Griechisches Theater in Deutschland: Mythos und Tragödie bei Heiner Müller und Botho Strauß 9783412332266, 9783412200411

124 71 35MB

German Pages [512] Year 2007

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Griechisches Theater in Deutschland: Mythos und Tragödie bei Heiner Müller und Botho Strauß
 9783412332266, 9783412200411

Citation preview

Eva C. Huiler Griechisches Theater in Deutschland

TOÎÇ y ove

vai

Eva C. Huiler

GRIECHISCHES THEATER IN DEUTSCHLAND Mythos und Tragödie bei Heiner Müller und Botho Strauß

2007

BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Odysseus und die Sirenen. Attisch-rotfiguriger Stamnos des Sirenen-Malers, um 470 v. Chr. British Museum, London.

© 2007 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Druck und Bindung: Strauss GmbH, Mörlenbach Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-412-20041-1

Unter allen Verhältnissen, in die die Moderne tritt; ist das ^ur Antike ein ausgezeichnetes. Walter Benjamin: Charles Baudelaire Eine Welt, die sich selbst versprengt, läßt sich nicht mehr abkonterfeien, aber da ihre Verwüstung aus den tiefsten Wurzeln der Menschennatur stammt, ist es diese, welche in all ihrer Nacktheit, in ihrer Größe wie in ihrer Erbärmlichkeit dargestellt werden muß -, und das eben ist eine bereits mythische Aufgabe. Hermann Broch: Die mythische Erbschaft der Dichtung Das Gegenüber aus Zähneknirschen, Bränden und Gesang. Die Schutthalde der Uteratur im Rücken. Heiner Müller: Traktor Der Untergrund ist alle Zeit der gleiche Matsch. Botho Strauß: Anschwellender Bocksgesang

Inhalt EINLEITUNG 1. Mythos und Tragödie in der deutschen Literatur nach 1945 1.1. „... coming from myth, returning to myth ..." 1.2. Tragik und Tragödie - Ein modernes Problemfeld 1.3. Die attische Tragödie und ihre Transformation im 20. Jahrhundert 1.3.1. Die erste Jahrhunderthälfte 1.3.2. Mythos- und Tragödientransformationen in „Zwei Literaturen" 1.3.3. Die Mythen- und Tragödientransformationen von Müller und Strauß

15 15 16 19 19 21 23

2. Die genuine Intertextualität der Gattung Tragödie 2.1. „Patterns" der attischen Tragödie 2.2. Ritus, Mythos und Tragödie 2.2.1. Das Opfer-„Pattern" 2.2.2. Ritus und dramatisches Spiel in der Postmoderne: Turner, Schechner und Stein 2.3. Dialogizität der Tragödie

27 27 29 29 32 33

3. .Mythos' - Deutungsansätze des 20. Jahrhunderts 3.1. Mythos und Logos - ein antithetisches Verhältnis? 3.2.,Mythische' und 'historische' Zeit 3.3. Mythen als Repräsentanten von Archetypen 3.4. Strukturalistische Zugänge zu Mythen

34 34 36 37 38

4. „Arbeit am Mythos" - Intertextualität und Dialogizität von Mythen 4.1. Intertextualität und Mythenanalyse 4.2. Textdeskriptive und textontologische Analyse von Mythen

40 41 42

I. MÜLLERS TRANSFORMATIONEN DES ATTISCHEN DRAMAS 1. Dialoge mit Mythos und Tragödie

45

2. Philoktet - ,Der Mensch des Menschen Todfeind' 46 2.1. Individuum und Gemeinschaft: Philoktet 1950 46 2.2. Philoktet als Drama der instrumentellen Vernunft 49 2.2.1. Transformationen von Struktur, Personal und Chor 49 2.2.2. Vom Konflikt des Wortes zum Konflikt der Ideen 51 2.2.3. Die Inszenierung der Lüge - das Ajax-Mythologem 60 Philoktet und Odysseus 68 Neoptolemos und Odysseus 70 2.2.4. Die Rationalisierung der Götter - Entfernung von der Fabel des Sophokles ..71 2.2.5. Kontamination mit der Philoktet-Fabel des Euripides 75 2.2.6. Lesarten des Philoktet Modell - Moral - Krieg 79

10 2.2.7. „Kein Mensch ist integer. In keinem guten Stück." 1. Philoktet als mitleidloses wie Mitleid verwehrendes Opfer 2. Der Politiker Odysseus und die instrumenteile Vernunft Der Sieg der instrumentellen Vernunft über das Schicksal Opfer und Tragödie Instrumentelle Vernunft als Hindernis des Fortschritts perforation' der Tradition 3. Neoptolemos, der Terrorist: Die Pervertierung von Idealen 2.2.8. Mythos als überzeitliches Modell und zeithistorische Metapher 2.2.9. Die Parodie im Philoktet 1979

82 83 85 87 88 90 91 93 97 100

3. Ödipus - die Tragödie des Wissens und der Macht 103 3.1. Odipuskommentar als Hypothesis 104 3.2. Heiner Müller: Sophokles. Ödipus Tyrann. Nach Hölderlin 108 3.2.1. Die Bedeutung von Sophokles und Hölderlin 108 3.2.2. Tragödie der Herrschaft und Gewalt 112 3.2.3. Gegen die Deutung als Schicksalstragödie 121 1. Orakel, Götter, Fatalismus 121 2. Orakel und die Problematik der Hermeneutik 123 3.2.4. Die persönliche und die politische Dimension des Verdrängens 125 3.2.5. Tragische Fehler: (Selbst-)Täuschung,,Wille zur Macht' und Hybris des Intellekts 128 1. Nietzsche und Foucault: Theorien der Macht und des Wissens 129 2. Vorsokratische Erkenntnistheorien und das Versagen von Ödipus' Intellekt... 132 3. Die Kritik der ,süßen' Selbstblendung als Hedonismus 135 3.2.6. Zeitgeschichtliche und politische Metaphorik 140 4. Prometheus Desmotes (nach Aischylos): Der defizitäre Revolutionär 4.1. Sprache, Stil, Struktur und Fabel 4.2. Der Prometheus Desmotes als Drama der Macht 4.2.1. Die Tyrannis des Zeus 4.2.2. Der Opportunist Okeanos als Gegenmodell zu Prometheus 4.3. Der gebrochene Philanthrop: Die Widersprüchlichkeit des Prometheus 4.4. Das Motiv der Versteinerung 4.5. Historische und politische Lesarten des mythischen Modells

143 143 146 146 149 150 155 157

5. Herakles 5: Produktionsstück, Satyrspiel und Faust-Parodie

161

II. DEKONSTRUKTIVISMUS IN MÜLLERS MYTHOS- UND TRAGÖDIENTRANSFORMATIONEN 1. Mythologeme als Kommentar zur russischen Revolution: Zement 1.1. Die private Revolution 1.1.1. Heimkehr des Odysseus'. Öffentliche Affirmation und private Negation des Mythologems 1.1.2. Medeakommentar. Gender-Transgression und Revolution 1.1.3. Familie und Politik in Siebengegen Theben

175 177 177 179 183

11 1.2. Die politische Dimension der Revolution 1.2.1. Befreiung des Prometheus-. Achill, Hektor, Prometheus und Herakles in der Revolution 1.2.2. Herakles 2 oder die Hydra: Der Nihilismus revolutionären Kampfes

185 185 195

2. Medeaspiel. Macht- und Genderdiskurse im mythischen Kondensat

201

3. Hamletmaschine - Mythenüberblendungen vor dem 20. Jahrhundert

204

4. Anfang und Ende der Mythos: Verkommenes Ufer. 4.1. Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten. Gegenwart von Kolchis 4.2. Medeamaterial Landschaft mit Argonauten: Die Ambivalenz Medeas 4.3. Identitätssuche und Identitätsverlust in Landschaft mit Argonauten

215 215 223 233

5. Mythologeme in Müllers Dramen der späteren 80er Jahre 246 5.1. Bildbeschreibungvon. Palimpsestschichten der Gewalt 246 5.2. Tragödie und Mythos in Wolokolamsker Chaussee 247 5.2.1. Wolokolamsker Chaussee als Tragödie historischen Fortschritts 247 5.2.2. Wolokolamsker Chaussee III: Kentauren - Mythisierte Entlarvung der Dialektik. 249

III. DIONYSISCHE SINNSUCHE BEI BOTHO STRAUß 1. Poetik der ,Mythenumschrift einer Bundesrepublik' ..253 1.1. Mythopoetik im Diskurssystem 253 1.2. Auseinandersetzung mit der Aufklärung 256 1.3. Mythopoetik und Rezeption der attischen Tragödie 257 1.4. Die Bacchen des Euripides als dionysischer Prätext und poetisches Programm...259 2. Mythische Doppelbödigkeit: Bekannte Gesichter, gemischte Gefühle 2.1. „Mythische" Schimmer in der „rationalen" Welt 2.2. Mythisierungen in Traum und Wirklichkeit 2.3. Tragisches Erwachen

264 265 269 273

3. Aitiologie des therapeutischen Spiels: Kalldewey, Farce 3.1. Scheiternde Katharsis in der Tragödie des ,Schlafes der Liebe' 3.2. Dionysische Komödie als Therapie 3.3. Der Blick ins Archiv der Rollentexte 3.4. Der Nihilismus dramatischen Spiels im Korridor Das Dionysische und die Farce

275 275 283 287 290 292

4. Transformationen und Metamorphosen in Der Park 4.1. Intertextuelle Magie 4.2. Von Elfengöttern zu ökonomisierten Lustmissionaren 4.3. Cyprian als Künstler und intertextuelle Kunstfigur 4.4. Titanias Metamorphosen und ihre Intertextualität 4.5. Mythische Verwirrung unter Menschen: Helena und Daphne 4.6. Sehnsucht nach dem verstummenden Mythos von ,Troja' 4.7. Der Abstieg der Götter in die Zeit unerfüllter Erwartung

294 294 298 300 305 309 311 312

12 4.8. Verlust der Prätexte in mythenloser Gegenwart 5. Sinnsuche in Griechenland: Die Fremdenführerin 5.1. Olympia: Ursprungssuche in der platonischen Ideenwelt 5.2. Arkadien: Empirische Suche nach mythischen Ursprüngen

315 317 317 324

IV. DIE RÜCKKEHR DES CHORES UND DER TRAGÖDIE BEI STRAUß 1. Sakralisierung des Theaters und seiner Texte durch Realpräsenz

333

2. Prophetie der Rückkehr der Tragödie: Anschwellender Bocksgesang 2.1. Krisensymptome 2.2. Etymologie und Kulturgeschichte der TpaycpSia im Bocksgesang 2.3. Rettung durch poetische Anamnesis

336 336 339 344

3. Jeffers Akt - Dramatisierte Poetik

347

4. Das Ende der bundesrepublikanischen Tragödie in Schlußchor 4.1. Sehen und Gesehen werden - Wurzeln der Tragödie in Ritus und Chorgesang 4.2. Lorenz vor dem Spiegel 4.2.1. Tabubruch in mythischen Strukturen 4.2.2. Elegische Tragik 4.3. Von nun an - Opfer des gefangenen Gottes

349 349 354 354 359 361

5. Gleichgewicht Odysseus' Rückkehr zu Phaedra und Hippolytus

365

6. Ithaka - Die Rückkehr der Tragödie 6.1. Intertextualität zwischen Epos und Tragödie 6.1.1. Die formale Rückkehr der Tragödie 6.1.2. Der Chor als Gattungszitat der Tragödie 6.1.3. Paradigmen der Dramatisierung 6.2. Ithaka als Modell einer postmodernen Gesellschaft 6.3. Staatskonzept und Menschenbild der Freier 6.4. Postmoderne Fitness gegen das Prinzip des heroischen Agons 6.5. Physisches und dramatisches Gewicht Penelopes 6.6. Die Saalschlacht als Transformation tragischer Katharsis 6.7. Das Königspaar und die Wiederkehr einer Aurea aetas 6.7.1. Die Anagnorisis des Königspaares 6.7.2. Göttlich bestimmte Versöhnung mit politischen Mitteln 6.7.3. Zeitenwechsel 6.8. Die Wandlung des Odysseus vom zaudernden Heros zum König 6.9. Die Rückkehr der Götter und die Remythisierung der Welt 6.10. Sirenen, Mythos und Aufklärung: Dramatisierte Geschichtsphilosophie

369 369 369 371 372 374 377 379 380 384 388 388 390 394 395 397 400

7. Verklingen der Mythen 7.1. Deutschland als Vancomedia 7.2. Medeen und Faune in Die eine und die andere

405 405 406

13

V. DER REST IST LYRIK: MÜLLERS ENDE DER TRAGÖDIE 1. Aischylos-Transformationen in der Zeit der Wende 1.1. Fremdheit der Antike im Epochenjahr 1990: Die Perser 1.2. Müller und der Atriden-Mythos: Digest %ur Orestie

410 410 411

2. Lyrische Absagen an die Tragödie 2.1. Das Ende im Wahn oder: Die männliche Medea im Herakles 13 2.2. Poetologie des Endes der Tragödie: Ajax %um Beispiel

416 417 423

3. Germania 3 Gespenster am toten Mann: Nekrolog der Tragödie 3.1. Prometheus und Zeus/Stalin in Panzerschlacht 3.2. Das Ajax-Philoktet-Zitat in Party

435 436 438

VI. ZWEI WEGE ZU MYTHOS UND TRAGÖDIE 1. Müllers historische Archetypen und Modelle Intertextualität und Dialogizität Konzentration des mythisch-dramatischen Personals Transformationen der Tragödie

443 443 447 448

2. Strauß: Die Gefahren der Aufklärung und die Polarität des Dionysischen Intertextualität von Mythen und Gattungen Polysemie des Dionysischen und die Neue Mythologie Mythohistorisches Konzept und Archetypen

451 451 452 454

3. Strauß und Müller - Paradigmen deutscher Dramatik

455

LITERATURVERZEICHNIS I. Primärtexte, Ubersetzungen, Kommentare

459

II. Sonstige Literatur

467

REGISTER Stellenregister

503

Personenregister

504

Einleitung

1. Mythos und Tragödie in der deutschen Literatur nach 1945 1.1.,,... coming from myth, returning to myth ..." Tragödie und Mythos bilden das Fundament des abendländischen Theaters.1 Von ihren Transformationen seit dem ersten Höhepunkt im 5. vorchristlichen Jahrhundert werden immer neue Dramen beeinflußt, die wiederum zu Prätexten weiterer Stücke werden: Goethes Iphigenie als Transformation von Euripides' Iphigenie bei den Taurem prägt etwa die Atridendramen bis in die Gegenwart. Als „coming from myth, returning to myth" charakterisiert Hermann Broch die europäische Literatur von Homer bis Tolstoi2 und prägt damit eine pointierte Formel, die auch die folgende Zeit treffend charakterisiert. In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg schwankt die Welt zwischen Mythenferne und Mythennähe: Mit der zunehmenden Technisierung der Welt und der Rationalisierung aller Lebensbereiche werden irrationale Phänomene, zu denen auch die Mythologie gezählt wird, verdrängt. Gesellschaftliche Veränderungen drängen die Kenntnis der antiken Mythologie aus dem Bildungskanon. Dazu kommt die historische Erfahrung der ideologischen Instrumentalisierung mythischen Denkens durch den Nationalsozialismus, in dessen Folge mythisches Denken zum Tabu wird; Bohrer prägt dafür den Begriff „politisch motiviertes Mythosverbot"3. Als Gegenbewegung zum Primat der Rationalität artikuliert sich andererseits seit den sechziger Jahren, am deutlichsten in der New-Age-Bewegung, der Widerstand gegen die reine Aufklärung, der auch verbunden ist mit der Sehnsucht nach Remythisierung. Außerdem zeigt sich auf dem Feld der Wissenschaft - in der Philologie, Archäologie, Ethnologie, Psychoanalyse, Philosophie und den Religionswissenschaften in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein immenses Interesse an dem Phänomen Mythos. Kein anderes Jahrhundert zuvor brachte so viele Theorien und methodische Erklärungsansätze hervor, so daß die Definitionsvielfalt nahezu unüberschaubar geworden ist. In der Literaturwissenschaft gelten der Frage nach dem Mythos und

* 1

2 3

Die Übersetzungen der griechischen Zitate stammen, wenn nicht anders angegeben, von Verf. Grundlegende Studien zur Antikenrezeption in der Tragödie, jedoch mit der Ausnahme von Manfred Fuhrmann nicht auf das 20. Jahrhundert beschränkt, sind Friedrich (1967), Fuhrmann (1971), Hamburger (1962) und Jens (1993). - Aylen (1964), Dickinson (1967) und Belli (1969) befassen sich nur mit amerikanischen und französischen Aneignungen der antiken Tragödie. - Zur europäischen Rezeption auf der Bühne vgl. Macintosh (1997) und Burian (1997b). Broch: The Style of the Mythical Age. Essays I, S. 249. Bohrer (1983), S. 10.

16

Einleitung

mythologischem Denken zahlreiche Kongresse und Sammelbände.4 Mythos ist also als Denksystem und Objekt der Forschung bis in die Gegenwart lebenskräftig und präsent. 1.2. Tragik und Tragödie - Ein modernes Problemfeld Die Frage nach der Anwesenheit der Tragödie in einer Zeit, in der die Gattungsgrenzen verschwimmen und sogar das Ende der Tragödie ausgerufen wurde, ist nicht einfach zu beantworten. Der Auftakt zu dem seit dem 19. Jahrhundert immer lauter werdenden Abgesang auf die - antike - Tragödie findet sich bei Friedrich Schlegel, der ausgehend von Lektüren der attischen Tragödie die Problematik einer neuzeitlichen Tragödie erörtert: An der sophokleischen Tragödie, die ihm als Exemplum der antiken Tragödie dient, lobt er 1797 die Zusammenstellung von einem streng verknüpften und innigst verschmolzen Ganzen? eine Ganzheitlichkeit, die im modernen Drama unmöglich sei. Außerdem gebe es keine gemeinsame Basis mehr, wie sie die Antike im Mythos besessen habe. Einen historischen oder erfundenen Stoff zur Tragödie zu verarbeiten aber sei eine unglaublich schwere Aufgabe, so daß die moderne Tragödie notwendigerweise sowohl an den Erfordernissen der Form als auch des Stoffes scheitere.6 Im Gespräch über die Poesie läßt Schlegel Lothario allerdings zu einer neuen Bestimmung der Tragödie kommen, in der in einer Entwicklung der Gattung selbst, die den veränderten Zeitumständen entspreche, eine neue ,antike', das heißt den Eigenschaften der griechischen entsprechende Tragödie möglich wird, die formal jedoch völlig von dieser unterschieden ist. Doch ist diese im Moment des Gesprächs noch nicht geprägt, sondern noch reine Idee.7 Schlegels Beschäftigung mit der Tragödie zeigt, daß zeitgleich zum Empfinden der Unzeitgemäßheit und Unmöglichkeit der Tragödie die Sehnsucht nach der Verarbeitung der Erfahrung des Tragischen in dramatischer Form besteht. Auch zeigt Lotharios Idee, daß es legitim ist, ein Drama als Tragödie zu bezeichnen, das weder formal noch durch seinen Stoff identisch ist mit der antiken Tragödie. Dies fordert, daß auch Gattungen transformierbar sein müssen, um aktuell und lebensfähig bleiben zu können. Diese Idee ist auch für die Fragestellung nach der Präsenz der Tragödie in der Literatur des 20. Jahrhunderts bis hin zur Postmoderne fruchtbar. „Death of Tragedy" - der Titel von George Steiners 1961 veröffentlichter Studie behauptet allerdings, daß in der Moderne die Tragödie nicht mehr möglich sei; er datiert ihren „Tod" auf das frühe 19. Jahrhundert. Dabei stellt er einen untrennbaren Bezug zwischen der Gattung Tragödie und der Mythologie her, das heißt den Fabeln der Dramen. Da es aber in der Moderne eine Krise der Mythen gebe, sei die Tragödie heute

4

5 6 7

Exemplarisch seien aus den jüngsten Jahren genannt: „Mythenkorrekturen" (2005); „Antiker Mythos, erzählt und angewandt bis in die Gegenwart" (2004), „Komparatistik als Arbeit am Mythos" (2004), „Mythos und Mythologie" (2004), „Mythen in nachmythischer Zeit" (2002). Schlegel: Über das Studium der griechischen Poesie. K F S A 1, S. 301. Ebd., S. 339. Schlegel: Gespräch über die Poesie. K F S A 2, S. 350: „Es wäre dabei ein größerer Umfang und eine größere Mannichfaltigkeit der äußern Formen erlaubt ja sogar ratsam, ungefähr so wie sie in manchen Nebenarten und Abarten der alten Tragödie wirklich stattgefunden hat."

1. Mythos und Tragödie in der deutschen Literatur nach 1945

17

nicht mehr möglich; den modernen Mythologien, von denen Steiner den Marxismus und das Christentum hervorhebt, fehle die gewachsene, die gesamte Gesellschaft umfassende integrative Dimension, wie sie in der Antike die Mythen besessen hätten. Die Mythologie der Moderne sei nur eine zu einem spezifischen Zeitpunkt von einer bestimmten Gruppe erschaffene Mythologie, die Millionen von Menschen auferlegt werde. Außerdem besäßen sowohl die christliche als auch die marxistische Metaphysik keine Tragik, so daß auch wegen des Fehlens von tragischen Fabeln die Tragödie nicht mehr möglich sei.8 Noch radikaler stellte achtzig Jahre früher Nietzsche in der Geburt der Tragödie den Bezug zwischen der dem Mythos entstammenden Fabel und der Tragödie her. Er bestimmt das Ende der Tragödie bereits in der Antike mit Euripides, dessen Figuren nicht mehr die mythische Größe besessen hätten, da Euripides „den Bürger auf die Bühne gebracht" und die Mythen so „fragwürdig" behandelt habe. Dionysos, der Gott der Tragödie, der nach Nietzsche in jedem tragischen Helden und so in jeder tragischen Fabel in nuce präsent war, sei durch diese sokratische Nüchternheit aus der Tragödie vertrieben und in der Folge auch die Tragödie an ihre Ende gebracht worden.9 Was eine Tragödie genau ausmacht, ist eine Jahrtausende alte Frage. Ais erster beantwortet sie mit einem wirkungsästhetischen Ansatz die Poetik des Aristoteles, in der die Tragödie durch ihre Wirkung auf den Rezipienten von Epik und Lyrik unterschieden wird. Eine Tragödie führt danach als tragische Affekte Eleos und Phobos sowie in deren Folge die Katharsis herbei. Dies fordert eine spezifische tragische Handlungsstruktur, zu der die Peripetie ebenso gehört wie ein Held mittleren Charakters, der durch einen Fehler ins Unglück gerät. Diese Bedeutung des Helden wird seit Longins Schrift Über das Erhabene zentral und führt in den neuzeitlichen Poetiken zur Forderung nach hohem Personal und Stil, um durch die so geschaffene Fallhöhe tragische Wirkung zu erzeugen. Die wirkungsästhetische Bestimmung prägt noch in der Gegenwart das Verständnis der Tragödie.10 Eine wirkungsästhetische Definition ist allerdings eingeschränkt auf eine Form der Tragödie, wie sie Aristoteles aus der Vielzahl der bis ins vierte vorchristliche Jahrhundert entstandenen Tragödien herausdestillierte. Für sich würde dieser Ansatz etwa den Tragödien Senecas die Eigenschaft der Tragödie absprechen: Eleos ist als Wirkung dieser Texte nicht denkbar.11 Seine Wirkung allein kann daher den Bezug eines Einzeltextes zu einer Gattung nicht erklären. Die tragische Katharsis ist allerdings als Motiv transformierbar - das heißt ironisierbar, parodierbar oder auf andere Wirklichkeitsbereiche übertragbar -, so daß sie als ein wesentliches, die Jahrhunderte und ihre unterschiedlichen tragischen Formen übergreifendes Element der Tragödie gelten kann. Dieses kann in einer Transformation der Tragödie auch als Struktur oder Motiv auf der Textebene vorkommen;12 im hier untersuchten Textkorpus geschieht dies in Botho Strauß' Kalldewey, Farce und Anschwellender Bocksgesang. 8 9 10 11 12

Steiner (1962), S. 266f. Nietzsche: Geburt der Tragödie. Werke 1, Kap. 1 lf. Beispielsweise folgt Gelfert (1995) in seinem Handbuch zur Geschichte der Tragödie im Wesentlichen diesem Ansatz. Vgl. zur Wirkungsästhetik und Tragik in den Dramen Senecas Albrecht (1994), S. 945 mit weiteren Verweisen. Vgl. zur Forschungsgeschichte zur dionysischen Katharsis Schlesier (1993), S. 91.

18

Einleitung

Eine weitere, unter anderem von Goethe, Schlegel, Schelling und Hegel verfolgte Bestimmung der Tragödie sieht deren Wesenskern in einem tragischen Konflikt. Im Zentrum stehen hier die Inhalte, die Konstellationen und Probleme, die in dem Drama vorgeführt werden. Dies begründet eine Ästhetik des Tragischen und in der Folge ein tragisches Kunstwerk, aber alleine noch nicht die Gattung Tragödie. Vor allem werden mit diesem Ansatz Brechungen der Gattung, etwa in der Travestie oder der Parodie, in der auch das Tragische schwindet, nicht faßbar, da der Konflikt in seiner existentiellen Bedrohung gebrochen wird. Unter dem Einfluß dieses Ansatzes entsteht jedoch seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts neben der Debatte einer „Poetik der Tragödie" eine „Philosophie des Tragischen",13 die sich auch aus dem ästhetischen Bereich im engeren Sinn löst. Hegel diskutiert, ausgehend von der Lektüre der Antigone des Sophokles, Fragen, die die Grenzbereiche von Philosophie, Religion und Politik berühren; der im ästhetischen Kunstwerk der Tragödie verarbeitete Stoff wird zum Modell philosophischer Fragen. Erst in der Ästhetik wird die Tragödie von Hegel zusammen mit der Komödie und dem Drama im allgemeinen behandelt. Auch Hegel stellt dabei den Vergleich zwischen antiker und gegenwärtiger Tragödie an und gelangt zum Ergebnis der Nachrangigkeit der modernen Tragödie. Er begründet dies damit, daß die Tragik ein Hauptmoment der Tragödie sei, die Moderne aber ein untragisches Zeitalter: Ihre Tragik sei nur subjektiv und traurig; einen Gegensatz und die anschließende Versöhnung zweier gleichberechtigter sittlicher Mächte, was für Hegel den Kern der Tragik der Antigone ausmacht, gebe es nicht. Die Moderne sei eine Zeit nach der Tragik, so daß es auch keine Tragödie mehr geben könne. Dennoch lehnt Hegel den Begriff ,Tragödie' für die Neuzeit nicht gänzlich ab, fordert aber, daß sie im Gegensatz zur attischen Tragödie mit dem Attribut .modern' zu versehen sei.14 Ähnlich differenziert Benjamin zwischen der Tragödie, deren Elemente „die tragische Fabel, der tragische Held und der tragische Tod" seien, und dem Trauerspiel. Die Tragödie sei Ausdrucksform einer speziellen historischen Phase der Menschheit, in der das „dämonische Schicksal" durchbrochen werde, der moralische Mensch allerdings noch nicht mündig sei und daher stumm bleibe. Damit erklärt Benjamin auch die Bedeutung des Opfermotivs in der attischen Tragödie, das Ausdruck der rein physisch möglichen Aussagefähigkeit sei und damit ebenfalls dieser speziellen Entwicklungsstufe entspreche.15 Die Tragödie ist für ihn an die Übergangszeit zwischen mythischem und historisch-rationalem Weltverständnis gebunden, weswegen die antike Tragödie in der Gegenwart nicht wiederhol- oder nachahmbar sei. An ihre Stelle sei in der Neuzeit das Trauerspiel getreten und jede Forderung, Tragödien müßten auch in der Gegenwart noch zu verfassen sein, seien eine „Anmaßung".16 Christoph Menke postuliert jedoch gegen alle modernen Absagen in einer provokanten Interpretation von Hegels Verständnis des Tragischen und der Tragödie explizit die „Gegenwart der Tragödie"; er

13 14 15 16

Szondi (1961), S. 7-9. Vgl. zu Hegels Ansatz zu Tragik und Tragödie Szondi (1961), S. 20ff., Schulte (1992), Christoph Menke (1996) und Roche (1998). Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels. Gesammelte Schriften 1,1, S. 288. Ebd., S. 280.

1. Mythos und Tragödie in der deutschen Literatur nach 1945

geht dabei von der Umsetzung der Tragik des Handelns in der Tragödie des Spiels in der das tragische Handeln ästhetische Gegenwart gewinne.17 Diese vielfältigen Definitionsversuche der Tragödie und ihre Diskussion Aristoteles bis in die Gegenwart bieten Möglichkeiten, gerade unter der Anwendung Intertextualitätstheorien, auch auf der Textebene noch Zeichen der Anwesenheit Tragödie zu finden.18

19 aus, von von der

1.3. Die attische Tragödie und ihre Transformation im 20. Jahrhundert 1.3.1. Die erste Jahrhunderthälfte Unter dem Einfluß der von Nietzsche in der Geburt der Tragödie entwickelten Anthropologisierung des Dionysischen, des Tragischen und der Tragödie entsteht seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ein neues Verständnis der griechischen Tragödie, das sich in Bearbeitungen antiker Mythen in der Form der Tragödie niederschlägt. Hofmannsthals Elektra, Jahnns Medea und Hauptmanns Atriden-Tetralogie sind geprägt von einem doppelten Dialog: Einerseits mit ihren antiken Prätexten von Aischylos, Sophokles und Euripides, andererseits mit dem neuen Verständnis der antiken Mythologie und Tragödie. Dazu kommen die Einflüsse anderer Wissenschaften, namentlich der Psychologie, die ebenfalls in Wechselwirkung mit den zeitgenössischen Diskursen über die Mythologie stehen.19 Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg entsteht mit Brechts Antigone 1948 die Transformation einer Tragödie des Sophokles, deren Methode völlig neu ist: Folgten die Tragödientransformationen der ersten Jahrhunderthälfte einer Hinwendung zum Dionysischen und Chthonischen, wiesen also den Weg in eine mythische Präantike,20 so geht Brecht den umgekehrten Weg: Sein Leitprinzip ist die Durchrationalisierung, bei der Mythisches, Göttliches und nicht rational Erklärbares materialisiert oder historisiert werden. Explizit lehnt Brecht eine humanisierte und ästhetisierte Interpretation der antiken Stoffe und damit die humanistische Tradition der Weimarer Klassik ab.21 Seine Antigone aber bleibt in Deutschland fast 15 Jahre singulär: Kein großer Dramatiker, weder in Ost- noch in Westdeutschland, greift in dieser Zeit zu mythischen 17

18 19

20 21

Christoph Menke (2005), S. 7 f. - ders. (1996), S. 72 erklärt noch, „daß es keine moderne Tragödie gibt, die [...] als Darstellungen der ethischen Kollisionen ihrer [...] Zeit gelten können. Der Grund dafür liegt darin, daß es nicht mehr der Sinn der modernen Kunst ist, eine Darstellung der Gegenwart in ihren grundlegenden ethischen Entzweiungen zu geben [...]. Daß es in der Moderne keine Tragödien mehr gibt, bedeutet daher nicht, daß es keine Tragik mehr gibt." Vgl. dazu S. 27ff. Zu den deutschen Mythendramen der ersten Jahrhunderthälfte vgl. Secci (1969) und Frick (1998). Frick zeigt dabei auch den internationalen Kontext in den Dramen französischer und amerikanischer Autoren auf und geht auf die poetologischen wie kulturellen Hintergründe sowie die ästhetische Dimension der Dramen gleichermaßen ein. Vgl. dazu Frick (1998). Vgl. Brecht: Arbeitsjournal 18. Januar 1948. Werke 27, S. 265: „Es kann sich nicht darum mehr handeln, im griechentum kultur aufzuzeigen, als sei's das höchstmaß; was die klassiker des bürgertums machten, interessiert am ästhetischen allein." - Vgl. zu Brechts Bearbeitungsprinzipien Weisstein (1973), Barner (1987), Flashar (1988b) und Frick (1998), S. 481 ff.

20

Einleitung

Stoffen.22 In der Literaturtheorie bleibt in der 2weiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Absage an die Tragödie bestehen. Weiter wird zwischen der Gattung Tragödie und dem Phänomen des Tragischen differenziert: Dürrenmatt erklärt das Tragische zwar als unhistorisch und zeidos, es könne aber nicht mehr in der Form der Tragödie ausgedrückt werden, da die Distanz zu den tragischen Ereignissen des 20. Jahrhunderts fehle; geprägt von der aristotelischen Wirkungsästhetik, lehnt Dürrenmatt die Tragödie auch deshalb ab, weil ein Zeitstück des mitderen 20. Jahrhunderts kein Mitleid wecken dürfe. Ästhetisch treten an die Stelle der Tragödie die Komödie, Farce und die Groteske,23 wie es Dürrenmatt an Stoffen der Antike etwa in seinem in der Resignation endenden Herkules oder in der Parodie der Schicksalstragödie im Besuch der alten Dame vorführt. Vor diesem Hintergrund sind auch die beiden Transformationen klassischer Tragödien von Rainer Werner Fassbinder 1968 für das ,antiteater' zu verstehen.24 Heiner Müller und Botho Strauß zeigen sich ähnlich geprägt: Die meisten Stücke von Strauß geben in ihrem Untertitel vor, Komödie oder Farce zu sein. Müller gibt zwar keine solchen Hinweise im Paratext, wundert sich jedoch, daß die Komik seiner Stücke nicht erkannt werde25 und schlägt etwa für die Inszenierung seiner SophoklesTransformation Philoktet vor, die Schauspieler im Clownskostüm auftreten zu lassen. Sinn dieser Komik ist allerdings nicht die Befreiung im erheiternden Gelächter, sondern Verstörung und Befremdung: Sein Verständnis von Komik definiert Müller als Mittel mitleidsloser26 Analyse des Tragischen, so daß ihre Darstellung oft eher der Groteske entspricht.

22

23

24

25 26

Unbedeutend blieben Ilse Langner, Egon Vietta und Egon Peterich mit ihren in den Nachkriegsjahren entstandenen, unter dem Einfluß Goethes stehenden Iphigenie- oder NausikaaDramen; vgl. zu den Atriden-Dramen der Nachkriegsjahre Schaller (2001). - Eine Sonderrolle nimmt auch der in Vergessenheit geratene Mattias Braun ein: Seine Medea und die Tnerinnen sind Transformarionen nach Euripides, die die Erfahrungen der faschistischen Diktatur und des zweiten Weltkriegs thematisieren; 1970 folgt noch mit Ekktras Tod ein apokalyptisches AtridenDrama. Dürrenmatt: Gesammelte Werke 7, S. 26f. und S. 60: „Wir können das Tragische aus der Komödie heraus erzielen, hervorbringen als einen schrecklichen Moment, als einen sich öffnenden Abgrund." Die Iphigenie aufTauris nach J.W. von Goethe ist eine Trash-Version des Weimarer Humanitätsdramas, in der bürgerliche Bildung und humanes Ideal gleichermaßen destruiert werden. Ajax. Eine archaische Operette nach Sophokles weist gedämpftere Eingriffe in den Prätext auf. Erst die Inszenierung des ,antiteaters' verlegt die Handlung aus der Antike in ein Offizierskasino im Nachkriegsdeutschland. Der Paratext, der aus der Tragödie eine Operette macht und so die Konfrontation der tragischen Textebene und der Komik im theatralen Spiel fordert, führt die Aufführung dann zur Groteske. Müller: Gl 1, S. 139. Ebd., S. 115: „Ein wesentlicher Grund zum Schreiben von Stücken ist Schadenfreude. Sie ist die Quelle allen Humors, [...] und daß man in der Lage ist, das zu beschreiben. Ich glaube, das ist ein Grundmodell von Theater und auch von Komik."

1. Mythos und Tragödie in der deutschen Literatur nach 1945

21

1.3.2. Mythos- und Tragödientransformationen in „Zwei Literaturen" In den sechziger Jahren entstehen in der D D R mit einem Mal viele in antiker Tradition stehende Stücke. Alle großen Dramatiker der D D R - Heiner Müller, Hartmut Lange, Peter Hacks und Stefan Schütz - beschäftigen sich mit diesen Stoffen, aber auch Gedichte und Prosawerke entstehen in großer Zahl; in der Bundesrepublik gewinnen bis 1989 diese Stoffe nie auch nur annähernd gleiche Bedeutung. 27 Erst in den siebziger Jahren tritt mit Botho Strauß ein Dramatiker auf, dessen Werk nachhaltig von der Antike geprägt ist, allerdings damit in der Bundesrepublik nahezu singulär bleibt. 28 Auf dem speziellen Feld der Antiken-, Klassiker-, Mythos- und Tragödienaneignung scheint sich damit eine kulturelle Teilung Deutschlands zu zeigen, die die umstrittene These der „Zwei Literaturen" 29 , die sich in den beiden deutschen Staaten entwickelt hätten, zu bestätigen scheint. Was die Bühnenpräsenz der attischen Tragiker angeht, läßt sich eine ähnliche Differenzierung zwischen Ost- und Westdeutschland feststellen. 30 Es scheint, daß im Osten im Rahmen der offiziell politisch geförderten „Erbeaneignung" 31 auch die Antike ihren Platz im Kanon gefunden hat. Peter Hacks prägt den Begriff der „sozialistischen Klassik" 32 , der sich zunächst auf die Rezeption der Weimarer Klassik bezieht, aber auch auf die Klassikerrezeption allgemein zu übertragen ist. Die lebhafte Beschäftigung mit der Antike in der D D R ist dabei um so erstaunlicher, als die Voraussetzungen in Ostdeutschland für den Kontakt zur Antike aus, im weitesten Sinne ideologischen,

27

Übergreifende Untersuchungen zur Mythen- und Tragödienaneignung für die Zeit nach 1945 gibt es nicht. Mit bestimmten Zeiträumen der Nachkriegszeit befassen sich Malthan (1970), Skrodzki (1986), Wilke (1992), Georg (1996), Wolters (1999) und Craciun (2000). Hüfreich erweisen sich die Materialsammlungen von Smith (1986) und Riedel (2000): Smith bietet eine nach Figuren geordnete, Nationalliteraturen übergreifende Zusammenstellung von Mythendramen des 20. Jahrhunderts. Riedel stellt gattungsübergreifend und ohne zwischen römischer und griechischer, mythischer oder historischer Quelle zu unterscheiden, die Antikerezeption in der deutschen Literatur von der Renaissance bis in die Gegenwart zusammen. - Während Untersuchungen zur Mythosrezeption der Bundesrepublik, sei diese auch gattungs- oder motivbezogen, fehlen, entstand zur DDR-Literatur eine große Zahl an Arbeiten, die sich teils mit bestimmten Motiven, teils auch mit mehreren Autoren beschäftigen. Genannt seien hier exemplarisch Trilse (1979), Engelhardt/Rohrwasser (1982 und 1985), Bernhardt (1983), Riedel (1984) und Emmerich (1987); sie alle enden aber spätestens in den frühen achtziger Jahren.

28

Walter Jens bildet mit zwei pazifistischen, in ihrer Methodik in der Tradition Brechts und Müllers stehenden Fernsehbearbeitungen von Sophokles' Philoktet in Der tödliche Schlag (1974) und den Troerinnen des Euripides in Der Untergang (1982) eine weitere Ausnahme. Vgl. dazu die Sammelbände „Literatur im Blickpunkt" (1967) und „Der deutsch-deutsche Literaturstreit" (1991) sowie Mannack (1977 und 1986), Charbon (1985/1986), Haase (1986), Buck (1988), und Steinecke (1995). Vgl. zur Nachkriegszeit, beide deutsche Staaten übergreifend, Flashar (1991), S. 181-302, besonders zu den achtziger Jahren Emmerich (1991). Aufschlußreich ist auch der Ausstellungskatalog „Durch den eisernen Vorhang" (1999). - Speziell zum DDR-Theater vgl. Trilse (1979), insb. S. 19ff. und S. 65-160, Emmerich (1987) und Richard Weber (1997). Vgl. zur Erbeaneignung der DDR den Sammelband .Weimarer Klassik in der Ära Ulbricht' (2000), darin vor allem die die Goethe-Rezeption und „Klassik"-Debatte aufgreifenden Aufsätze von Mandelkow, Heukenkamp, Schandera, Steinhorst und Dietrich. Hacks: Das Poetische, S. 42.

29 30

31 32

22

Einleitung

Gründen weit schwieriger war als im Westen: Schon Marx kritisiert die antiken Mythen als irrational und überkommene Vorgeschichte,33 auch wenn er ihnen ästhetische Schönheit zugesteht.34 Außerhalb des literarischen und kulturellen Bereichs, etwa im Bereich der schulischen und universitären Bildung, sind Latein und Griechisch in der DDR nur mehr am äußersten Rand vorhanden.35 Literatur, vor allem die auf Rezeption ihrer Performanz auf der Bühne gerichtete Dramatik, die sich mit antiken Stoffen beschäftigt, muß angesichts dieser Situation damit rechnen, auf Grund der fehlenden Prätextkenntnis des Publikums nicht verstanden zu werden. Man hat versucht, gerade darin ein Motiv für die große Zahl an Mythostransformationen in der DDR zu sehen: Der Mythos erlaube es, auf einer abstrakten Ebene die Probleme der Gegenwart zu erörtern, oder der Mythos diene als verdunkelnde Metapher zur Regimekritik. Damit wären die ostdeutschen Dramen streng zeitlich, örtlich und politisch gebunden; sie hätten nach dem Zusammenbruch des Ostblocks höchstens historischen Rang. Allerdings finden sich die Mythostransformationen Heiner Müllers immer noch auf den Spielplänen großer Bühnen, was dafür spricht, daß diesen Texten auch jenseits stalinistischer Systeme Relevanz innewohnt und sie nicht nur Parabeln auf diktatorische Systeme oder kritische Stellungnahmen zur feindlichen „Klassengesellschaft" sind. Erst in den siebziger Jahren wird auch in Westdeutschland eine plötzliche MythosRenaissance spürbar, die mit Postmoderne, der Suche nach einer ,Neuen Mythologie' und Neoromantik in Verbindung gebracht wird. Diagnostiziert wird ein „postmodernes Klima", das „mythophil" sei.36 Manfred Frank kommentiert im Überblick in der Vorlesungsreihe „Der kommende Gott" das Phänomen der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit ,Mythos' in der Gegenwart am Beispiel Blumenbergs, Kolakowskis und der zeitgenössischen Diskurse, in deren Kontext deren Schriften stehen.37 .Mythos' bezeichnet in diesen Jahren ein sehr breites Phänomen, das von fernöstlichen Religionen bis zu keltischen Riten reicht; oft auch wird alles miteinander kontaminiert. Dies erklärt, warum es dabei zu keiner Antikenrenaissance kam. Gemein ist diesen Phänomenen die Ablehnung reiner, alle Lebensbereiche kontrollierender Rationalität. Die synkretistische und unsystematische Hinwendung zu mythischen Phänomenen ist sowohl eine Protesthaltung als auch ein Symptom einer durch mißverstandene Aufklärung entstandenen Sinnleere. In den siebziger Jahren wird dann in der Bundesrepublik auch die antike Tragödie wieder entdeckt. Dazu bedarf es zunächst des Theaters: 1974 kommt das erste Antikenprojekt der Westberliner Schaubühne zur Aufführung; auf zwei Abende angelegt galt der erste Abend den Grundlagen des Spiels der antiken Tragödie, der zweite Abend war eine Inszenierung der euripideischen Bacchen?% 1980 folgt mit Steins Orestie des 33 34 35 36 37 38

Engels: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates. MEW 21, S. 101. Marx: Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie. MEW 13, S. 641 f. Vgl. zur Situation der Alten Sprachen in der DDR Luppe (1990) und Apel (1999). Assmann/Assmann (1998), S. 197. Frank: Der kommende Gott, insb. S. 45ff. Emmerich (1991), S. 449 zitiert aus dem Programmheft: „Die Moral der ,Bakchen' besteht darin, daß wir nur bei Strafe unseres Untergangs das Verlangen der menschlichen Seele nach dionysischer Erfahrung unterdrücken." Vgl. dazu S. 260ff.

1. Mythos und Tragödie in der deutschen Literatur nach 1945

23

Aischylos das zweite große Antikenprojekt der Schaubühne. Stein widerlegt dabei zwar den optimistischen Schluß der Trilogie nicht völlig, den Sieg der Vernunft und der Demokratie unterlegt er aber mit einem leisen Unterton; die Dialektik der Aufklärung hat auch hier ihre Spuren hinterlassen. Diese Projekte liefern den Impuls für zahlreiche Antikenprojekte auf deutschen Bühnen.39 1.3.3. Die Mythen- und Tragödientransformationen von Müller und Strauß Die vorliegende Untersuchung gilt der Frage nach der Aktualität der Tragödie, also dem Bezug von Dramen zur attischen Tragödie, und der Frage nach der Gestalt, Bedeutung und Funktion antiker Mythen in dramatischen Texten der deutschen Literatur in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dafür kann und soll nicht der gesamte Bestand an Dramen untersucht werden, die in dem fünfzig Jahre umfassenden Zeitraum entstanden. Mit Botho Strauß und Heiner Müller gibt es sowohl in West- als auch in Ostdeutschland Dramatiker, deren Werk von den Anfängen an geprägt ist vom Dialog mit der Antike, ihrer Mythologie und der Gattung Tragödie. Ihre Dramen werden paradigmatisch dazu herangezogen, die These vom Ende der Tragödie und die Rezeption der antiken Mythologie in der ausgehenden Moderne und Postmoderne zu untersuchen; dabei wird auch die Frage nach den ,zwei deutschen Literaturen' überprüft. Müller und Strauß besitzen ein explizit intertextuelles Verständnis von Theater und Literatur.40 Strauß bezieht sich dafür zuerst auf die strukturalistische Idee der ,bibliothèque général', um dann zu einem emphatischen Verständnis eines abendländischen kulturellen Gedächtnisses zu gelangen, dessen Wurzeln er bei Homer und im attischen Theater findet. Müller bleibt nüchtern bei der Analyse des in der Weltliteratur vorhandenen dramatischen Materials, das ihn zu der Feststellung führt, daß es keine neuen dramatischen, das heißt hier auch tragischen Situationen gibt, sondern daß in den Mythen, die den Stoff der ältesten europäischen Tragödien bilden, bereits die Strukturen aller denkbaren dramatischen Konflikte angelegt seien: „Jeder neue Text steht in Beziehung zu einer ganzen Menge älterer Texte, von anderen Autoren, und verändert auch den Blick auf sie. [...] Es gibt einen Text von Carl Schmitt über HAMLET. Seine These ist: Tragische Konflikte kann man nicht erfinden, die kann man nur übernehmen oder variieren. Wie das die Griechen gemacht haben, oder Shakespeare - der hat auch nichts erfunden." 41

39 40

41

Zu darauf folgenden Inszenierungen antiker Tragödien im Westen vgl. Emmerich (1991), S. 450, im Osten ebd., S. 452f£ „Anxiety of influence" - der pointierte Titel einer Studie Harold Blooms aus dem Jahr 1973 trifft auf beide Autoren nicht zu, sie suchen geradezu den Dialog und damit den Einfluß der europäischen Literatur seit ihren Anfangen. Ich folge daher nicht dem Ansatz von Werner (2001), Müllers „Gedächtnis der Texte" sei durch ein „ödipal strukturiertes Schuldphantasma" (S. 8) motiviert. Müller: Gl 1, S. 138. - Ähnlich auch ders.: Die Wahrheit, leise und unerträglich, S. 9: „Es gibt eben nur eine gewisse Anzahl von dramatischen Grundsituationen, und wenn man eine solche wählt, existieren immer schon Modelle, und man kann eigentlich keine Szene schreiben, ohne ähnliche Szenen mit ähnlichen Strukturen dabei mitzubedenken. Szenen, die schon geschrieben sind."

24

Einleitung

Abgesehen von einem Aufsatz von Lehmann aus dem Jahr 1985 existiert keine das Werk dieser beiden wichtigsten deutschen Dramatiker der Nachkriegszeit umfassende Studie.42 Dies soll nun anhand der Mythos- und Tragödientransformationen der beiden Autoren geschehen. Dabei decken diese Texte auch einen breiten Bereich ihres literarischen Werkes und literartheoretischen Selbstverständnisses ab. Heiner Müller ist die zentrale Figur des ostdeutschen Theaters; er beginnt als eigenständiger und distanzierter Schüler des Brechtschen Theaters, der in seiner Aneignung der Weltliteratur wieder zum Vorbild weiterer Dramatiker wie etwa von Stefan Schütz in der DDR oder von Walter Jens in der Bundesrepublik wird. Bei keinem anderen Dramatiker der DDR ist die Auseinandersetzung mit der griechischen Tragödie und Mythologie in gleicher Weise so unmittelbar wie umfangreich.43 Schon die frühesten lyrischen und dramatischen Texte weisen Bezüge zur Antike auf; bis zur ,Sphragis' seines Werkes in Ajax %um Beispiel stehen die griechische Mythologie und die Tragödie, in all ihren Spielarten und Transformationsmöglichkeiten, im Zentrum seines Schreibens. Über 45 Jahre hinweg, vom Beginn der DDR bis in die Zeit nach ihrem Ende und Aufgehen in der Bundesrepublik, beschäftigt sich Müller mit der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert, vor allem aber mit der DDR, deren Anfang und Ende er als Bürger dieses Staates erlebt. Er erlebt ihre Repression, genießt aber auch seit den siebziger Jahren das Privileg der Reisefreiheit in den Westen. Damit unterscheidet sich seine Biographie von der eines Stefan Schütz, Jochen Berg und Hartmut Lange, die in den siebziger Jahren die DDR verließen, oder von der eines Peter Hacks, der erst 1955 in die DDR übersiedelte. Auch bei Botho Strauß sind die mythischen Bezüge bereits in seinen frühesten, zu Beginn der siebziger Jahre entstandenen Texten spürbar. Die Auseinandersetzung mit dem Phänomen Mythos und mit der Form und dem Wirkungsprinzip der Tragödie begleiten sein Schreiben bis in die Gegenwart. Er findet dabei zu völlig eigenständigen Formen und Lesarten.44 Beide Dramatiker sind unübersehbar geprägt von dem politisch-gesellschaftlichen Bedingungen des Staates, in dem sie leben: Auch wenn Müllers Stücke oftmals über lange Zeit nur im Westen aufgeführt werden konnten und er seit den siebziger Jahren die Reisefreiheit in den Westen besaß, ist er ein ostdeutscher Dramatiker, dessen Schreiben 42 43

44

Lehmann (1985/1986). Die Forschungsliteratur zu Heiner Müller ist kaum mehr zu überschauen; generell sei verwiesen auf die Bibliographie von Vaßen/Schmidt (1993/1996) sowie das Heiner Müller Handbuch (2003). - Eine das gesamte Werk umfassende Darstellung der Mythos- und Tragödienaneignung Müllers fehlt; Suárez Sánchez (1998) stellt in seiner Arbeit keine Bezüge zur inneren Entwicklung des Werkes her. Wichtige Einzelstudien sind aus jüngerer Zeit Ostheimer (2002), umfassend bis in die siebziger Jahre ist Bernhardt (1978), bis in die frühen achtziger Jahre Gruber (1989) und Wilke (1992), S. 39ff. - Untersuchungen zu einzelnen Dramen finden sich unter anderem bei Trilse (1975), S. 93ff., Profitlich (1980), Kraus (1985), Skrodzki (1986), Emmerich (1989), Ciasen (1991), Waschescio (1994) und Preußer (2000). Monographien zu Strauß' Rezeption des Mythos, wenngleich nie sein gesamtes Werk umfassend, stammen von Berka (1991), Damm (1998) und Windrich (2000). - Zentrale Untersuchungen einzelner Stücke finden sich bei Georg (1996), Waschescio (1994), Bohrer (1996), Wolfgang Braungart (1997, 1998, 2000, 2005), Gutjahr (1998), Kiesel (1997), Stanzel (1999) und Anthonya Visser (1999).

1. Mythos und Tragödie in der deutschen Literatur nach 1945

25

von den inneren Widersprüchen dieses Staates, vor allem auch des Sozialismus tief geprägt ist. In gleicher Weise ist Strauß' Dramaturgie ohne den Hintergrund der Bundesrepublik nicht zu verstehen. Dies zeigt sich an der Rezeption der Stücke, die, obwohl einige von ihnen auch in der DDR erschienen, sowohl vor als auch nach der deutschen Einheit im Osten fremd bleiben.45 Strauß verfaßt gewissermaßen die dramatische Soziologie der liberalen westlichen Gesellschaft. Während Strauß Unterschiede zwischen West- und Ostliteratur sowie die unterschiedliche Rezeptionsoffenheit in beiden Staaten nicht thematisiert, äußert sich Müller mehrfach dazu. Auch wenn er die Existenz ,zweier Literaturen' ablehnt,46 so sieht er, was das Publikum betrifft, deutliche Unterschiede in der Art der Lektüre: Im Westen werde ästhetischer und distanzierter, im Osten viel aktiver und damit auch politischer gelesen.47 Die unterschiedlichen politischen Systeme führten auch dazu, „daß die Gegenwartsbezüge in mythologischen oder historischen Stücken vom DDR-Publikum viel besser begriffen werden. In der Bundesrepublik fehlt dafür die Erfahrung." 48 Diese unterschiedliche Wirklichkeitserfahrung, vor allem die Beschränkung der Freiheit in der DDR habe auch zu einer unterschiedlichen Methodik im Umgang mit den tradierten Stoffen geführt: „Das Leben ist verbindlicher östlich der Mauer, und das bedeutet auch den Zwang, Dinge radikal zu Ende zu denken, zu Ende zu formulieren, über die man hier noch hinwegspielen kann. [...] um Verschlüsselung geht es nicht. Ich schreibe keine Allegorien. Aber ich schreibe, was immer der Stoff ist, in meinem aktuellen Kontext, zum Beispiel über Kolchis in der DDR." 4 9

Für Müller besitzt daher die Bundesrepublik in ihrer Durchschnittlichkeit und Geschichtslosigkeit50, die für ihn auch Botho Strauß in seinen Dramen zeigt, kein dramatisches, geschweige denn tragisches Potential; die Situation der Bundesrepublik scheint ihm ein ,geschichtsloser Zustand' zu sein. 1982 begründet Müller den unterschiedlichen Zustand von Ost- und Westliteratur in der ökonomischen Schwäche der DDR, durch die tragische Strukturen wesentlich deutlicher zu Tage treten könnten als in einem durch materiellen Wohlstand 45 46

47 48

49 50

Zur Rezeption in der Literaturwissenschaft und auf dem Theater in der D D R und den neuen Bundesländern vgl. Schandera (1998). Müller: G l 3, S. 99: „In der Literatur gab es sicher Dinge, die relativ spezifisch waren für das, was in der D D R entstanden ist. Aber trotzdem war es deutsch geschrieben, und letztlich war es ein Maßstab, ob es gutes Deutsch ist oder nicht. Insofern gab es nie zwei Literaturen. Es gab auf beiden Seiten natürlich Trivialliteratur. Die hier war staatlich und die dort kommerziell, das war der Unterschied." Ders.: G l 1, S. 100. Ebd., S. 135. - 1990 wiederholt Müller diese Feststellung (Gl 3, S. 117): „Im Osten kann man alles schreiben und nichts publizieren. Im Westen kann man alles publizieren und nichts schreiben. Weil es keine Erfahrung gibt. Hier gab's sehr viel Erfahrung, positive und negative, in den letzten Jahren zunehmend negative." Ders.: Gl 1,S. 135. Ders.: G l 2, S. 160: „Was im Westen passiert, interessiert mich nicht als Autor. [...] Das ist ein geschichtsloser Zustand. [...] Mittelmäßigkeit als Qualität, das ist die Bundesrepublik. [...] Das ist kein Terrain für Theater und auch kein Reservoir für Literatur. Das kann man fotografieren."

26

Einleitung

abgedämpften System wie der Bundesrepublik, die ohne innere Konflikte und Alternativen existiere.51 Die ökonomische Schwäche habe außerdem die Ablösung des Mediums ,Theater' durch moderne Medien verhindert, was dem Dramatiker eine im Westen undenkbare politisch-gesellschaftliche Relevanz ermögliche: „Die Wirkung des Theaters hier beruht auf der Abwesenheit anderer Möglichkeiten, den Leuten etwas mitzuteilen. Filme sind nicht so witzig, weil da so viel Kontrolle ist; sie kosten auch viel mehr Geld als das Theater. Das Ergebnis davon ist, daß das Theater Funktionen übernommen hat, die im Westen andere Medien haben. Ich glaube, daß zum Beispiel in Westdeutschland das Theater keine so große Wirkung hat. Man kann dort auf der Bühne alles machen, aber es hat keine Bedeutung für die Gesellschaft. Hier gilt noch das Schlagwort der Napoleonischen Ära: Theater ist die Revolution auf dem Marsch." 52

Entsprechend kritisch ist sein Blick auf die Dramatik der Bundesrepublik. 1985 spricht er der Bundesrepublik eine kulturelle Identität ab, so daß nur von den Rändern, das heißt auch von der DDR her, und durch Außenseiter gutes und erfolgreiches Theater möglich sei: „Ich glaube, der primäre Aspekt ist etwas anderes: daß die Bundesrepublik eigentlich keine autochthone Kultur hat. Die kulturellen Impulse kommen im Wesentlichen aus Österreich und aus der D D R , also von außen. Sie kommen aus Österreich, von Handke angefangen, oder Bayern, das ist Achtembusch, oder aus der D D R . [...] kein westdeutsches Theater kann verzichten auf DDR-Kräfte. Und das gilt auch für die Stücke. Die Spielpläne können nicht existieren ohne DDR-Material." 5 3

Einzig das Antikenprojekt der Schaubühne, das Müller von einem spezifischen westdeutschen Kontext frei sieht, findet seine Zustimmung; er hält das Konzept auch für in der DDR anwendbar.54 Generell bleiben dem ostdeutschen Dramatiker die westlichen Ansätze jedoch fremd, wie eine lobende Absage an die Aufführbarkeit von Stücken Peter Handkes in der DDR zeigt.55 Strauß' Gesellschaftsdramen der Bundesrepublik sind für 51

52 53 54 55

Ders.: G l 1, S. 105: „[...] ich bin sicher, daß es für Westdeutsche, auch für westdeutsche Schriftsteller, Schichten von Oberfläche gibt, die so dick sind, daß es schwer ist, bis zu den Knochen oder zur Struktur zu gehen. Hier ist die Oberfläche ziemlich dünn, vielleicht wegen der ökonomischen Schwäche dieses Systems [...]. Es ist hier also viel einfacher, die wesentlichen Probleme und Fragen in den Griff zu bekommen." - Vor allem aber fehlt dieser Gesellschaft eine Perspektive, womit Müller auch die Schreibblockade der nach der Biermann-Ausbürgerung in den Westen übergesiedelten Autoren erklärt, Müller: G l 1, S. 70: „Leute, die hier aufgewachsen sind, haben zumindest ein Bild von oder eine Hoffnung auf eine andere Gesellschaft, eine andere Art zu leben. Dieses Bild verbindet sich mit dem Ende der Warengesellschaft. Im Westen ist diese Welt in voller Blüte, und daran kann man sich nie ganz gewöhnen. Man kann das Bild einer anderen Welt nie ganz vergessen. Das wird ihre Schizophrenie, wenn sie sich dazu entschließen, im Westen zu leben." Ebd., S. 89; vgl. auch S. 105. Ebd., S. 172. Ebd., S. 47f. Ebd.: „Handke ist sicher wichtig als Anregung. Und ein paar Stücke sind richtig gut. Andererseits wüßte ich nicht, warum man sie bei uns spielen sollte. Ich würde da keine Funktion sehen, auch überhaupt keine Möglichkeit von Kommunikation mit einem Publikum bei uns."

2. Die genuine Intertextualität der Gattung Tragödie

27

Müller bloßes „Gemurmel"56 und reine „Fotografien", denen das Dramatische fehle.57 Da Müller ein Dramatiker ist, der sich mit Geschichte und ihrem - stagnierenden Prozeßcharakter auseinandersetzt, muß ihm Strauß' Dramatik, in der es keine Vergangenheit und Zukunft, nur Kreisläufe gibt und Geschichte nur als ,Leerstelle' vorkommt, geschichtslos und ohne Geschichtsbewußtsein erscheinen.58 Dies ist allerdings ein Blick, der nicht Strauß' Stücken entspricht, sondern einem von völlig unterschiedlichen Produktions- und Rezeptionserfahrungen geprägten Verständnis von Theater und Geschichte. Strauß ist ein Zeitzeuge der Bundesrepublik, der in seinen Stücken deren Gesellschaft und deren Menschenbild seziert. Daß Geschichte und Politik dabei weniger markant in Erscheinung treten und in völlig anderer Weise behandelt werden als bei Müller, bedeutet nicht, daß sie völlig fehlen würden. Auch Strauß nimmt die politischen Diskurse auf, doch prägen sie das Private in der Bundesrepublik indirekter und somit weniger (auffällig) als in der DDR; Wolfgang Braungart bezeichnet das Werk von Strauß treffend als „Kommentar zur deutschen Geschichte"59, Peter Stein Strauß' Texte als zeitgeschichtliche Dokumente.60

2. Die genuine Intertextualität der Gattung Tragödie 2.1. „Patterns" der attischen Tragödie „A poem is not writing but rewriting, and through a strong poem is a fresh start, such a start is a starting again."61 Blooms Ausgangsthese in Poetiy and "Repression bedeutet im Grunde nichts anderes als die Intertextualität jeglichen literarischen Textes. Dennoch gibt es hier Unterschiede: Manche Texte sind mehr, manche weniger intertextuell, und manchmal steht dies auch mit der Textgattung in Zusammenhang. Schon Aristoteles stellt fest, daß aus dem großen mythologischen Repertoire der Antike nur wenige Mythen Eingang in die Tragödie fanden, die dann immer wieder variiert wurden.62 Indem eine geringe Zahl an Mythen dann im agonalen System immer wieder verändert wurde, muß eine Gemeinsamkeit dieser Mythen in ihrer Eignung zur Transformation liegen. Außerdem müssen sie theater- und tragödientauglich sein oder durch entsprechende Transformationen dazu gemacht werden können.

56 57 58 59 60

61 62

Ebd., S. 106. Ebd., S. 149. Ebd., S. 154. Wolfgang Braungart (1997), S. 296. Stein (1986/1987), S. 175: „Was diese ganzen Zeitgeistelemente angeht [...], die haben dazu geführt, daß ich die Dramentexte von Strauß in einem Ausmaß als Zeitzeugen über die Bundesrepublik der siebziger Jahre empfinde, wie ich das an anderen dramatischen Zusammenhängen überhaupt gar nicht erkennen kann." Bloom (1976), S. 3. Aristoteles: Poetik 1453al8-23: Denn querst haben die Dichter beliebige Stoffe behandelt, jet^t aber werden die besten Tragödien über wenige Geschlechter vetfasst.

28

Einleitung

Bei der Erforschung der attischen Tragödie hat sich in den letzten Jahren eine strukturalistische Textanalyse und theaterpraktische Erfordernisse verbindende Erklärung der Verbindung zwischen Mythen und Tragödie gebildet: Auf der Suche nach Gemeinsamkeiten der 32 erhaltenen attischen Tragödien wurden zunächst von Lattimore bestimmte „Patterns" erkannt.63 Der strukturalistische Ansatz von Charles Segal führt dann zum Begriff des „mythic megatext", der die Gesamtheit der immer neu „from the old matrices" geformten Erzählungen bilde.64 Mit dem Intertextualitätsbegriff verbindet diesen Ansatz aber erst Burian, der eine .tragische Matrix' erkennt, auf der jede attische Tragödie beruhe65: Sie besteht aus „Patterns", gleichsam Strukturmotiven, deren Kombination und Variation für die Handlung der attischen Tragödie konstitutiv seien. Burian bestimmt fünf solcher „Patterns": Vergeltung, Opfer, Hikesie, Rettung und Anagnorisis.66 Diese seien in den die Sujets der Tragödie bildenden Mythen unbewußt angelegt - die Prätexte einer Tragödie sind ja nicht nur in der Tragödie, sondern vor allem auch in den Epen Homers und des epischen Kyklos zu finden67 -, doch erst in den jeweiligen Tragödien würden sie miteinander, teils in Hierarchien angeordnet, verbunden. Die attische Tragödie besteht damit im Grunde aus wenigen Handlungs- und Motivstrukturen. Die Kunst des Tragödiendichters bestand darin, im Kontext des tragischen Agon in innovativer poetischer Kraft aus dem eingeschränkten Reservoir des für die Tragödie geeigneten mythischen Materials Neues zu schaffen; dies schließt auch mit ein, daß zwischen den Tragikern wie Tragödien eine Dialogizität besteht.68 Intertextualität ist damit sowohl für die Mythen als auch für die Tragödie selbst konstitutiv.69 Diese Gattungsintertextualität entspricht dem, was Pfister innerhalb der Intertextualitätstheorie als „Systemreferenz" bezeichnet. Den Terminus verwendet er zum einen für die Bezüge verschiedener Ausformungen derselben literarischen Gattung, zum anderen für das System eines einzelnen Mythos. Pfister ordnet dabei zu Recht die Systemreferenz der Intertextualität unter und verwirft eine Differenzierung zwischen Bezügen einer Textgattung einerseits und Bezügen von Einzeltexten andererseits.70 Nach Burian sind die Mittel der Systemreferenz im dramatischen Text die „Patterns" und der so hergestellten Verweise auf die „tragische Matrix". So kann bei einem strukturalistischen Verständnis der Tragödie - anders können dekonstruierte dramatische Texte wie die von Botho Strauß und des späteren Heiner Müller überhaupt nicht verstanden werden - auch von einem Bezug dieser Dramen auf 63 64 65

66 67 68 69 70

Lattimore (1964); vgl. zur weiteren Entwicklung Janka (2004), S. 63ff. Segal (1983), S. 193. Burian (1997), S. 190f: „Tragedy stands at the intersection of two opposing relations to its mythical material: the further expansion of the mythic megatext as it generates fresh narrations from the old matrices and the continual questioning, analyzing, and even negating of the mythic model." Ebd., S. 187-189. Vgl. zur Bedeutung Homers für die griechische Gesellschaft allgemein Bernard (2001); zum Verhältnis zwischen Epik und Tragödie z.B. Easterling (1984) und Garner (1990). Vgl. Bernek (2004), S. 23. Vgl. Burian (1997), S. 179. Genette (1982) bezeichnet dasselbe Verhältnis der Gattungsbezüge mit dem Begriff der ,Architextualität'; diese beschränkt er allerdings auf die Gattungsbestimmung in von ihm als ,Paratexte' bezeichneten Hinweisen des Autors, so daß seine Bestimmung mögliche Widersprüche zwischen dramatischem Text an sich und dem Paratext nicht berücksichtigt.

2. Die genuine Intertextualität der Gattung Tragödie

29

die attische Tragödie gesprochen werden, wenn eines dieser „Pattern", also etwa das Opfermotiv, in den Texten auftritt.

2.2. Ritus, Mythos und Tragödie 2.2.1. Das Opfer-„Pattern" In der Rezeption der Tragödie in der Moderne erweist sich das Strukturmotiv des Opfers als das Pattem der Tragödie schlechthin. Beispielsweise stellt Walter Benjamin für die attische Tragödie im Ursprung des deutschen Trauerspiels fest: „Die tragische Dichtung der Griechen ruht auf der Opferidee. Das tragische Opfer aber in seinem Gegenstand - dem Helden - unterschieden von jedem anderen und ein erstes und letztes zugleich." 71 Die Verbindung zwischen dem Phänomen des Tragischen und dem Motiv des Opfers stellt aber schon Hölderlin im Grund %um Empedokles dar. Empedokles wird zum Opfer,

denn die Probleme des Schicksals, in dem er erwuchs, sollten in ihm sich scheinbar lösen, und diese Uosung sollte sich als eine scheinbare, temporäre geigen, wie mehr oder weniger bei allen tragischen Personen.

Empedokles erleidet das Schicksal seiner Zeit, das ein Opfer forderte,

wo der ganze Mensch das wirklich und sichtbar wird, worin das Schicksal seiner Zeit sich aufzulösen scheint, wo die Extreme sich in Einem wirklich und sichtbar zu vereinigen scheinen, aber eben deswegen zu innig vereinigte sind, und in einer idealischen Tat das Individuum deswegen untergeht und untergehen muß, weil an ihm sich die vorzeitige, aus Not und Zwist hervorgegangene, sinnliche Vereinigung zeigte, welche das Problem des Schicksals auflöste, das sich aber niemals sichtbar und individuell auflösen kann, weil sonst das Allgemeine im Individuum sich verlören und (was noch schlimmer, als alle großen Bewegungen des Schicksals, und allein unmöglich ist) das Leben einer Welt in einer Einzelheit abstürbe. 72 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwirft Gerhart Hauptmann unter dem synkretistischen Einfluß Nietzsches, Rohdes und Bahrs in seinem Reisetagebuch Griechischer Frühling eine archäologische Poetik der Tragödie, in der die heilige Schlächterei im Zentrum steht; 73 in seiner Ende der dreißiger Jahre begonnenen Atriden-Tetralogie wird das Menschenopfer zum Leitmotiv und Telos jeder der vier Tragödien. Bestimmt ist dies von der philologischen wie kulturwissenschaftlichen Erforschung der Anfange der Tragödie. 71 Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels. Gesammelte Schriften II, S. 285. 72 Hölderlin: Grund zum Empedokles. StA IV,1, S. 156f.; vgl. zu Empedokles' Opfertod Staiger (1963/64). - Der Freitod des Empedokles wird von Heiner Müller im Philoktet rezipiert, vgl. S. 67. Vor allem aber setzt er 1988 das Selbstopfer mit der Geburt des ,Neuen Menschen' bei der eigentlich unmöglichen Reparatur des Ofens bei vollem Betrieb im Lohndrücker in Bezug (Müller: Werke 3, S. 538f.). Dabei betont Müller die Ambivalenz des Opfers, das ein Volk so unter Druck setzt, daß das heldenhafte Selbstopfer für die Gemeinschaft dialektisch umschlägt in deren Gefährdung. 73 Hauptmann: Griechischer Frühling. Centenar-Ausgabe VII, S. 81.

30

Einleitung

Prägenden Einfluß bis weit ins 20. Jahrhunderte hat Nietzsches Geburt der Tragödie aus dem Jahr 1872. Indem Nietzsche die Tragödie auf die Ermordung des Dionysos durch die Titanen zurückführt, wird aus dem Mythos heraus das Opferritual zur Wurzel der Tragödie und jeder tragische Held eine Maske des Dionysos; archäologisch spiegelt sich die Verbindung mit dem Opferkult für Dionysos darin wider, daß noch in klassischer Zeit ein Altar für Dionysos das Zentrum des attischen Theaters bildet. Die spezifische Bedeutung des Sparagmos und der Omophagie in der Tragödie entsteht aus der Ableitung jedes tragischen Helden aus dem Mythos von Dionysos Zagreus;74 das Schicksal der Tragödienhelden zitiert nach Nietzsche dieses Geschehen und das sich darauf beziehende Tieropfer im Dionysoskult. Sparagmos und Omophagie sind somit als Hinweise für die Systemreferenz von modernen Texten zur attischen Tragödie zu verstehen. Die Verbindung von Mythos und Ritus geht vor allem auf die um 1890 entstandene ,Cambridge School of anthropology' zurück; von ihr stammt auch die Theorie, die griechische Tragödie sei aus dem Ritus entstanden.75 Dieser Ansatz löst sich von der reinen Philologie und bezieht ethnologische und anthropologische Forschungen mit ein. Mythen deutet er als Erklärungen und Begründungen von Ritualen; unter dem Einfluß von Dürkheims Les formes élémentaires de la vie religieuse berücksichtigt Jane Harrison die soziologische Komponente des Rituals und gibt dem tragischen Spiel und damit auch dem gespielten Mythos eine soziale Dimension.76 Vor allem für die Interpretation der Tragödie, des Dionysos-Mythos und -Ritus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist die gleichfalls auch ethnologische Erkenntnisse berücksichtigende ,Dionysos'-Studie von Otto hervorzuheben, die in den sechziger Jahren die ,Pariser Schule' um Jean-Pierre Vernant wesentlich inspiriert. Otto erklärt Kultus als die älteste Form von Mythos77 und bestimmt unter dem Einfluß von Heideggers Seins-Begriffs zugleich den Kultus als die älteste belegbare Form der Reaktion von Menschen auf das Sein.78 Eine auf solchem Kult und Mythos gründende Tragödie ist dann das Medium schlechthin für alle existentiellen Fragestellungen.

74

75 76

77 78

Nietzsche: Geburt der Tragödie. Werke 1, S. 61: „In Wahrheit aber ist jener Held der leidende Dionysus der Mysterien, jener die Leiden der Individuation an sich erfahrende Gott, von dem wundervolle Mythen erzählen, wie er als Knabe von den Titanen zerstückelt worden sei und nun in diesem Zustande als Zagreus verehrt werde". - Nietzsches anthropologisches Verständnis wird sofort von Wilamowitz zurückgewiesen; die Debatte nimmt der Sammelband „Nothing to do with Dionysos?" (1990) auf. - Vgl. zum Einfluß des Dionysos Zagreus auf das Tragödienverständnis nach Nietzsche Henrichs (1984), S. 220-223. - Kott (1973), S. 194f. beschäftigt sich gleichfalls mit diesem Phänomen, und in Berufung auf Eliade erklärt er dieses als uralten, über die Zeit des Mythos hinaus zurückgehenden Vorgang „at the beginning of time, in illo tempore [...] The sacral offering is the repetition of the first sacrifice. It is told in the ur-myth, the original Dionysian myth, with which two „indirect" myths are connected." Die für die griechische Tragödie wegweisende Studie ist Harrison (1912); vgl. dazu ausführlich Burkert (1980), S. 172-182. Vom religiös konnotierten Ritual gelöst, aber auf konkrete Lebenserfahrungen bezogen ist die Definition von Mythos als „objectification of man's social experience" von Cassirer: Myth of State, S. 57f. Otto (1933), insb. das Kapitel „Mythos und Kultus". Vgl. ausfuhrlicher Burkert (1980), S. 188ff.

2. Die genuine Intertextualität der Gattung Tragödie

31

Aus der Rückführung der Tragödie speziell auf den Dionysoskult entsteht auch die These, daß sich dies nicht nur im äußeren Rahmen, sondern auch in den Texten niederschlage.79 Ein zentrales Strukturmotiv ist dabei das Opfer beziehungsweise die Tötung des Helden; vor allem die Bacchen des Euripides werden dafür herangezogen; ,dionysische' Strukturen werden aber auch in den anderen Tragödien nachgewiesen. Sogar im gesamten Werk des von der Aufklärung geprägten Euripides, nicht nur in den Bacchen, gelingt es Fowley, das Opfer und das Ritual als Leitmotiv zu untersuchen;80 in den Bacchen aber erkennt sie das „protodrama" schlechthin. Diese Rückführung der Tragödie auf den Dionysos-Kult ist nicht unumstritten. Dabei ist ein zentrales Argument, daß Aristoteles von Dionysos in seiner Poetik nicht spricht81 und schon die Antike die sprichwörtliche Wendung kennt, die Tragödie habe ,nichts mit Dionysos zu tun'.82 Dennoch bleibt die kulturwissenschaftliche Wirkung der Theorie unbestreitbar; in jüngerer Zeit schließt sich etwa Schlesier differenziert dem Ursprung der Tragödie im Dionysos-Ritus an: Sie postuliert die Entstehung des Mythos aus dem Ritus; der Mythos sei entweder dessen Erklärung oder erwachse einem produktiven Mißverständnis des Ritus, was Mythos zu einem „ritual misunderstood" mache.83 Einen engen Zusammenhang zwischen Ritus, vor allem im Opfer, Mythos und dramatischer Handlung, doch außerhalb des engen Kultbereichs für Dionysos, stellt Burkert im „Homo necans" her.84 Er stimmt dabei Fontenrose zu, der feststellt: „Whenever myth precedes ritual, then drama is produced"85. Mythos und Ritual stehen dabei in Bezug zur sozialen Ordnung, die sie festigen und begründen. Burkert erklärt sowohl Mythos als auch Ritual vor allem wegen des Motivs des Tötens als Mittel der Bewältigung zwischenmenschlicher Aggressionen und Angst.86 1966 hatte Burkert bereits in „Greek Tragedy and Sacrificial Ritual" die Tragödie und das Opferritual ausgehend von einer etymologischen Untersuchung des Wortes Tpaycpöia zusammengeführt: Das Bocksopfer sei im Kern der literarisierten Tragödie immer noch vorhanden: „Human existence face to face with death - that is the kernel of tpaycoSia." 87 Vor allem die strukturalistisch vorgehenden Philologen um Vernant sehen das Opfer als ein spezifische Strukturen aufweisendes System, das nicht nur innerhalb des kultischen und literarischen, sondern auch im politischen und gesellschaftlichen Kontext seiner Zeit gesehen werden muß, so daß vor allem auch die soziale Bedeutung des

79

80 81 82 83 84 85 86 87

Vertreter dieser Position sind unter anderem Dodds (Einleitung seiner Ausgabe der Bacchen 1944), Guepin (1968), Segal (z.B. 1982), Zeitlin (1982), Henrichs (1993 und 1994) und Vernant (z.B. 1988c). Fowley (1985). Vgl. dazu Schlesier (1993), S. 92ff. Plutarch: Moralia 615a (Quaestiones convivales). Schlesier (1993), S. 92. Burkert (1972) stellt S. 39ff. ausführlich die Forschungsdebatte zu dem komplizierten Problemfeld dar, S. 113f. verweist er auf die Verbindung von Opfer und Mythos außerhalb des Dionysoskults. Fontenrose (1966), S. 464. Burkert (1972), S. 44. Ders. (1966), S. 121. - Zu den Opferbräuchen im antiken Griechenland vgl. Meuli (1946).

32

Einleitung

Opfers untersucht wird.88 Eine höchst einflußreiche Studie ist in diesem Kontext Girards „Das Heilige und die Gewalt"89, eine Untersuchung der sozialen Bedeutung des Opfers, die auch Dionysos und seinen Mythenkreis einschließt. Im Fall des Phänomens ,Opfer' stehen sich der Begriff des „Pattern" und der des „Mythologems" sehr nahe, da die Mythologeme in den Dramen als Markierung des Opferpattern dienen. In der Folge können auch die Untermotive des dionysisch geprägten Opfermotivs, der Sparagmos und die Omophagie, im Text als Hinweis für die Systemreferenz von modernen Texten zur attischen Tragödie verstanden werden:90 Guepin stellt für die attische Tragödie fest, daß selbst dann Bezüge zum Opfer-Pattern vorlägen, wenn der spezifische Bezug eines Mythos zum dionysischen ,Urmythos' nur im Kontext der dionysischen Tragödie erfolge. Er verweist dafür auf die Kindermorde in der Medea oder im Herakles des Euripides, die im Gattungskontext der Tragödie als Referenzen auf das Opfer-Pattern zu bestimmen seien.91 Entscheidend, ob in einem Text eine Transformation der attischen Tragödie vorliegt, ist damit nicht seine Gattungszuweisung im Paratext, seine Form oder seine Wirkung, auch wenn die Wirkung der Katharsis und die Tradition der Konfliktpolarität natürlich wesentliche Elemente sein können. Wenn auch Verfremdungen der Tragödie oder dekonstruktivistische Textformen in die Überlegung miteinbezogen werden sollen, sind bestimmte Strukturen und Motive wichtig. Damit ist die Zugehörigkeit zur Gattung Tragödie untrennbar mit Mythen verbunden, die in ihren Mythologemen die entsprechenden Strukturen, etwa das Opfer-Pattern, enthalten. 2.2.2. Ritus und dramatisches Spiel in der Postmoderne: Turner, Schechner und Stein Der Bezug zwischen dramatischem Spiel und Ritus dringt seit den sechziger Jahren wieder ins Theater ein: Ausgangspunkt sind Victor Turners Untersuchungen dramatischer und ritueller Elemente im Alltagsleben, woraus er folgert: „Cultures are most fully expressed in and made conscious of themselves in their ritual and theatrical performances."92 Er stellt dabei zwischen dem Ritual und dem ursprünglichen Drama eine soziale Beziehung her, die sich implizit auch noch im Bühnendrama fortsetze. Das Drama schaffe und stabilisiere so den „cosmos"93, in dem die Menschen leben. Richard Schechner übernimmt Turners Ergebnisse für die Erforschung des Verhältnisses zwischen Theateraufführung und deren Betrachtern; er entwickelt ein „model of transportation/transformation", das er sowohl auf Rituale als auch auf die Theaterperformance anwendet. Er geht davon aus, daß die Ausführenden, und 88

89 90 91 92 93

Vgl. z.B. Zeitlin (1965), Vidal-Naquet (1988), Girard (1987); zum Überblick über diese Forschungsdiskussion vgl. Versnel (1990b). Foley (1986), S. 39 faßt diese soziale Deutung des Opfers zusammen: „[...] sacrificial procedure offers to a poet a kind of grammar of procedural terms by which to articulate in a compressed and symbolic form the nature of the relations of men in the community and of men to the larger world of animals and gods around him." Girard (1987). Vgl. zu Sparagmos und Omophagie S. 258f. Guépin (1968), S. 15. Zitiert bei Schechner/Appel (1990), S. 1. Turner (1990), S. 16ff.

2. Die genuine Intertextuaütät der Gattung Tragödie

33

manchmal auch die Zuschauer, eine Veränderung erfahren. Zugleich kommen über die vom Alltag beeinflußten Rituale aber wieder Elemente der außertheatralen Welt ins Theater. Das Opfer ist bei Schechner in den Hintergrund getreten; statt dessen ist die im Ritual zum Ausdruck kommende anthropologische Komponente des Spiels von Bedeutung. Für die Untersuchung der Bezüge wie der Differenzen zwischen „Ritual" and „theatre" stellt Schechner den Gegensatz zwischen „efficacy and entertainment" in der „Performance" fest. „Ritual elements" erkennt er vor allem beim ausgeweiteten Blick auf die „Performance". Für das Theater der attischen Zeit sowie der Moderne stellt er eine Dominanz der „efficacy" fest; für die Aufführungen bedeutet dies, daß sie „universalistic, allegorical, ritualized, tied to a stable established order" sind.94 Wirksam macht Schechner diese Überlegungen bei einem Projekt zu den euripideischen Baaben, dem Dionjsus in 69, in dem er vor allem den Aspekt der ,Rites de Passage' herausstellt.95 Von diesen Erfahrungen ausgehend formuliert er 1975 seine „Poetics of Performance".96 Ähnliche Akzente setzt Peter Steins erstes Antikenprojekt an der Berliner Schaubühne. Auch hier ist für den ersten Abend die Anthropologie der Tragödie zentral, allerdings erhält dabei das Opfer-Pattern entscheidende Bedeutung. Dem Projekt liegt der von Burkert und Girard vertretene Ursprung der Tragödie im Opfer zu Grunde, der in der Aufführung der Bacchen dramatisch-ritualistisch und anthropologisch begründet wird.97

2.3. Dialogizität der Tragödie Die attische Tragödie besitzt neben der ihre Fabel und Strukturen betreffenden „Systemreferenz" außerdem ein intertextuelles Verhältnis, das mit dem Begriff der Dialogizität in der Tradition Bachtins und seiner Fortentwicklung durch Kristeva zu bezeichnen ist: Dialogizität meint nach Bachtin die Aufnahme der „sozioideologischen Stimmen der Epoche"98 in den literarischen Texten, Kristeva weitet dies dann in einer Expansion des Textbegriffes aus und erklärt jedes kulturelle System und jede kulturelle Struktur zum Text.99 Dieser weite Textbegriff ist zwar problematisch, der Grundansatz ist aber gerade bei der Beschäftigung mit der attischen Tragödie bei vorsichtiger Verwendung brauchbar: Die Tragödie ist nicht nur ein literarisches Produkt ihrer Zeit, sondern reagiert in ihren Texten auch auf die zeitgenössischen außerliterarischen Diskurse: Die verschiedenen Transformationen eines Mythos erfolgen nicht nur aus dem agonalen Prinzip im Rahmen der theatralen Aufführungsmittel, sondern auch durch Eingriffe in die Führung der Handlung in Reaktionen auf die Zeitgeschichte.100 Da diese 94 95 96 97 98 99 100

Schechner (1976), S. 207ff. Siehe dazu ders. (1970) und Zeitlin (2004). Schechner (1975), zum attischen Theater insb. S. 114ff. Vgl. dazu S. 260ff. Bachtin: Poetik Dostojevskijs, S. 213. Kristeva (1969), S. 113. Vgl. zur Interdependenz zwischen Politik und Tragödie Meier (1980), zwischen Tragödie und athenischem Selbstbewußtsein Grethlein (2003) sowie, exemplarisch zur mythischen TheseusFigur in den attischen Tragödien, Mills (1997). - Vgl. auch S. 53 und 139 zur zeitgeschichtlichen Deutung des Philoktet und Ödipus Tjrannos.

34

Einleitung

Diskurse aber mündlich geführt wurden und oft nicht explizit schriftlich überliefert sind, ihre Existenz in den Texten aber unbestreitbar ist, ist auch das Verhältnis zwischen dem in der Tragödie verhandelten Mythos und den zeitgenössischen politischen, religiösen, philosophischen und kulturellen Diskursen mit dem Begriff der Intertextualität zu bezeichnen.101 Für Mythos und Tragödie in der Neuzeit gilt im Grunde dasselbe: Goethes Iphigenie konnte nur in Folge der Aufklärung und des Humanitätsgedankens so verteufelt human sein, Hauptmanns Iphigenie in der Atriden-Tetralogie ist als Dementi von Goethes Iphigenie in dieser Form ohne die .dionysische Revision' des Antikenbildes sowie die Erfahrungen faschistischer Ideologie und des Zweiten Weltkriegs nicht denkbar. Ebenso sind auch die in der Nachkriegszeit entstandenen Stücke geprägt von ihrem politischen und ästhetischtheoretischen Umfeld. Am deutlichsten wird dies bei dekonstruktivistischen Dramen der Gegenwart, wo etwa im Fall von Heiner Müllers Hamletmaschine oder Verkommenes Ufer Zitate aus der politischen Gegenwart mit Anspielungen auf antike Mythen verbunden werden und dabei auch noch die Tragödie als literarische Form dekonstruiert wird.

3.,Mythos' - Deutungsansätze des 20. Jahrhunderts Die Definitionen von ,Mythos' von der Antike bis in die Gegenwart sind so zahlreich, divergierend und doch miteinander in Wechselwirkung stehend, daß es unmöglich ist, sie hier im Detail aufzuführen.102 ,Mythos' ist kein genuin literarisches Phänomen; gerade das 20. Jahrhundert zeigt in der Vielfalt der Disziplinen, die sich mit ihm befassen, daß eine einheitliche Definition und Zugangsweise nicht möglich ist. Dabei befindet sich ,Mythos' im Spannungsfeld nahezu aller Humanwissenschaften. Aus der kaum mehr überschaubaren Zahl an Theorien werden im folgenden archetypische und strukturalistische Mythostheorien vorgestellt sowie das Verhältnis zwischen Mythos und Logos beziehungsweise mythischer und historischer Zeit dargelegt. Diese Aspekte sind für das Verständnis von ,Mythos' und die literarische Transformation von Mythen bei Strauß und Müller von zentraler Bedeutung.

3.1. Mythos und Logos - ein antithetisches Verhältnis? Die Bedeutung des griechischen Wortes (J.t>0Oum Uigner nicht verweigert er sich dezidiert der Intrige. Sein W e g ist die offene Konfrontation, entweder mit W o r t e n - Vielleicht

kann

Wahrheit mehr - oder Gewalt; das weiß Müllers Odysseus so gut wie der des Sophokles: Zum Dieb und Uigner bist du schlecht begabt / Ich weiß es.46 N e o p t o l e m o s ist bei Müller nicht, da er der Sohn des Achill ist, der Seite der Wahrheit zugehörig; begabt ist vieldeutiger als (pvcnq und verweist auf eine allgemeine, den Charakter prägende ethische Überzeugung. Bei Müller stehen sich damit in N e o p t o l e m o s und Odysseus zwei ethische Auffassungen gegenüber:

Wahrheit

und

Tugend

sind

die

beiden

Begriffe,

die

Neoptolemos

charakterisieren, Lüge und List dagegen Odysseus, ganz der posthomerischen Tradition seiner Charakterisierung im E p i s c h e n Kyklos wie in der attischen Tragödie bei Sophokles und Euripides entsprechend. 4 7 D i e Tugend des N e o p t o l e m o s

steht dabei diametral d e m Pragmatismus

für die

gesellschaftliche Pflicht des Odysseus gegenüber. Ihre F o l g e n für die Handlungs- und Sprechweise - Wahrheit und Lüge

- bilden in Müllers Transformation

antagonistisch

zueinanderstehende Leitmotive. D a m i t wird das Leitmotiv , W o r t ' bei Sophokles z u m einen rezipiert, zum anderen erweitert zum Diskurs über das ethische Problem der Wahrhaftigkeit. D e r sophokleische Philoktet wird zwar i m m e r wieder als „ethical tragedy" angesehen, 4 8 die Müllersche Problematik der Wahrhaftigkeit fehlt d e m sophokleischen

45

46 47

48

Vgl. Karl Reinhardt (1933), S. 178 über Neoptolemos: „Doch wiewohl in seinem Inneren zu bestehen, ist doch sein Kampf nicht, wie im deutschen Drama, ein Konflikt der Normen, Rechte und Ideen: seine eigene Aufgabe, sein eigenes Heldentum, sein Ruhm, sein Vatererbe, seine eigene Zukunft, in die er hineinzuwachsen hat, sein eigenes Selbst vor allem, und nicht etwa Staatsräson, Pflicht, höherer Befehl, noch ein jenseitiges Prinzips ist, was ihn in den Kampf mit seiner eingeborenen Art hineintreibt. Der Konflikt im Hinblick auf das Prinzipielle, der Kampf zwischen Redlichkeit und Trug, Gerechtigkeit und Ruhm ist bald entschieden". Kritisch deutet ihn aber Lefevre (2001), S. 203, da er vor allem vom persönlichen Ehrgeiz bestimmt werde. - Neoptolemos als Figur des 5. Jahrhunderts kann aber gar nicht anders handeln: Eine den Staat gefährdende Individualethik ist in dieser Zeit nicht zu billigen; hier wird das nicht vorrangig moralisch zu verstehende Phänomen der griechischen Tugend spürbar, die stets relational im Sinn einer .Tugend für etwas', hier also im Sinn eines guten Staatsbürgers und so für das Wohl des Staates, zu bestimmen ist, vgl. dazu Stemmer (1998). - Es ist mittlerweile allerdings anerkannt, daß dem Charakter der Figuren in der griechischen Tragödie große Bedeutung zukommt; vgl. Seidensticker (1994), S. 286ff. Als „study in evolving moral character" an Neoptolemos deutet entsprechend Hawkins (1999), S. 338 Sophokles' Philoktet. Müller: Philoktet, S. 294f. - Vgl. Sophokles: Philoktet v. 80ff. Die negative Zeichnung seiner Rhetorik zeigen v. 439ff., wo Neoptolemos auf die Frage Philoktets: Frage ich dich nach einem nichts werten Mann, doch zungenfertig und clever (yX|!T|TlQ) und vielersinnend (710X-Ü(ifixav0i;), dazu fungiert er als Unterhändler und Schlichter, etwa in der Gesandtschaft an Achill in der Odyssee. Die Diskrepanz der Konzeptionen zwischen dem Epos und Müllers auf den attischen Tragikern basierender Zeichnung des Odysseus bemerkt schon 1966 Girnus im Gespräch mit Heiner Müller, S. 43, mit zahlreichen Belegen aus llias und Odyssee. Pearson (1963), S. 178. Vgl. auch Blundell (1989), insb. S. 184 und Hawkins (1999).

2. Philoktet - ,Der Mensch des Menschen Todfeind'

55

Philoktet aber schon deswegen, da die griechische Antike diese Problematik nicht kennt. Blößner kommt, von Piatons Politeia ausgehend, zu dem Schluß: „Täuschung ist also, wo sie zum Nutzen der Polis erfolgt, nicht nur legitim, sondern sie ist ein unverzichtbarer Bestandteil der guten und gerechten Ordnung."49 Der ethische Diskurs verweist vielmehr auf die am häufigsten zitierte Mythostransformation der deutschen Literatur, auf Goethes Iphigenie.50 Wahrheit und Lüge, die Auswirkungen des Handelns entweder nach idealistischer Ethik oder aus Pragmatismus, stehen sich dort ab dem vierten Akt gegenüber: Ablehnung von Lüge und Betrug ist das maßgebliche Kriterium für Iphigenie wie für Neoptolemos; Odysseus' pragmatische Bereitschaft zur Lüge entspricht der des Pylades.51 Allerdings handelt Müllers Neoptolemos nicht im Vertrauen auf eine absolute Ethik der Humanität wie Iphigenie; ihn bewegt auch nicht die Angst vor einem blutigen Fluch. Für Neoptolemos ist eine bewaffnete Auseinandersetzung und sogar Töten in einer offenen Konfrontation möglich, wenngleich nicht erwünscht; nur die Lüge lehnt er ab.52 Die in der Iphigenie gegebene Polarisierung ist damit im Philoktet relativiert. Neoptolemos vertritt keine humanistische Utopie, sondern ähnelt in seinem Idealismus eher den jugendlich-naiven Figuren der deutschen Klassik; dem entspricht, daß er mehrfach mit Max Piccolomini oder dem Prinz von Homburg verglichen wird.53 Bei Sophokles dagegen ist die jugendliche Naivität nur angedeutet: auch selbst war ich als junger Mann einmal träge mit dem Wort, rasch aber mit den Händen; jetzt aber, in Erfahrung fortgeschritten, sehe ich, daß bei den Menschen das Wort, und nicht die Taten, alles beherrscht

(tt|v •yXüaoav,

ovx'i xapya, raxvö' f\Y0\)p.evr|v).54

Der letzte Vers ermöglicht es, die allgemeine Auffassung des Verhaltens von Neoptolemos und Odysseus im vierten und fünften Jahrhundert zu rekonstruieren: Minadeo stellt über die Schlüsselbegriffe yX&GGCL und epyov einen Bezug zur Rede des 49

50 51 52

53 54

Vgl. Blößner (1997), S. 284f. - Sowohl der platonische Hippias minor, wo den Ausgang eines hochironischen Spiels der Gegensatz zwischen dem betrügenden Odysseus und dem wahrhaften Achill bildet, als auch die Nikomachische Ethik (insb. 1126b ff.) des Aristoteles nehmen höchstens Teilaspekte des Problems ins Blickfeld. Erst bei Augustinus in der Schrift Contra mendaäum (ca. 420 n. Chr.) ist eine generelle Problematisierung der Lüge belegbar, die dann die abendländische Tradition prägt und in Kants Metaphysik der Sitten einen zentralen neuzeitlichen Ausdruck findet. Vgl. Frick (1999), S. 100, verkürzt auf eine ,,anti-iphigenische[n] Reflexion der dialektischen Aporien von Wahrheit und Lüge unter stalinistischen Zwangsbedingungen". Goethe: Iphigenie auf Tauris, insb. IV 1, 3 und 4. Einen Gegensatz zwischen .hoher' und von Neoptolemos zurückgewiesener .niedriger' Gewalt, zu der auch die Lüge gehöre, konstruiert Profitlich (1980), S. 219 in diesem Konflikt, übergeht dabei aber die Schärfe des moralischen Dilemmas des Neoptolemos, das einen wesentlichen Aspekt von Müllers Philoktet ausmacht. Girnus im Gespräch mit Heiner Müller, S. 46. - Auch auf Sophokles' Neoptolemos findet diese Analogie Anwendung, vgl. Lefevre (2001), S. 207; allerdings ist diese Analogie, da die antike Tragödie kein Ideendrama kennt, problematisch. Sophokles: Philoktet, v. 96-99.

56

I. Müllers Transformationen des attischen Dramas

Kephalos in Piatons Politeia her: Kephalos, der die generelle Auffassung seiner Zeit von einem guten Bürger vertritt, fordert eine harmonische Beziehung zwischen wofür bei Sophokles poetisch yX&aaa steht, und epyov; dann fordert Kephalos auch, das Geschuldete zu leisten und die Wahrheit zu sagen. Als Vorschrift für das praktische Handeln bedeutet dies nach Minadeo: „to help one's friends and to vex one's enemies".55 Damit ist Odysseus' Bekenntnis zum Vorrang des Wortes vor der Tat ein Widerspruch zum Lebensweg des guten athenischen Bürgers Kephalos. Auch ist seine nicht erkennbare emotionale Beziehung zu den Mitmenschen, während Neoptolemos im Verlauf des Stückes Mideid mit Philoktet zeigt, ein Verhalten gegen die von Kephalos geforderten Regeln und würde für eine moralische Überlegenheit des Neoptolemos sprechen.56 Müllers Odysseus will Neoptolemos' jugendlichen Idealismus mit aus der Vorgeschichte des trojanischen Krieges entnommenen Exempla für pragmatisches Handeln, die bei Sophokles ob der fehlenden Problematik fehlen, überwinden:57 Achill wie Odysseus selbst hatten versucht, durch List dem Krieg zu entkommen und waren gescheitert: In diesem Handel bist du nicht der erste / Der was er nicht will tut. Wir tatens vor dir. Odysseus erzählt, wie er vorgegeben habe, wahnsinnig zu sein, und von der Verkleidung des Achill als Mädchen, um sich dem Feldzug nach Troja zu entziehen. Beides wird aber durch provozierte Reflexe, wie sie nur ein vernünftiger Mann zeigen kann - Odysseus schützt als Vater seinen Sohn, Achill greift als Mann freudig nach Waffen - als List entlarvt.58 Dabei verschweigt Odysseus, daß er es war, der Achills Wahnsinn endarvte, nachdem er aus dem eigenen Scheitern die Psychologie der Täuschung gelernt hatte. Neoptolemos' Berufung auf höhere Werte wird so als jugendliche Naivität charakterisiert. Erwachsensein heißt, den Weg der Pflicht zu gehen; dies bedeutet, individuelle Kategorien aufzugeben und sich in den Dienst einer höheren Sache zu stellen, wie Odysseus auf sich selbst bezogen formuliert: ich [...] hatte keinen Weg mehr aus der Pflicht.59 Man mag an dieser Stelle eine kritische Distanz zum Krieg hören, die dem sophokleischen Text fehlt. Die Vergleiche sind aber vor allem ein weiterer Beweis der sophistischen Vernunft des Odysseus, die es ihm erlaubt, eine Beziehung zwischen sich selbst und Neoptolemos' Vater Achill herzustellen, um Neoptolemos auf einer emotionalen Ebene anzusprechen. Ironisch erinnert Odysseus aber dann an die Bitte der griechischen Fürsten an Achill, als der vor Troja Beleidigte sich weigert, weiter am Kampf teilzunehmen. Er kniet vor dessen Sohn nieder, relativiert aber sofort die Unterwürfigkeit der Geste und gestaltet sie zu einer Drohung:

55

56 57 58 59

Love/Hate und Logos/Ergon sind nach Minadeo (1993) die „formative matrix" aller erhaltenen sophokleischen Tragödien; er stellt (ebd., S. 87) auch den Bezug zum Philoktet her. - Blundell stellt 1982 ihre Untersuchung zu den Tragödien des Philoktet und ihrem Bezug zur griechischen Ethik unter den ähnlichen Titel „Helping friends and harming enemies". Vgl. Blundell (1987), S. 214ff. und Minadeo (1993), S. 102f. Beide Episoden sind nicht bei Homer und den attischen Tragikern überliefert, sondern haben ihre Quelle ursprünglich im Epischen Kyklos. Odysseus' gespielter Wahn findet sich knapp bei Homer: Odyssee 24,115ff., wird dann aber wie Achills Verkleidung über die Kyprien Bestandteil des Odysseus-Mythos. Müller: Philoktet, S. 297.

2. Philoktet - ,Der Mensch des Menschen Todfeind'

57

[...] klüger war dein Vater als sein Sohn Er wußte gut, daß wir, den Blick im Staub Die Steine zählten, unsern Tod für ihn Wenn er dem Zorn sich ließ60

Der ethische Konflikt wird verschärft durch eine persönliche Feindschaft zwischen beiden Protagonisten: Odysseus hatte Neoptolemos die Waffen seines Vaters Achill versprochen, wenn er ihm nach Troja folgen werde. Vor Troja aber enthält er ihm die Waffen mit der von Müller ergänzten materialistischen Begründung vor, sie seien der Lohn für das riskante und verlustreiche Unterfangen seiner Truppen, Achills Leichnam und dessen Waffen zu bergen. Neoptolemos dagegen sieht sich von Odysseus betrogen und so in seiner Ehre gekränkt.61 Daraus entwickelt sich, verglichen mit Sophokles, eine Verschärfung des Konfliktes: Neoptolemos wirft Odysseus nicht nur den Speer vor die Füße als Geste der Abkehr von seiner ihm zugewiesenen Funktion, sondern bezichtigt ihn auch der Feigheit, als Odysseus ihn daran zu hindern sucht, Philoktet offen und unbewaffnet entgegenzutreten: Laß mir den Gang, so laß ich dir die Furcht,62 An dieser Stelle erweist sich Neoptolemos im Spiel mit der Polysemie von ,lassen' als ,erlauben' in der ersten, als .überlassen' in der zweiten Hälfte des Satzes als durchaus zu Sophismen talentiert und so als potentieller Nachfolger des Odysseus, der sich von dem naiven Jüngling bei Sophokles deutlich unterscheidet. Sein Haß auf Odysseus deutet sich bereits in dieser frühen Phase in der Radikalität an, die er am Ende des Stückes erreichen wird: Für mein Recht dann tauch ich / In andres Blut den Speer.63 Darauf droht Odysseus mit dem Schicksal des Prometheus. Der Mythos ist hier von Müller in der ,kanonischen' Fassung des Plots im Prometheus Desmotes des Aischylos zitiert.64 Die Stelle hat bei Sophokles keine Entsprechung und bildet den Höhepunkt der sich in Radikalität wie Aggressivität von Sophokles abhebenden Auseinandersetzung: Wenn du noch einen Schritt tust, nagle ich dich Mit deinem eigenen Speer an diese Insel. Und Herakles erscheint dir nicht wie dem 60 61

62 63 64

Ebd., S. 297. - Zurückgehend auf Ilias, Buch 9. Sophokles: Philoktet, v. 62-67 sowie v. 359-366. - Für die sophokleische Tragödie besteht die Communis opinio, daß der Waffenraub nicht Realität, sondern Teil der Lüge des Odysseus ist, um Neoptolemos für Philoktet als Feind des Odysseus vertrauenswürdiger zu gestalten. Vgl. exemplarisch dazu Kamerbeek (Komm, zu v. 360-366); bei Müller: Philoktet, S. 293 ist der Waffenraub dagegen Realität. - Lefevres (2000), S. 424 Deutung, Odysseus handle bei Müller im Recht, da die Waffen die Kompensation des hohen Blutzolls seiner Truppen seien, die nur, da ihr Anführer diesen Lohn trage, nicht meuterten, übersieht, daß sogar Odysseus selbst Neoptolemos formal im Recht sieht: Odysseus nennt die Waffen Achills gegenüber Neoptolemos dein Erbe und spricht vom gerechten Anspruch des Neoptolemos. Nur seine durch die .Pflicht für Griechenland' bestimmte pragmatische Interpretation von Normen bezogen auf die griechische Staatsräson, die auf ein loyales Heer angewiesen ist, gibt ihm nach seinen persönlichen Kategorien der instrumenteilen Vernunft Recht. Müller: Philoktet, S. 293. Ebd., S. 296. Es ist das erste Mal, daß das Prometheus-Mythologem in Müllers Werk erscheint. Es wird dann in den folgenden Texten, vom Prometheus Desmotes über Zement und Verkommenen Ufer bis Germania 3 Gespenster am toten Mann in immer neuen Transformationen aufgenommen.

58

I. Müllers Transformationen des attischen Dramas

Den der beraubte Gott an sein Gebirg schlug Zu dauernder Gesellschaft seinen Vögeln Nicht von der Art die nachwächst ist dein Fleisch Dich werden ganz vom Stein die Geier pflücken. 65

Odysseus ist in diesem Bild der Überlegene und zugleich auch ein Tyrann wie Zeus im Prometheus Desmotes, Neoptolemos der Rebell mit positiven Zügen, aber an Kraft und Macht unterlegen, so daß Neoptolemos zunächst an die Hierarchie erinnert wird. Deutet man Odysseus/Zeus als die ,neue Generation' im Gegensatz zu Neoptolemos/Prometheus als der alten Göttergeneration, so läßt sich auch das Programm des neuen Menschen erkennen, das Odysseus für Müller vertritt:66 Der neue Mensch ist der Vertreter der instrumentellen Vernunft;67 sogar deren Inhumanität ist in dem Vergleich mit Zeus in dessen Bestreben enthalten, die alte Menschengeneration zu vernichten. Wie der an den Fels geschmiedete Prometheus bleibt Neoptolemos aber trotz der Drohung selbstbewußt: Viel hohen Mut dem Waffenlosen geigst du. Denkbar ist es auch, durch das Zitat des Prometheus-Mythologems die Markierung der intertextuellen Differenz in Bezug auf Herakles als Deus ex machina zu sehen: Prometheus wird von Herakles gerettet, Müllers Drama aber kennt, anders als Sophokles, keinen als Deus ex machina auftretenden Herakles, der Philoktet befreit und Neoptolemos vor dem letzten Schritt rettet. Bezieht man diesen Kontext mit ein, so ist in den Worten des Odysseus, der offenbar bereits diese Situation miteinkalkuliert hat, die Warnung vor der Eskalation zu hören, die aus Neoptolemos' Eigensinn entstehen könnte. Darauf versucht Odysseus, ihn von seinem pragmatischen Konzept der zwischenmenschlichen Beziehungen zu überzeugen, in dem das Individuum nur als Instrument eines übergeordneten Interesses Wert besitzt: Neoptolemos sei wie nun Philoktet nur vor Troja notwendig, weil er dort zur Motivation seiner Truppen gebraucht werde.68 Die geplante Intrige gegen Philoktet, die Odysseus ihm weit ausführlicher als bei Sophokles darlegt,69 führt die Rationalisierung dabei noch über das Militärische hinaus: Odysseus funktionalisiert sogar den Haß des Neoptolemos auf sich: Dieser wurde nicht nur aus Skyros geholt, weil die Truppen seines Vaters nach dessen Tod meuterten und nur der legitime Nachfahre diesen Aufruhr beruhigen konnte. Er ist wegen seines Hasses

65 66 67

68

69

Müller: Philoktet, S. 293. Müller: Brief an den Regisseur. Texte 7, S. 104f. Der Durchrationalisierung Müllers widerspricht die Erklärung von Ostheimer (2002), S. 77, hier werde der Unterschied zwischen Gott und Mensch veranschaulicht. Zwar beruft er sich auf eine andere Fassung des Philoktet (in Drucksache 17, S. 652), wo es heißt: Zu dauernder Gesellschaft seinen Adlern, doch ist dies nur ein weiteres Mythologem im Mythos von Prometheus, der vom Adler des Zeus, der an seiner Leber frißt, heimgesucht wird. Die Verbindung zu Müllers Bemerkung im Brief an den Regisseur (Texte 7, S. 104) über Philoktet als DUMM UND STOLZ WIE DIE ADLER, der von Ostheimer (ebd.) zu Nietzsches Zarathustra in Bezug gesetzt wird, ist rein assoziativ. Müller: Philoktet, S. 294f.: Nach deines Vaters uns \-u zeitigem Tod / Als seine Mannschaft weigerte die Schlacht / [...]/ Wir brauchten dich, sie in die Schlacht haun / Wie mir den brauchen jet^t für seine Mannschaft / [...]/ Set% ich den Fuß aufs Festland ohne den / Kehrt seine Mannschaft unserm Krieg den Rücken.. Sophokles: Philoktet, v. 54-67.

2. Philoktet - ,Der Mensch des Menschen Todfeind'

59

auf Odysseus der am besten zur Intrige gegen Philoktet geeignete Grieche, da er gar nicht lügen muß, um seine Aversion gegen Odysseus auszudrücken: Und weil du nicht zu lügen brauchst in dem Wählt ich zum Helfer dich für meinen Plan Denn glaublich wirst du lügen mit der Wahrheit 70 Die antiken Transformationen begründen die Notwendigkeit der beiden Figuren durch Orakelsprüche: Troja werde nur fallen, wenn Neoptolemos und Philoktet gegen Troja kämpfen würden. 71 Was Philoktet angeht, so kommt es bei Sophokles, vergleicht man seine Konzeption mit den Epen, zu einer Veränderung: Es ist nicht mehr Philoktet persönlich wichtig, sondern seine v o n Herakles erhaltene Waffe. 7 2 Müller geht noch weiter und verzichtet ganz auf den Bogen. Nicht eine Wunderwaffe, sondern das menschliche Charisma ist die entscheidende Eigenschaft, die bei Neoptolemos wie Philoktet benötigt wird: Der entscheidende Faktor für den kriegerischen Erfolg sind die Truppen; der einzelne kann nur Bedeutung haben, wenn er für sie eine besondere Funktion besitzt. 73 Müllers Transformation zeigt bei der Motivation der Notwendigkeit v o n Neoptolemos wie Philoktet zum Fall Trojas also eine mehrdimensionale psychologische Rationalisierung in der Tradition v o n Brechts Antigone?4 Dennoch bleibt der Bogen wichtig: Er ist das Instrument, das Philoktet für Odysseus und Neoptolemos zu einem gleichwertigen und gefährlichen Gegenspieler macht. Sein Besitz bleibt zentral für das Gelingen der Mission und so kann Müllers Transformation weiter dem Handlungsverlauf bei Sophokles folgen, in dem es zunächst vorrangig um den Bogen geht.

70 71 72

73 74

Ebd., S. 296. Lefevre (2001), S. 190 relativiert die Orakel allerdings schon in Sophokles' Philoktet als „Überhöhung" einer menschlichen Idee. Sophokles: Philoktet, v. 66-69: Wenn du dies aber nicht tust, wirst du allen Argivem Trauer bringen. Denn wenn nicht der Bogen dieses Mannes dir überlassen wird, gelingt es dir nicht, das Dardanerland zerstören. Vgl. auch v. 113: Dieser Bogen gan^ allein bringt Troia Fall. - Die notwendige Beteiligung des Philoktet an der Kampfhandlung gemäß dem Orakelspruch legen allerdings v. 195-200, 611-613 sowie v. 839-842 nahe; der genaue Inhalt des Orakelspruchs - ist Philoktet wichtig oder sein Bogen - bleibt letztlich unklar. Einen Überblick zu diesem Problem in den verschiedenen antiken Transformationen des Philoktet-Mythos bietet Tamara Visser (1998), speziell zu Sophokles S. 2236. Die Kontamination des Philoktet-Mythos, der bei Homer (Ilias 2,718 und Odyssee 8,219f.) nur als exzellenter Bogenschütze erscheint, mit dem Herakles-Mythos und die Verschiebung des Wertes des Philoktet von seinem Talent zum Besitzer einer Waffe deutet Carl Werner Müller (1997), S. 12 als Rationalisierung nach antiken Kategorien: „Die Einführung des Heraklesbogens in den Philoktet-Mythos dürfte dort erfolgt sein, wo die Rückführung des Zurückgelassenen nicht nur einfach durch einen Götterspruch gefordert [...] wurde, sondern auch eine sachliche Begründung erfuhr: Nur mit Philoktet, dem ,zweiten Herakles', kann die ,zweite Eroberung' [Erg d. Verf.: Damit ist die erste Eroberung Trojas durch Griechen, während der Argonautenfahrt gemeint, an der auch Herakles beteiligt war] der Stadt gelingen." Angelegt ist dies schon bei Sophokles, wo Odysseus vom Chor in v. 1143 als einer von vielen bezeichnet wird; Gardiner (1987), S. 48 weist auch darauf hin, daß in Sophokles' Philoktet überaus oft, 28 mal, die großen griechischen Truppen vor Troja erwähnt sind. Eine rationalisierende Transformation des Mythos ist also keine besondere Eigenart von Müllers Mythos-Transformationen, wie Lefevre (2000), S. 422 vermutet.

60

I. Müllers Transformationen des attischen Dramas

Wie Odysseus andere Menschen instrumentalisiert, so beruht auch sein Selbstverständnis auf der Überzeugung, ein Funktionsträger der Pflicht zu sein; dieses instrumentelle anthropologische Konzept besitzt für ihn Allgemeingültigkeit: Seine Selbstsicherheit trotz der Notwendigkeit eines Bündnisses mit seinem Todfeind Neoptolemos beruht auf der Überzeugung, daß auch dieser aus Egoismus ihn instrumentalisieren werde: Ich brauch dich lebend und noch brauchst du mich so. Menschen sind für Odysseus entweder Funktionäre oder Funktionen, mit denen gerechnet und kalkuliert werden kann. Da er dies in seiner Intelligenz meisterhaft beherrscht, wird an ihm auch modellhaft die Pervertierbarkeit Intellektueller vorgeführt. Obgleich Neoptolemos als tiefgründigerer Charakter gezeichnet ist als bei Sophokles, erweist er sich am Schluß der ersten Szene als kein dem Odysseus ebenbürtiges Gegenüber. So kann der Prolog enden wie bei Sophokles: Neoptolemos fügt sich dem Plan des Odysseus. Dabei handelt er unbewußt pragmatisch und folgt dessen Kalkül: Neben dem Wert der Wahrheit gilt für ihn wie für Odysseus das Prinzip patriotischer Pflicht, in deren Rahmen er nun handeln wird: Mein Haß gehört dem Feind, so wills die Pflicht / Bis Troja aujhörP5. Sie ist stärker als sein persönlicher Konflikt mit Odysseus und stärker als das sich der Lüge widersetzende Gewissen. Damit tut er den ersten Schritt in Richtung des von ihm kritisierten Verhaltens des Odysseus. 2.2.3. Die Inszenierung der Lüge - das Ajax-Mythologem Mit dem Auftritt des Philoktet, der bei Sophokles den Beginn des zweiten Epeisodion markiert, ist der Streit zunächst unterbrochen, Odysseus zieht sich zurück. Philoktets Reaktion auf den Fremden unterscheidet sich grundsätzlich von Sophokles' Gestaltung, obwohl in beiden Dramen seine zehnjährige, ununterbrochene Einsamkeit betont ist:76 Sophokles' Philoktet freut sich über den Besucher, der seine Einsamkeit unterbricht, dagegen ist Müllers Philoktet voll Haß auf alles Griechische. Hier wird der Einfluß von Euripides' Philoktet das erste Mal deutlich erkennbar, wo Philoktet Odysseus stellvertretend für alle Griechen angreift: Dann war's sicher richtig zu sagen, du seist mein Freund, als du zugegeben hast, einer der Argiver zu sein, die meine schlimmsten Feinde sind. Für deren Unrecht sollst du auf der Stelle büßen.77

75 76

77

Müller: Philoktet, S. 296. - Unverständlich Werner (1968), S. 90, daß die Notwendigkeit des Falls Trojas möglicherweise nur Lüge des Odysseus sei und eine Niederlage gegen Troja für Griechenland folgenlos wäre. Kommen bei Sophokles (vgl. v. 305-311) noch ab und an Schiffe nach Lemnos, verschärft Müller die Isolation: Neoptolemos ist der erste Mensch, dem Philoktet seit zehn Jahren begegnet, Müller: Philoktet, S. 298f.: Welch guter oder schlimmer Wind dein Schiff / Auf meinen Steinstrand, den die Schiffe meiden / Seit ich das Meer nach nahenden Schiffen abweid / Mit altem Augen immer ohne Glück / Auf meinen Fels allein mit meinen Geiern. Dion von Prusa 59,7 (Euripides: Philoktet, S. 186). Zur Parallele zu Euripides in diesem Punkt vgl. auch Kraus (1985), S. 322.

2. Philoktet - ,Der Mensch des Menschen Todfeind'

61

Sein Mißtrauen ist grenzenlos: Jede Sprache ist ihm Lüge, jeder Mensch daher sein Feind. Dies kulminiert im Ansatz, den waffenlosen Neoptolemos zu erschießen. Dieser hat in diesem Moment noch kein Wort gesagt und wollte beim Anblick Philoktets sogar fliehen. Es ist eine nach den zehn Jahre zuvor gemachten Erfahrungen und nach zehnjähriger Einsamkeit psychologisch nachvollziehbare Verbitterung. Die Distanz zur Zivilisation macht Philoktet nicht nur in seiner Fortbewegung deutlich am Ausruf des Neoptolemos, als er Philoktet entdeckt: Mehr einem Tier als einem Mensch gleicht er7li -, sondern auch in seinem Verhalten einem Vieh ähnlich. Dies ist für Müller ein zentraler Aspekt dieser Figur: „Der Verbannte Philoktet, auf seine tierische Existenz reduziert durch eine politische Entscheidung".79 Darauf basieren Deutungen, in Philoktet die ,Natur' als den Vorzustand der von Odysseus verkörperten Aufklärung zu sehen und so die Konstellation zwischen Odysseus und Philoktet als mythische Chiffre der Unterdrückung der Natur durch die Aufklärung zu deuten: Dies ist eine treffende Erklärung des im Philoktet gezeigten Modells, allerdings wird diese strikte Polarität von den auf Vernunft basierenden Sophismen unterlaufen, die in Müllers Transformation alle drei Figuren, nicht nur Odysseus zeigen.80 Philoktet steht der Natur nur näher, da die dem Menschen immanente Fähigkeit zur Bestialität auf Grund seiner Aggressivität bei ihm leichter zum Ausbruch kommt als bei den beiden anderen Figuren, bei denen die Vernunft die Affekte kontrolliert. Am deutlichsten wird dies an Odysseus, dem Meister der instrumentellen Vernunft, der, abgesehen von einer kurzen Ausnahme nach dem Tod des Philoktet, keinerlei Emotionen zeigt. Die Opfer der instrumenteilen Vernunft sind ihrer menschlichen Würde beraubt wie Philoktet, dessen grundlose Aggressivität die gefährlichen Auswirkungen der instrumentellen Vernunft zeigt. So kann diese Konstellation durchaus als Ausdruck der .Dialektik der Aufklärung' gelesen werden. Die lange Isolation erklärt allerdings auch die innere Zerrissenheit Philoktets in seiner Haltung zu Neoptolemos.81 Daher ist der Haß nicht stark genug, die Sehnsucht nach Menschen völlig zu überdecken, was ihn die Dichotomie von Sprache ertragen läßt: Einerseits ist sie lebensnotwendig, da sie die Brücke zu anderen Menschen ist, andererseits ist sie als Instrument der Lüge lebensgefährlich.82 Anders als der kontinuierlich starrsinnige Philoktet aus dem Philoktet 1950 kann er seine Verweigerung 78

79 80

81

82

Müller, Philoktet, S. 298. - Eine Parallele bei Sophokles findet sich nur ansatzweise in v. 201 ff., was aber deutlich noch menschliche (cpcoTÖ?) Schreie sind. Die animalische Reduktion zeigt sich dort vor allem in den Schmerz ausdrückenden Interjektionen, die Müller nicht übernommen hat; die tiergleichen Laute bedeuten dabei aber nicht zugleich die psychische Animalisierung, vgl. dazu Knox (1964), S. 130f. Müller: Brief an den Regisseur. Texte 7, S. 109. - Vgl. Müller-Schöll (2002), S. 577ff. allgemein zur „Tierwerdung des Menschen" bei Heiner Müller. Emmerich (1989), S. 145 und Preußer (1998) verstehen Philoktet als Allegorie Natur. - Dagegen weist Peters (1993), S. 198f. diese Deutung grundsätzlich zurück: Philoktet sei in dem Konflikt subjektorientiert, Odysseus handle nach übersubjektiven Kriterien. - Allerdings übersieht dies Odyssseus' Selbstdefinition als Exeget der ,Pflicht', die zum einen seine Identität konstituiert, zum anderen im Kontext der instrumentellen Vernunft ,subjektive Vernunft' ist; zu Odysseus und der Frage der instrumentellen Vernunft vgl. S. 85ff. Müller: Philoktet, S. 298-300. Wer bist Zweibein? Mensch, Tier oder Grieche? / Und wenn du der bist, hörst du auf sein. / [...] / Mit welcher Sprache, Hund, lerntest du lügen / [...] / haut der mir lieb war. Sprache, lang entbehrt. / [...]/ Mein Ohr hat Lust auf eine andre Stimme. / So lebe, weil du eine Stimme hast. Ebd., S. 298-301 passim.

62

I. Müllers Transformationen des attischen Dramas

nicht ohne Schwierigkeit durchhalten: Aus der Polemik gegen den Fremden, den er, noch ehe Neoptolemos sich vorstellte, als Exemplum des Lügners und illegitimen Sohn des Odysseus, des Lügners par excellence, bezeichnet,83 womit er unwissentlich die Situation in tragischer Ironie treffend charakterisiert, entwickelt sich übergangslos die Aufforderung, mit ihm Lemnos zu verlassen: Hast du noch ein Schiff? / Nimm mir das Ausland von den Füßen, Grieche.84 Es scheint, Neoptolemos habe in Müllers durchrationalisierter Transformation des Mythos bereits in diesem Moment sein Ziel erreicht: Philoktet würde das Schiff besteigen, Neoptolemos könnte ihn nach Troja bringen. Allerdings hat Philoktet immer noch den Bogen, wäre auf dem Schiff also potentiell eine große Gefahr, wenn er die List entdeckt hat; so ist die Trugrede weiter motiviert: Neoptolemos stellt sich wahrheitsgemäß als Sohn Achills vor und behauptet dann, er fahre Im Auftrag eigner sehr gekränkter Ehre / Nach Skyros heim, Troja im Rücken-, sein Feind sei mit Odysseus derselbe wie der des Philoktet. Dessen Antwort zwischen Zynismus und Resignation ist ganz auf sein Leid konzentriert. Zwar fragt er wie bei Sophokles nach dem Verlauf des trojanischen Krieges,85 doch nicht aus patriotischer Solidarität mit den Griechen wie bei Sophokles, sondern um sein in der jahrelangen Isolation verlorenes Zeitgefühl wiederherzustellen: Sag mir, wie lang / War ich in meinem Krieg mein eigner Feind.S6 Müller entwickelt also aus dem Motiv der Einsamkeit, das bei Sophokles vor allem die physischen Leiden an der Wunde und die Alltagsprobleme betont, die Problematik der Identität. Nicht der körperliche Schmerz, sondern das Fehlen des anderen als Spiegel seiner selbst macht es Philoktet unmöglich, sich selbst zu erkennen, was seine Identität in Frage stellt: Mein Schrecken war: mein Feind hat kein Gesicht. Könnt ich mir selber in die Augen sehn Den Wind mit Pfeilen an die Sonne nageln Der mir das Meer mit Wellen fleckt, den Spiegel.87

Der expressive Wunsch, sich im Auge eines der stets über ihm kreisenden und seinen nahen Tod ankündigenden Geier88 kurz spiegeln zu können, bevor dieser ihn tötet, markiert den hohen Preis, den Philoktet bezahlen würde, um für einen kurzen Moment sich seiner Existenz bewusst zu sein. Angesichts des Identitätsproblems gewinnt der

83

84 85 86 87

88

Ebd., S. 301: Doch hat ein Herdendieh vielleicht und Lügner / Aus Ithaka, der deines Vaters Vieh stahl / Auf gastlichem Bett bewirtend deine Mutter / Mit seinem Samen seinen Kaub gezahlt / Und aus der Saat des Lügners wuchs ein Lügner / Auf Skyros auch: du. Laß die Hand vom Speer, / Sei der du bist, ein Lügner, Mörder, Dieb. Ebd., S. 301. Ebd., S. 302: Wie lang der Krieg um Priams Stadt war, wen / Der Schuttplat£ deckt von Lieben und Gehaßten. - Vgl. Sophokles: Philoktet, v. 322ff. Ebd., S. 302. Ebd. - Dies deckt sich mit der Bedeutung der Spiegelung in einem anderen für die Entwicklung der Ich-Identität in der strukturalistischen Psychoanalyse, vgl. Lacan: Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion. - Zur Identitatsproblematik bei Heiner Müller allgemein vgl. Wieghaus (1984), insb. S. 119 und Teichmann (1989). Statt der Geier sind bei Sophokles Tauben die ungefährlichen Jagdobjekte des Philoktet, vgl. Sophokles: Philoktet, v. 288.

2. Philoktet - ,Der Mensch des Menschen Todfeind'

63

wunde Fuß eine dialektische Funktion:89 Ist er einerseits Ursache der Einsamkeit, da Philoktet seinetwegen auf Lemnos ausgesetzt worden war, so ist er andererseits durch seinen Gestank das einzige an ihm, was ihm Sicherheit über seine Existenz gibt: Du hältst den Atem an vor meiner Nähe. / So weiß ich das doch: mein Gestank ist wirklich.90 Der Gestank ist wiederum das Symptom der Wunde, die das stete Symbol der Erfahrung ist, von den eigenen Leuten betrogen worden zu sein. So wenig wie die Wunde heilt, vergeht die Erinnerung; so wenig wie das Geschehene revidierbar ist, ist der daraus resultierende Haß auf die Griechen auslöschbar.91 Die Assoziation der beiden Atriden Agamemnon und Menelaos zusammen mit Odysseus als lügender Kerberos - Ein Fleisch [...] mit drei Köpfen und sechs Zungen -, sowie der hyperbolische Wunsch, die Rache an diesen dreien immer von Neuem wiederholen zu können, gehen in ihrer Bildlichkeit weit über die sophokleische Formulierung hinaus. Der Wunsch, die Vergeltung endlos wiederholen zu können,92 unterstreicht deren identitätsstiftende und existentiell notwendige Funktion: Die Rolle als Rächer an Odysseus ist das einzige Fixum in Philoktets Selbstkonzept. Noch deutlicher tritt dies in der späteren direkten Konfrontation mit Odysseus zu Tage. In einem langen Monolog berichtet Neoptolemos dann wie bei Sophokles seine eigene Geschichte. Anders aber als bei Sophokles beginnt er nicht damit, wie Odysseus ihn aus Skyros nach dem Tod seines Vaters abholt, sondern baut aus dem in Troja vorausgehenden Geschehen die Ajax-Episode aus, die im sophokleischen Philoktet von Neoptolemos mit der Mitteilung seines Todes nur kurz erwähnt wird.93 Dafür verzichtet Müller auf das Schicksal weiterer Griechen vor Troja.94 Aus dem Ajax-Mythos sind Details übernommen, die Sophokles in einer eigenen ^Izkr-Tragödie behandelt hat. Dabei beschränkt Müller sich nicht auf die zunächst naheliegende Parallele zwischen Neoptolemos und Ajax als Opfer der Hinterlist des Odysseus: Ajax wurden als erstem 89

90 91 92

93

94

Müller: Brief an den Regisseur. Texte 7, S. 104 nennt ihn „Ornament, Last, Beute. Auch Identität." Es ist nicht notwendig, hier eine negative Metaphysik heranzuziehen, in deren Kontext Preußer (1998), S. 279 den Fuß als „auf den Körper projizierte Säkularisation des deus absconditus, negative Theologie" bezeichnet. Der Philoktet Müllers ist ein materialistisches, durchrationalisiertes Drama ohne Bezüge zur Transzendenz; der Fuß ist einfach die einzige Realität, die Philoktet kennt. Müllers weitere Deutung, der Fuß sei auch „Waffe" und bezeichne das „Licht im Netz [...] die Lücke im System, den immer neu bedrohten und neu zu erobernden Freiraum zwischen Tier und Maschine, in dem die Utopie einer menschlichen Gemeinschaft aufscheint", markiert das Andere in Philoktets Biographie, das heißt die Befreiung von der Rolle als Opfer und die Rache an Stelle des Duldens. Müller: Philoktet, S. 303. - Vgl. auch die Darstellung von Philoktets Biographie aus der Sicht des Odysseus, ebd. S. 320f. Biggs (1966), S. 232f. beobachtet die Parallele zwischen Haß und Wunde in ihrer zeitlichen Unendlichkeit auch bei Sophokles; Müller akzentuiert dies noch weit stärker. Müller: Philoktet, S. 303f.: Ein Fleisch [...], Das ich ungern tot sah, vermindert ungern / Durch zufälliges Eisen, weil ich selber / Das tote nicht noch einmal töten kann / Nicht zweimal und nicht tausendmal und nicht / Sein Leben lang und nicht mein Leben lang. - Sophokles: Philoktet, v. 314f.: Das haben die Atriden und die Gewalt des Odysseus / mir angetan, mein Kind; mögen die olympischen Götter / ihnen einmal ebenfalls antun, für mein Leid %u leiden. - Schon bei Sophokles ist die Rache als Lebensinhalt spürbar, vgl. WinningtonIngram (1980), S. 290ff. Sophokles: Philoktet, v. 410-12: PHILOKTET: [...] Aber nicht darüber wundere ich mich, sondern daß der große Aias dabei war, dies sah und aushielt. NEOPTOLEMOS: Er war nicht mehr am Leben. - Müller: Philoktet, S. 304f. Ebd., v. 421-445 nennt noch Nestor, Antilochos, Patroklos und Thersites.

64

I. Müllers Transformationen des attischen Dramas

durch die geschickte Rhetorik des Odysseus die Waffen Achills vorenthalten, was zum Plot der sophokleischen ^4/kf-Tragödie fuhrt.95 Müller rationalisiert den Wahnsinn des Ajax, der aus Frustration volltrunken ist; bei Sophokles ist die Verblendung von Athene geschickt.96 In diesem Zustand metzelt Aias in der Meinung, Odysseus und die Atriden vor sich zu haben, das erbeutete Vieh nieder. Als er am nächsten Morgen, von beiden Heeren verspottet, erkennt, was er getan hat, bleibt ihm aus Scham und Ehrverlust nur mehr im Selbstmord ein Ausweg. Schon für die sophokleischen Tragödien Aias und Philoktet ist in der Krankheit eine Parallele zwischen beiden Figuren festgestellt worden.97 Müller führt dies weiter, indem er seinen Philoktet sowohl an der somatischen Verletzung (der Wunde am Fuß) wie an der psychischen Verletzung (den Folgen der Isolation) leiden lässt; dieser Philoktet ist in seinem Leid die Steigerung des sich nur sozial isoliert fühlenden Aias. Sophokles hat im Fall des Philoktet wie des Aias eine Verbindung aus Verbitterung und Verwilderung mit positiven Emotionen geschaffen, etwa der Fähigkeit Philoktets, im ersten Gespräch Neoptolemos zu vertrauen;98 beides fehlt bei Müller in auffälliger Weise. In der Ausweglosigkeit ist eine weitere Parallele zwischen Ajax und Philoktet zu sehen.99 Der Aias des Sophokles zeigt die Isolation, in die ein Held aus übertriebenem Affekt und Egozentrik angesichts eines ihm angetanen Unrechts geraten ist: Schon Goethe nennt Aias an dem Dämon verletzten Ehrgefühls leidend.100 Die wütende Reaktion auf den Ehrverlust durch den Verlust der Waffen aber führt erst zum wirklichen Verlust der Ehre. Die Symptome, die Müllers Ajax dabei vor seinem Selbstmord zeigt, ähneln stark denen des Aias bei Sophokles: Das Schwanken zwischen Selbstmideid und Haß zuerst auf Odysseus, von diesem aber auf das Heer allgemein projiziert die Instrumentalisierung seines angedrohten Todes für die Rache an allen Griechen, die aus der Flucht vor den Schmerzen in den Tod einen Racheselbstmord macht,101 sowie seine psychische Situation, die ihn verschließt. Bemerkenswert ist das Ergebnis von Seidenstickers Analyse von Aias' Verhalten, das auf Müllers Philoktet übertragbar ist: Die psychischen Symptome des Helden zeigen nach dem Stand moderner Psychologie die

95

Deutlich stellt Ovid: Metamorphosen 13,382f. der ,fortitudo' des Ajax die überlegene facundia des Odysseus gegenüber: mota manus procemm est, et\ quid facundia posset, / re patuit,fortisque viri tutit arma disertus. 96 Sophokles: Aias, v. 51-60. 97 Erstmals bei Biggs (1966); Flashar (2000), S. 143 führt den Gedanken fort. 98 Seidensticker (1994), S. 285. 99 Vgl. Strohm (1986), S. 120. 100 Goethe: Sämtliche Werke Bd. 12/39, S. 584 (28.3.1827). - Vgl. auch Seidensticker (1983), S. 125 (ebenso noch ders. 1994, S. 284f.), der Ajax als „eine tiefgreifende Analyse der unauflöslichen tragisch-dialektischen Verbindung von bewundernswerter heroischer Größe und erschreckender, selbstzerstörerischer Megalomanie" charakterisiert. Dagegen Ostheimer (2002), S. 146, die Episode diene dazu, für Neoptolemos eine „Vorbild- und Identifikationsfigur" zu installieren, die „Tapferkeit, Wahrhaftigkeit, Geradlinigkeit und ein aristokratischer Ehrbegriff auszeichne; dies ist allerdings ein Widerspruch zur Situation, da Neoptolemos dann für sich selbst - an Philoktet gerichtet - dieses Vorbild entwerfen würde. 101 Sophokles: Aias, v. 835-844, insb. 843f.: Kommt, ihr schnell strafenden Erinyen, / sättigt euch, gebt dem ganzen Heer keine Schonung! - Vgl. zu den unterschiedlichen Kategorien des Selbstmords Seidensticker (1983).

2. Philoktet - ,Der Mensch des Menschen Todfeind'

65

charakteristischen Zeichen einer Depression.102 Bezogen auf Philoktet erscheint Neoptolemos' Zitat des Aias-Plots als Warnung vor den Folgen von übertriebenem Selbstwertgefühl und Haß.103 Die Rache des Ajax endet in der Selbstzerstörung, erst im Verlust der Ehre, dann im Freitod,104 Philoktets Rachedurst nimmt die Selbstzerstörung wenigstens billigend in Kauf. Erst nach diesem, der Chronologie der Ereignisse folgenden, Exkurs über das Schicksal des Ajax begründet Neoptolemos seinen Haß auf Odysseus und seine - fiktive - Heimfahrt von Troja. Mit Philoktet, Ajax und Neoptolemos wird von Müller eine Trias von Opfern des Odysseus gebildet. Nun überrascht, daß Neoptolemos in Müllers Transformation nicht explizit betont, daß er von Odysseus um die Waffen seines Vaters betrogen worden sei; so vermeidet er einen engen emotionalen Identifikationspunkt für Philoktet und schwächt seine Rede.105 Wichtiger aber sind ihm die Vorwürfe der Leichenfledderei an Achill und der Feigheit gegen Odysseus.106 Die Intrige funktioniert dennoch: Philoktet glaubt Neoptolemos und drängt zur Abfahrt;107 wie bei Sophokles wird der Aufbruch von einer Schmerzattacke Philoktets unterbrochen.108 Dieser Moment der Schwäche bietet Neoptolemos die Möglichkeit, den Bogen zu bekommen. Während aber bei Sophokles in dieser Phase des Dramas tiefes Vertrauen zwischen beiden herrscht, Philoktet sogar Neoptolemos den Bogen schon hatte geben wollen und der Schmerz eher retardierend ist, wehrt Philoktet, entsprechend seiner bisherigen Feindseligkeit, in Müllers Transformation das Angebot des Neoptolemos zuerst wütend ab, den Bogen zu seiner Hilfe zu tragen. Erst die Aussichtslosigkeit seiner Situation bewegt ihn, die Feindschaft zu vergessen und ihn nicht nur zu bitten: Bring mich nach Me/os, sondern auch: Leih deine Hand mir auch fiir meinen Bogen.109 Mit dem Besitz des Bogens und der Schwäche des Philoktet wäre das Ziel der Mission wirklich erreicht.

102 Vgl. Seidensticker (1983), S. 127. 103 Zum möglichen Bezug auf Neoptolemos vgl. S. 75f. 104 Vgl. zum Motiv der Isolation für den Selbstmord des Ajax Knox (1964), Kap. zum Aias, Winnington-Ingram (1980), S. 24ff. und Garrison (1995), S. 46ff. 105 Vgl. dagegen Sophokles: Philoktet, v. 359-82. Dort handelt es sich, wie oben dargestellt, um einen Teil der Lügenstrategie, doch nicht um einen realen Sachverhalt. Dies überträgt Kraus (1985), S. 323 auf Müllers Transformation; allerdings ist bei Müller der Verzicht deshalb unplausibel, da die Waffen das wesentliche Motiv für die persönliche Spannung zwischen Neoptolemos und Odysseus sind. 106 Müller: Philoktet, S. 305: Die Front verlaß ich, weil ichs nicht mehr trag / Schulter bei Schulter in der Schlacht \'ugehn / Mit ihm, der aus der toten Faust den Speer brach / Das Schwert vom Kücken, von der Brust den Schild riß I Dem Staub der mich gezeugt hat, als er Fleisch war. 107 Es fehlen dann die v. 461-729 bei Sophokles, das Ende des ersten Epeisodion mit dem Auftritt des verkleideten Kaufmanns und das erste Stasimon. Beides ist in der veränderten rationalisierten Konzeption des Mythos bei Müller nicht mehr erforderlich, vgl. S. 51. 108 Sophokles: Philoktet, v. 732ff.. - Müller: Philoktet, S. 306. 109 Sophokles: Philoktet, insb. v. 762ff. - Müller: Philoktet, S. 306f.

66

I. Müllers Transformationen des attischen Dramas

Allerdings greift nun Neoptolemos' Gewissen in die Handlung ein: Bei Sophokles ist es situativ begründetes Mitleid, bei Müller eine rasche, auf sechs Verse verkürzte grundsätzliche Gewissensentscheidung im Sinne der Wahrheit.110 Nach der Identität des Philoktet wird damit die Identitätsproblematik des Neoptolemos thematisiert: Dieser steht immer noch im Spannungsfeld zwischen pragmatischer Lüge aus patriotischer Pflicht und idealistischem Bekenntnis zur Wahrheit. War ihm zuvor die Läge Pflicht, so verläßt er diesen Weg nun und erklärt im Vertrauen darauf, daß Philoktet dasselbe patriotische Pflichtgefühl zeigen werde wie er und Odysseus, er sei da, um ihn nach Troja zu holen, aber auch, um ihn zurückzuführen in die griechische Gemeinschaft, wie die Verwendung der Pronomen zeigt: Nicht ohne deine Mannschaft fallt die Stadt uns Troja, und nur dein Wort hält deine Mannschaft In unserm Krieg. 111

Naiv überträgt Neoptolemos die eigene Wertverschiebung von der Wahrheit auf die Interessen der griechischen Gemeinschaft auf Philoktet. Dieser reagiert auf diese Ehrlichkeit weit aggressiver als bei Sophokles, verfällt dann ob der Ausweglosigkeit seiner Lage aber in zynische Resignation, während er bei Sophokles noch hofft, Neoptolemos umstimmen zu können.112 Dabei argumentiert er weit scharfsinniger als bei Sophokles: Treffend diagnostiziert er das Verhältnis der drei Protagonisten zueinander: Sieger hehr den Besiegten, was du lerntest vor ihm / Vor ihm besiegt. Alle drei Figuren sind Subjekt und zugleich Objekt des Hasses, der die Dreieckskonstellation der Protagonisten bestimmt; Müllers Transformation des Mythos zeigt eine Kette permanenter wechselseitiger Unterwerfungen, die zugleich ein Abbild der jeweiligen physischen wie intellektuellen Kraftverhältnisse ist. Dann spricht Philoktet Neoptolemos mit seinem tatsächlichen Patronymikon als Sohn Achills an und appelliert damit im griechischen Sinn an seine Physis, mit der er dann sein widersprechendes Verhalten kontrastiert, wenn er ihn im Spiel mit der Etymologie von Odysseus' Namen, auf seine Lüge bezogen, Niemands Sohn nennt.113 Neoptolemos' Verfall der Werte, seine Verwandlung in den Funktionär nach dem Vorbild des Odysseus 110 Müller: Philoktet, S. 307f.: O wär ich keinen Schritt gegangen auf / Dem Weg der mit mir selber mich entzweit./ [...] / Nicht länger mag ich lügen. Hör die Wahrheit. - Bei Sophokles, v. 919-926 ist Neoptolemos' Bekenntnis, da die Wahrheit kein so entscheidendes Gewicht für ihn besitzt, weniger emphatisch, sondern er entschuldigt seine vorausgehende Lüge in pragmatischen Kategorien durch Notwendigkeit (äväyKT|), das Recht (TO evSiKÖv) und den Vorteil (TO ODmpepOV). Daß Philoktet nach Troja gebracht werden soll, erwähnt er nur verlilausuliert: Von deinem Leiden will ich dich querst heilen / Und dann, mit dir nach Troja gegangen, das Land verwüsten. 111 Müller: Philoktet, S. 308. - Die Information, daß er nach Troja gebracht werden soll, erhält Philoktet bei Sophokles, insb. v. 592ff. von dem .Kaufmann'. Indem diese Aufgabe Neoptolemos zugewiesen wird, gibt Müller dieser Mitteilung größere Bedeutung und macht sie zum Indiz für Neoptolemos' Bekenntnis zur Wahrheit. 112 Müller: Philoktet, S. 308f. - Sophokles: Philoktet, v. 927-962. 113 Ein Bruch in der mythischen Chronologie: Niemand nennt sich Odysseus erst gegenüber Polyphem auf der Heimfahrt von Troja, Homer: Odyssee 9,367f.: Niemand (Oimov, wenn er Philoktet wieder in die menschliche Gemeinschaft integrieren will und dem Leben aller Griechen, das bei einem Sieg Trojas gefährdet wäre - und wird dafür zum zynischen Praktiker. 3. Neoptolemos, der Terrorist: Die Pervertierung von Idealen Der eigentliche Gegenspieler des Odysseus ist nicht Philoktet, sondern Neoptolemos.261 In Müllers Philoktet ist das Problem der Ethik des Handelns ein zentrales Thema; fast wie in einem Thesenstück zu Horkheimers Kritik der instrumenteilen Vernunft stehen sich zu Beginn Neoptolemos als Vertreter der „objektiven Vernunft" im Sinn idealistischer 257 Es ist Odysseus, der dieses Bild in beiden Bedeutungen einführt: Müller, Philoktet. Werke 3, S. 297 zu Neoptolemos: Dein Fisch kommt; Net% Dagegen ebd., S. 322 Odysseus über sich selbst: [...] daß mich ein Fisch fraß. 258 Schivelbusch (1974), S. 140 weist auf die „Ratio" als Gemeinsamkeit hin, doch werde im Philoktet die Gesellschaft, in der Dialektik der Aufklärung die Natur und der Mythos beherrscht. - Emmerich (1989), S. 145 dagegen deutet Philoktet als das Objekt der Beherrschung des Odysseus „als Allegorie der Natur, die es dienstbar zu machen gilt." Wilke (1992), S. 58-60 legt das Gewicht auf Odysseus als „Inbegriff des bürgerlichen Subjekts", die Verbindung werde durch die Motive der Lüge und Täuschung hergestellt. 259 Vgl. S. 235. 260 Müller: Gl 1,S. 164. 261 Auch für Sophokles' Philoktet gibt es Deutungen, Neoptolemos und nicht Philoktet als die zentrale Figur zu sehen. Diese Ansätze werden allerdings überzeugend zurückgewiesen, vgl. z.B. Diller (1956), S. 83 und Strohm (1986).

94

I. Müllers Transformationen des attischen Dramas

Philosophie,262 in deren Kontext auch Goethes Iphigenie zu sehen ist, und Odysseus als Vertreter der „instrumentellen Vernunft" gegenüber. Neoptolemos ist die eigentlich tragische Figur des Dramas; sie macht nach ihrer Konfrontation mit den Dilemmata des Handelns die größte Veränderung durch, wobei sie auf der Suche nach dem Gleichgewicht zwischen Ideal und Staat innerlich zerrissen wird. Aus dem jugendlich-naiven Idealisten wird schließlich der skrupellose Pragmatiker; seine ethische Absolutheit zu Beginn wird entlarvt als mangelnde Lebenserfahrung. Für das Wertekonzept der Müllerschen Welt hat dies allerdings tief pessimistische Aussagekraft: Unter erwachsenen Menschen gibt es keinerlei Basis für echte Humanität. Das negative Konzept des Neoptolemos steht in einer Traditionslinie antiker Neoptolemos-Transformationen, etwa im Epischen Kyklos, in vielen griechischen Tragödien sowie in der Aeneis Vergils,263 wo er als Schlächter vor Troja erscheint. Leise angedeutet ist dies bei Sophokles in der, zunächst allerdings allgemeinen, Warnung des Herakles: Aber daran denkt, wenn ihr das Land verwüstet: an die Ehrfurcht vor den Göttern.2M Damit entwirft Müller ein radikales Gegenkonzept zur Idealisierung des Neoptolemos in der deutschen Klassik und Aufklärung und indirekt auch eine Anti-Iphigenie. Müllers Neoptolemos weist durchaus differenzierte Züge auf: Gerade das Bestreben, gegenüber Philoktet nach seinem objektiven Kriterium der Wahrheit richtig zu handeln, zwingt ihn, nach diesem Kriterium falsch zu handeln: Hätte er Philoktet die Intrige nicht verraten, hätte er die Schuld der Lüge auf sich genommen, doch Philoktet wäre wehrlos und damit wohlbehalten auf dem griechischen Schiff nach Troja gebracht worden; die Situation wäre nie eskaliert. Erst die mit Waffen ausgetragene Auseinandersetzung zwischen Odysseus und Neoptolemos um Lüge und Wahrhaftigkeit macht Philoktet wieder so stark, daß Neoptolemos zur heimtückischen Gewalt greifen muß.265 Objektiv betrachtet war Neoptolemos dabei in einer aporetischen Situation; die Handlung nach der Moral zwingt zur Amoralität. Tragisch wird erst sein Verhalten nach diesem blutigen Initiationserlebnis: In diesem Moment gibt er alle Ideale auf, will nicht nur Mörder des 262 Neoptolemos als die edle Figur im Phi/oktet Mythos hat eine lange Tradition. Lessing: Laokoon 1,4. Werke 5/2, S. 46f. deutet Neoptolemos als Verkörperung der humanistischen Dimension der sophokleischen Philoktet-Tragödie: Sein ,edelmütiger', doch von Odysseus kurzfristig korrumpierter Charakter werde durch das Mideid mit Philoktet „zu seiner Natur wieder zurück [gebracht]. Diese Umkehr ist vortrefflich, und um so viel rührender, da sie von der bloßen Menschlichkeit bewirket wird." 263 Müller: Brief an den Regisseur. Texte 7, S. 105ff. bestätigt diesen Einfluß: Er nutzt dabei die zwei Namen, unter der die Figur des Neoptolemos in der antiken Literatur bekannt ist, die vereinfacht auch eine moralische Differenzierung zuläßt: Als Pyrrhus ist er die negative Figur, zu der er sich nach dem Sieg über Troja entwickelt; vgl. zu den Hintergründen Ziegler (1963). - Müller sieht im Mord an Philoktet den „Abstieg des Neoptolemos (der sich zum Pyrrhus gemausert hat) in den Ruhm des ersten Schlächters vor Troja" einsetzen, wie ihn Vergil im zweiten Buch der Aeneis beim Sturm auf Troja beschreibt. Allerdings kennt sogar die römische Literatur ein positives Neoptolemos/Pyrrhus-Bild, vgl. z.B. Cicero: De oratore 2,156f. - Müllers Vereinfachung zeigt, daß es ihm um das Modell und um Bezugslinien geht, nicht um die philologische Genauigkeit. 264 Sophokles: Philoktet, v. 1440f. - Vgl. zur Interpretation der Stelle Kirkwood (1994), S. 428: „Troy results in moral disaster for Neoptolemos." Deicke (1999), S. 172 und 177ff. erkennt in dem seinen Affekten unterlegenen Neoptolemos in Sophokles' Philoktet den kommenden Kriegsverbrecher. 265 Vgl. auch Clasen (1991), S. 16.

2. Philoktet - ,Der Mensch des Menschen Todfeind'

95

Odysseus sein - eine Möglichkeit, die er bereits in der ersten Szene angedeutet hatte -, sondern ist auch zur Lüge bereit, mit der er den Mord an Odysseus verbergen würde. So wird aus der Philoktet- eine Neoptolemos-Tragödie, die gleichsam auch eine Tragödie der Ideen auf dem Altar der Vernunft ist. Das Interesse eben daran nennt Müller als Motiv für die Beschäftigung mit dem Philoktet-Mythos: „Mich interessierte die Geschichte des Neoptolemos: Durch die Unfähigkeit, in einer bestimmten Situation den notwendigen Schritt zu tun, gerät er in eine Situation, wo er weniger Auswahlmöglichkeiten hat. Weil er nicht lügen will, muß er töten."266 Ganz ähnlich formuliert Odysseus im Drama: Hättst du das Lügen länger ausgehalten. Wasser genug wär unterm Kiel die Meerflut Den Fleck dir abzuwaschen, nicht dein Blut Für deine Wäsche brauchtest du, nicht unsers Und auf dem Weg zur Heilung wär der Kranke. Hätt ich zum Helfer einen Stein gewählt 267 Neoptolemos' anfänglicher Idealismus wird während der Erfahrungen auf Lemnos kontinuierlich korrumpiert. Schon am Ende der ersten Szene ist Neoptolemos überzeugt, daß der Sieg Griechenlands amoralische Mittel rechtfertigt und handelt bereits wie Odysseus gemäß der instrumenteilen Vernunft. Daher ist es nicht möglich, bei Neoptolemos generell zu sagen, der Moralismus führe zur Katastrophe oder sogar, Neoptolemos sei ein idealistischer Terrorist. 268 Er ist er von Anfang an eine Figur mit Grautönen. 269 Symptomatisch dafür ist, zu welch unterschiedlichen Ergebnissen Versuche geführt haben, eine - ohnehin für Müllers Dramen problematische - Bewertung des Neoptolemos in moralischen Kategorien vorzunehmen. 270 266 Gespräch mit Heiner Müller 1966, S. 44. - Ähnlich auch Müller: Rotwelsch, S. 74: „Er tötet, da er unschuldig ist." 267 Müller: Philoktet, S. 318f. 268 Müller: Gl 1, S. 53: „Der Terrorismus - besonders in seiner deutschen Form - ist doch nichts weiter als eine Verlängerung des bürgerlichen Humanismus. In diesem Sinn - etwas pointiert formuliert - ist ein Molotowcocktail das letzte bürgerliche Bildungserlebnis." - Ähnlich auch Genia Schulz (1980), S. 74, an Neoptolemos werde der „Idealismus in den Terrorismus überführt", sowie Lefevre (2000), S. 434. 269 Vgl. Genia Schulz (1980), S. 74 und 82 sowie Preußer (1998), S. 276f. 270 In Schutz nimmt ihn die Auffassung, er sei die intellektuell schwächste der drei Figuren: Mandel (1981), S. 219 bezeichnet ihn als „blunderer", Müller: Nachwort zu Die Perser, S. 79 begründet die Spannweite von Neoptolemos' Handlungen mit seiner Unerfahrenheit. - Allerdings tritt Neoptolemos intelligenter auf als bei Sophokles. Unterlege ist er mehr wegen mangelnder Erfahrung als wegen intellektuellen Defiziten: In der Praxis der „instrumentellen Vernunft" ist Neoptolemos noch nicht geübt genug. - Meist wird Neoptolemos in moralischen Kategorien, dann in der Regel äußerst negativ, beurteilt: Zu kritisch sieht ihn etwa Kraus (1985), S. 325: Die Lüge lehne Neoptolemos nur ab, da sie das Mittel des verhaßten Odysseus sei; ihn bestrafe er, indem er die Intrige scheitern lasse. Dies übergeht jedoch völlig die ethische Problematik. - Eine angesichts der Schlußwendung überraschend positive, wenngleich relative Wertung nehmen Rischbieter (1968), S. 30, Schrade (1981), S. 145 und Lefevre (2000), S. 434f. vor: Neoptolemos sei immerhin besser als die beiden anderen; er werde nur in die Katastrophe hineingezogen.

96

I. Müllers Transformationen des attischen Dramas

Müllers Philoktet ist ein Entwicklungsdrama, in dem ein bis zu seiner Ankunft auf Lemnos jugendlich-naiver Idealist, als er zum ersten Mal mit dem Zwang zu Entscheidungen konfrontiert wird, deren Folgen er vor Augen hat, seine Ideale verliert und zum Pragmatiker wird wie sein vorheriger Antagonist Odysseus: Am Ende der Handlung des Dramas hat der ,Rekrut'271 seine Ausbildungsphase hinter sich, die Erfahrung Blut heilt Wunden gemacht und bestanden. Dabei wird er aber nicht zum zweiten Odysseus; während dieser im Dienst eines größeren Zieles, der Pflicht für Griechenland, handelt, agiert Neoptolemos egoistisch; er ist die absolute Verkörperung subjektiver Vernunft', ein blind der Rache nachtaumelnder Ajax, der allerdings intellektuell und in innerer Überzeugung zu schwach dafür ist. Anders als Philoktet reagiert er auf die Zerstörung seiner früheren Existenz und seine innere Zerrissenheit nicht mit Selbstzerstörung, sondern „das geflickte Selbstbewußtsein"272 ermöglicht ihm weiterzuleben. Die inneren Widersprüche werden im wahrsten Sinn des Wortes gewaltsam überwunden: Ihm gelingt es, die inneren Risse zu kitten und eine neue Identität als gewaltbereiter Pragmatiker anzunehmen. Müller beschreibt dies wie bei Odysseus am Bild der Plastik: „Wenn die Plastik aus dem Leim geht, werden die Fugen mit Blut verschmiert. Blut wird seine zweite Haut sein. Wenn es getrocknet ist, steht das Denkmal. Er verkörpert, im Gegensatz zu dem zerrissenen des Philoktet, das geflickte Selbstbewußtsein, das die Erfahrung der Gewalt in Aggression umsetzt."273

Dabei bildet in Neoptolemos' Biographie „das Kapitel Philoktet [...] den ersten Schritt auf seinem Marsch in die Versteinerung, den ersten Arbeitsgang des Bildhauers, der die Geschichte ist, an der Skulptur, Odysseus der Pragmatiker das Werkzeug."274 Odysseus ist dabei der Lehrer und ,Bildhauer', der aus dem Jugendlichen den erwachsenen Menschen herausbildet. Dabei entsteht nicht der plastische Grieche Hegels, da die Voraussetzung dieser „vollendete [n] Plastik des Göttlichen und Menschlichen"275 durch den Untergang objektiver Ideale nicht mehr existiert. Im Gegenteil bedarf diese Plastik erst ihrer Zerstörung, bis sie durch die Bindekraft des Blutes, dem Ergebnis des UnGöttlichen und Un-Menschlichen, überhaupt Gestalt und Standfestigkeit gewinnt. Das Äußere dieser Skulptur mit ihren Rissen bildet den überwundenen inneren Zustand der Zerrissenheit ab: Allerdings führt dies wie bei Odysseus nur zu Materie, zu Versteinerung und historischer Stagnation. Neoptolemos ist daher kein Denkmal für Ideale. Er ist ein ,Denkmal' im ethischen Sinn als Warnung - im Sinn eines Monuments und dessen etymologischer Beziehung zum lateinischen mens-. Er ist kein Vorbild, sondern Denkimpuls. In der Metapher des Denkmals, das vielleicht die Beliebtheit von Denkmälern wichtiger Figuren der sozialistischen Geschichte, insbesondere auch von Marx und Engels, in 271 Müller: Brief an den Regisseur. Texte 7, S. 105. 272 Ebd. - Die Problematik erklärt schon der Zitatcharakter dieses Satzes, der auf Hegel: Jenaer Schriften. Werke 2, S. 558 zurückgeht: Ein geflickter Strumpf [ist] besser als ein zerrissener; nicht so das Selbstbewußtsein. 273 Ebd., S. 105. 274 Ebd. 275 Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik. Werke 14, S. 374.

2. Philoktet - ,Der Mensch des Menschen Todfeind'

97

kommunistischen Ländern zitiert, wird der Untergang der Ideale ausgedrückt: Von Marx und Engels ist durch den Stalinismus die Idee zertrümmert276 und vom Blut vieler Opfer überdeckt worden. Versuchte man eine zeitkritische Interpretation des Philoktet im Sinn einer Kritik am real existierenden Sozialismus in der DDR, so kann die Entwicklung des Neoptolemos als Metapher der historischen Entwicklung des Marxismus gesehen werden: Die anfänglichen Ideale werden korrumpiert und pervertiert, der Leninismus erlaubt Terror für die Durchsetzung der Revolution - Neoptolemos würde Philoktet zu seinem Glück zwingen -, der Stalinismus perfektioniert den Terror bis hin zur gewaltsamen Eliminierung auch in den eigenen Reihen. Die intertextuellen Bezüge im Philoktet gerade zu Goethes Iphigenie zeigen, daß Müllers Philoktet in der Tradition der Ideendramen steht.277 Er führt diese Gattung allerdings in der Absage an die Gültigkeit wie Funktionstüchtigkeit der Ideen an ihr Ende und ist so eine der radikalsten Anti-Iphigenien, die die deutsche Literatur hervorgebracht hat. Darin aber ist seine Modernität zu sehen; Neoptolemos ist das Modell moralischer Korrumpierbarkeit des Menschen, die sich in der - deutschen - Geschichte des 20. Jahrhunderts oft zeigte. 2.2.8. Mythos als überzeitliches Modell und zeithistorische Metapher Müller nennt seine Transformation „Übersetzung des Sophokles ins Römische, eine staatlichere Version"278 und rückt damit eine politische Interpretation des Geschehens ins Zentrum. Angesichts der unauflösbaren Dialektik aller Figuren und Symbole werden politisch eindeutige Auflösungen und Deutungen, die lange ihre Deutung beherrschten,279 fragwürdig, doch haben ein von Müller geschriebener Prolog und Aussagen aus dem Jahr 1966280 das Drama als Modell der kapitalistischen, amoralischen und unmenschlichen Gesellschaft des Klassenantagonismus erscheinen lassen: Die mythische Szenerie wird im Prolog als Ausschnitt einer Welt erklärt, die zwar nicht als

276 Vgl. auch das Bild des Denkmalsturzes von Marx, Lenin und Mao am Ende des vierten Bilds der Hamletmaschine-. Werke 4, S. 553, dort ein Bild resignierter Absage an den Kommunismus und historischen Rückschrittes in die Eiszeit der Menschheit. 277 Vgl. Genia Schulz (1980), S. 15, Peters (1993), S. 197 sowie Frick (1999), S. 100. 278 Müller: Krieg ohne Schlacht, S. 321. 279 Als Kritik am Kapitalismus deuten das Stück Mittenzwei (1965), S. 950, Kraus (1985), S. 334, Trilse (1979), S. 90 und Bernhardt (1978), S. 66; Profitlich (1980) wie Riedel (1984), S. 73f. erkennen auf Lemnos ein Abbild der Klassengesellschaft. Mandel (1981), S. 220 erkennt im über das Schicksal siegreichen Odysseus politisch wie geschichtsphilosophisch einen „excellent Marxist". - Einen Angriff auf Mißstände innerhalb des Kommunismus, seine Widersprüche und seine Stagnation, sehen Rischbieter (1968), S. 30, Schivelbusch (1974), S. 147, Genia Schulz (1980), S. 71, Clasen (1991), S. 22 und Janke (2002), S. 370ff. 280 Gespräch mit Heiner Müller, S. 47: „Philoktet behandelt Ereignisse aus der Vorgeschichte der Menschheit, die in großen Teilen der Welt noch geschieht". Ebenso Müller: Drei Punkte zu Philoktet. Texte 6, S. 72f.: „Das Philoktet-Modell wird bestimmt von der Klassenstruktur der abgebildeten Gesellschaft (die Armee als Funktion des Feldherrn [...]) und von der Eigentumsform (die Waffen, als Privatbesitz, sind Handlungselemente, keine Requisiten)."

98

I. Müllers Transformationen des attischen Dramas

Gegenteil der Gegenwart bezeichnet wird, aber doch als ein angeblich nicht mehr existenter, der Vorgeschichte281 angehörender Zustand: [...] aus der heutigen Zeit Führt unser Spiel in die Vergangenheit Als noch der Mensch des Menschen Todfeind war Das Schlachten gewöhnlich, das Leben eine Gefahr. 282

Deutete man in marxistischer Interpretation die Gegenwart als Zeit der „Geschichte", die mit der sozialistischen Revolution begonnen und in der mit Aufhebung der Klassengegensätze auch die Gewalt ein Ende gefunden habe,283 schränkte sich die sinnvolle, da noch wirksame Rezipierbarkeit von Müllers Transformation auf kapitalistische Systeme ein. Für die sozialistische Gesellschaft, die die Revolution bereits vollbracht hat, kann das Drama höchstens eine kathartische Warnung vor einer neuen Konterrevolution sein. Im Text selbst ist allerdings kein weiterer Hinweis auf diese historische Situierung oder ein Verweis auf den Klassenkampf festzustellen. Die Figuren sind keinesfalls, oder nicht mehr als bei Sophokles, dominiert von „Feudalstrukturen und konkurrierenden Eigentumsansprüchen"284. Von ihrer gesellschaftlichen Position her sind alle drei Protagonisten Fürsten, deren Truppen vor Troja im Feld stehen. Der Grund des Konfliktes liegt nicht in Macht- oder Besitzstrukturen, sondern in den Kategorien menschlicher Vernunft, jenseits politischer Systeme und Ideologien. Hätte Müller beabsichtigt, einen Klassengegensatz zu thematisieren, hätte er kaum auf die Vertreter der bei Sophokles als Chor auftretenden Masse verzichtet. Die Überlegung, daß Müller mit seiner frühen Positionierung seines Dramas als Kritik am Kapitalismus von der auf die DDR bezogenen kritischen Dimension seines Dramas ablenken wollte, ist später von ihm auch bestätigt worden: 1981 bezeichnet er die im Philoktet gezeigte Konstellation als ,Modell für Stalinismus'285, 1992 nennt er den Bezug auf die Vorgeschichte „Unsinn"286, 1994 schließlich seine Aussagen über Philoktet aus dem Jahr 1966 eine strategische „Lüge", um nicht weiter mit den Behörden der DDR in Konflikt zu geraten. Das Aufführungsverbot in der DDR bis 1977 zeigt, daß auch die Zensur der DDR das Stück

281 Zum Begriff der Vorgeschichte im Marxismus vgl. Karl Marx: Zur Kritik der politischen Ökonomie. MEW 13, S. 9. - Das Altertum bezeichnet auch Brecht als barbarisches Zeitalter und Vorgeschichte (Das Altertum. Kalendergeschichte. Werke 18, S. 443). 282 Müller: Philoktet, S. 291. 283 Leistner (1978), S. 43 erkennt sie im Philoktet, der sich gegen die Gemeinschaft stellt, Schrade (1981), S. 145 allgemein in den unmenschlichen Aspekten, die Müller teils noch Sophokles hinzugefügt habe. 284 Kraus (1985), S. 324. - Die homerische Gesellschaft ist eine auf Ehre basierende Adelsgeseüschaft; Ehre aber wird erworben durch äußere Zeichen: Besitz, Kriegsruhm etc., vgl. Effe (1988). 285 Müller: Walls/Mauern (Rotwelsch), S. 39: „Aber in den frühen sechziger Jahren konnte man kein Stück über den Stalinismus schreiben. Man brauchte diese Art von Modell, wenn man die wirklichen Fragen stellen wollte." 286 Müller: Gl 3, S. 160.

2. Philoktet - ,Der Mensch des Menschen Todfeind'

99

als Kritik am real existierenden Sozialismus verstanden hat. 287 Zudem weist darauf die Begründung des radikal von Sophokles abweichenden Schlusses hin, den Müller mit seiner Isolation in den sechziger Jahren erklärt: „Vorher hatte ich an einen ganz anderen Verlauf, an einen ganz anderen Schluß gedacht. Es war jetzt eine gute Zeit, das zu schreiben, denn jetzt konnte ich mich da gut einfühlen." 288 In Krieg ohne Schlacht beschreibt er diese Zeit in Bildern, die an den Philoktet-Mythos erinnern und die Identifikation Müllers mit Philoktet nahelegen, der damit zur Metapher des regimekritischen Intellektuellen wird, der Opfer einer übermächtigen wie das Individuum nicht achtenden Staatsgewalt ist. 289 Zugleich lehnt Müller einseitige Interpretationen ab und betrachtet seine Philoktet-Tragödie als Modell in sehr allgemeinem Sinn. Deutungen, das Stück problematisiere den Stalinismus oder innerkommunistische Konflikte, etwa, daß Philoktet eine Metapher für Trotzki sei, der Stalin/Odysseus unterliege, 290 lehnt er nicht kategorisch ab, weist aber auf den weit größeren Gehalt des Stoffes hin. 291 In einem geopolitischen Kontext wird, weniger spezifisch, im Brief an den Regisseur schließlich eine Deutung des Philoktet als Symbol für die Opfer von Unterdrückung der dritten Welt in der durch Odysseus symbolisierten ersten Welt angeboten. 292 Polarisierende Interpretationen des Philoktet greifen also stets zu kurz. Dabei hatte bereits Rischbieter in seiner Besprechung der Münchner Uraufführung 1968 die umfassende Dimension von Müllers Philoktet-Transformation erkannt. 293 Gezeigt werden Machtstrukturen und anthropologische Konstanten, das heißt, die .mythische Metapher' ist vielfältig auflösbar.

287 Müller: Krieg ohne Schlacht, S. 197f.: „Die einzigen, die das Gespräch ernst genommen haben, waren wohl die West-Germanisten. Für DDR-Leser war klar, daß ich da lüge, daß es nur um die Möglichkeit ging, „Bau" aufzuführen." 288 Ebd., S. 247. 289 Ebd., S. 187. 290 Auch für Sophokles' Philoktet gibt es Versuche, hinter den Figuren Personen der Zeitgeschichte zu sehen, vor allem Züge des Alkibiades werden entweder in Philoktet oder in allen drei Figuren erkannt. Vgl. dazu im Überblick Jameson (1956) sowie Davidson (2001), S. 39 Anm. 39. 291 Müller: Krieg ohne Schlacht, S. 190. 292 Müller: Brief an den Regisseur. Texte 7, S. 104. - Auch an dieser Stelle ist durch den Hinweis auf die Sirenen Horkheimer/Adornos Dialektik der Aufklärung zitiert: Ausgehend von der Beobachtung der Reaktion von Indios in Yukatan auf eine Beatband, die den ,Kulturimperialismus' des Westens symbolisiere, konstatiert Müller: Sie „hören zwei Stunden lang mit steinernen Gesichtern und ohne einen Muskel zu bewegen der Sirenenmusik ihrer Feinde zu. Sie brauchen sich nicht an den Mast binden zu lassen [...] wie Odysseus, der Europäer [...]. Seit Kolumbus essen sie den Tod. [...] Das neue Rom heißt USA, Che Guevara ist das Kreuz des Südens." 293 Rischbieter (1968), S. 30: „Erinnert der [...] Kampf zwischen diesen drei Männern nicht an den Machtkampf innerhalb von Führungskadern, in Politbüros und Zentralkomitees, aber auch in Vorstandsgremien, Aufsichtsräten und Parteivorständen? Wer schießt wen ab, wer denunziert wen, wer paktiert kurzfristig mit wem? Wie schnell geht der Idealismus der Jungen zum Teufel, wie schnell lassen sie sich vom bedenkenlosen Pragmatismus korrumpieren?"

100

I. Mullers Transformarionen des attischen Dramas

Stets werden dabei, in derselben Intention wie in der Dialektik der Aufklärung, die Wurzeln des barbarischen Schreckens und der Zerstörung der Welt freigelegt.294 Daraus gibt es keinerlei Ausweg: Goethes Iphigenie zeigt die Überwindung des Schreckens durch die Offenheit Iphigenies und ihr Vertrauen auf die Humanität; Müllers Philoktet entlarvt dies als naive Illusion, die .Änderung des Modells' erscheint als unmöglich. Einzig die formale Gestaltung im Blankvers birgt noch einen Rest utopischen Potentials: 1986 weist Müller dieser ästhetischen Komponente diese Möglichkeit zu, die inhaltlich wegen der gesellschaftlichen und politischen Realität nicht mehr darstellbar sei.295

2.2.9. Die Parodie im Philoktet 1979 Mit dem Philoktet 1979 entwirft Müller die dritte Transformation des Philoktet-Mythos, ein hochironisches ,Drama mit Ballett' und eher ein Satyrspiel 296 in dem er sich von der Interpretation wie vom Lehrstückcharakter des früheren Dramas distanziert. In der Kontamination mythischer297 und historischer Texte und Ereignisse, der ironischen Brechung des Lehrstückcharakters mit Zitaten Brechts und der Alten Komödie sowie auch der Rollen der drei Protagonisten entsteht eine Parodie des Mythos. Explizit wird die Leere der Insel, im vorausgehenden Drama Voraussetzung für die Fabel, als Falschmeldung des Sophokles bezeichnet. Auf Lemnos herrscht ein Matriarchat, das sich allerdings nicht als Alternative zum griechischen Patriarchat erweist: Auch hier existieren, wenngleich primitive, Produktion und Ausbeutung, die allerdings eine sehr spezielle, satirische Ausprägung erfahren: War im Drama die Einsamkeit des Philoktet ein zentrales Motiv seines Leidens, so quält ihn nun die .Zuneigung' der Lemnierinnen, die den einzigen Mann zum Sexual- und Fortpflanzungsobjekt der Frau reduziert

294 Vgl. Müller: Brief an den Regisseur. Texte 7, S. 110: „Die Spirale der Geschichte ruiniert die Zentren, indem sie sich durch die Randzonen mahlt. In dieser Gangart, die sich aus dem Blickpunkt einer Generation der Sinngebung entzieht, liegt der Zweifel am Fortschritt begründet. Er ist existentiell, solange die Menschheit Gattungsbewußtsein, dessen Voraussetzung die Möglichkeit von Universalgeschichte, nicht neu entwickelt hat. Sein Verlust war der Preis, der für den Auszug aus der Tierwelt gezahlt werden mußte. Der Weg zurück ist Indianerromantik, der moderne Versuch, den Gang der Spirale in eine Kreisbahn abzubiegen, zielt auf die Zerstörung des Planeten." 295 Müller: G l 1, S. 180: „Das utopische Moment liegt in der Form, auch in der Eleganz der Form, der Schönheit der Form und nicht im Inhalt." 296 Erstdruck in DIE ZEIT, 29.12.1978; eine Aufführung gab es nie. Wieder gedruckt in: Müller: Werke 5, S. 9f. - Zum Charakter als Satyrspiel vgl. auch Barnett (2002), S. 51. 297 Explizit ist betont, daß Lemnos bewohnt und die Leere der Insel eine Falschmeldung des Sophokles sei. Zudem wird der Schauplatz Lemnos zur Kontamination mit dem HypispyleMythos aus der Argonautensage (vgl. Apollonios von Rhodos: Argonautica 1,609f£)genutzt: A u f der Fahrt nach Kolchis landen die Argonauten auf Lemnos, w o nach der Ermordung aller Männer ein Amazonenstaat unter Herrschaft Hypsipyles besteht. Den mythischen Anachronismus - die Argonautenfahrt ereignet sich eine Generation vor dem trojanischen Krieg - vermeidet Müller, indem er auf die namentliche Nennung der Bewohnerinnen der Insel verzichtet und sie zu anonymen Nachkommen Hypsipyles macht.

2. Philoktet - ,Der Mensch des Menschen Todfeind'

101

haben.298 So wird er mehr und mehr geschwächt, seinem Zustand in der dramatischen Fassung der sechziger Jahre folgend, einem Tier gleich: Zuerst geht er noch aufrecht, dann auf Händen und Knien, dann auf dem Bauch, %ulet%t auf dem Zahnfleisch. Anders als die von Müllers Medea-Figuren inszenierten Ausbruchsversuche endet Philoktets Arbeitskampf weniger destruktiv in einem politische Prozesse karikierenden Kompromiß: Er kann einige Feiertage durchsetzen; ein Ende der Ausbeutung wäre aber nur im Selbstmord zu erreichen, der im Drama angedrohte Sprung in die Tiefe von den Klippen.299 Doch als er es in seiner Erschöpfung nach zehn Jahren beinahe schafft, bis an den Rand der Klippen zu kriechen, tauchen Odysseus und Neoptolemos auf: Nach wie vor gilt das Gesetz des mythischen Prätextes, daß Philoktet für den Fall Trojas notwendig ist. In einer ironischen Verkehrung des Mythos verfallen die beiden ausgehungerten Frontsoldaten aber den Frauen und ersetzen in ihrer Lust Philoktet, der in dieser Persiflage Lemnos liebend gerne verlassen würde, jedoch kein Gehör findet: Es gelingt ihm lediglich, Odysseus und Neoptolemos von der Gründung einer Männergewerkschaft zu überzeugen. In einer Parodie des Lehrstücks ist diese gesellschaftliche Entwicklung in einer Parabase über aktuelle Gewerkschaftsfragen diskutiert: Die Rolle des Chores in der Alten Komödie, der in Unterbrechung der dramatischen Handlung sich direkt an die Zuschauer wendet, übernehmen hier die drei Hauptfiguren. Wie in der griechischen Komödie stellt die Parabase einen Exkurs dar, der allerdings hier interaktiv ist: Die Darsteller sollen auf Zurufe des Publikums eingehen und so die gewerkschaftliche Mitbestimmung darstellen. Die offizielle Verabschiedung des Lehrstück erfolgte bereits bei der Beschreibung der Produktionsprozesse, da in einer dramaturgischen Fußnote in ironischem Bezug zu Brechts Pädagogik und ihrer didaktisch motivierten Integration des Publikums vorgeschlagen wird: „Die Verwendung von Strickmaschinen ist möglich, wenn dem Publikum ermöglicht wird, ihre Funktionsweise einzusehen (Kleine Pädagogik) bzw. technische Verbesserungen an ihnen vorzunehmen (Große Pädagogik)." In der Folge verschieben sich die Zeitebenen: Vermeintliche barbarische VorGeschichte und Geschichte verlaufen parallel und werden auf der Textebene durch den dekonstruktivistischen Zitatcharakter von der mythischen „Vor-Geschichte" bis in die Gegenwart 1979 unterstützt: In einer anachronistischen Einblendung landet ein Hubschrauber der Bundeswehr mit dem Archäologen Heinrich Schliemann an Bord auf der Insel. Schliemann als einer der Gründerväter der Archäologie, vor allem als der Forscher, dem es gelang, auf der Basis der Mythen der I/ias die historische Stadtanlage Trojas nachzuweisen und gleichsam den Mythos in die Geschichte zu überführen, sucht sein noch nicht existentes Forschungsobjekt und wird zum vielschichten Symbol der Wissenschaft, des Kapitalismus sowie des Kolonialismus. In der Haltung eines Soldaten, den Spaten als Kriegswaffe wie ein Gewehr geschultert, wartet er den bekannten historischen Verlauf ab. Im Zeitraffer vergehen Jahre dieser Stagnation, in denen jeweils einmal eine Sphinx, wie ein Flugzeug, mit einem Spruchband durchs Bild reitet, auf dem 298 Müller: Philoktet 1979, S. 9: Die Frauen essen Straußeneier und würfeln um Philoktet, der schon sehr geschwächt wirkt. Die Frau mit dem höchsten Wurf schleppt ihn in eine Höhle. Die andern stopfen oder stricken Socken für den kranken Fuß des Philoktet. 299 Müller: Philoktet, S. 315: [...] und frei geh ich / Vom obem Stein dem untern zugeworfen / Durch eigenes Gewicht nach eignem Willen

102

I. Müllers Transformarionen des attischen Dramas

Francis Bacons ,Wissen ist Macht' zitiert ist. Vor dieser Sphinx präsentiert Schliemann jedesmal seinen Spaten, doch ist er keine Ödipus-Figur: Ihm gelingt es nicht, eine Zeitenwende einzuleiten. Die Geschichte stagniert im doppelten Sinn: Gesellschaftlich bleibt der Zustand der Ausbeutung, historisch wird das Ende des trojanischen Krieges aufgehalten.300 Erst der tragische Schluß schafft Veränderung: Eine Neutronenbombe beschleunigt das Geschehen und führt zugleich die Fabel wie die Geschichte an ihr Ende. Die Verbindung des Philoktet-Mythos mit der Archäologie kommentiert Müller 1983 im Brief an den Regisseur teils mit Motiven aus Philoktet 1979-. „Konsequenz der Archäologie und das vorläufige Finalprodukt des Humanismus, als der Emanzipation des Menschen vom Naturzusammenhang, ist die Neutronenbombe" , das Ende der siebziger Jahre aktuellste wie zerstörungsmächtigste Produkt naturwissenschaftlicher Aufklärung. Die Neutronenbombe überführt den Mythos zur Geschichte, andererseits aber eliminiert sie das historische Ergebnis durch ihre gewaltige Zerstörungskraft. Die Anwendung der Bombe und die Endlösung selbst fehlen im Philoktet 1979. Nur wertender Kommentar, der zugleich in den Attributen die Historisierung hin zu Objekten der Mnemosyne bewirkt, doch nicht Handlungsanweisung sind die Sätze: Er verwandelt das Publikum in einen Sachwert, die Szene in eine Exponat, das Theater in ein Museum, sich selbst in ein Denkmal, ebenso wie die Attribute zur Neutronenbombe: Traumwaffe der Archäologie, das Finalprodukt des Humanismus.

In seiner Überschreitung der Grenze zwischen Bühne und Theaterraum arbeitet dieser Schluß wieder ironisch mit den Mitteln der Großen Pädagogik Brechts; allerdings sind die Zuschauer nur mehr Objekte der Bühnenhandlung. Das Lehrstück ist damit konsequent zu Ende geführt, es gibt schon physisch kein Publikum mehr. Das „Erdbeben", das Müller 1977 im Brief an Steinweg noch erhofft, um eine neue Möglichkeit für das Lehrstück zu gewinnen, wird in der Neutronenbombe mit der Eliminierung des Publikums übersteigert und mit ihr jede Möglichkeit eines zukünftigen Lehrstückes ausgelöscht. In Bezug auf die vorangegangenen Transformationen des Philoktet-Mythos ist Philoktet 1979 damit einerseits voller Selbstironie, zugleich aber von tiefem Pessimismus gezeichnet: Obwohl das Modell grundlegend geändert scheint, da die Figuren ihre Ziele gerade vertauscht haben, bleibt nur die finale Zerstörung.

300 Noch radikaler formuliert Müller 1985 (Gl 1, S. 158f.): „Krieg oder Frieden schließt die Gefahr des Endes der Geschichte ein. Weil diese Situation, wo Krieg für Großmächte nur noch denkbar erscheint als nuklearer Krieg, die Gefahr einschließt, daß die Ideologien ausgehöhlt, die Utopien "gegessen" werden. Das Grundgesetz von der Ungleichzeitigkeit der Entwicklung wird festgeschrieben [...]. Geschichte wird einfach angehalten für den Frieden. [...] Bloße Verhinderung des Krieges wird Verhinderung von Geschichte, Verhinderung von Fortschritt - das ist die Gefahr, die ich sehe."

3. Ödipus - die Tragödie des Wissens und der Macht

103

3. Ödipus - die Tragödie des Wissens und der Macht Der Mythos von Ödipus ist im 20. Jahrhundert zu einem der meistinterpretierten griechischen Mythen geworden: Freud, Lévi-Strauss und Girard geben dabei eher Deutungsansätze zum Ödipus-Mythos als zur Tragödie des Sophokles, von deren Text sie sich teils weit entfernen.1 Auch aus literaturwissenschaftlicher Sicht sind für die Tradition der Deutung des Oidipus Tyrannos von Sophokles divergierende Sichtweisen festzustellen. Die Problematik beginnt schon mit der Frage nach dem Thema: Stehen im Zentrum des Geschehens der Vatermord, der noch vor der Dramenhandlung stattfand, und der Inzest mit der Mutter, und ist somit die dramatische Handlung „tragische Analysis"2, in der nur mehr alles vorher Geschehene aufgerollt wird, oder kann auch noch während der Handlung des Dramas ein .tragischer' Moment im herkömmlichen Sinn stattfinden? Umstritten ist auch die Schuldfrage: Ist Ödipus vom Schicksal determiniert, oder besitzt er Handlungsfreiheit, und gilt dies nur für die Vorgeschichte oder auch für die dramatische Handlung?3 Müller schreibt seine Transformation des Odipus Tyrann 1966 auf Anregung von Benno Besson, der plante, die Tragödie des Sophokles am Deutschen Theater Berlin zu inszenieren. Wohl weil das Drama nur eine Adaption eines klassischen Textes zu sein scheint, konnte es trotz der schwierigen Situation Müllers seit der Affäre um die Umsiedlerin ohne Probleme 1967 in der DDR zur Uraufführung kommen.4 Aufgrund der im Titel genannten Prätexte ist der Charakter als eigenständiges Werk auch von der Literaturwissenschaft nicht immer erkannt worden.5 Mit der Nennung von zwei Prätexten, der Tragödie des Sophokles und ihrer Übersetzung von Hölderlin, ist die doppelte Palimpseststruktur des Textes offensichtlich. Die Gewichtung dieser beiden Prätexte für die Interpretation von Müllers Transformation ist allerdings umstritten. Der Blick von der Griechischen Philologie her, etwa durch Riedel und Flashar, sieht in Sophokles' Tragödie den wesentlichen Prätext, dagegen stellt Ostheimer Hölderlins Transformation in den Vordergrund.6 Da Müller, wie sich nachweisen läßt, mehrfach über Hölderlin auf den Text des Sophokles zurückgeht, muß eine Analyse von Müllers

1

2 3 4

5

6

Freud: Trauminterpretation. Studienausgabe 2, S. 266f. - Lévi-Strauss: Strukturale Anthropologie, S. 235ff. - Girard (1987), S. 104. Sehr kritisch zu Girards Deutung steht Griffith (1993), S. 96-99, der auch einen knappen Überblick zur Deutungsgeschichte des Stoffes im 20. Jahrhundert bietet. Schiller: An Goethe 2.10.1797. NA 29, S. 141. Vgl. zu einem historischen Überblick zur Interpretationsgeschichte Flaig (1998), S. 17-20. Die Uraufführung erfolgt am 31. Januar 1967 am Deutschen Theater in der Inszenierung Bessons, zur Erstaufführung im Westen kommt es am 19. November 1967 in Bochum in der Inszenierung von Hans-Joachim Heyse. Die Werkausgabe des Suhrkamp-Verlages ordnet es nicht unter die ,Dramen', sondern die .Bearbeitungen' (Werke 6) ein; so auch Ebrecht (2001), S. 26 und Bernhardt (1978), S. 159. Durch Odipuskommentar legt Müller allerdings eine bestimmte Lesart des Mythos vor, die zumindest die Überprüfung fordert, ob Müller nicht doch eigene Akzente in der Transformation des Dramas setzt. Das eigene Kapitel, das Genia Schulz (1980), Wieghaus (1984), Riedel (1984), Suàrez Sänchez (1998) und Ostheimer (2002) dem Odipus Tyrannos widmen, stützen dies. Riedel (1984), S. 37 hatte Müllers Ödipus nur mit Sophokles verglichen. Flashar (1988), S. 311 schränkt Hölderlins Bedeutung ein. Dagegen sieht Ostheimer (2002), S. 37 in „Hölderlins Text die Folie" von Müllers Bearbeitung, in „Hölderlins Lesart des Odipus das Vorverständnis" gegeben.

104

I. Müllers Transformationen des attischen Dramas

Transformation aber beide Prätexte berücksichtigen; die Konzentration auf nur einen Prätext wird Müllers Drama nicht gerecht. Durch die Wahl der Hölderünschen Übersetzung als Mitder des griechischen Textes entsteht sogar ein dreifacher Palimpsest, in Anlehnung an Genette gleichsam eine „littérature au quatrième degré", da durch die Methodik zusätzlich eine Referenz auf Brechts Antigone erfolgt, wo gleichfalls Hölderlins Übertragung als vermittelnder Text diente. Auch der Odipuskommentar als geplanter Prolog des Dramas hat eine Parallele bei Brecht in dessen hexametrischer Antigonelegende-, die Gestaltung der ersten Buchausgabe von Müllers Ödipus Tyrann im Aufbau-Verlag erinnert mit ihren Materialien an Brechts Antigone-Modell 1948. Zu erwarten ist damit eine Übersetzung des sophokleischen Textes, geprägt von Hölderlins Übertragung, die aber wie Brechts Antigone-Transformation keinen philologischen Interessen dient, sondern die Tragödie für den Zuschauer des 20. Jahrhunderts rezipierbar macht, zugleich aber auch Eingriffe im Sinn der Brechtschen Durchrationalisierung zeigt und eine eigene Lesart akzentuiert.

3.1. Odipuskommentar als Hypothesis Im Odipuskommentar, gedacht als Prolog zum Ödipus Tyrann1 im Stil einer antiken Hypothesis und auch ähnlich Brechts Antigonelegende wie dem Prolog %ur Antigone,8 gibt Müller in 43 Hexametern eine kurze Zusammenfassung, aber auch eine Interpretation des Ödipus-Mythos. Dabei weist der Text eine deutliche Zweiteilung auf. Im Zentrum des ersten Teiles steht Lajos, der Vater des Ödipus. Ausgangspunkt ist der Orakelspruch, in dem Lajos verkündet wird, sein Sohn werde gehen über ihn. Dennoch zeugt Lajos einen Sohn, doch die in Erinnerung an das Orakel unternommene Maßnahme, das Kind mit durchbohrten Füßen auszusetzen, scheitert am Mitleid des damit beauftragten Dieners: Er vertraut das Kind einem Hirten an, bei dem es in der Fremde aufwächst. Der durchbohrte Fuß ist zwar eine Behinderung, wird aber zum identitätsstiftenden Merkmal, das ihm seinen Namen ,Schwell(oid)-(i)-Fuß(pous)'9 nach seinem ihm charakterisierenden Gang verleiht, wie es in dem Gedicht heißt: ,Keiner hat meinen Gang', sein Makel sein Name. Wie für Philoktet gewinnt der verwundete Fuß eine dialektische Bedeutung: Er ist Makel und Hindernis, allerdings konstituiert er auch Individualität und Identität. Das Schicksal des Lajos und des Ödipus, da es einmal in Gang gesetzt ist, nimmt in der Folge unentrinnbar den vom Orakel prophezeiten Lauf. Es herrscht scheinbar das fatalistische Weltbild des Mythos: seinen Gang ging das Schicksal außaltsam / Jeder Schritt,

7

8 9

Vgl. Hauschild (2001), S. 259. - Der Text wurde allerdings schon ein Jahr vor dem Ödipus Tyrann in der Bundesrepublik in Kursbuch 7 (1966), S. 52f. veröffentlicht. Im weiteren wird zitiert nach Müller: Werke 1, S. 157f. Durch das gemeinsame Metrum ist die Nähe von Odipuskommentar zu Brechts Antigonelegende größer als zum Prolog der Antigone. Vgl. zu den Erklärungsversuchen des Namens Ahl (1991), S. 26.

3. Ödipus - die Tragödie des Wissens und der Macht

105

unaufhaltsam der nächste, ein Schritt ging den andern.10 Der erste Schritt wäre allerdings explizit immer noch aupaltsam gewesen; dies nimmt den Fatalitätsansatz sofort wieder zurück. Auf diesen ersten Schritt folgen Verkettungen unglücklicher Ereignisse, die allerdings mit dem ersten Schritt in einem konsequenten Zusammenhang stehen. Die Verantwortung für den jeweiligen Schritt liegt damit beim autonom verstandenen Individuum. Der zweite Teil des Gedichts ab Vers 15 erzählt die Geschichte des Ödipus. Diese beginnt damit, daß er das Rätsel der Sphinx von Theben löst, was in einen Kausalnexus zu dem verletzten Fuß gesetzt wird: weil Flucht vom verkrüppelten Fuß ihm versagt war, war Ödipus gezwungen, das Rätsel der Sphinx zu lösen, um sein Leben zu retten. Erneut erweist sich die Verletzung als dialektisch: Aus der Not der Behinderung erwächst der Vorteil, den Verstand entdecken zu müssen.11 Dies macht Ödipus zum Menschen einer neuen Zeit, während die Sphinx als Symbol der alten, menschenvernichtenden Barbarei von Ödipus überwunden ist.12 An die Stelle physischer Stärke tritt geistige Kraft und ein Zeitalter der Aufklärung scheint begonnen zu haben. Noch in einer weiteren Hinsicht verkörpert Ödipus den Beginn eines neuen Zeitalters: Sein Sieg über die Sphinx bedeutet die Rettung des von dem Fabelwesen bedrohten Theben. Dies setzt ihn unwissend, da weder er um seine wahre Herkunft weiß noch in Theben ihn jemand als den Sohn des alten Herrschers erkennt oder erkennen will, an seine Stelle in der genealogischen Herrschaftsordnung Thebens, nachdem kurz zuvor der König Lajos von einem unbekannten Täter getötet worden war. Ist dem Rezipienten der Mythos bekannt, ist klar: Ödipus ist der Mörder des Lajos. Zunächst aber wird er in Theben Tyrann durch Verdienst: Nicht die archaischen Prinzipien der Genealogie oder Gewalt, sondern eine dem Gemeinwohl dienende Verstandesleistung konstituiert seine Macht und begründet auch politisch eine neue Zeit. Dies führt in eine Phase des Glücks, deren Ende allerdings bereits durch den unbewußten Inzest angekündigt ist: Jahrlang in glücklicher Stadt drauf / Pflügte das Bett, in dem er gepflanzt war, der Glückbringer glücklich. Daß der Mensch [...] die Lösung des Rätsels der Sphinx war, bedeutet ausdrücklich die Absage an die Macht des Schicksals: In Anlehnung an Brechts Rationalisierung in der Antigone ist auch hier das Schicksal des Menschen der Mensch selber.13 Gerade daraus erwächst das Scheitern des Ödipus: Obgleich er die Lösung abstrakter Rätsel kennt, ist er unbekannt mit sich selber.; seine wahre Abkunft als Sohn des Lajos und seiner Frau kennt er nicht, ja ist sich dieses Mangels nicht einmal bewußt. Der Inzest ist damit tragische Schuld,14 die aber über Jahre hin ohne Folgen bleibt. Dann aber bricht in Theben die Pest aus. Mit ihr zerbricht die bislang unter Ödipus' Herrschaft währende Ordnung. Im 25. Vers kommt Ödipuskommentar an den Punkt, an 10

11 12 13 14

Zitiert ist der Orakelspruch bei Euripides: Phoenissen v. 19f. - Zu dem Problem der Determinierung des Menschen in Folge eines Orakels, das schon die Antike kennt (etwa Boethius: Consolatio philosophiae 5,6,15-48) vgl. Dodds (1966), der konkret am Oidipus Tyrannos zeigt, daß göttliches Vorwissen und menschliche Handlungsfreiheit sich nicht ausschließen; vgl. dazu aus jüngerer Zeit allgemein auch Arbogast Schmitt (1997), speziell zum Oidipus Manuwald (1992), S. 5 ff. Hier gleicht er dem Herakles in Müllers wenige Jahre zuvor entstandenem Herakles 5, der ebenfalls seinen Verstand einsetzt, da es keine körperliche Lösung gibt. Eine neue Lesart des Mythos; vgl. auch Wieghaus (1984), S. 130f. Brecht: Anmerkungen zur Bearbeitung. Werke 24, S. 350f. Vgl. dazu auch S. 120f.

106

I. Müllers Transformationen des attischen Dramas

dem die Ödipus Tyrann-Tragödie einsetzt: Ödipus steht unter den Thebanern und soll das neue Rätsel lösen. Worin es besteht, bleibt mehrdeutig; angesichts des bisherigen Berichts ist die Ursache der Pest oder die eigene Identität denkbar, nicht aber - anders als in der Tragödie Ödipus Tyrann - die Aufklärung des Todes des Lajos. Diese Blutschuld, durch die Ödipus' Herrschaft von Anfang an unbewußt unter dem gleichen Schatten der Tyrannis steht wie die der vorherigen Herrscher, ist nicht genannt. Dem entsprechen auch weitere Eingriffe in die Darstellung des Geschehens: Die Warnung des delphischen Orakels an Lajos ist einer von zwei Orakelsprüchen, die in Ödipuskommentar berichtet werden. Anders als in der Tragödie Ödipus Tyrann warnt aber kein Orakel Ödipus vor Vatermord und Inzest, was in der Vorgeschichte der Tragödie dazu führte, daß er Korinth, den Ort seiner Kindheit, verließ. Auch angesichts der Pest fordert kein Orakel Ödipus zu einer kriminalistischen Untersuchung wie in der Tragödie auf; die Priester in Delphi scheinen sogleich Ödipus als den für das Unheil Verantwortlichen zu benennen, da Ödipus nur an der Wahrheit des Spruches zweifelt. Seine Fragen gelten daher nicht der Suche nach Wahrheit, sondern der Gültigkeit der Antworten: Stimmt, was der nach Delphi gesandte Bote von dort mitteilt? Stimmt, was der blinde Seher sagt, daß Ödipus schuld sei? Die Namen der beiden sind im Ödipuskommentar so wenig genannt wie der Mord an Lajos. Die Konzentration gilt ganz Ödipus und dessen Umgang mit der Wahrheit. Anders als im Ödipus-Dtama. fehlt im Ödipuskommentar auch das im Zug der Untersuchung immer tyrannischer werdende Verhalten des Ödipus. Damit ist die politische Komponente ausgespart, die in Müllers Deutung des Dramas wesentlich sein wird. Als Ödipus das Netz der Fragen als Falle gegen sich selbst erkennt und begreift, daß er gleichsam sich selbst und damit die Erkenntnis seiner eigenen Identität,gefangen hat', hat er sich gewissermaßen selbst eingeholt und überholt. Die vermeintliche historische Zäsur mit dem Beginn seiner Herrschaft hat sich als trügerisch erwiesen und es kommt zum historischen Zirkelschluß: Und sein Grund ist sein Gipfel: er hat die Zeit überrundet / In den Zirkel genommen, ,ich und kein Ende', sich selber. Daraus zieht Ödipus die Konsequenz, sich von dieser Welt abzuwenden: in den Augenhöhlen begräbt er die Welt. Die Blendung ist ein Rückzug ins Innere; die Welt existiert nur mehr in Gedanken, er ist sich und der Welt zum Grab geworden: So lebt er, sein Grab, und kaut seine Toten. Ödipuskommentar kann daher als das an einer Person vorgeführte Modell historischer Stagnation verstanden werden. Ein abschließender Kommentar im Stil eines ,Fabula docet' erklärt den Mythos von Ödipus zum Beispiel, zum Modell und zur Warnung vor der Überschätzung des Verstandes und zum Appell an das delphische ,Erkenne dich selbst': Seht sein Beispiel, der aus blutigen Startlöchern aufbricht In der Freiheit des Menschen zwischen den Zähnen des Menschen Auf zu wenigen Füßen, mit Händen zu wenig den Raum greift.

Der Beginn aus blutigen Startlöchern besitzt Mehrdeutigkeit. Der Ödipuskommentar übergeht den Vatermord und deutet ihn nur verschlüsselt in der Prophezeiung an Lajos an. Dennoch ist bei Kenntnis des Mythos der Vatermord der naheliegende Referenzpunkt: Der Aufbruch zum neuen Herrschaftsverständnis fordert die Eliminierung des alten Königs. Allerdings wird dieses Thema im Ödipuskommentar nur en passant angesprochen.

3. Ödipus - die Tragödie des Wissens und der Macht

107

Kennt man den Mythos nur aus Ödipuskommentar, ist an die von Lajos durchbohrten Füße des Ödipus zu denken. In der Tradition der psychoanalytischen Lesart des ÖdipusMythos kann auch eine Thematisierung des Verhältnisses zu seiner Mutter und zu Frauen allgemein gesehen werden. Der Inzest wird in Odipuskommentar zuvor nur kurz und indirekt thematisiert: Jahrelang [...] / Pflügte das Bett, in dem er gepflanzt war, der Glückbringer glücklich. In der Reduktion der Wahrnehmung der Welt auf den Tastsinn gewinnt nach der Blendung die sexuelle Komponente allerdings stark an Bedeutung. In der Beschreibung der taktilen Wahrnehmung wird eine sexuelle Metaphorik erkennbar: DIE WELT EINE WARZE legt die Assoziation einer weiblichen Brust nahe, in Erinnerung an den Inzest auch besonders die für Ödipus doppeldeutige Brust der Mutter. Im selben Bild - oder es pflanzt sein / Finger ihn fort im Verkehr mit der Luft - kommt zugleich die Isolation des Ödipus nach dem Freitod Jokastes zum Ausdruck.15 Grund seines Untergangs ist im Odipuskommentar die Hybris: Auf %u großem Fuß stand [...] der Rätsellöser. Andererseits weist auf großem Fuß auch auf seine Fußverletzung hin und damit auch auf seinen Namen und seine Identität. Dies legt den Schluß nahe, daß er scheitert, weil er Ödipus ist.16 Das Scheitern des Geistes und der Rückfall in die im Mythos tradierte Handlungsweise demonstriert die Dialektik der Aufklärung. Aus dem Übermaß, die im Fall des Ödipus als Schein endarvt wird, erfolgt der Umschlag in die mythische Verhaltensweise. Im Odipuskommentar ist dies die Abkehr vom Verstand und scheinbar die Rückkehr zu der konkreten, nahe liegenden, sinnlich erfaßbaren Wirklichkeit in der Verletzung des Körpers.17 Allerdings verliert er durch die Blendung gerade ein zentrales Instrument der sinnlichen Wahrnehmung der Welt und führt zu keiner besseren Erkenntnis der Welt; die Tastorgane erweisen sich als ebenso defizitär wie zuvor die Augen:18 Auf wenigen Füßen, mit Händen wenig den Raum greift. Zudem führt seine Konzentration auf sich selbst weder ihn noch Theben aus der Krise. Odipuskommentar betont damit die Verantwortung des Menschen für sein eigenes Schicksal. Dazu wird eine negative Anthropologie formuliert, in der dasselbe Hobbessche Menschenbild zum Ausdruck kommt wie im Philoktet, wo der Mensch des Menschen Todfeind ist; hier heißt es: In der Freiheit des Menschen ^wischen den Zähnen des Menschen. Anders als im Philoktet ist kein zweiter mehr nötig für die aporetische Situation zwischen Freund und Feind. Die Bedrohung beruht auf einer inneren Schwäche. Ödipus ist ein treffendes Beispiel dafür, da er in seiner Hybris glaubt, die Realität mit Sinnesorganen vollkommen erfassen zu können und damit auf alle Fragestellungen eine Antwort zu besitzen. Als Begleittext zum Ödipus Tyrann wendet sich Müller mit dem Odipuskommentar gegen die Interpretation des Dramas als Schicksalstragödie oder

15 16

17 18

Vgl. auch Kerenyi (1958), S. 80 der den mythischen Ödipus in Bezug zu phallisch-daktylischen Figuren setzt. Denkbar wäre es, hier an eine Determination aus der Tradition des Mythos zu denken. Ähnlich ist Herakles im Herakles 5 in den Augen der Thebaner der Arbeiter aus der mythischen Tradition heraus. Primavesi in: Heiner Müller Handbuch (2003), S. 50 spricht vom Odipuskommentar als einem „Körperdrama". Daher unscharf und höchstens auf eine momentane Sichtweise des Ödipus zutreffend, Stephan (1996), S. 219: „Dem blinden Ödipus aber enthüllen sich die Rätsel der Welt: Es gibt nichts außer ihm".

108

I. Müllers Transformationen des attischen Dramas

Kriminaldrama. Es geht um den Umgang des Menschen mit Wahrnehmung und Wahrheit.19

3.2. Heiner Müller: Sophokles. Ödipus Tyrann. Nach Hölderlin 3.2.1. Die Bedeutung von Sophokles und Hölderlin Anders als Brecht in der Antigone folgt Müller Hölderlins Übertragung sehr eng, obgleich diese sich inhaltlich teilweise weit von Sophokles entfernt und äußerst fehlerhaft ist.20 In der zeitlichen Nähe zur Entstehung des Ödipus Tyrann erwähnt Müller nie, daß ihm die Problematik der hölderlinschen Übertragung bewußt war.21 Seine spätere Charakteristik der Fehler Hölderlins - „Es gibt Übersetzungsfehler bei Hölderlin, die aber natürlich bei ihm sofort zu einer Konzeption werden, und die ist dann interessant. [...] Die Fehler kann man dann wiederverwenden, um den Stoff anders anzusehen." - ist 1985 ex post zu verstehen, trifft aber die Eigenart der Abweichungen recht gut, die teils dem sophokleischen Text so entgegenstehen, daß Müller darin ein eigenes „philosophisches Konzept"22 erkennt. Zunächst aber greift Müller zu Hölderlins Text vor allem in der Erwartung, hier keine großen Eingriffe vornehmen zu müssen.23 Ursprünglich ist der Ödipus Tyrann nur eine Auftragsarbeit für eine Bühnenadaption der sophokleischen Tragödie, die dem Lebensunterhalt dient. Es sind in der Tat nur wenige Verse, die Müller in Hölderlins Text ergänzt oder die er wegläßt. In der grundsätzlichen Gestaltung der Dialoge, der Personenkonstellation und dem Handlungsverlauf folgt er, anders als beim Philoktet, unverändert seinen beiden Prätexten.24 Auch den Chor, auf den er im Philoktet verzichtet 19 20

21 22 23 24

Einen rationalen Blick auf den Ödipus-Mythos richtet Brecht 1933 in seiner Berichtigung alter Mythen (Werke 19, S. 341): Ödipus müsse doch eine Ahnung gehabt haben und nicht nur ein Opfer des Schicksals sein. Doering (1992), S. 311-313 nennt als die wichtigsten Gründe für die Divergenz zwischen Sophokles und Hölderlin: Den schlechten textkritischen Zustand des Sophokles-Textes, auf dem Hölderlins Übersetzung beruht, der schon zu Hölderlins Zeit nicht auf dem Stand der philologischen Forschung war, dann Hölderlins teils ungenaue Griechischkenntnisse, desweiteren Druckfehler und schließlich die Verschmelzung von Übersetzung und Interpretation. Jochen Schmidt im Kommentar in der DKV-Ausgabe Hölderlin: Werke, S. 1326 ergänzt dies um die beginnende Geisteskrankheit Hölderlins. - Zu Hölderlins Übertragungen des Sophokles vgl. auch Binder (1969/70), Jochen Schmidt (1989 und 1994/95), Türk, Nickau und Lönker (alle 1988), Böschenstein (1995) und Kaspar (2000), insb. S. 112-135. Explizit zu den ,Fehlern' Hölderlins vgl. Beißner (1933), S. 70ff. und Schadewaldt (1957), insb. S. 14ff. Beißners Arbeit, die zum Zeitpunkt von Müllers Bearbeitung schon in zweiter Auflage (1961) erschienen war, hat Müllers Eingriffe in den Hölderlinschen Text nicht beeinflusst; vgl. Flashar (1988), S. 312. Müller: Gl 1,S. 146. Ebd., S. 146 und Krieg ohne Schlacht, S. 203: „Ich habe gedacht, das kann man einfach in die Schreibmaschine nehmen, ein paar Kommata anders setzen, und fertig." Daher soll im folgenden nicht eine grundsätzliche Interpretation von Sophokles' Ödipus Tyrannos erfolgen. Hierzu sei verwiesen auf die jüngsten, grundlegenden und auch die Tendenzen der Forschung diskutierenden Studien von Flaig (1998), Flashar (2000) und Lefevre (2001), Kap. V.

3. Ödipus - die Tragödie des Wissens und der Macht

109

hatte, behält er bei. Die einer griechischen Tragödie fremde, von Hölderlin vorgenommene Einteilung der Tragödie in fünf Akte mag auf den anfänglichen Charakter als Gelegenheitsarbeit' zurückgehen. Besonders bewundert Müller von Beginn an die Sprache von Hölderlins SophoklesÜbertragung. Deren besondere Qualität hatte nach ihrer ersten Würdigung durch Hellingrath 1910 auch Walter Benjamin im Kontext seiner Baudelaire-Übertragungen wahrgenommen und dabei die Richtung gewiesen, die Müller beschreitet: In dem 1923 veröffentlichten Essay Die Aufgabe des Übersetzers erkennt Benjamin gerade in der sprachlichen Dunkelheit die Faszination Hölderlins.25 Aus demselben Grund wählt Müller Hölderlins Übertragung. Er bewundert deren Versuch, die deutsche Syntax der griechischen anzupassen, und folgt damit einem ähnlichen Motiv wie Brecht bei seiner Entscheidung für die Antigone,26 Stilistische Eingriffe in den Text sind daher kaum festzustellen. Die modernisierenden, das meint hier vor allem die sprachlich glättenden Eingriffe, sind geringfügig: Die Syntax bleibt komplex, Inversionen und harte Fügungen prägen Müllers Stil. Die Veränderungen betreffen vor allem Binnnenstruktur und -inhalt der Verse. Hier gelangt Müller mit vielen, scheinbar kleinen Änderungen zu einer eigenen Lesart, die gerade bei der vergleichenden Lektüre die Differenz zu Hölderlins Lesart des Ödipus zeigt; an einigen Stellen nimmt er dafür auch wieder Deutungsansätze der sophokleischen Tragödie auf. In jedem Fall geht sein Text weit über eine reine Adaption oder Übersetzung hinaus.27 Die Sprache Hölderlins, die schon in ihrer Zeit eine „fremde und befremdende Form"28 besaß, nutzt Müller dazu, den Rezipienten zur genauen Auseinandersetzung mit dem Text zu zwingen. Der Sinn des Textes dürfe sich daher, wie Müller zu den Persem fordert, nicht sofort zeigen, sondern der notwendige Verstehensprozess sei das Zentrum der Beschäftigung mit dem Drama,29 bei der die Rezeption von Sprache und Inhalt so untrennbar miteinander verbunden sind. Die für die Interpretation notwendige Differenz und Offenheit der Sprache zwingt dazu, Wort für Wort in einer mikroskopischen 25

26

27

28 29

Benjamin: Gesammelte Schriften 11,1, S. 21: „In ihnen ist die Harmonie der Sprachen so tief, daß der Sinn nur noch wie eine Äolsharfe vom Winde von der Sprache berührt wird. Hölderlins Übersetzungen sind Urbilder ihrer Form; sie verhalten sich auch zu den vollkommensten Übertragungen ihrer Texte als das Urbild zum Vorbild [...]. In ihnen stürzt der Sinn von Abgrund zu Abgrund, bis er droht, in bodenlosen Sprachtiefen sich zu verlieren." - Vgl. zu Benjamins Hölderlin-Rezeption Primavesi (1998), S. 194-210. Schon Brecht betreibt „eine Art stilistischer Mimikry an das esoterische Pathos Hölderlins" (Frick (1998), S. 505) mit dem Ziel des V-Effekts. Außerdem verweist Brecht in den Anmerkungen %ur Bearbeitung (Werke 24, S. 351) auf die „Schönheiten" und die „Freude" hin, die gerade bei den Chorpassagen erst beim mehrmaligen Lesen (!) der beim ersten Hören oft kaum verständlichen Stellen vermittelt würden. Dazu kommt die Nutzung der spannungsreichen Syntax zum ^Ausdruck inhaltlicher Dialektik', vgl. Buck (1990), S. 228 und 238. Zu undifferenziert bleibt angesichts der heterogenen Deutung des Mythos bei Sophokles und Hölderlin Primavesi in: Heiner Müller Handbuch (2003), S. 132, Müller habe sich anders als Brecht „auf kleinere Veränderungen beschränkt, die vorhandene Tendenzen verstärken." Beißner (1933), S. 108. - Zu den kritischen Urteilen der Zeitgenossen über Hölderlins SophoklesÜbertragungen vgl. Seebass (1921) und Hölderlin: StA VII, S. 95-107. Müller: Aischylus übersetzen. In: ders.: Die Perser, S. 72: „Der muß gefunden werden, der darf nicht verkauft, verpackt oder angeboten werden. Den müssen die Leute finden oder wenigstens suchen. Suchen ist sogar wichtiger als Finden."

110

I. Müllers Transformationen des attischen Dramas

Leseweise vorzugehen, wodurch Interpretation sowohl notwendig als auch erst möglich werde: „Information ist völlig undramatisch. So ein Text braucht einfach den Zuschauer/-hörer. Da ist immer Platz zwischen den Teilen für den Zuschauer/-hörer. Das ist der Abgrund, den ich meine. Es ist ein Platz, der nicht mit einer Bedeutung aufgeht, also in einer Interpretation, das ist ein leerer und dunkler Raum, in dem jeder selber seine Kerze finden muß." 30

Diese sprachliche Gestaltung markiert innerhalb der Geschichte deutscher Antikendramen auch die Ablehnung der glatten und jambischen Verssprache, die von Goethe über Kleist bis Hauptmann die großen deutschen Mythendramen prägt. Im Philoktet mit seinen vermeintlich glatten Blankversen bricht Müller diese Tradition mit ihren eigenen Mitteln und folgt in diesem gegen die klassizistische Ästhetik gewandten Konzept einer Notiz Brechts zur Antigone?x Deren These setzt er im Ödipus noch radikaler als Brecht in der Antigone um. Zu Beginn der neunziger Jahre beschreibt Müller in Ajax \-um Beispiel im Rückblick auf sein Werk den stilistischen Wandel als notwendige Reaktion auf historische Veränderungen.32 Die Abkehr von der Hochsprache gestattet durch grammatikalische und syntaktische Freiheiten zudem neue Ausdrucksmöglichkeiten.33 Gerade die ungewöhnliche Stellung der Satzglieder ermöglicht durch deren mehrfache Bezugsmöglichkeit auch auf der inhaltlichen Ebene ,schroffe Fügungen', die ein einfaches Verständnis des Textes verhindern und auch zur stellenweisen Polysemie des Textes beitragen.34 Mit der sprachlichen Gestaltung seiner Ödipus-Transformation widerlegt Müller aber in jedem Fall die These Artauds, daß dieser antike Stoff zwar inhaltlich noch auf das zwanzigste Jahrhundert beziehbar sei, sprachlich aber die im 20. Jahrhundert zur Verfügung stehenden Mittel die Anwendbarkeit des Stoffes auf die Gegenwart verhindern würden.35

30 31

32 33 34

35

Müller: Aischylos übersetzen, S. 72. Brecht: Arbeitsjournal 18. Januar 1948. Werke 27, S. 265: „Es kann sich nicht darum mehr handeln, im Griechentum Kultur aufzuzeigen, als sei's das Höchstmaß; was die Klassiker des Bürgertums machten, interessiert am ästhetischen allein, (selbst an der Demokratie nur ästhetisch interessiert)." Vgl. S. 424. Müller: Gl 1, S. 142. Nägele in: Heiner Müller Handbuch (2003), S. 151 stellt daraus den Bezug her zu der auf der modernen Semiotik basierenden Auflösung fester Signifikanten. - Wichtiger scheint allerdings der Unterschied des Deutschen als einer analytischen Sprache vom Griechischen als einer synthetischen Sprache zu sein. Das Griechische erlaubt, da die Wortendungen die grammatische Bedeutung eines Wortes tragen, eine wesentlich freiere Wortstellung im Satz, ohne daß semantischer Präzision verloren geht. Artaud: Das Theater und sein Double, S. 80: „Vielleicht spricht Sophokles eine erhabene Sprache, aber seine Art zu sprechen ist passé. Er spricht zu gewählt für unsre Zeit, und man könnte glauben, er spräche a parte."

3. Ödipus - die Tragödie des Wissens und der Macht

111

Mit der freirhythmischen Sprache nach Hölderlins Vorbild beabsichtigt Müller außerdem, erneut einer Argumentation Brechts folgend, eine Annäherung an die .Volkssprache'.36 Allerdings ist dieser Weg einer „Entliterarisierung der Bühnensprache" hin zu einer ,Volkssprache', was auch ,eine dem Volk verständliche Sprache' meint, angesichts der an Hölderlin orientierten Rhythmik von gegenteiligem Effekt: Die hoch spezifische, exakte, aber auch schroff gefügte Sprache Müllers hat sich oft als Hindernis zur Rezeption seiner Stücke erwiesen, wie Müller selbst eingestand: „Meine Sprache gilt aus seltsamen Gründen als schwierig, aber nur deswegen, weil sie ganz einfach, direkt, präzis ist."37 Ganz im Sinn einer Annäherung an die Volkssprache ist allerdings die Tilgung des Pathetisch-Rhetorischen in Hölderlins Text. Die für die griechische Tragödie charakteristische Vielzahl an Emotionen transportierenden Interjektionen, die Hölderlin von Sophokles übernommen hat, fehlen bei Müllers Transformation. Gleichfalls fehlen viele der periphrastischen Metonymien. Erklärende Eingriffe sind vor allem bei Bezeichnungen von Orten, Personen oder göttlichen Mächten zu beobachten.38 Dort hat Müller durchgängig vereinfacht, im Bewußtsein, „daß Vorwissen über antike Mythologie, gesellschaftliche Verhältnisse und menschliches Verhalten nicht detailreich und präzise im Bewußtsein der Zuschauer sind."39 Die von Besson in seiner Inszenierung des Ödipus verwendete etymologische Ubersetzung des Namens des Titelhelden in Schwellfuß ist allerdings nicht in die Druckfassung übernommen worden, obwohl ihm im Ödipuskommentar noch eine existentielle Funktion zugewiesen worden war.40 Dies wäre zum einen mehr Verfremdung als Verständnisverbesserung gewesen, zum anderen ist das Identitätsproblem in der Dramentransformation nur eines der Probleme und Themen des Stückes. Eingriffe in die Metonymien haben aber auch inhaltliche Funktion. Statt beispielsweise l|fU%f| beziehungsweise bei Hölderlin meine Seele schreibt Müller einfach ich. Diese Prägnanz41 demonstriert an dieser Stelle, zusammen mit der Veränderung des 36

37 38

39

40 41

Müller: Shakespeares Stücke sind komplexer als jede Aneignung, S. 35: „Wenn man den [erg. Hölderlin] heute liest, merkt man, daß es eine schwäbische Syntax ist. Er hat die griechische Syntax genau versucht nachzubilden, dadurch kam er ab von der deutschen Hochsprache [...]. Schon der Zwang des Materials, daß Bauern auf der Bühne sind und in Versen miteinander reden". - Vgl. Brecht: Arbeitsjournal 16.12.47. Werke 27, S. 255: „Auf Rat von Cas nehme ich die Hölderlinsche Übertragung [...]. Ich finde schwäbische Tonfalle und gymnasiale Lateinkonstruktionen und fühle mich daheim." Am 25.12.1947 notiert Brecht im Arbeitsjournal (ebd., S. 258f.) Belege zur schwäbischen Volkssprachigkeit Hölderlins. Müller: G l 1, S. 108. Müller ersetzt etwa .pythisch' durch .delphisch' (z.B. Müller: Ödipus Tyrann S. 10 und 13, Hölderlin: Oedipus, S. 125 und 129), aus Kinder des Kadmos für Theben wird bei Müller einfach das Volk (Müller: S. 12, Hölderlin, S. 129), aus der Agora werden Märkte (Müller: S. 13, Hölderlin: S. 129), aus dem abendlichen Gott wird der Totengott (Müller: S. 14, Hölderlin, S. 130). Müller: Ödipus Tyrann, S. 179. - Hölderlin hatte im Oedipus, anders als in der späteren Antigone, die mythologischen Namen verwendet. Die Anmerkungen %ur Antigonä (StA V, S. 268) formulieren dabei ganz ähnlich den Grund für die Abkehr von den allzu fremden Begriffen: Um es unserer Vorstellungsart mehr ^u nehem. Wir müssen die Mythe nemlich überall beweisbarer darstellen. Jochen Schmidt nennt im Kommentar der DKV-Ausgabe (Hölderlin: Werke, S. 1329) etliche dieser Verdeutlichungen. Vgl. die Textvarianten des Ödipus Tyrann in Müller: Ödipus Tyrann, S. 179-182. Für sie gibt Müller allerdings auch die pneumatische Konnotation des griechischen Wortes auf und beschränkt sich auf eine völlig .materialistische' Deutung.

112

I. Müllers Transformationen des attischen Dramas

Prädikats von ,beklagen' zu ,tragen', die Entschlossenheit des Ödipus und weist ihn als den politischen Macher und Praktiker aus: Ich t r a g das gan^e, dich und mich, die Stadt.''2 Damit ist der Akzent bezeichnet, den Müller seiner Transformation gibt: Der Weg vom leidenden Individuum zum Anspruch des politischen Praktikers, der Ödipus sein möchte.

3.2.2. Tragödie der Herrschaft und Gewalt Daß Müller im Titel mit Tyrann Sophokles und Hölderlin folgt, 43 obwohl die meisten im zwanzigsten Jahrhundert entstandenen Übersetzungen und Transformationen der Tragödie den neutraleren Titel König Ödipus tragen, 44 weist gleichfalls auf den zentralen Akzent von Müllers Transformation hin: Akzentuiert wird die politische Dimension der Tragödie; die psychoanalytische Deutung im Odipuskommentar wird nicht weiter verfolgt 4 5 Damit wird eine rein anthropologische Lesart des Mythos eingeschränkt: Es geht nicht

42

43

44

45

Müller: Ödipus Tyrann, S. 10. - Dagegen Hölderlin: Oedipus, S. 125: Und meine Seele / Beklag die Stadt zugleich und mich und dich. - und Sophokles: Oidipus Tyrannos, v. 63f.: Meine Seele klagt um die Stadt, um mich und um dich. - Eine Transformation mit ähnlicher Tragweite zeigt auch eine von Müller gekürzte Stelle: Auf S. 11 beansprucht Ödipus, gleichsam pars pro toto für die Stadt zu stehen und sozusagen das vollkommene ,Zoon politikon' zu sein: Vor allen sag es, denn fiir alle trag ich. Dagegen kennt Hölderlin: Oedipus, S. 126 nur eine Teilidentität von Stadt und Ödipus: [...] denn fiir alle trag ich mehr die Last, als meiner Seele wegen, genauso bei Sophokles: Oidipus Tyrannos, v. 93f.: denn ich trage schwerer am Schmer.i um diese als um meine Seele. Dabei ist die Semantik des Wortes im 20. Jahrhundert weit negativer als im 5. Jahrhundert v. Chr., in dem die Konnotation des Wortes schwankt: .Tyrann' ist in der Zeit des Sophokles zwar generell pejorativ (vgl. dazu Flaig (1998), insb. S. 80); Sophokles' Text zeigt aber wenigstens in v. 939 auch eine neutrale Bedeutung des Wortes, als ein Bote berichtet, die Korinther wollten Oidipus als ,Tyrann'. - An Müllers Transformation ist geradezu auffällig, daß Ödipus nicht durchgängig als ,Tyrann' bezeichnet wird, obgleich an mehreren Stellen in wenigstens einem der beiden Prätexte ,Tyrann' steht. Es sind vielmehr nur drei Stellen, an denen in Müllers Text überhaupt von einem Tyrannen die Rede ist, stets spricht sie der Chor: Auf S. 27 warnt er Ödipus vor tyrannischem Verhalten: Denk es, Tyrann, und vertraue, bei Sophokles, v. 649 dagegen nennt er ihn neutral .Herrscher' (ävai;), bei Hölderlin, S. 152 König. - Wiederum warnend wendet der Chor sich auch auf S. 28 an Ödipus: Ich hah es gesagt, Tyrann, nennt allerdings dann die positiven Seiten des Ödipus und bekräftigt seine Loyalität zu ihm, so daß die Schärfe des Begriffes zurückgenommen wird. Beide Prätexte verwenden an dieser Stelle neutrale Termini: Sophokles: v. 689 ava!;, Hölderlin, S. 154 König. - Nur an einer Stelle sprechen alle drei Texte von einem Tyrannen, in dem gnomischen Chorlied Unmaßpflanzt den Tyrannen (Müller: Ödipus Tyrann, S. 34. - Hölderlin: Oedipus, S. 162. Sophokles: Oidipus Tyrannos, v. 872), dessen Bezug auf Ödipus aber ist nur bei Müller eindeutig, vgl. S. 119. Die bekanntesten Transformationen des Ödipus-Tyrann im 20. Jahrhundert sind Cocteaus ins Lateinische übersetztes Libretto für Strawinskys Oper Oedipus Rix und Pasolinis Film Edipo Re. Die philologischen Übersetzer ins Deutsche im 20 Jh. - Weinstock, Buschor, Schadewaldt, Schotdänder, Willige/Bayer und Pfeiff - verwenden alle das im Vergleich neutrale Wort König für den Titel. Dem entspricht, daß Müller „immer wieder dort, wo Hölderlin von Sterblichen, einem Mann oder dem Menschen im allgemeinen spricht, „Vokabeln der Macht" einsetzt. Lehmann (1980), S. 88 belegt dies exemplarisch an den Eingriffen in die das Stück beschließenden Worte des Chores, Ostheimer (2002), S. 49 erweitert dies um weitere Stellen.

3. Ödipus - die Tragödie des Wissens und der Macht

113

um die Conditio humana schlechthin,46 sondern um die Verantwortung von Macht besitzenden Menschen.47 Von Anfang bis zum Schluß wird Ödipus als ein Mensch bezeichnet, der die Macht hat, diese nicht mehr hat oder sie aufgeben soll.48 Der Prolog dient bei Sophokles wie Hölderlin und Müller zur Bestimmung der Stellung des Ödipus in Theben. Dabei wird bei Müller noch stärker als in beiden Prätexten Ödipus' politische und auch religiöse Ausnahmestellung hervorgestellt. Der Priester betont die besondere Nähe des Ödipus zu den Göttern, wenn er ihn den ersten ¡^wischen uns und Göttern nennt und damit die Beziehung zum Göttlichen weit enger bezeichnet als Hölderlin, bei dem heißt es: in Begegnissen / Der Welt und auch in Einigkeit der Geister. Damit scheint Ödipus' Anspruch zunächst verständlich, selbst - obwohl er kein Priester ist - und allein den Spruch des delphischen Orakels umzusetzen. Dieses Orakel formuliert Müller inhaltlich identisch mit Sophokles und Hölderlin: was ich tun / Was sagen soll, um diese Stadt retten49. Der Vorwurf, Ödipus maße sich eine priesterliche Haltung an,50 geht daher aus der Perspektive der Thebaner ins Leere: Gerade weil Ödipus den Göttern nahe steht, erhält er die Aufgabe, die neue Notlage zu lösen. Hier wirkt zum einen die archaische Gesellschaftsordnung in die Tragödie ein, in der Politik und Religion noch eng verbunden sind, zum anderen beruht das in Ödipus gesetzte Vertrauen auch auf dem Wissen, daß Ödipus die Sphinx überwinden konnte und damit eine geistige Kraft besitzt, die ihn von den anderen Menschen abhebt. Als der Chor klagt: Nicht einem wächst, schütten, aus / Gedanken ein Speer - dabei steht die Metapher des Speeres sowohl für Verstandesschärfe als auch für praktische Kampfkraft -, erklärt Ödipus, er sei des Gottes Hand, des Toten Speer. In diesem Bild beansprucht er abstrakt, in der Theorie (des Gottes Hand) und in der Praxis (des Toten Speer) zum Wohl des Staates und im Sinne Apolls zu handeln.51 Allerdings gibt es bei Sophokles, Hölderlin wie Müller auch Kritik an Ödipus' Anspruch, über alles die Macht und für alle Fälle des politischen und religiösen Lebens das richtige Wissen zu besitzen. Mit Kreon tritt ein Gegentypus des Politikers auf, der gleichfalls Anspruch auf politische Verantwortung erhebt, allerdings besonnener als Ödipus agiert.52 Kreon ist es auch, der Ödipus am Schluß, da sein Versagen offenbar ist, auffordert, sich keine Herrschaft mehr anzumaßen und dessen Fehler ausspricht: Den 46

47 48

49

50 51 52

Vgl. zu dieser Deutung auf Sophokles bezogen Schadewaldt (1956), S. 26, der Oidipus Tyrannos offenbare einen „Grundzug des europäischen Menschen" in seinem „Wissenwollen, das zugleich ein Wissenmüssen um jeden Preis ist". Vgl. schon Lehmann (1980), S. 88. Vgl. exemplarisch (dahinter die entsprechende Versstelle bei Sophokles): Müller: Ödipus Tyrann, S. 9 (Priester): Du Herrseber [...] Ödipus - v. 14: Kpocrovcov OiSijCODq. Müller: S. 54 (Kreon): Maße nun dir nicht mehr Herrschaft an - v. 1522: n d v x a (IT] ßotiXou Kpaxeiv. Müller: S. 54 (Chor): Ödipus [...] der vor allen mächtig war - v. 1525: Kpcmato^ f|v Üvr|p. Müller: Ödipus Tyrann, S. 10. - Hölderlin: Oedipus, S. 125. - Sophokles: Oidipus Tyrannos, v. 71f. - Zentral ist auch die folgende Transformation, Müller: Ödipus Tyrann, S. 12: Denn treffend hat der Gott und treffend du / Bestelltflir den Gestorbenen diese Rache / Mir, Bracher dieses Lands, des Gottes auch. Durch kleine Eingriffe stellt sich also Ödipus ins Zentrum der Exegese des Orakels. - Vgl. zu der Stelle auch Ostheimer (2002), S. 38-40. Ostheimer (2002), S. 48. Müller: Ödipus Tyrann, S. 13 und 15. Ebd., S. 26: Auch mich geht an die Stadt, nicht dich allein. - Hölderlin: Oedipus, S. 151. - Sophokles: Oidipus Tyrannos, v. 630.

114

I. Müllers Transformationen des attischen Dramas

Anspruch, alles - sowohl Menschen als auch Götter - zu beherrschen.53 Entsprechend ist Gewalt in Müllers Transformation menschlichen Ursprungs und nicht durch Schicksal erklärt. Erst die besondere soziale wie politische Stellung macht aus Ödipus den Menschen, der im Zorn zum Tyrannen wird und zur (Selbst)vernichtung gedrängt wird. Ödipus tritt dabei bei Müller deutlich aggressiver als in den beiden Prätexten auf, obgleich sein Jähzorn schon in der sophokleischen Transformation und in der hölderlinschen Interpretation54 der Tragödie ein zentraler Charakterzug ist: Zorn war der Grund, warum er am Dreiweg Laios mit seinem Gefolge angegriffen und getötet hat, zornig reagiert er auch wieder, als er während der Handlung des Dramas in Schwierigkeiten gerät.55 Besonders problematisch ist dabei, daß Ödipus diesen Charakterzug kennt, ihn jedoch weder bekämpft noch sich von ihm distanziert. Die Akzeptanz dieses Fehlers, der sich zugleich als ein wesentliches Motiv seines Handelns erweist, macht einen Teil von Ödipus' Verantwortung - um den Begriff der tragischen Schuld vorerst zu vermeiden - aus, die bereits vor dem Einsatz der im Drama gezeigten Handlung beginnt.56 Dennoch muß festgehalten werden, daß er kein von Grund auf negativer Charakter ist, der nie Recht und Götter achtete. Der Jähzorn tritt nur unter besonderen Umständen, dann aber mit verheerender Wirkung zu Tage.57 Die Bereitschaft zum Einsatz physischer Gewalt steht in enger Verbindung mit diesem Hang zum Jähzorn. Am deutlichsten wird dies in einer bei Sophokles wie Hölderlin fehlenden Aufforderung, Tiresias zu steinigen: Sagst du dein Schlimmstes einmal laut heraus Du Stein, dem Unglück, unserm, farblos? Steine Für ihn, der ihr ein Stein ist, hat die Stadt.58

Müller variiert und erweitert dafür das Motiv des Steins bei Sophokles, das dort die Hartherzigkeit des Ödipus ausdrückt, ohne daß aber dort wie auch bei Hölderlin von einer Steinigung gesprochen würde. Dabei ist für den Herrscher, der dem Staat helfen 53 54

55 56 57

58

Sophokles: Oidipus Tyrannos, v. 1526: Hör auf, alles beherrschen wollen. - Dagegen nicht auf die Totalität, sondern nur allgemein auf die Herrschaft bezogen Müller: Ödipus Tyrann, S. 54: Maße nun dir nicht mehr Herrschaft an. Vgl. Hölderlin: Anmerkung zum Oedipus, S. 201: „Die Darstellung des Tragischen beruht vorzüglich darauf, daß das Ungeheure, wie der Gott und Mensch sich paart, und gränzenlos die Naturmacht und des Menschen Innerstes im Zorn Eins wird, dadurch sich begreift, daß das gränzenlose Eineswerden durch gränzenloses Scheiden sich reiniget." Müller: Ödipus Tyrann, S. 17-21 passim, S. 28 und S. 32. So zu Sophokles, doch übertragbar Flaig (1998), S. 132. - Zur Bewertung dieses Fehlers hinsichtlich der aristotelischen Poetik vgl. Cessi (1987) und Arbogast Schmitt (1988). Vgl. zu Sophokles, doch übertragbar Lefevre (2001), S. 133: „Oidipus überschreitet das Maß, tritt Gerechtigkeit und Achtung vor dem Göttlichen mit Füßen. Doch ist nachdrücklich zu wiederholen, daß er nicht an sich ein äSlKoq oder äoeßfli; ist. [...] Aber auf die Herausstellung dessen, wohin Überklugheit und Eifer den Menschen führen können, nämlich zu Hybris, verzichtet Sophokles nicht." Müller: Ödipus Tyrann, S. 18. - Sophokles: Oidipus Tyrannos, v. 334f.: Wirst du, Schlechtester der Schlechten, denn du könntest / einen Stein %um Kochen bringen, endlich reden? - Hölderlin: Ödipus, S. 137f.: Sprichst du der schlimmen schlimmster (denn du bist / Nach Felsenart gemacht) einmal heraus? / Erscheinst so farblos du, so unerbittlich?

3. Ödipus - die Tragödie des Wissens und der Macht

115

will, der Zorn auf Tiresias, der offenbar die Rettung wüßte, sie allerdings nicht offen ausspricht, auch verständlich und macht Ödipus' zornigen Affekt in diesem Moment zu einer ambivalenten Erscheinung.59 Dessen Aggressivität richtet sich aber nicht nur gegen Menschen. Die Drohungen gegen den Seher Tiresias enthalten auch eine Mißachtung der von diesem verkündeten ,göttlichen' Wahrheit. Anders als Brecht, der in der Antigone Tiresias „zum politischen Zeichenleser säkularisiert", behält Müller dessen sakralen Bezug bei.60 Der Chor bezeichnet seine Nähe zu den Göttern - Göttern am nächsten wohnt der Seher hier - sogar noch deutlicher als bei Hölderlin, wo es heißt: Am meisten weiß hierinn vom König Phöbos / Tiresias6'1, wenngleich kleine Eingriffe Müllers dies auch wieder schwebend relativieren: Die Transformation von ,wissen' zu ,wohnen' könnte bedeuten, daß Tiresias nur durch seine dem Tempel nahe Wohnung Nachbarschaft zu den Göttern besitzt, doch keinen besonderen Zugang zum göttlichen Wissen hat.62 Der Chor bezeichnet bei Sophokles wie Hölderlin Tiresias als den .göttlichen' Seher, bei Müller dagegen nur als den Seher.63 Mehrdeutig sind zudem die Verse: Dem Wahrheit angehört allein von Menschen und Es gibt / Nichts Sterbliches, das Seherkunst besäße. Beide Verse sind zum einen lesbar als Herausstellung der Seherkunst - nur der Seher hat Zugang zur Wahrheit, Seherkunst ist unsterblich -, zum andern sind sie aber auch im genauen Gegenteil zu verstehen: Der Seher hat nur Zugang zu menschlicher (und damit unzulänglicher) Wahrheit, nicht aber zur richtigen Wahrheit, beziehungsweise in der zweiten Stelle: Seherkunst hat nicht einmal Zugang zu den Belangen der Sterblichen, geschweige denn zu den Göttern. Zugang zu dem Gott hat dann - auch in den Augen des thebanischen Volkes - offenbar nur Ödipus.64 Dieser beansprucht in jedem Fall Überlegenheit: In seiner Bezeichnung durch Tiresias als Magier geht Müller über Hölderlin, der nur vom trügerischen Alten spricht, zurück auf |a.dyov bei Sophokles;65 die Semantik des griechischen Wortes ist dabei noch

59

60

61 62

63 64

65

Vgl. dazu Zierl (1999), S. 136: „[...] sein haltloser und ehrenrühriger Verdacht eines Komplotts erfüllt eine positive Funktion im übergeordneten Erkenntnisinteresse: [...] Zugleich hindern Zorn und Verdacht den König [...], die an sich schon ungeheuerliche Wahrheit anzunehmen." Zu Brechts Tiresias vgl. Frick (1998), S. 536. - Die bei Müller im Vergleich zu beiden Prätexten nüchternen Reaktionen des Tiresias auf den Affront charakterisieren ihn auch als den weisen, durch sein Alter erfahrenen politischen Berater. Müller: Ödipus Tyrann, S. 16. - Hölderlin: Oedipus, S. 134. Erst später erhält wohnen (Müller: Ödipus, S. 82) von Ödipus auch die Dimension eines geistigen Ortes zugeschrieben, wenn er durch die Blendung sich im Geiste von der realen Welt abkehrt in der Feststellung: denn süß ist wohnen, wo der Gedanke wohnt, vgl. S. 135ff. Müller: Ödipus Tyrann, S. 17. - Hölderlin: Oedipus, S. 135. - Sophokles: Oidipus Tyrannos, v. 298. Müller: Ödipus Tyrann, S. 16f. und 29. - Hölderlin: Oedipus, S. 135 und S. 155. - Sophokles: Oidipus Tyrannos, v. 298 und v. 708f. - Bei Sophokles ist durch die griechische Syntax und Formen eindeutig im ersten Vers die erste Deutung, im zweiten Vers die zweite Deutung erkennbar. Bei Hölderlin ist zwar die Syntax nicht eindeutig, doch durch den ideellen Gehalt und die Konstellation der Handlung klar, daß im ersten Vers die erste Deutung zutrifft, im zweiten Fall die zweite Deutung. Die dagegen bei Müller gegebene Mehrdeutigkeit übersieht Ostheimer (2002), S. 43. Müller: Ödipus Tyrann, S. 19. - Hölderlin: Oedipus, S. 139. - Sophokles: Oidipus Tyrannos, v. 387.

116

I. Müllers Transformarionen des attischen Dramas

ambivalent.66 Hölderlin und Müller dagegen geben eine eindeutig pejorative Charakterisierung; während Hölderlins Junktur vor allem eine moralische Kritik enthält, läßt ihn bei Müller die mögliche Assoziation zur Magie nach modernem Verständnis als ,Scharlatan', als bedeutungslos und unwissend erscheinen. Die Intention ist klar: Ödipus beansprucht, daß nur er die göttliche Forderung verstehen kann. Ursprung dieses Selbstbewußtseins ist die Erfahrung, daß er das Rätsel der Sphinx alleine, nur mit der Kraft seines menschlichen Verstandes, ohne Hilfe von Zeichen der Götter lösen konnte: Aber ich Der ungelehrte eine Mann (1), ich schweigte Die männerfres sende, mit dem Verstand Ihr Ratsei treffend, durch Erfahrung (2) nicht Von Vögeln. -67

Dabei stellt Ödipus polemisch in Bezug auf die Art des Wissens einen Gegensatz zwischen sich selbst und Tiresias her, der sich in einer unterschiedlichen Welt- und Geisteshaltung ausdrückt. Tiresias ist in den Augen des Ödipus der .altmodische' Deuter göttlicher Zeichen, während er selbst aus individueller Leistung seines Verstandes heraus zum Wissen gelangt sei und einen ,neuen' Menschen verkörpere. Aggressiver als bei Sophokles und Hölderlin geht Ödipus in der Krise auch gegen Kreon vor, seinen Schwager und früher engsten Berater. Gegen das Recht - das heißt: ohne Beweise, nur auf Grund subjektiver Verdachtsmomente für ein Komplott und ohne gerichtliche Verhandlung - verurteilt Ödipus Kreon zum Tod, wo er bei Hölderlin noch die Wahlmöglichkeit der Flucht läßt.68 Die Transformation von Kreons Reaktion auf das Urteil und die Antwort des Ödipus betonen dessen Verstoß gegen geltendes Recht und die Charakterisierung von Ödipus' Herrschaft als Tyrannis. Hölderlins Dialog KREON: Wenn du mir geigest, was es um den Neid ist - ÖDIPUS: Sprichst du nachgiebig mir und gläubig nicht? verschärft Müller spürbar: KREON: Beweis die Klage - ÖDIPUS: Steifst du noch den Nackend Zugleich verwirft Ödipus in seiner Aggressivität gegen Kreon auch die von diesem vertretene Besonnenheit im politischen Handeln.70 Kreon verkörpert dabei das Gegenmodell zu den stets raschen Reaktionen des Ödipus, bei denen er eine mögliche

66 67 68

69 70

Vgl. Dawe (1982) im Kommentar zu Sophokles: Oidipus S. 132: „The attempt [...] to take (xayov not as .impostor', .charlatan' but as a specific allusion to .kingmakers' [...] with special reference to the stories of the eastern ixdyoi [...] contains much of interest." Müller: Ödipus Tyrann, S. 19f. - Bei (1) steht bei Sophokles und Hölderlin Oedipus, (2) fehlt bei Hölderlin. Müller: Ödipus Tyrann, S. 26: Sterben sollst du, hier; nicht fliehn. Das will ich. Bei Hölderlin: Oedipus, S. 150 steht an der entsprechenden Stelle oder fliehn. Müllers Verzicht auf die Wahlmöglichkeit geht auf Sophokles zurück, wo in v. 623 oi), .nicht' steht. - Gleiches zeigt eine Aussage Kreons wenig später: Bei Müller, S. 27 heißt es für nichts will er mich töten, bei Hölderlin: Oedipus, S. 152, der hier Sophokles v. 641 (¡1 [...] 11 [ - ] - .entweder - oder') folgt, gibt es die Wahl der Strafe: Vom Land mich treiben will er oder tödten. Müller: Ödipus Tyrann, S. 26. - Hölderlin: Oedipus, S. 150. Müller: Ödipus Tyrann, S. 25f.; vgl. zur auf Müller übertragbaren Interpretation der entsprechenden Stelle bei Sophokles Zierl (1999), S. 137.

3. Ödipus - die Tragödie des Wissens und der Macht

117

Mehrdimensionalität einer Situation übersieht.71 Daraus, daß Ödipus seinen Verstand überschätzt, entspringt zusammen mit Eigensinn und ,Kopflosigkeit'72 eine aggressive wie gegen das Recht verstoßende Vorgehensweise gegen die engen Vertrauten Tiresias und Kreon, die dieser beklagt: Denn nicht ist recht, den Schlimmen überall Für trefflich halten, Treffliche für schlimm Und wenn ein Mächtiger einen Freund verwirft Ists ihm, als wärs am eignen liebsten Leben Und von der Zeit erfährst du das genau. Deutlich die Zeit stellt aus den rechten Mann An einem Tag erkennest du den Schlimmen. 73

Mächtiger ersetzt dabei das bei Hölderlin und Sophokles stehende Edler (ECT0X,öv) und unterstreicht die Tyrannenkritik: Daß Ödipus weder von Tiresias noch Kreon oder den Bürgern einen Rat akzeptiert, ist ebenfalls Indiz dafür: In Müllers Prometheus DesmotesTransformation wird es als typisches Zeichen eines Tyrannen bezeichnet, auf Vertraute nicht zu hören.74 Die kritische Dimension wird besonders deutlich, liest man die Stelle im Kontext von Piatons Politeia. Dort wird an der Tyrannis kritisiert, um des Machterhalts willen alle fähigen und daher kritischen Männer vernichten zu müssen.75 Verwirft Ödipus gegenüber Tiresias die Religion und damit gleichsam ,göttliche' Gesetze, verletzt er in der Verfolgung eines Familienmitglieds menschliche Gesetze und besitzt zudem keine politische Klugheit. Tiresias faßt all dies in dem Vorwurf zusammen, Ödipus habe eigene Gesetze, das heißt ohne Bezug auf höhere Rechtsprinzipien, geschaffen und sich selbst zum Maß der Dinge erhoben. Als politischer Ratgeber und Freund warnt er ihn vor dieser Hybris, und gibt eine auf sein Verhalten während der gesamten dramatischen Handlung zu beziehende Warnung:

71

72

73 74 75

Der Chor warnt Ödipus: Müller: Ödipus Tyrann, S. 26: Nichtfällt, der den Schritt bedenkt / Und schnell denken, König, leicht ists schnell, ebenso Hölderlin: Oedipus, StA V, S. 150 und Sophokles: Oidipus Tyrannos, v. 617. Vgl. dazu Flaig (1998), S. 121: „Weil Ödipus erwägbare Möglichkeiten unterdrückt und sich jeweils auf eine einzige festlegt, spart er jene Zeit ein, welche andere Menschen benötigen, um nachzusinnen und Rat einzuholen." Müller: Ödipus Tyrann, S. 24: Nicht ohne Kopf ist Eigensinn ein Gut. / Und wer es anders denkt, nicht weit denkt der. Bei Sophokles, v. 549f. wirft ihm Kreon neben dem Eigensinn (cci)0a8ia) explizit vor, ohne .Verstand' und .Einsicht' zu sein (eivai XI TOÜ VOV X0>ßii< Ol)/r_6p9c&S (ppoveig). Sophokles legt hier das Augenmerk nur auf die Methodik: voßi; bezeichnet den Verstand (als Handlungsgrundlage), (ppoveiv eine - rationale oder emotionale - Denkweise als Ursache des Handelns, vgl. Coray (1993), S. 260ff. und 171 ff. Bei Müller dagegen ist zugleich das Ergebnis und dessen beschränkte Gültigkeit {nicht weit) angesprochen. Müller: Ödipus Tyrann, S. 26. - Hölderlin: Oedipus, S. 150. - Sophokles: Oidipus Tyrannos, v. 609-615. Müller: Prometheus. Werke 4, S. 15. - Aischylos: Prometheus, v. 224f. - Vgl. S. 148. Piaton: Politeia 567b: Und werden dann nicht einige von denen, die ihn [— den Tyrannen] einsetzten und auch Macht haben, gegenüber ihm und anderen Menschen das, was geschieht, kritisieren, wenigstens die, die am mutigsten sind? [...] Und alle diese Männer muß ein Tyrann vernichten, wenn er an der Macht bleiben will, bis weder von den Fremden noch den Feinden einer übrig ist, der etwas taugt.

118

I. Müllers Transformationen des attischen Dramas Bei dir jetzt bist du, über dir dein Zorn Dein Fluch, getürmt auf andre, du bewohnst ihn Der Stadt ein Grauen. Hältst du dein Gesetz aus?76

Konkret gemeint ist mit dem ,Gesetz' die Verfügung des Ödipus, der Mörder des Lajos werde aufs schärfste bestraft werden bis hin zur Verfluchung und der Verstoßung aus der Gesellschaft.77 Diese Haltung des Vertreters des Staates, dem Recht unerbittlich zur Geltung zu verhelfen, wäre ein politischer Idealzustand, der für das Gemeinwohl tätige Herrscher die Verkörperung einer Staatsutopie. Die Gefahr des Umschlags von der utopischen Idee in den Terror der Praxis zeigte Müller aber bereits an Neoptolemos im Philoktet, bei Ödipus wird dies nun nicht mehr in der Idee, sondern in der realen Macht demonstriert. Geset^ bedeutet damit hier mehr als die konkrete Anordnung: Es meint die von Ödipus gesetzte Staatsordnung mit ihm an der Spitze als autokratischem Herrscher. Warnungen an Ödipus richtet neben Tiresias und Kreon auch der das Volk von Theben repräsentierende Chor.78 Im griechischen Text geht es dabei immer wieder um cppÖVT|cn.Q; von Müller werden diese Warnungen meist deutlicher als bei Hölderlin wiedergegeben. Exemplarisch zeigt dies die folgende Stelle, in der auch die Bedeutung des Begriffes deutlich wird: Daß du nicht ausschweifst im Verdacht statt Vertraue, woll' es, denk' es, Ich bitte König bei Hölderlin formuliert der Chor bei Müller. Dieser geht dafür auf den sophokleischen Text zurück, wo es heißt: Hör aus eigenem Wollen auf, sei vernünftig (cppovnaaq) Herr, ich ßehe dich an,79 Dabei bezeichnet cppovr|CTa