Beiträge zur Völkerforschung: [Textband] [Reprint 2021 ed.] 9783112546642, 9783112546635

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Beiträge zur Völkerforschung: [Textband] [Reprint 2021 ed.]
 9783112546642, 9783112546635

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"Prof. Dr.

HANK

I)A.UAI:

VERÖFFENTLICHUNGEN D E S M U S E U M S F Ü R V Ö L K E R K U N D E ZU L E I P Z I G H E F T 11

BEITRÄGE ZUR V Ö L K E R F O R S C H U N G HANS

DAMM

ZUM

65.

GEBURTSTAG

Herausgegeben vom Museum f ü r Völkerkunde Leipzig Redaktion: Dr. habil. Dietrich Drost und Dr. Wolfgang König

Mit 9 Figuren, 2 Abrollungen und 11 Karten im Text Tafelband mit 152 Tafeln

AKADEMIE-VERLAG 1961

• BERLIN

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen Copyright 1961 by Museum für Völkerkunde Leipzig Erschienen im Akademie-Verlag GmbH, Berlin W 8, Leipziger Straße 3 — 4 Lizenz-Nr. 202. 100/121/61 Kartengenehmigung Mdl Nr. 6218 Satz, Druck und Einband: Druckhaus „Maxim Gorki", Altenburg Bestellnummer: 2085/1/11 Text- und Tafelband: Preis DM 6 0 , Printed in Germany ES 15 F

INHALTSVERZEICHNIS Vorwort Zum Geleit ANELL, BEUGT

Flügelnetze in der Südsee.

11

BALDUS, H E R B E R T

Kauf

22

BARTHEL, THOMAS S .

Spiele der Osterinsulaner

27

BEHN, FRIEDRICH

Die Felsbilder in den ligurischen Seealpen und das Felsbilderproblem

43

BODROGI, TIBOR

Kapkap in Melanesien

50

BÖTTGER, WALTER

Die Leipziger Emma-ö-Plastik und ihre Restaurierung

66

BRÄUTIGAM, H E R B E R T

Probleme der Volksaufstände polyethnischer Gruppen in Südwest-China während der Taiping-Zeit

76

DAMMANN, E R N S T

Zur Überlieferung der Segedju

91

DRÄGER, LOTHAR

Ein bemaltes Tipi der Dakota-Indianer im Museum für Völkerkunde Leipzig . . . .

99

DROST, DIETRICH

Eine Reiterdarstellung aus dem Kameruner Grasland

;

104

EBERHARD, WOLFRAM

Deception as a Political Tool in Ancient China

114

FINSTERBUSCH, K Ä T E

Die Mundorgeln des Museums für Völkerkunde zu Leipzig und ihre Darstellung in Ost- und Südostasien 123 FISCHER, HANS

Spiele der Wotut (Ost-Neuguinea)

141

GERMER, ERNST

Miklucho-Maklai und die koloniale Annexion Neuguineas durch das kaiserliche Deutschland 1884 153 GUHR, GÜNTER

Über die sogenannten abnormen Heiraten und ihre Verwandtschaftsterminologie auf den Banks-Inseln (Melanesien) 171 HABERLAND, E I K E

Eisen und Schmiede in Nordost-Afrika 1*

191

4

Inhaltsverzeichnis

HARTWIG, W E E N E R

Anfänge der Warenproduktion im südöstlichen Bismarck-Archipel in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts 211 HEBEMANN, FERDINAND

Die Beschneidung. Zur Frage ihrer Deutung

243

HEBZOG, R O L F

Ethnographische Sammlungen, Lehr- und Forschungsstätten in Kairo

254

HOPFMANN, EDITH

Zur Geschichte der vorgeschichtlichen Sammlung des Museums für Völkerkunde in Leipzig 259 HÖFTMANN, HILDEGARD

Möglichkeiten zur Wiedergabe europäischer Begriffe im Ewe

276

H Ö L T K E B , GEOEG

Leichenbrand und anderes vom unteren Ramu (Neuguinea)

285

ISEAEL, HEINZ

Bemerkungen zu einigen verzierten Walroßzähnen aus Südwest-Alaska

303

JACOBEIT, WOLFGANG

Zur Frage der Beziehungen zwischen Transhumanz, Nomadismus und Alpwirtschaft . 313 KIBCHHOFF, P A U L

Der Beitrag Chimalpahins zur Geschichte der Tolteken

323

KOCH, GERD

Zur Theorie der polynesischen Einwanderung

334

K Ö N I G , WOLFGANG

Zur Gesellschaftsorganisation der Turkmenen. Die Stammesstruktur der Teke . . . 342 KONBAD, WALTER

Die „Kanaken" des Tschadsees

. 352

KRIEGER, K U R T

Töpferei der Hausa

362

KUNZ, LUDVIK

Fenich und Waldkorn

369

LABSSON, K A R L E R I K

Ein figürlicher Aufhängehaken

388

L A U F E B , CARL

Jagdzauber der Gunantuna (Südsee)

393

LEHMANN, F . RUDOLF

Jonker Afrikaner und die Herero-Missionare seiner Zeit als „Häuptlinge wider Willen" (1844-1861), Südwestafrika 410 LIPS, EVA

Ethnobotanisches zum „Zuckerahorn"

432

LOMMEL, A N D R E A S

Stilistische Vergleiche an australischen Felsbildern

457

MENZEL, BBIGITTE

Wechselausstellungen im Museum für Völkerkunde Berlin

462

MOSCHKAU, R U D O L F

Zwei vorgeschichtliche Felsbilder an den Thomassteinen im Zittauer Gebirge . . . 475 NEUMANN, PETEE

Eine verzierte Kalebassenschüssel aus Suriname

481

NEVEBMANN, H A N S

Moko und Taniwha

499

Inhaltsverzeichnis

5

Der Ursprung des erdkundlichen Begriffes Salomonen

513

PLISCHKE, H A N S ROSE, FREDERICK

The Indonesians and the Genesis of the Groote Eylandt Society, Northern Australia 524 S C H L E N T H E R , ÜRSTTLA

Eine argentinische archäologische Steinsammlung im Institut für Ur- und Frühgeschichte der Humboldt-Universität zu Berlin 532 SCHLESIER, ERHARD

Über die Zweisprachigkeit und die Stellung der Zweisprachigen in Melanesien, besonders auf Neuguinea 550 SCHMITZ, C A R L A .

Eine Liebeszauberfigur der Komba in Nordost-Neuguinea

577

SCHUBERT, JOHANNES

Aus Nordindien und dem Himälaya. Notizen zu einigen für das Museum für Völkerkunde Leipzig erworbenen Gegenständen 585 SELLNOW, IRMGARD

Erkenntnistheorie und Geschichtsbegriff der soziologisch-funktionalistischen Schule 604 SIEVERS, LORE

Das Herrnhuter Völkerkundemuseum

622

SPANNATJS, G Ü N T H E R

Das Häuptlingswesen der Ndau in Südostafrika

630

STEIN, LOTHAR

Der Handel mit Nahrungsmitteln im Tschadseegebiet während des 19. Jahrhunderts 639 TERMER, FRANZ

Der erste Bericht über die Ruinen von Uxmal, Yucatan, aus dem 16. Jahrhundert 654 TISCHNER, HERBERT

Beiträge zur Ethnographie des alten Viti Levu und Vanua Levu nach unveröffentlichten Notizen und Zeichnungen Theodor Kleinschmidts aus den Jahren 1875—78 665 TOKAREV, S . A .

Zur Bedeutung der Frauendarstellungen im Paläolithikum

682

T R E I D E , BARBARA

Nordosteuropa in der Vorstellung Adams von Bremen

693

WESTPHAL-HELLBUSCH, S.

Reisanbau im südlichen Iraq

707

WOLF, SIEGFRIED

Zwei Benin-Arbeiten im Staatlichen Museum für Völkerkunde Dresden: Vogelgestaltiges Zeremonialgerät und Reliefplatte mit Vogel 719 Thematische Übersicht Ozeanien Asien Afrika Amerika Europa Urgeschichte Museologie Allgemeines

739 739 740 740 740 740 741 741

Verzeichnis der Schriften und Vorlesungen von Hans Damm, zusammengestellt von Adalbert Plott 742 Autorenverzeichnis 750

VORWORT

Mit dem vorliegenden 11. Heft der „Veröffentlichungen des Museums für Völkerkunde zu Leipzig" sind wir in der glücklichen Lage, den Fachkollegen und Interessenten in aller Welt eine große Anzahl wesentlicher „Beiträge zur Völkerforschung" zugänglich zu machen. Am 25. Juni 1960 vollendete der Direktor unseres Museums, Prof. Dr. Hans Damm, sein 65. Lebensjahr. Aus diesem Anlaß durften wir ihm eine umfangreiche Festschrift überreichen, in der namhafte Fachvertreter, Freunde und Schüler ihrer Hochachtung und ehrenden Verbundenheit durch einen wissenschaftlichen Beitrag Ausdruck verliehen haben. Infolge der Kürze der Zeit konnte dem Jubilar zu seinem Festtage nur ein — wenn auch repräsentativ gestaltetes — maschinengeschriebenes Exemplar der Festschrift dargebracht werden. Die internationale Beteiligung und die wissenschaftliche Bedeutung der Beiträge drängten jedoch zu einer raschen Drucklegung. In dankenswerter Weise hat das Staatssekretariat für das Hoch- und Fachschulwesen, Sektor Wissenschaftliche Bibliotheken, Museen und Publikationen, die benötigten Sondermittel zur Finanzierung der kostspieligen Drucklegung zur Verfügung gestellt. Große Unterstützung gewährte uns dabei Herr Oberreferent Germer, dem an dieser Stelle gedankt sei. Gleichermaßen sind wir auch dem Akademie-Verlag verpflichtet, der die Veröffentlichung des Bandes außerplanmäßig in sein Programm aufgenommen und keine Mühe gescheut hat, die umfangreiche Publikation schnell in repräsentativer Form herauszubringen. Unser Dank gilt schließlich allen Mitarbeitern an der Festschrift, die ihr Einverständnis erklärten, die Beiträge im Rahmen der Veröffentlichungen unseres Museums zu publizieren. Dietrich Drost • Wolfgang König

ZUM G E L E I T Sehr geehrter Herr Lieber Herr

Direktor!

Kollege!

Am 25. Juni 1960 vollenden Sie Ihr fünfundsechzigstes Lebensjahr. Auf fast vierzig Jahre erfolgreicher Tätigkeit als „Museumsmann" und völkerkundlicher Forscher können Sie damit zurückblicken. Seit Sie im Jahre 1927 als Kustos die Südsee-Abteilung übernahmen, haben Sie dem Völkerkundemuseum zu Leipzig in guten und auch schlechten Jahren die Treue gehalten. Stets haben Sie all Ihre Kraft dafür eingesetzt, die Bedeutung und das Ansehen des Museums im In- und Ausland zu festigen und zu vergrößern. Besonders nach Ihrer Ernennung zum Direktor im Jahre 1955 galt Ihre ganze Arbeit dem weiteren Wiederaufbau, den Sie dank einer großzügigen Unterstützung durch unseren Staat um ein gutes Stück vorantreiben konnten. Wer die vielseitige und oft zeitraubende Arbeit des „Museumsmannes" — noch dazu an einem so großen Museum wie dem Leipziger — kennt, der wird um so mehr das wissenschaftliche Werk, auf das Sie heute zurückblicken können, achten und bewundern. Über vierzig, zum Teil umfangreiche und in Buchform erschienene Arbeiten haben Sie bisher veröffentlicht. Zur Erforschung der Völker Ozeaniens haben Sie bedeutende und grundlegende Beiträge geliefert, die Sie zu einem der hervorragendsten Fachkenner der Ethnographie Ozeaniens werden ließen. Seit Ihrer vorbildlichen Dissertation vom Jahre 1921 haben Sie sieh in verschiedenen Aufsätzen mit der ethnologischen Sport- und Spielforschung beschäftigt und so mannigfaltige Anregungen auf einem bisher fast völlig vernachlässigten Forschungsgebiet gegeben. Weiterhin haben Sie die Agrarethnographie und die Museologie durch wesentliche Beiträge bereichert. Die internationale Anerkennung und Achtung Ihres wissenschaftlichen Werkes zeigt sich wohl am eindrucksvollsten in der vorliegenden, umfangreichen Festschrift, die wir Ihnen zu Ihrem 65. Geburtstag überreichen dürfen. Zahlreiche Fachkollegen und Freunde haben unserer Bitte entsprochen und sich — oft trotz starker Arbeitsüberlastung — mit einem Beitrag an dieser Festschrift beteiligt und damit ihrer ehrenden Verbundenheit Ausdruck verliehen. Die über fünfzig Beiträge dieser Festschrift behandeln nicht nur Themen der Ihnen so

10

Zum Geleit

vertrauten Ethnographie Ozeaniens, sondern umspannen alle Erdteile und die verschiedensten Sachgebiete und entsprechen so dem Interesse, das Sie stets der gesamten Völkerkunde und ihren Nachbarwissenschaften entgegengebracht haben. Allen Mitarbeitern an dieser Festschrift gilt unser aufrichtiger und herzlicher Dank! Wir dürfen uns wohl zum Sprecher aller Ihrer Fachkollegen und Freunde machen, wenn wir Ihnen, verehrter Jubilar, noch viele Jahre in Gesundheit und Schaffenskraft wünschen. Möge es Ihnen vergönnt sein, den endgültigen Abschluß des Wiederaufbaus Ihres geliebten Museums noch leitend zu erleben und all Ihre wissenschaftlichen Pläne, von deren Verwirklichung wir noch eine wichtige Bereicherung der Völkerkunde und der Museologie erhoffen dürfen, auszuführen und zu vollenden! Dietrich Drost

FLÜGELNETZE IN DER SÜDSEE Von Bengt Anell, Uppsala (Mit 1 Karte im Text und 6 Abbildungen auf Tafel 1 —2)

Flügelnetze sind eine Art von Handnetzen, bei denen, wie bei Ketschern, ein Netz zwischen eine Rahmenkonstruktion aus Holzstäben gespannt wird. Der wesentlichste Unterschied zwischen Flügelnetzen und anderen Handnetzen macht sich in der Konstruktion des Rahmens bemerkbar. Dieser besteht aus zwei Teilen, einer biegsamen Rute und einem von seinemStamm in rechtem Winkel abzweigenden Ast, der oft so von dem Stamm abgetrennt worden ist, daß zwei kurze Abschnitte des Stammes gelassen sind, wodurch die Form dieses letzteren Teiles an ein T erinnert. Das dickere Ende der Rute wird an diese Stammabschnitte festgebunden, während das andere Ende nach unten gebogen wird, so daß es in derselben Höhe wie das untere Ende des Astes abschließt. Die Rute wird in dieser Lage gehalten, indem man sie mit dem Ast durch eine fest gespannte Leine verbindet. Der Rahmen, zwischen den das Netz gespannt wird, wird also von dem Ast, der Rute und der Leine gebildet. Der Ast entspricht der vertikalen Schmalseite des fast dreieckigen Netzes. Die oben erwähnten Vorsprünge am oberen Rand des Astes bieten nicht nur die Möglichkeit eines sicheren Festbindens der Rute, sondern bilden auch gleichzeitig einen guten Griff. Fehlen diese Vorsprünge, werden Ast und Rute über Kreuz zusammengebunden. An den Ast und die Rute wird das Netz meist durch kurze Schnüre festgebunden, während die Leine durch die untere Maschenreihe des Netzes gezogen wird. In der Regel ist die Oberfläche des Netzes etwas größer als die Rahmenfläche und erinnert daher, in horizontaler Lage gehalten, an einen flachen Ketscher ohne Griff. In bezug auf den Gebrauch des Netzes kann man sagen, daß es nur in seltenen Fällen allein benutzt wird. Im allgemeinen hält der Fischer ein Netz in jeder Hand und in den meisten Fällen umringt eine Gruppe von Fischern, jeder mit zwei Netzen ausgerüstet, einen Fischschwarm, der sich in seichte Gebiete verirrt hat, oder aber sie bilden einen Halbkreis, in den die Fische von anderen Kameraden hineingetrieben werden. Flügelnetze kommen wohl nur im Ausnahmefall von einem Kanu aus zur Anwendung. Seine hauptsächlichste Verwendung findet es in seichtem Wasser, wo der Fischer in Hüft- oder Brusthöhe waten kann.

12

BENGT ANELL

In Melanesien kennt man das Flügelnetz von Ninigo in einem weiten Bogen über den Bismarck-Archipel bis zu den südlichen Salomon-Inseln. Von Ninigo bildet T H I L E N I U S ein sehr kleines Flügelnetz ab. Es ist 80 X 50 cm groß und entspricht dem oben erwähnten Typus. Die Rute ist aber nach hinten verlängert. Das Netz soll ausschließlich für den Fang von Ködern gebraucht worden sein (NAL 80, pp. 246—47, Fig. 93). Im großen ganzen ähnliche Netze, jedoch mit größerer Tiefe, werden von den Admiralitätsinseln durch N E V E R M A N N , T H I L E N I U S und T H O M P S O N abgebildet. Einige von ihnen haben nur einen rechtwinkligen Vorsprung am oberen Ende des Astes. Eigenartigerweise wird in keiner dieser Quellen angegeben, auf welche Art das Netz angewendet wird (ESE I I : A : 3 , p. 164, Taf. I I : 1, 3; NAL 80, pp. 135, 327, Taf. I X : 8). 1 Für Neuguinea konnte das Vorkommen eines solchen Netzes nirgends belegt werden und von der Inselgruppe dicht östlich von Neuguinea ist mir nur ein Fall bekannt, wo es sich möglicherweise um solche Netze handeln könnte. Von den Trobriandinseln erwähnt E. S I L A S eine nicht näher beschriebene Art von Handnetzen, kailata, die paarweise benutzt wurden. Es kann sich da kaum um einen Hamen oder ein Schöpfnetz handeln. 2 Auf St. Matthias scheinen Flügelnetze des ganz konventionellen Typus ziemlich üblich gewesen zu sein. P A R K I N S O N erwähnt sie als „kleine Handnetze auf knieförmigem Holzrahmen" (G 79, p. 230; cf. IAE 14, p. 126). 3 Laut C H I N N E R Y wurden hier Flügelnetze, kea,4 beim Fischen in Gruppen verwendet; eine Menge Fischer versuchen einen Fischschwarm mit ihren Netzen zu umringen. Es kam jedoch auch zur Anwendung durch einen einzelnen Fischer, der die Öffnung einer Unterwassergrotte mit einem Netz verschloß, während er mit einem Stock die Fische heraustrieb, die sich dort verborgen gehalten hatten (ARTNG 2, p. 188, pl. 3 2 - 3 5 ) . Im Bismarck-Archipel ist das Flügelnetz weiterhin bekannt von Neu-Irland, Duke of York und Tanga. Von Kalil auf Neu-Irland bildet S T E P H A N / G R Ä B N E R ein kleines Flügelnetz, aubene, ab, das nur 93 cm lang ist und dem die Astvorsprünge fehlen. Ein noch kleineres Netz soll in Balanott vorkommen. 5 Ein ebenso primitives, aber durch seine Größe sicher bedeutend effektiveres Netz von Kapsu befindet sich im Museum für Völkerkunde, Hamburg. Es mißt 240 X 100 cm 1

2 3 4

5

W. THOMPSON, Report of the scientific results of the voyage of H. M. S. Challenger during the years 1873-76. London 1885. Narrative, vol. I, pp. 715—16, fig. 244 (cf. Br. Mus. nr. 675). E. SILAS, A primitive Arcadia, London 1926, p. 191. R. PARKINSON, Dreißig Jahre in der Südsee. Stuttgart 1907. p. 326. NEVERMANN gibt als Namen ubana an, welches doch ein Netz im allgemeinen bezeichnen dürfte (ESE II: A: 2, p. 92). E . STEPHAN und F. GRÄBNER, Neu-Mecklenburg. Berlin 1907, p. 64, fig. 60: 2 (auch das Wort aubene bedeutet Netz im allgemeinen).

Flügelnetze in der Südsee

13

(M. V. H. 3194:05). Flügelnetze werden auch im allgemeinen von Neu-Irland durch B Ü H L E K belegt, der ihren Gebrauch einzeln als auch paarweise angibt. An einer Stelle des Textes heißt es, das Netz würde vor allem von Frauen und Kindern benutzt, während an einer anderen Stelle betont wird, daß es ein typisches Männerfischgerät sei (FMVB NI, pp. 36, 37). Auf Duke of York (Neu-Lauenburg) kamen laut R I B B E zwei verschiedene Netztypen vor, teils ein gewöhnliches Langnetz, teils ein Handnetz, von dem es heißt: , , . . . dasselbe ist dreieckig und zwischen zwei rechtwinklig aneinander gebundenen Bambusstäben befestigt". Diese Beschreibung bezieht sich höchstwahrscheinlich auf ein Flügelnetz. Es soll hauptsächlich in seichtem Wasser mit sandigem Grund verwendet werden. Besonders bei stürmischem Wetter, wenn sich die Fische in die geschützten Meeresbuchten zurückziehen, ist mit diesem Netz der Fischfang sehr erfolgreich. Weiterhin wird erwähnt, daß diese Netzart in verschiedenen Größen vorkommt ( M V E D 2 , p. 442).

Von Tanga dicht östlich von Neu-Irland wird ein dreieckiges Flügelnetz abgebildet, an dessen Schmalseite die Vorsprünge fehlen und dessen Rute nicht gebogen, sondern gerade verläuft. Die Länge des Netzes ist 14 Fuß, die Höhe an der Basis 4 Fuß. Über den Gebrauch des Netzes (ubin) schreibt B E L L unter anderem: "The Operators worked breast high in the waters of the Channel and trapped the fish with the assistance of other natives who frightened them into the nets" (0 17, pp. 3 1 7 - 1 8 , fig. 10). In der Salomon-Gruppe ist das Flügelnetz besonders üblich und ist von Nissan im Norden bis Owa Raha im Süden belegt. Von Nissan bringt K R A U S E die Abbildung eines Exemplars (Abb. 3), das sich in allem an die gewöhnliche Form anschließt, nur mit der einen Ausnahme, daß der Ast nur einen Vorsprung aufweist. Das Netz ist in höchstem Grade langschmal zu nennen; es mißt 750 X 80 cm. Laut SCHMIELE ist sein Name söp, laut U H L I G ubenn. Das Netz soll laut Angabe auch als Stell- und Sperrnetz beim Gruppenfischen auf dem Riff und in der Lagune benutzt werden (JMVL 1, pp. 1 2 6 - 7 , fig. 92). Von der Umgebung der Buka Passage beschreibt und bildet BLACKWOOD vier verschiedene Varianten des Flügelnetzes ab (Abb. 4). Die kleineren haben einen Rahmen in einem Stück, entweder eine Rute in Form eines Bogens, innerhalb dessen ein fast rechteckiges Netz gespannt ist, oder es besteht der Rahmen aus einem Stamm, der der Schmalseite des Netzes entspricht, während ein natürlicher Ast auf dieselbe Art wie die Rute bei den obengenannten Netzen nach unten gebogen wird. Die anderen beiden Varianten sind von dem üblichen Typus, aber dem Ast an der Schmalseite fehlen die Vorsprünge. Die Rute der einen Variante ist nach hinten verlängert und gewährt dem Fischer größere Reichweite. Abgesehen von den Verschiedenheiten bezüglich der Rahmenkonstruktion unterscheiden sich die Netze auch in bezug auf die Größe. Teils sind sie so groß, daß

14

BENOT ANELL

ausgewachsene Männer sie nur mit Mühe hantieren können, teils können die Netze mit Leichtigkeit paarweise sogar von kleinen Jungen gehandhabt werden. Das größere Netz, kabir, wird bei der Tiefseefischerei verwendet. Ein anderes, kakawi, ist ebenfalls sehr lang und wird für den Fang von Meeräsche auf dem Riff benutzt. Der Fang kann vom Kanu aus wie auch durch watende Fischer geschehen. Eine der gewöhnlichsten Methoden ist, einen Halbkreis mit den Netzen zu bilden. Jeder Fischer hat zwei Netze, jedes 10—12 Fuß lang. 20—30 Männer bilden eine Netzwand, gegen die andere Fischer dann große Schwärme treiben. Sogar fliegende Fische sollen im Flügelnetz gefangen worden sein, dessen allgemeiner Name in Kurtatchi eb und in Petats u bean sein soll. 6 Auf den Inseln in den Bougainville Straits war der Fischfang mit Flügelnetzen üblich. Netze bis zu 20 Fuß Länge kamen vor. Ebenso wie in der Buka Passage fehlten dem Schmalseitenast die Vorsprünge. Neben den großen Netzen, sorau, kamen auch kleinere, saiaili, vor, 4—6 Fuß lang und mit feineren Maschen. Über die Fangmethode selbst schreibt G U P P Y : 7 "The fishing party wades about on the flat near the edge of the reef, each man being about 20 paces apart, and dragging behind him a pair of these clumsy-looking nets, one in each hand. When a fish is perceived they close round; and every man spreads out his nets, one on each side like a pair of wings, thus covering an extent of some 40 feet. By s k i l l f u l l y dropping his nets, when it makes a rush in his direction, the native secures the fish, which, dashing head first against one of the nets, gets its snout caught in the meshes; and a couple of blows on the head complete the capture."

Die oben angegebene Methode ist offenbar erfolgreich. Zu unbewohnten Inseln und Korallenriffen kommen ab und zu Fischergruppen von den bewohnten Inseln, bleiben jedesmal eine oder zwei Wochen und wohnen während dieser Zeit in provisorischen Hütten, die sie auf dem Strand errichten. Von derselben Gegend erwähnt auch R I B B E zwei Netzarten, die er folgendermaßen beschreibt: 8 , , . . . kleinere Schöpfnetze, 2 m lang und 1 m hoch . . ., die an zwei unter einem rechten Winkel aneinander gebundenen Stücken Holz befestigt werden, und große, oft viele Meter lange, jedoch nicht sehr breite Netze." Die kleineren Netze sollen nach ihm immer paarweise benutzt werden, während die größeren dagegen beim Absperren von Riffkanälen oder beim Schildkrötenfang zur Anwendung kommen. Von Ysabel wird ein Netz, sipale, erwähnt, von welchem es u. a. heißt: "It is fastened to a large bamboo about 30 feet long, the top end bending like a bow". Dieses kann mit einigem guten Willen als eine Beschreibung, wenn auch 6 7 8

B. BLACKWOOD, Both sides of Buka Passage. Oxford 1935, pp. 342—44, fig. 13, pi. 43; cf. BA BH 6, p. 24. H. B. G. GUPPY, The Solomon Islands and their natives. London 1887, p. 155. C. RIBBE, Zwei Jahre unter den Kannibalen der Salomo-Inseln. Dresden 1903, p. 127, fig. 3 6 - 3 7 .

Flügelnetze in der Südsee

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als eine unvollständige, der Rahmenkonstruktion eines Flügelnetzes gedeutet werden, aber dagegen spricht teils seine Länge, teils die Tatsache, daß sipale auf Marewo eine Art Netzreuse bezeichnet. Ein anderes Netz von Ysabel, raorao, soll sipale ähneln, aber kleiner sein (JPS 57, p. 315; 0 1 8 , p. 225). Flügeiförmige Handnetze kommen besonders oft auf Mala und Ulawa vor, von wo sie I V E N S beschrieben hat. Sie sind im großen Ganzen von derselben Art, wenn auch nicht von derselben Größe, wie diejenigen, die G U P P Y beschreibt. Beim Fischen mit diesem Netz {möge, nördliches Mala; moke, momoke, Sa'a; mokemoke, Ulawa) wird ein Schwärm von Fischen von 20—30 Männern umringt, von denen jeder ein Netz in jeder Hand hält. Andere Fischer treiben mit Stöcken die Fische aus ihren Verstecken, während gleichzeitig der Kreis der Netze immer enger gezogen wird. 9 Im Zusammenhang mit seinem Bericht über Flügelnetze an den Bougainville Straits weist G U P P Y daraufhin, daß solche Netze ebenfalls von der Bevölkerung auf San Cristobal und einigen umliegenden Inseln benutzt werden (op. cit. pp. 155-156). Von Owa Raha beschreibt BERNATZIK Fischfang mit flügeiförmigen Handnetzen des üblichen Typs: 1 0 „Jeder Fischer zieht mit zwei Handnetzen und einer Tasche zur Aufnahme der Beute ausgerüstet aus. Man fischt in Gruppen zu zehn, auch mehr Personen. Die Fischer gehen einer hinter dem anderen, in 5 bis 6 m Abstand ins seichte Wasser, . . . und bilden einen Halbkreis gegen das Ufer zu. Dann treiben sie mit ausgebreiteten Armen die Fische, in jeder Hand ein Netz . . ., vor sich her gegen den Strand."

Die Methode wird hupeyna genannt, ein Wort, das wahrscheinlich mit dem polynesischen kupenga (Netz) verwandt ist. Auf Ontong Java und Nukumanu kommen Flügelnetze' zweier verschiedener Typen vor (Abb. 6). Der erste von ihnen ist identisch mit dem üblichen Typus und hat auch den T-förmigen Ast an der Schmalseite. Netze dieser Art kommen je nach Größe und Maschenweite in drei Varianten vor. Mit 'upenga nehu (Nukumanu: kupena nehu) werden sardinengroße Fische gefangen. Das Netz ist feinmaschig und wird vom Kanu aus als auch von watenden Fischern benutzt. 'Upena 'alo 'alo (Nukumanu: kupena kalokab) ist größer, weniger feinmaschig und wird von watenden Fischern beim Fang dezimetergroßer Fische verwendet. Noch etwas weitmaschiger ist 'upena kupani (Nukumanu: kupena tupani), das sowohl am Tage wie in der Nacht vom Strand aus beim Fang größerer Fische zur Anwendung kommt. Die Netze des anderen Typus 'upena ahoaho (Nukumanu: kupena ahoaho) unterscheiden sich von den vorhergehenden teils durch ihre Größe, 9

10

W. G. IVENS, Melanesians of the South-East Solomon Islands. London 1927, pp. 385, 387; A dictionary of the language Sa'a (Mala) and Ulawa. S.-E. Solomon Islands, Oxford 1929, p. 201; The Island Buüders of the Pacific, London 1930, p. 256. H. A. BERNATZIK, Owa Raha. Wien 1936, p. 65, figs. 138-39.

16

BEUGT ANELL

2—3 Ellen lang, teils durch ihre Rahmenkonstruktion. Das rechteckige Netz ist an drei Seiten von einem Rahmen, bestehend aus drei Stöcken, umgeben, während die Unterseite, ebenso wie bei den üblichen Netzen, von einer durch die untere Maschenreihe gezogenen Leine abgegrenzt wird. Der horizontale Stock überragt die eine Schmalseite und bietet so einen guten Halt für die Hand des Fischers. Die T-Projektionen fehlen dagegen. Es wird behauptet, daß die Netze in der Nacht paarweise gebraucht werden. Drei bis fünf Fischer bilden einen Halbkreis, gegen den die Fische mit Geplätscher und Lärm getrieben werden (ESE I I : B : 12:1, pp. 1 1 8 - 1 1 9 , figs. 9 0 - 9 1 , Taf. 25; NGM 65, pp. 270, 274, 294). 1 1 Im südöstlichen Melanesien und Polynesien fehlen Flügelnetze vollkommen. Dagegen haben sie ein zweites Verbreitungsgebiet in Mikronesien, wo sie in mehreren verschiedenen Ausführungen vorkommen. Der in Melanesien übliche Netztypus kommt auch hier vor. K U B A R Y und K R Ä M E R bilden Exemplare von Truk ab (Abb. 1 ) , die sich in keinerlei wesentlichen Punkten von ihren melanesischen Entsprechungen unterscheiden.12 Zur selben Gruppe gehört Namoluks djou13, Lukunors zäu, Lemarafats rumerin oder reu, Namuoitos reu in ai i pul samt dem djeu-Netz von Losap und Nama. Ein von Namoluk abgebildetes Exemplar ist mit einer Stange versehen, die diagonal zwischen Ast und Rute verläuft. Ein Exemplar von Ponape weist einen zusätzlichen Stock zur Verlängerung der Rute auf, wie aus einer Abbildung hervorgeht. Es ist 2 4 0 cm lang und 6 0 cm hoch und wird nach H A M B K U C H und C H R I S T I A N naik genannt, nach K U B A R Y naek. Laut K U B A R Y soll das Ponape-Netz an der oberen Maschenreihe mit Korken versehen sein. H A M B R U C H S Netz dagegen hat eine Reihe von Senkern, die von der unteren Kante herabhängen. Von Kusae erwähnt bereits v. K I T T L I T Z „Handnetze mit bogenförmigem Gestell" und aus Bildern bei S A R F E R T und F I N S C H geht hervor, daß es sich um den üblichen Typus handelt. Ein abgebildetes Exemplar maß 145 X 45 cm. Der übliche Typus wird näk masa genannt, während näk in sefos kleiner ist (nur einen halben Meter lang). Laut T H I L E N I U S soll es auch auf den Ebon-Atollen in der Marshallgruppe vorkommen. Betreffs der Anwendung des Netzes sind die Angaben sehr spärlich mit Ausnahme von der Insel Truk. Von dort erwähnt bereits D U M O N T D ' U R V I L L E , daß sie paarweise beim Fischen auf Riffen von Frauen angewandt wurden. B O L L I G betont, daß das Flügelnetz das Lieblingsgerät der Frauen sei. Fischschwärme, die sich bei Ebbe auf den teilweise ausgetrockneten Riffen befinden, werden so gut wie täglich von den Frauen in den Netzen gefangen. Auf Truk wie auf den meisten zentralkarolinischen Inseln, wo das Netz angewandt wird, wird 11 12

13

I. HOGBIN, Peoples of the Southeast Pacific. New York 1946. Laut BOLLIG ist der Name des Netzes ebilo, laut KUBARY epiro. Dieser Name ist identisch mit dem Namen der Seegrasart, aus welcher das Netz hergestellt wird. GIRSCHNER gibt den Namen down asärop an. Der bogenförmige Stab wird nach ihm igon genannt.

Flügelnetze in der Südsee

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es aus Seegras hergestellt, mit Ausnahme von Namoluk und sehr großen Arten von Netzen auf Truk, die aus Hibiskusfiber geknüpft werden. Auf Namoluk werden die Flügelnetze vor allem nachts gebraucht, und es gibt viele verschiedene Größen je nach Art der Fische, die man zu fangen wünscht. Von dem nailc-Netz von Ponape heißt es u. a., daß es benützt würde, u m die Fische zu „schöpfen", die in eine enge Passage oder in einen Riffkanal getrieben worden sind. Von Kusae wird berichtet, daß man nachts damit arbeitet, da man bei Fackellicht die geblendeten Fische in abgesperrte Riffkanäle treibt. Auch am Tage wird es zum Treiben und Umringen von Fischschwärmen benutzt ( A E B 3 : I , pp. 151 — 152; BA 2, p. 154, fig. 8; EBS p. 464, fig. 34; E S E I I : B : 3: I I I , p. 91; 4:1, p. 1 0 4 - 1 0 5 , Taf. 18: 1 - 2 , 19: 2; 5, pp. 1 4 4 - 1 4 5 , fig. 104b, 105; 6: I, p. 55; 6: II, pp. 53, 143. 177, 222; 7: II, fig. 127; JOST X L : 7, p. 77, pl. I X : 1 - 2 ; K E B K p. 133, pl. X V I I : 8; KMG, p. 374; MGGH 1887/88, p. 63; NAL 80, p. 327, fig. 108). 11 Außer den gewöhnlichen Typen kommen an einigen Stellen in Mikronesien auch komplizierte Flügelnetze vor, wie z. B. Palaus deraw-Netze (nach KTJBAKY dhäran). Der Fang mit diesem Netz geschieht oft in zeremonieller Form und stellt einen wichtigen ökonomischen Faktor bei den Festen der Männerhäuser dar. Laut K B Ä M E R glaubt man, daß die Vorväter vom Himmel gelernt haben, die Netze herzustellen. Die Netzoberfläche ist fast rechteckig, über 2 m lang, aber kaum mehr als 4 d m hoch. Der Rahmen des Netzes besteht aus vier Teilen. Der eine dieser Teile ist der Stamm eines Busches, vereint mit einem seiner biegsamen Zweige. Dieser Stamm verläuft zu einem Viertel seiner Länge senkrecht zur Netzoberfläche, während der Zweig so gehalten ist, daß er einen Bogen über die obere Netzkante beschreibt und dann nach unten verläuft und mit der Schmalseite des Netzes abschließt. Der Stamm sowohl als auch der Zweig werden dann an dem Querholz, das die untere horizontale Kante bildet, festgebunden. An dem gebogenen Teil des Zweiges ist eine Stange befestigt, die schräg abwärts zu dem Ansatzpunkt des Zweiges an seinen Mutterstamm und weiter diagonal an der Netzoberfläche entlang zu dem unteren Querholz verläuft, an das sie etwa einen halben Meter von ihrem Ende entfernt angebunden ist. Diese diagonal verlaufende Stange bildet zusammen mit der Astgabel einen stabilen Griff für den Fischer. An dem äußersten Ende der unteren Querstange ist eine Rute festgebunden, die in einem Bogen nach oben geführt wird, wo ihr entgegengesetztes Ende mit einer Leine verbunden ist, welche durch die obere Maschenreihe horizontal zu der Schmalseite des Netzes verläuft. Die bogenförmige R u t e entspricht also der 14

F. CHRISTIAN, The Caroline Islands. London 1899, p. 126; M. J. DÜMONT D'URVILLE,

Voyage au pole Sud et dans l'Oceanie. Paris 1843, vol. V, p. 131; F. H. v. KITTLITZ, Denkwürdigkeiten einer Reise nach dem russischen Amerika, nach Mikronesien und durch Kamtschatka. Gotha 1858, vol. II, p. 19; PLESSOW, Voyage autour du monde sur la corvette La Coquille. Paris 1839, Vol. II, pp. 486, 506; F. LÜTKE, Voyage autour du monde . . . sur la corvette La Seniavine . . . Partie Historique. Paris 1835—36, I, p. 381. 2

Beiträge zur Völkerforschung

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Bengt Anell

einen Schmalseite des Netzes, die Leine hält die Maschen gespannt. Betreffs der Anwendung dieses Netzes schreibt Kubaby : „Beim Fischen mit demselben, was in Gesellschaft mehrerer geschieht, wird in jede Hand eines genommen; sämtliche Fischer bilden mit weit ausgebreiteten Armen einen Kreis, den sie, sich einander leise nähernd, verengern; die der Freiheit zustrebenden Fische verwickeln sich dann in dem kleinen Netz. Die Sicherung der Beute geschieht, indem der Fischer das Netz dreht, solchergestalt den Fisch vollständig umschließt und ihn dann mit einem Faustschlag auf dem erhobenen Knie betäubt."

Seiner Form nach etwas einfacher ist dhdrau a makabüth (Ktjbaby), dessen ganze Netzoberfläche von Stäben umgeben ist; die Diagonalstange fehlt und an Stelle der Astgabel hat es eine doppelt gebogene Rute (Abb. 2). Es wird zum Fang von Sardinen benutzt (KEBK, pp. 1 3 2 - 1 3 3 , pl. X V I I : 7, 9). 15 Die für Yap charakteristischen Flügelnetze, käf, erinnern etwas an die obengenannten Typen von Palau, sind aber bedeutend einfacher in ihrer Ausführung. Die Netzoberfläche ist an allen vier Seiten von Stangen umgeben. Die Stange an der einen Schmalseite ist nach oben verlängert. Außerdem ist noch eine zusätzliche Stange vorhanden, die in etwa einem halben Meter Abstand parallel zu der obengenannten Schmalseitenstange verläuft und ebenfalls über die horizontale Kante hinausgeht. Wie bei den Palau-Netzen ist dieses Netz auch mit einer Diagonalstange versehen. Beim Gebrauch hat jeder Fischer ein Netz in jeder Hand. Am Tage werden die Fischschwärme umringt oder getrieben, nachts schreckt man die Fische auf den Riffen aus der Ruhe und fängt sie ein, bevor sie sich in Sicherheit haben bringen können. Die Länge des Netzes variiert zwischen 180 und 300 cm, seine Höhe übersteigt nur im Ausnahmefall 40 cm. Die geringe Höhe des Netzes erklärt sich aus der Tatsache, daß man damit vor allem Fische fängt, die sich an der Oberfläche aufhalten. Werden die Fische ins Netz getrieben, verwendet man an einigen Stellen besondere Geräte, die aus Rahmen ohne Netz bestehen, dessen Stangen dafür aber mit Kokospalmblättern umwickelt sind (ESE I I : B : 2 : 1 , pp. 7 9 - 8 0 , pl. 24: 1, 3—5). Die käf-Netze sind meines Wissens nur noch von einer anderen Insel belegt, nämlich Feis, von wo ein Bild einen Fischer zeigt, der zwei solcher kleinen Netze trägt. Angaben über die Anwendung der Netze werden leider im Text nicht gemacht (ESE I I : B : 10:1, Taf. 22: b). Eine andere Art von Handnetzen, den gewöhnlichen Flügelnetzen sehr ähnlich, ist Kapingamarangis kupinga hurihuri. Sein Rahmen besteht aus gebogenen Hibiskuszweigen. „Die Bogensehne", die die untere Kante bildet, verläuft durch die untere Maschenreihe. Ein Stück weiter oben an dem Ast hat man ein Stück eines Zweiges stehen gelassen, das als Griff dient. Betreffs des Gebrauchs dieses Netzes unterscheiden sich die Auffassungen Eileks und Bucks sehr voneinander. Der letztgenannte schreibt u. a.: ''In use, the net is held by the thick end of the 15

Das von Kubaby abgebildete Netz thogön (Taf. X V I I : 10) kann wahrscheinlich nicht als Flügelnetz angesehen werden, obwohl es sehr wohl desselben Ursprungs sein mag.

Hügelnetze in der Südsee

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rod with the left hand and the right hand holds the short handle". Bei E I L E R S heißt es dagegen: „Die Treiber stellen sich im Kreise auf und jeder von ihnen trägt in beiden Händen eines solcher Handnetze." Das letztgenannte Zitat trifft genau auf die für das Flügelnetz gebräuchliche Fangweise zu, das erstgenannte dagegen läßt einen eher an einen doppelstieligen Ketscher denken. Offenbar sind beide Methoden denkbar, und weiterhin kann erwähnt werden, daß die Länge des Astes bei dem von E I L E R S abgebildeten Exemplar 1 6 5 cm war (Abb. 5 ) , bei BITCK jedoch über 2 3 0 cm (BMB 2 0 0 , pp. 2 1 2 - 2 1 3 , fig. 1 2 9 ; ESE:II:B:8, p p . 8 1 - 8 2 , fig. 3 6 ) .

Von Kusae schließlich bildet ALEXANDER ein eigenartiges flügeiförmiges Netz ab, das eine hybride Form zwischen Flügelnetz und Ketscher zu sein scheint. Der Rahmen besteht nur aus einem knieförmigen Stück Holz, über welches ein dreieckiges, lose herabhängendes Netz gespannt ist. Die Netze werden paarweise auf dem Riff angewandt, und auf Grund ihres geringen Gewichts zieht man sie oft den Ketschern vor. Auch in Süßwasser werden sie gebraucht (UCFR 1901, p. 820). Sowohl FINSCH als auch THILENIUS erwähnen am Rande die eigentümliche Verbreitung des flügeiförmigen Netzes, jedoch ohne irgendwelche Gesichtspunkte betreffs seines Ursprungs oder seiner Verbreitung darzulegen. Wenn man davon ausgeht, daß das Flügelnetz im nördlichen und nordöstlichen Melanesien und auf den Karolinen-Inseln vorkommt, im südöstlichen Melanesien, auf Neu-Guinea, in Polynesien und im östlichsten Mikronesien jedoch fehlt, könnte man es ohne weiteres leicht als ein relativ spät eingeführtes indonesisches Kulturelement betrachten ; es wäre dann in östlicher Richtung auf zwei parallelen Wegen verbreitet worden, einem südlichen nach Melanesien und einem nördlichen nach Mikronesien. Es zeigt sich jedoch, daß Netze dieser Art nirgends in Indonesien belegt werden konnten und meines Wissens existieren überhaupt keine außerozeanischen Parallelen. Andererseits ist es theoretisch denkbar, daß die Flügelnetze wirklich früher in Indonesien vorgekommen sind, aus irgendeinem Grunde, wie z. B . durch Einführung des Wurfnetzes, aber aus dem Gebrauch gekommen sind. Eine andere Möglichkeit ist natürlich, daß die Flügelnetze in der Südsee entstanden sind, und in diesem Falle läge es nahe anzunehmen, daß der Ursprungsort West-Mikronesien ist. Diesen Schluß könnte man ziehen auf Grund der Typenvariationen in diesem Gebiet einerseits, auf Grund des west- und zentralmikronesischen Einflusses auch in anderen Beziehungen in Nord- und Nordostmelanesien andererseits. Daß das in seiner Form so besonders geartete Flügelnetz spontan sowohl in Melanesien als auch in Mikronesien entstanden sei, muß dagegen als äußerst unwahrscheinlich angesehen werden.

2*

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Bengt An e l l

ABKÜRZUNGEN

AEB ARTNG BA BABH BMB EBS ESE FMVB: NI G IAE JOST JMVL JPS KEBK KMG MGGH MVED NAL NGM 0 UCFR

Anthropos Ethnologische Bibliothek Anthropological Report, Territory of New Guinea Baessler Archiv Baessler Archiv, Beiheft Bernice P. Bishop Museum, Bulletin 0 . Finsch, Ethnologische Erfahrungen und Belegstücke aus der Südsee. Wien 1888-93 Ergebnisse der Südsee-Expedition 1908—1910 Führer durch das Museum für Völkerkunde, Basel: Neu-Irland Globus Internationales Archiv für Ethnographie Journal, College of Science, Imperial University of Tokyo Jahrbuch des Museums für Völkerkunde Leipzig Journal of the Polynesian Society J . Kubary, Ethnographische Beiträge zur Kenntnis des Karolinen-Archipels. Leiden 1889-95 (Katalog der) Ethnographisch-anthropologischen Abteilung des Museums Godeffroy in Hamburg. 1881 Mitteilungen der Geographischen Gesellschaft in Hamburg Mitteilungen des Vereins für Erdkunde, Dresden Nova Acta Leopoldina, Halle National Geographical Magazin Oceania U. S. Commission for Fish and Fisheries, Report

Mügelnetze in der Südßee

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KAUÌ V o n HERBEBT BALDUS, S ä o P a u l o

In seiner Doktorarbeit über A l k o h o l i s c h e G e t r ä n k e b e i d e n N a t u r v ö l k e r n S ü d a m e r i k a s 1 unterscheidet G Ü N T H E R H A R T M A N N zwischen Alltagsund Fest-Chicha: „Die Alltags-Chicha wird in einigen Fällen leicht angegoren, entbehrt in vielen Fällen jedoch jeder Gärung. Die Fest-Chicha wird nur zu bestimmten Gelegenheiten hergestellt, ist also nicht zu jeder Zeit verfügbar. Das mehr oder weniger alkoholreiche Getränk wird manchmal auch nur an besondere Personen ausgegeben, da es nur in kleineren Mengen zur Verfügung steht. Während die Bedeutung der Alltags-Chicha vor allem in der Erfrischung und im Wert als Nährmittel liegt, ist die Fest-Chicha in erster Linie Rauschmittel für Feste und sportliche Veranstaltungen. Die Funktionen beider Getränke sind also sehr verschieden." Dem, was man in spanisch-amerikanischen Ländern als Chicha bezeichnet, entspricht in großen Teilen Brasiliens der Kaui. Über ihn möchte ich einiges sagen und mich dabei besonders auf meine Beobachtungen bei den Tapirape beziehen, einem im Gebiet des gleichnamigen linken Nebenflusses des Araguaya lebenden Tupi-Stamme. 2 Kaui ist ein Tupi-Wort. So bedeutet in dem am Amazonas als Handelssprache weit verbreiteten, unter dem Namen Nheengatii bekannten Tupi cau „betrunken" und cauy „Wasser des Säufers" und „geistige Getränke im allgemeinen". 3 Im Guarani von Guaira ist cau „Wein trinken". 4 In dieser Sprache und im Guarani von Bolivien, d. h. im Guarayo, erscheint das Wort Kaui als cägui.5 Um zu zeigen, daß das Wort auch bei den Araukanern vorkam, zitiert G E O R G F R I E D E R I C I 6 fol1 2 3

4 5

Berlin 1958, S. 154f. Vgl. HERBEET BALDUS: OS Tapirape, tribo tupi no Brasil Central. Revista do Arquivo Municipal, Vol. CXIV-CXVI, Säo Paulo 1947. E. STRADELIJ: Vocabularios da lingua geral portuguez-nheengatü e nheengatu-portuguez. Revista do Instituto Historico e Geographico Brasileiro, t. 104, vol. 158, Rio de Janeiro 1929, S. 405 und 407. ANTONIO RUIZ DE MONTOYA: Vocabulario y tesoro de la lengua guarani, 6 mas bien tupi. Nueva ed., Viena-Paris 1876, parte segunda, 95. Ebenda, 85 f.v, und ALFREDO HOELLER: Guarayo-Deutsches Wörterbuch, Hall in Tirol 6 1932, S. 45. Amerikanistisches Wörterbuch, Hamburg 1947, S. 150.

Kaui

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genden auf diese bezüglichen Satz: „Zur Zeit des Cahuin: so nennen sie die der Trunkenheit und Fröhlichkeit gewidmeten Tage." Außerdem bemerkt er: „Man hat cauim, die Art seiner Zubereitung und seinen Genuß, mit kawa (Piper methysticum Forst.) und dem Kawa-Trinken der Südsee sprachlich und völkerkundlich in Verbindung bringen wollen." 7 In der Literatur des 16. Jahrhunderts über die Tupinamba schreibt der Hesse H A N S S T A D E N 8 Kaa.wy und Kawi, A N D R E T H E V E T 9 Cahouin und J E A N D E L E R Y 1 0 Caou-in. Die hier von diesen beiden Franzosen dargestellte und später auch bezüglich anderer Tupi-Sprachen von Autoren aus verschiedenen Ländern angegebene Nasalierung des i fehlt im Tapirape und Kamayurä; diese beiden Sprachen nasalieren das u von Kaui und betonen das i.11 Weder die Tapirape noch die Kamayurä stellen berauschende Getränke her. Jene bezeichnen als Kaui ihre Suppen aus Erdnuß, Mais, Maniok, Baumwollsamen, Kürbis und Bananen, ja sogar das Wasser zum Trinken (y-kaüi, wobei y „Wasser" bedeutet). Die Kamayurä nennen kaüi einen „einfachen Erfrischungstrank aus Wasser und eingebrocktem Beiju" 1 2 , das ist Maniokfladen. Das Vorhandensein und der Gebrauch der Vokabel kaüi bei diesen zwei Stämmen läßt also die Bedeutung von caü als „betrunken" zweifelhaft erscheinen, falls man nicht annehmen will, beide hätten den Ausdruck von andern Tupi, die damit alkoholische Getränke bezeichnen, übernommen. Nicht immer wird der Kaui der Tapirape jeweils nur aus einer einzigen der obengenannten Pflanzen hergestellt. Es gibt auch Mischungen wie die von gestampftem Mais mit gekauter Erdnuß oder gekautem Baumwollsamen. Aber andere Pflanzen außer den aufgezählten werden nicht benutzt. Mais und Maniok scheinen die wichtigsten Rohstoffe für den Kaui der Tupinamba gewesen zu sein. H A N S S T A D E N 1 3 erwähnt die Herstellung von Kaa.wy aus Abbati (Mais) und fügt hinzu: „Darneben haben sie dan die wurtzel Mandioka / die mengen sie auch etwan darunter." Außerdem aber bereiteten diese Indianer der brasilianischen Küste auch einen berauschenden Kaui ausschließlich aus Maniok, wie aus der folgenden Beschreibung desselben Verfassers 14 hervorgeht: „Das weibs volck machet die gedrencke / sie nemen die wurtzel mandioka / vnd 7 8 9 10 11 12 13 11

Ebenda, S. 151. Warhaftige Historia und besohreibung eyner Landtschafft der wilden nacketen grimmigen Menschenfresser-Leuthen in der Newenwelt America gelegen, Marpurg 1557, e 2, f 3. Les singularitez de la France antarctique (1558). Nouvelle edition, Paris 1878, S. 121. Histoire d'vn voyage faict en la terre dv Bresil, avtrement dite Amerique. Seconde Edition, s. 1. 1580. S. 125. Vgl. bezüglich Kamayurä: KARL VON DEN STEINEN: Unter den Naturvölkern ZentralBrasiliens, Berlin 1894, S. 213. Ebenda. o.e., e 2. Ebenda, q 4 f.

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HERBERT BALDUS

sieden grosse düppen vol / wens gesotten ist / nemen sie es auss den düppen / giessens inn eyn ander düppen oder gefess / lassens eyn wenig kalt werden / dann setzen sich die jungen mägde darbei / vnd kewen es mit dem munde / vnd das gekewtte thun sie in eyn sonderlich gefess. Wann die gesottenen wurtzeln alle gekewet sein / thun sie das gekewete wider in das döppen / vnd giessen es widerumb voll wassers / vermengens mit den gekeweten wurtzelen / vnd dann lassen sie es widerumb warm werden. Dann haben sie sonderliche gefess / welche sie halb in die erden begraben haben / brauchen sie darzu / gleich wie man hie die fass zum wein oder bier gebraucht / Da giessen sie es dann ein / vnd machens wol zu / das giert in sich selbst / wirt starck / lassen es also zwen tage stehen / darnach trincken sie es / werden truncken daruon / Ist dicke / speisset auch wol." An anderer Stelle 15 habe ich angeführt, was die Autoren des 16. und 17. Jahrhunderts über die Rohstoffe der Getränke bei den Tupinambä sagen. Keiner spricht ausdrücklich von Kauf aus Baumwollsamen, Erdnuß und Kürbis. Das aus gekautem Baumwollsamen und gestampftem Mais gemischte Getränk der Tapirape sieht grün-gelblich aus und schmeckt fade. Allerdings muß hier erwähnt werden, daß laut GABBIEL SOABES DE S O U S A 1 6 die Tupinamba von Bahia einen Brei aus gestampften und dann gekochten Baumwollkernen aßen. Der Kaui aus Erdnuß war während meiner Besuche in den Jahren 1935 und 1947 das sowohl den Tapirape wie auch mir liebste Getränk. Seine Farbe war ein zartes Gelb, seine Süße war weder aufdringlich noch schal, und er war so ausgeglichen zwischen dick und dünn, daß er zugleich labte und sättigte. Obwohl SOABES DE S O U S A 1 7 den Genuß von Kürbis und Erdnuß behandelt, sagt er doch nichts über ihre Verwendung zur Herstellung eines Getränks. Die Pflanzenstoffe werden bei der Zubereitung der verschiedenen Arten des Kauf auf dreierlei Weise von den Frauen und Mädchen der Tapirape zerbröckelt und zerquetscht, nämlich zwischen den Händen, im Mörser und zwischen den Zähnen: zwischen den Händen Kürbis und Bananen; im Mörser Mais und vorher ins Wasser gelegter und darauf in der Sonne getrockneter Maniok; gekaut der Mais, der Maniok, die Erdnüsse und die Baumwollsamen. Auch die Tupinambä benutzten zur Herstellung ihres Kauf gekaute Substanzen, wie wir es schon aus dem obigen Bericht H A N S STADENS ersehen haben. Andere alte Chronisten haben das bestätigt. 18 Bemerkenswert ist die Mitteilung von K A R L VON D E N S T E I N E N 1 9 , daß bei den von ihm besuchten Stämmen im Gebiet des oberen Schingu das Kauen bei der Zubereitung von Getränken unbekannt war, also auch bei dem Tupi-Stamm der Kamayurä trotz der Kenntnis des Wortes Kaui. 15

16 17 18

BALDUS: o . e . , vol. C X V , S. 2 5 6 f .

Tratado descriptivo do Brasil em 1587, 3. ed., Säo Paulo 1938, S. 235. o.e., S. 201 ff. Vgl. BALDUS: loc. c., S. 2 5 7 f .

19

o . e . , S. 212.

Kaui

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Bei den Tapirape gibt es wie bei den Tupinambä vier Phasen in der Herstellung des durch das im Speichel enthaltene Ferment (Ptyalin) zur Verzuckerung gebrachten Getränks: 1. Kochen des zu kauenden stärkemehlhaltigen Materials; 2. Kauen desselben und dadurch Zusatz des im Speichel enthaltenen Ferments; 3. Zusatz von Wasser; 4. Anwärmen dieser Mischung. HAJRTMANN20 schildert diesen Prozeß bei den Tupinambä folgendermaßen: „Die Maniokwurzeln wurden gekocht und dann zum Teil von jungen Mädchen gekaut. Die Mischung wurde unter erneutem Wasserzusatz gekocht und einige Tage der Gärung überlassen." Er bezieht sich dabei auf folgende Angaben von ALFRED MBTRAUX:21 "Manioc beer, the favorite drink, was prepared as follows: The roots, cut into thin slices, were first boiled, then squeezed and partly chewed by young girls. The mass, impregnated with saliva, was mixed with water and heated again over the fire. The liquid was afterwards poured into huge jars, half buried in the ground, covered with leaves, and left 2 or 3 days to ferment." Wir bemerken in dem englischen Text den Unterschied zwischen „boiled" (erste Phase) und „heated" (vierte Phase), was dem „sieden" und „widerumb warm werden" bei STADEN entspricht. Diese Unterscheidung ist wichtig, wenn man bedenkt, daß das Erreichen des Siedepunkts die Gärung unterbräche, während ein Anwärmen bis etwa 50° C sie begünstigt. Die Tapirape jedenfalls wärmen die mit Wasser versetzte gekaute Masse auf glühenden -Scheiten nur an, ohne sie zum Sieden kommen zu lassen. Im Zusammenhang hiermit mag übrigens GEORG WILHELM FEEYEEISS 22 erwähnt werden, der im ersten Viertel des vorigen Jahrhunderts die brasilianische Provinz Espirito Santo bereist hat und schreibt: „Die Küstenindier verfertigen den Kaui aus den Wurzeln des Mandioks, die gekocht und darauf von den Weibern gekaut, in einen großen Topf gespeiet, und mit Wasser Übergossen werden, wo man sie gähren läßt, auch wohl um die Gährung zu fördern den Topf in die Nähe des Feuers setzt." Der Kaui der Tapirape wird wie der von FREYREISS23 erwähnte vierundzwanzig Stunden nach dem Kauen genossen. Dasselbe geschieht mit dem Jolorukud der Umutina, einem Getränk von gekautem Mais, das, wie mir Herr Harald Schultz, Assistent der ethnologischen Abteilung des Museu Paulista, mitteilt, diese Indianer des oberen Paraguaystroms zu sich nehmen, wenn es süßlicher wird, und weggießen, sobald es sauer zu werden beginnt. HARTMANN24 hat zahlreiche Naturvölker Südamerikas genannt, die keine alkoholischen Getränke kannten. Seiner Aufzählung sind die Umutina anzufügen. 20 21

22

23

o.e., S. 105f. "The Tupinamba", Handbook of South American Indians, vol. III, Washington 1948, S. 127. Beiträge zur näheren Kenntniss des Kaiserthums Brasilien. Erster Theil, Frankfurt am Main 1824, S. 102. 24 o.e., S. 1 3 - 2 1 . Ebenda.

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H E B B E R T BALDTJS

Schließlich sei bemerkt, daß der Kaui eine enge kulturelle Verwandtschaft der Tapirape mit den Tupinamba erweist, und zwar 1. durch seinen Namen, 2. durch die Wichtigkeit von Maniok und Mais in seiner Herstellung, 3. durch die vier Phasen dieser Herstellung, 4. durch seine große Rolle in der Ernährung. Verglichen mit diesen Ähnlichkeiten ist es von geringer Bedeutung, daß die Tupinamba laut den alten Chronisten sich im Gegensatz zu den Tapirape bei gewissen Gelegenheiten betrunken haben. Ein Autor des 16. Jahrhunderts, der Jesuitenmissionar JOSEPH DE ANCHIETA 2 5 zeigt deutlich, daß auch bei jenen Küstentupi der Kaui vor allem zur Nahrung diente und nur im „Exzess" („excesso") als Rauschmittel. Wahrscheinlich hatte man eines Tages die berauschende Wirkung beobachtet, als der Kaui aus irgendeinem Grunde länger als üblich aufbewahrt worden war, und zog dann bei festlichen Gelegenheiten aus dieser Erfahrung Nutzen. Daß aber die Tapirape so etwas gewußt und wieder vergessen haben sollten, ist kaum anzunehmen. Jedenfalls kann man J O S E F H A E K E L 2 6 wohl nicht zustimmen, wenn er schreibt, das Fehlen der alkoholischen Getränke bei ihnen könne „entweder auf Einwirkungen der Karaja oder der Ge zurückgehen". 25

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Cartas, informagöes, fragmentos historicos e sermöes (1554—1594), Rio de Janeiro 1933, S. 333. Neue Beiträge zur Kulturschichtung Brasiliens. Anthropos, Bd. 48, Posieux (Fribourg) 1953, S. 152; vgl. auch HARTMANN: o.e., S. 15f.

SPIELE DER Von

OSTERINSULANER

THOMAS S . BARTHEL,

Tübingen

Spiele der Südseevölker sind unter verschiedenen Fragestellungen von dem verehrten Jubilar bearbeitet worden, und so liegt es nahe, ihm in dieser Pestschrift ergänzendes Material aus jenem fernen Winkel Polynesiens darzubringen, dem noch immer ein besonderes Interesse der Ozeanistik gilt. Die hier zusammengestellten Daten gehen teils auf die Studien von M E T B A U X und P. E N G L E R T in den dreißiger Jahren zurück, teils auf die eigene Feldarbeit 1957 — 1958, und umfassen sowohl Beobachtungen an Ort und Stelle wie einheimische Überlieferungen längst aufgegebener Praktiken. Bei älteren Autoren finden sich nur verstreute Hinweise. Aus solchen Umständen erhellt, daß alle Belege in Wandlurigsstadien der Osterinselkultur gesammelt wurden, in denen Fremdeinflüsse aus Tahiti und Chile parallel zum Verfall und Erlöschen eigenständiger Spielformen wirksam waren. Wir wollen in diesem Rahmen davon absehen, grundsätzliche Fragen der Klassifizierungsprinzipien von Spiel und Spielen aufzugreifen. Es sei daran erinnert, daß Differenzierungen nach dem Alter oder Geschlecht der Spielenden ebensowenig starr sind wie die Grenzen gegenüber einem spielerischen Erlernen oder einer Erziehung durch das Spiel in Handlungen, die dann später für Wirtschaft, Kriegführung oder Kultleben Bedeutung erlangen konnten. Die hier gebrauchte Orientierung nach dem Spieltypus ergibt sich recht zwanglos aus den ethnographischen Befunden selbst. 1.

Rätsel

Rätsel von der Osterinsel werden hier zum ersten Male veröffentlicht. In der heutigen Kultur ist das hohe Niveau älterer Rätsel stark zurückgegangen. Einfache Rätselfragen unter Kindern oder die Umschreibung sexueller Motive durch Erwachsene sind zwar weiterhin beliebt, doch fesseln das Rätselstellen und Rätsellösen nicht mehr die Aufmerksamkeit ganzer Gruppen angesehener Leute. Unter den „Jcorohua" — jenen alten Männern, die in ihrer Jugend noch die intakte Inselkultur erlebt hatten und zwischen 1910 und 1930 verstarben — war die Vorliebe für Rätsel, „ p i r i " , besonders ausgeprägt. Berühmt war ein Alter namens N I C O L A S

Thomas S. Babthel

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Pakabati für seine Erfindungsgabe. Als sein bestes Rätsel, dessen Auflösung er erst nach langem Bitten verriet, galt unsere Nr. 13. Ein anderes berühmtes Rätsel (unsere Nr. 1) blieb ungelöst und wurde an seinen jüngsten Sohn Leonakdo Pakabati vererbt, dem wir die meisten Rätsel unserer Sammlung verdanken. Die älteste Rätselfrage kommt in einem wertvollen Eingeborenen-Manuskript vor und lautet: he nuahine i te haha te taropa i te mangungu te okal „(Was ist das?) Eine Alte, die im Mund einen Korb und im Gesäß einen Pflanzstock hat?" Die Lösung lautet: te kioe, d. h. die Ratte (die im Maul eine geraubte Süßkartoffel und hinten einen Schwanz trägt). Heutzutage ist die Rätselfrage häufiger mit einem tahitianischen Ausdruck („pehe te auraal") als mit dem eigentlichen Rapanuiwort („pehe te huruV) verbunden. Nr. 1: etahi tangata höre a huru poki, poki erua i varaa o te anga he tutu henua he kai henua? — he vae haerel Ein Mann hat zehn Kinder. Zwei Kinder arbeiten und fegen den Boden? — Die Füße beim Gehen! Nr. 2 : etahi tangata mau i te vaero roaroa ana emu ki roto ki te vai kaval — he hi tuutonga! Ein Mann nimmt einen ganz langen Schwanz und läßt ihn hinab in das Meer? — Ein Stein zum Angeln von Aalen! Nr. 3 : etahi tangata hahahaha hakakum.il — hare moa\ Ein Mann trägt viele Dinge auf seinen breiten Schultern? — Das (aus Steinen aufgeschichtete) Hühnerhaus! Nr. 4 : etahi tangata hakamaeha ite pol — ahi\ Ein Mann erleuchtet die Nacht? — Das Feuer! Nr. 5 : etahi nuahine akavenga ngau i te maea o roto o te tahataha o te tail — he mamal Eine Alte trägt eine Last auf dem Rücken und beißt in den Felsen am Rande des Meeres? — Die Molluske „mama" (eine Art Napfschnecke)! Nr. 6: etahi vie erua taheta vai mau ol — he tino maika\ Eine Frau hat zwei Gefäße mit Wasser an der Seite? — Steckling der Bananenpflanze! Nr. 7 : etahi vie pua hau meameal — puoko moni! Eine Frau trägt einen roten Hut? — Der Fisch „puoko moni"\

Spiele der Osterinsulaner

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Nr. 8: etahi vie puoko kumi o roto o te vai kava aaru tangatal — kupengal Eine Frau hat lange Zöpfe im Wasser des Meeres, um damit Männer zu ergreifen? — Das Netz! Nr. 9: etahi vie oho tea maitakil — he vave! Eine Frau mit schönen hellen Haaren? — Eine Welle! Nr. 10: etahi uka i te rima te vai maitakil — ure maikal Ein Mädchen hat klares Wasser in der Hand? — Die (handförmige) Blattscheide der Bananenpflanze! Nr. 11: etahi uka kiri meamea maitaki ? — nanue paral Ein Mädchen mit schöner roter Haut? — Der Fisch „nanue para"\ Nr. 12: etahi poki toto nene,% — toa\ Ein Kind mit süßem Blut? — Zuckerrohr! Nr. 13: bare i runga i te henua ngaeieil — papaki i runga i te kepol Ein Haus auf einer schwimmenden Erde? — Die Molluske „papaki'1 auf den Algen im Meer! Nr. 14: etahi henua tae tupu e te maukul — marengo! Ein Land, wo kein Gras wächst? — Der Kahlkopf! Die typische Rätselfrage tritt uns anthropomorph entgegen. Die Objekte werden vorzugsweise in Verwandtschaftsbezeichnungen verkleidet. Manche Lösungen setzen eine genaue Naturbeobachtung örtlicher Gegebenheiten voraus und umfassen ganz verschiedene Schwierigkeitsgrade. Zum Abschluß sei noch ein modernes Beispiel genannt: Nr. 15: etahi poki hiku herehere? — ivi kaui koia kohaul Ein Kind mit festgebundenem Schwanz? — Nadel und Faden! 2.

Fadenspiele

Das Erlernen von Fadenspielen, „kaikai", mit den dazugehörigen Rezitationen, „pata'uta'u", scheint in der alten Kultur ein wichtiges Tradierungsmittel gewesen zu sein und möglicherweise sogar mit dem Erlernen der Schrift in Zusammenhang gestanden zu haben. Fadenspiele wurden mit beiden Händen und einer Schnur aus „mahute" oder „hauhau" gespielt. Heute wird als Material ein Baststreifen von der Bananenpflanze, „hau maika", oder ein moderner Faden benutzt. Ein Teil der Rezitationen ist durchaus als mnemotechnisches Hilfsmittel für längere Überlieferungen zu erkennen. Andere Fadenspiele sind mit kurzen Spottversen sexueller oder skatologischer Natur verbunden, und der Rest der Figuren besitzt überhaupt keine andere Erläuterung als einen Namen. Die von METRAUX 1934 angelegte Sammlung von etwa 28 Fadenspielen und Rezitationen ist ebensowenig

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THOMAS S. BARTHEL

veröffentlicht worden wie das Material von B A E Z A aus dem Jahre 1955. Die in Santiago de Chile aufbewahrte Sammlung aus dem Nachlaß B A E Z A enthält montierte Modelle von Fadenspielen mit Beschreibung der einzelnen Spielschritte. Die eigene ausführliche Sammlung von Rezitationen zu Fadenspielen, in der schwierige Fragen thematischer wie stilistischer Natur anzuschneiden sind, wird an anderer Stelle erscheinen. Es erscheint jedoch angebracht, einen Katalog der Fadenspiele (nach Titel oder Einsatz) nebst Formbezifferung der Sammlung B A E Z A hier vorzulegen: I. Namen von Fadenspielen ohne Rezitationen hira moko 19 ka tere te vaka 37 ko te ana taa humu te matapea 22 mai kura 14 nga repa a heru a patu 23 tuna riro 13 tutuma kai a nehenehe 15 vahine tiano i te pae uahu (tahitian.) 41/45 II. Namen von Fadenspielen ai nini haha haha hatahata te rua uri ka unga te rongo pou pou tuu te ure runga utami III. Namen von Fadenspielen e kuha e rati e pua erua nga uka e ure a vai a nuhe he ika uru atua i anakena au i mate ai i hiva oti ka hao e ka haro au ka hau e ka mea era te renga ka memea no ka tatangi no ka tere te vaka

mit obszönen

Begleittexten 12 4 — 16 17 — 7/9

mit publizierten Rezitationen 30 53? 50 33 — 20 26 24 28 58 18 + 38 (Form eines Vogels) — 18 + 38

Spiele der Osterinsulaner kainga moko ririva kiakia kia tika korua ko akuru koro rupa mataa nui moko pingei natua rere (tuamotu. oder tahitian.) o hiva te vahine (tahitian.) tata tata 3.

31

3 2 34? + 53? 6 29 11

1

Kreisel

Fast ganz verschwunden ist heute das Kreiselspielen, das nur noch in einigen Familien von Kindern im Alter zwischen 8 und 10 Jahren ausgeübt wird. Die alte Kultur der Insel kannte große Steinkreisel ohne Schnur, harte Tonkreisel, ,,makoi oone", mit hölzernem Drehstab, und vor allem Kreisel aus der Frucht der Thespesia populnea, mit zugespitztem und feuergehärtetem hölzernem Drehstab. Gerade von diesem Typ finden sich gelegentlich Überreste in Höhlen. Der Drehkreisel, „makoi mo halcanini", war ein besonders beliebtes Spielzeug der Knaben und Mädchen, die in besonderen Häusern oder Höhlen zeitweilig von der Gemeinschaft abgesondert zu leben hatten. Zum Kreiseln hat sich folgendes Lied erhalten: ka nini te makoi nau opata karatuu te makoi miro rakerake ka nininini koe e te makoi oone o te rano kau e! d. h. „Dreh dich, Kreisel, aus der Frucht der Schlucht Der Kreisel aus dem schlechten Holz steht aufgerichtet Dreh Dich noch schneller, Du O Tonkreisel vom Krater Rano K a u " Angaben über eine Zugschnur oder eine Peitsche für die Kreisel fehlen. 4. Drachen

In Fortsetzung der alten Inseltradition werden weiterhin Drachen hergestellt. Ein Drache wird als „Vogel, den man fliegen läßt" (manu hakarere) bezeichnet, und eine besondere Form — die angeblich den Schriftzeichen ähnelt — manu kohou rongorongo genannt. Als Gerippe dienen die festen Stengel einer Grasart, „taroko". Für die Bespannung benutzte man früher Tapa, heute eingeführte

32

THOMAS S. BARTHEL

Stoffe oder Papier. Während die älteren Typen auf der Fläche mit dem Bild eines Vogels oder eines Vogelkopfes verziert werden, sind moderne Drachen einfarbig bemalt. Die Tragfläche selbst heißt „manu", das Ansatzstück für den angeknoteten zweiteiligen Schwanz (,,Mku") führt den Namen ,,kavei". Rhombusförmige Drachen haben an ihren beiden äußeren Spitzen kleine Büschel („kard"); mit Hilfe solcher Flügel soll der Drache stabilisiert werden. Es dürfte früher Drachen bis zu einer Größe von rund zwei Metern gegeben haben. Heute verfertigen die Kinder ihre Drachen meist selbst und lassen sie (angeblich während des ganzen Jahres) steigen, wenn es die Windverhältnisse erlauben. 5. Stelzen und Schlittern

Auf dem Dorfplatz von Hangaroa konnte ich mehrfach Gruppen von Kindern (Jungen und Mädchen im Alter zwischen 6 und 10 Jahren) beim Stelzenlaufen beobachten. Besonders gerne wurden Reihen gebildet und singend einhergeschritten. Die hölzernen Stelzen, „miro haere vae", sollen erst vor wenigen Jahren aus Chile eingeführt worden sein. In der vorigen Generation befestigten sich Kinder unter der Fußsohle glatte Rinderknochen, um damit auf dem grasbewachsenen Boden zu schlittern, wenn ihn der Regen schlüpfrig gemacht hatte. Dieses ,,hakanini i runga i te ivi" wurde als Wettlauf ausgetragen, bei dem der Beste als „me'e hakake" galt. Nach der Aussage meines Informanten handelt es sich um eine rezente Erfindung. 6. Rodeln

In der alten Kultur wurden die steilen und glatten Hänge verschiedener Höhen zu einer Art Rodelsport benutzt. Vertiefte Bahnen sind noch heute zu erkennen am Cerro Orito, am Maunga Pu'i, möglicherweise am Maunga Puakatiki und vor allen Dingen am Maunga Otuu ( = Tuutapu), der wegen seiner zentralen und freien Lage bevorzugt wurde. Solche Rodelbahnen hießen in ihrem oberen Teil ,, 1849. ± femifc, 1926. A % M & . 1850. ff m . I939ÌS 'JH i S S , 1890. i9i a % m s-

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ZUR Ü B E R L I E F E R U N G D E R SEGEDJU V o n ERNST DAMMANN, B e r l i n

Die Segedju bilden einen kleinen Stamm in Tanganyika, dessen Hauptteil an der Küste von Vanga im Norden bis Mwambani, sieben englische Meilen südlich von Tanga wohnt. 1 Ein kleiner abgesplitterter Teil siedelt in und um Bwiti an den Ausläufern von Nordostusambara. Ihre Zahl betrug nach dem Zensus von 1948 in Tanganyika 12 046. 2 Für Kenya betrug nach dem Zensus von 1931 ihre Zahl 1787. 3 Die an der Küste wohnenden Segedju haben m. W. ihre Sprache zugunsten des Suaheli, stellenweise auch vielleicht des Digo aufgegeben. Die kleine Inlandsgruppe hat dagegen ihre Sprache beibehalten. Sie unterscheidet sich erheblich von den umliegenden Sprachen Digo, Schambala und Suaheli. Sie wird in die sog. KiJcuyu-group eingeordnet und häufig unter dem Namen Dhaiso angeführt. 4 Außer wenigen Texten ist über sie m. W. nichts veröffentlicht worden. 5 Was über die Geschichte der Segedju bekannt ist, hat B A K E R zusammengestellt. Anscheinend nicht verwendet ist darin das, was ich aus den Aussagen eines Digo veröffentlicht habe. 6 Dort wird von einem Kampf der Digo gegen die verbündeten Schambala und Segedju berichtet. Letztere wurden von Mwarumwe, dem Herrn der Halbinsel Borna, geführt. Die Auseinandersetzungen endeten mit einem Sieg der Digo bei Kuze. Dieser Mwarumwe dürfte identisch sein mit dem von B A K E R erwähnten Lumwe, der nach ihm Herr von Chongoleani, einem Ort 1 2 3

4 5

PRINS, A. J. H., The Coastal Tribes of the North Eastern Bantu, London 1952, S. 39/40. Nach freundlicher Mitteilung von Mr. JAMES KIRKMAN, dem Warden of the Coastal Historical Sites of Kenya. BAKER, E. C., Notes on the History of the Wasegeju, Tanganyika Notes and Records, Nr. 27, 1949, S. 16—41. Für Kenya stehen mir keine neueren Zahlen zur Verfügung. Mr. KIRKMAN schreibt mir darüber am 1. März 1960: The Segeju of Kenya are not now enumerated separately, but the D. C. KWALE informs me that there are 294 in Kwale District. BRYAN, M. A., The Bantu Languages of Africa. London 1959, S. 116. DAMMANN, E., Sprachproben aus dem Segedju, Zeitschrift für Eingeborenen-Sprachen X X V I I , 1936/37, S. 223—233. Eine Liste von etwas über 30 Wörtern, die MEINHOF am

6

18. 11. 1902 in Ostafrika aufzeichnete, ist bisher nicht bearbeitet worden. Erzählungen eines Digo zur Geschichte seines Stammes, Zeitschrift für EingeborenenSprachen XXIX, 1938/39, S. 293-313; Zur Geschichte der Digo, ebenda XXXIV, 1944, S. 5 3 - 6 8 .

92

ERNST DAMMANN

auf Borna, war. 7 Dieser wurde von dem Digo Mwakilimu angegriffen. Es bleibe dahingestellt, ob die von B A K E R erwähnten und die von meinem Gewährsmann erzählten Ereignisse identisch sind. Letzterer nennt als Führer der Digo Vunga Mwamdzombo und der Schambala Mtsira wa Ngoswe. Der Nachfolger des Lumwe wurde Abdullah Mwaketa, der in dem einzigen Lied, das in der Sprache der Küstensegedju erhalten ist 8 , eine Rolle spielt. Er führte ein unruhiges Leben, so daß ihn der Sultan Sayyid Majid von Zanzibar (1856 bis 1870) zusammen mit drei anderen Segedju verhaften ließ. Bei dem Transport nach Zanzibar wurde er wegen seines anmaßenden Verhaltens von den Begleitmannschaften ins Meer geworfen. 9 I m Jahre 1935 traf ich auf der Sisalpflanzung Kilulu, etwa 45 km nördlich von Tanga, einen alten Segedju, Rashidi bin Muhamadi, dem ich die wenigen Sprachproben aus dem Küstensegedju verdanke. Er erzählte mir auch auf Suaheli etwas über die Geschichte seines Stammes. Dabei handelt es sich zusammengefaßt um folgendes: Der ursprüngliche Wohnsitz der Segedju war Dzambu, das in oder bei Ägypten lokalisiert wird. Von dort zogen sie nach Kirau, das möglicherweise in Äthiopien lag. Von hier führte sie ihr Weg nach Chungwaya. Bei dem weiteren Zug nach Süden teilten sie sich in zwei Gruppen. Eine blieb an der Küste und wanderte weiter südwärts; die andere wandte sich nach Westen, wo sie bei Bwiti seßhaft wurde. Der alte Name des Volkes ist Wadaiso. Die Benennung Wasegedju ist erst durch das Küstenvolk der Vumba erfolgt. Ihr liegt das Verbum segea ,,aufschürzen" zugrunde. Im Kampf zogen sie ihre Gewänder hoch, um Beine und Kniee freizumachen. Die Vumba sagten in ihrer Mundart des Suaheli darauf: wasegele juu „sie schürzten hoch". Als die Segedju an der Küste wanderten, lagen die Vumba mit den Schirazi, die ihren Ursprung aus Persien ableiten, im Kampf. Diese Schirazi übten ihre Herrschaft über weite Teile der Küste aus und hatten ein Reich gegründet, das sich bis nach Kilwa, vielleicht sogar bis nach Lindi erstreckte. Da die Vumba nicht stark genug waren, die Macht der sie unterdrückenden Schirazi abzuwerfen, riefen sie die Segedju zu Hilfe. Diese willigten ein, und es gelang ihnen, die Schirazi an der ganzen Küste bis nach Daressalem hin zu besiegen. Sie wurden aufgerieben und lebten fortan als kleine Reste verstreut an der Küste. Nach diesem Kriege entsagten die Segedju dem Wanderleben und siedelten sich in dem eroberten Lande zwischen Mombasa und Tongoni an. 10 Die Clane der Segedju (makabila ya Wasegedju) sind folgende: 7

Dem l des Segedju entspricht im Digo ein r.

8

DAMMANN, S p r a c h p r o b e n , S. 2 3 2 / 3 3 .

10

9

BAKER, S. 34.

Platz an der Bucht von Mtangata, einer alten, heute in Ruinen liegenden Siedlung zwischen Tanga und Pangani, vgl. 0. BAUMANN, Usambara und seine Nachbargebiete, Berlin 1891, S. 105/106.

Zur Überlieferung der Segedju

93

Waboma. Sie bewohnen die Halbinsel Borna und nennen sich selbst Waketa. Ihr Vater Mdiri11, auch Keta genannt, sagte: Ich lege mir eine Befestigung {boma) an. keta soll soviel wie „tun, machen" heißen. Mwakamazi. Diese sitzen in Moa, Pongwe bei Gazi in Kenya, Kigirini (nördlich von Manza, am Ende des Südarmes der Bucht von Moa), Kidjiru (nördlich von Moa, nahe der Pflanzung Mtotohovu), Ndumi und Mwambani.12 Als Vorfahren des Mwakamazi werden in aufsteigender Linie genannt Kamazi, Muryamburi und Kirataiwe.13 Dieser kam aus Chungwaya. Mwerere. Sie wohnen in Boma, Kidjiru, Mwakamba (nahe bei Moa) und Mnyandzani. Vorfahren: Nyange, Kipakatsa und Mrinzi. Wakaveri in Boma, Pongwe, Tawalani und Mnyandzani. Mtwiu in Daluni auf Borna 15 und Tawalani. Daluni geht auf eine ältere, jetzt zerstörte Siedlung Mkadini zurück. Vorfahren: Mwakatwi16, Sange, Kiryauta (Bogenfresser) und Yakamba. Gandze mit dem Hauptplatz Subutuni 14 . auf Boma. Sonst wohnen sie zerstreut, u . a . auch in Mtambwe17 südlich von Tanga. Vorfahren: Ndungo11 und Mwagandze. Ngumbi, ein sehr kleiner, früher aber starker Clan in Pongwe. Vorfahren: Mwamwadix%, Mwadi18 und Lam(u)nyuni. Dieser kam aus Chungwaya. Wakabura in Djimbo südlich von Vanga19, Tawalani und Mvuni.20 Ihr altes Land ist Djibrau im Bereich der Pflanzung Mtotohovu. Kimaryo, ein kleiner Clan, der fast ausschließlich auf Boma, anderswo nur sehr vereinzelt Glieder hat. Mwamlongo auf Boma in Mkwambani21 bei Daluni und in Kitsakamiba. Vorfahren : Longo und Nyiro. Die Glieder der einzelnen Clane können untereinander heiraten, wobei die Kinder dem Clan des Vaters folgen. Weiter erzählte Rashidi bin Muhamadi, daß bei Tawalani zur Zeit des Sayyid Bargasch (1870—1888) eine Ansiedlung gebaut und mit einer großen Mauer ver11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21

Im Segedju ist enges i und u (siehe unten) von weitem i und u zu unterscheiden. Die beiden letztgenannten Plätze liegen südlich von Tanga. Vielleicht auch Nkirataiwe. Vielleicht mit postdentalem t zu sprechen. Im Unterschied zu Daluni am Fuße von Ostusambara. Wahrscheinlich mit sogenanntem zerebralem t. Die Aussprache des t ist mir nicht bekannt. Vielleicht mit postdentalem d. Unmittelbar auf der Grenze von Tanganyika und Kenya. Nördlich von der Mündung des Zigi in die Tangabucht, bei B A K E R Mvuuni. Wahrscheinlich identisch mit dem von B A U M A N N a. a. O . S. 8 3 erwähnten Mkrambani südlich von Daluni.

94

ERNST DAJIMANN

sehen sei. Der Name ist Sitiradji, und die Erbauer sind Mtapia11 bin Gwegwe, Zitu17 Mwamanane und Sokwe bin Abdallah. Die Vumba werden mit den Vanga gleichgesetzt und auch Baamiri genannt. Als seine Vorfahren gab der Erzähler in aufsteigender Linie an: Rashidi bin Muhamadi, Muhamadi, Salehe, Ruga, Kidumbu, Mluku, Mdiri ( = Keta, s. o.), Kalaso, Mdiri, Seruka, Yakamba, Mwendamvola, Todza und Malau. Die letzten drei kamen aus Chungwaya. Mluku hatte drei leibliche Brüder: Madzure, Mwangala und Mwatuwe.17 Die Nachkommen von Madzure wohnen in Bwiti, die von Mwangala in Mwele22, ein Teil der Nachkommen von Mwatuwe in Kizingani bei Kwale (an der Küste), ein anderer Teil in Manza. Die Nachkommen von Mluku siedeln in Manza, Chongoleani, Mvuni und Mnyandzani. A\\e vier Gruppen heißen Waboma. Mluku hatte zwei Frauen. Die eine hieß Mize wa Ndungo. Sie gebar zwei Kinder, Kidumbu und Msakere. Kidumbu zeugte Ruga, der den Beinamen Tsinongo „Der Reiche" erhielt, Ruga den Mumbu.23 Die andere Frau des Mluku war Dzauganga wa Mwangolo. Mit ihr zeugte er drei Söhne, Mdiri, Maita2i und Pamweni sowie eine Tochter Mwana Masika. Von Mdiri stammen die Bewohner von Chongoleani, von Maita die von Mnyandzani und von Pamweni die von Mvuni. Auch von Mwana Masika stammen Bewohner von Mnyandzani. Abdallah Mwaketa ist der Enkel von Mdiri. Der gleichfalls in dem Lied erwähnte Mbwana wa Bohero gehört zu den Pamweni. Kidumbu, der Sohn des Mluku, geriet wegen einer Erbschaft mit Mdiri, Maita, Pamweni und Mwana Masika in Streit. Er trennte sich anscheinend von ihnen, was durch seinen Beinamen Mkumbwa „der (zur Seite) Geschobene" zum Ausdruck kommt. 2 5 Sein Sohn Abdallah Zahoro starb auf Madagaskar. Soweit die Angaben des Rashidi bin Muhamadi. Es fragt sich nun, ob sich einiges aus ihnen in die bisher bekannten Überlieferungen der Segedju einordnen läßt. In den Habari za Mrima „Mitteilungen aus dem Küstengebiet" des Scheichs Ali bin Hemedi el-Buhuriy, des früheren Kadhi von Tanga, wird als Ursprungsland der Segedju der Ort ( k i j i j i ) Jinebi26 angegeben. 27 Dabei wird natürlich nicht an das alte, sondern an das bereits islamisierte Ägypten gedacht. Auch Kirao wird als Platz erwähnt, wo sich die Segedju auf ihrer Südwanderung in 22 23 24 25 28 27

Bei Bwiti an den Bergen von Ostusambara. Dieser ist wahrscheinlich identisch mit dem in dem Liede (Sprachproben, wähnten Mumbu, einem Gegner des Abdallah Mwaketa. Wohl besser Mwaita, vgl. BAKER. Mein Gewährsmann erläuterte kumbwa durch tengwa „getrennt werden" und kuzwa" verjagt werden. Jinebi, phonetisch DHnebi, hat dieselben Grundkonsonanten wie Diambu. Mambo Leo No. 156, Dar es Salaam Dezember 1935, S. 190. Scheich Ali bin Buhuriy ist auch als islamischer Autor bekannt geworden, vgl. E. DAMMANN, itischer Traktat in Suaheli, Der Islam XXIII, 1936, S. 189-191.

S. 232) erdurch „fuHemedi elEin schafi-

Zur Überlieferung der Segedju

95

der Nähe der Galla aufgehalten haben. Dasselbe gilt für Chungwaya 28 , das auch in der Geschichte anderer ostafrikanischer Stämme eine große Bedeutung als Ausgangsstellung vor ihrer Wanderung in ihre jetzigen Wohngebiete gehabt hat. 8 9 Auch die Angaben über Etymologie des Namens und die Hilfeleistung den Vumba gegenüber kehren wieder. Als Vorfahren des Abdallah Mwaketa werden in aufsteigender Reihenfolge genannt: Lumwe bin Nyamangwa Mnyahehe bin Mndiri30, bin Mluku, bin Keta, bin Kalase, bin Mndiri, bin Yakumba, bin Mwendamvola, bin T'oja, bin Malau. In den untersten Gliedern gehen die Reihen naturgemäß auseinander, da mein Gewährsmann Rashidi von sich selber die Linie zu Malau zieht, während Scheich Ali bin Hemedi von Abdallah Mwaketa ausgeht. Dagegen sind, wenn man von unbedeutenden Vokaländerungen absieht, die Namen der drei ältesten Vorfahren identisch. Später treten Verschiedenheiten auf. Während Rashidi in Mdiri und Keta nur zwei Namen für ein und dieselbe Person sieht, sind es bei Ali bin Hemedi zwei verschiedene Männer. Rashidi hat dafür zwischen Yakambe und Mdiri noch Seruka, der bei Ali bin Hemedi fehlt. B A K E R kennt andere Traditionen. Darnach hat Malau als Vater Gau. Nach einer Tradition war T'oja nicht Sohn des Malau, sondern des Pununu. Dieser war nach einigen ein Bruder, nach anderen ein Sohn des Malau und soll in Chungwaya geherrscht haben. Bezüglich der Clane erwähnt Rashidi zehn, während sich bei Ali bin Hemedi fünfundzwanzig finden.31 Neun von den bei Rashidi angeführten Clanen werden unter folgenden Bezeichnungen angeführt: Wakamadhi, Waboma, Wakavere, Wakabura, Kina Mwerere, Kina Mtwii, Kina Ngumbi, Kina Oanje, Kina Kimaryo. Es fehlt lediglich Mwamlongo. Bei B A K E R finden sich sogar die Namen von fünfunddreißig Clanen, von denen nach seinen Angaben einige nur aus wenigen Familien bestehen. 32 Auch hier erscheinen sämtliche von Rashidi genannten Clane mit Ausnahme von Mwamlongo.33 I m Anfang seiner Arbeit gibt B A K E R eine Genealogie der beiden großen Clane Borna und Mwakamadhi.34 Diese ist naturgemäß viel ausführlicher als die kurzen 28

24

30

31

32 33

Die Literatur über das Problem Chungwaya findet sich gut zusammengefaßt bei E. CERULLI, Somalia I, Rom 1957, S. 254/55. Zum Beispiel die Digo und die Bondei. Nach einer Überlieferung, die ich auch in Ostafrika erhielt, sind zuerst die Bondei, dann die Digo, zuletzt die Segedju abgezogen. Durch diese Reihenfolge soll es sich erklären, daß die Bondei durch die Digo von der Küste abgedrängt seien. Ich habe absichtlich die Interpunktion gelassen, wie sie im Text steht. Anscheinend liegt hier ein Fehler vor. Mambo Leo No. 158, Februar 1936, S. 26. Hier werden sogar 26 Clane erwähnt, aber einer, Kina Mwerere, wird zweimal angegeben. a. a. 0 . S. 37. Kleine Unterschiede in der Schreibung, z. B. Mwerere bei Rashidi gegenüber Mwereri bei BAKER l a s s e i c h u n b e r ü c k s i c h t i g t .

34

a. a. 0 . S. 40/41.

96

ERNST DAMMANN

Angaben bei Rashidi. Er nennt, ausgehend von Rashid Kidumbu folgende Namen in aufsteigender Reihenfolge: 35 Rashid Kidumbu, Muhammed, ßualeh, Kidumbu, Mluku, Mwakalassoketa, Kalasso, Mudiri Mketa, Seruka, Yakamba, Mwendamvola. Es muß dahingestellt bleiben, ob Rashid Kidumbu mit meinem Gewährsmann Rashidi bin Muhamadi identisch ist. In beiden Listen ist der Vater als Muhammed angegeben, Kidumbu könnte als Segedjuname hinzugefügt worden sein. Sälehe ist nach meiner Liste Sohn des Ruga und Enkel des Kidumbu, bei BAKEE Bruder des Ruga. Dem Mwakalassoketa bei BAKER entspricht bei mir Mdiri. Übereinstimmung herrscht darüber, daß in beiden Fällen der Vater als Kalasso bzw. Kalaso angegeben wird. In dem Namen Mkalassoketa dürfte der Bestandteil -keta ein selbständiges Wort sein 36 , so daß man auf den eigentlichen Namen Mwakalasso „Sohn des Kalasso" kommt. Todza wird von BAKER nicht mehr erwähnt. Auch für andere Angaben des Rashidi finden sich ähnliche Aussagen bei BAKER. Dieser gibt für die Mwakamazi als Ahnherrn Kelo, der noch in Dhaiso lebte; dessen Sohn war Kirataiwe, nach anderen Muryamburi. Rashidi bringt diese beiden in ein genealogisches Verhältnis. Daß Mwamuryamburi Kamadhi (so nach BAKER) „der Sohn des Muryamburi", (nämlich) Kamadhi, der Gründer des Mwakamadhi-Clans ist, kann auch den Aussagen von Rashidi entnommen werden. Die Überlieferung, daß Mluku drei Brüder hatte, die sich in Bwiti niederließen, findet sich in beiden Quellen. 37 Dagegen kennt BAKER als Frau des Mluku nur Mizi Ndungu (Rashidi: Mize wa Ndungo). Daher sind nach ihm alle Kinder des Mluku, nämlich Kidumbu, Pumweni, Nyamangwa, Mwaita, Mudiri und Mwanamasika von derselben Mutter geboren worden. Die Gesamtzahl der Kinder ist in beiden Überlieferungen dieselbe. Ob Msakere (Rashidi) mit Nyamangwa identisch ist, muß offen bleiben. Hinsichtlich der Ortschaften, wo die Glieder der einzelnen Clane siedelten, herrschen kleine Verschiedenheiten. Wenn Rashidi z. B. erwähnt, daß von der Mwana Masika die Bewohner von Mnyandzani stammen, BAKER dagegen sagt, daß sie und wahrscheinlich doch auch Nachkommen von ihr in Chongoleani wohnten, so braucht dies noch kein Gegensatz zu sein. Wir sahen bereits oben, daß die Clane durcheinander siedelten. Es sind auch immer wieder Wanderungen vorgekommen. So hatte Mwatuwe, der in Bwiti siedelnde Bruder des Mluku, einen Sohn Mwamsunga, der nach BAKER in Manza lebte. Dieser weist auch einmal ausdrücklich darauf hin, daß heute die Glieder der einzelnen Clane z. T. stark vermischt wohnen. 38 35 36

37 38

Ich behalte die Schreibung B A K E R S bei. Vgl. oben die Angabe, daß Mdiri ein anderer Name für Keta ist, und den von B A K E R als Vater des Kalasso angeführten Mudiri Mketa sowie den Namen Mwaketa „Sohn des Keta". Nach B A K E R war noch ein vierter Bruder, Mavoa, vorhanden, der aber früher starb. a. a. O. S. 37.

Zur Überlieferang der Segedju

97

Schließlich sei von dem Gandze-Clan erwähnt, daß nach B A K E R Mwamangea Ndurvgu der Vater des „Wakina Ganji Clan" ist. Die bisher veröffentlichten Überlieferungen der Digo sind für unser Thema nicht sehr ergiebig. In einer Aufzeichnung des 1952 verstorbenen Oberhäuptlings der Digo Paulo Mwapera wird berichtet, daß die Segedju damals unter einem Fürsten Pununu oder Todja standen. 39 Der Vater des Todja wird als Malau angegeben. Todja entspricht bei Rashidi Todza. Sicherlich stehen die Namen fest. Wie diese aber genealogisch zusammengehören, dürfte kaum eindeutig festzustellen sein. Auch B A K E R führt verschiedene Traditionen an. Nach einigen war Pununu Sohn des Malau und Enkel des Gau, nach anderen war Todja Sohn des Pununu und Neffe des Malau.40 Wieder anders können die kurzen 1914 verfaßten Mitteilungen des Scheichs Hemedi bin Abdullah von Tangata41 gedeutet werden. Nach ihm hatten die Segedju einen großen Sultan namens Gau, ihm folgte sein Sohn, dessen Name unbekannt ist. Und nach diesem übernahm dessen Sohn Pununu die Herrschaft. Er war ein schlechter Mann, der die Gunya bedrückte, aber von ihnen geschlagen wurde und nach Vanga floh. Wenn der unbekannte Herrscher aber Malau ist, hätten wir dieselbe Überlieferung wie die eine der von B A K E R übermittelten Traditionen. Schließlich dürfte es reizvoll sein, die Angaben unseres Gewährsmannes mit dem zu vergleichen, was 0 . B A T J M A N N , der als erster Forscher eingehend über das Gebiet der Segedju berichtete, schreibt. Soweit beide dieselben Örtlichkeiten erwähnen, stimmen im allgemeinen die Angaben überein. So erzählte Rashidi, daß das auf Borna gelegene Daluni aus der zerstörten Siedlung Mkadini entstanden ist. Diese Angabe wird von B A U M A N N bestätigt, indem er auf der Karte nordöstlich von Daluni bei dem Namen Mkadini die Bezeichnung „verlassenes Dorf" hinzufügt. 42 Aus dem Gesagten geht hervor, daß die verschiedenen Überlieferungen der Segedju, ob sie nun von Gliedern des Stammes selber oder von anderen, z. B. Digo stammen, inhaltlich nicht allzusehr voneinander abweichen. Das gilt auch von dem, was sie nicht berichten. Es ist bekannt, daß die Segedju im 16. und 17. Jahrhundert in der Geschichte von Malindi und Mombasa eine große Rolle gespielt haben. 43 So wurde die Macht der von Südafrika heraufgekommenen menschenfressenden Zimba vor Malindi 1589 erst durch ihr Eingreifen gebrochen. Und 1592 halfen sie den Portugiesen bei der Eroberung von Mombasa. 44 Diese 39

E . DAMMANN, Z u r G e s c h i c h t e d e r D i g o , S . 5 5 .

41

A History of Africa, recorded by Sheikh Hemedi bin Abdidlah of Dargube, Tangata and translated by E. C. BAKER, Tanganyika Notes and Records Nr. 32, 1952, S. 76/77. a. a. O. hinter S. 88. STRANDES, J., Die Portugiesenzeit von Deutsch- und Englisch-Ostafrika, Berlin 1899, S. 159, 161, 220. WESTERMANN, D., Geschichte Afrikas, Köln 1952, S. 366. Die erste Erwähnung der Segedju

42 43

44

7

Beiträge zur Völkerforschung

40

a. a . O. S . 2 0 .

98

E R N S T DAMMANN

für einen afrikanischen Stamm bedeutsamen Ereignisse haben in der Überlieferung nirgendwo eine Spur hinterlassen. Wir gingen bei unserer Untersuchung von den Aussagen eines einfachen Segedjumannes aus, die dieser zufällig und unvorbereitet auf Befragen hin machte. Man könnte ihnen als einer Geschichtsquelle gegenüber mißtrauisch sein. Es hat sich aber gezeigt, daß sich vieles durch andere Überlieferungen bestätigte. Daß bei mündlicher Tradierung Unstimmigkeiten entstehen können, nimmt nicht wunder. Man sollte sich aber hüten, den Wert solcher Überlieferungen generell zu gering einzuschätzen. Je mehr Afrikaner aus ihrer alten Zeit berichten, um so deutlicher wird das Bild ihrer Geschichte. Auch die Angaben von Rashidi enthalten einiges, was bisher unbekannt war. Darüber hinaus mögen sie Anregung geben, daß man sich mit dem eigenartigen Volk der Segedju wissenschaftlich näher beschäftigt. Nach dem, was uns FRANCIS MONCLAKO und später 1 6 0 9 JOHN DOS 45 SANTOS berichten , hatten die Segedju Habitus und Lebensweise, wie sie uns von nilotischen Völkern, z. B. den Masai, her bekannt sind. Ihr kriegerischer Einsatz in früheren Jahrhunderten weist in dieselbe Linie. 46 Wann und wodurch ist die totale Veränderung erfolgt? Im 19. Jahrhundert haben sie zum Teil durch die Raubzüge der Masai alles Vieh verloren. 47 Aber darin scheint mir nicht die primäre Ursache für ihren „Kulturwandel" zu liegen. Auf jeden Fall warten hier noch Fragen auf eine wissenschaftliche Beantwortung. 48 durch Europäer erfolgte durch FRANCIS MONCLARO, der 1 5 7 1 bei einem Aufenthalt in Malindi von ihnen erfuhr, vgl. Sir J O H N M . GRAY, Portuguese Becorda relating to the Wasegeju, Tanganyika Notes and Records, Nr. 2 9 , 1 9 5 0 , S. 8 5 — 9 7 . 45

48 47 48

GRAY, a . a . 0 . S . 8 6 .

Dazu gehört auch, daß der Herrscher der Vumba sie zum Kampf gegen die Schirazi rief. Zum Beispiel auf Borna, vgl. BAUMANN, a. a. 0. S. 83. Nach Abschluß des Manuskriptes wurde mir der Annual Report of the Department of Antiquities for the year 1958, Dar Es Salaam 1959 zugänglich. Dort findet sich eine Aufzählung der sog. Defensive Walls der Segedju (S. 5; von Gillman Masai Walls genannt). Für das 19. Jahrhundert werden diese als in Moa, Zingibari, Petukiza, Kigirini, Manza, Tawalani, Kichalikani, Monga, Kwale, Kizingani, Mtimbwani (the old village site at Maweni), Chcmgoliani, außerdem südlich von Tanga als in Mwambani, Mwarongo und Kipumbwe (Schreibung wie im Report) bestehend angegeben. Darüber hinaus soll bei Vanga in Kenya eine solche Anlage bestehen. Zu unterscheiden sind davon die Mauern von Ndumi, 3 Meilen südlich von Tanga, die wahrscheinlich aus der 1. Hälfte des 18. Jahrhunderts stammen. Vgl. dazu neustens N. CHITTIK, Masai Walls of Moa, Tanganyika Notes and Records, Nr. 55, 1960, S. 297/98.

E I N BEMALTES T I P I DER DAKOTA-INDIANER IM MUSEUM FÜR VÖLKERKUNDE LEIPZIG N a c h Erklärungen v o n F . WEYGOLD, bearbeitet v o n LOTHAR DRÄGER

(Mit einer farbigen Figur im Text und 2 Abbildungen auf Tafel 21—22)

Unter den Objekten unseres Museums aus Nordamerika befinden sich zwei bemalte Zeltplanen von Tipis der Dakota-Indianer. Besonders interessant ist davon das Objekt mit der Inventarnummer NAm 1384, da hierzu eine sehr ausführliche Erklärung der Bemalung vorhanden ist. Dieses Stück stammt — wie viele unserer nordamerikanischen Objekte — aus der Sammlung des amerikanischen Privatsammlers E. W. L E N D E K S , Philadelphia, von dem es 1907 unser Museum käuflich erwarb. Den Ankauf vermittelte der Maler und Ethnograph F R E D E R I C K W E Y G O L D , der sich bereit erklärte hatte, unserem Museum durch Hinweise und persönliche Verhandlungen beim Ankauf nordamerikanischer Ethnographica behilflich zu sein. Von W E Y G O L D stammt auch die Erklärung der Bemalung des Zeltes. Die Zeltplane stammt von den Ogalala-Dakota, und sie wurde auf der PineRidge Reservation, South Dakota, erworben. 1 Wann und wie das Objekt in den Besitz von L E N D E R S kam, wird nicht erwähnt; offensichtlich lag aber der Zeitpunkt der Erwerbung noch nicht weit zurück, und ganz zweifellos hat auch LEND E R S das Zelt direkt von den Indianern erhalten, denn als „früherer Besitzer und Bewohner dieses Zeltes" wird von W E Y G O L D der Häuptling ,,Rocky-Bear" angegeben. 2 Die Zeltplane besteht aus grauem Segeltuch, sie ist aus mehreren, etwa 70 cm breiten Längsstreifen zusammengesetzt. An verschiedenen Stellen sind Risse und Löcher durch grobe Nähte und Stücke von weißer Leinewand, die auf der Innenseite angeklebt wurden, von den Indianern wieder repariert worden. Außerdem ist die Plane ziemlich beschmutzt und am unteren Rand durch Zeltpflöcke stark beschädigt, was auf lange Verwendung schließen läßt. Die Zelt1 2

WEYGOLD, Brief vom 10. 11. 1906 an die Direktion des Museums. MfV. Leipzig, Aktens t ü c k 1907/9.

WEYGOLD, Notiz auf einer Skizze des Zeltes, die dem Brief vom 10.11. 1906 beigelegt war, MfV. Leipzig, Aktenstück 1907/9.

7*

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LOTHAB DRÄGER

stangen sind zu dem Tipi nicht mit geliefert worden, nach W E Y G O L D wurden dazu 15 Tannen- oder Fichtenstämme benutzt. 3 Die erwähnte Bemalung der Zeltplane besteht aus folgenden Teilen: der obere Teil des Zeltes einschließlich der Rauchklappen ist völlig mit unregelmäßigen Flecken von rötlich-gelber Farbe bedeckt. Diese Fläche wird nach unten durch ein breites schwarz-rot-schwarzes Band abgegrenzt, das rings u m das Zelt läuft. Über diesem Bande, also auf der Fläche mit den gelben Flecken, befinden sich in einer Reihe fünf fünf zackige Sterne. Bei diesen Sternen sind die Zacken grün bemalt, während in der Mitte ein Fünfeck unbemalt geblieben ist. Oberhalb des mittleren der fünf Sterne, d. h. direkt unter dem Rauchabzug, ist eine querliegende schwarze Mondsichel aufgemalt. Das Zentrum des Mittelfeldes, das unter dem schwarz-rot-schwarzen Bande liegt, wird von zwei großen schwarzen Vogelfiguren eingenommen. Diese Vögel sind in Seitenansicht dargestellt, und zwar so, daß sie einander zugekehrt sind. Bemerkenswert ist besonders die ziemlich lebendige Darstellung der Vögel (Abb. 1, Tafel 21). Rechts und links von dieser Gruppe befinden sich je zwei große grüne Ringe. Die Abgrenzung dieses Mittelfeldes nach unten, also zum unteren Rand der Plane, besteht ebenfalls aus einem breiten Streifen, in diesem Falle von blauschwarzer Farbe. Unterhalb des Streifens sind kurze senkrechte Striche in Grün aufgemalt, die aber nur noch an einigen Stellen zu erkennen sind, denn der untere Rand der Zeltplane ist, wie schon erwähnt wurde, stark beschädigt. I m folgenden ist W E Y G O L D S Erklärung der Bemalung wiedergegeben: „Den Erklärungen zufolge, die ich von mehreren alten Dakota-Männern (unabhängig voneinander) erhalten habe, hat die Bemalung folgende Bedeutung: Die Flecken auf dem oberen Teile des Zeltes und den Rauchklappen bedeuten: ,wasüq' (oder ,wasü') = Hagel. Unter diesen befindet sich: ,hanepi—wi' = Nachtsonne ( = Mond). 4 Der Ring, der den oberen Teil abgrenzt, ist ,wigamuqke' = Regenbogen. Hinten auf dem Zelte sind die etwa lebensgroßen, sehr gut wiedergegebenen Figuren von zwei Adlern = ,wai)beli' (Stein- oder Goldadler, aus dessen Schwanzfedern die großen Adlerfederhauben gefertigt werden), links das Männchen (mit völlig ausgefärbten, schwarz-weißen Schwanzfedern), rechts das Weibchen (mit gefleckten Federn). Die . . . grünen Ringe stellen dar das: ,cai)gal6ska' = das ,Holzrad', ein Reif, der beim Spiel über den Boden gerollt wird, und den die Spielenden mit hölzernen Lanzen zu treffen suchen. Auf diesem Reif sind zuweilen 3

4

Brief vom 3. 1.1907, MfV. Leipzig, Aktenstück 1907/9. Bei W A L K E R heißt der Mond „Hanwi"; vgl. W A L K E R , J . R . , The Sun Dance and Other Ceremonies of the Oglala Division of the Teton Dakota. In: Sun Dance of the Plains Indians Ed. by Clark W I S S L E R . In: Anthrop. Papers of the Amer. Mus. of Nat. History, vol. XVI, New York 1921, p. 80. SCHWARZER HIRSCH nennt sie „Nachtsonne" bzw. Mond „Hang-hepi-ui", vgl. SCHWARZER HIRSCH, Die heilige Pfeife, aufgeschrieben von J. E. B R O W N , übersetzt WEYGOLD,

aus dem Englischen von G. HOTZ, Ölten und Ereiburg/Breisgau 1956, S. 100.

Ein bemaltes Tipi der Dakota-Indianer

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mit Farbe die vier Himmelsrichtungen angedeutet. Derselbe wird dann auch zu divinatorischen Zwecken benutzt und symbolisiert alsdann den Horizont. Grün ist die mystische oder heilige Farbe. Die Linie am unteren Rande des Zeltes bedeutet die Erde."5 Soweit der Bericht von W E Y G O L D . 6 Als das Zelt sich bereits im Besitze unseres Museums befand, gelang es WEYGOLD, den ehemaligen Besitzer des Zeltes kennenzulernen, von dem er weitere Angaben über die Bedeutung der Zeltbemalung erhielt. W E Y G O L D schreibt darüber: „Im Sommer des Jahres 1909 lernte ich auf der Pine Ridge Reservation auch den Indianer kennen, der früher Ihr indianisches Tipi bewohnt und dasselbe bemalt hat. Ich glaube, ich habe auch in meinem damaligen Briefe mitgeteilt, daß dieser Mann hieß: Rocky Bear (Iqyai)-Matö = Felsen-Bär . . ., das ist nasales n wie im Franz. bon)". 7 Über die Person des Rocky-Bear macht W E Y G O L D folgende Angaben: „Der Felsenbär war, als ich ihn kannte, 72 Jahre alt und ein prächtiger Typ der alten Dakota Krieger und ehemaligen Büffeljäger. Als junger Mann hatte er unter dem berühmten Kriegshäuptling Red Cloud . . . in den 60er Jahren gegen die Weißen gekämpft und auch z. B. an den furchtbarem Fetter man-massacre bei dem Fort Phil Kearney, Montana (um 1865), teilgenommen. 8 Seit 1868 (seit dem „Black Hill Vertrag") war er ein treuer Freund der Weißen 9 und bei beiden Rassen sehr beliebt. Er zeichnete sich im persönlichen Verkehr durch die fast allen alten Männern dieses Stammes eigentümliche ruhige, höfliche Würde aus, obwohl er kein Wort Englisch konnte und in jeder Beziehung ein echter Uramerikaner war. Er starb im vorigen Jahr (1910) bald nach seinem alten Häuptling Red Cloud . . ,". 1 0 (Abb. 2, Tafel 22.) Von Rocky-Bear erhielt W E Y G O L D folgende Angaben über die Bedeutung der Bemalung seines Zeltes: „Ich zeichnete ihm eine Skizze Ihres Tipi. . . und er gab mir dazu folgende Erklärung: Der „Felsenbär" hatte vor vielen Jahren einmal einen Traum, in welchem er ein Adlerpaar hoch in der Luft um einander flattern sah. Der eine Adler (links) war „wiyela", i. e. ein Weibchen und der 5

Der Streifen, der die Erde auf dem Zelt darstellt, ist von blauschwarzer Farbe. dagegen gibt an, daß Grün die symbolische Farbe der Erde sei.

WALKER

WALKER 1 9 2 1 p . 8 2 . 6 7 8

9

10

Brief vom 1 0 . 1 1 . 1 9 0 6 , MfV. Leipzig, Aktenstück 1 9 0 7 / 9 . Brief vom Juni 1 9 1 1 , MfV. Leipzig, Aktenstück 1 9 1 1 / 8 1 . W E Y G O L D bezeichnet hier nach Art der Amerikaner den Sieg der Indianer als ein „massacre". In der Schlacht bei Port Phil Kearney am 21. 12. 1866 wurde eine Truppe von 80 Mann unter Oberst Fettermann von den Indianern unter Führung von Red Cloud völlig vernichtet. Vgl. NEIHARDT, Anmerkung 6 zu SCHWARZER HIRSCH, Ich rufe mein Volk; aufgeschrieben von J . NEIHARDT, übersetzt von SIEGFRIED LANG. Ölten und Freiburg/Breisgau, 1955, S. 255. Rocky Bear gehörte also zur Ogalalagruppe der „Bad Faces" unter Red Cloud, die an den Kämpfen unter Crazy Horse und Sitting Bull nicht teilgenommen haben. Vgl. SCHWARZER WEYGOLD,

WEYGOLD,

HIRSCH 1 9 5 5 , S . 6 9 , 8 3 . WEYGOLD, Brief vom Juni 1 9 1 1 ,

MfV. Leipzig, Aktenstück

1911/81.

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LOTHAR DRÄGER

andere (rechts) „bloka" (ein Männchen) und „wastelakapi" (sie liebten sich). Als der Felsenbär nach diesem Traum erwachte, bemalte er dieses sein Tipi mit dieser Vision und fügte noch einige andere Zeichen hinzu, wodurch das Tipi als ein „Tipi wakaq" (ein „heiliges" Zelt) charakterisiert wurde. Die Linien, die über den Adlern horizontal um das Tipi gehen, nannte Felsenbär „wigamuqke" ( = Regenbogen). Die grünen Ringe auf den Seiten nannte er „wi" (Sonne). Ferner bemerkte er, daß er mit seinem Weibe und einem Sohne (der wahrscheinlich auch verheiratet war) in diesem Tipi gewohnt habe, „und daß sie nicht krank geworden seien." Die letztere Bemerkung ist so zu verstehen, daß die Bemalungen von Tipis (und Schilden), die auf Visionen (oder Träumen) beruhen, Schutzkraft haben." 11 Die Symbole, deren Bedeutung W E Y G O L D angegeben hat, zerfallen ganz deutlich in zwei Gruppen. Zur ersten Gruppe gehören die Zeichen für die verschiedenen Erscheinungen bzw. Mächte der Welt, also Mond, Sonne, Sterne, Hagel, Regenbogen, Erde usw. Diese Zeichen stehen in einem bestimmten Verhältnis zueinander, und damit machen sie das Tipi zu einem Abbild der ganzen Welt. Die Zeichen der zweiten Gruppe dagegen, die beiden Adler, sind die Darstellung der Vision des Zeltbesitzers. Sie sind im Prinzip das Primäre, denn erst durch die Vision wird Rocky-Bear veranlaßt, ein „heiliges Zelt" herzustellen. Die Darstellung der Vision ist so gewissermaßen in das Abbild der Welt hineingesetzt worden. Die beiden Gruppen der Symbole lassen sich auch in der Art erkennen, wie W E Y G O L D seine Informationen erhielt. Sein erster Bericht aus dem Jahre 1907 enthält die Angaben von „mehreren alten Dakotamännern", und diese erklärten ihm eigentlich nur die Zeichen der ersten Gruppe, deren Bedeutung jedem erfahrenen Manne bekannt sein mußte. Sie wußten natürlich auch, daß auf dem Zelte ein Adlerpaar dargestellt war, aber den Inhalt der Vision hat nur Rocky-Bear angegeben, denn es war seine Vision, sie war sein Eigentum. Die Darstellung einer Vision auf einem Zelt wird immer ganz bestimmte Eigentümlichkeiten aufweisen, da ja das dargestellte Motiv durch den Inhalt der Vision bedingt wird. Dagegen bestehen für die Verwendung der Symbole der ersten Gruppe verschiedene Regeln, wie das einige weitere Bemerkungen von W E Y G O L D beweisen: „Ich habe mir von alten Indianern eine ganze Reihe von . . . Tipi- und Schildbemalungen erklären lassen. Hiernach folgen fast alle „heiligen" Tipimalereien einem gewissen Schema, das meist dieselben oder ganz ähnliche Formen aufweist. Zunächst ist meist die Erdregion durch eine horizontale Linie unten deutlich markiert (wie bei Ihrem Exponat), zuweilen mit Gras (wie bei Ihnen), Bergen u. dgl. Dann kommt die mittlere Luftregion, in welcher Tiere, Menschen, Vögel und manche Symbole ihren Platz finden. Diese Region ist nach oben durch einen Regenbogen (andere nennen es einen Blitz oder eine Wolke) von der höheren 11

WEYGOLD,

Brief vom Juni 1911, MfV. Leipzig, Aktenstück 1 9 1 1 / 8 1 .

Ein bemaltes Tipi der Dakota-Indianer

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Himmelsregion abgeschlossen, in welcher sich die Himmelskörper Mond (selten die Sonne), Sterne, Hagel, Regen etc. befinden. Das Bild der Sonne findet sich meist (als auf- oder untergehende Sonne) in der unteren Luftregion. Die Flecken und Streifen auf dem oberen Teile Ihres Tipis sind mir in zahlreichen analogen Fällen von Indianern als Hagel oder Regen erklärt worden (Felsenbär sprach sich hierüber nicht aus). Die grünen Ringe, die Felsenbär als „Sonne" erklärt, wurden mir in vielen anderen Fällen als caqgaleska" (Symbole des Horizontes) erklärt, besonders in der Anordnung zu vieren (wie hier). Es gilt hier je eine Figur (der caqgale&ka) für jede Himmelsgegend. So habe ich sie auch (meist in Grün oder Blau) auf Kleidern und Geistertanzhemden beobachtet." 1 2 Dieses System der Zeltbemalung ist offensichtlich nicht auf die Ogalala beschränkt, sondern es findet sich in ähnlicher Form auch bei anderen Stämmen, wie das ein Bericht über die Blackfeet zeigt: „In nearly all of these painted tipis, there is an appropriate and logical arrangement of the decorations. There is generally, a t the bottom, an encircling band of dark colour representing the earth . . . Resting on this lowest band, we often find a row of rounded, or of pointed projections, representing rounded ridges or pointed mountain peaks. Upon the broad central space above these is portrayed the protective design of animal, bird, sacred rock, thunder-trails, or other emblems, which imparts to the lodge its protective power and from which it receives its distinctive title. Surmounting all, and including the „ears", a broad encircling band of black represents the night sky, on which are portrayed the sun and crescent moon; the constellations of the Seven Brothers and Lost Children (Great Bear and Pleiades), and a Maltese cross, the emblem of the Morning Star . . .". 1 3 12

13

Weygold, Brief vom Juni 1 9 1 1 , MfV. Leipzig, Aktenstück 1 9 1 1 / 8 1 . MC Clintock, The Old North Trail or Life, Legends and Religion of the Blackfeet Indians, London 1910, p. 2 1 7 - 2 1 9 .

E I N E REITERDARSTELLUNG AUS DEM KAMERUNER GRASLAND Von

DIETRICH DROST,

Leipzig

(Mit 9 Abbildungen auf Tafel 23—26)

I m Jahre 1958 konnte das Museum für Völkerkunde Leipzig aus dem Besitz von Frau v. Frankenberg-Lüttwitz, Ostseebad Kühlungsborn, eine reichhaltige Sammlung aus der ehemaligen deutschen Kolonie Kamerun erwerben (inventarisiert unter MAf. 31533—31593). Herr v. Frankenberg-Lüttwitz, der verstorbene Gatte der Besitzerin, gehörte vom Februar 1909 bis zum Mai 1913 der deutschen Kolonialtruppe in Kamerun als Offizier an und hat die in diesen Jahren angelegte Sammlung bei seiner Rückreise mit nach Deutschland gebracht. Von wenigen Ausnahmen abgesehen stammen die Gegenstände aus dem Kameruner Grasland und stellen typische, längst bekannte Zeugnisse jener Kunstprovinz dar: Tanzanzüge und Kopfaufsätze (in Tierform) aus Stoff und mit Perlen überzogen, hölzerne Masken, eine Reihe geschnitzter Schemel und Schalen sowie Tabakspfeifen aus Ton und Gelbguß — alles bereits gut bekannte Typen. Lediglich unter den tönernen Tabakspfeifen befand sich ein Prunkstück, dessen Gestaltung völlig aus dem Rahmen des bisher Bekannten herausfiel (Inventarnummer MAf 31589). I n seinem Grundbau besteht dieser Pfeifenkopf aus einem 39,5 cm hohen Zylinder, der etwa 10 cm äußeren Durchmesser und 0,5 cm Wandstärke besitzt, so daß sich eine respektable Kapazität zur Aufnahme von Tabak ergibt. Ein massiver (Wandstärke 1,0 cm), jedoch nur 5,5 cm im Durchmesser haltender Zylinder bildet den Stutzen für den Pfeifenstiel. Seine Achse ist zur senkrechten des Kopfes leicht geneigt, so daß nur der oberste, etwa 5,0 cm lange Abschnitt vollzylindrisch vom Körper des Kopfes abgesetzt ist, während der größte Teil — zur Basis hin immer mehr zunehmend — mit dem Körper verschmilzt. An der Basis wird der Pfeifenkopf von einer runden, wulstförmig über den Körperrand hinausragenden, sehr flach gewölbten Scheibe abgeschlossen; an der Stelle, wo die Stielröhre in das Kopfinnere einmündet, befindet sich eine Öffnung von etwa 1,5 cm Durchmesser in der Bodenplatte, die wohl zur leichteren Reinigung der Pfeife dienen sollte.

Eine Reiterdarstellung aus dem Kameruner Grasland

105

Das eigentlich Bemerkenswerte ist nun die künstlerische Ausgestaltung dieses Pfeifenkopfes: die Darstellung eines Reiters mit begleitenden Figuren (vgl. zum Folgenden die Abb. 1 - 5 , Tafeln 2 3 - 2 4 ) . Die Figur des Reiters wird von dem mit Gesicht, Kinn und einem Ansatz des Schädels plastisch hervorspringenden Kopf überragt, der, wie bei vielen Plastiken des Kameruner Graslandes, im Vergleich zu den übrigen Körperteilen viel zu groß geraten ist. Die mäßig fliehende Stirn sowie der durch ein eingedrücktes, gitterartiges Muster angedeutete Haaransatz werden voneinemkleinen, hornartigen Wulst überragt, dessen glatte, hervorspringende Spitze kurz oberhalb des Haaransatzes endet, während der gekerbte, sich allmählich verflachende Körper des Wulstes bis an den Rand der PfeifenöfFnung reicht (abgesehen von dem sich dreieckig zum Rand hin verengernden Kopf des Reiters ist die Pfeifenöffnung von einem breiten, flachen Wulst umgeben, der — in flächenförmiger Anordnung — mit geriefelten Knubben besetzt ist). Das Gesicht ist nur verhältnismäßig schwach reliefiert, lediglich die Augen quellen stärker hervor, während die Nasenspitze, die beiden scharf abgesetzten Nasenflügel sowie die ziemlich schmale Mundspalte durch einen rundherum laufenden flachen Einschnitt gleichmäßig herausgehoben sind. Die hochgeschwungenen Augenbrauen sind durch Einritzungen markiert. Die ganze Kinn- und ein großer Teil der Backenpartie sind von einem Bart bedeckt, der in Form einer kräftigen wulstartigen Erhebung mit aufgedrückten viereckigen Gittermustern angedeutet ist. Hals und Rumpf des Reiters werden durch die zylindrische Wandung des Pfeifenkopfes gebildet. Lediglich die Schulterpartie zieht sich als kräftiger, breiter Wulst unter dem Kinn hindurch, verbreitert sich nach den Seiten noch etwas und geht dann in die Oberarme über, die vom Körper plastisch abgewinkelt sind und senkrecht nach unten verlaufen; mit einem rechteckigen Knick gehen sie in die dem Körper fest anliegenden, dünneren Unterarme über; an den relativ großen Händen sind Daumen und Finger — besonders an der linken Hand — durch Einschnitte klar hervorgehoben. Die Brustwarzen sind durch kleine, etwas versenkte Knubben angedeutet, an beiden Oberarmen sind acht horizontal aneinandergereihte Rillen eingeschnitten, desgleichen am linken Unterarm neun, am rechten zehn solcher Rillen. Im Gegensatz zu den Händen sind die Beine wesentlich schematischer ausgeführt. Sie liegen dem Körper bzw. dem Reittier fest an; die nur ganz flache und sehr kurze Oberschenkelpartie verläuft horizontal über dem Sattel. Demgegenüber sind die leicht nach unten hinten geneigten Unterschenkel extrem in die Länge gezogen, ragen noch nach unten hin ein ganzes Stück über den Tierkörper hinaus und enden in klumpenförmige Füße, an denen die Zehen durch flache Einschnitte angedeutet sind. In der rechten, leicht nach oben gebeugten Hand hält der Reiter einen Speer, dessen Schaft als plastische Leiste am Körper anliegt

106

DIETRICH DROST

und bis zum Ansatz der Schulterpartie reicht; die nach hinten unten geneigte Speerspitze zeigt eine länglich-dreieckige Form; ihre Länge ist im Verhältnis zu der des Schaftes stark überzogen (Längenverhältnis Schaft zu Spitze = 5 : 4 cm). In der linken Hand hält der Reiter ein kurzes dünnes stabartiges Gebilde, das mit dem Zaumzeug des Reittieres in Verbindung steht und wohl den Zügel darstellen soll. Das Reittier selbst ist außerordentlich plastisch aus dem Pfeifenkörper herausgearbeitet. Der freiplastisch hervorragende Kopf zeigt in der Seitenansicht eine fast halbkreisförmige Umrißlinie, die von den kurzen, leicht nach hinten geneigten Ohren unterbrochen wird. Eine flache Rinne deutet das Maul an, zwei kurze Vertiefungen die Nüstern, zwei versenkte Knubben die Augen. In der Vorderansicht läuft die Umrißlinie zum Maul hin spitz zu. Abgesehen von dem Unterkieferabschnitt ist der ganze Kopf mit einem eingerollten eckigen Gittermuster verziert. Im Vergleich zum breiten Halsansatz ist der Rumpf nur als außerordentlich flacher Wulst ausgeführt, während die Füße extrem in die Länge gezogen sind und als plastische Leisten mit ihren konisch verdickten Hufen fast bis an den Bodenrand heranreichen; lediglich an den Vorderfüßen ist eine leichte Knickung zwischen Ober- und Unterschenkel erkennbar. Sowohl der Rumpf wie die Füße — abgesehen von den glatten, polierten Hufpartien — werden in ihrer ganzenFläche von plastischen, eckig ausgeführten Knubben überzogen. Der Rumpf läuft in einen langen, mächtigen Schweif aus, der im oberen Abschnitt vollplastisch vom Pfeifenkörper absteht, im unteren an ihn angelegt ist; im Gegensatz zur Knubbenverzierung des Körpers trägt der Schweif fast auf seiner ganzen Länge ein eingekerbtes Zickzackmuster, dessen Leisten nochmals eine feine Kerbung tragen, die rechtwinklig zu den tiefen Kerben verläuft. Der Reiter sitzt auf einem großen Sattel, dessen abgerundete Hinterseite schräg nach hinten oben aufragt, während die Vorderseite eine dreieckige Erhöhung zeigt, die in einen Sattelknopf ausläuft, dessen vogelkopfähnliche Spitze nach unten gerichtet ist. Rund um den Pferdekopf — etwa in der Höhe der Maulwinkel — laufen drei kleine eckige Leisten, die in regelmäßigen Abständen von Querrinnen unterbrochen werden; mit diesen so angedeuteten Trensenriemen stehen die Riemen des Kopfgestells in Verbindung, die um den Hals des Tieres herumlaufen, in einer Art Knoten hinter dem linken Ohr zusammentreffen und dann als einziger Wulst in der linken Hand des Reiters enden. Unter dem Hals des Tieres hängt eine länglich-rechteckige, mit geraden Flächen vom Pfeifenkörper abgesetzte Platte, deren Oberseite an den beiden Seiten mit vertikalen (doppelt gekerbten) und in der Mitte mit horizontalen Rillen ornamentiert ist; über diese Platte schiebt sich im oberen Abschnitt noch ein hufeisenförmig gebogenes Gebilde. Schließlich stehen noch zwischen den Füßen des Reittieres drei kleine Figuren, die alle drei in sehr hohem Reliefstil ausgeführt sind. Die Hintergrundflächen

Eine Keiterdarstellung aus dem Kameruner Grasland

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sind — im Gegensatz zur glatt polierten Oberfläche der Reiterfigur — mit einem eingerollten Gittermuster verziert. Die zentrale Figur füllt fast die ganze Fläche zwischen den beiden Vorderfüßen. Die Proportionen dieser männlichen Figur sind fast richtig wiedergegeben — abgesehen von dem etwas zu großen, plastisch hervortretenden Kopf, dessen Gesichtszüge etwa denen der Reiterfigur entsprechen, während der Kopf von einer durch Kerbung angedeuteten Frisur bedeckt wird. Der walzenförmige Rumpf wird zur Hüfte hin immer flacher, während die nach vorne gebeugten Oberschenkel freiplastisch hervortreten, ebenso wie die oberen Abschnitte der wieder zurückgebeugten Unterschenkel. Der Brust- und Schultergürtel ist deutlich abgesetzt, die Brustwarzen und der Nabel sind durch kleine versenkte Knubben angedeutet. Die schräg nach unten geführten Oberarme tragen durch Rillen markierten Schmuck (rechts 5, links 4), während die Unterarme glatt gelassen sind. I n der rechten Hand, die senkrecht nach oben geführt ist, hält die Figur einen Pfeil, an dessen Spitze deutlich zwei Widerhakenpaare zu erkennen sind, mit der linken, schräg nach oben gerichteten Hand umfaßt sie einen Bogen. Dieser Bogen zeigt die Form eines hohen, schmalen Grates, dessen abgerundete Außenseite mit einem eingerollten Muster verziert ist; die Sehne läuft um die verdünnten Enden des Bogenholzes herum und deutet so auf Wickel- oder Schlaufenbefestigung. Als einziges Kleidungsstück trägt die Figur einen langen Schurz, der zwischen den Beinen bis weit unterhalb der Knie reicht und mit gekerbten Linien ornamentiert ist. Die beiden seitlichen, jeweils zwischen den rechten bzw. linken Vorder- und Hinterfüßen des Pferdes stehenden Figuren entsprechen in der Ausführung des Kopfes, des Rumpfes und der Beine fast vollkommen der zentralen Figur. Die Oberarme jedoch liegen dem Rumpf an, die Unterarme auf den Oberschenkeln und die Hände bedecken die Knie. Der zu diesem Pfeifenkopf gehörige Stiel ist zwar auch entsprechend prunkvoll ausgeführt, weist jedoch keinerlei herausragende Besonderheiten auf. Er besteht aus einem 155 cm langen Holzrohr, das in der unteren Hälfte mit Stoff bespannt ist. Auf diese Bespannung sind mit bunten Perlen und Stanniolstreifen geometrische Muster aufgebracht. Oben und unten wird dieser Teil von je 6 kleinen Elefantenköpfen aus Blei abgeschlossen. Der Oberteil des Stiels wird von einem wendeiförmig aufgewickelten Bleimantel umschlossen. Über die genaue Herkunft des Stückes liegen keinerlei Angaben des Sammlers vor. Der allgemeine Hinweis auf das Kameruner Grasland wird durch die Mehrzahl der übrigen Objekte seiner Sammlung unterstützt (s. o., S. 104), die sich jedoch auf Grund der noch immer mangelhaften Durchforschung und Detailgliederung der Graslandkunst 1 auch nicht zwingend einer bestimmten Gegend zuordnen lassen. 1

Vgl. E . v. SYDOW, Handbuch der westafrikanischen Plastik, Berlin

1930, S. 14/15.

108

DIETRICH DROST

Immerhin deuten Größe und prunkvolle Ausführung des vorliegenden Exemplares mit der größten Wahrscheinlichkeit auf eine Herkunft aus Bamum. 2 Die zylindrische Grundform mit dem eng anliegenden Einsatzrohr für den Pfeifenstiel stellt den einen Grundtyp der Pfeifen des Graslandes dar (der andere mit getrennten, V- oder U-förmig zueinander stehenden Pfeifenkörper und Stielansatz) ; er ergibt sich weitgehendst aus der bei der Herstellung angewendeten Technik.3 Pfeifen dieses Grundtyps besitzt das Museum für Völkerkunde Leipzig aus Bangangte, Bamessing, Groß-Babanki, Bali, Bameta, Bamum und anderen Orten des Graslandes. Ganz exzeptionell ist dagegen die künstlerische Gestaltung des vorliegenden Stückes: die Darstellung eines Reiters mit beigeordneten Figuren. Ihre Stellung im Rahmen der Graslandkunst sowie die möglichen Deutungen des Dargestellten seien im Folgenden einer kurzen Betrachtung unterzogen. Die Exzeptionalität der geschilderten Gestaltung des Pfeifenkopfes ergibt sich bereits aus der Tatsache, daß unter etwa 330 Tabakspfeifen aus dem Kameruner Grasland, die anhand des Zettelkataloges im Museum für Völkerkunde Leipzig zum Vergleich herangezogen werden konnten4, keine auch nur entfernte Parallele aufzufinden war. Ebenso ließen sich der durchgesehenen Literatur keine Abbildungen oder Beschreibungen ähnlicher Stücke entnehmen. Das Motiv des Reitens auf einem Tier findet sich im Leipziger Material lediglich an drei Pfeifenköpfen aus Bamenui (MAf 12869, 12873 und 12877), die eine stark stilisierte menschliche Figur auf einem fischähnlichen, phantastischen Tier reitend zeigen. Sowohl in ihrem Grundbautyp (V-Form) wie in Form und Inhalt der Darstellung lassen sich diese Stücke mit dem vorliegenden nicht vergleichen. Über ihre Deutung fanden sich keine Angaben.5 Aber auch im Rahmen der gesamten Graslandkunst nimmt das vorliegende Stück eine ziemlich exzeptionelle Stellung ein. Zwar lassen sich für einzelne Elemente und den Stil der Darstellung Parallelen aus anderen Zweigen der bildenden Kunst beibringen, doch bleibt die Komposition als Ganzes noch ohne Entsprechung. Reiterdarstellungen sind uns zwar aus der Kunst des Graslandes bereits bekannt, stellen jedoch keineswegs eine häufige Erscheinung dar. Unter den reichhaltigen Sammlungen des Museums für Völkerkunde Leipzig fanden sich nur vier Reiterfiguren. Es handelt sich in allen vier Fällen um vollplastische Ton2

3

4

5

SYDOW, a. a. O., S . 2 5 1 , 2 7 2 .

Vgl. dazu neuerdings die Beschreibung A N K E R M A N N S bei: H . B A U M A N N und L . V A J D A , Bernhard Ankermanns Völkerkundliche Aufzeichnungen im Grasland von Kamerun 1907 bis 1909. In: Baessler-Archiv, N.P., VII, H. 2, Berlin 1959, S. 2 8 6 - 2 8 8 . 115 weitere Pfeifenköpfe mit der Herkunft „ B a l i " konnten nicht berücksichtigt werden, da keine Abbildungen vorlagen, die Stücke selbst — soweit noch vorhanden — zur Zeit noch magaziniert sind. Vielleicht gehört in diesen Zusammenhang auch der bei SYDOW, a. a. 0 . , S. 252 erwähnte Reiter auf einem Chamäleon als Motiv auf einer Tabakspfeife aus Bamum.

Eine Reiterdarstellung aus dem Kameruner Grasland

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figuren mit schwarzer, zum Teil glänzender Oberfläche. Drei davon (MAf. 22031 bis 22033; vgl. Abb. 6—8, Tafel 25) stammen aus Bali. In den Grundzügen der Form und Ausführung stimmen sie weitgehend miteinander überein: Die 17—20 cm hohen Figuren zeigen — in sehr stilisierter Ausführung — ein vierbeiniges Tier mit phantastischem Kopf, so daß eine zoologische Bestimmung unmöglich ist. Zäumung und Sattelzeug sind nicht dargestellt. Die in unbeholfener Haltung auf den Tieren sitzenden Reiter klammern sich mit einer bzw. beiden Händen am Hals des Tieres fest. Abgesehen von der allgemeinen Disproportion in den Größenmaßen von Reiter und Tier zeigen sich in der Ausgestaltung des Kopfes, der Arme und besonders der Füße erhebliche Unterschiede. Das vierte, hierher gehörige Exemplar (MAf. 12882) stammt aus Bamenui. Es ist etwas größer als die Bali-Stücke (Länge 28, Breite 10, Höhe 24 cm), stimmt jedoch im Grundbau mit diesen weitgehend überein, wenn auch die Detailausführung besonders des Reiters etwas sorgfältiger gewesen zu sein scheint. 6 Die Disproportion zwischen Reiter und dem hundeähnlichen Reittier fällt bei diesem Stück besonders auf. Ergänzend zu diesen Leipziger Belegen lassen sich noch einige Hinweise S Y D O W S Handbuch entnehmen: Danach sind Tonfiguren in Form von Reitern auch aus Bamessing belegt 7 , während in Bamum Reiterfiguren als Schalenträger vorkommen. 8 Aus Babanki stammt eine männliche Figur, die auf einem Panther reitet. 9 Lassen sich also für das Motiv des Reitens als solchem immerhin einige Parallelen aus der Graslandkunst beibringen, so bleibt doch die Komposition und Ausführung des vorliegenden Exemplares bis zum Bekanntwerden weiteren Materials, wozu diese Veröffentlichung vielleicht einen Anstoß geben wird, noch weitgehend isoliert. Damit sind wir natürlich auch hinsichtlich der Deutung nur auf Vermutungen angewiesen. Zunächst kann man wohl mit großer Wahrscheinlichkeit annehmen, daß — im Gegensatz zu den zumeist zoologisch nicht bestimmbaren phantastischen Tierdarstellungen der aufgezählten Parallelen — im vorliegenden Falle ein Pferd dargestellt sein soll. Dafür sprechen der lange, herausgehobene Schweif sowie die hochgestellten Augen und Ohren, wenn auch Kopfform, Beine und die eigenartige Textur des Felles wenig Ähnlichkeit mit einem Pferd aufweisen. Auf Pferd deutet vor allem die sehr ins Detail gehende Darstellung der Zäumung und des Sattels — Einzelheiten, die bei den anderen uns bekannten Reiterdarstellungen fehlen. Das um den Kopf herumgeführte Kopfgestell (wohl in Verbindung mit 6

Dieses Exemplar (wie auch MAf. 22031 und 22033) ist durch Kriegseinwirkung vernichtet worden; als einziger Anhaltspunkt blieb eine winzige Fotografie ( 1 0 x 1 0 m m groß) erhalten, auf der naturgemäß viele Einzelheiten nicht oder nur undeutlich zu erkennen sind.

7

SYDOW, a . a . O . , S . 2 7 7 .

8

SYDOW, a . a . O . , S . 2 7 0 .

9

SYDOW, a . a . 0 . , S . 2 7 2 .

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DIETRICH DROST

Gebißtrense) läßt sich anhand von Bildmaterial aus dem Kameruner Grasland und natürlich vor allem den nördlich anschließenden Gebieten häufig belegen.10 Daß der Zügel nicht von der Trense, sondern vom Halfter oberhalb des linken Ohres abgeht, erklärt sich wohl aus der Absicht des Handwerkers, auch den Zügel als tönernes Band zu gestalten. Der Sattel mit abgesetztem Sattelknopf und schräg nach hinten geneigter, geschwungener Lehne besitzt die typische Form des Pferdesattels, wie er im ganzen Sudan von den Pferdereitern verbreitet wurde. Als Parallele sei nur auf ein ähnliches Exemplar von den Ful in Garua hingewiesen (MAf. 13173, vgl. Abb. 9, Tafel 26). Die Tatsache, daß wir es mit der Darstellung eines Pferdereiters zu tun haben, gibt uns einige Hinweise für die Deutung. Die Pferdehaltung im Kameruner Grasland war um die Jahrhundertwende — wenn wir die Entstehung unserer Reiterdarstellung einmal auf diesen Zeitpunkt verlegen wollen (1913 als letztmögliches Datum) — keineswegs allgemein verbreitet, sondern vielmehr auf sozial bevorrechtete Häuptlinge und Große beschränkt — abgesehen natürlich von Fulbe-Reitern und berittenen Hausahändlern. Über das erste Eindringen des Pferdes in das Kameruner Grasland besitzen wir keine sicheren Anhaltspunkte. In den nördlich anschließenden Gebieten finden wir das Pferd schon im frühen „Mittelalter". Im 13. Jahrhundert verfügte Kanem bereits über ein bedeutendes Reiterheer11, und auch in den Hausaländern spielten Pferde zur gleichen Zeit eine beträchtliche Rolle.12 Selbstverständlich ist zu einem so frühen Zeitpunkt noch nicht mit einem Vordringen bis in das Grasland zu rechnen. Wenn man jedoch berücksichtigt, daß ein Teil der heutigen Graslandstämme aus Norden und Nordosten in ihre Wohnsitze eingewandert ist 13 , so kann die Möglichkeit einer vereinzelten Übernahme des Pferdes zu einem relativ frühen Zeitpunkt nicht ganz ausgeschlossen werden. Die von König Njoya redigierte Geschichte des Bamumvolkes14 gibt uns mehrere Hinweise, die im Hinblick auf die mögliche Herkunft unseres Stückes aus Bamum von besonderem Interesse sind. Zunächst enthält die Chronik allerdings keinen Hinweis darauf, daß die unter König Nchare aus Tikar in ihre heutigen Wohnsitze einwandernden Bamum bereits im Besitz von Pferden waren. Erst im Zusammenhang mit dem Einfall der Ful werden Pferde erstmals erwähnt, als nämlich beim erfolglosen Sturm auf das 10 11 12

13 14

Zum Beispiel Foto MAf. 2262 und2300 im Foto-Archiv des Museums für Völkerkunde Leipzig. D. W E S T E R M A N N , Geschichte Afrikas, Köln 1952, S. 153. W E S T E R M A N N , a. a. 0., S. 130; zum Alter des Pferdes im Gebiet des Nigerbogens vgl. O . K Ö H L E R , Das ,Pferd' in den Gur-Sprachen. In : Afrika und Übersee, Bd. X X X V I I I , 1954, S. 93ff. Vgl. Peoples of the Central Cameroons. In: Ethnogr. Survey, West Africa IX, London 1954, S. 20, 55, 93. Histoire et Coutumes des Bamum rédigés sous la direction du Sultan Njoya, ins Französische übersetzt von H. M A R T I N . In: Mém. IFAN, Centre du Cameroun, Ser. Popul. Nr. 5, 1952.

Eine Reiterdarstellung aus dem Kameruner Grasland

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von König Mbuembue befestigte und verteidigte Fumban zahlreiche FulbeReiter samt ihren Pferden getötet (letztere sicher auch zum Teil erbeutet) wurden. 15 Der friedliche oder kriegerische Kontakt mit den Ful im Anfang des 19. Jahrhunderts 16 dürfte für das gesamte nördliche Grasland ebenso sehr eine Quelle für die Übernahme des Pferdes gewesen sein wie die ständig fortschreitende Durchdringung des Landes mit berittenen Hausahändlern. König Mbuembue von Bamum scheint jedoch noch nicht beritten gewesen zu sein, wenigstens findet sich in der Bamum-Geschichte kein entsprechender Hinweis. Erst vom König Gbetekom wird hervorgehoben, daß er zwei Pferde besaß und ein passionierter Reiter war. 17 Jedoch dürfte zu seiner Zeit der Besitz eines Pferdes noch eine seltene Ausnahme gewesen sein. Erst unter König Njoya scheint in Bamum eine verstärkte Einfuhr und Verwendung des Pferdes eingesetzt zu haben. König Njoya selbst war offensichtlich ein Pferdeliebhaber und passionierter Reiter. 40 Gefangene, die er in einem Feldzug gegen die Nkufen machte, vertauschte er gegen Pferde nach dem Norden. 18 Darüber hinaus wird in der Aufzählung der Verdienste Njoyas ausdrücklich erwähnt, daß „les Pamum ne savaient pas se vêtir ni monter à cheval. Mais lui, Njoya, les aida et ils commencèrent à monter à cheval". 19 Was die Rolle des Reitens bei den Vorgängern Njoyas betrifft (Gbetekom!), so stellt diese Behauptung sicher eine Übertreibung dar, um Njoyas Verdienste als „Kulturheros" noch um einen Punkt zu bereichern. Immerhin dürfte doch aus diesem Passus soviel zu entnehmen sein, daß zur Zeit Njoyas Pferde in Bamum häufiger wurden. Zweifellos sind sie jedoch auch damals noch ein Luxusartikel gewesen, den sich nur Häuptlinge und Wohlhabende leisten konnten. Damit kommen wir auf das eigentliche Problem der Deutung unserer Darstellung. Während die Gestaltung der üblichen Pfeifenköpfe im Kameruner Grasland entweder rein ornamentalen Charakter besitzt oder figurale Motive in ornamentalen Zusammenhang bringt 20 , so scheint doch die vorliegende Darstellung auf einen individuellen Anlaß oder Vorgang zu zielen. Neben den vielen, zum Teil so sorgfältig und realistisch ausgeführten Details spricht dafür der auffallende Gegensatz der beherrschenden Gestalt des Reiters zu den kleinen Figuren zwischen den Füßen des Pferdes. Wahrscheinlich kommt den letzteren nicht nur eine rein flächenfüllende, ornamentale Bedeutung zu, sondern sie dürften wohl einen sinnvollen Teil der Gesamtdarstellung bilden. Darauf deutet vor allem auch die unterschiedliche Bewaffnung; der Reiter trägt einen Speer (bzw. Lanze) 15 17 19 20

16 Histoire, a. a. 0., S. 26/27. WESTERMANN, a. a. O., S. 139. 18 Histoire, a. a. 0., S. 31. Histoire, a. a. 0., S. 41. Histoire, a. a. O., S. 135; ähnlich, auch S. 43. Über die Deutung der einzelnen figuralen Motive an den Tabakspfeifen ist so gut wie nichts bekannt. Immerhin besteht die Möglichkeit, daß einzelnen Motiven ein Sinngehalt zukommt oder wenigstens ursprünglich zukam.

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DIETRICH DEOST

in der Rechten, während der Mann zwischen den beiden Vorderfüßen des Reittieres Bogen und Pfeil in den Händen hält. Beides sind für die Graslandkunst ganz ungewöhnliche Attribute, zu deren Darstellung an einer Plastik oder Relief sich keine Parallelen beibringen ließen. Wenn auch wohl zur Zeit Njoyas Speer einerseits — Pfeil und Bogen andererseits nicht Ausdruck einer sozialen Schichtung waren, sondern der Speer als Kriegswaffe sich allgemein durchgesetzt hatte, so könnte doch im vorliegenden Falle die Gegenüberstellung der beiden WafFentypen im Sinne einer ethnischen oder sozialen Differenzierung aufgefaßt werden. Der Speer (bzw. die Lanze) bildet ja nicht nur die bevorzugte Waffe der berittenen Krieger des Zentralsudans, sondern kann gleichzeitig auch — und diese Möglichkeit ist für das Kameruner Grasland besonders zu betonen — als Insignie oder Würdezeichen des Herrschers dienen. 21 Demgegenüber könnte der (in diesem Falle ältere) Bogen ohne weiteres zur Charakterisierung Fremdstämmiger oder sozial Niedrigstehender bzw. Unterworfener Verwendung finden. Auf Grund der verschiedenen aufgeführten Gesichtspunkte ergibt sich also mit großer Wahrscheinlichkeit, daß wir es mit der Darstellung einer gesellschaftlich herausgehobenen Persönlichkeit zu tun haben, die durch entsprechende Vorführung einfacher Stammesgenossen kontrastiert wird. Sicher hatte der Künstler eine bestimmte Person (und vielleicht auch ein bestimmtes Ereignis) vor Augen, als er dieses Stück herstellte. Vielleicht ist es sogar der Besitzer der Tabakspfeife selbst, denn daß dieses Prunkstück nur einem sozial Bessergestellten gehört hat, unterliegt keinem Zweifel. 22 Es hat natürlich wenig Zweck, Vermutungen darüber anzustellen, welche Persönlichkeit der Reiter darstellen könnte. Vielleicht ist es König Njoya selbst, dessen Verdienste um die Einführung des Reitens dieBamumGeschichte ja besonders hervorhebt, vielleicht ein anderer Häuptling oder Würdenträger. 2 3 Vielleicht auch ein feindlicher Ful-Krieger oder ein Hausa. Die Beifiguren wären dann wohl entweder als Gefolgsleute bzw. Untergebene des Königs oder Kriegsführers (oder als Bamum-Krieger, falls der Reiter ein Ful sein sollte) zu deuten, oder es sind gefangene Feinde, die hier mit dem Sieger zusammen dargestellt sind. Begnügen wir uns rb.it der Andeutung dieser Möglichkeiten! 21

22 23

Vgl. z. B. die „lance du guerre" des Königs Mbuembue, Histoire, a. a. 0., S. 26/27; zur Rolle des Speeres als Hoheitszeichen vgl. W. SCHILDE, Die afrikanischen Hoheitszeichen. In: ZfE 61, H. 1/3, 1929, S. 9 1 - 9 4 . Vielleicht war es selbst sogar das Würdezeichen des betreffenden Besitzers, vgl. SCHILDE, a. a.O., S . 124. Die Tatsache, daß der Reiter mit einem Backenbart dargestellt ist, könnte gegen König Njoya sprechen, da er — auf den mir bekannten Abbildungen — stets ein glattes Gesicht zeigt, oft allerdings das Kinntuch der Hausa trägt. Im übrigen zeichnen sich sowohl Fulbe und Hausa wie aber auch ein Teil der männlichen Bewohner des Graslandes durch zum Teil kräftig entwickelte Bärte aus. Von einigen Bamum-Königen (Mbuembue, Nsangu) wird das Vorhandensein eines kräftigen Bartes besonders erwähnt, vgl. Histoire, a. a. O., S. 30, 33.

Eine Reiterdarstellung aus dem Kameruner Grasland

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Abschließend seien noch einige Worte über eventuelle Beziehungen der vorliegenden Reiterdarstellung zu entsprechenden Motiven in benachbarten Gebieten angefügt. Dabei fällt der Blick natürlich auf Yoruba-Benin, zumal ja oft die Ansicht vertreten wurde, daß die Graslandkunst mit diesen Gebieten in einem engeren Zusammenhang stehe. 24 I n Benin sind Reiterdarstellungen nicht allzu häufig. Auf einigen Platten sind berittene Würdenträger mit ihren Begleitern dargestellt. 25 Abgesehen von der Tatsache der Gruppenbildung lassen sich in den Einzelheiten kaum Gemeinsamkeiten mit dem Grasland-Stück feststellen. Dagegen zeigen die meisten der als Rundfiguren gestalteten Reiter 2 6 in einigen Einzelheiten der Ausführung auffallende Parallelen. Auch hier hält der Reiter in der rechten, nach oben gebeugten Hand einen Speer (dessen plumpe Ausführung derjenigen an unserer Tonplastik stark ähnelt), in der linken den als dickes Band ausgeführten Zügel. Eine ganz ähnliche Handhaltung und Bewaffnung (anstelle des Speeres zum Teil schon das Gewehr) zeigen auch einige Reiterplastiken Yorubas, die jedoch in ihrer sonstigen Ausgestaltung — abgesehen von der liebevollen Ausführung mancher Details, wie etwa der Zäumung, sowie der Tatsache gelegentlicher Gruppenbildung 27 — ebenso wie die Belege aus Benin wenig Beziehungen zur Grasland-Darstellung zu haben scheinen. Die Tatsache, daß hier wie dort der Reiter den Speer trägt, besagt natürlich auch wenig hinsichtlich eines möglichen Zusammenhanges, da ja der Speer die Hauptwaffe des berittenen Kriegers bildet. Wir möchten also im vorliegenden Falle die Möglichkeit eines kulturellen Einflusses aus dem Raum Yoruba-Benin auf das Kameruner Grasland als zweifelhaft bzw. zumindest nicht ausreichend bewiesen ansehen und uns daher hinsichtlich des Problems, ob beide Kunstprovinzen in einem genetischen Zusammenhang miteinander stehen, der skeptischen Haltung v. SYDOWS28 anschließen. 24 25

26 27

28

8

So z. B. noch P. GERMANN, Negerplastiken aus dem Museum für Völkerkunde zu Leipzig. In: Veröffentl. Mus. Völkde. Leipzig, H. 9, Berlin 1958, S. 47. F. v. LTJSCHAN, Die Altertümer von Benin. In: Veröffentl. Mus. Völkde. Berlin, Bd. VIII, Berlin und Leipzig 1919, S. 198/99 und Abb. 320-322. Als einzige Parallele kann der bei LUSCHAN, a. a. O., S. 174, Abb. 295, wiedergegebene Reiter angeführt werden, der die gleiche Gestaltung wie die Rundfiguren erkennen läßt. LTJSCHAN, a. a. O., S. 297-299, und vor allem die Abb. 442 und 443. Vgl. vor allem die Abbildung auf S. 230 bei: L. FROBENITJS, Und Afrika sprach, Bd. I, die den Gott Schango (Speer und Zügel in der rechten bzw. linken Hand) auf einem Reittier zeigt; zu beiden Seiten des Tieres steht je eine sehr kleine Beifigur, wie sie uns in ähnlicher Anordnung auch auf dem Kamerun-Exemplar begegnen. Zur Frage der Deutung (Obatalla, Schango) vgl. SYDOW, a. a. 0., S. 158. SYDOW, a. a. O., S . 15.

Beiträge zur Völkerforschung

DECEPTION AS A POLITICAL TOOL IN ANCIENT CHINA By

WOLFRAM EBERHARD,

Berkeley

Sociology has devoted much research to the study of human relations within a given society. We know that most developed societies had more or less complicated systems of stratification according to which individuals received differential treatment. Each society also developed concepts as to what the borders of the society were, i. e. from when on an individual or a group was regarded as being outside of the group. For instance, slaves were often regarded as being outside of society, as not being human but rather like animals or inanimate things. The laws of the society, in such cases, were not applied to such slaves and slaves could not use the laws for their own benefit. Many societies — to take another example — developed procedures by which a given individual or group could be eliminated from the group (f. i. excommunication, etc.) and other procedures by which persons could be made members of the society (asylum, adoption, etc.). All societies also developed concepts about other, foreign, societies. These others were regarded as inferior, as "barbarians", as only half-human, but it was felt necessary to develop some forms of communication with them. Here, the most interesting point seems to be that not all foreigners were regarded as equal and that different rules of social intercourse were developed for different groups. To take an example from the field of religions, Muslims make a difference between "People of the Book" and "Pagans". Both are foreigners who should be converted; yet the first group can expect a better treatment than the second group. In the field of politics, Muslims could and did attack other Muslim states but would not, in case of a victory, enslave the subjugated group; if a non-Muslim country was conquered, the inhabitants were enslaved. In Europe, a whole ceremonial of starting a war was developed, with ultimatum, declaration of war, interruption of war in case of holidays or during the night, etc.; any behavior which violated these rules was regarded as unfair and uncivilized; in the same period, no such rules were observed in colonial wars. Early China developed in the earlier part of the Chou Dynasty concepts about the character of the power of the ruler and the role of China: the emperor was the "Son of Heaven" and as such responsible for. moral behavior not only of Chinese, but of all people. There was, in theory, only one state, the Chinese state; all other

Deception as a political tool in ancient China

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people were dependent upon China to a stronger or lesser degree, even if they might not even have been aware of it. The "barbarians" outside China who did not know the moral (Chinese) values, had to be converted from a stage which, perhaps, was close to that of animals into civilized men, i. e. Chinese. There could, then, in theory be no real war, because the concept of war presupposes the existence of independent nations; but according to this theory, there were no other nations outside China. There were only "police actions", "pacifications" against "rebels" or "bandits", and such actions were, of course, morally justified. If these "rebels" showed an inclination to become "civilized", their territory would be integrated and they would be educated. If they behaved, however, not like human beings or like animals, they would be treated like animals, i. e. they would be taken as slaves. Most of the slaves of early times were prisoners of war; Chinese could be enslaved (as government slaves) only if they, too, had behaved like animals, i. e. committed certain kinds of crimes. But it was a rule that prisoners taken in war against a part of the country which was inhabited by Chinese, were not enslaved, though they often were transferred into other areas and resettled as serfs. I n such a situation there was no place for "deception": the purpose of "police actions" was a moral one. From the time of Confucius on, or a little earlier even, 1 the old order inside China began to break down. China had been a "feudal" society: 2 in theory there was an all-potent emperor in the center who ruled. Around him were feudal vassals, each with his fief, small ore large, according to the relation of his ancestors to the ancestors of the rulers family or according to his or his ancestors merits. All these feudal rulers were held together by bonds of loyalty to the ruler; and in most cases, these bonds were strengthened by the fact that the feudal lord's family was related to the ruler's family. Chinese were all "one family". Deception had again no place in such a community. But in time, bonds and blood ties became weaker with each generation; the concept of loyalty weakened, too. De facto, China presented a "multi-state system" already before the time of Confucius. Wars between these states became more and more common and increasingly bloody. Yet, certain rules of "international" 1

2

Authorship and age of one of the most important texts for our purposes, K U I - K U - T S E is disputed. The philosopher K U I - K U - T S E is mentioned in early texts as the teacher of some of the most famous politicians, but the work which now bears his name, is certainly a later compilation. We assume, however, that the ideas which the work expresses, correspond in general to the ideas of K U I - K U - T S E and therefore, of our time. I accept here the concepts of C H ' I S Z U - H O , H . M A S P E R O , 0 . F R A N K E and others that at the time of its creation in the eleventh century B. C. the state of the Chou dynasty had a central ruler who was powerful, and feudal vassals, depending upon him, and believe with these scholars and Chinese tradition, that this feudal empire disintegrated slowly. Some scholars went so far as to regard this as a historical fiction and believe that China after 1050 and before 250 B. C. already was a multistate aggregate.

S*

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Wolfram Eberhard

behavior were upheld; prisoners of Chinese origin were not enslaved, while prisoners from the „native tribes" were made slaves. Captured rulers were not executed but given a nominal fief; of course, they exhibit a very low life expectancy after that time ... We do not, of course, say that deception in the earlier period was unknown: it probably was used, but it was not an accepted activity and historians would not report it or even praise it. They rather would prefer to overlook it. The period of the Warring States which begins just after the death of Confucius (481 B. C.), presents a different picture. We now find philosophers who theoretically justified deception as a legitimate political tool: as psychological warfare which could end wars quicker and with less loss of life. The schools of "Dialecticians" and "Legalist Philosophers" florished in this period — the same time, incidentally in which Kautilya in India propagated very similar ideas. The aims of deception are 1) to be able to extend one's territory, if possible to the expense of another Chinese-inhabited area, so that the ruler could collect more tax income arid become wealthier, 2) to increase the population, in order to become militarily stronger, and 3) to build up prestige as a moral and just ruler. All three factors fit together: the aim is to unite all Chinese or as many as possible under one regime with the smallest loss of life, so that war is also economically profitable. As the "barbarians" were technically inferior to the Chinese and had little value as producers of income — at least in the immediate future —, wars against them could apply different rules. They could not, it was assumed, evaluate the qualities of the Chinese ruler. Thus, the ruler did not have to pay attention to the impression which his actions would make upon them. In wars against other Chinese states, however, in which Chinese with the same education and civilisation lived as in one's own state, "public opinion" was important, and methods to influence public opinion had to be developed. Thus, we find espionage or, to use a modern term "intelligence work", as well as propaganda. Intelligence was the first step for deception. It started with a detailed study of the other states: first the geopolitical situation (geographical factors, effecting defence and production), estimates of the size of the population, the economic conditions, the state of production of key materials, interior tensions, relation between ruler and his advisors and ministers, the psychological attitudes of the population, the international relations and the political aims of the other country. 3 On the basis of such an overall evaluation, diplomacy and deception were planned. The means can be classified as a) destruction of the economic strength of the enemy, b) moral diffamation of the enemy, and c) defeat of the enemy by technical tricks. Let us give you some examples for these categories of deception: 3

according to Kui-ku-tse.

Deception as a political tool in ancient China

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ad a) 1) the ruler of Ch'i (one of the states of Eastern China) wanted to conquer Lu and Liang, two neighboring states. Upon the advice of his minister, he started to wear a silk produced by Lu and Liang. All members of his court were induced to do the same. The population imitated the new fashion. The merchants of Lu and Liang were encouraged to import as much silk as they could and were assured of high prices. Within a year, the people of Lu and Liang specialized in producing this silk; they neglected agriculture and imported cheap grain from Ch'i. The rulers of Lu and Liang observed with pleasure the wealth flowing into their countries. Suddenly, Ch'i closed the frontiers for import-export. The population of Lu and Liang starved and many immigrated into Ch'i, where grain was cheap and plentiful. After three years, Lu and Liang petitioned to surrender. 4 2) Yen, a state in the north, wanted to attack Ch'i. The ruler sent his minister to Ch'i. The minister pretended to be in disfavor in Yen and entered the service of the ruler of Ch'i. He then instigated the ruler to spend enormous sums on funerals, buildings, parks and other luxuries, in order to weaken Ch'i economically so that Yen could easily defeat Ch'i. This plan did not work, because the minister died too early. 5 ad b) As examples of moral diffamation: 1) Ch'in, a western state, wanted to destroy Han but was afraid that the other states would interfere. Ch'in, therefore, accused Ch'i, a state on the other side of Han, of having consistently broken peace and having attacked Ch'in three times with the help of other states. Thus, there could be no peace so long as Ch'i was not punished; war was morally necessary. Ch'in thus could attack Han and get what it wanted while putting the blame upon Ch'i and those states that had helped Ch'i. 8 2) the two half-Chinese western states of Shu and Pa fought one another and both appealed to Ch'in for help. The ruler of Ch'in was advised by his minister that he should publicly denounce the ruler of Shu as morally corrupt, and then attack and conquer Shu which was a large and wealthy country in contrast to Pa which was poor and small. The conquest would be profitable and Ch'in would also get moral credit for waging a war to stop immorality. 7 ad c) as example for technical tricks: Ch'i wanted to attack its northern neighbor, but was afraid of its southern neighbor, Yiieh, which might use this occasion to attack Ch'i from the rear. Yiieh was a sea power fighting with boats; Yueh's soldiers could swim. Ch'i was a land power. The ruler of Ch'i secretly ordered the construction of pools and annountransl. MAVERICK, p. 2 0 4 . chapter 6 9 ; K ' A I - M I N G edition p. 190b. chapter 69; page 191a. chapter 70; page 191b.

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KTJAN-TSB,

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SHIH-CHI,

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SHIH-CHI,

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SHIH-CHI,

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ced rewards to good swimmers. 8 Everybody learned to swim and not too many awards had actually to be given. Ch'i then ostensibly started a war in the north to make Yüeh believe t h a t they were unprepared. Yüeh indeed attacked Ch'i, b u t was utterly defeated because they had not expected the preparedness of Ch'i and the existence of soldiers who could swim. 9 Some examples of deception combine several elements: The small state of Heng-shan produced weapons and thus, was a dangerous enemy. Ch'i began to buy weapons. The other states, upon this, began to buy arms, too, and price went up, so t h a t Heng-shan sold out its whole production and gave up agriculture. Ch'i, at the same time, bought grain from one of Heng-Shan's neighbors a t high prices. All other states started selling grain to Ch'i. After some time, Ch'i closed its frontiers and stopped all buying. Heng-shan, consequently, was without weapons and without grain; all its neighbors were well armed, but only Ch'i had a surplus of food. Heng-shan was attacked by a neighbor, and quickly surrendered to Ch'i. 10 For deception, even religion can become a tool: Ch'i wanted to pay homage to the emperor, because such an act which was politically non-committal, would increase its prestige. Because Ch'i did not have enough means to make impressive ceremonial gifts, it ordered t h a t a great number of ceremonial stone-disks for ritual purposes be made. I t then announced to the other states that it would visit the emperor and offer ceremonial disks. The other states felt t h a t this was a matter of prestige; thus, they wanted to do the same and had to get these disks in a hurry. The only way was to buy t h e m from Ch'i a t very high prices. Ch'i could not only finance its own visit, but became so rich t h a t it did not have to collect taxes for some years. 1 1 The attitude behind all these actions was purely opportunistic and absolutely devoid of any of the moral values so typical for the earlier period. Moral and religious values were used, but only for the purpose of propaganda: actions were planned so that, if possible, the action looked as if it were done for the purpose of defending the moral values of the earlier period. This propaganda was probably not taken a t its face value by the other states and their leaders. Why, then this propaganda? The attitude may have been similar to our attitude in similar situations today. Chinese sources mention often the history books as one main factor of consideration: every ruler wanted, to live in the eyes of posterity, as a model of morality and justice, and the historian would write on the basis of a rulers proclamations and actions, but would not know of his real intentions. 8 9 10 11

texts from a much later period describe such pools for training in detail (Shih-Lin Yen-Yü, chapter 1, page 2 b, Sung time). Ktjan-Tse, transí. Maverick, p. 169. Kuan-Tse, transí. Maverick, p. 208. Kuan-Tse, transí. Maverick, p. 189.

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This may give the clue for a more comprehensive answer : although each actor for himself rejected the old values as expressed in Confucian teachings, he did want to be evaluated by others, be this his own children and relatives or be this other aristocrats, according to the values of this code; he did not want to be depicted as immoral by a few old-fashioned moralists and did not want to give others like himself a propaganda tool against himself. They did, what Indian and European rulers did, too : they used theories of macchiavellian philosophers, but did not openly admit it. One might argue that the rulers and their advisors took this attitude because they were afraid the moral values of the population would break down, if the people saw that the rulers had no moral values at all. But this would presuppose the existence of a public opinion among the common population of the time, which seems doubtful to us. Who are the persons who instigate deception? In many cases, it is the ruler who is regarded as responsible, but more often still, he acts upon the advice of a minister. These ministers, well-known to us, represent a new social type. Some of them are members of side-branches, often sons of concubines, of noble families, but others are of unknown and probably low social origin. The most famous of all, Su Ch'in, first started out as businessman and promptly went broke. All his relatives despised him. He then studied the books of the dialectical philosophers, took a loan from a number of friends and thus was enabled to travel and to be dressed and equipped like a member of the élite. He arrived at a court in a distant country, where his past was unknown and offered his advice. After his successes he returned and repayed his debtors magnanimously and was cheered by all his relatives. For such men, political advising was a business ; they had no moral values, but the "know-how". They served the ruler who paid them best and changed their loyalty as often as it was profitable. They usually served in countries other then their own. There are, however, others who serve their own rulers and seem to be completely loyal to them: these were members of larger clans living in the same area. They knew the art of successfully leading a discussion so as to convince the other even if the actual state of affairs was against the arguments: they knew logic, and they knew psychology, the way to treat the others. Their rulers knew them very well and used them as long as they thought they needed their advice; there was often quite a competition for able councillors — a factor which raised the security of the life of these men. The techniques and theories of deception had been developed in our period by philosophers who speculated for the sake of speculation; partly by active politicians who later abstracted their experiences into theory. As far as we know the biographies of these philosophers, they, too, were members of side-branches of noble families. Their ideology had the same roots as Confucian ideology: a belief in the basic harmony in nature and in society; but contrary to the Con-

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fucianists, they believed that this harmony could be expressed in rules and laws. They tried to find such rules and to set up laws for society in order to bring it into permanent harmony with the universe. From here, it was only one step to try to find the workings of political actions and decisions and to apply this knowledge to specific situations. Philosophers and councillors represent a new social group, an intermediate intelligentsia, lower in status then the old feudal aristocracy, by which they were not quite accepted; serving the political leaders and dependent upon them for their livelyhood. The development of this group is one of the results of a larger transformation of Chinese society, initiated by the development of trade and money, as well as by the inner breakdown of feudalism. They lived at a time when the discrepancy between political reality and ideology had become so wide that the old values did no more fit. Instead of the ideal of a family of loyal feudal lords, serving the emperor, we have independent states with a national policy of their own. The only link between them was the vague feeling of belonging to a common "Chinese" world which was higher than the world of the barbarians. Instead of peacefully living side by side, the states fought one another in endless wars to achieve the supremacy over the others or at least to survive. Confucian ideology was as uncapable to adjust to the new situation in the time of the Warring States as it was in our time to adjust to modern society and the community of nations. Starting from the basic concept of unity of values, arising straight from individual over family to the state as the super-family, the concept of a multi-state system could not be integrated without destroying the basic structure. Confucianism could give no standards for a society in which the emperor was not even any more the ritual head of a super-family but a mere and often pityful shadow. It was in such a period that the concept of the national state with the slogan "right or wrong, my country" could develop and with it the idea that one could find the rules which move men and states, giving to those who know these rules the advantage over the others who did not know that he could successfully deceive them and thus destroy them. At the end of our period of the Warring States, between 250 and 220 B. C., all remaining feudal states were annihilated by the one state who had most thoroughly accepted the new ideas. A centralized, bureaucratic state was created, the type of state which continued basically until 1911. The Confucianists at first hated this new non-feudal state, but soon they saw that their old concepts could easily be transferred to the new state. And after hundred years, Confucianism became the official ideology of the new state. The books of the Dialecticians and Legalists were still read, but their popularity decreased rapidly, and many of their writings were finally lost and forgotten. With the renaissance of the unified state, the old cultural ideal is revived. Inside China dissention is plain rebellion and has to be suppressed by any possible

Deception as a political tool in ancient China

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means. Outside this area live barbarians who should be induced to surrender by the moral example of the Chinese ruler. War against them is not necessary; should the barbarians attack, this then, would again be a revolt against the moral order, and thus, no war, but only rebellion again. Deception was not necessary because of the obvious superiority and exclusiveness of Chinese values. But between 200 and 100 B. C. China was for the first time in its existence confronted with another state of the same power and size, confessing to a nonChinese ideology: the state of the nomadic Hsiung-nu. We have texts in which the Hsiungnu defend their own values and attack and reject basic Chinese values on logical grounds. This had never happened to China yet. Some straight Confucianists closed their ears and continued to regard the Hsiungnu as primitives; but others recognized the facts and regarded them as an independent nation. Imitating older diplomatic forms between Chinese feudal lords, the first forms of international diplomatic relations were created in this time, forms which were retained for over thousand years. On the other hand, political deception revived. We have a text in which a magnificent scheme of psychological warfare against the Hsiungnu is developed and we know that at least parts fo this scheme were actually carried through. The mainlines of this scheme 12 consisted of producing a cleavage between the Hsiungnu ruler and his entourage as well as his people, mainly by corrupting them through gifts, shows, trade and products of China to get them so accustomed to Chinese civilization that they would become pro-Chinese or desert to China, so that in the end, the annihilation of the Hsiungnu state would be easy. At the same time, diplomatic relations on the basis of a treaty of friendship were to be continued; Chinese princesses were to be given in marriage to the Hsiungnu ruler, with their servants functioning as pro-Chinese spies. Once the Hsiungnu state was reduced to unimportance by military defeat and inner dissention in the first century B.C., deception as a legitimate means disappears again. In later periods we find many non-Chinese dynasties, often ruling over large parts of China. They either claimed adherence to the basic Chinese values just as their enemy, the national Chinese dynasty, and thus claimed to represent the only legitimate state, denouncing the other as pretender. Or they were obviously barbarians. In such a case, they should be treated as primitives had to be treated. If both states claimed to represent the one, the legitimate state, they could not resort to deception as a legitimate way, because they were supposed to represent at the same time the moral principle against the rebellious pretender. 12

In Chia I's HsiN-Ytr, a work of the early second cent. B. C. (Hu Shih in Ktj-Shih-Pien, Vol. 3, p. 85, and O. Franke, in his Geschichte des chinesischen Reiehes, vol. 3, p. 153 accept the text as basically genuine).

122

WOLFRAM EBERHARD

We see, therefore, that deception as an accepted means appears in China for the first time in the period of the Warring States, i. e. in a period of rapid social, economic and political transformation from a feudal universal state to a multistate system of national states. This period favors the growth of a kind of intelligentsia, of men without clearly established status dependent upon other groups for their livelyhood who act opportunistically. These intellectuals, called philosophers or politicians, become the first non-feudal, almost bureaucratic administrators in despotic states. They develop deception into a tool to achieve personal glory and wealth and power for the state they serve. With the re-establishment of a united China under a purely bureaucratic rule, a renaissance of the ideology of the universal state began and deception disappeared as an accepted means of action. Deception emerged later for short periods only if a multi-state system became a fact and the realization of the ideal of the universal state seemed temporarily an impossibility.

DIE MUNDORGELN DES MUSEUMS FÜR VÖLKERKUNDE ZU LEIPZIG UND DIE DARSTELLUNG DES INSTRUMENTES IN OSTUND SÜDOSTASIEN Von

K Ä T E FINSTERBUSCH,

Leipzig

(Mit 1 Figur im Text und 21 Abbildungen auf Tafel 2 7 - 4 4 )

Die Mundorgel ist ein charakteristisches ost- und südostasiatisches Musikinstrument, das der Instrumentengruppe mit schwingenden Zungen und schwingendem Luftstrom zugeordnet wird. 1 Eine ihrer Formen besteht aus einer Kürbiskalebasse oder einem gefäßförmigen Unterteil aus Holz oder Metall, der den Windbehälter bildet und mit einem Mundrohr versehen ist, wodurch dieser bei Aspiration oder Exspiration gefüllt oder geleert werden kann. Der Windbehälter ist von einer kreisrunden Platte bedeckt, die mit Öffnungen versehen ist, durch welche Bambuspfeifen zu einem an der rechten Seite unterbrochenen Kranz gesteckt sind. Die Zahl der Pfeifen kann 36, 24, 23, 19, 17, 13, 9 oder 7 betragen; nach der Literatur sollen die Instrumente im allgemeinen 13 oder 19 Pfeifen haben. 2 Alle Mundorgeln dieses Typs, die sich im Besitze des Museums für Völkerkunde zu Leipzig befinden, haben 17 Pfeifen zu 5 Größen. Der Pfeifenkranz beginnt rechts und ist nach folgendem Schema angeordnet: (Größenunterschied der Pfeifen mit A [ = größte Pfeife] - E [ = kleinste Pfeife] bezeichnet). Die Pfeifen sind am unteren, im Windbehälter steckenden Ende aufgeschnitten und mit „durchschlagenden Zungen" ausgestattet, die aus einem rechteckigen dünnen Stück Blech bestehen, das an der aufgeschnittenen Seite des Bambusrohres mit Wachs aufgeklebt ist. Diese Metallzungen sind von gleicher Größe wie die Öffnungen des Bambus1 2

Handbuch der Musikinstrumentenkunde, S . 3 8 2 . S. 133; Shuo-wen, 5, 1, 16b—17a: Die Mundorgel vom Typ Yü hat 36 Pfeifen; die Mundorgel, Sheng, hat 13 Pfeifen. SACHS, CURT,

R E I N H A R D , KTJRT,

124

K Ä T E FINSTERBUSCH

rohres und können dadurch frei schwingen (Abb. 20, Tafel 40). An den Pfeifen sind außen oberhalb des Windkastens kreisrunde Öffnungen angebracht; wenn diese Öffnungen bei Aspiration oder Exspiration mit dem Finger bedeckt werden, dann werden die Zungen in Schwingungen versetzt und zum Tönen gebracht. Auffallend ist, daß einige der Pfeifen der hier untersuchten Instrumente die Öffnungen innen haben, also nicht mit den Fingern bedient werden können. Außer diesen Öffnungen haben die Pfeifen innen rechteckige oder ovale Einschnitte, Stimmschlitze, von unterschiedlicher Größe und Anordnung, um die Töne zu regulieren, ohne die symmetrische Anordnung der Pfeifen zu stören. Die Haltung des Instrumentes beim Spielen ist aus den Abbildungen ersichtlich. 3 Die drei sichtbaren Teile der chinesischen Mundorgel — Windbehälter, Mundrohr und Pfeifen — werden mit Körper, Kopf und Flügeln des Phönix verglichen. 4 Das Mundrohr wird Schnabel genannt, seine Form wird wie die eines Gänsehalses beschrieben. 5 Die Form des Mundrohres der Mundorgeln des Museums für Völkerkunde zu Leipzig würde einen solchen Vergleich nicht gestatten; die Bezeichnung deutet auf ältere Instrumente hin, deren Mundrohr gebogen war. An der Länge des Ansatzrohres soll zu erkennen sein, ob das Instrument für Profan- (kurzes Ansatzrohr) oder Hofmusik (langes Ansatzrohr) bestimmt war. 6 Worauf sich diese Annahme stützt, habe ich nicht feststellen können, aber es ist bemerkenswert, daß alle untersuchten modernen Formen nur ein kurzes Mundrohr haben, auch diejenigen, die der höfischen Musik dienten. — Aus der chinesischen Literatur und frühen Darstellungen entnehmen wir, daß die Mundorgel in Ost- und Südostasien ein hohes Alter hat, aber infolge der Vergänglichkeit des Materials ist bisher noch keine der ältesten Mundorgeln gefunden worden. Es gibt jedoch Darstellungen, die bis in die Han-Zeit zurückreichen, auf denen Mundorgeln zu sehen sind, so daß das noch 1940 in der Musikliteratur genannte Datum für die älteste bekannte Wiedergabe einer Mundorgel auf einer Votivstele aus dem Jahre 551 n. d. Z. 7 um einige Jahrhunderte herabgesetzt werden kann. s

4 5

Auf den Abbildungen wird das Instrument annähernd vertikal gehalten oder wenig nach vom geneigt; schräge Haltung zeigt das Photo eines chinesischen Mundorgelspielers, nach SACHS, CURT, Geist und Werden der Musikinstrumente, Taf. 3 7 , Abb. 2 6 2 . EASTLAXE, D.W., S. 41, beschreibt die Stellung des Instrumentes beim Spielen: Es wird etwas schräg nach der rechten Schulter gehalten, der Zeigefinger der rechten Hand dirigiert die Pfeifen 3 und 4, der Daumen die Pfeifen 2, 5, 6, 7. Die übrigen Pfeifen werden vom ersten und zweiten Pinger und vom Daumen der linken Hand dirigiert. — Auf den Bildern ist das nicht immer deutlich zu erkennen, nur auf einigen Malereien ausTun-huang ist die Pingerstellung genau zu sehen, Abb. 15 b und 15 c. EASTLAXE, D. W., S. 36; vgl. auch Anm. 39: Shuo wen, 5, 1, 17a. MOULE, A . C., verweist auf die Arbeit von SMITH, H E R M A N N , S . 203—205.

6

REINHARD, KURT, a. a. O., S . 1 3 3 .

7

SACHS, CURT,

Geist und Werden der Musikinstrumente,

S. 217.

Die Mundorgeln des Museums für Völkerkunde zu Leipzig

125

Als Verbreitungsgebiet der Mundorgel werden Hinterindien, Borneo, China und Japan 8 genannt. Auf Grund der zeitlichen und regionalen Unterschiede gibt es Variationen des Typs. Bei einer anderen Form des Instrumentes besteht der Windbehälter aus einer Kalebasse mit gebogenem Ansatzrohr, und die Pfeifen sind in zwei divergierenden Bündeln angeordnet (Abb. 19e, Tafel 39). 9 Neben dem oben beschriebenen aus China und Japan bekannten Typ mit kranzförmiger Anordnung der Pfeifen ist die floßförmige Mundorgel, bei der die Pfeifen durch den in Form eines Holzfäßchens gestalteten Windbehälter hindurchgesteckt sind und zwei nebeneinander liegende Reihen bilden, die in absteigender Höhe angeordnet sind, in Südostasien verbreitet.10 Sie soll aus dem Norden des hinterindischen Raumes stammen.11 Mundorgeln dieser Art reichen bis nach Südwest-China, nach der Provinz Sech'uan. Dort sind sie ein Instrument der Man-tzu12 und werden nicht von Chinesen gespielt. — Auch bei den Miao-tzu sind Mundorgeln beliebt13, und Beziehungen bestehen zum tibetischen Kulturkreis.14 Als Instrument des Zeremonialorchesters15 gehörte die Mundorgel in China früher auch zum Konfuziuskult. Es wird gesagt, daß sie kein eigentliches Orchesterinstrument sei, weil ihre leisen Töne im Orchester verloren gingen.16 Zweifellos war sie, wie Bilder aus der T'angZeit 17 und andere Darstellungen zeigen, aber früher Bestandteil großer Orchester. Das Instrument hat sich bis zur Gegenwart in der chinesischen Volksmusik erhalten. Daß es heute noch beliebt ist, zeigt eine letzthin in der Volksrepublik China gekaufte Schallplatte mit einem Stück aus der Provinz Honan, das auf der Mundorgel gespielt wird. Mundorgeln werden in China nur noch selten mehrstimmig verwendet.18 Über die Stimmen der 24, 19 und 13 Pfeifen der Mundorgel berichtet W A N G K U A N G K I nach dem Werke des Prinzen Tsai Yu: „Wir 8

SACHS, CUKT,

9

SACHS, CURT,

Chittagong. 10

SACHS, CURT,

11

SACHS, CURT,

a. a.

12

13

14

Die Musikinstrumente Birmas und Assams, S . 3 9 . Geist und Werden der Musikinstrumente, Taf. 38, Abb. 265: Mundorgel, The History of Musical Instruments, S . 184. Die Musikinstrumente Indiens und Indonesiens,

S . 1 6 3 ; REINHARD, K U R T ,

O., S. 132.

W., The Music of China, S. 49—50. EBERHARD, W., Lokalkulturen im alten China, Teil I, S. 284—285, enthält Hinweis auf Abbildungen in Miao-tzu-Alben. Dsgl., S. 285. KINGSMILL, THOMAS

15

R E I N H A R D , K U R T , a . a . O . , S. 1 6 4 .

16

EASTLAKE, D . W . , S. 4 0 .

17

Zahlreiche Darstellungen großer Orchester geben die Wandmalereien von Tun-huang wieder, vgl. Abb. 15a—c. Auch unter den berühmten Reliefs vom Grabmal des Wang Chien 3E ill (t in Ch'eng-tu Jjfe ff|5, Prov. Sech'uan, auf dem 22 Musikantinnen und 2 Tänzerinnen dargestellt sind, befand sich eine Musikantin mit einer Mundorgel. Das Relief ist jetzt beschädigt, so daß das Instrument nicht mehr zu erkennen ist.

18

REINHARD, K U R T , a . a . O . , S. 8 6 u n d 1 3 3 .

126

K Ä T E FINSTERBUSCH

sehen auf beiden Seiten des Mundstückes stets übermäßige Dreiklänge, z. B. c e gis; eis eis a usw. Dabei liegen die Töne der rechten Saite einen Halbton höher als diejenigen der linken — daß sie zusammen eine chromatische Leiter bilden. Die Instrumente sind mehrstimmenfähig, deshalb schuf man für sie zu Anfang der T'ang-Zeit (ca. 7. Jh. n. d. Z.) die Harmonielehre".19 Den Einfluß, den die Mundorgel auf Europa genommen hat, finden wir in allen musikwissenschaftlichen Werken erwähnt. Das Instrument wurde in der zweiten Hälfte des 18. Jhs. über Petersburg in West-Europa bekannt. Hier wurde die Durchschlagzunge auf die Orgel angewandt und später für Harmonium, Ziehharmonika und Mundharmonika nutzbar gemacht. Die Mundorgeln der Sammlung des Museums für Völkerkunde lassen sich nach ihrer Ausführung bestimmten Gebieten zuweisen und in zwei Typen einteilen: Typ A) Mundorgeln mit kranzförmig angeordneten Bambuspfeifen weisen nach China und Japan; Typ B) Mundorgeln mit zwei floßförmig nebeneinanderliegenden Reihen von Bambuspfeifen stammen von den Moi aus Südchina. — Instrumente vom gleichen Typ aus Thailand sind hier nicht berücksichtigt worden. — Abbildungen 21a—k siehe Tafel 40—44. Abb. 21a: Das Instrument besteht aus einem mit Schwarzlacküberzug versehenen hölzernen Unterteil in Form eines Gefäßes mit Holzkern, das einen nach oben gewölbten Boden hat und mit einer Holzplatte bedeckt ist, die 17 kreisrunde Öffnungen hat, durch die Bambuspfeifen gesteckt sind. An der Seite des Windkastens befindet sich das leicht nach oben gebogene Mundrohr mit viereckiger Blasöffnung. Die Pfeifen sind in offener Kranzform angeordnet, an der rechten Seite ist eine Lücke geblieben. Innen sind die Pfeifen fortlaufend von rechts nach links numeriert. Eine gleichmäßige Kranzform wird erreicht, indem jede der Pfeifen an den Seiten so zugeschnitzt ist, daß sie sich der Form der danebenliegenden Pfeife genau anpaßt. Die Pfeifen werden im oberen Teil von einem horizontalen Band, das aus einem dünnen Bambusstreifen besteht, zusammengehalten. 14 der Pfeifen haben außen über dem Windkasten ein kreisrundes Loch, innen sind sie mit einer oder mehreren Öffnungen, Stimmschlitzen, ausgestattet, die bei einigen Pfeifen nachträglich verkleinert worden sind. Jedes Bambusrohr ist im Unterteil, wenig oberhalb des Windkastens, verjüngt und mit Schwarzlack überzogen; der im Windbehälter steckende Teil der Pfeifen ist schräg aufgeschnitten und verläuft spitz nach unten. Auf den Anschnitt ist mit Wachs ein rechteckiges Metallblättchen aus dünnem Blech aufgeklebt, in das eine freischwingende Metallzunge eingeschnitten ist. 20 Abb. 21b: Diese Mundorgel gehört dem gleichen Typ an. Der Unterteil besteht aus einem Zinngefäß, an das ein schräg nach oben gerichtetes Mundstück "

W A N G K U A N G K I , S . 1 3 9 ; EASTLAKE, D . W . , S . 4 0 .

20

WAGNER, EDUARD, S . 3 0 - 3 1 .

Die Mundorgeln des Museums für Völkerkunde zu Leipzig

127

mit rechteckiger Blasöffnung angesetzt ist. Die Bodenplatte ist nach oben gewölbt. Eine kreisförmige Holzdecke schließt oben den Windbehälter, durch die 17 Bambuspfeifen gesteckt sind. Die Pfeifen haben außen kreisrunde Löcher, die in unterschiedlicher Höhe oberhalb des Windkastens angebracht sind, bis auf die Pfeifen 3 und 4, bei denen sich die Löcher im Inneren befinden. Im Oberteil innen haben alle Pfeifen vertikale Stimmschlitze von unterschiedlicher Länge und kreisförmige Öffnungen. Die Ausführung gleicht im übrigen der oben beschriebenen Mundorgel. Abb. 21c: Das Instrument gehört ebenfalls dem Typ A an. Der Windkasten mit dem kurzen Mundrohr besteht aus Holz mit Schwarzlacküberzug; das Ansatzrohr hat ovalen Querschnitt und trapezförmige Blasöffnung und ist am Ende mit einem Täfelchen aus Bein belegt. Eine kreisförmige Beinverzierung mit durchbrochenem Ornament ist in den Boden des Windkastens eingelegt. Die Bambuspfeifen sind von dunkelbrauner Farbe und werden von einem schmalen Hornstreifen zusammengefaßt. Den oberen Abschluß jeder Pfeife bildet eine aufgesetzte Kappe aus Bein mit eingeritzter Linienverzierung. 11 der Pfeifen haben außen, 2 innen kreisförmige Löcher und innen rechteckige Stimmschlitze. Abb. 21 d : Die Ausführung dieser Mundorgel gleicht der vorstehend beschriebenen. Das ursprünglich vorhandene Beinornament am Boden ist herausgebrochen. Die Pfeifen 1, 2, 8 und 17 haben keine Löcher. Bei Pfeifen 5 und 12 ist die Öffnung innen angebracht, bei den übrigen Pfeifen außen, davon bei Pfeifen 3 und 4 höher angeordnet. Abb. 21 e: Dieses Instrument hat auch große Ähnlichkeit mit der Mundorgel Sign. OAs 15323; da es jetzt stark beschädigt und auseinandergefallen ist, läßt sich deutlicher die Art der Herstellung erkennen. Das unten aufgeschnittene Bambusrohr der Pfeifen, das teils im Windkasten steckt und teils wenig darüber hinausragt, besteht aus einer Röhre, die in das obere Rohr der Bambuspfeife vermittels eines Zapfens eingefügt ist. Von dem im Windkasten steckenden Ende ist ein Keil abgeschnitten, so daß das Unterteil sich verjüngt und mit einem Halbkreis abschließt. 13 der Pfeifen sind unten ausgehöhlt, wo die Metallzungen aufgelegt sind, während 4 der Pfeifen keine Metallzungen besitzen und unten geschlossen sind. Diesen 4 stummen Pfeifen fehlen auch die Löcher und Stimmschlitze, während die übrigen 13 Pfeifen damit ausgestattet sind und 2 davon die Löcher innen haben. Abb. 21 f: Auch bei dieser Mundorgel handelt es sich um den Typ A. Die Beinverzierung am Boden ist herausgebrochen, das Mundrohr ist mit einem Beintäfelchen belegt und hat eine trapezförmige Blasöffnung. Die beiden längsten Pfeifen tragen auf dem oberen Ende eine grün gefärbte Beinkappe mit Linienverzierung. Der aus dem Windkasten herausragende untere Abschnitt der Pfeifen ist von dunkelbrauner Farbe, die Pfeifenrohre von etwas hellerem Farbton.

128

KÄTE FINSTERBUSCH

Pfeifen 1 , 9 , 1 6 und 17 fehlt die Öffnung und der Stimmschlitz; die Pfeifen 3 und 4 haben die Öffnung innen. Abb. 21g: Diese Mundorgel mit 17 rotbraun lackierten Bambuspfeifen, die durch ein Metallband zusammengehalten werden, auf dem Gravierungen angebracht sind, die die Einschnitte von Bambus imitieren, und dem Windbehälter aus Holz mit Goldlacküberzug, Blüten-, Bambus- und Wellenornamenten, ist unter den Beständen des Museums das schönste und am reichsten ausgestattete Instrument und als kunsthandwerkliche Leistung besonders zu würdigen. Der Boden des Windkastens ist nach unten gewölbt und hat eine vorstehende Kante, die ihn in zwei Hälften teilt. Die Kante erstreckt sich auch auf das kurze Ansatzrohr, dessen Querschnitt die Form einer bikonvexen Linse hat mit einer rechteckigen Blasöffnung. Vorn hat das Mundrohr einen Metallbeschlag. Die Pfeifen haben innen Stimmschlitze. Die Pfeifen 3, 4 und 17 haben innen eine Öffnung, alle anderen außen; diese liegt bei den Pfeifen 11 und 12 etwas höher als bei den übrigen. Die 3 kleinsten Pfeifen tragen auf dem oberen Ende eine Metallkappe; die Pfeifen 9 und 10 haben ein Metallrähmchen, das in unterschiedlicher Höhe angebracht ist und eine Holzfüllung umgibt. Abb. 21h: Schon das Schwarzlackfutteral und das Etui aus gemustertem Brokat mit Seidenschnüren verraten japanische Herkunft. Die Ausführung des Instrumentes, der hölzerne Windbehälter mit Goldlacküberzug und prächtigem Ornament, seine Form, das Metallband, das die dunkelbraunen Bambuspfeifen umfaßt, sind der Mundorgel Sign. OAs 5893 verwandt. Die Verteilung der Öffnungen an den Pfeifen entspricht ebenfalls der dieses Instrumentes; aber das Metallrähmchen, das bei Pfeife 9 5 cm und bei Pfeife 10 nur 3 cm vom oberen Pfeifenende entfernt ist, faßt eine schmale, rechteckige Schlitzöffnung ein; der Pfeife 9 fehlt der Stimmschlitz. Abb. 21 i: Die 17 Pfeifen der Mundorgel sind mit eingebranntem Wolkenmuster verziert, die über den Windkasten herausragenden Unterteile der Pfeifen von rotbrauner Farbe. Das schmale Metallband, das sie zusammenhält, ist schwarz lackiert, der tassenförmige Windkasten mit Schwarzlack überzogen. Ein Beintäfelchen ist in den Boden eingelegt, ein anderes schließt das Mundrohr ab, das eine trapezförmige Blasöffnung hat. Ursprünglich trugen die oberen Enden der Pfeifen Beinkappen, die bei den beiden längsten Pfeifen etwas höher als bei den übrigen Pfeifen waren. Den Pfeifen 1, 16 und 17 fehlt die Öffnung, den beiden letzteren auch der Stimmschlitz; Pfeifen 3 und 4 haben die Öffnung innen, die übrigen Pfeifen außen, davon Pfeifen 11 und 12 etwas höher. Abb. 21 j : Floßförmige Mundorgel vom Typ B, bei der die in abfallender Höhe aneinandergefügten Bambuspfeifen zwei parallele Reihen zu je 6 Pfeifen bilden, die durch ein horizontales Band zusammengehalten werden. Der Windbehälter besteht aus einem am Ende spitz zulaufenden Holzfäßchen mit Blasöffnung, durch

Die Mundorgeln des Museums für Völkerkunde zu Leipzig

129

das die Bambuspfeifen hindurchgesteckt sind. An dem ersten Pfeifenpaar oberhalb des Windbehälters befindet sich' ein Deckloch, das an den übrigen Pfeifen etwas höher und seitlich angebracht ist. An den aufeinanderliegenden Seiten der Pfeifen sind in unterschiedlicher Anordnung und Zahl, oben oder unten, vierbzw. rechteckige Stimmschlitze eingeschnitten. — Vom oberen Ende der Pfeifen hängt eine Kette aus schwarzen und weißen Glasperlen mit einer roten und grünen Seidenquaste herab. Abb. 21k: Dieses Instrument gehört ebenfalls zu den floßförmigen Mundorgeln. Es besteht aus 2 Reihen und 7 Pfeifenpaaren. Jede der Pfeifen ist an beiden Enden mit 9 mm breiten Blechstreifen versehen. Der Windbehälter ist am Ende stufenförmig zugespitzt, die BlasöfFnung liegt in einer Höhlung. 6 Pfeifenpaare haben gleichmäßig angeordnete Decklöcher, während diese beim vorderen Pfeifenpaar niedriger, wenig oberhalb des Windkastens, liegen. Die Pfeifen sind an vier Stellen von einem Band zusammengehalten. Im übrigen ähnelt das Instrument der oben beschriebenen Mundorgel Sign. OAs 13474. Diese ost- und südostasiatischen Mundorgeln sind in der Zeit von 1870 bis 1940 in den Besitz des Museums gekommen und vermitteln eine Vorstellung vom Aussehen und der Ausführung des Instrumentes in dieser Zeit. Sie zeigen seine heute noch gebräuchliche Form. Anhand chinesischer Quellen läßt sich die Geschichte der Mundorgel weit verfolgen. In verschiedenen musikwissenschaftlichen Werken und Abhandlungen über ostasiatische Instrumente sind bereits einige der auch hier herangezogenen Textstellen zusammengetragen worden, die sich durch Betrachtung des archäologischen Materials ergänzen lassen. In der altchinesischen Literatur werden Mundorgeln häufig erwähnt; ihre Erfindung wird in die Mythenzeit verlegt und Nü-kua, der Schwester des sagenhaften Kaisers Fu-hsi zugeschrieben. 21 Im Shu-ching wird ein Ahnenopfer, bei dem die Musik eine Rolle spielt, beschrieben und in der Reihe der Iristrumente auch die Mundorgel angeführt. 2 2 Im Shih-ching, der ältesten chinesischen Liedersammlung, ist ebenfalls die Rede von Mundorgeln. 23 Es heißt dort: „Gar edle Gäste hab' ich hier. Die Harfe schallt, die Pfeife ( = Mundorgel) klingt, Die Pfeife klingt, ihr' Zünglein schwingt. . ." 24 21 22

23

Li-chi j® fü,, COUVREUR, F. S., I, Kap. XII, 25, S . 739. Shu-king • , LEGGE, JAMES, The Chinese Classics, vol. 3, II, IV, Kap. II, 9, S. 88. Zitiert von EASTLAKE, D . W., S . 36, und SACHS, CURT, Geist und Werden der Musikinstrumente, S. 217. Shih-ching JJ^P , LEGGE, JAMES, The Chinese Classics, vol. 4 , 1 , V I , I I I , 1 ; Übersetzung v o n v . STRAUSS, VICTOR, S . 1 4 5 .

24

9

Shih-ching Inf IM , LEGGE, JAMES, The Chinese Classics, vol. 4 , 1 . v. STRAUSS, VICTOR, S. 2 5 3 . Zitiert von EASTLAKE, D . W . , S. 3 6 . Beiträge zur Völkerforschung

I . 1.

Übersetzung von

130

K Ä T E FINSTERBTJSCH

„ D a schlägt man Glocken hell und fein, Und spielt mit Harf' und Laute drein, Und Pfeif' und Klingstein stimmen ein Zum Festlied (Ya), des Südens Lied (Nan), Zum Flötentanze fehlerrein." 25 „Mit Pfeif' und Pauk' im Flötentanz Schallt die Musik harmonisch ganz, . . . " . 2 6

In den Ritualbüchern Chou-li, Li-chi und I-li wird die Mundorgel in Verbindung mit anderen Instrumenten mehrfach genannt, denn die Musik spielt im Kult eine große Rolle. Das spiegeln auch nachstehend behandelte Darstellungen wider, bei denen es sich oft um kultische Vorführungen mit Musikbegleitung handelt. Im Chou-li werden die 8 Klangkategorien, die pa yin / \ -ff 27, erwähnt und eine Einteilung der Instrumente gegeben, die diese hervorbringen, nach dem Material, aus dem sie gefertigt sind. An 7. Stelle wird der Flaschenkürbis, p'ao , genannt, der das Material für den Windbehälter der Mundorgel liefert. Zu dieser Kategorie werden folgende Instrumente gezählt: f j ; ; jjl (^c ü ) ; ('h ); M und . 2 8 Die Wichtigkeit, die den Musikinstrumenten beigemessen wurde, geht daraus hevor, daß ein Funktionär unter dem „Frühlingsamt" genannt wird, der das Blasen einer Anzahl von Instrumenten lehrte und dem die Sorge für die Mundorgeln vom Typ Yü und Sheng bei Veranstaltungen, wie Opfer, Bankett oder Bogenschießen oblag. 29 — Im Li-chi wird ein Opfer be25

26

27

Shih-ching ¡Nf L E G G E , J A M E S , The Chinese Classics, vol. 4 , I I , V I , S. 3 6 8 . Übersetzung von v. S T R A U S S , V I C T O R , S. 3 4 6 . Shih-ching F F , L E G G E , J A M E S , The Chinese Classics, vol. 4 , I I , V I I , von v. S T R A U S S , V I C T O R , S . 3 6 5 . Zitiert von E A S T L A K E , D . W . , S . 3 6 . Die 8 Klangkategorien: 1. £ 2.

I V , 4,

Anmerkung

V I , 2.

Übersetzung

Metall: Glocke. Stein: Klangstein.

3. i

Erde: Okarina.

4. f f

Leder: Trommel.

5. && Seide: Zither. 6. *

Holz: Schalmei.

7. ffe Kürbis: Mundorgel. 28

29

8. f f Bambus: Panflöte. Diese Angaben sind einem Verzeichnis der aus der Chou-Zeit bekannten Musikinstrumente entnommen, das mir freundlicherweise vom Institut für Volksmusikforschung der chinesischen Akademie für Musik, Peking, zur Verfügung gestellt wurde. Nach diesem Verzeichnis ist Huang als Instrument aufgefaßt, während es im allgemeinen für die freischwingenden Zungen der Mundorgel gehalten wird. Chou-li JS]

, Ch'un-kuan

* G ; B I O T , JCDOTJARD,

Tome

II,

S.

60—61;

vgl.

EASTLAKE,

Die Mundorgeln des Museums für Völkerkunde zu Leipzig

131

schrieben, bei dem 5 Tage nach der Zeremonie die Zither gespielt, 10 Tage danach die Mundorgel geblasen und Gesang vorgetragen wurde. 30 Die Abbildungen zeigen, daß diese beiden wichtigen Musikinstrumente auch gleichzeitig gespielt wurden. 31 Aber nicht nur in der Ritualmusik werden die Instrumente verwendet, sondern auch als Grabbeigaben, denn im jenseitigen Leben mußte für Unterhaltung gesorgt werden. So finden sich unter den Grabbeigaben der Han-Zeit Tonstatuetten in Form von Musikanten, darunter auch Figuren mit Mundorgeln. 32 Daneben dienten die Instrumente selbst als Grabbeigaben; unter ihnen gab es, nach der Aufzählung im Ritualbuch, auch Mundorgeln. Diese waren den für den Gebrauch bestimmten Musikinstrumenten zwar nachgebildet, aber auf Grund der Vorschriften für die Grabbeigaben unterschieden sie sich doch dadurch von diesen, daß die Saiteninstrumente nicht gestimmt waren und die Pfeifen der Mundorgeln vom Typ Y ü u n d Sheng nicht harmonisch zu sein brauchten 3 3 ; stets mußte das rechte Maß für das Verhalten der Lebenden zu den Dahingegangenen gefunden werden. Von der Einschätzung der Musik geben die Ritualtexte eine Vorstellung: „Auf die Frage des Fürsten Wen von We, warum ihn die alte Musik so langweile und die neue Musik so amüsiere, antwortete Dsi Hsia: ,Bei der alten Musik treten die Tänzer zusammen auf und treten zusammen ab. Die Töne sind harmonisch, schlicht und tief. Die Saiteninstrumente und die Kürbisinstrumente, die Mundorgeln und die Flöten richten sich im Takt nach der Pauke . . " 3 4 ; und an anderer Stelle heißt es: „Der Klang des Bambusrohres ist überströmend; er erinnert an große Versammlungen, bei denen sich die Scharen trafen. Wenn daher der Edle den Klang der Pansflöten (Yü), der Mundorgeln (Sheng), der Oboen (Hsiao) und Flöten (Kuan) hört, so denkt er an seine Beamten, die sich in Scharen versammeln .. ,". 3 5 — Eine Stelle im I-li führt 3 Mundorgeln Sheng und eine vom Typ Ho an 36 ;

30 31 32 33 34 35

D. W., S. 37. Li-chi Ü f £ , COUVREUR, F. S., I, Kap. IV, Art. III, 28, S. 360. Vgl. auch WILHELM, RICHARD, Frühling und Herbst des Lü Bu We, Buch V. Der Mittlere Sommermonat, Kap. 1, S. 54: „In diesem Monat erhält der Musikmeister den Befehl, die Handtrommeln, kleinen Trommeln und Pauken in Ordnung zu bringen, die Lauten und Zithern, Flöten und Oboen zu stimmen, Unterricht zu erteilen im Halten der Schilde und Äxte, der Flöten und Federn, der großen und kleinen Mundorgeln, Okarinas und Querpfeifen zu stimmen, die Glocken, Klingsteine, Klappern und Rasseln in Ordnung zu bringen". Li-chi Ü ; COUVREUR, F . S . , I, Kap. II, Art. I, 2 3 , S . 1 2 9 . Vgl. Abb. 1; 3; 8 und 12. Abb. 7. Li-chi Ü FÜ ; COUVREUB, F . S . , I, Kap. II, Pt. I, Art. III, 3 , S . 1 6 4 . Übersetzung nach W I L H E L M , R., Li Gi, S. 57, Kap. 8. Dsgl. S. 5 9 (Mundorgel vom Typ Yü hier mit Pansflöte übersetzt). Li-chi W. R £ ; COUVBEUB, F. S., II, Kap. XVII, Art. III, 15, S. 93.

36

9*

I-li

M

Ü

; COUVRETJR, F . S . , K a p . V , S . 1 6 8 .

132

K A T E FINSTERBUSCH:

die Sheng wird als große, die Ho als kleine Mundorgel bezeichnet. 37 I m Verhältnis zum Typ Yü der eine große Mundorgel bezeichnen soll, gilt 38 die Sheng als kleinere Form. Das älteste chinesische Wörterbuch, Shuo-wen, aus dem Jahre 121, das Analysen chinesischer Schriftzeichen enthält, gibt folgende Erklärung: „Die Sheng besteht aus 13 Pfeifen und hat die Form des Körpers eines Phönix. Weil unter der Musikweise des ersten Monats die Dinge entstehen (sheng nennt man sie Sheng i g ; die große heißt Ch'ao jj|, die kleine Ho f p . Aus der Zusammensetzung der Zeichen für „Bambus" und „sheng ^ " ( = entstehen), wurde vor alters das Schriftzeichen Sheng £g gebildet". 39 Der Kommentar zum Shuo-wen führt dazu aus: „Nach Pai-hu-t'ung bezeichnet der Kürbis unter den 8 Klangkategorien 40 die Mundorgel. Es ist die Eigenschaft des Kürbis, sich zu entfalten. Wenn sich im 12. Monat alle Dinge zu entfalten beginnen, dann sprießen sie. Auf die Mundorgel bezogen bedeutet das, daß alle Dinge unter der Einwirkung des Tones Ta (oder T'ai) ts'u fc ^ 41 entstehen. Daher die Bezeichnung Sheng 5 g . Nach Li-ching werden Glocken (chung £j|) und Klangsteine (ch'ing H ) im Osten Sheng chung ü und Sheng ch'ing i g jH genannt. Sheng i g wird hier wie sheng ¿jß gebraucht. Der Osten ist dem Yang, dem männlichen Prinzip, zugeordnet 42 , alle Dinge entstehen daraus, deshalb werden im Osten die Glocken und Klangsteine mit sheng i g bezeichnet. Neu entstandene Wesen sind klein, deshalb erklärte Fang-yen sheng i g durch hsi = fein, zart, klein usw. Die Yü ^p ist die große Mundorgel; demnach wird für yü ^ die Bedeutung 37 38

39 40 41

42

Shuo-wen, Komm. 5, 1, 17a. Ts'ung Tun-huang pi hua lun T'ang tai ti yin yüeh ho wu tao, S. 132/16. Shuo-wen, 5, 1, 17 a. Vgl. Anmerkung 27. Ta ts'u ^ C (oder T'ai ts'u j&'jfö): Vgl. Li-chi ®g fü, , COUVREUR, F. S., I, Anmerkung S. 520. Man unterscheidet bei den 12 Tönen 6 männliche ( = Yang-) Töne und 6 weibliche ( = Yin-) Töne. Die 6 Yangtöne heißen: Huang-chung H} M ; T'ai-ts'u ; Kuhsien i£f Öfc ; Jui-pin H % ; I-tse % I'J und Wu-she M . - Im Shuo-wen-Text heißt es, daß unter der Musikweise des ersten Monats die Dinge entstehen. Nach Li-chi, Ü@ äi, COUVRETJR, F. S., I, Kap. IV, S. 331 (5), entspricht der Musikweise des ersten Frühlingsmonats der Ton Chüe ji| in der Tonart Ta-ts'u fc • Die 5 Töne heißen: Chüe ß } ; Shang f§j ; Kung ^ ; Yü ^ ; Chih Üfc. Vgl. dazu die Ausführungen von ECKARDT, A N D R E A S , Kap II: Aufbau der Töne, S. 7—14. Die chinesische Philosophie hat ein System entwickelt, in dem die Beziehungen aller Erscheinungen der geistigen und materiellen Welt untereinander dargestellt werden. Diese Gedanken liegen der im Shou-wen-Text gegebenen Erklärung zugrunde. Der Text des Shou-wen ist in einer Zeit verfaßt, in der dieses System in der chinesischen Philosophie eine große Bolle spielte und sich auf vielen Gebieten auszuwirken begann. Vgl. dazu die zusammenfassende Darstellung bei NEEDHAM, JOSEPH, vol. 2 , Kap. 1 3 : The Fundamental Ideas of Chinese Science, S. 2 1 6 — 3 4 5 . YIN FA-LU,

Die Mundorgeln des Museums für Völkerkunde zu Leipzig

133

„eine große Reihe von (Bambus)Rohren" angenommen. Aus den angeführten Gründen ist das Schriftzeichen mit dem Zeichen „Bambus" zusammengesetzt, und für den Begriff „Musikweise des ersten Monats" ist demzufolge das sinn- und tonangebende Zeichen sheng ^ für die Zusammensetzung gewählt worden". Von Mo-tzu wird gesagt, er habe anläßlich eines Besuches beim König von Ching (Ch'u) prächtige Gewänder angelegt und auf der Mundorgel geblasen.43 Da Mo-tzu die Musik nicht schätzte, aber es hier doch für geraten hielt, mit der Mundorgel zu erscheinen, ergibt sich das Interesse, das in Ch'u für dieses Instrument bestand. In Märchen und Legenden fehlt die Erwähnung der Mundorgel nicht. Sie ist auch gern bildlich dargestellt worden. Auf der Vorderseite eines rechteckigen Ziegels aus einem (1957 entdeckten) Grab in Teng-hsien44 ist die Illustration einer Legende überliefert. Rechts im Bildfeld erscheint eine stehende Figur, links eine sitzende, die eine Mundorgel bläst. Zwischen beiden Figuren ist ein fliegender Phönix wiedergegeben. Neben den Figuren befindet sich je eine Inschrift mit dem Namen des Dargestellten, die eine ikonographische Bestimmung des Motivs erlaubt : Die rechte Figur ist Fou Ch'iu Kung # _E ( = ic|$) & 4S , die linke Wang-tzu Ch'iao 3E -f- IS ( = f t ) 4 6 - Fou Ch'iu Kung soll unter Ling-wang f f 31 in der Chou-Zeit gelebt und Unsterblichkeit erlangt haben. Die Legende verbindet ihn mit dem links dargestellten Wang-tzu Ch'iao, der zum Prinzen von Chin auserkoren war, aber auf sein Erbe verzichtete und auf Wanderschaft ging. Von Fou Ch'iu Kung wurde er in die taoistische Lehre eingeführt. Im Lieh-hsienchuan47 wird von ihm berichtet, daß er gern auf der Mundorgel blies zum Gesang des Phönix. Er wanderte am Lo umher und traf auf dem Sung-shan48 mit Fou Ch'iu Kung zusammen. Das Relief ist eine Illustration dieser Legende: Wang-tzu Ch'iao bläst auf seiner Mundorgel, vor ihm erscheint der Phönix, rechts sein Lehrer Fou Ch'iu Kung; der Sung-shan wird durch die Hügelkette angedeutet. — Die Mundorgel spielt auch in anderen taoistischen Legenden eine Rolle, und das Erscheinen des Phönix, der zur Musik der Mundorgel singt, erinnert an viel ältere chinesische Vorstellungen. Im Chou-li werden die schamanistischen Musikweisen, die zum Herbeirufen der Geister dienten, aufgezählt: „Ein Wechsel, damit ruft man die gefiederten Wesen herbei und erreicht die Geister der Flüsse und Marschen (die Vögel) . . ,". 4 9 43

Lü-shih ch'un ch'iu, 1 5 , 7 , Szu pu ts'ung k'an, Bd. 4 4 Abb. 13. Herbst des Lü Bu We, S. 229.

45

Fou Ch'iu Kung #

46

Wang-tzu Ch'iao I f Dsgl. S. 258, No. 801. P'ei wen yün fu 1133, 1, zitiert Lieh-hsien-chuan. Sung-shan: Einer der fünf heiligen Berge Chinas, Prov. Honan. Zitiert nach E R K E S , EDUARD, S. 68.

17 18 49

& : MAYERS,

9 5 ; W I L H E L M , RICHABD,

WILLIAM F R E D E R I C K , S . 4 5 ,

No.

138.

Frühling und

134

K Ä T E FINSTERBUSCH

In Zusammenhang mit derartigen Vorstellungen scheint folgendes Märchenmotiv 50 zu stehen: „Die Tochter des Mu-Kung von Ch'in, namens Lung Yü, aus der Zeit der Frühling- und Herbst-Annalen blies gern auf der Mundorgel. Sie wurde mit Hsiao Shih verheiratet, der auf der Panflöte (Hsiao^jjf ) blasen konnte. Wenn er einmal blies, dann erhob sich ein frischer Wind, wenn er zweimal blies, dann erschienen bunte Wolken, wenn er dreimal blies, dann nahte der Phönix. Mu-Kung baute aus Erde eine Phönixterrasse und Heß das Paar darauf wohnen, aber eines Tages flogen Mann und Frau mit dem Phönix davon und die Menschen auf Erden hörten den Ton der Panflöte in den Lüften". 5 1 Im Mu t'ien tzu chuan wird die Mundorgel ebenfalls erwähnt. 52 Sie kommt, wie aus dem in Teng-hsien dargestellten Motiv schon ersichtlich ist, nicht selten in taoistischen Legenden vor. Auch Einsiedler haben Vergnügen am Mundorgelspiel, wie die Darstellungen auf anderen Ziegeln aus Teng-hsien 53 erkennen lassen: Das Motiv ist wieder anhand einer Inschrift am linken Rand genau zu bestimmen; diese lautet: ^J IÜ 1Z9 ßüf -„Die 4 Ehrwürdigen vom Nan-shan". Sie werden beim Musizieren dargestellt. Von diesen 4 Ehrwürdigen 64 wird erzählt, daß sie sich unter der Regierung Ch'in Shih-huang-ti's als Eremiten in die Shang-Berge zurückzogen und erst wieder nach Errichtung der Han-Dynastie hervorkamen. Schon in der HanZeit hat sich die Malerei dieses Themas angenommen, aber erst eine spätere Zeit hat das Motiv in eine Landschaft hineingestellt und zur Charakterisierung der Figuren diese in einer Handlung dargestellt und die Instrumente aufgenommen. Der bildende Künstler hat einen älteren Stoff gestaltet und diesem die Züge seiner Zeit gegeben. — Auch unter den Volkskunstmotiven der Neuzeit erscheint noch das Bild der Mundorgel, das als Lautrebus dienen kann. 55 Da die Herkunft und Datierung der herangezogenen Denkmäler bekannt ist, lassen sich daraus wertvolle Ergänzungen über Form und Anwendung der Mundorgel in der Han- bis T'ang-Zeit gewinnen. 56 so 51

52 53 54

55

5C

Chung kuo ku tai ti haiao, S. 80—81. D. W., S. 36 hält die Erfindung der Panflöte für älter als die der Mundorgel. Mu t'ien tzu chuan, Kap. 3, Szu pu ts'ung k'an, Bd. 107. Abb. 12. MAYERS, WILLIAM FREDEEICK, S. 326, No. 83, erzählt ihre Geschichte und nennt ihre Namen. LESSING, F E R D I N A N D , S . 2 5 7 , Abb. 3 5 : Das Bild einer Mundorgel und 3 Hellebarden in einer Vase symbolisieren den Spruch „Friedlich (Vase = Friede) zu den 3 Würden (Hellebarde = Rang, Stufe) aufsteigen". Die Mundorgel, Sheng , steht hier für das gleichlautende sheng ® „aufsteigen". Han Dynastie : Ch'ien Han gif iH = Frühere oder Westliche Han — 202 bis + 9 Interregnum + 9 bis + 23 Höu Han fä ÜT = Spätere oder Östliche Han + 25 bis + 220

Y I N FA-LTT, EASTLAKE,

Die Mundorgeln des Museums für Völkerkunde zu Leipzig

135

Abbildungen 1-19 siehe Tafel 27—39. Abb. 1: Die Mundorgel hat verhältnismäßig hohe Pfeifen von unterschiedlicher Länge, die Form des kleinen Windbehälters ist auf dem Abklatsch nicht zu erkennen, das Mundrohr ist gerade und lang. Das Instrument wird beim Spielen ein wenig nach vorn geneigt gehalten und wird hier zusammen mit der Ch'in, der Wölbbrettzither, gespielt, wobei die Musikanten sitzen. Abb. 2: Die Darstellung ähnelt der vorangehenden in bezug auf Größe, Form und Haltung des Instrumentes; deutlich sichtbar sind zwei mit geringem Zwischenraum parallel stehende hohe Pfeifen, die am oberen Ende mit einem Band geschmückt sind. Der Musikant sitzt im Orchester zwischen einem Musikanten mit Querflöte und einem anderen mit der P'ai-hsiao ( = Panflöte). Abb. 3: Die Mundorgel ist vom gleichen Typ wie die auf Abb. 1 und 2 dargestellte und wird im Orchester gespielt neben P'ai-hsiao, Ch'in und Querflöte zu akrobatischen Vorführungen. Abb. 4: Das Instrument hat anscheinend gleich hohe kurze Pfeifen und ein sehr langes, gerades Mundrohr. Der Musikant scheint die Mundorgel mit der San Kuo

Hl = Zeit der Drei Reiche:

+ + 222 bis +

Shu ItJ

+ 221 bis

264

Wei

H

+ 220 bis

264

Wu

^

+

280

Chin-Dynastie W :

+ + bis +

Westliche Chin ffi f f

+ 265 bis

317

Östliche Chin ift W

+ 317 bis

420

+ 420

479

(Liu) Sung-Dynastie ( f l j ) 5ti Nan Pei Ch'ao ^ Ch'i

At

= Zeit der Nord-Süd-Spaltung:

^

+ + 557 bis + 386 bis + 535 bis + 534 bis + 550 bis + 557 bis + 581 bis + 618 bis +

+ 479 bis

502

Liang Wi

+ 502 bis

557 587

Ch'en

+

Nördliche Wei At 1 6

+

Westliche Wei ffi M

+

östliche Wei

+

MM

Nördliche Ch'i At

^

+

Nördliche Chou At Jfl

+

Sui-Dynastie PH T'ang-Dynastie

+ ^

+

535 554 543 577 581 618 906

136

K Ä T E FINSTERBUSCH

Hand am Ansatzrohr zu halten; die Pfeifen stehen vertikal. Das Instrument wird als Soloinstrument gespielt. Abb. 5: Ähnliche Form der Mundorgel wie die auf Abb. 4 wiedergegebene, nur das Mundstück erscheint etwas kürzer und die Handhaltung ist eine andere: Der Musikant hält die Finger auf die Decklöcher. Die Pfeifen werden durch ein Band zusammengehalten und stehen ein wenig nach vorn. Die übrigen erhaltenen Figuren der Gruppe, die hier nicht abgebildet sind, zeigen, daß zum Orchester neben der Mundorgel wieder P'ai-hsiao und Ch'in gehören. Abb. 6: Dem auf Abb. 4 und Abb. 5 wiedergegebenen Typ entspricht auch die Mundorgel auf einer Bronzestatuette aus Dong-so'n. Charakteristisch sind kurze Pfeifen, langes und gerades Mundstück. Abb. 7: Das zugrundeliegende Photo nach dem Original ist zu undeutlich, um mit Sicherheit die Form der Mundorgel zu bestimmen. Es lassen sich die nebeneinanderliegenden Pfeifen von abgestufter Länge unterscheiden; vermutlich handelt es sich nicht um die Kranzform. Abb. 7 a : Eine Mundorgel mit langem und geradem Ansatzrohr und hohen Pfeifen, die fast senkrecht gehalten werden, wird von einem Reiter, der zu einer berittenen Musikantengruppe gehört, geblasen. Jeder der 6 Reiter spielt ein anderes Instrument. Abb. 8: Das Instrument hat sehr lange Pfeifen, die durch 4 waagerecht angebrachte Bänder zusammengehalten werden. Die beiden längsten Pfeifen sind am oberen Ende mit zwei Bändern geschmückt. Das Mundrohr ist gerade und breit. Der Musikant sitzt, wie auch die übrigen Musikanten, von denen einer auf einem anderen Blasinstrument und einer auf einer Ch'in spielt. Abb. 9: Die Mundorgel ist der auf Abb. 3 gezeigten vergleichbar. Abb. 10: Auf diesem Teil eines buddhistischen Reliefs sind die kranzförmig angeordneten Pfeifen von unterschiedlicher Höhe zu sehen und der Windkasten in Tassenform mit einem geraden, langen Mundrohr. Das Instrument wird beim Spielen aufrecht gehalten. In den übrigen, hier nicht abgebildeten Feldern sind weitere Musikanten dargestellt, darunter ein Flötist, ein Musikant mit P'i-p'a, ein Harfenist, ein Musikant mit Becken und Tänzer. Abb. 11—13: Die Reliefs auf diesen drei Ziegeln geben übereinstimmend folgende Form des Instrumentes wieder: Pfeifen von unterschiedlicher Länge, von mehreren Bändern zusammengefaßt, ein langes gerades Mundrohr. Abb. 12 und 13 zeigen, wie der Windbehälter in den hohlen Händen gehalten

Die Mundorgeln des Museums für Völkerkunde zu Leipzig

137

wird und die Finger die Decklöcher bedienen. Von den längsten Keifen hängen Bänder und Schleifen herab. Abb. 11 gibt den Musikanten stehend wieder, während die Musikanten im allgemeinen sitzen. Abb. 14: Ein plastisches Gegenstück zu den Orchesterbildern der T'ang-Zeit (Abb. 15a—c) ist die Gruppe von Grabfiguren, zu der ein Musikant mit Mundorgel gehört. Abb. 15a—c: Unter den Wandmalereien in Tun-huang gibt es zahlreiche Orchesterdarstellungen, die eine Vorstellung von der Anordnung des Orchesters und vom Aussehen der Instrumente, die genau wiedergegeben sind, zulassen. Häufig begegnen Mundorgeln, die untereinander sehr ähnlich sind: Pfeifen von unterschiedlicher Höhe werden von einem Band zusammengehalten. Charakteristisch ist ein sehr langes, nach unten gebogenes Ansatzrohr. Die Aufstellung des Orchesters und die Anzahl der Instrumente auf den einzelnen Malereien ist nicht gleich. Abb. 16: Aus der T'ang-Zeit sind wir nicht nur auf die Wiedergabe von Mundorgeln auf Bildern angewiesen, sondern es sind auch besonders schöne Instrumente erhalten, wie die des Shosöin in Japan, die gleichzeitig die kunsthandwerklichen Leistungen dieser Zeit vor Augen führen. Deutlich ist die Form des Windkastens zu erkennen, der auf den meisten Bildern nicht in Erscheinung tritt, weil er in der hohlen Hand ruht. Er hat die Form einer kleinen Tasse. Auffallend ist die Eleganz des in schönem Schwung nach unten gebogenen Mundrohres. Abb. 17 — 19: Die Bilder zeigen die Benutzung von Mundorgeln bei kultischen Vorführungen. Sie stammen von der berühmten Ngoc-lu'-Trommel und von einer Axt aus der Dong-so'n-Kultur. Trotz der Stilisierung sieht man deutlich den Typ mit floßförmig angeordneten Pfeifen, der heute noch im Gebiete von Thailand in Benutzung ist und bis Südwest-China, in die Provinz Sech'uan, reicht, wo er von nationalen Minderheiten gespielt wird. Es ist von den 4 zu unterscheidenden Formen, die in diesem Gebiet verbreitet sind, die auf Abb. 19 wiedergegebene Form B. Die altchinesische Literatur liefert Angaben über die Verwendung von Mundorgeln bei rituellen und profanen Veranstaltungen, bei Opfermahl und Bankett. Die Ritualbücher geben Auskunft über die Einteilung der Instrumente, über ihre verschiedenen Formen, ihre Bedeutung im Kult und als Grabbeigaben, nennen die Funktionäre, die für die Instrumente Sorge zu tragen hatten, und sprechen von der moralischen Wirkung der Musik, die vermittels dieser Instrumente hervorgebracht wird; sie geben die Bezeichnungen der verschiedenen Typen von Mundorgeln, die in dem ältesten Wörterbuch erklärt werden. Andere Texte berichten beiläufig vom Vorkommen der Mundorgel in bestimmten Gebieten und lassen die

138

KÄTE FINSTERBTTSCH

Beziehungen zu Taoismus und Konfuzianismus erkennen; ihre Erwähnung in Märchen und Legenden weist auf hohes Alter hin. Ergänzt werden die literarischen Quellen durch das archäologische Material, das vor allem die äußere Form des Instrumentes, seine in Zeit und Raum unterschiedliche Gestalt veranschaulicht. Die ausgewählten Darstellungen stammen aus der Han- bis T'ang-Zeit. Die auf den überlieferten frühen Denkmälern abgebildeten Mundorgeln zeigen deutlich verschiedene Typen, die sich nicht nur, wie die älteste bekannte chinesische Literatur darüber vermerkt, durch ihre Größe unterscheiden, sondern auch durch ihre Form. Schon die Darstellungen, die während der Han-Zeit entstanden sind, lassen regionale Unterschiede erkennen: In Nordost-China, im Gebiete der Provinz Shantung, kommt ein schmaler und sehr hoher Typ vor, im Südwesten, im Gebiete der Provinz Sech'uan, neben einem Typ mit langem und geradem Ansatzrohr und hohen Pfeifen ein anderer mit kurzen Pfeifen und geradem und langem Mundstück, der sich gleichzeitig in der Dong-so'n-Kultur nachweisen läßt, was nicht verwunderlich ist, da der unmittelbare Zusammenhang dieser mit dem Huai-Stil bereits für das 3. bis 4. Jh. v. d. Z. erwiesen ist. 57 Außerdem ist für die Dong-so'n-Kultur bezeichnend die floßförmige Mundorgel, die bis zur Gegenwart die typische Form dieses Instrumentes in Südostasien geblieben und auch in Südwest-China verbreitet ist. Der neben dieser floßförmigen Mundorgel in Ostasien am weitesten verbreitete Typ mit kranzförmig angeordneten Pfeifen, der bis zur Gegenwart erhalten ist, läßt sich auf den zur Verfügung stehenden Bildern nur bis zur Zeit der Nord-Süd-Spaltung verfolgen, wo er auf einem buddhistischen Relief vorkommt. Demnach ist ein langes, gerades Mundstück und ein großer Windkasten für diese Zeit charakteristisch gewesen. Dieser Typ setzt sich fort in der T'angZeit, erhält hier, entsprechend dem Zeitstil mit seinen eleganten Formen, ein schwungvoll gebogenes Mundstück. Die heute in China und Japan hergestellten Mundorgeln haben ein klobiges, nach oben gebogenes Mundstück, oft breit, von unterschiedlicher Länge, manchmal sehr kurz, teils grobe und teils elegante Formen, einfach und schmucklos oder mit schönen Verzierungen, die oft die Herkunft des Instrumentes verraten. Die Mundorgel tritt schon früh als Soloinstrument auf, daneben in Verbindung mit anderen Musikinstrumenten, mit Querflöte, Ch'in, P'ai-hsiao u. a. und im großen Orchester der T'ang-Zeit. Leider haben wir in Europa wenig Gelegenheit, dieses einst so bedeutsame und auch heute noch beliebte ost- und südostasiatische Musikinstrument zu hören, erfordert doch das Spielen darauf eine besondere Schulung, die bei uns nicht gegeben wird. Glücklicherweise hilft die moderne Technik, so daß wir uns anhand chinesischer Schallplatten eine Vorstellung von der Musik, wie sie jetzt noch der Mundorgel entlockt wird, machen können. Da in der Volkrepublik China großer 57

KAHLGRBN, B . , S . 1 — 2 8 .

Die Mundorgeln des Museums für Völkerkunde zu Leipzig

139

Wert auf die Pflege des nationalen Kulturerbes gelegt und der Erforschung der altchinesischen Musik besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird, dürfen wir überzeugt sein, daß alles getan ist, um auch dieses eigenartige Instrument, das befruchtend auf die Entwicklung europäischer Instrumente gewirkt hat, nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.

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F. F.

S.

K Ä T E FINSTERBUSCH

140

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24

25

26

27

Im folgenden werden dazu nur Beispiele aus dem Englischen gegeben. Für einige weitere Wörter aus dem Portugiesischen, Dänischen und Holländischen vgl. D. W E S T E R M A N N , Sprachbeziehungen und Sprachverwandtschaft in Afrika, S. 23ff. Das Endungs-i im Ewe-Wort ist Anpassung an das Ewe-Vokabular, in dem ein Wort immer auf Vokal auslautet. Vgl. D. W E S T E R M A N N , Der Wortbau des Ewe, S . 3 . Aus einer Liste moderner Ewe-Wörter, die Herr Professor DAMMANN mir freundlichst zur Verfügung stellte. Die Lautkombination sk ist im Ewe nicht möglich. Es tritt deshalb ein Sproßvokal zwischen s und k, der dem ursprüngl. englischen Laut angeglichen wird. Aus der bereits erwähnten Liste moderner Ewe-Wörter von Herrn Prof. DAMMANN.

284

HILDEGARD HÖFTMAKN

Erwähnenswert ist, daß auch im Ewe die Farben, die nicht zu den Grundfarben gehören, keine eigene Bezeichnung haben und daß z. B. blau im Ewe blu (engl, blue) heißt. Da die Tonhöhen im Ewe eine besondere Rolle spielen, und auch die aus europäischen Sprachen übernommenen Wörter Tonbezeichnungen tragen, ergibt sich die Frage, nach welchen Gesichtspunkten die Töne für diese Wörter festgelegt sind. Wenn man die verschiedenen Wörter dieser Art miteinander vergleicht, hat man den Eindruck, als würde der Stärke-Akzent des jeweiligen europäischen Wortes den Hochton erhalten. 28 Allerdings müßte dieser Frage noch in einer speziellen Untersuchung nachgegangen werden. Man kann zusammenfassend feststellen: Obgleich es heute im Ewe eine gewisse Tendenz gibt, ältere Wortbildungen durch Wörter aus dem europäischen Sprachbereich zu ersetzen, so zeigen doch die ersten Beispiele deutlich, daß es möglich ist, durch Wortkombinationen jeden Begriff und jeden Gedankengang, sowohl aus dem materiellen als auch aus dem gesellschaftlichen Bereich mit den Mitteln der Ewe-Sprache selbst wiederzugeben. Aber auch die Übernahme von Wörtern aus anderen Sprachen kann man nicht als Besonderheit afrikanischer Sprachen werten, denn auch die Untersuchung europäischer Sprachen hat eine Vielzahl solcher Lehnwörter aus den verschiedensten Sprachen ergeben; weil gesellschaftliche Beziehungen immer Sprachbezeichnungen zur Folge haben, die ihren Ausdruck in Lehnwörtern und Lehnübersetzungen finden. 28

Diese Annahme wurde mir von Herrn Pastor

WIEGRÄBE

bestätigt.

L E I C H E N B R A N D U N D A N D E R E S VOM U N T E R E N R A M U ( N E U G U I N E A ) V o n GEORG HÖLTKER, S t . A u g u s t i n

(Mit 1 Karte im Text und 7 Abbildungen auf Tafel 61 — 64)

Was ich im folgenden über Leichenbrand und anderes vom unteren Ramu berichte, ist im wesentlichen erstes Rohmaterial gewesen, das als Feldnotizen von den Missionaren SVD im Kire-Puir-Gebiet selbst vor dem zweiten Weltkrieg gesammelt und mir zur Veröffentlichung überlassen wurde. Dankbar nenne ich hier i h r e N a m e n : BAUMERT RUDOLF, KIRSCHBAUM F R A N Z , MUCH JOSEF, N I L L E S J O H N u n d SCHEBESTA JOSEPH. BAUMERT, KIRSCHBAUM u n d SCHEBESTA 1 w e i l e n n i c h t

mehr unter den Lebenden. Was ich von ihnen übernehmen durfte, waren allerdings nur „Feldnotizen" im eigentlichen Sinne: In den Dörfern und auf Missionswegen geschriebene Notizzettel, Kartenskizzen, Auszüge aus Briefen, Photokopien und flüchtige Hinweise, die als solche alle nicht druckreif und meistens für Drittpersonen unverständlich waren. Ich selbst bin in dem Kire-Puir-Gebiet nie gewesen, habe aber doch gewisse Ortskenntnisse sammeln können durch meine Ramufahrt von der Küste nach Bosngun und während meines längeren Studienaufenthaltes in den Bosngun-Dörfern (1937; gemeinsam mit JOSEF MUCH) und i m Mikarew-Ariaw-Gebiet (1937/38; gemeinsam mit JOSEPH SCHEBESTA). W e i t e r

konnte ich persönlich die erhaltenen Angaben überprüfen und ergänzen bei mehreren Jungmännern aus den Kire-Puir-Siedlungen, die als „Arbeiter" (boys) auf der Pflanzung und,Missionsstation Bogia tätig waren, sowie bei einigen älteren Schülern (sumatins) der Katechistenschule von Alexishafen. In Bogia unterstützte mich SCHEBESTA mit seinen Sprachkenntnissen, in Alexishafen der Schulleiter Missionar OTTO BADER mit seiner Autorität. Da die Arbeiter und Schüler daheim z. B. noch die Jugendweihe mitgemacht hatten, konnten auch sie aus eigener Erfahrung mancherlei ergänzen. Meine Aufgabe war es nun, aus dem verschiedenen und wertmäßig unterschiedlichen Rohmaterial eine einheitliche und lesbare Publikation zu machen und dann aus der Fachliteratur den erforderlichen Rahmen und Hintergrund zu zeichnen. Inhaltlich umgreift das Rohmaterial soziologische, mythologische und sprachliche Dinge der Kire-Puir-Leute am unteren Ramu. Daraus wähle ich für diesen Festschriftartikel nur die hier folgenden Kapitel. Das übrige wird später an anderer Stelle folgen. 1

Vgl. dazu meinen Nekrolog in Anthropos, X X X V I I - X L , 1942-1945, p. 881f.

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GEORG HÖLTKER

1. Das Kire-Puir-Gebiet Das Kire-Puir-Gebiet, über das die nachfolgenden Notizen berichten, liegt a m unteren R a m u in Nordost-Neuguinea. Diese Gegend war in der ethnographischen Literatur bisher auch dem N a m e n n a c h 2 so gut wie nicht bekannt 3 ; erst recht unbekannt ist noch immer das Kulturbild ihrer Bewohner. Dadurch bek o m m t mein Aufsatz den besonderen Wert einer Erstpublikation aus einem völkerkundlich unerforschten Gebiet. U n d darum dürfte er, trotz aller Lücken und Schwächen, gerade in einer „Festschrift" am rechten Platze stehen. Zur geographisch-kartographischen Festlegung des besprochenen Gebietes orientiert m a n sich vorteilhaft nach der sogenannten „Zwanzig-Meilen-Insel" i m unteren Ramu. 1 8 9 8 unternahm E K N S T T A P P E N B E C K eine Forschungsfahrt auf dem R a m u 4 , die ihn v o n der Mündung an etwa 200 k m flußaufwärts5 und bis an jene Stelle 6 brachte, wo Dr. L A U T E R B A C H , v o m Ramu-Oberlauf herkommend, 7 1 8 9 6 vorzeitig umkehren mußte, ohne die Flußmündung zu erreichen. TAPPENB E C K fuhr als erster v o n der Küste aus stromaufwärts, also v o n Norden nach Süden, und erreichte in dem stark geschlängelten, heimtückischen Flußlauf nach 20 Meilen Fahrt die v o n ihm so benannte „Zwanzig-Meilen-Insel", die seitdem 2

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Sogar heute noch ist auf den mittelgroßen Karten von Neuguinea hier kein Dorf- oder Gebietsname eingezeichnet. Als Beispiel siehe die Spezialkarte im neuesten „Handbook of Papua and New Guinea" (Herausgeber: R. W. ROBSON). Second Edition. Sydney 1958. Den Dorfnamen Puir (oder Pir, wie der Verfasser schreibt) nennt zum ersten Male der ölgeologe COLLINS in einer lesenswerten, wenn auch allzu kurzen Individualcharakteristik des „Luluai" von Pir ( B U R T O N W . COLLINS, My New Guinea acquaintance. In: Pacific Islands Monthly, X, December 1939, pp. 39—42). Die Kire-Puir-Leute erscheinen dann, wenigstens dem Namen nach, bei J O S E P H SCHEBESTA, Ein paar erste Notizen über die Awarken in Neuguinea (Anthropos, XXXV—VI, 1940—1941, p. 978, wo auch bereits der hier vorgelegte Aufsatz für „nächstens" in Aussicht gestellt wird). Schließlich habe ich vor einigen Jahren das Dorf Kire erwähnt, wo die Dinam-Leute (zu den Mikarew gehörig) 1937 einen eigenen Tanz vorführten und dafür bezahlt wurden ( G E O R G H Ö L T K E R , Ethnographica aus Neuguinea. In: Annali Lateranensi, IX, 1945, p. 290f.). Der Ramu hieß in den Anfängen der deutschen Kolonialzeit „Ottilienfluß", weil im Juli und August 1886 Freiherr von SCHLEINITZ ihn mit der „Ottilie" zum ersten Mal befahren hatte. Glücklicherweise kam dieser Name zugunsten des Eingeborenen-Namens „Ramu" bald wieder außer Gebrauch. Entdeckt wurde der Ramu durch O T T O F I N S C H (vgl. M A X I MILIAN K R I E G E R , Neu-Guinea, Berlin 1899, p. 118). Globus, L X X I I I , 1 8 9 8 , p. 3 4 7 . Das Büchlein „Deutsch-Neuguinea" von E R N S T T A P P E N BECK (Berlin 1 9 0 1 ) enthält über die Ramu-Expeditionen kein Wort, obwohl man das Gegenteil doch eigentlich erwarten oder vermuten sollte, jedoch stehen einige Angaben z. B. im Heft 1 der „Mitteilungen aus den deutschen Schutzgebieten" 1 9 0 1 . T A P P E N B E C K als Naturforscher in Neuguinea wird erwähnt von B. H A G E N , Unter den Papua's. Wiesbaden 1 8 9 9 , p. 1 4 2 . Diese „Stelle" ist auf der Ramu-Karte eingezeichnet, die dem Buche von M. K R I E G E R (wie Anm. 4, p. 250) beiliegt. Globus, LXXI, 1897, p. 49f.

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wenigstens auf den größeren Karten eingezeichnet ist. Kurz vor der Insel war er auf der linken Flußseite an der Einmündung des Nebenflusses Mburu (auch Bur oder Moar genannt) vorübergekommen, an dem in etwa 3 k m Entfernung v o m Hauptfluß die Dörfer der Bosngun-Leute 8 gelagert sind. Der R a m u selber aber fließt wie v o n der Küste her so auch hier und noch sehr viele Meilen weiter durch unbewohntes Gebiet. 9 Als Grundlage meiner hier beigegebenen Kartenskizze n a h m ich die Karte der australischen „Wattle"-Expedition (1921) v o n 10 E V A N R. STANLEY , wie sie allerdings v o n Missionar F R A N Z K I R S C H B A U M S V D auf seinen Raumfahrten i m Oktober 1926 berichtigt und ergänzt wurde. Die Querstriche i m Flußlauf, die sich jeweils im Abstand von 5 Meilen 11 folgen, stamm e n ebenso v o n K I R S C H B A U M wie die kartographische Aufnahme des KirePuir-Gebietes. D a s Kire-Puir-Gebiet liegt flußaufwärts oberhalb der „Zwanzig-Meilen-Insel", und zwar östlich v o n jenem Teil des Flusses, der durch die „Fünfundzwanzig-" 8

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Um die Bosngun (auch Bosmun genannt) völkerkundlich zu erforschen, weilte ich anfangs 1 9 3 7 mit Missionar J O S E F M U C H SVD zwei Monate in ihren Dörfern (vgl. G E O R G H Ö L T K E R , Vorbericht über meine ethnographischen und anthropologischen Forschungen im BogiaDistrikt, Neuguinea. In: Anthropos, XXXII, 1937, p. 965). Die dortige Anmerkung 23 wäre dahin zu berichtigen, daß die Bosngun unterhalb, nicht oberhalb der „Zwanzig-MeilenInsel" siedeln. Nach mir war auch die tüchtige und bekannte Ethnologin Miß B E A T R I C E BLACKWOOD längere Zeit bei den Bosngun. Wenn T A P P E N B E C K (wie Anm. 5, p. 29) eine hölzerne „geschnitzte Figur" von der „ZwanzigMeilen-Insel" abbildet, so dürfte es höchstwahrscheinlich ein Kulturstück der Bosngun sein, das er auf dem Ramu von Kanufahrern eingehandelt hat. Auch stilistisch paßt die Statue durchaus zu dem, was ich in Bosngun sah und erwerben konnte, d. h. genauer gesagt: es fällt überhaupt nicht aus dem gewohnten Formenkreis, wie er im Bogia-Bezirk bis zur Küste hin immer noch heimisch ist. Dieses Urteil, das sich mir schon bei der von T A P P E N B E C K gegebenen Zeichnung aufdrängte, wird erst recht erhärtet durch die photographische Wiedergabe der gleichen Statuette bei F. v. L U S C H A N , Beiträge zur Ethnographie von Neu-Guinea. In: K R I E G E R (wie Anm. 4 ) , p. 5 0 1 , Fig. 38. Von der zweiten „Ahnenfigur" Nr. 39 bei v. L U S C H A N (p. 5 0 1 ) läßt sich fraglos das gleiche sagen. Über die „Wattle"-Expedition schreibt als späterer Ramufahrer Lord M O Y N E "The only subsequent exploration of the Lower Ramu was by the Wattle Expedition of 1921. A report of their experiences is printed as Appendix B to the 'Report on the Mandated Territory of the League of Nations for 1923'. The 'Wattle' took seventeen days to reach Atemble. Finding further progress impossible, the expedition made an attempt to downstream but, being prevented by the low water, were obliged to remain at Atemble for twenty-seven days. Mr. E V A N S T A N L E Y has so well described the peculiar difficulty" (Lord M O Y N E , Walkabout. London 1936, p. 115). In der Kontroverse KIRSCHBATJM/MOYNE, die zu ihrer Zeit viel Aufsehen machte, ging es nicht um die Eingeborenen am unteren Ramu, sondern um die Kleinwüchsigen in der Gegend von Atemble am Mittel-Ramu (vgl. dazu: Pacific Islands Monthly, August 1936, p. 57; November 1936, p. 31; March 1937, p. 66 s.; April 1937, p. 41; May 1937, p. 14; Man XXXVI, 1936, No. 121; No. 232; Anthropos X X X I I , 1937, p. 661 f.; A N T H R O P O S X X X V - V I , 1940-1941, p. 361f.). Gemeint sind die sogenannten "statute miles" (die Meile zu 1609,33 m).

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GEORG HÖLTKER

und die „Fünfundvierzig-Meilen-Grenze" gekennzeichnet ist. Die Dörfer findet man ungefähr 3—5 km (in der Luftlinie gerechnet) vom Ramu entfernt, der für ihre Bewohner eine wichtige Verkehrsader bildet. Eingeborenenwege führen allerdings auch in etwa drei Tagereisen über Land bis zur Küste (bis in den Hafen von Bogia oder die Hansabucht bei Nübia). Die östlichen und südlichen Nachbarn sind die Mikarew, die man im Hinterland von Bogia zur gumasi- oder eku-Sprachgruppe der Mikarew-Ariaw-Dialekte rechnen muß. 12 I m Norden erstreckt sich ein großes unbewohntes Gelände, das erst im Lagunengewirr von Boroi wieder die ersten, und zwar sprachfremden Dörfer zeigt (z. B. Borewar, zur BoroiSprachgruppe gehörig). In acht Dörfern oder Weilern, unter denen Kire und Puir die größten und darum die Namengeber für diese selbständige Volksgruppe sind, siedeln die „Kire-PuirLeute". Im Norden ihres Gebietes erhebt sich auf einem flachen Hügel das Dorf Berwi (auch Beraw oder Berip genannt) und fast genau südlich in etwa 2 km Entfernung davon die Siedlung Tong. Beide hatten im Stichjahr 1936/37 zusammen 276 (155 m., 121 w.) 13 Bewohner. Weiter südwärts, fast im Zentrum des ganzen Gebietes, finden wir Kire mit seinen 376 (213 m., 163 w.) Einwohnern. Zwei kleinere Weiler: Iwarneng (60 m. plus 52 w. = 112) und Kömöneng (105 m. plus 79 w. = 184) liegen westlich von Kire und bilden mit ihm eine zusammengehörige Dorfgruppe. Etwa 3—4km (Luftlinie!) südlich von Kömöneng lagern sich am nordsüdlichen Buschweg näher beisammen die Weiler: Ärminung und Temönöng (zusammen 153 m. plus 123 w. = 276) und dann zuletzt das große Dorf Puir (184 m. plus 120 w. = 304); diese drei kann man wiederum zu einer Dorfgruppe zusammenfassen, so daß tatsächlich Kire und Puir sowohl der Ausdehnung als auch der Bevölkerungsdichte nach die bedeutendsten Siedlungen sind. Im Berichtsjahr 1936/37 betrug demnach die Kopfzahl in allen acht Dörfern: 1528 (870 m., 658 w.). Es fällt sofort auf, daß der männliche Volksteil zahlenmäßig so stark überwiegt. Einen Grund dafür kann ich nicht angeben. Lehrreich ist auch ein konkretes Beispiel aus der Bevölkerungsdynamik. Das Dorf Kire (ohne Iwarneng und Kömöneng) zählte im Jahre 1934/35: 374 (213 m., 161 w.) Einwohner und hatte dabei im gleichen Jahre an Zuwachs durch Geburten: 7 (3 m., 4 w.), an Abgang durch Sterbefälle: 14 (8 m., 6 w.) Personen zu verzeichnen. Das gleiche Dorf bewohnten im folgenden Jahre 1935/36: 383 (217 m., 166 w.) Eingeborene; Zuwachs durch Geburt betrug: 19 (8 m., 11 w.), Abgang durch Tod: 11 (7 m., 4w.) Menschen. Im dritten Kontrolljahr 1936/37 hatte Kire, wie schon angegeben: 376 (213 m., 163 w.) Einwohner; Zuwachs durch Geburt: 12 12 13

Für deren Wohngebiete siehe die Kartenskizze in: GEORG HÖLTKER, Die Mambu-Bewegung in Neuguinea (Annali Lateranensi, V, 1941, p. 182). Die statistischen Angaben verdanke ich Missionar JOSEPH SCHEBESTA, der als Distriktsoberer von Bogia auch für dasKire-Puir-Gebiet zuständig war. Es lohnt sich, in der Klammer jeweils die männliche und weibliche Bevölkerung getrennt aufzuführen.

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(7 m., 5 w.), Abgang durch Tod: 8 (6 m., 2 w.) Seelen. Leider fehlen mir von den übrigen Dörfern und Siedlungen solche statistische Angaben. Wie man der in Anmerkung 10 genannten Ramu-Karte von S T A N L E Y und einem „Bericht" der Missionare F R A N Z K I R S C H B A U M und E N G E L M U N D V A N B A A R 1 4 entnehmen kann, ist das Kire-Puir-Gebiet ein Hügelgelände, das im „Puir-Hügel" von etwa 80 m Höhe ü. M. seine höchste Erhebung aufweist. Auch die anderen Dörfer ruhen auf niedrigen Erdwellen oder Hügelkuppen und sind darum gegen die Überschwemmung durch Hochwasser gesichert. Hochwald, Grasflächen und Gärten füllen die wegarmen Strecken zwischen den Wohnhügeln. Im Flachland beidseitig des Ramu aber wechseln Lagunen, Sagosümpfe und Grasflächen miteinander ab und werden bei Hochwasser regelmäßig in weiten Strecken überschwemmt. Sprachlich bilden die Kire-Puir-Leute eine eigene Gruppe der sogenannten „papuanischen" Sprachen. Missionar J O S E P H SCHEBESTA, der unbestritten beste Sprachkenner des Bogia-Distriktes, nannte sie die guminki-Sprache (guminki ist „Mensch" in dieser Sprache). Diese Sprache ist vollständig frei von „melanesischen" Elementen, zeigt aber gewisse und unverkennbare sprachverwandtschaftliche Beziehungen sowohl zu den Mikarew-Ariaw-Sprachen als auch zu den Bosngun-Nubia-Sprachen, ohne daß dadurch ihre sprachliche Selbständigkeit fraglich würde. Man könnte die genannten Dialekte zu einer „Sprachfamilie" zusammenfassen, in der jede ihre eigenrechtliche Selbständigkeit so stark behauptet, daß sich die Vertreter der Einzelsprachen nicht mehr gegenseitig verstehen können. 15 Auch ethnographisch und kulturhistorisch haben die Kire-Puir-Leute trotz sehr vieler Übereinstimmungen mit den Nachbarstämmen doch ihre Sonderformen und eigenen Kulturstücke. Das wird aus den nachfolgenden Mitteilungen sofort klar. Es ist darum durchaus berechtigt und erforderlich, das Kire-PuirGebiet sprachlich und kulturell als ein selbständiges Kulturareal Zu betrachten. 14

15

FRANZ KIRSCHBAUM S V D u n d ENGELMUND VAN BAAR S V D ,

B e r i c h t über die

Auswahl

und den Ankauf eines Grundstückes für die katholische Mission am unteren Ramu. Koregekam, den 20. Okt. 1926. Dieses Dokument lag als Abschrift im Archiv der Missionsstation Bogia und dürfte durch den letzten Krieg vernichtet worden sein. Die in meiner Hand befindliche und dazu gehörige Originalkarte von KIRSCHBAUM zeigt eine sorgfältige Routenaufnahme des Gebietes und die Entfernungen der Dörfer voneinander. „Alle Wege sind mit dem Kompaß genau aufgenommen und mit imprägnierter Fischleine genau gemessen", heißt es in dem beigefügten „Bericht". In großen Zügen hatte SCHEBESTA schon 1913 die sprachlichen Zusammenhänge erkannt (vgl.

JOSEPH SCHEBESTA,

Sprachgruppierung

und

Totemismus

in

der

Potsdamhafen-

Gruppe, Deutsch-Neuguinea. I n : Anthropos, V I I I , 1913, p. 880f.). In den folgenden Jahrzehnten hat er die genaueren Einzelheiten und Belege herausgearbeitet. Als Linguist zeigt sich SCHEBESTA auch in: JOSEPH SCHEBESTA, Ein Versuch, der ältesten Gottheit der Sepa in Neuguinea auf linguistischem Wege näherzukommen (Anthropos, X X X I I I , 1938, pp. 6 5 9 - 6 6 3 ) . 19

Beiträge zur Völkerforschung

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GEORG HÖLTKER

Die relative Abgeschiedenheit16 und Unzugänglichkeit des Wohngebietes hat diese eigene Entwicklung begünstigt und das Kulturbild bis in unsere Tage hinein durch europäische Einflüsse bei weitem nicht so stark verändern lassen, wie es an der Küste der Fall ist. Allerdings hat leider der letzte Krieg auch hier Wandel geschaffen. Seit den dreißiger Jahren etwa ist Kire-Puir auch von der Katholischen Mission in Bogia aus missioniert worden. Aber eine ausgebaute, dauernd mit einem Missionar besetzte Station hat das Land noch nicht. 2. Der Leichenbrand im Kire-Puir-Gebiet

Die Leichenverbrennung ist bei den eigentlichen und hochkulturlich weniger beeinflußten Naturvölkern eine verhältnismäßig seltene Erscheinung. In Afrika z. B. bleibt sie immer eine Ausnahme.17 Überraschend groß ist die Zahl der Belege, die D O E R R aus Tasmanien und Australien zusammengestellt hat. 18 Über den Leichenbrand in Melanesien schrieb K I R A W E I N B E R G E R - G O E B E L einen eigenen Aufsatz. 19 Aus den Belegen bei W E I N B E R G E R - G O E B E L und D O E R R erkennen wir bald,daß es vor allem,,Inselmelanesien" 20 ist, wo wir die Brandbestattung finden. Neuguinea hat den Leichenbrand nur selten und vereinzelt. Bis jetzt kann ich sein Vorkommen an folgenden Plätzen belegen: 1. Banaro am Keram River (Töpferfluß): THTTRNWALD21 hat als erster darauf hingewiesen. Allerdings steht sein Hinweis nur so am Rand, da sein Buch zunächst bestimmte soziologische Ziele verfolgt. Darum mag der Beleg Wmz und D O E R R entgangen sein, W E I N B E R G E R - G O E B E L aber hat ihn registriert/ Wie mein Freund Missionar I G N A Z S C H W A B SVD mir seinerzeit aus dem Dorfe Kambot am Keram, d. h. also aus dem Zentrum der Banaro-Siedlungen, brieflich mitteilte, war in seinem Missionsgebiet am Töpferfluß noch in der Zwischenkriegszeit die Leichenverbrennung hie und da in Übung. Aber als allgemeine Sitte hatte man sie aufgegeben. 16

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Wenn COLLINS (wie Anm. 3, p. 39) meint, er sei der dritte Weiße, den der „Luluai" von Puir gesehen habe ("I was only the third white man he had ever seen"), so ist das eine Übertreibung, denn schon seit Jahren kamen damals die katholischen Missionare von Bogia aus regelmäßig ins Dorf. „Wir dürfen bei der Verbrennung (in Afrika) immer einen Ausnahmefall annehmen, meist ist es eine Strafe, oft eine Selbsthilfe gegen böse Geister, selten eine Ehre", sagt M. KÜSTERS, Das Grab der Afrikaner (Anthropos, X V I - X V I I , 1921-1922, p. 227). ERICH DOERR, Bestattungsformen in Ozeanien (Anthropos, X X X , 1935, p. 730f.). KIRA WEINBERGER-GOEBEL, Zur Brandbestattung in Melanesien (Zeitschr. f. Ethn. L X X I I , 1940, pp. 114—124; erschienen Berlin 1941). „Inselmelanesien" nannte Prof. FELIX SPEISER alle melanesischen Inseln, die nicht Neuguinea sind. Er teilte also Melanesien auf in: 1. Neuguinea, 2. Inselmelanesien. Tatsächlich wirkt Neuguinea als zweitgrößte Insel der Welt mehr kontinental als insular. Dabei sind auch die kulturellen Unterschiede zwischen Neuguinea und Inselmelanesien sehr groß. RICHARD THTTRNWALD, Die Gemeinde der Banaro. Stuttgart 1 9 2 1 , p. 3 3 .

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2 . Holländisch-Zentral-Neuguinea: W I R Z hat darüber an mehreren Stellen seines Buches berichtet. 22 Er bringt auch das erste und bislang einzige Photo einer Leichenverbrennung in Neuguinea (p. 80, Abb. 14); leider ist die Wiedergabe des „brennenden Scheiterhaufens" ziemlich undeutlich und darum für sich nicht beweisend. Da W I B Z der Beleg von den Banaro entgangen war, glaubte er irrtümlich, die Leichenverbrennung werde „nirgends sonst in Neuguinea gepflogen" (p. 79). Obwohl das nicht ausdrücklich gesagt wird, kann man doch aus dem textlichen Zusammenhang schließen, daß der Verfasser den Leichenbrand für einen allgemeinen Brauch in Zentral-Neuguinea hält, d. h. es würden demnach alle (wenigstens alle erwachsenen) Personen verbrannt. Aber schon der Leiter der Expedition hatte dazu seine Bedenken geäußert, wie Wroz in der Anmerkung 23 mitteilt. W I B Z hält die Bedenken aber nicht für so gewichtig. 3. Pesechem, auf der Südseite der Zentralkette in Holländisch-Neuguinea: Der Beleg liegt bei W I R Z (a. a. 0., p. 80). Überraschend wäre das Vorkommen auf der Gebirgssüdseite an sich nicht, weil sehr viele kulturelle Übereinstimmungen zwischen den Pesechem und den Bewohnern von Holländisch-Zentral-Neuguinea bestehen (Wmz, a. a. 0 . passim). Doch ist schon die textliche Formulierung bei W I R Z so vorsichtig und unentschieden, daß man diesen Beleg nicht so ohne weiteres zu den anderen rechnen darf, wie W E I N B E R G E B - G O E B E L es tut. Die von W I B Z angegebene Originalquelle (L. A. S N E L L ) ist mir leider nicht zugänglich. Jedenfalls handelt es sich vorläufig nur um den Beleg einer einmaligen Verbrennung eines getöteten Feindes. 4. Ndami, Holländisch-Neuguinea: 24 Ich glaube, nicht irre zu gehen, wenn ich hier eine unmittelbare Beeinflussung von Indonesien, etwa von Bali 25 her, annehme. Der Beleg wird hier nur der Vollständigkeit halber angegeben. 5. Kambrambo am Sepik: Hier kann ich mich auf Herrn Prof. Dr. A L E R E D B Ü H L E R (Basel) berufen, der gerade erst von einem längeren Studienaufenthalt im Sepik-Gebiet Neuguineas zurückgekommen ist und mir unterm 14. Dezember 1959 brieflich mitteilt: „Von verschiedenen Seiten ist mir gesagt worden, daß die Leichenverbrennung in Kambrambo, gelegen auf der rechten Sepikseite, etwa zwei Stunden per Boot oberhalb von Angoram, nicht am Hauptstrom selbst, sondern an einer Lagune, üblich ist, und zwar deshalb, weil dort nirgends geeigneter Boden

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P . WIBZ, Anthropologische und ethnologische Ergebnisse der Central Neu-Guinea Expedition 1921-1922 (Nova Guinea, vol. XVI), Leiden 1924, pp. 54, 79, 80, 81, 82. „Der Leiter der Expedition, Herr Kremer, glaubt jedoch, daß außer der Leichenverbrennung noch eine andere Bestattungsform vorkommen müsse, weil die genannten umzäunten Verbrennungsplätze im Verhältnis zur dichten Besiedlung viel zu wenig zahlreich sind ..." (Wraz, wie Anm. 22, p. 81, Anm. 1). ANTHONY VAN KAMPEN. Adat. Wien 1 9 5 1 , p. 228. Vgl. den Augenzeugenbericht vom 19. Sept. 1958 bei: ANTON ANTWEILER, Eine Leichenverbrennung auf Bali (Kairos, I, 1959, pp. 161 — 166).

19*

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GEORG HÖLTKER

zur Erdbestattung vorhanden sei. Tatsächlich handelt es sich dort um ein Gebiet, das fast das ganze Jahr Vinter Wasser steht." 6. Awarken im Bogia-Hinterland: Sie „verbrennen alle Leichen der Erwachsenen. Nur die Leichen der Kinder werden begraben". 26 7. Westgruppe der Mikarew-sprechenden Stämme im Hinterland von Bogia: 27 I m einzelnen handelt es sich um folgende, mehr oder minder selbständige Dorfgruppen: Siffen Akököm II, Kuarag, Arengen und Dögen. In diesen Dörfern wurden bis etwa in unser Jahrhundert hinein alle verstorbenen Erwachsenen ohne Ausnahme verbrannt. Kleine Kinder dagegen begrub man unter dem elterlichen Wohnhause. Ein Blick auf die Karte belehrt uns über die peripherische Lage dieser Orte und deren Nachbarschaft zu den Kire-Puir-Leuten. Dabei schieben sich die Arengen-Dörfer (Arengen und Dögen) im Süden wie ein Keil zwischen die Kire-Puir und Awarken. 8. Mikarew, d. h. die Zentral-Gruppe der Mikarew-sprechenden Stämme im Bogia-Hinterland, aber nur ausnahmsweise: 28 Verbrannt wurde die Leiche besonders in zwei Fällen: 1. wenn eine verdächtige Krankheit (z. B. Anschwellen des Bauches) die Todesursache zu sein schien; 2. wenn ein großes Tanzfest bald schon bevorstand und man sich an den länger dauernden Totenzeremonien vorbeidrücken wollte, um dadurch das Tanzfest zu retten. 9. Kire-Puir-Gebiet: Darauf sollen die nachfolgenden Zeilen hinweisen. Verbrannt werden alle Leichen der Erwachsenen. Die der kleinen Kinder werden begraben. Die Originalphotos, die hier zum ersten Male veröffentlicht werden, konnte Missionar JOSEF MUCH SVD im Dorfe Kire 1953 herstellen. Diese Aufnahmen sind in keiner Weise und in keiner Einzelheit gestellt oder retuschiert; sie geben das wirkliche Geschehen wieder. Wenn bei den Kire-Puir ein Mann gestorben ist, dann wird seine Leiche zunächst vom „Bett" herabgenommen und auf den Boden seines Hauses ausgestreckt hingelegt. Die nächsten männlichen Verwandten des Toten waschen seine Leiche. Auch wird sie von ihnen rot gefärbt, geschmückt und mit einer neuen Schambinde bekleidet. Nun kommen die Frauen herein. Die Witwe setzt sich flach auf den Boden. Man legt ihr den Kopf ihres verstorbenen Mannes in den Schoß, während der übrige Teil der Leiche auf dem Boden liegen bleibt. Dadurch kommt der Tote in eine halb sitzende, halb liegende Stellung. Alle Frauen der Verwandtschaft und Nachbarschaft sitzen im Hause um die Witwe und die Leiche herum. Die Trauerklage der Frauen beginnt. Weinen, Wehklagen und Ruhepausen wechseln miteinander ab. Die Witwe weint und jammert von allen am meisten. 26

27 28

SCHEBESTA, w i e A n m . 3 , p . 9 7 8 .

Ich berufe mich hier auf die Mitteilungen der für Mikarew zuständigen katholischen Missionare von Bogia. Siehe ferner: SCHEBESTA, wie Anm. 3, p. 978. Belegt wie bei der Anm. 27.

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Das muß so sein, auch wenn der Verstorbene gar nicht gut zu ihr war. Beim Wehklagen wird im einzelnen aufgezählt, was der Verstorbene alles getan hat. Die Witwe jammert z. B.: „Wir sind zusammen in die Sagosümpfe gegangen und haben gemeinsam Sago bereitet. Wer wird mir jetzt helfen, Sago zu machen?" Solche und ähnliche Klagen werden von reichlichem Tränenerguß begleitet. Die Männer halten sich während dieser Totenklagen draußen in der Nähe des Hauses oder auch in den Nachbarhäusern auf. Hie und da heulen auch sie wohl auf, aber meistens sitzen sie ziemlich stumm und ohne sichtbare Teilnahme da, rauchen und kauen Betelnüsse. Ist ein erwachsener Mann (oder Frau) in den guten Jahren des Lebens gestorben, dann wartet man mit der Verbrennung bis zum anderen Morgen. Die Trauerklagen vor der Leiche verstummen dann die ganze Nacht hindurch nicht. Aber verstorbene Greise und schwächliche Personen verbrennt man noch am gleichen Abend. 29 Inzwischen ist von den Männern der Scheiterhaufen auf dem Dorfplatz errichtet worden. War der Verstorbene längere Zeit krank gewesen, so daß man mit seinem Ableben rechnen konnte, hatte man schon beizeiten das Holz für den Scheiterhaufen besorgt und unter dem Hause (alle Häuser sind Pfahlbauten!) zum Trocknen aufbewahrt. Bei plötzlichen Todesfällen ist die Beschaffung des nötigen Feuerholzes 30 immer ein Problem. Der Scheiterhaufen ist etwa 180 cm lang, 80 cm breit und 120 cm hoch. Er erhebt sich auf dem Dorfplatz. Es wird nicht immer der gleiche Platz genommen. Auf dem Boden liegen zwei mannsdicke Baumstämme parallel nebeneinander. Der Abstand zwischen beiden mißt etwa 20—30 cm. Dadurch wird die ungestörte Luftzufuhr an das Feuer von unten her ermöglicht, was sehr wichtig zu sein scheint. Auf die beiden Baumstämme werden die armdicken und dünneren Knüppel, die als Scheiter dienen, abwechselnd längs und quer geordnet aufgelagert. Über die Kreuzungspunkte ragen jeweils die Enden ein gutes Stück hinaus. Die Knüppel werden in der gewünschten Lage festgehalten durch mehrere lange Holzpfähle, die paarweise und in entsprechendem Abstand voneinander in den Boden gerammt und durch Lianen miteinander verbunden sind. Zwischen ihnen werden die Scheiterknüppel festgeklemmt. Es ist die gleiche Technik, 29

30

Wntz schreibt aus Zentral-Neuguinea: „Die Leichenverbrennung findet immer gegen Abend s t a t t . . . " (Wisz, wie Anm. 22, p. 81). Unsere Photos mitsamt der Beschreibung dürften wohl auch einen entscheidenden Beitrag zur Beseitigung der Kontroverse O L S H A U S E N / H O S T M A N N / K B A U S E liefern (falls diese Kontroverse überhaupt noch tagwichtig und zeitgemäß ist!), nämlich, ob eine Leiche tatsächlich bei offenem Feuer verbrannt werden könne, ohne daß man sie vorher ausgenommen, besonders auch das Gehirn entfernt hätte, und wieviel Holz dazu nötig sei. Vgl. dazu: O . OLSHATJSEN, Die Leichenverbrennung in Japan (Zeitschr. f. Ethn. XL, 1 9 0 8 , pp. 1 0 0 bis 106).

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die auch beim Gartenzaun im Bogia-Bezirk allgemein üblich ist. Dünnere Längsund Querstäbe bilden in den einzelnen Schichten des Scheiterhaufens eine Art Rost. Besser als jede Beschreibung vermittelt das Photo eine Vorstellung vom S cheiterhauf en. Nun tragen die Männer die Leiche in der Blattscheide einer wilden Betelpalme an den Scheiterhaufen heran. Die Leiche ist wie für ein Tanzfest geschmückt mit Hundezahnketten, Ziertaschen, Vogelfedern, Nautilus- und Nassa-Schnecken. 31 Die Leiche wird nun, nachdem man die Blattscheide entfernt hat, oben auf den Scheiterhaufen gebettet und dort sorgsam zurechtgelegt, und zwar auf dem Rücken liegend voll ausgestreckt (also nicht etwa in Hockerstellung). Auch wird dem Toten jeder Schmuck abgenommen, bevor man das Feuer anlegt. Mit einem langen brennenden Bambus entzündet alsdann ein Mann den Scheiterhaufen auf der einen Längsseite in der Mitte ziemlich hoch oben, d. h. also unter dem Gesäß der Leiche. Mit wehenden Blättern, Schnurtaschen u. ä. entfacht man das kleine Feuer in dem Scheiterhaufen zur Glut und lodernden Flamme. Während dieser Handlungen umstehen Männer, Frauen und Kinder eng den Scheiterhaufen und sehen mit Interesse und guten Ratschlägen zu. Wenn der Holzstoß richtig Feuer gefangen hat, setzen sich die Männer und Frauen rings herum. Die Totenklage mit Weinen und Heulen beginnt aufs neue. Manche Frauen setzen sich bei dieser Totenklage wohl neben der Leiche auf den brennenden Scheiterhaufen. Mit Wedeln aus langen Cordylineblättern wehrt die Witwe (oder Schwester des Toten), auf oder neben dem Holzstoß stehend, die Fliegen und das Ungeziefer von der Leiche weg und facht das Feuer immer mehr an. Nun erfaßt das Feuer die Leiche. Sie dehnt und krümmt sich. Bald hie bald da zischt es in der Glut. Es wird zu heiß in der Nähe des brennenden Scheiterhaufens. Alle ziehen sich zurück und setzen sich in den Schatten der umstehenden Häuser. Während sie so dasitzen und weiter klagen, haben die Frauen ihr Gesicht dem Scheiterhaufen zugewandt, die Männer aber abgewandt. Es dauert mehrere Stunden, bis der ganze Holzstoß niedergebrannt ist. Wenn während des Brandes ein Regen droht, wird schnell über dem Scheiterhaufen ein vorläufiges Dach aus Blättern gebaut, das man ebenso schnell wieder entfernen kann. Sind im Dorfe zufällig zwei Personen zur gleichen Zeit gestorben, werden sie gemeinsam auf dem gleichen Holzstoß verbrannt, ohne Rücksicht darauf, ob sie gleichaltrig sind oder nicht, gleichgeschlechtlich oder nicht, verwandt oder nicht. Man macht da keinen Unterschied. Nach dem Brande wird die Asche gesammelt und in den Busch verstreut. Es scheint, daß man dafür nicht etwa Gärten oder Geisterplätze bevorzugt. Aber es 31

Vgl. dazu

HÖLTKER,

wie Anm. 3, p. 298, Anm. 4.

Leichenbrand und anderes vom unteren Ramu (Neuguinea)

295

fehlen dafür die genaueren Angaben, so daß spätere Forschung die Ergänzung bringen müßte. Die Asche wird aber bestimmt nicht ins Wasser geworfen, denn dafür fehlt jede Andeutung in den Berichten. Wenn die Asche gesammelt ist, wird auch der ganze Brandplatz von allen Resten gereinigt und gefegt. Der Platz ist wieder profaner Dorfplatz wie vorher. 32 Nun wird noch ein großes Essen veranstaltet, das wesentlich aus Sago und Gemüse besteht. Danach löst sich die Trauergemeinde auf. Jeder lebt nun wieder das alltägliche Leben, mit Ausnahme der Witwe. Sie geht ins Haus zurück und trägt hinfort eine große Schnurtasche, die sie schon beim Tode ihres Mannes angelegt hatte, als Trauerbekleidung um den Körper. Sie darf das Haus nicht mehr verlassen als nur zur Notdurft. Die Verwandten kochen für sie. Diese Absperrung der Witwe dauert mehrere Monate und kann sich bis zu zwei Jahren hinziehen. Erst hernach darf die Witwe wieder heiraten und ihre gewöhnlichen Arbeiten verrichten. Was hier von der Verbrennung der männlichen Leiche gesagt ist, gilt mutatis mutandis auch von einer weiblichen, da alle verstorbenen Erwachsenen verbrannt werden. Auch der Mann, dem die Frau gestorben ist, hat eine Zeit der Absperrung durchzuhalten. Der Witwer schafft sich selbst in seinem Hause durch eine Zwischenwand einen abgesonderten Raum, in dem er sich aufhalten muß. Er geht nicht zur Arbeit, nicht auf den Dorfplatz zu den anderen Männern. Nur die Männer und Frauen des eigenen Dorfes dürfen ihn sehen. Der Witwer ist in dieser Zeit aber nicht mit Lehm oder schwarzer Farbe bestrichen. Andere Frauen kochen für ihn. Gewisse Speisen sind ihm verboten, wie z. B. rote Fische, Baumbären, Beutelratten, Känguruhs, Eidechsen, Krontauben usw. Die Absperrung dauert für ihn drei Monate. Danach kommt er aus dem Verschlag heraus, nachdem die Verwandten noch ein großes Essen gegeben haben. Jetzt kann er wieder seinen gewöhnlichen Beschäftigungen nachgehen und auch wieder heiraten, wenn er will. Der Zug der neuen Zeit zeigte sich bereits 1933, als in Kire die beigegebenen Photos entstanden. Schon damals empfanden die Dorfbewohner die Leichenverbrennung zwar als traditionsverbunden und stammesecht, aber bereits nicht mehr als „schön", wie die Leute ganz von sich aus sagten. Die Leichenbrand wird also auch im Kire-Puir-Gebiet ähnlich wie bei den Mikarew mit der Zeit verschwinden, wenn er heute nicht schon überhaupt außer Gebrauch gekommen ist. Die besonders von Seiten der Prähistoriker aufgeworfene und viel besprochene Frage nach den Motiven 33 des Leichenbrandes läßt sich aus dem Neuguinea32

33

Wir haben hier also keine am anderen Morgen umzäunte und mit „Totenopfern" versehene Verbrennungsstätten, wie WIRZ sie aus Holländisch Zentral-Neuguinea berichtet ( W I R Z , wie Anm. 22, p. 82 und Abb. 15 und 16 auf p. 81 und 82). Vgl. dazu: LUTZ MACKENSEN, Die Entstehung des Leichenbrandes (Zeitschr. f. Ethn. LV, 1923, pp. 4 7 - 5 1 ) ; T. P E C H , Leichenbrand (Globus, LXXIII, 1898, pp. 325 - 327).

296

GEORG HÖLTKER

Material nicht befriedigend beantworten. Die Kire-Puir sind natürlich, wie wohl alle Stämme am Sepik und Ramu, seßhafte Sago-Leute und kleine Gartenbauern. Ihr Gebiet ist nur zum Teil vom Hochwasser überschwemmt. Wenn wir hier überhaupt einem Motiv des Leichenbrandes näher kommen können, so wird es das Furchtmotiv in irgendeiner Form sein. Eine weitere Frage ist die kulturhistorische nach der Herkunft des Leichenbrandes in Neuguinea. Ist sie bodenständig oder nicht? Das möchte der Ethnologe wissen. Schon G R A E B N E R rechnete die Leichenverbrennung zu einer der ältesten Kulturschichten Ozeaniens.34 Für ein höheres Alter im ozeanischen Raum scheinen auch Wmz und D O E R R Z U sprechen, während R I V E R S 3 5 und Moss 36 eher an jüngere Einflüsse denken. Ich will hier nicht weiter auf diese ältere Literatur eingehen. Neuerdings ist W E I N B § R G E R - G O E B E L dieser Herkunftsfrage erneut nachgegangen und glaubt, in Indien das Ursprungsland vermuten zu dürfen. 37 Mir erscheint aber die Beweisgrundlage allzu schwach, um tragfähig zu sein. Methodisch ist es zwar richtig und wichtig, bei Kulturvergleichen besonders auf die Begleitumstände zu achten. W E I N B E R G E R - G O E B E L hat zu diesem Zwecke zwei herangeholt: Das Erdkugelopfer (p. 120) und die „besondere Bedeutung, die einem bestimmten Gewässer bei oder nach der Brandbestattung zuteil wird" (p. 121). Das Erdkugelopfer 38 ist aber in ganz Melanesien nur für HolländischZentral-Neuguinea belegt. Das ist wenig. Die Beziehung zwischen Flußwasser und Leichenverbrennung als solcher besteht nicht, auch nicht nach dem Wortlaut des Berichterstatters Wmz. 39 Was hier zum Ausdruck kommt, ist die auch sonst in Neuguinea bekannte „maritime Ortimg", d. h. Orientierung im Raum nach Meer und Flußläufen. 40 Das hier nun vorgelegte Material über Leichenbrand in Neuguinea zeigt keine neuen Wege zur Lösung des Problems, gibt auch keine Andeutungen, wie die Herkunftsfrage zu beantworten wäre. Man wird diese Frage also vorerst einmal zurückstellen müssen, bis uns neue Feldforschungen weitere 34

35 36 37

38

39

40

F . GRAEBNER,

p.

Die melanesische Bogenkultur und ihre Verwandten (Anthropos, IV,

1909,

730).

W. H. R . R I V E R S , The History of Melanesian society, Cambridge 1914. R. Moss, The Life after death in Oceania and the Malay Archipelago. Oxford 1925. „Durch Vergleich bestimmter Begleiterscheinungen bei der Brandbestattung in Melanesien mit ähnlichen Sitten in anderen Erdgebieten, insbesondere in Indien, wurden wir immer mehr zur Vermutung geführt, daß auch die Brandbestattung selbst letzten Endes aus Indien stammt" (WEINBERGER-GOEBEL, wie Anm. 1 9 , p. 1 2 3 ) . W I R Z spricht nur von „Erdklößen", die von den Angehörigen des Verstorbenen auf die umzäunte Verbrennungsstätte gelegt werden, und meint: „Was . . . diese Erdklöße zu bedeuten haben, ist mir nicht bekannt" ( W I R Z , wie Anm. 2 2 , p. 8 2 ) . WEINBERGER-GOEBEL macht „Erdkugelopfer" daraus. W I R Z sagt nur: „Man glaubt, daß der Totengeist nach der Verbrennung der Leiche unmittelbar den Bach hinabschwimmt" (WIRZ, wie Anm. 22, p. 80). Vgl. GEORG HÖLTKER, Die maritime Ortung bei einigen Stämmen in Nordost-Neuguinea (Geographica Helvetica, II, 1947, pp. 192—205).

Leichenbrand und anderes vom unteren Ramu (Neuguinea)

297

Materialien mitbringen. Aber schon jetzt glaube ich, auf etwas Wichtiges aufmerksam machen zu dürfen: Die alten und die neuen Belege über Leichenverbrennung in Neuguinea, so unzusammenhängend und inselhaft sie verteilt sein mögen, zeigen uns doch ein Verbreitungsgebiet, das sich wie ein breites Band quer über die Nordhälfte Neuguineas legt. Aus der Südhälfte (Südteil von HolländischNeuguinea und Papua) wurde uns bisher kein Vorkommen gemeldet. U n d doch liegt diesem Papua Australien vor der Tür. 3. Eine erste Wörterliste der

Kire-Puir-Sprache

Vorbemerkungen: Dies ist das erste Vokabularium einer unverfälschten und selbständigen Papuasprache am unteren Ramu, aus der bisher noch nichts bekannt geworden ist. Um die Druckkosten zu verringern, wurde hier auf ungewöhnliche diakritische Zeichen allgemein verzichtet. Größere Schwierigkeiten für das Verständnis der Lautung sind dadurch nicht entstanden. Im allgemeinen haben Vokale und Konsonanten den gleichen Lautwert wie im Deutschen. Falls nicht etwas anderes durch den Betonungsakzent angegeben ist, werden alle Wörter auf der zweitletzten Silbe betont. Einige Besonderheiten sind: ö bw ff y ng (r) z '

= = = = = = = =

kurzes „ö" oder „e"; liegt zwischen engl, „bird" und franz. „coeur" bilabiales „b" bilabiales „f"; wie griech. „Philos" j; wie „ja" velares „n"; wie „ng" in „Finger" Rachen-„r"; klingt bisweilen am Schluß des Wortes leise nach wie „s" in „Rose" (Hiatus) Silbentrennung in zwei aufeinander folgenden Vokalen.

Abend: goarteken Ameise: sue Arm: aga(r) Armband: ffatöm; abwe Bambus (dünn): tarn; tamba Bambus (dick): ge; gemgeng Bambusflöte: kord; ikumare Banane: ake Bart: iffia Bauch: da; dabwda B a u m : ka; kira Baumbär: utua Berg: mbügesem Betelkalk: aurui Betelnuß: apu; apugapu

Betelpfeffer: te; temteng Blatt: kenaffa; kiraraffa Blitz: agöff Blut: bwesen Bogen; Stock: mbi Brotfrucht: kuaki; pi Brüste: atama'a Dach: numun Dorf: ngu (PI. guya); gungu Dorn: ko D u : du Eidechse: mpöre; ipa Eingeweide: imbu er: a Erdbeben: kömke

298 Erde: ungia'an essen: api Feder: ffamune Feuer: abwdbw Feuerholz: azira Fischnetz: duigi Fischspeer: tegerame fliegender Hund: abwuna Flügel: abwökö Fluß: irursa Frau: arabiki Freund: urdm; kimto Fuß: sua (Dual: suani) Gatte: ma Gattin: amu gehen: bwi; bwuki Geist: ator; tor genügen: geffeki Gesäß: to Gesicht: körn Glans: sötuk Grabstock: ta Gras: zeken; tug Grasrock (der Frau): ate groß: aruoma'a gut: abwunki Haar: areki Hahn: utuar1 apu Hand: flar\ ffdrwe'e Handtrommel: purn Herz: go heute: timena Himmel; Wolke: beyabw Hoden: tu Huhn: utuar ame Hund:jfia Hundezahnkette: buroko ich: gu; ngo; ngu ja: ore Jams: gua Käfer: puam; pomasa

GEORG H Ö L T K E R

Kakadu: bwobwe kalt: araki Kamm: dabw Känguruh: ige Kanu: ake; akemake Kasuar: ponu Kind: ngu Kinn: iffieffe'e klein: kenena'a-, toketu Knabe: ata(r) Knie: tebwapa Knochen: agd(r) Kokospalme: ira kommen: bwi Kopf: apa Kot: mbod; pori Krokodil: kum Krontaube: mbe kurz: atöbw lang: pe'epe laufen: areki Laus: pira Liane; Schnur: pii; pa links: ikö Mann: gumba Männerhaus: ibenga männlich (bei Tieren): apu(r) Maus: kuari Meer: abwuru Mensch: guminki Mond: keni morgen: guru Morgenzeit: manena Moskito: ke Mutter: amö; mia'amö Nabel: mbe nachts: magengenki Nacken: ffö Name: dzi Nase: nimaffe nein: ffuwra'a

Leichenbrand und anderes vom unteren Ramu (Neuguinea)

Papagei (roter): ara'a Paradiesvogel: azäm Penis: sö Pflanzung: amönwe'e Pfeil: tö Plattform: aka Rauch: gartu reif: dzire Rücken: akö Ruder: andabw Sagomehl: bwi Schambinde (des Mannes): sa scharf: mbewiki Schatten: gua Schild: aräm schlecht: ba'atöki Schmetterling: ffomune schwach: ambereki schwarz: pöki Schwein: da sehen: ganki sie: mhe Signaltrommel: pö Sonne; Mittag; Tag: arao später: tekd Speer: a f f ü Speise; Nahrung: biki Sprache: tö sprechen: amiki spucken: ipari

299

stark: kaska'aici Stein: aköm sterben: arimiki Stern: ikärn Stirn: nibw Tabak: aisarap; soke Taro: ko Topf: nda Totengeist: tum Treppe: Leiter: asa(r) Urin: sirk Urwald: uro, Vagina: kan; risi Vater: dzia Vogel: kuard vorher: fium Wasser; Regen: mbe weiblich (bei Tieren) : ame weiß : agurma'a wenige: te'enane. wer? : téma'a wie? : tekenma'a Wind: bwobwa wir: osa wo? : mba Wohnhaus: pen Wunde: sum Zahn: ata Zehe: dzira Zuckerrohr: bwi; bwirbwi

4. Eine merkwürdige ZäMweise bei den Kire-Puir

Als ich im Jahre 1937 in Neuguinea mit Missionar A T T F E N A N G E R SVD eine Zählweise der im Bismarckgebirge wohnenden Gende zusammenstellte, die nicht nach abstrakten Wörtern und Zahlen, sondern nach bestimmten Körperteilen zählt, glaubten wir beide, den ersten Beleg dieser Art für das Mandatsgebiet Neuguinea gefunden zu haben. 4 1 Aber schon bei der Publikation in Europa zeigte 41

H E I N R I C H AUFENANGER,

Neuguineas (Anthropos,

Etwas über Zahl und Zählen bei den Gende im Bismarckgebirge X X X I I I , 1 9 3 8 , pp. 2 7 3 — 2 7 7 ) . H E I N R I C H A U F E N A N G E R und

300

GEORG HÖLTKER

sich, daß K U S S C H B A T T M SVD drei weitere Belege aus dem Zentralgebirge beibringen konnte. 42 Damit hörte es aber auch auf. In den letzten zwanzig Jahren sind meiner Aufmerksamkeit keine neuen Hinweise auf ähnliche Erscheinungen begegnet. 43 Aus Papua dagegen wurde diese Zählweise nach Körperteilen schon früh bekannt und öfters beschrieben.44 Ob in Holländisch-Neuguinea etwas Ähnliches vorhanden ist, weiß ich nicht, vermute es aber jedenfalls für die Zentralgebiete, da die Belege sowohl in Papua als auch besonders im Mandatsgebiete aus dem gebirgigen Mittelland stammen. Um so überraschender ist es darum, daß wir diese Zahlsysteme nun auch bei den Kire-Puir finden. Das ist der erste und unerwartete Beleg von einem Volke des Mandatsgebietes, das näher dem Meer als dem Hochgebirge wohnt. Die Zählweise nachKörperteilen ist bei A U F E N A N G E R genau beschrieben.45 Darauf sei hier ausdrücklich hingewiesen. Zum Verständnis genügt es, hier nur noch kurz folgendes anzumerken: Die Zahlwörter sind eigentlich Namen für bestimmte Körperteile (Hand, Arm, Kopf). Man beginnt die Reihe mit dem kleinen Finger der einen Hand 46 , zählt weiter bis zum Daumen; dann geht es aufwärts über Handgelenk, Unterarm, Ellbogen, Oberarm, Achsel, Hals und Ohr bis zum Auge. In gleicher Weise zählt man dann wieder abwärts vom,,andern'' Auge bis zum kleinen Fixiger der ,,andern'' Hand. Die Grundlage dieser Zählung ist also weder das Zweier- oder ViererDie Gende in Zentralneuguinea. Wien-Mödling 1 9 4 0 , p. VI und 1 5 3 . Vgl. auch: H E I N R I C H A U F E N A N G E R , Vokabular und Grammatik der Gende-Sprache in Zentral-Neuguinea (Micro-Bibliotheca Anthropos. vol. 1. 1 9 5 2 ) . F R A N Z K I R S C H B A U M , Uber Zahlensysteme im Zentralgebirge von Neuguinea (Anthropos, XXXIII, 1938, p. 278f.). Allgemein theoretisch beschäftigt sich mit dem Problem in größerem Rahmen und unter Hinweis auf weitere Literatur: W. H A R T N E R , Zahlen und Zahlsysteme bei Primitivund Hochkulturvölkern (Paideuma, II, 1943, pp. 268—326; bes. p. 298f.). A R C H I B A L D E. H U N T , Ethnographical Notes on the Murray Islands, Torres Straits (Journ. Anthr. Inst. London N. S. vol. I, 1899, p. 13). Vgl. auch: Globus, LXXII, 1897, p. 140, Anm. 2 . Ein Beleg aus neuerer Zeit ist F . E. W I L L I A M S , Natives of Lake Kutubu, Papua (Oceania, XI, 1 9 4 0 / 4 1 , p. 1 5 2 ) . A O T E N A N G E R (Anthropos), wie Anm. 41, p. 276f. Gewöhnlich beginnt man, wie bei den Gende, mit dem kleinen Finger der linken Hand. Dafür werden wahrscheinlich praktische Gründe sprechen. Wir haben allerdings aus Neuguinea auch Nachrichten, denen zufolge die linke Seite im Bereiche der Zauber- und zauberischen Sexual-Handlungen (die Zahlen sind eben für den Eingeborenen nicht ohne gewisse magische Beziehungen! Nur für ihn?) den Vorzug hat, z. B. am Sepik: "The only explanation that I could get for the idea that the left side is important was that work is done with the right hand, and that this, for some reason, made the left side preferable in sexual matters" (W. M. J O H N W H I T I N G , Becoming a Kwoma. New Häven-London 1941, p. 75, Anm. 13). Vgl. dazu meine Besprechung des Buches in: Anthropos, XXXVII—XL, 1942-1945, pp. 1010-1012. GEORG HÖLTKER,

42

43

44

45

40

Leichenbrand und anderes vom unteren Ramu (Neuguinea)

301

System 4 7 , noch das Fünfer- 4 8 (Hand!), noch das Zehner- (Finger!), noch das Zwanziger- 4 9 (Finger plus Zehen), noch irgendein abstraktes Zahlsystem. Auf diese Art können die Gende, die sonst nur das Zweiersystem kennen, beispielsweise bis 31, die Kire-Puir bis 26 zählen. Ich lasse nun hier die Zählweise der Kire-Puir folgen: 5 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 47 48

49

50

= = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = =

kerke = kleiner Finger kerke agane " „kleinem Finger Nächster" - Ringfinger wigepöre = Mittelfinger f f e = „junger Mahn" = Zeigefinger amö = „Mutter" = Daumen ffarpor = Handgelenk agarpöni — Unterarm seganko = Ellbogen ffatute = Oberarm pö = Achsel kua'are = Hals (vielleicht „Ohrseite"?) kua = Ohr arema'atu = Auge kuembo arema'atu = „anderes" Auge Ohr ,, kua = ,, Hals „ kua'are = „ Achsel pö = „ ffatute „ Oberarm = „ Ellbogen ,, seganko = „ agarpöni „ Unterarm = „ ffarpor „ Handgelenk = „ Daumen „ amö = „ Zeigefinger = .. fß „ Mittelfinger „ wigepöre = Ringfinger „ kerke agane = „ kerke „ kleiner Finger =

Wie z. B. bei den Augu in Papua: F. E. W I L L I A M S , Report on the Grasslanders (Annual Report of Papua for year 1938—1939. Canberra. Appendix, p. 20). Wie z. B. in Holländisch-Neuguinea bei den Avio: J. VERSCHTTEREN en C. M E U W E S E , Nieuw Guinea uw naam is wildernis. Bussum 1950. p. 186 (vgl. dazu meine Besprechung in: Anthropos, XLVI, 1951, p. 1064f.) oder bei den Mamberamo-Stämmen: M A X M O S Z KOWSKI, Die Völkerstämme am Mamberamo in Holländisch-Neuguinea und auf den vorgelagerten Inseln (Zeitschr. f. Ethn. XLIII, 1911, p. 321). Wie z . B . bei den Mejbrat in Holländisch-Neuguinea: J O H N - E R I C E L M B E R G , Field Notes on the Mejbrat People. "Other parts of the body are not used to indicate numbers" (Ethnos, XX, 1955, p. 25). Um die gleichen Wörter nicht zweimal zu drucken, sind sowohl die Zahlwörter als auch die Namen für die entsprechenden Körperteile in der beigefügten „Wörterliste" gestrichen worden, weil sie in der folgenden Zusammenstellung erscheinen.

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EntwurfHöltker

BEMERKUNGEN ZU EINIGEN VERZIERTEN WALROSSZÄHNEN AUS SÜDWEST.ALASKA V o n H E I N Z ISRAEL, D r e s d e n

(Mit 13 Abbildungen auf Tafel 65 —70 und 2 Abrollungen im Text)

Zu den eindrucksvollsten Sammlungsstücken der Völkerkundemuseen zählen, trotz ihrer zumeist geringen Größe, die zahlreichen Knochen-, Elfenbein- und Holzschnitzwerke arktischer Menschen, insbesondere der Eskimo. Die Literatur über dieses Volk ist im Laufe der Zeit nahezu ins Unübersehbare angewachsen und auch über ihr künstlerisches Schaffen sind viele Abhandlungen verfaßt worden. Dabei beschreiben und interpretieren die meisten Autoren die Erzeugnisse der alten Eskimokunst, die zweifellos am klarsten das Leben unter den schweren Umweltbedingungen widerspiegelt. In nicht allzuweit zurückliegender Vergangenheit entstanden aber auch Stücke, zum Teil als Massenware, die ebenfalls unsere Beachtung verdienen. Dazu gehören j ene fünf Walroßzähne im Besitz des Staatlichen Museums für Völkerkunde in Dresden und des Völkerkundemuseums Herrnhut/ Oberlausitz, die nun in der Reihenfolge ihrer Katalognummern beschrieben werden sollen.1 Herrn Museumsleiter CRISTOPH BECKER, der die Berücksichtigung der Herrnhuter Bestände in zuvorkommender Weise ermöglichte, sage ich auch an dieser Stelle besten Dank. DRESDEN

Hier handelt es sich um ein teils plastisch, teils durch Ritzzeichnungen verziertes 53 cm langes Objekt, das einen größten Durchmesser von 7 cm besitzt und 1515 g wiegt (Abb. 1, Tafel 65). Die Schnitzerei besteht aus einem Stück, dennoch ist deutlich eine Gliederung in zwei große Abschnitte erkennbar. An der Unterseite, 29 cm von der Basis entfernt, befinden sich zwei kleine eingesetzte Füße aus dem gleichen Material. Diese Zahnbasis wurde als Eisbärenkopf2, der einen 1

2

Katalognummern: DRESDEN - 45274; HERRNHUT I - 4985, HERRNHUT II 4986, HERRNHUT III - 4987, HERRNHUT IV - 4988. Für die Hilfe bei der Identifizierung der dargestellten Tiere danke ich den Herren Dr. GÜNTER G A F F R E Y , R O B E R T R E I C H E R T F u n d K U R T S E Y F F A R T H ( S t a a t l . M u s e u m f ü r T i e r k u n d e

Dresden). Allerdings mußte auf eine zoologisch einwandfreie Einordnung verzichtet werden, da diese auf Grund der Vorlagen nicht in jedem Falle gewährleistet ist.

304

HEINZ ISRAEL

Seehund im Rachen hat, gestaltet. Das Innere des Rachens ist rot gefärbt. 3 Nasenlöcher und die Ohren des Eisbären sind plastisch herausgearbeitet und auch die Augen treten markant hervor. Der 21 cm lange zweite Abschnitt stellt einen Zahnwal dar, der ebenfalls einen Seehund verschlingt. Das Racheninnere ist wiederum rot gefärbt. Alle weiteren Verzierungen befinden sich auf dem ersten Abschnitt. In der Aufsicht zeigen sich zunächst die aus dem Bärenrachen ragenden Flossen des Seehunds, im Anschluß daran ein leicht hervortretendes 17,4 x 2,8 cm großes Feld mit 120 Löchern, die dominoartig in Zehnergruppen angeordnet sind. Dieses Feld wird in der Längsrichtung durch einen etwa 3 mm breiten freien Streifen geteilt, der nach drei Zehnergruppen rechts und drei Zehnergruppen links durch einen Querstrich halbiert ist. Zwischen dem „Spielfeld" 4 und dem Kopf des Zahnwals finden wir als naturalistische Ritzzeichnung einen Vogel, der einem Schneehuhn ähnelt, dessen unbefiederte Füße aber eher auf eine Bachamsel deuten. Die dem Spielfeld entgegengesetzte Seite der Schnitzerei trägt den aus dem Bärenrachen ragenden Vorderkörper des Seehunds und unmittelbar daneben die Ritzzeichnung eines taubenartigen Vogels (Abb. 2, Tafel 65). Auf der Bauchseite des Eisbären finden wir als Relief einen 17,5 cm langen Seehund, während die 19,5 cm lange Fischdarstellung auf der Rückenseite, die sich durch rot gefärbte Kiemen, bezahntes Maul und eine durchlaufende Flosse auszeichnet (Abb. 3, Tafel 66), als die zu den Gebärfischen gehörige Aalmutter angesprochen werden könnte. 5 Zu dieser Schnitzerei gehört ein 5,5 cm langer, spitzkegeliger Pflock mit einem blättchenförmigen Griff von ca. 1 cm Durchmesser aus gleichem Material. HERRNHUT I

Dieser Zahn ist 52 cm lang. Sein größter Durchmesser beträgt 7,2 cm, das Gewicht 900 g. Auffällig ist die leichte, propellerartige Windung des Stückes. Der ehemals offene Zahnhals wurde durch einen Holzkern verschlossen (Abb. 4, Tafel 66). Auch auf diesem Zahn befindet sich ein Spielfeld, das in seiner Anlage dem auf dem Dresdener Stück besprochenen ähnelt. Es ist 17 X 5 (bzw. 17 X 4,5) cm groß und wird an den Schmalseiten durch zwei dachziegelartige Kanten begrenzt. 3

4 5

Zum Färben bereiteten die Eskimo ursprünglich verschiedene Mineralien und pflanzliche Stoffe zu; später wurden überwiegend handelsübliche Farben verwendet (W. J. HOFFMAN, The Graphic Art of the Eskimo. In: Smiths. Inst., Ann. Rep., Washington 1897, pp. 782/83, 790). Auch mit dem Nasenblut des Malers wurde gemalt (H. HIMMELHEBER, Eskimokünstler, Eisenach (1953), S. 100—102). Welche Farbstoffe bei der Verzierung der vorliegenden Walroßzähne verwendet wurden, ist nur durch chemische Untersuchungen festzustellen. Ausführungen zur Zweckbestimmung der Walroßzähne am Schluß des Beitrages. Vgl. G. W. NIKOLSKI, Spezielle Fischkunde, Berlin 1957.

Bemerkungen zu einigen verzierten Walroßzähnen aus Südwest-Alaska

305

Der Abstand der beidenZehnergruppen-Reihen schwankt zwischen2,2 und 2,7 cm. Außer den 120 Löchern, die sich durch die Zehnergruppen ergeben, wurden innerhalb des Feldes an der nach der Basis weisenden Schmalseite zusätzlich vier Löcher quadratisch angebracht. Bei der Verzierung verzichtete man völlig auf plastische Darstellungen und beschränkte sich auf Ritzzeichnungen. Diese zeigen auf der Oberseite des Zahns — von der Basis nach der Spitze — zwei auf einer Eisscholle sich gegenübersitzende Walrosse, innerhalb des Spielfeldes drei Seehunde, einen perspektivisch von hinten gezeichneten Hund und zwei Rentiere. Auf der Unterseite befinden sich drei Eisschollen mit je einem Seehund, von denen einer deutlich eine dunklere Rückenfärbung zeigt. Die Frage, ob damit die Darstellung verschiedener Seehundarten beabsichtigt war, kann leider nicht eindeutig beantwortet werden. H E R R N H U T II

Der Zahn ist 57 cm lang. Er hat einen größten Durchmesser von 5,5 cm und wiegt 1070 g (Abb. 5, Tafel 67). Von der Form her ist besonders der Querschnitt auffällig. Während die Spitze oval gehalten ist, weist das größere Mittelstück eine satteldachartig abfallende Ober- und eine konvexe Unterseite vor. Auf der einen Fläche dieser Oberseite befindet sich das 19,4 x 3,4 (bzw. 19,4 X 2,7) cm große Spielfeld mit wiederum 120 Löchern. Die einzelnen Zehnergruppen sind hier durch einen schmaler werdenden Mittel- und fünf Querbalken voneinander getrennt, wobei der erste, dritte und fünfte Querbalken rot, die beiden anderen schwarz punktiert sind. Kommen wir zur Verzierung. Es handelt sich hier um ein Stück, das — abgesehen vom Spielfeld — überwiegend plastisch verziert ist. Bereits die Zahnbasis zeigt den Kopf eines Eisbären, der im Rachen einen an beiden Seiten herausragenden Seehund trägt und auch die Spitze wurde als Tierkopf (bezahnter Fisch 6 ) gestaltet. Parallel zu dem genannten Seehund bildet ein zweiter den Hals des Bären und damit zugleich den Übergang zum Mittelstück der Schnitzerei. Der Rachen sowie das Innere der beiden Bärenohren sind rot gefärbt. Die Augen und die Nasenlöcher des Bären wie auch die Augen der Seehunde wurden schwarz ausgefüllt. Deutlich sichtbar sind die vier Eckzähne. Der Unterkiefer weist links eine kleine Zahnlücke auf, die möglicherweise von Anfang an bestanden hat. Von später herausgebrochenen Zähnen konnten keine Spuren festgestellt werden. Im Anschluß an das Spielfeld wird wahrscheinlich eine Aalmutter 7 dargestellt. Das gleiche Tier findet sich noch einmal auf der zweiten Fläche der Oberseite. Hier erkennt man ferner eine 20,5 cm lange Gruppe zweier Füchse (Wölfe?), 6 7

Gegen eine Vogeldarstellung sprechen die unmittelbar auf dem „Schnabel" angebrachten Augen. Der Meeraal läuft spitz aus.

20

Beiträge zur Völkerforschung

306

HEINZ ISRAEL

die sich um einen Seehund streiten (Abb. 6, Tafel 67), und an der Spitze des Zahns eine ähnliche Vierergruppe, wobei der zusammengerollte Fuchs (?) in der Mitte gleichzeitig ein 1,3 cm tiefes Loch begrenzt (Abb. 7, Tafel 68). Die Verzierung der Unterseite beginnt auf dem Mittelstück der Schnitzerei (Abb. 8, Tafel 68). Wir sehen zunächst einen 9,5 cm langen fliegenden Vogel mit einem schwarz eingelegtem Auge. Der Schnabel ist innen rot gefärbt und trägt einen Fisch (Lachs?). Die Schwimmfüße weisen das Tier als Wasservogel aus. Die rechteckige Musterung des Federkleides deutet auf einen Eistaucher. Es folgt ein 10 cm langes Rentier, dessen Kopf von vorn wiedergegeben ist. Augen und Muffel sind schwarz eingelegt (aus dem Muffel ist die Einlage herausgefallen); das Maul ist innen rot gefärbt. Auf dem Körper des Tieres wurden drei Pfeile eingezeichnet, die offenbar mit dem ihm folgenden, in schleichender Haltung dargestellten Menschen in Beziehung stehen, obwohl dieser nackt und unbewaffnet ist. Auffallend an ihm ist der Schnurrbart und der Zopf der Haartracht, der als Ritzzeichnung auf dem Zahn fortgesetzt ist. Den Schluß bildet ein 10,5 cm großer Vogel mit langen Schwanzfedern und Hakenschnabel (Seeadler?). Die Einlage des Auges ist herausgefallen. Die Schwingen und der übrige Körper sind mit eingeritzten Strichen versehen. Im Schnabel trägt das Tier einen Fisch (Lachs?), während die Fänge einen Seehund greifen. HERENHUT

III

Dieser Zahn ist 52 cm lang. Sein größter Durchmesser beträgt 4,7 cm, das Gewicht 710 g (ohne Hülle). Es ist die einzige mir bekannte Schnitzerei dieser Art, zu der ein besonderes Futteral angefertigt wurde (Abb. 9, Tafel 69). Der Zahn

Auf seiner Oberseite befindet sich wiederum das leicht hervortretende 26,5 X 2,9 cm große Spielfeld mit 120 Löchern. Die einzelnen Zehnergruppen sind hier durch zwei Querstriche voneinander getrennt. Das Spielfeld bildet nach der Zahnbasis zu ein Dreieck, das einen eingeritzten Seehund umschließt, während es auf der entgegengesetzten Schmalseite in zwei plastische WalroßHinterflossen 8 ausläuft (Abrollung 1). Bei der Verzierung wurde sowohl die Ritztechnik — die in diesem Falle überwiegt — angewandt als auch plastischer Schmuck angebracht. Die Reliefs befinden sich auf der Oberseite des Zahns. So werden zwischen Spielfeld und Zahnspitze zwei Plattfische mit roten Kiemen wiedergegeben, die als Heilbutt angesehen werden dürfen. Die Basis zeigt wiederum einen Eisbärenkopf mit geöffnetem, innen rot gefärbtem Rachen, deutlich sichtbarer Zunge und schwarzen Augen. 8

Gegen Seehund spricht das Pehlen des typischen Seehundschwänzchens.

Bemerkungen zu einigen verzierten Walroßzähnen aus Südwest-Alaska

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Betrachten wir die Ritzzeichnungen, die um den ganzen Zahn herum und an einer Stelle bis an das Spielfeld heranreichen, so fällt auf, daß sie zum Teil zweifarbig (schwarz und rotbraun) ausgeführt sind. Hier finden wir folgende Darstellungen: 9 Zwei Schneehühner, eines davon im Sommerkleid. Seitlich darunter eine Treibjagd. Ein Mann ruft, schlägt mit einem Zweig und treibt damit ein Landtier 1 0 einem Bogenschützen zu. Beide Jäger tragen die wasserdichte Oberkleidung der Eskimo aus den aufgeschnittenen und zusammengenähten Därmen der Seehunde, wie sie schon NELSON11 beschrieben hat. Über dieser Gruppe befindet sich ein Eisbär, der einen Seehund schlägt. Eigenartigerweise trägt der Bär ein in der Schultergegend gebundenes und am Körperende auslaufendes Geschirr. Er selbst verdeckt zur Hälfte einen Kajak. Wir sehen weiter einen dritten Jäger, der eine lange Leine hält. An einem Ende hängt ein kleiner, offenbar als Luftsack dienender Seehundkörper ohne Kopf, während das andere nach einem von zwei Walrossen weist. Ein vierter, sitzender Jäger zielt mit einem Gewehr nach einem aufgetauchten Seehund. Dazwischen wird ein Kajak abgebildet, das dem auf der Insel Nunivak und auf dem gegenüberliegenden Pestland gebräuchlichem Typ — mit großem Bugloch und überragendem Achtersteven 12 — entspricht. Auf dem Kajak liegt hinter dem Sitzloch ein leichter Handschlitten, wie er beim Transport der Boote üblich war. 13 An Tieren sind noch abgebildet: ein flacher Fisch mit langem Schwanz (Rochen?), ein kleiner schwimmender Seehund und unmittelbar unter dem Kajak ein bezahnter Fisch, dessen deutlich abgesetzter Mittelstreifen auf eine Regenbogenforelle schließen läßt. Das Futteral

Als Grundmaterial für die Hülle wurde ein sehr kleinbeschupptes Fischleder (Lachs?) verwendet. Die Schuppenfransen sind deutlich sichtbar. Das Futteral ist mit einem weißen Gewebe gefüttert. Der runde, mit einer bunten Kante verzierte Deckel besteht offenbar nicht aus dem gleichen Grundmaterial. An einer Seite befinden sich drei Schlaufen, von denen die beiden äußeren auf der Außenseite mit rotem, die mittlere mit blauem Stoff besetzt wurden. Die darauf genähten Streifen bestehen aus dem gleichen Material, aus dem auch die übrigen auf der Hülle angebrachten Figuren geschnitten wurden (Seehund?). Die regelmäßigen Stiche verraten, daß zum Teil mit einer Maschine genäht wurde. Dabei fanden gleichzeitig rote und weiße sowie blaue und weiße Fäden Verwendung. Insgesamt wurden zwei Menschenfiguren, zwölf Fische (darunter Schollen und Welse), 9 10 11

12

13

Vgl. Abrollung 1 von links nach rechts. Nähere Bestimmung gelang nicht. Den Beinen nach handelt es sich um ein Huftier (Ren?). E. W. NELSON, The Eskimo about Bering Strait. In: BAE, 18th Ann. Rep., Washington 1899, pp. 36 sq. NELSON, p p . 2 1 9 s q .

Ebenda, p. 207.

20*

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zwei nicht näher bestimmbare Landtiere und sieben andere nicht deutbare Zeichen appliziert. Die Menschengesichter und die Köpfe einiger Fische sind mit einem roten Gewebe unterlegt. H E R R N H U T IV

Der Zahn ist 59 cm lang. Er hat einen größten Durchmesser von 7,4 cm und wiegt 2330 g. Seine Basis ist offengeblieben. An der Unterseite wurden vier kleine Füße aus gleichem Material eingesetzt. Außerdem verläuft hier von der Basis bis etwa in die Mitte des Zahns eine sich ständig verflachende Vertiefung (Abb. 10, Tafel 69). Auf diesem Objekt enthält das 56 x 2,9 (bzw. 56 x 2,7) cm große Spielfeld 240 Löcher, die doppelte Anzahl der auf den bisher beschriebenen Stücken vorhandenen. Hinzu kommt noch ein einzelnes Loch außerhalb der umrandeten Zehnergruppen (Abrollung 2). Die Verzierung beschränkt sich völlig auf Ritzzeichnungen. Zwischen den beiden Spielfeldern erkennt man das Porträt eines Menschen. Möglicherweise hat sich hier der Urheber der Zeichnungen selbst wiedergegeben. Der größte Teil des Zahns ist mit Linien bedeckt, die eindeutig eine Landkarte ergeben. An verschiedenen Flußläufen und auf einer Insel fallen folgende eingeritzte Silben auf: „NOA", „THE", „NO" und „REAR". Es erhebt sich natürlich die Frage, welcher Teil der Küste Alaskas dargestellt werden sollte. Nach meiner Kenntnis der Herkunft dieser Walroßzähne 14 könnte es sich um einen Abschnitt zwischen der Kuskokwim Bay und dem Kap Romanzoff handeln. 15 Der ähnlich klingende, weit nördlicher liegende Noatak River dürfte wohl für die Ortsbestimmung ausscheiden. Außer der Karte trägt der Zahn noch einige andere bildliche Darstellungen, so einen in das Kartenbild hineinragenden Menschen zu Pferde, zwei Segelschiffe (darunter einen vor Anker gegangenen Dreimaster), ein Walroß, einen Seehund und drei Fische. Zwei der Fische dürften Lachse darstellen. Die verschiedenen punktierten Linien halte ich für Markierungen von Lachszügen zu den Laichplätzen. Woher stammen die hier vorgelegten Walroßzähne und gibt es irgendwelche Beziehungen zwischen ihnen? Auf diese Frage geben zunächst einmal die Kataloge der beiden genannten Museen Auskunft. Die Zähne H E R R N H U T I—IV weist der dortige Katalog als im Jahre 1911 von einem Missionar A D O L F S T E C K E K gekauft aus. S T E C K E K war, nachdem er bereits 1884 bis 1900 in Labrador gearbeitet hatte, im Jahre 1901 als Präses der Mission der Brüdergemeine nach der Station Bethel am Kuskokwim-Fluß berufen worden, wo er bis 1910 dieses Amt ausübte. 16 Von Bethel aus wurden be14

Weiteres hierüber im folgenden.

15

V g l . NELSON, p l . I I .

10

A. SCHULZE, 200 Jahre Brüdermission. II. Bd., Das zweite MissionsJahrhundert, Herrnhut 1932, S. 103.

Bemerkungen zu einigen verzierten Walroßzähnen aus Südwest-Alaska

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sonders die Eskimosiedlungen 17 am nordwestlichen Ufer des Kuskokwim und an der Meeresküste bis zur Nelson-Insel besucht. 18 In jenem Gebiet — einschließlich der Insel Nunivak — dürften auch unsere Walroßzähne hergestellt worden sein. Frau M A E I E E. D B B B E E T , der in den USA lebenden Tochter des Missionars S T E C K E B verdanke ich die Mitteilung, daß sie selbst noch einen solchen Walroßzahn besitzt, der von der Insel Nunivak stammt. Und sie fügt hinzu: „Most of those we have seen come from that locality and were carved by the Eskimoes to seil . . .". 19 Das bestätigen auch die ethnographischen Merkmale, die die Zähne selbst aufweisen. Erinnert sei an den bei H E R R N H U T I I I beschriebenen KajakTyp und an den Versuch, die Karte auf H E R R N H U T IV zu deuten. Die Herkunft der DRESDENer Schnitzerei zu ermitteln, bereitete einige Schwierigkeiten. Dem Katalog des Staatlichen Museums für Völkerkunde konnte entnommen werden, daß das Stück im Oktober 1929 vom Deutschen HygieneMuseum gekauft worden war. Außer dieser Notiz fanden sich keine weiteren Unterlagen. Leider hat das Deutsche Hygiene-Museum durch den Brand im Jahre 1945 viel Archivmaterial verloren, so daß auch von hier keine Hinweise gegeben werden konnten. Durch Herrn E B I C H L E H M A N N , Dresden, einen ehemaligen Mitarbeiter des Hauses, erfuhr ich schließlich, daß beim Umzug des Deutschen Hygiene-Museums von der Zirkusstraße in das neue Gebäude am Lingnerplatz (1929/30) die kleine völkerkundliche Abteilung 20 aus Platzmangel verschiedene Exponate abgegeben habe. 2 1 Unter diesen muß sich der Walroßzahn befunden haben. Während meiner Nachforschungen entdeckte ich schließlich auf dem Rücken des Seehunds, den der Eisbär im Rachen hat, die Bleistiftnotiz „Herrnht". Es kann also mit einiger Sicherheit angenommen werden, daß die Schnitzerei, bevor sie in das Deutsche Hygiene-Museum gelangte, sich in Herrnhut befunden und wahrscheinlich einmal zur Sammlung A D O L F S T E C K E E S gehört hat. 2 2 Damit träfen hinsichtlich des Ursprungs des DRESDENer Zahns die gleichen Feststellungen wie für H E R R N H U T I - I V zu. Welchem Zweck dienten diese Schnitzarbeiten? Mit einer Ausnahme geben alle mir bekannten Museumskataloge an, daß es sich um Markierungen für ein 17 19 20 21

22

Aufzählung der Missionsstationen und Predigtplätze der Brüdermission bei S . H. G A P P , 18 Where Polar Ice Begins, Bethlehem/Pa. 1928, Karte. SCHULZE, S . 93. Brief von M . E . D B B B E R T an den Verf. vom 1 5 . November 1 9 5 8 . Vgl. INTERNATIONALE HYGIENE-AUSSTELLUNG, Historische Abteilung mit Ethnographischer Unterabteilung. (Katalog), Dresden 1911. Mündliche Mitteilung vom 4. Dezember 1958. — Gedankt sei an dieser Stelle auch den Herren Prof. Dr. R U D O L F N E U B E R T , Jena, Dr. Dr. H E R B E R T MICHAEL, Zittau, und G. P Ä S S LER, Dresden, die als ehemalige bzw. heutige Mitarbeiter des Deutschen Hygiene-Museums meine Nachforschungen bereitwillig unterstützt haben. L. SIEVERS (Das Herrnhuter Völkerkundemuseum) weist an anderer Stelle dieser Festschrift auf den Verkauf von Ethnographica aus dem Herrnhuter Museum hin.

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Spiel handelt. Lediglich im Dresdener Katalog stand „Kalender". Da jedoch Kalender in den ursprünglichen Eskimokulturen überhaupt nicht bekannt sind und die später unter dem Einfluß der Weißen entstandenen Kalender völlig anders aussehen 23 , dürfte hier eine Fehlbestimmung vorliegen. Nach B I R K E T SMITH24 haben wir es mit einem Spiel, und zwar nicht mit einem Eskimospiel, sondern mit einem europäisch-amerikanischen „backgammon" 2 5 zu tun. Auch C U L I N 2 6 erwähnt dieses Spiel in seinem bekannten Sammelwerk nicht. Schnitzarbeiten dieser und anderer Art werden in Alaska in großer Zahl für den Touristenverkehr hergestellt 27 , so daß man von einer organisierten Andenkenindustrie sprechen kann. 2 8 Nach D R E B E R T soll um 1910 ein solches Stück gegen 25 Dollar gekostet haben; der heutige Preis Hege wesentlich höher. 29 Zum Schluß sei noch auf einige den hier beschriebenen Walroßzähnen ähnliche Stücke verwiesen. Das Museum für Völkerkunde Leipzig besaß bis zum Brand im Dezember 1943 zwei Originalzähne (Katalognummern: NAm 1395 (Abb. 11, Tafel 6930), NAm 1396) gleichen Charakters und zwei Gipsnachbildungen (NAm 3963, NAm 3964) nach Originalen im Berliner Museum. Zum Spielen haben kleine Holzpflöcke gedient. Als nähere Ortsangabe ist in einem Fall „Insel Nunivak" verzeichnet. 31 Auch die mir aus dem Museum für Völkerkunde Berlin bisher bekanntgewordenen drei Objekte (Katalognummern: IVA8829 (Abb. 12, Tafel 70), IV A 8830a, IV A 8831) stammen von der gleichen Insel, wurden aber bereits 1889 erworben. 32 Einen noch im Besitz der Familie D R E B E R T befindlichen Zahn erwähnte ich bereits. Von Details der Verzierung abgesehen, unterscheidet er sich nicht von den übrigen (Abb. 13, Tafel 70). Ferner befindet sich ein Walroßzahn gleicher Art unter der Signatur D 34.67. 1 + 2 in der Schausammlung des Musee de l'Homme in Paris — Herr Dr. S I E G F R I E D W O L F wies mich dankenswerterweise darauf hin —, ist dort allerdings als „Memoriaux de chasse, calendrier" bezeichnet. Näheres zu diesem Stück konnte bisher nicht ermittelt werden. 23 24 25

26

27 28 29 30 31 32

Ein solcher befindet sich unter der Nr. 5605 im Völkerkundemuseum Herrnhut. Brief von Prof. Dr. K A J BIRKET-SMITH an den Verf. vom 27. Oktober 1958. Beschreibung des Spiels bei W . A . COLLEDGE, N. H . D O L E und G . J . HAGAR, The New Standard Encyclopedia, vol. I, New York 1912, Stichwort. S T . CTJLIN, Games of the North American Indians. In: BAE, 24th Ann. Rep., Washington 1907. Wie Fußnote 24. Vgl. F . BARTZ, Alaska, Stuttgart 1 9 5 0 , S. 3 1 5 . Brief von M . E . D R E B E R T an den Verf. vom 1. Februar 1 9 5 9 . Wiedergabe nach der Skizze im Katalog. Brief von Prof. Dr. H A N S DAMM an den Verf. vom 17. September 1958. Brief von Dr. HORST HARTMANN an den Verf. vom 4. November 1958.

Bemerkungen zu einigen verzierten Walroßzähnen aus Südwest-Alaska

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Passen wir die Darlegungen zusammen, so ergibt sich nun noch die Frage: Sind die Schnitzarbeiten tatsächlich Eskimoprodukte? Die Beantwortung wird durch die Tatsache erschwert, daß sich der graphische Stil der Verzierungen grundlegend von den Ritzzeichnungen unterscheidet, wie sie zum Beispiel W. J . H O F F MAN33 in großer Zahl abbildet. Die Walroßzähne zeigen aber neben den Jagdtieren einige eskimoische Elemente, so daß Zweifel hinsichtlich ihrer ethnographischen Herkunft zerstreut werden dürften. Bekräftigt wird diese Meinung noch, wenn man die Abbildungen in F. D E L A G U N A S Arbeit über die eskimoische und altsteinzeitliche Kunst 3 4 und im Reisebericht des Kapitäns J A K O B S E N 3 5 mit vergleicht. Nicht zuletzt hat sich auch das Stilempfinden der Eskimo den Bedürfnissen angepaßt, die besonders seit dem engeren Kontakt mit den Weißen bei ihnen entstanden sind. In diesem Umwandlungsprozeß werden sowohl alte, traditionelle Ausdrucksformen beibehalten als auch neue gesucht. 36 Dabei darf nicht übersehen werden, daß eine Grenze zwischen „alten" und „modernen" Arbeiten nur als arbeitstechnisches Hilfsmittel zu betrachten ist. Auch die alte Eskimokunst ist im Laufe der Zeit tiefgreifenden Einwirkungen fremder Kulturen, zum Beispiel indianischer, ausgesetzt gewesen. Darauf hat erst J O R G E N M E L D 37 GAARD wieder hingewiesen. So zeugen die hier vorgelegten verzierten Walroßzähne von der künstlerischen Meisterschaft und bestimmten, charakteristischen Lebensgewohnheiten ihrer Schöpfer. Sie sind damit gleichzeitig Dokumente der neueren Eskimogeschichte, die zu pflegen und zu erhalten eine verpflichtende Aufgabe völkerkundlicher Museumsarbeit darstellt. 33

34 35 36

37

HOFFMAN, pp. 739 sq.

F. DE LAGUNA, A comparison of Eskimo and Palaeolithic Art (I). IN: Am. Journ. of Archaeology, vol. XXXVI, no. 4,1932, pl. XjXIII B. (JACOBSEN), Capitain Jacobsen's Reise an der Nordwestküste Amerikas . . ., Leipzig 1884, S. 347, 351.

Vgl. M. E. MUBIE, Modem Eskimo Art. In: Natural History, vol. XLIV, no. 1, 1939, pp. 49 sq. — Es sei an dieser Stelle auf ähnliche Erscheinungen bei den Tschuktschen verwiesen, die ihr neues Leben unter der Sowjetmacht ebenfalls auf Walroßzähnen bildlich festgehalten haben (I. DMITRIEVSKY, Tales told on walrus tusks. In: ASIA, vol. 40, 1940, pp. 133 sq.). Vgl. J. MELDGAARD, Eskimo Skulptur, K0benhavn 1959, pp. 35 sq. Der mit zahlreichen Abbildungen ausgestattete, mir leider erst während der Drucklegung dieses Beitrages bekannt gewordene Band stellt die bisher einzige neuere Zusammenfassung eskimoischer Schnitzwerke aus vorgeschichtlichen Funden, aus der Zeit der beginnenden Erforschung der Eskimokulturen und der Gegenwart dar.

H E I N Z ISRAEL

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LITERATURVERZEICHNIS BARTZ, F . :

Alaska, Stuttgart 1 9 5 0 .

COLLEDGE, W . A. N . H . DOLE, G. J . HAGAR: T h e New S t a n d a r d Encyclopedia, 12 vols.,

New York 1912. Games of the North American Indians. I n : BAE, 24th Ann. Rep., Washington 1907. DMITRIEVSKY, I . : Tales told on walrus tusks. I n : ASIA, vol. 40, 1940, pp. 133—135. GAPP, S. H . : Where Polar Ice Begins. Bethlehem/Pa. 1928. HIMMELHEBER, H . : Eskimokünstler. 2. Aufl., Eisenach 1953. HOFFMAN, W. J . : The graphic art of the Eskimo. I n : Smiths. Inst., Ann. Rep., Washington 1897. HYGIENE-AUSSTELLUNG, INTERNATIONALE: Historische Abteilung mit Ethnographischer Unterabteilung. (Katalog) 2. Aufl., Dresden 1911. (JACOBSEN): Capitain Jacobsen's Reise an der Nordwestküste Amerikas 1881 — 1883 zum Zwecke ethnologischer Sammlungen . . . bearbeitet von A. WOLDT, Leipzig 1884. LAGUNA, F. DE: A comparison of Eskimo and Palaeolithic Art (I). I n : American Journal of Archeology, vol. X X X V I , no. 4, 1932. MELDGAARD, J . : Eskimo Skulptur, K0behaven 1959. M U R I E , M . E . : Modern Eskimo Art. I n : Natural History, vol. XLIV, no. 1, 1939. NELSON, E. W.: The Eskimo about Bering Strait. I n : BAE, 18th Ann. Rep., Washington 1899. NIKOLSKI, G. W.: Spezielle Fischkunde, Berlin 1957. SCHULZE, A.: 200 Jahre Brüdermission. II. Bd. Das zweite Missionsjahrhundert, Herrnhut 1932. CTJLTN, ST.:

Für die Abbildungen danke ich Frau S. WEIDEL, Staatl. Museum für Völkerkunde Dresden (1 — 10), den Museen für Völkerkunde Leipzig (11) und Berlin (12) sowie Frau M. E. DREBERT (13). Gleicher Dank gebührt Fräulein G.SCHMIDT, Dresden, für die Abrollungen (1—2).

ZUR FRAGE DER BEZIEHUNGEN ZWISCHEN TRANSHUMANZ, NOMADISMUS UND ALPWIRTSCHAFT Von

WOLFGANG JACOBEIT,

Berlin

Nomadismus, Alpwirtschaft und Transhumanz gehören zu den drei typischen Erscheinungsformen der Wander weide Wirtschaft. Ihnen gemeinsam ist das Wandern von Herden bei mehr oder minder großen Entfernungen zwischen den einzelnen Weidegründen, die je nach den klimatischen oder geographisch-floristischen Gegebenheiten im Wechsel der Jahreszeiten aufgesucht werden. Unter den in Frage kommenden Herdentieren spielt oder spielte das Schaf überall eine maßgebliche Rolle. Zwar sind unter gewissen Bedingungen die Unterschiede zwischen den einzelnen Systemen fließend, aber im Grunde trägt jedes dort, wo es in seiner reinen Ausprägung hervortritt, ganz charakteristische Merkmale, die es scharf von den anderen abheben. Dennoch hat man sich nicht mit der nötigen Sorgfalt einer klaren Terminologie befleißigt, sondern bezeichnet oft, wie die vielfältige Literatur ausweist 1 , mit Nomadismus etwa eine Erscheinung, die ganz eindeutig der Transhumanz angehört oder versteht unter Alpwirtschaft Vorgänge, die in den Bereich des Bergnomadismus fallen, u. a. Aus dieser Anwendung einer unkorrekten Terminologie erklären sich solche zusammengesetzten Begriffe wie „alpine Transhumanz"8 und B O E S C H 3 hat nur zu recht, wenn er meint, daß „in 1

2

'

WILIHELMLAHRKAMP: Die westdeutsche Wanderschäferei und ihre Standortbedingungen. Diss. Bonn-Poppelsdorf 1928, S. 10; RUDOLF LEONHARD: Die Transhumanz im Mittelmeergebiet. Eine wirtschaftsgeographische Studie über den Seminomadismus ( = Festschrift für Lujo Brentano, München-Leipzig 1916, S. 344); SCHMOLKE-MELLWIG : Das Wirtschaftsleben eines Hochgebirgsortes im romanischen Wallis ( = Volkstum und Kultur der Romanen, Hamburg 1942/43, S. 43); EMIL WERTH: Grabstock, Hacke und Pflug. Versuch einer Entstehungsgeschichte des Landbaues. Ludwigsburg 1954, S. 114f.; ders.: Zur Verbreitung und Entstehung des Hirtennomadentums ( = Der Forschungsdienst, Folge 2/1950, S. 4); PAULWIRTH: Die Wanderschäferei in der Schweiz ( = Geographica Helvetica 6/1951, S . 233); HANS SPREITZER: Der Almnomadismus des Klagenfurter Beckens ( = Festschrift für Robert Sieger, Wien 1924, S. 70); HELMUT LANDKAMMER: Halbnomaden in Vorarlberg ( = Mitt. d. Geogr. Ges. Wien 92/1950, S. 206); RAIMUND FRIEDRICH KAINDL: Die Huzulen. Ihr Leben, ihre Sitten und ihre Volksüberlieferung. Wien 1894, S. 62f.; M. SMILJANIC: Die Hirten und Hirtennomaden Süd- und Südostserbiens ( = Globus 74/1898, S. 53); ELWYN DAVIES: The patterns of transhumance (Geography 26/1941, S. 156); u. a. Die Belege sind unter Anm. 1 angeführt. HANS BOESCH: Nomadismus, Transhumanz und Alpwirtschaft ( = Die Alpen, Monatsschr. d. Schw. Alpenclubs 27, Bern 1951, S. 202).

314

WOLFGANG JACOBEIT

wissenschaftlichen Arbeiten . . . von einem .alpinen Nomadismus' nicht mehr gesprochen werden" sollte. Als Grundlage jeder Erörterung über die Wanderweidewirtschaft ist es darum zunächst geboten, die drei genannten Erscheinungsformen im einzelnen zu betrachten und genau zu analysieren. Yerf. hat dies in größerem Zusammenhang an anderer Stelle ausführlich getan 4 und gelangt zu folgenden, in tabellarischer Form zusammengefaßten Unterscheidungsmerkmalen (s. nebenstehende Tabelle). Innerhalb dieses Dreiersystems kommt nun der Transhumanz eine erhöhte Bedeutung zu, die bei einer Untersuchung über das Alter dieser Wirtschaftsform besonders deutlich wird: Wenn — wie die nebenstehende Tabelle zeigt — zu den spezifischen Merkmalen der Transhumanz die besitzmäßige Einheit von Anbauwirtschaft und Schafhaltung gehört, so bedeutet dies, daß wir bis auf eine Periode zurückgehen dürfen, in welcher sowohl Anbau als auch Viehhaltung nachweisbar sind, d. h. wir haben mit unseren Überlegungen bereits im Neolithikum einzusetzen. Als Beispiel wählen wir die östliche Tripoljekultur, die dank der sowjetischen Ausgrabungen besonders gut bekannt geworden ist: I m osteologischen Fundmaterial aus den dortigen Siedlungsplätzen überwiegen für die Zeit von 2700 bis 2000 v. d. Z. zunächst die Rinderknochen, womit der vorwiegend seßhafte Charakter dieser Tripoljestufe erwiesen ist. I m Zeitabschnitt von 2000 bis 1700 v. d. Z. bemerken wir hingegen einen beträchtlichen Rückgang in der Rinder- und Schweinehaltung zugunsten von Schaf und Pferd. 6 Das aber bedeutet, daß die Wirtschaft in dieser Periode nicht mehr auf vorwiegender Seßhaftigkeit beruht. Das starke Hervortreten der beiden ausgesprochenen Wandertiere (Schaf und Pferd) und das erstmalige Erscheinen des Kamels zeigen deutlich, daß die Seßhaftigkeit zugunsten einer mehr unsteten Wirtschaftsform eingeschränkt wurde, daß „Viehzucht gegenüber dem Ackerbau im Anstieg begriffen" war. 6 Als Grund für eine so eingreifende Wandlung im Wirtschaftsgefüge ist zunächst die Austrocknung des Bodens durch Ansteigen der Jahrestemperatur anzuführen, wodurch ein Rückgang des Waldwuchses eintrat und die Steppenbildung gefördert wurde. Steppenbildung aber bedeutet Zunahme bzw. Auslösen von Wanderbewegungen. — Hinzu tritt ein weiterer Umstand: Ende des zweiten, Anfang des ersten Jahrtausends zeigt sich in den Kulturen der nordasiatischen 4

5

6

WOLFGANG JACOBEIT : Schafhaltung und Schäfer in Zentraleuropa bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts ( = Veröffentl. d. Inst. f. dt. Volkskunde, Bd. 25). Berlin 1961. Vgl. hierzu FRANZ HANÖAR: Das Pferd in prähistorischer und früher historischer Zeit ( = Wiener Beiträge zur Kulturgeschichte und Linguistik Bd. IX. Wien 1956. S. 78. Tabelle 24); H A N S QÜITTA: Siedlung und Wirtschaft der Tripoljekultur ( = Arbeits- und Forschungsberichte zur sächsischen Bodendenkmalpflege, Dresden 1952, S. 26f.). K U R T TACKENBERG: Zum Siedlungswesen der Tripoljekultur ( = Anthropos 4 9 / 1 9 5 4 , S. 78f.).

Zur Frage der Beziehungen zwischen Transhumanz, Nomadismus und Alpwirtschaft 315

Transhumanz Zusammensetzung der Herden Vorwiegend Schafe

Nomadismus (außer Halb- und Bergnomadismus)

Alpwirtschaft

Ausschließlich wandertüchtiges Vieh

Früher Schafe, heute vorwiegend Rindvieh

Ernährung der Herde Freie Weide in Sommer und Winter

Freie Weide in Sommer und Winter

Freie Hochsommerweide im Hochgebirge. Frühsommerund Herbstweide auf der „Maiensäß" mit zusätzlichem Heufutter. Ausschließlich winterliche Stallhaltung in der Talsiedlung

Wanderwege Vertikale, aber auch horizontale Wanderung auf vielfach festgelegten Straßen

Ständiges periodisches Wandern auf ungefähr festliegenden Routen

Ausschließlich feste vertikale Wanderwege, die meist im Bereich der Allmende liegen. Etappenweise Wanderung

Nicht seßhafte Bevölkerung, die ständig mit ihren Herden umherzieht und sie betreut

Seßhafte, Anbau- und Heuwirtschaft treibende Bevölkerung in der Talsiedlung. Gedingte Hirten und Sennen. Die Talsiedlung wird nur verlassen, um das Heu auf der „Maiensäß" und anderen höher gelegenen Wiesen zu bergen

Kein systematischer Anbau, nur als Ergänzung und zur Beschaffung der notwendigen vegetabilischen Kost

Besitzmäßige u n d betriebliche Einheit

Tätigkeit und Wohnplatz der Herdenbesitzer Anbautreibende seßhafte Bevölkerimg, die außerhalb der Weidegründe,, oft auch der Wanderstraßen lebt. Ein Teil der männlichen Bevölkerung übernimmt die Herdenbetreuung Verhältnis zur Anbauwirtschaft Besitzmäßige, aber k e i n e betriebliche Einheit

Gemeinsamkeiten Periodische Herdenwanderungen im Wechsel der Jahreszeiten zur Ausnutzung der vorhandenen Weidemöglichkeiten, je nach den klimatischen oder geographisch-floristischen Gegebenheiten.7 7

Einige charakteristische Merkmale über den Nomadismus ergänzte freundlicherweise Dr. R O L F HERZOG, Kairo.

316

WOLFGANG JACOBEIT

Waldsteppe, im Ural-Altai-Gebiet eine „Entwicklungsbewegung, ausgelöst vom metallurgischen Fortschritt, getrieben von der naturbedingten Produktionszentrenbildung und den allgemein sich steigernden Bedürfnissen an Metallgerät, intensiv gedrängt auf Durchführung eines regulären Handels, Erzeugung von Tauschgut und Ausbau des Transportwesens. Schaf und Pferd erweisen sich hierbei als ausschlaggebende Kulturelemente: das weide-, vermehrungs- und nutzungsgünstige Schaf im Rahmen der Tauschgutproduktion, das Pferd durch den Entwicklungsschub zur fähigkeitsentsprechenden Spezialnutzung imjTransportausbau." 8 Unter solchen Bedingungen hält OTTO 9 es durchaus für wahrscheinlich, — wenn auch archäologisch noch nicht nachweisbar — daß der Überschuß an Vieh, d. h. vor allem an Schafen, um die Wende Stein-Bronze-Zeit auch in Mitteldeutschland so groß war, daß er „Geldfunktion erhielt". Zusammenfassend stellen wir fest, daß das Zusammentreffen mehrerer Faktoren — Austrocknung des Bodens durch erhöhte Jahrestemperatur, Entwicklung und schnelles Anwachsen der Metallurgie, damit erhöhter Bedarf an Metallgeräten und erste Akkumulation, femer möglicherweise Einflüsse von außen (Schnurkeramik) — einen wirtschaftlichen Strukturwandel in den eurasischen Kulturen der Stein-Bronze-Zeit ausgelöst hat, der sich darin manifestiert, daß die seßhafte Anbauwirtschaft zugunsten einer Yiehwirtschaft mit ausgesprochenen Wandertieren (Schaf und Pferd) zurückgedrängt wird. Wenn wir den Charakter einer solchen neu entstandenen Wirtschaftsform bestimmen wollen, müssen wir vor allem das zentrale Problem der Futterbeschaffung für den stark angewachsenen Herdenbestand erörtern. Da eüie Stallhaltung für diese Zeit nicht nachweisbar und auch nicht anzunehmen ist, kann die Ernährung der Tiere im wesentlichen also nur auf freier Weide, und zwar während des ganzen Jahres, erfolgt sein. Das heißt aber, es mußten neue, zusätzliche Weidegründe erschlossen werden, die man im Stadium seßhafter Anbauwirtschaft mit entsprechend abgestimmter Viehhaltung noch nicht brauchte, da die Waldweide und die Brachfelder ausreichten. Bleiben wir in dem gut erforschten pontisch-kaspischen Raum, so können wir in der Zeit von etwa 1700 bis 700 eine „Entwicklungsbewegung der Viehzucht von einheitlicher Art" 10 feststellen, die als ein besonderes Merkmal tatsächlich die „Aneignung bisher wirtschaftlich ungenutzter Areale (Überschwemmungsebenen, Dünen und die eigentliche Steppe im Dnjeprraum, die Trockensteppe im Kaspigebiet, die subalpine Region im Kaukasus)" 11 aufweist. Genutzt werden also alle nur gangbaren Weidegründe, 8

9

10

11

HANÖAB: a. a. O., S. 397.

KARL-HEINZ OTTO : Die sozialökonomischen Verhältnisse bei den Stämmen der Leubinger Kultur in Mitteldeutschland ( = Ethnographisch-Archäologische Forschungen 3, I, Berlin 1955, S. 29). HANÖAR: a. a. O., S. 152.

Ebenda.

Zur Frage der Beziehungen zwischen Transhumanz, Nomadismus und Alpwirtschaft

317

unabhängig von ihrer jeweiligen Höhenlage. Da sie aber natürlicherweise nicht alle zu jeder Jahreszeit aufgesucht werden können, erfolgte bereits eine Differenzierung in Sommer- und Winterweide. Das aber bedeutet — und es ist archäologisch nachgewiesen —, daß beispielsweise „das mit der gesteigerten Schafzucht verbundene Futterproblem durch Herdensömmerung auf den Kaukasushochweiden und durch Herdenüberwinterung im schneeärmeren Kaukasusvorland und seinen Steppen gelöst wurde . . . Daß diese Einbeziehung der Hochbergweiden ins viehzüchterische Wirtschaftssystem der bronzezeitlichen Vorlandskaukasier keinesfalls einem plötzlichen Abbruch ihrer Besiedlung in den Vorbergen und einer Auswanderung in die Hochtäler gleichkam, sondern einem räumlichen Auseinanderlegen der Wirtschaft im Jahresablauf auf zwei oder drei örtlichkeiten (Steppen — Winterweide, Wohnsitz mit Anbau und gewerblicher Erzeugung im Vorberggelände, Hochgebirgs-Sommerweide), einer Verteilung der Arbeitskräfte auf zwei Wirkungskreise (Anbau und gewerbliche Erzeugung gegenüber Wartung und Schutz der Herden) sowie viehzüchterisch einem Betrieb von bedeutender Extensität entsprach, und daß die Verlegung des Wirtschaftszentrums (Dauersiedlung mit Anbau, Gewerbe und Nekropole) in die Hochtäler..., bisweilen an die obere Waldgrenze, erst allmählich und in Etappen erfolgte" 12 , kann nur — was auch HANÖAK t u t 1 3 — als Transhumanz gedeutet werden Eine andere Form von Wanderweidewirtschaft ist schlechterdings unmöglich. Alpwirtschaft schließt allein schon deshalb aus, weil die Stallhaltung noch gänzlich unbekannt ist und ein so gut funktionierendes Organisationssystem voraussetzt, welches wir für diese frühe Zeit nicht annehmen können. Auch eine nomadistische Viehwirtschaft ist kaum denkbar, da der Viehhalter gerade in dieser frühen Zeit der Anbauwirtschaft als der Erzeugerin lebensnotwendiger Vegetabilien keinesfalls entraten konnte. Allerdings bleibt zu berücksichtigen, daß in der Entwicklung, wie wir sie darstellen konnten, schon der Keim einer Spaltung zwischen reinen Anbauern und reinen Viehhaltern begründet liegt, und HANÖAK 1 4 nennt ausdrücklich das späte zweite und beginnende erste .Jahrhundert das Zeitalter, „in welchem Großherdenzüchter in den nord- und südkaukasischen sowie südsibirisch-ostturanischen Vorlands- und Vorgebirgssteppen den Übergang zu Wirtschaft und Lebensform des Hirtennomadismus vollzogen, der im örtlichen Jelaznoje-Betrieb 15 bis zur Aufhebung auch jener ortsfesten Dauerbindung vorbereitet war, die ein Teil seiner Wirtschaftseinheiten gegenüber ihren Großherden und deren Betreuern wirtschaftlich-administrativ in seßhaft bäuerlicher Art wahrte". — Als „eine frühe Lösungsform des Futterproblems für ge12 13 14 15

Ebenda, außerdem S. 148 f. Ebenda, außerdem S. 152, S. 557, S. 558f. Ebenda, außerdem S. 558 f. Unter Jelainoje (Ejlainoje-) oder Kosevoje-Betrieb versteht HANÖAB (a. a. O., S. 150) immer Transhumanz.

318

WOLFGANG JACOBEIT

steigerte Schafzucht in. Gegenden, wo nur die zusammenfassende viehzüchterische Ausnützung des in Klima und Vegetation verschiedenen Gebirgsvorlandes und des Hochlandes eine unterbrechungslose Herdenernährung durch entsprechende Herdenpendelungen erreicht"16, bleibt die Transhumanz die einzig mögliche Wirtschaftsform in dieser Periode wirtschaftlicher und historischer Umwälzungen. — Wenn wir hier von Tranzhumanz sprechen, so tun wir das allerdings unter einem gewissen Vorbehalt, dem schon J E T T M A B 1 7 dadurch Ausdruck gegeben hat, daß er darauf aufmerksam machte, daß bei allen Überlegungen über Beginn, Grund, Konsequenzen usw. der Viehhaltung in früher Zeit nicht angenommen werden darf, sie „habe gleich in ihrer modernen, differenzierten Form eingesetzt". Wir müssen vielmehr damit rechnen, daß hier ein lang anhaltender Prozeß mit vielen Vor- und Zwischenstufen, mit Fehlschlägen usw. vor sich gegangen ist, der sich freilich in den urgeschichtlichen Hinterlassenschaften kaum abzeichnen wird. Bs wäre also richtiger, eher von transhumanzartiger Wirtschaftsform, statt direkt von Transhumanz zu sprechen. Die für den pontisch-kaspischen Raum dargelegten Voraussetzungen und Notwendigkeiten für das rasche Ansteigen der Schafhaltung in der Stein-Bronze-Zeit dürfte unter ähnlichen Bedingungen auch in Mitteleuropa zu denselben Erscheinungen, d. h. zu transhumanzartiger Wirtschaftsform geführt haben. Es fehlt jedoch noch an Darstellungen von urgeschichtlicher Seite, die das Wirtschaftsleben der damaligen Epochen unter diesem Blickpunkt im größeren Verbreitungsraum untersucht hätten. Es sind lediglich eine ganze Reihe von Umständen bekannt, die konkret keine andere Deutungsmöglichkeit als die der Transhumanz zulassen18, die aber immer nur das Untersuchungsergebnis aus geographisch kleinen Räumen sind. Im allgemeinen aber rechnet die europäische Urgeschichtsforschung doch schon sehr stark mit transhumanter Wirtschaftsform seit der Stein-Bronze-Zeit. Wenn wir nun auf Grund des bisher Gesagten die Beziehungen zwischen Nomadismus, Alpwirtschaft und Transhumanz beleuchten wollen, läßt sich ein Schema aufstellen, das folgendermaßen zu interpretieren ist (s. nebenstehendes Schema): Von der Transhumanz ausgehend, die ihrerseits also die Anbauwirtschaft (mit Viehhaltung) der Tripoljekultur abgelöst hat, entwickelte sich im kaukasischen Raum der Nomadismus. Dieser urgeschichtliche Vorgang findet darin eine Stütze, daß auch der „reine" Nomade der neuen Zeit ohne vegetabilische Beikost nicht existenzfähig ist, d. h., daß auch er eine gewisse Art von Anbau treibt, 16

17 18

HANÖAR: a . a. 0 . , S . 150.

KARLJETTMAR: Neue Beiträge zur Entwicklungsgeschichte der Viehzucht ( = Wiener völkerkundliche Mitteilungen 1, Heft 2, Wien 1953, S. 8ff.). Verf. hat dazu bereits einige Hinweise geben können: vgl. WOLFGANG JACOBEIT: Zur Frage der urgeschichtlichen Siedlung und Wirtschaft in Mitteleuropa ( = EthnographischArchäologische Forschungen 2, Berlin 1954, S. 164f.).

Zur Frage der Beziehungen zwischen Transhumanz, Nomadismus und Alpwirtschaft

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die er sich als „transhumantes" Erbe bewahrt hat. Dafür spricht weiter die Kürze der Zeit, binnen derer er über die Zwischenform des Halb- oder Bergnomadismus wieder zu Seßhaftigkeit und Anbauwirtschaft zurückkehren kann.

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Den Gedankengängen JETTMABS folgend, glauben wir, daß sich dieser. Übergang zum Nomadismus nicht ohne Zwischenstufen abgespielt hat. Wir setzen diese mit Formen des Halb- oder Bergnomadismus gleich, da beide, sowohl zum Nomadismus als auch zur Transhumanz bzw. zur Anbauwirtschaft, eine gleiche Entwicklungsfähigkeit und Affinität haben. Von der Transhumanz führt aber der Weg nicht nur zum Nomadismus, sondern besonders unter den Einflüssen zur Intensivierung des Anbaus in neuerer Zeit aüch zur Alpwirtschaft. In der historischen Entwicklung, die also von der AnbauWirtschaft mit Viehhaltung ausgeht, kommt der Transhumanz bei der Entwicklung zu den drei Wanderweidewirtschaftsformen eine zentrale Bedeutung zu. Direkte Wege von der Anbauwirtschaft mit Viehhaltung zum Nomadismus dürften ausgeschlossen oder höchstens unter ausgefallenen, zwingenden Notwendigkeiten möglich sein. Ein. Übergehen von der Anbauwirtschaft mit Viehhaltung zur Alpwirtschaft ist unseres Wissens nicht bekannt. Theoretisch ist es jedoch möglich, so daß es erlaubt schien, einen entsprechenden Weg in unserem Schema durch Punktierung anzudeuten. Unser Schema enthält aber auch gestrichelte Pfeilrichtungen, die rückläufig sind und die vor allem nach dem Material der neueren Zeit bestimmt wurden: Unter entsprechenden Umweltsverhältnissen kann der Nomadismus bekanntlich rasch verfallen. Wie Halb- und Bergnomadismus die wahrscheinlichen Übergangsformen zum Nomadismus waren, sind sie andererseits auch wieder seine ersten „Verfallsstufen", von denen der Weg zur Transhumanz, zur Alpwirtschaft, aber auch

320

WOLFGANG JACOBEIT

unmittelbar zur Anbauwirtschaft mit Viehhaltung ohne transhumante Zwischenstufe führen kann. Rückwärtige Verbindungen von der Alpwirtschaft zum Bergnomadismus sind kaum möglich, wie andererseits auch direkte Verbindungen AlpWirtschaft — Nomadismus und umgekehrt ausgeschlossen scheinen. In neuester Zeit — unter dem Einfluß der Rationalisierung in der Landwirtschaft — halten wir jedoch Auflösungserscheinungen der Alpwirtschaft, die wieder zu reiner Anbauwirtschaft mit Viehhaltung führen können, für möglich. Nomadismus und Alpwirtschaft sind also letztlich die Endpunkte einer Entwicklung, die von der Anbauwirtschaft mit Viehhaltung (um 2500 v. d. Z.) über die einzig mögliche Zwischen- und Verbindungsstufe (um 1500 v. d. Z.) der Transhumanz führte, die jedoch bei der rückwärtigen Verfallsbewegung nicht unbedingt wieder in Anspruch genommen werden muß. Ob unsere hier dargelegten Theorien, die allein die Verhältnisse im eurasischmediterranen Raum betreffen sollen, eine Stütze finden oder Ablehnung erfahren, wird nicht zuletzt von künftigen Untersuchungen der Urgeschichtsforschung abhängen. Abschließend seien noch einige Worte zu dem Begriff „Transhumanz" selbst gesagt. Wir stellten schon eingangs fest, daß in einer Anzahl von Untersuchungen zwischen den drei Formen der Wanderweidewirtschaft nicht scharf geschieden wird, so daß man etwa von „alpiner Transhumanz", von Halbnomadismus an Stelle von Alpwirtschaft, vor allem aber von Nomadismus bei Vorliegen reiner Transhumanz spricht. Neben einer gewissen Oberflächlichkeit und Nachlässigkeit im Gebrauch der Terminologie wird die falsche Begriffsbildung zu einem nicht unbeträchtlichen Teil dadurch hervorgerufen, daß man sich unter Transhumanz nichts Rechtes vorstellen kann. Vielfach hat sich eingebürgert, Wanderungen von Haustieren ganz allgemein mit Transhumanz zu bezeichnen (etwa das Transportieren von Bienenvölkern auf die Sommertracht). Alpwirtschaft und Nomadismus sind dagegen eindeutige klare Termini. Der Begriff selbst stammt aus dem spanischen „trashumar" bzw. aus dem italienischen „trashumanar" und ist über das französische „transhumer" bzw. „transhumance" in unsere Nomenklatur als „Transhumanz" gelangt. Es ist in jedem Falle ein unglücklich gewählter Terminus, wenn man nur berücksichtigt, daß, soll von den Menschen, die diese Wirtschaftsform betreiben, gesprochen werden, zu der Verlegenheitslösung „Transhumantes" gegriffen werden muß. Versuche, über die Etymologie des Wortes im Spanischen oder Französischen etwas zu erfahren, erbrachten lediglich die Feststellung, daß „wandern" schlechthin gemeint ist. Konstruktionen, die von einer Zerlegung in „trans" und „humus" ausgehen, führen etwa zu folgendem Ergebnis: „Wo die Zandnutzung über die bestellte Erde in Form der Viehhaltung hinaus greift und mit ihr keine andere Einheit als die des Besitzes (aber keine betriebliche Einheit) bildet, haben wir

Zur Frage der Beziehungen zwischen Transhumanz, Nomadismus und Alpwirtschaft

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Transhumanz vor uns. 19 So kann das Typische dieser so bedeutenden Wirtschaftsform nicht herausgestellt und erklärt werden. Auffallenderweise stammen sowohl „trashumar" als auch „transhumance" erst aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts 20 und bezeichnen ganz allgemein Herdenwanderungen. Es war bisher nicht möglich, festzustellen, was man in den beiden klassischen Ländern dieser Wirtschaftsform vor dem 19. Jahrhundert statt Transhumanz gesagt hat. (Transhumance als Terminus für Herdenwanderung wurde erstmals 1839 von LIMAIRAC in die wissenschaftliche Literatur eingeführt. 20 ") Das Unbefriedigende dieses Begriffs kommt in der Fachwelt an manchen Stellen zum Ausdruck und hat auch schon zu Versuchen geführt, andere Termini einzuführen. Neben der alten Nomenklatur hat sich bisher am meisten noch das von W Ö L F E L geprägte „Ziehbauerntum" erhalten, aus dem sich dann Begriffe wie „Weidebauern" usw. entwickelt haben. Uns scheint aber dieser Terminus nicht die befriedigende Lösung zu sein, da er vieles Typische verschweigt und eigentlich nur von der einen Komponente, dem Anbau, spricht. Was aber doch ständig zieht", sind ja die Schafherden und nicht die Anbau treibende Bevölkerung. So betrachtet, muß „Ziehbauerntum" direkt falsche Vorstellungen von dieser Wirtschaftsform erwecken. — Man wird also nur vom Typischen ausgehen müssen, und von dieser Richtung her sind uns mehrere Versuche bekanntgeworden: „Die sowjetische Terminologie gebraucht die Ausdrücke ,Hirte' und ,Hirtenviehzucht' scharf geschieden von ,Nomade' und ,Nomadenviehzucht' im Zusammenhang mit jener Wirtschaftsform, bei der ein Teil der Wirtschaftseinheit jahreszeitweise mit den Herden auf Wanderweidung ist, hierbei aber dem anderen im bäurischen Wirtschaftszentrum seßhaften Teil wirtschaftlich sowie administrativ zugehörig bleibt." 2 1 Es ist klar, daß hier zwischen Transhumanz und Nomadismus geschieden werden soll. Aber wenn auch die einzig gangbare Möglichkeit, nämlich die der viehhalterischen Seite klar erkannt wurde, ist auch dieser Lösungsversuch nicht akzeptabel, da er viel zu allgemein gehalten ist. — BENSCH22 schlägt „Herdenwanderung" im Gegensatz zur „Stammeswanderung" der Nomaden vor und MAYER23 glaubt Transhumanz mit „gemischter Wanderweidewirtschaft" übersetzen zu können. Auch diese beiden Begriffsbildungen, die sich vergeblich be19

20

BOESCH: a. a . 0 . , S . 2 0 4 .

Nach Auskunft des Inst, für romanische Sprachwissenschaft an der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. 2(LA THEODOR H O R N B E R G E R : Die kulturgeographische Bedeutung der Wanderschäferei in Süddeutschland. Süddeutsche Transhumanz ( = Forschungen zur deutschen Landeskunde, Bd. 109). Remagen 1959, S. 22, Anm. 4. 21

HANÖAR, a. a . O . , S . 8 2 , A n m . 5 a .

22

Die Entstehung der primären Hochkulturen als ethnologisches Problem ( = Zeitschrift für Ethnologie 1952, S. 175f.). R O B E R T M A Y E R : Drei Jahrzehnte almgeographischer Forschung in einigen Hochgebirgen Europas ( = Zeitschrift für Erdkunde 1937, S. 774).

23

21

PETER BENSCH:

Beiträge zur Völkerforschung

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WOLFGANG JACOBEIT

mühten, das so unbefriedigende und oft falsch verstandene „Transhumanz" zu ersetzen, sind zu wenig präzis und müssen ebenfalls fallengelassen werden. Wir möchten stattdessen eine andere Möglichkeit vorschlagen, die von der für die Transhumanz so charakteristischen Zusammensetzung der Herden ausgeht und im Begriff der mitteleuropäischen „Wanderschäferei" 24 schon vorgeprägt ist. Den Ausdruck ,,-schäferei" glauben wir allerdings ersetzen zu müssen, da damit eigentlich eine bestimmte, hoch organisierte Form der Schafzucht gemeint wird, und meinen, daß mit dem Begriff „Wanderschaf Haltung" das gegenüber der Alpwirtschaft und dem Nomadismus besonders Typische zum Ausdruck kommt. Ein anderer Lösungsversuch, der neben der schafhaltenden auch die Anbau treibenden Komponente im Begriff selbst nennen möchte, scheint uns nicht möglich zu sein. Außerdem haben wir es hier mit Wanderweidewvctschait zu tun, bei der der Anbau nicht das integrierende Element ist. Im übrigen kommt in „Alpwirtschaft" auch nur die viehhaltende Seite zum Ausdruck. 24

Vgl. WOLFGANG JACOBBIT: Transhumanz und Wanderschäferei ( = Völkerforschung.' Veröff. des Instituts für deutsche Volkskunde, Bd. 5. Berlin 1954, S. 70ff.). — HORNBERGER, a. a. 0., S. 24, hat neuerdings den Begriff „Wanderschäfertum" geprägt.

DER BEITRAG CHIMALPAHINS ZUR GESCHICHTE DER TOLTEKEN V o n PAUL KIRCHHOFF

Instituto de Historia, Universidad Nacional de México

Meinem Kollegen Hans Damm, meinem Lehrer Fritz Krause und dem Andenken Karl Weules in Erinnerung an meine Lehrjahre in Leipzig.

Während sich Chimalpahin in seinen übrigen relaciones ausdrücklich auf Ereignisse n a c h der Auflösung des Toltekenreiches bezieht, berichtet er im Memorial breve acerca de la fundación de la ciudad de Culhuacan1 nicht nur über diese Auflösung selber, sondern auch über Ereignisse, die ihr vorausgegangen seien. Was er hier berichtet, ist zum wesentlichen Teil neu in dem Sinne, daß er entweder über bereits bekannte Ereignisse und für dafür bekannte Datierungen bisher unbekannte Details erzählt — mehrmals e n t s c h e i d e n d w i c h t i g e — oder aber daß er für solche bereits bekannten Ereignisse Datierungen angibt, die von denen anderer Quellen abweichen. Früher hätten wir hieraus geschlossen, daß die einen oder anderen Datierungen falsch seien; heute dagegen wissen wir von der Existenz vieler paralleler Kalender und sehen in diesen abweichenden Daten kein Element der Unsicherheit und Verwirrung, sondern im Gegenteil eine Bereicherung des uns zur historischen Analyse zur Verfügung stehenden Materials. Alle Daten des Memorial breve sind selbstverständlich so vertrauenswürdig und „richtig" wie alle anderen, denen sie zu widersprechen scheinen, und zusammen mit den erwähnten historischen Details ist dies chronologische Material, das Chimalpahin uns erhalten hat, von allerhöchster Bedeutung. Die Art und Weise dagegen, wie Chimalpahin diese offensichtlich aus mehreren Bilderschriften unterschiedlicher Tradition zusammengetragenen Datierungen aneinandergereiht hat, muß abgelehnt werden, nicht, weil sie von der Gesamtdarstellung anderer Quellen völlig abweicht (obwohl zu diesen auch eine gehört, die Relación de la genealogía y linaje de los señores que señorearon en esta Nueva 1

Übersetzt von WALTER LEHMANN, in: Quellenwerke zur alten Geschichte Amerikas, Band VII. Stuttgart 1958.

21*

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PAUL KIRCHHOFF

España2, die sich ausdrücklich auf die Bilderschriften der Colhua vonColhuacan beruft), sondern ihrer inneren Widersprüche und Unwahrscheinlichkeiten wegen. Widersprüche und Unwahrscheinlichkeiten, wie wir sie im Memorial breve finden, gibt es bei allen Autoren des 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts in großer Zahl, denn keiner von ihnen, ob Indianer oder Spanier, scheint noch gewußt zu haben, daß es im vorspanischen Mesoamerika viele parallele Kalender gab und daß fast jede der verschiedenen historischen Traditionen auf einem anderen Kalender beruhte. Statt die den verschiedenen Kalendern entnommenen Datierungen in einer einzigen Jahresabfolge hintereinander aufzuzählen, wie sie es alle getan haben, hätten sie sie getrennt gelassen und parallel nebeneinander stellen sollen. Das Einbauen in eine einzige Jahreszählung hatte zur Folge, daß die Ereignisse auseinandergezogen wurden, denn bei jedem Wechsel von den Daten eines Kalenders zu denen eines anderen mußten notwendigerweise Leerjahre eingeschoben werden — je nach dem Abstand der beiden Jahreszählungen voneinander von einem bis zu 51 Jahren! —, bis der gesuchte Jahresname wieder vorkam. Da nun jeder Autor andere Traditionen und Kalender kombinierte, sind die so entstandenen Chronologien alle voneinander verschieden, sowohl im Einzelnen wie in der Gesamtlänge. Es versteht sich von selbst, daß, je größer die Zahl der kombinierten Traditionen, desto länger die sich ergebende Zeitspanne, die die berichteten Ereignisse umfassen, und desto unsicherer das chronologische Verhältnis eines Ereignisses zum anderen. Umgekehrt, je kürzer die Gesamtchronologie und je geringer die Zeit, die ein Ereignis vom anderen trennt, desto größer die Wahrscheinlichkeit, daß beide nach einem einzigen Kalender berichtet sind. Chimalpahins Chronologie der toltekischen Geschichte ist nun in einem Teil mehr auseinander gezogen als in den beiden anderen Hauptquellen toltekisdher Geschichte — der bereits erwähnten Relación de la genealogía und den Anales de Quauhtitlan3, im anderen dagegen bedeutend kürzer als diese. Es ist nun charakteristisch und wichtig, daß jener Teil fast aller beschreibenden und die Ereignisse verbindenden historischen Details bar ist, dieser dagegen sich gerade durch seinen Reichtum an solchen Einzelheiten auszeichnet, die keinen Zweifel über das chronologische Verhältnis der Ereignisse zueinander lassen. Die wichtigste Aufgabe unserer Analyse — die einzige, die wir in dieser Arbeit unternehmen werden — ist es nun, herauszufinden, welche angeblich verschiedenen und nacheinander aufgezählten Ereignisse in Wirklichkeit ein und dasselbe Ereignis sind, das in den verschiedenen Traditionen unter verschiedenen Daten und mit unterschiedlichen Details erzählt wird. Das ist nun in dem auf die toltekische Geschichte bezüglichen Teil des Memorial breve bei einer überraschend 2 3

In: Joaquín García Icazbalceta, Nueva colección de documentos para la historia de México, Band III. México 1891. Übersetzt von WALTER LEHMANN, in: Quellenwerke zur alten Geschichte Amerikas, Band I , Stuttgart 1938.

Der Beitrag Chimalpahins zur Geschichte der Tolteken

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großen Zahl von angeblich verschiedenen Ereignissen der Fall, womit sich Chimalpahins Gesamtchronologie ganz außerordentlich verkürzt, besonders in dem ersten, angeblich die Geschichte der Colhua vor der Auflösung des Reiches von Tula behandelnden Teil. Im zweiten, diese Auflösung selber beschreibenden Teil finden wir zwar auch ein chronologisches Auseinanderziehen paralleler Berichte, aber über eine relativ kurze, im Vergleich zur Relation de la genealogía und den Anales de Quauhtitlan sogar erstaunlich kurze Zeitspanne; und für zwei Paare von Herrschern, von denen nach den anderen Quellen jeweils einer dem anderen folgt, stellt Chimalpahin sogar Gleichzeitigkeit fest. In einem dieser zwei Fälle, der die beiden größten Figuren der toltekischen Geschichte, Quetzalcouatl und Huemac, betrifft, bedeutet das, daß das Memorial breve für dasselbe Jahr berichtet, was nach der Leyenda de los Soles4 durch einen Zeitraum von 13 Jahren und nach den Anales de Quauhtitlan durch einen von 13 mal 13 Jahren getrennt ist, nämlich die Auswanderung der beiden Herrscher aus Tula. Wenn nun die Hintereinanderaufzählung von Daten, die aus verschiedenen parallelen Kalendern stammen, ein folgenschwerer Irrtum der Autoren des 16. und angehenden 17. Jahrhunderts ist, der auf ihrer Unkenntnis der vor spanischen Wirklichkeit und einem hierdurch entstandenen Mißverständnis beruht, so ist selbstverständlich ihren Gleichsetzungen dieser aus verschiedenen Kalendern entnommenen einheimischen Daten mit denen unseres Kalenders keinerlei Wert beizumessen. Diese Gleichsetzungen sind ja auch bei jedem Autor verschieden. In der nachfolgenden Analyse der Daten des Memorial breve haben wir sie deshalb völlig außer acht gelassen. Seinem Titel entsprechend beginnt das Memorial breve acerca de la fundación de la ciudad de Culhuacan mit der Gründung von Colhuacan. Aus den gleich anschließend unterworfenen Städten ergibt sich nun, daß es sich um das Colhuacan am Fuße des Cerro de la Estrella im Hochtal von Mexiko handelt, das nach der Relación de la genealogía und den Anales de Quauhtitlan nach der Auflösung des Toltekenreiches von aus Tula kommenden Tolteken gegründet wurde. Nach der ersten dieser Quellen waren diese Colhua nach Tula aus einem weiter entfernt liegenden ersten Colhuacan gekommen, und diese Quelle gibt die Daten sowohl der Gründung wie des Verlassens dieses älteren Colhuacan. In den Anales de Quauhtitlan wird nur ganz kurz über die Gründung, dagegen gar nicht über das Verlassen dieses ersten Colhuacan berichtet und die spätere Anwesenheit der Colhua in Tula wird nicht erklärt. Trotzdem ist es aber unzweifelhaft, daß es sich in beiden Chroniken um die gleiche Gruppe von Tolteken handelt. Eine ganz andere Darstellung als in diesen beiden Quellen finden wir nun im Memorial breve. Hier ist nur von e i n e m Colhuacan die Rede, das 377 Jahre vor 4

Übersetzt von W A L T E R Stuttgart 1938.

LEHMANN,

in: Quellenwerke zur alten Geschichte Amerikas, Band

I,

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PATTI, KIRCHHOFF

der die Auflösung des Toltekenreiches abschließenden Verlegung der Herrschaft von Tollan nach Couatlichan und von Otompan nach Azcapotzalco gegründet und dann, wie es ausdrücklich heißt, zur Zeit der Auflösung des Toltekenreiches selber nicht verlegt worden sei. Das Memorial breve spricht dementsprechend weder von einem ersten, fernen Colhuacan noch weiß es von einer Gründung des am Cerro de la Estrella gelegenen Orte dieses Namens durch Quauhtexpetlatzin, den Sohn des aus Tula abgewanderten Nauhyotzin, zu berichten.® Welcher von diesen beiden, so völlig entgegengesetzten Versionen sollen wir nun Glauben schenken? Die Antwort liegt unserer Meinung nach in demselben Detail, das uns die Lokalisierung Colhuacans gestattet hat, nämlich den Namen der im Anschluß an die Gründung von Colhuacan eroberten Orte. Diese werden im Memorial breve vollständiger aufgezählt als in den Anales de Quauhtitlan (in der Relación de la genealogía werden diese Eroberungen nicht erwähnt), aber es handelt sich unzweifelhaft um dieselbe Serie von Eroberungen, denn zwei der Orte, die in den Anales de Quauhtitlan fehlen — Cuitlahuac und Mizquic — gehörten ethnisch mit Xochimilco zusammen, dem sie im Memorial breve folgen. In der Historia de los mexicanos por sus pinturas6 werden gleichfalls zuerst nur dieselben drei Orte wie in den Anales de Quauhtitlan aufgezählt, dann aber wird einer der fehlenden hinzugefügt: ,,y de camino pasaron por Cuitlahuac." Das Wichtigste ist aber, daß diese Eroberungen, die im. Memorial breve Jahrhunderte vor der Auflösung des Toltekenreiches berichtet werden, nach den Anales de Quauhtitlan erst von den aus Tula abwandernden Colhua gemacht werden, also mit der Auflösung des Toltekenreiches zusammenhängen. Die Erfahrung hat uns nun gelehrt, daß fast in jedem Falle, in dem eine Quelle ein bestimmtes Ereignis früher, eine andere aber später ansetzt, die zweite Recht hat, besonders wenn sie für diese spätere Datierung Details angeben kann, die für die frühere fehlen. Diese allgemeine Regel wird nun in unserem Falle durch eine Gegenüberstellung der betreffenden Textstellen verdeutlicht und bestätigt: Memorial breve: Jahr 10 Kaninchen: Ankunft der Colhua in Colhuacan. Der Name des Anführers wird nicht erwähnt. Anschließend : Eroberung von Xochimilco, Cuitlahuac, Mizquic, Coyouacan, Ocuillan und Malinalco. 5 6

Anales de Quauhtitlan: Jahr 9 Haus (ein Jahr vor 10 Kaninchen!) : Ankunft der Colhua in Colhuacan. Keine weiteren Angaben.

Siehe KIRCHHOFF, Las dos rutas de los colhua entre Tula y Culhuacan (Mitteilungen aus dem Museum für Völkerkunde in Hamburg, Band 25, 1960). In : Joaquín García Icazbalceta, Nueva Colección de documentos para la historia de México, Band III. México 1891.

Der Beitrag ChimalpahinB zur Geschichte der Tolteken

327

( A u f l ö s u n g des T o l t e k e n r e i c h e s ) Jahr 9 Feuerstein: Thronbesteigung Quauhtexpetlatzins in Colhuacan

Jahr 9 Feuerstein: Thronbesteigung Quauhtexpetlatzins auf dem Wege nach Colhuacan Jahr 12 Rohr: Ankunft der Colhua in Colhuacan unter Quauhtexpetlatzin. Ansehließend: Eroberung von Xochimilco, Ocuillan und Malinalco.

Diese Gegenüberstellung nötigt uns zu einer von zwei möglichen Interpretationen. Entweder gehören die Nachrichten des Memorial breve von der Ankunft der Colhua in Colhuacan und der Eroberung von Xochimilco usw. nicht zusammen, vielmehr bezieht sich die erste auf die Gründung des ersten und die zweite auf die des zweiten Colhuacan; oder aber gehören die Angaben für die einander unmittelbar folgenden Jahre 9 Haus — 10 Kaninchen einem andern Kalender an als das Jahr 9 Feuerstein, und beide beziehen sich auf dasselbe Ereignis, nämlich die Gründung Colhuacans durch Quauhtexpetlatzin. I m einen wie anderen Falle müssen wir die Darstellung Chimalpahins von der frühen Gründung Colhuacans am Cerro de la Estrella — die ihn zwingt, ein so entscheidend wichtiges Ereignis wie die Wanderung Nauhyotzins und Quauhtexpetlatzins völlig unter den Tisch fallen zu lassen — ablehnen. Indem sie eines der folgenschwersten Ereignisse, die mit dem Zusammenbruch des Toltekenreiches zusammenhängen, verschweigt und faktisch leugnet, ist sie zwar konsequent, aber bestimmt falsch. Es ist übrigens interessant, daß Chimalpahin, der so ausgesprochen die Auffassung von einem einzigen, von vornherein im Hochtal von Mexiko gelegenen Colhuacan vertritt, trotz seines Yerschweigens der Rolle Quauhtexpatlatzins bei der Gründung Colhuacans, für diesen Ort nicht eher eine ausdrückliche Lageangabe macht, als bis er zu dessen Regierungszeit kommt. Hätten wir nicht Chimalpahins ausdrücklich gegenteilige Feststellung, so würden wir hieraus schließen dürfen, daß auch nach seiner Auffassung die Colhua erst seit diesem Herrscher „hier in Colhuacan, nahe bei Itztapalapan" gelebt hätten. Wenn nun Chimalpahins Frühdatierung der Gründung des Colhuacan am Cerro de la Estrella abgelehnt werden muß, so erhebt sich die Frage, wie wir seine Datierung anderer von ihm an den Anfang seiner Geschichte gestellten Ereignisse beurteilen sollen. Nach dem Memorial breve war der erste Herrscher von Colhuacan nach seiner Gründung „der Prinz" (tepiltzin) oder „unser Prinz" (topiltzin) Nauhyotzin, der 50 Jahre regierte und auf den bis zur Auflösung des Reiches von Tula fünf weitere Herrscher folgten, mit einer Gesamtregierungszeit von 249 Jahren, bis erneut ein Nauhyotzin auf den Thron steigt. Dieser ist der Herrscher von Colhuacan in dem Augenblick, in dem das Toltekenreich zusammenbricht und ein anderer „topiltzin", nämlich Quetzalcouatl, Tula verläßt. Das wäre

328

PAUL KIRCHHOFF

also der Nauhyotzin, der nach der Relación de la genealogía und den Anales de Quauhtitlan zur selben Zeit' aus Tula auswandert und dessen auf der Wanderung eingesetzter Nachfolger Quauhtexpetlatzin das neue Colhuacan am Cerro de la Estrella gründet. Da, wie oben ausgeführt, im Memorial breve die beiden Colhuacan der anderen Quellen in eines zusammengeflossen sind, das von Anfang an am Cerro de la Estrella gegründet wird, findet Chimalpahin auch von diesem zweiten Nauhyotzin, der doch nach den anderen Quellen eine bedeutende Persönlichkeit gewesen sein muß, nichts weiter zu sagen, als wieviel Jahre er regiert habe! Wenn nun die Gründung des Colhuacan am Cerro de la Estrella nicht vor, sondern nach der Auflösung des Toltekenreiches erfolgt ist, stellt sich die Frage, ob nicht auch der erste, angeblich so frühe Nauhyotzin in dieselbe Zeit gehört, also mit dem sogenannten zweiten Nauhyotzin identisch ist. Beide haben tatsächlich nicht nur eine ähnlich lange Regierungszeit (der erste 50 Jahre und der zweite 46), sondern auch einen Nachfolger gleichen Namens, nämlich Nonoualcatl. Der erste Nonoualcatl folgt zwar dem ersten Nauhyotzin unmittelbar, während der zweite vom zweiten Nauhyotzin durch Quauhtexpetlatzin getrennt ist; wenn man aber dessen Regierungszeit mit der des zweiten Nonoualcatl zusammenzählt, so ist sie genauso lang wie die des ersten Nonoualcatl, nämlich 78 Jahre! Mit andern Worten, der erste Nonoualcatl stirbt nach dem Memorial breve genau so viele Jahre nach dem ersten Nauhyotzin, wie der zweite nach dem zweiten. Diese auffallende Übereinstimmung legt die Wahrscheinlichkeit nahe, daß Chimalpahin hier zwei verschiedene, auf verschiedenen Kalendern beruhende Versionen, von denen die eine Quauhtexpetlatzin nennt, die andere aber ausläßt, irrtümlicherweise hintereinander aufgezählt hat. Daß Quauhtexpatlatzin in einer dieser Versionen nicht erwähnt wird, könnte man damit erklären, daß er ja faktisch nur die von seinem auf der Wanderung gestorbenen Vorgänger Nauhyotzin begonnene Aufgabe, nämlich die Ansiedelung in einem neuen Colhuacan, zu Ende geführt hat. Wenn nun die beiden angeblich verschiedenen und in Chimalpahins Darstellung durch einen langen Zeitraum getrennten Nauhyotzin ein und derselbe Herrscher gewesen sein sollten, dann müssen wir, einer oben ausgesprochenen Regel folgend, von den beiden Regierungszeiten die spätere, in die Auflösung des Toltekenreiches fallende, annehmen. Dieser Nauhyotzin wäre dann, so wie es die anderen Quellen darstellen, aus Tula ausgewandert, und sein Nachfolger wäre der Gründer des neuen Colhuacan. Unsere Analyse des Berichtes Chimalpahins über den ersten nach der Gründung Colhuacans gewählten Herrscher hat uns also zu demselben Ergebnis geführt wie die Analyse des Berichtes über diese Gründung selber, nämlich daß seine frühe Zeitansetzung falsch sein muß. Im übrigen aber ist das Ergebnis unserer Untersuchung in beiden Fällen das entgegengesetzte, denn während wir im Gegensatz zu Chimalpahin an der Gründung von zwei Colhuacan festhalten,

Der Beitrag Chimalpahins zur Geschichte der Tolteken

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einem frühen und einem späten, lehnen wir im Gegenteil seinen Bericht über einen frühen und einen späten Nauhyotzin als eine Fehlinterpretation ab und kommen zu dem Schluß, daß es sich nur um e i n e n Herrscher dieses Namens handelt. In beiden Fällen ziehen wir die Darstellung der Anales de Quauhtitlan und besonders der Relación de la genealogía der des Memorial breve vor. In einem anderen wichtigen Punkte dagegen bringt uns Chimalpahin unzweifelhaft eine Klärung. Während die beiden anderen Quellen zwischen Quauhtexpetlatzin und Nonoualcatl noch einen Herrscher namens Huetzin aufzählen, bringt das Memorial breve einen ausführlichen Bericht über das gegenseitige Verhältnis von Nonoualcatl und Huetzin, aus dem klar hervorgeht, daß sie gleichzeitige Gegenkönige waren, von denen einer, nämlich Huetzin, durch den Chichimekenführer Xolotl von Tenayuca unterstützt wurde. Diese detaillierte Darstellung bedeutet, nebenbei gesagt, eine völlige Bestätigung des Berichtes Alva Ixtlilxochitls über die Kämpfe zwischen den Chichimeken von TenayucaTetzcoco und den Colhua von Colhuacan! Hiermit kommen wir nun zu dem reichsten und wichtigsten Material zur Geschichte der Tolteken, das Chimalpahin uns überliefert hat, nämlich dem, das sich seiner eigenen Auffassung nach auf die Auflösung des Toltekenreiches bezieht, während er ja einen Teil des bis hier behandelten Materials irrtümlicherweise als älter ansieht. Auch hier begegnen wir demselben Hintereinanderaufzählen von Berichten, die parallele Versionen über dasselbe Ereignis sind, wie in dem zuerst von uns analysierten Teil, aber hier sind diese parallelen Berichte nur so wenig auseinandergezogen, daß sich ein radikal anderes Bild der Auflösung des Toltekenreiches ergibt als in der Relación de kt genealogía und den Anales de Quauhtitlan. Entscheidend ist es aber, daß Chimalpahin die Auswanderung Quetzalcouatls und Huemacs, die in den Anales de Quauhtitlan durch 169 (13 mal 13) Jahre getrennt ist, in dasselbe Jahr setzt. Damit hat er uns den Schlüssel für das Verstehen des folgenschwersten Ereignisses der altmexikanischen Geschichte in die Hand gegeben, das in der Relación de la genealogía und den Anales de Quauhtitlan in verschiedene Teile auseinandergerissen und dadurch völlig verzerrt erscheint. Dieser Schlüssel wird es uns auch gestatten, Chimalpahins eigene Gesamtdarstellung richtigzustellen. Der erste auf die Auflösung des Toltekenreiches bezügliche Bericht im Memorial breve ist der folgende: „Im Jahre 1 Feuerstein . . . gemäß den Aufzeichnungen derer von Tetzcoco heißt es (daß) starben und zum Teil fortzogen die Tolteken ..." Im selben Jahre — oder nach einer andern, gleichfalls von Chimalpahin zitierten Tradition zwei Jahre vorher, also in einem Jahre 12 Kaninchen — und offenbar in innerem Zusammenhang mit diesem Fortzug, bestieg den Thron in Amaquemecan-Chicomoztoc der erste Herrscher der Acolhua von Tetzcoco und Huexotlan namens Xolotl-Tochinteuctli. Die erste dieser beiden Traditionen ist offensichtlich dieselbe, die sich bei Alva Ixtlilxochitl findet, der ja eben die Tradition

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von Tetzcoco wiedergibt. 7 Dieser gibt den Auszug der Tolteken — unter ihrem letzten Herrscher Topiltzin („unser Fürst"), der nach ihm im Jahre 1 Rohr (Ce acatl) geboren ist, also sicher der bekannte Topiltzin Ce acatl Quetzalcouatl ist, gleichfalls für das Jahr 1 Feuerstein an und verbindet mit diesem Datum und Ereignis in der gleichen Weise wie in der von Chimalpahin wiedergegebenen Tradition die Thronbesteigung Xolotls in Amaquemecan-Chicomoztoc. Aber wenn er diese Traditionauch getreu wiedergibt, so lehnt Chimalpahin sie doch ab: „Keineswegs damals gingen zu Grunde die Tolteken, wie erst zu seiner Zeit unten sich zeigen wird." Der zweite, offenbar von Chimalpahin doppelt gebrachte Bericht über die Auflösung des Reiches von Tula ist der folgende. Zunächst berichtet er unter einem Jahre 10 Rohr von der Ansiedlung einer Gruppe „alter Chichimeken", die wohl mit den Tepaneken Alva Ixtlilxochitls identisch sein dürften, da sie sich in AzcapotzalcoTepanecapan niederlassen. Einen ganzen 52-Jahr-Zyklus später berichtet Chimalpahin unter einem andern Jahr desselben Namens 10 Rohr, gleichzeitig mit der Verlegung der Herschaft von Tollan nach Couatlichen, von der Verlegung der Herrschaft von Otompan nach Azcapotzalco. Es sieht so aus, als ob sich diese beiden Nachrichten — beide für ein Jahr 10 Rohr und beiden über eine Übersiedlung bzw. Herrschaftsverlegung nach Azcapotzalco — auf dasselbe Ereignis bezögen und nur versehentlich auseinandergezogen seien. Von diesen beiden Nachrichten bezieht sich nun die zweite ganz unzweifelhaft auf die Auflösung Tulas, so daß wir es hier mit einer weiteren Tradition über dieses Ereignis zu tun haben, die einen Kalender benutzt, dessen Jahr Rohr 10 dem Jahre 1 Feuerstein im Kalender von Tetzcoco und dem Jahre 12 Kaninchen in einem anderen, nicht identifizierten Kalender entspricht. Chimalpahin kennt aber noch zwei andere Daten für die Auflösung des Toltekenreiches. Eines ist 3 Feuerstein, das wir aus keiner anderen Quelle kennen. Für ein Jahr dieses Namens berichtet das Memorial breve: „Hier in dem Jahre geriet ins Verderben das Gemeinwesen der Leute von Tollan. Damals fing es an, daß schon ihre Stadt verlassen die Tolteken, indem sie sich auflösten, indem sie überallhin fortzogen. Da starben die einen und ein anderer Teil gründete Städte, so wie es die von Cholula taten, denn sie sind Abgespaltene der Tolteken." Das fünfte und letzte Datum, das Chimalpahin im Zusammenhang mit der Auflösung des Toltekenreiches anführt, ist das interessanteste von allen. Es ist 1 Rohr — ein Datum, das andere Quellen für die Auswanderung bzw. den Tod Quetzalcouatls kennen. Für die Leyenda de los Soles liegt dieses Datum 13 Jahre und für die Anales de Quauhtitkin 169, d. h. 13 mal 13 Jahre vor der Auswanderung Huemacs, die nach beiden Quellen auf ein Jahr 1 Feuerstein fällt und mit der das Toltekenreich zu Ende geht. Für Chimalpahin fallen aber sowohl die Auswanderung Quetzalcouatls wie die Huemacs in ein und dasselbe Jahr 1 Rohr. 7

Fernando Alva Ixtlilxochitl, Obras históricas. México 1891—1892.

Der Beitrag Chimalpahins zur Geschichte der Tolteken

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Daß bei ihm dies Datum dem der eigentlichen Auflösung und Abwanderung der Tolteken, z. B. nach Cholula, f o l g t , beruht natürlich auf dem üblichen Fehler, die Daten verschiedener Traditionen und Kalender hintereinander aufzuzählen, als ob sie zu einem einzigen Kalender gehörten. Chimalpahins Darstellung des chronologischen Verhältnisses dieser beiden Ereignisse wirkt denn auch sehr gekünstelt: „Und obgleich (im Jahre 3 Feuerstein) zu Grunde ging das Reich von Tollan, war noch elf Jahre (d. h. bis 1 Rohr) dort in Tollan Quetzalcouatl." Diese Darstellung ist so befremdend und unbefriedigend, daß W A L T E R L E H M A N N an die Möglichkeit dachte, daß es sich um eine andere Persönlichkeit handele, die nur den T i t e l Quetzalcouatl führe, und setzt deshalb in seiner Übersetzung vor Quetzalcouatl das Wort „ein". Aus dem Text geht aber klar hervor, daß dies für Chimalpahin derselbe Quetzalcouatl war, von dem er vorher gesprochen hat und von dem er übrigens berichtet, daß er in einem Jahre 4 Kaninchen (statt des üblichen 1 Rohr) geboren sei, so daß er ihn auch nie Ce Acatl, 1 Rohr, nennt. Das Wichtige an Chimalpahins Datum für Quetzalcouatls Auswanderung ist also nicht, daß es dem von ihm anerkannten Datum für die Auflösung des Toltekenreiches f o l g t , sondern daß es so nahe bei ihm steht, daß kein Zweifel darüber herrschen kann, daß für Chimalpahin Quetzalcouatls Auswanderung ein ganz spätes und mit der Auslösung des Toltekenreiches eng verbundenes Ereignis war. Das muß aber daher rühren, daß Chimalpahin noch wußte, daß Quetzalcouatl und Huemac Zeitgenossen und Rivalen gewesen waren, weshalb er denn die in seinen Quellen offenbar gesonderten Berichte über die Auswanderung dieser beiden Herrscher — jeweils in einem Jahre 1 Rohr — nicht nach dem Beispiel der anderen Quellen durch einen oder mehrere 52-Jahr-Zyklus trennt, sondern in ein und dasselbe Jahr fallen läßt. Chimalpahins Bericht über Quetzalcouatls Auswanderung lautet also folgendermaßen : „1 Rohr das Jahr. Hier in dem Jahre begab sich geradsten Weges fort Topiltzin Acxitl Quetzalcouatl, indem das Verderben gänzlich hereinbrach über das Staatswesen von Tollan." Daß es sich hier um dasselbe Ereignis handelt, das vorher nach einem andern Kalender für ein Jahr 3 Feuerstein für die Tolteken im allgemeinen berichtet worden war, zeigt der Schluß dieses Berichtes: „Ein Stern rauchte über der Stadt Tollan. Darüber entsetzten sich die Tolteken." Dies wird in ganz eklatanter Weise dadurch bestätigt, daß Chimalpahin hier noch einen zweiten Bericht gibt, der aus derselben Tradition stammen wird, da er auf demselben Kalender beruht, und nach dem in diesem selben Jahr 1 Rohr auch der andere berühmte Herrscher Tulas, Huemac, die Stadt verlassen habe: „Aber die anderen alten Männer, gerade für das genannte Jahr 1 Rohr erläutern die Aufzeichnungen und Schriften, wonach dort hinein ging in die sogenannte Höhle von Cincalco in Chapoltepec der König Hueymac. Hierher brach er auf von Tollan, im Rücken folgte er dem Quetzalcouatl, den er nirgends erblickte.

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PAUL KIRCHHOFF

Beide bekriegten sich; endlich gingHueymac hinein in das Cincalco, so wie einige alte Männer es sagten: es sei die Wahrheit bekannt, daß es so geschah." Hier verknüpft also Chimalpahin diese beiden großen Figuren der toltekischen Geschichte, die in der Relación de la genealogía und den Anales de Quauhtitlan durch mehrere Generationen voneinander getrennt sind, in ähnlicher Weise wie Sahagun, Muñoz Camargo und Torquemada, aber im Gegensatz zu deren chronologisch vagen Berichten unter einem bestimmten Datum, als Zeitgenossen und Rivalen. Nun kennt Chimalpahin aber noch ein zweites Datum für den Tod Huemacs, nämlich 5 Haus. Da ihm aber nun 5 Haus außerdem noch — sicher nach einem anderen Kalender — als Datum für den Regierungsantritt Quetzalcouatls bekannt war, kuppelt er hier beide Ereignisse in der Weise, daß Quetzalcouatl als der Nachfolger Huemacs erscheint! Während sich aber die oben analysierte Version auf beschreibende Details über die Rivalität Huemacs und Quetzalcouatls stützt, beruht diese zweite Version nur auf dem Zufall, daß das Jahr des Todes Huemacs in einem Kalender genau denselben Namen trug wie in einem anderen das der Thronbesteigung Quetzalcouatls. Die Kuppelung dieser beiden Berichte ist bestimmt verfehlt. Im Memorial breve finden wir aber 5 Haus nicht nur als Jahr des Regierungsantrittes Quetzalcouatls, sondern auch Nauhyotzins. Nun sind nach Chimalpahin nicht nur Huemac und Quetzalcouatl, sondern auch Huemac und Nauhyotzin neben- oder miteinander herrschende Zeitgenossen 8 , denn es heißt von diesen beiden unter dem Datum 8 Haus (von dem wir bisher nicht sagen können, zu welchem Kalender es gehört): „Hier in dem Jahre setzte als König ein dort in Tollan den namens Hueymac, als seinen Sohn, der Totepeuh, König von Colhuacan. Als Personen königlichen Ranges setzte er ein die namens Nauhyotzin und Opochtli." Opochtli wird auch bei Alva Ixtlilxochitl als Nebenherrscher eingesetzt, in diesem Falle mit dem Topiltzin genannten letzten Herrscher Tulas, der, wie wir oben sahen, mit Quetzalcouatl identisch ist. Es scheint demnach, daß wir es, entsprechend dem später gerade für die Colhua bezeugten System, mit vier gleichzeitig regierenden Herrschern zu tun haben: Quetzalcouatl, Huemac, Nauhyotzin und Opochtli, von denen einer der Haupt- und die anderen drei Nebenherrscher waren. (Von den ersten beiden sagt Chimalpahin, daß sie in Tollan, von Nauhyotzin dagegen, daß er in Colhuacan geherrscht habe.) Bei dem Zwist zwischen Quetzalcouatl und Huemac könnte es sich eben gerade darum gehandelt haben, wer von beiden der Hauptherrscher sein solle. 8

Auch in der irrtümlichen Einkalenderdarstellung Chimalpahins fallen die Regierungszeiten dieser drei Herrscher wenigstens teilweise zusammen: Huemac 993—1051 Quetzalcouatl 1029—1051 Nauhyotzin 1026—1072

Der Beitrag Chimalpahins zur Geschichte der Tolteken

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Chimalpahins Beitrag zur Geschichte der Colhua-Tolteken besteht also einerseits aus einer Reihe sonst unbekannter Datierungen, andererseits aus beschreibenden Details, die aus andern Quellen nicht bekannt sind. Beide sind ungewöhnlich wichtig. Als neue Daten stechen besonders hervor: 4 Kaninchen als Quetzalcouatls Geburtsjahr, und 12 Kaninchen, 10 Rohr und 3 Feuerstein als Daten der Auflösung des Toltekenreiches. Die wichtigsten Details sind diejenigen, die aufzeigen, daß Quetzalcouatl und Huemac und ebenso Nonoualcatl und Huetzin Zeitgenossen und Rivalen waren. Die Art, wie Chimalpahin dies reiche Material in eine einzige Jahresabfolge einzuzwängen sucht, ist zwar genau so wenig überzeugend wie die ähnlichen Konstruktionen anderer Autoren dieser Zeit. Trotzdem hat Chimalpahin uns auch in der chronologischen Gruppierung seiner aus verschiedenen Kalendern stammenden Daten, so verfehlt sie auch im einzelnen sein mag, entscheidend Wichtiges zu lehren, nämlich daß Sahagun, Muñoz Camargo und Torquemada Recht haben, wenn sie Quetzalcouatl und Huemac als Zeitgenossen beschreiben und die Auswanderung beider an den Schluß der Geschichte des Toltekenreiches stellen. 9 Sollten wir nun Recht damit haben, daß die von Chimalpahin an den Anfang gestellte Gründung von Colhuacan am Cerro de la Estrella und die anschließende Eroberung von Xochimilco usw. sich auf die Zeit n a c h Quetzalcouatl und Huemac beziehen, so würde das bedeuten, daß Chimalpahins Beitrag zur Geschichte der Tolteken sich entscheidend auf die A u f l ö s u n g ihres Reiches bezieht. So sehr wir nun einerseits bedauern mögen, daß damit die Zeitspanne, die Chimalpahins Darstellung umfaßt, unendlich viel kürzer ist, als er uns glauben machen will, so bedeutet das aber andererseits, daß wir hiermit für diese kurze, aber für die spätere Geschichte Altmexikos entscheidende Zeit über eine ungewöhnlich große Zahl sich gegenseitig ergänzender und bekräftigender Berichte verfügen, die aus verschiedenen Traditionen stammen und sich auf verschiedene Jahreszählungen stützen. 9

Siehe KIRCHHOFF, Quetzalcoatl, Huemac y el fin de Tula. Cuadernos Americanos 1955.

ZUR T H E O R I E DER POLYNESISCHEN EINWANDERUNG Von GERD KOCH, Berlin

Neuere linguistische Untersuchungen geben Anlaß, die Theorie der Einwanderung der Polynesier in den Pazifik zu überprüfen. Es ist in diesem Zusammenhang interessant, daß bislang überwiegend Linguisten zur Diskussion des Themas beigetragen haben und daß nur wenige diesbezügliche ethnologische Untersuchungen angestellt worden sind, ganz abgesehen von den der Gegenwart und der Zukunft vorbehaltenen Arbeiten auf den Gebieten der Archäologie (mit Radiocarbondatierung) und der Blutgruppenforschung. Die Diskussion geht um die Frage, ob die Polynesier bei der Einwanderung von SO-Asien in ihre jetzige Heimat vor allem über den melanesischen Inselbogen oder aber über das mikronesische Gebiet gezogen sind. Es würde hier zweifellos zu weit führen, eine vollständige Übersicht der bisherigen Forschungen hinsichtlich der Wanderroute der Polynesier zu geben. Deshalb sollen nur einige der wesentlichen Arbeiten der Vergangenheit angedeutet werden, um an die Problematik dieses Themas zu erinnern. Am Ende des vorigen Jahrhunderts erkannte W. S C H M I D T , daß Sprachen der südlichen Salomonen dem Polynesischen ähnlich seien 1 , und er nahm an, daß jene am längsten die innere Entwicklung mit diesen gemeinsam hatten. 2 Daraus folgerte S C H M I D T den melanesischen Wanderweg und hielt die Route über Mikronesien für unmöglich, da er dort keine Spuren einer polynesischen Beeinflussung entdeckte. 3 F. G R A E B N E R war 1905 auf Grund seiner Untersuchung der Verbreitung von Kulturelementen davon überzeugt, daß „der Ausbreitungsweg der südpolynesischen Kultur dem Gebiete der sogenannten ,melanesischen' Sprachen entsprochen" habe. 4 Aus den „Eigenarten der nordostpolynesischen Kultur" 1

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W. SCHMIDT, Über das Verhältnis der melanesischen Sprachen zu den polynesischen und untereinander. Sitzungsber. d. Kaiserl. Akad. d. Wiss. Philos.-Histor. Cl. CXLI. Bd. Wien 1899, S. 54. W. SCHMIDT, Die sprachlichen Verhältnisse Oceaniens (Melanesiens, Polynesiens, Mikronesiens und Indonesiens) in ihrer Bedeutung für die Ethnologie. Mitt. d. Anthropol. Ges. in Wien. XXIX. Bd. 1899, S. 251. Ders., Über das Verhältnis . . . S. 56; Die sprachlichen Verhältnisse . . . S. 252. F. GRAEBNER, Kulturkreise und Kulturschichten in Ozeanien. Zeitsohr. f. Ethnologie. 37. Jg. 1905. S. 48/49; s. a. Ders., Die melanesische Bogenkultur und ihre Verwandten. Anthropos. Bd. IV, 1909, S. 745.

Zur Theorie der polynesischen Einwanderung

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schloß er indessen auf eine diesbezügliche Einwanderung über Mikronesien. Damals (1909) folgerte auch F. N. F I N G E nach seinen sprachlichen Untersuchungen: „Von den südlichen Salomonsinseln wanderte ein wesentlich einheitliches Volk den Nordrand von Polynesien entlang nach Osten". 5 S. P. SMITH vermutete auf Grund seiner — allerdings etwas gewagten — Auswertung etlicher polynesischer Traditionen 6 , daß die Samoaner und Tonganer zur ersten Einwanderungswelle gehörten 7 , und melanesische Routen waren für ihn eine Selbstverständlichkeit. Die polynesischen Wanderungen wurden in jener Zeit auch von W. CHURCHILL 8 mit mühevollen linguistischen Methoden untersucht, die allerdings hinsichtlich der Phonetik ziemlich großzügig waren und das Grammatikalische übergingen. 9 CHUBCHILL glaubte proto-samoanische Elemente in Melanesien zu erkennen und schloß auf zwei proto-samoanische Wanderströme (Samoa- und Viti-Wanderzug) nördlich und südlich den melanesischen Inselbogen entlang, während ein späterer (rein polynesischer) Wanderzug (die Tongafiti) keine Verbindung mit Melanesien hatte. 1 0 Aus der unterschiedlichen Verbreitung des Gebrauchs von Kawa und Betel folgerte W. H . R . R I V E R S hypothetisch eine frühere Welle von „kava-people" nach Melanesien und Polynesien und eine spätere von „betelpeople" nach dem nördlichen Melanesien, mit der Einschränkung" . . . that they are not terms for the people of Oceania who use kava and betel now, but are terms for the hypothetical bodies of immigrants who introduced the use of these two substances". 11 RIVERS' kava-people könnten etwa den Tongafiti CHURCHILLS entsprechen, während dessen Proto-Samoans den von R I V E R S noch besonders erwähnten Einwanderern mit der Hockergrab-Bestattung 12 vergleichbar wären. Über die 1 9 1 4 vorliegenden Untersuchungen äußerte sich G. FRIEDERICI nicht ganz unberechtigt: „Die Wanderungen der Polynesier . . . sind oft behandelt worden, aber zu einem reinlichen abschließenden Ergebnis ist niemand gekommen. Denn wenn man sich auch über den allgemeinen Gang der Wanderung von Westen nach Osten in sachkundigen Kreisen völlig klar ist und sich einig ist über die führende Rolle, die einzelne Inselgruppen, wie Samoa, in der polynesischen Besiedelungsgeschichte der Südsee gespielt haben, so sind doch in Einzelheiten fast 5 6 7 8 9 10 11 12

F. N. FINCK, Die Wanderungen der Polynesier nach dem Zeugnis ihrer Sprachen. Nachr. v. d. Kgl. Ges. d. Wiss. zu Göttingen. Philolog.-Hist. Klasse. H. 3. 1909. S. 341. S. P. SMITH, Hawaiki. 3. Aufl. Wellington 1910. Ebenda, S. 114. W. CHURCHILL, The Polynesian Wanderings. Washington 1911. Ebenda, S. 138. W. CHURCHILL, Sissano. Movements of Migration Within and Through Melanesia. Washington 1916. W. H. R. RIVERS, The History of Melanesian Society. Bd. II. Cambridge 1914. S. 250ff., 574. Ebenda, S. 574.

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ebenso viele verschiedene" Meinungen geäußert worden, wie Bearbeitungen vorhanden sind." 13 Eindeutig für die mikronesische Wanderroute sprach sich später z. B. A. W. 14 NIEUWENHUIS aus. Nach ihm ist das Wesen der Polynesier und ihrer Kultur vor allem durch das Fehlen von endemischer Malaria bedingt und somit die Einwanderung über das malariafreie Mikronesien anzunehmen. (Schon vor der Jahrhundertwende glaubte DANNEIL das Vorkommen bzw. Nichtvorkommen der Malaria als gewichtigen besiedlungsgeschichtlichen Faktor zu erkennen, indem „die hellen Eindringlinge aus dem südöstlichen Asien . . . bestimmte Inselgruppen, welche doch auf ihrem Wege lagen, vollständig umgangen haben".) 15 Nach G. TmLENius waren es meteorologische Gründe, welche die Polynesier veranlaßten, nicht die melanesische Inselkette entlang, sondern durch Mikronesien nach Samoa zu ziehen.16 R . H E I N E - G E L D E R N wertete die Verbreitung der verschiedenen Arten von Megalithdenkmälern als deutliches Anzeichen für eine Wanderung der Polynesier über Mikronesien, ebenso „die radikale Verschiedenheit der polynesischen und melanesischen Beilformen".17 Auch F. SPEISER sah noch 1946 „im völligen Fehlen der Vierkantklingen . . . einen unanfechtbaren Beweis dafür, daß die Polynesier nicht durch Melanesien gewandert sind"18, räumte aber zugleich für die melanesisch-polynesischen Kontaktzonen ein, daß die Melaniden gar keinen Grund hatten, „ihre durchaus zweckdienlichen Walzenklingen gegen die schwerlich progressiveren Vierkantklingen auszutauschen". Auf Grund seiner (wohl nicht in Gesamtheit annehmbaren) Einordnung von „Kulturelementen" in die Kulturschichten Ozeaniens kam SPEISER ZU dem Schluß, daß die Polynesier in ihrer Hauptmasse direkt von den Philippinen über Mikronesien nach Polynesien gewandert seien, wobei „Randströme ihres Wanderzuges die nördlichen Inseln Melanesiens nicht unbeträchtlich berührt" hätten, bemerkte aber auch dazu die Tatsache, daß sie nirgends in Mikronesien ihre eigene Sprache einführten und anthropologisch fast keine Spuren im Westen dieses Gebietes hinterließen.19 Auf polynesische Sprachelemente in Mikronesien wies indessen neuer13 14 15 10

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G. FRIEDERICI, Malaio-Polynesische Wanderungen. Verh. d. 19. Dt. Geographentages zu Straßburg. Berlin 1915. S. 206. A. W. N I E U W E N H U I S , Die Entstehung der Polynesier und ihrer Kultur. Internat. Arch. f. Ethnographie. Bd. XXX. Heft VI. Leiden 1929. S. 153, 167. Nachrichten über Kaiser-Wilhelms-Land und den Bismarck-Archipel. Hg. v. d. Neu Guinea Compagnie zu Berlin. 1898. S. 35. G. T H I L E N I U S , Ethnographische Ergebnisse aus Melanesien. I . T . Die polynesischen Inseln an der Ostgrenze Melanesiens. Abh. d. Kaiserl. Leopold.-Carol. Dt. Akad. d. Naturforscher. 80. Bd. Halle 1903. S. 82. R . H E I N E - G E L D E R N , Urheimat und früheste Wanderungen der Austronesier. Anthropos. Bd. XXVII. 1932. S. 585. F. SPEISER, Versuch einer Siedlungsgeschichte der Südsee. Denkschr. d. Schweiz. Naturforsch. Ges. Bd. LXXVII, Abh. 1. Zürich 1946. S. 52. Ebenda, S. 75/76.

Zur Theorie der polynesisehen Einwanderung

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dings B. STILLFRIED20 besonders hin, und er schloß auch gerade im Hinblick auf die Sozialstruktur sowie die Mythen 21 und manche andere Kulturelemente, daß mit größter Wahrscheinlichkeit „der Hauptstrom der polynesisehen Völker über Mikronesien gegangen sein muß". 2 2 Zuvor war ja schon P. H. BTTCK (TB RANGI HIROA) auf Grund vergleichender Studien der materiellen und sozialen Bereiche der Kulturen Polynesiens und Melanesiens zu der Überzeugung gelangt, daß große Wanderzüge der Polynesier durch Melanesien unwahrscheinlich seien und der Weg über Yap, Palau und die Karolinen mit anschließender Gabelung nach Hawaii einerseits und nach dem Gebiet nördlich von Samoa andererseits die einzig mögliche Nordroute sei.23 Seine These und seine Karte der Wanderwege wurden weithin akzeptiert. Allerdings — und hier liegt eine wesentliche Schwäche dieser These — konnten typische Nutzpflanzungen und Haustiere nicht über die „Barriere" der Koralleneilande mitgeführt werden und wurden nach BTJCK mittels der melanesischen Route „übertragen", um später von Viti aus übernommen zu werden. 24 Vor diesem Hintergrund der so divergierenden Meinungen bezüglich der melanesischen und der mikronesischen Wanderroute muß man die neueren Untersuchungen sehen, die den Anlaß zu diesem Aufsatz geben und die man wohl bis auf A. M. HOCABT zurückverfolgen sollte. I m Jahre 1 9 2 3 veröffentlichte HOCABT einen kurzen Aufsatz, in dem er die Vermutung äußerte, daß die ursprünglichen „Melanesier" hellhäutige und schlichthaarige Menschen waren, "who taught their tongue to the dark type now called Melanesian". 25 Sie segelten nach ihm infolge des Drucks weiterer, dunkelhäutiger Nachwanderer ostwärts auf der Suche nach einer neuen Heimat. Wenige Jahre danach vermutete auch S. H. RAY auf Grund eingehender linguistischer Untersuchungen, die auffallende indonesische Einflüsse auf Inseln der Salomonen, der Banks-Gruppe und der Neuen Hebriden erkennen ließen, daß die melanesischen Sprachen ursprünglich von verschiedener Art waren und daß ihre augenscheinliche Gleichförmigkeit auf den Einfluß indonesischer Kolonisten, die auf den kleineren Inseln siedelten, zurückzuführen sei. 26 20

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B. STILLFRIED, Die soziale Organisation in Mikronesien. Acta Ethnologica et Linguistica. Hg. v. W. KOPPERS und R . H E I N E - G E L D E R N . Nr. 4 . Wien 1 9 5 3 . S . 1 0 4 / 1 0 5 . Siehe auch E. W. GIFFORD, Tongan Myths and Tales. B. P. Bishop Museum Bull. 8. Honolulu 1924.

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STILLFRIED, a . a . 0 . , S . 1 1 5 .

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P. H. BUCK, Vikings of the Sunrise. New York 1938. S. 41 ff. Ebenda, S. 307 ff. A. M. HOCART, Who are the Melanesians? Journ. of the Roy. Anthrop. Inst, of Great Britain and Ireland. Bd. LIII. 1923, S. 472; siehe schon F. MÜLLER, Grundriß der Sprachwissenschaft. II. Bd. II. Abt. Wien 1882. S. 160. S. H. RAY, A Comparative Study of the Melanesian Island Languages. Cambridge 1926, S. 595ff. Schon CHURCHILL (S. O.) glaubte ja, Reste einer alten polynesisehen Sprache in

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22 Beiträge zur Völkerforschung

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Später h a t dann noch 0 . D E M P W O L F F die Verwandtschaft der melanesischen u n d polynesischen Sprachen m i t der H y p o t h e s e zu erklären versucht, daß ein hellfarbiger Volksstamm m i t einheitlicher Sprache Ozeanien kolonisierte, auf den Inseln, w o Malaria u n d andere Seuchen herrschten, unterging u n d sich auf den malariafreien Inseln hielt u n d entfaltete 2 7 — w o m i t die Überlegungen v o n N I E U W E N H T J I S hinsichtlich der mikronesischen Wanderroute (s. o.) entkräftet werden k ö n n t e n . 2 8 E s ist in diesem Zusammenhang n u n recht bedeutungsvoll, daß die neueren linguistischen Untersuchungen v o n Gr. W . GRACE29 u n d ihre Auswertung durch W . H . G O O D E N O U G H die vorhergehenden Überlegungen zu bestätigen scheinen. D e n n G O O D E N O T J G H folgert aus der Verteilung der Sprachgruppen i n Ozeanien, daß malaio-polynesische Völker hier und dort an den Ufern der größeren Inseln Melanesiens, die schon v o n „ P a p u a " b e w o h n t waren, siedelten u n d sich d a n n weiter in den Pazifik hinauswagten. Die N e u e n Hebriden sind nach i h m ein Ausgangspunkt weiterer Wanderungen nach Viti, R o t u m a und Westpolynesien. 3 0 Eine gewisse Bestätigung dieser Folgerung finden wir auch in Untersuchungen des Polynesischen. A . B U R G M A N N Z. B. wies vor fast zwei Jahrzehnten darauf hin, daß das Tonganische „zu der ältesten feststellbaren Entwicklungsschicht des Polynesischen" 3 1 gehöre. Dieser B e f u n d wurde vor wenigen Jahren durch die

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Melanesien ermittelt zu haben und nannte sein Werk "The Polynesian Wanderings" im Untertitel "Tracks of the Migration Deduced from an Examination of the Proto-Samoan Content of Efate and other Languages of Melanesia". O . D E M P W O L F F , Deduktive Anwendung des Urindonesischen auf austronesische Einzelsprachen. 17. Beiheft z. Zeitschr. f. Eingeborenen-Sprachen. 1937. S. 193. In neuerer Zeit hat A. R I E S E N F E L D in seiner Arbeit über die Megalithkultur hellhäutige austronesische "stone-using immigrants" angenommen, die nach den "aboriginal Papuans", jedoch vor den "dark-skinned Melanesians" im melanesischen Gebiet einwanderten und dann z. B. von den Salomonen über Viti schließlich auch nach Polynesien zogen (The Megalithic Culture of Melanesia. Leiden 1950. S. 679 ff.). Nach seinen Zeitbestimmungen (Viti wurde erst um 1600—1645 erreicht) gehört diese Wanderung nicht mehr in den Rahmen unserer Diskussion, sofern man nicht eine andere Route, wie z. B. jene über die Neuen Hebriden (von Maevo nach Polynesien) auf eine sehr viel frühere Zeit festlegen kann. Vgl. G. W. G R A C E , Subgrouping of Malayo-Polynesian. American Anthropologist. Bd. 57. 1955. S. 337 ff. — G R A C E hat seine Gliederung der Sprachgruppen allerdings ohne nähere Angaben der von ihm angewendeten Kriterien veröffentlicht. W. M I L K E stellte demgegenüber eine von ihm erarbeitete Gliederung (Zur inneren Gliederung und geschichtlichen Stellung der ozeanisch-austronesischen Sprachen. Zeitschr. f. Ethnologie. Bd. 83. Heft 1 . 1958. S. 58ff.) auf, in der er bestreitet, „daß die mittleren Neuen Hebriden enger mit Fiji, Polynesien und Rotuma zusammengehören als mit ihren Nachbarn im Süden . . . und im Norden . . . " W. H. GOODENOUGH, Oceania and the Problem of Controls in the Study of Cultural and Human Evolution. Journal of the Polynesian Society. Bd. 66. Nr. 2. 1957, S. 148. A. B U R G M A N N , Syntaktische Probleme im Polynesischen mit besonderer Berücksichtigung des Tonganischen. Zeitschr. f. Eingeborenen-Sprachen. Jg. X X X I I . 1941/42. S. 6f.; s. a. O. D E M P W O L F F , Das austronesische Sprachgut in den polynesischen Sprachen. Peestbundel uitgeg. d. h. Koninklijk Batav. Gen. v. Kunst, en Wetensch. T. 1. Weltevreden 1929. S. 75.

Zur Theorie der polynesischen Einwanderung

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Arbeit von S. H. E L B E R T weiter präzisiert: ,,The most complex and archaic language phonemically is Tongan". 32 Nach ihm könnte Tonga „die ursprüngliche Heimat der Polynesier innerhalb von Polynesien" sein, sofern Wanderungen mit sprachlichen Vereinfachungen verbunden wären und die Daheimgebliebenen alte Formen bewahrten. 33 K . P. E M O K Y folgerte neuerdings, auch auf Grund der linguistischen Forschungen von E L B E R T und G R A C E : " . . . the historical perspective introduced by considering the amount of language change, time involved in the change, and direction of spread, calls for a revision of thinking concerning the entry into Polynesia of the ancestors of the Polynesians." 34 Nach ihm begann die menschliche Besiedlung Polynesiens mit der Einwanderung weniger kleiner Gruppen von Seefahrern, die von Inseln nicht weit im Westen dieses Gebietes kamen, den Kern eines Mischlingsvolkes bildeten und als solches sich über Polynesien ausbreiteten. Und er weist hinsichtlich der grundsätzlichen Ähnlichkeit der Bewohner aller dieser Eilande auf den Befund von H. L. S H A P I R O hin 35 , daß die polynesische Bevölkerung in ihrem physischen Erscheinungsbild eine fundamentale Einheit zeige, die notwendigerweise von einer "basic physical community" abzuleiten sei. Es scheint so, daß wir nach diesen Ergebnissen mit der Möglichkeit einer Einwanderung der „Polynesier" über Melanesien in den Tonga-Bereich rechnen können. Entsprechend den Folgerungen von H O C A R T , R A Y und D E M P W O L F F (s. o.) ist es durchaus möglich, daß hellhäutige und schlichthaarige Einwanderer den melanesischen Inselbogen entlangzogen, dort vielleicht auch kolonisierten und zugrunde gingen (bzw. vom fremden Volkstum aufgesogen wurden) und daß, gerade auch nach den Resultaten von G R A C E und E L B E R T , Gruppen von ihnen Westpolynesien erreichten. H. K A H L E R kam vor einem Jahrzehnt zu dem Schluß, daß kein wesentlicher Unterschied zwischen den polynesischen und den indonesischen Sprachen bestehe, daß die Bezeichnung „polynesische" Dialekte rein linguistisch nicht mehr zu rechtfertigen sei und diese den indonesischen Sprachen zuzurechnen wären. 36 Das sei hier nur im Hinblick auf R A Y S indonesische Kolonisten in Melanesien erwähnt, von denen ein Teil somit Westpolynesien erreicht hätte. Doch diese These muß selbstverständlich noch gründlich geprüft werden, vor allem auch mit ethnologischen und archäologischen Methoden (Grabungen und 32

33 34 35

36

S. H. ELBERT, Internal Relationships of Polynesian Languages and Dialects. Southwest. Journ. of Anthropology. Bd. 9. 1953. S. 163. Diesbezüglich gibt es, wie man weiß, jedoch auch Gegenbeispiele. K. P. EMORY, Origin of the Hawaiians. Journ. of the Polynes. Society. Bd. 68. Nr. 1. 1959. S. 33f. H. L. SHAPIBO, Physical Differentiation in Polynesia. Pap. of the Peabody Mus. of Am. Arch, and Ethn. Bd. 20. 1943. H . KAHLER, Die Stellung der polynesischen Dialekte innerhalb der austronesischen Sprachen. Zeitschr. d. Dt. Morgenland. Ges. N. F. Bd. 25. 1950 (1951). S. 646ff.

340

GERD KOCH

Radiocarbondatierung). Die Anwendung der letzteren ist noch in den Anfängen, zeigt aber schon einige interessante Ergebnisse37, und mit Hilfe der ersteren wird die Arbeit nicht einfach sein, wie z. B. aus den Untersuchungen von E. G. BURROWS38 ersichtlich ist, die keine exakteren Schlüsse bezüglich der Einwanderung zulassen, was der Autor ja auch selbst betont. Eine weitere Frage ist, ob wir mit einem einzigen Einwanderungsvorgang rechnen müssen, oder ob etwa mehrere Einwanderungen in das polynesische Meeresgebiet stattfanden, das ja dann später augenscheinlich reich an Zufallswanderungen wie an Planfahrten39 gewesen ist. Dabei könnten die melanesischen Sprachen Mikronesiens auch — ähnlich wie im melanesischen Gebiet — durch eine Überlagerung voraustronesischer Sprachen mit austronesischen (mit dem ,,Polynesischen") entstanden sein, worauf ja schon S P E I S E R hinwies40, und somit wäre die Hypothese eines weiteren Wanderzuges der Hellhäutigen und Schlichthaarigen nach Mikronesien aufzustellen. In diesem Zusammenhang ist auch bemerkenswert, daß B. AN ELL bezüglich des Fischereigerätes eine sehr deutliche Grenze zwischen Melanesien und Polynesien sieht und für das polynesische Fischereigerät keine Verwandtschaft mit dem Malaiischen Archipel, sondern mit NOAsien, vor allem mit Japan, ermittelt hat.41 Erstaunlich sind z. B. auch die bisherigen Ergebnisse der Blutgruppenforschung, die, entgegen allem linguistischem und kulturellem Befund, auf eine enge Verwandtschaft zwischen Indianern und Polynesiern deuten und eine solche nicht zwischen Polynesiern einerseits und Melanesiern, Mikronesiern und Indonesiern andererseits erkennen lassen.42 R. T. S I M M O N S schrieb jedoch dazu, daß die diesbezüglichen Erkenntnisse noch unzulänglich und unvollständig seien und daß nur die Anfangsphase dieser Forschungen bisher durchgeführt sei.43 Unter den wenigen Blutgruppen-Untersuchungen war einige Jahre danach auch eine solche, von Tonganern44, nach der 37

38

39

Vgl. A. SPOEHR, Time Perspective in Micronesia and Polynesia. Southw. Joum. of Anthrop. Bd. 8. 1952. S. 460FF.; H. L. SHAFIRO und R. C. SUGGS, New Dates for Polynesian Prehistory. Man. Bd. L I X . London 1959. S. 12/13. E. G. BURROWS, Western Polynesia. A Study in Cultural Differentiation. Etnologiska Studier. Bd. 7. Göteborg 1938. Vgl. S. 155/156. G. KOCH, Zum Problem der polynesischen Fernfahrten. Ethnologica. Neue Folge. Bd. 2. Köln 1960. S. 220-231.

40

F . SPEISER, a. a. 0 . , S. 76.

41

B. ANELL, Contribution to the History of Fishing in the Southern Seas. Studia Ethnographica Upsaliensia. Bd. I X . 1955. S. 246/247. J. J. GRAYDON, Blood Groups and the Polynesians. Mankind. Bd. I V . Nr. 8. 1952. S. 329ff.; R. T. SIMMONS, A Report on Blood Group Genetical Surveys in Eastern Asia, Indonesia, Melanesia, Micronesia, Polynesia and Australia in the Study of Man. Anthropos. Bd. 51. 1956. S. 511.

42

43

R . T . SIMMONS, a. a. O . , S. 512.

44

O. KOOPTZOFF u. R. J. WALSH, The Blood Groups of Some Native Inhabitants of the Tongan Islands. Oceania. Bd. X X V I I . Nr. 3. 1957. S. 214ff.

Zur Theorie der polynesischen Einwanderung

341

diese zwischen den Vitiern und den Maori stehen. Die Ursache dafür dürften die früher ja häufigen Kontakte der Tonganer mit Viti sein, während sonstige "gradients between Melanesia and Polynesia" vielleicht auch mit einer Wanderung der „Polynesier" über Melanesien in ihre jetzige Heimat erklärt werden könnten, eine Hypothese, die O. K O O P T Z O F F und R. J . W A L S H unter anderem aufstellen und die natürlich nur dann annehmbar wäre, wenn auch für polynesische Archipele jenseits der Westregion derartige "gradients" nachgewiesen würden. Gegen die Möglichkeit vieler, voneinander unabhängiger größerer Einwanderungen auf verschiedenen Routen spricht eigentlich die Tatsache der weitgehenden Homogenität des polynesischen Volkes und seiner Kultur 4 5 ; dieses Volk ist noch dazu über einen gewaltig großen Raum verstreut. Schon W. S C H M I D T schrieb ja 1899: „Gerade diese so weitgehende Einheitlichkeit der polynesischen Sprachen läßt es denn auch wohl als das einzig Richtige erscheinen, die Polynesier bei ihrer Abtrennung von den Melanesiern 46 nicht als ein mächtiges, großes Volk aufzufassen, sondern nur als einen der vielen kleinen Stämme, die damals nebeneinander standen." 47 A. S H A K P , der — etwas einseitig — die Polynesier als Zufallswanderer betrachtet 48 , rechnete uns vor, daß die gesamte Bevölkerung Polynesiens um 1800 theoretisch auf „eine Handvoll Leute" zurückgeführt werden könnte, die vor 2000 oder 3000 Jahren dieses Gebiet erreichten und sich in mäßigem Verhältnis konstant vermehrten. 49 Wenn auch der Ursprung des polynesischen Volkes kaum in ein oder zwei Bootsbesatzungen allein zu suchen ist, sollte man andererseits jedoch die Theorie großer Volksbewegungen revidieren zugunsten einer zahlenmäßig wahrscheinlich recht begrenzten Einwanderung. 45

46

47 48

E . G. BURROWS, a. a. O . , S. 1 5 6 : "a fundamental unity of Polynesian Culture". Diese „Abtrennung" faßte SCMHIDT noch anders als wir, nämlich im Sinne einer sprachlichen Ableitung der Polynesier von den Melanesiern auf, eine Ansicht, die, wie auch KAHLER (a. a. O. S. 658) zeigte, nach dem Stand der heutigen Forschung nicht vertretbar ist. W. SCHMIDT, Über das Verhältnis der melanesischen Sprachen . . . a. a. O., S. 53. A. SHARP, Ancient Voyagers in the Pacific. Penguin Books, Harmondsworth 1 9 5 7 ; vgl. G . KOCH, a. a. O.

49

A . SHARP, a. a . O . , S . 5 7 .

ZUR GESELLSCHAFTSORGANISATION DER TURKMENEN Die Stammesstruktur der Teke Von

WOLFGANG KÖNIG,

Leipzig

Eines der charakteristischsten Merkmale der turkmenischen Gesellschaftsordnung bildete in der Vergangenheit die Stammesstruktur. Dieses System der Gesellschaftsorganisation hatte sich bei den Bodenbauer-Turkmenen, besonders aber bei den viehzüchtenden Turkmenengruppen, teilweise bis unmittelbar zur sozialistischen Umgestaltung in so ausgeprägter Form erhalten, daß vielfach die Meinung vertreten wurde, die Turkmenen hätten noch im XIX. und zu Beginn des XX. Jahrhunderts im Stadium der klassischen Urgemeinschaftsordnung gelebt. Noch im Jahre 1929 hieß es z. B. in einem Aufsatz über die „Sowjetisierung der Nomadenterrains": „Die gesellschaftlichen Verhältnisse haben sich in den Nomadengebieten auf der Grundlage der Gentilgliederungen herausgebildet, die sich bis zum heutigen Tage erhalten haben. Infolgedessen herrscht bis heute dort der Gentilvorsteher, der auf der Grundlage festgesetzter Sitten, Traditionen und der alten Grundsätze faktisch seine Gens leitet." 1 Tatsächlich kann jedoch keine Rede davon sein, daß man es bei den als „Gentes" bezeichneten Kollektiven mit echten urgesellschaftlichen Gemeinschaften zu tun hat. In ihrer ursprünglichen Form hatte die Gentilgesellschaft bei den Turkmenen offenbar nie existiert, sie schied bei den mittel- und zentralasiatischen Viehzüchtervölkern bereits in jenen nicht näher zu bestimmenden Epochen aus dem Leben, als die Herden in Sondereigentum übergingen und damit völlig neue gesellschaftliche Verhältnisse geschaffen wurden. Wenn man also von einer „Gentilstammesstruktur" bei den Turkmenen spricht, so sind unter den Begriffen „Stamm" und „Gens" von vornherein keine Gentilinstitutionen im eigentlichen Sinne zu verstehen, sondern bestimmte Formen der gesellschaftlichen Organisation, die sich unter den spezifischen Bedingungen der Produktions- und Lebensweise der Viehzüchterbevölkerung in der Vergangenheit herausgebildet hatten. Ganz offensichtlich tritt der historisch sekundäre Charakter der Stammesstruktur bei den spätmittelalterlichen Turkmenen zutage, bei denen sich die Stämme und Gentes gleichsam unter den Augen der Geschichte formierten. 1

ATABAEV, K . , S . 3 0 .

Zur Gesellschaftsorganisation der Turkmenen

343

I m X I V . — X V I . Jahrhundert vollzog sich in den Transkaspisteppen der große Umschmelzungsprozeß der Turkmenen. Die ehemals mächtigen Stämme zerfielen, und neue, bisher kleine und unbekannte Gruppierungen formierten sich aus den verschiedenen Splittergruppen zu neuen Einheiten 2 , die in der Folgezeit als die herrschenden Stämme wie Jomuten, Teke u. a. auf den Plan traten. Man muß sich die Herausbildung dieser Vereinigungen offenbar so vorstellen, daß sich einzelnen starken Kriegsanführern, die an der Spitze mehr oder weniger umfangreicher Verwandtengruppen standen, andere Einheiten anschlössen oder im Kampf u m die Vormachtsstellung unterworfen und gewaltsam angegliedert wurden. Diese durch Abhängigkeit, Unterwerfung oder freiwilligen Zusammenschluß entstandenen Gebilde, die anfänglich durch gewisse gemeinsame wirtschaftliche (Nutzung eines bestimmten Weideterritoriums) und politisch-militärische (Schutz des Nomadenterrains vor fremden Gruppen, gewaltsame Ausdehnung des eigenen Territoriums auf Kosten benachbarter Einheiten) Interessen 2

Ein anschauliches Bild von den ethnischen und gesellschaftlichen Prozessen, die sich im XIV./XY. Jh. in den Transkaspisteppen vollzogen, vermittelte der chivinische Chronist und Khan ABUL-GHASI. In seiner Beschreibung der ins XIV. Jh. fallenden Genese der Turkmenenstämme Chisr und Ali-eli, die noch zu Beginn des XVI. Jh. am Usboi wohnten, legt der Autor des „Stammbaumes der Turkmenen" die Entstehung und den historischen Charakter der Gentil-Stammesorganisation dar, wie man sie sich im Prinzip ähnlich bei anderen Gruppierungen vorstellen muß. Die freilich in legendärer Form gegebene und von phantastischen Elementen durchsetzte Darstellung lautet in Auszügen wie folgt: „Aus dem Stamm der Salor lebte in den Abul-Khan-Bergen (Große Baichane, W. K.) ein gewisser Arsari-Bai. Da hörte der Zar des Iran . . ., daß Arsari-Bai . . . eine schöne Tochter hat, die Mama-Bike heißt. Er gab für sie viele Schätze, der Bai gab aber seine Tochter nicht. Als Koma-Bek (offenbar ein turkmenischer Anführer, W. K.) davon hörte, zog er mit einer großen Abteilung aus und machte in den Abul-Khan-Bergen bei dem Brunnen Düker Arsari-Bai zum Märtyrer, vernichtete seinen Stamm und nahm Mama-Bike gefangen. Nachdem er nach Hause zurückgekehrt war, heiratete er sie und hielt sie viele Jahre. Nachkommenschaft hatte er jedoch von Mama-Bike nicht. Aus diesem Grunde sandte er zu den Söhnen Arsari-Bais, damit die Brüder sie zurücknahmen . . . Sie (Mama-Bike, W. K.) hatte einen verheirateten Sklaven. Dieser Sklave hatte vier Söhne, und zwei Töchter. Den ältesten Sohn nannte man Chisr, den zweiten Ali, den dritten Ik-Bek, den vierten Kaschga... Alle vier wurden wohlhabende und reiche Herren, jeder von ihnen siedelte sich an (MamaBike hatte die Sklavensöhne im Alter offenbar freigelassen, W. K ) . Chisr-Dshure trieb Bodenanbau am Amu-Darja . . . In dieser Zeit nannte man die Usbeken Mongolen. Vier Mongolen kamen und traten bei Chisr als Arbeiter ein. Darauf kamen sechs Saloren und wurden ebenfalls Arbeiter. Alle wurden sie reich. Von allen Seiten versammelten sich Hungrige, Abgemagerte und Beraubte und, indem sie sich mit ihm (Chisr, W. K.) vereinigten, siedelten sie sich an. Jedem, der sie fragte: „aus welchem Geschlecht stammt ihr?", antworteten sie: „Wir sind Leute Chisr-Bais." Allmählich begann man sie Chisr-Ili zu nennen (Stamm Chisr). Jetzt erzählen wir von dem jüngeren Bruder Chisrs — Ali. Ali siedelte sich gleich seinem älteren Bruder am Ufer des Amu-Darja an und wurde reich. Arme und Habenichtse von den Turkmenen und Usbeken ließen sich in seiner Nähe nieder. Alle nennt man Ali-Iii (Stamm Alis) . . . (ABTJL' — GAZI — BOCHADUR-CHAN, S. 68/69.)

344

WOLFGANG K Ö N I G

verbunden waren, schufen zum Zwecke der bewußtseinsmäßigen Festigung und Erhaltung der geschaffenen Einheit ein genealogisches Schema, das auf der Vorstellung der Abstammnung von einem gemeinsamen Stammvater und der durch Filiation entstandenen Blutsverwandtschaft der einzelnen Stammesglieder beruhte. Dieser Stammbaum, der zunächst Stammbaum der herrschenden Gruppe, des Kerns der sich neu formierenden Einheit war, wuchs sich im Laufe der Zeit in dem Maße, wie weitere Vereinigungen als einzelne Familien oder Familiengruppen in den Verband Eingang fanden, zu einem vielzweigigen genealogischen Schema aus, in dem die neuen Elemente allmählich ihre eigene Genealogie mit der des „Wirtsstammes" verflochten. Spaltungen, Vermischungen, Umsiedlungen, Vergrößerung der Bevölkerung auf natürlichem Wege, ließen zudem ständig neue Gruppierungen sich herausbilden, die sich als weitere Glieder in das bestehende System einfügten. Auf diese Weise wurden der komplizierte historische und soziale Prozeß der Entstehung, Ausbildung, ständigen Veränderung bestimmter real existierender Einheiten und Gruppierungen und deren durch Produktions- und Lebensweise sowie militärisch-politische Faktoren bedingte Organisationsformen verzerrt in der Ideologie als ein ideales genealogisches Schema in Form des Stammbaumes widergespiegelt und in die traditionelle Gentil-Stammesorganisation gekleidet. Die ersten detaillierten Mitteilungen über die Stammesstruktur der Teke wurden von den russischen Forschern M. N. G A L K I N 3 (1868) und N. G . P E T R T J S E V I Ö 4 (1880) veröffentlicht. Nach P E T R U S E V I Ö gliederte sich der Stamm als 3

GALKIN, M . N „ S. 7 / 8 .

4

PETRUSEVIC, N . G., S. 32/33.

Die weiteren Materialien, die über die Gentilorganisation der Teke vorliegen, wurden zu verschiedenen Zeiten von verschiedenen Forschern oder Verwaltungsbeamten gesammelt und weichen sowohl in der Schreibung der einzelnen Gentilnamen, als auch in der Stellung, die den Gentes im Stammessystem zugeschrieben wird, bisweilen voneinander ab. Diese Erscheinung erklärt sich einmal daraus, daß die tekinischen Gewährsmänner, nach deren Mitteilungen die Aufzeichnungen gemacht wurden, die umfangreiche Genealogie nicht in allen Einzelheiten im Gedächtnis bewahren konnten und sie jeweils nach Vermögen von ihrem Standpunkt aus darstellten, zum anderen aber, daß die Stammesorganisation selbst ständig in Bewegung war. Neue Glieder wuchsen, alte starben ab, verloren ihre Bedeutung und gerieten in Vergessenheit. Es ist aus diesem Grunde nicht möglich, die genaue Zahl der Gentes der Teke zu irgendeiner Zeit zu ermitteln oder eine endgültige Liste aufzustellen. Wenn V I N N I K O V Z. B. nach umfangreichen Untersuchungen zu dem Ergebnis kam, daß sich bei den Merv-Teke in der 2. Hälfte des XIX. Jh. die „Otamysch . . . in 24, und die Tochtamysch in 22 kleinere Gentiluntergruppen aufteilten" ( V I N N I K O V , J. R., S. 6), so gibt er nur das „ideale" historische Gentilschema wieder. Die Zahl 24 hat in der Stammesorganisation der Turkmenen seit jeher eine große Rolle gespielt, was offenbar auf die Einteilung der Vorfahren der Turkmenen, der Ogusen, in 24 Stämme zurückgeht. (Vgl. dazu V A S I L ' E V A S Mitteilung über die 22 bzw. 24 Gentes der Nuchurli — V A S I L ' E V A , G. P., S. 177.) In Wirklichkeit betrug die Anzahl der Gentes, wenn man darunter eben auch die „kleineren Gentiluntergruppen" versteht, die einen gemeinsamen Gentilnamen trugen, vielleicht mehrere hundert.

Zur Gesellschaftsorganisation der Turkmenen

345

agnatische Ahnenkette in absteigender Linie verlaufend in zwei große Abteilungen die ihren Ausgang von den Söhnen des mythischen Stammvaters — TekkeMuhammed5 — Tochtamysch und Otamysch nahmen. Die Abteilung Tochtamysch spaltet sich in Bek und Vekil auf. Bek zerfiel seinerseits in Goektscha, Aman-Schah, Char und Kongur, von denen sich wiederum kleinere Untergruppierungen abteilten. Von Goektscha: Jary-Goektscha, Kara-Goektscha, Taimas, Medsbek; von Aman-Schah: Kauku, Bereng, Agyr-basch; von Char: Char und Jakvh-, von Kongur: Ak-Kongur, Kara-Kongur. Vekil gliederte sich in Ak- Vekil und Kara-Vekil. AkVekil unterteilte sich in: Tschaschhyn, Kara-Jusup, Jasy, Kandshik, Kara-Jurme und Charun; Kara-Vekil in: Aryk, Karadsha, Shalil, Karabukri und Kachschal. Nach dem gleichen Prinzip gliederte sich die Abteilung Otamysch in Bachschi und Sytschmas. Bachschi war in Vanesch, Sejakir, Gek, Sultan-Aris und Borsos unterteilt, die sich jeweils wieder in kleinere Gruppierungen aufspalteten; Sytschmas gliederte sich in Utschruk, Perreng, Kara-Achmed, Topus, Ehe, Mirisch usw. Dem sedshere zufolge waren die Stammesglieder das Resultat der Vermehrung der Ahnengruppe. Die Bezeichnungen der einzelnen Gruppierungen wurden als die Namen der Eponymen aufgefaßt. Die linguistische Analyse der Stammesnomenklatur ergibt jedoch ein viel komplizierteres Bild und zeigt, daß sich hinter den einzelnen Bezeichnungen Elemente verschiedener historischer Entwicklungsstadien verbergen, die teilweise auf früheste Gesellschaftszustände zurückgehen. Nach den Angaben TOLSTOVS, der erstmalig die turkmenischen Gentilnamen anhand des von K A B P O V gesammelten Materials linguistisch untersuchte, traten bei den Teke unter anderen die Bezeichnungen Kamel ( = düje), Hund ( = it\ gurdschi = kleiner Hund), Schildkröte ( = rt> stammt das tschechische, niederlausitzer und polnische ber (ber), aber auch das oberlausitzer und russische bor, das serbokroatische und slowenische bar. Dies bedeutet wohl, daß die Slawen den Fenich schon in ihrer Urheimat kennen mußten. Es kann uns daher nicht überraschen, daß das Wort ber auch in alttschechischen Literaturdenkmälern auftaucht 4 , und daß es in Mähren von schriftlichen Quellen des späten Mittelalters an bis in die neue Zeit hinein angeführt wird. Vor allem erscheint es neben anderen Bezeichnungen zehentpflichtiger Feldfrüchte in Landtagschlüssen. 5 Als bekannte Kulturpflanze führen den Fenich auch alte tschechische Wörterbücher wie C. Z. W U S S I N S Lexikon tripartitum aus den Jahren 1700—1729 an 6 , ebenso neuere Autoren slawischer 1 2 3 4

5 6

POLiVKA, I V , 465. M a t t b i z i o , 19. M a c h e k , 29. G e b a u e r , I, 39.

Glossarium, 6. Beb, m. berowi Jahly, panicum, fenich, heidel, welschhirs, sargsame.

24

Beiträge zur Völkerforschung

370

LUDVIK KUNZ

Wörterbücher, vor allem J U N G M A N N in Böhmen (1835), L I N D E in Polen (1854), P F U L in der Lausitz (1866), B E B N O L Ä K in der Slowakei (1825) und K O T T S Mundarten Wörterbücher (1901 — 1910). Die mährischen Wallachen sprechen den Namen dieser Pflanze betont kurz a u s (her) u n d b i l d e n d i e A d j e k t i v f o r m e n brovy mlynec

( P e n i c h m ü h l e ) , brovä

kase

(Fenichbrei) usw. Seltener hört man sie muhdr nennen 7 , was an die ungarische Bez e i c h n u n g mohär,

sog. kleine Kolbenhirse

— Setaria

germanica

— erinnert. Der-

selben Form entstammt die Dialektbezeichnung musec, die ganz vereinzelt im Jahre 1946 im Hosteiner Bergland aufgezeichnet wurde. 8 Die Formen muec, muchar, mochar führen auch, ohne nähere Ortsbezeichnung, K O T T (Tfeti prispevek, 1906) und O T T E N S L E X I K O N (XXII, 893) an. F B A N T . B A R T O S kennt dieses Wort nur mehr in der Sekundärbedeutung als Hirsespreu und als Bezeichnung einer Hautkrankheit des Viehs (Dialektwörterbuch). In den böhmischen Ländern verschwand der Fenich aus der bäuerlichen Landwirtschaft bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fast vollkommen, so daß man Einzelheiten über seinen Anbau nur den spärlichen Nachrichten ethnographischer Arbeiten aus landwirtschaftlich zurückgebliebenen Gegenden entnehmen kann. 9 In Ostmähren hat sich der Fenich — den bisherigen Forschungen nach zu schließen — als Kulturpflanze wohl am längsten erhalten und läßt sich bis an das Ende des 19. Jahrhunderts verfolgen. In den nördlich vonYsetin gelegenen Gemeinden wurde er noch um das Jahr 1910 angebaut 10 , in den ausgedehnten Wäldern der Hosteiner Berge (besonders im Kataster der Gemeinde Rajnochovice) sogar noch in den Jahren 1920—1925.11 In den bergigen Teilen der Mährischen Wallachei wurde er zweifellos seit langer Zeit und in größerem Ausmaß angebaut, wie alte Erbverträge beweisen. So hinterließ Jura Klanica aus Bynina bei Val. Mezirici im Jahre 1661 „10 Metzen Hafer, 3 Metzen Roggen, 2 Metzen Weizen, 2 Metzen Fenich und 1 Metzen Hirse". Im Jahr 1623 überließ der Vater dem Sohn die Vogtei in Hruba Lhota mit sämtlichem Korn. Der Sohn gab der Mutter als Pflichtteil „harten Kornes 3 Metzen, an Buchweizen, Fenich und Weizen auch je einen Metzen". 12 Bis zu einer bestimmten Entwicklungsstufe der Landwirtschaft war der Fenich nicht nur in den böhmischen Ländern, sondern allgemein auch in Mittel- und Südeuropa ein ebenbürtiger Partner der übrigen Kulturpflanzen. Dies geht aus 7

8

Velke Karlovice-Leskove, Francova Lhota und Stävnik, der bereits auf der slowakischen Seite des Javornik liegt — Forschungen aus dem Jahre 1959. Die Informatorin J. Doleialovä, Osicko, Bez. Holesov, geb. im J. 1866, erinnerte sich aus ihrer Jugend an eine musec genannte Hirseart. — Forschungen aus dem Jahre 1959.

9

DOMLUVIL, TILSCHOVA.

10

DOMLUVIL, Sbornik 55.

11

Forschungen aus dem Jahre 1950.

12

DOMLUVIL, Obrazy, 165.

Fenich und Waldkorn

371

dem Werk des PETRUS DE CRESCENTÜS (1518)13 und aus der Erstausgabe von MATTHIOLIS Herbarium (1596) hervor, der den Fenich neben die Hirse stellt, so daß man aus seiner Formulierung auf eine ebenbürtige Vertretung beider Getreidearten in Böhmen schließen kann. Achtzig Jahre später bespricht die deutsche Ausgabe (1678) den Fenich ausführlich als Volksnahrung in Deutschland und Frankreich. Zu dieser Zeit begann er wohl allmählich den Brotgetreidefrüchten zu weichen, da ihn der sonst sehr genaue und in seinen Beschreibungen gründliche CHRISTOPH F I S S E R 1 4 in den böhmischen Ländern nicht mehr kennt. Dasselbe gilt von Handschriften lokalwirtschaftlicher Bedeutung, wie z. B. H A U E R S Handschrift aus dem Altbrünner Kloster (1742) oder den ebenso genauen Anweisungen für den Gutsverwalter von Nikolsburg (1760). HOHBERG sagt im Jahre 1695, daß der „Fenich mehr dem Geflügel als dem Menschen zur Speise dient, weil er geringe Nahrung gibt" (S. 55). Auch im 18. und 19. Jahrhundert wird der Fenich von der tschechischen physiokratischen Literatur vollkommen mit Schweigen übergangen, ja wir vermissen sogar indirekte Nachrichten aus der Zeit, als die Fachleute der sogenannten wirtschaftlichen Wiedergeburtsperiode den Bauern veraltete Anbauweisen und andere Mängel vorwarfen. Der Fenich ist also in den böhmischen Ländern bereits zwei Jahrhunderte lang eine periphere Wirtschaftspflanze, die noch eine Zeitlang in landwirtschaftlich weniger ergiebigen Gebieten persistierte. Von der einstigen Verbreitung des Fenichs auf dem Lande spricht jedoch deutlicher als alle diese Quellen die Tatsache, daß er sprichwörtlich geworden ist. In der Umgebung von Hofice in Böhmen wurde in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts verzeichnet: „Je jich tarn jako bru" — „Sie sind zahlreich wie Fenich"15, und JUNGMANN führt im Jahr 1835 an: „Gest toho jako bru" — „zahlreich wie Fenich". 16 Auch sagt man: „Mä vsl jako bru" — „Seine Läuse sind zahlreich wie Fenich". Nach ÖELAKOVSKY sagte man in Böhmen, nach L I N D E (1854) in Polen: „Lepssj proso niz her" — wörtlich: „Besser Hirse als Fenich" — von zwei Dingen das bessere wählen. Doch ist das Wort 6er aus der heutigen Umgangssprache vollkommen verschwunden; das geht aus der Tatsache hervor, daß die zuletzt erwähnte Redewendung im akademischen Wörterbuch der tschechischen Sprache (1936—1958) mißverständlich als Wortspiel erklärt wird, das auf der äußerlichen Ähnlichkeit der Worte proso — ber und prosititi — brdti Hirse — Fenich und bitten — nehmen beruhen soll. Auch aus den übrigen Ländern Mitteleuropas stammen Nachrichten über den Fenich. Von älteren Forschern bespricht ihn PETER ANDREAS MATTHIOLI aus13 14 15 16

Hirß ist vol bekannt un ist zweyerley (Buch 3, X X X , Sp.). Knihy hospodarske, 1679—1706. KOTT, Druh^ prispevek. Diese Pflanze gibt ungewöhnlich reichen, bis 200fachen Ertrag.

24*

372

LTRDVIK KUNZ

führlich in der Baseler Ausgabe seines berühmten Herbariums (1678): „Es ist der Fenich etlichen Völckern in Thracia so gemein, da ihn täglich zur Nahrung brauchen, daher Xenophon dieselben fieXivotpäyoi17 Fenichfresser nennt". 1 8 KAZIMIERZ MOSZYNSKI verfolgte in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts die rezente Grenze des Fenich-Anbaus in den nördlichen, z. T. auch in den östlichen Gebieten des slawischen Siedlungsraumes 19 und traf ihn nur mehr an wenigen Stellen des ehemaligen polnischen Siedlungsgebietes im sogenannten Polesi, in Weißrußland (am südlichsten bei Vilejka) und in Kleinrußland an. Die Literatur bot ihm Belege über den Anbau dieser Pflanze in den Ländern der Balkan-Slawen und in Ungarn. Für das deutsche Siedlungsgebiet Mitteleuropas beschreiben den Fenich der bereits erwähnte MATTHIOLI, der u. a. seine zahlreichen zeitgenössischen Bezeichnungen zusammenstellt („In hochdeutscher Sprach wird er auch genannt Fench, Penich, Heydelpenich, Panikorn, Fuchsschwanz, Heydel, Heydelfench, Butzweizen und kleiner Hirß"), und HÖCHBERGS umfangreiche landwirtschaftliche Schrift aus den Jahren 1687—1695.20 In der letzten Zeit hat den Anbau und die Verwertung des Fenichs im südoststeirischen Bauernland A N N I GAMERITH beschrieben 21 , die eine umfangreiche Zusammenstellung sprach- und kulturwissenschaftlicher Literatur zum Thema bietet und das Quellenmaterial der grundlegenden kulturgeschichtlichen Arbeit von MAURIZIO22 wesentlich erweitert. Bodenbereitung,

Aussaat

und Ernte des Fenichs in der mährischen

Wallachei

Augenzeugen beschreiben den Anbau des Fenichs in Höhenlagen von 600 bis 800 m an den mährischen Abhängen der Javorniky und im Bergland von Vsetin und Hostein folgendermaßen: Der Fenich benötigt humusreichen, mindestens 80 bis 100 Jahre alten Waldboden. Vorzüglich gedeiht er in Rodungen nach Buchen- oder gemischten Beständen, weniger gut nach Fichten- oder Tannen-Monokulturen. Den örtlichen Erfahrungen nach wurde die Rodung durch Abbrennen zur Aussaat vorbereitet. In Höhenlagen wurde der Fenich meist auf südwärts oder ostwärts gelegenen Waldtrassen ausgesät. Der Boden soll trocken sein, Schotter- oder Sandgrund ist kein Nachteil, doch verträgt der Fenich — gleich anderen Kulturpflanzen — keinen feuchten Lehmgrund. Auf tiefer gelegenen Grundstücken, die dauernd der Feldwirtschaft dienten, wurde er nur selten, nach der Gerste, angebaut, wenn es galt, ein Weidegrundstück oder eine erschöpfte Wiese in ein Dauerfeld zu verwandeln. 17

Xenophon, Anabasis, 1, 3, 22 und 7, 5, 12.

18

MATTHIOLI, Kräuter-Buch, S. 163.

" Kultura Ludowa Slowjan, I, 210. Georgica, 55. 21 öst. Zft. f. Volkskunde, 59, S. 97. 20

22

Die Getreide-Nahrung.

Fenich und Waldkoni

373

Bei den älteren Arten der Waldwirtschaft und dem damaligen Vegetationsbestand blieben auf den Rodungen reiche Rückstände von Reisig und anderem einst wertlosem Holz. Diese Abfälle wurden auf ähnliche Weise angehäuft wie Heu, allenfalls durch Reisig aus dem benachbarten Wald vermehrt. I m Mai wurden die Reisighaufen knapp vor der Fenich-Aussaat bei günstigem Winde angezündet und verbrannt, wobei das Unkraut und die sonstige Vegetation vernichtet wurden. Während die Baumstümpfe verglommen und die Rodung langsam auskühlte, gruben die Frauen den Humus um und verbreiteten die Asche mit der Harke über die ganze Rodung. Steine, Baumstümpfe und sonstige grobe Geländeunregelmäßigkeiten wurden nicht beseitigt, da sie der vorbereiteten Kultur nicht schaden konnten. Der Fenichsamen wurde gleich nach dem Auskühlen der Brandstätte auf den mit der Hacke gelockerten Boden ausgestreut und seicht vergraben. Bei reicherem Humusbelag genügte es, das Saatgut leicht zu verrechen. Von diesem Augenblick an bis zur Ernte erforderte der Fenich keinerlei Sorgfalt mehr. Das Abbrennen hatte für dieses Jahr die gesamte frühere Vegetation vernichtet und die reichlich sprießenden Fenichbüschel behaupteten bald das Feld, vereinzelte Disteln ausgenommen, die an den Baumstümpfen wuchsen. Unsere Getreidefrucht wurde weder vom Hochwild noch von anderen Schädlingen angefallen. Die Aussaat war sehr schütter — das Volk verglich sie mit der Dichte der Krautsaat — und wurde mit der Hand vorgenommen. Der Säer wählte mit großer Sorgfalt geeignete Stellen für das Reifen der Fenichbüschel. Dies geschah in der zweiten Maihälfte, die auch in den Bergen kaum mehr stärkere Nachtfröste bringt. In agrotechnischer Hinsicht sind gewisse Unterschiede beim Fenichanbau in der Mährischen Wallachei und in den südlichen Gebieten zu beobachten, die A N N I G A M E E I T H beschreibt. In Mähren handelt es sich um eine Kulturpflanze, welche einfache Formen des Waldfeldbaus begleitet, im Süden um einen regelrechten Teil der ländlichen Feldwirtschaft. Auf abgebrannten und von jeglicher Spreu befreiten Rodungen ist der Fenichbau eine der primitivsten Formen der Landwirtschaft. Auf dem Felde verlangt er dagegen sorgfältige Pflege, vor allem vieles Jäten. In diesem Falle dient er zugleich als Futterpflanze, in den Bergen gibt er nur hartes, grasloses und kurzes Stroh (er reift kaum einen Meter hoch), das wenig ergiebig ist und nur als Zusatzfutter verwendet wird. In grünem Zustand ist er natürlich ein hochwertiges Futter. I m Rahmen des Waldfeldbaus wurde der Fenich vom Landvolk des Vsetiner Berglandes nur ausnahmsweise in den Fruchtwechselzyklus eingereiht; er folgte dann der Gerste. Auf der Rodung wurde er ein einziges Mal ausgesät, und nur bei außerordentlich reicher Humusschicht wurde nach dem Fenich noch Hirse an-

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Ludvik Kunz

gebaut, so daß die Rodungen im zweiten, spätestens vierten Jahr wieder verwaldeten. Der Fenich verträgt eher Trockenheit als Feuchtigkeit. Unter günstigen Bedingungen, bei reichlichem Sonnenschein, reift er in der Mährischen Wallachei um die Mitte August, sonst erst Anfang September. Wenn die Halme ihre Ähren zu neigen beginnen, reift der Fenich über Nacht und beginnt auszufallen. Die Schnitter mußten deshalb auf der Hut sein. Der Fenich wurde mit der Sichel gemäht, vorsichtig gelegt und dem Buchweizen gleich zu kleinen Garben gebunden, die für zwei bis drei Tage — die Ähren nach oben gekehrt — aufgestellt wurden, um durchzutrocknen. Von Steillagen wurde die Ernte auf Grastüchern oder Schlitten und dann auf Leiterwagen eingebracht, die mit Piachen ausgekleidet waren. Die Erntearbeiten mußten sorgfältig vorgenommen werden, da der Fenich das Korn immer leichter verlor. Dreschen, Ertrag und Zubereitung des Fenichs

Auch im bäuerlichen Anwesen wurden die Fenichgarben nicht gespeichert, sondern unmittelbar nach dem Einbringen der Ernte gedroschen. Garbe um Garbe wurde vorsichtig auf die Tenne getragen, auf eine Holzbank oder einen Baumstumpf gelegt und das leicht ausfallende Korn mit einem Knüppel ausgeschlagen. Gedroschen wurde auf einer gestampften Tenne, wo die Kornverluste geringer waren als auf der hölzernen Tenne. Die Spreu wurde durch Schwingen vom Korn getrennt, das auf Piachen gebreitet an der frischen Luft nachtrocknen mußte und dann in kleinen Mengen (Behälter aus Holz oder Stroh) zur weiteren Bearbeitung gespeichert wurde. Bei feuchtem Wetter wurde das Korn vor dem Enthülsen nochmals auf dem Herd gründlich nachgetrocknet. Die Spreu wurde abgebrüht und als zweitrangiger Futterzusatz verfüttert, das harte, jeglichen Fütterungswertes bare Stroh wurde meist als Streu verwendet. Der Fenich bot unter den gegebenen Verhältnissen einen sehr guten Ertrag, der die sonst übliche Hirse übertraf. Die reiche Ableger bildende Pflanze ergab aus der sogenannten ,,cvrteckai" (ungefähr 1 kg Samen) bis zu fünf Metzen Kornes (etwa 200 kg). E. Domlttvil führt sogar einen wesentlich höheren Ertrag an23, ebenso A. Gamerith. 24 Die ganze Ernte wurde im Hause verbraucht. Der Marktpreis entsprach dem Preis der Hirse. Das Korn wurde nur in kleinen Mengen verarbeitet, da es bei längerer Lagerung bitter wird. Nach dem Dreschen wurde es in seichten Trögen geworfelt und durch Schwingen gereinigt. Dann wurden die Körner auf einer hölzernen Handmühle von den gelblichen bis rötlichen Hülsen befreit. Der Läufer einer solchen Mühle besteht aus Fichten- oder Tannenholz; er ist 30 cm hoch, mißt 40 cm im Durch23 24

Sbornik, S. 55. S. 111.

Fenich und Waldkorn

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messer (vgl. Abb. 4) und ruht auf einem ebenso großen, massiven, dreifüßigen Unterblock, in dessen Kranz er bis zu 5 cm tief einfällt. Im Zentrum der oberen Fläche des Unterblocks ist ein Zapfen eingelassen, auf dem der Läufer rotiert. Diese primitive Handmühle hat einen überraschend leichten Gang und wirkt durch das Eigengewicht des aus einem Baumstamm geschnittenen Läufers, dessen kaum merklich vortretende Jahresringe eine ähnliche Wirkung haben wie die Rauheiten der steinernen Mahlscheibe und die Enthülsung der Körner beschleunigen. 25 Die weitere Verarbeitung des Korns geschah dann auf einer Plache auf dem Tisch. Die Hülsen wurden vom Korn durch ein „ziberko" genanntes Sieb getrennt, dessen Zargen und Geflecht aus Holz waren. Das Enthülsen und die Reinigung wurden so oft wiederholt, bis das Fenichkorn vollkommen rein war. Der Hülsenabfall wurde verfüttert. Die enthülsten Fenichkörner wurden dann in der Handstampfe von ihrer inneren gelblich verfärbten Hülse befreit und zu einer feinkörnigen Graupe verarbeitet. Dies geschah in ähnlicher Weise wie bei der Herstellung von Gerstengraupe. Als Brei gekocht, war die Fenichgraupe die gebräuchlichste Zubereitungsart des Fenichs zu Nahrungszwecken. Da der Fenichbau in der Mährischen Wallachei von der Aussaat bis zum Kochen des Breis eine Angelegenheit der häuslichen Arbeit war, haben sich im Volk auch materielle Andenken erhalten. In ergologischer Hinsicht ist vor allem die Fenichmühle interessant. Gleich dem sonstigen volkstümlichen Gerät aus älteren Zeiten wurde sie aus dem örtlichen Werkstoff in einfacher doch handfertiger Weise — mit der Hacke und dem Meißel — hergestellt. Der ländliche Meister verwendete neben dem Holz kein anderes Material, vor allem kein Eisen, das damals auf dem Land noch teuer war. Besondere Kunstfertigkeit erforderte die Herstellung der Mahlflächen; die untere Mahlfläche wurde so ausgestemmt, daß ein bis zu 5 cm hoher Kranz stehen blieb, der das Herausfallen der Körner verhinderte (Abb. 4). Nicht minder geschickt mußte der Hersteller das Lager und den Bolzen im rotierenden (oberen) und statischen (unteren) Mahlteil zentrieren und ausmeißeln. Den aus Europa bekannten Handmühlen dieses Typs gegenüber haben die Mühlen der wallachischen Bergbauern ein verbessertes Aufschüttsystem: Der Läufer enthält eine Mulde, von der aus zwei exzentrisch gebohrte Rinnen das Mahlgut zwischen die Mahlflächen führen. Die äußere Form des Geräts wirkt altertümlich und zeigt wohl ausgewogene Proportionen, die aus der Funktion hervorgehen. Dieser Eindruck wird durch den aus einem einzigen Stück geschnitzten Unterteil, durch die schnittige, materialgerechte Bearbeitung der Oberfläche und durch die Haselrutenreifen erhöht, die Unterteil und Läufer schützend umfassen. 25

Der Fenich läßt sich so leicht enthülsen, daß man dies durch einfaches Wälzen der Körner mit der Hand auf einer ungehobelten Holzfläche erreicht. A . GAMERITHS Behauptung (S. 100), die Mahlflächen seien künstlich aufgerauht, entspricht daher kaum den Tatsachen.

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In der Bauart entsprechen die wallachischen Fenichmühlen den heute noch in der Steiermark verwendeten Handmühlen. Die unwesentlichen Unterschiede der Konstruktion beschränken sich auf Verschiedenheiten in der Kornzufuhr auf die Mahlflächen (einrinnig oder doppelrinnig), auf die Lagerung und das Material des Läufers (Holz- oder Eisenbolzen) und auf die Konstruktion der sogenannten Reibschale im statischen Unterblock (aus einem Stück gehöhlt oder mit einem äußeren Reifen versehen). Eine interessante ethnographische Parallele stellt zweifellos das Exemplar der hölzernen Handmühle (einer sogenannten KpynopyjKKa) vor, die im Jahre 1910 für die Sammlungen des späteren Völkerkundemuseums der UdSSR in Leningrad erworben wurde. Auffallend ist die lapidare Formung des hölzernen Unterblockes. Auch diese Handmühle hat einen Läufer mit Mulde und doppelrinniger Kornzufuhr. Sie stammt aus der Tscherkessen-Gemeinde Staryj Bschekadai (H. EnteKa^aÄ) im Kubangebiet und wird im Volk „uschga" (y>Kra) genannt. L. P. POTAPOV teilt mit 26 , daß ähnliche hölzerne Handmühlen bei der Bevölkerung des nördlichen Kaukasus in Gebrauch standen. Auch die sibirischen Russen, denen geeignete Steinarten fehlten, verwendeten hölzerne Handmühlen einfacher Konstruktion: Zwei mit eingeschlagenen Eisenplättchen aufgerauhte Birkenholzklötze wurden einfach aufeinandergelegt. Eine solche Handmühle beschreibt auch D. ZELENIN aus dem Norden Rußlands. 27 Weitere allen drei Mühltypen gemeinsame Merkmale, die allerdings nur sekundär aus der Konstruktion hervorgehen, kann man in ihrem spielend leichten Gang und in der Tatsache erblicken, daß sie im Sitzen bedient wurden. Als ethnographische Belege sind sie heute nur sehr selten zu finden. Trotzdem die Holzmühlen einst weit verbreitet waren, trifft man sie auch in Mähren nur mehr selten an. Als sperrige hölzerne Gegenstände verschwanden sie bald nach dem Erlöschen der Fenichwirtschaft. Die beiden Exemplare aus den Sammlungen des Moravsk6 museum in Brno sind — soweit bisher bekannt ist — die einzigen erhaltenen Stücke in tschechoslowakischen Museen. Diese geringe Zahl entspricht keineswegs ihrem seinerzeitigen Vorkommen. Dies geht u. a. aus der Tatsache hervor, daß der Gedanke, die Vorratsmulde unmittelbar auf dem Läufer anzubringen, auch bei steinernen Handmühlen verwirklicht wurde (vgl. die steinerne Handmühle im Museum zu Martin, Slowakei, Abb. 6, und das Lichtbild Plickas aus Zärieci, Abb. 5). Dieser technische Vorteil bot dem ländlichen Handwerker Anlaß genug, die Vorratsmulde mühsam aus dem Stein zu meißeln oder aus dem Holz zu schnitzen und fest an dem steinernen Läufer anzubringen. Sämtliche hier beschriebenen hölzernen oder steinernen Mühlen verbindet als kennzeichnendes Konstruktionsmerkmal die denkbar einfachste Art und Weise, wie der Handgriff des Läufers eingesetzt wurde (siehe Abb. 5). Plickas Bild aus 26 27

Briefwechsel Potapov-Kunz, 1959. Ostslawische Volkskunde, 88.

Fenich und Waldkorn

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Zarieci hält auch dieses beispielhaft primitive Detail fest. In typologischer Hinsicht ist es nicht ohne Belang, daß auch diese Handmühle im Sitzen betätigt wird. Die Bevölkerung von Ostmähren zählte den Fenich zu der sogenannten „strava", das ist „Nahrung". Unter diesem Sammelnamen verstand sie die Hirse, den Fenich, den Buchweizen, die Fisole, die Linse und die Bohne. Offenbar weist diese zweifellos alte Bezeichnung auf die entscheidende Rolle hin, welche die Breigerichte und die Hülsenfrüchte in der Volksnahrung einst spielten. Das Sammelwort „strava" ist keine örtliche Bezeichnung, auch in der fruchtbarsten Gegend der böhmischen Länder, im Flußgebiet der March, umfaßte es Hülsenfrüchte und Breigerichte. Die Getreidefrüchte werden dagegen in der Mährischen Wallachei auch heute noch „zbozi", das ist „Ware", genannt. Breispeisen und Hülsenfrüchte bildeten neben dem Kraut und den Milchprodukten die Ernährungsgrundlage des Landvolkes. Erst um die Jahrhundertwende erschienen als Hauptmahlzeit Kartoffeln, Kraut und — in steigendem Anteil — Brot und Fleisch. Die althergebrachten und auch im übrigen Europa noch lange Zeit überwiegenden Breispeisen 28 traten im Lauf von fünfzig Jahren weit in den Hintergrund, als sich das Produktionsniveau und damit auch der Lebensstandard der Bevölkerung zu heben begannen. Nur auf kleinen Almwirtschaften bildeten sie auch weiterhin das traditionelle Hauptgericht. Zweifellos erhielten sich diese Speisen vor allem deshalb, weil sie auf Milch zubereitet wurden, also aus praktischen und ökonomischen Gründen. 29 I m allgemeinen kann man sagen, daß der Fenichbrei eine Alltagsspeise war. In Milch gekocht würde er bloß gesalzen, in wohlhabenderen Häusern mit Butter, Sahne oder Speck aufgebessert, da er dem Hirsebrei gegenüber von schalem Geschmack, doch angeblich sehr sättigend war. Schon morgens wurde dieses Gericht für das übliche kalte Mittagessen oder Nachtmahl zubereitet. Holzfäller, Schnitter und Leute, die tagsüber außer Hause blieben, nahmen es mit auf die Arbeit. Soweit unser Gedenken reicht, war der Fenich in der Mährischen Wallachei das Brot der Armen; er wurde dort nicht etwa seines Nährwertes oder anderer Vorteile willen angebaut, sondern wegen seines ausgiebigen und bei jeder Witterung sicheren. Ertrages, der in diesem kargen Landstrich das entscheidende Produktionsmoment darstellte. In der genannten Schrift M A T T H I O L I S lesen wir über die Zubereitung und die Verbreitung des Fenichbreis: „Das gemein Volck in Frankreich und Teutschland, sonderlich aber an denen orten, da des Fenichs die menge geziehlet wird, machet gute brey darauß, ihr Gesind und Taglöhner darmit Zuspeisen, dann er ein gute speiß ist vor grobe, starcke leuth, als Tröscher, Holtzflößer und andere, die schwäre Arbeit thun müssen, weilen er bald sattiget. Die Franzosen kochen den Fenich mit wasser und butter, sieden ihn zu einer brey, salzen ihn danach und 28

MAURIZIO, 1 8 .

29

KUNZ,

Salasnictvi.

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LUDVIK KUNZ

wann sie den anrichten, so bestreyen sie ihn mit klein geschnittenen Leuchel und Dillkraut, ist ein Speiß für das Gesind, sie thun auch bißweilen ein wenig Essig dareyn, daß es sauerlechtig werde, ist also in heisser zeit anmutiger zu essen. Unser Baursvolck daß etwan verleckter ist, siedet den Fenich mit Milch zu einer brey, thut butter und saltz so viel genug darzu, speiset darmit sein Haußgesind dann er auff diese weiß wohl nähret." (S. 165) In der Steiermark gehört der Fenich noch heute zur Nahrung der ärmeren ländlichen Volksschichten. 30 Da unsere Quellen den Fenich nur als ländliche Speise erwähnen, ist es begreiflich, daß er weder von der mittelalterlichen kulinarischen Literatur 3 1 noch von den betreffenden Schriften der späteren Zeit, besonders des 19. Jahrhunderts, erwähnt wird. Die einfache Technik des Fenichbaus trägt altertümliche Züge: Die abgebrannte Rodung wird kultiviert, statt des Pfluges wird die Hacke, statt der Egge eine an Ort und Stelle hergestellte Reisigschlinge benutzt. Das Getreide wird mit der Sichel gemäht und meist auf Schlitten eingebracht. Auch die fortgeschrittenere Form des Anbaus auf dem Dauerfeld kennt nur den Haken, der den Boden bloß furcht und nicht wendet. Deshalb blieb der Haken auch dann noch im bäuerlichen Inventar, als der Pflug allgemein in Gebrauch kam (in der Mährischen Wallachei zwischen 1880 und 1910) und kommt sogar heute noch ab und zu gerade in jenen Gemeinden vor, wo Fenich und Buchweizen bis in die letzte Zeit angebaut wurden. Das Dreschen des Fenichs durch Ausschlagen der Körner stellt eine Technik vor, die für Gebiete mit geringer Getreideproduktion kennzeichnend ist 32 und angewendet wurde, wenn es sich um die Sichtung von Saatgut handelte 33 oder wenn man nach Erschöpfung der alten Vorräte ungeduldig auf neues Korn wartete und kleinere Mengen gewinnen wollte.34 Diese Technik des Getreidedreschens erscheint in Quellen des Altertums 35 und ist aus der Kulturgeschichte des Mittelalters bekannt. Daß sie seinerzeit auch in unseren Ländern allgemein verbreitet war, davon zeugt die Tatsache, daß die auf Sprachreinheit bedachten und aus dem lebendigen Wortschatz ihrer Muttersprache schöpfenden Übersetzer der Kralitzer Bibel das Ausschlagen der Getreidekörner, als allgemein übliche Art des Dreschens anführten: „zbirala gest klasy na poli az do vecera a coz sebrala, kygem vymlatila gecmenu" 36 oder in der Ausgabe aus dem Jahre 1740: „prutem tlukouc a vyr&zejic". 37 30

33 34 35

38 37

GAMERITH, S . 102.

31

ZIBRT, 1 9 2 7 .

32

RÜTIMEYER, S . 2 1 4 .

Der Verfasser hat diese Technik noch im Jahre 1950 im Mährischen Tor, in Spalov bei Odry, angetroffen. Das kam früher häufig nicht nur bei Häuslern, sondern auch bei vielen Bauern vor. RÜTIMEYER, S . 2 1 6 .

Bible Öeska, Praha 1929. Buch der Richter, Ruth 2, 17. 6,11.

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Fenich und Waldkoni

Das Waldlcorn Landwirtschaftlich steht dem Fenich eine zweijährige Getreidefrucht nahe, die im Volksmund kfibice, Icfibica (f.), das ist Waldkorn, genannt wird. Es handelt sich um eine veredelte Art des zweijährigen Roggens (Seeale cereale), die sich durch Staudenbildung auszeichnet und die botanische Bezeichnung Seeale cereale L., var. multieaule Ktzg. trägt. Dem tschechischen kfibice und dem westslowakischen skripica oder ikrica entspricht das deutsche Wort Staudenroggen. Im Tschechischen kommt diese Bezeichnung von der Mundartform kfib, d. h. kef (Staude), lefibiti se, staudenförmig wachsen. Diese Getreidefrucht wird auch Waldkorn, Johannisroggen oder Russisches Korn genannt und kommt in Europa in mehreren Varietäten, wie dem Böhmischen Gebirgsstaudenroggen, dem Schwedischen Schneeroggen und einigen anderen veredelten Abarten, vor. 38 Die Pflanze hatte einst große volkswirtschaftliche Bedeutung und wurde mit Erfolg im Waldfeldbau verwendet.39 Besonders intensiv war der Anbau in Mitteleuropa, von den Karpaten bis zum Schwarzwald, vor allem im 19. Jahrhundert, wobei die Absicht entscheidend war, den Waldboden auf das äußerste auszunützen und für neue Monokulturen vorzubereiten. In den böhmischen Ländern entwickelte CHRISTIAN L I E B I G in seinen bekannten periodischen Drucken „Der aufmerksame Forstmann" (Prag, 1825—1831) ein ziemlich ausführliches Programm einer solchen zusätzlichen Waldwirtschaft, in Sachsen tat dies zur selben Zeit der Forstökonom H E I N R I C H COTTE. Die rationalisierte Technik dieser Wirtschaft entwickelte sich zu zwei Grundtypen, dem Waldfeldbau (tschechisch polarem oder kopinafstvi) und der Baumfeldwirtschaft (nach H. COTTE). Sie wurde auch in Auwäldern betrieben, wo hauptsächlich Kartoffeln, doch auch Rüben, Mais und sogar Gemüse angebaut wurden ( F R I Ö ) . Von ethnographischem Interesse ist in diesem Zusammenhang nur der Waldfeldbau in den Bergen, der mit dem einfachsten Handgerät betrieben wurde, also seine traditionelle Erscheinungsform, die uns heute nur mehr in wenigen Archivund vor allem Sprachbelegen entgegentritt. Wir denken hier an die Ausdrücke kopanica (Rodeacker oder Bergwaldfeld)40, kopanice (Hauberg) — ein häufiger regionaler Ausdruck aus den Kleinen Karpaten, kopänka (ein karges, kleines Feld schlechthin)41 u. a. m. Für die letzte Periode des Waldieldbaus schöpfen wir die Quellen noch aus der lebendigen Volkstradition. Seine charakteristischen Kulturpflanzen waren der Fenich und der zweijährige Roggen; doch hat es den Anschein, daß der Fenich älter ist. Frühe Quellen schweigen vom Waldkorn, gedenken dagegen der Feldwirtschaft von Untertanen im obrigkeitlichen Wald und der daraus erfließenden Abgaben. So heißt es im Jahr 1663 auf den Gütern von Cervenä Recice in Böhmen: „Rodeacker dürfen (die Untertanen) in den Wäldern nicht 38 41

SCHINDLER, 1920, S. 79. Kuirz, 1950.

39

CHADT, 908.

40

DOMLUVIL, 1900, S. 54.

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anlegen, und wenn dies doch jemand täte, dann soll ihm der Ernteertrag weggenommen und eine Buße von 5 Schock auferlegt werden . . .". 42 I m Jahr 1700 sagt eine Instruktion der Herrschaft zu Vsetin: „Wer immer auch auf herrschaftlicher Rodung mit Erlaubnis der Obrigkeit Aussaat tun will, der soll dies bei der Behörde in Vsetin melden und von jedem Metzen 15 Kr. zahlen." (FRIÖ.) Die ältere Bauerngeneration der Mährischen Wallachei kennt das Waldkorn noch aus eigener Erfahrung. In den böhmischen Ländern wird es heute nicht mehr angebaut, und der Verfasser traf es im Jahre 1959 nur mehr ganz vereinzelt in kleinen Almwirtschaften auf den slowakischen Abhängen der Javorniky (östlich von Vsetin. an der mährisch-slowakischen Grenze) an. Die Pflanze wurde außerdem im Jahre 1950 in Mähren versuchsweise bei der Anlage von Windbrechern eingesetzt (POSPISIL). Obwohl wir verschiedene Abarten des Waldkorns aus dem Bergland kennen, handelt es sich keineswegs nur um eine Getreidefrucht des Waldes. Das Waldkorn wurde auch auf Dauerfeldern der Ebene, ja sogar auf den sogenannten „sihote" (sihot — eine durch Anschwemmung entstandene Flußinsel) angebaut. Das geschah bis in die jüngste Zeit u. a. am Wagfluß bei der Stadt Ilava (PAVELöiK). Diese Tatsache kann uns nicht überraschen, wenn wir bedenken, daß das Mikroklima des Flusses sich in mancher Hinsicht dem Bergklima nähert und daß der sandige, verhältnismäßig kühle Boden den Ansprüchen unserer Pflanze entspricht. In der Mährischen Wallachei wurde das Waldkorn eine Zeitlang auch als dreijähriger Roggen bezeichnet. Hier wurde nämlich bis gegen Ende des 19. JahrhundertsnurFrühroggenangebaut, erst später bürgerte sich auch der Winterroggen ein. Nach seinem Muster begann man dann, das Waldkorn schon im Herbst anzubauen(soweit dies auf Feldern geschah), so daß es im Kalendersinn „dreijähriger" Roggen genannt wurde (MICHAXÖÄK). Unter den Bauern der Mährischen Wallachei war es üblich, das Waldkorn auf Waldrodungen mit einer einjährigen Getreidefrucht als Untersaat oder, was einzelne Bauern um 1900 einführten, mit Bergklee auszusäen, der für Höhenlagen und unergiebige Böden geeignet ist. Die Saatmischung bestand regelmäßig aus je zwei Teilen Untersaat und einem Teil Waldkornsamen. J e nach der Höhenlage diente als Untersaat Hafer oder Weizen, auf Feldparzellen Buchweizen, in dem das Waldkorn besonders gut Wurzel faßt und wächst. Vereinzelt wurde sogar Korn (Seeale cereale L.) oder Weizen (Triticum vulgare ViU.) verwendet. Ohne Untersaat bauten es die Waldbauern nur als Wildweide und als Grünfutter an, auch wurde es für das Wild getrocknet. Im Berggebiet der mährisch-slowakischen Grenze förderten die Forstverwaltungen die Aussaat des Waldkorns und damit auch den kleinen Waldfeldbau noch vor fünfzig Jahren, als diese Praxis anderswo längst als schädlich erkannt worden 42

CHADT, 909.

Penich und Waldkorn

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war. Die Rodungen wurden sogar nur zur Vernichtung des Unkrauts abgebrannt, auch wenn sie nicht Anbauzwecken dienen sollten. Landlose und Bauern „pachteten" in der Umgebung von Velke Karlovice von der Forstverwaltung Waldroden, um sie abzubrennen und Waldkorn anzubauen. Als Entgelt mußten sie nach der Ernte die angebaute Fläche mit einer Fichtenoder Tannenmonokoltur besäen oder sonstige Arbeitsdienste leisten. Die ältere Generation der Forstökonomen war meist davon überzeugt, daß diese Art der Bodenbestellung Monokulturen zuträglich ist, und daß das auf einer abgebrannten Trasse aus dem Samen gezüchtete Holz nicht so „schütter" ist wie das Holz der auf die heute übliche Weise veredelten Kulturen. In der Mährischen Wallachei war die Bodenbestellung für den Anbau von Waldkorn und Fenich identisch. Auch in diesem Fall wurde mit Vorliebe aschengedüngter Waldboden für die Aussaat gewählt. Die Informatoren waren sich darüber einig, daß das auf dem Berg gezüchtete Waldkorn die Übertragung auf ein Dauerfeld nicht ohne weiteres verträgt. Es degeneriere in solchen Fällen und gäbe manchmal Körner, die kaum größer sind als Kümmel. Umgekehrt sei es nicht möglich, auf dem Feld gezogenes Waldkorn als Saatgut für die Bergwaldrodung zu verwenden. Da der Anbau des Waldkornes an manchen Orten der Mährischen Wallachei noch vor 10—15 Jahren vorgenommen wurde, konnten die Informatoren manche Einzelheiten mitteilen, die nicht des ethnographischen Interesses entbehrten. So ließ man z. B. die Saat, welche sonst mit der Hacke eingescharrt wurde, an günstigen Stellen von einer Schafherde einstampfen. Im Oravagebiet (Slowakei) wurden angeblich noch in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts zu diesem Zweck auch Ochsen verwendet. 43 Wenn das Waldkorn auf einem Getreidefeld angebaut werden sollte, wurde der Boden auf alte Weise mit dem Hakenpflug gefurcht, der sonst auch in den Berggemeinden der Mährischen Wallachei in den letzten zwei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts aus dem Gebrauch verschwunden war. Seine Verwendung hatte jedoch gerade beim Waldkom und Fenich sachliche Gründe. Hier genügte es nämlich, die Ackerkrume seicht zu furchen, was ja für das Gespann eine leichtere Arbeit bedeutete als das eigentliche Ackern des Feldes. Den nach Ansicht der örtlichen Bevölkerung unbedingt nötigen Waldboden konnte bloß eine zusätzliche Aschendüngung teilweise ersetzen. Diese wurde so vorgenommen, daß man das Reisig auf der Rodung brannte und seine Asche in Säcken auf das Feld übertrug. Das Saatgut wurde nicht mit der Hacke, sondern durch ein Gespann mit einer an Ort und Stelle aus Hagebutten- oder Apfelbaumzweigen hergestellten Schlinge eingescharrt. In den Höhenlagen der Javorniky wurde das Waldkorn um den St. JohannisTag (24. Mai) in einer Menge von 15 kg Saatgutmischung pro Metzen — also ziemlich schütter — ausgesät. Dichter gesät bildete es spärliche Ableger. Die 43

Laut Mitteilung von Angestellten der Porstverwaltung in Rajnochovice, 1950.

LuDviK Kunz

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Bauern sagten dann nach alten Wirtschaftsbüchern, daß es „verbrannt" sei. Im ersten Jahr wuchs auf der Rodung Hafer oder eine andere Zwischenfrucht, während das Waldkorn kaum 8—10 cm hoch wurde. Nach der Ernte der Untersaat bedeutete es für das Waldkorn durchaus keinen Nachteil, wenn es vom Wild abgeäst oder zur Schafweide wurde. Nach der Meinung des Volkes bildete es um so reichere Ableger, je gründlicher es vorher abgeweidet worden war. Die Not an Ackerboden führte in den Bergen sogar dazu, daß auf günstig gelegenen Rodungen vor dem Waldkorn noch Kartoffeln gepflanzt wurden. Das Kartoffelkrautwerk wuchs zwar bis zu einem Meter Höhe an, die Erdäpfel selbst waren jedoch nicht sehr wohlschmeckend. Trotzdem bewarb sich das Landvolk um gute herrschaftliche Rodungen, die oft von mehreren Familien gepachtet wurden. Auf Baumstümpfe gelegte Steine umgrenzten die Teilstückchen der Rodung, welche die Frauen bestellten. Im zweiten Jahr wurde in den mit der Hacke gelockerten Boden Waldkorn ausgesät, so daß die Forstkultur erst nach drei Jahren vorübergehender Bestellung des Waldgrundstückes zurückkehrte. Es sind Fälle bekannt, wo die Bergbauern mit Zustimmung des Waldbesitzers mit dem Waldkorn- auch Grassamen aussäten, um wenigstens eine Zeitlang besseres Gras zu ernten als dies sonst auf den Bergen üblich war. 44 Es war wohl die letzte Pauperisierungsstufe des Landvolkes, wenn die Holzfäller dieser Gegend auf den kleinsten und verstreut liegenden Waldlichtungen, die sie im Winter geschlagen hatten, Waldkorn pflanzten. Die landwirtschaftliche Nutzung von Waldtrassen zum vorübergehenden Anbau von Feldfrüchten war also in der Mährischen Wallachei mit dem Fenich und dem Waldkorn verbunden. Es gab mehrere Varianten der Fruchtwahl: 1.Jahr: Fenich 2. Jahr: Forst-Monokultur; oder: 1. Jahr: Waldkorn mit Untersaat von Hafer oder Gerste (Ernte der Untersaat) 2. Jahr: Waldkornernte 3. Jahr: Forst-Monokultur Bei reicherer Humusschicht wechselten: 1. Jahr: Fenich 2. Jahr: Waldkorn mit Hafer oder Gerste als Untersaat (Ernte der Untersaat) 3. Jahr: Waldkornernte 4. Jahr: Forst-Monokultur; oder 1. Jahr: 2. Jahr: 3. Jahr: 4. Jahr: 1. Jahr: 2. Jahr: 3. Jahr: 44

Kartoffeln Waldkorn (ohne Untersaat) Waldkornernte Forst-Monokultur; oder Waldkorn mit einjährigem Klee oder Gras (Klee-Ernte) Waldkornernte mit verbessertem Stroh Forst-Monokultur mit der Möglichkeit, das Gras zu verwenden.

KUNZ, 1950, S. 55.

Fenich und Waldkorn

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In den beschriebenen Gegenden reifte das Waldkorn zur selben Zeit wie der Roggen, um den 20. August, in kühlen Sommern erst im September, ja, es wurde sogar manchmal von frühen Schneefällen überrascht, die auf den Javorniky schon gegen Ende September kommen (so verschwand hier manchmal auch der Hafer unter der Schneedecke, der nach einem kalten Frühjahr erst Anfang Juni gesät worden war). In überreifem Zustand verliert das Waldkorn die Körner nicht so leicht wie andere Getreidefrüchte. Gemäht wurde mit der Sichel, da der Waldboden der Sense nicht entspricht. Auch konnte das langhalmige Waldkorn, auf diese altertümliche Weise gemäht, besser Hand- um Handvoll in kleine Garben gelegt werden als hinter der Sense. Die Garben wurden nur in Regensommern auf Sparren gestellt, da diese Getreidefrucht schon auf dem Halm genügend trocken ist. Gut gelüftet, wird das Waldkorn selten muffig. Die Sichelmahd war typische Frauenarbeit. Die Männer brachten das Getreide bloß ein, je nach dem Gelände auf dem Rücken, auf Schlitten oder Leiterwagen. Die Ernte wurde noch bei vollem Sonnenlicht eingebracht und sofort auf dieselbe einfache Weise gedroschen wie der Fenich (durch Ausschlagen). Bei allzulangen Waldkornhalmen war es vorteilhafter, die Körner durch Schläge gegen die Tennenwand herauszuschlagen. Dies war deshalb möglich, weil das Korn dieser Getreidepflanze einheitlich reift und leicht von der Ähre geht. Das bei den ersten Schlägen gewonnene Korn war am reifsten und besten und wurde deshalb gleich als Saatgut beiseite geschafft. Diese Auswahl und ein gelegentlicher Austausch von Saatgut waren die einzigen Formen der damaligen Saatgutpflege. Im beschriebenen Gebiet brachte das Waldkorn 7—8fachen Ertrag, auf gutem Humusboden in Buchenwaldrodungen auch mehr. Dieser relativ hohe Ertrag beruht auf der enormen Vermehrungsfähigkeit dieser Pflanze durch Ableger (im Jahre 1959 wurden auf dem St&vnik Büschel mit sechzig Halmen gezählt; diese Zahl bedeutet beim Waldkorn einen häufigen Durchschnittswert). Das harte, spröde, bis zu 200 cm hohe Stroh wurde nur als Beimischung zum Häcksel verfüttert. Der Waldkornhäcksel eignet sich seiner Härte wegen besser als Pferdefutter. In diesem Fall wurde er mit (gekochten) Waldkornkörnern als Kernfutter und wirksames Medikament gegen die Dämpfigkeit verabreicht. Da das auf Rodungen geerntete Waldkornstroh kein Gras enthält, ist sein Nährwert nur gering; es bildete deshalb meist nur Zusatzfutter zum rechten Stroh und Heu. Wenn Buchweizen als Untersaat erschien, erhöhte sein Stroh die Qualität des Waldkornstrohs. Das Korn dieser Getreidefrucht wurde zu Hause auf Handmühlen zu grobem Mehl vermählen. Trotzdem dieser Vorgang mindestens dreimal wiederholt wurde, war das Mehl grob und bräunlich verfärbt (hoher Klebergehalt). Das aus Waldkornmehl gebackene Brot war sehr dunkel und hatte einen besonderen, keine ändere Brotart kennzeichnenden Beigeschmack. Es war recht ausgiebig und besaß immer denselben Geschmack, da das Getreide durch keine Unkrautbeimengun-

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gen verunreinigt war. Manchmal wurde das Waldkornmehl mit etwas Kornoder Buchweizenmehl gemischt, bei mittellosen Familien wohl nur mit Gerstenmehl, welches natürlich das Aussehen dieses schwarzen, niedrigen und oft verschlieften Brotes noch mehr herabsetzte. Wohlschmeckend war angeblich bloß die Waldkorngraupe. Bei dem niedrigen Stand der Getreidefruchtveredlung, der damals für landwirtschaftlich arme Gegenden bezeichnend war und aus dem konservativen Festhalten an veralteten Anbaumethoden hervorging, hatte gerade das Waldkorn seine besondere Bedeutung. Es entsprach den ökonomischen Zeitverhältnissen durch die geringen Ansprüche, die es an Bodengüte und Saatgutpflege stellte und durch seine bedeutende Ertragssicherheit. Auch waren die Anforderungen des Landvolkes an die Qualität des Kornes sehr bescheiden. 45 Als wichtigsten Grund für das Persistieren dieser alten Getreidefrucht kann man jedoch den Umstand ansehen, daß der Anbau des Waldkornes den Grundstock der bäuerlichen Anbaufläche nicht schmälerte, was das Landvolk besonders zur Zeit der noch bestehenden Dreifelderwirtschaft hoch anschlug. 46 In licht bewaldeten Gegenden wurde das Waldkorn von der Kartoffel und von der vollen Fruchtwechselwirtschaft verdrängt, so daß sein Anbau nur in Gegenden mit kompakten Waldbeständen andauerte. Dabei spielten die engen Beziehungen des Bergbauern zur Forstwirtschaft und ihr technisches Niveau eine große Rolle. Solange nämlich ein bedeutender Prozentsatz des bäuerlichen Grundbesitzes in den Bergdörfern aus Weide- oder Heideland bestand, war der Mangel an gutem Ackerboden groß, und es war verständlich, daß Bauern und vor allem Landlose eine Erweiterung der Anbaufläche im Waldfeldbau suchten. Das Bergland von Vsetin-Hostyn, das noch gegen Ende des Jahrhunderts vielfach Urwaldcharakter trug und schwierige Kommunikationsverhältnisse hatte, bot dem Waldfeldbau auch dann noch günstige Bedingungen, als anderswo die kleinen Rodungsäcker aus der Forstwirtschaft bereits längst verschwunden waren. In sozialer Hinsicht erhielt der Waldfeldbau die mannigfachen Verpflichtungen des Kleinbauerntums dem Waldbesitzer gegenüber aufrecht und stellte mit seinen naturalwirtschaftlichen Komponenten (Arbeitspflicht als „Pachtzins" usw.) eine Struktur von längst überlebten Abhängigkeiten des werktätigen Landmenschen vom Großgrundbesitz dar. In ökonomischer Hinsicht zeigt sich beim Waldfeldbau eine gesetzmäßige Erscheinung: altertümliche, auf einer bestimmten Entwicklungsstufe weit ver45 46

Während des zweiten Weltkriegs unterlag das Waldkorn nicht der Abgabepflicht, was ebenfalls zu einem gewissen Grad dazu beitrug, daß es weiterhin angebaut wurde. In seiner ursprünglichen Form bestand das Dreifeldersystem in der Mährischen Wallachei noch in der zweiten Hälfte des 19. Jh. (Catastral-Schätzungs-Operate aus dem Jahr 1850, Landesarchiv Brünn) und erlosch allgemein erst im 1. Jahrzehnt des 20. Jh., stellenweise noch später.

Fenich und Waldkom

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breitete Arbeits- und Lebensformen gehen schrittweise unter und verharren ungeschwächt nur eine gewisse Zeit in wirtschaftlich peripheren Gegenden. Im Konkurrenzkampf der starken Landwirtschaftsbetriebe blieben die Bauern unergiebiger Produktionsgebiete dauernd hinter dem agrotechnischen Fortschritt zurück — von dem Kleinbauerntum ganz zu schweigen —, so daß sie als Träger alter Landwirtschaftstechniken auftreten und ihr Gebiet zu einer „Region der Traditionalität" oder Pauperisierung wird. In Wahrheit handelt es sich um die Folgen eines ökonomisch-sozialen, für die kapitalistische Gesellschaft typischen Prozesses, der die Eigentümer weniger fortschrittlicher Produktionsmittel zwingt, auf veralteten Methoden zu verharren, falls es ihnen nicht gelingt, zeitgemäße Produktionsmittel zu erwerben. In ethnographischer Hinsicht haben sich im Waldfeldbau der Kleinbauern manche Techniken aus der Frühzeit der Landwirtschaft erhalten: Das Abbrennen von Waldtrassen (Rodungen) zur Gewinnung von Ackerboden, die Aschendüngung solcher Felder, das Aussäen von Fenich und Hirse als Brotfruchtgetreide, die Einfelderwirtschaft im Forst, bei der das Grundstück nach dem Anbau einer einjährigen (Fenich) oder zweijährigen (Waldkorn) Getreidefrucht wieder bewaldet wird, die pfluglose Wirtschaft der Axt, der Hacke und der Sichel als Arbeitsgerät und ihre Übergangsform, die (auf dem Dauerfeld) den Haken und eine primitive Egge aus Reisig verwendet, das Einbringen der Ernte auf dem Rücken oder mit dem Schlitten, das Dreschen des Getreides durch Ausschlagen und die Reinigung des Korns durch Schwingen, die Verwendung von Handmühlen mit fixem Läufer, die nur grobes Mehl herstellen, die Reinigung des geschroteten Kornes durch Worfeln mit dem Trog und Sieben auf dem Handsieb, die Herstellung von Mehl und die Zubereitung von Breispeisen für den unmittelbaren Eigenbedarf, die Verwendung der Handstampfe und der Genuß des Fenichbreis statt des Brotes.

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Beiträge zur Völkerforschung

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LUDVIK

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Zur Bedeutung der Frauendarstellungen im Paläolithikum

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gewesen und gerade sie seien auf den uns überlieferten Statuetten dargestellt. Eine ähnliche religiös-mythologische Vorstellung hat aller Wahrscheinlichkeit nach nie existiert. 13 Anders verhält es sich mit der Gestalt der „Hüterin des häuslichen Herdes", die P. P. E F I M E N K O , wenn auch nur flüchtig, erwähnt. Die Hüterin des häuslichen Herdes, oder, genauer, die weibliche Personifizierung des Herdes, die „Herrin des Herdes", das ist es wahrscheinlich, was die Statuetten darstellten. Auf eine Verbindung der Frauenstatuetten mit dem Herd weist allein schon die Tatsache hin, daß die Statuetten häufig gerade nahe dem Herde gefunden wurden: diese Tatsache stellte P. P. E F I M E N K O selbst fest 14 , spätere Funde bestätigen ebenfalls eine ähnliche Verbindung. 15 Die Hauptsache aber ist: Zugunsten der ausgesprochenen Vermutung sprechen überzeugend ethnographische Parallelen. Bei sehr vielen rezenten Völkern, bei denen sich Überreste gentiler Verhältnisse erhalten haben, sind zwei charakteristische Erscheinungen zu bemerken: 1) die religiöse Verehrung des Gentil- und Familienherdes als Mittelpunkt und materielle Verkörperung des Lebens der Gens und der Familie; und 2) die Personifizierung des Herdes in der Gestalt eines „Herren" oder, häufiger, einer „Herrin des Herdes". Das eine wie das andere ist allerdings nicht bei allen Völkern einer bestimmten Entwicklungsstufe festzustellen sondern in erster Linie bei denjenigen, die unter gemäßigten oder kalten klimatischen Bedingungen leben, dort, wo überhaupt Feuer in der Behausung brennt. Bei Völkern der heißen Zone, wo es in der Regel innerhalb des Wohnraumes keine Feuerstelle gibt, sondern das Feuer im Freien angelegt wird, dient es gewöhnlich auch nicht als Symbol der Einheit der Familie oder der Gens, dort wird es weder verkörperlicht noch verehrt. Die deutlichsten Beispiele der Verehrung des Herdes durch die Gens und durch die Familien findet man bei den Völkern Nordasiens. Hierbei stellt sich für unsere Betrachtung als das Interessanteste heraus, daß bei diesen Völkern, obwohl sie schon lange von der mutterrechtlich-gentilen Ordnung zur vaterrechtlich-gentilen Struktur übergegangen sind und mutterrechtliche Züge größtenteils nur in 13

D. E., der sich in gewissem Maße mit dem Standpunkt P. P. E F I M E N K O S solidarisiert, interpretiert die Frauendarstellung aus dem Aurignacien allerdings auf eigene Weise: Seiner Meinung nach handelt es sich bei den 'Figuren nicht einfach um Vorfahren sondern um „totemistische Vorfahren" (XafiTyH, fl. E., K Bonpocy 06 HHTepnpeTaiiHH iiteHcitiix H3o6pa>KeHHii opHHbHKCnoii anoxH, YqeH. 3an. T a ^ J K . Toc. YHHB. T., Tpyati MCT.- oWein

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