienziel, den Brotberuf, konnte von Raumer nur »mit Schauder« denken. 1804 kam es in Steffens' Vorlesungen über Naturgeschichte zum »Wendepunkt« seines Lebens: »Mit der überwältigenden Beredtsamkeit eines Magus rief er in meiner Seele Geister und Bilder der Natur hervor«. Es folgten Mineralogiestudien in Freiberg. Dem Vater wurde erklärt: »Ich würde es für die erbärmlichste Gewissenlosigkeit halten, aus Furcht zu verhungern, auch nur einen Schritt gegen den Beruf zu thun, den ich einmal in mir erkannt.« Während mineralogischer Studien in Paris kam es zu einem erneuten Umschwung: Die Lektüre von Fichtes »Reden an die deutsche Nation« führten zu dem Entschluß, sich an Pestalozzis Heimschule in Yverdon zu begeben, um die trostlose deutsche Lage über die Entwicklung des Erziehungswesens wenden zu helfen. Diesmal mußte der Verlobten erklärt werden, warum es erforderlich war, der eigenen Sendung zu folgen; ihr Wunsch nach baldiger Heirat hatte zurückzustehen. Nach einem enttäuschenden Aufenthalt in der Schweiz und einer kurzen Episode als Sekretär eines hohen preußischen Beamten erfolgte 1811 die ungesuchte Ernennung zum Ordinarius für Mineralogie in Breslau. Aber auch hier hielt es von Raumer nicht lange, da er 1813 bis 1814 als Freiwilliger an den Befreiungskriegen teilnahm. Von der preußischen Regierung wegen seines Eintretens für die Turn- und Burschenschaftsbewegung 1819 nach Halle versetzt, gab er vier Jahre später auch diese Position auf, um die Leitung eines privaten Realerziehungsinstitutes in Nürnberg zu übernehmen. 1827 nahm mit der Berufung auf den Erlanger Lehrstuhl für Naturgeschichte das Wanderleben ein Ende. In Erlangen rief allerdings Raumers intensiver sozialkaritativer und pädagogischer Einsatz anfangs noch manches Unverständnis im eingesessenen Bürgertum, in Kollegenkreisen sowie bei der Regierung hervor.32

30 Vgl. Koselleck, S. 13-20. 31 Vgl. Weber, M., Wirtschaft und Gesellschaft, S. 140-156; vgl. auch: Schmeiser, S. 37-41. 32 Vgl. Karl von Raumer's Leben, S. 13-330. Zitate: S. 28, S. 33, S. 40, S. 46, S. 69 (BA 302).

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In der Generation Erlanger Ordinarien, die um 1780 geboren wurden, war ein derart ruheloser Werdegang, ein solcher konsequent durchgehaltener Widerstand gegen jede traditional-ständische und erwerbszentrierte Bürgerlichkeit kein Einzelfall. Bekannt ist die wechselvolle Biographie Fichtes; aber etwa auch der Lebensweg des Naturhistorikers Schubert zeigt im Hinblick auf den äußeren Lebensweg sowie auf die Widersprüche zwischen den Milieuerwartungen und der innerlich gefühlten Sendung ein sehr ähnliches Muster. 33 In der gesellschaftlichen Situation um 1800, deren Signatur die »soziale Strukturerweiterung in sozial undurchgeformte Lebensräume« 34 war, mußte das neue integrative und identitätsstiftende Konzept der autonomen, zweckfreien Persönlichkeitsentfaltung offenbar noch in weitgehender Isolation gesucht und sodann gegen starke äußere Widerstände behauptet werden. Die eigenständig bewältigte Orientierungskrise und das daraus abgeleitete Sendungsbewußtsein sollten für die Selbstinterpretation der Universalisten stilprägend bleiben. Daß Freiwilligkeit die Basis für die Kultivierung eines Menschen war, galt ihnen als oberstes Prinzip. Akademische Freiheit wurde nicht mehr aus Bedenken vor möglichen Ausschweifungen abgelehnt, sondern als Voraussetzung des individuellen Reifungsprozesses begrüßt. Es war kein Zufall, wenn zur gleichen Zeit der Selbsterziehungsfähigkeit der akademischen Jugend im Rahmen der Korporationen deutlich größeres Vertrauen entgegengebracht wurde. Die von nun an permanent wiederholte Forderung, Lehre und Forschung von unmittelbaren Zweckdefinitionen freizuhalten, kann als Versuch gedeutet werden, dem Akademiker zumindest vorübergehend jene Isolation zu sichern, die man für persönlichkeitsfördernd hielt. Ihren institutionellen Ausdruck fand diese Auffassung in einer Neukonzeption des Privatdozententums, die darauf abzielte, junge Wissenschaftler vorübergehend aus den äußeren Zwängen der bürgerlichen Existenzform herauszunehmen und einer Phase asketischer Reinheit und Selbstfindung auszusetzen. Guter Wille und Fleiß machten in den Augen der Universalisten noch keinen wahren Wissenschaftler. Aus Schregers Lehrbuch geht hervor, daß es zusätzlich des »eingebohrnen künstlerischen Geistes« bzw. des »Genies«, also einer außeralltäglichen Begabung, bedurfte. In diesem Sinne sind Äußerungen zu deuten, in denen die Voraussetzung eines innerlich gefühlten Drangs zur Wissenschaft betont wurde. Raumer rechtfertigte seine Abweichung vom väterlichen Willen mit dem Beruf, den er in sich erkannt habe. Schubert sprach von der Notwendigkeit, dem »Naturtrieb der Seele« zu folgen.35 Viele Ordinarien stilisierten die Erkenntnis ihrer wissenschaftlichen Neigungen im nachhinein zu einem spirituellen Erweckungs- und Umkehrerlebnis. Raumer nannte die Entscheidung

33 Vgl. Schubert, Der Erwerb, Bd. 1, S. 296, S. 330f. (BA 316); zu Fichte siehe BA 228. 34 Schelsky, S. 96f. 35 Schubert, Der Erwerb, Bd. 1, S. 114 (BA316).

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für die Naturgeschichte wie gesehen einen »Wendepunkt«. Der Archäologe Curtius, der Generationen später ebenfalls das väterlich verordnete Berufsstudium abschüttelte, fühlte sich danach »wie neugeboren«. 36 Interessant ist aber vor allem, daß auch streng erfahrungswissenschaftlich eingestellte Mediziner und Naturwissenschaftler des späten 19. Jahrhunderts den Vorgang der Fächerwahl charismatisch auslegten. Der Physiker Lommel versuchte seinen Zuhörern das »Entzücken« begreiflich zu machen, das er empfand, »als ich das Brennen einer Flamme zum ersten Male begriff, oder als ich den wundervollen Mechanismus des Blutumlaufes verstehen lernte, oder als das Zauberreich der galvanischen Ströme sich vor mir aufthat.« Wer so vom »Hauche naturwissenschaftlichen Geistes« berührt sei, entgöttere die Natur nicht, sondern lerne sie »als den edelsten Schmuck, als wahren Kosmos« zu verehren. 37 Ahnlich erweckt fühlte sich der Kliniker Strümpell, als ihm während des Studiums ein isoliert schlagendes Kaltblüterherz vorgeführt wurde: »Der mir noch ungewohnte Anblick des in so wunderbarer Kraft und Regelmäßigkeit arbeitenden Organs machte auf mich einen solchen Eindruck, daß mir die Tränen in die Augen traten. Ich schäme mich dessen nicht; denn Staunen und Ehrfurcht vor der rätselhaften Gesetzmäßigkeit, der unendlichen Mannigfaltigkeit und der ineinander greifenden Einheitlichkeit in der Welt des Organischen müssen denjenigen beseelen, der sich dem Studium der Lebenserscheinungen widmen will.«38 Dem Erziehungsoptimismus der Aufklärung diametral entgegengesetzt war denn auch nicht zuletzt die Art und Weise, mit der man den wissenschaftlichen Aneignungsprozeß auffaßte. Was die Pragmatiker vorwiegend zu einer Frage der rechten Inhalte und Methoden erklärt hatten, verlegten die Universalisten in das Gebiet unergründlicher Seelenvorgänge. Typisch ist die Formulierung Heyders, der dunkel von einer »in der verborgenen Werkstatt des Geistes reifenden Wahrheit des Gedankens« sprach. Das »Ringen und Streben« des Wissenschaftlers war ihm zufolge »nichts, was sich sinnlich wahrnehmen, auch nichts, was sich geistig mit der Deutlichkeit eines gegenwärtigen Ereignisses anschauen läßt«.39 Das Idealbild des asketischen Wissenschaftlers, der sich durch Talent und inneren Ruf auserwählt der kontemplativen Wahrheitssuche weihte, war alles andere als kurzlebig. Durchgehend hoben Vertreter aller Fachbereiche ihre Begeisterung, Leidenschaft, schwärmerische Liebe und Hingabebereitschaft für die Wissenschaft hervor und schilderten Erkenntnisarbeit mystisch als »Ringen«, »Versenkung«, »Eintauchen« oder »Andacht«. Daß es dabei um ein umfassendes Ergreifen und Erneuern des ganzen Menschen ging, wurde oft 36 37 38 39

Curtius, Deutsche und antike Welt, S. 150f. (BA220). Lommel, Über Universitätsbildung, S. 9 (BA274). Strümpell, Aus dem Leben, S. 81 (BA 190). Heyder, Rede beim Antritte, S. 9, S. 13f. (BA 251).

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durch Ausdrücke wie »durchbilden« oder Umschreibungen wie: vom Geist der Wissenschaft »durchdrungen« bzw. »neu geboren« sein kenntlich gemacht. 40 Wissenschaft sollte in der säkularisierten Welt den Weg zu persönlicher Heilsfindung weisen. Von daher wundert es nicht, wenn die Universalisten gerne die Affinität der wissenschaftlichen zur ästhetisch-künstlerischen Sphäre betonten. Es war zum einen der intuitiv-genialische Blick der begabten Persönlichkeit für den wesentlichen Gehalt der Dinge, den man als gemeinsame Eigenschaft zu erkennen glaubte. Das galt auch und gerade für die Vertreter ausgesprochen praxisnaher Disziplinen. Schon Schreger hatte den chirurgischen Eingriff wegen der Vielfalt an Handlungsmöglichkeiten der ordnenden Kraft eines »eingebohrnen künstlerischen Geistes« vorbehalten wollen und seine Fachwissenschaft explizit als Kunst gegen bloßes Handwerk abgegrenzt. Ähnlich argumentierte 1873 der Chemiker Volhard in einem Nachruf auf Justus Liebig. Dieser habe mit dem Forschungsgegenstand stets »auf Du und Du« gestanden. Die Natur von Stoffen, die zu ergründen sich manche Schüler lange umsonst bemüht hätten, seien von ihm oft mit einem halben Blick erkannt worden. »Wie der Maler mit Farben, der Bildhauer mit Formen, der Musiker mit Tönen, so denkt der Chemiker mit chemischen Begriffen.« Seine Disziplin sei deshalb nicht nur eine Wissenschaft, sondern auch ein gutes Stück Kunst. 41 Z u m anderen wurden in den Künstlern deshalb verwandte Seelen gesehen, weil man bei ihnen dieselbe unbedingte Hingabe an ein integrales geistiges Prinzip sowie eine ähnlich zweckentzogene Lebensorientierung voraussetzte. Schubert erklärte sich so die Anziehungskraft, die ihn stets in entsprechende Kreise geführt habe. 42 Immer wieder zogen Mitglieder aller Fakultäten Analogien zur Welt der Künste oder machten auf den hohen Stellenwert aufmerksam, den diese für die Bildung des rechten Wissenschaftlers besaß. 43 Wie bereits dargestellt wurde, entwickelten die Professoren zugleich eine ausgeprägte Kultur musischer Selbstbetätigung.

40 Vgl. Schmid, Rede beim Antritt, S. 8 - 1 5 (BA 47), Dittrich, Rede beim Antritte [...] 1852, S. 8 (BA132); Thiersch, Über Lehren und Lernen, S. 15f. (BA 191); Stintzing, Die deutsche Hochschule, S. 14f. (BA 120); Frank, Rede beim Antritt [...] 1879, S. 5 - 1 7 (BA\5); Köhler, Franz Delitzsch, S. 241, S. 246 (BA 32); Lommel, Über Universitätsbildung, S. 11-14 (BA 274); Zahn, Johann Chr. K. v. Hofmann, S. 16f. (BA 58); Penzoldt, Wilhelm O. v. Leube, S. 936f. (BA 172); Hellwig, Über die Grenzen, S. 15f. (BA 86); Fakkenberg, Über die gegenwärtige Lage, S. 7 - 1 0 (BA 226); Flasch, Heinrich von Brunn, S. 8-12, 2 4 - 3 7 (BA 233); Müller, Persönlichkeit, S. 1-5 (BA 37); Bachmann, Über das Interesse, S. 9f. (BA3); Curtius, Deutsche und antike Welt, S. 319-335 (BA220); Stählin, August Luchs (1939), S. 84 (BA 323); Lent, Hochschule und Politik, S. 9 - 3 2 (BA 95); Hasselwander, Arnold Spuler, S. 2 2 - 2 5 (BA 146); Gradmann, Bericht, S. 29f. (BA 238); Müller, Zum 70. Geburtstage, S. 494f. (BA 170); Leser, Richard Fakkenberg, S. 2 2 0 - 2 2 4 (BA 272); Pummerer, Entwicklung, S. 19f. (BA 299); Althaus, Vom Wesen, S. 7f. (BA 1). 41 Volhard, Justus von Liebig, S. 1969 (BA 330). 42 Schubert, Der Erwerb, Bd. 2, S. 197f. (BA 316). 43 Vgl. Koppen, Lebenskunst, S. 4 5 - 9 3 (BA 266); Harleß, Bruchstücke, Bd. 1, S. 78 (BA 19); Stromeyer, Erinnerungen, Bd. 1, S. 419f. (BA 189); Dittrich, Rede beim Antritte [...] 1852, S. 6 (BA

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Aus Raumers Autobiographie geht hervor, daß er sein wissenschaftliches Umkehrerlebnis in einer Hallenser Vorlesung des Philosophen und Naturforschers Henrik Steffens verortet sah. Steffens wird dabei als Magier von überwältigender Kraft dargestellt. Wenn das Lehrer-Schüler-Verhältnis auch nicht überall in ein solch geheimnisvolles Licht getaucht wurde, herrschte unter den Universalisten doch eindeutig die Auffassung vor, daß ein Dozent nicht nur aufgrund überlegenen Wissens, sondern auch kraft seiner Persönlichkeit zu wirken hatte. Akademische Unterrichtung sollte mehr sein als die Weitergabe von Kenntnissen, sie sollte auch eine bestimmte Existenzweise vermitteln und ein inniges Zusammenwirken von Lehrenden und Lernenden implizieren. 44 Wie die dabei immer wieder bemühte Meister-Jünger-Metaphorik belegt, verstand man sich als eine charismatische Gemeinschaft von Wissenschaftsgläubigen. Der Kliniker Dittrich war ein ausgesuchter Exponent der empirisch-naturwissenschaftlichen Medizin. Angesichts der Inbrunst, mit der er dennoch das idealistische Gruppengefühl beschwor, zeigt sich, daß auch den Vertretern seiner wissenschaftlichen Ausrichtung ein entsprechendes Denken nicht prinzipiell fernstand. Da war von der Flamme der Wissenschaft die Rede, die sich von den Lehrstühlen herab in den Jüngern entzünden sollte. Die rechte Verbindung von Lehrern und Schülern, so Dittrich weiter, gleiche an Stärke und Innigkeit der Blutsverwandtschaft. Anhänglich, hingebend und vertrauend müßten die Jünger den Meistern lauschen, »in denen sich die Wissenschaft gleichsam personifiziert«. N u r dort sei die Universität lebendig, wo »der Geist der Wissenschaft alle durchdringt, die in sie eingegliedert sind«.45 In einem solchen Kontext war es folgerichtig, wenn von den Schüler-Jüngern mehr erwartet wurde als Wissensrezeption. Als Ideal schwebte die »schöpferische« Persönlichkeit vor. Die akademische Jugend sollte nicht Autoritäten folgen, sondern die ausgetretenen Pfade verlassen und neue Forschungsziele verfolgen. Dabei ging man davon aus, daß die Studenten in dieser Hinsicht Ebenbürtiges vollbringen konnten wie die Lehrer. In der Gemeinschaft der

132); Heyder, Gedächtnissrede, S. 18 (BA 251); Brinz, Festrede, S. 5f. (BA 69); Beckmann, Rede beim Antritt [...] 1876, S. 5f. (BA 63); Kolde, Über Grenzen, S. 18-20 (BA 33); Hemel, Die Macht, S. 267-270 (BA 249); Bachmann, Über das Interesse, S. 11 (BA 3); Bulle, Vom Wesen, S. 434-444 (BA 216); Curtius, Deutsche und antike Welt, S. 150-170 (BA 220); Preuß, Die goldene Pforte, S. 197-199 (BA 41); Leser, Richard Fockenberg, S. 220-224 (BA 2 7 2 y j a m i n , Wissenschaft und Kunst, S. 5 (BA 159); Radon, Mathematik, S. 83-85 (BA 300). 44 Vgl. Schelsky, S. 73-76. 45 Dittrich, Rede beim Antritte [...] 1852, S. 4 - 8 (BA 132); vgl. auch: v. Scheurl, Rede beim Antritt [...] 1868, S. 6 (BA 111); Schmid, Rede beim Antritt, S. 8-15 (BA47); Lommel, Über Universitätsbildung, S. 4 (BA 274); Hilger, Rede beim Antritt, S. 5f. (BA 253); v. Zezschwitz, Gedächtnißrede, S. 7 (BA 59); Holder, Über das Wesen, S. 3, S. 14 (BA 87); Heilung, Über die Grenzen, S. 15f. (BA 86); Flasch, Heinrich von Brunn, S. l l f . (BA 233); Börner, Z u r Reform, S. 16(BA307); Stählin, Die wissenschaftliche Weiterbildung, S. 5 (BA 323); Lent, Hochschule und Politik, S. 24f. (BA 95); Radon, Mathematik, S. 83 (BA 300).

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Forschenden galten sie den Älteren gewissermaßen gleichgestellt. Jugendlicher Rigorismus, der das Uberlieferte angreift und den festgefügten Positionen der Lehrer Neues entgegensetzt, war sogar offiziell erwünscht. Die Arbeit der Lehrer, die bereits den Kompromissen des bürgerlichen Lebens ausgesetzt waren, sollte durch die unverbrauchte Gestaltungskraft einer idealistisch-asketisch gestimmten Schülerschaft immer wieder neu befruchtet werden. 46 Charakteristisch für das universalistische Persönlichkeitsbild war ferner die Auffassung, Wissenschaft habe auch eine sittliche Überlegenheit und Führungskompetenz derer zur Folge, die sie zumindest einmal im Leben im rechten Sinne betrieben hatten. »Niemand [...] sollte in die eigentliche Leitung und Anordnung der menschlichen Angelegenheiten eingreifen, der nicht ein Gelehrter im wahrhaften Sinne des Worts wäre, d.h. nicht durch gelehrte Bildung der göttlichen Idee teilhaftig geworden«, formulierte Fichte apodiktisch 1805 in seiner Erlanger Vorlesung »Über das Wesen des Gelehrten«.47 Auf die Idee, die innere Entwicklung des eigenen Gelehrtenlebens könne irgendwie von Belang sein, waren die Pragmatiker des 18. Jahrhunderts gemäß ihrer auf die Hofwelt gerichteten Sozialorientierung gar nicht gekommen. Aus den Autobiographien, die ihre Nachfolger in nicht geringer Zahl veröffentlichten, spricht hingegen der Anspruch, der Welt über die Mitteilung reinen Fachwissens hinaus etwas zu sagen zu haben, ja, der eigenen Lebensanlage und Denkweise nach richtungsweisend zu sein.48 Die Fügsamkeit, mit der etwa Raumers Breslauer Kollegen in Adelskreisen ihre Unterordnung akzeptierten, wurde als unwürdige Servilität gebrandmarkt. Ausdrücklich wandte sich Raumer gegen Bemühungen, Ansichten und Lebenskultur des Adels an Universitäten zur Geltung zu bringen. 49 Auf den Professorenportraits wichen zur selben Zeit Hofrock, Perücke und Standesattribut einer schlichten, die Individualität der Forscherpersönlichkeit betonenden Darstellung. 50 46 Vgl. Thomasius, Rede am Grabe [...] von Staudt, S. 4 (BA 52); Thiersch, Ueber Lehren und Lernen, S. 15f. (BA 191); Lomtnel, Über Universitätsbildung, S. 4f. (BA274); Gradmann, Bericht, S. 29f. (BA 238); Ulmer, Zum Gedächtnis, S. 389 (BA 53); Radon, Mathematik, S. 85 (BA 300). 47 Fichte, Über den Gelehrten, S. 103 (BA 228). 48 Vgl. Karl von Raumer's Leben (BA 302); Schubert, Der Erwerb (BA 316); Harleß, Bruchstücke (BA 19); Ranke, Jugenderinnerungen (BA 43); Ebrard, Lebensführungen (BA 10); Jordan, Eine Selbstbiographie von Gottfried Thomasius (BA 52); Leupoldt, Ein Lebenslauf (BA 165); Stromeyer, Erinnerungen (BA 189); Kußmaut Jugenderinnerungen; ders, Aus meiner Dozentenzeit (BA 163); Ehlers, [Selbstbiographie] (BA 133); Holder, Selbstportrait (BA 87); Bäumler, Christian G. H. Bäumler (BA 126); Zahn, Mein Werdegang (BA 58); Klein, [Selbstbiographie] (BA 262); Seeberg, Die wissenschaftlichen Ideale (BA 48); Penzoldt, [Selbstbiographie] (BA 172), Pöhlmann, [Selbstbiographie], In: Zils (BA298);//imefe, [Selbstbiographie] (BA 28), Hauser, [Selbstbiographie] (BA 148); Strümpell, Aus dem Leben (BA 190); Müller, Lebenserinnerungen (BA 170); Curtius, Deutsche und antike Welt (BA220)\Jamin, Briefe und Betrachtungen (BA 159); Gradmann, Lebenserinnerungen (BA238)\Preuß, Miniaturen (BA 41); Procksch, [Selbstbiographie] (BA 42); Liermann, Erlebte Rechtsgeschichte (BA 96). 49 Vgl. Karl von Raumer's Leben, S. 20-23, S. 152 (BA 302). 50 Vgl. Willett, Zwischen Adelswelt und Bürgertum, S. 382; Friederich, S. 386.

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Wer Wissenschaft um ihrer selbst willen betrieb, so die These der Universalisten, erhob sich zumindest im Moment forschender Wahrheitssuche über das »bloß Natürliche«, war wenigstens vorübergehend von allen Beweggründen des Verwertungs- und Interessendenkens frei. Einem solchen selbstvergessenen und zweckfreien Tun schrieb man per se eine sittliche Qualität zu, da es den ganzen Menschen angeblich dauerhaft emanzipierte, ihn auch außerhalb der Wissenschaft zu einem verantwortlichen, nur der Sache und nicht den wankelmütigen Meinungen und Nützlichkeitserwägungen verpflichteten Denken und Handeln in die Lage setzte.51 Allgemein kennzeichnet die Universalisten schließlich das Bemühen, in Verlaufsprozesses zu denken und die vielfältigen Einzelerscheinungen in ihrer jeweiligen Historizität zu erkennen. Was die Enzyklopädisten im Zeichen eines kumulativen Fortschrittsgedankens mehr oder weniger ungeordnet aneinandergereiht hatten, sollte jetzt subsumtiv erfaßt und gegliedert werden. U m die Strukturierung ihrer Kenntnisse zu fördern, empfahl beispielsweise Schreger den Chirurgen, sich mit der Geschichte der Disziplin zu befassen. Aus demselben Grund wurde das Vermögen, in historischen Beziehungen zu denken, von Vertretern aller Fakultäten wiederholt gepriesen.52 Dabei implizierte ein solcher Ansatz stets auch das Zugeständnis, mit dem eigenen wissenschaftlichen Tun in einem Kontinuum zu stehen, oder mit anderen Worten: angesichts des posthumen Wissenschaftsfortschritts irgendwann als »überholt« zu gelten. In besondererWeise traf der Gedanke der geschichtlichen Entwicklung den Nerv derjenigen Generation, bei der sich die Umbrüche des Revolutionszeitalters und die eigene Sozialisation zeitlich überschnitten. Als Beispiel sei erneut Raumer genannt. Sein Lebenslauf gibt zu erkennen, daß die tradierten, statischen Institutionen, Normen und Wertvorstellungen des Aufwuchsmilieus die Fragen, die sich in einer Welt ubiquitären Wandels erhoben, nicht mehr hinreichend beantworten konnten. Wenn ihm dagegen Steffens' Vorlesung zum Wendepunkt des Lebens wurde, war dafür nicht nur die persönliche Wirkung des Lehrers verantwortlich, sondern auch dessen »großer Gedanke, daß die Erde eine Geschichte habe.« »Ahnungen«, die Raumer nach eigener Aussage bereits in sich gefühlt hatte, fanden mit einem Male Bestätigung. Die anschließenden Mineralogiestudien in Freiberg wurden dann mit dem »zweifellosesten Glauben« verfolgt, die Ergebnisse der Gebirgsforschung für die Erdgeschichte mit der in Sagen überlieferten Frühgeschichte des Menschen in Einklang brin51 Vgl. Class, Ueber die Frage, S. 4-16, Zitat: S. 12f. (BA 218); vgl. auch: Schelsky, S. 55-71. 52 Vgl. Nägelsbach, Das Bewußtseyn, S. 67 (BA 283); Dittrich, Dittrich: Rede beim Antritte [...] 1852, S. 5f. (BA 132); Schmid, Rede beim Antritt, S. 8f. (BA 47); Frank, Rede beim Antritt [...] 1882, S. 6f. (BA 15); Heineke, Rede beim Antritt, S. 12-15 (BA 150); Hankel, Zur Geschichte, S. 1 (BA 240); Seeberg, Aufklärung, S. 44f. (BA 48); Kipp, Der Parteiwille, S. 4 (BA 89); Steinmeyer, Über einige Epitheta, S. 15f. (BA 326); Bachmann, Über das Interesse, S. 6, S. 10 (BA 3); Eiert, Die Sendung, S. 4 - 6 (BA 11).

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gen zu können. 53 Insgesamt liest sich diese Passage der Autobiographie weniger als eine Darstellung bloßer Forschungsinteressen; es ging hier vielmehr um den Vorgang persönlicher Identitätsfindung. Nicht nur in der zeitgenössischen Geschichtswissenschaft, sondern auch in anderen Fächergruppen wurde also offenbar das Bedürfnis empfunden, in einer Welt des Umbruchs über die Darstellung historischer Verlaufsprozesse zu einem gesicherten Bewußtsein seiner selbst zurückzugelangen. 54

5.1.3. Funktionäre der Wissenschaft:

Experten

Konnte man den Versuch eines holistischen Blicks auf das Allgemeine oder eine intuitiv-kontemplative Wahrheits- und Wesensschau wissenschaftlich nennen? War die Auffassung von der ethischen Integrität und Überlegenheit einer wissenschaftlich gebildeten Persönlichkeit wirklich zwingend? Solche Fragen wurden etwa seit der Jahrhundertwende von einer Minderheit Erlanger Ordinarien nicht nur gestellt, sondern auch mit einem klaren Nein beantwortet. Der Historiker Fester zieh 1908 die idealistische Philosophie des 19. Jahrhunderts des »geistlichen metaphysischen Ubermutes« und grenzte sich polemisch von den »Monumentalisten« und »unberufenen Weltbaumeistern« in seiner Zunft ab. Wenn die Fachdisziplin inzwischen zu einem »Betrieb« geworden sei, in dem sich »Arbeiterbataillone« mit sachgerechter Methode empirische Einzelerkenntnisse sicherten, könne man das im Rahmen eines säkularisierten Wissenschaftsbegriffes nur begrüßen. 55 In einem nüchternen Artikel über die Psychologie von Historikern - allein schon der Gegenstand mußte den Universalisten als frevlerische Profanisierung erscheinen - machte Festers Fachkollege Schmeidler 1925 auf die allseitige Funktionalisierbarkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse aufmerksam. Entgegengesetzte Parteiungen seien in der Lage, historische Wissensbestände je nach Standpunkt und Interesse in ihrem Sinne zu deuten - »die Geschichte wird nur nachträglich als Eideshelferin herbeigeholt«. Aussagen ethischen oder politischen Charakters dürften nicht wie unumstößliche Ergebnisse der Wissenschaft behandelt werden. Gerade jene Sätze, die von Kollegen mit der größten Inbrunst als wahr hingestellt würden, zum Beispiel daß der Staat der einzig berechtigte Gegenstand der Historie sei, erwiesen sich bei näherer Betrachtung als die subjektivsten und angreifbarsten. Wenn überhaupt, dann seien Thesen über das Wesen und die Betätigungsformen geschichtlicher Kräfte nicht auf der Basis von Intuition möglich, sondern nur

5 3 Vgl. Karl von Raumer's Leben, S. 4 0 - 5 5 , Zitate: S. 40, S. 5 4 ( B A 3 0 2 ) . 5 4 Vgl. Hardtwig,

Geschichtskultur, S. 3 2 - 3 4 .

5 5 Vgl. Fester, D i e Säkularisation, S. 4 4 1 - 4 5 5 , Zitate: S. 454f. ( B A 227).

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unter peinlichster Berücksichtigung der Methoden und Erkenntnisse der geschichtlichen Einzelforschung. 56 Die Auffassung, wonach Wissenschaft aus sich heraus ethisch-politische Zielvorstellungen legitimieren konnte, blieb also vor allem nach den Krisenerfahrungen des frühen 20. Jahrhunderts nicht mehr unumstritten. Sie im U m kehrschluß als Mittel zur Durchsetzung extern definierter Zwecksetzungen und Weltanschauungssysteme aufzufassen, lag durchaus nahe.57 Der Nationalökonom Moeller sprach 1938 von dem »Auftrag, welchen die Funktionäre der Wissenschaft [...] vom Volke ausdrücklich empfangen haben oder welcher ihrerseits als vom Volke erteilt vorgestellt werden muß.« Dieser Auftrag bestand seiner Meinung nach darin, Erkenntnisse zu liefern, mit denen »mehr oder weniger drängenden Nöten« abgeholfen werden konnte. Damit meinte er zum einen »konkrete, >sachliche< Notwendigkeiten«, aber auch - und das ist besonders vor der Hintergrund der damaligen NS-Herrschaft von Interesse - um »die Durchsetzung bestimmter festgelegter Grundsätze einer politischen Führung.«58 Der akademische Wissenschaftler erscheint hier als Experte, der sich dem Primat von Politik und Gesellschaft unterordnet und sein fachmännisches Können und Wissen für konkrete Bedürfnisse und Ziele in Dienst stellt. Nicht Orientierungswissen in Natur und Gesellschaft, sondern Verfügungswissen über Natur und Gesellschaft stand im Vordergrund. Leitend war der Effizienzgedanke. Schlagartig wird das an einer Äußerung des Bakteriologen von Angerer deutlich, der ethisch so unterschiedlich zu beurteilende Vorgänge wie den Ausbau der hygienischen Infrastruktur in Deutschland und den reibungslosen Ablauf der Mobilmachung von 1914 praktisch ausschließlich unter dem Gesichtspunkt sachlichen Problemlösung ansah.59 Gerade weil die als Experten bezeichnete Gruppe von Professoren politische bzw. gesellschaftliche Zwecke als Voraussetzungen behandelte, die nicht dem kritischen Urteil der Wissenschaft zu unterliegen hatten, blieben auch ihre Auffassungen keineswegs ideologiefrei.60 Es kann kaum wundern, daß die Experten dem elitären charismatischen Persönlichkeitsideal der Universalisten eher fernstanden. Durch die Übertragung von Kollektivbegriffen des modernen Massenzeitalters auf die Wissenschaftstreibenden (»Arbeiterbataillone«, »Funktionäre«) grenzten sie sich davon mitunter sogar provokativ ab. Nicht die genialische Künstlernatur, sondern der kühle und selbstkritische Forscher, der mit extremer Sachlichkeit eine unan56 Vgl. Schmeidler, Zur Psychologie, S. 219-238, S. 310-323, Zitat: S. 238 (BA 313). 57 Vgl. Harwood, >Mandarine