Beiträge zur Handschriftenkritik des Nibelungenliedes 3110002027, 9783110002027

Im Frühjahr 1958 stellte mir Ulrich Pretzel die Aufgabe, einen bestimmten Abschnitt des Nibelungenliedes textkritisch zu

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Beiträge zur Handschriftenkritik des Nibelungenliedes
 3110002027,  9783110002027

Table of contents :
EINLEITUNG 1
KRITISCHE VORBEMERKUNGEN 4
Aufnahme der Brauneschen Handschriftenkritik 4
Voraussetzungen der Brauneschen Handschriftenkritik 6
DIE GRUPPE Db* 18
Der erste Teil der Gruppe 18
Der zweite Teil der Gruppe 20
DIE GRUPPE ADb* 25
Die Fehlerbestimmung 26
Gründe gegen den Ansatz der Gruppe ADb* 46
DIE HANDSCHRIFT A 52
Vorbemerkungen 52
Die Strophendifferenzen 55
Die Lesarten 57
DIE HANDSCHRIFTENGRUPPE Z* 110
Beziehungen zwischen den Redaktionen der Gruppe z* 110
Die Handschrift C 132
DIE EINLEITUNG UND DIE STROPHENDIFFERENZEN 146
Die Einleitung 146
Die Strophendifferenzen 153
SCHLUSS. ERGEBNISSE UND FOLGERUNGEN 160
LITERATURVERZEICHNIS 175
REGISTER 182

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BRACKERT, BEITRÄGE ZUR H A N D S C H R I F T E N K R I T I K DES N I B E L U N G E N L I E D E S

QUELLEN UND FORSCHUNGEN ZUR SPRACH- UND KULTURGESCHICHTE DER GERMANISCHEN VÖLKER

BEGRÜNDET BERNHARD T E N BRINK U N D

NEUE

VON WILHELM

SCHERER

FOLGE

HERAUSGEGEBEN V O N HERMANN

KUNISCH

11 (135)

H E L M U T BRACKERT BEITRÄGE ZUR HANDSCHRIFTENKRITIK DES N I B E L U N G E N L I E D E S

WALTER DE GRUYTER 8c CO., BERLIN VORMALS G . J . GÖSCHEN'SCHE VERLAGSHANDLUNG — J . GUTTENTAG, VERLAGSBUCHHANDLUNG — GEORG REIMER — KARL J . TRÜBNER — VEIT & COMP.

BEITRÄGE ZUR

HANDSCHRIFTENKRITIK

DES N I B E L U N G E N L I E D E S

V O N

HELMUT BRACKERT

WALTER DE GRUYTER & CO., BERLIN VORMALS G . J . GÖSCHEN'SCHE VERLAGSHANDLUNG J . GUTTENTAG, VERLAGSBUCHHANDLUNG — KARL J. TRÜBNER —

VEIT &



GEORG REIMER COMP.



Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Archiv Nr. 433003/2 © Copyright 1963 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Göschen'schc Verlagshancllung J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — Karl J. Trübner — Veit & Comp. Printed in Germany Alle Rechte des Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe, der Herstellung von Mikrofilmen, auch auszugsweise, vorbehalten Satz und Druck: Walter de Gruyter & Co., Berlin 30

INHALT EINLEITUNG

1

K R I T I S C H E VORBEMERKUNGEN

4

Aufnahme der Brauneschen Handschriftenkritik Voraussetzungen der Brauneschen Handschriftenkritik D I E GRUPPE D b *

4 . .

6 18

Der erste Teil der Gruppe Der zweite Teil der Gruppe

18 20

ADb* Die Fehlerbestimmung

25

26

Gründe gegen den Ansatz der Gruppe ADb*

46

D I E GRUPPE

D I E HANDSCHRIFT A

Vorbemerkungen Die Strophendifferenzen Die Lesarten D I E HANDSCHRIFTENGRUPPE Z *

52

52 55 57 110

Beziehungen zwischen den Redaktionen der Gruppe z* . . . 110 Die Handschrift C 132 D I E EINLEITUNG UND DIE STROPHENDIFFERENZEN

Die Einleitung Die Strophendifferenzen SCHLUSS. ERGEBNISSE UND FOLGERUNGEN

146

146 153 160

LITERATURVERZEICHNIS

175

REGISTER

182

EINLEITUNG Im Frühjahr 1958 stellte mir Ulrich Pretzel die Aufgabe, einen bestimmten Abschnitt des Nibelungenliedes textkritisch zu untersuchen, und zwar den Abschnitt, der in dem sehr alten Handschriftenfragment Z erhalten ist. Ziel der Arbeit sollte sein, für diesen begrenzten Teil des Werkes einen kritischen Text herzustellen. Es zeigte sich jedoch bald, daß eine solche Textherstellung nur möglich war, wenn ich die Handschriftenverhältnisse der übrigen Partien mit berücksichtigte. Ehe ich an Hand eines konkreten Textes zu konkreten Schlüssen gelangen konnte, war eine Neuprüfung der bisherigen textkritischen Darstellungen notwendig. Das hohe Alter des mit der Handschrift C nahezu völlig übereinstimmenden Fragmentes Z zwang überdies zu einer Revision des Urteiles über die Rezension C* und führte mich auch von dieser Seite her zu einer neuen grundsätzlichen Erörterung des ganzen Handschriftenproblems. Dank dem großzügigen Entgegenkommen Ulrich Pretzels waren beim Ausbau der Mikrofilmbestände der Hamburger Seminarbibliothek die Haupthandschriften des Nibelungenliedes bevorzugt beschafft worden. Das erwies sich als sehr förderlich, da die Lesarten von Lachmann und Bartsch nicht überall zuverlässig sind und der Streit um die Erschließung des „echten" Textes zum Teil in einer bedauerlichen Ferne von den Handschriften geführt worden ist 1 . Ich habe mich bei meiner Untersuchung bemüht, an allen angeführten Stellen nach den Kopien der mir zur Verfügung stehenden Handschriften (A, B, C, J, d) eine Prüfung vorzunehmen. Für das Fernziel einer neuen kritischen Ausgabe scheint mir eine Neukollation a l l e r Handschriften unerläßlich. Bei der Angabe der Lesarten habe ich mich zu folgendem technischen Verfahren entschlossen: Sie werden angegeben nach den Handschriften; wo diese mir nicht zugänglich waren, nach den Lachmannschen Varianten. Für die bei Lachmann nicht verzeichneten Handschriften treten ergänzend die Lesarten von Bartsch hinzu. Die zitierte Schreibweise bezieht sich auf die Sigle der zuerst hinter einer Lesart aufge1

Vgl. etwa unsere Erörterung auf S. 131 ff. 1 Brackert, Handschriftenkritik

2

Einleitung

führten Handschrift, d. h. geringfügige, für den Zusammenhang der Untersuchung unerhebliche Abweichungen der anderen, die gleiche Lesart bietenden Handschriften bleiben unberücksichtigt. Der Leser, dem es um die genauen Abweichungen solcher unberücksichtigt bleibenden Handschriften geht, muß die Handschrift selbst oder die Lesarten von Lachmann und Bartsch hinzuziehen. Entsprechend werden auch die Bezeichnungen omn. ( = alle Hss.) und rell. ( = die übrigen Hss.) verwendet: geringfügige Verschiedenheiten der einzelnen, durch diese Abkürzungen zusammengefaßten Handschriften werden nicht wiedergegeben, und es wird der kommune (meist nach Bartsch-de Boor zitierte) Text angeführt. Für das Verständnis der zu erörternden Varianten ist es zuweilen nötig, einige Verse des Zusammenhanges mit anzugeben. Diese werden nach der Ausgabe von Bartsch-de Boor zitiert und stehen in Klammern. Aus zwei Gründen wird so verfahren: Zum einen gibt der Wortlaut dieser Ausgabe gewöhnlich den meistbezeugten Text wieder, und zum anderen scheint es methodisch redlicher, in einer Arbeit, die das Überlieferungsproblem neu erörtert, von dem Text auszugehen, der nach allgemeiner Auffassung heute als der beste gilt. Aus dem gleichen Grunde stelle ich mich auch in meiner Terminologie ganz auf den Boden der heute gemeinhin anerkannten Arbeit Wilhelm Braunes. Ich verwende seine Bezeichnungen: teil.

= alle übrigen für die Stelle verfügbaren Handschriften.

Vulgata 2

= Übereinstimmung aller Hss. gegenüber der Hs. A bzw. gegen-

y*-Text

= Ubereinstimmung der Stammhss. B* und ADb*.

B*-Text

= Übereinstimmung von Hss., durch die nach Braune der Wortlaut von x* gesichert ist, im engeren Sinne also von B und d (welche Hss. auch immer außerdem zu ihnen hinzutreten).

z*-Gruppe

= Übereinstimmung von CJd bzw. CJ gegenüber dem y*-Zweig.

über der Stammhs. ADb*, die sie vertritt.

Gemeinsamer Text = Übereinstimmung aller verfügbaren Hss. (mit Ausnahme von völligen Umformungen wie k).

Auf eine Zeichensetzung in den Lesarten ist generell verzichtet worden. Nur an wenigen, dann aber näher bezeichneten Stellen wird von diesem Prinzip abgewichen, dort nämlich, wo für das Verständnis der Lesarten eine Zeichensetzung hilfreich ist. Die Zäsuren der Verse sind durch einen Zwischenraum oder (im fortlaufenden Text) durch einen schrägen Strich bezeichnet3. Zeilenbruch in den nach einer Hs. zitierten Lesarten oder Spaltenbruch wird nur in aufschlußreichen Fällen angeDiese Bezeichnung bei Michels, S. 25 ff. Dies gilt auch für die Hs. A , deren Zäsurstriche also nur im letzteren Falle gesetzt werden. 2 3

Einleitung

3

merkt. In der Verwendung der Stern-Zeichen (* = erschlossen) war letzte systematische Konsequenz nicht zu erzielen. Im allgemeinen behalte ich die ganze Arbeit hindurch Braunes Gruppenbezeichnungen (Db*, ADb* etc.) bei, betone dadurch aber stärker die tatsächliche Übereinstimmung der Hss. als ihre mögliche Deszendenz 4 . Die Lesarten sind meist nach folgendem Prinzip angeordnet: Die erste Lesart erscheint in ihrer Gänze; bei den folgenden sind die Abweichungen ganz ausgeschrieben, die gleichlautenden Wörter dagegen meist nur durch je einen waagerechten Strich bezeichnet, wobei der Bezugspunkt jeweils die an erster Stelle stehende Ausgangslesart ist. Textstellen, die nicht durch eine Sigle als Lesart einer oder mehrerer Handschriften gekennzeichnet sind, werden nach der Ausgabe von Bartsch-de Boor zitiert. Die Zählung erfolgt aus praktischen Gründen nach der Ausgabe von Lachmann, da in allen wichtigen textkritischen Abhandlungen ihrer Zählung gefolgt wird und die Lachmannschen Zahlen in der Ausgabe von Bartsch-de Boor bequem zu finden sind. Diakritische Zeichen sind in der Regel aufgelöst, ebenso die Vokalindizes. In Dankbarkeit weiß ich mich der Deutschen Forschungsgemeinschaft verpflichtet, die durch einen großzügigen Zuschuß den Druck möglich gemacht hat. Dem Herausgeber, Herrn Professor Dr. Hermann Kunisch, danke ich für die freundliche Aufnahme der Arbeit in seine Reihe. Ein Wort des Dankes gilt meinem verehrten Lehrer Ulrich Pretzel. Er gab die Anregung zu dieser ursprünglich der Hamburger Philosophischen Fakultät als Dissertation eingereichten, für den Druck überarbeiteten Untersuchung. Die wesentlichste Förderung und Hilfe endlich erfuhren Arbeit und Verfasser durch Karl Stackmann. Ihm sei besonders herzlich gedankt. Braune selbst ist in diesem Punkte sehr sorglos.

4

l

KRITISCHE VORBEMERKUNGEN Mit seiner Abhandlung „Die Handschriftenverhältnisse des Nibelungenliedes" setzte Wilhelm Braune im Jahre 1900 den Markstein 1 , der das vorläufige Ende der mit großer Heftigkeit ausgetragenen Diskussionen um die Nibelungenüberlieferung bezeichnete. Erst von Braunes Standpunkt aus war möglich, was die Forschung vor ihm vergebens zu erreichen gesucht hatte: Sämtliche Handschriften und Fragmente ließen sich in den Zusammenhang eines vielfältig, doch klar gegliederten Handschriftenstammbaumes stellen, der in sich eine bewundernswerte Geschlossenheit aufwies. Mit den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts trat die Frage nach den Vorstufen der erhaltenen Nl.-Dichtung und die Beschäftigung mit der Sage in den Vordergrund des wissenschaftlichen Interesses. Man geht wohl nicht fehl, wenn man diese Verlagerung des Schwerpunktes zu einem nicht geringen Teil auf das Verdienst Braunes zurückführt: Mit seiner Arbeit schien eine abschließende Deutung der Hss.-Verhältnisse geleistet, die nur in geringfügigen Einzelheiten Korrekturen zuließ. So konnte sich die Forschung mit einigem Grund bei seinen Ergebnissen beruhigen. Andreas Heusler berührte auf der letzten Seite seines Nibelungenbuches nur ganz kurz die Hss.-Kritik und sprach mit großer Bestimmtheit von der „erschließbaren Urhandschrift" und vom „gesicherten Urtext" 2 . Friedrich Neumann überging in seinem Forschungsbericht von 1927 die Hss.-Frage völlig 3 . Hans Naumann sprach im selben Jahre offen aus, was damals wohl die communis opinio der zeitgenössischen Germanistik war: „Das Fundament (sc. zum neuen Gebäude der Nibelungen-Forschung) war gelegt, als im Jahre 1900 Wilhelm Braune von der St. Galler Handschrift (B) erwiesen hatte, daß sie . . . dem Original so nahe komme, um für dieses selbst gelten zu können" 4. 1 2 3 4

Braune, S. 1—222. Heusler, NS und NL, S. 155. Neumann, FB, S. 130—171. Naumann, FB, S. 3.

Kritische Vorbemerkungen

5

Daher blieben denn auch die Einwände, die Victor Michels 1928 gegen Braune erhob 5 , ohne Beachtung6. Die Forschung beharrte auf dem Standpunkt, den noch in jüngster Zeit Friedrich Panzer erneut bezeichnet hat: Braunes Stammbaum wird „in seinen Grundfesten sich unanfechtbar behaupten" 7 . Im gleichen Sinne spricht Helmut de Boor in der letzten Auflage seiner Ausgabe 8 von einer „endgültigen Bewertung der Handschriften" 9 durch Wilhelm Braune. Dennoch ist die Ansicht, die Forscher wie Panzer und de Boor vertreten, nicht mehr ganz unumstritten; von verschiedenen Seiten wurden Bedenken laut 1 0 . So hat Edward Schröder mit seiner Aufwertung der Hs. C, deren textkritischen Wert man im allgemeinen nicht hoch veranschlagt, eine wesentliche Schwäche der Auffassung Braunes enthüllt; er stieß aber, „auch im Kreise der kundigen Freunde, auf Zweifel und Kopfschütteln" 11 . Hermann Schneider verglich die Forschungslage im Streit um die Originalfassung „mit einem Waffenstillstand" 12 , und ähnlich beurteilt Hugo Kuhn die Situation: „Daß sie (sc. die Hs. B) heute allgemein als nächste zum Original gilt, ist. . . Ergebnis mehr der Kampfmüdigkeit als sicherer Entscheidung" 13 . Gutenbrunner 14 und Lohse 15 Michels, S. 1—101. Das gilt buchstäblich von Friedrich Panzers 1955 erschienenem Werk „Das Nibelungenlied", das in seinem Kapitel „Geschichte der Nibelungenforschung im Überblick" die Abhandlung von Michels nicht einmal erwähnt. 7 Panzer, NL, S. 54. Obwohl auch er einräumt, daß eine „erneute Ausgabe unter nochmaliger genauer Nachprüfung der gesamten Überlieferung" (Panzer, NL, S. 73) wünschenswert sei. 8 Bartsch-de Boor, S. L. 9 Ähnlich in jüngster Zeit noch Weber, S. 37. — Zuweilen begegnet man heute jedoch schon vorsichtigeren Formulierungen; so etwa im Abschnitt „Überlieferung" des Nls im Nachtragsband des Verfasserlexikons (Fr. Neumann, Bd. V, Sp. 705 f.), wo es heißt: „Im allgemeinen wird der Text der St.Gallener Hs.B als Text des Nibelungenmeisters behandelt . . . In der B-Fassung liegt zwar nicht der Text des Nibelungenmeisters wie ein Text Hartmanns oder Wolframs fest, aber sie kann mit Vorbehalt innerhalb der uns zugänglichen Überlieferung als die maßgebendste Ausgabe des Dichters gelten". 10 Z. B. auch vom Panzer-Schüler Bert Nagel in seiner Rezension des Buches von Panzer (NL), ZfdPh. 76 (1957), S. 274: „Ich möchte dies um so mehr unterstreichen (sc. die Notwendigkeit einer nochmaligen Überprüfung der Überlieferung), als ich keineswegs fest davon überzeugt bin, daß mit Braunes Abhandlung bereits das letzte und endgültige Wort über die Handschriftenverhältnisse des Nl. ausgesagt worden ist". 11 Schröder, IV, S. 88. 12 Schneider, FB, S. 150. 13 Kuhn, Klassik, S. 154. 11 Gutenbrunner, S. 39—49. 15 Lohse, S. 54—60, sowie Lohse, ThS. und Nl., S. 295—347. 5

6

6

Kritische Vorbemerkungen

gingen von der nordischen Überlieferung aus und gelangten so zu grundsätzlichen Einwänden 1 6 . Auch die allgemeinen methodischen Erwägungen Ulrich Pretzels setzen dem grenzenlosen Vertrauen in die Stammbaumtheorie eine tiefe Skepsis entgegen: „Zwar scheint es uns, die wir den Glauben an eine gültige recensio und das Vertrauen in die Stammbaumtheorie fast verloren haben, daß auch die Überlieferung des Nibelungenliedes mehrsträngiger und noch verwickelter ist, als man seither geglaubt, daß wir weit stärker mit unauflösbaren Kontaminationen in der Geschichte seiner Überlieferung zu rechnen haben" 1 7 . Freilich sind die bisher gegen Braune erhobenen Einwände meist nur generell formuliert 1 8 . Sie machen sich die Widerlegung zu leicht und bringen nur allgemeine Erwägungen, ohne mit Hilfe der Überlieferung selbst die Berechtigung neuer Hypothesen zu erweisen und zu erhärten. Überdies bewegen sie sich mehr oder weniger streng in den Denkbahnen Braunes und stellen die Frage nach der Art des Überlieferungsvorganges nicht grundsätzlich neu. Eben darauf aber kommt es an. Erst wenn eine kritische Überprüfung, die sowohl die generellen Voraussetzungen als auch die Einzelentscheidungen der Brauneschen Theorie einem strengen Examen unterwirft, zu den gleichen Resultaten führt wie diese, darf das Stemma Braunes als dauerhafter Besitz der Nibelungenlied-Forschung anerkannt werden. Braunes Handschriftenstammbaum beruht entscheidend auf drei Grundvoraussetzungen, die er selbst niemals zum Ausgangspunkt kritischer Überlegungen genommen, geschweige denn in Frage gestellt hat. Zum einen steht für ihn am Anfang der Hss.-Verzweigung ein deutlich erkennbarer Archetypus, der — wenn auch schon im begrenzten Umfange fehlerhaft —• das Nibelungenlied repräsentiert, das in seiner „vorliegenden form nicht aus Volksliedern" 19 besteht, sondern nach den „intentionen seines dichters ein höfisches kunstepos" 2 0 ist. Von 16 Willy Krogmann, TKr., S. 275—94, versuchte von einzelnen Lesarten aus eine Kritik an Braune. 17 Im Vorwort des Photomechanischen Nachdrucks der fünften Auflage (1878) von Karl Lachmanns Ausgabe des Nls, Sechste Ausgabe, 1960, S. XIII. 18 Die Rezensionen der Arbeit Braunes konnten keine durchschlagenden Argumente gegen seine Auffassung vorbringen. Kettner, Hss.-Verh., S. 311—64, machte Einwände gegen einzelne Entscheidungen Braunes geltend. Martin, DLZ 22 (1901), Sp. 415, erklärte apodiktisch, ohne für diese Erklärung den Beweis anzutreten: „Braunes inhaltreiche, auf sorgfältigen Einzeluntersuchungen beruhende Schrift wird Niemand Übergehn, der sich mit diesen Fragen beschäftigt. Aber als Abschluss ist auch sie durchaus nicht anzusehn. Die letzte Differenz, die Beurtheilung der Stellung von A zu den übrigen Hss. ist in einer Weise entschieden, die schwerlich allgemeinen Beifall finden wird". 18 Braune, S. 82. 20 Braune, ebenda.

Kritische Vorbemerkungen

7

diesem Archetypus aus — und das ist die zweite Voraussetzung — zweigen sich in lückenloser schriftlicher Tradition die einzelnen Handschriften ab, deren Verwandtschaft daher durch einen „exact durchgeführten" 2 1 Stammbaum dargestellt werden kann 2 2 ; denn — und damit kommen wir zur dritten Voraussetzung — mit Kontamination zwischen den Hss.-zweigen ist im wesentlichen 23 nicht zu rechnen. Auf dem Fundament dieser drei Voraussetzungen errichtet Braune das Gebäude seines reich verästelten Stemmas in einem methodischen Vorgehen, das er selbst für objektiv hält 24 und dessen Ergebnis, nämlich die genaue Rekonstruktion der Abstammungs- und Verwandtschaftsverhältnisse „unter substituierung der nötigen Zwischenglieder" 25 er für einen „beweis der richtigkeit" 2 6 seiner Handschriftenbeurteilung ansieht. In der Schlüssigkeit des Stemmas, das er über der Grundlage seiner drei Prämissen errichten kann, sieht Braune also eine Bestätigung seiner Methode. Diese Bestätigung gibt ihm eine ungewöhnliche, bis in den Wortlaut seiner Formulierungen hinein spürbare 2 7 Zuversicht, die so überaus verwickelte Überlieferung des Nibelungenliedes entwirren zu können; sie hindert ihn jedoch daran, die Grundvoraussetzungen seines Ansatzes selbst kritisch zu überprüfen. Gerade diese Überprüfung aber wäre nötig gewesen, um die Gefahr eines Zirkelschlusses auszuschließen, in dem Voraussetzungen und Ergebnisse von vornherein aufeinander zugeschnitten sind. Braune, S. 3. Braune, S. 3 : „Wenn es für die entstehung mittelalterlicher hss. als die regel betrachtet werden darf, dass die eine aus der anderen einfach abgeschrieben worden ist, so muß auch an die beurteilung einer weit verzweigten Überlieferung zunächst die forderung gestellt werden, die abstammungs- und verwantschaftsverhältnisse unter substituierung der nötigen Zwischenglieder möglichst genau zu reconstruieren." 2 3 Braune, (vgl. etwa S. 3 ; 64f.; 155ff.), macht selbst einige Einschränkungen, die mit dem Stammbaum seiner Ansicht nach vereinbar sind. So nimmt er für die Einleitung (Strophe 1—20) sowie für die Strophen 102 a und b lokalisierbare Kontamination an. 24 Braune, S. 3: „im verlaufe der arbeit ergaben sich aus den Iesarten aufschlüsse über die beziehungen und die genealogie der hss., welche mir eine sicherere (sc. als die aus der Untersuchung der Strophendifferenzen zu gewinnende), von geschmacksurteilen unabhängige beantwortung der handschriftenfrage zu ermöglichen schienen." 2 5 Braune, S. 3. 2 6 Braune, ebenda. 2 7 Ich gebe nur einige Beispiele: Auf S. 47 heißt es von einer B*-Lesart (317,4), einer im übrigen nicht sicher entscheidbaren Stelle: „Diese lesart des Originals . . ."; S. 73: „Aber ganz abgesehen davon, dass dieser A-standpunkt unserer darlegung des hss.- Verhältnisses weichen muss, . . ."; S. 121: „Die von Bartsch aufgestellte theorie der zwei von einander unabhängigen recensionen des Nibelungenliedes ist also falsch." Vgl. etwa noch S. 104, 135, 138. 21

22

8

Kritische Vorbemerkungen E s wird ihm an keiner Stelle bewußt, daß schon die erwähnte, in

der Fehlerhaftigkeit des Archetypus liegende E i n s c h r ä n k u n g

seiner

ersten Voraussetzung die vermeintliche Objektivität stark gefährdet. Sind nämlich erst einmal Verderbnisse zugestanden, die dem A n f a n g der Überlieferung vorangehen, so ist damit zugleich eine T e x t e n t w i c k lung zugegeben, die v o r d e m aller Textkritik n o c h erreichbaren A r c h e typus erfolgt sein m u ß . E s erhebt sich dann notwendig die F r a g e n a c h A r t u n d U m f a n g dieser Fehlerhaftigkeit: Vielleicht ist sie ein aus der E n t s t e h u n g des Archetypus ableitbares, integrierendes M o m e n t des Archetypus selbst. Ich erläutere das an einem Beispiel aus der Überlieferung des Nibelungenliedes. Nach Braune hatte das Original keine Anzeilen, die auf zweisilbig volle Zäsuren endigten. Nun zwingen ihn die Handschriftenverhältnisse, einige solcher Halbverse für den Archetypus zuzugeben. Diese müßten vor dem Beginn der ersten Handschriftenverzweigung schon in den Text gedrungen sein, also auf dem Wege vom Original zum Archetypus. Ihre Anzahl ist gering; denn Braune setzt für den Archetypus nur dann solche Halbverse an, wenn sie durch Hss.-übereinstimmungen gesichert sind, die nach seinem Stemma eindeutig auf den Archetypus zurückführen. Wenn nun aber auf sekundären Verzweigungspunkten, die nach Braunes Stemma nicht die Lesart des Archetypus erhalten haben können, solche angeblichen Verderbnisse in größerer Zahl aufträten? Dann wäre doch wohl neu zu überprüfen, ob nicht auch in ihnen Fehler des Archetypus bewahrt sein könnten und andere Hss. lediglich eine meist naheliegende Konjektur bieten. Eine Entscheidung nach dem Stemma würde eine Sicherheit vortäuschen, die bei der dann gegebenen Ausgangslage nicht zu erzielen ist. Braune bestimmt die für den Archetypus anzusetzenden Halbverse als Fehler. Schon das läßt sich nicht halten. Wenn der Archetypus selbst eine Reihe solcher Verse besessen hat und in den einzelnen Handschriften noch weitere hinzukommen, ließe dieser Sachverhalt doch durchaus den Schluß zu, daß dem Original nicht der von Braune urgierte hohe Stand der Metrik zukommt; das hieße: die angeblichen Verderbnisse sind gar keine Verderbnisse, sondern Reste freierer Metrik. Eine solche Auffassung müßte dann aber zu einer Revision des über den Archetypus gefällten Urteiles führen. A u f keinen Fall dürfte die A n n a h m e einer solchen Fehlerhaftigkeit des Archetypus als willkommene Möglichkeit begrüßt werden,

alle

Unebenheiten des Systems nachträglich zu korrigieren u n d auszugleichen; sie würde damit lediglich zu einem brauchbaren Instrument des textkritischen Operateurs, mit dem bei einigem Geschick die Überlieferung auf jedes vorentschiedene System passend zurechtgeschnitten werden könnte. Wir wollen uns auch das an einem Beispiel aus der Uberlieferung des Nibelungenliedes verdeutlichen. In Vers 1233,3 treten die Handschriften in folgender Weise auseinander28: («Yminnecliche scheiden sach man an der stunt) die snellen Burgonden. von (und Jh.) Rudegeres man. CJh 2 8 Die Lesartenwiedergabe soll keinen diplomatischen Abdruck ersetzen. So scheint es weder sinnvoll noch notwendig, die Lesungen der Hss. bis in die Schreibung hinein genau zu verzeichnen. So wird z. B. das v, wenn es u-Geltung besitzt, meist als u geschrieben, das vv als w.

9

Kritische Vorbemerkungen

von Ruedgeres des margraven man. Bb des marchgraven man ADg von Ruedgeres friunden {recken D, heldtn g) d von Ruedegeres man Braune muß aufgrund seines Stemmas an dieser Stelle einen Auslassungsfehler des Archetypus annehmen, den die Handschrift d bewahrt hat, alle Handschriften des y*-Zweiges dagegen auf verschiedene Weise auffüllten. Die Handschriften J und C haben laut Braune den fehlerhaften Vers „im wesentlichen gewis richtig . . . ergänzt'*29. Nun ist es ja nicht von vornherein bewiesen, daß CJ nur eine Konjektur bieten. Sie könnten durchaus das Echte erhalten haben. Sobald wir mit Paul30 dies als das Wahrscheinliche annehmen, gelangen wir zu einer ganz anderen Beurteilung. Die Handschrift d und der y*-Zweig müßten dann nämlich auf eine gemeinsame Stammhandschrift zurückgehen:

I

I

cc*

y*

CJ

d

oder zwischen Braunes y*-Zweig und der Handschrift d wäre kontaminiert worden.

Alle Aussagen über den Umfang und die Art der Fehlerhaftigkeit können nach dem Ansatz eines schon verderbten Archetypus notwendigerweise nicht mehr zwingend sein; denn es könnten an Stellen, deren Wortlaut in den einzelnen Handschriften auseinandergeht, die fehlerhaften Handschriften auf das Original zurückführen, die korrekten dagegen lediglich eine Konjektur des ursprünglich fehlerhaften Textes bieten. Braunes Warnung indessen, dem Archetypus nicht mehr Fehler zuzuschreiben, „als unbedingt nötig" 31, setzt schon voraus, was eigentlich erst zu erweisen wäre: daß dem Archetypus des Nibelungenliedes, das nach Braune ein höfisches Kunstepos ist, ein ähnlicher Grad an Vollkommenheit zugeschrieben werden müsse, wie ihn andere höfische Kunstepen der Zeit um 1200 aufweisen. Bei ihnen können wir zumeist an den Anfang der Textentwicklung die feste, aus einem einzigen Stilprinzip hervorgegangene Fassung eines einzelnen Dichters stellen. Gilt das aber auch für das Nibelungenlied, das aus einer breiten Überlieferung hervorwächst und dem sicher mehrere Stufen der Gestaltung voraufgehen? Der Textkritiker, der diese Frage bejaht, müßte Auskunft darüber geben können, wie sich sein hypothetischer Archetypus zu diesen früheren Ausformungen des Nibelungenstoffes verhält; er müßte weiter den Nachweis erbringen können, daß es zu irgendeiner Zeit eine einzige, nicht mehr durch andere Gestaltungen desselben Stoffes beeinflußte feste Gestalt — eben unser Nibelungen29 30 31

Braune, S. 198. Vgl. Paul, S. 472f. Braune, S. 29.

10

Kritische Vorbemerkungen

lied — gegeben habe und daß von ihm aus die Handschriftenentwicklung — über einen vom Original nur unerheblich abweichenden Archetypus hin — erfolgt sei. Die Votteile, die sich aus dem Ansatz eines solchen Archetypus für den Textkritiker ergeben, sind offenkundig und keinesfalls zu unterschätzen: Er schafft sich dadurch einen Maßstab für die Beurteilung von Fehlern. Zu fragen wäre, ob der Textkritiker berechtigt ist, bei der Behandlung der Handschriftenverhältnisse des Nibelungenliedes von vornherein so zu verfahren. Wenn gewichtige Gründe dafür sprechen, daß man sich den Archetypus anders vorzustellen habe, muß die Braunesche Hypothese von der relativen Vollkommenheit des Archetypus aufgegeben werden 32 . Die Antwort auf die Frage nach der Beschaffenheit des Archetypus und damit nach seiner Rekonstruierbarkeit ist von entscheidender Bedeutung für die Aufstellung des Stemmas selbst, das ja in folgender Verfahrensweise gewonnen wird: Mit Hilfe von Leitfehlern werden die Zwischenspaltungen bestimmt, über die man bei lücken- und kontaminationsloser Überlieferung die Vorlage erreicht, bei der die erste Spaltung begann. Ein Musterbeispiel möge das verdeutlichen. Wir haben die vier Zeugen a , ß, y , 6 ; a und ß treffen in einigen offensichtlich fehlerhaften Lesarten (a, b) gegen die beiden anderen Handschriften überein. Wir haben also einen Hyparchetypus e* anzusetzen, auf den diese Fehler zurückgehen. Nun hat E*, das heißt also die Übereinstimmung der Handschriften a und ß, gegenüber 8 einige Fehler (c, d, e) mit y gemeinsam, die eine Zwischenstufe nötig machen. Wir kommen also auf folgendes Stemma:

I

!

S * (c, d, e)

!

I

E * (a, b)

I

I

I

5

I

y

I

ß

Woher gewinnt man indessen die Kriterien der Fehlerbeurteilung? Woher weiß man, daß ein Fehler — und das heißt eine Abweichung — vorliegt, wenn man nicht Auskunft geben kann über das, wovon abgewichen wird? Es setzt doch jede Fehlerbeurteilung jeweils schon eine Vorstellung vom Wesen des Archetypus voraus, wie anderseits der Archetypus sich erst aus der Fehlerbeurteilung gewinnen läßt. Dieser hermeneutische Zirkel, dem keine textkritische Arbeit sich zu entziehen vermag, wird bei der Überlieferung des Nibelungenliedes 3 2 So hält es Michels, S. 4, „alter zetetischer Methode entsprechend, für erforderlich zur Erforschung der Wahrheit . . daß nun . . . auch die Gegenthese von der relativen Fehlerhaftigkeit (sc. des Archetypus) einmal mit gleicher Sorgfalt durchgefochten würde".

Kritische Vorbemerkungen

11

besonders quälend, weil die Kriterien der Fehlerbeurteilung n u r aus ihm selbst entwickelt werden können: Wir haben von dem Verfasser (oder den Verfassern) des Nibelungenliedes nur dieses eine Werk, kein anderes erlaubt uns Rückschlüsse auf die Art seines Archetypus. Der klassische Philologe, der etwa eine Ekloge des Vergil textkritisch untersucht, kann andere Werke des Dichters zur Bestimmung der zu erwartenden Stilhöhe und Stiltendenz hinzuziehen. Er hat einen außerhalb des behandelten Werkes liegenden Vergleichspunkt, von dem aus er seine textkritischen Entscheidungen stützen und sichern kann. Dagegen wäre in einer fatalen Lage, wer zum Beispiel die echten Gedichte der „Appendix Vergiliana" von den unechten sondern wollte und nicht mindestens noch eines der großen Werke des Dichters besäße. Die Eliminierung des unechten Gutes wäre erheblich erschwert, wenn nicht unmöglich gemacht. Denn woran sollte er sich orientieren? Die Zahl der dann dem Vergil zuzuschreibenden Gedichte würde vermutlich sehr viel größer werden, weil sich das Niveau der echten Werke nicht als Vergleichsmoment in die Rechnung einbeziehen ließe. Die Grenzen der Ausscheidungsmöglichkeiten müßten von Anfang an sehr viel weiter gesteckt werden. Wollten wir die Position des Nl.-Textkritikers kennzeichnen, so könnten wir mit einer etwas überspitzten Formulierung sagen: Er befindet sich in einer Lage, die der des klassischen Philologen vergleichbar wäre, wenn diesem außer einigen, in mehreren stark variierenden Fassungen überlieferten Gedichten der „Appendix" nichts von Vergil bekannt wäre und er nun die Aufgabe hätte, den vom Dichter intendierten Wortlaut herzustellen. Er wäre ständig der Gefahr ausgesetzt, Unechtes für Vergilisches zu halten und von ihm aus dann wieder textkritische Entscheidungen zu fällen 33 . Die durch den Mangel an Vergleichsmöglichkeiten ohnehin schon reichlich undeutlichen Konturen des Leitbildes, an dem sich die Fehlerbeurteilung zu orientieren vermöchte, verschwimmen vollends, wenn wir uns klarmachen, daß jede uns erreichbare Stufe der Textentwicklung 33 Damit soll natürlich das Nl. nicht in seinem W e r t mit den Gedichten der „Appendix Vergiliana" auf eine Stufe gestellt werden. Das Vergleichsmoment ist lediglich dieses: In der „Appendix" steht — das hat die Forschung einwandfrei erwiesen — Unechtes neben Echtem. Erwiesen werden konnte das, weil der Vergleich mit anderen Werken Vergils den Nachweis ermöglichte. Wären diese nicht erhalten, wäre die Fehlerbeurteilung vermutlich von viel größerer Unsicherheit, wenn nicht gar unmöglich. Im Nl. steht nun vielleicht auch Echtes neben Unechtem. Nur ist der Nachweis, daß es sich an der jeweiligen Stelle um Echtes bzw. Unechtes handelt, schwerer zu erbringen, weil jeglicher außerhalb des Werkes liegende Vergleichspunkt fehlt. Die Frage ist — und darauf wird in einem späteren Zusammenhang (vgl. S. 108f.) eingegangen werden —, ob es überhaupt sinnvoll ist, hier von „echt" und „unecht" zu teden.

12

Kritische Vorbemerkungen

— auch die letzterreichbare — schon Bearbeitung sein kann und so — um im Bilde zu bleiben — der „Vergil" des Nibelungenliedes für uns möglicherweise gar nicht greifbar wird. Nehmen wir zum Beispiel an, wir hätten eine gespaltene Überlieferung, deren einer Zweig (a*) dem Original vermeintlich noch sehr nahe stünde, deren anderer (ß*) jedoch schon eine durchgreifende Bearbeitung darstellte. Eine solche Festlegung wäre natürlich nur mit Hilfe bestimmter Kriterien möglich, durch die sich das Ursprüngliche vom Sekundären scheiden ließe. Nun fänden wir in der überarbeiteten Fassung (ß*) Lesarten, die nach unseren eigenen Kriterien als ursprünglich betrachtet werden müßten, stießen aber an eben diesen Stellen im Zweige a * auf einen Text, der gerade nach diesen Kriterien weniger Anspruch auf Ursprünglichkeit erheben dürfte. Mit der probablen Argumentation, hier läge eine Inkonsequenz der Bearbeitung vor, oder gar mit einer zweigleisigen, gleichgelagerte Fälle verschieden behandelnden Betrachtungsweise dürfte man diesen kritischen Stellen nicht begegnen. Vorstellbar wäre immerhin noch, daß der Verfasser von a * aus Inkonsequenz einige ursprüngliche Lesarten, wenn sie auch seiner modernisierenden Tendenz widersprachen, im Text stehengelassen hätte; in unserem Falle müßte er sie jedoch gegen seine Vorlage erst eingeführt haben. Derartige Störungsstellen müßten den Textkritiker veranlassen, die Kriterien der Fehlerbeurteilung einerseits und die auf sie gegründete Vorstellung vom Wesen des Archetypus anderseits jeweils neu zu überprüfen und gegeneinander auszukorrigieren. In unserem Musterbeispiel wäre ja zweierlei denkbar: Es könnte eine Modifizierung der Fehlerbestimmung nötig sein, durch die dann auch auf die angebliche Bearbeitung ein anderes Licht fiele; es wäre jedoch auch möglich, daß an solchen Stellen der Zweig ß* den originalen Wortlaut bewahrt und a * aus ähnlichen Tendenzen umgeformt hätte wie sonst ß*. Zweifellos könnte der Rückschluß auf eine inkonsequente Bearbeitung in einem besonders gelagerten Falle richtig sein; er dürfte jedoch erst dann gezogen werden, wenn sich aus sicheren Gründen die näherliegende Ansicht verböte, daß alle uns erreichbaren letzten Verzweigungspunkte schon mehr oder weniger einen Zustand der Bearbeitung repräsentieren. Lägen aber in allen Zweigen der Handschriftenverästelung Bearbeitungen vor, so hätte diese Erkenntnis für die Fehlerbeurteilung und damit auch für die Möglichkeit, die Verzweigungspunkte der Überlieferung zu bestimmen, die größten Folgen: In dem Orientierungspunkt einer jeden Fehlerbeurteilung steckte dann ein schon nicht mehr deutlich zu erfassender Unsicherheitsfaktor.

Kritische Vorbemerkungen

13

Nehmen wir wiederum an, wir hätten eine gespaltene Überlieferung. Die Textentwicklung soll sich über die Hyparchetypi a * und (3* hin vollzogen haben, die beide — wenn auch in verschiedenem Grade — den ursprünglichen Text bearbeiteten. Bei dieser Sachlage dürfte der Textkritiker nicht mehr auf dem vorgefaßten Urteil beharren, in dem einen Zweig der Überlieferung (a*) sei grundsätzlich der ursprüngliche Text bewahrt und nur in dem anderen eine Bearbeitung vorgenommen; denn zweifellos könnte zuweilen ß* dort den originalen Wortlaut erhalten haben, wo a * nach bestimmten, angeblich nur für ß * maßgeblichen Tendenzen umgestaltet hat. Das Auftreten solcher Konstellationen dürfte die Sicherheit der Fehlerbeurteilung in Frage stellen. Die einfache Gleichung cc*= originaler Text ginge nicht auf, und der ursprüngliche Text, der Ziel- und Orientierungspunkt einer jeden Fehlerbeurteilung, ließe sich nur über Stufen zurückgewinnen, auf denen immer schon bearbeitet und umgeformt worden ist. Dieser Unsicherheitsfaktor würde sich immer wieder zeigen am Eintreten des folgenden paradoxen Falles: den eigenen, auf die Wiedergewinnung des ursprünglichen Wortlautes zielenden Kriterien entspricht gerade das, was dem Stammbaum zuwiderläuft. Der Textkritiker, der in einem solchen Falle doch noch seinen Stammbaum zu retten sucht, zerstört damit nur die Grundlagen seiner eigenen Fehlerbeurteilung; sein Vorgehen käme einer bloßen Rechtfertigung der eigenen Vorentscheidung gleich, daß in einem bestimmten Zweig der Überlieferung d a s Original zu gewinnen sei. Erst wenn Braune in lückenloser Argumentation zeigen könnte, daß aus seinem y*-Zweig sich ein Original herausschälen läßt, das nicht selbst Bearbeitung ist oder — da ja unser Nl. von vornherein als Bearbeitung einer älteren Vorlage anzusehen ist — das d i e Bearbeitung ist, die auf d e n Dichter des Nibelungenliedes zurückgeht, erst dann fände seine Methode ihre nachträgliche Stütze an seinem Ergebnis. Die Forderung einer konsequenten Beweisführung müßte man an ein Stemma, das „exact durchgeführt" 3 4 sein will, erheben dürfen. Wenn aber die Sichtung des Lesartenbestandes zu der Annahme zwänge, daß Braunes für die Gewinnung der Fehlerkategorien maßgeblicher Orientierungspunkt — nämlich sein Hyparchetypus y* — selbst schon Unechtes bietet, wird man sich der Frage stellen müssen, ob das Überlieferungsverhältnis mit Hilfe eines Stemmas überhaupt zu klären ist oder ob nicht vielmehr eine ganz andere, aus den Sonderbedingungen der Nibelungen-Überlieferung selbst entwickelte Anschauung an seinen Platz treten muß. 34

Braune, S. 3.

14

Kritische Vorbemerkungen

Damit ist der Punkt erreicht, an dem auf die andere Voraussetzung Braunes eingegangen werden kann — die Voraussetzung, daß wir es bei der Nl.-Überlieferung mit einer lückenlosen schriftlichen Tradierung zu tun haben. Auch hier wird von entscheidendem Gewicht sein, wie wir auf die Frage nach der Beschaffenheit des Archetypus antworten. Das Lesartenmaterial könnte nämlich darauf hinweisen, daß am Anfang der uns noch greifbaren Hss.-Verzweigung nicht ein Archetypus stand, sondern schon mehrere, mehr oder minder gleichgerichtete Bearbeitungen derselben oder auch wieder verschiedener, nur noch an einigen Reflexen schwach erkennbaren Vorlagen; im letzteren Fall wirkten vor der uns zugänglichen Hss.-Verzweigung schon so viele unbestimmbare Faktoren, daß ein Stammbaum selbst dann unmöglich wird, wenn der laut Braune für mittelalterliche Hss. geltende Regelfall wirklich vorliegt und tatsächlich, „die eine (sc. Hs.) aus der anderen einfach abgeschrieben worden ist" 35 . Nehmen wir aber vorerst einmal an, Braunes erste Voraussetzung sei gegeben und wir dürften mit einem aus dem überlieferten Material deutlich herausschälbaren, das Nibelungenlied repräsentierenden Archetypus rechnen. Auch dann tauchen einige Gefahrenmomente auf, die wir uns wieder an unserem Musterstemma verdeutlichen wollen. Wir führen zu diesem Zweck in den unbearbeiteten Zweig a * einen Hyparchetypus ein, auf den die Hss. y und 8 zurückgehen. Diesen Hyparchetypus nennen wir a*, der Ausgangspunkt der gesamten Verzweigung heiße co*. a*

!

ß

I I y s Nun bietet y an einigen Stellen Lesarten, denen wir nach den eigenen Fehlerkategorien Ursprünglichkeit zuerkennen müssen, während 8 an eben diesen Stellen mit dem offenbar unursprünglichen Wortlaut von ß übereintrifft. Wenn nun 8 an diesen Stellen so stark von y abweicht, daß die Übereinstimmungen von 8 und ß auf keinen Fall mehr als Zufall verständlich gemacht werden könnten, dann ist das Stemma damit aufgehoben; denn entweder hätten wir in diesem Falle Kontamination anzunehmen, oder wir müßten mit Sonderbedingungen dieser speziellen Überlieferung rechnen, deren Wirksamkeit dann jedoch die dem Brauneschen Stammbaum zugrundeliegende Vorstellung einer geschlossenen Überlieferung ins Wanken brächte. 35

Braune, S. 3.

Kritische Vorbemerkungen

15

Nun wissen wir: Das Nl. erwächst einem an Motiven reichen, über ganz Europa weithin nachweisbaren Sagenkreis, der sich im wesentlichen aus mündlichen Tradierungsströmen speist. Die ganz andersartigen Bedingungen mündlicher Überlieferung könnten aber auch für das Nl. noch einige Geltung besitzen und derartige Störungsstellen, wie wir sie oben am Beispiel zeigten, hervorgerufen haben. Nehmen wir an, es hätte neben unserem Nibelungenlied noch andere Gestaltungen des Nibelungen-Stoffes gegeben, die sich in mündlicher Tradierung erhalten und in vielem den Stand einer unserem Liede voraufliegenden Stufe bewahrt hätten. Diese könnten auf sekundäre Verzweigungspunkte der Nibelungenlied-Überlieferung eingewirkt haben. Die auf solcher Einwirkung beruhenden Lesarten trügen vermutlich alle Kriterien der Ursprünglichkeit an sich. Bestünde prinzipiell diese Möglichkeit, so sähe sich der Textkritiker in große Schwierigkeiten versetzt: Einerseits ließe sich, da diese eingedrungenen Lesarten ursprüngliche Motive bieten, auf keine Weise der Nachweis erbringen, daß sie sekundär sein müssen. Anderseits könnten leicht Lesarten einer Hs. oder Hss.-Gruppe als ursprünglich gegen angebliche Fehler anderer Hss. ausgespielt werden, die erst auf solche sekundäre Einwirkung zurückgehen. Entscheidungen wären dann kaum noch zu treffen. Wenn mündliche Tradierung mit in die Überlieferungskritik einbezogen werden müßte, träten schwerwiegende Unsicherheiten in die Rechnung ein. An unserem Beispiel können wir uns das klarmachen. Würde in y für uns eine auf mündlicher Überlieferung beruhende Sonderlesart greifbar, dann wäre es nicht mehr möglich, eindeutig zu lokalisieren, auf welchem Punkte der Verzweigung die mündliche Einwirkung erfolgte. Ist sie erst auf der Stufe y eingetreten? Oder hat a * sie schon gehabt, und 6 ist nur die Folge einer zufällig mit (3 zusammentreffenden Änderung? Wenn die Übereinstimmung nicht aus Zufall oder aus gleicher Absicht erklärbar wäre, müßte man dann sogar mit Kontamination rechnen! Oder hat die mündliche Einwirkung schon in co * eingesetzt und ist in 5 und ß infolge einer gleichgerichteten Tendenz wieder rückgängig gemacht worden? Oder handelt es sich hier um eine aus dem reichen Motivschatz der Nibelungenüberlieferung stammende Erzählvariante, für die sich der Verfasser von y frei entscheiden konnte, weil er die Bindung an einen festen Text gar nicht kannte, sondern nur an den großen Rahmen der Überlieferung ? Allen diesen Möglichkeiten müßte der Textkritiker mit einer klaren Entscheidung begegnen können, wenn er an seinem Stammbaum festhalten wollte. Wenn diese Entscheidung jedoch — und das ist weitaus wahrscheinlicher — nicht zu treffen ist, so ist auch der schönste Stamm-

16

Kritische Vorbemerkungen

bäum illusorisch, da er eine einwandfreie Entscheidungsmöglichkeit dort vortäuscht, wo keinerlei Sicherheit zu gewinnen ist. Die dritte Voraussetzung Braunes, die Kontaminationslosigkeit der Überlieferung, ist wie die beiden erörterten Voraussetzungen ein Erfordernis der auf die genaue Rekonstruktion der Überlieferung bedachten Textkritik; denn wenn nur an einigen Stellen der Lesartenbefund auf Mischung unverwandter Hss. schließen ließe, wäre jegliche Darstellung der Überlieferung in einem Gesamtstemma unmöglich, da sich nur in ganz seltenen Fällen die Frage klären ließe, welche der Hss. oder Hss.-Gruppen den Wortlaut der anderen übernommen hat; oder ob man mit Varianten im Archetypus zu rechnen habe; oder ob etwa schon in der gemeinsamen Quelle der Fehler gestanden habe, dann aber in einzelnen Hss. gebessert sei. Nun wird man Braune gern einräumen, daß „nicht jede vereinzelte Störung des durchgehenden Verhältnisses der hss. auf mischung der Überlieferung schließen läßt: zufälliges zusammentreffen unverwanter hss. in derselben änderung ist nicht selten anzunehmen, wenn die änderung nicht sehr eigenartig, oder wenn der anlass erkennbar ist, der mehreren dieselbe nahe legte" 36 . Doch ist der Textkritiker verpflichtet, bei einer jeden kritischen Stelle auch darlegen zu können, daß sie sich wirklich aus zufälliger oder infolge gleichgerichteter Änderungstendenzen entstandener Übereinstimmung verstehen läßt. Es besteht freilich hier die Gefahr, daß man die Grenzen des als Zufall noch sinnvoll Erklärbaren zur Rettung des Stammbaumes überschreitet und harmonisierend alle Schwächen des Stemmas durch Scheingründe verdeckt. Auch hier wird man ein konsequentes Verfahren verlangen müssen. Fehler, die an anderen Stellen als Leitfehler den Ansatz einer Hss.-Verzweigung rechtfertigen helfen, dürften an solchen kritischen Störungsstellen nicht durch ad hoc erfundene Kunstgriffe auf zufällige Übereinstimmungen zurückgeführt werden 37 . Zieht man in allen diesen Fällen die Grenzen äußerst weit, muß man es billigerweise auch bei der Bestimmung der Verzweigungspunkte tun. Ebensowenig wäre es angängig, bei der Erklärung von Übereinstimmungen, die einer erkennbaren gleichen Änderungstendenz entspringen Braune, S. 3. Nur ein Beispiel möge zeigen, wie vorschnell Braune zuweilen urteilt: Er will auf S. 9ff. die Stellung des Fragments S (es umfaßt im ganzen 40 Strophen) bestimmen. Die Frage, ob wir in ihm die Stammhs. von Db* zu sehen haben, glaubt Braune verneinen zu müssen; denn „S hat manche kleine änderungen des ursprünglichen, die D und b nicht haben, z. b. 859,4b chuneres sin S, wo Db* mit den übrigen hss. küeneresgesin haben. 865,4b hat D mit den übrigen hss. mit triuwen, S entriuwe, auch b ändert in triumn. Diese und andere kleinere abweichungen von S, so geringfügig sie an sich sind, machen es doch rätlich anzunehmen, dass S nicht die directe quelle 36

37

Kritische Vorbemerkungen

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sollen, zuweilen mit anderen Tendenzen zu rechnen, als man sonst der betreffenden Hs. oder Hss.-gruppe zuschreibt. Versagen jedoch beide in der bezeichneten Weise methodisch gesicherten Erklärungen, so ließe sich der Verdacht der Kontamination nicht mehr abweisen. Damit wäre dann aber die Möglichkeit aufgehoben, in dem jeweiligen Zweig der Überlieferung die Hss.-Verhältnisse weiter zu durchschauen. Wir werden die Fragezeichen nicht aus dem Auge verlieren, die wir hinter einige der Prämissen Braunes gesetzt haben, wenn wir jetzt darangehen, seine Erörterung der Hss.-Verhältnisse Schritt für Schritt kritisch zu verfolgen. Wir wollen uns am konkreten Material von der Stichhaltigkeit seiner Beweisführung und damit von der Möglichkeit der Errichtung eines Stemmas überzeugen. Wir werden für unsere Zwecke das Material etwas anders ordnen, als es Braune in Verfolg seiner Ziele tat. Am Schluß dieser Einzeluntersuchungen werden wir ein zweites Mal in eine Erörterung dieser drei Grundpositionen eintreten und an Hand der inzwischen gewonnenen Erkenntnisse endgültig Stellung beziehen. der übrigen ist" (Braune, S. 10). Der hartnäckige Wille, jedes noch so kurze Fragment eindeutig in das Stemma einzuordnen, verführt Braune dazu, hier Fehlern eine Beweiskraft zuzusprechen, die er sonst zuweilen als Änderungen erklärt, in denen unverwandte Hss. unabhängig von einander übereintreffen können.

2 Drackert, Handschriftenkritik

DIE GRUPPE Db* Wie Braune beginnen auch wir mit der Betrachtung der Gruppe Db*. Sie wird zu einigen grundsätzlichen methodischen Überlegungen führen, die für den Fortgang der Untersuchung wichtig werden. Den zur Rezension C* gehörigen ersten Teil dieser Gruppe (bis Strophe 268, 1) ordnet Braune folgendermaßen in sein Stemma ein 1 : i

(C*)

!

l

I

(Cx*)

I I

C

!

E

(C 2 *)

I

i

I

I i

Ra*

I

R

I

I

a

l

Db*

l

U

I

I

k

F(?)

Db* stimmt nämlich in einigen Abweichungen von C* zur B*Gruppe, bewahrt also nach Braunes Ansicht an diesen Stellen den „ e i g e n t l i c h e n t e x t C*" 2 , der dann erst in Cf im Sinne von C umgeformt wurde. Der Ansatz der Zwischenhs. C* ist die Konsequenz der — nach Braune entscheidend wichtigen — Auffassung, daß sich im z*-Zweig vom B*-Text aus über die Stationen z* und z* eine Textwandlung auf C* hin vollzieht. Wenn sich der Ansatz von C* bei unserer Nachprüfung als gerechtfertigt erweist, so ist damit die auf C* gerichtete Bewegung der z*Gruppe noch keineswegs bewiesen; denn damit stünde zunächst nur der Endpunkt der Bewegung fest, nicht aber die vermittelnden Zwischenstationen. Ist dagegen der Ansatz nicht gerechtfertigt, dann ist ein erster Einwand gegen Braunes Grundvorstellung gegeben. Wir wollen Braunes Material prüfen. Zur Erklärung der Lesartendivergenzen folgender Stellen 3 , an denen Db* mit dem B*-Text übereintrifft, ist man nicht genötigt, eine Zwischenstufe anzusetzen: 1 2 3

Braune, S. 21. Braune, S. 18. Vgl. Braune, S. 18.

19

Die Gruppe Db* 259,3 65,3 230.2 236.3

willen Db (B*) = recken Db (B*) = mit dem swerte Db sin bruoder Liudeger

muote CE gesellen C (B*) = mit den banden C Db (B*) = der chüene L. C

In derartigen Vertauschungen von Wörtern treffen auch sonst Handschriften zusammen, die nicht miteinander verwandt sind 4 . Nur wenige von den angeführten Fällen sind so schwerwiegend, daß ihr Übereintreffen mit dem B*-Text kaum als Zufall erklärt werden kann: 78,2 daz so! man mir sagen Db (B*) = kan mir da% iemen sagen C 82,1 dem chunige von Metren Ortwin Db (B*) = ein reche der hie% ortwin 218,2 Gernot und Hagene di rechen vil halt B die kuenen recken halt Db — — — Gernot der herre unt Hagene ein degen balt C 264.4 den bot man sumelichen Db (B*) = man gap da genuogen C

C

Wir wären nun durch Braune zu der Annahme gezwungen, daß C* die eingreifende Änderung des Grundtextes herstellte, an der Db* fast durchgängig teilhat; daß C dann an vielen Stellen in gleichem Sinne weiteränderte, wo Db* den alten Text stehen ließ. Wir hätten also mit zwei gleichsinnigen Redaktoren der doch im ganzen so einheitlichen Fassung C* zu rechnen. Diese Auffassung setzt indessen voraus, daß es nur einen einzigen festen Text gab, nämlich den B*-Text, an dem fortwährend geändert wurde. Wenn aber der C*-Text oder genauer: die Basis, über der sich die C*-Umformung vollzog, a priori von gleicher Festigkeit war? Dann wären diese vier Stellen, an denen Db* mit dem B*-Text zusammentrifft, doch wohl beweisende Fehler für eine Mischung, da sie nicht mehr als zufällige Übereinstimmungen der Hss. erklärbar sind. Wir werden nicht so weit gehen, vor der eingehenden Betrachtung der Fassung C* solch kühne Behauptungen zu wagen. Unsere Zweifel an der Notwendigkeit der Zwischenstufe C * bleiben jedoch bestehen. 4 Wenn hier und im folgenden von unverwandten Hss. die Rede ist, so bedeutet das immer: unverwandt im Sinne des Brauneschen Stemmas. — Vgl. die Übereinstimmungen unverwandter Hss., die Braune auf S. 202ff. zusammenstellt und die er alle auf Zufall zurückführt. Ein Beispiel möge zur Illustration dienen. 1443,4 des ie min willegerte B*J — her^e — C1 Nach Braunes Stemma (vgl. S. 174) muß ein solches Zusammentreffen zufällig erfolgt sein; denn entweder hat in J und Zj* wille ( = Hs. J) gestanden oder her^e ( = Hs. C). Hat wille dort gestanden, dann trifft die Hs. 1 in ihrer Änderung zufällig mit der Hs. C überein; hat her^e dort gestanden, dann trifft die Hs. J zufällig mit dem y*-Zweig überein. Auf jeden Fall muß man mit einer Austauschbarkeit von wille und her^e rechnen, wenn man den Stammbaum retten will. Dann steht aber auch der Annahme nichts im Wege, daß wille für muot eintreten kann und umgekehrt.



20

Die Gruppe D b *

Sie verstärken sich, w e n n wir in unserem ersten Abschnitt auch Ü b e r einstimmungen v o n D b * und J h wahrnehmen. Diese

Beziehungen,

die Braunes Beweisführung erheblich gestört hätten, sind v o n

ihm

nicht behandelt w o r d e n . Eine solche Ubereinstimmung zeigt folgende Stelle 5 : 240,2 (Ir sccenez antlüt^e daz wart rosenrot) do mit liebe was gesceiden uz der großen not daz so wol was gescheiden — — daz so wol gescheiden. waz von grozzer not. (der wcetliche recke.)

BACd Db Jh

Zufälliges Übereintreffen ist kaum denkbar, da es sich um zwei gesonderte ÄnderungsVorgänge handelt, die in beiden Hss.-gruppen übereinstimmend vorgenommen wurden. Einmal wurde der temporale Nebensatz in einen Objektsatz (dd > daz), zum anderen der Ausdruck mit liebe in die blassere, sonst im Nl. nur noch an einer Stelle in ähnlichem Sinne belegte Wendung so wol geändert6. L e g t nun aber dieses Zusammentreffen eine Beziehung zwischen D b * und J h nahe, dann ist nicht m e h r auszumachen, o b nicht D b * jene anderen Übereinstimmungen mit dem B * - T e x t auch auf d e m

Weg

über J h erhalten hat. Braune täuscht also mit dem Ansatz v o n C *

eine

Sicherheit v o r , die sich bei Sichtung des gesamten Materials als nicht zulässig erweist. Die H s . k und das F r a g m e n t U , die Braune außerdem zur Stütze der Zwischenhandschrift aufführt, rechtfertigen diese in n o c h geringer e m Maße. Das F r a g m e n t U , das nur 14 Strophen umfaßt, ist zu kurz, u m eine sinnvolle E i n o r d n u n g zu ermöglichen 7 . D i e H s . k aber bietet einen schon derartig entstellten T e x t , daß lediglich die Zugehörigkeit zu einer H s s . - G r u p p e n o c h feststellbar ist, nicht aber der genaue Platz in ihr 8 . W i c h t i g e r als dieser erste Teil der G r u p p e D b * ist für uns der zweite, mit dem B * - T e x t zusammenstimmende Abschnitt, weil Braune v o n 5 Andere, jedoch nicht beweiskräftige Übereinstimmungen von D b * und J h etwa noch 247,4; 251,3; 256,4. 6 2053,2 im gemeinsamen Text. Sie ist also keineswegs formelhaft. 7 Die erste der beiden von Braune angeführten Stellen (vgl. Braune, S. 20), 1223,4 (bei Braune irrtümlicherweise 1233,4), beweist nichts, da sie keineswegs aus der B*-Fassung ableitbar ist. So bleibt nur 1212,4. Aus einer einzigen geringfügigen Übereinstimmung wird man aber nicht sehr viel entnehmen dürfen, zumal bei der Kürze des Fragmentes etwaige Änderungstendenzen, Sorgfalt, Kontamination usw. gar nicht zu beurteilen sind. Möglich wäre, daß das wunder ausfiel, weil es nicht verstanden wurde; damit wäre dann die Änderung von daz >n n>aX, erforderlich geworden. 8 Braune bemerkt jedoch auf S. 21 zu Vers 1212,4 (ich weiss wol waz Krenhilde noch mit dem schätze tuot k): „Wir haben hier den für B * und U gegenüber Ca charakteristischen indirecten fragesatz" und weist die Hs. so dem B*-Text zu. k kann jedoch für beide Ansichten (Ansatz einer Zwischenstufe und Ablehnung dieses

Die Gruppe Db*

21

ihm aus die Sonderstellung der Hs. B und die Zurücksetzung des durch die Hs. A vertretenen Textes begründet. Die Gruppe Db* ist nach Braune so fest, daß man auch da, wo ihre einzelnen Hss. auseinandergehen, „durchaus nicht mit der lesart einer hs. operieren darf" 9 ; erst die erschlossene Lesart der Stammhandschrift darf man als textkritischen Faktor einsetzen. Das Zusammentreffen einer Hs. dieser Gruppe mit einer unverwandten Hs. muß auf Zufall beruhen, wenn die andere mit den näher liegenden Hss. übereinstimmt. Die Betrachtung solcher Fälle ist nach Braunes Meinung „methodisch wichtig u n d sehr instructiv f ü r die erkenntnis der Zufallsmöglichkeiten,

da keine hs.-gruppe des N.-lieds so eng zusammengehört und so deutlich auf eine e i n z i g e hs. zurückgeht wie DNSb" 1 0 . Wir werden prüfen müssen, ob alle Übereinstimmungen, die der Geschlossenheit der Gruppe zuwiderlaufen, zufällig entstanden sein können. Wenn wir die Frage verneinen müßten, weil sich der Rahmen der Zufallsmöglichkeiten zu stark weiten und damit die Grundlage der Fehlerbeurteilung unterhöhlt würde, wäre das Braunesche Stemma an einer seiner vermeintlich sichersten Stellen erheblich in Frage gestellt. In Strophe 2107,2 hat die Hs. D mit den Hss. BJa die Formel die Ruedegeres man, während die Hs. b mit den Hss. A und C in dem Wortlaut des marcgraven man zusammenstimmt 11 . Man wird Braunes Ansicht über die Lesarten dieser Stelle billigen und die Entscheidung offenlassen; den Ausweg 1 2 , den Braune durch den Hinweis auf die zahlenmäßige Überlegenheit von vier Instanzen (BJDa) gegenüber dreien (ACb) dann doch noch finden möchte, wird man nicht mitgehen wollen. Wenn drei Hss. in ein und derselben Änderung zufällig übereintreffen können, wird man es auch von vieren annehmen dürfen. Für welche der beiden Lesarten man sich an unserer Stelle auch entscheidet, in jedem Falle wählt man eine Lesart, die im Nl. stilistisch ausgewiesen ist; beide Wendungen sind an mehreren Stellen belegt. Eine der beiden Hss. der Gruppe Db* muß von ihrer Vorlage abgewichen sein, sei es, daß sie sich für eine in der Vorlage enthaltene Doppellesung entschied, sei es, daß sie selbständig änderte. Für Braune Ansatzes) in Anspruch genommen werden. Da in k (Hildebrandston) nur einsilbiger Auftakt möglich ist, mußte wunder wegfallen; dafür (wunder im Sinne des jüngeren „noch alles") kann noch eingetreten sein. Das zog dann zwangsläufig die Änderung von daz in nach sich. Die Hs. k kann natürlich auch auf den B*-Text zurückgehen. Sicheres ist an dieser Stelle nicht zu ermitteln. 9 Braune, S. 7. 1 0 Braune, ebenda. 11 Riiedegeres man in Vers 1233,3; 2107,2; u.ö. — des marcgraven man in Vers 2146,1; 2107,2 nur in C. 1 2 Braune, S. 208.

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Die Gruppe Db*

ist die Sache damit abgetan, daß er das Auseinandertreten der Hss. zur Kenntnis nimmt13. Es läßt sich an unserem Fall aber doch einiges ablesen, das von grundsätzlicher Wichtigkeit ist. Wenn derartig eng zusammengehörige Hss. an einer Stelle auseinandergehen, wo kein erkennbarer äußerer Anlaß zu einem solchen Verhalten besteht, besagt das etwas über ihr Verhältnis zu ihrer Vorlage. Eine der beiden Hss. muß in der Abweichung von der gemeinsamen Vorlage sich die Freiheit der Umformung und des Eingriffes genommen, muß also die Vorlage nicht als unantastbar angesehen haben. Wie weit aber reicht diese Freiheit? Rüdiger wird auch sonst öfter der marcgräve genannt, ja sogar die Wendung der marcgräve Rüedeger ist nicht gerade selten. Es liegt daher nahe anzunehmen, daß auch unverwandte Hss. unabhängig voneinander die eine formelhafte Wendung 14 mit der anderen vertauschen konnten. Wie weit geht diese Vertauschbarkeit ? Wie verhält es sich mit Stellen, an denen der Wortlaut, vielleicht sogar der Sinn eingreifender verändert worden ist ? Hier ist vornehmlich der Vers 1685,4 zu erörtern, den Braune selbst unter einer Reihe von Lesarten bespricht, die mit seiner Hss.-Gruppierung „nicht ohne weiteres vereinbar erscheinen"15. Als Kriemhild den am Hofe Etzels eintreffenden Burgundern die Waffen abnehmen will, weigert sich Hagen. Die Königin errät daraus, daß die Gäste (von irgend jemandem) gewarnt worden sind und sagt nun: 1685,4 {und messe ich wer da% täte,) der mtiese chiesen den tot. BDJd — — — ich riete im immer sinen tot. ACa — — — — — ich wolt im raten den tod b Zwar ist der Ausdruck in der Hs. b leicht verändert, er trifft aber im Wortmaterial mit ACa gegen die Hss. BDJd zusammen. In der Lesart er müese kiesen den tot müßten nach Braunes Auffassung vier Hss. selbständig und zufällig zusammengetroffen sein, wenn die Hss. ACab das Ursprüngliche bewahren; denn dann hat das Echte ja noch in z* und z J sowie in den Hyparchetypi ADb* und Db* gestanden. Wenn dagegen die Hss. BDJd das Ursprüngliche bewahren, dann müssen die Hss. Cund A in gleicher Richtung unabhängig voneinander geändert haben und wiederum zufällig mit der Änderung von b, deren Stammhandschrift nach Ausweis von D noch das Echte hatte, übereingetroffen sein. Schon zahlenmäßig liegt für Braune der letztere Fall näher, da dann nur drei Instanzen durch Zufall auf dieselbe Änderung verfielen 16 . 13 Der Anlaß, auf den Braune (S. 208) die Einsetzung der Standesbezeichnung für den Namen zurückführt, nämlich die Beseitigung von Wiederholungen (in 2107,1 steht der Name Rüdigers), würde der Hs. b eine Sorgfalt zuerkennen, die man ihr sonst nicht abspürt. Bei der Hs. A würde man Braunes Zwischenhs. cc* bemühen müssen, da die Hs. selbst ja allgemein als Muster für Schreibertorheit und Sorglosigkeit gilt. Vor allem aber ist die Argumentation selbst zweischneidig. Die Nennung Rüdigers im ersten Vers könnte ja gerade den Anlaß gegeben haben, den Namen auch hier einzuführen. 11 Ähnliche Vertauschungen etwa 1728,3; 1524,2 u. ö. 16 Braune, S. 202. 16 Vgl. Braune, S. 206.

Die Gruppe D b *

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Aber auch aus „inneren gründen" 1 7 meint er wahrscheinlich machen zu können, daß die Hss. A, C und b geändert haben. Ich setze die aus manchen Gründen aufschlußreiche Argumentation in ihrer Gänze hierher: „ D e m b e a r b e i t e t e * ist diese gewis uralte poetische Wendung . . . fremdartig: nur 170,4 läßt er sie stehen, an den drei anderen stellen ersetzt er sie durch abstracteres. So 2005,4 ir müsset liden den tot Ca, 2066,4 des körnen aber die degene in vil angestliche not Ca (statt des muose maneger schiere von in kiesen den tot). Wir werden also auch für 1685,4 annehmen dürfen, daß es C ist, der durch ich riete im immer s'men tot das ursprüngliche kiesen den tot ersetzt hat. Nun haben wir . . . gesehen, daß A in der tendenz seiner modernisierenden änderungen sich mit C * berührt, nur sind der fälle selbst in A weniger, da A überhaupt weniger ändert als C * . So werden wir denn auch schliessen können, dass A an unserer stelle sich zufällig mit C * ändernd berührt hat: dass A auf den gleichen Wortlaut verfiel, wird man begreifen: wenn man den Vordersatz erwägt, so ist der von A und C * gewählte nachsatz wirklich das nächstliegende. Ebenso wie C * und A stand aber auch der Schreiber von b dem alten bilde fremd gegenüber: er hat schon 170,4 statt (darumbe muosen degene) sider kiesen den tot geändert in von irem streite ligen tot. So hat er denn auch an unserer stelle den ausdruck beseitigt, unabhängig von A und in anderem Wortlaut, aber in dem nahe liegenden gedanken mit A und C * zusammentreffend" 1 8 . Es ist eigenartig, daß der Bearbeiter von C * , dem die Wendung angeblich fremd war, sie an einer Stelle dennoch im Text beließ; doch mag das noch hingehen. Kann nun aber diese nicht ganz sichere Änderungstendenz der Fassung C * eine Erklärung dafür sein, daß auch die Hs. A den Ausdruck änderte? Wenn die Hs. A wirklich, was noch zu untersuchen bleibt, in der Tendenz modernisierender Änderungen mit der Fassung C * übereintrifft, so erhebt sich doch sofort die Frage, warum der Verfasser von A an drei von vier Stellen die angeblich störende Wendung stehen ließ. Wer aber selbst dieses Zugeständnis noch machen will, wird den nächsten Schritt unmöglich mitvollziehen können; denn bei dem vorliegenden Vordersatz ist der gewählte Nachsatz keineswegs der nächstliegende. Warum änderte der Verfasser von C * denn hier nicht so wie in 2005,4 er müese liden den tot oder ersetzte kiesen durch ähnliche, im Nl.in Verbindung mit tot belegte Verben wie gewinnen, verdienen, viirhten'} Ist nun schon aus diesem Grunde die Erklärung Braunes mehr als brüchig, so bricht der ohnehin unsichere Boden seiner Argumentation vollends ein, wenn auch noch eine dritte, im wesentlichen gleichlautende Änderung von ihm getragen werden soll. Wenn wir aber zugeben, daß diese Übereinstimmung unmöglich auf Zufall beruhen kann und auch nicht auf eine bestimmte Änderungsabsicht zurückzuführen ist, dann ist damit zugleich der enge Zusammenhalt der Gruppe D b * in Zweifel gezogen, und alle nicht voll beweiskräftigen Ubereinstimmungen, bei denen die Hss. der Gruppe D b * entsprechend auseinandertreten, gewinnen an Gewicht.

Nur auf eine Weise wäre die Geschlossenheit der Gruppe D b * aufrechtzuerhalten. Man müßte den Rahmen der Zufallsmöglichkeiten so weit fassen, daß auch solche Änderungen wie die oben erörterte noch mit eingeschlossen werden könnten. Beide Wendungen sind im Nl. gleich gut, beide müssen als Präsumptivvarianten gelten 1 9 . Für die Ursprünglichkeit beider lassen sich gute Braune, S. 206. Braune. S. 207. 19 den tot raten in Vers 808,2 und an unserer Stelle; den tot kiesen 170,4; 2005,4; 2066,4 und an unserer Stelle. 17

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Die Gruppe D b *

Gründe anführen, für keine von beiden wüßte man sich zu entscheiden. Der Rahmen der Zufallsmöglichkeiten müßte, wollte man ihn nach dieser Stelle bestimmen, so weit sein, daß nicht nur der Ersatz eines Wortes durch ein anderes, sondern auch die Veränderung des syntaktischen Gefüges (Substantiv + Hilfsverb + Infinitiv = Substantiv + Verb) und die Änderung der Perspektive (Subjekt ist der Redende = Subjekt ist der Angeredete) in unverwandten Handschriften unabhängig voneinander erfolgen könnte. Das würde aber bedeuten: Wir dürften in einem noch näher zu bezeichnenden Ausmaße gar nicht mit einem festen Text rechnen, da der mündlichen oder schriftlichen Fixierung des Textes gleichwertige Erfüllungsmöglichkeiten des Textes vorauslägen; diese könnten natürlich überall zufällige Gruppierungen bewirken, die mit den von Braune in seinem Stemma angesetzten nicht übereinstimmen. Auch — und gerade — wenn sich dieses Ergebnis weiter erhärtete, wären damit die Grundfesten des Stammbaumes erschüttert. Wie wären die Verzweigungspunkte des Stammbaumes zu bestimmen, wenn die Fehlerbeurteilung auf einer solchen Basis beruhte? Der Textkritiker, der auch bei dieser Lage der Dinge noch an seinem Stemma festhielte, müßte mit stichhaltigen Gründen die genaue Grenze der Variationsmöglichkeit angeben können. Er müßte Auskunft darüber zu erteilen vermögen, ob sie sich nur auf den Wortersatz und einzelne umfangreichere Wendungen erstreckte, oder gar auf ganze Motive, die in der Art von Versatzstücken überall eintreten könnten. Wir können nun zusammenfassen, was sich uns aus der oben behandelten, wie auch aus dem Befund anderer gleichgelagerter Stellen 20 ergibt: Entweder wir entscheiden uns dafür, daß die festeste Gruppe des Brauneschen Stemmas gar nicht so fest ist, d. h., daß Konstellationen auftreten können, die sich mit dem Hss.-Stammbaum nicht vereinigen lassen. Oder aber wir retten die einzelne Gruppe, treffen damit jedoch eine Entscheidung, die für die Überlieferungskritik einschneidende Konsequenzen nach sich zöge. Wenn nämlich durch das Eintreten solcher Ersatzwendungen scheinbare Gruppierungen von unverwandten Hss. bewirkt werden können, dann wird dem Textkritiker dadurch in einem kaum mehr bestimmbaren Maße die Grundlage der Fehlerbeurteilung — und damit die Basis seiner Arbeit — genommen. Aus dieser Aporie gibt es nur den Ausweg, diejenige Möglichkeit zu wählen, die die größere Wahrscheinlichkeit für sich hat. Die Sichtung des weiteren Lesartenmaterials kann uns zeigen, welche Wahl wir zu treffen haben. Im einen wie im anderen Falle gerät das Stemma Braunes jedoch ins Wanken. 20

Vgl. noch etwa Vers 1516,4; 1524,2; 1713,4; 1728,3.

DIE GRUPPE ADb* Die Gruppe Db* gehört nach Braunes Auffassung so eng mit der Hs. A zusammen, daß beide mit Sicherheit auf eine Stammhandschrift zurückgehen. Dies bedeutet für die textkritischen Entscheidungen, daß weder von der Hs. A allein noch von Db* auszugehen ist, sondern immer nur von der zu erschließenden gemeinsamen Vorlage ADb*. Der Ansatz von ADb* liefert Braune ein entscheidendes Argument g e g e n die bevorzugte Stellung von A und f ü r die daraus resultierende stärkere Isolierung der Hs. B 1 . Lachmann hatte an Stellen, an denen er die Lesarten der Hs. A als falsch erkannte, den korrekten Lesarten der übrigen Hss. nur den Wert von Konjekturen zuerkannt, hatte also damit einen relativ fehlerhaften Archetypus postuliert. Diese Ansicht ist indessen nach Braunes berechtigter Einschränkung nur so lange zu halten, als sich überall zeigen läßt, daß die guten Lesarten der anderen Hss. wirklich nur Konjekturen sein können; sie muß aufgegeben werden, sobald sich auch nur in einem Teil der Fälle zeigen läßt, daß die Lesart des B*-Textes nicht nur die korrekte, sondern auch die ursprüngliche sein muß. Diesen Nachweis meint Braune an einer Reihe von Stellen erbringen zu können. Wir werden diesen Nachweis prüfen müssen, können jedoch schon jetzt sagen, daß Braunes Folgerung in unberechtigtem Maße über das Ziel hinausschießt: Nach seiner Meinung läßt sich keine der von ihm behandelten Sonderlesarten ADb* gegenüber B* als ursprünglich erweisen, mithin sind sie im Sinne der Überlieferung Fehler, und „deshalb wird man methodisch richtig a l l e falschen lesarten der hss. ADb diesem zweig der Überlieferung zuschreiben müssen" 2 . Dieser Schluß ist in keiner Weise zwingend; er wäre es nur dann, wenn Braune mit Sicherheit die Beschaffenheit des Archetypus bestimmen, d. h. in allen Fällen zeigen könnte, daß die Abweichung von ADb* gegenüber dem B*-Text ein Fehler sein muß; und wenn sich zweitens aus der engeren Verwandtschaft der einen von beiden Untergruppen (A und Db*) zu einer entfernter liegenden Hs. keinerlei Einwände gegen den Ansatz der Stammhs. selbst ergäben. 1 Jedoch hat Braune der Hs. B nie einen so exzeptionellen Rang zuerkannt, wie ihn die A-Anhänger ihrer Hs. zuschrieben (vgl. Braune, S. 215). 2 Braune, S. 30.

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Die Gruppe ADb*

a) DIE FEHLERBESTIMMUNG 1. Braune beginnt die Erörterung dieses Fragenkomplexes mit einem Exkurs über den umschriebenen Infinitiv des Perfekts im Mittelhochdeutschen, der durch eine „unanfechtbare sprachgeschichtliche tatsache" 3 dartun soll, daß der Hyparchetypus A D b * gegenüber dem B*Text eine jüngere Änderung bietet. Braune unterscheidet zwei Kategorien 4 : 1. den eigentlichen Infinitiv perfecti, bei dem eine vollendete Handlung des Verbs in ihrer Beziehung auf die Zeit des regierenden Verbs als gegenwärtig hingestellt wird, z. B. si wolden Volkeren töde erslagen hän (Nl. 1830,3); 2. den stellvertretenden Infinitiv perfecti, der die umschriebenen Formen der Hilfsverba mac, sol, tar, darf usw. vertritt, die im Mittelhochdeutschen nicht gebildet werden können, da den Verben ein Partizipium des Präteritums fehlt. Es ist immer das Plusquamperfekt der Hilfsverben, welches auf diese Weise umschrieben wird, und zwar wesentlich der Konjunktiv des Plusquamperfekts. Bis in die mittelhochdeutsche Zeit steht hier noch der einfache Infinitiv des Verbbeim Präteritum des Hilfsverbs. Die Umschreibung mit dem Infinitiv perfecti beginnt um die Mitte des 12. Jhdts. aufzutreten. Die Kaiserchronik hat schon nebens einander die ältere Ausdrucksweise (z. B. 1061ff. duo wurden die cnehtej die von adele unt von rehtej reweite vursten solten sin) und die jüngere (z.B. 4745 du mähtes ¡z alle\ an mih bän getan, ed. Schröder). Im Nl. überwiegt die alte Ausdrucksweise noch durchaus 5 . Neben den Belegen, die durch alle Hss. bezeugt sind, gibt es noch eine Reihe von Stellen, an denen die altertümliche Ausdrucksweise nur durch einige Hss. gestützt ist, während andere zur größeren Verdeutlichung den stellvertretenden Infinitiv perfecti für den Infinitiv präsentis eingesetzt haben; niemals die Hs. B, dagegen öfter die Hss. A, C, D, J, b, d. Achtmal treten in dieser Änderung Hss. zusammen, zwischen denen eine direkte Beziehung nach Braune nicht besteht. Hier nimmt Braune an, daß die Hss. in der Änderung unabhängig voneinander übereintrafen 6 . Wenn jedoch an diesen Stellen in unverwandten Hss. eine solche Änderung selbständig eingeführt werden konnte, dann besagt eine entsprechende Ubereinstimmung von A und Db* gar nichts über den Wert und den Ansatz einer Zwischenhs. ADb*; denn auch in dem Vers, um dessentwillen Braune den Exkurs einschiebt7, könnte die Änderung erst von der Hs. A einerseits und der Hs. Db* anderseits herrühren. Braune setzt diese Stelle also völlig zu Unrecht an den Anfang seiner Erörterung, und sein Urteil, daß die „urhs. ADb unzweifelhaft eine jüngere fehlerhafte Änderung eingeführt hat gegenüber dem in Bd gebotenen ursprünglichen Text" 8 , ist in keiner Weise für zwingend zu erachten. Das methodische V o r g e h e n Braunes ist an dieser Stelle angreifbar. Sein Ausgangspunkt ist deutlich: E r will die Auffassung Lachmanns Braune, S. 31. Vgl. Braune, S. 32 ff. Das Folgende mit weitgehend von Braune übernommenem Wortlaut. 6 8:27 Fällen, in denen Übereinstimmung aller Hss. besteht. 6 1679,4 D und C; 1253,4 D und J ; 1079,4 Db, J und a; 2223,4 A und J ; 2232,4 A, D und J (zu dieser Stelle heißt es bei Braune (S. 37): „. . . natürlich auch von A und D selbständig, da b noch das echte hat"); 724,4 Db, J und d; 13,4 J, d und A. 7 Vers 1725,4; vgl. Braune, S. 35ff. 8 Braune, S. 38. 3 4

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Die Gruppe ADb*

widerlegen, daß alle echten Lesarten anderer Hss. Konjekturen zur Besserung des in der Hs. A gebotenen Wortlautes seien. Seine wahre Absicht stellt sich erst nachträglich heraus: Durch die „unanfechtbare sprachgeschichtliche tatsache" soll der textkritische Wert der Hss. A und Db* von vornherein diskreditiert und damit der Hintergrund bereitet werden, vor dem die folgenden Übereinstimmungen von A und Db* nur noch als fehlerhaft erscheinen können, so daß Braune sich nach der Aufzählung zu dem Schluß berechtigt glaubt: „Es ist also jetzt zuzugeben, daß die . . . oben . . . bezeugten näheren beziehungen von A und Db* auf einer zwischenhs. beruhen, die nicht das original, sondern selbst schon eine abgeleitete hs. war" 9 . Dieses Ziel lag nicht im Ausgangspunkt der Fragestellung, und es wird auch nicht durch den oben nachgezeichneten Exkurs — eine an sich glänzende Beobachtung Braunes — gerechtfertigt. 2. Der größte Teil der Stellen, mit deren Hilfe Braune den Ansatz des Hyparchetypus ADb* begründet, erweist sich bei näherer kritischer Prüfung als nicht beweiskräftig; rechnen wir auch hier ein solches Maß an Zufallsmöglichkeiten mit ein, wie Braune es zuweilen tut 1 0 , dann verlieren sie auch den letzten Rest von Uberzeugungskraft. In vielen Fällen setzt Braune die Gruppierung ADb* schon voraus, bevor er sie beweist und macht damit den Ansatz der Zwischenstufe, durch den doch der Nachweis für die Notwendigkeit dieses Ansatzes erst erbracht werden soll, zur Voraussetzung seiner Fehlerbeurteilung. 1342,3b. Zu dieser Stelle bemerkt Braune 1 1 : „des müese ich vreude hän BMdJl.Ca. Hier hat offenbar A D b verlesend statt vreude das unsinnige viende eingesetzt, welches in A geblieben ist. Daraus bessern Db ere. was wenigstens einigermassen passt". Woher weiß Braune, daß der Hyparchetypus A D b * den Fehler verschuldete? Könnten nicht auch die Hss. A und Db* unabhängig voneinander geändert haben? Allem Anschein nach hat die Hs. A den Fehler gemacht, die Hs. Db* aber aus einem deutlich erkennbaren Grunde die Änderung von vreude in ere vorgenommen. 1342,4 las die Hs. Db* vreuden statt vriunden. Die Wiederholung desselben Wortes in zwei aufeinanderfolgenden Versen wird wohl für Db* den Anlaß zur Änderung gegeben haben. 1497,3

nu nemet — — — — — —

hin vriuntliche —• — — — — —

hiute minen solt hiut den minen solt minen solt herre minen solt

Bd 1 A Db

Bei Braune heißt es: „In A D b fiel hiute aus, Db ergänzen den in A beibehaltenen

zu kurzen halbvers zu herre minen solt "12. 9 10 11 12

Braune, S. 46. Vgl. dazu unsere Zusammenstellung auf S. 161. Braune, S. 44. Braune, ebenda.

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Die Gruppe ADb*

Der Schluß auf den Hyparchetypus ADb* ist keineswegs zwingend, hiute braucht doch nicht in ADb* ausgefallen zu sein, sondern nur in der Hs. A. Der Verfasser von Db* könnte das ihm mißfallende hiute in herre umgewandelt haben; denn auffällig ist doch, daß die Stellung des angeblichen Einschubes mit der von hiute sich deckt. Hätte dem Verfasser von Db* jedoch der zu kurze Halbvers minen solt vorgelegen, dann hätten wohl andere Auffüllungen näher gelegen, wie etwa minen riehen solt, minen guoten solt etc. 13 A n vielen Stellen hält die Beweiskraft der Übereinstimmungen v o n A und D b * nach den Zufallsmöglichkeiten, die Braune uns sonst z u m u t e t 1 4 , einer kritischen P r ü f u n g nicht stand; das gilt v o r allem f ü r Verschreibungen w i e hie^ ich f ü r heis^ ich15, f ü r W o r t u m s t e l l u n g e n innerhalb des V e r s e s 1 6 , f ü r W i e d e r h o l u n g e n v o n W ö r t e r n 1 7 und f ü r A u s l a s s u n g e n 1 8 . W e i t e r taugen viele der bei Braune a u f g e f ü h r t e n Fälle nicht z u m Beweise der Zwischenstufe, weil sich der G r u n d der Ä n d e r u n g deutlich erkennen läßt und entsprechende Ä n d e r u n g e n auch sonst in anderen Hss. anzutreffen sind. Braune 19 erkennt die Tendenz der Hss., ein vermittelndes Pronomen einzufügen, wenn eine Person von sich in der dritten Person spricht. Er weist darauf hin, daß auch die Hs. C in Vers 1020,4 des wäre Kriemhilde not B J d zu des wäre mir armen wibe not änderte, wo A und Db* haben des wäre mir Kriemhilde not: „Die änderung in C ist natürlich ganz davon unabhängig, aber von der gleichen tendenz veranlaßt". Entsprechend änderte z. B. auch noch die Hs. D allein den Vers 348,12. Die Änderung von Vers 1020,4 in den Hss. A und Db* kann also weder für noch gegen Braunes Auffassung zum Beweis herangezogen werden, da die Tendenz natürlich in den Hss. A und Db* gesondert wirken konnte. 13 Vgl. Braunes Urteil über folgende Stellen: 1448,1b (Braune, S. 44); 656,3a (S. 47); 1463,2b (S. 50). Auch in Vers 1061,2b (S. 48) braucht man, wie die C*Fassung (den scha% man truoc dan) zeigt, die Lesung der Hs. A nicht aus der von Db* herzuleiten. Vgl. dazu unsere Erörterung auf S. 76f. 14 Vgl. dazu unsere Zusammenstellung auf S. 161. 15 Vers 2201,3a (Braune, S. 43). Ganz entsprechend stimmen die Hss. B, d und J in Vers 2046,2 in dem Fehler hie^ ich statt hei^ ich überein. Als Verschreibungen erklären sich auch 303,1 (Braune, S. 43); 1382,3 (S. 44); 1531,4 (S. 53; denn wenn e i n e r sicherüche in scherliche verlesen konnte, dann konnten es auch zwei). 16 Vgl. Braune zu Vers 1110,2 (S. 49) und zu 1921, 4 (S. 51). Man ziehe folgende Stelle der Abhandlung Braunes hinzu: „Sehr häufig sind in den einzelnen hss. änderungen der Wortstellung, zumal vor und nach der caesur und da können leicht zwei unabhängige hss. in derselben Umstellung zusammentreffen" (S. 59). 17 Hier ist die Argumentation in den meisten Fällen umkehrbar; Braune, S. 43 zu 477,4: „sie füerent segel riche, die sint noch Wisper danne der (ein JC) sne BdJ.Ca. Wenn hier in ADb wi%e statt riche steht, so ist das doch klärlich ein durch das folgende Wisper veranlasstes versehen." Wenn es sich aber zugestandenermaßen um ein Versehen handelt, dann durfte er diese Stelle nicht mit anführen. Denkbar ist doch auch, daß die Wiederholung erst den Anlaß zur Änderung gab. Vgl. noch 1290,2 (Braune, S. 52). 18 698,3 a (Braune, S. 44), wo der Lesung Sivrit der min sun die geläufigere, aber metrisch härtere Sivrit min sun gegenübersteht. 19 Zu Vers 1020,4b (Braune, S. 43).

Die Gruppe ADb*

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Zu den nicht beweiskräftigen Übereinstimmungen gehört der Ersatz von veralteten Wörtern durch jüngere, von seltenen Ausdrücken durch gewöhnlichere 20 sowie die Trivialisierung schwieriger Konstruktionen, bei deren Beseitigung oft nur eine einzige oder wenige Möglichkeiten offenstanden. 1159,3 die poten mynnekliche trasten sy jr muot d da baten — trösten B si minneclichen. — iren muot J si — — und trösten ir den muot A si batenz — und trösten ir den muot Db — — — den — Ca — — Gernot und Giselher reden ihrer Schwester zu, der Heirat mit Etzel doch zuzustimmen. Die Konstruktion ist sehr schwierig: si ist Objekt zu bäten und steht, noch dazu durch die Zäsur vom Beziehungswort getrennt, unmittelbar hinter dem Infinitiv trasten, dessen ältere Schreibung (trösten), die auch noch die Hss. B und C bieten, sich leicht als Präteritum deuten ließ. Damit hatte das si ein eindeutiges Beziehungswort. Die Hss. A und Db* treffen nun lediglich in der Einfügung des und überein, die sich bei ihrer Auffassung notwendig ergab 21 .

In diesem Zusammenhang ist auch eine Reihe von Fällen zu erörtern, bei denen eine metrisch härtere Lesart von A und Db* einer glatteren Fassung des B*-Textes gegenübersteht. 1111,1 Do sprach der margrave BCJad In der Hs. A und in Db* ist Ruediger hinzugesetzt. Ein solcher Zusatz konnte an der Stelle leicht in verschiedenen Hss. unabhängig voneinander auftreten, zumal 20 3 1 2,2 (Braune, S. 46); 1183,3a (S. 49); 1152,1 (S. 39). Welche Möglichkeiten hatte denn ein Schreiber an der zuletzt angeführten Stelle ? Hagen erklärt: mir mac nieman widersagen. Die Verwendung von widersagen in der Bedeutung von „widersprechen" hat wohl den Anlaß zur Änderung gegeben. Änderungen von widersagen finden sich auch sonst: 2097,2 haben es nur Db und Ca, während die Hss. A, B und J („natürlich jede selbständig": Braune, S. 40) das geläufigere versagen einführten. 2035,4 setzen B und D — nach Braune, S. 40: „unabhängig voneinander" — verseit ein. Die Änderungstendenz ist also deutlich zu erkennen. An unserer Stelle ließ der Zusammenhang nicht zu, widersagen in versagen zu ändern, da die Bedeutung „mir kann das niemand abschlagen" hier nicht am Platze ist. Das Reimwort sagen stand aber fest. Nun bedarf es doch wohl keiner großen Erfindungsgabe, um in den Zwischenraum von mir mac nieman . . . sagen ein da\ einzufügen und die noch fehlende Senkung durch das Präfix ge- aufzufüllen. Damit hätte der Sinn sich aber gerade ins Gegenteil verkehrt, worauf schon Michels (S. 20) hinwies. Doch sieht Michels hier viel zu sehr auf die einzelne Änderung, nicht auf den Zusammenhang. Es wird in der ADb*-Lesung etwas anderes aufgegriffen als im Vulgattext: „Niemand kann mir widersprechen (nämlich darin, daß Kriemhild uns auf irgendeine Weise nach ihrer Heirat mit Etzel Böses zufügen wird)" = „niemand kann mir das sagen (nämlich vorhersagen, ob wir nicht doch noch einmal ins Hunnenreich reiten werden)". 21 Ähnliche Vereinfachungen von Konstruktionen, für die man keine Zwischenhs. ADb* zu bemühen braucht, finden sich noch an folgenden, von Braune zum Beweis seiner Zwischenstufe ADb*angeführten Stellen: 317,4 (Braune, S.47); 1393,3 (S. 49).

Die Gruppe ADb*

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Rüdiger im Nl. der ist, dem der Titel Markgraf hauptsächlich zuerteilt wird; die anderen Markgrafen, Eckewart und Gere, treten weit hinter ihm zurück. Braune hätte diesen Fall gar nicht anführen dürfen, da er an einer anderen Stelle einen ganz entsprechenden Zusatz der Hss. A und B als zufällige Ubereinstimmung beurteilt, er sich also über den nicht beweiskräftigen Charakter einer solchen Konstellation im klaren war: „613,4 Daz was dem künege Db. JdCa = Daz was dem künege Gunther AB. Es kann Gunther ebensowol von zwei hss. selbständig zugesetzt, als weggelassen worden sein" 2 2 . 1401,1. In den Hss. A und Db* ist dem Vers sprach Hagene swes sijehen ein halt hinzugefügt, das den Vers überlädt. Es ist wohl keine Zwischenhandschrift ADb* nötig, um die Existenz eines in einen Konzessivsatz eingeschobenen Adverbs halt zu erklären 23 . 1553,1 Do begonde — — Do bigonde Do begunde Do begunde

er rueffen — — rufen hagen vaste

Danchwarten an Danewarten vil vaste an hagene vil vaste an vil vaste r u f f e n an hagen ruoffen dan

BCadl A24 N b D

Es könnte schon im Archetypus in die unbedenkliche Lesart Danewarten vaste an ein steigerndes vil eingefügt sein 25 , das ja — wie aus den Materialien von Bartsch 21 ' unschwer zu ersehen ist — überall leicht eintreten konnte. Die Wendung vaste ruofen findet sich auch sonst 27 , ähnliche metrische Behandlung der Namen auf -wart läßt sich nachweisen 28 . Diesen überladenen Vers des Archetypus könnten die anderen Hss. durch Beseitigung des vil vaste geglättet haben. Wahrscheinlicher aber ist, daß BCadl das Ursprüngliche bewahren; denn gerade Lesarten von diesem Typus sind gut bezeugt 29 . Da bei ruofen das Adverb vaste recht gebräuchlich ist, konnten in einer solchen Einfügung die Hss. A und Db* unabhängig voneinander zusammentreffen.

An einigen Stellen unterscheidet sich der ADb*-Text dadurch von der Lesung des B*-Textes, daß seine Zäsur anders gebildet ist. Bevor wir diese im einzelnen betrachten, müssen wir uns kurz die Möglichkeiten der Zäsurbildung vergegenwärtigen. In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle kommen zweisilbig klingende (meeren), weit weniger häufig dreisilbige Zäsuren (sdgete) vor. Selten geht der vordere Halbvers voll aus, dann steht in der Kadenz ein nicht komponiertes Wort (swester sün); selten sind auch Zäsuren vom Typus mllekomen. Die Frage, ob Zäsuren auf Wörter wie sehen, kämen enden dürfen, werden wir erst in einem späteren Zusammenhang erörtern 30 .

Vergegenwärtigen wir uns die Spannweite der Möglichkeiten, dann müssen wir die folgenden Fälle als völlig gleichwertig ansehen. Die 22 23 24 25 26 27 28 29 30

Braune, S. 59. Vgl. weiter Braune, S. 199 (zu 677,1). Vgl. Bartsch, S. 284. In der Hs. A steht der Zäsurstrich hinter Danewarten. Vgl. Kettner, Hss.-Verh., S. 315. Vgl. Bartsch, S. 238 ff. 1490,1. Vgl. Vers 1415,1; 2235,3 u. ö. 1 867,1; 1912,1; 1920,1. Vgl. unsere Erörterung auf S. 60 ff.

Die Gruppe ADb*

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Hss. A und D b * bieten jeweils die weniger übliche, der B*-Text dagegen die normale zweisilbig klingende Zäsur. Gerade die Beseitigung der weniger üblichen F o r m kann den A n l a ß zur Umbildung gegeben haben. Bei der allgemeinen Tendenz der Hss. 3 1 , zur üblicheren Bildung hin auszugleichen, konnten mehrere Hss. in derselben U m f o r m u n g zufällig übereintreffen, so daß sich daraus weder f ü r noch gegen den Ansatz der Zwischenhs. A D b * ein A r g u m e n t gewinnen läßt. 1713,2a

swer sin selbes hiiete BJKdCa — — — hüeten wil A — — — hutten woll b D — welle sin selbem hueten 1993,3a chom er danne hinnen BJd32 kam er danne widere ADb 669,1 a si versuchte^ an dem chünige BJd si versuohte an den kunich ADb Der zuletzt angeführte Fall, der sich nicht in den oben abgesteckten Grenzen hält, wird später bei der Erörterung zweisilbig voller Zäsuren weiter zu diskutieren sein 33 . Die Konstruktion von versuochen + ane mit dem Akkusativ ist im NJ. auch sonst belegt; die entsprechende mit dem Dativ jedoch nur an unserer Stelle 34 in den Hss. BJd. Entweder könnten wir die Zäsur auf kiinic — damit die im Nl. übliche Konstruktion — dem Archetypus vindizieren, d. h. ADb* an den Beginn der Überlieferung setzen, oder aber wir könnten die Lesart von A und Db* als Änderung des ursprünglichen Wortlauts betrachten; eine solche Änderung der ungewohnten Konstruktion in die üblichere könnten die Hss. A und Db* unabhängig voneinander vorgenommen haben. Beides ist möglich, eine Entscheidung läßt sich nicht erzwingen. 1325,3a Braune setzt hier folgende Lesarten an: da% nie diu vrouwe Helche BdJCa diu vrouwe Helche nie ADb Wie schon Lachmann und auch Bartsch in ihren Lesarten verzeichnen, fehlt nie in der Hs. B. Unter diesen Umständen hätte Braune die Stelle gar nicht aufführen dürfen; denn woher will er wissen, an welcher Stelle das Wort vom Schreiber der Hs. B ausgelassen wurde. Eine Entscheidung ist hier völlig unmöglich. In einem Falle hätten die Hss. A und D b * einen zweisilbigen A u f takt eingeführt, wenn nicht umgekehrt der B*-Text ihn beseitigt hat. Die Tendenz zur Beseitigung solcher offenbar als fehlerhaft empfundener A u f t a k t e ist fast in allen Hss. zu spüren, vornehmlich aber in den Hss. des B*-Textes 3 5 . Daher stellt sich der Annahme nichts in den W e g , daß A und D b * an der folgenden Stelle das Ursprüngliche erhalten haben, zumal dann der Anlaß zur Ä n d e r u n g deutlich wird, der i m umgekehrten Falle im dunkeln bleibt. Vgl. Bartsch, S. 165 ff. C ändert völlig um. 33 Vgl. unsere Erörterung auf S. 6off. 31 si versuochten an die Hirnen 1819,4, wo die Hs. C allein an den Hiunen\ — an da% wip 1086,3; ich fasse daher auch die Namen als Akkusative auf: — an Prünhilde 622,4;— an Kriemhilde 1049,4. 35 Vgl. die Zusammenstellungen bei Bartsch, S. 113ff. und 118ff. 31 32

32

Die Gruppe A D b * 1160,1

über winden chtmde niemen do daz wip überwinden künde nieman do daz edele ivip über reden künde niemen do daz re'ne ^'P überwinden niemen. chunde — •— —

Bd ADb

J

CD 36 Die Lesung von A und Db* wird noch durch die der Hs. J gestützt, die ebenfalls zu wlp ein Epitheton setzt und die Zäsur entsprechend hinter niemen legt. Ein weiterer Grund spricht eindeutig gegen die B*-Lesart: Im Nl. gibt es über 200 Belege für wip. A n keiner einzigen Stelle aber steht das Wort, wenn eine bestimmte Frau gemeint ist, ohne ein Epitheton oder einen attributiven Genitiv. So spräche hier vieles dafür, daß die Hss. Bd aus metrischen Gründen änderten.

Wir fassen zusammen: An manchen Stellen müssen wir mit Braune gegen Michels den ursprünglichen Wortlaut im B*-Text suchen. Keiner der bisher erörterten Fehler von A und Db* läßt jedoch den Schluß auf eine gemeinsame Stammhandschrift zu. In einigen Fällen zeigt die übereinstimmende Lesart der Hss. A und Db* gegenüber der des B*-Textes einen metrisch weniger gewöhnlichen, ja manchmal geradezu anstößigen Text; hier läßt sich vermuten, daß die Hss. A und Db* zuweilen eine Lesart konserviert haben, die eben wegen der größeren Seltenheit ihrer Bauweise einer unseren Hss. vorausliegenden Fassung zuzuweisen ist. 3. Bevor wir die beweiskräftigeren Fehler erörtern, wollen wir uns das grundsätzliche Problem, auf das der vorige Abschnitt hinführte, im Umriß verdeutlichen. Zu diesem Zwecke nehmen wir einmal an, wir hätten einige eindeutig fehlerhafte Lesarten von ADb*, denen die richtigen in den Hss. des B*Textes gegenüberstünden. Die Übereinstimmung der B*-Hss. ließe sich nicht mehr als zufälliges Übereintreffen in derselben Korrektur erklären, wie anderseits der Fehler von ADb* nicht als zufällige Übereinkunft in derselben fehlerhaften Änderung zu verstehen wäre. In diesem Falle bekäme unsere jeweilige Voraussetzung entscheidende Bedeutung: Rechnen wir wie Braune mit einem relativ fehlerfreien Archetypus, dann müssen wir solche gemeinsamen Fehler der Hss. A und Db* als Leitfehler einer Zwischenstufe ADb* ansehen, die vom ursprünglichen Wortlaut der B*-Gruppe abgewichen ist 3 7 : ADb* A

B* Db*

Setzen wir dagegen mit Michels einen relativ fehlerhaften Archetypus voraus, dann könnten die von Braune zu Fehlern gestempelten Lesarten36 37

Braune gibt die C-Lesart nicht an. Vgl. Braune, S. 192.

33

Die Gruppe A D b *

Übereinstimmungen von A und Db* im Sinne der Überlieferung ursprünglich sein, d. h. „Fehler" konservieren, die schon im Archetypus standen. Die mit ihnen konkurrierenden B*-Lesarten wären also Konjekturen des im Archetypus schon fehlerhaften Textes. Wir hätten dann folgendes Stemma anzusetzen 38 : I I l A+Db*

ß#

B + die übrigen B*-Hss.

Erweist sich die letztere Anschauung als richtig, dann ist trotz der „Fehler"-Gemeinschaft über eine festere Gruppierung der Hss. A und Db* nicht das geringste ausgesagt; denn im ursprünglichen Wortlaut können die beiden Hss. unabhängig voneinander übereinstimmen. Michels geht bei seiner Fehlerbeurteilung von dem Grundsatz aus, „daß kein Schreiber seinen Text bewußt verschlechtert, daß er aber bei einem augenscheinlich schlechten Text das Bestreben haben wird, ihn zu verbessern, mag auch die Absicht unserer Beurteilung oft genug als nicht geglückt erscheinen" 39 . Er fragt demnach bei zwei konkurrierenden Lesarten auch nicht: „welche ist ansprechender und welche ist weniger ansprechend?" 4 0 Grundsätzlich will er die Frage so stellen: „welche läßt sich leichter zum Ausgangspunkt für eine an der betreffenden Stelle vorgenommene Änderung nehmen? oder auch umgekehrt: welche ist leichter als Umbildung der anderen zu erklären?" 4 1 Die Stärke dieser Position liegt auf der Hand: An allen Punkten der Argumentation kann jeweils angegeben werden, aus welchem Grunde die Zwischenstufe ß * den fehlerhaften Text des Archetypus durch einen fehlerfreien Wortlaut ersetzte. Man darf jedoch die Gefahren dieses Verfahrens nicht verkennen, ist es doch nur die Umkehrung der besonderen Voraussetzung, von der aus Michels an die Klärung der Überlieferungsverhältnisse herangeht. Es wäre ein sträfliches Vorgehen, wollte man das Gewicht dieses Momentes prinzipiell als entscheidende Stärkung der Michels'schen Position in die Waagschale werfen; denn damit würde man die Voraussetzung als Argument für die Richtigkeit einer Anschauung mißbrauchen. Betrachtet man die Ansicht von Michels näher, dann scheint sie nicht ganz unbedenklich, würde sie doch in ihrer letzten Konsequenz besagen, daß in den Hss. immer nur ein fehlerhafter Text in einen fehlerfreien umgeändert wäre, nicht 3 8 Vgl. Michels, S. 5. — Die Zwischenstufe nennen wir mit Michels ß*. B* ist also = ß*. 3 9 Michels, S. 6. 4 0 Michels, ebenda. 4 1 Michels, ebenda.

3 Brackcrt, Handschriftenkrmk

34

Die Gruppe ADb*

aber umgekehrt. Die Erfahrung mit Hss. lehrt indessen, daß auch — und gerade — das Gegenteil der Fall ist. Doch scheint es uns gut, den Standpunkt von Michels hier in die Kritik an Braune mit einzubeziehen: Auf diese Weise bleibt uns ständig bewußt, daß die relative Fehlerlosigkeit des Archetypus, auf die Braune seine Fehlerbeurteilung aufbaut, nur eine Hypothese darstellt. Wir werden also bei der Betrachtung der folgenden Stellen jeweils von zwei gegensätzlichen Standpunkten aus argumentieren. Durch dieses gleichsam dialektische Verfahren erschweren wir unser Vorgehen erheblich, und nur im günstigsten Falle werden sich auf diesem Wege klare Entscheidungen fällen lassen. Jedoch kann so die Gegenposition zu Braune, die zunächst einmal als gleichwertige Hypothese betrachtet werden muß, für die Textkritik fruchtbar werden; daß sie darin einbezogen werden muß, dürfte der bisherige Gang der Untersuchung gezeigt haben. 1694,2 a Ez wrden mine Gisel %n>ei watlichiu chint BCJadh ez warn wol zwei wetlichiu kint. Ab ez warn uz der ma^en zwei watlichiu kint D Die Lesart der Hs. D ist sekundäre Auffüllung mit einer Wendung, die dem Nl. sonst fremd ist. Für einen Hyparchetypus ADb* wäre also der verstümmelte Halbvers von Ab anzusetzen. Wenn der Fehler nicht aus dem Archetypus x* stammt, ist er für den Hyparchetypus ADb* beweisend; zum einen hätten die Hss. A und Db* (b vertritt hier Db*) eine Lücke gemeinsam, zum anderen wäre wurden in wären umgewandelt, zum weiteren stimmt wo! in beiden Hss. überein. Wir haben also mit drei Änderungsvorgängen gegenüber dem B*-Text zu rechnen, die durch ihr überstimmendes Auftreten die Annahme eines zufälligen Ubereintreffens verbieten. Michels42 weist den Fehler dem Archetypus x* zu und setzt als ursprünglichen Text an: ez wären mir vergiselt-, denkbar wäre auch ez wären wol vergiselt hie. Damit hätten wir dann eine Lesart, die dem B*-Text gleichwertig wäre. Diese hätte sich in x* nur noch lückenhaft angefunden, so daß sich für den Hyparchetypus (3* die Nötigung zum Ändern ergab. Wir wollen die Möglichkeit, daß sich hinter der ADb*-Lesung eine solche, dem B*-Text gleichwertige Lesart verbirgt, hier vorerst nur in Erwägung ziehen. Sic wird in einem späteren Zusammenhang noch wichtig werden. 1236,3 a si Uten gegen den gesten13. uf in Bayerlant. CBHJad si Uten balde uf in beier lant. Ab und si ilten balde uf durch Beier lant D si ilten balde und sere uf in Beier lant g Die Hss. A, Db* und g bieten einen senkungsarmen Vers, der nach Michels44 im Hyparchetypus ß* aufgefüllt wurde. Wenn es nun aber (3* gar nicht gab? Dann wäre diese charakteristische Umformung doch wohl ein Beweis für den Ansatz von ADb*. Eine grundsätzliche Klärung ermöglicht dieser einzelne Vers jedoch nicht; denn 42 43 44

Michels, S. 16, und ebenda Anm. 1. gesten fehlt in B am Zeilenbruch. Vgl. Michels, S. 13.

35

Die Gruppe A D b *

dazu wäre erst noch festzustellen, ob nicht Anzeichen dafür sprechen, daß derartige senkungsarme Verse dem Archetypus x * zuzuschreiben sind 45 . 1146,1 IVarumbe i sprach do Gunther, — — — — — — — — — — — —

ich behüte vil wol dazich behuete rvol immer dazich chan vil wol bewaren daz ich kan daz "">1 bewarn.

B Jd Ca Ab D

Auch die Hs. D ändert und zeigt damit, daß der dreisilbige Auftakt als fehlerhaft empfunden wurde. So könnte die Lesart des B*-Textes auf die Beseitigung des metrischen Anstoßes zurückzuführen sein, zumal für den Archetypus durch die Übereinstimmung verschiedener Hss. dreisilbige Auftakte bezeugt sind 4 6 , die in einzelnen Hss. meist beseitigt werden. Das vil wol ist durch die Übereinstimmung aller Hss. außer Ca für den Archetypus gesichert. Es könnte ein fehlerhafter Zusatz sein, der sich schon in den Archetypus eingeschlichen hatte. Die Hss. Ca hätten dann den Schaden durch die Auslassung des vil behoben. Nach Braunes Ansicht handelt es sich dagegen um einen Fehler, den erst die Stammhs. A D b * machte. Schreibt man die fehlerhafte Lesung von A und D b * schon dem Archetypus zu, so wird die Übereinstimmung des B*-Textes kaum als zufälliges Übereintreffen mehrerer Hss. erklärt werden können; denn dann müßte man mit zwei gesonderten Anderungsvorgängen rechnen, die sich übereinstimmend vollzogen: einmal die anlaßbedingte Beseitigung des umschriebenen Ausdrucks (ich kan bewaren = ich beware), zum anderen die Vertauschung von bewaren mit behiieten. Rechnet man dagegen damit, daß erst die Hss. A und D b * den Fehler begingen, hätte man ganz entsprechend wieder zwei Änderungsvorgänge anzunehmen. Die Annahme einer zufälligen Übereinstimmung würde sich nur dann halten lassen, wenn Verben wie behüeten und bewaren sowie Konstruktionen der vorliegenden Art grundsätzlich vertauschbar wären. Zu einer solchen Annahme geben jedoch diese so spärlich vorkommenden Verben kaum Anlaß. 1433,2/3 {Urloup genommen heten

die boten tut von dan)

vreslich si do dan, von wiben und von mannen von mannen und von wiben vrolich als ich nu sagen kan. —• — — — — als ich euch (fehlt b) gesagen kan von fratven und von herren. frolich sifuoren dan. fuoren unz in Spähen. si fuoren unz smaben sifuorten biz in Sivaben vnz hin gen swaben.

BKd A Db J

rell. A(b) D J

Michels' Annahme 4 7 , der Fehler stamme schon aus dem Archetypus x * und vraliche sei ein glossenartiger Zusatz, ist aus mehreren Gründen zurückzuweisen: Die Lesart von A D b * ist, wie schon Lachmann 4 8 erkannte, selbst dann fehlerhaft, wenn man sie in dem von D b * gebotenen Wortlaut liest. Diesen Fehler wird man aber nicht dem Archetypus zuschreiben dürfen, da der Anlaß zur Einführung dieses Vgl. unsere Erörterung auf S. 72ff. Vgl. Bartsch, S. 117 f. und S. 124. 4 ' Vgl. Michels, S. 9. 4 8 Lachmann, Anm., zur Stelle. 45

46

3*

36

Die Gruppe ADb*

behelfsmäßigen Ersatzes nur zu deutlich ist. Der Zusatz vrolicb, den die Hs. A bietet, läßt sich überhaupt nur aus der Lesung des B*-Textes erklären und herleiten. Nach Braune49 hat der rührende Reim des B*-Textes den Anlaß zur Änderung gegeben. Auch die Hs. C schafft ihn fort, doch auf andere Weise. Es könnten die Hss. A und Db*, der anlaßbedingten gleichen Absicht folgend, unabhängig voneinander auf dieselbe Wendung als ich tu sagen kan gekommen sein. Nun hat zwar Kettner50 schon darauf hingewiesen, daß sich die Wendung als ich iu sagen kan im Nl. nur an unserer Stelle findet. Der Grundtypus dieses Einschubes als ich + Verb des Hörens oder Sagens, wie als ich vernomen hdnsl oder als ms da% ist geseit52, begegnet jedoch häufig. Auch die Verbindung von sagen und kmnen ist vielfach belegt53. Gehen wir davon aus, daß der rührende Reim beseitigt werden sollte, so lag die Änderung von A und Db* gar nicht so fern. Durch das Reimwort dan lag der Versschluß fest. Von allen Reimmöglichkeiten des Nls auf -an scheiden jedoch bis auf kan alle aus, da sie aus sachlichen Gründen nicht passen54. Lag aber der Reim auf kan nahe, dann bot sich die „flickphrase"55 als ich iu sagen kan an. Einen ähnlichen Einschub finden wir bei unverwandten Hss.5a in der Klage 57 : den recken wären iriu dinc / von grölen schulden alsö komen (: komeri), wo die nach Braune unverwandten Hss. A und B wegen des rührenden Reimes ändern in den reckhen warn iriu dinck / von großen shuldenhan ich vernomen. Eigenartig ist, daß dennoch in der Hs. A das Wort vrolich erhalten blieb und der Vers auf diese Weise überladen ist. Jedoch ist die Existenz des vrolich in A von Braunes Standpunkt gleich unverständlich: Kann man dem Verfasser von ADb* einerseits zutrauen, daß er am rührenden Reim Anstoß nahm, anderseits jedoch damit rechnen, daß er bei diesem Besserungsversuch einen doch anstößigeren Text herstellte ? Es ist daher durchaus zu erwägen, ob nicht an dieser Stelle schon die Überlieferung eine Verderbnis bot, für die in BJKd der rührende Reim, in A und Db* jedoch die Flickphrase eintrat. Wir halten hier inne und vergegenwärtigen uns das bisherige Ergebnis dieses Abschnittes. A n keiner der angeführten Stellen ließ sich mit überzeugender Sicherheit eine der beiden gegensätzlichen Positionen als unbedingt richtig erweisen. A n einigen Stellen schienen die Lesarten der Hss. A und D b * nicht geradezu falsch zu sein, sondern lediglich dieselbe Sache unter einem Aspekt zu sehen, der sich von dem des B*-Textes meist nicht grundsätzlich, aber oft doch erheblich unterschied; an solchen Stellen bestand keine Möglichkeit, die eine Lesung aus der anderen abzuleiten. Wir behalten dieses Ergebnis im Auge, wenn wir uns nun anscheinend einer ganz anderen Frage zuwenden. A m Ende der folgenden Erörterung werden wir an eben diesen Punkt zurückkehren und den Faden, wenn auch mit einer neuen Wendung, weiterführen. 49 60 51 62 53 54 66 68 67

Braune, S. 42. Kettner, Hss.-Verh., S. 315. 1447,2; 1717,3. 265,2; 416,1; 559a,2; 1290,1; 1815,1. 1039,1; 1261,1; vgl. noch 359a,4; 531a,4; 780,1; 977,1; 2170,2. Vgl. Pressel, S. 4ff. und Säule, S. 18 b f. Braune, S. 42. Vgl. unsere Erörterung auf S. 46ff. und besonders S. 49104. Klage (Bartsch) 378f. — Vgl. Ursinus, S. 34.

37

Die Gruppe ADb*

4. Wir setzen einmal den Fall, wir hätten mit einer festen Gruppierung ADb* zu rechnen. Wir dürften dies an sich erst tun, wenn die bisherige Erörterung auf eindeutige Leitfehler von A und Db* geführt hätte und folgende wichtige Frage bereits beantwortet wäre: Gehen die wenigen, nicht mehr auf zufälliges oder anlaßbedingtes Ubereintreffen zurückführbaren gemeinsamen Fehler der Hss. A und Db* wirklich auf eine Stammhs. zurück, oder lassen sie vielmehr auf Kontamination schließen? Es wäre doch durchaus denkbar, daß die Stammhs. Db*, die für ihren ersten Teil (bis Strophe 268,1) eine Hs. der Fassung C* benutzte, auch in den folgenden Teilen den Text abschnittweise aus verschiedenen Hss. mischte. Wir brauchen diese Frage hier nicht zu erörtern und nehmen einmal die Stammhs. ADb* — die ja auf Grund der bisherigen Ergebnisse nicht mit Sicherheit anzusetzen ist — mit Vorbehalt an. Wenn wir mit einer festen Gruppierung ADb* zu rechnen hätten, so wäre damit über den textkritischen Wert dieser Zwischenhs. von vornherein nichts ausgesagt. Wohl konnten wir oben zeigen, daß ADb* gegenüber dem B*-Text an vielen Stellen unursprüngliche Lesarten zu bieten schien. Diese Änderungen erlaubten aber keinen Schluß auf den Wert der Stammhs. ADb*, da sie sich alle als Fehler verstehen ließen, die der Willkür und dem Unverständnis der Schreiber von A und Db* ihre Entstehung verdanken können. Wir dürfen uns daher dem vorschnellen Urteil Braunes, daß sich überhaupt keine gemeinsame Lesart von ADb* gegenüber B* als ursprünglich erweisen 58 lasse, d. h. alle Sonderlesarten von ADb* im Sinne der Überlieferung Fehler zu nennen sind, nicht ohne weiteres anschließen. Braunes Urteil, daß man „methodisch richtig alle falschen lesarten der hss. ADb diesem zweig (sc. ADb*) der Überlieferung zuschreiben" 59 müsse, werden wir erst dann billigen können, wenn sich uns bei unserer Prüfung ergeben hat, daß alle Lesarten von A und Db*, die gegen die Lesungen des B*-Textes übereinstimmen, Änderungen sein müssen. 853,4 Auf diesen Vers weist schon Michels hin 80 . Die Hss. A und Db* haben mit der Lesart für alle mine vritmde / getrom ich iu ml die „ältere translokale Konstruktion" 61 , während die Hss. BCJd die jüngere intralokale haben: vor allen mitten vriunden / so getruwe ich iu voliZ. Hier können die Hss. des B*-Textes selbständig in der Änderung übereingetroffen sein. 68 59 60 61 62

Vgl. Braune, S. 30. Braune, ebenda. Vgl. Michels, S. 7. Michels, S. 7. Sie ist im Nl. auch 2126,3 belegt:

ich iu wolgetrüve

/ für alle ander man.

38

Die Gruppe ADb* 1491,1 daz im niht dienen zamdaz er niht dienen \am. daz er nicht z« dienen zam daz im dienst nit enyam

BCad A D b ei auch sonst; zwar nicht bei mage^oge, da nur noch ein weiterer Beleg; doch wechselt etwa maget und meit\ meit auch im Reim auf kleit, leit etc.); 1988; 1994; 2083; 2106; 2111 (vgl. 1068,4; 1747,2). 36 28 (vgl. 554a,1 diu ros Id^et stdn\ 877,3 u. ö.); 292; 326; 565; 617; 922; 940; 1151; 1500; 1506; 1508; 1705; 1795; 1911; 1925; 1939; 1981; 1995; 2004; 2021; 2312. 35 394; 397; 401; 425; 433; 442; 470; 485; 515; 530; 594; 612; 652; 670; 689; 690; 721; 724; 779; 802; 927; 981; 990; 1017; 1149; 1309; 1340; 1435; 1445; 1535; 1544; 1545; 1603; 1641; 1828; 1876; 1906; 1936; 1976; 1977; 2305; 2309.

60

Die Handschrift A

Grunde den Adjektiven mit einsilbiger langer Stammsilbe auf -liehe nachstellt, dann ist nicht einzusehen, warum an manchen Stellen seine Änderung nur darin besteht, daß er ein solches Adjektivum auf -liehe gegen ein anderes vom gleichen Typus austauscht? Warum führt er weiter trotz seiner Tendenz einige Adjektiva dieser Art neu ein 37 ? Von einer Tendenz des Redaktors a*, im achten Halbvers die Alternation anstelle der beschwerten Hebung des zweiten Taktes einzuführen, kann also gar nicht die Rede sein. Vielmehr deutet das Nebeneinander von Beseitigung und Wiedereinführung auf etwas anderes: In den achten Halbversen der Vulgata finden wir etwa zur Hälfte die ältere Form bewahrt, zur anderen Hälfte weisen sie die Alternation auf; mag auch auf einer früheren Stufe der Textentwicklung die beschwerte Hebung vorgeherrscht haben, für den uns erreichbaren Archetypus ist jedenfalls schon die Gleichwertigkeit beider rhythmischen Formen vorauszusetzen. Im Verlauf unserer Untersuchungen wird sich zeigen: wir haben gar nicht zu rechnen mit einem einzigen festen Text, der zu einem bestimmten Zeitpunkt als endgültig betrachtet wurde; es scheint vielmehr im Wesen der Gattung zu liegen, daß der Wortlaut immer wieder neu gestaltet werden kann. Jede der beiden Versionen — die Hs. A wie die Vulgata — kann sich im freien Wechsel beider Erfüllungsmöglichkeiten bedienen, die eine mehr zu dieser, die andere mehr zu jener Form tendierend, grundsätzlich aber frei in der Variation. b) Zweisilbig volle Zäsuren38 Eine weitere stärkere Abweichung im Metrum, die in der Hs. A besonders hervortritt, betrifft den Ausgang der ersten Halbzeilen. „Stände statt des zweisilbigen Wortes mit langer stammsilbe ein kurzsilbiges, so würde der vers nur drei takte haben, also um einen takt zu kurz sein. Dieser fall findet sich nun verschiedentlich in den einzelnen hss., besonders oft in A" 39 . Es kann „keinem zweifei unterliegen, dass die nur durch eine hs. gebotenen fehlerhaften verse (sc. dieser Art) eben nur dieser hs. zuzuschreiben sind" 40 . Mit diesen Worten geht Braune über ein grundsätzliches Problem hinweg, das sich gerade an der Existenz solcher zweisilbig vollen Zäsuren in seiner Schärfe zeigt. Wir wollen es im folgenden herauszuarbeiten versuchen, vielleicht sogar einen Schritt weit seiner Lösung entgegenführen. 3 7 Vertauschung an neun Stellen: 246 ; 286; 3 0 1 ; 689; 1340; 1535; 1 6 4 1 ; 1876J 1906; Neueinführung an vier Stellen: 199; 563; 7 2 1 ; 1017. 3 8 Michels, S. 56fi., bezeichnet diese Zäsuren als „männlich". 3 9 Braune, S. 95. 4 0 Braune, S. 98.

Die Handschrift A

61

1. Wir gehen von der Frage aus, ob der Archetypus zweisilbig volle Zäsuren gehabt hat oder ob sie an allen Stellen nur als Fehler einzelner Hss. oder gar nur einer Hs. zu betrachten sind. Dabei soll zunächst völlig unberücksichtigt bleiben, ob wir derartige vordere Halbverse mit Bartsch 41 und Braune 42 als Fehler schon des Archetypus aufzufassen haben oder mit Heusler 43 als korrekte Verse dem Original zuschreiben dürfen. 1341,3a daz ir mich Siezet sehen daz ir mich IiezZet schouaen daz ir mich sehen liezet

B DJb ACMad

Braune hält eine Entscheidung nicht für möglich: „Falls B die lesart des archetypus bewahrte, wären die änderungen der übrigen leicht verständlich. Immerhin wäre es auch möglich, daß B einen fehler gemacht hätte und die Umstellungen in Db und J zufällig wären" 4 4 . Das Lesartenverhältnis spricht eindeutig gegen die zweite Möglichkeit. Die Änderung in den Hss. Db* und J , sowie die Umstellung der Hss. A M , d und Ca sind nur dann verständlich, wenn man die Lesart der Handschrift B an den Ausgangspunkt der Textentwicklung stellt. Nähmen wir dagegen an, sie sei sekundär, dann hätten wir in ihr eine fehlerhafte Umstellung der Lesart von ACMad zu sehen. Wie erklärt sich dann jedoch die Änderung der Hss. D J b ? Weiter: Warum haben sie gerade hier beide übereinstimmend geändert ? Zwischen ihnen besteht nach Braune keinerlei Verwandtschaft. Zufällig müßten sie in der Änderung von sehen in schouwen und in der darauf folgenden Umstellung (schouwen liezet in liezet schouwen) zusammengetroffen sein — zwei Änderungen, für die bei der dann angenommenen Ausgangslage gar keine Notwendigkeit bestand. Es kommt ein weiterer, entscheidender Grund hinzu: Bei rund 500 Belegen für das Verbum sehen findet an keiner einzigen Stelle außer an der vorliegenden ein Ersatz von sehen durch schouwen statt 45 . Sollte gerade an dieser Stelle, an der doch der Anlaß der Änderung so offen zutage liegt, z u f ä l l i g eingetreten sein, was an keiner der 500 Stellen sonst eingetreten ist 4 6 ? Das Lesartenverhältnis läßt durchaus eine eindeutige Entscheidung zu: Die zweisilbig volle Zäsur muß im Archetypus gestanden haben. Vgl. Bartsch, S. 168ff. Vgl. Braune, S. 96f. 43 Heusler, AdVersk., S. 104ff. Heusler hat diese Auffassung unter dem Eindruck von Braunes Hss.-deutung zurückgenommen; vgl. Heusler, Versgesch., Bd II, § 7 3 7 4 ) : „Dies hat Braunes Handschriftenstammbaum erwiesen gegen Vf., AdVersk., Kap. V I . " 44 Braune, S. 58. 45 Nur der naheliegende Ersatz von schouwen durch sehen ist an einigen Stellen — aber nur in der Hs. J (359,2; 392,4; 771,1; 850,4) — erfolgt. 4 6 Zweifellos hätte der Ersatz gar nicht an allen 500 Stellen erfolgen können, da sich — wegen der verschiedenen syntaktischen Verwendbarkeit der beiden Verben — nicht in jedem Falle schouwen für sehen einsetzen läßt. Es wäre aber doch an so vielen Stellen der Ersatz möglich, daß es immerhin auffallen müßte, wenn er nur in dem vorliegenden Vers erfolgt wäre. 41

42

62

Die Handschrift A 1147,3 da^ kriemhilt solde nemen — — — minnen — neme solde —

den riehen kunich her — — — — — — — —

Aab BJdh CD47

minnen ist nach Braune „durch die Übereinstimmung von BJd schon an sich hinreichend gesichert. Die daraus sich ergebende folgerung, dass einerseits ADb*, andererseits C* (Ca) selbständig minnen durch nemen ersetzten, hat aber durchaus innere Wahrscheinlichkeit. Denn die durch mehrere beispiele für das Nl. bezeugte anwendung von minnen in der bedeutung ,zur ehe nehmen' . . . konnte bei der bekannten bedeutungsentwicklung von minnen leicht veranlassung geben, nemen dafür einzusetzen" 48 . Schon Michels 49 hat mit Recht darauf hingewiesen, daß das Verb minnen erst sehr viel später die anstößige Bedeutung erhalten hat. Er fragt daher mit Recht: „Warum hat denn . . . an den anderen von Braune angeführten Stellen keine alte Handschrift Anstoß genommen" 50 ? Wir können Michels' Kritik noch durch weitere Argumente stärken. Änderungen, die zu demselben Wortlaut führen, brauchen nicht aus demselben Grunde erfolgt zu sein. Braune führt zur Stütze seiner Auffassung den Vers 1618,4 an, in dem die Hss. J und C übereinstimmend ze minnen durch nemene ersetzt haben. Die Hs. J, eine Hs. aus dem ersten Viertel des 14. Jahrhunderts, mag aus dem von Braune angegebenen Grunde geändert haben; bei der Hs. C, einer unserer ältesten Hss., ist das schon wegen ihres hohen Alters nicht anzunehmen. Bei genauerem Hinsehen entdeckt man dann in dem Adjektiv minneclich desselben Verses den Stein des Anstoßes: Die Hs. C suchte, wie auch sonst oft, die Wiederholung zu vermeiden. Weiter wäre es doch sehr eigenartig, wenn die Hs. C an unserer Stelle aus dem von Braune bezeichneten Grunde geändert, in zwei anderen Fällen jedoch das sonst gemiedene Wort minnen in der Bedeutung „zur Ehe nehmen" gerade neu in den Text gebracht hätte 51 . Auch für die Hs. A wird man den angegebenen Änderungsgrund nicht anerkennen können; denn warum sollte dem Verfasser von A an einer Stelle änderungsbedürftig erschienen sein, was ihn an acht gleichgearteten Stellen nicht störte52. Bei methodisch gesichertem Vorgehen kann das Lesartenverhältnis nur so beurteilt werden, daß die Lesung von Aab im Archetypus stand. 47 C schreibt neme. — Die Lesart der Hs. D ist angegeben nach Braune, S. 104, der sich auf Bartsch, S. 170, bezieht. Aus den Lesarten von Lachmann und Bartsch ist sie nicht zu ersehen. 48 Braune, S. 1041. — Der von Braune außerdem angegebene Beleg 1335,3 entfällt, da er unserem entspricht und demnach eher gegen als für Braune zeugt: muste nemen b, nemen muoste D. 19 Vgl. Michels, S. 61. — Wir können Michels' Argumentation nicht in allen Punkten gutheißen. Daß minnen in dem hier gemeinten Sinn ( = zur Ehe nehmen) möglich ist, beweist eindeutig der Vers 1145,3, in dem Hagen sich gegen eine neue Heirat Kriemhilds wendet und nicht ein unverbindliches Liebesverhältnis kommentiert. 60 Michels, S. 61. 51 402,3; 1201,8. 52 minnen = „zur Ehe nehmen" in der Hs. A (in Übereinstimmung mit dem Vulgattext): 400,3; 1086,4; 1145,3; 1160,2; 1175,1; 1190,3; 1194,1; 1335,3; 1618 4.

63

Die Handschrift A 1414,2 man hiez in allen geben — — in al gebn allen — — in gebn allen.

ABbd D CJK

An dieser Stelle rechnet auch Braune mit einer zweisilbig vollen Zäsur des Archetypus53. Zu den eben behandelten drei sicheren Fällen treten noch einige andere Stellen hinzu, bei denen die Lesartenverteilung die Annahme nahe legt, daß der Archetypus hier zweisilbig volle Zäsuren aufwies; nur so wird sich nämlich erklären lassen, daß die Hss. an diesen Stellen auseinandergehen: Die einzelnen Hss. oder Hss.-Gruppen suchten zu bessern, verfuhren dabei aber auf verschiedene Weise 54 . 919,2 den schilt er leite nider — — leit er nidere

ABDJabdh C

1239,3 wir mue^en varn nider — — varen widere — — nider riten

BDb A CHJdh

1357,2 daz im iemen muge ce der werlde holder sin nieman htzlder zer weite mag . . . Zer werlde holder niemen müge sin. Zer werlde niemen holder müge gesin in der werlt. niemen holder mug gesin. 1362,1 do Ecel sine boten zu0 dem rine sande. ZU dem Rine sine boten — Zuo dem Rine. nu het gesant. do der kunic E^ele. von im gesande. 1420,355 dar nach in siben tagen — — nahten — tagen sibenen 1513,1 Zern ersten braht er über 1526,1 ao si nu waren chomen alle chomen warn. — waren alle komen alle waren chomen

A 1 BM rell. Jd A Bd Jh C

BDb AJdh Ca ABDdg u f f e den sant. — — — — — — — — —

B Db Ad HK

Vgl. Braune, S. 103. Vgl. hierzu Heusler, AdVersk., S. 108 ff. 55 Hier setzt auch Braune (S. 101) eine solche Zäsur schon für den Archetypus an. — Bartsch folgend gibt Braune die Lesart von d falsch an. 53

64

64

Die Handschrift A 1910,266 die namen an den turn — — toren — — duren turnen — — — —- datz der parte. — — an der stiegen.

A D b B Jh C

1911, l56 des huop sich vor den turn — — turen — — dem turne — — der selben tur do huop sich in der parte.

A Db B Jh C

2227,2 ('al J) min helfe lit erslagen — — —erslagene

C

ABD(J)abgh

Diese zweisilbig vollen Zäsuren werden weiter gestützt durch eine Reihe von Fällen, bei denen der vordere Halbvers einsilbig voll ausgeht: 118.2

er mohte Hagenen swester sun — — — — suon.

rell. C

401,457

möht ich e% im geweigert han — — es han geweigert — — ims versaget —

rell. b Jh

476,1

an einem morgen fruo vil fruo an einem morgen

ABDbd CJh

523,ls8

ir muoter bot ir dienest in

omn.

698.3

Sifrit der min sun — — sun min — min sun

815,3

ouch ist so grimme starch — — — — starche — — —starc grimme

Bd Jh ADb BJdh Db A

56 Ich halte mich für berechtigt, diese beiden Fälle hier mit anzuführen, da trotz der schwerwiegenden Kritik Braunes (S. 101 ff.) turn nicht für den Archetypus erwiesen ist. Zum einen macht auch Braune das Sachliche Schwierigkeiten; zum andern kommt ja im Text beides nebeneinander vor, und zwar bezogen auf dieselbe Sache; an der ersten Stelle, an der in diesem Zusammenhang eine lokale Bestimmung gegeben wird, treffen alle Hss. überein in für die tür stan 1770,3; für den turn stan heißt es darauf in ABD 1774,3, wo CJab die türe haben. Braunes Argumentation wäre nur dann überzeugend, wenn der Text sonst überall in diesem Zusammenhang turn hätte. 67 Die Hss. A (wer er niht min herré) und C {man da\ ich entorste) weichen völlig ab. 58 Der Schreiber der Hs. A setzte zur Markierung der Zäsur zwei Punkte hinter dienest; auch in CJ steht der Zäsurpunkt an dieser Stelle. — Vielleicht sollte man die Zäsur an diesen Ort legen: Ir muoter bot ir dienest in vil giletlichen an. Anders de Boor in seiner Ausgabe.

65

Die Handschrift A 957,4

ern mobte sinen lieben sun Daz er sifriden — sune — — —

BCJd A D

1073.3

wer und und wer

ABJbh D C d

1164.1

des anderen morgens fruo — — — fruoe — andern morgens.

1181.2

un%e morgen vruo — — frue — — frueie

1410,459

der dar niht gern welle varn — — — — welle swer nit varen welle.

1754.4

nu waz och e^ens ?it (zite DKd)

2043,4

wand ich deheinen minen friunt — — der minen vriunde.

2051,2

swen twinge durstes not swen der durst nu tainge

er niht min mach wer er% niht min mage war er mir niht sippe. Er nicht mein mage

ABDJbh d C ABDb Jdh C DNb rell. Jh AB(DKd)Jbh rell. C omn. C

2. Wir sind also berechtigt zu sagen: Schon der Archetypus hatte eine beträchtliche Reihe solcher auf eine zweisilbig volle Zäsur endigenden Halbverse. Es ist nun weiter zu untersuchen, ob diese zweisilbig voll ausgehenden ersten Halbverse als Fehler des Archetypus zu betrachten sind oder ob in ihnen Reste eines Textzustandes erhalten blieben, in dem die Strophenform noch nicht durchgängig so vollkommen ausgebildet war wie in den uns vorliegenden Fassungen. Nach Braune wären die „3-4 fehlerhaft gebildeten ersten halbverse" 60 , die schon dem Archetypus zugeschrieben werden können, auch dann als Fehler aufzufassen, „wenn der dichter selbst sie verschuldet hätte" 61 . Braunes Vorgehen ist methodisch nicht korrekt. Bei Halbversen wie (1452,2a) mit urtgevuoge, (1227,2a und 1251,2a) mit ir gesinde, (102,1a) wir suln den herren, (621,4a) gegen ir manne beweist nach seiner Meinung die Übereinstimmung der Haupthss., daß sie „in dieser kurzen form dem archetypus zukommen, ohne dass man mit Heusler sie als beweise der dreitaktigkeit gelten lassen muss" 62 . Diese Verse betrachtet Braune also als korrekte Verse des Archetypus: „nur nach älterer weise mit 59 60 sl 62

Vgl. Lohse, ThS. und Nl., S. 306. Jh lesen jedoch anders, als Lohse angibt. Braune, S. 96. Braune, S. 97. Braune, S. 981.

5 Brackcrt, Handschriftenkririk

66

Die Handschrift A

spärlicher füllung der Senkungen"63. Mit gleichem Recht darf man dann doch wohl auch lesen: dar nach in siben tagen-, man hien^ in allen geben-, dd% ir in liefet sehen. Man könnte also unsere auf eine zweisilbig volle Zäsur endigenden Halbverse vierhebig lesen, nur eben auch nach älterer Weise mit spärlicher Füllung der Senkungen. So müssen wir Braune durch Braune korrigieren: Wenn erst einmal senkungsarme Verse für den Archetypus zugegeben sind und ihre Existenz durch den Hinweis auf die größere Freiheit einer früheren Stufe der Metrik erklärt wird, dann darf nicht einer ganz entsprechenden Erscheinung das Recht auf die gleiche Erklärungsweise verweigert werden. Braune bewegt sich hier auf zwei verschiedenen Argumentationsebenen: einerseits erklärt er die zweisilbig vollen Zäsuren vom Stand einer fortgeschrittenen Metrik aus zu Fehlern; anderseits sucht er bestimmte Verse, in denen sich größere Freiheiten einer älteren Metrik zeigen, als korrekte vierhebige Verse zu rechtfertigen. Auch die große Anzahl an senkungsarmen Versen64, die wir dem Archetypus zuschreiben müssen, läßt darauf schließen, daß die zweisilbig vollen Zäsuren durchaus als korrekt aufgefaßt werden dürfen, nur eben im Rahmen eines Archetypus, der anders aussah, als er es nach Braunes Voraussetzungen sollte. Braune nimmt für den Archetypus eine metrische Vollkommenheit an, die — an der höfisch-klassischen Metrik orientiert — den wirklichen Gegebenheiten nicht gerecht wird. Im größeren Ausmaße, als Braune zugeben will, besaß der Archetypus Verse, die von der Beurteilungsgrundlage der höfischen Metrik aus fehlerhaft, im Sinne einer älteren Metrik jedoch durchaus korrekt sind. Müßten wir dagegen in den Halbversen mit zweisilbig voller Zäsur Fehler des Archetypus sehen, dann würde durch sie und durch die große Anzahl ähnlicher senkungsarmer Verse das Fehlerquantum des Archetypus erheblich vergrößert. Dadurch wäre dann aber die Voraussetzung Braunes widerlegt, daß der Archetypus relativ fehlerfrei war. 3. Gegen die zahlreichen zweisilbig vollen Zäsuren der Hs. A läßt sich von dieser Basis aus gar nicht argumentieren. Zwar wird jeder Kenner der Hs. zugeben müssen, daß sie sehr nachlässig geschrieben, mit fehlerhaften Umstellungen und Auslassungen also oft zu rechnen ist; dadurch wird aber auch die Garantie größer, daß sie — w e i l sie weniger verbessert — metrisch altertümliche Verse in größerem Ausmaße konserviert hat. 2203,2 nu nemt in in dem sale huse 63 64

A teil.

Braune, S. 98 1 . Vgl. unsere Zusammenstellung auf S. 73ff.; 78ff.

Die Handschrift A

67

In dem Ersatz von sal durch hüs könnten die Hss. unabhängig voneinander zusammengetroffen sein, da es das einzige Wort ist, das hier in Frage kam 65 . Es könnte der Anstoß zur Änderung von dem senkungsarmen A-Vers ausgegangen sein: nü nemt in in dem sale, der ja nicht unmöglich ist, wie der durch alle Haupthss. gebotene Halbvers (1754,4) nü was ouch e^ens %it zeigt. Es ist aber auch möglich, daß die Hs. A hier einen Fehler hat. 2251,2; Dietrich sagt von Rüdiger, nachdem ihm die Nachricht von dessen Tod überbracht ist: den muo% ich immer chlagen de^ get mir gro%iu not A da% muoz mir sin ein jamer vor aller miner not rell. Beide Lesarten sind nicht voneinander ableitbar, beide sind gleich gut: Die ALesart ist formelhafter, die Lesart der Vulgata bezieht die konkrete Lage Dietrichs mit ein. Wenn A geändert hat, dann wäre die Änderung nach Braune doch wohl dem Redaktor a * zuzuweisen. Ist diesem höfisch gebildeten Mann aber solch ein „fehlerhafter" Vers zuzutrauen ? Es könnte sich bei diesen Versen durchaus um gleichwertige Varianten handeln, einem Formelschatz entnommen, der auch noch die Möglichkeit derartiger zweisilbig voller Zäsuren mit umschloß 66 ?

Wir fassen zusammen: Die Hss.-Verhältnisse lassen an mehreren Stellen für den Archetypus Verse mit zweisilbig vollen Zäsuren erschließen. Wir haben uns dafür entschieden, sie als Zeugen einer gleichsam archaischen senkungsarmen Metrik aufzufassen, die in der weiteren Entwicklung der Strophenform durch die zunehmende Einführung zweisilbig klingender Zäsuren „normalisiert" wurde. Die Änderungen, durch die jeweils einzelne Hss. oder Hss.-Gruppen die zweisilbig vollen Zäsuren des Archetypus, wie wir sahen, zu beseitigen suchten, bestätigen unsere Auffassung. Einer sicheren Beurteilung der Fälle, die nur die Hs. A bietet, ist damit die Grundlage entzogen. Waren die zweisilbig vollen Zäsuren jedoch entgegen unserer Auffassung schon Fehler des Archetypus, dann ist eine Argumentation gegen derartige Zäsuren, die sich nur in der Hs. A finden, ebenfalls unmöglich gemacht. Die beträchtliche Anzahl an zweisilbig vollen Zäsuren, die wir schon dem Archetypus zuschreiben müssen, läßt es nicht zu, den Umfang dieser „Fehlerhaftigkeit" noch sicher zu bestimmen. Die Entscheidung muß daher offenbleiben: An manchen Stellen könnte die Hs. A mit ihrer fehlerhaften Zäsur einen Fehler des Archetypus konserviert haben, die anderen Hss. dagegen mit ihrer „normalen" Zäsur nur eine Konjektur bieten. Wie man sich auch entscheidet, der Boden der Brauneschen Argumentation wird unsicher. 65 gadem, das ebenfalls passen würde, wird in den Bearbeitungen vielfach entfernt. Vgl. Bartsch, S. 212f. 66 Vgl. etwa noch Vers 2249,4: het ihs niht immer schände rell.; het ichs niht imer schaden A. Hildebrand hat den Befehl Dietrichs übertreten. Er sollte nicht mit den Burgundern kämpfen. Belädt sich Dietrich tatsächlich mit schände ( = schimpflicher, entehrender Makel; vgl. 1964,4; 797,4), wenn er ihn straft? Dagegen hat er zweifellos den Verlust zu spüren, der ihm erwüchse (schade ist ja nicht wie unser nhd. Wort „Schaden" vorwiegend materiell zu nehmen), den Verlust des einzigen wirklichen Gefährten seiner Verbannung.



68

Die Handschrift A

Exkurs: Die Auftakte 6 7 Es soll hier in einem Exkurs eine Erscheinung besprochen werden, die in die Erörterung von metrischen Besonderheiten der Hs. A hineingehört, von Braune jedoch nicht untersucht worden ist: die unterschiedliche Behandlung der Auftakte im A-Text und in der Vulgata. 1. Victor Michels 68 sah den Ansatz seiner Zwischenstufe v*, der gemeinsamen Vorlage der Vulgathss., durch die Tatsache gestützt, daß „in A sehr viele Verse ohne Eingangssenkung beginnen, die in der Vulgata mit solcher versehen sind" 69 . Die „kompakte Masse von Stellen" 70 , die er in seiner Abhandlung aufführt, läßt sich nach seiner Ansicht „nur unter der Voraussetzung bewußter Absicht erklären. Entweder hat also a * die Eingangssenkungen bewußt beseitigt oder v * hat aufgefüllt. Erwägt man nun die ganze Entwicklung der Verstechnik zu Beginn und im Verlauf des 13. Jahrhunderts, so wird man es doch für wahrscheinlicher erklären müssen, daß das letztere der Fall war" 7 1 . Michels zählt rund 580 Fälle, in denen die Vulgata den Auftakt eingeführt haben soll. Etwa 50 von ihnen scheiden aus verschiedenen Gründen von vornherein aus dem Material aus 72 . In weitaus den meisten der restlichen Fälle fehlt in der Hs. A lediglich ein W o r t des Vulgat-Textes, das also entweder in der Hs. A ausgelassen wurde oder im Vulgattext zugefügt worden ist. A n den übrigen etwa 100 Stellen Michels gebraucht den Terminus „Eingangssenkung". Vgl. Michels, S. 27—50; 77—81. 69 Michels, S. 27. 70 Michels, S. 35. 11 Michels, ebenda. 72 In der folgenden Zusammenstellung der auszuscheidenden Fälle setze ich jeweils hinter alle Belege, die man bei Michels auf derselben Seite findet, die Seitenzahl in Klammern: Wegen verschiedener Deutbarkeit der Metren entfallen: 614,1 (27) wird man wohl eher lesen: Sivrit sieb leite näbin; 650,2 besser ohne Tonbeugung (28); 816,4; 372,4 (29);690,1; 815,3 (31); 875,2(33); 1107,4; 892,4 (34); 375,3; 1015,2 (46); 620,4 (80). Alle Fälle, in denen in A durch Beseitigung eines zweisilbigen Auftaktes die Auftaktlosigkeit hergestellt sein kann, wird man nicht heranziehen dürfen: 2177,4; 1490,1; 433,4 (28); 1988,2 (29); 332,4 (30); 353,2 (31); 636,1; 410,2 (32); 339,4 (32); 52,4 (33); 934,2 (44); 324,2; 548,2 (45); 735,2 (46); 665,2; 220,1; 1775,2 (48); 1188,4; 656,4 (78); 595,4 (79). Weiter sind die Fälle auszuscheiden, in denen in A eine fehlerhafte Auslassung oder ein andersartiger Fehler vorliegen kann: 438,4 (28); 668,4 (29); 1633,4 (30); 666,3 (31); 347,2 {migen kommt in dieser formelhaften Verwendung sonst nur mit wol vor; 44); 583,3 (45; in A eine merkwürdige Konstruktion); 949,3 (47); 576,4 (78). Weiter besagen die Fälle nichts, in denen mit Einführung des Auftaktes im vorderen bzw. hinteren Halbvers Auftaktlosigkeit im hinteren bzw. vorderen Halbvers hervorgerufen wurde. Vgl. 2109,3 (46); 1027,2 (47). 67

68

69

Die Handschrift A

dagegen weicht der A-Text erheblicher von dem der Vulgata ab. In den meisten Fällen müßte also der Redaktor von v* durch einfache Einfügung eines Wortes, in rund 100 Fällen durch stärkere Änderung den Auftakt eingeführt haben. Von Braunes Standpunkt aus dürfte man die Auslassungen von Wörtern der Nachlässigkeit der Schreiber auweisen, die übrigen Fehler ließen sich je nach Schwere des Eingriffs auf den Redaktor a * und die Schreiber der Hs. A verteilen. Bevor wir uns den Beziehungen zuwenden, die zwischen der Fehlerhaftigkeit der Hs. A und ihrer relativ größeren Anzahl an auftaktlosen Versen bestehen, können wir an einer schematischen Zusammenstellung des Michels'schen Materials schon einige wichtige Befunde ablesen. Strophe73

Material von Michels

1— 100 100— 200 200— 300 300— 400 400— 500 500— 600 600— 700 700— 800 800— 900 900—1000 1000—1100 1100—1200 1200—1300 1300—1400 1400—1500 1500—1600 1600—1700 1700—1800 1800—1900 1900—2000 2000—2100 2100—2200 2200—2316

5 7 18 69 35 61 76 54 50 53 36 18 9 5 13 21 14 12 15 16 11 8 3

Die Tabelle zeigt ganz deutlich die Unhaltbarkeit der Michels'schen These: Der Ansatz des Redaktors v* wird durch die auftaktlosen Verse 73 Diese Einteilung ist nur eine Hilfseinteilung. Natürlich ließen sich noch feinere Unterteilungen wählen.

70

Die Handschrift A

der Hs. A nicht gestützt. Zwar hat Michels etwas Richtiges gesehen, es aber zugunsten seiner These falsch ausgelegt. Die weitaus überwiegende Zahl der Fälle — nämlich 434 — liegt in den 800 Strophen zwischen 300 und 1100. Auf die restlichen 1500 Strophen — also auf fast die doppelte Anzahl — kommen nur 175, d. h. etwas mehr als ein Drittel. Im Verhältnis ausgedrückt hieße das: Auf 100 Strophen der Partie zwischen Strophe 300 und 1100 entfallen rund 50, auf 100 Strophen der übrigen Abschnitte dagegen nur rund 10 Fälle. Der Redaktor v*, der in die auftaktlosen Verse der Fassung A den Auftakt eingeführt haben soll, hätte also nur in einem bestimmten Abschnitt des Werkes seine Ziele energisch verwirklicht, in den anderen Partien nur zaghaft. Gelegenheit hatte er auch dort genug. Aus der Tabelle entnehmen wir: Im Abschnitt zwischen Strophe 600 und 700 hätte der Redaktor v* bei 76 Halbversen, die in A auftaktlos sind, den Auftakt eingeführt; im Abschnitt zwischen Strophe 1300 und 1400 dagegen nur an 5 Stellen. Im ersten der beiden Abschnitte (600—700) zähle ich in der Hs. A 216 auftaktlose Halbverse, im zweiten (1300— 1400) dagegen 253. Der von Michels vorausgesetzte Redaktor v* hätte also nicht etwa in dem Abschnitt, in dem er stärker geändert haben müßte (Strophe 600—700 =216 auftaktlose Verse in A : 76 Einführungen des Auftaktes durch den Redaktor v*), ein größeres Quantum an auftaktlosen Versen vorgefunden, als in dem Abschnitt, in dem er nur wenige eingeführt hätte (1300—1400 = 253 auftaktlose Verse in A : 5 Einführungen des Auftaktes durch den Redaktor v*). Es spricht weiter gegen Michels, daß es auch Stellen gibt, an denen die Hs. A Auftakt hat und die Vulgata mit der Hebung einsetzt. Hier müßte der Redaktor v* die Auftakte, die er vorfand, beseitigt haben. Die Zahl der Fälle ist gegenüber denen, die Michels angibt, wesentlich höher anzusetzen. Ich zähle allein in den ersten 400 Strophen 24 Fälle, von denen Michels nur 8 anführt74. In einigen Teilen des Werkes ist das Verhältnis sogar fast gleich; so bietet die Partie zwischen Strophe 2185 und 2285 zu rund 220 gemeinsamen auftaktlosen Versen zusätzlich noch neun auftaktlose Verse in der Hs. A und acht in der Vulgata 75 . Wir dürfen also sagen: Es mag den Redaktor v* gegeben haben, seine Tätigkeit hat sich jedenfalls auf die Einführung von Auftakten nicht erstreckt; denn dann wäre sein Verhalten mehr als inkonsequent. Die 74 Michels führt an: 57,3; 102,1; 356,3; 378,4 (entfällt, da ein zweisilbiger Auftakt beseitigt wird.— 42); 87,2 (wohl eher Sivriden hdbe gesiben); 354,2; 359,2 (die ungewöhnliche Konstruktion läßt mit einer fehlerhaften Auslassung in A rechnen); 361,3 (48); 52,4; 135,4; 350,4 (81). 7 5 In A zusätzlich: 2188,4b; 2207,3a; 2209,2a; 2218,2b; 2240,1a; 2250,1b; 2251,2a; 2264,2b; 2265,4b; — in der Vulgata zusätzlich: 2194,3b; 2203,4b; 2207,4a; 2220,2b; 2221,4b; 2229,3b; 2261,2b; 2262,3b; 2276,4a.

Die Handschrift A

71

Kritik an Michels können wir mit den — für unsere Zwecke leicht abgewandelten — Worten zusammenfassen, die Michels selbst an den Anfang seiner gegen Braune gerichteten Abhandlung stellt und die hier gegen ihn zurückschlagen 76 : Es ist Michels nicht gelungen, das Tun des Redaktors v* anschaulich zu machen; „wir gewinnen keine irgendwie greifbare Persönlichkeit . . .". 2. Damit ist indessen nicht bewiesen, daß die Gegenthese richtig sein muß, d. h. der Grund für die unterschiedliche Behandlung der Auftakte lediglich in der Fehlerhaftigkeit der Hs. A zu suchen ist. Es ist doch sehr merkwürdig, daß sich die Hauptmasse der Unterschiede in einer bestimmten Partie des Liedes derartig ballt. Also müßten die Schreiber der Hs. A hier besonders nachlässig gewesen sein. Nun stammt aber die ganze erste Partie bis zur Strophe 1654,4 von einer Hand 77 , d. h., derselbe Schreiber hätte einmal auf 100 Strophen nur 18, ein andermal 120, einmal 17 und ein andermal 132 Wörter ausgelassen78. Die Erklärung, die Braune geben könnte, leuchtet daher auch nicht ein. Die Häufung der Fälle in einem relativ kleinen Teil des Werkes läßt sich aus der Nachlässigkeit des Schreibers der Hs. A nicht verstehen, sie muß vielmehr im wesentlichen schon aus der Vorlage stammen, die der Schreiber abschrieb. Vermutlich erklärt sie sich aus der verschiedenen Genesis der beiden Teile des Nls 79 . Die stärkere Uneinheitlichkeit des ersten Teiles könnte ihre Entsprechung haben in der metrischen Uneinheitlichkeit, die sich in der A-Fassung zeigt. 3. Wir wollen dem Problem noch von einer anderen Seite beizukommen versuchen. Es heißt gewöhnlich die Guntheres recken, die Kriemhilde man usw., d. h., es wird bei derartigen Ausdrücken der abhängige Genitiv von dem Beziehungswort und seinem Artikel eingeschlossen. Das ist jedoch nicht notwendig. Es kommen auch im gemeinsamen Text Fälle vor, Vgl. Michels, S. 5. " Corves, I, S. 284f. 78 Noch unverständlicher wird sein Verfahren, wenn man sieht, daß er überall etwa gleich viele sinnlose Auslassungsfehler gemacht hat. Für die Abschnitte, in denen seine Nachlässigkeit ihn verleitete, das Achtfache an Wörtern wegzulassen, müßte man eigentlich ein größeres Quantum an sinnlosen Fehlern erwarten dürfen als in den Partien mit nur wenig Auslassungen: in den Strophen 600—700 entstanden durch 132 Wortauslassungen sechs sinnlose Verse (es fehlt jeweils ein wichtiges Wort): 604,2 ich-, 623,4 ein-, 632,2 da-, 639,3 riebe-, 656,4 ir (ir könnte fehlen; d a p h l e g e n im Nl. aber nur an einer Stelle — 748,1 — absolut gebraucht wird, wäre das sehr ungewöhnlich); 659,4 ir. — In den Strophen 1300—1400 fallen auf 17 Auslassungen fünf sinnentstellende Fehler: 1304,3 den-, 1353,2 si; 1380,4 uns-, 1388,2 riebe; 1391,2 wir. 79 Vgl. Braune, S. 182 1 und Heusler, Br.-Sage, S. 47 ff. 78

72

Die Handschrift A

bei denen der Artikel fehlt: Bladelines man, Guntheres rechen, usw. 80 Oft stehen diese aber an Stellen, an denen bei Einfügung des Artikels der normale Rhythmus gestört wäre 81 . Das Setzen des Artikels ist also keine Frage grammatischer Korrektheit, sondern richtet sich vornehmlich nach metrischen Erfordernissen. Dieser Sachverhalt erlaubt vielleicht folgende vorsichtige Vermutung: Auf einer früheren, an Auftakten ärmeren Stufe der metrischen Entwicklung, könnte der Text z. B. noch eine größere Anzahl von auftaktlosen Abversen etwa des Typus Kriemhilde man statt der Kriemhilde man geboten haben. So bewahrt möglicherweise die Hs. A mit ihren zahlreicheren Versen dieses Typus manches, das einer älteren Stufe der Metrik entstammt. c) Senkungsarme und senkungslose Verse Die Hs. A hat gegenüber der Vulgata in größerer Anzahl Halbverse, in denen zwei oder mehr Hebungen ohne Senkungen zusammenstoßen. Wie schon vor ihm Bartsch82 erklärt auch Braune83 ihre Existenz aus der Nachlässigkeit der Hs. A. Die Dinge liegen jedoch zu verwikkelt, als daß ein solches generelles Urteil möglich wäre. Wenn die Überlieferung eindeutig darauf hinwiese, daß der Archetypus solche metrisch härteren Verse nicht hatte, würde man die senkungsarmen Verse der Hs. A allein dieser Hs. zuweisen müssen und sie als Fehler zu betrachten haben. Da aber — wie wir bereits bei der Erörterung der zweisilbig vollen Zäsuren sahen 84 — durch die Übereinstimmung aller oder jedenfalls mehrerer Hss. eine Anzahl derartiger Verse dem Archetypus vindiziert werden, steht prinzipiell der Möglichkeit nichts im Wege, daß alle oder wenigstens ein Teil der senkungsarmen Verse, die sich nur in der Hs. A finden, schon im Archetypus standen. 80 Schüblinges recken 664,3 neben die Sifrides recken 831,4. Bladelines recken 1858,1» Häivartes man 1971,1 neben der Häwartes man 1989,3. Überhaupt muß darauf hinge" wiesen werden, daß die angeblich durch die nachlässige Hs. A erst hervorgerufenen Erscheinungen meist im gemeinsamen Text — wenn auch nicht im gleichen Umfange — vorkommen. Die Hs. A soll in den Fällen, in denen sie den Typus iutver degene statt die iurnr degene bietet, dies erst durch Auslassung hergestellt haben. Doch auch im gemeinsamen Text kommt iumer degene (2270,2) vor, wo die Hs. A die iurnr degene hat. Vgl. 125,2a mit iumrn hergesellen; 230,4 da tet iurnr bruoder; 348d,2 iuwer edeliu hant u. ö. 81 1139,4, wo durch die Einfügung des Artikels zweisilbiger Auftakt entstünde, vor (den C) Efielen recken-, 1288,4 alle Etilen man, wo A al die Et^elen man schreibt; !A\,AdS kdmen Guntheres man-, 814,4 genuoge Guntheres man. Bei Präpositionen meist ohne Artikel; daneben aber auch vor den Kriemhilde man 1774,4; man Kriemhilde man 903,2b, aber dem Kriemhilde man 913,3b. 82 Bartsch, S. 133ff. 83 Braune, S. 91 ff. 84 Vgl. S. 60 ff.

73

Die Handschrift A

1. Braune 85 hält im Nl. für gesichert: 1452.2 a mit úngefúogé 1227,2a mit ir gesíndé 1251,2a — 621,4a gegen ir mánné 1073.3 a wér er niht min mäc 1754,4a nú más oucb ¿zzens %it 2051,2a smn twínge ditrstes n6t 102,1a wir súln den herrén (vielleicht auch:) 2227.2 a min hélfe ¡it erslágen 815,3a óucb ist só grimme stárc 1420.3 a dár nach in siben tágen

Nach Braune sind diese Verse nicht dreihebig zu lesen, sondern durchaus viertaktig, nur daß die Senkungen „nach älterer weise spärlicher" 86 gefüllt sind. Schon im Archetypus waren sie nach seiner Auffassung Ausnahmeerscheinungen. Die Möglichkeit, daß das Lesartenmaterial vielleicht auf eine ganz andere Beschaffenheit des Archetypus weist, nämlich auf ein viel größeres Quantum solcher altertümlicher Verse, tritt gar nicht in den Blick; denn Braunes Vorausetzung — die relative Vollkommenheit des Archetypus — fordert, daß derartige Verse seltene Ausnahmen bleiben. Braune hat das Material nicht vollständig aufgeführt: Außer seinen 11 Fällen gibt es noch weitere senkungsarme Verse, die nicht nur durch die Hs. A, sondern durch alle oder wenigstens mehrere Hss. (bzw. indirekt durch die unterschiedlichen Besserungsversuche der einzelnen Hss.) gestützt sind: Vordere Halbverse 102,1 mir suln (sullen d.) den herrn — iungen herren — sulen Nu — wir den rechen wir solten den berren. ir jeht ge liehe 374,2 rell. daz Ir recht ge ¡eiche d al {alle D) — (D)Jh C daz wir iehn geliche. 393,4 unt durch wes (welhes B) liebe rell. — — weihe schulde. C 613,4 rell. daz was dem künege D daz selbe was dem kunege CJh daz was do dem chunege — — dem kunige Gunther AB 616,4 rell. daz ' m s'n houbet —• si im sin — A luote CJh

B(d) A CD Jh

Braune, S. 98 1 ; die Verse sind zitiert nach Braune. Vgl. Braune, S. 981. Für einen dieser Verse (102,1) wird im Folgenden die genaue Lesartendivergenz angebenen. 86

86

74

Die Handschrift A 698,2"

sit daz Criemhilt -— — kriemhilde — — Crimbilden

rell. A D

894,l89

von einem pante! Ein huot von einem Pantel. — — punteli

rell. C Sd

926.2

daz uz dem Schilde — uzer — aus Schilde — •— — guoten Schilde — — — guoten schilt — — —• vestenn —

rell. AC d Qh J a

1046,3

daz " Ze Gunther Guntheren Gunther. Zir bruoder Gunther.

rell. D Jh C

1369,3

daznam ' n »iemen — ennam — nieman — — —da —.

rell. ACa Jh

1587.2

wen ir ze huse hie z^)ttsewelchen yn ze — wen ir zeherbergen.

rell. J g C

1701.3 waz ir so schiere beswaret het ir (jren hohen d.) muot het besseret so schir den im muot beswart het. so ser ir hohen muot so rehte swere verrihtet bete ir muot. het ir hohen muot. — snelle ertrubet. 1926.4

waz

dem degne dem chunen degen disem degene dem vogt von berne waz hie Dietriche.

rell. D b Jh C

1960,4

künec vii base du künic — — chunich etzel vii base

rell. a D

2282,2

daz " s u l n schelten daz er su^e fluocben

rell. Db

Hintere 285.3

Halbverse als man im jach •—- — —veriach — — — do iach

rell. D Jh A C

rell. D CEJh

Die Hs. C ändert den ganzen Vers. Die Hs. A legt die Zäsur hinter was (von eime pantel was)-, doch wird der Vers dadurch kaum besser, zumal der Abvers dann zu kurz ist [darüber gezogen). 87

88

75

Die Handschrift A 419a,1

waz sol diz WM» —

1017,2

1357,3

1490,l 8 9

1693,1

2177,3

2306,2

BDJbd C

—• — ditz wunnder mesen a A ir muoter biten iré mage biten Dd B di ir mage — b den iren jrunde biten alie ir mage biten Jh C ir besten friunde biten B in diz A her in d¡ze lant D vil schir in diz l"nt mit im in ditze — C J(d)h mit im in daz (diz d) rell. hin über den fluot D — —• die miden — A vaste uber die fluot. rell. der mas min man DJh man der ¡fas min man A man er was — •— lihte ir muot daz betruebet reken —- — lichte recken den irn trüben muot — — lihte den guten rechen ir vi! hohen muot — — übt. den recken iren muot — — —. vil lihte danne ir — nemen den lip.

nemen sinen vil shonen lip. (auf radiertem Grund) — da (sa K) den —

— sinen lip benemen den lip

D B Jh C

CJbh

B A(K)

D ab

Ein Großteil der oben aufgeführten, auf zweisilbig volle Zäsuren endigenden Halbverse kommt zu diesem Material noch hinzu 90 sowie die weiter unten zusammengestellten senkungsarmen achten Halbverse 91 . 2. Durch dieses umfangreiche Material werden die senkungsarmen Verse gestützt, die nur die Hs. A bietet. Sie von vornherein der Nachlässigkeit der Schreiber zuzuweisen, halte ich bei der dargelegten Sachlage nicht für erlaubt. „Das sorglose Bewahren alter Unregelmäßigkeiten und das nachlässige Einführen von neuen wird hier Hand in Hand gehen" 9 2 ; eindeutige Entscheidungen werden daher nur im Ausnahmefall zu treffen sein. Senkungsarme Verse, deren metrische Besonderheiten möglicherweise auf Wortauslassungen zurückzuführen 89

A stellt um: er begunde ruqfenjvaste über die fluot.

Vgl. unsere Erörterung auf S. 60 ff. und besonders die Zusammenstellung auf S. 63 ff. 9 1 Vgl. die Zusammenstellung auf S. 78ff. 92 Heusler, AdVersk., S. 111. 90

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Die Handschrift A

sind, deren Fehlerhaftigkeit jedoch nicht d u r c h Sinnentstellung offenbar w i r d , darf man nicht einfach zu fehlerhaften Sonderlesarten dieser einzelnen Hs. stempeln. A n einigen Stellen, die w i r jetzt erörtern w o l len, legt das Lesartenverhältnis deutlich die A n n a h m e nahe, daß der senkungsarme b z w . senkungslose V e r s des A - T e x t e s am A u s g a n g s p u n k t der Textentwicklung gestanden h?t. 1061,2b/3

den schaz si truogen dan — — ibiez man tragen dan — — (den Bd) hie%; man dan — •— man trüge dan. Zuo dem (wilden D) se an diu guoten schiffelin an diu schiffelin tragen zu dem scheffe (sewe Jd)

A Db (B)J(d) C A(D)b93 B(Jd)

Die Umstellung in Db* kann sekundär sein, da in der für das Nl. normalen Wortstellung das Adverb dan hinter dem Verb steht; es lag also nahe, die gewohnte Wortfolge herzustellen 94 . Auffälliger weise stimmt die Hs. C mit der A-Lesart im wesentlichen überein: nider

den schale man trüge dan den unden an diu schiffelin.

Die Hs. C, so werden wir weiter unten sehen 95 , steht in einer anderen Beziehung zum Archetypus, als Braune meint. Sie könnte den senkungslosen Vers des Archetypus anders aufgefüllt haben als die Vulgata, die aus dem Vers eine Umschreibung entwickelte und ein Versenjambement dabei mit in Kauf nahm. Warum sollte die Hs. C von der Vulgata abgewichen sein ? Hat sie etwa das Enjambement beseitigen wollen? Es gibt im gemeinsamen Text noch etwa 20 entsprechende Fälle, bei denen der Infinitiv eines umschriebenen Prädikats, das Partizip einer umschriebenen Zeit oder das verbale Prädikat selbst am Beginn eines Verses im Enjambement erscheint 96 . Nur an einer dieser Stellen ändert die Hs. C, nämlich in Vers 1360,2/3: daz si von Tronege Hagenen niht solden lan beliben bi dem Rine daz Hagene der chuene solde niht bestan hinder in ze Rine

rell. C97

Aber hier bietet die Hs. A : daz si von Trong hagnen dort bi dem rine

niht beliben solten lan.

Hier mag also im Archetypus gestanden haben: daz Sl vm Tronege Hagenen bi dem Rine.

niht beliben solden lan

93 Die Hs. A mit falscher Zäsur. Gemeint ist doch wohl: zuo dem semjan diu guoten schiffelin, wie D unter Einfügung von wilden vor sewe liest. 94 Vgl. 645,1; 1227,3; 1271,1; 1552,3; 1975,3 u. ö. 96 Vgl. hierzu besonders S. 143 ff. 96 286,l/2;331,l/2;486,2/3;554b,2/3;678,3/4;728,l/2;872,3/4; 1061,2/3;1188,1/2; 1250,1/2; 1353,2/3; 1360,2/3; 1432,1/2; 1433,2/3; 1522,2/3; 1550,2/3; 1611,2/3; 1651,2/3; 2004,2/3; 2206,2/3. 97 ^ fehlt C.

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Die Handschrift A

Auch hier könnte also die Hs. C den senkungslosen Vers im Rahmen einer stärkeren Änderung fortgeschafft haben. Gegen die Feststellung, daß die Hs. C solche Versenjambements sonst nicht beseitigt, läßt sich also dieser eine Fall nicht ins Feld führen. Wir kehren damit zum Ausgangspunkt zurück. Zweifellos könnte die Hs. C auch einmal geändert haben, ohne daß ein uns erkennbarer Anlaß zur Änderung bestanden hätte. Ihr eigenartiges Zusammentreffen mit der A-Lesung läßt uns jedoch vermuten, daß am Anfang der Lesartenentwicklung die Lesung der Hs. A gestanden hat, die in der Vulgata und in der Hs. C auf verschiedene Weise auf den Stand einer moderneren Metrik gebracht wurde. 398.2 (Do diu küneginne Sifriden sach), Zuo dem gaste si zuhtecblichen sprach. nu muget ir gerne hären wie diu maget sprach diu magt z u h t e k l i c h e . z u dem rechen sprach

A98 rell. C

Wir gehen aus von der Lesart der Vulgata und nehmen einmal an, sie habe im Archetypus gestanden. Warum hätten dann die Hss. A und C geändert ? Wegen der „Allerweltsphrase" 99 nu mUget ir gerne hären wohl kaum: Zwar beseitigt die Hs. C sie auch an einer anderen Stelle; dort wird aber ein ganz neues Motiv eingeführt 100 . An zwei Stellen läßt der Verfasser C* solche an das Publikum gerichteten, gleichsam spielmännischen Wendungen durchaus stehen 101 . In der ersten Strophe der Einleitung, die nach Braune aus der C*-Fassung in den B*-Text eingedrungen ist 102 , hätte der C*-Redaktor eine solche Formel nicht nur im Text belassen, sondern sonar neu eingeführt 103 . Umso wahrscheinlicher wird es, daß er an unserer Stelle gar gicht vom Vulgattext, sondern vom A-Text ausging. Das weitgehende Übereintreffen mit der Lesart der Hs. A wäre doch sonst sehr eigenartig. Ging er von ihr aus, dann wird sein Eingriff verständlich. Ihn störte der senkungslose Vers, den er vielleicht noch als z u o dem recken las. Durch einfache Umstellung und Wiederaufnahme von küneginne durch maget — welches Wort hätte er sonst nehmen können ? — suchte er den Vers zu glätten, den die Vulgata auf andere Weise änderte. 615.3 (Gunther mol hörte daz heimlicher dinge daz heimliche

swi er sin niht ensah) von in da niht geschach —

rell. A

Ich kann in der Beurteilung der Lesartenverhältnisse weitgehend Michels folgen: heimliche f. = „Vertraulichkeit" ist im Nl. durchaus belegt 104 und „hier mit okkasioneller Verengung der Bedeutung als Euphemismus für . u n e r l a u b t e Vertraulichkeit' durchaus am Platz. Es wäre ja bei dem Charakter von A an sich wohl denkbar, daß ein auf Auslassung beruhender Schreibfehler für heimlicher dinge vorläge; dann wäre es aber ein auffallend glücklicher. . . Auch hat der Verfasser von 628a unsere Stelle offenbar in der Fassung von A vor Augen gehabt, wenn er nun, plump genug, heimliche geradezu für .eheliche Beiwohnung' gebraucht: von siner heinliche / si wart si ist nachträglich eingefügt. Michels, S. 55. 100 1 661,2. Fast die gesamte Strophe ist verändert. 101 944,1; 2092,4. 102 Ygj Braune, S. 157: „Diese Strophe ist entschieden eigentum der recension C*". 103 1 4 104 Im allgemeinen Sinne 785,4; in der speziellen, hier vorliegenden Bedeutung 628 b,3. 98

99

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Die Handschrift A

ein lüt%}l bleich"105. An eine Auslassung durch den Schreiber der Hs. A ist kaum zu denken; denn dann hätte er bei diesem Fehler ein so seltenes Wort wie heimliche hergestellt. Bartsch führt in seinen „Untersuchungen" eine Stelle an 106 , aus der eindeutig hervorgeht, daß das Substantiv heimliche als seltenes Wort nicht verstanden und mit dem Adverb heimliche verwechselt werden konnte: 1195,2 lesen BCJ Ruedeger / gesprach in heimliche / die küneginne, die Hss. ADg dagegen lassen das in aus; 131,4 verfährt die Hs. D ganz entsprechend. Derselbe Schreiber A, der das Substantivum heimliche in Vers 1195,2 aus Unverständnis beseitigte, sollte es an unserer Stelle in den Text gebracht haben? Näherliegend scheint mir die Annahme, daß die anderen Hss. den senkungslosen Vers geändert haben. Durch den Vers 785,4 ist für den Nl.-Text die Betonung heimltchi gesichert. Der Konjunktion so sahen wir oben107, muß zuweilen eine Beschwerung zuerkannt werden. Sollten wir dann nicht auch den Halbvers dä% hetmlichi dem Archetypus zuweisen dürfen, zumal ihm doch ähnliche senkungslose Verse wie sit dd% Kriemhllt auf Grund der Übereinstimmung mehrerer Hss. zuerkannt werden müssen ? 3. Bei der Betrachtung der achten Halbverse zeigt sich ein ganz entsprechendes Bild. Auch hier sind eine Reihe solcher senkungsarmer Halbverse für den Archetypus anzusetzen. Ich stelle die Fälle zunächst wieder zusammen 108 : J9Q109 vil manech edel wip. B manges edeln beides n>ip. Jh vi! maniger edlen framen leib d vil manich wcetlichez wip ACDb 223 ein lieber herben truot A DJh ir — — — ires — — — b ir vil — —• — BCd i ir herben liebes trawt 417 ABJbdh diu ist des tiuvels >vip die mack wol sin des tivvels wip D C diu ist des valandes wip 581 mit Sifriden gan Aabd dan mit Sivride gan BC alda mit Sifrid gan Jh D dannen mit — — ABb 627110 diu edel künegin diu vil edel — DJdh Michels, S. 55. Bartsch, S. 134. 107 Vgl. unsere Zusammenstellung auf S. 73ff. 108 Hier ist die Sammlung von Michels, S. 66ff., zugrunde gelegt. Es sind jedoch einige nicht stichhaltige Belege ausgeschieden, einige andere neu hinzugekommen. Sicher könnte im einen oder andern Falle solch ein senkungsarmer Vers durch zufälliges Übereintreffen in einer Auslassung entstanden sein. Da jedoch das Material mit Sicherheit darauf weist, daß solche Verse in der ältesten und noch greifbaren Vorlage in größerer Zahl standen, sind wir wohl nicht mehr berechtigt, mit Braune von vornherein Auslassung anzunehmen. 109 Dazu Braune, S. 93f.: „. . . die von B gebotene lesart . . . kann allenfalls viertaktig gelesen werden . . . Das edel in B wird durch J und d bestätigt". 110 C weicht völlig ab. 105

106

79

Die Handschrift A 719

781

1009

1054 111

1069 112

1147

1237113

1292

1329

des sagete in Gunther dam rell. D • im do — — CJdh — — — Gunther do danch niht eigen diu gegan rell. D — — dienerinne gan C nimmer — — — ir eigen wip nit gan. Jh A nimmer eigen wip gegan. BDbd vor leide weinten bluot — — — si Jh — d a Ca A von weinendem do — Zuo Kriemhilde gan Bb wol zuo Criemhilde gan Od D Zuo vroun — — wol zuo siner swester gan Jh ir silber und ir golt rell. A — steine und — rotez — CJh bediu ir silber unt ir — D — — — ouch •—• — und nieman mer ABb unde sunst nyemand mer d DJh und ouch ander nieman — C unt ander niemen — gap man den gesten sint B — — — edeln gesten — CD — — da den gesten sint b Ag — — den gesten allen — — — den Heben gesten sint HJadh vil (fehlt Ab) maniges riters lip — — riteres — — (fehlt Jh) — cuenen ritters (recken C.) lip. — — werden ritters lip nach heichen grozlic leit. A — — gro^iu — BM —

— groxlichiu — groslichs— — ir frowen groziu — 1332 ob im daz ouch immer ^eleide mohte komen — — mohte ze laide — noch — von ir ze leide mohte — immer mohte. ¡^eleid noch von ir bicomen. si gedaht ob im daz immer noch möhte chomen

rell. B (C)(Jh) D

J d C A b BMd Jh C

Die Hs. A weicht völlig ab: dike sin z«o "" gegan. Dazu Braune, S. 94 1 : „Femer wird man 1069,4 für den archetypus den kurzen schlussvers ir silber und ir golt annehmen müssen". 113 Dazu Braune, S. 56: „Endlich 1237,4, wo das echte allein B hat: gdp man den gesten sint. Die übrigen füllen den vers verschieden aus". 111 112

80

Die Handschrift A 1492 1501

1897 2043114

2074

2231

von disem lande entran. — disen landen — den (der d) großen schaden gewan. großen schaden gewan großen schaden da gewan der mut>z (muo% hie C) der erste sin der (fehlt Jbh) aller erste sin. an trimn nie verlie — — •— deheinen lie an den triuwen nie verlie noch an triuwen verlie an rehten triwen nie verlie. nieman schaiden lan ml ez durh niemen friden lan. scheiden niemene lan. al über da% houbet spranch vber sin houbet spranc da^ plut auf vber da\ habet sprang — — — houbet sin gespranch vbers hapt staub aldan.

ABbl Dd A(d) Dab BC B(C) AD(Jbh) ANDb Ca B d J ABDJbh Jh C BA D b C Jh

Hierher gehören auch einige Stellen, bei denen mir die jeweils senkungsärmere Lesart den Vorzug zu verdienen scheint. 1087,4 ich han erkant von kinde die edelen künege her B — — — die vil edcle — —• A — — — ktmiginne her CDJbdh Braune beurteilt die Stelle ganz richtig: In der Änderung konnten „mehrere hss. zusammentreffen, weil im vorhergehenden von der Kriemhild die rede war. Das folgende beweist aber, daß AB das echte bewahren" 115 . König Etzel, dessen Gemahlin Helche gestorben ist, will sich neu vermählen. Ihm wird Kriemhild vorgeschlagen. Doch will er Genaueres über ihre Herkunft wissen, stellt damit also die entscheidende Frage nach ihrer Ebenbürtigkeit: 1087,1/2 wem ist nu bekant under iu bi Rine die Hute unde ouch da% lant ? Nun wäre es völlig sinnlos, wenn sich Rüdiger auf diese bedeutungsvolle Frage hin darauf berufen wollte, daß er Kriemhild kenne. Er muß die Tatsache, daß er zur Antwort hervortritt, vielmehr durch sein Wissen um die Verhältnisse des Wormser Hofes rechtfertigen: ich hän erkant von kinde die edelen künige her116 Jedoch ist von Königen bisher noch gar nicht die Rede gewesen, wohl aber von Kriemhild. So scheint die Lesart küniginne auf den ersten Blick verständlicher. Gerade das macht sie uns verdächtig. Der 4. Vers weist im Nl. nur ganz selten nach rückwärts; wenn er es tut, dann meist nur als allgemeine Zusammenfassung des 114 Dazu Braune, S. 94 1 : „Auch 2043,4 hat vielleicht an triuwen nie verlie ADNb im archetypus gestanden. Alle übrigen gehen auseinander". 115 Braune, S. 61. 116 Das vil von A ist vielleicht wie das kiineginne von CDJbdh ein Besserungsversuch.

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Die Handschrift A

vorher Erzählten. Dagegen ist für ihn geradezu charakteristisch, daß er etwas vorwegnimmt, was erst noch eintreten oder behandelt werden soll. Dadurch und durch den folgenden Strophenbeginn wird die AB-Lesart bestätigt: die edelen kimige her. Gunther und Gernöt, die edeln ritter guot, der dritte heilet G¡seiher. 544,4 Bei ihrer Ankunft in W e n n s wird Brünhild von Kriemhild begrüßt: {man sach da schapel rucken da si sich chatten beide — — — — — — — — — — — —

mit liebten henden dan)

daz wart — — — — — — — —

durch getan durch liebe getan durch !(Hchten getan {da D) durch ir ¡yuht ,e.ela" in rieber getan

B A d (13)t> Jh117

Obwohl die A-Lesart als stilistisch gute Wendung 1 1 8 ausgewiesen ist {durch Hebe — um Brünhild zu erfreuen; zur Freude Brünhilds), liegt hier bei der Lesartendivergenz aller Hss. doch die Annahme nahe, daß der metrisch harte Vers da% wart durch ?uhtgetan den Anlaß zur Änderung gab. E r paßt dem Sinne nach ausgezeichnet: Die Art, wie Kriemhild ihre Schwägerin begrüßt, verrät ihre höfische Erziehung. Der Strophenanfang {mit vil großen fühlen) und der Beginn der folgenden Strophe {geZpgenlichs) unterstreichen das noch. 422,4 b der "vrowen ubermut. "stareben der tchanen frounxn ubermuot. der vrounen prunhilden ubermuot der starchen frawen ubermuot der fromn starchiu ubermuot

B119 A Db Jh C

Hier möchte man sich das Auseinandertreten der Hss. entsprechend erklären, wenn auch das Lesartenverhältnis nicht mit gleicher Sicherheit dafür spricht, wie an den beiden zuletzt besprochenen Stellen I 2 °.

Man wird sich davor hüten, in der Existenz derartiger, durch die Handschriftenverhältnisse dem Archetypus vindizierter Verse von vornherein einen Beweis dafür zu sehen, daß die zahlreichen senkungsarmen achten Halbverse der Hs. A ursprünglich sind. Man wird aber die Möglichkeit, daß eine größere Anzahl von ihnen ursprünglich sein kann, nicht a priori von der Hand weisen dürfen. Die Wahrscheinlichkeit, daß sie es sind, ist bei der Menge der Fälle, die schon dem Archetypus zuzuweisen sind, sowie nach den Ergebnissen unserer bisherigen Erörterung sehr groß. 4. Entscheidend für die Klärung der Überlieferungsverhältnisse sind die Stellen, an denen einem senkungsarmen bzw. senkungslosen Vers der Hs. A ein metrisch glatter, darüber hinaus aber auch im Wortlaut Die Hs. C weicht völlig ab. Vgl. etwa 304,4, wo es in einem ähnlichen Zusammenhang durch liebe heißt. 119 starchen ist in der Hs. B am Rande nachgetragen. 120 Vgl w e j t e r die Zusammenstellung auf S. 78ff. 117

6 B r ü c k e n . Handschriftenkritik

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Die Handschrift A

stärker veränderter V e r s der V u l g a t a gegenübersteht. Ließe sich hier nämlich die A-Lesart als ursprünglich erweisen, müßte man eine Z w i schenstufe ansetzen, auf die der W o r t l a u t der Vulgathandschriften zurückgeht. Eines hat uns n u n die bisherige E r ö r t e r u n g gezeigt: Senkungsarme V e r s e hat der A r c h e t y p u s in einer nicht geringen, w e n n gleich auch nicht m e h r bestimmbaren A n z a h l gehabt. Die Senkungsa r m u t eines Verses allein kann also nicht als K r i t e r i u m f ü r seine Fehlerhaftigkeit angesehen w e r d e n ; v i e l m e h r deuten einige M o m e n t e darauf hin, daß gerade die V e r s e mit spärlicherer Füllung der Senkungen einen älteren Stand der M e t r i k erhalten haben, mithin ursprünglicher sein könnten. Ich stelle die Fälle, die in diesem Zusammenhang zu besprechen sind, zunächst z u s a m m e n 1 2 1 : 390,4b

393.3 a 398,2 a122

401,3a

402,4a

413.4 614,4 a 614,4 b 615,3a123 779,4 b124

den hovesite sagen A da von diu rehten mcere sagen rell. diu mar bescheidelich sagen Jh die dort sihe A die in miner bürge rell. zuo dem gaste A nu muget ir gerne hären rell. diu magt zuhtekliche. C durch dich mit im A ja gebot mir her %e varne rell. er gibot mir her varen. Jh gewinne aber ich A und ist daz ich gewinne rell. ist aber daz ich gewinne. Jh anders muz er sterben. C darunder minnechlichen ir liehtiu varwe schein ir minneclichiu varwe dar under herlichen schein oder iu geschihet A sit getet diu vrouwe rell. von minen banden we A dem ktienen Sivride we rell. da^ heimliche A daz heimlicher dinge rell. daz e'Ke erzjugte ir lip A daz tete Kriemhilde lip rell.

A rell.

121 w i r rechnen hier in einigen Versen durchaus mit Auslassungsfehlern der Hs. A. Es ist aber zweierlei zu bedenken: Einerseits führen alle möglichen Konjekturen auf einen anderen Text als auf den der Vulgata; anderseits kann der Anlaß zur Änderung vom A-Text — und zwar auch, wenn wir ihn in schon konjizierter Form ansetzen — ausgegangen sein. 122 v g l . zu diesem Vers unsere weiteren Ausführungen auf S. 77. 123 Y g j u n s e r e Erörterung auf S. 77. 124 Braune, S. 45, bemerkt zu einer ADb-Lesart (1309,4): „Dass hier ADb unursprünglich ist, wird dadurch erwiesen, dass der wirkungsvolle gegensatz . . . vernichtet ist"; dieses Argument könnte man hier zugunsten der A-Lesart anführen.

83

Die Handschrift A

797,4 b 125 2251,2a 126

ich minne niemer dich daz diene ich immer umbe dich

A rell.

den muoz ich immer chlagen da% muoz mir sin ein jamer

A rell.

Die meisten der aufgeführten A-Lesarten weisen so starke Änderungen gegenüber denen der Vulgata auf, daß sie durch einfache Nachlässigkeit nicht aus diesen entstanden sein können. Selbst wenn man in dem einen oder anderen Falle mit Auslassungen von Wörtern rechnet, so lassen sich doch die Lesarten durch die Einfügung noch so umfangreicher Partien nicht mit dem Text der Vulgata in Beziehung bringen. So könnte man die — vermutlich durch Wegfall wichtiger Glieder entstellten — Lesarten oder iu geschihet oder gewinne aber ich folgendermaßen wiederherstellen: oder iu geschihet noch und gewinne aber ich diu spil, trifft damit aber auf keine Weise den Wortlaut der Vulgata. Man wird Heusler prinzipiell zustimmen können, wenn er über die Tätigkeit der Schreiber sagt: „ein Schreiber pflegte ganze Zeilengruppen der Vorlage zu überlesen und aus der Erinnerung wiederzugeben; hierbei flössen ihm ,än arge list' Vokabeln, Satzgefüge, Rhythmen ein, die ihm oder seiner Zeit geläufiger waren . . . manches natürlicher' klingend, Altertum vortäuschend" 127 . Aber ein Schreiber, der die in miner bärge vorfand und dann die dort sihe hinschrieb, dessen Quelle ja gebot mir her varne darbot und der dann durch dich mit im in seinen Text setzte, ist doch wohl kaum denkbar. Hier muß bewußt geändert worden sein: Entweder auf der Seite von A bzw. a * oder auf der Seite des Vulgattextes. Nun ist die Zwischenstufe a * , deren Fragwürdigkeit sich schon öfter gezeigt hat, von Braune gerade deshalb eingeführt worden, damit sich die Existenz von ausgeprägt höfischen Partien des A-Textes aus der Verfasserschaft eines denkenden Redaktors herleiten lasse, also Partien wie: 292,1/2 er neig ir minneclichen, si twanc gen ein ander

genäde er ir bot. der seneden minne not.

oder: 293,4 Zpei minne gerndiu her^e

beten anders

missetän12%.

Wir finden das Bild dieses Bearbeiters jetzt um einen neuen Zug bereichert, der mit seinem sonstigen Wesen unvereinbar ist. Derselbe 125 Vgl. 2 U diesem Vers unsere Erörterung auf S. 102f. 128 Vgl unsere Erörterung auf S. 94. 127 Heusler, DLZ 1929, Sp. 18. 1 2 8 Zitiert nach Lachmann, Ausg. — Die genaue Lesart der Hs. A auf S. 98. 6*

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Die Handschrift A

Mann, der jene höfischen und metrisch glatten Verse in den Text eingeführt hätte, sollte aus einer unerklärlichen „produktiven Vorliebe" 1 2 9 für metrische Härten auch Verse wie durch dich mit im oder ich minne niemer dich neu gedichtet haben. Aus der Aporie, die sich hier zeigt, kann uns Braunes Unterscheidung von Redaktor a * und Schreiber A nicht hinausführen. Uber die rein metrischen Unterschiede zwischen der Handschrift A und der Vulgata, die wir im vorstehenden Abschnitt erörtert haben, weisen die zuletzt behandelten Lesartendivergenzen hinaus auf das grundsätzliche Problem: Wie verhalten sich die Sonderlesarten der Hs. A zum Vulgattext? Dieser Frage wollen wir uns jetzt zuwenden und erst in der abschließenden Zusammenfassung die bisherigen Ergebnisse wieder aufgreifen. B. Die

Sonderlesarten

Nach Braunes Auffassung lassen sich die Sonderlesarten der Hs. A, die stärker vom Text der Vulgata abweichen und daher „notwendig dem Verfasser von a * zuzuschreiben sind" 1 3 0 , zumeist aus bestimmten Änderungsabsichten erklären. „Freilich" — so erkennt auch Braune — „hat es gerade damit seine besonderen Schwierigkeiten. Denn während die verstoße gegen das metrum in ihrer großen mehrzahl als sekundärer art ohne weiteres erkannt werden konnten, so spielt hier leicht der subjektive geschmack eine große rolle, indem dem einen die, dem anderen jene lesart besser gefällt. Nun kommt es ja freilich nicht darauf an zu zeigen, ob die lesart A dem gedanken nach eigenartiger, schöner, individueller gefärbt erscheine als die von B, sondern welche von beiden ursprünglicher sei" 131 . Der Verfasser von a * kennt nach Braune schon die fortgeschrittene höfische Dichtung und hat „das höfische und minnigliche element, die lyrische ausdrucksweise" 132 verstärkt; „das umgekehrte, die Beseitigung dieser elemente, wie sie die anhänger von A annehmen müssen, wäre höchst unwahrscheinlich" 133 . Aus seinen höfisierenden Änderungstendenzen lasse sich dann auch verstehen, daß er häufig allgemeine, typische Formeln und Redensarten durch Wendungen ersetze, die mehr auf den spezielleren Fall eingehen 134 . 129 130 131 132 133 134

Michels, S. 54. Braune, S. 106. Braune, ebenda. Braune, S. 107. Braune, ebenda. Vgl. Braune, S. 112ff.

Die Handschrift A

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Im folgenden ist neben der Stichhaltigkeit der Einzelargumente vor allem die Grundeinstellung Braunes kritisch zu prüfen. Wir haben in den vorausgegangenen Erörterungen schon mehrfach gesehen, daß der mutmaßliche Redaktor a * eine Hilfskonstruktion darstellt, die zur Aufrechterhaltung des Stemmas eingebaut wurde. Dennoch wollen wir aus methodischen Gründen die hypothetische Zwischenstufe a * weiterhin so in die Kritik einbeziehen, als hätte die bisherige Untersuchung die Fragwürdigkeit ihres Ansatzes nicht hinlänglich dargetan. Zeigt sich auch bei der Erörterung der Lesarten, daß der Redaktor a * von Braune für sehr unterschiedliche und untereinander widerspruchsvolle Änderungen verantwortlich gemacht wird, so dürfen wir darin eine Bestätigung unserer Kritik erblicken. Die Betrachtung der A-Lesarten führt auf ein schwerwiegendes, schon oben angedeutetes Problem, dessen Lösung für die Fehlerbeurteilung entscheidend ist: Worin bestehen die Kriterien der „Ursprünglichkeit" ? Braune geht es bei seiner Leseartenkritik um die Herstellung des ursprünglichen Wortlautes. Nirgendwo gibt er jedoch eine Definition dessen, was er unter „ursprünglich" versteht. Die Verwendung eines solchen Begriffes ist allein dann sinnvoll, wenn sie mit Konsequenz erfolgt, d. h. der Begriff im Verlauf der Abhandlung fest bleibt. Im anderen Falle liegt der Verdacht nahe, daß durch ihn lediglich einer vorgegebenen Entscheidung das Signum der Objektivität zuerteilt werden soll. Einige Lesarten der Hs. A werden uns Anlaß geben, dieser Frage weiter nachzugehen. 1. Der Verfasser a * sucht laut Braune bestimmte Adjektiva auszumerzen und dafür andere, seiner Tendenz entsprechendere einzufügen. In diesem Vorgehen soll er sich, wie auch bei anderen Änderungen, „mehrfach mit dem Verfasser von C* berühren, der hierin freilich noch weitergeht" 135 . Braune läßt bei seiner Beweisführung jeweils einige Momente, die seiner These widersprechen, außer acht: alle diejenigen Fälle nämlich, in denen der betreffende Redaktor seinen angeblichen Tendenzen zuwidergehandelt hätte. Auf sie werden wir unser Augenmerk richten müssen. Das „modewort" 136 %ühtecliche findet sich im gemeinsamen Text an drei Stellen 137 ; die Hs. A führt es nach Braune überdies zweimal neu ein, wodurch die Adverbia giietlkhe und ge^ogenliche, die im Vulgattext stehen138, beseitigt werden, güetliche ist im gemeinsamen Text an etwa Braune, S. 107. Braune, S. 108. 1 3 7 1126,1; 1376,3; 1391,4. 1 3 8 1615,4 an Stelle von giietlicben; 298,3 an Stelle von ge^pgenUche. Braunes dritter Beleg (398,2) muß als unsicher beiseite bleiben (vgl. unsere Erörterung der Stelle auf 135

136

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20 Stellen belegt 139 , an denen die Hs. A es nicht fortschafft. In Vers 253,1 führt die Hs. A es sogar an Stelle von grauliche neu ein. Die Hs. C bringt das Adverb ^ühteclichen dreimal 110 neu in den Text, beseitigt es jedoch an zwei Stellen141, an denen die übrigen Hss. es haben. Wir müssen daher wohl entgegen Braune in viel stärkerem Maße mit einer Austauschbarkeit dieser Adjektiva rechnen. Wer dem nicht zustimmen will, muß mit einer komplizierten Stufung von Ausmerzbedürftigkeit und Neueinführung innerhalb der Hss. rechnen: Das Adverb giietliche müßte in A zwar an einer Stelle142 zugunsten von ^ühteclichen entfernt worden sein; dieses Vorgehen dürfte sich aber nicht gegen das Adverb giietliche gerichtet haben; denn das müßte A für grauliche an anderer Stelle143 neu in den Text eingeführt haben; grauliche schien also dem Verfasser von a * vermutlich der Ausmerzung bedürftiger zu sein als giietliche ? Um so eigenartiger muß es berühren, daß gerade a * dieses Adverb gegen den Vulgattext zweimal neu in den Text gebracht hätte144. Nach Braune bevorzugt die Hs. A das Epitheton schane \ denn zehnmal habe sie es neu eingeführt 145 . Diese „Bevorzugung" erscheint jedoch verdächtig, wenn man an die 6 Stellen denkt, an denen schane in der Hs. A fortgefallen bzw. durch andere Epitheta (edele, liep) ersetzt worden sein müßte 146 . Sehen wir uns die von Braune angeführten zehn Stellen genauer an, entdecken wir, daß sie nicht alle auf die gleiche Weise als Änderung von A beurteilt werden dürfen. Mit Recht weist Braune auf eine besonders charakteristische Änderung hin: Nur in der Hs. A bekommt Siegfried einmal das Epitheton schiene, und zwar an einer Stelle, an der im Vulgattext küene steht. Da im ganzen Gedicht Siegfrieds Epitheta nur edel, küene, snel oder starc sind und das Epitheton schane bei Männern nirgendwo vorkommt, mag hier die Hs. A geändert haben. Bei genauerem Betrachten der Stelle wird der Grund für die Änderung deutlich. Im Vulgattext heißt es von dem herangewachsenen Siegfried: S. 77). Auch den Vers 478,4 hätte Braune nicht mit anführen dürfen; denn die Formel mit mühten, die in der Hs. A eingeführt sein soll, ist im Nl. fast ebenso häufig wie das Adverb gr6%e: mit Ruhten steht im gemeinsamen Text an fünf Stellen (119,3; 343,3; 1255,1; 2139,1; mit grölen zühten 734,3), fünfmal nur in C* (65,1; 480,1; 736,4; 748,4; 756,2), einmal nur in B* (544,1). gro^e findet sich an neun Stellen im gemeinsamen Text (478,4; 654,4; 732,3; 737,2; 1107,1; 1385,1; 1677,4; 1748,1; 1750,4), dreimal nur in C* (545,2; 1123,2; 2299,4). 139 Y g j Bartsch, Wb., unter dem angegebenen Lemma. 1 4 0 83,4; 104,4; 554,4. Zu Braunes viertem Beleg (398,2) vgl. S. 85 1 3 8 . 1 4 1 1126,1; 1376,3. 1 4 2 1615,4. 1 4 3 253,1. 1 4 4 246,4; 654,4. 1 4 5 2,1; 27,4; 352,3; 370,4; 422,4; 522,4; 804,2; 808,3; 849,4; 1269,4. 1 4 6 Braune gibt nur vier an (S. 108 1 ). Hinzu kommen noch 265,4; 2157,4.

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27 Nu was er in der Sterke da% er wol wafen truoc. swes er dar %uo bedurfte, des lag an im genuoc. er begunde mit sinnen werben scteniu wip, di trüten wol mit Iren des küenen Sivrides Up. Auch die Liebe ist in ein Wertsystem eingeordnet; sie ist erst sinnhaft, wenn äußerer und innerer Rang der Liebenden gegenseitige Steigerung ermöglichen. So findet das vorausgestellte mit eren in dem Epitheton küene seine Entsprechung. Wenn die Hs. A hier schiene einsetzt, dann kann man darin nur eine Änderung erblicken, durch die an die Stelle eines allgemeinen, vom ritterlichen Ehrenkodex bestimmten Epithetons ein individuelleres, auf die konkrete Situation bezogenes eingeführt wird. Ist dies aber richtig, dann wird man in Vers 422,4 der A-Lesart den Vorzug geben müssen 1 4 7 . Die Burgunder sehen mit großer Sorge die Kampfvorbereitungen am Hof Brünhilds. Hagen schafft seinem Zorn Luft: 422,4 („ Wir solden ungevangen wol rümen di% lant", sprach dd sin bruoder Hagene, „mt beten wir daz gewant des wir not bedürfen unt ouch diu swert vil guot,) so wurde wol gesenftet — — — — — —

— —

— —

— •—•

der schanen frouwen ubermuot — starchen vrouwen ubermut (starchen am Rande nachgetragen) — starken — — — vrouwen prunhilden —

A B Jh Db

Im Nl. kommt den Frauen vornehmlich das Epitheton schiene zu; auch Brünhild wird an 12 Stellen diu schiene genannt 1 4 8 . Nirgendwo heißt sie im gemeinsamen Text diu starke. Einmal ersetzt allein die Hs. C das Epitheton edele durch starc119, offenbar aus demselben Grunde, aus dem auch an unserer Stelle stareben eingeführt wurde: Ein Epitheton, das die edelen vrouwen schlechthin kennzeichnet, wird beseitigt zugunsten eines Beiwortes, das die hervorstechende, in einer Einzelszene sich bewährende Eigenschaft einer bestimmten Frau umschreibt 1 5 0 .

Vergleicht man die beiden erörterten Fälle miteinander, so wird man die Tendenz nicht übersehen können, aus der einmal die Hs. A, das andere Mal die übrigen Hss. geändert haben. Was nun in der einen Hs. als spezifisches Stilmerkmal betrachtet wird, darf nicht in der anderen Hs. als sekundäre Änderung gelten. Die Argumentation, die sich auf den Stil eines Werkes gründet, darf die Grundanschauung vom Wesen des Stiles nicht dann verlassen, wenn es das Handschriftenstemma so zu fordern scheint. Man wird vielmehr, wenn sich hier Unstimmigkeiten ergeben, den Fehler in der stemmatologischen Deutung der Überlieferung selbst suchen müssen. Das sehr häufige Vorkommen zweier „lieblingsadjectiva des dichters" 151 herlich und graulich, wird nach Braune „in den bearbeitungen 147 Vgl. auch die Erörterung auf S. 81. 148 diu schane Prünhilt 333,2; 376,4; 446,4 ; 559,3; 608,2; 1728,4; Prünhilt diu schane 396,1; 434,1; 437a,3; 662,3; 712,3; 1040,1. 1 4 9 381,2. 1 5 0 Ähnliches nur in der Hs. C (430,1 starkiu meit statt herliche m. — 381,2). 151 Braune, S. 114.

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durch variierende ausdrücke etwas vermindert" 152 . Braune macht den Redaktor oc* für diese Änderungen haftbar, der sich darin wieder mit dem Verfasser von C* berühre. Nach Braunes Auffassung beseitigt die Bearbeitung C* das Adjektivura herlich bzw. das Adverb herliche in 29 Fällen und bringt — wie es Braune tendenziös formuliert — „nur 12 neue" 1 5 3 in den Text. C* entfernt grauliche in 15 Fällen und führt es an 6 Stellen neu ein. Von einer bewußt modernisierenden Änderungstendenz, die sich auf die Verminderung der Adjektiva herlich und graulich richtet, kann demnach gar keine Rede sein; denn dann wäre nicht einzusehen, warum C* in dem einen Falle 12, in dem anderen 6 neue Stellen in den Text einführt. Wir dürfen daher wohl nur von Variation reden. Der Hinweis auf die angeblich entsprechenden Tendenzen der Hs. C*, durch den Braune die Lesarten der Hs. A von vornherein der Unursprünglichkeit zu verdächtigen sucht, besteht also nicht einmal von der Hs. C aus gesehen zu Recht. Bei der Betrachtung der vermeintlichen Änderungen der Hs. A wollen wir uns auf das Adjektivum herlich beschränken und an ihm das inkonsequente Verfahren Braunes vorführen 154 . An 5 Stellen beseitigt nach Braune A, d. h. in diesem Falle der Redaktor a * , das Adjektiv herlich; nur ein neues herlich155 bringt er in den Text. In Strophe 264 handelt es sich wohl um eine Auslassung, für die der Redaktor a * kaum verantwortlich gemacht werden darf. In Strophe 286 steht in A mtmic wetliche iviplbe an Stelle von manec herliche^ mp des Vulgattextes. Der formelhafte Strophenschluß manic watliche% wip findet sich noch an vier anderen Stellen 157 , die Verbindung von ivip und amtlich an weiteren vier Stellen 158 , wohingegen die Wendung herlichiu Braune, ebenda. Braune, S. 115. 154 Für grauliche ließe sich Entsprechendes zeigen. Nach Braune (S. 115) entfernt es der Redaktor a * neunmal, bringt es dagegen nur einmal neu in den Text. 305,1 soll michel schal von a * an Stelle von graulichen schal eingeführt worden sein (246,4 müßte der Redaktor a * trotz seiner Abneigung graulichen schal für vralichen schal der Vulgata eingesetzt haben). — 307,4 michel kraft auch sonst (129,3; 325,3; 620,1), dagegen nie grauliche kraft, wie B* gegen A bietet. Ist zu lesen si heten michel kraft ? — 594,4 hat A michel gedranc, was dem Sprachgebrauch anderer Stellen entspricht (34,2; vgl. die Formel do wart ein michel dringen 207,1; 279,2; 1805,4), während die B*-Lesart für sich allein steht. — 253,1 bietet die Hs. A güetliche phlegen, was ini gemeinsamen Text noch an drei weiteren Stellen vorkommt (253,3; 1625,4; 1886,2); grauliche kommt bei phlegen sonst nicht vor. Die Wiederholung desselben Ausdrucks in 253,3 könnte den Anlaß zur Änderung gegeben haben. Solche Wiederholungen sind im Nl. nicht selten (vgl. Panzer, NL, S. 131). Der Verdacht, daß erst A aus Nachlässigkeit die Wiederholung eingeführt habe, scheint mir unbegründet. Eine solche Nachlässigkeit könnte man eher annehmen, wenn an der zweiten Stelle (253,3) „wiederholt" wäre; dort aber herrscht Übereinstimmung aller Hss. — 1906,4: An dieser Stelle entscheidet sich selbst Bartsch (S. 198) für A : „gremelich . . . wird meist von einzelnen Hss. beseitigt . . . A wird wohl Recht haben 1906,4 mit gremltchen statt graulichen" (vgl. S. 139 135 ). — An 5 der von Braune angeführten 9 Stellen ist es also sehr fraglich, ob die Hs. A die Änderung vorgenommen hat. 155 Braune führt die Stelle an (S. 115), nämlich 469,2. 156 wohl fehlerhaft statt m. wmtlichez ¡vip. 157 1 93,4; 199,4 (nur A); 1460,4; 2054,4. 158 23.4; 396.4: 1407,4: 1891.4. 162

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mp allgemein gebraucht nur an zwei Stellen 1 5 9 und immer nur in Verbindung mit schatte meide vorkommt oder auf bestimmte Frauen bezogen wird 1 6 0 . Geht man wie Braune von dem methodischen Grundsatz aus, daß die Formel vor dem individuellen Ausdruck den Vorrang besitzt 161 , dann wird man die A-Lesart hier als die ursprüngliche ansehen müssen, die Lesart der Vulgata als Änderung; zumindest ist es nicht angängig, die Herstellung des Formelhaften h i e r als modernisierende Änderung zu betrachten, wenn man an a n d e r e n Stellen die Beseitigung formelhafter Ausdrücke gerade als Argument für die Unursprünglichkeit von ALesarten anführt. In Strophe 301 könnte die Hs. A mit dem Adverb wiclUben statt herlichen das Ursprüngliche haben, da das Adjektivum wiclich als veraltendes Wort leicht beseitigt werden konnte, anderseits auch herliche striten nur hier an dieser einen Stelle belegt ist 1 6 2 . In Vers 1340,4 heißt es in der Hs. A von Kricmhild da\ vi! wetliche wip\ die Vulgatlesung lautet daz vil herliche tvip. Die Argumentation, die Corves an diese Stelle knüpft 1 6 3 , ist bezeichnend für die Art und Weise, in der man im allgemeinen mit den Sonderlesarten von A verfährt: „Das epitheton watlich wird n i e von einer einzelnen, bestimmten frau gebraucht: es individualisiert nicht, sondern gilt von der gattung; nur der plur. oder die unbestimmt allgemeine formel vil manec watlicbez wip kommt vor . . . Auch 286,4 wo A manec watlicbe^. (st. herlichewip bietet (Kettner S. 339), ist die B*-lesart stilistisch zu rechtfertigen, da 273,2 und 753,1 das epitheton herlich in allgemeiner Verwendung aufweisen. Die von Kettner urgierte Verbindung mit scharte meide spricht nicht gegen die zulässigkeit des epithetons herlich in str. 286,4." Es ist zunächst folgendes richtigzustellen: Das Epitheton wcetlich wird an zwei Stellen von einzelnen Frauen gebraucht. Es gilt also nicht nur von der Gattung, sondern ist auch als individualisierendes Beiwort möglich. Von Gunther und Siegfried, die sich zur Hochzeitsnacht rüsten, wird in Strophe 582 gesagt: dä gedöbt* ir ietslicber mit mintten an gesigen den westlichen vrouwen; daß es sich hier um ganz bestimmte Frauen, nämlich Brünhild und Kriemhild, handeln muß, ist wohl deutlich zu sehen. Auch 618,4 wird Brünhild allein als diu watlicbe meit bezeichnet. Schon der Ausgangspunkt der Argumentation ist also falsch. Doch selbst wenn er richtig wäre, ließe sich die Zweigleisigkeit der Beweisführung nicht billigen. Die B*-Lesart des Verses 1340,4 will Corves als ursprünglich erweisen, indem er auf die Formelhaftigkeit des Ausdruckes hinweist; die B*-Lesart des Verses 286,4 jedoch sucht er gegen den formelhaften Strophenschluß der A-Lesart durch den Hinweis zu rechtfertigen, daß es Wendungen im gemeinsamen Text gibt, die das Epitheton herlich in allgemeiner Verwendung zeigen. — In Strophe 1413, Braunes fünftem Beleg, steht in beiden Texten grauliche; die Stelle ist also wohl versehentlich hier mit eingereiht. Zusammenfassend können wir sagen: Keine der von Braune aufgeführten Stellen läßt die Entscheidung zu, daß es die Hs. A sein muß, die geändert hat. Eine moderni273,2; 753,1. Beide nicht im achten Halbvers! Vgl. Kettner, Hss.-Verh., S. 339. Vgl. Corves, II, S. 94f. (zu 1340,4). 161 Vgl. Braune, S. 112. 162 wiclich (BMZ III, 650a; Lexer III, 820) ist nach 1200 nur noch spärlich belegt, dagegen häufig vorher: Rother H 665 (de Vries; Frings-Kuhnt lesen wich garen)-, Ält. Judith (Waag) 211; Wernh. Maria (Wesle) D 4901; Milst. Genes, und Exod. (Diemer) 89,32; Wien. Gen. (Dollmayr) 4301. 163 Vgl. Corves, II, S. 94f. 159

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siefende Tendenz ist nicht festzustellen. Die Wendungen, die als angeblicher Ersatz eintreten, sind durch formelhaften Gebrauch meist als stilistisch gut ausgewiesen; in einigen Fällen spricht sogar mehr zugunsten der A-Lesart.

Wir wollen durch einige andere Belege die Ergebnisse der bisherigen Erörterung noch unterstreichen. 469,2 An dieser Stelle bietet A die Lesart diu herlichen iverc; sie wird gestützt durch eine entsprechende andere Stelle des gemeinsamen Textes 164 . Der B*-Text hat stattdessen die Wendung diu degenlichen werc, die nur hier vorkommt. Das Adjektiv degenlich steht keinmal im gemeinsamen Text, dagegen an zwei Stellen nur in der Hs. C 1 6 5 . Nach Braune müßte der Verfasser von a * an unserer Stelle trotz seiner Abneigung gegen das Adjektivum her lieh dieses neu eingeführt haben; damit nicht genug: Er hat ein Adjektiv beseitigt, das seinen Änderungstendenzen eigentlich entsprochen haben müßte, da er sich doch in ihnen nach Braune weitgehend mit dem Verfasser von C* berührt. 544,3 A mit wizen hendeti mit liebten hendeti B* Die A-Lesart wird gestützt durch 8 weitere Belege; die B*-Lesart findet sich nur hier. Bartsch bemerkt zu dieser Lesartendivergenz: „»•/£ von der Hand sehr oft (293,1. 952,2. 1009,2. 917,2. 1298,2. 1623,3. 1639,3. 609,3); ausserdem 348,18 C statt edeliu, und 544,3 A für liebten, wo beidemal als das gewöhnliche eine Aenderung ist" 1 6 6 . Hier soll also die Hs. A durch die Einführung des „gewöhnlichen" Epithetons geändert haben; an anderen Stellen soll sie es durch die Einführung des „ungewöhnlicheren" Wortes tun. Es genügt anscheinend schon die Tatsache, daß es sich um eine Sonderlesart der Hs. A handelt, zum Beweis dafür, daß sie nicht ursprünglich sein kann. Ein solches Vorgehen ist indessen methodisch unhaltbar: Man kann nicht an allen Stellen, an denen der Vulgattext einen formelhaften, die Hs. A dagegen einen individuelleren Ausdruck bietet, in der Formelhaftigkeit der Vulgatlesung einen Beweis für ihre Ursprünglichkeit erblicken, an allen Stellen jedoch, an denen allein die Hs. A gegen den individuelleren Wortlaut der Vulgata die Formel aufweist, nach den entgegengesetzten Kriterien entscheiden. Verläßt man an solchen Stellen die Grundlagen der eigenen Fehlerbeurteilung, dann hat man sich überhaupt des Rechtes begeben, die Formelhaftigkeit des Ausdrucks als Argument für die Originalität einer Lesart ins Feld zu führen. Nach Braune zeigt sich die Unechtheit des A-Textes unter anderem gerade daran, daß in ihm „überhaupt öfter . . . allgemeine formein, . . . typische oder farblose redensarten und worte ersetzt sind durch besonderes, durch Wendungen, die mehr auf den speciellern fall eingehen . . . Vom kritischen Standpunkte aus . . . wird man grade solche lesarten in A a l s jünger, die von B* als älter anerkennen müssen" 1 6 7 . Gilt jedoch dieser von Braune entwickelte Grundsatz wirklich, dann wird man mit dem gleichen Recht der A-Lesart dort den Vorzug geben dürfen, wo nur sie die formelhafte Wendung aufweist.

Wir wollen hier noch einige weitere Belege anführen, die wir einer von Kettner zusammengestellten Sammlung von Lesarten entnehmen 168 . 164 165 166 167 168

2147,4. 2014,2; 2021,2. Das Adverb degenliche begegnet dagegen 102,5; 203,4; 235,3 (A). Bartsch, S. 219. Braune, S. 112. Kettner, Hss.-Verh., S. 338 ff.

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Da Kettner auf seiner Jagd nach Parallelstellen auch vor fragwürdigen Belegen nicht haltmacht, müssen wir aus seinem Material sehr vieles aussondern. Jedoch bleiben bei stärkster kritischer Prüfung noch eine große Anzahl von beweiskräftigen, für unseren Zusammenhang wichtigen Lesartendivergenzen übrig. 246,4 man horte gröblichen schal A — — vralichen — rell. Das Adjektiv vrcelich steht sonst nie als Epitheton bei dem Substantiv schal, während die Verbindung graulicher schal noch an 5 weiteren Stellen im gemeinsamen Text steht 189 . Das viermalige Vorkommen von schal mit dem Epitheton grdz170 und Wendungen wie der bühurt und da% schallen wurden groz oder do hörte man graulichen krademm weisen die A-Lesart als die stilistisch bessere aus: Gerade die „primitive Freude an tunlichst kräftigem Lärm" 1 7 2 tut sich im Nibelungenlied überall kund. 670,4

do sprach diufroum in vil hochverten siten A — — — — — einen listigen — rell. in einen listigen siten kommt im Nl. nur hier vor; das Adjektiv höchverte, wird dagegen noch an zwei weiteren Stellen mit ¡ist verbunden 173 .

höchvertic

798,4

der kuene Sifrit A B* den Kriemhilde vriedel der Kriemhilde vriedel ist eine ungebräuchliche Umschreibung für Siegfried, die sonst nicht vorkommt 174 . 1165.1 Criemhilt diu schane A — — here rell. Die B*-Lesart findet sich nur hier, während die Formel Kriemhilt diu schcene überaus häufig ist 1 7 5 . 1167,3 die edelen riter guot A —• — recken — B* edel steht in Verbindung mit guot nur bei ritter, nie jedoch bei helt, degen, recke176. 1606.2 Giselheren den iungen A —• —recken rell. Das Epitheton der recke bekommt Giselher sonst nie. Die Vulgata könnte wegen der Wiederholung von junc (1606,1 diu junge marcgrävinne) das ungebräuchliche Epitheton eingeführt haben 177 . 35,4; 1909,4; 1940,2; 1974,4; sowie 305,1 B*, wo A michelen schal liest. 751,2 ; 883,2; 1299,2; 2047,2. » i 1810,2. — 558,4. 172 Panzer, NL, S. 199. 173 1828,4; 1819,4. 174 vriedel an zwei weiteren Stellen; beidemale in prägnantem Sinn: 790,3 und 2309,3. 175 224,2; 541,3; 648,3; 766,4; diu schane Kriemhilt 1204,4; 1236,4; 1314,4. 176 Zwierzina, 5, S. 79. 177 Vergleichbar mit der B*-Lesart wäre allenfalls 1149,2. Dort wird aber die Störung des Normalen durch die wiederum formelhaft feste Wendung der recke vil gemeit (360,2 AC; 663,2; 842,3; 973,3; 1688,3 u. ö.) hervorgerufen, die allerdings kaum noch als Epitheton — eher als Apposition —• zu gelten hat. Giselher der junge, bzw. der junge Giselher findet sich mehr als zehnmal im Text; vgl. Bartsch, Wb., zum Lemma Giselher. 169 170

92

Die Handschrift A 1997,4

Hagne der vii kuene man — — mortgrimmege man

A B*178

mortgrimmec ist cnra£ Xeyó|ievov im NL, während die A-Lesart auch sonst vorkommt. An dieser Lesart läßt sich erläutern, was wir mit dem Heranziehen solcher Parallelstellen darzulegen suchen und was nicht: Wir sehen in den Stellenbelegen keinen B e w e i s für die Ursprünglichkeit derartiger, durch entsprechende Stellen gestützter Lesarten, mortgrimmec kann wie kiiene ursprünglich sein, wenn man die Anwendbarkeit des Begriffes „ursprünglich" einmal voraussetzt. Wir wollen nur zeigen, daß an nicht wenigen Stellen die Hs. A den im Nl. formelhaften, die Vulgathss. den spezielleren, aus dem gewohnten Rahmen fallenden Ausdruck bieten. Wer wie Braune bei seiner Lesartenbeurteilung davon ausgeht, daß die formelhafte Wendung vor der speziellen den Vorrang hat, wird den Nachweis zu erbringen haben, daß an d i e s e n Stellen gerade der s p e z i e l l e Ausdruck der Vulgathss. ursprünglich sei.

Bevor wir ein vorläufiges Ergebnis zu formulieren suchen, wollen wir noch einige Lesartendivergenzen untersuchen, bei denen die Unterschiede nicht nur auf der Verschiedenheit von Adjektiven oder Adverbien beruhen, sondern tiefer greifen. Der Sachverhalt, der sich uns zeigt, entspricht dem oben beschriebenen: Die Hs. A bietet zweifellos in vielen Fällen speziellere Wendungen an Stelle von formelhaften des Vulgattextes ; es läßt sich jedoch häufig auch der umgekehrte Fall beobachten. Wir wollen das an einigen aus einer Anzahl ähnlicher Fälle ausgewählten Beispielen verdeutlichen. 89,2

als mir ist geseit

A

daz ist mir wo! geseit

rell.

Die A-Lesart als mir ist geseit bzw. die ihr entsprechende Formel als uns daz ist geseit findet sich noch an 6 weiteren Stellen im gemeinsamen Text, während die B * Lesung für sich allein steht 1 7 9 . 398,4

daz gerne beebant gerne bei ich daz bekant

A rell.

Die Hs. A müßte an dieser Stelle die auch sonst belegte Formel 1 8 0 , die noch dazu den metrischen Lieblingstypus des achten Halbverses mit der beschwerten Hebung im zweiten Takt bietet, aus der alternierenden, sonst im gemeinsamen Text nicht vorkommenden B*-Lesart hergestellt haben. Das Adverb gerne, dem im Mhd. noch ein weit stärkerer Bedeutungsgehalt zukommt, als es die abgeblaßte nhd. Verwendung des Wortes ersehen läßt, erhält überaus häufig zur Unterstreichung dieser größeren Gewichtigkeit die beschwerte Hebung auf der Stammsilbe. So steht gémè sehr oft in der Zäsur vorderer Halbverse oder — wie an unserer Stelle nur in der Hs. A — im zweiten Takt des achten Halbverses. 493,1

diu frorn roumte ir laut si rumte ir eigen lant

A rell.

eigen lant findet sich nur hier. Die Verbindung von rümen und lant kommt sonst vor J h lesen der vii mort gir man. 109,1; 1952,2; — 265,2; 1290,1; 1815,2; 2192,3. 180 668,4; — 106,2; 799,3. 178

179

Die Handschrift A in der Form: gerumen miniu Iantlzzen CJ Hier wird die Vertauschbarkeit solcher Ausdrücke besonders deutlich: Derselbe Sachverhalt wird einmal positiv, das andere Mal negativ umschrieben76. 553,1; 582a,3 (vgl. 348,3; 601a,3; 1340,3. — 376a,3); 591,1 (54mal im gemeinsamen Texte der küene man, dreimal der snelle man)', 638,4; 669,2; 683,3 (vgl. Bartsch, S. 189); 769,4; 793,2; 829,1; 835,1; 846,3; 877,4; 914,1; 937,2; 1153,1; 1243,4; 1247,3; 1427,1; 1500,2; 1790,4; 1920,4; 1927,2 (vgl. Bartsch, S. 217); 2028,3; 2084,1; 2062,3 (vgl. 1908,1); 2105,2; 2178,1; 2206,4;2218,4; 2220,2(vgl. Bartsch, S.217);2232,1; 2262,1. Es entfällt 694,2 (vgl. die Hs. DI); 695,4 (da C nicht mit J übereinstimmt). 68 Die CJ-Lesart: 264,4; 705,4; 1414,2 u. ö. 69 daz Sigemundes kint 451,3; 1097,3.-daz Sigelinde kint 48,1; 134,3; 208,3; 430,3. Vgl. 285,1 daz Sigmundes {Siglinde ADJb) kint. 70 637,4. — 637a,4. 71 Vgl. 526,1; 713,3; 1477,3. 72 Jh lesen geteilet. 73 D liest vergeben. 74 Bartsch, S. 208. 75 1213,2. 76 niht geniezen 1515,3; 1936,2; 2027,2 u.ö.- engelten 787,4; 2165,3; 2292,4 u.ö.

Die Handschriftengruppe z*

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W i r könnten diese Sammlung n o c h sehr e r w e i t e r n 7 7 . F ü r das, was w i r zeigen wollen, genügen indessen die aufgeführten Beispiele: D e r artige Lesarten v o n C J , die im Sprachgebrauch nicht v o m Üblichen abweichen, lassen sich nicht n u r deshalb a priori aus der textkritischen E r ö r t e r u n g ausschließen, weil die übrigen Hss. etwas anderes bieten. Dies gilt besonders auch f ü r alle Stellen, an denen die Hss. J und C mit dem Sprachstil des gemeinsamen Textes übereintreffen, die anderen Hss. dagegen d a v o n abweichen. 77,1 Riehen an {an ir CDJh) gemach In dieser Wendung erscheint sonst überall wie in CDJh das Pronomen 78 . Die anderen Hss. könnten die aufgelöste Senkung beseitigt haben. 125,2 (Ir sult uns wesen villekomen . ..) mit iuwern (und iuwer CDJh) hergesellen (nur noch 1834,4 s£allem dienste (!) gereht). (vgl. 512,2). (1260,2; 1698,3. — 554a,3). (zu JC vgl. 516,1). (vgl. 213, 4; 531,1; 720,3). (zu JC vgl. 667,2). (zu JC vgl. 695,4). (zu JC vgl. 745,2). (34,4; 255,4; 678,4 u.ö.). (vgl. 1849,2). (beide Konstruktionen im Text). (vgl. 1731,2; 1735,4 u.ö.). (vgl. 1083,2). (vgl. bes. 1581,1/2, wo sie synonym nebeneinander stehen). (vgl. 1897,1). (vgl. Bartsch, Wb., zu galt und scha?). (hier bringt J C die Wiederholung von jehen, die leicht beseitigt werden konnte durch Einsetzen von beten). 1337.3 (vgl. 1199,4. — 1456,3). 1485.1 (zuJC vgl. 404,2). 1557.4 (an den triuwen raten außerdem noch 865,4; 1411,3; 1575,4; während warlkhen raten sonst nie vorkommt). 1607,4 (2232,4. — 117,4). 1618,4 (vielleicht dö lobte ouch er nemen\ vgl. unsere Erörterung auf S. 60ff.). 1763.2 (vgl. zu JC 408,3; 535,3; 893,2; 1234,2; 1640,3, während der Genitiv in solcher Verwendung sonst nie im Nl. vorkommt). 1780.2 (vgl. 1784,4; 2205,4 u.ö.). 1804,1 (vgl. 775,3). 1818.3 (263,3. — 1464,4). 1911.3 (97,2; 2204,3. — 1535,4). 1937.4 (1089,4; 1874,3; 1910,1; 1928,2). 2047,4 (vgl. Bartsch, S. 214). 2131,4 (vielleicht ursprünglich in ¿teilen lant). 2133,3 (197,3; 203,1; 421,2 u.ö. — 464,2; 2107,3 u.ö.). 78 6 08,3 ; 742,1. 77

1 00,2 133,2 441.2 408.1 542,4 664,4 670.3 746.2 756,2 963.4 1075,4 1097,4 1109.1 1127.2 1214,1 1222,4 1330.3

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Im Willkommensgruß zeigt sich die Rangabstufung nur an der Reihenfolge der Nennung, niemals in der syntaktischen Unterordnung. An allen Stellen steht die Konjunktion unde, niemals dagegen ein präpositionaler Ausdruck 79 . 293,2 Die Formel daz ist mir niht bekant, die in y*d steht, findet sich sonst nie, dagegen an mehreren Stellen die CJ-Lesart daz ist mir unbekanfi". 465,4 In der Formel als im . . . gebot, steht die betreffende Eigenschaft, die etwas zu tun befiehlt, immer — wie an unserer Stelle nur in C J — mit einem Possessivpronomen, durch das die Relation zum Handelnden hergestellt wird. Es heißt also als $z sin ( i r ) eilen (kraft, triuwe, %ubt) gebdt. Nur eine bezeichnende Ausnahme gibt es: als im diu sorge geböfi\ wodurch der objektive Charakter von sorge deutlich gegen die an das Subjekt gebundenen Eigenschaften wie eilen, kraft, triuwe, %ubt abgehoben wird 82 . 1123,2 nu singote ( g r o z e C J ) willekomen Die Verbindung von willekomen und got begegnet nur in diesem Vers. Die CJLesart ist an acht weiteren Stellen belegt 83 . 1422,1 Schilde unde sätele unde allez (ander CJ) ir gewant gewant umfaßt im Nl. mehr als nur die Kleidung. Man kann von berittenen Gästen sagen: man schuof in herberge / und behielt in ir gewant. Unter gewant wird die gesamte Ausrüstung verstanden, besonders auch die einzelnen Teile der Rüstung (den brähte man ir helme / und ander ir gewant; harnasch unt gewant84).

Bei allen bisher erörterten Stellen handelte es sich um geringfügige, wenn auch nicht unwichtige Unterschiede85. Vgl. 344,1; 1107,1; 1123,3; 1379,2/3; 1596,3; 1662,3; 1747,1; 1748,1; 1748,1/2. ez (daz) ist mir (uns) wol bekant 373,1; 1239,4; 1464,3; 50,2; 101,1; 1482,3. — 372,3. — daz ist mir mbekant 652,1; 1298,1; 1551,1. 81 Der Sinn von mhd. sorge liegt hier unserem nhd. „Gefahr" näher als dem gleichlautenden nhd. Wort „Sorge". 82 Gerade die Ausnahme bestätigt die Regel: als im (ir) . .. gebot-, ir eilen 385,4; ir kraft 2213,2; ir triuwe 1230,4; 2194,2; sin triuwe 1911,4; ir z»ht 1227,2; aber diu sorge 2246,4. 83 654,4; 732,3; 1107,1; 1372,4; 1385,1; 1677,4; 1748,1; 1750,4; vgl. Bartsch, S. 198. 8 1 267,1; 681,1; 1023,4; 1415,3; 1469,4. 85 162,1 (vielleicht aus heim in ir länt, wie Bartsch nach J liest). 164.1 (vielleicht aus den viänden min, wie C liest). 167,4 (meist diu mare bevinden 684,4; 823,4; 1439,4 ; 586,4 J h ; 239,4 A J h ) . 544.2 (vielleicht Einführung des höfischeren vrou durch die andern Hss., vgl. noch 667,2; und her 1139,2). 626.2 (Wechsel der Anrede innerhalb derselben Rede. Ehrismann, S. 222, gibt Beispiele für diese Art von Mischstil, der in den einzelnen Hss. beseitigt wird. Vgl. besonders Ehrismann, S. 223 f.). m- noch 581,3; — vgl. noch 735,1; 770.3 (beider künege man nur hier, zm'er 819,4). 1110,4 (phlegen der geste nie in diesem Sinn für „bewachen"). 2055,1 (das Näherliegende ist zweifellos üf si, zugleich die modernere Vorstellung). 79 80

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Es sind nun noch einige Stellen zu erörtern, an denen die Hss. J und C stärker von den übrigen Hss. abweichen. Wir werden auch hier den oben aufgestellten Grundsatz befolgen müssen: Gleichwertige Lesarten lassen sich nicht gegeneinander ausspielen. Eine Entscheidung ist allein möglich bei Konstellationen, bei denen sich die Fehlerhaftigkeit und Un-Ursprünglichkeit der einen sowie die Richtigkeit und Ursprünglichkeit der anderen Seite nachweisen läßt. 107,3 des redent vil die liute (über elliu disiu lant) rell. des gibt iu vil der lute C des jehenl vil der liute J Von den Beurteilern der Fassung C* wird eines besonders gern als Kriterium der Unechtheit von C*-Sonderlesarten angeführt: Der Verfasser C* soll Wiederholungen beseitigen 86 . In unserer Strophe hätte er eine solche gerade eingeführt; denn der 1 .Vers der Strophe entspricht im Wortmaterial unserer C*-Lesart. Die Lesung von y * und d ist zweifellos trivialer als die JC-Lesung. Es kommt hinzu, daß die Hss. vielfach die Konstruktion vil + Genitiv = Subjekt fortschaffen 87 . Alle diese Gründe verbieten es uns anzunehmen, daß J und C geändert haben. 250,1 Diese Stelle möge hier für mehrere andere stehen, bei denen sich eine scheinbar tiefer eingreifende Änderung auf zufälliges Zusammentreffen zurückführen läßt 88 . „ich ml iuch ledech la^en" sprach der künic „gen" CJ „ich wil iuch beide laxen" sprach er „ledec gen" rell. In der vorhergehenden Strophe hatte Liudeger gesprochen, jetzt antwortet Gunther. Er wird nicht namentlich genannt, sondern es steht das Personalpronomen er. Das aber kann leicht auf Liudeger bezogen werden. Diesen Anstoß könnten J und C beseitigt haben wollen. Daß sie dabei nicht auf die Einsetzung des Namens Gunther Vgl. etwa v.Liliencron, S. 140ff. Vgl. Bartsch, S. 215 und 275. 88 Im Text ist die wörtliche Rede zur Verdeutlichung durch Zeichen markiert. — An folgenden Stellen könnten CJ geändert haben: 409,1 (die Änderung wegen des seltenen Wortes, wie auch in der Hs. D). 1222.3 (Änderung infolge gleichen Anlasses: dreimaliges die am Versanfang). 1715,1 (Beseitigung des doppelten ob—ob). 1725.4 (Beseitigung des alten Inf. perf., vgl. unsere Erörterung auf S. 26f.). 1730,4 (Beseitigung der ungewöhnlichen Wortstellung, die auch in der Hs. A und in Db* erfolgt). 1741.1 (Beseitigung des Strophenenjambements, das C und J nach Braune unabhängig voneinander geändert haben müßten, da die Hs. K — mithin auch z j — mit y * und d übereinstimmen). 1846.2 (Die Änderung könnte wegen der Elision $ erfolgt sein. Wenn das der Fall war, so war bei Umstellung i iemen die neue Änderung l man nötig). 1980,4 (Die Hs. J könnte aus dem ungewohnten nablichen > nah in den verlesen haben; auch die Hss. D und b ändern! Vgl. Bartsch, Anm., zur Stelle. Der Fehler von J könnte aber auch schon im Archetypus gestanden, die anderen Hss. verschieden gebessert haben). 2038,2 (Beseitigung der Zäsur übele und des zweisilbigen Auftakts, und zwar in C und J unabhängig voneinander). 86 87

9 Brackert, Hand Schi iftcnkntik

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verfielen, ist nicht ganz so verwunderlich, wenn man sich zweierlei verdeutlicht: zum einen steht für Gunther weitaus häufiger der kimefi* als der bloße Name; zum andern gibt Gunther hier eine wichtige staatspolitische Entscheidung kund, er spricht als der kiinec. Lag aber die Einführung von der künec nahe, dann ergaben sich alle weiteren Änderungen zwangsläufig: ledec mußte aus dem nun überfüllten hinteren Halbvers entfernt werden. Da es für den Sinn des Verses wichtig war, mußte es im vorderen untergebracht werden. Dreisilbiger Auftakt durfte nicht entstehen; also mußte ein Wort weichen. Das einzige entbehrliche Wort war beide, das dann auch entfernt wurde. An seine Stelle trat ledec90.

Aus der Betrachtung der Lesarten, in denen die Hss. d und J , bzw. J allein, gegen die Übereinstimmung aller anderen Hss. mit der Hs. C zusammentreffen, ergibt sich folgendes: An keiner Stelle läßt sich der Nachweis führen, daß die Änderung auf der Seite von CJd bzw. C J gesucht werden muß. Nirgendwo sind Abweichungen vom Sprachgebrauch des Nls zu verzeichnen. Im Gegenteil bietet der z*-Zweig häufig Lesarten, die stilistisch besser sind als die entsprechenden Lesarten des y*-Zweiges. Damit ist Braunes Beurteilung des z*-Zweiges, die durch die Erörterung der Plusstrophen bereits in Frage gestellt worden war, völlig unmöglich geworden. Nirgendwo findet sich ein Anhaltspunkt dafür, daß ein und derselbe Verfasser alle drei Textfassungen hergestellt hat. Die 20 Plusstrophen, die in Braunes Argumentation neben den Lesartendivergenzen eine so entscheidende Rolle spielen, sind nicht schon auf der Stufe z* gedichtet, sondern stammen aus der C*-Version. Die Lesartenübereinstimmungen von J d und C bzw. von J und C allein fallen mit den für die C*-Fassung charakteristischen Umformungen an keiner Stelle zusammen. Die bloße Tatsache, daß Jd bzw. nur J in einigen Lesarten mit der offensichtlich umformenden C*-Version übereintreffen, darf nicht an sich schon als ein Kriterium für die Unechtheit dieser Lesarten angesehen werden. Nur wenn diese Übereinstimmungen schon den Charakter von C* trügen, wäre eine solche Auffassung berechtigt. Eben das hat unsere Untersuchung jedoch widerlegt. Braunes Urteil, im y*-Zweig hätten wir d a s Original zu suchen, erweist sich demnach als nicht richtig. Da der Nachweis, daß die Änderungen im z*-Zweig liegen m ü s s e n , gar nicht zu führen ist, läßt sich auch nicht mit Sicherheit darlegen, daß der y*-Zweig n i c h t geändert haben kann. Wenn wir von der Voraussetzung ausgehen, am Anfang der Textentwicklung habe der feste Wortlaut eines einzigen Originals gestanden, dann könnte dieses nach den Ergebnissen unserer Untersuchung im z*-Zweig wie im y*-Zweig bewahrt sein. Die Basis, über Das Verhältnis ist ungefähr 2:1. Vgl. Bartsch, Wb., unter dem Lemma Gunther. Denkbar wäre hier auch das Umgekehrte, nämlich daß die CJ-Lesart (als Lectio difficilior) an den Anfang der Textentwicklung zu stellen ist; denn das nachfolgende gen in CJ ist ja schwierig zu verstehen. 89

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der sich die U m f o r m u n g in der C * - V e r s i o n v o l l z o g , läßt sich mit genau d e m gleichen Recht als originaler W o r t l a u t ansehen wie der Text, den der y * - Z w e i g repräsentiert. A n dieser Stelle ist die Lesartendivergenz einer viel erörterten Strophe zu betrachten, v o n der aus nach h e r k ö m m l i c h e r Ansicht ein Einwand gegen die hier v o r g e t r a g e n e Auffassung v o r g e b r a c h t w e r d e n könnte. Ich gebe zunächst die Lesartenunterschiede so, wie sie bisher überall den E r ö r t e r u n g e n zugrunde gelegt w o r d e n sind 9 1 . 1849 dö der strit niht anders künde sin erhaben (Kriemhilde leit daz alte in ir herben was begraben), dö hiez si tragen ze tische den Etzelen sun wie künde ein wip durch räche immer vreislicher tuon y* + d Do die fursten alle, gesäten über al. un e%%en begunden. kriemhilt hiez in den sal. tragen dar ze tische, den Etteln sun. wie künde ein wip durch räche, immer vreislicher tuon. J Do die fiirsten gesezzen waren über al und nu begunden ezzen, do wart in den sal getragen z"° ¿en fiirsten daz Etzelen kint. da von der kiinec riche gewan vil starken iamer sint. C Nach Braune wird durch diese berühmte Strophe „die Übergangsstellung, welche J * zwischen d* und C* einnimmt, . . . am schlagendsten erwiesen . . . In dieser Strophe tritt d* vollständig auf die seite von ADbB; . . . die Sachlage erklärt sich nur, wenn man annimmt, dass ADbB + d das ursprüngliche haben, J * einen ersten ansatz der sachlichen änderung bietet, welche dann in C* weiter geführt w i r d . . . Dass die änderungen der . . . stelle von J * zu C* hin in der tendenz der hebung Kriemhilds gemacht worden sind, . . . ist . . . evident" 92 . Selbst wenn das Lesartenmaterial, das Braune hier zugrunde gelegt hat, den Tatsachen entspräche, müßte man seine Deutung in Frage stellen: Braune stützt sich hier auf Paul 93 , bei dem nur die ersten drei Verse der Strophe abgedruckt sind. Der vierte Vers lautet i n j wie moht ein wip durch räche I immer freislicher tuon, stimmt also mit y* und d überein. Von einer „tendenz der hebung Kriemhilds" in der Hs. J kann also keine Rede sein; denn die wesentlichen der gegen Kriemhild gerichteten Momente sind noch vorhanden: Sie läßt ihren Sohn in den Saal tragen, und diese Handlung wird — wie der Kommentar im vierten Vers zeigt — eindeutig als Einleitung ihres Racheplanes verstanden. Nun geht aber Braune an dieser seiner Ansicht nach entscheidenden Stelle von falschen Lesarten aus. Er hat offenbar die Hs. d selbst nicht eingesehen, sondern sich auf Pauls Angaben oder auf die Lesarten von Bartsch verlassen. Die Hs. d trifft gar nicht mit dem Text des y*-Zweiges überein, vielmehr findet sich in ihr folgender Wortlaut: 91 Der Text ist wiedergegeben nach Paul, S. 482 f., der allerdings die vierte Zeile nicht mit zitiert; vgl. noch Braune, S. 137ff., v. Muth, S. 160; vgl. weiter die an diese Strophe geknüpften Erörterungen Heuslers, NS und NL, S. 101 f.—• Bei Zarncke, NFr., S. 18, sind die Lesarten noch richtig angegeben. 92 Braune, S. 137 f. 93



Paul, S. 482f. — Paul schreibt 1849,4 künde, die Hs. dagegen moht.

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Da die fursten gesessn waren vberal. vnd nu begunden essen, da hiess Chrimhilt in den sal tragen %un tischen, den Ec^eln sun. wie kund ain myb durch räche ymmer fraysslicher tuon. Die Hs. d stimmt also bis auf geringfügige Abweichungen zu J. Da nun demnach von einer auf die C*-Fassung hin gerichteten Tendenz gar nicht die Rede sein kann, stehen sich in y* und Jd gleichwertige Varianten gegenüber: J und d führen Kriemhilds Handeln ohne Begründung v o r ; y* zeigt die Motive, die sie zu diesem Handeln veranlassen. Eine Entscheidung, wo der „originale" Wortlaut zu finden sei, ist an dieser Stelle gar nicht möglich. Erst der y*-Zweig könnte das reflektierende Element der ersten beiden Verse eingeführt, erst der z*-Zweig könnte die Anknüpfung an die konkrete Situation hergestellt haben. Da aber eine Entscheidung weder möglich noch sinnvoll ist und notwendig auf einem Vorurteil — dem durch nichts erwiesenen Vorrang des einen Zweiges vor dem anderen — beruhen müßte, wird man in diesem Falle wie in allen entsprechenden die beiden Fassungen nebeneinander als Präsumptivvarianten gelten lassen müssen.

B. Die Handschrift C Nach Braune ist die Handschrift C nur in Ausnahmefällen für die textkritische Erörterung von Belang. Die Stellung, die er ihr in seinem Stemma zuweist, läßt nicht zu, daß eine ihrer Sonderlesarten gegen die Übereinstimmung der anderen Hss. oder auch nur des y*-Zweiges Anspruch auf Ursprünglichkeit erheben könnte94. Ihren äußeren Ausdruck findet diese Bewertung der Hs. C darin, daß Braune sie in seiner Abhandlung keiner besonderen Untersuchung gewürdigt hat. Von seinem Standpunkt aus verfuhr er damit nur konsequent. Nachdem sich uns jedoch im vorigen Abschnitt die Unhaltbarkeit seiner Auffassung gezeigt hat, wird auch die Stellung der Hs. C und damit ihr textkritischer Wert neu bestimmt werden müssen. Lachmann sah in der C*-Version eine erneute Umarbeitung des schon zur Vulgatversion B* umgearbeiteten Originals: X > A > B * > q*95 Holtzmann98 und Zarncke97 dagegen hielten C* für das Original, den B*-Text für eine Umarbeitung; denn sie setzten den — fraglos in C* vorliegenden — besseren Text mit dem originalen Text gleich. Dieses Verfahren ist mit Recht kritisiert worden98. Daß wir in C* eine durchgreifende Umgestaltung zu sehen haben, ist gar nicht zu bestreiten. Die Tendenzen, die der C*-Verfasser verfolgt, treten deutlich zutage: Es sind formale (z. B. stärkere Einführung der Alternation, Vermehrung der Zäsurreime) und sachliche Gesichtspunkte (z. B. Ausgleich von Widersprüchen im Text, Übernahme von Motiven aus 94 95 99 97 98

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

Braune, S. 194. Lachmann, Ausg., S. IX. Holtzmann, S. 17 ff. Zarncke, Ausg., in der Einleitung passim. etwa v. Liliencron, S. lOff.

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der Klage, Steigerung des geistlichen Elements), die ihn bei seiner Umformung leiteten. Im ganzen erhält die C*-Fassung dadurch ein moderneres Gepräge". Wenn wir damit zugeben, daß wir in C* eine nach ganz bestimmten Gesichtspunkten vorgenommene Umgestaltung zu sehen haben, so erhebt sich sofort die für die Textkritik entscheidende Frage: Was für ein Text hat dieser Umarbeitung zugrunde gelegen? Läßt er sich mit Braune, der hierin Lachmann folgt, auf den B*-Text zurückführen 100 , oder muß man mit Bartsch 101 und Paul 102 annehmen, daß B* und C* unabhängig voneinander auf ein gemeinsames Original zurückgehen ? Oder ergibt sich aus der Betrachtung des Materials eine dritte Möglichkeit ? Wir wollen dieser Frage jetzt nachgehen, indem wir zwei wichtige Momente erneut erwägen: die Reimungenauigkeiten und die Lesartendivergenzen. a) Die Reimabweichungen 103 Nach Bartsch hatte das Original des Nls noch in größerem Ausmaße ungenaue Reime und Assonanzen, die erst die beiden Bearbeitungen B* und C* fortgeschafft hätten. Bei der Beseitigung dieser Reimungenauigkeiten seien jedoch sowohl in B* als auch in C* einige stehengeblieben, und zwar in beiden Fassungen an verschiedenen Stellen; weiter sei in B* zuweilen nur der eine, in C* nur der andere Reim verändert worden, so daß sich durch die Kreuzung beider Fassungen die ursprüngliche Assonanz wiederherstellen läßt 1 0 4 : Paul hat an dieser Auffassung Kritik geübt. Bartsch ist nach Pauls Ansicht „beinahe so verfahren, als gäbe es für reimabweichungen gar keine andere erklärung als die beseitigung von ungenauen oder rührenden reimen oder von altertümlichen wortformen im reime. Es liegt aber auf der hand, dass, wo aus irgend welchen andern, sachlichen gründen stark geändert wird, notwendiger weise auch vielfach der reim berührt werden muss" 105 . Dieser Einwand trifft indessen nur die Großzügigkeit, mit der Bartsch seine These handhabte, nicht aber die These selbst. Machen wir uns doch einmal folgendes klar: Wenn wir ein Original mit einer Anzahl von ungenauen Reimen hätten und ein Bearbeiter Vgl. v. Liliencron, passim. Droege, S. 89ff. Panzer, NL, S. 91 ff. Vgl. Braune, S. 121. 1 0 1 Vgl. Bartsch, S. 60 f. 102 Vgl. Paul, S. 416. 1 0 3 Ich beschränke mich im folgenden auf die unreinen Reimbindungen auf -ademe, -agene, -egene u. ä., da es mir hier nur darum geht, das Problem sichtbar zu machen und die Unstimmigkeit der Brauneschen Beweisführung zu zeigen. 1 0 4 Vgl. Bartsch, S. lff. 105 Paul, S. 394. 99

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nun versuchte, die ungenauen Reime fortzuschaffen, dann ließe sich das doch wohl in den seltensten Fällen bewerkstelligen, ohne daß sich nicht auch sachlich etwas änderte. Formale und sachliche Änderungen werden sich gar nicht so voneinander trennen lassen, wie Paul es hier fordert. Wir können seinen Einwand mit demselben Recht umkehren: Wo ein altertümlicher Reim geändert werden soll, wird sich notwendigerweise auch vielfach eine sachliche Änderung ergeben. Aus wichtigen Gründen kommt Paul trotz seines Einwandes dann aber doch nicht zu dem Schluß, daß die ganze Theorie von Bartsch falsch sei; er modifiziert sie nur: B* und C* sind unabhängig voneinander aus einem wenig älteren Original entstanden, das nur noch eine geringe Anzahl von Assonanzen aufwies 106 . Pauls Hauptgrund bilden die Reimungenauigkeiten, welche allein in B* und allein in C* stehen; in B* sind es folgende: sun : frum 123,3; 1851,3. dan : ge^am 1226,1. Hagene : gademe 2248,1; 2280,1. menege : Hagene 1916,1; außerdem noch der vokalisch ungenaue Reim Gernot : tuot 2033,1. „Alle diese sind in C* beseitigt durch geringfügige Umänderungen, die den inhalt nicht berühren, also doch wol formeller art sind" 107 . „Demgegenüber stehen in C* allein folgende ungenaue reime: 1636,1 Hagene : habene108; 1896,1 Hagene -.gademe-, 1960,1 Hagene : %esamene\ 717,1 de gen -.geben und 1223,3 degen -.geleben U (in Ca gebessert. . .). In diesen fünf stellen stehen in B* reine reime, ohne dass der sinn merklich abweicht" 109 . Braune übt an Paul Kritik, der sich das Auftreten dieser ungenauen Reimbindungen in beiden Fassungen nur so erklären zu können meinte, „dass aus einem ungenau reimenden originale B* die einen, C* die anderen reime hätte stehen lassen" 110 . Nach Braune hat der Verfasser von C* die in B* stehenden ungenauen Reime beseitigt, da er „das prinzip [hatte], genau zu reimen" 111 . Dieses Prinzip hinderte ihn nach Braunes Ansicht nicht, sich auch selbst bei seinen Änderungen solcher ungenauer Reime zu bedienen: „Wie Hagene : degene ein überall begegnender correcter reim ist, so konnten auch jene immerhin seltneren formen sehr wol von einem dichter gelegentlich angewendet werden, selbst wenn er sie an anderen stellen beseitigt hatte . . . Wir dürfen ruhig annehmen, dass ein solcher gelegentlicher reim von b auf g dem dichter C* ebensowenig zuwider war als Wolfram" 112 . In dieser Ario« Vgl Braune, S. 123, und die ausführlichere Darstellung, die Paul, S. 442, gibt. Braune, S. 123f.; ich lege Braunes Material zugrunde. los Vgl