Zur Entstehung des Namens ’Germania’

547 115 3MB

German Pages 52 Year 1970

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Zur Entstehung des Namens ’Germania’

Citation preview

NUNC COCNOSCO EX PARTE

THOMAS J. BATA LIBRARY TRENT UNIVERSITY

SITZUNGSBERICHTE DER WISSENSCHAFTLICHEN GESELLSCHAFT S.N DER JOHANN WOLFGANG GOETHE.UNIVERSITAT FRANKFURT AM MAIN BAND IX JAHRGANG 1970

NR. 2

ZUR ENTSTEHUNG DES NAMENS ‘GERMANIA1 VON

KONRAD KRAFT :.r

FRANZ STEINER YERLAG GMBH WIESBADEN

Digitized by the Internet Archive in 2019 with funding from Kahle/Austin Foundation

https://archive.org/details/zurentstehungdesOOOOkraf

SITZUNGSBERICHTE

DER

WISSENSCHAFTLICHEN

GESELLSCHAFT

ANDER JOHANN WOLFGANG GOETHE-UNIVERSITAT FRANKFURT/MAIN BAND 9

JAHRGANG 1970

NR. 2

ZUR ENTSTEHUNG DES NAMENS ‘GERMANIA’ VON

KONRAD KRAFT

FRANZ STEINER YERLAG GMBH • WIESBADEN 1970

ZUR ENTSTEHUNG DES NAMENS ‘GERMANIA’

VON

KONRAD KRAFT

FRANZ STEINER VERLAG GMBH • WIESBADEN 1970

Vorgetragen am 6. Juni 1970 in einer Sitzung der Wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universitat Frankfurt am Main

Alle Rechte vorbehalten Ohne ausdriickliche Genehmigung des Verlages ist es anch nicht gestattet, das Werk Oder einzelne Teile daraus nachzudrucken Oder auf photomeohanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie usw.) zu vervielfaltigen. © 1970 by Franz Steiner Verlag GmbH, Wiesbaden. Gesamtherstellung: L. C. Wittich, Darmstadt Printed in Germany

ANDREAS ALFOLDI ZUM 75. GEBURTSTAG

228171

Zur Entstehung des Namens ‘Germania’ Zur etymologischen Deutung des Namens Germani existiert bekanntlich eine immense, sich fortlaufend noch vermehrende Literatur mit einer Fiille von Vorschlagen1. Die kaum noch zu hberbietende Vielfalt der von der Sprachwissenschaft angebotenen Losungen dlirfte nicht zuletzt daraus resultieren, daB den Spekulationen kaum Grenzen gesetzt zu sein scheinen, weder hinsichtlich der fur die Zuweisung in Betracht zu ziehenden Sprachen, noch hinsichtlich der Zeit der Entstehung, die vom

1.

Jh. v. Chr. fast beliebig in die Vergangenheit zuriickverlegt

werden kann, wobei auch noch angesichts der wenig fixierten Wanderbewegungen ein sehr groBer Spielraum fiir die Lokalisierung des Raumes, in welchem die Namensbildung sich vollzogen haben konnte, zur Verfiigung steht. So Avird demi das Wort Germani ebenso dem keltischen2 AA’ie

dem germanischen3, dem illyrischen4 wie dem lateinischen5 Sprach-

bereich zugerechnet, ja auch aus vorindogermanischen und nicht-indogermanischen6 Sprachen hergeleitet. Selbst wenn die Entscheidung fiir 1 Dazu darf auf das umfangliche Literaturverzeichnis von Bjorn Festskrift till Joran

Sahlgren

Collinder,

(1944), 353-359 verAviesen werden. In den nach-

folgenden Anmerkungen sind nur einige Beispiele fiir die verschiedenen Auffass ungen genannt. 2 K.

Mullenhoff,

Deutsche Altertumskunde IV (1900) 131; S.

manen und Kelten in der antiken tiberheferung (1927); J.

Schnetz,

Feist,

Ger-

Beitrage zur

Geschichte der deutschen Sprache 47, 1923, 470-491; ders., Zeitschr. f. Ortsnamenforsch. 13, 1937, 33-60; R. E. 18-33. 3 R. S.

Much,

Der Name Germanen,

Gutenbrunner,

4 Ed.

Zacharisson,

Norden,

Studia Neophilologica 1, 1928,

Sber. Akad. Wien

195,

1920, 2. Abh.;

German. Fruhzeit in den Berichten der Antike (1939), 138-142.

Altgermanien (1934), 261-302; J.

Pokorny,

Zeitschrift f. celt.

Phil. 20, 1936, 461-475; 21, 1938, 121 ff. - Recht aufschluBreich fiir die geringe Sicherheit der sprachlichen Zuweisimgen ist der Wandel bei Ed.

Norden.

In

‘Die german. Urgesch. in Tacitus Germania’ (1. Abdruck 1920), 388 entschied er sich fiir keltisch, in den Nachtragen zum 2. Abdruck 1922, 11 hielt er den Namen mit

Much

fur germanisch, in ‘Altgermanien’ (1934) entschied er sich dann fur

lllyrisch. 5 F. Hartmann, Glotta 9, 1-32; Th. linder,

8 A.

Festskrift Joran

Nehring,

Sahlgren

Birt,

Glotta 14, 1925, 128; W.

20, 1955, 12-29; H.

Schmeja,

Die Germanen (1917);

Bj.

Col-

(1944), 339-359. Steinhauser,

Rhein. Vierteljahresbll.

Der Mythos von den Alpengermanen (1968).

( 7 )

28

Konrad Kraft

eine bestimmte Sprache vorgenommen ist, gibt es verschiedene Variationsmoglichkeiten fur die etymologische Deutung, da nicht einmal liber den der Erklarung zugrundezulegenden Lautbestand letzte Sicherheit besteht. Man kann von Ger-mani oder von Germ-ani ausgehen, und dabei ist dann noch die Quantitat der Vokale often. Das Wort Germani ist uns durch das Lateinische vermittelt, und unglticklicherweise besitzt diese Sprache ein gleichlautendes Adjektiv germanus = bruderlich, leibhaftig, echt. Begreitiicherweise trat bei den Romern bald eine Gleichsetzung dieses Adjektivs mit dem Volksnamen ein, und dabei konnte sehr leicht die Quantitat der Vokale des Volksnamens sich andern und z. B. aus einem urspriinglichen german ein germanus werden1. Es kann nicht die Aufgabe eines Historikers sein, die Vielzahl der etymologischen Deutungen urn eine weitere zu vermehren. Die Absicht dieser Abhandlung liegt eher gerade in entgegengesetzter Richtung, namlich nach der Moglichkeit von Eingrenzungen jenes schier uferlosen Spielraumes der etymologischen Erklarungen hinsichtlich von Zeit und Lokalisierung der Entstehung des Namens Germani zu fragen. Es ist leicht zu sehen, dab die Sprachwissenschaft mit ihren eigenen Mitteln kaum zu solcher Eingrenzung zu gelangen vermag. Dies konnte, wenn liberhaupt, nur durch Anhaltspunkte,

die auBerhalb des eigentlich

sprachwissenschaftlichen Bereiches liegen, erfolgen. An sich ist ftir den Historiker die etymologische Erklarung des Bedeutungsinhalts des Namens Germani von recht untergeordnetem Belang; es kommt ftir ihn mehr darauf an, zu erfassen, welche politische, ethnische oder geographische GroBe jeweils gemeint ist, wenn die Quellen von den Germani sprechen. Zwangslaufig wird aber der Historiker in die Debatte um die sprachliche Zuweisung hineingezogen durch die Verquickung der sprachlichen Bestimmung des Namens Germani mit dem Streit um die Rheingrenze und deren Funktion als Volkerscheide zwischen Germanentum und Romanentum. Jede Zuweisung des Namens Germani an das Keltische oder Germanische wird so zwangslaufig von der Assoziation belastet, daB damit zugleich eine Stellungnahme zu jenen in der moderneren Zeit wurzelnden politischen Streitfragen getrofFen wtirde. Daher wird z. B. bei Zuweisungen an das Keltische u. U. wichtig, daB der Name Germani schon vor dem Uberschreiten des Rheins vorhanden war, also fiber den Strom mitgebracht wurde. Eine Namengebung erst nach Uberschreiten des Stroms wfirde ja das vielfach behauptete Keltentum der sog. Germani Cisrhenani in Frage stellen, und umgekehrt wfirde ein fiber den Rhein mitgebrachter germanischer Volksname das

1 Die Selbstsicherheit, mit der nicht wenige Forscher lediglich germ- fiir den allein moglichen Ausgangspunkt halten, ist gewiB nicht berechtigt.

( 8 )

Zur Entstehung des Namens ‘Germania’

29

Germanentum jener Eindringlinge sichern. Die in den letzten Jahrzehnten immer mehr vordringende Tendenz, die Namenserklarung nicht in jenen beiden Spraehen zu suchen, die von vorneherein der Gefahr der Belastnng dnrch moderne politische Auseinandersetzungen ausgesetzt. zu sein scheinen, sondern in andern, dafiir eher neutralen Spraehen und Zeitraumen, ist dennoch kaum frei von dem Bezug auf jene historischpolitischen Kontroversen der neueren Zeit. Zwangslaufig liegt fur den Historiker der Ansatzpunkt in einer glucklicherweise vorhandenen antiken Auskunft fiber die Entstehung; des Namens im sog. ‘Namensatz’ des 2. Kapitels von Tacitus’ Germania. Die Aussage dieser Stelle ist freilich umstritten, und es haben sich seit Jahrhunderten sehr widerspruchsvoile Deutungen in einer immensen Literatur angesammelt, die man gewiB nicht leichtfertig vermehren diirfte. Eine Rechtfertigung dazu lage nur dann vor, wenn tatsachlich Momente gefunden wiirden, die einen von den bisherigen Losungsversuchen wesenthch verschiedenen neuen Ansatz erlaubten. Der Verfasser glaubt, daB dies in der Tat moglich ist. Es hat den Anschein, daB eindeutige Tatbestande der sprachlichen Konstruktion des Textes zu wenig beachtet wurden, daB ferner unbegriindet und einseitig bestimmte Bedeutungen fiir die Begriffe natio und gens unterstellt wurden, und daB eine dafiir bedeutsame Grammatikerstelle iibersehen wurde.

I Der fragliche Passus in Tacitus’ Germania lautet: Quidam, ut in licentici vetustatis, pluris deo ortos plurisque gentis appellationes, Marsos Gambrivios Suebos Vandilios affirmant, eaque vera et antiqua nomina. Ceterum Germaniae vocabulum recens et nuper additum, quoniam qui primi Rhenmn transgressi Gallos expulerint ac nunc Tungri, tunc Germani vocati sint: ita nationis nomen, non gentis evaluisse paulatim, ut omnes primum a victore ob metum, mox etiam a se ipsis invento nomine Germani vocarentur. Es handelt sich bei diesem Text nicht um eine Mitteilung, fur die Tacitus selbst die voile Gewahr ubernimmt, sondern um einen, wie es fast scheint, mit einer gewissen Reserve prasentierten Bericht fiber das, was andere Leute behaupten: quidam affirmant. Vorher hatte Tacitus erzahlt, daB die Germanen selbst die Entstehung ihres Volkes folgendermaBen erklarten: Am Anfang stehe ein erdgeborener Gott Tuisto; dieser habe einen Sohn Mannus gehabt und dieser Mannus sei als Stammvater des Volkes (Mannum originem gentis conditoremque) anzusehen. (

9

)

30

Konbad Kbaft

Dieser Mannus habe drei Sohne gehabt, und nach den Namen dieser drei Sohne seien die drei Stamme oder Stammesgruppen der Ingaevones, Herminones und Istaevones benannt; d. h. die Namen der drei Stammes¬ gruppen seien aus dem Namen des jeweils am Anfang des Volkszweiges gedachten Mannes hergeleitet1. Diese Aussage liber die Ableitung der Namen der drei verschiedenen Volkszweige ist das Thema, zu welchem im folgenden Passus (quidam . . . antiqua nomina) die Ansicht anderer Leute vorgebracht wird: „Wie bei dem weiten Spielraum, den eine weit zurlickliegende Vergangenheit den Behauptungen laBt, leicht erklarlich, gibt es Leute, die behaupten, jener Gott Mannus habe noch mehr Sohne gehabt (also nicht nur drei) und so gebe es noch mehr gentis appellationes, noch mehr Benennungen nach dem Geschlecht, d. h. nach dem jeweiligen Stammvater, namlich Marsi, Gambrivii, Suebi, Vandilii, und das seien echte und alte Namen: eaque vera et antiqua nominal Obwohl dieser Bericht liber die Meinung der quidam sich dann mit einer weiteren Aussage: ceterum . . . vocarentur, in indirekter Rede fortsetzt, laBt man den eben libersetzten ersten Teil (quidam . . . antiqua nomina) bei den Behandlungen des ‘Namensatzes’ der Germania in der Regel weg, ja trennt ihn sogar explicite ab oder laBt ihn zumindest ziemlich in den Hintergrund treten. Indes ist er zum Verstandnis des nachfolgenden ebenfalls noch mit der Meinung der quidam befaBten Satzes von groBter Wichtigkeit, insbesondere fur das Verstandnis des Sinngehalts einiger in beiden Passagen auftauchender Begriffe. In dem eben libersetzten ersten Satz (quidam . . . antiqua nomina) ist von gentis appellationes die Rede und gesagt, dies seien vera et antiqua nomina. Im zweiten Satz (ceterum . . . vocarentur) steht, daB der Name Germanen kein nomen gentis sei, sondern ein erfundener Name, ein inventum nomen. Die Antithese dieser Ausdriicke ist ganz offenkundig; sie kann daher auch fiir die Erklarung nicht in der Weise auBer Acht bleiben, wie dies gewohnlich geschieht. Man hat bisher, soviel ich sehe, immer nur auf den gewiB auch bestehenden Gegensatz antiqua nomina und vocabulum recens bzw. invento nomine Wert gelegt, die antithetische Korrespondenz zwischen gentis appellationes und nomen non gentis aber vernachlassigt und beiseitegeschoben. Man behauptet sogar, daB gentis appellationes einerseits und nomen non gentis zwar ,,stilistische Gegenstlicke seien,

1 Celebrant carminibus antiquis

. . .

Tuistonem deum terra editum.

ei filium

Mannum originem gentis conditoremque, Manno tris filios assignant, e quorum nominibus proximi Oceano Ingaevones, medii Herminones, ceteri Istaevones vocentur.

( 10 )

Zur Entstehung des Namens ‘Germania’

31

daB aber kein innerer Zusammenhang bestehe“. Obwohl evidentermaBen auch der zweite Satz ceterum . . . vocarentur von quidam affirmant abhangt, vermutete man, daB mit ceterum eine neue Quelle einsetze1. Andere Forscher enthalten sich zwar solch problematischer Behauptungen, die kaum ein Philologe, wenn er unbefangen von moglichen Deutungen des Gesamtpassus an diese Konstruktion herantrate, aufstellen wiirde, aber praktisch handelt man doch danach und interpretiert den ‘Namensatz’ so, als wlirde es sich nur um die Passage ceterum . . . voca¬ rentur handeln. Der Grand fur dieses merkwtirdige Verfahren ist bei genauerem Zusehen leicht zu erkennen. Die Ubersetzungen flir das ita nationis nomen, non gentis evaluisse paulatim lauten regelmaBig etwa so: ,,So sei der Name eines einzelnen Stammes nicht ein Volksname allmahlich zur Geltung gekommen“2. Man unterstellt damit bei nationis nomen, non gentis bestimmte Bedeutungen flir natio und gens, namlich natio = Einzelstamm, gens — Gesamtvolk. Das Wort gens kommt aber auch bei gentis appellationes vor. Da aber nun dieses Wort gens in einem Zitat liber die Meinung der quidam zweimal und noch dazu in deutlich antithetischer Stellung vorkommt, mliBte billigerweise der gleiche Bedeutungsinhalt an beiden Stellen angenommen werden. Eben dieser Konsequenz will man um jeden Preis entgehen. 1 So R.

Mtjch,

Die Germania des Tacitus, 3. erw. Aufl. herausgeg. von W.

(1967), 60 (im Folgenden abgekiirzt mit

Much,

Lange

Kommentar): „Ceterum usw.:

Zwischen der mm folgenden Mitteilung liber den Ursprung des Germanennamens und der den quidam von Z. 12. zugeschriebenen Ansicht liber Zahl und Namen der Tuisto-Mannus-SproBen besteht, obwohl es sich dabei stilistisch um Gegenstiicke handelt, kein innerer Zusammenhang. Formell haben wir es immer noch mit der Aussage der frtiher erwahnten quidam zu tun, bzw. ist aus dem quidam affirmant heraus flir den vorliegenden durch esse zu erganzenden Acc. c. Inf. als regierendes Verb ein ganz unbestimmtes traditur oder Ahnliches zu erganzen“. Mit dieser kaum noch begreifhchen Manipulation kann

Much

dann zu der Behaup-

tung koramen, daB die Aussage von ceterum ab nicht von den quidam stamme: ,,Doch laBt uns Tac. liber seine nachste Quelle im Dunkeln“. — Ed.

Norden,

Die germanische Urgesch. in Tacitus Germania (1920) bzw. 2. Abdruck (1922) 313 (im Folgenden abgekiirzt mit

Nor den,

Urgesch.) betont zwar richtig, daB die

quidam „aueh weiterhin (d. h. ab ceterum) das Wort fiihren11, zieht daraus aber nicht die notwendige Konsequenz fur die gleiche Bedeutung des Wortes gens bei appellationes gentis und nomen non gentis. — J. G. C.

Anderson,

Tacitus Germania

(1938, repr. 1958) 43: „Germaniae vocahulum: the name of the country is substi¬ tuted for that of the people in order to avoid confusion between the generic and the tribal signification of Germani“. 2 E.

Fehrle,

Tacitus Germania, 5. Aufl. bes. v. R.

Hunnerkopf

(1959), 19.

Um wenigstens noch ein weiteres der im iibrigen vielfaltig greifbaren ahnlichen Ubersetzungsbeispiele anzufligen: ,,So ware der Name eines Stammes nicht des Volkes allmahlich zu Kraft gekommen“ (K. (

11

Buchner).

)

Konrad Kraft

32

Es ist notwendig, sich bewuBt zu machen, daB das Wort gens in dem Ausdruck gentis appellationes evidentermaBen eine ganz klare Bedeutung hat. Es wird eine ganze Reihe solcher gentis appellationes angefiihrt: Marsi, Gambrivii, Suebi, Vandilii. Jeder dieser Namen ist eine gentis appellatio, was aber nicht mit ‘Name des Gesamtvolkes’ iibersetzt werden kann, da jeder dieser Namen evidentermaBen nur eine Teilgruppe und nicht das Gesamtvolk betrifft1. Andererseits kann man hier aber auch gentis appellationes nicht mit ‘Namen der Einzelstamme’ ubersetzen; denn dazu mtiBte es gentium appellationes heiBen. Die Formulierung gentis appellationes ist nur moglich, weil es sich weder um verschiedene Namen fiir das Gesamtvolk noch auch um Namen ftir verschiedene Einzelstamme handelt, sondern um verschiedene Bezeichnungen nach der Blutsherkunft, d. h. um Bezeichnungen nach dem jeweils am Anfang der Geschlechtsreihe des betreffenden Volkszweiges gedachten Stammvaters. Diese klare Bedeutung von gens bei gentis appellationes zwingt an sich dazu, bei nomen non gentis fiir gens die gleiche Bedeutung anzunehmen. Wenn man aber bei nomen non gentis fiir gens die Bedeutung ‘Gesamtvolk’ wiinscht, muB man den Teil der Aussage der quiclam, welcher den Ausdruck gentis appellationes enthalt, moglichst fernhalten. Wie gut dies den bisherigen Erklarungen gelungen ist, kann man an den Behandlungen des ‘Namensatzes’ ablesen. Nahezu jede dieser Arbeiten zitiert den Namensatz nur von ceterum an bis vocarentur. Selbst wenn man sich aber mit dieser sprachlich durch nichts zu rechtfertigenden Ausschaltung des scheinbar storenden gentis appella¬ tiones zunachst zufrieden gabe, so bestiinden doch bereits in der Passage ceterum . . . vocarentur allein erhebliche Widerspriiche zur iiblichen Auffassung von gens in dem Ausdruck nationis nomen, non gentis. Nomen gentis soil hier, wie allgemein behauptet wird, den Namen des Gesamt-Volkes meinen, wahrend natio einen Einzelstamm betreffe2. Dui'chgesetzt hatte sich darnit aber, wenn man der gangigen Interpre1 Much,

Kommentar S. 57 hat an sich diesen ganz eindeutigen Befund durchaus

erkannt, ihn aber dennoch zu verdrehen gesucht und behauptet, daB auch in dem Ausdruck gentis appellationes das Wort gens die Bedeutung von ‘Gesamtvolk’ habe; er muB bezeichnenderweise im nachsten Satz diese Behauptung praktisch selbst widerrufen: ,,plurisque gentis appellationes]; Unter gens ist wie in der Regel (und auch in Z. 17) das Gesamtvolk zu verstehen, aber eigentlich handelt es sich hier nicht um Namen fiir das ganze germanische Volk, sondern um solche groBerer Abteilungen von ihm, die nur in ihrer Zusammenfassung die Gesamtheit bezeichnen“. 2 Dies ist aber eine willkiirliche Setzung, die lediglich durch eine fragwiirdige communis opinio gestiitzt wird, bei der aber einheitlich der aus der Bedeutunc O von gens bei gentis appellationes resultierende Zwang fiir die gleiche Bedeutung bei nomen non gentis nicht beriicksichtigt wird. (

12

)

Zur Entstehung des Namens ‘Germania’

33

tation folgt, gerade nicht der Name des Gesamt-Volkes, sondern der Name des Einzelstammes (nationis nomen, non gentis evaluisse). Fur emeu solchen Vorgang konnte man aber docli wohl nur sagen, daB sich ein urspriinglicher Stammesname als Volksname durchgesetzt babe. Warum wird aber gesagt, daB sich der Gesamt-Volksname (nomen gentis) nicht durchgesetzt liabe? Welcher Gesamt-Volksname soli dies denn gewesen sein? Wenn vorher schon ein Gesamt-Volksname (was ja nach iiblicher Auffassung nomen gentis an dieser Stelle bedeuten soli) vorhanden war, so miiBte er verloren gegangen sein, und wenn vorher kein solcher existierte, konnte billigerweise auch nicht behauptet werden, daB dieser keine Geltung erhielt; denn es war ja eben noch kein GesamtVolksname1. Ohne diese Schwierigkeiten zu beachten oder gar zu nennen, wird von

Norden

einfach verfiigt: „natio, non gens. Uber die Bedeutung des

ersten Kolon ita - evaluisse paulatim besteht keine Meinungsverschiedenheit: So sei der Name (Germani), der (nur) ein Stammesname, kein Volksname war, allmahlich zu einer derart umfassenden Bedeutung gelangt, daB .... Hier sind sich natio und gens als Begriffe des Teils und des Ganzen gegeniibergestellt“2. Dies war im iibrigen schon vor Norden

communis opinio, und wurde auch nach Norden bis heute nie

angezweifelt. Die Ursache fur diese mit dem gegebenen lateinischen Text nicht in Einklang stehende Interpretation bildet, wie schon einmal angedeutet, die a priori vorgenommene Setzung, daB natio und gens an dieser Stelle nur ,,als Begriffe des Teils und des Ganzen (einander) gegeniibergestellt“ sein konnten, und dazu versichert man: ,,Natio gebraucht Tacitus in der Regel fiir den einzelnen Stamm, die Volkerschaft, wahrend er unter gens die ganze sprachlich und rassenhaft zusammengehorige Volkergruppe versteht. Die Ausnahme c. 27,9 fiillt nicht ins Gewicht fiir eine Stelle, wo natio und gens sichtlich voneinander scharf geschieden und einander gegeniibergestellt sind“3. Dies ist aber eine von einer bestimmten fiir das nationis nomen, non gentis gewiinschten Bedeutung diktierte petitio principii. In Germania cap. 27 gebraucht Tacitus das Wort gens klarlich fiir die Bezeichnung einzelner Stamme und nicht als Bezeichnung fiir das Gesamtvolk: Haec 1 Der Widerspruch wurde friiher gelegentlich registriert und es wurde versucht, ihm mit der freilich problematischen Textanderung nomen in gentis statt nomen non gentis zu begegnen, so Acldalius; von Much, Kommentar 65 und Norden, Urgeschichte 316 abgelehnt, ohne dafi der berechtigte Grund fiir diesen alter Konjekturvorschlag erkannt oder gewvirdigt wird. 2 Nobdbn,

Urgesch. 314.

3 Much, Kommentar 65. Im gleichen Sinn Norden, Urgesch. 314-316. (

13

)

34

Konrad Kraft

in commune cle omnium Germanorum origine ac moribus accepimus, nunc singulcirum gentium instituta ritusque, quatenus differant, quaeque nationes e Germania in Gallias commigraverint, expediam. Die scharfe Gegenuberstellung omnes Germani und singulae gentes der Germanen ist offenkundig. Was soil dazu die Versicherung, daB diese eine Stelle nicht ins Gewicht falle? Man braucht nur an Hand eines Tacitus-Lexikons die sehr zahlreichen einschlagigen Stellen durchzumustern, um zu sehen, daB Tacitus das Wort gens ebenso zur Bezeichnung der Gesamtheit der Germanen wie zur Bezeichnung einzelner Stamme verwendet. Ja, die am haufigsten von Tacitus ftir einzelne Stamme der Germanen gebrauchte Bezeichnung ist eben jenes Wort gens. Mattiacorum gens (Germ. 29), Chaucorum gens (Germ. 35), ceterae Germanorum gentes (Germ. 44), Tencteri Rheno discreta gens (Hist. 4, 64) sind nur einige wenige Beispiele aus einer langen Reihe. Auch werden gelegentlich die gleichen Stamme von Tacitus bald als natio, bald als gens bezeichnet. So ist Ann. 11, 19 von der natio Frisiorum die Rede; Hist. 4, 15 sind die Friesen eine Transrhenana gens. Hist. 5, 25 berichtet Tacitus von den bei den Batavern umgehenden sermones, und darin bezeichnen sich die Bataver einmal als una natio, und sprechen kurz darauf vom drohenden Untergang ihres Stammes als excidium gentis. Auch bei anderen Schriftstellern liegt der gleiche Sprachgebrauch vor, so etwa bei Cicero, woftir pro Fonteio 30 genugen mag, wo Cicero die gallischen Stamme einmal mit hae nationes bezeichnet, um sie gleich anschlieBend mit isdem gentibus zu titulieren. Bei Caesar ist das Gleiche festzustellen: Die Volcae Tectosages erscheinen als gens (B. G. 6, 24) ebenso die Nervier (B. G. 2, 28) die Sueben (B. G. 4, 1) oder die Gomphi in Thessalien (B. Civ. 3, 80). Andererseits sind die gallischen Stamme, die freilich in der Regel als civitates erscheinen, auch als nationes bezeichnet (B. G. 3, 10), ebenso die an den Rhein grenzenden germanischen Stamme (B. G. 2, 35) und Stamme Aquitaniens (B. G. 3, 11). Einmal spricht Caesar auch von natio est omnis Gallorum admodum dedita religionibus (B. G. VI 16). Auch Caesar gebraucht also gens und natio weitgehend mit gleicher Bedeutung. Naturlich findet man auch Stellen, wo natio als Unterteilung von gens gebraucht wird, wie den in unserem Zusammenliang innner wieder als Hauptzeugnis berufenen Passus bei Velleius 2, 98, 1: atrox in Thracia bellum ortum, omnibus eius gentis nationibus in arma accensis. Es gibt aber ebenso das Umgekehrte, claB die ubergeordnete Einheit mit natio und die Unterteilungen als gentes bezeichnet werden. Livius 38, 16, 11 nennt z. B. drei gentes der in Kleinasien eingedrungenen Galli, um gleich anschlieBend 38, 17, 3 von diesen Galli, d. h. von der Gesamtgruppe dieser Galli als einer ferox natio pervagata zu sprechen. In Africa (

14

)

Zur Entstehung des Namens ‘Germania’

35

ist natio als Oberbegriff iiber den gentes durchaus gelaufig1. Die Liste der Alpinae gentes mit den Vindelicorum gentes quattuor im Tropaeum Alpinm (Plin. n. h. 3, 137) kann nicht weniger deutlich zeigen, dab das Wort gens gewiB nicht als Terminus technicus fiir Gesamtvolk im Gegensatz zu Einzelstamm fixiert war. Wir diirfen diese kurze, urn weitere Beispiele leicht zu vermehrende Musterung des antiken Sprachgebrauchs mit dem Verweis auf eine fiir unseren Fall besonders aufschluBreiche Tacitus-Stelle abschlieBen. Taci¬ tus, Hist. 4, 66 schildert, wie zwei tungrische Fiirsten, Campanus und Iuvenalis, den ganzen Stamm der Tungrer dem Bataver Civilis zufiihrten: universam ei gentem dedidere. Hier wird ausgerechnet der Stamm der Tungri, auf dessen friihere Bezeichnung Germani im Namensatz mit nationis nomen angespielt sein soil, als gens bezeichnet2. Man kann bei dieser Quellenlage billigerweise nicht von der Behauptung ausgehen: ,,natio gebraucht Tac. in der Regel fiir den einzelnen Stamm, die Volkerschaft, wahrend er unter gens die ganze sprachlich und rassenhaft zusammengehorige Volkerschaft versteht“3, wobei im iibrigen auch noch fraglich ist, ob die Gegeniiberstellung nationis nomen, non gentis iiberhaupt von Tacitus stammt, und nicht - was doch viel wahrscheinlicher ist - eine Formulierung der von ihm benutzten und mit quidam affirmant ausdriicklich bezeichneten Quelle darstellt; und deren Gebrauch von gens ist hier selbstverstandlich in erster Linie entscheidend. Man kann nicht einfach verfiigen: ,,Hier sind natio und gens als Begriffe des Teils und des Ganzen gegenubergestellt“4, sondern muB fragen, ob diese Gegeniiberstellung nicht einen anderen Unter1 Vgl. A.

Schttlten,

2 Die von A.

Dove,

Rhein. Mus. 50, 1895, 509.513. Studien zur Geschichte des deutsch. Volksnamens, Sber.

Akad. Heidelberg, phil-hist. Kl.

1916,

8. Abh. zusammengestellten, hauptsachlich

spatantiken und friihmittelalterlichen Belege zeigen das gleiche Bild, was Dove a.

O. 37

u.

46

auch selbst zugeben muB.

Gruppen bei Ammian bei Beda

1,1.

23,6,62;

Z.

B. gentes bzw. nationes fiir die gleichen

die Scoti sowohl als tertia natio wie als tertia gens

Die merkwiirdigen Definitionen von Cassiodor, expos, in psalm.

II,

v. 9: Gentes significat nationes tot orbe divisas, quas distinctus atque separatus sanguis amplectitur: gens a genere vocitatur, und expos, in psalm. XCY, v. 7: gens enim potest habere peregrinos, et dum natio dicitur, non advenas complectimus, sed tantum gentem unius sanguinis indicamus, sind von aller anderen Problematik dieser AuBerungen des 6. Jh. n. Chr. abgesehen, gewiB auch nicht geeignet,

Nordens

Unterscheidung von natio und gens als Begriffe des Teils und des Ganzen zu stiitzen. 4 Noeden,

3

Much,

Kommentar

65.

Urgesch. 314. — Natiirlich hat

Norden

auch selbst bemerkt, daB

der Gebrauch von gens in Tacitus, Germania nicht einheitlich ist; vgl.

Norden,

Urgesch. 315 Anm. 2: ,,An anderen Stellen der Germania gebraucht er gens, ohne einen Unterschied zu machen, sowohl vom Gesamtvolk (2.10.14.29.21.22) wie von Stammen (27.29.36.39.42.45)“. Diese Feststellung beeintrachtigt aber

Nordens

Selbstsicherheit hinsichtlich der Bedeutung von gens in cap. 2 nicht im geringsten. (

15

)

Konrad Kraft

30

schied meinen kann und nach dem Zusammenhang meinen muB. Und man muB dies umso mehr, als im ersten Teil des Berichtes des Tacitus fiber die Behauptungen der quidcim das Wort gens, wie vorher ausftihrlich dargelegt, in einer ganz anderen Bedeutung vorkommt. Es darf zur Sicherheit nochmals gesagt werden, daB eine evidente Korrespondenz zwischen einerseits gentis appellationes und andererseits nomen non gentis vorliegt. Bei dem ersteren, d. h. bei gentis appellationes, ist die Bedeutung ‘Benennungen nach der blutsmaBigen Abstammung’, d. h. nach dem Stammvater (conditor gentis), vollig sicher. Dies erzwingt die gleiche Bedeutung auch an der zweiten Stelle bei nomen non gentis. Zu einer solchen Bedeutung von nomen gentis kann das Gegenstlick nomen nationis nicht sein:

‘Name der kleineren Einheit’,

sondern,

zunachst einmal negativ ausgedriickt, nur: ‘Benennung nach einem von der blutsmaBigen Abstammung zu unterscheidenden Gesichtspunkt’1. Zu diesem, zunachst rein aus Wortlaut und Konstruktion von Tacitus, Germ. 2 erschlossenen Bedeutungsinhalt der Begriffe in der Gegenfiberstellung nationis nomen, non gentis ffigt sich aber nun bestatigend eine tatsachlich in der antiken Literatur vorhandene, der Aufmerksamkeit Nordens entgangene Definition des Unterschiedes der beiden Begriffe

natio und gens. Sie ist bei dem Grammatiker Charisius (Ars gramm. V p. 397, 26b) zu lesen: natio solum patrium quaerit, gens seriem maiorum explicat. Das heifit, nach Charisius bezieht sich der Begriff natio primar auf die Heimat, d. h. die geographisch, allenfalls politisch bestimmte Herkunft2, gens dagegen bezieht sich auf die blutsmaBige Herkunft. Das deckt sich genau mit dem, was wir fur die Definition des nationis nomen, non gentis allein aus dem Germania-Text selbst folgern muBten. 1 Gewisse Ansatze zu dieser Einsicht sind ganz vereinzelt schon in

alterer

Literatur zu finden: “gentis nomen ist ein von dem Stammvater hergenommener Volksname, nationis nomen, non gentis ist jeder andere nicht vom Stammvater hergenommene Volksname" hebliche Ablehnung; vgl. A.

(Peeiefer-Holtzmann),

dazu dann auch die iiber-

Ausfuhrl. Erlaut. des allg. Teils der

Baumstark,

Germania d. Tacitus (1875), 121 f. 142-144. 2 Ed. Vgl.

Norden

Norden,

scheint die Charisius-Stelle unglucklicherweise entgangen zu sein.

Urgesch. 317: ,,Aus der gesamten ethnographischen Literatur ist

mir nur noch eine Stelle bekannt, an der dem Begriff ge?is vermittels der Negation ein anderer gegentibergestellt wird“.

Norden

zitiert dann die bekannte Stelle

Orosius 4,13,5: ... maxime Gaesatorum, quod nomen non gentis, sed mercennariorum est. Darin wird nur gesagt, daB der Name Gaesaten keinen geschlossenen Stamm betrifft; eine Parallele zu der Gegenuberstellung natio - gens bei Tacitus ist es nicht.

Norden

hatte zur besseren Verdeutlichung eigentlich schreiben sollen, daB

er keine Stelle kenne, wo gens vermittels der Negation dem Begriff natio gegenubergestellt wird. Eine solche liegt indes in dem oben angegebenen CharisiusZitat vor, jedoch mit einem Inhalt, der der Auffassung tung von gens und natio ausdriicklich widerspricht. (

16

)

Nordens

liber die Bedeu¬

Zur Entstehung des Namens ‘Germania’

37

DaB trotz dieser, jedenfalls bei Charisius unzweideutig vorliegenden Unterscheidung der Begriffe natio und gens, ini allgemeinen Sprachgebrauch, auch in dem der antiken Historiker, in der Regel keine scharfe Trennung durchgeffihrt wurde, ist leicht begreiflich, da sich eben die Menschengruppen mit gleichem Wohn- oder Geburtsort und die Menschengruppen gleicher blutsmaBiger Abstammung in der Praxis meist weitgehend decken, wie denn auch der moderne Historiker schon um der Variation des Ausdruckes willen die Worter Stamm, Volk, Volkerschaft, Nation haufig mehr oder weniger synonym zu gebrauchen pflegt, und eine scharfere Scheidung nur dann vornimmt, wenn es sich um die genaue Definition dieser Begriffe dreht. Die Unterschiede des primaren Inhalts und der Herleitung der Begriffe natio und gens zu registrieren, war auch in der Antike nur dann ein AnlaB, wenn tatsachlich in scharfer Unterscheidung fiber Genesis und eigentlichen Inhalt der Begriffe natio und gens gehandelt wurde, wie eben an der zitieren Stelle des Charisius. Dieser schrieb zwar erst im 4. Jh. n. Chr.; aber es darf angenommen werden, daB er jene Definition: natio solum patrium quaerit, gens seriem maiorum explicat, einer viel alteren Quelle, die durchaus schon in die Zeit vor Tacitus zurfickreichen konnte, entnahm. Es konnen z. B. verschiedene Teile des 5. Buches des Charisius, aus dem miser Zitat stammt, mit ziemlicher GewiBheit auf den sicher vor 76 n. Chr. verstorbenen Remmius Palaemon, den Lehrer Quintilians, zurfickgeffihrt werden1. Nebenbei bemerkt legen die Behandlung der Herleitung von nomina und die Frage, ob diese alt und echt oder jung seien, ohnehin nahe, vor allem an grammatische oder antiquarische Schriften zu denken. Dies ist jedenfalls wahrscheinlicher als hinter dem quidam affirmant mit Nordex

Livius als Quelle zu vermuten oder gar in dem nationis nomen,

non gentis eine Polemik gegen Caesar anzunehmen2. Die Beziehung von natio auf den gleichen Geburtsort bzw. den gleichen Wohnort findet sich auBerdem schon bei dem wahrscheinlich bereits ins 1. vorchristliche Jh. zu setzenden Grammatiker L. Cincius3. Darfiber hinaus ist auf alle Falle sicher, daB langst vor Tacitus fiber verschie1 G.

Goetz,

RE III 2147-2149; vgl. C. Barwick, praefatio p. XXI-XXIY zur

Charisius Ausgabe (C.

Bab wick

- F.

Kuhnert

1964).

2 Nokden, Urgesch. 378 bzw. 316 f. Die angebliche Polemik gegen Caesar kann man nur als an den Haaren herbeigezogen bezeichnen. 3 L. Cincius, Gramm. Rom. Fragm. I, ed. Funaioli, p. 378 (vgl. Festus, ed. Lindsay, p.

164): (natio in eadem terra hominum genviys natum. Cin(cius genus

hominum, qui non aliunde veneryunt, sed ibi (nati sunt, significari ait, idemque nyationem ait (non tantum universim de orriynibus, sed e(tiam de

singularibus

hominibyus seiunct(im did solerey. Vgl. Festus, ed. Lindsay, p. 165: natio genus hominum, qui non aliunde venerunt, sed ibi nati sunt. (

17

)

3

Konrad Kraft

38

dene Moglichkeiten der Herleitung von Volker- und Stammesnamen debattiert wnrde; und dabei wird die Ableitung der Namen von Stammvatern des Geschlechtes oder friiheren Herrschern ebenso erwogen wie die Ableitung vom Heimatland. So wird z. B. nebeneinander angeboten, daB die Tyrrhener nach ihrem Fuhrer Tyrrhenos hieBen (Dion. Hal. 1, 27, 2) und daB das gleiche Volk den Namen Etrusker nach dem friiheren Heimatland Etrurien habe: xal yap zrd zr\q //opap, sv fj noze quajaav, 'Expoupiap,

TupofjaYopsuogEVTji;

'Expoucrxouc;

xaXouai

xou?

avffpa>7toui;

(Dion. Hal. 1, 30, 3). Daneben gibt es noch andere Erklarungen ftir Volksnamen, wie etwa das Anknlipfen an auffallige Eigenheiten, im Fall der Thyrsener Sux xai; ev zoic, xupcrecnv oixtjctsi.c, (Dion.

Hal. 1,

30, 2). Diese wenigen Hinweise mogen hier gentigen, run darzutun, daB jene Definition des Charisius nicht als eine Erfindnng der Spatzeit verdachtigt und abgetan werden kann, und daB seine Definition von natio und gens gerade im Zusammenhang mit der Frage der Herleitung von Volksnamen eine Rolle gespielt haben muB. Wie gesagt, kann man nach der ganzen Sachlage nicht damit rechnen, daB Definitionen des ursprunglich unterschiedlichen Inhalts der Begriffe natio und gens sehr haufig in der Literatur auftauchen, sondern eigentlich nur in Werken bzw. an Stellen zu erwarten sind, wo man sich aus irgendwelchen Griinden um Begriffsbestimmungen bemiiht. Ich habe den Eindruck, daB z. B. bei Cicero, de off. 1, 53-54 jene begriffliche Unterscheidung bei der Darstellung der verschiedenen Stufen der menschlichen Gesellschaftsbildung einwirkt. Der Text lautet: Gradus autem plures sunt societatis hominum. Ut enim ab ilia infinita discedatur, propior est eiusdem gentis, na.tionis, linguae, qua maxume homines coniunguntur; interius etiam est eiusdem esse civitatis; . . . artior vero colligatio est socie¬ tatis propinquorum; Stelle figuriert bei

. . . sequuntur fratrum coniunctiones . . . usw. Norden

Die

als eines der Kronzeugnisse dafiir, daB

,,natio und gens Begriffe des Teils und des Ganzen“ seien1. Dazu wird eine dem Zwecke dienliche Auswahl der Worte des Zitats geboten, woraus in der Tat der Eindruck entsteht, als seien hier von Cicero gens und natio als gradus im Sinn einer Unterteilung verwendet. Dabei ist aber, wenn man den ganzen Text und dessen Zusammenhang nimmt, klar, daB die drei Begriffe gentis, nationis, linguae nur einer einzigen Stufe (propior gradus) zugehoren. So wenig wie das von Norden weggelassene linguae die Untereinheit von natio sein kann, so wenig kann hier natio als Unterteilung von gens aufgefaBt sein; vielmehr sind es drei Varianten von etwa gleichwertigen Bindungen: gleiche Blutsher1

Norden,

Urgesch. 314 f. Anm. 2;

maBen: gradus plures sunt societatis nationis, . . . societatis propinquorum.

Norden

zitiert die Cicerostelle folgender-

hominum. . ., propior est eiusdem gentis,

(

18

)

Zur Entstehung des Namens ‘Germania’

39

kunft (gens), gleicher Heimatboden (natio), gleiche Sprache (lingua). Diese drei bilden die mit propior bezeichnete Strife. Der von Charisius mit solum patrium quaerit bezeichnete Inhalt des Begriffs natio bestimmt wohl auch die Verwendung von nations im Sinne von domo bei der Herkunftsangabe auf Inschriften. Anf den Inschriften der Rheingegend wird regelmabig geschrieben natione Batavus, wahrend auf den Inschriften der Donaugegend dafiir domo Batavus verwendet wird. Auch dab am Rhein gelegentlich fiir natione Batavus civis Batavus steht, deutet in die gleiche Richtung1. Nun scheint aber seit langem festzustehen, dab an unserer Stelle auf jeden Fall hinter nationis nomen die Bezeichnung jenes Stammes, der als erster den Rhein liberschritt, stehen miisse, und diesen Namen eines ausgewanderten Stammes konnte man kaum als ‘Benennung nach dem solum patrium’ im Sinne der Charisius-Definition (natio solum patrium quaerit) erklaren. Dieser Umstand hat ja let.zten Endes die iibliche Deutung des nationis nomen, non gentis verursacht. Bei genauerem Zusehen lost sich diese Schwierigkeit freilich auf. Gewib ist in letzter Instanz die Bezeichnung der zuerst tiber den Rhein Vorgedrungenen der Ausgangspunkt fur die Bezeichnung auch des Gesamtvolkes mit dem Namen Germani. Jedoch hat dieser Vorgang der tibertragung in unserem Germania-Text eine bemerkenswerte Zwischenstufe. Es wurde nach der Ansicht jener Gewahrsleute (quidam) des Tacitus von der Bezeichnung der ersten Eindringlinge zunachst das vocabulum Germaniae abgeleitet, d. h., es wurde der geographische Raum rechts des Rheins, woher die als Germani bezeichneten Angreifer gekommen waren, als Land der Germani, d. i. Germania bezeichnet. Dabei ist zu beachten, daB die Bezeichnung Germani fiir die iiber den Rhein vordringende Gruppe noch nicht als Benennung nach dem solum patrium angesehen wird. also in diesem Stadium noch kein nomen nationis ist. Dies ergibt sich klar aus der Tatsache, dab die geographische Bezeich¬ nung Germania nach dem vorliegenden Text zeitlich spater liegt, als die Benennung der Leute, die als erste iiber den Rhein vordrangen2. Die Definition als nomen nationis bezieht sich nur auf den vom Landesnamen Germania abgeleiteten Namen Germani als Bezeichnung fiir alle Angehorigen des Gesamtvolkes. Es ist also in der Tat die Gesamtbezeichnung Germani als von der Bezeichnung des solum patrium, d. h. von Germania abgeleitet gedacht, nicht aber von ihrem blutsmabigen Stammvater, der in dem Fall ein 1 Vgl. Th. Mommsen, Die Conscriptionsordnung der rom. Kaiserzeit, Ges. Schr. VI (1910) 45 f. 2 Woher die Benennung Germani fur die ersten in Gallien Eindringenden kam, wird nicht gesagt. (

19

)

3*

Konrad Kraft

40

Germus, Germanus oder Ger gewesen sein mfiBte. Damit ist aber die Ubereinstimmung des Gebrauchs von gens und natio im Cap. 2 der Germania mit jener Definition des Charisius ohne Schwierigkeiten gegeben. Man ist nicht mehr genotigt, den ersten Satz des Berichtes fiber die Behauptung der quidam gewaltsam fern zu halten, sondern hat jetzt die schon aus der Ivonstruktion des Textes zu fordernde, nicht nur formal, sondern auch inhaltlich antithetische Parallelitat von gentis appellationes und nationis nomen non gentis. Es besteht Veranlassung, in dem Zusammenhang nochmals ausdrficklich zu betonen, daB der Text lautet Germaniae vocabulum recens et nuper additum (esse), daB also von einer geographischen Bezeichnung die Rede ist, weshalb auch als Objekt, dem dieses vocabulum Germaniae gegeben wurde, billigerweise nur ein geographischer Raum gedacht werden kann1. Diese einfach aus dem vorhandenen Text sich ergebende Aussage wird vielfach recht willktirlich im Sinne verdreht. Germaniae vocabulum soil hier, so sagt man, nicht als geographische Raumbezeichnung, sondern in anderem Sinn verwendet sein. So schreibt Norden: ,,Obwohl der Schriftsteller Germaniae vocabulum sagt, um durch die Wahl des Landesnamens die Gesamtheitsvorstellung unmifiverstandlich zum Ausdruck zu bringen.. .

R. Much bestatigt: ,,Sehr geschickt

bedient sich also Tac. hier dieser Wortbildung (namlich Germania), um auszudrficken, daB es sich ihm um den Namen des ganzen Sprach- und Volkerzweiges handle”2. Man kann diese in der Ursache und Absicht jetzt wohl ziemlich klar zu durchschauende Uminterpretation nicht als zulassig anerkennen. Es ist nach dem Wortlaut des Textes eindeutig von dem geographischen Begriff Germania die Rede, und was Germania als geographische Raumbezeichnung, d. h. auf einer geographischen Karte meint, ist ebenfalls eindeutig aus Cap. 1 der Schrift zu entnehmen. Die Trennungslinie gegenfiber Gallia (als geographischer Ivartenbegriff) ist der Rhein, was natfirlich nicht ausschlieBt, daB Germani im Verlauf von Wanderungen auch auBerhalb des geographischen Raums Germania sitzen konnen. 1 Eine interessante Parallele zum Gebrauch von. vocabulum fur eine geogra¬ phische Raumbezeichnung bei Ammian 23,6,15: Assyria

...

quae per populos

pagosque amplos diffusa et copiosa, ad unum concessit vocabulum et nunc omnis adpellatur Assyria. 2 Norden,

Urgesch. 352; ebenso

1929, 323 und 328; jahresbll. 20,

1955,

Much,

H. Drexler,

Kommentar 60.

-

Bursians. Jahresber. 224 (Suppl.)

W.

Steinhauser,

Rhein. Viertel-

13 leiert diese Verdrehung des einfachen Textes als

den

entscheidenden seit Norden erreichten Fortschritt: „weil man in alterer Zeit nicht erfafit hat, daB Tacitus mit dem vocabulum, d. h. mit der Wortbildung Germania, die er vom Stammesnamen Germani unterscheidet, die Gesamtheit des Germanentums meint “. (

20

)

Zur Entstehung des Namens ‘Germania’

41

Die Belegung des geographischen Raums rechts des Rheins mit dem Namen Germania impliziert, wie gesagt, zwangslaufig, dad als Konsequenz die dort Wohnenden als Germani bezeichnet wurden. Es konnte anf der Karte in diesem Sinne auch das Wort Germani statt Germania stehen. Die Verwendung von Volksnamen in diesem geographischen Sinne, also Germani statt Germania, Baeti statt Baetia, Pannonii statt Pannonia ist im Lateinischen allgemein gelanfig und wird auch z. B. im ersten Kapitel der taciteischen Germania so gehandhabt. Von daher kann man auch verstehen, daB im ‘Namensatz’ der Vorgang des Germaniae vocabulum additum esse mit den Worten ut primum omnes . . . Germani vocarentur, erlautert werden kann, weil eben durch die Schopfung der geographischen Raumbezeichnung Germania sofort und schlagartig alle in diesem Raum wohnenden bzw. auch die von daher kommenden Leute Germani genannt wurden bzw. genannt werden konnten, wahrend die Ubernahme der gleichen Bezeichnung Germani durch die Betroffenen selbst sich eher als allmahlicher AusweitungsprozeB darstellen muBte. Xur so erklart sich sinnvoll, daB das paulatim evaluisse als erste Stufe ein omnes primum aufweist. Dieses omnes primum bleibt praktisch vollig unberiicksichtigt, wenn man, wie derzeit allgemein tiblich, als Sinn des ganzen Passus lediglich die Ausweitung einer urspriinglichen Stammesbezeichnung zum Volksnamen annimmt. Es bleibt auch bei einem solchen, im iibrigen nicht spekulativ konstruierten, sondern aus dem vorhandenen Text sich schon rein philologisch ergebenden Ablauf, cl. h. mit der Zwischenschaltung der geogra¬ phischen Raumbezeichnung Germania, naturlich bestehen, claB der erste Ausgangspunkt fur den neuen Namen die Bezeichnung der ersten in Gallien Eindringenden war: quoniam qui primi Bhenum transgressi Gallos expulerint ac nunc Tungri, tunc Germani vocati sint. Die weitere Frage ist, ob diese Angreifer den Namen Germani als einen bereits seit langerem existierenden Stammesnamen liber den Strom mitgebracht hatten oder ihn erst nach Uberschreiten des Rheins erhielten. Naturlich ist langst beides in der Forschung vertreten worden. In neuerer Zeit iiberwiegt die Annahme, daB ein alter Stammesname mitgebracht wurde. Gewichtiger Wortflihrer dieser Ansicht ist wieder Nobden. Die Beweisfuhrung steht indes nicht gerade auf festem Grund. Norden stellt zunachst ganz richtig zu der Form vocati sint fest, claB das Tempus an sich zwei Auffassungen zulasse, namlich, daB ,,entweder die Angreifer beim Uberschreiten des Rheins bereits Germani hieBen oder aber erst hinterher so genannt wurden". Dann wird aber trotz dieser, rein sprachlich gesehen, vollig offenen Situation zugunsten der ersten Moglichkeit (Mitbringen des Namens iiber den Rhein) entschieden, mit der Begriindung: ,,Wenn Tacitus zum Ausdruck hatte bringen ( 21

)

Konrad Kraft

42

wollen, daB die Volkerschaft diesen Namen erst in Gallien bekommen hatte, so wiirde er aller Wahrscheinlichkeit nach den Satz so geformt haben, daB auch in dessen erstem Teil vocarentur hatte gesagt werden konnen, wie am SchluB seines zweiten Teils evaluisse paulatim, ut . . . vocarentur durch dieses Tempus die Zeitstufe des Eintritts in die Vergangenheit unzweideutig bezeichnet wird“h Im iibrigen wird dann das „aller Wahrscheinlichkeit nach“ nnversehens zur GewiBheit. Man konnte mit genau so geringer Beweiskraft behaupten, daB Tacitus - um bei der Formulierung

Nordens zu

bleiben -, wenn er hatte ausdriicken

wollen, daB der Name schon liber den Rhein mitgebracht wurde, den Satz so geformt hatte, daB vocati essent hatte gesagt werden konnen. Mit derlei Uberlegungen laBt sich allenfalls Stimmung flir die eine oder andere Auffassung machen, aber kein tatsachlich philologisch begriindeter Beweis fiihren. Die im Text verwendeten Tempora sind namlich primar durch die einfachen Gesetze der lateinischen Consecutio Temporum bedingt. Das regierende Verbum des iibergeordneten Satzes steht im Praesens (affir¬ mant). Dies bedingt in der davon abhangigen indirekten Rede bei Vorzeitigkeit den Konjunktiv Perfekt vocati sint und ebenso expulerint, und in dem von dem Infinitiv Perfekt evaluisse abhangigen Konsekutivsatz muB zwangslaufig bei Gleichzeitigkeit der Konjunktiv Imperfekt stehen. Die Unklarheit lieBe sich auBerdem, noch dazu angesichts der auch flir Tacitus geltenden Gesetze der Consecutio Temporum, durch die Wahl eines anderen Tempus allein gar nicht beheben, sie liegt nam¬ lich im Wort vocari selbst, das in jedem Fall zwei Bedeutungen hat: (a) ‘neu genannt werden’, und (b) ‘genannt werden, weil man schon seit langem so heiBt’. Was jeweils richtig ist, kann man nur aus dem Sinn des ganzen Textzusammenhangs erschlieBen. Flir diesen Sinn stehen hier aber gerade zwei Deutungen (alter liber den Rhein mitgebrachter Name oder neue Bezeichnung nach Uberschreiten des Rheins) zur Diskussion. Man kann nicht ohne anderweitige Absicherung eine dieser verschiedenen Deutungen wahlen und damit dann die strittige Bedeutung des vocati sint an dieser Stelle entsc.heiden, und damit dann wieder - nun scheinbar durch gute philologische Grlinde - jene Deutung ‘beweisen’. Soweit Elemente der Sprache bzw. der Satzkonstruktion als Argumente tatsachlich mit Berechtigung benutzt werden konnen, bleibt als Ergebnis nur das, was Norden selbst zunachst feststellte, daB namlich das vocati sint sowohl ,,neu genannt werden “ wie auch ,,schon 1 anger so heiBen“ bedeuten kann. Dabei ist im zweiten Fall noch ein weiterer 1 Norden, Urgesch. 389 f. (

22

)

Zur Entstehung des Namens ‘Germania’

4.3

Punkt offen. ,,Schon langer so heiBen“ beinhaltet nur eine grundsatzliche Prioritat, namlich. daB die Benennung Germani fiir die Eindringlinge friiher erfolgte als die daraus abgeleitete Bildung Germania. Ob Germani aber schon von den Eindringlingen fiber den Rhein mitgebracht wnrde oder beim bzw. nach Uberschreiten des Stromes aufkam - auch dies immer noch vor der weiteren Bildung des Namens Germania bleibt trotz Anerkennung der grundsatzlichen Prioritat von Germani als Bezeichnung der Eindringlinge ungewiB. Aus der Form vocati sint laBt sich also nicht, wie man falschlich behauptet, erweisen, daB die Ein¬ dringlinge den Namen Germani als einen schon langst bei ihnen vorhandenen Stammesnamen mitgebracht hatten. Der Zeitpunkt der Entstehung des Namens Germani als Bezeichnung fiir die Eindringlinge bleibt vielmehr nach dem Wortlaut des Textes vollig olfen, lediglich die Prio¬ ritat von Germani als Bezeichnung der Eindringlinge vor Germania ist klar. Entscheidend fiir die Frage des Zeitpunkts der ersten Anwendung des Namens Germani auf die ersten Eindringlinge ist unter diesen Umstanden, daB bei der Annahme des Mitbringens eines schon lange vorhandenen Stammesnamens fiber den Rhein eine ganze Reihe von Merkwiirdigkeiten und Widerspriichlichkeiten in Kauf genommen werden miiBte. Die Ausdehnung des Namens eines Stammes auf eine ganze Volksgruppe, zu der jener Stamm gehort, ist vielfach festzustellen, und man hat fiir den ‘Namensatz’ der Germania solche Beispiele (Grai - Graeci; les Allemands; usw.) auch immer als Parallelen berufen1. Indes lagen gegenuber jenen Vergleichsbeispielen in unserem Fall, auch abgesehen von der Zwischenschaltung des geographischen Namens Germania, sonderbare Abweichungen vor. Es ware namlich nicht nur ein Stammesname auf das ganze Volk als Gesamtvolksname ubertragen worden, sondern der Stamm hatte dabei seinen alten Namen verloren und einen neuen Namen angenommen, dessen Herkunft im iibrigen unklar bliebe. Besonders merkwiirdig ist dabei, daB der Stamm auf seinen alten Namen verzichtet hatte, obwohl dieser Name, wie aus dem GermaniaText auf alle Falle sicher zu entnehmen ist, eine besonders furchterregende Wirkung erlangt hatte. Uberraschend und ohne passendes Vergleichsstiick ware ferner, daB der Name eines Teilstammes, der als solcher ja auch rechts des Rheins allgemein bekannt gewesen sein miiBte, bereitwillig als Gesamtbezeichnung von alien anderen Stammen iibernommen wurde. SchlieBlich beriihrt zumindest merkwiirdig, daB der Name Germani, der doch, wie man bislang allgemein annimmt, ein alter Stammesname gewesen ware, mit invento nomine Germani bezeichnet 1 Z. B. Norden, Urgesch. 406-409. ( 23 )

44

Konrad Kraft

wird. Man konnte zwar vielleicht vermuten, daB mit dem invento anf den Akt der Ubertragung eines vorher an anderer Stelle existierenden Stammesnamen angespielt wiirde, aber man kann schwerlich sagen, daB ein solcher Vorgang mit invento nomine sehr treffend gekennzeichnet wiirde; es hatten sich fiir die Charakterisierung der Namensiibertragung oder Namensausdehnung leicht andere Formulierungen finden lassen, und vor allem ist diese Seite des Vorgangs ja bereits durch andere Worte ausreichend zum Ausdruck gebracht. Invento bezieht sich in dem Zusammenhang in der Tat nur auf den dabei verwendeten Namen selbst, der eben schwerlich mit inventum nomen bezeichnet werden konnte, wenn es ein alter Stammesname gewesen ware. Die eben aufgezahlten Merkwiirdigkeiten und Widersprliche beruhen evidentermaBen auf der bloBen Annahme, daB Germani schon ein alter, iiber den Rhein mitgebrachter Stammesname gewesen sei. Dies geht aber, wie dargelegt, nicht zwingend so aus dem Text quoniam qui primi Rhenum transgressi Gallos expulerint ac nunc Tungri, tunc Germani vocati sint hervor, vielmehr ist auch eine andere Auffassung moglich. Wenn aber dann, mit dieser anderen, ebenso moglichen Interpretation die vorher dargelegten Widersprliche und Merkwiirdigkeiten vermieden werden, so muB dieser Erklarung billigerweise ein hoherer Grad von Wahrscheinlichkeit zuerkannt werden. Diese andere Erklarung des Textes ware etwa folgendermaBen zu formulieren: Germani war nicht ein iiber den Rhein mitgebrachter alter Stammesname, sondern wurde zunachst als Bezeichnung fiir die Eindringlinge angewendet, wobei diese weniger als bestimmter Stamm, sondern eben als die gefahrlichen Angreifer gekennzeichnet wurden. Ob diese Scharen tatsachlich nur ein einziger bestimmter Stamm waren oder sich aus mehreren Stammen zusammensetzten, ist dabei letzten Endes fiir die Anwendung der Bezeichnung Germani unerheblich. Der Text quoniam qui primi Rhenum transgressi Gallos expulerint ac nunc Tungri, tunc Germani vocati sint laBt eine solche Auffassung ohne Zweifel zu. Das Tempus vocati sint schlieBt, wie dargelegt, diese Interpre¬ tation keineswegs aus. In der Tat ist ja auch schon vielfach von Philologen die Namengebung erst nach dem Rheiniibergang aus dem Text entnommen worden. In unserer Interpretation liegt demgegeniiber nur noch eine kleine zusatzliche Variante, insoweit fiir moglich gehalten wird, daB diese ersten Eindringlinge nicht nur einem einzigen Stamm angehorten. Bei dieser Namengebung fiir die ersten Eindringlinge - sei es nun, daB sie nur einem einzigen Stamm angehorten oder aus mehreren Stam¬ men kamen — ware als besonders wahrscheinlich zu vermuten, daB diese neue Bezeichnung an Eigenheiten ankniipfte, welche die Eindrin(

24

)

Zur Entstehung des Namens ‘Germania’

45

genden als furchtbare Feinde charakterisierten, etwa an bestimmte Waffen- oder Bekleidungsstlicke, ihr Kriegsgeschrei, oder an Kampfesweisen nnd dergleichen1. Dies konnte man tatsachlich ein inventum nomen lieiBen. Unter diesen Umstanden wiirde auch leicht verstandlich, dab der an sich schon vorhandene Stammesname Tungri zunachst nicht oder kaum in Erscheinung trat, sondern von der die Angreifer, und wahrscheinlich nicht nur die aus dem Stamm der Tungri, charakterisierenden Bezeichnung Germani iiberdeckt wurde, und erst spater, als man die hinter jenen Angreifern steckenden einzelnen Stamme genauer zu differenzieren lernte, bei den AuBenstehenden zum Vorschein kam. Ferner hatte nicht die gesamte noch rechts des Rheins sitzende Volksgruppe in befremdlicher Weise einen schon lange bekannten Namen eines einzelnen ganz bestimmten Stammes iibernommen, sondern eine neu aufgekommene, die Furchtbarkeit der Angreifer charakterisierende Bezeichnung. So wiirde auch viel besser verstandlich, daB das Motiv der Furcht oder Besorgnis (ob metum) bei der Ausdehnung dieser Bezeich¬ nung eine Rolle spielen konnte. Dazu kommt noch folgendes. Ftir unsere Interpretation brauchen wir uns nicht einmal darauf zu versteifen, daB vocati sint auch bedeuten kann ‘neu genannt werden’. Es kann jederzeit angenommen werden, ja muB eigentlich angenommen werden, daB hier ausgedriickt wird, daB die Bezeichnung Germani fur die Eindringlinge schon friiher existierte als die geographische Bezeichnung Germania. Das, worauf es in dem Zusammenhang ankommt, ist ja auch nur, zu sagen, woher der Name Germania abgeleitet wurde, und daB die damals (tunc), d. h. bei der Schopfung des Begriffs Germania schon existierende Bezeichnung Germani fiir die qui jwimi Rhenum transgressi gebraucht wurde. Die Aussage, daB diese zu diesem Zeitpunkt schon Germani hieBen, impliziert aber nur, daB diese Bezeichnung fiir die in Gallien Eindringenden etwas friiher, wenn man will, auch schon 10 oder 20 Jahre friiher, aufgekommen sein muB, aber diese Prioritat beinhaltet nicht, daB dies schon ein uralter iiber den Rhein mitgebrachter Stammesname gewesen sein muB. Es geht auch nicht an zu sagen, daB an unserer Stelle, wenn Germani nicht ein uralter iiber den Strom mitgebrachter Stammesname ware, hatte gesagt werden miissen, wie diese mit Germani bezeichneten Angreifer friiher hieBen2, denn dies hat fiir die hier zur Debatte stehende Frage, wieso man auf den geographischen Namen Germania verfiel, gar keine 1 Nach Festus, ed. Lindsay, p. 37 scheint auch der Name der Kimbern auf solche Weise entstanden zu sein, bzw. - worauf es hier ankommt - eine solche Entstehung fur mdglich gehalten worden zu sein: Gimbri lingua Gallioa latrones clicuntur.

2

Much, Anzeiger d. Ak. Wiss. Wien, Phil.-hist. Kl. 65, 1928, 281.

( 25 )

4

46

Konrad Kraft

Bedeutung. Auf keinen Fall ist es moglich, den Eindruck zu erwecken, dafi in dem Tempus von vocati sint ein philologisches Beweismittel vorlage, das sicherstelle, daB die Bezeichnung Germani schon ein lange vor dem Vordringen iiber den Rhein vorhandener Stammesname gewesen sei. In dem Zusammenhang darf auBerdem daran erinnert werden, daB, wie friiher schon ausfuhrlich begriindet, aus dem Ausdruck nationis nomen nicht geschlossen werden kann, daB der Name Germani zunachst eine Bezeichnung fiir einen ganz bestimmten Einzelstamm gewesen sein miisse, geschweige denn, daB dies ein schon alter, iiber den Rhein mitgebrachter Name war. Um keine MiBverstandnisse aufkommen zu lassen, muB noch Folgendes ausdriicklich betont werden. Es handelt sich hier um Zeit und Raum der Anwendung der Bezeichnung Germani fiir die ersten iiber den Rhein vorstoBenden Angreifer, bzw. allenfalls um den Zeitpunkt, in welchem dann aus jener Bezeichnung Germani der geographische Name Germania abgeleitet wurde. Der zeitliche Zusammenhang des Aufkommens der Bezeichnung Germani fiir die Eindringlinge mit deren VorstoB iiber den Rhein schlieBt natiirlich nicht aus, daB das Wort Germanus bzw. Germani als solches schon in anderer Verwendung existierte, und auch von Haus aus gar kein Stammes- oder Yolksname war. Germani kann daher sehr wohl schon friiher an anderer Stelle (ahnlich wie etwa Gaesati) zur Kennzeichnung von furchtbaren Kampfern, oder zur Charakterisierung von Leuten mit bestimmten Bewaffnungen, Bekleidungen, Kampfesweisen und so auch fiir bestimmte Stamme angewendet worden sein. Die Tatsache, daB die iiber den Rhein kommenden Angreifer Germani genannt wurden, schlieBt also nicht aus, daB etwa schon vie! friiher die Oretani als Germani bezeichnet wurden1, oder daB eine Gruppe von Galliern als Galli Germani in den Triumphalfasten von 222 v. Chr. erscheinen konnten2.

1 Plin. n. h. 3,25: Oretani qui et Germani cognominantur. Selbst wenn das hohe Alter des Beinamens Germani fur die Oretani im Sinne von Norden, Urgesch. 391 als gesichert angenommen wiirde, so beweist dies eben nur das hohe Alter des Namens bzw. Wortes, aber nicht, daB dieser gleiche Name damals bereits auch einem rechts des Rheins sitzenden Stamm eignete. 2 A. Degrassi, Inscr. Italiae XIII 1, p. 78—79: de Galleis Insubribus et Germ\an(eis) ]; dazu die Literaturhinweise a. O. p. 550. Vgl. auch die letzte ausfiihrlichere Behandlung von H. Schmeja, Der Mythos von den Alpengermanen (1968), 42-52. Allgemein wird bekanntlich die Ansicht vertreten, daB hier Germaneis fiir Gaisateis bei der Erneuerung der Triumphalfasten im Jahre 12 n. Chr. eingesetzt wurde, weil zur Zeit der Fastenredaktion die Germanen als besonders furchtbarer Feind erschienen. Mit dieser Auskunft konnten wir uns an sich bei unserer Losung auch zufrieden geben. Einen plausiblen Grund, warum dann nur an dieser Stelle und bei keinem einzigen anderen Triumph der friiheren Zeit die Germanen in (

26

)

Zur Entstehung des Namens ‘Germania’

47

Uber die bisher entwickelte Ubersetzung und Interpretation des Textes von Tacitus’ Germania 2 hinaus in die Debatte um die sprachliche Zuweisung und die etymologische Erklarung des Namens Germani einzutreten, wird hier mit Absicht und aus guten Griinden vermieden. Es mag aber immerhin so viel bemerkt sein: Wenn die hier voreetrao gene Erklarung des ‘Namensatzes’ richtig ist, oder wenigstens schliissiger ist als die bislang vorliegenden lnterpretationen, und wenn - was natlirlich fiir jede andere Interpretation in gleicher Weise gilt - die von Tacitus berichtete Ansicht der quidam iiberhaupt Wahrheitsgehalt hat, so kann der Name Germani schwerlich germanisch sein. Vielmehr miiBte angenommen werden, daB das Wort Germani als solches im Sprachschatz der Gallier lebendig und in seinem zur Kennzeichnung furchtbarer Angreifer geeigneten Inhalt allgemein verstandlich gewesen sein muB. Ein Wort, das etwa ‘Anwohner von warmen Quellen’ bedeutete, war daftir kaum geeignet.

II Es bleibt noch eine Stelle des Germania-Textes zu besprechen, die bisher bewuBt ausgeklammert blieb, namlich die beiden Worte a victore. An sich bestiinde nattirlich die Moglichkeit, diese beiden Worte a victore mit einer Crux zu versehen und damit als eine nicht zu behebende Textverderbnis hinzunehmen, und so die Abhandlung an dieser Stelle zu beenden. Dazu ware allenfalls zur Sicherheit festzustellen, daB die beiden Worte a victore nicht etwa durch unsere Erklarungen des ubrigen Textes problematisch werden, sondern ganz unabhangig davon schon immer sind. Es ist also auch nicht so, daB eine Ablehnung des nachfolgend gemachten Vorschlags gleichzeitig die im Abschnitt I vorgetragene Beweisfuhrung beeintrachtigen oder aufheben konnte. Es hat sich jedoch aus der neuen Erklarung des ubrigen Textes gewisserinaBen zwangslaufig eine bisher nicht in Erwagung gezogene die Fasten eingeschwarzt wurden, kann man allerdings kaum angeben. Im ubrigen waren fiir die Romer die gefahrlichen Feinde des 3. Jh. v. Chr. auch noch zu Augustus’ Zeit die Gallier. Genauso wie die Oretani konnen andere Kelten mit dem Beinamen Germani belegt und damit in einer bestimmten Eigenart gekennzeichnet gewesen sein. DaB diese Germani der Triumphalfasten mit den Gaesati bei Polyb. 2,22 und Oros. 4,13,5 identisch sind, scheint ziemlich sicher. Es besteht aber kein Zwang anzunehmen, daB ein urspriinglich in den Fasti stehendes Gaisateis durch Germaneis ersetzt wurde; man konnte genauso gut umgekehrt unterstellen, daB in den Fasti von Anfang an Germaneis stand und erst spater in der Literatur fiir den gleichen Triumph die damals (spatestens seit Polybios) sich allgemeiner durchsetzende Benennung Gaesati eingesetzt wurde. (

27

)

4*

Konrad Kb aft

48

Konjektur ergeben, die ebenfalls zur Diskussion zu stellen, wohl zweckmafiig ist und eigentlich nicht vermieden werden kann. Die Auffassungen der beiden Worte a victore trennen sich seit langem in zwei Richtungen, namlich1: ut omnes primum . . . ob metwn . . . Germani vocarentur: (I)

a victore = vom Sieger (um Furcht zu erregen)2;

(II) a victore = nach dem Sieger (aus Furcht)3. Dazu stellte sich, wie in derlei Fallen fast unvermeidlich, schlieBlich auch der vermittelnde Versuch ein, durch die Unterstellung einer Doppelbedeutung a victore = ‘vom Sieger und nach dem Sieger’ die Schwierigkeit mehr hinwegzumanipulieren als zu beheben4. Ernstlich zur Debatte kann nur die klare Alternative a = utto oder a — arco stehen. Die Einwande gegen jede der beiden Losungen sind zum groBen Teil langst formuliert: (A) Im Aufbau des Satzes entsprechen sich a victore und a se ipsis. Da im letztgenannten Fall a se ipsis die Bedeutung ‘von sich selbst’, also a = utco zweifelsfrei ist, ergibt sich angesichts der Parallelitat in der Satzkonstruktion auch fiir die Proposition a bei a victore die Bedeu¬ tung a =

utto,

also ‘vom Sieger’. Es besteht kein Zweifel, daB jeder

Philologe dies als eine aus der Satzkonstruktion sich ergebende Folgerung zunachst akzeptieren mtiBte und auch akzeptieren wiirde. Die dann aber bei vielen eintretende Ablehnung resultiert nicht aus den philologischen Tatbestanden der Wortformen und der Satzkonstruktion, sondern daraus, daB a victore ob metum, cl. h. ‘vom Sieger aus Furcht’ die Namengebung bzw. die Ausweitung des Namens vorgenommen worden ware. Dieses aber ist ein Widerspruch in sich selbst, da dem Sieger sinnvoller Weise das Motiv der Furcht nicht zugeschrieben werden kann. Man hat daher versucht, diesen Widerspruch durch Umdeutung des ob metum zu vermeiden. Obwohl Tacitus an acht anderen Stellen seines Werkes die Formel ob metum gebraucht, und zwar immer in kausaler

1 Es ist kaum notwendig und sinnvoll, die Vielzahl der AuBerungen zu dieser Stelle vollstandig aufzufuhren. 2 Z. B.

F. Knokb, Bemerkungen zum

Sprachgebrauch des Tacitus

(1925),

33 ff.; ders. Mannus 17. 1925, 336—343; L. Schmidt, Philol. Wochenschrift 47. 1927, 60. 3 Z. B. Noeden, Urgesch. 323-327. 345; K. Buchner, Tacitus, Die histor. Versuche (Kroner 225, 1955), 150.301 Anm. 30; H. Fuchs, Mus. Helv. 4. 1947, 152 Anm. 12. 4 Z. B. W. Hartke, Klio 37, 1959, 187-193. (

28

)

Zur Entstehung des Namens ‘Germania’

49

Bedeutung 'ans Furcht1, soli an unserer Stelle ausnahmsweise ob metum nicht dies bedeuten, sondern ‘um Furcht zu erregen’. Das Gekiinstelte dieses Auswegs einer gewissermaBen psychologischen Kriegfiihrung, die auch ganz andere Propagandamittel voraussetzte als sie damals vorhanden waren, ist offenkundig, wird aber in der Akrobatik durch andere Vorschlage noch tiberboten, wie etwa dem, dafi tatsachlich vom Sieger ‘aus Furcht’ die Ausdehnung des eigenen Namens vorgenommen worden ware, d. h. die ersten Eindringlinge hatten groBe Gegenaktionen der Gallier befiirchtet, wofur es nicht die geringsten Anhaltspunkte gibt, und um diese zu verhindern, hatten die ersten Eindringlinge mit der ausgedehnteren Namensgebung Germani wirkungsvoll ausdrticken wollen, daB zu ihrer Unterstiitzung noch rechts des Rheins ungeheure Scharen von

Stammesbrudern bereitstiinden2.

Man hat sogar die so oft, als

Deus ex machina bewahrte Ironie des Tacitus bemuht, und gesagt, der victor waren die Romer und diese hatten ‘aus Furcht’ gehandelt, ein Musterbeispiel also des taciteischen ‘Sarkasmus’3. (B) Wahrend die unter (A) angefiihrten Erklarungen, die aus der Parallelitat in der Satzkonstruktion sich ergebende Bedeutung a victore — ‘vom Sieger’ festhalten, geben andere dies preis und erklaren, daB die Benennung ‘nach dem Sieger’ erfolgte, womit zwar dann das ob metum (= ‘aus Furcht’) besser korrespondiert, der Zwang der Paral¬ lelitat der Satzkonstruktion aber zu wenig beachtet wird. (C) Die dritte Erklarung halt an der aus der Satzkonstruktion sich ergebenden Parallelitat der Praspositionen a an beiden Stellen und an der bei Tacitus sonst feststellbaren Bedeutung von ob metmn = ‘aus Furcht’ fest, und nimmt eine Textverderbnis bei dem Wort victore an, die durch Konjektur zu beheben ware. Dazu hat man vorgeschlagen4: (1) a victo, reor ~ ‘vom Besiegten, glaube ich’5. Das hieBe, die besiegten Gallier hatten aus Furcht die Benennung vorgenommen. Diese Aussage ware zwar von dem Widerspruch zwischen Sieger und Furchtmotiv frei, jedoch muB man zwei Buchstaben (or) einschieben, und vor ‘Tac. Ann. 1,1; 1,68; 3,40; 5,6; 12,51; 15,73; Hist.2,49; 2,65. Vgl. E. Kalinka, Anzeiger Akad. Wiss. Wien 65, 1928, 24: ,,aber finale Bedeutung von ob

ist iiberhaupt viel seltener als kausale (bei Tacitus 12:149)“. 2

jj. Heubner, Gymnasium 69, 1962, 428. Die Interpretation ist im ubrigen

nicht neu vgl. z. B. K. Mullenhoff, Dt. Altertumskunde IV (1900) 130 f. 3 F. Focke in Satura, O. Weinreich zum 13. Marz 1951 (1952), 31-42. 4 Schon Jakob Grimm, Gesch. d. deutsch. Sprache 786, hatte a victo vorge¬ schlagen. Dazu mu6 man die beiden Buchstaben re tilgen. Der Haupteinwand ergibt sich aber nicht daraus, sondern aus dem Singular; vgl. dazu weiter unten.

6

O. Hirschfeld, Kl. Schriften (1913) 357 f. (

29

)

Konrad Kraft

50

allem setzt Tacitus sonst, wo er reri einschiebt, immer ein ut (wie) dazu; z. B. non ex magnitudine sceleris provectus, ut rebatur (Ann. 15, 51; vgl. 14, 14). Ferner ist die ganze Germania - Passage ein Bericht liber die Meinung anderer Leute und von quidam affirmant abhangig. Darin ware der personliche Einschub ‘glaube ich’ zumindest ganz ungewohnlich. (2) a victo, re m ‘vom Besiegten, tatsachlich’1. Der Vorschlag kommt zwar ohne Anderung des Buchstabenbestandes aus, ist aber kaum mehr als ein Kuriosum. Was an dieser Stelle ein eingeschobenes re soil, ist unerfindlich, und irn librigen ist die iibliche Formel fiir ein ‘tatsachlich’ nicht re, sondern vero oder vere oder alienfalls re vera; wie denn auch re in jener Bedeutung ‘tatsachlich’ sonst nirgends in dem umfanglichen Werk des Tacitus vorkommt. Die einzige Stelle, die man allenfalls heranziehen konnte: speciosa verbis, re inania aut subdola (Ann. 1, 81) stellt sich bei naherem Zusehen rasch als nicht vergleichbar heraus: ,,den Worten nach ansehnlich, dem tatsachlichen Gehalt nach aber leer und triigerisch“. (3) a viciniore



‘vom (mehr) Benachbarten’2.

Bei dieser Konjektur muB gegeniiber dem tiberlieferten Text ein Buchstabe geandert werden (t in i), und es miissen zwei weitere Buchstaben (ni) zusatzlich eingeschoben werden. Daneben stort der Komparativ des mehr Benachbartseins erheblich, zumal nicht ersichtlich ist, warum hier ein Unterschied gegeniiber weniger nahe Benachbarten, die zudem im Text nicht genannt sind, konstatiert werden sollte. Tacitus hat auch sonst in seinen Schriften die Komparativform vicinior nicht, sondern immer vicinus, wie z. B. Germ. 33: pulsis Bructeris ac penitus excisis vicinarum consensu nationum. Der substantivische Gebrauch von vicinus ist im librigen bei Tacitus praktisch auf die Bezeichnung des Grundstiicksnachbarn beschrankt, wahrend flir benachbarte Volker regelmaBig civitates und clergleichen hinzugefiigt wird. Zusammenfassend kann als Bilanz der verschiedenen Bemlihungen um die Worte a victore konstatiert werden: (A) a victore = ‘vom Sieger’ wird zwar hinsichtlich der Praeposition a durch die Wahrung der Parallelitat mit a se ipsis starkstens gestiitzt, hat aber den schwerwiegenden Widerspruch zu ob metum. (B) a victore

=

‘nach dem Sieger’ beseitigt zwar den Widerspruch

zwischen Sieger und Furchtmotiv, hat aber den Satzaufbau gegen sich. Dies nimmt man in der Regel als das leichtere Hindernis hin, zumal ein Wechsel in der Bedeutung der Proposition trotz paralleler Satz-

1 J. Schmidt, Beitrage zur Namenforschung 5, 1954, 269—271. 2R. Meissner, Rhem. Mus. 88, 1939, 379-384; E. Bickel, Rhein. Mus. 1939, 384 halt die Konjektur von Meissner fiir wahrscheinlich. (

30

)

Zur Entstehung des Namens ‘Germania’

konstruktion gelegentlich vorkommt1.

Daher uberwiegt seit

51

Norden

diese Auffassung in der Forschung. Es muB indes darauf aufmerksam gemacht werden, daB es sich nicht nur uni die Frage von Parallelitat oder Nicht-Parallelitat der Praposition a in a victore bzw. a se ipsis handelt. Vielmehr ist auch folgendes zn beachten. Wenn a victore

=

‘nach

dem Sieger’ heiBen sollte, dann miiBte ohne Zweifel gelten, daB Benennung ‘nach dem Sieger' nicht nur das erste Mai (primum), sondern auch das zweite Mai (mox) vorliegt, was durch das Wort etiam noch unterstrichen wiirde. Auf ein a victore

=

‘nach dem Sieger’ sind deshalb

die Zeitstufen primum- - mox nicht sinnvoll als unterschiedliche Phasen anzuwenden. Auch die den Namen Empfangenden sind bei primum unci mox die gleichen, namlich alle (omnes).

Norden

schreibt zwar: „Es

entsprechen sich zunachst primum und mox. In welchem Gedankenverhaltnis nun auch die beiden parallelen Satzglieder stehen mogen, so viel ist sicher, daB zum Ausdruck gebracht sein muB: ein anfanglich begrenzter Name habe bald weitere Geltung erlangt“2. Diese Behauptung steht aber eindeutig in Widerspruch zum Text, der klar von omnes primum spricht. Die Unterscheiclung von dem, was zuerst (primum) und spater

(mox)

bei der Anwendung des neuen Namens geschah, ist

daher nur sinnvoll hinsichtlich der Leute, die diesen Namen anwendeten. Der den Namen Anwendende ware aber - Avenn man a victore



‘nach

dem Sieger’ annimmt - unverstandlicherweise nur beim zweiten Mai mit a se ipsis genannt, obwohl, wie gesagt, die Unterscheidung primum und m-ox die Angabe von zwei verschiedenen Personen oder Personengruppen, von denen der neue Name angewendet wurde, zwingend erfordert. Sich mit der Annahme zu behelfen, daB in a victore = ‘nach dem Sieger’ ein a victore = ‘vom Sieger’ zusatzlich mitenthalten sei, ist, von der Ktinstelei der Losung abgesehen, schon deswegen unbefriedigend, weil damit ja der Widerspruch zwischen ,,vom Sieger“ und ,,aus Furcht“ wieder akut wiirde. 1 Vgl. Nobden, Urgesch. 323-331. DaB die Praposition a bei Yerben der Benennung im Sinne von ‘benennen nach’ vorkommen kann, bestreitet natiirlich niemand; ebenso wenig ist aber abzuleugnen, daB die Praposition a bei Verben der Benennrmg viel haufiger im Sinne von ‘benannt werden von’ vorkommt. Die jeweilige Bedeutung kann nur durch den Zusammenhang ermittelt werden. Mit Noeden durch Beispiele zu belegen, daB a bei Verben der Benennung im Sinne von ,benennen nach’ vorkommt, und allein auf dieser Basis zu verfligen, daB dieser Gebrauch auch an unserer Tacitusstelle vorliegen miisse, ist unzulassig. Nach Nokden hat man sich vielfach bemiiht, Beispiele mit Wechsel der Bedeutung der gleichen Praposition a in einem geschlossenen Satzgefiige beizubringen, als ob diese im tibrigen ganz vereinzelten Falle aufheben konnten, daB auch bei Tacitus, und zwar sehr viel haufiger, in solchen Fallen Verwendung der gleichen Praposition in gleicher Bedeutung vorkommt.

2

Nokden, Urgesch. 335.

( 31 )

Konrad Kraft

52

(C) Die Konjekturen: a victo, reor - a victo, re - a viciniore wahren zwar die Parallelitat der Satzkonstruktion bzw. der gleichen Verwendung der Praeposition a. Sie beseitigen auch den Widerspruch zwischen Sieger tmd Furchtmotiv, haben aber die Gepflogenheiten des normalen lateinischen Sprachgebrauches, und zwar nicht zuletzt des Sprachgebrauch.es gerade auch des Tacitus, gegen sich. Die zwei Vorschlage, die iiberhaupt ernstlicher erwogen werden konnten: a victo, reor und a viciniore mtissen ferner beide zwei zusatzliche Buchstaben einfiigen. Gegen alle bisher aufgezahlten Losungsversuche besteht in gleicher Weise ein besonders schwerwiegender Einwand. Es sollen namlich ganz gleich, ob man a victore in den zwei Varianten ‘nach’ bzw. ‘vom Sieger’, oder a victo oder a viciniore liest, hinter diesem Singular Volker stecken, entweder die vom Einfall betroffenen ‘besiegten’ Gallier, oder die ‘siegreichen’ Eindringlinge oder gar die Romer1. GewiB kommt es vor, daB fiir die Volker das Ethnikum im Singular z. B. Cantaber oder Poenus fur das Volk der Kantabrer oder die Karthager gebraucht wird, aber in der Prosa, und vor allem bei Tacitus und dort vielfach nachprtifbar, ist ein solcher Sprachgebrauch ziemlich ungewohnlich. Wenn in der Prosa der Singular eines Volkernamens zur Bezeichnung des Volkes vorkommt, dann liegt es, soviel ich sehe, oft auch so, daB damit weniger das Volk als vielmehr eine Herrscherpersonlichkeit als Symbol des Volkes gemeint ist, so daB Parthus in dem Fall nicht eigentlich die Parther, sondern den Partherkonig meint. Dies diirfte z. B. bei Tacitus, Hist. 1, 2, 1 der Fall sein: coortae in nos Sarmatarum ac Sueborum gentes, nobilitatus cladibus mutuis Dacus. Tacitus denkt dabei sichtlich an den Dakerkonig Decebalus2. Letzten Elides kommt es freilich nicht so sehr darauf an, daB die singularische Verwendung des Ethnikums zur Bezeichnung von Volkern in der Prosa selten ist; denn an unserer Stelle handelt es sich ja nicht um ein Ethnikum, sondern um das Wort victor. Dieses Wort laBt ftir sich allein nicht erkennen, wer damit gemeint ist; dies kann hier wie anderwarts nur aus dem zugehorigen Beziehungswort in dem Gesarntgeftige des jeweiligen Textes erschlossen werden. In unserem Falle konnen als Beziehungsworte in Frage kommen die in dem Satz mit Namen genannten Germani bzw. Tungri oder die Galli (Gallos); wenn 1 DaB mit a victore Caesar gemeint sein konnte, wie auch behauptet wurde

(z. B. Th.

Steche, Deutsche Stammeskunde,

1942, 47), ist aus vielen Griinden

ausgeschlossen. 2 Bei Floras kommt der Singular zur Bezeichnung von Volkern etwas haufiger vor (z. B. 1,18,3; 1,38,9; 1,45,14). Dies hiingt aber wohl damit zusammen, daB ilorus das romische Volk in seinen Lebensaltern (Kindheit, Jugendalter usw.) gewissermaBen als eine Person behandelt. (

32

)

Zur Entstehung des Namens ‘Germania’

53

eines von diesen Volkern gemeint ware, miiBte es aber a victoribus und nicht a victore heiBen. Denkbar ware allenfalls auch eine Beziehung auf natio (bei nationis nomen); dann miiBte es a victrice heiBen. Norden

hat zum Gebrauch des Wortes victor im Lateinischen fest-

gestellt: ,,Meist ist darunter natiirlich der exemplarische victor zu verstehen“, und ferner: ,,daB die romische Terminologie auch auf andere Volker iibertragen wurde, die als Sieger ilire Grenzen durch Einbeziehung feindlichen Gebietes erweiterten"1. So weit, so gut; die Beispiele, die Norden fur diesen Inhalt von victor zitiert, zeigen aber auch cleutlich, daB dabei nicht schlechthin die Maskulin- und Singularform victor verwendet wird, sondern die eben schon erlauterte Koordination mit einem jeweils ganz in der Nahe im Text stehenden Beziehungswort eintritt. Norden

verweist z. B. auf Caesar, B. G. 1, 40, 6. Das Beziehungswort

sind in dem Zusammenhang die Germanen, und auf diese wird nicht mit dem Singular victor, sondern mit dem Plural victores angespielt. Norden

nennt ferner Caesar, B. G. 1, 44,

2;

dort soil von der von den

Sequanern durch Ariovist ,,kraft seines Rechts als victoru erzwungenen Abtretung eines Drittels des Landes die Rede sein; in Wirklichkeit heiBt es: iure belli, quod victores victis imponere consuerint. Auch das von Norden angefiihrte Germania 36: Chattis victoribus fortuna in sapientiam cessit, kann nur bekraftigen, daB an unserer Stelle bei Beziehung auf die Germani-Tungri oder auf die Galli nicht a victore, sondern a victoribus stehen miiBte. Fur die eben aufgestellte Behauptung, daB bei Beziehung auf natio die Form a victrice eintreten miiBte, sei auf Plin., n. h. 4, 39 verwiesen, wo auf Macedonia mit etiam Indiae victrix zuriickverwiesen wird. Was nun die Stellen anlangt, wo die Maskulin- und Singularform victor fiir Volker auftaucht, so ist es wiederum reichlich schief, wenn Norden

den Eindruck erweckt, als wurde das mit einem bloBen singu-

larischen victor geschehen. Vielmehr heiBt es an den von

Norden

beru-

fenen Stellen jeweils victor populus, so bei dem Feldmesser Siculus Flaccus: quibus agris victor populus occupando nomen dedit; Plin., n. h. 3,5: primum ergo de Europa altrice victor is omnium gentium populi; oder es ist populus das Beziehungswort, das mit victor in Verbindung steht und dort die Maskulin- und Singularform bedingt, wie z. B. Cicero, pro Planco 11: huius principis populi et omnium gentium domini atque victoris, oder Cicero, in Pisonem 16: populo Romano, victori omnium gentium. Durch die angefiihrten, leicht zu vermehrenden Beispiele wurde wohl geniigend deutlich, daB die ublichen Beziehungen des a victore auf die 1

Norden, Urgesch. 329.

( 33 )

54

Konbad Kraft

im Satz ausdriicklich genannten liber den Rhein vorstoBenden Eindringlinge oder auf die ebenfalls ausdriicklich genannten vom Einfall betroffenen Gallier schon in der Maskulin- und Singularform victore (bzw. auch victo oder viciniore) ein ernstliches Hindernis haben, das man nur unter Vernachlassigung des normalen lateinischen Sprachgebrauches hinweginterpretieren kann. Grundsatzlich mliBte also fiir a victore eine Erklarung der Maskulin- und Singularform gefordert werden, die mit dem libbchen Sprachgebrauch in Einklang steht. Da aber im ganzen Satz kein mogliches Beziehungswort mit Genus masculinum im Singular vorhanden ist, kann der iiberlieferte Text hier tatsachlich nicht in Ordnung sein: entweder ist bei a victore die Singular-Endung falsch, oder es ist die Singular-Endung richtig und der Anfang des Wortes falsch iiberliefert. Um eine zu erwartende Diskussion nicht auf unnotige Abwege geraten zu lassen, sei zur Sicherheit nochmals ausdriicklich Folgendes betont. Es kann sich fiir eine Gegenargumentation nicht darum handeln, durch lange Beispielreihen vielleicht zu zeigen, daB die kollektive Verwendung des Singulars von Volkernamen bzw. des Singulars anderer Worter, wie z. B. eques, hostis und dgl., auch in der Prosa haufiger vorkommt als der Verfasser meint. Es dreht sich vielmehr darum, ob auf eine im Text vorhandene pluralische Volkerbezeichnung (Germani, Tungri, Galli, Poeni usw.) mit einem singularischen victor zurlickverwiesen wird. Nur auf diesen Zusammenhang und auf solche Falle kommt es an. Selbst wenn man daflir Beispiele finden sollte, was dem Verfasser bisher nicht gelungen ist, so bliebe immer noch festzustellen, was der haufigere und clamit als normal zu bezeichnende Sprachgebrauch ist. AuBerdem ware hier a victore in kollektiver Bedeutung statt a victoribus ausgerechnet in einem Falle eingesetzt worden, wo bei dem entsprechenclen parallelen Glied a se ipsis der Plural steht. Das Fazit der Durchmusterung der bislang vorliegenden Bemiihungen um die Worte a victore ist ziemlich eindeutig. Alle Vorschlage haben so gewichtige Einwande, und zwar primar aus der philologischen Ivonstruktion und dem lateinischen Sprachgebrauch kommende Einwande, gegen sich, daB in keinem Falle von einer auch nur halbwegs befriedigenden Losung gesprochen werden kann. Da aber anzunehmen ist, daB auch in Zukunft weitere Losungen vorgeschlagen werden und liberdies hier ein neuer Vorschlag prasentiert werden soil, erscheint es zweckmaBig, die Grenzen hervorzuheben, innerhalb derer Losungen gesucht werden konnen, bzw. die Regeln anzudeuten, nach denen eine Wertung der Vorschlage erfolgen muB. Nur bei Anerkennung gleicher Grenzen und gleicher WertungsmaBstabe ist letzten Elides eine fruchtbare Diskussion liberhaupt moglich. ( 34 )

Zur Entstehung des Namens ‘Germania’

Es muB gelten, daB Losungen, die den einfachen Tatbestanden der normalen Bedeutungsinhalte der einzelnen Worte und dem normalen Gebrauch der Satzkonstruktionen widerspruchsfrei Geniige tun, bei an sich gleich plansiblen inhaltlichen Ergebnissen den Vorzug gegentiber Losungen haben miissen, die mit Doppelsinn von Worten, mit ausgefallenen Konstruktionsmoglichkeiten oder ,,Besonderheiten des Anfangsstiles" (Buchner) des Tacitus arbeiten. Die Berufung auf taciteische Hintergrundigkeit und doppelsinnige Ironie ist in unserem Fall umso weniger angebracht, als der fragliche Passus weniger eigene Formulierung des Tacitus ist, als ein wohl weitgehend wortlicher Bericht liber eine von Tacitus in seinen Quellen vorgefundene Ansicht. Ura das Gesagte am konkreten Beispiel zu erlautern: Eine im Sinngehalt plausible Losung, welche den gleichartigen Gebrauch der Praposition bei a victore und a se ipsis wahrt, muB den Vorzug gegentiber einer anderen im Sinngehalt gleichfalls plansiblen Losung haben, bei der aber an den beiden Stellen ein unterschiedlicher Gebrauch der Proposition a unterstellt werden muB. Eine im Sinn plausible Losung, die dem Singular bei a victore gerecht wird, muB den Vorzug gegentiber anderen an sich im Sinngehalt ebenfalls plausiblen Losungen haben, die aber in das a victore eine pluralische Bedeutung hineinlegen miissen. Auch fur die Frage von Text-Konjekturen ist Klarheit notwendig. Es gehort zum guten Ton, an unserer Stelle als Grundsatz zu betonen, daB an einem tiberlieferten Text nichts geandert werden dtirfe. Die, soweit ieh sehe, scharfste Formulierung in dieser Beziehung lautet: ,,Irgendwelche Anderungen im Wortbestand des Namensatzes sind nicht zu rechtfertigen. Insbesondere ist der mehrfach angetastete Ausdruck a victore durch die zahlreichen sonstigen Stellen, an denen Tacitus das von ihm geradezu bevorzugte Wort victor verwendet (vgl. Gerber-Greef, Lex. Tac. 1766 f.) hinlanglich geschiitzt1'1. Nach solchen Grundsatzen waren ja wohl alle besonders haufigen Worte wie z. B. et, in, cum tiber jeden Verdacht erhaben. Es ist doch eher umgekehrt so, daB Allerweltsworte sehr leicht beim Abschreiben ftir weniger gebrauchliche eingesetzt werden2. Als Prinzip hat die auBerste Zuriickhaltung gegentiber Text-Konjek¬ turen natiirlich gute Berechtigung, aber doch auch eine Grenze in den Moglichkeiten einer sinnvollen Losung bei volliger Wahrung des iiberlieferten Textes. Das strikte Verbot jeder Textanderung kann, soweit man nach den bisherigen, wahrhaftig vielfaltigen Bemtihungen urteilen

1 H. Fuchs, Mus. Helv. 4, 1947, 153 Anm. 12. 2 Im iibrigen kann kaum ein Zweifel bestehen, daB H. Fuchs bei der oben zitierten Bemerkung nur ein Yersehen imterlief. (

35

)

56

Konrad Kraft

kann, nur mit einer Crux vor victore enden. Nicht akzeptabel aber ist, jede Textanderung als VerstoB gegen philologische Methode abzulehnen und sich gleichzeitig alle Freiheiten fair die Umdeutung von Wortinhalten und Satzkonstruktionen bzw. fur die Unterstellung ausgefallener Wortbedeutungen und ungewohnlicher Konstruktionen zu gestatten. Diese sind in Wirklichkeit oft genug ebenfalls Text-Konjekturen mit der Nuance, daB man sie nicht wirklich in den Text schreiben will, sondern unter rein auBerlicher Aufrechterhaltung des iiberlieferten Textbildes unterzubringen sucht. Man belaBt z. B. im Text Germcmiae vocabulum, und interpretiert so, als stiinde Germanorum vocabulum da. Man wahrt im Text das uberlieferte a victore und deutet so, als ob der Text a victoribus laute. Faktisch hat man aber z. B. im letzteren Fall eine Konjektur von a victore in a victoribus vorgenommen, nur gibt man das nicht zu. Wenn man auch angesichts der bislang gemachten Vorschlage: a victo, reor oder a victo, re oder a viciniore die Abneigung gegen Textkonjekturen gerade an dieser Stelle gut verstehen kann, so ist doch die grunclsatzliche Ablehnung nicht berechtigt. Die Entscheidung kann nur von der Qualitat her getroffen werden. Eine gute, Widersprtiche des Textes losende Konjektur hat hier wie anderwarts den Vorzug gegentiber hochst problematischen Umdeutungen des gegebenen Wortlauts, bzw. der gegebenen Satzkonstruktionen. Die vorher angefiihrten Konjektur-Vorschlage waren auch nicht abzidehnen, weil sie Konjekturen sind, sondern weil ihre Ergebnisse zum normalen Sprachgebrauch, und dies gerade auch bei Tacitus, in Widerspruch stehen, und weil sie die im Singular masculinum des Wortes victore liegende Schwierigkeit nicht beheben konnen. Als grundsatzliche Forderung gegentiber Konjekturen bleibt aber natiirlich, abgesehen von dem Gebot reibungsloser Einfligung in die umgebenden anderen philologischen Tatbestande und den Sinn der Aussage, daB sie mit einem Minimum von leicht aus einem normalen Verlauf der Texfuberlieferung zu erklarenden Veranderungen auskommen sollten. Die zuletzt genannte Bedingung wird ohne Zweifel bei der Konjektur, die wir zur Diskussion stellen, erftillt. Der Vorschlag geht dahin, statt a victore zu lesen a pictore. Dabei ist nur ein einziger Buchstabe zu verandern. Dazu ist lediglich die sehr leicht denkbare Moglichkeit anzunehmen, daB ein Abschreiber bei einem von ihm vorgefundenen a pictore, das ihm weniger vertraut sein muBte, eine Verschreibung des ersten Buchstabens eines friiheren Kopisten vermutete, und daher das Wort pictor durch das gelaufigere victor ersetzte. Pictor ist allgemein der Maler und Zeichner. Die verschiedenen Arten werden gelegentlich, aber keineswegs in der Regel, durch Zusatze wie ( 36 )

Zur Entstehung des Namens ‘Germania’

57

pictor parietarius oder pictor imaginarius ausgedrtickt1. Hinter einem bloBen pictor konnen verschiedene Arten der Handwerksaustibung steckken, so natiirlich auch ein Maler, der geographische Karten malt. Es gibt fur Kartenmaler im Lateinischen keinen speziellen Ausdruck, wie es auch kaum Maler gegeben hat, die allein auf diese Art von Arbeit spezialisiert waren. Es ist aber vollig klar, dab man auch den Maler und Zeichner geographischer Karten mit pictor bezeichnete. Dies geht indirekt aus den wenigen fiberkommenen Nachrichten von Kartenbildern bzw. von deren Anfertigungen hervor; so aus Florus, prooem. 3: faciam quod solent, qui terrarum situs pingunt; Varro, de agricultura 1, 2, 1: spectantes in pariete pictam Italiam; Properz 4, 3, 37: cogor et e tabula pictos ediscere mundos; Eumenius, Paneg. lat. IX 21, 3 (Baehrens): nunc demum iuvat orbem spectare depictum; Hieronymus ep. 60, 7: qui in brevi tabella terrarum situs pingunt2. Fur die Beurteilung unserer Konjektur ist natiirlich nicht allein die rein technische Qualitat, d. h. daB sie mit der leicht erklarbaren Veranderung nur eines einzigen Buchstabens auskommt, entscheidend, sondern die Einffigung in den sprachlichen Befund und den Sinn des iibrigen Textes. Wir waren vorher ganz unabhangig von der Frage der Lesung des fiberlieferten a victore aus Anhaltspunkten, die im iibrigen Text liegen, zu der Feststellung gelangt, daB die Bezeichnung des geographischen Raumes (Germaniae vocabulum), eine Mittlerrolle bei der Anwendung des Namens Germani auf das Gesamtvolk spielt. Dies ist iiberhaupt auffallig und der Erklarung bediirftig, da ja fur den Vorgang der Ubertragung eines Stammesnamens auf das Gesamtvolk die Erwahnung bzw. Zwischenschaltung des Landesnamens gewiB nicht erforderlich ware. Ferner war zu konstatieren, daB der Ausdruck nationis nomen in dem gegebenen Text- und Konstruktionszusammenhang und gest.iitzt durch eine Definition des Charisius die spezielle Bedeutung ‘Bezeichnung nach dem solum patrium\ d. h. nach dem Heimatboden haben muB. Mit diesen Erscheinungen harmoniert nun die Erwahnung bzw. die Mitwirkung eines pictor, d. h. eines Kartographen ausgezeichnet. Setzt man in den Text statt a victore ein a pictore, so ergibt sich auBerdem eine plausible Aussage folgenden Inhalts. Zuerst. wurden die fiber den Rhein vordringenden Angreifer mit dem Namen Germani belegt. Der Ivartenzeichner bzw. ein Kartenzeichner fand so das Wort 1 Vgl. H. Blumner, Die rom. Privataltertumer (1911), 91 Anm. 3. 2 Ygl. Sueton, Domit. 10,3: depictum orbem terrae in membrana; Plin., n. h. 6,40: situsque depicti et inde missi hoc nomen inscriptum habent; Vegetius, de re mil. 3,6: ut sollertiores duces itineraries, provinciarum sed etiam picta hcibuisse firmentur. (

37

)

...

non tantum adnotata,

Konrad Kraft

58

Germani als Ausdruck fur die gefahrlichen Eindringlinge vor. Er bezeichnet daher aus Furcht, d. h. unter dem furchterregenden Eindruck jener Einfalle, den geographischen Raum rechts des Rheins, aus dem die Angreifer gekommen waren, mit dem Wort Germania, wahrend bislang die Gebiete beiderseits des Rheins auf den Karten als ‘Keltenland’ (EeXtixt))

erschienen waren1. Mit dieser neuen Bezeichnung Germania

wurden nach den Gewohnheiten der antiken Kartenbezeichnung die in Germania Wohnenden gleichzeit.ig Germani; auf der Karte konnte das Gebiet sowohl mit dem Eintrag Germania wie mit dem Eintrag Germani gekennzeichnet werden. So erklart sich auch miihelos, warum das vocabulum Germaniae additum (esse) damit erlautert wird, dab als erstes gleich alle Germani genannt wurden: ita..., ut omnes primum ... Germani vocarentur. Diese Bezeichnung Germani fur die in dem geogra¬ phischen Raum Germania Wohnenden bzw. aus diesem Raum Kommenden hat sich schlieBlich nicht nur bei den AuBenstehenden, sondern auch bei den damit Bezeichneten selbst durchgesetzt. Ob mit dem bloBen a pictore ein ganz bestimmter Mann oder irgend ein pictor bzw. sozusagen anonym ‘der Kartograph’ gemeint ist, ist ftir die Frage der Richtigkeit unserer Konjektur nicht von entscheidender Bedeutung. Der Gebrauch des a pictore ware etwa mit dem bei Strabo ohne Nennung eines bestimmten Personennamens wiederholt vorkommenden

otto tou

/copoypacpou zu vergleichen2.

Es kommt naturlich hier (wie ja ebenso bei alien anderen Erklarungsversuchen) nicht darauf an, ob die Entwicklung bei der Namengebung tatsachlich so ablief, sondern nur darauf, ob sie prinzipiell plausibel und als die von Tacitus berichtete Meinung jener Gewahrsleute (quidam affirmant) des Tacitus denkbar ist, was beides kaum bestritten wer¬ den kann. Koch wichtiger ist aber selbstverstandlich die Frage, ob sich unsere Konjektur in die sonstigen philologischen Gegebenheiten des iibrigen Textes einfugt3. Dazu kann festgestellt werden, daB dies gut moglich 1 Vgl. Dionys. Hal. 14,1,4: xoivfii S’ ovogaxi rj o6y.mxooc repot; 'EXXyjvcov xaXstxai KsAtixt). Der Rhein trennt die KeXxtxr)

14,1,3). Insoweit die

in repgavta und rocXaxia (Dionys. Hal.

Griechen auch spater ohne Unterteilung den gesamten

Raum mit KeXxixr) bezeichnen, sprechen sie sozusagen mit Berechtigung auch die rechtsrheinischen Germanen mit KsXxoi an. 2 Strabo V 224, VI 261.277.285. Zur Diskussion, ob damit bei Strabo Agrippa oder gewissermaBen anonym „der Kartograph'1 gemeint sei, vgl. Kubitschek, RE X 2102 f. 3 Natiirlich kann man die Konjektur nicht mit dem Einwand angreifen, daB das Wort pictor sonst bei Tacitus nicht vorkomme. Einmal findet sich im Werk des lacitus keine andere Stelle, an der Vergleichbares berichtet wird, und zum anderen handelt es sich um die Wiedergabe von Behauptungen der quidam. (

38

)

Zur Entstehung des Namens ‘Germania’

59

ist, und auf alle Falle viel besser als bci der Beibehaltung von a victore bzw. bei den bislang vorgeschlagenen Konjekturen. Der durch die Satzkonstruktion gebotene Parallelismus der beiden mit der Proposition a versehenen Ausdriicke ist mit a pictore und a se ipsis gewahrt. Die Singularform bei a pictore ist ganz naturlich. Ferner enthalt das Motiv der Furcht (oh metum) keinen Widerspruch mehr, sondern das Handeln unter dem furchtbaren Eindruck der feindlichen Yorstosse ist gut verstandlich. Dabei ist gewiB nicht notwendig, daB der pictor selbst unmittelbar von diesen Einfallen betroffen war. Er muBte lediglich um die Einfalle und die dadurch bei den Betroffenen bzw. einem groBeren Kreis von weiter sich bedroht Flihlenden entstandene Furcht wissen und da von soweit beindruckt (oder, wenn man dies lieber will, in einen solchen Zustand der Besorgnis versetzt.) worden sein, daB er einen neuen, bis dahin nicht vorhandenen geographischen Begriff bzw. damit zugleich eine neue, bis dahin nicht verwendete Bezeichnung flir die in dem Raum wohnende Bevolkerung in die Geographie einfuhrte. Ferner ware zu beachten, daB naturlich die geographi¬ schen Bezeichnungen auf der Karte nicht ins Belieben der Geographen und Kartographen gestellt waren, daB daher auch fiir die Anwendung einer ganz neuen, von der bisherigen Tradition abweichenden Raumbezeichnung in der Tat ein starkes Motiv angegeben werden muB. Die sonderbare Aussage, daB schon beim ersten Akt der Ausweitung gleich alle Germani genannt wurden (omnes primum) wird jetzt gut verstandlich1, und ebenso, daB in dem Passus tiberhaupt von dem Germaniae vocabulum die Rede ist. Diese Beseitigung von nicht wenigen Unklarheiten und Schwierigkeiten unter Inkaufnahme der leichten Konjektur von a victore zu a pictore ist abzuwagen gegen die bei Beibehaltung des a victore zwangslaufig bestehenbleibenden oder nur durch gekiinstelte Interpretationen oder die Annahme von Abweichungen vom normalen Sprachgebrauch beiseitezuschiebenden Widerspruche und Unklarheiten, die in friiheren Abschnitten dieser Abhandlung ausfiihrlich dargestellt wurden, und die man sich nochmals vor Augen fiihren moge2. 1 Wenn man a victore = ‘vom Sieger’ entgegen alien sonstigen Bedenken halten wollte, so ergabe sich fiir das omnes primum auch noch folgende Schwierigkeit. Die ‘Sieger’, das waren in dem Falle die ersten Eindringlinge, hieBen zu dem Zeitjiunkt bereits Germani; diese konnten nicht omnes (zu denen sie ja selbst gehoren) sondern nur ‘die ubrigen’ mit dem gleichen Namen belegen; vom pictor kann man hingegen sehr wohl sagen, daB er der erste war, der (iiber die Anwen¬ dung der Raumbezeichnung Germania) ‘alle’ mit dem Namen Germani versah. 2 Ygl. insbesondere die Ausfuhrungen zur Verwendung des Singular masculinum, oben S. 32ff. Man bedenke in diesem Zusammenhang auch nochmals das Folgende. Dafiir daB ‘vom Sieger’, d. h. von einem siegreichen Teilstamm selbst der eigene ( 39 )

Konrad Kraft

60

Man muB dabei auch noch Folgendes erwagen. Wenn man die gelehrten Debatten um Caesar und Tacitus hinsichtlich deren Angaben iiber Grenzen durchmustert, so kann man sich kaum des Eindrucks erwehren, daB die Verwendung geographischer Karten bzw. die Beniitzung von Kategorien der geographischen Karten durch Caesar oder Tacitus allzu wenig in Betracht gezogen wird. Zu einem Teil ist dies wohl auch dadurch bedingt, daB

Norden

den ‘Namensatz’ in Tacitus’ Germania Cap.

2,

ja iiberhaupt alle Angaben von Volkernamen allzu einseitig unter den an sich gewiB auch sehr berechtigten Gesichtspunkt der moglichen Anwendung ethnographischer Schemata gestellt hat. Dadurch wird die Einwirkung von geographischen Schemata auf die literarischen Angaben und die Tatsache, daB die antiken Karten primar geographische Raumgrenzen und nicht politische oder ethnische Grenzlinien enthalten, zu wenig bewuBt. Wenn z. B. Caesar da und dort den Rhein als Grenze zwischen Germani und Galli bezeichnet, wird dies nicht wenigen modernen Betrachtern sofort zu einer Angabe iiber eine Volkerscheide in rein ethnischem Sinne1. In Wirklichkeit steht in solchen Fallen oft Germani

Name auf das Gesamtvolk iibertragen wurde, ‘um Furcht zu erregen’, wobei auch noch fur den Teilstamm selbst eine andere Benennimg eingefiihrt worden ware, gibt es, soweit ich sehe, in der Antike zumindest keine einzige Parallele; wohl aber gibt es Parallelen dafiir, daB durch die Romer von der Benennung eines kleineren Stammes ausgehend Bezeichnungen fur groBere geographische oder politische Raumeinheiten geschaffen wurden (z. B. Raetia aus dem Namen der an sich einen viel kleineren Bezirk ausfiillenden Raeti; ebenso Pannonia, Britannia und fast alle Provinznamen), und daB dann im Laufe der Zeit, nachdem sich diese Raumbezeichmmgen allmahlich allgemein eingebiirgert hatten, auch Leute, die an sich nur Bewohner jener Raume (z. B. Raetia, Pannonia) waren, sich als Raeti oder Pannonii bezeichnen konnten, obwohl sie von Haus aus im Sinne der ursprimglichen waren.

Stammesbezeichnungen keine

Raeti

oder

Pannonii

Ferner darf darauf hingewiesen werden, daB bei Beibehaltung von a victore eigentlich erwartet werden mtiBte, daB vorher von einem tatsachlichen Sieg die Rede sein sollte (z. B. qui Gallos

. . .

vicerint), wahrend expulerint nicht ohne

weiteres Schlachten und regelrechte Siege, sondern nur ein Verdrangen bzw. Zuriickweichen voraussetzt. SchlieBlich kann man schwerlich den kunstvollen Stil des Tacitus und dessen tatsachliche oder auch nur vermeintliche Regeln als entscheidenden MaBstab fiir die Frage a victore oder a pictore anwenden. Es handelt sich hier primar um ein Zitat aus einer anderen Quelle, die man ebensowenig am taciteischen Stil messen diirfte, so wenig man etwa Fragen der Textgestaltung in der Naturalis Historia des Plinius nach dem Stile des Tacitus beurteilen oder berichtigen diirfte. 1 Als charakteristisches Beispiel fiir viele andere mag geniigen G. Walser, Caesar und die Germanen (1956), 38 f.: „Der Rhein hat also fiir Caesar die Bedeutung einer alten Volkerscheide. Diese Meinung ist deswegen befremdlich, weil Caesar Germanen auf dem linken Rheinufer kennt“. (

40

)

Zur Entstehung des Namens ‘Germania’

61

nnd Galli im Sinne der geographisch ausgerichteten Karte und meint so viel wie Germania und Gallia als geographische Raume, nicht mehr also, als daB der Rhein die Grenze zwischen den geographischen Raumen Gallia und Germania ist. Dabei ist aber vollkommen klar, daB ethnisch gesehen Germani auf Grund von Wanderungen auch auBerhalb der Grenzen der geographischen RaumgroBe Germania sich befinden konnen, und daB umgekehrt Kelten im Raum Germania sitzen konnen. Die Germani Cisrhenani links des Stroms einerseits und der Rhein als Grenze zwischen Germani und Galli im Sinne der geographischen Raume andererseits, und in dieser Verwendung gleichbedeutend mit Gallia und Germania, sind keine Widerspruche, sondern nur Folge der naturlichen Verschiedenheit des jeweiligen Gesichtspunktes1. Bei Tacitus, insbesondere in Tacitus’ Germania ist das nicht anders. Charakteristisch fur die Verkennung dieses Sachverhalts ist z. B., wenn man sich regelmaBig dartiber ereifert, daB Tacitus im 1. Kapitel den Rhein als Grenze von Germania, und noch dazu von Germania omnis falsch und wider besseres Wissen veralteten Quellen folgend angebe, da ihm doch bekannt sein muBte, daB auch links des Rheins Germanen saBen2. In Wirklichkeit beschreibt Tacitus im 1. Kapitel die naturlich auch zu seiner Zeit giiltigen Grenzen des geographischen Raumes Germania, wie sie auf den Karten zu finden waren; daher erscheint auch die Donau als die Nordgrenze der Raeti, d. h. in dem Fall Nordgrenze des Raumes Raetia im Sinne der geographischen Karte, obwohl naturlich auch Tacitus bekannt war, daB die Provinz Raetia sich auch auf das Nordufer der Donau erstreckte. Man muB also bei der Angabe von Grenzen sich immer fragen, ob sie im Sinne der geographischen Raumkarte oder im Sinne der Verbreitung des Volkstums gemeint sind; man kann nicht beides auf eine Ebene verlegen und dann nach Belieben gegeneinander ausspielen. Dies im Detail auszufuhren, ist hier nicht der Ort3. B.

Melik

hat dazu bereits einige wichtige Argumente vorgelegt4. Wenn man sich diese Erscheinung, dafi im 1. Kapitel von Tacitus’ kleinem Werk das Kartenbild von Germania vorgelegt wird, klar macht, so wird man sich wohl auch weniger daruber verwundern konnen, daB im 2. Kapitel von der Entstehung der geographischen Raumbezeichnung (Germaniae voca1 Vgl. dazu auch. die Ausfuhrungen von Strabo 2,5,17 (C 120) tiber die tpoaet, dauernd bestehenden und die ex xotTacrxeu-Jj? entstehenden und vergehenden geo¬ graphischen Zustande. Das cpuaei. Germania ist in diesem Sinne fur den Geographen ohne Zweifel nur rechts des Rheins. Germania inferior und superior sind dagegen ex xocTaaxeuyji;. 2 Z. B. Nobden, Urgesch. 278 f.; R. Syme, Tacitus I (1958), 127. 3 Dies wird ausfuhrlich in einer in absehbarer Zeit erscheinenden Frankfurter Arbeit geschehen.

4 B. Melin, Eranos 58, 1960, 112-131, bes. 121-125. (

41

)

Konrad Ivraft:

62

Zur Entstehung des Namens ‘Germania’

bulum) die Rede ist, und gesagt wird, wie der ‘Kartograph’ (pictor) zu dieser Bezeichnung kam. Eine an der Beweisfiihrung dieser Abhandlung orientierte Ubersetzung des ‘Namensatzes’ in Tacitus Germania cap. 2 konnte etwa lauten: Wie bei dem weiten Spielraum, den eine weit zuriickliegende Vergangenheit zulaBt, leicht erklarlich, behaupten gewisse Leute, jener Gott (Mannus) babe noch mehr Sohne gehabt und es gebe so auch noch mehr Benennungen nach dem Geschlecht (d. h. nach dem jeweiligen Stammesvater), namlich Marsi, Gambrivii, Suebi,

Vandilii; und dies

seien echte und alte Namen. Die Bezeichnung Germania sei im iibrigen jungen Datums und erst seit kurzem in Anwendung, da ja (erst) diejenigen, die als erste den Rhein iiberschritten und die Gallier vertrieben und heute Tungri heiBen, damals Germani genannt wurden. FolgendermaBen habe sich (im weiteren) eine Benennung nach dem Heimatland, nicht nach der Geschlechtsherkunft, allmahlich durchgesetzt, daB zunachst alle vom (von einem) Kartographen unter dem Eindruck der Furcht, bald aber auch von sich selbst mit dem erfundenen Namen Germani genannt wurden.

(

42

)

Schriften der Wissenschaftiicben Gesellschafit an der Johann Wolfgang Goethe-Universitat in Frankfurt am Main

Geisteswissenschaftliche Reihe Nr.

1 Friedrich Ohly

Hohelied-Studien Grundziige einer Geschichte der Hoheliedauslegung des Abendlandes bis um 1200 1958. VI, 328 Seilen mit 1 Karte, brosch. DM 28,— Dieses Buch war als Vorstudie zu einer philologischen Untersuchung des St. Trudperter Hohenliedes gedacht. Entstanden ist eine in wohltuend schlichter und genauer Sprache geschriebene Darstellung der abendlandischen Deutung des alttestamentlicben Hohenliedes. Archiv fur das Studium der Neueren Sprachert Nr. 2

Werner Gembruch

Freiherr v. Stein im Zeitalter der Restauralion I960. VI, 255 Seiten, brosch. DM 24,— Wir begriiBen diese von Otto Vossler geforderte Arbeit als wichtigen Schritt zur SchlieBung einer Forschungsliicke, die seit Jahrzehnten fiihlbar geblieben ist. Leben, Idee und Werk des Freiherrn vom Stein nach den Befreiungskriegen sind Gegenstand der Untersuchung. Nassauische Annalen Nr. 3

Harald Patzer

Die Anfange der griechischen Tragodie 1962. 188 Seiten, 13 Tafeln, Ln. DM 25,60, brosch. DM 19,60 .... eines der wicbtigsten Bucher, die bisher iiber die griechische Tragodie geschrieben wurden. Nr. 4

Neuer Literatur-Anzeiger

Adalbert Erler

Mittelalterliche Rechtsgutachten zur Mainzer Stiftsfehde 1459-1463 1963. X, 326 Seiten, 4 Abb., Ln. DM 52,—, brosch. DM 46,— Durch die Edition hat Erler einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der Kanonistik des Spatmittelalters geleistet.

Osterr. Archiv f. Kirchenrecht

Nalurwissenschaftliche Reihe Nr.

i Ludwig Edinger 1855-1918 Gedenkschrift zu seinem 100. Geburtstag Hrsg. von Wilhelm Kriicke und Hugo Spatz 1959. X, 97 Seiten, 31 Abb. auf 18 Tafeln, brosch. DM 16,—

Der Band enthalt Reden und Vortrage, die 1955 bei der Feier des 100. Geburtstages Edingers und des 50jahngen Bestehens des von ihm begriindeten Frankfurter Neurologischen Institutes gehalten wurden.

Zu beziehen durch Hire Buchhandlung ■ Prospekte durch den Verlag

FRANZ STEINER VERLAG GMBH • WIESBADEN

SITZUNGSBERICHTE der Wiss. Gesellschaft an der Joh. Wolfgang Goethe-Universitiit Frankfurt/Main Band 1,1

MARIANUS CZERNY

Band III, 3

PAUL ROYEN

Der Physiker als Beobachter und Gestalter von Naturerscheinungen

Die Solvolyse des Phosphors in alkalischen und alkalianalogen Losungen

1962. 15 Seiten, brosch. DM 2,—

1966. 21 Seiten, brosch. DM 2,80

Band I. 2

Band III, 4

DIETRICH STARCK

HARALD KELLER

Die Evolution des Saugetiergehlrns

Italien und die Welt der hofischen Gotik

1962. 44 Seiten, 13 Tafeln mit 22 Abb., broseh. DM 7,60

1967. 81 Seiten, 30 Tafeln mit 43 Abb., brosch. DM 18,—

Band I. 3

Band III, 5

GERHARD KLEINER

Diadochen- Graber 1963. 26 Seiten mit 2 Abb. im Text und 14 Tafeln, broseh. DM 7,20 Band I, 4

HARALD KELLER

Die Kunstlandsehaften Frankreichs 1963. 100 Seiten und 55 Abb. im Text und auf 30 Tafeln, brosch. DM 16,— Band /. 5

HERBERT LEHMANN

Goethe und Gregorovius vor der italienischen Landschaft 1967. 32 Seiten, brosch. DM 4,— Band IV, 1

GERHARD KLEINER

Alt-Milet 1966. 26 Seiten, 1 Falttafel. 21 Tafeln, brosch. DM 9,—

ADALBERT ERLER

Die Mainzer Stiftsfehde 1459—1463 im Spiegel mittelalterlicher Rechtsgutachten 1963. 15 Seiten, brosch. DM 2,—-

Band IV, 2

HARALD PATZER

Die Entstehung der wissenschaftlichen Politik bei den Griechen 1966. 22 Seiten, brosch. DM 3,—

Band II, 1

HELMUT VIEBROCK

Der Stil in der Krise

Band IV, 3

1963. 26 Seiten, brosch. DM 3,40

Die europaische Sozialcharta

HELLMUT GEORG ISELE

1967. 24 Seiten, brosch. DM 3,— Band II, 2

WOLFGANG PREISER

Die Volkerrechtsgeschichte, ihre Aufgaben und ihre Methode 1964. 40 Seiten, brosch. DM 5,— Band II, 3

HERBERT LEHMANN

Standortverlagerung und Funktionswandel der stadt. Zentren an der Kiiste derPo-Ebene 1964. 65 Seiten mit 17 Karten und IV Tafeln mit 7 Abb., brosch. DM 10,—Band II, 4

THEODOR WIELAND

Vergleichende Chemie biologisch aktiver EiweiG-Stoffe 1965. 14 Seiten mit 2 Tafeln, brosch. DM 2,40 Band II, 5

HERMANN HARTMANN

Die Bedeutung quantentheoretischer Modelle fur die Chemie 1965. 22 Seiten, brosch. DM 3,—Band ///, I

HELMUT COING

Naturrecht als wissenschaftliches Problem 2., durchues. Auflaee 1966 28 Seiten, brosch. DM 3.60 Band III, 2

FRITZ NEUMARK

Band IV. 4

HERMANN HARTMANN

Die Bedeutung des Vorurteils fur den Fortgang der naturwissenschaftlichen Erkenntnis 1967. 15 Seiten, brosch. DM 2,— Band V, I

OTTO VOSSLER

Tocqueville 1966. 23 Seiten, brosch. DM 3,—Band V, 2

FRIEDRICH HUND

Physikalische Erkenntnis zwischen Tradition und Erfahrung 1966. 14 Seiten, brosch. DM 2,— Band V, 3

HERMANN STRASBURGER

Die Wesensbestimmung der Geschichte durch die antike Geschichtsschreibung 2. Auflage 1968. 58 Seiten, brosch. DM 8,— Band V. 4

HANS SCKOMMODAU

Die Silbe und die Struktur des Franzosischen 1967. 21 Seiten, brosch. DM 2,80 Band V, 5

HELMUT VIEBROCK

Grundsatze der Bestcuerung in Vergangenheit und Gegenwart

Shakespeares „Hamlet“; Die Tragodie des Gewissens

1965. 35 Seiten, brosch. DM 4,50

1967. 26 Seiten, brosch. DM 3.40

Fortselzung Ruck.se ite

FRANZ STEINER VERLAG GMBH • WIESBADEN

SITZUNGSBERICHTE der Wiss. Gesellschaft an der Joh. Wolfgang Goethe-Universitat Frankfurt/Main Band VI, 1 HANS MflLLER Der Boden in der politischen Okonomie 1967, 49 Seiten, broseh. DM 6,40

Band VII, 5

Band VI, 2 FBITZ NEUMARK Fiskalpolitik und Wachstumsschwankungen 2. neubearbeitete Anflage 1969 104 Seiten, broseh. DM 16,—

Band VIII, 1

Band VI, 3 HELMUT COING Die urspriingliche Einheit der europaischen Rechtswissenschaft 1968, 22 Seiten, broseh. DM 3,— Band VI, 4 HEINZ SAUERMANN Die experimentelle Wirtschaftsforschung an der Universitat Frankfurt am Main 1968, 21 Seiten, broseh. DM 3,— Band VI, 5 ERICH HEINZ Energetische Koppelung zwischen biologischen Vorgangen 1968, 16 Seiten, broseh. DM 2,80 Band VII, 1 MATTHIAS GELZER Cicero und Caesar 1968, 25 Seiten, broseh. DM 3,40

OTTO VOSSLER Gedanken iiber die Universitat 1969, 24 Seiten, broseh. DM 3,40 Band VII, 2

HANS PETER Romisches Recht und englisches Recht 1969, 50 Seiten, broseh. DM 6,40 Band VII, 3

HARALD KELLER Tizians Poesie fiir Konig Philipp II. von Spanien 1969, 100 Seiten, 30 Tafeln, broseh. DM 18,—

Band VII, 4

KONRAD KRAFT Zur Miinzpragung des Augustus 1969, 51 Seiten, 4 Tafeln, broseh. DM 8,40 JOHANNES HIRSCHBERGER Seele und Leib in der Spatantike 1969, 22 Seiten, broseh. DM 3,40 Band VIII, 2 HERBERT LEHMANN Uber „verzauberte Stadte“ in Carbonatgesteinen Siidwesteuropas 1970, 24 Seiten, 14 Taf., broseh. DM 7,—Band VIII, 3 HANS SCKOMMODAU Pygmalion bei Franzosen und Deutschen im 18. Jahrhundert 1970, 34 Seiten, broseh. DM 4,— Band VIII, 4 RUDOLF SELLHEIM Der zweite Biirgerkrieg im Islam (680-692) 1970, 31 Seiten, broach. DM 4,— Band VIII, 5, GERHARD KLEINER Das romische Milet 1970, ca. 24 Seiten m. 3 Abb., 19 Taf., 1 Faltplan, 1 Karte, broseh. ca. DM 10,— Band IX, 1, HERMANN MtiLLER-KARPE Die geschichtliche Bedeutung des Neolithikums 1970,19 Seiten, broseh. DM 3,40 Band IX, 2, KONRAD KRAFT

Zur Entstehung des Namens ,,Germania“ 1970, 42 Seiten, broseh. DM 6,— Band IX, 3, WOLFGANG FRANZ Dreidimensionale und mehrdimensionale Geometrie 1970, ca. 40 Seiten m. 26 Abb. ca. DM 6,50

r

FRANZ STEINER VERLAG GMBH • WIESBADEN

PA 2350 G4 K7 7™^/

Konrad.

ZUUS&desNarn?ns.Ger

01

0 1163 0207598 TRENT UNIVERSITY