Autobiographische Narration und das Ende der DDR: Subjektive Authentizität bei Günter de Bruyn, Monika Maron, Wulf Kirsten und Heiner Müller [1 ed.] 9783737005722, 9783847105725

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Autobiographische Narration und das Ende der DDR: Subjektive Authentizität bei Günter de Bruyn, Monika Maron, Wulf Kirsten und Heiner Müller [1 ed.]
 9783737005722, 9783847105725

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Deutschsprachige Gegenwartsliteratur und Medien

Band 20

Herausgegeben von Carsten Gansel und Hermann Korte

Bianca Weyers

Autobiographische Narration und das Ende der DDR Subjektive Authentizität bei Günter de Bruyn, Monika Maron, Wulf Kirsten und Heiner Müller

V& R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2198-6304 ISBN 978-3-7370-0572-2 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhÐltlich unter: www.v-r.de Gedruckt mit freundlicher Unterstþtzung der Carl und Charlotte Schott Stiftung, Marburg. Die vorliegende Arbeit wurde vom Fachbereich »Germanistik und Kunstwissenschaften« der Philipps-UniversitÐt Marburg als Dissertation im Fach »Neuere deutsche Literatur« angenommen. Die Disputation fand am 16. 07. 2014 statt.  2016, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Gçttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Titelbild:  Carsten Pfeil

Inhalt

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Forschungsgegenstand ›Autobiographie‹ – Probleme der Gattungsdefinition und -abgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . 2.1. Forschungsüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1. Forschungsgegenstand ›Autobiographie‹ . . . . . . . 2.1.2. Philippe Lejeune: Der autobiographische Pakt – ein exemplarischer Forschungsansatz . . . . . . . . . . . 2.1.3. Probleme und Möglichkeiten der Gattungstheorie . . 2.2. Grundkategorien der Gattung . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1. Erinnerung vs. Authentizität . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2. Historizität der Gattung – Die Autobiographie als Zeitzeuge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3. Literarizität der Gattung – Die Autobiographie als literarische Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.4. Wahrheit vs. Dichtung – Die Grundfrage der Gattung . 2.2.5. Die Autobiographie als Identitätsbestimmung . . . . .

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3. Möglichkeiten autobiographischen Schreibens in Deutschland nach 1989 – Der Typus der Nach-Wende-Autobiographie . . . . . . . . . 3.1. Wandel der kulturpolitischen Rahmenbedingungen . . . . . . . 3.2. Zwischen Memoiren und Rechtfertigungsschriften – Die Autobiographie als Zeitzeugnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3. Erinnerung an die DDR-Diktatur – Die Rolle des Ministeriums für Staatssicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

4. Im Streben nach subjektiver Authentizität: Die autobiographischen Projekte Günter de Bruyns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1. Günter de Bruyns theoretische Auseinandersetzung mit der Gattung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1. Das Werk Das erzählte Ich. Über Wahrheit und Dichtung in der Autobiographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2. Historizität der Autobiographie . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3. Literarizität der Autobiographie . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.4. De Bruyns Anspruch auf subjektive Authentizität . . . . . . 4.1.5. Kritische Betrachtung des Werkes Das erzählte Ich. Über Wahrheit und Dichtung in der Autobiographie . . . . . . . 4.2. Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin und Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht als konkrete Realisierungen – Das Zusammenspiel von Theorie und Praxis. Analyse und Vergleich . . . . . . . . . . 4.2.1. Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin und Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht als historische Dokumente . . . . . . . . 4.2.2. Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin und Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht als literarische Artefakte . . . . . . . . . 4.2.3. Subjektive Authentizität und Identität in Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin und Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht . 5. Die Rekonstruktion einer Familiengeschichte. Monika Marons Pawels Briefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1. Erinnerungen um 1989 – Frühe Beschäftigung mit dem Lebensrückblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2. Briefe als Zeitzeugen – Voraussetzungen und Möglichkeiten faktenorientierter Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3. Pawels Briefe als historisches Dokument . . . . . . . . . . . . . 5.4. Pawels Briefe als literarisches Artefakt . . . . . . . . . . . . . . 5.5. Subjektive Authentizität in Pawels Briefe . . . . . . . . . . . . . 5.6. Identität zwischen Ideologien – Die Maron’schen Dichotomien als identitätsstiftende Momente . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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6. »anzuschreiben gegen das schäbige / vergessen, das so viele leben einschließt, / leben aus lauter vergangenheit«: Wulf Kirstens Die Prinzessinnen im Krautgarten. Eine Dorfkindheit . . . . . . . . . . . . 6.1. Bedeutung von Erinnerungsstrukturen für Wulf Kirsten – als Lyriker und als Autobiograph . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.1. Chronist des heimatlichen Sprach- und Lebensraums: Mit der eigenen Erinnerung gegen den Verlust von (lokaler) Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

6.1.2. Bedeutung und Struktur der Erinnerung in Die Prinzessinnen im Krautgarten. Eine Dorfkindheit . . . . 6.2. Die Prinzessinnen im Krautgarten. Eine Dorfkindheit als historisches Dokument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3. Die Prinzessinnen im Krautgarten. Eine Dorfkindheit als literarisches Artefakt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4. Subjektive Authentizität in Die Prinzessinnen im Krautgarten. Eine Dorfkindheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5. Kirstens Kindheit – Kirstens Klipphausen: Identitätssuche im soziokulturellen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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7. »Ich wer ist das« – Heiner Müllers Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1. Erste Einblicke in die sonst sorgsam abgeschottete Privatsphäre: Die autobiographisch grundierten Texte Bericht vom Grossvater, Der Vater und Todesanzeige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2. Erinnerungsstrukturen in Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3. Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen als historisches Dokument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4. Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen – (k)ein literarisches Artefakt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5. Subjektive Authentizität in Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.6. Der kritische Intellektuelle im Sozialismus. Müllers Identitätssuche in Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen .

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8. Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Danksagung

Die Abfassung einer geisteswissenschaftlichen Dissertation ist in großen Teilen ein einsames Geschäft, gesäumt von Richtungswechseln und Neuanfängen. Umso wichtiger, und in vielen Phasen unverzichtbar für das Gelingen dieses Projekts, war mir die Unterstützung von Förderern und Kollegen, aber auch, und insbesondere, von verständnisvollen Weggefährten außerhalb der Universität. Meinen Eltern spreche ich ein herzliches Dankeschön aus für ihre liebevolle und kompromisslose Unterstützung während meines gesamten Bildungswegs. Ein großer Dank gilt meinem Doktorvater Prof. Dr. York-Gothart Mix für die langjährige und umfassende Förderung meines wissenschaftlichen Werdegangs sowie Prof. Dr. Heinrich Kaulen für die Erstellung des Zweitgutachtens wie auch seine Hilfsbereitschaft in Bezug auf die Drucklegung. Kristina Kandler und Claudia Weber danke ich für die freundschaftliche und immer bereichernde Zusammenarbeit sowie dafür, dass sie mir im universitären Alltag unzählige Male den Rücken freigehalten haben. Beide haben den Entstehungsprozess meiner Arbeit eng begleitet und sich kritisch-konstruktiv mit einzelnen Kapiteln und Gedankengängen auseinandergesetzt. Bedanken möchte ich mich außerdem bei Dr. Katrin Anders, die, obwohl fachfremd, nie das Interesse am Voranschreiten meiner Studie verloren, mich immer wieder ermutigt, aber auch für willkommene Ablenkung gesorgt hat. Mein ganz besonderer Dank gilt, nicht zuletzt, meinem Freund Carsten Pfeil, der mich mit nicht enden wollender Geduld bestärkt und unterstützt hat. Von Beginn an war er mir ein kritischer, aber verständnisvoller Diskussionspartner, der auch die mühevolle und langwierige Aufgabe des Lektorats gern übernommen hat. Ihm und meinen Eltern ist dieses Buch gewidmet. Marburg, im März 2016

Bianca Weyers

1.

Einleitung

Der Zusammenbruch der DDR in den Jahren 1989/90 hat für ostdeutsche Schriftsteller einen grundlegenden Wandel der kulturpolitischen Rahmenbedingungen zur Folge. Innerhalb des SED-Staats waren sie stets mit einer strikten Organisation und weit reichenden Kontrolle des Literaturbetriebs sowie einer als ›Druckgenehmigungsverfahren‹ bezeichneten Praxis der Zensur konfrontiert, von denen sie durch das Ende der DDR befreit werden. Die politischen Ereignisse haben tiefgreifende Auswirkungen auf das Arbeits- und Privatleben ostdeutscher Kulturschaffender, was sie vor ungekannte Herausforderungen stellt und nicht selten auch zu existentiellen Schwierigkeiten führt. Viele frühere DDRBürger, insbesondere Literaten und Funktionäre, nehmen die folgenreichen Veränderungen zum Anlass, Rückschau zu halten und verarbeiten ihre persönlichen Erinnerungen in Tagebüchern, Essays, Interviews, Romanen, Memoiren – oder Autobiographien. Insbesondere diese literarische Gattung bildet nach 1989 einen speziellen Typus aus: Zahlreiche Lebensrückblicke der 1990er Jahre lassen sich als dezidierte Aufarbeitung der DDR-Diktatur und der eigenen Rolle im SED-Staat, als Rechtfertigungs- oder Anklageschriften oder als Auseinandersetzung mit politisch bedingten Sinn- und Identitätskrisen charakterisieren und somit als Nach-Wende-Autobiographien bezeichnen. Die vorliegende Arbeit widmet sich den autobiographischen Projekten von vier ausgewählten DDR-Schriftstellern: Günter de Bruyn, Monika Maron, Wulf Kirsten und Heiner Müller legen zwischen 1992 und 2000 jeweils äußerst bemerkenswerte autobiographische Werke vor, die jedoch sehr verschiedenartig konzipiert sind und unterschiedliche Zielsetzungen verfolgen. Günter de Bruyn veröffentlicht neben seinen zwei Autobiographiebänden Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin (1992) und Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht (1996) auch den gattungstheoretischen Essay Das erzählte Ich. Über Wahrheit und Dichtung in der Autobiographie (1995), in dem der Autor seine persönlichen Vorstellungen von dem und Ansprüche an das Genre artikuliert. Interessant ist hier unter anderem das Verhältnis zwischen theoretisch formulierten Grundsätzen und der konkreten Realisierung eines autobiographischen Unterfangens. Monika Maron

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Einleitung

spürt in Pawels Briefe (1999) dem Schicksal ihrer verstorbenen Großeltern, der Lebenswirklichkeit ihrer Mutter und nicht zuletzt der eigenen Biographie nach; ihre Familiengeschichte, wie sie ihr Werk untertitelt, beleuchtet das Leben von drei Generationen während des Nationalsozialismus, des Zweiten Weltkriegs und der DDR-Diktatur. Die Prinzessinnen im Krautgarten. Eine Dorfkindheit lautet der Titel der Autobiographie, die Wulf Kirsten im Jahr 2000 vorlegt. Sie bildet insofern einen Sonderfall der Gattung, als Kirsten hier ausschließlich seine Kindheit und Jugend in einem sächsischen Dorf in den Jahren 1939 bis 1949 rekonstruiert. Heiner Müllers Lebensrückblick Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen (1992) ist im Gegensatz zu den bisher erwähnten Werken nicht aus eigenem Antrieb, sondern auf Initiative seines Verlegers entstanden und entspricht formal nicht dem Muster einer literarischen Autobiographie: Seine Erinnerungen an Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus sowie an sein (Künstler-)Leben im SED-Staat hat Müller auf die Fragen von vier Gesprächspartnern hin auf Tonband gesprochen, um seine Schilderungen transkribieren zu lassen und schließlich intensiv zu überarbeiten. Jedes einzelne dieser Werke wird einer eingehenden Analyse unterzogen, die seine jeweiligen Merkmale und Qualitäten vor dem Hintergrund der Gattungstradition berücksichtigen und herausarbeiten soll. Besonderes Augenmerk soll dabei nicht zuletzt auf die außergewöhnlichen zeitgeschichtlichen Voraussetzungen dieser autobiographischen Unternehmungen gelegt werden. Zu diesem Zweck ist es nötig, in Kapitel 2.1. zunächst in die allgemeine Gattungstheorie und -geschichte einzuführen: Spätestens seit dem frühen 18. Jahrhundert ist die Autobiographie in Europa Gegenstand gattungstheoretischer Betrachtungen, anfangs im Rahmen von Vorreden und Vorworten autobiographischer Werke und in literaturkritischen Abhandlungen, die sich mit Formen und Funktionen autobiographischen Schreibens befassen. Eine genuin wissenschaftliche Beschäftigung mit der Gattung setzt zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein und ist zunächst durch eine geistesgeschichtliche und hermeneutische Betrachtungsweise geprägt.1 Da das Spektrum autobiographischer Produktion und Rezeption bemerkenswert weit gefächert ist2, konnten Literaturkritik und -forschung bis heute allerdings keinen einheitlichen Gattungsbegriff etablieren; die unterschiedlichen Ansätze und Strömungen innerhalb der Forschungsliteratur sollen daher nachvollzogen und zusammengefasst werden. Zur Illustrierung der Möglichkeiten, Schwierigkeiten und Grenzen einer konkreten Gattungsdefinition soll Philippe Lejeunes rezeptionsästhetischer Ansatz des ›autobiographischen Paktes‹, der den wissenschaftlichen Diskurs zur europäi1 Vgl. Jürgen Lehmann: »Autobiographie«. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 1 A-G, Hg. v. Klaus Weimar, Berlin, New York 1997, S. 171. 2 Vgl. Martina Wagner-Egelhaaf: Autobiographie, Stuttgart 2000, S. 1.

Einleitung

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schen Autobiographik bis heute beeinflusst, vorgestellt und kritisch beleuchtet werden. Lejeunes Interesse gilt neben der literarischen Autobiographie auch Tagebüchern, Memoiren, Briefen und mündlichen Lebensberichten. Diese Untergattungen autobiographischer Literatur, die einer wissenschaftlichen Untersuchung durchaus würdig sind und deren Erforschung ohne Zweifel gewinnbringend ist, sollen im Rahmen des einführenden Kapitels allerdings ausdrücklich nicht berücksichtigt werden. Ihre gattungsspezifischen Möglichkeiten und Qualitäten sind für die Analyse der Lebensrückblicke von de Bruyn, Maron, Kirsten und Müller nicht relevant und können in diesem Zusammenhang daher vernachlässigt werden. Unter der Überschrift Grundkategorien der Gattung (Kapitel 2.2.) sollen die für den Analyseteil der Arbeit grundlegenden Untersuchungskriterien definiert und erläutert werden. Die gattungskonstituierenden Aspekte der Erinnerung, Historizität, Literarizität, Authentizität und Identität werden dazu in fünf Unterkapiteln vorgestellt und verhandelt; ihre jeweilige Bedeutung für das Genre wird herausgearbeitet. Der Überblick über den Forschungsgegenstand ›Autobiographie‹ und die verschiedenen Möglichkeiten der wissenschaftlichen Annäherung, der auf diese Weise geleistet werden soll, wird die Basis und die Gliederungsgrundlage der nachfolgenden Kapitel bilden und eine angemessene Verortung der zu analysierenden Werke innerhalb der Tradition der Produktion und Rezeption autobiographischer Literatur sowie des wissenschaftlichen Diskurses zur Gattung ermöglichen. Die Auswahl der Forschungsliteratur stellt im Hinblick auf Kapitel 2. eine besondere Herausforderung dar – die Autobiographietheorie ist bei weitem zu umfangreich, als dass hier Vollständigkeit angestrebt werden könnte. Zahlreiche, zum Teil durchaus profunde Studien zur Gattung haben sich bei der Vorbereitung dieser Arbeit als irrelevant für den hier abzuhandelnden Problemzusammenhang herausgestellt und sollen daher unberücksichtigt bleiben.3 Auch Werke, die auf dekonstruktivistischen bezie3 Als wenig weiterführend haben sich in diesem Zusammenhang zum Beispiel folgende Werke erwiesen: Reinhard Baumgart: »Das Leben – kein Traum? Vom Nutzen und Nachteil einer autobiographischen Literatur«. In: ders.: Glücksgeist und Jammerseele. Über Leben und Schreiben, Vernunft und Literatur, München, Wien 1986, S. 198–228; Richard Coe: When The Grass Was Taller : Autobiography and the Experience of Childhood, New Haven 1984; Alois Hahn/Volker Kapp (Hgg.): Selbstthematisierung und Selbstzeugnis: Bekenntnis und Geständnis, Frankfurt/M. 1987; Michael Jaeger : Autobiographie und Geschichte. Wilhelm Dilthey, Georg Misch, Karl Löwith, Gottfried Benn, Alfred Döblin, Stuttgart 1995; Pierre Jourde: Litt8rature et authenticit8 : le r8el, le neutre, la fiction, Paris 2005; Joachim Kronsbein: Autobiographisches Erzählen. Die narrativen Strukturen der Autobiographie, München 1984; Albrecht Lehmann: Erzählstruktur und Lebenslauf. Autobiographische Untersuchungen, Frankfurt/M. 1983; Felicity A. Nussbaum: The Autobiographical Subject, Baltimore 1995; Wolfgang Paulsen: Das Ich im Spiegel der Sprache. Autobiographisches Schreiben in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts, Tübingen 1991; Maike Reimer : Die Zuverlässigkeit des autobiographischen Gedächtnisses und die Validität retrospektiv erhobener Lebensver-

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Einleitung

hungsweise postmodernen Theorien basieren, bieten keine angemessenen Kriterien für die Analyse der Autobiographien von de Bruyn, Maron, Kirsten und Müller und können daher vernachlässigt werden. Diese Strömungen und ihre wichtigsten Vertreter werden in Kapitel 2.1.1. zumindest kurz vorgestellt. Ihre fehlende Relevanz für den Kontext dieser Arbeit hängt nicht zuletzt mit den veränderten Voraussetzungen und Möglichkeiten ostdeutscher Schriftsteller nach 1989 zusammen: In einem Gespräch mit Hans Kaufmann äußert sich Christa Wolf 1973 über die Gefahr der in der DDR üblichen Praxis der Zensur und des daraus folgenden Mechanismus der Selbstzensur. Letzteren hält sie für noch gefährlicher, da durch ihn »Forderungen, die das Entstehen von Literatur verhindern können«, verinnerlicht werden und mancher »Autor in ein unfruchtbares und aussichtsloses Gerangel mit einander ausschließenden Geboten«4 verwickelt werde: Die Literaturtheorie des ›Sozialistischen Realismus‹, deren Prämissen für die literarische Produktion in der DDR verpflichtend sind, verlangt es, realistisch zu schreiben, auf Konflikte aber zu verzichten. Die Darstellung soll »wahrheitsgetreu«5 sein, darf von der Forderung nach Gestaltung des Typischen aber nicht abweichen. York-Gothart Mix urteilt über die Erscheinungsformen der Zensur : Da man im zähen Prozeß der Lektorierung die Zustimmung des Autors zu allen gewünschten Textänderungen forderte, waren Zensurierung und Selbstzensurierung bisweilen kaum zu unterscheiden und jeder noch so rigide Eingriff in das Manuskript konnte so als Einsicht in die Notwendigkeit klassifiziert werden.6

In seinem als Anti-Dühring bekannt gewordenen Werk Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (1877) skizziert Friedrich Engels im Rekurs auf Georg Wilhelm Friedrich Hegel das Modell einer Übergangsgesellschaft, die sich an der Schwelle vom »Reiche der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit« befinde und die »objektiven, fremden Mächte, die bisher die Geschichte belaufsdaten. Kognitive und erhebungspragmatische Aspekte, Berlin 2001; Manfred Schneider: Die erkaltete Herzensschrift. Der autobiographische Text im 20. Jahrhundert, München, Wien 1986; Alfonso de Toro (Hg.): Autobiographie revisited: Theorie und Praxis neuer autobiographischer Diskurse in der französischen, spanischen und lateinamerikanischen Literatur, Hildesheim 2004; Wolfgang Türkis: Beschädigtes Leben. Autobiographische Texte der Gegenwart, Stuttgart 1990; Otto Ulbricht: »Ich-Erfahrung: Individualität in Autobiographien«. In: Entdeckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Hg. v. Richard van Dülmen, Köln 2001, S. 109–144; Carsten Wurm: »Die Autobiographik«. In: Deutsche Erinnerung. Berliner Beiträge zur Prosa der Nachkriegsjahre (1945–1960), Hg. v. Ursula Heukenkamp, Berlin 2000, S. 239–294. 4 »Subjektive Authentizität. Gespräch mit Hans Kaufmann«, Christa Wolf im Gespräch mit Hans Kaufmann. In: Wolf, Christa: Werke, Band 4: Essays / Gespräche / Reden / Briefe 1959– 1974, Hg. u. kommentiert v. Sonja Hilzinger, München 1999, S. 420. 5 Ebd. 6 York-Gothart Mix: »DDR-Literatur und Zensur in der Honecker-Ära (1971–1989). Teil I«. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 23 (1998), H. 2, S. 183.

Einleitung

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herrschten«7 unter ihre Kontrolle bringe. Die Zensur als »scheinbar partnerschaftliche Kommunikation zwischen Zensor, Lektor und Autor«8 wird auf dieses Modell rückbezogen: Indem der Autor – vorgeblich aus Einsicht in die politischen Erfordernisse – selbst Änderungen in seinen Manuskripten vornimmt, kann die Umsetzung der offiziell verordneten Grundsätze sichergestellt und gleichzeitig legitimiert werden. Christa Wolf beruft sich demgegenüber auf Begriffe wie »Subjektivität«, »Wahrhaftigkeit«, »Erfahrung« (die »zwischen der objektiven Realität und dem Subjekt Autor« vermittelt), »andere Realität« und schließlich »subjektive Authentizität«.9 Letztere beschreibt sie als Suche nach einer Methode, sich produktiv mit der individuell erfahrenen Realität auseinanderzusetzen und ihr schreibend gerecht zu werden. Mit diesen Ansprüchen stellt Christa Wolf implizit die dogmatische Literaturtheorie der DDR in Frage – die an den Grundsätzen von Wladimir Iljitsch Lenins Hauptwerk Materialismus und Empiriokritizismus (1909) geschulten Leitungskader der für Kultur zuständigen Organisationseinheit des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) registrieren ihre Äußerungen als unmarxistisch und systemgefährdend.10 In der Tat steht Wolfs Anspruch auf ›subjektive Authentizität‹ im Widerspruch zu der marxistischleninistischen Vorstellung von der dialektischen »Einheit von Objektivem und Subjektivem, von Sinnlichem und Rationalem, von Konkretem und Abstraktem«11 im individuellen Erkenntnisprozess und erlangt somit eine eminent kritische Dimension. Innerhalb des SED-Staats ist jede öffentliche Äußerung und insbesondere jedes Druckwerk an die eben skizzierten Richtlinien gebunden; abseits der DDR-Doktrin besteht kaum Spielraum für Schriftsteller, ihre persönlichen Auffassungen oder gar skeptischen Anmerkungen zur Sprache zu bringen. An dieser Stelle wird deutlich, dass von poststrukturalistischen beziehungsweise dekonstruktivistischen Zweigen der Autobiographieforschung verworfene Beschreibungskriterien wie ›Subjekt‹, ›Identität‹, ›Autor‹, ›Werk‹ oder ›Wirklichkeit‹ für DDR-Schriftsteller nach 1989 überhaupt erst an Bedeutung gewinnen: Der Zusammenbruch des SED-Staats und damit des gelenkten und überwachten Literaturbetriebs eröffnet ihnen, also auch de Bruyn, Maron, Kirsten und Müller, erstmals die Gelegenheit, sich sowohl mit ihrer individu7 Friedrich Engels: »Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft. (›Anti-Dühring‹)«. In: Marx, Karl/ders.: Werke, Band 20, Hg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der SED, Berlin 1962, S. 264. 8 Mix 1998, S. 183. 9 »Subjektive Authentizität. Gespräch mit Hans Kaufmann«, Christa Wolf im Gespräch mit Hans Kaufmann, S. 409, 411, 412, 409, 409. 10 Vgl. Mix 1998, S. 181. 11 Georg Klaus/Manfred Buhr (Hgg.): Philosophisches Wörterbuch, Band 2: Lamaismus bis Zweckmäßigkeit, Leipzig 1974, S. 1302. (Begriff ›Widerspiegelungstheorie‹).

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ellen als auch mit der kollektiven Vergangenheit kritisch auseinanderzusetzen und beispielsweise ihrer subjektiven Beurteilung des Nationalsozialismus, des DDR-Sozialismus oder der Verbrechen des Stalin-Regimes Ausdruck zu verleihen.12 Erstmals können sie dem in der DDR staatlich verordneten Menschenund Geschichtsbild ihren eigenen Standpunkt öffentlich entgegensetzen. Jeder der zu analysierenden Lebensberichte ist nicht zuletzt durch die neu eröffneten Möglichkeiten autobiographischen Erinnerns geprägt und kommt einem – jeweils unterschiedlich stark ausgebildeten – Drang nach Aufarbeitung nicht nur der persönlichen, sondern insbesondere der kollektiven Vergangenheit nach. Der hier nur knapp umrissene Aspekt der kulturpolitischen Rahmenbedingungen innerhalb des SED-Staats und ihrer Auswirkungen auf die ostdeutsche Literaturproduktion soll in Kapitel 3.1. eingehender vorgestellt werden. Der eigentümliche Stellenwert der Gattung ›Autobiographie‹ innerhalb des sozialistischen Systems soll in diesem Zusammenhang ebenfalls zur Sprache kommen. Dem Typus der Nach-Wende-Autobiographie widmet sich Kapitel 3.2.: Ein Überblick über die autobiographischen Unternehmungen der 1990er Jahre und die verschiedenen Arten der DDR-Aufarbeitung, der auch Memoiren und Rechtfertigungsschriften früherer Funktionäre berücksichtigt, wird es ermöglichen, die Lebensberichte von de Bruyn, Maron, Kirsten und Müller (die hier selbstverständlich nur kurz erwähnt werden) adäquat im Korpus dieser Erinnerungstexte zu verorten. Die Rolle des MfS innerhalb der DDR-Diktatur und ihres Literaturbetriebs wird in Kapitel 3.3. beleuchtet. Die nachträgliche literarische Verarbeitung dieses Themenkomplexes, die zahlreichen Schriftstellern offensichtlich ein Bedürfnis ist, soll hier besondere Beachtung finden. Auch wenn die 1990/91 geführte Diskussion um Christa Wolfs Erzählung Was bleibt (1990) und damit verbunden um Pflicht und Verantwortung des Schriftstellers, welche gemeinhin als ›deutsch-deutscher Literaturstreit‹ bezeichnet wird, eine durchaus untersuchungswürdige Phase im (kulturellen) Wiedervereinigungsprozess darstellt, hat sie keinen direkten Einfluss auf die Nach-Wende-Autobiographie an sich oder die Entwicklung der Gattung im Allgemeinen. Aus diesem Grund und weil es den Rahmen des Kapitels 3. sprengen würde, kann darauf verzichtet werden, den Ablauf dieser Debatte nachzuzeichnen, zumal sie bereits hinreichend zusammengefasst und untersucht worden ist.13 Die eingehende Analyse der ausgewählten Werke beginnt mit Kapitel 4., das 12 Vgl. auch Alexandra Pontzen: »Vergewaltigung als historische Krisenerfahrung in autobiografischen Schriften der Söhne und Enkel. Grass, Treichel, Grünbein, de Bruyn u. a.«. In: Autobiografie und historische Krisenerfahrung, Hg. v. Heinz-Peter Preußer u. Helmut Schmitz, Heidelberg 2010, S. 212. 13 Vgl. z. B. Thomas Anz (Hg.): »Es geht nicht um Christa Wolf«. Der Literaturstreit im vereinten Deutschland, Frankfurt/M. 1995 u. Wolfgang Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR, Erweiterte Neuausgabe, Berlin 2000, S. 462–477.

Einleitung

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sich mit den zwei Autobiographiebänden des Schriftstellers Günter de Bruyn sowie mit seiner gattungstheoretischen Auseinandersetzung in dem Essay Das erzählte Ich. Über Wahrheit und Dichtung in der Autobiographie befasst. Die Untersuchung ist insofern vielversprechend, als der Autor unabhängig von der Forschungstradition über die Gattung an sich reflektiert, Einblicke in seine persönlichen Motivationen und Intentionen gewährt und seine individuellen Schwierigkeiten, die er während der Abfassung des ersten Teils bewältigen musste oder für den zweiten Teil voraussah, beschreibt. Nach einer kurzen Einführung in den Entstehungskontext von Das erzählte Ich. Über Wahrheit und Dichtung in der Autobiographie sollen die Thesen des Essays in Kapitel 4.1. zunächst resümiert und analysiert werden. De Bruyns Auseinandersetzung mit der Gattung wird in Abschnitt 4.2. in Beziehung zu den beiden Werken Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin und Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht gesetzt. Unter Rückgriff auf die gattungskonstituierenden Aspekte Historizität, Literarizität, Authentizität und Identität wird sein Lebensbericht untersucht und geprüft, ob und inwieweit sich seine theoretisch formulierten Grundsätze mit der Realisierung der Autobiographie decken. Die thematische Gliederung resultiert wie bei jeder der folgenden Werkanalysen aus diesen in Kapitel 2.2. definierten Grundkategorien der Gattung. Anschließend wird Monika Marons Werk Pawels Briefe in Kapitel 5. einer genaueren Betrachtung unterzogen; es handelt sich hier um eine bemerkenswerte Autobiographie, in der die Erzählerin sich ihrem Thema mit Hilfe von Briefen ihres als Opfer des Holocaust verstorbenen Großvaters Pawel Iglarz nähert. Die Voraussetzungen und Möglichkeiten faktenorientierter Erinnerung müssen in diesem Zusammenhang daher eingehend in den Blick genommen werden. Imagination, Interpretation, und Reflexion gehören zu den konstitutiven Elementen bei der Rekonstruktion dieser Familiengeschichte. Die Einheit des Textes ergibt sich nicht, wie in der klassischen Autobiographie, durch die erinnerte bzw. erzählte Familiengeschichte, sondern lediglich durch den kommentierten Erinnerungsprozess […]. Narrative, beschreibende und reflektierende Passagen – sowie historische Informationen und Zitate aus historischen Dokumenten – wechseln einander ab bzw. gehen ineinander über.14

Auch die autobiographiespezifischen Kategorien der Historizität, Literarizität, Authentizität und Identität werden in Marons Ausführungen zum Teil auf unkonventionelle Weise erfüllt; Marons Familiengeschichte, die durch die Dichotomien Nationalsozialismus – Kommunismus, Polen – Deutschland sowie Judentum – Christentum geprägt ist, steht im Fokus der Darstellung. Die Erzäh14 Friederike Eigler : Gedächtnis und Geschichte in Generationenromanen seit der Wende, Berlin 2005, S. 146.

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Einleitung

lerin spürt den Wurzeln der eigenen Identität nach, indem sie sich und ihre Biographie in Beziehung zu dem Schicksal ihrer Vorfahren setzt – Pawels Geschichte wird stets auf die eigene Person der Erzählerin hin perspektiviert.15 In diesem Zusammenhang ist es notwendig, darauf hinzuweisen, dass Monika Marons Werk hier nicht als Autobiographie aus ausdrücklich weiblicher Sicht von Interesse ist, sondern als Lebensbeschreibung eines Individuums, das sich zwischen konkurrierenden Ideologien, Nationen und Religionen behaupten und sich seine eigene Position innerhalb dieses Kräftefelds in einem mühsamen und langwierigen Prozess erarbeiten muss. Letztlich sind es keine speziell weiblichen Erfahrungen, die auf diese Weise vermittelt werden. In einem Vortrag mit dem Titel Weibliche Kreativität, den Maron 1996 in Turin hält, wird überdies deutlich, dass die Schriftstellerin ohnehin keinen Zusammenhang zwischen ihrer Weiblichkeit und ihrer literarischen Arbeit erkennen kann: Ob meine Kreativität weiblicher Natur ist, weiß ich nicht. Vielleicht entspringt sie ja gerade meinem männlichen Anteil. […] Wenn ich trotzdem versuche, die weibliche Besonderheit meiner Kreativität zu bestimmen, erweist sich schon der Umstand, dass ich nicht weiß, wie ich als Mann mich von mir als Frau unterscheiden würde, als unüberwindliches Hindernis. Natürlich ist meine persönliche Geschichte mein Schreibmaterial, aber ist das bei Männern denn anders?16

Aus diesen Gründen wird der Gender-Aspekt bei der Analyse von Marons Autobiographie bewusst ausgespart; dezidiert feministische Forschungsansätze zu Pawels Briefe oder zur Autobiographie im Allgemeinen bleiben im Rahmen der vorliegenden Arbeit gleichfalls unberücksichtigt. Wulf Kirstens Autobiographie Die Prinzessinnen im Krautgarten. Eine Dorfkindheit bildet den Untersuchungsgegenstand des Kapitels 6. Da sowohl der Lyriker als auch der Autobiograph Kirsten vorrangig um die gedankliche Bewahrung von (lokaler) Geschichte, regionalen Sprachformen und ländlichen Lebens- und Arbeitsweisen bemüht ist, erscheint es angemessen, zunächst in die Bedeutung von Erinnerungsstrukturen in seinem Gesamtwerk wie auch in seinem Lebensbericht einzuführen. Die Gattungskonstituente der Historizität bildet seinen Ansprüchen und Motivationen entsprechend einen zentralen Aspekt in den autobiographischen Ausführungen; die Auswirkungen der Zeitgeschichte auf das sächsische Dorf Klipphausen werden detailliert nachgezeichnet. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die Schilderungen mit dem Jahr 15 Vgl. Eva Kormann: »Speichergeschichten: Selbstvergewisserung zwischen großväterlichen Briefen und mütterlichen Gedächtnislücken. Zu Monika Marons Pawels Briefe«. In: Zwischen Trivialität und Postmoderne. Literatur von Frauen in den 90er Jahren, Hg. v. Ilse Nagelschmidt, Alexandra Hanke, Lea Müller-Dannhausen u. Melani Schröter, Frankfurt/M., Berlin, Bern, Brüssel, New York, Oxford, Wien 2002, S. 113f. 16 Monika Maron: »Weibliche Kreativität«. In: dies.: quer über die Gleise: Essays, Artikel, Zwischenrufe, Frankfurt/M. 2000, S. 88f.

Einleitung

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1949 enden – Kirsten entscheidet sich bewusst für die Form der Kindheitsautobiographie und damit gegen eine persönliche Aufarbeitung der DDR-Diktatur im Rahmen des Lebensberichts. Der bedachtvollen Komposition des Werkes, der Authentizität der Darstellung sowie Kirstens Identitätssuche im soziokulturellen Kontext werden weitere Unterkapitel gewidmet, in denen diese Aspekte unter Rückbezug auf Kapitel 2.2. untersucht und verhandelt werden. Kapitel 7. schließlich widmet sich der ungewöhnlichen Autobiographie Heiner Müllers. Seiner Entstehung aus Gesprächsprotokollen statt eigenhändiger Niederschrift entsprechend weist Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen gegenüber den zuvor zu analysierenden Werken deutlich verschieden geartete Eigenschaften auf und bietet unterschiedliche Voraussetzungen für dessen Analyse. Die gattungskonstituierenden Aspekte der Erinnerung, Historizität, Literarizität, Authentizität und Identität werden auch hier erkennbar und können herausgearbeitet und untersucht werden. Ihre jeweilige Ausprägung variiert zum Teil aber stark im Vergleich zu den weitaus traditioneller erzählten Autobiographien von de Bruyn, Maron und Kirsten. Den Defiziten wie auch den durchaus vorhandenen Qualitäten von Müllers Lebensbericht gilt es in dieser Untersuchung gerecht zu werden. Ein erstes einführendes Unterkapitel soll Aufschluss geben über frühere autobiographische Texte von Heiner Müller, die seinem Vater, seinem Großvater und seiner zweiten Ehefrau Inge gewidmet sind. Zum Teil gewähren diese frühen literarischen Versuche tiefere Einblicke in das Gefühlsleben, die Familienverhältnisse und die persönliche Entwicklung des Schriftstellers und Dramatikers Heiner Müller als seine Autobiographie, was es innerhalb der Analyse von Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen zu berücksichtigen gilt. Im Rahmen einer kurzen Schlussbetrachtung (Kapitel 8.) sollen die Untersuchungsergebnisse der vier Werkanalysen zusammengefasst werden. Die verschiedenen aufgezeigten Facetten autobiographischen Schreibens bei Günter de Bruyn, Monika Maron, Wulf Kirsten und Heiner Müller sollen, insbesondere in Bezug auf Identitätsfindung und Authentizitätsstreben, einer abschließenden Betrachtung unterzogen und im Hinblick auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede beurteilt werden.

2.

Forschungsgegenstand ›Autobiographie‹ – Probleme der Gattungsdefinition und -abgrenzung

2.1. Forschungsüberblick 2.1.1. Forschungsgegenstand ›Autobiographie‹ Diese Literaturgattung entzieht sich einer Definition noch hartnäckiger als die gebräuchlichsten Formen der Dichtung. Sie läßt sich kaum näher bestimmen als durch Erläuterung dessen, was der Ausdruck besagt: die Beschreibung (graphia) des Lebens (bios) eines Einzelnen durch diesen selbst (auto)17,

lautet Georg Mischs schlichte wie treffende Annäherung an die Autobiographie aus dem Jahr 1907. Der Terminus, auf den er sich bei seiner Gattungsbestimmung stützt, ist dem Griechischen entlehnt und kommt im deutschen Sprachraum seit dem letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts vor. Allerdings koexistiert die Bezeichnung zu dieser Zeit noch mit verschiedenen Konkurrenzbildungen wie ›Vita‹ oder ›Lebenslauf‹, bevor sie im 19. Jahrhundert immer geläufiger wird und sich schließlich zu Beginn des 20. Jahrhunderts als dominierende Gattungsbezeichnung durchsetzt.18 Michaela Holdenried bezeichnet Mischs Definition als die »offenste und zugleich brauchbarste«19, da sie weder eine teleologische Perspektive verordne noch eine nähere Bestimmung durch formale Aspekte enthalte.20 Sie sei »sowohl für historische Formen als auch für die moderne Autobiographik gleichermaßen brauchbar«.21 Misch selbst, Verfasser des Standardwerkes Geschichte der Autobiographie (1907ff.), betont mehrfach – nicht nur durch diese weit gefasste

17 Georg Misch: »Begriff und Ursprung der Autobiographie«. In: Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, Hg. v. Günter Niggl, Darmstadt 1998, S. 38. 18 Vgl. Michaela Holdenried: Autobiographie, Stuttgart 2000, S. 19. 19 Ebd., S. 21. 20 Vgl. ebd. 21 Ebd.

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Forschungsgegenstand ›Autobiographie‹

Definition – den fließenden und formübergreifenden Charakter der Gattung.22 Statt um strenge formalästhetische Typologisierung, die laut Misch ja auch kaum möglich sei, geht es ihm um das ›Wesen der Autobiographie‹: Für ihn zeigt sich das Leben, das die Gattung in sich trägt, sowie ihre Funktion für die objektive Erkenntnis des Menschen gerade in der Fülle der verschiedenen Formen autobiographischen Schreibens.23 Mit seiner hermeneutischen Herangehensweise steht er in der Nachfolge Wilhelm Diltheys, der in der Gattung eine Geschichte des menschlichen Selbstbewusstseins, eine Deutung und Sinngebung gelebten Lebens und die direkteste Form von Gewissensforschung sieht24 und die Autobiographie konkret als »die zu schriftstellerischem Ausdruck gebrachte Selbstbesinnung des Menschen über seinen Lebensverlauf«25 bezeichnet. Bis heute sind Autobiographietheorie und -geschichte durch diese hermeneutische Perspektive geprägt, und in diesem Sinne sind Dilthey und Misch als Wegbereiter der Autobiographieforschung anzusehen. Nach wie vor werden ihre Ansätze im Rahmen autobiographietheoretischer Abhandlungen nicht nur in Europa, sondern auch innerhalb der US-amerikanischen Forschung wiederholt zitiert und ungeachtet ausführlicher Problematisierung als Grundlage weiterführender Auseinandersetzung mit der Gattung akzeptiert.26 Diltheys und Mischs Gattungsbestimmungen bleiben allerdings zu offen – in der späteren wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Genre zeichnet sich schnell das Bedürfnis nach klaren Abgrenzungen ab. Obwohl Misch die Unmöglichkeit einer präzisen Autobiographiedefinition bereits postuliert hat, werden in der Folgezeit zahlreiche Bestimmungsversuche unternommen, sei es aus traditionell hermeneutischer, sozialgeschichtlicher, psychoanalytischer, poststrukturalistischer, formal-, produktions- oder rezeptionsästhetischer Perspektive oder durch systematische Abgrenzung gegenüber verwandten Gattungen wie Memoiren, Tagebuch, Biographie oder Roman. Eine systematische und kontinuierliche Forschung zur Autobiographie beginnt ungefähr in den 1960er Jahren. »Der erste Schritt muß eine Definition von ›Autobiographie‹ sein«27, bemerkt Wayne Shumaker noch zu Beginn seiner 22 Vgl. Misch 1998, u. a. S. 36f., 40, 51 u. Georg Misch: Geschichte der Autobiographie. Erster Band. Das Altertum, Leipzig, Berlin 1907, S. 3. 23 Vgl. Misch 1998, S. 37, 46. 24 Vgl. Eva Zeller : Die Autobiographie: Selbsterkenntnis – Selbstentblößung, Stuttgart 1995, S. 3. 25 Wilhelm Dilthey : »Das Erleben und die Selbstbiographie«. In: Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, Hg. v. Günter Niggl, Darmstadt 1998, S. 29. 26 Vgl. Hans-Edwin Friedrich: Deformierte Lebensbilder. Erzählmodelle der Nachkriegsautobiographie (1945–1960), Tübingen 2000, S. 17, Sidonie Smith/Julia Watson: Reading Autobiography. A Guide for Interpreting Life Narratives, Minneapolis 2001, S. 113, 119 u. Laura Marcus: Auto/Biographical Discourses: Theory, Criticism, Practice, Manchester, New York 1994, S. 148. 27 Wayne Shumaker : »Die englische Autobiographie. Gestalt und Aufbau«. In: Die Autobio-

Forschungsüberblick

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erstmals 1954 erscheinenden Studie Die englische Autobiographie. Gestalt und Aufbau und versucht sich der Gattung zunächst über die Abgrenzung zu ähnlichen Textsorten zu nähern: Die drei am engsten verwandten Formen, von denen eine Abgrenzung notwendig wurde, waren die Geschichtsschreibung, die Biographie und der Roman. Biographie und Autobiographie entstanden ungefähr um die gleiche Zeit und entwickelten sich beide in Richtung einer noch ausgeprägteren individuellen Auffassung, wobei die Biographie vielleicht ein wenig voraus war. […] Eine Abgrenzung von der Biographie ließ sich im Hinblick auf die Hauptfigur konsequent durchführen, auch wenn die Autobiographen weithin die Grundsätze der Biographie, was die Bedeutung der Erfahrung anbetrifft, zu teilen haben.28

Shumakers Erklärung bleibt hier allerdings noch recht vage – wobei die Gattung ›Biographie‹ eindeutige Unterscheidungskriterien aufweist: Sie zeichnet sich durch eine Blickrichtung von außen, also die fehlende Identität von Schreibendem und Beschriebenem sowie eine intendiert sachliche Gestaltung und Präsentation historischer Fakten aus. In Bezug auf den Roman gelingt Shumaker die Abgrenzung über die Autorintention: Wenn der Autor sich bei seinem wirklichen Namen nennt und als einer verstanden werden will, der ›wahrheitsgetreu‹ über seinen eigenen Charakter und seine Handlungen schreibt, so ist das Werk eine Autobiographie, auch wenn es einige ›nicht wahrheitsgetreue‹ Details enthält; gibt er sich aber einen erfundenen Namen und will als einer verstanden werden, der Fiktion schreibt, dann ist das Werk Fiktion, auch wenn es viele autobiographische Fakten enthält.29

Magdalene Heuser argumentiert 40 Jahre später noch auf die gleiche Weise, wenn sie schreibt: Die Autobiographie unterscheidet sich vom Roman durch ihren grundsätzlichen Glaubwürdigkeitsanspruch einerseits, andererseits durch das Zusammenfallen von Erzähler und Autor, die beim Roman und anderen fiktionalen Texten getrennt werden müssen. Daraus entsteht für die verschiedenen Gattungen ein unterschiedliches Verantwortungsverhältnis zum Lesepublikum.30

Diese produktions- und rezeptionsästhetische Sichtweise ist für die definitorische Abgrenzung der Autobiographie gegenüber dem Roman auf Grund der ähnlichen Strukturprinzipien beider Gattungen unabdingbar – der Roman kann graphie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, Hg. v. Günter Niggl, Darmstadt 1998, S. 76. 28 Ebd., S. 85. 29 Ebd., S. 120. 30 Magdalene Heuser : »Einleitung«. In: Autobiographien von Frauen. Beiträge zu ihrer Geschichte, Hg. v. Magdalene Heuser, Tübingen 1996, S. 11.

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Forschungsgegenstand ›Autobiographie‹

alle Eigentümlichkeiten der Autobiographie (wie zum Beispiel die Ich-Perspektive, Formen der Erinnerungsstruktur oder einen kommentierenden Rückblick) bis zur täuschenden Kongruenz übernehmen31, eine rein textimmanente, literarästhetische Abgrenzung ist dann nicht möglich. Diesen Gedanken arbeitet auch der französische Literaturwissenschaftler Philippe Lejeune in den 1970er Jahren aus und bringt das Schlagwort des ›autobiographischen Paktes‹, den der Autor seinem Leser anbietet, nachhaltig in die Autobiographiediskussion ein. Lejeune und Elizabeth W. Bruss sind die ersten Literaturwissenschaftler, die systematisch die Rolle des Lesers für die Autobiographie untersuchen und diese rezeptionsästhetische Kategorie in die Debatte einführen.32 Lejeunes Thesen, vor allem seine »trennscharfe Kategorie der Gattungsbestimmung«33, sind bis heute von großer Bedeutung für jegliche wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Genre. In Kapitel 2.1.2. dieser Arbeit soll Lejeunes forschungsgeschichtlich bedeutsamer Ansatz ausführlich vorgestellt werden und somit Einblick in die Schwierigkeiten gewähren, mit denen sich Autobiographietheoretiker beim Versuch einer Gattungsdefinition konfrontiert sehen. Roy Pascal, dem Michaela Holdenried bescheinigt, mit seinen Untersuchungen wesentlich zur Etablierung der Autobiographie als eigengesetzliche literarische Gattung beigetragen zu haben34, sieht den Autor, der seine Lebensgeschichte von einem bestimmten Standpunkt aus gestaltet und ihr eine Bedeutung verleiht, als einigendes Prinzip und definiert im Jahr 1959: Die eigentliche Autobiographie, so wie ich sie sehe, ist die Geschichte der Gestaltung einer Persönlichkeit; sie beginnt mit der Kindheit und führt zumindest zu dem Punkt, an dem die Persönlichkeit ihre ureigenste Prägung erhält. […] Der Schwerpunkt des Berichts liegt auf dem Werden des Selbst, des Ich. […] Ereignisse werden berichtet, nicht nur weil sie geschehen sind, sondern weil sie zur Bildung des Selbst beigetragen haben: sie werden zu symbolischen Ausdrücken für das Sichtbarwerden des Selbst.35

Mit diesen »normativ-ontologische[n] Kriterien, in deren Mittelpunkt die alle Zeit mögliche Identität des autonomen Subjekts steht«36, grenzt er die Auto31 Vgl. Günter Niggl: »Symposium: Die Autobiographie im 20. Jahrhundert. Einleitung«. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 34 (1993), S. 218. 32 Vgl. Elizabeth W. Bruss: »Die Autobiographie als literarischer Akt«. In: Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, Hg. v. Günter Niggl, Darmstadt 1998, S. 259. Es handelt sich hier um eine Übersetzung des Artikels L’autobiographie consid8r8e comme acte litt8raire aus dem Jahr 1974. 33 Friedrich 2000, S. 18. 34 Vgl. Michaela Holdenried: Im Spiegel ein anderer. Erfahrungskrise und Subjektdiskurs im modernen autobiographischen Roman, Heidelberg 1991, S. 56. 35 Roy Pascal: »Die Autobiographie als Kunstform«. In: Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, Hg. v. Günter Niggl, Darmstadt 1998, S. 149. 36 Oliver Sill: Zerbrochene Spiegel. Studien zu Theorie und Praxis modernen autobiographi-

Forschungsüberblick

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biographie eindeutig von Tagebuch, Memoiren sowie Reise- und Kriegsbeschreibungen ab, da diesen anders geartete Schreibmotivationen und -situationen zu Grunde liegen. Während Reise- und Kriegsbeschreibungen lediglich einen zeitlich klar begrenzten Ausschnitt und nicht wie die Autobiographie den Gesamtzusammenhang eines Lebens zum Thema haben, kann ein regelmäßig geführtes Tagebuch durchaus den Verlauf eines Daseins in seiner Kontinuität und seinen Facetten innerhalb verschiedener Lebensphasen widerspiegeln. Der Folge der Eintragungen fehlt jedoch der durch das Erzählen gestiftete Zusammenhang. Es handelt sich um punktuelle Vergegenwärtigungen, hingegen ermöglicht erst der in der Erzählung gewonnene Rückblick der Autobiographie eine Gliederung, Einordnung und Deutung der Erinnerungen.37 »Erzählung, Rück- und Überblick, Auswahl und Zusammenfassung sind konstitutiv für Autobiographie wie für Memoiren, die sich scheinbar nur wenig, in Wirklichkeit aber deutlich genug von der Autobiographie unterscheiden«38 : Beide Gattungen sind zwar durch die gleichen Strukturmomente der Identität zwischen Aussagesubjekt (›erzählendes Ich‹) und -objekt (›erzähltes Ich‹), der chronologischen Ordnung und der Retrospektive verbunden, legen gemäß verschiedenen Darstellungsintentionen inhaltlich aber deutlich unterschiedliche Schwerpunkte. Das Ich des Erzählers tritt in den Memoiren zugunsten historischer, oft politischer Ereignisse sowie anderer Charaktere eher in den Hintergrund; primär geht es um nachprüfbare Fakten im Gegensatz zu den tieferen Zusammenhängen eines Lebens, denen der Autobiograph nachspürt. Memoiren sind häufig die Erinnerungen öffentlicher Persönlichkeiten beziehungsweise Träger sozialer Rollen, die sich als Zeitgenossen und Beobachter des Weltgeschehens verstehen, während die Autobiographie stärker auf das persönliche und psychische Ergehen des Individuums bezogen ist.39 Die detailreiche Wiedergabe innerer Erfahrungen und der Entwicklung der eigenen Person zeichnen nur die Autobiographie aus; die Abgrenzung zwischen Memoiren und Autobiographie kann

schen Erzählens, Berlin 1991, S. 49. Was den Begriff ›Subjekt‹ betrifft, so wird im Folgenden ausdrücklich die Auffassung des »moderne[n] Subjekt[s]« zu Grunde gelegt, nach der es als ein Wesen begriffen wird, »dessen Bezüge auf anderes – Objekte wie andere Subjekte – wesentlich dadurch bestimmt sind, daß sie von einem Selbstbezug ›begleitet‹ sind«. (Christoph Menke: »Subjektivität«. In: Ästhetische Grundbegriffe (ÄGB). Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Band 5 Postmoderne-Synästhesie, Hg. v. Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhart Steinwachs u. Friedrich Wolfzettel, Stuttgart 2003, S. 734.) 37 Vgl. Ralph-Rainer Wuthenow : »Autobiographie und autobiographische Gattungen«. In: Das Fischer Lexikon Literatur Band 1, Hg. v. Ulfert Ricklefs, Frankfurt/M. 2002, S. 169. 38 Ebd. 39 Vgl. z. B. Neva Sˆlibar : »Biographie, Autobiographie: Annäherungen, Abgrenzungen«. In: Geschriebenes Leben. Autobiographik von Frauen, Hg. v. Michaela Holdenried, Berlin 1995, S. 391.

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Forschungsgegenstand ›Autobiographie‹

entgegen der Meinung einzelner Literaturwissenschaftler40 definitiv vorgenommen werden. Bei der Frage nach den zentralen Gattungskriterien erkennt Oliver Sill in der Autobiographieforschung zwei voneinander abweichende Akzentuierungen, von denen die erste Richtung versucht, die Strukturmerkmale der Autobiographie auf die jeweilige Persönlichkeit des Autors zurückzuführen. Im Mittelpunkt stehe hier das erzählende Ich des autobiographischen Werkes41: Die Fähigkeit des Autors, sein Leben als ein Ganzes in zusammenfassender Rückschau zu schildern, um auf diese Weise ein kohärentes Bild seines Ichs zu gestalten, wird zum entscheidenden Kriterium für die Erfüllung des eigentlichen ›Wesens der Autobiographie‹.42

Die zweite Richtung dagegen sieht in der Autobiographie eher ein geschichtliches Dokument, eine Wirklichkeitsaussage43 über eine historische Gegenständlichkeit: »[D]as Kriterium einer prinzipiell als möglich erachteten Verifizierung der dargestellten Sachverhalte anhand textexternen Materials avanciert mithin zum zentralen Gattungscharakteristikum«.44 Sill zählt Roy Pascal zu den Hauptvertretern der ersten Gattung45, ebenso repräsentiert Ingrid Aichinger diese erstgenannte Auffassung46 ; als Vertreter der zweiten Richtung könnte Werner Marholz mit seinem sozialgeschichtlichen Ansatz47 ebenso gelten wie Rolf Tarot, der folgendermaßen argumentiert: 40 Vgl. z. B. Ralph-Rainer Wuthenow : »Autobiographie, autobiographisches Schrifttum«. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Band 1: A-Bib, Hg. v. Gert Ueding, Tübingen 1992, S. 1267 u. Rolf Tarot: »Die Autobiographie«. In: Prosakunst ohne Erzählen. Die Gattungen der nicht-fiktionalen Kunstprosa, Hg. v. Klaus Weissenberger, Tübingen 1985, S. 33. 41 Vgl. Sill 1991, S. 13. 42 Ebd. 43 In präziser kategorialer Verwendung können die Begriffe ›Realität‹ und ›Wirklichkeit‹ unterschieden werden, jedoch fallen sie heutzutage im philosophischen wie im alltäglichen Sprachgebrauch zusammen. Auch in der vorliegenden Arbeit sollen sie nicht differenziert werden, sondern gleichermaßen als »die vom Menschen und seiner jeweiligen Perspektive unabhängige Beschaffenheit der Sache selbst« zu Grunde gelegt werden. (Hans Heinz Holz: »Realität«. In: Ästhetische Grundbegriffe (ÄGB). Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Band 5 Postmoderne-Synästhesie, Hg. v. Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhart Steinwachs u. Friedrich Wolfzettel, Stuttgart 2003, S. 209.) 44 Sill 1991, S. 14. 45 Vgl. ebd., S. 13f. 46 Vgl. Ingrid Aichinger : »Probleme der Autobiographie als Sprachkunstwerk«. In: Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, Hg. v. Günter Niggl, Darmstadt 1998, S. 175: »Ferner geht die Intention der Autobiographie, wenn auch in je verschiedener Weise, immer darauf, primär die Persönlichkeit des Verfassers und ihr Gewordensein darzustellen«. 47 Vgl. Werner Marholz: »Der Wert der Selbstbiographie als geschichtliche Quelle«. In: Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, Hg. v. Günter Niggl, Darmstadt 1998, S. 72ff.

Forschungsüberblick

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Wie alle autobiographischen Schriften ist die Autobiographie ein Text der nichtdichtenden Sprache. […] Die nicht-dichtende Sprache ist gekennzeichnet durch die Struktur der echten Wirklichkeitssaussage: Jemand sagt etwas von etwas aus. Die echte Wirklichkeitsaussage ist eine Subjekt-Objekt-Relation, in der das Aussagesubjekt ein echtes, d. h. real existierendes, individuelles Subjekt ist.48

Allerdings berücksichtigt Tarot in dieser Feststellung nicht, dass eine echte Wirklichkeitsaussage einem künstlerischen Anspruch, also Dichtung, nicht zwingend im Weg stehen muss und ebenso wenig durch die Verwendung nichtdichtender Sprache garantiert werden kann. Dieser Aspekt wird in Kapitel 2.2.4. der vorliegenden Arbeit besondere Beachtung finden. Im Zuge der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einsetzenden poststrukturalistischen beziehungsweise dekonstruktivistischen Subjekt- und Sprachkritik wird von bis dahin fest etablierten Beschreibungskriterien wie ›Subjekt‹, ›Identität‹, ›Werk‹ oder ›Wirklichkeit‹ behauptet, rein sprachliche Konstrukte zu sein; der Autor beziehungsweise Autobiograph verliert seine sinnkonstitutive Position. Vornehmlich sind hier die Texte La mort de l’auteur von Roland Barthes (1968) und Qu’est-ce qu’un auteur von Michel Foucault (1969) zu nennen49, in denen der Topos vom ›Tod des Autors‹ zwar nicht als grundsätzliche Negation der werkimmanenten Kategorie zu verstehen ist, welche die für die Autobiographie essentielle Wertvorstellung ›Autor‹ aber für den Gesamtprozess ästhetischer Sinngebung deutlich relativieren.50 Desgleichen sieht Paul John Eakin in autobiographischem Schreiben nicht den Bericht eines autonomen Selbst über seine Vergangenheit, sondern allererst eine Form der Selbstschöpfung im Rahmen der Sprache.51 Auch Jacques Derrida (De la Grammatologie, 1967) und Paul de Man (Autobiography as De-Facement, 1979) lehnen in Opposition gegenüber der traditionellen Hermeneutik die genannten Beschreibungskriterien der Autobiographie ab. Schlagworte wie ›Verfall der Gattung‹ oder ›Ende der Autobiographie‹ prägen die Forschungsdiskussion.52 Pierre Bourdieu stellt das Konzept des »r8cit coh8rent d’une s8quence signifiante

48 Tarot, S. 30. 49 Vgl. Roland Barthes: »La mort de l’auteur«. In: ders.: Essais critiques IV. Le bruissement de la langue, Paris 1984, S. 61ff. u. Michel Foucault: »Qu’est-ce qu’un auteur«. In: ders.: Dits et 8crits 1954–1988, Band 1: 1954–1969, Paris 1994, S. 796ff. 50 Vgl. Michael Wetzel: »Autor/Künstler«. In: Ästhetische Grundbegriffe (ÄGB). Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Band 1 Absenz-Darstellung, Hg. v. Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhart Steinwachs u. Friedrich Wolfzettel, Stuttgart 2000, S. 481. 51 Vgl. Paul John Eakin: Fictions in Autobiography : Studies in the Art of Self-Invention, Princeton 1985, S. 198, 226. 52 Vgl. z. B. Jacques Derrida: De la Grammatologie, Paris 1967, S. 226ff. u. Paul de Man: »Autobiography as De-Facement«. In: Modern Language Notes 94 (1979), H. 5, S. 919ff.

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Forschungsgegenstand ›Autobiographie‹

et orient8e d’8v8nements«53 in Frage, gekoppelt an den Vorwurf, einer adäquaten Wiedergabe vielfältiger und diskontinuierlicher Lebensvorgänge eher im Weg zu stehen.54 Durch neue Bezeichnungen wie ›Nouvelle Autobiographie‹, ›autobiographie postmoderne‹ oder ›autofiction‹55 versuchen einige Autobiographietheoretiker, der problematisch gewordenen Ich–Identität und einer Fiktionalisierung der Gattung Rechnung zu tragen und den Bruch mit der Tradition nicht im negativen Sinne als Ende, sondern positiv als Weiterentwicklung der Gattung festzuschreiben.56 Auch für Michaela Holdenried »ist die Autobiographietheorie nur durch einen Paradigmen- und Theoriewechsel aus dieser theoretischen Sackgasse zu bewegen«.57 Die Fülle und Vielfalt autobiographischer Literatur im späten 20. Jahrhundert zeigt: »Alle Dekonstruktionen konnten der Autobiographie als schriftstellerischem Grundtrieb allerdings nichts anhaben«58 : Ungeachtet akademischer Theorie in der Nachfolge Roland Barthes’, Michel Foucaults, Jacques Derridas, Paul de Mans und Pierre Bourdieus nimmt die Zahl der tatsächlich veröffentlichten Autobiographien gerade in den 1980er und 1990er Jahren deutlich zu – auch derer, die an traditionellen Identitäts- und Wirklichkeitsvorstellungen und dem Ziel der sinnstiftenden Beschreibung ihres Lebens festhalten.59 Im Jahr 1999 erscheint ein Sammelband mit dem Titel Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs, in dem die Bedeutung des Autors als zentrale Werkkategorie erneut hervorgehoben wird.60 Die dekonstruktivistische Kritik dokumentiert letztlich, wie beständig die durch die neuere Forschung wiederholt verworfenen Begriffe sind – in der gegenwärtigen autobiographischen Produktion, Rezeption und literaturwissenschaftlichen Theorie sind sie stich53 Pierre Bourdieu: »L’illusion biographique«. In: Actes de la recherche en sciences sociales 12 (1986), H. 62/63, S. 70. 54 Vgl. auch Hermann Schlösser : »Dichtung oder Wahrheit? Literaturtheoretische Probleme mit der Autobiographie«. In: Autobiographien in der österreichischen Literatur, Hg. v. Klaus Amann u. Karl Wagner, Innsbruck 1998, S. 23. 55 Vgl. z. B. Alain Robbe-Grillet: Neuer Roman und Autobiographie, Konstanz 1987, S. 23 [Es handelt sich um die deutsche Fassung des Vortrags, den Alain Robbe-Grillet am 12. 05. 1986 in französischer Sprache an der Universität Konstanz gehalten hat. Ein Abdruck in französischer Sprache existiert nicht.] u. Serge Doubrovsky : Fils, Paris 1977, S. 10. 56 Vgl. z. B. Doris Ruhe: »Wie neu ist die Nouvelle Autobiographie? Aspekte der Gattungsentwicklung in Frankreich und Deutschland«. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 18 (1994), S. 354 u. Kapitel 2.2.4. der vorliegenden Arbeit. 57 Holdenried 1991, S. 97. 58 Richard Kämmerlings: »Das Ich und seine Gesamtausgabe. Zum Problem der Autobiographie«. In: Kursbuch 38 (2002), H. 148, S. 103. 59 Vgl. Jost Hermand: »Von der ›Wichtigkeit‹ des eigenen Lebens. Sinn und Unsinn autobiographischen Schreibens«. In: Passagen. Literatur – Theorie – Medien. Festschrift für Peter Uwe Hohendahl, Hg. v. Manuel Köppen u. Rüdiger Steinlein, Berlin 2001, S. 129f. 60 Vgl. Fotis Jannidis/Gerhard Lauer/Matias Martinez/Simone Winko (Hgg.): Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs, Tübingen 1999.

Forschungsüberblick

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haltige Kriterien geblieben. In einem 2003 erscheinenden Aufsatz bestimmt Volker Depkat die Autobiographie als »eine aus eigener Initiative und mit dem Ziel der Veröffentlichung verfaßte, in einheitlicher Schreibperspektive komponierte und narrativ organisierte Darstellung des eigenen Lebens oder einzelner Abschnitte daraus«61 und bezieht sich damit nicht ausschließlich auf den überlieferten Gattungskanon, sondern ebenso auf die Autobiographie des 20. Jahrhunderts. Sogar Martina Holdenried bemerkt rund zehn Jahre nach ihrem Postulat eines Paradigmen- und Theoriewechsels: Gegen die poststrukturalistische Vereinfachung des Subjektbegriffs als bloßes Konstrukt und gegen die Popularisierung der Formel vom ›Tod des Autors‹ (Barthes) gilt es, am Referenzcharakter von Sprache und an der Referentialität von Autobiographik festzuhalten.62

Eine mögliche Begründung für das Festhalten an traditionellen Begriffen und Definitionen ist sicherlich in der Problematik der Postmoderne zu sehen, dass sie ihre Aspekte in der Sprache von Rationalität und Vernunft darstellen muss, obwohl sie diese für subversionswürdig hält63 : Die Postmoderne löst ja die Moderne und ihre ästhetischen Muster, Markierungen wie Markenzeichen nicht auf. […] Der klassische Modernismus hat sich keineswegs erledigt, weder in seiner Geltung beim Publikum der Rezipienten noch unter seinen Adepten bei den Schriftstellern.64

In literaturwissenschaftlichen Nachschlagewerken der letzten fünfzehn Jahre finden sich mithin Definitionen wie die folgende: Eine Autobiographie ist ein nichtfiktionaler, narrativ organisierter Text im Umfang eines Buches, dessen Gegenstand innere und äußere Erlebnisse sowie selbst vollzogene Handlungen aus der Vergangenheit des Autors sind.65

Dieser begrenzten Auswahl genannter Gattungsdefinitionen aus verschiedenen Epochen und Strömungen ließen sich unzählige weitere hinzufügen; die Vielzahl von Beiträgen zur internationalen Autobiographieforschung, hauptsächlich zu deutsch-, englisch- und französischsprachiger autobiographischer Literatur, ist nahezu unüberschaubar.66 Christian Hoffmann kritisiert in Bezug auf die lite61 Volker Depkat: »Autobiographie und die soziale Konstruktion von Wirklichkeit«. In: Geschichte und Gesellschaft 29 (2003), H. 3, S. 455. 62 Holdenried 2000, S. 53f. 63 Vgl. Utz Riese/Karl Heinz Magister : »Postmoderne/postmodern«. In: Ästhetische Grundbegriffe (ÄGB). Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Band 5 Postmoderne-Synästhesie, Hg. v. Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhart Steinwachs u. Friedrich Wolfzettel, Stuttgart 2003, S. 4. 64 Ebd., S. 33f. 65 Jürgen Lehmann 1997, S. 169. 66 Vgl. Sill 1991, S. 14.

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Forschungsgegenstand ›Autobiographie‹

raturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Autobiographie in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, wie schwer die Einordnung der Debatte fällt: Diese scheint noch weit entfernt von einer einheitlichen Systematik – nicht einmal eine klare Fragestellung ist durchgängig erkennbar. Erschwerend kommt hinzu, daß die Bemühungen um die Einordnungen der Autobiographie nicht nur aus ganz unterschiedlichen literaturtheoretischen Richtungen kommen und daher oft aneinander vorbeigehen – es scheint auch nicht möglich zu sein, die Debatte international zu ordnen, so daß vielfach die Diskussionen, die innerhalb der nationalsprachlichen Literaturwissenschaften geführt werden, die Ergebnisse der jeweils anderen nicht zur Kenntnis nehmen und die Forschungsliteratur zur Autobiographie daher zu einem nicht unerheblichen Teil redundant ist.67

Michael Meyer dagegen versucht, die Theorien der Autobiographie in vier Grundannahmen einzuteilen, die sich an der Produktion, der Rezeption, dem Text und dem geschichtlichen Kontext ausrichten: 1. Die Autobiographie repräsentiert die Geschichte individueller Erfahrungen und bringt die gegenwärtige Persönlichkeit eines Individuums zum Ausdruck. 2. Die Autobiographie entsteht in engem Zusammenhang mit dem Erwartungshorizont ihrer Leser. 3. Die Autobiographie ist als selbstreferentieller Text zu verstehen. 4. Die Autobiographie ist ein kulturelles Konstrukt und als solches durch den historischen Kontext bedingt.68

Diese Einteilung kann als vorläufige Arbeitsgrundlage durchaus sinnvoll sein, erfasst die erwähnte und von Christian Hoffmann ausgeführte Vielfalt unterschiedlicher Ansätze wie auch ihre Probleme und Widersprüchlichkeiten aber nicht komplett. Für den Zusammenhang dieser Arbeit ist es jedenfalls nicht notwendig, auf die zahlreichen Impulse und Ansätze innerhalb der Forschungsgeschichte der Autobiographie en d8tail einzugehen – ein um Vollständigkeit bemühter Überblick würde den Rahmen dieses Einführungskapitels sprengen. Eine Begrenzung auf die bisher vorgestellten Definitionsversuche erscheint sinnvoll, insbesondere da die verschiedenen Bedingungen und Möglichkeiten autobiographischen Schreibens, die sich aus dem eigentümlichen Charakter dieser Textsorte ergeben, in Kapitel 2.2. zur Sprache kommen sollen und in diesem

67 Christian Hoffmann: Die Konstitution der Ich-Welt. Untersuchung zum Strukturzusammenhang von persönlicher Identität und autobiographischem Schreiben, Würzburg 2000, S. 132. 68 Michael Meyer: Gibbon, Mill und Ruskin: Autobiographie und Intertextualität, Heidelberg 1998, S. 11.

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Zusammenhang zahlreiche weitere gattungstheoretische Überlegungen Erwähnung finden werden. »In spezieller Weise interessant sind die nicht zu unterschätzenden wechselseitigen Einflüße [sic!] zwischen autobiographischer Theorie und literarischer Produktion«69 – in einem bewusst knapp zu haltenden Überblick soll in diesem Kontext auch die Gattungsgeschichte als historischer Hintergrund skizziert werden, um Entwicklungen und Probleme der autobiographietheoretischen Forschung sowie ihre Lösungsansätze angemessen betrachten und einordnen zu können: Als erste gattungsgeschichtlich bedeutsame Autobiographie sind eindeutig die um 400 nach Christus verfassten Confessiones des Aurelius Augustinus zu betrachten; sie können mit ihrer kontinuierlichen Darstellung eines Lebenszusammenhangs sowie der auf das eigene Ich gerichteten Reflexion als Leitparadigma früher Gattungsgeschichte bezeichnet werden.70 Aus kritischer Distanz beschreibt der spätere Bischof von Hippo sein ausschweifendes Leben vor dessen Wendepunkt, seiner Bekehrung zum Christentum. Seine kunstvoll gestaltete religiöse Introspektion bleibt während der folgenden Jahrhunderte ein unerreichtes Vorbild autobiographischen Schreibens. Für den Zeitraum des Mittelalters lassen sich lediglich einige autobiographisch inspirierte Werke anführen, die als Vorläufer der Gattung angesehen werden können, die gemäß dem aktuellen Forschungsstand aber nicht alle konstitutiven Merkmale einer Autobiographie erfüllen. Darunter fallen die Schriften von Otloh von St. Emmeram (Libellus de suis tentationibus, varia fortuna et scriptis, 11. Jahrhundert) und Hermann von Scheda (Opusculum de conversione sua, 12. Jahrhundert), der Briefwechsel zwischen Petrus Abaelardus und H8loise (12. Jahrhundert) sowie einige religiöse Erfahrungsberichte von Mystikern wie Heinrich Seuses Vita (um 1362). In der Renaissance kommt der Typus des neutral beschreibenden, Sachverhalte und Erlebnisse schlicht aneinanderreihenden autobiographischen Berichts auf, zu dem zum Beispiel die im 16. Jahrhundert abgefassten Schriften Thomas und Felix Platters (Lebensbeschreibung, 1724 und Tagebuch (Lebensbeschreibung) 1536–1567, 1840) oder Bartholomäus Sastrows (Bartholomäi Sastrowen Herkommen, Geburt und Lauff seines gantzen Lebens: auch was sich in dem Denckwerdiges zugetragen, so er mehrentheils selbst gesehen und gegenwärtig mit angehöret hat/von ihm selbst beschriben, 1823/24) zählen. Der religiöse, bekennende Lebensbericht tritt in der Renaissance zugunsten dieser neuen Gattungsausprägung zunächst in den Hintergrund, um zu Beginn des 18. Jahrhunderts eine neue Blütezeit zu erfahren. Überhaupt erfreut sich die 69 Holdenried 1991, S. 59. 70 Vgl. z. B. Almut Finck: Autobiographisches Schreiben nach dem Ende der Autobiographie, Berlin 1999, S. 23.

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Forschungsgegenstand ›Autobiographie‹

autobiographische Literatur im 18. Jahrhundert großer Beliebtheit, was sich auch in einer vermehrten Produktion widerspiegelt. Der Theologieprofessor und Pietist August Hermann Francke liefert mit seinem Werk Lebensläufe (1690) ein verbindliches Schema für die pietistisch-bekennenden Erweckungsgeschichten, bei denen gemäß pietistischen Praktiken kritische Selbstbeobachtung und Selbstanalyse im Mittelpunkt stehen. Die zunehmende Subjektivierung der Autobiographik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gipfelt in der psychologischen Autobiographie Jean-Jacques Rousseaus aus dem Jahr 1782. Sein Werk Les Confessions ist geprägt durch rückhaltlose Selbstenthüllung, Selbstbeurteilung sowie die Erzählung des Lebens in seinem Gesamtzusammenhang. Ralph-Rainer Wuthenow urteilt: Sie sind in der Tat das extreme Dokument neuzeitlicher Subjektivität, hinreißend im Schwung der Beredsamkeit, provozierend in der Rückhaltlosigkeit der Selbstentblößung, die insofern doch nicht vollkommen offen ist, als sich damit sofort die advokatorische Wendung zur Rechtfertigung verbindet.71

Deutschsprachige Beispiele psychologischer Entwicklungsgeschichten, die häufig einen besonderen Akzent auf die Beschreibung der Kindheit legen, sind Karl Philipp Moritz’ Werk Anton Reiser. Ein psychologischer Roman (1785–1790) sowie die Lebensgeschichten Johann Heinrich Jung-Stillings (Lebensgeschichte, 1777–1817) und Ulrich Bräkers (Lebensgeschichte und natürliche Ebenteuer des Armen Mannes im Tockenburg, 1789). Die Darstellungstechnik orientiert sich in diesen Werken im Bemühen um die Synthese lebensgeschichtlicher Fakten stark am Roman, eine Tendenz, die, ebenso wie die zunehmende Historisierung der Autobiographik, in Johann Wolfgang von Goethes Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit (1811–1814, 1833) ihren Höhepunkt findet. In der Verbindung von historiographischem und literarischem Erzählen gelingt es Goethe, sein individuelles Leben unter den Bedingungen seines Zeitalters zu präsentieren, folglich die Darstellung von Ich und Welt künstlerisch verschmelzen zu lassen. Für die weitere Entwicklung des Genres ist Goethes Werk von überragender Bedeutung und gilt als eines der Leitparadigmen der europäischen Autobiographik.72 Dennoch lässt sich seit Beginn der 1840er Jahre auch eine parallele Entwicklung zum sachlichen historiographischen Bericht konstatieren, der den Schwerpunkt vielmehr auf politische und gesellschaftliche Lebensbereiche legt, wie zum Beispiel Karl Immermanns Memorabilien (1839). Häufig ist in der literaturwissenschaftlichen Forschung von einem Traditionsbruch in der Geschichte der Gattungen ›Roman‹ sowie ›Autobiographie‹ um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert die Rede.73 Was die Entwicklung der 71 Wuthenow 2002, S. 180. 72 Vgl. z. B. Wagner-Egelhaaf, S. 7. 73 Vgl. z. B. Sill 1991, S. 46.

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Autobiographie im 20. Jahrhundert betrifft, lassen sich deutlich voneinander abgrenzbare Phasen und Strömungen schwer ausmachen. Die Goethe’sche Form der erzählerischen Gestaltung eines Künstlerlebens in seiner Verbindung zum sozialhistorischen Umfeld schreibt sich in den Autobiographien Hans Carossas (Eine Kindheit, 1922; Verwandlungen einer Jugend, 1928) oder auch Elias Canettis (Die gerettete Zunge. Geschichte einer Jugend, 1977; Die Fackel im Ohr. Lebensgeschichte 1921–1931, 1980; Das Augenspiel. Lebensgeschichte 1931–1937, 1985) fort, während Heinrich Mann (Ein Zeitalter wird besichtigt, 1946) oder Alfred Döblin (Schicksalsreise: Bericht und Bekenntnis, 1949) den Akzent eher auf die Schilderung subjektiv erlebter Geschichte setzen. Generell ist als Neuerung eine Tendenz zum Fragmentarischen auffällig, wie sie sich unter anderem in Walter Benjamins Werk Berliner Kindheit um neunzehnhundert (1932/33) findet, in welchem er »in einer Folge von Bildern und Ausschnitten, in denen nicht das Subjekt, sondern die Physiognomie der Epoche erkennbar wird«74, erzählt. Zudem kann Benjamins Werk als Beispiel für das Subgenre der Kindheitsautobiographie gelten, die in der Regel mit der Herausbildung der Persönlichkeit beim Eintritt in das Erwachsenenalter schließt. Katrin Lange sieht Kindheitsberichte daher durch einen teleologischen Mangel gekennzeichnet: Ohne die Anlagen des Lebensanfangs auf die Entwicklung der erwachsenen Persönlichkeit und ihre Bewährung im bürgerlichen Alltag zuzuführen, brechen sie ab, schildern eine Zeit, über die die Erinnerung nur partiell verfügt und referieren auf das Ich einer biographisch und historisch ›anderen Zeit‹.75

Darüber hinaus begreift sie nicht nur die Kindheitsautobiographie als Fragment einer Lebensgeschichte, sondern erkennt auch deren Schreibweisen als fragmentarisch: »Diskontinuierlich, nämlich anekdotisch oder nach thematischen Aspekten gegliedert, entwarfen sie häufig das Bild der Kinderzeit und gaben damit jenen erzählerisch und psychologisch so relevanten ›Faden der Erzählung‹ preis«.76 Als weitere Beispiele für Kindheitsautobiographien können Theodor Fontanes Meine Kinderjahre77 (1894), Wolfgang Koeppens Jugend78 (1976) und 74 75 76 77

Wuthenow 2002, S. 188. Katrin Lange: Selbstfragmente. Studien zur Kindheitsautobiographie, München 2003, S. 3. Ebd., S. 4. Der Untertitel Autobiographischer Roman kann hier insofern vernachlässigt werden, als Fontane in dem seiner Kindheitsautobiographie vorangestellten Vorwort ausführt: »Alles ist nach dem Leben gezeichnet. Wenn ich trotzdem, vorsichtigerweise, meinem Buche den Nebentitel eines ›autobiographischen Romanes‹ gegeben habe, so hat dies darin seinen Grund, daß ich nicht von einzelnen aus jener Zeit her vielleicht noch Lebenden auf die Echtheitsfrage hin interpelliert werden möchte. Für etwaige Zweifler also sei es Roman!« (Theodor Fontane: »Meine Kinderjahre«. In: ders.: Sämtliche Werke, Aufsätze, Kritiken, Erinnerungen. Vierter Band: Autobiographisches, Hg. v. Walter Keitel, Darmstadt, München 1973, S. 9.) 78 Innerhalb der Forschung besteht Uneinigkeit darüber, ob Jugend als autobiographischer Bericht gelesen werden kann. Katrin Lange folgend, die sich dem Werk in ihrer erhellenden

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Forschungsgegenstand ›Autobiographie‹

Wulf Kirstens Die Prinzessinnen im Krautgarten. Eine Dorfkindheit (2000) angeführt werden. Kirsten beispielsweise, geboren 1934, beschreibt die Jahre 1939 bis 1949, also seine Kindheit im Schatten von Nationalsozialismus, Zweitem Weltkrieg und aufkommendem Sozialismus. Seine Erzählung endet mit der Schilderung einer Rückfahrt des 14-jährigen Wulf aus der Schule, wo er im Rahmen der Schulspeisung 1948/49 ein frisches Pfundbrot erhalten hat und dieses bereits auf dem Heimweg verspeist. Der Anspruch und die Fähigkeit, die eigene Lebensgeschichte sinnvoll und zusammenhängend zu gestalten und in Beziehung zur äußeren Wirklichkeit zu setzen, werden im Laufe des 20. Jahrhunderts zunehmend in Frage gestellt. Als Beispiele sind die autobiographischen Werke Jean-Paul Sartres (Les Mots, 1964) und Michel Leiris’ (L’.ge d’homme, 1939; La rHgle du jeu I–IV, 1948–76; Le ruban au cou de l’Olympia, 1981) zu nennen, in denen die bis dahin übliche chronologische Erzählstruktur aufgebrochen wird beziehungsweise eine Collagentechnik zum Einsatz kommt. So tragen beide Autoren wesentlich zur Erneuerung des Genres bei. Ebenso kritisch und ironisch, wie Roland Barthes sich in seinen literaturtheoretischen Arbeiten mit der Autobiographie und ihren zentralen Aspekten auseinandersetzt, geht er auch bei der Abfassung seines eigenen selbstbiographischen Versuchs vor, der erstmals im Jahr 1975 erscheint: Roland Barthes by Roland Barthes […] is probably the most famous attempt to write an autobiography ›against itself‹. While purporting to be an autobiography, it deconstructs from within the major assumptions underlying the genre. The text’s most salient break with tradition is achieved through discarding the first-person singular and substituting instead multiple-subject positionings: ›he‹, ›R. B.‹, ›you‹ and ›I‹ exchange places almost arbitrarily in an attempt to reinforce the effect of distance between the writer and the written text.79

In Bezug auf die Gattungsentwicklung im deutschsprachigen Raum des 20. Jahrhunderts halten Martin Bollacher und Bettina Gruber fest: Auch im Zeichen der modernen Krisen- und Katastrophenerfahrung und eines radikal veränderten Literaturverständnisses, das sowohl die Konsistenz des Textes als auch die Autonomie des Autors in Frage stellt, bleibt die Autobiographie ein bevorzugtes Medium der literarischen Selbsterkundung und Selbstaussage, die das brüchig gewordene Verhältnis des schreibenden Individuums zu seiner eigenen Geschichte und zu den umgreifenden lebensweltlichen Bedingungen zu reflektieren und zu gestalten vermag.80 Studie Selbstfragmente. Studien zur Kindheitsautobiographie eingehend widmet, wird Jugend in der vorliegenden Arbeit ebenfalls als Kindheitsautobiographie angenommen. 79 Linda Anderson: Autobiography, London, New York 2001, S. 70. 80 Martin Bollacher/Bettina Gruber : »Vorwort«. In: Das erinnerte Ich. Kindheit und Jugend in der deutschsprachigen Autobiographie der Gegenwart, Hg. v. Martin Bollacher u. Bettina Gruber, Paderborn 2000, S. 9.

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In Peter Weiss’ Abschied von den Eltern (1960) zum Beispiel sieht Richard Kämmerlings einen »Text, der in der Geschichte autobiographischen Schreibens […] eine neue Phase markierte und eine ganze Lawine literarischer Selbstvergewisserungen lostrat«.81 Die 1970er Jahre stehen im Zeichen einer ›Neuen Subjektivität‹, also einer Hinwendung zum Persönlichen, Intimen und damit Partikularen, wobei sich auch in diesem Jahrzehnt verschiedene Richtungen zeigen, die jeweils unterschiedliche Konzepte der Selbstdarstellung und -konstitution verfolgen.82 In Bezug auf die 1980er Jahre, in denen ein rapider Anstieg autobiographischer Produktion festzustellen ist, konstatiert Oliver Sill »Ratlosigkeit angesichts einer Literaturentwicklung, von der man nicht weiß, was sie charakterisiert«.83 Anders als Bollacher und Gruber erkennt Doris Grüter in Bezug auf das späte 20. Jahrhundert das Aufbrechen der chronologischen Erzählstruktur zugunsten einer thematischen Gesichtspunkten folgenden Konzeption, die Ablösung von einem unbedingt retrospektiven Blickpunkt und die Verwendung innerer Monologe sowie der Technik des ›stream of consciousness‹. Das Ich trete nicht mehr zwingend als Subjekt seiner Lebensgeschichte auf, sondern könne als Durchgangsstation wechselnder Außeneindrücke wahrgenommen werden.84 Ähnlich nimmt Regine Hampel die Entwicklung autobiographischer Produktion in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wahr und formuliert: Thus there is less emphasis on the story and a supposedly truthful representation of past events. Instead, the text concentrates on the narrator and his/her discourse, on the process of writing and its problems, on the question of how to construct meaning. The thematization of these difficulties (or possibilities) of the genre has caused autobiography to take on board metafictional and intertextual elements. So we are now confronted with autobiographies that try to be radically different from the traditional form, contemporary autobiographies that do not renounce fictional elements as unsuitable and whose focus is on narrating, not on the narrated.85

Wie bei Bollacher und Gruber werden hier jedoch nur Strömungen innerhalb eines weit gefächerten Korpus an autobiographischen Neuerscheinungen im späten 20. Jahrhundert erfasst. Grüter und Hampel entgegenzuhalten sind unter anderem zahlreiche Beispiele traditionellen autobiographischen Erzählens, 81 Kämmerlings, S. 99. 82 Vgl. Hermand 2001, S. 121, 124. 83 Oliver Sill: »›Fiktion des Faktischen‹. Zur autobiographischen Literatur der letzten Jahrzehnte«. In: Deutschsprachige Literatur der 70er und 80er Jahre, Hg. v. Walter Delabar u. Erhard Schütz, Darmstadt 1997, S. 76. 84 Vgl. Doris Grüter : Autobiographie und Nouveau Roman. Ein Beitrag zur literarischen Diskussion der Postmoderne, Münster, Hamburg 1994, S. 45f. 85 Regine Hampel: »I Write Therefore I Am?«. Fictional Autobiography and the Idea of Selfhood in the Postmodern Age, Bern, Berlin, Brüssel, Frankfurt/M., New York, Oxford, Wien 2001, S. 71.

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unter denen nicht zuletzt die beiden Bände Günter de Bruyns viel diskutierter Autobiographie zu nennen sind. Die Begriffe und konstitutiven Beschreibungskriterien des klassischen Gattungskanons sowie eine hermeneutische Perspektive werden von postmodernen Ansätzen nicht verdrängt, zugleich kann die konventionell erzählte Autobiographie als zeitlos angenommen werden.86 Um nun einen Einblick in die Vorgehensweise und die zentralen Thesen eines der wichtigsten Autobiographietheoretiker zu geben sowie potentielle Schwierigkeiten beim Entwurf einer Gattungsdefinition an einem konkreten Beispiel verdeutlichen zu können, werden im folgenden Kapitel ausgewählte Schriften Philippe Lejeunes sowie sein bereits erwähnter Ansatz des autobiographischen Paktes vorgestellt und einer kritischen Betrachtung unterzogen.

2.1.2. Philippe Lejeune: Der autobiographische Pakt – ein exemplarischer Forschungsansatz »[J]e m’8tais rendu compte qu’en Allemagne, en Angleterre, aux Ptats-Unis, il existait plein d’8tudes approfondies sur le genre, et qu’en France il n’y avait quasiment rien«87 – das Forschungsdesiderat, das Philippe Lejeune Ende der 1960er Jahre innerhalb der französischen Literaturtheorie konstatiert, versucht er zunächst in seiner 1971 erscheinenden Publikation L’Autobiographie en France zu beheben. Obwohl Frankreich seiner Meinung nach eine große Anzahl bedeutender Autobiographien hervorgebracht habe, fehle zur Entstehungszeit des Buches auch eine Geschichte der Autobiographie – »[l]e domaine franÅais de l’autobiographie reste en friche«88, lautet sein Fazit, und sein Ziel ist es, diese Lücke auszufüllen. Er betrachtet seine Arbeit als Einführung in das Studium der Autobiographie(-geschichte), als Handwerkszeug und Hilfsmittel. Zunächst diagnostiziert er für den französischsprachigen Raum Missverständnisse und unscharfes Vokabular als Probleme der vereinzelten wissenschaftlichen Arbeiten zur Autobiographie, welche er mit einer Gattungsdefinition klären möchte. Nach der Vergegenwärtigung und dem konkreten Hinweis, dass solch ein theoretisches Modell den komplexen Sachverhalt nicht adäquat erfassen kann, folgt die Definition:

86 Vgl. Günter Waldmann: Autobiografisches als literarisches Schreiben. Kritische Theorie, moderne Erzählformen und -modelle, literarische Möglichkeiten eigenen autobiografischen Schreibens, Baltmannsweiler 2000, S. 56. 87 Philippe Lejeune: »Le pacte autobiographique, vingt-cinq ans aprHs«. In: ders.: Signes de vie. Le pacte autobiographique 2, Paris 2005, S. 12. 88 Philippe Lejeune: L’Autobiographie en France, Paris 1971, S. 6.

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[N]ous appelons autobiographie le r8cit r8trospectif en prose que quelqu’un fait de sa propre existence, quand il met l’accent principal sur sa vie individuelle, en particulier sur l’histoire de sa personnalit8.89

Das bedeutet für die Form der Autobiographie: Es handelt sich um eine Prosaerzählung; das behandelte Thema ist das individuelle Leben des Schreibenden, die Geschichte seiner Persönlichkeit. Es besteht Identität zwischen Autor, Erzähler und Hauptfigur, die Erzählhaltung ist rückblickend. Jede einzelne dieser Eigenschaften zeichnet die Autobiographie aus; Nachbargattungen der Autobiographie erfüllen mindestens eine dieser Voraussetzungen nicht. Die Oppositionen zu den Memoiren, zum Roman, zur Lyrik und zu anderen Formen intimer Literatur werden von Lejeune in einzelnen Unterkapiteln eingehend behandelt. Hinsichtlich der Abgrenzung zwischen Autobiographie und Roman konstatiert Lejeune auf Grund ihrer ähnlichen Strukturmomente Schwierigkeiten: Auch der Roman bediene sich seit dem 18. Jahrhundert unter anderem der Erzählform des »r8cit personnel«90, die bis dahin nur autobiographische Texte kennzeichnete – liegt ein Erzählwerk in der ersten Person Singular vor, reiche der Text allein also nicht aus, um die Gattung eindeutig zu bestimmen. Das Unterscheidungsmerkmal zwischen Autobiographie und Roman liege in diesem Fall außerhalb des Textes. Da die Autobiographie Identität zwischen Autor, Erzähler und Hauptfigur voraussetze, verweise das Wort ›ich‹ im Text auf den Autor, obwohl der Text selbst dies nicht beweisen könne. Aus diesem Grund stellen laut Lejeune Autoren einer Autobiographie gern ein Vorwort, eine Erklärung oder einen Einblick in ihre Absicht voran, um dem Leser darin einen ›autobiographischen Pakt‹ anzubieten. Um eine Autobiographie eindeutig von einem autobiographischen Roman in der ersten Person absetzen zu können, hält er diesen Pakt für unverzichtbar.91 Lejeune arbeitet also bereits in dieser frühen Publikation eine Definition der Autobiographie aus und führt schon hier das Kriterium des ›autobiographischen Paktes‹ ein, das in diesem Werk allerdings noch nicht den Schwerpunkt der Betrachtung bildet und nicht näher ausgeführt wird. Eingeteilt in die drei Kapitel D8finition, Histoire und ProblHmes sowie mit einem umfassenden dokumentarischen Anhang versehen (R8pertoire […], Bibliographie und Anthologie), kann L’Autobiographie en France »als erste Bestandsaufnahme der autobiographischen Tradition in Frankreich«92 angesehen werden. Auch Paul John Eakin erachtet Lejeunes Unternehmung als »not only sensible but necessary, given that in 1971 there was no existing study of the 89 90 91 92

Ebd., S. 14. Ebd., S. 24. Vgl. ebd. Ruhe, S. 353.

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history of autobiography in France«.93 Michel Beaujour urteilt: »Ses premiHres d8finitions, formul8es dans L’Autobiographie en France, restent les meilleures et continuent / le narguer, malgr8 ses efforts pour les d8passer«.94 In der Tat sind die in späteren Jahren nachfolgenden Schriften Lejeunes in großen Teilen als selbstkritische Auseinandersetzung mit diesen ersten Ansätzen zu betrachten. Neben L’Autobiographie en France gehören Le pacte autobiographique (1975), Lire Leiris. Autobiographie et langage (1975), Je est un autre. L’Autobiographie de la litt8rature aux m8dias (1980), Moi Aussi (1986) und Signes de vie. Le pacte autobiographique 2 (2005) zu seinen Hauptwerken, wobei er ferner zahlreiche Artikel, Sammelbände, Interviews und Bibliographien veröffentlicht. Lejeune selbst äußert sich im Jahr 1975: La publication de ce livre [L’Autobiographie en France] m’a permis d’engager un dialogue avec ceux qui travaillaient sur ce domaine, d’Þtre critiqu8, de progresser. J’ai pu modifier, rectifier, voir les limites de certaines m8thodes ou de certaines propositions.95

Eingehende Auseinandersetzungen mit dem Paktmodell führen im Jahr 1973 zu der Veröffentlichung seines Artikels Le pacte autobiographique in der Zeitschrift Po8tique, im Jahr 1975 publiziert Lejeune unter dem gleichen Titel eine Essaysammlung, die von diesem Aufsatz eingeleitet wird. Le pacte autobiographique kann als Kernstück innerhalb Lejeunes Studien angesehen werden; es folgt nun eine Zusammenfassung der wesentlichen darin enthaltenen Thesen96 : Lejeune erkennt, dass er in L’Autobiographie en France einige theoretische Probleme in der Schwebe lässt, Argumente wiederholt und zum Teil unscharfes Vokabular beibehält. Sein Ziel ist es nun, diese Schwächen auszubessern, die Autobiographiedefinition zu verfeinern und zu präzisieren und alle in der Realität möglichen Ausprägungen der Gattung zu berücksichtigen. Er geht dabei nun dezidiert von der Lesersituation aus und beschränkt sich bei seiner Vorgehensweise auf die Literatur der letzten zwei Jahrhunderte in Europa, um einer zeitgemäßen Vorstellung von der Gattung gerecht zu werden. Die Untersuchungen beginnen mit einer überarbeiteten Autobiographiedefinition:

93 Paul John Eakin: »Foreword«. In: On Autobiography. Philippe Lejeune, Hg. v. Paul John Eakin, Minnesota 1989, S. viii. 94 Michel Beaujour : »Autobiographie et autoportrait«. In: Po8tique. Revue de th8orie et d’analyse litt8raires 32 (1977), S. 458. 95 Philippe Lejeune/Georges Gusdorf: »Discussion«. In: Revue d’histoire litt8raire de la France 75 (1975), H. 6, S. 932. 96 Zu den folgenden Abschnitten vgl. Philippe Lejeune: »Le pacte autobiographique«. In: ders.: Le pacte autobiographique, Paris 1996, S. 13ff.

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R8cit r8trospectif en prose qu’une personne r8elle fait de sa propre existence, lorsqu’elle met l’accent sur sa vie individuelle, en particulier sur l’histoire de sa personnalit8.97

Damit schreibt Lejeune dem Genre erneut folgende Merkmale zu: Prosaerzählung, die hauptsächlich das individuelle Leben, beziehungsweise die Geschichte einer Persönlichkeit behandelt, in der Identität zwischen Autor, Erzähler und Hauptfigur besteht und die rückblickend erzählt wird. Die Identität zwischen Autor, Erzähler und Hauptfigur erkennt Lejeune in diesem Artikel als wesentliche Eigenschaft der Autobiographie, gleichzeitig wirft diese Identität für ihn Probleme auf: 1. Wie manifestiert sich Identität zwischen Erzähler und Hauptfigur im Text? Meistens ist diese Identität durch die Verwendung des Personalpronomens ›ich‹ gekennzeichnet. Allerdings könnte der Ich-Erzähler auch eine Nebenfigur sein, somit ist die Verwendung der ersten Person kein eindeutiges Indiz für das Zusammenfallen von Erzähler und Hauptfigur. Außerdem kann diese Identität auch durchaus ohne die Verwendung der ersten Person bestehen: Sprecher können von sich selbst in der dritten Person reden oder auch die Anrede an sich selbst richten und damit die zweite Person verwenden. Diese Einschränkungen machen für Lejeune deutlich, dass grammatikalische Probleme nicht mit Identitätsproblemen zu verwechseln sind. 2. Wie manifestiert sich in einer ›Ich-Erzählung‹ (»r8cit ›/ la premiHre personne‹«98) Identität zwischen Autor und Ich-Erzähler? Unter Rückgriff auf den französischen Linguisten Emile Benveniste ruft Lejeune zunächst wesentliche linguistische Grundbegriffe zur Beantwortung dieser Frage in Erinnerung: Benveniste geht davon aus, dass es keinen Ich-Begriff gibt, dass das Personalpronomen ›ich‹ immer nur auf den Sprechenden verweist und daher die Identität zwischen dem Subjekt der Äußerung, also dem Sprecher, und dem Subjekt der Aussage markiert. Probleme treten auf in Zitaten, bei der mündlichen Rede aus der Distanz und bei der schriftlichen Kommunikation, da in diesen Fällen das Pronomen ›ich‹ nicht ausreicht, um den Sprecher oder Schreiber zu identifizieren. Pronomen können demnach immer nur verweisen, eine eindeutige Verknüpfung von Person und Rede kann nur durch den Eigennamen geleistet werden. Für eine Autobiographie ist das insofern von Bedeutung, da der Eigenname außertextuell auf dem Umschlag des Buches vorhanden ist und auf die tatsächliche Person des Autors verweist. Eine Namens97 Ebd., S. 14, deutsche Übersetzung: Philippe Lejeune: »Der autobiographische Pakt«. In: ders.: Der autobiographische Pakt, Frankfurt/M. 1994, S. 14: »Rückblickende Prosaerzählung einer tatsächlichen Person über ihre eigene Existenz, wenn sie den Nachdruck auf ihr persönliches Leben und insbesondere auf die Geschichte ihrer Persönlichkeit legt«. 98 Lejeune 1996, S. 15.

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identität zwischen Autor, Erzähler und Protagonist kann für Lejeune nun auf zwei Arten hergestellt werden: Erstens durch den autobiographischen Pakt, wobei Titel (oder Untertitel) wie ›Geschichte meines Lebens‹ oder ›Autobiographie‹ verwendet werden, oder dadurch, dass der Name des Ich-Erzählers im Text erwähnt wird und mit dem Namen des Autors auf dem Umschlag übereinstimmt. Eine dieser Möglichkeiten ist nötig, um die Identität eindeutig herzustellen; in vielen Fällen werden sogar beide Möglichkeiten gleichzeitig eingesetzt. Symmetrisch zum autobiographischen Pakt entwirft Lejeune den Romanpakt, bei dem die Fiktivität eines Werkes durch den Untertitel ›Roman‹ gekennzeichnet wird. Um einen Roman handelt es sich außerdem, wenn der Name der dargestellten Hauptfigur genannt wird und nicht mit dem Namen des Autors identisch ist. Folgende Möglichkeiten sind also denkbar : Die Hauptfigur eines Werkes kann einen anderen Namen tragen als der Autor, kann namenlos sein oder denselben Namen tragen wie der Autor. Der angebotene Pakt kann ein Romanpakt sein, kann fehlen oder kann ein autobiographischer Pakt sein. Laut Lejeune ergeben sich aus der Kombination dieser Möglichkeiten theoretisch neun verschiedene Fälle, die er in einem Schaubild darstellt.99 Die verschiedenen Kombinationsmöglichkeiten werden darin mit Hilfe von Ziffern und Buchstaben gekennzeichnet und anschließend detailliert erläutert: Kombinationsmöglichkeiten 1a und 1b: Der Name des Protagonisten stimmt nicht mit dem Namen des Autors überein. In diesem Fall handelt es sich nicht um eine Autobiographie, da keine Identität zwischen Autor, Erzähler und Hauptfigur besteht. Ob die Fiktivität durch einen Romanpakt bestätigt wird (1a) oder nicht (1b), ist nicht mehr ausschlaggebend; in beiden Fällen handelt es sich um einen Roman. Kombinationsmöglichkeiten 2a, 2b und 2c: Der Name des Protagonisten ist unbekannt, die Gattungsbestimmung hängt somit allein von der Art des Paktangebotes ab. Wird ein Romanpakt eingegangen (2a), handelt es sich um einen Roman mit einem fiktiven Ich-Erzähler ohne Namen. Wird überhaupt kein Pakt angeboten (2b), ist das Werk völlig unbestimmbar. Der Leser kann hier entscheiden, ob er das Werk als Roman oder als Autobiographie liest. Bietet der Autor einen autobiographischen Pakt an (2c), so ist der Protagonist zwar zunächst namenlos, kann aber, eben durch den autobiographischen Pakt, als identisch mit dem Autor betrachtet werden, wodurch das Werk als Autobiographie gelten kann. Kombinationsmöglichkeiten 3a und 3b: Der Name des Protagonisten ist identisch mit dem Namen des Autors. Diese Tatsache schließt die Möglichkeit einer Fiktion bereits aus (selbst wenn genannte historische Fakten nicht der Wirklichkeit entsprechen, handelt es sich laut Lejeune nicht um Fiktion, sondern 99 Vgl. ebd., S. 28.

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um Falschaussagen). Wird hier keinerlei Pakt angeboten (3a), kann der Leser dennoch Identität zwischen Autor, Erzähler und Protagonist konstatieren. Hinweise können ihm dabei die Namensnennungen des Protagonisten im Text oder auch Anspielungen auf die realen Werke des Autors sein, die der Leser theoretisch kennen könnte. In jedem Fall können Werke dieser Art als Autobiographien gelesen werden. Der häufigste Fall unter den Autobiographien aber ist 3b: Die Namensidentität wird zusätzlich durch den autobiographischen Pakt bestätigt. Ein gutes Beispiel ist Jean-Jacques Rousseaus Werk Les Confessions: Der Pakt tritt im Titel auf, wird im Vorwort näher ausgeführt und im Text wird die Identität durch die Verwendung der Namen ›Jean-Jacques‹ und ›Rousseau‹ bestätigt. Zwei weitere Kombinationsmöglichkeiten innerhalb des Paktmodells werden von Lejeune verworfen und erhalten keine Kennzeichnung durch Ziffern und Buchstaben, werden von ihm aber dennoch kurz erläutert: Der Name des Protagonisten stimmt nicht mit dem Namen des Autors überein, während der Autor einen autobiographischen Pakt anbietet. Lejeune artikuliert seine Auffassung, dass diese Kombinationsmöglichkeit durch einen inneren Widerspruch sowie durch Mehrdeutigkeit gekennzeichnet ist und nie ernsthaft und konsequent angewandt wurde. Ebenso beurteilt er den anderen Fall, in dem der Protagonist den gleichen Namen trägt wie der Autor, während der angebotene Pakt ein Romanpakt ist. Mit dem Modell des autobiographischen Paktes »werden erstmals rezeptionsästhetische Dimensionen wie das Leservertrauen und der Leserbezug konstitutiv für die Definition des Autobiographischen«100 ; es bildet den Kern der Ausführungen in Le pacte autobiographique. Im Vergleich zu L’Autobiographie en France fällt zunächst auf, dass die Definition der Autobiographie in beiden Schriften sehr ähnlich ist. Bereits in der früheren Abhandlung wird als wesentliches Indiz Identität zwischen Autor, Erzähler und Hauptfigur genannt, allerdings geht Lejeune nicht in die Tiefe und erfasst die zahlreichen Probleme noch nicht, die dieser Aspekt aufwirft. Er hält lediglich fest, dass das Wort ›ich‹ im Text auf den Autor verweise, obwohl der Text dies nicht beweisen könne. In Le pacte autobiographique dagegen stellt er die Frage, wie sich Identität zwischen Erzähler und Hauptfigur im Text ausdrücken kann, beziehungsweise wie sich in einer ›Ich-Erzählung‹ Identität zwischen Autor und Ich-Erzähler manifestiert, und geht in seinen Antworten darüber hinaus, das Personalpronomen ›ich‹ als Indiz zu betrachten. Über einen Rückgriff auf den Linguisten Benveniste erkennt er die Wichtigkeit des Eigennamens, und erst ab hier kann der Entwurf des autobiographischen Paktes, der in L’Autobiographie en France ja bereits angesprochen wurde, ernst genommen werden: nachdem die Probleme der gram100 Holdenried 1991, S. 79.

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matikalischen Person und der Herstellung von Identität geklärt sind.101 Außerdem erhält das Paktmodell nun einen viel höheren Stellenwert: Lejeune zeigt die denkbaren Kombinationen aus bestehender oder fehlender Namensidentität und angebotenem Pakt auf und erläutert sie eingehend. Das Paktmodell steht diesmal also wirklich im Zentrum der Ausführungen und wird plausibel auf der Basis erwähnter und geklärter Probleme erläutert. Paul John Eakin urteilt: The heart of Lejeune’s essay on the autobiographical pact, his elaboration of his thinking about the identity of the proper name shared by author, narrator, and protagonist, offers a brilliant insight into the nature of reference in autobiography.102

Michael Ryan dagegen verwirft Lejeunes Vorgehensweise als bürokratisch und nennt sein Kriterium der Identität zwischen Autor, Erzähler und Hauptfigur »antediluvian«.103 Martina Wagner-Egelhaaf, die Lejeune durchaus einen hohen Stellenwert in der Autobiographiediskussion beimisst, bemängelt einen beengten Horizont: Sie wirft Lejeune den Versuch vor, »textuelle Unsicherheiten, Unentscheidbarkeiten, Irritationen auf das sichere Parkett des autobiographischen Paktschlusses zu retten«.104 In der Tat können Lejeune mangelnde formalästhetische Differenzierungen vorgeworfen werden105 – in seiner Analyse geht er mit keinem Wort auf die von ihm zu Beginn festgesetzten, teilweise formalen Kriterien ein. Die theoretische Gattungsdefinition eröffnet den Aufsatz, ohne in die eigentliche Untersuchung eingebunden zu sein, sie wirkt normativ und dogmatisch und steht damit im Widerspruch zu der folgenden empirischen und induktiven Analyse. An dieser Stelle offenbart sich eine Schwierigkeit, mit der jeder Autobiographietheoretiker bei dem Versuch einer Definition konfrontiert wird und die Lejeune durchaus bewusst war : Prendre comme objet d’8tude un genre vivant et contemporain, c’est se placer dans une situation ambigu[, qui est / la fois une ressource et une limite. Le choix de l’objet n’est pas innocent : dans la mesure oF les genres sont des institutions sociales, isoler un genre pour le constituer en objet de savoir, cela peut Þtre une maniHre de collaborer / l’institution autant que de faire œuvre scientifique.106

101 102 103 104 105 106

Vgl. Jean-Philippe Miraux: L’autobiographie. Pcriture de soi et sinc8rit8, Paris 1996, S. 18. Eakin 1989, S. x. Michael Ryan: »Self-Evidence«. In: Diacritics 10 (1980), H. 2, S. 5. Wagner-Egelhaaf, S. 69. Vgl. z. B. Holdenried 2000, S. 28. Philippe Lejeune: »Autobiographie et histoire litt8raire«. In: Revue d’histoire litt8raire de la France 75 (1975), H. 6, S. 903.

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Konkret formuliert er das Unterfangen als Teufelskreis: »impossible d’8tudier l’objet avant de l’avoir d8limit8, impossible de le d8limiter avant de l’avoir 8tudi8«.107 Auch Harold Rosen beschreibt dieses Grundproblem in Lejeunes Arbeit: Yet this proposal [der autobiographische Pakt] grew directly out of his attempt to create a coherent corpus of texts. If his hunt was meant to track down autobiographies, he had to be using a definition, implicit or explicit, as a principle of selection. Therefore the definition he arrived at is literally a working definition.108

Lejeunes Definition ist seine Art, diesem selbst formulierten Circulus vitiosus zu entkommen, allerdings versäumt er es, sie stärker in seine Analyse einzubeziehen und sie entsprechend seiner empirischen Herangehensweise anhand von konkreten Beispielen zeitgemäßer Publikationen zu untermauern. Lejeune selbst unterzieht seine Thesen in seinem erstmals 1986 erscheinenden Aufsatz Le pacte autobiographique (bis), den er als »relecture«109 von Le pacte autobiographique bezeichnet, einer weiteren kritischen Betrachtung. Zunächst charakterisiert er Le pacte autobiographique als Hypothese beziehungsweise als Handwerkszeug für folgende Studien und rechtfertigt somit eine nun veränderte Beurteilung und Umgestaltung der darin aufgestellten Thesen. Kritische Äußerungen anderer Literaturwissenschaftler in Bezug auf seine Autobiographiedefinition und das Paktmodell begreift er als hilfreich, um bestehende Schwächen und Grenzen seiner Analysen aufzudecken: Inzwischen empfindet Lejeune beispielsweise den Anfang seiner Arbeit als widersprüchlich, da er einerseits ein empirisches und induktives Vorgehen verfolgt, aber unmittelbar mit einer theoretischen Definition beginnt, die durchaus dogmatisch erscheinen kann. Er greift diese Definition nun noch einmal auf und kommt zu dem Urteil, dass sie in ihrer Formulierung, zudem vom Text abgesetzt und kursiv, an einen Lexikoneintrag erinnere und er hier eine theoretische Hypothese mit einer normativen Behauptung verwechselt habe. Lejeune konstatiert, dass diese Definition die Beschäftigung mit dem Genre somit eher blockiert als stimuliert habe. Dennoch weist er auf ihre Nützlichkeit hin: Jeder, der sich mit einer literarischen Gattung befassen will, muss sich mit dem Problem der Definition auseinandersetzen, allein schon, um den Gegenstand seiner Studien auszuwählen und zu begrenzen. Als weiteres Dilemma der Autobiographiekritik identifiziert Lejeune: »S’il [le critique] cherche / Þtre clair et pr8cis, il sera faux ; s’il est vrai, il devient flou«.110 In Le pacte autobiographique wollte Lejeune Genauigkeit und Verständlichkeit vereinen und eine analytische Studie vor107 Philippe Lejeune: »Le pacte autobiographique (bis)«. In: ders.: Moi aussi, Paris 1986, S. 16. 108 Harold Rosen: Speaking from Memory. The study of autobiographical discourse. A guide to autobiographical acts and practices, Stoke on Trent 1998, S. 70. 109 Lejeune 1986, S. 13. 110 Ebd., S. 16.

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nehmen, die die einzelnen Faktoren und die Vielzahl möglicher Formen einer Autobiographie berücksichtigt. Nun sieht er seine Fehler nicht in einem übertrieben analytischen Formalismus, den ihm Kritiker häufig vorwerfen111, sondern im Gegenteil in seiner mangelnden Konsequenz in diesem Zusammenhang. Während sich Lejeune in seinen früheren Schriften negativ über die Verschwommenheit des Vokabulars im Autobiographiediskurs geäußert hat, sieht er diese mittlerweile als unentbehrlich an, da die Begriffe durch ihre Mehrdeutigkeit, ihre Dehn- und Formbarkeit den literarischen Dialog begünstigen. Auch seine Positionen, was das Paktmodell betrifft, haben sich verändert: Sogar die Termini ›pacte‹ und ›contrat‹ stellt er in Frage, da sie zu viele Assoziationen hervorrufen, die mit seiner Auslegung der Begriffe nicht übereinstimmen. Beispielsweise werde ein Pakt oder ein Vertrag von zwei Personen oder Gruppen, die sich einig sind, beschlossen und unterzeichnet. Ein Autor könne dem Leser ein Paktangebot machen, also einen Vorschlag, wie er sein Werk lesen kann, der Leser müsse dies aber nicht annehmen. Verschiedene Leser können außerdem das Angebot auf unterschiedliche Art auslegen. Oder abweichende Gattungsbezeichnungen des Verlegers können den Leser in die Irre führen. Inzwischen hält Lejeune statt dieser theoretischen Norm eine konkrete Beobachtung realer Leser und ihres Leseverhaltens für sinnvoll. Ebenfalls kritisch steht Lejeune seiner Auslegung der Kombinationsmöglichkeiten innerhalb des Paktmodells gegenüber, die er nun als nicht ausgereift betrachtet. Denn während er in den Kategorien Pacte und Nom du personnage zwar an die Kombinationsmöglichkeit 2b, nämlich »ni l’un ni l’autre«112 denke, die ein unbestimmbares Werk zur Folge hat, vergesse er die Möglichkeit »/ la fois l’un et l’autre«.113 Damit meint er Fälle, in denen der Name des Protagonisten dem des Autors ähnelt und so auf ihn verweist, ohne mit ihm überein zu stimmen, beispielsweise durch identische Initialen. Ebenso könne ein Werk mit ›Roman‹ untertitelt sein, vom Verlag aber als ›Autobiographie‹ beworben werden. Somit können durch die Ergänzung dieser Optionen und der sich daraus ergebenden Kombinationen nicht nur neun, sondern sechzehn mögliche Fälle verzeichnet werden. Lejeune äußert sich zudem erfreut darüber, dass eine in seinem Paktmodell eigentlich verworfene Kombinationsmöglichkeit aus Paktangebot und Namensgebung einen Schriftsteller inspirieren konnte, nämlich Serge Doubrovsky, der mit seinem Werk Fils (1977) einen Romanpakt anbietet, während er dem Protagonisten seinen eigenen Namen gibt.114

111 112 113 114

Vgl. z. B. Ryan, S. 5 und de Man, S. 922. Lejeune 1986, S. 23. Vgl. oben, S. 40f. Ebd. Vgl. Doubrovsky, S. 9ff. In diesem Zusammenhang vgl. u. a. auch Jerome Bruner : »The Autobiographical Process«. In: The Culture of Autobiography. Constructions of Self-Re-

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Außerdem gibt Lejeune zu, dass er den Pakt überschätzt und wichtige Textelemente wie Inhalt, Erzähltechnik und Stil, die er nur in seiner Eingangsdefinition berücksichtigt hat, unterschätzt habe. Als das Besondere an der Autobiographie erkennt er nun ihr ›doppeltes Spiel‹, einerseits eine wahrheitsgemäße Abhandlung, gleichzeitig aber auch ein Kunstwerk zu sein. Im Zuge postmoderner Literaturkritik werden gattungskonstitutive Begriffe in Frage gestellt, wie zum Beispiel das Konzept der ›Wahrheit‹ oder die Überzeugung, das gelebte Leben könne den Text hervorbringen, Wirklichkeit könne in der Autobiographie nachempfunden werden. Lejeune wollte mit Le pacte autobiographique zwar nicht bewusst in diese Debatte eintreten, dennoch ist er, wie schon bei der Erstellung seiner Autobiographiedefinition und dem Entwurf des Paktmodells, auch noch im Jahr 1986 von den in der Kritik stehenden Beschreibungskriterien überzeugt und entschließt sich nun zu einem Bekenntnis: Je crois qu’on peut s’engager / dire la v8rit8; je crois / la transparence du langage, et en l’existence d’un sujet plein qui s’exprime / travers lui; je crois que mon nom propre garantit mon autonomie et ma singularit8 […]; je crois que quand je dis ›je‹ c’est moi qui parle: je crois au Saint-Esprit de la premiHre personne.115

Lejeune konstatiert eine gewisse Ausgeglichenheit im Kreis seiner Kritiker, von denen ihm einige übertriebenen, andere hingegen fehlenden Formalismus vorwerfen, was er als Bestätigung empfindet, und schließt seinen Aufsatz so überraschend wie lapidar mit der Erkenntnis, dass eine Autobiographie ohnehin ein unmögliches Unterfangen sei. Während Le pacte autobiographique noch als Fortsetzung, Weiterentwicklung und Verbesserung von L’Autobiographie en France betrachtet werden kann, fällt Lejeunes Blick auf seine früheren Ansätze nun weitaus kritischer aus; er verwirft mit Le pacte autobiographique (bis) viele seiner bis dahin vertretenen Überzeugungen. Paul John Eakin schreibt über diesen Aufsatz: Lejeune himself presents in ›The Autobiographical Pact (bis)‹ […] the most comprehensive and searching analysis that his performance as a theoretician of autobiography has yet received. […] Conceding refinements on several points connected with his original definition of autobiography and the autobiographical pact, he is, nevertheless, engaged in a process of fine-tuning. He remains faithful to his concept of the pact, reaffirming on the one hand his belief in the confession of identity that establishes autobiography’s very existence as a referential art […], and on the other, his belief in

presentation, Hg. v. Robert Folkenflik, Stanford 1993, S. 42: »[D]efinitions of a genre (particularly autobiography) serve principally as challenges to literary invention«. 115 Lejeune 1986, S. 30.

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the crucial importance of excluding by his definition anything that would paralyze the reader’s trust in reference.116

Im Vergleich zu L’Autobiographie en France und Le pacte autobiographique erscheint Le pacte autobiographique (bis) in der Tat präziser und verständlicher. Allerdings verfolgt Lejeune mittlerweile eine andere Zielsetzung als in den vorhergegangenen Aufsätzen: Während er in seinen früheren Schriften noch versucht, ein Desiderat innerhalb der Literaturwissenschaft durch die Aufstellung einer Autobiographiedefinition, innovatives Vokabular und eigens entwickelte Hypothesen zu beheben, unterzieht er mit Hilfe der an ihm geäußerten Kritik seine bisherigen Theorien nun einem ebenfalls kritischen Blick und erlangt auf diese Weise neue Erkenntnisse. »[I]t is possible for him […] to stand by his original definition of autobiography and his unveiling of the pact and at the same time to depart from it by acknowledging its weaknesses«.117 Bemerkenswert sind, wie Harold Rosen zu Recht fest hält, Lejeunes Korrekturen hinsichtlich des Paktmodells, in deren Zuge er zwar nicht das Modell als solches verwirft, aber doch den Terminus ›pacte‹ ablehnt. Eine Tendenz zu größerer Differenzierung und zugleich zu einem offeneren Gattungsverständnis ist in dieser Schrift Lejeunes durchgängig erkennbar. Entsprechend formuliert Rosen ferner : [H]is studies took him towards a wider and wider view of what constituted autobiography. This gives a reader the pleasure of the rare sight of an academic repeatedly revising, adjusting, changing until he emerges as the only writer in the field with an embrace which is hospitable to every kind of autobiographical act. Lejeune cured himself of that dominant disposition to regard autobiography as an intensely restricted literary practice.118

In Le pacte autobiographique (bis) zeigt sich deutlich, dass Lejeune nicht auf die formalistische Argumentation des Paktmodells zu reduzieren ist, da er seine Positionen im Laufe der Zeit stets kritisch beleuchtet, ändert und erweitert. Sehr treffend greift Eakin Lejeunes Bekenntnis zur Autobiographie auf, das er als Kernstück des Aufsatzes betrachtet: »At the very heart of ›The Autobiographical Pact (bis),‹ Lejeune, true to his model, makes his own pact with the reader, a confession of faith in autobiography, in reference, in the self«.119 An dieser Überzeugung hält Lejeune bis heute fest, auch wenn sein Urteil über seine frühen Schriften inzwischen noch drastischer ausfällt. So finden sich beispielsweise in dem 2005 veröffentlichten Artikel Le pacte autobiographique, vingt-cinq ans aprHs Formulierungen wie »J’ai sur les rapports de l’autobio116 117 118 119

Eakin 1989, S. xiv. Rosen, S. 72. Ebd., S. 66. Eakin 1989, S. xiv.

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graphie et de la fiction des formulations brutales qu’aujourd’hui je r8cuse«120, »Comment ai-je pu 8crire des choses pareilles?«121 oder sogar »Idiot que j’8tais«.122 Doch trotz deutlicher Selbstkritik erkennt er sein Verdienst in der Etablierung des Paktmodells und dessen Zukunftsträchtigkeit nach wie vor an: Il y avait quelque chose de ferm8 dans L’Autobiographie en France, alors que la m8thode analytique du Pacte me semble assez ouverte pour avoir pu m’accompagner jusqu’/ aujourd’hui dans l’analyse de m8dias auxquels j’8tais bien loin de penser en 1971, et sur lesquels j’ai pu travailler, j’espHre efficacement, comme le cin8ma ou Internet.123

Trotz aller berechtigter (Selbst-)Kritik an Lejeunes Studien ist nicht von der Hand zu weisen, dass es Lejeune mit seinem rezeptionsästhetischen Ansatz gelungen ist, erhebliche Lücken in der Autobiographieforschung zu schließen und die Kategorie des Vertrags unwiderruflich in die Autobiographiediskussion einzubringen124 : Bis heute setzt sich nahezu jede ernstzunehmende wissenschaftliche Abhandlung zur Gattung der Autobiographie mit dem Paktmodell auseinander und bestätigt somit Lejeune in seinem Vorhaben, den Literaturdialog durch seine Schriften anzuregen.125

2.1.3. Probleme und Möglichkeiten der Gattungstheorie Wie sich in den beiden vorangegangenen Kapiteln gezeigt hat, stellt die inhaltliche und formale Vielfalt der Autobiographie ein Grundproblem des definitorischen Zugriffs dar ; Jean-Pierre Carron bezeichnet sie darüber hinaus als »un genre litt8raire qui semble r8tif / toute appr8hension compr8hensive«.126 Mischs eingangs zitiertes Postulat der Unbestimmbarkeit der Gattung scheint sich zu bestätigen: Oliver Sill bemüht dafür rund 80 Jahre später das Bild desjenigen, der ›mit leeren Händen‹ dasteht: Trotz intensiver wissenschaftlicher Beschäftigung mit dem Genre habe sich weder ein einheitlicher Autobiographiebegriff etablieren können, noch habe sich die einvernehmlich vorausgesetzte Abgrenzbarkeit der Gattung als stichhaltig erwiesen.127 Zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten befassen sich mit dem Forschungsgegenstand, ohne ihn genau 120 121 122 123 124 125 126

Lejeune 2005, S. 16. Ebd., S. 17. Ebd., S. 18. Ebd., S. 23. Vgl. Wagner-Egelhaaf, S. 72. Vgl. Lejeune 1971, S. 6. Jean-Pierre Carron: Pcriture et identit8: Pour une po8tique de l’autobiographie, Brüssel 2002, S. 25. 127 Vgl. Sill 1991, S. 44.

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bestimmen zu können. Des Weiteren spricht Sill von einer »bislang unübersehbaren Kluft zwischen autobiographietheoretischem Diskurs und der realen Entwicklung autobiographischer Literatur«.128 Im Folgenden sollen die Ursachen dieser literaturtheoretischen Defizite beleuchtet werden: Zunächst spielt das eigentümliche innere Identitätsverhältnis zwischen Verfasser und Werk129 eine Rolle, das autobiographische Paradoxon, dass Autor, Erzähler und Protagonist zusammenfallen, zwischen erzählendem und erzähltem Ich sowohl Identität besteht als auch Differenz, nämlich Differenz der Zeit, der Erfahrung und des Wissens.130 Der Autobiograph übernimmt eine Doppelrolle, indem er Ursprung des Textgegenstands und Ursprung der Textstruktur zugleich ist.131 Hinzu kommt eine Grundspannung der Gattung, die in Oliver Sills Akzentuierungen bereits anklingt sowie von Lejeune im Zuge seiner Formulierung des ›doppelten Spiels‹ der Autobiographie explizit formuliert wird: »[L]e paradoxe de l’autobiographie litt8raire, son essentiel double jeu, est de pr8tendre Þtre / la fois un discours v8ridique et une œuvre d’art«.132 Diese Grundspannung ist als Wurzel der definitorischen Unsicherheit zu betrachten: die Stellung der Autobiographie zwischen Historizität und Literarizität. »Was den autobiographischen Text von anderen literarischen Texten unterscheidet, ist, dass er mittels literarischer Instrumente außerliterarische Geltung beansprucht«.133 Autobiographien werden im Hinblick auf die außertextuelle Realität wahrgenommen, können einem Anspruch auf faktengetreue Wiedergabe dessen, was war, aber nicht gerecht werden. Sogar die Geschichtsschreibung kämpft mit der Tatsache, dass historische Wirklichkeit an sich nicht zu reproduzieren ist134, da es sich bei objektiver Realität um eine »vom Menschen und seiner jeweiligen Perspektive unabhängige Beschaffenheit der Sache selbst«135 handelt. In der Autobiographie tritt ein besonderes Problem hinzu: Hier geht es neben der Vermittlung äußerer Tatsachen auch um die Darstellung eines gelebten Lebens nicht nur hinsichtlich seines Ablaufs, sondern auch in Bezug auf Gefühle, Wünsche und Träume, und zwar aus der Sicht dessen, der dieses Leben gelebt hat. Das heißt, die Autobiographie zeigt den Menschen nicht unbedingt, wie er war und ist, sondern zeichnet in vielen Fällen das Wunschbild seiner Persön128 129 130 131 132 133

Ebd., S. 92. Vgl. Aichinger, S. 173. Vgl. Tarot, S. 30. Vgl. Bruss, S. 273. Lejeune 1986, S. 26. Benjamin Biebuyck: »Die kleine Autobiographie? Zur Bedeutung von Macht und Gewalt für autobiographische Literatur von Frauen«. In: Das erdichtete Ich – eine echte Erfindung. Studien zu autobiographischer Literatur von Schriftstellerinnen, Hg. v. Heidy Margit Müller, Aarau, Frankfurt/M., Salzburg 1998, S. 36. 134 Vgl. Aichinger, S. 180. 135 Holz, S. 209.

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lichkeit.136 Roy Pascal bemerkt, dass der Autobiograph, obwohl man ihm das umfassendste Wissen über sein eigenes Leben zugestehen müsse, naturgemäß ein unvollkommener Zeuge, nämlich voreingenommen, blind und vergesslich sei.137 Irrtümer, Ungenauigkeiten und Erinnerungslücken verhindern a priori die bruchlose Wiedergabe der Fakten.138 Georges Gusdorf sieht das Privileg der Autobiographie gerade darin, dass sie nicht allein die objektiven Etappen einer Laufbahn vor Augen führe, sondern der Autor bemüht sei, seiner Legende einen Sinn zu geben.139 Gusdorf weist darauf hin, dass es ohnehin unmöglich sei, »die Vergangenheit ›an sich‹, so wie sie war – die Vergangenheit ohne uns – zu entdecken«.140 Der Autobiograph schildere die Vergangenheit in der Gegenwart und für die Gegenwart und berücksichtige nur das, was zur Zeit der Abfassung immer noch Sinn und Wert habe.141 Er schöpfe laut Gusdorf letztlich aus seinem persönlichen Erinnerungs- und Erfahrungsschatz, den Erinnerungen aus seinem eigenen, tatsächlich gelebten Leben und verleihe diesem Einheit, Zusammenhang und Bedeutung, welche ihm nicht per se innewohnen – Objektivität könne demnach nicht Ziel und Maßstab einer Autobiographie sein. Gerade das Zurückbleiben der Autobiographie hinter Objektivität, hinter historischer Zuverlässigkeit kann als konstitutives Moment der Autobiographie angesehen werden142 : Gewesenes wird hier im Prozess des Erinnerns und Erzählens zu einem literarischen Kunstwerk verdichtet, dessen Wert in der Individualität des Künstlers liegt, in seiner Fähigkeit, Vergangenheit und Gegenwart in seinem Bewusstsein zusammenwirken zu lassen sowie Bedeutung, Persönlichkeitsentwicklung und Lebenssinn herauszuarbeiten im Sinne einer »Selbstschöpfung in Begriffen des erfahrenen Lebens«.143 Hans Glagau geht in seinen Ausführungen aus dem Jahr 1903 einen Schritt weiter, indem er postuliert: Der Dichter mag sich nicht auf schlichte Erzählung einschränken lassen; ihm ist nicht wie dem Geschichtsschreiber die treue Widerspiegelung des Vergangenen Selbstzweck und unbedingtes Erfordernis. Die Erreichung seiner künstlerischen und philosophischen Absichten steht ihm höher, und in Rücksicht auf sie formt er in freier Willkür seinen Stoff.144

136 Vgl. Georges Gusdorf: »Voraussetzungen und Grenzen der Autobiographie«. In: Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, Hg. v. Günter Niggl, Darmstadt 1998, S. 143. 137 Vgl. Pascal 1998, S. 154f. 138 Vgl. Shumaker, S. 86. 139 Vgl. Gusdorf, S. 147. 140 Ebd., S. 137. 141 Vgl. ebd., S. 142. 142 Vgl. Wagner-Egelhaaf, S. 40. 143 Pascal 1998, S. 156. 144 Hans Glagau: »Das romanhafte Element der modernen Selbstbiographie im Urteil des

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Zahlreiche Autobiographietheoretiker sprechen von einem fiktionalen Element der Autobiographie.145 Oft verweisen sie in diesem Zusammenhang explizit auf den Titel Johann Wolfgang von Goethes Autobiographie Dichtung und Wahrheit. Aus meinem Leben, der laut Martina Wagner-Egelhaaf die Möglichkeit der Fiktion als eines in der Autobiographie bewusst eingesetzten Mittels zur wahrhaftigen Darstellung des eigenen Lebens impliziere. Sie verweist darauf, dass Goethe Kunstwerk und Historiographie bewusst ineinander fließen lasse. Im Wissen um die Begrenztheit der subjektiven Wahrnehmung, um die NichtErreichbarkeit von Objektivität geht es für sie bei der Autobiographie also nicht um das Faktische eines Lebens, sondern um dessen subjektive Darstellung, die mit Fiktion durchaus in Einklang zu bringen sei.146 Die Autobiographie nimmt nach den hier aufgeführten Theoretikern also eine eigentümliche Stellung zwischen Historiographie und Dichtung ein, was ihnen die Gattungsdefinition und -abgrenzung erschwert; sie wird als geschichtliches Dokument angesehen, aber auch als künstlerischer, subjektiver Bericht über realiter gelebtes Leben, in welchem der Autor die Entwicklung seiner Persönlichkeit nachzeichnet und seinem Lebensverlauf aus der Rückschau einen Sinn verleiht. Als Sach- beziehungsweise Dokumentationsbericht bleibt die Autobiographie dieser subjektiven Sichtweise verhaftet, als erzählendes Sprachkunstwerk kann sie nicht die zahlreichen Möglichkeiten der Fiktion ausschöpfen, da sie auf Tatsachen eines real gelebten Lebens basiert. Markus Hoefler bezeichnet sie als »Literatur im Spannungsfeld zwischen Fakten und Fiktion, zwischen Subjektivität und Objektivität, zwischen Wahrheit und Dichtung«147 und Harold Rosen bescheinigt ihr : »[A]utobiography has lurking beneath its modest surface the great themes of memory, identity, the making of meaning, and the social construction of reality«.148 In zahlreichen Modellen, Schemata, Vergleichen und unterschiedlichen Definitionen haben Literaturwissenschaftler versucht, diesen komplexen Eigenschaften und Beurteilungskriterien der Autobiographie durch verschiedene Herangehensweisen Rechnung zu tragen, ohne jedoch einen einheitlichen Gattungsbegriff etablieren zu können. Auf diesen Problembereich Bezug neh-

145 146 147

148

Historikers«. In: Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, Hg. v. Günter Niggl, Darmstadt 1998, S. 66. Vgl. z. B. Wuthenow 1992, S. 1267 o. Kämmerlings, S. 106. Vgl. Wagner-Egelhaaf, S. 3. Markus Hoefler : »Die Möglichkeitsräume biographischen Schreibens«. In: Erinnerung, Gedächtnis, Geschichtsbewältigung. Österreichische Literatur der neunziger Jahre. Ein literarischer Workshop, Hg. v. Bozena Bekas, Joanna Jablkowska u. Joanna Michalak, Fernwald 2002, S. 66. Rosen, S. 2.

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mend spricht Christian Hoffmann von der »Unnötigkeit« und »Verweigerung einer Gattungstheorie und -geschichte«149 und formuliert: Ich denke, daß im autobiographischen Schreiben viele Impulse zusammenlaufen, die bisher nicht einmal ansatzweise erforscht worden sind, so daß mir angesichts der derzeitigen Forschungslage eine Diskussion über die Gattungsmerkmale der Autobiographie verfrüht und daher eher hinderlich erscheint.150

Auch Michaela Holdenried diagnostiziert: »Die nomenklatorische Unsicherheit verweist demnach auf das grundsätzlichere Dilemma, daß es eine umfassende Theorie der Autobiographie als literarische Gattung nicht gibt«.151 Hoffmanns und Holdenrieds Urteile fallen meiner Ansicht nach zu kritisch aus und stellen bereits erlangte Ergebnisse des aktuellen Forschungsstands in Frage. Den beiden Literaturwissenschaftlern entgegenzuhalten ist die Tatsache, dass die Autobiographieforschung seit ihren Anfängen zahlreiche erhellende Studien hervorgebracht und sich ihrem Gegenstand mit Hilfe unterschiedlichster Ansätze durchaus genähert hat – die wesentlichen Strömungen und ihre Vertreter wurden in Kapitel 2.1.1. dieser Arbeit skizziert. Somit ist die Forschung mittlerweile zweifellos bereits zu umfassenden Erkenntnissen und einem Katalog gattungskonstitutiver Merkmale gelangt, die der Charakteristik und der Sonderstellung des Genres innerhalb der Literaturwissenschaft und -geschichte Rechnung tragen und die als Forschungsgrundlage weiterer Studien zum Thema angesehen werden können; nicht zuletzt Philippe Lejeune lieferte mit seinem Modell des autobiographischen Paktes ein Beschreibungskriterium, das die folgende Beschäftigung mit der Gattung wesentlich beeinflusst hat. Natürlich darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass innerhalb der Autobiographietheorie und -geschichte noch erhebliche Lücken zu schließen sind152 und dass die Forschung in der Tat bis heute nicht zu einem Konsens über den Gattungsbegriff gelangt ist. William C. Spengemann urteilt: »[T]he more the genre gets written about, the less agreement there seems to be on what it properly includes«153, und Timothy Dow Adams kommt zu dem Schluss: »No matter how complicated or complete our attempt, creating an airtight definition of auto149 150 151 152

Hoffmann, S. 173. Ebd., S. 169. Holdenried 1991, S. 43. Michaela Holdenried beispielsweise formuliert als Aufgabe der Autobiographietheorie, »zu einer Strukturbestimmung der Autobiographie zu gelangen, die flexibel genug ist, um die fließenden Übergänge zwischen den einzelnen kontrastiven Typen, sowie die Grenzverschiebungen gattungs- wie formgeschichtlich zu beschreiben, aber auch verbindlich genug, um durch das Erarbeiten von Strukturdeterminanten typologische Schnitte zwischen den Genres zu legen, mögliche Traditionslinien zu verfolgen und eine genaue Strukturanalyse am Einzelwerk zu erleichtern«. (Ebd., S. 44.) 153 William C. Spengemann: The Forms of Autobiography : Episodes in the History of a Literary Genre, New Haven 1980, S. xi.

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biography is virtually impossible«.154 Ob dieses Postulat auch auf die Autobiographietheorie kommender Jahrzehnte noch zutreffen wird, bleibt jedoch fraglich. Die Aufgabe aktueller Forschung muss es in jedem Fall sein, wesentlichen Gattungsmerkmalen und -grundlagen nachzugehen, so also die Problematik des Gegenspiels von Erinnerung und Authentizität zu ergründen, der eigentümlichen Verortung der Autobiographie zwischen Historizität und Literarizität weiter nachzuspüren und aus diesem Problembereich heraus sowohl die Frage nach dem Fiktionalitätsgrad des Genres zu klären als auch Möglichkeiten und Grenzen der Identitätsfindung in autobiographischem Schreiben zu beleuchten. Beschreibungen sowie Klärungsversuche hinsichtlich der genannten Problembereiche und mit ihnen verknüpfter Fragestellungen sollen in den folgenden Kapiteln unternommen werden. Diese sollen im weiteren Verlauf dieser Arbeit als Grundlage für die Analyse der Autobiographien von Günter de Bruyn, Monika Maron, Wulf Kirsten und Heiner Müller dienen, in denen sich Fragen der Authentizität, Historizität, Literarizität, Subjektivität und Identität auf besondere Weise stellen. Wie bereits in der Einleitung dieser Arbeit dargelegt wurde, handelt es sich bei den zu untersuchenden Werken um Lebensberichte, die stark durch die veränderten kulturpolitischen Rahmenbedingungen nach 1989 geprägt sind. Alle vier Autoren nutzen die neu gewonnenen Möglichkeiten der (kritischen) Auseinandersetzung mit individueller und kollektiver Vergangenheit und artikulieren ihr subjektives Menschen- und Geschichtsbild. Von Teilen der Autobiographieforschung mittlerweile verworfene Beschreibungskriterien wie ›Subjekt‹, ›Identität‹, ›Autor‹, ›Werk‹ oder ›Wirklichkeit‹ sind in Bezug auf die Werke von de Bruyn, Maron, Kirsten und Müller daher nach wie vor von Relevanz. Dekonstruktivistische beziehungsweise postmoderne Theorien dagegen bieten keine angemessenen Begriffe für die Analyse der ausgewählten Autobiographien und sollen daher in die Betrachtung der Gattungskategorien in den folgenden Kapiteln ausdrücklich nicht einfließen.

2.2. Grundkategorien der Gattung 2.2.1. Erinnerung vs. Authentizität Wie in Kapitel 2.1. deutlich wurde, kann eine Autobiographie als Erzählung eines gelebten Lebens in seinem Gesamtzusammenhang definiert werden, in der Identität zwischen Autor, Erzähler und Protagonist besteht. Das bedeutet, ein 154 Timothy Dow Adams: Telling Lies in Modern American Autobiography, Chapel Hill 1990, S. 2.

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Autobiograph gestaltet sein Werk aus der Rückschau: Das autobiographische Erzählen ist konstitutiv gebunden an seinen Erinnerungs- und Erfahrungsschatz.155 Form und Inhalt der Autobiographie sind wesentlich bestimmt durch die Erinnerungsvorgänge des Verfassers, durch seine Vergegenwärtigung lebensgeschichtlicher Vergangenheit zum Zeitpunkt der Niederschrift.156 Auch Carola Hilmes betont: »Die Selbstbesinnung des Ich und die Vergewisserung seiner Geschichte erfolgt [sic!] im Modus der Erinnerung«.157 Schon Georg Misch weist allerdings darauf hin, daß die Erinnerung nicht als mechanische Reproduktion von statten geht. Die Tatsächlichkeiten des Lebenslaufs, äußere so gut wie innere, verlieren eher an rein historischem Wahrheitswert dadurch, daß sie als Tatsachen des eigenen Lebens mitgeteilt werden, und fast jeder Selbstbiographie kann man einen Mangel an solcher Einzelwirklichkeit nachrechnen.158

Neben Roy Pascal, Wayne Shumaker und Georges Gusdorf (zitiert in Kapitel 2.1.3.) gibt auch Christian Hoffmann eine gewisse »Fehlerhaftigkeit der Erinnerung«159 zu bedenken sowie die »Unmöglichkeit, in der Erinnerung jemals das Leben einzuholen, wie es wirklich gewesen ist«160, was den dokumentarischen Charakter dieser Textsorte zunächst in Frage stellt. In der Tat müssen Erinnerung und Gedächtnis auch als »grundlegende Unsicherheitsfaktoren des autobiographischen Erzählens«161 angesehen werden, was insofern gravierend ist, als der Großteil autobiographischen Materials dem Gedächtnis entnommen ist. Natürlich kann der Autobiograph seine Erinnerungsvorgänge durch historische Belege, durch verschiedenartige Dokumente wie Tagebuchaufzeichnungen, Briefe, Zeugnisse, Zeitungsartikel, administrative Akten oder Chroniken untermauern, jedoch auch diese müssen in der Rückschau einer kritischen Betrachtung unterzogen und in den Lebenszusammenhang eingeordnet werden. Es gilt, zu untersuchen, inwiefern reine Faktenwiedergabe und historische Zu-

155 Vgl. Oliver Sill: »›Über den Zaun geblickt‹. Literaturwissenschaftliche Anmerkungen zur soziologischen Biographieforschung«. In: BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History 8 (1995), H. 1, S. 34. 156 Vgl. Ralph-Rainer Wuthenow : Das erinnerte Ich. Europäische Autobiographie und Selbstdarstellung im 18. Jahrhundert, München 1974, S. 19f. 157 Carola Hilmes: »Konstruieren und dokumentieren: Über Schwierigkeiten beim Erzählen der eigenen Lebensgeschichte«. (24. 07. 2001) (Rezension zu: Martin Bollacher/Bettina Gruber (Hgg.): Das erinnerte Ich. Kindheit und Jugend in der deutschsprachigen Autobiographie der Gegenwart, Paderborn 2000.). In: IASL online: http://iasl.uni-muenchen.de/ rezensio/liste/hilmes.html, Zugriff: 30. 04. 2013, S. 1. 158 Misch 1907, S. 4. 159 Hoffmann, S. 145. 160 Ebd. 161 Friedrich 2000, S. 27.

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verlässigkeit für die Beurteilung einer Autobiographie als authentische Aussage herangezogen werden können und dürfen. Dazu ist es zunächst nötig, die Charakteristik von Erinnerungsstrukturen näher zu beleuchten: Wie von Misch und Hoffmann sowie auch in Kapitel 2.1.3. bereits angedeutet, ist unsere Erinnerung nicht als reines, unfehlbares Abbild der Realität zu verstehen, sondern bereits die Alltagserfahrung zeigt, dass Erinnerung punktuell, diskontinuierlich, inkohärent und assoziativ funktioniert; häufig ist Vergangenes lückenhaft oder schlichtweg falsch abgespeichert. Besonders in Bezug auf die Psyche, auf Gefühle und Vorgänge der Persönlichkeitsprägung sind Erinnerungen linearer und kohärenter Art nicht denkbar.162 Das Erfassen und Begreifen von zurückliegenden Ereignissen und Handlungen gelingt in der Regel nur annäherungsweise und partiell – Erinnerung erreicht dabei keine Objektivität und unterliegt keinem chronologisch-sukzessiven Gesetz, was von großer Tragweite für die Niederschrift einer Autobiographie ist, wie sich im Weiteren zeigen wird. Zahlreiche Autoren sind sich dieser Problematik bewusst und bringen sie in ihren autobiographischen Werken explizit zur Sprache. Im Besonderen ist hier Günter de Bruyn zu nennen, der dieses Problem nicht nur in seiner zweibändigen Autobiographie Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin und Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht wiederholt thematisiert, sondern der sich in Das erzählte Ich. Über Wahrheit und Dichtung in der Autobiographie auch theoretisch mit der Möglichkeit »Falsche[r] Erinnerungen«, wie das Kapitel heißt, auseinandersetzt.163 Christa Wolf spricht in Kindheitsmuster (1976) von der »Unzuverlässigkeit [des] Gedächtnisses, das nach dem Inselprinzip arbeitet und dessen Auftrag lautet: Vergessen! Verfälschen!«164, und Martin Walser weist gleich zu Beginn des autobiographisch geprägten Romans Ein springender Brunnen (1998) darauf hin, dass die Unmittelbarkeit des Gewesenen in der Erinnerung nicht wieder herzustellen sei.165 Als besonders undeutlich, lückenhaft, unzuverlässig, zuweilen sogar widersprüchlich stellen sich Kindheitserinnerungen heraus, da sie die Frühzeit des Bewusstseins und der Sozialisation betreffen. Sie signalisieren das Einsetzen des Erinnerungsvermögens und sind somit als erste unmittelbare Zeugnisse unseres

162 Vgl. Roman Reisinger : Die Autobiographie der Kindheit in der französischen Literatur. A la recherche de l’enfance perdue im Lichte einer Poetik der Erinnerung, Tübingen 2000, S. 52. 163 Vgl. Günter de Bruyn: Das erzählte Ich. Über Wahrheit und Dichtung in der Autobiographie, Frankfurt/M. 1995, S. 39–47. 164 Christa Wolf: »Kindheitsmuster«. In: dies.: Werke, Band 5, Hg. u. kommentiert v. Sonja Hilzinger, München 2000, S. 19. 165 Vgl. Martin Walser : Ein springender Brunnen. Roman, Frankfurt/M. 1998, S. 9.

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Selbst, als erste Stationen auf dem Weg zur Entwicklung von Persönlichkeit und Identität anzusehen166 : Wir wissen, daß es im Falle von autobiographischen Kindheitserinnerungen um den äußerst schwierigen Prozeß sprachlichen Erfassens von Eindrücken oder Prägungen geht, die weit zurückliegen, oft verdrängt wurden und einem anderen Bewusstseinsund Gefühlszustand angehören. Erlebtes/Erfahrenes wird damit aus der Erwachsenenperspektive neu geformt, umgeformt und in gewissem Grade verformt, indem ein künstlerisch gestalteter Zusammenhang etabliert wird.167

Auch Michaela Holdenried argumentiert, dass der Abstand zu dieser frühen Lebensphase so groß sei, dass »die dadurch entstehende epische Situation die Freisetzung erinnernder Phantasie und entsprechend die Tendenz zur Fiktionalisierung begünstigt«.168 Diese Erkenntnisse gehen einher mit den Definitionen Gerald Siegmunds, der das »Gedächtnis als Aufbewahrungsort von Eindrücken und Erfahrungen einerseits und andererseits Erinnerung als Arbeit am Speicher«169 begreift. Arbeit am Speicher bedeutet, dass Erinnerungen als Vorstellungen einer früheren Erlebniswirklichkeit und die ihnen zugeschriebenen Bedeutungen im Laufe der Zeit einer gewissen Veränderung, einem Gestaltwandel unterliegen. Da das erinnernde Individuum sich ununterbrochen weiter entwickelt, wandelt sich auch die Einschätzung der Vergangenheit, es finden Perspektivverschiebungen und Akzentverlagerungen statt. Hinzu kommt das Wissen um die Konsequenzen der Ereignisse, die Kenntnis des gesamten Lebensverlaufs, die nur die Rückschau bereit hält und somit eine andere Beurteilung als zum Zeitpunkt des Erlebens ermöglicht. Es entsteht also eine Erinnerungsstruktur, die zwischen Gegenwarts- und Vergangenheitsstandpunkt, zwischen erinnerndem und erinnertem Ich oszilliert. Diese Positionswechsel und die daraus entstehende Doppelperspektivität sind für die Autobiographie konstitutiv170, wie sich in den folgenden Ausführungen zeigen wird. Des Weiteren arbeitet das Gedächtnis selektiv und stellt zu jedem Zeitpunkt nur ein gewisses Sortiment an Erinnerungen zur Verfügung; Lücken und Leerstellen werden gegebenenfalls ausgefüllt, sei es 166 Vgl. Hartmut Seitz: Lebendige Erinnerungen. Die Konstitution und Vermittlung lebensgeschichtlicher Erfahrung in autobiographischen Erzählungen, Bielefeld 2004, S. 15. 167 Beatrice Sandberg: »Erinnerte und erfundene Erfahrung. Autobiographisches Schreiben als subjektive Geschichtsschreibung?«. In: Erinnerte und erfundene Erfahrung. Zur Darstellung von Zeitgeschichte in deutschsprachiger Gegenwartsliteratur, Hg. v. Edgar Platen, München 2000, S. 150. 168 Holdenried 1991, S. 223. 169 Gerald Siegmund: »Gedächtnis/Erinnerung«. In: Ästhetische Grundbegriffe (ÄGB). Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Band 2 Dekadent-Grotesk, Hg. v. Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhart Steinwachs u. Friedrich Wolfzettel, Stuttgart 2001, S. 609. 170 Vgl. Holdenried 1991, S. 225.

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durch freie Erfindung oder Verschmelzung mit früher oder später Erlebtem. Erinnerung ist letztlich als interpretativer Prozess anzusehen, in dem Gedächtnisinhalte nach Maßgabe aktueller Bedürfnisse und Deutungen in den Vordergrund treten und miteinander verknüpft werden171: »[R]emembering involves a reinterpretation of the past in the present […], narrated memory is an interpretation of a past that can never be fully recovered«.172 Auch Mark Freeman und Jens Brockmeier betonen die »constructive nature of memory«173 und formulieren: »Autobiographical memory and interpretive appraisal […] go hand in hand«.174 Ein Autobiograph kann also keine objektive Reproduktion des Gewesenen leisten, da Erfahrungen nicht nur im Erinnern, sondern mehr noch im Erzählen notwendig verändert werden. Erinnerte Ereignisse und deren Darstellung unterliegen stets der gegenwärtigen Auswahl und Deutung des Autobiographen. Seine Erinnerung wirkt grundsätzlich sinnstiftend und ist teleologisch präformiert durch das Wissen um den Lebensverlauf, der meist bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt nachgezeichnet werden soll. Als Grundprinzip der autobiographischen Erinnerung kann demnach statt Reproduktion die Rekonstruktion gelten: Die Erinnerung an ein Ereignis wird in nachfolgenden Lebensphasen durch Weiterentwicklung der Persönlichkeit und damit der Beurteilungskriterien, durch Sinnstiftung und durch die Einordnung in die Hierarchie des Lebenszusammenhangs zunächst verändert. Der Autobiograph schafft aus seinen Erinnerungen schließlich ein kohärentes Werk, er liefert eine Erzählung, die zwischen Anfang und Ende eine logische Ereignisabfolge aufweist und seinem gelebten Leben somit eine Form verleiht, die es per se nicht hat.175 Die Erzählung der eigenen Vergangenheit ist also immer auf gewisse Weise konstruiert.176 Jerome Bruner beschreibt diese Erzählvorgänge folgendermaßen: The narrator, obviously, must have recourse to memory, must retrieve information about the past. […] The program of retrieval must be guided by some criteria of relevance, by something like a ›theory‹ about how the isolated ›facts‹ of a life cohere.

171 Vgl. Karl Katschthaler : »Leben und Literatur. Grenzverwischungen zwischen fiktionalem und autobiographischem Raum«. In: Textualität und Rhetorizität, Hg. v. K#lm#n Kov#cs, Frankfurt/M. 2003, S. 181. 172 Smith/Watson, S. 16. 173 Mark Freeman/Jens Brockmeier: »Narrative integrity. Autobiographical identity and the meaning of the ›good life‹«. In: Narrative and Identity. Studies in Autobiography, Self and Culture, Hg. v. Jens Brockmeier u. Donal Carbaugh, Amsterdam, Philadelphia 2001, S. 96. 174 Ebd., S. 81. 175 Vgl. Friedrich 2000, S. 68. 176 Vgl. Hoffmann, S. 145f. Dieser Aspekt soll Gegenstand des Kapitels 2.2.3. sein.

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That theory (or narrative plot) […] creates them and then organizes them. The ›facts,‹ we might say, are partly made, partly found.177

In der von gegenwärtigen Erinnerungsstrukturen geprägten autobiographischen Reflexion setzt der Autor sich in ein Verhältnis zu seiner Geschichte und bringt seine autobiographische Vergangenheit, deren Beschaffenheit sich aus den Gegebenheiten, den Sinnbedürfnissen und dem Bezugsrahmen der Gegenwart ergibt, somit erst hervor.178 Hoffnungen, Träume, Ängste und Imaginationen spielen hier ebenso eine Rolle wie die vermeintlich konkreten Erinnerungen an reale Erlebnisse und sind als wesentliche Bestandteile autobiographischen Erzählens anzusehen. Wie bereits erwähnt, nehmen einige Autobiographietheoretiker diese Komponente autobiographischen Erzählens zum Anlass, von einem fiktionalen Element der Autobiographie zu sprechen. Dieser Aspekt der scheinbaren Fiktionalität der Gattung soll in Kapitel 2.2.4. eingehend beleuchtet werden, für den Moment ist es ausreichend, festzuhalten, dass ein autobiographischer Bericht ausschließlich der subjektiven Sichtweise ihres Autors entspringt – verbunden mit allen bereits erwähnten Problemen und Möglichkeiten. Der dokumentarische Charakter sowie die Historizität der Gattung, die im folgenden Kapitel abgehandelt werden sollen, sind also nicht zwingend an die faktengetreue Wiedergabe unverfälschter, objektiver Erinnerungen gebunden, zumal diese ohnehin nicht möglich ist. Vielmehr sollte sich die Frage nach der Authentizität der Autobiographie stellen. Zu den Schwierigkeiten im Umgang mit dem Authentizitätsbegriff als solchem gehört es zunächst, dass weder aus historischer noch aus aktueller Perspektive eine eindeutige Definition möglich wäre.179 Im 20. Jahrhundert findet der Begriff im Sinne einer ästhetischen Werkkategorie, »mit der sich Einmaligkeit und Originalität, Autorschaft und Fertigkeit als fundamentale Differenzkriterien zu Nichtkunst etablieren lassen«180, Verwendung. Als konstante semantische Komponenten der gegenwärtigen Begriffsbedeutung können die Adjektive ›wahrhaftig‹, ›eigentlich‹, ›unvermittelt‹, ›unverstellt‹ und ›unverfälscht‹ gelten181, jedoch betonen Susanne

177 Bruner 1993, S. 45. 178 Vgl. Depkat, S. 444f. 179 Vgl. Susanne Knaller/Harro Müller : »Authentisch/ Authentizität«. In: Ästhetische Grundbegriffe (ÄGB). Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Band 7 Supplemente Register, Hg. v. Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhart Steinwachs u. Friedrich Wolfzettel, Stuttgart 2005, S. 40. 180 Ebd., S. 42. 181 Vgl. ebd., S. 43. Diese Verwendung des Authentizitätsbegriffs ist maßgeblich von der Existenzphilosophie vorbereitet worden, deren Leitbegriffe im Laufe des 20. Jahrhunderts mit dem Authentizitätsbegriff verschmelzen. Selbst in jenen Ansätzen, die den Authentizitätsbegriff mit Hilfe poststrukturalistischer und dekonstruktivistischer Beschreibungs-

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Knaller und Harro Müller, dass selbst der Authentizitätsbegriff immer auch einen gewissen Willen zu oder das Wissen um Konstruktion und Inszenierung einschließt.182 Für die Autobiographie bedeutet dies, dass faktische Zuverlässigkeit zwar eines unter zahlreichen Elementen der Autobiographie darstellt, jedoch nicht das ausschlaggebende sein kann. Auch wenn der Autobiograph seinen Erinnerungen in der Erzählung eine künstlich-künstlerische Form verleiht, er sich dabei auch irrt, ihm Fehler unterlaufen oder er Tatsachen verschweigt, muss dies die Authentizität seiner Autobiographie nicht in Frage stellen; vielmehr kann der erzählende Bericht selbst als authentisch gelten. Laut Hartmut Seitz sind ohnehin zwei verschiedene Seiten der Authentizität zu unterscheiden: die ›historisch-dokumentarische‹ Seite der Authentizität, die nach nachweisbaren Fakten fragt, und die ›situativ-subjektive‹ Seite der Authentizität, »bei der es um die Stimmungen und den emotionalen Ausdruck im Verlauf des narrativen Handelns geht«.183 In diesem Sinne definiert Seitz Authentizität auch als »eine Art Synonym für eine lebendige Vergegenwärtigung der Vergangenheit«184, bei der die Geschichte in den Eindrücken und Gefühlen des Protagonisten spürbar und für den Rezipienten sinnlich erfahrbar werde. Auch wenn Seitz’ Definition der ›situativ-subjektiven‹ Seite von Authentizität meiner Meinung nach zu weit führt und der Begriff so zu einem zu schwer greifbaren und wenig stichhaltigen Beurteilungskriterium würde, ist Seitz das Verdienst zuzugestehen, eine Alternative zu der ›historisch-dokumentarischen‹ Seite von Authentizität eingehend analysiert und konkretisiert zu haben. Statt an dem Postulat einer »Unmöglichkeit authentischer Erinnerung«185 festzuhalten, das durchaus seine Berechtigung hat, wie die bisherigen Ausführungen gezeigt haben, erscheint es für die Betrachtung der Gattung ›Autobiographie‹ und ihres Authentizitätsgrades in der Tat sinnvoller, den Fokus von der ›Problematik der Erinnerung‹ in Richtung der ›Vermittlung von Erinnerung‹ zu verschieben: Ein autobiographischer Bericht ist in gewisser Weise immer auch ein Produkt der Gegenwart, also abhängig von und zugeschnitten auf die gegenwärtige Situation des Autors.186 Als authentisch müssen nicht allein die erzählte Lebensgeschichte, das erzählte Ich und die geschilderten Ereignisse gelten, sondern auch das erzählende Ich in der Schreibgegenwart, das nicht nur objektive Fakten präsentiert, sondern seine Vergangenheit aus seiner fehler-

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kriterien zu fassen versuchen, wird das Adjektiv ›authentisch‹ weiterhin als eine den Text oder das Kunstobjekt beglaubigende Kategorie eingesetzt. (Vgl. ebd., S. 52, 65.) Vgl. ebd., S. 65. Seitz, S. 239. Ebd., S. 233. Holdenried 1991, S. 235. Vgl. Seitz, S. 17.

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haften Erinnerung und seiner gegenwärtigen, subjektiven Einschätzung heraus nach bestem Wissen im Streben nach Wahrhaftigkeit schildert.187 Das autobiographische Werk kann Authentizität gewinnen, indem es in Beziehung zur erzählenden Person beurteilt wird – vornehmlich geht es dabei um deren Glaubwürdigkeit, Glaubwürdigkeit als Grundlage eines Fürwahrhaltens, das ausdrücklich unabhängig von neutraler Wissensvermittlung und konkreten Beweisen erfolgt. Eingestandene und explizit thematisierte Schwächen und Fehler wie beispielsweise Erinnerungslücken können durchaus als Zeichen der Glaubwürdigkeit gewertet werden, wie sich auch in Kapitel 4. dieser Arbeit zeigen wird.188 Dennoch ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Autobiographie eine real erfahrene Vergangenheit und damit auch historische Fakten zum Thema hat: den Lebensverlauf des Autobiographen in seinen konkret nachvollziehbaren Etappen ebenso wie die geschichtliche Epoche, in der er situiert ist. Ungeachtet der bereits beschriebenen unvermeidlichen Defizite in der Reproduktion beziehungsweise Rekonstruktion einer Lebenswirklichkeit, weist die Autobiographie eine historisch-dokumentarische Seite auf, erreicht sie, auch unabhängig von der Autorintention, einen gewissen Grad an Historizität – diesen gilt es im folgenden Kapitel zu untersuchen.

2.2.2. Historizität der Gattung – Die Autobiographie als Zeitzeuge Der Literaturwissenschaftler Oliver Sill unterscheidet innerhalb der Autobiographietheorie im Wesentlichen zwei voneinander abweichende Akzentuierungen; diese wurden neben weiteren theoretischen Strömungen in Kapitel 2.1.1. beschrieben. Außer dem Ansatz, die Autobiographie vorrangig als von der Persönlichkeit ihres Autors abhängig zu erklären, erkennt Sill innerhalb der Forschung die Tendenz, ein autobiographisches Werk vornehmlich als Tatsachenbericht, als geschichtliches Dokument wahrzunehmen. Unbestritten finden sich seit den Anfängen der Autobiographietheorie unzählige Forschungsarbeiten, die zu Recht auf ein historiographisches Element dieser Textsorte hinweisen. Die bereits erwähnte Grundspannung der Gattung, die sie ebenso facettenreich wie schwer greifbar erscheinen lässt, ist zwischen den Polen der Literarizität und Historizität auszumachen. Historizität, also ein Bewusstsein für und die Bereitschaft zur Vermittlung historischer Tatsachen, ist als eine der Grundsäulen der Autobiographie anzusehen: »Die Gliederung, die ihr eigen ist, geht aus jener 187 Vgl. hierzu Friedrich 2000, S. 29 u. Lejeune 1996, S. 39. 188 Vgl. Schlösser, S. 19ff.

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Grundtatsache hervor, daß Ich und Welt uns zusammen gegeben sind«.189 Die Möglichkeiten und Probleme der Wiedergabe von Vergangenheit in der Erzählung wurden bereits im vorangegangenen Kapitel abgehandelt – zwar beeinflussen diese die Art und vor allem die Zuverlässigkeit jeder Geschichtsvermittlung, die Tatsache, dass eine Autobiographie immer auch ein geschichtsbewusstes Werk ist, bleibt davon aber unberührt: Jede Autobiographie ist ein ›Lebensbericht‹, erzählt die ›Geschichte eines Lebens‹, wie diverse autobiographische Werke untertitelt sind, und hat somit Referenzcharakter. Unabhängig von der spezifischen Ausprägung der Autorintention wird hier Geschichte vermittelt – mindestens liefert der Autor einen Bericht über seine individuelle Lebensgeschichte. Und dafür gilt, wie Michael Mitterauer festhält: »In jedem Leben steckt viel mehr an für die Gegenwart bedeutsamer Vergangenheit, als es der einzelne von sich aus wahrnehmen kann«.190 Wie eng der Autobiograph seinen Blickwinkel auch fassen mag, auch ohne seine aktive Bemühung wird er Aussagen über die historische Epoche, in die seine Lebenszeit fällt, treffen: Aber nicht nur das Wesen des einzelnen spiegelt sie [die Autobiographie] wider ; der Selbstbiograph schildert auch seine Epoche und die Zeitgenossen. So individuell die Erzählung gefärbt ist, sie enthält stets einen starken Kern allgemeingeschichtlichen Lebens.191

Auch Christian Hoffmann betont, »daß die Konstitution von persönlicher Identität in der Auseinandersetzung mit Geschichte besteht und mit der Produktion von Geschichten einhergeht«.192 Letztlich ist jeder Lebenslauf eng an seinen historischen Hintergrund geknüpft; jedes Leben ist bestimmt durch die politischen und wirtschaftlichen Umstände und die alltäglichen Bedingungen im jeweiligen Lebensraum, so dass ein Lebensbericht diese äußeren Faktoren nicht vollständig aussparen kann. »Unlike novelists, life narrators have to anchor their narratives in their own temporal, geographical, and cultural milieux«.193 Die Autobiographie ist immer auch eine Spiegelung der Einstellungen des Menschen zu seiner Umgebung, zu seiner Zeit und den in ihr herrschenden Umständen194 oder, wie Eun-Hee Ryu es ausdrückt, eine »individuelle[…] 189 Misch 1907, S. 7. 190 Michael Mitterauer : »›Ich in der Geschichte, Geschichte im Ich‹. Zur ›Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien‹«. In: Autobiographien in der österreichischen Literatur, Hg. v. Klaus Amann u. Karl Wagner, Innsbruck 1998, S. 242. 191 Glagau, S. 55. 192 Hoffmann, S. 111. 193 Smith/Watson, S. 9. 194 Vgl. Marholz, S. 72.

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Chronik einer Zeit«.195 Auf diese Weise entsteht mit der Erzählung eines Lebenslaufs auch ein Zeitpanorama – je nach Akzentuierung fällt dieses mehr oder weniger detailreich aus. Entschließt sich der Autobiograph, den Schwerpunkt ausschließlich auf seine Person in ihrer Entwicklung zu legen, so scheinen die Zeitverhältnisse auch unbeabsichtigt zumindest implizit durch – »one cannot reflect upon self […] without an accompanying reflection on the nature of the world in which one exists«.196 Ist der Blickwinkel allerdings zu eng gewählt, besteht die Gefahr einer verfälschenden Darstellung. Zu wenig Einblick in die äußeren Umstände eines Lebens lässt nämlich auch falsche Folgerungen zu. Dies betrifft insbesondere die Schilderung der Kindheits- und Jugendphase, denn dabei handelt es sich um die Phasen im Leben, die vom Weltgeschehen am wenigstens tangiert werden. Eine stark eingeschränkte Beschreibung einer Kindheitsidylle beispielsweise, die über den familiären Rahmen nicht hinausgeht, trifft implizit eine politische Aussage: Sie erlaubt einen Rückschluss auf sorglose Zeiten in Frieden und Wohlstand – unabhängig von der realen weltpolitischen Lage, die diesem Bild durchaus nicht entsprechen muss, die dem beschriebenen Kind, also dem erzählten Ich aber noch verschlossen bleibt. Hier ist das erzählende Ich der Gegenwart gefragt, mögliche Missdeutungen a priori auszuschließen, indem es den historischen Rahmen ausreichend in die Darstellung mit einbezieht – »[a]n autobiography must be ›representative‹ of its times, however unusual or special it might be«.197 Entscheidet sich der Autobiograph indessen, persönliche Erfahrungen aktiv in das Zeitgeschehen einzubinden, also erzähltes Ich und Geschichte bewusst zu verknüpfen und sein Leben konkret in der Zeitgeschichte zu verorten, so vermittelt er mit seinem Werk bewusst mehr als einen individuellen Lebenslauf, er vergegenwärtigt soziale wie politische Realitäten und bietet seinen Lesern lebendigen Einblick in eine historische Epoche. Beispielsweise kann der Autobiograph ergänzende historiographische Passagen einschieben; auch Kommentare des wissenden Erzählers aus der Rückschau sind denkbar – ihm erschließen sich (historische) Zusammenhänge, die zum Zeitpunkt des Erlebens noch nicht ersichtlich waren. Die Möglichkeiten der erzählerischen Umsetzung von Geschichtsvermittlung sollen in den Kapiteln 2.2.4. und 4.1.2. erneut zur Sprache kommen und dort diskutiert werden.

195 Eun-Hee Ryu: »Über Definitionsprobleme der Gattung ›Autobiographie‹. Autobiographie als ›Geschichtsschreibung‹ und ›Dichtung‹« (Zusammenfassung). In: Dogilmunhak 43 (2002), Band 84, H. 4, S. 346. 196 Bruner 1993, S. 43. 197 Ebd., S. 43.

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Werner Marholz resümiert treffend: [Ü]ber das Ganze seines Soseins als Mensch dieser Zeit und dieser geschichtlichen Stunde kann er sich nicht irren. Keine andere schriftliche Urkunde gibt so getreu Weite oder Enge, geistige Reife oder Kindlichkeit einer Zeit wieder, wie es die eigene Lebensbeschreibung tut. […] Hier spricht unbewußt und bewußt der Mensch als Kind der Zeit unmittelbar.198

Schon Goethe erkennt im Vorwort seiner gattungsgeschichtlich bedeutsamen Autobiographie Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit als Hauptaufgabe der Autobiographie, »den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen, und zu zeigen, in wiefern ihm das Ganze widerstrebt, in wiefern es ihn begünstigt, wie er sich eine Welt- und Menschenansicht daraus gebildet«.199 Auch Goethe rückt also nicht allein den individuellen Lebenslauf in den Vordergrund, sondern den Menschen in seinen Zeitverhältnissen. So findet beispielsweise im ›Dritten Buch‹ des ersten Teils von Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit die Besetzung der Stadt Frankfurt am Main durch französische Truppen im Jahr 1759 Erwähnung. Die Verknüpfung mit der Stadtgeschichte wird in diesem Fall dadurch begünstigt, dass sich Leutnant Graf Thorane in Goethes Elternhaus einquartiert und das Leben des jungen Johann Wolfgang auf diese Weise von den Geschehnissen unmittelbar beeinflusst wird.200 Die Kaiserkrönung Josephs II. im Jahr 1764 in Frankfurt am Main erlebt der 14-Jährige beeindruckt mit; daher kann Goethe dieses historische Ereignis später aus seiner eigenen Rückschau schildern. Die Krönungszeremonie selbst kann Johann Wolfgang von seinem Standort aus zwar nicht mitverfolgen, jedoch beobachtet er interessiert die Vorgänge auf dem Römerberg. Dementsprechend detailliert fällt die Beschreibung aus; sie ist immer wieder von persönlichen Anmerkungen durchsetzt: Es war eben die rechte Zeit, daß ich von meinem Fenster wieder Besitz nahm: denn das Merkwürdigste was öffentlich zu erblicken war, sollte eben vorgehen. Alles Volk hatte sich gegen den Römer zu gewendet, und ein abermaliges Vivatschreien gab uns zu erkennen, daß Kaiser und König an dem Balkonfenster des großen Saales in ihrem Ornate sich dem Volke zeigten.201

In der Tat stellt Goethe in seiner Autobiographie also eine »Interaktion von Ich und Welt«202 dar ; es geht ihm um die erfolgreiche Vermittlung von persönlichen Erfahrungen und zeitgeschichtlichem Kontext, und auf diese Art lässt er aus198 Marholz, S. 73. 199 Johann Wolfgang von Goethe: »Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit«. In: ders.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände, Band I/14, Hg. v. KlausDetlef Müller, Frankfurt/M. 1986, S. 13. 200 Vgl. ebd., S. 94ff. 201 Ebd., S. 223. 202 Bollacher/Gruber, S. 8.

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gehend von seiner eigenen Vergangenheit ein umfassendes und reiches Zeitpanorama entstehen. Einer Autobiographie wie Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, die von einer die Zeitgeschehnisse bewusst überblickenden Persönlichkeit selbstständig gestaltet wird, bescheinigt Georg Misch, die »höchste Art von Repräsentation: die Darstellung der Geistesverfassung der Zeiten«203 zu erbringen. »[L]ife narrators inevitably refer to the world beyond the text, the world that is the ground of the narrator’s lived experience«204 – in Übereinstimmung mit den bisherigen Ausführungen werden Autobiographien stets auch im Hinblick auf die außertextuelle Realität (der Vergangenheit) wahrgenommen. Dementsprechend legen zahlreiche Autobiographietheoretiker den Schwerpunkt ihrer Analysen auf diese durchaus bedeutende Komponente der Gattung. So bezeichnet Ruth Klüger die Autobiographie beispielsweise als »eine Art Zeugenaussage«205 und auch Hans-Edwin Friedrich urteilt treffend: »Von ihrem Gegenstand her ist die Autobiographie eine Form historiographischen Erzählens«.206 Schon zu Beginn der Forschungsgeschichte betont Wilhelm Dilthey, dass das Selbst sich die geschichtlichen Beziehungen, in die es verwoben ist, zum Bewusstsein bringt und so die Selbstbiographie zu einem historischen Gemälde erweitert. Hierin erkennt Dilthey die Bedeutung und die Tiefe, aus denen heraus das Selbst sich und seine Beziehungen zur Welt verständlich macht.207 Nachfolgend hält Georg Misch fest: »So sind die hervorragenden Selbstbiographien, die uns aus den verschiedenen Zeiten erhalten sind, repräsentativ für diese Zeit selbst«.208 Bis in die 1960er Jahre hinein gilt die Autobiographie allerdings primär als reine »Realitätsabbildung«209, der »Sachlichkeit und Faktizität«210 konstitutiv zu Grunde liegen – aus aktueller Forschungsperspektive letztlich eine einseitige Beurteilung, die dieser Literaturgattung in ihrer Vielfältigkeit nicht gerecht wird. Abgesehen von den zahlreichen weiteren Gattungskonstituenten, darunter nicht zuletzt die Literarizität, die so unterschlagen werden, greifen Termini wie Realitätsabbildung, Sachlichkeit und Faktizität in Bezug auf die Gattung, und selbst in Bezug auf die Geschichtsvermittlung zu kurz. Auch ist die Autobiographie komplexer aufgebaut als ein faktenorientierter, sachlicher Bericht über vergangene Realität; dies zeigt sich unter anderem in ihrer tempo203 Misch 1998, S. 47. 204 Smith/Watson, S. 9. 205 Ruth Klüger : »Zum Wahrheitsbegriff in der Autobiographie«. In: Autobiographien von Frauen. Beiträge zu ihrer Geschichte, Hg. v. Magdalene Heuser, Tübingen 1996, S. 409. 206 Friedrich 2000, S. 37. 207 Vgl. Dilthey, S. 32. 208 Misch 1998, S. 48. 209 Friedrich 2000, S. 50. 210 Ebd.

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ralen Struktur : Da die Textsorte auf dem Kontrast zwischen früheren und späteren beziehungsweise gegenwärtigen Bewusstseinszuständen basiert, gibt sie idealerweise Aufschluss über den Zeitgeist und die Erfahrungsgehalte verschiedener Zeitebenen.211 Michaela Holdenried betont zu Recht, »daß auch in der avanciertesten Autobiographietheorie die Autobiographie ihren Status als Belegstelle, Quelle und Dokumentation existentieller Sachverhalte im Kern beibehalten hat«.212 In diesem Zusammenhang müssen aber, wie in den letzten Jahrzehnten der Forschungsgeschichte geschehen, das Verhältnis und die Verknüpfung von Ich und Geschichte in den Fokus rücken, die Art der Vermittlung eines individuellen Lebenslaufs vor dem Hintergrund der geschichtlichen Ereignisse. Dementsprechend formuliert Volker Depkat: Autobiographen machen sich und ihre Zeit wie auch sich selbst in der Zeit zum Gegenstand historischen Verstehens, periodisieren, setzen Zäsuren und thematisieren die Diskrepanz zwischen Einst und Jetzt nicht nur auf der Basis eigenen Erlebens, sondern auch im Hinblick auf abstrakte historische Verläufe. […] Autobiographen […] sind ihrem Selbstverständnis nach beides: Zeitgenossen und Historiker der eigenen Zeit. Autobiographien präsentieren einerseits biographiegestützte Erinnerung, doch sind sie zugleich auch historische Darstellungen der eigenen Zeit, die in ihren überindividuellen Zusammenhängen von Ursache und Wirkung ausgedeutet und in der Geschichte verortet wird.213

Auch Oliver Sill setzt hier einen Schwerpunkt und geht sogar noch einen Schritt weiter, wenn er als »wesentliches Kriterium […], auf das sich die literaturwissenschaftliche Analyse nach wie vor konzentrieren sollte«214, die Frage begreift: Inwieweit gelingt es dem Autor, in der Gestaltung dieses Ichs und seiner Lebensgeschichte jene Bedingungen transparent werden zu lassen, die im Rahmen bestimmter geschichtlich-gesellschaftlicher Prozesse alle betreffen, unabhängig von den je besonderen Umständen des individuellen Daseins und deren Beurteilung aus der Sicht des erzählenden Ichs.215

Doch ist bei einer Analyse in Sills Sinne stets zu beachten, dass es sich auch bei der Historiographie nicht um eine Wissenschaft handelt, die bis in die Detailfragen exakt und objektiv sein könnte, sondern dass auch hier höchstens Annäherungen an Tatsachen erreicht werden, dass die Geschichtsschreibung an Deutungen und Interpretationen gekoppelt ist, die von verschiedenen Vorentscheidungen abhängig sind.216 Sowohl historiographische wie auch autobio211 212 213 214 215 216

Vgl. Depkat, S. 459. Holdenried 1991, S. 91. Depkat, S. 474. Sill 1991, S. 36. Ebd. Vgl. Sandberg, S. 146.

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graphische Berichte »geben eine Interpretation von (überprüfbaren) Quellen und/oder von persönlichen Erfahrungen, abhängig von einer Perspektive, also relativ und revidierbar durch die vergleichende Sicht aus anderen Blickwinkeln«217, wobei dies natürlich – von Beatrice Sandberg hier unerwähnt – in viel stärkerem Maß auf den autobiographischen Bericht zutrifft. Auf diese Weise zeigt sich eine »Gedächtnisfunktion«218 der Autobiographie für die Gesellschaft: Lebensberichte können einen Diskurs anregen, in dessen Rahmen Authentizitätsgrad und Wirklichkeitsgehalt der betreffenden Lebensläufe diskutiert werden und die Gesellschaft eruieren kann, was sie als wahr annehmen will und was in das kollektive Gedächtnis eingehen soll beziehungsweise wird.219 In diesem Sinne kann Jerome Bruners Bild von Geschichte und Autobiographie als zwei Seiten einer Medaille hier durchaus als Fazit dienen220 – »[a] geschichtsblind autobiography consequently was as poor as one lacking human insight«221, trotz aller genannten Schwierigkeiten bei der Vermittlung von Vergangenheit. Im Falle der Autobiographie tritt neben diesen Problembereich die Tatsache, dass es sich hier ebenso um ein nach künstlerischen Ansprüchen komponiertes literarisches Artefakt handelt. Dieser Aspekt wirft weitere Sichtweisen und Fragestellungen auf, die im folgenden Kapitel abgehandelt werden sollen.

2.2.3. Literarizität der Gattung – Die Autobiographie als literarische Form Jeder autobiographische Text […] ist als sprachliche Vermittlung erlebter Wirklichkeit durch elementare narrative Organisationsprinzipien gekennzeichnet, mit deren Hilfe lebensgeschichtliche Erfahrungen allererst in Erzählungen umgesetzt werden können.222

Oliver Sill benennt hier ein wesentliches Kriterium der Gattung ›Autobiographie‹, ausgehend von der Tatsache, dass jedem Lebensbericht zunächst der Erinnerungs- und Erfahrungsschatz eines gelebten Lebens zu Grunde liegt und auf individuelle Weise sprachlich vermittelt wird. Persönliche Erlebnisse, historische Ereignisse, (vermeintliche) Fakten, aber auch Wünsche, Hoffnungen und Träume der Vergangenheit ebenso wie Einschätzungen der Gegenwart bilden das Material, aus dem der Rückblickende seine Autobiographie formt. Dabei 217 Ebd., S. 160. 218 Helmuth Feilke/Otto Ludwig: »Autobiographisches Erzählen«. In: Praxis Deutsch 25 (1998), H. 152, S. 16. 219 Vgl. ebd., S. 16f. 220 Vgl. Bruner 1993, S. 43f. 221 Ebd., S. 44. 222 Sill 1995, S. 33.

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gilt, wie Hermann Schlösser bemerkt: »Fakten allein ergeben noch keinen Text. Erst durch sinnvolle Auswahl, Anordnung und Deutung fügen sie sich zu einem Ganzen«.223 In der Tat muss der Autobiograph eine Auswahl treffen, er entwirft eine Hierarchie, verknüpft Ereignisse miteinander, verleiht dem Geschilderten Zusammenhang und Bedeutung, er wählt eine Erzählstrategie und organisiert einen narrativen Text – er weist seinem Leben in der Erzählung somit eine Form zu, die es per se nicht hat. Bereits in Kapitel 2.2.1. dieser Arbeit wurde darauf hingewiesen, dass es sich bei der Erzählung eines Lebens immer um Rekonstruktion handelt – eine Autobiographie ist der Versuch, eine Lebenswirklichkeit in Gestalt eines Textes zum Ausdruck zu bringen oder, wie Jerome Bruner es formuliert: »[A]utobiography is life construction through ›text‹ construction«.224 Das Leben bietet die Grundlage für ein im Idealfall künstlerisch gestaltetes Erzählwerk. Dementsprechend mahnt Volker Depkat, »die Textualität von Autobiographien ernst zu nehmen«225, und Michaela Holdenried betont gar, »daß wir es in erster Linie mit einer literarischen Form zu tun haben, für die selbstverständlich nach der Gültigkeit ästhetischer Regeln zu fragen ist«.226 Eine Autobiographie weist eine literarische Qualität auf, die von den biographischen Grundlagen nicht vorgegeben ist.227 Goethes Autobiographie Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit beispielsweise kann mit Tilman Krauses Worten als »eine nach formalen Gesichtspunkten und Bedürfnissen geformte Komposition, eben ein Kunstwerk«228 bezeichnet werden. Dass es sich bei diesem Lebensbericht um ein hochrangiges literarisches Artefakt handelt, das in seinem Aufbau und künstlerischen Stil von überragender Bedeutung für die weitere Entwicklung der Gattung ist, zeigt sich bereits in den ersten Zeilen des Werkes: Am 28. August 1749, Mittags mit dem Glockenschlage zwölf, kam ich in Frankfurt am Main auf die Welt. Die Konstellation war glücklich; die Sonne stand im Zeichen der Jungfrau, und kulminierte für den Tag; Jupiter und Venus blickten sie freundlich an, Merkur nicht widerwärtig; Saturn und Mars verhielten sich gleichgültig: nur der Mond, der so eben voll ward, übte die Kraft seines Gegenscheins um so mehr, als zugleich seine

Schlösser, S. 16. Bruner 1993, S. 55. Depkat, S. 452. Holdenried 1991, S. 131. Vgl. Walter Hinck: »Der Autobiograph und der fabulierende Erzähler Günter Grass. Beim Häuten der Zwiebel auf dem Hintergrund zeitgenössischer Selbstbiographien«. In: literatur für leser 31 (2008), H. 1, S. 1. 228 Tilman Krause: »Wer bin ich gewesen? Günter de Bruyn denkt nach über die Autobiographie«. In: Der Tagesspiegel, 28. 05. 1995, Nr. 15 280, S. W 5. Krauses Einschätzung trifft zu, dennoch schmälert dies die Historizität und Authentizität der Autobiographie Goethes in keiner Weise.

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Planetenstunde eingetreten war. Er widersetzte sich daher meiner Geburt, die nicht eher erfolgen konnte, als bis diese Stunde vorübergegangen.229

Goethe bettet das Ereignis seiner Geburt in eine Darstellung der Sternenkonstellation ein; es liegt hier keineswegs eine sachliche Aussage vor, sondern eine literarisch gestaltete Beschreibung von hohem ästhetischen Wert. Jedem Autobiographen stehen unzählbare erzählerische Varianten offen, seinen Lebensbericht zu beginnen, wie die weiteren Beispiele zeigen sollen. So führt Theodor Fontane zunächst seine Eltern ein: An einem der letzten Märztage des Jahres 1819 hielt eine Halbchaise vor der LöwenApotheke in Neu-Ruppin und ein junges Paar, von dessen gemeinschaftlichem Vermögen die Apotheke kurz vorher gekauft worden war, entstieg dem Wagen und wurde von dem Hauspersonal empfangen. Der Herr – man heiratete damals (unmittelbar nach dem Kriege) sehr früh – war erst dreiundzwanzig, die Dame einundzwanzig Jahr alt. Es waren meine Eltern.230

Es folgt eine detaillierte Wiedergabe der Familiengeschichte, die in ihrer Gestaltung einem Romananfang ähnelt; erst auf Seite 21 wird die Geburt des kleinen Theodor erwähnt.231 Walter Benjamin dagegen beginnt folgendermaßen: Wie eine Mutter, die das Neugeborene an ihre Brust legt ohne es zu wecken, verfährt das Leben lange Zeit mit der noch zarten Erinnerung an die Kindheit. Nichts kräftigte die meine inniger als der Blick in Höfe, von deren dunklen Loggien eine, die im Sommer von Markisen beschattet wurde, für mich die Wiege war, in die die Stadt den neuen Bürger legte. Die Karyatiden, die die Loggia des nächsten Stockwerks trugen, mochten ihren Platz für einen Augenblick verlassen haben, um an dieser Wiege ein Lied zu singen, das wenig von dem enthielt, was mich für später erwartete, dafür jedoch den Spruch, durch den die Luft der Höfe mir auf immer berauschend blieb. Ich glaube, daß ein Beisatz dieser Luft noch um die Weinberge von Capri war, in denen ich die Geliebte umschlungen hielt; und es ist eben diese Luft, in der die Bilder und Allegorien stehen, die über meinem Denken herrschen wie die Karyatiden auf der Loggienhöhe über die Höfe des Berliner Westens.232

Ähnlich wie in der eben zitierten Textpassage aus Benjamins Berliner Kindheit um neunzehnhundert wählt auch Christa Wolf in Kindheitsmuster die Thematisierung von Erinnerungen für den Einstieg in ihren Lebensbericht: Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd. 229 230 231 232

Goethe 1986, S. 15. Fontane, S. 10. Vgl. ebd., S. 10ff., 21. Walter Benjamin: Berliner Kindheit um neunzehnhundert, Frankfurt/M. 1987, S. 11.

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Frühere Leute erinnerten sich leichter : eine Vermutung, eine höchstens halbrichtige Behauptung. Ein erneuter Versuch, dich zu verschanzen. Allmählich, über Monate hin, stellte sich das Dilemma heraus: sprachlos bleiben oder in der dritten Person leben, das scheint zur Wahl zu stehen. Das eine unmöglich, unheimlich das andere. Und wie gewöhnlich wird sich ergeben, was dir weniger unerträglich ist, durch das, was du machst. Was du heute, an diesem trüben 3. November des Jahres 1972, beginnst, indem du, Packen provisorisch beschriebenen Papiers beiseite legend, einen neuen Bogen einspannst, noch einmal mit der Kapitelzahl I anfängst.233

Dass Benjamin und Wolf bereits zu Beginn ihrer Werke die Schreibgegenwart und in Wolfs Fall auch die Entstehung des vorliegenden Buches thematisieren, ist durchaus einer weiterführenden Analyse wert, welche die Argumentation an dieser Stelle jedoch nicht voranbringen würde. Das Zusammenwirken verschiedener Zeitebenen in autobiographischen Schriften und dessen Auswirkungen auf die Authentizität werden jedoch in den beiden folgenden Kapiteln dieser Arbeit zur Sprache kommen. In den aus ausgewählten Autobiographien zitierten Textpassagen offenbaren sich Textualität und Literarizität der Gattung: Es wird deutlich, dass ein Autobiograph vollkommen frei ist in der erzählerischen Gestaltung seines Lebensberichts: Er kann in der Art eines Romans mit der Familiengeschichte beginnen, er kann – über seinen eigenen Erfahrungshorizont hinausgehend – zunächst seine Eltern einführen oder die historische Epoche, er kann schlicht Datum und Uhrzeit seiner Geburt nennen und die Vorgeschichte unerwähnt lassen, oder er kann sich und dem Leser Erinnerungsvorgänge bewusst machen. Dabei kann er sich für eine Erzählhaltung entscheiden, kann in der ersten, zweiten oder dritten Person Singular berichten und das Tempus der Erzählung frei wählen, er muss nicht chronologisch vorgehen, sondern kann Raum und Zeit frei organisieren sowie verschiedene Stilmittel einsetzen – der Schreibende gestaltet den Anfang wie auch jeden weiteren Abschnitt seiner Autobiographie thematisch zwar auf der Grundlage biographischer Vorgaben, ästhetisch jedoch ausschließlich gemäß seinem künstlerischen Anspruch. Es gilt also, den ästhetischen Charakter autobiographischer Literatur anzuerkennen und der Autobiographie einen künstlerischen Wert und den Status eines literarischen Artefakts zuzugestehen.234 Günter Waldmann kritisiert zu 233 Wolf 2000, S. 13. Kindheitsmuster wird innerhalb der Forschung häufig als Autobiographie bezeichnet, allerdings ist die Genrezuweisung in diesem Fall problematisch und nicht abschließend geklärt. Ungeachtet der Vorbemerkung, die die Autorin ihrem Werk voranstellt (und dem Leser darin nach Lejeune keinen autobiographischen, sondern einen Romanpakt anbietet), soll Kindheitsmuster in dieser Arbeit Werner Brettschneider und Günter Waldmann folgend dennoch als Autobiographie angenommen werden. (Vgl. Wolf 2000, S. 10, Werner Brettschneider : »Kindheitsmuster«: Kindheit als Thema autobiographischer Dichtung, Berlin 1982, S. 10ff. u. Waldmann, S. 74.) 234 Freilich finden sich zahlreiche Autobiographien, deren künstlerischer Wert und literarische

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Recht, dass die Autobiographie lange Zeit als Sachtext, als möglichst sachgerechte Darstellung der Realität angesehen wurde und die Literarizität der Gattung unbeachtet blieb235, obwohl autobiografisches Schreiben als solches immer schon literarisches, also durch literarische Formen geprägtes Schreiben ist und in seiner Struktur, deren Funktionen und Leistungen, nach den Problemen seiner landläufigen konventionellen wie nach den Möglichkeiten seiner unkonventionellen modernen Ausprägungen nur dann verstehbar ist, wenn es in seiner literarischen Form aufgefasst wird.236

Roy Pascal aber weist in seiner wegbereitenden Studie Design and Truth in Autobiography bereits im Jahr 1960 auf die Eigenschaften der Autobiographie als »›self-conscious‹ literary form«237 hin. In der Folge nehmen zahlreiche Autobiographietheoretiker den literarischen Status der Gattung wahr ; in Arbeiten der letzten Jahrzehnte wird wiederholt auf den »Aspekt der sprachkünstlerischen Gestaltung«238, den »status as an act of creation rather than mere transcription of the past«239, die »achtbare literarische Leistung«240 der Gattung oder den »konstruktiv-fiktionalen Anteil der Autobiographie, ihre Literarizität«241 hingewiesen. Während die Autobiographietheorie die Literarizität also mittlerweile als eine Grundsäule der Autobiographie anerkennt, verhält es sich mit dem konstruktivfiktionalen Anteil, mit der vermeintlichen Fiktionalität der Gattung weitaus komplexer. Zahlreiche Literaturwissenschaftler deuten das literarische Element, das weiter oben anhand verschiedener Textanfänge beispielhaft aufgezeigt wurde, in der Weiterführung von Goethes Diktum der Dichtung und Wahrheit als Dichtung im Sinne von Erfindung, von Imagination und sprechen von einem fiktionalen Anteil in Lebensberichten. Ralph Köhnen beispielsweise ist der

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Qualität in Zweifel gezogen werden müssen. Besonders in den 1990er Jahren wird eine Vielzahl von Autobiographien auf den Markt gebracht, auf die die Ausführungen dieses Kapitels sicherlich nicht zutreffen. Auch laut Michaela Holdenried »können wir von einer Auseinanderentwicklung in […] Trivialmuster einerseits, in ästhetisch […] hoch selbstreflexive Formen andererseits ausgehen«. (Michaela Holdenried: »Biographie vs. Autobiographie«. In: Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien, Hg. v. Christian Klein, Stuttgart 2009, S. 38.) In dieser Arbeit soll aber ausdrücklich von der letztgenannten, von der literarischen Autobiographie, die sich unter anderem durch einen ästhetischen Wert auszeichnet, die Rede sein. Vgl. Waldmann, S. 14, 58. Ebd., S. 5. Roy Pascal: Design and Truth in Autobiography, New York, London 1960, S. viii. Andreas Freinschlag: »Gattungstheoretische und poetologische Anmerkungen zu Ruth Klügers Autobiographie weiter leben«. In: Erinnerung, Gedächtnis, Geschichtsbewältigung. Österreichische Literatur der neunziger Jahre. Ein literarischer Workshop, Hg. v. Bozena Bekas, Joanna Jablkowska u. Joanna Michalak, Fernwald 2002, S. 24. Smith/Watson, S. 128. Bruss, S. 266. Hilmes 2001, S. 2.

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Meinung, dass Literarizität die Authentizität verzehren könne242 ; zu diesem Schluss kann er nur kommen, indem er die Literarizität der Autobiographie als Fiktion deutet. Denn die Gestaltung eines Lebensberichts mit narrativen Mitteln im Sinne von Dichtung, nicht aber Fiktion, muss der Authentizität der Gattung nicht im Wege stehen, sondern kann diese im Gegenteil durchaus hervorbringen. Dieser zweifellos komplexe Sachverhalt verdient eine tiefer gehende Betrachtung – das vermeintliche Gegen- beziehungsweise das Zusammenspiel von Erinnerungsstrukturen, Historizität, Literarizität und Authentizität soll den Gegenstand des folgenden Kapitels bilden. Zunächst sollen ausgewählte Möglichkeiten der narrativen Gestaltung von Autobiographien behandelt werden. Um diese jedoch angemessen einschätzen und innerhalb der Gattungsgeschichte verorten zu können, ist es zunächst nötig, die Intertextualität der Autobiographie in den Blick zu rücken, sich also zu vergegenwärtigen, welche Rolle literarische Muster und Vorbilder bei der Abfassung eines Lebensberichts spielen (können): Vor allem aber sind Autobiographien intertextuell konditioniert. Das heißt, der Autobiograph verhält sich mit seiner Darstellung nicht allein zu einer äußeren Realität, sondern er nimmt immer auch Bezug auf bereits geschriebene Autobiographien und historische Darstellungen der eigenen Zeit. Autobiographen treten in einen Dialog mit bereits geschriebenen Autobiographien, kommentieren sie, bekräftigen die Darstellung anderer oder negieren sie.243

Das augenfälligste Beispiel für literarische Bezugnahmen innerhalb der Gattung ›Autobiographie‹ ist der Titel von Jean-Jacques Rousseaus Werk Les Confessions, der eindeutig auf die autobiographiegeschichtlich bedeutsame Schrift Confessiones von Augustinus zurückgeht. Letztlich wird jeder autobiographische Text im Wissen um die Gattungsgeschichte und in Kenntnis zumindest ausgewählter Werke geschrieben und auch gelesen und ist somit in gewisser Weise einer literarischen Tradition verpflichtet.244 Auch Jens Brockmeier ist der Auffassung, that every naturally-occurring autobiographical story, in one way or another, draws on literary models. […] Most autobiographical storytelling […] starts in traditional fashion with a concrete frame story or preliminary narrative to bind the story of a life into the present situation, as does every conventional life account245, 242 Vgl. Ralph Köhnen: »Der Faden ist gerissen. Ludwig Harigs autobiographische Trilogie und die Kindheit als Erfindung«. In: Das erinnerte Ich. Kindheit und Jugend in der deutschsprachigen Autobiographie der Gegenwart, Hg. v. Martin Bollacher u. Bettina Gruber, Paderborn 2000, S. 60. 243 Depkat, S. 463. 244 Vgl. Sandberg, S. 147f. 245 Jens Brockmeier : »From the end to the beginning. Retrospective teleology in autobiography«. In: Narrative and Identity. Studies in Autobiography, Self and Culture, Hg. v. Jens Brockmeier u. Donal Carbaugh, Amsterdam, Philadelphia 2001, S. 252.

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und Harold Rosen postuliert: »Available models are not easily ignored; indeed they may exert irresistible pressure. This is why so many autobiographies display a particular kind of intertextuality«.246 Günter de Bruyn beispielsweise setzt sich neben der Abfassung seiner zweibändigen Autobiographie dezidiert auch theoretisch mit der Gattung auseinander ; er zitiert in Das erzählte Ich. Über Wahrheit und Dichtung in der Autobiographie zahlreiche Eingangspassagen berühmter Autobiographien aus verschiedenen Jahrhunderten und gibt Einblick in seine persönlichen Einschätzungen und Vorlieben. De Bruyn ist hier natürlich eine Ausnahme – kaum ein Autobiograph legt ausdrücklich dar, welche literarischen Vorbilder ihn bei der Abfassung des eigenen Lebensberichts beeinflussen. Implizit jedoch sind sie vorhanden – für jede Autobiographie gilt: Die Erinnerung des Autobiographen gilt ja nicht nur Handlungen und Ereignissen, sondern auch Texten der Vergangenheit[…]. Und selbst dort, wo diese erinnerten Texte nicht so bewußt in die eigene Autobiographie integriert werden, enthalten gerade autobiographische Texte ›Spuren‹ der Aneignung fremder autobiographischer Texte.247

Jeder Lebensbericht unterliegt also bewusst oder unbewusst gewissen Gesetzen der Gattung sowie herausragenden literarischen Mustern, die ihren Rang innerhalb der Gattungsgeschichte bis heute behaupten können.248 »Die Bedeutung des Stils muß verstärkt in das Blickfeld der Autobiographieforschung gerückt werden, ist er doch als das individualisierende Moment schlechthin zu betrachten«249 – im Folgenden sollen das literarisch-ästhetische Moment der Gattung betont und verschiedene mögliche Erzählweisen innerhalb der Autobiographie erörtert werden: Im Rahmen der Vorstellung von Philippe Lejeunes gattungstheoretischem Ansatz des ›autobiographischen Paktes‹ wurde bereits deutlich, dass die Form der ›Ich-Erzählung‹ für autobiographische Schriften als natürlich und gängig, als konventionell angesehen werden kann. Lejeune weist aber zu Recht darauf hin, dass Autobiographien ebenso in der zweiten und dritten Person Singular denkbar sind.250 Desgleichen ist Günter Waldmann der Auffassung, »dass es die Form autobiografischen Schreibens nicht gibt«251 und diskutiert verschiedene 246 Rosen, S. 17. 247 Jürgen Lehmann: Bekennen – Erzählen – Berichten. Studien zu Theorie und Geschichte der Autobiographie, Tübingen 1988, S. 46. 248 Vgl. Paul Gerhard Klussmann: »Deutsche Lebensläufe. Schriftsteller-Biographien im Licht der Vereinigung«. In: Stichwort Literatur. Beiträge zu den Münstereifeler Literaturgesprächen, Hg. v. d. Friedrich-Ebert-Stiftung/Kurt-Schumacher-Akademie, Bad Münstereifel 1993, S. 188. 249 Holdenried 1991, S. 164. 250 Vgl. oben, S. 39. 251 Waldmann, S. 5.

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Alternativen, darunter auch literarästhetisch unkonventionelle Formen autobiographischen Schreibens.252 »Die Ich-Form«, so betont er dennoch, erbringt für autobiografisches Schreiben nicht unbeträchtliche Leistungen: In ihr redet die erlebende (oder erlebt habende) Person selbst. Das in dieser Form Erzählte spricht zwar aus einer subjektiven Perspektive, hier aber persönlich beteiligt und interessiert. Das Erzählte ist so zwar objektiv nicht unbedingt gesichert, hat aber dadurch, dass der spricht, von dem es handelt, eine eigene Authentizität und Glaubwürdigkeit und mit der persönlichen Selbstaussage auch eine besondere Intensität.253

In der Autobiographie trifft der Schreibende zumeist Aussagen über sich selbst, über seine Erlebnisse, Erfahrungen und Handlungen der Vergangenheit, von daher liegt die Erzählsituation der ersten Person Singular nahe. So sind die bedeutenden und Form prägenden Werke der Autobiographiegeschichte, die Lebensberichte Augustinus’, Rousseaus und Goethes in der ›Ich-Form‹ verfasst. Auch unter den literarisch anspruchsvollen und zum Teil durchaus innovativen autobiographischen Werken des 20. Jahrhunderts finden sich zahlreiche Berichte in der ersten Person, so zum Beispiel die mehrere Bände umfassende Autobiographie Michel Leiris’, Jean-Paul Sartres Les Mots, Elias Canettis dreibändige Autobiographie, Ruth Klügers weiter leben. Eine Jugend (1992), Doris Lessings Under my Skin: Volume One of My Autobiography, to 1949 (1994) und Walking in the Shade: Volume Two of My Autobiography, 1949 to 1962 (1997) wie auch Günter de Bruyns bereits erwähnter zweibändiger Lebensbericht. Autobiographien, die in der zweiten Person Singular abgefasst sind, finden sich (wie auch Romane in der ›Du-Form‹) weitaus seltener, jedoch sind auch hier namhafte Beispiele ästhetisch anspruchsvoller Literatur zu nennen. Denn auch diese Erzählsituation eignet sich durchaus für die Abfassung eines Lebensberichts: Die Erzählerinstanz kann in ein Selbstgespräch beziehungsweise einen Dialog mit sich selbst in der Schreibgegenwart oder auch mit dem Selbst der Vergangenheit treten und hier die Anredeform verwenden. Umfangreichen Gebrauch dieser Art der Selbstanrede macht Christa Wolf in Kindheitsmuster : Sie eröffnet mit Schilderungen ihrer Kindheit, Beschreibungen ihrer Reise als erwachsene Frau an die Orte der Kindheit und dem deutlichen Hervortreten der Erzählerinstanz der Gegenwart drei Zeitebenen, von denen die beiden letztgenannten in der ›Du-Form‹ gestaltet sind: Damals, im Sommer 1971, gab es den Vorschlag, doch endlich nach L., heute G., zu fahren, und du stimmtest zu. Obwohl du dir wiederholtest, daß es nicht nötig wäre. […] Was die Topographie 252 Vgl. ebd., S. 62ff. 253 Ebd., S. 60.

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betreffe, sagtest du, auch um den Anschein wirklichen Interesses zu erwecken, könntest du dich ganz auf dein Gedächtnis verlassen.254

Während die Anrede hier der erwachsenen Frau in der zweiten Zeitebene gilt, wird in der weiter oben zitierten Eingangspassage das Selbst der Schreibgegenwart mit ›du‹ angesprochen.255 Die Schilderung der Kindheit dagegen erfolgt in der dritten Person Singular ; Bezeichnungen wie »Nelly«, »das Kind« oder »es«256 dominieren den Bericht. Gleich zu Beginn von Kindheitsmuster wird die Verwendung verschiedener Personalpronomen als »Sprachstörung«257 erklärt: Zwischen dem Selbstgespräch und der Anrede findet eine bestürzende Lautverschiebung statt, eine fatale Veränderung der grammatischen Bezüge. Ich, du, sie, in Gedanken ineinanderschwimmend, sollen im ausgesprochenen Satz einander entfremdet werden.258

Neben Christa Wolf wählen auch Bernward Vesper und Wolfgang Koeppen die Form der Selbstanrede in ihren autobiographischen Schriften und verfolgen damit unterschiedliche Intentionen, wie in Vespers Fall beispielsweise die Oszillation der ›Du-Form‹ zwischen Selbstanrede und Leseranrede.259 Koeppen nutzt die zweite Person Singular ebenfalls nicht nur im Dialog mit sich selbst, sondern versucht, durch die Ansprache an eine erinnerte Person die Erinnerung an diese zu intensivieren: Ich will unsere Geschichte erzählen, meine Geschichte, deine Geschichte, sie geht dich nichts an, ich erzähle sie nur mir, ich werde dich bloßstellen […]. Du kannst dich nicht erinnern, du hast dein Gedächtnis verloren, du hattest nie ein Gewissen, du weißt von nichts.260

Während die zweite Person Singular also eine gewisse Unmittelbarkeit und Intensität der Darstellung bewirken kann, deutet die dritte Person Singular im Allgemeinen eher eine distanzierte und versachlichende Erzählhaltung an. Im Fall der Autobiographie drückt das Personalpronomen ›er‹ beziehungsweise ›sie‹ oder auch ›es‹ aus, dass der Schreibende sein erinnertes Ich verfremdet, es zu einem Anderen objektiviert und sich in Distanz zu sich selbst setzt. Auf diese Weise kann zum Beispiel ein größerer Abstand zu unangenehmen Erinnerungen hergestellt werden.261 Tatsächlich liegt zwischen dem erzählenden Ich und seinen frühesten Erinnerungen eine beträchtliche Zeitspanne, die nahezu den kom254 255 256 257 258 259 260 261

Wolf 2000, S. 14. Vgl. oben, S. 68. Wolf 2000, S. 16f. Ebd., S. 13. Ebd. Vgl. z. B. Bernward Vesper : Die Reise, Jossa 1977, S. 479ff. Wolfgang Koeppen: Jugend, Frankfurt/M. 1976, S. 67. Vgl. Waldmann, S. 75ff.

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pletten Zeitraum des gelebten Lebens umfasst. Zahlreiche Phasen der Entwicklung und Persönlichkeitsentfaltung entfernen die schreibende Person von dem zu beschreibenden Kind, Jugendlichen oder jungen Erwachsenen. Von daher erscheint es folgerichtig, auch die dritte Person Singular für die Abfassung eines Lebensberichts in Erwägung zu ziehen. Ein bedeutendes Beispiel ist Karl Philipp Moritz’ Werk Anton Reiser. Ein psychologischer Roman, das er mit den Worten einleitet: »Dieser psychologische Roman könnte auch allenfalls eine Biographie genannt werden, weil die Beobachtungen größtenteils aus dem wirklichen Leben genommen sind«.262 Somit relativiert er den Untertitel Ein psychologischer Roman schon zu Beginn seiner Schrift. Die Distanzierung in Form der Abfassung des Berichts in der dritten Person Singular wird hier durch die Verwendung eines von dem des Autors abweichenden Namens verstärkt. Karl Philipp Moritz erzählt von sich als Anton Reiser; er beschreibt die ihn quälenden Probleme in seinem kleinbürgerlichen Elternhaus und seine Entwicklung, die von tief gehenden Diskrepanzen geprägt ist. Er formuliert: Unter diesen Umständen [dem ständigen Ehestreit der Eltern] wurde Anton geboren, und von ihm kann man mit Wahrheit sagen, daß er von der Wiege an unterdrückt ward. Die ersten Töne, die sein Ohr vernahm, und sein aufdämmernder Verstand begriff, waren wechselseitige Flüche und Verwünschungen des unauflöslich geknüpften Ehebandes. Ob er gleich Vater und Mutter hatte, so war er doch in seiner frühesten Jugend schon von Vater und Mutter verlassen, denn er wußte nicht, an wen er sich anschließen, an wen er sich halten sollte, da sich beide haßten, und ihm doch einer so nahe wie der andre war. In seiner frühesten Jugend hat er nie die Liebkosungen zärtlicher Eltern geschmeckt, nie nach einer kleinen Mühe ihr belohnendes Lächeln. Wenn er in das Haus seiner Eltern trat, so trat er in ein Haus der Unzufriedenheit, des Zorns, der Tränen und der Klagen. Diese ersten Eindrücke sind nie in seinem Leben aus seiner Seele verwischt worden, und haben sie oft zu einem Sammelplatze schwarzer Gedanken gemacht, die er durch keine Philosophie verdrängen konnte.263

Die Schmerzhaftigkeit der Kindheitserinnerungen und der Versuch, diese im Erwachsenenalter zu überwinden, können in diesem Fall als ein Grund für die Namensänderung und die Wahl der objektivierenden Erzählform der dritten Person Singular statt der persönlicheren und unmittelbareren ›Ich-Form‹ angesehen werden. 262 Karl Philipp Moritz: »Anton Reiser. Ein psychologischer Roman«. In: ders.: Werke in zwei Bänden, Band 1: Dichtungen und Schriften zur Erfahrungsseelenkunde, Hg. v. Heide Hollmer u. Albert Meier, Frankfurt/M. 1999, S. 86. 263 Ebd., S. 91.

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Neben Karl Philipp Moritz’ Werk finden sich mit Stefan Heyms Nachruf (1988) und Erich Loests Durch die Erde ein Riß. Ein Lebenslauf (1981) zwei weitere Beispiele für bemerkenswerte autobiographische Schriften, die sich der dritten Person Singular bedienen. Weiterhin unterliegt auch das verwendete Tempus der freien Wahl des Schreibenden. Da das zentrale Thema jeder Autobiographie der Vergangenheit angehörig ist, liegt zunächst die Verwendung von Perfekt und Präteritum nahe, die zahlreiche autobiographische Berichte kennzeichnet, beispielsweise Goethes Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, Fontanes Meine Kinderjahre und Benjamins Berliner Kindheit um neunzehnhundert. Die bereits erwähnte mehrdimensionale Zeitstruktur der Autobiographie zwischen erzählter Vergangenheit und Schreibgegenwart hat in der Regel jedoch auch Tempuswechsel zur Folge: Neben den Vergangenheitsformen findet auch das Präsens häufige Verwendung, vielfach natürlich innerhalb von Reflexionen des erzählenden Ichs. So auch in Goethes Autobiographie: Wenn man sich erinnern will, was uns in der frühsten Zeit der Jugend begegnet ist, so kommt man oft in den Fall, dasjenige was wir von andern gehört, mit dem zu verwechseln, was wir wirklich aus eigner anschauender Erfahrung besitzen. Ohne also hierüber eine genaue Untersuchung anzustellen, welche ohnehin zu nichts führen kann, bin ich mir bewußt, daß wir in einem alten Hause wohnten, welches eigentlich aus zwei durchgebrochnen Häusern bestand.264

Es finden sich demgegenüber auch Autobiographien, in denen das historische Präsens eingesetzt wird, um das erinnerte Geschehen unmittelbar zu vergegenwärtigen; in diesem Fall wird die vermittelnde Stellung des erzählenden Ichs abgeschwächt.265 Passagen, die diesen Zweck verfolgen, finden sich wiederholt in Koeppens Jugend, so zum Beispiel: Alle Fenster beobachten Maria, Krötenaugen aus einem trüben Wasser. Maria ist neunzehn Jahre alt und blüht. Bismarck [ein Hund] zieht sie wie eine von Borsigs neuen Lokomotiven vorwärts. Bismarck ist groß, er ist kräftig, er beschützt sie, seine Muskeln spielen unter dem kurzen Haar, sein Mund droht, sein Blick ist treu. Maria kennt alle Farben der Landsmannschaften, der Burschenschaften, der Corps. Es ist die große Welt, die über die Lange Straße läuft, denn alle die eine bunte Mütze tragen, ein Band über der Brust haben und Schmisse im Gesicht, sind berufen, sie sind die Gesellschaft, die Stützen von Thron und Altar, sie sind das Deutsche Reich.266

Neben den bereits erwähnten Tempora stehen dem Autobiographen natürlich auch alle Futurformen und das Plusquamperfekt zur Verfügung; alle Verben sind im Indikativ, Imperativ oder Konjunktiv denkbar – je nach den Erforder264 Goethe 1986, S. 15. 265 Vgl. Waldmann, S. 63. 266 Koeppen, S. 15f.

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nissen des jeweiligen Erzählabschnitts kann der Schreibende aus den verschiedenen grammatischen Zeiten und Modi frei auswählen. Als »Strukturmomente des ›klassischen‹ autobiographischen Erzählens«267 bezeichnet Oliver Sill »[e]pische Distanz, auktoriale Erzählweise, kreisförmige Zeitstruktur, Erinnern und Gestalten aus dem Bewußtseinshorizont des gegenwärtigen Ichs«268 ; er gibt jedoch auch strukturelle Wandlungsprozesse zu bedenken, die das autobiographische Erzählen im Laufe der Gattungsgeschichte erfahren hat.269 In der Tat stehen der Gattung mittlerweile mehr als die von Sill genannten Gestaltungsmöglichkeiten offen, wie auch Harold Rosen betont: Most autobiographies are not only large over-arching stories but subsume many little stories, every one of which owes its form to the writer’s reservoir of textual experience, especially that of written fiction, borrowing from its strategies and tactics, its choice of openings, its use of dialogue, its selective structure, its sense of an ending.270

Hinsichtlich einer Werkanalyse, die rein textimmanent verfährt, hält Philippe Lejeune den in der ersten Person Singular abgefassten Roman sogar für nicht unterscheidbar von der Autobiographie; dies wurde im Zuge der Vorstellung von Lejeunes Modell des ›autobiographischen Paktes‹ bereits deutlich.271 Denn beide Gattungen zeichnen tatsächlich äußerst ähnliche bis identische Strukturmomente aus. Auch Sidonie Smith und Julia Watson setzen die gestalterischen Optionen der Autobiographie mit denen des Romans gleich; sie formulieren: »Both the life narrative and the novel share features we ascribe to fictional writing: plot, dialogue, setting, characterization, and so on«.272 Ohne der fiktionalen Literatur anzugehören, kann die Autobiographie letztlich – darin ist Smith und Watson durchaus zuzustimmen – alle Erzählstrategien aufweisen, die auch im Roman und anderen (fiktionalen) Prosawerken Verwendung finden. Als elementare Kategorien der Textanalyse erwähnenswert sind hier vor allem die Erzählperspektive, das Erzähltempus, die Strukturierung von Raum und Zeit, der Handlungsaufbau, die Anlage und Präsentation von Figuren sowie stilistische Besonderheiten.273 Zu betonen ist in diesem Zusammenhang allerdings, »dass die Autobiographie als literarische Form sich selbstverständlich literarischer Gestaltungsmöglichkeiten bedienen kann, ohne den Charakter einer eigenständigen Gattung zu verlieren«.274 Über den Aspekt der Fiktion innerhalb autobiographischer Literatur werden 267 268 269 270 271 272 273 274

Sill 1991, S. 134. Ebd. Vgl. ebd. Rosen, S. 36. Vgl. oben, S. 37. Smith/Watson, S. 7. Vgl. Sill 1995, S. 34. Holdenried 2000, S. 39.

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zahlreiche gegenläufige Meinungen vertreten – im Rahmen des folgenden Kapitels, das sich der Grundspannung zwischen Wahrheit und Dichtung innerhalb der Gattung ›Autobiographie‹ widmet, soll dieser Faktor eingehend beleuchtet werden.

2.2.4. Wahrheit vs. Dichtung – Die Grundfrage der Gattung Die Überschrift der nun folgenden Untersuchung rekurriert leicht erkennbar auf den Titel der für die Gattungsgeschichte bedeutsamen Autobiographie Goethes; auch Günter de Bruyn nimmt in Anlehnung an Goethe die beiden Termini im Titel seiner bereits genannten und zitierten autobiographietheoretischen Abhandlung auf. Oliver Sill betont den »sich eindeutiger Bestimmung entziehende[n] Status autobiographischer Literatur zwischen den Polen ›historisches Dokument‹ und ›Kunstwerk‹«275 – die Gattung ›Autobiographie‹ bewegt sich im Spannungsfeld zwischen Historizität und Literarizität, zwischen Faktizität und künstlerischem Anspruch, was von Goethe und de Bruyn mit Hilfe der Bezeichnungen Wahrheit und Dichtung angedeutet und innerhalb ihrer Werke wiederholt explizit thematisiert wird. Dass der Begriff der Wahrheit jedoch philosophiegeschichtlich vorbelastet ist, wird von beiden Autoren in der jeweiligen Titelwahl nicht berücksichtigt: Seit den Anfängen philosophischen Erkenntnisinteresses zählt der Wahrheitsbegriff zu dessen Schwerpunkten, unterlag im Laufe der Zeit zahlreichen Bedeutungsschwankungen und scheint sich letztlich als nicht eindeutig bestimmbar zu erweisen. Die Frage, ob und wann eine Aussage wahr sein kann, wird anhand von verschiedenen Wahrheitstheorien mit unterschiedlichen Ergebnissen beantwortet. In der Korrespondenztheorie, deren zentraler Vertreter der griechische Philosoph Aristoteles ist, wird ›Wahrheit‹ als »Übereinstimmung der aus der Erkenntnis gewonnenen Aussagen mit der Realität«276 definiert. Auch Burghard Damerau versucht sich dem Begriff über die Idee der Übereinstimmung zu nähern und erkennt die Adjektive ›zutreffend‹, ›kohärent‹, ›ähnlich‹, ›glaubwürdig‹, ›anschaulich‹, ›wirklich‹, ›musterhaft‹, ›ästhetisch charakterisierend‹ und ›wahrhaftig‹ als Bedeutungskomponenten des Wortes ›Wahrheit‹.277 Diese Auffassungen sind dem gegenwärtigen allgemeinen Alltagsverständnis, nach 275 Sill 1991, S. 27. 276 Brigitte Wiesen: »Wahrheit«. In: Handwörterbuch Philosophie, Hg. v. Wulff D. Rehfus, Göttingen 2003, S. 671. 277 Vgl. Burghard Damerau: »Wahrheit/Wahrscheinlichkeit«. In: Ästhetische Grundbegriffe (ÄGB). Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Band 6 Tanz-Zeitalter/Epoche, Hg. v. Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhart Steinwachs u. Friedrich Wolfzettel, Stuttgart 2005, S. 400f.

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dem ›Wahrheit‹ als Übereinstimmung mit der Realität anzusehen ist, sehr ähnlich. Im Fall von Goethe und de Bruyn kann davon ausgegangen werden, dass der Vorstellung von ›Wahrheit‹ bei beiden Autoren eben dieses Alltagsverständnis zu Grunde liegt, ohne dass der Begriff problematisiert wird. Auch der Terminus ›Dichtung‹ verlangt eine Präzisierung, die im Laufe dieses Kapitels noch erfolgen soll.278 Ungeachtet ihrer terminologischen Ungenauigkeit deuten Goethe und de Bruyn mit ihrem Begriffspaar jedoch eindeutig die gattungskonstitutiven Pole an, zwischen denen die Autobiographie angesiedelt ist: Auf der einen Seite stehen – dies wurde in den vorangehenden Kapiteln bereits deutlich – die Faktizität des biographischen Materials und des historischen Hintergrundes, ein Anspruch auf authentische Realitätsabbildung und Geschichtsvermittlung und damit verbunden die Wahrnehmung der Gattung im Hinblick auf die außertextuelle Realität. »Traditionell nehmen Autobiographen für sich in Anspruch, die Wahrheit über sich und ihr Leben zu erzählen«279 – Hans-Edwin Friedrich erweitert Goethes und de Bruyns explizit geäußerte Wahrheitsansprüche hier zu Recht auf die Gattung als solche; auch Philippe Lejeune teilt diese Einschätzung.280 Produktions- wie rezeptionsästhetisch gilt für Friedrich: »Wahrheit ist das Konstituens der Gattung«.281 Leider versäumt er es aber an dieser Stelle, den philosophiegeschichtlich nicht eindeutigen Begriff der ›Wahrheit‹ zunächst zu problematisieren. Diese terminologische Ungenauigkeit ist innerhalb der Forschungsgeschichte vielfach zu beobachten282, dennoch kann auch in der Auseinandersetzung mit den betreffenden Forschungsarbeiten in der Regel jeweils das bereits erläuterte Alltagsverständnis des Terminus zu Grunde gelegt werden. Diesem so bezeichneten Wahrheitsanspruch stehen in der Autobiographie wie beschrieben jedoch Erinnerungslücken und -fehler, die unbewusste, schrittweise Veränderung von Erinnerungen im Laufe des Lebens, die subjektive Sichtweise des Autors inklusive seiner bewussten Schilderung persönlicher Eindrücke, seiner Gefühle, Träume und Ängste sowie das Medium des Textes, verbunden mit einem künstlerischen Anspruch, gegenüber. So stellt sich also die Frage, inwiefern diese verschiedenen, zum Teil gegenläufigen Anforderungen an ein autobiographisches Erzählwerk gleicher-

278 Häufig wird diese wissenschaftlich nicht exakte Begrifflichkeit innerhalb der Autobiographietheorie durch ›Fiktion‹ ersetzt, was deren Bedeutung jedoch verfehlt. Mangels präziser Alternativen soll Goethes und de Bruyns Terminus auch im Rahmen dieser Arbeit zunächst beibehalten werden – gekoppelt an eine noch folgende Analyse und Erklärung seiner Begriffskomponenten. 279 Damerau, S. 30. 280 Vgl. Lejeune 1996, S. 36. 281 Friedrich 2000, S. 30. 282 Vgl. z. B. Kämmerlings, S. 99f., Schlösser, S. 14f. o. Depkat, S. 465.

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maßen erfüllt werden können; wie sind Historizität und Literarizität, Faktenvermittlung und Subjektivität miteinander vereinbar? In den meisten voll ausgebildeten Autobiographien tritt die Wahrheit des Faktischen zurück hinter dem Bemühen, sein eigenes Weltbild zu erfassen, d. h. sie zielen wesentlich auf Sinnstiftung. Der Autobiograph ist als Interpret seines Lebens zu begreifen […]. Die von ihm mitgeteilte Wahrheit ist nicht die über die Außenseite des Lebens, sondern die des Innenlebens.283

Es scheint, als müsse der ›Wahrheitsanspruch‹ der Autobiographie auf gattungsspezifische Weise individuell festgelegt werden, um ihn aufrecht erhalten zu können – einige Theoretiker sprechen von »ästhetische[r] Wahrheit literarischer Texte«284 oder von der »innere[n] Wahrheit«285 beziehungsweise »höhere[n] Wahrheit«286 der Autobiographie. Um diese Art von Wahrheit ergründen zu können, ist es nötig, sich zunächst die Bedeutung des ›Dichtungsaspekts‹ zu vergegenwärtigen, der über den der Literarizität hinausgeht. Unter dem Begriff der Dichtung können in der Nachfolge Goethes und zahlreicher weiterer Autobiographen und auch Literaturtheoretiker verschiedene, darunter bereits erwähnte und untersuchte, Spezifika der Autobiographie zusammengefasst werden: In Kapitel 2.2.1. wurden Erinnerungsstrukturen beschrieben und herausgearbeitet, inwiefern sie einer bruchlosen Wiedergabe der Vergangenheit im Wege stehen können. Gegen das Vergessen, gegen die allmähliche Veränderung und Verfälschung von Erinnerungen ist ein Autobiograph machtlos; bei dem Versuch, das vergangene Leben zusammenhängend wiederzugeben, wird er zwangsläufig und abermalig mit den Unzulänglichkeiten des autobiographischen Gedächtnisses konfrontiert und vor das Problem gestellt, wie er der Gattung dennoch gerecht werden kann. Er kann es, indem er sich mit seinen Erinnerungsdefiziten auseinandersetzt, sich seine Zweifel bewusst macht und sie in seinem Werk explizit thematisiert, was die Glaubwürdigkeit der Beschreibungen nicht schmälern muss, sondern sie im Gegenteil unterstreichen kann. Im Streben nach Kohärenz wird ein Autobiograph es darüber hinaus nicht vermeiden können, Erinnerungslücken nach gegenwärtigem Ermessen bewusst zu füllen. Wenn wesentliche Details dem Gedächtnis nicht mehr zur Verfügung stehen und der Schreiber sie nur noch erahnen kann, ist er gezwungen, retrospektiv zu interpretieren, um einheitliche und gut lesbare Textpassagen ausar283 Carola Hilmes: »Moderne europäische Autobiographie«. In: Die literarische Moderne in Europa, Band 3: Aspekte der Moderne in der Literatur bis zur Gegenwart, Hg. v. Hans Joachim Piechotta, Ralph-Rainer Wuthenow u. Sabine Rothemann, Opladen 1994, S. 372. 284 Damerau, S. 399. 285 Friedrich 2000, S. 31. 286 Ebd.

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beiten zu können.287 Dementsprechend formuliert auch Magdalene Heuser, die Autobiographie zeichne sich »durch einen hohen Erinnerungs- und Deutungsanteil des gelebten und beschriebenen Lebens«288 aus. Wayne Shumaker konstatiert: Überdies zwingt die Unmöglichkeit, Vergangenes vollkommen und bruchlos wiedereinzufangen, den Autobiographen […] dazu, eine neue Vergangenheit zu erschaffen – eine Vergangenheit, in der die tatsächliche Vergangenheit deutlich wiederzuerkennen ist, die sich aber von ihr, trotz allen Bemühens […] in Akzentsetzungen, in Vollständigkeit und sogar in Zusammenhang und Verständlichkeit unterscheidet.289

Solange der Autobiograph sich und seinen Lesern Kunstgriffe dieser Art stets bewusst hält und als solche markiert, sind sie der innerhalb der Autobiographie möglichen Authentizität, die in Kapitel 2.2.1. in diesem Zusammenhang bereits zur Sprache kam, nicht abträglich. Vielmehr fällt diese ergänzende und formende Leistung unter die der Gattung zugehörige Komponente der Dichtung. Auch die in Kapitel 2.2.2. beschriebene Verknüpfung von Ich und Geschichte kann dazu beitragen, die Grundspannung der Gattung zwischen Wahrheit und Dichtung zu ergründen: Selbst wenn dem Autobiographen konkrete historische Daten und Fakten vorliegen, die er in seinem Erzählwerk vermitteln will, so stellt sich für ihn doch die Frage, inwiefern er diese in seine persönlichen Schilderungen einbindet und auf welche Art er sie in seinem individuellen Lebenslauf verortet. Häufig liegt eine Verbindung zwischen Öffentlichem und Privatem vor, so zum Beispiel in den beiden erwähnten Episoden aus Goethes Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, in denen der kleine Johann Wolfgang durch die Einquartierung eines französischen Leutnants in seinem Elternhaus unmittelbar von der Besetzung der Stadt Frankfurt am Main durch französische Truppen betroffen ist beziehungsweise er als 14-Jähriger die Kaiserkrönung Josephs II. in Frankfurt mitverfolgt. Doch auch in diesen Fällen obliegen die konkrete erzählerische Umsetzung und die Darstellung des Zeitgeschehens dem Autor – alle denkbaren Möglichkeiten hinsichtlich Erzählperspektive, Tempuswahl und stilistischer Mittel stehen ihm zur Verfügung. »While autobiographical narratives may contain ›facts,‹ they are not factual history«290 : Jede Entscheidung, die der Autobiograph diesbezüglich trifft, ist unabhängig von den faktischen Vorgaben und entspringt rein seiner erzählerischen Kompetenz und individuellen Kreativität. Wie Goethe beispielsweise das Erdbeben von Lissabon am 1. 11. 1755 einbindet, indem er dessen Auswirkungen auf das erzählte Ich beschreibt, fällt in den Bereich seiner Dichtkunst: 287 288 289 290

Vgl. Hoffmann, S. 118. Heuser, S. 4. Shumaker, S. 87. Smith/Watson, S. 10.

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Durch ein außerordentliches Weltereignis wurde jedoch die Gemütsruhe des Knaben zum ersten Mal im Tiefsten erschüttert. Am ersten November 1755 ereignete sich das Erdbeben von Lissabon, und verbreitete über die in Frieden und Ruhe schon eingewohnte Welt einen ungeheuren Schrecken. […] Der Knabe, der alles dieses wiederholt vernehmen mußte, war nicht wenig betroffen. […] Vergebens suchte das junge Gemüt sich gegen diese Eindrücke herzustellen.291

Die bewusste Komposition des Erzählwerkes kann durchaus auch über den Rahmen von Faktenwissen und eindeutiger Erinnerung hinaus reichen: Ein Merkmal der Dichtung ist, dass sie nicht einfach Ereignisse reiht, sondern sie so anordnet, wie es […] sinnvoll ist, und damit etwas über die einzelnen Ereignisse Hinausgehendes oder etwas ›Allgemeines‹, etwa die Schicksalhaftigkeit oder die Tragik von Ereignisvorgängen, darstellt.292

Häufig besteht kein greifbarer Konnex zwischen persönlichen Erinnerungen und Zeitgeschichte, so dass dieser künstlich-künstlerisch hergestellt werden muss. In diesem Zusammenhang liegt es nahe, die autobiographischen Werke Günter de Bruyns zur Veranschaulichung heranzuziehen, da dieser erzählerische Kunstgriffe zur Verknüpfung von Ich und Geschichte bewusst einsetzt und darüber hinaus gattungstheoretisch reflektiert: In Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin berichtet de Bruyn unter der Überschrift Kinofreuden von einem Kinobesuch seiner Familie, bei dem er Emil und die Detektive sah. In dem Wissen, »daß man Wirklichkeit durch Erzählen nur schattenhaft wiederbelebt, wenn die Fähigkeit fehlt, sie um Mögliches, das wie Wirkliches wirkt, zu ergänzen«293, setzt er dieses Filmerlebnis ostentativ in Beziehung zur Zeitgeschichte: Der Wintertag, an dessen Ende ich den beiden Großen, die nicht mitgegangen waren, von Emil, Pony Hütchen, Gustav mit der Hupe und dem Mann im steifen Hut erzählte, ging in meine Lebenschronik und (wenn mein Gedächtnis mich nicht täuscht) auch in die Weltgeschichte ein.294

Nach dem Kinoerlebnis trifft die Familie an diesem Abend (oder an einem ähnlichen, wie der Erzähler nochmals bemerkt) auf der Straße einen Nachbarn, der ihnen angetrunken verkündet, »endlich sei, seit vormittag 11 Uhr, der Adolf dran«.295 Der Drehbuchautor des eben gesehenen Films, Billy Wilder, wird kurz darauf emigrieren und Erich Kästner ein verbotener Autor sein. De Bruyn weist unmissverständlich darauf hin, dass der Kinotag auch ein anderer als der der Ernennung Adolf Hitlers zum deutschen Reichskanzler gewesen sein könnte; an die Begegnung mit dem Nachbarn kann er sich noch erinnern, nicht aber, ob sie 291 292 293 294 295

Goethe 1986, S. 36f. Waldmann, S. 27. Günter de Bruyn: Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin, Frankfurt/M. 1992, S. 29. Ebd., S. 49. Ebd., S. 53.

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tatsächlich an dem Abend, an dem er Emil und die Detektive gesehen hatte, stattfand. Somit hat er seinen Kinobesuch in einen Zusammenhang gestellt, hat ihm eine Bedeutung und auch einen Spannungsbogen verliehen, die reine Konstruktion des gegenwärtigen Erzählers sind, obwohl de Bruyn beteuert, kein einzelnes Detail dieser Episode bewusst verfälscht zu haben.296 Dieser offensichtliche Kunstgriff des gegenwärtigen Erzählers, ein persönliches Erlebnis mit der Zeitgeschichte zu verbinden, künstlich einen Zusammenhang herzustellen, der eventuell nicht der Realität entspricht, führt die Möglichkeit der Komposition, der Dichtung innerhalb der Autobiographie vor Augen, die der Vermittlung von lebens- und zeitgeschichtlichen Fakten nicht im Wege steht, sondern diese auf gattungsspezifische Weise begünstigen kann. So wird deutlich, dass Goethes und de Bruyns auf die Autobiographie bezogener Dichtungsbegriff über die Literarizität der Gattung hinausreicht. Alle in Kapitel 2.2.3. genannten Erzählmöglichkeiten, alle dem Autor zur Verfügung stehenden stilistischen Mittel und seine Entscheidungsfreiheit in Bezug auf die Gestaltung seines Textes bilden die Grundlage für die literarische Qualität einer Autobiographie; darüber hinaus zeichnet sich die Konstruktion eines autobiographischen Werkes aus durch die konkrete Auswahl, die der Schreiber aus der Fülle an Fakten und Erinnerungen trifft, durch die Bedeutung, die er einzelnen Ereignissen verleiht, durch den Lebenszusammenhang, den er aus der Retrospektive herstellt und durch die von ihm bewusst erzeugte Kohärenz. Die absichtsvolle Gestaltung und Deutung der Lebensfakten vom Standpunkt der Gegenwart aus bezeichnet Jens Brockmeier als »retrospective teleology«297 und Neva Sˆlibar fasst zusammen: »Was in Form von Lebensgeschichten oder -erzählungen sprachlich rekapituliert wird, ist […] keine Abbildung der Realität, sondern Interpretation«.298 Helmuth Feilke und Otto Ludwig beschreiben das autobiographische Erzählen wie folgt: Es entsteht erst durch das Auslassen und die Hervorhebung, die Auswahl und die Verdichtung, durch das Ausblenden von Zusammenhängen ebenso wie durch das Inbeziehungsetzen ganz bestimmter Aspekte der Erfahrung. Autobiographien sind erzählerische Konstruktionen.299

Eben diese Möglichkeit der Interpretation und Konstruktion sowie die künstlerische Freiheit des Autobiographen sind es, die das realiter gelebte Leben erzählbar machen, ihm eine Form verleihen, die es per se nicht hat, und es mittels bedachter Komposition in ein ästhetisch anspruchsvolles Artefakt 296 297 298 299

Vgl. de Bruyn 1995, S. 68. Brockmeier, S. 276. Sˆlibar, S. 398. Feilke/Ludwig, S. 15.

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überführen300 – und die Goethe und in dessen Nachfolge de Bruyn sowie manche Literaturwissenschaftler mit dem Terminus ›Dichtung‹ bezeichnen. Diese für die Gattung wesentlichen Vermittlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten werden innerhalb der Forschung häufig mit Fiktionalität verwechselt beziehungsweise als solche benannt: Im Rahmen der verschiedenen Deutungsmöglichkeiten des seit der Antike diskutierten Fiktionsbegriffs erklärt Karlheinz Stierle die traditionelle Auffassung des Fiktiven als »Gegenbegriff zum Realen, die Fiktion als Gegenbegriff zur Realität«301; diese Auslegung wird auch von zahlreichen Autobiographietheoretikern implizit als solche zu Grunde gelegt und kann somit auch für die folgenden Ausführungen gelten. Hans-Edwin Friedrich beispielsweise interpretiert Goethes Titelgebung als Ankündigung fiktionaler Elemente302 und formuliert die Gesamtheit der Gattung betreffend: »Indizien für die Fiktionalität der Autobiographie gibt es in beeindruckender Zahl«.303 Beatrice Sandberg ist hinsichtlich der Autobiographie überzeugt, »daß Authentizität nicht ohne Fiktionalisierung auskommt«.304 Auch Jerome Bruner bemüht den Terminus der Fiktion: »I persist in thinking that autobiography is an extension of fiction, rather than the reverse, that the shape of life comes first from imagination rather than from experience«.305 Allerdings lässt seine Formulierung erkennen, dass er im Grunde inhaltlich nicht den Fiktionsbegriff, sondern die beschriebene gattungsspezifische Interpretation und Komposition meint. Der gleiche Sachverhalt findet sich bei Monika Schmitz-Emans: Es gibt überhaupt nur fiktive Biographien. Denn das als Zusammenhang betrachtete und dargestellte Leben ist immer schon ein Konstrukt, ein Produkt der Interpretation, nichts Gegebenes. Die Konstruktion mag dabei bewußt unter Orientierung an Modellen erfolgen oder auch unbewußt; so oder so ist jedes gestaltete und als solches erzählbare ›Leben‹ eine Fiktion, etwas ›Erfundenes‹.306

Indem sie diese Sichtweise vertreten beziehungsweise terminologisch ungenau verfahren, ignorieren oder vernachlässigen diese und viele weitere Autobio300 Vgl. Bourdieu, S. 69. 301 Karlheinz Stierle: »Fiktion«. In: Ästhetische Grundbegriffe (ÄGB). Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Band 2 Dekadent-Grotesk, Hg. v. Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhart Steinwachs u. Friedrich Wolfzettel, Stuttgart 2001, S. 380. 302 Vgl. Friedrich 2000, S. 36f. 303 Ebd., S. 36. 304 Sandberg, S. 149. 305 Bruner 1993, S. 55. 306 Monika Schmitz-Emans: »Das Leben als literarisches Projekt. Über biographisches Schreiben aus poetischer und literaturtheoretischer Perspektive«. In: BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History 8 (1995), H. 1, S. 22.

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graphietheoretiker die Unterscheidung zwischen Dichtung im Sinne von Interpretation, Konstruktion sowie Komposition auf der einen Seite und Fiktion als bewusster Abweichung von der Realität, als »Erfindung«307 oder, wenn man so will, ›Hinzudichten‹ andererseits. Dass ein Autobiograph sein Leben wie beschrieben interpretiert und erzählbar macht, ist unabdingbar und fällt noch nicht in den Bereich der Fiktion – im Gegenteil haben die Untersuchungen innerhalb dieses Kapitels gezeigt, dass die Gattung der ›Autobiographie‹ mittels Dichtung ohne fiktionale Elemente auskommt. Auch Rolf Tarot urteilt: Dichtung wird […] mit einem Fiktionsbegriff verbunden. […] Das ist eine für alle Formen autobiographischer Texte nicht zu akzeptierende Zuweisung, wenn man von der Autobiographie eine authentische, wenn auch subjektbedingte Darstellung erwartet, die auf Faktizität und Wirklichkeitswahrheit gründet.308

Es kann nicht bestritten werden, dass als solche bezeichnete und rezipierte Autobiographien existieren, die fiktionale Elemente aufweisen (in Detailfragen entzieht sich diese Fragestellung ohnehin häufig der Überprüfbarkeit309). Das heißt jedoch nicht, dass die Fiktionalität dadurch zu einer Gattungskomponente erhoben würde – im Gegenteil ist es der Qualität der betroffenen autobiographischen Werke abträglich, wenn nicht der Realität entsprechende Einheiten ohne ausreichende Problematisierung in die Erzählung integriert werden. Kunstvoll komponierte Lebensgeschichten, in denen Zweifel, Gedächtnislücken, persönliche Meinungen oder Mutmaßungen und interpretatorische Kunstgriffe explizit als solche ausgewiesen und thematisiert werden, können auf fiktionale Elemente verzichten und erreichen ihre künstlerische Qualität durch die literarische Begabung des Autors und seine Intention, seine gegenwärtige Beurteilung und Sicht auf sein Leben adäquat wiederzugeben und aufrichtig zu thematisieren: Roman Reisinger ist der Ansicht, daß nicht Wahrheitsabbildung, sondern Wahrheitsfindung, Rekonstruktion von psychologischen, sinnlichen und emotionalen Zusammenhängen das Interesse der Autobiographie prägt. Gerade in dieser subjektzentrierten Suche unterscheidet sich die Autobiographie wesensinhärent von der Fiktion, deren Dynamik von einer subjektdistanzierenden, sich verselbstständigenden Welt genährt wird.310

Auf diese Weise wird das Zusammenspiel des vielfach zitierten Begriffspaars Wahrheit und Dichtung greifbar ; der scheinbare Widerspruch zwischen beiden Begriffen lässt sich auflösen: Die beschriebene, unabdingbare Interpretation innerhalb der Autobiographie, die absichtsvolle Komposition eines literarischen 307 308 309 310

Waldmann, S. 27. Tarot, S. 28. Vgl. auch Grüter, S. 9. Vgl. Hoffmann, S. 118. Reisinger, S. 268f.

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Werkes belegen nachdrücklich, dass die Gattung hinter der Realität zurückbleiben muss – objektive Faktenwiedergabe ist wie gesehen nicht möglich und kann nicht das Ziel eines Autobiographen sein. Im Gegenteil liegt die Qualität seiner Lebensgeschichte in seiner Individualität, seinen erzählerischen Fähigkeiten und seinem aufrichtigen Willen, seine gegenwärtige, persönliche Sicht auf sein Leben zu vermitteln. »[A]utobiography is the story of an attempt to reconcile one’s life with one’s self and is not, therefore, meant to be taken as historically accurate but as metaphorically authentic«.311 Timothy Dow Adams bemüht hier den Authentizitätsbegriff und in der Tat ist er erforderlich, um den scheinbaren Widerspruch aufzuklären – nämlich, indem er die Frage nach der Wahrheit (ein philosophiegeschichtlich ohnehin zu stark vorbelasteter Begriff) ablöst. Die autobiographiespezifische Ausprägung der Authentizität, wie sie in Kapitel 2.2.1. angedeutet, aber nicht näher ausgeführt wurde312, ist der Schlüssel zum Verständnis und zur Akzeptanz der gattungseigenen Grundspannung – anstelle von Wahrheit kann die Autobiographie den Anspruch der subjektiven Authentizität verfolgen und durchaus erfüllen: Diese tritt hervor, wenn die Beurteilung des autobiographischen Werkes im Hinblick auf den gegenwärtigen Schreiber erfolgt, dabei seine eventuell fehlerhafte Erinnerung und seine persönliche Sichtweise berücksichtigt werden und darüber hinaus seine Intention erkennbar wird, Zweifel, Ängste und Unsicherheiten zu thematisieren, auf Überhöhungen und Stilisierungen, auf Fiktion zu verzichten, aber die Interpretation und Komponiertheit, die beschriebene Dichtung gezielt einzusetzen und offen zu legen. Der Terminus ›subjektive Authentizität‹ bezeichnet in seiner ursprünglich von Christa Wolf geprägten Bedeutung exakt die Fähigkeit der Autobiographie, eine Verbindung von Dichtung und Wahrheit zu erreichen. Wolf definiert den Begriff in einem Gespräch mit Hans Kaufmann im Jahr 1973 als Echtheit, Glaubwürdigkeit, als Bemühung, sich mit der Realität produktiv auseinanderzusetzen, Zusammenhänge entstehen zu lassen, die eine andere Realität hervorbringen können, und dieser unter der Voraussetzung der Wahrhaftigkeit schreibend gerecht zu werden.313 Subjektive Authentizität, die letztlich als Voraussetzung für eine literarische Autobiographie und als Gradmesser für deren Qualität angesehen werden kann, ist wissenschaftlicher Kritik nicht vollständig zugänglich. Sie folgt eigenen Gesetzen; sie garantiert kein getreues Abbild eines vergangenen Lebens, sondern die retrospektive Einschätzung des Autobiogra311 Timothy Dow Adams, S. ix. Vgl. auch Holdenried 2000, S. 26. 312 Vgl. oben, S. 58f. 313 Vgl. »Subjektive Authentizität. Gespräch mit Hans Kaufmann«, Christa Wolf im Gespräch mit Hans Kaufmann, S. 780f. Christa Wolf stellt ihre Aussagen in den Zusammenhang fiktionaler Prosa, doch ihr Begriff der ›subjektiven Authentizität‹ kann auf die Gattung ›Autobiographie‹ übertragen werden.

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phen im Hinblick auf seine individuelle Lebenswirklichkeit: »Die Bedeutung der Autobiographie ist somit jenseits von falsch und richtig zu suchen«.314 Auf der Grundlage der subjektiven Authentizität können Historizität und Literarizität, Faktizität und künstlerischer Anspruch übereinkommen, sie fließen ineinander und nur ihre Verbindung, die Berücksichtigung von Wahrheit und Dichtung kann das Besondere der Autobiographie ermöglichen: die um Wahrhaftigkeit bemühte Vergegenwärtigung und Beschreibung einer individuellen Lebenswirklichkeit und ihres Zeitalters in der subjektiven Deutung und künstlerischen Formung durch den sich erinnernden Schreiber. Auch Michaela Holdenried betont, »daß die besondere Gegenstandsorientierung der Autobiographie […] und Literarisierung […] einander nicht ausschließen, sondern sich sogar gegenseitig bedingen«.315 Erreicht wird auf diese Art das »eigentliche Grundwahre«316, wie Goethe es nennt – er selbst führt die mögliche Verknüpfung der verschiedenen gattungskonstitutiven Pole in seiner »weit ausholende[n], vielfache Lebens- und Epochenverhältnisse einbeziehende[n], der Entwicklung des Individuums unter den Bedingungen des Zeitalters gewidmeten Selbstdarstellung«317 beispielhaft vor. »Narrativität und poetische[…] Formgebung, nicht jedoch im Sinne von Erfindung«, so formuliert auch Heide Volkening, seien somit für Goethe notwendiger Bestandteil der Schilderung der Wahrheit, die nicht als Faktenwahrheit, sondern als nachträgliche Deutung verstanden wird. Sie ist der gelungenen Individualität nicht entgegengesetzt, sondern diese wird erst durch sie sichtbar.318

Diese auf Goethe bezogene Einschätzung ist auch auf die Gattung als solche übertragbar und unter den Aspekt der subjektiven Authentizität einzuordnen. Carola Hilmes resümiert: Mit dem Titel Dichtung und Wahrheit bezeichnet Goethe das Programm der modernen literarischen Selbstbiographik […] und benennt zugleich das diesem Genre zugrunde liegende Problem, die historische Wahrheit in Literatur zu überführen bzw. den in der Dichtung gestifteten Sinn historisch zu verbürgen. Dichtung und Wahrheit sind demnach nicht als gegensätzlich zu verstehen.319 314 Gusdorf, S. 141. 315 Holdenried 1991, S. 104f. 316 Vgl. Johann Wolfgang von Goethe: »Goethe an den König Ludwig I. von Bayern (Konzept). Do. 17./So. 27. 12. 1829«. In: ders.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände, Band II/11 (38): Die letzten Jahre. Briefe, Tagebücher und Gespräche von 1823 bis zu Goethes Tod, Teil II: Vom Dornburger Aufenthalt 1828 bis zum Tode, Hg. v. Horst Fleig, Frankfurt/M. 1993, S. 209. 317 Wuthenow 1992, S. 1270. 318 Heide Volkening: Am Rand der Autobiographie: Ghostwriting – Signatur – Geschlecht, Bielefeld 2006, S. 18. 319 Hilmes 2001, S. 1.

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Diese Bewertung ist völlig zutreffend und legt, ohne den Terminus explizit zu nennen, die subjektive Authentizität der Autobiographie zu Grunde – vergleichbar mit den Äußerungen Mark Freemans und Jens Brockmeiers, die von einer »narrative truth«320 der Autobiographie sprechen oder Christian Hoffmanns, der der Überzeugung ist, »daß sich die vergangene Wirklichkeit überhaupt erst durch die Art der jeweiligen erinnernden Bezugnahme herausbildet«.321 Wesentlich ist jeweils der aufrichtige Wille des Autobiographen, seiner Lebenswirklichkeit schreibend gerecht zu werden und in diesem Sinne kann – ungeachtet der Problematik des Wahrheitsbegriffs – Laura Marcus’ Einschätzung als Fazit dieser Ausführungen gelten: »[T]he ›intention‹ to tell the truth […] is a sufficient guarantee of autobiographical veracity and sincerity«.322

2.2.5. Die Autobiographie als Identitätsbestimmung Schon Wilhelm Dilthey führt in Bezug auf die Autobiographie aus: »Und zwar ist der, welcher diesen Lebenslauf versteht, identisch mit dem, der ihn hervorgebracht hat. Hieraus ergibt sich eine besondere Intimität des Verstehens«.323 Elizabeth W. Bruss erkennt wie auch Philippe Lejeune »die Identität des Elements Autor/Erzähler/Person«324 als eine der Konstituenten autobiographischer Literatur und auch Martina Wagner-Egelhaaf bezeichnet die »behauptete[…] Identität von Erzähler und Hauptfigur, von erzählendem und erzähltem Ich«325 als wesentliches Moment und prominentestes Strukturmerkmal der Gattung. Der Begriff der Identität durchzieht die Autobiographietheorie wie ein roter Faden und wird unter Berücksichtigung seiner verschiedenen Facetten in den folgenden Abschnitten näher beleuchtet. Dabei soll zunächst geklärt werden, welche Berechtigung und Bedeutung die angenommene Identität zwischen Aussagesubjekt und Aussageobjekt in Bezug auf die Autobiographie hat; in einem weiteren Schritt interessiert die Frage, inwiefern Selbstvergewisserung, Identitätssuche beziehungsweise Identitätsbestimmung als Ziel eines autobiographischen Unternehmens betrachtet werden können und auf welche Arten es verfolgt werden kann. Aiko Onken weist darauf hin, »daß das Problem der Identität von Anfang an auch ins Einzugsgebiet der Philosophie gehört«326 : Im Handwörterbuch Philo320 321 322 323 324 325 326

Freeman/Brockmeier, S. 81. Hoffmann, S. 140. Marcus 1994, S. 3. Dilthey, S. 29. Bruss, S. 278. Wagner-Egelhaaf, S. 8. Aiko Onken: »Faktographie und Identitätskonstruktion in der Autobiographie. Zum Bei-

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sophie definiert Ullrich Wille Identität als völlige Übereinstimmung, als »zweistellige Relation, in der jeder Gegenstand zu sich selbst und zu keinem anderen Gegenstand steht«.327 Er begreift eine Identitätsrelation als Äquivalenzrelation, in deren Rahmen gilt, »dass Gegenstände, zwischen denen die Identitätsrelation besteht, alle Eigenschaften gemeinsam haben«328 und dass »Gegenstände, die alle Eigenschaften gemeinsam haben, miteinander identisch sind«.329 Auch wenn Wille seine Definition hier nicht explizit auf Personen bezieht, kann sie, insbesondere das Konzept der zweistelligen Relation, dennoch als Grundlage für die zunächst folgenden Ausführungen dienen. Konträr zu zahlreichen Autobiographietheoretikern wie Wilhelm Dilthey, Elizabeth W. Bruss, Rolf Tarot und nicht zuletzt Philippe Lejeune behauptet Christian Hoffmann, »daß Erzähler und Autor niemals identisch sein können«.330 Auch in Bezug auf Erzähler und Protagonist scheine es ihm verfehlt, Identität anzunehmen: »Selbst wenn diese Identität nicht durch Perspektivenwechsel gestört wird, bleibt doch immer der zeitliche Abstand zwischen beiden als der Abstand zwischen Erzählen und Erzähltem«.331 Insbesondere Lejeune identifiziert Identität zwischen Autor, Erzähler und Protagonist jedoch als wesentliches Strukturmerkmal der Autobiographie und stützt sein Modell des ›autobiographischen Paktes‹ auf dieses Identitätsverhältnis. Er betrachtet den Eigennamen als Kennzeichen der Identität; der zeitliche Abstand zwischen den Instanzen ist für ihn dabei kein Beurteilungskriterium. Für ihn ist eine Person ihr Leben lang mit sich selbst identisch – unabhängig von Alter, Berufsstand, Gefühlszustand oder körperlicher Verfassung.332 Ähnlich zu Lejeune beurteilt Pierre Bourdieu die Rolle des Eigennamens: Par cette forme tout / fait singuliHre de nomination que constitue le nom propre, se trouve institu8e une identit8 sociale constante et durable qui garantit l’identit8 de l’individu biologique dans tous les champs possibles oF il intervient en tant qu’agent, c’est-/-dire dans toutes ses histoires de vie possibles. […] Le nom propre est l’attestation visible de l’identit8 de son porteur / travers les temps et les espaces sociaux, le fondement de l’unit8 de ses manifestations successives.333

327 328 329 330 331 332 333

spiel Jens Bisky : »Geboren am 13. August. Der Sozialismus und ich««. In: Weimarer Beiträge. Zeitschrift für Literaturwissenschaft, Ästhetik und Kulturwissenschaften 55 (2009), H. 2, S. 168. Ullrich Wille: »Identität«. In: Handwörterbuch Philosophie, Hg. v. Wulff D. Rehfus, Göttingen 2003, S. 401. Ebd. Ebd. Hoffmann, S. 154. Ebd., S. 155. Vgl. oben, S. 37, 39ff. Diese Meinung teilt auch Michael von Engelhardt: Vgl. Michael von Engelhardt: »Sprache und Identität. Zur Selbstdarstellung und Selbstsuche im autobiographischen Erzählen«. In: Sprache, Hg. v. Henning Kößler, Erlangen 1990, S. 72. Bourdieu, S. 70.

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Eckart Liebau gibt allerdings zu bedenken: »Inhaltlich sagt der Eigenname über den Träger wenig oder nichts aus, über seine Eigenschaften und seine Wandlungen«.334 Dennoch ist auch er der Überzeugung, dass der Eigenname als gesellschaftliche Institution der dauerhaften Identitätsbestimmung und -sicherung gelten könne.335 Jean Starobinski erkennt den Einsatz des Personalpronomens der ersten Person Singular als »gemeinsame Stütze der gegenwärtigen Reflexion und der Vielzahl der vergangenen Zustände«336, räumt aber ein: Eben weil das vergangene Ich verschieden ist vom gegenwärtigen Ich, kann das letztere sich mit all seinen Vorrechten behaupten. Es wird nicht nur erzählen, was ihm zu einer anderen Zeit widerfahren ist, sondern vor allem, wie es aus dem anderen, das es gewesen ist, es selbst geworden ist.337

Sidonie Smiths und Julia Watsons Einschätzung bekräftigt diesen Ansatz: »Often critics analyzing autobiographical acts distinguish between the ›I‹-now and the ›I‹-then, the narrating ›I‹ who speaks and the narrated ›I‹ who is spoken about«338 ; ferner halten sie zustimmend fest: »But both the unified story and the coherent self are myths of identity. […] We are always fragmented in time«.339 Es lassen sich also zahlreiche gegenläufige Äußerungen in Bezug auf das Identitätsverhältnis von Autor, Erzähler und Protagonist innerhalb der Autobiographie finden; als Ursache können abweichende Identitätsbegriffe angenommen werden. Wer Ullrich Willes Konzept der Äquivalenzrelation zu Grunde legt, kann durchaus zu dem Schluss kommen, dass das erzählte und das erzählende Ich nicht ausnahmslos alle Eigenschaften teilen und daher nicht identisch seien. Als weiteres Beispiel sei hier Mark Freeman angeführt, der die Auffassung vertritt: »[T]here has emerged the recognition that personal identity is changeable – across time, across space, and, more generally, across the various discursive contexts within which identity is negotiated«.340 Lejeune und Bourdieu vertreten wie gesehen eine davon abweichende Auffassung von Identität, wenn sie diese als unabhängig von Zeit, Raum und Kontext begreifen und sie an den Eigennamen koppeln. Jerome Bruner fasst die Schwierigkeit der Identitätsverhältnisse in der Au334 Eckart Liebau: »Laufbahn oder Biographie? Eine Bourdieu-Lektüre«. In: BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History 3 (1990), H. 1, S. 86. 335 Vgl. ebd. 336 Jean Starobinski: »Der Stil der Autobiographie«. In: Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, Hg. v. Günter Niggl, Darmstadt 1998, S. 208. 337 Ebd., S. 207. 338 Smith/Watson, S. 58. 339 Ebd., S. 47. 340 Mark Freeman: »From substance to story. Narrative, identity, and the reconstruction of the self«. In: Narrative and Identity. Studies in Autobiography, Self and Culture, Hg. v. Jens Brockmeier u. Donal Carbaugh, Amsterdam, Philadelphia 2001, S. 295.

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Forschungsgegenstand ›Autobiographie‹

tobiographie treffend zusammen: »In autobiography, we set forth a view of what we call our Self and its doings, reflections, thoughts, and place in the world. Now, just what the referent is in such discourse is an extremely difficult matter to specify«.341 Ungeachtet der aufgezeigten Definitions- und Interpretationsschwierigkeiten im Umgang mit dem Identitätsbegriff gilt es jedoch festzuhalten, dass ein eigentümliches Verhältnis zwischen Autor, Erzähler und Protagonist besteht. Aussagesubjekt und -objekt fallen einerseits zusammen und sind gleichzeitig gekennzeichnet durch eine Differenz der Zeitebene, der Erfahrung, des Wissens und des Blickwinkels.342 Dieses Verhältnis bildet einen der Hauptkristallisationspunkte der Diskussion über autobiographische Literatur innerhalb der letzten Jahrzehnte. Jedoch kommt die Forschung diesbezüglich wie beschrieben zu keinem Konsens, was erneut die Schwierigkeiten eines wissenschaftlichen Zugriffs auf die Gattung bezeugt. »Das gegenwärtige und das vergangene Ich können in einer Autobiographie nicht ungebrochen aufeinander bezogen werden. Wie sie überhaupt zusammenhängen, gilt es schreibend zu erkunden«343 – statt nur nach bestehender oder nicht bestehender Identität zu fragen, scheint es an dieser Stelle in der Tat sinnvoller zu sein, das komplexe Verhältnis, in dem erzähltes und erzählendes Ich zueinander stehen, näher zu beleuchten, sowie aufzuzeigen, welche Möglichkeiten die Verbindung beider einem Autobiographen eröffnen kann. Auch Oliver Sill ist sich sicher : »Darstellungsintentionen, so unterschiedlich sie auch immer sein mögen, hängen wohl stets zusammen mit dem Spannungsverhältnis zwischen heutigem und damaligem Ich des Autobiographen«.344 Je stärker der Darstellungsmodus geprägt ist von szenischem Erzählen, wörtlicher Rede, inneren Monologen oder der Verwendung der dritten Person Singular, desto deutlicher tritt das vergangene Selbst mit seinen Erlebnissen und Erfahrungen in den Vordergrund. Das Ich der Gegenwart indessen rückt stärker in den Fokus, wenn Kommentare, Argumentationen und Reflexionen die Darstellung bestimmen.345 Welche Art der Darstellung ein Autobiograph wählt, was er in den Vordergrund stellt, welchen Blickwinkel er einnimmt sowie welche Facetten seiner Persönlichkeit er auf welche Weise seinen Lesern präsentiert, hängt wesentlich ab von den Antrieben, die ihn zur Erzählung seiner Lebensgeschichte bewegen. Als mögliche Motive für die Abfassung einer Autobiographie nennt RalphRainer Wuthenow die Rechtfertigung vor Gott, Neugierde, den Willen zur Apologie des eigenen Wirkens und Verhaltens, die Beschreibung der die Le341 342 343 344 345

Bruner 2001, S. 25. Vgl. Sˆlibar, S. 395. Hilmes 2001, S. 5. Sill 1995, S. 34. Vgl. von Engelhardt, S. 78.

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bensgeschichte prägenden Epoche, die Herstellung eines Lebenszusammenhangs und nicht zuletzt die Selbsterkenntnis.346 Denkbar sind weiterhin ein Bedürfnis nach Selbstdarstellung oder gar Selbststilisierung und Selbstrechtfertigung, die laut Michaela Holdenried »von jeher zu den Wurzeln des Autobiographischen«347 gehören. Da die ihr zu Grunde liegenden Motive jede Autobiographie prägen, sich dabei ablösen oder untergraben können und letztlich über Akzentsetzung und Auswahl innerhalb der Erzählung mitentscheiden, sind einige der genannten Antriebe bereits zur Sprache gekommen. »Um Möglichkeiten der Selbsterkenntnis freilich geht es dabei immer«348 : Wuthenow ist zu Recht davon überzeugt, dass Selbstinteresse die Grundlage jeder Autobiographie bildet, auch wenn dieses bei jedem Autobiographen unterschiedlich beschaffen sein kann.349 Auffällig ist in jedem Fall, dass es häufig Schicksalsschläge sind, traumatische Erlebnisse oder unerwartete Wendungen des Lebenslaufs, die den konkreten Anlass zur Selbstverständigung innerhalb der Autobiographie bieten. Auch Monika Schmitz-Emans konstatiert, dass Autobiographien vielfach dann in Angriff genommen werden, wenn ein Riß im Kontinuum des Lebensverlaufs sich abzeichnet, wenn das Ich in Distanz zu einem Teil der eigenen Lebensgeschichte, also auch zu einem Teil seiner selbst, tritt.350

Dementsprechend sieht Beatrice Sandberg beispielsweise eine mögliche Aufgabe der Autobiographie darin, »Trauerarbeit zu leisten, privater Betroffenheit, Verletzungen oder Schuldgefühlen Ausdruck zu geben«.351 Christian Hoffmann erkennt hier ebenfalls wesentliche Motive zur Abfassung einer Lebensgeschichte: Autobiographisches Schreiben kann für den Schreibenden die Funktion der Vergewisserung der eigenen Identität übernehmen, weiterhin aber auch den Versuch darstellen, die Bedrohung der Identität durch äußere Faktoren abzuwenden, oder nach einer Phase größerer Veränderungen eine Bilanz zu ziehen.352

Autobiographien können ein Versuch sein, Lebens-, Sinn- und/oder Identitätskrisen zu bewältigen353, indem der Schreibende sich frühere Lebensphasen erinnernd ins Bewusstsein rückt, Zusammenhänge, Bedeutungen und Wendepunkte sucht oder konstruiert, sich mit seinem vergangenen Selbst, also dem erzählten Ich auseinandersetzt und sich auf diese Weise seiner eigenen Identität 346 347 348 349 350 351 352 353

Vgl. Wuthenow 2002, S. 170f. Holdenried 2000, S. 41. Wuthenow 2002, S. 171. Vgl. ebd., S. 172. Schmitz-Emans, S. 8. Sandberg, S. 149. Hoffmann, S. 147f. Vgl. z. B. Bernward Vespers autobiographisches Werk Die Reise.

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Forschungsgegenstand ›Autobiographie‹

vergewissert. Volker Depkat ist der Überzeugung, dass Identität an das Bewusstsein gekoppelt ist und erst durch Reflexion über das eigene Selbst entsteht. Auch unabhängig von Lebenskrisen können Autobiographien als ebensolche Akte der Reflexivität angesehen werden.354 An dieser Stelle wird deutlich, dass Willes nüchterne Definition von Identität mit Hilfe der Äquivalenzrelation nicht ausreicht, um den komplexen Sachverhalt der Selbstvergewisserung, der möglichen Identitätssuche und -bestimmung innerhalb der Autobiographie zu erfassen. Vielmehr interessiert hier personale Identität – Identität von Menschen als Personen –, deren Herstellung und Aufrechterhaltung sich laut Michael von Engelhardt als dreifacher Vermittlungsprozess vollzieht: als Vermittlung zwischen der Person und ihrer sozialen Umwelt; als Vermittlung zwischen den unterschiedlichen inneren Instanzen der Person; und als Vermittlung zwischen den verschiedenen historisch-biographischen Phasen im Lebenslauf des Menschen.355

Weiterhin führt er aus: »Die personale Identität beruht ferner auf der Distanz des Menschen zu sich selbst. Der Mensch ist ein erlebendes und handelndes Wesen, das sich, indem es sich wahrnimmt und beurteilt, gegenüber treten kann«.356 Depkat nähert sich dem Begriff der personalen Identität von ihrer Bedeutung für die Gattung her : Autobiographien präsentieren sozial ausgehandelte, im Dreieck von Geschichtserfahrung, retrospektiver Deutung und Gegenwartsbezug gründende Entwürfe von Identität. Identität meint hier jenes zur Vorstellung von Ich, Gesellschaft und Welt sich zusammensetzende Bündel von Wahrnehmungs- und Deutungsschemata, Selbstdefinitionen und Zugehörigkeitsgefühlen, Wertideen und Normen, Orientierungen und Loyalitäten, […] das Selbst- und Fremddefinition in ein Verhältnis zueinander setzt, das den einzelnen in größere Gruppen integriert und so sinnvolles Handeln in der Gesellschaft erst möglich macht.357

Identität wird hier also als auf die Gegenwart ebenso wie auf die Vergangenheit bezogene soziale Konstruktion beschrieben. Ralph-Rainer Wuthenow begreift Identität als »Übereinstimmung von Leben, Schicksal und Charakter«358, die in der Autobiographie gesucht werde. Auch Hans-Edwin Friedrich sieht in der Rekapitulation der Lebensgeschichte eine Form der Reproduktion und Gewinnung von Identität359 und formuliert: »Die Autobiographie als literarische

354 355 356 357 358 359

Vgl. Depkat, S. 466f. Von Engelhardt, S. 69. Ebd., S. 70. Depkat, S. 466. Wuthenow 2002, S. 179. Vgl. Friedrich 2000, S. 61.

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Gattung entfaltet in der narrativen Entwicklung der Biographie zugleich die Identität und Individualität des Verfassers«.360 Im Unterschied zu dem in der Diskussion stehenden Identitätsverhältnis zwischen Autor, Erzähler und Protagonist scheint innerhalb der Forschung Einigkeit darüber zu herrschen, welche Bedeutung die oben skizzierte Identität des Schreibenden für sein Werk hat, dass die Autobiographie eng an sie gekoppelt ist beziehungsweise als Versuch angesehen werden kann, Identität hervorzubringen und zu präsentieren. Autobiographisches Erzählen ist laut Michael von Engelhardt ein entscheidendes Medium für die Präsentation von Identität.361 Dementsprechend bezeichnen Smith und Watson eine Autobiographie als »process through which a narrator struggles to shape an ›identity‹ out of an amorphous experience of subjectivity«.362 Da Identität auch als »lebensgeschichtliche Einheit der Person«363 begriffen werden kann, bildet das Widerspiel von vergangenem und gegenwärtigem Ich hier einen bedeutenden Gesichtspunkt. Jens Brockmeier führt treffend aus: [A]utobiography always is an account, given by a narrator in the here and now, about a protagonist bearing his name who existed in the there and then. […] [W]hen the story terminates […], the protagonist has fused with the narrator : I tell a story about someone who in the course of this story turns out to be me, that is, the I who has been telling this story all the time. These two positions mark not only two different narrative points of view, but also two different psychological points of reference and temporal frameworks. Oscillating between them, the autobiographical subject is laid out.364

Laut Brockmeier nähere sich das vergangene Ich dem gegenwärtigen Ich im Laufe der Erzählung an; das gegenwärtige Ich sei sich bewusst darüber, dass die Person, über die es schreibt, am Ende der Geschichte mit ihm verschmelzen werde. Brockmeier betont hier also die verschiedenen Zeitebenen und Blickwinkel, die die Autobiographie kennzeichnen; im Widerspiel der verschiedenen Bewusstseinszustände zeichne sich das autobiographische Subjekt ab. Letztlich ist damit Identitätssuche und -bestimmung gemeint: Das erzählende Ich setzt sich intensiv mit seinem früheren Selbst auseinander, bis dieses schließlich in ihm aufgeht. Brockmeier bekräftigt diese Sichtweise erneut, wenn er abschließend festhält: »[A]utobiographical stories play such a central role in human identity construction«.365 Mark Freeman führt diesen Gedanken weiter und kommt zu einer interessanten Fragestellung: 360 361 362 363 364 365

Ebd., S. 62. Vgl. von Engelhardt, S. 76. Smith/Watson, S. 125. Bollacher/Gruber, S. 7. Brockmeier, S. 250f. Ebd., S. 278.

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Along these rather traditional lines, the author/agent is the source of narrative; it is his or her integrative ›work‹ that binds together what would otherwise be irretrievably dispersed. More radically, however, what we also see is that, on some level, narrative is itself the source of the self ’s identity. Indeed, might we not see the identity of the self as the unique style that is embodied throughout our stories?366

Freemans Gedankenspiel führt meiner Meinung nach zu weit, zuzustimmen ist ihm aber insofern, dass die Erzählung der Lebensgeschichte als eine mögliche Quelle der Identität angesehen werden kann. Auch Christian Hoffmann denkt, dass die Konstitution von Identität letztlich auf das Erzählen von Geschichten angewiesen ist.367 Wenn die Rede von dem erzählten und dem erzählenden Ich ist, wenn es um ihre Verbindung, ihre Distanz und ihre Annäherung, wenn es letztlich um die Erzeugung von Identität geht, dann spielen immer auch Zusammenhang und Bedeutung, die dem vergangenen Leben bewusst verliehen werden, eine zu beachtende Rolle. Denn indem der Autobiograph sich in sein früheres Selbst zurück versetzt, sich erinnert, Höhe-, Tief- und Wendepunkte seines Lebens erkennt, Rückschlüsse zieht und Ereignisse aus dem gegenwärtigen Blickwinkel heraus retrospektiv interpretiert, nähert er sich sich selbst und seiner persönlichen Lebenswahrheit – er vergewissert sich seiner Identität beziehungsweise bringt diese deutend hervor : »[D]ie fragende und prüfende Erinnerung hilft dem Menschen, sein geistiges und sittliches Ich zu gewinnen«.368 Michaela Holdenried drückt es folgendermaßen aus: Wie gebrochen, fragmentarisch und andeutungsweise auch immer : Im unabschließbaren Diskurs der literarischen Reflexion über Vergangenheit, die Bedeutsamkeit von Ereignissen, die Erinnerung der Erinnerung entsteht Identität.369

So betont sie zu Recht eine gewisse »Vielschichtigkeit und Prozessualität von Identität«.370 Petra Frerichs bemerkt darüber hinaus: »Identität, die Erfahrung der eigenen Persönlichkeit als Ganzes, setzt die Integrität der Person, ihre Glaubhaftigkeit sich selbst und anderen gegenüber voraus«.371 Über die Motive des Schreibenden hinaus, die in der Regel unter anderem auf Identitätsvergewisserung beziehungsweise -erlangung abzielen, kann eine Autobiographie auch ein Identifikationsangebot erbringen und somit einen Identitätsbildungsprozess auf Seiten der Leser einleiten: 366 367 368 369 370 371

Freeman, S. 296. Vgl. Hoffmann, S. 99. Brettschneider, S. 10. Holdenried 1991, S. 285f. Ebd., S. 312. Petra Frerichs: Bürgerliche Autobiographie und proletarische Selbstdarstellung. Eine vergleichende Darstellung unter besonderer Berücksichtigung persönlichkeitstheoretischer und literaturwissenschaftlich-didaktischer Fragestellungen, Frankfurt/M. 1980, S. 63.

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Die besondere Kraft wie auch die privilegierte Stellung von Autobiographien […] liegt darin, daß hier ein Individuum einen im eigenen Erleben wurzelnden Sinn- und Zeithorizont erstellt, der für die Mitlebenden als Kristallisationspunkt für Identitätsbildungsprozesse fungieren kann. Autobiographien bieten Deutungsmuster an, in denen die Zeitgenossen einen Teil ihrer eigenen Lebens- und Geschichtserfahrung wieder finden können.372

Selbstvergewisserung, Identitätssuche und -bestimmung bilden wie gesehen einen der gattungskonstitutiven Schwerpunkte der Autobiographie; zumeist steht die Beschreibung einer Persönlichkeit in ihrer Entwicklung im Zentrum des Werkes. Autobiographien können nicht zuletzt als »Ausdruck von Selbstbezug und Selbstreflexion«373 angesehen werden. Aiko Onken resümiert: »Das Schreiben der Autobiographie bedeutet die suchende Aufarbeitung der Vergangenheit im Medium der identitätskonstituierenden Erzählung«.374 Die Analyse der gattungskonstitutiven Grundkategorien, die in den letzten Kapiteln erfolgte, soll als Basis dienen für eine eingehende Beschäftigung mit den Autobiographien Günter de Bruyns, Monika Marons, Wulf Kirstens und Heiner Müllers. Um die Voraussetzungen und Möglichkeiten ostdeutscher Schriftsteller – zumal in Bezug auf die Gattung der Autobiographie – unter den veränderten kulturpolitischen Rahmenbedingungen nach 1989 angemessen erfassen und ihre Werke entsprechend verstehen und beurteilen zu können, widmet sich das folgende Kapitel zunächst Aspekten der DDR-Diktatur und ihres Zusammenbruchs, dem Literaturbetrieb der DDR und den hier praktizierten Zensurmaßnahmen, der Rolle des Ministeriums für Staatssicherheit sowie dem Typus der Nach-Wende-Autobiographie und seiner Rezeption.

372 Depkat, S. 467f. 373 Helmut Winter : Der Aussagewert von Selbstbiographien. Zum Status autobiographischer Urteile, Heidelberg 1985, S. 3. 374 Onken, S. 174.

3.

Möglichkeiten autobiographischen Schreibens in Deutschland nach 1989 – Der Typus der Nach-Wende-Autobiographie375

3.1. Wandel der kulturpolitischen Rahmenbedingungen Die vier in dieser Arbeit zu behandelnden Autoren Günter de Bruyn, Monika Maron, Wulf Kirsten und Heiner Müller verbringen jeweils einen beträchtlichen Anteil ihres Lebens in der DDR – und sehen sich gerade in ihrem künstlerischen Schaffen als Schriftsteller, aber auch als sich differenziert mit dem Staat auseinandersetzende Individuen mit dem totalitären System, mit der SED-Herrschaft und ihrer restriktiven Kulturpolitik konfrontiert. In den 40 Jahren DDRDiktatur zwischen 1949 und 1989 ist ihre Kulturgeschichte »geprägt von einem dauernden Konflikt zwischen Geist und Macht, der in zyklischen Verläufen immer wieder eskalierte«.376 Nicht zuletzt mit den Mitteln der Angst ist die SEDRegierung stetig darum bemüht, die DDR-Bürger einschließlich intellektueller Kreise und freischaffender Künstler nach ihren marxistisch-leninistischen Idealen zu formen und kritische in dienstbare Stimmen zu verwandeln; York375 Auf Grund einer inflationären und oftmals unpräzisen Verwendung des Terminus ›Wende‹ innerhalb der Literaturwissenschaft der letzten Jahre ist an dieser Stelle eine Erklärung erforderlich. Ungeachtet ihres polysemischen sprachgeschichtlichen Hintergrundes hat sich diese Bezeichnung zur Beschreibung der Geschichte (Ost-)Deutschlands der Jahre 1989/90 durchgesetzt und soll daher auch im Rahmen dieser Arbeit zur Anwendung kommen. Der Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in zehn Bänden definiert ›Wende‹ wie folgt: »der große politische u. gesellschaftliche Umbruch des Jahres 1989 in der DDR«. (Wissenschaftlicher Rat der Dudenredaktion (Hg.): Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in zehn Bänden, Band 10: Vide-Zz, 3., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage, Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich 1999, S. 4486.) Diese Begriffsauffassung erweiternd wird ›Wende‹ innerhalb der nachstehenden Ausführungen als Bezeichnung für den Prozess des gesellschaftspolitischen Wandels dienen, der in der DDR ab Sommer 1989 während eines Zeitraums von ungefähr einem Jahr von Teilen der Bevölkerung ausgeht und zum Ende der SED-Herrschaft führt sowie letztlich den Weg in die deutsche Wiedervereinigung ebnet. Vgl. Kerstin E. Reimann: Schreiben nach der Wende – Wende im Schreiben? Literarische Reflexionen nach 1989/90, Würzburg 2008, S. 22ff. 376 Joachim Walther : Sicherungsbereich Literatur. Schriftsteller und Staatssicherheit in der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin 1996, S. 69.

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Der Typus der Nach-Wende-Autobiographie

Gothart Mix spricht von einer »konsequent vorangetriebene[n] Ideologisierung des Kulturlebens«.377 Gegen konstant widerständige und in der Folge als feindlich klassifizierte Personen kommen ein weit gefächerter Strafenkatalog sowie geheimdienstliche Verfolgung zum Einsatz, die weit in das Privatleben der Betroffenen hineinreichen und erheblichen Einfluss auf deren Lebensverlauf nehmen können. Bestrebungen hinsichtlich einer Demokratisierung der Gesellschaft und einer Liberalisierung der Kulturpolitik beziehungsweise einer Autonomisierung von Kunst und Literatur, die im Laufe des 40-jährigen Bestehens der DDR-Diktatur von ostdeutschen Kulturschaffenden und Intellektuellen dennoch wiederholt unternommen werden, scheitern im Allgemeinen an der Reformunwilligkeit und -unfähigkeit der Politbürokraten; von einem autonomen Status der Kultur- und Literatursphäre kann zu keiner Zeit die Rede sein378 : In ihrem Aufsatz Deutsche Literatur im 20. Jahrhundert – Literarische Öffentlichkeit im Spannungsfeld totalitärer Meinungsbildung definieren Hans Jörg Schmidt und Petra Tallafuss eine Diktatur als politisches System, das seinen Bürgern das Recht auf freie Meinungsäußerung in Wort und Schrift verwehrt. Die in dieser Grundrechtsbeschneidung implizite Oktroyierung eines Weltanschauungs- und Meinungsmonopols geht für den Einzelnen einher mit Autonomieentzug, Entrechtung, Entwürdigung und damit Entindividualisierung. Diese Bedingungen beeinträchtigen das Agieren des Schriftstellers als Seismograph gesellschaftlicher Entwicklungen und Erschütterungen erheblich.379

In der Tat ist die Rolle des Schriftstellers in der DDR durch grundlegende Charakteristika eines totalitären Staats gekennzeichnet: Der laut Verfassung festgeschriebene Führungsanspruch der SED gilt zwangsläufig auch für den Bereich der Kultur, wodurch eine umfassende Planung, Lenkung und Kontrolle des Literaturbetriebs durch die Staatspartei legitimiert wird.380 Die Kulturpolitik legt die Rahmenbedingungen für die in der DDR zu veröffentlichenden Druckwerke fest. In jedem Einzelfall wird im Rahmen eines ›Druckgenehmigungsverfahrens‹, so der offizielle Terminus, überprüft, ob ihre Maßgaben im Sinne des ›Sozialistischen Realismus‹ erfüllt werden; die Thematisierung un377 York-Gothart Mix: »Vom großen Wir zum eigenen Ich. Schriftstellerisches Selbstverständnis, Kulturpolitik und Zensur im ›real-existierenden Sozialismus‹ der DDR«. In: Zensur und Kultur. Zwischen Weimarer Klassik und Weimarer Republik mit einem Ausblick bis heute, Hg. v. John A. McCarthy u. Werner von der Ohe, Tübingen 1995, S. 180. 378 Vgl. Walther 1996, S. 85 u. Reimann, S. 45. 379 Hans Jörg Schmidt/Petra Tallafuss: »Deutsche Literatur im 20. Jahrhundert – Literarische Öffentlichkeit im Spannungsfeld totalitärer Meinungsbildung«. In: Totalitarismus und Literatur. Deutsche Literatur im 20. Jahrhundert, Hg. v. Hans Jörg Schmidt u. Petra Tallafuss, Göttingen 2007, S. 10f. 380 Vgl. Reimann, S. 44f.

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erwünschter Aspekte wird durch den Einsatz von Zensur gegebenenfalls verhindert. Für literarische Werke gilt das Prinzip, dass sie optimistische Werte vermitteln und positive Helden beim Aufbau des Sozialismus zeigen sollen. Grundsätzlich ausgeschlossen ist jede Form von Kritik an Staat, Partei und allen staatlichen Einrichtungen; politische Themen wie der Arbeiteraufstand 1953, der Ungarn-Aufstand 1956, der Mauerbau 1961, der Prager Frühling 1968 oder die Biermann-Ausbürgerung 1976 müssen ebenso ausgespart bleiben. Tabuisiert werden die Bereiche Homosexualität, Umweltverschmutzung, psychische Krankheit, Selbstmord, Alkoholismus, Kriminalität und insbesondere Republikflucht, das Ministerium für Staatssicherheit und die Zensur selbst. Bei den genannten Vorgaben handelt es sich nicht um Vorschläge oder Wünsche seitens der DDR-Regierung, sondern um die Norm, deren Erfüllung die Grundlage jeder Veröffentlichung darstellen soll.381 Demgegenüber sehen sich Regimekritiker mit dem Einsatz restriktiver Maßnahmen wie Papierkontingentierung, Druckverbot, Indizierung und der Vorenthaltung von Arbeitsmöglichkeiten konfrontiert, die darauf zielen, ihre literarische Stimme zu ersticken und ihnen ihre Lebensgrundlage zu entziehen.382 Wolfgang Emmerich fasst in Bezug auf den Literaturbetrieb der DDR treffend zusammen: Literatur und Kunst waren im ›realen Sozialismus‹ […] nicht in einer autonomen Wertsphäre angesiedelt, sondern unmittelbar der Lenkung und Kontrolle durch die SED unterworfen, oder doch zumindest ihrem Herrschaftswillen […]. Die literarische Öffentlichkeit war – trotz partieller Liberalisierungen – zu keiner Zeit in vierzig Jahren DDR demokratisch und freizügig gewesen, sondern immer nur eine gelenkte, halbierte, zensierte und sogar geheimdienstlich überwachte. Die literarischen Institutionen – die Verlage, der Buchhandel, die Bibliotheken, die Theater, Zeitungen und Zeitschriften mit ihrer Literaturkritik, die Literaturwissenschaft an Universitäten und der Akademie der Wissenschaften, schließlich die Autoren- und Künstlervereinigungen, zumal der Schriftstellerverband – befanden sich grundsätzlich in einem Abhängigkeitsstatus gegenüber der staatstragenden Partei.383

Neben konkrete Restriktionen tritt das Phänomen der Selbstzensur, das Manfred Jäger als »die unterste Stufe des Kontrollvorgangs und wohl auch die gefährlichste«384 bezeichnet. Ob kalkulierte Konfliktvermeidungsstrategie, freiwillige Zustimmung, die Bereitschaft, der ›guten Sache‹ zu dienen oder der grund381 Vgl. Franz Huberth: »Die Stasi als Thema in der deutschen Literatur«. In: Die Stasi in der deutschen Literatur, Hg. v. Franz Huberth, Tübingen 2003, S. 17. 382 Vgl. Schmidt/Tallafuss, S. 12. 383 Emmerich 2000, S. 435f. 384 Manfred Jäger: »Das Wechselspiel von Selbstzensur und Literaturlenkung in der DDR«. In: »Literaturentwicklungsprozesse«. Die Zensur der Literatur in der DDR, Hg. v. Ernest Wichner u. Herbert Wiesner, Frankfurt/M. 1993, S. 22.

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sätzliche Wunsch, publiziert zu werden – letztlich beeinflussen die Maßnahmen der SED zur Durchsetzung des ›Sozialistischen Realismus‹ die Autoren häufig bereits bei der Abfassung ihrer Werke. Darüber hinaus bedarf jede Änderung im Laufe des ›Druckgenehmigungsverfahrens‹ der Zustimmung des Autors; auf diese Weise wird er gezwungen, Auslassungen, Streichungen oder Umformulierungen selbst durchzuführen oder zu billigen, will er sein Werk zur Veröffentlichung bringen.385 Auch Günther Rüther, der sich als Herausgeber des Sammelbandes Literatur in der Diktatur. Schreiben im Nationalsozialismus und DDR-Sozialismus eingehend mit der Rolle der Literatur innerhalb totalitärer Systeme auseinandergesetzt hat, betont die erheblichen Einschränkungen für Schriftsteller : In einer Diktatur nimmt die Literatur Schaden. Der alle autoritären und noch stärker totalitären Herrschaftsformen kennzeichnende Gesinnungsdruck beschneidet ihre sprachlichen, formalen und inhaltlichen Möglichkeiten. Damit schränkt er maßgeblich die besondere Eigenschaft von Literatur ein, experimentell zu sein und innovativ zu wirken. Zudem wird ihr in der Diktatur verweigert, gesellschaftliche oder individuelle Mißstände, Probleme und Konflikte exemplarisch und thematisch zugespitzt darzustellen. Die Literatur verliert in der Diktatur ihre Autonomie und ihre Souveränität. Sie gerät in Abhängigkeit. Dies haben die beiden großen Diktaturen dieses Jahrhunderts in Deutschland, der Nationalsozialismus und der DDR-Sozialismus, gezeigt.386

Dagegen verweisen Schmidt und Tallafuss zu Recht auf das »dissentierende Potenzial [der Schriftsteller], welches sich als Effekt der Herrschaftsbeglaubigung wie aber eben auch als (versteckter) Akt der Machtkritik artikulieren kann«.387 Auch Jochen Vogt beschreibt eine Doppelfunktion, die der Literatur in der DDR grundsätzlich zukam: Einerseits der gesellschaftliche Erziehungsauftrag, der ihr offiziell und programmatisch zugewiesen wurde; und andererseits die immanente Systemkritik, die ihr nach und nach, an Stelle einer fehlenden politischen Opposition und einer freien Presse, zuwuchs – oder […] nur aufgrund dieses Fehlens zuwachsen konnte.388

Diese Einschätzungen decken sich mit den Ausführungen von Stefan Neuhaus, der das Prinzip der Mehrfachcodierung von Literatur in der DDR beschreibt, durch das Schriftsteller eine vom offiziellen Diskurs abweichende Teil- beziehungsweise Ersatzöffentlichkeit erzeugen können.389 In der Diktatur fehlt den 385 Vgl. ebd., S. 23, 26. 386 Günther Rüther : »Vorwort«. In: Literatur in der Diktatur. Schreiben im Nationalsozialismus und DDR-Sozialismus, Hg. v. Günther Rüther, Paderborn 1997, S. 9. 387 Schmidt/Tallafuss, S. 11. 388 Jochen Vogt: »Orientierungsverlust oder neue Offenheit? Deutsche Literatur in Ost und West vor und nach 1989«. In: Berliner LeseZeichen 3 (1995), H. 6/7, S. 35. 389 Vgl. Stefan Neuhaus: »›Kritik einer abstoßenden Welt‹? Probleme des literarischen und des literaturkritischen Diskurses über die DDR in den 1990er Jahren«. In: Rhetorik der Erin-

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Intellektuellen grundsätzlich eine publizistische Plattform, um sich öffentlich und kritisch mit den jeweiligen Gesellschaftsprozessen auseinanderzusetzen, wodurch die DDR-Literatur in Form von bewusst eingeschriebenen Subtexten diesen Mangel ausgleicht und so ebendieses beschriebene politische Potential erlangt390 : Literatur wird zum Medienersatz für Presse, Funk und Fernsehen und leistet, was diese Medien im gesellschaftlichen System der DDR nicht leisten können. Literaten greifen in Ermangelung einer freien Publizistik gesellschaftliche Konflikte auf, formulieren (teilweise zwischen den Zeilen) Kritik, die in der Presse nicht auftaucht. So werden innerhalb der Literatur Themen artikuliert, die im öffentlichen Diskurs der DDR keinen Platz finden.391

Als Gegenpol zu den gleichgeschalteten Massenmedien besetzen die Schriftsteller also Schlüsselpositionen im öffentlichen Diskurs; sie bieten in ihren Werken Identifikationspotential sowie die Möglichkeit zur Verarbeitung gesellschaftlicher Mangelerfahrungen und erhalten eine besondere soziale Relevanz, indem sie Raum für innergesellschaftliche Kommunikation schaffen. Es sind letztlich die ostdeutschen Schriftsteller und Intellektuellen, die versuchen, dem sozialistischen Totalitarismus humanistische Werte entgegenzuhalten, diese zu bewahren und zu vermitteln.392 Inwieweit die um Eigenständigkeit bemühte Literatur, die der herrschenden Ideologie distanziert gegenüber steht, subversiv wirkt, ist im Nachhinein nicht mehr objektiv zu klären und bleibt innerhalb der Forschung umstritten.393 In jedem Fall gilt, wie Günther Rüther prägnant feststellt: Die Literatur in der DDR kann nicht losgelöst von den Mechanismen der Macht beurteilt werden, die der SED-Staat auf sie ausübte. […] Die Diktatur prägte sie in einer für Außenstehende kaum nachvollziehbaren Intensität. Am stärksten geschah dies über die Zensur.394

390 391 392

393

394

nerung – Literatur und Gedächtnis in den ›geschlossenen Gesellschaften‹ des Real-Sozialismus, Hg. v. Carsten Gansel, Göttingen 2009, S. 321. Vgl. Rüther 1997, Vorwort, S. 17. Reimann, S. 49. Vgl. Neuhaus 2009, S. 318, Karl-Rudolf Korte: »Literatur«. In: Handbuch zur deutschen Einheit 1949–1989–1999, Hg. v. Werner Weidenfeld u. Karl-Rudolf Korte, Bonn 1999, S. 539, Reimann, S. 49 u. Uwe Haus: »Deutsche und Deutschland im Wandel der Zeit«. In: Schreiben im heutigen Deutschland. Die literarische Szene nach der Wende, Hg. v. Ursula E. Beitter, New York 1997, S. 12. Vgl. z. B. Neuhaus 2009, S. 321 u. Günther Rüther : »Nur ›ein Tanz in Ketten‹? DDR-Literatur zwischen Vereinnahmung und Selbstbehauptung«. In: Literatur in der Diktatur. Schreiben im Nationalsozialismus und DDR-Sozialismus, Hg. v. Günther Rüther, Paderborn 1997, S. 255. Rüther 1997, Nur ›ein Tanz in Ketten‹, S. 260f.

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Von besonderer Bedeutung für die vorliegende Arbeit ist der Stellenwert, den die literarische Gattung der Autobiographie innerhalb dieses gelenkten Literaturbetriebs der DDR einnimmt. Hier gilt es zunächst zu beachten, dass der Begriff der ›Autobiographie‹, wie er im Rahmen der von der SED dominierten Kulturpolitik verwendet wird, von dem westdeutschen beziehungsweise heutigen Verständnis des Genres signifikant abweicht. Bis in die 1980er Jahre hinein wird in der DDR von der als ›Autobiographie‹ bezeichneten Literaturgattung die didaktische Darstellung einer beispielhaften Persönlichkeit erwartet, die Beschreibung eines durchweg mit positiven Eigenschaften ausgestatteten sozialistischen Menschen, der die Anforderungen des Staats an seine Bürger nicht hinterfragt, sondern gewissenhaft und gern erfüllt.395 Dementsprechend betont Artur Arndt, der in der DDR-Literaturzeitschrift Neue Deutsche Literatur im Jahr 1976 den Aufsatz Geschichtserlebnis als Lesestoff: Autobiographik in der DDR – Leistungen und Möglichkeiten veröffentlicht hat, dass es den Verfassern von Autobiographien keinesfalls vorrangig um Individuelles gehe, welches lediglich das Medium der Aussage darstelle.396 Stattdessen hebt er in Bezug auf die in der DDR erscheinenden Autobiographien hervor: Sie vermitteln den Menschen heute und folgenden Generationen, der sozialistischen Gesellschaft überhaupt historisch erhärtete Erfahrungen des revolutionären Kampfes sowie der Klassenauseinandersetzung und liefern somit tragfähige Elemente unseres sozialistischen Geschichtsbewusstseins.397

Darüber hinaus charakterisiert er die »sozialistische Autobiographik« folgendermaßen: Bei aller Unterschiedlichkeit der aufgezeichneten Erlebnis- und Erfahrungswelt geben sie [die Erinnerungsbücher, insbesondere von Autoren aus der Arbeiterbewegung] eine Vorstellung von der bewußt und organisiert kämpfenden Arbeiterklasse, die durch ihre Selbstbefreiung den Grundstein für eine völlige Neuordnung der zwischenmenschlichen Beziehungen legt. […] Es ist zu hoffen, daß sich auf die Leser ein guter Teil jener Prinzipien überträgt, mit der in den autobiographischen Büchern über den aufopferungsvollen Kampf der Arbeiterklasse und über deren unverwechselbare Stellung im geschichtlichen Ablauf Zeugnis abgelegt wird.398 395 Vgl. Daniela Nelva: »Erinnerung und Identität. Die deutsche Autobiographie nach der Wende«. In: Gedächtnis und Identität. Die deutsche Literatur nach der Vereinigung, Hg. v. Fabrizio Cambi, Würzburg 2008, S. 32. Vgl. auch Ute Hirsekorn: »Kontinuitäten und Brüche in den Lebensbeschreibungen von Angehörigen der Parteielite der DDR nach der Wende«. In: Autobiografie und historische Krisenerfahrung, Hg. v. Heinz-Peter Preußer u. Helmut Schmitz, Heidelberg 2010, S. 159. 396 Vgl. Artur Arndt: »Geschichtserlebnis als Lesestoff: Autobiographik in der DDR – Leistungen und Möglichkeiten«. In: Neue Deutsche Literatur 24 (1976), H. 5, S. 154. 397 Ebd., S. 144. 398 Ebd., S. 167f.

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Als Beispiele dieser sozialistischen Literaturgattung, für die ebenfalls der Terminus ›Autobiographie‹ verwendet wird, können Manfred von Ardennes Ein glückliches Leben für Technik und Forschung (1972) sowie Ursula Münchows Frühe Deutsche Arbeiterautobiographie (1973) gelten, deren Titel bereits auf die ordnungsgemäße Erfüllung der offiziell erwünschten Charakteristika von Lebensberichten hindeuten. Jürgen Kuczynskis Monographie Probleme der Autobiographie aus dem Jahr 1983 zählt neben Artur Arndts einschlägigem Artikel zu den wenigen literaturwissenschaftlichen Veröffentlichungen, die sich dezidiert mit der Gattung der Autobiographie in der DDR und den an sie gestellten Forderungen auseinandersetzen. Kuczynski selbst schreibt und veröffentlicht auch eigene autobiographische Texte: Memoiren. Die Erziehung des J. K. zum Kommunisten und Wissenschaftler erscheint im Jahr 1973 in der DDR, während die drei weiteren Bände seiner Lebenserinnerungen Ein linientreuer Dissident. Memoiren 1945–1989, Ein hoffnungsloser Fall von Optimismus. Memoiren 1989–1994 und Ein treuer Rebell. Memoiren 1994–1997 im vereinten Deutschland in den Jahren 1992, 1994 beziehungsweise 1998 postum auf den Buchmarkt kommen. Die bisherigen Ausführungen und die oben angeführten Zitate zeigen auf, dass die Literaturpolitik der DDR eine dezidiert sozialistische Gattungsvariante künstlich erzeugt und bewusst fördert; als Folge weichen die bis Anfang der 1980er Jahre in Ostdeutschland erscheinenden Autobiographien deutlich vom heutigen Genrebegriff ab und müssen daher immer auch im Hinblick auf den totalitären Entstehungskontext betrachtet werden. Die Autobiographie gemäß dem heutigen Gattungsbegriff dagegen ist von Seiten der Kulturpolitik unerwünscht. Die intensive Beschäftigung mit dem eigenen Ich ohne einen Bezug auf das gesellschaftliche Umfeld im DDR-Sozialismus gilt als subjektivistisch, individualistisch und dem marxistisch-leninistischen Menschenideal nicht angemessen. Autobiographische Texte, die nicht didaktisch ausgerichtet sind, also nicht auf positive und gesellschaftlich relevante Resultate auf Seiten der Leserschaft abzielen, werden von der Literaturpolitik der DDR abgelehnt.399 Als Beispiel kann hier Günter de Bruyns Erstlingswerk Der Hohlweg (1963) dienen: De Bruyns Versuche, seine traumatischen Kriegserfahrungen in einem Tagebuch, später in einer Autobiographie und in einer Reportage zu verarbeiten, werden unterbunden; der unerfahrene und noch nicht etablierte Autor wird gedrängt, seine Erlebnisse in einen den Rahmenbedingungen des ›Sozialistischen Realismus‹ entsprechenden Entwicklungsroman zu überführen. Nur auf diese Art kann das Werk zur Veröffentlichung gelangen und bringt de Bruyn später den

399 Vgl. Reimann, S. 119.

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hoch dotierten Heinrich-Mann-Preis ein. Der Autor selbst dagegen bezeichnet das Werk im Nachhinein als ›Holzweg‹, als thematisch verfehlt.400 Dem Bedürfnis, sich mit sich selbst, mit der eigenen Vergangenheit, mit traumatischen Kriegserfahrungen, Schicksalsschlägen oder auch mit der eigenen Rolle des Intellektuellen im Sozialismus auseinanderzusetzen, kann die in der DDR offiziell verordnete Gattungsvariante also nicht gerecht werden. Allerdings finden sich einige Beispiele von literarischen Werken, in denen die von der verordneten Norm abweichenden Bedürfnisse und Ansprüche an einen Lebensbericht versteckt verwirklicht werden, beispielsweise hinter der Erzählung von Lebensgeschichten fiktiver Personen. Christa Wolfs als solche deklarierte Romane Nachdenken über Christa T. (1969) und Kindheitsmuster sind besonders hervorzuheben – hier kann von dezidiert autobiographischen Projekten ausgegangen werden.401 In Vor Feuerschlünden. Erfahrung mit Georg Trakls Gedicht (1982) schreibt Franz Fühmann über seine Begegnung mit der Lyrik Trakls und nimmt diese zum Anlass, wichtige Stationen seines eigenen Lebens zu rekonstruieren. Mit der Deutung von Trakls Texten, in deren Rahmen er immer wieder seine persönlichen Erinnerungen einsetzt und diese mit der besprochenen Lyrik konfrontiert, gelingt es ihm, gleichzeitig die eigene Biographie auszuleuchten. Erst innerhalb der 1980er Jahre beginnt sich, unter anderem durch den Einfluss von Michail Gorbatschows Reformkonzept, das gemeinhin mit den Schlagworten ›Glasnost‹ und ›Perestroika‹ zusammengefasst wird, das politische Klima in der DDR zögernd zu wandeln. Vor dem Hintergrund der Bestrebungen in der Sowjetunion, die sozialistische Gesellschaft grundlegend umzustrukturieren, lockert sich trotz vielfacher Blockadeversuche des SEDRegimes auch die Kulturpolitik der DDR und damit ihre Haltung gegenüber der Literaturgattung ›Autobiographie‹. Ostdeutsche Autoren können sich allmählich einer eindeutig autobiographischen Prosa annähern, die auch eine offene Bewältigung der Diktaturerfahrung mit einschließt.402 Die DDR-Literatur der 1980er Jahre ist gekennzeichnet durch eine sukzessive Zunahme autobiographischer Literatur, die zum Teil allerdings ausschließlich in Westdeutschland veröffentlicht wird. Zu nennen wären hier beispielhaft Erich Loests Werk Durch die Erde ein Riß. Ein Lebenslauf, Joachim Seyppels Ich bin ein kaputter Typ (1982) sowie Erwin Geschonneks Meine unruhigen Jahre. Lebenserinnerungen (1984). Letztlich ist es aber der Zusammenbruch der DDR und damit des ihr eigenen 400 Vgl. Günter de Bruyn: »Der Holzweg«. In: ders.: Lesefreuden. Über Bücher und Menschen, Frankfurt/M. 1986, S. 310–315. 401 Vgl. Nelva, S. 32. 402 Vgl. ebd. u. Emmerich 2000, S. 479.

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kulturellen und literarischen Systems, der erstmals eine breite kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und eine Aufarbeitung der Lebensgeschichten zahlreicher ostdeutscher Schriftsteller, Politiker und ferner nicht öffentlich bekannter Personen ermöglicht und damit einen drastischen Aufschwung der literarischen Autobiographie gemäß unserem heutigen Gattungsverständnis in die Wege leitet. Mit der Veröffentlichung von Hedda Zinners Selbstbefragung (1989) und Trude Richters Totgesagt. Erinnerungen (1990) beispielsweise werden Josef Stalins Verbrechen der 1930er Jahre aus den Erinnerungen Überlebender heraus geschildert und aufgearbeitet. Auf den Typus der Nach-Wende-Autobiographie und seine verschiedenartigen Ausprägungen soll das nächste Kapitel detailliert eingehen – im Folgenden werden zunächst die Veränderungen, die die Wende für den Kulturbetrieb und die Schriftsteller generell mit sich bringt, in den Blickpunkt rücken: In gleichem Maß, wie sich mit dem Ende der DDR und ihrer restriktiven, von Zensur gekennzeichneten Kulturpolitik unerwartete Möglichkeiten und Freiheiten für alle Kulturschaffenden ergeben, sehen diese sich auch mit »einschneidenden Umbruchserfahrungen in Lebenswelt und Weltorientierung«403 konfrontiert. Den zahlreichen beschriebenen Einschränkungen, mit denen ostdeutsche Schriftsteller zu DDR-Zeiten konfrontiert sind, steht eine umfassende Infrastruktur der Literaturförderung und -verbreitung gegenüber, die mit der Wende ebenfalls schlagartig zusammenbricht. Sie müssen sich auf radikal veränderte, ihnen unbekannte Verhältnisse der freien Marktwirtschaft einstellen, was häufig existentielle Sorgen zur Folge hat. Ein erheblicher Anteil der bisher vom Staat geförderten Autoren ist nun nicht mehr in der Lage, von der literarischen Produktion zu leben, was zu einer erheblichen Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls führen kann. Darüber hinaus ist das bisherige Selbstverständnis der Autorenrolle mit den Umbrüchen der Wende fragwürdig, wenn nicht gar hinfällig geworden404 : »With the implosion of the socialist state and the disappearance of the utopian aspirations associated with it, writers, artists, and intellectuals found themselves exposed and isolated as never before«.405 Die soziale Funktion und die außergewöhnliche Bedeutung der Literatur innerhalb des DDR-Sozialismus gehen mit der Wende verloren; die Schriftsteller büßen ihre Rolle als Sprachrohr der unterdrückten Gesellschaft ein, ihre Position verlagert sich vom Zentrum der kritischen Öffentlichkeit zu den Randbereichen

403 Emmerich 2000, S. 477. 404 Vgl. ebd., S. 448ff. 405 Karen Leeder : »›Vom Unbehagen in der Einheit‹: Autobiographical Writing by Women since 1989«. In: Autobiography by Women in German, Hg. v. Mererid Puw Davies, Beth Linklater u. Gisela Shaw, Oxford, Bern, Berlin, Brüssel, Frankfurt/M., New York, Wien 2000, S. 250.

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der Bevölkerung.406 So kritisch sie dem Staat zum Teil gegenüber gestanden haben mögen – mit dem Untergang der DDR verschwinden die politischen Vorzeichen ihres Lebens und literarischen Schaffens. Auch wenn sich die Grundlagen ihres Denkens, ihrer Identitätsfindung und ihrer Aktivitäten in Opposition zur SED-Herrschaft konstituierten, bildete diese letztlich doch den Bezugsrahmen, der nun verloren geht. Die bisherigen Ausführungen sind vorrangig auf systemkritische und abseits des ›Sozialistischen Realismus‹ schreibende Autoren bezogen. Systemkonforme Schriftsteller trifft die Wende jedoch nicht weniger hart – sie verlieren neben ihrem Status innerhalb und ihrer Identifikation mit der SED-Herrschaft auch das für ihr literarisches Schaffen relevante beziehungsweise unabdingbare Bezugssystem des glorifizierten Sozialismus. Sie müssen natürlich ebenfalls das geregelte Einkommen im Rahmen des kontrollierten Literaturbetriebs der DDR einbüßen, während sie vergleichsweise größere Schwierigkeiten haben, sich auf dem Literaturmarkt des vereinten Deutschland zu etablieren. Wolfgang Emmerich fasst die Situation der Intellektuellen und Kulturschaffenden prägnant zusammen: Kaum eine andere soziale Gruppe aus der untergegangenen DDR hat durch das Ende dieses Staates und mit ihm seines durch und durch gelenkten kulturellen Institutionengefüges so dramatische Veränderungen hinnehmen müssen, teilweise bis hin zur völligen Entwertung, wie die Intellektuellen, also die Schriftsteller und Künstler, im weiteren Sinne auch Publizisten, Geisteswissenschaftler, Literaturkritiker und andere ›Wortproduzenten‹. Damit sind erhebliche Verluste und Verunsicherungen ökonomischer und sozialer Art gemeint. Verluste an Stellen, Ämtern, Verlagshonoraren, Tantiemen oder in manchen Fällen monatliche Zuweisungen z. B. durch die Akademie der Künste der DDR. Vor allem aber […] Verluste an Sozialprestige und moralischem Nimbus.407

Auch Richard Kämmerlings betont, dass mit dem Zusammenbruch des Staats DDR und seiner Gesellschaftsform »zugleich ein ganzer Hallraum identitätsstiftender Erfahrungen«408 verschwindet und sieht darin Gründe für eine verstärkte Hinwendung zur autobiographischen Literatur als »Suchbewegung nach einer verlorenen Zeit«.409 Dieser von Kämmerlings beschriebene Zusammenhang zwischen der untergehenden DDR und der verstärkten Zunahme der Produktion autobiographischer Literatur kommt im Folgenden noch zur 406 Vgl. Reimann, S. 51. 407 Wolfgang Emmerich: »Deutsche Intellektuelle: was nun? Zum Funktionswandel der (ostdeutschen) literarischen Intelligenz zwischen 1945 und 1998«. In: After the GDR. New Perspectives on the Old GDR and the Young Länder, Hg. v. Laurence McFalls u. Lothar Probst, Amsterdam, Atlanta 2001, S. 3. 408 Kämmerlings, S. 109. 409 Ebd., S. 108.

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Sprache. Die spürbare Einflussnahme der politischen Ereignisse in Deutschland auf die Literaturgattung ›Autobiographie‹ soll im nächsten Kapitel eingehender beleuchtet werden, um sich anschließend dem Typus der Nach-Wende-Autobiographie annähern und ihn angemessen charakterisieren zu können.

3.2. Zwischen Memoiren und Rechtfertigungsschriften – Die Autobiographie als Zeitzeugnis In seinem Aufsatz Autobiographie und die soziale Konstruktion von Wirklichkeit ergründet Volker Depkat unter anderem das Zusammenwirken der literarischen Gattung ›Autobiographie‹ mit gesellschaftlichen Entwicklungen und deren Einflüssen auf das Individuum; er kommt dabei zu der Auffassung: Autobiographien sind Akte sozialer Kommunikation, die in der Konfrontation mit einer äußeren Realität gründen. Diese Ebene der Textualität zielt auf die Relevanz von autobiographischen Selbstthematisierungen in gesellschaftlichen Zusammenhängen und zugleich auf die Relevanz eben dieser gesellschaftlichen Zusammenhänge für die Gestalt autobiographischer Texte. Es ist deshalb auch kein Widerspruch, wenn festgestellt wird, daß Autobiographien einerseits etwas darüber aussagen, wie historischer Wandel erfahren wird, daß andererseits historischer Wandel seinerseits auch wieder autobiographische Zeugnisse gestaltet, weil Umbruchserfahrungen und darin gründende Infragestellungen autobiographische Reflexionen aus sich hervortreiben können.410

Depkat bezieht sich in seinen Ausführungen nicht explizit auf den Zusammenbruch der DDR und die veränderten Rahmenbedingungen für ostdeutsche Autobiographen; dennoch bringt er mit seiner Einschätzung einen Aspekt zur Sprache, der für die Betrachtung der Gattungsentwicklung in Deutschland nach 1990 äußerst relevant ist. Astrid Herhoffer weist darauf hin, dass es unangemessen sei, Nach-Wende-Autobiographien ausschließlich nach poetologischen Kriterien zu bewerten, vielmehr sollten sie von der veränderten sozialen Realität her begriffen werden.411 Selbstverständlich handelt es sich bei zahlreichen Lebenserinnerungen der 1990er Jahre um literarästhetische Kunstwerke, die durchaus eine Beurteilung nach poetologischen Gesichtspunkten verdienen; in der Tat jedoch prägen die politischen Ereignisse um 1989/90 die Literaturgattung ›Autobiographie‹ in einem Maß, das für jede Form der Bewertung auch die Berücksichtigung der zeitgeschichtlichen Hintergründe erfordert. Nicht zuletzt aus diesem Grund sollten die kulturpolitischen Rahmenbedingungen für ost410 Depkat, S. 454. 411 Vgl. Astrid Herhoffer: »Auf der Suche nach Wahrheit«. In: Germany in the 1990s, Hg. v. Hans J. Hahn, Amsterdam, Atlanta 1995, S. 26.

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deutsche Schriftsteller vor und nach der Wende, die im vorhergehenden Kapitel erläutert wurden, den Ausgangspunkt für die folgenden Ausführungen bilden. Owen Evans schließt aus den bereits beschriebenen historischen Wandlungsprozessen in Bezug auf die Gattung: »[C]ompared to the repression these authors had had to endure, the autobiographical form represents a celebration, indeed a liberation, of the subjectivity denied them during their formative years«.412 Karen Leeder bezeichnet weite Teile der deutschsprachigen Buchveröffentlichungen nach 1989 als »early attempts to explore, examine and perhaps reconstitute the lost sense of self. A very large proportion of that material was directly autobiographical«.413 Anders als innerhalb des restriktiven Literaturbetriebs in der DDR stehen den Schriftstellern nun alle Möglichkeiten offen, die politische ebenso wie die persönliche Vergangenheit, eingeschlossen die Verbrechen Stalins und des Nationalsozialismus oder individuelle Lebenserfahrungen im DDR-Sozialismus aus der subjektiven Wahrnehmung heraus kritisch aufzuarbeiten und ehemals tabuisierte Themen unverhüllt zu ästhetisieren. So wird die Wende für zahlreiche Autoren zum Wegbereiter, sich autobiographischen Projekten zu widmen. Zu den neu gewonnenen Themen und literarästhetischen Möglichkeiten kommen – hier sei an die Stellungnahmen Depkats und Herhoffers ebenso erinnert wie an die theoretischen Ausführungen zur Historizität der Autobiographie in Abschnitt 2.2.2. dieser Arbeit – die zeitgeschichtlichen Umstände: Wie im vorhergehenden Kapitel erläutert, ist das gesellschaftliche Klima der Wendezeit mit zahlreichen Schwierigkeiten für Schriftsteller wie für alle Bürger der ehemaligen DDR verbunden. Wolfgang Emmerich beschreibt ein Gefühl von »Zusammenbruch, Kahlschlag und ›Abwicklung‹ funktionierender Einrichtungen, von Verlust, Leere, Kommerzialisierung und Überfremdung«.414 Der Gesellschaft entgleitet ihr kollektives Gedächtnis, die Schriftsteller durchleben individuelle und kollektive Orientierungs- und Sinnkrisen; Walfried Hartinger spricht von einer »Irritation, die der neue Zustand bedingte«.415 Dies erzeugt in vielen Fällen das Bedürfnis nach Auseinandersetzung nicht nur mit der Historie, mit der individuellen Vergangenheit und der persönlichen Situation im Nationalsozialismus und/oder der DDR-Diktatur, sondern auch mit der gegenwärtigen Situation, mit der durch die Wende veränderten Lebenswirklichkeit, mit der eigenen Identität. Die Suche nach Klarheit über die eigene Person in der unvorhergesehenen neuen Lage, Selbsterforschung, Selbsterklärung, Neuorien412 Owen Evans: Mapping the Contours of Oppression. Subjectivity, Truth and Fiction in Recent German Autobiographical Treatments of Totalitarianism, Amsterdam, New York 2006, S. 8. 413 Leeder, S. 251. 414 Emmerich 2000, S. 436. 415 Walfried Hartinger : »Texte nach der Wende. Versuch eines Überblicks«. In: Berliner LeseZeichen 3 (1995), H. 6/7, S. 66.

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tierung, die Schaffung von neuen Lebensinhalten und -grundlinien sind für viele Bürger, hauptsächlich für Schriftsteller und Politiker, erforderlich geworden; die Abfassung und Veröffentlichung von Tagebüchern, Interviews, Reden, Essays, Romanen, Memoiren und insbesondere Autobiographien stellt häufig den Versuch dieser Aufarbeitung und Neuorientierung dar. Kerstin E. Reimann fasst prägnant zusammen: Als Endpunkt einer Epoche eröffnet dieser Einschnitt die Chance, die Zeit davor als Vergangenheit, damit als abgeschlossen zu betrachten und (neu) zu bewerten. Auch bisher Verschwiegenes kann nun angesprochen und diskutiert werden. Gleichzeitig entsteht durch den gesellschaftlichen Bruch eine Situation, in der Menschen durch den Verlust bisheriger Konstanten einerseits gezwungen sind, Bilanz zu ziehen, um sich neu zu orientieren, und andererseits eine völlig neue Perspektive auf ihr bisheriges Leben gewinnen.416

Zwar beginnt bereits in den 1980er Jahren auch auf Seiten ostdeutscher Schriftsteller eine zaghafte Annäherung an die Gattung der literarischen Autobiographie, jedoch ist es erst der gesellschaftliche Umbruch, sind es die Ereignisse um 1989/90 mit ihren Auswirkungen auf den ostdeutschen Literaturbetrieb sowie deren nötig gewordene Verarbeitung, die letztlich eine regelrechte »Flut autobiographischer Literatur«417 im wiedervereinigten Deutschland auslösen. Auch Holger Helbig betont diesen Zusammenhang: »Die schiere Masse des Materials [literarischer Rückblicke auf die DDR] ist ein Zeichen für die Ausmaße der gesellschaftlichen Veränderungen, die sich hier niederschlagen«.418 Nach der Wende bestätigt sich in Deutschland also vielfach die innerhalb der Autobiographieforschung vertretene These, dass es oftmals Schicksalsschläge, traumatische Erlebnisse oder unerwartete Wendungen des Lebenslaufs sind, die zur Abfassung einer Autobiographie Anlass geben.419 Für diesen Zeitraum ist insbesondere eine enge Verbindung zwischen Literatur und Politik charakteristisch, erzeugt nicht zuletzt durch den Zusammenbruch der DDR. Zahlreiche (autobiographische) Veröffentlichungen (ost-)deutscher Schriftsteller in den 1990er Jahren entstehen in Reaktion auf die überraschenden Entwicklungen in der DDR, sie vergegenwärtigen »die verdrängte und beschwiegene DDR-Vergangenheit«420 und sind damit in großen Teilen als politische Literatur zu bezeichnen.421 416 Reimann, S. 119. 417 Herhoffer 1995, Suche nach Wahrheit, S. 35. 418 Holger Helbig: »Weiterschreiben. Zum literarischen Nachleben der DDR«. In: Weiterschreiben. Zur DDR-Literatur nach dem Ende der DDR, Hg. v. Holger Helbig, Berlin 2007, S. 3. 419 Vgl. oben, S. 91. 420 Emmerich 2000, S. 481. 421 Vgl. Frank Thomas Grub: ›Wende‹ und ›Einheit‹ im Spiegel der deutschsprachigen Literatur, Band 1: Untersuchungen, Berlin 2003, S. 131 u. Reimann, S. 125.

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Die Art, den untergegangenen Staat und seine Hinterlassenschaften zu verarbeiten, variiert in der erheblichen Anzahl an Nach-Wende-Autobiographien sehr stark, wie die folgenden Ausführungen – freilich ohne Vollständigkeit anzustreben – zeigen sollen. Manfred Jäger spricht von einer »Zeit der Rechtfertigungen und Anklagen, der Absagen und Selbstvergewisserungen, der Treuebekundungen und der Umorientierungen«422, Neva Sˆlibar von »Abrechnungen und Aufrechnungen, Enthüllungen und Verhüllungen, Schuldzuweisungen und -abweisungen«423, die sowohl den Buchmarkt als auch das öffentliche Klima beherrschen.424 Stuart Taberner diagnostiziert »a sense of despondency«425 in den Autobiographien ostdeutscher Autoren, was er partiell auf den Verlust utopischer Ideale unter den Intellektuellen zurückführt.426 Daniela Nelva zufolge ist das autobiographische Schreiben nach der Wende als »literarischer Ort individueller Erinnerung und als Dimension ideologischer und geschichtlicher Überlegung«427 anzusehen – die Gesamtheit der autobiographischen Texte vermittelt letztlich aufschlussreiche Einblicke in den persönlich erfahrenen DDR-Alltag ebenso wie in die Wahrnehmung des gesellschaftlichen Umbruchs.428 Die retrospektive Einschätzung der DDR und der in ihr herrschenden Machtverhältnisse, die in der Regel aus der Perspektive einer veränderten Lebenssituation im wiedervereinigten Deutschland erfolgt, hängt dabei stark von der ehemaligen Rolle des Einzelnen im Sozialismus ab. Die Lebensrückblicke von Günter de Bruyn, Günter Kunert (Erwachsenenspiele. Erinnerungen, 1997) oder Monika Maron beispielsweise – alle drei stehen der DDR, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, ablehnend gegenüber – zeichnen sich aus durch the palpable need of the authors to bear witness to their experiences of totalitarian life, which had an intensely damaging impact on their individuation. One senses that each author was motivated chiefly by a personal, therapeutic need to examine the ways in which their sense of self was shaped, or distorted, by external forces during this key period in their lives, rather than any desire to provide a life chronicle for posterity.429

422 Manfred Jäger: »Die Autobiographie als Erfindung von Wahrheit. Beispiele literarischer Selbstdarstellung nach dem Ende der DDR«. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 40 (1992), H. 41 (Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament), S. 25. 423 Sˆlibar, S. 397. 424 Vgl. ebd. 425 Stuart Taberner : German Literature of the 1990s and beyond. Normalization and the Berlin Republic, Rochester 2005, S. 36. 426 Vgl. ebd. 427 Nelva, S. 31. 428 Vgl. Reimann, S. 119. 429 Evans 2006, S. 7.

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Neben der kritischen Aufarbeitung des untergegangenen Staats können hier, ebenfalls erst durch die Überwindung des Totalitarismus ermöglicht, Identitätssuche und Streben nach subjektiver Wahrhaftigkeit als Schlagworte gelten. Volker Wehdeking bezeichnet neben den Lebensberichten de Bruyns und Kunerts auch die Werke Magdalena. MfS. Memphisblues. Stasi. Die Firma. VEB Horch und Gauck – Ein Roman (1998) von Jürgen Fuchs und Mauerblume. Ein Leben auf der Grenze (1999) von Rita Kuczynski, der Schwiegertochter von Jürgen Kuczynski, als »präzise und sprachlich bewundernswert kontrollierte Abrechnungen mit dem System«430, die authentisch Einblick geben in die Schriftsteller-Existenz unter den Überwachungs- und Repressionsmechanismen des DDR-Machtapparats.431 Im Fall von Erwachsenenspiele. Erinnerungen belegt Kunert die geheimdienstliche Überwachung seines Alltags als Schriftsteller und Privatmensch mit zahlreichen IM-Berichten und weiteren Dokumenten des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS). Kunerts Leben in der DDR ist durch einen zunehmenden Enttäuschungsprozess geprägt, der mit der Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976 seinen Höhepunkt erreicht – gefolgt von Kunerts Übersiedlung in die Bundesrepublik drei Jahre später.432 Daniela Nelva bezeichnet Kunerts Aufarbeitung der Sozialismus-Erfahrung als »bittere Bilanz eines Intellektuellen, der zwischen Zensuren und Überwachung seitens der Stasi die DDR nicht mehr als den ideologischen Raum erkennt, in dem er seiner Existenz als Schriftsteller Sinn und Bedeutung geben kann«.433 Dennis Tate beurteilt diesen zweiten Abschnitt der Autobiographie im Gegensatz zu den Erinnerungen an Nationalsozialismus und Holocaust im ersten Teil äußerst kritisch als »bitter and undifferentiated in its depiction of a life of struggle against SED repression, with little self-analysis and a rather bored readiness to let his Stasi files tell parts of the story«434, was dem Werk in seinem authentischen Versuch, gegen das Vergessen von (persönlich erlittener) Ausgrenzung und Verfolgung nicht nur im Dritten Reich, sondern auch in der DDR-Diktatur anzuschreiben, allerdings nicht gerecht wird. Wie für Günter Kunert bedeutet die Aufarbeitung der Vergangenheit für zahlreiche weitere ostdeutsche Schriftsteller dieser Generation die Auseinandersetzung mit zwei totalitären Systemen. So thematisieren auch Günter de Bruyn, Heiner Müller und sogar die erst 1941 geborene Monika Maron (indem 430 Volker Wehdeking: »Die literarische Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex Staatssicherheit, Zensur und Schriftstellerrolle«. In: Mentalitätswandel in der deutschen Literatur zur Einheit (1990–2000), Hg. v. Volker Wehdeking, Berlin 2000, S. 52. 431 Vgl. ebd. 432 Vgl. Nelva, S. 34. 433 Ebd., S. 39. 434 Dennis Tate: Shifting Perspectives: East German Autobiographical Narratives before and after the End of the GDR, Rochester, New York 2007, S. 53.

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sie die Lebensumstände ihrer Vorfahren rekonstruiert) in ihren Lebensberichten zunächst Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg; Wulf Kirsten beschränkt sich in seiner Kindheitsautobiographie sogar auf diesen Zeitraum. Karen Leeder führt dafür zu Recht die folgenden Gründe an: It would seem that many writers flinch from the immediacy of the dislocation around them by dealing instead with events from a more distant past. This could be accounted for in part by the fact that these themes were officially taboo for many years in the GDR and there was still a debt of recuperation to be negotiated. It is also possible that a second trauma releases the first, thereby allowing space to reflect.435

Andere Lebensrückblicke ostdeutscher Autoren dagegen fokussieren einen zeitlich und/oder thematisch stark eingegrenzten Bereich innerhalb der DDRDiktatur. Reiner Kunzes Deckname »Lyrik« (1990) oder Erich Loests Der Zorn des Schafes. Aus meinem Tagewerk (1990) beispielsweise entstehen in Reaktion auf die Einsichtnahme der jeweiligen eigenen Akten in der Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU). Loest, der 1981 die DDR verlässt und bereits im selben Jahr seine erste Autobiographie Durch die Erde ein Riß. Ein Lebenslauf vorlegt, erzählt in dieser Fortsetzung vorrangig von dem Lebensabschnitt, der von intensiver Überwachung durch die Staatssicherheit geprägt ist. Er integriert die eingesehenen Akten in die eigene Erzählung; Kunze dokumentiert indessen fast ausschließlich Aktenmaterial. Dennis Tate spricht hier von »accounts of victimization by the SED regime«436, zu denen er auch Schwierigkeiten mit der Wahrheit (1989) von Walter Janka und Zeuge in eigener Sache. Die fünfziger Jahre in der DDR (1990) von Gustav Just zählt. In den beiden letztgenannten Werken wird ebenfalls nicht ein Leben in der DDR als solches aufgearbeitet, sondern vorrangig der Zeitraum 1956/57, in dem die beiden Kulturschaffenden zu Opfern von Schauprozessen unter der Führung Walter Ulbrichts werden.437 Aus diesem Grund bezeichnet Tate diese Werke zu Recht als »reframed versions of previously written memoirs rather than reassessments of their lives in the GDR era as a whole«.438 Auch bei den Erinnerungen Christoph Heins (Von allem Anfang an, 1997) handelt es sich nicht um eine das ganze Leben umfassende Autobiographie. Hein erzählt in der Form eines autobiographischen Romans die Geschichte (s)einer Kindheit und Jugend in den 1950er Jahren in der DDR. Christine Cosentino lobt Heins Schilderung, die nur indirekt von der Warte der Distanz und des historischen Wissens eines reifen Autors erfolge: 435 436 437 438

Leeder, S. 255. Tate 2007, S. 50. Vgl. ebd. Ebd.

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Die beeindruckende literarische Textur dieses Werkes liegt also in einem unaufdringlichen und schmiegsamen Verschlungensein zweier Erzählperspektiven, die dem kindlichen Wahrnehmungsvermögen keine Gewalt antut.439

In Das gute Leben. Erinnerungen (1996) beginnt Fred Wander seine Lebenserinnerungen mit seiner Flucht nach Paris 1938. Weite Teile der umfangreichen Autobiographie nehmen seine Lebensjahre in der DDR, also der Zeitraum von 1958 bis 1982, ein. Die von Briefen, Tagebuchnotizen und Zitaten durchsetzten Erinnerungen können dennoch nur bedingt Einblick geben in die Schwierigkeiten einer sich unter dem SED-Regime behauptenden Schriftsteller-Existenz, da Fred Wander als freiwillig im Sozialismus lebender Österreicher von verschiedenen Privilegien profitiert und den für den Literaturbetrieb der DDR charakteristischen Einengungen nur bedingt unterworfen ist. Allerdings kann Wander durch die Möglichkeit ausgedehnter Auslandsreisen eine komparatistische Perspektive eröffnen, die ostdeutschen Schriftstellern naturgemäß selten zur Verfügung steht.440 Stefan Heyms an früherer Stelle bereits erwähnte Autobiographie Nachruf, die 1988 ausschließlich in Westdeutschland erscheint, gibt detailreich Auskunft über das von den politischen Systemen und Ideologien des 20. Jahrhunderts geprägte Leben des engagierten Publizisten und Schriftstellers. Persönliches Schicksal und Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts werden hier eng verknüpft. Heyms Darstellung der DDR zeichnet sich durch eine gewisse Gelassenheit aus, durch Humor und Ironie, dennoch wird auch das Leidvolle seines Lebens und Wirkens im Sozialismus deutlich. Der sich erinnernde Ich-Erzähler, der von »S. H.« in der dritten Person berichtet, schildert die Repressalien der Staatsmacht, denen Heym seit den 1950er Jahren zum Opfer fällt: Bespitzelung, Verhöre, Brieffälschung, Geldstrafen, systematische Überwachung durch das MfS, Publikationsverbot (1976) und Ausschluss aus dem Schriftstellerverband (1979). Auch eigene Zweifel, Irrtümer und Fehleinschätzungen kommen zur Sprache – der Autor geht selbstkritisch der Frage nach, ob er durch Unachtsamkeit dem Regime unfreiwillig als »[n]ützlicher Idiot«441 gedient habe. Christa Wolf legt keine Autobiographie im eigentlichen Sinne vor, sie unternimmt nach der Wende keinen umfassenden Rückblick auf ihr Leben in der DDR. Jedoch ist ihr Gesamtwerk von verschiedenen autobiographischen Projekten durchzogen, in denen Wolf sich zeitnah mit den jeweiligen Lebens- und Arbeitsbedingungen als Schriftstellerin unter der SED-Herrschaft auseinan439 Christine Cosentino: »Überlegungen zu Formen autobiographischen Schreibens in der östlichen Literatur der neunziger Jahre«. In: Glossen: Eine internationale Zeitschrift zu Literatur, Film und Kunst nach 1945 5 (2001), H. 12: http://www2.dickinson.edu/glossen/ heft12/autobiographien.html, Zugriff: 30. 04. 2013, S. 14. 440 Vgl. Tate 2007, S. 53f. 441 Stefan Heym: Nachruf, München 1988, S. 606.

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dersetzt. Nachdenken über Christa T. und Kindheitsmuster kamen hier bereits zur Sprache, auch Störfall. Nachrichten eines Tages (1987) und Sommerstück (1989) zeigen eindeutig autobiographische Züge. In Störfall. Nachrichten eines Tages verarbeitet die Erzählerin in zwei parallel geführten Strängen die radioaktive Verseuchung im Zuge des Reaktorunfalls im Kernkraftwerk Tschernobyl und die Gehirnoperation ihres Bruders. 1990 veröffentlicht Wolf Was bleibt, eine bereits in den späten 1970er Jahren entstandene und während der Wendezeit überarbeitete autobiographische Erzählung, die einen Tag im Leben einer von der Staatssicherheit überwachten Schriftstellerin veranschaulicht. Die Publikation dieses Werkes entfacht eine Debatte, die später als ›deutsch-deutscher Literaturstreit‹ bezeichnet wird, die im Rahmen dieser Arbeit aber aus bereits genannten Gründen nicht näher erläutert werden soll. Die autobiographische Prägung der literarischen Prosa Wolfs setzt sich auch nach der Wende fort: In Leibhaftig (2002) befasst sich Wolf mit ihrer schweren Erkrankung, die sie gegen Ende der Diktatur ereilte; auch ihre letzte Veröffentlichung, der Roman Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud (2010), ist eng an der eigenen Biographie gehalten. 2003 erscheinen zudem persönliche Aufzeichnungen aus vier Jahrzehnten in der Tagebuch-Sammlung Ein Tag im Jahr. 1960–2000. Christa Wolfs schriftstellerische Tätigkeit kann somit zu großen Teilen als Literarisierung autobiographischen Materials begriffen werden. Was die autobiographischen Rückblicke von ehemaligen Politikern und Funktionären innerhalb des SED-Regimes betrifft, so finden sich darunter häufig Werke, die weniger den Anspruch literarischer Qualität erheben, sondern vielmehr der nachträglichen Rechtfertigung eigenen Handelns in der DDR dienen.442 So verfassen beispielsweise Günter Mittag (Um jeden Preis. Im Spannungsfeld zweier Systeme, 1991), Manfred Gerlach (Mitverantwortlich. Als Liberaler im SED-Staat, 1991) und Günter Schabowski (Der Absturz, 1991) kurz nach der Wende ihre schönfärbenden Lebensrückblicke. Karen Leeder bezeichnet diese Veröffentlichungen ehemals führender Staatsmänner als »for the most part opportunistic and trivial, and written with the express purpose of repositioning themselves retrospectively in relation to power«.443 Treffend weist sie außerdem darauf hin, dass in vielen Fällen nicht von literarischen Autobiographien die Rede sein kann – den eilfertig veröffentlichten, zuweilen nicht eigens formulierten, sondern in Auftrag gegebenen oder aus Reden und/oder Interviews zusammengeschnittenen Werken fehlt neben einem literarischen Anspruch der aufrichtige Antrieb, sich kritisch und authentisch mit der eigenen Person, mit der eigenen Lebenswirklichkeit auseinanderzusetzen und dabei

442 Vgl. Reimann, S. 119. 443 Leeder, S. 257.

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auch Fehler und Schuld zu erkennen und einzugestehen.444 Selbst der Terminus ›Memoiren‹, der häufig zur Bezeichnung von zeitgeschichtlich aufschlussreichen Rückblicken öffentlicher Personen in verantwortungsvollen Positionen verwendet wird, scheint für viele solcher Publikationen, denen nur eine kurze Rezeptionsgeschichte beschieden ist445, unangemessen und beschönigend. Julian Preece weist zu Recht auf die erschütternden Einblicke hin, die die einst Mächtigen in ihren Rechtfertigungsschriften unfreiwillig eröffnen: If these accounts by top state functionaries, as undemanding to read as they are unexciting, give any insight it is into unintended areas: the banality of power and those who wielded it, the ordinariness of repression, and the predictability of even the most confidential deliberations.446

Als Ausnahme muss hier allerdings Hermann Kants Autobiographie Abspann. Erinnerung an meine Gegenwart (1991) angeführt werden, der eine gewisse literarische Qualität nicht abzusprechen ist. Kant legt hier einen umfassenden Lebensrückblick vor, den er mit der Schilderung seiner Kindheit und Jugend in Hamburg und Parchim beginnt. Auch seine kurze Soldatenzeit sowie die Jahre an der Greifswalder Arbeiter-und-Bauern-Fakultät sind berücksichtigt, den Schwerpunkt aber legt er auf seine spätere Schriftsteller- und Funktionärskarriere, durchsetzt von zahlreichen Anekdoten und Erinnerungen an Begegnungen mit öffentlichen Personen. Der studierte Germanist und langjährige Präsident des DDR-Schriftstellerverbandes ist ein versierter Erzähler und erlangt durch Romane wie Die Aula (1965), Das Impressum (1972) oder Der Aufenthalt (1977) Bekanntheit in Ost- und Westdeutschland. In Abspann. Erinnerung an meine Gegenwart jedoch setzt er sein Handwerk, den ihm zur Verfügung stehenden Ausdrucksreichtum ein, um seine Regimetreue, seine Position und sein Handeln im ›real existierenden Sozialismus‹ nachträglich zu rechtfertigen oder zu verharmlosen, weswegen Dennis Tate ihn als »retrospective would-be dissident[…]«447 bezeichnet. Kant rühmt sich damit, seinen Vorsitz des Schriftstellerverbandes stets souverän und im Sinne auch kritischer Schriftsteller genutzt zu haben, jedoch bleibt, wie Wolfgang Emmerich bemerkt, »auf Kants Konto ein 444 Vgl. ebd. 445 Vgl. Torsten Pflugmacher : »abstand gestalten. Erinnerte Medien und Erinnerungsmedien in der Autobiografie nach 1989«. In: Deutschsprachige Gegenwartsliteratur seit 1989. Zwischenbilanzen – Analysen – Vermittlungsperspektiven, Hg. v. Clemens Kammler u. Torsten Pflugmacher, Heidelberg 2004, S. 109. 446 Julian Preece: »Damaged lives? (East) German memoirs and autobiographies, 1989–1994«. In: The New Germany. Literature and Society after Unification, Hg. v. Osman Durrani, Colin Good u. Kevin Hilliard, Sheffield 1995, S. 363. 447 Dennis Tate: »The End of Autobiography? The older generation of East German authors take stock«. In: Legacies and Identity. East and West German Literary Responses to Unification, Hg. v. Martin Kane, Bern 2002, S. 20.

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viel zu großer Gegenposten der Beihilfe zu Zensur und Schikanierung«.448 Fehler, Missstände und Unrecht werden zwar zuweilen erwähnt, dann aber stets relativiert. Tatsächliche Selbstreflexion oder Auseinandersetzung mit eigenem Verhalten, eigener Schuld innerhalb der DDR-Diktatur finden nicht statt; Julian Preece urteilt: »Kant is the only villain of the affair with demonstrable literary talent and it is, unfortunately for him, only his subtly self-pitying and humourless personality that makes his five hundred pages a rather tortuous read«.449 Paul Gerhard Klussmann und Frank Hoffmann bemängeln, »daß politische Aussagen keine selbst- und zeitkritische Zuverlässigkeit gewinnen, daß die Sprache oft verfälscht oder verharmlost und ein systemtreues Ich sich in seiner Vergangenheit sonnt«.450 Auch Günter de Bruyn, Günter Kunert und Erich Loest befassen sich mit Abspann. Erinnerung an meine Gegenwart und äußern unmissverständlich ihre Geringschätzung dieser autobiographischen Unternehmung. Günter de Bruyn zum Beispiel nennt das Werk in seiner Scharfmaul und Prahlhans betitelten Rezension einen »Enthüllungs- und Rechtfertigungswälzer«451, bescheinigt Kant Geltungssucht und konstatiert Oberflächlichkeit sowie fehlende Selbstauseinandersetzung.452 De Bruyn formuliert: »Immer macht sich der Drang bemerkbar, im Mittelpunkt öffentlicher Aufmerksamkeit zu stehen. […] Seine Lebensbeschreibung ist eine Aneinanderreihung von Situationen, in denen der aus dürftigen Verhältnissen Kommende und nach Anerkennung Dürstende sich hervortun kann«.453 Günter Kunert ist nicht weniger kritisch: Unter der Überschrift Ein Präsident blickt zurück. Hermann Kants Geschichtsfälschungen nennt er den Lebensrückblick »ein Meisterwerk der Redundanz«, spricht von einer »verbale[n] Girlande« und »Ehrgeiz, Neid und Machtlust bis in die tiefsten Seelenschichten«454 Kants. Er wirft ihm Rechtfertigung durch Unterschlagung von Fakten vor, bei der eine »wirksame Verdrängungskraft« helfe, und resümiert: »Es ist sein letzter Versuch, sich selber aus der Verantwortung zu stehlen«.455 448 Emmerich 2000, S. 482. 449 Preece, S. 359. 450 Paul Gerhard Klussmann/Frank Hoffmann: »Neue Leben? Kulturpolitische Transformationen vom ›Leseland‹ zum ›literarischen Markt‹«. In: Weiterschreiben. Zur DDR-Literatur nach dem Ende der DDR, Hg. v. Holger Helbig, Berlin 2007, S. 14. 451 Günter de Bruyn: »Scharfmaul und Prahlhans. Der ›Abspann‹ des Hermann Kant: der ehemalige Präsident des DDR-Schriftstellerverbandes hat seine Erinnerungen geschrieben«. In: Die Zeit, 19. 09. 1991, Nr. 39, S. 65. 452 Vgl. ebd., S. 65f. 453 Ebd., S. 65. 454 Günter Kunert: »Ein Präsident blickt zurück. Hermann Kants Geschichtsfälschungen«. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08. 10. 1991, Nr. 233, S. L 9. 455 Ebd. Vgl. auch Erich Loest: »Immer oben, immer vorne«. In: Die Welt, 08. 10. 1991, Nr. 234, S. XV.

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Owen Evans, Verfasser der Monographie Mapping the Contours of Oppression. Subjectivity, Truth and Fiction in Recent German Autobiographical Treatments of Totalitarianism, kritisiert desgleichen das Ausmaß von Selbstrechtfertigung und euphemistischer Darstellung in der erheblichen Anzahl unauthentischer, unreflektierter Rückblicke auf die DDR; dennoch warnt er in Anbetracht der zahlreichen qualitätsvollen und beachtenswerten Gegenbeispiele zu Recht davor, die Gattung der Nach-Wende-Autobiographie als literarästhetisch und/ oder zeitgeschichtlich irrelevant abzulehnen.456 Zumal eine rezeptionsästhetische Betrachtungsweise offenbart, welch essentielle Bedeutung und Wirkungskraft eine aufrichtige Auseinandersetzung mit der Diktatur auf Seiten der ostdeutschen Leserschaft entfaltet. Denn was für die Lebenswirklichkeit der ostdeutschen Schriftsteller während und nach der Wende gilt, gilt in großen Teilen auch für den Rest der Bevölkerung: Past experiences and achievements were put into question, often by the West, and declared to be wrong or invalid. Self-doubt and inferiority complexes in the new Western system increase the desire for confirmation and concurrence with other people. It is no wonder, then, that one tends to recall positive experiences in such situations, and to seek out others who share these experiences and can claim a similar frame of reference.457

Die historische Wirklichkeit, der politische, soziale und kulturelle Umbruch der Wende stellt eine Bezugsebene für die meisten Autobiographien nach 1989 dar und Autoren wie Leser sind ihr gleichermaßen verbunden.458 Hinzu kommt, dass in der Autobiographie naturgemäß Fragen der Identität verhandelt werden, denen in Zeiten existentieller Veränderungen wiederum größere Bedeutung zukommt. Roswitha Skare weist treffend darauf hin, dass die Verschiedenheit der beiden deutschen Staaten und der Existenz- und Sozialisationsgrundlagen, die sie ihren Bürgern boten, zu der Ausbildung zweier deutscher Identitäten geführt hat, was als Grund für Missverständnisse und gegenseitige Aburteilungen seit der Wende anzusehen ist.459 Auch Torsten Pflugmacher beschreibt das »Phänomen zweier kollektiver deutscher Gedächtnisse«.460 Hier wird die Bedeutung der Nach-Wende-Autobiographie ein weiteres Mal augenfällig: Sie leistet im Idealfall nicht nur eine Aufarbeitung der Vergangenheit, sondern auch eine Analyse der aktuellen Situation, der (Neu-)Positionierung innerhalb der 456 Vgl. Evans 2006, S. 6. 457 Roswitha Skare: »›Real life within the false one‹. Manifestations of East German Identity in Post-Reunification Texts«. In: After the GDR. New Perspectives on the Old GDR and the Young Länder, Hg. v. Laurence McFalls u. Lothar Probst, Amsterdam, Atlanta 2001, S. 187. 458 Vgl. hierzu Klaus-Detlef Müller : Autobiographie und Roman. Studien zur literarischen Autobiographie der Goethezeit, Tübingen 1976, S. 70. 459 Vgl. Skare, S. 185. 460 Pflugmacher, S. 109.

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veränderten Lebenswirklichkeit im wiedervereinten Deutschland. Sie argumentiert aus der Perspektive einer ostdeutschen Identität und repräsentiert somit das kleinere Erinnerungskollektiv. Mit der Vielzahl an autobiographischen Rückblicken auf die DDR kommt der Buchmarkt der 1990er Jahre den Bedürfnissen einer ruhelosen ostdeutschen Leserschaft nach. Diese setzt sich infolge der weit reichenden existentiellen Veränderungen mit Fragen der Identität, mit der eigenen Geschichte und Sozialisation sowie mit Zukunftsängsten auseinander und benötigt Identifikationsangebote: »In a world in which national identity was being called increasingly into question, it was precisely in the realm of culture that such identity might be found. This had always been the case in Germany«461 – auch wenn Stephen Brockmanns Ausführungen sich nicht nur auf die Wiedervereinigung, sondern bereits auf die Situation während der deutschen Teilung beziehen, bekräftigen sie diese These. Doch auch auf Seiten der westdeutschen Leserschaft können – wenn auch aus anders gearteten Motiven – Lebensrückblicke wie die Günter de Bruyns, Günter Kunerts, Erich Loests, Stefan Heyms, Heiner Müllers oder Monika Marons breites Interesse und berechtigte Anerkennung hervorrufen. Letztlich muss im Hinblick auf die bisherigen Ausführungen die Vielfältigkeit der literarischen Gattung ›Autobiographie‹ erneut betont werden, die neben den Grundsäulen der Identitätsbestimmung und Historizität, welche im Typus der Nach-Wende-Autobiographie auf besondere Weise zur Geltung kommen, ebenfalls Literarizität aufweist. Auch Nach-Wende-Autobiographien können und sollen als literarästhetische Artefakte rezipiert werden, in denen der Autor auf kunstvolle Art seine individuelle Lebensgeschichte erzählt und gemäß den Möglichkeiten und Grenzen der Gattung mit Erinnerungsschwächen, Irrtümern und (Selbst-)Zweifeln konfrontiert ist und diese gattungsspezifisch einbindet. Wenn Autobiographien besonders nach 1989 vorrangig als historiographische Abhandlung, als Identifikationsangebot, als Lebens- oder Orientierungshilfe in Zeiten schnellen Wandels aufgenommen werden, so wird in dieser (zumeist ostdeutschen) Lesart nicht das umfangreiche Spektrum der Gattung berücksichtigt, dennoch steht in Anbetracht des zeitgeschichtlichen Hintergrundes eine gewisse Legitimität auch dieser Rezeptionsweise außer Frage. Paul Gerhard Klussmann und Frank Hoffmann, die sich in ihrem Artikel Neue Leben? Kulturpolitische Transformationen vom ›Leseland‹ zum ›literarischen Markt‹ eingehend mit autobiographischem Schreiben befassen und sich der Vielfältigkeit der Gattung durchaus bewusst sind, erkennen diese durch die Wendeereignisse geprägte Sichtweise auf DDR-Lebensrückblicke ebenfalls an. Die beiden Autoren betrachten Nach-Wende-Autobiographien nicht nur als Rückblicke, sondern verweisen auch auf ihre Funktion als »weiterwirkende Ge461 Stephen Brockmann: Literature and German Reunification, Cambridge 1999, S. 177.

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dächtniskultur für das neue Leben nach der Wende«462 – und dies auf ost- wie auf westdeutscher Seite der wiedervereinigten Bundesrepublik.

3.3. Erinnerung an die DDR-Diktatur – Die Rolle des Ministeriums für Staatssicherheit Wie zahlreiche weitere ostdeutsche Schriftsteller setzen sich die vier in dieser Arbeit zu untersuchenden Autoren retrospektiv mit ihrem Verhältnis zum Ministerium für Staatssicherheit (MfS) auseinander, nehmen zum Teil die Möglichkeit der Akteneinsicht in der Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU) wahr und beziehen diese persönlichen Erfahrungen in ihre Lebensberichte ein. Grundsätzlich handelt es sich bei der geheimdienstlichen Überwachung der ostdeutschen Bevölkerung um einen für die Beschäftigung mit der DDR und ihren Schriftstellern äußerst relevanten Themenkomplex; in diesem Abschnitt sollen die Rolle des MfS für den Literaturbetrieb der DDR und die Thematisierung des Überwachungsapparats in der (ost-)deutschen Literatur vor und nach 1989 zur Sprache kommen, bevor die Autobiographien Günter de Bruyns, Monika Marons, Wulf Kirstens und Heiner Müllers in den folgenden Kapiteln vorgestellt und detailliert analysiert werden. Das Ministerium für Staatssicherheit, im Sprachgebrauch der SED auch als »Schild und Schwert der Partei«463 bezeichnet, hat die Aufgabe, die von staatlicher Seite verordneten Denk- und Handlungsgrundlagen innerhalb der Bevölkerung durchzusetzen bzw. davon abweichendes Gedankengut oder gegenläufige Tätigkeiten aufzuspüren und zu bekämpfen. So konzentrieren sich hier Funktionen zur Überwachung und Unterwerfung der eigenen Bevölkerung, daneben werden externe Aufklärungs- und Diversionsmaßnahmen, vor allem gegen die Bundesrepublik, betrieben.464 Ab 1957 steht das MfS unter der Führung von Erich Mielke, der es über die Jahrzehnte zu einem umfassenden »Unterdrückungs- und Kontrollapparat[…]«465 mit kontinuierlich steigendem Personalbestand ausbaut. Ende der 1980er Jahre beschäftigt das MfS über 90.000 hauptamtliche Mitarbeiter, die fast ausnahmslos auch Mitglieder der SED sind. Die Zahl der ›Inoffiziellen Mitarbeiter‹ (IM) steigt seit der Gründung des MfS im Jahr 1950 zunächst stetig an, erreicht Mitte der 1970er Jahre mit mindestens 462 Klussmann/Hoffmann, S. 15. 463 Klaus Schroeder : Der SED-Staat. Geschichte und Strukturen der DDR, München 1999, S. 430. 464 Vgl. ebd. 465 Ebd.

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180.000 IM ihren Höhepunkt und liegt kurz vor der Auflösung des Geheimdienstes 1989 bei circa 174.000 IM. Die Personalexpansion entspringt weitgehend einem ständig wachsenden Sicherheitsbedürfnis der SED-Führung, die dem Volk grundsätzlich den Verdacht fehlender politischer Loyalität entgegen bringt.466 Joachim Walther charakterisiert das MfS daher auch als »institutionalisierte[s] Mißtrauen der SED gegenüber dem eigenen Volk«.467 Während die Handlungsweise des MfS in den 1950er und 1960er Jahren durch grobe Formen der Repression gekennzeichnet ist und Verhaftungen oder Verurteilungen abschreckende Wirkung ausüben sollen, vollzieht sich ab den 1970er Jahren, der außenpolitischen Reputation der DDR entsprechend, allmählich ein Übergang zu subtileren Überwachungs- und Kontrollmechanismen: »Die leisere und verdecktere Repression löste das demonstrative Machtgebaren von SED und MfS ab«.468 Die konkrete Gefahr und der Einfluss, den das MfS auf das alltägliche Leben der Gesamtbevölkerung der DDR ausübt, sind vom heutigen Standpunkt aus schwer einzuschätzen, was sich in zahlreichen gegenläufigen Beurteilungen innerhalb der Forschung widerspiegelt. Paul Cooke beschreibt das MfS als »manifestation of an oppressive state system, which had a hugely destructive effect on many individuals, breaking up families, causing untold psychological damage and in some cases even death«.469 Mit dieser Beurteilung liegt Cooke sicherlich richtig, Stefan Wolle beschreibt die Umstände noch drastischer : Orwells Schreckensvision einer totalen Kontrolle des Individuums hatte sich zur Alltagsrealität entwickelt. Wie ein riesiger Krake lag die Staatssicherheit über dem Land und drang mit ihren Saugnäpfen in den verborgensten Winkel der Gesellschaft.470

Bezogen auf die 16 Millionen Einwohner der DDR, ist es allerdings nur ungefähr ein Prozent der Bevölkerung, das dem MfS systematisch Informationen zuträgt, wobei Täter-Opfer-Überschneidungen nicht unüblich sind.471 Der Apparat, der die Berichte der IM sammelt und die ›Operativen Vorgänge‹ bearbeitet, macht personell weniger als ein weiteres Prozent der Gesamtbevölkerung aus.472 Dessen ungeachtet darf die Existenz des MfS und seine zum Teil weit reichenden Auswirkungen auf die Bevölkerung nicht unterschätzt werden – schließlich handelt es sich hier um eine staatliche Organisation, die Maßnahmen wie Verleumdung, 466 467 468 469

Vgl. ebd., S. 437, 441f. Walther 1996, S. 69. Ebd., S. 84. Paul Cooke: Representing East Germany since Unification. From Colonization to Nostalgia, Oxford, New York 2005, S. 67. 470 Stefan Wolle: Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR 1971–1989, Bonn 1999, S. 152. 471 Vgl. Emmerich 2000, S. 469. 472 Vgl. Huberth, S. 11f.

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Berufsverbot, Beeinflussung von Gerichtsverfahren, Ortsverweis, Verdienstabzug, Zerstörung privater Beziehungen, gesellschaftliche Isolierung, Zwangsadoption, Verhaftung und in einigen Fällen sogar Hinrichtung gegen Bürger des eigenen Volkes anwendet. Auch Karl Ulrich Mayer ist sich bewusst über die Schwierigkeit einer nachträglichen Beurteilung der DDR-Bevölkerung in ihrem Verhältnis zur Macht: To paint a realistic picture of the GDR one must find a balance between two seemingly opposing premises: first, that the GDR was a successful collectivist dictatorship that was able to completely regulate the lives of its citizens and to seal them off hermetically from the outside world and, second, that the GDR populace obstinately maintained an autonomy of self-regulated lives despite the party’s and state’s massive efforts to the opposite.473

Letztlich ist die SED bei der Errichtung und Aufrechterhaltung ihrer Macht auf einen umfassenden Sicherheitsapparat angewiesen; das MfS muss als »soziales Teilsystem innerhalb der Gesellschafts- und Herrschaftsstruktur der DDR«474 anerkannt werden. Allein die permanente Möglichkeit seiner Präsenz beeinflusst das gesellschaftliche Klima nicht unerheblich. »Of particular importance to the historical appraisal of the GDR for writers, as indeed it was for much of German society, was the role of the Ministerium für Staatssicherheit«475 : Im Bereich Kunst und Literatur kommen in der ersten Hälfte der 1950er Jahre noch kein besonderer personeller Aufwand oder spezifisch entwickelte Überwachungsmethoden zum Einsatz. Die politischen Entwicklungen in der Sowjetunion beziehungsweise deren Auswirkungen in Polen und Ungarn 1956 lösen jedoch auf Seiten der SED Furcht vor ähnlichen Entwicklungen in der DDR aus und führen zu einer stärkeren Beachtung intellektueller Kreise. Auch den ›Prager Frühling‹ 1968 begreifen SED und MfS vor allem als von Intellektuellen, Künstlern und den Medien initiiert und ziehen strukturelle und methodische Konsequenzen, um diese Bevölkerungsgruppen intensiver zu überwachen. Die Intention des MfS ist es von nun an, das kulturelle Leben flächendeckend zu kontrollieren.476 Hinzu kommt ein grundsätzliches Misstrauen der SED und des MfS gegenüber Dichtern, Denkern und Künstlern:

473 Karl Ulrich Mayer: »Society of Departure: The German Democratic Republic«. In: After the Fall of the Wall. Life Courses in the Transformation of East Germany, Hg. v. Martin Diewald, Anne Goedicke u. Karl Ulrich Mayer, Stanford 2006, S. 30. 474 Hans-Jürgen von Wensierski: »›Als die Stasi bei uns vor der Tür stand, da bin ich erwachsen geworden, also mit 10 Jahren‹. Zur Notwendigkeit einer sozialwissenschaftlichen Aufarbeitung des ›Stasi-Komplexes‹«. In: BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History 6 (1993), H. 2, S. 154. 475 Cooke, S. 61. 476 Vgl. Walther 1996, S. 76.

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Duales Denken und ein auf das binäre Freund-Feind-Bild verengtes Wahrnehmungsraster tun sich schwer mit der irisierenden Strahlung des künstlerischen Wortes und mehrdeutiger Metaphorik, die der individuellen Interpretation, der Imagination des einzelnen offen und in ihrer Privatheit schwer zu kontrollieren sind. […] Das Unvermögen schuf Unsicherheit und Mißtrauen bei den ohnmächtig Mächtigen und löste den paranoiden Impuls aus, die Literatur, wenn sie schon nicht total beherrschbar war, zumindest umfassend zu überwachen.477

Die beträchtliche Aufmerksamkeit, die SED und MfS Schriftstellern entgegen bringen, begreift Paul Cooke auch als Widerspiegelung ihres besonderen Status im Sozialismus. Seit Gründung der DDR, die sich gern als ›Leseland‹ präsentiert, werden Schriftsteller als nützliches Propagandamedium begriffen, mit dessen Hilfe der Bevölkerung staatlich verordnete Werte und Ideale vermittelt werden können. Regimetreue Autoren, die ihre Werke nach den Regeln des ›Sozialistischen Realismus‹ abfassen, werden mit hoher Anerkennung und zahlreichen Privilegien wie finanzieller Unterstützung oder Auslandsreisen bedacht.478 Ebenso wie das Potential der Schriftsteller zur Erziehung des Volkes im Sinne des Sozialismus geschätzt und in Dienst genommen wird, werden die möglichen Auswirkungen kritischer Literatur gefürchtet und unter Einsatz von Überwachung, Repression und Zensur kontrolliert oder unterbunden. Letztendlich sind Partei und MfS grundsätzlich nicht bereit, eigenständigem Denken Raum zu geben beziehungsweise Kunst und Literatur eine gewisse Freiheit abseits staatlicher Normen und Dogmen zuzugestehen.479 Aus heutiger Sicht erscheint der Aufwand, den der DDR-Geheimdienst im Hinblick auf die Literatur- und Künstlerszene auf Grund wahnhafter Überschätzung ihres ›staatsgefährdenden‹ Potentials betreibt, allerdings überzogen. Zumal das MfS in den Reihen der Schriftsteller häufig auf Kooperationsbereitschaft stößt: Im Jahr 1989 zählen 49 von 123 Mitgliedern des DDR-Schriftstellerverbandes zu ehemaligen oder noch aktiven Informanten für das MfS, während zwölf von 19 Präsidiumsmitgliedern als IM für das MfS tätig waren oder sind. Hermann Kant, Präsident des Schriftstellerverbandes zwischen 1978 und 1990, arbeitet über mehrere Jahre hinweg als IM für den Überwachungsapparat. Auch im Aufbau Verlag und im Mitteldeutschen Verlag werden stetig IM eingesetzt, um die Verlagsprogramme zu beeinflussen.480 Die Bereitschaft von Schriftstellern und Künstlern, mit dem MfS zusammenzuarbeiten, mag zunächst irritieren – sollten sowohl Ethos als 477 478 479 480

Ebd., S. 12. Vgl. Cooke, S. 63. Vgl. Walther 1996, S. 12, 69. Vgl. Mike Dennis: »The East German Ministry of State Security and East German Society during the Honecker Era, 1971–1989«. In: German Writers and the Politics of Culture. Dealing with the Stasi, Hg. v. Paul Cooke u. Andrew Plowman, Hampshire, New York 2003, S. 17.

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auch emanzipatorische Funktion der Literatur die konspirative Unterstützung repressiver staatlicher Macht eigentlich ausschließen. Jedoch spielt neben niederen Beweggründen wie Karrieredenken, Gier, Neid, Machtstreben oder Geltungsbedürfnis die Utopiegläubigkeit systemtreuer Schriftsteller eine besondere Rolle: Offensichtlich kann die Überzeugung, auf dem rechten Weg zu sein und mit Hilfe des Sozialismus letztlich globale Gerechtigkeit herbeizuführen, im Sinne einer ideologischen Selbstverzauberung fundamentale moralische Handlungsgrundlagen außer Kraft setzen.481 Rückblickend argumentieren beispielsweise Rainer Schedlinski oder Heiner Müller, die in den 1980er Jahren Kontakte zum MfS unterhalten, dass nur diese Institution ihnen die Möglichkeit geboten habe, gesellschaftliche Probleme der DDR zur Sprache zu bringen und zu verhandeln sowie ernsthaft über die gegenwärtige und zukünftige Situation des Sozialismus zu diskutieren.482 Weitere prominente Beispiele für mit dem MfS kooperierende Schriftsteller sind Erwin Strittmatter, Bernhard Seeger und Sascha Anderson; auch Christa Wolf, Günter de Bruyn, Monika Maron und Heiner Müller lassen sich kurzzeitig auf Kontakte zum MfS ein, die retrospektiv jedoch nicht als konspirative Zusammenarbeit betrachtet werden können. Demgegenüber stehen die systematische, sich über Jahre erstreckende Überwachung und Einschüchterung der Schriftsteller Wolf, de Bruyn, Maron und Müller – wie auch zahlreicher weiterer Autoren und Kulturschaffender. De Bruyns, Marons und Müllers Verhältnis zum MfS und dessen Thematisierung in ihren Lebensberichten sollen in den folgenden Kapiteln eingehender problematisiert werden; Christa Wolfs literarische Verarbeitung des MfS und seines Einflusses auf ihr Leben und Wirken mündet vor allem in die Erzählung Was bleibt, die schon im vorhergehenden Kapitel zur Sprache kam. Neben den hier bereits genannten Autoren fallen auch Stefan Heym, Erich Loest, Jürgen Fuchs, Reiner Kunze, Hans Joachim Schädlich, Wolf Biermann und Günter Kunert in unterschiedlichem Ausmaß der Einschüchterung und systematischen Überwachung zum Opfer ; die Maßnahmen des MfS reichen auch gegenüber diesen Schriftstellern bis hin zu Verhaftung oder Ausbürgerung, wobei die Aufzählung lediglich die prominentesten Fälle berücksichtigt. ›Operative Vorgänge‹ gegen ›feindlich-negative‹ Schriftsteller werden unter Decknamen wie »Schreiberling«, »Wildsau«, »Diversant«, »Besserwisser«, »Doppelzüngler«, »Gully«, »Toxin«, »Schädling« oder »Mephisto« geführt, worin sich eine »Mixtur aus […] grausigem Zynismus und feindseliger Verachtung«483 widerspiegelt. Erwägt man den erheblichen Einfluss, den das MfS auf den ostdeutschen Literaturbetrieb über die Jahre hinweg ausübt, erstaunt es nicht, dass das Kon481 Vgl. Walther 1996, S. 10f. 482 Vgl. Brockmann 1999, S. 80, 95. 483 Walther 1996, S. 24.

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trollorgan und seine Tätigkeit nach 1989 zum wichtigen literarischen Topos werden. Zumal das Thema ›Staatssicherheit‹ vor 1989 in der Regel nur in der Form literarischer Camouflage behandelt werden kann. Auf Grund der strukturellen Ähnlichkeit totalitärer Systeme kann ein antifaschistischer Roman ebenso versteckt DDR-Kritik transportieren wie historische Romane, die auf der Textoberfläche Feudalismus- oder Kapitalismuskritik betreiben, im Subtext aber Zustände im DDR-Sozialismus beschreiben.484 Letztlich ist das MfS eine sehr zentrale, aber literarisch tabuisierte Institution – erst mit dem Zusammenbruch der DDR eröffnen sich Möglichkeiten zur offenen Auseinandersetzung mit diesem Themenkomplex, die seit 1989/90 rege genutzt werden. Darüber hinaus wird durch die Wende und den Einsatz engagierter Bürgerrechtler das MfS-Aktenmaterial den Betroffenen und der Wissenschaft noch zu Lebzeiten von Tätern und Opfern zugänglich – ein Novum der Zeitgeschichte. Schriftstellern liegt in der Behörde des BStU ein gigantischer Fundus authentischer Dokumente vor, die zu literarischer Verarbeitung Anlass geben. Hinzu kommt: Von allen hinterlassenen DDR-Dokumenten kommen die MfS-Akten der DDR-Wirklichkeit am nahesten, da die konspirative Informationsgewinnung und deren Zweck dem Zwang zum Schönfärben nicht in dem Maße unterworfen war wie die anderen DDR-Informationssysteme.485

Seit 1990 erscheinen zahlreiche Dokumentationen, Autobiographien und Romane, in denen Autoren ihre eigenen MfS-Akten offen legen, kommentieren oder fiktionalisieren, nachdem sie, wie Dennis Tate es formuliert, »the disillusioning task of discovering how extensively they had been betrayed by apparent friends and colleagues«486 bewältigt haben. Als Beispiel kann hier die bereits erwähnte Dokumentation Deckname »Lyrik« von Reiner Kunze dienen; auch Erich Loest veröffentlicht neben dem Lebensrückblick Der Zorn des Schafes MfSAktenmaterial und gewährt unter dem Titel Die Stasi war mein Eckermann oder : mein Leben mit der Wanze (1991) Einblick in den gegen ihn gerichteten ›Operativen Vorgang‹ »Autor«. Hans Joachim Schädlich muss bei seiner Akteneinsicht erfahren, dass sein älterer Bruder Karlheinz Schädlich als IM »Schäfer« jahrelang systematisch Informationen gesammelt und Berichte über ihn angefertigt hat. Hans Joachim Schädlich arbeitet die Beziehung zu ihm in der Erzählung Die Sache mit B. (1992) auf. Daneben gibt er die Essaysammlung Aktenkundig (1992) heraus, in der sich zwölf DDR-Schriftsteller und Bürgerrechtler, darunter Jürgen Fuchs, Wolf Biermann und Joachim Gauck, ebenfalls 484 Vgl. Huberth, S. 27. 485 Walther 1996, S. 17. 486 Dennis Tate: »Trapped in the past? The identity problems of East German writers since the Wende«. In: Germany in the 1990s, Hg. v. Hans J. Hahn, Amsterdam, Atlanta 1995, S. 6.

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dem Thema der Überwachung durch das MfS widmen. Freilich sind es nicht nur die eigenen Erlebnisse mit dem MfS oder die Einsicht der gegen sich selbst gerichteten Akten in der Behörde des BStU, die zur Thematisierung des DDRÜberwachungsapparats anregen. Der westdeutsche Journalist Karl Corino beispielsweise verfolgt als Herausgeber des Bandes Die Akte Kant. IM »Martin«, die Stasi und die Literatur in Ost und West (1995) das Ziel, »ein exemplarisches Schlaglicht auf die Struktur, Mechanik und Funktionsweise des SED-Staates zu werfen«.487 Zahlreiche Romane verhandeln retrospektiv Aufbau, Bedeutung und Gefährlichkeit des MfS, ohne dass dem Unterfangen konkrete, persönlich erlittene Erfahrungen mit Überwachung oder Repression zu Grunde lägen: Thomas Brussigs Helden wie wir (1995) ist ein satirischer Rückblick auf die DDR, der sich gegen eine Überbewertung des MfS in seinem Einfluss auf die Menschen in ihrem Alltag wendet. Der Protagonist Klaus Uhltzscht, der als Ich-Erzähler das Bild einer autoritären, aber immer grotesker anmutenden DDR der 1980er Jahre entwirft, ist hauptamtlich für das MfS tätig. Dessen Mitarbeiter werden als äußerst ignorant, spießig und einfältig dargestellt, wodurch ein ironischer Gegenentwurf zu den zahlreichen persönlichen Opferberichten entsteht. Wolfgang Emmerich bescheinigt Brussig »[s]tatt der Suche nach historischer Authentizität […] komische Verdrehung und groteske Überhöhung«488, die dieser bewusst gegen häufig anzutreffende Dramatisierung und falsches Pathos in DDRRückblicken einsetzt. Brigitte Burmeister veröffentlicht im Jahr 1994 den Roman Unter dem Namen Norma, in welchem sie den Wandel von Lebenswirklichkeiten und Identitäten ostdeutscher Bürger durch den Zusammenbruch der DDR und der Wiedervereinigung erörtert. Die Protagonistin Marianne reagiert befremdet auf die neue Situation; ihre Ehe gerät in eine Krise, während sie, von Beruf Übersetzerin, in der alten Heimat verbleibt und ihr Mann Johannes eine berufliche Karriere in Mannheim anstrebt. Marianne entschließt sich zu einem mehrwöchigen Besuch bei Johannes, lernt sein neues Umfeld kennen und wird durch den Habitus seiner karrierebedachten westdeutschen Bekannten und Kollegen zusätzlich irritiert. Während einer Gartenparty sucht sie einen ungewöhnlichen Weg aus ihrer Verstörung: Sie erzählt einem Partygast eine erfundene Lebensgeschichte und gibt vor, als IM »Norma« für das MfS gearbeitet zu haben. Diese Information dringt später zu ihrem Mann durch, der sich daraufhin endgültig von ihr abwendet. Wolfgang Emmerich interpretiert diese IMSelbstbezichtigung plausibel als »Trotzreaktion, als ein Sich-Wehren gegen fremde Identitätszuschreibungen«.489 487 Karl Corino (Hg.): Die Akte Kant. IM »Martin«, die Stasi und die Literatur in Ost und West, Reinbek bei Hamburg 1995, S. 2. 488 Emmerich 2000, S. 501. 489 Ebd., S. 502.

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Der Typus der Nach-Wende-Autobiographie

Als »[t]he most brilliant attempt to come to terms with the Stasi problematic«490 und als »ästhetisch gewichtigste[n] Beitrag zu diesem Thema«491 bezeichnen Stephen Brockmann beziehungsweise Volker Wehdeking Wolfgang Hilbigs Roman »Ich« (1993). Hilbig verwendet hier Hinweise auf die Praxis des Staatssicherheitsdienstes, die erst durch die Wende beziehungsweise die Aktenöffnung bekannt werden, und entwirft die Geschichte eines für das MfS tätigen und zur gleichen Zeit observierten Schriftstellers. Unter dem Decknamen »Cambert« sammelt dieser Informationen über Autoren, die zum Teil der Prenzlauer-Berg-Szene entstammen und die sich im Laufe des Romans ebenfalls als MfS-Informanten entpuppen; bestimmte Parallelen zwischen Schriftstellern und ihren Überwachern werden auf diese Weise aufgezeigt und untersucht. Volker Wehdeking resümiert: »Der DDR-Sozialismus wird anhand des Staatssicherheits-Phänomens sozialkritisch aufgedeckt«.492 Eine gewisse strukturelle Ähnlichkeit der Tätigkeitsbereiche und Fähigkeiten von Schriftstellern und Spitzeln wird auch im Roman Die Nacht danach und der Morgen (1991) von Uwe Saeger unterstellt. In diesem Zusammenhang bemerkenswert ist die Autobiographie von Sascha Anderson (Sascha Anderson, 2002). Ab 1981 lebt Anderson als freier Schriftsteller in Berlin und wird zur Schlüsselfigur der literarischen Untergrund-Szene des Prenzlauer Bergs. Anfang der 1990er Jahre wird er durch Wolf Biermann und Jürgen Fuchs als ehemaliger Mitarbeiter des MfS enttarnt. In seiner Autobiographie gibt Anderson seine konspirative Zusammenarbeit mit dem MfS unumwunden zu, behandelt diese jedoch als Randnotiz seiner Lebensgeschichte. Vielmehr geht es ihm um die Darstellung seiner Entwicklung als gefeierter Künstler, statt Antworten auf die nahe liegende Frage zu geben, welche Motive er bei seiner jahrelangen systematischen IM-Tätigkeit und dem Verrat zahlreicher Kollegen und Künstlerfreunde verfolgt hat. Diese exemplarische Werkauswahl soll einen knappen Einblick in die literarische Verarbeitung des Themenkomplexes MfS eröffnen; zahlreiche weitere Publikationen ließen sich diesbezüglich vorstellen, was jedoch den Rahmen dieses bewusst kurz gehaltenen Überblicks sprengen würde. Abschließend gilt es festzuhalten, dass der erhebliche Einfluss, den die Präsenz und die Funktionsweise des DDR-Kontroll- und Überwachungsapparats auf die ostdeutsche Gesellschaft und die Schriftsteller ausgeübt haben, sich in differenzierter Weise in der dokumentarischen ebenso wie in der autobiographischen und fiktionalen Prosa der Nach-Wende-Ära widerspiegelt. Auch Günter de Bruyns Verhältnis zum MfS und dessen literarische Verar490 Brockmann 1999, S. 101. 491 Wehdeking 2000, literarische Auseinandersetzung, S. 49. 492 Ebd., S. 51.

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beitung wurden bereits angesprochen und sollen im Rahmen des folgenden Kapitels wieder aufgenommen werden, wenn de Bruyns zweibändige Autobiographie sowie seine theoretische Beschäftigung mit dem Genre vorgestellt und eingehend analysiert werden.

4.

Im Streben nach subjektiver Authentizität: Die autobiographischen Projekte Günter de Bruyns

4.1. Günter de Bruyns theoretische Auseinandersetzung mit der Gattung 4.1.1. Das Werk Das erzählte Ich. Über Wahrheit und Dichtung in der Autobiographie Zahlreiche Aufsätze, Interviews, editorische Vor- beziehungsweise Nachworte sowie Rezensionen, die Günter de Bruyn im Laufe seiner Schriftstellerkarriere verfasst, geben Aufschluss über sein Wissen, seine Ansprüche, Gedanken, Erfahrungen und Schwierigkeiten in Bezug auf das Genre ›Autobiographie‹. Den Kern seiner Auseinandersetzung mit der Gattung bildet der Essay Das erzählte Ich. Über Wahrheit und Dichtung in der Autobiographie. Dieser geht im Wesentlichen aus Vorlesungen hervor, die de Bruyn im Dezember 1993 auf eine Einladung des Kunstvereins Wien hin an der dortigen Universität hält. Erstmals wird der Text 1994 in einer Ausgabe der Zeitschrift Wespennest493 abgedruckt. In leicht abgewandelter Form erscheint er 1995, allerdings mit geringem kommerziellen Erfolg494, beim S. Fischer Verlag in der Reihe ›Fischer Bibliothek‹. Chronologisch sind die Vorlesungen an der Wiener Universität und die Publikation von de Bruyns Gedanken zum Wesen der Autobiographie zwischen den beiden Teilen seines eigenen Lebensberichts verortet: Der erste Teil Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin, an dem de Bruyn 1986 zu schreiben beginnt, erscheint 1992. In diesem Werk berichtet er zunächst einführend von den überlieferten Informationen über seine Vorfahren, um im Folgenden die Jahre 1926 bis 1949, also de Bruyns Lebenszeit bis zum Alter von 23 Jahren, zu rekapitulieren. Die Fortsetzung Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht, die er 1996 pu493 Vgl. Günter de Bruyn: »Wahrheit und Dichtung in der Autobiographie«. In: Wespennest 26 (1994), H. 94, S. 89–105. 494 Vgl. Dennis Tate: »Changing Perspectives on Günter de Bruyn: An Introduction«. In: Günter de Bruyn in Perspective, Hg. v. Dennis Tate, Amsterdam, Atlanta 1999, S. 3.

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bliziert, behandelt die Zeitspanne von 1949 bis 1989 und fokussiert den Alltag seiner ersten Berufsjahre sowie die Umstände seiner Schriftstellerexistenz in der DDR. Über diese beiden Teile seines Lebensrückblicks hinaus ist de Bruyns Gesamtwerk von zahlreichen autobiographisch inspirierten sowie weiteren dezidiert autobiographischen Schriften durchzogen. Zunächst ist hier sein Erstlingswerk, der Roman Der Hohlweg zu nennen, in dem de Bruyn versucht, seine traumatischen Kriegserfahrungen zu verarbeiten und der Gesellschaft Bericht zu erstatten über das Geschehene. Dem Protagonisten Wolfgang Weichmantel sowie der Figur Gert Eckert verleiht de Bruyn einige Eigenschaften, mit denen er später auch sein erzähltes Ich in Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin und Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht charakterisiert495 ; die Schilderungen von Erlebnissen aus Kriegstagen oder einer kriegsbedingten Kopfverletzung mit daraus resultierendem Sprachverlust sowie die Beschreibung der ursprünglich berlinernden Mutter, die vergeblich um eine hochdeutsche Aussprache bemüht ist, erweisen sich mit Kenntnis von de Bruyns Lebensbericht ebenfalls als autobiographisch inspiriert.496 Dennis Tate bezeichnet Der Hohlweg als »disappointingly schematic fictionalization of firsthand experience of the Second World War and its aftermath«497 – wie in Kapitel 3.1. dieser Arbeit bereits erwähnt, ist der Entstehungsprozess von Der Hohlweg wesentlich durch die literaturtheoretischen Vorgaben innerhalb des DDR-Sozialismus geprägt. Während de Bruyn darum bemüht ist, »wahrheitsgetreu Bericht darüber zu geben, wie es gewesen war«498, wird er von Seiten der Kulturpolitik gedrängt, seine Erlebnisse in einen Entwicklungsroman mit positivem Helden zu überführen – »it could be argued that there was little alternative at the time for authors aspiring to write honestly about their own experiences outside the creatively stultifying framework of socialist realism«.499 Im Nachhinein betrachtet de Bruyn seine erste Veröffentlichung als einen zu umfangreichen, schlechten Roman500 und setzt sich in einem Essay mit dem Titel Der Holzweg (1974) kritisch damit ausein495 Beispielsweise stellt der Autor Weichmantel als unsicher, verträumt und pessimistisch dar sowie als unfähig, grundlegende Entscheidungen zu treffen. Eckert wird als (literarisch) gebildet und fleißig beschrieben, zudem als zukunftsorientierter Realist, der logisch denkt und rational handelt. Er rät Weichmantel nachdrücklich davon ab, seine Kriegserlebnisse in Romanen zu verarbeiten. Vgl. z. B. Günter de Bruyn: Der Hohlweg, Halle (Saale) 1965, S. 11, 22, 179, 301ff., 307. 496 Vgl. ebd., S. 41, 56ff., 274. 497 Tate 2007, S. 163. 498 De Bruyn 1995, S. 15. 499 Tate 2007, S. 4. 500 Vgl. de Bruyn 1995, S. 16 u. »Autobiographisches Schreiben. Gespräch mit Günter de Bruyn«, Günter de Bruyn im Gespräch mit Bianca Weyers. In: Sinn und Form 58 (2006), H. 6, S. 828.

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ander. Er rekonstruiert hier seine Schreibmotivationen und den konkreten Entstehungsprozess des Werkes, legt dessen Schwächen frei und schließt mit der Aussage: »Als das Buch gedruckt war, war es für mich tot. Nie habe ich es wieder ansehen mögen, selbst für diese Rückschau nicht«.501 Owen Evans begreift Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin als »corrective of the d8but novel, covering as it does much of the same thematic ground as Der Hohlweg, but in a considerably more concise and accessible style«.502 Neben dem Beitrag Der Holzweg finden sich in dem Sammelband Lesefreuden. Über Bücher und Menschen (1986) einige weitere autobiographische Essays, so beispielsweise Zum Thema: Lesen (1966), Wie ich zur Literatur kam (1979) oder Grischa 1944 (1962). Im Jahr 2005 veröffentlicht de Bruyn das Werk Abseits. Liebeserklärung an eine Landschaft, in dem ebenfalls ein autobiographisches Ich spricht. Der Autor gewährt hier einen Einblick in seine Verbundenheit zur Mark Brandenburg, die ihm seit 1967 zur selbst gewählten Heimat wird. Außer historischen und geographischen Informationen über die von de Bruyn verehrte Region erfährt der Leser Details aus dem persönlichen Leben des Schriftstellers, die in Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht zum Teil ausgespart bleiben. Im Kapitel Von Bedürfnissen und Wünschen zum Beispiel ist unumwunden die Rede von de Bruyns gestörtem Verhältnis zum DDR-Regime der 1960er Jahre, das ihn schließlich zum Umzug in die Einsamkeit der märkischen Landschaft bewegt: Es war das schon lange vorhandene, aber nur in depressiven Momenten eingestandene Bedürfnis, mich von der Welt abzusondern, um allem, was mich an ihr bedrückte, aus dem Weg zu gehen. Es war die DDR-Welt der sechziger Jahre, die ich manchmal nicht mehr ertragen zu können meinte, […] weil der Platz, den ich in ihr einnahm, ein selbstzerstörerischer war.503

Auch Dennis Tate urteilt: »[H]e now places considerably more emphasis on his pursuit of a new identity in the rural isolation of the Mark Brandenburg from the 1970s onward than he did in the earlier Berlin-based narrative [Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht]«.504 Die soeben knapp vorgestellten Werke sollen exemplarisch aufzeigen, in welchem Maß de Bruyns literarisches Schaffen durch autobiographische Motive gekennzeichnet ist; zahlreiche weitere einschlägige Belege könnten genannt und analysiert werden. Da sich das vorliegende Kapitel jedoch der theoretischen

501 502 503 504

De Bruyn 1986, Holzweg, S. 315. Evans 2006, S. 178. Günter de Bruyn: Abseits. Liebeserklärung an eine Landschaft, Frankfurt/M. 2005, S. 46. Tate 2007, S. 13.

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Auseinandersetzung de Bruyns mit autobiographischer Literatur widmen soll, erscheint es an dieser Stelle angebracht, darauf zu verzichten.505 Der theoretische Essay Das erzählte Ich. Über Wahrheit und Dichtung in der Autobiographie, der in der Ausgabe des S. Fischer Verlags knapp 80 Seiten umfasst, ist in die Kapitel Lebensläufe, Antriebe, Grenzüberschreitung, Anfänge, Ziele, Falsche Erinnerungen, Historisches, Subjektivität und Erzählen unterteilt. Bereits auf den ersten Blick präsentieren sich de Bruyns Überlegungen nicht als wissenschaftliche Abhandlung des Gegenstands im Sinne einer systematischen, Vollständigkeit oder Allgemeingültigkeit anstrebenden Gattungsdefinition und -abgrenzung, sondern vielmehr als mit fabulierendem Gestus vorgebrachter Einblick in seine persönlichen Überzeugungen und den Entstehungsprozess seiner eigenen autobiographischen Werke. Treffend argumentiert Michael Braun, wenn er Das erzählte Ich. Über Wahrheit und Dichtung in der Autobiographie als poetologisches Bindeglied zwischen den beiden Autobiographiebänden betrachtet506, was durchaus mit de Bruyns eigener Einschätzung seiner Werke einhergeht: Die Erfahrungen mit beiden Büchern, dem schon vorhandenen und dem erst gewollten, gaben mir Anlaß und Stoff für diese Ausführungen – wobei die Reihenfolge, nach der theoretische Überlegungen erst beim praktischen Schreiben Gestalt gewinnen, für meine Arbeitsweise bezeichnend ist.507

Im Folgenden sollen de Bruyns Thesen zur Gattung ›Autobiographie‹ vorgestellt und kritisch beleuchtet werden. Die Einteilung der verschiedenen Themengebiete erfolgt dabei in Anlehnung an wesentliche, in Kapitel 2.2. bereits dargelegte Eigenschaften der Autobiographie. Denn auch de Bruyn geht, wie sich noch zeigen wird, implizit auf dort benannte Charakteristika ein, indem er ihnen, wie Anne-Marie PailhHs hervorhebt, seine verschiedenartigen Motivationen zur Abfassung einer Autobiographie zuordnet:

505 Nicht unerwähnt bleiben sollten hier jedoch die Romane Buridans Esel (1968) und Preisverleihung (1972), die auf konkreten Erfahrungen de Bruyns basieren, sowie die Sammelbände Im Querschnitt. Prosa Essay Biographie (1979), Jubelschreie, Trauergesänge. Deutsche Befindlichkeiten (1991), Deutsche Zustände. Über Erinnerungen und Tatsachen, Heimat und Literatur (1999) und Unzeitgemäßes. Betrachtungen über Vergangenheit und Gegenwart (2001), die unter anderem verschiedene autobiographische Schriften beinhalten. 506 Vgl. Michael Braun: »Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit. Günter de Bruyns literarische Auseinandersetzung mit der Diktatur«. In: Literatur in der Diktatur. Schreiben im Nationalsozialismus und DDR-Sozialismus, Hg. v. Günther Rüther, Paderborn 1997, S. 394. 507 De Bruyn 1995, S. 18.

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Günter de Bruyn distingue trois types d’impulsion qui seraient / l’origine de l’8criture autobiographique: l’impulsion personnelle, l’impulsion historique et l’impulsion formelle.508

Den ebenfalls denkbaren Impuls der Selbstenthüllung, einen exhibitionistischen Antrieb, bezeichnet de Bruyn in seinem Essay als den für ihn unbedeutendsten. Auch wenn de Bruyns Werk nicht systematisch entlang der drei benannten Motivationsstränge aufgebaut ist, bilden sie einen angemessenen Strukturrahmen für die Untersuchung, die somit die Schwerpunkte ›Historizität der Autobiographie‹ (l’impulsion historique), ›Literarizität der Autobiographie‹ (l’impulsion formelle) und ›Anspruch auf subjektive Authentizität‹ (l’impulsion personnelle) aufweisen wird.

4.1.2. Historizität der Autobiographie Zu Beginn seines Essays hält de Bruyn fest, dass alle Autobiographen dem Impuls folgen, Tatsachen zu erzählen, Fakten aus dem eigenen Leben. Da das Wissen über das eigene Leben aber zu umfangreich ist, als dass ein Schreiber es in seinem autobiographischen Werk vollständig vermitteln könnte, ist er gezwungen, aus seinem Erlebnisstoff auszuwählen. Er muss also einen Aussonderungsprozess durchführen, bei dem er Schwerpunkte setzt und Wichtiges von Unwichtigem trennt. Nach welchen Kriterien er bei dieser Auswahl vorgeht, sieht de Bruyn in den Interessen begründet, die hinter dem autobiographischen Projekt stehen. »Vielfältig sind die Gründe, aus denen die Selbstbiographie als Lebensäußerung entsteht«509 : Wie in dem vorangegangenen Kapitel dieser Arbeit bereits anklang, erkennt und beschreibt de Bruyn verschiedene eigene Motivationen, die in drei Hauptstränge eingeteilt werden können. Ein bedeutender Strang betrifft die Geschichte, und zwar nicht nur die eigene: De Bruyn spricht von dem »Chronist im Schreiber«510, der sich in ihm regt. Als eines der Ziele seines autobiographischen Unterfangens sieht er es an, das Ich in die historischen Geschehnisse einzuordnen, es aus ihnen erklären, durch sie vielleicht auch bewerten zu können. Das Ich und die Zeitläufte müssen aufeinander bezogen werden, in der Hoffnung, daß beide dadurch Konturen gewinnen und daß aus dem Einzelfall so etwas wie eine Geschichtsschreibung von unten entsteht.511 508 Anne-Marie PailhHs: »Autobiographies d’8crivains est-allemands dans les ann8es 1990: quel retour sur le pass8?«. In: Allemagne d’aujourd’hui. Revue d’information et de recherche sur l’Allemagne 38 (2003), H. 163, S. 103. 509 Misch 1907, S. 6. 510 De Bruyn 1995, S. 19. 511 Ebd., S. 19f.

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Diese Zielsetzung deckt sich mit dem generellen aufklärerischen Anspruch des Schriftstellers, mit dem auch außerhalb seiner Autobiographie ausgeprägten Bestreben, seine historischen Erfahrungen, nicht zuletzt seine Kriegserlebnisse, an die folgenden Generationen weiterzugeben: »Das Glück, überlebt zu haben, verpflichtete mich, wie mir schien, auch wahrheitsgetreu Bericht darüber zu geben, wie es gewesen war«.512 Über den Protagonisten Wolfgang Weichmantel erfährt der Leser in Der Hohlweg: »Seit den Stunden im Hohlweg wußte er, daß es seine Aufgabe war, die Wahrheit über den Krieg nicht in Vergessenheit geraten zu lassen«.513 Auch wenn Der Hohlweg als erste Realisierung der selbst auferlegten Verpflichtung, die auch Weichmantel stellvertretend für de Bruyn verspürt, für den Autor im Nachhinein einen Misserfolg darstellt, ist ihm ein gewisser aufklärerischer Zug nie verloren gegangen. Eben diesen Gestus hebt de Bruyn seinerseits hervor, wenn er die Schreibweise seines literarischen Vorbildes Heinrich Böll lobt und ihn als mustergültiges Beispiel eines verantwortungsbewussten Schriftstellers betrachtet514 : »Seine Zeitgenossenschaft hat er ernst genommen«515, heißt es in Als der Krieg ausbrach. Über Heinrich Böll (1994) sowie einige Seiten weiter : Die neuere deutsche Geschichte, die er be- und verurteilen konnte, da er sie am eignen Leibe und mit wachen Sinnen erfahren hatte, war ihm immer Grundierung für das, was er über eine Gegenwart aussagte, die zur Vergeßlichkeit neigte.516

Der Chronistenpflicht, die er in Bölls Werken erfüllt sieht, versucht de Bruyn auch in seiner Autobiographie stets nachzukommen; die Vergangenheit aufzuarbeiten, erachtet er als unerlässlich.517 Selbst nach Abfassung und erfolgreicher Veröffentlichung des zweibändigen Lebensberichts verfolgt de Bruyn diesen selbst gestellten Anspruch: Auch in Abseits. Liebeserklärung an eine Landschaft tritt de Bruyn als Chronist des Zeitgeschehens auf. Anhand der Geschichte seines kleinen Wohnorts Görsdorf arbeitet er Drittes Reich, Zweiten Weltkrieg und Nachkriegszeit auf. Die Familiengeschichte der früheren Eigentümer seines Wohnhauses, die in Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht bereits zur Sprache kommt, verfolgt er nun eingehender und verknüpft den Lebenslauf des Sohnes Rudi Bahr mit der Zeitgeschichte: 512 Ebd., S. 15. 513 De Bruyn 1965, S. 198. 514 Vgl. Günter de Bruyn: »Dankrede zum Heinrich-Böll-Preis. Köln, am 30. November 1990«. In: ders.: Jubelschreie, Trauergesänge. Deutsche Befindlichkeiten, Frankfurt/M. 1994, S. 181. 515 Günter de Bruyn: »Als der Krieg ausbrach. Über Heinrich Böll«. In: ders.: Jubelschreie, Trauergesänge. Deutsche Befindlichkeiten, Frankfurt/M. 1994, S. 168. 516 Ebd., S. 174. 517 Vgl. »Das Vergangene ruhen zu lassen, wäre gefährlich für die Zukunft«, Günter de Bruyn im Gespräch mit Adelbert Reif. In: Die Welt, 16. 03. 1992, Nr. 64, S. 6.

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Der Junge, der mir an Jahren nur wenig voraus hatte, der also, hätte er den Krieg überstanden, heute noch leben und hier, in seinem Haus, wohnen könnte, kommt mir manchmal nicht wie der Vorbesitzer, sondern wie ein Verwandter, vielleicht ein älterer Bruder vor. Umbau und Modernisierung hat hier vieles verändert, doch gibt es, auf dem Hausboden zum Beispiel, noch manches, das an ihn und die Zeit der Petroleumlampen und der Flakgranatenkisten erinnert. […] Er war vor seiner Einberufung noch nie weiter als bis in die umliegenden Dörfer gekommen, und als er irgendwo im Osten verenden mußte, ohne ein Mädchen auch nur einmal geküßt zu haben, hatte sein letzter Gedanke wohl dem einsamen Tal gegolten, in dem er als Kind arm, aber glücklich gewesen war. Kein Denkmal für Kriegstote trägt seinen Namen. […] Nur für mich ist er im Haus seiner Kindheit noch gegenwärtig. In ihm individualisiert sich jüngere Heimatgeschichte, an deren dunkle Seiten man nicht gerne erinnert wird.518

De Bruyn lässt Zeitzeugen zu Wort kommen, er zitiert Originaldokumente wie beispielsweise eine tagebuchartige Beschreibung des Kriegsendes aus einer Kirchenchronik, ergänzt seine Ausführungen mit zeitgenössischen Fotos oder Landkarten und vermittelt auf diese Weise einen lebendigen Eindruck der Vergangenheit.519 Die ambitionierte Beschreibung einer Landschaft wird mit deutscher Geschichte (nicht nur des 20. Jahrhunderts) verknüpft und ist in ihrer Struktur durchaus mit Passagen der Autobiographie vergleichbar (hier sei zum Exempel an den in Kapitel 2.2.4. dieser Arbeit vorgestellten Abschnitt Kinofreuden aus Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin erinnert).520 Was die Verknüpfung von erzähltem Ich und der Zeitgeschichte innerhalb der Autobiographie betrifft, so ist sich de Bruyn einer möglichen Gefahr von Missverständnissen bewusst: Es [das in der Lebensbeschreibung Dargestellte] steht, ob es soll oder nicht, stellvertretend für anderes. Es sagt etwas aus: Über den Menschen im allgemeinen, über die Gegend, in der es stattfindet, und auch über die Zeit, in der es geschieht.521

Diese Tatsache impliziert für ihn, dass Geschichte in einer Lebensbeschreibung unbewusst verfälscht werden kann. Ein eng gefasster Blickwinkel auf ein politisch noch unbedarftes, behütetes, glückliches Kind, das während der Hitlerzeit in Deutschland aufwächst, könnte beispielsweise einen falschen, verharmlosenden Eindruck von der Epoche vermitteln. Eine Oberflächlichkeit dieser Art liegt zum Exempel in Hermann Kants Abspann vor, wie Günter de Bruyn in seiner Rezension des Werkes festhält:

518 De Bruyn 2005, S. 179f. 519 Vgl. z. B. ebd., S. 124f., 135ff. 520 Zur bewussten Verknüpfung von Ich und Geschichte innerhalb der Autobiographie de Bruyns vgl. auch Kapitel 4.2.2. dieser Arbeit. 521 De Bruyn 1995, S. 47.

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[S]tatt sein Verhältnis zur Macht [dem Machtapparat der DDR] zu klären, macht er [Kant] aus seinen Begegnungen mit den Mächtigen niedliche Geschichtchen, in denen von Gefahr und Bedrohung nichts mehr zu spüren ist.522

Auch Joachim Garbe weist treffend darauf hin, dass der Autobiograph durch seine Erzählhaltung (also unter anderem durch den von dem Blickwinkel abgesteckten Rahmen) entscheidet, wie er das Verhältnis von Ich und Geschichte gestalten und damit, welche Art von Geschichtsschreibung er betreiben will.523 In Das erzählte Ich. Über Wahrheit und Dichtung in der Autobiographie gewährt de Bruyn Einblick in den Entstehungsprozess von Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin, bei dem er sich mit den eben beschriebenen Gefahren beziehungsweise Problemen konfrontiert sieht524 : Seine Absicht ist auch hier, neben seiner Lebensgeschichte eine Chronik der Zeit mitzuliefern. Jedoch werden seine frühen Kinderjahre, wie sich leicht nachvollziehen lässt, von politischen Geschehnissen und Veränderungen kaum tangiert. Bedeutende Ereignisse wie die Bücherverbrennung auf dem Opernplatz in Berlin kennt er selbst nur aus späteren Überlieferungen (1933 lernt de Bruyn gerade Lesen und Schreiben); die direkten Auswirkungen spürt er erst, als er als Jugendlicher das Fehlen vieler von ihm als wichtig erachteter Bücher bemerkt, die der Kulturpolitik der Nationalsozialisten zum Opfer gefallen sind. Die Verbindung von Ich und Geschichte ist also nicht von vornherein vorhanden, sondern muss künstlich hergestellt werden, das heißt, de Bruyn muss sich und seine damalige Kindersicht rückblickend in der Historie verorten. De Bruyn verweist auf den preußischen General Friedrich August Ludwig von der Marwitz, der seine Autobiographie Nachrichten aus meinem Leben 1777–1808 (1852) zwischen 1832 und 1837 verfasst und das Problem nur scheinbar löst, indem er zwischen die Kapitel über sein eigenes Leben weitschweifige historische Darstellungen schiebt, durch die das Werk aber auf über 2000 Seiten wächst und damit nach de Bruyns Meinung unlesbar wird.525 Obwohl er dieses Negativbeispiel vor Augen hat, begeht de Bruyn nach eigener Aussage zunächst denselben Fehler. Geleitet von der Angst, »das Historische in so ein kleines, unscheinbares Leben, wie ich es hatte, überhaupt nicht hinein[zu]kriege[n]«526, spickt er seine Lebensbeschreibung mit selbst verfassten, 522 De Bruyn 1991, S. 65. 523 Vgl. Joachim Garbe: »Auf der Suche nach dem Idealdeutschen. Autobiographien deutscher Schriftsteller am Ende des 20. Jahrhunderts. (Günter de Bruyn, Ludwig Harig, Sigmar Schollak, Martin Walser)«. In: Autobiographien als Zeitzeugen, Hg. v. Manfred Misch, Tübingen 2001, S. 203. 524 Vgl. de Bruyn 1995, S. 48ff. 525 Vgl. ebd., S. 50. 526 »Autobiographisches Schreiben. Gespräch mit Günter de Bruyn«, Günter de Bruyn im Gespräch mit Bianca Weyers, S. 831.

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abgeschlossenen historischen Miniaturen über bedeutende Ereignisse, von denen das damalige Kind nichts weiß. Obwohl er versucht, sich auf Vorgänge in Berlin zu beschränken und die Einschübe knapp zu halten, muss er feststellen, dass sie den Lesefluss stören und lehrhaft wirken, ohne sich produktiv mit den autobiographischen Passagen zu amalgamieren. Doch nachdem de Bruyn dieses Problem erkannt hat, kann er sich als Autobiograph – und das wird in de Bruyns kunstvoller Realisierung einen besonderen Reiz seines autobiographischen Werkes ausmachen – auf eine mögliche gattungsspezifische Erzählhaltung besinnen; es gelingt ihm, die Mitteilungen über das Zeitgeschehen so in die Erzählung einzubinden, »daß dadurch kein falscher Eindruck vom Wissens- und Erlebnishorizont des Kindes entstand«527: De Bruyn als ungefähr 60-jähriger Mensch blickt auf das vergangene Erleben des Kindes, das er selbst einmal war, zurück; er beschreibt das Leben, die Erfahrungen, Gedanken und Gefühle des Kindes und erweitert sie innerhalb dieser Beschreibung um Informationen und Wissen des gegenwärtigen Erzählers, von denen das damalige Kind nicht wissen kann oder zumindest nicht weiß: »Der Standort des Kindes, der nur Kurzsicht erlaubt, wird benannt und beschrieben, aber nicht eingenommen«.528 Der eingeschränkte Blickwinkel des Kindes wird erweitert; de Bruyn lässt den Leser seiner Autobiographie stets wissen, an welchem Punkt der Zeitgeschichte der Biographierte sich jeweils befindet, auch wenn sie damals nicht durch offensichtliche Beeinflussung seines Alltags in Erscheinung trat.529 In Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin lassen sich zahlreiche Beispiele solch eleganter Verknüpfung finden; sie sollen in Kapitel 4.2.2. der vorliegenden Arbeit zur Sprache kommen. In Das erzählte Ich. Über Wahrheit und Dichtung in der Autobiographie liefert der Essayist des Weiteren einen Ausblick auf die Fortsetzung seines Lebensberichts, die zu diesem Zeitpunkt noch den Arbeitstitel 40 Jahre (mit der Jahreszahl in Ziffern und ohne den späteren Zusatz Ein Lebensbericht) trägt. Für dieses Werk sieht de Bruyn voraus, dass die Verbindung von eigenem Erleben und Zeitgeschichte leichter fallen müsste und nicht der beschriebenen, bewusst eingesetzten Verknüpfung bedürfe530 : Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht setzt 1949 mit der Gründung der DDR ein; zu diesem Zeitpunkt ist de Bruyn bereits 527 De Bruyn 1995, S. 50. 528 Ebd., S. 51. 529 Auch in seinem Essay Zu Fontanes ›Wanderungen‹ benennt de Bruyn Möglichkeiten der Geschichtsvermittlung und erkennt diese als Faktor, der Banales erzählenswert machen kann: »Indem er [Fontane] Landschaften und Orte mit der Geschichte zusammenbrachte, konnte er Interesse für die langweiligsten Landstriche und die armseligsten Nester erregen«. (Günter de Bruyn: »Zu Fontanes ›Wanderungen‹«. In: ders.: Deutsche Zustände. Über Erinnerungen und Tatsachen, Heimat und Literatur, Frankfurt/M. 1999, S. 156f.) 530 Vgl. de Bruyn 1995, S. 56ff.

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23 Jahre alt und nimmt in viel stärkerem Maß am Zeitgeschehen Anteil als es das in Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin beschriebene, unbedarfte Kind tut. Außerdem wird er zu DDR-Zeiten durch seinen Wohnort Berlin und die Tätigkeit als Bibliothekar und später freier Schriftsteller in seinem täglichen Leben stets vom politischen Geschehen tangiert. Somit ist die Verbindung von Ich und Geschichte bereits gewährleistet. Jedoch befürchtet de Bruyn in Bezug auf dieses Werk andere Schwierigkeiten. Schon zu Beginn seiner literarischen Tätigkeit, lange vor der Abfassung von Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin, sind Wunsch und Drang, das in Romanen und Erzählungen verschlüsselte Eigene direkt, nämlich autobiographisch zu beschreiben, vorhanden.531 Doch in der Überzeugung, dass größere Distanz diesem Projekt nur nützen könne532, unterdrückt er diesen Impuls bis zu seinem 60. Geburtstag. Genau diese Distanz, die er sich für den ersten Teil verschaffen kann, fehlt bei der Darstellung seines Lebens in der DDR, was verschiedene Auswirkungen hat. Zunächst sind Erinnerungsschatz und Aufzeichnungen in viel größerem Umfang vorhanden, jedoch lässt die Zeit noch nicht erkennen, welche Ereignisse sich im Nachhinein als bedeutend, welche als unbedeutend erweisen. Hinzu kommt, dass de Bruyns Leben in der DDR weniger persönliche Weiterentwicklung aufweist, dass es insgesamt gleichförmiger verläuft und somit keine deutlich markierten Höhepunkte, Freudens- und Leidensphasen auszumachen sind, die bereits eine Gliederung vorzeichnen könnten, wie es in Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin der Fall ist. Ein Kunstgriff, wie er im ersten Teil eingesetzt wird, um eigenes Leben und Zeitgeschehen zu verbinden, kann hier entfallen; ein anders gearteter, nämlich das Vorgehen entlang einer anhand von Ereignissen und Erlebnissen künstlich komponierten Gliederung, ist aber wiederum nötig, um dem katastrophenfreien Leben eines Erwachsenen in Friedenszeiten einen Spannungsbogen zu verleihen. Jedoch sind die Geschehnisse und Erfahrungen, mit denen de Bruyn hier operieren kann, noch sehr nah und kaum verarbeitet. Eine weitere Auswirkung auf die Abfassung des Lebensberichts hat der Mangel an Distanz in Bezug auf die Darstellung von Mitmenschen: Dass de Bruyn bei seiner Selbstdarstellung den Grundsatz der Schonungslosigkeit walten lässt, wird im Folgenden deutlich werden, doch wenn es um andere Personen geht (von denen, im Gegensatz zu den in Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin beschriebenen Menschen, der Großteil noch am Leben ist), schränkt er diesen ein. Die Privatsphäre seiner Mitmenschen will er in jedem Fall wahren, auch

531 Vgl. »Autobiographisches Schreiben. Gespräch mit Günter de Bruyn«, Günter de Bruyn im Gespräch mit Bianca Weyers, S. 827. 532 Vgl. de Bruyn 1995, S. 17.

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wenn er sich in Bezug auf deren öffentliches, politisches Wirken Rücksichtnahme verbietet.533 Jedoch ist diese Grenzziehung nicht immer eindeutig: Da aber in Diktaturen fast alle Begegnungen mit Menschen auch politische Dimensionen haben, wird die Abwägung in Zweifelsfällen nicht einfach sein. Zwangsläufig wird das Politische dominieren, und die DDR wird auch dann sichtbar werden, wenn es um Freundschaft, Liebe, Beruf oder Lektüre geht.534

In diesem Zusammenhang wird deutlich, in welchem Maß das Problem des Mangels an Distanz de Bruyn beschäftigt: Ein weiteres Mal erläutert er, dass die Erfahrungen in und mit der Diktatur noch zu nah sind, um die wesentlichen von den unwesentlichen unterscheiden zu können und dass die politischen Zustände noch nicht zur Historie geworden sind. Zwar sind die Fakten bekannt, doch welchen Ausschlag sie im Einzelnen haben, welche von ihnen Höhe- beziehungsweise Wendepunkte markieren, hat sich ihm noch nicht erschlossen. Der »Faden des Zeitgeschehens«, diese Metapher bemüht Günter Grass in Die Blechtrommel (1959) zur Beschreibung des Phänomens, konnte noch nicht »zur Historie gestrickt«535 werden. Somit sieht de Bruyn die Gefahr, sich in aktuellen Polemiken zu verfangen, statt »möglichst genauer Chronist seiner Selbst und, daraus folgend, der Zeitläufte zu sein«.536 Abschließend versucht de Bruyn, wie er es bereits in einem Interview mit Adelbert Reif getan hat537, die hohen Erwartungen, die nach dem großen Erfolg von Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin an Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht gestellt und von Literaturkritikern mehr oder weniger explizit geäußert werden538, zu dämpfen: 533 Vgl. ebd., S. 58. 534 Ebd., S. 58f. Hier macht de Bruyn unbewusst ein weiteres Mal deutlich, wie selbstverständlich sich das Problem der Verknüpfung von Ich und Geschichte in Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht lösen wird, während er dafür in Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin erzählerische Kunstgriffe einsetzen muss. 535 Günter Grass: Die Blechtrommel, Darmstadt, Berlin-Spandau, Neuwied am Rhein 1960, S. 477. 536 De Bruyn 1995, S. 59f. 537 Vgl. »Das Vergangene ruhen zu lassen, wäre gefährlich für die Zukunft«, Günter de Bruyn im Gespräch mit Adelbert Reif, S. 6: »Ein Heldengesang übrigens wird es nicht sein. Da wird viel von Verzicht, Feigheit und Rückzug die Rede sein müssen, aber auch von bewußtem Verzicht und von einer inneren Prägung, die sich nicht ändern läßt«. 538 Vgl. z. B. Barbara Dobrick: »Wenn die alten Wunden nicht verheilen«. In: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, 10. 04. 1992, Nr. 15, S. 32: »Besonders gespannt sein darf man auf den zweiten Teil von de Bruyns Autobiographie, die dort fortfahren soll, wo das Buch am aufregendsten wird« o. Andreas Isenschmid: »Bekenntnisse eines Unpolitischen. Günter de Bruyns Leben in den Diktaturen«. In: Die Zeit, 27. 03. 1992, Nr. 14, S. 74: »Man legt es mit dem dringenden Wunsch zur Seite, bald im zweiten Band weiterlesen zu können […] um die Verwandlung des politischen Analphabeten, der de Bruyn in der Frühzeit der DDR war, in den großen politischen Autor zu erleben, als den wir ihn nach ihrem Ende unter uns finden«.

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Daß aus diesem Darstellungsversuch einer Ich- und Geschichte-Beziehung etwas Heroisches wird, ist nicht zu befürchten; weder das zu beschreibende Leben, noch der Staat, in dem es sich abspielte, bieten Voraussetzungen dazu. Vielmehr sollte die Banalität der Herrschenden und Beherrschten erkennbar werden, die Furcht und die stickige Enge, die Lethargie und Gewöhnung, die Bevormundung und die Absperrung, die aber doch Raum für Leben und für Tragödien bot.539

Ob diese Bescheidenheit in Bezug auf den geplanten Fortsetzungsband jedoch angemessen ist, wird sich in der Untersuchung von Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht noch herausstellen.

4.1.3. Literarizität der Autobiographie Dem im vorangegangenen Kapitel zur Sprache gekommenen Drang, über Tatsachen aus dem eigenen Leben zu schreiben, entspricht de Bruyn in Erzählungen wie Hochzeit in Weltzow (1960) oder Fedezeen (1964) und, wie bereits erwähnt, in Romanen wie Der Hohlweg, Buridans Esel (1968) oder Preisverleihung (1972), in denen er selbst Erlebtes als Ausgangspunkt seiner Geschichten wählt.540 Doch durch gewisse Hemmungen seinerseits, in der Öffentlichkeit über sich selbst zu reden, erscheinen eigene Person und Erfahrungen hier nur versteckt und verfremdet; Eigenschaften und Erinnerungen werden in andere Zusammenhänge gestellt, verändern sich somit und erweisen sich schließlich eher den literarischen Figuren als dem Autor zugehörig. Doch das Gefühl, »eigentlich müßte man das, was von einem selbst kommt, direkt niederschreiben, es also nicht irgendwelchen erfundenen Gestalten in den Mund legen«541, drängt de Bruyns Hemmungen schließlich in den Hintergrund, wo sie letztlich, wie noch zu zeigen sein wird, den diskreten Duktus der Autobiographie bedingen. Bei seinem dezidiert autobiographischen Unterfangen bedeutet es für de Bruyn einen besonderen Reiz und damit einen weiteren Motivationsstrang, das Erzählwerk aus Tatsachen, also unter Verzicht auf Fiktion, künstlerisch zu formen. Im Roman sind dem Erfindungsreichtum des Autors keine Grenzen ge539 De Bruyn 1995, S. 60. 540 Vgl. z. B. »Autobiographisches Schreiben. Gespräch mit Günter de Bruyn«, Günter de Bruyn im Gespräch mit Bianca Weyers, S. 827: De Bruyn: »Bei der Abfassung von Romanen und Erzählungen hatte ich immer das Gefühl, daß ich mich eigentlich dahinter verstecke, insofern beinhaltete dies schon das autobiographische Schreiben« u. Owen Evans: Ein Training im Ich-Sagen: Personal Authenticity in the Prose Work of Günter de Bruyn, Bern, Berlin, Frankfurt/M., New York, Paris, Wien 1996, S. 15: »de Bruyn’s natural proclivity to exploit personal experience in his work« u. S. 309: »[I]t is interesting to note how often he has exploited his own experiences in earlier short stories«. 541 »Autobiographisches Schreiben. Gespräch mit Günter de Bruyn«, Günter de Bruyn im Gespräch mit Bianca Weyers, S. 827.

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setzt, was Reinhard Andress zu der Frage führt, ob Schriftsteller als »Meister im Erfinden«542 überhaupt geeignet seien, aufrichtig und unverblümt über sich selbst zu schreiben.543 Doch gerade bei diesem »Wirtschaften im Mangel«544 kann sich, Ehrlichkeit, Gewissenhaftigkeit und Vermeidung von Stilisierungen vorausgesetzt, ein erzählerisches Talent auf ganz besondere Weise entfalten. Diese Anforderung an den Autobiographen ist für de Bruyn nicht nur in Bezug auf sein eigenes Projekt relevant; schon immer beschäftigt er sich als Leser mit der Gattung und verfolgt interessiert, auf welche Weise große Schriftsteller (und auch Politiker) diese künstlerische Herausforderung annehmen und welche Reaktionen der Literaturkritik und -forschung jeweils folgen.545 So beginnt zum Beispiel Günter de Bruyns erstmals 1975 veröffentlichte Biographie Das Leben des Jean Paul Friedrich Richter mit einem Vergleich zwischen Jean Pauls Lebensbericht und Goethes Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit.546 Im Jahre 1989 gibt de Bruyn Friedrich August Ludwig von der Marwitz’ Autobiographie Nachrichten aus meinem Leben 1777–1808, versehen mit einem umfangreichen editorischen Anhang (darunter der Essay Opposition und Gehorsam), heraus und bezeichnet sie im Nachhinein sowohl in ihren gelungenen als auch in ihren missglückten Teilen als höchst lehrreich für ihn als autobiographischen Schreiber.547 De Bruyn hat bei der Arbeit an seinen autobiographischen Werken also zahlreiche Beispiele beziehungsweise Vorbilder vor Augen, wie sich auch in dem Essay Das erzählte Ich. Über Wahrheit und Dichtung in der Autobiographie zeigt, in dem er seine Gedanken zum Genre mit Zitaten aus gattungsgeschichtlich bedeutsamen und von ihm hoch geschätzten Werken einrahmt und stützt.548 Sie liefern ihm, neben Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin, Anlass und Stoff für die theoretischen Überlegungen. Sein eigenes autobiographisches Projekt betreffend verneint de Bruyn eine bewusste Anlehnung an die zitierten Werke oder deren direkten Einfluss auf seinen erzählerischen Gestus.549 Jedoch ist er generell

542 Reinhard Andress: »Mittel der (Selbst-)Erkenntnis in Günter de Bruyns zweiteiliger Autobiographie Zwischenbilanz und Vierzig Jahre«. In: Glossen: Eine internationale zweisprachige Publikation zu Literatur, Film und Kunst nach 1945 3 (1999), H. 7: http://www2. dickinson.edu/glossen/heft7/andress.html, Zugriff: 30. 04. 2013, S. 8. 543 Vgl. ebd. 544 De Bruyn 1995, S. 20. 545 Vgl. »Autobiographisches Schreiben. Gespräch mit Günter de Bruyn«, Günter de Bruyn im Gespräch mit Bianca Weyers, S. 834f. 546 Vgl. Günter de Bruyn: Das Leben des Jean Paul Friedrich Richter, Halle (Saale) 1975, S. 8–10. 547 Vgl. de Bruyn 1995, S. 17. 548 Vgl. ebd., S. 21ff. 549 Vgl. »Autobiographisches Schreiben. Gespräch mit Günter de Bruyn«, Günter de Bruyn im Gespräch mit Bianca Weyers, S. 834.

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der Ansicht, dass man unter anderem durch Lesen zum Schriftsteller wird550 und dass alles, was diesen beim Lesen beeindruckt, unbemerkt in sein Schreiben einfließt.551 Außerdem bekennt er sich zu seiner Vorliebe für die von ihm zitierten Autoren und damit in gewisser Weise auch zu deren Nachfolge.552 Bei der Untersuchung seiner Autobiographie wird zu klären sein, ob beziehungsweise welche Einflussnahme(n) darin auszumachen sind und inwiefern Paul Gerhard Klussmanns These, dass jeder europäische Autobiograph zumindest unbewusst Gesetzen der Gattung oder einigen großen Mustern von lange währendem, hohem internationalen Rang gehorcht553, auf Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin und Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht zutrifft. In jedem Fall ist de Bruyn in Bezug auf seine Schreibmotivationen historischen Traditionen verpflichtet: Während einige Autobiographietheoretiker, so zum Beispiel Bernd Neumann, Begriffe wie ›Subjekt‹ oder ›Wirklichkeit‹ radikal in Frage stellen, dies als Indiz für die Unmöglichkeit von Autobiographie werten und daher das Ende der Gattung proklamieren554, lässt de Bruyn sich nicht auf gegenwärtige Diskussionen ein. Vielmehr bemüht er sich bei seinem Projekt gewissenhaft um höchste Genauigkeit und Korrektheit, fühlt die Verpflichtung, den Blickwinkel seiner subjektiven Erfahrungen stets zu erweitern und so ein Zeitpanorama zu zeichnen und stellt sich fortwährend die Frage, auf welche Weise er seiner Lebenswirklichkeit in Sprache beziehungsweise in Schrift adäquat Ausdruck verleihen kann. Der Zweifel, ob dies überhaupt möglich ist, ist laut de Bruyn in jeder Autobiographie gegenwärtig und wird häufig durch den Verfasser explizit reflektiert.555 Als Beispiel nennt er hier unter anderem Theodor Fontane, der dem Titel seines Werkes Meine Kinderjahre bewusst den Untertitel Autobiographischer Roman beifügt, um nicht für die Echtheit seines Berichts garantieren zu müssen. Goethe geht mit Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit schon im Titel auf die Problematik der schriftlichen Wiedergabe von Lebenswirklichkeiten ein, indem er ankündigt, dass seine Autobiographie nicht nur die Wahrheit über sein Leben, sondern auch Dichtung enthält. De 550 Vgl. Günter de Bruyn: »Zum Thema: Lesen«. In: ders.: Lesefreuden. Über Bücher und Menschen, Frankfurt/M. 1986, S. 283. 551 Vgl. »Günter de Bruyn«, Günter de Bruyn im Gespräch mit Herlinde Koelbl. In: Koelbl, Herlinde: Im Schreiben zu Haus. Wie Schriftsteller zu Werke gehen. Fotografien und Gespräche, München 1998, S. 164. 552 Vgl. Katarzyna Jastal: »Zur Wahrheit eines Abschieds von der DDR. Günter de Bruyns autobiographische Schriften Zwischenbilanz und Vierzig Jahre«. In: Bestandsaufnahmen. Deutschsprachige Literatur der neunziger Jahre aus interkultureller Sicht, Hg. v. Matthias Harder, Würzburg 2001, S. 113. 553 Vgl. Klussmann, S. 188. 554 Vgl. Bernd Neumann: Identität und Rollenzwang. Zur Theorie der Autobiographie, Frankfurt/M. 1970. 555 Vgl. de Bruyn 1995, S. 23.

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Bruyn weist darauf hin, dass er Dichtung im Goethe’schen Sinn jedoch ausdrücklich nicht als ›Hinzudichten‹, also als Fiktion versteht (wie beispielsweise Martina Wagner-Egelhaaf den Begriff auffasst556). Anhand mehrerer Eingangspassagen autobiographischer Werke legt er seinen Dichtungsbegriff dar.557 Generell misst er dem Anfang eines Textes große Bedeutung bei, da er seiner Meinung nach die Erzählart bereits festlege und den Charakter eines Buches und seines Autors erkennen lasse. Er beginnt mit dem Beispiel Goethes, der seine Geburt in Beziehung zum Kosmischen setzt.558 Jean Paul dagegen zieht in Selberlebensbeschreibung (1818) die Erwähnung der politischen Umstände und die Tatsache, dass seine Geburt mit dem Frühlingsanfang des Jahres 1763 zusammenfällt, vor.559 Friedrich August Ludwig von der Marwitz ergänzt seine Geburtsszene mit der Information über seine adelige Herkunft.560 Dass eine Autobiographie aber nicht zwingend mit der Geburt einsetzen muss, verdeutlicht der Essayist am Beispiel Ulrich Bräkers, der in Lebensgeschichte und natürliche Ebenteuer des Armen Mannes im Tockenburg zunächst von seinen ihm unbekannten Großeltern berichtet561, und Otto von Bismarcks, der seine Kindheit gänzlich auslässt, um zu Beginn von Gedanken und Erinnerungen (1898; 1921) als politisch engagierter Abiturient auftreten zu können.562 Fontane beginnt mit einer romanhaften Beschreibung des Tages, an dem seine Eltern ein kurz zuvor erworbenes Apothekengebäude in Neuruppin beziehen.563 Auch Karl Philipp Moritz setzt den Anfang bei seinen Eltern und deren Religion, um in die Verhältnisse, die ihn später nachhaltig prägen sollten, einzuführen.564 Jedes dieser Beispiele lässt laut de Bruyn erkennen, dass Dichtung im Goethe’schen Sinn in jeder Autobiographie enthalten ist, da jeder Autor eine andere Art gewählt hat, »sich in die Welt zu bringen«.565 In Einklang mit Karin Hirdina, für die Dichtung »verdichtete Wahrheit, nicht Fiktion«566 bedeutet, erklärt er den 556 557 558 559 560 561 562 563 564 565 566

Vgl. Wagner-Egelhaaf, S. 3. Vgl. hier auch Kapitel 2.2.4. der vorliegenden Arbeit. Vgl. de Bruyn 1995, S. 24ff. Vgl. Goethe 1986, S. 15. Vgl. Jean Paul: »Selberlebensbeschreibung«. In: ders.: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, Zweite Abteilung, Vierter Band, Hg. v. d. Preußischen Akademie der Wissenschaften, Weimar 1934, S. 71. Vgl. Friedrich August Ludwig von der Marwitz: Nachrichten aus meinem Leben 1777–1808, Hg. v. Günter de Bruyn, Berlin 1989, S. 5f. Vgl. Ulrich Bräker : Lebensgeschichte und natürliche Ebenteuer des Armen Mannes im Tockenburg, Stuttgart 1965, S. 11f. Vgl. Otto von Bismarck: Gedanken und Erinnerungen. Reden und Briefe, Essen 1999, S. 5. Vgl. Fontane, S. 10. Vgl. Moritz, S. 87ff. Gustav Seibt: »Verborgenes liegt frei herum«. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25. 03. 1995, Nr. 72, unpaginiert. Karin Hirdina: »Suchanzeige: Ironisches in der Autobiografie Günter de Bruyns«. In: Günter de Bruyn in Perspective, Hg. v. Dennis Tate, Amsterdam, Atlanta 1999, S. 190.

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Begriff als Verdichten des Geschehenen, als gedankliches Durchdringen oder Deuten. Gemäß dieser Auffassung formuliert er : Dichtung im autobiographischen Schreiben ist die Fähigkeit, das Vergangene gegenwärtig zu machen, Wesentliches in Sein und Werden zu zeigen, Teilwahrheiten zusammenzufassen zu dem Versuch der ganzen Wahrheit über das schreibende und beschriebene Ich.567

Owen Evans urteilt in diesem Zusammenhang treffend: In de Bruyn’s view, it is this structuring process that constitutes Dichtung in an autobiographical context […]. Autobiography has the intrinsically constructed nature of literary fiction, but de Bruyn stresses that, unlike fiction, this process of Dichtung does not have anything to do with literary invention; it simply represents how one gives shape to one’s memories and experiences, ›inventing‹ a coherent form and structure for them, in other words, to enable others to relate to them.568

De Bruyns elaborierte Ausführungen zu seinem Dichtungsbegriff lassen sehr deutlich erkennen, welch hohen künstlerischen und moralischen Anspruch er mit der Gattung verbindet. Zwar äußert er die These, dass die Autobiographie nur teilweise zur Literatur im engeren Sinne gehöre, da ihre großen Werke nicht nur von Literaten geschrieben werden und sie im Grenzbereich zur Geschichtsschreibung liege, außerdem Gattungsgrenzen wie die zu Reisebeschreibung oder wissenschaftlicher Abhandlung oftmals überschreite.569 Diese Überlegung zeigt, dass de Bruyn auch in seinen theoretischen Betrachtungen einen möglichst breiten Blickwinkel anstrebt und verschiedene plausible Sichtweisen berücksichtigen möchte, in Anbetracht seiner folgenden Argumentation ist sie aber letztlich hinfällig. Obwohl sie mit Tatsachen und Fakten operieren, können Autobiographie und sogar Historiographie laut de Bruyn niemals ein getreues Abbild der Wirklichkeit darstellen, da sie »erzählen und damit der Vergangenheit eine Form geben, die sie von sich aus nicht hat«.570 Wie auch schon der Titel de Bruyns theoretischer Betrachtung – Das erzählte Ich – nahe legt, bedeutet ein autobiographisches Unterfangen für den Schriftsteller, Tatsachen und Fakten nicht einfach aneinander zu reihen, sondern gezielt auszuwählen, zu gestalten, miteinander zu verbinden und in eine Ordnung zu bringen. Banalität oder Langeweile zu erzählen, ohne banal oder langweilig zu werden, ist eine Kunst, die, wenn sie gelingt, verdeutlicht, daß das Erzählen von Wirklichkeit etwas anderes als diese ergibt. […] Auch wenn man das eigne Erleben nicht, wie im Roman, 567 568 569 570

De Bruyn 1995, S. 31f. Evans 2006, S. 140f. Vgl. de Bruyn 1995, S. 21. Ebd., S. 66.

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durch Erfindung bereichert, reduziert oder verfremdet, wird es durch Erzählen verändert, es wird neu und anders, eben erzählbar, gemacht.571

Selbst die im vorangegangenen Kapitel beschriebene Verknüpfung von Ich und Geschichte, die einer möglichst wirklichkeitsgetreuen Wiedergabe der Vergangenheit dienen soll, gibt dem Geschehenen eine nicht durch die Ereignisse vorgegebene, künstliche Form. Fred Wander ist sich dieser Veränderung durch Gestaltung ebenfalls bewusst und beschreibt sie in seinem Lebensbericht explizit: Es kommt nicht darauf an, mit Akribie die Dinge des Lebens zu beschreiben, sondern auf die Gestaltung und die magische Wirkung, die dem Künstler nicht bewußt ist! Auf intellektuelle und moralische Kraft kommt es an, auf verborgene Zusammenhänge.572

Das Geschehene bekommt letztlich nicht nur eine Form, sondern auch eine Bedeutung zugewiesen, die ihm nicht von vornherein inhärent war. Werner Keller beschreibt dieses Phänomen folgendermaßen: [I]m Schreiben wird das Gewesene zurückgeholt, wiederholt, doch erhält das Fragmentarische des Gelebten eine neue Qualität durch den Bezug auf anderes, auf Späteres und aufs Ganze. Eine Einheit entsteht aus vielen Widersprüchen, ein Zusammenhang […] bildet sich. Erst im nachhinein vermag der Erlebende das Erlebte zu deuten.573

Demnach erkennen auch Fred Wander und Werner Keller die oben genannten Aspekte, die de Bruyn unter dem Begriff der Dichtung zusammenfasst, als wesentliche Bestandteile der Gattung an; implizit verweisen beide auf die (neue) Bedeutung, oder auch Legende, die einem Leben durch dessen Erzählung, durch dessen Formung zu einem künstlerischen Werk zugewiesen wird, auch wenn kein einzelnes Detail von der Wirklichkeit abweicht. Goethes Sterndeutung am Anfang von Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit verweist symbolisch auf sein Vorhaben, sein Leben nicht als bloße Aneinanderreihung von Tatsachen zu präsentieren, sondern es zu formen und ebenfalls zu deuten. Günter de Bruyn verehrt die in Das erzählte Ich. Über Wahrheit und Dichtung in der Autobiographie aufgeführten Lebensberichte als künstlerische Werke und betrachtet die Autobiographie, wie auch zahlreiche Theoretiker, zum Beispiel Roy Pascal, durchaus als eigengesetzliche literarische Gattung. Gustav Seibt betrachtet de Bruyns Argumentationsführung zum »Kunstcharakter der autobiographischen Wahrheit«574 sogar als dessen Hauptthese seiner Beschäftigung mit dem Genre. 571 Ebd., S. 67. 572 Fred Wander: Das gute Leben. Erinnerungen, München, Wien 1996, S. 337. 573 Werner Keller : »Einführungsworte für Herrn Günter de Bruyn« (zu einer Lesung aus Vierzig Jahre bei der Goethegesellschaft). In: Goethe-Jahrbuch 112 (1995), S. 39. 574 Seibt, unpaginiert.

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Der im oben stehenden Zitat genannte »Versuch der ganzen Wahrheit über das schreibende und beschriebene Ich«575 liefert de Bruyn ein Kriterium, die Autobiographie von anderen Arten der Selberlebensbeschreibung wie zweckbestimmten Alltagslebensläufen abzugrenzen. Wenn dieser Anspruch fehlt und nur Begegnungen mit berühmten Persönlichkeiten, berufliche Karrieren oder Staatsaffären im Mittelpunkt stehen oder ausschließlich Reise-, Liebes- oder Kriegsabenteuer berichtet werden, liegt dem Essayisten zufolge keine Autobiographie vor, sondern eine verwandte Gattung wie Memoiren, Erinnerungen oder Denkwürdigkeiten576 – in jedem Fall eine Gattung, die seinem literarischen Anspruch, Lebenswirklichkeiten künstlerisch zu gestalten und in einer verdichteten, gedeuteten ›Wahrheit‹ zusammenfließen zu lassen, nicht gerecht wird. Günter de Bruyns Wahrheitsbegriff ist für seine individuellen Ansprüche an die Gattung von besonderer Bedeutung; er wird im folgenden Kapitel unter Berücksichtigung von de Bruyns teilweise inkonsequenter Terminologie zur Sprache kommen.

4.1.4. De Bruyns Anspruch auf subjektive Authentizität Als bedeutendsten der verschiedenen Motivationsstränge zur Abfassung seiner Autobiographie bezeichnet Günter de Bruyn den der Selbstauseinandersetzung, Selbsterforschung und Selbsterklärung sowie der persönlichen Rechenschaftsablegung: »Es ist der Versuch, mich über mich selbst aufzuklären, Grundlinien meines Lebens zu finden, mir auf die Frage zu antworten, wer eigentlich ich sei«.577 Diese Aufgabenstellung impliziert für de Bruyn Pflicht und Strenge innerhalb seines Projekts, aber auch den erfreulichen Effekt, dass er sein Leben in all seinen Freuden und Leiden ein zweites Mal durchlaufen kann, diesmal von einem distanzierten Standpunkt aus. In Bezug auf den Aspekt der Selbstauseinandersetzung teilt de Bruyn die Meinung zahlreicher Literaturtheoretiker. Neben den in Kapitel 2.1.1. der vorliegenden Arbeit bereits erwähnten Auffassungen von Wilhelm Dilthey oder Roy Pascal erachten beispielsweise Frank Thomas Grub oder Anne-Marie PailhHs die Autobiographie als »Medium der Selbstvergewisserung«578 beziehungsweise »examen de conscience«.579 Reinhard Andress sieht die Entscheidung eines Schriftstellers, sich der autobiographi-

575 576 577 578 579

Oben, S. 144. Vgl. de Bruyn 1995, S. 32. Ebd., S. 19. Grub 2003, Untersuchungen, S. 303. PailhHs 2003, S. 104.

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schen Form zu bedienen, ebenfalls hauptsächlich in seinem Verlangen nach Selbsterkenntnis begründet.580 Diese Intention fordert dem Autobiographen einen gedanklichen Prozess ab, während dessen er sich bewusst macht, was für seine Entwicklung relevant war, welche Erlebnisse, Erfahrungen, Gedanken, Menschen, Orte oder Bücher ihn geprägt und zu der Person gemacht haben, als die er sich wahrnimmt. Jedoch findet dieser Prozess nicht unbedingt planmäßig und unmittelbar vor Abfassung der Autobiographie statt, sondern wird laut de Bruyn zumindest von einem gedankenvollen Menschen schon das ganze Leben lang geleistet. Er selbst führt beispielsweise von 1945 bis Mitte der 1980er Jahre regelmäßig und intensiv Tagebuch. Während seine frühesten Formen der Tagesnotizen aus den 1930er und frühen 1940er Jahren ihm noch zur bloßen Selbstvergewisserung und -bestätigung dienen, bilden diese jüngeren Aufzeichnungen sogar in Anbetracht der Tatsache, dass sie in einem totalitären Staat entstehen und somit zurückhaltend beziehungsweise verklausuliert abgefasst werden müssen, bereits einen beträchtlichen Teil dieser Gedankenarbeit. De Bruyn ist der Überzeugung, dass jeder bewusste Mensch im Laufe seines Lebens versucht, ein inneres Selbstportrait zu entwerfen und seinen Lebensweg für sich zu deuten, eine »Lesart seines Lebensweges«581 zu finden. So ergibt sich für die Autobiographie zwangsläufig, dass die sich erinnernde und schreibende Person ihr Leben und ihre Entwicklung auf ein Ziel hin untersucht und beschreibt: Der Selberlebensbeschreiber, der ein gewisses, meist höheres Alter erreicht hat, kennt sich, oder glaubt sich zu kennen, hat jedenfalls ein Bild von seinem gegenwärtigen Selbst vor sich, und er stellt sich die Aufgabe zu zeigen, wie dieses entstand.582

Wie auch immer ein Autobiograph sich und sein Leben beurteilt, ob stolz oder beschämt, und welche Einflüsse er für seine Entwicklung verantwortlich macht, ob seinen Bildungsweg, seine Eltern oder bestimmte Zufälle – er wählt zur Beschreibung seines Lebens das aus, was er für bedeutsam hält, das, was ihn seiner Meinung nach letztlich zu dem gegenwärtigen Schreiber gemacht hat. Dass Karl Philipp Moritz seine Autobiographie mit der Ehe seiner Eltern beginnen lässt und die Umstände, in die er hineingeboren wurde, detailgenau darstellt, hat seinen Grund also in der Tatsache, dass er ihnen zum Zeitpunkt der Niederschrift großen Einfluss auf den Verlauf seines Lebens zuschreibt. Genau dieses Kriterium zur Auswahl aus der Fülle des Lebensstoffs hält de Bruyn für zentral:

580 Vgl. Andress, S. 1. 581 De Bruyn 1995, S. 38. 582 Ebd., S. 35.

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Um über mich selbst erzählen zu können, muß ich einen ungefähren Begriff von mir haben, der später, im Prozeß des Erzählens, genauer wird. Ich muß wissen, was für mich wichtig war, um aus der Masse dessen, was ich über mich weiß, auswählen und Schwerpunkte setzen zu können.583

Beim Schreiben absichtsvoll eine Auswahl aus den Lebenstatsachen zu treffen, hält de Bruyn demnach nicht für tadelnswert, sondern für unvermeidbar und auch sinnvoll. Allerdings zieht eine solche Auswahl für ihn den ›Wahrheitsgehalt‹ jeder Autobiographie zunächst in Zweifel.584 Im ersten Kapitel von Das erzählte Ich. Über Wahrheit und Dichtung in der Autobiographie weist er darauf hin, dass alle Arten der Selbstdarstellung, ob Krankheitsbericht, Bewerbungslebenslauf oder Strafregister, gemäß ihren Zwecken mit unterschiedlichen Inhalten gefüllt sind und sich nur in Namen und Daten gleichen, obwohl sie Tatsachen aus demselben Leben berichten. Sie alle können ehrliche Darstellungen sein, vermitteln in ihrer jeweiligen Auswahl, die im Hinblick auf den Adressaten erfolgt, letztlich aber nur ›Teilwahrheiten‹. De Bruyns Anspruch an eine Autobiographie ist dagegen der bereits zitierte »Versuch der ganzen Wahrheit über das schreibende und beschriebene Ich«.585 Da de Bruyn aber auch in der Autobiographie eine Auswahl nach bestimmten Kriterien für unabdingbar hält, stellt sich die Frage, inwiefern diese scheinbaren Gegensätze – absichtsvolle, subjektive Auswahl und Anspruch auf die ganze Wahrheit – miteinander zu vereinbaren sind. Um sich de Bruyns Ansatz zur Auflösung dieser Widersprüchlichkeit zu nähern, ist es nötig, zunächst auf seine Vorstellung von ›Wahrheit‹ einzugehen. Das Ziel der ›Wahrheitsfindung‹ beschäftigt de Bruyn nicht nur in seinen theoretischen Überlegungen, sondern führt ihm während seines ganzen literarischen Lebens, insbesondere bei Abfassung der beiden autobiographischen Bände, die Feder. In seinem Essay Grischa 1944 berichtet de Bruyn, dass er Arnold Zweigs Roman Der Streit um den Sergeanten Grischa (1927) mit einem ausgeprägten, wenn auch noch unbewussten »Drang nach Wahrheit«586 gelesen hat; bereits zu Beginn seines eigenen Schreibens konnte er daraus lernen, »daß die oberste Pflicht des Schriftstellers darin besteht, die Wahrheit zu sagen, im Kleinen wie im Großen, in Teilen wie im Ganzen«.587 So habe ihn während des Entstehungsprozesses von Der Hohlweg stets die Frage nach ›Wahrheit‹ geleitet, nur habe er sich durch Ehrgeiz und zweifelhafte Ratschläge von diesem Weg 583 584 585 586

Ebd., S. 37. Vgl. ebd., S. 12. Oben, S. 144. Günter de Bruyn: »Grischa 1944«. In: ders.: Lesefreuden. Über Bücher und Menschen, Frankfurt/M. 1986, S. 309. 587 Ebd.

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abbringen lassen.588 In einem Interview mit Sigrid Töpelmann im Jahr 1968 äußert er : »Mir geht es um Glaubwürdigkeit und Wahrheit, um Kongruenz oder, vorsichtiger gesagt, um Ähnlichkeit von Leben und Literatur«.589 Renate Rechtien erkennt im Titel Das erzählte Ich. Über Wahrheit und Dichtung in der Autobiographie, in dem Goethes ›Dichtung‹ und ›Wahrheit‹ in ihrer Reihenfolge bewusst vertauscht sind, zu Recht einen Hinweis darauf, dass es de Bruyn bei Autobiographien vor allem um das Ziel der ›Wahrheitsfindung‹ geht.590 In Anbetracht der Bedeutsamkeit, die de Bruyn dem Wahrheitsbegriff also beimisst, muss es erstaunen, dass er ihn nicht näher erläutert und sowohl in Interviews und Aufsätzen, als auch in seinem autobiographietheoretischen Essay leichtfertig mit dem Terminus ›Wahrheit‹ operiert, der, wie in Kapitel 2.2.4. dieser Arbeit eingehend dargelegt wurde, philosophiegeschichtlich vorbelastet und schwer bestimmbar ist. Einige Aussagen de Bruyns, wie zum Beispiel seine aus dem Interview mit Sigrid Töpelmann bereits zitierte Gleichsetzung von Kongruenz beziehungsweise Ähnlichkeit von Leben und Literatur mit Glaubwürdigkeit und ›Wahrheit‹, lassen allerdings darauf schließen, dass seine Auffassung dem Alltagsverständnis, nach dem ›Wahrheit‹ als Übereinstimmung mit der Realität zu begreifen ist, entspricht. De Bruyns Motivation zur Niederschrift seines ersten Romans, nämlich »wahrheitsgetreu Bericht darüber zu geben, wie es gewesen war«591, spricht ebenfalls für diese These. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass auf Grund des zwanglosen, bewusst subjektiv gehaltenen Stils von Das erzählte Ich. Über Wahrheit und Dichtung in der Autobiographie nicht von einem vorwiegend wissenschaftlichen Anspruch des Werkes auszugehen ist, kann man de Bruyn die mangelnde terminologische Eindeutigkeit hier nachsehen. Dass einige Literaturkritiker wie beispielsweise Christine Cosentino oder Anne-Marie Corbin-Schuffels de Bruyn in seiner Terminologie folgen, ohne die Problematik des Begriffs zumindest zur Sprache zu bringen592, ist nicht entschuldbar, zumal, wie auch Renate Rechtien und Katarzyna Jastal treffend bemerken, der Wahrheitsbegriff aus erkenntnis-

588 Vgl. Günter de Bruyn 1986, Holzweg, S. 315. 589 »Interview mit Günter de Bruyn«, Günter de Bruyn im Gespräch mit Sigrid Töpelmann. In: Weimarer Beiträge 14 (1968), H. 6, S. 1176. 590 Vgl. Renate Rechtien: »Gelebtes, erinnertes, erzähltes und erschriebenes Selbst: Günter de Bruyns Zwischenbilanz und Christa Wolfs Kindheitsmuster«. In: Günter de Bruyn in Perspective, Hg. v. Dennis Tate, Amsterdam, Atlanta 1999, S. 155. 591 Oben, S. 130. 592 Vgl. Cosentino 2001, S. 1f. u. Anne-Marie Corbin-Schuffels: »Auf den verwickelten Pfaden der Erinnerung: autobiographische Schriften nach der Wende«. In: Mentalitätswandel in der deutschen Literatur zur Einheit (1990–2000), Hg. v. Volker Wehdeking, Berlin 2000, S. 76.

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theoretischer Sicht auf die Gattung generell als problematisch zu betrachten ist und daher von der Autobiographieforschung verworfen wurde.593 In Bezug auf de Bruyn ist lediglich anzumerken, dass er sein Alltagsverständnis von ›Wahrheit‹ nicht explizit als solches benennt beziehungsweise einen präziseren Terminus wählt, um sich von der Problematik des philosophiegeschichtlich nicht eindeutigen Begriffs abzugrenzen, derer er sich offensichtlich bewusst ist: »Wahrheit, das klingt immer so philosophisch, das ist ein fragwürdiger Begriff«594, äußert er 1995 in einem Interview mit Hyunseon Lee. Wie gezeigt wurde, erschließen sich de Bruyns Vorstellung von ›Wahrheit‹ und der daran geknüpfte Anspruch dennoch als ›Übereinstimmung mit der Wirklichkeit‹. Diese Auffassung zu Grunde legend ergibt sich für de Bruyn in Bezug auf die ›Wahrheitsfindung‹ in der Autobiographie folgendes Problem: Das Schwierige an der Wahrheit ist, daß es viele gibt, weil jeder die seine hat. Jede Selbstdarstellung ist zeitbezogen und voreingenommen. Auch wer sich vornimmt, sein eigenes Leben wie das eines anderen beschreiben zu wollen, ist der Subjektivität ausgeliefert.595

Im Kapitel Subjektivität geht er ausführlich auf diesen Aspekt ein und hält zu Beginn nochmals fest, dass die von ihm geforderte ›ganze Wahrheit‹596 nicht als absolute, sondern als subjektive und zeitbezogene zu verstehen ist. Zeitbezogen meint in diesem Zusammenhang sogar in zweifacher Hinsicht: Die Autobiographie, der reflektierende Rückblick auf die eigene Vergangenheit, ist bestimmt von dem Zeitalter, auf das zurückgeblickt wird und von dem Moment, in dem der Schreibende sich erinnert. In dem Wissen, dass die Ziele der Gegenwart die Bewertung des Vergangenen bestimmen597, erkennt de Bruyn in der Subjektivität einer Autobiographie ihren besonderen Reiz: Das Besondere der Autobiographie besteht ja nicht darin, daß hier derjenige ein Leben beschreibt, der am meisten über es weiß, sondern darin, daß hier jemand sich so beschreibt, wie er sich selbst sieht und beurteilt. Interessanter als die mitgeteilten Fakten über eine Person ist die Art, wie sie von dieser Person mitgeteilt werden.598

Objektivität, die ohnehin nicht zu erreichen wäre, wird von de Bruyn also gar nicht zum Ziel gesetzt. Für ihn ist wesentlich, wie der Autobiograph die Ver593 Vgl. Rechtien, S. 161 u. Jastal, S. 109. 594 »›Ich will verstanden werden‹. Günter de Bruyn im Gespräch mit Hyunseon Lee in Berlin am 10. November 1994«. In: Lee, Hyunseon: Günter de Bruyn – Christoph Hein – Heiner Müller. Drei Interviews, Siegen 1995, S. 20. 595 De Bruyn 1995, S. 33. 596 Vgl. oben, S. 144. 597 Vgl. Günter de Bruyn: »So viele Länder, Ströme, Sitten. Gedanken über die deutsche Kulturnation«. In: ders.: Jubelschreie, Trauergesänge. Deutsche Befindlichkeiten, Frankfurt/M. 1994, S. 16f. 598 De Bruyn 1995, S. 62.

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gangenheit seines eigenen Lebens betrachtet und von der Gegenwart her beurteilt, so, wie niemand anders es kann.599 »Selbstgeschichtsschreibung«600 nennt er das Phänomen und bezeichnet die Erinnerungsstruktur, diese »ständige Verschränkung von Erinnertem und Erlebtem, von Gegenwart und Vergangenheit«601 als spezifische Eigenheit autobiographischen Erzählens. Wie der in Kapitel 2.1.1. der vorliegenden Arbeit bereits zitierte Autobiographietheoretiker Georges Gusdorf teilt auch Georges May diese Ansicht: [C]e qui compte souvent pour eux [la plupart des autobiographes], ce n’est pas l’8v8nement historique dont ils parlent, mais le souvenir, probablement d8form8 et incomplet, qu’en a gard8 leur m8moire.602

Als sichtbares Kennzeichen dieser der Autobiographie eigenen Erinnerungsstruktur erkennt de Bruyn die häufige Verwendung des Wortes ›erinnern‹. Auch nennt er zahlreiche Passagen aus berühmten Autobiographien, in denen der Schreiber jeweils bewusst verdeutlicht, dass er aus seiner aktuellen Schreibsituation heraus berichtet und urteilt, dass er gegenwärtige Gefühle und Ansichten beschreibt, die seine Erinnerungen in ihm hervorrufen. So zum Beispiel Theodor Fontane: »[T]rotzdem hab ich, im Rückblick auf jene Zeit, das Gefühl eines beständigen Gerettetwordenseins, ein Gefühl, in dem ich mich auch schwerlich irre«603 oder Ulrich Bräker : »Mir ist so wohl beim Zurückdenken an diese glücklichen Tage – Heute noch schreib ich mit so viel innigem Vergnügen davon – bin jetzt noch so wohl zufrieden mit meinem damaligen Ich«.604 Martin Stern beschreibt in diesem Zusammenhang die Möglichkeit einer »Autorpräsenz und -einmischung« in der Autobiographie, die vorrangig die »dem Schreiber während des Schreibaktes eigene Identität«605 repräsentiert. Im Wissen darum, dass »alles Erinnerte […] sich unmerklich ändert mit dem Erinnernden«606, konstatiert de Bruyn: Fragt man aber nach der Wahrheit des Erzählten, muß man beides zusammendenken, das Historische also auch mit dem Blick des Sich-Erinnernden sehen. Es ergibt sich so eine gattungsspezifische Wahrheit, zu der die Subjektivität unausweichlich gehört.607

599 600 601 602 603 604 605

Vgl. hierzu Kapitel 2.2.4. dieser Arbeit. De Bruyn 1995, S. 61. Ebd., S. 63. Georges May : L’autobiographie, Paris 1979, S. 77f. Fontane, S. 142. Bräker, S. 93. Martin Stern: »Die sieben A der Autobiographie«. In: Das erdichtete Ich – eine echte Erfindung. Studien zu autobiographischer Literatur von Schriftstellerinnen, Hg. v. Heidy Margit Müller, Aarau, Frankfurt/M., Salzburg 1998, S. 18. 606 Keller, S. 40. 607 De Bruyn 1995, S. 65.

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Durch diese Argumentationsführung wird trotz der terminologischen Ungenauigkeit deutlich, was de Bruyn meint, wenn er den Anspruch auf eine ›ganze gattungsspezifische Wahrheit‹ der Autobiographie erhebt: Er spricht keinesfalls von dem Streben nach Objektivität, die selbst durch die bloße Aneinanderreihung unanfechtbarer Tatsachen nicht zu erreichen wäre. Ihm geht es letztlich um den Willen und den Mut des Schreibers, sein eigenes Leben in all seinen für ihn wesentlichen Facetten, in seinen Widersprüchen, in Freude und Leid, in Glücksmomenten und Niederlagen und den damit verbundenen Erfahrungen, Empfindungen, Gedanken und auch Träumen von seinem individuellen, gegenwärtigen Standpunkt aus zu deuten und kunstvoll zu erzählen und dabei unter Verzicht auf Fiktion absolute Ehrlichkeit und Gewissenhaftigkeit walten zu lassen – ihm geht es um subjektive Authentizität, wie sie in Kapitel 2.2.4. beschrieben wurde. Auch wenn dieser Terminus von de Bruyn selbst nicht benutzt wird, können de Bruyns Ansprüche an das Genre ›Autobiographie‹ unter diesem Schlagwort zusammengefasst werden. Letztlich muss die Gattung laut de Bruyn, auch wenn er dies nicht explizit äußert, nicht einfach zwischen Historiographie und Dichtung verortet werden, sondern kann Historizität und Literarizität gleichermaßen autobiographiespezifisch miteinander vereinen, so dass der Anspruch an einen der Aspekte der Erreichbarkeit des jeweils anderen nicht im Weg steht. Absichtsvolle Auswahl und de Bruyns Anspruch auf die ›ganze autobiographiespezifische Wahrheit‹ sind miteinander vereinbar, denn durch die Verbindung von Historizität und Literarizität, durch sinnvolle Zusammenstellung und Gestaltung geschichtlicher Erinnerungen wird in den Worten de Bruyns eine »Wahrheit der Kunst«608 erreicht. Der Schriftsteller ist der Überzeugung, dass das Ziel der subjektiven Authentizität nur unter der Voraussetzung der Ehrlichkeit und Gewissenhaftigkeit des sich erinnernden Schreibers zu erreichen ist. Als Gegenbeispiel nennen neben de Bruyn auch Christine Cosentino und Katarzyna Jastal die zahlreichen, nach der Wende eilfertig verfassten und literarisch unbedeutenden Erinnerungsbücher, die, statt die DDR aufrichtig aufzuarbeiten, häufig einen rechtfertigenden oder anklagenden Gestus aufweisen.609 Die Vermeidung von Selbststilisierungen, Selbsttäuschungen und Unehrlichkeit ist Bedingung für subjektive Authentizität, dennoch hat, wie de Bruyn bemerkt, »noch die größte Wahrhaftigkeit […] durch die Schwäche des Gedächtnisses ihre Grenzen. […] Jeder Rückblick trägt die Irrtümer und die Erkennt-

608 Ebd., S. 66. 609 Vgl. ebd., S. 41f., Cosentino 2001, S. 1 u. Jastal, S. 106. Vgl. auch Kapitel 3.2. dieser Arbeit.

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nisse der inzwischen vergangenen Zeit mit sich«.610 In Das erzählte Ich. Über Wahrheit und Dichtung in der Autobiographie nennt er alltägliche Beispiele falscher oder lückenhafter Erinnerung wie gegensätzliche Zeugenaussagen über dasselbe Geschehen oder falsche chronologische Einordnungen von Ereignissen. Gerade die frühesten Erinnerungen sieht er als die unzuverlässigsten an, und auch ausgefeilten, pointenreichen Anekdoten gegenüber hegt er großes Misstrauen – »ich weiß auch, wie schlecht meine Erinnerungen oft sind, daß sie sich zu eigenen Gunsten verändern. […] insofern kann ich mich auf meine Erinnerung nicht verlassen«.611 Zu Misstrauen rät er jedem Autobiographen in Bezug auf seine eigenen Erinnerungen und daher, wenn möglich, zu deren Überprüfung und gegebenenfalls Korrektur anhand von Dokumenten. »Widersprüche, die sich nicht auflösen wollen, sollte man nicht vertuschen, sondern stehen lassen, mit einem Erklärungsversuch vielleicht«.612 Doch auch Dokumenten wie Tagebüchern, Briefen oder Akten gegenüber sei Vorsicht angebracht, da auch sie bewusst oder unbewusst verfälschend abgefasst sein können. Ein anschauliches Beispiel bieten in diesem Zusammenhang de Bruyns Kontakte zum Ministerium für Staatssicherheit, die im Rahmen des Kapitels 4.2.3. der vorliegenden Arbeit zur Sprache gebracht werden sollen. Die Unzuverlässigkeit von Erinnerungen und Schriftstücken muss dem Ziel der subjektiven Authentizität jedoch nicht im Wege stehen – entscheidend sind auch hier der von de Bruyn für so wichtig befundene gewissenhafte und ehrliche Umgang mit den Lebensfakten, den individuellen Erinnerungen und dem eigenen Selbstbild sowie die Thematisierung von Unsicherheiten und Zweifeln. Hier zeigt sich ein weiteres Mal, dass de Bruyn sich in seiner Auffassung, in seiner Wahrung traditioneller moralischer Werte von aktuellen Diskursen nicht beeinflussen lässt; welche Übereinstimmungen beziehungsweise Abweichungen sein Gattungsbegriff in Bezug auf die in Kapitel 2.1.1. skizzierte Autobiographieforschung aufweist, soll im Rahmen der kritischen Betrachtung seines theoretischen Werkes erörtert werden.

4.1.5. Kritische Betrachtung des Werkes Das erzählte Ich. Über Wahrheit und Dichtung in der Autobiographie Wie die vorangegangenen Kapitel gezeigt haben, ist Günter de Bruyn mit Das erzählte Ich. Über Wahrheit und Dichtung in der Autobiographie eine tiefgrei610 Günter de Bruyn: »Deutsche Zustände«. In: ders.: Deutsche Zustände. Über Erinnerungen und Tatsachen, Heimat und Literatur, Frankfurt/M. 1999, S. 13. 611 »Günter de Bruyn im Gespräch mit Katharina Festner und York-Gothart Mix«. In: Deutschland Archiv. Zeitschrift für das vereinigte Deutschland 27 (1994), S. 511. 612 De Bruyn 1995, S. 42.

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fende Betrachtung der für ihn wesentlichen formalen und inhaltlichen Besonderheiten der Gattung ›Autobiographie‹ gelungen. Seine Überlegungen, die er zwar nicht systematisch, vielmehr fabulierend vorträgt, geben Aufschluss über seine individuellen, explizit genannten Antriebe zur Abfassung der eigenen Autobiographie, nämlich seinen historischen, seinen literarischen und seinen persönlichen Antrieb, ebenso die geringe Ausprägung eines exhibitionistischen Impulses. Er gibt darüber hinaus persönlichen Einblick in die Probleme, mit denen er sich beim Schreiben seiner eigenen Autobiographie konfrontiert sieht und reflektiert sie vor literarhistorischem Hintergrund. Annette Lönnecke hebt an der »einfühlsame[n] Studie«613 lobend hervor, dass de Bruyn formale und inhaltliche Charakteristika, die allgemein für die Autobiographie als gattungstypisch angesehen werden, aufgreift und fundiert erörtert.614 In der Tat lassen sich die vorgestellten Ergebnisse und Thesen der Autobiographieforschung und -kritik in de Bruyns theoretischem Essay trotz dessen begrenzten Umfangs zumindest implizit wiederfinden. Doch wie sich bei der Lektüre seines Werkes schnell offenbart, liegt es ihm fern, bereits etablierte Ansichten zu übernehmen und unreflektiert zu referieren; de Bruyn leistet im Wissen um wesentliche Aspekte des Forschungsstands eine individuelle Untersuchung der Gattung, die aber nicht von aktuellen Debatten dominiert wird. Vielmehr argumentiert er zum Teil auch konträr zu gängigen Thesen innerhalb der Forschung, beispielsweise negiert er das Fiktionselement der Gattung.615 Einen essentiellen Bestandteil seiner Ausführungen bildet die Untersuchung »subjektiver zeitbezogener Teilwahrheiten in Erinnerungsstrukturen«616 und deren Verarbeitung in der Autobiographie. Christine Cosentino bezeichnet sein Vorgehen als »geradezu gnadenlos« und konstatiert: »Im Versuch skrupelloser Ehrlichkeit will er daher seine eigenen Lebensberichte als nichts anderes als ›Lesarten‹ seines Lebensweges aufgefaßt wissen«.617 Auch wenn die Kritikerin de Bruyn in seiner unpräzisen Terminologie zuweilen folgt, beispielsweise wenn sie betont, »[w]ie fragwürdig die Wahrheitsannäherung innerhalb eines rückblickenden Lebensberichtes ist«618, weist sie dennoch treffend auf die Qualität seines Ansatzes hin. Historizität und Literarizität werden als Grundsäulen der Autobiographie in der Forschung wiederholt untersucht und auch von de Bruyn implizit herausgearbeitet. In seinen theoretischen Überlegungen, die er bei Abfassung seiner eigenen Autobiographie stets zu berücksichtigen versucht, gelingt es ihm, diese scheinbar konträren Gattungsaspekte für sich überein zu 613 614 615 616 617 618

Annette Lönnecke: o. T. In: Literatur in Wissenschaft und Unterricht 28 (1995), S. 343. Vgl. ebd. Vgl. oben, S. 143f. Cosentino 2001, S. 1. Ebd. Ebd.

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bringen, und zwar auf der Grundlage seiner Forderung nach kompromissloser Ehrlichkeit, der Wahrung traditioneller Begriffe wie ›Subjekt‹, ›Wahrhaftigkeit‹ und ›Gewissenhaftigkeit‹, seiner Suche nach ›ganzer Wahrheit‹ und des Verzichts auf Fiktion. Auf diese Weise kann de Bruyn sowohl historische Zuverlässigkeit als auch literarische Qualität für realisierbar erachten. »Unaufgeregt-sachlich«619 nennt Christian Linder den Essay und erkennt seinen Wert vor allem in den Auskünften über de Bruyns eigene Motivationen zur Abfassung einer Autobiographie. Er bemängelt, dass die Betrachtungen allerdings nicht in die Tiefe gingen und keinerlei Anweisungen zur Lesart von Autobiographien gäben.620 Annette Lönnecke weist anerkennend auf de Bruyns freimütige Schilderung des eigenen Schaffens hin, wodurch ein ganz persönlicher Einblick in seine Schwierigkeiten bei der Gestaltung seines Lebensberichts ermöglicht werde. Laut Lönnecke versäume de Bruyn aber eine ausreichende Differenzierung, weswegen seine Ausführungen auf eine große Anzahl zeitgenössischer Autobiographien nicht zuträfen.621 Die Kritikpunkte der Rezensenten sind insofern nicht haltbar, als Stil und Umfang des Essays nicht auf diese Ziele ausgerichtet sind: Nach erfolgter Analyse der Schrift ist nicht davon auszugehen, dass de Bruyn eine konkrete Anleitung zum Verständnis von Autobiographien oder umfassende Betrachtungen, die jede denkbare Form der Gattung abdecken, liefern wollte; er erhebt keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit oder Vollständigkeit. Der in Kapitel 4.1.1. der vorliegenden Arbeit beschriebene erste Eindruck, dass de Bruyn keine wissenschaftliche Betrachtung des Genres anstrebt, lässt sich nach der Untersuchung seines Essays bestätigen. In diesem Zusammenhang erschließt sich beispielsweise auch die fehlende Berücksichtigung der Thesen Philippe Lejeunes. Wie in Kapitel 2.1.2. dargestellt, hat Lejeune die Autobiographieforschung mit seinem Werk nachhaltig beeinflusst und geprägt; einer Darstellung von ähnlichem Umfang und ebensolcher Tiefgründigkeit wie der de Bruyns, die darüber hinaus einen wissenschaftlichen Anspruch erhebt, wäre eine solche Auslassung vorzuwerfen. In Das erzählte Ich. Über Wahrheit und Dichtung in der Autobiographie kann sie gemäß dessen Stil und Anspruch jedoch als legitim erachtet werden. In jedem Fall werden Beurteilungen, die das »Bändchen«622 lapidar als »Nebenprodukt«623 zu Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht oder gar »Abfallprodukt des

619 Christian Linder : »Selbstgeschichtsschreibung«. In: Süddeutsche Zeitung, 05. 04. 1995, Nr. 80, S. L 2. 620 Vgl. ebd. 621 Vgl. Lönnecke, S. 343f. 622 Krause 1995, S. W 5. 623 Ebd.

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ersten Teils der Autobiographie«624 abtun, ihrem Gegenstand nicht gerecht. De Bruyns theoretische Ausführungen zum Genre sind insbesondere in Bezug auf seine eigenen autobiographischen Bände von Bedeutung, da er hier Kriterien für deren angemessene Beurteilung liefert. Rachel Halverson bezeichnet den Essay sogar als »framework within which to understand Zwischenbilanz and Vierzig Jahre, including how de Bruyn chose to narrate his life story and how he constructed his identity«.625 In den folgenden Kapiteln soll untersucht werden, ob sich die in Das erzählte Ich. Über Wahrheit und Dichtung in der Autobiographie dargelegten Überlegungen in Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin und Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht wiederfinden lassen, inwiefern sich diese drei Werke gegenseitig bereichern und ob de Bruyn seinen eigenen Ansprüchen an die Gattung gerecht wird.

4.2. Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin und Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht als konkrete Realisierungen – Das Zusammenspiel von Theorie und Praxis. Analyse und Vergleich 4.2.1. Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin und Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht als historische Dokumente In Kapitel 4.1.2. dieser Arbeit wurde de Bruyns Motivation dargelegt, sein eigenes Leben in die historischen Geschehnisse einzuordnen und damit ein Zeitpanorama zu zeichnen, eine »Geschichtsschreibung von unten«626 zu leisten. Durch die Unterschiedlichkeit seiner Lebensabschnitte liegen der Umsetzung dieses Anspruchs gänzlich verschiedenartige Voraussetzungen und Schwierigkeiten zu Grunde; die beiden autobiographischen Bände zeichnen sich somit durch jeweils sehr eigenständige Vorgehensweisen aus. Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin behandelt im Wesentlichen de Bruyns Kinder- und Jugendzeit; er beschreibt das familiäre Umfeld, in dem er auf624 Ute Speck: »Folgerichtigkeit. Monika Marons Stille Zeile sechs und Günter de Bruyns Vierzig Jahre und die Rezeption polnischer Studenten – Eine Seminarbeschreibung«. In: Bestandsaufnahmen. Deutschsprachige Literatur der neunziger Jahre aus interkultureller Sicht, Hg. v. Matthias Harder, Würzburg 2001, S. 239. 625 Rachel Halverson: »Unifying the Self: Günter de Bruyn’s Autobiographical Response to Post-Unification Germany«. In: Glossen: Eine internationale zweisprachige Publikation zu Literatur, Film und Kunst nach 1945 4 (2000), H. 9: http://www2.dickinson.edu/glossen/ heft9/debruyn.html, Zugriff: 30. 04. 2013, S. 1. 626 Oben, S. 133.

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wächst, Kinder- und Jugendfreundschaften, erste Liebschaften, seine schulische Laufbahn, Kriegserlebnisse, erste Berufsjahre als Neulehrer und seine erste Heirat. Die dem Autor bewusste Gefahr, Geschichte durch einen zu eng gefassten Blickwinkel zu verfälschen, wird in diesem Band virulent, wenn es um die Darstellung des ersten Lebensabschnitts geht, der nur teilweise von Erinnerungen erhellt ist und größtenteils abseits des gesellschaftlichen und politischen Geschehens verläuft. Christine Cosentino hält fest: Historische Ereignisse und die Prioritäten eines Heranwachsenden, der vorrangig alles in bezug auf die eigene Person wahrnimmt, stehen keinesfalls immer im Einklang, werden vom reflektierenden Autor jedoch in eine erzählerische Ordnung gebracht.627

Der Autobiograph de Bruyn, der sich auf die theoretisch beschriebene, gattungsspezifische Erzählhaltung besinnt, kann Zusammenhänge zwischen Ereignissen erkennen, die zur Zeit ihres aktuellen Geschehens für ihn so noch nicht ersichtlich waren und verbindet diese im Text. Er greift kommentierend und interpretierend in die Schilderung ein und bereichert somit die Darstellung der Vergangenheit um das Wissen und die Erkenntnis des späteren Selbst; er verleiht dem Bericht über damalige Befindlichkeiten zudem eine gewisse Übersichtlichkeit: Als Historiker meiner selbst halte ich heute andere Geschehnisse für wichtig als zu der Zeit, in der sie geschahen, und an die Übersichtlichkeit, die ich hier anstrebe, war damals nicht zu denken. […] Die eigne Verwobenheit ins Historische, die in der Rückschau interessiert, wurde nur am Rande bemerkt; der ausbleibende Brief der Geliebten konnte wichtiger sein als ein verlorener Krieg.628

De Bruyn versteht es, den von politischen Entwicklungen kaum beeinflussten Alltag und Wissenshorizont seines damaligen Ichs zu vermitteln. Er referiert Gedanken und Gefühle des Heranwachsenden, der er selbst einmal war, so unverfälscht wie es ihm als selbst Betroffener möglich ist, wenn auch um das historische Wissen und die Sichtweise des gegenwärtigen Schreibers erweitert und damit in das jeweilige Zeitgeschehen eingebettet – »[i]n writing memoir, the trick […] is to establish a double perspective, which will allow the reader to participate vicariously in the experience as it was lived […], while conveying the sophisticated wisdom of one’s current self«.629 So entsteht eine Lebensbeschreibung, die sowohl reich an individuellen Details als auch zeitgeschichtlich signifikant ist, wie die folgenden Textbeispiele zeigen sollen. In zahlreichen Passagen ist de Bruyns kunstvolle Verknüpfung von Ich und Geschichte offen627 Cosentino 2001, S. 5. 628 De Bruyn 1992, S. 134. 629 Phillip Lopate: »Reflection and Retrospection: A Pedagogic Mystery Story«. In: Fourth Genre: Explorations in Nonfiction 7 (2005), H. 1, S. 143.

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sichtlich; bereits den Tag seiner Geburt beschreibt er in dessen historischer Bedeutung: [D]as kommende große Unheil kündigt sich durch Kleinigkeiten schon an. Die Chronik meines Geburtsjahres ist voll davon, und auch der Tag meiner Geburt zeigt in zwei Ereignissen schon die Katastrophentendenz: Goebbels wird zum Gauleiter der NSDAP in Berlin ernannt, und Reichsbahn und Reichspost führen um Mitternacht die 24Stunden-Zählung ein. Einen Zusammenhang bekommt das in der Rückschau erst: Wahn- und Präzisionsdenken schreiten gleichzeitig voran; […] die Modernisierung, für die das Jahr 1933 keine Zäsur bedeutet, wird die Perfektionierung des Mordens ermöglichen, in Auschwitz, in Coventry, an der Front.630

Paul Gerhard Klussmann bescheinigt de Bruyn für jeden Abschnitt seines erzählten Lebens, »daß Milieu und Zeithorizont mit Genauigkeit und Zuverlässigkeit geschildert werden«.631 Auch im weiteren Verlauf von de Bruyns Lebensbeschreibung wird dem Leser stets ermöglicht, das »erinnert[e] Ich innerhalb eines geschichtlichen Rahmens verifizierbarer Tatsachen«632 zu verorten; die parallel verlaufenden historischen Ereignisse werden berichtet, selbst wenn sie keinen direkten Einfluss auf das zu beschreibende Leben ausüben. Sogar die Unwissenheit des Kindes selbst wird thematisiert, um kurz darauf als Grundlage für einen geschichtlichen Einschub zu dienen: Durch Verschweigen glaubten meine Eltern bei Hitlers Machtantritt die heile Welt des Sechsjährigen erhalten zu können. Sie verschonten mich also mit den Berichten von Verhaftungen und Morden […]. Trotzdem waren die Veränderungen […] unübersehbar, von der plötzlichen Einheitlichkeit der Fahnen […] bis zur inflationären Verwendung des Wortes Verbot. […] Verboten war auch, darüber zu reden, daß Gewerkschafter, Sozialdemokraten und Kommunisten aus Einfamilienhäusern der Hufeisensiedlung vertrieben wurden, um Leuten von Partei und SS Platz zu machen.633

Ursula Reinhold hält fest: »Die Spannung und Diskrepanz zwischen damaligen Eindrücken und Erlebnissen und späterem Wissen um die Ereignisse wird zum wichtigsten Strukturprinzip der Darstellung«.634 In der Autobiographie spiegele sich die geistige und ästhetische Substanz des reifen Schriftstellers de Bruyn wider und äußere sich in überzeugender erzählerischer Souveränität.635 Marcel Reich-Ranicki hebt anerkennend hervor : »Das Private und das Allgemeine, sie 630 631 632 633 634

De Bruyn 1992, S. 22f. Klussmann, S. 199. Rechtien, S. 155. De Bruyn 1992, S. 53f. Ursula Reinhold: »Authentizität und ästhetische Distanz. Elemente des Erzählens in ›Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin‹«. In: Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur 32 (1995), H. 127: »Günter de Bruyn«, S. 27. 635 Vgl. ebd., S. 28.

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gehen hier unentwegt und doch unmerklich ineinander über«.636 Auch Owen Evans lobt die Verbindung von privater und öffentlicher Sphäre durch den die Historie im Nachhinein überblickenden Erzähler : Through the eyes of the young de Bruyn, the reader witnesses not only the experiences of family life in Berlin from 1926 onwards, but also the impact of historical events on this closeted family world. It is the seamless relationship between these private and public realms which contributes to the considerable success of the book, the resultant tension imbuing the autobiography with a dramatic quality redolent of fiction.637

Stellvertretend für zahlreiche weitere Beispiele dieses erzählerischen Verfahrens sollen die folgenden stehen, die dem Leser bewusst vor Augen führen, dass es sich jeweils um einen Kunstgriff handelt, der nur dem gegenwärtigen, um die Historie wissenden Schreiber möglich ist: Während in Polen die ersten Massenerschießungen und Deportationen begannen, führte ich mein inneres Leben mit Reni und Winnetou weiter und war von der geringen Kriegseinwirkung auf meinen Alltag enttäuscht.638

und Während die deutschen Truppen die Krim räumten, die sowjetische Sommeroffensive die Front immer weiter nach Westen drückte und die Alliierten, die Rom schon erobert hatten, in der Normandie landeten, machte ich Urlaub vom Krieg, von dem ich nichts wissen wollte, und ahnte so wenig wie alle, die mich umgaben, daß dieser masurische Sommer der letzte für viele der dort lebenden Deutschen war.639

Textstellen wie diese offenbaren, dass de Bruyn mit seiner Autobiographie nicht zuletzt gegen das Vergessen vergangener Verbrechen ankämpft und durch eine (selbst-)kritische Auseinandersetzung mit seiner Diktatur- und Kriegserfahrung aus den Fehlern der Geschichte lernen und lehren will640 ; er schildert das »alltägliche, bedrückende und bisweilen doch so erschreckend normale Leben in einer Diktatur«.641 Laut Andreas Isenschmid »übernimmt de Bruyn erzählend die Verantwortung für sich selbst«642, wenn er mit größter Genauigkeit von 636 Marcel Reich-Ranicki: »Deutsche Mittellage«. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18. 04. 1992, Nr. 92, unpaginiert. 637 Owen Evans: »›Schlimmeres als geschah, hätte immer geschehen können‹: Günter de Bruyn and the GDR in Vierzig Jahre«. In: Günter de Bruyn in Perspective, Hg. v. Dennis Tate, Amsterdam, Atlanta 1999, S. 171f. 638 De Bruyn 1992, S. 102. 639 Ebd., S. 185f. 640 Vgl. Michael Braun: »Günter Grass’ Rückkehr zu Herders ›Kulturnation‹ im Kontrast zu Martin Walser und Günter de Bruyn. Essays und Reden zur Einheit«. In: Mentalitätswandel in der deutschen Literatur zur Einheit (1990–2000), Hg. v. Volker Wehdeking, Berlin 2000, S. 108. 641 Isenschmid, S. 74. 642 Ebd.

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seinen Handlungen, seinem Wissen, seiner Unwissenheit oder seiner Ignoranz berichtet: In Renis Gegenwart war ich für die Straße wie blind gewesen; erst auf dem Rückweg bemerkte ich die ärmlich gekleideten Passanten, die gelbe Sterne auf Jacken und Mänteln trugen […]. Erst Jahre danach […] erfuhr ich, daß ab 1942 die Berliner Juden in der Großen Hamburger Straße gesammelt und in den Osten abtransportiert worden waren, in ihren sicheren Tod.643

De Bruyns Drang, seine Erfahrungen in Kriegs- und Nachkriegszeit niederzuschreiben und an kommende Generationen zu vermitteln, bildet sich bereits in seinen von Schicksalsschlägen geprägten Jugendjahren aus, wie er in Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin berichtet: Auch entstand in den Tagen, in denen sich mir [auf Grund einer Kopfverletzung] der schriftliche Ausdruck versagte, zuerst der Gedanke, der Sinnlosigkeit meiner Kriegserfahrungen durch Aufschreiben Sinn zu geben. Wenn ich den Schwerverletzten […] so gut es ging zu helfen versuchte, half mir die Vorstellung, meinen Ekel einmal beschreiben zu können, dabei ihn niederzukämpfen.644

Sachlich, unpathetisch, teilweise nüchtern berichtet der Erzähler von der dunklen Vergangenheit und lässt die Gräueltaten des Krieges sowie das Leid und die Ohnmacht der Opfer damit umso authentischer wirken. Auch die Verbrechen der Roten Armee schildert de Bruyn auf diese verhaltene Weise, obwohl seine Mutter selbst Opfer der Massenvergewaltigungen nach Kriegsende wird. Er wählt die Perspektive seiner erzählenden Mutter der Retrospektive, um diesen Gewaltakt wiederzugeben645 : [E]inmal nur sprach sie von ihrem schlimmsten Erlebnis, und zwar zu mir, an dem Tag, an dem ich nach Hause kam. Es war ein ganz junger Mann, fast ein Kind noch, der gegen Abend allein bei ihr eindrang, sie mit der Maschinenpistole bedrohte und ihr befahl, sich auszuziehen. […] Eine Ewigkeit sagte sie, habe er ihrem Gefühl nach auf ihr gelegen; in Wirklichkeit aber sei es so schnell wie der Wind gegangen; dann sei er aufgesprungen, habe die Waffe von der Kommode und, ohne sich zuzuknöpfen, Reißaus genommen; sicher habe er sich geschämt.646

Im Folgenden reflektiert der Erzähler über das kollektive Trauma, das die Besatzungsmacht in Deutschland auslöst und das zusätzlich fixiert werde, da »man über die schlimmen Erlebnisse bei Kriegsende nicht reden und schreiben durfte«.647 Unmissverständlich prangert er die Tabuisierung dieses Themen643 644 645 646 647

De Bruyn 1992, S. 86f. Ebd., S. 237. Vgl. Pontzen, S. 214f. De Bruyn 1992, S. 300. Ebd.

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komplexes innerhalb der DDR-Diktatur an und erkennt darin einen der Gründe für interne Schwierigkeiten des SED-Staats: Nichts wurde ausgeräumt, sondern nur unter Verschluß gehalten und das Problem schließlich durch das Heranwachsen vorurteilsfreier Generationen gelöst. Die Schizophrenie, an der der künftige Staat jahrzehntelang krankte, hatte auch in diesem Problem eine ihrer vielen Wurzeln.648

Mit Hilfe der beschriebenen Erzählhaltung und der bewusst eingesetzten Kunstgriffe ist es de Bruyn gelungen, in seinem Lebensbericht zusätzlich ein umfassendes Zeitpanorama zu zeichnen, einen Epochenüberblick zu leisten, der Atmosphäre und Geschichte einfängt und das erzählte Ich in historische Ereignisse einordnet. Auch Paul Gerhard Klussmann sieht de Bruyns Erfolg als Chronist darin begründet, dass er sich nicht mit der leitenden Ich-Perspektive begnügt, sondern durch sein historisches Wissen und das Erfahrungswissen auch von Zeitgenossen den Lebenslauf als einen Weg durch die Zeiten jüngster deutscher Geschichte darstellt.649

Paul Konrad Kurz, 1927 geboren und daher einige Generationserfahrungen de Bruyns teilend, bezeichnet Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin als ein »bedeutendes zeitgeschichtliches Dokument«650 ; der Erzähler löst den in Das erzählte Ich. Über Wahrheit und Dichtung in der Autobiographie explizit geäußerten Anspruch, Geschichtsschreibung von unten zu betreiben, auf bemerkenswerte Weise ein, wie auch Christine Cosentino und Werner Keller bekräftigen.651 Renate Rechtien erachtet Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin als wichtigen Beitrag »zu einer notwendigen erneuten Aufarbeitung des wohl schwierigsten Kapitels der deutschen Geschichte«652, während Hans-Albrecht Koch lobend herausstellt, dass de Bruyn »mit großer poetischer Kraft Dingen des Alltags der kleinen Leute die ihnen zukommende Andacht verleiht und dabei Geschichte genau aus deren Perspektive schreibt«.653 Auch de Bruyn selbst sieht seine individuellen Ansprüche in Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin realisiert, bezeichnet sein Zeitpanorama als gelungen.654 Die häufig gelobte künstlich-künstlerische Verknüpfung von Ich und Ge648 Ebd., S. 301. 649 Klussmann, S. 204. 650 Paul Konrad Kurz: »Literarische ›Bewältigung‹ der DDR. Aufzeichnungen, Gespräche, Monolog«. In: ders.: Komm ins Offene. Essays zur zeitgenössischen Literatur, Frankfurt/M. 1993, S. 265. 651 Vgl. Cosentino 2001, S. 4 u. Keller, S. 40. 652 Rechtien, S. 159. 653 Hans-Albrecht Koch: »Parallele Leben«. In: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, 29. 05. 1992, Nr. 43, S. 153. 654 Vgl. »Autobiographisches Schreiben. Gespräch mit Günter de Bruyn«, Günter de Bruyn im Gespräch mit Bianca Weyers, S. 828, 831.

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schichte ist in den letzten Kapiteln des Werkes nicht mehr nötig, da hier bereits das Leben eines jungen Erwachsenen geschildert wird, der bewusst am Zeitgeschehen teilhat. Die Kapitelüberschrift Rückblick auf Künftiges ist insofern programmatisch, als sich Problembereiche und Erzählgestus des Fortsetzungsbandes hier bereits andeuten.655 Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin schließt mit der Sprengung der Ruine des Stadtschlosses in Ost-Berlin als Endpunkt einer Ära, während Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht, bereits im Titel auf die DDR anspielend, mit einer Betrachtung dieses Staats einsetzt und so die Darstellung eines neuen Zeitalters einleitet. Zufällig koinzidiert dieser historische Einschnitt mit dem Beginn einer neuen Lebensphase de Bruyns, mit seiner Ausbildung zum Bibliothekar. Wenngleich ein Zufall de Bruyn nahe legt, seinen Lebensbericht gemäß dieser Zäsur in zwei Bände zu gliedern, kann diese Einteilung doch auch als symbolisch aufgefasst werden: De Bruyn ordnet seinen eigenen Werdegang in die Zeitgeschichte ein. Für die Niederschrift von Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht sieht de Bruyn, wie in Kapitel 4.1.2. dargelegt, voraus, dass die Einordnung seiner individuellen Lebenswirklichkeit in die Geschichte leicht gelingen müsste, da er in dem zu beschreibenden Zeitraum, also seinen vierzig Lebensjahren in der DDR, stets bewusst am gesellschaftlichen und politischen Zeitgeschehen teilnimmt. Die Verbindung von Ich und Geschichte ist somit bereits durch ihn als handelnde Person vorgegeben und muss nicht ausschließlich durch den ordnenden Erzähler geleistet werden. Dagegen fürchtet der Autobiograph, dass ihn der Mangel an Distanz daran hindern könnte, möglichst genau und gewissenhaft Auskunft über sein Leben in der sozialistischen Diktatur zu geben – zumal er darüber hinaus die Gefahr sieht, sich in aktuelle Diskussionen der Wendezeit verwickeln zu lassen. Denn, so betont auch Dennis Tate: »Those who survived the collapse of the GDR […] had to respond to the further challenge of a complete political reorientation«656 – während der Niederschrift von Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht ist dieser Prozess sicherlich noch nicht abgeschlossen. Gerade in Bezug auf die DDR-Vergangenheit erachtet de Bruyn die Geschichtsvermittlung für essentiell; er fühlt sich verpflichtet, eine ehrliche und (selbst-)kritische Aufarbeitung dieser Jahre zu leisten, da er bereits kurz nach der Wende eine allgemeine Idealisierung des Sozialismus befürchtet. In zahlreichen Interviews und Essays versucht er, einem zu schnellen Vergessen der politischen Missstände nach dem Ende der DDR entgegenzuarbeiten: »Notwendig ist es, öffentlich darzulegen, worin das Unrecht des Unrechtsstaats bestand, wie es funktionierte, wer, wo und wie Schuld daran trug«.657 Auch die Kulturpolitik in diesem Un655 Vgl. Evans 1996, S. 278. 656 Tate 2007, S. 9. 657 »Gespräch mit Günter de Bruyn. Die mystische DDR-Identität ist viel gefährlicher als die

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rechtsstaat betreffend, lehnt de Bruyn von jeher Verharmlosungen und Vernebelungen der Anteile der Schriftsteller an der sozialistischen Diktatur ab und unterbreitet sich selbst und seinen Kollegen öffentlich Vorwürfe.658 Diese Voraussetzungen und Ansprüche prägen Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht merklich. Der erzählerische Blickwinkel ändert sich insofern, als der Altersabstand zwischen beschriebener Person und gegenwärtigem Schreiber, also erzähltem und erzählendem Ich immer geringer wird, sich ihre Wissens- und Erfahrungshorizonte einander annähern. Die bewusste und offensichtliche Verortung von individuellem Alltagsleben in die Historie, die Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin auszeichnet, findet in dem Fortsetzungsband nur wenige Entsprechungen. Günter de Bruyn, als Bibliothekar, freier Schriftsteller und Privatperson, ist letztlich unter anderem auch ein Objekt der herrschenden Diktatur : »Wie privat auch immer die Liebes- und Freundschaftsverhältnisse waren, irgendwann kamen sie doch mit politischer Macht in Konflikt«.659 Bis in seine abgeschiedene Mühle, seinen Wohnsitz in der Mark Brandenburg, reichen Literaturgesellschaft und Machtapparat, verfolgen ihn kulturpolitische Funktionäre sowie Mitarbeiter des MfS. Der angestrebte Epochenüberblick, das Zeitpanorama, entsteht somit durch die Einblicke in de Bruyns Leben und Wirken, die über ihr Subjekt hinausweisen und gleichzeitig Rückblicke auf die DDR sind (und als solche weder den Autor noch den verhassten Staat schonen). Die geschichtliche Verortung wird zwar geleistet, bedarf aber keiner besonderen erzählerischen Mittel und ist daher weniger offensichtlich. Dennoch urteilt Owen Evans: »The juggling of private and public concerns he describes, provides a convincing depiction of the inherent tensions of GDR life in general«.660 Christine Cosentino irrt, wenn sie von politischem Desinteresse und einer Desillusionierung de Bruyns in Bezug auf die DDR spricht und daher die Geschichtsschreibung von unten beeinträchtigt sieht.661 De Bruyn ist weder als Bürger der DDR noch in seiner Funktion als Autor politisch desinteressiert. Es ist ihm auf Grund seiner Diktaturerfahrung im Dritten Reich und seiner religiösen Verwurzelung unmöglich, sich den verordneten politischen Überzeugungen und Denkweisen anzunähern und sich auf diesem Wege in die stark politisierte sozialistische Gesellschaft einzufügen. De Bruyn hat sich bereits in Kindheit und Jugend eine gedankliche Unabhängigkeit erarbeitet, die ihn in Konflikt mit der herrschenden Ideologie bringt. Er kann und will den totalitären Staat nicht anerkennen; als Schriftsteller versucht er im Rahmen der ihm zur

658 659 660 661

Stasi-Verbrechen«, Günter de Bruyn im Gespräch mit Peter Glotz. In: Die Neue Gesellschaft. Frankfurter Hefte 39 (1992), S. 170. Vgl. Braun 1997, S. 392. Günter de Bruyn: Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht, Frankfurt/M. 1996, S. 23. Evans 1999, S. 175. Vgl. Cosentino 2001, S. 6.

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Verfügung stehenden Mittel, mit mal mehr, mal weniger subtil geäußerter Kritik in seinen zahlreichen Schriften und Lesungen, die Verhältnisse in der DDR zu verbessern, ohne dafür seinen Beruf oder gar seine Existenz zu riskieren. Zwar mag es einzelne Phasen im Leben des Schriftstellers geben, in denen er sich desillusioniert von dem repressiven Staat, dem politischen Geschehen und der deutlichen Machtdemonstration des Regimes zurückzieht, statt offen Widerstand gegen die Verhältnisse zu leisten, doch setzt sich de Bruyn mit eben diesen Phasen in Abseits. Liebeserklärung an eine Landschaft und vor allem in Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht intensiv auseinander. Sein eigenes Verhalten zwischen Anpassung und Widerstand und seine zeitweilig auffällige Nähe zum Opportunismus werden in seiner Autobiographie wiederholt verhandelt und aus der Rückschau frei von jeder Rechtfertigungsgeste einer differenzierten, selbstkritischen Untersuchung unterzogen: Für mich aber war und ist dieses Papier ein Grund zur Beschämung, doch zog ich damals daraus nicht die Lehre, daß Mitmachen Mitverschulden bedeutet, sondern hielt an der Meinung, daß man, um Schlimmeres zu verhüten, schlimme Posten wenn möglich besetzen sollte, noch lange Zeit fest. Man mußte nur, dachte ich mir, die Methoden verfeinern. […] Die Vermutung, daß diese edlen Motive, so echt sie auch waren, teilweise doch der Kaschierung von Ehrgeiz dienten, schließe ich heute nicht aus.662

Die Schuld des Schweigens oder Sich-Zurückziehens relativiert sich in Anbetracht der damaligen Situation der Bibliothekare und vor allem der Schriftsteller : Es war stets entscheidend, ein Maßsystem zu finden, sich kritisch zu äußern und damit eventuell wirksam werden zu können, ohne dabei zu weit zu gehen und infolgedessen als Autor verboten oder verhaftet zu werden.663 De Bruyn thematisiert seine nachträgliche Einsicht, dass sein Spielraum allerdings größer war, als er dachte, dass er aus seinem Harmoniebedürfnis heraus zu nachgiebig und kompromissbereit war und dass sogar Selbstzensur bei ihm wirksam wurde.664 Auch seine Kontakte zum MfS, die im Jahr 1974 unter ›Legendenbildung‹ zu Stande kommen und bis 1978 andauern, bringt er zur Sprache: [D]ie erwähnten Fakten [über eine geplante Anthologie] habe ich in dem Bestreben, meine wahren Ansichten zu kaschieren und bei keiner Unwahrheit ertappt zu werden, tatsächlich wohl preisgegeben. Zwar kann ich mich an Details meiner Aussagen nicht mehr erinnern, aber alles, was da als von mir kommend erwähnt wird, habe ich damals 662 De Bruyn 1996, S. 35f. 663 Vgl. »Stimme einer Stimmung«, Günter de Bruyn im Gespräch mit Regina General. In: Günter de Bruyn. Materialien zu Leben und Werk, Hg. v. Uwe Wittstock, Frankfurt/M. 1990, S. 97. 664 Vgl. »Günter de Bruyn im Gespräch mit Katharina Festner und York-Gothart Mix«, S. 510f.

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gewußt. Geheimnisse hatte ich nicht verraten, aber dem Wissen der Stasi Bestätigung gegeben und mich dabei in beschämender Weise als willfährig erwiesen. Ich war mir untreu geworden aus Angst.665

De Bruyn ist also der Ansicht, den Anwerbungsversuchen des MfS nicht ausreichend widerstanden zu haben; die äußerst selbstkritische Aufarbeitung dieser Verwicklung legt seine moralischen Werte offen: »Wenn einer unter den Schriftstellern der ehemaligen DDR diese Zeit unangetastet und integer überstanden hat, dann eben Günter de Bruyn«666, schreibt Heinz Ludwig Arnold in Heft 127 der Zeitschrift Text + Kritik aus dem Jahr 1995, das sich zahlreichen Einzelwerken Günter de Bruyns unter verschiedenen Gesichtspunkten widmet. Letztlich untersucht der Autobiograph sein Leben auf Abweichungen und Übereinstimmungen mit politisch und gesellschaftlich verordneten Modellen der DDR-Ära. In seiner Darstellung fehlt, wie Peter Walther bemerkt, keines der Ereignisse, die die DDR im Laufe ihrer Existenz erschüttern667 – mit Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht legt de Bruyn, wie bereits mit Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin, ein zeithistorisches Dokument vor. Sigrid Bauschinger bescheinigt ihm, in diesem Band eine ganze Epoche wiederzubeleben668, während Katarzyna Jastal die Darstellung dieser Zeitspanne als »repräsentativ für die lebensgeschichtliche Erfahrung einer Generation«669 ansieht. Laut Helmut Nitzschke erweist sich der Autobiograph als »ein unbestechlich beobachtender, präzis registrierender, genau erzählender Chronist«.670 Dies wird besonders am Ende des Werkes deutlich, wenn de Bruyn das Geschehen am Grenzübergang nach dem Mauerfall beschreibt: Noch waren die Grenzbaracken mit ihren Barrieren, Sichtblenden, engen Zellen und schmalen Gängen vorhanden. Noch mußte man einzeln an den Schaltern vorbeidefilieren und die Ausweise stempeln lassen. […] Es waren vorwiegend junge Leute, die bei der Schließung der Grenzen noch gar nicht geboren waren und nun in fremdes Terrain vorstießen […]. Die großen Erwartungen, die in ihren Gesichtern zu lesen waren, versuchten sie mit schnoddrigen Floskeln hinwegzureden. Den Grenzwächtern, denen sie gestern noch demütig begegnet wären, bewiesen sie nun, wie frech freie Bürger sein können. Weil sie schon ahnten, daß sie am westlichen Ufer die ahnungslosen Provinzler sein würden, traten sie besonders laut und großspurig auf.671 665 De Bruyn 1996, S. 198. 666 Heinz Ludwig Arnold: »Nicht nur eine Zwischenbilanz. Günter de Bruyns ›Jugend in Berlin‹«. In: Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur 32 (1995), H. 127: »Günter de Bruyn«, S. 3f. 667 Vgl. Peter Walther : »Lautlose Existenz«. In: die tageszeitung, 12. 08. 1996, Nr. 4998, S. 13. 668 Vgl. Sigrid Bauschinger : »Autobiography«. In: World literature today 71 (1997), H. 2, S. 382. 669 Jastal, S. 108. 670 Helmut Nitzschke: »Die lange Weile der alten Herrlichkeit«. In: Palmbaum. Literarisches Journal aus Thüringen 4 (1996), H. 4, S. 93. 671 De Bruyn 1996, S. 258.

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Ian Wallace bezeichnet den zweiten Teil der Autobiographie im Jahr 2002 zu Recht als einen »unersetzlichen Beitrag zur gegenwärtigen Auseinandersetzung mit der DDR-Geschichte«.672 De Bruyn selbst ist mit der Darstellung der Zeitverhältnisse in Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht im Nachhinein allerdings nicht zufrieden: »Es sind nicht alle Facetten berücksichtigt, es ist kein richtiges Bild von der DDR, es ist zu sehr im Ich befangen. Ich hatte auch beim Schreiben immer schon den Eindruck, daß ich noch zehn Jahre hätte warten sollen«.673 Er habe sich bei der Abfassung stets zwingen müssen, nicht auf tagespolitische Polemiken einzugehen, Anschuldigungen zu vermeiden und sich oder andere nicht zu verteidigen.674 Dies zeigt sich unter anderem in Textpassagen wie der folgenden, in der de Bruyn die für ihn gänzlich unverständliche und auch gefährliche Idealisierung des Sozialismus nach dem Ende der DDR durchaus gemäßigt und bemüht sachlich beschreibt: Anzeichen dafür gab es schon vor der Öffnung der Mauer, bei einer Protestveranstaltung […] in der Erlöserkirche zum Beispiel, wo manche von mir geschätzte Kollegen von einem verbesserten Sozialismus schwärmten und emphatisch von ›unserm Land‹ sprachen, als hätten sie erst beim Verenden des Staatsgebildes ihre Liebe zu ihm entdeckt. […] Mich jedenfalls berührte diese späte Identifizierung schmerzlich. Sie schuf schwer überbrückbare Gegensätze und beschädigte durch den Verdacht, daß andere sich in der Diktatur doch so unwohl vielleicht nicht gefühlt hatten, auch vergangene Gemeinsamkeiten. […] Im Ertragen pluralistischer Meinungsvielfalt waren wir alle, die wir nur ein Für oder Gegen gekannt hatten, wenig geübt.675

In jedem Fall zeichnet sich die Gestaltung des Verhältnisses von Ich und Geschichte in Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht ebenfalls durch Detailreichtum, Aufrichtigkeit und erzählerische Souveränität aus. Frank Schirrmacher mutmaßt im Jahr 1991: Wenn irgendjemand zuzutrauen wäre, ernsthaft und unnachsichtig über Ost und West, über die untergegangene DDR, über Verbrechen und falschen [sic!] Hoffnungen zu schreiben, dann ist es Günter de Bruyn.676

De Bruyn ist diesem Anspruch gerecht geworden. Seine Bescheidenheit in Das erzählte Ich. Über Wahrheit und Dichtung in der Autobiographie, mit der er die 672 Ian Wallace: »›Die gehaßte, aber vertraute Vergangenheit‹: Das Bild der DDR bei Brussig und de Bruyn«. In: Zehn Jahre nachher. Poetische Identität und Geschichte in der deutschen Literatur nach der Vereinigung, Hg. v. Fabrizio Cambi u. Alessandro Fambrini, Trento 2002, S. 233. 673 »Autobiographisches Schreiben. Gespräch mit Günter de Bruyn«, Günter de Bruyn im Gespräch mit Bianca Weyers, S. 828. 674 Vgl. ebd., S. 831. 675 De Bruyn 1996, S. 257f. 676 Frank Schirrmacher : »Geburten der Erinnerung. Kurzer Blick auf die Belletristik in diesem Herbst«. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05. 10. 1991, Nr. 231, S. 27.

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Erwartungen an Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht zu dämpfen versucht, erweist sich als unnötig: Ungeachtet der zum Teil berechtigt vorgebrachten Kritik (die im folgenden Kapitel zur Sprache kommen wird), müssen Genauigkeit und Ehrlichkeit, Mut und Schonungslosigkeit, mit denen der Autobiograph sich fast selbstquälerisch über seine Anteile an gesellschaftlicher Schuld befragt, anerkannt werden.

4.2.2. Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin und Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht als literarische Artefakte Günter de Bruyn strebt in seiner Autobiographie nicht nur die Verwirklichung seiner inhaltlichen und persönlichen Schreibmotivationen an, sondern nimmt auch die formale Herausforderung wahr, ein Erzählwerk unter Verzicht auf Fiktion künstlerisch zu formen. Wie bereits in den vorangegangenen Kapiteln deutlich wurde, sieht de Bruyn ungeachtet dieser Einschränkung mehr Möglichkeiten als die einer sachlichen, um Objektivität und Vollständigkeit bemühten Aufzählung der bloßen Fakten seines Lebens. Er erachtet den Aspekt der Dichtung als wesentlichen Bestandteil jeder Autobiographie und bekennt sich bewusst zu der Erzählung seines Lebens. So kann er eine persönliche Auswahl aus den Lebenstatsachen rechtfertigen, Schwerpunkte setzen, einzelne Ereignisse in gewünschte Zusammenhänge stellen und ihnen somit nachträglich eine zusätzliche Bedeutung verleihen; letztlich präsentiert er sein Leben in einer Überschaubarkeit, in einer sinnvollen Struktur und Interpretation, die ausschließlich auf den sich erinnernden Schreiber zurückgehen. Ohne frei zu erfinden, ohne Tatsachen zu verfälschen, ohne Ereignisse zu überhöhen oder sich selbst zu stilisieren, verdichtet de Bruyn seine Erinnerungen für den Leser stets nachvollziehbar zu einem einheitlichen Erzählwerk und demonstriert damit auf künstlerisch anspruchsvolle Weise, was Dichtung im autobiographischen Schreiben für ihn bedeutet. Ein anschauliches Beispiel seines erzählerischen Verfahrens bietet das neunte Kapitel von Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin, das den Titel Kinofreuden trägt und im Rahmen dieser Arbeit bereits zur Untersuchung des Dichtungsbegriffs herangezogen wurde. Auch in Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht finden sich Passagen, die die künstliche Formung des Dargestellten offen legen. Beispielsweise nimmt der Autobiograph den Machtantritt Erich Honeckers zum Anlass, um mehrere Jahre ironisch als eine geschichtlich vielversprechende, einförmige Zeitspanne zusammenzufassen und dieser eine Reihe persönlicher Schicksalsschläge gegenüberzustellen: In diesen Jahren, über die ich in historischen und literaturgeschichtlichen Arbeiten lese, man habe mit ihnen die Hoffnung auf den neuen Machthaber Honecker ver-

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bunden, bewegte sich mein Leben von einem Tiefpunkt zum nächsten, und auch dazwischen sah es nur trübe aus. Die fürs Leben gedachte Liebesbeziehung drohte an Mißverständnissen zu zerbrechen; ein Roman war mißlungen […]. Unwesentlich aber wurde das alles durch die Sorge um meine Mutter, deren geistiger Abbau […] einsetzte.677

Auch die durch den deutenden Erzähler künstlich vorgenommene Verknüpfung von Ereignissen, die nicht per se in Zusammenhang stehen, lässt sich in dem Fortsetzungsband finden. So setzt de Bruyn die Feier anlässlich der Auszeichnung seines Romans Der Hohlweg mit dem Heinrich-Mann-Preis in Bezug zu einem Ereignis, das mehrere Jahre später stattfand und das vordergründig lediglich den Ort des Geschehens teilt: Als ich einige Jahre später das neobarocke Akademiegebäude am Robert-Koch-Platz wieder aufsuchen mußte, weil die Redakteure von SINN UND FORM die Ablehnung einer Erzählung, der der geforderte Optimismus fehlte, nicht schriftlich fixieren wollten, fühlte ich mich wesentlich wohler als an dem Tag meiner Ehrung. Dem freundlich-stotternden Armin Zeisler, der mir die Ausweglosigkeit meiner Geschichte vorhalten und ihre Ablehnung mitteilen mußte, konnte ich tröstende Worte sagen. Sicher war er über meine gute Laune erstaunt.678

Günter de Bruyn wählt für Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin und Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht durchgehend die für Autobiographien gängige Form der ›Ich-Erzählung‹, wie sie von Philippe Lejeune und Günter Waldmann eingehend analysiert und auch im Rahmen dieser Arbeit beschrieben wurde.679 Weder eine künstlich intensivierende noch objektivierende Erzählhaltung, wie es die zweite beziehungsweise dritte Person Singular bewirken könnte, scheint für de Bruyns Absichten angemessen zu sein. Bereits in der Eingangspassage von Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin offenbaren nicht zuletzt die Erzählhaltung in der ersten Person Singular sowie die Reflexion über die Problematik autobiographischer Darstellung die angestrebte Authentizität und die zu erwartende Glaubwürdigkeit des Lebensberichts: Mit achtzig gedenke ich, Bilanz über mein Leben zu ziehen; die Zwischenbilanz, die ich mit sechzig beginne, soll eine Vorübung sein: ein Training im Ich-Sagen, im Auskunftgeben ohne Verhüllung durch Fiktion. […] Bevor ich zu mir komme, ist die Frühgeschichte meiner Familie dran. Sie ist mir vor allem durch meine Mutter bekannt. Ihren Erzählungen fehlten zwar Chronologie und Zusammenhang, doch da ihre Erinnerungsbilder detailreich und farbig waren und wir sie wieder und wieder erzählt bekamen, stellte sich doch eine Familiengeschichte in Umrissen her.680 677 678 679 680

De Bruyn 1996, S. 186f. Ebd., S. 121. Vgl. oben, S. 39ff., 72. De Bruyn 1992, S. 7.

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Der Ich-Erzähler bleibt stets unaufdringlich, dennoch weisen seine Ausführungen eine besondere Intensität auf: Im ersten Band der Autobiographie zieht sich das erzählende Ich zugunsten eindringlicher Stimmungsbilder häufig aus der Schilderung zurück und konfrontiert den Leser unmittelbar mit der Brutalität des Berichteten681, wie in dem folgenden Beispiel: Kaum graute der Morgen, begann schon das Töten. Der Hohlweg lag so, daß sein südlicher Teil, der nach der Stadt zu abfiel, eingesehen werden konnte. Erst waren nur Scharfschützen tätig, dann begannen auch Maschinengewehre zu feuern. Noch ehe die Sonne aufging, waren die meisten Männer, die sich in dem gefährdeten Abschnitt befanden, schon tot oder verwundet.682

Auf Dialoge verzichtet der Erzähler durchgängig; selten finden sich Abweichungen in der Anwendung der Erzählpronomina, wie zum Beispiel am Ende des Werkes, wo die dritte Person Singular eine verallgemeinernde und damit relativierende Wirkung hat: [D]ie eifernde Schulleiterin hatte unter Hitler im Gefängnis gesessen, der […] gebildetste der Dozenten war ein Emigrant gewesen – man selbst aber hatte Hitler gedient. Man war also auch in moralischer Hinsicht der Schwächere und wurde es noch mehr durch die ständige Vorsicht, die doch eine Form von Unehrlichkeit war.683

In Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht ist das Kapitel Walden ebenfalls vorrangig in der dritten Person Singular abgefasst und erlangt auf diese Weise eine subtile Ironie. Die vorherrschenden Tempora der chronologischen Darstellung sind Präteritum, Perfekt und Plusquamperfekt. Gelegentlich setzt der Erzähler jedoch einen Tempuswechsel ein, um der Darstellung durch den Gebrauch des historischen Präsens zusätzliche Plastizität zu verleihen: Das nächste Gedächtnisbild dieses Tages ist rot von Blut. Mit anderen waffenlosen Soldaten zusammen werde ich auf eine Straßenkreuzung nördlich des Dorfes getrieben, wo ein Sammelpunkt für Versprengte und Verwundete ist. Im brennenden Dorf wird noch geschossen.684

Auf Strukturmerkmale, die in Bezug auf die Gattung der Autobiographie als innovativ gelten, wie zum Beispiel Perspektivenaufsplitterung, dissoziierte Chronologie, Fragmentarität, Fiktionalität oder Präponderanz des Ästhetischen685 verzichtet de Bruyn sehr bewusst und durchgehend – »[h]e is alert to the

681 682 683 684 685

Vgl. Rechtien, S. 159. De Bruyn 1992, S. 232. Ebd., S. 374. Ebd., S. 227f. Vgl. Holdenried 2009, S. 42.

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temptations of over-composition, while offering his readers a satisfyingly composed text«.686 Der Autobiograph verfügt souverän und präzise über seinen heterogenen Erinnerungsstoff; literarische Mittel wie Ironie oder anekdotenartige Einschübe und verschiedene, bereits vorgestellte stilistische Eigenheiten kommen angemessen zum Einsatz. Die autobiographischen Bände zeichnen sich überdies durch bedachte Komposition und sprachliche Ausdruckskraft aus und offenbaren de Bruyns erzählerisches Talent. Er setzt es gezielt ein, um unter konsequentem Verzicht auf Fiktion ein Werk von hoher ästhetischer Qualität zu gestalten, das in Bezug auf Struktur, Dichte, Spannungsverlauf, Humor und Unterhaltungswert fiktionaler Prosa ebenbürtig ist. Dem Autobiographen wird die Formung seiner Erinnerungen zu einer Erzählung vor allem daran deutlich, »daß sie selbständig werden, sich von ihm ablösen, als handele es sich nicht um Erinnerung, sondern um Werk«.687 Heinz Czechowski, der de Bruyns Zeitgenossenschaft in Bezug auf Kriegsund Nachkriegszeit teilt688 und der dessen Darstellung der Zeitverhältnisse anerkennt, urteilt: »Nie entsteht während der Lektüre der Eindruck, der Autor habe zugunsten der Faktizität seine Fabulierkunst und -lust als zweitrangig behandelt«.689 Owen Evans, der Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin vorwiegend im Vergleich zu de Bruyns fiktionaler Prosa untersucht und als Apotheose seiner literarischen Karriere bewertet690, hebt besonders die Komposition des Erinnerungsstoffes hervor : »It is the conciseness and creative compilation of de Bruyn’s memories into chapters which lends Zwischenbilanz a literary quality above and beyond its classification as autobiography«.691 Auch Marcel ReichRanicki lobt die Einteilung in geschlossene Szenen und kleine Episoden: »Letztlich ist diese Autobiographie eine glänzend komponierte Folge von Miniaturen«.692 Auf Grund der hohen Auflagezahl und dem mehrheitlichen Lob der Kritik bezeichnet Christine Cosentino Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin als »literarisches Ereignis«.693 In Anbetracht der Tatsache, dass de Bruyn allerdings insofern unzeitgemäß schreibt, als er aktuelle Entwicklungen der autobiographischen Produktion und Rezeption schlicht ignoriert und unbeirrt ausschließlich eigenen moralischen und ästhetischen Grundsätzen folgt, muss die außergewöhnlich positive Beurteilung des Werkes überraschen. Diese bewusste 686 687 688 689 690 691 692 693

Tate 2007, S. 180. De Bruyn 1995, S. 74. Heinz Czechowski wurde 1935 in Dresden geboren. Heinz Czechowski: »Ein Ich erzählt’s dem anderen«. In: Die Welt, 09. 04. 1992, Nr. 85, S. II. Vgl. Evans 1996, S. 17. Ebd., S. 279. Reich-Ranicki, unpaginiert. Cosentino 2001, S. 3.

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Einschränkung de Bruyns wird kaum thematisiert; einige Rezensenten verweisen lediglich auf eine auffällige erzählerische Bescheidenheit und einen unspektakulären Gesamteindruck der Autobiographie: Heinz Ludwig Arnold beispielsweise nennt Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin ein ruhig erzähltes Buch, das zwar »keineswegs ohne Emotionen geschrieben«694, aber ein »auf unspektakuläre Weise faszinierende[r] Lebensbericht«695 sei. Neben sprachlicher Eleganz, topographischer Genauigkeit und einem gewissenhaften, unprätentiösen und unpathetischen Erzählton werden der Autobiographie teilweise auch Nüchternheit, Zurückhaltung, Gleichmut und eine abgeklärte, unterkühlte, lakonische Schreibweise zugesprochen.696 Ludwig Harig und Andreas Isenschmid loben dagegen de Bruyns bewussten Verzicht auf erzählerische Brillanz, der dem Buch seine Größe verleihe.697 In der Tat ist nicht von der Hand zu weisen, dass es de Bruyn gelingt, unter Verzicht auf Fiktion, auf suggestive Formulierungen und innovative stilistische Effekte ein dennoch interessantes und informatives Werk voll subtiler Ironie vorzulegen. Die Erzählstrategien erscheinen jedoch nur auf den ersten Blick schlicht, sie verleihen dem Bericht Detailreichtum, Vielschichtigkeit, Dezenz und Unterhaltsamkeit; Reich-Ranicki nennt de Bruyns Autobiographie ein »herbes und humanes, ein zwar nicht aufregendes, doch in hohem Maße anregendes, ein nützliches, ein notwendiges Buch«.698 Auch für Wolfgang Emmerich ragt Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin aus der Prosaliteratur der frühen 1990er Jahre deutlich heraus.699 Wie bereits anklang, wird nach dem großen Erfolg von Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin der Fortsetzungsband von Seiten der Kritik mit gesteigerten Ansprüchen erwartet und nach Erscheinen mit Blick auf den Vorgänger beurteilt. In Das erzählte Ich. Über Wahrheit und Dichtung in der Autobiographie wird deutlich, dass de Bruyn diese hohen Erwartungen bei der Arbeit an Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht spürt, sie sogar mehrfach niedrig zu halten versucht.700 »Vierzig Jahre was one of the most eagerly awaited books of the 1990s«701, bemerkt Dennis Tate, und insofern ist es nicht erstaunlich, dass diesem Werk gegenüber Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin eine auffällig heterogenere Beurteilung zukommt. Wie de Bruyn selbst es vorausgesehen (und in Kauf genommen) hat, bemängeln einige Rezensenten zunächst die Aussparung der 694 Heinz Ludwig Arnold: »Zwischenbilanz. Über Günter de Bruyns ›Jugend in Berlin‹«. In: Schweizer Monatshefte (für Politik, Wirtschaft, Kultur) 72 (1992), S. 420. 695 Ebd., S. 422. 696 Vgl. z. B. Reinhold, S. 28f. 697 Vgl. Ludwig Harig: »Ein Erzähler übt, die Wahrheit zu sagen«. In: Süddeutsche Zeitung, 07./ 08. 03. 1992, Nr. 56, S. IV u. Isenschmid, S. 74. 698 Reich-Ranicki, unpaginiert. 699 Vgl. Emmerich 2000, S. 482. 700 Vgl. oben, S. 139f. 701 Tate 1999, S. 3.

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privaten Bereiche Ehe und Familie702, so zum Beispiel Gert Kreusel, der sie als »schwer begreifbar[e] Lücken«703 bezeichnet: Haben Mühsal und Glück eigener Profession (des Schreibens also), Liebe, Familie (etwa das abrupte Verstummen von Frau und Sohn, die bis zur Wende auch schriftstellerische Erfolge aufzuweisen hatten) keine Bezüge zu einer vorrangig politischen Biografie?704

Dennoch nennt er Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht die »bisher überzeugendste, zugleich anrührendste Darstellung gelebten DDR-Lebens aus prononciert politischer Sicht«.705 Walter Hinck, Literaturwissenschaftler mit Schwerpunkt ›Autobiographie‹, thematisiert ebenfalls die benannte Aussparung und beurteilt sie als altmodisch, lobt de Bruyn aber dennoch für den selten gewordenen Mut, »der unentwegten Medienneugier unserer Zeit zu trotzen«.706 Katarzyna Jastal schreibt dem Fortsetzungsband den Charakter von Memoiren zu, da der Schwerpunkt der Betrachtung nicht mehr auf der Entwicklung des Individuums liege, sondern auf dessen offiziellen Auftritten und Begegnungen mit öffentlichen Persönlichkeiten.707 Sie beobachtet richtig, dass das politische, gesellschaftliche und kulturelle Umfeld eingehendere Beachtung findet als in Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin. Diese Schwerpunktsetzung folgt allerdings zwangsläufig aus dem Umstand, dass sich de Bruyn als Bibliothekar und freier Schriftsteller stets in ideologisierten Bereichen bewegt und sich als politisch interessierter und kritisch denkender Bürger häufig in Kontakt und auch in Konflikt mit dem Staatsapparat befindet. Jastal versäumt, in ihrer Beurteilung zu berücksichtigen, dass de Bruyn sich nicht damit begnügt, Denkwürdigkeiten und bedeutende Ereignisse schlicht zu skizzieren oder Problemsituationen zugunsten eines höheren Unterhaltungswerts ins Eindeutige zu verkürzen, sondern sie stets hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf sein gesellschaftliches und persönliches Leben, auf ihn als Individuum hin beleuchtet. Unter Anerkennung dieser Verbindung sieht Volker Wehdeking in de Bruyns Werk sowohl eine »aufrichtig[e] Aufarbeitung der DDR-Jahre«708 als auch einen »sehr dicht und 702 Vgl. »Autobiographisches Schreiben. Gespräch mit Günter de Bruyn«, Günter de Bruyn im Gespräch mit Bianca Weyers, S. 831. 703 Gert Kreusel: »Lesespaß mit Widerhaken. De Bruyn als Kompagnon und Fremder«. In: Buch und Bibliothek. Fachzeitschrift des Vereins der Bibliothekare an Öffentlichen Bibliotheken e. V. 48 (1996), H. 12, S. 962. 704 Ebd. 705 Ebd., S. 963. 706 Walter Hinck: »Zaudern im Hinterhaus«. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23. 11. 1996, Nr. 274, unpaginiert. 707 Vgl. Jastal, S. 112. 708 Volker Wehdeking: »Mentalitätswandel im deutschen Roman zur Einheit (1990–2000)«. In: Mentalitätswandel in der deutschen Literatur zur Einheit (1990–2000), Hg. v. Volker Wehdeking, Berlin 2000, S. 36.

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intensiv geschriebenen Lebensbericht«709, der unter anderem durch die ehrlichen Einblicke in die persönliche Entscheidung zur ›Inneren Emigration‹ besteche. Christine Cosentino dagegen empfindet de Bruyns Gesamtprojektion bedeutender politischer Zäsuren der DDR-Geschichte nur eingeschränkt als überzeugend, da sie zeitweilig von persönlichen Motivationen überschattet erscheine.710 Rolf Michaelis beanstandet ebenfalls, dass die Darstellung persönlicher Leidensphasen die Lebensumstände in dem sozialistischen Staat in den Hintergrund rücken lasse und das Werk so zu einem vagen Erinnerungsbuch degradiere.711 Offensichtlich verkennen Cosentino und Michaelis die auch in Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht bewusst subjektiv gehaltene und dennoch authentische Vermittlung historischer Ereignisse, die darüber hinaus hohen moralischen und literarischen Ansprüchen genügt. Allerdings sind ihre Einwände insofern von Belang, als de Bruyns Zeitpanorama nicht als allgemeingültiges Bild der DDR angesehen werden darf, sondern stets mit Blick auf de Bruyns individuelle berufliche und soziale Situation relativiert werden muss. Letztlich dürfen die hervorgebrachten und in Teilen durchaus berechtigten Kritikpunkte nicht darüber hinwegtäuschen, dass de Bruyn mit Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht eine adäquate Fortsetzung des Vorgängers vorlegt. Er leistet eine tief gehende Auseinandersetzung mit seinem Leben in der DDR und bietet seinen Lesern eine anschauliche Darstellung dieses Staats. Seinen in Das erzählte Ich. Über Wahrheit und Dichtung in der Autobiographie geäußerten Ansprüchen und Grundsätzen wird er somit weitgehend gerecht – »[i]n the evergrowing body of postunification literature, de Bruyn’s Vierzig Jahre will stand out as one of its most enlightening and humane works«.712 Trotz des in Das erzählte Ich. Über Wahrheit und Dichtung in der Autobiographie geäußerten, laut de Bruyn in Autobiographien stets gegenwärtigen Zweifels, ob die Wirklichkeit in Sprache beziehungsweise in Schrift adäquat Ausdruck finden kann, gelingt es dem Schriftsteller, in seinen autobiographischen Werken ein schlüssiges Bild seiner Persönlichkeit und seines Lebens in der jeweiligen historischen Epoche zu zeichnen: »In Vierzig Jahre, de Bruyn reaffirms the promise and possibility of autobiography both as an avenue of self-discovery and a window to history«.713 Laut Ingrid Aichinger geht die Authentizität aus eben solch einem geschlossenen Gefüge, aus der sinnvollen Gestaltung der Persönlichkeit in ihrer Epoche selbst 709 710 711 712 713

Ebd. Vgl. Cosentino 2001, S. 5. Vgl. Rolf Michaelis: »Einer mit Wenn und Aber«. In: Die Zeit, 01. 11. 1996, Nr. 45, S. 60. Bauschinger, S. 382. James R. Reece: »Remembering the GDR: Memory and Evasion in Autobiographical Writing from the Former GDR«. In: Textual Responses to German Unification. Processing Historical and Social Change in Literature and Film, Hg. v. Carol Anne Costabile-Heming, Rachel J. Halverson u. Kristie A. Foell, Berlin 2001, S. 75.

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hervor.714 Diese erreicht de Bruyn mit Hilfe einer traditionellen formalen Gestaltung des Lebensberichts: Ein reifes Erzähler-Ich zieht vom »sicheren Hafen des Alters aus«715 für sich und die Leserschaft nachvollziehbar Bilanz über sein Leben und stellt es in seinem chronologischen Ablauf möglichst wirklichkeitsgetreu und literarisch anspruchsvoll dar. Wie Jürgen Lehmann bemerkt, gilt die Erinnerung eines Autobiographen »nicht nur Handlungen und Ereignissen, sondern auch Texten der Vergangenheit, die von ähnlich gearteten propositionalen Gehalten geprägt sind«.716 Zahlreiche Kritiker wie zum Beispiel Katarzyna Jastal oder Paul Gerhard Klussmann erwähnen de Bruyns Rekurs auf die Tradition der Gattung.717 Allerdings weist Renate Rechtien zu Recht darauf hin, dass de Bruyns Lebensbericht sich insofern von vielen klassischen Modellen unterscheidet, als er es vermeidet, ein heroisches Selbstbild zu entwerfen.718 Weiterhin bemerkt sie: In bezug auf die ästhetisch-literarischen Gestaltungsmöglichkeiten autobiographischen Schreibens geht de Bruyn über den Rahmen seiner historischen Vorbilder, vor allem über Goethe, deutlich hinaus. Als Autor bedient er sich gezielt narrativer und stilistischer Mittel, die seine Autobiographie als Kunstform in die Nähe des autobiographischen Romans rücken.719

Wie auch Klussmann festhält, bedient sich de Bruyn dabei Schreibweisen und Erzählformen, die der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts, im Einzelnen den Werken Jean Pauls, Theodor Storms oder Theodor Fontanes, entstammen, versieht sie allerdings mit einem aktualisierten Vokabular.720 Auf diesen Traditionsbezug de Bruyns eingehend formuliert Reich-Ranicki: Mit großer Selbstverständlichkeit ignoriert er […] die raffinierten Ausdrucksmittel der Prosa unseres Jahrhunderts […]. Nichts anderes will er als mitteilen und berichten, er schreibt ernst, doch nie schwerfällig, nüchtern, doch nie trocken, er vermeidet gewagte Bilder und angestrengte Formulierungen.721

Nach erfolgter Analyse der Autobiographie hinsichtlich ihrer literarischen Eigenheiten und intertextuellen Bezüge kann de Bruyns theoretisch formulierter formal-ästhetischer Anspruch an sein Werk als erfüllt angesehen werden. Abschließend sollen beide autobiographischen Bände auf die gattungskonstitutive Komponente der Identitätssuche beziehungsweise de Bruyns explizit geäußerte 714 715 716 717 718 719 720 721

Vgl. Aichinger, S. 186. De Bruyn 1995, S. 19. Jürgen Lehmann 1988, S. 46. Vgl. Jastal, S. 116 u. Klussmann, S. 198. Vgl. Rechtien, S. 158. Ebd., S. 157. Vgl. Klussmann, S. 198. Reich-Ranicki, unpaginiert.

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Motivation der Selbstauseinandersetzung und Selbsterforschung hin untersucht werden.

4.2.3. Subjektive Authentizität und Identität in Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin und Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht Nachdem ich in Romanen und Erzählungen lange um mein Leben herum geschrieben habe, versuche ich jetzt, es direkt darzustellen, unverschönt, unüberhöht, unmaskiert. Der berufsmäßige Lügner übt, die Wahrheit zu sagen. Er verspricht, was er sagt, ehrlich zu sagen; alles zu sagen, verspricht er nicht.722

Mit diesen programmatischen Aussagen führt de Bruyn in Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin ein; sie kündigen die hohen Ansprüche des Autobiographen sowie Charakter, Tonfall und erzähltechnische Verfahren beider Autobiographiebände an. Wie in seinem gesamten Werk zielt er nicht darauf ab, effektvoll zu sein, sondern so ehrlich und authentisch wie es ihm als berufsmäßigem Lügner möglich ist – »the articulation of subjectivity emerges as a recurrent concern, and in particular the degree of authenticity that subjective expression generates in a text«.723 Der Autobiograph teilt der Leserschaft mit, dass er stets seinem individuellen Wahrheitsbegriff gerecht werden will, dass er aber eine Auswahl treffen, also auch Einzelheiten verschweigen wird. Damit wird schon zu Beginn des Werkes offensichtlich, dass subjektive Authentizität (de Bruyns ›ganze Wahrheit‹724) und bewusste Auswahl aus den Lebenstatsachen für den Autor miteinander einhergehen können, sonst hätte er seinen Anspruch an das Projekt mit dieser Einleitung, mit dem Vorhaben nicht alles zu sagen, a priori zum Scheitern verurteilt. De Bruyns Schreibmotivation zur Selbstauseinandersetzung und Selbsterforschung und damit implizit zur Identitätsvergewisserung, die in Kapitel 4.1.4. dieser Arbeit dargelegt wurde, liefert maßgebliche Kriterien für die angekündigte Auswahl. Erkennbar wird dieser Antrieb unter anderem durch den bereits erwähnten selbstkritischen Gestus der autobiographischen Texte; de Bruyn setzt sich ernsthaft und differenziert mit eigenem Handeln auseinander und deckt dabei eigene Verwicklungen und Verdrängungen schonungslos auf. Ohne verbittert oder pathetisch aufzutreten, thematisiert er auch Schuldbewusstsein und schwere Beschämung. In dem folgenden Beispiel erkennt der gegenwärtige Erzähler beispielsweise rückblickend seine eigene Verstrickung in die Macht des noch jungen DDR-Regimes: 722 De Bruyn 1992, S. 7. 723 Evans 2006, S. 177. 724 Vgl. oben, S. 144, 146, 148.

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Was mich hier, und später noch oft, nachdenklich hätte machen sollen, war die Problematik einer politischen Stellvertretung, die man auch antritt, wenn man sich mit der Macht, in deren Diensten man seine Tätigkeit ausübt, in Konflikten befindet oder sich von ihr innerlich distanziert.725

Barbara Dobrick hält den ersten Band des Lebensberichts vor allem durch die Betrachtung der eigenen Entwicklung, also der Selbstauseinandersetzung, für lesenswert, wobei sie daran im Besonderen eine »Mischung aus Offenheit und Zurückhaltung, aus Bericht und Reflexion, aus Ernsthaftigkeit und leisem Humor«726 hervorhebt. Diese Mischung aus Offenheit und Zurückhaltung charakterisiert gleichsam Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht: Während de Bruyn sein literarisches Leben, seine Tätigkeiten im gesellschaftlichen und kulturpolitischen Bereich, seine Fehler und selbst seine Kontakte zum MfS offen und selbstkritisch zur Sprache bringt, lässt er sein Privatleben nahezu aus. Durch die Diskretion in den Bereichen Liebe und Familie wird deutlich, dass es ihm niemals um bloße Selbstenthüllung geht, dass er als vergleichsweise introvertierter Schriftsteller im Gegenteil persönliche Hemmungen überwinden muss, um dieses autobiographische Projekt verwirklichen zu können. Sibylle Cramer verkennt de Bruyns Intention, aus dem Blickwinkel seiner individuellen Schriftstellerexistenz die Literaturgesellschaft und den politischen Alltag der DDR zu beleuchten, wenn sie von einer »Sachlichkeit und Zweckbezogenheit, hinter der die Person des Autors verschwindet«727 spricht. Treffender argumentiert Walter Hinck, indem er de Bruyns Erzählhaltung schlicht als Bescheidenheit wertet: Wie schon im ersten Teil nimmt sich auch hier das autobiographische Ich fast in die Unauffälligkeit zurück; nicht ein einziges Mal schleicht sich eitle Selbstbespiegelung ein. Und de Bruyn kokettiert auch nicht mit der Bescheidenheit.728

Nicht zuletzt durch diese Bescheidenheit gelingt es de Bruyn, eine ehrliche und kritische Auseinandersetzung mit seiner Person und deren Bedeutung im gesellschaftlichen und literarischen Leben der DDR zu leisten, die frei von exhibitionistischen Antrieben und damit diskret ist. Owen Evans urteilt: »Despite his general diffidence and the anxiety and self-doubt that have plagued him throughout his professional career, de Bruyn’s sense of self has remained rela-

725 De Bruyn 1992, S. 329. 726 Dobrick, S. 32. 727 Sibylle Cramer: »Selbstgespräche eines Wahrheitssuchers«. In: neue deutsche literatur. Zeitschrift für deutschsprachige Literatur und Kritik 44 (1996), H. 6, S. 121. 728 Walter Hinck: »Über autobiographisches Schreiben in der Gegenwart«. In: Resonanzen, Hg. v. Sabine Doering, Waltraud Maierhofer u. Peter Philipp Riedl, Würzburg 2000, S. 463.

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tively robust«.729 Die folgende Passage ist in diesem Zusammenhang paradigmatisch: Auf Verlangen von oben in der Öffentlichkeit Erwünschtes zu sagen, habe ich immer vermieden; aber oft habe ich auch geschwiegen, wenn Unerwünschtes hätte gesagt werden müssen. Da ich Ruhe zum Schreiben brauchte, waren mir Konfrontationen lästig. Ehrungen erfüllten mich mit zwiespältigen Gefühlen, weil sie mir einerseits schmeichelnde Bestätigung waren, mir andererseits aber als Eingliederungsversuche erschienen, die Bestechung zu nennen nicht ganz abwegig war. Denn Anerkennung verpflichtet und bindet, und Dankbarkeit weicht kritische Haltungen auf.730

Auf Grund der Aussparungen im privaten Bereich kann de Bruyn seinerseits diesen Fortsetzungsband im Nachhinein allerdings nicht als authentische Geschichte seines Lebens betrachten, da wesentliche Aspekte unberücksichtigt bleiben.731 Während der Autobiograph diese Abweichung des Lebensberichts von der individuellen Lebenswirklichkeit kalkulierend hinnimmt, quält ihn die Vorstellung möglicher Diskrepanzen zwischen Realität und Darstellung auf Grund von falscher oder lückenhafter Erinnerung: »Am meisten verstört aber hat mich die Feststellung von Gedächtnislücken, von Verdrängungen, von Einfärbung zu eigenen Gunsten. Für den Schreiber einer Autobiographie ist das katastrophal«.732 Auch in seinen autobiographischen Texten selbst verdeutlicht de Bruyn durch seinen Erzählstil unmissverständlich, in welchem Maß er seiner Erinnerung misstraut und unterstreicht durch verschiedene Beglaubigungsverfahren seinen Willen zur Aufrichtigkeit: »Zwar gehört zum Erinnerungsbild meiner glücklichen Frühzeit ein Vater, der Zeit und Lust hat, mit den Kindern zu spielen, doch kann dieses Bild auch zu späteren Zeiten gehören«733 oder »Ob ich, wie meine Erinnerung will, die Begegnung mit dem US-Piloten an diesem Tag hatte, stelle ich lieber in Frage: sie paßt hier zu gut«734 sind nur zwei der zahlreichen Beispiele für sein Eingeständnis der Gedächtnislücken. »De Bruyn’s primary concern is the problematic nature of memory. […] Where he is unable to corroborate an episode fully, de Bruyn is careful to draw attention to his misgivings«.735 Wie de Bruyn es jedem Autobiographen empfiehlt736, verschweigt er Widersprüche oder lückenhafte Erinnerung nicht, sondern lässt sie als solche

729 Evans 2006, S. 175. 730 De Bruyn 1996, S. 222f. 731 Vgl. »Autobiographisches Schreiben. Gespräch mit Günter de Bruyn«, Günter de Bruyn im Gespräch mit Bianca Weyers, S. 830. 732 »Günter de Bruyn im Gespräch mit Katharina Festner und York-Gothart Mix«, S. 515f. 733 De Bruyn 1992, S. 18. 734 Ebd., S. 162. 735 Evans 2006, S. 141f. 736 Vgl. oben, S. 152f.

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stehen und thematisiert die jeweiligen Erinnerungsvorgänge in ihrer Unzulänglichkeit: Er [de Bruyns Gestellungsbefehl] kam drei Tage danach und erzeugte in mir eine Wahrnehmungshemmung, so daß ich mich an die Fahrt nach Neuruppin, die Ankunft in der Kaserne, die Uniformierung und Vereidigung nicht mehr erinnere. An Stiefel erinnere ich mich, an die eigenen, die, weil sie nicht paßten, die Füße mit Wunden bedeckten […]. Auch das Geräusch, das mit Nägeln beschlagene Stiefel auf diesen Steinfliesen machten, […] ist mir im Ohr geblieben; und meine Zunge bewahrt noch den Geschmack angefaulter Kartoffeln; sonst aber herrscht Erinnerungsleere: kein Name, kein Gespräch, kein Gesicht.737

So gelingt es de Bruyn, seiner Kindheit und Jugend in der Autobiographie den ihnen gebührenden Raum zu gewähren, obwohl diese Lebensabschnitte für das Gedächtnis am weitesten zurückliegen und demzufolge die meisten Erinnerungslücken aufweisen. In de Bruyns Schreibweise ist seine Erinnerungsarbeit jederzeit spürbar und klar nachzuvollziehen, wie auch Michael Bienert festhält.738 In Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht finden sich ebenfalls hypothetisierende Sprachformen wie »Wahrscheinlich werde ich ihr geantwortet haben«739 sowie zahlreiche Passagen, in denen de Bruyn sein diesbezügliches Problembewusstsein direkt artikuliert: Ob ich es war, der in West-Berlin Flugblätter verteilen sollte, diese aber im nächsten Gully versenkte, ist mir zu unsicher, um es als Tatsache auszugeben. Es könnte auch sein, ein anderer hat mir diese Geschichte erzählt.740

Bereits in den autobiographischen Essays Wie ich zur Literatur kam (1972) und Viktoria (1970) thematisiert de Bruyn implizit die Problematik von Erinnerungsstrukturen; es finden sich Formulierungen wie »Wenn mein Gedächtnis mich nicht täuscht«741 oder »25 Jahre sind eine lange Zeit und Erinnerungen unzuverlässig, weshalb ich mich für jede der hier mitgeteilten Einzelheiten (wie zum Beispiel die Namen) nicht verbürgen kann«.742 Sibylle Cramer quittiert de Bruyn, dass er in seinem Streben nach subjektiver Authentizität »das argumentierende Spiel und Gegenspiel von Gewissheiten und

737 De Bruyn 1992, S. 207f. 738 Vgl. Michael Bienert: »Eine diskrete Autobiographie«. In: die tageszeitung, 29. 04. 1992, Nr. 3693, S. 16. 739 De Bruyn 1996, S. 106. 740 Ebd., S. 12. 741 Günter de Bruyn: »Wie ich zur Literatur kam«. In: ders.: Lesefreuden. Über Bücher und Menschen, Frankfurt/M. 1986, S. 286. 742 Günter de Bruyn: »Viktoria«. In: ders.: Im Querschnitt. Prosa Essay Biographie, Halle (Saale), Leipzig 1979, S. 324.

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Zweifeln vorsichtigen Schlüssen zutreibt«.743 Ralph-Rainer Wuthenow bemerkt zu solcher Art der Erinnerungsarbeit: Seltsamerweise verträgt sich das Eingeständnis wiederholter Ungenauigkeit, gar einer prinzipiellen Unsicherheit des Erinnerns durchaus mit dem Anspruch der Wahrhaftigkeit […] oder doch der Aufrichtigkeit – eben weil damit nicht die historische und biographische Wahrheit im Sinn der dokumentarischen Tatsächlichkeit gemeint ist.744

Besondere Brisanz erhält diese Thematik, wenn es um de Bruyns Kontakte zum MfS geht, die er bereits im Jahr 1993 öffentlich problematisiert.745 De Bruyn habe bei der Einsicht in die ihn betreffenden Akten eigene Verdrängungsmechanismen erkennen müssen, er gesteht sich ein, dass er in seiner Erinnerung sogar einige Fakten zu seinen Gunsten verkehrt habe. Als Autobiograph, der vor allem auf Authentizität und Glaubwürdigkeit seines Lebensberichts bedacht ist, fühlt er sich durch diese Erfahrung stark verunsichert746 ; er geht bei der Rückschau auf seine Kontakte zum MfS schonungslos selbstkritisch vor – von daher ist es abwegig, wie Volker Wehdeking von einer »Abrechnung mit den abgefeimten Verleugnungs- und Repressionsversuchen«747 zu sprechen. De Bruyn bringt vielmehr nicht nur die nachgelesenen Fakten, sondern auch seine lückenhafte und zuweilen falsche Erinnerung zur Sprache: Auch bei wiederholter Lektüre kommen Angst und Scham wieder, und es quält mich das Mißtrauen in mein Erinnerungsvermögen, das offensichtlich in den inzwischen vergangenen Jahren schönfärbend und entlastend tätig gewesen war. Ohne Kenntnis der Akten hätte ich diese Episode anders berichtet. Ich wäre guten Gewissens schonender mit mir umgegangen, weil einiges, das mich belastet, verdrängt oder vergessen war. In meiner Erinnerung hatte ich mich standhafter verhalten, und das endgültige Nein hatte ich früher gesagt.748

Wie Katarzyna Jastal richtig bemerkt, dominiert sogar bei der Erwähnung möglicher Faktenverfälschung und offensichtlich frei erfundener Berichte in den Akten des MfS de Bruyns Betroffenheit über die eigene Verfügbarkeit, das eigene Versagen749, obwohl seine Kontakte vergleichsweise unerheblich waren und de 743 Sibylle Cramer : »Die Wahrheit als Erzählmethode«. In: Neue Zürcher Zeitung, 01. 10. 1996, Nr. 228, S. B 13. 744 Wuthenow 1992, S. 1274. 745 Vgl. Günter de Bruyn: »Dieses Mißtrauen gegen mich selbst. Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit: Ein Beitrag zum Umgang mit den Stasi-Akten«. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18. 02. 1993, Nr. 41, S. 27. Um Gesprächsauszüge ergänzt, erscheint dieser Beitrag unter demselben Titel ebenfalls in: StasiSachen 4. europäische ideen 21 (1993), H. 84, S. 63–66. 746 Vgl. de Bruyn 1993, Mißtrauen, Frankfurter Allgemeine Zeitung, S. 27. 747 Wehdeking 2000, literarische Auseinandersetzung, S. 53. 748 De Bruyn 1996, S. 192. 749 Vgl. Jastal, S. 111.

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Bruyn kurz darauf selbst Opfer einer ›Operativen Personenkontrolle‹ wird. Doch er äußert sich keinesfalls entschuldigend oder mildernd über seine Tätigkeit, sondern überlässt jegliches Urteil seiner Leserschaft. Dennis Tate lobt de Bruyns »open and self-critical manner in which he has dealt with the fallout from his Stasi files«.750 De Bruyn hat kein Interesse daran, Denunzianten zu enttarnen, sondern nutzt, wie Torsten Pflugmacher treffend formuliert, »die Akteneinsicht viel mehr als ein externes Gedächtnis, das er allerdings auf Tauglichkeit und Wahrheitsgehalt immer wieder prüfen muss«.751 Michael Braun nennt de Bruyns Erfahrung mit dem MfS und deren öffentliche Problematisierung ein »Paradebeispiel für den selbstgestellten Wahrheitsanspruch«.752 Auch noch nach Abschluss seiner dezidiert autobiographischen Projekte problematisiert de Bruyn sein Verhältnis zum Staat sowie den Einfluss des MfS auf sein tägliches Leben, so beispielsweise in Abseits. Liebeserklärung an eine Landschaft: Diese nicht weit vom vertrauten Berlin entfernte, aber schwer erreichbare Einöde in einer nicht weniger vertrauten Landschaft konnte ein Asyl für mich werden, ein Exil ohne schwierigen Wechsel, eine Flucht ohne Heimatverlust. Selbstverständlich waren das Illusionen, an die ich sozusagen aus Notwehr glaubte, und sie erwiesen sich auch recht bald als solche und nicht erst fünfundzwanzig Jahre später, als ich genaue Wegbeschreibungen und Gebäudegrundrisse in meiner Stasi-Akte fand.753

Die fragwürdige Glaubwürdigkeit überlieferter Dokumente verdeutlicht de Bruyn ebenfalls zunächst anhand der Akten des MfS: Ohne eigene Schuld relativieren zu wollen, entlarvt er in Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht einzelne Berichte als frei erfunden. Erstaunlicherweise versucht er, eine Erklärung für diese perfiden Vorgänge zu finden und Verständnis für den betreffenden, vermutlich unter Druck gesetzten Mitarbeiter des MfS aufzubringen: Hier ist jedes Wort, jede Tatsache frei erfunden, hier kommen Kollegen in meine Wohnung, die sie nie von innen gesehen haben, hier besuche ich Schauspieler, die ich nur von Bühne und Leinwand her kannte, und Gespräche werden in direkter Rede wiedergegeben, die nie geführt worden sind. Da dieser Schwindel leicht aufzudecken gewesen wäre, will er mir wie die Verzweiflungstat eines unter Druck Gesetzten erscheinen. Vielleicht mußten, um die […] Vorgesetzten zufriedenzustellen, Erfolge gemeldet werden, ganz gleich wie sie zustande kamen.754

Auch selbst verfasste Schriftstücke wie Briefe und Tagebuchaufzeichnungen, die in der Autobiographie teilweise wörtlich zitiert werden, kommentiert und kor-

750 751 752 753 754

Tate 1999, S. 1. Pflugmacher, S. 120. Braun 1997, S. 394. De Bruyn 2005, S. 47f. De Bruyn 1996, S. 201f.

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rigiert das erzählende Ich und thematisiert damit sowohl den authentischen Wert der Materialien als auch die nötige kritische Distanz: Erhalten blieben aber, dank Ilse, meine Briefe […], von quälender Peinlichkeit aber sind sie für mich. Denn anders als in Kindertagebüchern und -briefen erkenne ich mich hier deutlich wieder, und zwar nicht nur in meiner menschlichen und politischen Unreife und gedanklichen Blässe, sondern auch in der mangelnden Offenheit. […] Die Fragwürdigkeit aller Briefzitate wird mir hier überdeutlich. Zur Erhellung einer Entwicklung darf man sie nur benutzen, wenn man alle Umstände ihrer Entstehung kennt.755

De Bruyns Umgang mit Erinnerungen und überlieferten Schriftstücken trägt neben der Abwesenheit jeglicher Stilisierung, Überheblichkeit, Selbstgerechtigkeit, Eitelkeit oder Dramatisierung maßgeblich dazu bei, seinen Lebensbericht derartig authentisch und glaubwürdig erscheinen zu lassen: »The unreliability of his memories in general is a leitmotif in both volumes, and it is this candour which ensures their credibility«.756 Dennis Tate bezeichnet de Bruyn zu Recht als »exceptionally reliable witness«.757 Auch werden die eigenwilligen Gesetze jeder Art von Erinnerung als Merkmal autobiographischen, nämlich mehrschichtigen Erzählens herausgestellt: Der Autobiograph verdeutlicht stets, dass es sich bei der Darstellung um seine gegenwärtige Sicht auf die Vergangenheit handelt; er reproduziert lange zurückliegende Erfahrungen und Gedanken, erweitert sie aber nicht nur um die Äußerung seines Misstrauens gegenüber Erinnerungen, sondern auch um wertende, erklärende oder interpretierende Kommentare des wissenden gegenwärtigen Erzählers, der zusätzlich auf größere Zusammenhänge hinweist und das Erinnerte gegebenenfalls abwägend kommentiert oder korrigiert: Wenn ich Österreich […] zum Anlaß nehme, um hier das kurze Leben meines Bruders Karlheinz zu beschreiben, bin ich mir des Fragmentarischen dieses Versuchs völlig bewußt. Zwar kann ich neben meinen Erinnerungen auch Briefe, seinen Nachlaß und Auskünfte Dritter benutzen, aber dem durch Verklärung unklaren Bild von ihm kann das alles keine klareren Umrisse geben; zu sehr wirkt die Verehrung aus Kindertagen noch nach.758

Dass sich Erinnerungen mit dem Alter und der Situation des Erzählers verändern können, dass sie in verschiedene Zusammenhänge gestellt und im Laufe eines Lebens unterschiedlich bewertet werden, ist de Bruyn bewusst; er hebt es sogar erzählerisch hervor, so zum Beispiel in Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin: 755 756 757 758

De Bruyn 1992, S. 199. Evans 2006, S. 143. Tate 2007, S. 180. De Bruyn 1992, S. 220.

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Daß mir das Mädchen nach so kurzer Bekanntschaft schon politisch vertraute, will mir heute erstaunlich erscheinen, damals aber kam mir ihre sofortige Einladung, ›doch mit raufzukommen‹, bei weitem erstaunlicher vor.759

Auch in Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht – erzähltes und erzählendes Ich haben sich zeitlich inzwischen stark angenähert – finden sich noch Passagen, in denen de Bruyn Vergangenheit und Gegenwart explizit miteinander verschränkt und aufeinander bezieht, so beispielsweise in dem Abschnitt über die Bemühungen des MfS, de Bruyn als IM zu gewinnen: Dem Brief, der mich erschreckte, waren zwei vorbereitende schon vorausgegangen, die ich immer für echt gehalten hatte, bis ich ihre Entwürfe in den Akten sah. […] In einer der ›Einschätzungen‹ des IM-Kandidaten hatte Grubitz [der für de Bruyn zuständige Unterleutnant des MfS] auch von dessen politischer Naivität wissen wollen – mit einigem Recht, wenn ich bedenke, daß mir der Gedanke an eine Fälschung nicht kam.760

Anne-Marie Corbin-Schuffels und Renate Rechtien betrachten de Bruyns Bemühungen, dem Leser Klarheit darüber zu verschaffen, dass er von seinem gegenwärtigen Standpunkt her auswählt und beschreibt, als Angebot eines ›autobiographischen Paktes‹ im Sinne Philippe Lejeunes. Auch wenn de Bruyn Lejeunes Paktmodell in Das erzählte Ich. Über Wahrheit und Dichtung in der Autobiographie nicht zur Sprache bringt und daher davon auszugehen ist, dass de Bruyn sich nicht mit Lejeunes Arbeit auseinandersetzt, erscheint diese Auffassung nicht abwegig: Der Autor bestätigt wiederholt seine Identität mit dem erzählenden und dem erzählten Ich und kann auf diese Weise die Authentizität und Glaubwürdigkeit seines Berichts bekräftigen.761 Die häufige Verwendung des Wortes ›erinnern‹, die de Bruyn in den autobiographischen Werken Theodor Fontanes, Ulrich Bräkers oder auch Karl Philipp Moritz’ beobachtet und als besonderes Kennzeichen der der Autobiographie zu Grunde liegenden Erinnerungsstruktur deutet762, zeichnet auch seinen eigenen Lebensbericht aus: Die beschriebenen textuellen Gestaltungsweisen verdeutlichen, dass de Bruyn nicht an Objektivität, an einer Reproduktion der bloßen Fakten, der Vergangenheit an sich gelegen ist, sondern an der wertenden und interpretierenden Erinnerung an ausgewählte Erlebnisse, Erfahrungen und Gedanken. Diese sind für den gegenwärtigen Schreiber relevant, da sie seinen Lebensweg geprägt und seine Entwicklung beeinflusst haben und ihn im Rückblick auf sein Leben auf jeweils unterschiedliche Weise beschäftigen und verschiedenartige Gefühle in ihm auslösen. Die zahlreichen Hinweise auf eventuelle Abweichungen des Berichts von der historischen Realität unter759 760 761 762

Ebd., S. 195. De Bruyn 1996, S. 196f. Vgl. Corbin-Schuffels, S. 77 u. Rechtien, S. 156. Vgl. oben, S. 151.

Das Zusammenspiel von Theorie und Praxis

183

streichen den authentischen Charakter von de Bruyns Erinnerungsarbeit: Sie veranschaulichen, dass es für die Vermittlung der subjektiven Lebenswirklichkeit nicht von Bedeutung ist, ob sich ein Ereignis exakt wie beschrieben zugetragen hat, sondern dass es die Auffassung, die Beurteilung des gegenwärtigen Schreibers in seiner persönlichen Reife und Lebenserfahrung ist, die den Reiz und den Wert einer Autobiographie ausmacht. Sowohl die Auswahl aus den Lebenstatsachen und dem Erinnerungsschatz als auch die Art der Vermittlung sind in diesem Sinne zeitbezogen und subjektiv. Wie de Bruyn es auch theoretisch darlegt763, beschreibt er sein Leben, das seiner Meinung nach wenig Anlass zur Heroisierung bietet764, auf ein Ziel hin; er versucht, zu ergründen, welche Erfahrungen und Einflüsse inwiefern persönlichkeitsbildend gewirkt haben und lässt den Leser daran teilhaben. Owen Evans bezeichnet de Bruyns gesamtes schriftstellerisches Werk als eine Suche nach subjektiver Authentizität.765 Wie bereits anklang, liegt in Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht allerdings ein Sonderfall vor: Die Selbstauseinandersetzung de Bruyns, die Rekonstruktion seiner Persönlichkeitsentwicklung findet ausschließlich in Bezug auf sein Leben als Bibliothekar, Schriftsteller und politisch interessierter Bürger der DDR statt. Sein Privatleben, seine Ehe und seine Familie, die er als phasenweise bedeutend wichtiger und einflussreicher für den Verlauf seines Lebens erachtet als Beruf und Politik766, bleiben ausgespart beziehungsweise werden an wenigen Stellen nur vage angedeutet. Von dem Abend in der Berliner Arbeitsgemeinschaft junger Autoren, an dem er seine spätere Ehefrau kennenlernt, berichtet de Bruyn beispielsweise auffallend verklausiert: Da auch ich den Zirkel weniger besuchte als schwänzte, muß ich es als himmlische Fügung betrachten, daß ich an jenem Abend, als die Hörspieldramaturgie den jungen Autoren Einblick in ihre Arbeit gewährte, zufällig anwesend war. Weder zuvor noch danach hatte ein Vortrag für mich so weitreichende Folgen.767

Die kurz abgehandelte Episode endet mit der lapidaren Information, dass das Ergebnis seines Werbens ein Leben lang währen sollte und dass »dessen bloße Erwähnung eigentlich schon den Bruch eines Versprechens bedeutet«.768 De Bruyns eigener Einschätzung zufolge verhindern die Aussparungen bedeutender Lebensbereiche die Verwirklichung seines Anspruchs auf subjektive Authentizität: 763 764 765 766

Vgl. oben, S. 147. Vgl. de Bruyn 1995, S. 60. Vgl. Evans 1996, S. 299. Vgl. »Autobiographisches Schreiben. Gespräch mit Günter de Bruyn«, Günter de Bruyn im Gespräch mit Bianca Weyers, S. 831f. 767 De Bruyn 1996, S. 115. 768 Ebd.

184

Die autobiographischen Projekte Günter de Bruyns

Was mir an ›Vierzig Jahre‹ nicht gefällt, ist, daß ich mich aus Rücksicht auf andere Menschen, aber nicht nur, auch aus Rücksicht auf mich selbst, immer bemüht habe, nur über meine Schriftstellerei und das Politische zu schreiben, insofern ist ›Vierzig Jahre‹ keine wahre Geschichte meines Lebens.769

Sein persönliches Ziel der Selbstreflexion und Identitätssuche kann er in diesem zur Veröffentlichung vorgesehenen Lebensbericht nur eingeschränkt erreichen, da er aus Rücksichtnahme nicht bereit ist, Intimitäten aus seinem Familien- und Eheleben der Öffentlichkeit preis zu geben. Somit fehlen gemäß seiner eigenen Einschätzung, da er um alle Aussparungen weiß, wesentliche Informationen; ein rein persönlicher, in privatem Rahmen verbleibender Rückblick wäre natürlich um zahlreiche Erinnerungen reicher. De Bruyns eigene, kritische Aussage kann jedoch nur bedingt zu einer sachlichen Beurteilung seines Werkes herangezogen werden: Für den Leser, dem die Diskretion bereits in der Eingangspassage von Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin angekündigt wird, stellt sich Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht als subjektiver Einblick in Freude und Leid einer Schriftstellerexistenz in der DDR dar, wenn auch in dem Wissen, dass das Dargestellte nur spezielle Bereiche eines realiter gelebten Lebens abdeckt. Owen Evans verhandelt die Frage, ob de Bruyns Autobiographie in gewisser Weise als Überwindung einer lange andauernden Identitätskrise gewertet werden kann. Er beobachtet richtig, dass der Autor seit 1984 keine fiktionalen Werke mehr hervorbringt. Daraus schließt er, dass die erfolgreiche Arbeit an Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin und Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht den Drang nach Selbstanalyse und -auseinandersetzung, dem er auch in seinen Romanen stets nachkommt, weitgehend gestillt und de Bruyns Identitätssuche zu einem vorläufigen Abschluss geführt habe.770 In jedem Fall hält er treffend fest: »Both volumes of his autobiography facilitate the freedom to unfold, assess and express his sense of self that was necessarily precluded from the work he was able to publish in East Germany«.771 Aufbau und Erzählweise beider Bände der Autobiographie erscheinen in ihrer beabsichtigten und konsequenten Subjektivität authentisch und glaubwürdig – »[w]ith the completion of his autobiographical project, de Bruyn achieved the blend of subjectivity and authenticity he had long sought, and arguably surpassed the best of his fiction in the process«.772 Die Authentizitätsansprüche, die de Bruyn in Das erzählte Ich. Über Wahrheit und Dichtung in der Autobiographie und der Eingangspassage von Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin an sein 769 »Autobiographisches Schreiben. Gespräch mit Günter de Bruyn«, Günter de Bruyn im Gespräch mit Bianca Weyers, S. 830. 770 Vgl. Evans 2006, S. 179. 771 Ebd., S. 178. 772 Ebd.

Das Zusammenspiel von Theorie und Praxis

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autobiographisches Projekt stellt, werden aus dem Blickwinkel kritischer Leserschaft erfüllt: Indem de Bruyn Hinweise auf die möglichen Diskrepanzen zwischen dem Dargestellten und den realen Fakten gibt, gelingt es ihm, verschiedene erzählerische Möglichkeiten auszuschöpfen, ohne den authentischen Charakter des Werkes zu schmälern, sondern ihn im Gegenteil zusätzlich zu betonen. Letztlich erreicht de Bruyn in beiden autobiographischen Werken zunächst Goethes in Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit formuliertes Ziel der Gattung, »den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen und zu zeigen, inwiefern ihm das Ganze widerstrebt, inwiefern es ihn begünstigt, wie er sich eine Welt- und Menschenansicht daraus gebildet«773, auf eigenständige Weise. Darüber hinaus setzt de Bruyn seinen programmatischen Entwurf einer Gattungstheorie künstlerisch um und schafft es, seinen eigenen, ehrgeizigen Anforderungen an eine Autobiographie gerecht zu werden.

773 Oben, S. 62.

5.

Die Rekonstruktion einer Familiengeschichte. Monika Marons Pawels Briefe

5.1. Erinnerungen um 1989 – Frühe Beschäftigung mit dem Lebensrückblick Im Jahr 1999 erscheint nach einem Vorabdruck als Fortsetzungsreihe in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung774 Monika Marons Werk Pawels Briefe, in dem sie sich mit dem Leben ihrer Großeltern, ihrer Mutter und nicht zuletzt mit der eigenen Biographie auseinandersetzt und diese beleuchtet. Sie rekonstruiert und reflektiert das Schicksal von drei Generationen in Zeiten der Weltwirtschaftskrise, des Nationalsozialismus, des Zweiten Weltkriegs, der Gründung der DDR, der SED-Herrschaft und der Wiedervereinigung Deutschlands. Marons Erinnerungsarbeit, ihre Beschäftigung mit ihrer Familien- und der Zeitgeschichte sowie ihre Identitätssuche sollen Gegenstand der folgenden Kapitel sein. Die Geschichte ihrer Familie interessiert Monika Maron als Schriftstellerin jedoch nicht erst seit ihrer Arbeit an Pawels Briefe. Im Rahmen des vom ›Kulturreferat der Landeshauptstadt München‹ und der Verlagsgruppe Bertelsmann veranstalteten ›Münchner Podiums in den Kammerspielen ’89‹ hält Maron 1989 einen Vortrag, der anschließend im Band Reden über das eigene Land: Deutschland 7 und am 01. 12. 1989 in Die Zeit unter dem Titel Ich war ein antifaschistisches Kind abgedruckt wird775 sowie später in diversen Sammelbänden erneut erscheint.776 Diese Rede liest sich für Maron im Nachhinein »wie ein

774 Vgl. Monika Maron: »Pawels Briefe«. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11. 01. 1999, Nr. 8, S. 40. (1. Folge). [30 weitere Folgen werden bis zum 15. 02. 1999 abgedruckt.] 775 Vgl. Monika Maron: »Ich war ein antifaschistisches Kind«. In: Die Zeit, 01. 12. 1989, Nr. 49, S. 70/71. 776 Vgl. z. B. Monika Maron: »Ich war ein antifaschistisches Kind«. In: Die Geschichte ist offen. DDR 1990: Hoffnung auf eine neue Republik. Schriftsteller aus der DDR über die Zukunftschancen ihres Landes, Hg. v. Michael Naumann, Reinbek bei Hamburg 1990, S. 117– 134 o. Monika Maron: »Ich war ein antifaschistisches Kind«. In: »Doch das Paradies ist verriegelt…«. Zum Werk von Monika Maron, Hg. v. Elke Gilson, Frankfurt/M. 2006, S. 16– 30.

188

Monika Marons Pawels Briefe

Expos8 zu ›Pawels Briefe‹«777, auch Antje Doßmann betrachtet den Vortrag als Skizze für die späteren autobiographischen Ausführungen.778 In der Tat befasst sich Maron in ihrer Rede über das eigene Land: Deutschland beziehungsweise Ich war ein antifaschistisches Kind bereits intensiv mit ihrer Familiengeschichte und teilt dem Zuhörer respektive dem Leser zahlreiche Fakten aus ihrem und dem Leben ihrer Vorfahren mit: Maron beginnt ihre Ausführungen mit einer kurzen Reflexion über die Bedeutung, die der Terminus ›Deutschland‹ für sie, die von Kommunisten erzogen wurde, haben kann: »Ich wuchs auf in einer Welt der Ideologien, nicht der Nationen«.779 Auch der zweite Absatz betrifft ihre persönliche Vergangenheit und berichtet von einem Besuch des Hauses, in dem sie geboren und aufgewachsen ist. Ihre Großeltern, das polnische Ehepaar Josefa und Pawel Iglarz, so erfährt man, waren im Jahr 1907 die ersten Mieter in diesem Haus in BerlinNeukölln. Nachdem die katholisch getaufte Josefa und der einer orthodoxen jüdischen Familie entstammende Pawel in die Baptistengemeinde eingetreten waren, wo sie sich auch kennen lernten, wurden beide von ihren Elternhäusern verstoßen; gemeinsam bauten sie sich in Berlin eine neue Existenz auf.780 Die folgenden Passagen, in denen Maron von der Begegnung und dem Gespräch mit ihren früheren Nachbarn Mitte der 1980er Jahre erzählt, werden später wörtlich in die Autobiographie übernommen.781 Charakteristisch für die im Druck lediglich circa 15 Seiten umfassende Rede ist, wie selbstverständlich Maron sich zwischen den verschiedenen Zeitebenen im Leben dreier Generationen bewegt und diese miteinander verbindet und zugleich kontrastiert. Beispielsweise folgen der Episode über das Gespräch mit den Nachbarn, in dem unter anderem auch die von den Nationalsozialisten organisierte Abholung Pawels aus dem Mietshaus zur Sprache kommt, Informationen über die Ausweisung aller polnischen Juden im Jahr 1938 und über das individuelle Schicksal der Großeltern: Pawel und Josefa lebten gemeinsam in Josefas Heimatort, bis Pawel nach einer Denunziation in ein Ghetto bei Lodz überführt und 1942 in einem Konzentrationslager ermordet wurde. Anschließend thematisiert Maron den Werdegang des Nachbarn und SA-Mitglieds Gustav, der zum Luftschutzwart des gemeinsam bewohnten Hauses ernannt wurde und der Familie Iglarz entgegen seiner Wei777 Monika Maron: »Rollenwechsel: Über einen Text und seine Kritiker«. In: dies.: quer über die Gleise: Essays, Artikel, Zwischenrufe, Frankfurt/M. 2000, S. 101. 778 Vgl. Antje Doßmann: Die Diktatur der Eltern. Individuation und Autoritätskrise in Monika Marons erzählerischem Werk, Berlin 2003, S. 8. 779 Monika Maron: »Rede über das eigene Land: Deutschland. Eingeleitet von Sabine Dultz«. In: Reden über das eigene Land: Deutschland 7. Die Reden wurden gehalten auf dem ›Münchner Podium in den Kammerspielen ’89‹, Veranstalter : Kulturreferat der Landeshauptstadt München, Verlagsgruppe Bertelsmann, München 1989, S. 71. 780 Vgl. ebd., S. 71f. 781 Vgl. ebd., S. 73 u. Monika Maron: Pawels Briefe, Frankfurt/M. 1999, S. 118f.

Frühe Beschäftigung mit dem Lebensrückblick

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sung Zutritt zum Luftschutzkeller gewährte, was die Autorin wieder zum Gespräch mit dessen Ehefrau und Tochter vierzig Jahre später und schließlich zu einer Notiz über das Kriegsende führt: Er [Gustav] könne nicht zulassen, daß zwei Frauen mit einem Säugling ausgesperrt würden, hätte er gesagt und uns auf seine Verantwortung in den Keller gelassen. Hannchen war froh, mir diese Geschichte über ihren Mann erzählen zu können. Auch ich war froh, daß es die Geschichte über Gustav gab. Ich wollte nicht, daß Hannchen sich vor mir schämte. Josefas und Pawels Kinder überlebten den Krieg. Gustav mußte sich entnazifizieren lassen.782

Dieses Vorgehen zeichnet später ebenfalls Pawels Briefe aus, auch wenn der Umfang der Autobiographie Maron naturgemäß mehr Tiefe und Detailreichtum erlaubt. Schon in Ich war ein antifaschistisches Kind verbindet Monika Maron aber nicht nur verschiedene Zeit- und Bewusstseinsstufen innerhalb ihrer Familiengeschichte, sondern ordnet diese darüber hinaus in das politische Zeitgeschehen des letzten Jahrhunderts ein. Während des gesamten Vortrags ist nicht nur von den individuellen Lebenssituationen der Familienmitglieder die Rede, sondern stets auch von den äußeren (politischen) Umständen, die diese Situationen verursachten. Letztlich ist das Schicksal der Familie Iglarz/Maron eng in der deutschen, zum Teil in der europäischen Geschichte verankert: Mit dem Krieg endete die polnisch-jüdische Geschichte der Familie Iglarz. Meine Großeltern hatte sie das Leben gekostet. Josefa war ein Jahr, bevor man ihren Mann ermordete, gestorben, weil ihr, der Frau des Juden, im besetzten Polen ärztliche Hilfe verweigert wurde. Pawels und Josefas Kinder überlebten den Krieg und verloren sich doch.783

Monika Marons Mutter Helene, genannt Hella, und ihre Geschwister waren, wie im Anschluss deutlich wird, ihrem kommunistischen Vater Pawel folgend seit ihrer Jugend Kommunisten und beteiligten sich aktiv am Aufbau des DDRSozialismus. Auch in den folgenden Abschnitten ist die deutsche Geschichte daher stets präsent; sie münden in eine kritische Auseinandersetzung mit den Verbrechen, die im Namen des Kommunismus im Europa des 20. Jahrhunderts geschahen. Als Kind von Kommunisten und Stieftochter des DDR-Funktionärs Karl Maron bleibt es Monika Maron, wie sie es ausdrückt, nicht erspart, »im 782 Maron 1989, Rede über das eigene Land, S. 75. 783 Ebd., S. 75f. In Pawels Briefe finden sich abweichende Angaben in Bezug auf die Todeszeitpunkte des Ehepaars: Maron gibt in ihrer Autobiographie den 11. 06. 1942 als Josefas Todestag an, also ungefähr zwei Monate vor der Ermordung Pawels im August 1942. Vgl. Maron 1999, S. 19, 140, 184.

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Monika Marons Pawels Briefe

Keller der Eltern nach Leichen zu suchen«.784 Sie, mittlerweile überzeugte Antikommunistin, betont ihr Unverständnis gegenüber ihrer Mutter und ihrer Tante Marta, die ungeachtet der Verbrechen Stalins und der Missstände im eigenen Land ihren Glauben an die Idee des Kommunismus bewahren konnten. Es bleibt die Frage, wie eine Idee, die zum Glück aller erdacht war, sich in das Unglück aller […] verkehren konnte. Es bleibt die Frage, warum Menschen, die in ihrer Jugend gegen Ungerechtigkeit und Unterdrückung gekämpft und ihr Leben dafür eingesetzt haben, in Jahrzehnten unangefochtener Macht ihr eigenes Volk mit den Mitteln von Gangstern betrügen und beherrschen.785

Marons historisches Bewusstsein ist in ihrer Rede, auch in den Abschnitten, in denen sie von ihrem individuellen Familienschicksal erzählt, konstant gegenwärtig; die Historizität, die gleichsam Pawels Briefe kennzeichnet und einen der bedeutendsten Aspekte innerhalb der Autobiographie ausmacht, soll in Kapitel 5.3. eingehend zur Sprache kommen. Die mitgeteilten Fakten sowie einige Einschätzungen in Bezug auf die Vergangenheit der Familie Iglarz/Maron können dem Leser von Pawels Briefe durch die Lektüre von Ich war ein antifaschistisches Kind bereits bekannt sein. Die Reihe, für die Monika Maron ihre Rede verfasst, ist mit Reden über das eigene Land: Deutschland betitelt. Der Vortrag verdeutlicht, dass nicht nur Marons Auseinandersetzung mit ihrer Familiengeschichte immer auch eine Beschäftigung mit deutscher und europäischer Geschichte bedeutet, sondern dass umgekehrt und darüber hinaus eine Auseinandersetzung mit Deutschland für Maron auch eine Bewusstwerdung über das Schicksal ihrer Familie impliziert. Owen Evans teilt diese Einschätzung und urteilt in Bezug auf Ich war ein antifaschistisches Kind und Pawels Briefe: Fundamental to both pieces is the question of identity. Whereas the essay approaches the topic primarily from a national perspective, […] it is axiomatic that Pawels Briefe should adopt a more personal approach. Yet both texts underline how the two perspectives are inseparably linked in the process of individuation, albeit in an antagonistic configuration in Maron’s case.786

Brigitte Rossbacher hebt in ihrer Analyse der 1989 gehaltenen Rede treffend hervor, dass Maron »embeds her personal history in collective history and raises questions of memory and historical representation«787, während Friederike 784 785 786 787

Ebd., S. 77. Ebd., S. 84. Evans 2006, S. 307. Brigitte Rossbacher : »(Re)visions of the Past: Memory and Historiography in Monika Maron’s Stille Zeile Sechs«. In: Colloquia Germanica. Internationale Zeitschrift für Germanistik 27 (1994), H. 1, S. 14.

Frühe Beschäftigung mit dem Lebensrückblick

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Eigler hier als Bezugspunkte, stärker als später in Pawels Briefe, die eigene Biographie und die eigenen antikommunistischen Überzeugungen erkennt.788 Dieser Unterschied ist nicht zuletzt einem unerwarteten Fund lange verwahrter und vergessener Dokumente im Jahr 1994 geschuldet, die das Leben von Pawel, Josefa und auch Hella Iglarz zu Zeiten des Nationalsozialismus auf ungeahnte Weise erhellen. Jene Schriftstücke bieten für Monika Maron Anlass und Bezugspunkt zur Abfassung ihrer Autobiographie und Familiengeschichte und prägen diese, wie noch zu zeigen sein wird, spürbar. Ihren Großeltern widmet die Autorin bereits das Eingangskapitel ihres ersten Romans Flugasche (1981), der deutliche autobiographische Züge trägt. Die Protagonistin trägt den Namen Josefa Nadler, wobei Nadler die deutsche Entsprechung des polnischen Familiennamens Iglarz ist. Die einführenden Sätze lauten: Meine Großmutter Josefa starb einen Monat vor meiner Geburt. Ihren Mann, den Großvater Pawel, hatte man ein Jahr zuvor in ein polnisches Kornfeld getrieben. Als der Großvater und die anderen Juden in der Mitte des Kornfeldes angekommen waren, hatte man es von allen Seiten angezündet. Meine Vorstellungen von der Großmutter Josefa sind nie zu trennen von einem langen Zopf, einem blauen Himmel, einer grünen Wiese, Zwillingen, einer Kuh und dem Vatikan.789

Auffällig ist, dass die hier geschilderten Todesumstände der Großeltern weder den in Ich war ein antifaschistisches Kind noch den in Pawels Briefe mitgeteilten Fakten entsprechen. Umso mehr gilt es zu beachten, dass trotz der autobiographischen Anleihen nicht von den authentischen Großeltern Iglarz die Rede ist, sondern dass Maron hier mit literarischen Figuren operiert, in denen sich Fakten und Fiktionen verbinden.790 Das zeigt sich besonders deutlich, wenn im Verlauf des Romans wiederholt auf die Pawel-Figur rekurriert wird; als imaginierte Traumgestalt beispielsweise hilft sie der Protagonistin, den Zwängen des sozialistischen Alltags kurzzeitig zu entfliehen. Pawel und Josefa Iglarz werden in einen fiktionalen Zusammenhang eingebunden, ihre eigene Geschichte bleibt dabei zunächst fragmentarisch; vielmehr ist ihr Schicksal als Hintergrundfolie präsent791 – die »Erinnerungen an die Großeltern eröffneten einen Spannungsbogen, der die gefährdete Identität der Hauptfigur erst spürbar werden ließ«.792 788 Vgl. Eigler 2005, S. 148. 789 Monika Maron: Flugasche, Frankfurt/M. 1981, S. 7. 790 Vgl. Uta Klaedtke/Martina Ölke: »Erinnern und erfinden: DDR-Autorinnen und ›jüdische Identität‹ (Hedda Zinner, Monika Maron, Barbara Honigmann)«. In: Jüdische Intellektuelle im 20. Jahrhundert. Literatur- und kulturgeschichtliche Studien, Hg. v. Ariane Huml u. Monika Rapenecker, Würzburg 2003, S. 256. 791 Vgl. Katharina Boll: Erinnerung und Reflexion. Retrospektive Lebenskonstruktionen im Prosawerk Monika Marons, Würzburg 2002, S. 90. 792 Sylvia Klötzer : »›Wir haben immer so nach vorne gelebt‹: Erinnerung und Identität. Flugasche und Pawels Briefe von Monika Maron«. In: Monika Maron in Perspective. ›Dia-

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Monika Marons Pawels Briefe

Maron, so formuliert Karsten Dümmel treffend, erzählt die Geschichte einer unveröffentlichten Reportage aus der realsozialistischen Arbeitswelt einer Journalistin und sie dokumentiert den Verlauf der rücksichtslosen, psychischen Zerstörung einer Frau, die sich gängigen Konventionen und Normen verweigert.793

Je weniger sich Josefa mit dem Arbeits- und Alltagsleben im DDR-Sozialismus identifizieren kann, umso wichtiger wird die Indienstnahme ihres Großvaters, mit dessen Hilfe sie sich einen Gegenentwurf erschafft; sie konzentriert ihre Identitätssuche beziehungsweise -konstruktion auf ihren Vorfahren. Die Verwandtschaft zu Pawel wird bewusst aufgerufen, um verschiedene Charaktereigenschaften Josefas, die sie mit Pawel teilt, die jedoch als dem Sozialismus nicht angemessen gelten, zu legitimieren794 : Im Wesen des Großvaters Pawel eröffneten sich mir eine Fülle charakterlicher Möglichkeiten, mit denen sich eine eigene Zukunft denken ließ und die zugleich geeignet waren, die Kritik an meinem Wesen auf das großväterliche Erbteil zu verweisen. Der Großvater war verträumt, nervös, spontan, jähzornig. Er stand nicht auf, wenn die Katze auf seinem Schoß saß, kochte jeden Morgen jedem seiner Kinder, was es zum Frühstück trinken wollte, Tee, Milch, Kaffee oder Kakao, und soll überhaupt ein bißchen verrückt gewesen sein.795

Hier zeigt sich, was sich schließlich in Pawels Briefe bestätigen wird: »Die Erinnerung an Pawel fungierte immer schon als beruhigender Beweis für die Möglichkeit einer anderen Sichtweise, einer anderen Sprache und eines anderen Lebens«796 – sowohl für Monika Maron, als auch für ihre deutlich autobiographisch inspirierte Romangestalt Josefa Nadler. Sylvia Klötzer resümiert: Im Sinnzusammenhang der Fiktion werden sie [die Lebensgeschichten von Josefa und Pawel Iglarz] gewichtet und verändert. Auf wenige Aspekte reduziert, scheinen sie im Romanverlauf mehrfach auf, treten insgesamt jedoch hinter die zentrale Geschichte von Flugasche zurück. […] Die Biografien der Großeltern Iglarz selbst bleiben in dieser Adaption und ihrer Reduktion ›Erinnerungskerne‹ und ein Erzählansatz, den ein anderes Buch zu entfalten hätte. Dieses Buch veröffentlicht die Autorin zwanzig Jahre später.797

793 794 795 796

797

logische‹ Einblicke in zeitgeschichtliche, intertextuelle und rezeptionsbezogene Aspekte ihres Werkes, Hg. v. Elke Gilson, Amsterdam, New York 2002, S. 51. Karsten Dümmel: Identitätsprobleme in der DDR-Literatur der siebziger und achtziger Jahre, Frankfurt/M., Berlin, Bern, New York, Paris, Wien 1997, S. 141. Vgl. Klaedtke/Ölke, S. 257. Maron 1981, S. 8f. Elke Gilson: »›Nur wenige kurze Augenblicke, die sicher sind.‹ Zur konstruktivistisch inspirierten Darstellung des Erinnerns und Vergessens in Monika Marons Familiengeschichte Pawels Briefe«. In: Colloquia Germanica. Internationale Zeitschrift für Germanistik 33 (2000), H. 3, S. 276. Klötzer, S. 35.

Frühe Beschäftigung mit dem Lebensrückblick

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Vor der Abfassung von Pawels Briefe veröffentlicht Monika Maron außerdem die Romane Die Überläuferin (1986), Stille Zeile Sechs (1991) und Animal triste (1996). All diesen Texten ist gemeinsam, dass sie, in unterschiedlicher Ausprägung, autobiographische Züge zeigen und Konflikte aus Marons Kindheit und Jugend aufgreifen und verhandeln. Zumeist stehen politische oder gesellschaftliche Repression und deren mögliche Auswirkungen im Zentrum; Marons Protagonistinnen erscheinen nicht als Identifikationsfiguren, sie scheitern in ihrer Identitätssuche, in ihren Bemühungen um Selbstbezug und erleiden zumeist einen Ichverlust.798 Stuart Taberner kommentiert: »The presence of autobiographical elements is […] evident in Monika Maron’s fiction […]. Nor should this be surprising given the degree to which the author’s own history intersects with the traumas of the German past«.799 Auch die literarische Verarbeitung von Aspekten ihrer Familiengeschichte findet sich in der Tat nicht nur in Flugasche und den bereits erwähnten, dezidiert autobiographisch erzählten Werken, sondern auch in anderen Romanen Marons, so zum Beispiel, wenn auch in abgeschwächter beziehungsweise verschlüsselter Form, in Stille Zeile Sechs: Die Ich-Erzählerin Rosalind Polkowski beschließt, nicht mehr für Geld zu denken und kündigt ihre Stelle in einer Forschungseinrichtung, wo sie als Historikerin die Aufgabe hatte, der Entwicklung der proletarischen Bewegungen in Sachsen und Thüringen nachzugehen. Während sie mühevoll versucht, ihr Leben neu zu strukturieren, erhält sie das lukrative Angebot, für den pensionierten, einst einflussreichen SED-Funktionär Herbert Beerenbaum dessen Lebensrückblick niederzuschreiben. Beerenbaums rechte Hand versagt ihm den Dienst, weswegen er zur Verwirklichung seines Vorhabens auf Hilfe angewiesen ist. Rosalind nimmt das Angebot an; während sie sich vornimmt, Beerenbaum ausschließlich als Schreibkraft zur Verfügung zu stehen, wird schnell deutlich, dass Beerenbaum die 42-Jährige als Diskussionspartnerin und vermeintlich schwächeren Widerpart braucht, um auf der Basis der Konfrontation mit ihr, die nicht der Aufbaugeneration der DDR angehört, sein Leben zu bilanzieren und zur Schau zu stellen. Rosalind gegenüber kann er seinen historischen Legitimationshintergrund als Widerstandskämpfer und von den Nationalsozialisten Verfolgter bemühen, um sein späteres politisches Handeln zu rechtfertigen.800 Der Konflikt der beiden Protagonisten, der ihre Sichtweisen in Bezug auf die deutsche Vergangenheit, das SED-Regime, die von ihm verursachten Missstände und nicht zuletzt die Idee des Kommunismus und deren Umsetzung in der DDR 798 Vgl. Peter Peters: »Ich Wer ist das«. Aspekte der Subjektdiskussion in Prosa und Drama der DDR (1976–1989), Frankfurt/M., Berlin, Bern, New York, Paris, Wien 1993, S. 280f. 799 Taberner 2005, S. 43. 800 Vgl. Doßmann, S. 69.

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Monika Marons Pawels Briefe

betrifft, eskaliert; Rosalind setzt Beerenbaum schweren Vorwürfen aus, bis er einen Herzanfall erleidet, von dessen Folgen er sich nicht mehr erholt. Die Rahmenhandlung bildet die Beerdigung Beerenbaums, an der Rosalind als aufmerksame Beobachterin teilnimmt und die sie detailliert beschreibt.801 Zunächst thematisiert Maron in Stille Zeile Sechs also das Medium des Lebensrückblicks – Rosalind wird engagiert, die Erinnerungen eines anderen Menschen niederzuschreiben. Von Beginn an ist sie mit der Herangehensweise Beerenbaums nicht einverstanden und wirft ihm Geschichtsklitterung, Selbstherrlichkeit, fehlende Selbstauseinandersetzung sowie mangelndes Schuldbewusstsein vor. Der DDR-spezifischen Ausprägung der Gattung entsprechend802 beschränkt sich Beerenbaums Projekt in der Tat auf die didaktische und durchweg positive Darstellung eines sozialistischen Menschen, die wesentliche Merkmale der literarischen Autobiographie nach heutigem Gattungsverständnis ausblendet: Er setzt sich, wie Rosalind zu Recht bemängelt, nicht aufrichtig und kritisch mit seinem früheren Ich auseinander ; er begibt sich nicht unvoreingenommen auf Identitätssuche, um Höhe-, Tief- und Wendepunkte innerhalb seines Lebenslaufs zu ergründen und bislang unbeantwortete Fragen zu klären, sondern er versucht lediglich, sich nachträglich ein Denkmal zu setzen und nachfolgenden Generationen die Ideologie, für die er in seinem Leben rücksichtslos gekämpft hat, zu vermitteln. Häufig begnügt er sich mit der Aufzählung seiner biographischen Fakten ohne sie zu problematisieren. Da er einen für DDR-Funktionäre typischen Lebenslauf besitzt, kann Rosalind zahlreiche Details erraten – die Biographie ihres verstorbenen Vaters, ebenfalls Kommunist und ehemaliger Schuldirektor, weist wesentliche Parallelen auf: For Polkowski, Beerenbaum becomes the incarnation of an entire generation of Communist fathers who, in fighting against Nazi totalitarianism, ultimately paved the way for a totalitarianism of their own making. Coming from humble, working-class backgrounds, these fathers ultimately fought their way to positions of power in the GDR’s major institutions; but they never escaped their origins. Polkowski’s feelings toward Beerenbaum become inextricably bound up with her feelings toward her own deceased father, also a narrow-minded Communist – in this case a school principal. The lasting trauma of Polkowski’s life is her father’s failure to love her.803

Tatsächlich steht der Konflikt, den Rosalind mit Beerenbaum austrägt, stellvertretend für den, den sie mit dem verstorbenen Vater nicht mehr austragen kann. Die Fragen, auf die Rosalind von ihrem Vater keine Antworten bekommen hat, richtet sie nun an Beerenbaum. Antje Doßmann ist der Überzeugung, dass Rosalinds heftige Reaktionen auf ihr Gegenüber als Zeichen ihrer unvollstän801 Vgl. Monika Maron: Stille Zeile Sechs, Frankfurt/M. 1991, S. 7ff. 802 Vgl. Kapitel 3.2. dieser Arbeit. 803 Brockmann 1999, S. 151f.

Frühe Beschäftigung mit dem Lebensrückblick

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digen Lösung aus ödipalen Strukturen zu verstehen ist.804 Im Verlauf des Romans scheinen wiederholt Erinnerungen an ihre Kindheit und die von ihr nachträglich verurteilten Erziehungsmethoden ihres Vaters auf: Vor allem aber lernte ich an diesem Tag, daß ich meinen Vater nur dann für mich interessieren konnte, wenn ich ihm Fragen stellte, die ihm nicht gefielen. Über die Schuld der Arbeiterklasse stritten wir, bis meine Mutter nach Hause kam und uns trennte. Da es mir nicht gelungen war, ihm zu gefallen, dachte ich fortan nur noch darüber nach, wie ich ihm mißfallen konnte.805

Wenn Rosalind Beerenbaum und damit die Gesamtheit der DDR-Aufbaugeneration angreift, ihn mit den Verbrechen des Kommunismus konfrontiert und für die Missstände in der DDR verantwortlich macht, wird auch der autobiographische Hintergrund des Romans deutlich oder, wie Karen Leeder es ausdrückt, »Maron’s own obsessive return to versions of her relationship with her own stepfather«806 : Monika Maron setzt sich in Stille Zeile Sechs nicht zuletzt mit ihrem schwierigen Verhältnis zu ihrem Stiefvater Karl Maron auseinander. Auch sein Lebenslauf entspricht dem üblichen Werdegang eines DDR-Funktionärs: Wie Herbert Beerenbaum absolviert er eine Handwerker-Ausbildung und verbringt die Zeit des Nationalsozialismus im sowjetischen Exil; später wird er Chef der DDR-Volkspolizei, Mitglied des Zentralkomitees der SED und ist von 1955 bis 1963 Innenminister der DDR. Der Generationskonflikt und Rosalinds Kampf um einen autonomen Lebensentwurf, den sie mit Beerenbaum austrägt, entsprechen Marons Schwierigkeiten mit ihrem Stiefvater, die sie bis zu seinem Tod im Jahr 1975 nicht überwinden kann. Wolfgang Emmerich spricht von »quälenden, aggressionsgeladenen Erinnerungen«807 an ihre Kindheit, die Maron verfremdet und in Stille Zeile Sechs einfließen lässt. Einen weiteren Themenkomplex innerhalb des Romans stellen Erinnerungsvorgänge und die Deutung geschichtlicher Wirklichkeit dar : Es sind nicht nur Rosalinds und Beerenbaums unterschiedliche Biographien, die in zwei quasiautobiographischen Erzählsituationen vorgestellt werden, sondern insbesondere ihre verschiedenen Erinnerungsentwürfe und Lesarten der DDR-Vergangenheit, die ihre Verständigung über den ›real existierenden Sozialismus‹ scheitern lassen. Beide Erinnerungskonzepte beanspruchen für sich Authentizität und damit Wahrhaftigkeit, bleiben aber ihrer Subjektivität verhaftet, was im kommunikativen Austausch nicht problematisiert wird. So kann es weder

804 805 806 807

Vgl. Doßmann, S. 86. Maron 1991, Stille Zeile Sechs, S. 113. Leeder, S. 255. Emmerich 2000, S. 490.

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Rosalind noch Beerenbaum gelingen, der jeweils anderen Sichtweise zumindest einen subjektiven Wahrheitsgehalt zuzugestehen808 : Das war eine aufregende Zeit, wie Sie sich denken können, so kurz nach dem Bau unseres Antifaschistischen Schutzwalls, sagte er. […] Damals, sagte Beerenbaum, vor dem historischen August 61, habe er, wenn er morgens beim Betreten der Universität die Linden hinunterblickte, oft die Vision gehabt, Ströme des Lebenssaftes der jungen Republik, rot und pulsierend, durch das Brandenburger Tor geradewegs in den gierigen Körper des Feindes fließen zu sehen. […] Da haben Sie das Blut lieber selbst zum Fließen gebracht und eine Mauer gebaut, an der Sie den Leuten die nötigen Öffnungen in die Körper schießen konnten, sagte ich.809

Die Auseinandersetzung mit Beerenbaum wird zur Auseinandersetzung mit dem Staat; die Schwächen des DDR-Sozialismus werden thematisiert und verurteilt: Die totalitären Systemstrukturen und ideologisierten politisch-kulturellen Aspekte des DDR-Alltags schildert Monika Maron in ›Stille Zeile Sechs‹ […]. In diesem Roman werden ohne geschichtsträchtige Nostalgie das ideologisierte Selbstverständnis der DDR, der Machtrausch der Funktionäre, die Geschichte der Neurosen einer Vorkriegsgeneration, die Scheinfassade des Antifaschismus und der politische AlltagsOpportunismus präzise entwickelt.810

Achim Geisenhanslüke formuliert es folgendermaßen: Der Abschied vom Vater, von Beerenbaum und den durch ihn vertretenen Gründerfiguren der DDR, zu denen nicht zuletzt Marons eigener Stiefvater Karl Maron zählt, dient im Roman einer symbolischen Verabschiedung der DDR auf dem Friedhof der Geschichte.811

Frank Thomas Grub betont die »zahlreiche[n] Parallelen zwischen der Autorin Monika Maron und ihrer Protagonistin Rosalind Polkowski«812 ; Astrid Herhoffer hält darüber hinaus fest, dass Maron Rosalind »zum Sprachrohr ihrer eigenen politischen Ansichten und zum Vehikel ihrer Abrechnung mit einem politischen System macht«.813 In der Tat finden sich zahlreiche Argumente, die 808 Vgl. Inez Müller : »Die Kategorien Zeit und Raum im Roman ›Stille Zeile Sechs‹ von Monika Maron«. In: Erinnerte und erfundene Erfahrung. Zur Darstellung von Zeitgeschichte in deutschsprachiger Gegenwartsliteratur, Hg. v. Edgar Platen, München 2000, S. 75. 809 Maron 1991, Stille Zeile Sechs, S. 107f. 810 Korte 1999, S. 544. 811 Achim Geisenhanslüke: »Abschied von der DDR«. In: Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur, Sonderband IX/00: DDR-Literatur der 90er Jahre, Hg. v. Heinz Ludwig Arnold, München 2000, S. 84. 812 Grub 2003, Untersuchungen, S. 367. 813 Astrid Herhoffer: »Abschied von politischem Alltag als ästhetiktaugliches Paradigma?«. In: The New Germany. Literature and Society after Unification, Hg. v. Osman Durrani, Colin Good u. Kevin Hilliard, Sheffield 1995, S. 369f.

Frühe Beschäftigung mit dem Lebensrückblick

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Rosalind gegen Beerenbaum und seine Generation hervorbringt, auch in publizistischen Arbeiten und Interviews der Autorin. Die ablehnende Auseinandersetzung mit dem Kommunismus und den Lebens- und Arbeitsbedingungen in der DDR durchzieht Marons Gesamtwerk als Grundkonflikt, der schon Flugasche und Die Überläuferin (die beide nur in Westdeutschland erscheinen können) auszeichnet, in Stille Zeile Sechs einen Höhepunkt erreicht und selbst noch in Animal triste, Pawels Briefe und Endmoränen (2002) fortgesetzt wird. Letztlich führt Marons Identitätssuche wie die ihrer Protagonistinnen immer wieder zu dem Themenkomplex DDR zurück. Ungeachtet Marons Ablehnung dieses Staats, die sie seit 1981 öffentlich artikuliert und die auch das Verhältnis zu ihrer parteitreuen Mutter Hella belastet, fällt die Entscheidung, Ostdeutschland zu verlassen, erst im Jahr 1988. Maron erhält ein Dreijahres-Visum und siedelt mit ihrer Familie nach Hamburg über. Die Loslösung von der DDR ist also ein langwieriger Prozess, der endgültige Bruch fällt Maron denkbar schwer. Auch dieser Aspekt fließt in Stille Zeile Sechs ein – Rosalind gibt trotz ihrer Abneigung gegen Beerenbaum und sein Memoirenprojekt ihre Anstellung nicht auf und kann selbst nach dem Tod ihres Widerparts nicht mit dem Konflikt abschließen: Michael Beerenbaum, der Sohn des verstorbenen Funktionärs, übergibt ihr im Anschluss an die Beerdigung das Manuskript der mit ihrer Hilfe niedergeschriebenen Lebenserinnerungen: Ich weiß, was in dem Paket ist. Ich will es nicht haben. Ich will damit nichts mehr zu tun haben. Trotzdem greife ich danach. […] Ich werde es nicht öffnen. Ich werde es in die nächste Mülltonne werfen. Ich werde es zwischen den Papierbergen im unteren Fach meines Bücherregals begraben. Ich werde es auf keinen Fall öffnen.814

Rosalind hat geplant, das von ihr ersehnte freie und selbstbestimmte Leben an dem Tag nach Beerenbaums Tod zu beginnen, den sie als »übermorgen« bezeichnet. Doch sie muss erkennen: »Beerenbaum ist tot, begraben. Und alles ist wie vorher. Übermorgen ist der Tag nach Beerenbaums Tod. Wann ist übermorgen? […] Ist übermorgen schon gewesen, und ich habe es nicht bemerkt?«815 Elke Gilson kommentiert: Die Schilderung der absurden Bindung eines Individuums an das von ihm gehaßte Objekt, von dem es sich kaum leichter lösen kann als ein Liebender vom Geliebten, beruht auf einer biografischen Einsicht der Autorin Maron, die mit diesem Roman herausfinden wollte, weshalb sie nach all den Jahren immer noch lebte in einem Land mit einer Regierung, die ihr die Ausübung ihres Berufes als Schriftstellerin verbot und deren Verachtung für den Willen der Bürger sich tagtäglich vermehrte.816 814 Maron 1991, Stille Zeile Sechs, S. 219. 815 Ebd., S. 216. 816 Elke Gilson: »Ein kurzer, umgekehrt chronologischer Überblick über das Werk«. In: »Doch

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Die Autorin selbst bestätigt diese Einschätzung, wenn sie in ihrem Werk Wie ich ein Buch nicht schreiben kann und es trotzdem versuche (2005) formuliert: Nachdem ich meinem Buch [Die Überläuferin] in der Erkenntnis gefolgt war, daß die Freiheit eines Krüppels zwar auch Freiheit, aber eben die eines Krüppels, also eingeschränkte Freiheit ist, formulierte sich in mir allmählich die Frage: Warum bin ich dann noch hier? Hier war die DDR. Die Antwort darauf suchte ich in ›Stille Zeile sechs‹. Etwa auf der Seite 50 ahnte ich die Antwort: weil auch ich, wie Rosalind Polkowski, meinen Feind nicht loslassen konnte. Ich wollte nicht verloren haben, obwohl ich, jedenfalls damals, längst verloren hatte.817

Letztlich lässt sich Stille Zeile Sechs als Abrechnung mit dem DDR-Sozialismus und zugleich als eine »autobiografisch vermittelte[…] Auseinandersetzung mit der eigenen Identität und Geschichte«818 lesen. Zahlreiche Aspekte, die Maron in den hier beschriebenen früheren Werken zur Sprache bringt und verhandelt, beschäftigen sie noch Jahre später und finden sich auch in ihrer Autobiographie wieder, wie im Folgenden zu zeigen sein wird.

5.2. Briefe als Zeitzeugen – Voraussetzungen und Möglichkeiten faktenorientierter Erinnerung »Erinnern ist für das, was ich mit meinen Großeltern vorhatte, eigentlich das falsche Wort, denn in meinem Innern gab es kein versunkenes Wissen über sie, das ich hätte zutage fördern können«819 – bereits zu Beginn von Pawels Briefe reflektiert Monika Maron die außergewöhnlichen Vorzeichen, unter denen die Rekonstruktion ihrer Familiengeschichte entsteht. Die 1941 geborene Schriftstellerin hat ihre Großeltern nicht mehr kennen gelernt; zunächst sind es lediglich die Erzählungen ihrer Mutter Hella und deren Geschwister, auf die sich das Wissen über ihre Vorfahren gründet. Im Jahr 1994 allerdings veranlasst ein zufälliger Fund Mutter und Tochter, ihre Erinnerungsarbeit zu überdenken und sich einer erneuten, unvoreingenommenen Auseinandersetzung mit dem Leben von Pawel und Josefa Iglarz zu stellen: Auf der Suche nach alten Fotos, um die ein holländisches Fernsehteam gebeten hat, stößt Hella Maron auf einen Karton mit Dokumenten, der über Jahrzehnte in der Familie verwahrt wurde, von ihr jedoch unbeachtet blieb. Sie findet darin Briefe ihres Vaters aus dem Ghetto und Antworten seiner Kinder an ihn, die in ihr »nicht nur die vergrabene Trauer das Paradies ist verriegelt…«. Zum Werk von Monika Maron, Hg. v. Elke Gilson, Frankfurt/M. 2006, S. 76. 817 Monika Maron: Wie ich ein Buch nicht schreiben kann und es trotzdem versuche, Frankfurt/M. 2005, S. 13f. 818 Geisenhanslüke, S. 84. 819 Maron 1999, S. 8.

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weckten, sondern sie auch in eine anhaltende Verwirrung stürzten. Diese Briefe waren ihr unbekannt. Sie konnte sich nicht erinnern, sie je gelesen oder gar selbst geschrieben zu haben«.820 So steht am Beginn des autobiographischen Projekts ein »schwer nachvollziehbarer Akt des Vergessens«821, der den Zugang zu den eigenen Vorfahren lange erschwert und die Erinnerungsarbeit der Familie Maron/Iglarz deutlich geprägt hat. Pawels Briefe aus dem Ghetto bieten für Monika Maron nun die Voraussetzungen, auf deren Grundlage sie sich ihrer Familiengeschichte in unerwarteter Intensität von neuem nähern kann. Sie werden zum Anlass für zahlreiche Gespräche mit ihrer Mutter, für weitere Recherchen und nicht zuletzt für eine Reise nach Polen, die die Autorin gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrem Sohn Jonas unternimmt, um nach Spuren aus der Vergangenheit zu suchen.822 Wie auch Sylvia Klötzer es formuliert, werden Pawels Briefe für Maron zu einer Brücke, die in die Vergangenheit zurückgeht und ebenso von der Vergangenheit in die Gegenwart führt: Die Briefe ermöglichen der Autorin, im Horizont akuter Fragen der Geschichte der Großeltern genau nachzugehen, das schwelende Projekt tatsächlich zu realisieren. […] Es sind kostbare Schätze, die die Enkelin nicht nur ausstellt, sondern mit denen sie eine abgebrochene Kommunikation fortsetzen kann. Sie führt zu Geschichten des Erinnerns und Geschichten über das Vergessen, zum Befragen von (Familien)Geschichte als Voraussetzung für Gegenwart(en).823

In ihrer Autobiographie zitiert Maron wiederholt aus den Briefwechseln mit ihrem Großvater. Dabei ist es zunächst eine Nachricht Josefas an ihren Mann kurz vor ihrem Tod, die in voller Länge wiedergegeben wird und in der diese Pawel bittet, noch einmal zu ihr zu fahren, da es schlecht um sie stehe. Auch dieser Brief ist Hella unbekannt, warum er maschinengeschrieben und in deutscher Sprache vorliegt, kann sie sich nicht erklären. Der Abschnitt schließt mit der Information, dass Pawel an Josefas Beerdigung nicht teilnehmen durfte und er seinen Kindern verbot, ihn nach der Beerdigung im Ghetto zu besuchen. Pawels Briefe dagegen werden zu Beginn der Autobiographie selten vollständig zitiert; vielmehr lässt Maron einzelne Auszüge gezielt in ihre Reflexionen einfließen. Wie zum Beispiel, wenn sie versucht, sich ihre Kindheit mit ihren Großeltern vorzustellen: 820 Ebd., S. 10. 821 Friederike Eigler: »Nostalgisches und kritisches Erinnern am Beispiel von Martin Walsers Ein springender Brunnen und Monika Marons Pawels Briefe«. In: Monika Maron in Perspective. ›Dialogische‹ Einblicke in zeitgeschichtliche, intertextuelle und rezeptionsbezogene Aspekte ihres Werkes, Hg. v. Elke Gilson, Amsterdam, New York 2002, S. 168. 822 Vgl. Pflugmacher, S. 115. 823 Klötzer, S. 46.

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Am Nachmittag geht mein Großvater mit mir spazieren. Ich führe ihn an der Hand durch die Schillerpromenade und höre, wie die Nachbarn ihn grüßen […]. Mein Großvater ist freundlich zu allen, damit mir das Schreckliche verborgen bleibt; so hat er es seinen Kindern geschrieben in dem Brief, der sein Vermächtnisbrief war : ›Zeigt niemals dem Kinde, daß es Haß, Neid und Rache giebt. Sie soll ein wertvoller Mensch werden.‹824

Im Verlauf von Pawels Briefe werden die Zitate häufiger ; es finden sich Abschnitte, in denen Maron ganze Briefwechsel zwischen Pawel und seinen Kindern wortgenau wiedergibt und die Erzählerin hinter diese persönlichen Nachrichten zurücktreten lässt. Pawels Briefe erhellen seinen Alltag im Ghetto; er berichtet von seiner Unterkunft, seinen Mahlzeiten, seinen Gelegenheitsarbeiten. Häufig ist von seiner verstorbenen Frau und seiner Trauer die Rede; er wirft sich vor, Schuld am Unglück der Familie zu tragen.825 Auch seinen Schmerz über den Verlauf seiner letzten Lebensjahre teilt er seinen Kindern mit und gibt ihnen Ratschläge für ihr (Familien-)Leben: ›Meine geliebten Kinder, ihr habt es am eigenen Leibe und an unseren Eltern erlebt, was eine Trennung bedeutet. Selbst eine harmlose Trennung kann dazu führen, daß man sich im Leben nicht mehr sieht. Infolgedessen, meine Lieben, bitte ich euch, haltet zusammen, haltet fest zusammen, nützt jede Gelegenheit des Zusammenseins aus, vertragt euch in jeder Weise gut. Seid lieb zueinander, liebet euch untereinander, wie Mama euch geliebet hat und wie ich euch liebe. Laßt keinen fremden Menschen hindernd zwischen euch treten.‹826

Maron begnügt sich auch hier nicht damit, die Briefe lediglich wiederzugeben; sie interpretiert, kommentiert und verknüpft ihre Erinnerungsarbeit und ihren Rekonstruktionsprozess mit den Nachrichten ihres Großvaters. Dem eben zitierten Auszug beispielsweise fügt sie eine kritische Notiz hinzu, dass die Geschwister Marta, Hella und Paul eben doch etwas zwischen sich haben treten lassen, das sie unwiderruflich getrennt hat, nämlich ihre politischen Überzeugungen.827 So verbindet Maron ihre Auseinandersetzung mit dem Kommunismus, die fast jedes ihrer Werke, so auch Pawels Briefe kennzeichnet, wie schon in Flugasche mit der Hinterlassenschaft Pawels. Zentral für Marons Autobiographie ist ein Brief von Pawel, der die Entstehungsgeschichte des einzigen erhaltenen Schriftstücks von Josefa erklärt: ›Mein lieber Paul, ich schicke dir hier einen Brief mit, den Mama einen Tag vor ihrem Tode an mich diktiert hat. Der Brief zerriß mir das Herz, ich wollte ihn noch mal lesen, aber ich bekomme es nicht fertig. Ich schicke dir also den letzten Brief von Mama an 824 825 826 827

Maron 1999, S. 112. Vgl. ebd., S. 132ff. Ebd., S. 149. Vgl. ebd.

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mich mit folgender Bitte: fahrt mal an einem Sonntag alle raus zu Lades und laßt euch den Brief wortgetreu übersetzen und Hella soll denselben mit der Maschine abschreiben und Original und Abschrift gut aufbewahren. Schließt ihn irgend in ein Fach ein, daß er nicht verloren geht, und wenn Monika groß ist zeigt ihr den Brief und erzählt ihr, wie tief unglücklich ihre Großeltern gerade in den alten Tagen geworden sind, vielleicht weint sie dann auch eine Träne.‹828

Maron kommentiert: »Ich war sechsundfünfzig Jahre alt, als ich Pawels Briefe endlich las. Seit wann hatten Hella und Marta vergessen, daß es sie gibt? Seit vierzig Jahren schon? […] Vor diesem Vergessen stehe ich ratlos, so ratlos wie Hella selbst«.829 Das kommunikative Gedächtnis zahlreicher Familien wird durch den Nationalsozialismus gestört; die physische Vernichtung ganzer Menschengruppen sowie auch unterschiedlich motivierte Vorgänge des Vergessens, Verdrängens oder Umschreibens der Vergangenheit verhindern die Weitergabe individueller und kollektiver Erfahrungen und Erinnerungen.830 Die Kommunikation über die Generationen seiner Nachfahren hinweg, die Pawel sich in diesem Auszug ausdrücklich wünscht, wird durch das Vergessen seiner Briefe unterbrochen. Die Autorin kann die Verbindung zu Pawel, die seine Nachrichten ihr ermöglichen, erst im fortgeschrittenen Erwachsenenalter herstellen. Auch Katharina Boll ist der Ansicht: ›Pawels Briefe‹ handelt von den Diskontinuitäten innerhalb einer Familiengeschichte: Erinnerungen gingen in zeitlichen Umbrüchen verloren. […] Vergessene Erinnerungen an die Generation der Großeltern werden wiederbelebt und in eine Beziehung zu den folgenden Generationen gebracht.831

Pawels Briefe fungieren in Marons Autobiographie als Erinnerungsträger : Sie enthalten Informationen über die Lebensumstände Pawels im Ghetto und seiner Kinder in Berlin, über den Tod Josefas, über seine Gedanken und Sorgen während der letzten Monate seines Lebens sowie auch über seine retrospektive Einschätzung seiner Religion, seines Familienlebens, seines Schicksals. Zahlreiche dieser Aspekte konnten nicht tradiert werden, da keines der Familienmitglieder eine Erinnerung daran hatte; erst mit dem Auftauchen der Briefe, »vergessene Zeugnisse aus einer vergessenen Zeit«832, rücken sie (wieder) in das Bewusstsein von Hella und Monika Maron. Antje Doßmann hebt in Bezug auf Pawels Briefe eine »angesichts der eigenen verzweifelten Lage des Schreibers besonders bewegende[…] humanistische[…] 828 829 830 831 832

Ebd., S. 112f. Ebd. Vgl. Eigler 2002, S. 168. Boll, S. 95f. Ebd., S. 91.

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Diktion«833 hervor; auch die Autobiographin erkennt »ihre unglaubliche Wirkung […] eben darin, daß ein Mensch in dieser Situation, in der er war, so schreiben, so denken konnte«.834 Häufig erwähnt Pawel seine Enkelin, er lässt sie grüßen, bedauert es, nicht bei ihr sein zu können und spricht Wünsche und Ratschläge für ihr zukünftiges Leben aus. So erreichen Pawels Briefe über ihre Funktion als Erinnerungsmedium hinaus, dass Monika Maron nachträglich eine tiefe Verbundenheit mit ihrem Großvater aufbaut: Wenn ich in Pawels Briefen meinen Namen finde, in seiner schwer lesbaren Sütterlinschrift […], wenn ich mir vorstelle, daß der Mann, der diese Briefe schrieb, an mich dachte, auf mich hoffte, verliert das Wort Vergangenheit für Minuten seinen Sinn. Dann werden die Jahre durchlässig und der 26. Juli oder der 8. August 1942 gehören zu den Tagen meines erinnerbaren Lebens.835

Neben den wieder aufgefundenen Briefen trägt Maron in ihrer Autobiographie zahlreiche weitere »Medien der Erinnerung«836 zusammen, die Aufschluss über ihre Großeltern und ihre Stationen, ihre Lebensweisen und ihre Maximen geben: Fotografien von Familienmitgliedern, Tagebucheinträge ihrer Mutter, Zeitungsberichte und amtliche Dokumente wie beispielsweise eine Geburtsurkunde ihres Urgroßvaters. Mit ihrer Mutter führt Monika Maron darüber hinaus einen Erinnerungsdialog: Hella ist als Ansprechpartnerin präsent; ganze Abschnitte der Autobiographie sind ausdrücklich als Paraphrasen aus ihren Erzählungen markiert.837 Die Fotografien werden weitgehend in chronologischer Reihenfolge präsentiert; eine Ausnahme bilden die zwei Portraitaufnahmen von Pawel und Josefa, die noch vor der Auswanderung nach Berlin entstanden sind und nun die Fotoreihe eröffnen. Es folgen eine Ganzkörperfotografie von Pawels Vater Juda Lejb Sendrowitsch Iglarz, ein Familienbild von Josefa und Pawel mit ihren zwei Söhnen Paul und Bruno, eine Aufnahme der Eltern mit allen vier Kindern, der Abdruck einer von Pawel beschriebenen Postkarte, weitere Bilder von Pawel und Josefa, von Josefas Grab, von Hella als junger Frau und schließlich Kindheitsfotos von Monika Maron. Die Abbildungen sind jeweils mit einer Legende versehen, die kurz über die Personen, zum Teil auch über Ort oder Jahr der Aufnahme informiert. Fast jedem Abdruck eines Originalfotos folgt ein zweites Bild mit einem aussagekräftigen Detailausschnitt. Maron interpretiert die Fotografien innerhalb ihres Textes; aus den vergrößerten Details versucht sie 833 Doßmann, S. 125. 834 »Erinnern und Vergessen: Ein aktuelles Thema in der deutschen Gegenwartsliteratur. Im Gespräch mit Monika Maron«, Monika Maron im Gespräch mit Holly Liu. In: Berliner LeseZeichen 5 (2000), H. 5, http://www.luise-berlin.de/lesezei/rezensionen_aktueller_pub likationen.html, Zugriff: 30. 04. 2013, S. 1. 835 Maron 1999, S. 141. 836 Pflugmacher, S. 115. 837 Vgl. ebd.

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Haltungen und Gesten zu lesen und zu deuten. Ihre Beschreibungen und Kommentare erscheinen jedoch nicht unbedingt neben oder unmittelbar nach den Fotografien, vielmehr sind sie stimmig in den Argumentationsfluss der Autobiographie eingebettet. Carsten Gansel betrachtet die »Nutzung von persönlichen Gedächtnismedien« wie Fotografien, Tagebucheinträgen und Briefen als »ein typisches Verfahren bei der Inszenierung von Erinnerung. […] Über diese Dokumente besteht die Chance, die Authentizität des Dargestellten zu beglaubigen«.838 Gansels These ist durchaus zuzustimmen; in Marons Fall ist aber zu beachten, dass die benutzten Erinnerungsträger häufig den einzigen Zugang zur Vergangenheit darstellen und der Autobiographin keine persönliche Erinnerung an das zu Beschreibende vorliegt. Ähnliches gilt für die Aussage Torsten Pflugmachers: Der Rückgriff auf Medien der Erinnerung muss als eine Dezentrierung auf Seiten des Erinnerungssubjekts im Dialog mit seiner Vergangenheit verstanden werden: Mehr bzw. anderes Wissen wird bereitgestellt, das die Darstellungen des Erzählers multiperspektivisch kontrastiert oder horizontüberschreitend erweitert. […] Diese Aufsplitterung der Wissensquelle in interviewähnlichen Szenarien kann als eine Art Stimmenverleih betrachtet werden, die rückblickende Fremdperspektiven auf sich und auf andere Familienmitglieder im autobiografischen Text ermöglicht.839

Pflugmachers Stellungnahme trifft auch in Marons besonderem Fall zu, indes sind es in Pawels Briefe zumeist nicht die eigenen Erinnerungen, die in Verbindung beziehungsweise Kontrast zu den externen Gedächtnismedien gebracht werden (können), sondern die Erinnerungen Hellas – wiederum eine Wissensquelle außerhalb der Autobiographin. Auch wenn die aufgefundenen Dokumente die Familiengeschichte erhellen und einen neuen Zugang eröffnen, spürt Maron hier letztlich einer Epoche nach, die sie nicht aus eigener Erfahrung und Einschätzung heraus beschreiben kann. Sie bleibt auf die äußere Vermittlung von Informationen angewiesen. Diese werden zum Gegenstand einer kritischen Auslegungstätigkeit: Briefe, Fotografien, Dokumente und die Erzählungen Hellas werden reflektiert, kontrastiert, kommentiert, interpretiert, auf ihre Gültigkeit hin überprüft und in die individuelle Erinnerungsarbeit Marons eingebunden. Christine Cosentino fasst zusammen: Für die recherchierende Enkelin beginnt […] nicht nur eine auf Identitätssuche gerichtete Reise in die Vergangenheit, sondern auch eine schmerzhafte Auseinandersetzung mit Verdrängungen und unerklärbaren Widersprüchen zwischen lückenhaf838 Carsten Gansel: »Formen der Erinnerung in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nach 1989«. In: Das »Prinzip Erinnerung« in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nach 1989, Hg. v. Carsten Gansel u. Pawel Zimniak, Göttingen 2010, S. 27. 839 Pflugmacher, S. 114f.

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tem Erinnern / völligem Vergessen und de facto existierenden Dokumenten. […] Nachdenklich entwickelt Maron Theorien über das Vergessen. Sie kommt zu dem Schluß, daß der, der das Chaos des Vergangenen nicht verträgt, es ins Sinnhafte zurechtbiegt.840

Neben den vorliegenden Dokumenten und den autobiographischen Erinnerungen Hellas tritt die Erzählerin als drittes Moment auf; sie stellt diese beiden Ebenen gegenüber, verbindet sie miteinander und muss akzeptieren, dass Hellas Gedächtnis sich wiederholt als lückenhaft erweist. Auch den möglichen Ursachen für das Vergessen ihrer Mutter spürt die Autorin nach.841 Lothar Bluhm bezeichnet Hellas Erinnerungsverlust als »Folie dieser Erinnerungssuche«.842 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Monika Maron ihre Mutter nicht mit Vorwürfen konfrontiert, sondern das Vergessen der Briefe lediglich zu ergründen sucht. Unsere Fähigkeit zu vergessen empfinden wir oft nur als die Unfähigkeit, uns zu erinnern. Das Vergessen steht unter Verdacht, dem Bösen und Schlechten in uns dienstbar zu sein. Vergessen bedeutet Schuld oder körperliches Versagen. […] Als meine Mutter sich an einen Briefwechsel […] nicht erinnern konnte, war das Vergessen in der öffentlichen Meinung gerade zu einem Synonym für Verdrängung und Lüge geschrumpft. Aber das Vergessen meiner Mutter war unschuldig.843

Die der Familiengeschichte inhärente Heterogenität wird bewusst betont; niemals erliegt Maron der Gefahr einer Nivellierung oder Stilisierung der Historie. Sie verarbeitet ihre Quellen bewusst nicht zu einer linearen, homogenen Erzählung, sondern lässt sie in all ihren Widersprüchen und Unzulänglichkeiten selbst zu Wort kommen. So erzeugt sie eine Art Polyphonie, die die Stimmen der Familienmitglieder gleichrangig neben die Stimme der Autorin stellt – gemäß dem Gerechtigkeitsparadigma, dass jede Erinnerung an ein individuelles Leben gebunden und von diesem geprägt ist. Katja Lange-Müller nennt Monika Maron daher auch »das Medium des multipersonalen Erinnerns«.844 Letztlich interessieren Maron bei ihrer Reise in die Vergangenheit die vielfältigen Facetten von Erinnerungen, zu denen ihrer Auffassung nach das Vergessen notwendig gehört.845 Im Bewusstsein um die Besonderheit ihrer Quellenlage werden im Verlauf der Autobiographie Erinnerungsprozesse, die innerfamiliär unterschiedli840 Cosentino 2001, S. 6. 841 Vgl. Boll, S. 94. 842 Lothar Bluhm: »›Irgendwann, denken wir, muß ich das genau wissen‹. Der Erinnerungsdiskurs bei Monika Maron«. In: Mentalitätswandel in der deutschen Literatur zur Einheit (1990–2000), Hg. v. Volker Wehdeking, Berlin 2000, S. 148. 843 Maron 1999, S. 11f. 844 Katja Lange-Müller : »Gedanken zu ›Pawels Briefe‹«. In: »Doch das Paradies ist verriegelt…«. Zum Werk von Monika Maron, Hg. v. Elke Gilson, Frankfurt/M. 2006, S. 212. 845 Vgl. Boll, S. 97f.

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chen Erinnerungsweisen sowie Erinnerungsverluste explizit thematisiert und problematisiert – »[t]he story of Pawel’s letters is accompanied by a metadiscourse about memory not merely as an individual capacity but also as a connective medium between generations«.846 Bereits auf den ersten Seiten von Pawels Briefe offenbart sich, welch gewichtigen Stellenwert dieser Themenkomplex für die Autorin einnimmt. Wiederholt reflektiert sie über die Mechanismen des Erinnerns und Vergessens und stellt heraus, dass diese nicht als Gegenbegriffe aufzufassen, sondern eng miteinander verknüpft sind: Was entscheidet darüber, ob wir uns eher an die glücklichen Momente unseres Lebens erinnern oder an die unglücklichen; ob uns unsere Triumphe vor den Demütigungen einfallen oder umgekehrt? […] Hella sagt, ich sei ein glückliches Kind gewesen, das viel gelacht hätte. Und ich kann mich daran einfach nicht erinnern. Hella erinnert sich anders. Hella erinnert sich an Glück.847

Diese Textstelle ist eingebettet in Gedanken über die Fähigkeit, Glück zu empfinden und zu erinnern. Monika Marons Selbsteinschätzung steht dabei in deutlichem Kontrast zu Hellas Art, ihr Leben rückblickend zu beurteilen. In Pawels Briefe findet desgleichen eine Auseinandersetzung mit dem Verhältnis zwischen Mutter und Tochter statt; die Charakterisierung Hellas bildet einen zentralen Bestandteil der Autobiographie. Ein Foto, das kurz nach Kriegsende entstand und Hella mit Monika auf einer Demonstration zeigt, veranlasst die Erzählerin zu weiteren Überlegungen; sie verbindet flüchtige Eindrücke mit diesem Foto, ist sich aber nicht sicher, diese aus eigenem Erleben oder beispielsweise aus einem Film zu kennen. Sie kommt zu dem Schluss: [A]utobiographischen Kindheitsbeschreibungen mißtraue ich ganz und gar, meinen eigenen auch. Ich erinnere mich wenig an meine Kindheit und habe trotzdem eine genaue Vorstellung von ihr. Wie die meisten Menschen habe ich mich in meinem Leben hin und wieder gefragt, warum ich wohl geworden sein könnte, wie ich bin, und habe mir zu verschiedenen Zeiten verschiedene Antworten gegeben. Vielleicht habe ich dabei die kleinen Szenen und flüchtigen Skizzen den großen Gemälden geopfert, die ich mir in wechselnden Stilarten von meiner Kindheit gemalt habe. Allerdings habe ich auch für mein Vergessen verschiedene Theorien. Ich halte es zum Beispiel für möglich, daß meine Erinnerungen den ständigen Wandel in meinem Leben nicht überstehen konnten, weil sie beim Erlernen eines neuen Lebens einfach störten.848

846 Katharina Gerstenberger : »Difficult Stories: Generation, Genealogy, Gender in Zafer S¸enocak’s Gefährliche Verwandtschaft and Monika Maron’s Pawels Briefe«. In: Recasting German Identity. Culture, Politics, and Literature in the Berlin Republic, Hg. v. Stuart Taberner u. Frank Finlay, Rochester 2002, S. 243. 847 Maron 1999, S. 69f. 848 Ebd., S. 165f.

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Elke Gilson führt aus: »Die Erinnerung wird uns vorgeführt als das, was sie tatsächlich ist: eine nachträgliche Konstruktion, eine Neu-Inszenierung der Vergangenheit, die immer von aktuellen Ereignissen und Einsichten beeinflußt ist«.849 In der Tat ist eine Reproduktion der Vergangenheit, das wurde in Kapitel 2.2.1. dieser Arbeit bereits deutlich, keiner Autobiographie möglich und kann daher nicht ihr Ziel sein. Auch Marons Autobiographie zeigt, dass Erinnerung nicht als objektive Revitalisierung von Vergangenem betrachtet werden kann; vielmehr wird ein mühevoller Suchprozess vorgeführt, der untrennbar mit dem gegenwärtigen Standpunkt der Erzählerin verbunden ist. »[R]emembering and forgetting is what propels Maron’s book«850 : Die verschiedenen Medien des Gedächtnisses dienen nicht nur der Speicherung und Wiedergabe von Erinnerungen, sondern werden benutzt, um eine eigene Perspektive zu formen und diese immer wieder neu zu situieren und zu relativieren, beispielsweise wenn Maron sie mit den abweichenden Vergangenheitsrekonstruktionen ihrer Mutter vergleicht. Die Autorin lässt ihre Leser stets an der differenzierten Erinnerungsarbeit teilhaben, ihre Reflexionen darüber bilden ein Strukturelement ihres Textes.851 Dementsprechend ließen sich hier zahlreiche Textstellen beispielhaft anführen; der folgende Passus soll exemplarisch für weitere vergleichbare stehen: »Ich kann oft nicht unterscheiden, ob ich mich wirklich erinnere oder ob ich mich an eine meinem Alter und Verständnis angepaßte Neuinszenierung meiner Erinnerung erinnere«.852 Friederike Eigler urteilt über Monika Maron und ihr autobiographisches Projekt: In Pawels Briefe hat sie eine Annäherungsweise an die Vergangenheit gefunden, in der nostalgisches, im Sinne von affektivem und identitätskonstituierendem, Erinnern und kritisches Erinnern verbunden sind. Erinnerungen werden hier nachträglich geschaffen – nicht im Sinne von freien Erfindungen, sondern im Sinne von Beschreibungen, Imaginationen, und Mutmaßungen, die von Zeitdokumenten ausgehen.853

Sowohl Elke Gilsons als auch Friederike Eiglers Einschätzung decken sich durchaus mit Monika Marons eigener Sicht auf ihre Art der Erinnerungsarbeit: [I]ch habe versucht, einen Ton zu finden, in dem sich Erinnerung als ständiger Wechsel von Annäherung und Zurückweisung erzählen ließ. Ich wollte das Erinnern als etwas Vages, Unvollständiges, Veränderbares vorführen, als etwas, mit dem es einem ergehen kann wie mit Träumen, die man noch im Aufwachen festhalten will und die sich um so schneller entziehen, je angestrengter man sie fixieren will. Mein Erinnerungsbild muß

849 850 851 852 853

Gilson 2006, chronologischer Überblick, S. 73. Gerstenberger, S. 244. Vgl. Eigler 2005, S. 145 u. Eigler 2002, S. 160f. Maron 1999, S. 167. Eigler 2002, S. 168f.

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fragmentarisch bleiben, mit Leerstellen, die der Leser selbst ausfüllen kann. Und es bleiben einfach auch Fragen offen, auf die sich keine Antworten finden lassen.854

Über die ihr vorliegenden Informationen hinaus entwirft Maron Bilder vom Alltag ihrer Großeltern; besonders interessiert sie das Familienleben in der Berliner Wohnung: »Die wichtigste Kulisse für Hellas Kindheit ist in meiner Phantasie die große Küche der elterlichen Wohnung«.855 Über Hellas Erzählungen hinaus bemüht die Erzählerin ihre Vorstellungskraft, um die Szenen detailreich und lebensnah nachempfinden zu können, ist sich der Schwierigkeit ihres Unterfangens aber durchaus bewusst: Das Fensterbrett in der Küche war so breit, daß meine Großeltern, wenn sie nähten, darauf sitzen konnten, jeder in einer Ecke. Sie saßen im Fenster, nähten Jackenfutter ein oder hefteten Säume und sprachen miteinander. […] Juscha, sagt mein Großvater, das ist die polnische Koseform für Josefa, Juscha, sagt er. Und was weiter? Ich weiß nicht, wie seine Stimme klingt, ich weiß nicht, wie er aussieht, wenn er lacht, weil es kein Foto gibt, auf dem er lacht. Ich kenne nichts von dem Leben, das ich mir vorstellen will, weder die Armut, noch die Enge, noch die Frömmigkeit. […] Juscha, sagt mein Großvater, gibst du mir bitte mal die Schere?856

Ihr Rekonstruktionsversuch beinhaltet also auch die Imagination dessen, was hätte sein können. Paradigmatisch ist die folgende Passage aus Pawels Briefe: »Nachträglich schaffe ich mir nun die Bilder, an die ich mich, wären meine Großeltern nicht ums Leben gekommen, erinnern könnte, statt sie zu erfinden«.857 Wo konkrete Informationen fehlen, beispielsweise über die Todesumstände des Großvaters, werden allgemeine Anhaltspunkte herangezogen: Maron begegnet der Ungewissheit, indem sie von ihrem Besuch in der Gedenkstätte Chelmno, die auf dem Gelände des früheren Vernichtungslagers Kulmhof errichtet worden ist, berichtet sowie hier gewonnene Eindrücke und Informationen rekapituliert.858 Während jede Autobiographie durch eine gewisse Doppelperspektivität, durch das Gegenspiel von Vergangenheits- und Gegenwartsstandpunkt gekennzeichnet ist, steht bei Maron eindeutig letzterer, also der Erzählzeitpunkt im Vordergrund. Stets reflektiert sie ihre Vorgehensweise, weist eigene Erfindungen und Vorstellungen als solche aus und gewährt ihren Lesern Einblick in die Probleme, mit denen sie konfrontiert wird: 854 »Wir waren ja immer ganz eng. Ein Gespräch mit Monika Maron über ihre Familie, das Erinnern und das Verschwinden der DDR«, Monika Maron im Gespräch mit Tilman Krause. In: »Doch das Paradies ist verriegelt…«. Zum Werk von Monika Maron, Hg. v. Elke Gilson, Frankfurt/M. 2006, S. 321. 855 Maron 1999, S. 24. 856 Ebd., S. 32f. 857 Ebd., S. 51. 858 Vgl. ebd., S. 183ff.

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Zwischen der Geschichte, die ich schreiben will, und mir stimmt etwas nicht. […] Als hätte ich darin nichts zu suchen; als wäre meine Absicht, aus den Fotos, Briefen und Hellas Erinnerungen die Ahnung vom Ganzen zu gewinnen, vermessen für einen Eindringling wie mich. Das einfache Leben meiner Großeltern und ihrer Kinder […] gerinnt mir zur Idylle, und schon verbietet sich der nächste Satz. […] Welche Rolle maße ich mir an, indem ich eine Lebensform preise, die ich für mich selbst verwerfe? […] Was verstehe ich von einem Glück, das sich im Überleben erfüllt?859

Letztlich führt Maron einen Versuch der retrospektiven Wiederherstellung von Verbindungen zwischen den Generationen ihrer Familie vor und strebt in gewisser Weise danach, das Vergessen rückgängig zu machen. Friederike Eigler ist der Meinung: »Reflexionen und Kommentare zum hindernisreichen Prozess der Rekonstruktion des kommunikativen Gedächtnisses bilden eine zentrale Dimension der Texte von Maron«.860 Die Besonderheit des defizitären autobiographischen Materials eröffnet Maron den, wenn auch mühevollen, Weg in ihre kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, in ihre Erinnerungsarbeit und die anschließende literarische Verarbeitung. Lothar Bluhm urteilt zutreffend: »Zur intellektuellen Qualität und Redlichkeit der Maronschen Erinnerungsarbeit gehört das Moment der Unsicherheit und der kontinuierlichen Infragestellung der eigenen Position«.861 Nicht zuletzt aus diesem Grund lassen sich in der Forschungsliteratur berechtigterweise Vergleiche mit der Autobiographie Günter de Bruyns finden, die sich wie auch Pawels Briefe durch Aufrichtigkeit und eine gegen sich selbst gerichtete Schonungslosigkeit auszeichnet.862 »Pawels Briefe wird insgesamt zu einem Plädoyer dafür, sperrige Vergangenheiten und Gegenwarten anzunehmen und sich ihnen zu stellen«863 – dies gelingt Monika Maron in ihrer Autobiographie: In die bedachtvoll rekonstruierte Familienchronik, die durch Widersprüche und Wissenslücken gekennzeichnet ist, gliedert sie ihre eigene Biographie organisch ein und konkretisiert im Schreiben die gewünschte Verbindung zu ihren Großeltern.

5.3. Pawels Briefe als historisches Dokument Wie in Kapitel 5.1. dieser Arbeit dargelegt wurde, zeichnet sich bereits Monika Marons Rede Ich war ein antifaschistisches Kind, die im Nachhinein als Skizze für Pawels Briefe betrachtet werden kann, sowohl durch Informationen über ihre Familiengeschichte als auch durch deren Verortung in der Zeitgeschichte aus. 859 860 861 862 863

Ebd., S. 52ff. Eigler 2005, S. 145. Bluhm, S. 150. Vgl. Cosentino 2001, S. 6 u. Pflugmacher, S. 124. Klötzer, S. 48.

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Das Schicksal der aus Polen stammenden Familie Iglarz/Maron ist letztlich eng mit den politischen Geschehnissen im Europa des 20. Jahrhunderts verbunden; demgemäß ist Marons Autobiographie ebenfalls deutlich durch ein historiographisches Element geprägt, wie im Folgenden zu zeigen sein wird. In ihren Lebensbericht einführend charakterisiert Maron ihr Verhältnis zu ihren ihr unbekannten Großeltern; schon hier geschieht dies auch im Hinblick auf das historische Zeitgeschehen: Der gewaltsame Tod, so schreibt die Autorin, ließ Pawel und Josefa Iglarz immer mehr sein als ihre Großeltern, nämlich »der gute, der geheiligte Teil der furchtbaren Geschichte«: »[S]ie vererbten mir mit ihrem Tod die Geborgenheit der Unschuld. Die Angst, von Mördern und Folterknechten abzustammen, blieb mir für meine Kinderjahre erspart«.864 Wie der Leser im Verlauf der Autobiographie erfährt (oder nach der Lektüre von Ich war ein antifaschistisches Kind bereits weiß), wandert das polnische Ehepaar Anfang des 20. Jahrhunderts nach Berlin aus und zieht dort vier Kinder groß. 1938 wird der als Jude geborene Pawel aus Deutschland ausgewiesen und muss sich zunächst neun Monate in einem Lager an der deutsch-polnischen Grenze aufhalten, wo er sich vergeblich um internationale Hilfe bemüht. Im Sommer 1939, »nach neun Monaten im Niemandsland«865, wie Maron in Pawels Briefe formuliert, kehrt er für zwei Wochen nach Berlin zurück: Um seine Angelegenheiten zu regeln, hieß es. Meine Großmutter wurde vor die Wahl gestellt, sich von ihrem Mann scheiden zu lassen oder mit ihm ausgewiesen zu werden. Sie zogen gemeinsam in Josefas Geburtsort, nach Kurow, Kreis Lask, in der Nähe von Lodz.866

Im besetzten Polen wird der schwer kranken Josefa ärztliche Hilfe verweigert; sie stirbt im Juni 1942. Pawel wird nach einer Denunziation im Frühjahr 1942 in das Ghetto Belchatow bestellt, wo er die letzten Monate seines Lebens verbringen muss. Im August 1942 wird das Ghetto liquidiert; Pawels Todesumstände können nicht mit Sicherheit nachvollzogen werden. Elke Gilson befindet zu Recht, dass die Lebensgeschichten der drei Generationen, deren Familienportrait hier gezeichnet wird, »ein Muster für die deutsche Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts abgeben könnten«.867 In der Tat wird auch das Leben von Hella Maron, geb. Iglarz und ihrer Tochter Monika in außergewöhnlich starkem Maß von den politischen Umständen beeinflusst. Während Pawel und Josefa Iglarz bereits nach Polen zurückgegangen sind, kämpfen ihre Kinder in Berlin gegen die auch ihnen drohende Ausweisung und damit um ihr Leben. Nach Kriegsende fällen die Schwestern Hella und Marta die 864 865 866 867

Maron 1999, S. 8f. Ebd., S. 21. Ebd. Gilson 2000, S. 277.

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Entscheidung, aktiv am Aufbau des Sozialismus mitzuarbeiten und nach Ostberlin überzusiedeln, während ihr Bruder Paul sich nach und nach vom Sozialismus abwendet und in Westberlin verbleibt. Durch Hellas Heirat mit Karl Maron im Jahr 1955 gehört die Familie schließlich der Führungselite in ihrem Land an – alle politischen Entwicklungen betreffen somit auch das Privatleben von Hella und der 1941 geborenen Monika Maron. Die Verwobenheit von individueller und kollektiver Geschichte zeigt sich insbesondere in der Biographie Hellas, in der »die beiden großen historischen und ideologischen Bewegungen des zwanzigsten Jahrhunderts aufeinander[treffen]«868 : Trotz ihrer polnischjüdischen Herkunft überlebt sie den Nationalsozialismus in Deutschland. Das Jahr 1945 empfindet sie als eine »Wiedergeburt«869 ; ihr Leben nach Kriegsende ist eng mit dem Aufstieg und Niedergang des Sozialismus in der DDR verbunden.870 Umso kritischer betrachtet Monika Maron die Erinnerungen und Notizen ihrer Mutter, die sie wiederholt heranzieht, um die Vergangenheit zu beleuchten: Über die vierzig Jahre bis 1995 finde ich, außer Privatem, in Hellas Notizen kaum etwas über die Zeit, in der wir lebten, als hätte sich Hellas Biographie, bis dahin auf fast natürliche Weise verwachsen mit der deutschen Geschichte, vom Zeitgeschehen gelöst, als wäre Hella von Deck gegangen und säße nun, während das Schiff weiterzog, in einer sicheren Kajüte und könnte von der ganzen großen Reise nur erzählen, wie die Kajüte ausgestattet war und wer mit ihr darin gewohnt hat.871

Da sie in Hellas Notizen weder das Jahr 1953, das Jahr 1956 noch den Mauerbau erwähnt findet, erscheint es Monika Maron, als sei Hella »unzugänglich für das Leid und Unrecht dieser Jahrzehnte«872 gewesen. Diese Defizite in der Erinnerungsarbeit Hella Marons erwähnt die Autobiographin in dem Bewusstsein, der Gefahr einer gewissen ›Geschichtsblindheit‹873 nicht erliegen zu wollen: Ihre eigene Schreibmotivation geht über einen persönlichen Lebensrückblick hinaus; die Rekonstruktion ihrer Familiengeschichte ist auch gesellschaftlich verankert.874 Mehrfach versucht sie beispielsweise, Hellas Begeisterung und Treue für den Kommunismus zu ergründen und argumentiert dabei aus einem Blickwinkel, der Freude und Erleichterung über den Niedergang der DDR erkennen lässt: Wovon war Hella denn überzeugt? Daß der neue Staat gerecht war? Er war nicht gerecht. Daß die Menschen frei und glücklich werden? Sie waren nicht frei und glücklich und wurden es auch nicht. Daß die Bildung für alle war? Sie war nicht für alle. 868 869 870 871 872 873 874

Eigler 2002, S. 170. Maron 1999, S. 82. Vgl. Eigler 2005, S. 147. Maron 1999, S. 190. Ebd., S. 191. Vgl. Bruner 1993, S. 44. Vgl. Eigler 2002, S. 163.

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Aber eine gerechte Welt mit freien, glücklichen Menschen und gleichen Chancen für alle hat Hella sich bestimmt vorgestellt, als sie mit ihrer Agit-Prop-Gruppe durch die Neuköllner Hinterhöfe zog. Ihre Überzeugung, diese ersehnte Welt könne nur eine kommunistische sein, hat sie weder den Millionen Toten noch den Millionen Gefangenen des Stalinismus noch der Realität des sozialistischen Alltags geopfert. Ich glaube, Hella sieht in ihrer Treue eine Tugend; ich empfinde sie als Unbelehrbarkeit und, angesichts der Willkür und des Unglücks, das Kommunisten über einen halben Kontinent gebracht haben, als Herzlosigkeit.875

Nach der Veröffentlichung von Pawels Briefe äußert sich die Autorin: Ich hätte, glaube ich, Pawels Briefe nicht schreiben können, solange es die DDR noch gab. Das wäre ein völlig anderes Buch geworden, wenn es überhaupt zustande gekommen wäre. Jetzt, nachdem das alles vorbei ist, kann ich ruhig und nur mit Interesse, ohne Wut sagen: Jetzt schauen wir mal, was das durch dieses Jahrhundert war, wie es geworden ist und warum. So kühl und so distanziert hätte ich nicht fragen können, solange ich in diesen Auseinandersetzungen befangen war.876

Die als nötig angesehene Distanz zu den Strukturen der DDR-Diktatur hat die Autorin bereits gewonnen, als sie Mitte der 1990er Jahre mit der Niederschrift ihrer Autobiographie beginnt. Zahlreiche Artikel und Essays, die Monika Maron in den Jahren nach 1989 in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht, geben Aufschluss über ihre persönliche Stellungnahme zu dem untergegangenen Staat wie auch zu den jeweils aktuellen politischen Entwicklungen.877 Die Ereignisse zu Zeiten von Nationalsozialismus und Kriegsende fordern zeitgleich eine erneute Bewusstwerdung auf Seiten der Autobiographin ein, da die aufgefundenen Briefe von und an Pawel ihre bisherige Vorstellung der Familiengeschichte obsolet werden lassen. Als Folge reflektiert Maron wiederholt ihre Vorgehensweise sowie die Schwierigkeiten, mit denen sie sich nicht zuletzt durch die Besonderheit ihres Quellenmaterials konfrontiert sieht und hält dem Leser auf diese Weise stets auch die Schreibgegenwart vor Augen. Es gelingt ihr, die zahlreichen verschiedenen Zeitebenen, mit denen sie operiert, stimmig miteinander zu verbinden und sie zugleich zu kontrastieren, wie auch in der folgenden Passage:

875 Maron 1999, S. 179. 876 »Erinnern und Vergessen: Ein aktuelles Thema in der deutschen Gegenwartsliteratur. Im Gespräch mit Monika Maron«, Monika Maron im Gespräch mit Holly Liu, S. 5. 877 Vgl. z. B. Monika Maron: »›Warum bin ich selbst gegangen?‹ Die DDR-Schriftstellerin Monika Maron über den Exodus ihrer Landsleute«. In: Der Spiegel 43 (1989), Nr. 33, 14. 08. 1989, S. 22/23, Monika Maron: »Die Schriftsteller und das Volk«. In: Der Spiegel 44 (1990), Nr. 7, 12. 02. 1990, S. 68–70 u. Monika Maron: »Fettaugen auf der Brühe. Die Schriftstellerin Monika Maron über ehemalige DDR-Größen und ihre Auftritte in den Medien«. In: Der Spiegel 45 (1991), Nr. 38, 16. 09. 1991, S. 244–246.

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Vor vierzig Jahren, als ich fünfzehn war und das Jahr 1912 fünfundvierzig Jahre zurücklag, gehörte es für mich zu einem vorzeitlichen Früher, in dem es Könige gab, die Frauen Mieder trugen und die Männer Monokel. […] Die sechsundachtzig Jahre, die uns inzwischen vom Jahr 1912 trennen, sind nicht einmal mehr das Doppelte meiner Lebenszeit, zwei Drittel davon waren auch meine Jahre. Die Zeit ist vergangen und gleichermaßen geschrumpft. So besehen erscheint es mir plötzlich ganz unbegreiflich, warum uns die Armut jener Jahre in eine gestaltlose Ferne entrückt ist, obwohl sie nicht länger zurückliegt, als durch eigene Erfahrung zu durchmessen ist; warum wir unser Wohlergehen für so normal halten […] als wäre es nicht gerade ein paar historische Minuten oder gar Sekunden her, daß […] Säuglinge starben, Kinder unterernährt waren und die hygienischen Verhältnisse zum Himmel stanken.878

Meike Herrmann urteilt zu Recht: Eine zeitgemäße Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Geschichte ist Pawels Briefe in der Tat gerade deshalb, weil Maron darin die Gegenwartsebene und die familienbiographische Recherche einschließlich der begleitenden Reflexionen zur maßgeblichen Handlung macht. Dass dabei kaum noch zwischen Rahmen und Erzählung, zwischen Gegenwarts- und historischer Handlung zu trennen ist, veranschaulicht die Durchdringung von Vergangenheit und Gegenwart, Geschichte und Gedächtnis noch formal.879

Neben die von Herrmann beschriebene elegante Verknüpfung von Ich und Geschichte, die eine gegenseitige Beleuchtung beider Komponenten ermöglicht, tritt die Vermittlung allgemeiner historischer Fakten. Immer dann, wenn Marons Quellenmaterial sich als unzureichend erweist, wenn sie auf Fragen stößt, auf die sie keine Antworten erhält, greift sie auf die Zeitgeschichte zurück. Pawels Todesumstände beispielsweise konnten nicht abschließend geklärt werden – Maron reagiert darauf mit den folgenden Passagen: Anders als die Ghettos von Warschau und Lodz, war das Belchatower Ghetto nicht eingezäunt. Das Areal zwischen der Litzmannstädter-, der Georg-Schönerer-, der PaulGerhardt- und der Horst-Wessel-Straße wurde nur durch die Häuserzeilen begrenzt und durfte von den Juden nicht verlassen werden. 1939 lebten in Belchatow mehr als 6000 Juden, 5000 Polen und 1000 Deutsche. Das Ghetto wurde am 1. März 1941 gegründet und im August 1942 liquidiert. Pawel kam an einem Mittwoch nach Belchatow.880

und Zur Gedenkstätte gehört ein kleines Museum. In einer Vitrine liegen eine Brille, ein Löffel, ein Rasierapparat, ein Stück Kabel; die letzte Hinterlassenschaft der Toten. An den Wänden hängen Fotos, Briefe, Befehle, eine Rechnung von Motoren-Heym aus 878 Maron 1999, S. 37. 879 Meike Herrmann: Vergangenwart. Erzählen vom Nationalsozialismus in der deutschen Literatur seit den neunziger Jahren, Würzburg 2010, S. 190. 880 Maron 1999, S. 133.

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Leipzig C1 für Zwecke des Sonderkommandos Kulmhof. Der gelieferte Motor ist ausgerüstet mit 18 PS, 530 Umdrehungen/Minute, Schwungrad 900 Ø, Durchflußkühlung, Luftanlaßeinrichtung, Brennstoffgefäß, Auspufftopf, Verbindungsleitungen sind vorhanden. Der Motor ist bruch-, riß- und schweißfrei. Er kostet 1.400,– RM Nettokasse.881

Indem die Erzählerin die Zahl der von der SS ermordeten Gefangenen des Ghettos nennt oder die technischen Daten des Motors aufzählt, mit dem zahlreiche von ihnen vergast wurden, zeigt sie die Dimensionen der Verbrechen auf und führt deren Grausamkeit vor Augen. Wo das Familiengedächtnis keine sicheren Informationen hergibt, versucht Maron sich ihrem Großvater zu nähern, indem sie allgemeine Tatsachen und Zeitdokumente zusammenträgt und so vorstellbare Varianten seines Schicksals eröffnet. Tilman Krause beurteilt Marons Unterfangen wie folgt: Wer am Ende dieses zwanzigsten Jahrhunderts als bewußter Zeitgenosse lebt, ist Tochter, ist Enkelin mehr, als das wohl in jeder anderen Zeit der Fall war. Dieses – auch politische – Verwobensein der Generationen ist uns noch nie so bohrend, aber auch so bewegend gezeigt worden.882

Insbesondere das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter ist in Marons Fall stark durch die politischen Umstände geprägt. Monika Maron urteilt über ihre Mutter : »In Hella lebt der Widerspruch zwischen den beiden Welten, der Welt der Ohnmacht und der Welt der Macht, der Welt der Tradition und der öden Traditionslosigkeit des Arbeiter- und Bauernstaates«.883 Monika Maron dagegen bleibt die Diktaturerfahrung des Nationalsozialismus erspart; sie wächst in einer kommunistischen Familie Holocaust-Überlebender auf. Ihre Jugend in der DDR ist geprägt durch Bezugspersonen, die sich nicht nur mit Staat und Partei identifizieren, sondern diese auch repräsentieren.884 Antje Doßmann erkennt eine »permanente Vermischung privater und politischer Angelegenheiten« als Problem, das es der Funktionärstochter »schwer gemacht haben dürfte, eigene Positionen zu entwickeln und sich von dem Gefühl, dem Stiefvater etwas schuldig zu sein, zu befreien«.885 Auch Friederike Eigler diagnostiziert ein negatives Abhängigkeitsverhältnis, durch das Monika Maron mit der Vätergene881 Ebd., S. 184f. 882 Tilman Krause: »Der kleine vorstellbare Ausschnitt aus der Geschichte. Ein klassisches Jahrhundertend-Buch: Monika Marons vielverschlungene Familiengeschichte ›Pawels Briefe‹«. In: »Doch das Paradies ist verriegelt…«. Zum Werk von Monika Maron, Hg. v. Elke Gilson, Frankfurt/M. 2006, S. 210. 883 Maron 2000, Rollenwechsel, S. 108. 884 Vgl. Elke Gilson: Wie Literatur hilft, »übers Leben nachzudenken«. Das Œuvre Monika Marons, Gent 1999, S. 9. 885 Doßmann, S. 7.

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ration und mit dem System zunächst verbunden bleibt.886 Tatsächlich beginnt Monika Marons schriftstellerische Karriere, während der sie sich aus dieser »Position der Abhängigkeit und Mittäterschaft«887 löst und ihre Kritik am und Abkehr vom Sozialismus immer deutlicher formuliert, erst nach dem Tod Karl Marons im Jahr 1975. Mit der Veröffentlichung ihres ersten Romans Flugasche, der die Lebens- und Arbeitsbedingungen im DDR-Sozialismus scharf kritisiert und daher ausschließlich in Westdeutschland erscheint, beginnt ein Streit zwischen Monika und Hella Maron, der in eine einjährige Kontaktpause mündet. Während der Niederschrift von Pawels Briefe haben sich Mutter und Tochter seit langer Zeit wieder angenähert und folgen dem Grundsatz, ihre unterschiedlichen politischen Überzeugungen nicht mehr zwischen sich treten zu lassen: Eigentlich haben wir uns schon vor fünfzehn Jahren versprochen, über Politik nicht mehr zu streiten, was, wie Hella behauptet, dazu geführt hat, daß ich alles sagen darf und sie nichts. […] Hella glaubt an den Klassenkampf, und ich glaube an den Klassenkampf nicht.888

Dennoch findet in der Autobiographie eine kritische Auseinandersetzung mit der politischen Überzeugung Hellas statt. Monika Maron, die 1988 nach Westdeutschland übersiedelt und daher beide deutsche Staaten aus eigener Erfahrung kennt, kann die ideologische Entwicklung ihrer Mutter nicht nachvollziehen: Nichts in ihrem Leben vor diesem Mai 1945 – weder ihre Herkunft noch ihre Erziehung, weder ihr Sinn für Gerechtigkeit noch ihre Freiheitsliebe – kann mir erklären, warum sie für die nächsten Jahrzehnte zu denen gehörten, die ihre politischen Gegner in Gefängnisse sperrten, Christen drangsalierten, Bücher verboten, die ein ganzes Volk einmauerten und durch einen kolossalen Geheimdienst bespitzeln ließen. Was hatten Pawels Töchter Hella und Marta unter solchen Leuten zu suchen?889

Hier tritt die Schreibgegenwart beziehungsweise die jüngste Vergangenheit in den Vordergrund, wenn die Ereignisse um 1989 erneut zu politischen Gesprächen führen und so auf das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter einwirken. Jedoch bleiben die Auseinandersetzungen in diesem Fall familiär-freundschaftlich, zumal Hella von den Vorgängen der Wende stark verunsichert wird: Den tiefsten Zweifel an ihrem Leben brachte für sie das Jahr 1989, als das, was seit ihrer Jugend auch ihr Lebenswerk war, wie morsches Gemäuer zusammenbrach und außer verdorbenen Biographien nicht viel mehr hinterließ als die Frage, ob es sich bei diesem Experiment um eine gescheiterte Utopie oder um ein Verbrechen gehandelt hat. […] Schon am Gartentor rief ich: Ich bin der Sieger der Geschichte, und Hella sagte: Ich weiß. Damals wußte Hella, vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben, nicht mehr, was richtig 886 887 888 889

Vgl. Eigler 2002, S. 170. Ebd. Maron 1999, S. 65. Ebd., S. 154.

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und was falsch war, wohin und zu wem sie gehörte. […] Die fünfzig oder siebzig oder hundert Millionen Toten, die zerstörten Städte, die anmaßende Vernichtung der Kultur, die verkrüppelten Menschen lagen plötzlich als unbestrittene Wahrheit zwischen uns.890

Ilse Bürmann ist ebenfalls der Auffassung: »In dem erkennbaren Versöhnungsund Wiederannäherungsprozess zwischen Tochter und Mutter spielen die äußeren politischen Verhältnisse und das heißt hier der Zusammenbruch der DDR eine entscheidende Rolle«.891 Die Frage, die Hella sich nach dem Untergang des auch mit ihrer Hilfe aufgebauten Sozialismus stellen muss – ob es sich bei diesem Experiment um eine gescheiterte Utopie oder um ein Verbrechen gehandelt hat – gehört zu den zentralen Aspekten dieser Autobiographie. Vor dem Hintergrund von Pawels Schicksal als Opfer des Holocaust analysiert Monika Maron die Mechanismen der DDR-Diktatur und formuliert ihr Unverständnis gegenüber einer Sichtweise, die die Parallelen zwischen Nationalsozialismus und Stalinismus ignoriert892 – »[t]he story of Pawel and his letters is tied to the rise and fall of the GDR and the conflict between mother and daughter over political beliefs«.893 Lothar Bluhm erkennt demgemäß als weitere Leitfrage der Maron’schen Autobiographie, »wie […] aus den Verfolgten und den Opfern des Dritten Reichs später in der DDR die Verfolger und Täter werden konnten«.894 Mit den Vorwürfen, die ihr auf Grund von zwei Berichten, die sie in den 1970er Jahren für die ›Hauptverwaltung Aufklärung‹ (also den Auslandsnachrichtendienst) des Ministeriums für Staatssicherheit geschrieben hat, öffentlich unterbreitet werden, setzt sich Monika Maron auf den letzten Seiten ihrer Autobiographie auseinander : Zwanzig Jahre später wird die Öffentlichkeit über die Person, die ich damals war, ihr Urteil fällen, über mich, meinen Charakter und meine Motive spekulieren, weil ich in dieser Zeit Kontakte zum Ministerium für Staatssicherheit hatte.895

Zwischen Oktober 1976 und Juli 1977 unterhält Maron in der Tat Kontakt zum MfS und wird als Kontaktperson (KP) »Mitsu« geführt.896 In dieser Zeit erhält sie 890 Ebd., S. 129f. 891 Ilse Bürmann: »Die Verschränkung intergenerationaler und politischer Konfliktlinien in der Autobiographie von Monika Maron«. In: BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen 17 (2004), H. 2, S. 255. 892 Vgl. Taberner 2005, S. 44. 893 Gerstenberger, S. 246. 894 Bluhm, S. 150. 895 Maron 1999, S. 195. 896 Vgl. Lennart Koch: Ästhetik der Moral bei Christa Wolf und Monika Maron. Der Literaturstreit von der Wende bis zum Ende der neunziger Jahre, Frankfurt/M., Berlin, Bern, Brüssel, New York, Oxford, Wien 2001, S. 61, 64f.

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Visa für mehrere Reisen nach Westberlin und verfasst zwei Berichte; diese legt sie der Öffentlichkeit später in dem Sammelband quer über die Gleise: Essays, Artikel, Zwischenrufe (2000) vor.897 Maron kommentiert in Pawels Briefe: Eigentlich war nichts passiert. Ich hatte zwei Berichte geschrieben, von denen Hella befürchtete, sie könnten zu meiner Verhaftung führen. Ich hingegen hielt es für unmöglich, daß man mich für die Wahrheit verhaften könnte, wenn man sie ausdrücklich von mir verlangt hatte.898

Tatsächlich stellen die beiden Berichte kein Zeugnis über eine Annäherung an das autoritäre SED-Regime dar, sondern markieren im Gegenteil eine Abkehr von und Kritik an der persönlichen und gesellschaftlichen Fremdbestimmung, der Maron sich im Sozialismus ausgesetzt fühlt: In den Parteigruppen finden kaum noch offene Diskussionen statt. Mit fertigen Sprüchen und stereotypen Formulierungen und vielsagenden Hinweisen auf den Klassenfeind werden die aufgerissenen Mäuler gestopft. Das öffentliche Leben ist leblos einförmig und trotz der Bemühungen von allen Seiten auf eine geheimnisvolle Weise phantasielos und kärglich. […] Die Leute haben einen Stasikoller, fühlen sich beobachtet, abgehört und denunziert.899

Friederike Eigler formuliert treffend, »dass die Autorin das Genre des Stasiberichts tatsächlich als Narrenkleid für eine humorvoll bis parodistisch formulierte Kritik an der sozialistischen Gesellschaft verwendet hat«.900 Bevor Maron ein Kontaktmann zugewiesen und sie in den Status eines IM überführt werden soll, beendet sie ihre Tätigkeit für den Geheimdienst. Ungefähr zeitgleich leitet das MfS einen ›Operativen Vorgang‹ unter dem Decknamen »Wildsau« gegen die kritische Autorin ein und trägt bis 1989 Aktenmaterial in beachtlichem Umfang zusammen.901 Dennoch muss sich Maron nach Öffnung der MfS-Archive schwerer Vorwürfe erwehren, die auf Grund dieses kurzen Kontakts unter anderem in der Zeitschrift Der Spiegel gegen sie erhoben werden.902 In dem Artikel Heuchelei und Niedertracht, den sie erstmals am 14. 10. 1995 in der Frankfurter Allgemeinen 897 Vgl. Monika Maron: »Zwei Berichte an die Stasi, 1976«. In: dies.: quer über die Gleise: Essays, Artikel, Zwischenrufe, Frankfurt/M. 2000, S. 24–33. Die Berichte erscheinen im Jahr 2006 erneut in einem Sammelband; vgl. Monika Maron: »Zwei Berichte an die Stasi, 1976«. In: »Doch das Paradies ist verriegelt…«. Zum Werk von Monika Maron, Hg. v. Elke Gilson, Frankfurt/M. 2006, S. 41–49. 898 Maron 1999, S. 197f. 899 Maron 2000, Zwei Berichte an die Stasi, S. 30f. 900 Eigler 2002, S. 171. 901 Vgl. Emmerich 2000, S. 476f. 902 Vgl. anonym: »Stasi-Deckname ›Mitsu‹«. In: Der Spiegel 49 (1995), Nr. 32, 07. 08. 1995, S. 146–149 u. Bärbel Bohley : »Das Herz der Stasi. Bärbel Bohley über den Fall Monika Maron«. In: Der Spiegel 49 (1995), Nr. 35, 28. 08. 1995, S. 68–72.

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Zeitung veröffentlicht, reagiert sie auf die überzogenen Anschuldigungen: »Ich habe niemanden bespitzelt, ich habe niemanden verraten, und ich habe über niemanden Berichte verfaßt«.903 Ihre Ankläger, so schreibt sie, hätten wissen müssen, daß ich es der Stasi schriftlich gegeben habe, daß und warum ich niemanden bespitzeln werde; und daß die Stasi mir über den Umweg meiner Akte ›Wildsau‹ bestätigt hat, ich hätte den Kontakt mit ihr mißbraucht, um meine feindlich-negative Tätigkeit zu legalisieren, die Stasi bewußt zu desinformieren und im Sinne meiner politischen Gesinnungsfreunde auszuhorchen.904

Ihre Selbstverteidigung setzt die Autorin in Pawels Briefe fort und erfüllt somit, wie Andrew Plowman bemerkt, »a classic function of autobiography : that of apologia«.905 Allerdings interpretiert Plowman Marons Autobiographie in ihrer Ganzheit als Antwort auf die gegen sie erhobenen Vorwürfe hinsichtlich ihrer geheimdienstlichen Tätigkeit906, was meiner Auffassung nach überzogen ist. Letztlich sucht Maron nach Antworten auf lange ungeklärte Fragen innerhalb ihrer Familiengeschichte und versucht, ihr Verhältnis zu ihren Vorfahren neu zu definieren und sich ihre eigene Biographie vor diesem Hintergrund zu vergegenwärtigen. Die Reflexion über ihre harmlose Verwicklung in die Machenschaften des DDR-Geheimdienstes und die an sie gerichteten Anschuldigungen ist Teil dieser Bewusstwerdung und fügt sich nicht zuletzt deshalb stimmig ein, da sie den Problemkomplex Erinnern und Vergessen erneut vor Augen führt: Im Gesamtkontext von Pawels Briefe offenbart sich, in welchem Maß Maron in ihrer Erinnerungsarbeit von den Anklagen tangiert wird und es ihr daher ein Bedürfnis gewesen sein muss, dazu auch in ihrer Autobiographie Stellung zu beziehen. Ihr wird unter anderem vorgeworfen, einen Bericht über eine enge Freundin verfasst zu haben, was auf Seiten der Autorin das auslöst, »was der Briefefund bei Hella bewirkt hat – manifeste Zweifel an der eigenen Erinnerungsfähigkeit und damit auch an der eigenen Identität«.907 Die Diskrepanz zwischen ihrer Erinnerung und den Medienvorwürfen nimmt Maron zum Anlass, zu bilanzieren, was ihr Gedächtnis bewahrt hat und was sie vergessen oder verdrängt haben könnte.908 Hella, deren Erinnerungsfähigkeit in Pawels Briefe mehrfach in Frage gestellt und problematisiert wird, ist sich an dieser Stelle 903 Monika Maron: »Heuchelei und Niedertracht«. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14. 10. 1995, Nr. 239, unpaginiert. 904 Ebd. 905 Andrew Plowman: »Escaping the Autobiographical Trap? Monika Maron, the Stasi and Pawels Briefe«. In: German Writers and the Politics of Culture. Dealing with the Stasi, Hg. v. Paul Cooke u. Andrew Plowman, Hampshire, New York 2003, S. 230. 906 Vgl. ebd., S. 232. 907 Kormann, S. 124. 908 Vgl. ebd.

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wiederum sicher, eine genaue Erinnerung zu haben und versucht, die Zweifel ihrer Tochter zu zerstreuen: Es gab eine Stunde, in der ich bereit war, alles für möglich zu halten. […] Wenn ich diesen Bericht nun wirklich geschrieben habe, sagte ich, wenn es das gibt, daß einer außerhalb seiner selbst ist und dann nichts mehr davon weiß. […] Du hast keinen Bericht über sie geschrieben, glaub mir, sagte Hella, ich weiß genau, wie du warst und was du gemacht hast. Du hast so einen Bericht nicht geschrieben, und jetzt beruhige dich.909

Mit diesem Abschnitt endet Marons circa fünf Seiten umfassender Abriss über ihre Kontakte zum MfS und deren Darstellung in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit. Andrew Plowman urteilt zu Recht in Bezug auf die Medienvorwürfe und Marons Reaktion: »[H]er most telling response was itself a literary one: in 1999, Pawels Briefe both affirmed the autobiographical aspect of her work and mobilized it in her defence«.910 Diese Episode fügt sich adäquat in die Erinnerungsarbeit Marons ein und trägt dazu bei, neben der Rekonstruktion einer Familiengeschichte auch die eigene Biographie und insbesondere die Zeitverhältnisse zu beleuchten. Ilse Bürmann urteilt prägnant: In den thematisierten Erfahrungen und Reflexionen ist die Autorin sich selbst und dem Leser gegenüber sehr offen, so dass die Entwicklung der neu entstehenden Selbstverortung und Selbsterkenntnis im historisch-biographischen Prozess wie im familialen Beziehungsgeschehen mitvollzogen werden kann. Beide Ebenen sind in der Autobiographie eng verschränkt. Individuelle Schicksale und politische Geschichte Deutschlands werden in ihrer Verwobenheit ›lesbar‹. Besonders der dreimalige Systemwechsel Nationalsozialismus, DDR-Kommunismus und Wiedervereinigung markiert immer zugleich auch biographische Wendepunkte für die Familienmitglieder, teilweise mit sehr unterschiedlicher Bedeutung. So wird in dieser Autobiographie in der Dimension der Historizität das Allgemeine im Individuellen in besonders eindringlicher Weise sichtbar.911

Marons Romanheldinnen, die durchweg autobiographische Züge tragen, werden gleichfalls stets in ihrer Auseinandersetzung mit und ihrem Leiden unter dem Sozialismus vorgeführt – die Historizität, die als Grundsäule von Pawels Briefe angesehen werden kann, zeichnet, wenn auch zum Teil in abgeschwächter Form, fast alle literarischen Werke der Autorin aus. Stille Zeile Sechs und Flugasche wurden in Kapitel 5.1. dieser Arbeit bereits vorgestellt; überdies befassen sich auch die Romane Die Überläuferin, Animal triste und Endmoränen 909 Maron 1999, S. 200. 910 Andrew Plowman: »History, Identity and the Writer : Helga Königsdorf and Monika Maron since 1990«. In: Legacies and Identity. East and West German Literary Responses to Unification, Hg. v. Martin Kane, Bern 2002, S. 94. 911 Bürmann, S. 243.

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mit dem Sozialismus beziehungsweise dessen Erbe. Eine nichtfiktionale Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit leistet Maron in zahlreichen Reden, Essays und Artikeln sowie in der Essaysammlung Geburtsort Berlin (2003). In ihrer Rede zum Nationalpreis aus dem Jahr 2009 formuliert sie über das Anliegen des Schriftstellers im Allgemeinen: Er lässt seine Figuren in den Bedingungen ihrer Zeit agieren, egal, ob er die Geschichte einer großen Liebe oder gesellschaftlicher Umbrüche erzählen will. Er erzählt von Personen in den Verstrickungen oder in Kollision mit ihrer Zeit, und wenn es gelingt, erhellen die Personen die Zeit und wirft die Zeit ein Licht auf die Personen.912

In ihrer literarischen Arbeit, insbesondere in ihrer Autobiographie Pawels Briefe gelingt es Monika Maron in der Tat, persönliche Schicksale in der deutschen Geschichte zu spiegeln und diese zu erhellen. Die Schriftstellerin erkennt und führt ihren Lesern vor, dass Lebensläufe sich stets in Verbindung und Auseinandersetzung mit den sie umgebenden politischen und kulturellen Systemen befinden: mit den Glaubensvorstellungen, Normen, Werten und konkreten Handlungsweisen einer Gesellschaft. Die kollektive Geschichte kann und will sie demnach nicht ignorieren, wenn sie der Familiengeschichte und den Biographien ihrer Großeltern nachspürt – die Vernetzungen der Lebensgeschichten mit Politik und Ideologie werden im Gegenteil bewusst herausgearbeitet.913 Diese Einschätzung deckt sich mit einer Äußerung Marons im Rahmen eines Interviews im Jahr 2000: [D]ie Absicht, diese Geschichte zu schreiben, hatte ich eigentlich immer, weil mir irgendwann klar geworden war, daß in dieser kleinen Familie so viel deutsche und europäische Geschichte aufgehoben war, daß man es eigentlich erzählen mußte.914

Entsprechend der gesellschaftlichen Motivation der Autorin, in ihrer Autobiographie auch ein Zeitpanorama entstehen zu lassen und die Zäsuren deutscher Geschichte im 20. Jahrhundert herauszustellen, bescheinigt ihr Elke Gilson: Ausgehend von den zufällig wiedergefundenen Briefen, die Pawel aus dem Ghetto geschrieben hatte, von den Erinnerungen der eigenen Mutter Hella sowie von alten Fotos und amtlichen Papieren, rekonstruiert die Autorin die Lebensgeschichten von drei Generationen […], aus denen sich über die deutsche Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts mehr erfahren läßt als aus mancher wissenschaftlich-historischen Darstellung.915 912 Monika Maron: »Rede zum Nationalpreis«. In: dies.: Zwei Brüder. Gedanken zur Einheit 1989–2009, Frankfurt/M. 2010, S. 200. 913 Vgl. Klötzer, S. 49. 914 »Erinnern und Vergessen: Ein aktuelles Thema in der deutschen Gegenwartsliteratur. Im Gespräch mit Monika Maron«, Monika Maron im Gespräch mit Holly Liu, S. 1. 915 Gilson 2006, chronologischer Überblick, S. 72.

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Ergänzend und kontrastierend sollen im folgenden Kapitel die Merkmale und Besonderheiten des Werkes Pawels Briefe als literarisches Artefakt herausgearbeitet und analysiert werden.

5.4. Pawels Briefe als literarisches Artefakt »Seit ich beschlossen habe, dieses Buch zu schreiben, frage ich mich, warum jetzt, warum erst jetzt, warum jetzt noch«916 – Monika Maron beginnt ihre Autobiographie mit einer kritischen Reflexion über Sinn und Ziel ihres Unterfangens, nämlich die Geschichte ihrer Großeltern niederzuschreiben, eine »Geschichte, an der wenig sicher ist […], jetzt noch, nachdem die Schicksale dieser gerade versunkenen Generation der Historie zugeordnet und in ihr vermauert wurden«.917 Dieser Anfang ist paradigmatisch für Pawels Briefe; der dem Projekt inhärente Zweifel, die Informationslücken und eine gewisse Unsicherheit auf Seiten der Autorin finden Ausdruck in der formalen Gestaltung ihres Werkes, wie sich im Folgenden zeigen wird. Monika Maron wählt die für autobiographische Schriften konventionelle Erzählhaltung der ersten Person Singular ; Pawels Briefe ist durchgängig von einer dezidiert subjektiven Perspektive und verschiedenen Formen der persönlichen Selbstaussage geprägt. Weder die künstliche Steigerung von Unmittelbarkeit und Intensität der Darstellung, die die zweite Person Singular bewirken kann, noch die distanzierende und versachlichende Erzählhaltung der dritten Person Singular scheinen dem Antrieb der Autorin angemessen. Ungewöhnlich für ein autobiographisches Unternehmen ist die bereits beschriebene Tatsache, dass die »in einem eindeutigen autobiographischen Pakt kenntliche homodiegetische Erzählerin Monika Maron«918 nicht primär ihrer eigenen Vergangenheit nachspürt; vielmehr wird das erzählte Ich in den Gesamtzusammenhang der Familie Iglarz/Maron und deren Schicksal im Europa des 20. Jahrhunderts eingeordnet. Diese Suche nach einer Verbindung zu ihren Vorfahren ist durch Unwägbarkeiten gekennzeichnet, die stetig von dem erzählenden Ich thematisiert, problematisiert und somit in die zaghaft rekonstruierte (Familien-)Geschichte einbezogen werden:

916 Maron 1999, S. 7. 917 Ebd. 918 Herrmann, S. 186.

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[L]angsam dämmerte das alte Versprechen auf, das ich mir oder meinen toten Großeltern immer wieder einmal gegeben hatte: nach Kurow bei Lodz und nach OstrowMazowiecka zu fahren, um dort nichts Bestimmtes zu finden, nur hinzufahren, mir vorzustellen, wie sie dort gelebt hatten, und den Faden zu suchen, der mein Leben mit dem ihren verbindet. […] Erinnerungen haben ihre Zeit. […] Ich mußte aufgehört haben, meine Eltern zu bekämpfen, um mich über das Maß der eigenen Legitimation hinaus für meine Großeltern und ihre Geschichte wirklich zu interessieren. Ich mußte bereit sein, den Fortgang der Geschichte, die Verbindung zu mir, das Leben meiner Mutter, einfach nur verstehen zu wollen, als wäre es mein eigenes Leben gewesen. So ließe sich, wenn man sich der Sucht nach kausaler Eindeutigkeit überhaupt beugen will, erklären, warum ich dieses Buch erst jetzt schreibe.919

Auf diese Weise erreicht die Autorin einen hohen Grad an Glaubwürdigkeit, wie die Untersuchungen des folgenden Kapitels aufzeigen sollen. Wie bereits erwähnt, steht der Gegenwartsstandpunkt der Autorin im Vordergrund; die Lebensläufe ihrer Vorfahren bilden die Folie ihrer Reflexionen. Als weitere Zeitebenen kommen Monika Marons Leben in der DDR, die Wiedervereinigung und die Reise nach Polen in den 1990er Jahren hinzu, über die nachträglich berichtet wird. Maron geht nicht chronologisch vor; ihre Ausführungen lassen keine Linearität erkennen: Briefzitate und Originaldokumente werden an unterschiedlichen Stellen in den autobiographischen Text eingefügt und münden in Kommentare und Interpretationen der Autorin. Deutlich ausgewiesene Paraphrasen aus Hellas Erzählungen werden häufig mit Gedankenspielen der Erzählerin oder historischen Informationen verknüpft: Was war das Schöne in deiner Kindheit, frage ich. Es hat alles so viel Spaß gemacht, sagt Hella. Ich habe viele Menschen aus der Generation meiner Mutter von der Armut ihrer Kinder- und Jugendjahre erzählen hören. Ich bin unter Kommunisten aufgewachsen, die meisten von ihnen stammten aus Arbeiterfamilien, und fast niemand ist vom sozialen Elend im ersten Drittel dieses Jahrhunderts verschont geblieben. Heute scheint es mir, als hätte niemand so unpathetisch und ohne Wehleid über seine Armut gesprochen wie Hella. […] Hella erklärt den Unterschied mit der Abwesenheit preußischer Lebensnormen in ihrer Familie und mit dem polnischen Geschick zu improvisieren. […] In Neukölln, das bis 1912 Rixdorf hieß, wohnten zu etwa 80 % Industriearbeiter. Zwischen 1885 und 1915 war die Bevölkerung auf das Zwölffache angewachsen, von 22 785 auf 268 411. […] Bei den Wahlen von 1912 wählten 83,3 % die SPD.920

919 Maron 1999, S. 12f. 920 Ebd., S. 35f.

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Fernerhin sind detaillierte Beschreibungen der abgebildeten Fotografien adäquat in den Argumentationsfluss eingebettet. Maron selbst kommentiert in ihrem Artikel Rollenwechsel. Über einen Text und seine Kritiker (1999): Das Buch ist eine ganz und gar kontrollierte Montage, die es mir ermöglicht hat, Vergangenes und Gegenwärtiges ständig in Bezug zu setzen, die mir Raum für die Reflexionen über Erinnern und Vergessen geboten hat und die mindestens so viel Überlegung verlangt hat wie das Schreiben der Sätze.921

Für die Wiedergabe der Gespräche mit ihrer Mutter wählt Maron zumeist die Dialogform; niemals jedoch benutzt sie die durch Anführungszeichen gekennzeichnete wörtliche Rede. Trotz dieses durchgängigen, nicht nachvollziehbaren Verzichts auf das Signum citationis ist eine Mischform aus direkter und indirekter Rede zu erkennen, die zuweilen mit Kommentaren des erzählenden Ichs durchsetzt ist: Was ist ein Klasseninstinkt, frage ich Hella. Hella muß keine Sekunde überlegen. Klasseninstinkt ist, wenn man genau weiß, wer man ist, wozu man gehört und gegen wen man ist, sagt sie. Was ist Klassenbewußtsein, frage ich. Klassenbewußtsein ist, wenn man auch weiß, warum das so ist, wenn man sich theoretisch gebildet hat, Marx gelesen hat und anderes natürlich auch, sagt Hella. Ihr Vater sei politisch nicht sonderlich gebildet gewesen, hätte aber immer genau gewußt, wohin er gehört. […] Später werde ich Hella fragen müssen, wie es sich mit ihrem Klasseninstinkt verhielt, als sie in den Augen der Arbeiter des Arbeiter- und Bauernstaates zu einer Bonzenfrau geworden war und ich zu einem Bonzenkind, als deren Klasseninstinkt in Hella und mir die andere Klasse witterte.922

Dementsprechend kommen innerhalb der Dialogform wie auch in dieser Textpassage sowohl Indikativ als auch Konjunktiv I zum Einsatz. An anderer Stelle sind es dagegen ausschließlich die Äußerungen Hellas, die direkt oder indirekt zitiert werden, die Fragen, die die Autorin ihrer Mutter gestellt haben muss, bleiben dann ausgespart.923 Den verschiedenen erzählten Zeitebenen entspricht die Benutzung der Tempora: Das Präsens findet die häufigste Verwendung und markiert den Erzählzeitpunkt; Perfekt und Präteritum werden ebenfalls vielfach eingesetzt und dienen der Wiedergabe verschiedener Zeitebenen der Vergangenheit. Gleiches gilt auch für das Plusquamperfekt, das jeweils eine Vorzeitigkeit markiert und somit seltener verwendet wird. Marons versierter Umgang mit mehreren zeit921 Maron 2000, Rollenwechsel, S. 108. 922 Maron 1999, S. 128f. 923 Vgl. z. B. ebd., S. 19, 21.

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lichen Stufen hat zahlreiche Tempuswechsel zur Folge. Oftmals weisen einzelne Absätze Verben in unterschiedlichen grammatischen Zeiten auf: Um mir das alltägliche Leben meiner Großeltern vorstellen zu können, muß ich vergessen, wie sie gestorben sind. […] Im Schatten ihres wirklichen Todes hat kein Detail Bestand, es wird banal oder mystisch. Daß mein Großvater ängstlich war und ungern allein in den Keller ging, mag seinen Kindern noch Anlaß für vorlaute Späße gegeben haben. Aber sein Tod, in dem seine Angst die schlimmste Erfüllung gefunden hat, deutet Ereignisse und Eigenschaften um. Wie unsinnig seine Angst vor dem Keller vielleicht auch war, nachträglich ist es mir unmöglich, ihr nicht eine Ahnung zu unterstellen, in ihr nicht das Erbe uralter jüdischer Erfahrung zu sehen. Aber mein Großvater kannte den Tod, der ihn erwartete, nicht; und er hat – dafür spricht alles, was ich über ihn weiß – gern gelebt.924

Auch der Modus der Verben ist einem häufigen Wechsel unterlegen: Neben die Verwendung des Indikativ tritt der problematischen Ausgangslage der Erzählerin entsprechend der Konjunktiv II, der die verschiedenen Möglichkeiten der Vergangenheitsauslegung anzeigt: Was wäre gewesen, hätten meine Großeltern nach dem Krieg zurückkommen können? Vielleicht starb Josefa gar nicht an Krebs, wie Hella vermutet, und hätte unter weniger elenden Umständen geheilt werden können; Pawel hätte das Ghetto überlebt, und im Mai oder Juni 1945 […] hätten wir sie in Berlin vom Bahnhof abgeholt. […] Was hätte meine fromme Großmutter zu meiner gottlosen Erziehung gesagt? […] Was hätten meine Großeltern zu Hellas neuem Mann gesagt?925

Elke Gilson formuliert: »Nachträglich, mit vielen ›vielleichts‹ und ›wahrscheinlichs‹, mit Konjunktiven und modalen Verben in fast jedem Satz, schließt die Schriftstellerin die unzähligen Lücken, die auch die Erinnerung der anderen noch offen lassen«.926 Die Einschätzung der Verbformen wirkt überzogen; richtig ist jedoch, dass der Konjunktiv außergewöhnlich häufig zum Einsatz kommt, was innerhalb einer Autobiographie erstaunen kann, in diesem Fall aber in der Tat dem defizitären Quellenmaterial der Autorin geschuldet ist. Davon wird neben den Tempora und Modi der Verben auch Marons Sprache geprägt – Eike Brunhöber urteilt: Solange sie vom tatsächlichen Hergang der Familiengeschichte berichtet, bleibt ihre Sprache eher nüchtern und sachlich. Eleganter, poetischer wird ihre Ausdrucksweise, wenn sie die Fakten zu reflektieren und interpretieren versucht und wenn sie ihre Gespräche und Diskussionen mit Hella über die bewegte Vergangenheit wiedergibt.927 924 925 926 927

Ebd., S. 23f. Ebd., S. 110f. Gilson 2000, S. 282. Eike Brunhöber : »Briefe und Fragen. Monika Marons ›Pawels Briefe‹«. In: literaturkritik.de 1 (1999), Nr. 6: http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=251& ausgabe =1999 06, Zugriff: 30. 04. 2013, S. 1.

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Tatsächlich bleibt Marons Sprache bei dem Versuch, sich der Vergangenheit anzunähern, verhalten, nachdenklich, teilweise stockend; flüssiger wirken die Abschnitte, in denen sie mit Hilfe ihrer Phantasie Szenen aus dem Leben ihrer Großeltern entwirft. Maron verzichtet weitgehend auf den Einsatz literarischer Stilmittel; anstelle einer linearen Struktur zeichnet sich ihr Text durch Heterogenität, Vielschichtigkeit und einen fragmentarischen Charakter aus. Dementsprechend weist das Werk keine Kapitelüberschriften auf, ist durch jeweils drei Asterisken aber in verschiedene Abschnitte gegliedert. Meike Herrmann schlussfolgert: Die assoziativen Anschlüsse und der Patchworkcharakter des Ganzen ziehen die formale Konsequenz aus einem grundsätzlichen Befund: dass nämlich die Lebensläufe aller dargestellten Familienmitglieder von Brüchen durchsetzt sind und Überlieferung auch ohne den Unsicherheitsfaktor Erinnerung nur lückenhaft möglich ist.928

Iris Radisch bezeichnet Pawels Briefe als einen »Werkstattbericht aus dem eigenen Leben«, der ohne literarische Verdichtung oder Überzeichnung auskomme und »im nackten und redlichen Ton einer Reportage in eigener Sache«929 verfasst sei. Mit dieser Einschätzung verkennt Radisch die Kohärenz, die Maron in ihrem Werk dennoch erzeugt. Die Literaturkritikerin hat Recht, wenn sie auf den Verzicht erzählerischer Gefälligkeiten verweist; dessen ungeachtet stiftet Maron mit Hilfe ihrer ausdrucksvollen Sprache Sinn und Zusammenhang und verleiht ihrer (Familien-)Geschichte eine künstlich-künstlerische Form930 : Sie trifft eine bedachtvolle Auswahl aus den zu vermittelnden Tatsachen, Vermutungen und persönlichen Einschätzungen, sie entwirft eine Hierarchie, verknüpft einzelne Ereignisse miteinander und verleiht ihnen so nachträglich eine Bedeutung. In dem folgenden Textauszug beispielsweise ist die Verbindung zwischen den geselligen Abenden in der Berliner Küche mit der Herkunft und Religion der Großeltern ausschließlich das Produkt der frei gestaltenden Erzählerin: Am schönsten, sagt Hella, war es in der Küche an den Abenden, wenn Tee gekocht wurde. Jeder durfte mitbringen, wen er wollte, ohne vorher zu fragen, Bruno und Paul ihre kommunistischen Freunde, Hella und Marta ihre Freundinnen. In der Küche wurde getanzt, geturnt und über Gott und die Welt geredet, wobei meine fromme Großmutter auf Gott nichts kommen ließ. Meine Großeltern waren Polen in Deutschland, Baptisten katholischer oder jüdischer Herkunft, sie waren tief religiös und von entschiedener Toleranz. Sie sind unabhängig 928 Herrmann, S. 189. 929 Iris Radisch: »Tausendmeterlauf des Lebens. Monika Maron schuldet ihrem Großvater etwas und reist in die Vergangenheit«. In: »Doch das Paradies ist verriegelt…«. Zum Werk von Monika Maron, Hg. v. Elke Gilson, Frankfurt/M. 2006, S. 206. 930 Vgl. ebd.

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voneinander sehr jung konvertiert und haben sich in der Baptistengemeinde von Lodz kennengelernt.931

Dass künstlich ein Zusammenhang geschaffen wird, der der Vergangenheit eine Form verleiht, die sie von sich aus nicht hat, gehört zu den Charakteristika der literarischen Autobiographie; auch aus Marons Autobiographie ließen sich hier zahlreiche weitere Textpassagen anführen. Als ein weiteres Beispiel soll der folgende Abschnitt dienen: Ich weiß nicht mehr, ob ich meine Religionslosigkeit als Mangel empfunden habe, oder ob ich mich, was möglich ist, nur für aufgeklärter und fortgeschrittener hielt als alle anderen, wir waren Kommunisten, und Kommunisten glauben nicht an Gott. […] Daß Hella, als ich meinen Atheismus auf dem Schulhof verteidigen mußte, noch heimlich betete, erfuhr ich erst während unserer Reise nach Ostrow-Mazowiecka. Zu viert waren wir den ganzen Tag durch die Stadt gelaufen […] und hatten gierig nach einem Signal gesucht, nach einer Schrift, einem Bild, einem Ton, dem unbestimmten Anfang einer Spur, die uns in die Nähe von Lejb Sendrowitsch und Schloma Iglarz führen könnte.932

Genau genommen hat Marons Glaube keinen Einfluss auf ihre Polenreise und umgekehrt; in Pawels Briefe jedoch bringt die Erzählerin von ihrem Gegenwartsstandpunkt aus diese beiden Aspekte in Verbindung, um ihre Argumentation voranzutreiben und einen flüssigen Übergang innerhalb ihrer Erzählung zu schaffen. Die Faktizität der Vergangenheit gibt diese Entscheidung nicht vor ; die Verknüpfung ist ausschließlich das Produkt der Autobiographin. Owen Evans erkennt in Pawels Briefe »some unequivocally fictitious components«933, womit er vermutlich auf die imaginierten Szenen aus dem Leben der Großeltern anspielt, die unmissverständlich als solche ausgewiesen sind: Aber noch ist es der Juli 1939. Meine Großeltern sind vor drei oder fünf oder sechs Tagen in Kurow angekommen. […] Meine Großmutter sieht über das abgeerntete Feld hinter Jadwigas Haus oder in den Himmel oder auf die sandige Erde zu ihren Füßen. […] Weint sie? Oder betet sie? […] Flackert vielleicht, nur für einen einzigen kurzen Augenblick, der Gedanke auf, daß es vielleicht doch eine Sünde war, einen Juden zu heiraten? Juscha, sagt mein Großvater. Was sagt er noch? Was kann er, der sich als Verursacher ihres Unglücks fühlt, ihr sagen? Juscha, sagt mein Großvater, die Kinder werden bald schreiben.934

Darüber hinaus kann von Fiktionalität nicht die Rede sein; die Autorin selbst erläutert: 931 932 933 934

Maron 1999, S. 25f. Ebd., S. 40f. Evans 2006, S. 11. Maron 1999, S. 96f.

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Monika Marons Pawels Briefe

Ich habe mich gegen das Fiktive entschieden, auch weil die Dokumente, die ich besitze, z. B. die Briefe meines Großvaters, in einem fiktiven Roman ganz und gar ihrer Wirkung beraubt worden wären, wenn man den Verdacht hätte haben können oder müssen, daß ich mir diese Briefe ausgedacht habe.935

Statt ihre Familiendokumente und -erinnerungen in ein fiktionales Werk zu überführen, verdichtet Maron sie in ihrer Autobiographie und gestaltet somit ein literarisches Artefakt, das durchaus Imaginationen, Wunschvorstellungen und Traumszenen beinhaltet, grundsätzlich aber nach (historischer) Wahrhaftigkeit strebt. Auch der Abschnitt, in dem die Autorin ihren Kontakt zum MfS thematisiert, offenbart ihre Schreibmotivation, sich (selbst-)kritisch mit Tatsachen der historischen und politischen Wirklichkeit auseinanderzusetzen. Gleichwohl ist auch dieses Kapitel keine chronologische Aneinanderreihung objektiver Fakten, sondern weist Dialoge in indirekter Rede, Tempus- und Moduswechsel sowie Reflexionen der Autorin auf; letztlich wurde auch diese Episode aus Marons Leben ästhetisiert und bildet einen Teil der literarischen Autobiographie Pawels Briefe. Sie geht über in abschließende Kommentare zum Verhältnis zwischen Monika und Hella Maron; für den letzten Abschnitt ihrer (Familien-)Geschichte wählt die Erzählerin das Thema Politik. Sie kommentiert das Ergebnis der PDS bei den Bundestagswahlen im Jahr 1998 sowie Hellas Begeisterung für diese Partei: Gestern haben wir einen neuen Bundestag gewählt. Hoffentlich schaffen wir die fünf Prozent, sagte Hella am Nachmittag zu mir ; da sei Gott vor, antwortete ich; […] Am Abend, als mir das Triumphgeschrei von der PDS-Party ins Haus gesendet wurde, breitete sich für Sekunden das alte Gefühl der Ohnmacht in mir aus, und ich dachte grimmig an Hella, die jetzt mit ihren Freundinnen jubelnd vorm Fernsehapparat saß.936

Letztlich bedient sich Maron zahlreicher literarischer Gestaltungsmöglichkeiten, um unter Verzicht auf Fiktion eine ästhetisch hochwertige Autobiographie vorzulegen. Im folgenden Kapitel soll an die bisherigen Untersuchungen anknüpfend analysiert werden, inwieweit Maron die Schaffung künstlicher Erzählzusammenhänge mit ihrem Anspruch auf Wahrhaftigkeit und auf reflektierte Auseinandersetzung mit der Realität verbinden kann.

935 »Erinnern und Vergessen: Ein aktuelles Thema in der deutschen Gegenwartsliteratur. Im Gespräch mit Monika Maron«, Monika Maron im Gespräch mit Holly Liu, S. 1. 936 Maron 1999, S. 205.

Subjektive Authentizität in Pawels Briefe

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5.5. Subjektive Authentizität in Pawels Briefe In den beiden vorhergehenden Kapiteln wurde Monika Marons Werk im Hinblick auf zwei Grundsäulen der literarischen Autobiographie, nämlich Historizität und Literarizität, untersucht. Beide Aspekte werden, wie sich zeigte, berücksichtigt: In Form eines literarischen Artefakts rekonstruiert und ästhetisiert die Autorin ihre Familiengeschichte und lässt gleichzeitig ein Zeitpanorama des 20. Jahrhunderts entstehen. Dabei gelingt es Maron, sowohl der Faktizität des biographischen Materials und des historischen Hintergrundes als auch den Lücken und Fehlern innerhalb ihrer Erinnerungsmedien, ebenso ihrer persönlichen Sichtweise, ihren Gefühlen, Wünschen, Träumen und nicht zuletzt ihrem künstlerischen Anspruch gerecht zu werden, wie sich im Folgenden zeigen wird. Ich neige dazu, den Zufällen und spontanen Entscheidungen der Vergangenheit zu unterstellen, sie seien insgeheim schon immer einem sich viel später offenbarenden Sinn gefolgt, und ich befürchte, es könnte ebenso umgekehrt sein: weil man das Chaos der Vergangenheit nicht erträgt, korrigiert man es ins Sinnhafte, indem man ihm nachträglich ein Ziel schafft, wie jemand, der versehentlich eine Straße ins Leere gepflastert hat und erst dann, weil es die Straße nun einmal gibt, an ihr beliebiges Ende ein Haus baut.937

Diese Passage zu Beginn der Autobiographie ist paradigmatisch für das gesamte Werk: Die Autorin wird beständig mit dem Chaos der Vergangenheit konfrontiert und begegnet ihm, indem sie der Vergangenheit erzählerisch Struktur, Hierarchie, Sinn, Zusammenhang und damit Ordnung verleiht. Dazu passt ein Textauszug aus dem Roman Endmoränen, in dem Maron die autodiegetische Ich-Erzählerin Johanna konstatieren lässt: [I]ch führte ein Doppelleben, ein wirkliches und ein erzähltes, wobei sich das eine vom anderen kaum unterschied, nur verstand ich, was ich erlebt hatte, erst, indem ich es erzählte oder mir vorstellte, was geschehen wäre, hätte ich die jeweils andere Entscheidung getroffen.938

Diese Ordnung oder das nachträgliche Verstehen durch Erzählen bewirken allerdings nicht, dass Maron mit Pawels Briefe einen linearen, chronologischen oder formal einheitlichen Text erzeugt, der frei von Zweifeln und Widersprüchen ist, im Gegenteil: »She makes no attempt to conceal the problems of dealing with the past, and makes allowances for the contradictions and different interpretations that emerge in the narrative«.939 Die Erzählerin lässt den Leser teilhaben an ihrer Auseinandersetzung mit den Schwierigkeiten, die die Rekon937 Ebd., S. 13. 938 Monika Maron: Endmoränen, Frankfurt/M. 2002, S. 91. 939 Evans 2006, S. 299.

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struktion der Vergangenheit ihr bereitet, und legt ihre Überlegungen, ihre Erinnerungsarbeit und den mühevollen Schreibprozess offen. Neben den bereits erwähnten Modaladverbien wie »vielleicht«, »wahrscheinlich«, »offensichtlich« finden sich häufig auch Formulierungen wie »Ich nehme an, daß«940 oder »Es scheint, als sei«941, die den hypothetischen Charakter des Textes unterstreichen, seine Glaubwürdigkeit aber nicht schmälern. Antje Doßmann urteilt: Marons dokumentarische Familiengeschichte stellt indes mehr Fragen, als es Antworten gibt. Das konkrete Material, auf das die Autorin zurückgreifen kann, ist äußerst dürftig. Folgerichtig wird der Wunsch der Enkeltochter, dennoch das Leben des Großvaters zu erzählen, permanent von den Zweifeln an der eigenen Urteilskraft gebremst. Sprachzweifel dominieren das Buch; die vermittelnde Person kämpft selbst mit der Erinnerung.942

Doßmann erkennt richtig, dass Maron mit defizitärem Quellenmaterial operiert, sich häufig nicht auf ihre eigene Erinnerung berufen kann und ihre Fragen unbeantwortet bleiben; allerdings irrt die Literaturwissenschaftlerin, wenn sie Marons Zweifel und Unsicherheiten als Hemmnis begreift. Vielmehr wird der Schreibprozess durch die kritische Distanz der Erzählerin gegenüber dem zu verarbeitenden Material vorangetrieben und stark geprägt; Marons Glaubwürdigkeit entspringt nicht zuletzt ihrer Bereitschaft, Leerstellen und Widersprüche als solche zu akzeptieren und dem Leser offen zu legen. Wenn das Quellenmaterial nicht genügend Informationen für die Abfassung flüssiger Passagen hergibt, so ist es die wissende Erzählerin, die stattdessen interpretiert, erklärt, wertet, den Erinnerungslücken und -fehlern ihre persönliche Einschätzung entgegenhält und so dennoch einen kohärenten Text entstehen lässt. Was Akzentsetzungen, Zusammenhänge, Vollständigkeit und auch Verständlichkeit betrifft, entsteht schließlich eine »neue Vergangenheit«943, wie Wayne Shumaker es ausdrückt: Maron setzt in ihrer Autobiographie zahlreiche Möglichkeiten der Dichtung, wie sie in Kapitel 2.2.4. dieser Arbeit beschrieben wurde, bewusst ein, um der Vergangenheit nachträglich Sinn und Zusammenhang zu verleihen und sie erzählbar zu machen. Somit offenbart sich auch hier, dass Dichtung über den Aspekt der Literarizität deutlich hinausgeht, ohne in den Bereich der Fiktion zu fallen. Entsprechend verweist die Autorin in ihrem Artikel Lebensentwürfe, Zeitenbrüche (2002) selbst »auf unseren unwiderstehlichen Drang […], diesem aus unzähligen Quellen zusammengeflossenen Verlauf unserer Lebenszeit einen Sinn zu geben, indem wir ihm eine Kausalität erfinden

940 941 942 943

Maron 1999, S. 30. Ebd., S. 48. Doßmann, S. 128f. Shumaker, S. 87.

Subjektive Authentizität in Pawels Briefe

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und damit uns selbst eine erzählbare Biografie«.944 Sie ist der Auffassung, dass es gerade nicht die sicheren, amtlichen Daten innerhalb des Lebenslaufs sind, die eine Biographie ausmachen.945 Auch in Pawels Briefe wird dieser Gedankengang deutlich, wenn die Erzählerin über Kindheitserinnerungen reflektiert: Ein paar gerettete Minuten, an deren Echtheit ich nicht zweifle. Das meiste hat sich aufgelöst in einem allgemeinen zusammenfassenden Wissen, in atmosphärischen Szenen, deren genauer Hergang zu erfinden wäre, vielleicht nicht unwahrer als die wirkliche Erinnerung, aber doch erfunden.946

Auf der Grundlage dieser Überzeugung kann sich Maron ihren Vorfahren unvoreingenommen annähern und ihre Recherchearbeit mit eigenen Vorstellungen und imaginierten Bildern verbinden oder auf die eigene Biographie beziehen. Mein Großvater stand jeden Morgen als erster auf und servierte jedem seiner Kinder ein Frühstück; für Bruno Tee, Kaffee für Marta, Milch für Hella, Kakao für Paul. Auch als seine Kinder erwachsen, sogar wenn sie arbeitslos waren und er selbst Arbeit hatte, kochte mein Großvater ihnen, sofern sie früh genug aufstanden, ihre Getränke, und das, wie Hella beteuert, nicht nur an den Sonntagen, sondern wirklich an jedem Tag. […] Wenn ich jemandem von meinem Großvater erzähle, erwähne ich die vier Getränke am Morgen fast immer. Diese Szene aus dem Leben meiner Mutter gehört seit jeher zu meiner Vorstellung von Glück.947

Ausgehend von solchen übermittelten Informationen über den Familienalltag kreiert Maron auch Szenen, in denen sie selbst in Kontakt zu ihrem Großvater tritt: »Aber wo ist mein Großvater? Er sitzt in der Küche bei der Haushälterin. Er wärmt Milch für mich. Trink die Milch, sagt er«.948 Einerseits folgt die Erzählerin also den Ausführungen Hellas und baut eine enge Verbindung zu dem Leben ihrer Großeltern und deren Kindern auf; an anderer Stelle nimmt sie eine kritisch-distanzierte Haltung ein: Es fällt mir schwer, die Idylle, die mir aus Hellas Erzählungen entsteht, nicht zu attackieren. Kann überhaupt eine Kindheit so ungetrübt gewesen sein? Eltern so makellos? […] Haben ihr gewaltsamer Tod und die furchtbaren Jahre, die Hellas Kindheit folgten, die frühen Erinnerungen nicht paradiesisch verklärt und unantastbar gemacht? Vielleicht; vielleicht aber auch nicht.949 944 Monika Maron: »Lebensentwürfe, Zeitenbrüche«. In: »Doch das Paradies ist verriegelt…«. Zum Werk von Monika Maron, Hg. v. Elke Gilson, Frankfurt/M. 2006, S. 33. 945 Vgl. ebd., S. 31. 946 Maron 1999, S. 168. 947 Ebd., S. 25. 948 Ebd., S. 182f. 949 Ebd., S. 50.

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Die Autorin stellt sich darüber hinaus die Frage, ob gewisse Fakten ihr die Annäherung an ihre Großeltern nicht sogar erschweren; dies betrifft insbesondere die unternommene Polenreise, die nicht die erwünschten Ergebnisse bringt: »[S]ogar als wir vor ihrem [Josefas] Grab standen, fragte ich mich, ob mich all diese Bilder nicht eher störten, ob die Festlegungen mir meinen Weg der Annäherung nicht verstellten«.950 Diese Überlegung deutet erneut auf Marons Grundsatz hin, dass Biographien nicht vorrangig durch die gesicherten Fakten bestimmt werden. Zu dieser Auffassung passen auch die Aussparungen innerhalb ihrer Autobiographie: Einzelne Abschnitte im Leben der Autorin bleiben im Rahmen der episodischen Erzählweise unberücksichtigt; ihre Liebesbeziehungen, darunter auch die Verbindung zum Vater ihres Sohnes, finden höchstens als Randnotiz Erwähnung. Auch das Verhältnis zu ihrem Stiefvater Karl Maron, den sie auffälligerweise nie mit seinem Namen nennt, sondern eher als »Hellas neuer Mann«951 oder ähnlich bezeichnet, wird nur nebenbei thematisiert – was in Anbetracht seines Einflusses auf ihr (Familien-)Leben erstaunen kann. Monika Maron selbst kommentiert lakonisch: »In dieser Familiengeschichte, in der es wirklich nur um diese polnisch-jüdische Linie geht, hat er nichts zu suchen«.952 Sie strebt letztlich nicht nach Vollständigkeit; sie ist sich bewusst, dass eine bedachte Auswahl aus den Lebenstatsachen nötig und sinnvoll ist und ihrer Glaubwürdigkeit nicht im Weg stehen muss. Vielmehr bemüht sich die Autobiographin um eine Rekonstruktion der Wirklichkeit, um historische wie persönliche Wahrhaftigkeit beziehungsweise, ohne es explizit zu formulieren, um subjektive Authentizität. Iris Radisch bescheinigt ihr dabei eine »Ästhetik der Aufrichtigkeit«953, und Elke Gilson stellt die Frage: »[W]as sonst als eine vom Subjekt und seinen Beschränkungen abhängige Konstruktion kann unsere Vorstellung der Wirklichkeit sein?«954 In der Tat sind es nicht zuletzt Marons implizites Bekenntnis zu ihrer subjektiven Sichtweise, zu der ihre Zweifel und Erinnerungslücken unweigerlich gehören, sowie der Verzicht auf jegliche Stilisierung, auf deren Grundlage sie ein hohes Maß an Authentizität erreicht. Owen Evans teilt diese Ansicht: »In both its form and the devices employed in its creation, Pawels Briefe reminds the reader of its constructed nature, but without its personal authenticity being undermined«.955 Friederike Eigler erkennt ein interessantes Spannungsverhältnis, das den gesamten Text durchzieht956 : Fotos, 950 Ebd., S. 94. 951 Ebd., S. 83. 952 »Erinnern und Vergessen: Ein aktuelles Thema in der deutschen Gegenwartsliteratur. Im Gespräch mit Monika Maron«, Monika Maron im Gespräch mit Holly Liu, S. 3. 953 Radisch, S. 206. 954 Gilson 2006, chronologischer Überblick, S. 75. 955 Evans 2006, S. 306. 956 Vgl. Eigler 2005, S. 150.

Subjektive Authentizität in Pawels Briefe

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Originaldokumente und nicht zuletzt Pawels Briefe geben Einblick in die Faktenlage und sollen den Eindruck von Authentizität bekräftigen; gleichzeitig formuliert die Erzählerin wiederholt ihre Skepsis gegenüber dem Versuch, vergangenes Leben akkurat zu erinnern und wiederzugeben und spielt bewusst mit alternativen, ausschließlich ihrer Phantasie entspringenden Möglichkeiten, mit »den Auswegen aus der eigenen Biografie, […] dem was wäre gewesen, wenn …«.957 Sie reflektiert über das Verhältnis von Fakten und Imaginationen, über die Rolle des Vergessens und einer nachträglichen Sinnkonstruktion.958 Ohne sich theoretisch mit den Möglichkeiten und Grenzen der Autobiographie und mit den in Kapitel 2.2.4. beschriebenen Aspekten Wahrheit und Dichtung auseinanderzusetzen, gelingt der Autorin die Verbindung dieser wesentlichen Gattungsmerkmale, die sich nur scheinbar widersprechen: Throughout Pawels Briefe, Maron makes no effort to conceal the fact that the material conflates documentary evidence with creative and imaginative extrapolations, thereby supplementing Wahrheit with Dichtung. It allows her to develop a picture of her grandparents’ life together, to imagine how they would have found her life after the war, had they survived it, and to construct a relationship with people she never knew. Such Dichtung is no more fictional than trying to reconstruct events and situations from memories, the reliability of which is continually questioned in the text.959

Selbst innerhalb der kreativen und imaginativen Szenenentwürfe, die Evans beschreibt, zögert Maron nicht, die Begrenztheit ihres Erinnerungsmaterials vorzuführen. Sie verweist wiederholt auf die Unvollständigkeit der von ihr gezeichneten Familienbilder, auf die fehlenden eigenen Erinnerungen, auf ihre zeitweilige Tendenz zur Idealisierung oder Sentimentalisierung960 sowie auf »die Schwierigkeit, sich dieser so faszinierenden wie fremden familiären Welt angemessen anzunähern«961: Das Bild, das ich mir von meinen Großeltern mache, ist schwarzweiß wie die Fotografien, von denen ich sie kenne. Selbst wenn ich mich anstrenge und versuche, mir meine Großmutter und meinen Großvater als durchblutete farbige Menschen mit einer Gesichts-, Augen- und Haarfarbe vorzustellen, gelingt es mir nicht, die farbigen Bilder zu fixieren. Immer schieben sich in Sekunden die schwarzweißen Fotogesichter über die farbigen Fragmente.962

Dementsprechend nennt Meike Herrmann Pawels Briefe einen »hoch reflexive[n] und selbstreflexive[n] Text, der sich zu jedem Zeitpunkt bewusst ist, die 957 958 959 960 961 962

Gilson 2006, chronologischer Überblick, S. 72. Vgl. Eigler 2005, S. 146, 153. Evans 2006, S. 322. Vgl. Eigler 2005, S. 155. Ebd. Maron 1999, S. 18.

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Vergangenheit aus der Gegenwart heraus zu konstruieren«.963 Sie betont zu Recht, dass der faktische oder hypothetische, rekonstruktive oder spekulative Charakter des Gesagten durchweg gekennzeichnet ist.964 In Marons Autobiographie steht nicht das eigene Leben uneingeschränkt im Vordergrund; empathisch nähert sich die Erzählerin ihren ermordeten oder verstorbenen Verwandten an und empfindet eine besondere Nähe zu ihrem Großvater.965 Dessen ungeachtet findet in Pawels Briefe auch eine Aufarbeitung eigener Schwächen und Unstimmigkeiten im Lebensverlauf statt, wie sich unter anderem in der Episode um Marons Kontakte zum MfS zeigt. Wie jede Autobiographie muss auch Pawels Briefe immer im Hinblick auf den gegenwärtigen Schreiber beurteilt werden, auf seine Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit und seine (kritische) Selbstbeurteilung. Eva Kormann ist der Ansicht: Was wir wahrnehmen, wie wir es reflektieren und im Gedächtnis speichern, wie wir aus einzelnen, immer wieder von uns und anderen erzählten Erinnerungssplittern […] uns die Kette eines Lebens erschaffen, kommt nicht aus ohne Voreinstellungen, Begriffe, Kategorien und Weltordnungssysteme.966

Ausgehend von Marons Auffassung, dass es nicht nur die gesicherten Fakten sind, die eine Biographie ausmachen, kann konstatiert werden, dass die Autorin in der Tat mehr erreicht, als objektive Lebensverläufe nachzuverfolgen: In ihrem Erkenntnisstreben, in ihrer Selbstauseinandersetzung, ihrem mühevollen Versuch, sich den Großeltern anzunähern und ihre (Familien-)Geschichte in ein kohärentes Werk zu überführen, bleibt sie naturgemäß stets ihren Voreinstellungen, Begriffen, Kategorien und Weltordnungssystemen, letztlich ihrer subjektiven Sichtweise verhaftet und schafft es gleichzeitig, authentischen Einblick in reale und imaginierte Aspekte der Vergangenheit zu geben. So erreicht sie, was Goethe das ›Grundwahre‹967 nennt oder manche Literaturwissenschaftler eine ›höhere Wahrheit‹968 und was in dieser Arbeit unter dem Schlagwort der ›subjektiven Authentizität‹ zusammengefasst wurde. Implizit bescheinigt ihr das auch Katja Lange-Müller, deren Beurteilung der Autobiographie Pawels Briefe hier als Fazit dienen soll: All die ineinanderfließenden Gespräche der Autorin mit Briefen und Fotos, mit ihrer Mutter, mit sich selbst, und nicht zuletzt mit mir, der Leserin, sind bemüht um die Rekonstruktion der Wirklichkeit, um historische und persönliche Wahrheit, sind traurige und liebevolle, kritische und zornige literarische Suchbewegungen, die den in 963 964 965 966 967 968

Herrmann, S. 187. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Kormann, S. 125f. Vgl. oben, S. 86. Vgl. oben, S. 79.

Identität zwischen Ideologien

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sich komplizierten – und auch noch von den Umbrüchen ihrer Zeit drangsalierten – Menschen, um die sie kreisen, sehr nahe kommen.969

5.6. Identität zwischen Ideologien – Die Maron’schen Dichotomien als identitätsstiftende Momente In Kapitel 2.2.5. dieser Arbeit wurde die Autobiographie als Versuch erkannt, Identität hervorzubringen und zu präsentieren. Einem autobiographischen Unternehmen liegen zumeist die Suche nach einem Lebenszusammenhang und das Streben nach Selbsterkenntnis zu Grunde. Michael von Engelhardt beschreibt Identität als Ergebnis eines dreifachen Vermittlungsprozesses, nämlich der Vermittlung zwischen der Person und ihrer sozialen Umwelt, zwischen den inneren Instanzen einer Person und zwischen den verschiedenen historischbiographischen Phasen innerhalb des Lebenslaufs. Somit kann Identität zu Recht auch als soziale Konstruktion aufgefasst werden.970 Monika Marons Identitätssuche bewegt sich hauptsächlich innerhalb ihrer Familiengeschichte, die von den Einflüssen verschiedener Religionen, Nationen und Ideologien geprägt ist. In diesem Rahmen versucht die Autorin, ihre eigene Biographie zu verorten. Sie bemüht sich, Fragen nach ihrer Herkunft zu ergründen, den »verpaßten Ausweg aus Hellas und damit meiner Biographie«971 zu bestimmen, eine Verbindung zu den ihr unbekannten Großeltern herzustellen, das problematische Verhältnis zu ihrer Mutter zu klären und eine »Skulptur ihres Lebens« zu entwerfen: »Wenn ich meiner Biographie eine Gestalt suche, kommt ein dürres eckiges Gebilde zustande, mit willkürlichen Streben nach rechts und links, als hätte da etwas werden sollen, was dem Rest seinen Sinn hätte geben können«.972 Passend zu dem innerhalb der Autobiographietheorie herrschenden Konsens, dass es zumeist Schicksalsschläge oder unerwartete Wendungen im Leben eines Menschen sind, die zur Abfassung des eigenen Lebensberichts Anstoß geben, und Autobiographien ein Versuch sein können, Lebens-, Sinn- und/oder Identitätskrisen zu bewältigen973, ist es in Marons Fall der bereits beschriebene Fund auf dem Dachboden, der am Anfang ihres autobiographischen Unterfangens steht. Der Inhalt der zahlreichen Briefe von und an Pawel sowie der amtlichen Originaldokumente aus den 1940er Jahren, mit dem die Autorin 1994 erstmals konfrontiert wird, wurde innerhalb des Familiengedächtnisses nicht tradiert; die Schriftstücke sind schlichtweg vergessen 969 970 971 972 973

Lange-Müller, S. 213. Vgl. oben, S. 91ff. Maron 1999, S. 178f. Ebd., S. 70. Vgl. oben, S. 91.

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Monika Marons Pawels Briefe

worden. Ihr zufälliges Auftauchen eröffnet für Monika Maron einen neuen Zugang zu der Vergangenheit, zu ihrer Familiengeschichte und damit auch zu ihrer eigenen Identität. Auch Lothar Bluhm und Volker Wehdeking sind der Auffassung: Bei aller Authentizität der Zeitdokumente bis hin zu Familienfotos und Briefzitaten schreibt Monika Maron diese Geschichte dreier Generationen in Pawels Briefe mit einer sehr persönlichen Absicht: Sie will sich selbst auf den Grund kommen und setzt die Familiengeschichte immer in Beziehung zur eigenen Lebensgeschichte.974

Schon bevor Maron die Briefe ihres Großvaters Pawel aus dem Ghetto liest, nimmt er eine besondere Rolle für die Identitätssuche seiner Enkeltochter, die er nicht mehr kennen lernen durfte, ein: Ich weiß nicht, ob alle oder wenigstens viele Kinder sich zuweilen wünschen, Nachkommen anderer Eltern zu sein […]. Ich jedenfalls war von solcher Undankbarkeit in manchen kindlichen Krisenzeiten ganz erfüllt. Ich wollte anders sein, als meine Abstammung mir zugestand. Und weil die Fotografie meiner Großmutter […] sie allzu deutlich als die Mutter meiner Mutter auswies, fiel meine Wahl als einzigen Ahnen, von dem abzustammen ich bereit war, auf meinen Großvater.975

Dass Pawel seiner Herkunft nach Jude war, spiele für diese Entscheidung keine Rolle, wohl aber die Tatsache, dass er umgebracht wurde und nicht die Möglichkeit hatte, sein Leben, wie er es sich in Berlin aufgebaut hatte, zu Ende zu leben.976 In ihrer Verbindung zu ihm erkennt Maron einen ersten »Versuch, dem eigenen Leben einen Sinn und ein Geheimnis zu erfinden«.977 Pawel wurde als Jude geboren, Josefa als Katholikin; beide wandten sich von ihrem ursprünglichen Glauben ab und konvertierten zum Baptismus. Ihre Kinder erzogen sie im Sinne dieser Freikirche und schickten sie in die Sonntagsschule; keines der vier Geschwister allerdings blieb dieser Religion treu. Monika Maron kommentiert: Einen Glauben oder eine Weltanschauung abzulegen, in denen man erzogen wurde, verlangt mehr als ein gewisses Maß an Mut und Charakterstärke; es erfordert eine andauernde intellektuelle und emotionale Anstrengung, denn den Relikten seiner Erziehung begegnet der Mensch, der sich einer solchen Umwandlung unterzieht, noch nach Jahren und Jahrzehnten. […] Wenn diese Metamorphose […] den vorhersehbaren Bruch mit allem, was das bisherige Leben ausgemacht hat, bedeutet, mit Eltern, Geschwistern, Freunden und Verwandten, mit der geographischen und der kulturellen Heimat, und wenn sich ein gerade erwachsener Mensch trotzdem dazu entschließt, 974 Lothar Bluhm/Volker Wehdeking: »Monika Maron: Stille Zeile sechs. Monika Marons Stille Zeile sechs im Licht von Pawels Briefen«. In: Interpretationen. Romane des 20. Jahrhunderts. Band 3, Leipzig 2003, S. 251. 975 Maron 1999, S. 9. 976 Vgl. ebd. 977 Ebd.

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muß ihm die Welt, mit der er bricht – und ich sage das aus Erfahrung –, etwas angetan haben. Ich selbst war fast vierzig, als ich es aufgegeben habe, die Vermeidung des endgültigen Bruchs zum heimlichen Kriterium meiner Entscheidungen zu machen.978

Hier offenbaren sich das tiefe Verständnis für und die Identifikation mit den Großeltern979 : Pawel und Josefa wurden auf Grund ihrer Konversion von ihren Elternhäusern verstoßen. Sie wanderten aus Polen aus und bauten sich in Berlin eine neue Existenz auf. Maron selbst wächst ebenfalls in einem Umfeld auf, von dem sie sich als Erwachsene distanziert, auch sie verlässt das Land, in dem sie geboren wurde. Ihre Ablösung betrifft nicht den Glauben, da sie atheistisch erzogen wurde, sondern die kommunistische Ideologie. Ihre Entscheidung, ihr erstes Buch 1981 in einem westdeutschen Verlag zu veröffentlichen, führt zu einem vorübergehenden Bruch mit ihrer regimetreuen Mutter. Doch auch Hella wird die Parallele innerhalb der Familiengeschichte bewusst: Später erzählte mir Hella, sie hätte damals, als wir nicht miteinander sprachen, eines Nachts wach gelegen, und plötzlich sei ihr bewußt gewesen, daß sie eigentlich nichts anderes tat als Pawels und Josefas Eltern, die den eigenen Kindern das Haus verschlossen, weil sie den falschen Glauben hatten.980

Auch Lothar Bluhm betont die Verbindung der Enkelin zu Pawel und Josefa: Der Erinnerungssprung zur Biographie der Großeltern, insbesondere der des ermordeten Großvaters, gibt der Erzählerin die Möglichkeit, sich hier eines positiven, vielleicht sogar vorbildhaften Erbes zu versichern. […] Auf diese Weise wird ein Refugium und ein Gegenraum zur Elternwelt geschaffen und eine eigene – auf Differenz aufgebaute – Identität ermöglicht.981

Über seine jüdische Familie hat Pawel niemals gesprochen – »[e]r hat die Erinnerung an seine Herkunft seinen Kindern nicht hinterlassen wollen«.982 Im Hinblick auf das defizitäre Familiengedächtnis bescheinigt ihm seine Enkelin daher, mit dem Vergessen angefangen zu haben – allerdings war sein Schweigen eine bewusste Entscheidung. Doch letztlich ließ er seine Kinder in Unkenntnis über die orthodoxe Welt, der er entstammte, somit über seine Eltern, seine Erziehung und den Entschluss, seinen Heimatort zu verlassen.983 Hella, Marta und Paul hatten keine Gelegenheit, sich eine Vorstellung von dem Leben ihrer Vorfahren zu machen; möglicherweise besteht darin die Grundlage für die spätere Tendenz der Geschwister, sich weniger mit der Vergangenheit als mit der 978 979 980 981 982 983

Ebd., S. 30f. Vgl. Plowman 2003, S. 234. Maron 1999, S. 203f. Bluhm, S. 149. Maron 1999, S. 110. Vgl. ebd., S. 109f.

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Zukunft, in Hellas und Martas Fall also mit dem Aufbau des DDR-Sozialismus zu befassen. Auch Antje Doßmann formuliert: Hella hat sich nicht mit der Geschichte ihres Vaters auseinandergesetzt. Statt der Trauer um den Verlust des Vaters, widmete sich Hella, die ihr Leben lang eine überzeugte Kommunistin geblieben ist, dem politischen Neubeginn und der Etablierung des Sozialismus in der DDR. Das erzählende Ich in Pawels Briefe steht den politischen Überzeugungen, steht der Rolle, die seine Mutter im Staatswesen der DDR gespielt hat, wenn auch nicht mehr mit jugendlichem Aufbegehren, so aber noch immer ratlos gegenüber.984

Thomas Kraft weist darauf hin, dass Monika Marons weltanschauliche Sozialisation »von zwiespältigen Erfahrungen« geprägt ist und »zwischen diesen Menschen und damit zwischen denkbar extremen Positionen ihren eigenen Verlauf sucht«.985 Diese prägnante Feststellung wird in der folgenden Textpassage bekräftigt: Ich wünschte, es hätte ihn in meinem Leben gegeben. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß unser Leben mit Pawel ebenso verlaufen wäre, wie es ohne ihn verlaufen ist. Alles, was ich inzwischen über ihn weiß, läßt mich vermuten, daß Hellas fragloses Bekenntnis zu ihrer Partei und zu der neuen Macht in Pawel wenigstens Zwiespalt geweckt hätte.986

Die Autobiographin reflektiert mehrfach über den Standpunkt, den Pawel während der Aufbaujahre der DDR gegenüber der neuen Staatsform eingenommen hätte und unterstellt ihm zumindest Skepsis; mehrfach betont sie, sich ihn als Kommunist beziehungsweise in einer kommunistischen Parteiversammlung nicht vorstellen zu können.987 Wie die Autorin es bereits in Flugasche geschildert hat, findet auch in ihrem eigenen Leben eine Indienstnahme des Großvaters statt; in ihren Gedanken steht er ihr bei in ihrer Abwehr gegen den Staat: The integrity associated with Pawel’s conversion thus provides the moral ground in which Pawels Briefe reaffirms Maron’s oppositional stance towards the GDR and her own break with the communist orthodoxy of her mother and stepfather.988

Bemerkenswert ist, dass sich Marons Verhältnis zur DDR im Verlauf ihres Lebens sukzessive ändert; vergleichsweise spät vollzieht sie die endgültige Abkehr. 984 Doßmann, S. 135. 985 Thomas Kraft: »Vergessen erinnern. Monika Maron: Auf Spurensuche in der Familiengeschichte«. In: neue deutsche literatur. Zeitschrift für deutschsprachige Literatur 47 (1999), H. 3, S. 166. 986 Maron 1999, S. 180f. 987 Vgl. z. B. ebd., S. 60f., S. 181f. 988 Plowman 2002, S. 95.

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Noch bis ins Erwachsenenalter glaubt sie an den Kommunismus und die Reformierbarkeit des Staats; über viele Jahre hinweg ist sie Mitglied der SED; von ihrem kurzzeitigen Kontakt zum MfS war in dieser Arbeit bereits die Rede. Erst nach dem Tod ihres Stiefvaters im Jahr 1975 ist sie in der Lage, die gewohnten Denkmuster zu überwinden und die Konsequenzen daraus zu ziehen: Ich weiß bis heute nicht genau, warum mir, solange Hellas Mann lebte, alles unmöglich erschien, was ich, als er gestorben war, nach und nach einfach tat, wie ein umgeleiteter Fluß, der sein natürliches Bett wieder findet, nachdem das künstliche Hindernis aus dem Weg geräumt wurde. Ich schrieb, ich trat aus der SED aus und veröffentlichte mein erstes Buch, nachdem man es in der DDR nicht drucken wollte, entgegen allen früheren Beteuerungen doch im Westen.989

Fortan bezeichnet sie sich als Antikommunistin; ihre ideologische Neuorientierung mündet 1988 in die Übersiedlung nach Westdeutschland. Wie in den meisten ihrer Romane findet auch in Pawels Briefe eine unmissverständliche Abrechnung mit der DDR-Diktatur statt.990 Friederike Eigler bemerkt kritisch, dass Monika Maron sich als Opfer der DDR-Aufbaugeneration darstelle und dabei nicht ausreichend thematisiere, dass sie als Stieftochter des SED-Funktionärs Karl Maron, wenn auch unfreiwillig, lange zu den Privilegierten der DDR-Gesellschaft gehörte.991 Dieser Vorwurf ist nicht von der Hand zu weisen, kann aber abgemildert werden in Anbetracht der Tatsache, dass Maron diesen Aspekt ihrer Herkunft zwar selten explizit abhandelt, ihn aber auch nicht unterschlägt und ein gewisses Maß an kritischer Distanz erkennen lässt. Beispielsweise spricht sie in Pawels Briefe von sich selbst als »Bonzenkind«.992 Bei Marons Autobiographie handelt es sich gleichsam um die Auseinandersetzung mit beziehungsweise Klärung einer komplizierten und konfliktgeladenen Mutter-Tochter-Beziehung: Die allmähliche politische Opposition der Tochter gegen den Staat richtet sich auf Grund der unerschütterlichen Parteigläubigkeit der Mutter gleichzeitig gegen diese; auch Hellas Naturell, ihre Lebensauffassung, ihre Handlungsmuster und ihre Art der Erinnerung, die Monika Maron zum Teil fremd erscheinen, werden abgehandelt. Owen Evans resümiert: »The resultant ambivalence she feels towards her mother is a key leitmotif of the text, as well as being a principal factor in the relational dimension of Maron’s sense of self«.993 Maron selbst kommentiert im Nachhinein: Aber vor allem hat mich an der Biographie meiner Mutter, die ja eine anständige Frau ist, interessiert, wie sich ihre Entscheidungen nach 1945 oder nach 1950 aus ihrer 989 990 991 992 993

Maron 1999, S. 194f. Vgl. Kapitel 5.3. dieser Arbeit. Vgl. Eigler 2005, S. 178. Maron 1999, S. 129. Evans 2006, S. 308.

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Vergangenheit und aus ihrem eigenen Erleben legitimieren, […] ohne daß ich von Schuld spreche, auch wenn ich diese Entscheidungen nicht akzeptieren kann. Ich wollte nur verstehen, wie es dazu kam. Wie konnte sie so ungebrochen diesen Weg fortführen?! Ich habe keine endgültige Antwort darauf gefunden, aber ich glaube, daß ich doch viel verstanden habe.994

Im Rahmen der Aufarbeitung eigener Biographie und Familiengeschichte gehört die Beschäftigung mit ihrer Mutter zu den zentralen Anliegen der Autobiographin. Christine Cosentino konstatiert: Pawels Briefe sind ebenfalls eine Geschichte der Verdrängungen und Lebenslügen von Seiten der kommunistisch verblendeten halbjüdischen Mutter Hella, deren Vergeßlichkeit die Tochter Monika als bewußt/unbewußtes Umbiegen der eigenen Biographie ins Glückliche beargwöhnt.995

Das erscheint sehr drastisch formuliert; richtig ist jedoch, dass Monika Maron insbesondere Hellas Neigung und Fähigkeit kritisiert, die Schrecknisse des Nationalsozialismus und damit auch das Schicksal ihrer Eltern in ihrem weiteren Leben zu verdrängen und zu vergessen statt aufzuarbeiten: Manchmal kommt es mir fast gewalttätig vor, wie sie den Tatsachen ihres Lebens das Glück abpreßt, als könnte sie einen anderen Befund nicht ertragen. Aber es ist Hellas Leben, und nur sie kann sagen, wie oft das Befürchtete ausgeblieben ist und das Erhoffte sich statt dessen erfüllt hat.996

Wiederholt offenbart sich, inwieweit Marons Identitätssuche in die deutsche und polnische Geschichte eingebettet und mit dem Schicksal der aus Polen stammenden Juden verbunden ist.997 Die Autorin bezeichnet den Nationalsozialismus als »unheimliche[…] deutsche[…] Geschichte«998 und empfindet ihre polnisch-jüdische Abstammung diesbezüglich als Erleichterung, da sie ihr eine sichere Distanz verschaffe und sie davon befreie, sich als dessen Erbe zu fühlen.999 Eva Kormann resümiert treffend: Von Anfang an liegt der Spurensuche nach der Geschichte des jüdischen Großvaters und der Familie der Wunsch zugrunde, die Wurzeln der eigenen Person freizulegen. Diese eigene Person kann und will Maron nicht losgelöst von der Geschichte der Welt und den Geschichten anderer Menschen begreifen. Daß der einzelne sich durch Bezüge zu anderen Menschen, zu geschichtlichen Ereignissen, Diskursen und Glaubenssys994 »Erinnern und Vergessen: Ein aktuelles Thema in der deutschen Gegenwartsliteratur. Im Gespräch mit Monika Maron«, Monika Maron im Gespräch mit Holly Liu, S. 2. 995 Christine Cosentino: »Monika Maron, Pawels Briefe. Eine Familiengeschichte« (Rezension). In: Glossen: Eine internationale Zeitschrift zu Literatur, Film und Kunst nach 1945 4 (2000), H. 9: http://www2.dickinson.edu/glossen/heft9/cosentino2.html, Zugriff: 30. 04. 2013, S. 1. 996 Maron 1999, S. 70. 997 Vgl. Klötzer, S. 49. 998 Maron 1989, Rede über das eigene Land, S. 79. 999 Vgl. ebd.

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temen definiert – […] darüber kann sich Maron am Ende des 20. Jahrhunderts nicht hinwegtäuschen: Ist doch gerade die Geschichte der eigenen Familie eine Kette sich wandelnder Bekenntnisse, des Konvertierens aus eigenem Entschluß und des erzwungenen Wechsels der Bezugssysteme.1000

Ihre Mutter betrachtet die Autorin dabei als »Bindeglied, sie ist das Scharnier, an der die Geschichte von der einen Seite auf die andere kippt«1001, während Katharina Gerstenberger festhält: »It is a mother-daughter story about fundamental political and personal differences between Maron’s communist mother Hella and her non-communist daughter Monika«.1002 Vor der Abfassung ihrer (Familien-)Geschichte reist Monika Maron zusammen mit ihrer Mutter und ihrem Sohn nach Polen und besucht die Dörfer, aus denen Pawel und Josefa stammen: [L]angsam dämmerte das alte Versprechen auf, das ich mir oder meinen toten Großeltern immer wieder einmal gegeben hatte: nach Kurow bei Lodz und nach OstrowMazowiecka zu fahren, um dort nichts Bestimmtes zu finden, nur hinzufahren, mir vorzustellen, wie sie dort gelebt hatten, und den Faden zu suchen, der mein Leben mit dem ihren verbindet.1003

Die Beschreibung dieser Reise nimmt innerhalb der Autobiographie großen Raum ein. Die Suche nach Hinweisen auf Pawels und Josefas Leben gestaltet sich schwierig und wird detailliert wiedergegeben: Sie umfasst Anfragen bei Archiven und Behörden, Besuche auf Friedhöfen sowie zahlreiche Gespräche mit Dorfbewohnern.1004 Die Ergebnisse und Erfahrungen ihres Ausflugs stellen die Erzählerin nicht zufrieden; sie kommentiert lakonisch in Bezug auf OstrowMazowiecka: »Über Pawel hatten wir nur erfahren, daß er aus einem armseligen Städtchen kam«.1005 Wie erfolglos dieser Aufenthalt auch scheint, wie wenig Informationen über ihre Vorfahren sie auch zusammentragen können – auf der Reise durch Polen wird den Angehörigen der Familie Iglarz/Maron die Besonderheit ihrer Herkunft in Bezug auf nationale und konfessionelle Identität vor Augen geführt: Bis zu diesem Augenblick hatte ich nicht daran gedacht, daß die Ostrower uns für Juden halten mußten, Nachfahren von Juden und selbst Juden. Eher hatte ich ein kleines Unbehagen dabei empfunden, mich in deutscher Sprache nach dem Schicksal von Juden zu erkundigen.1006 1000 Kormann, S. 114. 1001 »Erinnern und Vergessen: Ein aktuelles Thema in der deutschen Gegenwartsliteratur. Im Gespräch mit Monika Maron«, Monika Maron im Gespräch mit Holly Liu, S. 1. 1002 Gerstenberger, S. 243. 1003 Maron 1999, S. 12. 1004 Vgl. ebd., S. 28f., 40–42, 91–95, 100–109, 183f. 1005 Ebd., S. 109. 1006 Ebd., S. 104.

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Die Autobiographin wird also veranlasst, diese Aspekte ihrer Familiengeschichte wiederholt zu reflektieren. Sie berichtet, dass sie in ihrem Hotel in Lomza nicht mehr als Jüdin, sondern vornehmlich als Deutsche angesprochen wurde. Als Polen wurde die kleine Reisegruppe während des Besuchs im Heimatland ihrer Vorfahren selbstverständlich von niemandem wahrgenommen, doch scheint dies die Erzählerin zu verwundern; sie bemerkt: »Polen waren wir nirgends und für niemanden, obwohl wir alle mehr polnische Anteile als jüdische haben, und obwohl Hella und ich bis 1953 sogar polnische Staatsbürger waren«.1007 Jonas, Monika und sogar Hella Maron wurden jedoch in Berlin geboren; in Pawels Briefe finden sich keine Hinweise auf Kenntnisse der polnischen Sprache, nur Hella habe als kleines Mädchen polnisch gesprochen. Zudem ist von einer Übersetzerin die Rede, die die Familie auf ihrer Reise begleitet.1008 Auch abseits dieser Reiseerfahrung wird die polnische Herkunft erneut thematisiert: Zwei Jahre vor Hellas Heirat waren wir aus Polen zu Deutschen geworden, und nach Hellas Heirat hießen wir auch nicht mehr Iglarz. Eigentlich endet hier die Geschichte von Pawel, Josefa und ihren Kindern.1009

Auffällig ist, dass die Erzählerin die Änderung von Nationalität und Namen als Ende begreift, als würde dies die Verbundenheit mit Pawel und Josefa schmälern. Doch insbesondere im Jugend- und frühen Erwachsenenalter hat sich Maron, wie die Erzählerin berichtet, auf das Erbe ihrer Großeltern berufen. Dass die Geschichte hier eben nicht endet, sondern in den jüngeren Generationen der Familie Iglarz/Maron und nicht zuletzt innerhalb Monika Marons autobiographischem Projekt fortwirkt, haben die bisherigen Ausführungen aufgezeigt. Margaret Maliszewska weist dem Aufenthalt in Ostrow-Mazowiecka Bedeutung in Bezug auf die Identitätsfindung der Erzählerin zu: Ostrjw nimmt […] eine besondere Stelle hinsichtlich der jüdischen Identität der Erzählerin ein, da es die einzige Stadt in Polen ist, wo sie als Jüdin angesprochen wird. Für Marons Erzählerin ist die Erfahrung in Ostrjw analog zu Pawels Leben, der nur in dieser Stadt Jude war. Nachdem er seine Geburtsstadt verlassen hatte, hat er sich von allem Jüdischen losgesagt. In diesem Sinne stellt der Aufenthalt in Ostrjw eine Verbindung zwischen der Erzählerin und ihrem Großvater her.1010

In der Tat ist Pawels Wegzug aus seinem Heimatort für die Erzählerin durchaus von Belang; sie kann sich darin mit ihm identifizieren. Jedoch ist an dieser Stelle weniger die jüdische Identität entscheidend als der Sachverhalt, dass die Enkelin Pawels Bereitschaft und Fähigkeit bewundert, sich nicht nur dauerhaft aus ge1007 1008 1009 1010

Ebd., S. 108. Vgl. ebd., S. 106, 108. Ebd., S. 190. Margaret Maliszewska: »Die Reise nach Polen in Jeanette Landers Die Töchter und Monika Marons Pawels Briefe«. In: Seminar: A Journal of Germanic Studies 45 (2009), H. 3, S. 234.

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wohnten Denkmustern zu befreien, sondern sich sowohl in Bezug auf Nation, Konfession und Ideologie neu zu orientieren und sein Leben danach zu gestalten. Christine Cosentino fasst zusammen: Marons Werk ist eine Familiengeschichte der Widersprüche und Disparatheiten, in die sich die Enkelin einreiht: in das von religiösen, kulturellen, politischen und nationalen Zäsuren gezeichnete Leben der gütigen Großeltern und in die Verblendungen der halbjüdischen kommunistischen Mutter […]. Monika Maron bricht mit diesen Verblendungen, wird letztlich, wie Pawel und Josefa, ebenfalls eine Art Abtrünnige einer überkommenen Religion, die als Dissidentin den Bruch mit der DDR vollzieht und in ein anderes Land überwechselt.1011

Letztendlich interessieren die Erzählerin vor allem die Brüche innerhalb der Lebensentwürfe ihrer Vorfahren – Eva Kormann hat die der Autobiographie zu Grunde liegenden Fragen zusammengetragen: War Pawel Jude, Baptist oder Kommunist? Wie wurde aus der polnischen Baptistin Hella Iglarz die deutsche Kommunistin Hella Maron? Was hat Monika stärker geprägt, das privilegierte Aufwachsen im Haus eines Innenministers der DDR oder die prekäre Kriegskindheit als uneheliche Tochter einer polnischen Halbjüdin in Berlin?1012

Innerhalb der Familienkonstellation, die durch die Dichotomien Nationalsozialismus – Kommunismus, Polen – Deutschland sowie Judentum – Christentum geprägt ist, spürt die Erzählerin ihren Wurzeln und ihrer eigenen Identität nach; sie setzt die Familiengeschichte immer in Beziehung zur eigenen Biographie. Antje Doßmann weist richtig darauf hin, dass für das erzählende Ich das Aufschreiben der eigenen Lebensgeschichte nicht nur das Produkt, sondern auch das Instrument einer Ich-Suche ist; dies trifft zum Teil auch auf Marons Romanprotagonistinnen zu. Owen Evans betrachtet Pawels Briefe als »primarily as the author’s attempt to resolve a deep-rooted identity crisis and step out from under his [Karl Marons] problematic shadow«.1013 Karsten Dümmel, der sich in seiner Studie Identitätsprobleme in der DDR-Literatur der siebziger und achtziger Jahre intensiv mit dem Wesen und der Wahrnehmung von Identität auseinandersetzt, bezeichnet Identitätsverlust als »das abhanden gekommene Gleichgewicht im seelischen Leben eines Menschen«.1014 Eine Identitätskrise definiert er sowohl als »hochkomplexe, konfliktbeladene Phasen der Ichorganisation in der lebenslangen Entwicklung eines Individuums«, als »Prozeß des Erarbeitens einer autonomen Rolle, das Lösen von bestimmten übernommenen Mustern also« und schließlich als »Aufbrechen der Rollenidentität in einem radikal veränderten Umfeld, die Korrektur und Neuorientierung des kollektiven 1011 1012 1013 1014

Cosentino 2000, S. 1. Kormann, S. 118. Evans 2006, S. 296. Dümmel, S. 26.

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Monika Marons Pawels Briefe

Ich also. Damit korrespondieren Werteverlust, Minderwertigkeitsgefühl und Orientierungslosigkeit«.1015 Wie bereits gezeigt wurde, sind in Marons Fall einige dieser Komponenten wiederzufinden; Pawel wird zum Sinnbild des Unangepassten und Aufrechten und erhält während Marons mühevoller Loslösung aus ihrer Rollenidentität Vorbildfunktion. Im Rahmen dieser Indienstnahme ist von Seiten der Erzählerin auch eine Tendenz zur nachträglichen Idealisierung des Großvaters zu erkennen.1016 Friederike Eigler schlussfolgert treffend, »dass sich Maron mit der Rekonstruktion von Pawels Biographie auch eine eigene Geschichte erschreibt und der Text damit […] eine identitätsstiftende Funktion für die Erzählerin/Autorin erhält«.1017 In dem Artikel Lebensentwürfe, Zeitenbrüche äußert sich Monika Maron wie folgt über ihren Lebenslauf: Als ich Mitte Dreißig war und vermutlich wieder einmal unzufrieden mit meiner Herkunft, Erziehung und Veranlagung, sagte eine Freundin zu mir, ab irgendwann sei es unwichtig, warum wir wie geworden sind; wichtig sei nur noch, was wir daraus machen. Das ist ein hilfreicher Satz in meinem Leben gewesen.1018

Wie deutlich wurde, verspürt die Autorin ungeachtet dieser Überzeugung den Drang, im Rahmen eines autobiographischen Projekts nicht nur den psychologischen Wurzeln der DDR und ihres Scheiterns erneut nachzugehen, sondern das erzählende Ich mit den zentralen Fragen »Wer bin ich? Warum bin ich so geworden?«1019 zu konfrontieren. Ihr nachträgliches Fazit fällt überraschend positiv aus: »Meine gelebte Biographie, samt ihren Irrwegen, gefällt mir gut«.1020 Bemerkenswert ist, dass Monika Marons Kindheit in ihrer Autobiographie einen vergleichsweise geringen Stellenwert einnimmt; generell kommt dem erzählten Ich gegenüber dem erzählenden Ich eine deutlich abgeschwächte Stellung zu. Häufig sind es die Annäherung und schließlich die Verschmelzung dieser beiden Instanzen, die Identität gattungsspezifisch hervorbringen und manifestieren sollen. In Marons Fall jedoch reicht die autobiographische Selbstreflexion weit über die eigens erlebte Vergangenheit hinaus und beginnt zwei Generationen früher als der gängige Lebensrückblick. Die Auseinandersetzung mit den Vorfahren betrifft das erzählte Ich nur eingeschränkt; ein Großteil der behandelten Lebensphasen ereignet sich vor Marons Geburt. Das erzählende Ich ist durchweg präsent; mit zunehmendem Verlauf der Geschichte erhellt es auch die Biographie der Erzählerin. Da die Rekonstruktion der Fa1015 1016 1017 1018 1019 1020

Ebd., S. 25. Vgl. Eigler 2002, S. 170. Eigler 2005, S. 179. Maron 2006, Lebensentwürfe, S. 40. Doßmann, S. 128. Maron 2000, Rollenwechsel, S. 114.

Identität zwischen Ideologien

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miliengeschichte stets im Vordergrund steht, liegt hier ein Sonderfall der literarischen Autobiographie vor ; Iris Radisch nennt Marons Werk ein »Buch über ihren Großvater, das in Wahrheit wie alle Bücher über Väter und Großväter auch ein Buch über die Schreiberin selber und das ganze ödipale und welthistorische Vieleck ist, aus dem ein Leben sich zusammensetzt«.1021 Eigene Geschichte und Identität werden von der Autobiographin als eng verknüpft mit dem Leben der Vorfahren wahrgenommen.1022 Die Aspekte Selbstauseinandersetzung, Identitätssuche und -vergewisserung sind in Pawels Briefe, nicht zuletzt in den Abschnitten über Marons Kontakte zum MfS, klar erkennbar und führen die Erzählerin zu vorläufigen Schlüssen in der Beurteilung ihres Lebensverlaufs. Die vorgenommenen Untersuchungen haben aufgezeigt, inwiefern Monika Maron verschiedene Medien der Erinnerung bewusst einsetzt, um sich innerhalb eines literarischen Werks unter Verzicht auf Fiktion sowohl ihrer Familiengeschichte als auch ihrer eigenen Biographie anzunähern, dabei ebenfalls den (sozial-)historischen Hintergrund zu beleuchten und der Leserschaft ihre subjektiven Einschätzungen glaubhaft zu vermitteln. Vor dem Hintergrund der erfolgten Analyse kann dem Werk Pawels Briefe trotz des ihm aus Sicht der Autobiographietheorie zukommenden Sonderstatus die Erfüllung der gattungskonstitutiven Kriterien bescheinigt werden.

1021 Radisch, S. 202. 1022 Vgl. Eigler 2005, S. 145.

6.

»anzuschreiben gegen das schäbige / vergessen, das so viele leben einschließt, / leben aus lauter vergangenheit«: Wulf Kirstens Die Prinzessinnen im Krautgarten. Eine Dorfkindheit

6.1. Bedeutung von Erinnerungsstrukturen für Wulf Kirsten – als Lyriker und als Autobiograph 6.1.1. Chronist des heimatlichen Sprach- und Lebensraums: Mit der eigenen Erinnerung gegen den Verlust von (lokaler) Geschichte Der 1934 geborene und aus der Nähe von Meißen stammende Lyriker Wulf Kirsten veröffentlicht im Jahr 2000 seine Autobiographie Die Prinzessinnen im Krautgarten. Eine Dorfkindheit. Während seine Gedichte seit den Anfängen häufig autobiographisch grundiert sind, legt er nun erstmals ein Prosawerk vor, in dem er sich detailliert mit seiner Herkunft, seinen Erinnerungen an Schulzeit, Hitlerjugend und Kriegserlebnisse sowie mit seinem kindlichen Ich auseinandersetzt. Die historische Abhandlung Die Schlacht bei Kesselsdorf. Ein Bericht und die fiktive Erzählung Kleewunsch. Ein Kleinstadtbild, die 1984 in einem Band erscheinen, markieren Kirstens erste Hinwendung zur ungebundenen Rede; später werden mit den Veröffentlichungen Textur. Reden und Aufsätze (1998) und Brückengang. Essays und Reden (2009) zahlreiche weitere Prosatexte aus seiner Feder versammelt. Jedoch bilden lyrische Projekte während jeder Schaffensphase den Schwerpunkt in Kirstens Werk. In ländlicher Umgebung als Sohn eines Steinmetzen geboren und aufgewachsen, wird Wulf Kirsten nach dem Besuch der Oberschule zunächst Handelskaufmann, arbeitet als Bauarbeiter und Buchhalter. Später holt er das Abitur nach und studiert in Leipzig Deutsch und Russisch für das Lehramt. Als Lehrer arbeitet er jedoch nur kurz, vielmehr macht er sich als Lektor im Aufbau-Verlag in Weimar einen Namen. Von Beginn der 1960er Jahre an schreibt er eigene Gedichte, in denen er sich vorrangig mit seiner obersächsischen Herkunftslandschaft und -sprache, mit seiner Kindheits- und frühen Arbeitswelt be-

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Wulf Kirstens Die Prinzessinnen im Krautgarten. Eine Dorfkindheit

fasst.1023 In einem Interview mit Peter Hamm nennt Kirsten sein Gedicht die erde bei Meißen als Ausgangspunkt – »das war der Anfang, und auf dieses Gedicht hat sich dann alles aufgebaut«.1024 Vor 1989 erscheinen, zum Teil in Westdeutschland, die Gedichtbände satzanfang. gedichte (1970), Ziegelbrennersprache. Gedichte (1974), der landgänger. Gedichte (1976), der bleibaum. gedichte (1977) und die erde bei Meißen. gedichte (1986). Laut eigener Aussage geht es Kirsten unter anderem darum, sich von der DDR-Doktrin abzusetzen und abseits des verordneten Parteijargons seine eigene Sprache zu finden und ein eigenes Programm zu behaupten.1025 Das gelingt ihm, indem er die Möglichkeiten und Grenzen der Lyrik innerhalb von repressiven Systemen erkennt und gezielt nutzt; er vermeidet jegliche affirmative Aussage und umgeht die Gebote der Kulturpolitik genau soweit, dass seine Texte dennoch gedruckt werden.1026 Innerhalb der Literaturwissenschaft der DDR gilt Kirsten schlicht als Naturlyriker, als eigenbrötlerisch und indifferent gegenüber welthistorischen Aufgaben, was unzutreffend ist, ihn aber vor drastischer Zensur bewahrt.1027 Kirstens Lyrik ist nicht naturmystisch oder als idyllische Landschaftsbeschreibung aufzufassen; über Naturlyrik reichen seine Texte bei weitem hinaus – Manfred Osten bezeichnet Kirstens Dichtung zu Recht als »eine Welt mit einem überreichen Kosmos topographischer, historischer, sozialer, ökonomisch-ökologischer und sprachlicher Dimensionen«.1028 Der mittlerweile mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnete Lyriker tritt als detailverliebter Chronist seines heimatlichen Sprach- und Lebensraums auf, dessen Blickwinkel sich jedoch nicht auf die Natur als solche beschränkt, sondern im Rahmen komplexer Schaffensprozesse in der Tat vielschichtige Komponenten mit einbezieht. Der Dichter selbst skizziert die Entstehung seiner Texte folgendermaßen:

1023 Vgl. Manfred Osten: »Erinnerte Gegenwart und lyrisches Gedächtnis bei Wulf Kirsten. Laudatio«. In: Verleihung des Literaturpreises der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. an Wulf Kirsten. Weimar, 22. Mai 2005. Dokumentation, Hg. v. Günther Rüther, Sankt Augustin 2005, S. 14f. 1024 »Selbstauskunft. Bewahrenswertes aufheben«, Wulf Kirsten im Gespräch mit Peter Hamm. In: Wulf Kirsten. Texte, Dokumente, Materialien, Hg. v. Bernhard Rübenach, Bühl-Moos 1987, S. 47. 1025 Vgl. Wulf Kirsten: »Gegensprache im Gedicht«. In: ders.: Brückengang. Essays und Reden, Zürich 2009, S. 66. 1026 Vgl. Heinz Czechowski: »Gedächtnisprotokoll«. In: Frankfurter Anthologie. Achtzehnter Band. Gedichte und Interpretationen, Hg. v. Marcel Reich-Ranicki, Frankfurt/M., Leipzig 1995, S. 205. 1027 Vgl. York-Gothart Mix: »Wider die megalomanischen Steppenfürsten unter uns. Wulf Kirstens Modernekritik«. In: Weiterschreiben. Zur DDR-Literatur nach dem Ende der DDR, Hg. v. Holger Helbig, Berlin 2007, S. 115. 1028 Osten, S. 14.

Bedeutung von Erinnerungsstrukturen für Wulf Kirsten

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[E]s ist ja nicht die blanke Landschaft allein, zu der mir mitunter Gedichte einfallen. Es müssen da neben dem autobiographischen Grund immer auch andere Aspekte, z. B. soziale, historische, ins Spiel gebracht werden können. Wenn sich die Herkunftslandschaft genauer ausloten ließ, so hat dies einmal mit den stärkeren Prägungen zu tun, die einem in der Kindheit mitgegeben wurden, und mit den verschiedenen Sprachschichten, die mir anderswo nicht zur Verfügung stehen.1029

Für Kirsten bietet die Landschaft, an die er eine starke Bindung hat, immer auch Anknüpfungspunkte für seinen Erinnerungsdiskurs; sie fungiert zugleich als Geschichts- und Gedächtnislandschaft, in der verschiedene Zeitebenen aufgerufen werden und sich überlagern.1030 In dem Gedicht september am Ettersberg beispielsweise dient Landschaft primär als Geschichtsraum; es rekurriert auf ein Naturerlebnis Johann Wolfgang von Goethes und Johann Peter Eckermanns im Jahr 1827, auf Jorge Semprfflns literarische Verarbeitung seiner Gefangenschaft im Konzentrationslager Buchenwald in Was für ein schöner Sonntag! (1981), auf konkrete historische Ereignisse der Jahre 1944/45 sowie auf den Zusammenbruch der DDR.1031 Laut eigener Aussage hat Wulf Kirsten sich bereits sehr früh intensiv mit Regionalgeschichte befasst, deren detaillierte Kenntnis ihm über die Jahrzehnte eine wesentliche Grundlage für sein literarisches Schaffen bietet.1032 Häufig geht die Historizität innerhalb seiner Arbeit auf die Summe seiner subjektiv erlebten und empfundenen Geschehnisse zurück – »[i]ch habe nur Dinge geschrieben, von denen ich selbst überzeugt war und habe mich vorwiegend auf meine Biographie, auf die eigenen Erlebnisse verlassen«.1033 Jedoch bleibt Kirstens Horizont nie auf die lokale Geschichte beschränkt; seine Texte weisen stets über das Regionale hinaus und bündeln kollektive (Diktatur-)Erfahrung. Die geschichtlichen Ereignisse des 20. Jahrhunderts in Europa durchziehen und strukturieren seine literarischen Projekte. Zur Charakterisierung von Kirstens Lyrik bemüht Anke Degenkolb den Terminus ›subjektive Geschichtsschreibung‹ 1029 Kai Agthe: »›… denn Weimar ohne Thüringen vermag ich mir nur schwer vorzustellen‹. Drei Fragen an Wulf Kirsten«. In: Palmbaum. Literarisches Journal aus Thüringen 12 (2004), H. 1/2, S. 16. 1030 Vgl. Peter Horst Neumann: »Naturlyrik heute. Laudatio auf Wulf Kirsten«. In: Wulf Kirsten. Texte, Dokumente, Materialien, Hg. v. Bernhard Rübenach, Bühl-Moos 1987, S. 27, 30. 1031 Vgl. Wulf Kirsten: »september am ettersberg«. In: ders.: Stimmenschotter. Gedichte 1987–1992, Zürich 1993, S. 43/44. 1032 Vgl. »Selbstauskunft. Bewahrenswertes aufheben«, Wulf Kirsten im Gespräch mit Peter Hamm, S. 57. Der Begriff ›Regionalgeschichte‹ bezieht sich zunächst natürlich auf Kirstens Heimat im Dresdener Raum, allerdings setzt er sich ebenfalls mit seiner späteren Wahlheimat Thüringen auseinander, bezeichnet sie als »zweiten Erlebnisfundus« (Wulf Kirsten: »Dank für den Weimar-Preis 1994«. In: ders.: Textur. Reden und Aufsätze, Zürich 1998, S. 133) und thematisiert sie in seinem Werk. 1033 »Selbstauskunft. Bewahrenswertes aufheben«, Wulf Kirsten im Gespräch mit Peter Hamm, S. 57.

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Wulf Kirstens Die Prinzessinnen im Krautgarten. Eine Dorfkindheit

und spricht zu Recht von einem »subjektive[n] wie repräsentative[n] Bild einer ausgehenden agrarischen Gesellschaftsordnung sowie der Kriegs- und Nachkriegszeit«.1034 Sein Geschichtsbewusstsein betrachtet Kirsten als »lebenslange[n] Aneignungs- und Erkenntnisprozeß«1035, was sich in seiner Lyrik deutlich widerspiegelt. Weiterhin führt er aus: Nahezu bohrend schmerzhaft werden Erinnerungen abgefragt, reaktiviert, Vergessenes, Halbvergessenes durch Gedächtnistraining zurückzugewinnen gesucht. Ohne späterhin erworbenes Wissen um Zusammenhänge, ohne den fortlaufenden Prozeß einer auf Wahrheit erpichten Geschichtsaneignung wäre kein Geschichtsverständnis zu gewinnen gewesen.1036

Die Gesamtheit Kirstens lyrischer Arbeit bezeichnet York-Gothart Mix treffend als eine »auf das kulturelle und historische Gedächtnis rekurrierende[…] Landschaftspoesie«.1037 Die Historizität, die Kirstens Lyrik auszeichnet, geht nicht zuletzt auf seinen Anspruch eines gewissen »Bewahrenwollen[s]«1038 zurück – »Kirsten t8moigne contre les forces de l’oubli«.1039 Dimensionen des Vergessens und Verschwindens sind in der Tat als zentrale Kategorien seiner Poetik anzusehen; der Autor schreibt bewusst dagegen an: Und wenn ich nun sehe, daß etwas sinnlos zerstört oder achtlos beiseite geworfen wird, dann ärgert mich das immer wieder. Das hängt mit dieser Haltung zusammen, daß man versucht, Dinge die bewahrenswert sind, zu hüten, Achtung vor den Dingen zu haben, Achtung vor der Sprache, weil das alles für mich geistiges und materielles Nationalvermögen ist.1040

Jedoch ist Kirstens Erinnerungsarbeit nicht ausschließlich durch den Blick zurück gekennzeichnet; der Zweck des Erhaltens und Bewahrens liegt für ihn vielmehr im Weitergeben. Seine Rückblicke besitzen Relevanz und Aussagekraft für Gegenwart und Zukunft in dem Sinne, dass eine menschenwürdige Zukunft auf einem Bewusstsein der Herkunft sowie auf einer erinnerungsreichen Ge1034 Anke Degenkolb: »anzuschreiben gegen das schäbige vergessen«. Erinnern und Gedächtnis in Wulf Kirstens Lyrik, Berlin 2004, S. 61. 1035 Wulf Kirsten: »Dankrede«. In: Verleihung des Literaturpreises der Konrad-AdenauerStiftung e.V. an Wulf Kirsten. Weimar, 22. Mai 2005. Dokumentation, Hg. v. Günther Rüther, Sankt Augustin 2005, S. 21. 1036 Ebd., S. 18. 1037 Mix 2007, S. 109. 1038 »Selbstauskunft. Bewahrenswertes aufheben«, Wulf Kirsten im Gespräch mit Peter Hamm, S. 57. 1039 St8phane Michaud: »M8moire et responsabilit8 : La sanction de la parole chez Wulf Kirsten et Michel Deguy«. In: Storia e memoria nelle riletture e riscritture letterarie. Histoire, m8moire et relectures et r88critures litt8raires, Hg. v. Jean BessiHre u. Franca Sinopoli, Rom 2005, S. 162. 1040 »Selbstauskunft. Bewahrenswertes aufheben«, Wulf Kirsten im Gespräch mit Peter Hamm, S. 57.

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genwart basiert.1041 Seine Rolle kann bezeichnet werden als »Protokollant des kulturellen Gedächtnisses«1042 oder auch als »literary interpreter of nature who guides his readers along the winding paths of personal and collective memory preserved in a textualized landscape«.1043 Wie eingangs erwähnt, weisen zahlreiche Gedichte Wulf Kirstens in ihrer heimatlichen, sozialen und lebensgeschichtlichen Prägung einen dezidiert autobiographischen Hintergrund auf und, so York-Gothart Mix, »skizzieren mit verhaltener Selbstironie Stationen und Situationen des eigenen Lebensweges«.1044 So zum Beispiel die Texte kindheit, schulweg, klassenfoto, dorf, lebensspuren und väterlicherseits, mütterlicherseits; auch in Kirstens Portraitgedichten wie etwa aus dem Leben der Droste, Christian Wagner oder Querner, die in den Bänden satzanfang. gedichte und der bleibaum. gedichte erscheinen, lassen sich verschiedene autobiographische Bezüge und Hinweise auf den Autor erkennen. Kirsten selbst sieht in der Literatur »Möglichkeiten, eine versteckte, verdeckte Autobiographie mitzuteilen«.1045 Das Gedicht nachtschicht bezieht sich auf ein konkretes Erlebnis im Jahr 1953, der Autor bezeichnet es als »blanke Autobiographie«1046 und formuliert weiterhin: So ziemlich alles, was ich geschrieben habe, ist im Grunde Lebensbeschreibung. Ein Abwälzen von Lebensstoff, der sich im Gedächtnis sedimentär abgelagert hat. Beginnt man, dieses mit Geschichte durch und durch infiltrierte, inkrustierte Material literarisch zu bearbeiten, so daß persönliche Erlebnisse, Erfahrungen und verallgemeinerbare gesellschaftlich-historische Zusammenhänge in einem Konnex stehen, findet man kein Ende angesichts einer erdrückenden Überfülle beider Komponenten.1047

Ungeachtet dieser als solche empfundenen erdrückenden Überfülle gelingt es Kirsten in seinen Gedichten immer aufs Neue, seinem vergangenen Ich in der bäuerlichen Heimat nachzuspüren, gleichzeitig aber Allgemeingültigkeit zu beanspruchen und historische Entwicklungsprozesse offen zu legen – Mix spricht in diesem Zusammenhang von einem »repräsentativen Ich[…]«.1048 Persönliche Bewusstwerdung, Selbsterkundung und Identitätssuche bilden letztlich eine Grundlage, von der aus Wulf Kirsten sich mit soziokulturellen Belangen seiner Kindheit und Heimat ebenso wie mit politischen, ökonomi1041 Vgl. Degenkolb 2004, »anzuschreiben gegen das schäbige vergessen«, S. 210 u. Osten, S. 14. 1042 Mix 2007, S. 119. 1043 Jeffrey Adams: »Wulf Kirsten. Wettersturz: Gedichte 1993–1998«. In: World literature today 74 (2000), H. 2, S. 406. 1044 Mix 2007, S. 110. 1045 »Selbstauskunft. Bewahrenswertes aufheben«, Wulf Kirsten im Gespräch mit Peter Hamm, S. 49. 1046 Ebd., S. 53. 1047 Kirsten 2005, Dankrede, S. 18. 1048 Mix 2007, S. 109.

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Wulf Kirstens Die Prinzessinnen im Krautgarten. Eine Dorfkindheit

schen, ökologischen oder zivilisatorischen Fragestellungen und Problemen der Gegenwart befasst – »Landschaft ist für Kirsten ein Ort subjektiver Authentizität«.1049 In einem erstmals 1970 veröffentlichten Aufsatz bezeichnet er seine bäuerliche Herkunftslandschaft als »Hintergrund für das Weltbild« beziehungsweise als »Zugang zu meiner Zeit« und konstatiert im Anschluss: Sich selbst ausforschen heißt dann auch, die Landschaft ins lyrische Ich einbeziehen, indem historische, soziale, ökonomische, topographische und biographische Details miteinander in Beziehung gesetzt werden, und zwar so, daß Abläufe in Zeit und Raum erkennbar sind. Mit dieser lokalen Totalität wird versucht, die Landschaft so exakt wie möglich zu benennen und etwas von ihrer Dynamik und Vitalität wiederzugeben.1050

Mit dem Gedicht Die Ackerwalze aus dem Jahr 1988, das 1993 in dem Band Stimmenschotter. Gedichte 1987–1992 erscheint, setzt Kirsten der obersächsischen Landbevölkerung, insbesondere seinen Eltern, ein literarisches Denkmal. Es fokussiert das Leben und Sterben einfacher Menschen und beleuchtet ihren arbeitsreichen Alltag: »jahr um jahr zogen die walze / steinzeitlich / am eisengestänge über eignen grund / und reformierten boden / bergunter, bergauf, / vater und mutter, ohne zu murren und aufzustecken, / immer mit letzter kraft in den sielen«.1051 Besonders in dem Gedichtband Wettersturz. Gedichte 1993–1998, der im Jahr 1999 erscheint, dominieren hoch verdichtete Erinnerungen an Kirstens Kindheit und Jugend in seinem Heimatdorf Klipphausen; der Autor präsentiert sein Herkunftsmilieu, er skizziert die eigene sowie fremde Biographien, er verbalisiert »Sympathien für meinesgleichen«1052, wie er selbst es formuliert. Häufig sind es auch Außenseiter, die Menschen am Rande der Gesellschaft, deren Schicksal Kirsten bewegt und ihn inspiriert. Jeffrey Adams spricht treffend von »esthetic transcription of a localized, regional landscape that records the history of its inhabitants« und »Kirsten’s belief that social history is indelibly inscribed on nature’s face«.1053 Jens Haustein nennt »die Landschaft im Gedicht als Ort des autobiographischen Erinnerns und Vergegenwärtigens«1054 somit zu Recht ein zentrales Thema in Kirstens Œuvre und beschreibt ein Spannungsfeld von eigener Erinnerung, sich wandelnder Wahrnehmung, der Aufnahme literarischer Traditionslinien 1049 Ebd., S. 120. 1050 Wulf Kirsten: »Entwurf einer Landschaft«. In: ders.: Textur. Reden und Aufsätze, Zürich 1998, S. 60. 1051 Wulf Kirsten: »Die Ackerwalze«. In: ders.: Stimmenschotter. Gedichte 1987–1992, Zürich 1993, S. 18. 1052 Wulf Kirsten: »Der große Hof des Gedächtnisses«. In: Wulf Kirsten. Texte, Dokumente, Materialien, Hg. v. Bernhard Rübenach, Bühl-Moos 1987, S. 37. 1053 Jeffrey Adams, S. 406. 1054 Jens Haustein: »Einführende Beobachtungen«. In: Landschaft als literarischer Text. Der Dichter Wulf Kirsten, Hg. v. Gerhard R. Kaiser, Jena 2004, S. 20.

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und bewusster Arbeit an der Sprache.1055 Auch laut Justus H. Ulbricht ist es vor allem eine »spezifische Beziehung von erlebter Geschichte, erfahrenem Leben, erinnertem Naturerlebnis und eigener Sprachschöpfung«1056, die Kirstens Dichtung charakterisiert. Als literarische Vorbilder nennt Kirsten wiederholt Peter Huchel und Johannes Bobrowski1057, die, so Jeffrey Adams treffend, »avoided fusing nature imagery with transcendent values, preferring to decipher the signs of history and society embedded in the natural world«.1058 Nicht zuletzt geben sie, ebenso wie Erich Jansen, dem Lyriker »die entscheidenden Impulse für die Beschränkung auf ein überschaubares Stück Welt, in dem ich mich genau auskannte, für das ich glaubwürdig einstehen konnte«.1059 Die detaillierten Kenntnisse, die Kirsten durch seine Einblicke in das Landleben gewonnen hat, erweisen sich aus der Sicht des herangewachsenen Schriftstellers als ertragreicher Fundus und Reichtum1060 : [E]rst aus der Distanz habe ich diese Landschaft wiedergefunden, auf meine Weise, und ich habe sie neu zusammengesetzt. Ich gebe kein photographisches Abbild, sondern habe für mich die Landschaft neugeschaffen. In Abbreviaturen sicher und verkürzt, so gibt es sie in Wirklichkeit nicht.1061

York-Gothart Mix fasst diese Aspekte mit der treffenden Formulierung zusammen: »Kirstens Landschaftsentwurf ist ein Weltentwurf«.1062 Auch Kirstens Kenntnis des ländlich-archaischen Vokabulars fließt in die lyrische Arbeit ein und wird in seinen Gedichten neu erschlossen und somit bewahrt; auf diese Weise schreibt er bewusst »gegen die verbrauchte Sprache des Alltags«1063 an. Die gesellschaftlichen Verhältnisse und die Diktion, die den Alltag in der DDR und später der Bundesrepublik kennzeichnen, bieten ihm Reibungsflächen: Gegensprache hat immer mit Gegenwartssprache zu tun. Mich provozierte sie wieder und wieder zu Rückgriffen auf ein nicht gängiges Vokabularium, in der Absicht zu bewahren, was allzu eil- und leichtfertig über Bord geworfen wurde.1064 1055 Vgl. ebd., S. 24. 1056 Justus H. Ulbricht: »Nachlese im Totenwald«. In: Landschaft als literarischer Text. Der Dichter Wulf Kirsten, Hg. v. Gerhard R. Kaiser, Jena 2004, S. 186. 1057 Vgl. z. B. Kirsten 1987, Der große Hof des Gedächtnisses, S. 37. 1058 Jeffrey Adams, S. 406. 1059 Kirsten 1987, Der große Hof des Gedächtnisses, S. 37. 1060 Vgl. ebd. 1061 »Gespräch mit Wulf Kirsten«, Wulf Kirsten im Gespräch mit Katharina Festner und YorkGothart Mix. In: Sinn und Form 46 (1994), H. 1, S. 94f. 1062 Mix 2007, S. 116. 1063 »Natur und Geschichte in der Sicht eines sächsischen Aufklärers. Gespräch mit Wulf Kirsten, geführt von Karlheinz Fingerhut«. In: Diskussion Deutsch 23 (1992), H. 125, S. 270. 1064 Kirsten 2009, Gegensprache im Gedicht, S. 68.

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Wulf Kirstens Die Prinzessinnen im Krautgarten. Eine Dorfkindheit

St8phane Michaud lobt insbesondere Kirstens Fähigkeit, auf der Grundlage seiner Verwurzelung in der sächsischen Heimat dichterische Übersetzungsarbeit zu leisten und damit die Herkunftslandschaft in ästhetische Werke zu überführen. Michaud formuliert zusammenfassend: »Sprache beleben, Menschen ihre Würde wiedergeben, eine Landschaft neu erstehen lassen – so hoch ist der Anspruch von Kirstens Lyrik«.1065 Auch auf die Prosawerke des Autors treffen zahlreiche der bisher erwähnten Aspekte zu. In Die Schlacht bei Kesselsdorf. Ein Bericht beispielsweise nähert Kirsten sich einem historischen Ereignis, das seine Herkunftslandschaft prägt, an: Kesselsdorf ist der Name einer Ortschaft, die in westlicher Richtung zehn Kilometer von Dresden entfernt liegt; hier findet am 15. 12. 1745 jene Schlacht statt, mit der Friedrich der Große über die Sachsen siegt und der zweite Schlesische Krieg seinen Abschluss findet. Neben die poetisch-erzählerische Leistung, die der Autor auch hier zweifellos erbringt, tritt eine kulturgeschichtliche Komponente. York-Gothart Mix weist treffend darauf hin, dass der Erzähltext sich »aus dem Blickwinkel der Betroffenen und Opfer gegen die historiographische Stilisierung und ideologische Funktionalisierung lokalgeschichtlicher Erinnerung«1066 wendet. Kleewunsch. Ein Kleinstadtbild portraitiert eine sächsische Kleinstadt während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und ist mit satirisch überspitzten Anekdoten und kleinen Geschichten durchsetzt. Die konkreten Geschehnisse in diesem provinziellen Umfeld, die Kirsten detailgenau beschreibt, werden an die Zeithistorie angeschlossen und können als Modell für nationalgeschichtliche Vorgänge angesehen werden. Zudem finden sich zahlreiche ironische Bemerkungen, die eine Verbindung zum damaligen DDR-Alltag herstellen lassen und somit dazu führen, dass Kleewunsch. Ein Kleinstadtbild »de facto […] im Sinne einer literarischen Camouflage als Satire auf die Alltagswirklichkeit der DDR begriffen werden muß«.1067 Mix zieht an dieser Stelle einen Vergleich mit Günter de Bruyns Biographie Das Leben des Jean Paul Friedrich Richter : Beiden Autoren gelingt es gleichermaßen, ihren Werken einen Subtext einzuschreiben, der auf die Entlarvung der SED-Ideologie abzielt. Bei de Bruyn ist es die Schilderung der Zensurpraxis während der Restaurationszeit, bei Kirsten die Darstellung einer biedermeierlichen Kleinstadtidylle, die Parallelen zur Lebenswirklichkeit im ›real existierenden Sozialismus‹ erkennen lassen und diesen satirisch vorführen. Im Fall von Kleewunsch. Ein Kleinstadtbild wird 1065 St8phane Michaud: »Auf der Suche nach einer Sprache für das diesseitige Zusammenleben. Zur Bedeutung von Metropolen- und Naturerlebnis bei Yves Bonnefoy, Michel Deguy und Wulf Kirsten«. In: Provinz und Metropole. Zum Verhältnis von Regionalismus und Urbanität in der Literatur, Hg. v. Dieter Burdorf u. Stefan Matuschek, Heidelberg 2008, S. 378. 1066 Mix 2007, S. 110. 1067 Ebd.

Bedeutung von Erinnerungsstrukturen für Wulf Kirsten

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diese Wirkung unter anderem durch Textpassagen wie die folgende erzielt: »Die Geschichte schien sich zu wiederholen. Das fatalistische Gefühl: Alles schon einmal dagewesen, beschlich die niedergehaltenen Erdenbürger«.1068 Und wenn der Erzähler von dem »unabänderlichen Kreislauf der Dinge«1069 spricht, dann braucht es laut Anke Degenkolb »wenig Phantasie, um auch die Gegenwart der frühen 80er Jahre in dieses zyklische Geschichtsbild einzubeziehen«.1070 In dem in zwei Abschnitte gegliederten Band Textur. Reden und Aufsätze sind 13 Beiträge von Wulf Kirsten versammelt; im ersten Teil findet sich neben verschiedenen Dankreden und einer kurzen autobiographischen Abhandlung auch der hoch verdichtete Aufsatz Entwurf einer Landschaft aus dem Jahr 1968, der ursprünglich den Gedichtband satzanfang. gedichte beschließt.1071 Auf knapp vier Seiten gibt der Autor pointiert Einblick in seine Poetik; er stellt die Grundlagen seiner lyrischen Arbeiten sowie deren Entstehungsprozess vor : ›Man sieht nur, was man weiß‹ heißt es bei Fontane. Erst mit diesem Wissen sah ich die Landschaft wirklich, aus der ich kam. Erst als ich die Welt, die ich kannte, als meine Welt begriffen hatte, vermochte ich sie zu umschreiben. […] Es war ein Fixpunkt gefunden, der nicht mehr nur Schatzbehälter für Kindheitserlebnisse war, sondern auf den sich das lyrische Subjekt in allen Tempora beziehen ließ. Um das Idyll zerstören zu können, bedurfte es der Distanz. Ohne sie wäre es wohl auch nicht möglich, der Monotonie zu entgehen, zu der thematische Begrenzung führen kann.1072

Der zweite Teil des Sammelbandes weist vor allem Abhandlungen über Schriftstellerkollegen auf, darunter eine Laudatio auf Ludwig Greve (1992), eine Rede auf Sarah Kirsch (1992) und eine Interpretation von Heinz Czechowskis Dresden-Gedichten (1988). In der letztgenannten Schrift, die mit Die Stadt als Text betitelt ist, formuliert Kirsten: Durch die Öffnung des Blickwinkels weitet sich das Landschaftsgedicht immer zum Weltanschauungsgedicht. Die Stadt als Text ist eben nicht bloß ein additives Notieren von mehr oder weniger zufälligen Eindrücken, sondern es geht um die gesellschaftlichen Zusammenhänge, um die Komplexität des Lebens. Erlebnis, Fühlen, Denken und Ahnung gehen in seiner Poesie zusammen und gelten ihm gleichberechtigt in ihrer Wertigkeit.1073

1068 Wulf Kirsten: Die Schlacht bei Kesselsdorf. Ein Bericht. Kleewunsch. Ein Kleinstadtbild, Berlin, Weimar 1984, S. 202. 1069 Ebd., S. 207. 1070 Degenkolb 2004, »anzuschreiben gegen das schäbige vergessen«, S. 219. 1071 Vgl. Wulf Kirsten: »Entwurf einer Landschaft«. In: ders.: satzanfang. gedichte, Berlin, Weimar 1970, S. 93–96. 1072 Kirsten 1998, Entwurf einer Landschaft, S. 59. 1073 Wulf Kirsten: »Die Stadt als Text. Zu Heinz Czechowskis Dresden-Gedichten«. In: ders.: Textur. Reden und Aufsätze, Zürich 1998, S. 102.

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Wulf Kirstens Die Prinzessinnen im Krautgarten. Eine Dorfkindheit

Mit dieser prägnanten Beschreibung ließen sich gleichfalls die lyrischen Arbeiten Wulf Kirstens charakterisieren, wobei seine Eindrücke eben nicht in der Stadt, sondern im ländlichen Raum gewonnen werden. Umgekehrt trifft auch Kirstens Skizzierung der eigenen Poetik in einigen Punkten auf Heinz Czechowski zu – Kirsten führt ebenso aus: Die Bedeutung einer an Landschaft gebundenen Naturlyrik liegt nicht in der Betonung geographischer Gegebenheiten, vielmehr erlaubt dieser Aspekt […] ein tieferes Eindringen in die Natur, eine auf sinnlich vollkommene Rede abzielende Gegenständlichkeit, eine Mehrschichtigkeit, mit der soziale und historische Bezüge ins Naturbild kommen. – Es geht um einen Fixpunkt, der in Beziehung zur Welt steht. Von einer so verstandenen sozialen Naturbetrachtung geht Weltzugewandtheit aus, die innerhalb der ihr gesetzten Grenzen besonders beweiskräftig sein kann.1074

Ulrich Dittmann lobt die »Dichte und Gegenstandsnähe der Texte Kirstens«1075 und resümiert: »Kirstens Essays reflektieren wie seine Gedichte mit zukunftsweisender Gültigkeit literarische Traditionen und Zeitgeschichte«.1076 Wolfgang Trampe beschreibt die Aufsatzsammlung als »eine Autobiographie anderer Art, als Entwicklung eines geistigen Werdens«1077 und nennt sie »eine sensible Begleitung seiner Werke«.1078 Auch in Brückengang. Essays und Reden gibt Wulf Kirsten Einblick in persönliche Gedanken und Überlegungen zu seiner Arbeit, so beispielsweise in dem Titel gebenden Essay Brückengang (2009), in dem er formuliert: Mir kam zustatten, als ich mein Thema gefunden hatte, einfach das selbst erlebte Leben in einer fest umrissenen Landschaft in poetischer Sprache aufgehen zu lassen, daß ich eine literarisch weitgehend ›unberührte‹ und unberühmte Landschaft zur Verfügung hatte, in der ich mich auskannte. Das Problem dabei war nur, wie das Gesehene, Gefühlte, Gewußte, Vorgeahnte zu übersetzen war, so daß auch Irrationalistisches, Transzendentes, Imagination darin eingeschmolzen werden konnten. Es ging ja nicht nur um bloße Deskription, um den Versuch, fotografisch exakte Bilder entstehen zu lassen.1079

In dem Artikel Dresden, wozu und zu welchem Ende (2009) spürt der Autor seiner Beziehung zur sächsischen Landschaft sowie seinem Interesse für Volks-

1074 Kirsten 1998, Entwurf einer Landschaft, S. 58. 1075 Ulrich Dittmann: »Wulf Kirsten, Textur. Reden und Aufsätze«. In: Arbitrium. Zeitschrift für Rezensionen zur germanistischen Literaturwissenschaft 17 (1999), H. 3, S. 374. 1076 Ebd., S. 375. 1077 Wolfgang Trampe: »Tiefenschärfe. Textlandschaften: Wulf Kirstens Reden und Gedichte«. In: neue deutsche literatur. Zeitschrift für deutschsprachige Literatur 47 (1999), H. 4, S. 134. 1078 Ebd., S. 135. 1079 Wulf Kirsten: »Brückengang«. In: ders.: Brückengang. Essays und Reden, Zürich 2009, S. 80f.

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und insbesondere Mundartenkunde nach. Diese beschreibt er als die geistige Basis, von der später seine Gedichte gespeist und grundiert werden.1080 2004 veröffentlicht Kirsten die autobiographische Abhandlung Nachtfahrt, in der er eine Heimfahrt aus Ostberlin mit dem Fahrrad im Jahr 1952 rekapituliert; des Weiteren erscheinen in größeren zeitlichen Abständen vier autobiographische Erzählungen, die später in Die Prinzessinnen im Krautgarten. Eine Dorfkindheit aufgenommen werden, darunter Winterfreuden (1987) und Die Prinzessinnen im Krautgarten (1996).1081 In den folgenden Kapiteln soll Kirstens Autobiographie vorgestellt und eingehend analysiert werden. Wie bei den vorhergehenden Untersuchungen sollen die Schwerpunkte auf den Aspekten Erinnerungsstrukturen, Historizität, Literarizität, subjektive Authentizität und Identitätssuche liegen, wobei Rückbezüge zu Kirstens Lyrik lohnend sein könnten und daher angestrebt werden sollen.

6.1.2. Bedeutung und Struktur der Erinnerung in Die Prinzessinnen im Krautgarten. Eine Dorfkindheit Wulf Kirstens Autobiographie setzt sich aus elf sorgfältig komponierten Kapiteln zusammen; im Mittelpunkt seiner Kindheitserinnerungen steht das ländliche Leben in dem Dorf Klipphausen während des Zweiten Weltkriegs, der Nachkriegszeit und des aufkommenden DDR-Sozialismus. Schon in dem Artikel Der große Hof des Gedächtnisses, der lange vor seiner Autobiographie, nämlich im Jahr 1987 erscheint, gibt Kirsten Einblick in seine Kinderjahre; die betreffenden Passagen lesen sich wie eine Skizze für Die Prinzessinnen im Krautgarten. Eine Dorfkindheit und deuten bereits die Schwerpunkte in Kirstens Rückblick auf seine Vergangenheit an: Ich bin auf einem kleinen Rittergutsdorf seitab im Sächsischen, zwischen lehmigen Böden und granitnen Widerristen, auf den Elbhöhen zwischen Dresden und Meißen, geboren und aufgewachsen. Bis zum vierzehnten Lebensjahr habe ich den Dunstkreis des Dorfs, der sich vornehmlich aus Kuh- und Pferdeställen wölkte, kaum verlassen. Erst dem Dreiundzwanzigjährigen sollte es nach mancherlei schwerfälligen Ungeschicklichkeitsbeweisen gelingen, endgültig aus der zu eng gewordenen Herkunftslandschaft auszubrechen. Trotz der politischen Einbrüche und ideologischen Umpo1080 Vgl. Wulf Kirsten: »Dresden, wozu und zu welchem Ende«. In: ders.: Brückengang. Essays und Reden, Zürich 2009, S. 243. 1081 Vgl. Wulf Kirsten: »Nachtfahrt«. In: Palmbaum. Literarisches Journal aus Thüringen 12 (2004), H. 1/2, S. 35–43, Wulf Kirsten: »Winterfreuden«. In: Winterfreuden. Zwei Prosatexte, Warmbronn 1987, S. 3–7 u. Wulf Kirsten: »Die Prinzessinnen im Krautgarten«. In: Der heimliche Grund. 69 Stimmen aus Sachsen, Hg. v. Helgard Rost u. Thorsten Ahrend, Leipzig 1996, S. 9–19.

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Wulf Kirstens Die Prinzessinnen im Krautgarten. Eine Dorfkindheit

lungen, die spätestens den Zehnjährigen in der Pimpfuniform erreichten, hielten sich die durch die Jahrhunderte versteinten patriarchalischen Strukturen zählebig. […] Diese auf Deputat und Felddiebstahl gegründete hierarchische Ordnung, die erst 1945 endgültig aus den Fugen geriet, als der Krieg in seiner chaotischen Endsiegphase das Dorf doch noch erreichte, gehört unbestreitbar zu den übermächtigen, zu den prägenden Erscheinungsformen meiner Dorfkindheit.1082

Neben den Erinnerungen an Freuden und Mühen des ländlichen Lebens werden insbesondere die historischen Entwicklungen, die den Dorfalltag mehr und mehr beeinflussen, eingehend abgehandelt; dieser Themenbereich in Kirstens Autobiographie soll im nächsten Kapitel der vorliegenden Arbeit untersucht werden. Wie bereits anklang, ist die Erinnerung von Beginn an eine essentielle Kategorie in Kirstens Lyrik. In zahlreichen Gedichten wie zum Beispiel epitaph, gedenkblatt, grabschrift, legende, memorabilien, verlorene sätze, abgetauchte begriffe oder unvergeßlicher augenblick wird deutlich, dass Erinnerungsvorgänge bewusst angestrebt und als zentrale Elemente thematisiert werden – dies signalisieren häufig schon die Überschriften.1083 In dem Gedicht zeitgenossen befasst Kirsten sich mit dem Ende der DDR und kritisiert die »vergeßlichen zeitgenossen mit wechselnden / parteiabzeichen […] schon wieder sind sie aus dem schneider, wie / ladendiebe aus der eignen geschichte auf und davon«.1084 Als Folge daraus sei jedweder Chronist »dazu verdammt […], anzuschreiben gegen das schäbige / vergessen, das so viele leben einschließt, / leben aus lauter vergangenheit«.1085 Anke Degenkolb führt über Kirstens Chronisten aus: Dem seiner Meinung nach zu Unrecht Vergessenen und Ausgesonderten möchte er Gerechtigkeit im Erinnern widerfahren lassen – und kommt dabei nie zu einem Ende: die Menge des Vergessenen ist stets um ein vielfaches größer als die Menge dessen, was sich im Gedächtnis aufbewahren läßt.1086

Letztlich stellt sich Wulf Kirsten dieser Chronistenaufgabe und schreibt gegen das Vergessen und Verfälschen von (Lebens-)Erinnerungen an – sowohl in seiner Lyrik als auch, wie im Folgenden zu sehen sein wird, in seiner Autobiographie. Heinz Czechowski erkennt in Kirstens Gedichten ebenfalls den Drang, dem Vergessen mit Hilfe bewusster Erinnerungsvorgänge zu begegnen und die Vergangenheit zu erhellen: 1082 Kirsten 1987, Der große Hof des Gedächtnisses, S. 36f. 1083 Vgl. Degenkolb 2004, »anzuschreiben gegen das schäbige vergessen«, S. 58. 1084 Wulf Kirsten: »zeitgenossen«. In: ders.: Wettersturz. Gedichte 1993–1998, Zürich 1999, S. 25. 1085 Ebd. 1086 Degenkolb 2004, »anzuschreiben gegen das schäbige vergessen«, S. 118.

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Der Text, die Sprache also, ist für Kirsten das Medium, durch das er in jenen Bereich des Vergessens eindringt, den man Kindheit, Jugend oder Vergangenheit und Geschichte nennt und den es transparent zu machen gilt. Das Erscheinen des Bildes aus dem Dunkel des Erinnerns erhellt uns in Wulf Kirstens Gedichten eine Welt, die vergangen ist, deren Gegenwart jedoch mit dem Mittel der Beschwörung durch Sprache aufgerufen wird.1087

Auch in Die Prinzessinnen im Krautgarten. Eine Dorfkindheit kommt den Eigenschaften und der Funktionsweise von Erinnerung eine exponierte Rolle zu. Wie in der Lyrik strebt Wulf Kirsten danach, Randständiges und Entschwindendes festzuhalten, es dem endgültigen Vergessen zu entreißen und wieder neu zu beleben. Sein Erinnerungsvermögen umfasst zahlreiche Details seiner frühesten Erlebnisse; er rekapituliert den verschollenen Alltag der Kinderjahre, beschreibt inzwischen verschwundene Gerätschaften und Gewohnheiten und benutzt bewusst außer Gebrauch geratene Wörter, beispielsweise »lawede«, »aushohniebeln« oder »Krönel«.1088 Von Beginn des Werkes an wird deutlich, dass der Autor sich stets mit eigenen Erinnerungsvorgängen auseinandersetzt und die Verlässlichkeit seines Erinnerungsvermögens in Frage stellt.1089 Bereits im ersten Kapitel Der Hof heißt es: Das einzige Andenken, das ich von der letzten Begegnung mit ihm behalten habe. Warum ich diese einfache Lehre nicht vergaß, die er mir als älterer Freund beim Dauerlauf durch unser Unterdorf erteilte? Ich weiß es nicht. […] Es ist so gewesen, nur dafür kann und will ich mich verbürgen.1090

Diese scheinbar nebensächliche Aussage zeigt, dass der Autor seine Erinnerungsmechanismen hinterfragt und ihnen kritisch gegenübersteht. Häufig versucht er, den Umständen und Hintergründen seiner Erinnerungen nachzugehen, wie zum Beispiel in der folgenden Passage: Meine Erinnerungen beweisen, daß ich trotz aller Pein, in die ich so tief hineingetaucht worden war, doch noch einiges um mich her wahrnahm. Oder vielleicht wurde das Wahrnehmungsvermögen aus dieser Außenseiterposition gerade geschärft?1091

Im Abschnitt Der Schandfleck berichtet der Erzähler von einer Mäuseplage, die sein kindliches Ich und einige seiner Freunde dazu veranlasst, auf dem Feld die Ernteschädlinge zu jagen statt den Pimpfdienst, der regelmäßig im Rahmen der 1087 Heinz Czechowski: »Annäherung an Wulf Kirsten«. In: Sinn und Form 41 (1989), H. 5, S. 1044. 1088 Wulf Kirsten: Die Prinzessinnen im Krautgarten. Eine Dorfkindheit, München, Zürich 2000, S. 6, 54, 28. 1089 Vgl. Degenkolb 2004, »anzuschreiben gegen das schäbige vergessen«, S. 225, 229. 1090 Kirsten 2000, S. 33. 1091 Ebd., S. 125.

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Hitlerjugend stattfindet, zu besuchen. Zahlreiche Erinnerungen an dieses Abenteuer werden wachgerufen und gleichzeitig in Frage gestellt: Ich weiß nicht mehr, wie viel Zeit uns Rebellen blieb, diese Ackerwonne auszukosten. Die Erinnerung möchte den aufmüpfigen Feldspaß nachschmecken und dabei verständlicherweise in die Länge des Herbstnachmittags ziehen. Aber ich bin skeptisch und lege mich deshalb nicht fest.1092

Der Erzähler ist sich also im Klaren darüber, dass Erinnerungen sich mit zunehmendem Lebensalter wandeln, dass unbewusst Perspektivverschiebungen und Akzentverlagerungen vollzogen werden, dass Erinnerung stets als interpretativer Prozess abläuft und immer auch der Einschätzung des gegenwärtigen Autors unterliegt. Insbesondere Kindheitserinnerungen betreffen eine ausgesprochen weit zurückliegende Lebensphase und sind daher per se undeutlich, unzuverlässig oder gar widersprüchlich. Umso entscheidender ist es für jeden Autobiographen, seine (Kindheits-)Erinnerungen stets zu reflektieren, sie zu relativieren, zu ergänzen und gegebenenfalls zu korrigieren, wozu Wulf Kirsten in jedem Abschnitt seines autobiographischen Werkes bereit ist.1093 Anke Degenkolb hält dementsprechend fest, dass Erinnerung bei Wulf Kirsten »nicht als monolithisch feststehende, sondern als wandelbare, vielschichtige, ständig im Fluß befindliche Größe«1094 auftritt. Bei der Beschreibung eines Ausflugs in ein benachbartes Dorf etwa führt er aus: Sicherlich hat die Erinnerung das Feld, das wir querten wie die Spitzbuben, die etwas zu verbergen haben, viel größer werden lassen, als es in Wirklichkeit war. Außerdem ist in der Vorstellung eines Kindes alles anders dimensioniert. Viel größer, viel weitläufiger, als dies ein Erwachsener wahrgenommen hätte. Das merkt man immer dann, wenn man später einmal an solch einen durchmessenen Tatort der Kindheit zurückkehrt.1095

Nicht nur Skepsis oder gar Zweifel gegenüber der eigenen Erinnerungsfähigkeit werden unumwunden ausgedrückt, sondern auch Erinnerungslücken, mit denen letztlich jeder Autobiograph konfrontiert ist, gesteht Kirsten selbstkritisch ein. Häufig finden sich Formulierungen wie »weiß ich nicht mehr«1096, »Ich entsinne mich nicht«1097 oder »Es könnte so gewesen sein«.1098 Auch wenn der gegenwärtige Erzähler historischen Ereignissen nachspürt, gesteht er etwaige Gedächtnislücken ein und füllt diese mit dem Erfahrungshorizont und dem Wissen des Erwachsenen auf: 1092 1093 1094 1095 1096 1097 1098

Ebd., S. 130. Vgl. Kapitel 2.2.1. dieser Arbeit. Degenkolb 2004, »anzuschreiben gegen das schäbige vergessen«, S. 59. Kirsten 2000, S. 97. Ebd., S. 180. Ebd., S. 146. Ebd., S. 139.

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Just an dieser einschneidenden historischen und biographischen Bruchstelle läßt mich der Bilderspeicher im Stich. Vermutlich kamen wir morgens zur Schule, so wie es der Stundenplan vorsah. […] Aber angesichts der Verwüstungen wird uns wohl Lehrer Geitel gleich wieder nach Hause geschickt haben. Ob ich den Hausaufsatz über den Frühling an diesem Tag im Ranzen trug, den er uns schreiben hieß? Fest steht nur, der Lehrer kam nicht mehr dazu, ihn zu zensieren.1099

Das Kriegsende und der Untergang des Dritten Reichs, deren Auswirkungen auch in dem ländlichen Klipphausen zu spüren sind, beeindrucken den zehnjährigen Schüler zwar nachhaltig, dennoch fehlen in der Erinnerung des Erzählers wesentliche Details. Das erzählende Ich kann den Selektionsprozess des Gedächtnisses, durch den ihm nützliche Erinnerungen vorenthalten werden, nicht nachvollziehen, aber es thematisiert die Erinnerungsschwächen. Dies betrifft zum Beispiel die Gründung der DDR: »Die politische Stimmung jener Zeit, in die just die Gründung der Deutschen Demokratischen Republik fiel, ein Datum, das in meiner Erinnerung keinerlei Spuren hinterlassen hat, was ich mit Bedauern vermerke und mir ankreide«.1100 Durch solche aufrichtigen Eingeständnisse wird die Authentizität von Kirstens Kindheitserinnerungen nicht geschmälert, sondern im Gegenteil verstärkt, wie im Folgenden noch zu zeigen sein wird. Darüber hinaus erhebt Kirsten die Erinnerung zu einem der zentralen Themenkomplexe innerhalb seiner Autobiographie, indem er explizit Erinnerungsvorgänge und die Eigentümlichkeiten des Gedächtnisses beschreibt. Die folgenden Textstellen sollen exemplarisch für zahlreiche weitere stehen, in denen er Erinnerungsmechanismen thematisiert: In jenen Maitagen des Jahres 1945 war ich weit davon entfernt, das Geschehen als Ganzes zu erfassen. Das Auge speicherte eine Überfülle einzelner Bilder, ohne sie verarbeiten zu können. Dennoch wählte es aus. Denn es gibt neben scharf belichteten Stellen schwarze Flächen. Der Erinnerungsfilm gar nicht oder nicht richtig belichtet, gerissen oder sonstwie defekt. Ein irreparabler Schaden.1101

und [M]eine Erinnerung muß einen ausnehmend besonderen, geheimen Wunsch haben, […] all diese Exkursionen […] einem Zehnjährigen zuzuschreiben. Als habe sich alles Erlebte der frühen Jahre auf einen Lebenspunkt konzentriert. Es mag so gewesen sein. Und es ist das gute Recht einer jeden Erinnerung zu raffen, zu straffen, auch wenn es so scheint, als wollte ich das Gegenteil demonstrieren, zu bündeln, Zeiten zu verschieben.1102 1099 1100 1101 1102

Ebd., S. 175. Ebd., S. 226f. Ebd., S. 149. Ebd., S. 89.

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Wulf Kirstens Die Prinzessinnen im Krautgarten. Eine Dorfkindheit

Diese erzähltheoretischen Betrachtungen beweisen, dass der Autor sich nicht nur bewusst ist über den Gestaltwandel, dem die Erinnerung naturgemäß unterliegt, sondern dass er die beschriebenen, für einen Autobiographen folgenschweren Eigenarten der Gedächtnisleistung akzeptiert und sie in seine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit integriert. Ebenso finden sich selbstironische Erzählerkommentare wie »Die Erinnerung hat ein ausschweifendes Wesen, mit dessen Bändigung unsereiner seine liebe Not hat«1103 und »Daß man sich ausgerechnet so etwas gemerkt hat«1104 oder Einschränkungen wie »Meine Erinnerung bildet sich ein«.1105 Im Kapitel Schule ist der bemerkenswerte Absatz zu lesen: Nun ist das alles unerreichbar geworden. Von der selbsttätigen Erinnerung wird der abgelegte frühe Lebensabschnitt so lange gedreht und gewendet, bis ein Abbild entstanden ist, im Postkartenformat. Retuschierte Lebensbilder, mosaikartig zueinander so in Beziehung gesetzt, als ergäbe sich daraus ein in sich stimmiges Ganzes.1106

Auch hier setzt sich der Erzähler mit dem Wesen der Erinnerung auseinander und beschreibt diese als Vorgang, der sich der Kontrolle des sich Erinnernden zu nicht unerheblichen Teilen entzieht. Dass er sich diesen Sachverhalt bei der Abfassung seiner Lebenserinnerungen vor Augen führt und ihn offen legt, lässt ihn die erforderliche Distanz zu seinen subjektiven Erinnerungen einnehmen. Der Zweifel an der Übereinstimmung des Geschilderten mit der Realität ist den Ausführungen also stets inhärent, was die Grundlage für die Authentizität seines Werkes bereitet. Letztlich entspringt jeder autobiographische Bericht der gegenwärtigen Situation des Autors, die seine möglicherweise fehlerhafte Erinnerung und seine subjektive Einschätzung der Vergangenheit mit einschließt. Nicht ausschließlich die Schilderung des erzählten Ichs und seines Umfelds entscheidet über den Grad der Authentizität, sondern ebenso das erzählende Ich in der Schreibgegenwart, das im Streben nach Wahrhaftigkeit versucht, seine Vergangenheit zu rekonstruieren. Wulf Kirsten selbst ist sich bewusst darüber, dass eine distanzierte, kritische Sicht für die Abfassung seiner Erinnerungsprosa essentiell ist; in einem Gespräch mit Ulf Heise äußert er : Ich benötigte sehr viel Zeit, um […] Gelassenheit in mir selber herzustellen. Ich habe überhaupt lange gebraucht, um die erforderliche Distanz zu meiner Herkunftslandschaft zu gewinnen. Als ich früher versuchte, Erinnerungsprosa über meine Heimat zu schreiben, ist mir das nicht geglückt.1107

1103 1104 1105 1106 1107

Ebd., S. 161. Ebd., S. 32. Ebd., S. 89. Ebd., S. 50. »Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies. Im Gespräch mit dem Lyriker und Erzähler

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Anke Degenkolb betont Kirstens »subjektive[s], anekdotenhafte[s] Erinnern«1108, das eng mit der Praxis des mündlichen Überlieferns, des Geschichtenerzählens zusammenhänge. Ihre Einschätzung ist nicht unzutreffend, allerdings erfasst solch ein Kommentar nicht die tiefere Dimension, die Kirstens Erinnerungsweise auszeichnet. Gerhard R. Kaiser betont einen weiteren Aspekt: In Kirstens lyrischen wie auch in seinen erzählerischen und essayistischen Texten […] begegnet dem Leser ein Geist doppelt verstandenen kontrapräsentischen Erinnerns […]: Erinnern in einer aktualitätssüchtigen Gegenwart und Erinnern an solche Traditionen, die in der jeweils vorherrschenden Erinnerungskultur vernachlässigt, ausgegrenzt oder unterdrückt bleiben und daher langfristig von Vergessen bedroht sind.1109

In der Tat lässt sich Kirsten Art und Themen seiner Erinnerung nicht vom Zeitgeist diktieren, sondern es geht ihm insbesondere um die gemeinhin vergessenen und der Erinnerung nicht für würdig erachteten Menschen, Gegenstände oder Traditionen. Beispielsweise setzt er einigen früheren Zeitgenossen in seiner Autobiographie ein literarisches Denkmal: Kein Grabstein, kein Ort auf dieser Welt erinnert an Werner Juhrisch […]. Da er nicht viel mehr besaß als das Hemd, das er auf dem Leibe trug, und reinweg so gar nichts zum Hinterlassen hatte, hebe ich ihn aus der Anonymität. Stellvertretend für die viel zu vielen anderen seinesgleichen, die ich gekannt habe. – Sie alle auf den Kriegsschauplätzen des Zweiten Weltkriegs als Kanonenfutter sinnlos geopfert.1110

Degenkolb weist zu Recht darauf hin, dass die Erinnerung des Erzählers häufig auf Orte des Totengedenkens, also Grabstätten oder Grabsteine zurückgreift.1111 Umso schmerzlicher muss es für ihn sein, eine Vielzahl von Kriegsopfern ohne solche Erinnerungsmonumente zu wissen. Martin Straub kommentiert: Die Handwerker, Habenichtse, Häusler und Landläufer werden aus ihrer Anonymität gehoben. Oft genug sind es bittere Schicksale. […] Mit wenigen Strichen vermag Kirsten eindringlich eine Fülle von Lebensgeschichten zu umreißen. […] Ein kennzeichnendes Stichwort solchen Erzählens heißt Gerechtigkeit.1112

1108 1109 1110 1111 1112

Wulf Kirsten«, Wulf Kirsten im Gespräch mit Ulf Heise. In: Deutsche Bücher 31 (2001), H. 2, S. 92. Degenkolb 2004, »anzuschreiben gegen das schäbige vergessen«, S. 228. Gerhard R. Kaiser: »Vorwort«. In: Landschaft als literarischer Text. Der Dichter Wulf Kirsten, Hg. v. Gerhard R. Kaiser, Jena 2004, S. 14. Kirsten 2000, S. 33f. Vgl. Degenkolb 2004, »anzuschreiben gegen das schäbige vergessen«, S. 227. Martin Straub: »Die Welt im Winkel. Wulf Kirsten: ›Die Prinzessinnen im Krautgarten. Eine Dorfkindheit‹«. In: Landschaft als literarischer Text. Der Dichter Wulf Kirsten, Hg. v. Gerhard R. Kaiser, Jena 2004, S. 179f.

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Wulf Kirstens Die Prinzessinnen im Krautgarten. Eine Dorfkindheit

So rekapituliert Kirsten beispielsweise die Lebensgeschichte seiner Großmutter, die als uneheliches Kind zur Welt kommt und später ihren Lebensunterhalt mit dem unrühmlichen Geschäft des Butterhandels verdient.1113 Portraitiert werden neben zahlreichen weiteren Individuen innerhalb des Dorflebens auch der Gemeindearbeiter Oswin Fischer, der beim Pflaumenpflücken von der Leiter fällt und sich das Rückgrat bricht, sowie der chronisch erkältete Bäckergeselle, der seine Vierpfünder im Dorf verkauft und ihnen immer einen von seiner Nase herabfallenden Tropfen hinzufügt.1114 Der Titel der Autobiographie rekurriert ebenfalls auf zwei Dorfbewohner, die allerdings einen Sonderstatus innerhalb des dörflichen Alltags einnehmen: Es handelt sich um die Prinzessinnen zu Reuß jüngerer Linie, Gertrud und Annemarie, die das Rittergut in Klipphausen besitzen und bewohnen und täglich in einem der Anlage zugehörigen Garten lustwandeln, der »Krautgarten« genannt wird: Im Krautgarten über dem Teich, reichlich mit Karpfen und von Fröschen besetzt, wurde längst kein Kraut mehr angebaut. Er hieß aber immer noch so, obwohl sich darin, solange ich denken konnte, nur ein riesiger Erdbeerschlag erstreckte. Zur Dorfstraße hin war der herrschaftliche Garten von einer hohen, glatt verputzten Mauer umgeben, die sich nicht übersteigen ließ.1115

Anke Degenkolb weist treffend darauf hin, dass Kirstens Erinnerung überwiegend an im Gedächtnis gespeicherte Bilder geknüpft ist. Doch wie in seiner Lyrik können Erinnerungen auch mit Hilfe anderer Sinnesorgane wachgerufen werden1116 : Von dem kleinen Giebelfenster konnte man von höherer Warte auf die Wiese des Müllers sehen, über die Baumwipfel hinweg, mitten ins Dorf hinein, bis zum Mühlteich hinüber, aus dem an warmen Sommerabenden die Frösche sich in einer solchen Vielzahl und Lautstärke vernehmen ließen, daß ihr gequaktes Unisono als eine empfindliche Störung des dörflichen Abendfriedens empfunden wurde. Während ich heutzutage jeden Tümpel und Weiher, aus dem sich auch nur noch ein einziger Frosch vernehmen läßt, zu einer Heilen-Welt-Parzelle zu erheben geneigt bin.1117

Als weitere Klänge, die dem Autobiographen in Erinnerung geblieben sind, werden ein von Soldaten gesungenes Marschlied1118 und der Chorgesang bei einer Beerdigung genannt – »[d]ie Melodie verfing sich im Ohr und blieb für mich fortan an diesen Leichenzug gebunden«.1119 Auf der Geruchs- und Ge1113 1114 1115 1116 1117 1118 1119

Vgl. Kirsten 2000, S. 19f., 55ff. Vgl. ebd., S. 37f., 31f. Ebd., S. 165. Vgl. Degenkolb 2004, »anzuschreiben gegen das schäbige vergessen«, S. 226. Kirsten 2000, S. 29. Vgl. ebd., S. 121. Ebd., S. 142.

Bedeutung von Erinnerungsstrukturen für Wulf Kirsten

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schmacksebene sind es beispielsweise Roggen- und Brotduft sowie die Gerüche von Holunderbüschen oder Rübenmoder beziehungsweise der herbe Geschmack von jungen Weintrieben oder die verschiedenen Suppen auf dem Speiseplan der Familie, mit denen Kirsten Erinnerungen verbindet.1120 Neben den sinnlichen Wahrnehmungen sind es auch konkrete überlieferte Relikte, die das Gedächtnis unterstützen, so etwa eine in Kirstens Bibliothek erhaltene Ausgabe von Kurt Herwarth Balls Roman Blaues Licht am Schwedenturm (1937), die der Erzähler als »Erinnerungsstück« und »Demonstrationsobjekt«1121 bezeichnet und die ihn an den »Heftmann« erinnert. Der bucklige Kolporteur aus Dresden verkauft der Familie Kirsten mehrere Karl May-Romane in Fortsetzungsheften, die der kleine Wulf eins nach dem anderen »verschlingt«. In diesem Zusammenhang berichtet Kirsten ebenfalls von der Leseleidenschaft seiner Mutter, die, wie er glaubt, von ihr auf ihn übergesprungen sein muss.1122 Ein lilafarbenes Blatt mit kyrillischen Schreib- und Druckbuchstaben, das sich bis zum Erzählzeitpunkt in Kirstens Besitz befindet, ist ihm ein Andenken an den Neulehrer Herrn Steinbrecher und gibt ihm Anlass, sich seine frühen Kontakte mit der russischen Sprache ins Gedächtnis zu rufen.1123 Die Erinnerung bildet für Wulf Kirsten die Grundlage, von der aus er sich mit seinem kindlichen Ich ebenso wie mit der Historie, also mit der individuellen ebenso wie mit der kollektiven Vergangenheit befassen und diese aufarbeiten kann. In seiner Dankrede anlässlich der Verleihung des Konrad-AdenauerPreises spricht er von einer Aufgabe, von der er sich im Rahmen jeglicher literarischer Arbeit stets herausgefordert fühlt: »Gerade weil uns Nachgeborenen Erinnerungslasten aufgetragen sind, halte ich es für riskant, ein so gewichtiges Problemfeld wie die nationalen Befindlichkeiten auszusparen oder zu bagatellisieren«.1124 Vergangenheit reicht für Kirsten stets in die Gegenwart hinein, wie die bisherigen Ausführungen gezeigt haben. Auch in seinem Aufsatz Aus der Zentrifuge (1993) geht er auf das Problem der daher als unerlässlich empfundenen Vergangenheitsbewältigung ein und stellt sich seiner selbst auferlegten Pflicht.1125 Kirstens Auseinandersetzung mit der Zeitgeschichte im Rahmen seines Werkes Die Prinzessinnen im Krautgarten. Eine Dorfkindheit soll im folgenden Kapitel dargestellt und eingehend untersucht werden.

1120 1121 1122 1123 1124 1125

Vgl. ebd., S. 78, 234, 236, 79, 145, 13, 203. Ebd., S. 40. Vgl. ebd., S. 39f. Vgl. ebd., S. 201f. Kirsten 2005, Dankrede, S. 23. Vgl. Wulf Kirsten: »Aus der Zentrifuge«. In: Über Deutschland. Schriftsteller geben Auskunft, Hg. v. Thomas Rietzschel, Leipzig 1993, S. 82–88.

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Wulf Kirstens Die Prinzessinnen im Krautgarten. Eine Dorfkindheit

6.2. Die Prinzessinnen im Krautgarten. Eine Dorfkindheit als historisches Dokument Viel prägender als die Natur-Reliquien in meinen Erlebnis-Landschaften waren die Abdrücke und Überlieferungen historischer Ereignisse. Die unmittelbarsten Eindrücke hinterließen jene, die mit der eigenen Biographie kollidierten, wie das Ende des Zweiten Weltkrieges mit all den existenziellen Umstülpungen, Verwerfungen, Umbrüchen. Daß Brüche mit der Geschichte immer auch Brüche in der Biographie sind, kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen.1126

Wulf Kirsten ist sich bewusst darüber, in welchem Maß sein Lebenslauf und insbesondere seine Kindheit von der Zeitgeschichte beeinflusst sind. Wie schon in Kapitel 6.1.1. dieser Arbeit deutlich wurde, befasst sich der Autor in seinen lyrischen Werken von Beginn an mit der historischen und gesellschaftlichen Realität und wirft Fragen nach persönlichem und kollektivem Verhältnis zur Zeitgeschichte auf. Er entwickelt eine Methode des Schreibens, die, wie Heinz Czechowski formuliert, auf Erfahrungen basiert, in denen sich der Dichter vor seine Zeit stellt und damit ein wenig von jener Arbeit leistet, in der, im Sinne Heinrich Manns, auch ein Zeitalter besichtigt wird, oder, um an ein Wort Wulf Kirstens zu erinnern, wenigstens das Segment eines Zeitalters.1127

Ebenso bildet das Zeitgeschehen in Kirstens Lebensbericht einen der zu untersuchenden Schwerpunkte – Zweiter Weltkrieg, Kriegsende und aufkommender DDR-Sozialismus bilden den zeitlichen Rahmen der autobiographischen Erzählungen; geschildert werden insbesondere die Einflüsse der Kriegswirren auf den ländlichen Alltag in Klipphausen. Das kleine Dorf zwischen Dresden und Meißen wird bei Kirsten, wie Sebastian Kiefer es formuliert, zu einem »Modell der Welt«.1128 Bei Die Prinzessinnen im Krautgarten. Eine Dorfkindheit handelt es sich ausschließlich um eine Kindheitsautobiographie; die Erinnerungen enden mit einer Episode aus dem Jahr 1949. Kirstens Erwachsenenleben während der 40 Jahre DDR und darüber hinaus wird in diesem Werk nicht thematisiert; es findet dementsprechend keine Aufarbeitung der DDR-Diktatur statt. Umso eingehender setzt sich der Erzähler mit der Diktatur des Nationalsozialismus auseinander. In diesem Zusammenhang gilt es, das mangelnde Geschichtsbe1126 Wulf Kirsten: »Landschaft als literarischer Text. Ein Eingrenzungsversuch«. In: Landschaft als literarischer Text. Der Dichter Wulf Kirsten, Hg. v. Gerhard R. Kaiser, Jena 2004, S. 54. 1127 Czechowski 1989, S. 1045. 1128 Sebastian Kiefer : »Wulf Kirsten: Die Prinzessinnen im Krautgarten. Eine Dorfkindheit«. In: Deutsche Bücher 31 (2001), H. 3, S. 210.

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wusstsein beziehungsweise die von der Partei verordneten Geschichtsbilder, die das kollektive Gedächtnis innerhalb der DDR prägen, zu bedenken. Kirsten beschreibt seine Generation als »jene, die mit erlittenen Frühprägungen vor 1945 und unter wahrheitsscheuen, also willentlich geschichtsverzerrenden Gegebenheiten im Osten Deutschlands nach 1945 aufgewachsen sind«.1129 Sein Bedürfnis der Geschichtsvermittlung rührt also nicht zuletzt aus den fehlenden Möglichkeiten innerhalb der DDR, sich unvoreingenommen und kritisch mit den traumatischen Ereignissen während der NS-Diktatur und insbesondere mit den Geschehnissen nach Kriegsende auseinanderzusetzen. Kirsten erzählt in seiner Autobiographie nun auch davon, »wovon zu erzählen zu Zeiten der DDR kaum denkbar war : Die Vergewaltigungen und Plünderungen durch die Rote Armee waren für die dort lebenden Schriftsteller ein Tabu«.1130 Das Kriegsende, das mit der Besetzung Ostdeutschlands durch die Rote Armee und der Implantierung eines stalinistischen Systems einhergeht, kann der Autor rückblickend nicht ausschließlich als Befreiung empfinden.1131 Doch auch wenn Kirsten in der DDR eine distanzierte Haltung zu Staat und Partei einnimmt und gegen die Kunstdoktrin stets resistent bleibt, ist es ihm vor 1989 nicht möglich, öffentlich zu diesem Themenkomplex Stellung zu beziehen.1132 Dabei bezeichnet Kirsten das Kriegsende als das prägendste Ereignis seiner Kindheit: »Mein tiefgreifendstes Erlebnis vermag ich auf einige Monate in meiner Biografie zu reduzieren, auf das gerade sechzig Jahre zurückliegende Kriegsende. Von da her schreibt sich meine Biografie«.1133 In Die Prinzessinnen im Krautgarten. Eine Dorfkindheit arbeitet der Autor diese folgenschweren Erfahrungen auf – Walter Hinck erkennt Kriegsende und sowjetische Besatzungszeit in Kirstens Werk als »›Bruchstelle der Kindheit‹ und der Geschichte zugleich«.1134 Allerdings gibt er in diesem Zusammenhang zu bedenken, dass Erinnerungen an Kindheit und Jugend im Alter eindringlicher und plastischer werden, da nun das Gedächtnis die bildungs- und lebensprägenden Eindrücke freigebe.1135 1129 Kirsten 2005, Dankrede, S. 18. 1130 Volker Hage: »Die Russen kommen. Der in Weimar lebende Lyriker Wulf Kirsten überrascht mit brillanter Prosa – Erinnerungen an eine sächsische Dorfkindheit im Krieg und danach«. In: Der Spiegel 55 (2001), Nr. 3, 15. 01. 2001, S. 180. 1131 Vgl. in diesem Zusammenhang Kirsten 2005, Dankrede, S. 19: »Jedenfalls habe ich diesen Tag nicht so zu erleben vermocht. Ganz knapp an der bereits angeordneten Dorfräumung vorbeigekommen, infolge der sich überstürzenden Ereignisse, sah ich vom Dorfrand aus gleich einem Monumentalfilm die nicht endenwollende Fluchtprozession getriebener, gejagter deutscher Heeresverbände, ohne mir vorstellen zu können, was die geschachteten Schützengräben hinter unserem Haus tatsächlich bedeuteten. […] Was mich betrifft, weiß ich nur von Angst zu berichten«. 1132 Vgl. Mix 2007, S. 109, 112. 1133 Kirsten 2005, Dankrede, S. 19. 1134 Hinck 2008, S. 11. 1135 Vgl. ebd.

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In jedem der elf Kapitel von Die Prinzessinnen im Krautgarten. Eine Dorfkindheit ist das Zeitgeschehen präsent; der Erzähler beschreibt stets dessen Einfluss auf Klipphausen und seine Bewohner. Thematische Schwerpunkte des Werkes bilden der Pimpfdienst, an dem der kleine Wulf widerstrebend teilnehmen muss, der Schulunterricht, die Flüchtlinge, die nach und nach durch Klipphausen ziehen, die letzte Nacht vor Kriegsende, der Einmarsch der Roten Armee, die Nachkriegswirren beziehungsweise die Hungerjahre nach dem Krieg und die Einführung des neuen politischen Systems. Wie maßgeblich die geschichtlichen Ereignisse für Kirstens Ausführungen sind, zeigt sich bereits in den Anfängen der einzelnen Absätze, die häufig so oder ähnlich lauten: »Als er im letzten Kriegsjahr«, »Gegen Kriegsende«, »In den Hungerjahren«, »Als am 7. Mai 1945« oder »Sowohl während der Kriegsjahre und erst recht in der darauffolgenden Zeit«.1136 Die Historie dient nicht zuletzt der zeitlichen Einordnung der Geschehnisse sowie der Strukturierung des Erzählwerkes. Bereits das erste Kapitel Der Hof, in dem Kirsten Haus und Grundstück seiner Eltern sowie seine kindlichen Beschäftigungen vorstellt, ist von den geschichtlichen Ereignissen geprägt. So berichtet der Erzähler beispielsweise: Briefe davonzutragen war in den letzten Kriegsjahren mitunter eine traurige Angelegenheit, um die wir uns da eben noch gerissen hatten. […] Jeder der Jungen, die es nicht erwarten konnten, bis die Post ins Haus gebracht wurde, lebte mit Mutter und Geschwistern in Furchthoffnung auf ein Überlebenszeichen des Vaters oder der älteren Brüder.1137

Ferner ist von kriegsgefangenen Franzosen die Rede, von einem Nachbarn, der desertiert, und von Dorfbewohnern, die darauf bestehen, dass die Kinder sie mit dem Hitlergruß beehren.1138 Der »Heftmann«, der den kleinen Wulf und seine Mutter mit Lesestoff versorgt, taucht nach den Angriffen auf Dresden im Februar 1945 nicht mehr in Klipphausen auf, so dass der Erzähler mutmaßt, er könne, ebenso wie Kirstens Onkel Franz, zu den Opfern dieser Bombardements gehören.1139 Häufig wird die Sicht des Zehnjährigen von dem wissenden Erzähler erweitert. Auch wenn der Alltag des Kindes von den durch Diktatur und Krieg bedingten Geschehnissen im Dorf nicht unberührt bleibt, so fehlen ihm naturgemäß Überblick sowie die Fähigkeit, seine Erfahrungen zu bewerten und in einen größeren Zusammenhang einzuordnen. Doch hier greift das erzählende Ich ein, das mit dem Wissen und dem Erfahrungshorizont des erwachsenen Schreibers Informationen ergänzt, Erlebnisse kommentiert und Verbindungen zwischen einzelnen Details herstellt. Beispielsweise kann der zehnjährige Wulf 1136 1137 1138 1139

Kirsten 2000, S. 38, 41, 44, 168, 196. Ebd., S. 37. Vgl. ebd., S. 24, 25, 39. Vgl. ebd., S. 40.

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nicht ermessen, in welcher Gefahr er und seine Familie sich befinden, als Soldaten hinter seinem Wohnhaus Schützenlöcher ausheben, um sich hier der Roten Armee entgegenzustellen. Der Erzähler führt aus: Ich begriff nicht, daß die Front bis an unser Haus vorzurücken drohte. In meiner Vorstellung konnte es sich nur um eine Art Übung handeln, wie ich deren schon so viele erlebt hatte in den letzten Jahren, als begeisterter Zuschauer und Mitläufer. Heute scheint mir das unglaubhaft angesichts der vielen überdeutlichen Zeichen des Untergangs ringsumher. Ich weiß aber genau, daß es sich damals in meinem Kopf so und nicht anders darstellte. Hinterher möchte man gern verständiger gewesen sein, und erst recht an einer so einschneidenden Stelle der Geschichte, an der die Ränder zweier Epochen aufeinanderkrachen wie Eisberge, von denen einer zerschellt. Die Konsequenzen, die eine Verteidigung des Dorfes haben würde, sah ich ebenso wenig ab.1140

Der Schreiber nimmt hier eine gattungsspezifische Erzählhaltung ein, wie sie von Günter de Bruyn in seiner theoretischen Abhandlung zur Autobiographie beschrieben wird1141: Der Horizont des Kindes, des erzählten Ichs wird detailreich und unverfälscht vermittelt, aber um Erfahrung, Wissen und Überblick des erzählenden Ichs erweitert. Selbst in scheinbar nebensächlichen Teilsätzen wie »Während wir an dem letzten, so ereignisreichen Mainachmittag vor dem Zusammenbruch des Dritten Reiches unter einem alten Apfelbaum standen«1142 wird deutlich, dass der Erzähler von seinem gegenwärtigen Standpunkt aus berichtet – nur aus der Rückschau kann er jenen Tag als den letzten vor Zusammenbruch des Dritten Reichs bestimmen. Am Ende des Werkes findet sich sogar ein Ausblick auf Kirstens Leben innerhalb des totalitären Systems der DDR, mit dem er sich insbesondere als Schriftsteller arrangieren muss; vom gegenwärtigen Standpunkt aus spart er auch hier nicht mit kritischen Anmerkungen: Auf Erlebnisse dieser Art [Verhaftungen von Altersgenossen auf Grund staatskritischer Äußerungen] sollten sich generative Ängste gründen, die sich auch dann nicht mehr so leicht abbauen ließen, als man eine Lippe riskieren konnte, ohne Gefahr zu laufen, im Gelben Elend oder jenseits des Ural zu landen. Von jenen finsteren Zeiten her mag so manches Stillhalteabkommen mit Stiefvater Staat getroffen worden sein. Sicher, es führte dann allmählich in eine Bequemlichkeit hinüber und hinein, die hinwiederum von Jüngeren leicht zu verspotten und zu verachten war.1143

Häufig sind solche eleganten Verknüpfungen zwischen dem Blickwinkel des beschriebenen Kindes und der wissenden Sichtweise des ungefähr 65-jährigen Schreibers zu finden, so dass mit der Erzählung der eigenen Kindheit gleich1140 1141 1142 1143

Ebd., S. 150. Vgl. Kapitel 4.1.2. dieser Arbeit. Kirsten 2000, S. 151. Ebd., S. 227.

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zeitig ein Zeitpanorama entsteht. Daneben enthält Kirstens Autobiographie auch rein historiographische Passagen, in denen er aus seiner individuellen Sicht beispielsweise die Flüchtlingsströme der Nachkriegszeit schildert, ohne dabei auf sein kindliches Ich einzugehen: Die Nachkriegswirren hatten die Dörfer in Durchgangslager verwandelt. […] Die Geschichte hatte mit einem großen Kehrbesen gearbeitet und die Menschen wie Kehricht durcheinandergewirbelt. Auf diesen Kehraus waren die Dörfer nicht eingerichtet. Jede noch so erbärmliche Knechtskammer, jedes Bodengelaß wurde zum Obdach ganzer Familien. […] Bereits in den letzten Kriegsmonaten zogen fast täglich Bauerntrecks durch die Dörfer. […] Als im Jahr 1946 das Rittergutsland in vierundzwanzig Neubauernstellen parzelliert wurde, stellten die Bauern aus Niederschlesien, von denen es den meisten gelungen war, ihre Pferde durch die Nachkriegswirren zu bringen, das stärkste Kontingent.1144

Auch der Einmarsch der Roten Armee in Klipphausen, »als die eine Barbarei nahtlos durch eine andere abgelöst wurde«1145, wird eingehend geschildert; hier wechseln sich eher neutral erzählte Passagen mit der Vermittlung subjektiver Eindrücke des erlebenden Kindes ab. Anhand des Schicksals einer einzelnen Familie werden die Gräuel jener »›Russentage‹, die unser Dorf auszuhalten hatte«1146 vorgeführt: Stellmacher Meister war mit Frau und siebzehnjähriger Tochter im Haus geblieben. Was ihn davon abhielt, das blondzopfige Lottchen in ein sicheres Versteck zu verbannen, wußte keiner der Anlieger zu ergründen. Lottchen wurde […], als Mädchen und Frauen zwischen zwölf und sechzig büßen mußten, daß Hitler die deutschen Truppen 1941 in Rußland einfallen ließ, von mehreren Trupps, die Haus für Haus durchkämmten auf der Suche nach deutschen Soldaten, nach Pferden, nach Uhren und Alkohol, so oft vergewaltigt, daß ihr der Vater in seiner Verzweiflung die Pulsadern aufschnitt, danach brachte er seine Frau auf die gleiche Weise um. Er selbst hängte sich auf.1147

Kirstens Mutter kann sich glücklicherweise, wie der Erzähler berichtet, gemeinsam mit einigen anderen Frauen auf dem Schuppenboden des eigenen Hauses verstecken und bleibt unversehrt. Doch das erzählende Ich schlussfolgert: Die Dorfjungen, in deren halbwegs behütete Kindheit etwas Unfaßbares eingeschlagen war als ein riesiger Fremdkörper, der einen tiefsitzenden Schock hinterlassen hatte, erzählten sich nun unentwegt im Austausch […], wo und wie oft dieses fünfzehnjährige Mädchen und jene Frau vergewaltigt worden war. […] Was im Dorf einem einzelnen 1144 1145 1146 1147

Ebd., S. 207f. Ebd., S. 183. Ebd., S. 186. Ebd.

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widerfuhr im Guten wie im Bösen, war immer dem ganzen Dorf geschehen, und also ortsbekannt. Als wäre auf diese Weise das schwer aufliegende, nicht zu verkraftende Mai-Erlebnis zu bewältigen. […] Ganz gleich, welchen Alters die Augenzeugen der Geschichte waren. Diese Bruchstelle der Kindheit, bei vielen deren vorzeitiges Ende, bildete eine dauerhafte Trennlinie.1148

Auch wenn die Aussagen in der 3. Person Plural getroffen werden, beschreibt Kirsten hier eindeutig seine eigene damalige Situation und die entsprechenden Reaktionen. Das Kapitel Die Nacht im Rübenkeller, das im Jahr 1985 bereits in einer Ausgabe von Neue Deutsche Literatur. Monatsschrift für Literatur und Kritik erscheint1149, stellt insofern einen Sonderfall innerhalb der Autobiographie dar, als hier eine einzige Nacht (mit dem darauf folgenden Morgen) in ihrem Ablauf geschildert wird, nämlich die letzte Nacht vor Kriegsende, in der der kleine Wulf zusammen mit seiner Mutter und seinen Geschwistern wie viele weitere Dorfbewohner in einem Keller außerhalb des Dorfes Schutz sucht. Wie so oft in Kirstens Lebensbericht rückt die Historizität in den Vordergrund – die geschichtlichen Ereignisse bilden den Ausgangspunkt für sämtliche Erinnerungen und Schilderungen. Das Kapitel beginnt wie folgt: »Zahlreichen Dorfbewohnern schien die abseits gelegene Lindenmühle ein sicherer Zufluchtsort, als der Geschützdonner immer näher rückte und das unaufhörliche dumpfe Grollen bedrohlich zunahm«.1150 Lage und Geschichte der Mühle werden ausführlich beschrieben und mit der Erinnerung an kindliche Abenteuer in den zugehörigen Stallungen verknüpft. Die Unbeschwertheit jener frühen Lebensjahre kontrastiert mit der bedrückenden Atmosphäre, die in der betreffenden Nacht im Keller der Mühle herrscht: Dicht an dicht lagerten, kauerten, hockten die Menschen übermüdet in dem Keller wie eine gepferchte Schafherde. […] Jeder für sich unter seiner Umhüllung von einer großen Ungewißheit gepackt. Einerseits froh, daß der Krieg endlich zu Ende ging, andererseits voller Sorge und Bange der Zukunft entgegensehend. […] Alle von dem Wunsch erfüllt, dem Schlamassel mit heiler Haut zu entkommen. In ruhigere Zeiten hinüber.1151

Der Erzähler berichtet sachlich, welche Ereignisse der Untergang des Dritten Reiches für Klipphausen mit sich bringt, zeigt dabei aber auch unmissverständlich auf, wie überfordert sein kindliches Ich mit der Situation ist:

1148 Ebd., S. 187. 1149 Vgl. Wulf Kirsten: »Die Nacht im Rübenkeller«. In: Neue Deutsche Literatur. Monatsschrift für Literatur und Kritik 33 (1985), H. 4, S. 19–28. 1150 Kirsten 2000, S. 139. 1151 Ebd., S. 146f.

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Mir kam es vor, als würde diese Nacht niemals zu Ende gehen. […] Die Erlebnisse mengten sich und erzeugten nackte Angst. […] Das Gehirn kam nicht zur Ruhe. Das Tohuwabohu der letzten Kriegstage überstieg das Fassungsvermögen des Zehnjährigen.1152

So wird der Blickwinkel des erzählten Ichs auch hier nicht verfälscht, dennoch kommt Kirsten seinem Bedürfnis, das Zeitgeschehen zu vermitteln, adäquat nach. Das Kriegsende und wie es sich konkret in Klipphausen abspielt, hält er für außerordentlich erinnerungswürdig, so dass er ihm ein ganzes Kapitel seiner Autobiographie widmet. In einem Gespräch mit Peter Hamm äußert sich Kirsten: Den letzten Rest vom Krieg – da habe ich selbst gesehen, wie das alles zu Ende ging. Das hat mich ungeheuer geprägt, das Rückfluten der deutschen Truppen, wie sie buchstäblich zum Tor hinaus, zum Dorf hinaus sind und wie dann fast im gleichen Moment die Russen nachrückten mit Panzern und Fahrzeugen und auch auf Pferden.1153

Abschließend kommentiert er diesbezüglich: »Mir war noch nicht klar als Kind, daß das ganz konkret erlebte Geschichte war – das habe ich erst später einzuordnen gewußt«.1154 Diese Aussage bekräftigt, dass der Autor die verschiedenen Bewusstseinsstufen innerhalb seines Lebenslaufs unterscheidet und diese somit auch in seiner Autobiographie klar voneinander abtrennt. So bleibt ungeachtet der erreichten Homogenität des Erzählwerkes der Erlebnishorizont des kindlichen Ichs deutlich unterscheidbar von den Einschätzungen des um den Verlauf der Geschichte wissenden Erzählers. Der Morgen nach der traumatischen Nacht im Rübenkeller wird ebenfalls ausführlich rekapituliert: Auf dem Hof der Lindenmühle tauchen drei deutsche Soldaten in Uniformen auf – »[s]chicksalsträchtig genug, wie ich heute meine. […] Das waren die letzten bewaffneten Soldaten der Hitlerwehrmacht, die ich zu Gesicht bekam«.1155 Ein Mann wird ausgesandt, die Lage im Dorf zu erkunden; er schildert Panzerrohre, die auf Klipphausen gerichtet sind und dass russische Soldaten das Dorf erobert haben. Doch bei der Rückkehr findet Familie Kirsten ihr Haus und allen Besitz glücklicherweise unversehrt. Sebastian Kiefer urteilt in Bezug auf Die Nacht im Rübenkeller: »[A]uch hier treffen sich Weltgeschichte, Provinz und Kirstens an einen Individualort und eine beiläufige Episode gebundene Erzählphantasie noch einmal glücklich«.1156 Volker Hage bemerkt:

1152 Ebd., S. 147. 1153 »Selbstauskunft. Bewahrenswertes aufheben«, Wulf Kirsten im Gespräch mit Peter Hamm, S. 54. 1154 Ebd., S. 56. 1155 Kirsten 2000, S. 153. 1156 Kiefer 2001, S. 207.

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»Behutsamer und deutlicher als der Lyriker es tut, lässt sich von jenen Maitagen kaum erzählen«.1157 Die nachfolgenden Kapitel in Kirstens Autobiographie betreffen die unmittelbare Nachkriegszeit und den Aufbau eines neuen politischen Systems. Der Erzähler beschreibt lapidar, wie die beiden betagten Prinzessinnen zu Reuß in Folge einer Verfügung der sowjetischen Besatzungsmacht unter Einsatz von Schusswaffen ganz und gar unheroisch aus ihrem Fürstenhaus vertrieben werden; im ersten Nachkriegsfrühjahr wird der Landbesitz der Adelsfamilie in Kleinparzellen aufgeteilt. Es folgt der Kommentar : »Der Schuß, den der Sieger auf die alten Damen abgegeben hatte, ließ sie zwar am Leben. Das Zeitalter aber, das sie verkörperten und in meinem Dorf repräsentierten, hatte er besiegelt. Nicht symbolisch – tatsächlich«.1158 Der Autor äußert sich im Jahr 2004 zu diesem Geschichts- und Lebensabschnitt: Neben dem Krieg, der wortwörtlich vor meinen Füßen auf Panzerketten ausrollte, waren es dann die Praktiken der Enteignung, Parzellierung und wiederum Enteignung, die vorzugsweise ebenjene Brüche in der Biographie sehr anschaulich hinterließen. Alles in allem eine mit brachialen Aktionen angereicherte Landschaftsgeschichte, die sich für mich aus einer Vielzahl von individuellen Lebensgeschichten zusammensetzt.1159

Wie York-Gothart Mix treffend bemerkt, ist Kirstens Autobiographie einem »Blick auf die Geschichte von unten verpflichtet«.1160 Historische Ereignisse und subjektive Erfahrungen werden detailliert geschildert und miteinander verknüpft ohne die Vergangenheit zu verklären. Vielmehr gilt: »In der Reflexion über die eigene Biographie, die Historie und den Wandel der Lebenswelt wird das Wechselspiel der Geschichte und Geschichten konkretisiert«.1161 Jan Röhnert bezeichnet Kirstens Schreiben zu Recht als »ein Anschreiben gegen die stets drohende Auslöschung der eigenen, subjektiven Geschichtlichkeit«.1162 Auch außerhalb der Literaturwissenschaft wird Kirstens Umgang mit der deutschen Vergangenheit gelobt: Bernhard Vogel bescheinigt ihm in Bezug auf sein Gesamtwerk eine antiautoritäre Grundhaltung und eine kritische Auseinandersetzung mit Diktatur und Kollektivismus.1163 Kirstens Literatur sei »Trägerin 1157 1158 1159 1160 1161 1162

Hage, S. 180. Kirsten 2000, S. 169f. Kirsten 2004, Landschaft als literarischer Text, S. 54. Mix 2007, S. 112. Ebd., S. 121, vgl. auch S. 119. Jan Röhnert: »›nie vernommen,/was da aufzuckt im licht‹. Dimensionen des Verschwindens in neueren Gedichten Wulf Kirstens«. In: Landschaft als literarischer Text. Der Dichter Wulf Kirsten, Hg. v. Gerhard R. Kaiser, Jena 2004, S. 161. 1163 Vgl. Bernhard Vogel: »Begrüßung«. In: Verleihung des Literaturpreises der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. an Wulf Kirsten. Weimar, 22. Mai 2005. Dokumentation, Hg. v. Günther Rüther, Sankt Augustin 2005, S. 7.

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unseres kulturellen Gedächtnisses und Gewissens […], die historische Erinnerung möglich und lebendig macht«.1164 In Die Prinzessinnen im Krautgarten. Eine Dorfkindheit findet sich folgende Aussage: »Ich vermag das Gefühl nicht zu unterdrücken, der Stafettenstab wird in eine geschichts- und gesichtslose Leere gereicht«.1165 Der Erzähler trifft diese Einschätzung in Bezug auf die Adelsfamilie zu Reuß, doch lässt sie sich auch auf Kirstens Geschichtsbewusstsein allgemein übertragen. Die Möglichkeit, dass die deutsche Vergangenheit in Vergessenheit geraten könnte, ist ihm ein unerträglicher Gedanke. Wobei der Schreckensherrschaft des Nationalsozialismus hier eine besondere Rolle zukommt und diese sowohl in seiner Lyrik als auch seiner Prosa ein zentrales Thema bildet. Justus H. Ulbrichts Beurteilung zufolge befinde Kirsten sich »›zwischen Goethe und Buchenwald‹ […], [er] schwankt zwischen der Liebe zur deutschen Sprache, dem Respekt für unsere Kultur und dem maßlosen Entsetzen über deren terroristische Entfaltung nach 1933«.1166 Ulbricht spielt hier auf Kirstens Werk Der Berg über der Stadt. Zwischen Goethe und Buchenwald (2003) an, in dem der Autor sein Verhältnis zu Buchenwald und Weimar insbesondere im Hinblick auf dieses dunkle Kapitel deutscher Geschichte aufarbeitet. Letztlich ziehen sich individuelle und kollektive Geschichte wie ein roter Faden durch Wulf Kirstens Gesamtwerk; der Autor setzt sich seit den Anfängen seines literarischen Schaffens eingehend mit historischen Themen auseinander. Dabei erschwert die Kultur- und Wissenschaftspolitik des SED-Regimes den unvoreingenommenen Zugang zur Vergangenheit Deutschlands nicht unerheblich; Anke Degenkolb spricht von Kirstens »akribische[r] Arbeit gegen das offizielle Gedächtnis«.1167 In seinem Essay Landschaft als literarischer Text. Ein Eingrenzungsversuch (2004) äußert er dementsprechend: Zu der berufsbedingten Neugier, die derlei Geschichten [individuelle Lebensgeschichten] aufgesaugt und gespeichert hat, kam dann noch die Erfahrung, daß zwischen dem eigenen Erleben und der offiziellen Darstellung jüngster Geschichte, die ja immer bis vorgestern reicht, eine erhebliche Differenz bestand. Also galt es, ein Geschichtsbewußtsein mit Gegenbildern, Entzerrungen, Dementis und dergleichen aufzubauen, das auf der Suche nach Wahrheit war. Und da es ein Absolutum an Wahrheit nicht geben kann, mußte es folgerichtig darum gehen, Lebenserfahrung und erworbenes Wissen zu nutzen, um diesem edlen Begriff möglichst nahe zu kommen.1168

Bevor im folgenden Kapitel die Literarizität in Die Prinzessinnen im Krautgarten. Eine Dorfkindheit untersucht wird, sollen zwei dem Artikel Aus der Zen1164 1165 1166 1167 1168

Ebd., S. 8. Kirsten 2000, S. 160. Justus H. Ulbricht, S. 188. Degenkolb 2004, »anzuschreiben gegen das schäbige vergessen«, S. 117. Kirsten 2004, Landschaft als literarischer Text, S. 54.

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trifuge entnommene Aussagen Wulf Kirstens hier als Fazit dienen: »Die Vergangenheit wird nicht bewältigt, indem man sie wegwirft wie ein abgetragenes Kleidungsstück«1169 und »Was wir brauchen, ist die Wahrheit, auch wenn dies ein mühevolles Geschäft ist«.1170 Auf Kirstens Wahrheitsbegriff innerhalb der Autobiographie wird zurückzukommen sein.

6.3. Die Prinzessinnen im Krautgarten. Eine Dorfkindheit als literarisches Artefakt Wie sich gezeigt hat, gelingt es Wulf Kirsten, in seiner Autobiographie neben der Vermittlung individueller Kindheitserinnerungen gleichsam ein Zeitpanorama zu entwerfen und somit Zweiten Weltkrieg, Kriegsende und die Anfänge des DDR-Sozialismus aus seiner persönlichen Sicht zu beleuchten. Die Historizität ist als eine Grundsäule der Autobiographie anzusehen; eine nicht weniger bedeutende Rolle spielt in der Gattungstheorie der Aspekt der Literarizität: Kirsten organisiert ebenso einen narrativen Text, in dem er alle ihm zur Verfügung stehenden sprachlichen Mittel frei einsetzen und gestalten kann; er legt mit Die Prinzessinnen im Krautgarten. Eine Dorfkindheit nicht zuletzt ein literarästhetisches Kunstwerk vor, wie sich in diesem Kapitel zeigen wird. Wulf Kirstens Autobiographie setzt sich aus elf einzelnen Prosatexten zusammen, die die folgenden Überschriften tragen: Der Hof, Schule, Der Vogelsprache kund, Das Roggenfeld, Winterfreuden, Der Schandfleck, Die Nacht im Rübenkeller, Die Prinzessinnen im Krautgarten, Der Neulehrer auf dem Schuppendach, Mückenfett und Schulspeisung. Wie bereits erwähnt, entstehen die vier Texte Die Nacht im Rübenkeller, Winterfreuden, Mückenfett (1987) und Die Prinzessinnen im Krautgarten separat und werden vor dieser Zusammenführung einzeln veröffentlicht.1171 Die eigenständigen Kapitel sind lose chronologisch angeordnet, weisen aber keine durchgehende Handlung auf. Vielmehr ist Kirstens Erzählweise von Breite und Vielfalt geprägt; neben kleinen abgeschlossenen Geschichten finden sich Anekdoten, lyrische Passagen, Portraits einzelner Dorfbewohner und Reflexionen über das kindliche Bewusstsein, Sprache oder das Wesen der Erinnerung. Die Erzähltempora spiegeln die verschiedenen Zeitebenen der Autobiographie wider : Über das erzählte Ich in seinem ländlichen Umfeld, über Dorfbewohner, alltägliche Beschäftigungen in Klipphausen sowie die Kriegsgescheh1169 Kirsten 1993, Aus der Zentrifuge, S. 82. 1170 Ebd., S. 87. 1171 Vgl. oben, Fußnoten 1081, 1149 u. Wulf Kirsten: »Mückenfett«. In: Winterfreuden. Zwei Prosatexte, Warmbronn 1987, S. 9–15.

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nisse wird in der Vergangenheitsform berichtet; Präteritum, Perfekt und Plusquamperfekt kommen hier verstärkt zum Einsatz. Die Einschätzungen, Kommentare und Fragen des gegenwärtigen Erzählers dagegen sind zumeist im Präsens abgefasst; Futurformen kommen selten vor. Bereits die Eingangspassage des Werkes veranschaulicht den permanenten Wechsel zwischen den unterschiedlichen Bewusstseins- und Erzählebenen: Da ich keine falschen Vorstellungen aufkommen lassen möchte, gestehe ich lieber gleich, daß unser Hof in Wirklichkeit gar keiner war. Jedenfalls nicht das, was man gemeinhin mit einem so bezeichneten Ort verbindet. Man kann in dieser Bezeichnung den Wunsch erkennen, der sich in dieser verbalen Aufbesserung zu erkennen gab: einen richtigen Hof zu besitzen. Räumlich, der puren Platznot geschuldet, ließ sich dies jedoch nicht bewerkstelligen. Unser Hof war nur ein halbwegs eben gemachter Gang vor der Längsseite des Hauses von allenfalls doppelter Breite einer Heiste.1172

Eine Ausnahme bildet das Kapitel Winterfreuden, das einen einzigen Tag in Wulf Kirstens Kindheit rekapituliert und durchgängig im Präsens abgefasst ist. Der Einsatz des historischen Präsens dient hier durch die Abschwächung der vermittelnden Instanz des erzählenden Ichs der Plastizität und Unmittelbarkeit des Berichteten.1173 Das Kapitel, das relativ kurz ist und sich durch eine auffällige Geschlossenheit auszeichnet, weist stilistisch, bildlich und auch thematisch eine gewisse Nähe zu Kirstens Lyrik auf.1174 Es ist die Rede von zwei Jungen, die sich an einem Wintertag damit vergnügen, auf den zugefrorenen Flüssen in Dorfnähe zu spazieren. Über einen der beiden erfährt der Leser, dass er erst einige Tage zuvor mit einem Flüchtlingstransport aus Memel angekommen ist.1175 Der Erzähler berichtet in der dritten Person Plural; erst im letzten Abschnitt des Kapitels heißt es: »Der Erinnerung kommt es so vor, als habe an jenem Dezembertag im letzten Kriegswinter die Zeit den Atem angehalten für zwei Zehnjährige. Einer von beiden muß ich gewesen sein«.1176 Kirsten berichtet hier also unmissverständlich von einer eigenen Kindheitserinnerung. Er entwirft ein Kindheitsidyll in poetischen Bildern, das sich fernab des rauen Kriegsalltags abzuspielen scheint. Zumeist berichtet der Erzähler über sein kindliches Ich naturgemäß in der ersten Person Singular : Gleich den meisten Mitmarschierern meines Jahrgangs übernahm auch ich eine bereits getragene Uniform von einem dem Pimpfalter entwachsenen Hitlerjungen, der als knapp Sechzehnjähriger zum Militär eingezogen und sogleich an die Ostfront beordert 1172 1173 1174 1175 1176

Kirsten 2000, S. 5. Vgl. oben, S. 75. Vgl. Degenkolb 2004, »anzuschreiben gegen das schäbige vergessen«, S. 224. Vgl. Kirsten 2000, S. 102. Ebd., S. 106.

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wurde, von der er nicht mehr zurückkehrte. Es hieß, so redeten die Leute um mich herum, in der Annahme, über meinen Kopf hinweg, er habe beim Rückmarsch nicht so schnell laufen können wie die anderen. So schloß ich gleich auf mich, dachte an meine miserablen Laufzeiten und Spurtqualitäten, sah mich im Geiste um mein Leben rennen, Bajonettspitzen im Rücken, dicht hinter mir.1177

Jedoch finden sich, wie bereits angedeutet, wiederholt Ausnahmen, in denen der Erzähler kurzzeitig in die dritte Person Singular oder Plural wechselt: Einmal muß zwei Jungen aus dieser Schar der Teufel geritten haben. Oder war es nur die pure Langeweile, die sie plagte? […] Eng an die Krautgartenmauer gekutzt, um nur ja nicht gesehen zu werden, warfen die beiden ein abscheuliches Wort in den Garten hinein, in dem sich die beiden Prinzessinnen ergingen.1178

Auch in diesem Fall erfolgt am Ende der Episode ein Wechsel zurück in die erste Person: »Erst spätabends schlichen wir uns wieder ins Dorf ein wie Schmidts Katze und wussten nicht zu sagen, was wir den ganzen Tag getrieben hatten. Wir wussten es wirklich nicht«.1179 Die zweite Person Singular oder Plural kommt lediglich zum Einsatz, wenn der Erzähler frühere Weggefährten anredet, so zum Beispiel: »Erhard, was ist bloß aus dir geworden? Als du 1946 aus der Sachsdorfer Klippschule sang- und klanglos abgehen durftest, ohne Zutsch und Trara, wurdest du sofort Knecht bei einem Bauern im Dorf«.1180 Was die grammatischen Modi betrifft, so ist das Werk hauptsächlich im Indikativ abgefasst, lediglich einzelne Überlegungen und Fragen werden im Konjunktiv (an)gestellt. Auch die Äußerung von Wünschen erfordert den Konjunktiv, wie beispielsweise zu Beginn des Kapitels Der Vogelsprache kund: »Meine Eltern besaßen einen kleinen Bücherschrank. Ich gäb was drum, er hätte sich samt Inhalt erhalten und wäre auf mich gekommen«.1181 Nur selten findet sich der Imperativ ; einmal wird er in einer erdachten Anrede des Erzählers an ihm unbekannte Personen eingesetzt: »Lauf, Müller, lauf! In zwei Stunden und zwanzig Minuten bist Du zu Hause«.1182 Die Erzählweise ist geprägt von zahlreichen Abschweifungen und ironischen Kommentaren; immer wieder unterbricht der Erzähler sich selbst, was er häufig auch thematisiert und im Anschluss rechtfertigt. So wechseln sich Anekdoten und Geschichten mit selbstreflexiven Aussagen des Erzählers ab, wie beispielsweise im Kapitel Die Prinzessinnen im Krautgarten:

1177 1178 1179 1180 1181 1182

Ebd., S. 115. Ebd., S. 166. Ebd., S. 167f. Ebd., S. 98. Ebd., S. 67. Ebd., S. 91.

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Wulf Kirstens Die Prinzessinnen im Krautgarten. Eine Dorfkindheit

Aber ehe ich mich über die einschichtigen Freuden des Landlebens verbreite und Gefahr laufe, mich in denselben zu verlieren, muß ich erst die Geschichte mit den Prinzessinnen, wenn es denn überhaupt eine ist, mit Anstand zu Ende bringen. Man kommt so leicht vom Hundertsten ins Tausendste beim Erzählen.1183

Wie bereits erwähnt, gibt er auch Unsicherheiten und Unklarheiten unumwunden zu und vermittelt somit den Eindruck von Offenheit gegenüber dem Leser. Anke Degenkolb stellt fest: »Die Erzählweise ist stark digressiv, und die Rolle des Erzählers besteht vor allem darin, die Perspektive auf das Gesamtbild vorzugeben und die Fülle des Materials zu arrangieren«.1184 Den Erzähler betrachtet sie als Identifikationsfigur, die den Leser mit hinein in das vergangene dörfliche Geschehen nehme, ohne dabei als Protagonist zu fungieren.1185 Einschränkend sei angemerkt, dass das erzählende Ich wiederholt Einblick in den Schreibprozess gibt und sich somit in den Vordergrund rückt, wie zum Beispiel in den folgenden Abschnitten: Der Versuchung, an dieser Stelle die Geschichte des von einem Stellmacher gefertigten Sprossenhandwagens von zwei, höchstens drei Zentnern Tragkraft im Wandel der Zeiten auszubreiten, widerstehe ich, wenn auch schweren Herzens.1186

und »Ehe ich in Versuchung gerate, deren [der Meißener Bäckereien] Vorzüge und Spezialitäten aufzulisten, kehre ich zurück zur Schulspeisung des Jahres 1948/49«.1187 In einigen Passagen nimmt sich der Ich-Erzähler dagegen faktisch vollends zurück und berichtet neutral über Geschehnisse innerhalb des Dorfalltags: So trieben sie den sich sträubenden Bauern aus seinem Gehöft, den Berg hinunter, auf die Dorfstraße, erst Richtung Gasthof, dann durchs Unterdorf Richtung Teich. Teils zerrten ihn zwei, wenn er sich weigerte weiterzulaufen, teils stießen ihn die beiden anderen, die sich von irgendwoher Pistolen beschafft hatten. Am Teichrand behauptete Ocktorff wiederum, eine weit ausholende Armbewegung demonstrierend, die Pistole ins brackige Wasser des mit Schlingpflanzen zugewucherten und mit Entengrütze bedeckten Teiches geworfen zu haben, aber nicht mehr zu wissen, an welcher Stelle sie liegen könnte. Jan befahl ihm, ins Wasser zu steigen und so lange zu suchen, bis er sie gefunden habe. Die vier postierten sich. Ocktorff sah, sich umblickend, die beiden auf ihn gerichteten Pistolen.1188

Häufig benutzt der Erzähler Ausrufe, Redewendungen oder rhetorische Fragen, um sein Urteil, sein Erstaunen oder seine Trauer auszudrücken, etwa »Nie mehr 1183 1184 1185 1186 1187 1188

Ebd., S. 161. Degenkolb 2004, »anzuschreiben gegen das schäbige vergessen«, S. 231. Vgl. ebd., S. 232. Kirsten 2000, S. 89. Ebd., S. 234. Ebd., S. 189f.

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Italiener! Nie mehr weiße Leghorn! Schwere Hühner müssen her, auch wenn diese nicht so tüchtige Eierleger sind«1189 oder »Aber was war schließlich ein requiriertes, vielmehr gestohlenes Leichtmotorrad im Vergleich zu dem, was andere verloren hatten?«1190 Anke Degenkolb bezeichnet Kirstens Erzählweise als der mündlichen Sprache nahe stehend1191 – tatsächlich fallen häufig bewusst verkürzte Sätze und Exklamationen auf, die eher gesprochener als geschriebener Sprache entsprechen, wie »Ab in die Stadt mit verbundenen Knien. Ein blutiges Bündel Elend«.1192 Auch fasst der Erzähler kindliche Abenteuer in einem Absatz zusammen, der fast ausschließlich aus Partizipialkonstruktionen besteht, wobei die zugehörige Personalform des Hilfsverbs jeweils ausgelassen wird: Pferdeställe, Heuböden, Wagenremisen, Schirrkammern durchstöbert. Jedes Schlupfloch durch lebende Hecken und Staketenzäune gefunden. Jedem Fußpfad nachgegangen, die glitschigen Mühlwehre gequert, Koppeln, Lehmgruben, Steinbrüche samt Pulverkammern erkundet. In jedem Tümpel und Tonloch gegründelt, nahezu durch jedes Schleusenloch gekrochen.1193

Zumeist verzichtet Kirsten auf den Einsatz wörtlicher Rede; wenn er sie einsetzt, dann niemals, um einen vollständigen Dialog wiederzugeben, sondern meist um einzelne Aussagen damaliger Zeitgenossen oder kindliche Ausrufe zu zitieren. So erscheint beispielsweise eine Aussage eines Mitschülers aus der Oberschule in Meißen als Zitat in Anführungszeichen; dieses ist in den Erzählfluss eingebunden und wird sogleich vom Erzähler kommentiert: Mein Banknachbar […] verachtete derlei Zubrot und verweigerte die Annahme mit der Bemerkung: ›So was frißt bei uns derheeme nich ma dor Hund.‹ Merkwürdig, wie ausgezeichnet dieser nebensächliche Nebensatz, den ich um kein Jota stilisiert habe, sich so fest eingebrannt hat als eine der gnadenlosen verbalen Zutaten, die einem Leben mitgegeben oder angehängt werden.1194

Kirsten berichtet, nicht ohne Reue, von Schmähworten und Schimpfliedern, mit denen einzelne, vornehmlich weibliche Dorfbewohner von der Dorfjugend verspottet werden, und gibt einige dieser Ausrufe wieder. Zum Beispiel wird die rothaarige Felicitas, die ihr Pflichtjahr auf dem Rittergut absolviert, von der Dorfjugend wiederholt verhöhnt: Auf so ziemlich jeder ihrer dienstlichen Radtouren schallte es ihr im Chorus entgegen: ›Hexennase nutt-nutt-nutt, deine lange Nase blutt.‹ Mangels anderer geistiger Zer1189 1190 1191 1192 1193 1194

Ebd., S. 23. Ebd., S. 43. Vgl. Degenkolb 2004, »anzuschreiben gegen das schäbige vergessen«, S. 224. Kirsten 2000, S. 14. Ebd., S. 12. Ebd., S. 231.

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Wulf Kirstens Die Prinzessinnen im Krautgarten. Eine Dorfkindheit

streuungen erfreuten sich derlei atavistische Gemeinheiten großer Beliebtheit. In die zu einer Stimme geballten Rotte muß ich mich leider einschließen.1195

Zu den sprachlichen Besonderheiten in Kirstens Autobiographie gehört ohne Zweifel das altertümliche und regionale Vokabular, mit dem der Erzähler seine Schilderungen des dörflichen Alltags durchsetzt. Häufig finden sich heutzutage ungebräuchliche oder gar unbekannte Ausdrücke wie »laweden«, »Strohfeime«, »kaupeln«, »Sturzel«, »Allotria«, »stiwid« oder »schelberige«.1196 Auch alte, inzwischen nicht mehr benutzte Werkzeuge werden benannt, so beispielsweise in der Aufzählung der Steinmetzutensilien von Vater Kirsten: Für das Steinmetzwerkzeug des Vaters […], das die Giebelspitze füllte, hatte ich keinerlei Verwendung. […] Zahneisen, Schlageisen, Spitzeisen, Scharriereisen, Krönel, Nuteisen, Schlegel, Knüpfel, Stockhammer. Der Fachmann mag das Inventar der edlen Zunft komplettieren.1197

Wolfgang Ertls Urteil über Kirstens lyrische Sprache kann somit auch auf seine Erinnerungsprosa übertragen werden: Die Bewahrung eines solchen reichhaltigen Wortschatzes in lyrischer Rede soll sicher der sprachlichen Verarmung durch Vokabelschwund und der Verwahrlosung der Sprache durch Klischees und Phrasendrescherei entgegenwirken.1198

Auch Martin Straub äußert sich zu Kirstens Wortschatz und betont den bewahrenden Charakter, den dessen Umgang mit Sprache den Kindheitserinnerungen verleiht: Mit seinen Erinnerungen an eine Dorfkindheit wird eine ganz eigene Sprachlandschaft lebendig. Die Wehmut über unwiederbringlich Verlorenes paart sich mit einer freundlichen Distanz, aus der die Phraseologie einer dörflichen Werktagswelt beschworen wird.1199

Die Sprache des Erzählers bleibt niemals auf den Wissensstand des Kindes beschränkt, sondern wird, wie auch im Fall der Erinnerungsarbeit und der Auseinandersetzung mit geschichtlichen Ereignissen, stets aus der gegenwärtigen Position heraus erweitert. So finden sich etwa detaillierte Naturbeschreibungen wie die folgende: »Die Rümpfe der Weiden waren längst geborsten. Obwohl einige nur noch aus schwartigen Fragmenten bestanden, grünte aus den wuscheligen Sturzelköpfen ein Kranz armdicker Äste«.1200 Auch einige auf die 1195 1196 1197 1198

Ebd., S. 55. Ebd., S. 57, 11, 28, 37, 54, 98, 104. Ebd., S. 28f. Wolfgang Ertl: »Kindheitsbilder in der Lyrik Wulf Kirstens«. In: Schaltstelle. Neue deutsche Lyrik im Dialog, Hg. v. Karen Leeder, Amsterdam, New York 2007, S. 381. 1199 Straub, S. 178. 1200 Kirsten 2000, S. 73. Vgl. auch S. 7, 219.

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Natur bezogene Wortschöpfungen reichen eindeutig über den Wortschatz eines Kindes hinaus, wie zum Beispiel »wildromantisch«, »maiwüchsig« oder »apfelmild«.1201 In Bezug auf Kirstens Sprache in Die Schlacht bei Kesselsdorf. Ein Bericht. Kleewunsch. Ein Kleinstadtbild urteilt Klaus Hammer : Gerade die Integrierung volkstümlicher Redensarten und erfrischender Dialekteinsprengsel gibt dem Erzählstil Kirstens nicht nur eine so eindringliche Zeichnung des lokalen und sozialen Kolorits, sondern auch eine so große kompositionelle Beweglichkeit.1202

Auch auf Die Prinzessinnen im Krautgarten. Eine Dorfkindheit trifft diese Einschätzung uneingeschränkt zu. Sebastian Kiefer betont Kirstens Bereitschaft und Fähigkeit, in hohem Maß Zeit, Geduld und Aufmerksamkeit aufzubringen für die Geschichte der Worte, ihren Rhythmus, ihr Kolorit, Abbild von Rhythmus und Farbe der Weltgegend, in der sie wuchsen – alles Dinge, mit dem [sic!] sich das schwache Gedächtnis der panisch globalisierten Beschleunigungsgesellschaft nicht belasten mag.1203

Wulf Kirsten selbst weist wiederholt darauf hin, welch exponierten Stellenwert die Sprache für ihn einnimmt. Zunächst einmal bezeichnet er sich als jemanden, dem ostmitteldeutsche Wortverwendungen geläufig sind, oder, um es noch genauer zu sagen, als eine[n], dem es nicht fatal ist, sich zum idiomatischen Stallgeruch südostmeißnischer Mundart respektive aus ihr hervorgegangener Umgangssprache zu bekennen.1204

In seiner Dankrede zur Verleihung des Kaschnitz-Preises am 19. November 2000 äußert sich Kirsten wie folgt über die deutsche Sprache: Diese Sprache lebt aus einem Geflecht weit zurückreichender Geschichte wie aus einem allzu flüchtiger politischer Gegenwart, ebenso gehören dazu soziale Bindungen, landschaftlich begrenzt, koloriert, eben all das, was Provinz an positiv und negativ besetzten Impulsen einschließt.1205

Um seiner selbst und um seiner Texte willen müsse er die deutsche Sprache, die ihm zu Gebote steht und aus deren Fundus er sich bedient bei seiner Arbeit,

1201 Ebd., S. 29, 178, 163. 1202 Klaus Hammer : »Wulf Kirsten: Die Schlacht bei Kesselsdorf. Ein Bericht / Kleewunsch. Ein Kleinstadtbild«. In: Weimarer Beiträge 31 (1985), H. 12, S. 2052. 1203 Kiefer 2001, S. 208. 1204 Wulf Kirsten: »Textur«. In: Deutscher Sprachpreis 1995–1999, Hg. v. d. Henning-Kaufmann-Stiftung, Schliengen 2001, S. 92. 1205 Wulf Kirsten: »Dankrede zur Verleihung des Kaschnitz-Preises am 19. November 2000«. In: Deutsche Bücher 31 (2001), H. 1, S. 17.

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Wulf Kirstens Die Prinzessinnen im Krautgarten. Eine Dorfkindheit

bewahrend verteidigen.1206 In einem Interview im Jahr 2004 formuliert er ergänzend: Deutsche Sprache ist zunächst mein Materialvorrat, aus dem ich schöpfe. Mich interessiert, was kann ich davon aufnehmen. Der Ehrgeiz, mit einem möglichst großen Wortschatz umgehen zu können, so daß ich ihn auch aktiv anzuwenden vermag, kontrastiert mit landläufigem Sprachverhalten.1207

Auch in Die Prinzessinnen im Krautgarten. Eine Dorfkindheit thematisiert Wulf Kirsten die Sprache seiner Heimat und lässt seine Wertschätzung ihr gegenüber erkennen. Beispielsweise berichtet er von einem »die Bach« genannten Wasserlauf, der verantwortlich ist für die Schwierigkeit, die Kirsten bis heute mit dem Gebrauch des maskulinen Artikels vor »Bach« habe. Er kommentiert: »Und ich muß gestehen, in meinen Ohren klingt die Bach auch heute noch viel passender und schöner als der Bach«.1208 Des Weiteren berichtet er von einem jüngst wieder gelesenen Aufsatz, den er als Kind über das Frühjahrshochwasser des Flusslaufs Wilde Sau verfassen musste und der ihn nun beschämt: »Der Ausdrucksschwächling muß tatsächlich ich gewesen sein«.1209 Das Kapitel Mückenfett beginnt mit einer Beobachtung der sprachlichen Einflussnahme, die Flüchtlinge während der Nachkriegszeit auf die dem Kind vertraute Mundart ausüben: Das einheimische Idiom war sich plötzlich seiner selbst gar nicht mehr so sicher, als sich ostpreußische und niederschlesische Klangbilder dazwischenschoben. Aber auch die Bauern aus der Bukowina, aus Hinterpommern, aus dem Warthegau, die Leute aus dem Memelgebiet und aus Böhmen, die der verlorene Krieg auf die Dörfer gestreut hatte, redeten dazwischen.1210

Die Benutzung regionaler und altertümlicher Ausdrücke in Die Prinzessinnen im Krautgarten. Eine Dorfkindheit fand in diesem Kapitel bereits Erwähnung. Der Autor betrachtet Sprache letztlich als Grundlage menschlichen Zusammenlebens und will den Reichtum des Deutschen vor Augen führen – zumal er die Lexik wegen ihrer geringen Wertschätzung in der heutigen Zeit als heruntergekommen betrachtet. Vornehmlich in seine lyrischen Arbeiten fließt immer auch eine gewisse Sprachkritik mit ein.1211 1206 Vgl. ebd. 1207 »Welt, Poesie und Sprache(n) im Gedicht. Ein Interview«, Wulf Kirsten im Gespräch mit Jan Röhnert. In: Landschaft als literarischer Text. Der Dichter Wulf Kirsten, Hg. v. Gerhard R. Kaiser, Jena 2004, S. 200. 1208 Kirsten 2000, S. 6. 1209 Ebd., S. 202. 1210 Ebd., S. 207. 1211 Vgl. Wulf Kirsten: »Der Himmel über uns«. In: Victor, Christoph: Oktoberfrühling. Die Wende in Weimar 1989, Weimar 2009, S. IX u. »Gespräch mit Wulf Kirsten«, Wulf Kirsten im Gespräch mit Katharina Festner und York-Gothart Mix, S. 97.

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Von besonderer Bedeutung für die Betrachtung von Kirstens Autobiographie ist folgende Aussage aus seinem Essay Entwurf einer Landschaft: Wichtig ist, daß aus der Sprache, wie immer sie auch zusammengesetzt sein mag, die Wirklichkeit hervorgeht. Sie wird nachgezeichnet in dem guten Glauben, ich könnte Einfluß nehmen auf mich und vielleicht auch auf andre.1212

Demgegenüber steht seine Äußerung in dem Beitrag Textur aus dem Jahr 2001: Schon dem einfachsten, banalsten Satz bleibt gar nichts anderes übrig, als Fiktion zu sein. Jede noch so nüchterne Absicht, das vermeintlich Authentische in Sprache zu bannen, und sei es das Protokoll, das ein Polizist aufzusetzen hat, erfordert die Kunst der Stilisierung, der Reduktion.1213

Diese beiden Passagen, die in einem Abstand von nur drei Jahren im Rahmen literarischer Essays erscheinen, weisen zunächst einen scheinbaren Widerspruch auf. Bei genauerer Betrachtung von Kirstens Benutzung des Terminus ›Fiktion‹ jedoch zeigt sich, dass die hier getroffenen Standpunkte durchaus miteinander vereinbar und für das Genre des Lebensberichts relevant sind: Kirsten ist der Auffassung, dass jede Form der Niederschrift die Wirklichkeit verändere, da Stilisierung und Reduktion nötig seien. Dieser Aussage ist zuzustimmen, insbesondere in Bezug auf die Gattung der Autobiographie. Doch das reicht noch nicht aus, um von Fiktionalität zu sprechen – laut Karlheinz Stierles Definition in Ästhetische Grundbegriffe (ÄGB). Historisches Wörterbuch in sieben Bänden ist Fiktion als Gegenbegriff zum Realen zu begreifen.1214 Dass ein Polizist ebenso wie ein Tagebuchschreiber oder ein Autobiograph die Wirklichkeit verändert, indem er sie niederschreibt, ist der Komposition eines Textes und der jeweiligen Interpretation des Schreibers geschuldet. Das bedeutet aber noch nicht, dass hier ein Gegenentwurf zur Realität aufgebaut würde, in dessen Rahmen Daten und Fakten bewusst verändert oder frei erfunden würden. Das im Rahmen dieser Arbeit bereits beschriebene Gegenspiel von Wahrheit und Dichtung, das hier zum Tragen kommt und häufig mit Fiktionalität verwechselt wird, zeichnet gleichsam Die Prinzessinnen im Krautgarten. Eine Dorfkindheit aus und wird im folgenden Kapitel einen weiteren Analyseschwerpunkt des Werkes bilden. Jan Volker Röhnert kritisiert, dass Wulf Kirstens Prosa häufig schlicht als Beiwerk oder Anhang seiner lyrischen Arbeit angesehen werde, obwohl seine Lebenserinnerungen ebenso wie seine poetologischen Schriften integrale Bestandteile seines Œuvres sind1215, worin dem Literaturwissenschaftler unein1212 1213 1214 1215

Kirsten 1998, Entwurf einer Landschaft, S. 61. Kirsten 2001, Textur, S. 94. Vgl. Stierle, S. 380. Vgl. auch oben, S. 83. Vgl. Jan Volker Röhnert: »Eine Welt für sich sehen – Wulf Kirsten erhält den Literaturpreis

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geschränkt zuzustimmen ist. Statt die beiden Gattungen gegeneinander zu stellen, ist es sinnvoller, die Wechselwirkungen zwischen Kirstens Lyrik und seiner Prosa in den Blick zu nehmen. »Die Texte der Prinzessinnen im Krautgarten kommentieren ganze Gedichte mit erzählerischen Mitteln«1216 – das Gedicht verlorene sätze beispielsweise gewinnt laut Anke Degenkolb durch die Beschreibungen im Kapitel Der Hof einen neuen Hintergrund und weitere Interpretationsmöglichkeiten. Das Schicksal des hilfsbereiten Gemeindearbeiters Oswin wird tatsächlich auch in dem 1998 entstandenen Gedicht abgehandelt: Oswin, mann aus dem armenhaus, hackte die gräben aus, / ränderte wege mit augenmaß zum dorfe hinaus / […] Oswin, / nicht ein einziger baum war sein eigen, mann / aus dem armenhaus […] / herbst um herbst leitern gelehnt, tausend und eine / gespießt und gesteilt, nie einen aufstieg gescheut / in den höchsten der bäume, bei tausendundzwei / traf ihn der tod hoch oben, Oswin samt leiter / aus dem leben gestürzt.1217

Die Beschreibung Oswins in Die Prinzessinnen im Krautgarten. Eine Dorfkindheit deckt sich mit den im Gedicht vermittelten Informationen und untermauert somit dessen Authentizität. Auch Wolfgang Ertl weist auf die Wechselbeziehungen zwischen den Gedichten und den autobiographischen Prosatexten Wulf Kirstens hin, »die sich gelegentlich wie Paraphrasen auf Passagen in seinen Gedichten lesen lassen«.1218 Zudem findet sich ein nicht unerheblicher Teil des ländlichen und dialektalen Wortschatzes, der Kirstens Lyrik dominiert, auch in seiner Autobiographie wieder.1219 Ulf Heise hebt in Bezug auf Kirstens Lebensbericht lobend hervor, wie wortgewaltig der Autor das Umfeld seiner Kindheit inventarisiere und zählt ihn zu den großen Sprachmeistern der deutschen Gegenwartsliteratur. Er formuliert in Bezug auf Kirstens Prosa: Sie strahlt durch ungewöhnliche Metaphern. Einmal glaubt man Verse zu lesen, dann wieder einen Roman. Was vor allem an diesen Arbeiten besticht, ist die faszinierende Entspanntheit des Verfassers. Kirstens poetische Formulierungen sind meist von ungeheurer Assoziationskraft.1220

1216 1217 1218 1219 1220

der Adenauer-Stiftung«. In: Verleihung des Literaturpreises der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. an Wulf Kirsten. Weimar, 22. Mai 2005. Dokumentation, Hg. v. Günther Rüther, Sankt Augustin 2005, S. 33. Degenkolb 2004, »anzuschreiben gegen das schäbige vergessen«, S. 230. Wulf Kirsten: »verlorene sätze«. In: ders.: Wettersturz. Gedichte 1993–1998, Zürich 1999, S. 35. Ertl 2007, S. 369. Vgl. Degenkolb 2004, »anzuschreiben gegen das schäbige vergessen«, S. 230, 231. Ulf Heise: »Poetische Kindheitserinnerungen. Die Prinzessinnen im Krautgarten: Faszinierende Prosa des Weimarer Dichters Wulf Kirsten«. In: Thüringer Allgemeine, 23.09. 2000, Feuilleton: http://www.wiso-net.de/webcgi?START=A20& T_FORMAT=5& DOKM= 123058_TA_0& TREFFER_NR=1& WID=82232-9890272-90728_6, Zugriff: 30. 04. 2013, S. 1.

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Gerhard R. Kaiser charakterisiert Kirstens Sprache als eine »Sinnlichkeit von Dialekten und Soziolekten« und erkennt richtigerweise eine »Orientierung an der Lyrik als dem Maß schlechthin dichterisch-verdichteten Sprechens, auch in erzählender und essayistischer Prosa«.1221 Letztlich gelingt es Wulf Kirsten in seinen Lebenserinnerungen Die Prinzessinnen im Krautgarten. Eine Dorfkindheit, ein literarästhetisches Kunstwerk zu komponieren, in dem er zahlreiche Gestaltungsmöglichkeiten und Stilmittel gezielt einsetzt, um glaubwürdig Einblick in seine kindlichen Erfahrungen und Erlebnisse zu geben und das sich durch eine sorgsame, kraftvolle Wortwahl bewusst von einer banalisierten und gedächtnislosen Alltagssprache absetzt.

6.4. Subjektive Authentizität in Die Prinzessinnen im Krautgarten. Eine Dorfkindheit »Je weiter ich mich von meiner Kindheit entferne, desto eindringlicher fragt die innere Stimme: Hast Du das wirklich erlebt und gelebt, was du als deine Biographie ausgibst, oder ist das nicht nur zurechtgedrehtes Geflunker?«1222 Dieser Zweifel, den Wulf Kirsten 1992 im Jahrbuch der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung formuliert, durchzieht seine Autobiographie wie ein roter Faden. Wiederholt hinterfragt er seine Erinnerungen, kommentiert und relativiert sie; der Erzähler äußert Bedenken in Bezug auf den Wahrheitsgehalt seiner Lebensdarstellung und thematisiert (selbst-)kritisch seine eigene Erinnerungsund Erzählweise. Dass dies der Glaubwürdigkeit eines autobiographischen Berichts nicht im Weg stehen muss, sondern sie im Gegenteil unterstreichen kann, hat sich im Verlauf dieser Arbeit bereits gezeigt; im Folgenden soll auch Die Prinzessinnen im Krautgarten. Eine Dorfkindheit im Hinblick auf diesen Aspekt untersucht werden. Der dem Werk inhärente Zweifel an der Zuverlässigkeit der eigenen Erinnerungen und deren Wiedergabe kam in Kapitel 6.1.2. dieser Arbeit bereits zur Sprache. Es hat sich gezeigt, dass Kirsten diese Unwägbarkeiten akzeptiert, sie offen legt und dementsprechend darauf reagiert. Häufig finden sich Aussagen, die unmissverständlich auf seine Gedächtnislücken hinweisen: »Ob sich Mutter an die Gebote des Eintopfsonntags hielt, weiß ich nicht mit Sicherheit zu sagen«.1223 Auch hypothetisierende Formulierungen wie »Vielleicht war ich ex1221 Gerhard R. Kaiser, S. 14. 1222 Wulf Kirsten: o. T. In: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Jahrbuch 1992, Hg. v. d. Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Darmstadt 1993, S. 40. 1223 Kirsten 2000, S. 43.

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trem neugierig. Mag sein«1224 oder »Mir will es rückblickend scheinen, als hätte«1225 deuten auf die abwägende Haltung des Erzählers hin. Darüber hinaus wird der Umgang mit (zweifelhaften) Erinnerungen und ihrer Problematik zuweilen konkret thematisiert und für den Leser nachvollziehbar verhandelt: Aber daß je einer dieser Boten- und Stromergänge als Nervenkitzel, als Angstkiste genossen worden wäre, ist mir nicht erinnerlich. Soll ich mich da meiner Erinnerung anvertrauen? Jetzt, ein Menschenalter später, wenn ich mich diesem doch recht verschwommen aufblinkenden Früh-Ich in wechselnder Begleitung zu nähern versuche, ohne über einen Abstand von etlichen Metern Distanz ›hinüber‹ zu gelangen.1226

Häufig fügt das erzählende Ich Kommentare hinzu, die seine gegenwärtige Sicht beleuchten und gleichzeitig seine wissende, den Verlauf des Geschehens überblickende Position betonen. Erst später verstand ich, all diese grellen Bilder und vorausschauenden Bemerkungen aus der Erinnerung heraufzuziehen und einigermaßen zu ordnen, so daß sich daraus ein sinnvoller Ablauf ergab, der sich in historische Zusammenhänge einordnen ließ.1227

Das erzählende Ich begreift die Zusammenhänge, die dem erzählten Ich noch verborgen bleiben; der kindliche Blickwinkel wird beschrieben, aber nicht eingenommen, sondern um das gegenwärtige Wissen und den Erfahrungsreichtum des Schreibers erweitert. Auch Vermutungen, beispielsweise über Ansichten oder Gefühle des kindlichen Ichs, werden aus der Rückschau geäußert: »Ich werde wohl dieses Kasperletheater höchst albern gefunden haben. Zu freuen vermochte ich mich mit Bestimmtheit nicht«.1228 Für die meisten Kapitel von Die Prinzessinnen im Krautgarten. Eine Dorfkindheit – eine Ausnahme bildet der Abschnitt Winterfreuden – gilt, dass das gegenwärtige Ich als erzählerische Instanz äußerst präsent auftritt und das Geschehen stets kommentiert. Häufig äußert sich das erzählende Ich hinsichtlich geschichtlicher Ereignisse und lässt seine Einschätzung einfließen: »In welche Gefahr unser Haus damals gebracht wurde, hätte man es wirklich noch in die Verteidigungsstellung einbezogen, wie von den Endsiegstrategen beabsichtigt, dämmerte mir auch erst wesentlich später«.1229 Daneben finden sich zahlreiche knappe Bewertungen in Nebensätzen oder Einschüben wie »dank einem puritanischen, kleingläubigen Ökonomismus, dem es an Weitsicht mangelte«1230 oder »Als Fünfjähriger war ich, reichlich verfrüht […], zu Ostern in die zweistufige Volksschule zu Sachs1224 1225 1226 1227 1228 1229 1230

Ebd., S. 164. Ebd., S. 198. Ebd., S. 84. Ebd., S. 149. Ebd., S. 51. Ebd., S. 150. Ebd., S. 29.

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dorf eingeführt worden«.1231 Doch auch das erzählte Ich mit seinen Ängsten, Gefühlen und Vorstellungen wird dabei nicht vernachlässigt; der Horizont des Kindes wird, wie es bereits in Kapitel 6.2. dieser Arbeit geschildert wurde, berücksichtigt. In der folgenden Textpassage lässt sich das ergänzende Zusammenspiel von erzähltem und erzählendem Ich gut erkennen: Mich hielten ungute Gefühle besetzt. Nicht sicher bin ich, ob ich mir die von damals zu eigen mache. Sie gewissermaßen hypothetisch nachstelle, oder ob ich nicht doch bloß die von heute, die ich mir denke, auf jene projiziere, die ich als Schlußlicht und Schandfleck des Fähnleins 21 vor reichlich einem halben Jahrhundert hatte.1232

Noch der letzte Satz der Autobiographie verdeutlicht, dass das Werk von einem um Jahrzehnte entfernt liegenden Erzählzeitpunkt aus gestaltet wird und die Perspektive auf Kindheit und Jugend das Wissen um den späteren Lebensverlauf mit einschließt: »Nie wieder in meinem späteren Leben habe ich derlei Gefräßigkeit an Brot ausgelassen, und nie wieder habe ich Brot als eine solche Kostbarkeit erkannt und genossen«.1233 Martin Straub urteilt: Der Autor bedenkt ja nicht nur, wie er einst als Zehnjähriger seinen Lebensraum entdeckt. Sondern er läßt uns an seiner erneuten Weltentdeckung teilhaben. Das Sympathische an diesem Erzähler ist, daß er keine allwissende Selbstsicherheit vorgibt. Schon eher plagt ihn eine Verunsicherung.1234

Anke Degenkolb beschreibt zu Recht einen Ich-Erzähler, der sich fragend seinem individuellen Gedächtnis annähert und demonstrativ an der Zuverlässigkeit seiner eigenen Aussagen zweifelt. Wahres und Erdachtes verschwimmen aus der zeitlichen Distanz ineinander.1235

Auf Degenkolbs letzte Aussage wird im Laufe dieses Kapitels zurückzukommen sein. Unbestritten ist, dass der Autobiograph Kirsten, der die Eigenheiten der Gattung kennt und sich der Tatsache bewusst ist, dass das erzählende Ich der Autobiographie zugleich Subjekt und Objekt des Schreibens ist1236, nicht ausschließlich überprüfbare Fakten innerhalb seines Lebenslaufs rekapituliert. Vielmehr räumt er seiner gegenwärtigen, persönlichen Sicht auf sein Leben einen großen Stellenwert ein. Er schafft ein Erzählwerk, in dem er unter Berücksichtigung seiner Zweifel und Unsicherheiten darum bemüht ist, sich seiner individuellen Lebenswirklichkeit anzunähern. Dass er dabei nicht nach Voll1231 1232 1233 1234 1235 1236

Ebd., S. 52. Ebd., S. 126. Ebd., S. 237. Straub, S. 177. Degenkolb 2004, »anzuschreiben gegen das schäbige vergessen«, S. 212. Vgl. Mix 2007, S. 113.

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ständigkeit strebt, zeigt die Tatsache, dass er eine bewusste Auswahl aus den zu vermittelnden Informationen trifft und nicht unerhebliche Bereiche seines Lebens ausspart. Bei Die Prinzessinnen im Krautgarten. Eine Dorfkindheit handelt es sich um eine Kindheitsautobiographie, die Kirstens Leben nur bis zum Jahr 1949 beleuchtet und kaum Informationen über das Erwachsenenleben bietet. Doch auch aus Kirstens Kindheit und Jugendzeit werden diverse Aspekte ausgelassen. Zum Beispiel erhält der Leser nur sehr wenige Angaben über Kirstens Familie; seine Eltern werden zwar häufig erwähnt, aber nicht näher charakterisiert. Über ihre Herkunft und ihren Werdegang sind dem Werk nur einzelne Details zu entnehmen. Auch ihre Vornamen bleiben, ebenso wie die der vier Geschwister, unbekannt. Über die Geschwister liest man nur, dass sie jünger sind als der kleine Wulf, selbst ihr Geschlecht wird nicht spezifiziert. Ausschließlich der Großmutter widmet der Erzähler eine genauere Beschreibung, die sich von denen anderer Dorfbewohner aber nicht unterscheidet. Die Aussparung des Familienlebens ist auffällig und kann zunächst erstaunen, da dieses der zentrale Lebensbereich eines Kindes oder Jugendlichen ist. Doch der Verfasser eines autobiographischen Berichts ist stets gezwungen, aus den Fakten und dem Erlebnisreichtum seiner Vergangenheit auszuwählen und Schwerpunkte zu setzen. Kirsten rückt den soziokulturellen Kontext seiner Kindheit und Jugend, also seine dörfliche Umgebung und den Alltag des Landlebens während der 1940er Jahre ins Zentrum seiner Ausführungen, was im nächsten Kapitel eingehend beleuchtet werden soll. »Arroganz und Selbstinszenierung sind Wulf Kirsten fremd. Der […] Autor wirkt bescheiden und zurückhaltend«.1237 Tatsächlich können dem Autobiographen Bescheidenheit und Dezenz zugesprochen werden; innerhalb des gesamten Werkes findet sich keine Form der Selbststilisierung. Auch wenn Kirsten dies nicht explizit zur Sprache bringt, wird sein Bemühen um Aufrichtigkeit offensichtlich. In seinem Essay Landschaft als literarischer Text. Ein Eingrenzungsversuch formuliert er : Der väterliche Malerfreund Curt Querner und Thomas Bernhard haben mich gelehrt, man kann nur offen sein, wenn man sich zur Wehr setzt und abgrenzt gegen alles, was einem literarisch wie ethisch fundierten Glaubwürdigkeitsanspruch zuwiderläuft.1238

Kirstens Streben nach Glaubwürdigkeit und Wahrhaftigkeit durchzieht sein gesamtes lyrisches Werk wie auch seine Prosa. Dabei stellt er sich immer wieder die Frage, wie authentisch die literarische Darstellung des Biographischen sein kann: 1237 »Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies. Im Gespräch mit dem Lyriker und Erzähler Wulf Kirsten«, Wulf Kirsten im Gespräch mit Ulf Heise, S. 91. 1238 Kirsten 2004, Landschaft als literarischer Text, S. 56.

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Es fällt mir zunehmend schwerer, die mit Daten und Taten behangene Ichwelt vor mir selbst glaubhaft zu machen, weil gerade jene frühe Wirklichkeit, die mich geprägt hat, für alle Zeiten abgelebt und untergegangen ist. Was ich davon in meiner Sprache heraufzuholen suche, ist, an der Gegenwart gemessen, so unvorstellbar und fremd geworden, daß es leicht ins Märchenhafte gerückt werden kann. Je schärfer konturiert die Kindheitsbilder aufscheinen, um so stärker werden meine Zweifel an ihrer Echtheit, am Authentischen, auf das ich […] doch gerade aus bin. Aber sobald ich zu schreiben beginne, entzieht sich Erinnerung auf seltsame Weise.1239

Diese Zweifel an der Übereinstimmung eigener Erinnerung mit der Realität und der Möglichkeit adäquater Vermittlung von Lebenstatsachen erscheinen zunächst schwerwiegend und stellen jegliches autobiographische Projekt in Frage. Doch letztlich wird die Authentizität eines Lebensberichts durch solche gedankliche Arbeit erhöht. Der Autor fährt fort: Es entsteht, wie kunstvoll oder kunstlos auch immer, eine durch Sprache geformte und damit ja doch wohl bereits verformte andere, mindestens zweite Wirklichkeit – eine Biographie aus einem anderen Material, das allein durch die Möglichkeiten und Zwänge zu Verkürzungen, Verschneidungen und Zuspitzungen, zu Ausschnitt-Techniken unweigerlich zu Fiktionen führt, die in der Sprache selbst als Mittel zum Zweck liegen. Kein einziger Satz scheint ohne die Hilfestellung fiktiver Elemente auszukommen.1240

Kirstens Benutzung des Terminus ›Fiktion‹ kam in Kapitel 6.3. dieser Arbeit hinsichtlich einer anderen Textstelle bereits zur Sprache und konnte relativiert werden. Auch in der eben zitierten Passage ist letztlich nicht von Fiktionalität als Gegenentwurf zur Realität die Rede; vielmehr spricht Kirsten hier von der autobiographiespezifischen Ausprägung der Dichtung. Gemeint ist, dass der Erzähler verschiedene Ereignisse künstlich in einen Zusammenhang stellt und ihnen nachträglich eine Bedeutung verleiht, dass er verständliche und gut lesbare Textpassagen verfasst sowie im Erzähltext seine individuelle Vergangenheit rekonstruiert. Diese kann im Detail durchaus von der Realität abweichen, jedoch nicht, weil der Autobiograph bewusst Angaben erfinden oder verfälschen oder sich selbst stilisieren würde, sondern weil er bereit ist, seinem Leben in der Autobiographie eine neue Form zu verleihen, es zu ästhetisieren. Im Fall von Erinnerungslücken und Unsicherheiten ist der Erzähler gefragt, entsprechend zu ergänzen, zu kommentieren und zu interpretieren, um seinen Lesern dennoch einen schlüssigen Bericht bieten zu können. Wulf Kirsten ist sich dieses Sachverhalts bewusst; er setzt Dichtung gezielt ein, »um das Wahre noch

1239 Kirsten 1993, o. T., Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Jahrbuch 1992, S. 40f. Vgl. auch Ertl 2007, S. 367. 1240 Kirsten 1993, o. T., Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Jahrbuch 1992, S. 41.

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wahrscheinlicher und einleuchtender zu machen«1241: Er beschreibt beispielsweise eine Szene, in der seine Großmutter während der alltäglichen Prozedur des Wäschewaschens plötzlich mit einem Messer auf Kirstens Mutter, ihre Schwiegertochter, losgeht. Der kleine Wulf ist zu dieser Zeit erst sechs oder sieben Jahre alt und kennt Anlass und Hintergründe dieses Vorfalls nicht, zudem kann Kirsten sich später nicht an alle Einzelheiten erinnern. Dementsprechend fehlen dem erzählenden Ich wesentliche Informationen und es kommentiert: »Ausgerechnet dieses Bild, das der Rekonstruktion bedarf, um zu einem faßbaren Kontext zu kommen, ist mir als Lebensausschnitt nachgelaufen«.1242 Da dieses Erlebnis tiefen Eindruck bei dem Kind hinterlassen hat, so dass der Erwachsene sich noch Jahrzehnte später daran erinnert, ist es folgerichtig, es in der Autobiographie zu erwähnen. Die Wissenslücken, die der Vollständigkeit und Schlüssigkeit hier entgegenstehen, müssen also aufgefüllt werden – Kirsten rekonstruiert das Ereignis aus der Rückschau nach bestem Wissen und Gewissen ohne Sicherheit in Bezug auf Detailfragen und setzt den Leser darüber in Kenntnis. Die Passage ist mit zahlreichen Erzählerkommentaren beziehungsweise Fragen durchsetzt: Einmal erlebte ich bei dieser unvermeidlichen Prozedur einen Zwischenfall. Ob ein Wutanfall in sie eingeschossen sein mochte aus einer Nichtigkeit heraus oder ob sie tatsächlich, wie behauptet wurde, nicht mehr ganz richtig im Oberstübchen war? […] Ich weiß auch nicht, ob jemand aus der Nachbarschaft dazwischenging, ob Mutter die Flucht vom Hof gelang oder wie sonst Großmutter von ihrem Vorsatz abkam. Jedenfalls blieb Mutter unverletzt, äußerlich. In meinem Erinnerungsspeicher ist nur das Bild eines Wettlaufs gespeichert: Zwei um die Waschwanne rennende Frauen.1243

Auch in weniger bedeutenden Zusammenhängen gewährt der Erzähler Einblick in seine Vorgehensweise: So einfach und aussagekräftig hätte die Geschichte auch beginnen können. Ganz ohne Vorhof und Anlauf. Aber da meine Sorge vornehmlich jenen Lesern gilt, die sich mit Roggen und im Kornfeld nicht so gut auskennen, meinte ich ein bißchen ausholen zu müssen. Grundierung kann nicht schaden. Sie setzt ins Bild.1244

Wulf Kirsten ist um die Darstellung des ländlichen Alltags, wie er ihn als Kind erlebte, bemüht und erachtet daher Detailinformationen, wie zu Getreidesorten, als erwähnenswert. Hier wird deutlich, dass die konkrete (künstlerische) Gestaltung eines Lebensberichts ausschließlich dem Autobiographen unterliegt. Seine Erzählweise, die Chronologie, die Auswahl und nicht zuletzt die Bedeutung, die er einzelnen Ereignissen in seinem Leben im Nachhinein verleiht, 1241 1242 1243 1244

Kirsten 2004, Nachtfahrt, S. 41. Kirsten 2000, S. 19. Ebd., S. 18f. Ebd., S. 85.

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unterliegen seiner Entscheidung gemäß seinen persönlichen Vorlieben sowie seiner Dichtkunst. Die Lebenstatsachen, auf die er dabei rekurriert, bilden lediglich die Basis, von der aus frei gestaltet werden kann. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Kirstens erzählerische Umsetzung von historischen und lebensgeschichtlichen Tatsachen verändert diese naturgemäß, nur eben nicht durch bewusstes Verfälschen oder Hinzuerfinden. Vielmehr ist es der Aspekt der Dichtung, der hier eine neue Lebenswirklichkeit hervorbringt, indem die Ereignisse der Vergangenheit in einen neuen Zusammenhang gestellt und in eine neue Form gebracht werden. Von einem Gegenentwurf zur Realität kann nicht die Rede sein; der Fiktionsbegriff ist zur Beschreibung dieses Sachverhaltes unangebracht. Auch Anke Degenkolb argumentiert: [I]m Prosawerk Wulf Kirstens findet das Erinnern mit dem ausgeprägten Anspruch von Authentizität statt. Wie in der Lyrik will der Dichter ›finden, nicht erfinden‹. Fiktionale Texte im Sinne einer gänzlich ›erdachten Welt‹ gibt es bei Kirsten nicht.1245

Wenn Kirsten kritisch von einer durch Sprache geformten, zweiten Wirklichkeit1246 spricht, beschreibt er damit implizit die Grundspannung seiner Autobiographie – ihre Positionierung zwischen Wahrheit und Dichtung. Häufig bemüht der Autor den Terminus ›Wahrheit‹, um Sinn und Ziel seiner literarischen Arbeit zu umreißen. So ist er beispielsweise der Überzeugung: »Wahrheit schlägt allemal in Literatur um, wenn sie erlittene, erfahrene Wahrheit ist«.1247 Über Annette von Droste-Hülshoff schreibt er lobend: »Was ich, wie auch andere Lyriker der DDR, an der Droste beispielgebend fand und finde, sind Wahrheit und Genauigkeit, eine Genauigkeit, die auf Wahrheit setzt. Wir konnten solche Vorbilder dringend brauchen«.1248 Der gewissenhafte Umgang mit den Erinnerungen an vergangene Erlebnisse und Erfahrungen ist Voraussetzung seiner zum Ziel erhobenen ›Wahrheitsfindung‹, zu der für Kirsten auch sprachkritisches Denken und der stets bedächtige Einsatz von Sprache gehören.1249 Insbesondere im Hinblick auf die Beurteilung seines Lebensberichts ist die folgende These aus Kirstens Feder interessant: »[S]o wie es das Gedicht nicht gibt, kann es auch die Wahrheit an sich nicht geben, der Schriftsteller kann nur seine persönliche Wahrheit als Beitrag einbringen«.1250 Auch wenn der Autor 1245 Degenkolb 2004, »anzuschreiben gegen das schäbige vergessen«, S. 211. 1246 Vgl. oben, S. 287. 1247 Wulf Kirsten: »Herbst 1989. Tagebuchnotizen«. In: ders.: Gegenbilder des Zeitgeists. Thüringische Reminiszenzen, Weimar 2009, S. 20. 1248 Wulf Kirsten: »Annette von Droste-Hülshoffs Heidebilder – eine säkulare Vorgabe«. In: »Zu früh, zu früh geboren … ». Die Modernität der Annette von Droste-Hülshoff, Hg. v. Monika Salmen u. Winfried Woesler, Düsseldorf 2008, S. 95. 1249 Vgl. Kirsten 2009, Der Himmel über uns, S. VIII. 1250 Kirsten 2001, Dankrede zur Verleihung des Kaschnitz-Preises, S. 23.

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sich hier nicht explizit auf die Gattung der Autobiographie, sondern auf das Werk eines Schriftstellers im Allgemeinen bezieht, spricht er einen wesentlichen Aspekt innerhalb der Autobiographietheorie an: Jedes Zeugnis eines Menschen, das dieser über sein individuell gelebtes Leben abgibt, kann immer nur subjektiv und zeitbezogen sein; die Analyse und Beurteilung eines autobiographischen Werkes muss daher immer den Schreiber in seiner gegenwärtigen Situation berücksichtigen. Dennoch plagen Kirsten bei der Abfassung seines Lebensberichts Zweifel an der Übereinstimmung des Geschilderten mit der Realität – während er seine Kindheitsbilder heraufbeschwört und dem Leser in literarisch gestalteter Form präsentiert, gilt sein Augenmerk immer auch der Glaubwürdigkeit und Authentizität seines Berichts. Bereits viele Jahre vor der Abfassung seiner Autobiographie formuliert er in Bezug auf seine Werke: In meinem Kopf tummelt sich kunterbunt eine Überfülle abgelegter, dreimal gewendeter Lebensfetzen, die im Sieb hängengeblieben sind. Aus diesem etwas krausen Erlebnisfundus, der sich jeder archivalischen Ordnung entzieht, der sich unablässig umschichtet und aufs neue mischt, sind die meisten meiner Aufzeichnungen und Gedichte entstanden. Eine Erinnerung redet der andern hinein. Wie soll aus einem solchen Konglomerat das Authentische in Reinkultur abgezogen werden?1251

Hinsichtlich seiner Autobiographie ist diese Frage leicht zu beantworten, denn hier entsteht das Authentische aus dem Zusammenspiel von Wahrheit und Dichtung: Ungeachtet Kirstens Aufrichtigkeit und seines Bemühens um Realitätsnähe erschafft er in seiner Autobiographie durch den Vorgang des Erzählens eine neue Vergangenheit. Was in einer Autobiographie also erreicht werden kann, ist eine gattungsspezifische Ausprägung der Wahrheit, eine ›höhere‹ oder auch ›ästhetische Wahrheit‹, welche in dieser Arbeit mit dem Terminus der ›subjektiven Authentizität‹ benannt wurde. York-Gothart Mix urteilt in Bezug auf Kirstens Werk: Die Literarisierung dichterischer Introspektion und Ichkonstituierung hängen für Kirsten zusammen, auch das Problem der Ästhetisierung der eigenen Existenz. De facto sind seine Erfahrungen alles andere als singulär, sondern können den Rang repräsentativer Subjektivität beanspruchen.1252

Wulf Kirsten hat mit Die Prinzessinnen im Krautgarten. Eine Dorfkindheit seine Kindheit und Jugend aus seinem subjektiven Blickwinkel heraus erzählt und damit seiner persönlichen Vergangenheit eine neue Form verliehen. Sicherlich sind ihm dabei Fehler unterlaufen, er musste seine Erinnerungen relativieren oder korrigieren, an zahlreiche Details kann er sich gar nicht mehr erinnern, andere bleiben absichtlich unerwähnt. Seine Zweifel und Unsicherheiten legt er 1251 Kirsten 1993, o. T., Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Jahrbuch 1992, S. 41. 1252 Mix 2007, S. 113.

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dem Leser dabei stets offen. Wie sich gezeigt hat, handelt es sich bei Kirstens autobiographischem Werk nicht um eine reine Aufzählung gesicherter Fakten aus seiner Vergangenheit; der Erzähler ergänzt, interpretiert und setzt bewusst Dichtung ein, um einen schlüssigen und ästhetisch hochwertigen Bericht komponieren zu können. In seinem Bemühen um Glaubwürdigkeit und Authentizität gelingt es Wulf Kirsten, sich seiner individuellen Lebenswahrheit anzunähern: Er schafft ein Erzählwerk, das Aufschluss über die persönliche Beurteilung seines Lebens in der Schreibgegenwart gibt – seine Autobiographie erfüllt somit den gattungseigenen Anspruch subjektiver Authentizität.

6.5. Kirstens Kindheit – Kirstens Klipphausen: Identitätssuche im soziokulturellen Kontext Als ein wesentliches Ziel jedes autobiographischen Lebensberichts werden innerhalb der Gattungstheorie die Herstellung eines Lebenszusammenhangs, Selbsterkenntnis, Selbstdarstellung und Identitätssuche beschrieben.1253 Auch in Wulf Kirstens Fall prägen diese Aspekte das autobiographische Werk spürbar, allerdings wählt der Autor hier einen ausgefallenen Weg, sich seinem früheren Ich anzunähern. Während Identität gemeinhin vornehmlich durch Reflexion über das eigene Selbst gesichert oder hervorgebracht wird, orientiert Kirsten sich sehr stark an seinem Umfeld: Wie in seiner Lyrik geht es ihm darum, nicht nur die eigene, sondern auch fremde Biographien zu ergründen und insbesondere über die Auseinandersetzung mit abweichenden Lebensentwürfen die Entwicklung und Wesensart des eigenen Ichs zu erkunden. Es kam bereits zur Sprache, dass es sich bei Die Prinzessinnen im Krautgarten. Eine Dorfkindheit um eine Kindheitsautobiographie handelt; Kirstens Entwicklung ab dem 16. Lebensjahr, sein (Schriftsteller-)Leben in der DDR und nach 1989 bleiben ausgespart. Auch der eigentümliche Umgang mit Informationen über Familienmitglieder wurde im Abschnitt 6.4. dieser Arbeit erwähnt – Kirstens Identitätssuche findet nicht im Familienkontext statt. Das Eingangskapitel Der Hof kündigt die Schwerpunkte des autobiographischen Werkes an: Der Fokus der Erzählung liegt zunächst auf der (räumlichen) Umgebung des Kindes, sein tagtäglicher Radius wird nachvollzogen. Dieser bleibt in den ersten Lebensjahren weitestgehend auf das Dorf Klipphausen beschränkt; Sebastian Kiefer spricht zu Recht von einer »Kindheit im engsten Kreis, ohne Ahnung vom Rest der Welt«.1254 Neben dem Wohnhaus mit dem dazugehörigen Hof, den 1253 Vgl. Kapitel 2.2.5. dieser Arbeit. 1254 Kiefer 2001, S. 205.

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Dorfstraßen und den als bedeutsam erachteten Häusern werden die umliegenden Felder, Berge, Wege und Flüsse detailliert beschrieben: Unser Hof war nur ein halbwegs eben gemachter Gang vor der Längsseite des Hauses von allenfalls doppelter Breite einer Heiste. Eingezwängt zwischen Garten und Schuppen, der nur ein Schauer war. Dieser bescheidene Anbau war im rechten Winkel ans Haus gesetzt worden. […] Hinter dem auf einer teils meter-, teils mannshohen Trockenmauer stehenden Lattenzaun, der so lawede geworden war, daß er längst einer Erneuerung bedurft hätte, fiel der Berg sogleich ab bis in den Talgrund, aus dem das geschwätzige Gemurmel des Baches heraufdrang […]. Der mit Apfel- und Birnbäumen geschmückte Wiesenhang, auf den sich zwei Eichen und eine Salweide selbsttätig eingeschmuggelt hatten, gehörte zur Rittermühle und wurde als Futterfläche genutzt. […] Im Mai schäumte die Berglehne zu einem einzigen weißen Blütenmeer auf.1255

Weiterhin widmet sich der Erzähler den Individuen und Ereignissen, die den Dorfalltag prägen und das erzählte Ich auf verschiedene Weise beeindrucken. Die nachvollzogenen Lebensläufe der Dorfbewohner fallen in der Regel ausführlicher aus als die Informationen über die engsten Verwandten Wulf Kirstens. Die Kriegs- und Nachkriegserfahrungen, die in Die Prinzessinnen im Krautgarten. Eine Dorfkindheit aufgearbeitet werden und ein zentrales Thema der Erzählung ausmachen, finden ebenfalls schon im ersten Kapitel Erwähnung: »Als die Rote Armee, die Russen, wie es nur hieß, in unser Dorf einmarschiert, eingerollt, eingeritten war, quartierte sich für einige Tage ein Stab in unserem Hause ein«.1256 Das frühere Selbst wird eher en passant beleuchtet; zwar werden zahlreiche Details über Wesen und Gewohnheiten des erzählten Ichs vermittelt, dennoch bildet es selten den Schwerpunkt des Berichteten. Es tritt vielmehr in der Beobachterrolle auf, von dieser aus skizziert es den Dorfalltag. Rückblickend nimmt Kirsten sich als Außenseiter im Dorf wahr : Seit einigen Jahren denke ich unablässig über meine Außenseiterrolle nach. Was mich ausgrenzte, war vor allem meine Linkshändigkeit. Die galt als großer Makel in einem bäuerlich-handwerklichen Haushalt. Außerdem habe ich zuviel gelesen, so daß man sich für mich schämte. […] Die Außenseiterrolle befähigte mich, schärfer hinzusehen. Man stand immer etwas neben den Dingen. Doch ich will das Ganze nicht zu sehr stilisieren, denn es gab auch Erlebnisse der Gemeinsamkeit mit der Dorfjugend.1257

Der Autobiograph führt seine geschärfte Wahrnehmungsfähigkeit in Bezug auf das dörfliche Umfeld also auf sein früheres Außenseitertum zurück. Auch sein Erwachsenenleben, insbesondere in der DDR, zeichnet sich durch Fremdheit, 1255 Kirsten 2000, S. 5ff. 1256 Ebd., S. 46. 1257 »Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies. Im Gespräch mit dem Lyriker und Erzähler Wulf Kirsten«, Wulf Kirsten im Gespräch mit Ulf Heise, S. 93.

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Befremdung und ein Gefühl der Nichtzugehörigkeit aus.1258 Was er im Jahr 2008 über Annette von Droste-Hülshoff schreibt, trifft ebenso auf ihn selbst zu: Aber aus einer Außenseiterposition sah sie sich, sah sie ihr soziales Umfeld, über das sie entschieden hinauszudenken vermochte. Sie sah eben auch Landschaft in ihren natürlichen Strukturen wie in ihrem sozial determinierten Lebensraum.1259

Kirstens Lebensbericht ist deutlich geprägt von »seiner oft bekundeten Sympathie für Randgänger, Unzeitgemäße, Abseitige«.1260 Auch Wolfgang Ertl weist treffend darauf hin, dass es häufig die gesellschaftlichen Randgänger sind, deren Schicksal den Autor beschäftigt, sowohl in seiner Lyrik als auch in seiner (Erinnerungs-)Prosa.1261 Kirstens Großmutter väterlicherseits, deren Lebenslauf ausführlich nachvollzogen wird, kam im Dorf eine Außenseiterrolle zu; dem Gemeindearbeiter Oswin aus dem Armenhaus widmet der Autor ein Gedicht und eine detaillierte Darstellung in seiner Autobiographie. Die Sprache dieser Menschen, das wurde im Verlauf des Kapitels 6. bereits deutlich, ist Kirsten ebenfalls des Öfteren der Thematisierung wert. Bei St8phane Michaud ist von einer »identitätsstiftenden Sprache« die Rede, die der Dichter Entfremdungserfahrungen und »Lug- und Trugbildern«1262 der Geschichte als Ideal entgegensetze. Solch eine Sprache vermag Kirsten in der Mundart seines Dorfes, mit der er sich während seines Studiums intensiv auseinandersetzt, ebenso zu erkennen. Auch Martin Straub verhandelt in seiner Analyse des autobiographischen Werkes die »schmerzlichen Erfahrungen eines Anders-Seins und AußenseiterDaseins«1263, die Kirsten schon im Kindesalter machen musste. Der Literaturwissenschaftler erkennt in der Gnadenlosigkeit der dörflichen Gemeinschaft und ihrer Lust am Ausgrenzen ebenfalls eine mögliche Ursache für Kirstens Fähigkeit der »unerbittlichen Beobachtung und Schärfe der Wahrnehmung«.1264 Mit zwei Erzählspuren schlage der Erzähler die Brücke zur Gegenwart und versuche zu erkennen, wie sich innere Dispositionen gründen und ausprägen.1265 Ohne die Termini zu benutzen, beschreibt Straub hier das Zusammenspiel von erzähltem und erzählendem Ich. In einer Autobiographie, die das Leben des 1258 Vgl. »Welt, Poesie und Sprache(n) im Gedicht. Ein Interview«, Wulf Kirsten im Gespräch mit Jan Röhnert, S. 200 u. »Deutsch denken, deutsch dichten. Edoardo Costadura im Gespräch mit Wulf Kirsten«. In: Palmbaum. Literarisches Journal aus Thüringen 5 (1997), H. 3, S. 27. 1259 Kirsten 2008, S. 83. 1260 Kiefer 2001, S. 210. 1261 Vgl. Ertl 2007, S. 365. 1262 Michaud 2008, S. 368. 1263 Straub, S. 178. 1264 Ebd., S. 179. 1265 Vgl. ebd., S. 178.

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Schreibers bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt rekapituliert, verschmelzen diese beiden Instanzen am Ende des Werkes, wodurch Identität erzeugt werden kann.1266 Zwar wird Kirstens erzähltes Ich nur bis zum Lebensalter von 15 Jahren beschrieben, dennoch ermöglicht es der Wechsel zwischen den verschiedenen Zeitebenen und Blickwinkeln innerhalb der Darstellung dem Autobiographen, sich seiner persönlichen Lebensauffassung anzunähern und sich somit seiner Identität zu vergewissern beziehungsweise diese deutend hervorzubringen. Dass das erzählende Ich zuweilen eine distanzierte Haltung gegenüber dem früheren Ich einnimmt, sich schämt und sich von ihm abgrenzt, kann die identitätsstiftende Komponente ihres Zusammenspiels nicht gefährden. In seiner Dankrede für den Elisabeth-Langgässer-Literaturpreis (1994) formuliert Wulf Kirsten: Es fällt schwer, mir allen Ernstes zu glauben, jener Sechzehn-, Siebzehnjährige, der seine Lehrlingsfeierabende voller spannungsgeladener Erwartungen im Lesesaal der Stadtbücherei zu Meißen verbrachte, sei tatsächlich ich selbst gewesen. Jedenfalls handelt es sich da um ein ganz anderes Ichselbst, das jenem von heute so wenig ähnlich ist, daß es sich darin kaum noch zu erkennen vermag.1267

Eine erhebliche Zeitspanne und zahlreiche Entwicklungsstufen, geprägt von verschiedenen Erlebnissen und Erfahrungen sowie von den jeweiligen Lebensumständen, liegen zwischen erzähltem und erzählendem Ich, so dass eine gewisse Distanz zwischen ihnen nicht erstaunlich oder problematisch ist. Vielmehr hat der gegenwärtige Erzähler die Gelegenheit, frühere Fehler und Irrtümer im Nachhinein zu erkennen, zu ergründen, zu erklären oder zu relativieren, sich von diesen zu distanzieren und so seine Vergangenheit aufzuarbeiten. Wulf Kirsten nutzt diese Möglichkeiten in seiner Autobiographie1268 ; auch in der zuvor erwähnten Dankrede liefert er ein Beispiel für den distanzierten und dennoch identitätsstiftenden Umgang mit dem früheren Selbst: »Noch im April 1945 grölte eine Horde zehn- bis vierzehnjähriger Hitlerjungen, uniformiert, ein frühes Ich von mir unter ihnen, blutrünstig antisemitische und antibolschewistische Lieder«.1269 Laut Wolfgang Trampe begleitet der Aspekt der Selbstreflexion die Dichtung Wulf Kirstens seit den Anfängen.1270 York-Gothart Mix urteilt: »Im Rekurs auf das Detail und durch den Verzicht auf den synthetisierenden Entwurf wird für Kirsten die Differenz von Selbstreflexion, Selbsttäuschung oder egozentrischer 1266 Vgl. oben, S. 93. 1267 Wulf Kirsten: »›Der euch geworfelt hat‹. Dankrede für den Elisabeth-Langgässer-Literaturpreis 1994«. In: ders.: Textur. Reden und Aufsätze, Zürich 1998, S. 16. 1268 Vgl. z. B. Kirsten 2000, S. 42f., 55, 236f. 1269 Kirsten 1998, Dankrede für den Elisabeth-Langgässer-Literaturpreis, S. 29. 1270 Vgl. Trampe, S. 134.

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Selbststilisierung markiert«.1271 Der Autor selbst äußert in Bezug auf sein lyrisches Schaffen: Sein Thema finden heißt zu sich selbst finden. Dieser Prozeß der Suche schließt die verschiedensten Stationen ein, geht über Entwicklungsstadien, in denen sich die Einflüsse, mehr oder weniger eingeschmolzen, widerspiegeln. Zu den Einflüssen gehören neben bewußt gewählten, anfangs häufig wechselnden Vorbildern vor allem auch viele unbewußte punktuelle Übernahmen aus dem Fundus der Literatur […]. Dieser Vorgang vollzieht sich nicht nur auf ästhetischer Ebene, vielmehr schließt das Sichfinden in der literarischen Realität die ständige Auseinandersetzung zwischen dem lyrischen Ich und der Zeit ein. Erst die aus solchen Erkenntnissen gezogene Konsequenz, die Identifizierung mit der Gegenwart und mit dem Lande, in dem ich aufwuchs und lebe, ermöglichte es, das Thema zu finden und zu artikulieren.1272

Identität kann, wie in Kapitel 2.2.5. beschrieben, als eine auf die Gegenwart ebenso wie auf die Vergangenheit bezogene soziale Konstruktion aufgefasst werden. Volker Depkat beschreibt Identität als Grundlage der Integration des einzelnen in größere Gruppen sowie eines sinnvollen Handelns in der Gesellschaft.1273 Dazu passt Wulf Kirstens Auffassung: »Ichgewinn wird Weltgewinn nach sich ziehen«.1274 Aus seiner Außenseiterposition heraus, mit Hilfe der intensiven Beobachtung und Wertschätzung der Dorfwelt, aus der er stammt, ergründet Kirsten das eigene Selbst, seinen Zugang zur Welt und seine Positionierung innerhalb der Gesellschaft. Die Suche nach persönlicher Identität ist für ihn eng mit der Entdeckung der Heimat verbunden. Auch in diesem Zusammenhang beschreibt Kirsten einen Schriftstellerkollegen, und zwar den aus Dresden stammenden Thomas Rosenlöcher, mit Worten, die gleichfalls den Autobiographen selbst charakterisieren: »Indem er den Grund, auf dem er stand, lag, saß, ging, ausgeforscht hatte, war er auch zu sich selbst gelangt, hatte erfahren, wer er eigentlich ist, was in ihm steckt an Möglichkeiten kreativer Modulation«.1275 Heimat und Identität bedingen sich für Wulf Kirsten wechselseitig. Zu dem Aspekt der Identitätsfindung äußert er dementsprechend in seiner Dankrede zur Verleihung des Literaturpreises der Konrad-AdenauerStiftung (2005): Was aber mit dem Großteil der Bevölkerung, deren Heimatverständnis, deren Bindung ans geistige Lokalklima für ein ursächliches Weltverständnis unabdingbar ist? Ihre Bindung ist doch wohl ebenso berechtigter Ausdruck elementarer Lebensäußerung, die Sicherheit, Geborgenheit, Zugehörigkeit, Freiheit und andere existentiell grundle1271 1272 1273 1274 1275

Mix 2007, S. 113. Kirsten 1998, Entwurf einer Landschaft, S. 58f. Vgl. oben, S. 92. Kirsten 2009, Brückengang, S. 73f. Wulf Kirsten: »Staat und Rose. Laudatio auf Thomas Rosenlöcher«. In: ders.: Textur. Reden und Aufsätze, Zürich 1998, S. 120.

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gende, stabilisierende Kategorien einschließt, die den sozialen Grund bilden. Von diesem Grund aus wird Welt geortet.1276

Kirsten verlässt seinen Geburtsort zwischen Meißen und Dresden 1957, zunächst um in Leipzig Deutsch und Russisch zu studieren. Mitte der 1960er Jahre tritt er eine Anstellung als Lektor im Aufbau-Verlag an; von nun an lebt und arbeitet er in Weimar. Doch ungeachtet der räumlichen Distanz bleibt die enge Bindung an seine Heimat, mit der er weiterhin Sicherheit, Geborgenheit und Freiheit verbindet und die den thematischen Ausgangspunkt seines (lyrischen) Schaffens bildet, bestehen. Für Anne-Marie PailhHs fasst der Autor sein Konzept, seine persönliche Identität mit seiner Herkunftslandschaft in Verbindung zu setzen, in einer Gedichtzeile prägnant zusammen1277: »ich – auf der erde bei Meißen«.1278 Wolfgang Ertl konstatiert: Die Zuwendung zum Lokalen, d. h. die genaue Erkundung der Kindheitslandschaft, ist dem Dichter Voraussetzung für Selbstfindung und Zugang zur Welt in ihrer soziokulturellen und historischen Dimension. Kirsten betont auch immer wieder die biographische Grundlage seines dichterischen Werkes.1279

Kirstens Identitätssuche bewegt sich vorrangig im soziokulturellen Kontext. Seine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und dem früheren Selbst betrifft immer auch seine Umgebung und die Menschen, die seine alltägliche Lebenswelt prägen. Ich sehe mich als einen, der für andere mitsprechen könnte, die dazu selbst nicht in der Lage sind, aus welchen Gründen auch immer. […] Ich kann mir nicht vorstellen, daß man als Schriftsteller nicht wissen will, wer man wirklich ist, was in einem drinsteckt. […] Ich bildete mir ein, mich am deutlichsten in einer Landschaft und ihrem sozialen Milieu zu finden, also kennenzulernen.1280

Über seine Identitätssuche hinaus eröffnet der Autor mit seinem Lebensbericht auch ein Identifikationsangebot: Er arbeitet die eigenen Erlebnisse während des Zweiten Weltkriegs und den ersten Nachkriegsjahren auf und gewährt Einblick in seine zum Teil schmerzvollen Erfahrungen. Leser, die Kirstens Generation angehören und die Kriegsjahre ebenfalls als Kinder miterleben mussten, können 1276 Kirsten 2005, Dankrede, S. 22. 1277 Vgl. Anne-Marie PailhHs: »Kontinuität und Identitätsbrüche in Wulf Kirstens Lyrik«. In: Vom Gedicht zum Zyklus. Vom Zyklus zum Werk. Strategien der Kontinuität in der modernen und zeitgenössischen Lyrik, Hg. v. Jacques Lajarrige, Innsbruck, Wien, München 2000, S. 325. 1278 Wulf Kirsten: »die erde bei Meißen«. In: ders.: die erde bei Meißen. gedichte, Leipzig 1986, S. 9. 1279 Ertl 2007, S. 366. 1280 »Gespräch mit Wulf Kirsten«, Wulf Kirsten im Gespräch mit Katharina Festner und YorkGothart Mix, S. 92.

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hier unter Umständen eigene Lebens- und Geschichtserfahrungen wiederfinden.1281 So kann das Werk ihnen helfen, sich zu erinnern, sich mit ihrer persönlichen Vergangenheit auseinanderzusetzen und diesen Abschnitt ihres Lebens aufzuarbeiten. Ulf Heise lobt die feine Strichführung, mit der Kirsten die eigene Außenseiterrolle nachzeichne und bescheinigt ihm psychologische Sensibilität. Verschiedene Passagen der Autobiographie bezeichnet er als »Kleinodien«.1282 Es gelingt Wulf Kirsten, die dörfliche Lebenswelt seiner Kindheit zu skizzieren, Alltag, Sprache und Lebensauffassung seines soziokulturellen Umfelds zu veranschaulichen und dabei auch das Wesen des kindlichen Ichs, sein früheres Selbst in seinen Gewohnheiten und Eigenarten zu beleuchten. Indem der Autobiograph sein erzähltes Ich als Außenseiter und Beobachter der dörflichen Gemeinschaft auftreten lässt und ihr tägliches Leben in Kriegs- und Nachkriegsjahren nachvollzieht, nähert er sich gleichfalls seiner individuellen Vergangenheit und persönlichen Lebenswirklichkeit an. Die Untersuchungen in Kapitel 6. haben gezeigt, dass der Autobiograph Wulf Kirsten sich seine Erinnerungen an seine Kindheit in den 1930er und 1940er Jahren vergegenwärtigt, sie reflektiert und relativiert, um den Alltag in seiner ländlichen Heimat ebenso zu schildern wie die historischen Ereignisse, die das Leben des Kindes und seines dörflichen Umfelds stark beeinflussen. Er komponiert ein literarästhetisches Kunstwerk, das darüber hinaus Aufschluss über das kindliche Ich des Autors gibt und für ihn selbst identitätsstiftend wirkt, da es ihm ermöglicht, sich seiner eigenen Person und seiner individuellen Lebenswirklichkeit anzunähern. Durch die Abwesenheit jeglicher Selbststilisierung und -überhöhung, durch das stets gegenwärtige Streben nach Aufrichtigkeit und Glaubwürdigkeit sowie die explizit artikulierten Zweifel an der Verlässlichkeit der eigenen Erinnerungen kann gleichfalls der gattungseigene Anspruch der subjektiven Authentizität als erfüllt angesehen werden.

1281 Vgl. Depkat, S. 467f. 1282 Heise 2000, S. 2.

7.

»Ich wer ist das« – Heiner Müllers Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen

7.1. Erste Einblicke in die sonst sorgsam abgeschottete Privatsphäre: Die autobiographisch grundierten Texte Bericht vom Grossvater, Der Vater und Todesanzeige Nachdem nähere Informationen über Herkunft und Privatleben des 1929 in Eppendorf (Sachsen) geborenen Dramatikers und Schriftstellers Heiner Müller der Öffentlichkeit über Jahrzehnte verborgen bleiben1283, legt dieser im Jahr 1992 seine Autobiographie mit dem Titel Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen vor. Doch auch in diesem Lebensbericht gibt er seinen Lesern vergleichsweise wenig Auskunft über Persönliches, sondern stellt, charakteristisch für die Gesamtheit seiner künstlerischen Laufbahn, stets sein kreatives Schaffen beziehungsweise sein dramatisches und literarisches Werk in den Vordergrund, wie sich im Verlauf des Kapitels 7. zeigen wird. Bevor Müllers Autobiographie eingehend untersucht wird, sollen im Folgenden zunächst ausgewählte, in diesem Zusammenhang relevante Texte aus seinem Frühwerk zur Sprache kommen: Erste Einblicke in seine sonst sorgsam abgeschottete Privatsphäre gewährt Müller mit einigen autobiographisch grundierten Prosatexten, die er in den 1960er und 1970er Jahren veröffentlicht. 1961 erscheint der Bericht vom Grossvater, in dem Müller sich mit seinem 1946 verstorbenen Großvater mütterlicherseits, Bruno Ruhland, auseinandersetzt. Bereits elf Jahre vor der Erstpublikation, also im Jahr 1950 entsteht dieser Erinnerungstext, dem der Autor ein vierzeiliges Motto voranstellt: »In Julinächten mit schwacher Gravitation / Wenn sein Friedhof über die Mauer tritt / Kommt der tote Schuhflicker zu mir / Der

1283 Vgl. Norbert Otto Eke: »Frühe Biographie/Prägungen«. In: Heiner Müller Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Hg. v. Hans-Thies Lehmann u. Patrick Primavesi, Stuttgart, Weimar 2003, S. 1 u. Gerd Gemünden: »The Author as Battlefield: Heiner Müller’s Autobiography War without Battle«. In: Heiner Müller. Con»texts« and »History«. A collection of essays from The Sydney German Studies Symposium 1994, Hg. v. Gerhard Fischer, Tübingen 1995, S. 117.

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Großvater, der vielgeprügelte Alte«.1284 Der Bericht selbst beginnt mit den Aussagen: »Mein Großvater starb, als ich siebzehn war. Meine Mutter sagt von ihm: er war nie krank, nur zuletzt im Kopf nicht mehr ganz richtig. Heute, fünf Jahre später, weiß ich, was da nicht richtig war«.1285 Am Beispiel des 1869 geborenen sächsischen Schuhmachers Ruhland referiert Müller eine prototypische Arbeitervita der Jahrhundertwende, die von Ausbeutung und materieller Not geprägt ist. Ruhlands Kindheit und Jugend, die durch den frühen Tod des Vaters und die Erblindung der Mutter geprägt sind, seine Lehrzeit bei einem Schuster, die Hochzeit mit Müllers Großmutter, das Familienleben mit zehn Kindern, das durch die »Kunst des Hungerns«1286 bestimmt ist, seine Tätigkeit bei einer Baufirma, seine kritische, aber duldende Haltung gegenüber Hitler und seine Wandlung nach dem Zweiten Weltkrieg werden geschildert und kommentiert. Das biographische Gerüst der Schilderungen scheint mit der Realität übereinzustimmen; dennoch eignet sich der Text nur bedingt als Quelle, um Leerstellen innerhalb Müllers Lebenslauf zu füllen. Zunächst wird die starke emotionale Bindung des Enkels an seinen Großvater wie auch des Großvaters an seinen Enkel, die beispielsweise von Müllers Mutter beschrieben wird, ausgespart.1287 Das Erzähler-Ich, das aus der distanzierten Position eines nüchternen Chronisten berichtet, setzt sich nicht direkt in Relation zum Großvater, dessen Name im Übrigen niemals genannt wird, oder anderen erwähnten Familienmitgliedern. Die postume Charakterisierung und Bewertung des Großvaters erfolgt nicht auf der Grundlage persönlicher Erinnerungen und Gefühle, sondern nimmt vorrangig die politische Haltung Ruhlands in den Blick – generell bleibt die private Dimension innerhalb der Ausführungen hinter der politischen Ebene zurück.1288 Der Erzähler wirft dem sozialdemokratisch erzogenen Arbeiter fehlendes Klassenbewusstsein und mangelnde Identifikation mit der Ideologie des Antifaschismus vor: »Ich war immer ein guter Arbeiter, sagte er damals oft, da muß es mir doch gut gehen jetzt, im Arbeiterstaat. Er verstand nicht, daß Geduld nötig war, um die Folgen der Geduld zu beseitigen«.1289 Uwe Schütte spricht in Bezug auf Müllers Schilderungen zu Recht von einer

1284 Heiner Müller : »Bericht vom Grossvater«. In: ders.: Werke, Band 2: Die Prosa, Hg. v. Frank Hörnigk in Zusammenarbeit mit der Stiftung Archiv der Akademie der Künste, Berlin, Frankfurt/M. 1999, S. 7. 1285 Ebd. 1286 Ebd., S. 8. 1287 Vgl. Uwe Schütte: Arbeit an der Differenz. Zum Eigensinn der Prosa von Heiner Müller, Heidelberg 2010, S. 96f. u. Jan-Christoph Hauschild: Heiner Müller oder Das Prinzip Zweifel. Eine Biographie, Berlin 2001, S. 17. 1288 Vgl. Schütte 2010, Arbeit an der Differenz, S. 96f. 1289 Heiner Müller 1999, Bericht vom Grossvater, S. 10.

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Verzerrung beziehungsweise von der »Ungerechtigkeit seiner Darstellung«.1290 In Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen äußert Müller vierzig Jahre nach Abfassung dieses frühen Schriftstücks ausdrückliches Bedauern und den Wunsch, den Text erneut zu schreiben, eine Charakterisierung seines Großvaters in abgeänderter Version vorzulegen.1291 Der Autor erachtet den politischen Aspekt, den er zur Grundlage des Portraits gemacht hat, im Nachhinein als problematisch: Wenn ich meinen Text über ihn jetzt lese, dann ist der natürlich aus meiner Identifikation mit der neuen Ordnung geschrieben, die Askese brauchte, Opfer brauchte, damit sie funktionieren konnte. Und das ist das Grundproblem: Die Opfer sind gebracht worden, aber sie haben sich nicht gelohnt. Es ist nur Lebenszeit verbraucht worden. Diese Generationen sind um ihr Leben betrogen worden, um die Erfüllung ihrer Wünsche. Für ein Ziel, das illusionär war. Eigentlich habe ich diese Geschichte über den Großvater mit einer Funktionärshaltung geschrieben und deswegen jetzt das Bedürfnis nach einem Gespräch mit ihm, um mich dafür zu entschuldigen.1292

Müllers Vorgehensweise bei der Abfassung des Textes Bericht vom Grossvater ist seiner ausgeprägten Identifikation mit der DDR und ihrem Gründungsmythos des Antifaschismus geschuldet. Im Jahr 1958 verfasst der junge Schriftsteller ein Portrait seines Vaters, das unter ebensolchen Voraussetzungen entsteht und laut Uwe Schütte eine »ungleich schärfere literarische Abrechnung auf der Basis allein politischer Maßstäbe ohne Involvierung der persönlichen Ebene und Berücksichtigung positiver Charaktereigenschaften«1293 darstellt. Es handelt sich dabei um den Prosatext Der Vater, den Müller erst knapp 20 Jahre nach dessen Entstehung, nämlich nach dem Tod seines Vaters im Jahr 1977 in Buchform veröffentlicht.1294 Dieser Umstand deutet darauf hin, dass dem Autor der potentiell verletzende Charakter seiner einseitigen Darstellung bewusst gewesen sein muss.1295 Der Vater umfasst zehn kurze Abschnitte, in denen der Autor eine politische Abrechnung mit seinem Vater Kurt Müller unternimmt und ihn als Verräter am Sozialismus abstempelt. Verschiedene Sequenzen aus dem Familienleben von 1933 bis zum ersten Treffen von Vater und Sohn nach der Entscheidung der Eltern, die DDR zu verlassen, werden geschildert: Kurt Müllers Verhaftung 1290 Schütte 2010, Arbeit an der Differenz, S. 119. Vgl. auch Uwe Schütte: Heiner Müller, Köln, Weimar, Wien 2010, S. 103. 1291 Vgl. Heiner Müller : Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen, Köln 1994, S. 15f. 1292 Ebd., S. 16. 1293 Schütte 2010, Arbeit an der Differenz, S. 97. 1294 Erstmals erscheint Der Vater 1976 in der Zeitschrift Wespennest; die hier abgedruckte Version weicht in Einzelheiten allerdings von der später veröffentlichten Fassung ab, beispielsweise fehlen in dem Erstabdruck die Gedichte. Vgl. Heiner Müller : »Der Vater«. In: Wespennest 8 (1976), H. 25, S. 24–27. 1295 Vgl. Schütte 2010, Arbeit an der Differenz, S. 106.

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durch SA-Soldaten, Heiners daraus resultierende Ausgrenzung durch seine Spielkameraden, ein Besuch bei dem inhaftierten Vater, Heiners Freitisch bei einem Fabrikanten, die Entlassung des Vaters aus der Lagerhaft, die Unterkunft bei den Großeltern, ein vom Vater diktierter Aufsatz Heiners zu Hitlers Autobahnbau, Kurt Müllers Einsatz für eine verwitwete Freifrau, seine Übersiedlung nach Westdeutschland und Heiner Müllers Besuch bei seinem Vater in einem Charlottenburger Krankenhaus. Seinen Ausführungen stellt Müller ein sechszeiliges Gedicht voran; ein zweites findet sich zwischen dem dritten und dem vierten Abschnitt. Diese lyrischen Passagen haben ebenfalls das schwierige Vater-Sohn-Verhältnis zum Thema, markieren aber gleichzeitig den literarischen Charakter des Textes. Der erste der zehn Abschnitte beginnt mit dem Satz: »1933 am 31. Januar 4 Uhr früh wurde mein Vater, Funktionär der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, aus dem Bett heraus verhaftet«.1296 Diese Verhaftung hat tatsächlich stattgefunden; ihre Details sind bekannt, werden aber abweichend geschildert: Als Datum wird – sicherlich bewusst – der Tag nach der Ernennung Hitlers zum deutschen Reichskanzler angegeben. In Wirklichkeit aber wurde Kurt Müller am 09. 03. 1933 im Auftrag der nationalsozialistischen Machthaber verhaftet und später in den Lagern Plaue-Bernsdorf und Sachsenburg interniert. Auch die Parteizugehörigkeit entspricht nicht der Faktenlage, da Kurt Müller zum Zeitpunkt seiner Verhaftung Mitglied der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) war.1297 Einige weitere Beispiele für Müllers manipulativen Umgang mit den Fakten lassen sich in dem frühen Text ausmachen, können an dieser Stelle aber unerwähnt bleiben.1298 Die Abschnitte zwei, vier und sechs sind als deutlich stilisiert zu erkennen; Müller hebt hier zunächst seine soziale Außenseiterposition als Folge des väterlichen Widerstands hervor und prangert das Verhalten seiner Spielkameraden an: Die Generäle standen auf. Sie gingen jetzt frühstücken, sagte der Sieger [im Spiel mit Bleisoldaten], und, im Vorbeigehn, ich könnte nicht mitkommen, sie dürften mit mir nicht mehr spielen, weil mein Vater ein Verbrecher sei. Meine Mutter hatte mir gesagt, wer die Verbrecher waren. Aber auch, daß es nicht gut war, sie zu nennen. So sagte ich es meinen Freunden nicht. Sie erfuhren es, zwölf Jahre später, ins Feuer geschickt von großen Generälen, unter dem Donner zahlloser wirklicher Geschütze, in den schrecklichen letzten Schlachten des zweiten Weltkrieges, tötend und sterbend.1299

1296 Heiner Müller : »Der Vater«. In: ders.: Werke, Band 2: Die Prosa, Hg. v. Frank Hörnigk in Zusammenarbeit mit der Stiftung Archiv der Akademie der Künste, Berlin, Frankfurt/M. 1999, S. 79. 1297 Vgl. Eke 2003, S. 1f. u. Hauschild, S. 26f. 1298 Vgl. Heiner Müller 1999, Der Vater, S. 80f. u. Hauschild, S. 27ff. 1299 Heiner Müller 1999, Der Vater, S. 80.

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In Abschnitt sechs des Textes wird die blauäugige Hitler-Begeisterung der Großmutter väterlicherseits kritisch dargestellt; ihre politische Überzeugung wird mit dem Genuss von Butter in Zusammenhang gebracht (»Hitler gibt uns Butter«1300) und scharf kontrastiert mit der Information, dass ihre drei jüngeren Söhne »in Hitlers Krieg um Öl und Weizen«1301 an der Wolga fielen. Der Erzähler erinnert sich an ihren Schrei, als sie die erste Todesnachricht empfing. In Der Vater literarisiert Heiner Müller vor allem das komplizierte Verhältnis zu seinem Vater, das, wie im Textverlauf deutlich wird, von wachsender Entfremdung und einem »reziproken Verratsprozess[…]«1302 geprägt ist. Ihren Anfang nimmt diese Entwicklung mit dem Ereignis der nächtlichen Verhaftung; das vierjährige Kind beobachtet das Geschehen durch einen Türspalt und muss die Demütigung seines Vaters erkennen. Als dieser kurz vor dem erzwungenen Verlassen der Wohnung Heiners Schlafkammer aufsucht, um Abschied von seinem Sohn zu nehmen, stellt sich der kleine Heiner schlafend. Wie JanChristoph Hauschild treffend formuliert, »ist das biographische Erlebnis zur Parabel geronnen«.1303 Weiterhin führt er aus: Die Entscheidung, sich schlafend zu stellen, hat das Kind der Konfrontation mit Tätern und Opfer entzogen, aber auch der Parteinahme für den Vater. Das nicht zu beseitigende Schuldgefühl ist Anlaß für die literarische Umsetzung, in der unterschwellig der Versuch unternommen wird, das eigene Versagen auszubalancieren durch die Andeutung der väterlichen Schwäche und Machtlosigkeit.1304

Zudem zeugt die Häufigkeit, mit der Müller im Laufe seines literarischen Schaffens und im Rahmen seiner zahlreichen Interviews wiederholt auf diesen Vorfall zu sprechen kommt, von dessen traumatisierender Wirkung. Müller interpretiert sein Verhalten im Nachhinein als Verrat und Schuld und bezeichnet diese frühe Erinnerung als essentiell für seine künstlerische Entwicklung, als »erste Szene meines Theaters«.1305 Auch Norbert Otto Eke erachtet die Verhaftungsszene als bedeutungsvoll und hält fest: In Der Vater ist sie Ausgangspunkt einer unter politische Vorzeichen gestellten Geschichte des Verrats: des Kindes am schwachen Vater, des Vaters am Sohn […]. Mit der Verhaftung des Vaters, die das Kind durch den Spalt einer geöffneten Tür beobachtet, beginnt in dieser Erzählung ein komplizierter Ablösungsprozess, der zwanzig Jahre 1300 1301 1302 1303 1304 1305

Ebd., S. 83. Ebd. Schütte 2010, Arbeit an der Differenz, S. 101. Hauschild, S. 26. Ebd., S. 26f. »Ich glaube an Konflikt. Sonst glaube ich an nichts. Ein Gespräch mit SylvHre Lotringer über Drama und Prosa, über PHILOKTET und über die Mauer zwischen Ost und West«. In: Müller, Heiner : Gesammelte Irrtümer. Interviews und Gespräche, Frankfurt/M. 1986, S. 90.

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später mit der Entscheidung von Vater und Sohn für die jeweils andere Seite des geteilten Deutschland zum Abschluss kommt.1306

Die verstörenden Erlebnisse setzen sich fort, wenn Heiner von seinen Spielkameraden Ablehnung erfährt oder er den Vater als klein wirkenden, mageren, blassen Lagerhäftling erkennen muss.1307 Als Erfahrung des Verrats soll auch das in Abschnitt sieben geschilderte Ereignis gedeutet werden: [D]er Vater macht ihn selbst […] zum Komplizen seiner Schwäche, als er nach seiner Entlassung den Sohn in der Hoffnung auf eine Wiederbeschäftigung dazu veranlaßt, bei einem Aufsatzwettbewerb zum Autobahnbau die Politik Hitlers zu loben.1308

Die Aufforderung des Vaters bedeutet für den Heranwachsenden einen Vertrauensbruch beziehungsweise »Verratsschock«1309, wie Müller in seiner Autobiographie ausführt: Ich war so erzogen, daß ich wußte, draußen ist der Feind, die Nazis sind der Feind, die ganze äußere Welt ist feindlich. Zu Hause sind wir eine Festung und halten zusammen. Plötzlich war da dieser Riß. Der Aufsatz wurde prämiert, mein Vater bekam Arbeit bei der Autobahn.1310

Generell äußert sich Müller in Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen eingehend zu seinen Erinnerungen an den Vater sowie deren früher literarischer Verarbeitung und erkennt die Ungerechtigkeit seiner Darstellungsweise. Zum Teil korrigiert er auch die in Der Vater von der Faktenlage abweichenden Details.1311 In seinem Gesamtwerk finden sich zahlreiche weitere, zum Teil postum veröffentlichte Texte, in denen er sich mit dem Verhältnis zu seinem Vater und den ihn belastenden Schwierigkeiten und Missverständnissen auseinandersetzt, so etwa [Kennst Du Kleists Schrift: ›Über das Marionettentheater‹ …] (aus dem Nachlass, entstanden 1951/52), [Ich sitze auf einem Balkon …] (aus dem Nachlass, entstanden 1977), Neujahrsbrief 1963 (1992) oder [Im Herbst 197.. starb …] (aus dem Nachlass, entstanden nach 1992). Der letztgenannte Text setzt mit dem Tod des Vaters ein und schreibt in gewisser Weise gegen die frühe Erzählung Der Vater an. Auffällig ist, dass in beiden Titeln der bislang skizzierten Texte Bericht vom Grossvater und Der Vater keine Possessivpronomen zum Einsatz kommen, die auf das vorliegende verwandtschaftliche Verhältnis hindeuten würden – Levin D. Röder schließt daraus: »Persönliches ist geronnen zu

1306 1307 1308 1309 1310 1311

Eke 2003, S. 2. Vgl. Heiner Müller 1999, Der Vater, S. 81. Norbert Otto Eke: Heiner Müller, Stuttgart 1999, S. 279. Heiner Müller 1994, Krieg ohne Schlacht, S. 24. Ebd. Vgl. ebd., S. 19.

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Literatur«.1312 Auf den Wirklichkeitsbezug dieser Texte hin befragt, antwortet Müller in der Tat: »Wie Literatur«.1313 Somit lässt sich zusammenfassend festhalten, dass es sich bei Der Vater, wie es auch auf Müllers Bericht vom Grossvater zutrifft, um einen autobiographisch grundierten Text handelt, der literarisch stark überformt ist. Zwar gewährt er durchaus Einblicke in Heiner Müllers frühe Erinnerungen und prägende Ereignisse seiner Kindheit, jedoch werden diese politisch umgedeutet. Somit kann der Text nicht als verlässliche Informationsquelle hinsichtlich der Biographie des Schriftstellers und seiner Vorfahren herangezogen werden. Im Jahr 1966 nimmt sich Heiner Müllers zweite Ehefrau Inge nach zahlreichen erfolglosen Selbstmordversuchen das Leben. Auch dieses traumatisierende Ereignis verarbeitet Müller wiederholt in seinen literarischen Texten, zunächst in Todesanzeige, den er bereits 1967 verfasst, später überarbeitet und erst 1975 veröffentlicht.1314 Die Gedichte Selbstbildnis zwei Uhr nachts am 20. August 1959 (1992) und Gestern an einem sonnigen Nachmittag (1992) stehen ebenfalls in enger Relation zu der biographischen Erfahrung. Uwe Schütte verweist zu Recht auf gewisse Gemeinsamkeiten von Todesanzeige mit dem früher entstandenen Text Der Vater: »die beträchtliche zeitliche Diskrepanz zwischen Niederschrift und Publikation, die Verknüpfung von Prosa und Lyrik, die distanzierte Haltung zur behandelten Person und der spätere Rekurs zur Thematik«.1315 Tatsächlich ist Todesanzeige insbesondere durch die Fokussierung auf die Perspektive und die Befindlichkeit des Erzählers geprägt; konkrete Informationen zu den Umständen und Hintergründen des Suizids werden ausgespart. Der Name der Toten wird nicht genannt; auch ihre Biographie und ihr psychischer Zustand bleiben unerwähnt.1316 Stilistisch zeichnet sich das knapp gehaltene Schriftstück durch nahtlose Übergänge zwischen unterschiedlichen Textsorten, asyndetische Wortreihungen, in den Fließtext eingeschobene Passagen in Majuskeln und nicht vorhandene Absätze, Überschriften oder sonstige Gliederungsmerkmale aus.1317 Dennoch sind vier Textabschnitte auszumachen, die das zentrale Thema ›Tod‹ variieren: Todesanzeige beginnt mit der nüchtern-detaillierten Beschreibung der

1312 Levin D. Röder : Theater der Schrift. Heiner Müllers autobiografische Dekonstruktion, Berlin 2008, S. 3. 1313 Heiner Müller 1994, Krieg ohne Schlacht, S. 15. 1314 Vgl. »Erich Fried – Heiner Müller. Ein Gespräch, geführt am 16. 10. 1987 in Frankfurt/ Main«. In: Müller, Inge: Ich bin eh ich war. Gedichte. Blanche Kommerell im Gespräch mit Heiner Müller. Versuch einer Annäherung, Gießen 1992, S. 45f. 1315 Schütte 2010, Arbeit an der Differenz, S. 132. 1316 Vgl. ebd., S. 139. 1317 Vgl. ebd., S. 132.

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Szenerie, die der Erzähler bei seiner Rückkehr in die gemeinsame Wohnung des Ehepaars vorfindet: Sie war tot, als ich nach Hause kam. Sie lag in der Küche auf dem Steinboden, halb auf dem Bauch, halb auf der Seite, ein Bein angewinkelt wie im Schlaf, der Kopf in der Nähe der Tür. […] Ihr Gesicht war eine Grimasse, die obere Zahnreihe schief in dem aufgeklappten Mund, als ob der Kiefer ausgerenkt wäre.1318

Es folgen verschiedene Aussagen des Erzählers über den weiteren Verlauf der Todesnacht, über frühere Selbstmordversuche seiner Frau, eigene Empfindungen und behördliche Formalitäten. Die Reaktionen der Rettungskräfte sind in Majuskeln wiedergegeben, wie auch belastende Kindheitserinnerungen des Erzählers, in denen er beispielsweise Tiere quält oder tötet. Bei der zweiten Passage in Versalien handelt es sich um ein Selbstzitat, und zwar ist hier ein früh entstandenes Gedicht, das allerdings erst 1992 in abgewandelter Version unter dem Titel Kindheit erscheint, in den Text eingefügt.1319 Laut Norbert Otto Eke ist es die unmittelbare Konfrontation mit dem Tod, die hier eine Kette von Erinnerungen an kindliche Todeserfahrungen und Gewaltphantasien auslöst.1320 Weiterhin verarbeitet Müller eine Kriegserinnerung und imaginiert den Mord an dem früheren Gefährten ›Hühnergesicht‹, der Müller in den ersten Nachkriegstagen seine Gesellschaft aufdrängte und sich nur schwer abschütteln ließ. Eke deutet diesen in drei Variationen geschilderten fiktiven Mord »als Akt einer gewaltsamen Selbstbefreiung aus der Vergangenheit«.1321 Der Text endet mit einer Traumszene, in der der Erzähler einer »riesige[n] Frau mit mächtigen Brüsten, Arme und Beine weit gespreizt, an Stricken aufgehängt«1322 begegnet. Die Distanziertheit und emotionale Kälte des Berichts von dem Fund der Leiche können zunächst erstaunen. Uwe Schütte erkennt darin jedoch einen Schutzmechanismus vor der großen Verletzung, die der durch Gas herbeigeführte Tod Inges bei Heiner Müller auslöst. Der Literaturwissenschaftler geht davon aus, dass auch Schuldgefühle auf Grund unterlassener Hilfeleistung in diese Darstellungsweise einfließen.1323 In jedem Fall wird die persönliche Katastrophe hier zum Material verobjektiviert und auf diese Weise verarbeitet – »Müller adopts the voice of a distant observer in order […] to detail the suicide 1318 Heiner Müller : »Todesanzeige«. In: ders.: Werke, Band 2: Die Prosa, Hg. v. Frank Hörnigk in Zusammenarbeit mit der Stiftung Archiv der Akademie der Künste, Berlin, Frankfurt/M. 1999, S. 99. 1319 Vgl. Heiner Müller: »Kindheit«. In: ders.: Werke, Band 1: Die Gedichte, Hg. v. Frank Hörnigk, Frankfurt/M. 1998, S. 172. 1320 Vgl. Eke 1999, S. 280. 1321 Ebd. 1322 Heiner Müller 1999, Todesanzeige, S. 102. 1323 Vgl. Schütte 2010, Heiner Müller, S. 103f., 105.

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of his wife Inge. The hope to find a more immediate or personal voice in Müller’s poetry is likewise disappointed«.1324 In Heiner Müllers Nachlass findet sich eine Vielzahl an Überarbeitungen von Todesanzeige, darunter eine Variante, in der die Perspektive von der Sicht des Ehemanns zu der Sicht des Opfers hin verschoben ist. Dieser unter dem Titel Todesanzeige (II) postum veröffentlichte Text, der um 1975 entsteht, ist als Reaktion auf einen literarischen Versuch Ginka Tscholakowas zu deuten. Tscholakowa, Müllers Ehefrau von 1970 bis 1986, verfasst Die Maske des Schweigens als direkte Antwort auf den Ursprungstext. Ohne Namen zu nennen, beleuchtet sie Inge Müllers Blickwinkel hinsichtlich ihrer Todesumstände: Irgendwann wird er vor dem leeren Blatt in der Schreibmaschine sitzen und zu nichts Lust haben. Dann werde ich zurückkehren auf den Steinboden in der Küche; er wird sich einen Kaffee machen wollen und mich da liegen sehen: mein Gebiß neben mir, von dem ich ihm nie erzählt habe. Und es wird ihm einfallen, daß er verpaßt hat, mit mir fertigzuwerden. Er kann noch so ruhig und leise suggerierend mit mir reden; ich werde ihn nicht mehr hören.1325

Laut Frank Hörnigk habe dieser Text, »der wie ein Sprengsatz zwischen Müllers Fragmenten lag«1326, Müller einen Auftrag erteilt beziehungsweise seine Reaktion erzwungen.1327 In Todesanzeige (II) berücksichtigt nun auch Heiner Müller Inges Sicht: »Wann kommt er Das Gas hört sich an wie der Schnee aussah wenn der Mond schien Nichttot wenn er nach Hause kommt den Kopf im Gasherd Warum kommt er nicht«.1328 In seiner Autobiographie äußert sich Müller ebenfalls über den Selbstmord seiner zweiten Ehefrau und beleuchtet den Vorfall durch zusätzliche Informationen, die in Todesanzeige nicht zur Sprache kommen. So teilt er mit, dass Inge im Zweiten Weltkrieg traumatisiert wurde, da sie zweimal nach Bombenangriffen verschüttet war und ihre getöteten Eltern aus einem zerbombten Haus ausgraben und selbst beerdigen musste. Über einen Zeitraum von acht Jahren erstrecken sich ihre Selbstmordversuche, wie Müller berichtet.1329 Nach seinem Text Todesanzeige befragt, äußert er sich allerdings ausschließlich zu seinen imaginierten Morden an ›Hühnergesicht‹ und zu seinem Schrecken über die Beschreibung eines Mordes in der ersten Person Singular. Inge bleibt an dieser Stelle unerwähnt.1330 1324 Gemünden, S. 117. 1325 Ginka Tscholakowa: »Die Maske des Schweigens«. In: Sinn und Form 50 (1998), H. 6, S. 916. 1326 Frank Hörnigk: »Varianten einer Todesanzeige«. In: Sinn und Form 50 (1998), H. 6, S. 912. 1327 Vgl. ebd. 1328 Heiner Müller : »Todesanzeige (II)«. In: Sinn und Form 50 (1998), H. 6, S. 917. 1329 Vgl. Heiner Müller 1994, Krieg ohne Schlacht, S. 158f. 1330 Vgl. ebd., S. 211.

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Auch in Todesanzeige versucht Müller, intensiv erlittene Schrecken und Verletzungen literarisch zu verarbeiten, wobei sich der stilistische Umgang mit dem lebensgeschichtlichen Material im Vergleich zu den beiden früheren autobiographisch grundierten Texten intensiviert und größere Komplexität aufweist. In allen drei Texten finden persönliche Auseinandersetzungen, Bekenntnisse und Selbstbefragungen statt, Müller legt Zeugnis ab von eigenen Verwundungen und Schuldgefühlen und gewährt Einblick in frühe Erfahrungen, auf denen seine Entwicklung als Mensch und Autor basiert. Sascha Löschner bezeichnet diese Texte daher auch als »Tagebuchersatz«.1331 Gerhard Ahrens charakterisiert Müller als einen Schriftsteller, »dem alle erdenklichen Lebenszusammenhänge zu Material gerinnen«1332 und behauptet daher, dass bei ihm von Privatsphäre im strikten Sinne nicht mehr die Rede sein könne.1333 Diese Sichtweisen haben durchaus ihre Berechtigung, dürfen jedoch nicht über die starke literarische Überformung hinwegtäuschen, die in diesem Kapitel bereits zu Sprache kam; das biographische Material wird von Müller bewusst verändert, ideologisch umgedeutet oder auf den äußeren Ablauf eines Geschehens reduziert. Auch Norbert Otto Eke verweist in diesem Zusammenhang auf den »politische[n] oder geschichtsphilosophische[n] Subtext […], der die autobiographische Ausgangssituation transzendiert«.1334 Ein weiterer Text soll an dieser Stelle Erwähnung finden: Traumtext Oktober 1995 (1995) ist Müllers letzte Publikation zu Lebzeiten; sie weist ebenfalls autobiographische Hintergründe auf und basiert auf mehreren Träumen Müllers.1335 Geschildert wird eine Szene, in der der Protagonist auf einem schmalen Betonstreifen ein großes Wasserbecken umkreist, während er seine zweijährige Tochter in einem Korb auf dem Rücken trägt. Der Ich-Erzähler beschreibt eine »Ahnung, oder ist es schon eine Gewißheit, daß ich an diesem Leben nicht mehr teilnehmen werde«1336 und fällt ins Wasser, während das Kind in dem Korb auf dem Betonstreifen verbleibt. Für das Traum-Ich, das seine Tochter beschützen will, gibt es kein Entkommen aus dem Becken, zudem ist seine Sicht auf die Außenwelt durch eine Nebelwand verstellt. Der unentrinnbare Kessel kann als Symbol für Müllers todbringende Krebserkrankung gedeutet werden, die Au1331 Sascha Löschner : Geschichte als persönliches Drama. Heiner Müller im Spiegel seiner Interviews und Gespräche, Frankfurt/M., Berlin, Bern, Brüssel, New York, Oxford, Wien 2002, S. 47. 1332 Gerhard Ahrens: »Vorwort«. In: Müller, Heiner : Traumtexte, Hg. v. Gerhard Ahrens, Frankfurt/M. 2009, S. 9. 1333 Vgl. ebd. 1334 Eke 1999, S. 278. 1335 Vgl. Heiner Müller : Traumtexte, Hg. v. Gerhard Ahrens, Frankfurt/M. 2009, S. 200. 1336 Heiner Müller : »Traumtext Oktober 1995«. In: ders.: Werke, Band 2: Die Prosa, Hg. v. Frank Hörnigk in Zusammenarbeit mit der Stiftung Archiv der Akademie der Künste, Berlin, Frankfurt/M. 1999, S. 144.

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ßenwelt als jene Lebensoptionen, die Müller durch seine Krankheit nicht mehr zugänglich sind.1337 Die letzten Gedanken des Ertrinkenden gelten seiner Tochter : »BLEIB WEG VON MIR DER DIR NICHT HELFEN KANN mein einziger Gedanke, während ihr fordernd vertrauender Blick mir hilflosem Schwimmer das Herz zerreißt«.1338 Uwe Schütte bezeichnet Traumtext Oktober 1995 als Müllers literarisches Vermächtnis und als anrührende Verabschiedung von seiner zweijährigen Tochter Anna zugleich.1339 Weiterhin führt er aus: Dem Unvermeidlichen des Todes hält Müller die kunstvolle Beschreibung des Sterbens entgegen, so wird zu Ende des eigenen Lebens noch ein letztes Mal störrisch und eigensinnig die Literatur gegen eine übermächtige Realität positioniert.1340

Müllers Werk ist letztlich von der Literarisierung autobiographischer Erfahrungen und traumatischer Verletzungen geprägt, wobei ihm vornehmlich das Medium der Prosa zu deren Verarbeitung dient.1341 Seine Autobiographie Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen, in der er wenige Jahre vor seinem Tod seine Lebensstationen rekapituliert, bildet einen Sonderfall, da der Autor hier keinen literarischen Text im eigentlichen Sinne verfasst. Er legt seine Lebenserinnerungen in Interviewfom vor – auf diesen Aspekt wird im Folgenden zurückzukommen sein. Die nächsten Kapitel sollen sich den Erinnerungsstrukturen, der Historizität und der Literarizität innerhalb Müllers Autobiographie widmen sowie nach deren Authentizität und der Identitätssuche des Autobiographen fragen.

1337 1338 1339 1340 1341

Vgl. Schütte 2010, Heiner Müller, S. 109. Heiner Müller 1999, Traumtext Oktober 1995, S. 145. Vgl. Schütte 2010, Heiner Müller, S. 108. Ebd., S. 109. Vgl. Löschner, S. 47 u. Schütte 2010, Arbeit an der Differenz, S. 93.

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7.2. Erinnerungsstrukturen in Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen1342 Heiner Müllers Autobiographie basiert auf zahlreichen Gesprächen, die Katja Lange-Müller, Helge Malchow, Renate Ziemer und Stephan Suschke mit dem Schriftsteller führen. Sie zeichnen die Interviews auf Tonband auf und erstellen Transkriptionen, die sie zunächst kürzen und redigieren; schließlich erhält Müller ein Manuskript, das er sorgfältig überarbeitet. Das zeit- und arbeitsintensive Unternehmen geht nicht auf Müllers Initiative zurück, vielmehr ist es Helge Malchow, der damalige Cheflektor des Verlags Kiepenheuer & Witsch, der den Schriftsteller zu diesem Projekt ermuntert beziehungsweise überredet. Im Nachhinein bereut Müller, Malchows Drängen nachgegeben zu haben und äußert, dass er diese Arbeit nur sehr ungern verrichtet habe.1343 Nichtsdestotrotz entstehen auf diese Weise 29 Kapitel über sein Leben von der Geburt bis ins Jahr 1987; Müllers Kindheit und Jugend, sein beruflicher Werdegang, literarische Einflüsse und Vorbilder, einige private Begebenheiten, Auseinandersetzungen mit der DDR-Führung sowie seine Theaterprojekte werden skizziert. Im Anschluss finden sich ein kurzes Nachwort des Autobiographen, ein Anmerkungsapparat mit bibliographischen Angaben der im 1342 Wie in der Einleitung dieser Arbeit dargelegt, bleiben postmoderne und dekonstruktivistische Forschungsansätze sowohl im Theorieteil als auch innerhalb der Werkanalysen weitgehend unberücksichtigt. An dieser Stelle ist es nötig, auf Levin D. Röders Dissertation Theater der Schrift. Heiner Müllers autobiografische Dekonstruktion aus dem Jahr 2008 hinzuweisen. Röder widmet Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen eine eingehende Untersuchung von über 450 Seiten, in deren Rahmen unter anderem jedes einzelne Kapitel aus Müllers Autobiographie detailliert analysiert wird. Jedoch erweist sich der von Röder zu Grunde gelegte postmoderne Argumentationsansatz für die hier verfolgte Interpretationsweise wie erwartet als nur bedingt weiterführend. Röder versäumt es unter anderem, den zeitgeschichtlichen beziehungsweise kulturpolitischen Entstehungskontext des Werkes ins Bewusstsein zu heben und in seine Analyse einzubeziehen. Für den Zusammenhang der vorliegenden Arbeit sind die veränderten Voraussetzungen für ostdeutsche Schriftsteller nach 1989 essentiell und ihre Berücksichtigung und Einbindung damit unabdingbar : Insbesondere der Wegfall von überwachtem Literaturbetrieb und Zensur ermöglicht es diesen Literaten erstmals, dem zuvor staatlich verordneten Menschen- und Geschichtsbild ihre individuelle Einschätzung der persönlichen und kollektiven Vergangenheit entgegenzuhalten und dem von Christa Wolf beschriebenen Drang nach ›subjektiver Authentizität‹ unbehelligt nachzukommen. Trotz dieses Defizits der Dissertationsschrift soll auf die Einbeziehung ausgewählter Gedankengänge und Argumentationsweisen Röders im Folgenden nicht verzichtet werden. 1343 Vgl. »›Verwaltungsakte produzieren keine Erfahrungen‹. Zum Supergedenkjahr : Heiner Müller im Gespräch mit Hendrik Werner (am 7. Mai 1995 in Berlin)«. In: Müller, Heiner : Werke, Band 12: Gespräche 3. 1991–1995, Hg. v. Frank Hörnigk, Frankfurt/M. 2008, S. 725. Vgl. auch »›Als Bürger bin ich für Normalitäten, aber als Künstler natürlich nicht.‹ Heiner Müller im Gespräch mit Hyunseon Lee in Berlin am 12. 6. 1994«. In: Lee, Hyunseon: Günter de Bruyn – Christoph Hein – Heiner Müller. Drei Interviews, Siegen 1995, S. 62.

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Textteil erwähnten Werke Müllers und ein Anhang mit verschiedenen Dokumenten wie frühen literarischen Versuchen des Schriftstellers, Briefen, Reden oder Stellungnahmen. Zwei Jahre nach der Erstveröffentlichung erscheint 1994 die Taschenbuch-Ausgabe des Bestsellers, die durch einen weiteren umfangreichen Anhang ergänzt wird: Das rund 70 Seiten umfassende Dossier von Dokumenten des Ministeriums für Staatssicherheit der ehemaligen DDR und weitere Materialien versammelt die wesentlichen, Müller betreffenden Akten, die über die Verbindungen des Schriftstellers zum DDR-Geheimdienstapparat Aufschluss geben.1344 Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen setzt sich aus den knapp gehaltenen Fragen von Müllers Interviewpartnern und den zugehörigen Antworten des Autobiographen, die in Länge und Ausführlichkeit stark variieren, zusammen. Bereits die zweite Frage betrifft den Aspekt des autobiographischen Gedächtnisses; Heiner Müller wird direkt nach seinen allerersten Erinnerungen gefragt. Er antwortet sehr eingehend und schildert drei Szenen aus seiner Kindheit: Die erste [Erinnerung] ist ein Gang auf den Friedhof mit meiner Großmutter. Da stand ein Denkmal für Gefallene des Ersten Weltkriegs, aus Porphyr, eine gewaltige Figur, eine Mutter. Für mich verband sich das Kriegerdenkmal jahrelang mit einem lila Mutterbild, mit Angst besetzt, auch vor der Großmutter vielleicht, die mich über den Friedhof führte. Die zweite Erinnerung: Meine Eltern waren krank, ich auch. Wir lagen alle drei im Bett. Es kam regelmäßig eine Krankenschwester, wahrscheinlich von einer kirchlichen Organisation, und einmal brachte sie Erdbeeren mit. Diese Erdbeeren sind mein erstes Glückserlebnis.1345

Die dritte Erinnerung, die Müller hier nennt, ist die Verhaftung seines Vaters 1933, die er bereits in Der Vater literarisch verarbeitet. Eingeleitet von dem Kommentar »im wesentlichen war das schon so, wie ich es aufgeschrieben 1344 Im Folgenden soll aus dieser Taschenbuch-Ausgabe des Verlags Kiepenheuer & Witsch, in der das erwähnte Dossier erstmals veröffentlicht wird und die mit einer kommentierenden Einleitung von Helge Malchow versehen ist, zitiert werden. (Vgl. Helge Malchow : »Einleitung zum Dossier-Teil«. In: Müller, Heiner : Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen, Köln 1994, S. 431–434.) Komplementär dazu werden auch die darin nicht enthaltenen Dokumente berücksichtigt, durch die Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen in Band 9 der von Frank Hörnigk herausgegebenen Heiner Müller-Werkausgabe ergänzt wird. (Vgl. Heiner Müller : »[Vorwort zu KRIEG OHNE SCHLACHT]« (aus dem Nachlass). In: ders.: Werke, Band 9: Eine Autobiographie, Hg. v. Frank Hörnigk, Frankfurt/M. 2005, S. 411/412, Heiner Müller : »[Gegenüberstellung früherer Textstufen, korrespondierend mit dem späteren Kapitel ›Die Macht und die Herrlichkeit‹]« (aus dem Nachlass). In: ders.: Werke, Band 9: Eine Autobiographie, Hg. v. Frank Hörnigk, Frankfurt/M. 2005, S. 413–484 u. Frank Hörnigk: »Editorische Notiz«. In: Müller, Heiner : Werke, Band 9: Eine Autobiographie, Hg. v. Frank Hörnigk, Frankfurt/M. 2005, S. 489–493.) 1345 Heiner Müller 1994, Krieg ohne Schlacht, S. 18.

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habe«1346, schildert er die nächtlichen Vorgänge erneut. Auffällig ist, dass Müller die sachlichen Unstimmigkeiten des frühen Textes, die in Kapitel 7.1. bereits Erwähnung fanden, hier nicht zur Sprache bringt. Allerdings gilt es zu bedenken, dass er Der Vater im Nachhinein primär als literarisches Werk betrachtet und dem Wirklichkeitsbezug aus diesem Grund vermutlich keine Priorität einräumt. Unklar bleibt außerdem, ob Müller die Faktenlage zum Entstehungszeitpunkt der Autobiographie überhaupt bewusst ist, zumal er in Bezug auf seine kurze Tätigkeit im Landratsamt in Waren äußert: »Ich weiß kein konkretes Detail mehr, weil das alles eingegangen ist in den Text von ›Umsiedlerin‹. Und damit ist es auch aus meinem Gedächtnis gelöscht«.1347 Das biographische Material verliert durch die literarische Verarbeitung in diesem Fall offensichtlich an Relevanz. Ähnlich könnte es Müller auch mit den Erinnerungen an jene verstörende Nacht im Jahr 1933 ergangen sein. Im weiteren Verlauf des ersten Kapitels finden auch spätere Vorgänge, die in Der Vater berichtet werden, erneut Erwähnung, wie zum Beispiel der Besuch des kleinen Heiner und seiner Mutter beim Vater in Lagerhaft oder der Schulaufsatz zu Hitlers Autobahnbau. Müllers Kindheits- und Jugenderinnerungen füllen die ersten vier Abschnitte seiner Autobiographie; wie in Kapitel 2.2.1. dieser Arbeit deutlich wurde, gehören die Erinnerungen an diese frühen Lebensphasen zu den unvollständigsten und unzuverlässigsten jedes Menschen. Doch auch Erinnerungen an spätere Lebensphasen bleiben stets punktuell, diskontinuierlich, inkohärent und subjektiv. Hans-Edwin Friedrich betont in seiner Rezension von Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen diese Merkmale der Gedächtnisarbeit, die sich eben auch in Müllers Autobiographie deutlich zeigen. Der Rezensent hebt lobend hervor, dass Erinnerungslücken von Müller ausdrücklich als solche gekennzeichnet werden.1348 Tatsächlich finden sich in dem Lebensbericht zahlreiche Verweise auf fehlende Erinnerungen oder Unsicherheiten. Der Autobiograph gesteht diese Defizite unumwunden ein und thematisiert oder kommentiert sie, so beispielsweise in Bezug auf seinen Reichsarbeitsdienst und das Kriegsende: »Aber ich habe das verdrängt, ich weiß nichts mehr davon. Das fand wohl in Waren statt, noch in der Schulzeit, glaube ich, eine Vorbereitung auf den Volkssturm«1349 und »Ich weiß nicht, in was für einem Geisteszustand ich in diesem halben Jahr gewesen bin. […] Ich kann mich nicht erinnern, daß ich Angst gehabt hätte. Nur an die Stiefel erinnere ich mich. Es ist wie unter Schock

1346 Ebd. 1347 Ebd., S. 47. 1348 Vgl. Hans-Edwin Friedrich: »Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen« (Rezension). In: Arbitrium. Zeitschrift für Rezensionen zur germanistischen Literaturwissenschaft 12 (1994), H. 1, S. 124. 1349 Heiner Müller 1994, Krieg ohne Schlacht, S. 34.

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nach einem Unfall«.1350 Neben klaren Eingeständnissen wie »Ich weiß nicht mehr«, »Ich habe keine Ahnung mehr«, »es gab einen Dritten, den habe ich vergessen« oder »Ansonsten weiß ich nichts mehr von diesen Weltfestspielen« finden sich häufig auch relativierende Formulierungen wie »wahrscheinlich«, »unwahrscheinlich«, »1936 dann oder schon Ende 1935« oder »ich habe nur eine vage Erinnerung«.1351 Innerhalb des autobiographischen Projekts wird Müller oft direkt nach seinen Erinnerungen gefragt; allein im Vokabular zeigt sich die Präsenz dieses Themenkomplexes: Die Wörter ›erinnern‹ und ›Erinnerung‹ werden sowohl in den Fragen der Interviewpartner als auch in den Antworten Müllers häufig gebraucht1352 ; das Nachwort ist mit Erinnerungen an einen Staat betitelt. Im Kapitel Rückkehr nach Sachsen, Frankenberg, 1947–51 löst die Äußerung »Die Erinnerung fällt Dir nicht leicht« folgende Reaktion Müllers aus: So etwas entsteht sicher aus einem Überdruck an Erfahrung, Erfahrungen, die so schockhaft sind, daß man sie nicht ohne Störungen verarbeiten kann. Also entwickelt man Verdrängungsapparate. Es ist schon so, nach der ersten Trennung von meinem Vater war er in gewisser Weise für mich ein Untoter, als er aus dem KZ zurückkam.1353

Doch auch ohne direkte Aufforderung beschäftigt sich der Autobiograph mit vorhandenen oder fehlenden Erinnerungen und formuliert Zweifel an der Verlässlichkeit seiner Gedächtnisarbeit: Zum Beispiel weiß ich nichts über tote Folteropfer im Keller eines von Russen besetzten Gebäudes, die mein Vater als Bürgermeister beseitigen sollte. Mein Bruder erinnert sich daran genau. Da bin ich mir selbst gegenüber etwas misstrauisch. Auch die Flucht meiner Eltern ist fast ein blinder Fleck.1354

Heiner Müller ist sich über die Unzulänglichkeiten der eigenen Erinnerungsvorgänge also durchaus im Klaren und versucht, Mechanismen seiner individuellen Gedächtnisarbeit zu ergründen. Über die bewusst eingestandenen Lücken und Unsicherheiten hinaus weist seine Autobiographie jedoch ungesicherte und fehlerhafte Angaben auf. Neben sachlichen Unstimmigkeiten, ungenauen Zitaten, Jahreszahlen und Personenangaben1355 wirft Uwe Schütte dem Schriftsteller vor, dass nur »wenig Interesse bestand, sich zu wirklich tiefgreifender Erinnerungsarbeit durchzuringen«.1356 Der Rezensent Martin Linzer spricht von »editorische[r] Schlamperei« und weist beispielsweise auf die 1350 1351 1352 1353 1354 1355 1356

Ebd., S. 36f. Ebd., S. 91, 111, 99, 119, 34, 40, 23, 92. Vgl. z. B. ebd., S. 72, 121, 181, 184, 209. Ebd., S. 72f. Ebd., S. 68. Vgl. Schütte 2010, Arbeit an der Differenz, S. 550. Ebd., S. 568.

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»hartnäckig wiederholte[…] Falschschreibung von Namen nicht eben unbekannter Theaterleute«1357 hin. Auch Müllers Biograph Jan-Christoph Hauschild nimmt diesen fraglichen Umstand zur Kenntnis, räumt aber ein: »Zu Müllers Entschuldigung sei gesagt: Er hatte nicht das beste Gedächtnis. Fakten interessierten ihn ohnehin nicht besonders; er war in dieser Hinsicht leichtfertig«.1358 Diese wohlwollende Einschätzung Hauschilds ist nicht unproblematisch – Leichtfertigkeit und fehlendes Interesse an der adäquaten Vermittlung von Fakten sprechen nicht für die Glaubwürdigkeit eines Autobiographen. Zumal es in den Fällen von falschen Namen oder Jahreszahlen ohne größere Umstände möglich gewesen wäre, die Fakten zu überprüfen und zu korrigieren, wozu offenbar keine Bereitschaft bestand. Müller selbst jedoch formuliert nicht zu Unrecht: Gedächtnis ist ja für Leute, die Kunst machen, etwas ganz anderes. Es geht nicht primär um das Erinnern von Ereignissen. Das können Maschinen letztlich vielleicht besser : das Erinnern von Fakten. Es geht um das Erinnern von Emotionen, von Affekten, die im Zusammenhang mit Ereignissen stehen. Um ein emotionales Gedächtnis.1359

Diese Aussage ist nicht von der Hand zu weisen, sie betrifft jedoch den Aspekt der subjektiven Authentizität autobiographischer Erinnerung, der in Kapitel 7.5. dieser Arbeit eingehend untersucht werden soll. Für den Moment gilt es lediglich festzuhalten, dass Heiner Müller sich zwar mit Gedächtnisstrukturen befasst und persönliche Rückschlüsse zieht, bei der konkreten Wiedergabe von (persönlichen) Erinnerungen aber zuweilen leichtfertig verfährt. In einem von Hermann Theissen geführten Interview berichtet Müller von einer verunsichernden Erinnerung: Ich war absolut sicher, am 17. Juni 1953 auf dem Fußmarsch von Pankow ins Stadtzentrum Stephan Hermlin gesehen zu haben: Pfeife rauchend kam er die Treppe aus einem U-Bahn-Schacht empor. Ich bin ganz sicher, daß ich ihn gesehen habe. Ich hab das dem Hermlin erzählt, nachdem ich das aufgeschrieben hatte. Hermlin besteht darauf – er hat sicher recht –, daß er zu dieser Zeit in Budapest war. […] Aber ich weiß genau, ich hab ihn gesehen. Ich muß überhaupt nicht recht haben mit meiner Erinnerung.1360

1357 Martin Linzer: »Die dünne Haut hinter dem Pokerface«. In: neue deutsche literatur. Monatsschrift für deutschsprachige Literatur und Kritik 40 (1992), H. 11, S. 133. 1358 Hauschild, S. 465. 1359 »›Verwaltungsakte produzieren keine Erfahrungen‹. Zum Supergedenkjahr : Heiner Müller im Gespräch mit Hendrik Werner (am 7. Mai 1995 in Berlin)«, S. 723. 1360 »Heiner Müller oder Leben im Material«, Heiner Müller im Gespräch mit Hermann Theissen. In: Müller, Heiner : Werke, Band 12: Gespräche 3. 1991–1995, Hg. v. Frank Hörnigk, Frankfurt/M. 2008, S. 246.

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In Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen widmet Müller den Ereignissen am 17. Juni 1953 ein ganzes Kapitel. Hier äußert er sich ebenfalls zu dieser eigenartigen Erinnerung, geht aber nicht näher darauf ein: Aus dem U-Bahn-Schacht stieg Stephan Hermlin, pfeiferauchend. Er war der einzige bekannte Prominente, den ich auf der Straße gesehen habe. (Ich muß ein Gespenst gesehen haben. Hermlin sagt, daß er zu in [sic!] dieser Zeit in Budapest war.)1361

Auch die Tatsache, dass Müller einräumt, sicherlich im Unrecht zu sein mit dieser Erinnerung, sie aber dennoch nicht verwirft, wiederholt darauf zu sprechen kommt und sie zu interpretieren versucht, deutet darauf hin, dass Müller durchaus bereit ist, sich mit seinen Erinnerungen auseinanderzusetzen. Allerdings trifft diese Einschätzung nicht auf alle Lebensbereiche zu; das Privatleben des Schriftstellers wird in seiner Autobiographie häufig nur am Rande abgehandelt oder bleibt trotz konkreter Fragen unerwähnt. Inwieweit Müller persönliche Erinnerungen nutzt, um sich seinem vergangenen Ich anzunähern, Höhe-, Tief- oder Wendepunkte seines Lebenslaufs herauszuarbeiten oder seiner Biographie im Nachhinein einen Sinn zu verleihen, wird in Kapitel 7.5. zu klären sein. Als prägendes Strukturmerkmal und Qualitätsausweis des Textes Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen erachtet Levin D. Röder eine gewisse Distanz, mit der der Autobiograph seinem Gedächtnismaterial gegenübertritt.1362 In der Tat ist Müllers Ausführungen über seine Vergangenheit zuweilen eine überraschende Emotionslosigkeit eigen. Als Beispiele seien die knappen Äußerungen über den Selbstmord seiner zweiten Ehefrau1363 und der Kommentar zu der Übersiedlung seiner Eltern nach Westdeutschland angeführt: Nach meiner Erinnerung hat mein Vater mir nicht gesagt, daß er nach Berlin fährt, um wegzubleiben. Das hat mir, glaube ich, erst meine Mutter erzählt, als er schon weg war. Wenn ich versuche, mich an meine damalige ›Befindlichkeit‹ zu erinnern, muß ich sagen, mich hat eigentlich nichts erschüttert. […] Ich kann mich nicht erinnern, daß mich da etwas besonders betroffen gemacht hat.1364

Sicherlich ist die autobiographische Erinnerungsweise zu einem nicht unbeträchtlichen Anteil dem Entstehungskontext des Werkes geschuldet; der Autor selbst konstatiert: »[E]s ist natürlich eine Abplattung von Erinnerung, wenn man einfach vor anderen darüber redet. Wirkliche Erinnerung braucht schon die Arbeit der Formulierung«.1365 Paul Gerhard Klussmann und Frank Hoffmann 1361 1362 1363 1364 1365

Heiner Müller 1994, Krieg ohne Schlacht, S. 132. Vgl. Röder, S. 9. Vgl. Kapitel 7.1. dieser Arbeit. Heiner Müller 1994, Krieg ohne Schlacht, S. 68. »›Verwaltungsakte produzieren keine Erfahrungen‹. Zum Supergedenkjahr : Heiner Müller im Gespräch mit Hendrik Werner (am 7. Mai 1995 in Berlin)«, S. 725.

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bescheinigen Müllers Betrachtungs- und Ausdrucksweise innerhalb seiner Autobiographie dementsprechend »zwar eine beeindruckende Spontaneität, aber auch eine mangelnde erzählerische und gedankliche Ordnung«.1366 Offensichtlich beeinflusst die Interviewform die Erinnerungsstrukturen des Autobiographen; auf die formalen Eigenheiten des Werkes soll in Kapitel 7.4. näher eingegangen werden. Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen weist in Bezug auf Erinnerungsstrukturen innerhalb der Autobiographie eine bemerkenswerte Besonderheit auf: Heiner Müllers Erinnerungen werden in Einzelfällen von einem Dritten überprüft, kommentiert und gegebenenfalls korrigiert – im Anhang findet sich das Dokument Anmerkungen zu ›Krieg ohne Schlacht‹ von B. K. Tragelehn.1367 Der ostdeutsche Schriftsteller und Regisseur Tragelehn ist ein langjähriger Weggefährte Müllers und findet in dessen Autobiographie daher häufig Erwähnung. An einige Begebenheiten erinnert er sich abweichend von Müllers Schilderungen. Tragelehn gibt jeweils zunächst die Seitenzahl und die Zeilennummer der betreffenden Textstelle an und äußert sich im Anschluss, teilweise kritisch, zu Müllers Ausführungen. Bereits die erste Anmerkung soll eine Richtigstellung sein und bezieht sich auf folgende Passage der Autobiographie: Da war etwas verdächtig, und das war der Grund, warum es dann einen Durchlauf der schon geprobten Szenen gab, und danach eine Diskussion mit der Parteileitung der Hochschule und einigen Vertretern des Lehrkörpers. Da war ein Punkt, der uns später als Verschwörung ausgelegt wurde: Boris Djacenko kam dazu, der war gerade beim Zahnarzt gewesen, hatte eine dicke Backe und dadurch noch mehr russischen Akzent als sonst […]. Wir hatten Djacenko nicht vorgestellt, das wurde uns später als Bösartigkeit ausgelegt – daß wir einen Russen vorgeschoben hätten, um die Wachsamkeit der Partei einzuschläfern.1368

Tragelehn entgegnet: Boris Djacenko habe ich doch vorgestellt. Aus Höflichkeit und Unsicherheit habe ich den Namen russisch ausgesprochen. (Wir hatten ja alle ein bißchen Russisch in der Schule.) Ich weiß es noch, weil es mir im selben Augenblick peinlich war.1369

Auch mit den Aussagen »Nicht Siegfried Wagner, sondern Hans Grümmer, der in der Kulturabteilung des ZK verantwortlich war für neue Dramatik, leitete das 1366 Klussmann/Hoffmann, S. 15. 1367 Vgl. Bernhard Klaus Tragelehn: »Anmerkungen zu ›Krieg ohne Schlacht‹ von B. K. Tragelehn«, Dokument 21. In: Müller, Heiner : Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen, Köln 1994, S. 420–425. Die erste Auflage der Autobiographie erscheint noch ohne diesen Text; er wird in einer späteren Auflage der Hardcover-Ausgabe ergänzt und auch in die Taschenbuch-Ausgabe übernommen. 1368 Heiner Müller 1994, Krieg ohne Schlacht, S. 162f. 1369 Tragelehn, S. 420.

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Parteiverfahren in Senftenberg«1370 oder »Das war viel früher, am Montag nach der Premiere, die am Samstag gewesen war«1371 versucht Tragelehn, Müllers Ausführungen zu korrigieren. Doch es finden sich auch zustimmende Abschnitte, in denen Tragelehn Müllers Schilderungen schlichtweg um die eigene Sichtweise ergänzt, so beispielsweise die Beschreibung der Schwierigkeiten, mit denen Müller und Tragelehn durch die Probeaufführung des Stückes Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande (geschrieben 1956–61, Uraufführung (UA) einer Neufassung 1975) konfrontiert werden: Vor der Versammlung des Schriftstellerverbandes zum Fall ›Umsiedlerin‹, die ein Diskussionsforum sein sollte, aber eher wie ein kleiner Schauprozeß ablief, kam Gerhard Piens zu mir, Chefdramaturg des Deutschen Theaters nach Kipphardt. Er sagte, er hätte den Parteiauftrag von der Kulturabteilung des Zentralkomitees, also von Wagner, das Referat zu halten. Er sollte nachweisen, daß das Stück und die Aufführung sowohl objektiv als auch subjektiv konterrevolutionär seien. Subjektiv hieß Verhaftung, objektiv hieß Dummheit. Er sagte, er wird das nicht machen, er wird lediglich nachweisen, daß das Stück objektiv konterrevolutionär ist, aber subjektiv, das macht er nicht.1372

Tragelehn berichtet über diesen Tag: Bei Piens Besuch war ich gerade bei Heiner. Piens sah die Lage sehr schwarz. Inge wurde blaß und sagte: Dann packt mal eure Zahnbürsten ein. Ich rief die Bezirksleitung an, und der Sekretär für Kultur wollte mit mir reden. Ich fuhr in die Wallstraße, und Schwarz, ein ehemaliger Lehrer, sagte: […] Wenn ihr Angst habt wegen Verhaftung – müßt ihr nicht. Ich fuhr zurück nach Pankow, stieg Vinetastraße aus der U-Bahn, und ein Feuerwehrauto fuhr vorbei. Als ich am Kissingenplatz ankam, stand es vor der Nummer zwölf, und Inge wurde herausgetragen. Sie hatte den Gashahn aufgedreht, Heiners Vater – seine Eltern waren gerade zu Besuch – fragte mich im Hausflur: Wird denn mein Sohn verhaftet? Und ich sagte: Nein. Sie haben gesagt Nein.1373

In dem von Gerhard Ahrens herausgegebenen Band Traumtexte (2009) werden einige der in Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen berichteten Erinnerungen ebenfalls einer Überprüfung unterzogen, kommentiert und korrigiert. Hier ist es der ehemalige Mitschüler Gerhard Bobzin, der sich zu einer ausgewählten Textpassage der Autobiographie äußert. Diese ist in Traumtexte erneut abgedruckt und wird den Bemerkungen Bobzins, die er dem Herausgeber in einem Brief übermittelt hat, gegenübergestellt. In dem Schriftstück formuliert der Mecklenburger :

1370 1371 1372 1373

Ebd., S. 422. Ebd., S. 424. Heiner Müller 1994, Krieg ohne Schlacht, S. 172. Tragelehn, S. 423f.

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Waren hatte vor dem Krieg nicht ›vielleicht 50000 Einwohner‹, sondern knapp 20000 […]. Ich kann mich nicht erinnern, daß Schüler wegen ihrer Herkunft aus anderen Gegenden Deutschlands (›Ausländer‹) schikaniert wurden. […] Wenn er Kontaktschwierigkeiten gehabt hat, so lag das sicher an seiner exklusiven, abweisenden Art. In der Zeit, als ich mit ihm in der Oberschule in einer Klasse zusammen war, war er nicht ›der Ausländer‹, sondern eben ein wenig kommunikativer, ein esoterischer Typ.1374

Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass einige solcher Informationen in Bezug auf Müllers Biographie interessant und von Relevanz sein können, zumal, wie bereits deutlich wurde, auf Aussagen des Autobiographen hinsichtlich Daten und Fakten aus seinem Leben nicht immer Verlass ist. Dennoch ergibt sich hier ein Widerspruch zu den Grenzen und Möglichkeiten der Autobiographie als Gattung, insbesondere zu ihrem Anspruch auf Authentizität, wie er in Kapitel 2.2.1. dieser Arbeit dargelegt wurde: Nicht allein die Lebensgeschichte, das erzählte Ich und die geschilderten Ereignisse sollen authentisch sein, sondern ebenso das erzählende Ich der Schreibgegenwart, seine Gedächtnisarbeit mit all ihren Fehlern und Unzulänglichkeiten und seine subjektive Bewertung der Vergangenheit. Eine Autobiographie sollte stets auch als Produkt der Gegenwart wahrgenommen werden. Bezüglich einzelner Zahlen oder Daten können Tragelehn und Bobzin den Autobiographen möglicherweise berichtigen, doch der gattungsspezifische Aspekt der Authentizität bleibt von ihren Aussagen letztlich unberührt.1375 Hinsichtlich des Wirklichkeitsbezugs und der Qualität autobiographischer Erinnerung konstatiert Heiner Müller in einem Gespräch mit Hendrik Werner : »Da entsteht womöglich etwas ganz anderes, was vielleicht faktologisch nicht mehr standhält, aber es entsteht so etwas wie die wirkliche Erinnerung«.1376 Wobei Müller in dieser Äußerung die bedachtvolle literarische Gestaltung einer Autobiographie, die ›Arbeit der Formulierung‹ voraussetzt – die er in Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen eben nicht geleistet hat. Die formale Besonderheit von Müllers Autobiographie soll in Kapitel 7.4. analysiert werden. Dem Analyseaufbau in Kapitel 2.2. entsprechend, widmet sich das folgende Kapitel aber zunächst einem anderen der wesentlichen Aspekte literarischer Autobiographien, und zwar der historiographischen Dimension von Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen.

1374 Heiner Müller 2009, S. 28f. Diese Aussagen beziehen sich auf das zweite Kapitel der Autobiographie, Waren/Müritz, ab 1939. Vgl. Heiner Müller 1994, Krieg ohne Schlacht, S. 27f. 1375 Vgl. dazu Müllers eigene Aussage auf S. 314 der vorliegenden Arbeit – auf diesen Aspekt wird in Kapitel 7.5. zurückzukommen sein. 1376 »›Verwaltungsakte produzieren keine Erfahrungen‹. Zum Supergedenkjahr : Heiner Müller im Gespräch mit Hendrik Werner (am 7. Mai 1995 in Berlin)«, S. 725.

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7.3. Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen als historisches Dokument Bereits der Untertitel der Autobiographie von Heiner Müller deutet auf eine historiographische Komponente dieses Lebensrückblicks hin: Er kündigt an, das Leben des ostdeutschen Dramatikers in Bezug auf die beiden totalitären Systeme im Deutschland des 20. Jahrhunderts zu beleuchten, also seine Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus und sein Erwachsenen- und Künstlerleben in der DDR. Ohne Zweifel wird Müllers Lebensverlauf von den jeweiligen politischen Umständen tiefgreifend geprägt; das Zeitgeschehen ist daher in den Erzählungen über seine individuelle Vergangenheit häufig präsent. Inwiefern er in seiner Autobiographie jedoch dezidiert um Geschichtsvermittlung bemüht ist, ob er das aktuelle Wissen und den Horizont des gegenwärtigen Schreibers gezielt nutzt, um subjektiven Erfahrungen Allgemeingültigkeit zu verleihen und so ein Zeitpanorama zweier Epochen zeichnet, muss sich im Folgenden erst herausstellen. Kurz nach der Veröffentlichung seines Lebensrückblicks wird Heiner Müller in einem Interview gefragt, was ihn veranlasst habe, sich für dieses autobiographische Projekt in Gesprächsform zur Verfügung zu stellen. Er antwortet: Einmal das Drängen des Verlagslektors und andererseits die Tatsache, daß natürlich mit der sogenannten ›Wende‹ etwas zu Ende war, auch in meiner Biographie etwas Neues anfangen mußte oder muß, wovon ich noch nicht weiß, wie es aussehen wird. Es war ein Einschnitt in meiner Biographie und in der deutschen und europäischen Geschichte, und das ist ein Grund, ein Resümee zu versuchen, und ich hatte einfach keine Argumente mehr gegen die Argumente des Lektors, das zu machen.1377

Neben der Überzeugungskraft Helge Malchows ist es laut Müller also primär das geschichtliche Ereignis der Wende, das ihm Anlass bietet, eine Bilanz zu ziehen, da er es naturgemäß als Zäsur innerhalb seines Lebenslaufs wahrnimmt. Er nennt aber auch dessen Bedeutung für die deutsche und europäische Geschichte explizit als Grund, Rückschau zu halten. Das ist insofern nicht erstaunlich, als Heiner Müller sich mit den historischen Zusammenhängen, die sein Leben von Beginn an prägen, in seinem Werk stetig auseinandersetzt – in den Theaterstücken, Gedichten, Prosatexten und Interviews sind die geschichtlichen Ereignisse und Entwicklungen des 20. Jahrhunderts äußerst präsent. Insbesondere die von der Geschichte geforderten Opfer bilden einen zentralen Topos in Müllers Texten und Aussagen, wohl nicht zuletzt aus dem einfachen Grund, dass er selbst in seinem Lebensverlauf stets Gegenstand von Politik und Geschichte 1377 »Heiner Müller oder Leben im Material«, Heiner Müller im Gespräch mit Hermann Theissen, S. 240.

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ist.1378 Autoritäre Herrschaft und staatlicher Terror begleiten ihn fast das ganze Leben; er kann nicht in Einklang mit den Zeitverhältnissen aufwachsen und leben, sondern nur in Konfrontation oder erzwungener Identifikation mit der Macht.1379 In einem Gespräch mit Hyunseon Lee, die ihn fragt, warum er Themen wie Krieg und Gewalt in seinen Stücken behandele, äußert er noch im Jahr 1994: »Weil ich aufgewachsen bin in einer Welt, wo Krieg war, innen und außen, immer. Ich lebe nach wie vor in einer Welt mit Krieg. Ich kenne keine andere. Was soll ich anderes schreiben?«1380 In Germania Tod in Berlin (geschrieben 1956/71, UA 1978) beispielsweise rekapituliert Müller den Lauf der deutschen Geschichte von Friedrich dem Großen bis zu Hitler und Stalin als unendliches Wiederholen von Katastrophen.1381 Insbesondere die Lebensrealität im ›real existierenden Sozialismus‹ bildet einen thematischen Schwerpunkt in seinem Werk. In Der Lohndrücker (geschrieben 1956/57, UA 1958) etwa zeichnet er ein von der Propaganda abweichendes Bild der ostdeutschen Produktionsbedingungen und Klassenverhältnisse. In Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande befasst er sich mit der Entwicklung der DDR-Landwirtschaft von der Bodenreform 1945 bis zur sozialistischen Kollektivierung 1960. Nüchtern-realistisch schildert er die Schwierigkeiten der neuen landwirtschaftlichen Produktionsweisen. Der Aufbau des Sozialismus wird als mühevoller Prozess der Überwindung von nationalsozialistischer und preußischer Vergangenheit dargestellt. Eine Probeaufführung dieses offiziell als ›antikommunistisch‹ und ›konterrevolutionär‹ bezeichneten Theaterstücks hat Müllers Ausschluss aus dem Schriftstellerverband zur Folge.1382 Heiner Müllers Texte können als Kommentare zur deutschen Geschichte gelesen werden1383 ; laut Norbert Otto Eke unternimmt er eine »Generalinventur der Geschichte in seinen Stücken«.1384 Jan-Christoph Hauschild resümiert: »Müllers literarische Arbeit war Kampf gegen Geschichtslosigkeit, Geschichte ihr Grundthema, Ideologie das Material, das er immer wieder neu arrangierte«.1385 Letztlich betrachtet der Schriftsteller alle äußeren Umstände seines Lebenslaufs als Material; individuell erfahrene Politik und Geschichte bilden seine Arbeitsgrundlage. Er selbst formuliert: »Es ist doch ein seltener Glücksfall in einem Lebenslauf, zwei Staaten untergehen zu sehen. Das erleben die wenigsten. 1378 Vgl. Thomas Eckhardt: »Geschichtsbilder«. In: Heiner Müller Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Hg. v. Hans-Thies Lehmann u. Patrick Primavesi, Stuttgart, Weimar 2003, S. 93. 1379 Vgl. Hauschild, S. 9f. 1380 »›Als Bürger bin ich für Normalitäten, aber als Künstler natürlich nicht.‹ Heiner Müller im Gespräch mit Hyunseon Lee in Berlin am 12. 6. 1994«, S. 77. 1381 Vgl. Nelva, S. 42. 1382 Vgl. ebd., S. 40f., Hauschild, S. 186 u. Emmerich 2000, S. 158. 1383 Vgl. Löschner, S. 147. 1384 Eke 1999, S. 285f. 1385 Hauschild, S. 10.

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[…] Ich meine schon, der Materialwert von dem, was passiert ist, ist ungeheuer«.1386 In seiner prinzipiell ästhetischen und distanzierten Sichtweise der Welt liegt auch Müllers Entscheidung, die DDR nicht zu verlassen, begründet: Trotz aller Kritik an diesem Staat erachtet er ihn als Voraussetzung und Gegenstand seiner künstlerischen Arbeiten.1387 Hermann Theissen stellt Heiner Müller die Frage, welche Daten er als wichtig erachte, um sein Leben in der Retrospektive zu strukturieren. In Einklang mit den bisherigen Ausführungen in diesem Kapitel erhält er folgende Antwort: Das Geburtsdatum versteht sich von selbst. Ohne das gibt es keine anderen, aber das erste wichtige Datum ist 1933. Das zweite wichtige Datum ist 1945, das dritte ist 1953, das vierte 1961, das nächste 1968 und das nächste 1989. Das sind merkwürdigerweise alles historische Daten, die mit Geschichte zu tun haben, und das ist vielleicht das einzig Interessante an dem, was ich da versucht habe zu erzählen, die Verbindung einer Biographie mit der Geschichte eines Landes.1388

In welchem Maß der Schriftsteller ein Objekt der geschichtlichen Entwicklungen ist und worin seine lebenslange Auseinandersetzung mit diesem Themenkomplex begründet liegt, zeigt sich bereits in den ersten Kapiteln der Autobiographie. Sie offenbaren, wie stark schon die frühen Kinderjahre Müllers von der politischen Lage beeinflusst sind: Der kleine Heiner wächst in einem antifaschistischen Elternhaus auf; sein Vater gerät bereits 1933 in Konflikt mit den nationalsozialistischen Machthabern. Zu den ersten Erinnerungen des Autobiographen zählt, wie bereits erwähnt, die nächtliche Verhaftung Kurt Müllers durch Angehörige der SA, während das darauf folgende Dreivierteljahr durch die Abwesenheit des Vaters sowie durch Ausgrenzung, Armut und Hunger geprägt ist. Die Interviewpartner fragen Müller direkt nach diesen traumatischen Erfahrungen, denen er bereitwillig das gesamte erste Kapitel seiner Erinnerungen widmet. Auch im weiteren Verlauf der Autobiographie zeigt sich wiederholt, wie eng Müllers Lebenslauf an die Zeitgeschichte gekoppelt ist. Das Inhaltsverzeichnis listet unter jeder Kapitelüberschrift mehrere Stichworte auf, die Aufschluss über die im jeweiligen Abschnitt behandelten Themen geben. Hier finden sich zahlreiche Einträge, die mit Vorfällen oder Konstellationen innerhalb der deutschen Geschichte in Zusammenhang stehen, so zum Beispiel »Besuch im KZ«, »Nazizeit«, »Kriegseinsatz des Vaters«, »Die Russen in Waren«, 1386 »Eine Tragödie der Dummheit. Ein Gespräch mit Ren8 Ammann für ›Freitag‹, 16. 11. 1990«. In: Müller, Heiner: Gesammelte Irrtümer 3. Texte und Gespräche, Frankfurt/M. 1994, S. 117. 1387 Vgl. Gerhard Sauder : »Suchbilder. Literarische Autobiographien der neunziger Jahre«. In: Die Lust am öffentlichen Bekenntnis. Persönliche Probleme in den Medien, Hg. v. Peter Winterhoff-Spurk u. Konrad Hilpert, St. Ingbert 1999, S. 126. 1388 »Heiner Müller oder Leben im Material«, Heiner Müller im Gespräch mit Hermann Theissen, S. 241.

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»Zwangsvereinigung SPD-KPD«, »Flucht der Eltern«, »Parteiausschluß«, »Westreisen«, »Die Biermann-Affäre 1976«, »Geschichte und Gewalt«, »Die RAF« und »Das Ende der DDR«.1389 Sie verdeutlichen bereits vor dem Textteil, dass das autobiographische Werk Heiner Müllers sich nicht unabhängig von Politik und Geschichte betrachten lässt. Die Gründung der DDR liegt erst zwei Jahre zurück, als Müllers Eltern sich entschließen, nach Westdeutschland überzusiedeln und ihren Sohn bitten, sie zu begleiten. Der Autobiograph berichtet sehr detailliert über diesen Einschnitt in seinem Leben, als seine Eltern und der jüngere Bruder die Heimat verlassen und er sich bewusst für ein Leben im Sozialismus entscheidet.1390 Auch die Affäre um sein Theaterstück Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande, die sich nicht zufällig kurz nach dem Mauerbau abspielt, Müllers Zukunft als Schriftsteller bedroht und ihn zur Abfassung einer öffentlichen Selbstkritik veranlasst, nimmt beträchtlichen Raum innerhalb des autobiographischen Berichts ein; sie füllt ein ganzes Kapitel, in dem der Erzähler ausführt: Inge war mit meiner Selbstkritik eigentlich einverstanden. Sie fand sowieso verantwortungslos, was ich mit dem Stück gemacht hatte. Es ist auch nicht so leicht, dabeizubleiben, daß man recht hat, wenn plötzlich alle andern gegen einen reden. Ich wußte, daß ›Umsiedlerin‹ ein guter Text war, aber das war auch alles, was ich wußte. Ich war durchaus bereit, darüber nachzudenken, ob ich politisch irgend etwas falsch sah. […] Ich konnte mir eine Existenz als Autor nur in diesem Land vorstellen, nicht in Westdeutschland. Ich wollte ja nicht nur dieses Stück geschrieben haben, sondern auch noch andere Stücke schreiben. Knast war keine Alternative, und weggehen war auch keine.1391

Erst Jahre später kann sich Müller als Dramatiker etablieren, Konfrontationen mit der Staatsmacht anlässlich seiner Stücke bleiben ihm jedoch auch dann nicht erspart. Die private Verbindung zu der Bulgarin Ginka Tscholakowa führt ebenfalls zu Auseinandersetzungen mit dem Staatsapparat; Ginka wird verhaftet, weil sie unfreiwillig beobachtet hat, wie sich Erich Mielke am Nationalfeiertag der DDR 1966 betrunken an einer Schlägerei beteiligte: Das wurde relevant, nachdem sie mich getroffen hatte. Ich bin ziemlich sicher, daß das die Erklärung ist. Es dauerte dann im ganzen drei Jahre, bis Ginka in die DDR zurückdurfte. Statt dessen bin ich dann oft zu ihr nach Bulgarien gefahren. Wir durften in Sofia heiraten, ein Jahr nach der Heirat durfte sie zurück in die DDR.1392

Müller versucht die drohende Ausweisung Ginkas aus der DDR mit einem Besuch bei Erich Honecker abzuwenden, bleibt damit aber zunächst erfolglos. 1389 1390 1391 1392

Heiner Müller 1994, Krieg ohne Schlacht, S. 7, 8. Vgl. ebd., S. 66ff. Ebd., S. 180f. Ebd., S. 237.

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Seine daraus folgenden Aufenthalte bei Ginka in Bulgarien begreift er als günstige Basis für und positive Einflussnahme auf seine Arbeit. Manchmal sind es auch die Fragen von Müllers Interviewpartnern, die historische Ereignisse thematisieren und den Autobiographen unmittelbar zur Vermittlung und Einschätzung geschichtlicher Informationen veranlassen. Im Kapitel Theaterarbeit in Ostberlin, die siebziger Jahre beispielsweise werden Müller die folgenden Fragen gestellt: »Zurück in die siebziger Jahre: 1976 war das Jahr der Biermann-Ausbürgerung. Kanntest Du Wolf Biermann?«1393 und »Du hast neben anderen die Petition gegen die Ausbürgerung unterschrieben«.1394 Der Autobiograph geht in diesem Fall nur sehr knapp auf das gewünschte Thema ein, nichtsdestotrotz erhält der Leser Einblick in die DDR-internen Vorgänge nach der Biermann-Ausbürgerung. Müller rekonstruiert die Folgen der gegen die Ausweisung gerichteten Petition aus seiner subjektiven Erinnerung heraus: Die vielen unbekannten Unterzeichner wurden reihenweise unter Druck gesetzt, zum Teil verhaftet. Deswegen kamen wir auf die Idee, es wäre gut, wenn man jetzt einen Brief der Erstunterzeichner schreiben würde, in dem die sich von dem Gebrauch distanzieren, den jetzt der Westen von diesem Protest machte. Darüber habe ich dann mit Christa Wolf gesprochen. Sie war auch einigermaßen geneigt, das richtig zu finden. Sie sagte, man müßte mit Hermlin darüber reden. Dann habe ich mit Hermlin gesprochen, und Hermlin sagte: ›Ich bin am Dienstag bei Honecker, und da werde ich das klären.‹ Die ›Klärung‹ erfolgte durch die Ausschlüsse aus dem Schriftstellerverband.1395

Jost Hermand spricht von einer »geradezu manische[n] Fixierung auf das Phänomen ›DDR-Sozialismus‹«1396, die der Autobiographie zu Grunde liege. Der tatsächliche Sachverhalt wird in dieser Einschätzung überspitzt dargestellt; letztlich betrifft Müllers Fokussierung der deutschen Geschichte nicht nur die Nachkriegszeit, sondern auch den Nationalsozialismus und resultiert, wie bereits gezeigt wurde, unverkennbar aus seiner persönlichen Verwobenheit mit den Zeitverhältnissen. Das dritte Kapitel des autobiographischen Werkes trägt die Überschrift Im Krieg, 1944 und thematisiert Müllers Werwolfausbildung, seine kurze Kriegserfahrung sowie verschiedene Erlebnisse während seiner Rückkehr zu der Familie nach Waren. Folgende Textpassage ist paradigmatisch für Müllers Art, seine Erinnerungen zu vermitteln:

1393 1394 1395 1396

Ebd., S. 272. Ebd., S. 273. Ebd., S. 273f. Jost Hermand: »Diskursive Widersprüche. Fragen an Heiner Müllers ›Autobiographie‹ (1993)«. In: ders./Fehervary, Helen: Mit den Toten reden. Fragen an Heiner Müller, Köln, Weimar, Wien 1999, S. 97.

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Neben einem toten Pferd lag eine Flasche mit Anisschnaps, der erste Anisschnaps meines Lebens, hausgebrannt. Ich habe die Flasche genommen, und ein paar Meter weiter stand der erste Amerikaner und hielt uns an. Als erstes nahm er mir die Flasche weg. Das habe ich den Amerikanern nie verziehn. Dann fand ich mich auf einer Koppel, einer Viehkoppel, in amerikanischer Kriegsgefangenschaft wieder. Sie trieben uns dort hinein, und wir haben dort einige Zeit verbracht. Es kamen immer mehr, zu essen gab es nichts. Die Amerikaner waren sehr hektisch, sehr nervös, sehr ängstlich.1397

Der Leser erhält durchaus Auskunft über Müllers individuell erfahrene Kriegsgefangenschaft; verschiedene Episoden werden aneinandergereiht und geben punktuell Einblick in die Umstände der unmittelbaren Nachkriegszeit. Nur Zeitzeugen wie Müller können der Nachwelt die Atmosphäre dieser Wochen im Frühjahr 1945 angemessen vermitteln, was seinen Bericht zu einer bedeutsamen Quelle in Bezug auf die Zeitverhältnisse macht. Jedoch wird die Darstellung nicht um allgemeingültige historiographische Informationen erweitert; es ist keine aktive Bemühung von Seiten des Autobiographen erkennbar, dem Leser mehr zu bieten als subjektive Erinnerungen, die überdies – vermutlich zu Lasten von Exaktheit und Gewissenhaftigkeit – zu pointenreichen Anekdoten geformt werden. Der für Müller wie auch für die kulturelle Landschaft der DDR folgenreiche Tod Bertolt Brechts im Jahr 1956 wird ebenfalls als Anlass für eine Anekdote genutzt: Auf die Frage »Was weißt Du über seinen Tod?«1398 hin, geht der Autobiograph nur kurz auf Brechts Krankheit ein, um schnell überzuleiten: »Schön ist eine Geschichte aus der Zeit nach seinem Tod«.1399 Fritz Cremer, der den Entwurf für Brechts Stahlsarg erstellt hat, habe vergessen Maß zu nehmen, weswegen er sich später Sorgen gemacht habe, ob Brecht überhaupt hineinpassen würde. Und die Weigel, die eine praktische Frau war, ersuchte einen der Werktätigen, der ungefähr die Statur von Brecht hatte, sich probeweise in den Sarg zu legen. Der Sarg paßte. Dann zogen sie mit dem Sarg wieder ab. Das war ›Die Maßnahme‹ 1956.1400

Ein weiteres Beispiel für Müllers Art der Geschichtsvermittlung ist das Kapitel Der 17. Juni 1953, in dem der Autobiograph zwar subjektive Eindrücke der Ereignisse in Berlin schildert, aber nicht auf die Zusammenhänge des landesweiten Arbeiteraufstands eingeht: Über mehrere Seiten erstreckt sich Müllers Bericht über diesen Tag, den er »nur als Beobachter erlebt«1401 habe. Er be1397 1398 1399 1400 1401

Heiner Müller 1994, Krieg ohne Schlacht, S. 38. Ebd., S. 231. Ebd. Ebd. Ebd., S. 132.

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schreibt eine bereits erwähnte bemerkenswerte Erinnerung an Stephan Hermlin, rekapituliert seine Route durch Berlin, skizziert einzelne Situationen, die er unterwegs miterlebt, entwirft ein kurzes Portrait von Walter Ulbricht, spricht von Panzern, brennenden Häusern und dem Potsdamer Platz als Hauptschlachtfeld und urteilt: »Es war einfach interessant, ein Schauspiel«.1402 Über die Hintergründe und den Ausgang der historisch bedeutsamen Ereignisse dieses Tages äußert er sich in dem Kapitel nicht. Martin Linzer betont in seiner Rezension von Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen zu Recht den disparaten Charakter des Werkes, der keinen Gesamtüberblick historischer Epochen ermöglicht. Dennoch erwähnt er lobend die vermittelten Gedächtnissplitter, die aber – eine Qualität des Textes trotz seiner künstlichen Geburt – sehr viel über die Zeit aussagen. Details mögen zum Teil falsch sein, irrig, ungenau erinnert – was stimmt, ist die Atmosphäre der Zeit, wie Leute miteinander umgingen. Über das Verhältnis zwischen Künstlern, zwischen Künstlern und Funktionären erfahre ich viel oder werde in meinen Erfahrungen bestätigt.1403

Letztlich werden zahlreiche historische Ereignisse, die den Autobiographen direkt betreffen, erwähnt und zum Teil detailliert abgehandelt, darüber hinaus jedoch finden sich wenige historiographische Anmerkungen: »In diesen Selbstbildern begegnet die geschichtliche Realität der DDR primär als Bedingungsfeld der Künstlerexistenz bzw. der literarischen Produktion«.1404 Übersichtlichkeit und Verständlichkeit scheinen überdies nicht das Ziel des Erzählers zu sein und werden daher nur eingeschränkt erreicht. Hinsichtlich der Historizität in Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen lässt sich also festhalten: Im Gegensatz zu den drei bisher abgehandelten Autoren kann im Fall Heiner Müllers nicht von bewusster und sorgfältiger Geschichtsvermittlung die Rede sein. Der Autobiograph bemüht sich nicht darum, über seine subjektiven Erinnerungen hinaus ein Zeitpanorama der Epoche zu entwerfen. Der Erfahrungshorizont des die Geschehnisse überblickenden gegenwärtigen Schreibers wird nicht benutzt, um dem Bericht Zusammenhang und Übersichtlichkeit zu verleihen. Der Kontrast zwischen früheren und gegenwärtigen Bewusstseinszuständen, die Verbindung und die Differenz von erzähltem und erzählendem Ich, die einer Autobiographie idealerweise zu Grunde liegen und Aufschluss über Zeitgeist und Erfahrungsgehalte verschiedener Zeitebenen geben, werden von Müller nicht gezielt herausgearbeitet. Diese Merkmale des untersuchten Werkes sind nicht zuletzt auf Müllers nur einge1402 Ebd., S. 133. 1403 Linzer, S. 134. 1404 Wolfgang Schemme: »Heiner Müller : Krieg ohne Schlacht. Theater als Angriff auf die Wirklichkeit«. In: Deutschunterricht 48 (1995), H. 4, S. 202.

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schränkt vorhandene Bereitschaft zur Erstellung einer Autobiographie zurückzuführen; der Lebensbericht lässt insbesondere in dieser Hinsicht erkennen, dass er nicht aus Müllers eigener Motivation heraus entstanden ist. Gerhart Pickerodt bemängelt dementsprechend: Müller hat auch in früheren Zeiten dramatisch Geschichte vergegenwärtigt, nationale Geschichte, Kriegsgeschichte, Revolutionsgeschichte. In seiner Autobiographie ist die Weiträumigkeit kollektiver Geschichte zur Individualgeschichte zusammengeschrumpft, die überdies nicht einmal kollektive Repräsentanz beansprucht.1405

Pickerodts Kritikpunkt kann nicht vorbehaltlos zugestimmt werden, denn auch ohne aktive Bemühung des Erzählers werden in einer Autobiographie gleichfalls allgemeine zeitgeschichtliche Informationen vermittelt, wie bereits in Kapitel 2.2.2. dieser Arbeit deutlich wurde und wie es auch auf Müllers Werk durchaus zutrifft. Selbst in Bezug auf die Historizität können dem Buch Repräsentanz und eine gewisse Qualität nicht abgesprochen werden, nur findet die Geschichtsvermittlung hier, wenn man so will, en passant statt, ohne dass diesbezüglich ein besonderer Antrieb Müllers erkennbar wäre. Kerstin E. Reimann urteilt: Müllers Memoirenband Krieg ohne Schlacht kann bereits aufgrund seiner Entstehung nicht als literarisch großes Werk gelten, aber es enthält wichtige Dokumente, liefert Werkstattberichte und Einblicke in diverse Inszenierungen, rollt das Verbot des Stückes Die Umsiedlerin erneut auf und erhellt auf diese Weise ein zentrales Stück Theatergeschichte der DDR.1406

Zu Recht erwähnt die Literaturwissenschaftlerin in ihrer Beurteilung auch den Dokumentenanhang, der aussagekräftige Schriftstücke, die Müllers Karriere als Schriftsteller und Dramatiker betreffen, in Originalwortlaut versammelt. Dazu gehören unter anderem ein Mahnbrief des Ministeriums für Kultur, eine Stellungnahme des Schriftstellerverbandes, ein Brief des Berliner Ensembles und eine Telefonnotiz, die allesamt in Zusammenhang mit der Affäre um Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande stehen, der darauf folgende »Ausschließbrief des Schriftstellerverbandes« und die »Selbstkritik Heiner Müllers«, die »Biermann-Resolution 1976«, ein Diskussionsbeitrag und eine Rede aus Müllers Feder sowie die bereits erwähnten Anmerkungen von B. K. Tragelehn.1407 Während die Ausführungen des Autobiographen zumeist subjektiv, punktuell und vage bleiben, vermittelt der Anhang neutrale Sachverhalte, benennt Fakten und gibt Aufschluss über konkrete Mechanismen der Machtausübung innerhalb 1405 Gerhart Pickerodt: »Zwischen Erinnern und Verdrängen. Heiner Müllers Autobiographie Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen«. In: Cahiers d’Ptudes Germaniques 19 (1995), H. 29, S. 71. 1406 Reimann, S. 123. 1407 Vgl. Heiner Müller 1994, Krieg ohne Schlacht, S. 372ff.

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des sozialistischen Kulturbetriebs – die Dokumente eröffnen zusätzliche Einblicke in das alltägliche und kulturelle Leben in der DDR. Somit bilden sie hinsichtlich der Historizität des Werkes eine sinnvolle Ergänzung zu Müllers Darstellung. Dennoch kann und darf die literarische Autobiographie als Gattung nicht in Bezug auf einen neutralen Dokumentenanhang beurteilt werden, da ihre Möglichkeiten und Grenzen sowie ihre Qualität jenseits objektiver Faktenvermittlung zu verorten sind. Ähnlich verhält es sich mit dem angehängten Dossier von Dokumenten des Ministeriums für Staatssicherheit der ehemaligen DDR und den weiteren Materialien, mit deren Publikation Heiner Müller auf die Vorwürfe reagiert, die seit Januar 1993 öffentlich gegen ihn erhoben werden: Auf Grund weniger Karteikarten und Schriftstücke des MfS wird ihm eine Tätigkeit als ›Informeller Mitarbeiter‹, also eine systematische Zusammenarbeit mit dem DDR-Geheimdienst unterstellt. Der Schriftsteller wird, unter anderem von Spiegel TV und Die Zeit, dem Feindbild des opportunistischen Intellektuellen und heimlichen Mitläufers zugeordnet, das zu dieser Zeit im Rahmen der sogenannten ›Stasi-Debatte‹ in den Feuilletons namhafter deutscher Zeitungen entworfen wird. Müller, der seit 1990 Präsident der Akademie der Künste (Ost) ist, wird politisches wie künstlerisches Versagen und Verrat vorgehalten; wiederholt wird er mit dem Vorwurf seiner vermeintlich mangelnden moralisch-politischen Glaubwürdigkeit konfrontiert.1408 Er selbst räumt in diesem Zusammenhang ein, im Rahmen seiner Theaterarbeit durchaus Gespräche mit Mitarbeitern des MfS geführt zu haben, distanziert sich aber unmissverständlich von der ihm unterstellten IM-Tätigkeit. Nach wenigen Wochen laufen die Anschuldigungen ins Leere, da sich die behauptete Spitzeltätigkeit als IM »Zement« beziehungsweise »Heiner« nicht belegen lässt.1409 Uwe Schütte urteilt treffend: Ein bedeutender Teil der westdeutschen Medien verleumdet Müller ab Winter 1992/93 in einer Schmierkampagne als Zuträger des Ministeriums für Staatssicherheit, ohne konkrete Beweise vorlegen zu können. Es ist der offenkundige Versuch, durch die Ruinierung seines Rufes auch sein Werk als moralisch kompromittiert und politisch überholt zu ›entsorgen‹.1410

Das sorgfältig zusammengestellte, aber weitgehend kommentarlose Dossier eröffnet die Möglichkeit, die gegen Müller erhobenen Vorwürfe mit der tatsächlichen Aktenlage abzugleichen: Nach einer Einleitung von Helge Malchow findet sich zunächst die »Pressemitteilung von ›Spiegel TV‹ vom 10. 1. 1993«, die die Überschrift »Dramatiker Heiner Müller bekennt sich zu Stasi-Kontakten« trägt. Es folgen Stellungnahmen Heiner Müllers und seines Anwalts. Den 1408 Vgl. Hörnigk 2005, Editorische Notiz, Band 9, S. 489. 1409 Vgl. Eke 1999, S. 288 u. Malchow 1994, Einleitung Dossier-Teil, S. 431–434. 1410 Schütte 2010, Heiner Müller, S. 23.

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Schwerpunkt des Dossiers bilden elf Dokumente aus den Akten des MfS, darunter Auszüge aus den Vorgangsheften mit Hinweisen auf die Vorgänge »Zement« und »Heiner«, Operativpläne aus den Jahren 1978 bis 1981, interne Operativgeldabrechnungen aus den Jahren 1986 bis 1988 und einige Karteikarten aus der betreffenden Bezirksverwaltung des MfS. Diese Schriftstücke sind, wie auch einzelne Dokumente innerhalb des Anhangs, nicht transkribiert wiedergegeben, sondern es wurden fotomechanische Reproduktionen erstellt; zahlreiche Namen und Daten wurden dazu geschwärzt. Die Materialsammlung schließt ab mit dem Aufsatz Das Müller-Phantom von Andreas Schreier und Malte Daniljuk sowie einem Interview mit Thomas Assheuer, in dem Müller sich rechtfertigend zu dem Themenkomplex äußert. Im autobiographischen Bericht selbst, der in der Hardcover-Ausgabe 1992 noch ohne dieses Dossier erscheint, lässt der Autor seine Verbindungen zum MfS unerwähnt und handelt den Geheimdienstapparat lediglich am Rande ab. Nur wenige Textstellen wie die folgende betreffen diesen für Müller eigentlich nicht unbedeutenden Aspekt ostdeutscher Realität: Ich habe mich nicht bespitzelt gefühlt, die Präsenz der Staatssicherheit gehörte zum Leben in der DDR. Offene ›Beschattung‹ habe ich erst 1976 kennengelernt, nach der Austreibung Biermanns. Man sollte es damals merken. Am Telefon wußte man, es wird abgehört.1411

Eine Seite später äußert sich der Autobiograph über die Staatssicherheit als Institution sowie ihre politische Bedeutung: Seit Gorbatschow muß die Staatssicherheit auf Grund ihres Informationsstandes gewußt haben, daß die Festung DDR militärisch und ökonomisch nicht mehr zu halten ist. Es gab auch deutliche Signale dafür, daß die Diskrepanz zwischen dem Wissensstand der führenden Funktionäre und der Staatssicherheit zunahm. Die Intelligenz war bei der Staatssicherheit, die Blindheit bei der Parteiführung. Und natürlich hatte die Staatssicherheit nicht erst seit Gorbatschow bessere Kontakte zu den Russen als die Parteiführung.1412

Diese Passage hat – insbesondere hinsichtlich der Historizität von Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen – durchaus Relevanz, da sie dem Leser Aufschluss über DDR-interne Strukturen gibt. Doch letztlich ist es erstaunlich, dass Müller bei solch allgemeinen Einschätzungen verbleibt und kaum über seine persönliche Einstellung zu dem Geheimdienstapparat spricht. Das bewusste Verschweigen der eigenen Kontakte zum MfS bringt Müller nach deren Bekanntwerden viel Kritik ein, so äußert zum Beispiel Julian Preece: »[I]t is a matter which needs to be addressed in an autobiography. The fact that he shies 1411 Heiner Müller 1994, Krieg ohne Schlacht, S. 217. 1412 Ebd., S. 218.

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away from his task diminishes his effort«.1413 Thomas Assheuer stellt Müller in dem in das Dossier aufgenommenen Interview die Frage: »Aber warum haben Sie denn in Ihrer Autobiographie von all dem nichts geschrieben?«, woraufhin sein Gesprächspartner folgendermaßen Stellung bezieht: »Es gibt ein Menschenrecht auf ›Feigheit vor dem Feind‹, von dem habe ich Gebrauch gemacht in der Situation, in der Atmosphäre damals. Und daß das Feindbild stimmt, hat ja dann die Journaille bewiesen«.1414 Gegenüber Der Spiegel räumt er ein, dass diese Entscheidung sicherlich falsch gewesen sei, »aber ich dachte damals, nur im Sinne des geltenden Rasters verstanden zu werden: Wer mit der Stasi redete, ist ein Schwein«.1415 Seit Januar 1993 äußert sich Heiner Müller öffentlich über seine regelmäßigen Kontakte zum Ministerium für Staatssicherheit, macht aber gleichzeitig deutlich, dass er diese keineswegs für verurteilenswert hält: Ich war und bin ein Stück DDR-Geschichte, und ich glaube schon, es geht um die Auslöschung von DDR-Geschichte, und da ist das ein guter Schritt, so eine Aktion, so eine Denunziation. Und es ist ganz schwer in dieser giftgeschwollenen Atmosphäre, überhaupt vernünftig darüber zu reden. Der Hauptpunkt ist, ich hatte natürlich, das ist unvermeidlich in einer Position, wie ich sie hatte, Kontakte mit der Staatssicherheit. […] Und ich habe versucht, zu beraten und Einfluß zu nehmen auf Dinge, weil, es war von einem bestimmten Zeitpunkt ab nicht mehr möglich, mit Parteifunktionären vernünftig zu reden, gerade in den letzten Jahren. Und da war es möglich, mit StasiOffizieren vernünftig zu reden, weil die mehr Informationen hatten und mehr wußten über die wirkliche Lage als ein Parteifunktionär. […] Ich habe da überhaupt nie ein moralisches Problem drin gesehen, sehe ich auch heute nicht.1416

Auch in seinem Gespräch mit Hyunseon Lee bekräftigt er, dass die Staatssicherheit zum Alltag in der DDR gehörte, da zum Beispiel zu jeder Generalprobe ein Offizier des MfS im Theater erschien und anschließend beurteilte, ob das Stück zur Aufführung erlaubt wird. Müller habe diese Offiziere gekannt und auch mit ihnen gesprochen.1417 Er urteilt in Bezug auf diese Gespräche: »Man konnte viel mehr Schaden anrichten, wenn man indirekt mit der Staatssicherheit 1413 Preece, S. 364. Vgl. auch Grub 2003, Untersuchungen, S. 318 u. anonym: »Vieles ist möglich. Der Dramatiker Heiner Müller wurde als Inoffizieller Mitarbeiter geführt. Seine Rechtfertigungen sind noch dünner als die gegen ihn sprechenden Indizien«. In: Der Spiegel 47 (1993), Nr. 3, 18. 01. 1993, S. 175. 1414 »›Es gibt ein Menschenrecht auf Feigheit‹, ein Gespräch mit Heiner Müller über seine Kontakte mit der Staatssicherheit von Thomas Assheuer in der Frankfurter Rundschau, 22. 5. 1993«. In: Müller, Heiner : Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen, Köln 1994, S. 488. 1415 Anonym 1993, Vieles ist möglich, S. 175. 1416 Heiner Müller : »Ich war und bin ein Stück DDR-Geschichte«. In: ders.: Werke, Band 8: Schriften, Hg. v. Frank Hörnigk, Frankfurt/M. 2005, S. 435. 1417 Vgl. »›Als Bürger bin ich für Normalitäten, aber als Künstler natürlich nicht.‹ Heiner Müller im Gespräch mit Hyunseon Lee in Berlin am 12. 6. 1994«, S. 70.

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geredet hat. In der Theaterkantine, wo man unkontrolliert über Kollegen redet. Die direkten Gespräche waren kontrollierte Gespräche«.1418 Von dem Vorwurf einer systematischen IM-Tätigkeit dagegen distanziert sich Müller entschieden: Aus Karteikarten der Gauck-Behörde erfahre ich, daß ich von der Staatssicherheit als IM geführt wurde. […] Ich kann versichern und beeiden, daß ich im Zusammenhang mit der Staatssicherheit kein Papier unterschrieben und kein Wort schriftlich formuliert habe. Ich war naiv genug, nicht zu wissen, daß Gespräche mit Mitarbeitern der Staatssicherheit als ›IM-Tätigkeit‹ registriert wurden.1419

Müller kann glaubwürdig vertreten, dass er nie eine Verpflichtungserklärung unterschrieben, keine finanziellen Zuwendungen erhalten und keine Berichte über Freunde oder Kollegen verfasst habe.1420 Die abgedruckten Quellen dokumentieren Art und Umfang seiner Verbindung zum DDR-Geheimdienst und werden von Andreas Schreier und Malte Daniljuk eingehend analysiert und interpretiert. Sie zeigen anhand der Aktenlage auf, dass Müller über mehrere Jahre im Rahmen der ›Operativen Personenkontrolle‹ »Zement« unter der Leitung von Oberleutnant Hans Holm vom MfS überwacht wird. Holm jedoch schätzt Heiner Müllers Arbeit und zeigt sich bei der Aufdeckung dessen angeblicher Feindtätigkeit wenig motiviert.1421 Als die Zentrale des MfS 1978 erwägt, Müller vor Gericht zu stellen, trifft der Stasioffizier eigenmächtig eine Entscheidung: Da Holm nach wie vor nicht der Meinung war, daß ›Zement‹ ein Feind der DDR sei, entschied er sich für die damals sicherste Variante: Er beschloß gemeinsam mit seinem Kollegen Girod, Müller von der ›Feind-‹ in eine ›Freundbearbeitung‹ umzudeklarieren.1422

Ohne Müllers Wissen erstreckt sich sein ›IM–Vorlauf‹ »Zement« über eineinhalb Jahre; sein anschließender IM-Status währt bis zum Ende der DDR. Es finden sich keine Belege für eine aktive Zusammenarbeit oder ›Opferakten‹, die auf von IM »Zement« oder »Heiner« verfasste Berichte hindeuten – Schreier und Da-

1418 »›Es gibt ein Menschenrecht auf Feigheit‹, ein Gespräch mit Heiner Müller über seine Kontakte mit der Staatssicherheit von Thomas Assheuer in der Frankfurter Rundschau, 22. 5. 1993«, S. 188. 1419 Heiner Müller : »Die Hysterie der Macht«. In: ders.: Werke, Band 8: Schriften, Hg. v. Frank Hörnigk, Frankfurt/M. 2005, S. 438. 1420 Vgl. »›Es gibt ein Menschenrecht auf Feigheit‹, ein Gespräch mit Heiner Müller über seine Kontakte mit der Staatssicherheit von Thomas Assheuer in der Frankfurter Rundschau, 22. 5. 1993«, S. 179, 184 u. Emmerich 2000, S. 474. 1421 Vgl. Andreas Schreier/Malte Daniljuk: »Das Müller-Phantom«. In: Müller, Heiner : Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen, Köln 1994, S. 471f. 1422 Ebd., S. 473.

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niljuk bezeichnen Müller als »Karteileiche« beziehungsweise »Phantom-IM«.1423 Ihr abschließendes Urteil lautet: Alle diese Informationen wären der Öffentlichkeit jederzeit zugänglich gewesen. Es bleibt die Frage, warum erhobene Anschuldigungen so unkritisch wiedergegeben werden. Die Reaktionen des westdeutschen Feuilletons sind da sicher am einfachsten zu verstehen. In bester Zusammenarbeit mit der angeborenen Oberflächlichkeit der marktwirtschaftlichen Journaille tönen sie moralische Entrüstung, um ihre Minderwertigkeitskomplexe gegenüber DDR-Intellektuellen zu kompensieren.1424

Ihre Schlussfolgerungen fallen natürlich sehr drastisch aus und lassen Sachlichkeit vermissen, dennoch ist den Autoren zuzustimmen, wenn sie den leichtfertigen Umgang westdeutscher Medien mit der Causa Müller und die undifferenzierte Auseinandersetzung mit der Aktenlage bemängeln. Wolfgang Emmerich konstatiert treffend: »So kann man Müllers Naivität kritisieren, zu glauben, Gespräche mit MfS-Offizieren immer in der Hand behalten zu können und grundsätzlich nicht benutzbar zu sein – mehr aber auch nicht«.1425 Auf Grund fehlenden Beweismaterials legen sich die Wellen der Empörung bald wieder, Müller jedoch leidet unter dem Angriff gegen seine persönliche und öffentliche Existenz.1426 Er äußert nicht ohne Bitterkeit: Ich beginne zu begreifen, daß es die wirklich geheime Funktion der Staatssicherheit war, dem Nachfolgestaat Material gegen potentielle Staatsfeinde zu überliefern: Der Rechtsstaat als Vollstrecker des Stasi-Auftrags. […] Im übrigen bin ich es gewohnt, mit Verleumdung und Verfolgung zu leben, im ›Neuen Deutschland‹ gestern, heute in der ›Zeit‹.1427

Frank Hörnigk ist der Überzeugung, dass dieser Prozess der Denunziation Müller weit mehr belastet als seine öffentlichen Reaktionen erkennen lassen – sein Nachlass gibt Aufschluss über seine Befindlichkeiten während der letzten Lebensjahre. Sie sind geprägt von dem stetigen Versuch, sich um Aufklärung zu bemühen und Stellung zu beziehen, worin Hörnigk einen Grund für die Veröffentlichung des Quellenmaterials im Rahmen der Autobiographie erkennt1428 : Nicht zuletzt deshalb schien ihm gerade der Text seiner Autobiographie selbst, als Medium, wohl am ehesten geeignet, die gegen ihn vorgebrachten Vorwürfe zu entkräften und zu einer offensiven Gegendarstellung zu gelangen.1429 1423 1424 1425 1426

Ebd., S. 475. Ebd., S. 476. Emmerich 2000, S. 474. Vgl. Alexander Karschnia/Hans-Thies Lehmann: »Zwischen den Welten«. In: Heiner Müller Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Hg. v. Hans-Thies Lehmann u. Patrick Primavesi, Stuttgart, Weimar 2003, S. 13. 1427 Heiner Müller 2005, Hysterie der Macht, S. 438f. 1428 Vgl. Hörnigk 2005, Editorische Notiz, Band 9, S. 489f. 1429 Ebd., S. 490.

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Diese Auffassung ist nachvollziehbar, insbesondere in Anbetracht des häufig gegen Müller vorgebrachten Vorwurfs, sich ausgerechnet innerhalb seines Lebensrückblicks nicht zu seiner Verbindung zum MfS bekannt zu haben. Seinen autobiographischen Bericht selbst verändert Müller jedoch nicht, der 1992 in der Hardcover-Ausgabe erschienene Text wird ab 1994 lediglich durch das angehängte Dossier ergänzt. Aus historiographischer Sicht eröffnet es nützliche Einblicke in MfS-Quellenmaterial, bietet einen aussagekräftigen Überblick über die Vorfälle und ist somit als sinngerechte Ergänzung des Lebensberichts zu betrachten. Im Hinblick auf den Wert der Autobiographie Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen als persönlicher Lebensrückblick, literarisches Werk und Identitätsbestimmung hat es jedoch untergeordnete Bedeutung. Auf den eigenwilligen Entstehungskontext und die daraus resultierende Form von Heiner Müllers Autobiographie wurde bereits hingewiesen – die literarästhetischen Merkmale des Werkes sollen den Gegenstand des folgenden Kapitels bilden.

7.4. Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen – (k)ein literarisches Artefakt? »Ich halte es für ziemlich sinnlos, das Leben eines Menschen in Literatur zu verwandeln, wenn man mit ihm auch darüber reden kann. […] Das bedeutet immer einen ungeheuren Realitätsverlust«.1430 Diese Äußerung Heiner Müllers aus dem Jahr 1985 spiegelt sich einige Jahre später in seinem autobiographischen Projekt wider, das nicht als Niederschrift des Autors, sondern auf der Grundlage zahlreicher Gespräche realisiert wird. Die vier Gesprächspartner, die ihn über einen Zeitraum von mehreren Tagen zu seinem Leben und Werk befragen, sind vertraute Weggefährten des Dramatikers und Menschen Heiner Müller : Helge Malchow wurde bereits als Cheflektor des Verlags Kiepenheuer & Witsch und als Initiator des Unterfangens vorgestellt; die Autorin Katja LangeMüller ist die ehemalige Ehefrau von Müllers Bruder Wolfgang, Renate Ziemer arbeitet viele Jahre als Sekretärin Heiner Müllers; Stephan Suschke ist sein langjähriger persönlicher Assistent. Aus den Tonbandaufnahmen der gemeinsamen Gespräche wird ein Typoskript von über tausend Seiten Umfang erstellt, das in einer Vielzahl von Arbeitsgängen gekürzt, zu thematischen Blöcken zu1430 »Was gebraucht wird: mehr Utopie, mehr Phantasie und mehr Freiräume für Phantasie. Ein Gespräch mit Ulrich Dietzel über Nietzsche, Bündnispolitik, Revolution, die Hoffnungen der Väter, die Darstellung des Negativen und die kulturelle Situation der DDR«. In: Müller, Heiner : Gesammelte Irrtümer. Interviews und Gespräche, Frankfurt/M. 1986, S. 156.

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sammengefasst und anschließend redigiert wird. Müllers Anteil an der Textfassung besteht in der sprachlichen Überarbeitung des so entstandenen Manuskripts, das er außerdem an einigen Stellen kürzt, an anderen ergänzt.1431 Er selbst kommentiert in dem im April 1992 verfassten Nachwort seiner Autobiographie: Ich brauche meine Zeit, um über andres zu schreiben als über meine Person. Deshalb der vorliegende disparate Text, der problematisch bleibt. […] Ich danke Katja LangeMüller, Helge Malchow, Renate Ziemer und Stephan Suschke für ihre Arbeit. Sie haben mehr als tausend Seiten Gespräch, das über weite Strecken auch Geschwätz war, auf einen Text reduziert, den ich überarbeiten, wenn auch in der mir zur Verfügung stehenden Zeit nicht zu Literatur machen konnte.1432

Trotz wiederkehrender Bedenken und Zermürbungen schließt Müller das an ihn herangetragene Projekt ab, das für ihn bis zu seiner Vollendung aber künstlerisch offen und defizitär bleibt.1433 Der Frage, ob und inwiefern Müllers Autobiographie als literarisches Artefakt angesehen werden kann, soll in diesem Kapitel nachgegangen werden. Heiner Müllers Lebensrückblick beginnt anknüpfend an die Tradition der Gattungsgeschichte mit Aussagen über seine Geburt: »Ich war eine schwere Geburt. Sie hat lange gedauert, von früh bis neun Uhr abends. 9. Januar 1929«.1434 Konventionell angelegt sind auch die darauf folgenden Portraitierungen seiner Eltern und Großeltern: »Die genealogischen Wurzeln werden zu Beginn bis in die proletarisch geprägte Großelterngeneration verfolgt, um den familiären Hintergrund seiner Kindheit im sächsischen Erzgebirge zu kontextualisieren«.1435 Müllers Kindheit und Jugend werden vergleichsweise ausführlich behandelt und nehmen die ersten fünf der 29 Kapitel ein. Diese wie auch die folgenden sind chronologisch angeordnet; ihre Überschriften geben häufig topographische und/oder zeitliche Hinweise auf die jeweils abgehandelte Lebensphase. Innerhalb der einzelnen Abschnitte wird die Chronologie zuweilen durchbrochen; beispielsweise thematisiert Müller unter der Überschrift Die ersten Jahre in Berlin, seit 1951 zunächst seine erste Fahrt nach Berlin im Jahr 1946 und schildert detailreich Eindrücke, Begegnungen und Unwägbarkeiten dieser unmittelbaren Nachkriegserfahrung.1436 Erst auf die Fragen seiner Gesprächspartner hin widmet sich der Autobiograph seinen Erinnerungen an den neuen Wohnort und die neuen Aufgaben Anfang der 1950er Jahre. 1431 1432 1433 1434 1435 1436

Vgl. Hauschild, S. 463. Heiner Müller 1994, Krieg ohne Schlacht, S. 366f. Vgl. Hörnigk 2005, Editorische Notiz, Band 9, S. 492. Heiner Müller 1994, Krieg ohne Schlacht, S. 13. Schütte 2010, Heiner Müller, S. 16. Vgl. Heiner Müller 1994, Krieg ohne Schlacht, S. 77f.

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Müllers Sprache in Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen lässt in vielfacher Hinsicht den besonderen Entstehungskontext des autobiographischen Projekts erkennen: Die mündliche Rede bleibt zunächst in der simplen Syntax, die von parataktischen Aussagesätzen bestimmt wird, erhalten: Mein Vater ist in Bräunsdorf geboren. Das ist ein Dorf in der Nähe von LimbachOberfrohna. […] Der Vater meines Vaters war Strumpfwirkermeister in einer Textilfabrik, Arbeiteraristokratie, von der Mentalität her sehr nationalistisch. Er war Soldat im Ersten Weltkrieg. Darüber hat er nie gesprochen. Dann war er in irgendeinem patriotischen Turnverein.1437

Auch die Wortbildungen entsprechen zuweilen der gesprochenen Sprache und sind nicht immer grammatikalisch korrekt; es finden sich beispielsweise verkürzte Infinitive, Partizipien, Possessivpronomen und Adjektive wie »ziehn«, »gesehn«, »[u]nsre«, »andern«.1438 Weiterhin sind es umgangssprachliche Wendungen und die häufige Benutzung von Abtönungspartikeln und sonstigen Füllwörtern, die Rückschlüsse auf den Textursprung zulassen. Insbesondere die Konjunktion »dann« kommt außergewöhnlich häufig zum Einsatz.1439 An einer Stelle fällt ein falsch konjugiertes Verb auf, das allerdings auch einem Versehen im Zuge des Bearbeitungsprozesses geschuldet sein könnte: »Zwei Jahre hat sich das Theater und der Staat um nichts gekümmert«.1440 Fritz J. Raddatz spricht in Bezug auf Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen von einem »retardierenden Interviewdeutsch«1441 – stilistisch unterscheidet sich der Text in der Tat deutlich von der differenzierten und dialektischen Sprache, die Müllers Lesern in zahlreichen Stücken und Prosatexten begegnet.1442 Letztlich bleibt das Interview trotz intensiver Bearbeitung der Gesprächsprotokolle das prägende Strukturmerkmal, neben einigen lyrischen, essayistischen und dokumentarischen Elementen. Wie es der ursprünglichen Dialogsituation zwischen Heiner Müller und seinen Gesprächspartnern entspricht, wird der Schriftsteller in den an ihn gerichteten Fragen stets in der 2. Person Singular angesprochen. In seinen Antworten, in denen er Auskunft über sein vergangenes wie auch sein gegenwärtiges Ich gibt, herrscht folgerichtig die 1. Person Singular vor : Hast Du damals schon Theater gesehen? Das einzige Theater, das ich damals gesehen habe, das erste meines Lebens überhaupt, 1437 1438 1439 1440 1441

Ebd., S. 13. Ebd., S. 245, 212, 212, 212. Vgl. ebd., S. 28, 32, 78, 82, 132. Ebd., S. 161. Fritz J. Raddatz: »Ich ist ein anderer. Heiner Müller hat ein Buch gesprochen – voll von ärgerlicher Geschwätzigkeit und anrührenden Werkstattberichten: ›Krieg ohne Schlacht‹«. In: Die Zeit, 03. 07. 1992, Nr. 28, S. 55. 1442 Vgl. ebd.

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war eine ›Wilhelm Tell‹-Aufführung im Gasthaus, wo später die Tanzveranstaltungen stattfanden. Ein ›Wilhelm Tell‹ ohne Pferd. Ich war enttäuscht, weil ich mich auf das Pferd gefreut hatte. Eine Tourneeaufführung. Das nächste Theater, das ich gesehen habe, war ›Tristan‹ in Chemnitz, ich glaube 1947/48, dann eine Laien-Aufführung von ›Golden fließt der Stahl‹ von Karl Grünberg, auf Sächsisch.1443

Die verwendeten Tempora entsprechen der im Rahmen literarischer Autobiographien gängigen Benutzung: Die das erzählende Ich betreffenden Aussagen wie gegenwärtige Einschätzungen, Kommentare und Erklärungen sind im Präsens abgefasst, während zur Beschreibung der verschiedenen Zeitebenen des erzählten Ichs Perfekt, Präteritum und Plusquamperfekt zum Einsatz kommen. In der eben zitierten Passage wie auch im folgenden Beispiel sind die verschiedenen Zeitebenen des autobiographischen Berichts deutlich erkennbar : Ich erinnere mich, es gab für mich beim Schreiben einen längeren Stop vor diesem Hydra-Text innerhalb des Stückes. Zwei Wochen lang wußte ich nicht weiter. Der Hydra-Text war der Versuch, sich an den eignen Haaren aus dem Sumpf zu ziehn, geschrieben nach einer Flasche Wodka, fast bewußtlos. Am nächsten Tag habe ich gelesen, was ich nachts geschrieben hatte, und es war mit wenig Änderungen zu gebrauchen.1444

Einschränkend sei angemerkt, dass das Perfekt der mündlichen Erzählsituation entsprechend vergleichsweise häufig verwendet wird, dennoch wird das Präteritum als vorherrschende Zeitform narrativer Prosa nicht in den Hintergrund gedrängt. Futurformen finden sich in dem Lebensrückblick naturgemäß nur in Ausnahmefällen. Hinsichtlich der grammatischen Modi ist hauptsächlich der Indikativ zu beobachten; indirekte Rede sowie einzelne Überlegungen und Hypothesen werden im Konjunktiv abgefasst: Wir hatten einen guten Deutschlehrer, der mich auch mit Literatur versorgte. Er hat mir sogar Geld angeboten für ein Debut als Schriftsteller. Er meinte, ich müßte zuerst eine Novelle schreiben, das wäre der beste Start, und er wäre bereit, mir Geld vorzustrecken, wenn ich eine Novelle schriebe.1445

Wie bereits deutlich wurde, hat Müller bei der Überarbeitung des Manuskripts die an ihn gerichteten Fragen im Text belassen und damit die Form des Interviews bewahrt. Anhand einer Veröffentlichung aus dem Nachlass, die Aufschluss über frühere Textstufen des Kapitels Die Macht und die Herrlichkeit gibt, wird jedoch deutlich, dass nur ein Teil dieser Fragen wiedergegeben ist und Müller zahlreiche Äußerungen seiner Gesprächspartner gestrichen hat1446 – der Autobiograph nutzt die auch innerhalb dieses Projekts gegebene Möglichkeit, seinen 1443 1444 1445 1446

Heiner Müller 1994, Krieg ohne Schlacht, S. 53. Ebd., S. 244f. Ebd., S. 55. Vgl. Heiner Müller 2005, Gegenüberstellung früherer Textstufen, S. 420–429.

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Lebensbericht nach den eigenen Vorstellungen frei zu gestalten. Alle im Text verbliebenen Gesprächsanteile von Katja Lange-Müller, Helge Malchow, Renate Ziemer und Stephan Suschke sind optisch durch Absätze und Kursivierung gekennzeichnet. Jedoch wurde der Fragetext anonymisiert und lässt in dieser Form keine Rückschlüsse auf den tatsächlichen Gesprächsverlauf zu. Klaus Völker urteilt: Das vermeidbar Unzulängliche dieser Autobiographie hätten hartnäckige Frager und bessere Lektoren ausgleichen können: Die noch stehengebliebenen Fragen der Interviewer belegen jedenfalls, daß sie nur Zuhörer waren, die zum Weiterreden ermunterten, die aber nie wirklich nachfragten, keine Gegenargumente ins Feld führten, geschweige denn ihren Interview-Partner einmal in Verlegenheit oder ins Schwitzen gebracht hätten. Ihre Fragen hätte man also im Buch ruhig streichen können.1447

In der Tat lassen die den Text strukturierenden Fragen keine tiefgreifende Auseinandersetzung mit den jeweiligen Themenkomplexen erkennen und eröffnen keine komplementären oder konträren Standpunkte. Zuweilen sind sie erstaunlich allgemein gehalten und muten banal oder beiläufig an, wie zum Beispiel: »Wie war das genau im Landratsamt?« oder »Wie ging es weiter mit der Inszenierung?«1448 Solche Äußerungen können notwendig sein, um ein Gespräch in die gewünschte Richtung zu lenken und hatten in der Gesprächssituation sicherlich ihre Berechtigung. Dass sie jedoch im Laufe der Überarbeitung nicht als für den Textverlauf unnötig erkannt und getilgt wurden, ist schwer nachvollziehbar. Uwe Schütte betrachtet die Gesamtheit der im Werk verbliebenen Fragen als Spuren der verschiedenen Bearbeitungsschritte, gibt allerdings zu bedenken, dass sie den Text in einzelne Blöcke zerfallen lassen und so eine Kontinuität des Erzählens verhindern.1449 Auch Joachim Kaiser sieht durch die lediglich aufmunternden Fragen die Selbstbewegung der Sprache gestört und empfindet diese als »tödlich im Hinblick aufs ästhetische Gelingen«.1450 Eine Ausnahme stellt das Kapitel Im Krieg, 1944 dar, in dem Müllers Erzählung von keiner einzigen Frage unterbrochen wird. Obwohl die Anteile der Gesprächspartner zu erahnen sind und den Bericht somit implizit prägen, zeigt er eine gewisse Geschlossenheit, die den anderen Abschnitten weitgehend fehlt.1451 Daniela Nelva bezeichnet Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen schlicht als »langes Interview« und urteilt: 1447 Klaus Völker : »Der Thesenritter. Heiner Müllers Memoiren«. In: Theater heute 33 (1992), H. 8, S. 54. 1448 Heiner Müller 1994, Krieg ohne Schlacht, S. 47, 165. 1449 Vgl. Schütte 2010, Arbeit an der Differenz, S. 550, 558. 1450 Joachim Kaiser : »Grandiose Trümmer eines rachsüchtigen Ichs. Leben in zwei Diktaturen: Des Dramatikers Heiner Müller aufregende Autobiographie ›Krieg ohne Schlacht‹«. In: Süddeutsche Zeitung, 20./21. 06. 1992, Nr. 140, S. 33. 1451 Vgl. Heiner Müller 1994, Krieg ohne Schlacht, S. 34–44.

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Das Ergebnis ist eine fragmentarische, dynamische Struktur, in der die Auseinandersetzung zwischen Gegenwart und Vergangenheit, erzählendem und erzähltem Ich in gewissem Maße durch eine äußere Instanz aufgefordert und geführt wird. Es ist aber darauf hinzuweisen, dass trotz dieses Eingreifens ›von außen‹ Müller immer seine Selbständigkeit als Erzähler beansprucht, indem er über den Sinn der Fragen hinausgeht und sich der vorbestimmten Entwicklung des Interviews durch Abschweifungen und Anekdoten entzieht.1452

Tatsächlich behauptet der Erzähler gegenüber seinen Interviewpartnern eine gewisse Souveränität und entscheidet bewusst über den Gesprächsverlauf. Dabei ist seine anekdotische Erzählweise auffällig; zahlreiche Fragen beantwortet er nur kurz oder gar nicht, um stattdessen eine pointiert zugespitzte Geschichte – zuweilen mit geringem Informationswert – zu erzählen. Beispielsweise interessieren sich seine Gesprächspartner für den Nationalpreis der DDR und den Georg-Büchner-Preis, die Müller Mitte der 1980er Jahre verliehen bekommt. Während der Autobiograph auf die Hintergründe und Auswirkungen des Nationalpreises detailliert eingeht, erhält der Leser fast keine Informationen in Bezug auf den Georg-Büchner-Preis; Müllers Antwort beschränkt sich in diesem Fall auf folgende Anekdote: Ich war nach der Preisverleihung von Darmstadt nach München gefahren, um eine ›Philoktet‹-Inszenierung von Tragelehn anzusehn. Ich stand in der Maximilianstraße vor einem Juwelierladen, den Scheck aus Darmstadt in der Tasche, und sah im Fenster eine sehr schöne kleine Renaissancetaube. Ich habe mir die Taube zeigen lassen und nach dem Preis gefragt. Sie kostete den Büchnerpreis, 30 000 DM. Ich habe dann aber doch das Geld der Taube vorgezogen. Meine schönste Erinnerung an die Preisverleihung in Darmstadt ist die eisige Stille im Festsaal, als in meinem Redetext der Name Ulrike Meinhof fiel.1453

Nach dem Todestag seiner zweiten Ehefrau Inge Müller befragt, äußert sich Müller zwar kurz über ihren Suizid und zählt frühere Selbstmordversuche auf, nimmt die Frage aber auch zum Anlass, eine Anekdote über ein marginales Ereignis am Tag ihrer Beerdigung zu berichten: Bei der Beerdigung habe ich mir endgültig Peter Hacks zum Feind gemacht. Ich stand da so ungünstig, und alle mußten mir kondolieren, und Hacks stolperte über eine Unebenheit und fiel vor mir auf die Knie. Natürlich durfte niemand lachen.1454

Uwe Schütte erkennt in Müllers rhetorischer Tendenz, wiederholt auf Anekdoten zu rekurrieren, den Versuch, »durch das Ablenken auf die Ebene humoristischer oder obskurer Begebenheiten eine Distanz zu seinen Emotionen und 1452 Nelva, S. 34. 1453 Heiner Müller 1994, Krieg ohne Schlacht, S. 358. 1454 Ebd., S. 209f.

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seinen Erinnerungen einzunehmen«1455, was auf die eben zitierte Passage durchaus zutreffen könnte. Ebenso nutzt Müller die pointierten Abschweifungen als Möglichkeit, unangenehmen oder schwierigen Fragen auszuweichen und eine adäquate Antwort zu vermeiden.1456 Levin D. Röder weist zu Recht auf die formale Vielgestaltigkeit hin, mit der Müller die Anekdote in seinem autobiographischen Bericht handhabt: Häufig finden sich dramatisch ausgeschmückte Szenen, wie beispielsweise die Beschreibung der Auseinandersetzung mit Wolfgang Harich um Macbeth, die sich über fast drei Seiten erstreckt und folgende Passage enthält: »Da sprang Harich auf, zerdrückte sein Sektglas in der Hand und schrie: ›Sie, Sie sind ein Idiot. Ich werde nie mehr im Leben ein Wort mit Ihnen reden.‹ Dann lief er mit blutender Hand hinaus«.1457 Zuweilen verkürzt Müller die Anekdote jedoch auch zur bloßen Andeutung (»Höpcke war der Playboy unter den Funktionären«1458) oder reduziert sie ohne weitere Erläuterungen auf die Pointe: »Zu den toten Freunden gehört Wolfgang Heise. Er war sehr wichtig für mich. Man konnte immer zu ihm kommen, mit jedem Problem, und nicht nur mit theoretischen Problemen. Eigentlich ist er an Gorbatschow gestorben«.1459 Der literarischen Kleinform entsprechend werden häufig flüchtige, zufällige oder nebensächliche Ereignisse thematisiert; der so vermittelte Informationsgehalt bleibt in der Regel gering. Müllers Lebensbericht vorangestellt ist ein dreizeiliges Motto, das er seinem Theaterstück Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten (geschrieben 1981/82, UA 1983) entnommen hat.1460 Das eigene Werk ist generell äußerst präsent in Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen; seine Entwicklung strukturiert den Verlauf der Erzählung: Zwölf der 29 Kapitelüberschriften rekurrieren explizit auf Stücke aus Müllers Feder ; zwei weitere beziehen sich auf prägende Rezeptionserfahrungen (Brecht und Ernst Jünger). Zusätzlich verweisen zahlreiche unter den Kapitelüberschriften gelistete Stichworte auf Müllers Theaterarbeit. Private Ereignisse werden in den Kapitelüberschriften und Stichwortsammlungen weitaus seltener genannt, was Müllers Fokussierung seiner Künstlerexistenz entspricht: Der von ihm immer wieder behauptete und durchgesetzte Vorrang der Literatur vor dem Leben spiegelt sich in der Autobiografie, indem deren Gliederung sich ab den 50er 1455 1456 1457 1458 1459 1460

Schütte 2010, Arbeit an der Differenz, S. 563. Vgl. ebd., S. 561. Heiner Müller 1994, Krieg ohne Schlacht, S. 264. Ebd., S. 214. Ebd., S. 335f. Vgl. ebd., S. 9 u. Heiner Müller : »Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten«. In: ders.: Werke, Band 5: Die Stücke 3, Hg. v. Frank Hörnigk in Zusammenarbeit mit der Stiftung Archiv der Akademie der Künste, Berlin, Frankfurt/M. 2002, S. 80.

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Jahren weitgehend an der Entwicklung des literarischen Werks orientiert. Bedeutsame biografische Aspekte oder Einschnitte werden darin zeitgleich entstandenen Texten untergeordnet.1461

Partnerschaften, das Verhältnis zu den Eltern, Konfrontationen mit der Staatsmacht oder traumatische Erlebnisse finden zwar Erwähnung in Müllers Lebensbericht, seinen Arbeits- und Entwicklungsphasen als Schriftsteller und Dramatiker wird aber stetig und unmissverständlich Vorrang eingeräumt. Auf diese Weise erhält der Leser vergleichsweise wenige und oberflächliche Informationen über den Menschen Heiner Müller, dagegen gewährt der Lebensbericht tiefgreifende Einblicke in die Hintergründe, die Entstehung und die Auswirkungen verschiedener literarischer Arbeiten, die ausschließlich der Autor liefern kann. Die Zuordnung privater Ereignisse zu zeitgleich entstehenden Arbeiten lässt sich anhand der folgenden Passage illustrieren; sie zeigt ebenfalls auf, in welchem Maß Müllers Lebensrealität Einzug in sein künstlerisches Schaffen hält: Der Dialogteil von ›Medeamaterial‹ ist fast das Stenogramm eines Ehestreits im letzten Stadium oder in der Krise einer Beziehung. Das habe ich in Lehnitz geschrieben. Den Monologteil zwei Jahrzehnte später in Bochum, vor dem Ende einer anderen Ehe, als ich schon mit einer anderen Frau zusammenlebte, das war 1982.1462

Als weiteres Beispiel sei das Kapitel ›Der Auftrag‹, 1980 genannt; Müller ordnet diesen Abschnitt, wie die Überschrift bereits erkennen lässt, eindeutig einem seiner Stücke zu und trifft detaillierte Aussagen über dessen Entstehungsprozess: Schreiben konnte ich das Stück erst nach einem Aufenthalt in Mexico und in Puerto Rico. Vorher hatte ich keine Dramaturgie dafür. In Mexico fand ich die Form. Der 2. Teil des Fahrstuhl-Texts in dem Stück ist ein Traumprotokoll, der Traum das Produkt eines Nachtgangs von einem abgelegenen Dorf zur Hauptverkehrsstraße nach Mexico City […]. Die andere Erfahrung, die der Text aufnimmt, war mein Bittgang zu Honecker im Gebäude des Zentralkomitees, der Aufstieg mit dem Paternoster.1463

Levin D. Röder urteilt: Wie Müller selbst bekundet, beschränkt sich sein Interesse an der Realität auf die Strategien ihrer (künstlerischen) Verarbeitung […]. Dass das Primat intertextueller Techniken vor KRIEG OHNE SCHLACHT nicht halt macht, zeigt sich allein an der schier unüberschaubaren Menge der Reflexe auf das eigene Werk1464 ;

1461 1462 1463 1464

Schütte 2010, Heiner Müller, S. 18. Heiner Müller 1994, Krieg ohne Schlacht, S. 319f. Ebd., S. 297f. Röder, S. 89.

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Jost Hermand erkennt die »fortlaufende Interpretation seiner Werke«1465 zu Recht als Müllers Textstrategie in Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen. Der beständige Rekurs auf eigene literarische Arbeiten wird gleichfalls im Anmerkungsapparat erkennbar : Die im autobiographischen Bericht erwähnten Texte und Stücke Müllers werden in 66 Einträgen nachgewiesen und bei Erstnennung mit bibliographischen Angaben versehen. Neben den Rückgriffen auf das eigene Werk sind einige weitere intertextuelle Bezüge zu finden – bereits im zweiten Kapitel widmet sich der Autobiograph explizit der Rezeption und beginnenden Produktion von Literatur ; er benennt hier wie auch später im Text zahlreiche prägende Lektüreerfahrungen.1466 Seine Arbeitsweise ist von Beginn an durch die Auseinandersetzung mit anderen Texten geprägt. Röder hält fest: Die Kaskade der Selbst- und Fremd-Zitate über die der Leser in den Text der Autobiografie eingeführt wird, gehört zur poetischen Strategie Heiner Müllers. Es stellt auch im weiteren Textverlauf das vornehmliche Strukturmerkmal der Autobiografie dar.1467

Schon der Titel Krieg ohne Schlacht rekurriert auf ein anderes literarisches Werk, und zwar zitiert er den 1957 erschienenen gleichnamigen Roman von Ludwig Renn, in dem ein Soldatenschicksal während des Zweiten Weltkriegs auf den griechischen Inseln geschildert wird. Dieses spielt sich lediglich am Rande der Kriegsschauplätze ab, wo der Kriegsdienst auch angenehme Reiseerlebnisse beinhalten kann. In dieser Darstellung verhandelt der Autor das Vermeiden von Konfliktsituationen und verfolgt die massenpsychologischen Ursachen von Verführbarkeit und Mitläufertum.1468 Dem Nachwort der Autobiographie sind zwei Mottos vorangestellt, von denen das erste den Annalen (110–120 n. Chr.) von Publius Cornelius Tacitus entnommen und dementsprechend gekennzeichnet ist; bei dem zweiten handelt es sich um ein nicht ausgewiesenes Selbstzitat, das auf die Nachbemerkung zu Wolokolamsker Chaussee V – Der Findling (geschrieben 1987, UA 1988) zurückgeht: »Der Augenblick der Wahrheit wenn im Spiegel / Das Feindbild auftaucht«.1469

Hermand 1999, Diskursive Widersprüche, S. 97. Vgl. Heiner Müller 1994, Krieg ohne Schlacht, S. 32f., 54. Röder, S. 91. Vgl. Ingrid Pietrzynski: »›Vergessen ist zu einfach. Begreifen muß man!‹ Der Zweite Weltkrieg in literarischen Sendereihen des DDR-Hörfunks in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre – Literaturauswahl und Lesartendeutungen«. In: Schuld und Sühne? Kriegserlebnis und Kriegsdeutung in deutschen Medien der Nachkriegszeit (1945–1961), Hg. v. Ursula Heukenkamp, Amsterdam, Atlanta 2001, S. 505. 1469 Heiner Müller 1994, Krieg ohne Schlacht, S. 362. Vgl. Heiner Müller: »Wolokolamsker Chaussee V – Der Findling«. In: ders.: Werke, Band 5: Die Stücke 3, Hg. v. Frank Hörnigk

1465 1466 1467 1468

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Wie bereits angesprochen, formuliert Müller in diesem Nachwort explizit seine Zweifel an dem Ergebnis des autobiographischen Unterfangens und gibt rechtfertigende Erklärungen für dessen Entstehungsweise. Helge Malchow erwähnt in seinem Vorwort die starken und kontroversen Reaktionen, die die Hardcover-Ausgabe von Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen im Sommer 1992 hervorgerufen hat und führt diese zurück auf die »bewußt gewählte, offene, auf langen Gesprächen basierende, nicht-literarische Form des Buches, die Persönliches, Politisches und Schriftstellerisches nicht trennte«.1470 Heiner Müllers aus langen Interviews verdichtete Autobiographie ist insbesondere genrespezifisch interessant: Einige Literaturwissenschaftler wie Werner Mittenzwei, Julian Preece und Kerstin E. Reimann nehmen den eigenwilligen Entstehungskontext und die Beschaffenheit des Produktes zum Anlass, ihm nicht nur seinen Status als literarisches Werk, sondern auch seine Zugehörigkeit zur Gattung der Autobiographie abzusprechen.1471 Der letztgenannten Einschätzung ist entschieden zu widersprechen: Zwar handelt es sich um eine unkonventionelle Gattungsvariante, die in einigen Details nicht mit dem traditionellen Muster übereinstimmt. Dennoch wird hier ein (Künstler-)Leben aus der Rückschau überblickt und beschrieben; der Leser erhält nicht nur Einblick in Müllers Herkunft, seine Familienverhältnisse, Liebesbeziehungen sowie verschiedene (prekäre) Arbeits- und Lebensphasen, sondern auch in vergangene und gegenwärtige Beurteilungen, Gefühle, Träume und Befindlichkeiten des Autobiographen, die nur er selbst eröffnen kann. Zudem wird das Werk in der Titelei der Taschenbuch-Ausgabe eindeutig als Autobiographie klassifiziert: »Heiner Müller / Krieg / ohne Schlacht / Leben in zwei Diktaturen / Eine Autobiographie«.1472 Der unbestimmte Artikel kann als einschränkender Hinweis aufgefasst werden, das vorliegende Werk nicht als definitive Fassung von Müllers Lebensbeschreibung zu lesen, sondern als eine mögliche Variante der Verarbeitung seines Lebensmaterials.1473 Dennis Tate bezeichnet Müller als »exceptionally successful author of autobiography in the context of the large wave of autobiographical writing by the older generation of East German authors over the 1980s and 1990s«.1474 Hin-

1470 1471 1472 1473 1474

in Zusammenarbeit mit der Stiftung Archiv der Akademie der Künste, Berlin, Frankfurt/M. 2002, S. 247. Helge Malchow : »Vorwort«. In: Müller, Heiner : Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen, Köln 1994, S. 11. Vgl. Werner Mittenzwei: Die Intellektuellen. Literatur und Politik in Ostdeutschland 1945–2000, Leipzig 2001, S. 509, Preece, S. 363 u. Reimann, S. 122f. Heiner Müller 1994, Krieg ohne Schlacht, S. 5. Vgl. Schütte 2010, Arbeit an der Differenz, S. 544. Dennis Tate: »›Ich wer ist das‹ – Dropping the Mask of Ambiguity? The Autobiographical Thrust of Heiner Müller’s Late Writing«. In: Denkbilder. Festschrift für Eoin Bourke, Hg. v. Hermann Rasche u. Christiane Schönfeld, Würzburg 2004, S. 268f.

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sichtlich der Gattungszugehörigkeit von Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen stellt er interessanterweise einen Vergleich mit Günter de Bruyns Autobiographie an, wobei er zunächst festhält: »Krieg ohne Schlacht occupies a position at the radical edge of the autobiographical spectrum«.1475 Günter de Bruyn sei am gegenüberliegenden Ende dieses Spektrums anzusiedeln – »identifying himself wholeheartedly with the classical tradition of German autobiographical writing«.1476 In der Tat liegen die Ansprüche, Ziele und Arbeitsweisen dieser beiden Autoren in Bezug auf ihre Lebensberichte und deren Gestaltung denkbar weit auseinander : Während de Bruyn der Tradition der Gattung folgt und seinen Lebensrückblick nicht zuletzt im Streben nach formaler Geschlossenheit und literarästhetischer Qualität abfasst, zeichnen sich Müllers Ausführungen, wie bereits deutlich wurde, vor allem durch einen mündlichen Sprachstil und die Wahrung der Interviewform, durch unverbundene Erinnerungsdetails, einen unkommentierten dokumentarischen Anhang und somit fehlende Homogenität aus. Gegen eine affirmative Lesart der Autobiografie als Versuch einer Abrundung von […] Lebensgeschichte […] verstößt der Text, indem er das Prozeßhafte seiner Entstehung, d. h. die in mehreren Arbeitsschritten erfolgende Umarbeitung der Transkription aller Gespräche durch die lektorierende Involvierung der in unterschiedlichen Rollen und Gewichtungen als Interviewer, Redakteure und Editoren tätigen vier Teammitglieder des Projekts nicht verleugnet.1477

Die genannten Eigenschaften von Heiner Müllers Autobiographie sind natürlich dem Entstehungskontext und der späteren Verarbeitung der Dialogsituation geschuldet und damit nachvollziehbar ; der literarästhetische Wert jedoch bleibt gegenüber der konventionell verfassten Gattungsvariante, so auch gegenüber der Autobiographie Günter de Bruyns und den in Teilaspekten durchaus vom traditionellen Muster abweichenden autobiographischen Berichten Monika Marons und Wulf Kirstens vergleichsweise gering. Ohne Frage kann Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen die in Kapitel 2.2.3. formulierten Gattungskriterien, auf denen die Literarizität einer Autobiographie beruht, nicht uneingeschränkt erfüllen: Zwar gliedert Müller seinen Bericht in einzelne Kapitel, die chronologisch organisiert sind, trifft Entscheidungen in Bezug auf Tempora, Modi und Erzählhaltung, setzt Stilmittel wie Ironie oder die literarische Kleinform der Anekdote ein und wählt bewusst Schwerpunkte innerhalb seiner Ausführungen. Allerdings ist der autobiographische Bericht auch durch die eben aufgeführten, seiner Literarizität abträglichen Merkmale wie den mündlichen Sprachstil, die Interviewform und mangelnde Homogenität geprägt. Darüber 1475 Ebd., S. 269. 1476 Ebd. 1477 Schütte 2010, Arbeit an der Differenz, S. 549.

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hinaus fehlen dem Werk eine bedachtvolle Auswahl, die alle Lebensbereiche berücksichtigt, ein Erzählzusammenhang, die Verknüpfung von Ereignissen, die auf diese Weise nachträglich im Lebensverlauf verortet und gedeutet werden, sowie die Verdichtung von Erinnerungen zu einem einheitlichen narrativen Text. Das Werk weist letztlich keinen sorgfältig komponierten Spannungsbogen oder einen Gesamtzusammenhang auf. Von einem literarischen Artefakt im Sinne der Gattungskonstituente ›Literarizität‹ kann daher nicht uneingeschränkt die Rede sein. Wolfgang Emmerich bezeichnet Müllers Text als »kein durchkomponiertes sprachliches Kunstwerk […], aber eine kaum ausschöpfbare Auskunftsquelle über seine Person, sein Schreiben und seine Erfahrungen«.1478 Von den literarästhetischen Defiziten unberührt bleiben die durchaus vorhandenen und zum Teil bereits erwähnten Qualitäten, die Müllers umfangreichstes Prosawerk in der Tat zu einer aufschlussreichen Informationsquelle in Bezug auf sein Leben und Werk sowie zu einem wichtigen und lesenswerten Beitrag zur Aufarbeitung des 20. Jahrhunderts machen. Heiner Müller versucht im Rahmen der Autobiographie, sein Verhältnis zu Sozialismus, Kommunismus und Kapitalismus zu bestimmen und spürt dabei seiner (politischen) Identität nach. Diesem Aspekt wird sich Kapitel 7.6. dieser Arbeit widmen; im folgenden Abschnitt soll zunächst der Frage nach subjektiver Authentizität in Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen nachgegangen werden.

7.5. Subjektive Authentizität in Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen Im Jahr 1987 gibt Heiner Müller dem renommierten Journalisten Andr8 Müller ein Interview, in dem dieser ihn fragt, warum er so selten die Wahrheit sage. Heiner Müller antwortet ihm: Weil man zur Wahrheit die meiste Phantasie braucht. Ich bin ja kein Dokumentarist. Was ich schreibe ist immer Dichtung und Wahrheit, eine Mischung aus Dokument und Fiktion. Ich erlebe etwas und bringe es auf eine poetische Formel, um eine Distanz zu schaffen. Wenn ich das später lese, ist es für mich wie der Text eines Toten.1479

Auch wenn diese Äußerung einige Jahre vor Beginn der Arbeit an Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen liegt, findet sie sich in dem autobiographischen Projekt wieder, wie die folgenden Ausführungen zeigen sollen. Ohne die 1478 Emmerich 2000, S. 484. 1479 »[So abgründig ist das gar nicht…]«, Heiner Müller im Gespräch mit Andr8 Müller. In: Müller, Heiner : Werke, Band 10: Gespräche 1. 1965–1987, Hg. v. Frank Hörnigk, Frankfurt/M. 2008, S. 603.

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einzelnen Begriffe zu problematisieren, setzt Müller Dichtung und Wahrheit hier allerdings mit Dokument und Fiktion gleich, was, wie im Rahmen dieser Arbeit bereits deutlich wurde, nicht ohne weiteres möglich ist. Dennis Tate, der sich der Schwierigkeiten im Umgang mit dem Wahrheitsbegriff offensichtlich bewusst ist, konstatiert in Bezug auf Müllers Autobiographie: ›[T]ruth‹ is never a rhetorical imperative for Müller in the way it is for de Bruyn; the anecdotal style he often adopts alerts his reader to the likelihood that some of his stories about himself will have been partly fictionalised for the sake of a punchline.1480

In der Tat ist es insbesondere Müllers anekdotische Erzählweise, die Zweifel hinsichtlich der Authentizität seines Lebensberichts nahe legt und die deutlich macht, dass Müller im Gegensatz zu zahlreichen anderen Autobiographen, so auch im entschiedenen Gegensatz zu Günter de Bruyn, nicht vorrangig nach Glaubwürdigkeit oder Erkenntnisgewinn strebt. Die nun folgende, auf diesen Themenkomplex ausgerichtete Analyse von Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen soll zur Klärung der Frage nach Dichtung und Wahrheit beziehungsweise nach subjektiver Authentizität in Müllers Lebensbericht beitragen. Heiner Müllers Autobiographie ist geprägt durch ein äußerst präsentes erzählendes Ich, das erläutert, kommentiert oder die Schilderungen vergangenen Geschehens um späteres oder gegenwärtiges Wissen ergänzt. Beispielsweise berichtet es: »Diese Tätigkeit war die Grundlage meiner eigenen Bibliothek. Ich habe geklaut wie ein Rabe. Das war eine schöne Zeit«1481 oder »Das mit dem Lager hat er [ein jüdischer Kulturoffizier] natürlich nicht gesagt, wir wußten es auch nicht. Das haben wir später gehört«.1482 Zum Teil arbeitet der Erzähler die verschiedenen Zeitebenen der Autobiographie sogar explizit heraus, so etwa in der Passage: »[E]s gab kein anderes Ziel mehr, als zum Berliner Ensemble zu gehören und da zu arbeiten. Gott sei Dank ging das schief. Das Gott sei Dank ist natürlich eine spätere Erkenntnis«.1483 In solchen Aussagen werden nicht neutrale Informationen über die Vergangenheit in den Vordergrund gerückt, sondern die gegenwärtige Einschätzung desjenigen, dessen Leben im Mittelpunkt des Interesses steht. Kein Familienmitglied, kein Partner, kein Kollege und auch kein Biograph könnte seinen individuellen Bericht ersetzen und Einblick in die Gedanken oder Gefühle geben, die Heiner Müller bei der Erinnerung an einzelne Ereignisse und Erfahrungen überkommen. Des Weiteren weisen seine Schilderungen, von den anekdotischen Abschnitten abgesehen, wiederholt Eingeständnisse von Unsicherheit oder lückenhafter Erinnerung auf: Wie bereits in Kapitel 7.2. beschrieben, kommen 1480 1481 1482 1483

Tate 2004, S. 271. Heiner Müller 1994, Krieg ohne Schlacht, S. 46. Ebd., S. 52. Ebd., S. 82.

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häufig hypothetisierende Formulierungen wie »ich glaube« oder »Das muß ziemlich früh gewesen sein«1484 zum Einsatz, ebenso die unmissverständliche Aussage »ich weiß es nicht« in unterschiedlichen Abwandlungen.1485 Auch die Relativierung der Einschätzungen, die ausschließlich aus der subjektiven Erinnerung heraus erfolgen, passt in diesen Zusammenhang; Müller bemerkt zum Beispiel zaghaft: »Rödel wird nicht der einzige sein, dem in meiner Erinnerung vielleicht Unrecht geschieht«.1486 In seinem Nachwort kommentiert der Autobiograph diesbezüglich: »Zum Problematischen des Textes gehört seine Ungerechtigkeit gegen Personen, auch gegen meine Person. Der Versuch, allen gerecht zu werden, endet notwendig in der Unversöhnlichkeit«.1487 Die Formulierung solcher Einsichten und die bislang beschriebenen Erzählweisen haben zunächst ein gewisses Maß an Glaubwürdigkeit zur Folge. Der Authentizität von Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen zuträglich sind ohne Zweifel die umfangreichen Dokumente in Originalwortlaut, die dem autobiographischen Bericht zwar unverbunden und unkommentiert angehängt werden, die so aber unverfälscht Aufschluss über bedeutende Vorfälle und verschiedene Phasen in Müllers (Arbeits-)Leben geben. Sie schließen einige der Lücken, die der autobiographische Bericht selbst offen lässt – insbesondere Müllers Verhältnis zum DDR-Geheimdienst, das vor der Ergänzung um das in Kapitel 7.3. vorgestellte Dossier von Dokumenten des Ministeriums für Staatssicherheit der ehemaligen DDR unberücksichtigt blieb, wird ausschließlich durch den Anhang erhellt. Dass Heiner Müller sich in seinem Lebensbericht nicht (selbst-)kritisch mit diesem Aspekt seiner Vergangenheit auseinandersetzt und seiner Leserschaft keine persönliche Einschätzung der Sachlage vom gegenwärtigen Standpunkt aus mitteilt, stellt seine Verlässlichkeit und Glaubwürdigkeit als Autobiograph wiederum in Frage. Der autobiographische Bericht weist generell erhebliche Informationslücken auf; insbesondere über Müllers Privatleben ist wenig zu erfahren. Seine Vorfahren werden zwar zu Anfang portraitiert, Liebesbeziehungen, Nachfahren und Freunde jedoch werden, wenn überhaupt, nur am Rande abgehandelt. Diesbezügliche Fragen seiner Gesprächspartner blockt Müller ab oder beantwortet sie nur ausweichend. Der Frage, wie er Benno Besson kennen gelernt habe, entgegnet er beispielsweise: »Ich war meines Wissens der erste, dem es jemals gelungen ist, Benno Besson anzupumpen«.1488 Die Antwort nimmt mehr als eine Seite Raum ein, hat jedoch nur das gegenseitige Leihen von Geld zum Thema und liefert keine Informationen über die Umstände, unter denen die beiden Kollegen, 1484 1485 1486 1487 1488

Ebd., S. 84, 81. Vgl. z. B. ebd., S. 66, 75, 90, 109. Ebd., S. 170. Ebd., S. 366. Ebd., S. 191.

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die zeitweise eng zusammenarbeiten, sich kennen lernen. Auch die Ereignisse um 1989 bleiben weitgehend ausgespart, was insofern schwer nachvollziehbar ist, als Heiner Müller aktiv an gesellschaftlichen Umwandlungsprozessen teilnimmt und zu dieser Zeit eine außergewöhnliche Medienpräsenz zeigt. Eine Innenansicht dieser für Müller ereignisreichen Jahre hätte den Lebensbericht um relevante Informationen erweitert. Uwe Schütte formuliert: Offenkundige Lücken – wie etwa die komplette Absenz der Beziehung mit Margarita Broich, […] die Affäre zwischen seinem Bruder Wolfgang und Inge Müller oder die später zu heftigsten Angriffen führende Unterschlagung der Kontakte zu Mitarbeitern des Ministeriums für Staatssicherheit – sind ein zentraler Aspekt eines eigensinnigen Umgangs mit dem eigenen Leben.1489

Schütte erkennt dies als Teil einer Strategie Heiner Müllers, private Details seines Lebens, selbst im Rahmen seiner Autobiographie, nicht ungeschützt preiszugeben1490 – das Buch verrate ihn als jemanden, »der die Literatur als Maske vor sein ›wahres‹ Gesicht hält«.1491 Diese Einschätzung erscheint plausibel, JanChristoph Hauschild schränkt allerdings ein: Immerhin erscheint der Privatmensch Heiner Müller, der bis dahin fast völlig hinter einem hermetisch anmutenden Werk verschwunden war, plötzlich als erstaunliches Amalgam aus sozialdemokratischem Elternhaus, gehobener gymnasialer Bildung, halbproletarischer BohHme, parteilicher Schulung und avantgardistischer Privatlektüre.1492

Vollständigkeit ist im Rahmen einer Autobiographie niemals zu erreichen und kann daher nicht ihr Ziel sein. Müller versäumt es allerdings, die erheblichen Informationslücken innerhalb seines Berichts für den Leser nachvollziehbar zu machen. Somit schwächen die Aussparungen, da sie wesentliche Bereiche in Müllers Leben betreffen, von ihm aber weder gerechtfertigt noch begründet werden, die Verlässlichkeit und Vertrauenswürdigkeit des autobiographischen Berichts ohne Zweifel ab. Überdies scheint es nicht das Anliegen des Autobiographen zu sein, das Kontradiktorische, das seinem von verschiedenen politischen Systemen geprägten Lebenslauf inhärent ist, zu harmonisieren: »Bis zu meinem Tod muß ich mit meinen Widersprüchen leben, mir selbst so fremd wie möglich«.1493 Laut Uwe Schütte

1489 1490 1491 1492 1493

Schütte 2010, Arbeit an der Differenz, S. 550. Vgl. ebd., S. 551. Ebd., S. 548. Hauschild, S. 463f. Heiner Müller 1994, Krieg ohne Schlacht, S. 366.

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liegt für Müller ohnehin nichts ferner, als eine Kohärenz seiner Lebensgeschichte reklamieren zu wollen, was auch heißt die autobiografische Selbsterforschung als Weg zu besserer Selbsterkenntnis zu nutzen. Anstatt im Verlauf der Niederschrift das Widersprüchliche zu versöhnen, wird es im Ablauf der disparaten Interviewabschnitte vielmehr herausgestellt.1494

In der Tat ist Müller nicht darum bemüht, seinem Lebenslauf aus der Rückschau künstlich-künstlerisch Sinn und Zusammenhang zu verleihen und ihn zu einer kohärenten Erzählung zu verdichten. Inhaltliche Wiederholungen innerhalb von Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen erzeugen gelegentlich konkrete Widersprüche; die gegenläufigen Aussagen Müllers wurden im Zuge des Bearbeitungsprozesses nicht problematisiert oder aufgelöst. So äußert sich der Autobiograph über sein Verhältnis zur stalinistischen Sowjetunion zunächst wie folgt: Über den Kommunismus in der SU wußte ich Bescheid, schon durch meinen Vater. 1944 habe ich das erste Buch über Straflager gelesen, über die Gulags […]. Eine genaue Beschreibung des Systems der Straflager, der GPU. Ich wußte auch Bescheid über Trotzki, die Säuberungen und die Prozesse. Das konnte ich verarbeiten, mich interessierte die Tragödie.1495

Er betont also seinen außergewöhnlichen Informationsstand, der unter anderem durch das sozialdemokratische Elternhaus bedingt sei. Einige Kapitel später jedoch charakterisiert er seine Kenntnisse über die stalinistischen Verhältnisse als eher defizitär und erklärt, dass er sich Anfang der 1950er Jahre über die Dimension des Stalinismus keineswegs im Klaren gewesen sei.1496 Neben der Widersprüchlichkeit ist hier der Versuch Müllers erkennbar, sich zum kühlen Beobachter und den Personenkult durchschauenden Intellektuellen zu stilisieren1497 (dieser Aspekt soll in Kapitel 7.6. ausführlich abgehandelt werden). Als dominierendes Strukturelement von Müllers Autobiographie wurde bereits die Anekdote erkannt, die den Lebensbericht in zahlreiche, pointiert abgeschlossene Sequenzen gliedert. Einen übergeordneten Sinn oder Zusammenhang kann der Text auf diese Weise nicht erlangen – Levin D. Röder formuliert treffend: Das zerstückelte Subjekt der Erzählung muss in jedem dieser abgeschlossenen Textabschnitte neu bestimmt werden. Eine übergeordnete Struktur, der die Entwicklung dieses Subjekts unterliegen würde, existiert nicht. Das schließt eine übergeordnete Sinngebung bezüglich der aufgerufenen Lebensgeschichte weitgehend aus.1498 1494 1495 1496 1497 1498

Schütte 2010, Arbeit an der Differenz, S. 555. Heiner Müller 1994, Krieg ohne Schlacht, S. 62. Vgl. ebd., S. 137. Vgl. Schütte 2010, Arbeit an der Differenz, S. 553. Röder, S. 93.

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Die sukzessive Entwicklung des erzählten Ichs wird auf diese Weise nicht herausgearbeitet und kann von Seiten der Leserschaft schwer nachvollzogen werden. Höhe-, Tief- und Wendepunkte werden nicht im Hinblick auf ihre Bedeutung für den gesamten Lebensverlauf rekonstruiert. Der Effekt einer gut platzierten Pointe erscheint Müller erstrebenswerter als eine unvoreingenommene Auseinandersetzung mit oder eine gewissenhafte Informationsvermittlung hinsichtlich der eigenen Biographie. Häufig bleibt er seinen Gesprächspartnern und Lesern angemessene Antworten schuldig und nutzt stattdessen die Gelegenheit, sich und sein Werk gekonnt in Szene zu setzen, was Fritz J. Raddatz dazu veranlasst, Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen als »unerträgliche Geschwätzigkeitssammlung«1499 zu bezeichnen. Auch Müllers Biograph JanChristoph Hauschild ist diesbezüglich skeptisch: Hinzu kam sein Drang, eine Geschichte auf die Pointe hin zu erzählen. Der Künstler ist auf Beifall aus: Viele Anekdoten hat Müller frisiert, weil sie sich in seiner zugespitzten Version besser machten. So ist faktische, objektive ›Wahrheit‹ in den Konfessionen Heiner Müllers, der sich im Frühjahr 1993 nicht einmal mehr an das Todesjahr seines Vaters erinnern konnte, nicht zu finden.1500

Umso erstaunlicher muss es erscheinen, dass Hauschild in seiner Biographie Heiner Müller oder Das Prinzip Zweifel. Eine Biographie (2001) das Werk Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen wiederholt als Auskunftsquelle heranzieht und häufig einzelne Passagen wörtlich zitiert. Die darin enthaltenen Informationen werden fast immer unkommentiert wiedergegeben, als Fakten präsentiert und nicht problematisiert. Als Beispiel sei der folgende Textabschnitt angeführt – die aus Müllers Autobiographie wörtlich zitierten Sätze sind wie bei Hauschild kursiv gesetzt: Immerhin läßt Müller sich zum Leiter des örtlichen FDJ-Literaturvertriebs wählen, als der er für den Verkauf politischer Broschüren zuständig ist: Meistens habe ich sie selbst gekauft und weggeworfen. Einmal übernimmt er auch ein Referat: Damals gab es noch offene Diskussionen in der Partei, und das Thema war : ›Gibt es einen roten Imperialismus?‹1501

Die Aussage, die politischen Broschüren meistens selbst gekauft und dann weggeworfen zu haben, könnte durchaus Müllers Selbststilisierung zu einem distanzierten Beobachter einer Realität, die ihn vorrangig als Arbeitsmaterial interessiert, zuzurechnen sein; ob er sich an das Referatsthema korrekt erinnert, sei ebenfalls in Frage gestellt. Mit Namen und Jahreszahlen geht er ohne Zweifel nachlässig um, was Uwe Schütte zu Recht dazu veranlasst, die Verlässlichkeit von 1499 Raddatz 1992, S. 55. 1500 Hauschild, S. 465. 1501 Ebd., S. 56.

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Müllers Autobiographie als Faktenquelle in Frage zu stellen.1502 Ein differenzierterer Umgang mit Müllers Selbstaussagen wäre von Seiten Hauschilds daher wünschenswert gewesen. Schütte bescheinigt Müller fehlende (Selbst-)Verpflichtung zu inhaltlicher Zuverlässigkeit und mangelnden Ehrgeiz hinsichtlich einer objektiven Darstellung1503 ; gleichfalls gibt er zu bedenken, dass es letztlich maßgeblich sei, welche Folgen das von Müller subjektiv als Realität Erlebte seiner eigenen Einschätzung nach für ihn habe1504 – wovon naturgemäß auch die Schilderung der Vergangenheit geprägt ist. Schüttes Einschätzung ist grundsätzlich durchaus zuzustimmen, nur ist der Leser von Müllers Lebensbericht mit dem Umstand konfrontiert, dass der Autobiograph sich zumeist nicht ernsthaft mit dem subjektiv Erlebten auseinandersetzt, keine Zusammenhänge oder Bedeutungsmuster rekonstruiert und nicht versucht, zu eigenen Interpretationen und Rückschlüssen zu kommen. Er strebt weder nach Kohärenz noch Verständlichkeit. Gegenüber Andr8 Müller äußert der Autobiograph: »In einem Interview erfinde ich Worte. Deshalb darf man das nicht als authentisch nehmen«.1505 Auch wenn bei den der Autobiographie zu Grunde liegenden Gesprächen ein Sonderfall des Interviews vorliegt, ist es an dieser Stelle unerlässlich, erneut auf den Unterschied zwischen Dichtung im Sinne von Interpretation und Konstruktion, also der Verdichtung einer Lebenswirklichkeit, und Fiktion im Sinne von bewusster Abweichung von der Realität hinzuweisen. Sicherlich sind Heiner Müller falsche Sachverhalte und ungenaue Angaben innerhalb seiner Autobiographie nachzuweisen – sofern man diese mit der tatsächlichen Faktenlage abgleichen möchte, was nicht Ziel der vorliegenden Arbeit ist. Fehlerhafte und widersprüchliche Aussagen jedoch gehen nicht auf einen Täuschungsversuch des Autobiographen, auf eine bewusste Verfälschung der Tatsachen zurück. Vielmehr beruhen sie auf Müllers Erinnerungsdefiziten und dem nicht vorhandenen Antrieb, sich intensiv mit seiner Vergangenheit und all ihren Schwierig- und Widersprüchlichkeiten auseinanderzusetzen und diese in einen kohärenten, literarisch verdichteten Lebensbericht zu überführen. Selbst innerhalb der zahlreichen, leichtfertig erzählten Anekdoten, die einer sachlichen und gewissenhaften Vermittlung subjektiv erlebter Vergangenheit ohne Frage im Wege stehen, betreibt Müller keine gezielte Verkehrung von Tatsachen, sondern geht lediglich seiner Freude an der pointierten Darbietung bemerkenswerter oder kurioser Vorfälle und an der Inszenierung der eigenen Person nach. Von Fiktionalität zu sprechen, wäre im Fall von Heiner Müllers Autobio1502 1503 1504 1505

Vgl. Schütte 2010, Arbeit an der Differenz, S. 96. Vgl. ebd., S. 545. Vgl. ebd., S. 126. »[So abgründig ist das gar nicht…]«, Heiner Müller im Gespräch mit Andr8 Müller, S. 585.

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graphie daher unangemessen. Dichtung dagegen ist ein Bestandteil seines Lebensberichts, auch wenn Müller diesen gattungskonstitutiven Aspekt weder reflektiert noch intendiert. Gleichwohl setzt er Akzente in seinen Schilderungen, entscheidet, welche Erfahrungen und Erlebnisse er in welcher Form für erwähnenswert hält, wählt eine Erzählhaltung und verleiht seinem Leben ohne dies bewusst anzustreben eine neue Form. Ungeachtet aller inhaltlichen und formalen Defizite, die seine Autobiographie aufweist, wird auch Müllers Leben auf eine poetische Formel gebracht. Der grundsätzlichen Schwierigkeit, ein realiter gelebtes Leben adäquat in einen literarischen Text zu überführen, ist sich Müller durchaus bewusst; er äußert in Bezug auf Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen: Und die Problematik dieses Textes ist ja auch, daß, wenn man etwas erzählt, es schon nicht mehr dasselbe ist. Wenn man es schreibt, in Literatur verwandelt, ist es schon wieder ganz was anderes. […] Wer weiß schon, wie das wirklich war, nachdem man es aufgeschrieben hat. Es ist in eine Ebene, in eine Kategorie gekommen, wo man nicht mehr unterscheiden kann zwischen Wahrheit und Wirklichkeit. Wenn es geschrieben ist, hat es eine Wahrheit, die es vielleicht gar nicht hatte.1506

Umso bedauerlicher ist es, dass er die Herausforderung, die die von ihm geschilderten Sachverhalte implizieren, als Autobiograph nicht annimmt und sich nicht ernsthaft um eine angemessene Wiedergabe seiner subjektiven Lebensrealität und eine differenzierte Beurteilung seiner Vergangenheit bemüht. Zwar setzt sich Müller generell mit Erinnerungsstrukturen auseinander, aber er zeigt sich nicht bereit oder nicht in der Lage, seine Erinnerungen zu ergründen, sie zu deuten und in eine kohärente Erzählung zu überführen. Vielmehr äußert er : »[E]s gibt viele Dinge, die ich unbedingt in den Jahren, die ich noch habe, schreiben will und die ich für wichtiger halte als meine Autobiographie, die andere erzählen können, wenn ich tot bin«.1507 Was den Wert der literarischen Autobiographie vor allem ausmacht, kann jedoch gerade nicht von anderen Personen geleistet werden: Ihre Qualität als ›Selberlebensbericht‹ erlangt sie durch die subjektive Einschätzung desjenigen, dessen Leben nacherzählt wird, die Einblicke in seine Gefühle, Wünsche und Träume, die (kritische) Selbstauseinandersetzung, die Problematisierung seiner eigenen Erinnerungen, den Lebenssinn und -zusammenhang, die er nachträglich bewusst stiftet, die Schilderung individuell erlebter Vergangenheit vor dem Hintergrund der Zeitverhältnisse und nicht zuletzt den Versuch, Fakten und Vorstellungen in einem geschlossenen narrativen Text mit literarästhetischem Anspruch zu verdichten. 1506 »Heiner Müller oder Leben im Material«, Heiner Müller im Gespräch mit Hermann Theissen, S. 244ff. 1507 Ebd., S. 246.

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Heiner Müller erfüllt diese Kriterien, wie ihm selbst bewusst ist1508, in seinem autobiographischen Bericht nur sehr vereinzelt. Subjektive Authentizität, wie sie in Kapitel 2.2.4. dieser Arbeit gattungsspezifisch beschrieben wurde, wird in Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen nur partiell erreicht. Gerd Gemündens Urteil rückt die beschriebenen Defizite von Müllers Lebensbericht in den Fokus und kann an dieser Stelle als Fazit dienen: [H]ere is a voice that does not speak of hidden secrets and desires, that tells us very little beyond what is publicly known about him, and speaks without any overtones of revelation or feelings of guilt, or the pretense of confiding in the reader. This text does not want to stir its readers’ emotions, nor suggest the relating of a hitherto hidden truth, nor strive to legitimize or absolve its author.1509

7.6. Der kritische Intellektuelle im Sozialismus. Müllers Identitätssuche in Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen »Soll ich von mir reden Ich wer / von wem ist die Rede wenn / von mir die Rede geht / Ich wer ist das«1510 – mit diesem Auszug aus Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten leitet Heiner Müller seinen autobiographischen Bericht ein. Somit stellt er ihm ein Motto voran, das auf den gattungskonstitutiven Aspekt der Identitätssuche hinweist und die damit verbundenen Schwierigkeiten des Autobiographen bereits andeutet. Im Nachwort von Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen formuliert Müller : »Mein Interesse an meiner Person reicht zum Schreiben einer Autobiographie nicht aus. Mein Interesse an mir ist am heftigsten, wenn ich über andre rede«.1511 Seine Autobiographie ist letztlich nicht aus eigenem Antrieb entstanden, was sich auch in seinem fehlenden Streben nach Selbsterkenntnis und -auseinandersetzung widerspiegelt. Zweifel und Desinteresse hinsichtlich der eigenen Person werden also explizit artikuliert und prägen die Gesamtheit des Müller’schen Lebensberichts, wie die folgende Untersuchung zeigen soll. Gattungstheoretisch betrachtet können Autobiographien als Versuch angesehen werden, Lebens-, Sinn- oder Identitätskrisen zu bewältigen und sich der eigenen Identität zu vergewissern beziehungsweise diese durch Reflexion über das eigene Selbst in Vergangenheit und Gegenwart deutend hervorzubringen und zu präsentieren. Volker Depkat beschreibt Identität als individuelle Vor1508 1509 1510 1511

Vgl. Heiner Müller 1994, Krieg ohne Schlacht, S. 366f. Gemünden, S. 121f. Heiner Müller 1994, Krieg ohne Schlacht, S. 9. Ebd., S. 366.

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stellung von »Ich, Gesellschaft und Welt«1512, die sich aus den jeweiligen Wahrnehmungs- und Deutungsmustern, Selbstdefinitionen, Zugehörigkeitsgefühlen, Werten und Normen einer Person zusammensetzt und sinnvolles Handeln innerhalb der Gesellschaft ermöglicht.1513 Somit beschreibt er Identität nicht zuletzt als soziale Konstruktion. Hinsichtlich Heiner Müllers Autobiographie ist das insofern interessant, als hier eine Künstlerexistenz fokussiert wird, hinter der das Privatleben und damit nahezu alle persönlichen Beziehungen, Begegnungen, Freuden und Krisen in den Hintergrund treten – das soziale Umfeld, das generell grundlegend für Identitätsbildung und -sicherung ist, wird nur in Teilbereichen, nämlich in Bezug auf das Arbeitsleben beleuchtet. Erklärend und rechtfertigend äußert der Autobiograph: »Meine eigentliche Existenz war die als Autor«.1514 Er versucht ausdrücklich, diese Schwerpunktsetzung nicht nur als Merkmal seines Lebensberichts erscheinen zu lassen, sondern sein realiter gelebtes Leben auf diese Weise zu charakterisieren – als ein Leben, das stets von der Arbeit, von künstlerischem Schaffen bestimmt wird und in dem alles Private und Persönliche zweitrangig bleibt. Auf die Frage »Hast Du Freunde?« antwortet er dementsprechend: Über Freunde zu reden ist schwierig. Es sind wohl nicht viele, jedenfalls werden es immer weniger außerhalb von Arbeitsbeziehungen. […] Ich habe eigentlich nur einen Maßstab, der natürlich durch die Diktatur motiviert ist. Es gibt vielleicht zwei oder drei Männer, die sich für mich foltern lassen würden, Frauen wahrscheinlich mehr.1515

Auch die Vorstellung, im Ausland zu leben, die von seinen Gesprächspartnern thematisiert wird, bezieht Müller ausschließlich auf seine Arbeit: »Zum Arbeiten müßte es nicht mehr Deutschland sein. Ich bin auf dieses Material nicht mehr angewiesen, der Vorrat reicht für ein Leben«.1516 Gegenüber Hermann Theissen äußert Heiner Müller überdies, sich fast ausschließlich über seinen Beruf zu definieren.1517 Nahezu jede ausführlichere Stellungnahme innerhalb seiner Autobiographie enthält einen Verweis auf seine Texte und Theaterstücke – Valeska Steinig bezeichnet Müllers Lebensrückblick als »eine Formvollendung von Selbstbehauptung eines Selbstverständnisses als Künstler«.1518 Autobiographisches Schreiben hat gewöhnlich eine Positionierung der schreibenden Person gegenüber dem eigenen Selbst und der Welt zur Folge, die im Idealfall dazu 1512 1513 1514 1515 1516 1517

Depkat, S. 466. Vgl. ebd. Heiner Müller 1994, Krieg ohne Schlacht, S. 181. Ebd., S. 335. Ebd., S. 308. Vgl. »Heiner Müller oder Leben im Material«, Heiner Müller im Gespräch mit Hermann Theissen, S. 243f. 1518 Valeska Steinig: Abschied von der DDR. Autobiografisches Schreiben nach dem Ende der politischen Alternative, Frankfurt/M. 2007, S. 121.

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beiträgt, sich der eigenen Identität anzunähern oder zu vergewissern. Bei Heiner Müller geschieht dies ausschließlich in Bezug auf seine Selbstwahrnehmung als Künstler ; das literarische Schaffen wird beständig in den Vordergrund gerückt. Hinsichtlich seines Privatlebens vermeidet es der Autobiograph, sich ernsthaft und (selbst-)kritisch mit dem eigenen Ich auseinanderzusetzen und so seiner Identität nachzuspüren. »Ich ist ein anderer«1519 : Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen wird ferner durch verschiedene Formen von Selbststilisierung geprägt, wie in den bisherigen Kapiteln dieser Arbeit bereits angedeutet wurde: Zunächst ist es ein gewisser Außenseiterstatus in Kindheit und Jugend, den Müller hervorhebt und als Grundlage seiner (künstlerischen) Entwicklung ansieht. Als Ursache der sozialen Ausgrenzung wird das sozialdemokratische, antifaschistische Elternhaus angeführt, das in Konflikt mit den nationalsozialistischen Machthabern und daraus resultierend in Arbeitslosigkeit und Armut gerät: Als mein Vater im KZ war, gab es ein paar Freunde, Söhne von Beamten, die sagten mir, daß sie nicht mehr mit mir spielen dürften, weil mein Vater ein Verbrecher wäre. Auch diese Erfahrung eine wichtige Voraussetzung für vieles Spätere.1520

Durch die berufliche Neuorientierung des Vaters bedingt, verlässt die Familie später die sächsische Heimat und siedelt sich in Waren in Mecklenburg an, was der Autobiograph rückblickend folgendermaßen kommentiert: Mecklenburg war für uns als Sachsen wie eine Emigration. Man war Ausländer. […] Ich war völlig isoliert, vor allem in der Schule. Ausländer wurden aus Prinzip verprügelt. Da mußte man immer ziemlich schnell sein. Ich konnte sehr gut laufen.1521

Diese Einschätzung erfolgt relativ undifferenziert, zumal das eigene soziale Handeln unerwähnt bleibt. Im Band Traumtexte werden Müllers Erinnerungen, wie bereits zur Sprache kam, mit der – natürlich ebenfalls subjektiven – Beurteilung seines ehemaligen Mitschülers Gerhard Bobzin kontrastiert: Bobzin bewertet Müllers Rolle während der Schulzeit deutlich abweichend und begründet dessen Isolation mit seiner exklusiven, abweisenden Art1522, was den Eindruck der bewussten Stilisierung von Seiten des Autobiographen verstärkt. Norbert Otto Eke urteilt: 1519 Heiner Müller 1994, Krieg ohne Schlacht, S. 218. Hier liegt ein intertextueller Verweis auf Arthur Rimbaud vor, der in einem Brief an Georges Izambard formuliert: »Je est un autre«. (Arthur Rimbaud: »Rimbaud / Georges Izambard. Charleville, [13] mai 1871«. In: ders.: Œuvres complHtes, Hg. v. Antoine Adam, Paris 1972 (BibliothHque de la Pl8iade, n8 68), S. 249.) Auch der von Philippe Lejeune gewählte Werktitel Je est un autre. L’Autobiographie de la litt8rature aux m8dias geht auf dieses Rimbaud-Zitat zurück. 1520 Heiner Müller 1994, Krieg ohne Schlacht, S. 25. 1521 Ebd., S. 27. 1522 Vgl. oben, S. 318 u. Heiner Müller 2009, S. 28f., 36, 38f., 41ff.

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Heiner Müllers Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen

Die Tendenz Müllers, sich über seine Person nur im Zusammenhang mit seinen ästhetischen und politischen Ansichten, Intentionen und Zielsetzungen zu äußern, entspricht dem lebenslangen Primat des Werkes, den er in KOS wiederholt reklamiert und durch zahlreiche Selbststilisierungen unterstrichen hat: als Außenseiter und Anarch; als gegenüber Ideologien und Weltanschauungen relativ widerständiger Künstler, der einsam seine Kreise gezogen habe, behindert zwar, in seinem Kern aber unberührt von den Zumutungen einer restriktiven Kulturpolitik.1523

Hinsichtlich seines Erwachsenenlebens inszeniert sich Heiner Müller häufig als abgeklärten Beobachter, dem selbst die eigene Lebensrealität vorrangig als Arbeitsmaterial interessant erscheint. Lange vor Abfassung seiner Autobiographie behandelt er persönliche Schicksalsschläge wie den Suizid Inge Müllers oder den Tod seines Vaters in Gedichten und Prosatexten. Indem er die Vorfälle literarisch verarbeitet und zum Teil verfremdet, setzt er sich mit seinen Empfindungen wie Reue, Trauer und Wut auseinander.1524 In seiner Autobiographie jedoch lässt er Einblicke in das Gefühlsleben des erzählten Ichs nur selten zu. Er äußert sich sehr knapp und nüchtern über den Verlust seiner Ehefrau; der Tod seines Vaters wird lediglich erwähnt, bleibt aber unkommentiert.1525 Auf diese Weise will er den Anschein eines unantastbaren Künstlers erzeugen und aufrechterhalten. Auch die Darstellung des (Künstler-)Lebens innerhalb der DDR beziehungsweise des konfliktgeladenen Verhältnisses zu dem diktatorischen Regime zeichnet sich durch diese Art der Selbststilisierung und -inszenierung aus: Die Affäre um Müllers Stück Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande hat beispielsweise tiefgreifende Auswirkungen auf seine berufliche Existenz und zieht private Sorgen wie soziale Isolierung und finanzielle Not nach sich. Der Schriftsteller zeigt sich daher sogar bereit, eine offizielle Selbstkritik zu verfassen, doch in der Autobiographie kommentiert er lapidar : »Ich war nicht verletzt, ich habe das alles mit Interesse beobachtet«1526 und »Ich habe das Ganze als dramatisches Material betrachtet, ich selbst war auch Material, meine Selbstkritik ist Material für mich«.1527 In Anbetracht der negativen Folgen für Müllers Arbeits- und Privatleben erscheint die beschriebene Haltung außergewöhnlich distanziert. Dass sie nicht der Realität entspricht und die Affäre den 1523 Eke 2003, S. 1. 1524 Vgl. Heiner Müller 1999, Todesanzeige, S. 99–103, Heiner Müller : »Selbstbildnis zwei Uhr nachts am 20. August 1959«. In: ders.: Werke, Band 1: Die Gedichte, Hg. v. Frank Hörnigk, Frankfurt/M. 1998, S. 43, Heiner Müller : »Gestern an einem sonnigen Nachmittag«. In: ders.: Werke, Band 1: Die Gedichte, Hg. v. Frank Hörnigk, Frankfurt/M. 1998, S. 200 u. Heiner Müller : »[Ich sitze auf einem Balkon …]«. In: ders.: Werke, Band 2: Die Prosa, Hg. v. Frank Hörnigk in Zusammenarbeit mit der Stiftung Archiv der Akademie der Künste, Berlin, Frankfurt/M. 1999, S. 167/168. 1525 Vgl. Heiner Müller 1994, Krieg ohne Schlacht, S. 209f., 72. 1526 Ebd., S. 181. 1527 Ebd., S. 183.

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jungen Schriftsteller keineswegs unberührt lässt, offenbart der unveröffentlichte Text Grußadresse an einen Schriftstellerverband aus dem Nachlass. Müller befasst sich hier mit der Demütigung, die das Verbot seines Stücks und der Ausschluss aus dem Schriftstellerverband für ihn bedeuten, und lässt seinen damit verbundenen Emotionen wie Wut und Hass freien Lauf.1528 Die Darstellung innerhalb der Autobiographie zeigt somit erneut das mangelnde Interesse an der eigenen Person und insbesondere an der Auseinandersetzung mit persönlichen Krisen auf. Vielmehr ist der Autobiograph daran interessiert, sein früheres Ich auf diese von ihm bewusst gewählte Weise zu charakterisieren und sich somit als unabhängigen und unbiegsamen Künstler zu inszenieren. Auch Hans-Edwin Friedrich ist der Überzeugung: »Die Selbstdeutung Müllers ist keine psychologische Introspektion […], sondern eine Inszenierung seiner Dichterrolle«.1529 Ohne Zweifel bildet die DDR den Rahmen und das Bezugssystem für Müllers literarisches Schaffen. In seinen Stücken und in zahlreichen Stellungnahmen setzt sich der Dramatiker dezidiert mit den Lebensbedingungen im ›real existierenden Sozialismus‹ auseinander und kritisiert die Staatsführung zuweilen unmissverständlich. Gaetano Biccari bezeichnet ihn als »gnadenlose[n] Kritiker des DDR-Regimes […], dessen Intelligenzfeindlichkeit er an den Pranger gestellt hat« und als »widerborstige[n] Insider«1530, der die Diktatur aus ihrem Inneren attackiere. Müller selbst äußert sich diesbezüglich zurückhaltender : »Ich habe mich nie in dem Sinn als Systemkritiker verstanden. Die Stücke waren einfach realistisch. Und wenn das System die Realität nicht aushält, ist das nicht mein Problem«.1531 Doch es ist nicht von der Hand zu weisen, dass Heiner Müller hauptsächlich ab den 1970er Jahren die Rolle eines kritischen Intellektuellen einnimmt, der den Herrschafts- und Repressionsapparat der DDR kennt und öffentlich anprangert. Hermand Jost konstatiert: »[S]eine dichterische Begabung war nur eine Seite seines Wesens. Müller war zugleich – und erst das macht seine wahre Größe aus – in allem, was er sagte und schrieb, einer der politischsten Köpfe eines Landes«.1532 Auch Yasmine Inauen nimmt ihn als profilierten Intellektuellen wahr, dessen »Werk von einem permanenten kritischen

1528 Vgl. Hauschild, S. 210f. 1529 Friedrich 1994, S. 124. 1530 Gaetano Biccari: »Politische Stellungnahmen«. In: Heiner Müller Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Hg. v. Hans-Thies Lehmann u. Patrick Primavesi, Stuttgart, Weimar 2003, S. 32. 1531 »›Es gibt ein Menschenrecht auf Feigheit‹, ein Gespräch mit Heiner Müller über seine Kontakte mit der Staatssicherheit von Thomas Assheuer in der Frankfurter Rundschau, 22. 5. 1993«, S. 186. 1532 Jost Hermand: »Blick zurück auf Heiner Müller (1997)«. In: ders./Fehervary, Helen: Mit den Toten reden. Fragen an Heiner Müller, Köln, Weimar, Wien 1999, S. 143.

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Blick auf die Politik und Entwicklung des Landes zeugt«.1533 Müller glaubt an die Idee des Sozialismus, die er in den Strukturen des SED-Staats nicht wiederfinden kann und artikuliert seine Vorstellung von und Hoffnung auf deren Verwirklichung. Er vermeidet es demgemäß, sich in Westdeutschland als Dissident zu präsentieren, sondern behauptet stets seinen Status als DDR-Autor. Sascha Löschner spricht von einem Phänomen, das viele DDR-Intellektuelle kennen: »Kritik an der DDR würde kontraproduktiv, wenn der Westen sie für sich ausnutzen könnte«.1534 Uwe Schütte bezeichnet Müller prägnant als einen »Grenzgänger mit Dauerausreisevisum, der der DDR trotz aller Repressionsmaßnahmen in abtrünniger Loyalität verbunden blieb«.1535 Auf die Frage, warum er bis zu deren Ende in der DDR geblieben sei, antwortet Müller : Man ist als Schriftsteller doch geprägt von einer Grunderfahrung, und die liegt meistens sehr früh, im wesentlichen in der Kindheit oder vor der Pubertät. Diese Grunderfahrung war die Erfahrung der Diktatur, der ersten Diktatur. […] Ich hatte immer das Gefühl, wenn ich im westlichen Ausland war, daß mich das eigentlich nichts angeht, was da passiert. Jetzt muß ich versuchen, eine neue Erfahrung zu machen.1536

In seiner Autobiographie beteuert er, immer nur ein Beobachter ohne Hoffnungen gewesen zu sein, dem, insbesondere als Dramatiker, die Diktatur farbiger erschienen sei als eine Demokratie.1537 Es sei der große Erfahrungsdruck innerhalb totalitärer Strukturen, der einen Autor zu höheren schriftstellerischen Leistungen befähige, mutmaßt er.1538 Dementsprechend bezeichnet er es als Irrtum, ihn als politischen Dichter zu begreifen.1539 Heiner Müllers eigene Aussagen hinsichtlich seiner politischen Überzeugung sind allerdings nicht frei von Widersprüchen. Er berichtet in Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen von seiner SED-Mitgliedschaft ab 1948, in deren Rahmen er zum Literaturobmann und Agitprop-Referenten des Bezirks ernannt wird. Auch wenn er seine Agitationsarbeit als wenig enthusiastisch beschreibt und mitteilt, dass er 1533 Yasmine Inauen: Dramaturgie der Erinnerung. Geschichte, Gedächtnis, Körper bei Heiner Müller, Tübingen 2001, S. 9. 1534 Löschner, S. 127. Vgl. auch S. 124ff. 1535 Schütte 2010, Heiner Müller, S. 13f. 1536 »Krieg ohne Schlacht«, Heiner Müller im Gespräch mit Klaus Bednarz. In: Müller, Heiner : Werke, Band 12: Gespräche 3. 1991–1995, Hg. v. Frank Hörnigk, Frankfurt/M. 2008, S. 278f. 1537 Vgl. Heiner Müller 1994, Krieg ohne Schlacht, S. 112, 134. 1538 Vgl. »Heiner Müller oder Leben im Material«, Heiner Müller im Gespräch mit Hermann Theissen, S. 243. 1539 Vgl. Heiner Müller 1994, Krieg ohne Schlacht, S. 183. Vgl. auch »Jetzt ist da eine Einheitssoße. Ein Gespräch mit Hellmuth Karasek, Matthias Matussek und Ulrich Schwarz für ›Der Spiegel‹, 31/1990«. In: Müller, Heiner : Gesammelte Irrtümer 3. Texte und Gespräche, Frankfurt/M. 1994, S. 94: »Man hält mich immer für einen Menschen, der unmittelbar an Politik interessiert ist. Das ist Unsinn. Ich bin interessiert am Schreiben, an einigen anderen Dingen, und Politik ist ein Material, genau wie alles andere«.

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auf Grund nicht bezahlter Mitgliedsbeiträge später aus der Partei ausgeschlossen wird, macht er deutlich, dass er sich als Kommunist gefühlt hat und sich sogar mit den stalinistisch geprägten Gewaltmaßnahmen der SED identifizieren konnte: Ich war grundsätzlich für jede Enteignung. […] Ich hatte eine rachsüchtige, linkssektiererische Einstellung zu dem Ganzen. Und was da so an Dummheiten und Lächerlichkeiten passierte, war mir nicht wichtig. Das wußte man, und es war nicht so wichtig wie die Tatsache, daß da gegen Leute Gewalt ausgeübt wurde, die ich nicht ausstehen konnte, gegen die ich vielleicht auch ein Vorurteil hatte.1540

Auch gegenüber Alexander Kluge äußert er : »[I]ch bin in einer Diktatur aufgewachsen, hineingewachsen in die andere. Über mein Rachebedürfnis für meine einigermaßen demolierte Kindheit konnte ich mich mit der zweiten eine Zeitlang identifizieren, obwohl ich alles über sie wußte«.1541 Gleichzeitig ist Müller darum bemüht, seine frühe Systemkonformität zu relativieren: Ich konnte nie sagen, ich bin Kommunist. Es war ein Rollenspiel. Es ging mich im Kern nie etwas an. Ich habe oft gesagt und behauptet, daß ich mich mit dieser Gewalt, mit diesem Terror identifizieren konnte, weil es eine Gegengewalt war, ein Gegenterror gegen den vorigen. Das ist aber vielleicht schon eine Konstruktion. Im Grunde bin ich da unberührt durchgegangen.1542

Solche widersprüchlichen Aussagen innerhalb der Autobiographie könnten aus einem Versuch Müllers resultieren, den ideologischen Gehalt seines Werkes nach dem Ende der DDR zu relativieren und es so vor einer politisch motivierten Marginalisierung zu schützen.1543 1987 hat er offensichtlich noch das Bedürfnis, eine literarische Auseinandersetzung mit der kommunistischen Weltanschauung zu rechtfertigen: Niemand wird ernsthaft bestreiten, daß vieles an großer Literatur in diesem Jahrhundert darauf basiert, daß es eine kommunistische Hoffnung gab, die es jetzt vielleicht wieder gibt. Ich meine, man muß von der Welt schon irgendeine Vorstellung haben, um schreiben zu können.1544

Joachim Fiebach fasst treffend zusammen: Müllers These von seiner Distanz zur DDR ist […] keineswegs nur eine defensive Rede in den Tagen ihres Zusammenbruchs. Dennoch verblieb er in der von ihm so gesehenen 1540 Heiner Müller 1994, Krieg ohne Schlacht, S. 67f. Vgl. auch S. 112 u. »Krieg ohne Schlacht«, Heiner Müller im Gespräch mit Klaus Bednarz, S. 281. 1541 »Das Garather Gespräch«, Heiner Müller im Gespräch mit Alexander Kluge. In: Kluge, Alexander/Müller, Heiner: »Ich schulde der Welt einen Toten«. Gespräche, Hamburg 1995, S. 62. 1542 Heiner Müller 1994, Krieg ohne Schlacht, S. 61. Vgl. auch S. 64. 1543 Vgl. Schütte 2010, Heiner Müller, S. 18. 1544 »[So abgründig ist das gar nicht…]«, Heiner Müller im Gespräch mit Andr8 Müller, S. 598.

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DDR bis zu ihrem Ende. Gründe dafür lägen, das hat er vor 1989 mehrmals ausgeführt, jenseits aller moralischen oder auch, implizit, politischen Erwägungen. Es ging ihm um das ›Material‹ seines Schreibens oder wohl genauer : um das entscheidende (biographische) Lebens-/Erfahrungsfeld, von dem aus und in dem er seinen entscheidenden Lebensinhalt verwirklichen konnte: das Schreiben.1545

Dass das politische System der DDR den Dreh- und Angelpunkt für Heiner Müllers literarisches Schaffen wie auch für sein Selbstverständnis als Künstler bildet, offenbart sich erneut mit ihrem Zusammenbruch. Der Abschied von der DDR sei ihm nicht leicht gefallen: »Plötzlich fehlt ein Gegner, fehlt die Macht, und im Vakuum wird man sich selbst zum Gegner«.1546 Obwohl er es als Privileg für einen Autor betrachtet, in einem Leben drei Staaten untergehen zu sehen (Müller nennt hier die Weimarer Republik, das nationalsozialistische Deutschland und die DDR)1547, bringt er nach 1989 kaum noch literarische Texte hervor ; er befindet sich in einer künstlerischen und existentiellen Krise: »Das Ende der DDR stellte ihn in eine Gesellschaft, die er sich nicht ausgesucht hatte und deren Prämissen er kaum teilte. So wird Schreiben selbst für ihn immer schwieriger«.1548 Auch Norbert Otto Eke ist der Auffassung, dass sich mit dem Gegensatz der Systeme auch ein wichtiger Bezugspunkt für die Arbeit des Dramatikers verflüchtigt hat.1549 Heiner Müller formuliert rückblickend: Dieser Staat hat mir nichts geschenkt und ich habe mir von ihm nichts schenken lassen als die Erfahrung des Scheiterns einer Utopie, die der Motor meines Schreibens war, das diese Erfahrung dokumentiert mit Texten jenseits der Zensur.1550

Seine Schreibhemmung thematisiert er in dem Text Mommsens Block (1993) mit Hilfe einer identifikatorischen Hinwendung zu Theodor Mommsen, der nicht in der Lage war, den vierten Band seines monumentalen Werkes Römische Geschichte (1854–1885) abzufassen. Müller artikuliert in dem Gedicht nicht zuletzt seine fundamentale Kritik an und seine Distanz zu den zeitgeschichtlichen Entwicklungen während seiner letzten Lebensjahre.1551 Der Schriftsteller Müller jedenfalls verschwindet hinter der öffentlichen Person, die vorrangig als Kulturfunktionär und begehrter Interviewpartner agiert und außergewöhnliche mediale Präsenz erlangt. Bereits seit drei Jahr1545 Joachim Fiebach: »Nach 1989«. In: Heiner Müller Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Hg. v. Hans-Thies Lehmann u. Patrick Primavesi, Stuttgart, Weimar 2003, S. 16. 1546 Heiner Müller 1994, Krieg ohne Schlacht, S. 351. 1547 Vgl. ebd., S. 361. 1548 Löschner, S. 51. 1549 Vgl. Eke 1999, S. 31f. 1550 Heiner Müller : »[›Die deutsche Form der Revolution …‹]«. In: ders.: Werke, Band 8: Schriften, Hg. v. Frank Hörnigk, Frankfurt/M. 2005, S. 604. 1551 Vgl. Heiner Müller : »Mommsens Block«. In: ders.: Werke, Band 1: Die Gedichte, Hg. v. Frank Hörnigk, Frankfurt/M. 1998, S. 257–263. Vgl. auch Fiebach, S. 19.

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zehnten entwickelt und nutzt Müller das Interview als Kunstform und als Möglichkeit zu öffentlicher Selbstverständigung und vor allem -darstellung1552 ; auch Hans-Edwin Friedrich betont: »In seinem Werk nehmen Interviews einen breiten Raum ein. Sie sind Elemente der Selbst- und Werkerläuterung der persona publica Heiner Müller«.1553 Gegen Ende der 1980er Jahre nimmt die Zahl der Gespräche signifikant zu; Uwe Schütte bezeichnet sie als private Bilanzierungs- und politische Analyseversuche, Materialsammlung und autobiografische[n] Anekdotenfundus, weshalb sie ein Supplement des literarischen Schreibens repräsentieren, aber auch ein unverzichtbarer Teil des Gesamtwerkes sind.1554

Obwohl Müller das Interview nicht zuletzt als Möglichkeit zur Performance ansieht und darin häufig ein selbstironisches Spiel mit den Medien treibt, nutzt er hier auch die Gelegenheit, sich gegen das Vergessen von 40 Jahren DDR, gegen die mentale Enteignung der ostdeutschen Bürger sowie gegen die von ihm erkannte Dominanz und Ignoranz westdeutscher Politik auszusprechen.1555 Er versucht, seine lebenslange Auseinandersetzung mit der (deutschen) Geschichte in das wiedervereinte Deutschland zu überführen – »nicht zuletzt auch, um die Erfahrungen von vierzig Jahren DDR, aber auch die Vorstellung einer nicht verwirklichten Utopie in eine zukünftige nationale Identität einbringen zu können«.1556 Seine (politischen) Stellungnahmen erreichen eine breitere Öffentlichkeit als seine literarischen Texte; Gaetano Biccari urteilt: In einer Zeit allgemeiner politischer und kultureller Desorientierung galt Müller als wichtiger Bezugspunkt für ein kritisches und interessiertes Publikum auch außerhalb der traditionell bildungsbürgerlichen Öffentlichkeiten von Literatur und Theater.1557

Müllers Autobiographie wiederum erregt ebenso großes mediales Interesse; das Publikum des versierten und geübten Interviewpartners verspricht sich nicht nur tiefer gehende Einblicke in dessen berufliche wie private Vergangenheit, sondern erhofft sich auch Hilfestellung beziehungsweise Identifikationsangebote bei der Aufarbeitung der DDR-Diktatur. Solche Erwartungen werden allerdings, wie bereits deutlich wurde, in weiten Teilen enttäuscht: [T]he author of War without Battle presents himself not as the self-knowing subject of more traditional autobiographies, the source of originality and creativity, the provider Vgl. Schütte 2010, Heiner Müller, S. 111, 117ff. Friedrich 1994, S. 124. Schütte 2010, Heiner Müller, S. 119. Vgl. Ingo Schmidt/Florian Vaßen: »Vorwort. Heiner Müller – ein Klassiker gegen das Vergessen?«. In: dies.: Bibliographie Heiner Müller 1948–1992, Bielefeld 1993, S. 7. 1556 Eke 1999, S. 33. 1557 Biccari, S. 30. 1552 1553 1554 1555

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of a certain unity of writing, the subject that can solve contradictions and avoid paradoxes.1558

In Anbetracht von Müllers Schreibblockade liegt der Gedanke nahe, seine Autobiographie als Versuch zu interpretieren, eine durch die historischen Ereignisse um 1989 bedingte Sinn- und Identitätskrise zu überwinden. Tatsächlich bezeichnet der Autobiograph die Wende explizit als Einschnitt und als Anlass, Rückschau zu halten1559 ; er muss akzeptieren, dass seine Arbeit mit dem Zusammenbruch der DDR ihr Bezugssystem verliert und das öffentliche Interesse an seinen Werken abnimmt. Gegen diese Sichtweise spricht allerdings die Tatsache, dass sich der Autobiograph zu eingehender Reflexion hinsichtlich seiner Person und seiner Vergangenheit nicht bereit zeigt und nicht darum bemüht ist, die geschilderten Ereignisse zu hinterfragen, zu interpretieren, in einen Zusammenhang zu bringen und sich somit sich selbst und seiner persönlichen Lebenswahrheit anzunähern: »Ich will nicht wissen wo ich herkomme wo ich hingehe wer ich bin, draußen findet die Wirklichkeit statt«.1560 Demzufolge kann Müllers Autobiographie schwerlich einer aufrichtigen und gewissenhaften Identitätsstiftung oder -vergewisserung dienen. Sein Fazit in Bezug auf Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen lautet: »Ich hatte zunehmend das Gefühl, je mehr ich da versuche, etwas über mich zu sagen, desto unbekannter werde ich mir«.1561 Die Analyse von Heiner Müllers Autobiographie hat seine eigentümliche Erinnerungs- und Erzählweise, ferner die historiographische Dimension und die außergewöhnliche Form seines Lebensberichts in den Blick genommen und deutlich werden lassen, dass auch in Bezug auf die Gattungskriterien der subjektiven Authentizität und der Identitätssuche ein Sonderfall des Genres vorliegt. Abweichend von der Gattungstradition ist der Autobiograph nicht bestrebt, ein zeithistorisches Panorama zu entwerfen, seinen Lesern ein literarästhetisches Kunstwerk vorzulegen oder seiner eigenen Person in Vergangenheit und Gegenwart nachzuspüren. Ebenso ist es kein explizites Anliegen des Autors, die Erinnerungen an sein bisheriges (Privat-)Leben in all seinen Freuden und Krisen, mit seinen Hoch-, Tief- und Wendepunkten möglichst gewissenhaft und im Streben nach Ehrlich- und Glaubwürdigkeit, letztlich nach subjektiver Authentizität zu präsentieren. Die Qualität dieses Werkes liegt ohne Zweifel in den durchaus bemerkenswerten und lohnenden Einblicken in Müllers Verhältnis zur DDR sowie in seine Künstlerexistenz innerhalb der Diktatur : Seine Ausfüh1558 1559 1560 1561

Gemünden, S. 122. Vgl. oben, S. 319. Heiner Müller 1999, Ich sitze auf einem Balkon, S. 168. »Heiner Müller oder Leben im Material«, Heiner Müller im Gespräch mit Hermann Theissen, S. 244.

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rungen vermitteln nicht nur umfassende Informationen über sein Gesamtwerk, sondern geben gleichzeitig Aufschluss über diesen Staat und seine Repressionsmechanismen und heben die Lebensbedingungen im ›real existierenden Sozialismus‹ ins Bewusstsein. Durch ihren eigenwilligen Entstehungskontext und ihre formalen Eigenheiten kann Heiner Müllers Autobiographie nicht uneingeschränkt als literarisches Artefakt gelten, jedoch legt der Autor, ohne es ausdrücklich zu beabsichtigen, einen Bericht vor, der zweifellos Auskunft über den Menschen Müller gibt sowie eindrücklich Zeitgeschichte vermittelt und damit nicht zuletzt einen wichtigen Beitrag zur Aufarbeitung der DDR-Diktatur darstellt.

8.

Schlussbetrachtung

Die Untersuchung der autobiographischen Werke von Günter de Bruyn, Monika Maron, Wulf Kirsten und Heiner Müller vor dem Hintergrund gattungstheoretischer Betrachtungen und unter Berücksichtigung der Voraussetzungen und Möglichkeiten für ostdeutsche Schriftsteller nach 1989 hat vielfältige Ergebnisse geliefert. Die innerhalb des Kapitels Grundkategorien der Gattung als gattungskonstitutiv herausgearbeiteten und erläuterten Aspekte Erinnerung, Historizität, Literarizität, Authentizität und Identität bildeten inhaltlich wie formal die Grundlage jeder Werkanalyse und stellten die maßgeblichen Beurteilungskriterien dar. Auf dieser Basis wurden die jeweiligen Eigenheiten und Qualitäten jeder der ausgewählten Autobiographien in den Blick genommen; exemplarisch konnte aufgezeigt werden, welchen Einfluss die durch den Untergang der DDR grundlegend veränderten kulturpolitischen Rahmenbedingungen auf das autobiographische Schreiben der 1990er Jahre ausüben. Die Betrachtung von Günter de Bruyns zweiteiliger Autobiographie und seiner theoretischen Auseinandersetzung mit dem Genre hat deutlich werden lassen, dass der Autor auf Gattungstraditionen antwortet, dass seine Werke miteinander verknüpft sind und sich gegenseitig bereichern und dass er seine eigenen Anforderungen mit ausgewählten erzählerischen Mitteln in der Praxis erfüllt. In Das erzählte Ich. Über Wahrheit und Dichtung in der Autobiographie gewährt de Bruyn Einblick in seinen persönlichen Genrebegriff, in sein Erkenntnisinteresse, in Motivationen und Intentionen, in individuelle Probleme bei der Abfassung von Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin und in seine Pläne, Erwartungen und Befürchtungen hinsichtlich des Fortsetzungsbandes. Implizit kristallisieren sich die in der Forschungstradition etablierten, vermeintlich einander entgegengesetzten Gattungsaspekte Historizität und Literarizität heraus, die de Bruyn in seinem Streben nach »der ganzen Wahrheit über das schreibende und beschriebene Ich«1562 ausdrücklich zu vereinbaren sucht. Auch wenn sich der Essayist formal und terminologisch nur bedingt an literatur1562 De Bruyn 1995, S. 32.

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Schlussbetrachtung

wissenschaftlichen Konventionen orientiert, legt er mit Das erzählte Ich. Über Wahrheit und Dichtung in der Autobiographie eine ernstzunehmende gattungstheoretische Betrachtung vor. Die Untersuchung der beiden autobiographischen Bände hat gezeigt, dass sich theoretische Grundsätze beziehungsweise Ansprüche und praktische Umsetzung weitgehend decken: Mit Hilfe erzählerischer Mittel wie einer traditionellen formalen Gestaltung, eines chronologischen Aufbaus, intertextuellen Bezügen, Ironie, Detailreichtum, Dezenz und nicht zuletzt des gattungsspezifischen Aspekts der Dichtung schafft es de Bruyn abseits jeder im Zuge des Dekonstruktivismus postulierten Subjektproblematik oder Krise des Erzählens, in einem literarästhetisch anspruchsvollen Werk sowohl Grundlinien seines Lebenslaufs und seiner persönlichen Entwicklung herauszuarbeiten als auch seine individuellen Erinnerungen mit der Historie zu verbinden und so ein Zeitpanorama verschiedener geschichtlicher Perioden zu entwerfen. Seiner persönlichen Motivation der Selbstreflexion und Identitätssuche kommt der Autor im ersten Teil der Autobiographie ebenfalls nach; Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht dagegen ist durch die Aussparung des Familien- und Ehelebens geprägt und kann daher nur eingeschränkt der Identitätsfindung dienen. Die produktive Verbindung von Historizität und Literarizität gelingt de Bruyn durch seinen Anspruch auf subjektive Authentizität, die er implizit propagiert und erreicht, indem er sich bewusst zu Zeitbezogenheit, Subjektivität, Erinnerungslücken und der möglichen Abweichung seiner Erzählung von der Realität bekennt, dabei aber aufrichtig nach Ehrlichkeit und Gewissenhaftigkeit strebt. Auf diese Weise entsteht ein kohärentes Werk, das die theoretisch formulierten Grundsätze de Bruyns vereint und eine differenzierte Aufarbeitung der Vergangenheit leistet. Gänzlich verschiedene Motivationen und Ziele verfolgt Monika Maron in Pawels Briefe, wie sich im Rahmen der Untersuchung dieses vielschichtigen autobiographischen Werkes gezeigt hat. Zunächst einmal impliziert Marons Unterfangen, der Geschichte ihrer Familie über zwei Generationen nachzuspüren und diese in Zusammenhang mit der eigenen Biographie zu bringen, außergewöhnliche Voraussetzungen für eine literarische Autobiographie: Bei der Rekonstruktion ihrer Familiengeschichte kann die Autorin in weiten Teilen nicht auf persönliche Erinnerungen, die normalerweise als primäre Informationsquelle für einen Lebensbericht dienen, zurückgreifen, sondern ist auf Briefe, amtliche Dokumente, Fotografien, historische Fakten und das Gedächtnis ihrer Mutter Hella, das sich zuweilen als unzuverlässig herausstellt, angewiesen. Die Lebensläufe des als Juden geborenen und zum Baptismus konvertierten Pawel Iglarz, seiner Frau Josefa und der gemeinsamen vier Kinder erweisen sich nicht zuletzt auf Grund politischer Umstände als äußerst heterogen; die Autobiographie gestaltet sich als ein mühevoller Suchprozess, zu dem Re-

Schlussbetrachtung

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flexionen über das Wesen und den Wert von Erinnerungen gehören. Gleichzeitig fungiert die Historizität des Geschilderten als Grundsäule auch dieser Autobiographie; das Schicksal aller Generationen der Familie Iglarz/Maron ist eng mit den historischen Ereignissen im Europa des 20. Jahrhunderts verbunden. Die Erzählerin benennt diese Verwobenheit mit der Historie explizit als Schreibanlass und ist stets bestrebt, das Zeitgeschehen adäquat zu vermitteln. Insbesondere leistet Maron eine Aufarbeitung der DDR-Diktatur, deren Ende sie als Grundvoraussetzung ihrer kritisch-distanzierten Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit betrachtet. Marons Verhältnis zu ihrer Mutter ist stark von den unterschiedlichen Weltanschauungen der beiden Frauen und ihrem Verhältnis zum SED-Staat geprägt und stellt einen nicht unerheblichen Aspekt des Lebensrückblicks dar. Als Folge des defizitären Quellenmaterials, mit dem die Erzählerin operiert, zeichnet sich ihr Text durch einen hypothetischen Charakter aus. Die Erzählung beinhaltet als solche gekennzeichnete Imaginationen, Wunschvorstellungen und Träume, jedoch verzichtet Maron bewusst darauf, das Leben ihrer Vorfahren zu fiktionalisieren. Das erzählende Ich tritt äußerst präsent auf; es thematisiert und problematisiert die Unwägbarkeiten einer nachträglichen Rekonstruktion von Familiengeschichte und dem damit einhergehenden Versuch, das »Chaos der Vergangenheit«1563 zu bezwingen. Mit Hilfe ihrer ausdrucksvollen Sprache und ausgewogenen Skepsis gegenüber dem Erinnerungsmaterial gelingt es Maron nichtsdestotrotz, ein kohärentes literarisches Artefakt vorzulegen. Die Tatsache, dass sie in ihrem Rückblick ebenso wie Günter de Bruyn wesentliche Teilbereiche ihres Privatlebens ausspart, steht der Glaubwürdigkeit der Schilderungen nicht entgegen. Vielmehr verleiht ihre Offenheit in Bezug auf Zweifel, Wissenslücken und Schwierigkeiten bei der Wiedergabe der Vergangenheit ihrem autobiographischen Werk einen hohen Grad an Authentizität. Auch wenn die Autorin nicht primär der eigenen Vergangenheit nachspürt, sondern ihre Biographie in die Familiengeschichte einbettet, ist ihr autobiographischer Bericht dennoch eindeutig als Instrument der Ich-Suche aufzufassen. Der unerwartete Fund zahlreicher Schriftstücke und Familiendokumente im Jahr 1994 eröffnet Maron einen neuen Zugang zu ihren Vorfahren; ihre Identifikation mit ihren ihr unbekannten Großeltern intensiviert sich im Erwachsenenalter. Besondere Bedeutung für ihre Identitätsfindung erlangt auch die Polenreise, da diese ihr die Eigentümlichkeit ihrer Herkunft hinsichtlich nationaler und konfessioneller Gesichtspunkte vor Augen führt. Marons Identitätssuche wird in Pawels Briefe zaghaft vorangetrieben und stets reflektiert; die Erzählerin lässt den Leser daran teilhaben, wie sie ihre Wurzeln zwischen den Dichotomien Nationalsozialismus – Kommunismus, Polen – Deutschland sowie 1563 Maron 1999, S. 205.

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Schlussbetrachtung

Judentum – Christentum freilegt. Obwohl es sich bei Pawels Briefe insbesondere durch die Fokussierung einer Familiengeschichte ohne Zweifel um einen Sonderfall der literarischen Autobiographie handelt, vereint Monika Maron alle in dieser Arbeit als gattungskonstitutiv herausgearbeiteten Aspekte des Genres. Wulf Kirsten legt mit seiner Kindheitsautobiographie Die Prinzessinnen im Krautgarten. Eine Dorfkindheit ein Werk vor, das im Vergleich zum klassischen Gattungskanon ebenfalls einige Besonderheiten aufweist. Während Kirstens lyrische Arbeiten, die zumeist deutliche autobiographische Züge tragen, von einer gewissen Abwehr gegen die DDR-Diktatur geprägt sind, leistet er in seinem Lebensbericht keine Aufarbeitung dieses Systems, das vier Jahrzehnte seines Erwachsenenlebens bestimmt hat. Umso wichtiger ist es ihm, seine subjektive Sichtweise auf den Nationalsozialismus und das Kriegsende zu artikulieren, was ihm innerhalb des sozialistischen Staats in dieser Form nicht möglich war. Der Erzähler berichtet detailliert von den Verbrechen der Roten Armee, die auch vor dem sächsischen Dorf Klipphausen nicht halt machen und den kleinen Wulf traumatisieren. Häufig stehen die historischen Ereignisse im Vordergrund der Darstellung, wobei sich Kirsten ähnlich wie Günter de Bruyn auf eine gattungsspezifische Erzählhaltung besinnt: Verschiedene Bewusstseinsstufen fließen in die Schilderungen ein; der Wissens- und Erlebnishorizont des erzählten Ichs wird glaubhaft vermittelt, um von dem wissenden, gegenwärtigen Schreiber ergänzt, kommentiert und interpretiert zu werden. Auf diese Weise kommt der Autobiograph seinem Anspruch nach, Vergangenheit zu bewahren und gegen das Vergessen anzukämpfen; York-Gothart Mix bescheinigt ihm, »Geschichte von unten«1564 zu vermitteln. Der literarische Text zeichnet sich durch ein altertümliches und regionales Vokabular aus, da Kirsten auch hinsichtlich der von ihm geschätzten und als schützenswert erachteten deutschen Sprache bestrebt ist, zu erinnern und zu bewahren. Ein zumeist sehr präsentes erzählendes Ich legt den Schreibprozess offen, hinterfragt und reflektiert die eigene Erzählweise und äußert Zweifel in Bezug auf persönliche Lebenserinnerungen und deren Wiedergabe. Die subjektive Sicht des gegenwärtigen Schreibers erhält letztlich einen großen Stellenwert, dennoch findet ein ergänzendes Zusammenspiel von erzähltem und erzählendem Ich statt. Wie Günter de Bruyn und Monika Maron setzt auch Kirsten die Möglichkeiten der Dichtung gezielt ein, um seine Lebenswirklichkeit unter Verzicht auf Fiktion authentisch zu ästhetisieren. Die Identitätssuche des Autobiographen findet primär im soziokulturellen Kontext statt. Das frühere Selbst wird eher en passant beleuchtet; es nimmt eine Beobachterrolle ein, die eine nachträgliche, detailgenaue Skizzierung der ländlichen Umgebung, des Arbeitsalltags und der Lebensentwürfe verschiedener Bewohner Klipphausens 1564 Mix 2007, S. 112.

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ermöglicht. Identität ist für Kirsten eng mit Heimat verbunden; durch die intensive Auseinandersetzung mit der Dorfwelt seiner Kindheit ergründet er das frühere Ich, seinen Zugang zur Welt und seine Positionierung innerhalb der Gesellschaft. Summa summarum zeichnet sich Wulf Kirstens Autobiographie durch den Versuch einer adäquaten Vermittlung seiner (Kindheits-)Erinnerungen, durch Historizität, Literarizität, Authentizität und eine bewusste Identitätssuche aus, wie es auch auf die Lebensberichte von Günter de Bruyn und Monika Maron zutrifft. Heiner Müller dagegen kann sich nicht zur eigenhändigen Niederschrift einer Autobiographie durchringen, da das Interesse an seiner persönlichen Vergangenheit und der eigenen Identität zu gering ausgeprägt ist, um sich intensiv damit auseinanderzusetzen. Auf Drängen seines Lektors legt er mit Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen dennoch einen Lebensrückblick vor, bei dem es sich um eine von ihm selbst überarbeitete Transkription zahlreicher Interviews handelt und der, nicht nur hinsichtlich gattungskonstitutiver Aspekte, für den Autor künstlerisch offen und defizitär bleibt. Die Erinnerungsstrukturen sind durch den Entstehungskontext geprägt; zwar setzt sich Müller punktuell mit seiner Gedächtnisarbeit auseinander und problematisiert Zweifel und Unsicherheiten, zumeist jedoch ist seine Erinnerungsweise spontan, leichtfertig und lückenhaft. Eine historiographische Komponente wird im Untertitel des Werkes angekündigt und auf außergewöhnliche Weise auch hergestellt: Seit den frühen Kinderjahren ist Müllers (künstlerische) Entwicklung stark von Politik und Geschichte beeinflusst, so dass er mit seinen Lebenserinnerungen gleichfalls historische Informationen vermittelt – auch ohne sich ausdrücklich darum zu bemühen. Obwohl er seinen gegenwärtigen Wissenshorizont und die in der Rückschau vorhandene Übersichtlichkeit der Ursachen und Folgen zeitgeschichtlicher Ereignisse nicht gezielt nutzt, um ein Zeitpanorama zu zeichnen, findet dennoch eine Aufarbeitung des Nationalsozialismus und der DDR-Diktatur statt. Der ergänzende und durchaus informative Dokumentenanhang sowie das Dossier über Müllers Verbindung zum MfS ermöglichen zusätzliche Einblicke in die Machtstrukturen des SED-Staats, auch wenn sie eine subjektive Geschichtsvermittlung von Seiten des Autobiographen nicht ersetzen können. Die Entstehung der Autobiographie aus der Gesprächsform bleibt durch die Bewahrung der Dialogsituation und einen mündlichen Sprachstil erkennbar ; dem Text fehlen Homogenität und Kontinuität. Charakteristisch ist eine anekdotische Erzählweise, die Müller bewusst einsetzt, um unangenehmen Fragen auszuweichen und seine eigene Person auf die gewünschte Weise zu inszenieren. Dabei sind es stets die Künstlerexistenz und sein dramatisches Werk, die er in den Fokus seiner Darstellung rückt; über den Privatmenschen Heiner Müller ist in diesem Lebensbericht vergleichsweise wenig zu erfahren. Solche Informati-

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Schlussbetrachtung

onslücken und die pointiert zugespitzten Geschichten schwächen die Glaubwürdigkeit der Autobiographie ab, zudem weisen die Schilderungen einige Widersprüche auf. Der Authentizität des Werkes zuträglich ist ohne Frage der Dokumentenanhang, der zahlreiche Fakten aus Müllers Leben zusammenträgt und den in Bezug auf Namen und Jahreszahlen zuweilen fehlerhaften Lebensbericht sinnvoll ergänzt. Im Rahmen dieses Anhangs sowie in dem von Gerhard Ahrens herausgegebenen Band Traumtexte werden Müllers Erinnerungen zudem von zwei früheren Weggefährten auf sachliche Richtigkeit überprüft und zum Teil korrigiert1565, was der Erhellung der Biographie dienlich ist, auf die Gattungskonstituente der subjektiven Authentizität, die ausschließlich der Autobiograph leisten kann, allerdings keinen Einfluss hat. Diese wird in Müllers Fall nur eingeschränkt erreicht – das erzählende Ich ist zwar durchaus präsent, indem es das vergangene Geschehen kommentiert oder um gegenwärtiges Wissen ergänzt, aber es zeigt sich nicht bereit oder nicht in der Lage, das Berichtete zu deuten und in eine kohärente Erzählung zu überführen. Müller ist nicht ernsthaft bestrebt, eine angemessene Wiedergabe seiner subjektiven Lebensrealität und eine differenzierte Beurteilung seiner Vergangenheit zu leisten. Ebenso wenig wird der Autor von der Motivation der Selbsterkenntnis und Identitätsfindung geleitet; vielmehr ist er darum bemüht, sich als stetigen Außenseiter, als unabhängigen Künstler und distanzierten Beobachter zu stilisieren, den seine Lebensrealität ausschließlich hinsichtlich seines kreativen Schaffens interessiert. Die DDR, in deren Gesellschaft Müller die Rolle eines kritischen Intellektuellen einnimmt, fungiert als Bezugssystem und Materialquelle. Nach deren Ende gerät der Dramatiker in eine existentielle Krise, die im Rahmen seines Lebensberichts aber nur vage angedeutet wird. Letztlich findet keine intensive Auseinandersetzung mit dem eigenen Ich in Vergangenheit und Gegenwart statt; von Identitätssuche oder -vergewisserung kann keine Rede sein. Zwar gewährt Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen ohne Zweifel erhellende Einblicke in ein Künstlerleben in der DDR, leistet einen Beitrag zur Aufarbeitung der Diktatur und ihrer Machtstrukturen und erweitert Müllers Gesamtwerk um seine rückblickende Einschätzung seiner Stücke, ihrer Entstehungskontexte und Rezeptionsweisen; aus autobiographietheoretischer Perspektive jedoch muss konstatiert werden, dass Müller keine Bemühung um die gattungskonstitutiven Aspekte der Historizität, Literarizität, subjektiven Authentizität und Identität zeigt und diese nur sehr eingeschränkt erfüllt werden. Nimmt man alle in dieser Arbeit analysierten Werke in den Blick, so fällt auf, dass ausschließlich Günter de Bruyn eine dem klassischen Gattungskanon entsprechende Autobiographie vorlegt. Neben Heiner Müllers Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen bilden auch die Lebensberichte von Monika 1565 Vgl. Tragelehn, S. 420–425 u. Heiner Müller 2009, S. 28f.

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Maron und Wulf Kirsten Sonderfälle innerhalb der Gattungstradition, indem sie eine Familiengeschichte in den Vordergrund der Darstellung rücken beziehungsweise lediglich die Kinder- und Jugendjahre eines gelebten Lebens rekapitulieren. In diesem Zusammenhang gilt es allerdings erneut zu betonen, dass ausschließlich Müllers Lebensbericht hinter der Erfüllung der gattungstheoretischen Grundkategorien zurückbleibt, die von Maron und Kirsten trotz des außergewöhnlichen Charakters ihrer Autobiographien ohne Einschränkungen gewährleistet wird. Die Autobiographietheorie – insbesondere in ihren aktuellen Tendenzen – stellt sich als zu umfangreich und disparat dar, als dass eine Untersuchung dieser Art alle Forschungszweige und -strömungen berücksichtigen könnte. Die Auswahl der für den Themenkomplex dieser Arbeit als relevant erkannten Aspekte floss in die in Kapitel 2.2. definierten Grundkategorien der Gattung ein, die inhaltlich wie formal die Basis der Werkanalysen gebildet und sich dabei als geeignet und nutzbringend erwiesen haben. Die vorliegende Studie versteht sich als Beitrag zur Erforschung der Nach-Wende-Autobiographie – sowohl als besondere Ausprägung innerhalb der Gattungstradition wie auch in ihrer Funktion als Zeitzeugnis und Medium der Identitätssuche. Die vorgestellten Untersuchungsergebnisse können als Grundlage weiterer Analysen ostdeutscher Lebensberichte aufgegriffen werden, in deren Rahmen auch Lebensrückblicke und Memoiren ehemaliger DDR-Funktionäre berücksichtigt werden sollten. Freilich unterliegen solche zumeist politisch motivierten, pragmatischen Unterfangen häufig einem »Rechenschafts- und Geständniszwang«1566, während literarischer Anspruch und gewissenhafte (Selbst-)Auseinandersetzung zugunsten einer nachträglichen Rechtfertigung eigenen Handelns in den Hintergrund treten. Auch die Tradition der sozialistischen Autobiographik mag diese Berichte im Unterschied zu den Autobiographien kritischer Intellektueller noch über das Ende der DDR hinaus prägen.1567 Dessen ungeachtet ist zu erwarten, dass eine differenzierte Analyse sorgfältig ausgewählter Funktionärsrückblicke und ein Vergleich der verschiedenen Formen autobiographischen Schreibens nach 1989 aufschlussreiche Einblicke ermöglichen und weitere Rückschlüsse zulassen.1568

1566 Hyunseon Lee: »Die Dialektik des Geständnisses: Monika Marons Stille Zeile Sechs und die autobiografischen Diskurse nach 1989«. In: Monika Maron in Perspective. ›Dialogische‹ Einblicke in zeitgeschichtliche, intertextuelle und rezeptionsbezogene Aspekte ihres Werkes, Hg. v. Elke Gilson, Amsterdam, New York 2002, S. 64. 1567 Vgl. Stefan Zahlmann: Autobiographische Verarbeitungen gesellschaftlichen Scheiterns. Die Eliten der amerikanischen Südstaaten nach 1865 und der DDR nach 1989, Köln, Weimar, Wien 2009, S. 175–233. 1568 Vgl. Hirsekorn 2010, Kontinuitäten und Brüche, S. 150. Vgl. auch Ute Hirsekorn: »Vom verblendeten Selbst zum gewendeten Selbst: Der Wandel in der narrativen Identität in den Selbstreflexionen Günter Schabowskis nach 1989«. In: The Self in Transition. East German

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Generell gilt es stets zu berücksichtigen, dass wesentliche Beschreibungskriterien der Autobiographie wie ›Subjekt‹, ›Identität‹ oder ›Wirklichkeit‹ innerhalb der DDR-Diktatur negativ konnotiert beziehungsweise mit abweichenden Bedeutungen besetzt waren und ihre Gültigkeit in Ostdeutschland erst nach dem Wandel der kulturpolitischen Rahmenbedingungen erlangen. Ziel der zukünftigen Forschung sollte es sein, die Ergebnisse der wenigen bereits vorhandenen, zum Teil aber profunden Studien zu Autobiographien ostdeutscher Schriftsteller nach dem Ende der DDR1569 durch weitere Werkanalysen zu ergänzen und schließlich in die Erstellung einer alle Facetten berücksichtigenden Typologie der Nach-Wende-Autobiographie münden zu lassen.

Autobiographical Writing Before and After Unification. Essays in Honour of Dennis Tate, Hg. v. David Clarke u. Axel Goodbody, Amsterdam, New York 2012, S. 221–239. 1569 Vgl. z. B. die in dieser Arbeit herangezogenen Werke von Owen Evans, Karen Leeder, Valeska Steinig und Dennis Tate (2007).

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c)

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Weitere Bände dieser Reihe Band 19: Aija Sakova

Ausgraben und Erinnern Denkbilder des Erinnerns und der moralischen Zeugenschaft im Werk von Christa Wolf und Ene Mihkelson 2016. 177 Seiten, gebunden 35,00 € Preis D ISBN 978-3-8471-0557-2

Band 16: Carsten Gansel/Monika Wolting (Hg.)

Deutschland- und Polenbilder in der Literatur nach 1989 2015. 405 Seiten, gebunden 55,00 € Preis D ISBN 978-3-8471-0459-9

Band 18: Carolin Führer (Hg.)

Band 15: Carsten Gansel/Markus Joch/ Monika Wolting (Hg.)

Die andere deutsche Erinnerung

Zwischen Erinnerung und Fremdheit

Tendenzen literarischen und kulturellen Lernens

Entwicklungen in der deutschen und polnischen Literatur nach 1989

2016. 422 Seiten, gebunden 60,00 € Preis D ISBN 978-3-8471-0502-2

2015. 460 Seiten, gebunden 60,00 € Preis D ISBN 978-3-8471-0382-0

Band 17: Birgitta Krumrey

Band 14: Michaela Nicole Raß

Der Autor in seinem Text

Bilderlust – Sprachbild: Das Rendezvous der Künste

Autofiktion in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur als (post-) postmodernes Phänomen 2015. 221 Seiten, gebunden 40,00 € Preis D ISBN 978-3-8471-0464-3

Friederike Mayröckers Kunst der Ekphrasis 2014. 473 Seiten, gebunden 70,00 € Preis D ISBN 978-3-8471-0162-8

www.v-r.de