Peter Hacks, Heiner Müller und das antagonistische Drama des Sozialismus: Ein Streit im literarischen Feld der DDR 9783110432022, 9783110439175

Dissertation prize Göttingen University The dispute between Peter Hacks and Heiner Müller is among the most important

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Peter Hacks, Heiner Müller und das antagonistische Drama des Sozialismus: Ein Streit im literarischen Feld der DDR
 9783110432022, 9783110439175

Table of contents :
Inhalt
Siglenverzeichnis
1. Einleitung
2. Das literarische Feld der DDR
2.1 Relative Autonomie und partikulares Feld
2.2 Grundriss des literarischen Feldes
3. Hacks und Müller als häretische Gruppe im literarischen Feld
3.1 Die Etablierung im literarischen Feld
3.1.1 Peter Hacks
3.1.2 Heiner Müller
3.1.3 Kennenlernen
3.2 Das literarische Feld in den 1950er Jahren
3.3 Episch-revolutionäres Theater im Anschluss an Brecht
3.3.1 Das Didaktische Theater
3.3.1.1 Der theaterkonzeptionelle Diskurs
3.3.1.2 Der ästhetische Diskurs
3.3.2 Die ‚didaktischen‘ Dramen Hacks’ und Müllers
3.3.2.1 Peter Hacks: Die Kindermörderin
3.3.2.2 Peter Hacks: Der Müller von Sanssouci
3.3.2.3 Peter Hacks: Die Geschichte eines alten Wittibers im Jahre 1637
3.3.2.4 Peter Hacks: Ein guter Arbeiter
3.3.2.5 Peter Hacks: Die Sorgen und die Macht
3.3.2.6 Heiner Müller: Zehn Tage, die die Welt erschütterten
3.3.2.7 Heiner Müller: Der Lohndrücker
3.3.2.8 Heiner Müller: Die Korrektur
3.4 Hacks und Müller: Eine Gruppe im Feld?
3.4.1 Frühe Differenzen
3.4.2 Hacks und Müller als häretische Gruppe
4. Differenzen
4.1 Brecht fortschreiben: Der Glücksgott
4.1.1 Der Glücksgott von Inge und Heiner Müller
4.1.2 Der Glücksgott von Anna Elisabeth Wiede und Peter Hacks
4.2 Der Skandal um Die Umsiedlerin von Heiner Müller
4.2.1 Das Verbot der Umsiedlerin
4.2.2 Der dialektische Jambus
4.2.3 Die Verteidigung der Umsiedlerin durch Hacks
4.2.4 Hacks’ Kritik der Fabel
4.2.5 Die babylonische Theaterlandschaft der DDR
4.3 Die ,helle‘ und die ,dunkle‘ DDR: Moritz Tassow und Die Umsiedlerin
4.3.1 Realismus und Poesie: Soziolektaler vs. dialektischer Jambus
4.3.2 Enactment vs. Emplotment
4.3.3 Das unterschiedlich funktionalisierte Schweigen der Titelfiguren
4.3.4 Geschlechterverhältnisse
4.3.5 Komödienkonzeptionen: Vertikale vs. horizontale Komik
4.3.6 Die Figur des Narren: Der apokalyptische Fondrak und der prometheische Tassow
4.3.7 Moritz Tassow als dialektisches Drama: Mattukat und Tassow
4.3.8 Die deutsche Misere
4.3.9 Die gegensätzliche Tönung des Stoffs
4.4 Die Abkehr vom Gegenwartsdrama
4.4.1 Der Übergang zur Antike-Rezeption: Der Frieden
4.4.2 Die Unmöglichkeit des Gegenwartsdramas: Die Sorgen und die Macht
4.4.3 Hacks’ und Müllers Abkehr vom Gegenwartsdrama
4.5 „Tertium datur.“ Peter Hacks’ sozialistische Klassik
4.5.1 Ästhetische Merkmale der sozialistischen Klassik
4.5.2 Die Kritik an Brecht
4.5.3 Die postrevolutionäre Gesellschaft der DDR
4.5.4 Die Autonomie der Kunst
4.5.5 Anschaulichkeit als Voraussetzung der Souveränität des Helden
4.5.6 Der sozialistische Absolutismus als politische Basis der sozialistischen Klassik
4.5.7 Die dramaturgisch-teleologische Perspektivierung
4.5.8 Das Verhältnis von Ideal und Realität
4.5.9 Poetisieren und Historisieren
4.5.10 Wirkungsästhetik: Probehandeln
4.5.11 Die sozialistische Klassik als neue Renaissance
4.6 Zwei dramatisch explizierte Geschichtsphilosophien
4.6.1 Die zweite Werkphase Heiner Müllers
4.6.2 Mythos-Rezeption bei Peter Hacks und Heiner Müller
4.6.3 Margarete in Aix
4.6.3.1 Politik und Staat
4.6.3.2 Kunst
4.6.3.3 Der Streit über den dunklen und den hellen Stil
4.6.3.4 Das Verhältnis von Kunst und Politik
4.6.3.5 Der Sieg der Komödie über die Tragödie
4.6.3.6 Die Machtlosigkeit der Kunst
4.6.3.7 Mögliche Gegenwartsbezüge
4.6.3.8 Die Rezeption in der DDR
4.6.4 Philoktet
4.6.4.1 Die Fabel
4.6.4.2 Drei Interpretationen des Philoktet
4.6.4.3 Das Modell
4.6.4.4 Durchrationalisierung: Götter und Klassenverhältnisse
4.6.4.5 Reduktion des dramatischen Personals: Psychologisches Dreieck
4.6.4.6 Steigerung der Gewalt und Rücknahme des Mitleids
4.6.4.7 Der Krieg als Metapher
4.6.4.8 Der Prolog
4.6.4.9 Die Funktionsweise des Modells
4.6.4.10 Die Gattungsfrage: Philoktet als „tragische Satire“
4.6.4.11 Das Modell als „Lehrmaschine“
4.6.4.12 Anwendungsbereiche des Philoktet-Modells
4.6.5 Hacks’ Kritik der Müller’schen Tragödie
4.6.5.1 Der Staat und das Verhältnis von Mittel und Zweck
4.6.5.2 Hacks’ ‚Unruhe’ oder: „Ist am Ende der ‚Philoktet’-Vers [...] barbarisch“?
4.6.5.3 Metaphorisierung
4.6.5.4 Die Didaktisierung der Tragödie
4.7 Das antagonistische Drama des Sozialismus: Königsdrama und Lehrstück
4.7.1 Hacks’ Königsdramen
4.7.1.1 Die Nachfolgefrage: Prexaspes
4.7.1.2 Der poetische Blick „von oben“: Numa
4.7.2 Müllers Lehrstücke
4.7.2.1 Die „unreine Wahrheit“: Der Horatier
4.7.2.2 „Wozu das Töten und wozu das Sterben“? – Mauser
4.7.3 Das antagonistische Drama des Sozialismus
4.7.4 Das Ende der Gruppe Hacks/Müller
5. Der Streit im literarischen Feld
5.1 Das literarische Feld in den 1970er Jahren
5.1.1 Der Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker
5.1.2 Die Auswirkungen des Machtwechsels auf das literarische Feld
5.1.3 Verschiebungen im Kanon: Die zweite Lyrikdebatte und die Klassikdebatte
5.1.4 Enttäuschung und Utopieverlust
5.1.5 Westliche Einflüsse
5.1.6 Konkurrenz: Die Etablierung Hacks' und Müllers in der DDR und in der BRD
5.1.7 Hacks' Schlussfolgerungen aus dem Machtwechsel und der neuen Kulturpolitik
5.2 Das Öffentlich-Werden des Streits: Heiner Müllers Macbeth
5.2.1 „Shakespeare verändern von Zeile zu Zeile“: Müllers Macbeth-Bearbeitung
5.2.1.1 Shakespeare-Rezeption bei Müller
5.2.1.2 Müllers Macbeth als „Spiel der Macht“
5.2.2 Die öffentliche Diskussion über Macbeth
5.2.2.1 Wolfgang Harichs Warnung vor dem Kulturverfall
5.2.2.2 Die Reaktionen auf Harichs Intervention
5.2.3 Hacks' Kritik an Macbeth
5.2.3.1 Darf man Klassiker verändern? – Hacks' Essay „Über das Revidieren von Klassikern“
5.2.3.2 Die Bearbeitung von König Heinrich IV
5.2.4 „Der Eskapismus-Vorwurf ist Unsinn“: Müllers Reaktion
5.2.5 Hacks und Müller: Eine Feldschlacht
5.3 Kanon-Revision: Was ist die Romantik?
5.3.1 Die offizielle Erbe-Auffassung und die Romantik
5.3.1.1 Romantik und Antifaschismus
5.3.1.2 Die Rolle Georg Lukács' als marxistischer „Praeceptor Germaniae“
5.3.1.3 „Die Romantik als Wendung in der deutschen Literatur“: Lukács' Romantikbild
5.3.2 Kanon-Revision: Die Romantik-Rezeption in den 1970er Jahren
5.3.2.1 Die Romantik-Rezeption im literaturwissenschaftlichen Feld
5.3.2.2 Die Romantik-Rezeption im literarischen Feld
5.4 „Nix Schlegel“: Das Romantikbild von Peter Hacks
5.4.1 Die Romantik als anti-bonapartistische Fronde
5.4.2 Romantische Ästhetik, oder: Friedrich Schlegel und die indirekte Apologie
5.4.3 Was ist die Romantik und wer sind die RomantikerInnen in der DDR?
5.5 Vom Negativ der Utopie zur Utopie der Kunst: Müllers Drama in den 1970er Jahren
5.5.1 Episch durchbrochene Dramen
5.5.1.1 Theater des Kommentars: Zement
5.5.1.2 Theater des Autokommentars: Traktor
5.5.2 Revuen
5.5.2.1 Theater des Anachronismus: Germania Tod in Berlin
5.5.2.2 Die Erfindung des postdramatischen Theaters: Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei
5.5.2.3 Der Einbruch der Utopie in den Text: Die Hamletmaschine
5.5.3 Müllers „Theater aus Gehirnströmen“: Ein beliebiges Spiel der Signifikanten?
5.6 Hacks' Kampf gegen die Romantik
5.6.1 „Umlagert von Beatgruppen“: Verständigungsversuche in der Akademie
5.6.2 Klassische Dramatik angesichts „mieser Männer und einer miesen Zukunft“
5.6.2.1 Die formale Aufnahme romantischer Mittel: Rosie träumt und Die Fische
5.6.2.2 Irrationalismus und Utopie: Rosie träumt und Die Vögel
5.6.2.3 Die Klassik und ihre Gegner: Das Jahrmarktsfest zu Plundersweilern
5.6.3 Die Romantik auf dem Theater: Der Kampf gegen das Regietheater
5.6.3.1 Der Kampf gegen die Regisseure
5.6.3.2 Mit dem Theater gegen das Theater: „Brot für Schauspieler“
5.6.3.3 Der Kampf gegen die Theaterkritik
5.6.4 Der Angriff auf die romantischen Autoren
5.6.4.1 Kafka und Kleist statt Mann und Goethe: Contra Günter Kunert
5.6.4.2 „Der Sarah-Sound“, oder: Literatur ist rational
5.6.4.3 Wider die meineidigen Dichter: Hacks' Schlegel-Rede
5.7 Die Eskalation des Streits: Die Ausbürgerung Wolf Biermanns und die Folgen
5.7.1 Wolf Biermann und die DDR
5.7.2 Die Ausbürgerung, der „intellektuelle Aufstand“ und die Folgen
5.7.3 Peter Hacks und Wolf Biermann
5.7.3.1 „Wolf und Günter sind völlig identisch“: Biermann, der Kleinbürger
5.7.3.2 Hacks' „Neues von Biermann“
5.7.3.3 Die Aberkennung von Hacks' symbolischem Kapital
5.7.4 Inversion: Von ,Hacks und Müller’ zu ,Müller und Hacks’
6. Ausblick
6.1 Nachwende
6.2 Heiner Müllers Mantel
7. Fazit
Literaturverzeichnis
Index

Citation preview

Ronald Weber Peter Hacks, Heiner Müller und das antagonistische Drama des Sozialismus

Deutsche Literatur Studien und Quellen

Herausgegeben von Beate Kellner und Claudia Stockinger

Band 20

Ronald Weber

Peter Hacks, Heiner Müller und das antagonistische Drama des Sozialismus Ein Streit im literarischen Feld der DDR

ISBN 978-3-11-043917-5 e-ISBN (PDF) 978-3-11-043202-2 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-043207-7 ISSN 2198-932X Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Titelabbildung: Johann Wolfgang Goethe an Johann Gottfried Herder, wahrscheinlich zwischen Mitte Januar und Mitte Februar 1786. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

| Für M.

Vorwort Wie viele geisteswissenschaftliche Dissertationen hat diese Arbeit eine lange Geschichte. Vergleicht man die vorliegende Arbeit mit einem Fluss, lässt sich eine ihrer Quellen ins Brandenburgische Bernau zurückverfolgen, wo Werner Mittenzwei mich im Jahr 2004 zum Kaffee empfing. Dem im Februar 2014 verstorbenen Nestor der DDRLiteraturwissenschaft schulde ich Dank für wesentliche Anregungen in Bezug auf Peter Hacks und Heiner Müller. Eine weitere Quelle dieser Arbeit entspringt in BerlinMitte im Haus des Eulenspiegel Verlags, wo ich im Jahr 2005 ein Praktikum absolvierte. Peter Hacksʼ letzter Verleger, der Literaturwissenschaftler Matthias Oehme, hat mich in meinem Interesse für Hacks nicht nur tatkräftig unterstützt, sondern mir auch manche Frage zum literarischen System der DDR beantwortet. Ihm gilt auch für den stets unkomplizierten Zugang zu Hacksʼ Nachlass mein aufrichtiger Dank. Die dritte Quelle führt ins Seminar für Deutsche Philologie nach Göttingen, wo ich meine literaturwissenschaftliche Ausbildung erhielt. Besonderen Dank bin ich in diesem Zusammenhang Claudia Stockinger schuldig, meiner hilfsbereiten und geduldigen Doktormutter, die mich auch in schwierigen Phasen meiner Arbeit ermutigt hat. Zahlreiche Menschen haben in den vergangenen Jahren einzelne Themenkomplexe dieser Arbeit mit mir diskutiert. Zuallererst zu nennen sind hier Bernadette Grubner und Jens Mehrle, die sich mehrmals mit mir zu einer Art Hacks-Kolloquium trafen. Der produktive Austausch mit ihnen hat mir sehr geholfen. Des Weiteren zu danken habe ich in dieser Hinsicht Felix Bartels, Janet Boatin, Matthias Clausen, Daniel Göcht, Kai Köhler, Nils C. Kumkar, Gunther Nickel, Marie-Sophie Schlaugat, Julia Sfalanga und dem Göttinger Kolloquium von Claudia Stockinger und Simone Winko. Bedanken möchte ich mich zudem bei den MitarbeiterInnen des Archivs der Akademie der Künste sowie des Deutschen Literaturarchivs in Marbach, Angela Wichmann von der Archivabteilung des Neuen Deutschland, Barbara Schultz vom Archiv der Volksbühne und Karl Sand vom Archiv des Deutschen Theaters. Sie haben mir durch ihre Kenntnisse und Hilfsbereitschaft die Arbeit erleichtert. Arbeitszeit und Arbeitskraft haben materielle Ressourcen zur Voraussetzung. Ohne ein Stipendium der Rosa-Luxemburg-Stiftung sowie die großzügige Unterstützung meiner Eltern hätte ich diese Arbeit nicht fertigstellen können. Wer fünf Jahre an einer Arbeit sitzt, weiß zudem, dass neben materiellen auch emotionale Ressourcen von Bedeutung sind. Für Zuneigung und Unterstützung danke ich daher der Frau, der mein Herz gehört, sowie meinen MitbewohnerInnen und meinen Eltern.

Inhalt Siglenverzeichnis | XV 1

Einleitung | 1

2 2.1 2.2

Das literarische Feld der DDR | 17 Relative Autonomie und partikulares Feld | 20 Grundriss des literarischen Feldes | 25

3

Hacks und Müller als häretische Gruppe im literarischen Feld | 31

3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3

Die Etablierung im literarischen Feld | 31 Peter Hacks | 31 Heiner Müller | 34 Kennenlernen | 38

3.2

Das literarische Feld in den 1950er Jahren | 39

3.3 3.3.1 3.3.1.1 3.3.1.2 3.3.2 3.3.2.1 3.3.2.2 3.3.2.3 3.3.2.4 3.3.2.5 3.3.2.6 3.3.2.7 3.3.2.8

Episch-revolutionäres Theater im Anschluss an Brecht | 45 Das Didaktische Theater | 46 Der theaterkonzeptionelle Diskurs | 53 Der ästhetische Diskurs | 57 Die ‚didaktischen‘ Dramen Hacks’ und Müllers | 67 Peter Hacks: Die Kindermörderin | 69 Peter Hacks: Der Müller von Sanssouci | 72 Peter Hacks: Die Geschichte eines alten Wittibers im Jahre 1637 | 75 Peter Hacks: Ein guter Arbeiter | 78 Peter Hacks: Die Sorgen und die Macht | 79 Heiner Müller: Zehn Tage, die die Welt erschütterten | 87 Heiner Müller: Der Lohndrücker | 90 Heiner Müller: Die Korrektur | 98

3.4 3.4.1 3.4.2

Hacks und Müller: Eine Gruppe im Feld? | 106 Frühe Differenzen | 107 Hacks und Müller als häretische Gruppe | 109

4 4.1 4.1.1 4.1.2

Differenzen | 113 Brecht fortschreiben: Der Glücksgott | 113 Der Glücksgott von Inge und Heiner Müller | 117 Der Glücksgott von Anna Elisabeth Wiede und Peter Hacks | 126

X | Inhalt

4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.2.4 4.2.5

Der Skandal um Die Umsiedlerin von Heiner Müller | 135 Das Verbot der Umsiedlerin | 136 Der dialektische Jambus | 138 Die Verteidigung der Umsiedlerin durch Hacks | 141 Hacks’ Kritik der Fabel | 145 Die babylonische Theaterlandschaft der DDR | 150

4.3

Die ,helle‘ und die ,dunkle‘ DDR: Moritz Tassow und Die Umsiedlerin | 152 Realismus und Poesie: Soziolektaler vs. dialektischer Jambus | 154 Enactment vs. Emplotment | 156 Das unterschiedlich funktionalisierte Schweigen der Titelfiguren | 161 Geschlechterverhältnisse | 162 Komödienkonzeptionen: Vertikale vs. horizontale Komik | 167 Die Figur des Narren: Der apokalyptische Fondrak und der prometheische Tassow | 172 Moritz Tassow als dialektisches Drama: Mattukat und Tassow | 175 Die deutsche Misere | 183 Die gegensätzliche Tönung des Stoffs | 186

4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.3.4 4.3.5 4.3.6 4.3.7 4.3.8 4.3.9 4.4 4.4.1 4.4.2 4.4.3 4.5 4.5.1 4.5.2 4.5.3 4.5.4 4.5.5 4.5.6 4.5.7 4.5.8 4.5.9 4.5.10 4.5.11

Die Abkehr vom Gegenwartsdrama | 188 Der Übergang zur Antike-Rezeption: Der Frieden | 188 Die Unmöglichkeit des Gegenwartsdramas: Die Sorgen und die Macht | 191 Hacks’ und Müllers Abkehr vom Gegenwartsdrama | 197 „Tertium datur.“ Peter Hacks’ sozialistische Klassik | 206 Ästhetische Merkmale der sozialistischen Klassik | 206 Die Kritik an Brecht | 208 Die postrevolutionäre Gesellschaft der DDR | 211 Die Autonomie der Kunst | 213 Anschaulichkeit als Voraussetzung der Souveränität des Helden | 215 Der sozialistische Absolutismus als politische Basis der sozialistischen Klassik | 216 Die dramaturgisch-teleologische Perspektivierung | 225 Das Verhältnis von Ideal und Realität | 227 Poetisieren und Historisieren | 233 Wirkungsästhetik: Probehandeln | 237 Die sozialistische Klassik als neue Renaissance | 241

Inhalt | XI

4.6 4.6.1 4.6.2 4.6.3 4.6.3.1 4.6.3.2 4.6.3.3 4.6.3.4 4.6.3.5 4.6.3.6 4.6.3.7 4.6.3.8 4.6.4 4.6.4.1 4.6.4.2 4.6.4.3 4.6.4.4 4.6.4.5 4.6.4.6 4.6.4.7 4.6.4.8 4.6.4.9 4.6.4.10 4.6.4.11 4.6.4.12 4.6.5 4.6.5.1 4.6.5.2 4.6.5.3 4.6.5.4 4.7 4.7.1 4.7.1.1 4.7.1.2 4.7.2 4.7.2.1 4.7.2.2

Zwei dramatisch explizierte Geschichtsphilosophien | 244 Die zweite Werkphase Heiner Müllers | 244 Mythos-Rezeption bei Peter Hacks und Heiner Müller | 246 Margarete in Aix | 250 Politik und Staat | 253 Kunst | 260 Der Streit über den dunklen und den hellen Stil | 262 Das Verhältnis von Kunst und Politik | 265 Der Sieg der Komödie über die Tragödie | 269 Die Machtlosigkeit der Kunst | 271 Mögliche Gegenwartsbezüge | 272 Die Rezeption in der DDR | 274 Philoktet | 275 Die Fabel | 277 Drei Interpretationen des Philoktet | 278 Das Modell | 280 Durchrationalisierung: Götter und Klassenverhältnisse | 281 Reduktion des dramatischen Personals: Psychologisches Dreieck | 282 Steigerung der Gewalt und Rücknahme des Mitleids | 285 Der Krieg als Metapher | 288 Der Prolog | 289 Die Funktionsweise des Modells | 291 Die Gattungsfrage: Philoktet als „tragische Satire“ | 293 Das Modell als „Lehrmaschine“ | 295 Anwendungsbereiche des Philoktet-Modells | 298 Hacks’ Kritik der Müller’schen Tragödie | 300 Der Staat und das Verhältnis von Mittel und Zweck | 303 Hacks’ ‚Unruhe’ oder: „Ist am Ende der ‚Philoktet’-Vers [...] barbarisch“? | 304 Metaphorisierung | 306 Die Didaktisierung der Tragödie | 308 Das antagonistische Drama des Sozialismus: Königsdrama und Lehrstück | 310 Hacks’ Königsdramen | 310 Die Nachfolgefrage: Prexaspes | 310 Der poetische Blick „von oben“: Numa | 312 Müllers Lehrstücke | 315 Die „unreine Wahrheit“: Der Horatier | 315 „Wozu das Töten und wozu das Sterben“? – Mauser | 316

XII | Inhalt

4.7.3 4.7.4 5 5.1 5.1.1 5.1.2 5.1.3 5.1.4 5.1.5 5.1.6 5.1.7

5.2 5.2.1 5.2.1.1 5.2.1.2 5.2.2 5.2.2.1 5.2.2.2 5.2.3 5.2.3.1 5.2.3.2 5.2.4 5.2.5 5.3 5.3.1 5.3.1.1 5.3.1.2 5.3.1.3 5.3.2 5.3.2.1 5.3.2.2

Das antagonistische Drama des Sozialismus | 318 Das Ende der Gruppe Hacks/Müller | 322 Der Streit im literarischen Feld | 327 Das literarische Feld in den 1970er Jahren | 327 Der Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker | 327 Die Auswirkungen des Machtwechsels auf das literarische Feld | 329 Verschiebungen im Kanon: Die zweite Lyrikdebatte und die Klassikdebatte | 331 Enttäuschung und Utopieverlust | 336 Westliche Einflüsse | 338 Konkurrenz: Die Etablierung Hacksʼ und Müllers in der DDR und in der BRD | 340 Hacksʼ Schlussfolgerungen aus dem Machtwechsel und der neuen Kulturpolitik | 346 Das Öffentlich-Werden des Streits: Heiner Müllers Macbeth | 350 „Shakespeare verändern von Zeile zu Zeile“: Müllers MacbethBearbeitung | 350 Shakespeare-Rezeption bei Müller | 351 Müllers Macbeth als „Spiel der Macht“ | 353 Die öffentliche Diskussion über Macbeth | 364 Wolfgang Harichs Warnung vor dem Kulturverfall | 367 Die Reaktionen auf Harichs Intervention | 372 Hacksʼ Kritik an Macbeth | 375 Darf man Klassiker verändern? – Hacksʼ Essay „Über das Revidieren von Klassikern“ | 380 Die Bearbeitung von König Heinrich IV. | 381 „Der Eskapismus-Vorwurf ist Unsinn“: Müllers Reaktion | 383 Hacks und Müller: Eine Feldschlacht | 385 Kanon-Revision: Was ist die Romantik? | 387 Die offizielle Erbe-Auffassung und die Romantik | 387 Romantik und Antifaschismus | 389 Die Rolle Georg Lukácsʼ als marxistischer „Praeceptor Germaniae“ | 391 „Die Romantik als Wendung in der deutschen Literatur“: Lukácsʼ Romantikbild | 395 Kanon-Revision: Die Romantik-Rezeption in den 1970er Jahren | 399 Die Romantik-Rezeption im literaturwissenschaftlichen Feld | 400 Die Romantik-Rezeption im literarischen Feld | 403

Inhalt | XIII

5.4 5.4.1 5.4.2 5.4.3

5.5 5.5.1 5.5.1.1 5.5.1.2 5.5.2 5.5.2.1 5.5.2.2 5.5.2.3 5.5.3

5.6 5.6.1 5.6.2 5.6.2.1 5.6.2.2 5.6.2.3 5.6.3 5.6.3.1 5.6.3.2 5.6.3.3 5.6.4 5.6.4.1 5.6.4.2 5.6.4.3

„Nix Schlegel“: Das Romantikbild von Peter Hacks | 411 Die Romantik als anti-bonapartistische Fronde | 412 Romantische Ästhetik, oder: Friedrich Schlegel und die indirekte Apologie | 417 Was ist die Romantik und wer sind die RomantikerInnen in der DDR? | 421 Vom Negativ der Utopie zur Utopie der Kunst: Müllers Drama in den 1970er Jahren | 427 Episch durchbrochene Dramen | 434 Theater des Kommentars: Zement | 434 Theater des Autokommentars: Traktor | 438 Revuen | 442 Theater des Anachronismus: Germania Tod in Berlin | 443 Die Erfindung des postdramatischen Theaters: Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei | 450 Der Einbruch der Utopie in den Text: Die Hamletmaschine | 463 Müllers „Theater aus Gehirnströmen“: Ein beliebiges Spiel der Signifikanten? | 496 Hacksʼ Kampf gegen die Romantik | 503 „Umlagert von Beatgruppen“: Verständigungsversuche in der Akademie | 507 Klassische Dramatik angesichts „mieser Männer und einer miesen Zukunft“ | 511 Die formale Aufnahme romantischer Mittel: Rosie träumt und Die Fische | 512 Irrationalismus und Utopie: Rosie träumt und Die Vögel | 517 Die Klassik und ihre Gegner: Das Jahrmarktsfest zu Plundersweilern | 525 Die Romantik auf dem Theater: Der Kampf gegen das Regietheater | 530 Der Kampf gegen die Regisseure | 534 Mit dem Theater gegen das Theater: „Brot für Schauspieler“ | 542 Der Kampf gegen die Theaterkritik | 544 Der Angriff auf die romantischen Autoren | 548 Kafka und Kleist statt Mann und Goethe: Contra Günter Kunert | 550 „Der Sarah-Sound“, oder: Literatur ist rational | 552 Wider die meineidigen Dichter: Hacksʼ Schlegel-Rede | 555

XIV | Inhalt

5.7 5.7.1 5.7.2 5.7.3 5.7.3.1 5.7.3.2 5.7.3.3 5.7.4

Die Eskalation des Streits: Die Ausbürgerung Wolf Biermanns und die Folgen | 563 Wolf Biermann und die DDR | 563 Die Ausbürgerung, der „intellektuelle Aufstand“ und die Folgen | 567 Peter Hacks und Wolf Biermann | 572 „Wolf und Günter sind völlig identisch“: Biermann, der Kleinbürger | 574 Hacksʼ „Neues von Biermann“ | 576 Die Aberkennung von Hacksʼ symbolischem Kapital | 580 Inversion: Von ,Hacks und Müller’ zu ,Müller und Hacks’ | 584

6 6.1 6.2

Ausblick | 589 Nachwende | 593 Heiner Müllers Mantel | 598

7

Fazit | 605

Literaturverzeichnis | 617 Index | 673

Siglenverzeichnis Institutionen und Publikationsorgane AdK

Akademie der Künste, Berlin

BArch

Bundesarchiv

BE

Berliner Ensemble

BKTA

Bernd-Klaus Tragelehn-Archiv, Privatarchiv

BStU

Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes

BZ

Berliner Zeitung

DLA

Deutsches Literaturarchiv Marbach

DSV

Deutscher Schriftstellerverband; bis 1973 Bezeichnung für den Schriftstellerverband der DDR

DT

Deutsches Theater, Berlin

FAZ

Frankfurter Allgemeine Zeitung

HMA

Heiner Müller-Archiv, Akademie der Künste

JK

Junge Kunst

jW

junge Welt

MfS

Ministerium für Staatssicherheit

ND

Neues Deutschland

ndl

neue deutsche literatur

NFG

Nationale Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur, Weimar

NÖS

Neues ökonomisches System der Planung und Leitung

PDA

Paul Dessau-Archiv, Akademie der Künste

SAPMO

Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv

SuF

Sinn und Form

SZ

Süddeutsche Zeitung

TdZ

Theater der Zeit

Th

Theater heute

WB

Weimarer Beiträge

Werke und Texte AEV

Hacks, Peter: Am Ende verstehen sie es. Politische Schriften 1988 bis 2003. Nebst dem Briefwechsel mit Kurt Gossweiler 1996 bis 2003, hg. von André Thiele u. Johannes Oehme. Berlin 2005.

ÄGB

Barck, Karlheinz (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Stuttgart 2000–2005.

XVI | Siglenverzeichnis

ARGOS

Mitteilungen zu Leben, Werk und Nachwelt des Dichters Peter Hacks (1928–2003). Mainz 2007ff.

BD

Keck, Thomas; Mehrle, Jens (Hg.): Berlinische Dramaturgie. Gesprächsprotokolle der von Peter Hacks geleiteten Akademiearbeitsgruppen. 5 Bde. Berlin 2010.

BGS

Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, unter Mitarbeit von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem. 7 Bde. in 14 Teilbde. Frankfurt/M. 1991.

DKLS

Schubbe, Elimar (Hg.): Dokumente zur Kunst-, Literatur- und Kulturpolitik der SED. Stuttgart 1972.

DMT

Nickel; Gunther; Weber, Ronald: Dokumente zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte von Peter Hacksʼ „Moritz Tassow“. In: ARGOS (2012), H. 9, S. 9–369.

DWF

Hacks, Peter; Kipphardt, Heinar: Du tust mir wirklich fehlen. Der Briefwechsel, hg. von Uwe Naumann. Berlin 2004.

FR

Fischborn, Gottfried; Hacks, Peter: Fröhliche Resignation. Interview, Briefe, Aufsätze, Texte. Berlin 2007.

GBA

Brecht, Bertolt: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, hg. von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei u. Klaus-Detlef Müller. 30 Bde. in 32 Teilbde. Berlin/Weimar/Frankfurt/M. 1988–2000.

GmH

Müller sen., André: Gespräche mit Hacks. 1963–2003. Berlin 2008.

Goethe

Goethe, Johann W. von: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. München 1998.

GüB

Bunge, Hans; Hacks, Peter; Wiede, Anna Elisabeth: Gespräch über Brecht, 17. Februar 1958. Bearbeitet von Bernadette Grubner. In: Brecht-Jahrbuch 33 (2008), S. 235–249.

GüS

Hacks, Peter: Einige Gemeinplätze über das Stückeschreiben. In: ndl 4 (1956), H. 9, S. 119–126.

Hegel

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Werke in zwanzig Bänden. Auf der Grundlage der Werke 1832–1845. Neu ed. Ausg., hg. von Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel. Frankfurt/M. 1969ff.

HMH

Lehmann, Hans-Thies; Primavesi, Patrick (Hg.): Heiner Müller-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2003.

HKWM

Haug, Wolfgang Fritz (Hg.): Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus. Bisher 8 Bde. Hamburg 1994ff.

HW

Hacks, Peter: Werke. 15 Bde. Berlin 2003.

KoS

Müller, Heiner: Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen. Eine Autobiographie (MW 9).

Lenin

Lenin, Wladimir I.: Werke, hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. 40 Bde. Berlin 1959–1968.

Mamama

Nickel, Gunther: Peter Hacks schreibt an „Mamama“. Der Familienbriefwechsel 1945–1999. Berlin 2013.

MEW

Marx, Karl; Engels, Friedrich: Werke, hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. 43 Bde. Berlin 1956–1990.

MW

Müller, Heiner: Werke, hg. von Frank Hörnigk. 12 Bde. u. ein Registerbd. Frankfurt/M./Berlin 1998–2011.

Siglenverzeichnis | XVII

NBK

Müller sen., André; Hacks, Peter: Nur daß wir ein bißchen klärer sind. Der Briefwechsel 1989 und 1990. Berlin 2002.

NIR

Dieckmann, Friedrich; Irmer, Hans-Jochen: „Man hat nicht immer recht, wenn man siegt.“ Ein Gespräch mit Peter Hacks (14. März 1974). In: ARGOS (2009), H. 4, S. 77– 83.

RT

Hacks, Peter: Das realistische Theaterstück. In: ndl 5 (1957), H. 10, S. 90–104.

Schiller

Schiller, Friedrich: Sämtliche Werke in 5 Bänden, hg. von Peter André Alt, Albert Meier u. Wolfgang Riedel. München 2004.

SORGEN 1

Hacks, Peter: Die Sorgen und die Macht. Historie. Manuskript. Berlin 1959 (Archiv des Deutschen Theaters).

SORGEN 2

Hacks, Peter: Die Sorgen und die Macht. Historie. Bühnenmanuskript des Henschelverlags. Berlin 1960.

Shakespeare

Shakespeare, William: Sämtliche Werke, hg. von Anselm Schlösser. 4 Bde. 3. Aufl. Berlin/Weimar 1975.

VK

Hacks, Peter: Verehrter Kollege. Briefe an Schriftsteller, hg. von Rainer Kirsch. Berlin 2006.

1

Einleitung

Es beginnt mit einem Brief und es endet mit einem Brief. 1957 bestätigt Peter Hacks Heiner Müller in einem Schreiben zur Vorlage beim Schriftstellerverband, dass dessen Stück Der Lohndrücker „das beste Theaterstück“ sei, „das in der DDR geschrieben wurde“, und er „bedeutende Hoffnung“ in Müller setze. 1997 kommt Hacks in einem Brief an seinen Freund André Müller sen. auf den 1995 verstorbenen Müller und den kurz zuvor verstorbenen Stephan Hermlin zu sprechen und bemerkt: „Ich meine, es ist wirklich besser, wir freuen uns an ihren Gräbern als sie an unsern.“1 Der Zeitraum von vierzig Jahren zwischen beiden Aussagen markiert den Gegenstandsbereich der vorliegenden Arbeit über Hacks’ und Müllers antagonistische Dramenkonzepte und deren ästhetische Kontroverse, die sich in den 1970er Jahren zu einer das literarische Feld der DDR prägenden Feindschaft entwickelte. Zwischen beiden Aussagen liegt die Geschichte des DDR-Dramas, die Geschichte der Brecht-Schule, der sowohl Hacks als auch Müller angehören, sowie die Geschichte des deutschen Sozialismus überhaupt, dem Hacks und Müller sich trotz aller Differenz verpflichtet fühlten. Der Streit zwischen Peter Hacks und Heiner Müller gehört nicht zu den vergessenen Auseinandersetzungen der Literaturgeschichte. Zwar stellt er keinen der großen medialen Streitfälle der Nachkriegsliteratur dar. Er konnte den ZeitgenossInnen, denen er eine Richtungsentscheidung pro Hacks oder pro Müller abverlangte, aber allein schon deshalb nicht entgehen, weil er den für die DDR typischen „rhetorischen Zirkel verpflichtender Gemeinschaftlichkeit“2 durchbrach. Eine umfassende Darstellung hat er jenseits der Erwähnung in zahlreichen autobiographischen und wissenschaftlichen Publikationen bis dato jedoch nicht gefunden. Zudem wird der Streit, wo er explizit thematisiert wird, allzu oft auf ein Motiv der Konkurrenz verkürzt. Die Auseinandersetzung erscheint dann als „Diadochenkampf um die Brechtnachfolge“3, als Wettkampf um den vom eigentlichen Begründer des DDR-Dramas verwaist zurückgelassenen Thron. Auch eine dem Prominenten-Status des späten Heiner Müller angemessene Variante, die den Streit auf das Motiv der Nebenbuhlerschaft zurückführt, ist in Umlauf: Hacks habe Müllers Frau Inge geliebt, diese ihn aber zurückgewiesen, war im August 2003, kurz nach Hacks’ Tod, auf Spiegel Online zu lesen.4

|| 1 VK 16 (Peter Hacks an Heiner Müller, 2. Mai 1957) u. Peter Hacks an André Müller sen., 1. Mai 1997, DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit André Müller sen. 2 Petra Stuber: Spielräume und Grenzen. Studien zum DDR-Theater. Berlin 2000, S. 154. 3 Horst Turk: Philologische Grenzgänge. Zum Cultural Turn in der Literatur. Würzburg 2003, S. 259. 4 Vgl. Volker Weidermann: Hacks und Müller. Die Geschichte einer Feindschaft. In: Spiegel Online, 31. August 2003, http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,263740,00.html (zuletzt eingesehen am 1. April 2014). Die in der Wortwahl maßvollere Version des Artikels erschien am 31. August 2003 in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.

2 | Einleitung

Verschafft man sich einen Überblick über die zu Peter Hacks und Heiner Müller erschienene Literatur, so stellt man fest, dass die beiden wichtigsten Dramatiker der DDR kaum je gemeinsam betrachtet wurden und die Auseinandersetzung zwischen beiden – obwohl unstrittig ist, dass sie „innerhalb des DDR-Theaters schulbildend gewirkt“ haben – als „ein folgenloser Streit“ gilt.5 Zudem wurden die ästhetischen Positionen Hacks’ und Müllers oftmals auf wenige Kernpunkte reduziert, was zu mitunter eklatanten Missverständnissen, vor allem aber zu vereinfachten Aussagen geführt hat, wie etwa der, dass Hacks „die Wirklichkeit nur noch ästhetisieren“ wolle,

|| 5 Werner Mittenzwei: Die Antikerezeption des DDR-Theaters. Zu den Antikestücken von Peter Hacks und Heiner Müller. In: ders.: Kampf der Richtungen. Strömungen und Tendenzen der internationalen Dramatik. Leipzig 1978, S. 528 u. Hans-Christian Stillmark: Hacks und Müller – ein folgenloser Streit. In: Mitteilungen des deutschen Germanistenverbandes 47 (2000), H. 4, S. 424. Ausnahmen bilden ein Aufsatz Rüdiger Bernhardts, der die Dramaturgien Hacks’ und Müllers vergleicht (vgl. Rüdiger Bernhardt: Heiner Müller und Peter Hacks. Dramaturgie in der Diskussion. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe 28 [1979], H. 2, S. 37–48), und die 2012 erschienene Essay-Collage des Theaterwissenschaftlers Gottfried Fischborn, die allerdings keine wissenschaftliche Untersuchung im engeren Sinne darstellt und es sich zur Aufgabe macht, „zwischen den beiden Autoren [zu] vermitteln“. Gottfried Fischborn: Peter Hacks und Heiner Müller. Essay-Collage. Mainz 2012, S. 11. Der Müller-Biograph Jan-Christoph Hauschild beschäftigt sich in einem kurzen Kapitel mit dem Verhältnis zwischen Hacks und Müller. Vgl. Jan-Christoph Hauschild: Heiner Müller oder Das Prinzip Zweifel. Eine Biographie. Berlin 2003, S. 290f. Ähnlich knapp auch Christoph Trilse: Das Werk des Peter Hacks. Berlin 1980, S. 59–61 u. Holger Teschke: Von der Rettung des Klaviers. In: TdZ 58 (2003), H. 10, S. 15f. Zu nennen sind des Weiteren: Turk, S. 255–278; Ingo Way: Sozialistischer Hedonismus. Müller, Hacks, die „Umsiedlerin“ und das Glücksversprechen. In: TdZ 59 (2004), H. 4, Beilage: Theaterwissenschaftliche Beiträge, S. 13–16 u. Janine Ludwig: „Die Vergötzung des Konflikts“. Peter Hacks, Heiner Müller und die Komödie. In: Andrea Jäger (Hg.): Heitere Spiele über den Ausgang der Geschichte. Peter Hacks und die Komödie im Kalten Krieg. Vierte wissenschaftliche Tagung der Peter-Hacks-Gesellschaft. Berlin 2012, S. 47–73, die sich dem Vergleich der Komödien Die Umsiedlerin und Moritz Tassow widmen, sowie John Milfull: Utopie und Wirklichkeit in Peter Hacks’ „Moritz Tassow“ und Heiner Müllers „Der Bau“. In: Dietrich Papenfuß (Hg.): Rezeption der deutschen Gegenwartsliteratur im Ausland. Internationale Forschungen zur neueren deutschen Literatur; veranstaltet vom 21.–26. Oktober 1975 in Ludwigsburg. Stuttgart u.a. 1976, S. 407–414, der Moritz Tassow und Der Bau vergleicht. Zudem hat sich Theo Girshausen mit Hacks und Müller im Kontext der 1950er Jahre beschäftigt. Vgl. Theo Girshausen: Realismus und Utopie. Die frühen Stücke Heiner Müllers. Köln 1981. – Auf einen gesonderten Forschungsüberblick zu Heiner Müller sowie Peter Hacks wird in dieser Arbeit aus Platzgründen verzichtet. Die Literatur wird in den jeweiligen Kapiteln diskutiert. Darüber hinaus existieren zu beiden Autoren Bibliographien. Vgl. Ronald Weber: Peter-Hacks-Bibliographie. Verzeichnis aller Schriften von und zu Peter Hacks 1948 bis 2007. Mainz 2008 u. fortlaufend in der Zeitschrift ARGOS sowie Ingo Schmidt u. Florian Vaßen: Bibliographie Heiner Müller. 1948–1992. 2 Bde. Bielefeld 1993; Ingo Schmidt u. Florian Vaßen: Bibliographie Heiner Müller: 1993–1995. Mit Nachträgen und Register für die Bde. 1 und 2. Bielefeld 1995 u. Florian Vaßen: Heiner Müller Bibliographie. 3 Bde. Bielefeld 2013.

Einleitung | 3

während Müller dieselbe einzig „als ein verbissenes Spiel ums Überleben“ zeige.6 Auch die in den 1970er Jahren einsetzende Romantik-Rezeption in Verbindung mit Hacks’ Kampf gegen die als überhistorische Erscheinung aufgefasste Romantik – ein Versuch der Einflussnahme auf die Entwicklungen innerhalb der DDR-Literatur, in dessen Zusammenhang auch die Auseinandersetzung mit Müller zu verstehen ist, der sich zu dieser Zeit immer intensiver an der ästhetischen Moderne orientierent – spielt in der Forschung kaum eine Rolle.7 Erst vor dem Hintergrund der Gruppenbildungsprozesse zu Beginn der 1970er Jahre, die mit der Öffnung des vormals relativ strikt regulierten Kanons einsetzen, erklärt sich aber die Spaltung der DDR-Literatur, die mit den Protesten gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns ihre Vollendung fand und das kulturelle Leben der DDR bis zu ihrem Ende prägte.8 Der selbsternannte Klassiker Peter Hacks, den Sven Hanuschek treffend als seltenes Exemplar eines „marxistischen Ästheten“ bezeichnet hat, 9 und sein ‚modernistischer‘, postdramatischer Gegenspieler Heiner Müller stehen beispielhaft für diesen Spaltungsprozess. Die vorliegende Arbeit füllt insofern eine Forschungslücke, als sie einer zu schreibenden, umfassenden Literatur- und Kulturgeschichte der DDR einen weiteren Mosaikstein hinzufügt.10 Wenn im Folgenden von der Geschichte des Streits zwischen Hacks und Müller die Rede ist, so wird also auch die Geschichte der Lagerbildung und Spaltung der DDR-Literatur erzählt, die sich hier in erster Linie als Schisma der Brecht-Schule darstellt, als Spaltung derjenigen AutorInnen, deren unmittelbarer Eintritt in das literarische Leben mit dem Studium der Texte Brechts verbunden war und die dem ,Lehrer‘

|| 6 Ewa Szymani: Ausbruch aus der Konvention. Frauenfiguren in Peter Hacks’ „Margarete in Aix“ und Heiner Müllers „Anatomie Titus Fall of Rome. Ein Shakespearekommentar“. In: Forum modernes Theater 17 (2002), H. 1, S. 58. 7 Vgl. Bernd Leistner: Neuere DDR-Literatur und die klassisch-romantische Tradition. In: Thomas Metscher (Hg.): Kulturelles Erbe zwischen Tradition und Avantgarde. Ein Bremer Symposium. Köln/Weimar/Wien 1991, S. 413–425; Bernd Leistner: Goethe, Hoffmann, Kleist, et cetera. Zu einem Kapitel DDR-Literatur der siebziger, achtziger Jahre. In: Lothar Ehrlich u.a. (Hg.): Weimarer Klassik in der Ära Honecker. Köln 2001, S. 126–135 u. Ronald Weber: Die „allerheutigsten Kriege“ – Peter Hacks im literarischen Feld der DDR 1976/77. In: Kai Köhler (Hg.): Salpeter im Haus. Peter Hacks und die Romantik. Berlin 2011, S. 26–52. Siehe zu Hacks’ Romantikbild: Köhler (Hg.): Salpeter im Haus. Siehe zur Rezeption der Romantik in der DDR die Literaturangaben in Kap. 5.3. 8 Siehe hierzu thesenhaft: Ursula Heukenkamp: „Eine Sache, die der Weltgeist vorgesehen hat, auf die kann man sich dann auch verlassen.“ Peter Hacks und die große Fehde in der DDR-Literatur. Zum 80. Geburtstag. In: Zeitschrift für Germanistik 18 (2008), H. 3, S. 625–633. 9 Sven Hanuschek: Geschichte des bundesdeutschen P.E.N.-Zentrums von 1951 bis 1990. Tübingen 2004, S. 111. 10 Die äußerst hilfreichen Arbeiten Wolfgang Emmerichs und Werner Mittenzweis seien damit in keiner Weise herabgesetzt. Vgl. Wolfgang Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erw. Neuausg. Leipzig 1996 u. Werner Mittenzwei: Die Intellektuellen. Literatur und Politik in Ostdeutschland 1945 bis 2000. Berlin 2003.

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zumeist Zeit ihres Lebens anhingen.11 Der Müller-Freund Bernd Klaus Tragelehn hat die Geschichte der Brecht-Schule mit polemischem Unterton gegen die ,RechtsBrechtianer‘ mit der Nachgeschichte Hegels verglichen: „Auf der einen Seite die staatstragenden Preußen und auf der anderen Seite die Linkshegelianer und weiter bis hin zu Marx. Genauso hat die Brecht-Schule sich gespalten.“12 Peter Hacks, der sich als einziger der Brecht-Schüler im Zuge seines Übergangs zur ,sozialistischen Klassik‘ ab den 1960er Jahren vehement von Brecht distanzierte und für sich beanspruchte, diesen überwunden zu haben, hätte Tragelehns Schema sicherlich widersprochen; mit Leuten wie Manfred Wekwerth, Brecht-Schüler und ab 1960 Chefregisseur am Berliner Ensemble, wollte er nichts gemein haben. Das Bild trifft, siedelt man das Primat der Fabel auf der Brecht’schen Rechten und das Primat der Figur und der dramatischen Situation auf der Brecht’schen Linken an, gleichwohl den Gegenstand, zumal emplotment und enactment genau jene Brecht’schen Fluchtlinien kennzeichnen, an denen Hacks und Müller sich orientierten. Es erweist sich aber noch in einem weiteren Sinne als treffend, nämlich hinsichtlich der Frage nach dem Staat. Denn unabhängig von der konkreten Loyalität gegenüber der DDR, die beide Dramatiker teilten, gehört der Hegelianer Hacks ins Lager der expliziten Etatisten, während Müller in Anknüpfung an den linksradikalen Brecht als Anti-Etatist bezeichnet werden kann. So sehr die Auseinandersetzung zwischen Hacks und Müller eine genuin ästhetische ist, ist sie dergestalt zugleich auch eine politische. Werner Mittenzwei hat das bereits 1978 auf den Punkt gebracht: Ihre unterschiedlichen Standpunkte haben ihren Grund nicht im Persönlichen, noch ausschließlich im Politischen, sie verweisen auf das Ästhetische, obwohl sich in das Ästhetische – wie könnte es anders sein – das Politische mischt. Es sind Unterschiede und auch Gegensätze unter Marxisten.13

Wenn vom Streit zwischen Hacks und Müller die Rede ist, ist also das Politische im Auge zu behalten; und das nicht allein, weil beide eminent politische Autoren sind, sondern auch weil das Feld, in dem sich die Auseinandersetzung zwischen beiden abspielt, hochgradig politisch aufgeladen ist; in der DDR zu schreiben, hieß immer auch die sozialistische Gretchenfrage beantworten ,Wie hältst du’s mit dem Staat?‘, in welche die eigentliche Frage ‚Wie hältst du’s mit der Partei?‘ eingeschlagen war. Was die Auseinandersetzung zwischen Hacks und Müller auszeichnet, ist (unabhängig davon, dass beide mit der Antwort auf diese Frage wie viele andere DDR-AutorInnen ihre Probleme hatten) jedoch der Umstand, dass die bis in die 1970er Jahre hinein

|| 11 Siehe zur Geschichte der Brecht-Schule in Bezug auf die Lyrik: Dennis Püllmann: Von Brecht zu Braun. Versuch über die Schwierigkeiten poetischer Schülerschaft. Mainz 2011. 12 B. K. Tragelehn: Brecht und die Folgen. In: Klaus Gehre (Hg.): Brecht 100. Ringvorlesung aus Anlaß des 100. Geburtstages Bertolt Brechts. Berlin 1999, S. 31. 13 Mittenzwei: Antikerezeption, S. 547.

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so omnipräsente Kulturpolitik in dieser gerade keine aktive Rolle spielt. Damit aber fiel sie durch das Raster der DDR-Literaturgeschichtsschreibung, die seit jeher auf das Gegenüber von AutorInnen und Kulturpolitik fokussierte, wenn sie nicht die AutorInnen der DDR samt und sonders zu „staatlich besoldete[n] Funktionäre[n]“ erklärte, ein Vorgehen, das in Zeiten des Kalten Krieges keine Seltenheit darstellte und mitunter auch heute noch anzutreffen ist.14 Die (Kultur-)Politik der SED stand lange Zeit im Mittelpunkt der Literaturgeschichtsschreibung. Ihren Beschlüssen und Entscheidungen folgten nicht nur die Periodisierungen der DDR-Literaturgeschichte, diese galten auch als Initiale des literarischen Prozesses. Am sinnfälligsten drückt sich das in Hans-Jürgen Schmitts Vorbemerkung zum 1983 vorgelegten DDR-Band von Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur aus. Dort heißt es: Keine andere Epoche deutscher Literatur ist mit dem kulturpolitischen Programm einer Partei in einer so ambivalenten Verbindung zu sehen wie die Literatur der DDR [...]. Im Gegensatz zu anderen Epochen stellt sich nicht die Schwierigkeit, ein sozialgeschichtliches Modell erst herausfinden zu müssen, in dem dann der Wirkungszusammenhang der Literatur begründet werden kann; es gibt vielmehr programmatische Vorgaben der Kulturpolitik, die Institutionen geprägt und Schreibprozesse beeinflußt haben.15

Der blinde Fleck, den der innerliterarische Entwicklungsgang der DDR-Literatur in der Literaturgeschichtsschreibung darstellt, findet seine Erklärung allerdings nicht allein im sozialgeschichtlichen Forschungsparadigma der 1970er, das die meisten vor 1989 erschienenen Literaturgeschichten prägte.16 Dass die AutorInnen in den Modularisierungen der DDR-Literaturgeschichtsschreibung zumeist als mehr oder weniger einheitliche Gruppe aufgefasst werden (und die sogenannten ,parteikonformen‘ AutorInnen wie selbstverständlich außer Betracht sind), geht vielmehr auf die grundsätzliche Annahme eines Widerspruchs zwischen politischem und literarischem Feld zurück. Als Grundbedingung der DDR-Literatur erscheint so die andauernde Auseinandersetzung zwischen den AutorInnen und den kulturpolitischen Ansprüchen der || 14 Kurt Rothmann: Kleine Geschichte der deutschen Literatur. 19. Aufl. Stuttgart 2009, S. 313. Damit ist implizit ausgedrückt, dass es in der DDR überhaupt keine Autonomie für Kunst gegeben habe, weil diese Teil des politischen Herrschaftssystems war. Siehe zu dieser These: Gunter Holzweißig: Zensur ohne Zensor. Die SED-Informationsdiktatur. Bonn 1997. 15 Hans-Jürgen Schmitt (Hg.): Die Literatur der DDR. München/Wien 1983 (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Bd. 11), S. 10. Die DDR-Literaturgeschichtsschreibung der BRD weist so eine erstaunliche Konvergenz zur DDR-Literaturgeschichtsschreibung aus der DDR auf, bei der die politischen Rahmenbedingungen wie die Beschlüsse der Kulturpolitik und anderer Institutionen ebenso im Vordergrund standen. Vgl. Horst Haase: Literatur der Deutschen Demokratischen Republik. Von einem Autorenkollektiv unter der Leitung von Horst Haase. Sonderausgabe. Berlin 1980 (Geschichte der deutschen Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Bd. 11). 16 Vgl. Rainer Rosenberg: Was war DDR-Literatur? Die Diskussion um den Gegenstand in der Literaturwissenschaft der Bundesrepublik Deutschland. In: Zeitschrift für Germanistik 5 (1995), H. 1, S. 15.

6 | Einleitung

SED, ein Widerspruch, der sich im Laufe der Existenz der DDR von einem Verhältnis der Heteronomie zu einem der Autonomie entwickelt habe. Das vorherrschende Narrativ der Literaturgeschichtsschreibung ist demnach eines der ästhetischen und politischen Emanzipation.17 Die dichotome Vorstellung, die nicht zuletzt mit der kaum reflektierten „Rolle des Westens“ bei der narrativen Schöpfung einer „Kultur der Dissidenz“18 zusammenhängt, greift in mancherlei Hinsicht zu kurz. Sie verstellt nicht nur den Blick für die Widersprüche innerhalb der (Kultur-)Politik selbst, sondern konstruiert vor allem ein „Bild von der permanenten Opferrolle der DDR-Schriftsteller“, die „in ihrer Selbstbehauptung gegen den Druck von oben […] eine Einheit gebildet hätten“, was zur Konsequenz hat, dass ein erheblicher Teil der DDR-Literatur, nämlich der somit als systemkonform abgewertete, ausgeklammert wird und „die tatsächliche Pluralität der Poetiken und politischen Positionen in der DDR-Literatur“ außerhalb der Betrachtung bleibt.19 Wie notwendig es ist, diese Pluralität in den Blick zu nehmen, zeigt der Streit zwischen Hacks und Müller, der eine neue Perspektive auf die Literaturlandschaft der DDR und ihre innerliterarischen Kämpfe eröffnet: auf die verschiedenen Parteiungen und Kreise sowie die divergierenden ästhetischen Richtungen. Einer der Kupferstiche der ersten, zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts erschienenen deutschsprachigen Literaturgeschichten, Jacob Friedrich Reimmanns Versuch einer Einleitung in die Historiam Literariam, zeigt einen Irrgarten, an dessen Eingang der Historiker steht und einen Ariadnefaden in der Hand hält. „Dem Faden nach“ steht darunter.20 Das Bild impliziert, der Geschichte des Theseus gemäß, dass der Literaturhistoriker den Faden zunächst abrollen muss, indem er sich einen Weg durch das Labyrinth bahnt. Die Vorstellung der Konstruktion, die hierin enthalten ist,

|| 17 Für ein solches Emanzipationsnarrativ, das die Literatur der Moderne und deren Rezeption implizit als positiv wertet und die ‚vormodernen‘ AutorInnen somit abwertet, stehen die Literaturgeschichten Wolfgang Emmerichs und Ralf Schnells. Vgl. Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR, insb. S. 21 u. Ralf Schnell: Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1945. Stuttgart/Weimar 2003. Siehe auch: Günter Erbe: Die verfemte Moderne. Die Auseinandersetzung mit dem „Modernismus“ in Kulturpolitik, Literaturwissenschaft und Literatur der DDR. Opladen 1993. Vgl. zur DDR-Literaturgeschichtsschreibung: Roswitha Skare: 1989/90: Eine Wende in der deutschen Literaturgeschichte? Tendenzen der neueren Literaturgeschichtsschreibung. In: Roswitha Skare u. Rainer B. Hoppe (Hg.): Wendezeichen. Neue Sichten auf die Literatur der DDR. Amsterdam 1999, S. 15–43. 18 David Bathrick: Die Intellektuellen und die Macht. Die Repräsentanz des Schriftstellers in der DDR. In: Sven Hanuschek, Therese Hörnigk u. Christine Malende (Hg.): Schriftsteller als Intellektuelle. Politik und Literatur im Kalten Krieg. Tübingen 2000, S. 243 u. 242. 19 Heukenkamp: Peter Hacks und die große Fehde in der DDR-Literatur, S. 626. Siehe zur Kritik hieran auch: Henning Wrage: Die Zeit der Kunst. Literatur, Film und Fernsehen in der DDR der 1960er Jahre. Eine Kulturgeschichte in Beispielen. Heidelberg 2008, S. 21f. 20 Der Kupferstich findet sich in einer Liste des Antiquariats Trauzettel. Vgl. http://www.antiquariat-trauzettel.de/medien/1345030964_no.1600_-_1576.pdf, S. 6 (zuletzt eingesehen am 12. Dezember 2013).

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wich später der Suche nach den objektiven Zusammenhängen, „nach dem schon existierenden Leitfaden der Literatur vor der Literaturgeschichte“.21 Es gilt gerade den Aspekt der Konstruktion zu bedenken. Man muss und sollte dabei nicht so weit gehen wie Hayden White, der Geschichtsschreibung grundsätzlich als Sinngebung auffasst, die dem kontingenten Ereignisstrom mittels „poetischer Mittel eine diskursive Form auferlegt“.22 Aber die Dominanz eines Oben-/Unten-Narrativs in der DDR-Literaturgeschichtsschreibung verrät doch einiges darüber, dass die Interpretation von Geschichte immer auch das Konstrukt eines Wissenschaftlers ist und die historische Situation, in der er steht, mitreflektiert.23 Damit ist nicht gesagt, die bisherige Erzählung der Literaturgeschichte sei falsch. Betont wird damit lediglich, dass sie zu kurz greift. Sie ist nicht differenziert genug, um Phänomene wie den Streit zwischen Hacks und Müller werten zu können, ohne diesen auf eine Lesart zu verkürzen, die dessen Abhängigkeit von der Kulturpolitik behauptet. Dass dieser in einer Verbindung mit der (kultur-)politischen Geschichte der DDR steht, ist gleichwohl offensichtlich. Zu fragen ist, wie diese Verbindung beschaffen ist, in welcher Vermittlung ästhetische Debatte und Kulturpolitik zueinander stehen. Der Streit zwischen Hacks und Müller hat mit der Kulturpolitik vor allem die Gemeinsamkeit, dass die dahinter stehenden Auffassungen die Position der Kulturpolitik in doppelter Weise negieren; sowohl Hacks’ sozialistische Klassik als auch Müllers Versuch einer Aktualisierung des Brecht’schen Lehrstücks stehen den kulturpolitischen Konzepten distanziert gegenüber. Dabei streiten Hacks und Müller freilich über die gleichen, die marxistische ästhetische Diskussion von Beginn an begleitenden Ausgangsfragen: die Fragen von Realismus und Repräsentation.24 Will man den Gegenstand des Streits zuspitzen, so könnte man sagen, Hacks und Müller stritten als künstlerische „Historiker des entstehenden Sozialismus“ darüber, welche dramenästhetische Konzeption der DDR „am meisten vonnöten ist“.25 ,Am meisten vonnöten‘, das bedeutet: zweckmäßig, stimmig, politisch und ästhetisch richtig. Es ging also, folgt man Werner Mittenzwei, um nichts weniger als die dem Sozialismus angemessene Dramatik, um das ,sozialistische Drama‘, ein Terminus, der sich vor allem im

|| 21 Miltos Pechlivanos: Literaturgeschichte(n). In: Miltos Pechlivanos, Stefan Rieger, Wolfgang Struck u. Michael Weitz (Hg.): Einführung in die Literaturwissenschaft. Stuttgart 1995, S. 176. 22 Hayden White: Das Problem der Erzählung in der modernen Geschichtstheorie. In: Pietro Rossi (Hg.): Theorie der modernen Geschichtsschreibung. Frankfurt/M. 1987, S. 77. 23 Vgl. Michel de Certeau: The writing of history. New York u.a. 1988, S. 58ff. 24 Siehe überblicksweise die verschiedenen Beiträge in: Fritz J. Raddatz (Hg.): Marxismus und Literatur. Eine Dokumentation in 3 Bänden. Reinbek bei Hamburg 1969. Siehe auch: Reinhold Grimm u. Jost Hermand (Hg.): Realismustheorien in Literatur, Malerei, Musik und Politik. Stuttgart 1975 u. ÄGB 5, 149–197. 25 Georg Lukács: Das Problem der Perspektive. In: Deutscher Schriftstellerverband (Hg.): IV. Deutscher Schriftstellerkongreß. 9.–13. Januar 1956. Protokoll 1. Teil. Brandenburg/Havel, 1956, S. 82 u. Mittenzwei: Antikerezeption, S. 547.

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Umfeld der ästhetischen und kulturpolitischen Diskussionen der späten 1950er Jahre findet. ,Sozialistisches Drama‘, „Drama des Sozialismus“, wie es im Titel der Arbeit heißt, was ist darunter zu verstehen? Den alltagssprachlichen Sinn der Genitivkonstruktion, der hier als Verweis auf die politische Verlaufsform der DDR mit anklingt und den Hintergrund bezeichnet, vor dem der Streit zwischen Hacks und Müller sich ereignet, einmal beiseitegelassen, handelt es sich beim sozialistischen Drama um ein dem Sozialismus zugehöriges, auf den Sozialismus als politisches, kulturelles und philosophisches Phänomen bezogenes Drama. Das allein sagt noch nicht viel aus. Die Bestimmung bleibt unscharf, solange unklar ist, wodurch sich dieser Bezug herstellt. Durch eine sozialistische Ästhetik, und wenn ja, welche? Durch, was ebenso unbestimmt ist, sozialistische Inhalte? Durch das sozialistische Bekenntnis der AutorInnen? Oder gar durch die Übereinstimmung mit der ästhetischen Doktrin des Sozialistischen Realismus, jenem formelhaften Bekenntnis zu Totalität, Perspektive, Typischem und Parteilichkeit, das die Kulturpolitik der DDR lange Zeit als verpflichtende Methode propagierte, dessen konkrete Auslegung aber beliebig blieb? Zudem: Ist die Verknüpfung von sozialistischem Drama und Drama der DDR überhaupt zulässig? Konnte man nicht, zu denken wäre hier an den ehemaligen HacksFreund Hartmut Lange, der 1965 die DDR verließ, auch außerhalb der DDR sozialistisches Drama schreiben? Der Begriff des sozialistischen Dramas ist somit ähnlich problematisch wie der Begriff der DDR-Literatur.26 Er soll hier daher zunächst aus heuristischen Gründen auf den Gegenstandsbereich dieser Arbeit eingegrenzt werden. Als sozialistisches Drama gilt im Folgenden daher das Drama, das zwischen 1949 und 1990 in der DDR geschrieben wurde. Darüber hinaus aber muss die Definition des sozialistischen Dramas so vage bleiben wie diejenige der HerausgeberInnen des Lexikons sozialistischer Literatur: [S]ozialistische Literatur ist nichts Fixes, definitorisch Festzulegendes, sondern ein historisch Veränderliches, sie ist geschichtlich konkret zu bestimmen und in ihrer Kontinuität nur zu fassen, wenn die Kontroversen im Diskurs über Programm und Praxis, ihr Fortgang über Abgänge und Brüche im Blick sind.27

|| 26 Siehe zur Diskussion des Begriffs den die verschiedenen Diskussionsbeiträge nach 1990 zusammenfassenden Aufsatz: Janine Ludwig u. Mirjam Meuser: „In diesem besseren Land“ – Die Geschichte der DDR-Literatur in vier Generationen engagierter Literaten. In: dies. (Hg.): Literatur ohne Land? Schreibstrategien einer DDR-Literatur im vereinten Deutschland. Freiburg 2009, S. 11–71 sowie Rosenberg: Was war DDR-Literatur?; Dieter Burdorf u.a. (Hg.): Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen. 3. völlig neu bearb. Aufl. Stuttgart/Weimar 2007, S. 141f. u. Michael Opitz u. Michael Hofmann (Hg.): Metzler Lexikon DDR-Literatur. Stuttgart/Weimar 2009, S. 72f. 27 Simone Barck u.a. (Hg.): Lexikon sozialistischer Literatur. Ihre Geschichte in Deutschland bis 1945. Unter Mitarbeit von Reinhardt Hillich. Stuttgart/Weimar 1994, S. V.

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Was hier als unbestimmt erscheint, ist allerdings zugleich konkret, denn was sozialistisches Drama ist, erhellt sich eben erst vor dem Hintergrund der konkreten Auseinandersetzungen, bedeutet also, wie zu sehen sein wird, in den 1950er Jahren etwas anderes als in den 1970er Jahren. Entscheidend sind ‚die Kontroversen im Diskurs über Programm und Praxis‘, also die Kämpfe um die Bestimmung dessen, was als ‚sozialistische‘ Dramatik gelten darf, wobei hier neben ästhetischen Argumenten die Dramentexte selbst als solche auftreten, d.h. ihnen kommt unabhängig von ihrer jeweiligen Spezifik auch ein Argumentcharakter zu. Der Streit zwischen Hacks und Müller funktioniert in dieser Hinsicht ähnlich wie eine wissenschaftliche Kontroverse. Er hat eine epistemische Bedeutung und erfüllt eine produktive, klärende sowie evaluative Funktion.28 Aber das gilt nur eingeschränkt, da die einzelnen ästhetischen Äußerungen und dramatischen Texte Hacks’ und Müllers natürlich nicht ausschließlich vor dem Hintergrund des Streits aufzufassen sind. Zudem lässt sich die Auseinandersetzung aufgrund ihrer zunehmenden Eskalation ab den 1970er Jahren kaum mehr als Kontroverse auffassen. Jeder Irenik abhold stellt sie sich vielmehr als für die literarische Binnenkommunikation der DDR ungewöhnlich harsche Wechselpolemik dar, die schließlich von Seiten Hacks’ als eine Art Privatfehde weitergeführt wurde, bei der Müller zum Inbegriff moderner Dramatik und somit in Hacks’ Augen ein Vertreter zeitgeistiger Anti-Literatur wurde. Der Begriff der Polemik geht etymologisch auf griech. polemos (Krieg, Schlacht, Kampf) und das davon abgeleitete polemikos (kriegerisch, feindlich gesinnt) zurück. Diese Bedeutung hat sich bis heute in der Auffassung einer Polemik als Meinungsoder Federkrieg erhalten.29 Wer sich der Beschreibung des ,Krieges‘ zwischen Hacks und Müller annimmt, betätigt sich demnach, um im Bereich der Metapher zu bleiben, als Polemograph, als Kriegsbeschreiber und -berichterstatter. Aufgabe des Polemographen ist es, nicht nur die Kriegsparteien zu charakterisieren, sondern auch einen Eindruck vom Schlachtfeld zu vermitteln, oder allgemeiner: den Kontexten der

|| 28 Vgl. Carlos Spoerhase: Kontroversen. Zur Formenlehre eines epistemischen Genres. In: ders. u. Ralf Klausnitzer (Hg.): Kontroversen in der Literaturtheorie – Literaturtheorie in der Kontroverse. Bern u.a. 2007, S. 61f. Siehe zur Kontroversenforschung in wissenssoziologischer Hinsicht: Wolf-Andreas Liebert (Hg.): Kontroversen als Schlüssel zur Wissenschaft? Wissenskulturen in sprachlicher Interaktion. Bielefeld 2006. 29 Vgl. Walther Dieckmann: Streiten über das Streiten. Normative Grundlagen poetischer Metakommunikation. Tübingen 2005, S. 9. Siehe hier S. 9ff. auch zur Übertragungsgeschichte vom realen zum metaphorischen Krieg. Siehe zu Kontroversen und Streits in der deutschen Literaturgeschichte: Ludwig Rohner: Die literarische Streitschrift. Themen, Motive, Formen. Wiesbaden 1987; Robert Weninger: Streitbare Literaten. Kontroversen und Eklats in der deutschen Literatur von Adorno bis Walser. München 2004 u. Norbert Weis: Circus Scribelli. Über Grobiane, Streithähne und andere lautstarke Gestalten in der deutschen Literatur. Bonn 2009.

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Schlachthandlung.30 Das bedeutet zum einen die unterschiedlichen Traditionen einer marxistischen Ästhetik, deren Pole mit Theoretikern wie Walter Benjamin und Georg Lukács oder literarischen ,Programmen‘ wie Romantik und Klassik, Agitprop und Sozialistischer Realismus benannt werden können, im Hinterkopf zu behalten, Traditionen, die im Rahmen der marxistischen Debatte mit dem Terminus des ,Erbes‘ bezeichnet wurden und denen auch unabhängig von der Kulturpolitik und deren Kanonisierungsbemühungen eine erhebliche Bedeutung zukam. Und es heißt zum anderen den sozialen Ort der Beteiligten und ihren Spielraum zu reflektieren. Literatur erscheint in diesem Zusammenhang als einem Handlungsraum zugehörig, sie verweist nicht allein auf ein Symbol-, sondern auch auf ein Sozialsystem. Die vorliegende Arbeit beschreibt die Auseinandersetzung zwischen Hacks und Müller daher vor dem Hintergrund der Kultursoziologie Pierre Bourdieus. Mit Bourdieu kann ein solcher Handlungsraum als ein soziales Feld aufgefasst werden, als ein gesellschaftlicher Raum, in dem unterschiedliche Kräfte, einem physikalischen Kraftfeld ähnlich, wirken. AutorInnen erscheinen so als Akteure, die entsprechend ihrer Position im Feld über unterschiedliche Handlungsressourcen verfügen, die Bourdieu als Kapitalsorten beschreibt. Ähnlich dem Geldkapital erlauben sie Einsätze im Spiel, bei dem es sich aber nicht um ökonomischen Gewinn, sondern um Anerkennung dreht, letztlich um die (Mit-)Bestimmung dessen, worum es im jeweiligen Feld geht. Das Feld der kulturellen Produktion bzw. das literarische Feld lässt sich dergestalt als ein sozialer Raum begreifen, der parallel und in relativer Autonomie zu anderen sozialen Räumen wie dem wissenschaftlichen, dem ökonomischen, dem politischen usw. Feld existiert und in dem sich die verschiedenen Akteure mittels Positionsnahmen (z. B. literarischen Texten und ästhetischen Stellungnahmen) um die Definitionsmacht von Literatur streiten. Die Feldposition eines Akteurs ergibt sich aus dessen Disposition, worunter Bourdieu „das Ensemble von inkorporierten Eigenschaften, einschließlich Eleganz, ungezwungenes Auftreten, ja selbst Schönheit, sowie das eigentliche Kapital in seiner dreifachen Ausprägung als ökonomisches, soziales und kulturelles“ versteht; Bourdieu fasst diese Dispositionen unter dem Begriff des Habitus, ein dem jeweiligen Akteur eigener „sense of one’s place“.31 Die Kapitalsorten sind symbolisch aufzufassen, ihre Anerkennung ermöglicht soziales Handeln. Ökonomisches Kapital steht für materiellen Reichtum. Soziales Kapital umfasst die sozialen Beziehungen, das, was in der Alltagssprache mit ,Vitamin B‘ bezeichnet wird. Kulturelles Kapital schließlich tritt in dreierlei Form als inkorporiertes

|| 30 Vgl. Jürgen Stenzel: Rhetorischer Manichäismus. Vorschläge zu einer Theorie der Polemik. In: Franz Josef Worstbrock u. Helmut Koopmann (Hg.): Formen und Formgeschichte des Streitens. Der Literaturstreit. Tübingen 1986, S. 10. 31 Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt/M. 1999, S. 30 u. Pierre Bourdieu: Sozialer Raum und symbolische Macht. In: ders.: Rede und Antwort. Frankfurt/M. 1992, S. 141.

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(Bildung, familiäre Prägung), objektiviertes (kulturelle Güter) und institutionalisiertes Kapital (Bildungstitel) auf.32 Inwiefern die einzelnen Kapitalsorten als symbolisches und somit handlungsrelevantes Kapital anerkannt werden, hängt vom jeweiligen Feld ab. Das literarische Feld weist insofern verglichen mit dem politischen Feld eigene Regeln auf: Kulturelles Kapital gilt hier als spezifische symbolische Handlungsressource mitunter mehr als soziales Kapital. Die Anerkennung der einzelnen Kapitalen geht aber auch auf die Position eines Akteurs im Feld zurück. Soziale Felder sind Machtfelder, die einer Hierarchisierung unterliegen. Feldstrukturierend sind die jeweils äußersten Bereiche, ein autonomer und ein heteronomer Pol. Gegenüber dem Feld der Macht, einer Art „Meta-Feld“, in dem die verschiedenen Felder in Austausch treten und in welchem das kulturelle Feld „eine dominierte Position“ einnimmt, verfügt das literarische Feld nur über eine relative Autonomie.33 Zudem tritt neben die interne Hierarchisierung, also die Anerkennung nach feldspezifischen Logiken, eine externe Hierarchisierung, die beispielsweise durch das Publikum, die Medien und andere Institutionen wie etwa bürokratische Apparate erzeugt wird.34 Mit Bourdieus Feldsoziologie lässt sich der Streit zwischen Peter Hacks und Heiner Müller als soziale Auseinandersetzung um die Deutungshoheit im literarischen bzw. dramatischen Feld beschreiben.35 Für die Analyse der im Folgenden zur

|| 32 Vgl. Pierre Bourdieu: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital. In: ders.: Die verborgenen Mechanismen der Macht, hg. von Margareta Steinrücke. Hamburg 1997, S. 49–79. 33 David Swartz: Culture & power. The sociology of Pierre Bourdieu. Chicago u.a. 1997, S. 136 u. Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 342. 34 Vgl. Pierre Bourdieu: Das literarische Feld. Die drei Vorgehensweisen. In: Louis Pinto u. Franz Schultheis (Hg.): Streifzüge durch das literarische Feld. Konstanz 1997, S. 33–148 u. Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Siehe zu Bourdieus Soziologie allgemein: Eva Barlösius: Pierre Bourdieu. Frankfurt/M./New York 2006 u. Boike Rehbein u. Gerhard Fröhlich (Hg.): Bourdieu-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart u.a. 2009. Siehe zur Kultursoziologie: Jens Kastner: Die ästhetische Disposition. Eine Einführung in die Kunsttheorie Pierre Bourdieus. Wien 2009. Siehe zur Theorie des literarischen Feldes: Joseph Jurt: Das literarische Feld. Das Konzept Pierre Bourdieus in Theorie und Praxis. Darmstadt 1995, S. 69–108 sowie Markus Joch u. Norbert Christian Wolf (Hg.): Text und Feld. Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Praxis. Tübingen 2005. 35 Vgl. Wrage, S. 22. Siehe zu weiteren Überlegungen zum literarischen Feld der DDR: Kap. 2. – Hier liegt auch der Grund, warum sich die Systemtheorie Luhmanns nicht für die Beschreibung eignet. Die Systemtheorie blendet interne Machtfragen aus und gesteht Konflikten innerhalb des jeweiligen Teilsystems keine Bedeutung für das System zu, da sie nicht von einer mikrosoziologischen Ebene der Akteure ausgeht. Zudem fasst sie die Differenzierungsform der DDR-Gesellschaft als stratifikatorisch und setzt diese damit dem Feudalismus gleich, was, bei allen Vorbehalten in modernierungstheoretischer Perspektive, äußerst problematisch ist. Vgl. Wrage, S. 25–29. Siehe auch: Markus Joch u. Norbert Christian Wolf: Feldtheorie als Provokation der Literaturwissenschaft. Einleitung. In: dies. (Hg.): Text und Feld, S. 10ff. u. Markus Joch: System versus Feld. Skizze eines schwelenden Konflikts. In: Ralf Klausnitzer u. Carlos Spoerhase (Hg.): Kontroversen in der Literaturtheorie – Literaturtheorie in der Kontroverse. Berlin u.a. 2007, S. 467–484. Siehe zum Vergleich von Luhmann und Bourdieu: Armin Nassehi u. Gerd Nollmann: Bourdieu und Luhmann. Ein Theorienvergleich. Frankfurt/M. 2007.

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Rede stehenden dramatischen Texte eignet sich Bourdieus Kultursoziologie aber nicht, weil sie den literarischen Text zu stark auf eine Homologiebeziehung zwischen dem Habitus des Autors und dem Feld reduziert. Die zu Beginn der Regeln der Kunst dargelegte Analyse von Flauberts Die Erziehung des Herzens zeigt, dass Bourdieu im Kunstwerk vor allem die soziale Welt erkennt und das Ästhetische somit nur auf andere Art „die Wahrheit des Textes“ ausdrückt, was Henning Wrage zu Recht als „reduktionistisch“ kritisiert.36 Zwar ist die Betrachtung der dramatischen Texte Hacks’ und Müllers vor ihrem historischen und politischen Hintergrund für diese Arbeit von großer Bedeutung. Es ist aber ihre ästhetische Strukturierung, die den Kern der Auseinandersetzung zwischen den beiden Dramatikern ausmacht. Es gilt deshalb, den kultursoziologischen Ansatz literaturwissenschaftlich zu reflektieren und mit hermeneutischen Analyseverfahren zu verbinden. Die Textanalysen operieren dramenanalytisch, sozialhistorisch und gattungspoetologisch. So soll der Gefahr entgangen werden, die dramatischen Texte auf den Status einer Illustration der Feldpositionen herabzumindern oder sie lediglich als Mittel zum Zweck symbolischer Kapitalaufwertung zu lesen. Interessant ist die Feldtheorie vor allem in Bezug auf die Beschreibung des Streits und dessen Wahrnehmung durch andere kulturelle Akteure sowie die Funktionsweise des literarischen Systems der DDR. Wie sich Bourdieus Modellierung auf die DDR anwenden lässt, wird in Kapitel 2 diskutiert. Noch ein Wort zu den Quellen: Die vorliegende Arbeit basiert auf umfassenden Archivrecherchen im Deutschen Literaturarchiv Marbach sowie dem Archiv der Akademie der Künste, wo sich die Nachlässe Hacks’ und Müllers befinden. Beide Nachlässe weisen signifikante Unterschiede auf, die auf den unterschiedlichen Autorentypus, letztlich den differenten Habitus Hacks’ und Müllers verweisen. Müllers Nachlass ist eine riesige Ansammlung von Notizen, Skizzen und alternativen Fassungen. Der Müller’schen Arbeitsweise entsprechend, existieren mitunter dutzende Fassungen von Texten, tauchen alte Formulierungen in späteren Texten auf, finden sich Passagen in Manuskripten, nach denen man im konkreten Zusammenhang niemals gesucht hätte; Zufallsentdeckungen bleiben so nicht aus. Briefe, von geschäftlicher

|| 36 Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 67 u. Wrage, S. 23. Siehe auch: Pierre Bourdieu: Das intellektuelle Feld. Eine Welt für sich. In: ders.: Rede und Antwort, S. 163ff. Hans-Edwin Friedrich hebt zudem das Problem hervor, dass „die Positionskämpfe der Autoren in der Feldanalyse so starkes Gewicht bekommen, daß die Werke fast unwichtig werden“. Hans-Edwin Friedrich: Vom Überleben im Dschungel des literarischen Feldes. Über Pierre Bourdieus „Regeln der Kunst“. In: IASL online. 2001, online unter: http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=2070 (zuletzt eingesehen am 15. April 2014). Das zeigt sich beispielhaft in Gregor Ohlerichs Studie Sozialistische Denkwelten, die beansprucht ein Modell eines literarischen Feldes der SZB/DDR 1945 bis 1953 zu entwickeln, auf die literarischen Texte aber kaum eingeht, wie Achim Trebeß in seiner Rezension zu Recht kritisiert. Vgl. Gregor Ohlerich: Sozialistische Denkwelten. Modell eines literarischen Feldes der SBZ/DDR 1945 bis 1953. Heidelberg 2005 u. Achim Trebeß: Sozialistische Denkwelten. Modell eines literarischen Feldes der SBZ-DDR 1945 bis 1953 (Rezension). In: WB 53 (2007), H. 2, S. 306–310.

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Korrespondenz abgesehen, existieren kaum, dementsprechend schmal ist die Korrespondenz zwischen Hacks und Müller.37 Hacks’ Nachlass stellt sich ,geordneter‘ dar.38 Im Gegensatz zu Müller, der bekannte, vor dem Wegwerfen Angst zu haben und alles aufzuheben,39 existieren zu den einzelnen Theatertexten oft nur die unmittelbaren Vorstufen. Darüber hinaus umfasst der Nachlass nahezu die vollständige Korrespondenz, zumeist auch mit Hacks’ Briefen als Durchschlägen oder Photokopien. Ergänzend zu den bereits existierenden Brief-Editionen40 wurde besonders die Korrespondenz mit Institutionen wie Theatern und Verlagen sowie verschiedenen Stellen der Kulturbürokratie herangezogen. Des Weiteren wurden verschiedene Veröffentlichungen von Weggefährten unter Berücksichtigung der stets notwendigen Quellenkritik benutzt. Hinsichtlich Peter Hacks’ haben sich besonders die 2008 von dem Hacks-Freund André Müller sen. publizierten Gespräche mit Hacks als hilfreich erwiesen. Seit 2010 liegen unter dem Titel Berlinische Dramaturgie zudem die Protokolle der von Hacks geleiteten Arbeitsgruppen bei der Akademie der Künste vor, die eine unverzichtbare Quelle für die Untersuchung der ästhetischen Debatte der 1970er Jahre darstellen.41 Eine der zentralen Quellen zu Müller ist in vielerlei Hinsicht die 1992 erschienene Autobiographie Krieg ohne Schlacht, die allerdings nicht allein deshalb problematisch ist, weil sie, wie Müller selbst eingestand, „viele Gerüchte“ verbreitet, sondern vor allem aufgrund der aus der Rückschau ordnenden Perspektive vom Beginn der 1990er Jahre.42 Gleiches gilt

|| 37 Siehe zu Müllers Nachlass: Volker Kahl: „Vor dem Wegwerfen habe ich Angst“. Zum Nachlaß Heiner Müllers. In: Stiftung Archiv der Akademie der Künste (Hg.): Heiner-Müller-Archiv. Berlin 1998, S. 9–14; Julia Bernhard u. Maren Horn: Nachlassgeschichte und Archiv. In: HMH, S. 23–25 u. Maren Horn: „Großer Drache! Ihr Archivar bittet ums Wort.“ Die Archivierung des Nachlasses von Heiner Müller. In: Günther Heeg u. Theo Girshausen (Hg.): Theatrographie. Heiner Müllers Theater der Schrift. Berlin 2009, S. 23–34. 38 Siehe zu Hacks’ Nachlass: Matthias Oehme: Zum Nachlass von Peter Hacks. In: Zeitschrift für Germanistik 16 (2006), H. 1, S. 217–220 u. Matthias Oehme: Nachtrag: Zum Nachlaß von Peter Hacks. Eine vorläufige Bestandsaufnahme. In: Stefan Huth (Hg.): Vorsicht, Hacks! Der Dichter in der „jungen Welt“. 1999–2009. Berlin 2010, S. 302–312. 39 Vgl. MW 12, 748. 40 Vgl. NBK; DWF; AEV; VK; FR; Peter Hacks u. Hans Heinz Holz: Nun habe ich Ihnen doch zu einem Ärger verholfen. Briefe, Texte, Erinnerungen, hg. von Arnold Schölzel. Berlin 2007; Felix Bartels (Hg.): Der Briefwechsel zwischen Peter Hacks und André Thiele. 1997–2003. Berlin 2012 u. Mamama. In Vorbereitung sind zudem die Editionen der Korrespondenz mit Hans-Georg Michaelis, André Müller sen. und dem Drei Masken Verlag in München, sowie unter dem Titel „Der junge Hacks“ eine fünfbändige Ausgabe des Frühwerks, die im fünften Band auch die frühe Korrespondenz enthalten soll. 41 Vgl. GmH u. BD 1–5. 42 MW 12, 525. Vgl. KoS. Siehe hierzu auch: Levin D. Röder: Theater der Schrift. Heiner Müllers autobiografische Dekonstruktion. Eine Lektüre. Phil. Diss. Humboldt Universität. Berlin 2008, online unter: http://edoc.hu-berlin.de/dissertationen/roeder-levin-d-2008-04-09/PDF/roeder.pdf (zuletzt eingesehen am 17. April 2014).

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für die ,Autobiographie‘ Peter Hacks’, die 2003 kurz vor seinem Tod als Anekdotensammlung der fiktiven Herausgeberin Pasiphaë erschien.43 Eine besondere Herausforderung stellen die Gespräche und Interviews Heiner Müllers dar, der ab den 1980er Jahren zu einem beliebten Gesprächspartner der Medien wurde. Innerhalb der mittlerweile abgeschlossenen Werkausgabe machen sie allein drei Bände mit insgesamt nahezu dreitausend Seiten aus. Die Gespräche sind „Brief- und Tagebuchersatz, Selbstverständigung, Spiel mit den Medien, Performances, Bilanzierungs- und Analyseversuch, Materialsammlung und Anekdotenfundus, zuletzt Preisgabe persönlichster Erfahrungen im Scheitern und in der Verstrickung“.44 Trotz dieser Heterogenität stellen sie zugleich eine ästhetische Gattung dar, die Müller souverän handhabte.45 Hinsichtlich ihres Aussagewertes sind sie allerdings nur bedingt verlässlich. Vor allem stecken sie voller Widersprüche. Müller bekannte in diesem Zusammenhang selber: „Was bei mir einzig zählt, ist das Geschriebene.“46 Dementsprechend vorsichtig ist mit den Interviews als Kontextinformationen im Rahmen literaturwissenschaftlicher Analysen umzugehen.47 Die sich mit der DDR befassende Literaturwissenschaft hat, dem Bedürfnis nach Aufarbeitung entsprechend, seit 1990 zahlreiche Quelleneditionen vorgelegt, von denen diese Arbeit profitieren konnte. Zudem liegen mittlerweile zu einigen wichtigen Institutionen des literarischen Feldes der DDR Studien vor. Eine Frage im Zusammenhang mit solchen Forschungen ist immer auch, wie mit der Rolle des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) und den hinterlassenen Akten umzugehen sei.48 Das MfS nahm || 43 Vgl. Pasiphaë [= Peter Hacks]: Was ist das hier? 130 Anekdoten über Peter Hacks und dreizehn anderweitige. Berlin 2003. 44 Sascha Löschner: Geschichte als persönliches Drama. Heiner Müller im Spiegel seiner Interviews und Gespräche. Frankfurt/M. u.a. 2002, S. 70. 45 Vgl. Torsten Hoffmann: Das Interview als Kunstform. Plädoyer für die Analyse von Schriftstellerinterviews am Beispiel W.G. Sebalds. In: WB 55 (2009), H. 2, S. 276–292. 46 MW 10, 585. 47 Bezieht man die Interviewsituation sowie die Tonaufzeichnung des jeweiligen Interviews mit ein, verändert sich zudem die Wertung einzelner Interviewpassagen. Vgl. die Gespräche auf: Heiner Müller: Müller MP3. Heiner Müller. Tondokumente 1972–1995. Mit Begleitbuch. Berlin/Köln 2011. Vor diesem Hintergrund besonders interessant sind die Gespräche, die Müller am 22. Februar 1974 und am 24. September 1976 im Rahmen eines Forschungsprojekts zur subjektiven Aneignung von DDR-Dramatikern mit den TheaterwissenschaftlerInnen Gottfried Fischborn und Gerda Baumbach (das erste Gespräch auch mit Erika Stephan) führte. Vgl. MW 10, 644ff. u. 667ff. Die seinerzeit nicht publizierten Gespräche, bei denen Müller Vertraulichkeit zugesichert wurde, unterscheiden sich hinsichtlich der Auskunft über die eigene Produktion und Ästhetik deutlich von anderen Interviews. Da auch Peter Hacks im Rahmen des Forschungsprojekts, das mit einem „fixen Fragebogenmodell“ (FR 9) arbeitete, interviewt wurde, lassen sie zudem Vergleiche zu. Siehe zum Hacks-Interview: FR. 48 Vgl. Matthias Brauns Studie über die Akademie der Künste, die u.a. die „Rolle des MfS bei der Durchsetzung der SED-Kulturpolitik“ zum Schwerpunkt hat. Matthias Braun: Kulturinsel und Machtinstrument. Die Akademie der Künste, die Partei und die Staatssicherheit. Göttingen 2007, S. 14.

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einen enormen Einfluss auf das kulturelle Leben der DDR.49 Da der Geheimdienst das literarische Feld systematisch zu kontrollieren versuchte und keinen Aufwand scheute, den „Sicherungsbereich Literatur“ zu erfassen, finden sich in den nach 1990 geöffneten Archivbeständen zahlreiche kultur- und literarhistorisch interessante Informationen. Hinsichtlich der Akten des MfS wurde allerdings immer wieder bemerkt, dass diese nicht glaubhaft und „schlecht informiert“ seien, so etwa vom ehemaligen Generalsekretär des DDR-P.E.N.50 In der vorliegenden Arbeit wurden die MfS-Akten über Peter Hacks und Heiner Müller, die beide erstmals Ende der 1950er Jahre ins Visier des Geheimdienstes gerieten,51 nicht gesondert berücksichtigt. Gleichwohl wird, wenn diese als ergänzende Quellen erscheinen, verschiedentlich aus diesen zitiert. Wo dies geschieht, habe ich mich bemüht, die notwendige Vorsicht walten zu lassen.52 Die Gliederung der diachron aufgebauten Arbeit folgt der Entwicklung des Verhältnisses zwischen Hacks und Müller. Kapitel 3 fasst Hacks und Müller als häretische Gruppe und verortet deren frühe Stücke im Kontext des sogenannten ,Didaktischen Theaters‘ der 1950er Jahre und in ihrer Anlehnung an Brecht. Kapitel 4 schildert die Entstehung der Kontroverse zwischen Hacks und Müller in den 1960er Jahren und zeigt anhand des Vergleichs von Moritz Tassow und Die Umsiedlerin sowie Margarete in Aix und Philoktet die ästhetischen Differenzen auf, die schließlich als Ausdruck einer antagonistischen Dramenästhetik beschrieben werden. Kapitel 5 schildert den Verlauf des Streits am Beispiel von Müllers Macbeth-Bearbeitung und dessen Übergang in eine Auseinandersetzung über die Romantik seitens Hacks’. Der Fokus liegt hier zum einen auf der Veränderung, die Müllers dramatische Texte in den 1970er Jahren erfahren, und zum anderen auf Hacks’ Reaktion auf die sich seiner Ansicht nach ausbreitende Romantik in der DDR respektive Hacks’ Kampf gegen die Romantik, zu dem auch die Unterstützung der Ausbürgerung Wolf Biermanns zählt. Die Auseinandersetzung zwischen Hacks und Müller endet eigentlich erst im Jahr 2001 mit

|| 49 Vgl. Peter Böthig u. Klaus Michael: Machtspiele. Literatur und Staatssicherheit im Fokus Prenzlauer Berg. Leipzig 1993 u. Paul Cooke: German writers and the politics of culture. Dealing with the Stasi. Basingstoke u.a. 2003. Siehe auch: Joachim Walther: Sicherungsbereich Literatur. Schriftsteller und Staatssicherheit in der Deutschen Demokratischen Republik. Berlin 1996. 50 Walter Kaufmann, zit. n.: Dorothée Bores: Das ostdeutsche P.E.N.-Zentrum 1951 bis 1998. Ein Werkzeug der Diktatur? Berlin 2010, S. 785. Siehe zur Kritik der Integration der MfS-Akten in literaturwissenschaftliche Analysen auch: Ernst Hannemann: Geschichtsschreibung nach Aktenlage? Bemerkungen anlässlich der Debatte um die Stasikontakte von Christa Wolf und Heiner Müller. In: Peter Monteath u. Reinhard Alter (Hg.): Kulturstreit – Streitkultur. German literature since the Wall. Amsterdam/Atlanta 1996, S. 19–34. 51 Das MfS führte Hacks und Müller zunächst im gleichen Operativen Vorgang. Vgl. Laura Bradley: Cooperation and conflict. GDR theatre censorship 1961–1989. Oxford u.a. 2010, S. 39. 52 Vgl. zum quellenkritischen Umgang mit den MfS-Akten: Beate Müller: Stasi – Zensur – Machtdiskurse. Publikationsgeschichten und Materialien zu Jurek Beckers Werk. Tübingen 2006, S. 27–36.

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Hacks’ Essay Zur Romantik. Der Schwerpunkt der vorliegenden Studie liegt indessen auf der Zeit bis 1976. Mit der Ausbürgerung Wolf Biermanns, die gleichsam den Höhepunkt und die Eskalation des Streits darstellt, veränderten sich die Verhältnisse im literarischen Feld der DDR grundlegend, mit erheblichen, wenn auch unterschiedlichen Konsequenzen sowohl für Hacks als auch für Müller. Die weitere Entwicklung Hacks’ und Müllers in den 1980er und 1990er Jahren wird als Ausblick in Kapitel 6 zusammengefasst. In Bezug auf den Streit, dessen Zentrum in den späten 1960er und den 1970er Jahren liegt, handelt es sich hierbei nur noch um ,Nachhut-Gefechte‘, die bis hin zu den polemischen Nekrologen Hacks’ nach Müllers Tod 1995 reichen.

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Das literarische Feld der DDR

Die DDR, deren politisches System als „partizipatorische Diktatur“ beschrieben werden kann,1 zeichnete sich durch eine „Gegenläufigkeit von politischer Gleichschaltung und funktionaler Differenzierung“ aus und gilt in modernisierungstheoretischer Hinsicht als semimodern.2 Das literarische System war dementsprechend eng mit dem politischen System verbunden und wurde durch eine institutionalisierte Publikations- und Aufführungszensur sowie durch Institutionen wie den Schriftstellerverband, den Verband der Theaterschaffenden, das Ministerium für Kultur, das Leipziger Literaturinstitut und andere Einrichtungen reglementiert.3 Zudem betrieben die SED und die von ihr kontrollierten Institutionen eine offensive Kanonisierungspolitik. Diese bezog sich zum einen auf die literarische Tradition, aus welcher die literarische Moderne weitgehend ausgegrenzt wurde, und zum anderen auf die u.a. durch die Medien gesteuerte Protektion einer Literatur, die die SED in ihrer moralischen und

|| 1 Mary Fulbrook: Ein ganz normales Leben. Alltag und Gesellschaft in der DDR. Aus dem Englischen von Karl Nicolai. Darmstadt 2008, S. 28. Mit dem Oxymoron versucht die britische Sozialhistorikerin den Widerspruch zwischen der diktatorischen Vorherrschaft der SED und der aktiven Beteiligung der Mehrheit der DDR-BürgerInnen an den verschiedensten Institutionen des DDR-Systems zu verdeutlichen. Siehe hierzu ausführlich: Fulbrook, S. 252–306. 2 Detlef Pollack: Wie modern war die DDR? Frankfurter Institut für Transformationsstudien. Frankfurt/O. 2001 (Arbeitsberichte 4/01), S. 13, online unter: http://www.europa-uni.de/de/forschung/institut/institut_fit/publikationen/discussion_papers/2001/01-04-Pollack.pdf (zuletzt eingesehen am 17. April 2014). Henning Wrage bezeichnet die DDR in diesem Zusammenhang als „nachmodern im Sinne von Moderne-reaktiv“. Wrage, S. 30. Heiner Meulemann spricht von „Demodernisierung“. Heiner Meulemann: Werte und Wertewandel. Zur Identität einer geteilten und wieder vereinten Nation. Weinheim u.a. 1996, S. 178. 3 Siehe zur Zensur: Simone Barck, Martina Langermann u. Siegfried Lokatis: „Jedes Buch ein Abenteuer“. Zensur-System und literarische Öffentlichkeiten in der DDR bis Ende der sechziger Jahre. Berlin 1998; York-Gothart Mix: DDR-Literatur und Zensur in der Honecker-Ära (1971–1989). Teil 1. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 23 (1998), H. 2, S. 156–198 u. Simone Barck u. Siegfried Lokatis: Zensurspiele. Heimliche Literaturgeschichten aus der DDR. Halle/Saale 2008 sowie neuerdings: Siegfried Lokatis u.a. (Hg.): Vom Autor zur Zensurakte. Abenteuer im Leseland DDR. Halle/S. 2014. Siehe zum Genehmigungsverfahren an den Theatern: Ralph Hammerthaler: Die Position des Theaters in der DDR. In: Christa Hasche, Traure Schölling u. Joachim Fiebach: Theater in der DDR. Chronik und Positionen. Berlin 1994, S. 188f. u. 246f. u. Richard A. Zipser (Hg.): Fragebogen: Zensur. Zur Literatur vor und nach dem Ende der DDR. Leipzig 1995, S. 54. Siehe zum Schriftstellerverband: Carsten Gansel: Parlament des Geistes. Literatur zwischen Hoffnung und Repression 1945–1961. Berlin 1996, S. 155ff. u. Sabine Pamperrien: Versuch am untauglichen Objekt. Der Schriftstellerverband der DDR im Dienst der sozialistischen Ideologie. Frankfurt/M. 2004. Siehe zum Literaturinstitut: Josef Haslinger: „Greif zur Feder Kumpel!“. Das Institut für Literatur „Johannes R. Becher“ (1955–1993). In: Zeitschrift für Germanistik 20 (2010), H. 3, S. 583–598.

18 | Das literarische Feld der DDR

politischen Qualität als modellhaft ansah und die sie mittels des Sozialistischen Realismus als verbindlicher Methode der Literaturproduktion festzuschreiben suchte.4 Die SED setzte beim Aufbau des Sozialismus massiv auf den Faktor Bewusstsein, den die Kunst ‚produzieren‘ sollte. Wie sehr die SED-Führung von einer ‚positiven‘ Kunst auf eine positive Aufbaumotivation schloss, wird ex negativo anhand des Schlussworts von Walter Ulbricht auf dem 11. Plenum 1965 deutlich.5 Dementsprechend rigide suchte die Kulturpolitik die literarische Produktion zu kontrollieren. Vor allem die „autoritäre Diskursformel“ des Sozialistischen Realismus, der bis in die 1960er Jahre hinein als verpflichtende sozialistische Kunstmethode galt, sorgte immer wieder für Konflikte.6 Aufgrund der Setzung durch die Kulturpolitik erschien der Begriff als verbindlich, so dass sich AutorInnen lange Zeit auf diesen beriefen. Zugleich war dessen konkrete Bedeutung aber unklar. Selbst Alexander L. Dymschitz, bis 1949 Kulturoffizier in der SBZ, konstatierte, „daß kein Mensch auf Erden wisse, was Sozialistischer Realismus überhaupt bedeute“.7 Das führte zu der paradoxen Situation, dass gegensätzliche Ansichten unter Rückgriff auf den gleichen Begriff geäußert wurden; die Zustimmung zum Sozialistischen Realismus erschien daher bereits Ende der 1950er Jahre als „Lippenbekenntnis“.8 Es gehört zu den Besonderheiten der DDR-Literatur, dass die umfassende Kontrolle der Produktion, Distribution und Rezeption von Literatur bei einer Mehrheit der AutorInnen als konsensuell betrachtet werden muss. Dass Kunst sich in der DDR

|| 4 Vgl. Martina Langermann: Kanonisierungen in der DDR. Dargestellt am Beispiel „sozialistischer Realismus“. In: Renate von Heydebrand (Hg.): Kanon – Macht – Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildungen. DFG-Symposium 1996. Stuttgart u.a. 1998, S. 540–559 u. Carsten Gansel: Für „Vielfalt und Reichtum“ und „gegen Einbrüche bürgerlicher Ideologie“. Zu Kanon und Kanonisierung in der DDR. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Literarische Kanonbildung. München 2002, S. 233–258. 5 „Ich kann nicht zulassen, daß Skeptizismus propagiert wird, und dann in den Plan hineinschreiben, daß die Arbeitsproduktivität um 6 Prozent erhöht wird. Wenn wir die Propaganda des Skeptizismus zulassen, senken wir die Erhöhung der Arbeitsproduktivität um 1 Prozent. Skeptizismus, das heißt Senkung des Lebensstandards, ganz real […].“ Zit. n.: Günter Agde (Hg.): Kahlschlag. Das 11. Plenum des ZK der SED 1965. Studien und Dokumente. Berlin 2000, S. 146. 6 Martina Langermann u. Thomas Taterka: Von der versuchten Verfertigung einer Literaturgesellschaft. Kanon und Norm in der literarischen Kommunikation der DDR. In: Birgit Dahlke u.a. (Hg.): LiteraturGesellschaft DDR. Kanonkämpfe und ihre Geschichte(n). Stuttgart/Weimar 2000, S. 14. Vgl. Langermann: Kanonisierungen in der DDR. 7 Zit. n.: Jurij Bassistow: Oberst Tjulpanow und die Bildungs- und Kulturpolitik der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) 1945–1949. In: Jahrbuch für historische Kommunismusforschung 4 (1996), S. 308. Siehe zum Sozialistischen Realismus: ÄGB 5, 177ff. u. Frank Trommler: Der ,sozialistische Realismus‘ im historischen Kontext. In: Grimm u. Hermand (Hg.): Realismustheorien, S. 68–86. 8 So Kurt Liebmann 1957 beim 32. Plenum des ZK der SED, zit. n.: Diskussionsbeiträge zu den Referaten von Alexander Abusch und Kuba auf dem 32. Plenum des ZK der SED. In: ndl 5 (1957), H. 10, S. 111–127; hier: S. 121.

Relative Autonomie und partikulares Feld | 19

„durch Funktion und Funktionalisierbarkeit auszuweisen“ hatte, entsprach einer von vielen geteilten Perspektive auf den Aufbau des Sozialismus, in dessen Dienst sich die AutorInnen im Rahmen der ,sozialistischen Kulturnation‘ als „Künstler-Erzieher“ stellen wollten und ließen.9 Insofern kann von einer übergreifenden sozialistischen politischen Kultur der DDR-Literatur gesprochen werden;10 d.h., Literatur und Politik wurden auch von Seiten der AutorInnen zusammengedacht. Mit Frank Hörnigk lässt sich sagen, dass ein „beidseitige[r] Anspruch[ ] auf ‚Eingriff‘“ existierte, war doch in der DDR „alle Literatur und alles Literarische bereits [...] an sich gesellschaftlich tangiert“.11 Konflikte ergaben sich demnach über den Modus des Politischen, nicht aber über die grundsätzliche Engführung von Literatur und Politik; an einer Literatur für den Sozialismus hielten AutorInnen wie Heiner Müller, Volker Braun oder Christa Wolf bei aller Kritik an der Politik der SED selbst noch in den 1980er Jahren fest, als der übergreifende Konsens zwischen AutorInnen und SED bereits zerbrochen war und die zuvor ausgebildeten Regeln des literarischen Diskurses längst nicht mehr von allen AutorInnen, allen voran den Angehörigen der fünften und sechsten AutorInnen-Generation,12 als verbindlich betrachtet wurden. Trotz des politischen Konsenses kam es gleichwohl immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen AutorInnen und Kulturpolitik, gerade auch dort, wo die AutorInnen besten Gewissens schrieben und im Glauben handelten, den Zielen des Sozialismus zu dienen. Solche Konflikte können auf den Widerspruch zwischen politischer und literarischer Eigenlogik zurückgeführt werden und traten immer || 9 Langermann u. Taterka, S. 25 u. Lutz Winckler: Kulturnation DDR – ein intellektueller Gründungsmythos. In: Argonautenschiff. Jahrbuch der Anna-Seghers-Gesellschaft 1 (1992), S. 142. Siegfried Lokatis kommt daher zu dem Schluss, dass ,gesellschaftliche Verantwortung‘ das wesentliche Differenzkriterium gegenüber der westdeutschen Literatur sei. Vgl. Siegfried Lokatis: Paradoxien der Zensur in der DDR. In: Martin Sabrow (Hg.): Der geteilte Himmel. Literatur und ihre Grenzen in der DDR. 9. Helmstedter Universitätstage 2003. Leipzig 2004, S. 99. 10 Siehe zum Begriff der politischen Kultur: Andreas Dörner u. Ludgera Vogt: Literatursoziologie. Literatur, Gesellschaft, Politische Kultur. Opladen 1994, S. 164ff. 11 Frank Hörnigk: Die Literatur bleibt zuständig. Ein Versuch über das Verhältnis von Literatur, Utopie und Politik in der DDR – am Ende der DDR. In: The Germanic Review 66 (1991), H. 3, S. 99 u. Langermann u. Taterka, S. 27. 12 Ich beziehe mich hier auf das Vier-Generationen-Modell, das Janine Ludwig und Mirjam Meuser entwickelt haben. Da diese in ihrer Betrachtung die „‚Generation null‘“ der vor 1920 Geborenen sowie die Generation der „in den 1920er Jahren Geborenen“ außer Acht lassen, ergeben sich insgesamt sechs Generationen von DDR-AutorInnen: 1. Generation: vor 1920; 2. Generation: zwischen 1920 und 1928; 3. Generation: 1928/29 bis 1938; 4. Generation: 1938 bis 1948; 5. Generation: 1949 bis 1960 und 6. Generation: nach 1960. Vgl. Ludwig u. Meuser, S. 65–70. Siehe auch das Generationen-Modell Günter Erbes, der von vier Generationen ausgeht. Vgl. Günter Erbe: Schriftsteller in der DDR. Eine soziologische Untersuchung der Herkunft, der Karrierewege und der Selbsteinschätzung der literarischen Intelligenz im Generationenvergleich. In: Deutschland-Archiv 29 (1987), H. 11, S. 1162–1179. Siehe zu Generationen in der DDR allgemein: Annegret Schüle u.a. (Hg.): Die DDR aus generationengeschichtlicher Perspektive. Eine Inventur. Leipzig 2006.

20 | Das literarische Feld der DDR

dann auf, wenn literarische Äußerungen unter Missachtung von Fiktionalitätskonventionen als direkte Aussagen oder Anspielungen aufgefasst wurden.13 Neben asymmetrischen Auseinandersetzungen zwischen AutorInnen und Kulturpolitik war die DDR-Literatur aber auch durch symmetrische Konflikte geprägt, in denen sich trotz übergreifender Gemeinsamkeit in der Ausrichtung auf das sozialistische Projekt unterschiedliche ästhetische Auffassungen gegenüberstanden. Innerhalb der „strukturell auf Konsens verpflichtet[en]“14 offiziellen Öffentlichkeit der DDR15 wurden solche Gegensätze jedoch zumeist nicht offen ausgetragen; zudem zeichneten sich die Fronten mitunter nur undeutlich ab, weil sich einzelne KontrahentInnen in ihrer Position mit der SED eins wussten (oder glaubten) und versuchten, den Binnenkonflikt in eine asymmetrische Auseinandersetzung zu verwandeln, oder wenn sie, wie Peter Hacks ab den 1970er Jahren, als Vertreter kulturpolitischer Positionen wahrgenommen wurden.

2.1

Relative Autonomie und partikulares Feld

Angesichts der ästhetischen Ausdifferenzierung, die das literarische Feld der DDR spätestens ab den 1960er Jahren aufweist, sowie vor dem Hintergrund der Existenz von Freiräumen und einer „relativen Autonomie der sozialen Dimension“16 in der ,durchherrschten Gesellschaft‘, stellt sich die Frage, welcher Autonomiestatus dem literarischen Feld in der DDR zukommt. Eng damit verbunden ist die Frage nach der Anwendbarkeit der Bourdieu’schen Kultursoziologie auf die DDR. Insbesondere in Bezug auf das Feld der kulturellen Produktion ist offensichtlich, dass sich die Verhältnisse in der DDR gravierend von denen in Frankreich Ende des neunzehnten Jahrhunderts unterscheiden, anhand derer Bourdieu die Theorie des literarischen Feldes entwickelt hat.17 So hatte die SED als dominante Macht nicht nur einen erheblichen

|| 13 Feldsoziologisch können solche Phänomene als Brechungseffekt beschrieben werden, worunter die Art und Weise, in der externe Einflüsse auf das (literarische) Feld nach feldinternen Regeln „umstrukturiert“ werden, zu verstehen ist. Ludwig Fischer u. Klaas Jarchow: Die soziale Logik der Felder und das Feld der Literatur. Einleitende Anmerkungen zum kultur- und literaturtheoretischen Ansatz Pierre Bourdieus. In: Sprache im technischen Zeitalter 25 (1987), H. 102, S. 367. Siehe hierzu auch: Jurt, S. 88f. 14 Stuber, S. 154. 15 David Bathrick unterscheidet drei zusammenhängende Typen von Öffentlichkeit: die offizielle, von der SED kontrollierte Öffentlichkeit, die durch die Medien der BRD geschaffene, von der SED nicht kontrollierte Öffentlichkeit und eine gegen- oder inoffizielle Öffentlichkeit. Vgl. David Bathrick: The Powers of Speech. The Politics of Culture in the GDR. Lincoln/London 1995, S. 34. 16 Thomas Lindenberger: Die Diktatur der Grenzen. Zur Einleitung. In: ders. (Hg.): Herrschaft und Eigen-Sinn in der Diktatur. Studien zur Gesellschaftsgeschichte der DDR. Köln u.a. 1999, S. 17. 17 Vgl. Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 83–279.

Relative Autonomie und partikulares Feld | 21

Einfluss in vielen Belangen des literarischen Lebens; auch der für kapitalistische Gesellschaften charakteristische Geltungsbereich des ökonomischen Kapitals war nahezu gänzlich eingeschränkt. Für die Applikation der Bourdieu’schen Feldtheorie ergeben sich daher Probleme. Bourdieu selbst hat im Oktober 1989 bei einem Vortrag vor der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED die Ansicht vertreten, dass es sich bei seiner Kulturtheorie um ein „allgemeingültiges Modell“ handle. Zu dessen Anwendung auf die DDR-Gesellschaft bedürfe es allerdings „gewisser Veränderungen der Variablen, […] will man der für den sozialen Raum konstitutiven Differenzierung Rechnung tragen“.18 Als wesentliches Differenzierungsprinzip nennt Bourdieu das „soziale Kapital politischen Typs“. Darunter versteht er eine Form des Kapitals, die in den Apparaten der Gewerkschaften und der Labor Party erworben wird, über das Netz familiärer Beziehungen weitergegeben wird, was zur Entstehung regelrechter politischer Dynastien führt, die große Mengen politischen, schulischen und selbst ökonomischen Kapitals akkumulieren.19

Im Vergleich zu kapitalistischen Gesellschaften geht Bourdieu im Fall der DDR demnach von einem „Austausch der wichtigsten Kapitalsorten (ökonomisch vs. politisch)“ aus.20 Was Bourdieu in Bezug auf die DDR mit politischem Kapital bezeichnet, ist allerdings vom Begriff des politischen Kapitals zu unterscheiden, den er in Das politische Feld entwickelt, zielt ersterer doch nicht allein auf die Ermöglichung politischen Handelns, sondern auch auf die „Aneignung öffentlicher Güter und Dienstleistungen (Wohnungen, Wagen, Krankenhäuser, Schulen etc.)“.21 Das DDR-spezifische politische Kapital ermöglicht demnach soziale Handlungen in verschiedenen Feldern und ist letztlich Ausdruck der Vorherrschaft des Politischen im Gesamtsystem der DDR. Indem Bourdieu es als soziales Kapital definiert, macht er auf die Bedeutung der Zugehörigkeit zu den politischen Organisationen sowie die politische Herkunft der jeweiligen Akteure aufmerksam.22

|| 18 Pierre Bourdieu: Politisches Kapital als Differenzierungsprinzip im Staatssozialismus. In: ders.: Die Intellektuellen und die Macht, hg. von Irene Dölling. Hamburg 1991, S. 33. Siehe auch: S. 38. 19 Bourdieu: Politisches Kapital als Differenzierungsprinzip im Staatssozialismus, S. 37. 20 Peter Alheit: Sozialgeschichtliche Rekonstruktionen. Gebrochene Modernisierung – der langsame Wandel proletarischer Milieus. Bd. 1. Bremen 1999, S. 41. 21 Bourdieu: Politisches Kapital als Differenzierungsprinzip im Staatssozialismus, S. 37. Siehe zum politischen Kapital im politischen Feld: Pierre Bourdieu: Das politische Feld. Zur Kritik der politischen Vernunft. Konstanz 2001, S. 15. 22 Axel Salheiser schreibt dem politischen Kapital in einer Studie über Industriekader folgende Kennzeichen zu: „Parteimitgliedschaft, Parteiamt, Organisationsmitgliedschaften (Zugang zu Entscheidungsstrukturen und Beziehungsnetzwerken), soziale, politische Herkunft“. Axel Salheiser: Parteitreu, plangemäß, professionell? Rekrutierungsmuster und Karriereverläufe von DDR-Industriekadern. Wiesbaden 2009, S. 60.

22 | Das literarische Feld der DDR

Vergegenwärtigt man sich Bourdieus Modell des literarischen Feldes, bedeutet das, dass sich das „Prinzip der externen Hierarchisierung“ im Fall der DDR nicht auf Grundlage ökonomischer Erfolgskriterien, sondern aufgrund politischer Zugehörigkeit bzw. Anerkennung durch das politische Feld herstellt.23 Der von Bourdieu stets als relativ beschriebene Autonomisierungsgrad des literarischen Feldes in Bezug auf andere, nicht kulturkapitale Formen der sozialen Anerkennung ist somit durch das politische Kapital eingeschränkt, denn auch die anderen Formen heteronomer Anerkennung – kommerzieller Erfolg (Auflagenhöhe, Aufführungszahlen usw.) und gesellschaftliche Bekanntheit (Auszeichnungen, Aufträge usw.) – unterliegen der Kontrolle des politischen Feldes. Neben dieser eingeschränkten Autonomie, die für jedes soziale Feld und dessen Spannung zwischen Autonomie und Heteronomie charakteristisch ist, ist aber die Gesamtautonomie des Feldes gering, und das nicht allein, weil das Prinzip der internen Hierarchisierung dem der externen Hierarchisierung untergeordnet ist;24 vielmehr noch aufgrund der Tatsache, dass Handlungen wie die Gründung einer eigenen Zeitschrift oder eines Verlages aufgrund der politischen Vorherrschaft und der zu erwartenden Repression bis in die 1970er Jahre hinein de facto unmöglich waren. Die Autonomie des literarischen Feldes ist demnach doppelt eingeschränkt: einerseits im Rahmen der externen Hierarchisierung aufgrund des politischen Kapitals und andererseits aufgrund der politischen Kontrolle des gesamten Feldes durch die Kulturpolitik der SED und die ihr angegliederten Institutionen. Teile der Forschung sind aufgrund der mangelnden Ausdifferenzierung des literarischen Feldes gegenüber dem politischen Feld, das im Fall der DDR mit dem Feld der Macht zusammenfällt, zu dem Schluss gekommen, dass sich für die DDR „von einem literarischen Feld im strengeren Sinn“ nicht sprechen lasse.25 Nun ist aber unstrittig, dass man bezüglich der DDR-Literatur in diachroner Perspektive von einer

|| 23 Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 345. Siehe Bourdieus Schema des Feldes der kulturellen Produktion: Die Regeln der Kunst, S. 203. 24 Vgl. Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 344. 25 Markus Joch: Zwei Staaten, zwei Räume, ein Feld. Die Positionsnahmen im deutsch-deutschen Literaturstreit. In: Ingrid Gilcher-Holtey (Hg.): Zwischen den Fronten. Positionskämpfe europäischer Intellektueller im 20. Jahrhundert. Berlin 2006, S. 369f. Henning Wrage argumentiert, dass die Feldtheorie den Autonomisierungsprozess der DDR-Literatur nicht erklären könne, da sie von einer „Infrastruktur in der Distribution“ ausgehe, die im Fall der DDR aber unter der Kontrolle des politischen Feldes war, und dass zudem die distinktionssoziologischen Erklärungen Bourdieus am „offensiv egalitäre[n] Anspruch des Systems DDR“ vorbeigingen. Wrage, S. 24. Indirekt wenden sich auch Martina Langermann und Thomas Taterka gegen die Anwendung der Feldtheorie. Vgl. Langermann u. Taterka, S. 23 u. 25–27. Siehe zur Kritik der Adaption Bourdieus auch den kritischen Forschungsüberblick: Claudia Albert: „Zwei getrennte Literaturgebiete“? Neuere Forschungen zu ,DDR‘- und ,Nachwende‘-Literatur. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 34 (2009), H. 1, S. 197–203.

Relative Autonomie und partikulares Feld | 23

„Richtung auf Autonomisierung“ bzw. dem „Beginn eines Autonomisierungsprozesses“ sprechen kann.26 Das verdeutlicht vor allem die Ausbildung einer literarischen Subkultur in den 1980er Jahren, die sich auch institutionell unabhängig machte und eigene Zeitschriften gründete.27 Zudem war die Kontrolle der SED über das literarische Feld zu keinem Zeitpunkt der Geschichte der DDR absolut; vielmehr blieb der Anspruch hinter der Realität zurück. Das hängt vor allem mit der engen Beziehung zwischen dem literarischen Feld der DDR und dem der BRD zusammen. Bis zum Mauerbau sorgte die offene Grenze für einen regen Austausch und das Prinzip der externen politischen Hierarchisierung konnte sich nur eingeschränkt durchsetzen.28 Und auch nach 1961, verstärkt mit der Verbreitung des Fernsehens ab Ende der 1960er Jahre, war die DDR-Führung mit einer westmedialen Öffentlichkeit konfrontiert, die die Kontrollmaßnahmen der Kulturpolitik teilweise ad absurdum führte. Des Weiteren etablierte sich die BRD ab den 1960er Jahren zunehmend als zweiter oder alternativer Veröffentlichungs- und Aufführungsort, was nicht nur die Kontrolle der literarischen Distribution erschwerte, sondern durch die im Westen verdienten Honorare und Tantiemen auch zu einer Konkurrenz der ökonomischen gegenüber der politischen Kapitalgeltung führte. An die Seite solcher externen Faktoren treten interne. So war die SED ab den 1960er Jahren selbst nicht mehr in der Lage, das Primat des Politischen durchzusetzen. Die Forschungen Siegfried Lokatis’ zeigen, dass die SED aufgrund der Finanzierung ihrer hauptamtlichen FunktionärInnen aus den Einnahmen des Volksbuchhandels und der Verlage, die der SED zugehörten bzw. deren Gewinne an die Finanzverwaltung der SED weitergeleitet werden mussten, „vital am Verkauf von Büchern interessiert“ war, weshalb sich in den 1960er Jahren beim Vertrieb von Büchern, die die Zensur beanstandet hatte, ein „Primat der Ökonomie“ durchsetzte.29 Für die Annahme einer partiellen Autonomie des literarischen Feldes spricht auch der Umstand der ästhetischen Gruppenbildung, der bereits in den 1960er Jahren || 26 Langermann u. Taterka, S. 23f. u. Leon Hempel: Die agonale Dynamik des literarischen Terrains. Herausbildung und Grenzen des literarischen Feldes der DDR. In: Ute Wölfel (Hg.): Literarisches Feld DDR. Bedingungen und Formen literarischer Produktion in der DDR. Würzburg 2005, S. 18. 27 Vgl. Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR, S. 396ff.; Carola Hähnel-Mesnard: Die selbst verlegte Literatur der 80er Jahre als Subfeld. Überlegungen zum literarischen Feld der DDR. In: Emmanuel Droit u. Sandrine Kott (Hg.): Die ostdeutsche Gesellschaft. Eine transnationale Perspektive. Berlin 2006, S. 164–179 u. Thomas Klein: Heimliches Lesen und staatsfeindliches Schreiben. Bemerkungen zu Zensur und Gegenöffentlichkeit in der DDR der achtziger Jahre. In: Siegfried Lokatis u. Ingrid Sonntag (Hg.): Heimliche Leser in der DDR. Kontrolle und Verbreitung unerlaubter Literatur. Berlin 2008, S. 57–65. Siehe auch den Ausstellungskatalog: Uwe Warnke u. Ingeborg Quaas (Hg.): Die Addition der Differenzen. Die Literaten- und Künstlerszene Ostberlins 1979 bis 1989. Berlin 2009. 28 Andreas Degen führt das am Beispiel Johannes Bobrowskis aus. Vgl. Andreas Degen: „Nun hier ein bißchen Persona grata“. Johannes Bobrowskis Eingang in die sozialistische Nationalliteratur. In: Ute Wölfel (Hg.): Literarisches Feld DDR. Bedingungen und Formen literarischer Produktion in der DDR. Würzburg 2005, S. 177–207. 29 Lokatis: Paradoxien der Zensur in der DDR, S. 89f.

24 | Das literarische Feld der DDR

einsetzte. So behauptete sich trotz des breiten politischen Konsenses im literarischen Feld bei zahlreichen AutorInnen ein ästhetischer Eigen-Sinn, der sich, wie nicht zuletzt die Auseinandersetzung zwischen Peter Hacks und Heiner Müller zeigt, in einem Primat der Form ausdrückt, das Hacks auf den Nenner brachte: „Die Form ist am Kunstwerk das hauptsächliche Politikum, also das Interessante.“30 Die Existenz dieses Eigen-Sinns geht nicht zuletzt darauf zurück, dass sich die Autonomie eines Feldes immer nur graduell, nicht aber absolut einschränken lässt. Bourdieu hat selbst betont, dass die Geschichte eines Feldes „tatsächlich unumkehrbar“ sei, weil die aus der „relativ autonomen Geschichte“ eines Feldes hervorgehenden „Produkte […] kumulative Züge“ tragen.31 Die relative Autonomie des literarischen Feldes der DDR ergibt sich somit auch aus der Vorgeschichte des Feldes, also dem Grad der Autonomisierung, den dieses in der Weimarer Republik erreicht hatte, wobei der Nationalsozialismus hier wiederum einschränkend wirkte.32 Insgesamt lässt sich so trotz des „heteronomen Zustand[s] seiner Infrastruktur“33 eine relative Autonomie des „partikularen“ literarischen Feldes in der DDR behaupten.34

|| 30 HW 13, 65. Siehe zum Begriff des Eigen-Sinns: Alf Lüdtke: Geschichte und ,Eigensinn‘. In: Berliner Geschichtswerkstatt (Hg.): Alltagskultur, Subjektivität und Geschichte. Zur Theorie und Praxis von Alltagsgeschichte. Münster 1994, S. 139–153. 31 Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 384. 32 Bourdieu hat gleichwohl unterstrichen, dass die Grenze zur Nicht-Autonomie „nie wirklich erreicht wird, nicht einmal in den repressivsten der sogenannten ,totalitären‘ Regime“. Pierre Bourdieu u. Loic J. Wacquant: Reflexive Anthropologie. Frankfurt/M. 1996, S. 134. 33 Gisèle Sapiro: La guerre des écrivains 1940–1953. Paris 1999, zit. n.: Hähnel-Mesnard, S. 168. Leon Hempel spricht treffend von einer Kolonialisierung des Raums der kulturellen Produktion durch die SED. Vgl. Hempel, S. 19. 34 Holger Brohm: Die Koordinaten im Kopf. Gutachterwesen und Literaturkritik in der DDR in den 1960er Jahren. Fallbeispiel Lyrik. Berlin 2001, S. 26. Siehe dort auf S. 18ff. auch die Ausführungen zur Begründung der Feldtheorie. Für eine relative Autonomie des Feldes argumentieren auch: Franz Huberth: Aufklärung zwischen den Zeilen. Stasi als Thema in der Literatur. Köln u.a. 2003, S. 23ff.; Ohlerich: Sozialistische Denkwelten, S. 46f.; Hähnel-Mesnard, S. 166ff. u. Maria Brosig: „Es ist ein Experiment“. Traditionsbildung in der DDR-Literatur anhand von Brigitte Reimanns Roman „Franziska Linkerhand“. Würzburg 2010, S. 88ff. sowie die meisten BeiträgerInnen des Bandes: Wölfel (Hg.): Literarisches Feld DDR; hierin auch erneut Holger Brohm, der nun allerdings argumentiert, dass sich Bourdieus Instrumentarium auch ex negativo „zur Bestimmung [von] Positionen und Interessen in sozialen Räumen […], die das Kriterium der Autonomie nicht erfüllen“, eignet. Holger Brohm: „Junge Lyrik“ – Zur Konstituierung von Generationszusammenhängen und deren Funktion im Literarischen Feld der DDR. In: Wölfel (Hg.): Literarisches Feld DDR, S. 209; ähnlich auch: Angela Borgwardt: Im Umgang mit der Macht. Herrschaft und Selbstbehauptung in einem autoritären politischen System. Wiesbaden 2002, S. 38, die Bourdieu in einer politikwissenschaftlichen Arbeit als „[m]achttheoretische[n] Bezugsrahmen“ fasst.

Grundriss des literarischen Feldes | 25

2.2

Grundriss des literarischen Feldes

Die Feldtheorie erlaubt, die zahlreichen Widersprüche, die das literarische System der DDR durchziehen, adäquat zu beschreiben. Indem auch kulturpolitische Handlungen als Handlungen im Feld wahrgenommen werden können, lässt sich eine starre Trennung zwischen Kunst und Politik überwinden. So können Phänomene wie die gleichzeitige Zugehörigkeit zum literarischen und zum politischen Feld, beispielsweise durch die Ausübung des Amtes des Kulturministers oder eines SED-Sekretärs am Theater bzw. im Schriftstellerverband, sowie der „two-way-traffic“ erklärt werden, also der durchaus häufig anzutreffende Umstand, dass Akteure zwischen feldexternen Institutionen wie dem Kulturministerium und internen Institutionen wie Theatern wechselten.35 Bei der Modellierung des literarischen Feldes der DDR ist allerdings Vorsicht geboten. Da die Struktur eines Feldes Ausdruck des relationalen Verhältnisses der verschiedenen Akteure sowie der jeweiligen Stellung der Institutionen des Feldes ist und diese historisch variieren, lässt sich nur ein sehr allgemeiner Grundriss des DDR-Feldes entwickeln; zu groß sind die Unterschiede zwischen den stärker politisierten 1950er Jahren, als das System DDR noch in der Aufbauphase war, den 1960er Jahren, die zu Beginn durch eine liberale Kulturpolitik geprägt waren, in die aber auch die Zäsur des 11. Plenums 1965 fällt, sowie den 1970er Jahren, als das Feld einen deutlichen Wandel erfuhr, der in den 1980er Jahren zu einer so starken internen Ausdifferenzierung führte, dass fraglich erscheint, ob der politische Feldkonsens für diese Zeit noch umfassende Geltung beanspruchen kann.36 Solche Veränderungen drücken sich auch im Einfluss der Institutionen des Feldes (Verlage, Zeitschriften, Verbände, Akademien, Universitäten, Kulturklubs etc.) und ihrer Konsekrations- und Vermittlungspotenzen aus.37 So verlor der Schriftstellerverband, der sich an der Schnittstelle zwischen literarischem und politischem Feld positionieren lässt, ab den 1960er Jahren feldintern deutlich an Konsekrationsmacht, weil er sich als eine „Organisation der Unterdrückung von Schriftstellern“ erwiesen hatte; Vergleichbares gilt für die Sektion Literatur und Sprachpflege der Akademie der Künste, die sich in den 1980er

|| 35 Bradley, S. 17. Johannes R. Becher war von 1954 bis 1958 Minister für Kultur. Helmut Baierl war zu Beginn der 1960er Jahre Parteisekretär am BE, Erwin Strittmatter beim Schriftstellerverband. Gero Hammer war bis 1966 Stellvertretender Leiter der Abteilung Theater im Ministerium für Kultur und wurde dann Chefdramaturg und Stellvertretender Intendant der Volksbühne. Siehe auch die weiteren Beispiele bei: Bradley, S. 17. 36 Dass die externe Hierarchisierung trotz aller Veränderung zwischen den 1950er und den 1980er Jahren aufrechterhalten blieb, betonen Langermann u. Taterka, S. 23 nachdrücklich. 37 Vgl. Jurt, S. 93 u. Ohlerich: Sozialistische Denkwelten, S. 85–88.

26 | Das literarische Feld der DDR

Jahren durch einen „allgemeinen Gesprächsverlust“ auszeichnete, wie der Sektionssekretär Wolfgang Kohlhaase bemerkte.38 Ähnlich variabel sind die theoretischen Orientierungsmuster, die innerhalb des Feldes wirksam sind und die als symbolische Bezugsgrößen fungieren. Während Georg Lukács bis 1956 als verbindliche literaturtheoretische Autorität galt, verschwand dessen am bürgerlichen Realismus sowie der deutschen Klassik ausgerichtete Konzeption später nahezu gänzlich aus dem literarischen Diskurs; umgekehrt erfuhr Bertolt Brecht, der auch nach seinem Tod umstritten blieb und nicht nur der Kulturpolitik, sondern auch Akteuren wie Fritz Erpenbeck als gefährlicher Gegner des Sozialistischen Realismus erschien, eine Aufwertung, so dass sich das Verhältnis zwischen Lukács und Brecht in den späten 1970er Jahren nahezu um 180 Grad gedreht hatte. Für eine umfassende Darstellung des Feldes ist zudem der Widerspruch zwischen Ostberlin als Hauptstadt und der DDR-Peripherie zu bedenken. Da sich das Ausmaß der externen kulturpolitischen Kontrolle je nach DDR-Bezirk unterschied, stellten sich auch die Strategien einzelner AutorInnen unterschiedlich dar. Ostberlin war als eine der Nahtstellen der internationalen Blockkonfrontation in diesem Zusammenhang immer ein Sonderfall; liberaler als der Rest der DDR, war hier der kulturpolitische Zugriff zeitweise besonders intensiv. Unabhängig von solchen diachronen und regionalen Aspekten, die ein allgemeiner Grundriss des literarischen Feldes nicht berücksichtigen kann, stellt sich die Frage, wie der autonome und der heteronome Feldpol aufgefasst werden können, ohne die dichotomen Kategorien von Kunst und Macht lediglich in Bourdieu’scher Terminologie zu reproduzieren. Die Schwierigkeit, einen Grundriss des literarischen Feldes der DDR auszuarbeiten, liegt gerade darin, den eingangs beschriebenen politischen Konsens nicht zwischen den Polen von Autonomie und Heteronomie verschwinden zu lassen, zugleich aber die ästhetische Pluralität des Feldes angemessen zu reflektieren. Gregor Ohlerich geht davon aus, dass ab den 1950er Jahren von einem „originär sozialistisch geprägten“ literarischen Feld gesprochen werden kann und begründet dies mit dem „Ausschluss der bürgerlich-liberal orientierten Intellektuellen“ und der

|| 38 FR 37 u. Wolfgang Kohlhaase, zit. n.: Christel Berger: Als Magd im Dichter-Olymp. Bd. 1: Die Arbeit der Sektion Literatur und Sprachpflege an der Akademie der Künste der DDR in den achtziger Jahren. Gransee 2013, S. 140. Zu nennen ist in diesem Zusammenhang auch der Kulturbund, der vor allem in der SZB und der frühen DDR eine Rolle spielte. Siehe zum Kulturbund: Dieter Schiller: Überparteilich, nicht neutral. Fragmente zur politischen Geschichte des „Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands“. Berlin 2009 sowie die Regionalstudie zu Sachsen-Anhalt: Kurt-Uwe Baldzuhn: Der Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands in Sachsen-Anhalt 1945 bis 1952. Eine Studie. Niemberg 2004. Siehe zur Akademie der Künste: Braun: Kulturinsel und Machtinstrument; Berger: Die Arbeit der Sektion Literatur und Sprachpflege u. Christel Berger: Als Magd im DichterOlymp. Bd. 2: Fünf „meiner Götter“ bei der Arbeit. Gransee 2013.

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hegemonialen „Vorstellung einer ,eingreifenden Literatur‘ als Felddominante“.39 Dem autonomen und dem heteronomen Pol ordnet er unter Berücksichtigung der feldübergreifenden politischen Kultur dementsprechend nicht die von Bourdieu herausgearbeiteten Merkmale eines L’art pour l’art auf der einen und einer populären Massenkunst auf der anderen Seite zu. Ohlerich schreibt: Die Unterschiede innerhalb der Autorenschaft in den ersten beiden Jahrzehnten des Bestehens der DDR sind auf einer anderen Ebene zu suchen. Nicht ob Literatur eine politische Funktion übernehmen sollte, war der Streitpunkt, sondern wie das Politische sich literar-ästhetisch in den Texten widerspiegeln konnte. Aus dieser Fragestellung entwickelten sich konkurrierende Konzepte, die in ihrer Gesamtheit die Struktur des literarischen Feldes der DDR ergaben.40

Ein solches Herangehen berücksichtigt die ästhetische Ausdifferenzierung, die die DDR-Literatur von Beginn an kennzeichnet, ohne den feldübergreifenden politischen Konsens und dessen utopischen Fluchtpunkt zu negieren.41 Das Utopische fungiert gleichsam als „entscheidende[s] Kriterium“ hinsichtlich der internen Differenzierung des literarischen Feldes in einen autonomen und einen heteronomen Feldpol.42 Kennzeichnend für den autonomen Pol ist eine eigenständige inhaltliche und ästhetische Positionierung, während umgekehrt für den heteronomen Pol „eine starke inhaltliche und formale Nähe […] zur kulturpolitischen Linie der SED“ gilt.43 Als wesentliche symbolische Handlungsressource führt Ohlerich ein DDR-spezifisches „politisch-utopisches Kapital […] im Gegensatz zum politisch-konkreten des politischen Feldes“ ein.44 Kulturelles Kapital habe stets in politisch-utopisches Kapital konvertiert werden müssen; am heteronomen Feldpol entspreche dieses delegiertem politischen Autoritätskapital, am autonomen Feldpol Popularitätskapital.45

|| 39 Ohlerich: Sozialistische Denkwelten, S. 297. Dass eine „genuin außersozialistische, ,bürgerliche‘ Literatur […] schon bald keine Chance mehr [hatte]“ (Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR, S. 115), dürfte als Konsens der Forschung gelten. 40 Gregor Ohlerich: Erik Neutschs Ästhetikkonzept als Sollbruchstelle von relativer Autonomie und Parteilichkeit. In: Wölfel (Hg.): Literarisches Feld DDR, S. 106. 41 Ohlerich benennt das Utopische daher zu Recht als die illusio des literarischen Feldes der DDR (vgl. Ohlerich: Sozialistische Denkwelten, S. 206ff.), worunter Bourdieu die spezifische Logik eines Feldes in Hinsicht auf den von allen Akteuren geteilten Glauben an die Sinnhaftigkeit ihres Tuns versteht. Vgl. Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 360. Siehe zum Begriff der illusio auch: Rehbein u. Fröhlich, S. 129–131. 42 Ohlerich: Sozialistische Denkwelten, S. 59. Auch Wolfgang Emmerich unterscheidet zwischen einem „utopisch-schöpferischen Konzept von Sozialismus“ und einem „instrumentelle[n] Sozialismusverständnis“. Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR, S. 115. 43 Ohlerich: Erik Neutschs Ästhetikkonzept als Sollbruchstelle, S. 108. 44 Ohlerich: Sozialistische Denkwelten, S. 79. 45 Vgl. Ohlerich: Erik Neutschs Ästhetikkonzept als Sollbruchstelle, S. 110f. Ohlerich greift hier auf Überlegungen Bourdieus zum politischen Feld und dessen Unterscheidung zwischen „Funktionska-

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Mit seinem Modell beansprucht Ohlerich einen Zugriff „jenseits eines dualistischen Denkens von Opposition versus Affirmation“ zu entwickeln.46 Sieht man sich aber genauer an, wie Ohlerich die Geographie des Feldes beschreibt, zeigt sich, dass er diesem Anspruch nicht gerecht wird und letztlich die Trennung zwischen den sogenannten parteikritischen und den parteikonformen AutorInnen und deren Rückbindung an autonome und heteronome ästhetische Konzepte reproduziert. Denn ästhetische Differenzen, die sich aus der Bestimmung des Utopischen im Kontext der verschiedenen ästhetischen Programme seit der Moderne ergeben (zu denken wäre hier an den Widerspruch zwischen dargestellter positiver und lediglich impliziter, auf Negation basierender Utopie sowie die damit verbundenen Auffassungen von der Form und Totalität des Kunstwerks), bleiben außerhalb des Modellhorizonts. Zwar können Dramatiker wie Heiner Müller und Peter Hacks auf der einen und Helmut Sakowski auf der anderen Seite innerhalb eines solchen Schemas verortet werden. Die Ohlerichs Modell zugrunde liegende implizite Verbindung von Parteinähe und ästhetischem Traditionalismus stößt aber bei Autoren wie Stefan Heym, der einerseits als Kritiker der SED auftrat und andererseits ein traditionelles ästhetisches Programm bediente, an ihre Grenzen; gleiches gilt umgekehrt für Hermann Kant, den späteren Vorsitzenden des Schriftstellerverbandes, der in seinem Bestseller Die Aula moderne Erzähltechniken verwandte, oder für Friedrich Wolf und Johannes R. Becher, die zwar dem heteronomen Pol zugeordnet werden können, dort selbst aber wieder eine tendenziell dominierte Stellung einnahmen. Die einfache Dichotomie zwischen Autonomie und Heteronomie wird den komplexen Konstellationen und Frontstellungen innerhalb des Feldes nicht gerecht, weil die Binnendifferenzierung der Pole, also die Konstellation ,innerhalb‘ des autonomen und des heteronomen Pols, zu wenig beachtet wird. Simone Barck kritisiert an Ohlerichs Arbeit daher zu Recht ein „schematische[s] Verfahren[ ] der Pol-Zuordnung“, das lediglich zu einer oberflächlichen Verortung von Akteuren führt.47 Der Peripheriestatus des Ästhetischen in Ohlerichs

|| pital“ und „persönliche[m] Kapital“ zurück. Pierre Bourdieu: Die politische Repräsentation. In: Berliner Journal für Soziologie 1 (1991), H. 4, S. 505f. Maria Brosig spricht in Anlehnung an Ohlerich auch von kulturpolitischem Kapital. Vgl. Brosig, S. 91. Dieser politische Kapitalbegriff darf nicht mit dem oben diskutierten Begriff des politischen Kapitals als Sonderform des sozialen Kapitals verwechselt werden. 46 Ohlerich: Erik Neutschs Ästhetikkonzept als Sollbruchstelle, S. 106. 47 Simone Barck: Gregor Ohlerich: Sozialistische Denkwelten. Modell eines literarischen Feldes der SBZ/DDR 1945 bis 1953. Heidelberg 2005. – H-Soz-u-Kult / Rezensionen / Bücher. H-Soz-u-Kult, online unter: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2006-3-185 (zuletzt eingesehen am 15. April 2014). Siehe auch: Trebeß. In eine ähnliche Richtung geht Claudia Alberts Kritik an Franz Huberths Arbeit über das MfS als Thema der DDR-Literatur (vgl. Huberth), der sie einen „naiven Antagonismus“ von affirmativer und kritischer Literatur vorwirft und deren Konzeption der kulturpolitischen Institutionenordnung sie als „mechanisch“ beschreibt. Albert, S. 198. York-Gothart Mix kritisiert allgemein, dass Bourdieus Feldtheorie „in reduktionistischer Manier munter als Blaupause für

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Modell zeigt sich zudem in der Dominanz des politisch-utopischen Kapitals, das als das spezifische symbolische Kapital des literarischen Feldes konzeptioniert ist.48 Denn damit wird, weil feldspezifische Anerkennungsformen als gering veranschlagt werden und politisch vermittelte Handlungsressourcen als einzig mögliche Formen der Durchsetzung erscheinen, die Autonomie des literarischen Feldes unter der Hand doch wieder negiert. Für ein Modell des literarischen Feldes ist aber neben der externen vor allem die interne Hierarchisierung von Interesse, und hier kommt neben dem politischen Kapital das spezifische symbolische Kapital künstlerischer Anerkennung zur Geltung, das auf feldinterner Anerkennung basiert. Entsprechend dem Bourdieu’schen Schema des kulturellen Feldes49 muss neben der horizontalen Achse (Autonomie vs. Heteronomie) also auch die vertikale Achse berücksichtigt werden, an der sich die verschiedenen Akteure zusätzlich nach dem Grad ihrer Arriviertheit und ihrer Verfügungsmacht über feldspezifisches symbolisches sowie kulturelles und politisches Kapital innerhalb der Grenzbereiche des autonomen und des heteronomen Pols verorten lassen.50 Im Fall von Peter Hacks und Heiner Müller bedeutet das, beide Autoren am autonomen Pol zu positionieren und zugleich ihre Differenz hinsichtlich der Verfügbarkeit von symbolischem Kapital zu berücksichtigen.

|| die Analyse der Verhältnisse in der DDR“ bemüht werde, ohne das Konzept näher auf dessen Anwendungsmöglichkeit in Bezug auf die DDR zu befragen. York-Gothardt Mix: Avantgarde, Retrogarde oder zurück zu Gutenberg? Selbst- und Fremdbilder der unabhängigen Literaturszene in der DDR. In: Markus Joch u.a. (Hg.): Mediale Erregungen? Autonomie und Aufmerksamkeit im Literatur- und Kulturbetrieb der Gegenwart. Tübingen 2009, S. 123. Ein Beispiel hierfür ist die Arbeit Lily Tjahjandaris, die die Anwendung Bourdieus überhaupt nicht reflektiert und das literarische Feld der DDR als „institutionelle Machtpyramide“ beschreibt, an deren Spitze das Politbüro gestanden habe. Lily Tjahjandari: Literatur der „Übergangsgesellschaft“. Untersuchungen zum Werk Volker Brauns – vor und nach der Wende (1981–1992). Phil. Diss. Humboldt Universität. Berlin 2007, S. 20, online unter: http://edoc.hu-berlin.de/dissertationen/tjahjandari-lily-2007-10-29/PDF/tjahjandari.pdf (zuletzt eingesehen am 17. April 2014). 48 Bourdieu setzt in seinem Schema des Feldes der kulturellen Produktion das spezifische symbolische Kapital am autonomen Pol als hoch und am heteronomen Pol als niedrig an. Vgl. Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 203. Bei Ohlerich ergibt sich mit der Einführung des politisch-utopischen Kapitals ein umgekehrtes Ergebnis: Die Akteure des autonomen Pols verfügen über wenig, die des heteronomen Pols über viel politisches Kapital. Vgl. Ohlerich: Erik Neutschs Ästhetikkonzept als Sollbruchstelle, S. 111. Das deutet darauf hin, dass Ohlerich das politisch-utopische Kapital implizit mit dem politischen Kapital, wie es oben diskutiert worden ist, gleichsetzt. 49 Vgl. Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 203. 50 Siehe Bourdieus Schema des kulturellen französischen Feldes am Ende des 19. Jahrhunderts: Die Regeln der Kunst, S. 199.

3

Hacks und Müller als häretische Gruppe im literarischen Feld Sozialistisches Theater, sozialistische Kunst überhaupt, ist nicht ohne ein Element des Didaktischen.1

3.1

Die Etablierung im literarischen Feld

3.1.1

Peter Hacks

Peter Hacks, 1951 mit einer Arbeit über Das Theaterstück des Biedermeier in München promoviert, siedelte im Juli 1955 gemeinsam mit seiner Ehefrau, der Schriftstellerin Anna Elisabeth Wiede, in die DDR über. Nachdem er bereits 1951 brieflich gegenüber Brecht den Wunsch geäußert hatte, „in die Ostzone zu gehen“, von diesem aber eine zurückhaltende Antwort erhalten hatte, gelang die Übersiedlung nach einjähriger Verhandlung auf Einladung der Akademie der Künste und mit einem Stipendium derselben für eine von Brecht initiierte Arbeitsgemeinschaft für Dramatiker.2 Die BRD verließ Hacks nicht als Unbekannter: Seit Beginn der 1950er Jahre schrieb er gemeinsam mit anderen AutorInnen Gedichte und Einakter für Rundfunk und Kabarett, auch erste Dramentexte wie Das Volksbuch des Herzog Ernst [1953] entstanden zu dieser Zeit. 1954 gewann er mit Eröffnung des indischen Zeitalters [1954] den ersten Preis bei einem Wettbewerb für junge AutorInnen der Stadt München. Das Stück wurde daraufhin im März 1955 von Hans Schweikart an den Münchner Kammerspielen inszeniert und von der Theaterkritik weitgehend freundlich aufgenommen. Zu Beginn des Jahres war Hacks sogar von Egon Vietta zum 5. Darmstädter Gespräch über Theater eingeladen worden,3 so dass man den Autor bereits zur Zeit seiner Übersiedlung in die DDR als bekannte Person des literarischen Lebens bezeichnen kann.

|| 1 MW 8, 167. 2 VK 8 (Peter Hacks an Bertolt Brecht, 30. Oktober 1951). Brecht antwortete: „Gute Leute sind überall gut (und können überall besser werden).“ GBA 30, 105 (Bertolt Brecht an Peter Hacks, 15. Januar 1952). Auskunft über die Verhandlungen bezüglich der Übersiedlung (Aufenthaltsgenehmigung, Stipendium, Wohnung) gibt die Korrespondenz zwischen Peter Hacks und Käthe Rülicke. Vgl. DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit dem BE. 3 Vgl. Egon Vietta an Peter Hacks, 18. Januar 1955, DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit Egon Vietta.

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Neben der Ausstrahlungskraft des Berliner Ensembles und den sich bietenden literarischen Arbeitsmöglichkeiten in der DDR muss die politische Motivation der Übersiedlung betont werden. Hacks, der aus einer linkssozialistischen Familie stammte,4 zählt zu den überzeugten West-Ost-MigrantInnen, auf die die DDR angesichts der „Vergiftung der politischen Kultur“ in der Bundesrepublik und vor dem Hintergrund einer kommunistischen Überzeugung eine starke Anziehungskraft ausübte.5 Die westdeutsche Gesellschaft des „motorisierten Biedermeier“ (Erich Kästner) erschien Hacks als Ort ästhetischer Langeweile, der SchriftstellerInnen lediglich die Rolle eines in „unproduktiver Opposition“ verharrenden Nonkonformismus gestatte.6 Bereits 1954 hatte Hacks in einem in den Frankfurter Heften erschienenen Aufsatz das literarische Feld der BRD dementsprechend als inhalts- und morallosen Raum mit „ausgeprägter Gesellschaftsferne“ beschrieben. Mit dem Aufsatz, der eine Absage an jede „Überschätzung des bloß Formalen“ in der Kunst formuliert, empfahl Hacks sich bereits für das literarische Feld der DDR.7 Das in Westdeutschland akkumulierte institutionalisierte kulturelle Kapital fand in der DDR rasche Anerkennung in Form von Auszeichnungen, Einladungen und Veröffentlichungen, wohl nicht zuletzt, weil die DDR mit der Übersiedlung Hacks’ auch einen kleinen Sieg im Rahmen der deutsch-deutschen Systemauseinandersetzung verzeichnen konnte. Noch vor der Inszenierung eines einzigen seiner Stücke wurde Hacks im Januar 1956 der ein Jahr zuvor vom Kulturministerium gestiftete LessingPreis für seine Stücke Eröffnung des indischen Zeitalters und Die Schlacht bei Lobositz verliehen.8 Im Vergleich zu anderen AutorInnen kam es auch schnell zu Veröffentlichungen: Ein Auszug der Eröffnung erschien bereits zwei Wochen nach Hacks’ Übersiedlung in der Literaturbeilage des Neuen Deutschland.9 Als die Eröffnung im Juni

|| 4 Hacks’ Vater war „bis 1933 Funktionär der Friedensbewegung und der SAP [Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands, R.W.]“. VK 341 (Peter Hacks an Fritz Stern, 27. November 2011). 5 Axel Schildt u. Detlef Siegfried: Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik – 1945 bis zur Gegenwart. Bonn 2009, S. 133. Siehe zur Migration in die DDR: Bernd Stöver: Zuflucht DDR. Spione und andere Übersiedler. München 2009. Siehe zur literarischen West-Ost-Migration das Lemma ‚Einreisen in die DDR bis 1961‘ in: Opitz u. Hofmann, S. 85f. 6 Peter Hacks: Kurzer Protest. In: TdZ 13 (1958), H. 11, S. 16. 7 Peter Hacks: Wider den ästhetischen Ennui, oder: Beweis, daß ein Kunstwerk einen Inhalt haben müsse. In: Frankfurter Hefte 9 (1954), H. 8, S. 591f. 8 Vgl. Verdienste um das deutsche Theater. Lessingpreis 1956 an Fritz Erpenbeck und Peter Hacks verliehen. In: Neue Zeit, 25. Januar 1956, S. 1. Nach Hacks’ eigener Aussage erfolgte die Verleihung auf Initiative Brechts. Vgl. Berger: Die Arbeit der Sektion Literatur und Sprachpflege, S. 211. 9 Bereits im Februar 1955 war die Eröffnung in der Zeitschrift des DDR-Schriftstellerverbands ndl veröffentlicht worden; 1956 folgte ein Teilnachdruck in TdZ. Die Schlacht bei Lobositz, Hacks’ noch in der BRD im Frühjahr 1955 fertiggestelltes drittes Stück, erschien kurz nach der Übersiedlung Ende August in Heft 4 und 5 von SuF als Erstdruck. Ebenfalls kurz nach der Übersiedlung erschienen in der ndl die beiden Märchen Besichtigung eines Schlosses und Beerdigung des Monarchen. 1956 erschien in Heft 2 von SuF das Hörspiel Die Geschichte eines alten Wittibers im Jahre 1637. Bereits 1957 legte der

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1956 ihre „ausgezeichnet besetzt[e]“10 DDR-Bühnenpremiere erlebte, stieß sie bei der Theaterkritik auf großes Wohlwollen. Der Cheflektor des Aufbau-Verlags Max Schroeder urteilte überschwänglich: „Seit langem haben wir in der deutschen Literatur kein Jugendœuvre zu verzeichnen, das unter einem so glücklichen Stern steht.“11 Brecht hatte eine Tätigkeit am Berliner Ensemble „für ein bis zwei Jahre“ vorgesehen, um die literarische Produktion der eingeladenen Autoren (neben Hacks der niederländische Autor Lubertus Jacobus Swaanswyk) zu „überwachen“ und „weltanschaulich zu qualifizieren“.12 Im Auftrag Brechts übersetzte Hacks gemeinsam mit Anna Elisabeth Wiede John M. Synges The Playboy of the Western World [1956],13 erledigte kleinere Zuarbeiten für die Dramaturgin Käthe Rülicke14 und verfasste, einer Anregung Brechts folgend, das Stück Der Müller von Sanssouci [1956/57]. Eine enge Bindung ans Berliner Ensemble aber kam weder zu Brechts Lebzeiten noch danach zustande, so dass Hacks als einer der eigenwilligsten Brecht-Schüler betrachtet werden muss.15 Nicht das von Brecht begründete Theater am Schiffbauer Damm wurde zu Hacks’ Hausbühne, sondern das von Wolfgang Langhoff geleitete repräsentative Deutsche Theater. Hier wurden in den 1950er Jahren die Stücke Eröffnung des indischen Zeitalters, Die Schlacht bei Lobositz und Der Müller von Sanssouci inszeniert.

|| Aufbau Verlag einen Band Theaterstücke vor, im gleichen Jahr folgte der Verlag Neues Leben mit dem Kindergeschichtenband Das Windloch, der zuerst 1956 bei Bertelsmann erschienen war. Auch mit Lyrik trat Hacks im April 1956 in der ndl auf. Siehe zu den bibliographischen Angaben: Weber: PeterHacks-Bibliographie. 10 Herbert Ihering: Ein Dichter, ein Nachwuchs, ein Volksstück. In: Sonntag, 8. Juli 1956, S. 5. 11 Max Schroeder: Ein neues Stück. In: Aufbau 12 (1956), H. 8, S. 712. 12 GBA 30, 298 (Bertolt Brecht an Otto Grothewohl, 20. Januar 1955). 13 Die Übersetzung unter dem Titel Der Held der westlichen Welt (vgl. John Millington Synge: Der Held der westlichen Welt. Aus dem Englischen übertragen von Anna Elisabeth Wiede und Peter Hacks. In: Aufbau 12 (1956), H. 6/7, S. 548–583) hatte am 11. Mai 1956 unter der Regie Peter Palitzschs und Manfred Wekwerths am BE Premiere. Die Inszenierung war ein großer Erfolg und lief dort bis März 1961 regelmäßig. 14 Vgl. Peter Hacks an Käthe Rülicke 13. Dezember 1955 u. 19. Dezember 1955, DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit dem BE. 15 Nicht erst der Umstand, dass sich der „fanatische[ ] Brechtianer“ (FR 57) Hacks ab Mitte der 1960er Jahre radikal von Brecht distanzierte, hat dazu geführt, dass die Debatte um den Einfluss Brechts von Beginn an die Forschung zu Peter Hacks begleitet hat. Während die einen ein „verengte[s] Epigonentum“ erkennen (Marianne Kesting: Marx, romantisch verarbeitet. Der Dramatiker Peter Hacks. In: Die Zeit, 5. November 1965, S. 30), sprechen andere von einer „Brecht-Legende“, die einen bestimmten Abschnitt in Hacks’ Werk isoliere und „weder die Anfänge noch die gesamte Entwicklung seit 1959“ in den Blick nehme. Peter Schütze: Peter Hacks. Ein Beitrag zur Ästhetik des Dramas. Antike und Mythenaneignung. Kronberg/Ts. 1976, S. 16. So urteilt Matthias Oehme: Hacks „war kein BrechtSchüler“. Oehme: Zum Nachlass von Peter Hacks, S. 217. Unabhängig von der späteren Entwicklung kann aber als gesichert gelten, dass Brecht in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre einen großen Einfluss auf Hacks ausübte (vgl. FR 56ff. u. NIR 78), was die Behauptung einer Brecht-Schülerschaft hinreichend stützt.

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Dass Hacks auch vonseiten der Institutionen des literarischen Feldes als etablierter Autor wahrgenommen wurde, zeigt die bereits im Oktober 1955 erfolgte und vom Kulturministerium angeregte Einladung zur Teilnahme am Redaktionskollegium von Theater der Zeit16 sowie das Ersuchen der Akademie der Künste, die durch Brecht zustande gekommene monatliche Zahlung von 1.200 Mark im Rahmen des Akademiestipendiums wieder einzustellen. Angesichts der „sichtbare[n] Erfolge“ erkannte die Verwaltung der Akademie in Hacks einen bereits finanziell (und nicht nur öffentlich) etablierten Autor, der „aus eigenen Einkünften“ leben könne.17

3.1.2

Heiner Müller

Im Gegensatz zu Hacks kann Heiner Müller bis in die späten 1950er Jahre als Außenseiter bezeichnet werden. Nachdem sein Vater Kurt Müller im Streit mit der SED aus dem Bürgermeisteramt in Frankenberg (Sachsen) ausgeschieden und aus Angst vor einer Verhaftung wegen seiner Kontakte zum Ostbüro der SPD wenige Wochen später mit seiner Frau nach Westdeutschland geflohen war, siedelte Müller im Frühjahr 1951 nach Berlin über. Dort führte er, da er über keine Aufenthaltsgenehmigung verfügte, eine „nomadisch[e]“ Existenz, schlief häufig bei wechselnden FreundInnen und Bekannten und hielt sich „zwangsläufig viel in Kneipen“ auf, die er gleichzeitig als „Informationsquelle“ nutzte.18 Seit Ende der 1940er Jahre mit Texten Brechts bekannt, wurde dieser schnell zum literarischen und politischen Orientierungspunkt. Im Rückblick äußerte Müller: „Brecht war die Legitimation, warum man für die DDR sein konnte. […] Weil Brecht da war, mußte man dableiben. Damit gab es einen Grund, das System grundsätzlich zu akzeptieren.“19 Müllers frühe Texte zeigen zwar auch andere Einflüsse, beispielsweise

|| 16 Vgl. Fritz Erpenbeck an Peter Hacks, 11. Oktober 1955, DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit TdZ. Hacks schickte am 14. Oktober 1955 seine Zusage. 17 Rudolf Engel an Peter Hacks, 20. Juli 1956, DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit der Akademie der Künste. Hacks wies das Anliegen Engels zurück. Vgl. Peter Hacks an Rudolf Engel, 27. Juli 1956, DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit der Akademie der Künste. 18 KoS 68f. Siehe zu Müllers Zeit in Frankenberg und der Frühzeit in Berlin: Hauschild. 19 KoS 87. Heiner Müllers frühe politische Orientierung ist widersprüchlich. Einerseits war er FDJund SED-Mitglied – er wurde im Zuge der allgemeinen Mitgliederüberprüfung 1951 nach eigener Auskunft wegen „Unauffindbarkeit“ sowie „mangelnder Parteiverbundenheit“ gestrichen (KoS 94) –, andererseits stand er offenbar der antikommunistischen Widerstandsgruppe Talleyrand nahe. Vgl. Hauschild, S. 84.

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durch Wolfgang Borchert oder Ferdinand Bruckner,20 die Vorbildfunktion Brechts steht aber deutlich im Vordergrund.21 Nachdem Müller mit dem Plan, „zum Berliner Ensemble zu gehören und da zu arbeiten“,22 gescheitert war, schrieb er Rezensionen und kleinere Reportagen für die zum Kulturbund gehörige Wochenzeitung Sonntag sowie die Zeitschrift des Schriftstellerverbandes neue deutsche literatur. Nach eigenen Angaben geriet er dabei des Öfteren zwischen die kulturpolitischen Fronten und wurde vor allem beim Sonntag als „taktische Bombe“ instrumentalisiert.23 Müllers journalistische Arbeiten zeichnen sich durch apodiktische Urteile aus, so dass manche Besprechungen bei den LeserInnen „den Eindruck eines ‚Schlachtfestes‘“ 24 hinterließen. Ob Müller aber als „unsicherer Kantonist“ ohne eindeutige ästhetische Richtung gelten kann, gleichsam ein Schiff, das von den Wellen der „diversen Stimmungsschwankungen und Kursänderungen der ‚Sonntag‘-Redaktion“ hin und her geworfen wurde, 25 muss bezweifelt werden; ebenso wie man Müllers spätere Äußerungen, die seine frühen Texte pauschal als heteronom abwerten, skeptisch betrachten sollte. Vielmehr ist davon auszugehen, dass der junge Heiner Müller in den 1950er Jahren ein „enthusiastisch-affirmative[s]“ Verhältnis zum Aufbau des Sozialismus hatte, schließlich erschien ihm selbst die Formalismus-Kampagne als „grundsätzlich richtig“.26 Neben dem Verfassen von ‚Brottexten‘ war Müller bemüht, eigene literarische Arbeiten in Zeitschriften zu veröffentlichen, zunächst mit mäßigem Erfolg. Obschon von F. C. Weiskopf gelobt, gelang ihm mit „Das eiserne Kreuz“ erst 1956 die erste Veröffentlichung in der neuen deutschen literatur.27 Ab 1956 war Müller für ein Jahr Mitarbeiter für Dramatik in der wissenschaftlichen Abteilung des Schriftstellerverbands,

|| 20 Vgl. Hans-Thies Lehmann: Frühe Stücke, Szenarien und Skizzen. In: HMH, S. 183. 21 Katharina Ebrecht kommt zu dem Schluss, dass Müllers frühe Gedichte „Brechts Stil, Formen und Themen buchstäblich imitieren“. Katharina Ebrecht: Heiner Müllers Lyrik. Quellen und Vorbilder. Würzburg 2001, S. 38. 22 KoS 64. Siehe zu Müllers Versuchen, mit Brecht in Kontakt zu kommen auch: MW 12, 504f. 23 KoS 77. 24 Jürgen Lenz an Sonntag, 26. September 1954, HMA, Nr. 294, Schriftwechsel mit dem Sonntag. 25 Hauschild, S. 108. 26 Janine Ludwig: Macht und Ohnmacht des Schreibens. Späte Texte Heiner Müllers. Berlin 2009, S. 17 u. MW 8, 509. Hans-Thies Lehmann und Genia Schulz sprechen daher zu Recht vom jungen Müller als einem „idealistischen Stalinisten“. Hans-Thies Lehmann u. Genia Schulz: Protoplasma des Gesamtkunstwerks – Heiner Müller und die Tradition der Moderne. In: Gabriele Förg (Hg.): Unsere Wagner: Joseph Beuys, Heiner Müller, Karlheinz Stockhausen, Hans-Jürgen Syberberg. Frankfurt/M. 1984, S. 76. 27 Vgl. F. C. Weiskopf an Heiner Müller, 5. Januar 1954, HMA, Nr. 285, Schriftwechsel mit ndl. – Der Text ist eine Prosaversion der Szene „Kleinbürgerhochzeit“ aus Die Schlacht [1974]. Vgl. MW 2, 72ff. u. MW 4, 474ff. Solche hypertextuellen genealogischen Transformationen sind typisch für Müller und lassen sich besonders häufig zwischen Drama und Lyrik nachweisen.

36 | Hacks und Müller als häretische Gruppe im literarischen Feld

eine Anstellung, die seinem Renommee im literarischen Feld aufgrund des schlechten Rufs des Verbands nicht sehr zuträglich war.28 Im November 1957 wurde er Redaktionsmitglied der neu gegründeten Zeitschrift Junge Kunst. Beide Anstellungen kamen dank des befreundeten Germanisten Heinz Nahke zustande, der auch Chefredakteur der Zeitschrift war.29 In der Spielzeit 1958/59 arbeitete Müller dann als Dramaturg am Maxim-Gorki-Theater. Eine Besonderheit der Textproduktion Heiner Müllers ist die enge Zusammenarbeit mit seiner Ehefrau Inge Müller, die bei den frühen Veröffentlichungen durchgehend als Mitverfasserin genannt ist.30 Die Grenzen der „Utopie einer gemeinsamen Produktion“ zeigen sich allerdings bereits Ende der 1950er Jahre, als der wachsende literarische Erfolg Heiner Müllers, d.h. die zunehmende Akkumulation sozialen Kapitals in Form der Einbindung in „funktionierende[ ] Männernetzwerk[e]“, die fragile poietische Paar-Konstellation in einen „eheliche[n] Literaturkampf[ ]“ überführte und Heiner Müller sich zunehmend auf eigene literarische Arbeiten konzentrierte.31 Die am Ende des Zweiten Weltkriegs schwer traumatisierte Inge Müller nahm sich 1966 das Leben. Mit wachsendem zeitlichen Abstand veranschlagte Heiner Müller ihre Mitarbeit immer geringer, bis Inge Müller, laut seiner Darstellung „gar keinen“ Anteil an den von ihm „ganz allein geschrieben[en]“ Texten mehr hatte.32

|| 28 Müller argumentierte 1994, dass seine Funktionärstätigkeit beim Verband mit zur Ablehnung von Der Lohndrücker am BE geführt habe. Vgl. MW 12, 507. 29 Vgl. Hauschild, S. 133f. u. 142f. Siehe auch das Faksimile des Empfehlungsschreibens Nahkes vom 21. März 1957, in: Frank Hörnigk u.a. (Hg.): Ich wer ist das, im Regen aus Vogelkot im Kalkfell. Für Heiner Müller. Arbeitsbuch. Berlin 1996, S. 11. In der Jungen Kunst erschienen die Dramentexte Zehn Tage, die die Welt erschütterten und Klettwitzer Bericht 1958 sowie die Gedichte Gedanken über die Schönheit der Landschaft bei einer Fahrt zur Großbaustelle „Schwarze Pumpe“ und Die Roten. 30 Siehe zu Inge Müller: Jürgen Serke: Inge Müller. Die Wahrheit leise und unerträglich. In: ders.: Zu Hause im Exil. Dichter, die eigenmächtig blieben in der DDR. München 1998, S. 15–46; Ines Geipel: Dann fiel auf einmal der Himmel um. Inge Müller. Die Biographie. Berlin 2002 u. Sonja Hilzinger: Das Leben fängt heute an – Inge Müller. Biographie. Berlin 2005. 31 Janine Ludwig: Eine Geschichte aus der Produktion. Über die Arbeit am „Lohndrücker“ und die Zusammenarbeit von Inge und Heiner Müller. In: Peter Kammerer u.a. (Hg.): Working for paradise. Der Lohndrücker – Heiner-Müller-Werkbuch. Berlin 2011, S. 112; Hilzinger: Das Leben fängt heute an, S. 150 u. Hauschild, S. 151. Siehe allgemein zum Phänomen literarischer Paar-Beziehungen: Gerda Marko: Schreibende Paare. Liebe, Freundschaft, Konkurrenz. Zürich u.a. 1995. 32 Inge Müller: Ich bin eh ich war. Gedichte. Blanche Kommerell im Gespräch mit Heiner Müller. Versuch einer Annäherung, hg. von Blanche Kommerell. Gießen 1992, S. 32. Siehe auch: KoS 109 u. 111 sowie Geipel, S. 192. Das ‚Verschwinden‘ Inge Müllers spiegelt sich bis heute in der Forschung wieder. Als Beispiel sei auf das Heiner-Müller-Handbuch verwiesen. Das „Autorenpaar“ findet dort nur im Kontext der Hörspielarbeit Heiner Müllers Erwähnung (HMH, S. 346ff.); bei Die Korrektur wird Inge Müller zwar als Mitarbeiterin genannt, ansonsten entsteht aber der Eindruck, Heiner Müller habe den Text allein verfasst. Vgl. HMH, S. 235ff. In Bezug auf die Arbeit am Lohndrücker, bei dem Ines Geipel deutliche Hinweise auf eine Co-Autorschaft konstatiert (vgl. Geipel, S. 191), wird die Mitarbeit Inge Müllers sogar explizit infrage gestellt. Vgl. HMH, S. 246.

Die Etablierung im literarischen Feld | 37

Durch den Abdruck von Der Lohndrücker in der neuen deutschen literatur wurden Müllers erstmals der Öffentlichkeit als Dramatiker bekannt. Der Text machte Eindruck: In einem Brief an seinen Verleger lobte Hacks Müller als den „mit Abstand bedeutendsten deutschen Stückeschreiber“;33 und in Theater der Zeit war zu lesen, der Text transportiere „eine neue Qualität“, zugespitzt hieß es, man könne „die Anfänge sozialistischer Dramatik […] überhaupt erst vom ‚Lohndrücker‘ an […] datieren.“34 Weihnachten 1957 erhielt Müller für den Text einen mit 2000 Mark dotierten Preis im Rahmen des dritten Preisausschreibens zur Förderung des Gegenwartsschaffens in der deutschen Literatur.35 Im März 1958 wurde Der Lohndrücker in Leipzig zusammen mit Helmut Baierls Feststellung uraufgeführt. Es folgten weitere Inszenierungen (darunter am Maxim-Gorki-Theater in Berlin zusammen mit der zweiten Fassung von Die Korrektur) und die Verbreitung des Textes in verschiedenen Ausgaben.36 Bereits im November 1957 hatte im Rahmen der Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der Oktoberrevolution die gemeinsam mit Hagen Mueller-Stahl verfasste Szenen-Collage Zehn Tage, die die Welt erschütterten an der Volksbühne Premiere. Damit war Heiner Müller als Dramatiker in der DDR etabliert. Der Lohndrücker erfuhr sowohl feldintern als auch -extern Anerkennung. Der Text wurde in den Lehrplan der Schulen aufgenommen, das Ehepaar Müller 1959 mit dem Heinrich-MannPreis der Akademie der Künste ausgezeichnet. In der Begründungserklärung heißt es, Der Lohndrücker und Die Korrektur vermittelten einen Eindruck, „wie die Stagnation der dramatischen Darstellung der Gegenwartsprobleme mit durchaus originellen Mitteln überwunden werden kann“.37

|| 33 Peter Hacks an Hans-Joachim Pavel, 5. April 1957, DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit dem Drei Masken Verlag. Siehe auch: VK 16 (Peter Hacks an Heiner Müller, 2. Mai 1957). 34 Lothar Creutz: Anfänge sozialistischer Dramatik. Ein Gespräch. In: TdZ 12 (1957), H. 11, Beilage Nr. 5, S. 8. Siehe auch: Claus Hammel: „Der Lohndrücker“ und die Drückeberger. In: Sonntag, 29. Dezember 1957, S. 5. 35 Vgl. Sonntag, 22. Dezember 1957, S. 11. 36 Der Text erschien 1958 bei Henschel, in 2. (1959) und 3. (1960) Auflage zusammen mit Die Korrektur (2. Fassung); als „Ausgabe für Laienspielgruppen“ und „[m]it einigen Hinweisen zur Regie“ 1958 bei Hofmeister (Neudruck 1959). Beide Texte wurden 1959 auch in die bei Reclam erschienene Anthologie Der Weg zum Wir. Anthologie neuer Dramatik aufgenommen, deren Auflage nach Verlagsangaben 5000 Exemplare betrug. Ich folge hier den Angaben des Katalogs der Deutschen Nationalbibliothek. Die Heiner-Müller-Bibliographie nennt abweichend andere Veröffentlichungsjahre und verzichtet darauf, die einzelnen Auflagen zu erwähnen. Vgl. Schmidt u. Vaßen: Bibliographie Heiner Müller. 1948–1992, Bd. 1, S. 30f. 37 Zit. n.: Geipel, S. 190. Siehe zum Lehrplan: Sigrid Auras: „Der Lohndrücker“ von Heiner Müller. Stofflich-methodische Anleitung zur unterrichtlichen Behandlung. Magdeburg 1961 u. MW 3, 538.

38 | Hacks und Müller als häretische Gruppe im literarischen Feld

3.1.3

Kennenlernen

Wann genau Peter Hacks und Heiner Müller einander kennenlernten, lässt sich anhand der zugänglichen Quellen nicht feststellen. An der Rekonstruktion des frühen Verhältnisses zwischen Hacks und Müller scheiterte bereits der Müller-Biograph JanChristoph Hauschild. Als dieser im Frühjahr 1998 bei Hacks anfragte, erhielt er die lapidare Antwort: „Über Müller mag ich nicht reden.“38 Hacks behauptet, Müller im Sommer 1956 kennengelernt zu haben, Müller hingegen erinnert sich, dass der Kontakt zu Hacks 1957 über den Chefdramaturgen des Deutschen Theaters und HacksFreund Heinar Kipphardt hergestellt worden sei.39 Der Theaterwissenschaftler Ernst Schumacher wiederum meint, dass Hacks und Müller bereits im Januar 1956, im Anschluss an den IV. Schriftstellerkongress zusammen diskutiert hätten, was aber unwahrscheinlich ist, da Müller erstens über keine Einladung zum Kongress verfügte und dieser sich zweitens an keiner Stelle seiner zahlreichen Interviews an den Kongress erinnert.40 In jedem Fall entstand in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre ein freundschaftlicher Kontakt zwischen Hacks und Müller, der sich auch auf die beiden Ehefrauen erstreckte: „Inge und ich waren oft bei Hacks, und Hacks war oft bei uns.“41 Die beiden Brecht-Schüler erkannten im jeweils anderen, im positiven Sinne, einen „Rivale[n] von einiger Ernsthaftigkeit“.42 Gemeinsam machten sie sich an den Versuch, die dramenästhetischen Parameter des im Aufbau begriffenen Sozialismus auszubuchstabieren und in die Fußstapfen Brechts zu treten.

|| 38 Peter Hacks an Jan-Christoph Hauschild, 23. Januar 1998, DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit JanChristoph Hauschild. 39 Vgl. Pasiphaë, S. 16 u. KoS 88. Der erste schriftliche Kontakt datiert auf den Dezember 1956, als Müller Hacks in seiner Funktion als Angestellter des Schriftstellerverbands schrieb. Vgl. Heiner Müller an Peter Hacks, 5. Dezember 1956, DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit Heiner Müller. 40 Vgl. Ernst Schumacher: Mein Brecht. Erinnerungen 1943 bis 1956. Berlin 2006, S. 433. 41 KoS 110. 42 KoS 88.

Das literarische Feld in den 1950er Jahren | 39

3.2

Das literarische Feld in den 1950er Jahren

Um die literarischen Texte von Hacks und Müller und die Bemühungen um ein revolutionäres Theater nach dem Tod Brechts in ihrem Kontext verstehen zu können, wird im Folgenden kurz die Ausgangssituation im literarischen Feld Mitte der 1950er Jahre beschrieben. Das literarische Feld der DDR erfuhr in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre einen Wandel, der eng mit der politischen Geschichte der DDR zusammenhängt und sich durch den Auftritt einer neuen DramatikerInnen-Generation auszeichnet. Die Jahre von 1953 bis 1956 und teilweise darüber hinaus werden allgemein als eine Zeit des ‚Tauwetters‘ betrachtet. Nach dem Tod Stalins im März 1953 und dem Aufstand des 17. Juni kam es zu einer von der Akademie der Künste und dem Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands teilweise offensiv eingeforderten kulturpolitischen Liberalisierung, die sich in einer zeitweisen Lockerung der administrativen Kontrolle und einer Öffnung der Presse ausdrückte. Die „Epoche des Regimes der Funktionäre“43 ging damit zwar nicht zu Ende, die SED geriet nach ihrer ambitionierten Verkündigung des Aufbaus des Sozialismus vom Sommer 1952 aber spürbar in die Defensive, die durch die Thematisierung der Stalin’schen Säuberungen und deren Verurteilung als Handlungen „wider alle Normen der revolutionären Gesetzlichkeit“ auf dem XX. Parteitag der KPdSU noch verstärkt wurde.44 Das hatte diskursive und institutionelle Konsequenzen: Die ab 1948 im Zeichen des eskalierenden Kalten Krieges geführte Formalismus-Kampagne, die sich zeitweise auf einen „Tabula-rasa-Standpunkt“45 zubewegt und zu einer Distanzierung vieler dem Sozialismus verbundener Intellektueller und KünstlerInnen beigetragen hatte, fand ihr Ende; und auch die analog im Theaterfeld in erster Linie gegen Brechts

|| 43 Otto Schwarz, Mitglied des Präsidialrates des Kulturbundes, zit. n.: Magdalena Heider u. Kerstin Thöns (Hg.): SED und Intellektuelle in der DDR der fünfziger Jahre. Kulturbund-Protokolle. Köln 1990, S. 34. 44 Nikita S. Chruschtschow: Rede des Ersten Sekretärs auf dem XX. Parteitag der KPdSU (‚Geheimrede‘). 25. Februar 1956, http://www.1000dokumente.de/index.html?c=dokument_ru&dokument=0014_ent&object=translation&st=&l=de (zuletzt eingesehen am 1. April 2014). In der Entschließung des 15. Plenums des ZK der SED Ende Juli 1953 hieß es hinsichtlich der Auswirkungen des ‚Neuen Kurses‘ auf die Kulturpolitik, dass SchriftstellerInnen und KünstlerInnen „geduldig überzeugt“ werden müssten. Es sei falsch, „einen Zwang zur Anerkennung des Marxismus-Leninismus“ auszuüben. So gewinne man „keine überzeugten Anhänger“. Zit. n.: Matthias Judt (Hg.): DDR-Geschichte in Dokumenten. Beschlüsse, Berichte, interne Materialien und Alltagszeugnisse. Bonn 1998, S. 320. In der BZ hatte Wolfgang Harich zuvor die Staatliche Kunstkommission als dilettantisch und ihre Funktionäre als „lächerlich“ bezeichnet. Wolfgang Harich: Es geht um den Realismus. Die bildenden Künstler und die Kunstkommission. In: BZ, 14. Juli 1953, S. 3. Siehe zu den Reformdebatten nach 1953: Siegfried Prokop (Hg.): Zwischen Aufbruch und Abbruch. Die DDR im Jahre 1956. Berlin 2006 u. Guntolf Herzberg: Anpassung und Aufbegehren. Die Intelligenz der DDR in den Krisenjahren 1956/58. Berlin 2006. 45 Mittenzwei: Das Leben des Bertolt Brecht. Bd. 2, S. 443.

40 | Hacks und Müller als häretische Gruppe im literarischen Feld

Theatertheorie geführte Stanislawski-Debatte führte jenseits von Lippenbekenntnissen zu keinen wirkmächtigen kulturpolitischen Festschreibungen.46 Im Januar 1954 wurde die Staatliche Kommission für Kunstangelegenheiten aufgelöst, was den Spielraum von Theatern, Verlagen und anderen Institutionen des literarischen Feldes vergrößerte. Die 1951 gegründete zentrale kulturpolitische Anleitungs- und Kontrollinstitution wurde durch ein Kulturministerium ersetzt, dessen erster Amtsträger der Präsident des Kulturbundes Johannes R. Becher wurde.47 Damit stand dem Ministerium der Vertreter einer „liberalkommunistisch[en]“ 48 Haltung vor, der sowohl über kulturelles als auch politisches Kapital verfügte und als ‚Staatsdichter‘ der DDR bereits zu Lebzeiten hochgradig kanonisiert war. Die Kompetenzen des Kulturministeriums blieben allerdings gering. Die von Becher angestrebte Politik eines „Ministerium[s] der offenen Türen“ ließ sich nur in Ansätzen durchführen.49 Der Sozialistische Realismus verlor zwar zeitweilig an Einfluss, blieb aber kulturelles Leitkonzept und „Kernfrage aller echten Kunst“.50 Die späten 1950er Jahre lassen sich als Übergangsperiode beschreiben, in welcher sich die kulturpolitischen Vorzeichen verschoben. Die Leitidee einer humanistischen Literatur auf Grundlage des ‚klassischen Erbes‘, die in einem engen Zusammenhang mit der bis Mitte der 1950er Jahre verfolgten gesamtdeutschen Ausrichtung der Politik der SED stand, wurde sukzessive durch die Konzeption einer ‚Sozialistischen Nationalliteratur‘ ersetzt. So forderte der „Offene Brief an unsere Schriftsteller“ der „Werktätigen des VEB Braunkohlenwerk Nachterstedt“ 1955 zu „mehr Bücher[n] über den großen Aufbau“ und „über das Schaffen und Leben der Werktätigen“ auf.51 || 46 Petra Stuber, die erstmals das Protokoll der Stanislawski-Konferenz vom April 1953 veröffentlicht hat, urteilt, dass der bis dato in der Literaturgeschichte als zentral angesehene Konflikt zwischen Brecht und Stanislawski die Konferenz weit weniger bestimmte, als bisher angenommen wurde. Vgl. Stuber, S. 153ff. Siehe zur Stanislawski-Debatte: Werner Mittenzwei: Der Methodenstreit – Brecht oder Stanislawski. In: ders.: Kampf der Richtungen, S. 148–171 u. Renate Ullrich: „Und zudem bringt Ihr noch den genialen Stanislawski in Verruf.“ Zur Kanonisierung einer Schauspielmethode. In: Dahlke u.a. (Hg.): LiteraturGesellschaft DDR, S. 104–145. Siehe zu Brechts Position zum sogenannten Stanislawski-System: Werner Hecht: Die Mühen der Ebenen. Brecht und die DDR. Berlin 2013, S. 147–162. 47 Siehe zur Geschichte der Staatlichen Kunstkommission und zur Gründung des Kulturministeriums: Jochen Staadt: „Die Eroberung der Kultur beginnt!“. Die Staatliche Kommission für Kunstangelegenheiten der DDR (1951–1953) und die Kulturpolitik der SED. Frankfurt/M. 2011. 48 Wolf Gerhard Schmidt: Zwischen Antimoderne und Postmoderne. Das deutsche Drama und Theater der Nachkriegszeit im internationalen Kontext. Stuttgart/Weimar 2009, S. 69. 49 Jens-Fietje Dwars: Johannes R. Becher. Triumph und Verfall. Eine Biographie. Berlin 2003, S. 217. Dass Becher nach dem 17. Juni an der Spitze des Kulturministeriums stehen konnte, ist zwar Folge der Krise der SED, entspricht aber auch voll und ganz deren Einsicht, dass „[d]ie Intellektuellen [...] in Zukunft in größerem Maße als bisher zur Staatsverwaltung heranzuziehen [sind], besonders auf den kulturellen Gebieten“, wie es im Beschluss der 15. Tagung des ZK der SED vom Juli 1953 hieß. Zit. n.: Judt, S. 320. 50 Fritz Erpenbeck: Woran wir uns halten können. In: TdZ 10 (1955), H. 9, S. 3. 51 DKLS 351.

Das literarische Feld in den 1950er Jahren | 41

Die kulturpolitische Fokussierung auf die industrielle und landwirtschaftliche Arbeitswelt im Sinne einer einfachen Utilitätsauffassung – Literatur sollte durch moralische Anreize zu einer Erhöhung der Arbeitsproduktivität auf RezipientInnenseite führen – deutet sich hier bereits an, ebenso die nach dem Ungarnaufstand 1956 beginnende ‚Sozialistische Kulturrevolution‘, die 1959 im sogenannten Bitterfelder Weg mündete.52 Die Kulturrevolution erhob den Anspruch, das bürgerliche Bildungsmodell durch ein sozialistisches zu ersetzen und das Herrschaftsprimat der Arbeiterklasse mittels einer breiten Laienbewegung auf das Feld der kulturellen Produktion auszudehnen, um so die „Durchdringung aller Lebensbereiche mit sozialistischer Ideologie“ voranzutreiben.53 Sie kann als Ausdruck einer kulturpolitischen Offensive der SED verstanden werden. Zugleich hatte sie aber auch den Effekt, die Rezeption bisher aus dem offiziellen Kanon ausgeschlossener (und einem anderen Verständnis von Kulturrevolution54 angehörender) operativer Literaturformen der sozialistischen Avantgarde der 1920er und 1930er Jahre zu verstärken. So führte sie insbesondere vor dem Hintergrund des Vakuums, das durch die Dekanonisierung der Literaturtheorie Georg Lukács’ nach 1956 entstand, zu einer Dynamisierung der Diskussionen über die ästhetischen „Formproblem[e] der Übergangsperiode“.55 Insgesamt ergibt sich für die zweite Hälfte der 1950er Jahre ein widersprüchliches Bild: Die von der SED-Führung programmierte Sozialistische Kulturrevolution und die von selbsttätig auf kulturrevolutionäre Theorien und Praxen zurückgreifenden Akteuren gestaltete ‚Kulturrevolution‘ stimmten teilweise überein, schlossen sich aber gerade dort aus, wo die Akteure letzterer an ästhetische Verfahren der sozialistischen Avantgarde anknüpften oder den administrativ verordneten Realismusbegriff

|| 52 Siehe zum Bitterfelder Weg: Simone Barck u. Stefanie Wahl (Hg.): Bitterfelder Nachlese. Ein Kulturpalast, seine Konferenzen und Wirkungen. Berlin 2007 u. Dietrich Löffler: Buch und Lesen in der DDR. Ein literatursoziologischer Rückblick. Bonn 2011, S. 83–95. 53 Waltraud Böhme (Hg.): Kleines politisches Wörterbuch. Berlin 1973, S. 782. 54 Der Begriff Kulturrevolution ist uneindeutig. Die (1.) Sozialistische Kulturrevolution wurde vonseiten der SED als „allgemeine Gesetzmäßigkeit der sozialistischen Revolution und des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus“ verstanden (Böhme, S. 781). Davon abzugrenzen ist (2.) ein Begriff von Kulturrevolution im Sinne einer operativen Literatur im Rahmen der proletarisch-revolutionären Avantgarde der 1920er und 1930er Jahre. Vgl. Wolfgang R. Langenbucher: Kulturpolitisches Wörterbuch. Bundesrepublik Deutschland, Deutsche Demokratische Republik im Vergleich. Stuttgart 1983, S. 414ff. Darüber hinaus zu unterscheiden wäre (3.) die chinesische Kulturrevolution von 1966 bis 1976 sowie (4.) ein allgemeiner Begriff von Kulturrevolution, wie er im Kontext der Forschung zur 68er-Bewegung anzutreffen ist und der einen Wandel der „politischen Kulturen und Lebensstile“ (Detlef Siegfried: Sound der Revolte. Studien zur Kulturrevolution um 1968. Weinheim/ München 2008, S. 34) beschreibt. Im Kontext dieser Arbeit interessieren nur die ersten zwei Begriffsbedeutungen. 55 GüS 120.

42 | Hacks und Müller als häretische Gruppe im literarischen Feld

und dessen abbildtheoretische Implikate durch eigenständige Auslegungen unterminierten. Dementsprechend uneindeutig sind die Ergebnisse der im Oktober 1957 tagenden Kulturkonferenz der SED, die den Begriff der Sozialistischen Kulturrevolution offizialisierte. Einerseits wurde selbstkritisch die bisherige „Förderung oder Duldung eines spießerhaft-kleinbürgerlichen Kulturlebens“ moniert und dazu aufgerufen, den „Reichtum der revolutionären Traditionen aus der Arbeiterkulturbewegung“ und „die Arbeit der Agitprop-Gruppen“ wiederzuentdecken. Andererseits wurden Theater und Rundfunk massiv für „Einflüsse der westlich-kapitalistischen Unkultur“ kritisiert, und mit der von Alfred Kurella geleiteten Kulturkommission beim Politbüro der SED wurde ein neues repressives Kulturgremium geschaffen, dessen Aufgabenbereich in der „koordinierenden Kontrolle und ideologischen Anleitung der Gesamtheit kultureller Maßnahmen“ lag.56 Während die SED nach 1956 eine relativ freie literarische Diskussion zuließ, in der die für die DDR kennzeichnende „Dichotomie […] von kontrollierter Öffentlichkeit und zweiter Öffentlichkeit“57 zeitweise eine geringere Rolle spielte, versuchte sie gleichzeitig die nach 1953 verlorengegangene Kontrolle durch eine Gegenoffensive zurück zu erlangen. Das schien angesichts der Eruptionen in Ungarn und Polen, die in der DDR im Krisenjahr 1956 zu erregten Diskussionen und nicht nur unter Intellektuellen zur Herausbildung oppositioneller Strömungen führten, 58 besonders geboten. Mit der Verhaftung und propagandistisch inszenierten Verurteilung der sogenannten

|| 56 DKLS 504 u. Simone Barck: Das Dekadenz-Verdikt. Zur Konjunktur eines kulturpolitischen „Kampfkonzepts“ Ende der 1950er bis Mitte der 1960er Jahre. In: Jürgen Kocka (Hg.): Historische DDRForschung. Aufsätze und Studien. Berlin 1993, S. 131. Siehe auch das Protokoll der 1. Sitzung der Kommission in: Gansel: Parlament des Geistes, S. 357ff. Siehe zur Tätigkeit der Kommission: Barck: Das Dekadenz-Verdikt, S. 131ff. u. Dieter Schiller: Kurellas Kulturkommission. Auftrag und Scheitern (1957–1962). Berlin 2001. Siehe zur Kulturkonferenz der SED: Dieter Schiller: Disziplinierung der Intelligenz. Die Kulturkonferenz der SED vom Oktober 1957. Berlin 1997 u. Herzberg, S. 302ff. 57 Detlef Pollack: Sozialstruktur und Mentalität in Ostdeutschland. In: Hansgünter Meyer (Hg.): Soziologie in Deutschland und die Transformation großer gesellschaftlicher Systeme. Berlin 1992, S. 274. Theo Girshausen spricht von einer Phase, „in der die unmittelbaren Kulturproduzenten ihre Ansprüche und Bedürfnisse gleichsam in einem politischen Vakuum formulieren und offen diskutieren konnten, ohne sie von vornherein, affirmativ oder kritisch, an einem vorgeprägten Normenkatalog ausrichten zu müssen“. Girshausen: Realismus und Utopie, S. 35. 58 So kam es auch innerhalb der SED und der NVA zur Bildung oppositioneller Gruppen. Vgl. Karl Schirdewan: Aufstand gegen Ulbricht. Im Kampf um politische Kurskorrektur gegen stalinistische dogmatische Politik. Berlin 1994; Hanns Jürgen Küsters: Wiedervereinigung durch Konföderation? Die informellen Unterredungen zwischen Bundesminister Fritz Schäffer, NVA-General Vincenz Müller und Sowjetbotschafter Georgi Maksimowitsch Puschkin 1955/56. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 40 (1992), H. 1, S. 107–153 u. Rüdiger Wenzke (Hg.): Staatsfeinde in Uniform? Widerständiges Verhalten und politische Verfolgung in der NVA. Berlin 2005, S. 98ff.

Das literarische Feld in den 1950er Jahren | 43

‚Harich/Janka-Gruppe‘ sollte allen AnhängerInnen alternativer Sozialismus-Konzeptionen vor Augen geführt werden, dass die „Isolation von der Arbeiterklasse“ (sprich: die Distanzierung von der SED) „Verrat“ bedeute und die SED auf Verrat auch in Zukunft repressiv reagieren werde.59 Von einer Periode des Tauwetters kann vor diesem Hintergrund nur in eingeschränktem Maße die Rede sein; Glatteis, der Titel eines Dramas, das Hans Lucke 1956 verfasste, wäre als literarische Metapher angemessener. Dass die in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre geführten Diskussionen um die Beschaffenheit des sozialistischen Theaterstücks und die Koordinaten einer marxistischen Theaterästhetik dennoch eine relative Offenheit aufweisen, kann unter anderem auf die Abwesenheit einer verbindlichen ästhetischen Orientierungsgröße jenseits der Unbestimmtheit des Sozialistischen Realismus zurückgeführt werden. Der SED fehlte im Theaterfeld ein autoritativer Bezugsrahmen, zumal das in der Forschung vielfach als Alternative zu Brecht beschriebene Theaterkonzept Friedrich Wolfs aus Sicht der Kulturpolitik ebenfalls defizitär war und keineswegs eine „geförderte Regel“ darstellte.60 Eine wichtige Rolle spielt zudem der im Theaterfeld einflussreiche Herausgeber der Zeitschrift Theater der Zeit, Fritz Erpenbeck, der auch seinen

|| 59 „Verrat [...] endet im Zuchthaus“, hieß es in einem anonym erschienenen Kommentar zum Abschluss des Harich-Prozesses. Sonntag, 17. März 1957, S. 2. Im Zusammenhang mit Wolfgang Harich wurde auch der Schriftsteller Erich Loest verhaftet; ebenso geriet der ‚Donnerstagskreis‘ um Fritz J. Raddatz in den Fokus des MfS. Vgl. Matthias Braun: „Dieser blutige November schlug viele Knospen ab“. Zu Geschichte und Programm des „Donnerstagskreises“ im Herbst 1956. In: Ehrhart Neubert (Hg.): Macht – Ohnmacht – Gegenmacht. Grundfragen zur politischen Gegnerschaft in der DDR. Bremen 2001, S. 293–304; Dieter Schiller: Der „Donnerstagskreis“ im Berliner Club der Kulturschaffenden im Herbst 1956. Berlin 2000 u. Dieter Schiller: Der Berliner Donnerstagskreis in den Akten des MfS. In: Prokop (Hg.): Zwischen Aufbruch und Abbruch, S. 224–233. Weiterhin zu nennen sind die öffentlichen Angriffe auf Hans Mayer nach dem Radio-Essay „Zur Gegenwartslage unserer Literatur“ und die Kampagne gegen Ernst Bloch. Vgl. Alfred Klein: Unästhetische Feldzüge. Der siebenjährige Krieg gegen Hans Mayer 1956–1963. Leipzig 1997. 60 Wolfram Buddecke u. Helmut Fuhrmann: Das deutschsprachige Drama seit 1945. Schweiz, Bundesrepublik, Österreich, DDR: Kommentar zu einer Epoche. München 1981, S. 248. Die früh konstatierte Dichotomie zwischen Brecht und Wolf wird überbewertet. Vgl. Fritz J. Raddatz: Traditionen und Tendenzen. Materialien zur Literatur der DDR. Frankfurt/M. 1972, S. 416; Jack Zipes: Bertolt Brecht oder Friedrich Wolf? Zur Tradition des Dramas in der DDR. In: Uwe Hohendahl u. Patricia Herminghouse (Hg.): Literatur und Literaturtheorie in der DDR. Frankfurt/M. 1976, S. 191–240; Jürgen Schröder: Brecht oder Wolf? Alternativen eines sozialistischen deutschen Theaters. In: Wilfried Barner (Hg.): Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart. München 2006 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart. Bd. 12), S. 149 u. Peter J. Brenner: Nachkriegsliteratur. In: Horst Albert Glaser (Hg.): Deutsche Literatur zwischen 1945 und 1995. Eine Sozialgeschichte. Bern/Stuttgart/Wien 1997, S. 55. In vielen Texten Wolfs lässt sich eine „Integration epischer Techniken“ (Schmidt: Zwischen Antimoderne und Postmoderne, S. 520) feststellen; auch die Wolf unterstellte grundsätzliche Harmonisierung widerspricht dessen später resignativer (kultur-)politischer Positionierung. Siehe zu Brecht und Wolf: Christel Berger: Friedrich Wolf 1953. Eine unvollständige Biographie rückwärts. Berlin 2006, S. 215–240.

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Ansichten entgegenstehende, kontroverse Diskussionen ermöglichte, so dass Theater der Zeit zu einem wichtigen Debattenorgan wurde.61 Die in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre entstandenen Theatertexte von Peter Hacks und Heiner Müller repräsentieren eine Theaterliteratur, die die von Hans Mayer Ende 1956 für die Literatur nach 1945 konstatierten „magere[n] Jahre“ hinter sich ließ.62 Mit den kulturpolitisch propagierten, vagen Maßstäben des Sozialistischen Realismus hatten diese Texte allerdings wenig gemein. Die weitere Entwicklung im Theaterfeld stand vielmehr ganz im Zeichen Bertolt Brechts, der für das nächste Jahrzehnt zur bestimmenden Figur wurde.

|| 61 Erpenbeck, ein erklärter Gegner Brechts, hatte bereits 1954 eine Debatte über episches vs. dramatisches Theater anzustoßen versucht und ließ auch in den späten 1950er Jahren bis zu einem bestimmten Rahmen Diskussionen zu, die seinen ästhetischen Überzeugungen widersprachen. Martin Linzer, langjähriger Redakteur und späterer Chefredakteur von TdZ urteilte 1996 rückblickend, Erpenbeck habe „vielleicht weniger aus Überzeugung, denn aus journalistischer Fairness“ Diskussionsräume offengehalten und junge Autoren gefördert. Martin Linzer: Wechselvoller Umgang mit einem Autor. Heiner Müller und Theater der Zeit. In: TdZ 51 (1996), H. 2, S. 13. Als altgedientes Mitglied der KPD und Moskau-Emigrant verfügte Erpenbeck über einen großen Handlungsspielraum und konnte den Inhalt der Zeitschrift, der er von 1946 bis 1958 vorstand, relativ frei bestimmen. Siehe hierzu auch: Ingeborg Pietzsch: „Nacht muß es sein…“. Ingeborg Pietzsch im Gespräch mit Martin Linzer. In: dies. u. Ralf Schenk (Hg.): Schlagt ihn tot, den Hund… Film- und Theaterkritiker erinnern sich. Berlin 2004, S. 108f. Eine Biographie über Fritz Erpenbeck stellt in der DDR-Forschung ein Desiderat dar. 62 Hans Mayer: Zur Gegenwartslage unserer Literatur. Ein Rundfunkvortrag. In: Sonntag, 2. Dezember 1956, S. 4.

Episch-revolutionäres Theater im Anschluss an Brecht | 45

3.3

Episch-revolutionäres Theater im Anschluss an Brecht

Bei den frühen in der DDR verfassten Theatertexten Peter Hacks’ handelt es sich mit Ausnahme von Die Sorgen und die Macht und dem Einakter Ein guter Arbeiter um historische Stücke.63 Sie betonen den Abstand zwischen Vergangenheit und sozialistischer Gegenwart, indem sie die sozialen und politischen Verhältnisse der Vergangenheit als für den Einzelnen ausweglos zeigen und auf eine Alternative zu diesen Zuständen jenseits der Klassengesellschaft aufmerksam machen. Dem gegenüber stehen mit Ausnahme der historischen Revue Zehn Tage, die die Welt erschütterten die Produktionsstücke Heiner Müllers, die anhand des industriellen Aufbaus des Sozialismus die Funktionsweise der neuen gesellschaftlichen Ordnung und ihre strukturimmanenten Probleme verdeutlichen. Die im Folgenden untersuchten Theatertexte Peter Hacks’ (Die Kindermörderin; Der Müller von Sanssouci; Die Geschichte eines alten Wittibers im Jahre 1637; Ein guter Arbeiter und Die Sorgen und die Macht) und Heiner Müllers (Zehn Tage, die die Welt erschütterten; Der Lohndrücker und Die Korrektur) lassen sich im Zusammenhang mit einer Theaterauffassung verorten, die eng an Bertolt Brecht und dessen Konzeption eines eingreifenden Theaters angelehnt ist. In diesem Sinne weisen sie dem Theater eine gesellschaftliche Aufgabe im Sinne einer „Verantwortung zur Revolution“64 zu. Mit einer solchen operativen Kunstauffassung stehen Hacks und Müller keineswegs allein. Sie sind Teil einer relativ großen Gruppe von KulturproduzentInnen, die die gesellschaftlichen Veränderungen in der DDR (Enteignung der Bourgeoisie, Bodenreform und Kollektivierung, schwerindustrieller Aufbau) mit einer revolutionären Kunst begleiten wollen und sich gleichzeitig von der Kunstpraxis am heteronomen Pol des literarischen Feldes sowie der Kulturpolitik der SED abgrenzen. Dieser lose Zusammenhang wird im Folgenden unter dem Begriff des Didaktischen Theaters betrachtet. Gefragt wird nach den frühen ästhetischen Positionen Hacks’ und Müllers und ihrer Bezugnahme auf Brecht. Wie reflektieren ihre Theatertexte die Verhältnisse des jungen sozialistischen Staats? Wo lassen sich Hacks und Müller in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre im literarischen Feld verorten? Sind sie Teil eines größeren Zusammenhangs oder vielleicht sogar einer AutorInnen-Gruppe? Stehen sie gemeinsam für eine Konzeption, so dass man von einer programmatischen Gruppe sprechen könnte?

|| 63 Eine weitere Ausnahme sind die Einakter Die Russen kommen, Die Trickbetrügerin, Der patriotische Pastor und Die drei Polsterer. Siehe hierzu: S. 69, Anm. 181. 64 GBA 22.1, 121.

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3.3.1

Das Didaktische Theater

Mit dem epischen Theater Bertolt Brechts stand in der DDR eine ästhetische Theorie zur Verfügung, die dadurch große Anziehungskraft ausübte, dass sie sich mit den Grundannahmen des Marxismus verbinden ließ und das Theater in den Dienst der Illusionszerstörung stellte. Noch zu Lebzeiten Brechts bildete sich eine Brecht-Schule heraus, der so verschiedene AutorInnen wie Helmut Baierl, Kurt Bartsch, Wolf Biermann, Volker Braun, Peter Hacks, Bernd Jentzsch, Heinz Kahlau, Rainer Kirsch, Wera Küchenmeister, Günter Kunert, Karl Mickel, Heiner Müller und B. K. Tragelehn angehörten.65 „Damals gefiel uns eigentlich überhaupt nichts, außer Brecht“, erinnert sich der Schauspieler Horst Hiemer.66 Für Autoren wie Hacks und Müller war Brecht der „Papst“ der dramatischen Szene, dessen Texten und Inszenierungen die Qualität zukam, „marxistisches Bewußtsein ganz in Poesie umgesetzt“ zu haben, d.h. ein „dialektische[s] Theater“ entwickelt zu haben, das die historischen Realprozesse in angemessener Weise wiedergibt und das Publikum zugleich zum Eingriff in diese auffordert.67 Die Notwendigkeit eines solchen dialektischen Theaters erkannten Peter Hacks und Heiner Müller unabhängig voneinander auch für die junge DDR. Vor allem Hacks bemühte sich in zahlreichen Zeitschriftenbeiträgen um die Grenzmarkierung einer dialektischen Ästhetik und deren Funktion im Rahmen des sozialistischen Aufbauprozesses. Was Hacks im Anschluss an Brecht als dialektisches Theater aufgefasst wissen wollte, ist allerdings unter dem Namen Didaktisches Theater in die Literaturgeschichte der DDR eingegangen.68 Eine Anekdote des Hacks-Freundes André Müller sen. verdeutlicht die übergreifende ästhetische Orientierung der jungen Autoren an Brecht und den Entstehungszusammenhang des Didaktischen Theaters. Sie trägt den Titel „Höhere Gewalt“: Nach dem Tode Brechts hing Hacks zusammen mit Helmut Baierl, Heiner Müller und anderen eine schickliche Zeit der Theorie eines revolutionären Theaters an. Sie nannten ihre Bestrebungen, an Brecht anknüpfend, dialektisches Theater, um den Zusammenhang mit dem Marxismus

|| 65 Vgl. Püllmann: Von Brecht zu Braun, S. 11. 66 Horst Hiemer: Theaterleben. In: SuF 64 (2012), H. 5, S. 695f. 67 VK 8 (Peter Hacks an Bertolt Brecht, 30. Oktober 1951) u. Peter Hacks: Das Theater der Gegenwart. Eine Rundfrage. In: ndl 5 (1957), H. 4, S. 128. Müller schreibt 1957: Die Aufführungen Brechts „setzen die Dialektik gesellschaftlicher Vorgänge unmittelbar in haftende Bilder und Gleichnisse um“. MW 8, 132. 68 Brecht selbst zeigte sich mit dem Begriff des epischen Theaters zunehmend unzufrieden und arbeitete in seinen letzten Lebensjahren „an einer theoretischen Überführung aller hauptsächlichen Züge des epischen Theaters in Züge der materialistischen Dialektik“. Hans Bunge, zit. n.: GBA 23, 569. Vgl. GBA 23, 299ff. Schon in den 1930er Jahren hatte Brecht von einer „dialektische[n] Dramatik“ gesprochen. GBA 21, 431ff.

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deutlich herauszustellen. Die Zeitschrift ‚Theater der Zeit‘ stellte die neue Richtung dem Publikum in einem Beitrag vor. Ein Setzer las aber das Wort dialektisches Theater falsch und machte didaktisches Theater daraus, was auch der Korrektor nicht bemerkte. Die neue Richtung hatte somit den Namen weg, den sie in Wirklichkeit verdiente. Hacks sagte später zu diesem Vorgang: ‚Nach diesem Fingerzeig Gottes habe ich umgehend umgedacht.‘69

Die Begriffsbildung ist aber nicht, wie die Anekdote nahelegt, Folge der Unachtsamkeit eines Redakteurs, sondern Ergebnis einer externen Hierarchisierung. Nachdem Walter Ulbricht neben anderen auch Helmut Baierl und Heiner Müller auf dem V. Parteitag der SED im Juli 1958 für ihre „hervorragenden Arbeiten“ gelobt hatte, sah sich die SED angesichts der ästhetischen Eigendynamik, die die Debatte über das sozialistische Theaterstück und eine sozialistische Theaterpraxis erkennen ließ, bereits ein halbes Jahr später veranlasst, deren Texte als Bestandteil eines „,didaktische[n]‘ Lehrtheater[s]“ [sic!] anzugreifen.70 Unterstellt wurde eine Art ästhetischer Coup d’État gegen den Sozialistischen Realismus. Der Vorwurf lautete: Einzelne AutorInnen versuchten die diskursive Macht im Theaterfeld an sich zu reißen und das Didaktische Theater „als die sozialistische Kunstform [zu] verkünden“.71 Vor der Kulturkommission sprach Alfred Kurella von einem „System von Dogmen“, das „die bisherigen Theaterregeln“ mittels eines kleinbürgerlichen westlichen Soziologismus unterminiere und die Bedeutung des Bewusstseins leugne.72 Kritisiert wurde insbesondere die bewusste Illusionsbrechung und der Verzicht, Textaussagen „über die Emotion[en]“ zu steuern.73 In der Folge suchte die SED den Begriff des Didaktischen Theaters mit den Merkmalen Dogmatismus und Sektierertum zu konnotieren und verhinderte eine offene Diskussion über die Bedeutung Brechts und der sozialistischen Avantgarden sowie deren im Gegensatz zum Sozialistischen Realismus stehende Auffassung von der Notwendigkeit der Revolutionierung der Kunstmittel.74

|| 69 André Müller sen.: Gott hält viel aus. Zweihundert Anekdoten über Peter Hacks. Berlin 2009, S. 7f. 70 DKLS 534 u. 543. 71 DKLS 543. 72 DKLS 546. Laut Siegfried Wagner war das Didaktische Theater „Ausdruck einer bestimmten Etappe […], besonders von suchenden Menschen“, die „den Übergang zur Arbeiterklasse noch nicht vollkommen vollzogen haben“. Siegfried Wagner: Künstler und Publikum auf dem Wege zu einem sozialistischen Nationaltheater. In: TdZ 14 (1959), H. 8, Beilage 13, S. 11. Siehe auch: Alexander Abusch: Zu einigen aktuellen Fragen des sozialistischen Theaters in unserer Republik. In: Einheit 12 (1957), H. 9, S. 1082ff. u. DKLS 567. 73 Fritz Rödel: Didaktisches Theater – pro und kontra. Ein Beitrag zur Diskussion um die Gegenwartsdramatik. In: Sonntag, 8. März 1959, S. 5. 74 Dass sich die Stoßrichtung der Diskussion „gegen die Brecht-Nachfolge“ (KoS 117) richtete und Brecht aus dem offiziellen Kanon heraushalten sollte, war offensichtlich. Vgl. Peter Hacks: Die Welt ist veränderlich. In: Sonntag, 31. März 1957, S. 7. Siehe zur kulturpolitischen Diskussion des Didaktischen Theaters: Girshausen: Realismus und Utopie, S. 79ff.

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Eine Schaffung „neuer Kunstmittel“ hatte Brecht während des IV. Schriftstellerkongresses im Januar 1956 gefordert.75 In seiner Rede hatte er dazu aufgefordert, die Dramatik offensiv und eigeninitiativ „in den Kampf um den Sozialismus zu führen“ (372), und in diesem Zusammenhang an die „wendigen Kampfformen“ der AgitpropBewegung erinnert. Brechts Argumentation lief darauf hinaus, die kulturpolitische Bevormundung aufzugeben und selbst die „Initiative [zu] ergreifen“. (370) Ziel müsse es sein, „daß im Publikum ein Kampf entfacht wird, und zwar ein Kampf des Neuen gegen das Alte“ (372), der sich nur durch Offenheit und den Willen zum Experiment, nicht aber mit den herkömmlichen Mitteln des bürgerlichen Theaters gewinnen lasse, das auf den Bühnen der DDR vorherrschend sei: Wenn wir uns die neue Welt ‚künstlerisch-praktisch aneignen‘ wollen, müssen wir neue Kunstmittel schaffen und die alten umbauen. Die Kunstmittel Kleists, Goethes, Schillers müssen heute studiert werden; sie reichen aber nicht mehr aus, wenn wir das Neue darstellen wollen. Den unaufhörlichen Experimenten der revolutionären Partei, die unser Land umgestalten und neu gestalten, müssen Experimente der Kunst entsprechen, kühn wie diese und notwendig wie diese. Experimente ablehnen heißt, sich mit dem Erreichten begnügen, das heißt zurückbleiben. Die Darstellung des Neuen ist nicht leicht. Es ist eine Frage der Begeisterung für das Neue, der Kenntnis der Dialektik und damit neuer Kunstmittel. (372f.)76

Auf die anwesenden jungen Dramatiker, unter ihnen auch Peter Hacks, übte Brechts Rede einen großen Einfluss aus. Ernst Schumacher berichtet in seinen Erinnerungen an Brecht, dass sich im Anschluss an den Kongress Peter Hacks, Heinar Kipphardt, Gotthold Gloger, Heiner Müller und Paul Wiens zusammenfanden, „um zu beraten, wie die bisher verdrängten, wenn nicht sogar verpönten linken Traditionen des proletarisch-revolutionären Theaters wieder reaktiviert werden könnten.“77 Verstärkt wurde die nun einsetzende „Agitprop-Renaissance“78 durch die günstigen Zeitumstände. Schon lange hatten sich frühere Akteure der Agitprop-Bewegung

|| 75 GBA 23, 373. Zitatnachweise aus Brechts Rede werden im Folgenden im Text in Klammern angegeben. 76 Siehe auch das Protokoll der Diskussion, das einen Eindruck von der lebhaften Debatte der Brecht’schen Rede vermittelt: AdK, Berlin, SV Nr. 330. 77 Schumacher: Mein Brecht, S. 433. Heiner Müller war aber nicht Teilnehmer des Kongresses. Schumacher erinnert sich hier falsch. 78 Schmidt: Zwischen Antimoderne und Postmoderne, S. 592. Siehe zur Geschichte der Agitprop und des Proletkults: Gudrun Klatt: Arbeiterklasse und Theater. Agitprop-Traditionen – Theater im Exil – sozialistisches Theater. Berlin 1975; Ludwig Hoffmann u. Daniel Hoffmann-Ostwald: Deutsches Arbeitertheater 1918–1933. Berlin 1977; Lynn Mally: Culture of the future. The Proletkult movement in revolutionary Russia. Berkeley 1990 u. Richard Bodek: Proletarian performance in Weimar Berlin. Agitprop, chorus, and Brecht. Columbia/SC 1997. Siehe auch die Materialsammlung: Klaus Pfützner: Traditionen proletarisch-revolutionärer Schauspielkunst (1918–1945). Eine Materialsammlung, hg. vom Verband der Theaterschaffenden der DDR. Berlin 1974. – Die Agitprop-Rezeption fand vor allem

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gegen die im Zuge der 1930er Jahre im Zeichen der Volksfront vollzogene Abwertung der proletarisch-revolutionären Literatur ausgesprochen und davor gewarnt, „die ‚Agitka‘ in den Mülleimer der Vergessenheit [zu] werfen“.79 Nunmehr war es angesichts des 40. Jahrestags der Oktoberrevolution 1957 geboten, der revolutionären Tradition zu gedenken, zu der auch die Agitprop zählte. Zwei Ausstellungen trugen dazu bei, die sich selbst als revolutionär verstehende Kunst der späten 1920er und frühen 1930er Jahre dem Publikum vorzustellen: im September 1957 eröffnete die Ausstellung „John Heartfield und die Kunst der Fotomontage“, einen Monat später die Ausstellung „Vierzig Jahre revolutionäre Kunst 1917–1957“. Zudem wurde Ende 1957 die Zeitschrift Junge Kunst gegründet, die einen wichtigen Beitrag zur Vermittlung der aus dem offiziellen Kanon ausgeschlossenen sozialistischen Avantgarden leistete und durchaus als „ein Organ gegen die offiziellen Organe“ wahrgenommen wurde.80 Hier erschienen erstmals Brechts „Notate zu ‚Katzgraben‘“, historische Agitprop-Stücke wie Gustav von Wangenheims Die Mausefalle, Fotomontagen von Heartfield sowie Theatertexte, die dem Didaktischen Theater zugerechnet werden können.81 Mit der Rezeption der Agitprop verband die SED-Kulturpolitik aber mehr als nur die Pflege der historischen Erinnerung. So sehr die Agitprop-Renaissance auch das Ergebnis von Hegemoniekämpfen im literarischen Feld und somit Ausdruck einer Niederlage der bisherigen Kulturpolitik war, so steht sie doch gleichzeitig für einen organisierten Einbindungsversuch im Rahmen der Kulturrevolution. Unter Rückgriff auf die historischen Erfahrungen und unter Einbeziehung der ohnehin forcierten Laienkunst-Bewegung ließ sich die Agitprop für den politischen Tageskampf, beispielsweise für die Popularisierung von Losungen und Wahlmobilisierungen nutzen.82 Der Widerspruch zwischen dem Wunsch nach politischer Steuerung von oben und einer eigenständigen literarischen Bewegung, die tendenziell auf einen Bruch mit der offiziell proklamierten ästhetischen Tradition und ein operatives Theater || im Bereich der Laienkunst-Bewegung statt. Vgl. Werner Mittenzwei u.a. (Hg.): Theater in der Zeitenwende. Zur Geschichte des Dramas und des Schauspieltheaters in der Deutschen Demokratischen Republik 1945–1968. Bd. 2. Berlin 1972, S. 32, Anm. 35 u. Christoph Funke u.a. (Hg.): Theater-Bilanz 1945–1969. Eine Bilddokumentation über die Bühnen der Deutschen Demokratischen Republik. Berlin 1971, S. 361ff. 79 Friedrich Wolf an die 2. Deutsche Fachtagung für Volks- und Laienkunst, Berlin z. Hd. Kollegen Thalheim, 8. April 1952. In: ders.: Briefe. Eine Auswahl, hg. von Else Wolf. Berlin/Weimar 1969, S. 333. 80 KoS 99. „Unsere beste Zeitschrift […] gegenwärtig“. VK 24 (Peter Hacks an Lotte Schwarz, 5. Januar 1958). 81 Siehe zur Jungen Kunst: Sabine Pannen: „Irgendwie rochen alle, daß da frische Luft ist.“. Das kurze Leben der Zeitschrift „Junge Kunst“. In: Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat (2009), H. 25, S. 70–92. 82 So verlangte Alexander Abusch, die Agitprop „an die veränderten Bedingungen und die erweiterten Möglichkeiten unseres Staates“ anzupassen und berichtete, dass dies bereits bei Wahlkämpfen für die Kreistags- und Gemeindewahlen erprobt worden sei. Abusch: Zu einigen aktuellen Fragen, S. 1078. Siehe auch: DKLS 504.

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setzte, ist charakteristisch für das Phänomen, das hier als Didaktisches Theater bezeichnet wird. Dabei ist mit der Bezeichnung Didaktisches Theater mehr ausgedrückt als die auf einen „ausschließlich pejorative[n] Gebrauch“ zielende Tautologie des ‚didaktischen Lehrtheaters‘, steht doch der Ulbricht’sche Begriff „im Gegensatz zu seinem historischen Inhalt“.83 Die unter den Begriff fallenden Theaterstücke und die mit ihnen verbundene ästhetische Debatte stehen für mehr als einen lediglich auf eine gesellschaftliche Didaxe ausgerichteten literarischen Ansatz. Sie gehen aber auch nicht im Begriff eines ‚dialektischen Theaters‘ auf, weil zur feldsoziologischen Konstellation des Didaktischen Theaters nicht nur Peter Hacks und Heiner Müller, sondern auch andere Akteure wie Helmut Baierl und Wera Küchenmeister zählen, deren Texte sich deutlich von denen der Vorgenannten unterscheiden. Insofern ist von einem heterogenen Phänomen auszugehen.84 Literarhistorisch betrachtet, markiert das Didaktische Theater eine Mini-Epoche der DDR-Theatergeschichte zwischen 1957 und 1960. Die Forschung beschreibt das Didaktische Theater als eine durch Helmut Baierl, Peter Hacks, Heinar Kipphardt, Heiner Müller, Hagen Mueller-Stahl, B. K. Tragelehn und andere repräsentierte kulturrevolutionäre „Konzeption“, die „an der Lehrstücktheorie Brechts und den Traditionen des revolutionären Avantgarde-Theaters der zwanziger Jahre anknüpfte“ und „eine [...] Umstrukturierung und Anpassung des Theatersystems an die Bedingungen einer sozialistischen Gesellschaft“ anstrebte.85 In der offiziösen DDR-Theatergeschichte Theater in der Zeitenwende heißt es: || 83 MW 8, 167 u. Girshausen: Realismus und Utopie, S. 32. 84 Theo Girshausen vereindeutigt daher meines Erachtens zu stark, wenn er von der „argumentative[n] Einheitlichkeit eines Programms“ (Girshausen: Realismus und Utopie, S. 35) ausgeht. Das hat u.a. zur Konsequenz, dass der affirmative Flügel des Didaktischen Theaters (Helmut Baierl, Herbert Keller, Wera u. Claus Küchenmeister, Manfred Richter usw.) aus dem Blick gerät. 85 Richard Weber: Theater in der DDR. In: Glaser (Hg.): Deutsche Literatur zwischen 1945 und 1995, S. 514. Matthias Braun spricht von einer „Periode des ‚Didaktischen Theaters‘“ (Matthias Braun: Drama um eine Komödie. Das Ensemble von SED und Staatssicherheit FDJ und Ministerium für Kultur gegen Heiner Müllers „Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande“ im Oktober 1961. Berlin 1995, S. 7, Anm. 2), Theo Girshausen von einer „theatergeschichtliche[n] Phase“ (Girshausen: Realismus und Utopie, S. 32). Auch vorsichtiger argumentierende Autoren lassen erkennen, dass man von einem textuell und diskursiv abgrenzbaren Phänomen sprechen kann. Häufig wird das Didaktische Theater der Tauwetter-Periode zugerechnet. Vgl. Bernhard Greiner: Von der Allegorie zur Idylle. Die Literatur der Arbeitswelt in der DDR. Heidelberg 1974, S. 94 u. 99; Girshausen: Realismus und Utopie, S. 46; David Bathrick: Agitproptheater in der DDR. Auseinandersetzung mit einer Tradition. In: Ulrich Profitlich (Hg.): Dramatik in der DDR. Frankfurt/M. 1987, S. 145; Stuber, S. 173ff. u. Schmidt: Zwischen Antimoderne und Postmoderne, S. 591ff. Die DDR-Germanistin Gudrun Klatt sieht einen engen Zusammenhang mit der ökonomisch-politischen Entwicklung und gibt als Auslöser des Didaktischen Theaters eine „tendenzielle Veränderung des Verhältnisses von Arbeiterklasse und Kunst im Verlauf der Übergangsperiode“ an. Gudrun Klatt: Erfahrungen des „didaktischen Theaters“ in den fünfziger Jahren in der DDR. In: WB 23 (1977), H. 7, S. 40. Ähnlich unbestimmt nennt Werner Mittenzwei die „Zuspitzung der Klassenauseinandersetzung in Deutschland und im internationalen Maßstab“ als

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[I]n den Jahren 1957 und 1958 – und in Ausläufern darüber hinaus [entstehen] ein gutes Dutzend neuer Stücke, die mehr oder weniger ausgeprägt einen didaktisch-aufklärerischen Zug vorweisen. Gemeinsam ist ihnen, daß in den dramatischen Geschichten die historische, klassenmäßige oder soziale Gesetzlichkeit der Vorgänge deutlich sichtbar herausgestellt ist und die emotionale Stoffbehandlung durch eine rationale ersetzt und ergänzt wird. Die gesellschaftlichen Widersprüche und ihre Bewegungsformen bestimmen vor der Psychologie der Figurenentwicklung die Struktur der Stücke und ihren Handlungsablauf.86

Als dem Didaktischen Theater zugehörig werden zumeist die Theatertexte Die Feststellung [1958] von Helmut Baierl, die erste Fassung von Die Sorgen und die Macht [1958] von Peter Hacks, Begegnung 1957 [1958] von Herbert Keller, Damals 18/19 [1958] von Wera und Claus Küchenmeister, Zehn Tage, die die Welt erschütterten [1957] von Heiner Müller und Hagen Mueller-Stahl, Der Lohndrücker [1956/57] und Die Korrektur [1957/58] von Inge und Heiner Müller sowie Kommando links! [1958] von Manfred Richter gezählt. Die genannten Texte, die sich gattungstheoretisch kaum auf einen gemeinsamen Begriff bringen lassen – als wenig präzise Referenztypen werden häufig Agitprop, Lehrstück oder episches Theater, als ästhetische Merkmale epischer Kommentar und Anti-Psychologie genannt –, verdeutlichen die Diversität des Phänomens, das sich generalisierend als generationenspezifische ästhetische Strömung87 ‚links‘ der offiziellen kulturpolitischen Position beschreiben lässt, die AutorInnen, RegisseurInnen, DramaturgInnen und SchauspielerInnen in der Orientierung an einer operativen und kulturrevolutionären Kunstauffassung vereinte. Den historisch-sozialen Hintergrund des Didaktischen Theaters bilden die Kulturrevolution der DDR, die Rezeption der Agitprop und Bertolt Brechts, sowie allgemein die in den späten 1950er Jahren geführten Diskussionen über Form und Semantik des sozialistischen Theaterstücks. Im Didaktischen Theater drückt sich somit ein durch die Agitprop-Renaissance und die

|| Hintergrund. Mittenzwei u.a. (Hg.): Theater in der Zeitenwende. Bd. 2, S. 40. Siehe zur literaturhistorischen Einordnung in der DDR-Germanistik weiterhin: Hermann Kähler: Gegenwart auf der Bühne. Die sozialistische Wirklichkeit in den Bühnenstücken der DDR von 1956–1963/64. Berlin 1966, S. 18ff. u. Haase, S. 406ff. 86 Mittenzwei u.a. (Hg.): Theater in der Zeitenwende. Bd. 2, S. 40. 87 Der Begriff ‚Strömung‘ scheint insofern angemessen, als er auf eine zielgerichtete gemeinsame ästhetische, methodische, stilistische oder formale Entwicklung oder Tendenz verweist, Gegensätze und Divergenzen aber nicht ausblendet, sondern im Sinne eines „offene[n] System[s]“ (Viktor Zirmunskji: Die literarischen Strömungen als internationale Erscheinung. In: Horst Rüdiger (Hg.): Komparatistik. Aufgaben und Methoden. Stuttgart u.a. 1973, S. 112) mitberücksichtigt. Im Sinne Dieter Henrichs könnte hinsichtlich der gemeinsamen Ausrichtung auf Brecht auch von einer Konstellation gesprochen werden. Vgl. Martin Mulsow u. Marcelo Stamm (Hg.): Konstellationsforschung. Frankfurt/M. 2005.

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Kulturrevolution katalysierter und an Brecht geschulter88 Anspruch auf eine operative und ästhetisch nicht normativ geregelte Theaterliteratur aus. Dabei erstreckt sich der Innovationsanspruch des Didaktischen Theaters nicht nur auf das Drama als literarischen Text, sondern, wie im Weiteren zu sehen sein wird, auch auf die Institution Theater sowie die Organisation des Systems Kultur insgesamt.89 Jenseits der kulturpolitischen Auseinandersetzung in der Presse der DDR, in der sich neben der von der SED ausgegebenen Ablehnung auch zustimmende Beiträge finden,90 und der Debatte im (literatur-)wissenschaftlichen Feld, in deren Zentrum die Frage nach der Kanonisierung Brechts steht,91 lässt sich das Didaktische Theater vorrangig als eine (asymmetrische und symmetrische) Auseinandersetzung innerhalb des Theaterfeldes beschreiben. Die asymmetrische Kritik zielte im Kontext feldpolitischer Konkurrenzkämpfe vor allem auf die vermeintliche Hegemonie „eine[r] Richtung oder Schule“ und deren „Sektierertum auf dem Gebiet der Kunstästhetik“.92

|| 88 Geschult im doppelten Wortsinn von ‚Erlernen/Aneignen‘ und ‚Schule‘, denn die Akteure des Didaktischen Theaters rezipierten Brecht bzw. waren wie Wera und Claus Küchenmeister offiziell dessen SchülerInnen und lassen sich gleichzeitig im Sinne einer „Gruppe ohne jede Gruppensolidität geschweige denn -solidarität“ (Püllmann: Von Brecht zu Braun, S. 14) als Teil der Brecht-Schule fassen. 89 Eine umfassende Diskussion des Didaktischen Theaters, sowohl der Theatertexte als auch des Diskurses, kann im Rahmen dieser Arbeit nicht geleistet werden. Eine Studie zum Didaktischen Theater, die auch dessen heute fast vergessene Akteure in den Blick nimmt, bleibt Desiderat. Ansätze hierzu liefern: Klatt: Erfahrungen des „didaktischen Theaters“ u. Girshausen: Realismus und Utopie, S. 32ff. 90 Vgl. Bert Kirfel: Die Wirklichkeit und ihre Veränderung. Der Arbeiter in unserer Gegenwartsdramatik. In: Neue Zeit, 1. Mai 1959, S. 3. 91 Die Einordnung des Didaktischen Theaters in die frühe Literaturgeschichte der DDR wurde von Teilen der Literaturwissenschaft genutzt, Brecht zumindest teilweise zu legitimieren. Indem die Kritik der SED am Didaktischen Theater übernommen und vor einer Absolutsetzung der ästhetischen Überlegungen Brechts gewarnt wurde, war es möglich, die lange Zeit des Sektierertums verdächtige Ästhetik Brechts „als Möglichkeit des ‚Sozialistischen Realismus‘ moderiert ‚zuzulassen‘“ (Girshausen: Realismus und Utopie, S. 93) und Brecht somit zum ‚sozialistischen Klassiker‘ zu erheben. Vgl. zu den Positionen im wissenschaftlichen Feld: Klatt: Erfahrungen des „didaktischen Theaters“, S. 59ff. 92 Hedda Zinner: Ich bin gegen jedes Sektierertum. Wir diskutieren: Was ist „didaktisches“ und „dialektisches“ Theater? In: Forum 13 (1959), H. 28, S. 15. Siehe auch die indirekt auf Peter Hacks zielende Polemik Fred Reichwalds (vgl. Fred Reichwald: Die Wahl des Stoffes. In: JK 2 [1958], H. 3, S. 40), die Auseinandersetzung zwischen B. K. Tragelehn und Wilhelm Neef (vgl. B. K. Tragelehn: Spielweise contra Schreibweise. In: TdZ 13 [1958], H. 3, S. 52–55 u. Wilhelm Neef: Unweise Schreibweise. Bemerkungen zu B. K. Tragelehns Spielweise contra Schreibweise. In: TdZ 13 [1958], H. 6, S. 27–29), die Polemik Horst Hiemers gegen Hans Pfeiffers antiimperialistisch modernisiertes Romeo und JuliaStück Laternenfest (vgl. Horst Hiemer: Das ist verdächtig. In: TdZ 13 [1958], H. 5, S. 23) und Helmut Baierls Kritik an Hans Lucke und Hans Pfeiffer (vgl. Helmut Baierl: Über die Bedeutung des Details in der darstellenden Kunst. In: TdZ 13 [1958], H. 11, Beilage Nr. 8, S. 2–11). Symptomatisch für die Auseinandersetzung ist ein unter Pseudonym erschienener Artikel, in welchem Goethe einem DDR-Dramaturgen das Manuskript von Faust II. anbietet und dieser Goethe, den er nicht erkennt, darauf hinweist,

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Hauptsächlich fand die Diskussion um den Modus operandi einer sozialistischen Dramen- und Theaterästhetik aber als symmetrische Auseinandersetzung am autonomen Feldpol, als Binnendiskurs des Didaktischen Theaters statt, der sich in einen theaterkonzeptionellen und einen ästhetischen Diskurs differenzieren lässt.

3.3.1.1 Der theaterkonzeptionelle Diskurs In Vorbereitung der kommenden Theatersaison kam es im Frühjahr 1957 zu einer Diskussion der Spielpläne, deren Bestimmung im Kontext der beschriebenen kulturpolitischen Liberalisierungen seit 1953 wieder in den Händen der jeweiligen Intendanten lag. Als scharfer Kritiker äußerte sich Peter Hacks in verschiedenen Beiträgen:93 Die nach dem XX. Parteitag der KPdSU geführte Dogmatismus-Diskussion habe dazu geführt, „alle marxistischen Stücke“ als dogmatisch zu bekämpfen. Statt die Texte der revolutionären russischen Avantgarde, das politische Drama der Weimarer Republik und die Stücke Brechts zu spielen, dominiere „reaktionäres Unterhaltungstheater“.94 Die im Kontext der Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Sozialismus notwendige politische „Koexistenz mit den Kleinbürgern“ laufe Gefahr in eine „Kultur der ideologischen Koexistenz“ abzugleiten, da eine „politische Bewußtseinsbildung mit Mitteln des Spielplans“ nicht stattfinde.95 Die von Hacks zugespitzte Kritik einer unpolitischen Bühnenpraxis, die sich durch eine Dominanz „seichte[r] Operetten, Schwänke und Lustspiele“ auszeichnet, kann unter den jüngeren AutorInnen als Konsens betrachtet werden und wurde ebenfalls von der Kulturpolitik geteilt.96 Die Schlussfolgerungen aber differieren: Während die Kulturpolitik mit disziplinarischen Lösungen reagierte und bis Ende der 1950er Jahre rund ein Drittel aller Intendanten aus ihren Ämtern entfernte, fokussierte sich

|| er habe nur eine Chance, wenn er „[e]pisch-didaktisch“ schreibe: „Sie wissen ja, Brecht, Schiffbauerdamm, nicht wahr. Die sprechen sonst nicht mehr mit einem.“ Lynkeus: Herr Kehde hat ein Manuskript. In: BZ, 15. März 1959, S. 3. 93 Die im Folgenden angeführten Debattenbeiträge konzentrieren sich im Wesentlichen auf Äußerungen von Hacks. Von Müller liegen aus der Zeit Ende der 1950er Jahre, von den literaturkritischen bzw. journalistischen Arbeiten abgesehen, kaum eigenständige Beiträge vor. 94 Peter Hacks: Liberalismus auf dem Theater. In: TdZ 12 (1957), H. 3, S. 2 u. Peter Hacks: Bitte nicht erschrecken: Polit-Dramaturgie! In: TdZ 11 (1956), H. 11, S. 5. 95 Peter Hacks: Kunst hat den längeren Atem. In: Sonntag, 2. September 1956, S. 6. u. Peter Hacks: Für ein Theater der Arbeiter und Bauern. In: ND, 12. September 1957, S. 4. 96 Harald Hauser: Das Theater der Gegenwart. Eine Rundfrage. In: ndl 5 (1957), H. 4, S. 129. Siehe die Beiträge Fritz Erpenbecks, Henryk Keischs, Martin Linzers und Hagen Mueller-Stahls zu der unter dem Titel „Liberalismus auf dem Theater“ geführten Diskussion in: TdZ 12 (1957), H. 3, S. 2–7. Alexander Abusch, 1957 noch Staatssekretär im Ministerium für Kultur und nach dem Tod Johannes R. Bechers ab Dezember 1958 dessen Nachfolger, urteilte, man habe einem „spießbürgerlichen Publikumsgeschmack nachgegeben und auf die „ästhetische und ideologische Erziehung des Publikums“ verzichtet. Abusch: Zu einigen aktuellen Fragen, S. 1079.

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die Diskussion im Theaterfeld auf organisatorisch-strukturelle Aspekte der Institution Theater und (wirkungs-)ästhetische Fragen des allseits geforderten sozialistischen Theaterstücks. In seiner Rede auf dem Schriftstellerkongress hatte Brecht auf die Bedeutung von Laienspielgruppen für eine politisch-ästhetische Erziehung des Publikums aufmerksam gemacht. Jenseits der kulturpolitischen Bestrebungen einer breiten Laientheaterbewegung verband sich damit im Kontext der Agitprop-Rezeption ein autonomer Impuls. Peter Hacks folgerte aus dem Umstand, dass mit „beweglichen und sich bewegenden Ensembles“ „im entlegensten Industrievorort und im letzten mecklenburgischen Dorf“ gespielt werden solle, es aber an Stücken mit geringem dramatischem Personal fehle, die Notwendigkeit, solche Theatertexte zu verfassen – und dies „organisiert“: DramatikerInnen sollten „sich bereiterklären, je ein Stück für dramatische Brigaden zu schreiben“, so dass bis zum Ende des Jahres 1959 ein „Repertoire“ entstünde. Die Zweckbestimmung dieser „Volks-Stücke“ folgte der programmatischen Absicht, Literatur und politische Aufklärung zu verbinden, „Propaganda durch Kunst und zugleich Propaganda für Kunst“ zu betreiben.97 Hacks’ Vorschlag verdeutlicht auch die personellen Konturen des Didaktischen Theaters. Zwar nennt Hacks als potentielle BeiträgerInnen auch AutorInnen wie Harald Hauser und Hedda Zinner, deren literarische Arbeiten er wenig schätzte.98 Wen Hacks aber zum eigentlichen Kern zählt, lässt ein Brief erkennen, den er im gleichen Zeitraum an den Schriftstellerverband schrieb und in dem er die Einladung von Helmut Baierl, Alfred Matusche, Heiner Müller, Hagen Mueller-Stahl, Günther Rücker und Anna Elisabeth Wiede zur im Vorfeld der Kulturkonferenz abgehaltenen Dramatikerkonferenz des Schriftstellerverbandes fordert.99 Dass sich, um den „Klassenkampf im Parkett“100 führen zu können, am Zustand des DDR-Theaters etwas ändern müsse, stand für Hacks und die anderen Akteure des Didaktischen Theaters außer Zweifel. Die allgemeine Situation der Theater wurde als

|| 97 Peter Hacks: Nachtrag zu einem Vorschlag. In: TdZ 12 (1957), H. 10, S. 9f. Hacks’ Initiative fand, soweit sich überblicken lässt, unter den DramatikerInnen keinen Widerhall. Einzig der Anrechtsleiter des Parchimer Theaters Hanns Holl griff den Vorschlag auf, lehnte solche Brigaden aber mit dem Argument ab, dass die Zeit der ‚Kultur aufs Land‘-Bewegung vorbei sei. Statt „Abstechertheater“ einzurichten, sollte man die ZuschauerInnen zu den Theatern bringen; das gewährleiste zudem eine größere Wahlfreiheit des Publikums. Hanns Holl: Einige Gegenvorschläge. Zur Frage der Spezialisierung in unserem Theaterleben. In: TdZ 12 (1957), H. 11, S. 30–32; hier: S. 32. 98 Hacks nennt in alphabetischer Reihenfolge: Helmut Baierl, Peter Hacks, Harald Hauser, Heinar Kipphardt, Joachim Knauth, Hans Lucke, Alfred Matusche, Heiner Müller, Hagen Mueller-Stahl, Günther Rücker, Anna Elisabeth Wiede und Hedda Zinner. Vgl. Hacks: Nachtrag zu einem Vorschlag, S. 9f. 99 Vgl. Peter Hacks an Walther Victor, 4. Oktober 1957 u. DSV an Peter Hacks, 8. Oktober 1957, DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit dem DSV. 100 Hagen Mueller-Stahl: Klassenkampf im Parkett. In: Sonntag, 20. April 1958, S. 6.

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ungenügend wahrgenommen. Theater sei eine „seit 2000 Jahren folgenlose Kunst“, heißt es in einer Notiz Heiner Müllers.101 Das Repertoire sei entweder veraltet oder man spiele „proletarisch umfunktioniertes Hoftheater“; die einzige Ausnahme sei das Berliner Ensemble.102 In einem am 8. Mai 1957 im Neuen Deutschland erschienenen Artikel über das Moskauer Gastspiel des Berliner Ensembles ließ Müller erkennen, dass es insbesondere die institutionellen Veränderungen gegenüber dem bürgerlichen Theater seien, die den Erfolg der Bühne am Schiffbauerdamm ausmachten: kollektive Arbeitsweise, intensiver Publikumskontakt, produktive Unterstützung des Laientheaters, und die „Einheit von Dramaturgie und Regie“.103 Damit ist auf die Idee einer grundsätzlichen Demokratisierung innerhalb des Theaters sowie bezüglich des Verhältnisses zwischen Theater und Publikum verwiesen, einerseits, worauf bei der Behandlung der Theatertexte näher eingegangen wird, im Medium des Ästhetischen selbst (Ko-Fabulieren), andererseits durch die, weithin idealisierte, aber dennoch angestrebte, Fokussierung auf die Interessen des nicht-bürgerlichen Publikums bezüglich der Textsemantiken und der Funktionsweisen des sozialen Orts Theater. Es ging um die Einbindung des proletarischen Publikums, dessen Interessen und Probleme stärker berücksichtigt werden sollten: „[W]as die Fragen des Publikums sind, bestimmt nicht die Obrigkeit“.104 Der Regisseur B. K. Tragelehn erkannte vor dem Hintergrund der marxistischen Persönlichkeitstheorie (Ausbildung eines freien Subjekts im Prozess sozialistischer Vergesellschaftung) sogar die Möglichkeit der „Kontrolle der literarischen Produktion durch die Konsumenten“.105 Ein organisatorisch-struktureller Vorschlag zur Lösung des Theaterproblems kam von Peter Hacks und Heinar Kipphardt, dem Chefdramaturgen des Deutschen

|| 101 Zit. n.: Kristin Schulz: „Fürs Erste sind wir in der LPG“. 50 Jahre Heiner Müllers „Die Umsiedlerin oder das Leben auf dem Lande“. Dokumentation einer Ausstellung. In: Berliner Hefte zur Geschichte des Literarischen Lebens (2013), H. 10, S. 15. 102 Hacks: Das Theater der Gegenwart, S. 128. 103 MW 8, 135. 104 Hacks: Liberalismus auf dem Theater, S. 2. 105 B. K. Tragelehn: Arbeiter als Theaterkritiker. Diskussion in der „Scharzen Pumpe“ führte zur Korrektur der „Korrektur“. In: Sonntag (1958), H. 43, S. 8. Dass Tragelehn die „Arbeiter als Theaterkritiker“ gerade im Zusammenhang mit Heiner Müllers Korrektur thematisierte, verleiht der Aussage allerdings einen schalen Beigeschmack. Schließlich musste Müller den Text nach einer Probeaufführung im Kombinat Schwarze Pumpe nicht aufgrund der Kritik der ArbeiterInnen, sondern der FunktionärInnen umschreiben. Tragelehns Aussage verdeutlicht einmal mehr den kulturrevolutionären Impetus und die Erwartungshaltung einiger Akteure. Sie als heteronome Aussage, mithin als kulturpolitische Propaganda zu lesen, wäre sicherlich falsch. Vgl. Girshausen: Realismus und Utopie, S. 56. Die Reisenotizen Siegfried Möllers von einem Gastspiel der Studentenbühne der Hochschule für Ökonomie mit Die Korrektur in Schwedt zeigen zudem, dass die Inszenierung beim proletarischen Publikum durchaus zu einem regen Austausch insbesondere hinsichtlich des Realismusgrades führte. Vgl. Siegfried Möller: Reisenotizen, 16. Februar 1960. Aus dem Korrekturmodell 1959. In: Wolfgang Storch (Hg.): Explosion of a Memory. Heiner Müller. DDR. Ein Arbeitsbuch. Berlin 1988, S. 218.

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Theaters. Sie forderten die Aufgabe des traditionellen deutschen Mehrsparten-Modells und die „Konzentration der Theater auf nur eine Spielgattung“, um so die „besten Kräfte in wenigen Häusern“ zusammenzufassen.106 Wenn das Theater seine Rolle als kultureller Distributor auf angemessenem Niveau aufrechterhalten und das Publikum mit der neueren Dramatik vertraut machen wolle, sei es nötig, große Schauspielhäuser zu schaffen. Nur diese könnten sozialistische Theatertexte spielen, die einen für kleine Bühnen zu hohen finanziellen und personellen Aufwand verlangten. Zum Ausgleich sollten die bereits erwähnten ‚dramatischen Brigaden‘ gebildet und mit Texten ausgestattet werden.107 Kipphardt trug den Vorschlag einer solchen Theaterreform im Oktober 1957 auch auf der Kulturkonferenz der SED vor. Die Diskussion blieb aber folgenlos.108 Sieht man sich die Argumentation von Hacks und Kipphardt genauer an, erweisen sich die Erwägungen der beiden Dramatiker als nicht allein strukturell motiviert. Was gespielt und durch die Bühnenreform praktisch überhaupt erst möglich gemacht werden sollte, waren „die sowjetischen Revolutionsdramen“, die Texte Brechts und der jungen DramatikerInnen wie Der Lohndrücker und Die Schlacht bei Lobositz. So bedeutete der Vorschlag nicht nur ein entschiedenes Plädoyer für die Aufführung der eigenen Stücke, sondern auch eine ästhetische Bestimmung des sozialistischen Theaterstücks als ein das klassische Illusionstheater unterlaufender, die soziale Welt in ihrem Beziehungsreichtum abbildender und im Sinne der „Aktivität der Massen“ über ein großes Figurenensemble verfügender Theatertext.109

|| 106 Fritz Erpenbeck: Höheres Niveau durch Konzentrieren. In: TdZ 12 (1957), H. 10, S. 8. Der Beitrag ist von Erpenbeck gezeichnet, gibt aber den Vorschlag Kipphardts „sinngemäß“ wieder, da dieser wegen Krankheit verhindert war. Siehe zur Diskussion um eine Theaterreform: Girshausen: Realismus und Utopie, S. 65ff. 107 Vgl. Hacks: Nachtrag zu einem Vorschlag u. Heinar Kipphardt: Zu einigen Schwierigkeiten der kleinen Theater. In: TdZ 13 (1958), H. 1, S. 36f. 108 Kipphardt merkte dort an, „daß die Theater heute große Schwierigkeiten haben, wenn sie z.B. einen Dramatiker wie den jungen Müller, den ‚Lohndrücker‘ oder andere sozialistische Dramen aufführen wollen“. Das Theater sei „im gegenwärtigen Zustand nicht geeignet, marxistische Dramatik zu verbreiten“. Zit. n.: Hauschild, S. 161. Siehe auch die Berichterstattung im Sonntag, wo Kipphardts Vorschlag ebenfalls Erwähnung fand: B. K. Tragelehn: „Werdet Hellseher der Zukunft!“ Die Kulturkonferenz der SED – das große Forum der sozialistischen Literatur. In: Sonntag, 30. November 1957, S. 10f. Tragelehn griff den Vorschlag zwei Jahre später noch einmal auf. Vgl. B. K. Tragelehn: Für ein sozialistisches Theater. Platz dem „normalen Helden“. Parteilichkeit ist Lebensgesetz des Künstlers. In: Sonntag, 10. Mai 1959, S. 4. 109 Hacks: Nachtrag zu einem Vorschlag, S. 9. Siehe auch die Argumentation B. K. Tragelehns bezüglich Zehn Tage, die die Welt erschütterten: Tragelehn: Spielweise contra Schreibweise.

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3.3.1.2 Der ästhetische Diskurs Im Folgenden werden Hacks’ ästhetische Positionen der späten 1950er Jahre vorgestellt. So sehr diese auch eigenständige Reflexionen darstellen, die auf Hacks’ frühe Tendenz zur Ausformulierung einer marxistisch-realistischen Dramentheorie verweisen, können sie doch insofern als Teilpoetologie des Didaktischen Theaters aufgefasst werden, als sie den Grundgedanken ausbuchstabieren, der Sozialismus müsse im Bereich der Dramatik mit einem ästhetischen Neuansatz unter Bezugnahme auf die materialistische Dialektik einhergehen.110 Sofern Äußerungen von Heiner Müller vorliegen, werden diese ergänzt bzw. mit Hacks’ Positionen kontrastiert. Auf eine ausführliche Diskussion des durchgehenden Zusammenhangs mit Brechts Ästhetik wurde verzichtet; auf Parallelen und mögliche Bezüge wird in den Fußnoten nur jeweils kurz verwiesen. 1956 veranstaltete die Wochenzeitung Sonntag unter dem Titel „Wohin geht die Literatur?“ eine Umfrage. Unter Betonung des „geistige[n] Aufschwungs, der mit dem XX. Parteitag der KPdSU seinen Anfang nahm“, fragte die Redaktion u.a. nach den literarischen Problemen, welche sich „aus den Bedingungen der Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Sozialismus“ ergeben.111 In seiner Antwort legte Peter Hacks Wert darauf, dass die Anerkennung einer Übergangsperiode ästhetische Konsequenzen haben müsse. Sozialistische Dramatik müsse das „dialektische Grundgefühl der Veränderlichkeit“ transportieren, dürfe aber keineswegs den Umstand übersehen, dass die „Klassenzugehörigkeit“ weiterhin der Fluchtpunkt der Kunst sei: „Es gibt noch immer eine Ästhetik des Proletariats.“112 Die Behauptung einer ‚Ästhetik des Proletariats‘ und die damit indirekt ausgedrückte Ablehnung einer universellen Ästhetik offenbart ein gegenüber der Kulturpolitik differentes Traditionsverständnis, das sich an Brecht orientiert. Entgegen der offiziellen Traditionslinie (Lessing, Goethe, Schiller und Heine) betonte Brecht den Realismus der „literarischen Vorbilder“ Lenz und Büchner und verhielt sich kritisch gegenüber der Weimarer Klassik.113 Dementsprechend hob Hacks neben der sowjeti-

|| 110 Die in diesem Zusammenhang relevanten Essays „Einige Gemeinplätze über das Stückeschreiben“ [1956] und „Das realistische Theaterstück“ [1957] erschöpfen sich also nicht im Diskurs des Didaktischen Theaters. Theo Girshausen spricht daher in Bezug auf Hacks’ Essays zu Recht von „flankierende[n] Maßnahmen auf dem Gebiet der Poetologie“. Girshausen: Realismus und Utopie, S. 44. 111 Wohin geht die Literatur? Am runden Tisch des „Sonntag“. In: Sonntag, 2. September 1956, S. 6. 112 Hacks: Kunst hat den längeren Atem. 113 GBA 22.2, 628. Auch 1956 zählte Brecht Woyzeck und Leonce und Lena noch zu den „Klassiker[n]“. GBA, 23, 380. Siehe zur verschiedene Phasen durchlaufenden, in weiten Strecken polemischen Rezeption der Weimarer Klassik bei Brecht: Werner Mittenzwei: Brecht und die Probleme der deutschen Klassik. In: ders.: Kampf der Richtungen, S. 107–147. Siehe zur widersprüchlichen Büchner-Rezeption in der DDR: Dietmar Goltschnigg (Hg.): Georg Büchner und die Moderne. Texte, Analysen, Kommentar. Bd. 2: 1945–1980. Berlin 2002, S. 28ff.

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schen Dramatik (konkret: der in den 1950er Jahren populären Optimistischen Tragödie Wsewolod W. Wischnewskis) die „realistische Tradition des deutschen Theaterstücks“ hervor, die auf Shakespeare zurückgehe und über Lenz und Büchner zu Brecht verlaufe.114 Während Brecht allerdings der Ansicht war, „dass in den alten Werken soziale und nationale Erfahrungen enthalten seien, die für die gesellschaftliche Erneuerung fruchtbar gemacht werden können“, und ein Studium der Klassiker, zu denen er auch Schiller und Goethe zählte, anmahnte,115 verwarf Hacks die deutsche Klassik als Ausdruck einer formal „überkompensierte[n] Misere“.116 Hacks argumentiert im Rahmen eines Oben-unten-Schemas für die „Verwendung von Formergebnissen früherer Nicht-Herrschender“, da diese „besser als die von Herrschenden“ seien.117 Die kanonisierte Tradition erscheint so nicht nur als „Hindernis eines Neuanfangs“118, sondern wird durch ihre sozialhistorische Verortung per se abgewertet. Ästhetiken, die sich als solche von Herrschenden (und somit der Herrschenden) erkennen lassen, sollen daher entlarvt und als nicht dem sozialistischen Erbe zugehörig bekämpft werden. In diesem Sinne führte Hacks 1957/58 eine scharfe öffentliche Auseinandersetzung gegen Aristoteles und die Bezugnahme auf dessen Poetik, der er „die Entschärfung und Unschädlichmachung des Dramas für Ausbeutergesellschaften“ vorwarf.119 Während Hacks so versuchte, „die Formen der Bürger oder der Feudalen“

|| 114 Hacks: Das Theater der Gegenwart, S. 128. Siehe zum Bezug auf Wischnewski: Peter Hacks: Das habe ich gelesen. In: National-Zeitung, 25. März 1958. Siehe zum Bezug auf Lenz und den Sturm und Drang: Peter Hacks: An einige Aristoteliker. In: TdZ 13 (1958), H. 5, S. 26, Anm. 8 u. HW 13, 15. In einem Brief vom März 1958 nennt Hacks zudem das epische Theater der Antike und des Mittelalters sowie Heinrich Leopold Wagner und Grabbe als Vorbilder. Vgl. Peter Hacks an Hanns Holl, 12. März 1958, DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit Hanns Holl; siehe zu Wagner auch: HW 15, 132ff. Neben Wagners Kindermörderin bearbeitete Hacks offenbar auch Grabbe, wie aus einem Fragebogen des Schriftstellerverbands hervorgeht. Vgl. DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit dem Deutschen Schriftstellerverband, Fragebogen vom 28. März 1960. Die Bearbeitung von Napoleon, oder die hundert Tage [1831] wurde aber nicht abgeschlossen. Ein Manuskript konnte im Nachlass nicht aufgefunden werden. 115 Mittenzwei: Brecht und die Probleme der deutschen Klassik, S. 135. Vgl. GBA 23, 379f. 116 GüS 120. Eine Position, die an Müllers späte Positionsnahme in „Fatzer ± Keuner“ [1979] erinnert, wo „Klassik als Revolutionsersatz“ und „Form als Ausgleich […] und Transport von falschem Bewußtsein“ fungiert. MW 8, 223. Müllers Haltung dürfte 1957 eine ähnliche gewesen sein. 117 GüS 120. 118 Hans-Georg Werner: Überlegungen zum Verhältnis von Individuum und Gesellschaft in den Stücken von Peter Hacks. In: WB 20 (1974), H. 4, S. 43. 119 Peter Hacks: Warnung. In: TdZ 13 (1958), H. 2, S. 33. Auf die Aristoteles-Auseinandersetzung kann hier aus Platzgründen nicht näher eingegangen werden. Vgl. die verschiedenen Beiträge: Hacks: An einige Aristoteliker; Norbert Krenzlin; Mara Marquardt; Werner Rossade: Entwarnung. Antworten auf Peter Hacks’ „Warnung“. In: TdZ 13 (1958), H. 3, S. 28–31; Wolf-Dieter Panse: Nochmals: Entwarnung. Zur Diskussion um Aristoteles. In: TdZ 13 (1958), H. 4, S. 29–31; Hiemer: Das ist verdächtig u. Gerhard Piens: Nachwort zu einem Geschrei. In: TdZ 13 (1958), H. 8, S. 21–25. Eine umfassende Darstellung der Auseinandersetzung liegt bisher nicht vor. Vgl. Wolfram Schlenker: Das „Kulturelle Erbe“ in der DDR. Gesellschaftliche Entwicklung und Kulturpolitik 1945–1965. Stuttgart 1977, S. 173ff. Siehe auch die in

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aus dem Kanon zu drängen, rief er gleichzeitig dazu auf, sich auf die Suche nach Traditionen zu begeben, die positive „gesellschaftliche Parallelinhalte und Parallelstrukturen“ repräsentieren – wie etwa das barocke Drama, das ein „scharf ausgeprägtes Klassenschema“ aufweise.120 In solchen Traditionen sei das ‚Erbe‘ des sozialistischen Theaters aufzufinden; schließlich müsse „[e]in Stück, das gespielt wird, [...] einen modernen Arbeiter etwas angehen. Es genügt nicht, daß es bloß gut ist oder woanders ein Erfolg oder von Goethe“, wie Hacks polemisch anmerkte.121 Wie Brecht in seiner Rede auf dem Schriftstellerkongress ausgeführt hatte, sollte sich ein auf den Aufbau des Sozialismus ausgerichtetes Theater nicht allein auf neue Inhalte konzentrieren, sondern sich vor allem die Frage neuer ästhetischer Mittel vorhalten. Der Theatertext sollte gesellschaftliche Widersprüche über die Form erfahrbar machen. So tritt neben die Kritik normativer literarhistorischer Paradigmen eine Kritik der traditionellen Ästhetik durch die jungen DramatikerInnen. Wie auch Heiner Müller zeigt Peter Hacks sich als Gegner des „Inhaltismus“ und polemisiert nachdrücklich gegen eine „Vernachlässigung der Form […] oder Formfeindschaft“.122 Hacks’ Soziologie der Formen reflektiert den gesellschaftlichen Status quo, indem sie analog zum marxistischen Basis-Überbau-Schema von einer „Dialektik von Inhalt und Form“ ausgeht.123 Da die Gesellschaft der DDR in der Übergangsperiode „in der Hauptsache widersprüchlich, wie eh und je“ sei, gelte es, diese Widersprüche „in der Form“ widerzuspiegeln bzw. „de[n] Sinn in den Widersprüchen“ formal auszudrücken. Als wesentliche Widersprüche der DDR Ende der 1950er Jahre erkennt Hacks: „Widersprüche zwischen sozialistischer […] und kapitalistischer Wirtschaftsform“ („Widersprüche im Heute“); Widersprüche, „die aus dem Nachhinken von dem Kapitalismus zugehörigen Verhaltensweisen resultieren“ („Widersprüche zwischen dem Gestern und dem Heute“); und Widersprüche, „die sich aus dem notwendigen Vorauseilen sozialistischer Postulate ergeben“ („Widersprüche zwischen dem Morgen und dem Heute“).124

|| diesen Zusammenhang gehörende Auseinandersetzung mit Gerhard Zwerenz: Peter Hacks: Aristoteles, Brecht oder Zwerenz? In: TdZ 12 (1957), H. 3, Beilage, S. 2–7. Vgl. Schütze, S. 42ff. 120 GüS 120 u. 126. 121 Hacks: Bitte nicht erschrecken, S. 6. 122 GüS 121. Herbert Ihering hatte sich im Kontext der Formalismus-Debatte gegen eine Überbewertung des Inhalts gewandt und die Auffassung der Kulturpolitik als „Inhaltismus“ bezeichnet. Herbert Ihering: Auf der Suche nach Deutschland. Die Sendung des Theaters. Berlin/Weimar 1952, S. 61. 123 RT 98. So heißt es u.a.: „Die Form kommt aus dem Inhalt.“ GüS 126. Als Basis werden im Marxismus die ökonomischen Grundlagen einer Gesellschaft, als Überbau die „Gesamtheit der für eine bestimmte Gesellschaft charakteristischen Ideen und gesellschaftlichen Institutionen“ verstanden. Georg Klaus, Manfred Buhr (Hg.): Marxistisch-Leninistisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 3. Reinbek bei Hamburg 1978, S. 1236. 124 GüS 120f.

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Auf die Frage, wie sich der ‚Sinn in den Widersprüchen‘ formal übersetzen und somit im Theatertext transportieren lasse, geben Peter Hacks und Heiner Müller bereits in den späten 1950er Jahren unterschiedliche Antworten. Hacks hebt die Bedeutung der Fabel als gesellschaftlich-kausales Zentrum hervor. Ihr komme die Aufgabe zu, die dialektische Einheit der Gegensätze zu repräsentieren und die historische Perspektive im Sinne einer potentiellen Aufhebung (und qualitativen Neukonstituierung) der Widersprüche zu vermitteln.125 Während sich Hacks mit der „beruhigende[n] Sache“ der Zukunft, d.h. einer teleologischen Argumentation, im Kielwasser des Sozialistischen Realismus bewegt, fällt Heiner Müllers Antwort hinsichtlich der „gestaltete[n] Widersprüchlichkeit“ verhaltener aus.126 Zwar äußert sich Müller nicht direkt zur Fabel, lässt aber erkennen, dass er einer geschlossenen Fabel kritisch gegenüber steht. So spricht er in Bezug auf sein Stück Die Korrektur von einer „Tendenz zu ‚offenen‘ und Splitterformen“, die sich als Konsequenz der „Übergangszeit“ ergebe.127 Der frühe Widerspruch in den dramenästhetischen Konzeptionen Hacks’ und Müllers kommt allerdings nicht zum Tragen und bleibt verdeckt, da beide die Skepsis gegenüber einem „sozialistischen Klassizismus“, verstanden als formale Hypertrophie in Reaktion auf ein „Ausweichen vor den Widersprüchen“, eint.128 Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung stehen die ‚Widersprüche im Heute‘ und die ‚Widersprüche zwischen dem Gestern und dem Heute‘, nicht aber die ‚Widersprüche zwischen dem Morgen und dem Heute‘, die Hacks in den 1960er Jahren in den Widerspruch zwischen Utopie und Realität übersetzen wird. Im Kontext der feldpolitischen Kontroverse um die ‚richtige‘ Beschaffenheit des sozialistischen Theaterstücks läuft Hacks’ wie Müllers Argumentation daher auf eine Warnung vor einer „Tendenz zur verfrühten Harmonie“ hinaus, deren „ästhetische[r] Vorgriff einen politischen Rückschlag“ auslösen würde.129 Als wichtigstes ästhetisches Mittel wird dementsprechend in Anlehnung an Brecht eine Verfremdung eingefordert. An die Stelle der in vielen DDR-Gegenwartsdramen präsenten Illusionsästhetik, die versucht, „gewisse Wahrheiten in Form verzuckerter Pillen einzuschmuggeln“ sollen distanzierende Mittel treten, die dazu befähigen, eigene und fremde Haltungen „mit Abstand zu betrachten“; die Rede ist von „materialistischen und dialektischen“ anstelle von „idealistischen und metaphysischen Mitteln“.130 Wesentlich für die ästhetischen Überlegungen im Kontext des Didaktischen Theaters ist die Bezugnahme auf die Kategorie der Dialektik, deren Handhabbarmachung

|| 125 Vgl. GüS 121f. 126 GüS 121. 127 MW 8, 138. 128 GüS 120. 129 GüS 120 u. MW 8, 138. 130 GBA 23, 37; MW 8, 143 u. Hacks: Das Theater der Gegenwart, S. 127.

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für die Kunst der DDR Helmut Baierl 1958 als „ästhetische Aufgabe Nummer eins“ bezeichnete.131 Der Begründungszusammenhang der frühen Ästhetik von Hacks ist soziologisch-historisch. Die VertreterInnen der „unteren Klassen“ werden als geschichtlich handlungsmächtige Subjekte, die Vernunft als die „Ideologie des Fortschritts“ gesetzt.132 Sie bilden die „zwei nicht identischen Quellen des Realismus“, die zugleich in andere Kategorien übersetzbar sind (Rationalismus → Theorie → Dialektik; Plebejertum → Praxis → Proletariat).133 Figuren und Fabel funktionieren im Sinne eines sozialen Begründungszusammenhangs. Psychologie und private Konflikte werden als Attribute des bürgerlichen Theaters betrachtet und als „künstlerisch belanglos“ ausgeschlossen; sie sollen durch Sozialpsychologie und gesellschaftliche Widersprüche ersetzt werden.134 Episierung und Distanz begründen sich vor dem Hintergrund der rationalistischen bzw. dialektischen Prämisse und werden sowohl semantisch (Darstellung gesellschaftlicher statt privater Komplexe) als auch wirkungsästhetisch (eingreifendes Denken) hergeleitet.135 Als „Zentralkategorie des Realismus“ bzw. des realistischen (politischen/gesellschaftlichen/dialektischen) Theaters136 gilt „das charakteristische Detail“, hegelsch ausgedrückt die Aufhebung von Erscheinung und Wesen, „[d]as mit dem Allgemeinen versöhnte Besondere“, das sich figural im sozialen Gestus und handlungsseitig in der „typische[n] Fabel“ ausdrücke, wobei letztere, wie bereits betont und mit Brecht gesprochen, das „Herzstück“ des Theatertextes bildet.137 Mit dieser dialektischen Bestimmung geht eine Abgrenzung gegen die als einseitig ausgeschlossenen ‚Richtungen‘ des Naturalismus und des Idealismus einher, die entweder nur das Besondere (verstanden als zufällig Besonderes) || 131 Baierl: Über die Bedeutung des Details, S. 11. 132 GüS 119. 133 GüS 120. Hacks bezieht sich mit dem Verweis auf das Plebejische auf einen Aufsatz Hans Mayers, der herausstellt, dass die Figurenhaltung der Brecht’schen Dramentexte ‚plebejisch‘ sei, d.h. dass diese eigene gesellschaftliche Interessen vertreten und Machtverhältnisse entlarven. Vgl. Hans Mayer: Bertolt Brecht oder Die plebejische Tradition. In: ders.: Anmerkungen zu Brecht. Frankfurt/M. 1967, S. 7–23. Die Analogiebildung Plebejer → Proletariat, die bereits Brecht anlässlich der Diskussion des Essays kritisiert hatte (vgl. GüB 242), stammt allerdings von Hacks. In „Das realistische Theaterstück“ relativiert Hacks diese Position, da eine plebejische Haltung lediglich einer „unproduktive[n] Negation“ gleichkomme; gleichzeitig hält er aber an der Produktivität des plebejischen Faktors für historische Stücke wie auch zur Darlegung „fundamentale[r] Kritik“ fest, da der Plebejer produktiver als der Skeptiker sei. RT 99f. 134 RT 102. Vgl. GüS 122. Für eine antipsychologische Figurengestaltung spricht sich auch Heiner Müller im Zusammenhang mit seinen Reflexionen über Agitprop-Theater aus (vgl. MW 8, 146) und begründet dies mit den historischen Umständen, die „[k]eine Zeit für [ein] Auskosten von Empfindungen + inneren Vorgängen“ (HMA, Nr. 3473, Bl. 10) ließen. 135 GüS 122. 136 Für Hacks sind die Begriffe „politisches Theater, gesellschaftliches Theater, dialektisches Theater“ homosem. Sie verweisen „unter verschiedenen Aspekten angesehen“ auf „das realistische Theater“. RT 95. 137 RT 92 u. GBA 23, 92.

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„unter Vernachlässigung des Allgemeinen“ (Naturalismus) oder das Allgemeine (verstanden als „ausgedachtes Allgemeines“) „unter Vernachlässigung des Besonderen“ (Idealismus) hervorheben.138 Die Dialektik, als Lehre von der Bewegung der Widersprüche und deren Aufhebung mit dem Begriff des Realismus gleichgesetzt, wird von Hacks auch in gattungstheoretischer Hinsicht produktiv gemacht. Die Herleitung erfolgt semantisch wie gattungsgenetisch. Mit dem Wissen um die Erkennbarkeit (Marxismus) und Veränderbarkeit (Sozialismus) der Welt wird die Vorstellung des Schicksals und damit als dramenästhetische Parallelkategorie die „unüberwindbare […] Widersprüche“139 behandelnde Tragödie obsolet: „Der tragische Fall ist entlarvt als historisch“, die „Unauflösbarkeit des Konflikts […] als vorübergehend“ erkannt.140 Geleugnet wird zwar nicht die Fortexistenz tragischer Ereignisse – „Es gibt noch derartige Konflikte, es gibt also noch tragische Gegenstände“ –, aber es wird angemahnt, dass ihre künstlerische Behandlungsweise nicht mehr tragisch sein dürfe.141 Indem Hacks einen „direkte[n] Weg“ behauptet „vom lächerlichen Vergnügen zu der Kunst einer Klasse, welche damit beschäftigt ist, die Mißstände der Welt mittels technischer und gesellschaftlicher Unternehmungen objektiv zu überwinden“, erscheint die Komödie als dramenästhetische Parallelkategorie des Sozialismus. Dabei wird, wie schon bei Brecht, angenommen, dass dem Lachen insofern eine befreiende Wirkung zukommt, als es ein „Überlegenheitsgefühl des Lachers“ ausdrückt, das im Sozialismus nunmehr auch „inhaltlich begründet[ ]“ ist.142 An die Stelle der Tragödie tritt eine Form der Komödie, die den ernsten Fall „als überwindbar“ zeigt.143 Damit entsteht gattungstypologisch etwas Neues, eine „Identität von Komik und Tragik“, welche, die Tendenz der zunehmenden Unschärfe zwischen Komödie und Tragödie seit dem achtzehnten Jahrhundert bestätigend, qualitativ über die lediglich „einseitige[ ] Grundhaltungen“ vermischende Tragikomödie || 138 RT 91. Siehe auch: GüS 122. Die Abgrenzung gegen den Naturalismus, dem Brecht vorwirft, dass dessen Abbildung der Wirklichkeit nur oberflächlich und nicht strukturell gelinge, weshalb die gesellschaftlichen Verhältnisse „als unveränderlich und unentrinnbar“ erschienen (GBA 21, 434), gehört zum Programm der Brecht-Schule. Vgl. Baierl: Über die Bedeutung des Details, S. 4 u. MW 8, 141. 139 RT 95. 140 GüS 123. 141 GüS 123. Siehe hierzu: Schütze, S. 48. Hacks schließt hier an den Mainstream einer linken Ästhetik von Brecht bis Lukács an. Vgl. GBA 22.2, 792 u. Georg Lukács: Der historische Roman. Berlin 1956, S. 99. Siehe zur komödientheoretischen Diskussion in der DDR: Uwe Carsten Ketelsen: „Moritz Tassow“. In: Walter Hinck (Hg.): Die deutsche Komödie. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Düsseldorf 1977, S. 344ff.; Ulrich Profitlich: Über Begriff und Terminus „Komödie“ in der Literaturkritik der DDR. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik (1978) H. 30/31, S. 190–205 u. Ulrich Profitlich (Hg.): Komödientheorie. Texte und Kommentare vom Barock bis zur Gegenwart. Reinbek bei Hamburg 1998, S. 205ff. 142 GüS 124. 143 GüS 124.

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hinausgeht.144 Dieses synthetisierende Genre ist das realistische Theaterstück, das „der Bewußtseinsebene des zwanzigsten Jahrhunderts“, d.h. des Sozialismus, angepasst als „proletarische[s] Volksstück“ reüssiert: „[W]ir wollen durchaus Gottsched und den Hanswurst“.145 Ähnlichkeiten mit der Komödie weist das realistische Theaterstück insofern auf, als es mit der „komische[n] Technik“ verwandt sei. Aber auch hier setzt die Dialektik die Differenz. An die Stelle negativer Satire, die figuren- wie handlungsbezogen mit Übersteigerungen arbeitet, soll das Satirische der Wirklichkeit treten, entweder in Gestalt der Historie durch negative Komik, die zur Überwindung des Negativen aufruft, oder über die Vermittlung von Widersprüchen durch positive Komik, „wo Negatives unerläßliche Bedingung eines Positiven ist“.146 Peter Hacks’ Ausführungen zur historischen Aufhebung der Tragödie markieren wie die Hervorhebung der Fabel ebenfalls eine Differenz zu Heiner Müller. Diese verdeutlicht sich allerdings nicht anhand ästhetischer Äußerungen, da Müller sich in den 1950er Jahren zu Gattungsfragen nicht positionierte. Sie lässt sich aber, wie die Textanalysen zeigen werden, implizit an den dramatischen Texten nachweisen, die den ernsten Fall keineswegs als ‚überwindbar‘ darstellen und deren Lösungen tragische Residuen aufweisen. Hacks’ gattungstheoretischen Überlegungen reflektieren sich auch in der Figurengestaltung. Der „Held mit kleinen Fehlern“ wird unter kanonischem Verweis auf Lenin als „eine Versammlung verschiedener Ideologien“ konzipiert und auf den Status der Übergangsphase zwischen Kapitalismus und Sozialismus zurückgeführt.147

|| 144 RT 95. Auch Brecht sieht für eine „scharfe Trennung der Genres keinen Grund mehr“, da im „dialektischen Theater“ das Komische und das Tragische ineinander umschlagen können. GBA 23, 300. 145 RT 102 u. GüS 120. Über die Notwendigkeit der Synthese von Hoch- und Trivialliteratur im Sinne einer marxistisch perspektivierten Aktualisierung der ästhetischen Maxime prodesse et delectare handelt bereits Brecht in den „Anmerkungen zum Volksstück“. Vgl. GBA, 24, 293ff. 146 RT 96 u. 99. Vgl. zur Komödientheorie bei Hacks: Stephan Kraft: Zum Ende der Komödie. Eine Theoriegeschichte des Happyends. Göttingen 2011, S. 381ff. Der Begriff der negativen Komik verweist hier auf das „Gesellschaftlich-Komische“. Von Brecht selbst für die Beschreibung von Herr Puntila und sein Knecht Matti verwendet (vgl. GBA 24, 312), wurde der Begriff von Peter Christian Giese in die Brecht-Forschung eingeführt. Vgl. Peter Christian Giese: Das Gesellschaftlich-Komische. Zu Komik und Komödie am Beispiel der Stücke und Bearbeitungen Brechts. Stuttgart 1974. Er meint eine sozial informierte Komik, die ihren Stimulus vor dem Hintergrund der marxistischen Geschichtsphilosophie aus dem gesellschaftlich bereits Überholten erhält und die „großen politischen Verbrecher […] der Lächerlichkeit preis[gibt]“. GBA 24, 315. Eine ähnliche Auffassung der positiven Komik wie Hacks äußert Jurij Borew: „Bekanntlich sind unsere Unzulänglichkeiten häufig eine Kehrseite unserer Vorzüge. Mängel, die die Konsequenzen der Vorzüge einer positiven, schönen Erscheinung sind, verwandeln diese in eine komische Erscheinung.“ Jurij Borew: Über das Komische. Berlin 1960, S. 88. 147 RT 102f. Vgl. Lenin 38, 285ff. Der Lenin-Bezug ist typisch für die Diskussionen der 1950er Jahre und lässt sich genealogisch auf Brecht zurückführen, der, so Hanns Eisler, „über den Lenin begeistert war.“ Hanns Eisler: Fragen Sie mehr über Brecht. Gespräche mit Hans Bunge. Darmstadt/Neuwied 1986, S. 148. Siehe zu Brechts Lenin-Rezeption: Roland Jost: „Er war unser Lehrer“. Bertolt Brechts

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Ähnlich argumentiert Heinar Kipphardt in Bezug auf seine Komödie Shakespeare dringend gesucht [1952/53]. Der in dem Stück auftretende Dramaturg Amadeus Färbel sei „keine rundum positive Gestalt“, sondern „ein Held mit Schwächen“, der mit den „Reste[n] seines alten Bewußtseins“ kämpfe.148 Das verweist auf eine figurale Konzeption, die Heiner Müller als die zentrale Differenz zur Agitprop der 1920er Jahre – oder allgemeiner gesprochen: zur sozialistischen Literatur im Kapitalismus – bestimmt: „der Gegner im Mitkämpfer“ bzw. „der Feind im Freund“.149 Der Held kann so als gesellschaftlich typischer „Exponent“ der Übergangsperiode „zugleich Held und NichtHeld“ sein.150 Dem Anspruch eines operativen Theaters entsprechend, stehen wirkungsästhetische Aspekte im Mittelpunkt der ästhetischen Überlegungen der Akteure des Didaktischen Theaters. Die Dramentexte des Didaktischen Theaters wollen Lehrstücke151 sein. Ihre Didaxe zielt auf das ‚Erlernen‘ (bzw. die Reflexion) eines angemessenen Verhaltens in Hinblick auf verschiedene Probleme der menschlichen Gesellschaft im Kontext des Aufbaus des Sozialismus. In diesem Sinne wird eine „aktive sozialist[ische] Kunst“ angestrebt, die auf eine „Klarheit der ideologischen Aussage und der Parteilichkeit“ abhebt.152 Das ästhetische Ziel liegt in einer „Synthese von Kunst und Agitprop“153, die bei AutorInnen wie Herbert Keller, Wera und Claus

|| Leninrezeption am Beispiel der „Massnahme“, des „Me-ti. Buch der Wendungen“ und der „Marxistischen Studien“. Köln 1981. 148 Heinar Kipphardt: Bemerkungen zu „Shakespeare dringend gesucht“. In: ders: Schreibt die Wahrheit. Essays, Briefe, Entwürfe 1. 1949–1964, hg. von Uwe Naumann. Reinbek bei Hamburg 1989, S. 72f. Dass „die Ablagerungen überwundener Epochen in den Seelen der Menschen noch lange liegen bleiben“ (GBA 24, 314), sich also „die Rückstände alter Ideologien mit den neuen Ideen“ (GBA 23, 377) mischen und das Individuum ohnehin eine „kampfdurchtobte Vielheit“ sei (GBA 22.2, 691), war auch die Ansicht Brechts. 149 MW 8, 145. 150 RT 102 u. 104. 151 Hinsichtlich des Lehrstücks können zwei Auffassungen unterschieden werden: (1.) im Sinne eines allgemeinen marxistisch ausgerichteten „pädagogische[n] Forum[s]“ (Claude Hill: Bertolt Brecht. München 1978, S. 60); (2.) im Sinne der Brecht’schen Lehrstücktheorie ein Theater im Dienst einer politisch-ästhetischen Erziehung, das „weniger für die Zuschauer als für die Mitwirkenden“ (GBA 22.1, 167) stattfindet. Siehe auch: GBA 22.1., 351f. Vgl. Reiner Steinweg: Das Lehrstück. Brechts Theorie einer politisch-ästhetischen Erziehung. Stuttgart 1972; Reiner Steinweg (Hg.): Brechts Modell der Lehrstücke. Zeugnisse, Diskussion, Erfahrungen. Frankfurt/M. 1976 u. Klaus-Dieter Krabiel: Zu Lehrstück und ‚Theorie der Pädagogien‘. In: Jan Knopf (Hg.): Brecht-Handbuch. Bd. 4: Schriften, Journale, Briefe. Stuttgart/Weimar 2003, S. 65–89. 152 HMA, Nr. 3471, Bl. 6, hier zit. n.: Ludwig: Eine Geschichte aus der Produktion, S. 109 u. MuellerStahl: Klassenkampf im Parkett. 153 Schmidt: Zwischen Antimoderne und Postmoderne, S. 593.

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Küchenmeister und Werner Richter zwar angestrebt, aber bereits durch vordergründig politische wirkungsästhetische Positionierungen relativiert wird.154 Peter Hacks bestimmt den Zweck der Kunst jenseits direkter und messbarer Folgen, d.h. er schließt die Auslösung „nützliche[r] Handlungen“ und „schnelle Wirkung[en]“ aus. „Tagesforderung[en]“ zu illustrieren, sei das Metier der Agitation. Kunst aber ziele in ihrer Wirkung auf den „nützliche[n] Menschen“, auf Bewusstseins-Tätigkeit und Reflexion, wirke also langfristig.155 Intendierte Wirkungen realistischen Theaters sind dementsprechend nicht primär Affekte wie Lachen oder Weinen, sondern „die mit Einsicht gepaarte Erregung über das Leben“, „das Vergnügen an der Einsicht“ über die Veränderbarkeit der Gesellschaft und „die aus der Erregung folgende Aktivität“.156 In Bezug auf die Affekte, die das ideologiekritische historische Drama freisetzen soll, äußert Hacks sich eindeutiger. Dessen Zweck sei es, „im Publikum Abscheu vor der Vorzeit zu erwecken“.157 Aber auch diese Zweckbestimmung ist durch die historische Distanz des Publikums vermittelt und darf nicht ‚aktivistisch‘ verstanden werden. Wie bei Brecht kommt der über das Lachen vermittelten Erkenntnis, dem Prozess des Verstehens, eine eigenständige Schönheit zu,158 die an die Stelle des bloß ästhetisch Schönen tritt, das sowohl im Kontext einer bürgerlichen Kultur als auch einer sozialistischen „verfrühten Harmonie“ unter Ideologieverdacht steht.159 Schön ist die Bewegung der Widersprüche, nicht ihre Isolierung und Stilllegung. Dementsprechend geht es nicht um konventionelle dramatische (Auf-)Lösungen, sondern um Modi, die „ein besonders belangvolles Darstellen des Problems“ ermöglichen, mithin eine dialektische Behandlung, die das Publikum in die Lage versetzen soll, Haltungen nachzuvollziehen und einzunehmen.160

|| 154 Vgl. Herbert Keller: Versuch einer Vorbemerkung. In: JK 2 (1958), H. 6, S. 65; Wera Küchenmeister u. Claus Küchenmeister: Warum „Damals 18/19“? In: TdZ 13 (1958), H. 11, S. 7–9 u. Manfred Richter: Anmerkung zu „Kommando links“. In: JK 2 (1958), H. 10, S. 29. 155 Hacks: Kunst hat den längeren Atem. 156 RT 96. Dass Kunst „die gesellschaftl[ichen] Verhältnisse als […] veränderbar und veränderungsbedürftig“ darstellt, wie Heiner Müller Ende der 1950er Jahre festhält (HMA, Nr. 3471, Bl. 6, zit. n.: Ludwig: Eine Geschichte aus der Produktion, S. 109), ist dabei vorausgesetzt und innerhalb der Brecht-Schule ein Allgemeinplatz. Vgl. Baierl: Über die Bedeutung des Details, S. 7. 157 Peter Hacks: Anmerkungen [zu Wagners „Kindermörderin“]. In: JK 1 (1957), H. 2, S. 23. 158 Vgl. GBA 23, 297ff. 159 GüS 120. 160 Hacks: Kunst hat den längeren Atem. Indem das Publikum Distanz und Souveränität gegenüber der Handlung erlange, gewinne es auch „sich selbst gegenüber eine Überlegenheit“, die sich im Lachen äußere, das „um so weniger bloß blöd“ sei, „je inhaltlich begründeter das Überlegenheitsgefühl des Lachers ist, je tatsächlicher abstellbar das belachte Übel oder die belachte Person“ (GüS 123f.), d.h. der Wirkungseffekt wird mit der gesellschaftlichen Situation verknüpft.

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Heiner Müller spricht in diesem Zusammenhang von einem „kleinen Kurs in Dialektik“.161 Liest man den Prolog des Lohndrücker als poetologische Äußerung, so lässt sich ein deutliches Bekenntnis zum Ko-Fabulieren erkennen – nicht die Lösung des Konflikts wird gezeigt, sondern der Konflikt wird „in das Publikum [ge]tragen, das ihn entscheidet“.162 Die Inszenierung ist in diesem Sinne ein offener, „kollektiver Schöpfungsprozeß“, der auf eine Didaxe jenseits einer konkret formulierbaren Botschaft zielt.163 Das Theaterstück wird zum Medium offener gesellschaftlicher Fragen, ohne diese selbst zu beantworten. Anhand der rezeptionsästhetischen Offenheit des Theatertextes verdeutlicht sich der bereits erwähnte, formalästhetische Widerspruch hinsichtlich der Offenheit oder Geschlossenheit der Form in anderer Gestalt. Zwar fordert auch Hacks, dass der Theatertext anstelle einer einfachen Wahrheit eine „Prozeß-Wahrheit“ transportieren soll, welche durch das Publikum „selbsttätig“ entdeckt wird, „[w]eil nur handelnd erworbenes Wissen zu Handlungen führt“.164 Und auch Hacks’ externer Kommentar165 zur Geschichte eines Wittibers im Jahre 1637 scheint der Auffassung Müllers durchaus nahe, wenn es heißt: „Er [der Erzähler, R.W.] überläßt es dem Publikum, die Vorgänge bedeutend zu finden. Er nimmt nicht das Urteil des Publikums vorweg.“166 Gleichwohl gilt aber: Der Autor „muß die Lösung haben“, selbst wenn er diese nicht direkt „sagen oder zeigen“ soll.167 Während Hacks so die ‚Lösung‘ des im Theatertext aufgeworfenen Problems aus rezeptionsstrategischen bzw. didaktischen Erwägungen ‚versteckt‘, zielt Müller auf eine konzeptionelle Offenheit. In seiner Vorstellung eines „Theater[s] als Prozeß“168 steht nicht die Lösung im Zentrum, sondern das diskursive Potential, was auf ein Verständnis von Theater verweist, das den Theater-

|| 161 MW 8, 146. 162 MW 3, 536. Brecht definiert Ko-Fabulieren als Vorgang, in dem „das Publikum im Geist andere Verhaltungsweisen und Situationen hinzu[dichtet] und […] sie, der Handlung folgend, gegen die vom Theater vorgebrachten [hält].“ Die Rezeptionserwartung Brechts ist allerdings, dass das Publikum „den Standpunkt des produktivsten, ungeduldigsten, am meisten auf glückliche Veränderung dringenden Teils der Gesellschaft“ einnimmt. GBA 23, 300f. 163 MW 8, 168. 164 Hacks: Kunst hat den längeren Atem. 165 Unter einem externen Kommentar werden im Folgenden Interpretationsangebote verstanden, die in vom dramatischen Text geschiedenen Texten wie Essays und Interviews gegeben werden. Davon abzugrenzen sind interne Kommentare, also (zumeist über Prolog, Zwischenspiel und Epilog, aber auch durch spezifische Figurenrede vermittelte) Erklärungen oder Erläuterungen, die zur Sinndeutung des gesamten Dramentextes oder einzelner Aspekte der außerliterarischen Welt beitragen. 166 Peter Hacks: Anmerkungen. In: ders.: Die Geschichte eines alten Wittibers im Jahre 1637. Eine Moralität. Leipzig 1958, S. 30. 167 Hacks: Kunst hat den längeren Atem. 168 MW 8, 168.

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raum als Ort der gesellschaftlichen Debatte versteht, in dem die einseitige Kommunikation zwischen Bühne und Zuschauerraum zugunsten eines allgemeinen Gesprächs aufgehoben wird.169 Insgesamt können die ästhetischen Reflexionen von Peter Hacks und Heiner Müller als Versuch verstanden werden, eine dem Aufbau des Sozialismus adäquate Dramenästhetik zu entwickeln, die an Bertolt Brecht anschließt und den Sozialistischen Realismus konzeptionell unterläuft. Das wird besonders bei Hacks augenfällig, wenn dieser den Realismusbegriff ins Zentrum seiner Überlegungen stellt und diese als Beitrag „zu den weltweiten wissenschaftlichen Bemühungen um den Stil des sozialistischen Realismus“ verstanden wissen will.170 Letztlich ging es Ende der 1950er Jahre um eine Ausweitung des Begriffsinhalts. Hacks machte sich die Unbestimmtheit des Sozialistischen Realismus im Theaterfeld zunutze, um an dessen Reformulierung zu arbeiten. Da eine offene Ablehnung des Konzepts aufgrund der Heteronomie des Feldes der kulturellen Produktion nicht möglich war, versuchte er, dem Begriff einen eigenen Inhalt zu geben. Dementsprechend beschreibt Hacks den Sozialistischen Realismus 1957 als einen „dialektische[n] Realismus“ und ordnet diesem die oben erwähnten ästhetischen Elemente zu.171

3.3.2

Die ‚didaktischen‘ Dramen Hacks’ und Müllers

Im Folgenden werden die frühen Theatertexte Hacks’ und Müllers im Kontext des Didaktischen Theaters diskutiert. Dabei zeigen sich bereits frühe Differenzen, die sich einerseits anhand des Unterschieds zwischen historischen und Gegenwarts- bzw. Produktionsstücken und andererseits hinsichtlich der Offenheit der Texte in Bezug auf den Rezeptionsprozess festmachen lassen. Kurz gesagt: Wo Peter Hacks mit seinen historischen Stücken Warnzeichen aufstellt, die auf eine „Beseitigung der Unwissenheit“ zielen, und sich somit dem Gedanken eines Aufklärungstheaters verpflichtet zeigt, in dem die Didaxe des Textes von vornherein festgelegt ist, gestaltet Müller mit seinen Gegenwartsdramen „Protokolle von der Durchführung“ der Revolution, die offene Probleme des sozialistischen Aufbaus thematisieren.172

|| 169 Vgl. Girshausen: Realismus und Utopie, S. 137ff. 170 RT 90. 171 Hacks: Das Theater der Gegenwart, S. 128. Eine solche Position behauptete Hacks auch in Diskussionen im Rahmen der Akademie der Künste und des Schriftstellerverbands, wo er Brecht gegen Fritz Erpenbeck und Alfred Kurella verteidigte. Vgl. Fritz Erpenbeck: Mittel. In: TdZ 12 (1957), H. 12, S. 30f. u. Hacks: Die Welt ist veränderlich. 172 Hacks: An einige Aristoteliker, S. 25 u. B. K. Tragelehn: Die Liquidation der antifeudalen Front. Kritisches zur Klassikrezeption des Didaktischen Theaters. In: Sonntag, 29. März 1959, S. 7.

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Die Inhomogenität des Didaktischen Theaters wird besonders anhand der verschiedenen Dramentexte und der sich daraus ergebenden problematischen Genredefinition offenbar. Texte wie Begegnung 1957, Die Feststellung, Die Kindermörderin oder Der Lohndrücker lassen sich formal nicht als ähnliche Texte bestimmen. Eine Orientierung an semantischen Kriterien ist daher sinnvoll. So bietet sich als externes Kriterium zur Abgrenzung gegenüber anderen operativ orientierten Texten wie dem Brecht’schen Lehrstück oder den Agitprop-Stücken der 1920er und 1930er Jahre der Wechsel des Bezugssystems vom Kapitalismus (= Antagonismus) zum Sozialismus (= prospektives Ende der Antagonismen) an, denn die Texte des Didaktischen Theaters zielen auf eine sozialismusinterne Verständigung über Probleme des sozialistischen Aufbaus. Intern kann mit Wolf Gerhard Schmidt zunächst zwischen einem affirmativen und einem transgressiven Typus unterschieden werden. Der affirmative Typus setzt eine „prästabilierte Harmonie mit Synthese als Endstadium“, während der transgressive Typus die Harmonie aufschiebt und die „Synthese als Zukunftsprojekt“ setzt.173 Darüber hinaus lässt sich in stofflicher Hinsicht ein zeitgenössischer und ein historischer Typus differenzieren. Letzterer wird von Schmidt zwar unter Verweis auf das zeitgenössische „Bezugssystem […] Sozialismus“174 explizit negiert. Bei genauerem Hinsehen weist aber auch Hacks’ Müller von Sanssouci eine sozialismusspezifische Didaxe auf. So zeigt das Drama, das die wirkungsgeschichtlich sehr erfolgreiche Legende über den aufrechten preußischen Müller und den gerechten König Friedrich ideologiekritisch wendet und die Beschränktheit eines kleinbürgerlichen „Aufrührer[s]“ veranschaulicht, zwar „keine positiven Haltungen“,175 offenbart im am chinesischen Schattentheater angelehnten Vor- und Zwischenspiel aber ersichtlich didaktische Züge. In seiner ‚pädagogischen‘ Funktion der „Legendenkillerei“176 lässt es sich insofern vor dem Hintergrund des im Aufbau begriffenen Sozialismus verstehen, zumal es im Sinne einer Conditio sine qua non erst das die Leinwand erhellende „sozialistisch gespeiste Licht [ist], dessen Existenz die unernste Darstellung der dunklen Vergangenheit ermöglicht“.177 Dem historischen Typus können des Weiteren die Dramen Damals 18/19, Kommando links! und Zehn Tage, die die Welt erschütterten an die Seite gestellt werden, die historisch jüngere Stoffe aufgreifen, die bereits zur Epoche des Sozialismus gehö-

|| 173 Schmidt: Zwischen Antimoderne und Postmoderne, S. 597. Zum affirmativen ‚Flügel‘ zählen Helmut Baierl, Herbert Keller, Wera und Claus Küchenmeister, Manfred Richter und andere. 174 Schmidt: Zwischen Antimoderne und Postmoderne, S. 596. 175 HW 15, 131. 176 Hans-Dietrich Sander: Geschichte der Schönen Literatur in der DDR. Ein Grundriß. Freiburg 1972, S. 164. 177 Schmidt: Zwischen Antimoderne und Postmoderne, S. 305 Wolf Gerhard Schmidt argumentiert damit in seiner Einzelanalyse gegen sich selbst.

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ren (Oktober- und Novemberrevolution), und daher keine historischen Stücke „im engeren Sinn des Wortes“178 sind. Manfred Richters kommentierende Unterzeile zu Kommando links! gilt indes für beide Ausprägungen des historischen Typus: Es sind „Stück[e] aus Deutschlands Vergangenheit für seine [sozialistische, R.W.] Zukunft“.179

3.3.2.1 Peter Hacks: Die Kindermörderin Die Zuordnung der frühen Hacks’schen Theatertexte zum Didaktischen Theater ist in der Forschung umstritten. Genannt werden, wenn überhaupt, nur die ersten beiden Fassungen von Die Sorgen und die Macht.180 Keine Erwähnung finden hingegen die dem historischen Typus zuzurechnenden, parabolisch verfahrenden Texte Die Kindermörderin [1957] und Der Müller von Sanssouci [1957] sowie Die Geschichte eines alten Wittibers im Jahre 1637 [1956/58], sodann die dem affirmativen und zeitgenössischen Typus zuzuordnende und der Forschung bis dato unbekannte Szene Ein guter Arbeiter [1958].181 || 178 Küchenmeister u. Küchenmeister, S. 7. 179 Manfred Richter: Kommando Links! Stück aus Deutschlands Vergangenheit für seine Zukunft. In: JK 2 (1958), H. 10, S. 29–34. 180 Siehe: Trilse: Das Werk des Peter Hacks, S. 130; Schmidt: Zwischen Antimoderne und Postmoderne, S. 596 u. Kähler: Gegenwart auf der Bühne, S. 18ff., der entgegen allen anderen Forschungspositionen auch Moritz Tassow zum Didaktischen Theater zählt. (S. 24) 181 Eine Ausnahme ist ein Beitrag des Sektorenleiters für den Bereich Theater im Ministerium für Kultur Fritz Rödel, der den Müller von Sanssouci zum Didaktischen Theater zählt. Vgl. Rödel. Aus dem Set des Didaktischen Theaters auszuschließen sind die Einakter Die Russen kommen, Die Trickbetrügerin, Der patriotische Pastor und Die drei Polsterer, die Hacks 1959 anonym an das Deutsche Theater sandte (vgl. Peter Hacks [anonym] an Wolfgang Langhoff, o.D. u. 22. September 1959, DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit dem Deutschen Theater) und die dort noch im Oktober 1959 zur Aufführung kamen. Vgl. Lothar Kusche: Berliner Theater: heiter, vereinzelt Niederschläge. In: Die Weltbühne 14 (1959), H. 41, S. 1308f. Die Texte lassen sich zwar in gewisser Hinsicht als agitatorische Luststücke auffassen – so handelt Die drei Polsterer von der Gründung einer Genossenschaft – und erinnern auch an Hacks’ Aufruf, Stücke für dramatische Brigaden zu schreiben. Eine konkrete Didaxe weisen die Texte aber weder durch einen internen noch einen externen Kommentar auf. Sie lassen sich insofern eher als „sozialistisches Boulevardtheater“ (Vorbemerkung der Redaktion zu „Die Russen kommen“. In: ARGOS [2007], H. 1, S. 75) auffassen. Hacks selbst kommentierte in einem Brief an Heinar Kipphardt: „[S]ie sind schlecht geschrieben und routiniert gebaut.“ VK 16 (Peter Hacks an Heinar Kipphardt, 3. September 1959). – Erwähnt werden muss in diesem Zusammenhang auch Die unadlige Gräfin [1957]. Das parallel zur Arbeit am Müller von Sanssouci entstandene Fernsehspiel mit dreiaktiger Struktur, eine historische Komödie zur Zeit der Französischen Revolution, reiht sich ein in die Kette der Historien, die die Klassengesellschaft aufdecken und verurteilen. Das im Vergleich zum Müller von Sanssouci positivere Stück enthält aber jenseits der Vorstellung klassenspezifischer wie plebejischer Haltungen keine eigens perspektivierte Didaxe. Des Weiteren zu nennen ist Wladimir Bill-Bjelozerkowskis Revolutionsdrama Sturm, das im Dezember 1957 am Deutschen Theater Premiere hatte. Hacks bearbeitete den Text zusammen mit Ernst Busch und Kurt Seeger. Über Hacks’ Anteil an

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1959 veröffentlichte B. K. Tragelehn eine Kritik zu Hacks’ Bearbeitung182 der Kindermörderin. Tragelehn wirft Hacks vor, den historischen Stoff von Heinrich Leopold Wagners Sturm und Drang-Drama von 1776 vor dem Hintergrund einer modernen Klassenkampfkonzeption aktualisiert und somit die historisch spezifischen sozialen Gegensätze zwischen Bürgertum und Adel simplifiziert zu haben. Hacks’ Transposition des Wagner’schen Trauerspiels in eine Komödie übersetze Wagners moralischen Ansatz in einen politischen und verfälsche dessen „Grundgestus“. Die Bearbeitung laufe so auf eine „mechanische Aufhebung historischer Inhalte“ hinaus.183 Was Tragelehn an der Kindermörderin kritisiert, sieht Hacks aber gerade als notwendig an. Jenseits einer kunstimmanenten Begründung, die Wagners Stück als ästhetisch hochwertiges Artefakt anerkennt, rechtfertige sich eine Bearbeitung aus dem Motiv, Wagners beispielhafte Darstellung „sexueller Ausbeutung“ im Zusammenhang einer Oben-unten-Konstellation „für moderne Zuschauer anwendbar“ zu machen.184 Anwendbar, das bedeutet hier: Lernen am negativen politischen Modell – und zwar lachend. Hacks verwandelt Wagners Trauerspiel in eine Komödie und erhofft sich so eine Aktivierung des Publikums: „Die Furcht hat sich in Mißbilligung gewandelt, das Mitleiden in Kritik.“185 Dementsprechend wird Wagners Schluss verändert. Wo dieser offen lässt, ob Gröningsecks Versuch, „Gnade für sie [Evchen, R.W.]

|| der Bearbeitung ist darüber hinaus aber nichts bekannt. Vgl. Esther Slevogt: Den Kommunismus mit der Seele suchen. Wolfgang Langhoff – ein deutsches Künstlerleben im 20. Jahrhundert. Köln 2011, S. 424f. 182 Hacks selbst spricht von einer „Adaption“. Hacks: Anmerkungen [zu Wagners „Kindermörderin“]. Die Begriffe Bearbeitung, Adaption, Nachdichtung usw. werden in der Regel sehr unscharf unterschieden. Germanistische Sachwörterbücher geben sich widersprechende Definitionen. Dem Hacks’schen, auf Gattungswechsel zielenden Begriff entspricht die Definition Gero von Wilperts. Vgl. Gero von Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur. 8. Aufl. Stuttgart 2001, S. 6. In der vorliegenden Arbeit wird durchgehend mit dem Terminus Bearbeitung operiert. Siehe zum Phänomen der Bearbeitung: Frank Stucke: Die Aristophanes-Bearbeitungen von Peter Hacks. Berlin 2002, S. 8ff. 183 Tragelehn: Die Liquidation der antifeudalen Front. Siehe hierzu: Girshausen: Realismus und Utopie, S. 56ff. Eine ähnliche Kritik soziologischer Vereinfachung äußert Claus Hammel an Hacks’ Fernsehspiel Die unadlige Gräfin. Vgl. Claus Hammel: „Die unadlige Gräfin“. In: Sonntag, 13. April 1958, S. 7. Siehe für einen Vergleich der beiden Texte: Herbert Haffner: Heinrich Leopold Wagner, Peter Hacks. „Die Kindermörderin“. Original und Bearbeitung im Vergleich. Paderborn 1982 u. Claudia Celato: Die Kindermörderin. Vom Tendenzdrama zum epischen Theaterstück. Phil. Diss. Universität Zürich. Zürich 2006, online unter: http://opac.nebis.ch/ediss/20060026.pdf (zuletzt geprüft am 15. April 2014). Siehe speziell zu Hacks’ Bearbeitung: Gertrud Schmidt: Peter Hacks in BRD und DDR. Ein Rezeptionsvergleich. Köln 1980, S. 80ff. u. Margo Ruth Bosker: Sechs Stücke nach Stücken. Zu den Bearbeitungen von Peter Hacks. New York u.a. 1994, S. 13ff. 184 Hacks: Anmerkungen [zu Wagners „Kindermörderin“] u. HW 15, 132. 185 HW 15, 133. Die Übersetzung der aristotelischen Affekte phobos und eleos (Furcht und Mitleid) in ‚Missbilligung‘ und ‚Kritik‘ geht auf Ernst Bloch zurück, der diese „im sozialistischen Theater“ durch „Trotz“ und „Hoffnung“ ersetzt und einen „heiter-antizipierende[n]“ Grundton auch in der Tragödie

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auszuwürken“, erfolgreich ist, der Adlige, der mit seinem Freund Hasenpoth bricht, also als geläutert gezeigt wird und ein mögliches positives Ende zumindest möglich scheint, führt Hacks die Freunde Gröningseck und Hasenpoth wieder zusammen („Triumphiere, Freundschaft“) und überlässt Evchen der Strafe des grausamen Gesetzes, das nicht nach den persönlichen oder sozialen Umständen fragt.186 Das soziale Band, die Klassenzusammengehörigkeit zwischen den beiden Adligen erweist sich als stärker. Hacks stellt sie als die eigentliche Ursache der „Katastrophe“ dar, die er im Rahmen der Klassengesellschaft als Normalfall kenntlichen machen will: „Sie wird erwartet, als das Natürliche.“187 Neben dem Adel wird in Hacks’ Kindermörderin auch das Bürgertum nicht geschont. In der zweiten Fassung von 1963 hat Hacks diesen Ansatz noch verstärkt, indem er Evchens Wunsch nach Selbstbestimmung deutlicher herausstreicht. Evchen tötet ihr Kind nicht, weist die Werbung des Predigtamtskandidaten Humbrecht (dem bei Wagner die Aufgabe zufällt, die Verumständung des falschen Gröningseck-Briefes aufzuklären, den Hacks aber zum bürgerlichen Nebenbuhler Gröningsecks macht), zurück und verlässt mit dem Kind, das sie alleine aufziehen will, den adligen wie bürgerlichen „Kerker von Pflicht und Bosheit“.188 Während die zweite Fassung so bereits das Individuum deutlicher in den Mittelpunkt stellt, zielt die erste Fassung völlig auf die Zerstörung eines als falsch zu erkennenden Bildes adliger wie bürgerlicher Moralvorstellungen und die Demonstration der Unmöglichkeit einer klassenübergreifenden Lösung. Der Text funktioniert im Sinne einer Parabel, die anhand des besonderen Falls das Allgemeine verdeutlicht. Das Drama bezweckt somit nicht nur „Abscheu vor der Vorzeit zu erwecken“,189 sondern im Falle der DDR auch auf die grundsätzliche Differenz zwischen Vorzeit und

|| als angemessen ansieht. Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt/M. 1977 (Gesamtausgabe in 16 Bänden. Bd. 5.1), S. 499. Siehe hierzu: Hacks: Aristoteles, Brecht oder Zwerenz? 186 Heinrich Leopold Wagner: Die Kindermörderin. Ein Trauerspiel. In: Mathias Bertram (Hg.): Deutsche Literatur von Lessing bis Kafka. Studienbibliothek. Berlin 2000 (Digitale Bibliothek. Bd. 1), S. 168.136 u. Peter Hacks: Wagners Kindermörderin. Bearbeitet von Peter Hacks. In: JK 1 (1957), H. 2, S. 23. Die Klassenblindheit des Gesetzes – die Ende des 18. Jahrhunderts noch geltende Constitutio Criminalis Carolina von 1532 sah im Falle des Kindsmords die Todesstrafe vor und stellte explizit auch die Abtreibung unter Strafe (vgl. Wolfgang P. Müller: Die Abtreibung. Anfänge der Kriminalisierung 1140–1650. Köln 2000, S. 125) – erinnert hier an einen anderen Dramentext, Friedrich Wolfs Cyankali (§ 218) [1929], in dem die junge Arbeiterin Hete an den Folgen einer illegalen Abtreibung stirbt. Der Unterschied ist freilich deutlich: Wolf intervenierte mit dem Text direkt in die politische Auseinandersetzung. Die Frage der Rechtmäßigkeit der Todesstrafe bei Kindsmord wird bei Hacks nicht eigens herausgearbeitet. Ganz im Vordergrund steht die Unmöglichkeit einer klassenübergreifenden Liebe. 187 HW 15, 133. 188 HW 2, 316. Gertrud Schmidt macht auf den Bruch in der Figurenanlage als Konsequenz des „Aufschwung[s] aus kleinbürgerlicher Angepaßtheit zu kämpferischer, kritischer Aktivität“ aufmerksam. Schmidt: Peter Hacks in BRD und DDR, S. 86. 189 Hacks: Anmerkungen [zu Wagners „Kindermörderin“].

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Gegenwart aufmerksam zu machen. Die Didaxe der Kindermörderin äußert sich mithin genau in dem Punkt, den Tragelehn an Hacks’ Text kritisiert: der Aktualisierung.

3.3.2.2 Peter Hacks: Der Müller von Sanssouci Die didaktischen Marker sind beim Müller von Sanssouci im Gegensatz zur Kindermörderin deutlicher gesetzt. Hacks schrieb das Stück 1957. Die Idee geht auf Brecht zurück.190 Das durch Vor- und Zwischenspiel in den Rahmen eines Schattentheaters gestellte ‚Trauer‘-Spiel über den bürgerlichen deutschen Untertanengeist, das Hacks ironisch-distanziert als „bürgerliches Lustspiel“ bezeichnet, weist sich schon in den einleitenden Worten des Schattentheaterdirektors als Modell aus, das „zu Unterricht und Spaß“ vorgeführt wird.191 Der Prolog spart in dieser Hinsicht nicht mit Rezeptionshinweisen, so wenn verdeutlicht wird, dass das Bild des Menschen unter einem negativen Blickwinkel „vollkommen schwarz“ (197) dargestellt werde, oder wenn die kathartischen Affekte Furcht und Mitleid für die „dürre[n] Schatten“ (197) des Spiels ausgeschlossen und diese allesamt dem Lachen des Publikums überantwortet werden.192 Semantisch steht wie bei der Kindermörderin die Klassenfrage in der Konfrontation zwischen (Klein-)Bürgertum und preußischem Königtum im Vordergrund. Die Ehr- und Moralvorstellungen des Kleinbürgertums werden als hohl vorgeführt. Aber die laut Nebentext im Jahr 1778 spielende Parabel verlässt im Gegensatz zur 1776 verfassten Kindermörderin den Bereich des Privaten zugunsten einer Haupt- und Staatsaktion. Die von Friedrich II. inszenierte Herrschaftslegitimation als gerechter König, die der strategischen Propaganda im Rahmen der Vorbereitung der später als bayerischer Erbfolgekrieg bzw. Kartoffelkrieg bezeichneten kriegerischen Auseinandersetzungen dient, fungiert gewissermaßen als Modell im Modell.193 Das Publikum sieht eine „[r]epräsentative“ Vorführung der „Miserabilität der ganzen Welt des ZopfDeutschlands“ als soziales Panorama Preußens: Friedrich als „preußischer Aufklärer“, der Müller als „preußischer Aufrührer“ und der Knecht Nickel als „preußischer

|| 190 Vgl. Mittenzwei: Das Leben des Bertolt Brecht. Bd. 2, S. 395. Siehe die Fabel bei Brecht: GBA 20, 199. Siehe auch: GBA 20, 574f. u. GüB 237f. 191 HW 2, 195 u. 197. Zitate werden im Folgenden in Klammern direkt im Text nachgewiesen. 192 So soll von Beginn an „die ständige kluge Überlegenheit des Publikums“ garantiert werden. Bernhard Greiner: „Zweiter Clown im kommunistischen Frühling“. Peter Hacks und die Geschichte der komischen Figur im Drama der DDR. In: Profitlich (Hg.): Dramatik in der DDR, S. 355. 193 Konsequenterweise werden dementsprechend auch das dramatisch (intern) wie das theatralisch (extern) kommunizierte Modell im „Zwischenspiel“ des Schattentheaterdirektors zueinander in Beziehung gesetzt: „Wir brauchen unsern Krieg, der Preußen-Zar und ich. / Den Gipfel und Zenit von unser beider Lauf, / Er füllt ihm und mir den schlaffen Beutel auf.“ (230)

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Hanswurst“.194 Der bürgerstolze Müller der Legende wird dem Theaterpublikum als großspuriger Feigling, die Rechtsstaatlichkeit als inszenierte Farce enttarnt. Das Publikum im inneren Kommunikationssystem des Dramas (das preußische Volk), das am Ende ein Propagandaflugblatt kaufen darf, das Friedrich II. darstellt, „wie er sich vor dem Gesetz beugt“ (247), wird Zeuge einer Vorführung moderner Herrschaftslegitimation. Die allerdings ist, und das darf nicht übersehen werden, prekär: Das Stück führt zwar am bekannten Fall vor, dass man „mit Recht beschissen“ werden kann;195 der friderizianische Propaganda-Coup scheitert aber beinahe an den mangelnden Widerstandsqualitäten des Müllers: „Es ist einmal nicht in mir drin.“ (246) Das Stück ist somit nicht nur eine Satire Preußens, sondern stellt auch einen Problemfall moderner, reaktionärer196 Staatlichkeit aus: Für die interne wie externe Legitimation durch scheindemokratische Akte wird ein Partner benötigt, den der König in dem paradigmatisch als deutschen Kleinbürger gezeichneten Müller nur mit Mühe findet. Mit diesem Verfahren ist auf einen modernen Begriff des Staates verwiesen, der im Kontext des achtzehnten Jahrhunderts anachronistisch wirkt und eher auf den modernen bürgerlichen Staat verweist, dessen Rechtswesen aus marxistischer Perspektive eben keine Gerechtigkeit schafft, sondern Klasseninteressen vertritt. Der Text erinnert in dieser Hinsicht nicht zufällig an Hacks’ noch in der BRD verfasstes Stück Die Schlacht bei Lobositz [1955]. In diesem behandelt Hacks in Reaktion auf die Gründung der Bundeswehr und deren gesetzlich festgeschriebenes Leitbild des Staatsbürgers in Uniform die „Interna einer Klassenarmee“ und das Legitimationsproblem einer modernen Armee: „[W]ir müssen den Soldaten vor allem am Herzen dressieren.“197 Der Müller von Sanssouci stellt vor dem Hintergrund des Kriteriums ‚Bezugssystem Sozialismus‘ insofern einen Grenzfall dar. Die Didaxe zielt zwar eindeutig darauf, den preußischen Staat als repressiv zu zeigen und darauf aufmerksam zu machen, dass daran auch die ‚Untertanen‘ ihren Anteil haben, es also gerade die unterwürfi-

|| 194 HW 15, 131. Siehe zu den Komödien des schwarzen Preußen: Jost Hermand: Fridericus Rex. Das schwarze Preußen im Drama der DDR. In: Profitlich (Hg.): Dramatik in der DDR, S. 266–296. 195 HW 15, 131. 196 An dieser Charakterisierung lässt der Text keinen Zweifel. Einerseits dient die ganze Inszenierung nur der Wiederherstellung von Friedrichs Glaubwürdigkeit, die wiederum Voraussetzung zur Führung des Krieges ist; andererseits werden Friedrich – ganz im Sinne der Tragelehn’schen Kritik der Aktualisierung – als „großer Grundeigner“ (197) und die Motive des Krieges als ökonomische beschrieben. Hacks vereindeutigt hier insofern die Motivation Friedrichs, indem er sie in einen marxismuskompatiblen Rahmen stellt, dem ihm die noch von Brecht zu Rate gezogenen Historiker Heinz Kamnitzer und Jürgen Kuczynski allerdings streitig gemacht hatten, denn „sie hätten eigentlich auch nicht genau gewußt, warum diese Kriege geführt worden seien“. Mittenzwei: Das Leben des Bertolt Brecht. Bd. 2, S. 605. 197 HW 15, 129 u. HW 2, 139.

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gen und plebejisch-ziellosen Haltungen sind, die die Aufrechterhaltung der Herrschaft möglich machen.198 Gleichzeitig verweist das Problem der Herrschaftslegitimation im Modus des Rechtsstaats aber auf einen tendenziell westdeutschen Bezugsrahmen.199 Das ist nicht die einzige Uneindeutigkeit des Textes. Brechts Fabelidee hatte ihre Perspektive in einer „deutschen Nationalkomödie“, die den „‚Ewigen Deutschen‘“ auf die Bühne bringen und die „Knechtseligkeit als deutsches Schicksal“ entlarven sollte.200 Hacks spitzt diesen Ansatz zu, indem er darauf zielt, „die Kleinbürger speziell als die Deutschem im allgemeinen anzuschießen“.201 Das hat aber nicht nur die völlige Abwertung der Figur des Müllers und das Fehlen einer historisch progressiven Kraft zur Folge.202 Im Kontrast zum dummen und feigen Müller als Kleinbürger par || 198 Beispielhaft wird das an der Figur des Knechtes Nickel gezeigt, die Hacks’ Kritik der plebejischen Position als unproduktiv und „bloß negativ“ (RT 99) erkennen lässt. Zu nennen wäre auch der Armeebäcker Wewerka, der sein Abhängigkeitsverhältnis erkennt („Wes Brot ich back...“ [243]), sich aber dennoch ohne Protest unterordnet und sich von Friedrich II. unwidersprochen als „verfluchter Wucherer“ (244) beleidigen lässt. Vgl. zur plebejischen Figurenzeichnung: Ulrich Profitlich: Des Menschen edles Bild vollkommen schwarz. Zur Darstellung Preußens in Peter Hacks’ „Der Müller von Sanssouci“. In: Paul Gerhard Klussmann u. Heinrich Mohr (Hg.): Deutsche Misere einst und jetzt. Die deutsche Misere als Thema der Gegenwartsliteratur. Das Preußensyndrom in der Literatur der DDR. Bonn 1982, S. 100ff. Christoph Trilse, der das plebejische Element bei Hacks als konsequent-klassenkämpferische Haltung Unterer missversteht, erkennt im ganzen Stück keine plebejische Position und meint vielmehr, „lediglich der Autor nimmt sie ein“. Trilse: Das Werk des Peter Hacks, S. 122. 199 Vgl. Winfried Schleyer: Die Stücke von Peter Hacks. Tendenzen, Themen, Theorien. Stuttgart 1976, S. 45. Dass die Fabel sich nicht nur um falschen „‚Männerstolz vor Fürstenthronen‘“, sondern um die Durchsetzung des Rechts“, die eben dem König „selbst“ überlassen bleibt, dreht, hat Ursula Heukenkamp hervorgehoben. Durch die Übertragung der Hacks’schen politisch-ästhetischen Kategorien der 1960er und 1970er Jahre auf den 1957 fertiggestellten Text, kommt sie allerdings zu der Ansicht, dass Friedrich II. tatsächlich positiv gesetzt sei, das Stück mithin „Königslob“ transportiere. Heukenkamp: Peter Hacks und die große Fehde in der DDR-Literatur, S. 630. Diesem Schluss folgt Kai Köhler nicht, erkennt aber gleichwohl eine Vorwegnahme späterer Überlegungen Hacks’ insofern, als hier bereits die „Dummheit der Beherrschten, die eine Verbesserung von oben nahelegt“, wie auch im Prinzen Heinrich die „Möglichkeit eines besseren Königtums“, gezeigt werde. Kai Köhler: „Ich bin dem Zarentum ergeben, also muß ich diesen Zaren stürzen…“. Vorläufiges zu Hacks’ Königen. In: ARGOS (2008), H. 3, S. 21. Eine weitere Vorwegnahme zeigt sich auch anhand des Metrums. Hacks benutzt im Vor- und im Zwischenspiel bereits den Alexandriner, den er in den späten 1960er Jahren zur „Feier der Herrschaftsform des aufgeklärten Absolutismus“ (Püllmann: Von Brecht zu Braun, S. 142) verwenden wird. 200 Mittenzwei: Das Leben des Bertolt Brecht. Bd. 2, S. 605. 201 GüB 238. 202 Das hatte schon die zeitgenössische Kritik bemängelt. Vgl. Herbert Ihering: Satire oder Parodie? Zum „Müller von Sanssouci“ in den Kammerspielen. In: Sonntag, 16. März 1958, S. 7. Siehe auch: Schütze, S. 33f. Als ansatzweise positive Figur kann neben dem kraftlosen und ausgebooteten Prinzen Heinrich nur Lowises Bruder, der Deserteur Simon, gelten. Aber auch hier behauptet sich, was Ulrich Profitlich übersieht (vgl. Profitlich: Des Menschen edles Bild vollkommen schwarz, S. 95), der plebejische Egoismus, denn Simon nimmt seiner Schwester noch im Abschied das Ersparte ab. Vgl. 237f.

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excellence ist Friedrich II. „mit einer solchen Schläue und Konsequenz“ ausgestattet, dass er von den klassenmäßig unteren Dramatis personae „positiv absticht“ und es durchaus möglich ist, in ihm „einen ‚bedeutenden‘ Mann“ zu erkennen.203 Die Satire, die nach Brecht darauf verzichtet, „dem Typus, den sie verspottet, einen exemplarischen Typus entgegenzustellen“,204 droht hier zweifelhaft zu werden. Denn es ist fraglich, ob die zwar brutale, aber immer die Fäden in der Hand haltende, intelligente Friedrich-Figur das in der Weimarer Republik durch die Fridericus-Rex-Filme massenmedial verbreitete und im Nationalsozialismus durch Filme wie Veit Harlans Der große König noch verstärkte Friedrich-Bild205 unterläuft. Der externe Kommentar, der betont, dass das Stück „keine positiven Haltungen“ zeige, sondern diese „vom Zuschauer“ erwarte, der „klüger […] als die auftretenden Personen“ sei, kann so als Versicherung einer Eindeutigkeit gelesen werden, die durch den Verweis auf die politische Ökonomie des Müllers noch verstärkt wird („Kleinheit“ → „Skeptizismus“ → „bestimmte ökonomische Situation“).206 Die im internen Kommentar gegebene Erklärung für die totale Negativität des Kleinbürgertums, das Fehlen von „sittliche[r] Idee“ und „Rückgrat“ (230),207 wird so bestätigt. Zugleich wird aber auch – durch die Notwendigkeit, „sich selbst zu erklären“208 – die Widersprüchlichkeit des Stücks anerkannt.

3.3.2.3 Peter Hacks: Die Geschichte eines alten Wittibers im Jahre 1637 Die Geschichte eines alten Wittibers im Jahre 1637 geht nicht auf eine Idee Brechts zurück. Dennoch verweist der Text, der die erste dramatische Arbeit darstellt, die Hacks

|| Die im Bericht des Generals Wolfersdorff erwähnten Hüttenarbeiter von Altena, die einzigen, die ein gesellschaftspolitisches Ziel angeben („Arbeit für Brot, kein Schuß für den Despot“ [200]), werden nur im Bericht erwähnt. 203 Werner: Überlegungen zum Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, S. 39 u. Rödel. Siehe auch: Lothar Lang: Peter Hacks und der literarische Vulgärsozialismus. In: Die Weltbühne 13 (1958), H. 19, S. 598–600. 204 GBA 24, 392. 205 Vgl. Udo W. Wolff: Preußens Glanz und Gloria im Film. Die berühmten deutschen Tonfilme über Preußens glorreiche Vergangenheit. München 1981. 206 HW 15, 131. 207 ‚Sittliche Idee‘ und ‚Rückgrat‘ lassen sich als Kategorien übersetzen: Idee → gesellschaftliche Zielvorstellung → Theorie; Rückgrat → Umsetzungswillen → Praxis. Wolf Gerhard Schmidt liest den internen Kommentar vor dem Hintergrund des Faschismus anders. Seiner Meinung nach stellt das Drama die Aufklärung „nachhaltig in Frage“ und die Betonung der sittlichen Idee diene dementsprechend „allein der Fortsetzung reaktionärer Politik“. Schmidt: Zwischen Antimoderne und Postmoderne, S. 306. Eine solche Interpretation unterstellt allerdings, dass der Schattentheaterdirektor als Sprecher des internen Kommentars lügt, was seiner realistischen Einführung in die gesellschaftliche Konstellation des Dramas im Vorspiel widerspricht. 208 HW 15, 131.

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in der DDR verfasste, in zweifacher Weise auf diesen: Er kann einerseits als „Anschlussarbeit“209 an Brechts Stück Mutter Courage und ihre Kinder gelten, an das er sich chronotopisch direkt anfügt;210 und er stellt andererseits formal einen Versuch dar, die epischen Theatermittel in Anwendung zu bringen. Der als Hörspiel konzipierte, später auch als Bühnenstück gespielte Text211 verfügt über einen Erzähler, der „an der Geschichte nicht beteiligt“ ist, aber „am Ende die Moral aus ihr zieht“, sowie auf Tafeln anzuzeigende Zwischentitel, welche die Handlung gliedern.212 Hatte Brecht in Mutter Courage gezeigt, wie die Courage versucht, sich und ihre Kinder aus dem Krieg herauszuhalten, gleichzeitig durch Handel aber an ihm zu verdienen, so zeigt Hacks die Bemühungen eines Witwers, seiner an der Pest gestorbenen Frau durch Handel ein würdiges Begräbnis zu ermöglichen. Im letzten Bild kommt es, nachdem es dem Wittiber nach einigen Anstrengungen (Handel mit dem, jeweils sozial repräsentativen, Tischler, Pfarrer und Kipper213) lediglich gelungen ist, eine Getreidekiste an Stelle eines richtigen Sarges zu erwerben, zum „Handel […] mit dem Tod“.214 Die allegorische Figur schlägt dem Wittiber vor, sich dem ewigen Schlaf anzuvertrauen: „[D]u bist im Herzen müde. Du bist der Menschen müde, weil sie so schlecht sind.“ (25) Zeigt das Modell bis dahin die aussichtslose Bemühung des Wittibers, die Würde seiner toten Frau in Zeiten des Krieges zu bewahren, also die Unmöglichkeit menschlichen Verhaltens in unmenschlichen Situationen,215 so zieht der Wittiber am Schluss

|| 209 Püllmann: Von Brecht zu Braun, S. 151. Dennis Püllmann differenziert die literarischen Bezüge zu Brecht in Auftragsarbeiten, Abschlussarbeiten, Anschlussarbeiten, modellhafte Fortschreibungen, Titel-Rekurrenzen, Anspielungen und Verwendungen originaler Zitate. Vgl. S. 130ff. 210 Hacks’ Handlung setzt 1637 mit dem Ende der Courage-Handlung (1636) ein. Vgl. GBA 6, 79. 211 Das Hörspiel erschien im August 1956 zuerst in SuF (vgl. Peter Hacks: Die Geschichte eines alten Wittibers im Jahre 1637. Hörspiel. In: SuF 8 [1956], H. 2, S. 239–254), 1958 dann als Einzelausgabe für Laienspieler bei Friedrich Hofmeister in Leipzig. Aufführungsdaten ließen sich nicht ermitteln. Aus der im DLA in Marbach vorliegenden Korrespondenz zwischen Hacks und dem Drei Masken Verlag geht aber hervor, dass der Text mehrfach gespielt wurde. 212 Hacks: Anmerkungen, S. 30. 213 Die Bezeichnung Kipper (= Falschmünzer, Münzbeschneider) ist etymologisch mit dem Dreißigjährigen Krieg verbunden. Der Begriff bezeichne solche Personen, „welche in dem dreyßigjährigen Kriege und bey dem damahligen Verfalle des Münzwesens, die bessern Münzsorten und bessern einzelnen Münzen auf das sorgfältigste aussuchten und aus dem Handel und Wandel entfernten.“ Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart. Leipzig 1793–1801. Bd. 2, Sp. 1581, online unter: http://woerterbuchnetz.de/Adelung (zuletzt eingesehen am 9. April 2014). 214 Peter Hacks: Die Geschichte eines alten Wittibers im Jahre 1637. Eine Moralität. Leipzig 1958, S. 24. Zitate werden im Folgenden unter Angabe der Seitenzahl nachgewiesen. 215 Soziologisch folgerichtig verdeutlicht Hacks im externen Kommentar, dass die Gegenspieler des Wittibers nicht einfach ‚negativ‘ seien: „Gezeigt werden schlechte Handlungen, nicht schlechte Menschen.“ Hacks: Anmerkungen, S. 30.

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unerwartete Schlüsse aus seinen Erfahrungen und widerspricht dem Tod: Die Menschen seien nicht schlecht, nur „verdorben durch Gründe“ (25), d.h. durch die konkrete Einrichtung der Gesellschaft und die sich daraus ergebenden Interessen, nach denen sie ihre Handlungen ausrichten. Der ‚schwarzen‘ Anthropologie des Todes hält der Wittiber ein Bewusstsein vom Ausnahmezustand entgegen. Indem er den Krieg als Abweichung auffasst, kommt er zu einer überraschenden Schlussfolgerung: „Wenn also der Mensch boshaft ist im Elend, schließ ich, im Glück ist er gut. Er wird großmütig im Überfluß. So sauge ich Hoffnung aus der Ohnmacht der Menschen, allerdings unter Berücksichtigung der Welt von morgen.“ (26) Wie sich die Zustände zum Glück wandeln könnten, thematisiert die „Moralität“ (so die Genrebezeichnung Hacks’)216 nicht. Auch besteht kein Zweifel, dass der Wittiber ‚die Welt von morgen‘ nicht mehr erleben wird. Aber die geschichtsbezogene Sozialanthropologie gibt Hoffnung, die dem Wittiber erlaubt, dem Tod gegenüber eine lebensbejahende Haltung einzunehmen.217 Sie ermöglicht Aktivität. Die Botschaft des Textes, die der Erzähler am Schluss zusammenfasst, lautet dementsprechend: „[D]er schlechteste Ausweg ist ein Handel mit dem Tod.“ (27) Von den anderen dramatischen Texten Hacks’ unterscheidet sich der Wittiber auffällig. Weder ein Warnbild wie Der Müller von Sanssouci noch eine antimilitaristische Komödie wie Die Schlacht bei Lobositz, aber auch kein didaktisch auf Feindschaft der Klassen hin aktualisiertes historisches Stück wie Die Kindermörderin kann der Wittiber als frühes „Lehrstück“218 Hacks’ verstanden werden, das in mehrfacher Hinsicht an Brecht anschließt: nicht nur an die bereits erwähnte Mutter Courage, sondern auch an Das Badener Lehrstück vom Einverständnis [1929]219 und den Dreigroschenroman

|| 216 Als Moralitäten werden die religiös-allegorischen Schauspiele mit lehrhaft-moralisierender Didaxe des späten Mittelalters bezeichnet, die ab dem sechzehnten Jahrhundert in Gestalt des Schuldramas vertreten sind. Vgl. Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur, S. 532f. u. 739f. 217 „TOD: Welt von morgen, dummes Zeug. Meinst du, du erlebst sie? WITTIBER: Nein, nicht ich. TOD: Wer denn? WITTIBER: Menschen.“ (26) Der Wittiber zeigt somit neben der Einsicht, dass Gesellschaften interessengeleitet funktionieren, veränderbar sind und eine Zukunft haben, auch dass er über ein Gattungsbewusstsein verfügt. Siehe zu Gattungsfragen und Gattungswesen im Marxismus: HKWM 4, 1239–1258. 218 Trilse: Das Werk des Peter Hacks, S. 123. Christoph Trilse geht in seiner Einschätzung allerdings insofern zu weit, als er den Begriff Lehrstück ganz im Brecht’schen Sinne als „zum Lernen für die Spieler selbst“ auffasst (S. 123), wofür sich bei Hacks weder im Text noch im externen Kommentar Anhaltspunkte finden lassen. 219 Den Zusammenhang zum 1955 bei Suhrkamp im Rahmen der Werkausgabe erschienenen Badener Lehrstück vom Einverständnis stellt der Theaterwissenschaftler Hans-Jochen Irmer her. Hacks’ Bezug sei allerdings antithetisch: Wo Brecht lehre, die „Individualität zugunsten der Kollektivität aufzugeben“, und zur „Vergottung des Kollektivs“ aufrufe, behaupte Hacks „Wert und Würde des einzelnen Menschen“. Hans-Jochen Irmer: „Der Glücksgott“, „Der Geldgott“ und „Der Bischof von China“. In: Kai Köhler (Hg.): Staats-Kunst. Der Dramatiker Peter Hacks. Berlin 2009, S. 103, Anm. 69. Im Kontext der Gattungsdimension greift Irmers Reflexion zu kurz. Ungeachtet der Tatsache, dass

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[1933/34].220 Überträgt man die Interpretation des semantischen Konnexes mit der Mutter Courage (d.h. der Dreißigjährige Krieg steht für den Krieg im Allgemeinen und im Besonderen für den nationalsozialistischen Krieg), so vereindeutigt sich zudem die abstrakte Didaxe vor dem Hintergrund kommunistischer Ur-Erzählungen (der Widerstand gegen die Nazis221 oder Karl Liebknechts christlich getöntes Vokabular in „Trotz alledem!“, seinem letzten Artikel in der Roten Fahne222) in Richtung auf den Sozialismus in der DDR. Dennoch bleibt der Wittiber ein abstrakter Text, der aber, und das ist wichtig, im Fabelkern ein positives Geschichtsbild transportiert, das nicht eigens durch den historischen Standpunkt der außerfiktionalen Welt, sprich den Sozialismus, legitimiert werden muss.

3.3.2.4 Peter Hacks: Ein guter Arbeiter Im Gespräch mit Hans Bunge betonte Hacks 1958 rückblickend, dass er anstelle des Müllers von Sanssouci eigentlich etwas „Aufbauendes“ habe schreiben wollen, er die Brecht-Idee aber kaum habe ausschlagen können.223 Tatsächlich hatte Hacks sich schon im Februar 1957 auf der Delegiertenkonferenz des Schriftstellerverbandes von historischen Stoffen distanziert und die Hinwendung zur Gegenwart gefordert.224 Bevor er aber 1958 unter dem Arbeitstitel „Briketts“ mit der Arbeit an Die Sorgen und die Macht begann und sich damit von der historisch perspektivierten Schilderung der Klassengesellschaft verabschiedete, schrieb Hacks für das Kulturprogramm der 19. || Irmer in Bezug auf das Badener Lehrstück dreißig Jahre später noch immer die bereits 1980 widerlegte Interpretation der „traditionelle[n] bürgerliche[n] Brecht-Forschung“ (Jan Knopf: Brecht-Handbuch. Theater. Eine Ästhetik der Widersprüche. Stuttgart 1986, S. 76) vertritt, übersieht er, dass Hacks sich nicht auf Brechts – von Irmer selektiv als Lehre des Lehrstücks ausgegebene – Aussage, es sei nötig „der grausamen / Wirklichkeit / Grausamer zu begegnen“ (GBA 3, 35f.), stützt. Sollte Hacks Brechts Lehrstück zur Kenntnis genommen haben, was wahrscheinlich ist, so scheint eine andere Aussage des Textes für das Verständnis des Wittiber aufschlussreicher: „Richtet euch also sterbend / Nicht nach dem Tod. / Sondern übernehmt von uns den Auftrag / Wieder aufzubauen.“ (GBA 3, 45) 220 Dennis Püllmann erkennt in der Sozialanthropologie des Wittibers einen Verweis auf das aus dem Zusammenhang des Dreigroschenromans bekannte „plumpe Denken“ als Form des dialektischen Denkens, das auch plebejische Allusionen hat. Vgl. Püllmann: Von Brecht zu Braun, S. 152 u. BGS 3, 446. 221 Vgl. Herfried Münkler: Der Antifaschismus als Gründungsmythos der DDR. In: Reinhard Brandt (Hg.): Mythos und Mythologie. Berlin 2004, S. 221–235. 222 Dort heißt es: „Aber unser Schiff zieht seinen geraden Kurs fest und stolz dahin bis zum Ziel. Und ob wir dann noch leben werden, wenn es erreicht wird – leben wird unser Programm; es wird die Welt der erlösten Menschheit beherrschen. Trotz alledem!“. Karl Liebknecht: Gesammelte Reden und Schriften, hg. von Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Berlin 1958, S. 679. 223 GüB 238. 224 Vgl. AdK, Berlin, SV, Nr. 89, Bl. 52f. Ebenso hatte er bei einem Gespräch im Deutschen Fernsehfunk angekündigt, „nie wieder ein historisches Stück [zu] schreiben“. Peter Hacks: Interview. Deutscher Fernsehfunk. 1957.

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Zentralratstagung der FDJ einen Text über die „Notwendigkeit, der Nationalen Volksarmee beizutreten“.225 Die Szene Ein guter Arbeiter wurde im Rahmen des Berliner Festaktes zum 40. Jahrestag der Oktoberrevolution 1958 uraufgeführt. Schauplatz ist ein Betrieb, in dem die NVA junge Rekruten wirbt. Ein klassenbewusster Arbeiter, der zunächst skeptisch ist – „Ich bin nämlich strikt gegen Militarismus.“226 – und glaubt, an seinem Arbeitsplatz besser für den Aufbau des Sozialismus arbeiten zu können, lässt sich im Gespräch von einem Offizier überzeugen: „Es ist nicht wie in Westdeutschland. Es ist auch nicht wie früher.“ (294) Die NVA, die wie in Hacks’ Soldatenliedern227 konsequent als Friedensarmee dargestellt und gegenüber der Bundeswehr abgegrenzt wird – „Die Offiziere [...] sind ja alles die alten Nazis.“ (292) –, erscheint als notwendige Institution zur Verteidigung des Sozialismus; ihre Existenz wird ökonomisch begründet: „Genossen, es handelt sich darum, wer die Fabriken besitzt.“ (295) Mit Ein guter Arbeiter lieferte Hacks ein affirmatives Agitationsstück, das kaum die Anforderung erfüllt, „Propaganda durch Kunst und zugleich Propaganda für Kunst“ zu sein, dafür aber funktional der historischen Agitprop nahekommt, entspricht der Text doch einem „reine[n] Wirkenwollen“.228

3.3.2.5 Peter Hacks: Die Sorgen und die Macht Mit Die Sorgen und die Macht wandte Hacks sich 1958 den ‚Protokollen von Durchführungen‘ zu. Von Heiner Müllers Stück Der Lohndrücker angeregt, das er während der Arbeit zu Rate zog,229 fuhr Hacks im Mai 1958 gemeinsam mit Anna Elisabeth Wiede nach Bitterfeld zum Studium „unsere[r] Original-Arbeiterklasse“.230 Wenig später sandte er unter dem Titel „Briketts“ einen Stückentwurf an den Henschel Verlag, der

|| 225 Sergio Günther: Agit-Prop. In: JK 2 (1958), H. 4, S. 48f. 226 Peter Hacks: Ein guter Arbeiter. Szene von Peter Hacks. Geschrieben für das Kulturprogramm der 19. Zentralratstagung der Freien Deutschen Jugend. In: ARGOS (2008), H. 3, S. 293. Die Seitenangaben werden im Folgenden in Klammern angegeben. 227 Ab 1957 verfasste Hacks zahlreiche Lieder für die Zeitschrift Armeerundschau, die auch in Sammlungen wie die 1959 erschienene NVA-Anthologie Nimm das Gewehr aufgenommen wurden. Vgl. Peter Hacks: Agitprop (1957–1962). In: ARGOS (2008), H. 3, S. 267–295. 228 Hacks: Nachtrag zu einem Vorschlag, S. 10. Das letzte Zitat entstammt einer frühen Seminararbeit aus Hacks’ Münchner Zeit, die den Titel „Massenkunst. Ansätze zu einer soziologischen Poetik“ trägt. Ich zitiere den Text aus dem Manuskript der in Erscheinung begriffenen Edition „Der junge Hacks“. Für die freundliche Überlassung des Manuskripts danke ich Gunther Nickel sehr herzlich. 229 Vgl. Peter Hacks an Heiner Müller, 28. Mai 1958 [Postkarte], DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit Heiner Müller. 230 Peter Hacks an James Krüss, 11. Mai 1958, DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit James Krüss. In einem Brief an seine Mutter heißt es: „Ich reise in einen Braunkohlenladen mit dem schönen Namen ‚Freiheit‘; die Anna zu Agfa-Wolffen, welches einer der größten chemischen Betriebe der Welt.“ Mamama 104 (Peter Hacks an Elly Hacks, 11. Mai 1958).

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anlässlich des V. Parteitags der SED einen Exposé-Wettbewerb zur Förderung der Gegenwartsdramatik ausgelobt hatte.231 Die Sorgen und die Macht behandelt den ökonomischen Widerspruch zwischen Qualität und durch festgelegte Produktionsziffern bestimmte Quantität in der extensiven industriellen Produktion und überantwortet die vorläufige Lösung dieses Widerspruchs dem Faktor Liebe. Hacks greift damit ein ökonomisches Problem der Planwirtschaft auf, das Heiner Müller bereits in Die Korrektur als „Normenschaukel“232 dargestellt hatte. Ausgangspunkt der Recherchen in Bitterfeld ist ein Offener Brief von Stahlarbeitern. Die Beschwerde der Stahlarbeiter – aufgrund schlechter Briketts aus einem Zulieferbetrieb, der auf die Einhaltung der Produktionsziffern, aber nicht auf die Qualität der Briketts achtet, kann das Stahlwerk den Produktionsplan nicht halten – entspricht exakt dem sozioökonomischen Skelett der Hacks’schen Fabel.233 Das Thema des Stücks ist, wie Hacks in Briefen an Bernt von Kügelgen und James Krüss schreibt, der „Egoismus in der Übergangsperiode, dargestellt am Symptom der Tonnenideologie“ und „das Nebeneinanderbestehen von riesiger modernster Investitionstätigkeit mit geradezu handwerkelnder Reservenquetscherei“.234 Das Stück entspricht aber keineswegs den mit Beginn des Bitterfelder Weges zahlreich entstandenen Produktionsstücken, in denen ein idealistischer proletarischer Held oder die SED den aufgeworfenen Konflikt löst. Hacks folgt mit der Akzentuierung des (Lohntüten-)Egoismus als ‚alte‘ und zu überwindende Haltung der Arbeitenden gegenüber der ‚neuen‘ Arbeit im Sozialismus zwar einem Trend des zeitgenössischen Dramas. Er leugnet die systemischen Ursachen für die Probleme der DDR-Wirtschaft aber nicht, indem er sie allein auf Bewusstseinskriterien zurückführt.235 Das Problem Qualität/Quantität bleibt am Ende der Handlung ungelöst. Der

|| 231 Im November 1958 gewann Hacks bei dem Wettbewerb 3.000,- DM. Vgl. Ilse Galfert an Peter Hacks, 11. November 1958, DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit dem Henschel Verlag. Das Exposé konnte nicht aufgefunden werden. Das Stück existiert in drei Fassungen. Die erste schrieb Hacks 1958/59 für das Deutsche Theater; sie wurde als Probeaufführung vor ausgewähltem Publikum am 11. September 1959 aufgeführt. Vgl. SORGEN 1. Die zweite Fassung wurde am 15. Mai 1960 in Senftenberg uraufgeführt. Vgl. SORGEN 2. Die dritte Fassung wurde am 2. Oktober 1962 am Deutschen Theater uraufgeführt. Vgl. HW 3, 5ff. Die Seitenangaben werden nach der dritten Fassung in Klammern angegeben. 232 Vgl. MW 3, 112ff. 233 Vgl. Kurt Dieckmann, Karl Klinke u. Heinz Böhm: SM-Öfen brauchen Qualitätsbriketts! Brief der Stahlwerker an Minister Goschütz. In: ND, 26. Februar 1958, S. 5. 234 Peter Hacks an Bernt von Kügelgen, 22. August 1959, DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit dem Sonntag u. Peter Hacks an James Krüss, 19. März 1960, DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit James Krüss. 235 Siehe für eine solche Position, die im Egoismus die wesentliche Ursache für die wirtschaftlichen Probleme der DDR erkennt: Hans Lucke: Über einige Schwierigkeiten beim Schreiben von Zeitstücken. In: TdZ 12 (1957), H. 11, S. 13–16.

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„zäh[e]“ (81) Weg auf eine Lösung hin wird durch einzelne Aspekte der bildungspolitischen und ökonomischen Reform, wie sie später mit dem Neuen Ökonomischen System erfolgte, höchstens angedeutet: „Die Zeit braucht neue Kader. Junge Leute mit Hochschule und Produktionserfahrung.“ (21) Der Dramentext ist trotz eindeutig affirmativer Tendenzen subversiv.236 So wirkt die Partei nicht konfliktlösend, sondern wird „von den Widersprüchen vorwärtsgeschoben“.237 Die Dialektik, der sie unterworfen ist, folgt der Fabel des Dramas; wie die Produktion der Brikettfabrik nur vermeintlich gut funktioniert, ist die Partei schwach durch vorgetäuschte Stärke. Sie hat nicht „tausend Augen“ wie bei Brecht;238 ihre Praxis heißt „Wegsehen“ (20): „Was nicht schreit, ist kein Widerspruch.“ (21) Dennoch wird der Sozialismus als unaufhaltsam und letztlich die Menschen verändernd gezeigt; aber nicht wegen, sondern trotz der SED, die hier nicht als „widerspruchsvolle Vereinigung kämpfender Sozialisten“, sondern als widerspruchsvolle Vereinigung sich bekämpfender Sozialisten erscheint und sich in Person des ranghohen Genossen Muser sogar als Instrument des Feindes offenbart.239

|| 236 Ein Beispiel: Hacks verlegt die gespielte Zeit auf den Oktober 1956, um die Bedrohung durch den Ungarn-Aufstand in die Handlung hinein holen und dessen Niederschlagung vor dem Hintergrund des internationalen Klassenkampfs und der Gefahr eines Krieges rechtfertigen zu können. Siehe die durch den fünfhebigen Jambus hervorgehobene Rede des Parteisekretärs. (53ff.) Interessant ist aber, dass selbst an dieser von ihrer politischen Aussage her eindeutigen Stelle subversives Potential eingebracht wird. Wenn der Arbeiter im Gespräch mit dem Parteisekretär behauptet, der ungarische Dichter Sándor Petöfi (1823–1849) sei von Stalin „vergiftet“ (52) worden, wird die Figur im inneren Kommunikationssystem des Dramas zwar diskreditiert; gleichzeitig aber wird die stalinistische Repression explizit thematisiert. Dass Wolfgang Schivelbusch in dem Text nur „platte ideologische Affirmation“ erkennt, ist daher nicht nachvollziehbar. Wolfgang Schivelbusch: Sozialistisches Drama nach Brecht. Drei Modelle: Peter Hacks, Heiner Müller, Hartmut Lange. Darmstadt 1974, S. 78. 237 Hermann Kähler: Aktuelles Thema – noch nicht bewältigt. Zu Peter Hacks’ „Die Sorgen und die Macht“. In: TdZ 18 (1963), H. 3, S. 7. Siehe zur Rolle der Partei im Stück: Lutz Getzschmann: Peter Hacks’ Drama „Die Sorgen und die Macht“ und die darin bearbeiteten gesellschaftlichen Fragestellungen. In: ARGOS (2010), H. 6, S. 105ff. 238 Im „Lob der Partei“ heißt es: „Der einzelne hat zwei Augen / Die Partei hat tausend Augen.“ GBA 11, 234. 239 GBA 23, 379. Muser vertritt bei der Revierkonferenz mit opportunistischen Argumenten („Die treuherzige, naive und zugleich / Von tiefer Wissenschaftlichkeit durchseelte Stimme / Des schlichten Kumpels“ [67]) die Position Zidewangs („Qualität versteht sich von selbst. […] nach Tonnen war gefragt“ [65]), der nicht nur fabelseitig, sondern auch semantisch als Konterrevolutionär gekennzeichnet ist. (79) Diese Einschätzung trifft für den Gewerkschaftsvertreter Pappmeier und dessen betriebsinternen Konkurrenten Kunze nicht zu. Andrea Jäger übersieht deren Eintreten für die „Festigkeit“ (26) der Briketts sowie die Beendigung ihres Konkurrenzverhaltens zugunsten des Betriebs, wenn sie in beiden „haltlose[ ] Figuren“ und „‚Spinner‘“ erkennt. Andrea Jäger: Der Dramatiker Peter Hacks. Vom Produktionsstück zur Klassizität. Marburg 1986, S. 66f. Dass sich beide zu Beginn des 5. Akts verbrüdern, zeigen die 1. und die 2. Fassung des Stücks noch deutlicher. Vgl. SORGEN 1, 60 u. SORGEN 2, 57.

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Bewusstseinsbildend ist der unkontrollierbare Faktor Liebe: „Und auch Fidorra tut für seine Freundin, / Was er nicht für den Sozialismus täte“ (7), heißt es im Prolog. Zum Stimulus des Sozialismus kann die Liebe Max Fidorras aber nur werden, weil Hede Stoll den Zusammenhang zwischen der Produktqualität der Briketts und ihrem geringen Lohn herstellt – „Sie sind schuld, daß wir kein Geld haben.“ (14) – und Fidorra in der Folge aus Eigennutz, also um Stoll zu beeindrucken, sein Verhalten ändert. Selbst bei der materialistischen prospektiven Lösung des ökonomischen Problems (Verbesserung der Produktion) spielt die „Eitelkeit“ Fidorras eine Rolle.240 Damit rücken anthropologisch grundierte, partikulare Bedürfnisse und niedere Beweggründe in den Vordergrund,241 die der Zentralstellung des Faktors Bewusstsein in der zeitgenössischen Aufbaukonzeption der SED widersprechen.242 Wie Brecht in der Dreigroschenoper243 ordnet Hacks das Bewusstsein dem plebejisch akzentuierten Wohlbefinden unter. Aber: Obgleich das (Proletarier-)Sein entgegen der klassischen marxistischen Auffassung im Drama nicht das Bewusstsein bestimmt,244 werden die Triebkräfte Liebe, Egoismus und Anerkennungswille doch sozial funktionalisiert || 240 Ulrich Profitlich: Menschen unserer Zeit. Zu Peter Hacks’ „Die Sorgen und die Macht“. In: Paul Gerhard Klussmann (Hg.): Die Schuld der Worte. Gert Neumanns Sprachreflexionen; zum Werk von Peter Hacks; über Texte von: Karl Mickel, Sarah Kirsch, Günther Weisenborn, Heiner Müller. Bonn 1988, S. 34. Fidorra betont, dass die Reparatur des Kessels „eine sehr feine Idee“ (63) bzw. „eine sehr gute Idee von mir [meine Hervorhebung, R.W.]“ (76) sei. Als Gegenstück des letztlich sozialistischproduktiv werdenden Egoismus Fidorras funktioniert der sich opportunistisch gebende Eigennutz Zidewangs, der von Holdefleiss enttarnt wird: „Er sagt Kollektiv, wie ein Bourgeois ich sagt.“ (61) 241 Siehe: Schmidt: Zwischen Antimoderne und Postmoderne, S. 400f. Schmidt geht in der Betonung des „moral sense“ allerdings zu weit, wenn er den Beschluss zur Qualitätsverbesserung der Briketts mit „einer edelmütigen Regung“ (46) begründet. Das klammert nicht nur den Widerspruch zwischen der Figurenrede Zidewangs (vgl. 40) und dessen Charakterisierung durch die Fabel aus, sondern auch den aufgrund der Änderung der Mehrheitsverhältnisse pragmatischen und nicht moralischen Hintergrund des Beschlusses. Auch Jäger spricht dem Faktor Liebe jedes „Moment von Gesellschaftlichkeit“ ab. Vgl. Jäger: Der Dramatiker Peter Hacks, S. 46. Ulrich Profitlich erkennt hingegen einen „potentiellen sozialen Gehalt“. Profitlich: Menschen unserer Zeit, S. 37. 242 So forderte die 3. Parteikonferenz der SED im März 1956 „die Erziehung der Menschen zum sozialistischen Bewußtsein zu verbessern und dadurch eine bedeutende Entwicklung der Produktivkräfte zu erzielen“. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED: Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung in acht Bänden. Bd. 8: von 1956 bis 1963. Berlin 1966, S. 24. Und in den „10 Geboten der sozialistischen Moral“ heißt es: „Du sollst gute Taten für den Sozialismus vollbringen.“ Hermann Weber (Hg.): DDR. Dokumente zur Geschichte der Deutschen Demokratischen Republik 1945–1985. München 1986, S. 237. Dementsprechend wurden die „vulgär-materialistische[ ]“ Betonung des „Bereicherungstrieb[s] und […] Geschlechtstrieb[s]“ und die Darstellung des Egoismus als „Wesenszug des Menschen“ kritisiert. Alexander Weigel: Der Fall „Die Sorgen und die Macht“. Dokumente aus der Kulturabteilung des ZK der SED. In: ARGOS (2010), H. 6, S. 69 u. Kähler: Aktuelles Thema – noch nicht bewältigt, S. 7. 243 „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.“ GBA 2, 284. 244 „Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt.“ MEW 13, 9.

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bzw. schlägt die Zuneigung in prosozialistisches Engagement um, so dass Fidorra am Ende erkennt, „was richtig ist“. (77)245 Die eigentliche Lösung des ökonomischen Problems wird im utopischen Bild des Kommunismus – „die Fülle der Welt, den Kommunismus / In den wir einziehen werden“ (61) – nur angedeutet. Sie steht im Widerspruch zur direkten materiellen Interessiertheit der ArbeiterInnen und stellt zudem „das Gegenteil“ (61) des gesellschaftlichen Status quo dar.246 Zwar wird die auf die Gegenwart bezogene Voraussetzung der utopischen Zukunft benannt: „Glück hat Macht nötig.“ (81) Die ‚Widersprüche zwischen dem Morgen und dem Heute‘ können so aber kaum vermittelt werden und wirken in ihrer scharfen Kontrastierung subversiv, auch wenn der Text aufgrund der am Ende glücklichen Liebe zwischen Stoll und Fidorra und deren Implikat des Verzichts als „‚Durchhaltedrama‘“ verstanden werden kann, in dessen Zentrum der „Aufschub von Bedürfnisbefriedigung“ steht.247 Das Produktionsstück, „das eine Liebeskomödie ist, die ein Weltanschauungsdrama vorstellt, das eigentlich ein Gesellschaftsstück darstellt“, droht angesichts seiner „totalen Dialektik“ – sowohl hinsichtlich der Fabel als auch der Figuren – „vor Widersprüchen zu bersten“.248 Um die Aussage, dass die verschiedene Ideologien in sich vereinigenden Exponenten der Übergangsperiode für den Sozialismus gewonnen werden können und die sozialistischen Produktionsverhältnisse Fortschritt ermöglichen, nicht zu subvertieren, sind Kommentare nötig. Ansonsten wird, wie die DDR-Rezeption des Textes zeigt, das die gesellschaftliche Tendenz verdeutlichende „Arrangement der Widersprüche“ zum „Wagestück“, wie es im Vorspiel der ersten Fassung heißt.249 Hacks etabliert daher einen internen (Vers und Kommentar) und einen externen Lenkungsmechanismus. Sie sollen den zentrifugalen Sinngehalt unter Kontrolle bringen.

|| 245 Die Wendung gegen die eigenen materiellen Interessen, wie überhaupt die harmonische Auflösung am Ende des Dramas ist von der Literaturwissenschaft verschiedentlich als „nicht überzeugend“ (Werner: Überlegungen zum Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, S. 48) und „aufgesetzt“ (Getzschmann, S. 116) kritisiert worden. Ulrich Profitlich erkennt hier allerdings vor dem Hintergrund der Gattungseinordnung die Anwendung eines „geläufige[n] ‚Komödien‘-Modell[s]“. Profitlich: Menschen unserer Zeit, S. 38. Siehe auch: Mittenzwei: Antikerezeption, S. 535. 246 Freuden statt Sorgen; Überfluss statt Mangel; Abrüstung statt Aufrüstung; Auflösung des Staates nach innen und außen statt Landesgrenzen und Bürokratie, Kopfarbeit statt körperlicher Arbeit. Vgl. 62. 247 Uwe Sand: Zukunft ohne Gegenwart. Zu den Stücken von Hacks, Müller, Braun und Lange. In: Volksbühnen-Spiegel 13 (1967), H. 3, S. 6 u. Schmidt: Zwischen Antimoderne und Postmoderne, S. 404. Vgl. Profitlich: Menschen unserer Zeit, S. 38. 248 Trilse: Das Werk des Peter Hacks, S. 129f.; HW 13, 38 u. Schmidt: Zwischen Antimoderne und Postmoderne, S. 400. Schmidt attestiert eine „dialektische Hypertrophie“. (S. 399) Hans-Georg Werner schreibt, in dem Drama werde die sozialistische Gesellschaft „mehr von Widersprüchen zerrissen als bewegt“. Werner: Überlegungen zum Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, S. 49. 249 RT 92 u. SORGEN 1, 4.

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Der interne Lenkungsmechanismus funktioniert formal, indem semantisch bedeutende Passagen des Haupttextes versifiziert werden und so die Aufmerksamkeit steuern.250 Der – theoretisch anhand von Müllers Umsiedlerin hergeleitete – dialektische bzw. gestische Jambus251 setzt als „formale Widerspiegelung von Produktionsverhältnissen“ ein „Erwartungsschema“, das jeweils erfüllt und unterlaufen wird. So transformieren sich „inhaltliche Akzente in formale Akzente“ und der Vers wird gestisch.252 Entsprechend weckt die berühmte und später von der Kulturpolitik beanstandete Rede Emma Holdefleiss’ zu Beginn des ersten Verses die Erwartung eines Jambus und weicht dann durch die Prosodie sowie die vor und nach ‚Kommunismus‘ erzwungene Zäsur ab. Die HörerInnen/LeserInnen werden drei Verse lang hingehalten, bis der vierte Vers schließlich die Spannung auflöst und in den Jambus übergeht:253 u — u u u — u — — — Kollegen, Kommunismus, wenn ihr euch — u u — — u u —u — u Den vorstelln wollt, dann richtet eure Augen — u — u u — u — u — Auf, was jetzt ist, und nehmt das Gegenteil; u — u — u — u — u — Denn wenig ähnlich ist dem Ziel der Weg. (61f.)

Gleichzeitig verwendet Hacks interne Kommentare zur Herstellung von Kohärenz. Missverständnisse potentiell „[un]einsichtige[r] Beurteiler“ sollen so minimiert, einzelne Aspekte und zeitgenössische Ereignisse in ein affirmatives Rezeptionsschema integriert werden.254 Auch die „von Hacks anvisierte Interpretation des Stücks“ wird

|| 250 Siehe die Seiten 9f.; 51; 53ff.; 61f.; 64ff.; 78 u. 80f. Auch in den ersten beiden Fassungen sind solche Passagen bereits versifiziert. 251 Siehe hierzu Kap. 4.2.2. 252 HW 13, 44 u. 40. 253 Ich folge hier den Ausführungen Wolf Gerhard Schmidts, der allerdings die Zäsur im ersten Vers ignoriert und den ganzen Vers als Jambus auffasst. Vgl. Schmidt: Zwischen Antimoderne und Postmoderne, S. 396. Für metrische Hinweise danke ich Felix Bartels. 254 HW 15, 131. Siehe den Reflexionsmonolog des Generatorenwarts über den Zusammenhang von ArbeiterInnen, Arbeiterbewegung und Arbeiterklasse (50f.), die Rede des Parteisekretärs der Glasfabrik über die Ereignisse in Ungarn (53ff.) sowie die Rede des Arbeiters Kickull über die Kosten der Revolution. (78) Im Nebentext der ersten beiden Fassungen übernimmt auch ein Walter Ulbricht-Zitat, das auf den Titel „Die Sorgen und die Macht“ verweist, diese Funktion. Vgl. SORGEN 1, o.S. u. SORGEN 2, 3.

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derart gesteuert.255 Das zeigt sich besonders anhand der ersten beiden, wesentlich didaktischer gestalteten Fassungen des „belehrenden und widersprüchlichen“256 Stücks. So verknappt Hacks die Rede Kickulls während der Produktionsberatung im fünften Akt entsprechend der „Verdrängung scholastischer Methoden zugunsten von poetischen“257 und stellt sie deutlicher in den Kommunikationszusammenhang des Dramas. In den ersten beiden Fassungen hingegen, in denen der Parteisekretär Twardowski die Passage spricht, werden die Schrecken des Kapitalismus („Ausbeutung, Militärzwang, Krieg“) als Gegenbilder zum Sozialismus geschildert, um die Forderung nach „[b]ewußte[r] Disziplin der Arbeit“ anzuschließen.258 Wie auch in der letzten Szene, in der Stoll „eine politische Ansprache“ ad spectatores hält und auf das dialektische „glückliche Gesetz der Zeit“ („Jede Sache geht vom Schlechten über zum Guten, nämlich zum Sozialismus“) verweist, zielt Hacks in den früheren Fassungen auf eine politisch eindeutige Vermittlung.259 Diese Funktion übernehmen vor allem Prolog und Epilog, die die Fabel je nach Fassung unterschiedlich perspektivieren. Betont Hacks in der ersten Fassung die historische Dialektik als erfolgreich bewältigte und immer wieder neu zu bewältigende positive Herausforderung: Drum lobt das Schwere, lobt nicht nur das Leichte, / Das Unvollkommne lobt, nicht das Erreichte, / Weil es, Vollkommnres zu erreichen, zwingt / Und uns, mehr als wir sind zu sein, abringt / Und jeden treibt, daß er nach Neuem strebt. / Wer ausgesorgt hat, hat doch ausgelebt,260

so zeigt er in der zweiten Fassung den Widerspruch zwischen Eigennutz und Solidarität als Scheinwiderspruch, der sich auflöse, wenn die Gesellschaft den „bürgerliche[n] Eigennutz“ „für immer“ an die Kette lege und an seine Stelle „proletarischer […], behirnter Eigennutz“ trete – und somit der Weg vom „Ich“ über das „Wir“ zum „Alle“ gangbar werde.261 In der ersten Fassung bestreiten Tragödie, Historie und Komödie als Reminiszenz der gattungsästhetischen Diskussionen über den Tod der Tragödie das allegorische Vorspiel, das bereits zur dramatischen Handlung überleitet und deren Auflösung im guten Ende vorwegnimmt. Der Versuch der Tragödie, sich als Stärkste der Gattungen || 255 Jäger: Der Dramatiker Peter Hacks, S. 59. Siehe den resümierenden Reflexionsmonolog von Emma Holdefleiss in der Parteiversammlung der Brikettfabrik, der die herrschaftslogisch kompatible Zentralbotschaft „Glück hat Macht nötig“ (81) formuliert. 256 SORGEN 2, 67. 257 HW 15, 135. „Ich streiche das Wort ‚Sozialismus‘, wo immer ich es treffe, und setze jedesmal an seine Stelle einen Gedanken; auch verbessere ich stark die Fabel und die Verse.“ DWF 33 (Peter Hacks an Heinar Kipphardt, 25. Mai 1961). 258 Vgl. HW 3, 78 u. SORGEN 1, 66 bzw. SORGEN 2, 62; hier auch die Zitate. 259 SORGEN 1, 68ff. bzw. SORGEN 2, 64f. 260 SORGEN 1, 71. 261 SORGEN 2, 5 u. 67.

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zu setzen und die anderen von der Bühne zu vertreiben, scheitert, weil die Komödie sich mit der „die Allmacht der Geschichte“ repräsentierenden Historie solidarisiert. Angesichts dieser Übermacht stürzt sich die Tragödie, Hacks’ eigenes Postulat („Die Tragödie ist tot“)262 nachvollziehend, „in ihr Messer“ und wird, was selbst wiederum eine Parodie auf die Tragödie darstellt, feierlich von der Bühne getragen. Sodann überlässt die Komödie der Historie unter Verweis auf deren Realismusgehalt den Platz: „Erschüttre sie mit Wahrheit, Schwester, heut. / Morgen bin ich’s, der scherzend sie erfreut.“263 Die Historie spricht im didaktischen Epilog denn auch das bereits zitierte Schlusswort. Die zweite Fassung stellt ein anderes, wenngleich ebenfalls allegorisches Personal vor. Ein als pars pro toto auftretender Arbeiter präsentiert dem Publikum den in Ketten gelegten bürgerlichen Eigennutz, der sich gegen die Verurteilung als Erzeuger von Ungleichheit zu verteidigen sucht und als eigentlicher Beweger der Menschheit darstellt, auf den „[a]lle Veränderung und Verbesserung der Welt“ zurückgehe. Als der Eigennutz seine Ketten zerreißt, muss der Arbeiter eingestehen, dass dieser durchaus „noch Sorgen“ bereite und „gefährlich“ sei. Er kündigt dem Publikum ein Experiment an, dessen Ausgang bereits entschieden ist: gezeigt wird „der ganze Kampf und unser [der Arbeiterklasse, R.W.] Sieg“. Das mehr den Verzicht betonende Modell, das den produktiven Gebrauch des Egoismus durch dessen Umschmelzen in Klassenbewusstsein veranschaulicht, wird so verstärkt und die Transgression eingeschränkt. Im Epilog betont der Arbeiter nicht nur die „ganz neue Welt“ des Sozialismus, sondern beendet das Drama auch mit der Parole: „Es lebe die Solidarität der internationalen Arbeiterklasse“.264 Der Text macht auf diese Weise ein an den offiziellen Diskurs potentiell anschließbares Rezeptionsangebot. Die Verschiebung der Prolog- und Epiloghandlung von gattungsästhetischen (erste Fassung) zu stärker politischen Fragen (zweite Fassung) muss indes nicht als „Glättung unbeliebter Textpassagen“ aufgefasst werden.265 Der Prolog der dritten Fassung des Dramas zeigt vielmehr, dass der interne

|| 262 HW 15, 133. 263 SORGEN 1, 3 u. 4. Die dritte Fassung, die die Gattungsbezeichnung „Stück“ trägt, kann dementsprechend als Komödie aufgefasst werden, und zwar als Komödie aristophanischen Typs, in der die kleinen, partikularen Ziele des Helden von „riesig[er]“ Wirkung sind. HW 13, 61. Vgl. Profitlich: Menschen unserer Zeit, S. 36. Auch kündigte sich das für Aristophanes typische Fest am Ende des Stücks bereits an. Vgl. 82. 264 SORGEN 2, 5, 6 u. 67. 265 Günther Rüther: „Greif zur Feder, Kumpel“. Schriftsteller, Literatur und Politik in der DDR 1949– 1991. Düsseldorf 1991, S. 109. Hacks selbst hat einem solchen Vorwurf widersprochen (vgl. AEV 33) und argumentiert, dass die skandalösen Stellen des Stücks allesamt der dritten Fassung entstammen. Vgl. FR 58f. Hinsichtlich der Holdesfleiss-Rede, die in der dritten Fassung deutlich schärfer ausfällt, trifft das zu. Es gilt aber nicht für die Rede des Parteisekretärs Kunze und dessen Vorschlag, Emma

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Kommentar auch in sich wieder subvertiert werden kann. Denn die den nunmehr versifizierten und anonym gesprochenen Prolog abschließende Prosapassage verweist nicht mehr auf die politisch wünschenswerte Rezeptionshaltung gegenüber der Dramenhandlung, sondern auf den spezifisch ästhetischen Modus des Sprechens im Drama, die autonome „Stimme des Dichters“ (8). Zudem greift der Prolog die Schwierigkeiten mit der Kulturpolitik bei der Entstehung des Textes selbst auf. Die „Stimme des Dichters“ ist als „Nelkenfeld am östlichen Rand des Himmels“ nicht nur die Stellvertreterin der Utopie; sie ist auch „die Trommel der Unbotmäßigen“ und „die Höllenmaschine unter dem Molkenmarkt“ (8), eben jenem Ort, an dem das DDR-Kulturministerium seinen Sitz hatte. Neben den internen tritt ein externer Lenkungsmechanismus, der Ersteren stützt. So hat die ästhetische Essayistik Hacks’ nicht nur eine diskursive und autoreflexive Funktion, sondern hilft zugleich, „Lücken“ im dramatischen Texten zu füllen.266 Wie zu jedem vor dem Ende der DDR verfassten anderen Hacks-Drama267 existiert auch zu Die Sorgen und die Macht ein externer Kommentar. Dieser rückt allerdings nicht die Widersprüchlichkeit des Textes in eine kohärente Sicht, bleibt in dieser Hinsicht also schwach, sondern begründet die Existenz der drei Fassungen mit produktionsästhetischen Argumenten.268

3.3.2.6 Heiner Müller: Zehn Tage, die die Welt erschütterten Heiner Müllers frühe Dramentexte werden forschungsübergreifend zum Didaktischen Theater gezählt. Dominant ist die Ansiedlung des Plots in der industriellen Arbeitswelt des im Entstehen begriffenen Sozialismus. Auf die daraus resultierenden Widersprüche konzentrieren sich bereits Müllers erste Stücke Der Lohndrücker, Die Korrektur (zwei Fassungen) und die dem affirmativen Typus zuzurechnende „Hörfolge“ Klettwitzer Bericht 1958 [1957/58].269 Des Weiteren zu nennen ist die szenische || Holdefleiss als seine Nachfolgerin zu wählen. Betonen die ersten beiden Fassungen die Differenz zwischen alter und junger Generation („Eine junge Genossin. Ich bin alt. / Mein Leben hab ich ehrlich zugebracht / Im Kampf gegen das Alte. Aber es / War zu viel Altes in mir.“ [SORGEN 1, 67 bzw. SORGEN 2, 63]), so wird diese in der dritten Fassung zugunsten der Kenntnis der Weg-Ziel-Dialektik zurückgenommen; nicht das Alter, sondern die Klugheit liefert nun die Begründung. Die Generationenfrage war in der DDR ein brisantes Thema. So erhielt Wolf Biermann für sein Gedicht „An die alten Genossen“ Auftrittsverbot. Das Gedicht fordert, was die dramatische Handlung von Die Sorgen und die Macht umsetzt: „Setzt Eurem Werk ein gutes Ende / Indem ihr uns / Den neuen Anfang laßt!“ Wolf Biermann: Alle Gedichte. Köln 1995, S. 19. 266 RT 92, Anm. Vgl. Schmidt: Zwischen Antimoderne und Postmoderne, S. 397. 267 Ausnahmen sind Stücke, die Hacks unter Pseudonym verfasste, sowie kleinere Texte, denen er offenbar nur geringe Bedeutung zusprach. 268 Vgl. HW 15, 135. 269 Die Umsiedlerin sperrt sich einer Zuordnung zum Didaktischen Theater und wird gesondert diskutiert. Siehe hierzu Kap. 4.3.

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Reportage Zehn Tage, die die Welt erschütterten [1956/57], die als Auftragsarbeit der Volksbühne zum 40. Jubiläum der Oktoberrevolution entstand. Die gemeinsam mit Hagen Mueller-Stahl und Inge Müller verfasste Szenenfolge orientiert sich an John Reeds gleichnamiger Reportage.270 Als literarisches Vorbild kann Brechts Die Tage der Kommune [1949] gelten.271 In lose miteinander verbundenen Bildern werden Ereignisse der Oktoberrevolution und Fragen der Machteroberung und Machtsicherung dargestellt. Der Charakter der Historie ist zugunsten agitatorischer Szenen, die auf die Gegenwart zielen, zurückgedrängt. Der dramatischen Verknappung stehen ein großes dramatisches Personal und zahlreiche Spielorte gegenüber.272 In Anlehnung an das Piscator-Theater funktioniert der Text wie eine Collage und arbeitet mit Filmen und Projektionen.273 Die einzelnen Szenen tragen dem epischen Theater entsprechend thematische Überschriften. In ihrer teilweise unmittelbaren didaktischen Zuspitzung funktionieren sie unabhängig voneinander: So lehrt die „Lektion über Pressefreiheit“, dass deren Kriterium nicht der freie Verkauf der Ware ‚Zeitung‘, sondern das Kriterium wahr/falsch sei. (99f.) Als Klammer der Szenen fungiert ein von einem antibolschewistischen Studenten gesprochener Prolog: Sozialismus? Bürgerkrieg! […] Die Kommissare sagen Brot und verteilen Gewehre. Sie sagen Frieden und stürzen die Regierung. Nicht Brot, Bajonette kriegt ihr in den Wanst. Sozialismus geht nicht mit Gewalt. Ich bin Marxist, ich weiß Bescheid, ich habe Bernstein gelesen (68),

sowie ein nicht eigens gekennzeichneter Epilog. In der ersten Szene wird dem durch die Lektüre Eduard Bernsteins als Revisionisten gekennzeichneten Studenten paradigmatisch „[e]in Marxist“ (68) gegenübergestellt. Die beiden ersten Auftritte setzen so die zentrale und komplexitätsreduzierende Didaxe des Textes: Der Sozialismus lässt sich nicht ohne Gewalt aufbauen. Wer das Gegenteil behauptet, ist ein Feind. Es

|| 270 Vgl. John Reed: Zehn Tage, die die Welt erschütterten, hg. von Willi Schulz. Berlin 1957 u. MW 3, 65ff. Die Seitenangaben werden im Folgenden in Klammern angegeben. Die Mitarbeit Inge Müllers ist aufgrund eines längeren Krankenhausaufenthaltes „bei weitem nicht so intensiv“ zu veranschlagen wie bei anderen Texten. Hilzinger: Das Leben fängt heute an, S. 109. 271 Vgl. Peter Zimmermann: Industrieliteratur der DDR. Vom Helden der Arbeit zum Planer und Leiter. Stuttgart 1984, S. 143ff. So ist die Szene „DYNAMIT“ Brechts „Bank von Frankreich“-Szene direkt angeglichen. Vgl. GBA 8, 287ff. (insb. S. 288, Z. 5f. u. S. 290, Z. 10f.) und S. 101ff. (insb. S. 101 u. S. 103). 272 So besteht die Szene 3b neben Regieanmerkungen aus einem einzigen dürren Dialog: „FÄHNRICH: Entwaffnen! […] ROTGARDISTEN: CTOŨ (Stoi!)“. (76f.) 273 Vgl. Marianne Streisand: Frühe Stücke Heiner Müllers. Werkanalysen im Kontext zeitgenössischer Rezeption. Phil. Diss. Akademie der Wissenschaften. Berlin 1983, S. 5. Das veranlasste die Kritik, die „Bilderzählung“ dem Film zuzuordnen. Neef: Unweise Schreibweise, S. 28.

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gibt nur zwei Klassen: „Wer nicht auf der einen Seite ist, der ist auf der anderen.“ (69)274 Die Signatur der Revolution auf den Körpern/Seelen der Individuen und der Preis für die unabwendbare Gewalt des Neuen werden später zu den beherrschenden Themen der Müller’schen Dramatik. In Zehn Tage, die die Welt erschütterten ist die Dynamik der Gewalt noch gebremst. Das letzte Wort hat der Student, der den Untergang des roten Russlands ankündigt, während seine Rede durch eine projektierte Weltkarte, die den sich vergrößernden sozialistischen Machtbereich anzeigt, konterkariert wird. Im Vordergrund steht die politische Botschaft. Der Student selbst erfährt keine Gewalt. Die Lenin-Rede in der vorletzten Szene verdeutlicht allerdings deren Notwendigkeit. Die Verurteilung führender Bolschewiki durch Lenin275 wird als Rebellion einiger Intellektueller bewertet, der hart entgegengetreten werden müsse: „Wir denken nicht daran, uns dem Ultimatum kleiner Intellektuellengruppen zu unterwerfen […].“ (108) Damit ist bezüglich der Bühnenhandlung die Verbindung zu dem Studenten hergestellt; gleichzeitig wird ein breiter Raum für Kontextschlüsse im Rahmen der kommunistischen Geschichte nach 1917 eröffnet und positiv konnotiert: von der Einführung des Fraktionsverbots 1921, über die Säuberungen ab 1936 und die Niederschlagung des Ungarnaufstands, bis hin zur Verhaftung Wolfgang Harichs und Walter Jankas in der DDR.276 Die Gestaltung eines für die UdSSR zentralen und sinnstiftenden Ereignisses auf Grundlage eines kanonisierten Textes277 ist eindeutig affirmativ. Die Szenenfolge, die am 22. November 1957 im Rahmen der Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der Oktoberrevolution uraufgeführt wurde, verweist handlungslogisch und erinnerungspolitisch auf eine der zentralen ideologischen Prämissen der DDR: die Freundschaft mit der

|| 274 Die Didaxe wird durch die Wiederholung noch verstärkt: „Es gibt zwei Klassen, das Proletariat und die Bourgeoisie.“ (68f.) Und am Ende von Szene 7c heißt es: „Die uns oder wir sie.“ (93) In seiner Entweder-oder-Logik findet der Text hier semantisch Anschluss an Ernst Fischers Der große Verrat [1948] und ist somit ganz selbstverständlich auch Positionierung im Kalten Krieg: „Mitten durch die Welt geht diese Linie. Man kann nicht mit einem Fuß diesseits und mit dem anderen jenseits stehen.“ Ernst Fischer: Der große Verrat. Ein politisches Drama in fünf Akten. Wien 1950, S. 31. 275 Die Rede bezieht sich auf den (kurzfristigen) Rückzug Kamenews, Sinowjews, Rykows und Miljutins aus dem Zentralkomitee bzw. als Volkskommissare. Sie hatten eine Mehrparteienregierung angemahnt und vor politischem Terror durch eine rein bolschewistische Regierung gewarnt. Vgl. Manfred Hildermeier: Geschichte der Sowjetunion. 1917–1991. Entstehung und Niedergang des ersten sozialistischen Staates. München 1998, S. 121f. 276 Vgl. Jost Hermand: „Zehn Tage, die die Welt erschütterten“. Müllers Bekenntnis zu Lenin. In: ders. u. Helen Fehervary: Mit den Toten reden. Fragen an Heiner Müller. Köln 1999, S. 193f. 277 Im „Vorwort zur amerikanischen Ausgabe“ schreibt Lenin, Reeds Buch gebe „eine wahrheitsgetreue und äußerst lebendige Darstellung der Ereignisse, die für das Verständnis der proletarischen Revolution und der Diktatur des Proletariats von größter Bedeutung sind“. Reed: Zehn Tage, die die Welt erschütterten, o.S.

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Sowjetunion. Zugleich plädiert der Text in seinem Gegenwartsbezug für einen „verschärften Leninismus“278, d.h. eine Beschleunigung und Intensivierung des sozialistischen Aufbaus gegen dessen ‚kleinbürgerliche‘ Gegner und setzt sich somit von der Bündnispolitik der SED ab. Zehn Tage, die die Welt erschütterten steht somit formal und semantisch im Kontext der Aufwertung der Agitprop und des Didaktischen Theaters. Im Vordergrund steht nicht ein auf „Emotionalität“ und „Pathos“ setzendes „würdige[s] Gedenken[ ]“, sondern die Agitation und die Dialektik, die in den Worten B. K. Tragelehns objektiven Charakter erhält: „[D]ie Unaufhaltbarkeit der sozialistischen Umgestaltung wird bewiesen aus den Widerständen, die da überwunden werden.“279 Der Widerspruch zwischen offizieller, staatstragender Erwartungshaltung und konkreter, zeitbezogener „moralische[r] Anwendbarkeit“ kam allerdings nicht zum Tragen, weil der Regisseur Hans Erich Korbschmitt „den Gestus des Stücks […] gründlich verfehlte“ und somit „dank seiner den Text entschärfenden Mittelmäßigkeit die Aufführung […] rettete.“280 Mit Zehn Tage, die die Welt erschütterten hatten „die neuen Stücke“ des Didaktischen Theaters erstmals die Bühnen der DDR erreicht; die Besprechung der misslungenen Inszenierung durch B. K. Tragelehn in Theater der Zeit endete dementsprechend positiv unter Verweis auf den „nächste[n] Schritt“, die Inszenierung von Helmut Baierls Die Feststellung durch Hagen Mueller-Stahl im Theater im 3. Stock (Volksbühne).281

3.3.2.7 Heiner Müller: Der Lohndrücker Helmut Baierls „Lehrstück“ Die Feststellung, am 27. Dezember 1957 in Erfurt uraufgeführt, wurde 1958/59 zu einem großen Theatererfolg.282 Die Erwartungen an Inhalt und Form, die Autoren wie Peter Hacks und Heiner Müller formuliert hatten, unterschritt das Stück, in dem die Fluchtgründe eines Bauern nach dessen Rückkehr in die DDR in wechselnden Rollen zur Reflexion aller Beteiligten und mit abschließender

|| 278 Hermand: „Zehn Tage, die die Welt erschütterten“, S. 194. 279 Tragelehn: Spielweise contra Schreibweise, S. 53, 54, 53 u. 52. 280 10 Tage, die die Welt erschütterten. Zu dem gestern in der Volksbühne aufgeführten Werk nach John Reeds berühmtem Buch. Gespräch mit Hagen Müller-Stahl. In: ND, 23. November 1957 u. Linzer: Wechselvoller Umgang mit einem Autor, S. 12. Siehe die scharfe Kritik an der Regie durch B. K. Tragelehn: Spielweise contra Schreibweise, S. 53ff. Insofern kann zwar hinsichtlich der allgemeinen Textthematik von einem „vorgängige[n] Wohlwollen“ (Girshausen: Realismus und Utopie, S. 35), keineswegs aber von einem „abgestimmten Vorgehen zwischen Partei und Theaterschaffenden“ im Kontext der „auf dem 30. Plenum des ZK der SED eingeleiteten ideologischen Offensive“ (Klatt: Erfahrungen des „didaktischen Theaters“, S. 44f.) gesprochen werden. 281 Die Inszenierung fand am 25. Januar 1958 statt. 282 Das von Baierl im Titel selbst als „Lehrstück“ bezeichnete Stück erlebte 1958/59 580 Aufführungen. Vgl. Mittenzwei u.a. (Hg.): Theater in der Zeitenwende. Bd. 2, S. 18.

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Harmonisierung durchgespielt werden, aber deutlich. Zwar thematisiert Baierl mit der Flucht relativ früh eines der zentralen Probleme der jungen DDR.283 Ökonomische Schwierigkeiten spielen innerhalb der Fabel aber keine Rolle. Der Konflikt wird vielmehr auf fehlende Kommunikation zurückgeführt: „Hätten wir über diese Dinge öfter gesprochen, wäre uns viel Ärger erspart geblieben.“284 Am Ende herrscht, wie der von einem Chor gesungene versifizierte (und damit das Mittel der Verfremdung ad absurdum führende) Schluss zeigt, „Vertrauen und […] Einigkeit“ zwischen Bevölkerung und Partei, deren Notwendigkeit zudem mit dem äußeren Feind begründet wird.285 Baierls agitativer Text, der Widersprüche explizit macht, um sie dann in kollektiver Synthese aufzuheben (und somit letztlich ihre Bedeutungslosigkeit anzeigt), zielt in seiner Didaxe auf Affirmation. ‚Lehrstück‘ ist der Text eigentlich nur durch die „Orientierung auf die Laientheaterbewegung“, in deren Umfeld bereits Baierls frühere Texte zu verorten sind.286 Heiner Müllers Lohndrücker,287 mit dem zusammen Die Feststellung am 23. März 1958 in Leipzig uraufgeführt wurde, funktioniert semantisch wie formal gegenteilig. Der Text entstand ursprünglich als Auftragsarbeit für den Rundfunk der DDR. Die Geschichte Hans Garbes, einer der ersten ‚Helden der Arbeit‘, der im Dezember 1949 einen defekten Ringofen bei laufender Produktion reparierte, um Produktionsausfälle so gering wie möglich zu halten und somit die Erfüllung des Zweijahresplans zu gewährleisten, war ein den AutorInnen von der SED in propagandistischer Absicht zur literarischen Bearbeitung „ans Herz gepreßt[er]“ Stoff.288 Mitte der 1950er Jahre war er bereits zahlreich aufgegriffen und verarbeitet worden, u.a. durch Brecht, der über einige Skizzen aber nicht hinauskam und das „Büsching“-Projekt [1950/56] angesichts der komplizierten Verhältnisse des DDR-Sozialismus abbrach.289

|| 283 Das Thema Republikflucht wird auch in einem anderen der didaktischen Theatertexte behandelt. Vgl. Herbert Keller: Begegnung 1957. In: JK 2 (1958), H. 6, S. 66–80. 284 Helmut Baierl: Stücke. Berlin 1969, S. 37. 285 Helmut Baierl: Stücke. Berlin 1969, S. 37. Die Schlusspassage lautet: „Weil wir feststelln, / daß es außerdem / auf der Welt noch gibt den Feind, / dem ein Zwist bei uns nur angenehm, / stehn wir in unserem Zwiste / mit der Leitung, / mit ihr fest vereint.“ (S. 38) 286 Klatt: Erfahrungen des „didaktischen Theaters“, S. 47. In einem Interview äußerte Baierl 1976 rückblickend: „Ich hatte vor, mindestens 20 solcher Lehrstücke mit dem Aufbau der Feststellung zu schreiben, darin auswechselbare Geschichten einzuspannen und sie den Laiengruppen zu geben, etwa mit der Haltung, nehmt das Schema und baut selber solche Geschichten hinein.“ Helmut Baierl: Gespräch mit Helmut Baierl. In: TdZ 31 (1976), H. 5, S. 58f. 287 Vgl. MW 3, 27ff. Die Seitenangaben werden im Folgenden in Klammern angegeben. Müller schrieb den Text gemeinsam mit Inge Müller. 288 So Heiner Müller 1995, zit. n.: Hauschild, S. 164. Siehe zur Biographie Hans Garbes: Stephan Bock: Die Tage des Büsching. Brechts „Garbe“ – ein deutsches Lehrstück. In: Profitlich (Hg.): Dramatik in der DDR, S. 41ff. 289 Vgl. GBA 10.2, 971ff. Siehe zum „Büsching“-Fragment: Schmidt: Zwischen Antimoderne und Postmoderne, S. 576ff. sowie Bock: Die Tage des Büsching, S. 69ff. Weitere Verarbeitungen: Eduard

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Was die SED propagandistisch als beispielgebende Arbeiter-Heldengeschichte inszenierte, bot von der Anlage her die Möglichkeit, die Widersprüche der jungen DDR zu zeigen. Müller thematisiert in Der Lohndrücker, marxistisch gesprochen, den Widerspruch zwischen Klassenbewusstsein an sich und für sich und stellt ähnliche Fragen wie Peter Hacks in Die Sorgen und die Macht: Wie gelingt es den ArbeiterInnen ein neues Verhältnis zur Arbeit und den nunmehr volkseigenen Produktionsmitteln zu finden? Wie bestimmt sich ihr Verhältnis zu Staat und Partei? Wie funktionieren die Widersprüche im übergangsgesellschaftlichen Spannungsfeld zwischen alt und neu. Wie werden die alten Verhaltensweisen durch die „neuen Situationen“290 für den sozialistischen Aufbau produktiv? Ins Zentrum des Textes rückt aber im Unterschied zu Hacks die Frage nach der Rolle der Vergangenheit, nach den Prägungen durch Faschismus und Widerstand, die die Realität des Aufbaus überlagern und in ihr fortwirken. Das Stück zielt ganz auf gesellschaftliche Parameter. Figurenpsychologie ist kaum vorhanden. Dominant sind die sozialen Funktionen der Figuren in einem widersprüchlichen Gesamtgefüge. Das verdeutlichen auch die fehlenden Vornamen und teilweise fehlenden Figurennamen. Szenen und Dialoge sind äußerst verknappt. Durch die Aufteilung des Geschehens „in ein verschlungenes System von Klein- und Kleinstszenen“291 und die Mehrdimensionalität der Handlungsführung, steht die Reparatur des Ringofens nicht im Zentrum des Textes.292 Das Zurücktreten der Fabel

|| Claudius: Vom schweren Anfang [1951] u. Menschen an unserer Seite [1951] sowie Karl Grünberg Der Mann im feurigen Ofen [1951], ebenso die Gedichte Paul Wiens’ „Hans Garbe spricht“ [1952] und Uwe Bergers „Siemens-Plania“ [1952]. 1952 erschien ein von Käthe Rülicke zusammengestellter Dokumentarband. Diesen nutzte Müller offenbar als Vorlage. Hier entnahm er nicht nur den Titel und die Sabotagegeschichten, sondern auch weitere Einzelheiten. Vgl. Käthe Rülicke: Hans Garbe erzählt. Berlin 1952, S. 49ff. Siehe zum Umgang Müllers mit den jeweiligen Vorlagen: Christian Klein: Heiner Müller ou l’idot de la république. Le dialogisme à la scène. Bern u.a. 1992, S. 5ff. 290 Brecht schätzte den Faktor Bewusstsein als Parameter des ‚neuen Menschen‘ gering ein und beharrte auf einer objektiven Dialektik: „In Wirklichkeit ist der neue Mensch der alte Mensch in den neuen Situationen, d.h. derjenige alte Mensch, der den neuen Situationen am besten gerecht wird, den die neuen Situationen nach vorn treiben, das neue Subjekt der Politik. Die neuen Aktions- und Reaktionsweisen konstituieren den ‚neuen Menschen‘.“ GBA 26, 448. Ähnlich auch Müller 1953: „Mit der Veränderung der Verhältnisse geht die des Verhaltens nicht parallel. Die das Neue schaffen, sind noch nicht neue Menschen. Erst das von ihnen Geschaffene formt sie selbst.“ MW 8, 54. 291 Norbert Otto Eke: Heiner Müller. Stuttgart 1999, S. 60. 292 Gleichwohl ist der Fabelzusammenhang nicht vollständig aufgelöst. Die ersten drei Szenen zeigen den allgemeinen historischen Kontext auf, sie führen aber auch bereits in den Konflikt ein. Im zweiten Teil (Szene 4–7) steht die Reparatur gerissener Ofendeckel, im dritten Teil (Szene 8–15) die Reparatur des kaputten Brennofens im Mittelpunkt. „Jeweils auf höherer Ebene wiederholen sich in diesen Teilen die in den vorangegangenen Abschnitten angesprochenen Probleme. Zugleich damit rückt Balke in den Mittelpunkt der Handlung.“ Eke: Heiner Müller, S. 70. Nach der Uraufführung hat Müller die Fabel durch die Streichung von drei Szenen (7b, 7c u. 12b), die räumlich vom Hauptort der

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trägt so dazu bei, den Text für verschiedene Lesarten zu öffnen. Der Autor will, so kündet es der Vorspruch programmatisch an, das Publikum zur Stellungnahme auffordern: Das Stück versucht nicht, den Kampf zwischen Altem und Neuem, den ein Stückschreiber nicht entscheiden kann, als mit dem Sieg des Neuen vor dem letzten Vorhang abgeschlossen darzustellen; es versucht ihn in das neue Publikum zu tragen, das ihn entscheidet.293

Der Lohndrücker ist kein agitatives Lehrstück, das auf eine Akzeptanz der Verhältnisse zielt. Im Sinne von Müllers Agitprop-Verständnis kann von einem teils affirmativen, teils subversiven „Kurs in Dialektik“ gesprochen werden.294 Der Text folgt keinem naturalistischen Abbild-Realismus, sondern liefert ein ästhetisch geordnetes Modell der Realität, dessen Plausibilität das Publikum koproduktiv herstellen muss, d.h. die verschiedenen Widersprüche der Handlung und der Figuren müssen synthetisiert werden. Insofern vermittelt der Text keine „diskursiv formulierte Lehre oder eine irgendwie gebotene Möglichkeit der Nutzanwendung“.295 Die Offenheit des Modells verlangt vielmehr, sich diesem gegenüber zu verhalten. Dessen historische Determination durch den Nationalsozialismus ist offensichtlich. Dies gilt nicht nur ökonomisch, wenn klargestellt wird: „Die Preise hier hat Hitler gemacht“ (31), sondern ist auch Voraussetzung der Versuchsanordnung, die das Stück entfaltet. Diese könnte, als Frage formuliert, heißen: Wie funktioniert der Aufbau des Sozialismus mit den vorhandenen (Arbeits-)Kräften vor dem Hintergrund der faschistischen Geschichte und der sowjetischen Hegemonie?296 Ausgangspunkt ist: Die ArbeiterInnen sind nur auf den je eigenen Vorteil bedacht und verhalten sich in der Mehrheit der SED und dem sozialistischen Aufbau gegenüber distanziert bis offen ablehnend.297 Die Funktionäre haben umgekehrt kein Vertrauen in die Arbeiter, un-

|| Handlung wegführen, noch einmal verstärkt. Vgl. Heiner Müller: Der Lohndrücker. Manuskript. Berlin 1957, S. 16f. u. 27. 293 MW 3, 536. 294 MW 8, 146. 295 Girshausen: Realismus und Utopie, S. 142. „Es war nie ein Agitprop-Stück, das ist ein Irrtum der Germanistik, vor allem der westlichen.“ MW 11, 856f. In der DDR wurde Der Lohndrücker allerdings auch als Text für „Agitationsbrigaden“ rezipiert, wie der dem Laienspiel gewidmete Anhang einer Ausgabe des Stücks von 1960 zeigt. Heiner Müller: Der Lohndrücker. Mit einigen Hinweisen zur Regie. Leipzig 1960, S. 49. 296 Die Sowjetunion bzw. die Rote Armee tritt im Stück selbst nicht auf, ebenso wenig andere Repressionsbehörden. Gleichwohl sind diese in den zahlreichen, im Nebentext durch „Schweigen“ und „Pause“ markierten Stellen präsent. An diesen Stellen kann die Phantasie des Publikums tätig werden. Sie sind zugleich „‚Leerstellen‘“, die den Text für „den theatralen Vorgang“ öffnen. Girshausen: Realismus und Utopie, S. 132. 297 „Der Arbeiter hat kein Vertrauen zur Partei.“ (42)

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terstellen ihnen, aktiv die Nazis unterstützt zu haben, oder nehmen sie rein funktional als Arbeitskräfte wahr.298 Die Aktivistentat Balkes bringt den Widerspruch in Bewegung. Das Ergebnis lautet: Einbindung der Arbeiter Balke und Karras in den sozialistischen Aufbau, Disziplinierung der Arbeiter durch die ‚revolutionären‘ Verhaltensweisen (Staats-)Gewalt und Privilegierung, Zurückstellung der negativen (historischen) Erfahrungen durch pragmatische Kooperation im Aufbauprozess.299 In diesem Zusammenhang greift der Text zahlreiche, subversiv wirkende Alltagsdiskurse auf. Weder der allgemeine Mangel, die schlechte Qualität der Konsumgüter, die Probleme der Norm, die entfremdete industrielle Arbeit noch die staatliche Repression werden ausgespart. Durch die Verortung der Handlung 1948/49, die dem Stück einen historischen Charakter gibt – ein Mittel, auf das auch Hacks in Die Sorgen und die Macht zurückgreift – wird die Subversion allerdings in einen kontrollierten Rahmen überführt. Nicht nur die Konflikte zwischen Arbeiterklasse und Partei, sondern auch die Erscheinungen des Mangels werden so vor der Kontrastfolie der Gegenwart Ende der 1950er Jahre abgeschwächt.300 In der 14. Szene, die im Vergleich den größten Raum im Stück einnimmt, wird indirekt der 17. Juni thematisiert. Der tabuisierte Stoff301 wird im Bild des Streiks aufgegriffen. Hintergrund sind die Wut über die staatliche Repression (Verhaftung Lerkas und des Brillenträgers), den Aktivisten Balke, die Normerhöhung und die schlechte Versorgung. Der Streik wird allerdings nicht durch Repression, sondern durch Autorität und Appelle beendet.302 Mit dem Streik ist auf die Fortschreibung Brechts verwiesen, in dessen „Büsching“-Fragment der 17. Juni ebenfalls eine Rolle spielt.303 Sieht man von der dialektischen Fabel- und Figurenführung ab, tritt die Differenz gegenüber Brechts Absichten aber klar hervor. Müllers Text funktioniert nicht

|| 298 „Granaten haben sie gedreht mit allen Vieren […]. Wenn du mich fragst: ich trau keinem.“ (42) Der BGL-Vorsitzende Schurek über Balke: „Unser bestes Pferd [meine Hervorhebung, R.W.]“. (42) 299 Letzteres zeigt sich sowohl an der Kooperation zwischen Balke und Karras als auch an dem Arrangement zwischen Balke und dem Parteisekretär Schorn. 300 Für Müller ist indessen klar, dass es sich um die „unmittelbare Gegenwart“ handelt. HMA, Nr. 3473, Bl. 10. 301 Siehe zum 17. Juni und dessen literarischen Verarbeitungen: Johannes Pernkopf: Der 17. Juni 1953 in der Literatur der beiden deutschen Staaten. Stuttgart 1982 u. Bundeszentrale für Politische Bildung: Prosa – Literaturliste. Der 17. Juni 1953 als literarischer Stoff in beiden deutschen Staaten. (17. Juni 1953. Projektsite), online unter: http://www.17juni53.de/material/prosa.html (zuletzt eingesehen am 15. April 2013). 302 „Geht an die Arbeit.“ (61); „Wollt ihr den Unternehmer wiederhaben“. (62) Nach Auskunft B. K. Tragelehns schrieb Müller das Stück ursprünglich wegen dieser Szene, „weil sich in ihr seine Erfahrungen mit dem 17. Juni 1953 verarbeiten ließen und auf diese Weise jenes Schlüsseldatum verschlüsselt darstellbar war.“. Zit. n.: Henning Rischbieter: Der Lohndrücker. In: HMH, S. 245. 303 Vgl. GBA 10.2, 971 u. 973. Im Arbeitsjournal heißt es: „Wir [Brecht u. Eisler, R.W.] besprechen einen ‚Garbe‘ […] mit einem vollen Akt über den 17. Juni.“ GBA 27, 349. Siehe zu Brechts Position zum Aufstand des 17. Juni: Hecht: Die Mühen der Ebenen, S. 164–193.

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als Parabel und verweigert sich weitestgehend einem ideologischen Narrativ, das Brecht als notwendig ansah und formal durch Chöre zu stützen plante. Gleichwohl zielt Müllers Text ebenfalls auf „Größe“ ab, die „durch Verknappung“ hergestellt werden soll.304 Wie die gesamte Handlung, so sind auch die Figuren widersprüchlich angelegt. Balke entspricht keinem ‚Helden der Arbeit‘. Er fungiert nicht als Identifikationsfigur des sozialistischen Aufbaus, sondern eher als „Lernobjekt“.305 Müller zeichnet ihn zwar prosozialistisch,306 aber Balke argumentiert nicht ideologisch/moralisch, sondern ökonomisch: Intensivierung der Arbeit = mehr Konsum und mehr Güter.307 Im Gegensatz zu einigen Arbeitern setzt er kein Gleichheitszeichen zwischen Kapitalismus und Sozialismus.308 Deshalb versteht Balke sich nach der Übererfüllung der Norm um 400 Prozent auch nicht als „Lohndrücker“ und „Arbeiterverräter“. (43) In seinen Augen sind dies die anderen Arbeiter. Sie drücken den Lohn, weil sie die Verbesserung und Vervielfachung der Produktion behindern.309 Balke bezahlt die Aktivistentat mit der Isolation im Betrieb. Sein Engagement trennt ihn von den übrigen Arbeitern, die die höheren Leistungen verweigern, weil sie dem vorgeblich demokratischen Volkseigentum misstrauen und sich fragen: „wer schöpft ab?“ (44) Müller stellt das von Beginn des Textes an szenisch dar: In der zweiten Szene, in der Balke zum ersten Mal auftritt, schweigt er zunächst; (31) den ersten

|| 304 Brecht plante Chöre, „um die Gesamtzusammenhänge der Gesellschaft zum Ausdruck“ zu bringen. GBA 10.2, 1279. Die Müller-Zitate entstammen einer handschriftlichen Selbstverständigung über den Text, die Müller wahrscheinlich in Vorbereitung auf ein Gespräch mit dem Deutschen Theater verfasste; die Überschrift lautet „Punkte f. Kipph[ardt]/Langhoff“. HMA, Nr. 3473, Bl. 10. 305 Greiner: Von der Allegorie zur Idylle, S. 90. Die „Helden der Arbeit“ sollten „die Idee des Sozialismus personifizieren“. Rainer Gries: Die Heldenbühne der DDR. Zur Einführung. In: Silke Satjukow u. ders. (Hg.): Sozialistische Helden. Eine Kulturgeschichte von Propagandafiguren in Osteuropa und der DDR. Berlin 2002, S. 85. Siehe zum Arbeiter-Bild in der DDR: Simone Barck u. Dietrich Mühlberg: Arbeiter-Bilder und Klasseninszenierung in der DDR. Zur Geschichte einer ambivalenten Beziehung. In: Peter Hübner (Hg.): Arbeiter im Staatssozialismus. Ideologischer Anspruch und soziale Wirklichkeit. Köln/Weimar/Wien 2005, S. 163–189. 306 Sieht man sich allein die Textpassagen Balkes an, so argumentiert dieser erkennbar für den sozialistischen Aufbau. Müller hält sich hier weitgehend an die Dokumentation Hans Garbe erzählt. 307 „Wir müssen die Butter billiger machen“; „heftig: Besser arbeiten“ (33); „Ja, 400. Nach der alten Norm. Das muß ich abverlangen. Sonst kriegen wir die neue Norm nicht, die wir brauchen. Wenn man’s ihnen schwer macht, machen sie sich’s leicht.“ (41) Balke vertritt hier die gleiche Position zum Aufbau wie die SED, die aber in Orientierung auf das Bewusstsein argumentiert. Das übersieht Werner Mittenzwei, wenn er meint, Balkes Handlungsmotive seien nicht erkennbar. Vgl. Werner Mittenzwei: Die „exekutive Kritik“ des Heiner Müller. Das Frühwerk. In: Klaus L. Berghahn u.a. (Hg.): Responsibility and commitment. Ethische Postulate der Kulturvermittlung. Frankfurt/M. u.a. 1996, S. 195. 308 So Stettiner: „Unser Recht kriegen wir nie. Hier nicht. Egal, wer den Bonzen macht.“ (35) 309 „Wenn ihr von der neuen Norm nichts wissen wollt, wer drückt dann den Lohn, ihr oder ich?“ (44) Als Karras und Zehmke ihn zusammenschlagen, sagt Balke: „Ihr schlagt euch selber ins Gesicht.“ (55)

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Satz, den er im Stück spricht, richtet er an die Verkäuferin am HO-Stand: „Ein Pfund Butter“ (32), was, denkt man an die hohen Preise, seine Sonderstellung verdeutlicht. Hat sich Balke in Szene 6b als Aktivist erwiesen, der sich von den Kollegen nicht unter Druck setzen lässt, sie vielmehr dazu aufruft, es ihm gleichzutun, wird in der Anschlussszene Balkes Verhalten im Nationalsozialismus thematisiert und so mit der für die junge DDR wichtigen Erzählung des heldenhaften antifaschistischen Widerstands kontrastiert. Damit unterläuft Müller jede mögliche Identifikation. Schon in Szene 6a hatte der Parteisekretär Schorn kurz über seine Erfahrung mit Balke in der NS-Kriegsindustrie berichtet: „Er hat mir unters Beil geholfen 44.“ (42) Nun zeigt sich, dass Balke Schorn denunziert hatte. (45)310 Mit der Thematisierung der Denunziation wird Balkes spätere Denunziation des Brillenträgers (59) vorbereitet und kontrastiert. Was im ersten Fall Verrat war, ist nun aktives prosozialistisches Verhalten.311 Die moralischen Maßstäbe eines „oberflächlichen Liberalismus“312 – wie in Hoffmann von Fallerslebens geflügeltem Wort „Der größte Lump im Land, das ist und bleibt der Denunziant“ ausgedrückt – werden so materialistisch suspendiert. Die Figur Balkes kann insofern parallel gelesen werden zu Müllers These, „dass „[b]eim Aufbau der Grundlagen des Sozialismus […] manche alte Eigenschaft nützlich [ist]“ und gebraucht wird, „um Verhältnisse zu schaffen, in denen sie absterben muß.“313 So können Balkes Eigenschaften (Verzichtslogik und extreme Leistungsorientierung), die auch für das militärische Aufrüstungsprogramm des Nationalsozialismus nützlich waren, nun im Sozialismus ihr Potential entfalten.314 Das aber hat eine Kehrseite, denn Balke ist nicht einfach nur ‚nützlich‘, er ist unverzichtbar: „Es hängt viel von ihm ab, zu viel.“ (56)315 Damit ist die Frage aufgeworfen, ob das Ergebnis den Preis lohnt. Denn der Sozialismus wird nicht nur mit Kräften aufgebaut, die seinem politischen Kern gegenüber indifferent sind, der Aufbau verlangt auch, dass die Frage nach der moralischen Eignung der Akteure ausgeblendet wird. Das aber läuft auf eine Verdrängung der Denunziationserfahrung des Parteisekretärs Schorn hinaus: „Wer hat mich gefragt, ob

|| 310 Balkes Aktivistentat auch auf die „Bemühung“ zurückzuführen, „seine Schuld der Denunziation von 1944 auszugleichen“ (Rischbieter: Der Lohndrücker, S. 244), scheint angesichts der Müller’schen Figurenzeichnung allerdings kaum plausibel. 311 Umgekehrt ist, was im Kapitalismus als Wahrnehmung der eigenen Interessen gilt (die Rücksichtslosigkeit gegenüber dem Eigentum), im Sozialismus „Sabotage“ (40) und bringt „acht Jahre“ (49) Gefängnis. 312 Hans Jürgen Geerdts (Hg.): Deutsche Literaturgeschichte in einem Band. Berlin 1966, S. 364. 313 MW 8, 55. Gleichzeitig gilt, wie die Positionen der Gegner Balkes zeigen, dass ‚alte‘ Eigenschaften wie Bummelei und andere plebejische Einstellungen unnütz werden. 314 So äußert Schorn über Balke: „Ich habe mit ihm in der Rüstung gearbeitet, Handgranaten. Seine Handgranaten waren immer in Ordnung. Er war ein guter Arbeiter. Er hat die Aufrüstung nicht sabotiert.“ (56) 315 Vgl. Zimmermann: Industrieliteratur der DDR, S. 157.

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ich mit dir arbeiten kann?“ (64) Schorn kooperiert nach anfänglichem Widerstand zwar mit Balke, die Zusammenarbeit ist aber rein pragmatisch. In Hacks’ Die Sorgen und die Macht zeigt sich die SED als durch innerbetriebliche Konflikte und Karrieredenken zersplittert. Im Lohndrücker sind sich die Funktionäre weitgehend einig, auch wenn manche wie der BGL-Vorsitzende und „Arschkriecher“ (35) Schurek vor allem Parolen verbreiten und der Verschleiß der Parteisekretäre durch Alkoholismus und Flucht in den Westen hoch ist. Deutlich benannt wird der durch den Nationalsozialismus bedingte Graben zwischen Partei und ArbeiterInnen, der aber nicht ausschließlich auf den Opportunismus der ArbeiterInnen gegenüber den Nationalsozialisten, sondern ebenfalls auf die Feigheit der kommunistischen Führung nach 1933, die „den Kopf nicht hingehalten“ (54) hat, zurückgeführt wird.316 In der letzten Szene, die ursprünglich den Titel „Solidarität“ trug,317 etabliert Müller eine die bis dahin entfaltete Dialektik kanalisierende Perspektive. Auch Balke, der sich weigert mit Karras zusammenzuarbeiten, da dieser den ‚Lohndrücker‘ zusammengeschlagen hat, besinnt sich auf die pragmatische Maxime.318 Die Reparatur des Ringofens, die bildlich für den schweren Weg in den Sozialismus steht und durch die Sabotage fast scheitert, kann weitergehen. Gleichwohl verweist die letzte Szene auf die Fragilität des Projekts und somit die Offenheit der Geschichte: „Wir haben nicht viel Zeit.“ (64) Das Stück etabliert somit keine positive Erzählung vom gelingenden Aufbau des Sozialismus, sondern macht auf dessen untergründige, aus der Vergangenheit (Stalinismus und Nationalsozialismus) resultierende Probleme aufmerksam: Misstrauen der ArbeiterInnen gegen die Regierung und mangelnde Demokratie auf der einen, Misstrauen der Opfer des Nationalsozialismus gegenüber den ‚angepassten‘ ArbeiterInnen, die an der Seite der Nationalsozialisten (oder doch zumindest nicht gegen diese) an der Vernichtung des Sozialismus mitgearbeitet haben, auf der anderen Seite. Ob der durch eine beschleunigte industrielle Entwicklung erhoffte Wohlstand diese Gräben zuschütten und zur Lösung der Probleme beitragen kann, bleibt jenseits der am Ende stehenden Frage, ob die Zeit dafür ausreichen wird, offen. Damit thematisiert Der Lohndrücker indirekt einen tragischen Hintergrund des sozialistischen Aufbauprozesses, der sich sowohl als personale Tragik der beteiligten Individuen (Isolation Balkes, Hintanstellung der NS-Erfahrung Schorns) als auch als gesellschaftliche Tragik des sozialistischen Projekts darstellt. || 316 Vor dem Hintergrund der Dokumentation Hans Garbe erzählt zeigt sich die Spezifik der Müller’schen Perspektive: Sie nimmt durch die Betonung der Vergangenheit wesentliche Widersprüche der jungen DDR-Gesellschaft in den Blick, schwächt aber gleichzeitig die Widersprüche innerhalb der Partei sowie der Betriebsleitung ab. Die Probleme, die Garbe mit Gewerkschaftsvertretern und Funktionären wie beispielsweise mit dem Parteisekretär hatte (vgl. Rülicke: Hans Garbe erzählt, S. 73f.), werden innerhalb der Fabel zugunsten des Vergangenheits-Narrativs ausgeblendet. 317 Vgl. Ludwig: Eine Geschichte aus der Produktion, S. 118. 318 „Ich frag dich nicht aus Freundschaft. Du mußt mir helfen.“ (64)

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Die Dialektik des Lohndrücker, die entgegen der autoritativen Geste des epischen Theaters Brechts – „Verehrtes Publikum, los, such dir selbst den Schluß! / Es muß ein guter da sein, muß, muß, muß!“319 – die Suchbewegung des Publikums nicht zu steuern versucht und eher auf eine Vertiefung denn auf eine Lösung der im Text skizzierten Probleme hindeutet, kann als grundsätzliche Kritik des sozialistischen Aufbaus gelesen werden. Eine solche Schlussfolgerung scheint angesichts Müllers politischer Positionierung Ende der 1950er Jahre allerdings als fraglich.320 Andererseits entspricht das Stück sichtlich keinem „aufbauend, optimistische[n] Beitrag“, wie Heiner Müller rückblickend selbst urteilte.321 Der Text kann in seiner Ambivalenz insofern als „konstruktiv-kritische[r] Ansatz“ gewertet werden.322

3.3.2.8 Heiner Müller: Die Korrektur In ähnlicher Weise lässt sich Müllers im Anschluss an Der Lohndrücker verfasstes Stück Die Korrektur bestimmen, bei dem die Konflikte und Widersprüche nicht mehr „auf der Ebene des Wiederaufbaus einer ruinierten Wirtschaft ausgetragen werden, sondern auf der höheren Plattform des sozialistischen Aufbaus“.323 Müller schrieb das Stück, das sich mit dem Aufbau des Braunkohlenkombinats Schwarze Pumpe beschäftigt, gemeinsam mit Inge Müller nach mehreren Besuchen im Kombinat im Sommer 1957 zunächst als Hörspiel im Auftrag des Rundfunks der DDR. Ein Jahr später entstand nach offizieller Kritik wegen ‚Schwarzmalerei‘ eine zweite, „auf positiven Vordermann gebracht[e]“ Fassung, die zusammen mit Der Lohndrücker am 2. September 1958 am Maxim Gorki Theater uraufgeführt wurde.324

|| 319 GBA 6, 279. 320 So verweist Müller 1988 in einem Gespräch darauf, dass er Ende der 1950er Jahre durchaus noch die Ansicht vertreten habe, die Fabriken in der DDR gehörten den ArbeiterInnen. Vgl. Müller: Müller MP3, Track 49, Min. 9:48ff. 321 MW 12, 741. 322 Ludwig: Eine Geschichte aus der Produktion, S. 109. 323 MW 8, 136. 324 KoS, Typoskriptfassung, zit. n.: Hauschild, S. 137. Siehe zu den beiden Fassungen: MW 3, 109ff. u. 127ff. Die Seitenangaben werden im Folgenden in Klammern und je nach Fassung mit römischer Ziffer angegeben. Die Hörspiel-Fassung wurde vom Rundfunkkomitee der DDR zurückgewiesen, erschien aber dennoch in ndl. Im Kombinat Schwarze Pumpe wurde die bereits produzierte Fassung Arbeitern, Ingenieuren und Funktionären vorgespielt. Obschon in dem Text „sehr viel Wahrheit“ erkannt wurde, lautete die Kritik, das Positive sei zu wenig betont. Aus dem Protokoll einer Diskussion über „Die Korrektur“ im Kombinat „Schwarze Pumpe“. In: ndl 6 (1958), H. 5, S. 32. Heiner und Inge Müller wurde zwar zugestanden, „Widersprüche aufzuspüren und die Möglichkeit und Notwendigkeit ihrer Lösung zu gestalten“, der Text aber allgemein als abträglich empfunden, „bei der Klärung von Rolle und Funktion eines Parteimitglieds im Leben unserer Gesellschaft zu helfen“. Hans Dieter Mäde: Die Neufassung. In: ndl 7 (1959), H. 1, S. 122f.

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Der Text über eine der Großbaustellen des Sozialismus, die, wie in Lohndrücker der Ofen, als Allegorie des Aufbaus fungiert, zeichnet keine sozialistische Idylle der Arbeitswelt, auch wenn der literarische Produktionsvorgang – AutorInnen gehen in die Produktion, um dort der Arbeiterklasse den Puls der Zeit zu messen – die Anforderungen des 1959 ausgerufenen Bitterfelder Wegs beispielhaft vorwegnimmt.325 Auf einer Baustelle des Kombinats kommt die Arbeit durch Bürokratisierung und fehlendes Material ins Stocken, so dass die Norm nicht erfüllt werden kann. Da der neue Brigadier Bremer, ein ehemaliger KZ-Häftling, der als Funktionär wegen linkssektiererischen Fehlverhaltens in die Produktion strafversetzt wurde, die Beteiligung an der „Normenschaukel“ (I 112), also der Fälschung der Leistung auf dem Papier, trotz Druck und Gewalt verweigert, wird schneller und schlechter gearbeitet. Der Betrug wird verlagert. Das Ergebnis ist: Eines der Fundamente rutscht ab. Bremer macht dafür zunächst einen Ingenieur verantwortlich, muss dann aber einsehen, dass seine Brigade die Schuld trägt und sich bei dem Ingenieur entschuldigen. Schließlich wird die Brigade neu organisiert, allerdings ohne Bremer, der seinen Posten als Brigadier verliert. Der leitmotivische Titel verweist auf unterschiedliche Kontexte: Korrigiert wird das falsche Verhalten der Brigade (und somit die Norm) sowie das Verhalten des Kommunisten Bremer. In der zweiten Fassung wird im Epilog „[a]uf dem Bauplatz zwischen Hoang-Ho und Elbe“ sogar der ‚Lauf der Welt‘ korrigiert. (II 146) Die Korrektur bedeutet aber keine dauerhafte Lösung der Probleme, die sich am Beispiel von Bremer zwar als ideologisch-moralische erweisen, grundsätzlich aber ökonomisch und bürokratisch fundiert sind.326 Wie bereits in Der Lohndrücker wird die Frage gestellt, wie und mit wem der Sozialismus aufgebaut wird. Das Modell ist aber anders perspektiviert. Die historische Dialektik, die Gegenwart und Vergangenheit als Einheit auffasst und voraussetzt,

|| 325 Der im Rahmen der Bitterfelder Kampagne für einige AutorInnen charakteristische „Praxisschock“ (Rüther: „Greif zur Feder, Kumpel“, S. 92) betraf allerdings nicht die AutorInnen, sondern die FunktionärInnen. So berichtet Heiner Müller über eine Versuchsaufführung für Funktionäre und geladene Gäste, bei der auch der ‚Held der Arbeit‘ Hans Garbe sprach: „Garbe stand also bei der Diskussion […] auf und sagte: ‚Also, Genossen, ich möchte mal sagen, es war noch viel schlimmer. ‘ Dann erzählte er wüste Geschichten. Wie er nicht nur von seinen Kollegen, sondern auch vom Parteisekretär fast gekillt worden war wegen seiner Aktivistentat, wie ihn die Partei behindert hat und alles mögliche, dagegen war das Stück harmlos. Die Funktionäre waren peinlich berührt und ignorierten die Störung.“ KoS 116. 326 So ist der Normenbetrug auf Ausfallzeiten wegen fehlenden Materials und schlechter Planung zurückzuführen: „Die Wartezeiten drücken auf den Lohn, wir drücken dagegen.“ (I 113) Und die schlechte Planung hat ihren Grund in der zentralistischen Organisation des Gesamtsystems: „[W]ir können da nichts unternehmen ohne Rücksprache mit Berlin.“ (I 116)

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dass das Verhalten in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus das Verhalten in der Gegenwart präfiguriert,327 offenbart sich am Beispiel Bremers als gesellschaftliches Problem, das pragmatisch ausgeblendet werden muss, will man es sich „leisten, den Sozialismus auch mit Leuten aufzubauen, die der Sozialismus nicht interessiert“. (I 124) Bremer und der Parteisekretär stehen für zwei unterschiedliche Positionen im Aufbaudiskurs: Für Bremer gehört die Nazivergangenheit „zur Sache“. (I 122) Der Parteisekretär vertritt dagegen die Position, dass der Sozialismus „auch mit solchen Händen“ aufgebaut werden muss, „die sich für Hitler gerührt“ haben (I 123), insbesondere den ‚bürgerlichen Händen‘ der technischen Intelligenz. Aus seiner Perspektive sind „die alten Waffen“ (I 129) des Klassenkampfs stumpf, weil sich die Unterscheidung „rechts und links“ (I 124) als überflüssig erweist. Die Entgegensetzung der beiden Haltungen wird im Stück in eine absolute Dialektik überführt, die sich durch einen stetigen Wechsel von (kultur-)politischer Erwartungserfüllung und -abweichung auszeichnet328 und am Ende zwar der Position des Parteisekretärs Recht gibt, deren schmerzhafte Aspekte im Kontext der „Schwierigkeit, Funktion und Person zur Kongruenz zu bringen“, aber nicht ausblendet.329 Das wird auch mittels der Form betont, die den beständigen semantischen Umschlag durch den Wechsel dramatischer und epischer Szenen abbildet und das Publikum durch schnelle Schnitte und Leerstellen zu „ergänzender Sinnkonstitution“ auffordert.330 Der Text legt dar, dass Bremer sein Verhalten den gegebenen Verhältnissen des Aufbaus anpassen, d.h. Rücksicht auf die ‚bürgerlichen Hände‘ nehmen muss. Die von vornherein tragisch angelegte Figur – Bremer muss sich in der Produktion bewähren, weil er „einem Nazi in die Fresse geschlagen“ (I 111) hat – wiederholt aber den gleichen Fehler: Aus klassenmäßigem Vorurteil macht Bremer einen Ingenieur für das Absacken des Fundaments verantwortlich.331 Seine Haltung ist subjektiv – und || 327 Dementsprechend werden in den epischen Szenen die jeweiligen Personalgeschichten einzelner Figuren „[g]eradezu zwanghaft“ (Marianne Streisand: Die Korrektur. In: HMH, S. 236) vorgestellt. 328 Das zeigt sich verdichtet in der „Erzählung des Ingenieurs Martin E.“ (I 114f.) und der „Erzählung des Arbeiter Heinz B.“ (I 116ff.) Einerseits werden technische und ideologische Rückständigkeit und Betrug thematisiert, anderseits wird verdeutlicht, dass die Arbeit in einem volkseigenen Betrieb besser ist als in einer Privatfirma, wo die Arbeiter „mit dem Betrieb verheiratet“ sind und „Überstunden […] nicht bezahlt [werden]“. (I 117) 329 MW 8, 137f. Anhand dieser Bemerkung Müllers zeigt sich die Problematik des heteronomen externen Kommentars zur Korrektur. In diesem bezieht sich die ‚Schwierigkeit‘ auf den Widerspruch von Produktionstechnik und Gesellschaftstechnik („Produktionsverhältnisse“), wird also ökonomisch rückgebunden. In der ersten Fassung des Textes steht aber nicht der ökonomisch-soziale, sondern der politisch-historische Widerspruch im Zentrum. 330 Buddecke u. Fuhrmann, S. 439. Die Sprache ist darüber hinaus wie schon im Lohndrücker verknappt. Dominant sind asyndetisch gereihte parataktische Sätze und Ellipsen. 331 „Es muß ein Fehler in der Zeichnung sein. Das kommt davon, daß sich die Intelligenz auf der Baustelle nicht sehen läßt. Wenn was passiert, weil sie sich nicht darum kümmern, geben sie den

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falsch. Er muss „zu Kreuze krieche[n]“ (I 124) und tut dies widerstrebend.332 Bremer erkennt in der Entstehung des Neuen aus dem Alten keine Einheit der Widersprüche, ihm erscheint der sozialistische Aufbau in politischer Hinsicht als Lüge, der er sich beugen muss. Die Partei reagiert trotz seiner Entschuldigung mit Härte. Bremer wird abgesetzt. Rücksichten angesichts der Repression im Nationalsozialismus werden nicht genommen. Der solcherart betonte Widerspruch – schließlich wird Bremer gedemütigt und gezwungen, seine Identität zu verleugnen, was sowohl den Parteisekretär als auch den Ingenieur mit Mitleid erfüllt333 – wird in der letzten Szene, deren Titel („Das Einverständnis“) auf Brechts Maßnahme [1931] verweist,334 in ein dialektisches Verhältnis gebracht. Der Gewinn des jungen Genossen Heinz B. verleiht der Herabsetzung Bremers Sinn und gibt dem Text die Perspektive einer möglichen Lösung der Konflikte. Das Stück lässt sich insofern im Kontrast zur Maßnahme als „Lehrstück[ ] ohne tödlichen Ausgang“335 bezeichnen, das den humanen Fortschritt der Verhältnisse verdeutlicht. Der Gesamttext sperrt sich aber nicht nur deshalb gegen eine schematische Affirmation, weil die Tragik Bremers trotz des Einverständnisses, das er nun erfährt, als Rest bleibt und die Brutalität des sozialistischen Aufbaus sogleich im Verhältnis zwischen Bremer und dem jungen Genossen Heinz B. kenntlich gemacht wird.336 Es bleibt auch unklar, ob das „gute[ ] End[e]“ (II 129) aus Sicht der Partei nicht falsch motiviert ist. Aus dem Text geht nämlich nicht eindeutig hervor, ob der Parteieintritt von Heinz B. nicht gerade das fehlerhafte Verhalten Bremers zum Vorbild hat.337 Dann hätte nicht die Rationalität des Aufbaus, sondern die subversive Logik des Klassenkampfes mit ihrer klaren Freund-Feind-Bestimmung überzeugend gewirkt; und der

|| Arbeitern die Schuld. […] Ich habe acht Jahre im KZ gesessen. In der Zeit habt ihr euch den Bauch gefüllt und Bomber konstruiert für Hitler. […] Wir müssen aufbauen, was ihr kaputt gemacht habt.“ (I 121) 332 Bezeichnend ist, dass die Entschuldigung Bremers brieflich und innerhalb einer der epischen und nicht der dialogischen Szenen erfolgt. Vgl. I 125. 333 „PARTEISEKRETÄR […] Ich konnte verstehen, daß er nicht verstand, was die Partei von ihm verlangte.“ (I 123) „INGENIEUR C. Er tat mir fast leid.“ (I 125) 334 In der Maßnahme heißt es seitens des „jungen Genossen“ vor seiner Erschießung: „Im Interesse des Kommunismus / Einverstanden mit dem Vormarsch der proletarischen Massen / Aller Länder / Ja sagend zur Revolutionierung der Welt.“ GBA 3, 125. Dramatische Ausgangssituation und Folge differieren aber. In Die Korrektur handelt es sich weder um eine revolutionäre Situation, noch endet das Einverständnis als Ergebnis der Durchsetzung der Linie der Partei letal, auch wenn solche Folgen rhetorisch angedroht werden. Vgl. I 126. 335 Genia Schulz: Heiner Müller. Stuttgart 1980, S. 31. 336 „BREMER Wenn es [das Fundament, R.W.] wieder absackt, zerbrech ich dir den Schädel. Einverstanden? / HEINZ B. Einverstanden.“ (I 126) 337 „HEINZ B. Ich will in die Partei eintreten, Brigadier. [...] Ich hab dem Major das Nasenbein zerschlagen. Wird das angerechnet auf die Kandidatenzeit?“ (I 125)

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Neuzugang der SED wäre – trotz des abermaligen dialektischen Umschlags: der sofortigen Disziplinierung durch Bremer, der sich nun die Logik der Partei zu eigen macht und somit die Korrektur seines Verhaltens nicht als Zwang äußerer Umstände, sondern als eigenständige Haltung erfahrbar macht338 – der Nukleus neuer korrekturbedürftiger Probleme. Die Fabel bildet so ein dialektisches Bewegungsgesetz der Partei ab, das die Abweichung als notwendige Voraussetzung der Entwicklung setzt.339 Neben dem bei Müller dominanten Thema der in der Gegenwart präsenten Vergangenheit und den systemischen Problemen des sozialistischen Aufbaus (Ökonomie und Bürokratie) verweist Die Korrektur in der räumlich ausgreifendsten Szene „Fundamente“ auf die verschiedenen Klassen und Gruppen der jungen DDR-Gesellschaft. Gezeigt wird hier allerdings nicht die „abgebrochene Kommunikation zwischen ‚Oben‘ und ‚Unten‘“340, sondern das prekäre Verhältnis der gesellschaftlichen Gruppen untereinander. Die Priorisierung des Aufbaus des Kombinats – „das Wichtigste zuerst“ (I 119) – führt zu Verwerfungen zwischen den Ansprüchen der Bauern und der ArbeiterInnen sowie innerhalb der Geschlechter. Müller thematisiert an dieser Stelle gesellschaftliche Probleme, die im Aufbaudiskurs minoritär sind: einerseits die Bauern, die Land abgeben müssen, das sie nach 1945 erhalten haben, und die zudem im speziellen Fall des Kombinats Schwarze Pumpe Sorben sind und rassistisch diskriminiert werden;341 andererseits die Frauen, die auch im „gemäßigten Patriarchat“342 Objekt bleiben und deren Leistungen nicht als gleichwertig anerkannt werden. Dass der Sozialismus diesen Objektstatus möglicherweise perpetuiert statt ihn sukzessive aufzuheben, verdeutlicht das Bild der im Fundament vermauerten Frau.343 Damit ist auf ein grundsätzliches Geschlechterproblem verwiesen. Dessen Sprengkraft wird im drastischen Bild der vermauerten Frau zwar angedeutet, innerhalb der Fabel aber

|| 338 „Wir sind die herrschende Klasse. Unsere Waffe ist der Staat. […] Weißt du, auf was du dich da einläßt. Da wird viel verlangt. Wenig Bier, mehr Arbeit. Bis an den Bauch im Dreck, wenn es sein muß. Aufstehn, wenn du fällst, und wieder aufstehn, wenn du wieder fällst. Und glaub nicht, daß dabei ein Posten abfällt.“ (I 125) Selbst in dieser neuen Haltung Bremers bleibt ein Rest des Gestus der alten, denn die Schilderung der Parteiarbeit erscheint verklärt und insofern unrealistisch, als für Parteifunktionäre in der Regel eben doch ‚ein Posten abfällt‘. 339 Vgl. Schulz: Heiner Müller, S. 31. 340 Streisand: Die Korrektur, S. 236. Das Gespräch zwischen ‚Oben‘ und ‚Unten‘, das zeigt die Produktionsberatung, bei der die einzelnen Probleme und Ansprüche zu Wort kommen, findet sehr wohl statt. 341 Auch hier ist das Verhältnis also wiederum historisch aufgeladen: „DER HEISERE Halt uns nicht auf. Wir haben mehr zu tun, als dein Gejammer anzuhören, Pollack. / DER BAUER Ich bin Sorbe. / DER HEISERE Das ist dasselbe. / DER BAUER Pollack haben die SS zu mir gesagt. Jetzt heißt es Sorbe.“ (I 120f.) 342 Jörn Schütrumpf: Freiheiten ohne Freiheit. Die Deutsche Demokratische Republik. Berlin 2010, S. 105. 343 „DIE FRAU Wir sind nicht wichtig, was? Warum vermauert ihr uns nicht gleich in euer Fundament?“ (I 120)

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noch als Teil eines Problembündels verhandelt und zudem in den Kontext der Systemkonkurrenz gestellt: Im Sozialismus kann die Frau arbeiten, im Kapitalismus muss sie sich prostituieren.344 Im Hörspiel Die Weiberbrigade [1960] wird Inge Müller später die Frage, inwieweit die Frauen zum „Material für den Aufbau“ werden und wie sich ihre spezifischen Widersprüche in der sozialistischen Produktion gestalten, in den Vordergrund rücken.345 Im Gegensatz zur ersten Fassung der Korrektur, deren Didaxe ähnlich wie beim Lohndrücker durch die koproduzierende Leistung des Publikums hergestellt werden muss, stellt die unter kulturpolitischem Druck entstandene zweite Fassung eine „opportunistische Variante“ dar.346 Formal wird der Wechsel zwischen dramatischen und erzählenden Szenen zu Lasten der reflektierend-epischen zurückgenommen. Lücken innerhalb des Plots werden durch Streichungen und Ergänzungen geschlossen und der didaktische Charakter durch interne Kommentare (Prolog und Epilog) verstärkt. So nimmt der Prolog bereits das positive Ende vorweg und teilt eine konforme didaktische Formel mit: „Wir zeigen wie eine von tausend Brigaden / (Und es ist nicht die beste) klug wird durch Schaden. / Wir hoffen, unser Spiel beweist: / Dumm ist, wer sich selber bescheißt.“ (II 129)347 Aus dem „offenen ästhetischen ‚Versuchsfeld‘“348 der ersten Fassung wird so ein ‚objektiver‘ Prozess, der die potentielle Koproduktion des Publikums einschränkt. Der Plot wird in entscheidenden Punkten enthistorisiert: Bremer tritt nunmehr ohne KZ-Vergangenheit und lediglich als neuer Brigadier auf, der die ihm anvertraute Brigade optimieren soll. Dadurch wird der Text zum Produktionsstück, in dessen Mittelpunkt die Brigade Bremer steht. Damit korrespondiert die Vereindeutigung der dialektischen Interpretation durch Müller im externen Kommentar, der den

|| 344 Die Aussage der Frau während der Produktionsberatung wird kontrastiert durch die Erzählung von Heinz B. über seine Ex-Freundin: „Jetzt ist sie […] im Westen. Als Schlosserin kommt sie da nicht an, als Hure ja.“ (I 117) 345 Hilzinger: Das Leben fängt heute an, S. 136. Die Weiberbrigade entstand zunächst als Hörspiel. 1958 beteiligte sich Inge Müller mit einigen szenischen Entwürfen für ein Stück an dem Wettbewerb des Henschel Verlags, an dem auch Peter Hacks mit Die Sorgen und die Macht teilnahm. Das Exposé unter dem Titel „Die Frage“ wurde mit 1500 DM prämiert. Ein fertiges Stück, das Inge Müller für das Deutsche Theater verfassen sollte, kam aber nicht mehr zustande. Aus der Vorlage entstand 1969 Heiner Müllers Weiberkomödie. Vgl. Geipel: Dann fiel auf einmal der Himmel um, S. 226f. u. Hilzinger: Das Leben fängt heute an, S. 152f. 346 Streisand: Die Korrektur, S. 236. 347 Die ‚opportunistische Variante‘ wird allerdings formal zumindest insofern unterlaufen, als zu Beginn alle Schauspieler aus der Rolle treten und einander gegenseitig dem Publikum vorstellen. Vgl. II 129. 348 Girshausen: Realismus und Utopie, S. 259.

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zentrifugalen Sinngehalt zusätzlich reduziert: Der „Mißbrauch des Normprinzips“ bedingt die „Durchsetzung des Normprinzips“.349 Im Epilog wird die Fabel geschichtsphilosophisch verallgemeinert. Das Modell ‚Eine Brigade wird klug durch Schaden‘ erhält so einen Legitimations- und Motivationsrahmen: Auf die Straße geworfen vom Kapital / In die Panzerschlachten, hinter Stacheldraht, / Von der Partei in den Kampf um Energie und Kohle […] / Auf dem Bauplatz zwischen Hoang-Ho und Elbe / Mit Beil und Bagger, mit Schaufel und Großkran, / Fluchend und stolpernd und ohne Aufenthalt, / Links und links im Schritt der Fünfjahrpläne / Reißen wir aus der krepierenden alten / Die neue Welt. (II 146)

Auch wenn die Opfer fordernde Gewalt des historischen Prozesses hier zumindest noch intertextuell präsent ist,350 hat Müller doch die auf das Individuum bezogene tragische Dimension der ersten Fassung zurückgenommen und eine grundsätzlich positive globale Perspektive etabliert. Die Betonung des Fortschritts zeigt sich nicht zuletzt anhand der bereits in Hinblick auf die mit Lohndrücker gekoppelte Aufführung geschriebenen „Parallel-Episoden“351 und den Vorstufen des Prologs: „Vor zehn Jahren hatten wir nichts zu lachen / Heute können wir große Sprünge machen! / Vor zehn Jahren wurden wir nicht satt / Heute bauen wir ein Industriekombinat!“352 Heiner Müller hat die zweite Fassung der Korrektur im Rückblick abgewertet und sich von seinem eigenen Text distanziert. Dieser sei „unsäglich“ und „nur als Dokument interessant“.353 Auch der im Anschluss an Die Korrektur verfasste, die Solidarität der Bevölkerung im Rahmen des sozialistischen Aufbaus betonende, agitative Text Klettwitzer Bericht 1958 [1957/58] erschien Müller im Nachhinein als „furchtbares

|| 349 MW 8, 137. Eine solche Bewegungsform, in der die Negation in sich bereits die Anerkennung voraussetzt, präsentiert Hacks im Müller von Sanssouci dramatisch, wenn Friedrich II. äußert: „Das Volk bescheißen, das ist schon der halbe Parlamentarismus.“ HW 2, 241. 350 Das verdeutlicht der intertextuelle Bezug auf Wladimir Majakowskis „Linken Marsch“ mit der berühmten Zeilenfolge „Links! / Links! / Links!“. In diesem heißt es auch: „Du / hast das Wort, / rede, Genosse Mauser.“ Wladimir Majakowski: Ausgewählte Gedichte und Poeme. Deutsche Nachdichtungen von Hugo Huppert. Berlin 1953, S. 33. 351 Schivelbusch, S. 107. Im Lohndrücker reißt ein junger Mann das Plakat „SED – Partei des Aufbaus“ (MW 3, 30) ab. Nunmehr wird der Major durch den Arbeiter Franz K. daran gehindert, das Plakat „Werktätige! Die Sozialistische Einheitspartei ist eure Partei!“ abzureißen. Vgl. II 145. 352 Zit. n.: Streisand: Die Korrektur, S. 238. Ähnlich lautet der Prolog der Druckfassung von 1959: „Sie haben gesehen, wie’s 1949 war: / Dünn das Bier, der Tabak rar. / Mehr produzieren das Gebot der Stunde, / Aber den ersten bissen die Hunde. / Sie haben’s gesehen. Sie wissen, / Wo der Stein blieb, den sie auf ihn schmissen. / Wenn wir jetzt die Bühne drehn, / Werden wir sieben Jahr’ weiter sehn: / Die in Trümmern hausten und waren nicht satt, / Bauen ein Industriekombinat.“ Zit. n.: MW 3, 541. 353 KoS, Typoskriptfassung, zit. n.: Hauschild, S. 137 u. KoS 113. Der unreine Reim des letzten Verspaares im obigen Zitat mag diese Distanz verdeutlichen.

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Opus“.354 Müllers spätes Selbsturteil verstellt allerdings den Blick auf dessen „enormes Engagement“, das er, laut Urteil von Frank Hörnigk nach der Sichtung des Nachlasses, bei der Produktion des Textes an den Tag legte.355 Der sich hierin ausdrückende Widerspruch ist Ausdruck von Heiner Müllers früher Autorenposition, die sich zwischen einer kritischen Reflexion des sozialistischen Aufbauprozesses und dem literarischen Engagement für diesen im Rahmen des Didaktischen Theaters bewegt und sich in Müllers Texten in verschiedener Weise niedergeschlagen hat.

|| 354 KoS 112. 355 MW 3, 542. Vgl. MW 3, 147ff.

106 | Hacks und Müller als häretische Gruppe im literarischen Feld

3.4 Hacks und Müller: Eine Gruppe im Feld? Peter Hacks und Heiner Müller positionieren sich in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre eindeutig für den Aufbau des Sozialismus und verweisen positiv auf die kommunistische Arbeiterbewegung. Ihre ästhetischen Äußerungen und Theatertexte, die Erscheinungen des Autoritarismus und (aus ihrer Sicht) falsche Zugeständnisse an eine bürgerliche Tradition bemängeln, zielen auf konstruktive Kritik. Bisweilen sind ihre literarischen Äußerungen aber auch pure Affirmation, was neben den Dramentexten Ein guter Arbeiter und Zehn Tage, die die Welt erschütterten vor allem die frühen Gedichte und Lieder bezeugen, die die neue Macht des proletarischen Staates preisen, auf den Platz der Intellektuellen an der Seite der Arbeiterklasse verweisen oder die revolutionäre Gewalt loben.356 Damit bewegen sich Hacks und Müller im Mainstream des literarischen Feldes, wie die frühen Gedichte anderer Autoren zeigen.357 Kritik des Stalinismus und Lob der ‚neuen Zeit‘ gehen nahtlos ineinander über und bilden keinen Widerspruch. Das ist durchaus typisch für die jüngeren Angehörigen der dritten Schriftstellergeneration der DDR, die, vom Kommunismus träumend, „voll Eifer, mit Mißtraun / Parteibeschlüsse, Ministerreden, Klassikerzitate“ studierten, wie es in B. K. Tragelehns Gedicht „An K.“ [1956] heißt.358 Peter Hacks’ und Heiner Müllers Texte und ästhetische Positionierungen wurden in den vorangegangenen Unterkapiteln im Kontext des Didaktischen Theaters diskutiert, das wie auch die Brecht-Schule keine einheitliche Gruppe bildet. Als literarische generationenspezifische Strömung ist das Didaktische Theater äußerst heterogen. Das verdeutlicht die Differenz zwischen den Theatertexten Hacks’ und Müllers auf der einen und Helmut Baierls auf der anderen Seite: Nach der Ansicht von Hacks und Müller hatte Baierl mit Die Feststellung eine „Brechtparodie“ von „trostloser Niveaulosigkeit“ und „äußerster Schönfärberei“ verfasst, bei der die Realität der DDR „einfach durchfällt“.359

|| 356 Vgl. Peter Hacks: Streiklied nach Herwegh. In: JK 2 (1958), H. 12, S. 71; Peter Hacks: Der Tod des Heraklit. In: JK 2 (1958), H. 1, S. 47–48 u. MW 1, 46f. Siehe auch: Peter Hacks: Agitprop. 357 Vgl. B. K. Tragelehn: Das Beispiel (für Junge Pioniere). In: JK 2 (1958), H. 8, S. 39 u. Adolf Endler: Winterliche Notizen. In: JK 2 (1958), H. 12, S. 1. 358 B. K. Tragelehn: Nöspl. Gedichte. 1956–1991. Basel 1996, S. 11. Siehe zu den AutorInnen-Generationen der DDR: S. 19, Anm. 12. 359 DWF 34 (Peter Hacks an Heinar Kipphardt, 25. Mai 1961); DWF 59 u. 34 (Peter Hacks an Heinar Kipphardt, 28. Mai 1962 u. 25. Mai 1961) u. MW 10, 77.

Hacks und Müller: Eine Gruppe im Feld? | 107

3.4.1 Frühe Differenzen Die Abgrenzung gegenüber dem affirmativen Flügel des Didaktischen Theaters kann nicht verdecken, dass auch zwischen Peter Hacks und Heiner Müller Differenzen existieren. Das betrifft zunächst die Sprache der Figuren, die jenseits Brechts von der Prägung durch unterschiedliche literarische Vorbilder zeugt.360 Müllers Dialoge sind elliptisch, die Figuren erscheinen als wortkarg, gesprochen wird nur das Nötigste, während die dramatische Handlung ihren Platz in den Zwischenräumen des Schweigens hat. Entsteht so ein den proletarischen Settings angemessener sprachlicher Naturalismus, verfügen die Figuren Hacks’ im Gegenzug über „die Sprache des Autors“.361 Ihr sprachliches Vermögen ist unabhängig von ihrer Klassenposition; Proletarier und Plebejer sprechen in Bildern, die jenseits ihres Bildungshorizonts liegen. Zudem übernimmt bei Hacks die Sprache die Funktion der Entlarvung, indem diese auf den Widerspruch von Figurenpräsentation und Figureninteresse verweist. Mögen solche Differenzen der jeweiligen intellektuellen Biographie, mithin dem Habitus, geschuldet sein – im Gegensatz zum promovierten Peter Hacks studierte Heiner Müller nie –, so verdeutlichen sie doch auch zwei unterschiedliche Linien der Brecht-Rezeption. Denn Hacks und Müller orientieren sich zwar beide am großen Vorbild, meinen aber nicht immer den gleichen Autor. Müllers Sprache verweist auf den frühen Brecht der Lehrstücke, Hacks’ auf den mittleren und späten Brecht der Parabeln. Die je spezifische Brecht-Rezeption der beiden Autoren drückt sich auch hinsichtlich der Geschlossenheit der Texte aus. Hacks’ Texte verfügen über eine geschlossene Fabel. Die Kindermörderin und Der Müller von Sanssouci sind historische Parabeln über die Funktionsweise von Klassengesellschaften, die dem einzelnen Individuum und dessen Bedürfnissen und Nöten keinen Raum lassen. Über eine geschlossene Fabel verfügt auch das Gegenwartsdrama Die Sorgen und die Macht. Zwar werden die DDR-Verhältnisse als unvollkommen dargestellt, eine positive Dialektik garantiert aber die Bewegung der Widersprüche hin zum Besseren, ganz im Sinne des „glückliche[n] Gesetz[es] der Zeit“,362 für das auch die erfüllte Liebe am Ende des Stücks einsteht. Im Mittelpunkt des Textes steht die Aufklärung über die (bei den historischen

|| 360 Franz Graf von Pocci, Nestroy und George Bernhard Shaw sowie allgemeiner Heine und Thomas Mann (vgl. NIR 78 u. HW 15, 288) stehen bei Müller Heinrich von Kleist, Georg Büchner, Franz Kafka und Ferdinand Bruckner gegenüber. Vgl. Hans-Thies Lehmann: Deutsche Literatur (Müller und die Tradition). In: HMH, S. 123–129 u. Frank Hörnigk: Gruppenbild, Landesschule Sachsen der FDJ. Radebeul, 1949. In: Storch (Hg.): Explosion of a Memory, S. 191. 361 FR 39. Das hat die Funktion „sich herzuzeigen“. FR 39. Der Sprachgestus ist für Hacks wie die Fabel eine Möglichkeit, seine Haltung zur Welt auszudrücken, während das Gesagte inhaltlich die Haltung der Figuren ausdrückt. 362 SORGEN 2, 65.

108 | Hacks und Müller als häretische Gruppe im literarischen Feld

Stücken negativen, bei den Gegenwartsstücken positiven) gesellschaftlichen Potenzen und deren Hintergründe. Demgegenüber sind Müllers frühe Texte, sieht man von der eindeutig affirmativen Szenen-Collage Zehn Tage, die die Welt erschütterten ab, offener. Sie schließen nicht an die der Aufklärung verpflichteten Parabeln, sondern an die Lehrstücke Brechts an. Allerdings sind sie keine Lehrstücke in dem Sinne, wie die frühe westdeutsche Germanistik Müllers Texte auffasste; sie sind keine agitativen Texte, die die Errungenschaften der DDR preisen und auf Affirmation zielen.363 Sie basieren vielmehr insofern auf der Lehrstückstruktur, als sie wie Brecht in Der Jasager. Der Neinsager auf ein Problem aufmerksam machen, dessen Lösung sie analog zum Prolog des Lohndrückers zur Diskussion stellen. Mögen die in den Stücken aufgeworfenen Produktionsprobleme auch gelöst werden, so verbleibt doch ein Rest. Die Figuren müssen ihre Erfahrungen verleugnen und ihre Bedürfnisse hintanstellen. Müllers „Theater des Rests“364 stellt somit den Preis, der gezahlt werden muss, zur Diskussion. Dem Optimismus Hacks’ steht Müllers Skepsis gegenüber, die offen lässt, ob die erzwungenen Anpassungen den Aufbauprozess des Sozialismus nicht grundsätzlich in Frage stellen. Bei Hacks steht die Fabel für eine Versicherung des Gelingens. Zugleich sorgt sie auch für eine Kontrolle der subversiven Inhalte, die durch interne und externe Kommentare verstärkt wird. Eine solche Kontrolle findet in Müllers Texten nur partiell oder als Ergebnis äußeren Drucks (wie bei der Überarbeitung der Korrektur) statt.365 Dass die Transgression bei Texten wie dem Lohndrücker dennoch nicht zum Tragen kommt, ist demnach weniger auf eindeutige Narrative verweisende Markierungen im Text als auf die allgemeine Rezeption des Textes als Beitrag zum sozialistischen Aufbau zurückzuführen.366 Ein auffälliger Unterschied zwischen Hacks und Müller drückt sich in der Gattungsdisposition aus. Hacks favorisiert die Komödie (bzw. das realistische Theaterstück) und stellt die Tragödie als vernunftabgewandtes Genre der Weltverneinung dar, das historisch gegenstandslos geworden sei. Die Komödie soll garantieren, dass die Vorgängergesellschaften des Sozialismus als überholt ver- oder die Fehler des Sozialismus als temporär belacht werden können. Tragik wird dabei von Hacks nicht explizit ausgeschlossen, sie verbleibt aber im Rahmen des Komischen, so dass gleichzeitig auf ihre Überwindung verwiesen ist. Im Kontrast zu einer solchen eindeutigen

|| 363 Vgl. Heiner Teroerde: Politische Dramaturgien im geteilten Berlin. Soziale Imaginationen bei Erwin Piscator und Heiner Müller um 1960. Göttingen 2009, S. 94ff. 364 Nikolaus Müller-Schöll: Tragik, Komik, Groteske. In: HMH, S. 82. 365 Vgl. MW 8, 136ff. 366 Siehe beispielsweise die knappe Zusammenfassung der „Aussage des Stückes“ in: Müller: Der Lohndrücker, S. 48.

Hacks und Müller: Eine Gruppe im Feld? | 109

Gattungsentscheidung kann man bei Müller von einer „Allgegenwart der Tragödie“367 sprechen. Zwar hat Müller mit einer Tragödie, die auf blindem heroischen Pathos fußt, genauso wenig gemein wie Hacks, eine Distanzierung vom Tragischen im Sinne eines grundsätzlichen und unauflösbaren Konflikts findet sich bei Müller aber nicht. Vielmehr sind Müllers Texte gerade mit den tragischen Aporien unterlegt, die Hacks für ein sozialistisches Theater ausschließt. Darauf, dass der sich hieraus ergebende Widerspruch in den späten 1950er Jahren noch nicht zum Tragen kommt, ist bereits hingewiesen worden. Auch sollte man den Aspekt des Tragischen angesichts von Müllers allgemeiner politischer Positionierung nicht zu hoch ansetzen. Gerade Texte wie Zehn Tage, die die Welt erschütterten oder Klettwitzer Bericht 1958 zeugen von einem gewissen historischen Optimismus, der Müllers spätere Aussage, er habe von Beginn an „ein gebrochenes oder distanziertes Verhältnis zur DDR“ gehabt, konterkariert.368 Gleichwohl drückt sich in der eindeutigen Favorisierung der Komödie durch Hacks und der Präsenz des Tragischen bei Müller auch eine unterschiedliche geschichtsphilosophische Weichenstellung aus. Hacks’ Komödienkonzeption verweist auf eine geschichtsphilosophische Sicherheit, die auf dessen Orientierung an einem teleologischen Geschichtskonzept zurückgeführt werden kann; die zahlreiche ‚Fehler‘ enthaltende Gegenwart wird mittels einer positiven Dialektik perspektiviert, die zu einer Aufhebung dieser ‚Fehler‘ (und d.h. ihrer Reproduktion auf höherer Ebene) führt. Bei Müller hingegen lässt sich bereits die für seine spätere Entwicklung charakteristische negative Dialektik erkennen, die zwar den historischen Fortschritt vom Kapitalismus in den Sozialismus anerkennt, dabei aber fragt, ob dieser nicht tragisch strukturiert sei.

3.4.2 Hacks und Müller als häretische Gruppe Die Soziologie definiert eine Gruppe als eine Ansammlung von mindestens drei Personen, deren Mitglieder ein Wir-Gefühl aufweisen, bestimmte gemeinsame Interessen oder Ziele teilen und dauerhaft, in der Regel in Face-to-Face-Kommunikation, miteinander interagieren. Unterschieden wird zwischen Primärgruppen, die sich durch eine intime oder direkte Beziehung der Mitglieder auszeichnen, und Sekundärgruppen. Des Weiteren unterschieden werden formelle und informelle Gruppen. Erstere zeichnen sich durch verfestigte funktionale Differenzierung und formulierte Ziele

|| 367 Wolfram Ette: Kritik der Tragödie. Über dramatische Entschleunigung. Weilerswist 2011, S. 31. 368 Heiner Müller: Es kommen viele Leichen zum Vorschein. Ein Gespräch zwischen Ulrich Mühe, Heiner Müller und Hilmar Thate für „Theater heute“ 12/1989. In: ders.: Gesammelte Irrtümer 3. Texte und Gespräche. Frankfurt/M. 1994, S. 58. Vgl. demgegenüber: KoS 141.

110 | Hacks und Müller als häretische Gruppe im literarischen Feld

aus und gleichen Organisationen. Letztere weisen zwar ebenfalls gruppenspezifische Normen auf, diese gelten aber nur implizit.369 AutorInnengruppen lassen sich demnach in spezifische Zusammenschlüsse unterteilen, die repräsentative Funktionen wahrnehmen (formelle Gruppen bzw. Organisationen) oder bestimmte ästhetische Interessen verfolgen (informelle Gruppen). In der DDR existierten neben ‚Gruppen‘ wie der Akademie der Künste oder dem Schriftstellerverband, die aber eher als Institutionen oder Organisationen zu klassifizieren wären und aufgrund der Spezifik des literarischen Feldes nicht als autonom gelten können, keine formellen AutorInnengruppen. Als Paradigma einer informellen AutorInnengruppe kann für die Bundesrepublik sicherlich die Gruppe 47 gelten;370 für die DDR wären so unterschiedliche Zusammenschlüsse wie die verschiedenen Lyrikund Singeclubs, der von Johannes Bobrowski begründete ‚Friedrichshagener Dichterkreis‘, der ‚Donnerstagskreis‘ beim Aufbau Verlag, die verschiedenen, in den 1980er Jahren entstehenden AutorInnen- und KünstlerInnengruppen oder die ‚Sächsische Dichterschule‘ zu nennen, die sich untereinander aber jeweils sehr stark unterscheiden.371 Dass es in der DDR jenseits der etablierten und eng mit dem politischen Feld verzahnten Gruppen keine formellen und bis in die 1970er Jahre nur wenige informelle AutorInnengruppen gab, hängt nicht zuletzt mit der allgemeinen politischen Situation zusammen. Vor dem Hintergrund der Gruppen- und Abspaltungsparanoia der SED und der geheimdienstlichen Überwachung durch das MfS war die Gründung informeller AutorInnengruppen jenseits der etablierten Strukturen höchst gefährlich und somit in gewisser Weise auch unmöglich.372

|| 369 Vgl. Benno Biermann u.a.: Soziologie. Studienbuch für soziale Berufe. München 2006, S. 376ff.; Heinz-Günter Vester: Kompendium der Soziologie I: Grundbegriffe. Wiesbaden 2009, S. 81f. u. Bernhard Schäfers: Die soziale Gruppe. In: Hermann Korte u. ders. (Hg.): Einführung in die Hauptbegriffe der Soziologie. Wiesbaden 2010, S. 129–144. 370 Vgl. Sabine Cofalla: Die Gruppe 47. Dominante soziale Praktiken im literarischen Feld der Bundesrepublik Deutschland. In: Joch u. Wolf (Hg.): Text und Feld, S. 353–369. 371 Vgl. Roland Berbig (Hg.): Der Lyrikclub Pankow. Literarische Zirkel in der DDR. Berlin 2000; Johannes Bobrowski: Statuten des Friedrichhagener Dichterkreises. In: ders.: Die Erzählungen, vermischte Prosa und Selbstzeugnisse, hg. von Eberhard Haufe. Stuttgart 1999 (Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Bd. 4), S. 328f.; Schiller: Der „Donnerstagskreis“; Warnke u. Quaas (Hg.): Die Addition der Differenzen; Paul Kaiser u. Claudia Petzold (Hg.): Bohème und Diktatur in der DDR. Gruppen, Konflikte, Quartiere 1970–1989. Berlin 1997 u. Gerrit-Jan Berendse: Die „Sächsische Dichterschule“. Lyrik in der DDR der sechziger und siebziger Jahre. Frankfurt/M. 1990. 372 Nach dem Strafrechtsergänzungsgesetz vom 11. Dezember 1957 fiel die Bildung einer sogenannten Plattform unter den § 19 (staatsgefährdende Propaganda und Hetze), was eine Gefängnisstrafe nicht unter drei Monate bedeutete. Vgl. Gesetz zur Ergänzung des Strafgesetzbuches, Strafrechtsergänzungsgesetz vom 11. Dezember 1957, online unter: http://www.verfassungen.de/de/ddr/strafrechtsergaenzungsgesetz57.htm (zuletzt eingesehen am 15. April 2014).

Hacks und Müller: Eine Gruppe im Feld? | 111

Ebenso wie die zuletzt genannte Sächsische Dichterschule stellt auch das Didaktische Theater keine AutorInnengruppe im engeren Sinne dar. Jenseits des generationellen Status der Akteure als NewcomerInnen, die sich im dramatischen Feld unter Bezugnahme auf Brecht und die Tradition der Agitprop gegen die dominanten ästhetischen Normen auflehnen und damit in den symbolischen Kampf um die Bestimmung des Epithetons ‚sozialistisch‘ im Rahmen der dramentheoretischen Diskussionen der 1950er Jahre eintreten, bleibt die gruppensoziologische Bestimmung des Didaktischen Theaters uneindeutig. Dass sich die DramatikerInnen und DramaturgInnen der BrechtSchule nicht zu einer Arbeitsgruppe, einem Forum oder ähnlichem zusammengefunden haben, kann (neben den erwähnten Problemen der politischen Repression) auf das Fehlen einer Zentralfigur, die als organisierendes Zentrum und Repräsentant, der die Gruppe durch sein Auftreten in der Öffentlichkeit überhaupt erst existent werden lässt, zurückgeführt werden.373 Bertolt Brecht, der diese Rolle im Sinne eines „charismatischen Messias-Prätendenten“374 hätte übernehmen können, starb im August 1956; und aus dem Kreis der SchülerInnen verfügte niemand über ausreichend symbolisches Kapital, um in dieser Funktion anerkannt werden zu können. Das gilt auch für Peter Hacks, der im Vergleich zu den anderen Akteuren über relativ viel kulturelles Kapital verfügte und es seit seiner Übersiedlung in die DDR geschafft hatte, sich als dauerhafte Stimme in der literarischen Öffentlichkeit zu etablieren. Der Grund liegt allerdings nicht nur darin, dass Hacks, wie Wolfgang Kohlhaase vor allem mit Blick auf den späten Hacks feststellt, „nicht zu den Schriftstellern [gehört], die Gruppen bilden“.375 Im Ende der 1950er Jahre noch mehrheitlich durch die Angehörigen der vor 1914 geborenen ersten Schriftstellergeneration geprägten Feld der kulturellen Produktion hätten wohl nur die Angehörigen dieser Generation selbst eine solche Repräsentantenrolle wahrnehmen können. Zu denken wäre etwa an die Brecht-Freunde Hanns Eisler und Paul Dessau. Diese vermittelten zwar manches Projekt im Sinne einer Tradierung und Fortschreibung Brechts und begegneten den AutorInnen der jungen Generation, namentlich Peter Hacks und Heiner Müller, mit großen Wohlwollen, hielten sich mit solchen Ambitionen aber zurück. Wenn man das Didaktische Theater aus den genannten Gründen nicht als Gruppe, sondern vielmehr als heterogene diskursive und textuelle Konstellation im literarischen Feld beschreiben kann, so lässt sich doch dessen transgressiver und innovativer Flügel, zu dem Peter Hacks und Heiner Müller zu zählen sind, in gruppensoziologischer Hinsicht

|| 373 Bourdieu schreibt: „Der Wortführer ist das Substitut der Gruppe, die nur vermittels dieser Delegierung existiert und über und durch ihn agiert und spricht. Er ist die Mensch gewordene Gruppe“. Bourdieu: Sozialer Raum und symbolische Macht, S. 154. 374 Jürgen Frese: Intellektuellen-Assoziationen. In: Richard Faber u. Christine Holste (Hg.): Kreise, Gruppen, Bünde. Zur Soziologie moderner Intellektuellenassoziation. Würzburg 2000, S. 447. 375 Wolfgang Kohlhaase: Nachmittags. In: André Thiele (Hg.): In den Trümmern ohne Gnade. Festschrift für Peter Hacks Berlin 2003, S. 72.

112 | Hacks und Müller als häretische Gruppe im literarischen Feld

beschreiben. Hacks und Müller bilden gemeinsam mit Akteuren wie B. K. Tragelehn die ästhetische Avantgarde des Theaterfeldes der 1950er Jahre und sind am autonomen Pol des Feldes zu verorten. Gemeinsam verfolgen sie eine Strategie der Häresie, die die Doxa, also die etablierte diskursive Ordnung des Feldes, infrage stellt. Dabei handeln sie selten, wie Hacks im Falle des Aristoteles-Streits, in direkter Konfrontation mit ihren Gegnern.376 Unzweifelhaft versuchen sie aber, sich die Unbestimmtheit des Sozialistischen Realismus in Hinblick auf das Drama zunutze zu machen und Erkenntnisse der sozialistischen Avantgarden der 1920er und 1930er Jahre, vor allem Brechts, in die Diskussion einfließen zu lassen. Dass sie dabei ein gemeinsames, klar definierbares Projekt verfolgen, ist angesichts der beschriebenen Differenzen aber nur ein äußerlicher Eindruck. Tatsächlich bilden sie eine Gruppe, deren wesentliches Verbindungsglied die Häresie ist; sie agieren bei gleichzeitiger gemeinsamer (aber in sich verschiedener) Orientierung am Vorbild Brecht in einer Negativ-Koalition. Pierre Bourdieu beschreibt in den Regeln der Kunst, wie sich solche häretischen Gruppen ausbilden: Während die Inhaber vor allem ökonomisch dominierender Positionen […] sehr homogen sind, finden in der vor allem negativ – in Abgrenzung von den herrschenden Positionen – definierten Avantgarde zeitweilig, nämlich in der Phase der ursprünglichen Akkumulation symbolischen Kapitals, Schriftsteller und Künstler zusammen, deren Herkunft und Dispositionen sich stark voneinander unterscheiden und deren vorübergehend benachbarte Interessen anschließend auseinanderlaufen.377

AutorInnen mit geringem symbolischem Kapital neigen laut Bourdieu zur Häresie; ihre Position im Feld bestimmt ihr Interesse.378 Wollen sie sich etablieren, so können sie dies nur gegen die etablierten Diskurse. Ihr gemeinsamer Gegner und ihr gemeinsames Ziel, sich zu etablieren, schieben sich in dieser Phase vor die existierenden Unterschiede und verdecken diese. Dass man es nicht unbedingt mit einer Automatik der Häresie zu tun hat, zeigt sich anhand von Akteuren wie Helmut Baierl, der mit Hacks und Müller zwar die gleiche Orientierungsfigur teilt, sich feldpolitisch aber weitaus gemäßigter positioniert und dabei nicht mehr, eher weniger symbolisches Kapital besitzt als Hacks und Müller. Gleichwohl trifft im Falle der DDR die Behauptung einer sich quasi automatisch herstellenden Häresie als Zuschreibung von Seiten des heteronomen Pols wie auch von außerhalb des Feldes zu, bedenkt man die Reaktionen von AutorInnen wie Hedda Zinner sowie die kulturpolitische Praxis und die durch sie erfolgten medialen Festschreibungen des Didaktischen Theaters als sektiererisch.379

|| 376 Siehe auch: Hacks: Für ein Theater der Arbeiter und Bauern. 377 Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 422. 378 Vgl. Bourdieu u. Wacquant: Reflexive Anthropologie, S. 149. Siehe auch: Jurt, S. 84f. 379 Vgl. Zinner: Ich bin gegen jedes Sektierertum.

4

Differenzen Hacks ist Monarchist.1 Ich denke, „Bau“ ist der Ost-Beckett. [...] Ich mag „Bau“ nicht; ich rede nicht über das Talent dieses Autors, aber ich mag dieses Stück nicht, und alles was danach kommt, noch weniger.2

Wie sich die Differenzen zwischen Hacks und Müller bereits in der frühen Phase relativ feldgleicher Positionen niederschlagen, wird im Folgenden an einem Stoff verdeutlicht, den Brecht als Fragment und somit quasi zur Fortschreibung hinterlassen hatte, dem Glücksgott.

4.1

Brecht fortschreiben: Der Glücksgott

Der Glücksgott, der spätere Arbeitstitel lautet „Die Reisen des Glücksgotts“, ist ein von Brecht im Exil entwickeltes Opernprojekt.3 Erste Ideen gehen auf das „Lied des Glücksgotts“ zurück, das Brecht Weihnachten 1939 seiner Mitarbeiterin Margarete Steffin schenkte. Es handelt von einem Gott, der für die „unruhigen Geister“ Partei nimmt und zur Abschaffung von „Herrn“ und „Sklaven“ aufruft, sich seiner Gaben aber zugleich unsicher ist: „Bei meinem trüglichen Augenlicht / Hab ich oft dem fal-

|| 1 MW 10, 63. 2 FR 44. 3 Notizen und Entwürfe sind abgedruckt in: GBA 10.2, 922–937. Vgl. zu Brechts Glücksgott-Fragment: Florian Vaßen: Die Vertreibung des „Glücksgotts“. Brechts asoziale Lehrstück-Muster und Freuds „Unbehagen in der Kultur“. Der Versuch eines Vergleichs. In: Korrespondenzen. Zeitschrift für Theaterpädagogik 10 (1994), H. 19/21, S. 52–63; Oliver Lisewski: Spielball Glücksgott. Die Glücksgott-Fragmente von Brecht bis Müller. In: TdZ 59 (2004), H. 4, Beilage: Theaterwissenschaftliche Beiträge, S. 16–18; Florian Vaßen: Die Vertreibung des Glücksgotts. Glücksverlangen und Sinnlichkeit. Überlegungen zur Mikrostruktur bei Bertolt Brecht und Heiner Müller. In: Rüdiger Sareika (Hg.): „Anmut sparet nicht noch Mühe“. Zur Wiederentdeckung Bertolt Brechts. Iserlohn 2005, S. 83–107; Florian Vaßen: Der unglückliche Glücksgott. Versuch über einen ‚Spielball‘. In: Heeg u. Girshausen (Hg.): Theatrographie, S. 256–279 u. Ronald Weber: „In Kollision zu Brecht“. Die „Glücksgott“-Fragmente von Peter Hacks und Heiner Müller. In: Zeitschrift für Germanistik 25 (2015), H. 2, S. 304–326.

114 | Differenzen

schen gespendet / Wein und Weißbrot und Fleischgericht / War an den Kerl verschwendet.“4 Zwei Jahre später entwarf Brecht im Arbeitsjournal eine erste Fabelskizze für ein Stück, offenbar angeregt durch den Erwerb einer Glücksgott-Figur in Chinatown: Der Gott derer, die glücklich zu sein wünschen, bereist den Kontinent. Hinter ihm her eine Furche von Exzessen und Totschlag. Bald werden die Behörden aufmerksam auf ihn, den Anstifter und Mitwisser mancher Verbrechen. Er muß sich verborgen halten, wird illegal. Schließlich denunziert, verhaftet, im Prozeß überführt, soll er getötet werden. Er erweist sich als unsterblich. Lachend sitzt er gemütlich zurückgelehnt im elektrischen Stuhl, schmatzt, wenn er Gift trinkt usw. Völlig erschöpft ziehen die verstörten Henker, Richter, Pfaffen usw. ab, während die Menge vor dem Totenhaus, die von Furcht erfüllt zur Exekution gekommen war, von neuer Hoffnung erfüllt, weggeht…5

1943 entstanden weitere Glücksgott-Lieder, die Brecht Paul Dessau zur Vertonung übergab. In ihnen erscheint der Glücksgott, den Brecht als „kleinen Dicken“6 konzipiert, als sinnenfroh. Sein Glücksanspruch ist radikal: „Wer nicht nach den Sternen langt, ist ein Schwein“. Und weiter: „Ich bin der Gott der Niedrigkeit / Der Gaumen und der Hoden“.7 Brecht betont „‚das gute Leben‘ (in doppelter Bedeutung)“, d. h.: „Essen, Trinken, Wohnen, Schlafen, Lieben, Arbeiten, Denken, die großen Genüsse“.8 So bewegt sich der Glücksgott-Stoff in einem Spannungsfeld „von individuellem Glücksverlangen und kollektiver gesellschaftlicher Notwendigkeit“, auf dem sich die subversive, auf den Glücksanspruch des Einzelnen ausgerichtete GlücksgottFigur nicht leicht positionieren ließ.9 Angeregt durch Paul Dessau schrieb Brecht im Januar 1945 weitere Lieder und entwarf eine Szenendisposition für eine Oper mit dem Titel „Die Reisen des Glücksgotts“. Die Szenendisposition sieht vor, dass der Glücksgott nach einem Vorspiel im Himmel, das ihn als einen der „niedrigsten“10 Götter exponiert, auf die Erde kommt und dort auf verschiedene soziale Typen trifft, denen er seine Lehre predigt. Er gewinnt Schüler, die über die auf den Einzelnen bezogene Agitation des Glücksgotts hinaus für gesellschaftliches Glück kämpfen, was zur Verfolgung durch den Staat führt. Schließlich wird er von einem seiner Schüler verraten. Er wird verhaftet und ihm wird der Prozess gemacht. Als der Glücksgott hingerichtet werden soll, zeigt sich

|| 4 GBA 10.2, 927f. 5 GBA 27, 23. 6 GBA 10.2, 928. 7 GBA 10.2, 929. 8 GBA 27, 159. 9 Vaßen: Der unglückliche Glücksgott, S. 264. Siehe zur Vielfalt des Glücksbegriffs und dessen theoretischer Problematik: Dieter Thomä u.a. (Hg.): Glück. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart/Weimar 2011. Siehe zur marxistischen Debatte über das Glück: HKWM 5, 890ff. 10 GBA 10.2, 933.

Brecht fortschreiben: Der Glücksgott | 115

aber, dass man ihn nicht töten kann. Sein Vermächtnis lebt weiter: „Es ist unmöglich, das Glücksverlangen der Menschen ganz zu töten“, notiert Brecht 1953.11 Wesentlich ist der dialektische Dreh, den Brecht dem Stoff durch die Einführung der Schüler gibt. Da der Glücksgott „keine Moral“ hat, lehrt er lediglich, „daß die Menschen alles tun sollen, glücklich zu sein“.12 Ihm fehlt aber die Kontrolle über seine Lehre. Er ist kein mächtiger Schicksalsgott wie die antiken Göttinnen Tyche oder Fortuna, sondern lediglich Anreger und Anstifter. So kommt es zwischen ihm und seinen Schülern zum Bruch, als diese ihre eigenen Schlussfolgerungen ziehen und „eine neue Art Kampf um Glück“ organisieren, das deutlich auf den Sozialismus verweist.13 Die Anlage der Figur des Glücksgotts lässt in ihrer Mehrdeutigkeit unterschiedliche Auslegungen zu, die in Brechts Entwürfen teilweise unvermittelt nebeneinanderstehen. Das Kontinuum reicht von einem kommunistischen Agitator über eine clowneske Figur des Hanswurst bis hin zu der das individuelle Glücksverlangen in den Vordergrund stellenden Figur des Asozialen, wie Brecht sie in den ebenfalls Fragment gebliebenen Texten Fatzer [1926/30] und Der böse Baal, der asoziale [1929/30] entwickelt hat.14 In den älteren Überlegungen dominiert die egoistische Individualität des Asozialen, die später abgeschwächt wird. Brecht versteht unter dem Asozialen ein Individuum, das in seiner materialistischen und anti-moralischen „Lebenskunst“ radikal auf den eigenen Bedürfnissen besteht und sich gegen eine Welt zur Wehr setzt, „die nicht eine ausnutzbare, sondern nur eine ausbeutbare Produktivität anerkennt“.15 Die kritische, gesellschaftliche Machtverhältnisse aufdeckende Funktion des Asozialen soll allerdings nicht allein in einer „asozialen Gesellschaft“, also dem Kapitalismus gelten; aus dem Asozialen kann, so schreibt Brecht im Kleinen Organon für das Theater, auch die sozialistische Gesellschaft Nutzen ziehen, „wofern es vital

|| 11 GBA 23, 242. 12 GBA 10.2, 926. 13 GBA 10.2, 926. „Der Bauer braucht Boden, aber auch die Zusammenarbeit aller Bauern. Der Arbeiter den Betrieb und die Planung usw.“ In einer anderen Notiz ist von einem Schüler die Rede, den der Glücksgott hinauswirft, „da er die Glückstrebenden der Freiheit berauben will und sie zu opferreichen Kämpfen oder schwerer Arbeit hetzt“. GBA 10.2, 926. Inwiefern Brecht diese Kämpfe eindeutig mit realen politischen Kräften assoziiert, bleibt aber trotz politisch-geographischer Hinweise zum Spielort – der Glücksgott kommt „von Osten […] nach einem großen Krieg in die zerstörten Städte“ (GBA 23, 241) – offen. 14 Der Mantel des Glücksgotts, nach dem der Bauer in der ausgearbeiteten ersten Szene verlangt, stellt auch einen intertextuellen Bezug zu Der böse Baal der asoziale her. Vgl. GBA 10.2, 935ff. u. GBA 10.1, 671ff. Siehe zur Figur des Asozialen bei Brecht: Theo Girshausen: Baal, Fatzer – Fondrak. Die Figur des Asozialen bei Brecht und Müller. In: Profitlich (Hg.): Dramatik in der DDR, S. 329ff. u. Nikolaus Müller-Schöll: Das Theater des „konstruktiven Defaitismus“. Lektüren zur Theorie eines Theaters der A-Identität bei Walter Benjamin, Bertolt Brecht und Heiner Müller. Frankfurt/M. u.a. 2002, S. 431ff. 15 Bertolt Brecht: Baal. Der böse Baal der asoziale. Texte, Varianten, Materialien, hg. von Dieter Schmidt. Frankfurt/M. 2004, S. 111 u. GBA 23, 241.

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und mit Größe auftritt“.16 Ob das zutrifft oder ob ein radikaler Individualismus nicht grundsätzlich in Widerspruch zu den gesellschaftlichen Bemühungen des Sozialismus treten muss, ist eine der Grundfragen des Glücksgotts. Dass Brecht sich der Produktivität der asozialen Haltung unsicher war, verdeutlicht nicht nur der Umstand, dass das Baal- und Fatzer-Material Fragment blieb, sondern auch eine Notiz aus dem Arbeitsjournal vom März 1939, in der das Asoziale vor dem Hintergrund des Faschismus explizit verworfen wird: Heute begriff ich endlich, warum es mir nie gelungen ist, die kleinen Lehrstücke von den Abenteuern des ‚Bösen Baal des asozialen‘ herzustellen. Die asozialen Leute spielen keine Rolle. Es sind einfach die Besitzer der Produktionsmittel und sonstigen Lebensquellen, und sie sind es nur als solche. Natürlich sind es auch ihre Helfer und Helfershelfer, aber eben auch nur als solche. Es ist geradezu das Evangelium des Feindes der Menschheit, daß es asoziale Triebe gibt, asoziale Persönlichkeiten usw.17

„Die Reisen des Glücksgotts“ kann als eine parabolische Versuchsanordnung aufgefasst werden, eine Lehr-Oper, die fragt, ob das Glücksverlangen bei der Beseitigung der gesellschaftlichen Bedingungen des Unglücks helfen kann, ob sich also der „gefährliche[ ] Klang“18, der dem Glücksanspruch im Kapitalismus zukommt, in das Lied des Sozialismus integrieren lässt, ohne dass sich die urwüchsige und umstürzlerische Macht dieses Anspruchs auch gegen diesen richtet. Brecht war als Kommunist der Überzeugung, allein der Sozialismus werde den Weg für eine Zukunft freimachen, in der individuelles und allgemeines Glück vor dem Hintergrund solidarischer Vergesellschaftung der Produktion ineinander übergehen könnten. Als Autor aber ließ er die Frage offen. Der Glücksgott bleibt als figuraler „Spagat zwischen […] Anarchie und Sozialismus“19 eine doppelte Figur. Er steht sowohl für die materialistischen und hedonistischen, libidinös besetzen Bedürfnisse des Individuums als auch für einen auf klugem Handeln und Lustaufschub basierten gesellschaftsorientierten Glücksbegriff. Aufgrund dieser Mehrdimensionalität des Stoffes, sind „Die Reisen des Glücksgotts“ auch eine Parabel über das Glück im Allgemeinen und die ihm stets anhaftende Frage, nach der richtigen, nämlich glückbringenden Haltung im Leben (wie im Sterben).20

|| 16 GBA 23, 241 u. GBA 23, 75. 17 GBA 26, 331. 18 Herbert Marcuse: Über den affirmativen Charakter der Kultur. In: ders.: Kultur und Gesellschaft I. Frankfurt/M. 1968, S. 68. 19 Lisewski: Spielball Glücksgott, S. 17. 20 „Seid Künstler, Sterbende! / Mit dem äschileischen Schrei / Glückt es vielleicht“, heißt es im „Elften Lied des Glücksgotts“ unter Verweis auf die aus den Tragödien des Aischylos bekannten Schmerzensschreie, zu denen der Glücksgott auch der „Frau […] unter der Axt“ und dem „Mann am Holz“

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Brecht arbeitete nach 1945 wiederholt am Glücksgott. Zu einem Abschluss kam das Projekt aber nicht, auch wenn Paul Dessau immer wieder zur Weiterarbeit drängte. Brecht konnte sich bei der Akzentuierung des Glücksbegriffs nicht entscheiden. 1953 unternahm er einen letzten Vermittlungsversuch. In einer Notiz hielt er fest: „Der Glücksgott hält für glücklich nur diejenigen, die produktiv in ihrer Weise [meine Hervorhebung, R.W.] sein können.“21 Die Feststellung erinnert an Marx’ berühmten Ausspruch in der Kritik des Gothaer Programms: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!“, und korrespondiert mit einer durch Paul Dessau überlieferten Äußerung Brechts aus dem Jahr 1950: „Ich glaube, jetzt habe ich den Schluß für unsern Glücksgott gefunden […]. Das Glück ist: der Kommunismus“.22 Was das für die Handlung bedeutet und ob damit eine Anerkennung der sozialistischen Schüler durch den Glücksgott oder nicht eher deren Zurückweisung gemeint ist, führte Brecht, der 1956 starb, nicht mehr aus. Die Frage, wie das unbändige und bisweilen asoziale Glücksverlangen des Individuums zur utopiemächtigen und revolutionären Kraft werden könne, ging als Aufgabe an die Schüler über, die – wie die Schüler des Glücksgotts – eigene und andere Antworten fanden. In ihren ebenfalls Fragment gebliebenen Versuchen zeigen sich bereits Ende der 1950er, Anfang der 1960er Jahre die wesentlichen Unterschiede zwischen Peter Hacks und Heiner Müller.

4.1.1

Der Glücksgott von Inge und Heiner Müller

Paul Dessau war nach Brechts Tod zunächst der Meinung, Der Glücksgott ließe sich ohne diesen nicht ausführen, zeigte sich von dem Stoff und dessen besonderer Eignung für die Oper aber weiterhin überzeugt.23 1959 bat er das Ehepaar Inge und Heiner Müller um eine Fortführung bzw. Bearbeitung der Brecht’schen Vorlagen, woraufhin diese im August mit der Arbeit begannen.24 Aber auch bei Müllers blieb Der Glücksgott Fragment. „Die Arbeit erwies sich schnell als (von mir) nicht machbar“, schreibt

|| rät. GBA 10.2, 930. Nach Ansicht Florian Vaßens bezieht sich Brecht hier auf „nicht rational steuerbare, potentiell sogar subversive menschliche Äußerungen“, die auf eine „Revolte selbst noch im Tode“ deuten. Vaßen: Der unglückliche Glücksgott, S. 262. 21 GBA 10.2, 927. 22 MEW 19, 21 u. Paul Dessau u. Bertolt Brecht: Lieder und Gesänge. Berlin 1957, S. 20. 23 Vgl. Dessau u. Brecht: Lieder und Gesänge, S. 20. 24 Der Beginn der Arbeit am Glücksgott ist aufgrund der Angabe Müllers – „[e]twa 1958“ (MW 3, 165) – häufig falsch datiert worden. Anhand der Besucherliste des Brecht-Archivs lässt sich nachweisen, dass die Arbeit im August 1959 aufgenommen wurde. Vgl. MW 12, 510. Wie groß der Anteil Inge Müllers an der Arbeit zu veranschlagen ist, ist schwer einzuschätzen. Handschriftliche Notizen von Inge Müller finden sich in den im Müller-Archiv dem Glücksgott zugeordneten Mappen nicht. Gleichwohl heißt es auf der Titelseite des Konzeptionsentwurfs für Paul Dessau: „von I. u. H. Müller“ (PDA, Nr. 1.74.829) und auch in der Korrespondenz ist beständig von ‚den Müllers‘ die Rede.

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Heiner Müller nachträglich.25 Einen „Glücksgott“-Text veröffentlichte Müller erst 1975.26 In einer Vorbemerkung reflektiert er sein Scheitern und begründet dies mit der Parabelform des Brecht-Entwurfs: Erste Schwierigkeit (Unmöglichkeit) war die Figur des Glücksgotts. Stehende Figuren (Götter Denkmäler Typen) sind als Katalysatoren brauchbar, wenn Erfahrung die Geschichte überholt hat. Versteinerungen, an denen Weisheit sich ablagern kann, die bei Abruf durch den Fortschritt als Sprengstoff zur Verfügung steht. Wenn der umgekehrte Überholvorgang einsetzt, sind sie es nicht mehr. Das gilt auch für ihren Spielraum, die Parabel. Sie wird marginal. (165)

Müller schreibt die Parabel (und das ihr zugehörige allegorische Personal) einer bestimmten historischen Konstellation zu. Diese kennzeichnet er allgemein als Überholung der Geschichte durch Erfahrung und konkret mit Brechts „Schreibort Hollywood“, dem „Weimar der deutschen antifaschistischen Emigration“ (165). Die Parabel wird somit als literarische Form ausgewiesen, die einer Zeit des historischen Stillstands angemessen sei, in welcher die Vergangenheit (‚die Erfahrung‘) jede gesellschaftliche Praxis und Bewegung (‚die Geschichte‘) überlagere. In einer solchen Zeit könne die Parabel ihre produktive Wirkung entfalten, indem sie Wissen verarbeite, aufspeichere und verallgemeinere, das dann im Falle des ‚Abrufs‘ durch die historische Neubewegung (‚den Fortschritt‘) zur Verfügung stehe. In der umgekehrten Situation aber, wenn die Geschichte sich bewegt, ist die Parabel unbrauchbar. Vor dem Hintergrund der Übergangsperiode und ihren Widersprüchen wirkt sie und das durch sie dramatisch präsentierte, vermeintlich gesicherte, souveräne Wissen hohl.27 Ihre abstrakte, nicht auf Erfahrung, sondern ideologischem Wissen fußende Weisheit entpuppt sich als Ausdruck eines „heilen Weltmodell[s]“ (166) und damit formal als das genaue Gegenteil dessen, was Müller im Kontext eines die gesellschaftliche Dynamik aufnehmenden und verarbeitenden operativen Theaters als notwendig ansah. Dementsprechend musste der Versuch, „den GG [Glücksgott, R.W.] auf Teufelkommheraus mit der Wirklichkeit des Nachkriegs, der Straße, des Aufbaus zu konfrontieren (in Kollision zu br[echt])“ scheitern.28 Müller verdeutlicht das anhand der von Paul Dessau komponierten Lieder zu Brechts Entwurf: „Das Duell zwischen Industrie und Zukunft wird nicht mit Gesängen ausgetragen, bei denen man sich niederlassen kann. Seine Musik ist der Schrei des Marsyas, der seinem göttlichen Schinder die Saiten von der Leier sprengt.“ (166) Dessaus „Hausmusik“ (166) ist nicht in der Lage die Erfahrungen des sozialistischen Aufbaus wiederzugeben. Eine Oper, die

|| 25 MW 3, 166. 26 Vgl. Heiner Müller: Theater-Arbeit. Berlin 1975 (Heiner Müller Texte. Bd. 4), S. 7ff., jetzt: MW 3, 163ff. Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe unter Angabe der Seitenzahlen direkt im Text zitiert. 27 Schon Brecht fragte sich in der Auseinandersetzung mit seinem Parabelstück Der gute Mensch von Sezuan, wie der Eindruck der „Milchmädchenrechnung“ vermieden werden könne. GBA 26, 338. 28 HMA, Nr. 3968, Bl. 9.

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diese Erfahrungen schildern will, muss auf musikalische „Schönheit“ verzichten, einzig der verzweifelte Schrei des Unterdrückten, der ,Schrei des Marsyas‘, des phrygischen Flussgottes, der sich Apollon in einem musikalischen Wettstreit entgegenstellte und dem der Sieger Apollon zur Strafe für dessen Hybris bei lebendigem Leib die Haut abzog, sei diesen „Zerreißproben“ (166) angemessen.29 Müller begründet sein Scheitern also mit der Unangemessenheit der Brecht-Vorlage. Vor dem Hintergrund seines an gesellschaftlicher Dialektik orientierten ästhetischen Konzepts bekam er mit den Mitteln der Parabel und der statischen Figur des Glücksgotts – „er kann nicht zerstört werden = er kann nicht lernen“ – Ende der 1950er Jahre „kein Bein auf die Erde“ (166). Müllers rückblickende Kritik bezieht sich allerdings nicht allein auf Brechts Vorlage, sondern auch auf die eigenen Entwürfe der späten 1950er Jahre. Denn diese Ausarbeitungen unterscheiden sich so deutlich von der 1975 als synthetisches Fragment30 veröffentlichten Version, dass von zwei unterschiedlichen Glücksgott-Fragmenten Müllers gesprochen werden muss.31

|| 29 Im 1975 veröffentlichten Glücksgott finden sich dementsprechend drei von „marodierenden Kindern“ gesungene Lieder, die Brechts Gedicht „Vom Kind, das sich nicht waschen wollte“ (vgl. GBA 12, 20) aufgreifen und in die Erzählung eines grenzenlosen Widerstands übersetzen, der auch die Selbstzerstörung miteinschließt. Vgl. 170f. Siehe hierzu: Vaßen: Der unglückliche Glücksgott, S. 272. Vgl. zur Funktionalisierung des Marsyas-Mythos bei Müller: Manfred Schneider: Kunst in der Postnarkose. Laokoon Philoktet Prometheus Marsyas Schrei. In: Christian Schulte u. Brigitte Maria Mayer (Hg.): Der Text ist der Coyote. Heiner Müller. Bestandsaufnahme. Frankfurt/M. 2004, S. 134ff. Siehe zum Marsyas-Mythos: Ursula Renner u. Manfred Schneider (Hg.): Häutung. Lesarten des Marsyas-Mythos. München 2006. 30 Ein Fragment gilt gemeinhin als „authentisches Bruchstück eines gescheiterten Synthetisierungsversuchs“. Eberhard Ostermann: Der Begriff des Fragments als Leitmetapher der ästhetischen Moderne. Goethezeitportal 1991, S. 197, online unter: http://www.goethezeitportal.de/db/wiss/epoche/ostermann_fragment.pdf (zuletzt eingesehen am 17. April 2014). Müller versteht unter einem synthetischen Fragment die bewusste „Fragmentarisierung eines Vorgangs“, die zum Ziel hat, den „Prozeßcharakter“ eines Textes herauszustellen. MW 8, 175. Vgl. Barbara Christ: Die Splitter des Scheins. Friedrich Schiller und Heiner Müller. Zur Geschichte und Ästhetik des dramatischen Fragments. Paderborn 1996, S. 188ff. 31 Auch Oliver Lisewski kommt zu dem Schluss, dass der Opernentwurf von 1959/60 „mit dem 1975 veröffentlichten Glücksgott so gut wie nichts gemein“ hat. Lisewski: Spielball Glücksgott, S. 17. Siehe auch: Friedrich Dieckmann: Bruchstücke des Glücksgotts. In: Frank Hörnigk (Hg.): Kalkfell Zwei. Berlin 2004, S. 22. Im Nachlass befinden sich sechs Mappen, die Notizen und Skizzen zum Glücksgott enthalten. Zwei sind von besonderer Bedeutung: HMA, Nr. 3967 enthält Aufzeichnungen, die größtenteils aus der Zeit 1959/60 stammen dürften, aber nicht eindeutig datierbar sind. In HMA, Nr. 3968 befinden sich Textvarianten des 1975 veröffentlichten Glücksgotts. Darüber hinaus existiert die bereits erwähnte Fabelskizze aus dem Jahr 1960 im Nachlass von Paul Dessau. Vor deren Hintergrund lassen sich die jeweiligen Notizen und Skizzen zeitlich einordnen. Vgl. PDA, Nr. 1.74.829. Übersieht man die Notizen im Nachlass, ist erkennbar, dass Müller die alten Entwürfe später noch einmal durchgegangen ist und überarbeitet und ergänzt hat. – Warum der Herausgeber der vorgeblich an „brutale[r] Chronologie“ (MW 1, 334) orientierten Müller-Werkausgabe sich entschieden hat, den Glücksgott in

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Die im Nachlass befindlichen Ausarbeitungen zeigen, dass Inge und Heiner Müller zunächst auf eine heitere Oper im Stil von Majakowskis Mysterium Buffo [1918] zielten. Vorgesehen war „musikalisch[e] Leichtigkeit“ und ein geringer Aufwand, damit „die Oper auch in Kulturhäusern usw. spielbar“ sei.32 Der Fabelentwurf folgt der Brecht’schen Vorlage, verlängert diese aber. Das Libretto endet nicht wie bei Brecht mit der misslingenden Exekution des Glücksgotts; es folgen die Revolution, der Aufbau des Sozialismus und die „Ankunft im Kommunismus“, verstanden als Aufhebung des menschlichen Glücksverlangens und somit Überflüssigwerden des Glücksgotts.33 Der Spielort ist nicht eindeutig festgelegt. Der an Brecht angelehnte Verweis auf „das vom Krieg zerstörte Land“ und die dort herrschende „Apathie“ assoziiert aber die SBZ bzw. DDR.34 Die Notizen lassen erkennen, dass das Libretto durchaus didaktisch angelegt ist und auch zeitgenössische Polemik, beispielsweise gegen die Sozialdemokratie, beinhalten sollte.35 Im Mittelpunkt steht aber die Konfrontation des Glücksgotts mit der postrevolutionären Entwicklung. Der Glücksgott ist als Kleinbürger konzipiert. Gemäß seinem Baal’schen Programm – „Mach, was dir Spaß macht!“ – ist er „Provokateur, kein Revolutionär“.36 Dennoch ist sein plebejisches Credo in der kapitalistischen Gesellschaft produktiv – einige seiner Schüler beginnen „die Revolution [zu] lehren“.37 Die Verlängerung der Fabel in den Sozialismus hinein zeigt den Glücksgott aber als ambivalent; die „selbst

|| dem Band „Die Stücke 1“ zwischen Klettwitzer Bericht 1958 und Die Umsiedlerin zu drucken, muss vor dem Hintergrund der textlichen Differenz der Versionen verwundern. 32 HMA, Nr. 3967, Bl. 3. Siehe zum Verweis auf Majakowski: HMA, Nr. 3967, Bl. 99. 33 PDA, Nr. 1.74.829, Bl. 14. Siehe auch: HMA, Nr. 3967, Bl. 3. Neben dem detaillierten Fabelentwurf im Nachlass Paul Dessaus existiert auch eine handschriftliche Konzeptionsskizze, die neben dem Baal-Bezug auch auf die Dialektik des Asozialen verweist. Vgl. HMA, Nr. 3967, Bl. 79. Die Fabelskizze hält sich eng an Brecht: Vorspiel im Himmel; Auftritt des Glücksgotts; Agitation; SchülerInnen; sozialistische Agitation; Verstoßung des revolutionären Schülers; Reaktion; Bekenntnis des Glücksgotts zu seinem Schüler und Versuch der Hinrichtung des Glücksgotts. Der weitere Fabelverlauf: Revolution; Himmelfahrt des Glücksgotts; Rückkehr des Glücksgotts in den im Aufbau befindlichen Sozialismus; Konfrontation mit der neuen Regierung; Erbauung eines falschen Glücksgotts und Wettstreit mit diesem; Streik der Arbeiter, die den Glücksgott vermissen; Gang des Glücksgotts in die westliche Emigration; Walpurgisnacht in der westlichen Metropole; Rückkehr und Verschwinden (Aufhebung) des Glücksgotts angesichts der Ankunft im Kommunismus und Nachspiel im Himmel. Vgl. PDA, Nr. 1.74.829. 34 PDA, Nr. 1.74.829, Bl. 2 u. HMA, Nr. 3967, Bl. 87. 35 So sieht der Prozess gegen den Glücksgott u.a. als Geschworene vor: „Bankier (Finanzkapital)“, „SPD Knochen“, „Junker (=General)“ und einen „Priester“. HMA, Nr. 3967, Bl. 58. 36 GBA 26, 323 u. HMA, Nr. 3967, Bl. 3. Die Rede ist von einem „kleinbürgerl[ichen] materialistischen Glücksideal“. HMA, Nr. 3967, Bl. 70. 37 HMA, Nr. 3967, Bl. 3. In den „10 Geboten des Glücksgotts“ heißt es: „Du sollst nicht hungern + frieren noch Durst leiden / Du sollst nicht entbehren die Früchte deiner Arbeit / Du sollst dir nichts gefallen lassen / Du sollst nicht töten ohne Notwendigkeit / Du sollst nicht Respekt haben /Du sollst keine anderen Götter haben neben mir“. HMA, Nr. 3967, Bl. 86.

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nicht produktiv[e]“ und stark selbstbezogene Figur spaltet sich in ihrer Wirkung auf: Der Glücksgott, und damit das persönliche Glücksverlangen, ist im Sozialismus „Motor und Bremse“ zugleich.38 So erweist sich das Beharren des Glücksgotts auf umfassendem Genuss und unmittelbarer Lusterfüllung als den sozialistischen Aufbau störend. Dass seine Schüler Wasser trinken – und nicht Wein, wie er fordert – „empört“39 ihn. Als er auf einem Transparent liest „BESSER ARBEITEN BESSER LEBEN“ korrigiert er: „BESSER LEBEN BESSER ARBEITEN“.40 Der im Sozialismus eingeschlagene „andre[ ] Weg zum Glück“41 ist für ihn nicht nachvollziehbar. Als sich die Mehrheit der Arbeiter angesichts der Wahl „Wein oder Kraftwerk“ für die Produktion und gegen den Konsum entscheidet, geht der Glücksgott ins Exil; dass das gesellschaftliche Projekt seiner Schüler „nach Schweiß“ schmeckt, stößt ihn ab.42 In ihrer Glücksgott-Fabel bringen Inge und Heiner Müller die polare Bedeutung des Glücksbegriffs zusammen: einerseits einen Zustand innerer Befriedigung und Freude, andererseits das gute Ende, das gute Gelingen.43 Ähnlich wie in Der Lohndrücker konfrontieren sie einen kleinbürgerlich-individuellen mit dem in die Zukunft gerichteten gesellschaftlichen Glücksbegriff des Sozialismus, der Verzicht und Lustaufschub als problematische, aber notwendige Voraussetzungen des gesellschaftlichen Glücks anerkennt. Erst die vergemeinschaftete und entfesselte Produktion kann den Traum vom Glück aller in materiell umfassender Weise einlösen: „Der Traum vom großen Konsum, den die Produzenten träumen, ausgeschlossen vom Konsum, geht in der Realität der großen Produktion auf“, heißt es in Müllers Notizen.44 Die Virulenz, die das Glücksverlangen als Konsumverlangen wie als egoistische Haltung des Asozialen auch im Sozialismus besitzt, wird von Müllers gleichwohl betont und anerkannt: Die Änderung des Transparentspruchs durch den Glücksgott findet den „Beifall“ der Arbeiter, und als der Glücksgott seinen Weg in die Emigration antritt, kommt es zur Bildung einer Delegation, „die den GG zurückzuholen fordert“.45 Die Regierung reagiert darauf mit der „Konstruktion eines falschen GG“,46 kann aber nicht verhindern, dass es zum Streik kommt. Wie schon im Lohndrücker verweist dieser auf eine Lesart des 17. Juni, die auf dessen machtpolitische und materielle Ursachen aufmerksam macht und das SED-Narrativ der Konterrevolution widerlegt:

|| 38 HMA, Nr. 3967, Bl. 3. 39 PDA, Nr. 1.74.829, Bl. 8. 40 PDA, Nr. 1.74.829, Bl. 7. 41 PDA, Nr. 1.74.829, Bl. 8. 42 PDA, Nr. 1.74.829, Bl. 11. In Klettwitzer Bericht 1958 heißt es: Der Sozialismus „schmeckt nach Schweiß“. MW 3, 161. 43 Vgl. Wolfgang Pfeifer (Hg.): Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. München 2003, S. 458f. 44 HMA, Nr. 3967, Bl. 3. 45 PDA, Nr. 1.74.829, Bl. 7 u. 11. 46 PDA, Nr. 1.74.829, Bl. 11.

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AUF DEM WEG IN DIE EMIGRATION BEGEGNET DER ECHTE GG AUF DEM BAUPLATZ DES KRAFTWERKS DEM FALSCHEN, DER VON ARBEITERN VERFOLGT WIRD, DIE IHN ALS BETRÜGER ERKANNT HABEN UND LYNCHEN WOLLEN. DIE ARBEITER NEHMEN BEIDE GEFANGEN. DA SIE ÄUSSERLICH UNUNTERSCHEIDBAR SIND, WERDEN DREI PROBEN VERANSTALTET (WETTESSEN, WETTTRINKEN, WETTFICKEN), UM DEN BETRÜGER AUSZUMACHEN. // WÄHREND DER FALSCHE GEHÄNGT WIRD, SETZT DER ECHTE GG SEINEN WEG IN DIE EMIGRATION FORT. DIE ARBEITER, IHN VERMISSEND, STREIKEN.47

Wird so vor dem Hintergrund des für den Aufbau des Sozialismus geforderten Bedürfnisaufschubs das subversive Potential des Glücksanspruchs verdeutlicht, betont der Plot mit der Weiterführung der Handlung bis in den Kommunismus zugleich die Begrenztheit eines unmittelbaren, anti-dialektischen Glücksbegriffs. Als der Glücksgott aus der Emigration auf die Erde zurückkehrt und „Fressen, Saufen, Lieben, Faulenzen“ propagiert, reagieren die Menschen gelangweilt; sie wenden sich von ihm ab und „[g]ehen produzieren (Kunst, Technik usw...)“.48 Die mit dem hedonistischen, individuellen Glücksverlangen verbundenen Vorstellungen, die der Glücksgott repräsentiert, wirken angesichts der allseitigen Entfaltung im Kommunismus („Glück = Produktivität“) weder als ‚Motor‘ noch als ‚Bremse‘.49 Der Glücksgott (und der von ihm vertretene „Glücksbegriff der Kleinbürger“) wird durch die „Arbeit der Revolutionäre“ schlicht überflüssig.50 Seine Aufhebung planten Müllers auch szenisch umzusetzen: Die Figur des Glücksgotts schrumpft im Laufe der Handlung „in dem Maße wie neues Glück konkret wird“, bis am Schluss nur noch seine Trommel übrig bleibt.51 Wie bei Brecht arbeitet die Parabel gegen den Glücksgott. Was er anregt, entgleitet seiner Kontrolle. Der Gott, der von seinen Gegnern nicht getötet werden kann, erfährt sein physisches Ende durch die Geschichte. Es ergeht ihm in gewisser Weise wie den Hegel’schen „welthistorischen Individuen“, die als „Geschäftsführer des Weltgeistes“ eine Zeitlang der Vektor der Weltbewegung sind und deren „ganze Natur […] nur ihre Leidenschaft ist“; ist ihr Zweck erreicht, fallen „die leeren Hülsen des Kernes“ ab.52 Eine Mitleidsfigur ist der Glücksgott deshalb aber nicht. In seiner statischen Funktion als Provokateur, der „unfähig [ist] zu produzieren“,53 fällt er quasi aus der || 47 PDA, Nr. 1.74.829, Bl. 12. 48 HMA, Nr. 3967, Bl. 77. „Wenn die Leute soweit sind, daß die / Glücksvorstellungen des GG realisierbar, / sind sie schon weiter (Fressen, Saufen, Faulenzen, usw. nicht mehr Ausdrücke des Glücks)“. HMA, Nr. 3967, Bl. 77. Und im Kontext der zeitgenössischen Sputnik-Begeisterung heißt es: „Was sind gebratene Tauben, uns ins Maul fliegend, gegen den Flug zum Mond!“. HMA, Nr. 3967, Bl. 3. 49 HMA, Nr. 3967, Bl. 80. 50 HMA, Nr. 3967, Bl. 16. 51 HMA, Nr. 3967, Bl. 77. Im „Nachspiel im Himmel“ wird schließlich noch einmal die Rolle des Glücksgotts bestimmt: „Er konnte nichts als fressen, saufen und ficken / […] Das war zu jener Zeit schon allerhand. / Was ist es heute? / Jedes Kind kanns besser / Das ist zu wenig“. HMA, Nr. 3967, Bl. 66. 52 Hegel 12, 46f. 53 HMA, Nr. 3967, Bl. 77.

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Zeit. Seine Tragik ist die Tragik des Kleinbürgers, dem der Blick für die neue gesellschaftliche Qualität und somit für das ‚neue Glück‘ verstellt ist. Inge und Heiner Müllers Glücksgott-Oper wäre, denkt man sich die Entwürfe als vollständiges Libretto, ein kommunistisches Oratorium geworden: die „Geschichte des menschlichen Traums vom Glück“ in marxistisch-leninistischer Interpretation als „positive Aufhebung des vulgär kleinbürgerl[ichen] materialistischen Glücksideals durch schöpferische Arbeit beim Aufbau des Sozialismus / bis z[um] Sieg des Kommunismus“.54 Diese für die frühe DDR-Literatur typische Entwicklung vom Subjekt zum Kollektiv sollte in der Oper auch figural-musikalisch durch den Gang der Musik vom einzelnen Sänger zum Chor verdeutlicht werden.55 Die Brecht’sche Frage nach dem Verhältnis von individuellem und kollektivem Glücksbegriff wäre somit zugunsten von Letzterem beantwortet. Zwar lassen die vorhandenen Szenenentwürfe erkennen, dass das Glücksgott-Libretto auch die Widersprüche der Übergangsepoche im Zusammenhang von Produktivität und Lustaufschub behandeln sollte. Vor dem Hintergrund der transgressiven Dialektik des Lohndrückers wäre der Text hinsichtlich seines Realismusgehalts aber ein Rückschritt gewesen, transportiert er doch eben jene „Vorstellung der Welt als einer runden Sache“ (166), die Müller im späteren Kommentar als Defizit der Brecht’schen Vorlagen ausweist. Es ist daher davon auszugehen, dass das Projekt scheiterte, weil die Glücksgott-Entwürfe Müller angesichts einer Welt „aus kämpfenden Segmenten, die bestenfalls der Clinch vereint“ (166), als zu glatt erschienen. Mit dem von Brecht übernommenen Stoff ließ sich lediglich als „Kosmetiker[er]“, nicht aber als „Chirurg[ ]“ operieren.56 Der Unterschied zwischen den Entwürfen der späten 1950er Jahre und dem 1975 vorgelegten Fragment ist offensichtlich. In der späteren Version scheitert der Glücksgott bereits zu Beginn seiner Ankunft auf der Erde, weil sich die Menschen angesichts ihrer Leid- und Schreckenserfahrungen für seine kyrenaischen Forderungen unempfänglich zeigen.57 Auch der Sozialismus, der völlig unvermittelt in die Handlung eingeführt wird, ist nicht historische Durchgangsstation, sondern „Wartesaal“, „real existierende Haltestelle der Geschichte“, wie Friedrich Dieckmann treffend bemerkt.58 Die Verlängerung der Handlung in den Kommunismus findet nicht statt. Der historische Fortschritt wird zwar anhand der Erzählung von einer kollektiven Rattenvernichtungsaktion – „Ratte Laus Kapitalist General und Mikrobe“ (174) – und der Verwandlung eines „Übel[s] in ein Gutes“, die „ansehnliche Menge Düngemittel für

|| 54 HMA, Nr. 3967, Bl. 3, 70. 55 Vgl. HMA, Nr. 3967, Bl. 70. 56 „Der Vorgriff produziert Kunstgewerbe, das sich zur Kunst verhält wie die Kosmetik zur Chirurgie.“ (165) 57 Vgl. die Szenen „Der Ball kommt aus dem Nichts“, „Schlachtfeld“ und „Der GG setzt seine Hoffnung in die Kinder und beißt auf Granit“. (167ff.) 58 HMA, Nr. 3967, Bl. 36 u. Dieckmann: Bruchstücke des Glücksgotts, S. 22.

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unsere Kollektivbauern“ (176) nämlich, markiert. Er findet im Text aber keine Entsprechung. Tot zu sein, erscheint allemal besser: GG: Warum so fröhlich, Toter? Toter: Soll ich tot / nicht fröhlich sein? Der GG weint. (180)

Die das Fragment abschließende Prosapassage verdeutlicht den historischen Stau, für den Müllers später Glücksgott steht, schließlich in einem eindringlichen sprachlichen Bild, dem an Walter Benjamins neunter Geschichtsthese angelehnten „GLÜCKLOSEN ENGEL“: Hinter ihm schwemmt Vergangenheit an, schüttet Geröll auf Flügel und Schultern, mit Lärm wie von begrabnen Trommeln, während vor ihm sich die Zukunft staut, seine Augen eindrückt, die Augäpfel sprengt wie ein Stern, das Wort umdreht zum tönenden Knebel, ihn würgt mit seinem Atem. Eine Zeit lang sieht man noch sein Flügelschlagen, hört in das Rauschen die Steinschläge vor über hinter ihm niedergehn, lauter je heftiger die vergebliche Bewegung, vereinzelt, wenn sie langsamer wird. Dann schließt sich über ihm der Augenblick: auf dem schnell verschütteten Stehplatz kommt der glücklose Engel zur Ruhe, wartend auf Geschichte in der Versteinerung von Flug Blick Atem. Bis das erneute Rauschen mächtiger Flügelschläge sich in Wellen durch den Stein fortpflanzt und seinen Flug anzeigt. (180)59

Aus der frühen Fabelkonzeption mit ihrer funktionierenden historischen Dialektik ist die Tragik des zwischen Vergangenheit und Zukunft gefangenen Engels der Geschichte nicht ablesbar. In Müllers Aufzeichnungen finden sich zwar einige wenige textuelle Spuren des „GLÜCKLOSEN ENGELS“, der offenbar nicht allein auf Benjamin, sondern auch auf den dem Glücksgott Nachricht bringenden Boten „mit

|| 59 Im Gegensatz zu Benjamin hat Müllers Engel der Geschichte allerdings der Vergangenheit und nicht der Zukunft den Rücken zugekehrt, was auf eine entscheidende Differenz hinweist: Müller, sich in einer nachrevolutionären Situation befindend, wartet auf den weiteren Fortschritt, den das Bild des unglücklichen Engels anmahnt, Benjamin, sich in einer vorrevolutionären Situation befindend, hofft hingegen, dass der Sturm des Fortschritts aussetzen möge und sich so eine Möglichkeit ergebe, „das Zerschlagene zusammenzufügen“. BGS 1, 697. Siehe zu der für Müllers Werk charakteristischen Metapher des (glücklosen) Engels: Frank Raddatz: Dämonen unterm roten Stern. Zu Geschichtsphilosophie und Ästhetik Heiner Müllers. Stuttgart 1991, S. 174ff.; Thomas Weber: Glücklose Engel. Über ein Motiv bei Heiner Müller und Walter Benjamin. In: Das Argument 35 (1993), H. 2, S. 241–253; Dieter Kafitz: Engel als Reflexionsfiguren der Geschichte in Texten von Heiner Müller. In: Wolfgang Düsing (Hg.): Aspekte des Geschichtsdramas. Von Aischylos bis Volker Braun. Tübingen 1998, S. 245–263 u. Jutta Schlich: Heiner Müllers Engel. Bezüge, Befindlichkeiten, Botschaften. In: Ian Wallace u.a. (Hg.): Heiner Müller. Probleme und Perspektiven. Bath-Symposium 1998. Amsterdam/Atlanta 2000, S. 323– 346. Siehe zur Rezeption Walter Benjamins: Francine Maier-Schaeffer: Utopie und Fragment. Heiner Müller und Walter Benjamin. In: Theo Buck u. Jean-Marie Valentin (Hg.): Heiner Müller – Rückblicke, Perspektiven. Vorträge des Pariser Kolloquiums 1993. Frankfurt/M. u.a. 1995, S. 19–37.

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den versengten Flügeln“ aus Brechts ausgearbeitetem Vorspiel zurückgeht. 60 Eine auch nur annähernd vollständige Version des später auch als Prosagedicht veröffentlichten Textes existiert aber nicht. Wie das Glücksgott-Fragment als Ganzes ist auch der „GLÜCKLOSE ENGEL“ von der Forschung zu früh, nämlich auf 1958, datiert worden, was zu übertriebenen Schlussfolgerungen hinsichtlich der „Verdüsterung des Geschichtsbildes“ beim frühen Müller geführt hat.61 Der kurze Text ist Ausdruck von Müllers Position Ende der 1960er bzw. zu Beginn der 1970er Jahre, als dieser nicht mehr glaubte, dass die „um den Preis des Aufbaus einer neuen Ordnung“ errichtete Diktatur „vielleicht noch entwickelbar ist“.62 Nachdem Müller die Arbeit 1961 abgebrochen hatte, beschäftigte er sich 1969 im Zuge der Zusammenarbeit mit Paul Dessau an der Oper Lanzelot erneut mit dem Glücksgott-Material und erstellte schließlich die 1975 veröffentlichte Version. Diese zeigt Müllers ästhetischen Wandel an: Das literarische Programm, auf dem der Glücksgott fußt, ist weder das die Widersprüche des sozialistischen Aufbaus betonende dialektische Lehrtheater der 1950er Jahre noch das eine negative Dialektik in den Vordergrund stellende Lehrtheater der dramatischen „Versuchsreihe“ Philoktet, Der Horatier und Mauser der späten 1960er Jahre,63 sondern ein die Lehrstückkonzeption verabschiedendes „Theater der Grenzerfahrung“, das sich mit Walter Benjamin dem „Dialog mit den Toten“ (165) verschrieben hat.64 Es ist davon auszugehen, dass die beginnende Erkenntnis der Stagnation des Sozialismus Müller daran hinderte, die Glücksgott-Oper zu schreiben. Der Dialog mit Brecht endete „i[m] Schweigen“ bzw. „im aufgegebene[n] Werk“.65 Erst zehn Jahre später war Müller so weit, sein Scheitern souverän als Form zu handhaben und literarisch produktiv zu machen. Die Arbeit am Glücksgott war damit aber noch lange nicht beendet. Der Stoff scheint eine ähnliche Faszination auf Müller wie auf Brecht

|| 60 GBA 10.2, 933. Vgl. HMA, Nr. 3967, Bl. 33. Müller probierte verschiedene Formulierungen („der versteinerte / gesteinigte Engel“, „der glücklose Engel“). Auch der Grund der „natur morte“ wird genannt: „v[on] d[er] Zukunft (+ verg[angen]h[eit]) / gesteinigt“. An anderer Stelle heißt es: „status quo Folge: Vergangenheit staut sich“. Auch auf die spätere Formulierung der rauschenden Flügelschläge, die den Stein zum Bersten bringen, finden sich Verweise, wenn Müller notiert: „Flügelschlagen → Zucken / Zappeln → Steine atmen“. HMA, Nr. 3967, Bl. 9, 36 u. 11. 61 Eke: Heiner Müller, S. 39. Die Datierung ist in der Forschung nahezu einhellig und wird auch im Kommentar der Werkausgabe sowie im Heiner-Müller-Handbuch genannt. Vgl. MW 1, 337 u. Lehmann: Frühe Stücke, S. 184. Eine abweichende Position bezieht Friedrich Dieckmann, der urteilt, der Text stamme „ersichtlich aus den siebziger Jahren“. Dieckmann: Bruchstücke des Glücksgotts, S. 22. Siehe auch: Lisewski: Spielball Glücksgott, S. 17. Eine exakte Datierung des „GLÜCKLOSEN ENGELS“ lässt sich anhand der Aufzeichnungen aus dem Nachlass allerdings nicht vornehmen. 62 KoS 141. 63 MW 4, 259. Siehe hierzu: Kap. 4.7.2. 64 Dieter Heimböckel: Kein neues Theater mit alter Theorie. Stationen der Dramentheorie von Aristoteles bis Heiner Müller. Bielefeld 2010, S. 59. Siehe hierzu: Kap. 5.5. 65 MW 10, 518.

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und Dessau ausgeübt zu haben. Noch 1995, kurz vor seinem Tod, gehörte der Glücksgott zu einem von Müllers Stückprojekten.66

4.1.2

Der Glücksgott von Anna Elisabeth Wiede und Peter Hacks

Die Konfrontation des Glücksgotts mit dem sozialistischen Aufbau, die die frühe Fabel Müllers vorsieht, gefiel dem ‚Auftraggeber‘ Paul Dessau nicht. Er mahnte, „mehr bei dem ‚Brecht-Projekt‘ [zu] bleiben“: „Der Klassenkampf ist auf einer fast unglaublichen Höhe angelangt; ob wir da nicht aktualer wären, das ‚unzerstörbare Glück‘ in Person des ‚GG‘ zu zeigen?“67 Weil er mit Müllers nicht weiterkam, bat Dessau im Laufe des Jahres 1961 Anna Elisabeth Wiede und Peter Hacks zur Arbeit hinzu. Offenbar arbeiteten beide zeitweise mit Inge und Heiner Müller gemeinsam an dem Libretto, einer der seltenen literarhistorischen Fälle eines aus zwei schreibenden Paaren bestehenden AutorInnenkollektivs.68 Die Zusammenarbeit, über die weiterhin nichts bekannt ist, war aber ohne Erfolg.69 In einem Brief an Paul Dessau führt Hacks das Scheitern auf die verschiedenen Arbeitsstile zurück, die untereinander nicht koordinierbar gewesen seien. Damit ist auf Müllers Nachlässigkeit im Zusammenhang mit Terminen angespielt, die Hacks auch später öffentlich als Defizit Müllers ausstellen sollte und die ebenso Paul Dessau in seinem Tagebuch monierte.70 Mit gleichem Brief erhielt Dessau eine erste Fabelskizze des Librettos, die ihm offenbar zusagte: „Ich denke auch, daß Sie beide das sehr wohl treffen werden. Ich freue mich ungemein auf diese Zusammenarbeit.“71 Nachdem Heiner Müller auf

|| 66 Vgl. Hauschild, S. 461. 67 Paul Dessau an Heiner Müller, 26. Juli 1960, HMA, Nr. 801 68 Siehe zum literarhistorischen Phänomen schreibender Paare: Marko: Schreibende Paare. 69 Aus einem Brief Hacks’ geht hervor, dass ein gemeinsamer Vertrag geplant war. Vgl. VK 74 (Peter Hacks an Heiner Müller, 1. November 1961). In Müllers Notizen zum Glücksgott taucht Peter Hacks nur einmal auf. Dort ist, was auf den problematischen Charakter der Zusammenarbeit hinweisen könnte, vom „sanfte[n] Größenwahn von PH“ die Rede. HMA, Nr. 3967, Bl. 34. Andere Notizen auf demselben Blatt, Varianten des externen Kommentars zum synthetischen Fragment, sprechen allerdings für eine spätere Datierung zu Beginn der 1970er Jahre. 70 Vgl. Peter Hacks an Paul Dessau, 1. November 1961, PDA, Nr. 1.74.2209.2. Siehe auch den Brief gleichen Datums an Heiner Müller, der die identische Begründung liefert. Vgl. VK 74. Im „Brief an einen Geschäftsfreund“ schreibt Hacks später: „[E]r ist unfähig, eine literarische Produktion […] von einem vorgehabten Schlußtermin her zu organisieren.“ HW 13, 145. Auch Paul Dessau schrieb am 3. Februar 1961 in seinem Tagebuch über „die schlampigen Müllers“. Paul Dessau: „Let’s hope for the best.“ Briefe und Notizbücher aus den Jahren 1948 bis 1978, hg. von Daniela Reinhold. Hofheim 2000, S. 73. 71 Paul Dessau an Peter Hacks, 4. November 1961, DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit Paul Dessau. Die Fabelskizze befindet sich im Nachlass Dessaus. Vgl. PDA, Nr. 1.74.1444.1.

Brecht fortschreiben: Der Glücksgott | 127

Hacks’ Vorschlag, Dessau ein eigenes Angebot zu unterbreiten, nicht eingegangen war, schickten Wiede und Hacks im August 1962 eine zweite, detailliertere Fabel nebst Personenverzeichnis. Anfang Januar folgten ein ausgearbeiteter Prolog sowie der erste Akt des insgesamt auf sieben Akte angelegten Librettos.72 Der Fabelentwurf Wiedes und Hacks’ zeigt einen anderen Glücksgott. Im Mittelpunkt steht nicht der Widerspruch von Glücksversprechen und unmittelbarer Glücksrealisation im Sozialismus wie bei Müllers, sondern das revolutionäre Potential, das das Verlangen nach Glück im Kapitalismus freisetzen kann, sowie ein falscher, auf „Ersatzbefriedigungen“73 abzielender Glücksbegriff. Die Asozialität des Glücksgotts ist weniger stark in den Fokus gerückt. Ein Bezug zur DDR und internen Problemen des sozialistischen Aufbaus fehlt gänzlich. Wiede und Hacks verlegen den Spielort vielmehr in die USA und nach Kuba und stellen die Handlung somit in den Kontext der Systemauseinandersetzung des Kalten Krieges. Die gespielte Zeit ist dementsprechend 1958 bzw. die „Krise des Imperialismus“74. Im Vergleich zu Inge und Heiner Müller folgen Wiede und Hacks deutlicher der Brecht-Fabel. Auf den Prolog im Himmel – der Thron eines Obersten Gottes beginnt aufgrund der „Leiden der Welt“75 zu glühen, was diesen veranlasst, den Glücksgott auf die Erde zu schicken – folgt im 1. und 2. Akt die Werbung von SchülerInnen und die Verbreitung der Lehre des Glücksgotts. Diese ergreift im 3. Akt, wenn der Glücksgott mit seiner Schülerin, der Sängerin Silver Jones, wie ein moderner Prediger durchs Land zieht und öffentliche Shows abhält, die ,Massen‘: „keine Steuern zahlen, keine Rüstungsausgaben tragen, keine Rassenschranken dulden“.76 Auf dem Höhepunkt der Handlung kommt es zu dem (schon von Müllers bekannten77) Duell zwischen dem Glücksgott und einem falschen, maschinellen, von dem Kapitalisten Octopus aufgestellten Glücksgott, das Ersterer gewinnt. Im 4. Akt folgt ein Treffen mit dem eigentlichen Rivalen Octopus auf einem Schiff. Octopus setzt auf „nackte Gewalt“ und lässt den Glücksgott über die Reling werfen; anschließend wird verkündet: „GG tödlich verunglückt.“78 Damit wird der Ortswechsel nach Kuba eingeleitet, wo ein Delphin den Glücksgott an Land trägt. Im 5. Akt ist der Glücksgott zugleich Auslöser der kubanischen Revolution wie auch „Schüler“ der Guerilleros, die ebenfalls gegen Octopus kämpfen und deren „Vorstellungen über das Glück“ er als „konkreter“ als die eigenen anerkennt.79 Der 6. Akt ist ein „Revolutionskarneval in Havanna“ mit einer Ansprache Dr. Barbudos (i. e. Fidel || 72 Vgl. PDA, Nr. 1.74.1444.3 u. PDA, Nr. 1.74.831.2. Die Texte sind erstmals von Hans-Jochen Irmer eingesehen worden. Vgl. Irmer: „Der Glücksgott“. 73 PDA, Nr. 1.74.1444.1, Bl. 1. 74 Vgl. PDA, Nr. 1.74.1444.3, o.S. Die Paginierung setzt erst mit Bl. 2 ein. 75 PDA, Nr. 1.74.831.2, Bl. 1. 76 PDA, Nr. 1.74.1444.3, Bl. 7. 77 Auf die Übernahme weisen Wiede und Hacks ausdrücklich hin. Vgl. PDA, Nr. 1.74.1444.1, Bl. 3. 78 PDA, Nr. 1.74.1444.3, Bl. 9f. 79 PDA, Nr. 1.74.1444.3, Bl. 11.

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Castro), „[a]ntiamerikanischen Pantomimen“, der „Internationalen“ „als Rumba“ und einem Auftritt des zu Beginn der 1960er Jahre populären russischen Dichters Jewgeni Jewtuschenko.80 Der sinnenfrohe Glücksgott, der mit einer der Revolutionärinnen ein Verhältnis begonnen hat und diese nun widerwillig auf ihr Dorf begleiten soll, lässt sich feiern und trifft auf seine ehemalige Schülerin Silver Jones. Sie lockt ihn auf ein Schiff, das ihn zurück in die USA bringt. Im letzten Akt soll der Glücksgott im Auftrag des Kapitalisten Octopus sowie des FBI hingerichtet werden. „Urteilsbegründung: das Glück lehren ist materialistisch, atheistisch und revolutionär“81. Entsprechend der Brecht’schen Vorlage misslingt die Tötung. Im Epilog spricht der Glücksgott ad spectatores den zentralen Lehrsatz der Parabel „Das Streben nach Glück ist unausrottbar“ und geht ab „nach dem Ort der zur Zeit der Aufführung eben neuesten Revolution“.82 Indem Wiede und Hacks die Anfang der 1960er Jahre aktuelle Konfrontation zwischen den USA und dem sowjetisch unterstützten Kuba in die Fabel integrieren, geben sie der Parabel ein agitatorisches Moment. Der Glücksgott wird zum Agitator, der die Menschen durch die Verbreitung seiner Lehre dazu bringt, ihr falsches Glück zu erkennen und sozialistische Schlüsse zu ziehen.83 Die Setzung des Spielorts folgt aber nicht allein der Geographie der Blockkonfrontation, sondern ist als Fortschreibung Brechts auch intertextuell abgesichert. Wiede und Hacks verändern die Brecht-Fabel zwar durch die räumliche Konkretisierung, aber sie tun es, wenn sie die USA ähnlich attribuieren wie die „Netzestadt“ 84 Mahagonny, unter Rückgriff auf Brechts Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny. So präsentiert der in einer kalifornischen Bar spielende und komplett ausgearbeitet vorliegende 1. Akt „vier ältere Geschäftsleute“, die als Elche auftreten und auf Brechts Holzfäller aus Alaska verweisen.85 Neben figuralen und formalen Anleihen nutzt der Entwurf des Librettos aber vor allem die semantische Konnotation der Mahagonny-Welt. Es sind die schillernden Illusionen des Konsums, des Vergnügens und der Individualität in der modernen kapitalistischen Stadt,86 die den Inhalt des falschen Glücksbegriffs ausmachen, mit dem sich der

|| 80 PDA, Nr. 1.74.1444.3, Bl. 12. 81 PDA, Nr. 1.74.1444.3, Bl. 14. 82 PDA, Nr. 1.74.1444.3, Bl. 15. 83 Selbst aus der Konfrontation mit dem Kapitalisten Octopus geht der Glücksgott als „Sieger“ hervor, weil er beweisen kann, „daß Octopus nicht glücklich ist“. PDA, Nr. 1.74.1444.3, Bl. 9. 84 GBA 2, 336. 85 PDA, Nr. 1.74.831.2, Bl. 6. Auch das Auftrittslied der Elche, die ebenfalls von außerhalb kommen und laut Regieanweisung als Chor fungieren, ist formal wie semantisch an Brechts Mahagonny-Lieder angelehnt: „Alle Bars der Stadt sind schon geschlossen, / Alle Mädchen sind geküßt, / Alle Whiskygläser umgegossen, / Aber das Vergnügen endet nimmer.“ PDA, Nr. 1.74.831.2, Bl. 6. 86 Siehe zur Deutung von Brechts Mahagonny: Gerd Koch u.a. (Hg.): „Können uns und euch und niemand helfen“. Die Mahagonnysierung der Welt. Bertolt Brechts und Kurt Weills „Aufstieg und Fall

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Glücksgott nach seiner Ankunft auf der Erde konfrontiert sieht. So muss der Glücksgott erstaunt erkennen, dass die Menschen sich entweder für glücklich halten und Glück materiell im Sinne der Anhäufung von Waren als Sehnsucht („Hoffnung“) bzw. Flucht („Vergessen“ durch Drogenkonsum) auffassen, oder dass die Existenz des Glücks geleugnet wird: „Das Glück währt so lang wie eine Zigarette.“87 Den falschen Auffassungen vom Glück setzt der Glücksgott in seinem Auftrittslied entgegen, dass „jede Minute ein Fehler [war], / Wo Sie nicht glücklich gewesen sind.“88 Der Glücksgott meint, das „Glück der Unglücklichen“, ihre Selbsttäuschung, sei fataler als das „Unglück der Glücklichen“, denn letzteres ermögliche Erkenntnis – und somit potentielle Änderung. 89 Die aber ist erschwert durch die klassenkämpferische Prämisse der Glückserfüllung („Es gibt kein Glück ohne das Glück aller“90) und die kapitalistischen Interessen, die der Änderung der Verhältnisse entgegenstehen. Das drückt sich in der Konstruktion eines falschen Glücksgotts im Auftrag des Kapitalisten Octopus und der Konfrontation zwischen diesem und dem echten aus: Der affirmativen Botschaft „ihr seid glücklich“ steht der subversive Aufruf des echten Glücksgotts „ihr müsst glücklich werden“ gegenüber.91 Dass der Glücksgott nicht vermag, die Revolution in den USA zu befördern bzw. diese nur in deren ‚Hinterhof‘ erfolgreich ist, entspricht nicht nur den weltpolitischen Kräfteverhältnissen. Gegen den Kapitalisten Octopus, der in Anlehnung an die mitunter recht plumpe kommunistische Propaganda synonym für den Kapitalismus steht,92 kommt er nicht an. Wie schon bei Brecht und Müllers ist er Propagandist, handelt selbst jedoch nicht. Es fehlt ihm gänzlich an Durchsetzungskraft: „Ich bin glücklich und lehre andere, es zu sein, wenn sie auf mich hören wollen […]; ich vermag keinen zu etwas zu zwingen, und schon gar nicht zu seinem Glück“, äußert er im Prolog.93 Zwar lernt er im Laufe der Handlung dazu und stellt sich nicht gegen die Revolution. Letztlich bleibt er aber eine plebejische und naive Figur, die es vor allem auf sinnliche Genüsse abgesehen hat. Wiede und Hacks knüpfen hier an die Figurenbe-

|| der Stadt Mahagonny“. Frankfurt/M. 2006 u. Jan Felix Gaertner: Vogelstaat und Netzestadt. Aristophanes’ „Vögel“ und „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ von Bertolt Brecht und Kurt Weill. In: Germanisch-romanische Monatsschrift 59 (2009), H. 4, S. 551–565. 87 PDA, Nr. 1.74.831.2, Bl. 9, 11 u. 12. Der Warenbezug wird in der 2. Fabelskizze deutlicher ausgeführt. Dort ist von den klassischen Massenkonsumgütern des Kapitalismus die Rede: „Kühlschrank, Waschmaschine, Auto“. PDA, Nr. 1.74.1444.3, Bl. 3f. 88 PDA, Nr. 1.74.831.2, Bl. 9. 89 PDA, Nr. 1.74.831.2, Bl. 13. 90 PDA, Nr. 1.74.1444.3, Bl. 10. 91 PDA, Nr. 1.74.1444.3, Bl. 8. 92 Im ersten Fabelentwurf trägt der Kapitalist noch den Namen Rockefeller. Vgl. PDA, Nr. 1.74.1444.1, Bl. 3. 93 PDA, Nr. 1.74.831.2, Bl. 3.

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schreibung Brechts an, wenn sie den Glücksgott als schlampigen Bacchus mit Weinschlauch darstellen,94 der angesichts der revolutionären Ereignisse auf Kuba verträumt wirkt und aufgrund seiner Dickleibigkeit zu spät zum Revolutionskarneval in der Hauptstadt erscheint. Auf den Glücksgott ist kein Verlass, und – so der Oberste Gott, der den Glücksgott auf die Erde schickt, im Prolog – „das sei gut, denn die Menschen müßten sich selbst ändern“.95 Insofern verknüpft der Libretto-Entwurf Glücksanspruch und selbstbestimmte Aktivität und verortet das Glück dergestalt nicht zuletzt auch als Ausdruck einer Haltung: „wer das Glück liebt, den liebt das Glück“.96 Der Wiede/Hacks-Glücksgott ist eine konsequente Ausführung der Brecht’schen Vorlage, ignoriert aber die asoziale Seite der Brecht’schen Figur. Er kann als Versuch einer operativen sozialistischen Oper mit doppelter Didaxe verstanden werden: Entlarvung bürgerlicher Ideologie durch Aufdeckung falscher Auffassungen vom Glück und deren Interessengebundenheit einerseits, Vermittlung eines gesellschaftlichen Glücksbegriffs, der sowohl abstrakt als auch zeithistorisch konkret mit dem Sozialismus verknüpft wird, andererseits. Im Zentrum der Fabel steht die Aufklärung über die (Un-)Wahrheit des American Dream, die Funktionsweise des Kapitalismus und dessen Herrschaftsmechanismen. Thematisiert wird sowohl der Fetischcharakter der Waren, der Rassismus im Sinne einer Legitimationsideologie als auch die Funktionsweise der Kulturindustrie.97 Inwiefern sich der Glücksgott im Sozialismus bewährt, ob er positiv oder negativ wirkt, bleibt offen. Wiedes und Hacks’ Glücksgott ist tendenziell nach Westen bzw. auf das nicht-sozialistische Ausland gerichtet. Das verdeutlicht auch der Epilog, der den Glücksgott auf den Schauplatz der nächsten Revolution verpflichtet. Im Laufe des Jahres 1962 konkretisierten sich die Pläne für die Glücksgott-Oper. Paul Dessau gefiel die außenpolitische Perspektivierung außerordentlich.98 Handschriftliche Ergänzungen und Umstellungen belegen neben zwei fertig komponierten Liedern eine intensive Auseinandersetzung mit dem Fabelentwurf. Dessau witterte || 94 Vgl. PDA, Nr. 1.74.831.2, Bl. 2. 95 PDA, Nr. 1.74.1444.3, Bl. 2. „Denn eine Welt kann nur geändert werden durch sich selbst.“ PDA, Nr. 1.74.831.2, Bl. 4. 96 PDA, Nr. 1.74.1444.3, Bl. 11. Hacks hat den Satz dann kurze Zeit später in seiner im Januar 1964 fertiggestellten Komödie Polly oder Die Bataille am Bluewater Creek benutzt und der selbstbewussten Protagonistin als Schlusskommentar in den Mund gelegt: „Und der das Glück liebt, / Den liebt das Glück.“ HW 3, 346. 97 Vgl. zum Rassismus den 1. Akt, in dem dargelegt wird, dass der Philippiner Jack zwar Whisky trinken, aber keine weiße Frau heiraten darf. Vgl. PDA, Nr. 1.74.831.2, Bl. 10. Die Fähigkeit der Kulturindustrie, revolutionäre Äußerungen zu entschärfen, wird anhand des Lieds des Glücksgotts aufgezeigt. Zuvor hat es die Sängerin Silver Jones auf Versammlungen in agitierender Absicht gesungen. Im Laufe der Handlung zum „Filmstar“ und zur Vertreterin der USA geworden, singt sie es immer noch. Vgl. PDA, Nr. 1.74.1444.3, Bl. 12. 98 „Hurrah!!! Das ist ja grandioso! Gratuliere!“, heißt es in einem undatierten, aus dem Spätsommer 1962 stammenden Brief Dessaus, DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit Paul Dessau.

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die Chance zu einer großen Oper. Der vorerst „geheim[e]“ Arbeitstitel lautete: „Die Zaubertrommel“, einerseits ein Rückgriff auf Müllers, die den Glücksgott bühnenwirksam mit einer Trommel versehen und zum Trommler des Glücks gemacht hatten, andererseits in Anlehnung an Mozarts Zauberflöte.99 Warum blieb schließlich auch diese Glücksgott-Oper ungeschrieben? Der Grund liegt, anders als bei Inge und Heiner Müller, weder an ästhetischen Problemen mit der von Brecht übernommenen Parabelform noch an dem Umstand, dass „andere Projekte für Wiede und Hacks wichtiger geworden“ seien, wie Oliver Lisewski meint.100 Der Abbruch der Arbeit ist vielmehr auf das von Helene Weigel nach Brechts Tod behauptete Brecht-Monopol und Hacks’ Weigerung, sich den von außen gesetzten Bedingungen zu beugen, zurückzuführen. Denn die Bearbeitung des Glücksgotts bedurfte, da der Stoff auf eine Brecht-Idee zurückging, der Zustimmung Helene Weigels. Der Versuch, sie mittels der Argumentation zu überzeugen, dass von Brecht „ja (außer der Schluss-Idee des Unzerstörbaren des Glücks) so gut wie nichts“ benutzt worden sei, war aber nicht erfolgreich. „Madame Harpagon“ – die Hauptfigur aus Molières Der Geizige und in den Briefen zwischen Dessau und Hacks die Bezeichnung für Helene Weigel – machte „Schwierigkeiten“.101 Um das Projekt doch noch realisieren zu können, versuchte Paul Dessau daraufhin eine Übereinkunft mit dem Berliner

|| 99 Vgl. die handschriftlichen Ergänzungen Dessaus: PDA, Nr. 1.74.1444.3, o. S. Es gibt eine sogenannte Türkenoper aus dem Jahr 1791 namens Der wohltätige Derwisch, deren zweite Fassung den Titel Die Zaubertrommel trägt. Sie wurde lange Zeit Mozart zugeschrieben. Vgl. David Joseph Buch (Hg.): Der wohltätige Derwisch (Vienna, 1791). Middleton/Wisconsin 2010. 100 Lisewski: Spielball Glücksgott, S. 17. Im Gegenteil scheint das Libretto zu den festen Plänen Hacks’ gehört zu haben. Er berichtete davon sowohl Heinar Kipphardt als auch seiner Mutter. Vgl. VK 52 (Peter Hacks an Heinar Kipphardt, 4. Januar 1962) u. Mamama 163 u. 167 (Peter Hacks an Elly Hacks, 17. Februar 1962 u. 22. März 1962). 101 Paul Dessau an Peter Hacks, 4. November 1961 u. 2. März 1962, DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit Paul Dessau. In einem späteren Brief bekräftigte Hacks, „daß unser Stoff nicht Brechts Stoff sei“: „Der Prolog ist aus Vietnam, die Untötbarkeit aus China. Bleibt von Brecht: ein Gott, der die Menschen glücklich machen will, wird nicht hingerichtet. Das ist keine Stück-Idee, für die man Geld geben muss.“ Peter Hacks an Paul Dessau, 4. Oktober 1962, PDA, Nr. 1.74.2209.5. Siehe zur Nachlass-Politik Helene Weigels und ihrer Rolle als Intendantin des BE: Sabine Kebir: Abstieg in den Ruhm. Helene Weigel. Eine Biographie. Berlin 2000, S. 279ff.; Asja Braune: Helene Weigel – kompromisslose Nachlassverwalterin von Bertolt Brecht. „… (wegen besonderer Umstände) Privateigentum…“. In: Volkmar Hansen (Hg.): Special Delivery. Von Künstlernachlässen und ihren Verwaltern. Bonn 2011, S. 101–135 u. Hecht: Die Mühen der Ebenen, S. 250ff. – In den im Frühjahr 1963 in SuF veröffentlichten und mit dem Titel „Briefe“ überschriebenen Portraitgedichten Hacks’, die Marx, Brecht und Büchner zum Gegenstand haben, findet sich ein Reflex auf die Verweigerungshaltung Helene Weigels im Motiv der Witwenschelte. Zwar spart das Brecht-Gedicht, das in der Mitte des Triptychons steht, im Gegensatz zu den umschließenden Gedichten eine Aussage über die Frauen der Bedichteten aus. Die letzten drei Verse des Büchner-Gedichts können aber auch als Kommentar zum Glücksgott-Projekt gelesen werden, zumal die Anrede in den Plural wechselt: „O diese Gretchenkletten immer an / Den deutschen

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Ensemble und dessen Chefregisseur Manfred Wekwerth zu erreichen.102 Aber gerade Dessaus Drängen auf diese Zusammenarbeit führte schließlich zur Beendigung der Arbeit am Glücksgott von Seiten Hacks’. Ausschlaggebend dafür war nicht so sehr die Einmischung externer Kräfte im Allgemeinen – die war in der DDR ohnehin Normalität103 –, sondern im Konkreten: Hacks stand einer Kooperation mit dem Berliner Ensemble unter Manfred Wekwerth prinzipiell ablehnend gegenüber. In der am Schiffbauer Damm praktizierten Art der Brecht-Kanonisierung und der affirmativen Fortschreibung, wie sie sich in Helmut Baierls Frau Flinz zeigte, erkannte er seit Beginn der 1960er Jahre zunehmend das Gegenteil seiner eigenen ästhetischen Ansichten.104 Insofern deutet das Scheitern des Glücksgotts auch bereits auf die für die 1960er Jahre charakteristische Absetzbewegung von Brecht und die ästhetischen Auseinandersetzungen zwischen den ehemaligen Brecht-Schülern hin. Für Hacks wie auch für Müller stellte der Versuch, ein Glücksgott-Libretto zu verfassen, die erste Begegnung mit der Gattung Oper dar. Sie scheiterten, wie gesehen, aus verschiedenen Gründen. Es dauerte bis Ende der 1960er Jahre, bis beide sich wieder dem Musiktheater zuwandten: Müller mit dem Libretto Drachenoper [1967/68] zu Paul Dessaus Oper Lanzelot, Hacks mit dem Libretto zu Noch ein Löffel Gift, Liebling? [1971], einem Kriminalstück, das er selbst 1960 unter dem Pseudonym Saul O’Hara gemeinsam mit Anna Elisabeth Wiede verfasst hatte.105 Vergleicht man beide Fragmente des Glücksgotts vor dem Hintergrund der Brecht’schen Ausarbeitungen und Aufzeichnungen miteinander, so fällt zunächst auf, dass Hacks und Müller Brecht auf sehr verschiedene Weise fortschreiben. Beide sind mit dem Problem konfrontiert, dass die historische Entwicklung den Blick auf den Stoff, den Brecht im Exil noch als in die Zukunft gerichtet konzipieren konnte,

|| Fäusten. Was für bucklige / Witfrauen hinterlaßt, Titanen ihr.“ Peter Hacks: Briefe [Marx; Brecht; Büchner]. In: SuF 15 (1963), H. 2/3, S. 205. Vgl. Püllmann: Von Brecht zu Braun, S. 193ff. 102 Vgl. Paul Dessau an Peter Hacks, 26. Januar 1963, PDA, Nr. 1.74.1843.1. 103 Tatsächlich drängte Hacks selbst darauf, die Fabel mit der Abteilung Kultur des ZK der SED abzustimmen. Vgl. Peter Hacks an Paul Dessau, 4. Oktober 1962, PDA, Nr. 1.74.2209.5. 104 In einem Brief an Heinar Kipphardt vom 14. November 1961 heißt es: „Wie kommstu auf die Irrsinnsidee, daß mit Wekwerth das mindeste auszurichten sein könnte? Das Benehmen dieses Hauses ist stinkend und ekelerregend“. DWF 49. Polemiken gegen Manfred Wekwerth finden sich in vielen Hacks-Texten der 1960er Jahre. Vgl. Peter Hacks: Über Lieder zu Stücken. In: SuF 14 (1962), H. 3, S. 421–425 u. HW 9, 60f. Durch die Arbeit als künstlerischer Mitarbeiter des Deutschen Theaters ab Januar 1960 war Hacks eng mit dem BE verbunden, in dessen Räumlichkeiten zeitweise Proben des sich zwischen 1959 und März 1962 im Umbau befindlichen Deutschen Theaters stattfanden. Helmut Baierl schreibt über die Arbeit am BE nach Brechts Tod, man sei „frisch und fröhlich ins Museum“ abgerutscht. Helmut Baierl: Die Köpfe oder Das noch kleinere Organon. Geschichten. Berlin 1974, S. 150. 105 Siehe zu Saul O’Hara: Ronald Weber: Herr und Frau O’Hara. Warum Peter Hacks und Anna Elisabeth Wiede 1960 einen irischen Nationalökonomen und Komödiendichter erfanden. In: jW, 24. Juli 2010, S. 13.

Brecht fortschreiben: Der Glücksgott | 133

verändert hat: Als ,asoziales‘ Instrument der Aufklärung ließ sich der Glücksgott vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs und einer kapitalistischen Gesellschaft als Mittel der Negation anwenden; Ende der 1950er Jahre drängte sich die Frage auf, welche Funktion dem Glücksgott im Sozialismus zukomme. Wie gehen Glücksgott und DDR-Realität zusammen? Brecht selbst gab hierauf keine Antwort mehr und behandelte solche Probleme nur noch in der Lyrik.106 Schon angesichts des „Garbe“-Stoffs äußerte er gegenüber Wera und Claus Küchenmeister: „Ich kann nicht mehr, das müßt ihr Jungen weitermachen“,107 worin sich nicht nur erste Erscheinungen des Alters, sondern auch politische Skepsis ausdrückt. Anna Elisabeth Wiede und Peter Hacks umgehen den Widerspruch von Glücksversprechen und unmittelbarer Glücksrealisation im Sozialismus, indem sie die Handlung durch die Verschiebung des Spielortes verfremden und in den Kontext der Systemauseinandersetzung des Kalten Krieges stellen. Die problematische Asozialität des Glücksgotts wird so umgangen.108 Inge und Heiner Müller hingegen lassen sich auf die Konfrontation von Anspruch und Wirklichkeit ein. Aber auch sie verringern durch die in der Fabelskizze vorgesehene geschichtsteleologische Verlängerung der Handlung bis in den Kommunismus die Sprengkraft des Widerspruchs. Für Heiner Müllers Dramenpraxis liegt hier eine atypische Perspektivierung vor, zielt die Konfrontation von kleinbürgerlichem Glücksbegriff und Kommunismus doch auf „die Widersprüche zwischen dem Morgen und dem heute“,109 die Hacks in den 1960er Jahren in den Mittelpunkt seiner Ästhetik rücken und Müller später als ästhetische Demagogie verurteilen wird. Dennoch: Müllers Entwürfe sind eindeutig auf sozialismusinterne Probleme ausgerichtet, während Wiede und Hacks den Stoff außenpolitisch perspektivieren und somit an ein offizielles Narrativ anschließen. Der unterschiedliche Zugriff auf das Brecht’sche Glücksgott-Material verweist auf die jeweilige Wahrnehmung der DDR-Gesellschaft durch Hacks und Müller sowie deren allgemeine geschichtsphilosophische Annahmen. Der ‚runde‘ Entwurf des Wiede/Hacks-Glücksgotts basiert darauf, „die Schwierigkeiten der Zeit zu ignorieren“.110 Müller hingegen hinderten gerade diese ‚Schwierigkeiten‘ daran, sein eigenes Konzept auszuführen; die Aufhebbarkeit der Probleme muss ihm Ende der 1950er Jahre bereits zweifelhaft erschienen sein. Hinzu kommt die Skepsis gegenüber der

|| 106 Vgl. Karen Leeder: Lateness and Late Style in Brecht’s Last Poetry. In: Brecht and the GDR. Politics, Culture, Posterity. New York 2011 (Edinburgh German Yearbook. Bd. 5), S. 45–64. 107 Zit. n.: Werner Hecht: Brecht Chronik. 1898–1956. Frankfurt/M. 1997, S. 1117. Vgl. Stephen Parker: A Life’s Work Curtailed? The Ailing Brecht’s Struggle with the SED Leadership over GDR Cultural Policy. In: Brecht and the GDR, S. 65–82. 108 Die Brecht-Fragmente Der böse Baal, der asoziale und Fatzer, die im Zentrum von Müllers späterer Brecht-Rezeption stehen (vgl. MW 8, 223), spielen für Hacks keine Rolle, weder in den Aufzeichnungen zum Glücksgott noch in späteren Arbeiten. 109 GüS 120, Anm. 110 DWF 52 (Peter Hacks an Heinar Kipphardt, 4. Januar 1962).

134 | Differenzen

Form der Parabel, ihr antirealistisches Moment. Als Müller in den 1960er Jahren vor dem Hintergrund des von ihm wahrgenommenen geschichtlichen Stillstands mit Philoktet [1958/64] schließlich wieder auf die Parabel zurückgreift, bekommt sie eine andere Funktion. Da der Weg in die Zukunft versperrt ist, rückt sie die Vergangenheit in ihren Blick: „[W]enn die Chancen vertan sind, beginnt, was Entwurf neuer Welt war, anders neu: als Dialog mit den Toten“ – die „Befreiung der Vergangenheit“ soll den „Sprengstoff“ zur Verfügung stellen, der hilft, den Stau der Gegenwart zu sprengen.111 Hacks hat sich zu diesem Zeitpunkt, also Mitte der 1960er Jahre, bereits grundsätzlich von der Parabel verabschiedet, allerdings mit anderen Argumenten als Müller in den späten 1950er Jahren: Die Parabel erscheint ihm nun in Entsprechung zur Allegorie als „eine törichterweise zur Handlung gedehnte Anspielung“ und ob ihrer mangelnden Mehrdeutigkeit als unpoetisch.112 Die Glücksgott-Arbeiten Hacks’ und Müllers bestätigen den bereits an den zum Didaktischen Theater gehörigen Texten gewonnenen Eindruck einer grundsätzlichen Differenz, die auf unterschiedliche ästhetische Fluchtpunkte und politische Haltungen gegenüber der sozialistischen Gegenwart zurückgeführt werden kann. Dass diese Differenz zu Beginn der 1960er Jahre zunächst keine Auswirkungen auf die beschriebene Negativ-Koalition hatte, ist auf die äußeren Umstände im literarischen Feld zurückzuführen, fassten doch die Angriffe auf Heiner Müllers Komödie Die Umsiedlerin, um die es im folgenden Kapitel geht, das ästhetische Spannungsverhältnis zwischen Hacks und Müller wie eine Klammer ein.113

|| 111 MW 3, 165. 112 HW 14, 39. Eine Distanzierung von der Parabel formulierte Hacks zuerst in Das Poetische. Vgl. HW 13, 114. 113 Das gilt auch umgekehrt hinsichtlich der Angriffe auf Hacks’ Gegenwartsdramen Die Sorgen und die Macht und Moritz Tassow. Siehe hierzu: Kap. 4.4.2.

Der Skandal um Die Umsiedlerin von Heiner Müller | 135

4.2

Der Skandal um Die Umsiedlerin von Heiner Müller

Am 13. August 1961 schloss die Regierung der DDR die Grenzen nach Westen und begann mit dem Bau der Berliner Mauer. Die stetige Abwanderung gut ausgebildeter Arbeitskräfte über die offene Grenze Westberlins in die Bundesrepublik sowie die Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage im Zuge der Kollektivierung der Landwirtschaft und des Abbruchs des innerdeutschen Handelsabkommens durch die Regierung Adenauer hatten zum drastischen Schritt der Grenzschließung geführt, einer Maßnahme, die gleichwohl im Interesse der Alliierten lag und den Streit um die Stellung Westberlins beendete. Der 13. August wurde, indem er den Status quo der Nachkriegsordnung festschrieb, zum „heimlichen Gründungstag der DDR“. Ein vereinigtes Deutschland rückte somit in weite Ferne. Die DDR wurde endgültig zum Staat.114 Von der Mehrzahl der sozialistischen Intellektuellen wurde der Bau der Mauer begrüßt. Man erwartete, dass die stets in Hinblick auf den Klassengegner BRD geführten innenpolitischen Auseinandersetzungen nunmehr mit größerer Ruhe und liberalerer Grundhaltung stattfänden. Schließlich war der sozialistische Staat nun, wie Bruno Apitz in Anspielung auf seinen berühmten Roman im Neuen Deutschland schrieb, „nicht mehr ‚nackt unter Wölfen‘“.115 Im Feld der kulturellen Produktion verband sich der Mauerbau dezidiert mit einer Erwartung der Ausweitung der ästhetischen Möglichkeitsräume. Die von Walter Ulbricht unter dem sperrigen Namen „Neues Ökonomisches System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft“ – kurz NÖSPL bzw. NÖS – vorangetriebenen Reformen, die auch einen gesellschaftlichen Aufbruch in Feldern wie der Jugend- und Familienpolitik oder dem Rechtswesen bedeuteten, erweckten die „Hoffnung auf eine Synthese künstlerischen und gesellschaftlichen Funktionierens“ und führten zu einem Aufschwung und einer Neuorientierung der kulturellen Produktion.116 Zunächst entpuppte sich die Mauer aber als „Hoffnungsfalle“, als Illusion eines fälschlich antizipierten freien Austauschs zwischen Intellektuellen und SED.117 Denn || 114 Vgl. Dietrich Staritz: Geschichte der DDR. Frankfurt/M. 1996, S. 185ff. u. André Steiner: Von Plan zu Plan. Eine Wirtschaftsgeschichte der DDR. Bonn 2007, S. 115ff. Das Zitat bei Staritz, S. 196. 115 Bruno Apitz, zit. n.: Ministerium für Kultur der DDR (Hg.): Die Stimme der Künstler ruft nach Frieden. Berlin 1961, S. 67. In den öffentlichen Stellungnahmen dominiert die Argumentationsfigur der Abwehr gegen die „Diktatur der westdeutschen Bourgeoisie“ (Peter Hacks, zit. n.: Von der Macht des Geistes. Worte der Intelligenz in dem Tagen vor dem 17. September. In: Sonntag, 17. September 1961, S. 4) und „die Schröders und Globkes und Brandts und Strauß‘“. (Franz Fühmann, zit. n.: Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR, S. 179) 116 Wrage, S. 3. Siehe zum NÖS und den Reformen der 1960er Jahre: Kap. 4.5.6. 117 Joachim Lehmann: Vom ,gesunden Volksempfinden‘ zur Utopie. Literaturkritik der DDR im Spannungsfeld von Zensur und Literatur. In: Heinz Ludwig Arnold u. Frauke Meyer-Gosau (Hg.): Literatur in der DDR. Rückblicke. München 1991, S. 121. Heiner Müller urteilte nachträglich: „Wir dachten, jetzt haben wir die Mauer, jetzt können wir Otto Gotsche [dem Schriftsteller und Sekretär Walter Ulbrichts, R.W.] sagen, daß er ein Arschloch ist. Das war ein Irrtum.“ MW 12, 386. Ähnlich auch Hacks

136 | Differenzen

die Monate unmittelbar nach dem August 1961 standen im Zeichen der Repression: Es kam zu einer Verhaftungswelle und die Kulturpolitik statuierte anhand von Heiner Müllers sechs Wochen nach dem Bau der Mauer uraufgeführter Komödie Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande ein Exempel, das einen „schwarze[n] Tag in der Kulturgeschichte der DDR“ markiert.118

4.2.1

Das Verbot der Umsiedlerin

Entstehungsgeschichte und Rezeption der Umsiedlerin sowie die repressiven Folgen für die an der Uraufführung am 30. September 1961 an der Studentenbühne der Hochschule für Ökonomie Beteiligten sind in der Forschung umfassend beschrieben worden.119 Die harsche Reaktion der verschiedenen, mehr oder weniger direkt mit dem kulturellen Feld bzw. der Hochschule für Ökonomie als Aufführungsort beschäftigten Institutionen lässt sich neben dem Umstand, dass Müllers Text zahlreiche Tabu-Themen aufgreift, auch auf Widersprüche an den Schnittstellen zwischen kulturpoietischem und politischem Feld, also auf Widersprüche und divergierende Intentionen innerhalb des Institutionengeflechts selbst zurückführen. Im Fall der Umsiedlerin führte die kulturpolitische Überregulierung, die für die DDR zu Beginn der 1960er Jahre kennzeichnend ist, de facto zu einer Nicht-Regulierung: Wo alle hinsehen, sieht keiner hin. „Es war wie auf einer Insel, es gab keine Kontrolle, keine Diskussion über den Text. Wir haben einfach probiert, und ich habe geschrieben“, erinnert sich Müller rückblickend.120 Die Hochschulleitung nahm erst am Tag der Uraufführung Kenntnis vom gesamten Manuskript. Da das Stück im Rahmen der Studententheaterwoche uraufgeführt werden sollte, einer prestigeträchtigen Veranstaltung, für die Wolfgang Langhoff als Intendant des Deutschen Theaters die Schirmherrschaft übernommen

|| in einem Brief an Heinar Kipphardt vom 7. September 1961: „Die Grenzschließung hat natürlich einen Volkszorn hervorgerufen, aber auch eine echte Fröhlichkeit bei allen, die dafür sind. Die Fröhlichkeit äußert sich auch in der Überzeugung, daß der innere Mist jetzt ein Ende haben müsse.“ DWF 44. 118 Marianne Streisand: Der Fall Heiner Müller. Dokumente zur „Umsiedlerin“. Chronik einer Ausgrenzung. In: SuF 43 (1991), H. 3, S. 429. Siehe den Text des Stücks: MW 3, 181ff. Die Seitenangaben werden im Folgenden in Klammern angegeben. 119 Siehe Streisand: Der Fall Heiner Müller; Braun: Drama um eine Komödie u. die hier veröffentlichten Quellen sowie Hauschild, S. 191ff. Siehe auch: B. K. Tragelehn: Mit der „Umsiedlerin“ durch die DDR-Geschichte. Interview geführt von Thomas Irmer und Matthias Schmidt. In: dies. (Hg.): Die Bühnenrepublik. Theater in der DDR. Ein kurzer Abriss mit längeren Interviews. Bonn 2006, S. 67– 98. 120 KoS 126. Natürlich gab es die üblichen kulturpolitischen Kontrollen (vgl. Braun: Drama um eine Komödie, S. 92f.), aber es gelang Müller und dem Regisseur B. K. Tragelehn unter Verweis auf den Prozesscharakter ihrer Arbeit die Theater-Zensur zu umgehen.

Der Skandal um Die Umsiedlerin von Heiner Müller | 137

hatte, ließ sich die Aufführung aber nicht einfach absetzen oder verschieben. So kam es letztendlich zu einer ungeprüften Uraufführung. Angesichts der „mangelnde[n] Wachsamkeit“,121 die sich die Institutionen vorhalten lassen mussten und die zu zahlreichen Parteistrafen führte, fielen die Reaktionen seitens der Hochschule, der für die Studentenbühne verantwortlichen FDJ und der Berliner Bezirksleitung der SED umso heftiger aus. Schnell war von einer Auflösung der Studentenbühne und einer Verhaftung Heiner Müllers und des Regisseurs B. K. Tragelehn die Rede.122 Zu einer Festnahme Müllers kam es aber nicht; wohl auch deshalb, weil Walter Ulbricht vor dem Hintergrund des weiteren Entstalinisierungsschubs durch den 22. Parteitag der KPdSU auf Disziplinierung und nicht auf Repression setzte.123 Dennoch: Tragelehn wurde aus der SED ausgeschlossen, verlor seine eben erst angetretene Stelle am Theater in Senftenberg und wurde für ein halbes Jahr in die Produktion geschickt. Und Heiner Müller wurde Ende November aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen und zur Persona non grata erklärt; erst 1963 konnte er wieder veröffentlichen.124 Auf den Bühnen der DDR wurden seine Texte, sieht man von dem Libretto Drachenoper und einigen Bearbeitungen ab,125 erst zu Beginn der 1970er Jahre wieder gespielt. Peter Hacks war der Einzige, der während der Mitgliederversammlung des Bezirksverbandes Berlin des Schriftstellerverbandes am 28. November 1961 nicht für den Ausschluss Müllers stimmte. Aber auch Hacks votierte nicht dagegen, sondern enthielt sich.126 Gegen den Ausschluss zu stimmen wäre, so die spätere Einschätzung Müllers „eine Gefahr gewesen“;127 tatsächlich hatte sich die kulturpolitische Auffassung, Müllers „Machwerk“ sei „konterrevolutionär“, sehr schnell durchgesetzt –

|| 121 Braun: Drama um eine Komödie, S. 121. 122 Vgl. Braun: Drama um eine Komödie 1995, S. 114 u. 145. 123 Eine Notiz der Abteilung Kultur beim ZK der SED legt nahe, dass Ulbricht auch gegen den Ausschluss Müllers aus dem Schriftstellerverband war, sich aber gegen den eigenen Apparat nicht durchsetzen konnte bzw. zu spät intervenierte. Vgl. Braun: Drama um eine Komödie, S. 156. 124 1963 erschien im Forum Müllers Gedicht Winterschlacht. Vgl. MW 1, 163ff. 1964 wurde Müller auch vom Ministerium für Kultur wieder zu offiziellen Anlässen eingeladen. Vgl. Ministerium für Kultur an Heiner Müller, 14. Februar 1964, HMA, Nr. 648. 125 Drachenoper, Premiere: 19. Dezember 1969. Zu den Bearbeitungen zählen: Ödipus Tyrann [1966/67], Premiere: 31. Januar 1967 und Horizonte/Waldstück [1968/69], Premiere: 27. September 1969; des Weiteren auch Molières Don Juan oder Der steinerne Gast, Premiere: 22. April 1968 – Müller ‚bearbeitete‘ hier aber weniger, als er die Verse der Übersetzung Benno Bessons korrigierte. Vgl. Alexander Weigel: Die Archäologie des Maulwurfs. Heiner Müller und das Deutsche Theater. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Heiner Müller. 2. Aufl. Neufassung. München 1997, S. 161. 126 Vgl. Protokoll der Mitgliederversammlung vom 28. November 1961. In: Streisand: Der Fall Heiner Müller, S. 462. 127 KoS 142. Diese Einschätzung teilt auch Hans-Christian Stillmark. Vgl. Stillmark: Hacks und Müller, S. 425f.

138 | Differenzen

auch unter vielen AutorInnen, die freilich weder den Text gelesen noch die Inszenierung gesehen hatten.128 Gleichwohl war Peter Hacks nicht der einzige Autor, der sich mit Heiner Müller solidarisierte. Während der Sitzung der Dramatikersektion des Schriftstellerverbandes am 17. Oktober, die teilweise den Charakter eines Tribunals hatte – zu den ca. fünfzig TeilnehmerInnen zählten u.a. Siegfried Wagner, der Leiter der Abteilung Kultur beim ZK der SED, und Alfred Kurella, der Leiter der Kulturkommission –, traten auch Anna Seghers, Hans Bunge und Paul Dessau für Müller, genauer gesprochen: für Inge und Heiner Müller ein. Angesichts der Umstände und dem eindeutigen Auftrag, das Stück zu verurteilen,129 kann man sogar davon sprechen, dass sich auch Gerhard Piens, der das Hauptreferat hielt, für Müller einsetzte, da er die auf den Autor zielende Kritik am Text milderte und so „die entscheidende Frage der falschen und verzerrten Darstellung der Wirklichkeit völlig ungenügend berücksichtigte“, wie der Schriftstellerverband später monierte.130 Im Unterschied zu Anna Seghers, die auf den Sturm und Drang als literarhistorische Parallele aufmerksam machte und generationelle Argumente anführte, um zu erklären, warum Müllers Text „kribbelig und hysterisch“ sei,131 zu Paul Dessau, der auf seine Freundschaft zu Heiner Müller verwies, und zu Hans Bunge, der das repressive Verfahren nach der Premiere und den allgemeinen Opportunismus der verschiedenen Beteiligten kritisierte, konzentrierte sich Peter Hacks’ Rede auf ästhetische Aspekte des Textes.

4.2.2

Der dialektische Jambus

Bereits im Mai 1961 hatte Hacks in Reaktion auf die Veröffentlichung einer Szene der Umsiedlerin im Sonntag einen Essay verfasst, der die spezifische Innovation des Verses durch Müller als „literaturhistorisch wichtiges Vorkommnis“ hervorgehoben hatte.132 Der dramatische Vers galt Hacks als Ausweis einer qualitativ fortgeschrittenen Dramatik, wie er im 1960 in der tschechoslowakischen Theaterzeitschrift Divadelní noviny erschienenen Essay „Versuch über das Theaterstück von morgen“

|| 128 KoS 142 u. Siegfried Wagner, zit. n.: Christa Tragelehn: Transkription des Tonbandmitschnitts der Sitzung der Sektion Dramatik des DSV vom 17. Oktober 1961, Bl. 5, BKTA. Im Folgenden abgekürzt als: DSV 17. Oktober 1961. Ich danke Christa u. B. K. Tragelehn für die freundliche Überlassung des Typoskripts. 129 Vgl. Braun: Drama um eine Komödie, S. 64. 130 DSV, Vorlage Nr. 12/61, zu Heiner Müllers „Umsiedlerin“, zit. n.: Streisand: Der Fall Heiner Müller, S. 451. Siehe die Reden von Seghers, Piens, Bunge und Dessau. In: DSV 17. Oktober 1961, Bl. 1ff.; 18ff.; 52ff. u. 57. Siehe auch den Brief Hans Bunges an den Zentralrat der FDJ vom 15. Oktober 1961 u. den späteren Brief Hans Mayers. Streisand: Der Fall Heiner Müller, S. 437ff. u. 467f. 131 DSV 17. Oktober 1961, Bl. 3. 132 HW 13, 40.

Der Skandal um Die Umsiedlerin von Heiner Müller | 139

betont hatte.133 Im Essay vom Mai 1961 konstatiert Hacks anhand von Müllers Blankvers einen „neuen Jambus“, den er aus den Produktionsverhältnissen der DDR ableitet und „dialektischen Jambus“ nennt. Kennzeichen des dramatischen Verses sei, so Hacks, die widersprüchliche Handhabung von Metrum und Rhythmus. Hacks versteht darunter die qua Metrum erfolgte Setzung eines „Erwartungsschema[s]“, das durch die Prosodie jeweils unterlaufen und erfüllt werde. Mittels einer solchen „Dialektik […] von Erfüllung und Nichterfüllung“ erhalte der Vers eine semantische, d.h. gestische Qualität, weil die Abweichungen ermöglichten, „inhaltliche Akzente in formale Akzente“ zu transformieren.134 Müller nutze diese Dialektik im Sinne der Prämisse, „daß der Kunst alles erlaubt ist, was den Sinn fördert“, indem er den Widerspruch von Metrum und Rhythmus bis zum Äußersten führe und die dramatische Rede zeitweilig in Prosa übergehen lasse, so dass das Metrum nahezu in Vergessenheit gerate und die HörerInnen „den Jambus neu erobern“ müssten: „Man kann an einen Vogel denken, der seine ersten Flugversuche macht, sich für kurze oder lange Strecken aufschwingt, immer noch wieder von der Erde zurückgeholt wird.“ Das entspreche den gesellschaftlichen Verhältnissen der sozialistischen Übergangsperiode: „Wie der Umsiedlerin-Jambus immer wieder neu produziert werden muß, muß der Sozialismus immer wieder neu produziert werden; beide sind nicht selbstverständlich.“135 Das Neue des Müller’schen Verses, mithin des dialektischen Jambus, ist demnach, dass Müller für die „Widersprüche der Transformationsperiode“136 ein widersprüchliches ästhetisches Mittel als formales Pendant gefunden habe. Mit der Bestimmung des dialektischen Jambus stellt Hacks sich nachdrücklich auf die Position, dass dem Inhalt der Vorrang vor der Form gebühre. Die Handhabung des Widerspruchs von Metrum und Rhythmus erfolgt nach inhaltlichen Kriterien, sie ist „formale Widerspiegelung von Produktionsverhältnissen“.137 Der doppelten Distanzierung gegenüber Idealismus und Naturalismus entsprechend grenzt Hacks sich von der jeweils einseitigen Dominanz des Metrums („idealistische[r] Klassizismus“)

|| 133 Gegenüber Heinar Kipphardt bezeichnete Hacks den Essay als „das missing link“ zu dem Aufsatz über die Umsiedlerin. DWF 38 (Peter Hacks an Heinar Kipphardt, 24. Juni 1961). Vgl. HW 13, 28. In der DDR erschien der Essay erst 1978 in den Maßgaben der Kunst, war also vorher nur einem kleinen Kreis bekannt. Vgl. Peter Hacks: Die Maßgaben der Kunst. Gesammelte Aufsätze. Berlin 1978, S. 53ff. 134 HW 13, 44 u. 40. Hacks versteht unter Rhythmus den „natürlichen Tonfall der Sprache“, im Deutschen also die normalsprachliche Betonung nach Akzent: „Hebung für Hebung und Senkung für Senkung“. HW 13, 40. Die Begriffsbestimmung Hacks’ folgt der gängigen Unterscheidung zwischen Prosa- (Rhythmus) und Versrhythmus (Metrum). Siehe zur weiteren, vielfältigen Bestimmung des Rhythmusbegriffs: Otto Knörrich: Lexikon lyrischer Formen. Stuttgart 1992, S. 186ff. u. Burdorf u.a., S. 654f. 135 HW 13, 41 u. 43. 136 HW 13, 44. 137 HW 13, 44. Sehr deutlich heißt es: „Die Form ist die Magd des Inhalts, und Mägde müssen springen.“ HW 13, 44.

140 | Differenzen

bzw. des Rhythmus („gesetzesfeindliche[r] Positivismus“) ab. Der Widerspruch darf und soll zwar „bis an die äußerste Grenze“ geführt werden. Wo diese aber überschritten werde und beispielsweise das Metrum den Rhythmus verdränge, entschlage sich der Autor jeder „Möglichkeit der Akzentuierung“. Es entstehe ein „tausendfüßige[r] Jambus“, eine „jambische Prosa“, wie man sie bei Harald Hauser oder Erwin Strittmatter beobachten könne, wie Hacks in einer polemischen Fußnote ausführt.138 Der dialektische Jambus entspricht dem sich im Zeitraum 1959/60 konkretisierenden ästhetischen Programm Hacks’, das wesentlich auf eine dialektische Aufhebung von Einseitigkeiten setzt, auf eine, wie Hacks am Ende des Essays schreibt, „Remontage“, nachdem das bürgerliche Zeitalter ästhetische Mittel, Fabel, Charakter und Poesie überhaupt demontiert habe. In den Prozess der Wiederherstellung als „Aufgabe des sozialistischen Theaterschriftstellers“ sieht Hacks neben Helmut Baierl, der den Jambus ähnlich wie er selbst in reflektierenden Passagen verwende, vor allem Heiner Müller miteinbegriffen. Dieser sei bereits so weit, den Jambus „schon für den Dialog“ zu benutzen – „freilich für einen überwiegend reflektierenden“. Damit aber sei der erste Schritt in Richtung eines souveränen, „vorgängetragenden, prozessualen Vers[es]“ vollzogen.139 Der Essay wurde als Provokation verstanden – und dies nicht nur, weil der divergente Rhythmus als Träger der „wirklichen Konflikte“ transgressiv wirkt, wie die von Hacks aus Müllers Text ausgewählten Textbeispiele, die den „parteiamtlichen Diskurs entlarven“, demonstrieren.140 In Heiner Kipphardt und Siegfried Wagner fanden sich zwei sehr unterschiedliche Gegner von Hacks’ Argumentation. Wo Ersterer eine „verfeinerte Apologetik“ der DDR-Verhältnisse, eine falsche Traditionsnahme und eine unzutreffende ästhetische Analyse zu erkennen meinte – nicht die dialektische Remontage erzeuge die Schönheit des Verses bei Müller, sondern die „Demontage seiner Teile“141 –, legte Letzterer den Aufsatz im Rahmen der Umsiedlerin-Diskussion

|| 138 HW 13, 43f. 139 HW 13, 45. Hacks schreibt, „Hacks und Baierl benutzen ihn [den Jambus, R.W.], zaghaft, für reflektierende Passagen“. HW 13, 45. Die Differenz zwischen Hacks und Baierl wird allerdings deutlich, wenn man in Betracht zieht, dass Hacks den Jambus an zahlreichen Stellen einsetzt und mit Enjambements und Abweichungen durch einsilbige Wörter arbeitet, während Baierl lediglich den Prolog von Frau Flinz mittels eines herkömmlichen Jambus versifiziert. Vgl. Baierl: Stücke, S. 41. 140 Schmidt: Zwischen Antimoderne und Postmoderne, S. 396 u. Stillmark: Hacks und Müller, S. 424. 141 DWF 35 (Heinar Kipphardt an Peter Hacks, 30. Mai 1961). Kipphardt schreibt: „Warum reizt übrigens der Jambus so besonders, nicht durch seine herausfordernde Fiktion? Nicht durch die Ehrwürdigkeit mit der er Lügen verbreitet hat? Der ist doch mit der Obrigkeit fast identisch, in Deutschland wenigstens.“ Hacks reagierte vier Jahre später auf Kipphardts Vorwurf. Er wies eine mit dem Jambus einhergehende „Literatur der Harmonie“ zurück und assoziierte den Jambus stattdessen als Ausdruck einer „Literatur der Souveränität“. HW 13, 92.

Der Skandal um Die Umsiedlerin von Heiner Müller | 141

beim Schriftstellerverband als ideologische Solidarisierung mit Müller aus, so dass hinter der Causa Müller zugleich eine Causa Hacks aufschien. Wagner griff Hacks während der Sitzung der Sektion Dramatik am 17. Oktober 1961 scharf an und unterstellte, mit dem Lob des Müller’schen Blankverses einen ,schwarzen‘ Realismus eingeführt, Harald Hauser und Erwin Strittmatter einseitig abgewertet, demgegenüber Müllers Talent in den Rang eines „Shakespeare unseres Jahrhunderts“ gehoben, somit die Studenten der Hochschule für Ökonomie getäuscht und schließlich insgesamt die ästhetische Konterrevolution theoretisch mitvorbereitet zu haben.142 Bereits in einem Brief an Walter Ulbricht von Anfang Oktober hatte Wagner zahlreiche missliebige kulturelle Produktionen und Äußerungen in einen Topf geworfen und eine geplante Diversion im Rahmen einer Plattform (bestehend aus Hacks, Müller, Tragelehn und Kipphardt) unterstellt, die „die Geschäfte des Gegners in der Deutschen Demokratischen Republik“ besorge. Deren Positionen seien „offensichtlich mit den Anschauungen der jugoslawischen Revisionisten und der Harichgruppe verwandt“.143 Bei der Sitzung des Schriftstellerverbandes ging Wagners Argumentation aber nicht auf. Die Transkription des Tonbandmitschnitts vermerkt mehrmals Widerspruch von Seiten des Publikums. Insbesondere Gerhard Piens widersprach energisch Wagners Einschätzung und konnte diesem auch eine Fehllektüre von Hacks’ Aufsatz nachweisen.

4.2.3

Die Verteidigung der Umsiedlerin durch Hacks

Ähnlich wie im Essay über den dialektischen Jambus argumentierte Peter Hacks auch beim Schriftstellerverband, d.h. der Schwerpunkt lag auf ästhetischen Fragen. Wie Hacks’ Notizen und dessen Redebeitrag zeigen, wäre es aber verfehlt, hierin lediglich || 142 DSV 17. Oktober 1961, Bl. 8. 143 Vgl. Braun: Drama um eine Komödie, S. 132ff. u. 150; hier auch das Zitat. Das MfS führte Hacks und Müller dementsprechend gemeinsam im gleichen Operativen Vorgang. Vgl. Bradley, S. 39. Wagner erwähnte in der DSV-Diskussion auch die im September-Heft der ndl erschienenen Tier-Fabeln von Hacks, die u.a. wegen eines als Ulbricht-Satire verstandenen Steinbocks mit „Gamsbart am Kinn“ für Aufsehen sorgten (Peter Hacks: Tiere sind auch Menschen. Vier Fabeln. In: ndl 9 [1961], H. 9, S. 49) und wenig später von dem Schriftsteller Hans Maassen im Auftrag der SED-Bezirksleitung Leipzig im Sonntag angegriffen wurden. Vgl. Hanns Maassen: Tierfabeln sind ein seltsames Spiel. Herbstliche Entdeckungen in unserer Literatur. In: Sonntag, 5. November 1961, S. 10. Siehe zum sog. „Satire-Heft“ der ndl: Barck u.a.: „Jedes Buch ein Abenteuer“, S. 392ff. u. Frank Wilhelm: Literarische Satire in der SBZ/DDR 1945–1961. Autoren, institutionelle Rahmenbedingungen und kulturpolitische Leitlinien. Hamburg 1998, S. 225ff. Hacks erkannte in Maassens Angriff sowie in der Unterstellung, „die Ideologie der Müllerschen Komödie“ zu rechtfertigen, eine „Rufmordkampagne“, gegen die er Ende November energisch und erfolgreich bei Alfred Kurella intervenierte. Peter Hacks an Alfred Kurella, 20. November 1961, DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit Alfred Kurella; siehe dort auch Kurellas Antwortbrief vom 8. Januar 1962.

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den Versuch zu sehen, die politischen Vorwürfe zu umgehen.144 Hacks verdeutlichte vielmehr, dass der kulturpolitische Umgang mit der Umsiedlerin einem literarischen Text unangemessen sei, da „einzelne Sätze“ nicht der Autor, sondern „seine dramatischen Personen verantworten müssen“. Verantwortung trage der Autor allein für die Fabel.145 Hacks trat damit dem verkürzten und weit verbreiteten Verständnis des Textes entgegen, wie es sich beispielsweise im Gutachten von Bruno Apitz äußert: [...] [D]ie Aussage des Stückes ist, der Sozialismus auf dem Lande wird mit unmenschlichem Druck und brutaler Diktatur durch Staat und Partei erzwungen, und die Menschen, die ihn erzwingen oder unter Zwang durchführen, sind demoralisierte und deklassierte Gestalten.146

Apitz’ Argumentation trifft zwar in gewisser Weise durchaus zu, denn Müllers Text verschweigt den offensiven und teilweise militanten Charakter der zum ‚Sozialistischen Frühling auf dem Lande‘ (v)erklärten Kollektivierungskampagne nicht und verdeutlicht auch die agitatorisch-verleumderische Kopplung von LPG-Beitritt und Frieden bzw. Zuwiderhandlung und Sabotage des Friedens: [...] [D]u bist ein Staatsfeind. / Und weil der Frieden eins mit unserem Staat ist / Bist du ein Friedensfeind. Und weil die Kinder / Den Frieden brauchen vor der Muttermilch / Bist du ein Kinderschlächter. (221)147

Aber ein solches Verständnis des Textes übersieht nicht nur die figurale Konstellation im dramatischen Kommunikationssystem – es ist der korrupte Bürgermeister Beutler, dessen Verlogenheit hier beispielhaft für einen Teil der politischen Klasse kritisiert wird –, sondern blendet auch die historische Entwicklung aus, die Müllers Text im Rahmen der Bilderbogenerzählung von der Bodenreform bis zur Kollektivierung veranschaulicht.148 Um zu demonstrieren, dass Die Umsiedlerin eben nicht „ganz und gar Nihilismus und völlige Negation“ sei, vielmehr von einer „politisch gesunde[n] Fabel“ des Stücks

|| 144 Die Argumentation lässt sich detailliert anhand des Tonbandmitschnitts nachverfolgen (vgl. DSV 17. Oktober 1961, Bl. 34ff.) und kann zudem mit den Notizen, die Hacks sich vor und anlässlich der Sitzung machte, verglichen werden. Die Notizen befinden sich im Nachlass. Vgl. DLA, A: Hacks, Konvolut „Ekbal oder Eine Theaterreise nach Babylon“. Es handelt es sich um zwölf Blätter, von denen zehn nummeriert sind. Die Blätter werden im Folgenden zitiert als: Hacks-Notizen 17. Oktober 1961. 145 DSV 17. Oktober 1961, Bl. 34f. 146 Bruno Apitz: Gutachten zur Umsiedlerin, zit. n.: Streisand: Der Fall Heiner Müller, S. 469. 147 Vgl. zur Kollektivierungskampagne: Staritz, S. 181ff. u. Steiner: Von Plan zu Plan, S. 115ff. 148 Das wird motivisch dadurch verdeutlicht, dass sich der Mittelbauer Treiber, der zu Beginn noch mit für den Selbstmord Ketzers verantwortlich war (192ff.), nicht erhängen muss. Die Szene vom Anfang wird aufgegriffen, der Selbstmord wiederholt sich aber nicht, denn Treiber wird rechtzeitig vom Strick geschnitten und nimmt auch sofort die mit der LPG verbundenen Vorteile (Krankschreibung) wahr. (286f.)

Der Skandal um Die Umsiedlerin von Heiner Müller | 143

gesprochen werden könne, versucht Hacks mittels zweier Beispiele die „Schönheiten des Stücks“ zu demonstrieren:: anhand der politischen Wandlung des Traktoristen und anhand der Behandlung der Geschlechterfrage, die Hacks als „wirkliche schöpferische Leistung“ Müllers würdigt, da die Darstellung der Frau vollkommen neu gefasst sei.149 Die Traktoristen sind innerhalb des Stücks mit sehr unterschiedlichen Funktionen besetzt. Sie sind der prügelnde und saufende „Kehricht aus der Stadt“ (225) und nutzen die Machtposition, die sie durch ihre Qualifikation innehaben, rücksichtslos für finanzielle und sexuelle Dienstleistungen aus.150 Sie sind aber auch diejenigen, die als Akteure unmittelbar den Fortschritt, symbolisiert in den Traktoren, bringen, die sich über alte Gebräuche und Konventionen hinwegsetzen und die durch ihr Verhalten gegenüber den Bauern auf das Problem der Technisierung ohne Großfelderwirtschaft und die sich daraus ergebende Abhängigkeit verweisen: TRAKTORIST: Wenn du ein Mensch wärst, würdest du mich in den Arsch treten jetzt. Ein Sklave deiner Liegenschaften, ein Knecht des Privateigentums, ein Opfer des Kapitalismus, ein rothaariger Widerspruch, ein Produktionsverhältnis, das bist du. Und statt daß du mich in den Arsch trittst, wirst du deine Brieftasche vom Arsch ziehen jetzt und legst mir einen Zwanziger auf die nackte Hand, damit ich morgen deinen Acker pflüg außer der Reihe Der Bauer tut es. oder übermorgen, und einen Zehner auf die andere, damit ich gerade pflüg. Der Bauer tut es, der Traktorist geht ab, kommt zurück. Ich mag Wellfleisch. Was gibts zu essen, wenn ich pflügen komm? (245f.)

Hacks stört sich nicht an Müllers Gestaltung der Traktoristen.151 Vielmehr erkennt er hier eine Qualität des Stücks, da die Differenz zwischen Haltung und Handlung erlaube, einen Widerspruch zuzuspitzen. So liest er die Erzählung des Traktoristen über den Vernichtungskrieg in der Sowjetunion nicht als historische Applikation zur weiteren Charakterisierung der Figur,152 sondern als dramatisch mehrfach besetztes Mittel der semantischen Verknüpfung:

|| 149 Willi Bredel, zit. n.: Protokoll der Sektionssitzung Dichtkunst und Sprachpflege der AdK vom 18. Januar 1962. In: Streisand: Der Fall Heiner Müller, S. 474; DSV 17. Oktober 1961, Bl. 35 u. Hacks-Notizen 17. Oktober 1961, Bl. 6. 150 Einer der Traktoristen stellt sich folgendermaßen vor: „Ich bin siebenundzwanzigmal vorbestraft wegen Körperverletzung, zwölfmal mit tödlichem Ausgang. Wegen Sachbeschädigung auch: zwei Kneipen in Straußberg bis auf die Grundmauern.“ (224) Siehe auch den Handel zwischen Bauer und Traktorist, bei dem der Vater die Tochter zur Ware macht. (245f.) 151 Im Gegensatz zu Gerhard Piens und Walther Pollatschek, die am Beispiel der Traktoristen eine „Verzerrung der Wirklichkeit“ konstatieren, erkennt Hacks die Gestaltung der Figuren als „Rüpel“ an. DSV 17. Oktober 1961, Bl. 26, 30 u. 35. 152 „In einer Nacht wie heute, Vollmond auch / Haben wir einen umgebracht in Rußland / Zu dritt auf einem Maisfeld groß wie Sachsen / […] Wir hatten Schnaps, der Leutnant war bei Laune / Er sagte: sagt dem Bolschewiken, weil mir / Sein Bart gefällt, erlaub ich ihm, daß er / Sein letztes Loch auf seinem eignen Feld schippt. / Wir fragen, wo sein Feld ist. Sagt der Alte: / Hier alles mein Feld. Wir:

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Und dieses Erlebnis aus der Sowjetunion und die Geschichte, daß er den Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen auf eine so praktische Weise bemerkt, bringt diesen Traktoristen dazu plötzlich die Meinung zu äußern, man müßte von der HandtuchfelderWirtschaft weg kommen.153

Das Umschlagen eines absolut negativ besetzten Ereignisses (Hinrichtung eines sowjetischen Bauern) in einen positiven Erkenntnisvorgang (Kollektivierung) verdeutlicht die Widerspruchs-Technik Müllers. Die Erinnerung des Traktoristen/Soldaten ist Folge des bäuerlichen Zweifels („Der Nachbar wird mir sein Feld nicht abtreten“ [257]), der wiederum Folge der Handhabung des Traktors und der damit verbundenen Erkenntnis der Möglichkeiten der Maschine ist („Mit dem Traktor / Bin ich in der Minute übern Grenzstein. / Wenn ihr zusammenschmeißt, wärs leichter.“ [256]), so dass der Ausgangspunkt als aktivierender Gegensatz von Produktivkraft (Traktor) und Produktionsverhältnis (Kleinfelderwirtschaft) ökonomisch motiviert ist.154 Wie er eine positive dramatische Lösung im widerspruchsvollen Erkenntnisprozess des Traktoristen wahrnimmt, erkennt Hacks eine solche auch anhand der Gestaltung der Frauenfiguren Flinte und Niet, die die traditionellen Rollenklischees überschreite. Er argumentiert: Gerade weil Müller beide Figuren in relativ konventionelle Konflikte führe – das Aufeinandertreffen von Flinte 1 und Flinte 2, der neuen Frau Flints, beim Tanz (278) und die Werbung des Bauern Kupka um die Umsiedlerin (280ff.) – zeige sich die Differenz zu den erwartbaren dramatischen Auflösungen umso deutlicher. Dass Flinte sich für ihre Konkurrentin einsetzt und gegen ihren ExMann auftritt, die Solidarität der Frauen untereinander also die Fixierung auf den Mann überwindet und das Geschlechterverhältnis somit politisch verstanden wird,155 ebenso die vorläufige Weigerung der Umsiedlerin einfach den Nächstbesten, weil wirtschaftlich halbwegs potenten Bauern zum Mann zu nehmen und stattdessen auf der Übernahme eines eigenen Hofes zu beharren, ist Hacks Ausweis einer „neu entdeckten Souveränität“ und „weiblichen Selbständigkeit“, die den bereits erreichten

|| wo sein Feld war / Eh alles kollektiv war. Der zeigt bloß / wie ein Großgrundbesitzer ins Gelände. / Wo kilometerbreit brusthoch der Mais stand. / Der hatte wo sein Feld war glatt vergessen.“ (257) 153 DSV 17. Oktober 1961, Bl. 35. Diesen Aspekt klammert Ulrich Profitlich aus, wenn er Müller unterstellt, dass die „von einer brutalen Geschlechts- und kalten Geldgier beherrscht[en]“ Traktoristen in ihrer dramatischen Funktion im Gegensatz zu Hacks’ Figuren „[k]einen potentiellen sozialen Gehalt besitzen“. Profitlich: Menschen unserer Zeit, S. 41, Anm. 32 u. S. 37. 154 Der Zusammenhang von Großfelderwirtschaft und Ablösung der selbständigen Bauern durch die Mechanisierung der Landwirtschaft wird schon beim Einzug der beiden Traktoren ins Dorf deutlich: „JUNGER BAUER: Der [der Traktor, R.W.] reißt vier Ochsen um. FLINT: Und zehn Kulaken. HENNE: […] Und übers Jahr den Feldrain.“ (211) 155 „FLINTE 1: Hier bleibt sie, wenn sies will. Laß dich nicht an die Kette legen, du kriegst es mit mir zu tun. Was sich eine Frau vom Mann gefallen läßt, ist auch Staatsverrat hier. […] Hier bleibst du. Willst du dich wegschmeißen? Vielleicht blätterst du ihm noch die Seiten um, wenn er die Gleichberechtigung auswendig lernt.“ (278)

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Fortschritt der sozialistischen Verhältnisse anzeige.156 Müller liefere so in einem umfassenden Sinne ein „sozialistisches Happy-End“, in dessen Zentrum eben nicht die Versöhnung der Geschlechter (und damit implizit die Leugnung des Patriarchats als Herrschaftszusammenhang) stehe, sondern die Ermöglichung einer neuen produktiven Haltung bei Aufrechterhaltung des Widerspruchs zwischen den Geschlechtern. Dieser Aspekt des Stücks, der sich in der veränderten Haltung der Frauen ausdrücke (und der ja durch den Umstand der Bodenreform auch sozioökonomisch rückgebunden ist), verweise auf den grundsätzlich positiven Charakter des Stücks. Müller sei es gelungen, „positive Züge in der Wirklichkeit zu entdecken“.157

4.2.4

Hacks’ Kritik der Fabel

Mit seiner Verteidigung stellte Hacks sich auf den Standpunkt, dass Die Umsiedlerin sehr wohl diskutierbar sei. Gleichwohl äußerte er sich im Schriftstellerverband nicht im Sinne einer „uneingeschränkte[n] Fürsprache“ für das Stück, wie Hans-Christian Stillmark meint, sondern schloss sich dem Urteil Gerhard Piens an, wonach Müller den Stoff „formal nicht bewältigt“, ja „die Fabel verhauen“ habe.158 Denn Müller liefere zwar „eine positive Situationsänderung“ aber „keine positive Entwicklung“. Anekdoten stünden anstelle von Handlung und zerstörten die dramatische Ökonomie des Textes. Deshalb habe Die Umsiedlerin bei der Uraufführung auch durchfallen müssen. Schließlich erzeuge die Abwesenheit einer Fabel, verstanden als formal und semantisch sinnhaft gestaltete Ordnung, die es erlaubt, transgressive Momente zu integrieren, den Eindruck einer grundsätzlichen Kritik der Verhältnisse in der DDR. Da die „in Aussicht gestellte Erledigung des Negativen“159 ausbleibe, sei dem Publikum die Möglichkeit genommen, über Negatives zu lachen. Das Fehlen der Fabel habe, so Hacks’ Rezeptionstheorie, im Publikum zu einem „dramaturgische[n] Unbehagen“ geführt, das schließlich im Laufe der Inszenierung an der Hochschule für Ökonomie in ein „politisches Unbehagen“ umgeschlagen sei, in gewisser Weise habe umschlagen müssen.160 Während in dieser Perspektive produktionsästhetisch innerhalb der Wechselbeziehung Form-Inhalt der Inhalt prioritär ist, gilt rezeptionsästhetisch die Vorrangstellung der Form – „am Kunstwerk das hauptsächliche Politikum“ –, der im || 156 DSV 17. Oktober 1961, Bl. 36. 157 DSV 17. Oktober 1961, Bl. 35. 158 Stillmark: Hacks und Müller, S. 427 u. DSV 17. Oktober 1961, Bl. 37 u. 38. Siehe zu Piens: DSV 17. Oktober 1961, Bl. 22. Schon im Anschluss an die Uraufführung hatte Hacks gegenüber Müller geäußert, dass man dramaturgisch „harte Worte“ (KoS 131) reden müsse. Viktor Klujew, der Hacks unmittelbar nach der Uraufführung sprach, berichtet zudem von dessen „äußerster Bekümmertheit“. Viktor Klujew: Erste Begegnung. In: Hörnigk u.a. (Hg.): Ich wer ist das, S. 8. 159 RT 98. 160 DSV 17. Oktober 1961, Bl. 37.

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Prozess der ästhetischen Aufnahme dann wieder semantische Qualität zukommt.161 Nicht die „oberflächlich negativen Dinge[ ]“ seien demnach das Problem des Textes, sondern die misslungene Gesamtform, die die Bezugnahme des Publikums hindere und ein „Gefühl der Möglichkeit, daß zu bewältigen [sei], was der Autor [künstlerisch] bewältigt hat“, gar nicht erst entstehen lasse.162 Anhand der Ausführungen wird nicht nur offenbar, dass Hacks der Fabel einen zentralen Stellenwert im Gefüge eines Theatertextes zuweist – eine Position, die, wie zu zeigen sein wird, im Zusammenhang mit der Ausgestaltung der Poetologie der sozialistischen Klassik zur key issue wird –, sondern auch, dass die Funktion der Fabel ähnlich wie die des Metrums gegenüber dem Rhythmus bestimmt ist: Erst vor dem Hintergrund der Fabel, die im Hegel’schen Sinne der Totalität die dialektische Verknüpfung der Gegensätze zeigt, sind inhaltliche ,Abweichungen‘ erlaubt, die isoliert keinen „Sinn in den Widersprüchen“ generieren könnten. Erst wenn Literatur „Unbefriedigendes auf zufriedenstellende Weise abbildet“, kann sie selbst „Abbild des Verhältnisses von Aufgabe und Lösung“ sein.163 Diesem Verständnis nach entscheidet nicht der am Text feststellbare Grad der Kritik an gesellschaftlichen Erscheinungen und staatlichen Praktiken, sondern die Integration der Widersprüche in einen beweglichen Rahmen (und somit deren potentielle Aufhebung durch qualitativ gesteigerte Reproduktion) über die ästhetische und politische Qualität eines Theatertextes. Mit anderen Worten: Hacks teilte sehr wohl – und das zeigt sich auch anhand seiner politischen Kritik der „sozialistisch plus bürokratisch plus apparatisch“ funktionierenden DDR-„Ordnung“164 – die von Müller thematisierten „aktuellen Miseren in der Erscheinung“ (Zwang, Autoritarismus usw.) und befürwortet auch deren dramatische Behandlung.165 Mit Verweis auf die Fabel kritisierte er aber die Einseitigkeit des Müller’schen Ansatzes, der ein Sich-Verlieren im „Netz der Widersprüche“ erkennen lasse.166

|| 161 HW 13, 65. In den Notizen Hacks’ heißt es dementsprechend: „Hat jemand was gegen formale Problemlösungen? […] Künstler ist eben einer, der mit Form zu tun hat.“ Hacks-Notizen 17. Oktober 1961, Bl. 5. 162 DSV 17. Oktober 1961, Bl. 37f. Hacks verdeutlicht das auch an der ersten Fassung von Die Sorgen und die Macht. Die erste Inszenierung des Stücks sei ein Misserfolg gewesen, weil „die beiden positiven Schlußakte“ qualitativ schlechter gewesen seien. DSV 17. Oktober 1961, Bl. 37. 163 GüS 122 u. HW 13, 7. Ähnlich formulierte Hacks bereits 1956, wenn er als Aufgabe des Schriftstellers formulierte: „Er soll gegenwärtige Wahrheiten so sagen, daß sie zugleich Prozeß-Wahrheiten sind.“ Hacks: Kunst hat den längeren Atem. 164 Die Äußerung Hacks’ entstammt einer Sitzung des Schriftstellerverbands aus dem Jahr 1961. Hier zit. n.: Wilhelm: Literarische Satire, S. 247. Siehe auch DWF 38 (Peter Hacks an Heinar Kipphardt, 24. Juni 1961), wo Hacks über die Sitzung berichtet. 165 „Häßliches“ (RT 93) gehört explizit zur ästhetischen Realismusauffassung bei Hacks. 166 DSV 17. Oktober 1961, Bl. 38.

Der Skandal um Die Umsiedlerin von Heiner Müller | 147

Das „falsche[ ] Ausbalancieren zwischen absoluter Mimesis und historischer Bewegung“ führte Hacks auf einen Mangel an „politische[m] Weitblick“ zurück. Über die Müller attestierte politische Unreife äußerte er sich aber nicht direkt.167 Die politische Kritik abmildernd, argumentierte Hacks vielmehr, Müller vollziehe einen ästhetischen Fehlschluss, weil er das Subjekt gegenüber dem Objekt vernachlässige, und begründete dies mit der Wirkung „dogmatischer Kunsttheorien“, was auf Bertolt Brecht zielte.168 Gemeint ist ein dramenästhetischer Determinismus, der den „Anstoß zur dramatischen Aktion nicht mehr d[en] Personen, sondern d[en] Verhältnisse[n]“ überantwortet, wie Hacks 1960 im Essay „Versuch über das Theaterstück von morgen“ mit Blick auf einen naturalistisch interpretierten Materialismus ausführte. Dort forderte er auch, „dem subjektiven Faktor seine auslösende und bestimmende Rolle“ zurückzugeben, ohne „den objektiven Faktor zu vernachlässigen“, und so die neue Qualität des Sozialismus im Gegensatz zur kapitalistisch geprägten dramatischen Kunst der bürgerlichen Moderne kenntlich zu machen.169 Die ästhetische Kritik lautet demnach, Müller lasse seine Figuren in den Verhältnissen untergehen; er versäume es, diese als Handelnde und Große zu setzen und mittels einer tragfähigen Fabel – analog zum Jambus – die aus der „Souveränität […] des sozialistischen Menschen“ erwachsende Zuversicht in die historische Perspektive zu markieren.170 Hacks unterstellt damit nicht, Müller ‚lese‘ die DDR-Verhältnisse falsch. Er gesteht vielmehr zu – und hier klingt bereits die spätere grundsätzliche Kritik an der dramatischen Verarbeitung von Gegenwartsstoffen an171 –, dass aus dem Gegenstand „das Dorf 1949“ „keine große, einfache, schöne Fabel [zu] gewinnen“ sei und der Autor sich zwangsläufig einem „Gewirr von Kämpfen und Krämpfen“ gegenübersehe. Die große Form, Hacks’ Argumentation hat hier durchaus etwas Voluntaristisches, müsse vorerst „noch […] aus der Brust des Künstlers“ entnommen werden. Das eben sei die Aufgabe des Künstlers, der auch Müller sich zu stellen habe: „Die Zukunft ist sein wahres Vaterland, als ihr Generalkonsul ist er hier“, heißt es emphatisch im bereits erwähnten Essay.172 Damit wird deutlich: Hacks verhandelt Die Umsiedlerin vor dem Hintergrund seiner eigenen ästhetischen Überlegungen, dabei offenbar übersehend (oder bewusst ausklammernd), dass Müllers Text durchaus mit einer starken Subjektivität operiert.

|| 167 Hacks-Notizen 17. Oktober 1961, Bl. 8. Während der Sitzung des DSV heißt es ganz im Ton der Hacks’schen Essays: „[E]in Künstler muß die Luft der Jahrhunderte atmen und nicht die Stickluft des Tages“. DSV 17. Oktober 1961, Bl. 38. 168 DSV 17. Oktober 1961, Bl. 38. Brecht hatte argumentiert, dass der „Inaugurator“ des epischen Theaters „keineswegs das große leidenschaftliche Individuum“ sein könne, sondern die dramatische „Situation“. GBA 21, 374. 169 HW 13, 26. 170 DSV 17. Oktober 1961, Bl. 39. 171 Siehe Kap. 4.4.3. 172 DSV 17. Oktober 1961, Bl. 39 u. HW 13, 20.

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Die Figuren der Umsiedlerin sind zwar „Bestandteil eines selbsttätigen Mechanismus“, der mit Gewalt über diese hinweggeht173 – die Figur Heinz beschreibt die Emanzipation des Bauern in einer Passage, die den historischen Erzählverlauf des Textes in nuce enthält, als Geschichte dreier „Arschtritt[e]“ (222f.), – aber gerade in der Unversöhnlichkeit eines Fondrak (und partiell auch einer Schmulka), in ihrer Verweigerung gegenüber der Zukunft und dem radikalen Bekenntnis zum „Jetzt oder nie“ (237) macht sich eine Subjektivität bemerkbar, die in schroffem Gegensatz zu jedem vermittelnden Ansatz steht und „keinerlei Demonstrationswert in irgendeinem dramatischen Beweiszusammenhang“ hat.174 Peter Hacks erkannte in diesem Umstand zu Beginn der 1960er Jahre noch keine seiner Dramatik entgegengesetzte Position. Er kritisierte zwar das Fehlen einer Fabel, betonte aber wie bereits im Umsiedlerin-Essay den „großen Fortschritt“, den der Text in Müllers künstlerischer Entwicklung darstelle.175 Obschon eine ähnliche Analyse wie Gerhard Piens und einige Mitglieder der Akademie der Künste und des Schriftstellerverbands formulierend, und damit durchaus in der Nähe der dort geäußerten „Binsenweisheit[en]“,176 war Hacks zudem der einzige, der Die Umsiedlerin ästhetisch innerhalb der DDR-Dramatik kontextualisierte und somit gegen einseitige Sichtweisen argumentierte. Denn Hacks zufolge war „die gesamte DDR-Dramatik schwach auf der Fabel“ – in die eine wie in die andere Richtung: Überbetonung der Widersprüche auf der einen, deren Ignoranz auf der anderen Seite. So verwies er auf „politisch ziemlich fragwürdig[e]“ Stücke, deren Fabel „verkleistert wird mit rührenden Szenen und mit schönen Reden“ und betonte, dass solche Texte „bei uns unangefochten durch[kommen]“; konkret nannte Hacks das unter dem Namen Helmut Baierls erschienene BE-Gemeinschaftsprojekt Frau Flinz.177

|| 173 Schulz: Heiner Müller, S. 47. Genia Schulz assoziiert den Dramentext u.a. wegen des mechanistischen Charakters mit dem barocken Trauerspiel. Der Abstand zwischen der sozialistischen „Machtmaschine“ und dem Kommunismus entspreche dem Hiatus „zwischen einer fordernden Transzendenz religiöser Gebote und dem sinnentleerten, von Fortuna beherrschten Getriebe der Welt mit ihrem Spiel von Macht und Tod“. Schulz: Heiner Müller, S. 46. 174 Girshausen: Baal, Fatzer – Fondrak, S. 341. 175 DSV 17. Oktober 1961, Bl. 39. 176 Als eine solche bezeichnete der Versammlungsleiter, „daß der Künstler doch nicht nur die äußeren Erscheinungsformen der gesellschaftlichen Wirklichkeit zusammentragen soll und es dann auch noch so tut, als hätte er eine schwarze Brille auf und könne also nur das Negative sehen, sondern es muß doch sein Anliegen sein, das Wesen der Zeit, das Wesen der Gesellschaft und ihrer Triebfedern zu jener Zeit bloßzulegen, zu gestalten.“ DSV 17. Oktober 1961, Bl. 43. In Hacks’ Anfang 1962 verfasstem Essay „Über Lieder zu Stücken“ heißt es: „Der Gegenstand des realistischen Künstlers ist nicht die Wirklichkeit, sondern das Wesen der Wirklichkeit.“ Hacks: Über Lieder zu Stücken, S. 424. 177 DSV 17. Oktober 1961, Bl. 34. Womöglich stellt die direkte Erwähnung von Frau Flinz eine Reaktion auf die vielfach als opportunistisch empfundene Distanzierung einiger Mitglieder des BE von Müllers Stück dar. Als Parteisekretär hatte Baierl einen Brief von vier Ensemblemitgliedern unterzeichnet, die bei der Uraufführung anwesend waren. Vgl. Helmut Baierl an Ministerium für Kultur, 5.

Der Skandal um Die Umsiedlerin von Heiner Müller | 149

Grundsätzlich hob Hacks hervor, dass Müllers Fehler ein temporärer sei, der sich im Voranschreiten lösen werde, da mit diesem auf den Status quo der Rezeption Shakespeares, dem wesentlichen Vorgang innerhalb der DDR-Dramatik, verwiesen sei. Müller werde „zum Shakespeareschen Vers und zur Shakespeareschen Szene“, die er bereits vorbildlich beherrsche, auch noch „das Shakespearesche Plotting lernen“.178 Dementsprechend stellte Hacks sich auch auf den Standpunkt, dass das Stück durchaus zu retten sei. In seinen Notizen finden sich dramaturgische Vorschläge, wie der Text gekürzt und die Fabel gestrafft werden könnten. In der Diskussion beim Schriftstellerverband äußerte Hacks diese Vorschläge aber nicht. Siegfried Wagner hatte bereits zu Beginn der Diskussion angemerkt, dass das Stück „in keiner Weise [...] reparabel“ sei. „Taktische Striche nach dem aktuellen politischen Bedürfnis“, wie Hacks sie erwog, um ein Entgegenkommen zu signalisieren, waren demnach aussichtslos.179 Die Notizen zur Sitzung beim Schriftstellerverband lassen Hacks’ Abneigung gegen den Tribunal-Charakter der gegen Müller gerichteten Maßnahme eindeutig erkennen. Die Sitzung erschien Hacks als letzter Bestandteil einer „Administrationsorgie“ des Verbandes, der fortgesetzt wider die eigenen Prämissen der Förderung von Gegenwartsliteratur handle, und erinnerte ihn nicht zuletzt an die Erfahrungen, die er bis dahin mit Die Sorgen und die Macht gemacht hatte: „Dachte bin in Diskussion mit Literaten – komme mir vor wie in einer Gläubigerversammlung“.180

|| Oktober 1961. In: Streisand: Der Fall Heiner Müller, S. 453ff. Einige Tage später war, offenbar der Härte der Konsequenzen gegenwärtig, ein weiterer, die Kritik abmildernder Brief nachgereicht worden. Vgl. Streisand: Der Fall Heiner Müller, S. 455f. Tatsächlich hat Baierl diesen Brief später bereut, u.a. verweist er noch in der Begründung seines Austritts aus dem Deutschen P.E.N.-Zentrum (Ost) darauf. Vgl. Helmut Baierl an Deutsches P.E.N.-Zentrum (Ost), 28. Juni 1993, AdK, P.E.N. (Ost), Nr. 212. In der satirischen Verarbeitung des Umsiedlerin-Skandals „Ekbal oder Eine Theaterreise nach Babylon“ wird die Positionierung des „Eng-Tempels“, d.h. des BEs, eindeutig verurteilt. Vgl. HW 9, 71f. 178 DSV 17. Oktober 1961, Bl. 39. Im Umsiedlerin-Essay heißt es: „Die Geschichte des realistischen Theaterstücks in Deutschland ist die Geschichte der Aneignung Shakespeares.“ Wie der Sturm und Drang an Shakespeares Texten zunächst nur die Widersprüchlichkeit der Fabel und „nicht deren große Ordnung und bewältigende Dialektik“ erkannt habe, vollziehe auch die DDR-Dramatik diese Entwicklung nach. HW 13, 40. Die Parallelisierung mit der Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts, die hier erstmals zum Ausdruck kommt, streicht Hacks in dem Maße stärker heraus, wie er die eigene Ästhetik deutlicher konturiert. Im Dezember 1964 heißt es in einem Interview bereits: „[W]ir haben ziemlich genau die Entwicklung frühbürgerlicher Dramatik rekapituliert.“ HW 13, 75. 179 Siehe die Überlegungen Hacks’ unter der Überschrift „Was tun?“: Hacks-Notizen 17. Oktober 1961, Bl. 10; hier auch das letzte Zitat. Siehe das Zitat Siegfried Wagners: DSV 17. Oktober 1961, Bl. 16. 180 Hacks-Notizen 17. Oktober 1961, Bl. 1 u. 3. Siehe zur den Problemen mit Die Sorgen und die Macht Kap. 4.4.2.

150 | Differenzen

4.2.5

Die babylonische Theaterlandschaft der DDR

Die Vorgänge um Die Umsiedlerin und die Situation im dramatischen Feld zu Beginn der 1960er Jahre reflektierte Hacks „unter dem frischen Eindruck des Erlebten“ in der parabolischen Erzählung „Ekbal oder Eine Theaterreise nach Babylon“.181 Ekbal, in Anlehnung an den arabischen Vornamen Iqbal mit der Bedeutung ‚glücklich‘, ‚glückverheißend‘, bereist Babylon (Ostberlin), dessen Theater als „trostlos“ (52) und „von unübertrefflicher Langeweile“ (53) beschrieben werden. Die Literatur Babylons wird durch Zensurbehörden reglementiert; sogenannte „Schriftstellhelfer“ (53) verändern Texte nach ,wissenschaftlichen‘ Gesichtspunkten, urteilend in Hinblick auf „[d]as Wahrliche“, das „nicht schlechthin [ist], was ist, auch nicht, was häufig ist, sondern ausschließlich dasjenige, wovon uns angenehm ist, daß es ist“ (55), eine Kategorie, die im offiziellen Diskurs des Sozialistischen Realismus mit dem Typischen identifiziert werden kann.182 Neben den Funktionären werden auch die Künstler als „Idio[ten]“ (69) beschrieben, die als Mitglieder der „Akademie der erbaulichen Künste“ den Opportunismus institutionalisiert haben und deren Kunstverständnis kleinlich und monosem ist.183 Ekbals Erzählung handelt im Wesentlichen von den beiden Dichtern „Bey“ (Helmut Baierl) und „Mullah“ (Heiner Müller) und deren Stücken „Frau Nzifl“ (ein Anagramm von Frau Flinz) und „Die Landfremde“ (Die Umsiedlerin). „Frau Nzifl“ wird beschrieben als Produkt der im Niedergang begriffenen Lehre des „Bebe“ (Brecht), um die sowie den „Eng-Tempel“ (Berliner Ensemble) ein „Streit unter den Erben“ ausgebrochen sei, dessen Sieg schließlich der „Hauptpriester des Tempels“ „Wewe“

|| 181 Vgl. HW 9, 43ff. Das Zitat: S. 45. Die Seitenangaben werden im Folgenden in Klammern angegeben. Der Text, der nach Hacks’ Angaben in drei Etappen im Winter 1961/62, im November 1966 und im Dezember 1975 entstand, erschien erstmals 1977 bzw. 1978 in den Maßgaben der Kunst. Vgl. Peter Hacks: Die Maßgaben der Kunst. Gesammelte Aufsätze. Düsseldorf 1977, S. 9ff. bzw. Hacks: Die Maßgaben der Kunst (Ostberlin), S. 5ff. Siehe auch: Stillmark: Hacks und Müller, S. 426f. Von Interesse sind hier lediglich die in den 1960er Jahren entstandenen Teile. – Bei der Erzählung handelt es sich um eine Parabel in Hacks’ Verständnis, „also eine Reihe von aus sich selbst heraus sich nicht erklärenden Begebenheiten, welche auf eine ganz andere Reihe von wirklichen Begebenheiten bezogen ist und außer in Hinsicht auf dieselbe nichts bedeutet.“ HW 14, 39. Der direkte Bezug des Textes auf die Theatergeschichte erscheint daher methodisch unproblematisch. 182 Der extradiegetische Erzähler, der als Herausgeber der Ekbal’schen Schriften fungiert und diese geordnet und mit einer neuen Interpretation versehen den LeserInnen vorlegt (Herausgeberfiktion), ermöglicht Hacks auf einer äußeren Kommunikationsebene zusätzliche Kommentare, die die Komik der Erzählung verstärken. Denn die Interpretationen des Herausgebers sind allesamt absurd und verweisen auf Hacks’ Skepsis gegenüber der modernen Philologie. Siehe beispielsweise die Anmerkung des Herausgebers zu den „Händerührern“ (66), hinter denen sich leicht das Publikum erkennen lässt. 183 Aus Ekbals Ausführungen, ein Dramatiker schneide die Welt wie einen Käse durch den Mittelpunkt, so Totalität vermittelnd, hören die Akademiemitglieder die Anschuldigung heraus: Die Welt, also Babylon, sei ein Käse und Dramatiker seien Aufschneider. (68f.)

Der Skandal um Die Umsiedlerin von Heiner Müller | 151

(Manfred Wekwerth) und dessen „Theorie des Eng-Bebeismus“ davongetragen habe. (58) Während „Frau Nzifl“, entsprechend der Ablehnung des Textes durch Hacks,184 von Ekbal als „magisch-allegorisch[es]“ „Geisterdrama“ bezeichnet wird, das den Beweis führe, dass Babylon als Staat „vom Himmel gelenkt“ werde (59), beschreibt der Theaterreisende „Die Landfremde“ analog zu den Ausführungen Hacks’ im Umsiedlerin-Essay und bei der Sitzung im Schriftstellerverband als eine „vortreffliche[ ] Komödie“, die ein neues Bild des weiblichen Geschlechts entwerfe und neuartige Verse verwende (65). Dementsprechend versucht Ekbal, den Mullah in der Versammlung des Vereins „Eintracht“ (Schriftstellerverband) zu verteidigen, was aber misslingt. Der Mullah wird ausgeschlossen und in die Verbannung geschickt, schließlich aber auf Anordnung des Königs laufengelassen. Bemerkenswert an „Ekbals Theaterreise nach Babylon“ ist die im Text gegebene Erklärung für den ästhetisch unbefriedigenden Zustand des babylonischen, d.h. des DDR-Theaters. Auf die Frage Ekbals, warum das Theater „so sauschlecht“ sei, antwortet der Höchstobere Theatereunuch: „Weil Babylon blüht.“ (63) Entgegen der marxistischen Entwicklungslogik unterstützt die ‚Blüte‘, mit der eindeutig ökonomischer Fortschritt und Reichtum gemeint sind, nicht die Entwicklung der Kunst, sondern hemmt diese. Den besonderen Grund dafür erkennt der Theatereunuch in der spezifischen Regierungsweise des babylonischen Königs, über die andernorts ausführlich zu sprechen sein wird.185 An dieser Stelle ist nur wichtig, dass dieser „was er tut, im Geheimen“ tut und „Stillschweigen über alle seine Handlungen“ ausbreitet (63). Folglich sind alle „Schriftgelehrten [...] angewiesen, über Dinge zu schreiben, die nicht sind, und über die Dinge, die sind, zu schweigen“. (64) Die Widersprüche der DDR sollen auf dem Theater nicht thematisiert werden, weil sie den Erfolg der Politik in Gefahr setzen würden. Deshalb ist das Theater als öffentliches Forum ‚so sauschlecht‘. Es darf über politisch relevante Sachverhalte nicht sprechen; verstößt es gegen dieses unausgesprochene Verbot, wird es zensiert oder verboten. Das hat zu Beginn der 1960er Jahre nicht nur Heiner Müller, sondern später auch Peter Hacks mit den Stücken Die Sorgen und die Macht und Moritz Tassow erfahren müssen.

|| 184 In einem Brief an Heinar Kipphardt heißt es, das Stück sei ein „beklemmendes Gebräu von äußerster Schönfärberei und wekwerthscher Sentimentalität“. DWF 34 (Peter Hacks an Heinar Kipphardt, 25. Mai 1961). 185 Siehe Kap. 4.5.6.

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4.3

Die ,helle‘ und die ,dunkle‘ DDR: Moritz Tassow und Die Umsiedlerin

Zu den bekanntesten und im eigentlichen Sinne erst das Genre etablierenden Landstücken der DDR zählt Erwin Strittmatters Katzgraben. Anhand der Frage eines Straßenbaus wird die sozialistische Entwicklung auf dem Land im Rahmen eines breiten Figurentableaus dargestellt. Wie die anderen Zeitstücke der frühen DDR hat der Text einen operativen Anspruch, indem er „den modernen Klassenkampf auf dem Dorf auf die deutsche Bühne“ bringt.186 Landstücke bzw. landwirtschaftliche Produktionsstücke sind auch die beiden Komödien Die Umsiedlerin und Moritz Tassow – zumindest behandeln sie auf den ersten Blick den gleichen Stoff, nämlich die Bodenreform. Auf den zweiten Blick entpuppen sie sich allerdings als vielschichtige Texte, deren Ziel nicht so sehr darin zu bestehen scheint, sozialpolitische Konflikte ins Drama einzuführen und die sich etablierenden Produktionsverhältnisse der jungen DDR als mehrheitsfähig und praxistauglich darzustellen, sondern offene Fragen der eingeschlagenen Entwicklung aufzuwerfen und falsche Antworten zu hinterfragen. Im Folgenden werden die beiden Theatertexte zueinander in Beziehung gesetzt und die ästhetischen Ansätze von Peter Hacks und Heiner Müller zu Beginn der 1960er Jahre verortet. Der Vergleich der beiden Theatertexte liegt nicht nur deshalb nahe, weil beide Dramatiker das gleiche Thema behandeln, sondern auch weil die beiden Komödien im Rahmen der Werkentwicklung von Peter Hacks und Heiner Müller als Übergangsstücke eine Sonderstellung einnehmen. So weist Moritz Tassow mit der Frage nach dem Stellenwert der Utopie und der Konfrontation von großem Individuum und (Um-)Welt bereits Diskurse und Konstellationen auf, die für Hacks’ spätere Dramenästhetik von zentraler Bedeutung sind. Zugleich ist Moritz Tassow auf lange Zeit Hacks’ letztes Gegenwartsstück. Die Umsiedlerin lässt sich zwar weniger eindeutig verorten – zum einen weil der Text im Rahmen der Produktionsstücke Müllers höchstens stofflich eine Sonderstellung einnimmt, zum anderen weil Müller eine linear-genealogische Periodisierung wiederholt als „komplette[n] Unfug“187 zurückgewiesen hat –, gleichwohl hebt die Genremarkierung ,Komödie‘ Die Umsiedlerin vom Rest der Müller’schen Dramatik ab. Darüber hinaus zeigen beide Texte ein Überschreiten der für die zweite Hälfte der 1950er Jahre charakteristischen Brecht-Rezeption an. Angesichts der zunehmend reduktiven und epigonalen Kanonisierung der ‚Vaterfigur‘ Brecht tritt Shakespeare an dessen Stelle; allerdings nicht, um Brecht im Sinne einer psychoanalytischen Umbesetzung zu verdrängen, sondern als „Gegengift“, um Brecht neu zu sehen: „Shakespeare als [...] Voraussetzung für Brecht“, wie Müller formuliert.188 Dementsprechend lautet

|| 186 GBA 24, 437. 187 MW 2, 102. 188 KoS 208 u. MW 10, 66.

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das für die frühen 1960er Jahre gültige Rezeptions-Axiom: „Brecht gebrauchen, ohne ihn zu kritisieren, ist Verrat.“189 Es kann an dieser Stelle keine umfassende Analyse der beiden Theatertexte geleistet werden.190 Im Folgenden werden vielmehr einige formale und semantische Aspekte (Metrik, Sprache, Fabel, Geschlechterbilder, Komödien- und Figurenkonzeption), die in besonderer Weise geeignet sind, Übereinstimmungen und Differenzen aufzuzeigen, herausgegriffen und im Kontext der bisherigen Beobachtungen reflektiert. Dabei wird sich zeigen, wie verschieden Hacks und Müller ihren Gegenstand behandeln, so dass man, will man es antinomisch ausdrücken, von einer hellen und einer dunklen DDR in ihren Texten sprechen kann. Zu bedenken ist der Überbietungscharakter des Hacks’schen Textes, der als Gegenentwurf zur Umsiedlerin gelesen werden kann. Der Beginn der Arbeit an Moritz Tassow liegt zwar zeitlich vor dem Skandal um Müllers Stück, also vor dem September 1961, die Fertigstellung erfolgte aber erst 1962 und nicht 1961, wie die Forschung bisher angenommen hat.191 Als Ausdruck des musischen Agon, als Beitrag zum Wettstreit der DDR-Dramatiker, ist Moritz Tassow (nach Die Sorgen und die Macht in Bezug

|| 189 MW 8, 231. Peter Hacks schrieb bereits 1961 ganz ähnlich: „[U]nsere Methoden müssen anders aussehen als die Brechts, wenn sie Brechtsche Methoden sein wollen. Wie jede Leistung des menschlichen Geistes bleibt die Leistung Brechts historisch. Sie ist vergänglich und ewig. Ihre Fortsetzung kann nur auf dem Weg der Negation erfolgen, nicht auf dem des Verlängerns.“ HW 13, 38. 190 Siehe die folgenden Analysen, die auch häufig einen kurzen vergleichenden Blick auf beide Texte werfen: Vgl. zur Umsiedlerin Schulz: Heiner Müller, S. 35ff.; Marianne Streisand: Heiner Müllers „Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande“. Entstehung und Metamorphosen des Stücks. In: WB 32 (1986), H. 8, S. 1358–1384; Marianne Streisand: Erfahrungstransfer. Heiner Müllers „Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande“. In: Der Deutschunterricht 48 (1996), H. 5, S. 18–28; Eke: Heiner Müller, S. 81ff.; Genia Schulz: Die Umsiedlerin/Die Bauern. In: HMH, S. 280–286. – Vgl. zu Moritz Tassow Milfull: Utopie und Wirklichkeit; Ketelsen: „Moritz Tassow“; Peter Graves: Utopia in Mecklenburg. Peter Hacks’s Play „Moritz Tassow“. In: Modern Language Review 75 (1980), H. 3, S. 583–596; Margy Gerber: „Moritz Tassow“ and the „Sturm und Drang“ Aspects of Peter Hacks’ Socialist Classicism. In: Martha Woodmansee u. Walter F.W Lohnes (Hg.): Erkennen und Deuten. Essays zur Literatur und Literaturtheorie. Berlin 1983, S. 310–325; Jäger: Der Dramatiker Peter Hacks, S. 138ff.; Helmut Fuhrmann: Vorausgeworfene Schatten. Literatur in der DDR, DDR in der Literatur. Interpretationen. Würzburg 2003, S. 58ff.; Felix Bartels: Leistung und Demokratie. Genie und Gesellschaft im Werk von Peter Hacks. Mainz 2010, S. 39ff. u. Leonore Krenzlin: Gegenwart und Utopie. Brechts „Büsching“-Fragment und „Moritz Tassow“ von Peter Hacks. In: Kai Köhler (Hg.): Gute Leute sind überall gut. Hacks und Brecht. Berlin 2010, S. 59–75. Siehe in direkt vergleichender Perspektive: Turk, S. 260ff. u. Ludwig: „Die Vergötzung des Konflikts“. 191 Hacks begann, nachdem er bereits im August 1959 auf die Absicht hingewiesen hatte, eine „Komödie aus der Zeit der Bodenreform“ zu verfassen (DMT 29), im Februar 1960 mit Recherchen zu Moritz Tassow und beendete die Komödie spätestens Anfang Juli 1962. Siehe zur Entstehung und Rezeption des Textes: DMT. Moritz Tassow wird im Folgenden zitiert n.: HW 3, 85ff. Die Seitenangaben werden in Klammern angegeben. Die Umsiedlerin wird zitiert n.: MW 3, 181ff. Die Seitenangaben werden kursiv in Klammern angegeben.

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auf Der Lohndrücker) bereits der zweite Theatertext, den Hacks nach Müller vorlegt und der das schon von Müller behandelte Thema in die eigene Ästhetik übersetzt. Zudem kann Moritz Tassow als Versuch verstanden werden, „zu zeigen wie man UMSIEDLERIN ‚richtig‘ schreibt, so, daß es ‚geht‘“, wie B. K. Tragelehn rückblickend bemerkte.192 Das hat bekanntlich nicht funktioniert, Hacks’ Stück wurde ebenfalls verboten. Dennoch ist Tragelehns Bemerkung, wenn man sie ästhetisch versteht, zutreffend, schließlich vollzieht Hacks mit dem Stück die eigene Kritik an Müller nach, indem er Moritz Tassow auf eine konkrete Fabel und einen handlungsfähigen Helden hin konzipiert.193

4.3.1

Realismus und Poesie: Soziolektaler vs. dialektischer Jambus

Eine wesentliche formale Übereinstimmung der beiden Komödien zeigt sich anhand ihrer metrischen Gestaltung, über die im Zusammenhang mit dem dialektischen Jambus bereits im vorigen Kapitel gesprochen wurde. Müller verwendet den Jambus alternierend, Hacks realisiert ihn fast durchgehend. Die rhythmisierte Sprache der Umsiedlerin hatte Hacks auf die Parallelität von Vers und Größe der Handlung zurückgeführt. Der Vers repräsentiere die besondere Werthaltigkeit des Stoffes und fungiere als „strahlende[r] sprachliche[r] Leib der Zuversicht“.194 In ähnlicher Weise hatte schon der von Hacks nicht erwähnte Brecht anlässlich von Katzgraben auf die Bedeutung des Verses hingewiesen. Neben der Korrelation von Inhalt und Form hob Brecht zudem die produktions- und rezeptionsästhetischen Vorteile des Verses hervor: die Sieb-Funktion, wodurch „Unwesentliches ausfällt“,195 also die gesteigerte sprachliche Konzentration, die der Vers verlangt, und dessen Einprägsamkeit beim Publikum. Die von Hacks vorgebrachte dialektisch-semantische Erklärung für Müllers Jambus (widersprüchliche historische Entwicklung = alternierender Vers) erweist sich bei genauer Betrachtung aber als spekulativ, so dass eine Übereinstimmung hier keineswegs zwangsläufig ist. Näher als eine dialektische liegt eine soziolektale Erklärung: die Ähnlichkeit zwischen unregelmäßigen Rhythmen und Alltagssprache, die

|| 192 B. K. Tragelehn: „Zeig mir ein Mauseloch und ich fick die Welt“. Aus einem Gespräch mit Andreas Roßmann in Düsseldorf, Februar 1988. In: Storch (Hg.): Explosion of a Memory, S. 240. 193 Der Feststellung Horst Turks, Hacks übersetze enactment in emplotment, kann insofern zugestimmt werden. Vgl. Turk, S. 274. Allerdings geht Turk, offenbar in Unkenntnis der intertextuellen Verknüpfung von Moritz Tassow (siehe S. 177f.), davon aus, Hacks habe Fabel wie Personal direkt aus dem Müller’schen Text generiert. Siehe zu den Begriffen enactment und emplotment: Turk, S. 140ff. 194 HW 13, 28. 195 GBA 25, 426. Der Aspekt findet sich mit Betonung auf der Produktionsästhetik auch noch in Hacks’ ästhetischen Überlegungen Mitte der 1970er Jahre: „[D]er Vers verhindert jedes Abgleiten ins stofflich, gedanklich oder sprachlich Gemeine.“ HW 15, 143.

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freilich hinsichtlich ihrer Realismus-Implikation wiederum semantisch konnotiert ist. Auch für diese Erkenntnis steht Brecht Pate. Müller ist zu ihr offenbar auf ähnlichem Wege wie der Lehrer gekommen: Was Brecht in den 1920er und zu Beginn der 1930er Jahre von Sprechchören auf Demonstrationen der Arbeiterbewegung und von Zeitungsverkäufern lernte,196 erfuhr Müller in seiner Jugend in Mecklenburg, bei seiner Arbeit beim Landratsamt in Waren 1946/47 und während der Proben zur Umsiedlerin mit den Laienschauspielern.197 Die mit Schimpfwörtern und Volksweisheiten versehene Alltagssprache als Trägerin des Verses ermöglicht Müller nicht nur eine gestisch konzentrierte, figurencharakterisierende Sprache, sondern auch das schlagartige Aufdecken von Konflikten und Interessenlagen, was durch das die stetig wechselnde Geschwindigkeit des Textes bestimmende Alternieren von Blankvers und Prosa noch verstärkt wird. Ein vergleichbares Aussetzen des Jambus wie bei Müller kennt Moritz Tassow nicht. Prosa-Passagen existieren lediglich in der neunten und zehnten Szene. Beide sind szenisch isoliert und inhaltlich begründet.198 Hier steht die Prosa für die „Prosa der Verhältnisse“ (Hegel), für das stumpfe Geradeaus-Laufen, das Nicht-Dialektische – im Unterschied zum wendigen, stetig kehrenden Vers, der die Handlung insgesamt mit Bedeutung auflädt. Auffällig ist zudem die sprachliche Differenz: Wo Müller auf Alltagssprache im Sinne eines soziolinguistisch begründeten Realismusverständnisses abzielt, sprechen die Hacks’schen Figuren durchgängig gewähltes Hochdeutsch.199 Alltagssprache und plebejische Wendungen hatte Hacks bereits 1957 als „Verlust“ von „Vorteile[n], die zu große Nachteile enthalten“, beschrieben und das Hochdeutsche als die kommende Bühnensprache angekündigt. Auch hier behauptet die Erklärung einmal mehr die Priorität des Inhalts: Nicht die Form sei entscheidend, sondern die Frage, inwieweit das Hochdeutsche die neuen gesellschaftlichen Fragen und Inhalte aufnehmen und seine gestelzten und verbrauchten „Schul-Konstruktionen“ abstreifen könne.200 Dementsprechend verfügen die Figuren in Moritz Tassow über eine an Tropen reiche Sprache, die sich – ein wesentlicher Unterschied zu Müller – als die spezifische poetische Sprache Hacks’ zeigt.201

|| 196 Vgl. GBA 22.1, 361. 197 „Das waren Studenten, die aufgrund der Selektion in der DDR ziemlich alle unmittelbar aus dem Milieu kamen, das da abgebildet war. Für die deswegen die Sprache, die sicher in sehr hohem Grad eine Kunstsprache ist, überhaupt keine Kunstsprache war. Das war für sie ein völlig normaler Dialog.“ MW 10, 358. 198 Siehe zur neunten Szene: S. 184f. u. zur zehnten Szene S. 178. 199 Müller hat das Hochdeutsche später als uneigentliche und starre „Kanzleisprache“ (MW 10, 347) zurückgewiesen und diesem die Dialekte als die eigentliche Sprache entgegengesetzt. 200 RT 101. 201 „Ihr Denkgestus erfolgt aus der Situation, aus der Rolle, aus dem Charakter, aber die Sprache, denke ich, sollte die Sprache des Autors sein.“ FR 39. Moritz Tassow zeigt gleichwohl, dass Hacks

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Die formale Übereinstimmung der Komödien erweist sich als oberflächlich. Auf funktionaler Ebene zeigt sich ein differentes Verständnis in der Bestimmung des Verses, das mit Müllers Philoktet [1958/1964], einem durchgängigen Versdrama, seinen vorläufigen Höhepunkt finden wird und funktional-metrisch als Gegenteil der Hacks’schen Formel gelesen werden kann: der Vers als dunkler sprachlicher Leib des Zweifels.202

4.3.2

Enactment vs. Emplotment

Der Plot der Umsiedlerin lässt sich kaum in zwei oder drei Sätzen wiedergeben. Weder existiert eine eindeutige Hauptfigur, auf die die Handlung zugeschnitten ist, noch dominiert ein isolierbares Thema. Stattdessen entfaltet Müller anhand eines großen dramatischen Personals ein sich überlagerndes Handlungsgeflecht, das mit der Bodenreform 1945 einsetzt und mit der Kollektivierung der Landwirtschaft 1961 endet. Um die Handlung zu einem vorläufigen Schluss kommen zu lassen, bedient sich Müller in Person des Landrats einer Deus ex Machina-Lösung. Der Text funktioniert wie eine Chronik, ein „ländlicher Bilderbogen“,203 der zentrale Ereignisse der sozialistischen Umgestaltung des ruralen Raums nach dem Ende der „Herrenzeit“204 und die durch den Zusammenprall von Alt und Neu entstehenden Konflikte hinsichtlich der sozialen und geschlechtlichen Machtverhältnisse schildert. Das erinnert an die von Brecht am Beispiel von Katzgraben entwickelte Cidher-Technik, bei der die jeweils hervorgehobenen Zeitpunkte „den großen Schwung der Ereignisse und Taten“ vermitteln sollen.205 Eine solche geschichtsphilosophisch perspektivierte Euphemisierung lässt sich in der Umsiedlerin aber nicht feststellen. Schließlich integriert die historische Dimension, die den Text kennzeichnet, neben Bildern des technischen Fortschritts und der Emanzipation auch Vorstellungen eines ewigen erniedrigten bäuerlichen Lebens || seinen eigenen Überlegungen von 1957 treu und zugleich untreu geblieben ist. Figuren wie der Mittelbauer Iden sprechen selbst in höchster Aufregung ein reines Hochdeutsch, aber ihre Sprache ist so reich an Wendungen, so ‚farbig‘, dass sie der „farbloseste[n] Ausdrucksform“, die Hacks als Ausweis der „wissenschaftliche[n] Dialektik“ (RT 101) gefordert hatte, widerspricht. 202 Insofern ist Dennis Püllmann zuzustimmen, wenn dieser Müllers vulgärsoziologische Rückbindung des Verses an die Herrschaft der Arbeiterklasse in der DDR (vgl. MW 10, 65) als „‚Ausrutscher‘“ auffasst. Püllmann: Von Brecht zu Braun, S. 340. 203 Schulz: Heiner Müller, S. 35. Norbert Otto Eke lokalisiert statt einer Fabel „vier Fabelschichten“ (Eke: Heiner Müller, S. 83) im Sinne semantischer Komplexe. 204 „Herrenzeit aus“, so ist über dem Tor des ehemaligen Königlichen Rittergutes Helfenberg bei Dresden zu lesen, durch das im September 1945 eine Demonstration zieht, angeführt mit einem Plakat „Freie Bauern auf freier Scholle“. Vgl. das Foto: Die Bodenreform in der sowjetischen Besatzungszone, 11. September 1945, Bundesarchiv, Bild 183-32584-0002, http://www.bild.bundesarchiv.de (zuletzt eingesehen am 2. April 2014). 205 GBA 25, 481.

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und irritiert jede lineare Fortschrittslesart durch die Betonung des grundsätzlich Konflikthaften aller menschlichen Handlungen. Die Fabel lässt sich daher mit Marianne Streisand als ein „bestimmte[r] Diskurs über die Vergangenheit“206 bezeichnen, der auch die Schattenseiten des Neuen in der Verklammerung von Gegenwart und Vergangenheit unterstreicht. So hält der Text Tragisches und Nicht-Abgegoltenes präsent und stellt die Einheit von Schmerz und Freude, Leben und Tod als Charakteristik historischer Bewegung aus. Der von dem Parteisekretär Flint gesprochene Epilog, in dem Müller in der gedoppelten Semantik des Verbs ‚decken‘ das im gesamten Stück präsente Vanitas-Motiv mit der Erzählung vom sozialen Fortschritt verbindet, illustriert das in besonderer Weise: „Das Feld ging übern Bauern und der Pflug / Seit sich die Erde umdreht in der Welt. / Jetzt geht der Bauer über Pflug und Feld. / Die Erde deckt [meine Hervorhebung, R.W.] uns alle bald genug.“ (287)207 Helen Fehervary hat unter Berücksichtigung solcher Beobachtungen und unter Rückgriff auf eine Bemerkung, dass Die Umsiedlerin Cranach nahe sei, von einer „gotische[n] Linie“ gesprochen.208 Darunter versteht sie eine dunkle Traditionslinie, die sich vom Mittelalter über die Renaissance, den Barock und den Sturm und Drang bis hin zu Brecht erkennen lasse – eine Tradition des Grausamen, Diabolischen, Grotesken, Chaotischen und Todesnahen, das zugleich auf Erlösung dränge und über die Rezeption Anna Seghers an chiliastische Vorstellungen anschließe.209 Das lässt sich anhand des im Stück zweimal eingesetzten Selbstmord-Motivs verdeutlichen. Im 2. Bild bringt sich der Bauer Ketzer um, weil er das staatliche Abgabesoll und seine Schulden bei dem Großbauern Treiber nicht bezahlen kann. Sein Abschiedsmonolog betont die grausame Tradition bäuerlich-armen Lebens:

|| 206 Streisand: Heiner Müllers „Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande“, S. 22. 207 Siehe zum Vanitas-Motiv bei Müller: Ette: Kritik der Tragödie, S. 484ff. 208 „Es gibt eine Linie, die bei Brecht durchgeht und die mich interessiert. Das ist die gotische Linie […].“ KoS 176. Siehe zur Cranach-Bemerkung Müllers: Helen Fehervary: „Qiah, Fani … Wiah, Moah“. In: Hörnigk u.a. (Hg.): Ich wer ist das, S. 36. Der Begriff des Gotischen ist uneindeutig und lässt sich historisch-deskriptiv und ästhetisch-normativ auffassen. Vgl. zur Begriffsgeschichte: ÄGB 2, 862ff. Müller zielt auf die letztere Bedeutung: ,Gotisch‘ fungiert hier einerseits als ästhetischer Richtungsbegriff, als Gegenposition zu einer normativen, von einem Ideal abgeleiteten Kunst; zum anderen ist der Begriff historisch-national konnotiert, indem er auf die deutsche Geschichte verweist: „nicht heiter, beruhigt, römisch, klassisch, chinesisch“, „sehr deutsch“, „sehr zerrissen“. KoS 176. 209 Vgl. Helen Fehervary: „Die gotische Linie“. Altdeutsche Landschaften und Physiognomien bei Seghers und Müller. In: Hermand u. dies: Mit den Toten reden, S. 113–135. Müllers Text basiert auf Anna Seghers Novelle Die Umsiedlerin [1953]. Siehe zur Rezeption Anna Seghers bei Müller: Helen Fehervary: Anna Seghers. In: HMH, S. 134–136. Siehe zur chiliastischen und mythologischen Dimension des Seghers’schen Erzählens: Helen Fehervary: Anna Seghers. The Mythic Dimension. Ann Arbor 2001.

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Halt aus, Strick, Kumpel. Meinem Alten hast du / Aus der Not geholfen, seinem Alten vorher. / Nummer drei bin ich, drei Mann an einem Strick. / Du bist der Dietrich, der das letzte Loch / Aufschließt für sieben Groschen, die Himmelsleiter. / Ein Sprung ins Schwarze und ich kann der Welt / Die Zunge zeigen, wenn der Haken hält. (194)

Konterkariert Müller dergestalt jede idealistische Vorstellung einer befreiten Bauernschaft im Sozialismus, so bringt er diesen Eindruck am Ende des Stücks mit der Fortsetzung des Selbsttötungsmotivs in einen Schwebezustand: TREIBERN: Der unterschreibt nicht mehr. Mein Mann ist tot. Er hat sich aufgehängt in der Garage. Fällt in Ohnmacht. ARBEITER: Hängt sich vorm ersten Urlaub auf. Idiot. […] Da ist er. Auferstanden von den Toten. [...] SIEGFRIED: Bei uns ist Platz, Treiber. Du bist der erste / Der über seine eigne Leiche eintritt. / Hier ist der Antrag. [...] TREIBER: unterschreibt, auf die Frau zeigend: Tot? ARBEITER: Sie kommt auch wieder. TREIBER: Sie war schon immer schreckhaft. Frau, steh auf! TREIBERN: Sind wir im Himmel oder in der Hölle? TREIBER: Fürs erste sind wir in der LPG. TREIBERN: Das ist auch gut. Gleich geh zum Vorstand, Treiber / Und hol mir einen Krankenschein. Das Herz / Macht nicht mehr mit. TREIBER: Mein Rheuma wird auch schlimmer. (287)

Der versuchte Selbstmord Treibers, der für Ketzers Selbstmord mitverantwortlich war, ‚erlöst‘ Ketzer, indem er auf diesen zurückverweist und den Fortschritt der Verhältnisse verdeutlicht: Die vormals ausweglosen Abhängigkeitsverhältnisse sind überwunden, der letzte Großbauer tritt „über seine eigene Leiche“ (286) in die LPG ein, und der Kreis schließt sich. Die Geschichte wiederholt sich – mit Marx gesprochen – „das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce“.210 Gleichzeitig erwächst ein neuer Widerspruch: Die erste Handlung des ehemaligen Großbauern nach seinem Beitritt zur LPG ist, sich in schwejkscher Manier krankschreiben zu lassen. Die ganze Szene ist in ihrer offenen Dialektik beispielhaft für Müllers literarische Praxis einer „konstruktive[n] Unschärfe des Dargestellten“:211 Einerseits unterläuft er das offizielle Legalitäts-Paradigma, dem zufolge die Kollektivierung in der DDR gewaltfrei und „im Rahmen der Gesetze“ abgelaufen sei,212 und setzt die eindeutig als konterrevolutionär

|| 210 MEW 8, 115. 211 Müller-Schöll: Das Theater des „konstruktiven Defaitismus“, S. 445. Horst Turk übersieht den konstruktiven Aspekt und hebt die kritische Funktion des Textes hervor, indem er die „Polemik“ des Textes aus der „Polemik seiner Charaktere“ herleitet. Turk, S. 274. 212 Typisch für das DDR-Drama zu dieser Zeit ist eine auf das äußere Kommunikationssystem des Dramas zielende Zurückweisung der Gewalt; so müssen es in Helmut Baierls Frau Flinz auch der Ge-

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markierte Figur Treiber ins Recht, andererseits bestätigt er den Erfolg der neuen sozialistischen Ordnung mit der Durchsetzung der Kollektivierung. Dass Müllers Text keine geschlossene Fabel aufweist, ist nicht auf eine mangelnde ästhetische Verarbeitung zurückzuführen, wie Peter Hacks im Rahmen der Diskussion beim Schriftstellerverband vermutete, sondern gehört zur ästhetischen Eigenheit der Umsiedlerin. Der Text stellt die Figuren in die Situation (enactment) statt diese auf jene im Rahmen der Fabel abzustimmen (emplotment).213 Eine Veränderung der story in Richtung einer deutlicheren und d.h. stärker Sinn generierenden Geschlossenheit, wie sie Hacks vorschwebte,214 wäre dem mehrdimensionalen, polyzentrischen Aufbau und damit dem ambigen Aussagecharakter des Textes zuwidergelaufen. Denn die Ökonomie der Umsiedlerin steht als Anti-Ökonomie stellvertretend für die Ökonomie der Darstellung und der Geschichte, d.h. deren vorausgesetzte Unmöglichkeit im Rahmen einer traditionellen Theaterästhetik. Wie sich aus einer späteren Äußerung Müllers ablesen lässt, wollte Müller vermeiden, „Strukturprobleme als Probleme zwischen Personen“215 darzustellen, zielte also auf eine Flächigkeit der Handlung und ein großes dramatisches Personal. Insofern ist Marianne Streisands Bezeichnung der Umsiedlerin-Fabel als Diskurs glücklich gewählt, da der Text vordringlich Strukturprobleme (staatliche Macht, Kapital und Arbeit, Antikommunismus, Patriarchat, Rassismus usw.) behandelt und die Figuren mehr sind als dramatische Stellvertreter, denen die Fabel ihren Platz zuweist. Hacks vertritt, indem er gattungsästhetisch argumentiert, exakt die Gegenposition zu Müller: Probleme figural abzubilden sei gerade die Aufgabe dramatischer Kunst, von ihrem Gelingen hänge prinzipiell die Berechtigung der Gattung ab.216 Der Plot von Moritz Tassow ist daher konzentriert. Thema des Stücks ist die Bestimmung der Funktion der Utopie, ihrer Chancen und (Un-)Möglichkeiten im Rahmen der sozialistischen Gesellschaft, durch den Landarbeiter Potter auf die Frage gebracht: „Die Philosophie / Schmeckt mir im Ohr, doch wie kommt sie zum Magen?“ (148), und figural verkörpert durch den die Handlung bewegenden, grenzüberschreitenden Helden Moritz Tassow. Mit diesem realisiert Hacks jenen subjektiven Faktor innerhalb der Fabel, dessen Fehlen er an der Umsiedlerin kritisiert hatte.

|| nosse Friedrich Weiler (Baierl: Stücke, S. 46) und in Hedda Zinners Was wäre wenn...? [1959] der Neubauer Josef Krumm lernen (Hedda Zinner: Der Teufelskreis und andere Stücke, hg. von Eckhard Petersohn. Berlin 1986, S. 446); hier auch das jeweils wortgleiche Zitat. 213 Vgl. Turk, S. 273ff. Dem entspricht auch Müllers Arbeitsweise, die „vom Detail her das Ganze“ entwickelt. Müller zit. n.: Gottfried Fischborn: Stückeschreiben. Berlin 1981, S. 69. 214 In Hacks’ Notizen heißt es: „Fabel entlasten von schrecklichen Stagnationen des zweiten Aktes. Dann ist sie: streng, geflochten aus vier Handlungen, mit einem Anfang, einem Ende und einem Bogen zwischen ihnen.“ Hacks-Notizen 17. Oktober 1961, Bl. 10. 215 Zit. n.: Streisand: Heiner Müllers „Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande“, S. 1373. 216 „Läßt sich die Geschichte vermittelt über Leute erzählen? Von der Frage hängt Drama ab“ (HW 15, 285), heißt es prägnant in einem späten Essay.

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Die Fabel lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Der angeblich taubstumme, nach dem Ende des Nationalsozialismus nunmehr sprechende und äußerst sprachmächtige Sauhirt Moritz Tassow vertreibt mit Hilfe einiger BewohnerInnen des Dorfes Gargentin den Gutsbesitzer und ruft, damit den Kommunisten zuvorkommend, die „Kommune 3. Jahrtausend“ (150) aus. Das führt zu zahlreichen Konflikten innerhalb des Dorfes, da Tassows Vorstellungen eines emanzipierten gesellschaftlichen Miteinanders freier Individuen mit den althergebrachten Ansichten der Bauern kollidieren. Von außen treten die beiden Kommunisten Mattukat und Blasche auf, die auf eine Verteilung des Bodens an die Bauern drängen. Als sich Tassows KommuneProjekt angesichts von Untertanengeist, verdeckter Opposition und Müßiggang als wirtschaftlich ineffektiv erweist und nahezu an der Gegenrevolution des ehemaligen Gutsherrn und seiner Helfershelfer zu scheitern droht, intervenieren Mattukat und Blasche. Tassow wird abgesetzt und die Bodenreform, der er sich entgegengestellt hatte, durchgesetzt. Während sich Tassow, auf der Wahrheit seiner Position beharrend, zurückzieht, um Schriftsteller zu werden, übergibt Mattukat die Leitung an seinen Stellvertreter Blasche, der als Personifizierung des mediokren Funktionärs das letzte Wort behält: „Der neue Mensch bleibt auf dem Plane. Ich.“ (202) Am Beispiel der Auseinandersetzung um die Bodenreform entfaltet Hacks eine Konfrontation von Utopie und Realität, die sich figural als Konflikt zwischen Moritz Tassow und Mattukat darstellt. Die Differenz der Auffassungen wird zu Beginn der Komödie an jeweils prominenter Stelle dargelegt: MORITZ: Nämlich nur der sei noch als Mensch gezählt, / Der tut, wonach ihm ist, und dem nach viel ist, / Und kratzt sich, wos ihn juckt, und nicht aus lauter / Verlegenheit woanders, und wenns mitten / Im Beinkleid ist. Feigling, begreifst du mich? Der Mensch alleine ist des Menschen Maß, / Und daß es dich wo juckt, Knabe, ist menschlich. / Und wenn du Skrupel kennst, Bedenklichkeiten, / Ziehst selber du den Ring dir durch die Nase / Und läßt dich brummen und tanzen. Ah, stolz wie / Der Gaurisankar ist der Mensch, gewaltig / Wie der Orkan und frei und grenzenlos / Wie die ins All sich dehnenden Kometen. / Ein Krüppel, Schrumpfobst, krankes Mißgebilde / Und unvollständiger Halbmensch aber ist, / Wer stehenbleibt vorm Rand der Möglichkeit, / Wer äußre Lenkung duldet, fremden Auftrag / Annimmt und macht, was er nicht will, und nicht / Macht, was er will, und weniger will als alles. (95f.) MATTUKAT: Ich, Erich Mattukat, habe die Welt / Zu ändern vor. Die Welt ist groß und träg. / Ich selbst bin offenbar, klein und wieg leicht. / Wer macht die Regeln? Offenbar nicht ich. / Die Welt, das sind Gebirge, Flüsse, Wolken. / Die Welt ist viele Leute und mehr Läuse. / Ich will sie lenken, also gibt sie mir / Die Richtung an. Ich will, was menschlich ist. / Das ist der Anfang meines Wollens und / Zugleich sein Ende. Von dem Punkt an wechselt / Wollen den alten Namen und heißt Müssen, / Und aufgehoben nur in diesem Müssen, / Versteckt, doch, hoff ich, nie vermindert, lebt / Es fort, dies freie, menschliche: ich will. (90)

Während Tassow als Vertreter der Utopie und (prä-)potentes Individuum auf sofortige Bedürfnisbefriedigung setzt, weist Mattukat als Vertreter des Realitätsprinzips

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auf die außerhalb des Individuums liegenden gesellschaftlichen Bedingungen hin, in deren Grenzen allein gesellschaftliche Praxis stattfinden kann.

4.3.3

Das unterschiedlich funktionalisierte Schweigen der Titelfiguren

Wo der Hacks’sche Held sich jeder Hexis217 entledigt, ist die titelspendende Figur Müllers, die Umsiedlerin Niet, geradezu der Inbegriff der Hexis. Ihre Kommunikation heißt bis auf wenige Ausnahmen Schweigen, bis sie am Ende des Stücks ihre eigene Stimme als Ausweis der Emanzipation findet.218 Galt noch für Müllers frühe Texte wie Der Lohndrücker, dass Auslassungen und Unterbrechungen Tabuisiertes und faktisch nicht Sag- und Schreibbares in den Text integrieren, so kommt dem Schweigen Niets eine erweiterte Funktion zu: Es ist Ausdruck ihrer gedoppelten Alterität als Frau und Flüchtling.219 Indem Müller Niet zur Titelfigur macht, signalisiert er, dass der Fortschritt sich am Vorankommen der in soziologischer Hinsicht ‚Untersten‘ messen lassen müsse. Das heißt, Niet ist – wie Moritz Tassow – Maßstab einer umfassenden Befreiung. Die Emanzipation der Titelfiguren vollzieht sich aber so unterschiedlich, wie das Schweigemotiv – das zumeist auf eine Konflikt- oder Problemsituation verweist und als interpretationsbedürftiger Handlungs- und Sprechakt begriffen werden kann – verschieden besetzt ist. Tassow, der unmittelbar nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten ins Dorf kam, hat das Schweigen offenbar als Mittel gewählt, um unerkannt unterzutauchen. Im Gegensatz zu dem, was Fritz Stern in Anlehnung an Nietzsche als „feine[s] Schweigen“ bezeichnet, ist das Schweigemotiv hier Ausdruck eines „Konfliktmanagements“, das einem Schweigegelübde nahekommt und auf die

|| 217 Der Begriff ist hier nicht im Sinne Bourdieus gemeint, der mit Hexis die „einverleibten“, körperlichen Dimensionen (Gestik, Mimik, Körperhaltung) des Habitus bezeichnet (Pierre Bourdieu: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt/M. 1987, S. 129), sondern im Sinne Jean-Paul Sartres (vgl. Jean-Paul Sartre: Kritik der dialektischen Vernunft. Reinbek bei Hamburg 1967, S. 272), der darunter gewohnheitsmäßige Handlungen, d.h. durch Macht und Gewöhnung geregelte Verhaltensdispositionen fasst. Der Begriff versteht sich als Gegensatz zur Praxis einer freien Entscheidung. 218 Selbst die Ausnahmen sind aber Ausdruck fremdbestimmter Situationen, so wenn Niet versucht, ihr Recht gegenüber Fondrak, dem Vater ihres Kindes, einzufordern (204) oder sich gegen die Ansprüche anderer Männer verteidigt. (214) 219 Müller schließt hier an die Vorlage Seghers an, deren Protagonistin zu Anfang der Erzählung ebenfalls „verstummt“ (Anna Seghers: Der Bienenstock. Ausgewählte Erzählungen in zwei Bänden. Bd. 2. Berlin 1953, S. 174) ist und zum Ende ihre Stimme findet. Analog zu Seghers hatte Müller Niet sogar zunächst als am Ende sprachmächtig, mit großer anklagender Rede auf der Dorfversammlung konzipiert, wie frühere Textentwürfe zeigen. Vgl. Streisand: Heiner Müllers „Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande“, S. 1370ff. Auch Seghers’ Schreibweise des Namens, Nieth, findet sich in frühen Textentwürfen der Umsiedlerin. Vgl. Schulz: „Fürs Erste sind wir in der LPG“, S. 17.

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innere Emigration Tassows verweist.220 Analog hierzu ist der Beruf des Schweinehirten aufzufassen, der die notwendige Camouflage veranschaulicht, um als „Typ des linken deutschen Intellektuellen“ während des Nationalsozialismus unentdeckt zu bleiben.221 Tatsächlich wartet Tassow nur auf die Nachricht des Kriegsendes (vgl. 138), um sich voller Tatendrang in die Revolution zu stürzen, sein strategisches Schweigen zu brechen und die „Verstellung“ (140) hinter sich zu lassen. Niets Schweigen ist hingegen das Ergebnis ihrer wirtschaftlichen und geschlechtlichen Situation – und als solches Ausdruck einer historischen Kontinuität patriarchaler Herrschaft, die auch die Formen der Kommunikation reglementiert. In diesem Sinne schweigt Niet nicht durchgehend, sondern spricht wenig. Aber ihr Schweigen darf nicht ausschließlich als Geste der Unterwerfung oder der Unsicherheit aufgefasst werden, es ist auch teilweise eine Kommunikation der Verweigerung, wie sie schon in Niets Namen (russ. njet) zum Ausdruck kommt.

4.3.4

Geschlechterverhältnisse

Niet zählt zu jenen positiven Frauengestalten Müllers, die sich als den Männern moralisch überlegen erweisen. Die Umsiedlerin ist Teil der spezifisch ostdeutschen literarischen Bemühungen, negative Frauenbilder in Bewegung zu bringen.222 Als dramatischer Prototyp kann Friedrich Wolfs Selbsthelferin Anna Drews aus

|| 220 Fritz Stern: Das feine Schweigen und seine Folgen. In: ders.: Das feine Schweigen. Historische Essays. München 1999, S. 158 u. Peter Burke: Randbemerkungen zu einer Sozialgeschichte des Schweigens. In: ders: Reden und Schweigen. Zur Geschichte sprachlicher Identität. Berlin 1994, S. 67. Siehe zum Begriff des Schweigens und dessen verzweigter Semantik: Dietmar Kamper u. Christoph Wulf: Schweigen. Unterbrechung und Grenze der menschlichen Wirklichkeit. Berlin 1992. Siehe zur literarischen Konzeptualisierung des Schweigens: Christiaan L. Hart Nibbrig: Rhetorik des Schweigens. Versuch über den Schatten literarischer Rede. Frankfurt/M. 1981 sowie: Aleida Assmann u. Jan Assmann (Hg.): Schweigen. München 2013. 221 Krenzlin: Gegenwart und Utopie, S. 71. Aus der von Jette gegebenen Beschreibung Tassows in der zweiten Szene geht hervor, dass dieser nach der Machtergreifung der Nazis ins Dorf kam und voll von „Weisheit“ sei. Sein Schweinestall ist „mit ledernen Folianten bedeckt“ (94). Die Abneigung Jürgen Schröders, „das Stück [und damit auch die Figur Tassows, R.W.] auf einen politischen Nenner bringen zu wollen“ (Jürgen Schröder: „Zwischen Eiszeit und Kommune“. DDR-Dramatik. In: Barner [Hg.]: Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart, S. 562), erzeugt ein verkürztes Verständnis der Figur, die als „eine Art Schriftsteller/Künstler/Intellektueller“ (Ludwig: „Die Vergötzung des Konflikts“, S. 55) aufgefasst werden kann. 222 Nahezu das gesamte dramatische Feld arbeitet mit an diesem Projekt. Siehe die zahlreichen Beispiele für aktives geschlechterbewusstes, teilweise feministisches Handeln sowohl in Agro- als auch Industriestücken bei: Schmidt: Zwischen Antimoderne und Postmoderne, S. 278ff. u. Peggy Mädler u. Bianca Schemel: Sie lebt für ihre Arbeit. Die schöne Arbeit. Gehen sie an die Arbeit. Die Inszenierung

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Bürgermeister Anna [1950] gelten. Schon das generische Maskulinum des Titels verweist allerdings darauf, dass die dargestellten Gender-Konflikte in erster Linie der „Optimierung des neuen Gesellschaftssystems“223 dienen. Das erfordert, dass der Gender Gap, unabhängig davon, wie weit er im Rahmen der Fiktion geöffnet worden ist, am Ende geschlossen wird, was meist durch ein Happy End geschieht, das die fortschrittliche Langzeitdimension des Sozialismus betont. Einer solchen integrativen Konzeption widerspricht Müllers Text, indem er transgressive Erzählungen von Geschlechterverhältnissen und Sexualität einbringt. So darf die Frau im Rahmen der neuen Ordnung allenfalls die Seiten umblättern, „wenn er die Gleichberechtigung auswendig lernt“ (278). Ansonsten gilt weiterhin: „Der Mann liegt oben“ (277). Müller, der bereits 1953 in einer Rezension feststellte, dass sich im „,privaten‘ Bereich […] die alten vom Leben im Kapitalismus bestimmten Verhaltensweisen dem Eingriff am hartnäckigsten [entziehen]“,224 betont somit den ideologisch-propagandistischen Charakter des offiziellen Emanzipationsdiskurses, der im Rahmen der extensiven Integration von Frauen in die Arbeitswelt zwar eine Erweiterung der traditionellen Geschlechter-Rollen anstrebt (Hausfrau und Mutter → Arbeiterin), nicht aber deren grundsätzliche Veränderung oder Auflösung.225 In Müllers Dramentexten wird die ‚Frauenfrage‘ dementsprechend keiner Lösung zugeführt. Die Position der Frau bleibt vielmehr grundsätzlich problematisch, insofern diese sowohl in Beziehung auf den Mann als auch in Beziehung auf den männlich geprägten Sozialismus Objekt bleibt: „Warum vermauert ihr uns nicht gleich in euer Fundament?“, fragt in Die Korrektur eine der Frauen während einer Produktionsberatung.226 Die Unversöhnlichkeit der Geschlechter, die auf eine Geschichte endloser Gewalt und Unterwerfung schauen, ist ein für Müller charakteristisches Motiv: Die Frau ist das Gegenteil des Mannes – ein fremder Stern; Fondrak, die Müller’sche

|| von Arbeit und Geschlecht in Dramatik und Spielfilm der DDR. Phil. Diss. Humboldt-Universität. Berlin 2009, S. 37ff. u. 117ff., online unter: http://edoc.hu-berlin.de/dissertationen/maedler-peggy-200903-16/PDF/maedler.pdf (zuletzt eingesehen am 17. April 2014). 223 Schmidt: Zwischen Antimoderne und Postmoderne, S. 277. 224 MW 8, 56. 225 Zahlreiche Beispiele hierfür liefert der 1961 erstmals erschienene und in großer Auflage bis Ende der 1970er Jahre verbreitete Band Die kleine Enzyklopädie. Die Frau, der den geschlechterpolitischen Offizial-Diskurs abbildet. Siehe zu Selbst- und Fremddarstellungen von Arbeiterinnen: Gunilla-Friederike Budde: Der Körper der „sozialistischen Frauenpersönlichkeit“. Weiblichkeitsvorstellungen in der SBZ und frühen DDR. In: Geschichte und Gesellschaft 26 (2000), H. 4, S. 602–628. Siehe zu Geschlechterverhältnissen in der DDR allgemein: Ute Gerhard: Die staatlich institutionalisierte „Lösung“ der Frauenfrage. Zur Geschichte der Geschlechterverhältnisse in der DDR. In: Hartmut Kaelble u.a. (Hg.): Sozialgeschichte der DDR. Stuttgart 1994, S. 383–403 u. Fulbrook, S. 162ff. 226 MW 3, 120.

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Narren-Figur, vergleicht sie mit den Planeten, die der Mann „aus[ ]powert […] wie Casanova die Weiber“ (254).227 Gegenüber dem restlichen Personal der Umsiedlerin sind die Frauenfiguren Niet und Flinte 1 – mit Einschränkungen auch Schmulka – abgesetzt. Sie stehen am Rande der Handlung, sind für Reproduktions- und Care-Arbeiten zuständig, werden von ihren Männern sitzengelassen oder sollen ihre körperlichen und sexuellen Bedürfnisse in das Korsett der „KOMMUNISTISCHE[N] MORAL“ (237)228 zwängen. Indem Müller ihre Entwicklung hin zu Selbstbehauptung und Solidarität zeigt, erlauben sie als Alternativmodelle zu den männlichen Figuren Identifikation. Mit den ökonomischen Veränderungen infolge der Bodenreform wird Niet ihrem Namen gerecht. Sie verweigert Fondrak nicht nur die Begleitung in den Westen, sondern widersetzt sich auch dem Heiratsantrag des Bauern Mütze, der aus dem negativen Ensemble des männlichen Personals als „der beste“ (281) hervorsticht: „NIET lacht: Kein andrer wärs wohl, wenn ich einen Mann wollt / Und einen Vater für mein Kind. Ich wills nicht.“ (281) Die unabhängige, alleinerziehende Mutter ist hier positiv besetzt, was durch das für Hoffnung und Zukunft stehende Schwangerschaftsmotiv noch verstärkt wird: „Der Vater ist das wenigste am Kind.“ (277)229 Die Umsiedlerin

|| 227 Das Motiv der unversöhnlichen Geschlechter, das beinhaltet, dass die Frau zugleich über das Patriarchat vermittelte Komplizin des Mannes bei der Aufrechterhaltung der männlichen Ordnung ist, zeigt sich bereits in den frühen Texten Heiner Müllers. Siehe den Ende der 1940er Jahre entstandenen, später in Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten [1981/82] verwendeten Text (MW 5, 73f. bzw. 323) u. das Gedicht „Anna Flint“. (MW 1, 22) Siehe zu Geschlechterfragen im Werk Heiner Müllers: Helen Fehervary: Die erzählerische Kolonisierung des weiblichen Schweigens. Frau und Arbeit in der DDR-Literatur. In: Reinhold Grimm u. Jost Hermand (Hg.): Arbeit als Thema in der deutschen Literatur vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Königstein/Ts. 1979, S. 171–195; Genia Schulz: Abschied von Morgen. Frauengestalten im Werk Heiner Müllers. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Heiner Müller. München 1982, S. 58–70; Genia Schulz: „Bin gar kein oder nur ein Mund“. Zu einem Aspekt des Weiblichen in Texten Heiner Müllers. In: Inge Stephan u. Siegrid Weigel (Hg.): Weiblichkeit und Avantgarde. Literatur im historischen Prozeß. Hamburg 1987, S. 147–164; Marianne Streisand: Frauenfiguren in den Theatertexten Heiner Müllers. In: TdZ 44 (1989), H. 1, S. 52–56; Marianne Streisand: Frauenfiguren in den Theatertexten Heiner Müllers (II). In: TdZ 44 (1989), H. 2, S. 28–29; Raddatz: Dämonen unterm roten Stern, S. 162ff.; Marianne Streisand: Vom Nutzen und Nachteil feministischer Ideologiekritik. Frauenbilder bei Heiner Müller. In: Hansjörg Bay (Hg.): Ideologie nach ihrem „Ende“. Gesellschaftskritik zwischen Marxismus und Postmoderne. Opladen 1995, S. 269–293; Alexandra von Hirschfeld: Frauenfiguren im dramatischen Werk Heiner Müllers. Marburg 2000; Janine Ludwig: Frauenfiguren. In: HMH, S. 69–75 u. Ursula Bock: Die Frau hinter dem Spiegel. Weiblichkeitsbilder im deutschsprachigen Drama der Moderne. Berlin 2011, S. 205ff. 228 Müller spielt hier auf einen von der FDJ herausgegebenen Band an: Über kommunistische Moral. Gesammelte Aufsätze. Berlin 1953. 229 Müller greift auf dieses Motiv auch in Der Bau [1963/64] zurück. Vgl. MW 3, 380 u. 395f. Müller erkannte in der Allein-Erziehung ein Argument für das Funktionieren des Sozialismus: „Und ich finde positiv auf jeden Fall, dass bei uns die Scheidungsquote so hoch ist, das ist ein sehr gutes Zeichen,

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illustriert insofern auf geschlechterpolitischer Ebene, dass der patriarchale Nexus durch Verweigerung umgangen werden kann. Unter Umständen kann Niets Antwort auf das Heiratsersuchen Mützes auch als Möglichkeit einer langfristigen Lösung verstanden werden: GLATZE: Ich sag auch, warum solls der Mann sein immer / Der oben liegt. Ich denk da anders. / Die Zeit muß ja auch kommen, wo der Bauer / Ein Mensch ist, wie im Kino jetzt schon und / Kein Pferd mehr, und die Frauen auch nicht mehr zum / Bespringen bloß und Kinderkriegen und / Altwerden in der Arbeit, und vielleicht / Erleben wirs oder die Kinder, die wir / Vielleicht erleben werden, wenn die Frau will. [...] NIET: Vielleicht. (281f.)

Die Utopie der sich annähernden Geschlechter bleibt aber vage; vergegenwärtigt man sich Müllers nachfolgende textuelle Konzeptualisierungen der Geschlechterverhältnisse, so tendiert Niets Antwort zum ‚nein‘. Selbst in dem weitgehend affirmativen Text Waldstück [1968/69] bleibt mit der Figur der Unbekannten Oma und ihrem Hinweis auf die reproduktiven Tätigkeiten, die die Basis der sozialistischen Industrieentwicklung bilden, ein Rest.230 Wie für Heiner Müller ist auch für Peter Hacks klar: „Die Emanzipation der Frau ist noch nicht beendet“.231 Selbst wenn der Sozialismus die umfassende rechtliche Befreiung der Frau erreiche, dauere die Herrschaft des Patriarchats an. Den Grund erkennt Hacks in einer grundsätzlichen Differenz der Geschlechter. Die traditionelle Behauptung eines männlichen und eines weiblichen Prinzips erscheint bei ihm in modernisierter, verflüssigter Form. Während Hacks das sexuelle Geschlecht als zweidimensionale biologische Tatsache auffasst, erkennt er gleichzeitig die Geschlechterrollen als kontextabhängig und sich wandelnd an. Das Geschlechterverhältnis zeige sich als „fortdauernder Widerspruch“, der sich „auf steigender Niveau-Ebene“ reproduziere, aber letztlich nicht durch sozialpolitische Maßnahmen zu lösen sei.232 Angesichts dieser Unmöglichkeit sei allerdings ein Zustand der ungleichen Gleichheit, der || und dass die meisten Scheidungsanträge von Frauen ausgehen. Das spricht sehr für die DDR, glaube ich.“ Müller: Müller MP3, Track 5, Min. 16:28ff. 230 Vgl. MW 4, 174f. 231 HW 13, 61. 232 FR 21. Hacks definiert die „Gleichwertigkeit der Geschlechter“ dementsprechend als anzustrebendes, aber nicht erreichbares Ideal. HW 13, 235. – Hacks ist von Seiten der Forschung vorgeworfen worden, „die traditionelle, historisch fixierte Stellung von Mann und Frau“ zu reproduzieren und damit festzuschreiben. Hans Kaufmann: Glück ohne Ruh. Zur Darstellung der Geschlechterbeziehungen. In: Eva Kaufmann u. ders.: Erwartung und Angebot. Studien zum gegenwärtigen Verhältnis von Literatur und Gesellschaft in der DDR. Berlin/Weimar 1976, S. 185. Siehe auch: Katherine Vanovitch: Female Roles in East German Drama. 1949–1977. A Selective History of Drama in the G.D.R. Frankfurt/M. u.a. 1982, S. 96. Eine umfassende Studie zu Geschlechterkonfigurationen bei Hacks steht noch aus. Vgl. die vorhandene Forschungsliteratur: Miroslowa Czarnecka: Die Frauengestalten in den Komödien von Peter Hacks. In: Germanica Wratislaviensia 28 (1984), H. 55, S. 37–47; Szymani u. Heidi

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„,Verschiedenheit ohne Über- und Unterordnung‘“ erstrebenswert.233 Ein solcher sei aber erst in einem Zustand umfassenden Reichtums, sprich mit „wesentlich höherer Produktivität“, und im Rahmen einer „mündigen Gesellschaft“ denkbar, auf der Basis einer negativen Gleichheit, verstanden als gleiche Teilnahme an entfremdeter Arbeit, sei er nicht erreichbar.234 Auch wenn Hacks also in ähnlicher Weise wie Müller um den antagonistischen Kampf der Geschlechter weiß und ihm der ‚Gender-Trouble‘ als „wünschbar“ erscheint, betont er dennoch nicht die Unmöglichkeit der geschlechtlichen Verständigung, sondern fragt nach den Bedingungen, die eine solche ermöglichen.235 Tragische Motive der Rache und der Verzweiflung werden ausgeklammert, und an die Stelle einer falschen, d.h. als unmöglich aufgefassten, Versöhnung der Geschlechter tritt auf ästhetischer Ebene die zumindest für einen Moment den Widerspruch suspendierende Liebe als Ausdruck menschlicher Selbsterfüllung, Herrschaftsfreiheit und utopischen „Vor-Scheins“236. Liebe, bei Hacks stets auch im Sinne von Sexualität verstanden, funktioniert so „nicht mehr ausschließlich als Macht-, sondern auch als Genußmittel“ – und damit als Provokation, denn „popular bawdy elements“ kennzeichnen nahezu alle Dramentexte von Hacks.237 Die im Vergleich zur Umsiedlerin weniger stark im Zentrum des Textes stehenden Geschlechterverhältnisse in Moritz Tassow sind ganz in diesem Sinne gestaltet. Das wird besonders in der zwölften Szene deutlich, wenn der – wie sich leicht aus den Angaben im Text errechnen lässt – weit über dreißigjährige Tassow mit der siebzehnjährigen Jette „[n]eunfach“ (185) Geschlechtsverkehr hat und beide dies gegenüber dem erbosten Vater Jettes rechtfertigen:

|| Urbahn de Jauregui: „Komm, sehr fremde…“. Das Frauenbild im Werk von Peter Hacks. In: ARGOS (2010), H. 6, S. 9–23. 233 HW 13, 215. 234 HW 15, 204 u. HW 14, 333. 235 HW 15, 200. Im Gespräch im Hause Stein über den abwesenden Herrn von Goethe formuliert Charlotte von Stein prägnant: „Der Mann ist der Mensch, der tötet.“ HW 5, 115. – Die „dauernden Mordversuche“ zwischen den Geschlechtern hält Hacks dennoch für „überflüssig“. HW 15, 200. 236 „Der spezifische Vor-Schein, den Kunst zeigt, gleicht einem Laboratorium, worin Vorgänge, Figuren und Charaktere bis zu ihrem typisch-charakteristischen Ende getrieben werden, zu einem Abgrund oder einer Seligkeit des Endes; dieses jedem Kunstwerk eingeschriebene Wesentlichsehen von Charakteren und Situationen [...] setzt die Möglichkeit über der bereits vorhandenen Wirklichkeit voraus.“ Bloch: Das Prinzip Hoffnung, S. 14. Siehe zum Konzept des Vor-Scheins bei Bloch: Werner Jung: Vor-Schein. In: Beat Dietschy (Hg.): Bloch-Wörterbuch. Leitbegriffe der Philosophie Ernst Blochs. Berlin u.a. 2012, S. 664–672. 237 Bosker, S. 173 u. Vanovitch, S. 96.

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JETTE: Daß dus nicht / Begreifst, Papa, das ist mehr schön als alles. / Ich hab mir all mein Lebtag vorgestellt, / Daß das zwar gut ist, aber nie, daß das / So gut ist. MORITZ: Sehn Sie, besser als bei mir / […] Konnt sies kaum treffen. (185)

Im Vordergrund steht die Frage nach dem Verhältnis zwischen Vater und Tochter bzw. deren sexuelle Selbstbestimmung. Das Verhältnis Jette/Tassow aber erscheint als unproblematisch. Das Aufeinandertreffen der Geschlechter verursacht hier keine Entweder-Oder-Dynamik und hat weiter keine Folgen. Die Episode bleibende Liebe zwischen Jette und Tassow wird am Ende zwar mit Tränen (200), aber sogleich glücklich aufgelöst, da nun die bereits zu Beginn der Handlung eingeführte unglückliche (weil vor der Bodenreform klassendifferente) Liebe zwischen der Mittelbauerntochter Jette und dem Kleinbauernsohn Jochen ihre Erfüllung finden kann – womit Hacks ganz das traditionelle Handlungsschema der Komödie bedient. Dennoch wirkt die Tassow/Jette-Szene gesellschaftlich amorph. Der Verweis auf den utopischen Rahmen, der durch den utopischen Repräsentanten Moritz Tassow zusätzlich bekräftigt wird, kann den Eindruck nicht schmälern, dass die sexuelle Begegnung der zwei Ungleichen allein deshalb als unproblematisch geschildert wird, weil der männliche Blick deren Schilderung dominiert. Jette bleibt Objekt, „[g]eschaffen […] zum liebenden Gebrauch“. (183)238

4.3.5

Komödienkonzeptionen: Vertikale vs. horizontale Komik

Als einzige „wirkliche Komödie“ kommt der Umsiedlerin in Müllers Werk eine besondere Stellung zu, die der Autor immer wieder betont hat.239 Vor dem Hintergrund welchen Komödienverständnisses aber begreift Müller seinen Text? Und inwiefern unterscheidet sich Müllers von Peter Hacks’ Komödienverständnis? Nach der traditionellen und für das Komödienverständnis der DDR grundlegenden Ansicht ist die Komödie dasjenige Genre, das überwindbare gesellschaftliche Probleme behandelt. Die Komödie ziele, so Thomas Metscher, auf ein Prinzip der „Lebens-Affirmation“ und vertrete in geschichtsphilosophischer Hinsicht die „Perspektive […] eines historischen Optimismus“.240 Die frühen DDR-Komödien der 1950er

|| 238 An diesem Punkt kann man tatsächlich der ansonsten kaum zu erwähnenden Kritik des Intendanten des Theaters von Karl-Marx-Stadt, Hans-Dieter Mäde, zustimmen, versteht man unter dem Antihumanen hier einmal den patriarchalen Blick: „Das Mädchen, bettwarm, bleibt auf dem Schauplatz, und Jochen darf es übernehmen. Das geschieht ganz glatt, ohne Probleme. Dieser Musterfall der Konfliktlosigkeit führt folgerichtig zu einer antihumanen Darstellung zwischenmenschlicher Beziehungen.“ Hans Dieter Mäde: Probleme von heute – Aufgaben von morgen. Ein Diskussionsbeitrag vom Intendantenseminar. In: TdZ 21 (1966), H. 6, S. 6. 239 MW 10, 277. In der Autobiographie heißt es: „DIE UMSIEDLERIN ist mein liebstes Stück.“ KoS 39. 240 Thomas Metscher: Thanatos, Eros, Hephaistos: Tragik, Komik, Tragikomik. In: Thiele (Hg.): In den Trümmern ohne Gnade, S. 119.

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Jahre stehen traditionell für ein ‚Lachen nach hinten‘ und können mit Peter Christian Giese auf den Begriff des Gesellschaftlich-Komischen gebracht werden. Damit ist eine vertikale Komik des Ver-Lachens gemeint, deren Objekte vor dem Hintergrund eines heiteren Abschieds von der politischen und gesellschaftlichen Vergangenheit als unzulänglich dargestellt und herabgesetzt werden, so dass das Neue als dem Alten überlegen erscheint.241 Mit der Etablierung des Sozialismus zu Beginn der 1960er Jahre gerät der beschriebene Komödientypus in die Krise. Geht man wie Peter Hacks (und mit ihm der Großteil der kulturellen ProduzentInnen der DDR) von der Annahme aus, die DDR habe ihre revolutionäre Phase der Umgestaltung beendet und damit die für den Kapitalismus strukturbildende „antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses“ und die daraus resultierenden Widersprüche von Herr und Knecht hinter sich gelassen,242 so wird die didaktisch-kritische Tendenz der etablierten VerlachKomödie fragwürdig und läuft Gefahr zum trivialen Spaß zu werden. Hacks reagiert auf diese Bedingungen der Nachrevolution, indem er die grundlegende Invarianz von Figur und Modell in zeitlicher Hinsicht verschiebt. Unter Rückgriff auf eine frühere, nicht realisierte Überlegung treten an die Stelle der „Widersprüche zwischen dem Gestern und dem Heute“ die „Widersprüche zwischen dem Morgen und dem Heute“, die als Widersprüche von Utopie und Realität gefasst werden.243 Damit etabliert Hacks ein „‚Lachen nach vorn‘“, eine „positive Komik“.244 Gelacht wird über die Modellverstöße des großen Individuums Moritz Tassow, das sich verhält, als ob die Zeit absoluter individueller Freiheit bereits eingetreten sei.245 Die Komik wird

|| 241 Vgl. Giese: Das Gesellschaftlich-Komische. Die Komödien-/Komiktheorie unterscheidet zwei Grundformen des Lachens: eine ‚Komik der Herabsetzung‘ (Verlachen; vertikal) und eine ‚Komik der Heraufsetzung‘ (Mitlachen; horizontal). Eine verbindliche Terminologie existiert nicht. Jerzy Ziomek hat vorgeschlagen, von einem „beschreibenden“ (horizontalen) und einem „normativen“ (vertikalen) Modell zu sprechen. Vgl. Jerzy Ziomek: Zur Frage des Komischen. In: Zagadnienia Rodzjów Literackich 14 (1965), H. 1, S. 83. Siehe auch die Versuche der theoretisch-begrifflichen Verständigung bei: Jürgen Kost: Geschichte als Komödie. Zum Zusammenhang von Geschichtsbild und Komödienkonzeption bei Horváth, Frisch, Dürrenmatt, Brecht und Hacks. Würzburg 1996, S. 17ff. Siehe überblicksweise zur Theorie der Komik und des Komischen: ÄGB 3, 332ff.; Bernhard Greiner: Die Komödie. Eine theatralische Sendung. Grundlagen und Interpretationen. Tübingen/Basel 2006, S. 87ff. u. Beatrix Müller-Kampel: Komik und das Komische: Kriterien und Kategorien. In: LiTheS. Zeitschrift für Literatur- und Theatersoziologie (2012), H. 7, S. 5–39. 242 MEW 13, 9. Vgl. HW 13, 79. 243 GüS 120. Hacks hatte die Gestaltung der „Widersprüche zwischen dem Morgen und dem Heute“ 1956 als Ausdruck einer „verfrühten Harmonie“ (GüS 120) verworfen. 244 Greiner: „Zweiter Clown im kommunistischen Frühling“, S. 357 u. RT 99. Siehe zum historischdialektischen Standpunkt dieser Komik: Kost, S. 251f. 245 Das übersieht Winfried Schleyer, der zwar die Veränderung des Komödientypus erkennt, aber meint, die Figur Tassows sei „nicht komisch gezeichnet“. Winfried Schleyer: Zur Funktion des Komischen bei Friedrich Dürrenmatt und Peter Hacks. In: Der Deutschunterricht 30 (1978), H. 2, S. 73.

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modifiziert: Dadurch dass das verlachte Subjekt Tassow, das vor dem Horizont der Gegenwart verortet und abgegrenzt wird, für die Zukunft/Utopie steht und diesem eine Störungs-, Kritik- und Überholfunktion zukommt, funktioniert der für die Komik der Herabsetzung charakteristische Bestätigungscharakter des Modells, d.h. der Gegenwart, und damit die Vertikalität des Lachens nur eingeschränkt. Die Stabilisierungsfunktion, die dem ‚Lachen nach hinten‘ zukommt, wird im ‚Lachen nach vorn‘ irritiert. Die Verlach-Komödie wird in einen dialektischen Rahmen überführt: Potenziell lächerlich und defizitär ist nicht nur die komische Figur, sondern auch die Gegenwart selbst. Dass damit die sozialistische Ordnung nicht ins Unrecht gesetzt wird, wird allerdings dreifach abgesichert: (1.) außerfiktional über das Axiom der nicht-antagonistischen Widersprüche, das auf die Vermittelbarkeit von Realität und Utopie im Kontext evolutionärer Entwicklung verweist; (2.) über die anhaltende Präsenz des ,Lachens nach hinten‘ (Hacks bedient sich insbesondere bei der Herabsetzung des Gutsbesitzers und seiner Freundin zahlreicher etablierter Mittel der Komödie); und (3.) indem Hacks das Groteske, also das im Sinne Wolfgang Kaysers Dunkle, Unkontrollierbare und Sinnlose,246 das wesentlicher Bestandteil der horizontalen Komödie ist, ausschließt. Moritz Tassow nimmt zwar die zuvor abgewerteten plebejischen Elemente des Körperlichen und des „niederen Begehrens“ als Kennzeichen des dramatischen Riesen und der „Utopie[ ] in Menschengestalt“ wieder auf,247 – paradigmatisch ist in diesem Zusammenhang ebenfalls die parallel zu Moritz Tassow verfasste Bearbeitung des Aristophanischen Friedens [1962], in welcher der Weinbauer Trygaois als „lüsterner alter Greis“248 den Frieden rettet –, die grotesken Elemente einer transgressiven Komik werden aber figural auf den Landstreicher Dziomba ausgelagert, der zum eigenen Nutzen das Eigentum der Kommune verkauft und dem „[d]ie menschliche Lage des Menschen ist, / Wenn er geruhsam auf dem Rücken liegt.“ (147) Wie Hacks etabliert auch Müller in der Umsiedlerin ein alternatives Komödienmodell. Die Komik des Textes entsteht aber nicht aus der Inkongruenz von Gegenwart und geschichtsphilosophisch prospektierter Zukunft, sondern aus der Lächerlichkeit der Gegenwart selbst. Die Komödie geht teilweise ins Groteske über, speist sich aus Momenten der „Schadenfreude“, die Müller als „Quelle allen Humors“249 ansieht, und überschreitet die Komik des Verlachens in Richtung einer Komik, die sich aus der Verweisungsstruktur auf einen moralischen Gegenstand löst bzw. diesen profaniert || 246 Vgl. Wolfgang Kayser: Das Groteske. Seine Gestaltung in Malerei und Dichtung. Reinbek bei Hamburg 1960, S. 133ff. Siehe zum Begriff des Grotesken auch: ÄGB 2, 876ff. 247 HW 13, 96. Hier gibt es durchaus Anklänge an Michail Bachtins Verständnis einer karnevaleskkörperlichen Gegen- und Volkskultur des Komischen. Vgl. Michail M. Bachtin: Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur. München 1969 u. Michail M. Bachtin: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Frankfurt/M. 1987. 248 HW 15, 147. 249 MW 10, 234.

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– in den beiden Fällen, die hier als Beispiel dienen, der marxistische Diskurs und dessen Faschismustheorie, die selbst Bestandteil des Lächerlichen werden: SENKSPIEL: zum alten Bauern / Wir sind im Kommunismus, Franz, wach auf. ALTER BAUER: Was ist? Ich bin dafür. / Hebt die rechte Hand, schläft weiter. SENKSPIEL: Der Kommunismus / Ist ausgebrochen. Deine Alte ist schon / Verstaatlicht. ALTER BAUER: Meine Alte? Das ist gut. / Kichert / Der Staat wird seine Freude an ihr haben. / Seine Frau haut ihm ins Genick. / Im Kommunismus wird nicht mehr geschlagen. (217) FONDRAK: Ein Verbesserungsvorschlag: / Bier aus der Wand. / Bauern lachen. / Den Massen fehlt der Weitblick. / Hitler hats ausgenutzt. Ich wußte gleich / Den blutigen Ausgang, weil der Mann kein Bier trank / Und wer kein Bier trinkt, säuft bekanntlich Blut. (266)

In ihrer Transgression ist die Komik der Müller’schen Komödie nach offiziösem sozialistischen Verständnis defätistisch, weil sie sich vordergründig einer ordnenden marxistischen Sinnstruktur entzieht und in ihren grotesken Spitzen – man denke an den bereits erwähnten ,fröhlichen‘ LPG-Beitritt Treibers – offenlegt, „wie nah der strenge Spaß dem Grauenhaften liegt“.250 Müllers Komik ist horizontal. Sie speist sich aus dem Zusammenprall von Subjekt und Objekt, von Körper und Idee, von Es und Über-Ich. Sie schlägt ihren Funken aus den nicht auflösbaren Resten dieser Konfrontationen, die durch den Übergang von einer alten (feudal-kapitalistischen) zu einer neuen (sozialistischen) Ordnung und den ihnen vermittelten Ideologien beschleunigt werden. Am Beispiel der Konfrontation zwischen dem naiven FDJ-Sekretär Siegfried und der Bauerntochter Schmulka sowie dem Parteisekretär Flint und seiner Ex-Frau Flinte 1 lassen sich die möglichen Dimensionen der Müller’schen Komödie als zwei Extreme darstellen: SCHMULKA: Du liebst mich nicht. SIEGFRIED: Erst müssen wir den Kommunismus aufbaun / Und in der Literatur steht, wies gemacht wird. / Versuchung. SCHMULKA: Jetzt oder nie. Auf deinen dritten Grundzug / Pfeif ich, den ich noch nicht weiß, und auf Bebel / Und auf die KOMMUNISTISCHE MORAL. / Ich leb nur einmal, leicht wird keinmal draus. / […] Dein Kommunismus, der im Buch steht, weiß ich / Ob er nicht ausfällt wie der Tanz am Sonntag […]. SIEGFRIED: Entlarvst du dich, Kulakenbrut? SCHMULKA: Mein Vater / Ist Mittelbauer.

|| 250 BGS 1, 305. Siehe zu Komik und Groteske bei Müller: Bernhard Greiner: „Jetzt will ich sitzen, wo gelacht wird“. Über das Lachen bei Heiner Müller. In: Paul Gerhard Klussmann u. Heinrich Mohr (Hg.): Dialektik des Anfangs. Spiele des Lachens. Literaturpolitik in Bibliotheken. Über Texte von: Heiner Müller, Franz Fühmann, Stefan Heym. Bonn 1986, S. 29–63 u. Müller-Schöll: Tragik, Komik, Groteske, S. 84ff. Sehr aussagekräftig ist in diesem Zusammenhang eines der frühen Gedichte Müllers, in welchem aus dem Grobianus [1549] zitiert wird: „LACH NIT ES SEI DAN EIN STADT UNTERGANGEN“. MW 1, 8. Die für Müller typische Verschränkung von Grausamkeit und Lachen findet sich in Ansätzen auch bei Brecht. Vgl. GBA 21, 243.

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SIEGFRIED: Komm zurück. Dich schluckt / Der bürgerliche Sumpf, wenn du nicht umkehrst. […] Warum laß ichs ungern? / Als Mitglied hab ich ein Bewußtsein, aber / Der Mensch ist ein Ensemble, und als Mensch / Der ein Ensemble ist, hab ich ein Mitglied / Das kein Bewußtsein hat. Es ist spontan / Springt von der Linie ab, versteift sich auf / Den eignen Vorteil, stellt sich gegen die Leitung / Stößt die Beschlüsse um. Ein Widerspruch / Wo ist die Lösung? / […] Ich zieh das Blauhemd aus. Ja, so wird’s gehen. / Tut es. / Im Kommunismus wird man weiter sehn. / Schmulka! (237f.)

Schiebt Müller hier das Lachen über den Widerspruch zwischen dem ,Klassengesetz‘ und dem ,Triebgesetz‘ bis über den Rand des Zotigen hinaus, erweist sich die Spaltung, die das Mitlachen des Publikums erlaubt, im anderen Fall als tragisch: FLINT: Ich will ja gar nicht viel, ich bin trainiert drauf / An Fleischtöpfen gradaus vorbeizugehn / Und keinen Daumen breit ab von der Linie / Fürs bessre Leben, das vielleicht zu spät kommt / Was mich betrifft, und immer morgen, morgen / Und eh du deinen Fisch hast, hat der Wurm Dich. (235f.)

Tragisch in doppelter Weise, denn Flints Angst, nach fünf Jahren Haft im Konzentrationslager das gute Leben im epikureischen Sinne verpasst zu haben, hat nach seiner Freilassung die Trennung von seiner Frau zur Folge. Die „Zeit der Geschichte“ (die Zeit der Politik) ist nicht die „Zeit des Subjekts“, Klassenkampf und Liebe fallen auseinander.251 Die für Flint tragische Erfahrung geht zu Lasten seiner Frau: Sie wird „abgeschoben für ein frisches / Fleisch“. (242) Nun lebt „der rote Schürzenjäger“ (240) Flint mit seiner neuen Frau im Dorf, was gegen die strenge Moral der Partei verstößt, die „päpstlicher als der Papst“ (235) ist. Von seiner ehemaligen Frau aber verlangt er, ihre Kritik aus Rücksicht auf sein Ansehen als Funktionär zu mäßigen: „[I]ch bin / Die Leute wissens, die Partei hier. Das / Ist, was du madig machst, hackst du auf mich ein.“ (239) Müller kennzeichnet die Figur des Parteisekretärs somit als Sieger und Verlierer zugleich. Flint ist „der alte und der neue Adam“, Befreier und „Kolonisator“ in einem.252 Auch er erweist sich als Störer der neuen Ordnung, vor deren Geltung er zurücktreten muss. Auch dem Parteisekretär, der traditionell für Weltorientierung steht, kommen zeitweise die Kategorien der Weltorientierung abhanden. An Flint zeigt sich, wie Müller das die Perspektive der Unteren anerkennende „Lachen in der Negation“ und das Verlachen verklammert und somit die Dimension des Komischen erweitert: „Das Ausgeschlossene, das Chaotische der komischen Figur, ist – verschoben – in der

|| 251 MW 10, 335. 252 Schulz: Die Umsiedlerin/Die Bauern, S. 286 u. MW 8, 262. Flint kann als Vorgänger des Argonauten Jason aus Müllers späterem dramatischen Triptychon Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten [1981/82] verstanden werden.

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ausschließenden Ordnung des verlachenden Siegers gegenwärtig“.253 Müller zeigt den Parteisekretär so auch als ‚Asozialen‘ im Brecht’schen Sinne, als kreatürlich-leibliches Individuum jenseits der heteronomen Ordnung des politischen Feldes, durch das die Ungleichzeitigkeit von individueller und gesellschaftlicher Erfahrung wie ein Riss hindurchgeht. Die Figur Flints demonstriert, was für den Gesamtzusammenhang des Dramas gilt. Die Umsiedlerin steht an der Schwelle zwischen „Vorgeschichte“ und „Universalgeschichte“254 und kommt über diese nicht hinaus. Gewalt und Fremdbestimmung setzen sich noch im Prozess der Befreiung fort, der sich dergestalt als nicht endender Zwang zwischen Anhängern und Gegnern darstellt. So wird der seit dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts heilsgeschichtlich aufgeladene Weg in die klassenlose Gesellschaft gleichzeitig als tragisch erkannt, ist die Geschichte des Sozialismus nicht erst retrospektiv, sondern bereits in den jeweiligen Ausschnitten, welche Müllers ,dunkle Cidher-Technik‘ präsentiert, Tragödie.255 Über diese Tragik aber darf gelacht werden, ganz im Sinne des Walter Benjamin-Verständnisses, dass „[d]ie Komik […] die obligate Innenseite der Trauer“ sei.256

4.3.6

Die Figur des Narren: Der apokalyptische Fondrak und der prometheische Tassow

Der eigentliche ‚Asoziale‘ in Müllers Text ist aber nicht Flint, sondern der Underdog Fondrak, ein Vertreter des saturnalischen Chaos, der mit seinem radikalen Egoismus und Todestrieb alle Grenzen überschreitet.257 Als politisches Objekt ist er für Flint nicht verwertbar; da er keine Kompromisse einzugehen bereit ist, scheitern an ihm alle Agitationsversuche. Indem Fondrak die Geltung der entstehenden Ordnung des Sozialismus infrage stellt und Flints Agitation als Propaganda des Verzichts entlarvt,

|| 253 Greiner: „Jetzt will ich sitzen, wo gelacht wird“, S. 42 u. Greiner: „Zweiter Clown im kommunistischen Frühling“, S. 349. 254 MW 10, 28 u. MW 8, 209. Zur Vorgeschichte zählt Müller die Klassengesellschaften, mit deren Verlassen die Menschheit erst in ihre eigentliche Geschichte eintrete. 255 „Natürlich ist die Geschichte des Sozialismus in diesem Jahrhundert die Tragödie des Jahrhunderts“, äußerte Müller rückblickend. MW 11, 532. – Werner Mittenzwei stellt daher zu Recht fest, dass alle Theatertexte Müllers, welche sich mit dem Aufbau des Sozialismus beschäftigen, „den Zeitgenossen die Gestehungskosten des gesellschaftlichen Fortschritts klarmachen“. Mittenzwei: Antikerezeption, S. 538. 256 BGS 1, 304. 257 Müller hatte Fondrak ursprünglich an Georg Büchners Woyzeck angelehnt. Vgl. Schulz: „Fürs Erste sind wir in der LPG“, S. 21.

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kommt Fondrak als Identifikationsfigur des Horizontalen eine Korrektiv- und Entgrenzungsfunktion zu.258 Im Rahmen seiner grotesken Interventionen und durch die Betonung des Kreatürlichen und Materiell-Leiblichen stiftet er eine Lachgemeinde mit dem Publikum.259 Wie Fondrak sind auch Moritz Tassow die Attribute des Narren mitgegeben. Auch er stört die moralischen Ordnungen und die auf eine schematische Formel gebrachte marxistische Vorstellung des Geschichtsablaufs (Junkertum → Bodenreform → Kollektivierung) und setzt den Vertreter der Partei einer grundsätzlichen Kritik aus: „[E]in Mann von / Partei war nie ein Mann von Redlichkeit.“ (143) Die Gemeinsamkeit der beiden Figuren liegt in ihrem Hedonismus und ihrer Subjektbewusstheit, die die vorherrschenden altruistischen Leitbilder einer kollektivistischen Anbindung des Individuums an die „Interessen der Gemeinschaft“260 überschreiten. Hacks und Müller setzen damit das freie Individuum als Maßstab des gesellschaftlichen Gelingens und aktualisieren es als Inhalt der sozialistischen Utopie.261 Aber die Differenz in der Figurenkonzeption darf nicht übersehen werden: Der prometheischen Vision Tassows steht die apokalyptische Fondraks gegenüber. Das verdeutlicht die unterschiedliche Verwendung kosmischer Metaphern: Tassow will den Mond „auf / [u]nd untergehen [lassen], an meinem Faden kreisend“ und „aus dem Handgelenk […] [i]ns Weltall […] die Kometen schleudern“ (149). Fondrak hingegen sieht eine Zeit kommen, „wo der Mensch die Planeten hinter sich wegsprengt, einen nach dem anderen, wenn er sie ausgepowert hat“ (254); Tassow verzaubert die Welt mit weit ausgreifendem Pathos und tritt in seiner Delight-maker-Funktion als Bote der Liebe auf.262 Fondrak entzaubert sie – noch die Geste des Abschieds, wenn er Niet einen halben Geldschein als „halben Trauschein“ zurücklässt, revidiert er:

|| 258 Vgl. den Dialog zwischen Flint und Fondrak im elften Bild. (252f.) 259 Vgl. Hans Robert Jauß: Über den Grund des Vergnügens am komischen Helden. In: Wolfgang Preisendanz u. Rainer Warning (Hg.): Das Komische. München 1976, S. 107. Konsequenterweise kommt Fondrak szenisch denn auch die einzige Rede ad spectatores zu (256). Siehe zu Fondrak auch: Marianne Streisand: Fondrak bei Heiner Müller und die Volkstheater-Tradition. In: Gerd Koch (Hg.): Lach- und Clownstheater. Die Vielfalt des Komischen in Musik, Literatur, Film, und Schauspiel. Frankfurt/M. 1991, S. 186–191. 260 Anton Ackermann im September 1948, zit. n.: DKLS 92. 261 Ingo Way erkennt in beiden Komödien die Programmatik eines „‚sozialistischen Hedonismus‘“, dessen Kern ein Glücksbegriff bilde, „wie ihn die kritische Theorie entwickelt hat“. Dass die Assoziation mit Adorno und Horkheimer einen „prekären Versuch“ darstellt, der für Peter Hacks beliebig wirkt, bemerkt Way allerdings selbst. Way, S. 15. Siehe zu Müllers Utopiebegriff und dessen Relation zu Adornos Ästhetik: Corinna Mieth: Das Utopische in Literatur und Philosophie. Zur Ästhetik Heiner Müllers und Alexander Kluges. Tübingen/Basel 2003, S. 205ff. 262 Leonore Krenzlin hat auf die utopische Wirkungspotenz Tassows hingewiesen. So ermöglicht Tassow in der zweiten Szene (92f.) für einen Augenblick die Annäherung Jettes und Jochens. Vgl. Krenzlin: Gegenwart und Utopie, S. 72f.

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„Kommt zurück und nimmt ihr den halben Schein wieder weg. / Gib her. Wenn Inflation kommt, steh ich trocken.“ (279). Appelliert Tassow grundsätzlich an die Vernunft, mit der er sich im Einverständnis weiß, verkörpert Fondrak deren Ungewissheit, einen unbändigen Lebenswunsch, der in der Verweigerung gegenüber dem Bestehenden zugleich zum Todeswunsch wird – die Welt ist ihm „[v]iel Geschrei / um einen trocknen Mist, der stinkt bei Regen“ (254) und ohnehin „im nächsten Krieg“ (280) zerstört werden wird. Der entscheidende Unterschied liegt in der Konzeption der Utopie. Tassows Utopieverständnis ist inhärent gesellschaftlich. Der „Sprung […] [z]um Kommunismus“ zielt auf ein „Alle für alle“ (149), die Bauern sollen sich „das / Jahrhundert untern Nagel“ (150) reißen. Fondrak verfügt demgegenüber lediglich über eine negative Utopie. Eine Weg-Ziel-Vorstellung, die über den eigenen Vorteil hinausgeht und sich jenseits des ausdauernden Widerstands gegen jede Form der Integration bewegt, besitzt er nicht.263 Dementsprechend negativ ist Fondraks Arbeitsbegriff: Arbeit ist, wie er anhand eines krummen Bauern verdeutlicht, Degeneration, „ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. (252) Zwar hat auch er eine Vorstellung über die Art des „Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur“264 – sie beschränkt sich aber auf die Ansicht: „[D]ie Welt muß verbraucht werden.“ (253) Tassow indessen erkennt Arbeit als Movens gesellschaftlicher Entwicklung an, als „nötigstes Vergnügen“ (170) im Sinne einer freien Produktion: Hart nur ist Arbeit, wenn ihr arbeitet / Als Sklaven, und der Schweiß mit Blut sich mischt / Auf euren Rücken, und die Früchte sind / Euch weggenommen Eures Wirkens. Doch / So ists ja nicht mehr. Und ich sag euch: Menschen, / Gönnt Euch die Freude und geht hin und tut was. / Daß ihr das dürft, es ist von euren Lüsten / Die süßeste und eure höchste Freiheit. (171)

Anhand Tassows pathetischer Rede wird deutlich, dass dieser von einer utopischen Position der Zukunft aus bereits einen anderen, nämlich nicht-entfremdeten Arbeitsbegriff unterstellt, was mit dem voluntaristischen ,Sprung zum Kommunismus‘, den Tassow zu vollziehen meint, korrespondiert.265 Von Interesse ist an dieser Stelle aber nicht die Idealisierung der Arbeit, deren Gegenteil die Müller’sche Komödie vorführt, sondern die Qualität des Figurenverhältnisses, die sich daraus schlussfolgern lässt. Anders als zwischen Fondrak und Flint findet die Konfrontation zwischen Tassow || 263 So weiß Fondrak die jeweiligen Situationen geschickt für die Befriedigung seiner kreatürlichen Bedürfnisse auszunutzen. Siehe 228f. u. 252f. 264 MEW 23, 57. 265 Auch wenn der Marx’sche Entfremdungsbegriff eng mit dem Kapitalismus verbunden ist, bedeutet dessen Überwindung noch nicht, „daß die E[ntfremdung] automatisch verschwindet“, wie selbst die orthodoxe marxistisch-leninistische Philosophie weiß. Manfred Buhr u. Alfred Kosing: Kleines Wörterbuch der marxistisch-leninistischen Philosophie. Berlin 1979, S. 96. Siehe zum marxistischen Begriff der Arbeit und der Entfremdung: HKWM 1, 401ff. u. HKWM 3, 460ff., hier auch der Eintrag zur Entfremdungsdiskussion, Sp. 469ff.

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und Mattukat nämlich auf einem gemeinsamen politisch-philosophischen – man könnte auch sagen: ideologischen – Boden statt. Tassow repräsentiert eine linksradikale Position gegenüber dem traditionsmarxistischen, historisch-materialistischen Entwicklungsschema, das Mattukat vertritt, im Ziel wissen sich aber beide einig – ein Gespräch „von der Zukunft“ (200) scheint möglich.266 Fondrak findet innerhalb solcher politischer Kategorien keinen Platz, er ist vielmehr als absoluter Widerspruch zu diesen konzipiert.267 Der differente Bezugsrahmen bestätigt sich anhand der Dramenschlüsse: Tassow verlässt das politische Feld und wird Schriftsteller, bleibt also beim „Geschäft“ (201) der Utopie; Flint flieht aus der DDR in den Westen.

4.3.7

Moritz Tassow als dialektisches Drama: Mattukat und Tassow

Was aber ist das für ein gemeinsamer Boden, auf dem Mattukat und Tassow handeln? Wofür stehen beide innerhalb des Zeichensystems der Komödie? Und warum kommt das Gespräch über die Zukunft, das Mattukat „interessant“ (200) fände, nicht zustande bzw. erweist sich als unergiebig? An dieser Stelle sei noch einmal an die beiden Vorstellungs-Reden Mattukats und Tassows erinnert.268 Tassows voluntaristischer und idealistischer Haltung, die die Befreiung vom Nationalsozialismus als Beginn der umfassenden Befreiung des Menschen setzt, steht die Position Mattukats gegenüber, der durch schmerzliche Erfahrungen gelernt hat, die Existenz außerhalb seiner selbst liegender Bedingungen als Möglichkeitsraum seines Handelns anzuerkennen, ohne deshalb seinen eigenen Willen zu negieren. Dieser wird in der Akzeptanz der gegebenen Umstände vielmehr „versteckt“ (90), d.h. Wollen (Subjekt) und Müssen (Objekt) stehen zueinander in einem vermittelten Verhältnis. Mattukats Position erinnert nicht von ungefähr an den Hegel’schen Freiheitsbegriff, den Engels mit stärkerem Akzent auf dem Objekt auf die || 266 Hacks markiert hier gewissermaßen das gesamte Feld des Marxismus, denn Tassows Position lässt sich auch bei Marx selbst finden, der 1881 hinsichtlich der russischen Agrarverhältnisse feststellte, dass es durchaus möglich sei, sich „die von dem kapitalistischen System hervorgebrachten positiven Errungenschaften an[zu]eignen, ohne dessen kaudinisches Joch durchschreiten zu müssen“. Das hänge ganz „vom historischen Milieu“ ab. MEW 19, 405 u. 404. 267 Müller verdeutlicht das anhand der Auseinandersetzung über Individuum und Gattung (253f.): Während Fondrak auf seiner Einzigartigkeit beharrt, argumentiert Flint historisch-materialistisch und verweist auf die Dialektik von Individuum und Gattung. Siehe zum marxistischen Gattungsbegriff: HKWM 4, 1239–1258. – Trotz dieser Differenz ließe sich auch für Fondrak und Flint ein gemeinsamer Boden ausmachen: Wenn Fondrak Flint vorhält, „Du machst den Gaul, schweißtriefend für die bessere Menschheit. Was bist du am Ende? Erde, die jeder bescheißen kann“ (253), verweist das auf die unterdrückte Angst Flints und die Macht des Kreatürlichen und Triebhaften. Insofern stehen beide auf einem gemeinsamen ‚psycho-somatischen‘ Boden, auf dem sie unterschiedliche Positionen beziehen. 268 Siehe S. 160.

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berühmte Sentenz gebracht hat, Freiheit sei „die Einsicht in die Notwendigkeit“:269 Mattukat will, „was menschlich ist“ (= „Sozialismus“)270, deshalb muss er seinen Willen mit den Umständen abgleichen, sein Wollen „wechselt / […] den alten Namen und heißt Müssen“, es wird in diesem „aufgehoben“. (90)271 Wenn Moritz Tassow für das unbedingte Primat des Wollens und Mattukat für eine Vermittlung (Wollen/Müssen) steht, ist allerdings fraglich, ob die Unterscheidung zwischen Utopie- und Realitätsprinzip ein antithetisches Spannungsverhältnis zwischen Tassow und Mattukat repräsentiert, wie Teile der Forschung behauptet haben. Eine solche Betrachtung blendet zumindest Mattukats Mitarbeiter Blasche aus bzw. versteht diesen lediglich als satirische Abspaltung des Realitätsprinzips, als „lächerliche Figur“.272 Fasst man Blasches Redepassagen genauer ins Auge, erweist sich gerade dessen Position als Gegensatz zu Tassow, denn Blasche repräsentiert ein absolutes Müssen, das jede freie Subjektposition negiert. Seine zentralen Einsichten lauten: „Die Widersprüche haben, / Seitdem wir dran sind, aufgehört“ (176), und: „Keine Bewegung, Lenkung braucht die Zeit.“ (137) Die Kontrastierung der Positionen Tassows und Blasches, die sich bei aller Verschiedenheit in ihrer herablassenden Haltung gegenüber den Bauern treffen,273 erfolgt in der achten Szene, wenn Tassow, Mattukat und Blasche zum ersten Mal aufeinandertreffen. Blasche betont die Notwendigkeit straffer Organisation und staatlichen Durchgreifens, was Tassow umgekehrt als jeder Revolution hinderlich auffasst. Interessant ist, dass Mattukat beide Positionen zurückweist: BLASCHE: Keine Bewegung, Lenkung braucht die Zeit. MATTUKAT: Was willst Du lenken, wenn sich nichts bewegt? (137)

|| 269 MEW 20, 106. Bei Hegel heißt es: „Die Zwecktätigkeit aber dieses Willens ist, seinen Begriff, die Freiheit, in der äußerlich objektiven Seite zu realisieren, daß sie als eine durch jenen bestimmte Welt sei, so daß er in ihr bei sich selbst, mit sich selbst zusammengeschlossen […] sei. Die Freiheit, zur Wirklichkeit einer Welt gestaltet, erhält die Form von Notwendigkeit […].“ Hegel 10, 303. 270 Im Erstdruck von Moritz Tassow in Th heißt es anstelle der späteren Formulierung des Zweitdrucks: „Ich will den Sozialismus“. DMT 50. 271 Andrea Jäger erkennt auf der Basis eines anderen, an Autonomievorstellungen geknüpften Freiheitsbegriffs und aufgrund der Tatsache, dass Mattukat ein „Funktionär der Staatsgewalt“ ist, in dessen Haltung das unbedingte Postulat einer Unterwerfung des Willens „als einzig denkbarem Weg zu einem humanen Ideal“ und schließt daraus, das Stück stelle die Forderung nach einem „kriterienlosen Opportunismus“ auf. Jäger: Der Dramatiker Peter Hacks, S. 143. 272 Greiner: Die Komödie, S. 407. Vgl. auch die ähnlichen Auffassungen bei: Horst Laube: Peter Hacks. Velber bei Hannover 1972, S. 53 u. Jäger: Der Dramatiker Peter Hacks, S. 151. Der DDR-Literaturwissenschaftler Hermann Kähler erkennt in dem „Gegen- und Miteinander der Hauptfiguren“ sogar die Funktion eines „‚Doppel-Helden‘“, dessen paradigmatische Ausprägung man in Martha Flinz und Friedrich Weiler aus Baierls Frau Flinz finde. Hermann Kähler: Überlegungen zu Komödien von Peter Hacks. In: Peter Hacks: Ausgewählte Dramen. Berlin/Weimar 1972, S. 430. 273 Moritz Tassow nennt sie „Holzköpfe“ (139) und „kleine[ ] Geschöpfe“ (174), Blasche spricht im Diminutiv, „Bäuerlein“ (177), zu ihnen.

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MORITZ: Je mehr Gesetze, desto weniger / Revolution. MATTUKAT: Falsch. Die Gesetze der Revolution, das sind die festgehaltnen / Erfahrungen der Revolution. (140)

Mattukat argumentiert jeweils unter Einbeziehung der Argumentation und der Rolle seines Gesprächspartners einmal pro und einmal contra administratives Handeln und zeigt so, dass die Positionen für sich genommen wenig aussagekräftig sind, als richtig oder falsch erweisen sie sich ausschließlich in konkreten Situationen. Mattukat verkörpert die Vermittlung Tassows und Blasches: Er vereint die wesentlichen Qualitäten beider Positionen, die in ihrer Schwerpunktsetzung auf die kontextverändernden Potentiale der Praxis oder die Determination der Praxis durch die Kontexte je die äußersten Pole des marxistischen Freiheitsdiskurses repräsentieren.274 Er ist die „Königsfigur“275 des Dramas und besetzt folgerichtig innerhalb der Fabel die Position, die „die Macht hat“ (145), Tassow abzusetzen und die Revolution zu retten.276 Der Held der Komödie ist gleichwohl Moritz Tassow.277 Das Stück trägt seinen Namen, er steht im Mittelpunkt der Handlung und bewegt diese. Als phantastische, ja fast schon numinose Kunstfigur hebt er sich klar vom restlichen sozial-mimetisch orientierten Personal ab.278 Die Verkörperung der Utopie ist in doppelter Weise über die literarisch-genealogische Komposition des Figurennamens als widersprüchliches Ensemble bestimmt. Der Vorname verweist auf Moritz Eldingen, den Helden aus August

|| 274 Die Spanne geht von den französischen Materialisten bis zu Sartre. Vgl. HKWM 4, 941. 275 Trilse: Das Werk des Peter Hacks, S. 146. 276 Der Triade-Interpretation, die Mattukat ins Zentrum stellt, folgen: Bartels: Leistung und Demokratie, S. 172f.; Fuhrmann: Vorausgeworfene Schatten, S. 62; Johannes Maczewski: Der adaptierte Held. Untersuchungen zur Dramatik in der DDR. Bern u.a. 1978, S. 66; Milfull: Utopie und Wirklichkeit, S. 410 u. Zipes: Bertolt Brecht oder Friedrich Wolf?, S. 226f. Wolfgang Schivelbusch argumentiert ähnlich, klammert aber Blasche aus und erkennt in Mattukat die Synthese einer „humanen Realpolitik“, die sich aus dem Widerspruch zwischen Tassow und den Landarbeitern ergibt. Schivelbusch, S. 90. 277 Tatsächlich steht Mattukat größtenteils außerhalb der Handlung und greift erst am Ende einem Deus ex Machina gleich in diese ein. Er entspricht bereits dem von Hacks später skizzierten „mittleren Helden“, dem die „Rolle des Richters“ zukommt, der aber in dramaturgischer Hinsicht „unter ernsthaften Kontaktschwierigkeiten [leidet]“. HW 15, 180 u. 179. Siehe zum mittleren Helden: Felix Bartels: Die Landkarte und die Landschaft. Zur Struktur des Ideal-Begriffs von Peter Hacks. In: Kai Köhler (Hg.): „… und nehmt das Gegenteil“. Gesellschaftsutopien bei Hacks. Berlin 2013, S. 69f. 278 Die fehlende Positionierung Tassows im „gesamtgesellschaftlichen Gefüge“ (Ketelsen: „Moritz Tassow“, S. 356) haben Teile der Forschung als realistisches Defizit des Textes herausgestellt, schließlich werde Tassow so der „gesellschaftlichen Verbindlichkeit“ enthoben und erscheine als „niedrige komödiantische, plebejische Figur“. Schivelbusch, S. 93 u. 95. Hacks argumentiert genau andersherum und erkennt in der Figurengestaltung die Erfüllung der Realismusprämisse, da „die humane Utopie“ nur „in der Vergangenheit und in der Zukunft, vielleicht auch nur in der Erinnerung und in der Hoffnung“, keineswegs aber „in der historischen Wirklichkeit“ existiere. HW 13, 110f.

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von Kotzebues Drama Bruder Moritz [1790], der sich, wie Hacks’ Moritz, gegen gesellschaftliche Konventionen stellt, auf dem Standpunkt der Bedürfniserfüllung des Subjekts beharrt und zu einem utopischen Ort aufbricht.279 Der Nachname assoziiert den italienischen Schriftsteller Torquato Tasso und dessen literarische Verarbeitung in Goethes gleichnamigem Theaterstück. Das legt (von der Einordnung Tassows als Künstler abgesehen) eine im Verhältnis zu Mensch und Umwelt „leidenschaftliche Subjektivität“ und eine „Disproportion des Talents mit dem Leben“ nahe,280 die auf Tassows Hypertrophie und „das Genie in seiner Asozialität“ verweist.281 So beansprucht Tassow nicht nur die Durchführung der Revolution in Gargentin nahezu für sich allein (139); angesichts der Krise der Kommune gibt er sich als bornierter Einzelgänger zu erkennen, der die Fehler nicht bei sich, sondern bei den „schwächlich[en]“ und „kleinen Geschöpfe[n]“ (174) sucht. Am Ende der zehnten Szene, die durch eine in Prosa gehaltene direkte Ansprache ans Publikum hervorgehoben ist, kommt er zu dem Schluss: „Politik geht überhaupt nur ganz ohne Leute“ (174) und setzt sich selbst als „Genie“, was durch das als „Ein-Mann-Orchester“ (174) vorgetragene „Johann Meusel“-Lied szenisch unterstrichen wird. Der „Riese“, den Peter Hacks Mitte der 1960er Jahre als „die Lieblingsfigur des sozialistischen Dramatikers“ bestimmt,282 zeigt sich in seinem utopischen Potential als grenzenlos, zugleich aber auch als so einseitig, dass er in der Praxis scheitern muss. Sein Anspruch, „[d]en Kommunismus […] mit den Klugen“ (142) oder eben allein machen zu wollen, führt letztlich zu seinem Rückzug aus der Politik. Mit der Durchsetzung der Bodenreform wird ihm Gargentin zu einem Ort, „wo nichts für mich zu tun ist“. (200) Stattdessen kündigt Tassow an: [I]ch such mir einen andren Acker / für mein Geschäft, die karge Saat der Zukunft / Mit Zangen aus dem Boden hochzuziehn. / Ich werde Schriftsteller / […] das ist der einzige Stand, / In dem ich nicht verpflichtet bin, kapiert / Zu werden oder Anhänger zu haben. (201)

Der Abgang Tassows ist in der Forschung als Reflexion von Hacks’ eigener Erfahrung mit der Absetzung von Die Sorgen und die Macht und als kritischer Kommentar zur

|| 279 Siehe den von Felix Bartels und Gunther Nickel besorgten Neudruck von Bruder Moritz, der Sonderling oder Die Kolonie für die Pelew-Inseln. In: ARGOS (2012), H. 9, S. 371ff. Zuerst auf die KotzebueQuelle aufmerksam gemacht hat Christoph Trilse. Vgl. Trilse: Das Werk des Peter Hacks, S. 142. Die durch Armin Stolper im Programmheft zur Uraufführung (Volksbühne, 5. Oktober 1965) in Umlauf gesetzte Assoziation mit Wilhelm Buschs Max und Moritz (vgl. DMT 105) wurde zwar von Hacks selbst zurückgewiesen (vgl. HW 13, 191), findet sich in der Forschungsliteratur aber bis heute. Vgl. Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR, S. 157; Schnell: Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1945, S. 268 u. Schmidt: Zwischen Antimoderne und Postmoderne, S. 405. 280 Stuart Atkins: Kommentar zu „Torquato Tasso“. In: Goethe 5, 509 u. Caroline Herder an Johann Gottfried Herder, 20. März 1789, zit. n.: Goethe 5, 500. 281 Bartels: Leistung und Demokratie, S. 40. 282 HW 13, 95.

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gesellschaftlichen Situation der Literatur und ihrer ProduzentInnen in der DDR verstanden worden.283 Indem die Fabel des Stücks am Ende Mattukats verständnisvolle Haltung gegenüber Tassow284 verwerfe – auch er erkennt, dass Tassow „[e]in Narr“ (201) sei – und an dessen Stelle den bürokratischen, zu allen Zugeständnissen bereiten Pragmatiker Blasche setze, offenbare das Stück einen „,Abgrund‘ realsozialistischer Zukunftsperspektiven“ und verdeutliche, dass die Utopie in der politischen Realität der DDR keinen Platz habe: Ihr einziger Ort sei die Kunst.285 Gegen eine solche Interpretation sprechen allerdings (ganz abgesehen von Hacks’ gattungstheoretischen Überlegungen zum Zeitstück)286 einige deutliche textuelle Markierungen, die die Fabel mit Sinn aufladen und transgressive Momente einschränken. So entscheidet sich Mattukat vor dem Hintergrund der durch den Mittelbauer Iden geschilderten Zustände in Gargentin und angesichts der mangelnden Auswahl an politischem Personal – es ist September 1945 und „[d]ie meisten sind […] tot“ (89) – bewusst für Blasche (180), nachdem er sich zunächst gegen diesen entschieden hatte (176); dieser Entscheidung geht die Erkenntnis voraus, dass Tassow, dem Schaden wie Nutzen zugestanden wird, zu früh komme, weil „noch keine Zeit für Wagnisse“ (180) sei und noch immer gilt: „Nur was geht, geht. / Was nicht geht, geht nicht. Gutgemeint kriegt Schläge“. (89) Die Fabel bestätigt das anhand der Gegenrevolution. Des Weiteren tritt Blasche nur für „sechs Monat[e]“ (175) im Rahmen einer Lösung auf Zeit an die Stelle Mattukats; er wird explizit als dessen „Stellvertreter“ (175) benannt.287

|| 283 Vgl. Raddatz: Traditionen und Tendenzen, S. 424; Schleyer: Die Stücke von Peter Hacks, S. 97; Fuhrmann: Vorausgeworfene Schatten, S. 64 u. Schröder: „Zwischen Eiszeit und Kommune“, S. 562f. Siehe zur Absetzung von Die Sorgen und die Macht, Kap. 4.4.2. 284 Diese zeigt sich während des Disputs über die Art und Weise der Propagierung der Bodenreform (140ff.) und bestätigt sich auch handlungsseitig, da Mattukat Tassow als Vorsitzenden der Gargentiner Bodenkommission, die dann freilich gar nicht zustande kommt, akzeptiert. (145) Dass Mattukat Tassows Kommune-Experiment „eine Chance gibt“, (Gerhart Pickerodt: Nachwort. In: Peter Hacks: Moritz Tassow. Komödie, hg. von Gerhart Pickerodt. Berlin 2011, S. 150), ist aber falsch, denn Mattukat geht davon aus, Tassow führe die Bodenreform durch. 285 Schmidt: Zwischen Antimoderne und Postmoderne, S. 405. Siehe auch: Ketelsen: „Moritz Tassow“, S. 357f. 286 Im Essay „Das realistische Theaterstück“ weist Hacks die Verknüpfung von Happy End und Komödie bzw. letalem Ende und Tragödie zurück: „Das schlimme Ende ist kein Ende für immer. […] Das gute Ende beweist nicht mehr die Güte der Welt, das schlimme nicht ihre Schlechtigkeit.“ RT 96. 287 Die außerhalb der Dramenhandlung liegende potentielle Rückkehr Mattukats ist in der Forschung vermutlich deshalb unbeachtet geblieben, weil dieser aufgrund seiner KZ-Haft in der Regel als „Altkommunist“ (Milfull: Utopie und Wirklichkeit, S. 410) aufgefasst wird, was aber der Beschreibung Mattukats in der ersten Szene als „[s]ehr jung“ (88) widerspricht. Siehe auch die Interpretation von Jack Zipes, der in die gleiche Richtung argumentiert: Zipes: Bertolt Brecht oder Friedrich Wolf?, S. 226f.

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Liest man den Text unter Berücksichtigung der erwähnten textuellen Marker und bezieht zudem Mattukats abschließenden Kommentar zu Tassow ein – „Er will im Recht sich wissen, sonst in nichts, / Mundlos genießen, was er handlos erntet. / Wo steck ich solche hin? Nicht groß sein kann, / Was leer ist. Aber kann leer sein, was groß ist?“ (201) –, ist auch eine gegenteilige Lesart möglich: Moritz Tassow als Komödie über die Probleme des Intellektuellen/Künstlers in der DDR und die Komplikationen, die sich aus dessen Potential ergeben – oder in den Worten von Peter Hacks über Goethes Torquato Tasso, der ja als Mitbedeutung im preußifizierten Tassow enthalten ist: eine Komödie über „ein Genie, das ein Scheusal ist“ und „die Schwierigkeiten einer Regierung mit einem ichsüchtigen Kunstmacher“.288 Im Kontext einer solchen Abwertung erweist sich Mattukat im Gegensatz zu Tassow, der ein revolutionäres Experiment anstößt und beinahe einen Scherbenhaufen hinterlässt, als die Hauptfigur des Stücks – d.h. er ist das eigentliche Genie,289 weil er nicht nur – wie Tassow – „die vorhandene Welt, denkend oder fühlend, mit der möglichen Welt […] vergleichen und sie in ihrer abscheulichen Unvollkommenheit […] begreifen“ kann, sondern weil er darüber hinaus auch in der Lage ist, „zwischen den […] feindlichen Polen des Gedachten und des Gemachten durch zukunftsgerichtetes Tun“ zu vermitteln.290 Mattukat hat Eigenschaften, die man mit Begriffen wie freiwillige Beschränkung, Zurücknahme, Übersicht, Ruhe usw. beschreiben kann und für die Hacks einen Begriff Goethes übernimmt, der aufgrund des modernen Sprachgebrauchs zunächst missverständlich wirkt: Resignation. Hacks reformuliert diesen Begriff zu Beginn der 1970er Jahre als „fröhliche[ ] Resignation“ und zielt damit auf die Anerkennung objektiver Tatsachen und deren Reflexion im Kontext von Möglichkeitsräumen, mithin auf ein „Wissen vom Fortschritt und seinen Bewegungsgesetzen und der Tatsache, daß der Fortschritt, wie er auch immer verlaufen möge, jedenfalls im gegenwärtigen Augenblick nicht angenehm zu erleben ist“, wie Hacks 1976 mit Blick auf Goethe und

|| 288 HW 13, 213. Siehe hierzu: Gunther Nickel: Kunst versus Politik. Peter Hacks’ Lektüre von Goethes „Tasso“. In: Köhler (Hg.): Staats-Kunst, S. 11–25. 289 Hacks setzte Held und Genie gleich (vgl. HW 15, 146) und definiert: „Genie ist das Vermögen, den eigenen Weltzustand als fremden zu begreifen und mithin die Tatsachen, die von der Menge für allgemein hingenommen werden, als Stellen innerhalb eines Feldes von Möglichkeiten zu orten […].“ Das Ziel der Genies sei „die äußerste Verwirklichung der äußerten Möglichkeit.“ HW 13, 203f. Hacks grenzt den Geniebegriff wie Georg Lukács (vgl. Georg Lukács: Die Eigenart des Ästhetischen. Bd. 1. Neuwied/Berlin 1963 [Werke. Bd. 11], S. 792) gegen irrationale Herleitungen ab, weist aber zugleich Erklärungen, die auf eine allgemeine Soziologie des Genies zielen, zurück. Vgl. HW 13, 136. Auf die Bedeutung der Korrelation Genie und Gesellschaft bei Peter Hacks hat zuerst Felix Bartels aufmerksam gemacht. Vgl. Bartels: Leistung und Demokratie. Siehe zur Geschichte des Geniegedankens: Jochen Schmidt: Die Geschichte des Geniegedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750 bis 1945. 2 Bde. Heidelberg 2004 sowie ÄGB 2, 661ff. 290 HW 15, 146 u. HW 15, 126.

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Heine ausführte.291 Der Begriff der fröhlichen Resignation, der als Korrelat zu Mattukats Freiheitsbegriff aufgefasst werden kann, da er ebenfalls auf ein vermitteltes Subjekt-Objekt-Verhältnis zielt, ist im weiteren Verlauf dieser Arbeit vor allem im Zusammenhang mit dem Streit um die Romantik von Bedeutung und wird am gegebenen Ort in seinen verschiedenen Implikationen interpretiert werden; vorerst reicht es aus, Mattukat als Vertreter einer solchen Haltung zu erkennen. Als einer jener „eigentümlichen Helden“, deren Utopie sich, Hacks zufolge, handelnd beschränkt und deren Resignation „schöpferisch“ ist,292 ist er ein sozialistisch gewendeter Nachfolger der Columbus-Figur aus Hacks’ frühem Drama Eröffnung des indischen Zeitalters [1954], der – und das zeigt den Fortschritt der Verhältnisse zwischen dem feudal-bürgerlichen und dem bürgerlich-sozialistischen Epochenübergang an – zwar ebenfalls noch keine absolute „Zeit der Vernunft und der Tugend“293 gestalten kann, aber doch eine bessere, derer er sich nicht schämen muss. Wird die Position Moritz Tassows also abgewertet, wie es die spätere Selbstinterpretation Hacks’294 nahelegt? Um dies zu beurteilen, ist es sinnvoll, noch einmal auf die Gattungskonventionen der Komödie einzugehen. Die Komödie operiert im Normalfall mit einem Happy End, d.h. die im Rahmen der Handlung aufgeworfenen Konflikte werden innerfiktional aufgelöst.295 Angesichts der politischen und sozialen Erfahrungen des zwanzigsten Jahrhunderts zeigt sich gattungshistorisch aber zunehmend „eine strukturelle Labilität des Komödienschlusses“.296 Die sozialistische Komödie seit Brecht ist diesem Problem begegnet, indem sie den positiven Komödienschluss unter Verweis auf die historische Dialektik in die Zukunft projiziert und damit jede binnenliterarische Erklärung überschreitet – zwischen dem Herren Puntila und seinem Knecht Matti kann es keine Versöhnung geben, außer dass die

|| 291 FR 20 u. BD 2, 181. Vgl. FR 25f. Siehe auch: Bartels: Leistung und Demokratie, S. 36 u. Bartels: Die Landkarte und die Landschaft, S. 66. Siehe die Lemmata ,Entsagung‘ und ,Heiterkeit‘ in: GoetheWörterbuch, hg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften u.a. Stuttgart 1978ff., online unter: http://woerterbuchnetz.de/GWB (zuletzt eingesehen am 9. April 2014). Siehe zum Motiv der Entsagung und der Resignation bei Goethe: Julie D. Prandi: „Dare to be happy!“. A study of Goethe’s ethics. Lanham u.a. 1993. 292 HW 15, 126. 293 Peter Hacks: Theaterstücke. Berlin/Weimar 1957, S. 205. 294 „Mattukat rettet die Revolution, Blasche hält sie am Leben. Tassow hat, soweit ich sehe, nichts mit mir zu tun. Schriftsteller halte ich für eine komische Berufsgruppe.“ Carlos Isasi: Sorry, ich kenne das nicht. Ein Hacks-Interview. In: Th 15 (1974), H. 6, S. 50. 295 Vgl. Northrop Frye: Der Mythos des Frühlings: Komödie. In: Reinhold Grimm u. Klaus L. Berghahn (Hg.): Wesen und Formen des Komischen im Drama. Darmstadt 1975, S. 165. Siehe auch: Walter Hinck: Vom Ausgang der Komödie. Exemplarische Lustspielschlüsse in der europäischen Literatur. In: Reinhold Grimm u. ders. (Hg.): Zwischen Satire und Utopie. Zur Komiktheorie und zur Geschichte der europäischen Komödie. Frankfurt/M. 1982, S. 126–183. 296 Carsten Jakobi: Von der bürgerlichen zur sozialistischen Komödie. Peter Hacks und die Transformation des Happy End. In: Jäger (Hg.): Heitere Spiele über den Ausgang der Geschichte, S. 30.

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Knechte dem Herren „den Rücken kehren“,297 was im Stück selbst aber nur als Ausblick thematisiert wird. Folgt man Carsten Jakobi, dann zeigt sich in dem Umstand, „dass die Wirklichkeit nicht mehr methodisch von der Komödienlogik unterschieden wird, sondern selbst als Bürge des gelingenden Zeichensystems der Komödie funktioniert“,298 gerade die Spezifik der sozialistischen Komödie. Eine ästhetische Lösung des Konflikts findet nicht statt, die prinzipielle Versicherung der Lösung wird aber dennoch gegeben. Das bedeutet (und es gilt in gleicher Weise für die Müller’sche Komödie): Die außerliterarische Wirklichkeit, also die erfolgreiche Kollektivierung der Landwirtschaft zur Zeit der Aufführung des Textes, generiert den Sinn, den die fiktionale Lösung verweigert.299 Dies berücksichtigt, wäre auch Moritz Tassow ins Recht gesetzt, der am Ende der Komödie weiß, „in fünfzehn Jahren / Ist alles hier kollektiviert.“ (201) Wie auf politisch-administrativer Ebene (Blasche als Stellvertreter) ist auf ökonomischer (Bodenreform statt Kollektivierung) die innerfiktionale Lösung nur temporär: „Wer spricht von Ewigkeit?“ (141) Die historische Dialektik setzt die Komödie in eine polyvalente Schwebe: Moritz Tassow hat Recht und gleichzeitig Unrecht; die Bodenreform ist falsch und zugleich richtig. Das bedeutet allerdings nicht, dass der Text „jeder eindeutigen Lesart eine Absage erteilt“, wie Wolf Gerhard Schmidt meint.300 Moritz Tassow kann verstanden werden als eine Beschreibung der Modalitäten, unter denen der Fortschritt stattfindet – aufgefasst nicht als geradliniger Weg, sondern als beständige Bewegung innerhalb unterschiedlicher Kräftefelder. Die Komödie funktioniert wie ein Kommentar zu ihrem Helden Moritz Tassow bzw. allgemeiner gesprochen: zu den Haltungen, die dem Fortschritt gegenüber eingenommen werden können. Diese Haltungen werden je nach Kontext als produktiv oder destruktiv vorgestellt und in ihrer Potentialität beschrieben, wobei die Sonderstellung der Figur Mattukats nahelegt, objektive Bedingungen als Ausgangslage sozialer Praxis anzuerkennen. Dass sich für die aufgeworfenen Probleme nur eine „unwürdige Zwischenlösung“301 denken lässt, eine dialektische, neue Widersprüche aufwerfende, das gerade ist die ‚eindeutige Lesart‘ des Stücks. Die positive Nachricht aber lautet wie schon in Hacks’ vorangegangenem Stück Die Sorgen und die Macht: Zwischenlösungen bringen „[n]eue Widersprüche“ (176) hervor. Die Bewegung der „befreundeten Feindschaft des Denkbaren zum Machbaren“,302 als welche Hacks den Widerspruch von Utopie und Realität fasst und welche Mattukat verkörpert, geht weiter. || 297 GBA 6, 370. 298 Jakobi: Von der bürgerlichen zur sozialistischen Komödie, S. 37. 299 Von einem klassischen Happy End kann weder bei Moritz Tassow noch bei der Umsiedlerin gesprochen werden, schließlich müssen in beiden Komödien die komischen Elemente verschwinden, um die binnenliterarisch prekäre Lösung zu ermöglichen. 300 Schmidt: Zwischen Antimoderne und Postmoderne, S. 405. 301 HW 13, 10. 302 HW 13, 10.

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4.3.8

Die deutsche Misere

1950 lehrte Brecht mit der Bearbeitung des Lenz’schen Hofmeisters dem Publikum „[d]as ABC der Teutschen Misere“.303 Der Epilog erklärte den „Schoß […], aus dem das kroch“ als „vielerorts“ noch „fruchtbar“. Die Einsicht in die Voraussetzungen der Kontinuität der Misere (‚nach oben bücken, nach unten treten‘) sollte den ZuschauerInnen den endgültigen Abschied von dieser im satirischen Lachen vermitteln: „Betrachtet seine Knechtseligkeit / Damit ihr euch davon befreit!“304 Als Repräsentanten der deutschen Misere galten u.a. Friedrich II. und Bismarck. Brecht plante, diese im Zusammenhang mit einer „deutschen Nationalkomödie“ auftreten zu lassen, die, folgt man Werner Mittenzwei, über die unter deutschen MarxistInnen übliche Ablehnung Preußens weit hinausgegangen sei und an der Konstruktion eines „,Ewigen Deutschen‘“ gearbeitet hätte, „der stets auf der Suche nach einem Führer ist, der ihn in den Arsch tritt“.305 Peter Hacks führte diese Überlegungen dann dramatisch mit dem Müller von Sanssouci am Beispiel Friedrichs II. und des ‚aufrechten‘ Müllers aus, milderte die nationale Komponente aber ab, indem er nicht ‚den Deutschen‘, sondern ‚den Kleinbürger‘ ins Zentrum des Problems stellte.306 In Brechts Konzeption kommt den Figuren der deutschen Misere eine Warnfunktion zu. Das Ausrufezeichen am Ende des Hofmeister-Epilogs betont den Nachdruck, den Brecht auf seine Didaxe legte: Die deutsche Misere muss als zentrales Hindernis und allgemeine Gefahr (nicht zuletzt für den Rest der Welt) überwunden werden. An Moritz Tassow und Die Umsiedlerin lässt sich ablesen, wie Hacks und Müller den Brecht’schen Topos fortschreiben und verändern, nicht zuletzt indem sie ihn in das

|| 303 GBA 8, 321. Siehe zum Hofmeister: Klaus-Detlef Müller: Bertolt Brecht. Epoche – Werk – Wirkung. München 2009, S. 204ff. Unter der ‚deutschen Misere‘ verstanden MarxistInnen spätestens seit Franz Mehring einen politisch-ideologischen Motivkomplex von Besonderheiten der deutschen Geschichte, in dessen Zentrum ein widersprüchliches Verhältnis von Unter- und Überlegenheit steht, das sich anti-rational und gewaltförmig veräußert. Wesentlich für das Verständnis nach 1945 ist die Ausarbeitung von Georg Lukács. Vgl. Georg Lukács: Fortschritt und Reaktion in der deutschen Literatur. Berlin 1947. Die spezifisch autoritäre deutsche Tradition wurde bis zum Wechsel der Traditionsbeziehungen durch die SED zu Beginn der 1950er Jahre als Voraussetzung für den Erfolg des Nationalsozialismus interpretiert, so dass der Überwindung der „Veruntertanung“ (Alfred Döblin) eine besondere Bedeutung zukam. Siehe zur deutschen Misere in der marxistischen Tradition: HKWM 2, 641ff. 304 GBA 8, 371. Das kursiv gesetzte Zitat stammt aus Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui: GBA 7, 112. 305 Mittenzwei: Das Leben des Bertolt Brecht. Bd. 2, S. 605. Siehe zum Thema der deutschen Misere und Brecht: Stephan Bock: Brechts Vorschläge zur Überwindung der „Deutschen Misere“ (1948– 1956). In: Klussmann u. Mohr (Hg.): Deutsche Misere einst und jetzt, S. 49–67. Siehe zu den Preußenbildern im Drama der DDR: Hermand: Fridericus Rex. 306 Siehe Kap. 3.3.2.2.

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Zeitstück transponieren. Zugleich zeigen die Allegorien der deutschen Misere in beiden Komödien noch einmal deutlich die Differenz zwischen den Dramatikern an. In der neunten Szene des Moritz Tassow, die durch die Prosaform und den Titel „Deutscher Wald“ hervorgehoben ist, machen die lustigen Personen Schelle und Riepel Bekanntschaft mit dem wütenden Heer der Frau Holla, das Hacks um das Personal der deutschen Misere erweitert und als mytho-germanischen Aufstand der Reaktion gegen die „gegen alles alte Recht und Brauchtum“ (156) verstoßende Revolution in Gargentin auftreten lässt: „Man erkennt Geistliche, Kritiker, Staatsmänner; unter denselben Friedrich von Preußen, den Müller von Sanssouci, Bismarck, Hitler“ (153), heißt es in der Regieanmerkung.307 Ein ähnliches, aber auf zwei Figuren reduziertes Personal lässt auch Müller in der Umsiedlerin auftreten. Am Ende des ersten Bildes, wenn der Parteisekretär Flint die Szene verlassen will, beladen mit Fahrrad, Fahne, Schild/Transparent und Büchern – womit ausgedrückt ist, dass nahezu alle Aufgaben auf ihm allein lasten –, treten Friedrich II. und Hitler auf. Wie in den Darstellungen von Karikaturen springen sie Flint auf den Rücken – zuerst Hitler Flint, dann Friedrich II. Hitler, womit die Genealogie der deutschen Misere ausgedrückt ist, wie sie auch von offizieller Seite interpretiert wurde.308 Jeder Versuch des Widerstands führt dazu, dass Flint nacheinander Fahrrad, Fahne, Schild/Transparent und Bücher fallen lässt. Betrachtet man diese als Metaphern der Mobilität und Flexibilität der Partei (Fahrrad), ihrer Kampfmoral (die Fahne), der sozialen Durchschlagskraft der Bodenreform (Schild/Transparent)309 und der Bildung und Erziehung (Bücher), so verdeutlicht Müller den Preis, der möglicherweise gezahlt werden muss, um die Vergangenheit „abzuschütteln“ (190), die der Partei als Hindernis im Nacken sitzt und den Weg in die Zukunft versperrt.310

|| 307 Frau Hollas Geister- und Totenzug schließt an Erzählungen der europäischen Mythologie über die „Wilde Jagd“ an. Hacks orientierte sich an den Grimm’schen Sagen Frau Holla und der treue Eckart und Die Tut-Osel. Vgl. Jacob Grimm u. Wilhelm Grimm (Hg.): Deutsche Sagen. Zwei Bände in einem Band. Vollständige Ausgabe nach dem Text der 3. Aufl. von 1891 mit der Vorrede der Brüder Grimm und mit einer Vorbemerkung von Hermann Grimm. München 1965, S. 37 u. 296f. Erstere scheint Hacks auch als Folie für die eigene Szenenführung verwandt zu haben. Siehe auch: Heidi Ritter: Vom „aufklärerischen“ zum „klassischen“ Theater. Untersuchungen zum Traditionsverhältnis in den Dramen von Peter Hacks. Phil. Diss. Halle 1976, S. 186. 308 In Alexander Abuschs ab 1946 in großer Auflage in Deutschland erschienenem Irrweg einer Nation heißt es, der „Preußengeist“ sei „eine entscheidende – wenn auch nicht die einzige – reaktionäre Quelle des Nazigeistes“ Alexander Abusch: Der Irrweg einer Nation. Ein Beitrag zum Verständnis deutscher Geschichte. Berlin 1960, S. 30. 309 Der Text gibt keine Information darüber, woher das Schild kommt. Gemeint sein kann aber eigentlich nur das zu Beginn der Szene erwähnte Transparent „Junkerland in Bauernhand“, das kurz darauf nach Empfang eigenen Grunds und Bodens vom Bauer Kaffka weggeworfen wird. (183f.) 310 Vgl. Wolfgang Emmerich: Der Alp der Geschichte. ‚Preußen‘ in Heiner Müllers „Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei“. In: Klussmann u. Mohr (Hg.): Deutsche Misere einst und jetzt, S. 119f.

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Bei Hacks übernimmt das Personal der deutschen Misere eine andere Funktion:311 Der „Deutsche Wald“ kündigt in allegorischer Form den in der zehnten Szene folgenden Niedergang der Kommune und die einsetzende Gegenrevolution an. Als shakespeareisierendes Zwischenspiel, eine Art Sommernachts(Alp-)traum, in welchem Tassow ausgeweidet und tranchiert wird (154), erfährt die Szene im Gesamtzusammenhang der Fabelführung, die Frau Hollas wütendes Heer auf immer verabschiedet, aber eine Relativierung: Es ist nicht die Mytho-Reaktion, welche die Revolution bedroht, sondern Tassows Utopismus. So lässt sich der „Deutsche Wald“ auch als negativer Kommentar zur Misere-Theorie lesen.312 Bezogen auf Hacks’ Frühwerk wechselt die Positionierung der Misere-Figuren: Fünf Jahre nach der Niederschrift von Der Müllers von Sanssouci sind Friedrich II. und sein Müller nur noch Statisten eines allgemein die Reaktion bedeutenden Geisterzuges. Aus den Hauptfiguren eines Stücks sind allegorische Nebenpersonen geworden: „Die Zeit hat sich gewandelt.“313 Umgekehrt verhält es sich bei Müller, der die deutsche Misere figural erstmals auftreten lässt – hier bereits mit den gleichen grotesken Attributen wie später in Germania Tod in Berlin [1956/71] ausgestattet314 – und das deutsche Gruselpersonal vom Neben- in den Haupttext bringt. Ob es Flint gelingt Friedrich II. und Hitler abzuschütteln, lässt der Nebentext offen. Die pantomimische Szene bekommt so, durch die Positionierung am Ende des ersten Bildes noch verstärkt, den Charakter einer Leitfrage in Hinblick auf das gesamte Stück, die sich als Bestandteil eines der Leitmotive Heiner || 311 Vgl. Matias Mieth: „Germania Tod in Berlin“ – Zum Verhältnis und zur Funktion von Komischem und Tragischem. In: Christine Gorek u. Annett Gröschner (Hg.): Dokumentation einer vorläufigen Erfahrung. Texte zum Werk Heiner Müllers. Berlin 1991, S. 21 u. Matias Mieth: Die Masken des Erinnerns. Zur Ästhetisierung von Geschichte und Vorgeschichte der DDR bei Heiner Müller. Frankfurt/M. u.a. 1994, S. 153. 312 Gleichwohl weist Hacks im Rahmen des Zwischenspiels in zweierlei Weise auf die Kontinuität und Funktionsweise der deutschen Misere hin: So zeigt er durch die im Personenverzeichnis ausgewiesene Bemerkung, der Schwedische Reiter solle vom Darsteller des Nazi und Frau Holla von der Darstellerin der Melitta gespielt werden (86), „die noch vorhandene Gegenwärtigkeit“ der Misere und demonstriert im Verhältnis des getreuen Eckart zu Frau Holla „jene Haltung des Augenverschließens und Schweigens vor Verbrechen […] aus einer als unbedingt notwendig empfundenen Treue zur Obrigkeit“. Ritter: Vom „aufklärerischen“ zum „klassischen“ Theater, S. 187f. 313 HW 1, 271. Dieser Wandel zeigt sich im Spätwerk auf besondere Weise, wenn das Personal der deutschen Misere umbesetzt wird. Das gilt zwar nicht für Hitler, im Zuge der verschärften RomantikKritik und der Konkretisierung der Hacks’schen Staatstheorie aber sehr wohl für Friedrich II. (vgl. GmH 109) und Bismarck, die 1987 neben Luther, Goethe und Hegel zur Gruppe der Deutschen gehören, in denen Hacks „überzeugte Verfechter des Fürstenstaats als der Wohnung des Weltgeists auf deutschem Boden“ erkennt und die er „groß“ findet. HW 15, 294. Das oben angeführte Zitat entstammt dem in diesem Zusammenhang aufschlussreichen Gedicht „Potsdam“, in welchem sich Hacks nachträglich für seine Friedrich-Komödie (Der Müller von Sanssouci) entschuldigt. 314 D.h. „Eva-Braun-Brüsten“ und einem phallischen „Krückstock“. (189) Siehe Germania Tod in Berlin: MW 4, 337f. u. 353ff.

186 | Differenzen

Müllers bestimmen lässt: die den Geschichtsverlauf stauende Vergangenheit, die die Gegenwart überlagert und dem „Glücklosen Engel“ des synthetischen GlücksgottFragments315 die Flügel lähmt, kurz: das Warten auf Geschichte. Die deutsche Misere ist hier nicht lediglich Spuk aus der Vergangenheit (oder „aus Bonn“, wie ein giftender Rezensent in Bezug auf Moritz Tassow bemerkte),316 sondern Kern deutscher Geschichte. Als solche reicht sie manifest in die Gegenwart der DDR hinein und hemmt deren Entwicklung. Was bei Brecht dem heiteren Abschied diente und bei Hacks ein letztes Mal als Reminiszenz wie Kritik vorgezeigt wird, ist bei Müller ein dunkler Begleiter der Gegenwart.

4.3.9

Die gegensätzliche Tönung des Stoffs

Dass die objektiven Bedingungen dem Aufbau des Sozialismus wenig günstig sind und der Fortschritt keineswegs die breite Straße in die Zukunft sei, als welchen ihn die offizielle Propaganda der SED darstellt, ist beiden Komödien gemein. Gemein ist ihnen auch eine historisierende Optik, aus deren Perspektive die Komödienhandlung die außerfiktionale Wirklichkeit bestätigt, so dass der Sieg des Sozialismus auf dem Land und über das ‚Leben auf dem Lande‘ außer Zweifel steht.317 Müller gewichtet die Last der Vergangenheit und die Kontinuität vertikaler Herrschaftsbeziehungen allerdings stärker. Diese lassen sich nicht einfach abstreifen, zumal sie, wie die Textanalyse gezeigt hat, auch den Vertretern des Fortschritts (Flint) nicht äußerlich sind. Die Umsiedlerin zeigt die negative historische Erfahrung nicht als aufgehoben, sondern thematisiert die Verwerfungen und tragischen Folgen, die der sozialistische Fortschritt mit sich bringt, und fungiert in diesem Sinne auch als Erinnerung an die Frühgeschichte der DDR, die der Text mit nüchternem Realismus schildert. Im Vergleich dazu präsentiert sich Hacks’ Komödie reflexiver, wenn sie dessen Grundthema, den Widerspruch zwischen Subjektivismus und Objektivismus, als phantastischen Einfall auf die Bühne bringt, d.h. mit der Figur Moritz Tassows „das Poetische […] dem Stoff nach in die Gegenwart“ transponiert, was, wie Hacks selbst bemerkt, zur Folge hat, dass „die Gegenwart […] stellenweise unaufgearbeitet bleiben muß“.318 Hacks’ „poetisches Märchenspiel“ erschien dem späten Heiner Müller daher

|| 315 Siehe hierzu Kap. 4.1.1. 316 DMT 143. 317 B. K. Tragelehn urteilte rückblickend: „DIE UMSIEDLERIN war das letzte Stück, in dem es noch so etwas gab wie Gottvertrauen. […] Nämlich, daß da noch Hoffnung einen sicheren Ort hatte zwischen Himmel und Erde.“ Tragelehn: Mit der „Umsiedlerin“ durch die DDR-Geschichte, S. 90. 318 HW 15, 143. Hacks beschreibt hier das auf Gegenwartsdrama bezogene ästhetische Verfahren des Aristophanes.

Die ,helle‘ und die ,dunkle‘ DDR: Moritz Tassow und Die Umsiedlerin | 187

nicht von ungefähr als „ein Stück DDR-Geschichte in Porzellan“.319 Müllers Bemerkung verweist auf die zentrale Differenz der beiden Komödien. Sie liegt in der Perspektivierung, gewissermaßen in der Tönung des Stoffs begründet. Beide Autoren beschreiben die DDR zu Beginn der 1960er Jahre unter Berücksichtigung ihrer Widersprüche als Gesellschaft mit progressivem Potential, aber sie tun es in verschiedener Weise – einmal ,hell‘ und einmal ,dunkel‘. Vereinfacht gesprochen, könnte man sagen: beide Komödien ‚illustrieren‘ eine berühmte Passage aus Karl Marx’ 18. Brumaire, wobei Hacks der erste und Müller der zweite Satz gehört: Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen. Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden.320

|| 319 Schröder: „Zwischen Eiszeit und Kommune“, S. 562 u. MW 8, 497. 320 MEW 8, 115. Müller hat sich später selbst auf diesen Marx-Satz bezogen. Vgl. MW 10, 514.

188 | Differenzen

4.4

Die Abkehr vom Gegenwartsdrama

4.4.1

Der Übergang zur Antike-Rezeption: Der Frieden

Am 14. Oktober 1962 wurde Der Frieden von Aristophanes in der Bearbeitung von Peter Hacks im Rahmen der Ostberliner Festtage am Deutschen Theater uraufgeführt. Im Fokus der Hacks’schen Bearbeitung stand allerdings nicht so sehr der Krieg und dessen Funktionsweise, wie man bei einem Autor der Brecht-Schule vielleicht hätte erwarten dürfen, sondern der sich im Ergebnis der Abschaffung des Krieges einstellende Genuss, der sich am Ende des Stücks, typisch für die Struktur der aristophanischen Komödien, in einem rauschenden Fest manifestiert: „Ihr nun werdet schmausen, aber / Beim Schmaus vergeßt nicht zu trinken, aber beim Trinken / Vergeßt nicht zu singen.“321 Trotz deutlicher Anspielungen auf den Nationalsozialismus322 und einer politökonomischen Verortung der Interessenhintergründe323 zielte Hacks nicht auf eine die literarische Vorlage aktualisierende Aufklärung über den Krieg und dessen Kritik, die noch für Brechts Antigone-Bearbeitung [1947/48] wesentlich war. Die Bearbeitung setzte den Akzent vielmehr auf das sich selbst genießende Individuum Trygaios, dessen Bedürfnisse nicht im Widerspruch zur Gesellschaft stehen. Frieden und Lebensgenuss gehen so eine wechselseitige Verbindung ein, deren Grundlage Engagement und Arbeit sind. Auch im Frieden wird dabei ein altruistischer Bezugsrahmen überschritten: Der Schwerpunkt liegt auf der Erfüllung der eigenen kreatürlichen Bedürfnisse, die – das ist die aktualisierende Perspektive der Bearbeitung – als in der DDR erfüllbar erscheinen. Dementsprechend fasst Frank Stucke die Botschaft der Hacks’schen Bearbeitung folgendermaßen zusammen: „Wenn Ihr arbeitet, könnt ihr das Leben genießen.“324 Die Botschaft, dass Sozialismus und Hedonismus in eins gehen können, fand ihr Publikum – nicht zuletzt vor dem aktuellen Hintergrund der Kuba-Krise, die die von || 321 HW 3, 262. 322 „Alle? … Mitgelaufen... / Ja, das war schlimm [...]“; „Die Tiefgekränkte [die Friedensgöttin; R.W.] kanns euch nicht verzeihn, Daß ihr mit solchen Führern lottertet.“ HW 3, 233. 323 So haben der Waffenkrämer und der Helmschmied den Krieg „gekauft“, indem sie Politikern „Gold in ihren Schlund geschmissen“, „die Herrn der Seepartei“ bestochen und „den Priestern Rufmädchen ins Bett gesteckt“ haben. HW 3, 249. 324 Stucke: Die Aristophanes-Bearbeitungen von Peter Hacks, S. 54. Vgl. auch: HW 15, 149. Siehe zum Frieden: Schütze, S. 101ff. u. Jäger: Der Dramatiker Peter Hacks, S. 91ff. – Lässt sich Hacks’ Bearbeitung in diesem Sinne als Drama des ‚roten Wirtschaftswunders‘ (vgl. Fritz Schenk: Das rote Wirtschaftswunder. Die zentrale Planwirtschaft als Machtmittel der SED-Politik. Stuttgart-Degerloch 1969) lesen, welches die DDR in den 1960er Jahren im Zuge des NÖS erlebte, so geht der Text gleichwohl kaum in dieser Botschaft auf. Hacks setzt den Frieden zugleich als Metapher des Sozialismus und verdeutlicht über die Kopplung von Arbeit und Frieden die Bedeutung der Praxis in einer und für eine Gesellschaft, die wie der Sozialismus nicht einfach entsteht, sondern hergestellt werden muss.

Die Abkehr vom Gegenwartsdrama | 189

Hacks vorgenommene semantische Überblendung von antikem Nikiasfrieden und Weltfrieden sinnfällig machte. Die Inszenierung, auf die das Publikum mit einem „vierzigminütigen Beifallsrausch“ reagierte, bedeutete gleichzeitig den „Durchbruch des Lebensgefühls einer jungen Generation“; sie wurde zu einem der größten Theatererfolge der DDR.325 Hacks urteilte rückblickend: Mit dem Stück begann etwas Neues bei uns. Die Leute begriffen, jetzt war es so weit, daß bestimmte Dinge wieder zu ihrem Leben gehörten, daß Saufen, Fressen und so weiter als Teil ihres Lebens seine Berechtigung hatte.326

Jenseits der semantischen Konnotation des Genusses zeigt sich das Neue des Friedens anhand des antiken Stoffs.327 Der Bezug auf die Antike war für die Dramatik der DDR zu Beginn der 1960er Jahre keineswegs selbstverständlich. Zum einen fanden die Dramatiker mehrheitlich – und nicht zuletzt aufgrund der Fokussierung der Kulturpolitik auf das Zeitstück bzw. das Gegenwartsdrama328 – ihren Gegenstand im Umfeld der sozialen und politischen Probleme des sozialistischen Aufbaus, zum anderen war die Antike als Stoffreservoir im Kontext der literarischen Nachkriegssituation in gewisser Weise diskreditiert und stand außerhalb des zeitgenössischen Realismusverständnisses. In der auf dem westdeutschen Theater sehr einflussreichen Rezeption mythologischer Stoffe durch Albert Camus, Jean Giraudoux, Jean-Paul Sartre u.a. erkannte man einen irrationalen, gesellschaftliche Kausalzusammenhänge verschleiernden Zugang, der bei aller Gesellschaftskritik durch seinen psychoanalytischen und existenzialistischen Zuschnitt eher einer neuen Mythisierung im Sinne einer „Endzeitdichtung“ und somit etwas „Inhumane[m]“ Vorschub leistete.329 Demgegenüber bevorzugte die Kulturpolitik eine das Tragische und Grausame der antiken Mythen

|| 325 Friedrich Dieckmann: Auf Käferflügeln zum Olymp. Aktion Lenzwolle oder die Verführung zum Frieden. In: ARGOS (2009), H. 4, S. 49. Die Inszenierung brachte es bis zu ihrer Absetzung 1973 auf 250 Vorstellungen und Gastspielen in Bratislava, Hamburg, Prag, Recklinghausen, Venedig und Wien. Siehe zur Inszenierung auch: Christa Neubert-Herwig: Bennos Bessons Theaterwunder: „Der Frieden“, „Der Drache“, „Ödipus Tyrann“ am Deutschen Theater 1961–1967. In: Henning Rischbieter (Hg.): Durch den eisernen Vorhang. Theater im geteilten Deutschland 1945 bis 1990. Berlin 1999, S. 105–112. 326 Zit. n.: Manfred Durzak: Zwischen Aristophanes und Brecht. Gespräch mit dem Dramatiker Peter Hacks in Ost-Berlin. In: FAZ, 16. Februar 1974, Beilage. 327 Vgl. Hellmut Flashar: Inszenierung der Antike. Das griechische Drama auf der Bühne; von der frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. München 2009, S. 204ff. 328 Unter Gegenwartsdrama/Zeitstück wird im Folgenden ein dramatischer Text verstanden, der sich auf story-Ebene in der Gegenwart bewegt. 329 Christoph Trilse: Antike-Adaptionen des spätbürgerlichen Theaters. Funktion, Methoden und Modelle. In: Das Altertum 18 (1972), H. 1, S. 44 u. Hacks: Wider den ästhetischen Ennui, S. 592. Jost Hermand spricht von einem „Trend zur bewußten Entpolitisierung ins Mythische“. Jost Hermand: Kultur im Wiederaufbau. Die Bundesrepublik Deutschland 1945–1965. München 1986, S. 189. Siehe

190 | Differenzen

sublimierende Interpretation, wie sie sich beispielhaft in Goethes „ungriechisch[er]“ und in der DDR viel gespielter Iphigenie auf Tauris ausdrückt;330 oder sie stellte die Möglichkeit eines Analogieschlusses zwischen Antike und (sozialistischer) Gegenwart, zwischen „Kapitel I und Kapitel II der Weltgeschichte“ grundsätzlich infrage.331 Der Frieden markiert den Beginn der öffentlich wahrnehmbaren Antike-Rezeption, die sich für das literarische Feld der DDR in den 1960er Jahren als übergreifendes Phänomen bestimmen lässt, das wesentlich stärker und tiefgreifender wirkte als die im Zentrum der erbe-politischen Bemühungen stehende Deutsche Klassik.332 Bei Peter Hacks ist damit auch die Abwendung von seiner bisherigen ästhetischen Position sowie eine programmatische Verabschiedung vom Gegenwartsdrama verbunden.

|| auch: Christoph Trilse: Antike-Adaptionen des spätbürgerlichen Theaters. Versuche zur Geschichtlichkeit. In: Das Altertum 19 (1973), H. 1, S. 38–55. Siehe zum mythisch-metaphysischen Diskurs im Nachkriegsdrama: Schmidt: Zwischen antimoderne und Postmoderne, S. 249ff. 330 Friedrich Schiller an Christian G. Körner, 21. Februar 1802, zit. n.: Goethe 5, 415. Als repräsentativ gilt hier Wolfgang Langhoffs DT-Inszenierung (Premiere 4. Oktober 1963), an der auch Peter Hacks als dramaturgischer Mitarbeiter beteiligt war. Vgl. Peter Hacks an Kurt Seeger, 16. September 1963, DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit dem DT. Vgl. Wolfgang Emmerich: Antike Mythen auf dem Theater der DDR. Geschichte und Poesie, Vernunft und Terror. In: Profitlich (Hg.): Dramatik in der DDR, S. 229f. 331 Johanna Rudolph: Probleme des Realismus in unserer Literatur. Referat, gehalten auf der Theoretischen Konferenz der Parteiorganisation der SED des Deutschen Schriftstellerverbandes am 6. Juni 1958. Berlin 1958, S. 27f. Diese Position differenzierte sich im Laufe der 1960er Jahre aus. Vgl. Mara Zöllner: Wir und die Antike. In: TdZ 17 (1962), H. 1, S. 39–43. Der DDR-Theaterwissenschaftler Christoph Trilse kommt daher in den 1970er Jahren zu dem Schluss, es gebe hinsichtlich der Antike-Rezeption zwei Traditionslinien: eine progressive und demokratische, die ihre Fortsetzung in der sozialistischen gefunden habe, und eine regressive und antidemokratische, in deren Tradition die (spät-)bürgerlichen Bearbeitungen stünden. Vgl. Christoph Trilse: Antike und Theater heute. Betrachtungen über Mythologie und Realismus, Tradition und Gegenwart, Funktion und Methode, Stücke und Inszenierungen. Berlin 1979, S. 34f. 332 Zu nennen sind neben Der Frieden [1962] von Hacks: Amphitryon [1967], Omphale [1969] u. (aufgrund des Rückgriffs auf die christliche Kosmogonie im 1. Buch Mose als Ausnahme) Adam und Eva [1972]; von Kurt Bartsch: Orpheus und Euridike [1970]; von Joachim Knauth: Die Weibervolksversammlung [1965]; von Hartmut Lange: Herakles [1967] u. Die Ermordung des Aias [1971]; von Karl Mickel: Nausikaa [1967]; von Heiner Müller: Philoktet [1958/64], Herakles 5 [1964/66], Ödipus Tyrann [1966/67] u. Prometheus [1967/68] u. von Armin Stolper: Amphitryon [1968]. Siehe zur Antike-Rezeption in der DDR: Volker Riedel: Antikerezeption in der Literatur der Deutschen Demokratischen Republik. Berlin 1984; Trilse: Antike und Theater heute, S. 65ff. u. Emmerich: Antike Mythen auf dem Theater der DDR. Siehe zur Antike-Rezeption bei Hacks und Müller überblicksweise: Volker Riedel: Antikerezeption in der deutschen Literatur vom Renaissance-Humanismus bis zur Gegenwart. Eine Einführung. Stuttgart u.a. 2000, S. 346ff.

Die Abkehr vom Gegenwartsdrama | 191

4.4.2

Die Unmöglichkeit des Gegenwartsdramas: Die Sorgen und die Macht

Zwei Wochen vor dem Frieden erlebte am 2. Oktober 1962 auch die dritte Fassung des Schauspiels Die Sorgen und die Macht ihre Uraufführung. Kurz nach der von Wolfgang Langhoff prominent verantworteten und von der offiziellen Nachrichtenagentur ADN als „parteilich und künstlerisch vollendet“ beschriebenen Premiere am Deutschen Theater setzte eine öffentliche Diskussion des Stücks ein, die ihren Höhepunkt mit der Absetzung nach 22 Vorstellungen und dessen Verurteilung auf dem 6. Parteitag der SED im Januar 1963 durch Walter Ulbricht erlebte.333 Unter dem Motto „Die Sorgen mit der Macht“ wurde das Stück zur misslungenen Probe einer liberaleren Kulturpolitik und einem Präzedenzfall der Theaterzensur mit auf verschiedenen Gebieten „nachwirkende[n] Schäden“334 – Folgen waren u.a. die Entlassung von Peter Hacks als Mitarbeiter des DT, der Rücktritt Wolfgang Langhoffs und die Disziplinierung des DT-Ensembles.335 Die Diskussion über das Stück, die sich bereits seit 1959 hinzog, spaltete die SED: Einerseits war von einem Text die Rede, der in seiner dritten Fassung „mobilisierend“ wirke und geeignet sei, „in jeder wichtigen Industriestadt der DDR“ aufgeführt zu werden, andererseits verursachte er deutliche Ablehnung, so bei Gustav von Wangenheim, der in dem Stück eine einzige „Beleidigung der Arbeiterklasse“ erkannte.336 Im September 1959 hatte es auf Veranlassung der von Alfred Kurella geleiteten Kulturkommission eine Probeaufführung des Stücks am Deutschen Theater gegeben, in deren Folge das Stück von einem „angebliche[n] Arbeiterpublikum“, das „hauptsächlich aus Parteifunktionären“ bestand, kritisiert und Hacks zu einer Überarbeitung angehalten wurde.337 Auch die Aufführung der zweiten Fassung des Dramas am

|| 333 Zit. n.: Weigel: Der Fall „Die Sorgen und die Macht“, S. 62. Siehe dort auf S. 88ff. auch die auszugsweise Rede Ulbrichts. Die Absetzung des Stücks erfolgte am 11. Januar 1963. 334 Weigel: Der Fall „Die Sorgen und die Macht“, S. 61. 335 Die Zensurgeschichte von Die Sorgen und die Macht ist mittlerweile von Laura Bradley auf der Grundlage umfassender Archivstudien dargelegt worden. Vgl. Bradley, S. 41ff. Siehe zum Rücktritt Langhoffs: Slevogt: Den Kommunismus mit der Seele suchen, S. 447ff. Siehe zur DDR-Rezeption des Stücks sowie der öffentlichen Debatte: Henning Rischbieter u. Ernst Wendt: Hacks, oder Sorgen mit der Macht. In: dies.: Deutsche Dramatik in West und Ost. Velber bei Hannover 1965, S. 101–118; Schmidt: Peter Hacks in BRD und DDR, S. 169ff. u. Stefan Wolle: Die Schaubühne als ideologische Anstalt. Vorgeschichte, Aufführung und Verbot der Komödie „Die Sorgen und die Macht“ von Peter Hacks. In: ARGOS (2010), H. 6, S. 43–57. 336 Einschätzung der Abteilung Kultur beim ZK der SED, 25. September 1962, zit. n.: Weigel: Der Fall „Die Sorgen und die Macht“, S. 62 u. Gustav von Wangenheim an Alfred Kurella, o.D., zit. n.: Wolle: Die Schaubühne als ideologische Anstalt, S. 45. – Siehe auch: Christian Krause: „Wir brauchen unsere 11. Sinfonie“. Kongruenzen und Widersprüche zwischen Peter Hacks und der SED-Kulturpolitik in der Entstehung des Dramas „Die Sorgen und die Macht“. In: treibhaus. Jahrbuch für Literatur der fünfziger Jahre 4 (2009), S. 177–192. 337 GmH 7. Siehe auch: Bradley, S. 43f.

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15. Mai 1960 in Senftenberg wäre ohne die Intervention des Stellvertretenden Kulturministers Hans Rodenberg nicht zustande gekommen, obschon das Stück von Seiten der ArbeiterInnen, den eigentlichen AdressatInnen des Bitterfelder Wegs, mehrheitlich positiv aufgenommen wurde und auch die von der Kulturpolitik erwünschte Reaktion hervorbrachte, nämlich die Diskussion von Produktionsfragen mit dem Ziel, „die Qualitätsarbeit allgemein zu verbessern“.338 Zu den Schwierigkeiten mit dem Kulturministerium und der Abteilung Kultur beim ZK der SED, die sich vor allem um die „Gretchenfrage aller sozialistischen Zeitdramatik“,339 die Frage der Darstellung der Partei und ihrer VertreterInnen, drehten, traten Auseinandersetzungen im Rahmen des Schriftstellerverbands, der auch im Fall Die Sorgen und die Macht eine kulturpolitisch repressive Rolle spielte.340 Am 19. Januar 1960 erfolgte vor dem erweiterten Vorstand des Verbandes eine Diskussion, die in vielem bereits die spätere Kampagne gegen Die Sorgen und die Macht vorwegnahm und einem „Tribunal“ ähnelte, wie Hacks, der an der Diskussion selbst nicht teilnahm, im Nachhinein in einem wütenden Brief an Erwin Strittmatter in dessen Funktion als Erstem Sekretär des Berliner Schriftstellerverbands schrieb.341 Die Diskussion war wesentlich bestimmt durch die Bezugnahme auf das bereits Ende der 1950er Jahre im Zuge der Debatte über das Didaktische Theater und Hacks’ ästhetische Äußerungen etablierte Klischee des ,bürgerlichen Schriftstellers‘ Peter Hacks, der, aus dem Westen kommend, die Probleme der DDR nicht ausreichend zu erfassen

|| 338 Protokoll zur Lesung des Stückes „Die Sorgen und die Macht“ von Peter Hacks am 22. September 1959 im Agricola-Klub in Senftenberg, S. 2, DLA, A: Hacks, Konvolut Die Sorgen und die Macht. Bereits im April 1959 gab es in der Brikettfabrik „Hermann Fahlke“ in Bitterfeld, wo Hacks sich u.a. zu Recherchen aufgehalten hatte, eine ähnlich positive Diskussion. Vgl. Diskussionsbeiträge nach Verlesen des Stücks „Die Sorgen und die Macht“ von Peter Hacks durch Fritz Bennewitz in der Brikettfabrik „Hermann Fahlke“ am 5. April 1959, DLA, A: Hacks, Konvolut Die Sorgen und die Macht. Siehe zu den kulturpolitischen Problemen der Inszenierung in Senftenberg: Klaus Gendries: Konterrevolutionäre Plattformbildung. In: Sewan Latchinian u. Harald Müller (Hg.): Glück auf! 60 Jahre Theater Senftenberg. Berlin 2006, S. 40–42 u. Klaus Gendries u. Jürgen Kuttner: Eine Revolution ist kein Deckchensticken. In: BZ, 28. August 2010, Beilage, S. 4f. Siehe auch: Karl-Heinz Müller: Belehrend und widersprüchlich. „Die Sorgen und die Macht“ von Peter Hacks am Theater der Bergarbeiter Senftenberg. In: TdZ 15 (1960), H. 7, S. 43–47. 339 Henryk Keisch: Die Sorgen der Macht und das Morgen der Macht. In: ndl 11 (1963), H. 1, S. 134. 340 Siehe: Abschließende Stellungnahme des Sekretariats des Deutschen Schriftstellerverbandes zu „Die Sorgen und die Macht“. In: DKLS 824f. 341 Peter Hacks an Erwin Strittmatter, 28. Februar 1960, DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit dem Schriftstellerverband. Der Verband hatte eine Diskussion des Stücks bereits früher geplant, war aber von Hacks um einen Termin nach der Aufführung gebeten worden. Vgl. Max Walter Schulz u. Erwin Strittmatter an Peter Hacks, 25. Juni 1959 u. Peter Hacks an Max Walter Schulz und Erwin Strittmatter, 7. Juli 1959, beide Briefe: DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit dem Schriftstellerverband. – Hacks befand sich, als er die Einladung erhielt, im Urlaub und erfuhr erst nach dem Termin von der Diskussion. Vgl. Peter Hacks an Eduard Klein, 4. Februar 1960, DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit dem Schriftstellerverband.

Die Abkehr vom Gegenwartsdrama | 193

vermöge und sich in eine Haltung der Überheblichkeit gegenüber der Partei, den SchriftstellerInnen und den Werktätigen der DDR zurückgezogen habe342 – worin sich von AutorInnenseite nicht zuletzt auch die Konkurrenz innerhalb des dramatischen Feldes ausgedrückt haben mag.343 Solche Schwierigkeiten verschlechterten die Ausgangsposition für die Rezeption von Die Sorgen und die Macht innerhalb des literarischen Feldes, für das Verbot des Stücks war aber letztlich die innerinstitutionelle Auseinandersetzung im politischen Feld maßgebend. Während Teile des Ministeriums für Kultur, vor allem der Stellvertretende Minister Kurt Bork, auf die Förderung eines kritischen Gegenwartstheaters setzten, verfocht die Berliner Bezirksleitung der SED unter ihrem Ersten Sekretär Paul Verner einen strikten Kurs getreu nach dem Motto: „Ideologische Kompromisse […] führen zur ideologischen Koexistenz“.344 Inmitten einer der heißesten Phasen des Kalten Krieges, Mitte Oktober 1962 kam es zur Kubakrise, konnte sich eine solche Position leicht durchsetzen, so dass die inner-institutionellen UnterstützerInnen eines kritischen Gegenwartsdramas die Segel streichen mussten.345 Neben der Frage der Darstellung der Partei in Hacks’ Text dürfte auch das auf die unflexiblen Planvorgaben zurückgehende, dargelegte wirtschaftliche Problem eine Rolle beim Verbot des Stücks gespielt haben. Die Uraufführung von Die Sorgen und

|| 342 Ein Protokoll des Treffens bzw. eine Tonbandaufzeichnung, die Peter Hacks in seinem Brief erwähnt, konnte im Archiv des Schriftstellerverbands leider nicht aufgefunden werden. Von der angesetzten „Hacks-Diskussion“ zeugen lediglich zwei Protokolle des die Debatte vorbereitenden Sekretariats. Vgl. AdK, Berlin, SV, Nr. 236. In einem Brief wirft Hacks Strittmatter (auf der Grundlage der Tonbandaufzeichnung) vor, gesagt zu haben: „Hacks hat Angst, Hacks hat keinen Anstand, Hacks verachtet alle Schriftsteller, Hacks ist ein typischer Bürger“. Peter Hacks an Erwin Strittmatter, 26. März 1960, DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit dem Schriftstellerverband. – Siehe zu den Angriffen gegen Hacks Ende der 1950er Jahre: Rudolf Bahro, Ulrich Döring, Heidi Mühlberg: Kritische Bemerkungen zu einigen Kunsttheorien von Peter Hacks. In: TdZ 13 (1958), H. 12, Beilage 9, S. 19–32. 343 Dass die Festschreibung von Peter Hacks auf Verhaltensweisen wie Arroganz und Überheblichkeit nicht allein bei AutorInnen des heteronomen Feldpols funktionierte, zeigen Notizen Inge Müllers, die im Zusammenhang mit der Diskussion über Die Sorgen und die Macht von einer „snobistische[n] Grundhaltung“ spricht: „Die Haltung der Arbeiter gegenüber Hacks ist ernsthaft, freundlich im Gegensatz zu seiner ihnen gegenüber...“. Notiz vom Oktober 1962, AdK, Inge Müller-Archiv, Nr. 833. 344 Paul Verner auf dem IV. Parteitag der SED, 17.Januar 1963, zit. n.: Weigel: Der Fall „Die Sorgen und die Macht“, S. 85. Alexander Weigel kontextualisiert die Absetzung von Die Sorgen und die Macht dementsprechend mit der Absetzung Peter Huchels als Chefredakteur von SuF sowie der Kampagne gegen den von Stephan Hermlin in der AdK organisierten Lyrik-Abend. Vgl. Weigel: Der Fall „Die Sorgen und die Macht“, S. 59. – Über die Rolle Kurt Borks, der Ende der 1920er Jahre selbst Teil der Agitprop-Bewegung war, ist bisher wenig bekannt. Vgl. Borks Biographie in: Wer war wer in der DDR? Ein Lexikon ostdeutscher Biographien, hg. von Helmut Müller-Enbergs, online unter: http://www.bundesstiftung-aufarbeitung.de/wer-war-wer-in-der-ddr-%2363%3B-1424.html?ID=368 (zuletzt eingesehen am 9. April 2014). Siehe zu den verschiedenen „Strömungen in der Kulturpraxis“ (195) auch: Hans Bentzien: Meine Sekretäre und ich. Berlin 1995. 345 Vgl. die Darstellung bei: Bradley, S. 49 u. 56f.

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die Macht fällt genau in jene Zeit, in der die Diskussion über eine Reform des Wirtschaftssystems, die schließlich zur Einführung des NÖS im Sommer 1963 führten, stattfanden. Hacks’ Text wirkte wie ein Planspiel der Diskussionen über die verschiedenen Möglichkeiten, die Arbeitsproduktivität zu erhöhen und offenbarte die wenig förderliche Rolle, welche große Teile der SED hierbei einnahmen. Die Inszenierung von Die Sorgen und die Macht kam so einer öffentlichen Erörterung dieser Fragen gleich, die weder diejenigen Teile der SED, die sich für eine Reform aussprachen, noch deren Gegner wollten. Darüber hinaus trugen auch die dynamischen (und bis zu einem gewissen Grad unkontrollierbaren) Effekte, die sich aus der spezifischen ‚sozialistischen Öffentlichkeit‘ der DDR-Gesellschaft ergaben, zum Verbot des Stücks bei. Das ist zum einen der Umstand, dass u.a. vom RIAS zum Besuch des Stücks aufgerufen wurde, was nicht nur von Seiten der Kulturpolitik grundsätzlich für Misstrauen sorgte.346 Weiterhin verstärkt wurde dieser Argwohn durch den Widerstand des Ensembles des Deutschen Theaters. In einem Offenen Brief an den Berliner Verlag hatten zweiundsechzig Mitglieder des DT und der Volksbühne gegen eine scharfe Kritik Wolfgangs Langhoffs durch Walther Pollatschek in der Berliner Zeitung protestiert, damit aber nur erreicht, dass die Kulturpolitik alles daran setzte, den Widerstand des Ensembles gegen die offizielle Kritik an Stück und Inszenierung zu brechen.347 Eine besondere Rolle spielte die Form der Massen- bzw. Laienkritik, die Ende Oktober im Neuen Deutschland und anderen Zeitungen einsetzte.348 Die LeserInnen-Zuschriften hatten einen nicht unerheblichen Einfluss auf den Verlauf der Diskussion. Den ‚Stimmen der ArbeiterInnenklasse‘ kam in der Öffentlichkeit große Bedeutung zu. Die (in Teilen sicherlich von der Kulturpolitik organisierte) Massenkritik verschränkte sich mit den Stimmen der „ergebene[n] Garde von Literaturkritikern“ und legte die Absetzung des Stücks als ‚Ergebnis‘ der Diskussion eigentlich von vornherein fest.349 Daran konnte auch Anna Seghers auf Sachlichkeit zielende Intervention für das Stück nichts ändern.350 Sie blieb einflusslos – ebenso wie Hacks’ Versuch, durch eine öffentliche Antwort an Seghers als Betroffener selbst in die Diskussion einzugreifen. Anfang Januar schickte er dem Neuen Deutschland seinen Antwortbrief, um dessen

|| 346 So beschwerte sich der Darsteller des Max Fidorra, Otto Mellies, über die ‚falschen Leute‘, die die Aufführung besuchten. Vgl. Bradley, S. 54. 347 Vgl. Bradley, S. 49. Siehe den Artikel Pollatscheks in der BZ vom 4. Oktober 1962, S. 6. Siehe zu den Auseinandersetzungen zwischen Kulturpolitik und DT-Ensemble: Weigel: Der Fall „Die Sorgen und die Macht“, S. 71ff. 348 Siehe die Auflistung der Beiträge in: Weber: Peter-Hacks-Bibliographie, S. 227ff. 349 Lehmann: Vom ,gesunden Volksempfinden‘ zur Utopie, S. 122. Siehe zur Rolle der Laienkritik im Literatursystem der DDR: Oliver Pfohlmann: Literaturkritik in der DDR. In: Thomas Anz u. Rainer Baasner (Hg.): Literaturkritik. Geschichte, Theorie, Praxis. München 2007, S. 147. 350 Vgl. Anna Seghers: Der empfindlichste aller Stoffe. In: ND, 9. Dezember 1962, S. 6.

Die Abkehr vom Gegenwartsdrama | 195

Abdruck er „ungekürzt und unverändert“ bat.351 Hacks, der an seiner Pro-DDR-Position keinen Zweifel ließ, verwahrte sich dagegen, „daß von etlichen Freunden und Feinden des Sozialismus aus ‚Die Sorgen und die Macht‘ gegensozialistische, gegenparteiliche Tendenzen herausgelesen worden sind“, um schließlich die Literaturkritik der DDR als borniert darzustellen: Ich glaube, die Ursache der Fehler meiner schlechten Kritiker und meiner schlechten Anhänger ist, wovon ich oben geredet habe: mangelnde Naivität; eine unscharfe Seelenoptik, verunreinigt durch Vor-Urteile und Vor-Gefühle. [...] Sie raten mir, wenn ich Sie richtig begriffen habe, derartigen Mißverständnissen durch Unmißverständlichkeit vorzubeugen. Dieser Rat deckt sich mit vielen meiner Absichten. Aber Sie wissen so gut wie ich, daß es für ein Kunstwerk eine Grenze der Unmißverständlichkeit gibt: dort, wo dieselbe in Plattheit umschlagen müßte.352

Das Zitat fasst den Widerspruch zwischen dem politischen Wunsch nach Eindeutigkeit und der ästhetischen Eigenschaft des Bedeutens, um Letzterer den Vorzug zu geben. Hacks gibt zu verstehen, dass er die kulturpolitische Kritik als inadäquat auffasst, weil sie etwas verlangt, das nur um den Preis der Kunst herzustellen ist: Eindeutigkeit. „Alle Kunstwerke sind Golems“, heißt es später in einer abschließenden Betrachtung über die Möglichkeiten des Gegenwartsdramas. „Noch die zahmsten entsetzen durch Ungehorsam; sie lassen sich nicht lenken, gehen, wohin sie gehen, der gute Rabbi, der sie geschaffen hat, ringt die Hände und hat alles nicht gewollt.“353 Die Rezeptionsgeschichte von Die Sorgen und die Macht ist an dieser Stelle ausführlich beschrieben worden, um zu verdeutlichen, vor welchen Schwierigkeiten das Gegenwartsdrama zu Beginn der 1960er Jahre stand. Das Produktionsstück war nicht nur hinsichtlich des Publikumsinteresses in eine Krise geraten.354 Es war auch ästhetisch an einem Punkt angekommen, an dem die DramatikerInnen, wollten sie nicht nur für die Schublade schreiben, entweder die Konzentration auf das Produktionssujet überwinden oder sich einer von der Kulturpolitik geforderten Monosemie verschreiben mussten, die eine realistische Darstellung der DDR-Verhältnisse ausschloss.355

|| 351 Peter Hacks an Willy Köhler, 3. Januar 1963, DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit dem ND. 352 Peter Hacks an Anna Seghers, 26. Dezember 1962, zit. n.: Berger: Fünf „meiner Götter“ bei der Arbeit, S. 265f. 353 HW 15, 139. 354 Hans Pfeiffer beschreibt zu Beginn seines Stücks Begegnung mit Herkules [1965] das mangelnde Publikumsinteresse an Produktionsstücken: „X: […] Jedoch das Publikum - / Autor: Das Publikum? / X: Das läuft uns weg. / Autor: Läuft weg? / X: Schon in der ersten Pause.“ Hans Pfeiffer: Begegnung mit Herkules. In: ndl 18 (1966), H. 9, S. 118f. 355 Das erweist sich als generelles Problem des Zeitstücks. So berichtete Helmut Baierl rückblickend, dass er den Vorschlag Peter Hacks’ und Volker Brauns, eine der Söhne der Frau Flinz in den Westen fliehen zu lassen, bei der Arbeit an Frau Flinz nicht berücksichtigt habe, da ihm dies „zu riskant“ erschien. Helmut Baierl im Gespräch mit Matthias Braun, 23. Januar 1987, zit. n.: Kebir, S. 305.

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Peter Hacks’ Moritz Tassow und Heiner Müllers Der Bau [1963/64] sind bereits Antworten auf diese Krise des Produktionsstücks – aber auch sie fielen dem Widerspruch zum Opfer, dass die Kulturpolitik zwar einerseits Gegenwartsdramen forderte und förderte, diese dafür aber umso schärfer ideologisch zu kontrollieren suchte. Daran änderten weder die gesamtgesellschaftlich geschwundene Leitfunktion des Theaters vor dem Hintergrund der neuen populären Romanliteratur und der Konkurrenz durch das neue Massenmedium Fernsehen,356 noch die im Rahmen der ‚kybernetischen Wende‘ zu Beginn der 1960er Jahre erfolgte Modernisierung der Literaturkritik etwas.357 Mit dem 11. Plenum des ZK der SED im Dezember 1965 waren zudem die gesellschaftspolitischen Liberalisierungsbemühungen, die mit dem NÖS eingesetzt hatten, zum Erliegen gekommen. Die Dezember-Tagung, traditionell eigentlich der Beratung des Volkswirtschaftsplans vorbehalten, wurde von den parteiinternen GegnerInnen des NÖS, allen voran Erich Honecker, zu einem „Kulturplenum umfunktioniert[ ]“, bei dem mit allen missliebigen kulturellen Erscheinungen Tabula rasa gemacht wurde.358 Neben Wolf Biermann, Robert Havemann und Stefan Heym, die im Zentrum der Angriffe standen, fanden hier auch Moritz Tassow und Der Bau als Beispiele eines „spießbürgerlichen Skeptizismus ohne Ufer“ Erwähnung.359 In der Folge wurde Moritz Tassow „vorläufig vom Spielplan abgesetzt“, um „gemeinsam mit dem Autor das

|| 356 1960 gab es in der DDR bereits eine Million Haushalte mit Fernsehen. Vgl. Wrage, S. 4. Zugleich sanken die Besucherzahlen der Theater zwischen 1958 und 1963 sowohl absolut als auch durchschnittlich. Vgl. Übersicht über die Besuchersituation an den Theatern unserer Republik (Spielzeiten 1958/59 bis 1962/63), SAPMO, DY 30/IV A2/2.024/30, Bl. 34. 357 Siehe zu den Entwicklungen in der Literaturkritik: Simone Barck: Literaturkritik zwischen Parteiauftrag und Professionalität in der DDR der sechziger Jahre. In: Petra Boden u. Rainer Rosenberg (Hg.): Deutsche Literaturwissenschaft 1945–1965. Fallstudien zu Institutionen, Diskursen, Personen. Berlin 1997, S. 333–343 u. Barck u.a.: „Jedes Buch ein Abenteuer“, S. 404ff. Einen Eindruck, welchen Anschub die Literaturwissenschaft der DDR zeitweise durch systemtheoretische Ansätze erfahren hat, gibt eine 1967 erschienene Studie, die Literatur als „Laboratorium der Wirklichkeit“ auffasst und die Autonomie des Kunstwerks in Bezug auf den Autor konstatiert. Horst Redeker: Abbildung und Aktion. Versuch über die Dialektik des Realismus. Halle 1967, S. 23. 358 Mittenzwei: Die Intellektuellen, S. 218. Siehe zum 11. Plenum und dessen Folgen für die verschiedenen Teilbereiche des Feldes der kulturellen Produktion: Agde; hier finden sich auszugsweise auch Redebeiträge Honeckers und Ulbrichts abgedruckt. Siehe zu den politischen Kontexten: Norbert Podewin: „… der Bitte des Genossen Walter Ulbricht zu entsprechen“. Hintergründe und Modalitäten eines Führungswechsels. Berlin 1996 u. Monika Kaiser: Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker. Funktionsmechanismen der SED-Diktatur in Konfliktsituationen 1962 bis 1972. Berlin 1997, S. 133ff. 359 Erich Honecker, zit. n.: Stenografische Niederschrift der 11. Tagung des Zentralkomitees im Plenarsaal des Hauses des ZK vom 15. bis 17. Dezember 1965, 1. u. 2. Beratungstag, SAPMO, DY 30/IV 2/1/336, Bl. 85. Die SED erkannte in dem angeblich propagierten ‚Skeptizismus‘ eine unmittelbare Gefahr für die notwendige Steigerung der Arbeitsproduktivität in der DDR. Der ‚Skeptizismus ohne Ufer‘ ist eine Anspielung auf das 1963 erschienene Buch des französischen Kommunisten Roger

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Stück teilweise zu überarbeiten“; und auch die an der Volksbühne bereits angelaufenen Proben zu Der Bau wurden eingestellt.360 Die Verbote, die als solche formal allerdings nie ausgesprochen wurden, erwiesen sich als unumgänglich. Weder die Bemühungen Hacks’, durch die Streichung einiger Stellen, später sogar durch einen langwierigen Gerichtsprozess, eine Wiederaufnahme zu erlangen, noch Müllers Versuch, durch harmonisierende Glättungen eine Inszenierung zu ermöglichen, waren erfolgreich.361 An diesem Punkt erwies sich das Feld der kulturellen Produktion als absolut heteronom. Deutungen der DDR-Geschichte, „die auf die Leugnung der Errungenschaften des Sozialismus und der sozialistischen Schöpferfreude der Menschen im Kampf um höhere Errungenschaften hinauslief[en]“,362 waren für die SED schlicht inakzeptabel.

4.4.3

Hacks’ und Müllers Abkehr vom Gegenwartsdrama

Die Rezeption antiker und historischer Stoffe durch Peter Hacks ist häufig als „geschichtsparabolische flucht vor der wirklichkeit“ infolge des „Druck[s] der kulturpolitischen Instanzen“ aufgefasst worden.363 Auch in der zeitgenössischen Wahrnehmung erkannte man die „Distanz zur unmittelbaren Gegenwart […] jenseits der kleinen Alltagsmiseren der DDR“ als einen Ausweg, den Peter Hacks und Heiner Müller gewählt hätten, um an einem Konzept sozialistischer Dramatik festzuhalten.364 || Garaudy Für einen Realismus ohne Ufer, das für eine Abkehr vom Sozialistischen Realismus und eine Öffnung gegenüber der Moderne plädierte. 360 DMT 217. Siehe zur Rezeptions- und Verbotsgeschichte von Moritz Tassow: DMT 110ff.; zu Der Bau: Frank Hörnigk: „Bau“-Stellen. Aspekte der Produktions- und Rezeptionsgeschichte eines dramatischen Entwurfs. In: Zeitschrift für Germanistik 6 (1985), H. 1, S. 44ff. u. Weigel: Die Archäologie des Maulwurfs, S. 158ff. 361 Siehe zu den Streichungen, die Hacks allerdings explizit nicht als „Änderungen des Stücks“, sondern nur der Inszenierung auffasste: DMT 225; hier auch weitere Ausführungen zu Hacks’ Klage gegen die Volksbühne, die in der Literaturgeschichte der DDR einen Präzedenzfall darstellt. – Müller legte bis 1975 insgesamt sieben Fassungen von Der Bau vor, drei entstanden nach dem 11. Plenum. Vgl. MW 3, 549f. – Siehe zu den Veränderungen in der ersten, nach dem 11. Plenum erstellten Fassung (6. Fssg. [April/Mai 1966]): Hörnigk: „Bau“-Stellen, S. 49f. 362 Alexander Abusch: Erkennen und Gestalten. In: ders.: Literatur im Zeitalter des Sozialismus. Beiträge zur Literaturgeschichte 1921 bis 1966. Berlin/Weimar, S. 797. 363 Ernst Schumacher: Ein bayerischer Kommunist im doppelten Deutschland. Aufzeichnungen des Brechtforschers und Theaterkritikers in der DDR 1945–1991, hg. von Michael Schwartz. München 2007, S. 438 u. Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR, S. 217. Die Ansicht zählt in gewisser Weise zum Allgemeingut der theatergeschichtlichen Erzählung der 1960er Jahre. Siehe beispielsweise: Wilhelm Hortmann: Shakespeare und das deutsche Theater im XX. Jahrhundert. Mit einem Kapitel über Shakespeare auf den Bühnen der DDR von Maik Hamburger. Berlin 2001, S. 387. 364 Henning Rischbieter: Auf dem Weg ans Ende einer Utopie? Stadien und Schwierigkeiten bei Hacks, Müller und Lange. In: Th 9 (1969), H. 10, S. 25. In Bezug auf Hacks wurde daraus später der

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Gegen die Unterstellung einer „Fluchtbewegung“ haben sich allerdings sowohl Hacks als auch Müller verwahrt.365 Gegen eine solche Eskapismus-These spricht vor allem die Werkbiographie beider Autoren. Erste Anzeichen für eine Distanzierung von Gegenwartsstoffen finden sich bei Peter Hacks bereits vor den Verboten – so eine allgemeine Skepsis gegenüber „Arbeiterstücken“ und eine Kritik industrieller Stoffe, die „wissenschaftliche Haltungen“ anstelle von ästhetischen Haltungen hervorbrächten.366 Zudem liegt die Fertigstellung des Frieden vor dem Verbot von Die Sorgen und die Macht.367 Auch Heiner Müllers Auseinandersetzung mit mythischen Stoffen datiert nicht erst seit der Kampagne gegen Die Umsiedlerin. Eine erste Beschäftigung mit dem von den Griechen ausgesetzten Philoktet lässt sich bereits 1950 nachweisen; zudem schrieb Müller parallel zur Arbeit an Die Umsiedlerin und Der Bau an Philoktet und Herakles 5.368 Darüber hinaus blendet die Vermutung, beide Dramatiker hätten sich mythischer und historischer Stoffe zu Zwecken der Camouflage bedient, den ästhetischen Traditionswechsel „von Brecht & Bitterfeld weg und zu Shakespeare“369 aus; – zumal sich die Grundannahme, Zeitkritik ließe sich in mythologischem oder historischem Gewand leichter transportieren, weil der ,Code‘ schwieriger zu entschlüsseln sei, angesichts der konkreten Rezeptionserfahrungen als gegenstandslos erweist. Die größere Verallgemeinerbarkeit eines Textes steigerte eher den Argwohn der kulturpolitischen Instanzen, als ihn zu mindern. So unterlag die Bearbeitung des Frieden nach ihrer Uraufführung in den Leitmedien der DDR lange Zeit einer auffälligen Nichtwahrnehmung; und das nicht allein aufgrund des engen zeitlichen Zusammenhangs || Vorwurf, „den Bezug zur konkreten Wirklichkeit aufgegeben“ (Roland Heine: Mythenrezeption in den Dramen von Peter Hacks, Heiner Müller und Hartmut Lange. Zum Versuch der Grundlegung einer „sozialistischen Klassik“. In: Colloquia Germanica 14 [1981], H. 3, S. 246) und sich mittels ausführlicher theoretischer „Selbstrechtfertigungsmanöver“ (Manfred Durzak: „Ein Gespräch im Hause Hacks über den anwesenden Herrn von Goethe“. Goethe-Einflüsse und Goethe-Adaptionen in Stücken von Peter Hacks. In: Gertrud Bauer Pickar u. Sabine Cramer [Hg.]: The Age of Goethe today. Critical Reexamination and Literary Reflection. München 1990, S. 135) in „eine Art von ästhetischem Eskapismus“ zurückgezogen zu haben (Schivelbusch, S. 83). Diese Ansicht wurde auch von anderen DDRAutoren vorgebracht. Vgl. Volker Braun: Provokateure oder: Die Schwäche meiner Arbeit. In: ders: Texte in zeitlicher Folge. Bd. 2. Halle/Leipzig 1990, S. 242. 365 MW 10, 304. In einem Brief an Henning Rischbieter, den Herausgeber von Th, schreibt Hacks: „Es ist etwas ärgerlich für mich, unterstellt zu kriegen, ich ließe mir irgendwas verbieten.“ Peter

Hacks an Henning Rischbieter, 19. Oktober 1969, DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit Th. 366 Peter Hacks an James Krüss, 19. März 1961, DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit James Krüss u. HW 15, 135. 367 Die Fertigstellung des Frieden erfolgte im März 1962. Vgl. Peter Hacks an Walther Kohls, 19. März 1962, DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit dem DT. 368 Siehe das Gedicht „Philoktet 1950“: MW 1, 15. B. K. Tragelehn berichtet zudem, dass Müller ihm von den mythologischen Intermedien aus Zement [1972] bereits Ende der 1950er Jahre erzählt habe. Vgl. Tragelehn: Mit der „Umsiedlerin“ durch die DDR-Geschichte, S. 90. 369 Isasi: Sorry, ich kenne das nicht.

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mit der Diskussion um Die Sorgen und die Macht, sondern weil der Text mit seinen zahlreichen satirischen Anspielungen im Kontext der ,realsozialistischen Allegorese‘370 und der spezifischen Funktionsweise der Theaterzensur, d.h. der tendenziellen Wahrnehmung aller Literatur als ,Gegenwartsliteratur‘, durchaus als kritisch aufgefasst wurde.371 Jenseits einer solchen Eskapismus-These besteht aber sehr wohl ein Zusammenhang zwischen den Verboten und der Hinwendung zu mythologischen und historischen Stoffen, nämlich indem die Verbote, wie Hacks rückblickend äußerte, die „Selbstbesinnung des Künstlers aufs eigentümlich Ästhetische“ beförderten.372 Die durch den starken offiziellen Kanonisierungsdruck vor dem Hintergrund des vorherrschenden Realismusverständnisses hervorgebrachte kulturpolitische Verengung des stofflich auf die Gegenwart bezogenen literarischen Gestaltungsraums zwang zur Reflexion und Kritik der eigenen Texte: [O]hne die Verbote meiner Stücke hier hätte ich nicht das machen können, was ich gemacht habe. Ohne diese Verbote hätte ich geschickt und clever Stücke schreiben können, die Geld bringen, die gespielt werden und so. Aber durch diese Verbote war ich immer wieder zurückgeworfen auf meine Ressourcen. Im Moment findet man das gar nicht so schön, etwa 1961 diese UMSIEDLERIN-Geschichte, das war vielleicht das Ende des realistischen Dramas in der DDR. Für mich war es aber der Anfang von anderen Dingen, die ich schreiben konnte, auf die ich vielleicht sonst gar nicht gekommen wäre. Ich hätte sonst weiter Stücke geschrieben über volkseigene Betriebe, Industrieprobleme in der DDR oder Landwirtschaft. Das konnte ich nicht mehr, weil ich es nicht mehr durfte. Dadurch habe ich dann zum Beispiel PHILOKTET geschrieben.373

Heiner Müller nähert sich hier der Position Hacks’, der sogar eine „Kunstfreundlichkeit des Verbots“ konstatierte.374 So verstanden wirkten die Verbote bei Müller als Ka-

|| 370 Unter ‚realsozialistischer Allegorese‘ wird hier die (kulturpolitische) Praxis verstanden, Texte und einzelne Textelemente im Kontext des west-östlichen „Glaubenskrieg[s]“ (Stöver: Zuflucht DDR, S. 327) grundsätzlich als auf die Gegenwart bezogene, politisch konnotierte Tropen zu lesen. 371 Siehe zu den Anspielungen: Stucke: Die Aristophanes-Bearbeitungen von Peter Hacks, S. 54ff. – Ähnliche Erfahrungen machte Hacks mit Margarete in Aix [1966] und Amphitryon [1967], deren Abdruck SuF verweigerte, da sie als eindeutige Kritiken der DDR aufgefasst wurden. Vgl. Wilhelm Girnus an Peter Hacks, 31. Januar 1968, DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit SuF. Auch Heiner Müllers Stück Philoktet, das im BE angekündigt worden war (vgl. Neue Spielzeit in neuem Gewand. In: ND, 3. Oktober 1965, S. 9), hatte auf den Bühnen der DDR zunächst keine Chance. – Vergleichbare Erfahrungen der sozialistischen Allegorese machte Hacks auch mit seiner Kinderliteratur. Siehe hierzu: Caroline Roeder: Phantastisches im Leseland. Die Entwicklung phantastischer Kinderliteratur der DDR (einschließlich der SBZ); eine gattungsgeschichtliche Analyse. Frankfurt/M. 2006, S. 176ff. 372 HW 15, 141. 373 MW 12, 250f. 1995 äußerte Müller das genaue Gegenteil: „Ich hatte irgendwann das Gefühl, ich hätte alles geschrieben, was man über dieses Unternehmen [die DDR-Gegenwart, R.W.] schreiben kann.“ MW 12, 747. 374 HW 15, 142.

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talysatoren und führten im Sinne einer „Explosion“ oder „Eruption“ zu einer „Vertiefung“ der Mythos-Rezeption, die Müller zugleich in Richtung auf sein eigentliches Thema ‚Geschichte‘ stieß.375 Nachdem Müller zwischen 1964 und 1968 in dichter Folge an den Mythos bzw. einzelne Mythologeme376 angelehnte Theatertexte vorlegte, bildete sich nach und nach dessen spezifische parabolische Form der (Post-)Dramatik aus, die selbst dort, wo ihr stofflicher Gegenwartsbezug wie in Germania Tod in Berlin [1956/71] offensichtlich ist, über die in den 1950er Jahren verfassten Gegenwartstexte hinausgeht. Insofern lässt sich für Heiner Müller ab den 1960er Jahren von einer Distanzierung vom Gegenwartsdrama sprechen.377 Im Gegensatz zu Hacks vollzog Müller die Verabschiedung des Gegenwartsdramas aber nicht programmatisch. Hinweise auf eine ästhetische Minderwertigkeit des Gegenwartsdramas finden sich bei Müller nur indirekt, so wenn dieser äußert: „Dramatik braucht die größere ‚Übersetzung‘, einen höheren Abstraktionsgrad.“378 Auch wertete Müller seine Gegenwartsdramen wie Hacks nicht im Nachhinein ab; Die Umsiedlerin hielt Müller auch in den 1980er Jahren noch für sein „bestes Stück“.379 Bei Peter Hacks ist die ästhetische Abwertung des Gegenwartsdramas grundsätzlich und geht über die bereits früher im Kontext des Anti-Naturalismus bekundete Ablehnung der Behandlung von privaten Konflikten und Alltagsstoffen hinaus.380 Sie bedeutet gleichzeitig auch eine Rücknahme der zuvor eingenommenen Position. Hatte Hacks noch 1957 öffentlich nach dem Gegenwartsdrama verlangt,381 so konsta-

|| 375 MW 11, 336 u. Schulz: Heiner Müller, S. 9. 376 Unter Mythos/Mythen werden hier die dem Bereich der antiken Mythologie zugehörigen Ursprungs- und Schöpfungs- sowie die Götter- und Heldenmythen verstanden. Als Mythologem gilt die kleinste konstitutive semantische Einheit des Mythos im Sinne eines Motivs. Vgl. Peter Kobbe: Mythos und Modernität. Eine poetologische und methodenkritische Studie zum Werk Hans Henny Jahnns. Stuttgart u.a. 1973, S. 16. Siehe zum umfassenden, bis in die Neuzeit und die Moderne hineinreichenden Begriff des Mythos: ÄGB 4, 309ff. 377 Die Ende der 1960er Jahre verfassten Gegenwartsdramen Waldstück [1968/69] und Weiberkomödie [1969] sind eher der Peripherie des Müller’schen Werks zuzuordnen und wurden vom Autor rückblickend abgewertet. Vgl. KoS 186f. u. MW 4, 569. Als Ausnahme ist das Fragment Traktor [1955/61/74] zu nennen, das aber ebenfalls eher im Kontext der Deutschland- und Geschichtsthematik zu verorten ist. Siehe hierzu: Kap. 5.5.1.2. 378 MW 10, 35. 379 MW 10, 371. 380 Vgl. RT 102f. u. HW 13, 24. Die Kritik des Alltäglichen rührt von Brecht her. Vgl. GBA 23, 377f. In den 1970er Jahren heißt es bündig: „Alltagsstoffe sind für das Drama schlechterdings nicht erlaubt.“ FR 45f. Die poetische Untauglichkeit des Alltags wird mit der Beschaffenheit der arbeitsteiligen Industriegesellschaft begründet, die keine Pars-pro-toto-Relationen, d.h. ein „Zusammenfallen alltäglicher Tätigkeit mit gesellschaftlich oder philosophisch wesentlicher Tätigkeit“ mehr erlaube. HW 14, 37. Siehe auch: HW 13, 100. 381 Im Februar 1957 hatte Hacks sich auf einer Konferenz des Schriftstellerverbandes von historischen Stoffen distanziert und Gegenwartsdramen gefordert. Vgl. AdK, Berlin, SV, Nr. 89, Bl. 52f.

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tierte er ab den 1960er Jahren eine ästhetische „Zweitrangigkeit“ von Gegenwartsstoffen.382 Diese folge, so Hacks, unmittelbar aus der Präponderanz des Stoffes, der sich bei Gegenwartsdramen immer gegenüber der „künstlerische[n] Fragestellung“ durchsetze und den notwendigen Abstand, der Voraussetzung künstlerischer Tätigkeit sei, mithin die angemessene ästhetische Form, verhindere.383 So sei die Gegenwart (1.) zu wenig erforscht und das Wissen über sie zu gering, um in der Behandlung des Stoffes über die bloße Erscheinungsebene hinauszugelangen und die „überzeitliche Wichtigkeit eines zeitlichen Gegenstandes“ zu erfassen; der Autor bekäme lediglich „die unbefragte Außenseite der Gegenwart“ zu fassen.384 Zudem herrsche (2.) über die Fragen der Gegenwart keine zwischen Autor und Publikum verallgemeinerbare Auffassung, so dass der Aufmerksamkeits-Marker des zeitgenössischen Stoffs besonders groß sei und der Stoff automatisch zuungunsten der ästhetischen Behandlung in den Vordergrund trete (und zumeist für einen Skandal und in der Folge für ein Verbot sorge);385 und (3.) verleite die Aktualität des Stoffes den Autor dazu, „dramatisch nötige Nachrichten als bekannt vorauszusetzen und nicht eigens zu erwähnen, umgekehrt: dramatisch überflüssige Nachrichten einzulassen, weil sich die Gegenwart für die interessiert“.386 Das aber nehme dem Drama seine notwendige stoffliche Unabhängigkeit und entstelle die Fabel: sie werde entweder für spätere RezipientInnen unverständlich, weil wichtige Informationen fehlten, oder sie sei in eine Fülle von naturalistischen Informationen eingekleidet, die nur für die unmittelbare Gegenwart von Interesse seien und ein späteres Publikum langweilten. Hacks spricht in diesem Zusammenhang resümierend vom „Naturinteressante[n]“ als der Hauptgefahr des Gegenwartsdramas.387

|| 382 HW 15, 136. Die folgende Wiedergabe der Argumentation stützt sich auf den Essay „Über Gegenwartsdrama, abschließend“ aus dem Jahr 1976. In diesem systematisiert Hacks Positionen, die sich verstreut bereits in zahlreichen Texten der 1960er Jahre finden (vgl. etwa HW 13, 79), weshalb die Heranziehung des späten Aufsatzes methodisch als unproblematisch erscheint. 383 HW 15, 136. Hacks unterscheidet zwischen Material (Stoff) und Behandlung/Formung (Fragestellung) und gibt der Behandlung den Vorrang. Diese versteht sich nicht als affektive, sondern als distanzierte: „An Stoffen, zu denen man keinen Abstand hat, pflegt man zu ersticken.“ HW 15, 290. 384 HW 15, 139 u. 136. An anderer Stelle spricht Hacks von der „Schwierigkeit des Analysierens und Sortierens, des Trennens des Wichtigem vom Unwichtigen“. FR 47. 385 Hacks verweist an anderer Stelle als literarhistorisches Beispiel auf das Verbot von Phrynichos’ Tragödie Die Einnahme von Milet, d.h. die Verbote werden nicht direkt der DDR-Kulturpolitik angelastet, sondern als Ausdruck eines überzeitlichen Strukturproblems zwischen literarischem und politischem Feld aufgefasst. Vgl. FR 46. In einem solchen Kontext erfolgte auch die spätere Einordnung des Verbots von Die Sorgen und die Macht durch Hacks. Vgl. GmH 29. 386 HW 15, 138. An anderer Stelle spricht Hacks von der „Gefahr der Verwechslung von Anekdote und Handlung“. HW 15, 290. 387 HW 15, 138. Als Beispiel nennt Hacks die Pornographie. Im Kontext der Zeitstücke der 1950er und frühen 1960er Jahre wäre z.B. an die Schilderung von Produktionsvorgängen zu denken.

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Neben diesen produktions- und rezeptionsästhetischen Problemen erkennt Hacks im Gegenwartsdrama darüber hinaus auch eine „Unmöglichkeit“,388 die sein prinzipielles ästhetisches Verständnis berührt. Hacks fasst literarisches Sprechen im Drama als uneigentliches Sprechen auf: „Der kunstfähige Gegenstand ist zugleich Zweck seiner selbst und Mittel für ein darüber hinaus Gewolltes“389 – mit anderen Worten: Theater ist zeichenhaft, der ästhetische Blick ordnet dem Signifikanten unterschiedliche Signifikate zu und es existieren jeweils mehrere, mindestens aber zwei, Bedeutungsebenen. Die Gattung Drama ist, wie Literatur überhaupt, somit entgegen naturalistischen Auffassungen wesentlich durch ihre Metaphorizität gekennzeichnet; nicht allein einzelne Textelemente werden zur Metapher, sondern der gesamte Textzusammenhang (story und plot).390 Wenn aber die metaphorische Potenz der story die notwendige Voraussetzung von Drama ist, muss das Drama, das die Gegenwart auf stofflicher Ebene behandelt, diese zugleich metaphorisch behandeln. Das aber setzt nach Hacks’ Ansicht einen Abstand voraus, der sich gegenüber einem zeitgenössischen Stoff rational wie ästhetisch kaum herstellen ließe – es sei denn, man wolle eine Position der Zukunft einnehmen.391 Daher erkennt Hacks im Gegenwartsstoff eine ‚Unmöglichkeit‘: „Das Gegenwartsdrama steht außerhalb des Bereichs der Metapher, also außerhalb der Poesie“.392 Neben den Verbotserfahrungen der eigenen Gegenwartsstücke, mithin der – wie die angesprochene realsozialistische Allegorese zeigt: trügerischen – Einsicht, dass Theatertexte „mit geschichtlich vergangenem oder wunderbarem Gegenstand […] nicht die Anwendung auf gegenwärtige Staatsverhältnisse“ verlangen,393 erklärt sich der Wechsel vom Zeitstück zum historischen bzw. mythologischen Stück, der eine Rückkehr zu Hacks’ früherer Position auf der Grundlage neuer Voraussetzungen markiert, aus diesen Überlegungen. Der historische bzw. mythologische Stoff erfüllt jene Kriterien, welche ein zeitgenössischer, industrieller Stoff, wie Hacks ihn in die Die

|| 388 HW 15, S. 138. 389 HW 15, S. 139. 390 Das ähnelt der Auffassung Goethes, der argumentiert, dass „nichts theatralisch [ist], als was für die Augen zugleich symbolisch ist: eine wichtige Handlung, die auf eine noch wichtigere deutet.“ Goethe 12, 296f. 391 „[E]in Gegenwartsstück […] muß ich doch schreiben, als sei ich mein Ururenkel.“ FR 42. 392 HW 15, 139. Ähnlich argumentiert Hacks bezüglich der Auswahl von Wörtern: „Das Neue muß reflektiert werden, bleibt eine Sache des Kopfes. […] Worte wie Sachen müssen, um poetisch zu werden, lagern.“ HW 13, 109. – Als Gewährsmänner gegen das Gegenwartsdrama führt Hacks die griechischen Tragiker, Shakespeare sowie Goethe und Schiller an. Vgl. HW 15, 139f. 393 HW 15, 141.

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Sorgen und die Macht gestaltet hatte, ermangelt: Anschaulichkeit, Bekanntheit, Geschlossenheit, Totalität, Distanz und Polyvalenz.394 Auf seiner Grundlage lässt sich in einem „Wechselspiel von Allegorie und Anthropologie, von ‚aktuellem Bezug‘ und künstlerischer Verallgemeinerung“ die Gegenwart (mit-)behandeln, lassen sich „Sachverhalte der Gegenwart […] verdichten“, ohne dass der dramatische Text damit auf eine rein gegenwartsbezogene Allegorese festgelegt sei.395 Auf dieser Basis versteht Hacks sich auch nach der Distanzierung vom Gegenwartsdrama weiterhin als „Gegenwartsautor“, schließlich sei „Zeitnähe keine Frage des Kostüms“.396 Auch wenn in den 1960er Jahren zunächst ausschließlich Mythen-Bearbeitungen und historische Stücke entstehen, folgt aus der ästhetischen Kritik des Gegenwartsdramas keine grundsätzliche Suspendierung des Zeitstücks. Vielmehr betrachtet Hacks das Verfassen von „Dramatik als […] zeitgenössische Kunst“ weiterhin als „das Schwerste“ innerhalb der Gattung, d.h. die ‚Unmöglichkeit‘ stellt sich als Herausforderung dar.397 Das Gesamtwerk verzeichnet nach dem Skandal um Moritz Tassow noch vier weitere Gegenwartstexte, die sich allerdings nicht nur hinsichtlich ihrer Qualität deutlich voneinander unterscheiden: Numa [1970/71], Die Binsen [1981], Barby [1982] und Fafner, die Bisam-Maus [1991].398 Keines von ihnen lässt sich indes auf „reine Protzerei“ zurückführen, nicht der Beweis des „ästhetischen Griff[s]“, den Hacks als zentrale Motivation für das Zeitstück ausgibt,399 sondern konkrete zeithistorische Umstände bilden den Hintergrund der Textproduktion. Bei aller Differenz

|| 394 Die Fragen, die sich aus der ,historischen Methode‘ ergeben (wie etwa, auf welche Weise der historische Stoff in Bezug auf die Gegenwart konkret eingesetzt wird, nach welchen Regeln er zu bearbeiten sei und inwiefern auch hier Bedeutungseinschränkungen durch Allegorisierungen auftreten), sind Bestandteil der Auseinandersetzung zwischen Hacks und Müller um den Modus operandi literarischer Bearbeitungen, die mit Müllers Philoktet einsetzt und ihren Höhepunkt im Streit um dessen Macbeth-Bearbeitung findet. Siehe hierzu die Kap. 4.6.5 u. Kap. 5.2.3. 395 Schütze, S. 90 u. HW 14, 39. Der von Hacks benutzte Begriff der ‚Verdichtung‘ bezieht sich auf Wagner. Vgl. Richard Wagner: Oper und Drama. Zweither Teil: Das Schauspiel und das Wesen der dramatischen Dichtkunst. In: ders.: Sämtliche Schriften und Dichtungen. Volksausgabe. Bd. 4. Leipzig [1911], S. 80ff. Hacks interpretiert den Begriff im Kontext des dialektischen Konzepts der sozialistischen Klassik als ästhetischen Prozess der Aufhebung von Gegenwartskomplexen in „poetischen Motiven“. HW 14, 34. 396 NIR 81 u. HW 14, 39. 397 Peter Hacks, zit. n.: Generalversammlung des P.E.N.-DDR am 5. April 1978 in Berlin, Sten. Protokoll, AdK, Berlin, P.E.N. (Ost), Nr. 165, Bl. 59. Siehe auch: FR 46f. 398 Als fünftes Stück ließe sich noch Musen [1979] nennen, dessen vierter Auftritt „Schmeckebier“ am Silvesterabend 1999 im Staatsratsgebäude der DDR angesiedelt ist. Vgl. HW 6, 178ff. Der Text überschreitet als „deutsche Geistesgeschichte in szenischen Dokumentationen“ (HW 15, 269) allerdings den Rahmen eines Gegenwartsstücks insofern, als hier aus Hacks’ Perspektive die Geschichte der Romantik dargestellt wird, die sich, das ist der Gegenwartsbezug, auch in der DDR durchgesetzt habe. Vgl. Bernd Leistner: Nachwort. In: Peter Hacks: Ausgewählte Dramen 3. Berlin/Weimar 1981, S. 390ff. 399 HW 15, 144.

204 | Differenzen

zwischen den Texten – Numa beispielsweise greift die bereits in Moritz Tassow verwendete Aristophanes-Technik der „phantastischen Fabel“400 als Mittel der Verfremdung wieder auf und spielt in einer römisch antikisierten sozialistischen Republik Italien, die anderen Texte funktionieren als konventionelle Zeitstücke – scheint ihnen allen gemein (und von Hacks auch bewusst einkalkuliert) zu sein, was gerade zentraler Bestandteil der Kritik am Gegenwartsdrama ist: das Skandalpotential, das sich aus der direkten Thematisierung von Gegenwartsproblemen ergibt. Auch wenn die Gegenwartsdramen sich kaum auf eine konkrete Aussage zuspitzen lassen, wird an ihnen doch der eingeschränkte Bedeutungsgehalt ersichtlich, der aus ihrem Interventionscharakter folgt. Das ist bei Numa weniger, bei der „romantische[n] Komödie“401 Die Binsen, bei Barby und Fafner, die Bisam-Maus, die sich direkt gegen Teile der Opposition in der DDR (Die Binsen), die allgemeine Stagnation der Verhältnisse (Barby) und die Wiedervereinigung (Fafner, die Bisam-Maus) richten, stärker der Fall. Hacks nennt als Möglichkeiten, das Zeitstück auf ein angemessenes ästhetisches Niveau zu bringen, zwei unterschiedliche Techniken, die beide auf eine Verfremdung hinauslaufen: einmal eine an Molière und Shaw angelehnte Trick- und Typendramaturgie, die das Theatrale in den Vordergrund rückt, zum anderen die bereits erwähnte Aristophanes-Technik, die den Stoff durch Phantasie distanziert.402 Daran, dass beide Verfahren den beschriebenen Problemen des Gegenwartsdramas nicht beikommen, lässt Hacks indes keinen Zweifel. Zu Beginn der 1970er Jahre schrieb Hartmut Lange, bis zur seiner Flucht 1965 neben Peter Hacks und Heiner Müller der Dritte des Triumvirats der post-Brecht’schen DDRDramatik, „die gewaltsame Umwälzung der gesellschaftlichen Verkehrsformen“ in der DDR habe „mehr Stoff für Literatur angehäuft als die letzten 100 Jahre bürgerlicher Geschichte“.403 Während Peter Hacks und Heiner Müller Langes abwertende Einschätzung

|| 400 Joachim Knauth, zit. n.: Trilse: Antike und Theater heute, S. 206. 401 HW 6, 193. 402 Vgl. HW 15, 142f. 403 Hartmut Lange: Arbeiten im Steinbruch. In: ders.: Die Revolution als Geisterschiff. Massenemanzipation und Kunst. Reinbek bei Hamburg 1973, S. 182. Nach Langes Flucht brach Hacks den Kontakt zu Lange ab. Welche Bedeutung dieser für ihn hatte, reflektierte Hacks in dem Gedicht „Die Elbe“. Vgl. HW 1, 205–207. Das Verhältnis zwischen Hacks und Lange muss im Rahmen dieser Arbeit Desiderat bleiben. Siehe zu Langes Flucht aus der DDR: Ralph Schock: Gespräch mit Hartmut Lange. In: SuF 60 (2008), H. 3, S. 333ff. Siehe allgemein zu Langes literarischer Entwicklung vom Dramatiker zum Erzähler: Ralf Hertling: Das literarische Werk Hartmut Langes. Hoffnung auf Geschichte und Glaube an die Kunst – Dramatik und Prosa zwischen 1960 und 1992. Frankfurt/M. u.a. 1994; Manfred Durzak (Hg.): Der Dramatiker und Erzähler Hartmut Lange. Würzburg 2003 u. Walter Schmitz: Grenzerfahrungen. Hartmut Langes Weg vor und nach seinem Weggang aus der DDR. In: ders. u. Jörg Bernig (Hg.): Deutsch-deutsches Literaturexil. Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus der DDR in der Bundesrepublik. Dresden 2009, S. 188–226.

Die Abkehr vom Gegenwartsdrama | 205

des bürgerlichen neunzehnten Jahrhunderts teilten,404 distanzierten sie sich im Rahmen ihrer ästhetischen Praxis vom ersten Teil des Satzes immer deutlicher; nicht neue Stoffe seien durch die Revolution bereitgestellt, sondern neue Fragen aufgeworfen worden. Deren Konturen und mögliche Antworten suchten Hacks und Müller ab Mitte der 1960er Jahre modellhaft anhand historischer bzw. mythologischer Stoffe zu verdeutlichen.405

|| 404 Das gilt für Hacks zumindest bis zu dem Stück Die Fische [1975], das in der Zeit der Herrschaft Napoleons III. im Jahr 1866 angesiedelt ist. Siehe zur Revision dieser Position: FR 51. 405 Siehe Kap. 4.6.

206 | Differenzen

4.5

„Tertium datur.“ Peter Hacks’ sozialistische Klassik

Im Folgenden werden die ästhetischen und philosophischen Positionen, die Peter Hacks im Laufe der 1960er Jahre ausbildete und die heute allgemein mit dem Begriff der „sozialistischen Klassik“ bezeichnet werden, beschrieben.406 Auch wenn Hacks’ Selbstverständnis als Klassiker über den Zeitraum der 1960er Jahre hinausgeht und viele der ästhetischen Bestimmungen, die Hacks im Rahmen der neuen, auf die Positionen der 1950er Jahre folgenden Ästhetik vornimmt, ebenfalls für dessen Werk nach 1971 gelten, kann die sozialistische Klassik als Werkphase auf die Zeit bis zur Absetzung Walter Ulbrichts eingegrenzt werden, da sie, wie zu sehen sein wird, in ihrer Vermittlung von Politik und Ästhetik unmittelbar auf die Situation der 1960er Jahre verweist. Erste Ansätze eines classical turn lassen sich bei Peter Hacks ab 1959 feststellen. Anlässlich einer Tagung des P.E.N.-Zentrums Ost und West, die sich dem Thema der „Literatur im Zeitalter der Wissenschaft“ widmete, sprach Hacks erstmals von der Möglichkeit einer Klassik, zu der man „auf dem Weg“ sei.407 Bereits drei Monate später heißt es im „Versuch über das Theaterstück von morgen“, dem ersten wichtigen Essay der neuen Ästhetik, im Anschluss an die Beschreibung einiger Aspekte eines solchen ,morgigen‘ Theaterstücks: „Es riecht nach Klassik.“408

4.5.1

Ästhetische Merkmale der sozialistischen Klassik

Die Ästhetik einer sozialistischen Klassik arbeitete Hacks ab 1960 in verschiedenen Essays und kleineren Schriften in Auseinandersetzung mit der eigenen literarischen Praxis und den Entwicklungen im literarischen und politischen Feld sukzessive aus.

|| 406 Der Begriff wird unsystematisch auch in anderen Zusammenhängen genannt, so in Bezug auf Johannes R. Bechers Lyrik (vgl. Dieter Lamping: „Wir leben in einer politischen Welt“. Lyrik und Politik seit 1945. Göttingen 2008, S. 46), als stilistische Bezeichnung des ,Zuckerbäcker‘-Stils der sozialistischen Architektur (vgl. Kerstin Decker: Ost-Rest-Achsen. Lu Hao in Berlin. In: Der Tagesspiegel, 15. April 2012) oder als von Ulbricht benutzter kulturpolitischer Leitbegriff der 1960er Jahre. Vgl. Christa Wolf: Im Widerspruch. Zum 100. Geburtstag von Anna Seghers. In: SuF 52 (2001), H. 1, S. 19. In der Regel wird der Begriff aber als Selbstbeschreibung von Peter Hacks übernommen, um dessen Poetik zu bezeichnen. So versehen Alo Allkemper und Norbert Otto Eke in ihrer Einführung in die Literaturwissenschaft eine Fotografie von Hacks ganz selbstverständlich mit dem Schlagwort „Sozialistische Klassik“. Vgl. Alo Allkemper u. Norbert Otto Eke: Literaturwissenschaft. Paderborn 2004, S. 268. – Die folgende Darstellung konzentriert sich im Wesentlichen auf die 1960er Jahre, greift dabei aber hinsichtlich einiger Bestimmungen auch auf Texte aus den 1970er Jahren, so z.B. auf den grundlegenden Essay „Versuch über das Libretto“ [1973], sowie spätere Briefäußerungen zurück, sofern diese als Weiterführungen und Konkretisierungen gelten können. 407 HW 13, 17. 408 HW 13, 28.

„Tertium datur.“ Peter Hacks’ sozialistische Klassik | 207

1966 versammelte er diese Beiträge zu einem Sammelband, der mit einiger Verzögerung, deren Gründe in der komplizierten deutsch-deutschen Buchmarktsituation liegen, schließlich 1972 unter dem Titel Das Poetische. Ansätze zu einer postrevolutionären Dramaturgie bei Suhrkamp erschien.409 In dem von Hacks 1971 selbst verfassten Klappentext des Sammelbandes heißt es: Der Ton im Titel liegt auf ‚postrevolutionär‘. Im Verlauf der sechziger Jahre gelangt Hacks zu der Überzeugung, daß die revolutionäre Kunst sich erschöpft habe: erschöpft in Polemik, Enthüllung, Demontage; erschöpft auch in der Idylle des totalen Optimismus. Die neue DDR-Gesellschaft stellt – zum ersten Mal seit der deutschen Klassik – eine andere Aufgabe: Wiederherstellung. Wiederherstellung nicht etwa der unrettbaren Hervorbringungen der Bourgeoisie, sondern des Besten, was die besten Köpfe der Menschheit in deren besten geschichtlichen Augenblicken begonnen und entworfen haben.410

‚Wiederherstellung des Besten‘, des Mustergültigen und Erstrangigen (lat. classicus) auf der Grundlage des Sozialismus, das ist Hacks’ Formel für Klassik. Die Genese der sozialistischen Klassik versteht Hacks im Sinne einer literarhistorischen Analogie (Aufklärung [Brecht] → Sturm und Drang [Dramatik der 1950er Jahre] → Klassik [sozialistische Klassik]), in deren Rahmen die Weimarer Klassik zum „literaturgeschichtliche[n] Modell“ absoluter Autorität wird.411 Aber nicht nur im Kontext eines solchen Aufstiegsschemas, sondern auch im Verständnis einer Wechselbewegung vom Negativen zum Positiven nimmt Hacks eine Analogisierung vor. So äußerte er in einer Rede anlässlich der Verleihung des F.-C. Weiskopf-Preises 1965: „Auf Perioden der Willkür (Barock, Sturm und Drang, Naturalismus) folgen Perioden der Zucht: Aufklärung, Klassik, kritischer Realismus.“412 Was ist unter der sozialistischen Klassik zu verstehen? Die Merkmale, die im Zusammenhang mit einer solchen Ästhetik stehen, sind in den vorangegangenen Kapiteln über die Diskussion von Heiner Müllers Umsiedlerin, den Vergleich der Umsiedlerin mit Moritz Tassow sowie der Auseinandersetzung um das Gegenwartsdrama teilweise schon genannt worden. Sie seien hier kurz referiert. Zu ihnen gehören: || 409 Pläne zu einem solchen Band, der auch die dann später nicht aufgenommenen frühen Essays der 1950er Jahre enthalten sollte, hatte Hacks bereits 1964. Vgl. Peter Hacks an Siegfried Unseld, 16. Mai 1964, DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit dem Suhrkamp Verlag. 1967 schickte Hacks das fertige Manuskript sowohl an den Aufbau- als auch an den Suhrkamp Verlag. Vgl. Peter Hacks an Günter Caspar, 27. März 1967, DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit dem Aufbau-Verlag u. Peter Hacks an Siegfried Unseld, 27. März 1967, DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit dem Suhrkamp Verlag. In der DDR erschien die Textsammlung erst 1978 im Rahmen der Maßgaben der Kunst. 410 Peter Hacks: Das Poetische. Ansätze zu einer postrevolutionären Dramaturgie. Frankfurt/M. 1972, Klappentext. Vgl. Peter Hacks an Suhrkamp Verlag, 12. Oktober 1971, DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit dem Suhrkamp Verlag. 411 Eike Middell: Wie man ein Klassiker wird. In: SuF 34 (1982), H. 2, S. 864. Siehe die AnalogieÄußerungen in: HW 13, 75. 412 Rede anlässlich der Verleihung des F.-C. Weiskopf-Preises, 3. April 1965, DLA, A: Hacks.

208 | Differenzen

große und verallgemeinerbare Stoffe, Handlungen und Charaktere mit gesellschaftlicher und politischer Bedeutung jenseits privater oder alltäglicher Art und dramatische HeldInnen und GegenspielerInnen, die nicht allein aufgrund äußerer Gegebenheiten, sondern als emanzipierte Subjekte urteilen und handeln; des Weiteren: geschlossene, dialektische Fabeln, die für das Wechselspiel verschiedener Kräfteeinwirkungen stehen und die soziale Komplexität verdeutlichen sollen; in engem Zusammenhang damit stehend: Totalität, die als dialektische Struktur von Form (Genreorientierung und dramatische Objektivität) und Inhalt (im Sinne einer, der gewählten Perspektive gemäßen, vollständigen Darstellung) aufgefasst wird, eine Orientierung am Ideal, die den emanzipatorischen Fluchtpunkt der Kunst verdeutlicht, und eine Festlegung auf die Komödie als die dem sozialistischen Fortschritt angemessene Gattung; schließlich: ästhetische Mittel, die als Bedeutungsmarker fungieren und gleichzeitig Genuss vermitteln sollen, neben dem dramatischen Vers sind dies: „Artistik, Glanz, Phantasie“ und „Pomp“.413 Eine Realisierung dieser Merkmale erkennt Hacks im klassischen Theaterstück, das im Zusammenhang mit der methodischer Annahme, dass Handlungen des Vorschlagens und Vorhersagens ein impliziter Realisierungscharakter zu eigen sei,414 als eigenständiger Stücktypus gesetzt und zugleich als textliches Ideal, für das paradigmatisch die Stücke Shakespeares stehen, dargestellt wird.

4.5.2

Die Kritik an Brecht

Die genannten Aspekte, die im Weiteren genauer auf ihre Funktion und Bedeutung im Rahmen der neuen Ästhetik untersucht werden, verweisen auf die Differenz gegenüber den in den 1950er Jahren eingenommenen Positionen. Diese (der geforderte Bruch mit den Traditionen der Herrschenden, der Vorrang der Rationalität vor dem Gefühl und das Primat der Soziologie, die Ablehnung des Idealismus und der Weimarer Klassik als einer Ausdrucksform der deutschen Misere, die Behauptung einer Klassenbedingtheit der Kunst und die damit im Zusammenhang stehende plebejische Perspektive, die Orientierung auf eine proletarische Ästhetik sowie überhaupt Zwecksetzungen der Kunst im Sinne einer „Beseitigung der Unwissenheit“)415 werden in den 1960er Jahren in einer Art Selbstkritik zurückgenommen. Eine Distanzierung vom Didaktischen Theater findet sich bereits in der ersten Fassung von Die Sorgen

|| 413 HW 13, 28 u. HW 13, 114. Die hier zusammengefassten Merkmale finden sich in den genannten Essays. Siehe darüber hinaus: HW 13, 63ff. u. HW 13, 78f. 414 „Sachen zu prophezeien, ist einer der wirkungsvollsten Tricks sie vorzuschlagen. Eine gut gemachte Vorhersage hilft mit an ihrer eigenen Erfüllung; sie trampelt einen Gedankenpfad ins Dickicht des Kommenden […].“ HW 13, 21. 415 Hacks: An einige Aristoteliker, S. 25.

„Tertium datur.“ Peter Hacks’ sozialistische Klassik | 209

und die Macht in der Konfrontation zwischen dem kleinbürgerlichen Bibliothekar Jost Birkenbihl und dem Arbeiter Max Fidorra. Da Birkenbihl dem Nebenbuhler unterlegen ist, versucht er Fidorra auf dem ihm fremden Gebiet der Kultur zu treffen: Eine wichtige Frage in der Kultur ist [...] die des didaktischen Theaters. Didaktisch heißt soviel wie dialektisch, also auf deutsch: gemütskalt. Ich übersetze ihnen das Fremdwort, ich verachte den einfachen Menschen nicht. Durchaus nicht. Das Portal der Kultur steht jedem Strebenden offen.416

Ist der Angriff, den Fidorra mit einer furiosen Erzählung über die Inhaltslosigkeit des propagierten Kulturbegriffs kontert, im inneren Kommunikationssystem des Dramas auf die Eifersucht Birkenbihls zurückzuführen, so kommt der Passage im äußeren Kommunikationssystem die Funktion eines negativen Kommentars zu.417 Die im Didaktischen Theater in die Kunst eingegangene pädagogische Haltung gegenüber dem Publikum wird zurückgewiesen. Der Eindruck wird noch dadurch verstärkt, dass Birkenbihl, der im weiteren Verlauf der Handlung den Ungarischen Aufstand begrüßt, eine der negativsten Figuren des Stücks ist. Die Selbstkritik Hacks’ gestaltet sich, das zeigt sich im Verlauf der 1960er Jahre immer unzweideutiger, als eine Kritik an Brecht, die in ihrer Radikalisierung – 1974 bezeichnet Hacks Brecht als eine überwundene „Krankheit“ – Züge eines Vatermords trägt.418 Zunächst aber wird Brecht in das bereits erwähnte literaturgenetische, histo-

|| 416 Vgl. SORGEN 1, 36f. Siehe die Übereinstimmung in den späteren Fassungen: SORGEN 2, 35f. u. HW 3, 44f. 417 Solche Kommentare sind charakteristisch für Hacks. Siehe beispielsweise den Kommentar zur Qualität der literarischen Kritik in Der Frieden (vgl. HW 3, 209), zu den häufigen, ex post immer richtigen politischen Vorhersagen der SED in Die schöne Helena (vgl. HW 3, 373), zur Folgelosigkeit von kulturpolitisch angeleiteter Literatur in Numa (vgl. Peter Hacks: Sechs Dramen. Düsseldorf 1978, S. 117) oder der Geistlosigkeit der Philologie in Das Jahrmarktsfest zu Plundersweilern. Vgl. HW 5, 81ff. Umwegiger und vermittelter sind die dramentheoretischen Kommentare, so die Auseinandersetzung über den ‚hellen‘ und den ‚dunklen‘ Stil in Margarete in Aix. Vgl. HW 4, 55ff. Siehe Kap. 4.6.3.3. 418 FR 56. Mit der Radikalisierung setzte eine zunehmende Distanzierung gegenüber der eigenen Schüler-Zeit ein. In Hacks’ autobiographischer Anekdoten-Sammlung Was ist das hier? wird Brechts zurückhaltende Antwort auf Hacks’ Anfrage zwecks einer Übersiedlung in die DDR im Kontext der fehlerhaften Auffassungen Brechts interpretiert und Hacks’ Übersiedlung als frühe Unbotmäßigkeit gegenüber Brecht dargestellt. Vgl. Pasiphaë, S. 7. 1958 war Hacks in einem Gespräch mit Hans Bunge noch der Ansicht gewesen, Brecht habe gar nicht anders antworten können, „denn er konnte beim besten Willen nicht jemand völlig Unbekanntem Ratschläge erteilen“. GüB 243. Zudem nimmt Hacks die frühen, stark von Brecht beeinflussten Essays in keine seiner Textsammlungen auf, obschon die in den 1950er Jahren verfassten Kommentare zu den frühen Stücken im Rahmen der 1977 bzw. 1978 in der BRD und der DDR erschienenen Sammlung Die Maßgaben der Kunst Platz finden. Bezeichnend ist auch die Ersetzung Brechts durch Goethe im „Prolog zur Wiedereröffnung des Deutschen Theaters“ und die Auslassung eines Gedichts über Brecht im ersten Lyrik-Band von 1974. Vgl. Püllmann: Von Brecht zu Braun, S. 122f. u. 193f.

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rische Analogiemodell eingeordnet, indem Hacks ihm die Rolle Lessings zuweist. Anlässlich der P.E.N.-Diskussion 1959 bezeichnete er Brecht als „Aufklärer“, der in einer Zeit der „Einführung der Wissenschaft“ gewirkt habe und dem angesichts einer Situation, in der „das Publikum von den primitivsten Dingen nichts weiß“, keine andere Möglichkeit geblieben sei, als Kunst im Sinne einer „sinnlich exemplifizierte[n] Wissenschaft“ zu betreiben. Die Umstände hätten den „geborenen Klassiker“ Brecht „aufs Katheder des Aufklärers“ gezwungen.419 Die daraus hervorgehende „Haltung des Neuerers“, die dem Publikum in erster Linie Informationen über die Funktionsweise des Kapitalismus geben will, verurteilt Hacks als Vereinseitigung der Kunst, da sie den Zweck der Erkenntnis als zentral setze und damit Kunst mit Wissenschaft verwechsle. Die textuellen Produkte eines solchen Ansatzes seien „Tendenzstück[e]“, deren Wirkung schnell verfliege und die im eigentlichen Sinne nicht künstlerisch seien.420 Hacks kritisiert vor allem die Determinierung der Figuren durch äußere Umstände, die er mit der Wirkung des Marxismus auf Brecht erklärt; dieser habe Brecht „borniert“ und zu einer einseitigen Soziologisierung geführt. Eine Engführung von Figur und Struktur sei aber mit Beginn des Sozialismus obsolet geworden, folglich müssten die „brechtschen Methoden“ „auf dem Wege der Negation“ überwunden werden.421 Wie diese Negation funktioniert, zeigt sich, wenn man Hacks’ Brecht-Kritik mit dessen Kritik des modernen bürgerlichen Theaters vergleicht, das Hacks allgemein unter dem Begriff des absurden Theaters zusammenfasst. Wo Brecht die gesellschaftliche Perspektive verabsolutiere, isoliere das absurde Theater das Individuum von der Gesellschaft, indem es „Helden ohne Gesellschaft“ auf die Bühne bringe, die in einem amorphen Raum handelten.422 In der „Enthumanisierung des Stofflichen“ (Brecht) und der „Entstofflichung des Humanen“ (die Absurden) erkennt Hacks „zwei typische Richtungen des Dramas“ im zwanzigsten Jahrhundert, die je eine Variante der Subjekt-Objekt-Spaltung repräsentieren.423 An die Stelle dieser beiden aus Hacks’ Sicht jeweils defizitären Optionen tritt nun als doppelte Alternative die sozialistische Klassik, die beide Fehler aufheben soll, indem sie das Individuum als die „wichtigste sozialistische Errungenschaft“ als „nie

|| 419 HW 13, 15ff. 420 HW 13, 30. Später wird Hacks Brechts Texte daher als „Gewerkschaftsstücke“ (FR 62) abqualifizieren, die nicht mehr sein wollen als ein „Schlagwerkzeug im Klassenkampf“. HW 14, 97. 421 HW 13, 76 u. HW 13, 38. 422 HW 13, 23. 423 HW 13, 114 u. HW 13, 65. Als übergreifendes Moment des modernen Dramas in der Krise hat auch Peter Szondi den „Subjekt-Objekt-Gegensatz“ bestimmt. Peter Szondi: Theorie des modernen Dramas (1880–1950). In: ders.: Schriften. Bd. 1, hg. von Jean Bollack. Berlin 2011, S. 70. Siehe auch: FranzJosef Deiters: Drama im Augenblick seines Sturzes. Zur Allegorisierung des Dramas in der Moderne. Versuch einer Konstitutionstheorie. Berlin 1999, S. 18ff. und die dort diskutierte Forschungsliteratur.

„Tertium datur.“ Peter Hacks’ sozialistische Klassik | 211

emanzipiert und zugleich nie soziabel genug“ zeigt.424 Hacks demonstriert das zu Beginn der 1960er Jahre nicht nur anhand von Moritz Tassow und Trygaios, dem Helden des Frieden. Auch in Polly, oder die Bataille am Bluewater Creek [1963] (nach John Gay) und der zweiten Fassung der Kindermörderin [1963] wertet er den Handlungsspielraum der Heldinnen auf: Polly erweist sich als durchsetzungsfähige und schlaue Frau in einer Welt von Männern; entgegen der ersten Fassung der Kindermörderin tötet Evchen Humbrecht ihr Kind nicht, sondern verlässt mit dem Kind, das sie alleine aufzuziehen plant, die sie bedrückenden Verhältnisse – beide verhalten sich „reifer, als eine Miseretheorie zulassen würde“.425

4.5.3

Die postrevolutionäre Gesellschaft der DDR

Wieso ist Brecht zu Beginn der 1960er Jahre nicht mehr zeitgemäß? Wieso stellt die DDR-Gesellschaft zum ersten Mal seit der deutschen Klassik eine andere Aufgabe an die Kunst? Was hat sich geändert? Und: Wie begründet Hacks den ästhetischen Wandel hin zur sozialistischen Klassik? Noch 1956 hatte Hacks sich gegen einen „sozialistischen Klassizismus“ als eine Form des Ausweichens vor den gesellschaftlichen Widersprüchen der Übergangsperiode gewandt. Die „vorzeitige[ ] Harmonie“, die die Grundlage einer solchen Kunst bilde, müsse notwendigerweise dazu führen, dass das Publikum „im Kunstwerk seine Zeit nicht mehr wiedererkennt“. Im Zusammenhang mit dieser scharfen Abgrenzung gegen eine affirmative, Konflikte ausblendende Literatur hatte Hacks aber zugleich eine Differenzierung vorgenommen und auf „Widersprüche zwischen dem Morgen und dem Heute“ verwiesen, denen Kunst im Rahmen einer „antizipierte[n] Harmonie“ habhaft werden könne.426 Dieser Gedankengang findet sich in einer Fußnote des Essays „Gemeinplätze über das Stückeschreiben“. Für Hacks’ ästhetische Positionierung in den 1950er Jahren hatte er keine weitere Bedeutung. Gleichwohl war hier die Möglichkeit eines anderen ästhetischen Zugriffs formuliert, der Hacks denkbar, aber nicht durchführbar erschien. Das änderte sich zu Beginn der 1960er Jahre, als nach Hacks’ Auffassung die Übergangsperiode ihrem Ende entgegenging. So markiert der classical turn einen

|| 424 HW 13, 10. 425 Schütze, S. 87. Siehe zu Polly: Albert Wertheim: Captain Macheath and Polly Peachum in the New World. John Gay and Peter Hacks. In: Maske und Kothurn 27 (1981), H. 2/3, S. 176–184 u. Bosker, 41ff. Siehe zur Kindermörderin: Kap. 3.3.2.1. 426 GüS 120.

212 | Differenzen

Bruch mit den eigenen ästhetischen Positionen und verweist gleichzeitig auf eine Entwicklung, deren Anfangsgründe bereits in der Brecht-Phase angelegt sind.427 Die Begründung der sozialistischen Klassik ist politisch, philosophisch und ökonomisch. Im Vorwort zu Das Poetische schreibt Hacks, dass nach 1961 eine Zeit begonnen habe, wo der Sozialismus seine Fähigkeit bewies, für eine moderne Industriegesellschaft zu taugen. Mittels sichtbarer Beispiele begann er zu zeigen, daß er nicht mehr nur Negation der Abscheulichkeiten des Kapitalismus war, sondern vielmehr die Aufhebung von dessen Vorzügen. [...] Dieser weit übers Jahrhundert hinausgreifende Erfolg der DDR, in Verbindung mit ihren höchst lebendigen Widersprüchen, ermöglichte die Neuentdeckung der Kunst und die Wiederaufnahme der größten ästhetischen Fragen.428

Das bedeutet, die DDR ist zehn Jahre nach ihrer offiziellen Gründung keine im Spannungsfeld von Kapitalismus und Sozialismus verharrende ‚Übergangsgesellschaft‘ mehr, sondern eine postkapitalistische und „postrevolutionäre[ ]“ Gesellschaft; die Revolution sei „kein Zweck, sondern ein Mittel“, das sich nunmehr erschöpft habe.429 Hacks konstatiert – trotz aller ‚höchst lebendigen Widersprüche‘, welche die Gesellschaft DDR weiterhin kennzeichnen – ein Ende der für den Kapitalismus strukturbildenden „antagonistische[n] Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses“, d.h. ein Ende des Widerspruchs von Kapital und Arbeit. Die Widersprüche der DDR seien nicht mehr antagonistisch, ihre Auflösung lasse sich „evolutionär[ ]“ denken.430 Auf der Grundlage dieses Fortschritts, den Hacks an anderer Stelle mit einem der dialektischen „Hauptgesetze“ als Umschlag von Quantität in Qualität beschreibt,431 nimmt || 427 In diesem Zusammenhang ist auch auf die Kontinuität der Auffassung über den positiven Helden hinzuweisen. Vgl. Hacks: Das Theater der Gegenwart, S. 128. Mit Verweis auf die Kontinuität einiger Positionen und die frühe Anlehnung an Thomas Mann (vgl. Peter Hacks: Über den Stil in Thomas Manns „Lotte in Weimar“. In: SuF 17 [1965], Sonderheft Thomas Mann, S. 240–254) hat André Thiele eine generelle Kontinuität behauptet und die These aufgestellt, Hacks wurzele „von Anfang an im Erbe der Klassik“. André Thiele: Kühnheit im Schicklichen. In: ARGOS (2009), H. 4, S. 73. Vor der Ersetzung einer Brecht-Legende durch eine Mann-Legende hat allerdings bereits Peter Schütze gewarnt. Vgl. Schütze, S. 18. 428 HW 13, 9f. 429 HW 13, 118 u. HW 14, 35. Siehe die DDR-Kritik an dieser Auffassung: Johannes Goldhahn: Zur Entwicklung des Funktionsverständnisses von Literatur bei Schriftstellern der DDR. In: WB 26 (1980), H. 7, S. 112 u. Klaus Schuhmann: Zu einigen Aspekten des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft in der sozialistischen Gegenwartsliteratur der sechziger und siebziger Jahre. In: Manfred Diersch u. Walfried Hartinger (Hg.): Literatur und Geschichtsbewußtsein. Entwicklungstendenzen der DDR-Literatur in den sechziger und siebziger Jahren. Berlin/Weimar 1976, S. 95ff. 430 MEW 13, 9 u. HW 13, 35. Andrea Jäger erkennt hierin eine Verweigerung der „analytischen Kenntnisnahme der Realität“, die ein „beschönigendes Bild der DDR“ ergebe. Nach Jägers Verständnis läuft die Aufhebung eines gesellschaftlichen Widerspruchs unterschiedslos auf „eine Gewaltfrage, eine Frage der Macht“ hinaus. Jäger: Der Dramatiker Peter Hacks, S. 81f. 431 MEW 20, 307. Vgl. HW 13, 22.

„Tertium datur.“ Peter Hacks’ sozialistische Klassik | 213

Hacks einige maßgebende Ableitungen vor, die als Prämissen der sozialistischen Klassik beschrieben werden können. In diesem Zusammenhang lassen sich im Wesentlichen drei Komplexe ausmachen, die im Folgenden näher erläutert werden: (1.) die Autonomie der Kunst; (2.) die potentielle Souveränität des Subjekts und (3.) die klassische Lage der Gesellschaft.

4.5.4

Die Autonomie der Kunst

Eine revolutionäre Haltung, die für Brecht noch ein „Grundverhalten gegenüber der Gesellschaft“432 war, werde im Sozialismus kontraproduktiv, ebenso werde die Notwendigkeit der Aufklärung als ein Zweck der Kunst, die Hacks für die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts noch anerkennt, obsolet. AutorInnen müssten nicht mehr literarisch engagiert oder kritisch, Texte nicht mehr informationsorientiert sein; vielmehr könne und dürfe Kunst ihren vormals kritischen Zweck überschreiten, indem sie sich als Eigenes erkenne und ihre Berechtigung aus sich selbst heraus nehme. Hacks konstatiert eine Autonomie der Kunst (Zweckfreiheit bzw. Polyfunktionalität und „Eigengesetzlichkeit“),433 die im Sinne des Klassischen über das Kriterium der „Perfektion“ und der Vollendung, allein aus der Orientierung an „künstlerischen Gesichtspunkten“, begründet wird.434 Damit stellt Hacks sich unmissverständlich gegen den im Rahmen des Bitterfelder Weges noch einmal potenzierten Utilitätsanspruch der Kulturpolitik wie überhaupt gegen jedes politische künstlerische Engagement: „Offenkundige Mißstände verlangen politische Lösungen, nicht poetische.“435 Behauptet wird damit aber kein anti-politisches, weltabgewandtes L’art pour l’art-Programm. Hacks’ Auffassung der ästhetischen Eigengesetzlichkeit kann vielmehr feldsoziologisch verstanden werden: Die Erkenntnis- und Handlungsbereiche des Feldes der kulturellen Produktion unterscheiden sich von den Feldern Wissenschaft und Politik und sind notwendigerweise

|| 432 Mittenzwei: Antikerezeption, S. 554. 433 HW 13, 54. Hacks spricht 1973 im „Versuch über das Libretto“ davon, dass Literatur jenseits des „Mündigwerden des Menschen“ „keine Zwecke“ habe und „vom Begriff der Zweckmäßigkeit überhaupt“ absehen sollte. HW 14, 35. Darunter ist allerdings nicht zu verstehen, dass Kunst überhaupt kein Zweck zukomme, sondern dass die „verschiedenen Zwecke“ (HW 13, 107) – d.h. „Abbildung, Vermittlung von Haltung[en]“ und „Schönheit“ (Felix Bartels: Selbst auf den Schultern der Gegner. Der Klassikbegriff von Peter Hacks im Umriß. In: Topos [2010], H. 34, S. 38f.) – nur zur Geltung kommen können, wenn sie nicht dominant auftreten, weshalb Zweckfreiheit und Polyfunktionalität hier gemeinsam genannt werden. Siehe zur Kritik an Hacks’ Position: Dieter Schlenstedt: Wirkungsästhetische Analysen. Poetologie und Prosa in der neueren DDR-Literatur. Berlin 1979, S. 128ff. 434 HW 13, 22 u. HW 13, 63. 435 HW 13, 9.

214 | Differenzen

unvereinbar.436 Während AutorInnen in ihrer ästhetischen Praxis „unter keinen Umständen die Kunst verraten“ dürften, sollten sie sich zugleich als BürgerInnen nicht unpolitisch verhalten.437 Hacks verdeutlicht diesen Widerspruch mittels der beiden Leitzitate seines Essays „Das Poetische“ [1966], indem er auf Louis Fürnbergs berühmte Verse aus dem „Lied der Partei“ [1949] („Die Partei, die Partei, / Die hat immer recht“) Friederike Kempners nicht minder programmatische Verse („Die Poesie, die Poesie, / Die Poesie hat immer recht“) folgen lässt und beide Aussagen aneinander relativiert.438 Bereits 1961 hatte Hacks sich bei einem P.E.N.-Gespräch in Hamburg „für nichtengagierte Literatur von engagierten Literaten“ ausgesprochen; während er an der „antiimperialistische[n] Profession“ von AutorInnen festhielt, wandte er sich gleichzeitig gegen einen unmittelbar politisches Engagement der Kunst.439 Grundlage dieser Position ist das Axiom der nicht-antagonistischen Widersprüche: Der Sozialismus ermögliche nicht nur den Verzicht auf eine didaktisch orientierte Literatur, sondern auch eine Klassik „ohne […] restaurative oder apologetische Züge“.440 Mussten AutorInnen vorher eine Entweder-oder-Entscheidung zwischen dem „Bedürfnis der Zeit“ (Didaxe, politisches Zeitstück, Avantgarde usw.) und dem „Bedürfnis des Genres“ (Angemessenheit ästhetischer Mittel) treffen, so könne die sozialistische Klassik, das zumindest ist der proklamierte Anspruch, den Widerspruch vermitteln und die revolutionäre Tradition in sich aufheben.441 Die Distanzierung von der Brecht’schen Aufklärung und einer revolutionär intendierten Kunst impliziert auch das Bild eines Publikums, das bereits um die gesellschaftlichen Gesamtzusammenhänge weiß und nicht belehrt, sondern unterhalten werden will. Hacks lässt zwar keinen Zweifel daran, dass ein solches „sozialistisches Publikum“ noch nicht existiert, er sieht sich aber berechtigt, es vorwegzunehmen; er geht von einer Entwicklung des Publikums aus, die einerseits als Tendenz im Rahmen der Entwicklung der DDR einbegriffen sei, zugleich aber durch ,Überforderung‘ und ,Überholung‘ von AutorInnenseite vorangetrieben werden könne.442

|| 436 Vgl. FR 28 u. HW 13, 206. 437 HW 13, 153. 438 Louis Fürnberg: Gedichte 1946–1957, hg. von Lotte Fürnberg u. Gerhard Wolf. Berlin/Weimar 1965 (Gesammelte Werke in sechs Bänden. Bd. 2), S. 218 u. Friederike Kempner: Dichterleben, Himmelsgabe. Sämtliche Gedichte, hg. von Nick Barkow u. Peter Hacks. Berlin 1989, S. 246. Vgl. HW 13, 100. 439 Zit. n.: Jens Thiel (Hg.): Ja-Sager oder Nein-Sager. Das Hamburger Streitgespräch deutscher Autoren aus Ost und West 1961. Eine Dokumentation. Berlin 2011, S. 290 u. Peter Hacks: Äußerung zum Angriffskrieg gegen Vietnam. In: ders.: Hacks als solcher. Manuskript. München 1972, S. 11. 440 HW 13, 35. 441 HW 14, 36. Siehe zur Aufhebung: HW 13, 34. 442 HW 13, 32.

„Tertium datur.“ Peter Hacks’ sozialistische Klassik | 215

4.5.5

Anschaulichkeit als Voraussetzung der Souveränität des Helden

Vor dem Hintergrund des Axioms der nicht-antagonistischen Widersprüche wird die Welt „poetisierbar“. Zwar funktioniere auch die DDR-Gesellschaft als moderne Industriegesellschaft weiterhin arbeitsteilig und lasse sich kaum naiv betrachten. Sie entspreche keineswegs einer „poetischen Welt“. Von der „Industriewelt“ der bürgerlichen Gesellschaft unterscheide sie sich aber „in der Tendenz“.443 Nicht nur ihre gesellschaftliche Beschaffenheit sei eine andere, auch die „Anschaulichkeit“444 der Verhältnisse sei wesentlich größer als im fortgeschrittenen Kapitalismus: Natürlich sind sehr verwaltete Länder nicht eben naturwüchsig, aber die Verhältnisse, wie sie jetzt sind, sind doch durchsichtiger, als sie seit zweihundert Jahren waren. Die Macht ist nicht namenlos; wer vorgibt, sie auszuüben, übt sie gewöhnlich auch aus. Ja, die Rangleiter der Macht wird sogar gern durch ein gewisses Brauchtum ihres Auftretens, eine Art Hofsitte, sinnfällig hergezeigt, was doch verrät, daß keine geheimen und eigentlichen, nämlich wirtschaftlichen Gewalten hinter ihrer Außenseite sich verbergen. Die Herrschaft wie die Kämpfe der Klassen erscheinen ziemlich offen als solche; die Taten der Mächtigen sind in Wirklichkeit Taten und haben voraussehbare Folgen.445

Aus dieser Anschaulichkeit leitet sich auch die Aufwertung des „subjektiven Faktor[s]“ ab. Der Handlungsspielraum dramatischer HeldInnen wird größer veranschlagt; er ist nicht mehr Ausdruck einer „Illusion“, wie das noch für das frühbürgerliche Drama galt. Damit zielt Hacks aber nicht auf eine Verabsolutierung der SubjektPosition, sondern – wie bereits bei der Analyse von Moritz Tassow zu sehen war –, auf eine Subjekt-Objekt-Dialektik, die „freies menschliches Handeln“ als „Einsicht in die Notwendigkeit“ vermittelt.446 Wie bei der Setzung des sozialistischen Publikums geht Hacks nicht davon aus, dass ein freies Handeln in der DDR bereits möglich sei, sondern dass die Beschaffenheit ihrer Verhältnisse – und hier sind in erster Linie die durch die Abschaffung des Privateigentums egalisierten ökonomischen Verhältnisse gemeint – einen Vorgriff im Sinne einer Extrapolation erlaube, d.h. die sozialistische Gesellschaft „liefert die Helden nicht frei Haus, sondern […] legitimiert […] deren künstlerische Konstruktion“.447

|| 443 HW 13, 101. 444 HW 14, 46. 445 HW 14, 36f. 446 Alle Zitate: HW 13, 26. 447 Fischborn: Peter Hacks und Heiner Müller, S. 94. Hacks unterscheidet als Marxist zwischen „Erzeugungsverhältnissen“ (Produktionsverhältnissen) und „Staatsverhältnissen“, d.h. zwischen Basis und Überbau. Aus Ersteren leitet die Kunst nach Hacks ihre „Hochrechnungen“ (HW 14, 276) ab, da in ihnen eine latente „Bewußtseinshöhe“ angelegt sei. Ronald M. Schernikau: Dann hätten wir noch eine Chance. Briefwechsel mit Peter Hacks. Hamburg 1992, S. 22 (Peter Hacks an Ronald M. Schernikau, 30. April 1987).

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4.5.6

Der sozialistische Absolutismus als politische Basis der sozialistischen Klassik

Dass Hacks „die Poesie als Gegenprätendenten“448 der Prosa aufstellt, geht allerdings über die Bestimmung der ‚Anschaulichkeit‘ hinaus. Wenn Hacks einer klassischen Haltung das Vermögen zur „Totalität“ zuschreibt, so meint das nicht nur, Gesellschaft überhaupt in den Blick nehmen zu können, sondern behauptet eine Perspektive über den gesellschaftlichen Widersprüchen jenseits der „Armut naiver Parteilichkeit“.449 Damit ist auf einen weiteren Bedeutungsgehalt des Klassikbegriffs verwiesen. Hacks schreibt: Kunst, um Kunst zu sein, braucht, außer Widersprüchen, auch eine sinnlich faßbare Einheit derselben, wie das die griechische Polis war, der englische Absolutismus oder [...] die deutsche Hoffnung auf einen bürgerlich-feudalen Klassenkompromiß.450

Hacks definiert als Bedingung klassischer Kunst „eine mehr oder weniger stabile[ ] Harmonie aller politisch gewichtigen Klassen“, eine „klassische Lage der Gesellschaft“, wie es später bündig heißt.451 Eine solche ‚Lage‘ sei aus künstlerischer Perspektive zustimmungsfähig, da sie im eigentlichen Sinne erst dramatische Objektivität und Gerechtigkeit ermögliche.452 Damit erweist sich ‚Klassik‘ nicht allein als ästhetischer Normbegriff, sondern als Phänomen einer gesellschaftlichen Konstellation, als ästhetischer Überbau eines spezifischen politischen Unterbaus. Die historische Analogie, die Hacks zunächst literarhistorisch herstellt, wenn er die Geschichte der Literatur der DDR mit der des achtzehnten Jahrhunderts parallelisiert, ist demnach eine doppelte, sie gilt auch für die (staats-)politischen Verhältnisse der DDR. Wie ist das zu verstehen? Welche strukturellen Ähnlichkeiten weisen Sozialismus und Absolutismus auf? Von welcher ‚stabilen Harmonie‘ ist die Rede? Um diese Fragen zu beantworten, ist ein Exkurs über Absolutismus und Sozialismus notwendig, der auf Hacks’ Staatstheorie und deren Bedeutung für seine Ästhetik verweist. In seiner Deutschen Gesellschaftsgeschichte beschreibt Hans-Ulrich Wehler die politische Herrschaftsform der DDR unter Rückgriff auf Max Weber als einen „modernen Sultanismus“, eine traditionelle, patriarchal-autoritäre Form der „Alleinherr-

|| 448 HW 13, 101. 449 HW 13, 9. Siehe auch: HW 13, 76. 450 HW 13, 9. Siehe auch: HW 13, 30. 451 HW 13, 32 u. HW 13, 131. 452 Hacks spricht von „Zeiten, die gebilligt werden können“. HW 13, 29. 1977 heißt es dann deutlicher: „Zum Wesen der Klassik gehört Affirmation, verstanden als Bejahung der menschlichen Möglichkeiten“. BD 2, 269.

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schaft“, die durch Willkür und „absolutistischen ideologischen Hegemonialanspruch“ von rationalen Formen der Herrschaft unterschieden sei.453 Chiffrenartige Vergleiche solcher Art, bei denen der DDR „feudal-absolutistische Elemente“ oder Ähnlichkeiten zum „aufgeklärten Absolutismus eines Friedrich II.“ oder zum „ancien régime“ attestiert werden, finden sich in der Sekundärliteratur häufig.454 In der Regel dienen sie der metaphorischen Distanzierung; der Verweis auf den Absolutismus bekräftigt die Anti-Modernität und Regressivität der Herrschaftsweise in der DDR. Die Ähnlichkeit, die Peter Hacks zwischen Sozialismus und Absolutismus erkennt, zielt genau auf das Gegenteil. Hacks versteht unter Absolutismus eine historisch übergreifende Form der Herrschaft, deren wesentliches Kennzeichen das relative Gleichgewicht sozialer Gruppen gegenüber der königlichen Herrschaft bzw. die große Souveränität der HerrscherInnen diesen Gruppen gegenüber ist.455 Ein zentrales Element des Absolutismus ist nach Hacks’ Ansicht die Vermittlungsleistung des Königtums zwischen den Klassen (Adel und Bürgertum). Diese sei Ausdruck der Loslösung des Königtums aus seiner Abhängigkeit vom Adel und stehe für eine relative Unabhängigkeit der Königsposition und des absolutistischen Staates. So heißt es im „Versuch über das Theaterstück von morgen“:

|| 453 Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bundesrepublik und DDR 1949–1990. Bonn 2009, S. 417, 355 u. 417. Siehe zum Begriff des Sultanismus: Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Tübingen 1980, S. 133f. 454 Jürgen Kuczynski, zit. n.: Lothar Mertens: Rote Denkfabrik? Die Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED. Münster 2004, S. 21; Hans-Jürgen Wagener u. Helga Schultz: Ansichten und Einsichten. Einleitung. In: dies. (Hg.): Die DDR im Rückblick. Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur. Berlin 2007, S. 17 u. Erbe: Die verfemte Moderne, S. 191. Vgl. auch Rudolf Bahro: Die Alternative. Zur Kritik des real existierenden Sozialismus. Köln u.a. 1977, S. 27 u. Wolfgang Emmerich: Affirmation – Utopie – Melancholie. Versuch einer Bilanz von vierzig Jahren DDR-Diktatur. In: German Studies Review 14 (1991), H. 2, S. 323. 455 Hacks betont später, dass das Gleichgewicht relativ ist, und dialektisch verstanden werden müsse: „Mit Gleichgewicht kann eigentlich nicht mehr gemeint sein, als daß da, wie stark jede Partei auch immer ist, keine in der Lage ist, die andere auszurotten, und aufgrund dieser Konstellation eine Königsmacht sich etablieren konnte.“ BD 2, 293. Ein solches Gleichgewichtsmodell des Absolutismus, das auf eine staatliche Figur des Tertius gaudens hinausläuft, findet sich auch bei David Hume, Montesquieu und Adam Smith. Vgl. Raimund Ottow: Markt – Republik – Tugend. Probleme gesellschaftlicher Modernisierung im britischen politischen Denken 1670–1790. Berlin 1996, S. 225. In der neueren Historiographie ist ein solches Bild des Absolutismus als „historiographische Chimäre“ beurteilt worden. Heinz Duchhardt: Absolutismus – Abschied von einem Epochenbegriff? In: Historische Zeitschrift 258 (1994), S. 119; siehe vor allem: Nicholas Henshall: The Myth of Absolutism. Change and Continuity in early modern European Monarchy. London 1992. Siehe zur neueren historiographischen Debatte über den Absolutismus: Jaana Eichhorn: Geschichtswissenschaft zwischen Tradition und Innovation. Diskurse, Institutionen und Machtstrukturen der bundesdeutschen Frühneuzeitforschung. Göttingen 2006, S. 199ff.

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Der Absolutismus Elizabeths war während einer sehr kurzen Dauer für alle Klassen akzeptierbar, für den handeltreibenden Adel wie für das noch kaum industrialisierte Bürgertum. Er entsprach den ökonomischen und den nationalen Interessen aller. Die elizabethanische Gesellschaft enthielt ihre antagonistischen Widersprüche, wie alle bisherigen Gesellschaften, aber dieselben kämpften nicht; sie bildete […] [e]ine Einheit von antagonistischen Widersprüchen im Zustand der Ruhe.456

Dass Hacks gerade 1960 eine solche Konstellation als gesellschaftliche Grundlage für Shakespeares Dramen beschreibt, ist kein Zufall, sondern vorläufiges Ergebnis einer Diskussion mit André Müller sen., die ihren Ausgangspunkt in zwei marxistischen literaturwissenschaftlichen Monographien hat: Robert Weimanns Drama und Wirklichkeit in der Shakespearezeit und Jaroslav Pokornýs Shakespeares Zeit und das Theater.457 Weimann beschreibt in seiner sozialhistorisch ausgerichteten Untersuchung, „warum das größte Theater der Neuzeit gerade in England im letzten Drittel des sechzehnten Jahrhunderts emporblühte“ und führt das auf den Absolutismus und dessen spezifische gesellschaftliche Funktionsweise zurück, die einem „‚Laboratorium‘“ gleichgekommen sei. Die Tudor-Herrschaft (1485-1603) müsse als „Übergangsperiode“ zwischen Feudalismus und Kapitalismus aufgefasst werden, die sich wesentlich durch ein „zeitweilige[s] Gleichgewicht zwischen der alten und der neuen Produktionsweise, zwischen dem erstarkenden Bürgertum und der geschwächten Feudalaristokratie“ auszeichne. Im Rahmen dieses „Klassengleichgewicht[s]“ sei der absolutistische Staat „nicht ohne weiteres mit der Herrschaft der einen, noch mit der der anderen Klasse identisch“, sondern markiere als Vermittler eine Position der Selbständigkeit. Die daraus resultierende gesellschaftliche und politische Stabilität habe „zutiefst das Antlitz der gesamten Epoche“ geprägt und „deren charakteristische geistige Leistungen“ ermöglicht.458 Robert Weimann folgt in seiner Analyse den „mehr oder weniger unbestimmt[en] und nur andeutend[en]“ Ansichten von Marx und Engels über den Absolutismus.459 || 456 HW 13, 30. 457 Vgl. Robert Weimann: Drama und Wirklichkeit in der Shakespearezeit. Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte des elisabethanischen Theaters. Halle/Saale 1958 u. Jaroslav Pokorný: Shakespeares Zeit und das Theater. Berlin 1959. Die Absolutismus-Diskussion geht auf die Beschäftigung mit Shakespeare zurück (vgl. GmH 14), die von Weimann und Pokorný „eingeleitet“ wurde. Peter Hacks an Robert Weimann, 23. Juni 1983, DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit Robert Weimann. Siehe auch: André Müller: Lesarten zu Shakespeare. Berlin/Weimar 1969. 458 Weimann: Drama und Wirklichkeit in der Shakespearezeit, S. 7, 90, 34, 34, 40, 38, 40 u. 40. Siehe auch: Robert Weimann: Shakespeare und die Tradition des Volkstheaters. Soziologie, Dramaturgie, Gestaltung. Berlin 1967, S. 272ff. Pokorný argumentiert im Vergleich zu Weimann weniger wissenschaftlich, zielt aber in die gleiche Richtung: Die Politik des „Tudor-Absolutismus“ habe „sowohl den Interessen der Bourgeoisie als auch denen der neuen Aristokratie“ entsprochen, so dass man von einer „Regierung des Klassenbündnisses“ und von einer Situation sprechen könne, in welcher die HerrscherInnen „erhaben über den Parteien und den Klassen“ agiert hätten. Pokorný, S. 46ff. 459 Perry Anderson: Die Entstehung des absolutistischen Staates. Frankfurt/M. 1979, S. 18.

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Friedrich Engels hatte 1884 darauf aufmerksam gemacht, dass es „[a]usnahmsweise“ historische Perioden gebe, „wo die kämpfenden Klassen einander so nahe das Gleichgewicht halten, daß die Staatsgewalt als scheinbare Vermittlerin momentan eine gewisse Selbständigkeit gegenüber beiden erhält“, und damit die absoluten Monarchien im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert sowie den Bonapartismus zu beschreiben versucht. Eine tatsächliche Selbständigkeit behauptete Engels damit nicht. Der Verweis auf den Ausnahmecharakter und das Adjektiv ‚scheinbar‘ machen vielmehr deutlich, dass der wesentliche Charakter des absolutistischen Staates darin liege, den Übergang für die Herrschaft der Bourgeoisie zu organisieren.460 Während die marxistische Forschung und die offizielle sozialistische Auffassung in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts dazu übergingen, die klassenmäßige Selbständigkeit des absolutistischen Staates für gering bzw. diesen als ein „erneuertes System der Feudalherrschaft“ und als „höchste Entwicklungsstufe des feudalen Staates“ zu betrachten,461 hielt Hacks vor dem Hintergrund eigener Beobachtungen der DDR-Gesellschaft an dem bei Weimann und Pokorný vorgefundenen Absolutismus-Bild fest, zumal sich dieses nicht nur „über Shakespeare“, sondern, wie zu sehen sein wird, „konkret über Ulbricht“ herleitet.462 Die Fragen nach der von Engels betonten Ausnahme und den vom absolutistischen Staat vertretenen Interessen berühren den Kern der Hacks’schen Absolutismusvorstellung. Hier liegt die Differenz, die Hacks’ Position nicht nur vom klassischen Marxismus, sondern auch von der großen Mehrzahl seiner ZeitgenossInnen unterscheidet. Nach Marx sind die Revolutionen „die Lokomotiven der Geschichte“; sie sind als Ausdruck von Klassenkämpfen die eigentlichen Triebkräfte der historischen Veränderung.463 Einem solchen Verständnis zufolge lässt sich der Absolutismus zwar als Übergangsperiode anerkennen, ihm kommt aber nur insofern Wert zu, als er die bürgerliche Revolution und somit den Wechsel von einem Produktionsverhältnis zu einem anderen vorbereitet. Hacks widerspricht dieser Auffassung nicht. Auch er folgt dem marxistischen teleologischen Modell historischer Entwicklungsstufen, aber er schreibt dem Absolutismus aufgrund seiner Vermittlertätigkeit einen eigenen Wert zu. In historischen Situationen, in denen keine der antagonistischen

|| 460 MEW 21, 167. Siehe auch: MEW 17, 336. 461 Anderson, S. 20 u. VEB Bibliographisches Institut Leipzig: Meyers Neues Lexikon. Bd. 1. Leipzig 1971, S. 47. Einschränkend wurde aber ergänzt, dass der absolutistische Staat faktisch „die Entwicklung der bürgerlichen Ökonomie“ (S. 48) vorangetrieben habe. – Siehe den Abriss der marxistischen Absolutismus-Debatte bei: Peter H. Wilson: Absolutism in central Europe. London u.a. 2000, S. 22ff. 462 GmH 58. Sowohl die historische als auch die zeitgenössische Herleitung übersieht Andrea Jäger, wenn sie urteilt, Hacks füge den Absolutismus in sein „Kunstgesetz“ (Jäger: Der Dramatiker Peter Hacks, S. 230) ein; unabhängig von der Richtigkeit der Hacks’schen Absolutismus-Sicht funktioniert die Herleitung genau umgekehrt. 463 MEW 7, 85. „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen“, heißt es im „Manifest der Kommunistischen Partei“. MEW 4, 462.

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Klassen stark genug sei, die Macht zu erobern, funktioniere der absolutistische Staat zum Besten aller, indem er eine ruhige Entwicklung garantiere. Das bedeutet, der Politik kommt eine, nicht lediglich von der Ökonomie abgeleitete, sondern eigenständige Funktion zu. Sie sorge für eine ‚stabile Harmonie‘, auf deren Grundlage die Kunst sich besser entwickeln könne als in revolutionären Zeiten, die Parteilichkeit erforderten. Solche historischen Misch- bzw. Übergangssituationen erkennt Hacks nicht nur in weiten Teilen der Frühen Neuzeit sowie im Bonapartismus, sondern auch in der Herrschaft Bismarcks oder in der russischen Doppelherrschaft während des Jahres 1917.464 Mit dem letzten Beispiel wird offenbar, dass die durch staatliche Herrschaft vermittelten Gleichgewichtsphasen bisweilen von sehr kurzer Dauer und geringer Stabilität sind. Hacks lässt dennoch keinen Zweifel daran, dass sie keineswegs die historische Ausnahme, sondern die Regel bilden und deshalb als eigenständige historische Phasen ernst genommen werden müssen.465 Eine solche absolutistische Mischform, die im Unterschied zum historischen Absolutismus „stabiler“466 sei, erkennt Hacks auch im Sozialismus der DDR wieder. Entscheidend für diese Sichtweise ist seine Einschätzung der Politik Walter Ulbrichts und des Neuen Ökonomischen Systems der Planung und Leitung (NÖS), das Hacks neben der Bodenreform, der Enteignung der Bourgeoisie und der Kollektivierung zu den „vier großen revolutionären Ereignissen“ der DDR zählt und welches „die historische Stelle“ markiert, „wo der Sozialismus […] sich steigert zur Aufhebung aller geschichtlichen Leistungen vor ihm“.467 Mit den im Sommer 1963 verabschiedeten ersten Richtlinien für das NÖS reagierte die SED-Führung unter Walter Ulbricht auf die katastrophale wirtschaftliche Lage der DDR. Mittels einer Reform der Planwirtschaft bzw. deren Ergänzung durch sogenannte ökonomische Hebel (marktwirtschaftliche Elemente wie Gewinnorientierung der Betriebe, eigenständige Rechnungsführung, angebotsorientierte Preise und materielle Leistungsanreize), einer umfassenden wissenschaftlich-technischen Erneuerung in Forschung und Produktion (,wissenschaftlich-technische Revolution‘) sowie der Förderung einiger moderner Schlüsselindustrien sollte die DDR-Wirtschaft effektiver und konkurrenzfähiger werden und der Sozialismus seine Tauglichkeit auch auf ökonomischen Gebiet beweisen. Letztlich sollte so die wirtschaftlich potentere BRD doch noch ‚eingeholt‘ werden. In diesem Sinne wurden die starren Planvorgaben ab

|| 464 Die erwähnten Beispiele nennt Hacks 1977 bei einer Diskussion in der AdK. Vgl. BD 2, 268. Siehe auch: HW 13, 314ff. 465 „[D]er Normalzustand der Menschheit […] sind Gesellschaften, in denen irgendeine Art von Kompromissen geschlossen werden und in denen die Kämpfe nicht in unmittelbaren, grundlegenden Änderungen entschieden werden.“ BD 2, 270. Siehe auch: HW 13, 316. 466 HW 13, 34. 467 HW 13, 89.

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1964 schrittweise zurückgenommen und den Betrieben mehr Entscheidungskompetenzen zugesprochen; zugleich sollten die ArbeiterInnen nicht mehr mittels ideologischer Kampagnen, sondern mit Hilfe materieller Anreize zu einer höheren Arbeitsproduktivität gebracht werden.468 Mit dem Übergang vom Primat der Ideologie zum Primat der Ökonomie und Wissenschaft ging auch eine Kritik der bisherigen SED-Politik einher. So mahnte Ulbricht bereits Ende 1961 an, „die Arbeit der leitenden Organe qualitativ zu verbessern“,469 und das bedeutete: in Richtung auf eine den ökonomischen Herausforderungen angemessene wissenschaftliche und fachliche Ausbildung. Nicht politische Zuverlässigkeit und lange Parteizugehörigkeit, sondern Sachkompetenz und Kreativität zählten fortan zu den aufstiegsrelevanten Qualifikationen.470 Dementsprechend wurden das NÖS sowie die parallel dazu erfolgenden gesellschaftspolitischen Reformen der 1960er Jahre (Jugendpolitik, Familiengesetzbuch, Hochschulreform, Strafrechtsreform, neue Verfassung) von zahlreichen Kommissionen erarbeitet, deren Mitglieder zumeist der jüngeren, an den Hochschulen ausgebildeten Generation angehörten, was „das Netz linientreuer, aber inkompetenter Funktionäre sprengte“471 und zu Widerstand innerhalb der SED führte. In diesem Prozess, der vor allem zu anfangs eine gesellschaftliche Aufbruchstimmung auslöste, nahm Walter Ulbricht eine Schlüsselrolle ein. Er stand „von Anbeginn an der Spitze der Reformbestrebungen“ und setzte das NÖS unter Verweis auf die Alternativlosigkeit der Situation gegen Teile der ‚Konservativen‘ (d.h. der Partei-Linken), die weiterhin für das alte Modell der ideologisch angeleiteten Planwirtschaft votierten, durch.472 Das gelang nicht zuletzt, weil Ulbrichts Position an der Spitze von Staat und Partei seit Ende der 1950er Jahre unangefochten war. In den 1960er Jahren glich die DDR unter dem nach dem Tod des Präsidenten Wilhelm Pieck im September

|| 468 Siehe zum NÖS: Jörg Roesler: Zwischen Plan und Markt. Die Wirtschaftsreform in der DDR zwischen 1963 und 1970. Berlin 1990 u. André Steiner: Die DDR-Wirtschaftsreform der sechziger Jahre. Konflikt zwischen Effizienz- und Machtkalkül. Berlin 1999. Siehe auch den Forschungsüberblick bei: Jörg Roesler: Unterschiedliche Ansätze zur wissenschaftlichen Aufarbeitung des NÖS in den 90er Jahren. In: Helle Panke e.V. (Hg.): „… eine spannende Periode in der Wirtschaftsgeschichte der DDR“. Entstehen und Abbruch des Neuen Ökonomischen Systems in den sechziger Jahren. Beiträge eines Workshops am 27. Januar 2000. Teil 1. Berlin 2000, S. 5–14. 469 Zit. n.: Norbert Podewin: Walter Ulbrichts späte Reformen und ihre Gegner. Berlin 1999, S. 24. 470 Siehe zu Ulbrichts Kritik an der Arbeit des Parteiapparats und den Veränderungen innerhalb der Struktur der SED ab 1962: Kaiser, S. 37ff. u. Andreas Malycha u. Peter Jochen Winters: Geschichte der SED. Von der Gründung bis zur Linkspartei. Bonn 2009, S. 160ff. Siehe allgemein zu den Ulbricht’schen Reformen der 1960er Jahre: Staritz, S. 211ff.; Podewin: Walter Ulbrichts späte Reformen u. Stefan Wolle: Aufbruch nach Utopia. Alltag und Herrschaft in der DDR 1961–1971. Bonn 2011, S. 143ff. 471 Malycha u. Winters, S. 162. 472 Kaiser, S. 61. Siehe auch: Mario Frank: Walter Ulbricht. Eine deutsche Biografie. Berlin 2003, S. 372ff.

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1960 neugegründeten und ganz auf Ulbricht zugeschnittenen Staatsrat de facto einem „Präsidialsystem unter Führung Ulbrichts“, da es diesem gelungen war, wichtige Entscheidungsbefugnisse von der SED auf den Staatsrat zu übertragen.473 Wie sich im Laufe der 1960er Jahre zeigte, verband Ulbricht mit den Reformen mehr als nur eine kurzfristige Modernisierung des Sozialismus: Entgegen der Einschätzung Nikita S. Chruschtschows, der im Oktober 1961 den Eintritt der Sowjetunion in das Zeitalter des Kommunismus auf das Jahr 1980 terminiert hatte, erklärte Ulbricht den Sozialismus nunmehr zu einer langandauernden Übergangsphase, zur „relativ selbständigen sozialökonomischen Formation in der historischen Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Kommunismus im Weltmaßstab“474. Mit dem auf dem VII. Parteitag der SED im April 1967 vollzogenen Namenswechsel vom NÖS zum ÖSS (Ökonomisches System des Sozialismus) kam dem Sozialismus als „entwickelte[m] gesellschaftlichen System des Sozialismus“ fortan und entgegen der orthodoxen Auffassung einer relativ kurzen Übergangsphase in den Kommunismus ein eigenständiger Systemcharakter zu.475 Erkannte Heiner Müller in Ulbrichts Erklärung des Sozialismus zu einer langen Übergangsphase lediglich die Suspendierung der marxistischen Utopie und „die Heiligsprechung der deutschen Misere“,476 so erblickte Peter Hacks hierin den Ausdruck einer realistischen Politik in Absetzung von einer utopischen Vorstellung des Kommunismus, die, wie im Fall von Chruschtschows exakter Datierung des Kommunismus auf das Jahr 1980, nicht mehr sein könne als eine Schimäre. Wie der von Weimann und Pokorný beschriebene Absolutismus der Tudors als gesellschaftlich ruhige Übergangsphase zum Kapitalismus sich qualitativ nicht in seiner Übergangsfunktion erschöpfe, bilde auch der Sozialismus als langsamer Übergang in den Kommunismus seine eigenen Funktionslogiken aus, die sich nicht in einer ,Diktatur des Proletariats‘ erschöpften, also mehr seien als eine „beschränkte[ ] Verneinung der Ausbeutergesellschaft“477.

|| 473 Mathias Bertram: Enzyklopädie der DDR. Personen, Institutionen und Strukturen in Politik, Wirtschaft, Justiz, Wissenschaft und Kultur. Berlin 2000 (Digitale Bibliothek. Bd. 32), S. 9844. Mario Frank spricht von einem „eigens für Ulbricht geschaffene[n] und auf ihn zugeschnittene[n] Staatsorgan“. Frank: Walter Ulbricht, S. 335. 474 Walter Ulbricht: Die Bedeutung des Werkes „Das Kapital“ von Karl Marx für die Schaffung des entwickelten gesellschaftlichen Systems des Sozialismus in der DDR und den Kampf gegen das staatsmonopolistische Herrschaftssystem in Westdeutschland. Internationale wissenschaftliche Session: 100 Jahre „Das Kapital“. Berlin, 12./13. September 1967. Berlin 1967, S. 38. Siehe zur KommunismusDatierung: KPdSU: Programm und Statut der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. Angenommen auf dem XXII. Parteitag der KPdSU 17. bis 31. Oktober 1961. Berlin 1961, S. 62f. 475 Walter Ulbricht: Zum ökonomischen System des Sozialismus Bd. 2. Berlin 1968, S. 242. 476 KoS 157. 477 HW 13, 89.

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Die Feststellung einer gesellschaftlich-typologischen Eigenständigkeit ist aber nicht die einzige Analogie, die Hacks zwischen historischem Absolutismus und Sozialismus herstellt. Nimmt man Hacks’ Bestimmungen der Klassenverhältnisse im Sozialismus, respektive seine Staatstheorie, genauer in den Blick, so erweist sich der Sozialismus als Spiegelung des historischen Absolutismus unter anderen Vorzeichen. Absolutismus und Sozialismus weisen demnach eine „Ähnlichkeit der Konfiguration ihrer gesellschaftlich wirkenden Kräfte“ auf.478 Der bereits im Zusammenhang mit der Umsiedlerin-Affäre erwähnte Text „Ekbal, oder: Eine Theaterreise nach Babylon“ ist in dieser Hinsicht aufschlussreich. Dort erklärt der Theatereunuch dem fremden Besucher Ekbal wie die babylonischen Staatsverhältnisse funktionieren. Über den beiden verfeindeten „Zünfte[n]“ der Lanzenreiter und der Kupferschmiede stehe der König, der auf beide angewiesen sei und beide gegeneinander ausspiele. Das Kräftegleichgewicht der beiden Gruppen sorge für eine mehr oder weniger stabile Herrschaft und dafür, dass „Babylon blüht“: Die Kupferschmiede sorgen für ökonomischen Fortschritt (sie machen den Staat „schön und bewohnenswert“, indem sie „sich und den Staat […] bereichern“), die Lanzenreiter für ideologische Sicherheit (sie verteidigen den Staat „gegen die menschenfressenden Kilikier im Westen“).479 Das Gegeneinander der ,Zünfte‘, in denen man einerseits ein produktives und andererseits ein kämpferisches Prinzip erkennen kann, steht, so wie Babylon für die DDR steht, für das Gegeneinander der sozialistischen Klassen – der technischen Intelligenz und den im weiten Sinne des Wortes Wirtschaftskräften (Kupferschmiede) auf der einen und der Partei (Lanzenreiter) auf der anderen Seite –, deren Antagonismus durch die vermittelnde Macht Walter Ulbrichts (König) reguliert wird.480 Hacks’ Beschreibung der sozialistischen Klassen ist im Kontext der marxistischen Auffassungen über den Sozialismus höchst ungewöhnlich. Zwar setzte sich die DDR auch nach offiziellem Verständnis weiterhin aus „Klassen und Schichten“ zusammen (Arbeiterklasse, GenossenschaftsbäuerInnen, Intelligenz und PrivatproduzentIn-

|| 478 Felix Bartels: „Miteinandersichabfinden“. Zur strukturellen Ähnlichkeit von Absolutismus und Sozialismus bei Peter Hacks. In: Huth (Hg.): Vorsicht, Hacks!, S. 148. Siehe auch: Bartels: Leistung und Demokratie, S. 83ff. 479 HW 9, 63. 480 Hacks hat diese Interpretation der Klassenkonstellation unter Ulbricht später im Briefwechsel mit dem Historiker Kurt Gossweiler bekräftigt: „Wenn der alte Absolutismus dadurch gekennzeichnet war, daß der Fürst die ausgleichende und regelnde Macht über den sich hassenden herrschenden Klassen Adel und Bürgertum bildete und an der Fronde aus diesen sich hassenden Klassen litt, so bildete Ulbrichts sozialistischer Absolutismus die ausgleichende und regelnde Macht über der herrschenden sozialistischen Klasse der Intelligenz (Forscher, Planer Leiter) und der herrschenden sozialistischen Klasse des Parteiapparats.“ AEV 129 (Peter Hacks an Kurt Gossweiler, 28. August 1998). Siehe auch: GmH 62 u. BD 1, 120.

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nen); in der ,sozialistischen Menschengemeinschaft‘, in der sich „Beziehungen kameradschaftlicher Zusammenarbeit und gegenseitiger Hilfe entwickeln“, sind die von Hacks erkannten „Kämpfe der Klassen“ aber per definitionem ausgeschlossen.481 Hinzu kommt: Klassen werden im Marxismus vor dem Hintergrund ihres Verhältnisses zu den Produktionsmitteln bestimmt. Hacks’ Klassenkonzeption weicht von einem solchen materialistischen Erklärungsmuster ab. Nicht die Stellung im Produktionsprozess, sondern die Stellung und Funktion innerhalb der sozialistischen Gesellschaft werden zu relevanten Herleitungskriterien. Insofern formuliert Hacks einen politischen Klassenbegriff.482 Dieser reflektiert auch die nach Hacks widersprüchliche Form der gesamtgesellschaftlichen Arbeitsteilung in der sozialistischen Gesellschaft, vertreten die beiden Klassen doch jeweils Teil-Prinzipien des Widerspruchs von „Leistung und Demokratie“.483 Während die einen an der Entwicklung der Produktion und des Reichtums, nicht aber an dessen gerechter Verteilung interessiert sind, orientieren sich die anderen umgekehrt am Ziel der gesellschaftlichen Verteilungsgleichheit und -gerechtigkeit, wofür Hacks den Begriff der Demokratie verwendet. Das Gegeneinander der „Verteidiger der Demokratie“ und der „Verteidiger der liberalisierenden Produktivität“ erzeuge eine „Dialektik von Demokratie und Liberalität“, in der Hacks das gesellschaftliche Bewegungsgesetz des Sozialismus im Sinne eines nicht-antagonistischen Widerspruchs erkennt.484 Über der mit der Produktion von Reichtum befassten Klasse der technischen Intelligenz und der mit der Produktion von Gleichheit befassten Klasse des Parteiapparates steht Walter Ulbricht als ,aufgeklärter Absolutist‘, als ein Dritter, der die Vermittlung zwischen den sich widersprechenden Klassen mittels einer unabhängigen,

|| 481 Deutsches Institut für Zeitgeschichte (Hg.): Handbuch der Deutschen Demokratischen Republik. Berlin 1964, S. 18 u. HW 14, 37. Der Begriff ‚sozialistische Menschengemeinschaft‘ wurde 1968 auch in die neue Verfassung der DDR aufgenommen. Vgl. Verfassung der DDR vom 6. April 1968, http://www.documentarchiv.de/ddr/verfddr1968.html (zuletzt eingesehen am 3. April 2014). Der Begriff stammt ursprünglich aus den kulturrevolutionären und -pädagogischen Diskussionen der 1920er Jahre. Vgl. Richard Wagner: Der Klassenkampf um den Menschen. Menschenbildung und Vergesellschaftung. Berlin 1927. 482 Das zeigen schon die verschiedenen Bezeichnungen, die Hacks wählt; zwar spricht er zumeist von Klassen, mitunter ist aber auch von „Fraktionen“ (BD 3, 223) die Rede. Siehe auch: BD 1, 40. Siehe zum Klassenschema bei Hacks: Bartels: „Miteinandersichabfinden“; Heidi Urbahn de Jauregui: Hacks oder die Mitte. Zum Staatsdenken des kommunistischen Dichters. In: Huth (Hg.): Vorsicht, Hacks!, S. 176–185 u. Dietmar Dath u. Barbara Kirchner: Der Implex. Sozialer Fortschritt: Geschichte und Idee. Berlin 2012, S. 468ff. Siehe auch die Kritik daran: Fischborn: Peter Hacks und Heiner Müller, S. 50ff. 483 FR 23. 484 BD 1, 106f. u. 108. Vgl. Bartels: Leistung und Demokratie, S. 7ff. Die Formulierung erinnert an Hacks’ frühe Auffassung, dass der Marxismus-Leninismus eine „Synthese von äußerster Liberalität und äußerster Radikalität“ anstreben solle. Hacks: Bitte nicht erschrecken, S. 5.

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die Partikularität der jeweiligen Gruppenwillen überschreitenden Struktur leistet. Diese erkennt Hacks auf materieller Ebene im Staat (konkret im Staatsrat) und auf ideologischer Ebene im Konzept der sozialistischen Menschengemeinschaft als einer bewussten ideologischen Konstruktion, die die widersprüchlichen Verhältnisse im Interesse ihrer Steuerung überblendet – „die Lage ist nur stabil, solange sie unklar bleibt“.485 Das also ist die „sinnlich faßbare Einheit“486 der Widersprüche, auf deren Grundlage Klassik möglich sei. Dass diese Einheit keine ‚natürliche‘, sondern eine erzeugte und damit äußerst prekäre sei, entspricht der Analogisierung: „[D]er Absolutismus muß politisch hergestellt werden.“487 Damit sind die wesentlichen Voraussetzungen der sozialistischen Klassik benannt: (1.) eine postrevolutionäre Situation, die eine Autonomie der Kunst ermöglicht; (2.) postkapitalistische Verhältnisse, in denen Herrschaft weniger stark vermittelt ist und welche eine Aufwertung des Subjekts erlauben; und (3.) eine ,absolutistische‘, die gesellschaftlichen Widersprüche austarierende, politische Situation als gesellschaftliches Korrelat für dramatische Objektivität.

4.5.7

Die dramaturgisch-teleologische Perspektivierung

So zutreffend die Aussage ist, Peter Hacks habe aus dem Axiom der nicht-antagonistischen Widersprüche „weitreichende theoretische Folgerungen gezogen“,488 so unverkennbar ist doch auch, dass die ästhetischen Bestimmungen nicht einfach aus den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen gefolgert, sondern antizipiert werden.489 Schon anlässlich der Kritik an Heiner Müllers Umsiedlerin hatte Hacks bemerkt, dass die „große Form“ nicht aus der Gegenwart gewonnen werden könne, sondern „aus der Brust des Künstlers“ als Ausdruck einer „Souveränität des sozialistischen Menschen“ kommen müsse.490 Der Genese der sozialistischen Klassik haftet so ein gewisser Voluntarismus an. 1992 äußerte Hacks retrospektiv:

|| 485 HW 9, 64. Im Briefwechsel mit Kurt Gossweiler heißt es, „1. der Staatsrat, 2. das Theorem von der moralisch-politischen Einheit“ seien die „Instrumente“ gewesen, um „den Widerspruch der sich hassenden sozialistischen Klassen zu stabilisieren“. AEV 129f. (Peter Hacks an Kurt Gossweiler, 28. August 1998). 486 HW 13, 9. 487 AEV 120 (Peter Hacks an Kurt Gossweiler, 13. Juni 1998). Siehe auch: HW 14, 454f. 488 Greiner: „Zweiter Clown im kommunistischen Frühling“, S. 354. 489 „[D]ie neue Ästhetik ist älter als die neue Kulturpolitik (die erst seit der Mauer und dem Neuen Ökonomischen System datiert) und kann also nicht die Folge derselben sein.“ Peter Hacks an Henning Rischbieter, 19. Oktober 1969, DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit Th. Siehe auch: HW 13, 21. Vgl. Bartels: Leistung und Demokratie, S. 88. 490 DSV 17. Oktober 1961, Bl. 39, BKTA.

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Genau in dem Moment, wo ich also diese ästhetischen Schlüsse zog, machte dieses Land hier seine ungeheuren Sprünge zum Funktionierenden, zum Heilen und zum Guten, d.h. also: Die Gegenwart bot mir genau das an, was ich aus ästhetischen Gründen sowieso würde gemacht haben [meine Hervorhebung, R.W.].491

Im „Vorwort“ zu „Lyrik bis Mitterwurzer“ [1977] heißt es, klassische Kunst untersuche, „inwieweit die Zeit zur Kunst“ passe.492 Bedeutet das, Hacks passte ‚die Zeit‘ (d.h. die Analyse des DDR-Sozialismus) der eigenen Ästhetik an? Modellierte Hacks sich die DDR „als eine Märchenwelt“, wie Heiner Müller meinte?493 Stellt man Hacks’ Urteile über die Politik des NÖS und die dadurch ausgelösten Konflikte innerhalb der SED in den Zusammenhang der neueren historiographischen Forschung, so erweisen sich diese als weniger ,märchenhaft‘, als man allgemein annehmen würde; tatsächlich scheint sich die Analyse der SED als im Zuge des NÖS in Reformer und Konservative gespaltene Partei in Teilen der DDR-Historiographie mittlerweile durchgesetzt zu haben.494 Gleichwohl ist auffällig, dass die gesellschaftlichen Beobachtungen, die in der Konzeption des sozialistischen Absolutismus zusammengefasst sind, den von Hacks als verbindlich gesetzten Voraussetzungen der Gattung Drama (dramatische Objektivität, Rechtsgleichheit der Handelnden, Totalität, synthetische Geschlossenheit, Teleologie) entsprechen. Hacks’ Blick auf die Gesellschaft ist ästhetisch-philosophisch vermittelt. Ausgehend von den Hegel’schen Kategorien der Dialektik folgt die Perspektivierung von Gesellschaft und Staat dramaturgischen Leitlinien, nach denen der jeweilige Widerspruch im Zuge einer positiven Dialektik auf höherer Ebene wiederhergestellt wird. Insofern ist nur folgerichtig, wenn Hacks äußert: „Was ich also anzubieten habe, ist das Königsdrama [...].“495 Als Garant für diese Dialektik steht Hacks’ geschichtsteleologisches Bewusstsein, sein historischer Optimismus, der von einer Stabilität der staatspolitischen Verhältnisse des Sozialismus und dessen fortwährender Weiterentwicklung ausgeht. Mitte der 1960er Jahre schreibt Hacks in einem Brief an seine Mutter:

|| 491 Zit. n. dem Tonband des Gesprächs zwischen Frank Tichy und Peter Hacks vom 4. November 1992 (im Privatbesitz d. Verf.). Das Gespräch erschien gekürzt und von Hacks redigiert in: AEV, 31– 38. 492 HW 13, 133. 493 MW 10, 65. Die Annahme, Hacks habe „an das schöne Märchen von der ‚sozialistischen Menschengemeinschaft‘ glauben“ wollen (Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR, S. 218) oder sei der festen Überzeugung gewesen, dass die DDR „auf einer stabilen ökonomischen Grundlage ruht“ (Way, S. 14), ist in der Sekundärliteratur weit verbreitet. 494 Vgl. Staritz, S. 266ff.; Kaiser; Malycha u. Winters, S. 170ff. u. Jörg Roesler: Geschichte der DDR. Köln 2012. 495 HW 13, 64. „Götter und Könige […] haben leichter belangvoll sein.“ HW 15, 178.

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Schließlich wird in diesem Jahrhundert nicht weniger abgeschafft als der Krieg, die Armut und die Unterdrückung von Völkern oder Klassen. Daß die alte Zeit sich gegen das Abgeschafftwerden sträubt und hierbei ein paar kaum erhörte Höhepunkte von Barbarei zustande bringt, ist von dem Jahrhundert nicht die Hauptsache. Die Hauptsache ist: es geht vom Kaiser zum Kommunismus [meine Hervorhebung, R.W.].496

In Zusammenhang mit dieser positiven Geschichtsphilosophie ist auch die grundsätzliche Bevorzugung der dramatischen Gattung der Komödie zu verstehen. Wie bereits in den 1950er Jahren argumentiert Hacks, dass die weiterhin vorhandenen Widersprüche keine „Weltuntergänge“ markierten. Die Widersprüche des Sozialismus sollten als lebendige Konflikte vielmehr „in aller Unbefangenheit und Härte“ dargestellt werden.497 Da es vor dem Hintergrund der „sich vervollkommnenden“ Geschichte der Menschheit aber angebracht sei, eine positive Entwicklung anzunehmen, sei die Komödie zu bevorzugen.498 Ob Hacks’ Absolutismus-Bild lediglich ein Konstrukt darstellt oder als Modell zur Beschreibung der DDR-Gesellschaft tauglich ist, kann und soll in dieser Arbeit nicht diskutiert werden. Unabhängig von der Frage, ob sich die Soziologie einer vormodernen Gesellschaft auf eine komplexe Gesellschaft übertragen lässt, die trotz erheblicher Differenzen zu den zeitgenössischen westlichen Gesellschaften als modern bezeichnet werden kann,499 lässt sich festhalten, dass Hacks mit der Analogie von Absolutismus und Sozialismus ein dynamisches Erklärungsmodell für die DDR der 1960er Jahre fand, das sich in literarischer Hinsicht produktiv machen ließ und vor dessen Hintergrund er den Widerspruch von Ideal und Realität ästhetisch ins Spiel bringen konnte.

4.5.8

Das Verhältnis von Ideal und Realität

Der von Hacks konstatierte ‚übers Jahrhundert hinausgreifende Erfolg der DDR‘, den wir nun als Erfolg von Ulbrichts absolutistischer Politik beschreiben können, verändert, laut Hacks, die an die Kunst gestellten Aufgaben. In der postrevolutionären Situation stehen nicht mehr die Fragen des sozialistischen Aufbaus und die sich daraus ergebenden Probleme im Fokus, sondern der potentielle Fluchtpunkt der Gesellschaft und dessen Verhältnis zum Status quo. Im „Vorwort“ zu Das Poetische heißt es:

|| 496 Mamama 324 (Peter Hacks an Elly Hacks, 11. Oktober 1966). 497 HW 13, 31. 498 HW 13, 22. Vgl. Kraft: Zum Ende der Komödie, S. 390ff. 499 Vgl. zur Diskussion des Moderne-Status der DDR: Pollack: Wie modern war die DDR?

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Der Verfasser meint, daß auch die beste aller wirklichen Welten einen Fehler behalten muß: den, daß sie schlechter ist als die beste aller möglichen Welten. Gegenstand der jüngsten Kunst, glaubt er, ist das Verhältnis der Utopie zur Realität. Die Utopie hat keine andere Weise zu existieren als in einer sich zu ihr hin entwickelnden Realität; indem sie so existiert, existiert sie schon nicht mehr als solche. Der einzige der Realität erreichbare Zustand von Vollkommenheit ist der Prozeß des sich Vervollkommnens, also ein unvollkommener Zustand.500

Das Verhältnis zwischen Utopie und Realität markiert jene „Widersprüche zwischen dem Morgen und dem Heute“, die bereits in den 1950er Jahren Erwähnung fanden.501 Utopie wird von Hacks im ursprünglichen, von Thomas Morus begründeten Sinne als ein ‚Nicht-Ort‘ verstanden,502 eine Vorstellung von einem vollkommenen Menschen oder einer vollkommenen Einrichtung der Gesellschaft, „die nicht ist, und von der man gleich zugibt, daß sie an keinem Ort und zu keiner Zeit sein wird“.503 Der Begriff der Utopie ist für Hacks daher gleichbedeutend mit dem des Ideals, das ebenfalls als Ausdruck für etwas Vollkommenes und Mustergültiges, letztlich aber nicht Realisierbares oder nur in Annäherung Realisierbares steht.504 Als „[e]chte Ideale“ bezeichnet Hacks „de[n] allseitig ausgebildete[n] Mensch[en] oder das Jedem nach seinen Bedürfnissen oder die Gleichwertigkeit der Geschlechter“.505 Als Ideale fasst Hacks darüber hinaus die paradigmatisch in einigen literarischen Figuren ausgeprägten „Utopien in Menschengestalt“: „Prometheus ist die Utopie der Revolution, Helena die der Schönheit, Don Juan die der Sinnlichkeit, Faust die des Denkens, Gargantua die des niederen Begehrens“.506 Aber diese Utopien sind nur in ihrer jeweiligen Einseitigkeit erreichbar, da sie der „vollkommene[n] Ausprägung einer Seite [meine Hervorhebung, R.W.] des humanen Wesens“ entsprechen. Aufgrund ihrer reinen Beschaffenheit sind sie nicht mit anderen Haltungen vermittelbar und stehen somit dem Ideal eines ‚allseitig ausgebildeten Menschen‘ entgegen.507 Anhand der Beispiele wird deutlich, dass Hacks’ Idealbegriff in der Tradition des achtzehnten Jahrhunderts steht, Hacks das Ideal also im Sinne einer vollkommenen || 500 HW 13, 10. 501 GüS 120. 502 Siehe zur Geschichte des Utopiebegriffs und dessen Bedeutungsvarianten: Joachim Ritter u.a. (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 11. Basel 2001, Sp. 510ff. Siehe auch: Anselm Neusüss (Hg.): Utopie. Begriff und Phänomen des Utopischen. Neuwied u.a. 1968. 503 HW 13, 235. Insofern gehen Interpretationen, die den Prozesscharakter der Dialektik von Utopie und Realität bei Hacks als endlich ansehen, fehl. Vgl. Heine: Mythenrezeption, S. 241. Siehe zum Idealbegriff bei Hacks: Bartels: Die Landkarte und die Landschaft. 504 Siehe zur synonymen Verwendung von ,Ideal‘ und ,Utopie‘: FR 27. In den 1960er Jahren ist bei Hacks noch durchgängig von ‚Utopie‘ die Rede. Das ändert sich in den 1970er Jahren im Zusammenhang mit der Kritik der Romantik. Siehe hierzu: Kap. 5.4. 505 HW 13, 235. 506 HW 13, 96. 507 HW 13, 96. Siehe auch: HW 15, 236f. Vgl. Bartels: Leistung und Demokratie, S. 98ff.

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Ausprägung versteht, die in der Wirklichkeit nicht vorhanden sein kann und nur als ein gedachter Entwurf existiert.508 Politisch umsetzbare Ziele werden deshalb aus dem Begriffsfeld des Ideals ausklammert: „Unter Sozialisten üblich ist die Utopie aus Trivialität, also der Gebrauch des Namens für angestrebte Erfolge wie zum Beispiel den Weltfrieden. Aber der Weltfrieden ist keine Utopie, er ist ein Ziel […].“509 Solcherart aufgefasst, soll das Ideal als Orientierungspunkt für die Gesellschaft im ‚Prozeß des sich Vervollkommnens‘ fungieren. Hacks definiert es als „unentbehrlich, weil […] in dem Moment, wo man keine Richtung für einen Weg hat, jedes Gehen nicht mehr stattfindet“.510 Nicht die Erreichbarkeit des Ideals, sondern der Weg dorthin, nicht das Ende, sondern die Bewegung werden als zentral gesetzt, wobei zugleich die Notwendigkeit einer Zielvorstellung betont wird, um das „In-Möglichkeit-Seiende“ zu entwickeln.511 Hacks verweist in diesem Zusammenhang auf den Begriff der absoluten Wahrheit, wie Lenin ihn in Materialismus und Empiriokritizismus entwickelt hat: Auch wenn die absolute Wahrheit nie erreichbar sei und nur als unendlicher Annäherungsprozess des relativen Wissens zum absoluten Wissen gedacht werden könne, setze das nicht den Begriff der absoluten Wahrheit außer Kraft, da diesem als Telos des Erkenntnisprozesses Bedeutung zukomme.512 Hacks’ Bestimmung des Ideals nimmt innerhalb des Marxismus eine Sonderstellung ein. Marx und Engels positionieren das Ziel ihrer politischen Bewegung, den Kommunismus, bewusst anti-idealistisch und kritisieren ein „Ideal der wahren Gesellschaft“ als letztlich ideologisch513. Dagegen setzen sie eine Auffassung, nach der der gesellschaftliche Fortschritt seine Grundlage in den gegebenen Produktionsverhältnissen habe und infolge des dialektischen Umschlags einer doppelten Negation ohne eine konkrete Zielvorstellung auskomme: Der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben [wird]. Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt. Die Bedingungen dieser Bewegung ergeben sich aus der jetzt bestehenden Voraussetzung.514

|| 508 Siehe zur Etymologie von ,ideal‘ und ,Ideal‘: Pfeifer, S. 569f. u. Jakob u. Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, Leipzig 1854ff., Bd. 10, Sp. 2038f., online unter: http://woerterbuchnetz.de/DWB (zuletzt eingesehen am 9. April 2014). 509 HW 13, 235. 510 FR 26. 511 Bloch: Das Prinzip Hoffnung, S. 238. Vgl. HW 13, 222. Insofern differiert Hacks’ Auffassung von solchen, die den Weg über das Ziel stellen. 512 Vgl. Lenin 14, 126ff. Siehe den Verweis auf Lenin: FR 26. 513 MEW 3, 468. Siehe zum marxistischen Idealbegriff und dessen ideologiekritischer Bestimmung: HKWM 6/I, 592ff. 514 MEW 3, 35. Siehe auch: MEW 17, 343.

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Zugleich lassen Marx und Engels aber erkennen, dass sie von der Beschaffenheit der kommunistischen Gesellschaft durchaus eine Vorstellung haben, die ethisch-normative Annahmen, also ein Sollen, impliziert. So heißt es im Manifest der Kommunistischen Partei im Anschluss an ein Zehn-Punkte-Programm, das notwendige politische Maßnahmen der proletarischen Revolution umreißt, in Ausblick auf die klassenlose Gesellschaft: „An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“.515 Auch in der fast dreißig Jahre später verfassten Kritik des Gothaer Programms macht Marx deutlich, auf welchen gedachten Zustand der Kommunismus hinauslaufen soll: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!“516 Indem Hacks das Ideal, verstanden als den gedanklichen Entwurf eines menschlichen und gesellschaftlichen Sollens, als für den Fortschritt unverzichtbar darstellt, die Realisierbarkeit des Ideals aber als nur in Annäherung möglich beschreibt – „Kommunismus, d.i. im Jahr unendlich“ –,517 stellt er sich gegen die marxistische Tradition, die aus den bei Marx und (vor allem) bei Engels bereits vorhandenen Keimen eines wissenschaftlichen Kommunismus eine gesetzmäßig ablaufende historische Entwicklung folgerte und sich des Idealbegriffs entledigte.518 Für Hacks ist die „Beschäftigung mit dem Ideal“ in Hinblick auf die Weiterentwicklung des Sozialismus aber nicht nur eine Notwendigkeit, sie stellt seiner Überzeugung nach auch eine anthropologische Konstante dar: „[S]ie ist in der Natur des Menschen angelegt.“519 Zudem betont Hacks den „wissenschaftliche[n] und materialistische[n]“ Charakter des Ideals.520 Damit ist ausgedrückt, dass das Verhältnis von Ideal und Wirklichkeit nicht willkürlich ist, sondern das Ideal einen Berührungspunkt in der Wirklichkeit hat. Das Ideal ist eben nicht ein weltabgewandter Entwurf oder ein subjektiver Wunschtraum, der die objektive Wirklichkeit, also das, was im Marxismus als materialistisch gilt, negiert, sondern ein Orientierungspunkt, der mit dieser Wirklichkeit in Vermittlung steht; zugleich hebt Hacks aber hervor, dass dem Ideal, das ja als unerreichbar definiert wird, keine Wirklichkeit zukommt und Handlungen sich an der Wirklichkeit orientieren müssen.521

|| 515 MEW 4, 482. 516 MEW 19, 21. 517 Peter Hacks an André Müller sen., 13. November 1988, zit. n.: Huth (Hg.): Vorsicht, Hacks!, S. 58. 518 Vgl. Bartels: Die Landkarte und die Landschaft, S. 62f., insb. Anm. 16. 519 HW 13, 222. 520 HW 13, 235. Siehe auch: FR 27. 521 „Der Idealismus ist ein Materialismus. Die Klassik […] weiß vom Ideal, daß sie über etwas redet, was unvorhanden ist.“ BD 2, 274. Vgl. Bartels: Die Landkarte und die Landschaft, S. 60f.

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Hacks’ Idealbegriff verweist in seiner Tradition auf Friedrich Schiller und die Weimarer Klassik.522 Erkannte Franz Mehring – der im Kontext des proletarischen Klassenkampfes von einer Aufhebung des „Widerspruchs zwischen dem Guten und dem Wirklichen“, d.h. von einer Erreichbarkeit der Utopie ausgegangen war – im Schiller’schen Idealismus zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts (bei aller Verehrung für den dichterischen Vorkämpfer der bürgerlichen Klassen, den er in Schiller sah) nur noch eine „wertlose Scherbe“, so knüpft Hacks mit der sozialistischen Klassik an diesen Idealismus an, indem er ihn in ein Verhältnis zum Realismus setzt:523 Ich habe die Väter [Goethe und Schiller, R.W.] der deutschen Literatur im Verdacht, als ob sie mit Idealismus nichts anderes meinten, denn die genaueste Widerspiegelung der statthabenden gesellschaftlichen Wirklichkeiten und Möglichkeiten sowie deren fortdauernde Hochrechnung auf die Wirklichkeiten und Möglichkeiten einer billigenswerteren Menschheit hin: Realismus also.524

Die Formulierung verdeutlicht, was mit der materialistischen Begriffsbestimmung des Ideals gemeint ist und worauf Hacks zielt: auf eine Realismuskonzeption, die sich sowohl gegen den „Faktensalat“525 des Positivismus wie auch den auf Affirmation der Wirklichkeit ausgerichteten Sozialistischen Realismus richtet; eine Realismusauffassung also, die auf dem dialektischen Gedanken einer Vermittlung beruht und in der Weimarer Klassik insofern ihr Vorbild findet, als Hacks Goethes und Schillers Texte als grundsätzlich auf die Emanzipation des Menschen ausgerichtet liest.526 || 522 Schiller bestimmt das Ideal als etwas, „was uns abgeht, aber wornach wir aufgefordert sind zu ringen, und dem wir uns, wenn wir es gleich niemals erreichen, doch in einem unendlichen Fortschritte zu nähern hoffen dürfen“. Schiller 5, 696. Siehe auch: Schiller 5, 612 u. das Lemma ,Ideal‘ in: Goethe Wörterbuch, hg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften u.a. Stuttgart 1978ff., online unter: http://woerterbuchnetz.de/GWB (zuletzt eingesehen am 9. April 2014). – Siehe im Gegensatz hierzu Heidi Ritter, die zu dem Schluss kommt, Hacks’ Verhältnisbestimmung von Utopie und Realität verweise auf Schlegels Transzendentalpoesie. Vgl. Heidi Ritter: Vom „aufklärerischen“ zum „klassischen“ Theater. Bemerkungen zu Peter Hacks. In: Günter Hartung u.a. (Hg.): Erworbene Tradition. Studien zu Werken der sozialistischen deutschen Literatur. Berlin/Weimar 1977, S. 210f.; ähnlich auch Trilse: Das Werk des Peter Hacks, S. 32f. 523 Franz Mehring: Schiller und die Arbeiter. In: der.: Gesammelte Schriften. 15 Bde., hg. von Thomas Höhle, Hans Koch u. Josef Schleifstein. Bd. 10. Berlin 1961, S. 280. Michael Mitchell macht daraus das schöne Bonmot: „Presumably he feels that if Marx could stand Hegel on his head with impunity, he can do the same with Schiller.“ Michael Mitchell: Peter Hacks. Theatre for a Socialist Society. Glasgow 1990, S. 44. 524 HW 13, 237. 525 HW 13, 135. 526 Die sozialistische Klassik weist, was in der Forschung bisher unbeachtet geblieben ist, in mancherlei Hinsicht Ähnlichkeiten mit den Leitvorstellungen des bürgerlichen bzw. poetischen Realismus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf: Idealismus, Anti-Naturalismus, Betonung des Gattungsgemäßen (Technik), Totalität und Objektivität, hoher Stil, „Wichtigkeit und Größe“ (Gustav Freytag: Die Technik des Dramas. Stuttgart 1983, S. 61), allgemeines oder staatspolitisches Interesse

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In Hacks’ Ästhetik kommt dem Ideal in verschiedenen Hinsichten eine besondere Rolle zu: (1.) allgemein, wenn Hacks Kunst grundsätzlich auf „Emanzipation“ festlegt527 und vom „utopischen Wesen der Kunst“ aufgrund von deren Anspruch auf Vollkommenheit spricht, die freilich auch das beste Kunstwerk entsprechend der Ideal-Definition nur in Annäherung erreichen kann;528 (2.) hinsichtlich der Form, die, indem der Stoff nach Maßgabe der Schiller’schen Forderung nach „ästhetischer Reinigkeit“ und entsprechend der „Gattungsrichtigkeit“ „zur Gänze“ in Form verwandelt wird, bereits die „mögliche Schönheit“ der Welt im Sinne einer „Utopie des Gutgemachten“ aufzeige;529 und (3.) hinsichtlich des Inhalts, indem das Kunstwerk den „Vorschlag eines unentfremdeten produktiven, freien, bewältigten, durch gegenwirkende Interessen

|| des Stoffes im Gegenzug zu Alltagsstoffen, Integration des Wunderbaren, Orientierung an der Klassik, Rezeption historischer und mythologischer Stoffe, keine tagesaktuellen Zwecke, Absage an das Hässliche. Vgl. Claudia Stockinger: Das 19. Jahrhundert. Zeitalter des Realismus. Berlin 2010, S. 10ff. u. 183ff. Wie auch der bürgerliche Realismus beansprucht Hacks mit seiner Dramatik, das Wesentliche der Zeit darzustellen, ohne diese deshalb direkt abzubilden, und orientiert sich an einem Begriff des Dramatischen, der der aristotelischen Tradition bzw. Gustav Freytags fünfaktigem Modell sowie überhaupt einem handwerklichen Begriff von Literatur verpflichtet ist. Auch sucht Hacks ebenfalls Stoffe, die für ‚Wichtigkeit und Größe‘ stehen, und verfolgt den Anspruch, diese in gehobener Weise zu präsentieren. Neben solchen Ähnlichkeiten, die Hacks’ Orientierung an ästhetischen Fragen des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts (nicht aber der Moderne) reflektieren, weist die sozialistische Klassik aber deutliche Unterschiede zum poetischen Realismus auf. Zum einen ist der Idealismusbegriff ein anderer: Hacks will nicht die Wirklichkeit idealisieren, Ziel ist nicht eine „Erlösung der Wirklichkeit“ (Claus-Michael Ort: Was ist Realismus? In: Christian Begemann [Hg.]: Realismus. Epoche – Autoren – Werke. Darmstadt 2007, S. 21), sondern kontrastiert Wirklichkeit und Ideal und verkoppelt beide über das Moment einer historischen Bewegung bzw. die marxistische Geschichtsphilosophie. Zum anderen verfolgt Hacks mit seinen historischen Sujets nicht den Anspruch, dem Publikum einzelne Ausschnitte der Geschichte vor Augen zu führen und im Sinne einer gesteigerten, über den Positivismus hinausweisenden Objektivität in Konkurrenz zur Geschichtswissenschaft zu treten. Eine ausführliche Diskussion des Verhältnisses von sozialistischer Klassik und bürgerlichem Realismus, die insbesondere auf die Verortung der Rolle des Individuums, die Absage an die Tragödie sowie die Selbstdarstellung des Künstlers eingehen müsste, kann an dieser Stelle nicht geführt werden. Vgl. zum Drama des Realismus: Helmut Schanze: Drama im bürgerlichen Realismus (1850–1890). Theorie und Praxis. Frankfurt/M. 1973; Edward McInnes: Drama und Theater. In: ders. u. Gerhard Plumpe (Hg.): Bürgerlicher Realismus und Gründerzeit 1848–1890. München/Wien 1996, S. 343–393 u. Juliane Vogel: Realismus und Drama. In: Begemann (Hg.): Realismus, S. 173–188. 527 FR 47. Siehe auch: HW 13, 7. 528 HW 13, 225. Hacks argumentiert hier ähnlich wie hinsichtlich der utopischen Haltungen und ihres Ausschließlichkeitsanspruchs: Form („Gattungsrichtigkeit“) und Inhalt („Reife des Entwurfs und […] Menge bewältigter Wirklichkeit“) bleiben als widersprüchlich gedacht. 529 Schiller 5, 638; HW 13, 225; HW 14, 35; HW 13, 99 u. HW 13, 223.

„Tertium datur.“ Peter Hacks’ sozialistische Klassik | 233

nicht mehr entzweiten Lebens“ mache und dem Ideal somit neben einer Schönheitsauch eine Kritik- und Antizipationsfunktion zukomme.530

4.5.9

Poetisieren und Historisieren

Das Poetische markiert einen der Zentralbegriffe der sozialistischen Klassik. Darunter versteht Hacks sowohl eine Eigenschaft als auch ein künstlerisches Verfahren: das Poetisieren. In dem Essay „Das Poetische“, der „die gedankliche Mitte“ der neuen postrevolutionären Ästhetik bildet,531 zeigt Hacks was darunter zu verstehen sei, nämlich das Alte und Beständige, das er „[d]as Unveränderliche“ nennt.532 Hacks argumentiert, dass Kunst Natur (verstanden als das außerhalb des Subjekts Liegende, die sinnliche Außenwelt)533 nachahme, indem sie diese eben nicht mittels einer „illusionistischen Vortäuschung“ wiedergebe, sondern „auf ein Medium (Wort, Stein, Farbe, Klang)“ übertrage und somit Bedeutung generiere.534 In diesem Zusammenhang erweise sich das Unveränderliche als poetisch produktiv, weil es mit der Metapher ein „gültiges Allgemeines“ – etwas Verallgemeinertes, das sich gleichzeitig in einem „wirklich Vorhandenen“ ausdrücken lässt535 – in den Kunstzusammenhang bringe. Hacks nennt als Beispiele Naturphänomene („Flora, Jahresablauf, Landschaft, Wetter, Gestirne“), alte Worte („Lokomotiven sind poetisch, Raketen sind es nicht“), historisch weit zurückliegende „gesellschaftliche Abläufe“, die sich

|| 530 HW 13, 7. Hacks führt die drei Funktionen des Ideals am Beispiel der Sinnlichkeit aus: „statthabendes Glück“ (Schönheit); „Störung der Ordnung“ (Kritik); „Vorwegnahme der Utopie“ (Antizipation). HW 13, 10. Andrea Jäger konzentriert sich bei ihrer Betrachtung der sozialistischen Klassik vor allem auf die Funktion der Kritik und beschreibt die Idealkonzeption ideologiekritisch: Hacks’ philosophisch hergeleitete „Unzufriedenheit aus Prinzip“ sei so unspezifisch, dass sie auf eine „generelle Apologie“ der Realität hinauslaufe. Jäger: Der Dramatiker Peter Hacks, S. 232f. William H. Rey betont hingegen die „unausgesprochene Kritik an der Wirklichkeit der Gegenwart“. William H. Rey: Das erstaunliche Phänomen Peter Hacks oder die Wiederentdeckung des Schönen. In: Judith R. Scheid (Hg.): Zum Drama in der DDR. Heiner Müller und Peter Hacks. Stuttgart 1981, S. 174. 531 Peter Hacks: Das Poetische. Ansätze zu einer postrevolutionären Dramaturgie. Frankfurt/M. 1972, Klappentext. 532 HW 13, 108. 533 Vgl. das Lemma ,Natur‘. In: ÄGB 4, 432ff. u. Harald Olbrich (Hg.): Lexikon der Kunst. Architektur, bildende Kunst, angewandte Kunst, Industrie-Formgestaltung, Kunsttheorie. Bd. 5. Berlin 2001 (Digitale Bibliothek. Bd. 43), S. 108ff. 534 HW 13, 106. Der Hegel-Bezug geht hier bis in die Formulierung hinein. Vgl. Hegel 15, 239. Bei Hegel heißt es, Kunst habe nicht Natur zum Gegenstande, „sondern geistige Interessen“ (Hegel 15, 239), „die Kunstschönheit ist die aus dem Geiste geborene und wiedergeborene Schönheit, die „höher als die Schönheit der Natur“ steht. Hegel 13, 14. 535 HW 14, 29.

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zu „Grundmuster[n] allen menschlichen Zusammenlebens“ ausgebildet hätten („Anspielungen auf frühgeschichtliche oder mythologische Vorbilder“), sowie „[d]as Alte überhaupt“, sofern es „das Bleibende im Verhältnis zu dem Transitorischen“ markiere und in den „Rang eines Naturgebildes“ aufgestiegen sei.536 In solchen Metaphern reflektiere sich „der natürliche Mensch“ und „die humane Utopie“. Ihnen wird das semantische Potential zugeschrieben, eine Vorstellung vom freien und vollkommenen Menschen aufzurufen. Einen solchen Zustand des Menschen hat es aber, weil er ein Ideal darstellt, nie gegeben. Dieser existiere nur in einer zwar unentfremdeten, unter ökonomischen Gesichtspunkten aber unbefriedigenden Vergangenheit und der Zukunft, „vielleicht auch nur in der Erinnerung und in der Hoffnung“.537 Die Kunst vermöge jedoch auf ihn zu verweisen, indem sie eine „verlorene Hoffnung“ aufrufe, die sich „vielleicht in erhöhter Form“ wiederfinden lasse.538 Hacks spielt damit auf ein „Geschichtsbild des ästhetischen Bewußtseins“ an, das eine triadische Bewegung vom naiven Naturzustand über die Entfremdung hin zur „Wiederherstellung desselben natürlichen Wesens unendlich bereichert um die Gaben der gesamten Menschheit“ beschreibt.539 Die Schiller-Referenz ist unübersehbar.540 Hacks lädt Schillers idealistische Geschichtsphilosophie aber zugleich marxistisch auf, indem er den poetischen Urzustand und den idealen Endzustand im Sinne eines „umwegigen Fortschritts oder fortschrittlichen Umwegs“ vermittelt und auf dessen materialistische Grundlage hinweist: Der Mensch, um zu sich zu gelangen, mußte eine Welt der Produkte und Produktionsverhältnisse erzeugen, die ihm als fremde und feindliche gegenübertrat. So kühne und vortreffliche

|| 536 HW 13, 109f. Vgl. zum poetischen Wortschatz HW 14, 29. Die Beispiele erinnern an Schillers Aufzählung zu Beginn von Über naive und sentimentalische Dichtung. Vgl. Schiller 5, 694. 537 HW 13, 111. Dementsprechend heißt es 1976, die Neuzeit müsse „einerseits an den Griechen, andererseits am Kommunismus gemessen werden“. HW 13, 228. 538 HW 13, 223. 539 HW 13, 110. Siehe auch die Schlussverse von Omphale [1969], die ebenfalls das ästhetische Geschichtsmodell wiedergeben. Vgl. HW 4, 304. 540 Auch Schiller konzeptioniert eine geschichtsphilosophisch inspirierte Ästhetik, in welcher die Vorstellung einer triadischen Bewegung von der Einheit über die Entfremdung zurück zur Einheit existiert: „Sie [die Naturgegenstände, R.W.] sind, was wir waren; sie sind, was wir wieder werden sollen. Wir waren Natur wie sie, und unsere Kultur soll uns, auf dem Wege der Vernunft und der Freiheit, zur Natur zurückführen.“ Schiller 5, 695; auch hier kommt dem ‚Unveränderlichen‘ qua der in ihm „dargestellte[n] Idee“ der Vollkommenheit die Möglichkeit der „Vergegenwärtigung des Ideals“ zu. Schiller 5, 695 u. 697. Vgl. Bernd Leistner: Zum Schiller-Bezug bei Peter Hacks. In: In Sachen Peter Hacks. Studien und Kritiken aus zwei Jahrzehnten. Mainz 2011, S. 26f. Andrea Jäger betont allerdings die funktionale Differenz des Geschichtsbildes, denn im Gegensatz zu Schiller ziele Hacks nicht auf Kritik. Vgl. Jäger: Der Dramatiker Peter Hacks, S. 221f. u. 232. Siehe zu Hacks und Schiller neuerdings: Bernd Leistner: Schillerreflexe bei Hacks. In: Kai Köhler (Hg.): Die Götter arbeitslos gemacht. Peter Hacks und die Klassik. Berlin 2014, S. 30–42.

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Erfindungen mußten gemacht werden wie Klassen, Ausbeutung, Warenproduktion, Anonymität der Konsumenten und so weiter.541

Unter Poetisieren versteht Hacks „alle Verfahren, das, was an der Welt den Menschen angeht, ohne den Umweg über das Gezänk der Widersprüche, welches man Reflexion nennt, zu beschreiben“,542 also eine Kennzeichnung des Allgemeinen und Schönen, das sich im Kunstzusammenhang jenseits des bereits beschriebenen Inhalts auf verschiedenen Ebenen ausdrückt: formal als Klang und Rhythmus, sprachlich als Metapher und Symbol, handlungsseitig als Wunderbares und Phantastisches, hinsichtlich der Gebärde und Haltung als Pomp543 und hinsichtlich des dramatischen Personals als Riesen und Könige.544 Als solches soll das Poetische, das dem Theater seit dem Aufstieg des Bürgertums im neunzehnten Jahrhundert abhandengekommen sei, im Rahmen der sozialistischen Klassik seinen angemessenen Platz haben und die „Realismus-Theorie [...] vervollständigen“.545 Zugleich weist Hacks darauf hin, dass dem Poetischen ohne ein konkretes Gegengewicht eine gewisse Unverbindlichkeit und Unvernunft zu eigen sei, die zur „weltflüchtige[n] Idylle“ und zum „poetische[n] Kitsch“ tendiere.546 Um dem zu begegnen, existiert ein dem Poetisieren entgegengesetztes ästhetisches Verfahren: das Historisieren. Darunter versteht Hacks die spezifische historische Perspektivierung und Konkretisierung des im Kunstwerk behandelten Allgemeinen, d.h. die Herstellung eines „genauen gesellschaftlichen Zusammenhang[s]“ und dessen Personifizierung: Wir zeigen nicht Liebe, sondern Cleopatra, Julia, Gretchen liebend. Wir zeigen nicht Geist, sondern Fausts, Hamlets, Galileis Geist. Die Ideen und Gefühle geraten in Bewegung. Sie erweisen sich als Teil der Bewegungen der Geschichte; die als Kämpfe von Klassen; die als interessierte Handlungen einzelner Personen. Die Welt, durchschaut, wird anschaulich, mithin kunstfähig.547

|| 541 HW 13, 100. Mithin beschreibt Hacks so eine Bewegung vom Urkommunismus zum Kommunismus. Vgl. MEW 21, 152ff. 542 HW 14, 31. 543 Unter Pomp versteht Hacks den „Zusammenfall des Sinnlichen mit dem Feierlichen“ und verallgemeinert es als grundsätzliche Eigenschaft des Theaters, das „eine gewisse Gehobenheit der Spielebene, der Gebärde und mithin auch der emotionalen und intellektuellen Haltung“ erfordere. HW 13, 114f. 544 Vgl. Schütze, S. 92. Die Bevorzugung von KönigInnen erklärt sich also sowohl politisch-geschichtsphilosophisch als auch ästhetisch. Vgl. Köhler: „Ich bin dem Zarentum ergeben, also muß ich diesen Zaren stürzen…“, S. 9, der der Zuordnung der Könige zum Bereich des Poetischen allerdings widerspricht. 545 HW 13, 115. 546 HW 13, 111. u. 114. 547 HW 13, S. 101.

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Das Historisieren verweist, ohne sich in dieser Bestimmung zu erschöpfen, auf Bertolt Brecht, der nun im Rahmen der sozialistischen Klassik aufgehoben wird.548 So wie bezüglich der handelnden Figuren der Widerspruch zwischen einem soziologisch unterdeterminierten und einem individuell unterdeterminierten Subjekt dialektisch vermittelt werden soll, orientiert die sozialistische Klassik auf eine Synthese von Konkretem und Allgemeinem, von „Historizität und Anthropologischem“.549 Die ästhetische Realisierung dieser Synthese erfolge nach Hacks im „klassische[n] Stück“, das als eigenständiger „Typ[us]“ die zwei „Grundtypen des Theaterstücks“ (das aristotelische und das nicht-aristotelische) in ihrer je einseitigen sozialen Funktion (Apologie des Bestehenden und Revolutionierung) aufhebe, weil es im postrevolutionären Sozialismus nunmehr „nicht reaktionär ist, nicht revolutionär zu sein“.550 Die Grundtypen ,aristotelisch‘ und ,nicht-aristotelisch‘ stehen beispielhaft für die von Hacks gedachte dialektische Bewegung: Hatte Brecht das epische Theater als Negation des „dramatischen Theaters“ konzipiert,551 um die Widersprüchlichkeit und die Veränderbarkeit der sozialen Verhältnisse aufzuzeigen, so übernimmt Hacks diesen Anspruch wiederum durch Negation und löst ihn im Kontext seiner Kritik der Brecht’schen „Tendenzstücke“552 durch Anreicherung des Poetischen im Klassischen auf. Das „klassische Stück“ steht insofern für die dialektische Vermittlung schlechthin.553

|| 548 „[W]ahr ist, daß er [Brecht, R.W.] einem die Pflicht bewußt gemacht hat, für die Charaktere, die man baut, einen soziologischen Background zu kennen, zu wissen und nachweislich herzustellen.“ „Wenn man den Brecht modifiziert und ihm übermäßige Beweise wegnimmt und im Individuellen hinzufügt, dann ist natürlich die Forderung, daß eine Fabel, die nicht soziologisch steht, keine Fabel ist, etwas, das bleibt.“ FR 61f. – Eike Middell, der Hacks’ Ästhetik sehr stark auf Schiller zurückführt, erkennt im Poetisieren die von Schiller beschriebene sentimentalische Dichtung und im Historisieren „die materialistische Form dessen, was Schiller naive Dichtung nennt“ (Middell: Wie man ein Klassiker wird, S. 882), eine Verortung, die hinsichtlich der verschiedenen Attribute des Naiven bei Schiller freilich nicht komplett aufgeht. – Umgekehrt argumentiert Judith R. Scheid, die „the influence of Schiller and Brecht“ erkennt, vor allem aber die Rezeption Brechts stark macht. Indem sie ,das Unveränderliche‘, d.h. das Poetische, als „synthesis of reality and utopia“ auffasst und annimmt, Hacks würde den Schiller’schen Idealbegriff kritisieren, kommt sie zu dem Schluss, dass Hacks die bereits bei Brecht in den Anmerkungen zum Hofmeister vorhandenen Hinweise auf das Poetische (vgl. GBA 24, 379ff.) aufnehme und zu einer „materialistic theory of the ,Poetische‘“ umforme. Judith R. Scheid: “Enfant terrible” of Contemporary East German Drama. Peter Hacks in his Role as Adaptor and Innovator. Bonn 1977, S. 95 u. 96f. 549 Schütze, S. 91. Siehe zum Verhältnis von Poetisieren und Historisieren bei Hacks auch: Scheid, S. 93ff. u. Trilse: Das Werk des Peter Hacks, S. 41f. 550 HW 13, 29f. 551 GBA 22.1, 109. 552 HW 13, 30. 553 Aristotelisch (These) → nicht-aristotelisch (Antithese) → klassisches Stück (Synthese). Das verdeutlicht auch die Beschreibung des klassischen Stücks: „Das klassische Stück ist nicht neu im Sinne der Wissenschaft [...]. Es zeigt alles, es beweist nichts. Es bekundet seine gute Meinung von der Welt

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4.5.10

Wirkungsästhetik: Probehandeln

Versucht Hacks mit den Verfahren des Poetisierens das künstlerische Moment zu beschreiben, das als notwendige Ergänzung zum historisch und soziologisch Konkreten gedacht ist, so kommt dem Poetischen hinsichtlich der Wirkungsästhetik die Aufgabe zu, das Konkrete „nachfühlbar“ zu machen.554 Hacks unterscheidet zwischen einem Identifikations- und einem Unwirklichkeitswert (I- und U-Wert), die als gegeneinander wirkende Faktoren von Realitätsnähe und Realitätsferne „das Gesetz der künstlerischen Wirkung“555 konstituieren und denen die Verfahren des Historisierens und des Poetisierens zugeordnet werden können: Der I-Wert bezieht sich auf die Extension, die die Identifikation mit einer „Hauptperson und ihren Umständen“556 erlaube (und ist dementsprechend umso größer, desto allgemeiner er ist, darf aber eine bestimmte Grenze der Verallgemeinerung nicht überschreiten, da die Identifikation sonst in Distanzierung umschlage); der U-Wert verweist auf den Grad des Poetischen und der Nichtidentität, also den Abstand des jeweiligen Kunstwerks vom Konkreten oder von der Wirklichkeit. Hacks subsumiert unter dem U-Wert sowohl das Wunderbare als auch die Verfremdung, betont aber, dass die Kategorie des Unwirklichen über beide Begriffe und deren Konnotationen hinausgeht.557 Das hat zu Missverständnissen geführt. So führt Judith R. Scheid den I- und den U-Wert direkt auf Brecht und dessen Unterscheidung von Einfühlung und Verfremdung zurück und lässt das Unwirkliche einseitig im Begriff der Verfremdung aufgehen.558 Mit dem U-Wert zielt Hacks aber nicht wie Brecht || durch Gebrauch schöner, großer Formen; diese [...] ist nicht apologetisch, mithin nicht kritiklos.“ HW 13, S. 31. 554 HW 14, 31. 555 HW 13, 106. 556 HW 13, 103. 557 HW 13, 107. 558 Vgl. Scheid, S. 99f. Scheid bezieht sich auf Brechts Aufsatz „Kurze Beschreibung einer neuen Technik der Schauspielkunst, die einen Verfremdungseffekt hervorbringt“. Vgl. GBA 22.2, 641ff. Was Scheid übersieht, ist, dass der Begriff der Verfremdung bei Hacks allgemein auf ein Verfahren des ‚Unwirklich-Machens‘ zielt, also gerade nicht die Brecht’sche Verbindung von Verfremdung und Episierung betont. Vgl. Müller: Bertolt Brecht, S. 122f. Siehe auch die Definition der Verfremdung, die Hacks 1962 gibt: Hacks: Über Lieder zu Stücken, S. 423. – Ebenso ließe sich der Begriff des Wunderbaren isolieren. Hacks selbst verweist darauf, dass er aus der Ästhetik des achtzehnten Jahrhunderts stamme (vgl. HW 13, 107), konkret: aus den Überlegungen des Schweizer Philologen Johann Jakob Breitinger, den Hacks an anderer Stelle ausführlich zitiert und als fruchtbar für eine marxistische Ästhetik darstellt. Vgl. HW 13, 94 u. Johann Jakob Breitinger: Critische Dichtkunst. In: Johann Jakob Bodmer u. ders.: Schriften zur Literatur, hg. von Volker Meid. Stuttgart 1980, S. 83–204. Tatsächlich erinnert Breitingers Konzeption des Wahrscheinlichen und des Wunderbaren in manchen Aspekten an Hacks’ Überlegungen, und auch hier ließe sich jeweils der I- und der U-Wert an deren Stelle denken. Hacks’ Rezeption von Breitinger bzw. der Schweizer Bodmer-Schule ist in der Forschung bisher Desiderat geblieben.

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auf einen die Identifikation störenden Denkprozess, dessen (gewünschtes) Ergebnis ein qualitativ neues bzw. besseres Verstehen gesellschaftlicher Zusammenhänge ist, sondern auf eine Vertiefung der Identifikation. Indem der U-Wert auf das ‚Künstliche‘ verweise, helfe er, bei den RezipientInnen ein „Gefühl der Freiheit“559 zu erzeugen, das Hacks als Voraussetzung ästhetischer Wirkung ansieht. In „Ekbal, oder: Eine Theaterreise nach Babylon“ wird die mögliche Wirkungsweise des Theaters folgendermaßen beschrieben: Das Theater nun lehrt uns wissen, indem es in uns die Gefühle aufregt, die wir hätten, wenn wir wüßten. Mit diesen Gefühlen versehen, werden wir die Welt mit mehr Aufmerksamkeit betrachten, und unsere Einsichten, falls wir sie erlangen, werden in diesen Gefühlen haften oder Wurzeln schlagen; denn daß ein Gedanke bloß gedacht ist, heißt nicht, daß man ihn auch hat. Das Theater zeigt wenig genau, wie die Welt ist, aber es zeigt überaus genau, was von der Welt zu halten ist.560

Hacks begreift den Rezeptionsprozess als eine auf Identifikation basierende Als-obHandlung des Denkens. Nicht Erkenntnis eines Sachverhalts, sondern die Vermittlung einer Haltung, „die man der Wirklichkeit gegenüber einnehmen kann“, sei der Zweck der Kunst.561 Dieser Zweck kann allerdings als schwach determiniert aufgefasst werden: Ziel ist nicht ein konkretes Ergebnis (wie beispielsweise die Erkenntnis gesellschaftlicher Funktionsmechanismen und ein davon abgeleitetes Engagement), sondern ein bestimmter Modus der Kommunikation. Die Aufführungssituation steht bei Hacks für einen Kommunikationsprozess, in dem der Autor durch das Medium der Kunst Haltungen vorschlägt, welche das Publikum „auf seine inneren Möglichkeiten“ hin ausprobiert und sich potenziell an ihnen „bereichert“, indem es „beim lockeren Durchspielen der von der Kunst gemachten Vorschläge diesen durch Zustimmung oder Handeln, diesen durch Beiseitelegen und Aufheben sich aneignet“.562 Der Kunst kommt damit eine spezifische Funktion zu, nämlich einen „Dialog“ zu ermöglichen, der auf Selbstverständigung zielt; sehr bündig heißt es in dieser Hinsicht

|| 559 HW 13, 107. 560 HW 9, 51. Siehe auch die wirkungstheoretische Aussage in der 1. Fassung von Numa. Hacks: Sechs Dramen, S. 154. 561 HW 13, 77. Hacks beschreibt solche Haltungen sehr allgemein als „Spezifikationen von gesellschaftlichen Haltungen“ (Hacks: Über Lieder zu Stücken, S. 422), bemerkt aber, dass sie „zusammengesetzt“, d.h. antistatisch, seien: „Haltungen etwa sind (und wir versimpeln sie, indem wie sie benennen) die heitere, kühne, wißbegierige oder aber die hilflose, fliehende, weltferne. Es gibt sie, seit es eine menschliche Gesellschaft gibt.“ Peter Hacks: Die Fragen des Wechselbalgs. In: abb Nachrichten (1971), H. 78, S. 4. Peter Schütze bezeichnet Hacks’ Haltungsbegriff als den „Gesamt-‚Gestus‘ der Menschen in ihrem Handeln und Reagieren in und auf Situationen“. Schütze, S. 81. 562 HW 13, 107.

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beim späten Hacks: „Im Kunstzusammenhang verhandelt die Gesellschaft mit der Gesellschaft die Gesellschaft.“563 Grundbedingung für diesen gesellschaftlichen Verhandlungsprozess aber ist die ästhetische Freiheit, die durch den U-Wert befördert wird und ohne den der Kunst ein entscheidendes Element fehle; was, wie bei der Behandlung des Historisierens und des Poetisierens gesehen, auch umgekehrt gilt: ohne I-Wert geht die Tendenz ins Unverbindliche. Die Betonung der ästhetischen Freiheit, die dem Zuschauenden ein ‚lockeres Durchspielen‘ ermögliche, verweist auf Schillers Spielbegriff und dessen Autonomiepostulat, dem zufolge Kunst nur wirken könne, wenn sie von einer „moralische[n] Zweckmäßigkeit in ästhetischen Dingen“ überhaupt absehe.564 Allerdings ergänzt Hacks Schiller, indem er das freie Spiel als „Leben üben“ und Erkennen („ErkennenSpielen“) auffasst, als eine Form der „vorgestellte[n] Praxis“, die sich in anderer Terminologie auch als Probehandeln bezeichnen lässt.565 Schillers ästhetische Erziehung, die darauf hofft, den Menschen „wirklich und in der Tat frei zu machen“, indem sie ihm helfe, „das Materielle durch Ideen zu beherrschen“, geht mit diesem Wirkungsverständnis durchaus überein, wenn Hacks ausführt, Kunst helfe der Gegenwart (d.h. dem Publikum) sich mittels des ,Erkennen-Spielens‘ selbst zu „überschreiten“.566 Das bedeutet aber nicht, Hacks glaube an eine „gesellschaftsverändernde Kraft“ oder einen „therapeutischen“ Nutzen der Kunst. Die Macht der Kunst wird von Hacks vielmehr als potenziell aufgefasst.567

|| 563 HW 13, 107 u. HW 13, 428. Siehe zur Frage der Kommunikation des Kunstwerks auch: HW 14, 7. 564 Schiller 5, 536. Siehe auch: Schiller 5, 618 u. 638ff. Ganz ähnlich auch Goethe: Goethe 9, 590. 565 FR 89; VK 213 (Peter Hacks an Rudi Strahl, 8. Juli 1983) u. HW 13, 338. Der Begriff des Probehandelns stammt ursprünglich von Freud. Vgl. Sigmund Freud: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. In: ders.: Gesammelte Werke: Chronologisch geordnet. Bd. 15. Frankfurt/M. 1999, S. 96. Allgemein wird darunter ein antizipierendes Denken verstanden, das Möglichkeitsräume erkundet. Vgl. Clemens Schwender: Bausteine zu einem evolutionspsychologischen Verständnis von Kriegsfilmen. In: Bernhard Chiari u.a. (Hg.): Krieg und Militär im Film des 20. Jahrhunderts. München 2003, S. 141f. Siehe auch: Dath u. Kirchner, S. 685. 566 Schiller 2, 816f. u. HW 13, 223. An anderer Stelle formuliert Hacks: „[I]ndem man ein Publikum zu komplizierten Genüssen verleitet, befähigt man es, bis zu einem gewissen Grade, zu komplizierteren Tätigkeiten. Eine Kunst, die besser ist als die bestehende Gesellschaftsordnung, kann die Gesellschaft zwingen sich zu ändern, indem sie Menschen macht, die für diese Ordnung der Gesellschaft zu gut sind.“ Zit. n.: Hacks: Hacks als solcher, S. 18 – Die konkrete, gesellschaftszugewandte Seite des Spiel- bzw. Kunstbegriffs übersieht Bernd Leistner; er meint, Hacks lehne „die Fixierung eines Kunstziels überhaupt ab“ und negiere alle, „auf die realen gesellschaftlichen Bewegungen hinzielende[n] Zwecke.“ Leistner: Zum Schiller-Bezug bei Peter Hacks, S. 40. 567 Rudolf Dau: Schiller-Bezüge bei Brecht und Hacks. In: Zentraler Arbeitskreis Friedrich Schiller im Kulturbund der DDR (Hg.): Schiller und die Folgen. Wissenschaftliche Tagung am 9. November 1976. Weimar 1978, S. 63; Klaus Werner: Heitere Renitenz. Goethe, Peter Hacks und das „Dörfchen“ DDR. Klassik-Rezeption als spezifischer Geist-Macht-Diskurs. In: Marek Zybura (Hg.): Geist und Macht. Schriftsteller und Staat im Mitteleuropa des „kurzen Jahrhunderts“ 1914–1991. Dresden 2002, S. 319. Vgl. HW 13, 107. In einem späten Brief äußert Hacks sich skeptisch zur Wirkungspotenz von

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Kommt dem Unwirklichen die psychologische Funktion zu, „die Realität durch das Gegengewicht der Poesie im Schweben“ zu halten, so erkennt Hacks im U-Wert „auch eine inhaltliche Funktion“, die nämlich, dem ,Überschreiten‘ einen Vektor beizugeben: Indem das Unwirkliche ein notwendiger Bestandteil der Kunst sei, entspreche es einem Verlangen, das aus einem „Mißbehagen am Wirklichen“ hervorgehe, und stehe so für ein „Verlangen nach dem Anderen“, welches Hacks als „das Bessere“ auffasst. Dieses Bessere aber ist das Ideal, das die Kunst mittels personifizierter Haltungen kommuniziere.568 Wenn man die Hacks’sche Wirkungsästhetik, wie gezeigt, als Orientierung des Publikums am Ideal beschreiben kann, bedeutet ‚Überschreiten‘ auch Zurücknehmen und Maß halten. Das erweist sich anhand des Zusammenhangs von Ideal und „fröhliche[r] Resignation“. Hacks hat den Resignationsbegriff 1974 in einem Interview folgendermaßen definiert: Irgendwann sieht man ja ein, daß sich in der konkreten Welt die Dinge nicht nach Belieben einrichten lassen, sondern daß sie sich nur innerhalb der gesellschaftlich gegebenen Möglichkeiten einrichten lassen. […] [M]an muß nachdenken, was geht und was geht nicht. Und allein dieses Nachdenken ist Resignation.569

Indem sich Adjektiv und Substantiv aneinander relativieren, signalisiert die Kombination fröhliche Resignation eine widersprüchliche Verbindung von Ideal und Realitätsnüchternheit, ein Überprüfen der revolutionären Erwartungen an konkreten gesellschaftlichen Bedingungen und eine Relativierung solcher Erwartungen auf der Grundlage der Einsicht, was nicht unmittelbar erreicht werden kann. Die fröhliche Resignation bedeutet, ähnlich wie das Konzept der ‚Entsagung‘ bei Goethe und Hegel, eine Praxis der Vermittlung von Subjekt und Objekt, von Einzelnem und Allgemeinem, von Wollen und Können, oder eben, wie Hacks sich ausdrückt: von Utopie und Realität.570 Für Hacks ist die Haltung der fröhlichen Resignation, für die er in einem anderen Zusammenhang die Ausdrücke „rationale Überschwänglichkeit“ und

|| Kunst: „[...] [W]as Sie über den Nutzen des Denkens zu sagen wissen, ähnelt dem, was ich über den Nutzen der Künste zu behaupten pflege. Das eine wie die anderen sind, als Teile des Überbaus, von vollkommener Wirkungslosigkeit, und dennoch macht es erstaunlicherweise einen Unterschied, ob es einer Gesellschaft beliebt hat, sich in einer Spielform einer Ideologie einzugewöhnen oder aber einer anderen.“ Hacks u. Holz, S. 80 (Peter Hacks an Hans Heinz Holz, 22. Februar 2003). 568 HW 13, 107. Hacks erklärt sich an dieser Stelle nicht weiter. Das Unwirkliche als das ‚Verlangen nach dem Anderen‘ hat offenbar einen grundsätzlich kompensatorischen Effekt, den Hacks mittels der Gleichsetzung von ‚Anderem‘ und ‚Besserem‘ im Rahmen der skizzierten Rezeptionsauffassung in einen Fortschrittseffekt umbiegt. 569 FR 20 u. 25f. 570 Vgl. HW 13, 10. Siehe zu Goethe und Hegel: Marion Schmaus: Entsagung als ,Forderung des Tages‘. Goethe und Hegels Antwort auf die Moderne. In: Werner Frick (Hg.): Aufklärungen. Zur Literaturgeschichte der Moderne. Tübingen 2003, S. 157–172. Siehe im Gegensatz dazu die der modernen

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„skeptische Vergnügtheit“ verwendet,571 eine Haltung der Reife. In ihr drückt sich eine Zurücknahme aus, die zugleich ein Festhalten ist, was sich werkbiographisch anhand von Hacks’ Positionen der 1950er Jahre bis in die späten 1960er Jahre nachvollziehen lässt.572 Dementsprechend heißt es in einem Widmungsgedicht für Wieland Herzfelde im April 1966: „Der neue Tag ist nicht so gegenwärtig, / Wie wir im Menscheitsmorgendämmer dachten. / Es gilt noch öfter, scheints, zu übernachten. / Wieland ist 70, und noch nichts ist fertig.“573 Die Haltung der fröhlichen Resignation bedeutet die Anwendung des Ideals auf die realen Verhältnisse: Weder illusionärer Glaube an die Realisierbarkeit des Ideals noch resigniertes Sich-Abfinden mit dem Status quo, sondern beider Vermittlung unter der Annahme eines relativen Fortschritts auf der Grundlage des Ulbricht’schen Absolutismus, so könnte man Hacks’ Auffassung beschreiben. Insofern lässt sich, wenn Kunst zwar keine didaktischen Zwecke verfolgen soll, hinsichtlich der Rezeption im Modus des Vorschlagens von Haltungen aber durchaus die beigeordnete Funktionen des ‚Lebenübens‘ hat, die sozialistische Klassik in wirkungstheoretischer Hinsicht auch als Kommunikation der fröhlichen Resignation begreifen. Inwieweit die Orientierung am Ideal funktioniert bzw. nicht funktioniert und fröhlich resigniert werden muss, kann im Probehandeln reflektiert werden.

4.5.11

Die sozialistische Klassik als neue Renaissance

Im Rahmen der sozialistischen Klassik parallelisiert Peter Hacks Kunst- und Gesellschaftsentwicklung. In dem Maße, in dem er den Sozialismus in der DDR als einen Erfolg ansieht und die Realität der 1960er Jahre als zustimmungsfähig erklärt, erkennt er auch einen Fortschritt der Kunst, der vor dem Hintergrund der als dekadent aufgefassten Kunstentwicklung des späten neunzehnten und frühen zwanzigsten

|| Vorstellung der Entsagung entsprechende Position Schopenhauers, die auf eine „Verneinung des Willens“ (Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung. Zweiter Band, welcher die Ergänzungen zu den vier Büchern des ersten Bandes enthält. Zürich 1988, S. 708) hinausläuft. Vgl. Friedrich Voßkühler: Kunst als Mythos der Moderne. Kulturphilosophische Vorlesungen zur Ästhetik von Kant, Schiller und Hegel über Schopenhauer, Wagner, Nietzsche und Marx bis zu Cassirer, Gramsci, Benjamin, Adorno und Cacciari. Mit Werkinterpretationsentwürfen zur bildenden Kunst, Musik und Literatur. Würzburg 2004, S. 108ff. 571 Dank für den „Kritikerpreis 1971“, wörtliche Mitschrift laut Sender Freies Berlin, DLA, A: Hacks. Vgl. FR 25. 572 Ganz ähnlich betont Karl Mickel in seiner Goethe-Studie „Die Entsagung“ das aktive Moment der Entsagung: „[...] derart nun birgt der Begriff Entsagung seinen Widerspruch Begierde; er ist nicht mürrisch, sondern weltfromm, nicht ergeben, sondern tätig“. Karl Mickel: Die Entsagung. In: ders.: Die Gelehrtenrepublik. Beiträge zur deutschen Dichtungsgeschichte. Halle/Saale 2000, S. 71. 573 VK 115.

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Jahrhunderts wie auch der ,Tendenzkunst‘ der revolutionären Avantgarden und der 1950er-Jahre-Kunst der DDR (Didaktisches Theater) einer neuen Renaissance gleichkomme. Wie Clara Zetkin an der Schwelle zum zwanzigsten Jahrhundert auf der Grundlage der These eines Bündnisses von Volk (Arbeiterklasse) und Intelligenz für die Zeit nach der Revolution ein „messianisches Zeitalter der Kunst“ erwartete,574 prognostiziert Hacks in der postrevolutionären Gesellschaft mit der Analogie von Shakespeare-Zeit und Ulbricht-Absolutismus eine Wiederkehr des Alten unter neuen, nunmehr sozialistischen Vorzeichen, das er als Wiederentdeckung des Poetischen und Rückkehr des Subjekts beschreibt. „[D]ie Bühnenkunst“, so heißt es später in einem Essay über Kinderdramen, „[ist] eine Ostkunst“.575 Dabei gesteht Hacks durchaus ein, dass die Verhältnisse in der DDR kaum denen einer wie auch immer freien Gesellschaft entsprechen. Da der Sozialismus aufgrund seiner egalitären Grundlagen aber das Potenzial habe, in einen dauerhaften Prozess des Sich-Vervollkommnens einzutreten, spricht er der Kunst das Recht zu, dieses Potenzial zu konkretisieren, die Gegenwart mit dem Ideal ins Verhältnis zu setzen und zugleich, aufbauend auf der marxistischen Erbe-Konzeption, „den Schatz an […] Fähigkeiten, den die veralteten Klassen akkumuliert haben, […] sich anzueignen und auf eine höhere Stufe zu heben“.576 Das bedeutet nicht nur an Euripides und Aristophanes, an Shakespeare, Goethe und Schiller anzuknüpfen, ihr Handwerk zu studieren und bei ihnen zu „klauen“577 sowie die Klassik mit ihrer Orientierung am Gattungsgedanken und ihrem Programm der Humanisierung zu aktualisieren, es heißt auch, die eigenen frühen Positionen in einen Syntheserahmen zu überführen und in einem genealogischen Schema aufzulösen. Der Schritt hin zur Klassik und die Ausformulierung ihres ästhetischen Programms als sozialistische Klassik markiert eine Wette auf die Zukunft, deren Behauptung lautet: „Tertium datur“.578 Dieses Dritte durchzieht als Figur der Synthese die Überlegungen zur sozialistischen Klassik, die – auf der Basis einer historischen Situation, die einen ebensolchen Schritt ermögliche und, so Hacks’ Schluss, demnach auch verlange –579 einer Absichtserklärung gleichkommt. Für Hacks ist die Klassik der gangbare Weg der sozialistischen Literatur, unter dem er, ganz im Sinne der

|| 574 Clara Zetkin, zit. n.: Frank Trommler: Die Kulturpolitik der DDR und die kulturelle Tradition des deutschen Sozialismus. In: Hohendahl u. Herminghouse (Hg.): Literatur und Literaturtheorie in der DDR, S. 44. 575 HW 14, 148. 576 HW 13, 138. Siehe auch: HW 13, 118. 577 FR 76. Hacks spricht sich hier grundsätzlich für das Studium ästhetischer Techniken anderer Künstler zum Zweck des Lernens aus und erklärt die Übernahme, das ‚Klauen‘, zu einem regulären Lernvorgang. 578 HW 13, 29. 579 Vgl. HW 13, 72.

„Tertium datur.“ Peter Hacks’ sozialistische Klassik | 243

methodischen Prämisse des Essays „Versuch über das Theaterstück von morgen“, einen Vorschlag versteht, in welche Richtung die Dramatik der DDR gehen soll, und mit dem er zugleich dessen Umsetzung anstrebt.

244 | Differenzen

4.6

Zwei dramatisch explizierte Geschichtsphilosophien

Erlaubt die DDR der 1960er Jahre, erlaubt das Neue Ökonomische System (NÖS) eine so zukunftsfrohe Perspektive für die Kunst, wie Hacks meint? Heiner Müller positionierte sich solchen Fragen gegenüber zurückhaltend bis ablehnend. Schon die frühen Stücke wie Der Lohndrücker und Die Korrektur lassen Fragen offen: Gleichen sich Sozialismus und Kapitalismus in ihrem gemeinsamen Bezug auf Produktionssteigerung, Beschleunigung und Verbrauch menschlicher Ressourcen? Trägt der Sozialismus wirklich zur Befreiung der Frauen bei oder kleidet er deren Unterdrückung lediglich in ein neues Gewand? Ist der Einsatz des Körpers, mit dem die ArbeiterInnen bezahlen, der gerechte Preis für den sozialistischen Aufbau? Auch in der Umsiedlerin erweisen sich Körper und körperliche Triebstrukturen als vorerst unlösbare Probleme. Es ist nicht zuletzt diese Dimension des Widerspruchs von Körper und gesellschaftlich entfalteter Idee des Sozialismus, von Individuum und Allgemeinheit, mithin von persönlicher Lebenszeit und historischer Zeit, die den Müller’schen Texten einen dunklen, in gewisser Weise melancholischen Zug einschreibt und die Präsenz des Tragischen begründet. Dennoch verfügen Müllers Dramen bis zur Umsiedlerin über eine relativ eindeutige Perspektive. Die verhandelten Konflikte lassen zwar Widersprüche erkennen, ihre tendenzielle Lösung zeugt aber von einer Hoffnung in das gesellschaftliche Projekt des Sozialismus. Diese Hoffnung reflektiert sich auch formal in den Texten. Sosehr diese auch vom traditionellen Bild eines teleologisch-dramatischen Theaters abweichen, bei dem am Ende alle Probleme gelöst sind, verbleiben sie als grundsätzlich dem Realismus-Paradigma verhaftete Texte doch in dessen Kosmos.

4.6.1

Die zweite Werkphase Heiner Müllers

Das verändert sich in den 1960er Jahren. Mit Der Bau [1963/64] und Philoktet [1958/64] beginnt eine neue Werkphase, die eine getrübte Hoffnung auf ein Gelingen des Sozialismus in der DDR offenbart. Die Utopie, welche die Texte Müllers fortan vorstellen, verliert sukzessive ihren konkreten gesellschaftlichen Bezugspunkt. Die Texte weisen sie zunehmend als das ihnen Andere, als ihre Negation aus. Die Forschung hat die Entwicklung Heiner Müllers lange Zeit über die Stoffe seiner Texte perspektiviert. Entscheidender als der Übergang des „Produktions-Müller“ zum „Antike-Müller“580 sind aber die formalen Veränderungen, welche die Dramentexte ab Der Bau aufweisen. Der Bau kann als Übergangsstück gelten, das ein letztes Mal an einem realistischen Sujet, der Entstehung eines industriellen Großkomplexes,

|| 580 Wolfgang Emmerich: Griechische Antike. In: HMH, S. 171.

Zwei dramatisch explizierte Geschichtsphilosophien | 245

den Aufbau des Sozialismus im Kontext des NÖS darstellt. Der Text schildert eine „erfolgreiche Sozialismusgeschichte“,581 aber der Preis, der gezahlt werden muss, ist hoch: Am Ende bleibt die Ingenieurin Schlee mit dem Kind, das sie von dem verheirateten Parteisekretär Donat erwartet, allein. Es ist hier wie bereits in den Vorgängerstücken Die Korrektur und Die Umsiedlerin einmal mehr die Geschlechterproblematik, an der sich die ungelösten Probleme und die Folgen vom einseitig auf Produktivitätssteigerung ausgerichteten ‚Bau‘ des Sozialismus zeigen. Im Gegensatz zu den früheren Texten rückt diese Problematik in Der Bau aber ins Zentrum. Am Ende steht die Trennung der Liebenden und ein vaterloses Kind: „[D]ein Kind wird keinen Vater haben, wir werden uns mit Genosse anreden wie vorher“.582 Parallel zu dieser hinsichtlich der zwischenmenschlichen Qualitäten des Sozialismus düsteren Prognose springt der Dramentext im Laufe der Handlung immer wieder aus der Form. Das geschieht auf sprachlicher Ebene bereits durch die Titel-Metapher, die aufgrund ihrer Ambiguität eine „Störung des Zusammenhangs“ herbeiführt.583 Neben dem Aufbauen ruft ‚Bau‘ auch die Bedeutung des Einbauens, des Zumauerns und Abschließens hervor und verweist somit auf Kafkas Erzählung „Der Bau“, die um die Themen Sicherheit, Feindabwehr und Paranoia kreist.584 Charakteristisch ist in diesem Zusammenhang die Sprache des Ingenieurs Hasselbein, der als „Hamlet in Leuna“ (343) die Verzweiflung über die „Praxis“ als „Esserin der Utopie“ (343) verkörpert. Mit ihm führt Müller auf der Figurenebene eine Störung des dramatischen Ablaufs ein. Hasselbeins Kommentare und Monologe, die mit historischen und mythologischen Verweisen durchsetzt sind, fungieren nicht als Verfremdung im Sinne des epischen Theaters, sie stehen wie fremde Blöcke im Text und markieren eine Subjektivität, an welcher die äußere Handlung des Dramas (und damit die historische Bewegung des Aufbaus des Sozialismus) abprallt.585 Mit Hasselbein bringt Müller etwas Gespenstisches und Unwirkliches in das Produktionsstück ein, ein radikales Misstrauen am teleologisch vorgezeichneten Ablauf, der auch im Rahmen der Dramenhandlung hinsichtlich der sich durchkreuzenden Planungsebenen und Pläne an den Rand des Chaos reicht. Der Bau erscheint so als „Höllenmaschine

|| 581 Fischborn: Peter Hacks und Heiner Müller, S. 101. 582 MW 3, 396. Zitate, die sich auf Der Bau beziehen, werden im Folgenden nach der Werkausgabe zitiert und in Klammern angegeben. 583 Hans Blumenberg: Theorie der Unbegrifflichkeit. Aus dem Nachlass, hg. von Anselm Haverkamp. Frankfurt/M. 2007, S. 61. 584 Vgl. Franz Kafka: Der Bau. In: ders.: Beschreibung eines Kampfes. Novellen, Skizzen, Aphorismen aus dem Nachlaß, hg. von Max Brod. Frankfurt/M. 1983, S. 132–165. 585 Joachim Fiebach spricht von „Selbstdarstellungen oder […] Selbst-Eröffnung[en] von Figuren“. Joachim Fiebach: Inseln der Unordnung. Fünf Versuche zu Heiner Müllers Theatertexten. Berlin 1990, S. 231.

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[…], montiert aus morgen und gestern“ (335) und thematisiert das Noch-Nicht, dessen Erreichen der Text zugleich in Zweifel zieht.586 Das Stück lagert thematisch um ein Dazwischen. Ein solches Dazwischen bildet es auch in Müllers Werkentwicklung. Als einerseits realistisches Drama über den großindustriellen Aufbau des Sozialismus und andererseits metaphorisch-parabolisches Stück kommt Der Bau einem Scharniergelenk gleich, steht er doch als letztes Gegenwartsdrama am Ende einer Werkphase und gleichzeitig am Beginn einer neuen, die durch die sich steigernde Auflösung der dramatischen Form und eine zunehmend ortlos werdende Utopie gekennzeichnet ist.

4.6.2

Mythos-Rezeption bei Peter Hacks und Heiner Müller

Als erster Text dieser neuen Werkphase kann das nach Sophokles gearbeitete Drama Philoktet gelten. Mit ihm beginnt eine Reihe von Texten, die sich auf sehr verschiedene Art und Weise mit dem griechischen Mythos beschäftigen. In den 1960er Jahren ist eine solche Auseinandersetzung für Müller zentral – nach Philoktet entstehen Herakles 5 [1964/66] und die Bearbeitungen Ödipus Tyrann [1966/67] und Prometheus [1967/68] –, die Beschäftigung mit dem Mythos hat aber auch in den späteren Texten eine große Bedeutung.587 Im Mythos erkennt Müller die Möglichkeit, die gesellschaftlichen Erfahrungen der DDR zu spiegeln. Der Mythos funktioniert in diesem Sinne nicht als Ersatz für das von Seiten der Kulturpolitik unmöglich gemachte Gegenwartsdrama, mithin nicht als Allegorie, sondern als eine andere Erfahrung, die einen Reflexionsraum bereitstellt, als eine „erinnerte[ ] Geschichte“, die das kollektive Gedächtnis von Gruppen und Gesellschaften prägt.588 Als kollektive Erfahrung stellt der Mythos für Müller ein thematisches und figurales Reservoir bereit, zu dem sich zahlreiche Bezüge herstellen lassen, ähnlich einer Maschine, „an die neue und immer andere Maschinen angeschlossenen werden können“589 und die dann aus etwas Altem Neues produziert. Die überlieferten Geschichten der Antike werden im Prozess der Variation und Veränderung, der „Arbeit am Mythos“, die Hans Blumenberg als das Spezifische des Mythos und als dessen Prinzip der Überlieferung beschrieben hat,590 zu etwas anderem, das

|| 586 Vgl. Fiebach: Inseln der Unordnung, S. 54 u. 132; Ulrike Haß: Der Bau. In: HMH, S. 195–197 u. Michael Wehren: Der gespenstische Bau – Spuren und Steine. Anmerkungen zu Heiner Müllers „Der Bau“. In: Heeg u. Girshausen (Hg.): Theatrographie, S. 388–395. 587 Siehe die Aufzählung der relevanten Texte bei: Emmerich: Griechische Antike, S. 171. 588 Lemma ,Mythos‘ in: Hubert Cancik (Hg.): Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe. Bd. 4: Kultbild – Rolle. Stuttgart u.a. 1998, S. 197. 589 MW 8, 336. Siehe auch: MW 10, 356f. 590 Vgl. Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. Frankfurt/M. 1979.

Zwei dramatisch explizierte Geschichtsphilosophien | 247

einen veränderten Blick auf die Gegenwart und die Differenz zur mythologischen Vorgeschichte ermöglicht; und von dieser Gegenwart aus lässt ein rückwärtsgewandter Blick wiederum die Kontinuitäten, die anhaltenden Verbindungslinien zwischen Mythos und Gegenwart, offenbar werden.591 Die Antike wird so zum dialektischen Bezugsobjekt; sie fungiert als eine „Drehscheibe“, wie Müller in einem Gespräch ausführte: Dann bin ich, als ich darüber nachdachte, warum ich das mache, warum ich das schreibe, auf den Punkt gekommen, daß diese ganze antike Dramatik ja entstanden ist an einem historischen Drehpunkt, dem Übergang von der clanorientierten Gesellschaft zur Klassengesellschaft, beim Übergang von der Familie zum Staat, zur Polis. Die Konflikte bei Aischylos, natürlich besonders bei Sophokles, basieren darauf, daß der Übergang vom Familienverband zum Staat zu einem neuen Recht führt, das zu einem alten, das dann wie ein Naturrecht wirkt, im Widerspruch steht. Und daraus kommt die Kollision, daraus kommt die Tragödie. Und dann schien mir interessant, daß an einem neuen historischen Drehpunkt, wo auf dem Programm steht die Aufhebung der Klassengesellschaft, daß man diese alten Kollisionen ganz neu sehen kann, und daß es ungeheuer wichtig ist und produktiv, auf dieser neuen Drehscheibe die alte Drehscheibe anzusehen, und die Formulierung von kollektiven Erfahrungen, die in diesen Texten gegeben ist, neu zu interpretieren. Das war der Ansatz. Es war also eigentlich nicht die Wiederkehr des Gleichen, sondern unter ganz anderen Umständen die Wiederkehr des Gleichen und dadurch auch die Wiederkehr des Gleichen als eines anderen.592

Das materialistische Bild der Antike als werdende Klassengesellschaft fußt auf der Monographie Aischylos und Athen von George Derwent Thomson.593 Die 1957 erschienene Studie des marxistischen Altphilologen über den Zusammenhang von Klassenund Kunstentwicklung war in der DDR nach ihrem Erscheinen für eine gewisse Zeit von großer Bedeutung. Nicht nur Heiner Müller, sondern auch Peter Hacks, der im Mythos ebenfalls „den Zerfall der Gentilordnung und das Werden der Klassengesellschaft“ erkannte, zeigte sich von ihr beeinflusst.594 Im Unterschied zu Müller fasste Hacks den Mythos, dessen historische Relevanz er für gering veranschlagte, aber rein poetisch auf: Der Mythos sei – wie bereits mit Verweis auf Hans Blumenberg ausge-

|| 591 Siehe zur Mythos- bzw. Antike-Rezeption bei Heiner Müller: Rüdiger Bernhardt: Antikerezeption im Werk Heiner Müllers. In: WB 22 (1976), H. 3, S. 83–122; Bettina Gruber: Mythen in den Dramen Heiner Müllers. Zu ihrem Funktionswandel in den Jahren 1958 bis 1982. Essen 1989; Fernando Suárez Sánchez: Individuum und Gesellschaft. Die Antike in Heiner Müllers Werk. Frankfurt/M. u.a. 1998 u. Emmerich: Griechische Antike. 592 MW 10, 334f. 593 Vgl. George Derwent Thomson: Aischylos und Athen. Eine Untersuchung der gesellschaftlichen Ursprünge des Dramas. Berlin 1957. 594 HW 13, 72. Bereits in seiner kulturrevolutionären Kritik der aristotelischen Katharsis Ende der 1950er Jahre hatte Hacks sich auf Thomson bezogen. Vgl. Hacks: An einige Aristoteliker, S. 24. Auch auf die die junge DDR-Philosophie hatte Thomson Einfluss. Vgl. Klaus-Dieter Eichler: Antike Philosophie in der DDR. In: Hans-Martin Gerlach u. Hans-Christoph Rauh (Hg.): Ausgänge. Zur DDR-Philosophie in den 70er und 80er Jahren. Berlin 2009, S. 40f.

248 | Differenzen

führt – durch zahlreiche Münder und Hände gegangen und habe vielfache Veränderungen erfahren: „Das Abgebildete ist vergangen, die Abbildungen blieben“;595 in diesem Sinne gleiche er in seiner Metaphorizität und Verweiskraft auf das Allgemeine ganz dem Poetischen. Die Mythologeme ließen sich aufgrund ihrer Modellhaftigkeit, ihren „unverwechselbaren Grundsituationen“,596 nutzen, weil an ihnen in exemplarischer und vielbezüglicher Weise Haltungen demonstriert werden könnten. Dem Mythos kommt im Kontext von Hacks’ Ästhetik somit die Bedeutung eines poetischen Reservoirs der Utopie zu. Bezieht man den Mythos auf das ästhetische Geschichtsbild, das Hacks seiner Ästhetik zugrunde gelegt hat, so erweist sich dieser als die vorgeschichtliche Seite der Klammer, in welche Hacks die Klassengesellschaft einfasst, und deren andere Seite der Sozialismus bildet. Das Verdienst des Mythos liegt für Hacks in der Anschaulichkeit eines naiven Naturzustandes, in dem die „Klassenverhältnisse […] noch wenig entwickelt, gemütlich, überschaubar“ sind.597 Hacks zieht so einen Heiner Müller entgegengesetzten Schluss, denn für letzteren bedeutet die Metapher der ,Drehscheibe‘, dass der Mythos sich zivilisationsanalytisch lesen lässt, dass seine sozialhistorische bzw. -psychologische Dimension aufgrund der „in den letzten Jahrhunderten ganz wenig verändert[en]“598 menschlichen Beziehungen auch für die Gegenwart aussagekräftig sei. Das Interesse Müllers zielt nicht auf die Differenz von Mythos und Gegenwart, sondern auf deren untergründige Verbindung, auf das diagnostische Potential des Mythos. Die Mythologeme funktionieren als „Sinn-Bilder aus der Frühgeschichte [der] Zivilisation, deren katastrophische, deformierende Wirkung noch andauert.“599 Dementsprechend erscheinen die von Müller gestalteten Antike-Stücke bzw. ihr Personal vielfach beziehbar und weisen eine „Tendenz zur Allegorie“600 auf. Im Mittelpunkt von Müllers Antiketexten steht das Verhältnis von Individuum und Geschichte, oder anders ausgedrückt: der Konflikt zwischen Natur und Geschichte, der in Philoktet als tragischer Konflikt zwischen dem ausgestoßenen Einzelnen mit der schwärenden Wunde und der Gemeinschaft der Griechen durchgespielt wird und den Müller anhand der Differenz der „Zeit des Subjekts und der Zeit der Geschichte“ als „potentielle[n] Kriegsschauplatz“ beschreibt.601 Damit sind zwei in ei-

|| 595 HW13, 69 596 HW 13, 72 597 HW 15, 148. Siehe zur Antike-Rezeption bei Hacks: Frank Stucke: Antikerezeption bei Peter Hacks oder: Erinnerung an die Zukunft. In: Bernd Seidensticker u. Martin Vöhler (Hg.): Mythen in nachmythischer Zeit. Die Antike in der deutschsprachigen Literatur der Gegenwart. Berlin/New York 2002, S. 120–132 u. Heine: Mythenrezeption, S. 256f. 598 MW 10, 357. 599 Emmerich: Antike Mythen auf dem Theater der DDR, S. 251. 600 Bettina Gruber: Mythologisches Personal. In: HMH, S. 75f. 601 MW 8, 215.

Zwei dramatisch explizierte Geschichtsphilosophien | 249

nem Widerspruchsverhältnis zueinander stehende Bezugspunkte genannt, die bereits vorher in Müllers Werk eine Rolle gespielt haben, ab Philoktet aber an eine zentrale Position rücken: Natur und Geschichte.602 Von besonderem Interesse ist der Geschichtsbezug. Müllers Arbeit am Mythos ist eine Arbeit an der Geschichte und der in ihr enthaltenen tragischen Geschehenszusammenhänge; dergestalt sind die Antikestücke Müllers immer auch vor dem Hintergrund von dessen Geschichtsphilosophie zu interpretieren. Diese folgt zwar, wie der Bezug auf Thomsons Studie zur Klassengesellschaft der Polis verdeutlicht, einer marxistischen Lesart, negiert aber, indem sie den Konflikt zwischen Individuum und Geschichte tragisch interpretiert, die teleologischen Aspekte des traditionellen Marxismus. Müllers Geschichtsbild ist eher Walter Benjamins Vorstellung einer Katastrophe, die das „Kontinuum der Geschichte“ bildet,603 einer sich eben auch im Mythos reflektierenden Gewaltstruktur, verpflichtet als der von Hegel inspirierten Geschichtsphilosophie einer historischen Selbstrealisierung der Vernunft, die Marx und Engels als durch Klassenkämpfe katalysierte Abfolge von Produktionsverhältnissen konzeptionalisierten.604 Es sind gerade die tragischen Aspekte der Geschichte, die Müller im Mythos aufsucht, die überbordenden Phänomene der Gewalt und des Ausschlusses, auf die Peter Hacks 1963 am Beispiel der Tantaliden aufmerksam gemacht hat.605 Wo Hacks aber dessen ungeachtet auf eine „Durchheiterung des Mythos“606 zielt und entsprechend seiner ästhetischen und politischen Auffassungen auf die Komödie zurückgreift, konzipiert Müller Tragödien, die er, wie Philoktet, im Anschluss an Brecht als Lehrstücke auffasst.607 Im Folgenden werden die Geschichtsmodelle, die Peter Hacks und Heiner Müller in Margarete in Aix608 und Philoktet entwickeln, analysiert und gezeigt, wie diese die

|| 602 Vgl. Ette: Kritik der Tragödie, S. 484–499. 603 BGS 1, 701. 604 Siehe zum Verhältnis von Müller und Benjamin: Maier-Schaeffer: Utopie und Fragment u. Thomas Eckardt: Geschichtsbilder. In: HMH, Stuttgart, S. 94f. 605 Vgl. HW 13, 69. Müllers „Elektratext“ (vgl. MW 1, 197f.), der für Ruth Berghaus’ Elektra-Inszenierung an der Deutschen Staatsoper entstand (UA 17. Februar 1967), schildert ebenfalls die TantalidenSage als Kette der Gewalt. 606 Püllmann: Von Brecht zu Braun, S. 284. 607 Vgl. MW 4, 259. 608 Die Auswahl von Margarete in Aix mag auf den ersten Blick verwundern, läge es doch nahe, dem Müller’schen Mythos-Stück auch ein solches von Hacks gegenüberzustellen: also die auf Plautus zurückgehende und in einer breiten literarischen Tradition stehende Komödie Amphitryon [1967], das den Sklavendienst des Herakles bei der lydischen Königin Omphale behandelnde Heroen-Schauspiel Omphale [1969] oder die die Erschaffung des Menschen als eines Schöpfers behandelnde Komödie Adam und Eva [1972]. Was im Vergleich zu diesen Texten für die Auswahl von Margarete in Aix spricht, ist die Verschränkung von Politik und Kunst in einem „Geschichtsmodell“ (Kai Köhler: Nachwort. In: Peter Hacks: Margarete in Aix. Komödie in fünf Aufzügen, hg. von Kai Köhler. Berlin 2010, S. 117), das

250 | Differenzen

gesellschaftliche Situation der 1960er Jahre reflektieren. Dabei liegt das Augenmerk auf den gattungstheoretischen Konzeptionen von Komödie und Tragödie, die sich als distinkte, über die Geschichtsphilosophie vermittelte Unterschiede erweisen.

4.6.3

Margarete in Aix

Mit Margarete in Aix609 legte Hacks 1966 ein Stück vor, das als Summe seiner bisherigen ästhetischen Überlegungen gelten kann. Die Komödie reflektiert die Prämissen der sozialistischen Klassik in formaler wie inhaltlicher Hinsicht: als klassisches fünfaktiges geschlossenes Drama und als geschichtsphilosophisch aufgeladenes, autoreflexives Spiel über Politik, Utopie, Kunst und Liebe. Im Folgenden soll gezeigt werden, wie der Text die gesellschaftlichen Felder Politik und Kunst zueinander in Beziehung setzt und in ein geschichtsphilosophisches Komödien-Modell integriert. Vor dem Hintergrund der dargelegten Überlegungen zur Unmöglichkeit des Gegenwartsdramas interessiert insbesondere, wie die Metaphorizität von Margarete in Aix in Bezug auf die zeitgeschichtliche Entstehungssituation funktioniert. Hierbei zeigt sich zudem, wie die Komödie die im vorigen Kapitel beschriebene ästhetische Theorie der sozialistischen Klassik reflektiert. Margarete in Aix ist wie alle Texte von Hacks eminent politisch. In der Haupthandlung erweist sich die Komödie wesentlich als Staatsdrama: Die Provence unter der Herrschaft des guten Königs René ist durch die beiden hegemonialen Reiche Frankreich (Ludwig XI.) und Burgund (Karl der Kühne) in ihrer Existenz bedroht. Durch das Erscheinen von Renés aus England vertriebener Tochter Margarete, die mit militärischer Unterstützung durch Karl den Kühnen den englischen Thron zurückzuerobern beabsichtigt, wird diese Bedrohung zur realen Gefahr, denn die Bedingung für Karls Hilfe ist die Übernahme von Renés Reich und dessen Integration in das burgundische Herrschaftsgebiet. Das Stück zeigt die missgelaunte Margarete in ihrem

|| in ähnlicher und zugleich ganz anderer Weise als Philoktet geschichtsphilosophisch aussagekräftig ist. In dieser Hinsicht erweist sich Amphitryon als unbrauchbar, da hier die Frage nach der Emanzipierbarkeit des Individuums im Mittelpunkt steht; entsprechend verhält es sich mit Adam und Eva, das den Schwerpunkt auf die Selbsttätigkeit des Menschen legt. Einzig Omphale kann durchaus als Staatsdrama bzw. Staatsrettungs-Drama gelten – gerettet wird das Königreich Lydien vor dem Menschenfresser Lityerses –, aber der geschichtsphilosophische Aspekt, der sich im Verhältnis von Genuss und Arbeit des Helden ausdrückt, steht kaum im Mittelpunkt des Textes. – Peter Hacks’ Zugang zum Mythos ähnelt zudem seiner poietischen Haltung zur Historie: bezüglich der Schwellen-Situation zwischen zwei Zeitaltern (im Falle von Margarete in Aix der Übergang vom Spätmittelalter zur Neuzeit bzw. vom Feudalismus zum beginnenden Kapitalismus), der Umschlagsqualität von Altem in Neues und der Anschaulichkeits- und Verständlichkeitsprämisse, die Hacks im Zusammenhang mit der Kritik des Gegenwartsdramas aufgestellt hat. 609 Vgl. HW 4, 5ff. Die Seitenangaben werden im Folgenden in Klammern angeführt.

Zwei dramatisch explizierte Geschichtsphilosophien | 251

provenzalischen Exil (1. Aufzug), ihre Versuche der Bündnispolitik mit Burgund (2. Aufzug) und die erfolgreiche Abpressung der Provence von ihrem Vater (3. Aufzug), Karls Tod bei einer Art Strafexpedition gegen die Schweizer (4. Aufzug) und Margaretes Selbstmord angesichts des Scheiterns ihrer Pläne, schließlich den Übergang der Provence unter die Herrschaft Ludwigs XI. im Rahmen eines großen Festes (5. Aufzug). In diese Staatshandlung ist die Kunsthandlung von Beginn an verwoben. Kunst ist in der Provence Staatsräson: Sie soll mittels zweier königlicher Troubadours und ihrer Spielleute helfen, Margarete aufzuheitern, und zählt zu den wesentlichen Interessen Renés, der selbst mehr wie ein Künstler denn wie ein König wirkt. Zudem steht die Kunst ganz im Mittelpunkt der Nebenhandlung, in der die beiden Troubadours einen poetischen Wettstreit um die Gunst der Hofdame Auriane austragen. Im gesamten Text ist die Kunst in verschiedenen bukolischen Liedern, als Sonett, als Spiel im Spiel oder als Tanzlied formenreich präsent und wird an verschiedenen Stellen auch in theoretischer Perspektive diskutiert, was der Komödie einen autoreflexiven Charakter verleiht. Der Stoff der im späten fünfzehnten Jahrhundert spielenden Handlung ist historisch verbürgt. Im kollektiven Gedächtnis ist er aber kaum präsent, markiert doch die Provence einen Nebenschauplatz der französischen wie der europäischen Geschichte.610 Da er jenseits gängiger Geschichtsinterpretationen und kanonischer Topoi liegt, ermöglicht der Stoff einen unbefangenen ästhetischen Zugriff. Damit eignet er sich in besonderer Weise für Hacks’ Verfahren der Verdichtung und der poetischen Umformung, das nicht auf faktuale Genauigkeit zielt, sondern der Schiller’schen Prämisse verpflichtet ist, „immer nur die allgemeine Situation, die Zeit und die Personen aus der Geschichte zu nehmen und alles übrige poetisch frey zu erfinden“.611 Hacks hält sich demgemäß nur in groben Zügen an das historische Geschehen; zum einen verdichtet er die Realgeschichte,612 zum anderen greift er wesentlich auf || 610 Margarete von Anjou (1430–1482) war als Ehefrau Heinrichs VI. (1421–1471) auf Seiten der Lancaster-Partei an den Rosenkriegen beteiligt. Sie bemühte sich nach dessen Sturz um die Rückeroberung der Krone und suchte dafür bei Karl dem Kühnen (1433–1477) um militärische Unterstützung. Vgl. Helen E. Maurer: Margaret of Anjou. Queenship and power in late medieval England. Woodbridge u.a. 2003. Ihr Vater René (1409–1480) ging als Le bon Roi und Förderer der Künste in die Geschichte ein. Vgl. Margaret Lucille Kekewich: The good king. René of Anjou and fifteenth century Europe. Basingstoke u.a. 2008. Nach seinem Tod ging die Provence in die Herrschaft Ludwigs XI. (1423–1483) über, der gemeinhin als Vorreiter des Absolutismus gilt. Vgl. Paul Murray Kendall: Ludwig XI. König von Frankreich 1423–1483. München 1979. Siehe zum historischen Hintergrund auch die Darstellung bei: Trilse: Das Werk des Peter Hacks, S. 184ff. sowie die Anmerkungen in: Peter Hacks: Margarete in Aix. Komödie in fünf Aufzügen, hg. von Kai Köhler. Berlin 2010, S. 105f. 611 Friedrich Schiller u. Johann Wolfgang Goethe: Der Briefwechsel. Historisch-kritische Ausgabe. Bd. 1: Text, hg. von Norbert Oellers. Stuttgart 2009, S. 858 (Friedrich Schiller an Johann Wolfgang Goethe, 20. August 1799). 612 Vgl. Köhler: Nachwort, S. 117f. u. Trilse 1980, S. 187f.

252 | Differenzen

literarische Quellen zurück, so vor allem auf Walter Scotts Roman Anna von Geierstein oder Die Tochter des Nebels [1829]. Darüber hinaus sind zahlreiche andere literarische Texte als intertextuelle Anspielungen in die Komödie hineingearbeitet; Hacks nutzt sie teilweise zur Konturierung einzelner Figuren, teilweise fungieren sie, wie Schillers Maria Stuart [1800] als semantische Kontraste.613 Mit Margarete in Aix vollzieht Hacks nach den Bearbeitungen Der Frieden, Polly, oder Die Bataille am Bluewater Creek [1964] und Die schöne Helena [1964] die Abkehr vom Gegenwartsdrama erstmals mit einem eigenen Stoff. Das Geschichtsdrama, das ein spezifisches Geschichtsbild vermittelt und, mittels einer geschichtsphilosophischen Interpretation einen Bogen zwischen Vergangenheit und Gegenwart schlagend, für Gegenwartsbezüge offen ist,614 bietet sich vor dem Hintergrund der Überlegungen zur Unmöglichkeit des Gegenwartsdramas sowie den ästhetischen, philosophischen und politischen Prämissen der sozialistischen Klassik in besonderem Maße an. Es ist in gewisser Weise sogar zwingend, denn jenseits des geschichtsphilosophischen Aspekts lässt sich in ihm Anschaulichkeit und Einfachheit aufgrund der übersichtlichen gesellschaftlichen Verhältnisse der Vorzeit wie gebündelt herstellen und für ein Konzept dialektischer Dramaturgie nutzen;615 auch lassen sich die von Hacks favorisierten ästhetischen Mittel, die im Begriff des Poetischen zusammenlaufen, im historischen Königsdrama stimmig anwenden. Wenn Hacks den Text für Gegenwartsbezüge offen hält, so bedeutet das indes nicht, dass Margarete in Aix monosem auf einen versteckten Sinn hin festgelegt sei.

|| 613 Walter Scotts Roman entnimmt Hacks den großen Streit zwischen Margarete und René im 3. Aufzug und die Troubadours sowie zahlreiche weitere Details. Vgl. Walter Scott: Anna von Geierstein oder: Die Tochter des Nebels. Ein Roman; Mit Stahlstich. Neu übersetzt von Ernst Elsenhans. Stuttgart [1862], S. 560ff. u. 506ff. Darauf hat zuerst Christoph Trilse aufmerksam gemacht. Vgl. Trilse: Das Werk des Peter Hacks, S. 187. Eine literarische Quelle hinsichtlich Ludwigs XI. stellt ebenfalls ein Scott-Roman dar. Vgl. Walter Scott: Im Auftrage des Königs. Die gefährlichen Abenteuer des Quentin Durward. Mit einem Nachwort von Traude Dienel. Frankfurt/M. 1976. Die Charakterzeichnung Margaretes verweist auf Shakespeares York-Tetralogie (vor allem Richard III. und König Heinrich VI. Dritter Teil); zu letzterem Stück hatte Hacks bereits 1959 ein Gutachten für das Deutsche Theater verfasst; 1964 bearbeitete er für diese Bühne dann König Heinrich IV. (1. und 2. Teil). Vgl. Peter Hacks: Shakespeares König Heinrich der Vierte. Für einen Abend bearbeitet und teilweise neuübersetzt. Nach dem deutschen Text von August Wilhelm Schlegel, hg. von Gunther Nickel. Berlin 2012, S. 144ff. Siehe hierzu: Kap. 5.2.3.2. 614 Siehe die Überlegungen zu Geschichtsdrama, Geschichte und Geschichtserzählung bei: Kost, S. 41ff. Siehe zum Geschichtsdrama auch: Ingo Breuer: Theatralität und Gedächtnis. Deutschsprachiges Geschichtsdrama seit Brecht. Köln u.a. 2004, S. 1–88. 615 So hebt Hacks als besondere Qualität von historischen wie antiken bzw. mythologischen Stoffen hervor, „daß feindliche Politiker […] mit einander verwandt sind“, was in der Neuzeit kaum noch der Fall sei. HW 13, 64f.

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Die Komödie ist kein „verkleidetes Gegenwartsstück“,616 auch wenn sie sich als gegenwartsbezogene Allegorie lesen lässt. In ihrer historischen Bezüglichkeit funktioniert sie als geschichtsphilosophisches Modell, das das ausgehende Mittelalter auf das Verhältnis von Utopie und Realität absucht. In diesem Zusammenhang stellt der Text die Kunst in besonderer Weise in den Mittelpunkt, indem er diese utopisch auflädt, nach deren Verhältnisbestimmung zur Wirklichkeit fragt und die (Un-)Möglichkeiten der Kunst, gesetzte Zwecke zu verfolgen, taxiert.617 Wie funktioniert das angesprochene Geschichtsmodell? Wie reflektiert der Text die dramatischen Gattungen Komödie und Tragödie? Wie stellt er das Verhältnis von Politik und Kunst dar und was sagt deren Relation über die Eigenschaften des politischen und des ästhetischen Feldes aus? Und wie lassen sich die Antworten auf diese Fragen im Kontext der zeitgenössischen Situation der 1960er Jahre verstehen? Anhand dieser Fragen soll im Folgenden das Stück betrachtet werden. Dabei gehe ich dreischrittig vor und betrachte zunächst den Bereich der Politik, dann den der Kunst und schließlich deren Verhältnis, um am Ende auf den Gegenwartsbezug des Textes zu sprechen zu kommen.

4.6.3.1 Politik und Staat Zentral für die politischen Begebenheiten der Komödie ist die politisch-territoriale Grundkonstellation, die Mittellage der Provence zwischen Frankreich und Burgund. René beschreibt sie im ersten Aufzug als Situation des „Glück[s]“ (17), die aus dem Kräftegleichgewicht der beiden großen Reiche resultiere. Wie ein „Nagel zwischen zwei Magneten“ (17) befinde sich die Provence in einem Zwischenzustand, der nur für kurze Dauer sein könne. Von diesem Kräftegleichgewicht geht die Handlung aus, die mit der Vorstellung einer dieser Mächte im Prolog einsetzt: Ludwig XI., Förderer des Zentralismus und Begründer des französischen Absolutismus, dem man aufgrund seiner weitverzweigten Bündnispolitik, seiner List und Klugheit, aber auch seiner Grausamkeit bereits im zeitgenössischen Diskurs den Beinamen „l’araignée“ (die Spinne) gegeben hat,618 stellt sich als „Hauptperson“ (7) der Komödie vor, in welcher er aber im Weiteren nicht auftritt. Sich selbst als hässlich und unscheinbar beschreibend, kommt er auf || 616 HW 15, 139. 617 Insofern behandelt die Komödie das Verhältnis von Kunst und Politik in grundsätzlicher Weise und ist hierin Hacks’ frühem Columbus-Drama vergleichbar, das ebenfalls an einem historischen Wendepunkt angesiedelt ist und das Verhältnis von Wissenschaft und Politik im Kontext historischen Fortschritts thematisiert. Auf diese Parallele haben Heidi Urbahn de Jauregui und Michael Mitchell hingewiesen. Vgl. Heidi Urbahn de Jauregui: Politik und Kunst – ein heiteres Spiel. Zu „Margarete in Aix“. In: dies.: Zwischen den Stühlen. Der Dichter Peter Hacks. Berlin 2006, S. 55 u. Mitchell, S. 110. 618 Vgl. Elisabeth Frenzel: Stoffe der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte. Stuttgart 2005, S. 553.

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seine Regierungspraxis zu sprechen, die keine Rücksicht gegenüber den „Edeln“ (7), also den Adligen, zeige und zur Not auch zur Gewalt greife: „Ganz recht, der mit den Käfigen, der bin ich.“ (7)619 Zugleich beschreibt Ludwig seine Politik als auf die Unterstützung des Bürgertums und des Handels ausgerichtet und als über den Klassen stehend. Er ist der absolutistische Herrscher schlechthin, demokratische Ansprüche verfolgt er nicht. Wenn er abgeht, um die Komödie zu eröffnen, „spuck[t]“ (7) er auf das Publikum. Dem „finstre[n] Ludwig“ steht als „erprobter Fürst“ (17) der prunkvolle Herzog von Burgund, Karl der Kühne, gegenüber, der ebenfalls nur einen kurzen Auftritt am Ende des vierten Aufzugs hat. Von ihm erfährt man wenig; aus seiner Selbstbeschreibung geht lediglich hervor, dass er sich als Ritter versteht, dessen Leben der Krieg ist (80). Eine genauere, doch konträre Beschreibung von Karls Politik liefert das Gespräch zwischen Margarete und René am Ende des dritten Aufzugs. Erkennt Margarete in ihm einen „Spiegel europäischer Ritterschaft“ (60), so verurteilt René ebendiese ‚Ritterschaft‘ als reaktionär und menschenfeindlich. Sein Land und seine Untertanen mag er nicht dem „eisenfresserischen Dummkopf Karl / Ins ritterliche Gestern“ (60) nachsenden. René unterscheidet zwischen Erscheinung und Wesen: Die Erscheinung Karls sei lediglich Aufgeblasenheit, sein Wesen aber stehe den Interessen Renés entgegen.620 Umgekehrt verteidigt René seinen „arme[n], höchst vernünftige[n] Neffe[n]“ (60) Ludwig: Dessen nach außen brutales Erscheinungsbild sei Ausdruck der Vernunft, die durch die gesellschaftlichen Umstände „in Form der Krankheit“ (61) erscheine. Die „Schwundform jener Vernunft“,621 das „Bild“, das sich „vom Wesen“ getrennt habe (60), erkläre sich aus der Entwicklung, die Ludwigs politisches Programm genommen habe: Den Widerstand des Adels gegen die absolutistische Politik habe Ludwig mit Gewalt gebrochen, dafür aber wider Erwarten von Seiten des Volkes keinen „Beifall“ (60), sondern aufgrund alter Vorurteile, die René als Widerhaken der Vernunft beschreibt,622 den Vorwurf der Grausamkeit erhalten. In der Folge habe sich Ludwig mit der Herausforderung konfrontiert gesehen, nicht nur gegen das Alte, d.h. die Privilegien des Adels, zu kämpfen, sondern auch die Adressaten seiner Politik,

|| 619 Die Käfige können als das im kulturellen Gedächtnis haften gebliebene Bild Ludwigs verstanden werden, auch wenn die Inhaftierung der politischen Gegner Ludwigs XI. in Käfigen mittlerweile von der Geschichtswissenschaft bestritten wird, worauf Kai Köhler hinweist. Vgl. Kai Köhler: Geschichte im Kunststaat. zu Hacks’ „Margarete in Aix“. In: ders. (Hg.): Staats-Kunst, S. 39, Anm. 3. 620 Dieser Widerspruch von Schein und Sein Karls bzw. Burgunds zeigt sich auch im Gespräch zwischen René und Auriane zu Beginn des fünften Aufzugs: René schreibt Burgund hier lediglich Geschmack, aber keine Kunst, lediglich Lebensart, aber kein Leben zu. Vgl. 81f. 621 Köhler: Geschichte im Kunststaat, S. 34. 622 „Weil die Vernunft, die allen viel gibt, jedem / Ein wenig nimmt an Überkommenem, zieht / Die kaum bewußte Menge alte Schläge / Neuen Geschenken vor.“ (60)

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die die Mittel seiner Zwecke verurteilen, zum Gegner zu haben, und sich deshalb anstelle der „Vernunft / Aller“ (61) als einziger Verwalter der Vernunft gesetzt. Daraus resultiert, dass die Vernunft „selbst im Käfig“ (61) sitzt und Ludwig vom Volk gehasst wird. Dass diese Entwicklung der Verrohung der Vernunft in der Praxis nicht auf die Persönlichkeit Ludwigs, sondern auf die allgemeinen Umstände zurückgeführt wird, in denen staatliche Politik erfolgt, wird anhand Renés abschließender Bemerkung deutlich: Würde René ähnlich wie Ludwig eine offensive Politik verfolgen und nicht die Kunst zum obersten Ziel seines Staates erklären, befände er sich in einer ähnlichen Situation: „ich lebte heute nicht, / Ein Schäfer unter Schäfern, auch mein Volk / Gedächte mein in Haß, und Käfige / Stünden in Aix.“ (61) Folgt man René, so eignet dem politischen Handeln eine gewisse Unschärfe, so dass sich die Mittel bisweilen als Gegensatz zum politischen Programm darstellen. Die Übersetzung des Programms in die Praxis erweist sich als widersprüchlich. Was aber ist das für ein Programm? Das Programm ist die Abkehr von der kirchlich dominierten Ordnung des Mittelalters, die Hinwendung zur Rationalität, der Aufbau eines souveränen Staates, die Verhinderung des Krieges, die Unterstützung des Handels und damit – in den Begriffen der marxistischen Geschichtsphilosophie – die Beförderung der Entwicklung hin zum Kapitalismus. Ludwig XI. steht im Rahmen der Komödie für den historischen Fortschritt, seine Politik dient der „bürgerlichen Ausdehnung“ (97), wie sein Gesandter Bosin betont. Wie sich der Fortschritt durch Ludwig aber konkret realisiert, erfährt man im Stück nicht. Die bessere Politik Ludwigs bleibt Renés Behauptung, der zudem nahezu alle anderen Personen des Stücks widersprechen. Insofern ist das historische Fortschrittsschema, das den frühabsolutistischen Staat als Geburtshelfer des Kapitalismus und somit Schrittmacher einer widersprüchlichen Entwicklung zum Besseren setzt, vorausgesetzt.623 Darauf wird an anderer Stelle zurückzukommen sein. In die prekäre Ausgangssituation der Provence greift Margarete mit ihrem politischen Ränkespiel ein. Entsprechend der shakespeareschen Überlieferung ist sie als reaktionäre „Königin der Nacht“ gezeichnet,624 die in ihren Gedanken ganz bei den „lieben, alten schwarzen Bildern“ weilt: „Heinrich erdrosselt, Warwick hingemacht, / Gemetzelt Eduard, mein Sproß“ (14) – und aus der Versenkung in diese Erinnerungen ihr politisches Ziel ableitet, das wesentlich auf Rache für die erlittene Schmach hinausläuft:

|| 623 Vgl. Köhler: Geschichte im Kunststaat, S. 30 u. Jäger: Der Dramatiker Peter Hacks, S. 174. 624 Urbahn de Jauregui: Politik und Kunst – ein heiteres Spiel, S. 56. Siehe: Shakespeare 3, 809ff. u. 873ff. Schon Heinrich Heine beschrieb Margarete in seinen Shakespeare-Studien als „Raubtier“. Heinrich Heine: Shakespeares Mädchen und Frauen. In: ders. Werke und Briefe in zehn Bänden. Bd. 5, hg. von Hans Kaufmann. Berlin/Weimar 1972, S. 515.

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Rache nämlich / Allein ist Heilung. […] / Nur Wiederschlechtmachung macht gut. Nur Übles, / Verübt am Übeltäter, tilgt dein Übel. / Mord nur löscht Mord, nur Untat Untat ganz / Und kehrt in dir den Wermut des Gewesenen / In tiefherkommend innre Süße um. (15)

Dementsprechend brüsk lehnt Margarete die Versuche der von René geschickten Troubadours ab, sie durch Kunst zu erheitern, und heftig drängt sie den Gesandten Karls, den Grafen Oxford, zu rascher Überbringung ihres Plans der „kriegerische[n] Wiederkehr“ (28). In Verfolgung ihrer Absichten ist sie bereit, die Provence zu opfern, und nimmt dabei auch keine Rücksicht auf die sonst von ihr beanspruchte Würde: weder die religiöse noch die adlige.625 Die Provence als Staat wird von ihr nicht ernst genommen, sie ist nur „Schnickschnack“ (52), ein Unterpfand, das bei strafferem Regiment „reichen Zehnten“ (30) einbringen könnte. Mit ihrem Willen zur Fortsetzung der Rosenkriege vertritt Margarete die Position des Mittelalters. Sie ist somit, wie auch Karl, die Vertreterin einer anderen Zeitordnung, die sich historisch überlebt hat. Rache ist ihr zentrales politisches Motiv, d.h. ihr Handeln ist rein negativ bestimmt, was sich im fünften Aufzug auch in ihrem Selbstmord reflektiert; sie zieht noch aus dem eigenen Scheitern Kraft, wenn sie sich tötet, um den Feiernden die „viehische Lust […] und Laune“ (86) zu zerstören.626 Entsprechend der Hacks’schen Orientierung an der klassischen Form des Dramas erfolgt die Peripetie der Handlung, die politische Auseinandersetzung zwischen Margarete und René um die Unterzeichnung des Vertrags zur Übergabe der Provence an Karl den Kühnen, im dritten Aufzug. Hacks hat zwei retardierende Momente in den Streit eingefügt: Zunächst zeigt sich René aus Liebe zu Margarete bereit, den Vertrag zu unterzeichnen: „Ich will dich glücklich, und ich wills vollziehen.“ (58) Als er aber erfährt, dass Margaretes Plan zur Rückeroberung des englischen Throns sich nicht auf Ludwig, sondern auf Karl stützt, revidiert er seine Aussage. Margarete versucht ihn daraufhin unter Verweis auf die persönlichen Vorzüge des Vertrags zur Unterschrift zu überreden, indem sie die Zeit und Muße betont, die René nach dem Rücktritt für die Kunst bleibe. (59) Das scheitert jedoch, weil René Karl rundweg ablehnt.

|| 625 Religiös: Die Einladung zum Kirchenspiel in den Dom von Aix nutzt sie, um sich unauffällig mit dem burgundischen Gesandten zu treffen. Zu Beginn des vierten Aufzugs erweist sich zudem ihr instrumentelles Verhältnis zur Religion, wenn sie die göttliche Billigung ihres umstürzlerischen Vorhabens durch forciertes Beten erreichen will. Vgl. 67f. Adlig: Der Verweis auf die königliche Würde während des Streits mit René ist ihr ein Mittel zur Ablenkung, um René den unterschriebenen Vertrag zu entreißen. Vgl. 63f. 626 Im externen Kommentar zum Stück bezeichnet Hacks Margarete als „Revanchistin“, deren Politik „keinen Inhalt“ habe, da sie einzig nach der Macht ziele. HW 15, 155. Diese Beschreibung der eigenen Figur ist in der Forschung angezweifelt worden. Auch reaktionäre Politik habe einen Inhalt, zudem erweise Hacks selbst Margarete durch die Gestaltung als kluge Psychologin und sprachgewandte Rhetorin dramaturgische Gerechtigkeit. Vgl. Jäger: Der Dramatiker Peter Hacks, S. 178f. u. Köhler: Geschichte im Kunststaat, S. 36f. Diese Einwände ändern meines Erachtens aber nichts an der Schilderung Margaretes als Reaktionärin.

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Dass René dennoch unterschreibt, erklärt dieser selbst damit, dass er angewidert sei. Wollte René also zunächst aus Zuneigung unterzeichnen, so tut er dies nun aus Abneigung. (62). Als René dann aber von dem im Vertrag festgelegten Verzicht auf Lothringen, d.h. dem damit implizierten Verrat an seinem Enkel René Graf Vaudemont, dem Herzog Lothringens, erfährt, will er seine Zusage abermals zurücknehmen und entreißt Margarete das Schriftstück. Am Ende greift Margarete zum letzten Mittel, um des Vertrags habhaft zu werden: Sie beleidigt René als „rotgeschminkte[n] Greis, der sich an Kunst krallt, / Weil Mannheit fehlt, und, weil auch Kunst schon fehlt, / Von längst entschwundener Kunst den Kehricht sammelt“ (64), womit auf den Anachronismus der Troubadours angespielt ist, deren kulturelle Hochzeit im fünfzehnten Jahrhundert zur gespielten Zeit des Dramas längst vorbei ist. Sich in ihrer Verachtung steigernd, wünscht Margarete René den Tod. Dabei gibt sie ihrem Hass sowohl eine persönliche als auch eine allgemeine Perspektive: René ist ein „Hindernis“ (65), weil er sich ihren Plänen in den Weg stellt; er ist aber auch grundsätzlich ihr Gegner aufgrund der anthropologischen Tatsache der Feindschaft zwischen Erzeuger und Erzeugten: „Kind heißt Gegenteil. / Gezeugt mordets den Zeuger, lebend schickts ihn / In das, woraus er es geholt, das Nichts.“ (64) Indem sie die Familienbande, auf die René bei aller Abneigung gegen Margaretes Absichten großen Wert legt, verleugnet, bricht sie dessen Widerstand. Er überlässt ihr den Vertrag, diesmal aus Enttäuschung und diesmal endgültig: RENE läßt das Dokument los: So haßt du mich, der ich mein alles war / Bereit zu geben für dein bißchen Glück? MARGARETE: Sie gaben nichts für mich und nichts aus Liebe. / Aus Schwäche gaben Sie. Es ist nicht zwischen / Liebe und Haß, es ist zwischen Schwach und Stark. (65)

Margarete negiert Renés Vaterliebe und interpretiert dessen Nachgeben im Kontext des Rechts des Stärkeren.627 Was aber ist die Schwäche Renés? Einerseits ist René der Hartnäckigkeit Margaretes nicht gewachsen; er ist kein Machtpolitiker, in gewisser Weise ist er, wie noch zu zeigen sein wird, überhaupt kein Politiker. Andererseits lässt sich Renés Motivation genau mit der Eigenschaft beschrieben, die Margarete verneint: Liebe. Während der Sitzung des Kronrates im ersten Aufzug betont René, dass er seine Tochter liebe, obwohl sie ihm „fremd“ und im Gegensatz zu ihm von „herbem Wesen“ sei: „[I]ch kann / Nicht schlafen mehr, wenn ich sie schlaflos weiß, / Und wenn sie weint, vermag ich nicht zu lachen.“ (23) Dass René aus Liebe handelt, re-

|| 627 Damit verweist sie auf die für das Mittelalter wichtige Rechtskategorie des Faustrechts, das in engem Zusammenhang mit dem Fehdewesen steht. Vgl. Gerhard Lubich: Das Mittelalter. Orientierung Geschichte. Paderborn 2010, S. 94. Siehe auch das Lemma ,Fehde, Fehdewesen‘ in: Robert Auty u.a. (Hg.): Lexikon des Mittelalters. Studienausgabe. Bd. 4. Stuttgart u.a. 1999, Sp. 331f. Margarete zeigt also eine Haltung, die im Zusammenhang mit ihrer Position in den Rosenkriegen steht.

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flektiert auch das als Spiel im Spiel im dritten Aufzug inszenierte und von René verfasste Salomon-Spiel: Der von René gespielte König Salomon identifiziert Margarete während der Aufführung mit der Königin von Saba, der zuliebe Salomo seine Weisheit aufgibt. (54f.)628 Renés Liebe ist aber zugleich mit Scham vermischt, denn René fühlt sich gegenüber Margarete schuldig. Als junger König, der nach Macht strebte, hatte er seine Tochter mit dem Hause Lancaster verheiratet. Dass Margarete in die Auseinandersetzungen zwischen den Parteien der Yorks und der Lancasters verstrickt und aus England verbannt wurde, betrachtet er als Resultat seiner früheren Machtpolitik. (22) Dementsprechend betont er zu Beginn der Auseinandersetzung über den Vertrag, dass er lange gehofft habe, sich ihr gegenüber gefällig zeigen zu können, auch wenn ihm der Inhalt des Gefallens zuwider sei. (58)629 Hacks führt René in einen Konflikt zwischen persönlichem und öffentlichem Wollen, in dem er schließlich vor seiner Tochter kapituliert. Insofern kann von Schwäche gesprochen werden, die aus Liebe resultiert. Das korrespondiert mit der Eigenschaft, die René am besten zu kennzeichnen scheint und für die auch die Provence als Staat einsteht: „Milde“ (16), d.h. ein Verhalten der Freundlichkeit und Sanftheit, dessen Kehrseite die Unentschlossenheit und Nachgiebigkeit ist.630 Seine Schwäche beschreibt René im politischen Zusammenhang allerdings als Stärke. Das hängt mit seinem politischen Selbstverständnis zusammen, das nicht auf Macht zielt und den Krieg ablehnt: Auch ich schlug Schlachten, sechs, doch jede Schlacht / Kostete mich ne Herrschaft, doch mit jeder / Verlornen Herrschaft war ich weniger Knecht, / Und meine Schwäche wurde meine Stärke. (16f.)

Der Seneschall Croixbouc, der höchste Beamte der Provence, empfindet diese ‚Stärke‘, die René als „Glück“ (16) beschreibt, allerdings lediglich als Illusion. Denn was für René als Individuum zutreffen mag, gilt nicht für die Provence. Im Kronrat

|| 628 Das in der Tradition des vielfach bearbeiteten Sagen-Stoffes um Salomon und Markolf (vgl. Frenzel, S. 812f. u. Sabine Griese: Salomon und Markolf. Ein literarischer Komplex im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Studien zu Überlieferung und Interpretation. Tübingen 1999) stehende Spiel im Spiel, das mit den Motiven von Täuschung und Ehebruch auch die Nebenhandlung reflektiert, nimmt somit Renés Verzicht in der folgenden Szene vorweg. 629 Die Aussage, dass René Margaretes Haltungen und Ziele verkenne, wie Kai Köhler meint (vgl. Köhler: Nachwort, S. 121), scheint mir daher zu allgemein. Köhler selbst betont in einem anderen Aufsatz, dass René den Vertrag unterzeichne, um seine „Schuld zu tilgen“. Köhler: „Ich bin dem Zarentum ergeben, also muß ich diesen Zaren stürzen…“, S. 24. 630 Die klimatische Bezeichnung „Provinz der Milde“ (16) ist zugleich politisch. Neben ‚freundlich‘ usw. eignen dem Adjektiv ‚mild‘ sprachgeschichtlich auch die Bedeutungen ‚vernachlässigt‘, ‚weich‘ oder ‚schlaff‘. Vgl. Pfeifer, S. 871.

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schildert Croixbouc, dass deren Zukunft an einem seidenen Faden hänge, da sie aufgrund der Ausgaben Renés für Picknicks, Tennis, Turniere und seine Troubadours fast pleite ist. (18) René schwört daraufhin zwar Besserung, noch in der gleichen Szene aber alimentiert er seine Troubadours und plant das Salomon-Spiel, handelt also finanzpolitisch weiterhin so unverantwortlich wie zuvor. Diese Unbekümmertheit, die Staatsfragen immer den Kunstfragen unterordnet, macht den naiven René zu einer „lächerliche[n] Figur“,631 deren Ansichten sich nicht mit dem realen Geschehen decken; zumal der „König […], der dichtet“ (26) tatsächlich glaubt, er könne Margarete mittels der Kunst aufheitern. Im Kontrast zu diesem mangelnden Realitätssinn zeigt die Wertschätzung, die René für Ludwig äußert, ein gänzlich anderes Verständnis der politischen Situation. Offenbar verfügt René über eine bestimmte Auffassung vom Fortschritt und dessen Widersprüchlichkeit, die ihn trotz seines Wissens um die Grausamkeiten Ludwigs dazu führt, das Aufgehen der Provence in Ludwigs Frankreich ohne Einschränkung zu begrüßen.632 Solcherart beschaffen ist René eine höchst widersprüchliche Figur, die in ihrer Kunst- und Liebesorientierung in gewisser Weise außerhalb der Realität steht. Das gleiche gilt auch für die Provence: Als „Hellas im Westen“ und „Europas Sommer“ (16), mithin als neu realisierte Antike und als Stätte der Aufklärung, der clarté,633 ist sie, wie Kai Köhler schreibt, „nur sehr bedingt ein Staat“; zur politischen Welt des aufziehenden Absolutismus will sie kaum passen, stehen doch ausgelassene Kunstund Liebesspiele in ihrem Mittelpunkt und nicht Heeres- und Finanzpolitik.634 René und die Provence lassen sich vor diesem Hintergrund im Kontext der Hacks’schen Verhältnisbestimmung von Utopie und Realität lesen. Sie verhalten sich zu ihrer Umwelt wie die Zukunft zur Gegenwart, ja sie sind in gewisser Hinsicht die „Verkörperung des […] utopischen Prinzips“.635

|| 631 Kost, S. 237. 632 Dass sich der „Widerspruch zwischen der Vernunft und der rigorosen Weise ihrer Durchsetzung“ als zu „krass“ darstelle und Renés Positionierung zu Ludwig „in der Schwebe“ bleibe, somit grundsätzlich auch „ein Zweifel in das Geschichtstelos“ transportiert werde (Jäger: Der Dramatiker Peter Hacks, S. 172), ist vor dem Hintergrund, dass René den Zusammenschluss mit Frankreich am Ende der Komödie grundsätzlich begrüßt, nicht nachvollziehbar. 633 Auf den Zusammenhang von Provence und clarté verweist Margarete im vierten Aufzug, wenn sie das dunkle Schattenreich England der hellen Provence gegenübergestellt. Vgl. 71. Siehe hierzu: Marion George: „Dichten wie Gott in Frankreich“. Peter Hacks’ ästhetische Provence. In: Véronique Liard u. dies. (Hg.): Spiegelungen – Brechungen. Frankreichbilder in deutschsprachigen Kulturkontexten. Berlin 2011, S. 305. 634 Köhler: Geschichte im Kunststaat, S. 26. Vgl. auch: Jäger: Der Dramatiker Peter Hacks, S. 169 u. Trilse: Das Werk des Peter Hacks, S. 192. 635 Schleyer: Die Stücke von Peter Hacks, S. 121. Siehe auch: Kost, S. 252. Croixbouc beschreibt die Provence am Ende des ersten Aufzugs als närrischen Traum auf Erden, vergleichbar „fliegenden Inseln, / Bewohnten Walfischen, geschwänzten Fraun“. (26) Mit dem Insel-Motiv wird einerseits auf die

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Versteht man René in diesem Sinne als ein Symbol der Utopie wird auch dessen Positionsnahme gegenüber Ludwig nachvollziehbar: Aus der finalisierten historischen Perspektive lässt sich Ludwig mit mehr Nachsicht betrachten; zugleich erscheinen die Kämpfe um Macht und Ruhm als Spiele menschheitlicher Adoleszenz.636 Die utopische Markierung gibt jenseits der konkreten Geschichte, die die Handlung entfaltet, auch einen Hinweis zur Erklärung von Renés Schwäche; entsprechend der Bestimmung des Ideals bei Hacks ist René als verkörperte Utopie einseitig, mehr als Liebe und Milde kann er Margarete bei allem Widerwillen nicht entgegensetzen.

4.6.3.2 Kunst Die Kunst, die auf allen Ebenen des Textes präsent ist, wird im Gesamtverlauf des Stücks einer Untersuchung unterzogen, gefragt wird nach ihrer Funktionalität und Potenz. Dabei erweist sich, dass Kunst, wenn immer sie spezifische Zwecke verfolgt, scheitert. So sind alle Bemühungen, Margarete durch Kunst aufzuheitern, ergebnislos: Margaretes Hass schmilzt durch die Darbietungen der Troubadours nicht „in Musik und Sonne“ (11), sondern wird im Gegenteil noch gesteigert. (14) Das SalomonSpiel erregt Margaretes Abscheu, obschon die Troubadours Jehan und René glauben, sie sei von der Darbietung „besessen“ (51). Und auch in der Nebenhandlung, wo die Kunst der Liebeswerbung dient, erweist sich ihre Wirkung als Illusion; nicht die Lieder des Troubadours Uc de Calezon erregen Auriane, sondern ihr heimlicher Liebhaber Colin, Calezons Spielmann. Einen spezifischen Versuch, Einfluss auf die Kunst zu nehmen, stellt die Episode des Bürgers aus Nîmes dar, der als Mäzen zur Finanzierung des Salomon-Spiels beiträgt. Als Homo oeconomicus erscheint ihm die Kunst als Ware, die er erworben und über die er wie über jeden anderen käuflichen Gegenstand verfügen kann. Dabei verfolgt er einen bestimmten Zweck: Er möchte seine „Gedanken einfließen lassen“ (44), d.h. Werbung für sein Geschäft betreiben. Im Vergleich zu den Schweizern, die Hacks im vierten Aufzug kurz auftreten lässt, erscheint der Bürger aus Nîmes als eine andere Variante der Kunstfeindlichkeit. Die Schweizer Eidgenossen, deren vermeintliche demokratische Freiheit Hacks karikiert, wenn diese sich angesichts des erbeuteten Silbers gegenseitig bekämpfen (78f.), lehnen die Kunst rundweg ab. Sie steht in ihren Augen für das von ihnen überwundene Feudalsystem: Mit den feudalen Vorrechten haben sie zugleich auch mit „griechisch Buchstabieren“, „Minnesang“, „nackten

|| Utopie angespielt, andererseits verweist das Walfisch-Motiv auf das Phantastische der Jona-Erzählung; die Erwähnung geschwänzter Menschen hingegen spielt auf den seit der Antike herrührenden und im Spätmittelalter weit verbreiteten Glauben an solche Menschen an. 636 Darauf verweist das Gespräch zwischen René und seinem Enkel Vaudemont. Vgl. 16.

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Marmorgötzen“ und „Grammatik“, kurz: der Kunst und der ihr verwandten klassischen Bildung, „Schluß gemacht“. (78)637 Der Bürger aus Nîmes identifiziert die Kunst nicht als Signum verhasster Herrschaft, vielmehr hat er Ehrfurcht vor ihr und will sich ihrer bedienen. Croixbouc erklärt ihm, dass eine Beeinflussung der Kunst sich schlecht auf ihre Qualität auswirke: Kunst kaufe man „im Sack“, „sie schimmelt beim Hineinblicken“. (44f.) Das verdeutlicht der Beginn des Salomon-Spiels, wenn der Bürger den eingeforderten Werbetext aufsagt: „Den Sie hier sahn als Cherubim, / Gab Geld für dieses Spiel zu Ehren der redlichen / Hutmacherzunft von Nîmes“. (47) Der stockende Reim geht zu Lasten des Spiels, auf dessen restlichen Verlauf der Bürger, der im Anschluss vom Schauspieler des Markolf von der Bühne geprügelt wird, freilich keinen Einfluss mehr hat. Die Episode thematisiert das Verhältnis von Kunstförderung und Kunstproduktion und fragt nach den Bedingungen von Kunstautonomie. Sie demonstriert, dass Kunst nicht unabhängig existieren kann, zumindest nicht, wenn sie auf eine bestimmte Ausstattung und Publizität bzw. einen bestimmten Verbreitungsgrad zielt. René akzeptiert das, drückt sein Missfallen aber zugleich dadurch aus, dass er den Finanzier „nach [s]einem Text in den Hintern treten“ (47) lässt. Die Szene demonstriert: Wer die Kunst mittels Geld für seine Zwecke einsetzen will, erhält keine Garantie für das gewünschte Ergebnis.638 Ob das dem recht naiven Bürger bewusst ist, bleibt zweifelhaft. In dieser Hinsicht funktioniert er ähnlich wie die beiden feigen und sich gegenseitig hintergehenden Troubadours, die so sehr von sich eingenommen sind, dass sie des Feinsinns für die Wirkung der Kunst vollständig ermangeln. Besonderen Witz zieht Hacks aus dem Umstand, dass diese Künstler zumeist in Prosa sprechen und nicht einmal selbst singen, sondern „[f]ür die bloß ausführende Seite der Sache“ (13) über Spielleute verfügen.639 Die künstlerische Arbeitsteilung wird in der Nebenhandlung ins Absurde getrieben, wenn der Spielmann Colin die ‚ausführende Seite‘ der Liebeswerbung || 637 Hacks verwendet hier Motive des im frühen sechzehnten Jahrhundert einsetzenden reformatorischen Bildersturms. Zugleich klingen in der Figur des Schweizers Züs Winkelried Schillers Wilhelm Tell sowie die mythisierte Geschichte der Schweizer Eidgenossenschaft und der Winkelried-Mythos an. Vgl. Guy P. Marchal: Schweizer Gebrauchsgeschichte. Geschichtsbilder, Mythenbildung und nationale Identität. Basel 2006, S. 305ff. Die Schilderung der Schweizer übernimmt Hacks aber von Walter Scott. In Anna von Geierstein sind die Schweizer ungebildet und können nach der Schlacht gegen Karl den Kühnen „kaum den Werth“ des erbeuteten „Silbergeschirr[s]“ bestimmen. Scott: Anna von Geierstein, S. 563. 638 Heidi Urbahn de Jauregui liest die Szene als „nach Westen gerichtete Satire zum Kunstgebrauch, nämlich zur Sitte, Kunst zu Werbungs- und Steuereinsparungszwecken zu unterstützen“. Urbahn de Jauregui: Politik und Kunst – ein heiteres Spiel, S. 61. Sie ließe sich aber ebenso gut als Anspielung auf die Förder- und Kontrollpraxis des DDR-Kulturministeriums, der Gewerkschaft oder des Schriftstellerverbands verstehen. 639 Kai Köhler meint, dass Hacks „die paradoxe Konstruktion von Trobadors, die nicht selbst vortragen“, erfunden hätte (Köhler: Geschichte im Kunststaat, S. 32); sie ist aber historisch belegt. Die

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übernimmt und mit Auriane schläft. Mit dem Verweis auf die Arbeitsteilung, die als soziologische Markierung der Troubadours als Adlige aufgefasst werden kann,640 leistet Hacks auch eine Kritik dieser Künstler, für deren Lächerlichkeit die sprechenden Namen Uc de Calezon (frz. Unterhose) und Jehan d’Aigues-Mortes (frz. totes Wasser) stehen.641 Anders verhält es sich mit René. Dieser mit einer stupenden Naivität ausgestattete König erscheint zwar immer dann als lächerliche Figur, wenn es um konkrete politische Handlungen geht, und unterliegt den gleichen Illusionen über die Wirkungsmacht der Kunst wie die Troubadours. Er ist aber die einzige Figur des Stücks, die, sieht man von den Ausführungen Croixboucs über die Käuflichkeit der Kunst ab, über Kunstfragen und die Bedingungsverhältnisse von Kunst reflektiert. Dies geschieht an zwei Stellen im Text, anhand der Frage des dunklen oder des hellen Stils und anhand der Frage über das Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit.

4.6.3.3 Der Streit über den dunklen und den hellen Stil Bevor Margarete im dritten Aufzug bei René erscheint, um den Verzicht der Provence zu verlangen, kommt es zu einer Auseinandersetzung zwischen René und einem Artischockenbauern. Der Bauer hat eine Abhandlung Renés gegen den dunklen Stil gelesen und ist beim König erschienen, um dessen Meinung zu widerlegen.642 René hatte in der Schrift argumentiert, dass „ein gutes Lied […] leicht faßlich“ (56) sein müsse: Der einfache Stil eignet Schriftstellern, die nichts verbergen wollen, der dunkle solchen, die etwas zu verbergen haben; in der Lüge wohnt keine Kraft; die Farbe der Aufrichtigkeit aber ist Helligkeit. (56)

|| Arbeitsteilung zwischen dem Troubadour als Dichter und einem Performer, einem sogenannten ‚joglar‘, dessen Aufgabenbereich auch weitere Kunststücke umfasste (vgl. Ruth Harvey: Courtly Culture in medieval Occitania. In: Simon Gaunt u. Sarah Kay (Hg.): The troubadours. An introduction. Cambridge u.a. 1999, S. 16), ist charakteristisch für die Troubadour-Lyrik, auch wenn manche Troubadours sich zugleich auch als ‚joglar‘ betätigten. Vgl. Joseph Harris u. Karl Reichl: Performance and Performancers. In: Karl Reichl (Hg.): Medieval oral literature. Berlin u.a. 2012, S. 141–202. Hacks muss um diesen Umstand gewusst haben; so nennt er einen der Spielmänner, Papiol, nach einem in zahlreichen Texten des Troubadours Bertran de Borns erwähnten ‚joglar‘. Vgl. Harris u. Reichl: Performance and Performancers, S. 180. Siehe allgemein zur Troubadour-Lyrik: Ulrich Mölk: Trobadorlyrik. Eine Einführung. München u.a. 1982. 640 Jehan wird im 3. Aufzug von einem Bauern direkt als „Kavalier“ (56), d.h. als Ritter, angesprochen. 641 Vgl. Hacks: Margarete in Aix, S. 105. 642 Dass ein Bauer beim König erscheint, um diesen zu kritisieren, demonstriert einmal mehr die Eigentümlichkeit der Herrscherfigur Renés.

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Der Bauer hält dieser aufklärerisch-beschränkten Position643 entgegen, dass ebenso auch der Pfarrer argumentieren würde: Ich begann zu zweifeln, und ich sage nun: der einfache Stil ist ein Stil für Pfaffen; denn der einfache Stil bildet ab, worüber man nicht nachdenken muß. Über das Leben aber muß man nachdenken, mithin ist der lebendige Stil der dunkle. […] Die Pfaffen schildern die Welt nach dem Glauben; der Glaube ist eine Erfindung von Köpfen, also nicht schwierig; so kommen sie aus mit dem einfachen Stil. […] [W]er die Wahrheit verhüllen will, tut es mit platten Wahrheiten besser als mit Lügen. (56)

Der Streit ruft unterschiedliche Assoziationen auf. Einerseits verweist er auf die für die Zeit der Troubadours charakteristische Kontroverse zwischen der Trobar clus (provenzalisch: verschlossenes Dichten) und der Trobar leu (provenzalisch: leichtes Dichten).644 Andererseits kann er als allegorischer Kommentar in kulturpolitischer und in konstellatorischer Hinsicht aufgefasst werden.645 Als kulturpolitischer Kommentar lässt sich die Auseinandersetzung lesen, wenn man die Anmerkung des Bauern, die „Pfaffen“ wollten „nachprüfen können, ob die Gedanken der Dichter ebenso albern sind wie die ihren“ (56), im Zusammenhang mit der Anleitungs- und Aufsichtsfunktion der DDR-Kulturpolitik versteht. Die ‚Pfaffen‘ stünden dann für die SED.646 Der aktuelle Zusammenhang bestünde im 11. Plenum vom Dezember 1965, das den Anspruch der SED auf die Kontrolle des kulturellen Feldes in krasser Weise zum Ausdruck brachte.

|| 643 Für die aufklärerische Konnotation spricht auch die Lichtmetapher. Dennis Püllmann vertritt die Ansicht, in René zeige sich „die progressive (und provencialische, also provinzielle) Position der Aufklärung“. Püllmann: Von Brecht zu Braun, S. 362. 644 Die historische Anspielung ist in der Forschungsliteratur, soweit ich sehe, bisher übersehen worden. Vgl. zu Trobar clus und Trobar leu: Ulrich Mölk: Trobar clus, trobar leu. Studien zur Dichtungstheorie der Trobadors. München 1968. Die beiden Richtungen verweisen nicht allein auf spezifisch stilistische und ästhetische Eigenschaften wie Allegorisierungen und Wortspiele, sondern auch auf die Zielgruppe der Dichtungen; so richtet sich die Trobar clus vor allem an ein ausgewähltes Publikum von Genießern, in erster Linie Adlige, weshalb die Kommunikation adliger Wertvorstellungen zu ihren Inhalten zählte. Demgegenüber kann die Trobar leu als ‚demokratisch‘ aufgefasst werden. Vgl. das Lemma ‚Trobar clus, Trobar leu‘, in: Roland Greene (Hg.): The Princeton Encyclopedia of Poetry and Poetics. Princeton u.a. 2012, S. 1462. 645 Eine Anspielung auf die Lyrikdebatte von 1966 mit ihren Fragen von Verantwortung, Repräsentation und vor allem Verständlichkeit schließt sich aus, da Hacks den Text vor Beginn der Debatte in der FDJ-Zeitschrift Forum beendete, und zwar im Februar 1966, wie aus dem Briefwechsel mit dem Drei Masken Verlag hervorgeht. Siehe zur Lyrikdebatte: Gerhard Kluge: Die Lyrikdebatte im „Forum“ (1966). Vermittlung als ideologisches und ästhetisches Problem. In: Lothar Jordan, Axel Marquardt u. Winfried Woesler (Hg.): Lyrik – Blick über die Grenzen. Gedichte und Aufsätze des zweiten Lyrikertreffens in Münster. Frankfurt/M. 1984, S. 164–181 u. Brohm: Die Koordinaten im Kopf, S. 93ff. 646 Eine solche Metaphorisierung nimmt Hacks auch in dem 1968 verfassten Stück Prexaspes vor, in dem die „Pfaffen“ (HW 4, 187) bzw. die Magier für die Partei stehen. Vgl. Bartels: Leistung und Demokratie, S. 132. Siehe zu Prexaspes: Kap. 4.7.1.1.

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Dennis Püllmann fasst den Streit als konstellatorischen Verweis auf Volker Braun und Bertolt Brecht auf. Er versteht die Auseinandersetzung als „Negation einer Negation“, die sich auf das von Brecht ausgebildete Literaturverständnis bezieht, mithin als Ausdruck der in den 1960er Jahren erfolgten Distanzierung von Brecht und dessen Schüler Volker Braun.647 Der Bauer wäre demnach ein gewendeter Wiedergänger des „lesenden Arbeiters“,648 der zwar die Brecht’sche Ideologiekritik zur Anwendung bringt – „Aber der Pfarrer sagt es auch.“ (56) –, damit aber gerade auf Brecht und dessen Nachfolger zielt. In diese Argumentation fügt sich auch Hacks’ Kritik an der im Dienste des Klassenkampfs stehenden „übermäßige[n]“ soziologischen Beweisführung bei Brecht ein.649 Ebenfalls konstellatorisch interpretiert Hans-Jochen Irmer den Streit, in dem er einen „deutliche[n] Außenbezug auf das damals noch freundlich-kontroverse Verhältnis zu Heiner Müller“ erkennt, womit die Differenzierung von ,hell‘ und ,dunkel‘ freilich nicht mehr im Sinne des Streits um Verständlichkeit und Publikumsbreite, sondern als Ausdruck einer geschichtsphilosophischen Tönung verstanden wird.650 Das Manko dieser allegorischen Interpretationen ist, dass sie sich nicht auf den Geschehenszusammenhang des Dramas beziehen. So erscheint der Verweis auf die Brecht-Schule im Kontext von Hacks’ Position zwar einleuchtend. Es bleibt aber unverständlich, warum die Brecht’schen ,Kunst-Pfaffen‘ außerhalb der Kunst stehen; die Entgegensetzung von ‚Pfaffen‘ und ‚Dichtern‘, die der Bauer vornimmt, ist vor diesem Hintergrund nicht plausibel. Auch die kulturpolitische Lesart beruht eher auf einer Allusion. Ergiebiger scheint mir, den Streit über den hellen und den dunklen Stil als autoreflexiven Kommentar zu lesen. Erst im Zusammenhang einer solchen ästhetisch-programmatischen Lesart wird die Position Renés im Rahmen der Auseinandersetzung deutlich; denn der Streit wird zwar aufgrund des Erscheinens von Margarete vorzeitig abgebrochen, René gibt dem Bauern unter Verweis auf die Komplexität des Lebens aber Recht. (57)651 René ist weiter oben als Symbol der Utopie beschrieben worden. Ausdrucksform der Utopie ist für Hacks die Kunst. Im Stück nun erscheint die Provence in ihrer Schwebe zwischen Realität und ästhetischem Raum als deren Verkörperung, was im Sinne eines Pars pro toto-Verhältnisses auch für René gilt.652 Das ergibt sich neben der Verbindung von Kunst und Utopie vor allem aus den zahlreichen Anhaltspunkten || 647 Püllmann: Von Brecht zu Braun, S. 362. 648 Vgl. GBA 12, 121. 649 FR 62. Siehe auch: HW 14, 96. 650 Hans-Jochen Irmer: Peter Hacks. Werke in fünfzehn Bänden. In: Zeitschrift für Germanistik 16 (2006), H. 1, S. 208. 651 Es verwundert daher, wenn sowohl Heidi Urbahn de Jauregui als auch Kai Köhler behaupten, die Frage werde nicht entschieden. Vgl. Urbahn de Jauregui: Politik und Kunst – ein heiteres Spiel, S. 56 u. Köhler: Geschichte im Kunststaat, S. 33. 652 Vgl. Köhler: Geschichte im Kunststaat, S. 36. Siehe auch: HW 15, 155.

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im Text: René tritt nicht nur selbst als Künstler auf, die Figur funktioniert auch in weiten Teilen homolog zum Diskurs der Kunst, d.h. sie repräsentiert diesen. Sein Verhalten ist, wie oben gezeigt, geprägt durch Liebe, der „Materie der Kunst“ (12), die den Charakter utopischen Vor-Scheins hat und in allen Kunstdarbietungen des Stücks präsent ist.653 Zudem zeichnet sich René durch Eigenschaften aus, welche Hacks im Zusammenhang der Komödie als Kunsteigenschaften thematisiert: Naivität und zweckfreie Praxis. Folgt man diesem Zusammenhang, so zeigt sich die Auseinandersetzung um den dunklen und den hellen Stil auf der Bedeutungsebene nicht nur als Verweis auf die ästhetische Beschaffenheit der Margarete in Aix, sondern auf die Kunst überhaupt. Der Gesprächsverlauf zwischen René und dem Bauern markiert den Prozess einer Selbstvergewisserung der Kunst, die im Sinne des von Hacks propagierten Realismusbegriffs auch die „verteufelte[n]“ (57) Tatsachen des Lebens in sich aufnimmt und sich in souveräner Perspektive aller Stile bedient, ähnlich wie Hacks es in „Versuch über das Theaterstück von morgen“ für das klassische Stück behauptet hat.654 Das Gespräch ist eine Selbstkritik der Kunst, die, wie so oft bei Hacks, einem dialektischen Schema folgt: Kunst ist ‚hell‘ (René) → Kunst ist ‚dunkel‘ (der Bauer) → Kunst ist sowohl ‚hell‘ als auch ,dunkel‘ (René); dementsprechend ist auch ein „Volkslied […] im dunklen Stil“ (57), wie René es ankündigt, möglich. Als selbstreferenzieller Bezug verdeutlicht die Auseinandersetzung, wie Margarete in Aix funktioniert: als ,hell‘ und ,dunkel‘ zugleich, d.h. als poetisches Spiel mit zahlreichen Liedern, Situationskomik und derben Späßen und als komplexe, zweifablige dramatische Handlung mit Vers und Prosa alternierender Sprache, durchzogen von literarischen Anspielungen und Verweisen sowie integrierten kunsttheoretischen und geschichtsphilosophischen Kommentaren.655

Das Verhältnis von Kunst und Politik 4.6.3.4 Behandelt der Streit über den dunklen oder den hellen Stil die Erscheinungsweisen der Kunst, so hat das Gespräch zwischen Auriane und René zu Beginn des 5. Aufzugs die Beschaffenheit der Kunst und deren Bedingungsverhältnisse, konkret die Beziehung von Kunst und Wirklichkeit zum Thema.

|| 653 Das entspricht auch dem historischen Diskurs der Troubadour-Lyrik, deren „Zentralthema das Wesen der höfischen Liebe und die Gründe ihres Verfalls“ war. Mölk: Trobar clus, trobar leu, S. 16. 654 „Es stellt Widersprüche dar, das einzige Thema der Kunst. Aber da seine gesellschaftliche Wirklichkeit auf sicheren Fundamenten ruht, dämonisiert es nicht die Widersprüche […]. Sein Verhältnis zu den Widersprüchen ist ohne Hysterie. Es leugnet sie nicht, […] zeigt sie in aller Unbefangenheit und Härte. Es sagt’s wie’s ist.“ HW 13, 31. 655 Die synthetische Verbindung übersehen Wolfram Buddecke und Manfred Fuhrmann, wenn sie den Streit allein als Verweis auf den ‚dunklen‘ Stil der Komödie auffassen. Vgl. Buddecke u. Fuhrmann, S. 291. Siehe ähnlich auch: Trilse: Das Werk des Peter Hacks, S. 191f.

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Hintergrund des Gesprächs ist die Annahme, dass Margaretes Plan erfolgreich und die Provence an Karl den Kühnen verloren ist. Auriane versucht den niedergeschlagenen René zu überzeugen, dass auch Burgund annehmbar und für die Kunst günstig sei. Nach einigen kurzen Wechselreden, in denen René jeweils die Kunstfähigkeit Burgunds leugnet, indem er das Herzogtum mit einer Unfähigkeit zum Kunstgenuss und einer geschmäcklerischen Ästhetik in Verbindung bringt, äußert René auf Aurianes Einwurf „Und wenig […] gleicht die Kunst dem Leben“: Und meint es doch, indem sie ihm nicht gleicht. / Kunst schwebt in einem Reich, das es nicht gibt. / Mit goldnen Flügeln, schimmerndem Gewand / Verstreut sie aus dem Füllhorn unserer Wünsche / Gehoffte Blumen in entworfenen Äther. / Doch wenn sie nieder will zum Boden steigen, / Taucht sie in jenen Nebel ein, der Luft heißt, / Und grauer wird ihr Kleid, ihr Leib verwandelt / Zum Gröbern sich, nimmt an vom erdigen Stoff / Der Tatsachen, und ihre Anmut schwindet. / Am Ende, unten angelangt, nur dem / Noch kenntlich, der Gedanken hat, zu sehn, / Sieht sie genau aus wie mein Neffe Ludwig. (82)

Renés Rede lohnt eine genauere Betrachtung, formuliert sie doch in knappster Form ein Kunstprogramm, das in seiner idealistischen Ästhetik an die sozialistische Klassik erinnert.656 Ich will daher versuchen, Renés Rede Schritt für Schritt nachzuvollziehen: Kunst bedeutet (‚meint‘) die Gesellschaft, die Welt, die Politik (‚das Leben‘) gerade deshalb, weil Kunst diese nicht abbildet (‚nicht gleicht‘). Was Kunst zeigt, ist fiktiv (‚ein Reich, das es nicht gibt‘; ‚in entworfenen Äther‘). Ihre Darstellungsweise ist schön und gehoben (‚goldene Flügel‘, ‚schimmerndes Gewand‘). In ihren Realisationen zeigt sie bestmögliche Vorstellungen (‚gehoffte Blumen‘) des Ideals (‚aus dem Füllhorn unserer Wünsche‘). Solcherart bewege sich die Kunst, so kann man schließen, nicht im Raum der Realität, sondern jenseits von diesem. Nach dieser Bestimmung der Kunst als utopisch folgt eine Einschätzung über deren Metamorphose, wenn sie sich in Richtung auf die Realität zubewegt. Das Ergebnis dieser Verwandlung ist, dass die Kunst an Schönheit verliert (‚ihre Anmut schwindet‘). Der Weg vom Himmel (‚Äther‘) nach unten (‚zum Boden‘) wird analog dem Wiedereintritt in die Erdatmosphäre als Übergang in einen anderen Aggregatzustand beschrieben: Die anders beschaffenen chemischen Bedingungen (‚Nebel‘, ‚Luft‘) verändern die äußere Erscheinung der Kunst und passen sie der neuen Umgebung an (‚verwandelt / Zum Gröbern sich, nimmt an vom erdigen Stoff‘). Mit anderen Worten: Was verschwindet ist die Schönheit der Kunst (ihr ‚schimmerndes Gewand‘). Was aber passiert, wenn die Kunst ganz in der Realität (in der Welt der ‚Tatsachen‘) angekommen, wenn sie ‚unten angelangt‘ ist? René sagt, sie sehe dann ‚genau aus wie mein Neffe Ludwig‘, und das bedeutet, entsprechend der Beschreibung im

|| 656 Treffend hat Winfried Schleyer denn auch René, wenn auch in einem anderen Zusammenhang, als „Dolmetsch[er] für Hacks’ sozialistische Klassik“ bezeichnet. Schleyer: Die Stücke von Peter Hacks, S. 120.

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Prolog: hässlich, blass und grob.657 In dieser Gestalt nun zeige sie sich nur noch denen, deren Erkenntnisvermögen jenseits der Sinne allein auf Vernunft basiere (‚nur dem / Noch kenntlich, der Gedanken hat, zu sehn‘). Die Formulierung, die die Jesus von Nazareth zugeschriebene und in der Literatur seit dem achtzehnten Jahrhundert häufig anzutreffende Phrase ,Wer Augen hat, zu sehen... ‘ aufnimmt und in ein vermeintliches Paradox überführt (das Verb ,sehen‘ hat jenseits der auf den Sehsinn abzielenden Bedeutung, immer auch eine der Erkenntnis), verweist auf das Maß an Phantasie, das die RezipientInnen aufbringen müssen, um in solcher, ganz an die Realität angenäherter Kunst überhaupt noch Kunst erkennen zu können. Umgekehrt gilt aber, dass die Realität offenbar in der Kunst enthalten ist, denn der von René beschriebene metamorphisierende Vorgang des Abstiegs lässt sich umgekehrt auch als Aufstieg beschreiben: Die Kunst enthält die hässliche Realität, der sie aber ‚nicht gleicht‘. Diese ist der ‚graue‘ Untergrund der Kunst, ihr Stoff, dessen Äußerlichkeit die Kunst im Prozess des Kunstwerdens abstreift und ‚verwandelt‘.658 Renés Rede lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Kunst enthält die Realität ihrem Wesen nach (i.e. der nach Abzug der Erscheinungseigenschaften wie Brutalität, Verschlagenheit usw. durch Ludwig repräsentierte Fortschritt), indem sie dieses Wesen, das in der Wirklichkeit nur durch Reflexion einsichtig ist, in einen anderen, nämlich sinnlich erfahrbaren, ästhetischen Modus übersetzt. Die Kunst steht der Wirklichkeit nicht antithetisch gegenüber, wie Auriane meint; sie ist aber auch nicht mit der Wirklichkeit identisch.659 Sie zeigt vielmehr die in der Realität angelegten Möglichkeiten des Fortschritts durch utopischen Vorgriff. Ihr Verhältnis zur Realität ist ein zukünftiges infolge einer Hochrechnung.660 Das entspricht den ästhetischen Überlegungen der sozialistischen Klassik, insbesondere der Verhältnisbestimmung von Ideal und Wirklichkeit und der diesem Verhältnis inhärenten Geschichtsphilosophie. Margarete in Aix verdeutlicht, inwiefern diese für Hacks’ Ästhetik grundlegend ist. Denn die Verhältnisbestimmung, die René vornimmt, geht nur auf, wenn Ludwig XI. wirklich den Fortschritt vertritt. Nur dann kann das Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit als produktiv angesehen werden,

|| 657 Im Prolog heißt es: „Mit langer Nase, die stark abwärts schaut, / Rötlichen Lidern in der Kreidehaut, / Unfesten Backen wie ein altes Weib / Und grob und armem Tuch am dürren Leib“. (7) 658 Renés Rede erinnert an die Beschreibung der Kunst im „Prolog zur Wiedereröffnung des Deutschen Theaters“: „Und wenn die Kunst, um Kunst zu sein, die Erde / Verlassen muß, zur Erde kehrt sie wieder“. HW 1, 213. 659 Eine solche „Identität von Kunst und Wirklichkeit“ behauptet Jäger: Der Dramatiker Peter Hacks, S. 173. 660 Heidi Urbahn de Jauregui schreibt dementsprechend, Ludwigs Politik sei „kaum kunsttauglich, wohl aber kunstträchtig“. Urbahn de Jauregui: Politik und Kunst – ein heiteres Spiel, S. 62.

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nur dann funktioniert der Ausgleich von Kunst und Macht, den die Komödie thematisiert. Da der Fortschritt im Stück sinnlich aber nicht wahrnehmbar ist,661 muss dieser erkannt werden. Renés Formulierung ‚Gedanken hat, zu sehen‘ kommt insofern ein weiterer Sinn zu: Nur wer die Vorannahmen teilt, die entsprechenden ‚Gedanken‘ hat, kann auch die Verhältnisbestimmung nachvollziehen.662 Andrea Jäger schließt daraus auf ein „Legitimationsverhältnis von Kunst und Realität“; die Kunst erscheine als „notwendige Sinnstifterin“ der Politik.663 Ein solcher direkter Zusammenhang zwischen Kunst und Politik lässt sich aber aus Renés Rede nicht herauslesen. Wenn René argumentiert, dass die Kunst an der Politik den utopischen Überschuss sinnfällig mache, so bedeutet das nicht, dass dies mit Notwendigkeit geschehen muss. Auf die Kunst scheint Ludwig kaum angewiesen zu sein. Zudem setzt die Legitimation der Kunst einen Zweck, solche Zweckansprüche an Kunst werden aber im gesamten Stück durch ihr Scheitern zurückgewiesen. Was Renés Rede vielmehr verdeutlicht, ist die Abhängigkeit der Kunst von einer Politik, die gutgeheißen werden kann. In diesem Sinne argumentiert René bereits beim Streit mit Margarete gegen deren Vorschlag, sich mit einer Rente von Karl dem Kühnen in das private Reich der Kunst zurückzuziehen: „Kunst ist ein Zweck als Schatten nur des Glücks.“ (59) Aber auch das bedeutet nicht, dass Kunst in Gänze vom fortschrittlichen Charakter der Wirklichkeit abhängig sei. So versichert René Auriane, dass er auch unter der Hegemonie und Herrschaft Karls des Kühnen weiterhin Kunst treiben werde: Ich werd, / Wie ich es immer tat, bei alten Schäfern / Nach Liedern fragen, und ich werd, wie immer, / Mit Fräulein spaßen, die von mir die Enkel- / töchter sein könnten, allenfalls auch sind. / Aber weil heitere Stimmung stets sich mischt / Aus innerm Zustand und aus dem der Welt, / Wird künftighin in jeder meiner Freuden / Ein Teil gemengt sein, der untröstlich ist. (82)

Der Verlust der Hoffnung auf eine Bewegung zum Besseren hin markiert also nicht unbedingt das Ende der Kunst, aber er nimmt ihr die utopische Perspektive, die René zuvor als wesentlich beschrieben hat.

|| 661 Dafür spricht (1.), dass die Praxis des Fortschritts im Stück nur Behauptung bleibt, aber nicht gezeigt wird; (2.) dass Ludwig fast allen Personen im inneren Kommunikationssystem als ‚finster‘ erscheint; und (3.) der erkenntnistheoretische Unterschied zwischen Erscheinung und Wesen, den René im Streitgespräch mit Margarete betont. 662 Vgl. Köhler: Geschichte im Kunststaat, S. 35. 663 Jäger: Der Dramatiker Peter Hacks, S. 173 u. 285, Anm. 16.

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4.6.3.5 Der Sieg der Komödie über die Tragödie Unmittelbar auf Renés Ankündigung der Untröstlichkeit erfolgt die Nachricht von Karls Tod. Als Margarete vom Scheitern ihrer Pläne erfährt, sieht auch sie ihr Leben als zwecklos an und bringt sich um: Denn der meinem Leben / Mangelt, der Zweck, mein Sterben nämlich hat ihn. […] Daß ich durch groß zur Schau gestellten Schauder / Die viehische Lust denen zerstör und Laune. […] Was ich dem Vater / Nicht antun kann als lebende Königin, / Tu ich ihm an als königlicher Leichnam. (86f.)664

Mit ihrem Bekenntnis zum ‚Schauder‘ erscheint Margarete als Symbol der Tragödie.665 Indem sie noch ihren eigenen Tod durch Rache motiviert, zeigt sie aber gerade nicht die Eigenschaften der klassischen Tragödienheldin. Die Haltung, die Margarete ausstellt, hat wenig gemein mit der erhabenen Gesinnung der tragischen Heldin, ihr Pathos ist negativ.666 Sie ist keine ‚schöne Seele‘, sondern eine „böse Leiche“. (87) So ist bereits der Tod Margaretes nicht tragisch; er veranschaulicht keinen höheren Sinn, sondern wirkt wie ein Streich, den das Kind am Vater verübt. Dieser Eindruck wird von Hacks noch verstärkt, indem der Leichnam Margaretes bis zum Schluss des Dramas auf der Bühne verbleibt. Da niemand ein Interesse am Abbruch des Festes hat, Margaretes Sterbemotivation sich also nicht erfüllt, zugleich aber offensichtlich ist, dass ihr Tod René „die Laune verschlagen“ (91) wird, sind alle bemüht, die Leiche zu verbergen. Notdürftig wird sie hinter einer Tapete versteckt; der Troubadour Jehan tanzt mit ihr und kommentiert dies als „Minne mit Gerippen“ (90);667 bis die Leiche schließlich von den Troubadours in einem Baryton-Futteral versteckt wird. Die Komödie geht hier in die Groteske über, indem sie sozusagen den Titel des Stücks, – Margarete in Aix verstanden als ‚Margarete im Reich der Kunst‘ – bebildert.668

|| 664 Wie Margarete sich letztlich umbringt, bleibt im Text offen. Kai Köhler meint, sie bringe sich „allein durch Willenskraft und sprachliche Selbstsuggestion ums Leben“. Köhler: Geschichte im Kunststaat, S. 37. 665 Winfried Schleyer nennt sie eine „Verkörperung des tragischen Genres“. Schleyer: Die Stücke von Peter Hacks, S. 121. 666 Vgl. den Abschnitt „Reaktion des Helden auf Bedrohung und Leid“. In: Ulrich Profitlich (Hg.): Tragödientheorie. Texte und Kommentare. Vom Barock bis zur Gegenwart. Reinbek bei Hamburg 1999, S. 18. 667 Das kann als ironische Anspielung auf den Totentanz verstanden werden, der sich als allegorisches Motiv der Malerei zu Beginn des 15. Jahrhunderts etablierte. Vgl. Burdorf u.a., S. 775f. 668 Wirkt Margarete vor dem Hintergrund von Schillers Trauerspiel Maria Stuart bereits zuvor als Karikatur Marias, die zwar das Exilschicksal und den Kampf um den englischen Thron, nicht aber deren Würde teilt, so erweist sich Margarete in Aix im Kontext des Genrewechsels (Trauerspiel → Komödie) als Inversion. Schiller lässt Maria moralischen Raum, sie ist im Recht und zugleich im Unrecht (vgl. Gert Vonhoff: Maria Stuart. Trauerspiel in fünf Aufzügen. In: Matthias Luserke-Jaqui (Hg.): Schil-

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Noch während des Festes stellt sich heraus, dass die Provence nie in Gefahr war. Ludwig XI. war durch seinen Agenten Bosin, den Spielmann des Troubadours Uc de Calezon, von Beginn an über Margaretes Pläne informiert und hatte diplomatische Schritte eingeleitet, um Karl dem Kühnen die Niederlage zu bereiten. (96f.) So erweist sich die Handlung, wie im Prolog angekündigt, als Ludwigs eigene „Posse“. (7) Die Komödienhandlung hebt das Schicksal Renés auf. Dieses hätte einer kollektiven Tragödie entsprochen, wären doch auch die „stillen Schäfer, / Sanftmütigen Bürger, grübelnden Gelehrten“ (60) der Provence mitbetroffen gewesen. Renés tragische Verfehlung, seine lange vor der gespielten Zeit des Dramas liegende Hybris, mit Hilfe Margaretes die Macht in England und Frankreich vergrößern zu wollen, mündet nicht in die Katastrophe. Vielmehr wird die Tragödie durch den historischen Fortschritt aufgehalten, was der gattungstheoretischen Argumentation Hacks’ entspricht, die am Anfang seiner ästhetischen Selbstverständigung stand: Die Berechtigung der Tragödie ist durch die Erkenntnis der Historizität aller Konflikte aufgehoben.669 Im Reich der Kunst ist die Tragödie ortlos geworden. Sie ist aber nicht gänzlich suspendiert. So kommentiert Auriane den Konflikt der Nebenhandlung zwischen ihrem Ehemann Croixbouc und Uc de Calezon unter Verweis auf dessen potentiell blutigen Ablauf: „Hier ists ein Spiel. Im Osten oder Norden / Wär es gewiß ein Trauerspiel geworden.“ (44) Vor allem aber Margaretes Tod markiert die anhaltende Präsenz des Tragischen; ohne Zweifel wird er René „das Herz brechen“. (89) Auch das entspricht Hacks’ Position, der keineswegs von einem Verschwinden des Tragischen spricht, sondern nur dessen Verortung im Schicksal durch die sozialistische „Perspektive“ aufgehoben sieht.670 Aber die tragische Erkenntnis des Selbstmords der eigenen Tochter liegt außerhalb der Komödienhandlung. Innerhalb dieser erfährt Margarete eine letzte postmortale Demütigung, wenn René den Vertrag, der die zukünftige Übergabe der Provence nach seinem Tod an Frankreich regelt, auf jenem Baryton-Futteral unterzeichnet, in dem ihr Leichnam verborgen ist. So vollzieht sich mit Margaretes Tod und dem Sieg Renés und Ludwigs die allegorische Ankündigung aus dem Prolog der ersten Fassung von Die Sorgen und die Macht: Die Komödie siegt im Bündnis mit der Historie über die Tragödie.671

|| ler-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart/Weimar 2005, S. 156ff.), Hacks hingegen führt Margarete in die selbstbestimmte Katastrophe, die aus ihrem politischen Programm resultiert und gibt sie, noch gesteigert durch die Groteske, der Lächerlichkeit preis. Vgl. Kost, S. 254. 669 Vgl. GüS 123. 670 GüS 123. 671 Vgl. SORGEN 1, 3f. Die intertextuelle und gattungsspezifische Dimension von Margaretes Tod, der stofflich in Walter Scotts Roman Anne of Geierstein vorgeprägt ist (vgl. Scott: Anna von Geierstein, S. 583f.), übersieht Ewa Szymani, wenn sie Margarete im Sinne der modernen Allegorie nach Walter Benjamin einseitig als „Collage“, mithin als Allegorie der Allegorie auffasst. Mit Margaretes Tod formuliere Hacks eine „Absage an die Allegorie“ und „die Kunst der Moderne überhaupt“, indem er in Margarete das Gegenteil der eigenen ästhetischen Position vorzeige und vernichte. Szymani, S. 59.

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4.6.3.6 Die Machtlosigkeit der Kunst Die prospektive Integration der Provence in Frankreich unter Beibehaltung von deren „Rechte[n] / Und Privilegien“ (98) markiert das Happy End der Komödie. Damit ist, versteht man die Handlung allegorisch, hinsichtlich des Verhältnisses von Kunst und Politik eine eindeutige Aussage getroffen: Die Kunst, welche im Laufe der Handlung in Gefahr gesetzt wurde, ist gerettet, ihr Fortbestand garantiert, indem sie sich an Frankreich anschließt und in Ludwig eine Schutzmacht findet, denn die fortgesetzten Privilegien, die der Vertrag mit Ludwig gewährt, können als Garantie der Autonomie der Kunst verstanden werden.672 Das „Geschichtsmodell“,673 das Margarete in Aix realisiert, verdeutlicht: Kunst und Politik sind zwei voneinander geschiedene gesellschaftliche Felder. Diese sind miteinander verbunden, ihre Einflüsse aufeinander differieren aber. Direkte Einwirkungen gibt es indes nicht: Externe Einflüsse auf die Kunst scheitern im Rahmen der Komödie ebenso wie umgekehrt der Versuch, mittels Kunst außer ihr liegende Zwecke zu verfolgen. Der Text demonstriert das in der Haupthandlung auf dem Feld der Politik, in der Nebenhandlung auf dem der Liebe. Die Autonomie der Kunst ist aber eingeschränkt. Wie gesehen, ist eine fortschrittliche Politik die Voraussetzung ihrer utopischen Existenz, die ja Hacks im Rahmen der sozialistischen Klassik zugleich als ihr ‚Wesen‘ definiert. Fehlt diese, wird Kunst zum „Schutzschirm gegen die Realität“.674 Schutz bietet sie, wenn René sich auf dem Höhepunkt der Handlung nach der Unterzeichnung des Vertrags zugunsten Burgunds wieder der Diskussion über den hellen und den dunklen Stil zuwendet. Renés in diesem Zusammenhang gewählte Formulierung – „Für ein paar Scherze [meine Hervorhebung, R.W.] hätt ich wieder Zeit.“ (66) – lässt allerdings aufhorchen: Wie irrelevant die Kunstdebatte vor dem Hintergrund der Fragen von Staat und Politik ist, scheint René selbst bewusst zu sein. Dennoch handelt er so und nicht anders, bzw.: er handelt gar nicht. Wenn René symbolisch für die Kunst steht, so bedeutet das, dass die Kunst im Feld der Politik machtlos ist. Sie kann nur auf den guten Gang der Dinge hoffen, diesen aber nicht befördern. Margarete in Aix zeigt sich so als hochgradig selbstreflexiver Text, der die bereits in der Bearbeitung des Frieden vorhandene Botschaft der Ohnmacht der Kunst675 im Rahmen einer historischen Handlung entfaltet und diese Ohnmacht auf formaler || Szymanis Allegorie-These beruht auf der Behauptung, in Margaretes Figur seien „Zitate aus Maria Stuart und Wilhelm Tell […] und aus Richard III. […] einmontiert“ (Szymani, S. 59), was sich bei näherer Untersuchung als Behauptung herausstellt. Die Autorin hat hier offenbar die vagen Hinweise von Horst Laube übernommen, die dieser aber als „Anspielungstechnik“ und nicht als Zitate ausstellt. Laube, S. 62. 672 Vgl. Jäger: Der Dramatiker Peter Hacks, S. 175. 673 Köhler: Nachwort, S. 117. 674 Köhler: Geschichte im Kunststaat, S. 33. 675 „Hast du je gehört […], daß einer, der auf dem Pegasus saß, etwas erreicht hätte?“ HW 3, 213.

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Ebene entsprechend der Semantik der Formen und der Pomphaftigkeit der sozialistischen Klassik unterläuft. Vergegenwärtigt man sich die zahlreichen intertextuellen Verweise und kunsttheoretischen Anspielungen, die Lieder und Gedichte und das Spiel im Spiel, zeigt sich die Komödie nicht nur als großer ästhetischer Kommentar; sie flutet geradezu die Wahrnehmung des Publikums, indem sie sich offensiv als Kunst ausstellt. Die Komödie demonstriert zudem, dass die Kunst selbst nur innerhalb der historischen Bewegung des Fortschritts zu ihrem zwecklosen Ziel, d.h. zu sich selbst kommen kann. Diese historische Bewegung ist am Beispiel des Ausschnitts aus der französischen Geschichte des ausgehenden Mittelalters positiv gedeutet.676 Der Fortschritt, dem die Brutalität Ludwigs und der tragische Selbstmord Margaretes inhärent sind, findet seine Beglaubigung durch die Geschichte.677 Dabei wirkt es vor dem Hintergrund von Hacks’ Konzeptualisierung absolutistischer Herrschaft folgerichtig, dass Ludwig als Garant für diesen Fortschritt steht. Nicht die auf eine politische Demokratie abzielenden Schweizer markieren den Fortschritt,678 sondern Ludwig und seine kluge Politik der Intrige, die mit der Vernunft im Bündnis agierende Macht des absolutistischen Staates, die hier erstmals mit dem für Hacks charakteristischen Begriff der „Staatsklugheit“ (97) bezeichnet wird.

4.6.3.7 Mögliche Gegenwartsbezüge Der historisch-dramatische Sinnentwurf, den die Komödie vorstellt, kann als Folie eines „Zeitalterumbruch[s]“679 verstanden werden, dessen Gelingen über die gespielte Zeit hinausweist und ebenso für die Gegenwart Geltung beansprucht. Insofern liegt es nahe, das Modell des Textes auf die DDR der 1960er Jahre anzuwenden, wofür sich einige Anhaltspunkte finden: Da ist zum einen die politische Konstellation der

|| 676 Peter Hacks’ externer Kommentar ist in dieser Hinsicht sogar noch eindeutiger als das Stück selbst. Die historische Bewegung, die Ludwig ins Recht setzt, wird darin als „Sieg […] von historischer Notwendigkeit“ bezeichnet, der aus einer „modernen Politik“ resultiere. HW 15, 155. Kai Köhler hat zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass Hacks’ Kommentar bei der Interpretation des Stücks mit Vorsicht zu gebrauchen sei. Vgl. Köhler: Nachwort, S. 123. Andrea Jäger, die sich in ihrer Analyse wesentlich auf den externen Kommentar und erst in zweiter Linie auf den dramatischen Text selbst bezieht, kommt zu dem Urteil, Hacks demonstriere mit Margarete in Aix die Notwendigkeit des historischen Gesetzes, das er mit seiner Kunst illustriere. Vgl. Jäger: Der Dramatiker Peter Hacks, S. 175 u. 183. 677 Hacks hat darauf hingewiesen, dass der den Konflikt lösende „Gott aus der Maschine diesmal nicht aus der Maschine, sondern aus der Historie“ kommt. FR 51. Siehe auch: George, S. 311. 678 Diesen Aspekt wie auch die Herabsetzung der Schweizer blendet Christoph Trilse aus, wenn er ein Bündnis aller „humanistischen Kräfte“ konstatiert. Trilse: Das Werk des Peter Hacks, S. 188. 679 Trilse: Das Werk des Peter Hacks, S. 193.

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Provence zwischen den beiden Großreichen, die in die Machtverhältnisse des zwanzigsten Jahrhunderts übersetzt werden kann, so dass Frankreich für den östlichen und Burgund für den westlichen Block stehen. Auf eine solche Bedeutungsübertragung verweist der Text auch indirekt, wenn René Burgund mit einem faulen und Frankreich mit einem noch unreifen, grünen Apfel vergleicht. (81)680 Da ist zum anderen die Beschreibung Ludwigs selbst, der wie eine historische Spiegelung Walter Ulbrichts erscheint: Er ist beim Volk unbeliebt, herrscht mit List und Tücke, ist rachsüchtig gegenüber seinen inneren Feinden; selbst die Art der politischen Staatseinrichtung erinnert an ihn, denn auch Ludwig XI. verfügte mit dem Conseil d’Etat über einen Staatsrat, mittels dessen er an den traditionellen politischen Kräften vorbei regierte.681 In diesem Sinne formuliert Margarete in Aix die Botschaft, dass die Kunst sich an die Seite des Sozialismus stellen müsse, weil diesem die Zukunft gehöre, egal wie „grau[ ]“ (82) sich dessen Gegenwart auch immer ausnehme.682 Dass sich hierin die Haltung des Autors ausdrückt, ist unzweifelhaft, liegt die Parallele zu Hacks’ öffentlich bezogenen politischen Positionen wie den Reflexionen über den Zusammenhang von Utopie und Realität doch auf der Hand. Bleibt die Frage, ob die Komödie sich in dieser Aussage erschöpft, also ein „Gegenwartsstück[ ] mit historischem Stoff“683 ist, oder ob sie diese Aussage als eine mögliche Mitbedeutung des Modells transportiert? Peter Hacks hat sich stets gegen direkt allegorische Lesarten seiner Dramen verwahrt. Sie sollten gerade nicht als aus sich selbst heraus nicht erklärbare Texte rezipiert werden, die wie eine Parabel, nur auf das verweisen, „was sie ins Gleichnis setz[en]“. Im Kontext der Überlegungen zur Problematik des Gegenwartsdramas wollte Hacks seine dramatischen Texte vielmehr als „mehrfach anwendbar“ verstanden wissen.684 Die Rezeption von Margarete in Aix zeigt indessen, dass dieses Anliegen nicht zum Tragen kam: Entweder wurde der Text als neoklassizistisches Spiel mit literarischen Formen, ja als ein „Theater der Unverbindlichkeit“ aufgefasst, in welches Hacks seine „ideologischen Weisheiten“ eingestreut habe;685 oder die

|| 680 Hacks hat eben dieses Apfelgleichnis anlässlich einer P.E.N.-Diskussion in Hamburg benutzt, um die Differenz zwischen Sozialismus und Kapitalismus zu verdeutlichen. Vgl. Thiel, S. 291. 681 Vgl. Kendall, S. 125ff. 682 So hat auch André Müller sen. die Komödie nach ihrer deutschen Erstaufführung in Wuppertal und Göttingen (8. November 1969) aufgefasst: „Aber diese Kunstwelt muss sich politisch zwischen dem fortschrittlichen Frankreich und dem reaktionären Burgund entscheiden, ein Gleichnis, das für die Alternative Sozialismus-Kapitalismus steht.“ Zit. n.: Laube, S. 62. 683 Köhler: Nachwort, S. 116. 684 HW 14, 39 u. HW 13, 114. 685 Ernst Schumacher: Die ,gebildete Komödie‘ um die Margarete in Aix. Theater der Unverbindlichkeit in der Volksbühne. In: BZ, 16. Oktober 1973, S. 6. u. Jürgen Buschkiel: Nachspiel zu den Rosenkriegen. Peter Hacks’ Schauspiel „Margarete in Aix“ – Uraufführung in Basel. In: Die Welt, 25. September 1969, S. 23. Siehe auch: Ivan Nagel: Komödie aus allen Komödien. „Margarete in Aix“ in Basel.

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Komödienhandlung galt als direkte Parabel auf „Probleme der sozialistischen Entwicklung und der Rolle der Kunst in ihr“.686 Der autoreflexive Charakter, der neben den Gegenwartsbezügen steht, wurde außer Acht gelassen.

4.6.3.8 Die Rezeption in der DDR Davon zeugt auch die unmittelbare Rezeption in der DDR-Öffentlichkeit, die einmal mehr auf das mit der Suspension des Gegenwartsdramas nicht gelöste Problem der realsozialistischen Allegorese verweist. Nach Veröffentlichung von Margarete in Aix im Februar 1967 in Theater heute, erschien am 26. Februar auf der Kulturseite des Neuen Deutschland ein anonymer Leserbrief aus Westdeutschland. Der Autor des Briefes, den die Reaktion mit der suggestiven Frage „Wo schimmelt die Kunst?“ überschrieb, beschwert sich über das Stück, das in seinen Aussagen uneindeutig und somit als Waffe im Rahmen der Systemauseinandersetzung unnütz sei. Besonders hebt der Brief auf die von Croixbouc in der Auseinandersetzung mit dem Bürger aus Nîmes getroffene Aussage „Wenn in diesem Land nichts gut ist, Stücke sind es“ (44) ab. Die Stelle wie auch das weitere Gespräch über die Autonomie der Kunst wird auf die DDR bezogen und somit als Ausdruck von Hacks’ „arrogant[em]“ Verhalten gelesen.687 Peter Hacks reagierte noch am gleichen Tag mit einer vierseitigen „Antwort an einen Freund in Hannover“, in welcher er die notwendige Differenzierung zwischen „realistische[r] Historie“ und „gleichnishafter Literatur“ anmahnte und die „abwegigen und dem Wesen des Stücks fremden Eindrücke[ ]“ zurückwies; die Kultur-Redaktion des Neuen Deutschland forderte er auf, die Antwort „in der entsprechenden Aufmachung und an der nämlichen Stelle“ abzudrucken.688 Aber das Neue Deutschland druckte die Antwort nicht ab, anscheinend reagierte es überhaupt nicht auf Hacks’ Schreiben, zumindest findet sich in der überlieferten Korrespondenz kein Antwortbrief. Hacks kündigte daraufhin am 5. März dem Zentralorgan der SED jede weitere Zusammenarbeit auf und unterstellte, dass die Redaktion, „den Stumpfsinn [i]hres

|| In: Th 9 (1969), H. 11, S. 18. In diesem Sinne liest auch Andrea Jäger den Text, den sie als „Material für die Darstellung allgemeingültiger Prozesse“ auffasst. Jäger: Der Dramatiker Peter Hacks, S. 183. 686 Jürgen Engler: Stoffe, Kostüme und große Fragen. [Rezension zu: Peter Hacks „Ausgewählte Dramen 2“]. In: ndl 26 (1978), H. 6, S. 137. In der Allegorie-Lesart am weitesten geht Ewa Szymani, die die Aussage des Textes folgendermaßen zusammenfasst: „Nur als ein Staat der Künstler kann die DDR eine Identität haben.“ Szymani, S. 56. 687 Jürgen B.: Wo schimmelt die Kunst? In: ND, 26. Februar 1967, S. 8. Bereits zuvor war eine öffentliche Lesung des Stücks im Club der Kulturschaffenden ohne Angabe von Gründen abgesagt worden. Vgl. Stefan Huth: „Wo leben wir denn?“ Zum zehnten Todestag. Briefe des Dichters Peter Hacks (1928–2003) an das Kulturministerium der DDR. In: jW, 28. August 2013, S. 10 (Peter Hacks an Kurt Bork, 19. Februar 1967). 688 Peter Hacks an ND, 26. Februar 1967, DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit dem ND.

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analphabetischen V-Manns“ billige und ihn selbst als einen „Feind“ betrachte.689 Hacks wehrte sich mit seinem Protestschreiben allerdings nicht dagegen, die symbolische Konzeption der Historie um René und Margarete von Anjou auch als Parabel aufzufassen, deren Anwendung im Rahmen der Systemauseinandersetzung statthaft sei; in gewisser Weise drehte er die Mehrdeutigkeiten einschränkende Argumentation des anonymen Leserbriefschreibers nur um, wenn er betonte, dass es sich bei Margarete um Aix um ein Stück „gegen den Revanchismus“ handle.690

4.6.4

Philoktet

Philoktet ist Heiner Müllers erster Antike-Text, der zugleich den Akzent für alle nachfolgenden, im weitesten Sinne des Wortes den Mythos aufgreifenden Texte legt. Das 1958 begonnene und 1964 fertiggestellte Stück kann als Müllers erste Tragödie aufgefasst werden, die bereits Merkmale der in den späten 1960er Jahren sich ankündigenden Ästhetik der „Überschwemmungen“691 aufweist. Die Besonderheit von Müllers Philoktet ergibt sich aus der Reduktion und Zuspitzung der sophokleischen Vorlage. Das Geschehen erscheint als ausweglos, was auf das von Müller stets hervorgehobene „Modell“692 des Textes sowie dessen spezifischen Lehrstückcharakter verweist. Wie diese Zuspitzung funktioniert, d.h. wie das Modell des Textes gearbeitet ist und auf welchen Strukturelementen und geschichtsphilosophischen Annahmen es basiert, soll im Folgenden untersucht werden. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf dem Prolog, der wesentlich zum Verständnis des Textes im Kontext einer später näher zu bestimmenden Didaxe beiträgt. Im Zusammenhang mit dem Lehrstückcharakter und der sich im Modell explizierenden Geschichtsphilosophie steht auch die Gattungsverortung des Textes als Tragödie, die, wie zu zeigen sein wird, die klassische Tragödie des Sophokles unterläuft.693 Zu fragen ist schließlich, in welchem Verhältnis zur Gegenwartssituation der 1960er Jahre Philoktet steht.

|| 689 Peter Hacks an ND, 5. März 1967, DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit dem ND. In der Folge erschienen bis zur Uraufführung des Stücks in der DDR (14. Oktober 1973) keine Besprechungen. Eine ablehnende Haltung bezüglich eines Stückabdrucks hatte zuvor bereits der Chefredakteur von SuF Wilhelm Girnus gezeigt. Vgl. Armin Zeißler an Peter Hacks, 17. Mai 1966, DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit SuF. 690 Peter Hacks an ND, 5. März 1967, DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit dem ND. 691 MW 10, 60. Siehe hierzu: Frank Raddatz: Der Demetriusplan oder wie sich Heiner Müller den Brechtthron erschlich. Berlin 2010, S. 103ff. 692 MW 8, 158. 693 Manfred Kraus kommt zu dem Urteil, dass das Sophokles-Stück „die unmittelbare Vorlage des Müller’schen Stücks“ sei. Manfred Kraus: Heiner Müller und die griechische Tragödie. Dargestellt am Beispiel des „Philoktet“. In: Poetica 17 (1985), H. 3/4, S. 299; siehe dort auch: S. 328ff. Der Philoktet des Sophokles (409 v. Chr.) ist das einzige erhaltene antike Drama über den Philoktet-Mythos, dessen

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Die Auseinandersetzung Heiner Müllers mit der Figur des von den eigenen Kampfgefährten ausgesetzten Philoktet beginnt nicht erst mit dem Dramentext Philoktet. Müller, der nach eigener Aussage Ende der 1940er Jahre Sophokles gelesen hatte,694 schrieb bereits 1950 einen Philoktet-Text. Das Gedicht „Philoktet 1950“695 ähnelt schon dem späteren Drama: Die göttliche Konfliktlösung des Sophokles ist gestrichen und durch Gewalt ersetzt; im Mittelpunkt des Textes steht das auf sich selbst zurückgeworfene Individuum. Die radikale Lösung des Dramas, also Philoktets Tod, kennt das Gedicht aber noch nicht. Zudem rückt Müller das Motiv des Stolzes in den Vordergrund, so dass die Weigerung des Philoktet nicht durch Hass, sondern durch die Wiederherstellung seiner persönlichen Ehre motiviert ist, was Müller im Nachhinein als Ausdruck einer beleidigten Individualität interpretierte, welche das Gedicht verurteile.696 Nicht auszuschließen ist, dass das Drama, das als Modell eines Ausschlusses gelesen werden kann, auch auf eine autobiographische Motivation zurückgeht. Müller selbst hat in Hinblick auf den Rauswurf aus dem Schriftstellerverband und der darauf folgenden Isolierung – eine Zeit, in der Müller selbst „eine Art Insel“ war – geäußert, diese „Erfahrungen“ hätten ihm „den Stoff ganz anders aktuell gemacht“.697 Das bedeutet aber nicht, dass der Dramentext direkt auf Müllers Biographie zurückgeführt werden kann – etwa in dem Sinne, dass Müller in Philoktet ein Alter Ego erkannte. Philoktet lässt, wie zu zeigen sein wird, eine solche Identifikation mit dem verwundeten und ausgesetzten Helden nicht erkennen. Auch unterschlägt eine solche enge biographische Lesart den politischen Autor Heiner Müller und dessen Verbindung von Tragödie und Lehrstück.698

|| Überlieferung auf Homers Ilias zurückgeht. Die Philoktet-Dramen von Aischylos und Euripides sowie weiterer antiker Dichter sind nur durch andere Quellen bekannt. Seit der frühen Neuzeit hat der Stoff zahlreiche Dramatisierungen erfahren, die für meine Analyse aber nur am Rande von Interesse sind. Vgl. Frenzel, S. 760 u. Kraus: Heiner Müller und die griechische Tragödie, S. 307, Anm. 36. 694 Vgl. KoS 147. 695 Vgl. MW 1, 15. 696 Müller spricht von einer „stalinistische[n] Version“. KoS 147. Siehe zu „Philoktet 1950“: Eva C. Huller: Griechisches Theater in Deutschland. Mythos und Tragödie bei Heiner Müller und Botho Strauß. Köln u.a. 2007, S. 47f. Müllers späterer Text „Philoktet 1979. Drama mit Ballett“ spielt im Folgenden keine Rolle. Siehe hierzu: Huller, S. 100–102. 697 KoS 146f. An anderer Stelle äußerte Müller, Philoktet sei das einzige Antike-Stück, das ihn „von vornherein als Stoff interessiert“ habe. MW 12, 33. 698 Jürgen Söring erkennt in Philoktet eine „mythische Projektions-Figur zur Verarbeitung einer Grunderfahrung“. Jürgen Söring: Das Schreien des Philoktet. Sophokles und Heiner Müller. In: ders. (Hg.): Le théâtre antique et sa réception. Hommage à Walter Spoerri. Frankfurt/M. u.a. 1994, S. 164. Vorsichtiger argumentiert Frank Raddatz, der eine „Affinität zur Gewalt, wie sie für die Konstitution der Tragödie wesentlich ist“ aufgrund „[a]utobiographische[r] Erlebnisse“ konstatiert. Raddatz: Der Demetriusplan, S. 85.

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4.6.4.1 Die Fabel Die Fabel Müllers orientiert sich am Philoktet des Sophokles.699 Auf dem Weg der Griechen nach Troja kommt es zu einem Seesturm, den zu beendigen Poseidon ein Opfer gebracht werden soll. Als Philoktet die Opferung vollzieht, wird er von einer Schlange gebissen, die am Fuße des Opferaltars liegt, und zieht sich eine nicht heilende Wunde zu. Solcherart „im […] Dienst“700 verwundet, wird Philoktet für die Griechen unbrauchbar, denn auf den Sturm folgt eine Flaute und das Opferritual, welches Poseidon mit „vorgeschriebne[m] Schweigen“ (321) gebracht werden muss, kann aufgrund von Philoktets Schmerzensschreien nicht vollzogen werden; zudem raubt der Schreiende den Truppen den notwendigen Schlaf. Daher setzen die Griechen, einer Idee Odysseus’ folgend, den Verwundeten auf der menschenleeren Insel Lemnos aus und ziehen ohne ihn in den Krieg. Als sich nach zehn Jahren der Kampf um Troja als aussichtslos erweist, soll Philoktet zurückgeholt werden, um das Blatt zu wenden. Mit der Ankunft Odysseus’ und Neoptolemos’ auf Lemnos setzt die Handlung ein. Wie auch bei Sophokles erweist sich das Unternehmen der Rückholung des Philoktet als schwierig, da der Ausgesetzte voller Hass gegen die Griechen im Allgemeinen und gegen Odysseus im Besonderen ist. Mittels einer List soll daher Neoptolemos Philoktet „mit gespaltner Zunge“ (292) einfangen und entwaffnen, damit dieser schließlich, freiwillig oder unter Zwang, aufs Schiff gebracht werden kann. Um Vertrauen herzustellen, soll Neoptolemos Philoktet sagen, er komme von Troja und sei auf der Heimfahrt, tief enttäuscht von den Griechen und voller Ärger, insbesondere gegen Odysseus, der ihm die Waffen seines toten Vaters Achill verweigert und sich selbst angeeignet habe. Das Besondere an dieser List ist, dass Neoptolemos, der sich als junger idealistischer Kämpfer gegen das Mittel der Lüge stemmt und Philoktet lieber „[m]it nackten Händen […] aufs Schiff“ (293) ziehen will, bezüglich der Waffen des Achill und der Abneigung gegenüber Odysseus nicht lügen muss. Tatsächlich hasst er Odysseus aufgrund dieses „Diebstahl[s]“. (293)701 Nur widerwillig und im Bewusstsein der allgemeinen „Pflicht“ (296), die er dem Kriegsunternehmen zu schulden meint, lässt Neoptolemos sich auf Odysseus’ Plan ein. Allein sein Pflichtbewusstsein bringt ihn dazu, die List zu vollziehen und Philoktet den Bogen zu entwenden. Als er aber erkennt, dass Odysseus

|| 699 Siehe zum Verhältnis von Bearbeitung und Vorlage: Kraus: Heiner Müller und die griechische Tragödie, S. 312ff. u. Huller, S. 49ff. Der Philoktet des Sophokles wird im Folgenden unter Angabe der jeweiligen Verse zitiert nach: Sophokles: Tragödien. Deutsch von Emil Staiger. Zürich 1962, S. 319ff. Die Angaben erfolgen kursiv und in Klammern. 700 Philoktet wird im Folgenden nach der Werkausgabe, hier: MW 3, 291, zitiert. Die Seitenangaben erfolgen in Klammern. 701 Müller weicht hier von Sophokles ab. Bei diesem rät Odysseus zwar zur gleichen Lüge (vgl. V. 62–64), der Waffendiebstahl ist hier aber nur Bestandteil der Intrige und entspricht nicht der Wahrheit. Vgl. den Kommentar zu V. 362. In: Sophokles: Philoktet. Mit der 52. Rede des Dion Chrysostomos („Der Bogen des Philoktet“). Übersetzt und herausgegeben von Paul Dräger. Stuttgart 2012, S. 114.

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ihn instrumentalisiert hat, empfindet er Scham über seine Beteiligung an der Intrige und will den Bogen zurückgeben. Odysseus sucht dies zu verhindern. Ab hier weicht Müller entschieden von der sophokleischen Vorlage ab.702 Es kommt zum Kampf zwischen Odysseus und Neoptolemos, den Philoktet nutzt, um sich den Bogen wieder anzueignen. In Rage droht er Odysseus zu töten; daraufhin ersticht Neoptolemos Philoktet von hinten. Das Unternehmen scheint damit gescheitert zu sein. Dann aber fällt dem listigen Odysseus ein, wie auch der Tote noch dem Kriegsunternehmen dienstbar gemacht werden kann: Den Griechen gegenüber will er behaupten, die Trojaner hätten Philoktet erschlagen, weil dieser sich „von seiner griechischen Seite“ (325) gezeigt und geweigert habe für Troja zu kämpfen.703 So soll noch die Leiche den Zweck erfüllen, der vormals dem Lebenden zugedacht war, die Kampfmotivation der Mannschaft Philoktets zu erhöhen. Odysseus’ Idee führt bei Neoptolemos zu neuerlichem Aufbegehren; in ihr erkennt er die Chance, auch Odysseus zu töten: „Gehts ohne den [Philoktet, R.W.] jetzt, gehts auch ohne dich. […] Ich sah den Troer und ich sah ihn töten / Zwei.“ (326) Aber auch in dieser Situation erweist sich Odysseus als der Klügere: Um die Lüge glaubhaft erscheinen zu lassen, bedarf es eines Zeugen, der Neoptolemos, tötete er Odysseus, aber fehlte. Da Neoptolemos’ Hass gegenüber Odysseus zudem allgemein bekannt ist, würde er sich schnell verdächtig machen. So endet der Text mit einer Lösung des Rückholungsunternehmens, die in ihrer instrumentellen Logik auf den Fortbestand der im Stück aufgeworfenen Probleme zwischen Individuum und Gesellschaft (bzw. Staat) und auf die Kontinuität der internen Feindschaften verweist, die sich in der Konstellation von Neoptolemos und Odysseus verdeutlicht.

4.6.4.2 Drei Interpretationen des Philoktet Es gibt im Wesentlichen drei verschiedene Interpretationen von Philoktet, die sich aus dem Parabel-Charakter des Textes ergeben. Diese können sich auf verschiedene, teilweise widersprüchliche Aussagen Müllers stützen, der das Stück beständig selbst kommentiert hat.704

|| 702 Bei Sophokles übergibt Neoptolemos Philoktet den Bogen, der daraufhin auf Odysseus zielt. Vgl. Z. 1291ff. Odysseus flieht. Am Ende wird Philoktet durch das Erscheinen des Herakles für die Rückkehr nach Troja gewonnen. Vgl. Z. 1409ff. 703 Die Idee, den Tod des Philoktet mit einem Gräuelmärchen zu erklären, stammt bereits aus der verloren gegangenen Philoktet-Version des Euripides. Vgl. Kraus: Heiner Müller und die griechische Tragödie, S. 333. 704 Diese Kommentierung beginnt direkt nach der Erstveröffentlichung mit einem Gespräch in SuF, das Müller später als heteronomen Akt der Unterwerfung zur Durchsetzung von Der Bau bezeichnet hat (vgl. KoS 154 u. MW 12, 92f.), setzt sich mit dem 1968 in Hinblick auf die westdeutsche Uraufführung in München geschriebenen Kommentar „Drei Punkte zu ,Philoktet‘“ (vgl. MW 8, 158) und den der Rotbuch-Ausgabe von 1978 beigegebenen „Anmerkungen“ (vgl. Heiner Müller: Mauser. 2. Aufl.

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Die erste Interpretation, die Philoktet als Antikriegs-Stück und Parabel auf die Grausamkeit von Klassengesellschaften liest, stützt sich auf den Prolog und dessen Differenz zwischen „der heutigen Zeit“ und der „Vergangenheit“ (291), Müllers zweite Anmerkung zum Stück, die die Projektion von Kriegsbildern „vom Trojanischen bis zum Japanischen Krieg“ empfiehlt,705 sowie auf das dem Abdruck des Textes folgende Gespräch in Sinn und Form.706 Sie ordnet die gespielte Zeit der Vorgeschichte, d.h. einer präsozialistischen Epoche, zu und argumentiert, Müller ziele auf eine „Distanzierung barbarischer Zustände […] im Lichte des realen Humanismus der Gegenwart“.707 Die zweite Interpretation ist der ersten, die vor allem Interpreten aus der DDR vertreten, genau entgegengesetzt. Sie bezieht das dramatische Geschehen explizit auf die Geschichte und Gegenwart des Sozialismus und liest Philoktet als „Entfaltung der inneren Probleme kommunistischer Politik“, d.h. als Stalinismus-Parabel.708 Heiner Müller hat sich ab den 1970er Jahren in dieser Hinsicht geäußert. So merkte er an, dass der Text „auch eine Auseinandersetzung mit Problemen und mit Fehlentwicklungen war, die zum Beispiel mit der Person Stalin zusammenhängen“; später argumentierte er, dass man „diese Art von Modell“ gebraucht hätte, um überhaupt ein „Stück über den Stalinismus“ schreiben zu können.709 Eine solche Lesart wird auch durch die Komposition von Band 6 der von Müller erstellten und 1978 erschienenen Werkausgabe bei Rotbuch unterstützt, in welcher bei den Materialien zum Stück ein Auszug aus Fjodor Gladkows Aufbau-Roman Zement [1925] beigegeben ist, in dem eine Säuberung und die notwendige Korrektur ,falschen‘ Bewusstseins thematisiert wird.710 || Berlin 1978 (Heiner Müller Texte. Bd. 6; im Folgenden zit. n.: MW 3, 547f.) fort und findet seinen Höhepunkt in dem für Müllers Ästhetik grundsätzlichen „Brief an den Regisseur der bulgarischen Erstaufführung von ‚Philoktet‘ am Dramatischen Theater Sofia“. Vgl. MW 8, 259ff. Hinzu kommen zahlreiche weitere, verstreute Gesprächsäußerungen. 705 MW 3, 548. Mit dem Japanischen Krieg ist der Russisch-Japanische Krieg 1904/05 gemeint, der die Russische Revolution von 1905 einleitete, die als Vorläufer der Oktoberrevolution gilt. 706 Vgl. MW 10, 28. 707 Werner Mittenzwei: Eine alte Fabel, neu erzählt. Heiner Müllers „Philoktet“. In: ders.: Kampf der Richtungen, S. 522. Andere DDR-Interpreten sind Mittenzwei in dieser Einschätzung gefolgt. Vgl. Bernhardt: Antikerezeption, S. 92f.; Hermann Kähler: Weltentwurf oder Milieu – Die Stücke Heiner Müllers. In: SuF 28 (1976), H. 2, S. 443f.; Trilse: Antike und Theater heute, S. 89 u. Haase, S. 663f. 708 Schulz: Heiner Müller, S. 71. Siehe auch: Schivelbusch, S. 147; Adolf Clasen: Zu Heiner Müllers „Philoktet“. Analyse einer Rezeption. In: Anregung. Zeitschrift für Gymnasialpädagogik 37 (1991), H. 1, S. 22 u. Pia Janke: Der Trojanische Krieg in Heiner Müllers „Philoktet“. In: Peter Csobádi (Hg.): Europäische Mythen von Liebe, Leidenschaft, Untergang und Tod im (Musik-)Theater: Der Trojanische Krieg. Vorträge und Gespräche des Salzburger Symposiums 2000. Anif/Salzburg, S. 370. Ulrich Profitlich spricht von einer „für die westliche Rezeption von Beginn an charakteristische Ausweitung des Parabelhorizonts über die Grenzen der ‚Vorgeschichte‘ hinaus“. Ulrich Profitlich: Über den Umgang mit Heiner Müllers „Philoktet“. In: Basis. Jahrbuch für deutsche Gegenwartsliteratur 10 (1980), S. 148. 709 MW 10, 125 u. MW 10, 212. 710 Vgl. Heiner Müller: Mauser. Berlin 1986 (Heiner Müller Texte. Bd. 6), S. 71f.

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Die dritte Interpretation schließlich fasst Philoktet anthropologisch auf und erkennt in Müllers Text eine „finstere Abart des Existenzialismus“ bzw. eine „Allegorie auf den Tod“.711 Die negative Geschichtsphilosophie des Textes beziehe sich nicht auf einen spezifischen historischen Gegenstand, sondern sei überhistorisch aufzufassen.712 Auch für diese Lesart lässt sich Müller als Gewährsmann heranziehen. So äußerte dieser, dass sich „die Condition humaine in den letzten Jahrhunderten ganz wenig verändert hat“ und die „Entwicklung des Menschen als Gegenstand der Anthropologie […] absolut minimal“ sei.713

4.6.4.3 Das Modell Allen drei genannten Interpretationen ist gemeinsam, dass sie das Modell, für das Müllers Text steht, konkretisieren: entweder so, dass sie sich, wie die erste Interpretation, mit einer der Figuren, Philoktet nämlich, identifizieren, dass sie das Stück, wie die zweite Interpretation, als einfache Allegorie auffassen, oder dass sie, wie die dritte Interpretation, das Stück aus einer konkreten Zeit und einem konkreten Ort herauslösen und ins Überzeitliche heben. Dabei realisieren diese Interpretationen, indem sie sich auf Müllers Selbstauslegungen stützen, bereits das Modell, ohne aber auf dessen Gestaltung zu sprechen zu kommen. In gewisser Weise fallen sie auf Müllers Äußerungen herein, die ja selbst nichts anderes sind als unterschiedliche Interpretationen, die einen jeweils anderen Heiner Müller als Leser und Interpreten zeigen, der zu verschiedenen Zeiten jeweils anderes aus seinem eigenen Text schließt und damit selbst die Auslegbarkeit des Modells demonstriert.714 Vergleicht man die unterschiedlichen Äußerungen Müllers zu Philoktet, so zeigt sich der Modellcharakter des Textes als deutlichster Bezugspunkt. Was ist ein Modell? Modelle werden in der Wissenschaft als vergleichende Instrumente benutzt, um etwas zu verstehen oder zu veranschaulichen, das am Untersuchungsgegenstand selbst nicht überprüfbar ist, weil dieser zu groß oder zu komplex ist. Ein Modell ist somit eine eingeschränkte Veranschaulichung von Ereignissen oder Objekten. Nach Herbert Stachowiak ist ein Modell allgemein durch drei Merkmale gekennzeichnet:

|| 711 Henning Rischbieter: Ein finsteres Stück. In: Th 9 (1968), H. 8, S. 30 u. Karol Sauerland: Notwendigkeit, Opfer und Tod. Über „PHILOKTET“. In: Frank Hörnigk (Hg.): Heiner Müller Material, S. 188. 712 Vgl. Ernst Schumacher: „Philoktet“ am Deutschen Theater. Zur Inszenierung der Müller’schen Bearbeitung. In: BZ, 27. Dezember 1977 u. Rainer Kerndl: Die Geschichte als ewiges Endspiel? Heiner Müllers „Philoktet“ am Deutschen Theater. In: ND, 30. Dezember 1977, S. 4, die im Nachgang der Macbeth-Debatte auf Müllers Geschichtspessimismus abhoben. Siehe zur Macbeth-Debatte: Kap. 5.2.2. 713 MW 10, 357. 714 Müller hat das später am Beispiel der Anti-Kriegsinterpretation selbst hervorgehoben: „Ich habe gelogen in Bezug auf das Stück, aber ich habe damals die Lüge für eine mögliche Wahrheit gehalten.“ MW 12, 93.

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(1.) Repräsentation; (2.) Verkürzung bzw. Komplexitätsreduktion; und (3.) Pragmatismus, d.h. die Ersetzungsfunktion des Modells gilt nur für bestimmte Subjekte, innerhalb bestimmter Zeitintervalle; und unter Einschränkung auf bestimmte Operationen.715

4.6.4.4 Durchrationalisierung: Götter und Klassenverhältnisse Der Modellcharakter des Philoktet ergibt sich aus der Reduktion, die durch die unbewohnte Insel Lemnos als Handlungsort und die Figurenkonstellation Odysseus, Neoptolemos und Philoktet bereits bei Sophokles gegeben ist. Müller verstärkt diese Reduktion, indem er den bei Sophokles als Deus ex Machina auftretenden Halbgott Herakles sowie nahezu sämtliche Verweise auf die mythischen Götter streicht. Die Götter sind „arbeitslos[ ]“ (321); auf die Anrufung Zeus’ durch Odysseus: „Roll mir den Himmel aus den Augen, Donner / Reiß mir die Erde von den Füßen, Blitz“ (324), reagiert dieser nicht. So erscheint die Welt in Müllers Stück als „zutiefst areligiös“.716 Mit der Streichung der Götter ist auch der Schicksalsbegriff aus der Handlung eliminiert. Entgegen der mythischen Überlieferung geschieht die Rückholung Philoktets nicht aufgrund der Prophezeiung des Helenos, der zufolge nur Philoktets Bogen den Sieg über Troja bringen werde. Nicht der Bogen, sondern Philoktet als Feldherr wird von den Griechen gebraucht, um seine „Mannschaft“ (294) anzuführen und zu motivieren; aus ähnlichen Gründen wurde auch Neoptolemos nach Troja gebracht, er sollte die nach Achills Tod rebellierenden Truppen umstimmen, wie Odysseus ihm eröffnet: „Wir brauchten dich, sie in die Schlacht zu haun.“ (294) Die Etablierung einer postmythischen, ganz auf die militärische Funktionalität ausgerichteten Motivation ähnelt dem, was Brecht im Zusammenhang mit seiner Bearbeitung der sophokleischen Antigone als „Durchrationalisierung“ bezeichnet hat. Brecht konzentrierte sich auf die potentielle „Aktualität“ des Stoffs, indem er an die Stelle von mythischen Begründungszusammenhängen soziale und ökonomische setzte. Dergestalt sollten sich „Analogien zur Gegenwart“ ergeben und der Mythos auf andere Art zum Projekt eines aufklärerischen Theaters beitragen.717 Müllers Rationalisierungen dienen in ähnlicher Weise einer Außerkraftsetzung göttlicher Fremdbestimmung, so dass die Handelnden innerhalb des Modells als selbstverantwortlich || 715 Vgl. Herbert Stachowiak: Allgemeine Modelltheorie. Wien u.a. 1973, S. 131–133. 716 Clasen, S. 20. Dass Herakles nicht erscheinen wird, um die Handlung aufzulösen, wird im Text auch implizit angekündigt, wenn Odysseus Neoptolemos mit dem Schicksal des Prometheus droht, das kein Herakles beenden werde. Vgl. 293. 717 GBA 25, 74. Siehe zu Brechts Antigone: Wilfried Barner: „Durchrationalisierung“ des Mythos? Zur Bertolt Brechts „Antigonemodell 1948“. In: Paul Michael Lützeler (Hg.): Zeitgenossenschaft. Zur deutschsprachigen Literatur im 20. Jahrhundert. Frankfurt/M. 1987, S. 191–210 u. Jörg Wilhelm Joost: Die Antigone des Sophokles. In: Jan Knopf (Hg.): Brecht-Handbuch. Bd. 1: Stücke. Stuttgart 2001, S. 532–544.

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erscheinen.718 Im Unterschied zu Brecht geht es Müller aber nicht in erster Linie um die sozialen Verhältnisse der antiken Gesellschaft und deren etwaige Parallelen zur Gegenwart. Zwar lassen sich die Sozialstrukturen in Philoktet eindeutig identifizieren – Odysseus und Achill sind, wie aus dem epischen Bericht Odysseus’ hervorgeht, Vasallen der „Fürsten“ (297) Agamemnon und Menelaos, in deren Krieg sie gezwungen wurden, und das griechische Herr erscheint als eine Ansammlung von „Mannschaft[en]“ (294), die einer feudalen Clanstruktur entsprechend nur für ihren jeweiligen Feldherrn kämpfen –,719 aber die drei Figuren des Dramas sind in sozialer Hinsicht Gleiche. Für die Handlung sind die Machtverhältnisse nur insofern von Bedeutung, als sie veranschaulichen, dass es „keinen Weg […] aus der Pflicht“ (297) des Krieges gibt. Eine Aufklärung über die sozialen Ursachen des Krieges gegen Troja oder die Klassenstruktur der antiken Gesellschaft beabsichtigt Müller nicht, dazu sind die im Text gegebenen sozialpolitischen Hinweise zu allgemein gehalten.720

Reduktion des dramatischen Personals: Psychologisches Dreieck 4.6.4.5 Wesentlich für den Modellcharakter des Philoktet ist die Konzentration der Handlung auf die drei Krieger Odysseus, Neoptolemos und Philoktet. Entsprechend der Rationalisierung streicht Müller den bei Sophokles am Ende des ersten Epeisodions auftretenden und die bereits erwähnte Weissagung des Helenos vermittelnden Kaufmann. (V. 542-627) Auch auf den aus der Schiffsmannschaft des Neoptolemos bestehenden Chor verzichtet Müller, da dieser schon bei Sophokles stark in die dramatische Handlung auf Seiten Neoptolemos’ integriert ist.721 Philoktet ist somit ganz auf die drei Griechen und ihr Verhältnis zueinander ausgerichtet. So entsteht ein „psychologische[s] Dreieck“,722 in das die Handlung des Modells eingefasst ist.

|| 718 Auch die Erzählung über die Kriegsweigerung Achills (vgl. 296f.) betont die Eigeninitiative bei der Flucht vor dem Krieg: Thetis, Achills Mutter, die diesen dem Mythos zufolge bei Kriegsausbruch auf Skyros als Frau verkleidete und unter den Töchtern des Lykomedes versteckte, wird im Text nicht erwähnt; bei Müller erscheint die Verkleidung Achills als dessen aktive, selbständige Handlung. 719 „Denn williger geht der Mann in seinem Blut / Unter dem Fuß der kommt in heimischem Leder.“ (294) Ulrich Profitlich schließt daraus auf eine „Vaterlandsideologie“, welche die Mannschaften motiviere. Profitlich: Über den Umgang mit Heiner Müllers „Philoktet“, S. 147. Das moderne Konzept der Nation, das der Begriff aufruft, scheint hier aber unangebracht, handelt es sich doch um eine Clangesellschaft, die für ein direktes, nicht allein ideologisch vermitteltes Verhältnis zum Herrscher bzw. Clanchef steht. 720 Vgl. Fiebach: Inseln der Unordnung, S. 45 u. Gruber: Mythen in den Dramen Heiner Müllers, S. 32. 721 Vgl. Huller, S. 51. Die Streichung des Chors zeigt zudem an, dass es Müller mit dem Stück nicht um einen sozialpolitischen Kommentar ging, denn für einen solchen hätte er den Chor als Vertreter des Volkes nutzen können. Vgl. Huller, S. 98. 722 Kraus: Heiner Müller und die griechische Tragödie, S. 321.

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An der Spitze dieses Dreiecks befindet sich Philoktet. Er ist das Objekt, das der Krieg gegen Troja erfordert, der „Fisch“, der in das „Netz“ (297) der von Odysseus erdachten List gehen soll.723 Dass dies misslingt, liegt am Widerstand, den Philoktet dem Unternehmen entgegensetzt. Die Aussicht auf Rückkehr zerbricht an seinem Hass gegen Odysseus. Ein Pendant findet Philoktets Widerstand in der schwärenden Wunde, die ihn quält. Der verwundete Fuß ist beständiger Ausweis seiner Geschichte, seines „Dienst[es]“ an den Griechen, die den „nicht mehr Dienlichen“ (299) zurückließen; in seiner Symbolkraft ist er Ausdruck der Folgen, welche die Politik der Griechen zeitigt.724 Durch die Wunde und seine Lebensumstände – zehn Jahre lang stellten die Geier, die einzigen Bewohner der Insel Lemnos, seine Nahrung, während sie zugleich, auf seinen Tod wartend, eine ständige Bedrohung waren – ist Philoktet fast zum „Tier“ (298) geworden. Er ist, „sich selber fremd“ (300) und sein „eigner Feind“ (302), eine zutiefst verstörte, vollkommen auf sich selbst fixierte Person. Gegenüber Philoktet, an der Basis des Dreiecks, steht Odysseus. Als redegewandter „Deus der Manipulation“725 ist er den anderen Figuren intellektuell überlegen. Odysseus repräsentiert die ‚Staatsräson‘. Er handelt im Interesse der Gemeinschaft. So agiert er äußerst pragmatisch und flexibel;726 das verdeutlicht nicht nur der Schluss des Dramas, auch sein Angebot – „Folg über meine Leiche dem [Neoptolemos, R.W.] nach Troja / […] Dort lügt mir einen Tod, der meine Mannschaft / am Krieg hält“ (322) – zeigt ihn als eine Figur, die mit der „Pflicht“ (297) identisch geworden ist. Er ist bereit, sein Leben für das Interesse der Allgemeinheit zu opfern. Odysseus’ Souveränität weist ihn als modernes Individuum aus, das sich selbst kontextualisieren kann und „das Zufällige“ seiner Gegnerschaft zu Philoktet erkannt hat.727 Den zweiten Punkt an der Basis des Dreiecks nimmt Neoptolemos ein. Wie auch Odysseus hinterfragt er nicht den Sinn des Krieges. Mit dem Plan, Philoktet zurück in den Kampf zu holen, ist er grundsätzlich einverstanden, aber die Lüge, die Odysseus als Mittel der Politik einsetzt und die er ausführen soll, ist ihm zuwider. Neoptolemos || 723 Mit der die sophokleische Jagdmetaphorik variierenden Fischfangmetaphorik (vgl. Kraus: Heiner Müller und die griechische Tragödie, S. 330) betont Müller den Objekt-Status des Philoktet und rückt ihn in die Nähe einer Natur-Allegorie. Vgl. Wilfried Barner: „Modell, nicht Historie“. Heiner Müller. In: Seidensticker u. Vöhler (Hg.): Mythen in nachmythischer Zeit, S. 265. 724 Müller selbst spricht von der „Lücke im System“, welche der Fuß des Philoktet symbolisiere. MW 8, 261. Uwe Schütte erkennt ein „Symbol des […] morschen Kerns der Machtpolitik um jeden Preis“, so dass der verletzte Fuß für eine „Hemmung von Fort-Schritt“ stehe. Uwe Schütte: Heiner Müller. Köln u.a. 2010, S. 39. Siehe auch: Markus Wilczek: Das Artikulierte und das Inartikulierte. Eine Archäologie strukturalistischen Denkens. Berlin u.a. 2012, S. 38ff. 725 Francesco Fiorentino: „Mein Hass gehört mir“. In: Wolfgang Storch u. Klaudia Ruschkowski (Hg.): Die Lücke im System. Philoktet. Heiner Müller Werkbuch. Berlin 2005, S. 254. 726 Die taktische Flexibilität Odysseus’ zeigt sich an verschiedenen Stellen des Textes. Sowohl in Bezug auf Neoptolemos als auch Philoktet variiert Odysseus zwischen argumentativer Überzeugung, Schmeichelei und Gewaltandrohung. 727 MW 8, 266.

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will einen offenen Kampf mit Philoktet, denn er ist der Überzeugung, dass „Wahrheit mehr [kann]“. (292) So offenbart er nicht nur ein fehlendes Wissen über die Psychologie des Ausgesetzten – für Odysseus ist klar: „Mehr als sein [Philoktets, R.W.] Leben / Gilt unser Tod ihm“ (293) –, sondern erweist sich mit seinem an den jungen Genossen aus Brechts Maßnahme erinnernden naiven Ehrgefühl und seinen Moralvorstellungen auch als Idealist, der „zu wenig weiß“ und in seiner Haltung beschränkt bleibt.728 Darüber hinaus verabscheut er Odysseus nicht nur aufgrund einer ethischen Differenz, sondern hasst ihn auch als Dieb der väterlichen Waffen: „Mein Haß gehört dem Feind, so wills die Pflicht / Bis Troja aufhört. Für mein Recht dann tauch ich / In andres Blut den Speer.“ (296)729 Durch die Ankündigung Neoptolemos’, Odysseus bei nächster Gelegenheit zu töten, ist von Beginn der Handlung an eine Situation gegeben, in welcher die Konstellation Griechen vs. Philoktet aufgebrochen ist; es handeln nicht zwei Parteien gegeneinander, sondern drei. Dem Thema des Ausschlusses ist somit ein weiteres Thema beigeordnet: das des jungen Schülers, der auf Lemnos eine bittere Lektion lernt. Seine moralische Position führt ihn in letzter Konsequenz zu einer Handlung, die er selbst verabscheut: „Er nimmt sein Schwert und rennt es dem Philoktet in den Rücken.“ (323) Diese Konstellation ist wiederum von der Gesamthandlung eingeschlossen, der Staatshandlung, für die Odysseus steht. Somit auf drei sozial gleiche Figuren reduziert, die jeweils unterschiedliche Interessen vertreten und in äußerster Brutalität gegeneinander vorgehen, verstärkt Müller die Ausweglosigkeit des Konflikts. Das Modell führt drei Haltungen gegeneinander ins Feld: das Interesse der Allgemeinheit, die Staatsräson (Odysseus); den jugendlichen,

|| 728 Als „Güte, die zu wenig weiß“, taucht Neoptolemos in Müllers Notizen auf. HMA, Nr. 3711, zit. n.: Storch u. Ruschkowski (Hg.): Die Lücke im System, S. 344. Müller beschreibt ihn in Anlehnung an Hegel als Träger eines „geflickte[n] Selbstbewußtsein[s], das die Erfahrung der Gewalt in Aggression umsetzt“. MW 8, 263. Siehe zum Hegel-Bezug: Christoph Menke: Tragödie und Spiel. In: Akzente. Zeitschrift für Literatur 43 (1996), H. 3, S. 217 u. Michael Ostheimer: Mythologische Genauigkeit. Heiner Müllers Poetik und Geschichtsphilosophie der Tragödie. Würzburg 2002, S. 93ff. Auf die Ähnlichkeit Neoptolemos’ mit dem jungen Genossen bei Brecht hat Florian Vaßen aufmerksam gemacht. Vgl. Florian Vaßen: Lehrstück und Gewalt. „Die Wiederkehr des jungen Genossen aus der Kalkgrube“. In: Paul Gerhard Klussmann u. Heinrich Mohr (Hg.): Spiele und Spiegelungen von Schrecken und Tod. Zum Werk von Heiner Müller. Sonderband zum 60. Geburtstag des Dichters. Bonn 1990, S. 191f. 729 Dass Odysseus über die Waffen Achills verfügt, ist Ausdruck der Modernisierung, die Müller vornimmt. In der traditionellen Überlieferung übergibt Odysseus Neoptolemos die Waffen, bei Müller hat Odysseus sich diese verdient: „Dein Erbe trag ich nicht zu meinem Ruhm / Sondern im Kampf um deines Vaters Leichnam / Sterbend für Totes, ging das meiste Blut / Aus meiner Mannschaft“. (294) Müller variiert hier den mythischen Brauch, dass derjenige die Waffen eines Verstorbenen erhält, der sich um die Bergung von dessen Leichnam verdient gemacht hat.

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an moralischen Werten orientierten Idealismus (Neoptolemos); und das auf sich selbst zurückgeworfene, egozentrische Individuum (Philoktet).730

4.6.4.6 Steigerung der Gewalt und Rücknahme des Mitleids Die internen Beziehungen des beschriebenen Dreiecks sind geprägt durch Gefühle des Hasses und die im Stück omnipräsente Gewalt, die von allen Beteiligten angedroht oder angewandt wird. Durch den Text zieht sich ein „Muster von erlittener und weitergegebener Gewalt“,731 aus dem es keinen Ausweg zu geben scheint: Philoktet hasst Odysseus als Verursacher seiner Isolation, der Wunsch nach dessen physischer Vernichtung ist ihm zum Teil der eigenen Persönlichkeit, zum Lebenssinn, geworden: „[M]ein Leben selber / Hat keine Wahrheit mehr als deinen Tod“. (319f.) Neoptolemos hasst Odysseus, weil er mit der Aneignung der Waffen Achills seine Ehre verletzt hat. Einzig Odysseus ist nicht durch Hass getrieben.732 Er ist in den Krieg gezwungen worden, hat sich aber dann zu dessen Werkzeug gemacht, indem er half, andere, wie Achill, für den Krieg einzufangen.733 Die Gewalt, die Odysseus anwendet, steht wie Odysseus selbst in einem Zweck-Mittel-Verhältnis: Er dient dem Krieg, um diesen zu beenden. Insofern ist er ein „Pragmatiker der Leidabwägung“, der konsequent auf die Rechtfertigung der Mittel durch den Zweck setzt;734 mehr Opfer als nötig will er vermeiden. Wo diese, wie bei der Aussetzung des Philoktet, vermeintlich erbracht werden müssen, versteht er sie als notwendigen Tribut an das allgemeine Interesse. Insofern reflektiert sich in der Odysseus-Figur ein in Müllers Texten ab den 1960er Jahren wiederkehrendes Motiv: „Verantwortung für die Gemeinschaft schließt Schuld immer schon als mit ihr systematisch gegebene ein“ – es gibt keine Geschichte, ohne sich schuldig zu machen, keinen Aufbruch zu Neuem ohne „Schrecken“.735

|| 730 Vgl. MW 10, 210f. 731 Gruber: Mythen in den Dramen Heiner Müllers, S. 28. 732 Insofern trifft die Beschreibung der Handlung als „Dreieck des Hasses“ (Kraus: Heiner Müller und die griechische Tragödie, S. 324) oder eine Aussage, nach der „alle drei Personen von Haß bestimmt“ (Eckhard Lefèvre: Sophokles’ und Heiner Müllers „Philoktet“. In: Susanne Gödde (Hg.): Skenika. Beiträge zum antiken Theater und seiner Rezeption. Darmstadt, 2000, S. 426) seien, nicht zu. 733 Die Erzählung über den Einzug Achills in das griechische Heer mithilfe der Intelligenz des Odysseus (vgl. 296f.) umschreibt das Philoktet-Modell, indem sie die Bewegung vom Opfer zum Täter anhand der Vorgeschichte veranschaulicht. Vgl. Gruber: Mythen in den Dramen Heiner Müllers, S. 28. 734 Ostheimer, S. 109. Odysseus äußert sich mehrfach hinsichtlich eines schnellen Kriegsendes: Philoktet soll die „größer[e] Wunde“ heilen helfen, „[a]us der zu lang schon zweier Völker Blut geht“. (298) 735 Francesco Fiorentino: Philoktet. In: HMH, S. 265 u. MW 8, 212.

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Da Odysseus auf die „Personalisierung von Zwangslagen“736 verzichtet, verfügt er im Vergleich zu den beiden anderen Figuren über die größere Souveränität, was sich auch in seiner Sprachgewandtheit ausdrückt. Odysseus ist eine Überzeugungsmaschine, für die die „wirbel[nde] […] Zunge“ (321), die andere Menschen gegen ihren Willen „umdreht“ (319), als Metapher steht.737 Aber an der jedes kalkulierbare Reaktionsschema durchbrechenden Ich-Zentrierung Philoktets und der verletzten Ehre seines jungen Gehilfen Neoptolemos versagt Odysseus’ Überredungskunst. Sein Plan, Neoptolemos’ Hass als Mittel der List zu benützen, geht nicht auf. Weder kann er Philoktet überzeugen, mit nach Troja zu kommen, noch gelingt es ihm, Neoptolemos die Gefahr seiner moralischen Position zu vermitteln und Philoktets Tod zu verhindern. Der Umstand, dass Odysseus das Leid nicht abzuwenden vermag, macht ihn ebenso zu einer tragischen Figur. Er ist, wie Müller verschiedentlich betont hat, nicht „einfach der Böse“,738 als der er in einigen westlichen Inszenierungen des Stücks dargestellt wurde,739 sondern zugleich auch ein Scheiternder. Odysseus münzt sein Scheitern allerdings in einen Sieg um, indem er das Gewaltverhältnis gegenüber Philoktet noch über dessen Tod hinaus aufrecht erhält und dessen Leiche in den Dienst der griechischen Sache stellt. Damit suspendiert er seine Tragik und gewinnt seine Souveränität, die wiederum eine Souveränität der Sprache ist, zurück. Indem er so die für ihn charakteristische Instrumentalisierung entgrenzt, wird er zum Vertreter einer „neue[n] Spezies“. Mit ihm betritt das „politische Tier“ die Bühne der Geschichte, das „mit der Auswechselbarkeit des einzelnen technisch ernst macht“.740 Der gegenüber der sophokleischen Vorlage gesteigerten Gewalt, die als Konstituens der im Stück gezeigten Gesellschaft erscheint, steht ein reduziertes Mitleid gegenüber. Müller verstärkt diesen Eindruck durch die Streichung des Chors, der bei Sophokles u.a. Mitgefühl und Sympathie mit Philoktet vermittelt.741 Die Aufhebung des Empathiemotivs dient aber nicht nur dazu, eine Identifikation des Publikums mit der Figur des Philoktet zu erschweren, sondern kennzeichnet das Wertesystem der Philoktet-Welt auch als grundsätzlich mitleidslos.

|| 736 MW 8, 266. 737 Philoktet ist insofern auch ein Stück „über die Sprache“. Heine: Mythenrezeption, S. 248. Die fast sirenenhafte Gefahr, die von Odysseus’ Sprache ausgeht, verdeutlicht sich bereits zu Beginn der Handlung, wenn Neoptolemos als Bedingung, um der von Odysseus erdachten Intrige zu widerstehen, formuliert: „Hätt ich kein Ohr für dich […].“ (295) 738 KoS 148. 739 Vgl. zur West-Rezeption von Philoktet: Janine Ludwig: Heiner Müller, Ikone West. Das dramatische Werk Heiner Müllers in der Bundesrepublik – Rezeption und Wirkung. Frankfurt/M. u.a. 2009, S. 133ff. 740 MW 8, 265. 741 Vgl. Barner: „Modell, nicht Historie“, S. 264.

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Als Vertreter der allgemeinen Sache ist Odysseus prinzipiell mitleidslos. Für ihn zählen nicht Personen und deren individuelles ‚Schicksal‘, sondern allein Funktionen in Hinblick auf die gesellschaftlichen Ziele der Griechen. Mitleid erscheint Odysseus als schädlich; wie bei Platon verdirbt es die Jugend.742 Als Neoptolemos Philoktet den Bogen zurückgeben will, äußert Odysseus: „Spuck aus dein Mitgefühl, es schmeckt nach Blut / Kein Platz für Tugend hier“. (319) Damit macht er nicht nur darauf aufmerksam, dass moralische Bewertungsmaßstäbe der Situation unangemessen seien, er verweist auch auf die Heuchelei, die er in Neoptolemos’ Handlung erkennt.743 Denn Neoptolemos’ Bedürfnis, Philoktet den Bogen wiederzugeben, erwächst nicht aus Mitempfinden für den Ausgesetzten, sondern aus dem Wunsch, sein eigenes moralisches Selbst wieder in Ordnung zu bringen. Von Odysseus „zum Lügner“ (292) gemacht, befällt ihn die „Scham über den Verlust der eigenen moralischen Integrität“.744 Es ist seine Verstrickung im „Netz der Schande“ (311), die den jungen Krieger dazu bewegt, den Bogen zurückzugeben. Nicht Mitleid mit der geschundenen Kreatur des Philoktet steht im Mittelpunkt von Neoptolemos’ Handlung, sondern er selbst.745 Um das eigene Ich, mithin das Selbstmitleid, drehen sich auch die Gefühlsäußerungen Philoktets. Er ist die einzige Figur, die aus der dialogischen Rede ausbricht und das Publikum mit Monologen über sein eigenes Ich und seine qualvolle Isolation auf Lemnos konfrontiert. Philoktets Selbstmitleid schlägt allerdings beständig in Hass um. Er hat seine Identität ganz auf die erhoffte Rache abgestellt, eine Welt außerhalb seiner selbst existiert für ihn nicht mehr: „Ich war die Wunde, ich das Fleisch, das schrie / Der Flotte nach und dem Gesang der Segel / Ich der die Geier fraß unter dem Reißzahn / Wohnend der Jahre. Ich und ich und ich.“ (313) In seiner Fokussierung auf den Tod des Odysseus kennt Philoktet keine Rücksicht.746 Ob Neoptolemos stirbt oder nicht (319) und ob die Griechen Troja einnehmen

|| 742 Vgl. Ritter u.a. Bd. 5, Sp. 1411. 743 Die Aussage verweist zugleich auf den späteren Mord Neoptolemos’ an Philoktet. Einer solchen Technik der Vorausdeutung bedient sich Müller auch in Bezug auf das Ende des Dramas; die Idee, wie mit Philoktets Leiche umzugehen sei, hat Odysseus bereits vorher in Bezug auf sich selbst geäußert: „Dort lügt mir einen Tod, der meine Mannschaft am Krieg hält“. (322) 744 Eke: Heiner Müller, S. 109. 745 „[N]imm zurück / Was ich dir wegnahm […] / Daß nicht dein kommendes Geschick mir auch / […] die Hände fleckt [meine Hervorhebung, R.W.].“ (318) Erscheint Neoptolemos in seiner positiven Bezugnahme auf die Wahrhaftigkeit als Wiedergänger von Goethes Iphigenie, die an die Stelle des Betrugs das Vertrauen auf eine humanistische Utopie setzt, so erweist er sich in seinem moralischen Ich-Bezug und seiner Affirmation des Krieges als deren Gegenteil, so dass Müllers Text als eine „AntiIphigenie“ (Huller, S. 94) aufgefasst werden kann. Siehe: Huller, S. 55. 746 Müller unterläuft damit die auf Mitleid zielende Deutung des Philoktet, wie sie durch Lessing in dessen Laokoon-Abhandlung erfolgte. Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie. In: ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 5.2, hg. von Wilfried Barner. Frankfurt/M. 1990, S. 11–206. Siehe zur Diskussion des Philoktet bei Lessing: Gunter E. Grimm

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oder ohne seine Hilfe dem Untergang geweiht sind (314), ist ihm gleichgültig; wie für die realpolitischen Argumente Odysseus’ ist der durch die Geschehnisse zum Egozentriker gewordene Philoktet auch für alle Gefühlsäußerungen des Mitleids unerreichbar.747 Das Modell erweist sich so in seiner moralischen Reduktion als außerhalb der bürgerlichen Welt stehend. Jegliche Moral, an welche die bürgerliche Philosophie das Gefühl des Mitleids gekoppelt hat, wird von Müller suspendiert.

4.6.4.7 Der Krieg als Metapher Die Klammer, welche die Handlung des Dramas zusammenhält und die Zwangssituation herstellt, auf welcher das Modell aufbaut, ist der Krieg gegen Troja und die von den Figuren in seinem Dienst verlangte „Arbeit“ (324), vor allem die „Kunst im Schlachten“. (294)748 Der Verweis auf die Kriegsherren Agamemnon und Menelaos, die zum Krieg aufriefen und Widerspenstige wie Odysseus und Neoptolemos’ Vater Achill „[i]n ihren Krieg“ (297) zwangen, betont zwar den internen Gewaltcharakter des Kriegszugs, dieser wird aber durch das von Odysseus wie Neoptolemos geteilte Bekenntnis zur „Pflicht“ (296) und die Erwähnung von „Ruhm“ und „Beute“ (294), die den Kriegsherren (also potentiell auch den drei Protagonisten der Handlung) zufällt,749 abgemildert. Die ‚Arbeit‘ für den Krieg und die Kriegsarbeit erscheinen so als Ergebnis eines untrennbaren Ineinander von Freiheit und Zwang; Odysseus spricht von einem „Netz aus eignem und aus fremdem Schritt“ (319), aus dem sich keiner der Beteiligten befreien kann. Der Krieg wird im Stück als äußerst brutal beschrieben: Die Küste des Hellesponts ist „jene Küste, die von Blut schwabbt“. (325) Den Krieg zu gewinnen, ist für die Griechen eine Frage von Leben oder Tod; es steht außer Zweifel, dass die Nichteinnahme Trojas den Untergang der griechischen Städte bedeuten würde. (321) Warum der Krieg begonnen wurde und welchen Zwecken er dient, lässt der Text aber offen. Das mythologische Motiv der Helena-Entführung durch den Sohn des trojanischen Königs

|| u.a.: Lessing. Epoche – Werk – Wirkung. München 1998, S. 239. Siehe auch: Schneider: Kunst in der Postnarkose, S. 125ff. u. Wilczek, S. 5ff. 747 Als Philoktet wieder über den Bogen verfügt, äußert er bezüglich Neoptolemos’: „Ihn magst du / In Stücke schneiden, keinen Haß für ihn / Hab ich, für seinen Rest kein Wasser also.“ (319). Und in Bezug auf die Griechen meint Philoktet: „So will ich säumen, bis der letzte Grieche / Auf Leichenbergen, griechischen, gehäuft“. (314) 748 Philoktet spricht davon, dass Odysseus’ Tod „[s]eine Arbeit“ (319) sei. – Die Auffassung vom Töten als „eine[r] Arbeit unter anderen“ findet sich dann in Mauser, dem dritten der Lehrstücke. Siehe hierzu: Kap. 4.7.2.2. 749 Mit dem Verweis auf ‚Ruhm‘ und ‚Beute‘ knüpft Müller an die Mythologie und die Erzählung der Ilias an. Heldenruhm ist im Mythos eine klassische Kampfmotivation; in der Ilias wird zudem die Eroberung materieller Güter als Antrieb des Kampfes genannt. Vgl. Caroline Alexander: Der Krieg des Achill. Die „Ilias“ und ihre Geschichte. Berlin 2009, S. 89.

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Priamos findet keine Erwähnung, ebenso wenig geht aus dem Text hervor, ob es sich um einen Eroberungs- oder Verteidigungskrieg handelt. Der Krieg erscheint als eine Metapher, ein Unternehmen, das einmal begonnen wurde und das es nun zu Ende zu führen gilt, will man nicht untergehen. Er erhält eine Repräsentationsfunktion; indem er unbestimmt bleibt, wird er verallgemeinerbar, so dass sich das Modell analog zu den erwähnten Interpretationen auf verschiedenste Bereiche anwenden lässt: Der Krieg kann so als Krieg, als politisches Unternehmen einer Gesellschaft (Sozialismus) oder als Metapher auf die Entwicklung der Zivilisation aufgefasst werden. Damit sind die Elemente beschrieben, die für die Funktionsweise des PhiloktetModells konstitutiv sind: die Verweltlichung der Geschehenszusammenhänge, die Konzentration des dramatischen Personals, die Verschärfung von dessen Gegensätzen durch die im Stück omnipräsente Gewalt und die semantische Öffnung des Kriegsbegriffs. Sie entsprechen, sofern es sich um Reduktionen handelt, dem Verfahren der Verknappung und Verdichtung, das bereits bei den frühen Müller-Texten festgestellt werden konnte und das zusätzlich durch den antithetischen Blankvers, der die Widersprüche und Konflikte hervorhebt, unterstützt wird.

4.6.4.8 Der Prolog Ein letztes, auf die Repräsentativität des Philoktet-Modells hinweisendes Element ist der hochartifizielle Prolog. Der in freien Knittelversen abgefasste Text erinnert an den Prolog aus Brechts Antigone-Bearbeitung.750 Während Brecht aber darauf zielt, eine Parallele zwischen Mythos und Nationalsozialismus zu etablieren, negiert Müller eine wie auch immer geartete Verbindung zwischen der gespielten Zeit und „der heutigen Zeit“.751 Analog zur offiziellen, Mitte der 1960er Jahre auch von Müller vertretenen Deutung einer epochalen Differenz zwischen der menschlichen Vorgeschichte und dem Sozialismus752 betont der Prolog den Unterschied zwischen der Gegenwart und einer Zeit, „[a]ls noch der Mensch des Menschen Todfeind war / Das Schlachten gewöhnlich, das Leben eine Gefahr“. Dementsprechend weise das folgende Spiel „keine Moral“ auf; aus dem Gezeigten lasse sich „[f]ürs Leben […] nichts lernen“, wie der Sprecher des Prologs betont. Die ZuschauerInnen werden vor die Wahl gestellt „Wer passen will, der kann sich jetzt entfernen. / Saaltüren fliegen auf.“ Irritiert werden die Aussagen des Prologs durch die holprigen Knittelverse753 und das Erscheinungsbild des Prolog-Sprechers, bei dem es sich um den Schauspieler des Philoktet „in Clownsmaske“ handelt. Wird so die Glaubwürdigkeit der Aussagen in

|| 750 Vgl. GBA 8, 195–199. 751 Die folgenden Zitate beziehen sich alle auf den Prolog. (291) 752 Vgl. MW 10, 28. 753 Wolfram Ette schreibt: „[D]ie Sprache hat einen kaputten Fuß wie Philoktet und die Ideologie stolpert beständig drüber.“ Ette: Kritik der Tragödie, S. 485.

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Zweifel gezogen, verstärkt sich dieser Eindruck noch durch das zentrale, nicht sprachlich, sondern szenisch vermittelte Ereignis des Prologs, die Demaskierung des Clowns: Der Knittelvers setzt aus – der Clown äußert: „Sie sind gewarnt.“ – und unter der Maske wird die wahre Gestalt des Sprechers sichtbar: „ein Totenkopf“. Wirkt das bisher Gesagte eher distanzierend, mit einer durch den Knittelvers und die Clownsrolle begünstigten Tendenz ins Ironische und Unglaubwürdige,754 so verändern die letzten beiden Zeilen des Prologs, nunmehr vom demaskierten Tod gesprochen, den Ton in Richtung des Bedrohlichen. Das wird auch szenisch durch das Schließen der Saaltüren, das vor der Demaskierung erfolgt, untermalt. Die ZuschauerInnen sind gefangen; jetzt erfolgt die eigentliche Nachricht des Prologs, die die Tragik des Folgenden zusammenfasst: „Sie haben nichts zu lachen / Bei dem, was wir jetzt miteinander machen.“ Heiner Müller hat in einem späteren Text den Prolog des Philoktet als „Nabe des Stücks“ bezeichnet.755 Er bildet dessen Zentrum, die Achse, um welche sich der Text dreht. Das bedeutet, der Prolog gibt entscheidende Hinweise für das Verständnis des Stücks. Vier Punkte lassen sich in diesem Zusammenhang nennen: (1.) Da der Prolog keine Einführung in das Stück vermittelt, indem er beispielsweise sein Personal vorstellt, sondern durch das Maskenspiel von Clown und Tod auf eine allegorische Dimension und somit den Parabelcharakter des Textes verweist, wird deutlich, dass die ZuschauerInnen es nicht mit einem historischen Stück zu tun haben. Der Modellcharakter wird so bereits im Prolog hervorgehoben.756 (2.) Die Distanzierung von der mythischen Welt der Vergangenheit, die Differenz, die den Sozialismus als Überwindung der menschlichen Probleme darstellt, erfolgt nur vordergründig, sie ist im Grunde eine Clownerie. Am Ende des Prologs steht der Tod als Figur des Endlichen, die alle gesellschaftlichen Zustände, seien sie progressiv oder reaktionär, überwölbt.757 (3.) Die im Stück auftretenden Figuren sind als Maskenträger unter Vorbehalt zu betrachten; sie sind dem Tod verwandte Clowns, womit eine distanzierte ZuschauerInnenhaltung nahegelegt wird;758 zudem erscheinen sie nicht als Individuen,

|| 754 Als Vertreter der Narren ist der Clown, unabhängig davon, ob er als gut oder böse auftritt, stets eine unzuverlässige Figur der Masken und des Maskenspiels. 755 MW 8, 266. 756 Um zu veranschaulichen, dass etwas ‚durchgespielt‘ wird, setzt Müller auch in der Szene „Brandenburgisches Konzert 1“ in Germania Tod in Berlin Clowns ein. Vgl. MW 4, 332–338. 757 Insofern lässt sich im Philoktet-Prolog eine Reminiszenz an den Epilog der Umsiedlerin erkennen. Vgl. MW 3, 287. 758 In einer der Rotbuch-Ausgabe beigegebenen Anmerkung zum Stück werden auch Odysseus und Neoptolemos als Clown-Darsteller erwähnt: „In der Pause sollen zwei Clowns (Darsteller des Odysseus und des Neoptolemos) bei Saallicht mit Holzschwertern einen Kampf vorführen.“ MW 3, 547f. Müller selbst spricht hinsichtlich der Figuren von „drei Clowns und Gladiatoren ihrer Weltanschauung“. MW 8, 158. Ihre Haltungen erscheinen als widersinnig: „Hinter jeder lauert die Maske des Todes“. Sauerland, S. 192.

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sondern als „plastische Masken, die viele historische Physiognomien in sich versammeln“.759 (4.) Komik und Tragik (Clown und Tod) liegen nahe beieinander, bzw. sind in ein und derselben Person vereinigt, was einen Hinweis auf die später noch zu diskutierende Frage der Gattungseinordnung des Philoktet gibt.

4.6.4.9 Die Funktionsweise des Modells Mit Philoktet etabliert Heiner Müller ein Modell der Konfrontation von Individuum und Staat bzw. individuellen und gesellschaftlichen Interessen, in welchem die Mittel konsequent den Zwecken untergeordnet werden und das Interesse der Allgemeinheit obsiegt. Das Störende und Dysfunktionale, für das Philoktet verwundeter Fuß steht, wurde für den Erfolg des Kriegsunternehmens ausgeschlossen; Philoktet zeigt, wie dieser Ausschluss wiederum zugunsten des Allgemeinen rückgängig gemacht werden soll. Dass dies nicht gelingt, geht auf Philoktets Verweigerung zurück. Den Argumenten Odysseus’ ist er nicht zugänglich, weil er am „verdienten […] Ruhm“ (321) kein Interesse hat. Philoktet kann seinen Hass, der zu einem Teil seiner Identität geworden ist, nicht herunterschlucken. Der Ausschluss aus der Gemeinschaft hat ihn zu einem anderen gemacht. Im Interesse der Sache ausgesetzt, will er sich nicht im Interesse der Sache wieder zurückholen lassen. Dennoch ist es letztendlich nicht Philoktet, der den Erfolg des Unternehmens verhindert, seine Hassausbrüche und die Androhung, sich selbst zu töten (314ff.), retardieren nur die Entscheidung, Philoktet mit Gewalt „[z]u binden und aufs Schiff zu schleppen“. (312) Erst die Tötung Philoktets durch Neoptolemos macht das Unternehmen zunichte. Damit handelt Neoptolemos gegen seine eigene Maxime. Weil er an Odysseus’ List nicht mitschuldig sein will, gibt er Philoktet den Bogen zurück und stellt damit eine Situation her, die ihm keine andere Wahl lässt, als Philoktet zu töten, denn ein Fehlschlag des Unternehmens ist für sein Pflichtgefühl ebenso wenig vertretbar. Mit dem Tod Philoktets scheint der Plan der Griechen gescheitert; ohne seine Präsenz auf dem trojanischen Schlachtfeld werden sich die Truppen nicht erfolgreich in den Krieg führen lassen. Die entscheidende Wendung erfährt die Handlung durch den Voluntarismus Odysseus’. Mit der Idee, wie selbst der Tote noch der Sache der Griechen dienlich sein kann, revidiert Odysseus die Prämisse ‚Ohne Philoktet, kein Sieg‘ (324): „Wenn uns der Fisch lebendig nicht ins Netz ging / Mag uns zum Köder brauchbar sein der tote.“ (325) Der Utilitarismus siegt über die Tradition. Der tote Körper, zunächst mit Steinen begraben, wird zum Mittel der Politik, indem Odysseus ihn

|| 759 Schneider: Kunst in der Postnarkose, S. 134.

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zum Beweisstück seiner Propagandalüge einsetzt.760 Philoktet, der schon als Lebender in die Nähe eines Gegenstands gerückt worden war, den es zu benutzen gilt, wird somit vollends zum Objekt. Müllers Philoktet-Modell funktioniert als dialektisches Wechselspiel, das die Handlung bis zur Katastrophe steigert. Die Zuschreibungen von Opfer und Täter werden unscharf: Odysseus war einst Opfer, wurde in den Krieg gezwungen und agiert nun als Täter; Neoptolemos macht sich aufgrund seiner Ehrvorstellungen, die mit seinem Verantwortungsbewusstsein für die Gemeinschaft im Widerspruch stehen, schuldig; und auch die Opferrolle Philoktets erscheint zumindest als fraglich, ist er doch erstens ein zum Opfer gewordener Täter, der, wäre er nicht zufällig von der Schlange verletzt worden, ebenso wie Odysseus gehandelt hätte, und wünscht er doch zweitens in seinem „militanten Desinteresse an allem, was Zwecke außerhalb seiner selbst setzt“,761 so vielen Griechen wie möglich den Tod. Philoktet zeigt somit „drei falsche Haltungen […] in einer Zwangslage“762 und verweist nachdrücklich auf die Voraussetzungen, auf denen das Modell basiert. Das Philoktet-Modell gestaltet den Einbruch des Staates in das Leben des Einzelnen bis zur äußersten Konsequenz, bis zum Tod und zur Instrumentalisierung des Toten. Das Interesse des Staates steht über dem Selbstbestimmungsrecht des Individuums. Odysseus verweigert die Sorge um den Toten, den „Dialog mit den Toten“ – allgemeine Voraussetzung für eine Befreiung der Gegenwart, die, wie Müller ab den 1970er Jahren in Anlehnung an Walter Benjamin betont, auch eine Befreiung der Vergangenheit, ihrer Hoffnungen und der in ihr unschuldig Umgekommenen bedeutet.763 Nicht die Erzählung über den rasenden, verzweifelten Philoktet, sondern die Lüge seines heroischen Todes durch die Trojaner wird in die Geschichte eingehen. Das römische Prinzip, das Prinzip des Staates, setzt sich durch.764 Das Philoktet-Modell verdeutlicht so die Ur-Katastrophe des Einzelnen, der sich dem Zwang des Allgemeinen unterordnen muss – lebendig oder tot.

|| 760 Siehe zu den Bestattungskonventionen der griechischen Antike: Eckhard Wirbelauer (Hg.): Antike. München 2010, S. 154. 761 Fiebach: Inseln der Unordnung, S. 43. 762 MW 10, 329. 763 MW 3, 165. Vgl. Raddatz: Der Demetriusplan, S. 85ff. 764 Anhand der Leiche und der Frage nach dem „staatliche[n] Griff nach den Toten“ (MW 8, 268) oder der Alternative eines das Individuum und seine Geschichte akzeptierenden Umgangs zeigt sich die Parallele von Philoktet und Sophokles’ Antigone, auf die Michael Ostheimer hinweist. Vgl. Ostheimer, S. 126f. In Müllers Philoktet siegt das Kreon-Prinzip (Staat) über das Antigone-Prinzip (Solidarität).

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4.6.4.10 Die Gattungsfrage: Philoktet als „tragische Satire“ Ist Philoktet nun eine Tragödie?765 Als Tragödie wird gemeinhin eine Handlung aufgefasst, die ein negatives Geschehen entwickelt, dem ein Zwang innewohnt (Schicksal). Der Held scheitert durch eigenes Verschulden, durch einen tragischen Irrtum, durch Leichtsinn oder Hybris, so dass das Unglück bzw. der Tod des Helden, mit dem die Handlung endet, als folgerichtig und notwendig erscheint und somit einen höheren Sinn erhält.766 Die auf solche Art mit Aristoteles aufgefasste Tragödie bestätigt die gegebene Ordnung der Welt als die natürliche. Dem Schicksal, oder anders formuliert: den unabänderlichen Gesetzen des menschlichen und gesellschaftlichen Daseins, kann niemand entrinnen. Das ist die Wirkungsstrategie der Tragödie nach Aristoteles: „die Disziplinierung der Zuschauer zum Zwecke des Staatserhalts“.767 Es ist offensichtlich, dass Müllers Philoktet nicht auf der Grundlage eines solchen Tragödienbegriffs funktioniert. Während bei Sophokles mit dem Eingriff des Herakles die Einheit zwischen Philoktet und den Griechen im Interesse des gemeinsamen Kampfes gegen die Trojaner wiederhergestellt wird (V. 1409ff.), verweigert Müller einen die Ordnung bestätigenden Schluss: Philoktets Tod lässt sich nicht mit dessen Fehlverhalten begründen; zudem erweist er sich im Gesamtkontext des Stücks als widersinnig, wird die Präsenz Philoktets auf dem trojanischen Schlachtfeld von Odysseus doch zur Voraussetzung des Sieges erklärt.768 Im herkömmlichen Sinne geht die Tragödie daher „leer aus“; Müller entwirft ein tragisches Geschehen, stört dann aber dessen Ablauf, indem er „die Tröstung“ verweigert.769 Mit dem Tod Philoktets und Odysseus’ Idee, die Leiche zur Motivation der griechischen Krieger zu nutzen, schiebt Müller das Stück über die Grenze der dramatischen Überlieferung hinaus und verlässt den Boden der Tragödie. Das weitere Geschehen ist offen; nun könnte etwas anderes anfangen. Denkbar wäre, Philoktet zu begraben und dem ehemaligen Kameraden so eine letzte Ehre zu erweisen.770 Stattdessen vollzieht Müller eine Potenzierung der Tragödie, indem er Odysseus sozusagen in die Rolle des klassischen Tragödien-Autors versetzt: Odysseus erdichtet Philoktet ein Schicksal, das dessen Leben mit Sinn auflädt und der griechischen Sache

|| 765 Siehe für das Zitat in der Überschrift: Heiner Müller: Philoktet. Herakles 5. Frankfurt/M. 1966, S. 2. 766 Vgl. Hans-Dieter Gelfert: Die Tragödie. Theorie und Geschichte. Göttingen 1995, S. 10ff. Siehe auch: Profitlich (Hg.): Tragödientheorie, S. 11ff. 767 Wolfram Ette: Die Aufhebung der Zeit in das Schicksal. Zur „Poetik“ des Aristoteles. Berlin 2003, S. 61. 768 „Kehrt seine [Philoktets, R.W.] Mannschaft unserm Krieg den Rücken / Der Troer wäscht sich weiß mit unserm Blut“. (294) 769 MW 8, 261. Siehe zur Hölderlin-Rezeption und Müllers Leere-Auffassung: Ostheimer, S. 101ff. 770 Oder auch den Wünschen der Bestattung zu entsprechen, die Philoktet gegenüber Neoptolemos äußert. Vgl. 311.

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dienlich ist, seine wahre Geschichte, sein Hass und seine Verzweiflung werden negiert; in der Überlieferung werden sie nicht vorkommen. Der weitere Verlauf der Philoktet-Handlung stellt sich so als Posse, als „Farce“ dar.771 Odysseus, der „Macher“ der Tragödie, wird zu deren „Liquidator“.772 Mit dem Begriff der Farce bezieht sich Müller indirekt auf Karl Marx’ Formulierung aus dem 18. Brumaire: „Hegel bemerkte irgendwo, daß alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen, hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.“773 Marx beschäftigt sich im 18. Brumaire mit der Revolution von 1848 und deren Misserfolg. Während die Französische Revolution als echte Tragödie erscheint, die erfolgreich aus einer tragischen Krise erwächst, stelle die 48-Revolution lediglich ihre „Karikatur“ dar.774 Als positive Bestimmung im Ergebnis der Gegenüberstellung von Französischer Revolution und 48er-Revolution kommt der Tragödie so die Potenz zu, vom Alten (absolutistischer Feudalismus) zum Neuen (Kapitalismus, bürgerliche Herrschaft) überzugehen, während die Farce jede Lösung blockiert und nur den gesellschaftlichen Status quo zementiert oder verschlimmert. Übertragen auf die literarischen Gattungstermini bedeutet das: Die Tragödie kann zu einer positiven Lösung schreiten, wenn „das System“, auf welchem der tragische Ereigniszusammenhang basiert, „in Frage gestellt wird“,775 wenn also die Logik von Herrschaft und Ausschluss thematisiert und den vor Troja versammelten Griechen die wahre Geschichte erzählt werden würde. Die Farce hingegen verkleidet sich als Lösung, perpetuiert aber das Problem: Weder wird die Logik des Ausschlusses, der ja am Ursprung des Philoktet-Problems steht, noch der Hergang der Ereignisse auf Lemnos zum Thema; stattdessen wird für die Nachwelt das Bild des ‚patriotischen‘ Philoktet erzeugt. Alternativ zum „Umschlag der Tragödie in die Farce“ spricht Müller vom Umschlag in „die von Schiller so genannte tragische Satire“.776 Müller leitet den Begriff offenbar von Schillers Überlegungen zur Satire ab. Schiller unterscheidet in Über naive und sentimentalische Dichtung zwei Arten: die „strafende oder pathetische“ und die „scherzhafte Satire“. Beide haben „die Entfernung von der Natur und den Widerspruch der Wirklichkeit mit dem Ideale“ zum Gegenstand, perspektivieren diesen

|| 771 MW 8, 265. 772 MW 8, 261. 773 MEW 8, 115. Ich folge hier der überzeugenden Argumentation Michael Ostheimers. Vgl. Ostheimer, S. 118ff. 774 MEW 8, 115. 775 MW 8, 158. 776 MW 8, 265. Dass es sich hierbei nicht um eine nachträgliche Kennzeichnung Müllers handelt, erweist sich anhand der Suhrkamp-Erstausgabe des Philoktet, auf deren Waschzettel die nämliche Gattungsbezeichnung zu finden ist. Vgl. Müller: Philoktet. Herakles 5, S. 2. Auch in einem Briefentwurf an den Regisseur der Münchner Uraufführung Hans Lietzau ist von einer tragischen Satire die Rede. Vgl. Ostheimer, S. 122, Anm. 168.

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analog zu den Gattungen Tragödie und Komödie aber unterschiedlich.777 Die pathetische bzw. (mit Müller) tragische Satire beklagt die Differenz von Status quo und positiver Lösung, thematisiert die Lösung selbst aber nicht. Diese erscheint nur als Gegenteil des Dargestellten: Philoktets Leidensweg wird derart intensiviert, dass das Nützlichkeitsdenken, das die Handlungen Odysseus’ bestimmt, als unangemessen, ja lächerlich erscheint – ein Lachen allerdings, das wie im Prolog dem eines bösen Clowns entspricht, hinter dessen Maske der Tod lauert. Aus der potenzierten Negativität, die als systematischer Zusammenhang der Philoktet-Gesellschaft erkennbar wird, erwächst die Diskussion ihrer systemischen Grundlagen. Die zur Farce gesteigerte, ‚leer ausgehende‘ Tragödie wird zum Instrument der Kritik und zur Produzentin der Utopie: Sie führt, so Müllers Wirkungsstrategie, zu einer „Bezweiflung des SoSeins und einer Evokation des Noch-nicht-Seins“.778

4.6.4.11 Das Modell als „Lehrmaschine“ In einer Anmerkung zu Mauser [1970] bezeichnet Heiner Müller Philoktet, Der Horatier [1968] und Mauser als eine „Versuchsreihe“, die auf Brechts Lehrstücktheorie zurückgreife und diese kritisiere.779 Unter dem Lehrstück versteht Müller ähnlich wie Brecht ein Theater, in dem die Unterscheidung von SchauspielerInnen und ZuschauerInnen verflüssigt wird, um ein Lernen zwischen Bühnen- und Zuschauerraum zu ermöglichen und zur „Meisterung der Realität“ beizutragen.780 Bei Brecht sollte der Zuschauer (bzw. die Zuschauerin) dergestalt „nicht mehr aus seiner Welt in die Welt der Kunst entführt werden“, sondern in „seine reale Welt eingeführt werden, mit wachen Sinnen“.781 Das Theater sollte die ‚wirkliche‘ Welt, d.h. die unter ihrer Oberfläche erkennbaren Gesetzmäßigkeiten, verstehbar machen, um den Beteiligten so ein

|| 777 Schiller 5, 721. Siehe auch die schematische Gegenüberstellung bei Carsten Zelle: „Über naive und sentimentalische Dichtung“ (1795/96). In: Luserke-Jaqui (Hg.): Schiller-Handbuch, S. 477. Siehe zur Satire: Jürgen Brummack: Zu Begriff und Theorie der Satire. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte (1971), Sonderheft, S. 275–377. 778 Ostheimer, S. 99. Müllers Ansatz korrespondiert mit neueren Forschungen, die die antike Tragödie gegen Aristoteles als kritisch begreifen und eine Selbstreflexion des Tragischen attestieren. Vgl. Hans-Thies Lehmann: Theater und Mythos. Die Konstitution des Subjekts im Diskurs der antiken Tragödie. Stuttgart 1991 sowie den instruktiven Forschungsüberblick bei: Claudia Benthien: Ethos, Pathos, Ideologie – ein Forschungsbericht zum aktuellen Tragödiendiskurs. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 37 (2012), H. 2, S. 424–444. 779 MW 4, 259. Siehe für das Zitat in der Überschrift: MW 8, 469. 780 GBA 22.2, 792. 781 GBA 22.1, 554.

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Eingreifen zu ermöglichen. Brechts Lehrstücke sind in diesem Sinne „Geschmeidigkeitsübungen“ zur Vermittlung von Dialektik.782 Sie gehen von einem mehr oder weniger festen, an die Kategorien des Marxismus gebundenen Wissen aus, das im Prozess des als kollektive Verständigung aufgefassten Theaterspiels vermittelt und überprüft werden soll. Die Differenz zwischen Müller und Brecht, mithin die Kritik Müllers, setzt an diesem Punkt an: Während Brecht den Lernprozess vom Ende her organisiert, verweigert Müller eine klar definierbare Didaxe.783 Das verdeutlicht schon der Prolog, dessen expliziter Hinweis auf die fehlende „Moral“ (291) als distanzierende Reminiszenz sowohl an den gesellschaftlichen Nützlichkeitsanspruch des Didaktischen Theaters wie das ästhetische Bildungskonzept der Weimarer Klassik verstanden werden kann. Philoktet ist Ausweis einer negativen Dialektik, die kein vorher fixierbares Ergebnis hat und jede Synthese als Scheinlösung ablehnt. Der Lehrstückcharakter betont so nicht Antworten, sondern Fragen, die sich aus den Aporien des Textes ergeben. Ähnlich wie in Brechts Lehrtheater bedarf es dazu eines koproduzierenden Publikums, das Alternativen zum Dargestellten ersinnt.784 Da Philoktet für solche Alternativen aber keine Ansätze liefert und konsequent jede Identifizierung mit den Handelnden verweigert, müssen diese außerhalb des Stücks gesucht werden. Das wird durch die in die Farce kippende Struktur der Tragödie und die Verunsicherung erzeugende Außerkraftsetzung der Prämisse ‚Ohne Philoktet kein Sieg gegen Troja‘ unterstützt. Die Verabsolutierung des Nützlichkeitsdenkens, mithin die „Nötigung zur Ungerechtigkeit“,785 mit der das Publikum konfrontiert wird, lässt das Geschehen an sich zweifelhaft werden und macht auf die Voraussetzungen des Modells aufmerksam. Das ausweglose Labyrinth provoziert die Frage nach der Sinnhaftigkeit des Labyrinths und öffnet den Horizont für einen potentiell anderen Ablauf – für die Utopie, die im „utopische[n] Moment“ des Blankverses aufgehoben ist und sich als indirekter Bestandteil der Tragödie erweist.786 Müller hat Philoktet rückblickend als das „Negativ eines kommunistischen Stücks“ bezeichnet.787 Das bedeutet in jeweils unterschiedlicher Auslegung des Adjektivs dreierlei: (1.) Ganz allgemein folgt daraus bezogen auf den Kommunismus als

|| 782 Zit. n.: Bertolt Brecht: Die Maßnahme. Kritische Ausgabe mit einer Spielanleitung von Reiner Steinweg. Frankfurt/M. 1972, S. 261. 783 Siehe zu Müllers Kritik am Brecht’schen Lehrstück: MW 8, 187. Siehe auch: Vaßen: Lehrstück und Gewalt; Marc Silberman: Bertolt Brecht. In: HMH, S. 141f. u. Raddatz: Der Demetriusplan, S. 138ff. 784 Die damit vorausgesetzte, souveräne und distanzierte Zuschauerhaltung legt der Prolog nahe, wenn er das Publikum „[ ]warnt“ (291), dass im Folgenden keine ‚Botschaften‘ zu erwarten sind, und dazu auffordert: „Wer passen will, der kann sich jetzt entfernen“. (291) 785 Müller-Schöll: Das Theater des „konstruktiven Defaitismus“, S. 471. 786 MW 10, 373. 787 MW 8, 261.

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Utopie, dass die ,Lehrmaschine‘ des Philoktet-Modells eine „Weigerung, die gegebenen Bedingungen […] anzuerkennen“, produzieren soll, einen utopischen Impuls, den Müller als wesentlich für Kunst erkennt, sei es doch schließlich ihre Aufgabe, „Wert- und Denksysteme in Frage zu stellen, sie unter Umständen auch zu sprengen“.788 (2.) In Bezug auf das kommunistische Programm (wie es bei allen Differenzen seit den Frühsozialisten immer wieder formuliert wurde) bedeutet es, dass die Lösung der dargestellten Probleme nur eine sein kann, die den Widerspruch zwischen dem Einzelnen und dem Allgemeinen aufhebt, eine kollektive Lösung also. Bezogen auf Philoktet muss die Antwort auf das unfreiwillige ,Einer für alle‘ demnach lauten: „Keiner oder alle“, Philoktets Perspektive muss Teil des Ganzen sein, Teil des „universale[n] Diskurs[es], der nichts ausläßt und niemanden ausschließt“;789 das betrifft auch die Klassenstruktur der Philoktet-Gesellschaft, die sich im Text als allumfassender Zwang ausdrückt.790 (3.) Hinsichtlich des realen Sozialismus in der DDR bzw. der kommunistischen Geschichte seit 1917 meint es schließlich, dass das Lehrstück einen konkreten Bezugspunkt in der Gegenwart hat, der über den Parabel-Charakter des Stücks hergestellt werden kann. Zwar ist Philoktet keine direkte Allegorie der DDR. Das Modell repräsentiert jedoch im Ausschluss Philoktets und dessen Integration in ein übergeordnetes Narrativ ein Schema, „das sich in der Geschichte der europäischen Zivilisationen identisch reproduziert hat“,791 und macht im Zusammenhang der Spiegelung von antiker Staatsgenese und sozialistisch proklamierter Staatsaufhebung auf gesellschaftliche Fragen aufmerksam, die um das Problembündel von Mittel und Zweck gruppiert sind.

|| 788 Heiner Müller, in Gondroms Festspielmagazin (1993), zit. n.: Hauschild, S. 7 u. MW 10, 156. 789 MW 8, 260 u. MW 8, 212. Die Formulierung ‚Keiner oder alle‘, die Müller als „kommunistische[n] Grundsatz“ (MW 8, 260) beschreibt, geht auf das gleichnamige Brecht-Lied zurück. Vgl. GBA 12, 23ff. – Anhand der Frage ,kollektiv oder individuell?‘ zeigt sich auch die Differenz zu Adorno und Horkheimer, deren Dialektik der Aufklärung dem Philoktet-Modell ansonsten recht nahe kommt: „Ihr Wunsch war es nicht, das Individuum im Kollektiv aufzuheben […], sondern vielmehr es wirklich als Individuum zu etablieren, den Urwerten des bürgerlichen Liberalismus entsprechend.“ Ludwig: Heiner Müller, Ikone West, S. 130. 790 Von den relativ direkten Aussagen zur „Klassenstruktur der abgebildeten Gesellschaft“ in den „Drei Punkten zu ,Philoktet‘“ von 1968 (MW 8, 158) hat Müller sich aber 1974 nachträglich distanziert; sie seien Ausdruck der Anstrengung gewesen, eine Uraufführung von Philoktet zu ermöglichen und „bestimmte Interpretationen […] unmöglich“ zu machen: „Deshalb sind da ein paar Akzente, im Verhältnis zum Stück, sehr überbetont.“ HMA, Nr. 3037, zit. n.: MW 10, 836. 791 Ette: Kritik der Tragödie, S. 517.

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4.6.4.12 Anwendungsbereiche des Philoktet-Modells Mit dem letzten Punkt ist auf die sich in Philoktet ausdrückende Geschichtsphilosophie und die Frage der Applizierbarkeit des Modells verwiesen. Müller spricht in Bezug auf die Antike von einer „Wiederkehr des Gleichen“, d.h. die Problemlage, die in Philoktet ausgebreitet wird, ist auch in der Gegenwart der 1960er Jahre noch aktuell; das „Auseinanderfallen von Zweck und Mittel“ im gesellschaftlichen Handeln hält an.792 Damit wird ein Verständnis von Geschichte aufgerufen, das der marxistischen Vorstellung einer teleologischen Aufwärtsentwicklung entgegensteht. Müllers Formulierung erinnert an Nietzsches Auffassung der Welt „als Kreislauf[,] der sich unendlich oft bereits wiederholt hat und der sein Spiel in infinitum spielt“.793 Worauf Müller abzielt, ist aber nicht der Gedanke einer zyklischen Bewegung der Geschichte; die Wiederkehr des Gleichen erfolgt „unter ganz anderen Umständen“, sie ist die „Wiederkehr des Gleichen als eines anderen“.794 Nach Müllers Auffassung bildet die gegen die Belange des Individuums gerichtete Rationalität eine historische Kontinuität, die mit Erscheinungen des Ausschlusses und der Gewalt einhergeht. Der Fortschritt schlägt, ähnlich wie es Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung dargelegt haben, immer wieder in Mythos um.795 Konstellationen wie die im Philoktet-Modell ausgebreiteten sind daher trotz allem historischen Wandel aktuell und spiegeln Probleme der Gegenwart. Um die ‚Wiederkehr des Gleichen‘ auszuhebeln, bedarf es einer kollektiven Lösung. In der Betonung des Kollektiven und Müllers offenem Geschichtsbild, das über keine rückversichernde Teleologie verfügt, liegt die Differenz zu Nietzsches Lösung eines individualistischen Übermenschen796 und dessen zyklischer Geschichtsauffassung. Das Philoktet-Modell betont die Notwendigkeit der Negation des Dargestellten als Bedingung des historischen Fortschritts: „Der Ablauf ist zwangsläufig nur, wenn das System nicht in Frage gestellt wird.“797

|| 792 MW 10, 335 u. Eke: Heiner Müller, S. 109. 793 Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente 1887–1889. In: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Bd. 13, hg. von Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. München u.a. 1988, S. 376. Siehe zum Wiederkunftsgedanken: Günter Abel: Nietzsche: Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr. Berlin u.a. 1998, S. 187ff. Siehe zu den Nietzsche-Bezügen in Philoktet: Ostheimer, S. 86f. 794 MW 10, 335. 795 Vgl. Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. In: Gesammelte Schriften. Bd. 3, hg. von Rolf Tiedemann. Berlin 2003 (Digitale Bibliothek. Bd. 97), S. 11ff. Siehe zum Verhältnis der Dialektik der Aufklärung und Philoktet: Ludwig: Heiner Müller, Ikone West, S. 99ff. 796 Vgl. Wolfgang Emmerich: Der vernünftige, der schreckliche Mythos. Heiner Müllers Umgang mit der griechischen Mythologie. In: Hörnigk (Hg.): Heiner Müller Material. Texte und Kommentare. Konstanz 1989, S. 143. 797 MW 8, 158.

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Modelle funktionieren allein für die Sachverhalte, für die sie geschaffen wurden. Sie auf andere Bereiche anzuwenden, muss demnach zu falschen bzw. ungenauen Ergebnissen führen oder das Modell beschädigen. Das ist hinsichtlich der ersten, oben vorgestellten Interpretation des Stücks als Anti-Kriegs-Parabel ebenso wie bezüglich der dritten, anthropologischen Interpretation der Fall. Ob Philoktet gemäß der zweiten Interpretation eine Parabel auf den Stalinismus darstellt, ist seit Erscheinen des Stücks mit unterschiedlichen, teilweise spitzfindigen Argumenten diskutiert worden.798 Betrachtet man die im Modell verhandelten Konstellationen, trifft das ohne Zweifel zu, allerdings in einem anderen und weniger konkret allegorischen Sinn. Zunächst bezieht sich der Anwendungsbereich des Philoktet-Modells auf alle Gesellschaften, die den Einzelnen dem Primat einer Rationalität unterstellen, die im Zweifelsfall über Leichen geht. Das bedeutet, das Philoktet-Modell ist auf alle modernen Gesellschaften anwendbar. Dass sich das Modell im Kontext der 1960er Jahre gleichwohl als in besonderer Weise auf den Sozialismus bezogen verstehen lässt, hängt mit Müllers grundsätzlichem politischem Schreibimpetus799 und seiner spezifischen Perspektivierung der westlichen und der östlichen Gesellschaften zusammen. Nach Müllers Ansicht waren mit der Enteignung der Bourgeoisie kaum alle gesellschaftlichen Probleme behoben, zumal der Stalinismus als dauerhafter Makel wirkte; dennoch waren ihm zufolge in der DDR die grundlegenden Voraussetzungen geschaffen, um zu einer herrschaftsfreien Gesellschaft zu gelangen, weil die ostdeutsche Gesellschaft dem Kreislauf der Kapitalverwertung und damit der für westliche Gesellschaften kennzeichnenden Beschleunigung entzogen war.800 Dementsprechend erschien Müller die DDR selbst noch in den 1980er Jahren allein aufgrund ihrer antikapitalistischen Ausrichtung als eine „Zukunftsstruktur“, verfügte also über ein gewisses utopisches Potential, während ihm die Bundesrepublik und mit ihr der Westen insgesamt als eine „zurückliegende Geschichtsformation“ galten.801 Das ist eine grundsätzliche Differenz. Müller spitzt, um die Deformationen zu verdeutlichen, die die Handelnden vollziehen und erfahren, das Philoktet-Modell so zu, dass es als ausweglos erscheint und die ZuschauerInnen auf die Leerstelle des Textes hinweist: die Utopie. Deren potentielle Realisierung aber schließt Müller für kapitalistische Gesellschaften von vornherein aus.

|| 798 Müller erzählt die Geschichte eines westdeutschen Studenten, der ihm erklärte, es handle sich um ein Trotzki-Stück, da Lemnos aus „rotem Stein“ (311) bestehe, so wie die Insel Büyükada im Marmarameer, Trotzkis erster Exilstation. Vgl. MW 11, 157. 799 „Ich rede immer nur von dem Staat, an dem ich primär interessiert bin: die DDR.“ MW 10, 134. 800 Siehe zur Verbindung von Kapitalismus und Beschleunigung bei Müller: Norbert Otto Eke: Zeit/Räume. Aspekte der Zeiterfahrung bei Heiner Müller. Die Auferstehung des Raums aus der Asche der Zeit. In: Buck u. Valentin (Hg.): Heiner Müller, S. 134–141. 801 MW 10, 773 u. MW 10, 409.

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Berücksichtigt man zudem den wirkungsästhetischen Charakter des Textes,802 so erscheinen allein die sozialistischen Gesellschaften (bzw. die DDR) als Kommunikationsraum des Dramas. Indem die Haltungen des blindwütigen Opfers, des tatendurstigen jungen Idealisten und des eiskalt berechnenden Veteranen im Spiegel des Mythos diskutierbar gemacht werden, ist Philoktet somit – bei aller Enttäuschung über die Entwicklung der DDR, die in Müllers Texten ab der Umsiedlerin zutage tritt – ein Aufruf, den brutal im Fahrwasser rationalistischer Zweckorientierung operierenden Aufbau des Sozialismus neu zu justieren und den ihm inhärenten tragischen Phänomenen offen ins Gesicht zu schauen.803

4.6.5

Hacks’ Kritik der Müller’schen Tragödie

Im Februar 1965 unterrichtete Peter Hacks Henning Rischbieter, den Herausgeber von Theater heute, über die Fertigstellung von Philoktet „bis auf kleine Endkorrekturen“ und nannte Müllers Text „glänzend“.804 Dass es sich bei diesem Eindruck nicht allein um eine Momentaufnahme handelte, zeigt sich anhand des im April 1966 verfassten Philoktet-Essays, der mit dem Satz beginnt: „Diese vollkommene Tragödie ist von vollkommener Bauart und in vollkommenen Versen verfaßt.“805 In einem Brief an seine Mutter bezeichnete Hacks Philoktet neben Margarete in Aix sogar als „das beste Stück dieser Jahrhunderthälfte“.806 Dessen ungeachtet sorgte der Text bei Hacks für „Unruhe“, wie es bereits im Titel des Essays („Unruhe angesichts eines Kunstwerks“) heißt. Schließlich offenbarte Philoktet zum wiederholten Male Müllers „dumpfe“ Begabung, auf die schon Hanns Eisler anlässlich der Umsiedlerin aufmerksam gemacht hatte.807 Entgegen des Hacks’schen Klassikverständnisses lenkt Müller die symbolische Umformung des Mythos, wie gezeigt, nicht ins Zukunftsoffene, sondern treibt die Handlung bewusst

|| 802 „[E]twas zu lernen, das ist immer nur in Situationen möglich, in denen sich historisch etwas bewegt“, heißt es 1986 in Bezug auf die angesichts von Gorbatschow wiederkehrende Aktualität des Lehrstücks. MW 10, 464. 803 Ähnlich argumentiert auch Janine Ludwig in einem Gespräch von 2004, konzentriert sich allerdings mehr auf die Opfer: „Meiner Meinung nach glaubte Müller anfangs, daß man, wenn man die Opfer nicht totschweigt und nicht beschönigt, die Chance hat, sich zu korrigieren.“ Janine Ludwig u.a.: Umformwerk: Nachlesen. Janine Ludwig, Lappiyul Park, Anja Quickert, Peter von Salis, Berit Schuck und Elena Sinanina im Gespräch. In: Storch u. Ruschkowski (Hg.): Die Lücke im System, S. 329. 804 Peter Hacks an Henning Rischbieter, 28. Februar 1965, DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit Th. 805 HW 13, 98. Siehe auch: GmH 175. 806 Mamama 356 (Peter Hacks an Elly Hacks, 29. Mai 1967). 807 MW 8, 429.

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in die Katastrophe. Im Sinne der Weimarer Klassik ist Philoktet anti-klassisch, in seiner indirekten Bezugnahme auf Goethes Iphigenie auf Tauris sogar antigoetheanisch, relativiert die mit Neoptolemos geschaffene Verbindung von Wahrheitsethos und Gewalt doch Goethes Ansatz, dass Humanität durch Offenheit und Wahrheit zu erzielen sei, und stellt diesen als „naive Illusion“ aus.808 Was Hacks an Philoktet kritisiert, ist das mangelnde utopische Moment des Textes, weshalb er in Frage stellt, ob „das Stück klassisch zu nennen“ sei.809 Hacks fehlt der sophokleische „Ausgleich“,810 den Müller durch eine stilisierte Katastrophe ersetzt habe, die keine Reflexion tatsächlicher gesellschaftlicher oder anthropologischer Phänomene darstelle, sondern Ausdruck von Müllers subjektiver Auffassung sei. Auf der Grundlage der Ablehnung der Tragödie, der zufolge im Zuge der fortschreitenden Rationalisierungen im Sozialismus die Voraussetzungen der dramatischen Gattung Tragödie obsolet geworden seien, weil die Menschen nunmehr weder an anonyme Schicksalsmächte glauben müssten noch den unlösbaren Konflikten der Klassengesellschaft ausgesetzt seien,811 führt Hacks Müllers Philoktet-Modell auf eine falsche geschichtsphilosophische Positionsnahme zurück: Die Opfer der antagonistischen Widersprüche, die schicksalhaft scheiterten, weil sie keinen Ausweg sehen konnten, – wirken sie für uns nicht alle ein bißchen kurzsichtig? Folgt Tragik allein aus der geschichtlichen Konstellation des Vorgangs, oder folgt sie nicht vielmehr aus dem geschichtlichen Bewußtsein des Beschreibers? Weiß das Müller, und erklären sich hieraus die unübersehbaren satirischen Züge in seinem Stück?812

Mit dem Hinweis auf das ‚geschichtliche Bewußtsein des Beschreibers‘ verdeutlicht Hacks, dass der tödliche Ausgang des Philoktet auf die subjektive Position des Verfassers, letztlich auf eine psychische Disposition Heiner Müllers zurückzuführen sei. Müllers von der Forschung immer wieder konstatierte „Affinität zur Gewalt“ gründe in dessen traumabelasteter Kindheit, die Hacks später als wesentlichen Motor von Müllers Werk bezeichnet: „[D]ie Frage, warum er nun darauf besteht, aus jeder Kleinigkeit eine Tragödie zu machen, […] hat natürlich mit der Fähigkeit, die eigene Kindheit zu verarbeiten, zu tun.“813 Ob Hacks damit direkt auf Müllers Erfahrung der Verschleppung seines Vaters in ein Konzentrationslager und die Empfindung des jungen Müller, „ein Objekt der Geschichte“814 gewesen zu sein, anspielt, bleibt unklar – Müller selbst hat ab den 1970er Jahren mehrfach auf seine „Grunderfahrung […]: Staat || 808 Huller, S. 100. Siehe zu Hacks’ entgegengesetzter Meinung über Goethes Iphigenie: HW 13, 70. 809 HW 13, 99. 810 HW 13, 98. 811 Vgl. FR 49f. 812 HW 13, 98. 813 Raddatz: Der Demetriusplan, S. 85 u. FR 31. Später heißt es lapidar: „Die Komödie hat keine erfreulichere Materie als die Tragödie, nur eben einen gescheiteren Verfasser.“ HW 15, 279. 814 MW 10, 202.

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als Gewalt“ verwiesen (u.a. in der Erzählung „Der Vater“) und seine schriftstellerische Motivation, „traumatische Erfahrung weiter[zu]geben“, betont –,815 ist in diesem Zusammenhang aber auch nicht von Bedeutung. Entscheidend ist, dass Hacks den sich als tragisch erweisenden Rationalismus des Philoktet ausblendet. Hacks meint, der Müller’schen Zuspitzung komme keine Berechtigung zu, da Philoktet durch „Starrsinn, nicht Notwendigkeit“ zerstört werde.816 Müllers letale Konfliktlösung ist nach Ansicht von Hacks und vor dem Hintergrund der Hegel’schen Tragödientheorie, auf die Hacks rekurriert,817 Ausdruck einer Willkür des Autors, „eine[r] gewisse[n] vornehme[n] Empfindlichkeit, die sich an Schmerz und Leiden weidet“, wie es bei Hegel bezüglich der grundlosen Bevorzugung einer unglücklichen gegenüber einer glücklichen Lösung heißt.818 Hacks ignoriert dabei allerdings, dass Müller das tragische Geschehen der Handlung in der Konfrontation zwischen Philoktet und Odysseus auf die Kollision von individuellem und allgemeinem Interesse zuspitzt und auf alle drei Figuren des Dramas ausweitet. Die Tragödie ist somit durch die Zwecklogik der griechischen Gesellschaft und ihre desaströse Dynamik markiert. Müllers Ansatz lässt sich daher tragödientheoretisch durchaus rechtfertigen, gibt er doch einer „höheren Anschauung“ Raum,819 der nämlich, dass dieser tragische Zusammenhang auch für den Sozialismus der 1960er Jahre noch von Bedeutung sei, was durch die Ineinsblendung von Mythos und Moderne sinnfällig gemacht wird. Da Hacks die Position einer „Wiederkehr des Gleichen als eines anderen“820 aber nicht teilt und geschichtsphilosophisch eine konträre Ansicht vertritt, erscheint ihm die Tragik des Philoktet in Bezug auf die Gegenwart der DDR als satirisch. Hacks’ Les-

|| 815 MW 12, 86 u. MW 10, 774. Die bereits 1958 verfasste Erzählung „Der Vater“ (vgl. MW 2, 79–86) erschien erstmals 1976. Norbert Otto Eke schreibt, dass die Erfahrungen der Ausgrenzung im Nationalsozialismus „den Grundstein für Müllers kritisch-distanzierenden Blick auf die Verwerfungen der Geschichte“ gelegt hätten. Norbert Otto Eke: Frühe Biographie/Prägungen. In: HMH, Stuttgart, S. 2. Siehe auch: Hauschild, S. 24ff. u. Raddatz: Dämonen unterm roten Stern, S. 8ff. 816 HW 13, 98. 817 Nach Hegel bezeichnet der tragische Konflikt die Kollision zweier in ihren ethischen oder moralischen Ansprüchen gleichberechtigter Personen oder Mächte, die, weil diese Ansprüche sich widersprechen, mit „Notwendigkeit“ gegeneinander handeln. Vgl. Hegel 15, 523; siehe auch: Christoph Menke: Tragödie im Sittlichen. Gerechtigkeit und Freiheit nach Hegel. Frankfurt/M. 1996, S. 25ff. Siehe zu Hegels Dramentheorie: Roland Galle: Hegels Dramentheorie und ihre Wirkung. In: Walter Hinck (Hg.): Handbuch des deutschen Dramas. Düsseldorf 1980, S. 259–272. 818 Hegel 15, 567. 819 Im Verweis auf eine „höhere[ ] Anschauung“ erkennt Hegel die Rechtfertigung der „Tragik der Konflikte“. Hegel 15, 567. 820 MW 10, 335.

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art des Textes folgt dem Prolog des Philoktet und dessen Trennung von „Vergangenheit“ und „heutige[r] Zeit“, die er als undialektisch auffasst.821 Dass eine solche Verbindung existiert, d.h. die Keime der Utopie im Sinne einer Entwicklungslogik des Sich-Vervollkommnens auch in der Vergangenheit aufzufinden sind, zeigt Hacks mit der Komödie Margarete in Aix, die in dieser Hinsicht als Antithese zu Philoktet erscheint. Wo Müller mittels einer radikalisierten Tragödie ein die positive Dialektik betonendes Geschichtsbild in Zweifel zieht, schafft Hacks mit der im ausgehenden Mittelalter spielenden Komödie das Modell einer gelingenden historischen Aufwärtsentwicklung, in welche die Utopie als Ausdruck der Kunst einbegriffen ist.

4.6.5.1 Der Staat und das Verhältnis von Mittel und Zweck Der Kontrast zwischen beiden Modellen wird besonders deutlich, wenn man sich die Rolle des Staates in beiden Dramen vor Augen hält. In gewisser Weise behandeln sowohl Philoktet als auch Margarete in Aix den Prozess staatlicher Genese: Müller die Entstehung des Staates am Ende der Clangesellschaft, Hacks den Beginn des neuzeitlichen zentralen und nationalstaatlich organisierten Staatswesens. Wirkt der Eingriff des Staates, der sich in der von Odysseus vertretenen Zweckrationalität offenbart, als desaströs, so erscheint dieser in der Person Ludwigs XI. als konfliktlösend und als Schrittmacher des Fortschritts gegenüber den ständischen Interessen. Den Texten liegen divergierende Auffassungen über die Relation von Zweck und Mittel zugrunde: Philoktet demonstriert, dass die Mittel sich im Zuge ihrer Anwendung gegen den Zweck richten, ja diesen zerstören können. Die Intrige, mit der Philoktet für den Kriegsdienst zurückgewonnen werden soll, erweist sich bei der Konfrontation mit Neoptolemos’ Ehrvorstellungen als kontraproduktiv, denn sie führt im Rahmen einer dialektischen Bewegung zu Philoktets Tod. Mit Odysseus’ Lüge, die den Mord zur ‚patriotischen‘ Widerstandstat umbiegt, verdeutlicht Müller zudem die Rücksichtslosigkeit, mit welcher der Staat, verstanden als das Allgemeine, gegen den Einzelnen agiert. Nachdem Philoktets Körper zerstört worden ist, wird im Interesse des Sieges gegen Troja auch seine personale Geschichte dem staatlichen Narrativ unterstellt. Odysseus’ Pragmatismus steht für die Absolutsetzung des Zwecks, eine Haltung, die die Frage nach der moralischen Vertretbarkeit der Mittel nicht kennt – und diese gerade mittels der dem Stück inhärenten Rezeptionsstrategie aufwirft. Ausweis der den Zweck untergrabenden Mittel ist in Margarete in Aix die Figur Ludwigs XI., der die Vernunft mittels List und Gewalt durchsetzen will und diese somit symbolisch ebenso in einen Käfig sperrt wie seine politischen Gegner. Der Text

|| 821 MW 3, 291. – „Warum sollen wir uns weinend von der Vergangenheit verabschieden, der wir doch so viel zu verdanken haben?“, heißt es auf einem Notizzettel im Nachlass, der sich in einer dem Philoktet-Aufsatz zugehörigen Mappe befindet. DLA, A: Hacks, Konvolut „Unruhe angesichts eines Kunstwerks“.

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verurteilt diese Brutalität allerdings nicht, sondern stellt sie als quasi notwendige Begleiterscheinung des Fortschritts dar, was durchaus an Heiner Müllers spätere Formulierung des Schreckens als „erste Erscheinung des Neuen“822 erinnert. Der Unterschied ist allerdings, dass bei Hacks das Ziel nur scheinbar Schaden nimmt, weil es sich durch die über den Ausschnitt der gespielten Zeit hinausreichende Perspektive als erfüllt erweist. Die funktionierende Dialektik der Geschichte und der Staat als Träger der Vernunft stehen dafür Bürge. Hacks bezieht somit die entgegengesetzte Position: Die Mittel werden grundsätzlich dem Ziel unterordnet. In Omphale [1969] äußert Herakles dementsprechend: „Des Kampfes Sittlichkeit ist, man gewinnt.“823 Die von Müller aufgeworfene Frage, ob die in Philoktet dargestellte und für alle modernen Gesellschaften, also auch die sozialistische, konstitutive Zweckrationalität nicht an sich ein Problem darstellt, wird von Hacks verneint, indem er eine historisierende Sicht auf die gewalttätigen Mittel Ludwigs XI., d.h. auch: auf die repressiven Methoden der sozialistischen Staaten, empfiehlt. Im dialektischen Entwicklungsgang stellt die Gegenwart nur ein Durchgangsstadium dar; vom Ende her betrachtet, nimmt sich die Frage nach dem Mitteln anders aus. Zustimmend zitiert Hacks demgemäß in einem 1969 verfassten Essay über sein frühes Stück Eröffnung des indischen Zeitalters, das er nunmehr als Parabel auf den Stalinismus zu lesen vorschlägt, den römischen Dichter Ovid: „Manches, was nachher gefällt, ist im Entstehen nicht schön.“824

Hacks’ ‚Unruhe’ oder: „Ist am Ende der ‚Philoktet’-Vers [...] barbarisch“? 4.6.5.2 Die Unruhe, die Hacks in der Beschäftigung mit Müllers Drama befiel, bezieht sich nicht allein auf dessen Tragödiencharakter, sondern auch auf dessen Form.825 Anhand der Umsiedlerin hatte Hacks 1961 zu zeigen versucht, dass der Jambus nicht einfach ein formales Mittel sei, sondern ihm durch die Widerspiegelung des sozialistischen Aufbauprozesses auch eine inhaltliche Qualität zukomme. Im Laufe der 1960er Jahre war er dann zu der Ansicht gelangt, dass die formale Bewältigung eines Stoffes symbolisch für dessen potentielle außerliterarische Bewältigung stehe und Ausweis einer „Souveränität“ sei, die in der positiven marxistischen Geschichtsphilosophie und dem im Zeichen des Neuen Ökonomischen Systems sich vervollkommnenden

|| 822 MW 8, 212. 823 HW 4, 299. Ähnlich heißt es in Die Binsen [1981]: „Es kommt doch nicht auf die Kampfweise an, wenn man siegt.“ HW 6, 207. Die Konsequenz einer falsch verstandenen ‚Moral‘ verdeutlicht Hacks in Omphale an Daphnis, einer ähnlichen Figur wie Neoptolemos. Auch dieser will nicht „ränkevoll“ (HW 4, 279) handeln und verliert daher gegen das Ungeheuer Lityerses. 824 HW 15, 127. Hacks negiert in diesem Sinne die Ansicht, „daß ein Zustandegekommenes mit seinem Ursprung Ähnlichkeit haben müsse“. HW 14, 189. 825 Siehe für das Zitat in der Überschrift: HW 13, 99.

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DDR-Sozialismus ihre Begründung findet.826 Dementsprechend heißt es im PhiloktetEssay: „Klassische Literatur spiegelt die tatsächliche Barbarei der Welt im Stoff wider und ihre mögliche Schönheit in der Form.“827 Eben jene utopische Vor-Schein-Qualität des Verses, auf die auch Müller sich bezogen hat,828 zieht Hacks bei Philoktet aber in Zweifel, weshalb er den Text nicht ohne Weiteres als „klassisch“ attribuieren mag. Dabei geht es Hacks nicht um Müllers „Sprachkunst“, der er die „Qualität erlesener Reinheit“ zuerkennt, sondern um die Kontaminierung der Form durch den Inhalt: Die Schönheit dieser Verse hat von der Farbe des Gegenstands. Sie ist utopisch und aber zugleich archaisch, anmutig und düster, ungeheuer in beiden Bedeutungen des Worts. Ist am Ende der ‚Philoktet‘-Vers in seiner mehr als menschlichen Schönheit barbarisch?829

Hacks meint, dass Müller die Funktion des Verses verschiebe und dessen kritisches bzw. dialektisches Moment in Bezug auf den Inhalt aushebele; d.h. der schreckliche Inhalt wird bestätigt, der Vers erhält, wie schon Heinar Kipphardt in seiner Kritik von Hacks’ Umsiedlerin-Essay erwähnte, eine apologetische Funktion. Mit dieser „Bruchstelle in der ureigenen Theoriebildung“830 fällt Hacks’ Konzeption zusammen, die ja gerade das Gegenteil behauptet, nämlich, dass der Vers als das Andere des Stoffs eine souveräne Zuversicht vermittelt. Von hierher rührt, was Hacks an Philoktet „irre“ macht: die Erkenntnis der „Verbesserungsbedürftigkeit“ seiner eigenen Ästhetik.831 Die Frage, ob Müllers Jamben ,barbarisch‘ sind, wird von Hacks im Philoktet-Essay nicht eindeutig beantwortet, ebenso wenig wie die irre-machende Erkenntnis, die aus ihrer Beantwortung folgt, auf Hacks’ weiterem Weg zum Klassiker eine Rolle spielt. So lässt sich mit Dennis Püllmann feststellen, dass die „Frage nach dem affirmativen und Verdrängungscharakter der klassischen Maße […] von Peter Hacks fortan selbst weitgehend verdrängt [wird]“.832

|| 826 HW 13, 93. 827 HW 13, 99. 828 „Jeder Gesang enthält ein utopisches Moment, antizipiert eine bessere Welt“, schreibt Müller 1970. MW 8, 161. Siehe auch: MW 10, 372f. u. KoS 227f. 829 HW 13, 99. 830 Püllmann: Von Brecht zu Braun, S. 337. 831 HW 13, 99. 832 Püllmann: Von Brecht zu Braun, S. 337. Als Revision des dialektischen Jambus und der seinerzeit damit einhergegangenen Ablehnung des „idealistischen Klassizismus“ (HW 13, 40), d.h. des Primats des Metrums (siehe hierzu: Kap. 4.2.2), kann denn auch die spätere Reflexion der Jamben in Moritz Tassow gelesen werden: „Man kann den Blankvers so beschädigen, daß er auch jene Sprachgebilde erträgt“, heißt es 1976 in Bezug auf Fremdwörter wie ,Sozialismus‘ oder ,Revolution‘, „aber vielleicht sollte man es nicht. […] Im ‚Moritz Tassow‘ habe ich das Metrum nach der Sprache, nicht die Sprache nach dem Metrum eingerichtet. Am ‚Tassow‘ ist eigentlich nichts tadelhaft außer den Versen“. HW 15, 143.

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4.6.5.3 Metaphorisierung Hacks’ Frage nach dem Ton des Philoktet-Verses ist indes nicht unberechtigt. Die Rhythmisierung des Textes vermittelt tatsächlich einen ‚düsteren‘ Eindruck. Die die griechische Sache affirmierende Kraft der Sprache, ihre Funktion im Dienst der Macht, wird mit der Sprach-Gewalt Odysseus’ zudem explizit betont, so dass sich der Jambus auch in den das Stück tragenden Diskurs über das Verhältnis von Zweck und Mittel und die Dialektik der Lüge einschreibt. Der dunkle Charakter der PhiloktetVerse lässt sich aber nicht allein auf die ‚Farbe des Gegenstands‘ zurückführen, sondern entsteht aus Müllers spezifischer Metaphorik und deren Zusammenspiel mit formalen Techniken der Alliteration, des Enjambements, der Wiederholung und der Verschiebung innerhalb des gleichen Wortfeldes. So nutzt Müller ausführlich Metaphern aus dem Bereich des Militärischen und der Jagd (bzw. des Fischfangs), die das Zweck-Mittel-Thema der Handlung betonen und die handelnden Personen charakterisieren. Aus Neoptolemos’ Worten wird dementsprechend offenbar, für welche Position Odysseus steht (und umgekehrt), während Müller gleichzeitig das Bild des Philoktet als zu fangenden Fisch etabliert, das sich durch den gesamten Text zieht: NEOPTOLEMOS: […] Du warst das Eisen, das ihn abschnitt. ODYSSEUS: Sei du das Netz, mit dem ich ihn zurückfang. NEOPTOLEMOS: Dein Wort hat weite Maschen. […] (292) ODYSSEUS: Dein Fisch kommt, Netz. (297)

Dass Müllers dichte Metaphorik einen Sog erzeugt, in dem die Sprache eine Eigenbewegung erlangt, die das Gesagte mit zusätzlichen Bedeutungen auflädt, wird besonders deutlich, wenn der dem Wahnsinn nahe Philoktet spricht. Wie die anderen Figuren ist auch er ein Meister der Sprache, der Bild auf Bild häuft und so die Rede beschleunigt, bis der Sprachfluss schließlich mit dem letzten Bild der Geier-Mahlzeit und dem sich im Fressen und Gefressen-Werden ausdrückenden Vanitas-Motiv zum Halt kommt: Und meld den Griechen, deinen Freunden, dem / Ithaker erst, der deinem Herzen nahsteht / Wie keiner, weil er dir dein Erbe wegnahm / Meld deinem Samen auch, wenn den der Krieg dir / Läßt und dein Frieden langt, ihn auszustreun / Daß Philoktet, der Narr aus Melos, starb / Narr wie kein Narr, er glaubte einem Griechen / Starb, Köcher seinem eignen Pfeil, der lief / Von seinem eignen Bogen, der gespannt war / Auf sein Wort von dem ersten Narren nach ihm / Auf Lemnos, wohin Narrheit ihn verschlug / Insel der Narrn und Geier, rotem Stein / Auf dem die Narren Geier fressen und / Gefressen werden von der eignen Mahlzeit. (310f.)

Im Grunde besteht zwischen dem Verfahren der Metaphorisierung in Philoktet und Margarete in Aix keine Differenz. Hacks setzt wie Müller auf die Mehrdeutigkeit der

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Metapher, „das Hauptmittel aller Kunst“.833 Seine Metaphern sind sowohl auf der Ebene der story (einzelne Äußerungen, Lieder oder Szenen bzw. Szenenausschnitte) als auch auf der Ebene des plots (der Fabel im Sinne eines der story übergeordneten Prinzips) offen gehalten. Der Unterschied liegt in der Anwendungsweise begründet. Hacks nutzt Metaphern diskursiv, sie unterstützen bzw. unterstreichen den Diskurs der Liebe oder der Kunst und tragen zur Selbstreflexion des eigenen ästhetischen Programms im Stück bei. Vor allem aber weiten sie den Bereich der Poesie aus, d.h. die Metaphern verleihen dem behandelten Gegenstand ein „poetisches Gewicht“, eine herausgehobene Bedeutung, die Hacks als eine „Schwere ohne Schwerfälligkeit“ bezeichnet.834 Ihre Uneigentlichkeit ist um das Zentrum einer positiven historischen Narration herum organisiert; welche Interpretation eine Analyse von Margarete in Aix auch immer liefern mag, am Kern der Fabel, ihrer positiven Staatserzählung, kann sie nicht vorbei. An diesem Punkt lässt sich die Differenz zu Müller festmachen. Philoktet ist – zumindest wenn man das Modell so liest, wie es im vorangegangenen Kapitel beschrieben wurde, und keine „Rechtfertigung der Lüge und der Liquidierung des Widerspenstigen“ annimmt, die Müller als vorbehaltlosen und prostalinistischen Autor versteht835 – im Kern ideologiekritisch. Der Text formuliert einen „Einspruch gegen Ideologien“,836 der sich in der Metapher von Philoktets Fuß manifestiert. Die Offenheit der Müller’schen Metaphorik wird für Hacks zum Problem, denn ihre Uneindeutigkeit erlaubt, das Modell des Textes auch auf die DDR zu beziehen, d.h. die Grenze zwischen Sozialismus und (kapitalistischer) Moderne verschwimmt, die gesellschaftliche Differenz des Sozialismus und dessen Sprung aus den antagonistischen Widersprüchen der Vorgeschichte wird bestritten. Der Sozialismus gehört derselben negativen Geschichtserzählung an wie die Gesellschaften, deren Negation er zu sein behauptet, weil er den Widerspruch zwischen dem Einzelnen und dem Allgemeinen ebenso wenig zu vermitteln weiß.

|| 833 HW 14, 459. Siehe zur Polyvalenz der Metapher und ihrer Unabgeschlossenheit: Donald Davidson: Wahrheit und Interpretation. Frankfurt/M. 1986. Auf die Notwendigkeit der Metapher zum Ausdruck „eines gegenständlich nicht darstellbaren Verhältnisses“, des Allgemeinen also, weist Hans Heinz Holz hin. Hans Heinz Holz: Die Bedeutung von Metaphern für die Formulierung dialektischer Theoreme. In: Leipniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin (Hg.): Sitzungsberichte der Leipniz-Sozietät. Bd. 39. Berlin 2000, S. 11. 834 HW 14, 114. 835 Hans-Dietrich Sander: Der gemeuchelte Philoktetes. Heiner Müllers verkapptes Plädoyer für die Ausmerzung des Widerspenstigen. In: Die Welt, 28. August 1965. 836 MW 12, 362.

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4.6.5.4 Die Didaktisierung der Tragödie Was Hacks’ Kritik der Müller’schen Tragödie übersieht, ist deren über die Negation des Gezeigten herstellbare Utopie. Philoktet konstatiert zwar die Kontinuität eines für den Einzelnen verheerenden Rationalismus auch im Sozialismus; unter Berücksichtigung des beschriebenen Lehrstückcharakters des Textes folgt auf die Schilderung dieses Umstandes aber eine Einschränkung hinsichtlich der Zukunft, die im Rahmen der koproduzierenden Überschreitung des tragischen Zusammenhangs durch das Publikum entstehen soll. Müller bricht die Tragödie und den ihr anhaftenden Schicksalsgedanken auf, indem er sie „als Ausdruck einer bestimmten Weltverfassung zu einem Punkt [bringt], an dem die Besinnung darüber, wie es anders sein müsste, zum zwingenden Gebot wird“.837 Diese negative Dialektik wird von Hacks nicht anerkannt. Die ihr zugrunde liegende „Pädagogik durch Schrecken“,838 widerspricht fundamental seiner Konzeption einer klassischen Literatur, die die Utopie – auch wenn sie deren letztliche Nicht-Realisierbarkeit behauptet – in Form großer Haltungen und schöner Formen auf die Bühne bringt. Der katastrophische Schock, mit dem Müller ab Ende der 1960er Jahren immer offensiver operiert, hat in Hacks’ Komödien keinen Platz; selbst dort, wo diese wie in Amphitryon und Omphale ein Scheitern konstatieren, ist dem Tragischen eine in die utopische Zukunft verlängerte Hoffnung an die Seite gestellt, die von einem grundsätzlichen Vertrauen auf die Lösbarkeit von Konflikten im Entwicklungsgang der menschlichen Geschichte zeugt.839 Anhand von Philoktet und Margarete in Aix werden die gattungstheoretischen Differenzen zwischen Hacks und Müller sichtbar. Mit Philoktet beginnt Müllers bis zum Ende der DDR gültiger „‚Gattungsvertrag‘“840 mit der Tragödie; Hacks setzt mit Margarete in Aix sein dialektisches Geschichtsspiel im Zeichen der Komödie (nach einem ‚Umweg‘ über das Gegenwartsdrama) fort. In der Gattungsdifferenz drückt sich zugleich die je anders geartete Perspektive auf den Gang der Geschichte und die DDRGegenwart der 1960er Jahre aus. Während Müllers Überblendung von Mythos und Sozialismus die Gegenwart als Gegenteil der Utopie zeigt, erscheint diese bei Hacks im Sinne eines dialektischen Prozesses als im stetigen Wandel auf die Utopie ausge-

|| 837 Ette: Kritik der Tragödie, S. 513. 838 MW 10, 154. 839 Sowohl Alkmene als auch Herakles müssen erfahren, dass sie die ihnen in der Realität gesetzten Grenzen nicht überschreiten können, ihre Ansprüche aber werden keineswegs negiert, auch enden beide Stücke mit verhaltenen Zeichen der Hoffnung: der Aufforderung an Amphitryon, sich selbst zu überschreiten (vgl. HW 4, 175), und dem Ölbaum, den Herakles mit seiner Keule pflanzt. Vgl. HW 4, 304. Siehe zum tragischen Aspekt des Scheiterns: Kost, S. 246ff. 840 Ostheimer, S. 9.

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richtet. Wo Müller entgegen der SED-Parole „[N]ach vorn schauen und vorwärtsschreiten“841 auf die Verwerfungen der sozialistischen Geschichte aufmerksam macht, bestätigt Hacks den zwar widersprüchlichen, aber letztlich doch positiven Gang der historischen Entwicklung.

|| 841 Politbüro des ZK der SED: Zur Diskussion über den XX. Parteitag der KPdSU und die 3. Parteikonferenz der SED. In: ND, 8. Juli 1956, S. 3.

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4.7

Das antagonistische Drama des Sozialismus: Königsdrama und Lehrstück

Margarete in Aix und Philoktet verdeutlichen, dass die ästhetischen Ansätze Hacks’ und Müllers ab der zweiten Hälfte der 1960er Jahre einen grundverschiedenen Zugriff auf den Gegenstand der Auseinandersetzung, die DDR bzw. den Sozialismus, anzeigen: geschichtsphilosophisch aufgeladene Komödie um die Rettung des die Kunst schützenden Staates auf der einen, Tragödie der tödlich endenden Kollision von Individuum und Staat auf der anderen Seite. Die Frage nach dem Verhältnis von Staat und Individuum vor dem Hintergrund der Geschichte des Sozialismus bildet das thematische Bindeglied zwischen den beiden ehemaligen Brecht-Schülern, deren divergierende ästhetische Programme sich Ende der 1960er Jahre konkretisieren: bei Hacks mit den Königsdramen Prexaspes [1968] und Numa [1970/71] und bei Müller mit den Lehrstücken Der Horatier [1968] und Mauser [1970].

4.7.1

Hacks’ Königsdramen

Die beiden klassischen, fünfaktigen Staatsdramen Prexaspes und Numa, die sich auf der Grundlage der von Hacks für den Sozialismus als konstitutiv erkannten Widersprüche zwischen Leistung und Demokratie und deren Vermittlung durch die Führung des Staates als Reflexionen der Herrschaftsform des Sozialismus und seiner Geschichte auffassen lassen, setzen die Problemkonstellation von Margarete in Aix fort. In ihrem Zentrum steht die Frage nach der Austarierung der Macht zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Klassen sowie deren Weitergabe, konkret: nach der politischen Nachfolge eines absolutistischen Herrschers.

4.7.1.1 Die Nachfolgefrage: Prexaspes Prexaspes präsentiert das Problem im Gewand einer historischen Handlung um den persischen König Kambyses II. und dessen höchsten Beamten Prexaspes. Hacks schreibt die von Herodot stammende Überlieferung zugunsten einer Konfrontation von Magiern und Geldhändlern um, die als „Klassen“ in einem „offenen Krieg“ gegeneinander stehen und sich beide des Staates bemächtigen wollen.842 Die Magier und die Geldhändler vertreten zwei unterschiedliche Prinzipien, hinter denen sich im Kontext von Hacks’ Sozialismusanalyse der 1960er Jahre eben jene Fraktionen erken-

|| 842 HW 4, 201. Die Seitenangaben zu Prexaspes werden im Folgenden direkt im Text gegeben. Siehe zu den Umgestaltungen gegenüber der Herodot’schen Vorlage: Trilse: Das Werk des Peter Hacks, S. 195f. u. Bartels: Leistung und Demokratie, S. 125ff.

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nen lassen, die die gegeneinander wirkenden Hauptkräfte der sozialistischen Gesellschaft repräsentieren. Die Magier, die „für die Gleichheit aller“ eintreten, stehen für die Partei, die Geldhändler, die „für [die] Abstufung der Ränge“ (201) eintreten, für die Wirtschaftskräfte.843 Am Ende des Stücks ist der Aufstand der Magier, dem der Beamte Prexaspes durch Nachlässigkeiten und unterlassene Handlungen beinahe zum Sieg verholfen hat, zurückgeschlagen; aber auch die Begehrlichkeiten der Geldhändler, die nunmehr ganz auf die Vernichtung der anderen Partei drängen und den „alte[n] Wahnsinnsstaat“ (253) gleich mit abschaffen wollen, werden durch den neuen König Darios zurückgewiesen. Darios etabliert sich als würdiger Nachfolger Kambyses’, der für ein absolutes Königtum steht, das die verschiedenen Partikularinteressen der Gesellschaft vermittelt und unter dessen „Schirm der Macht [sich] das Gute immer festigt“. (254) Was Hacks am historischen Stoff neben dem Aspekt der sowohl produktiven wie regressiven Rolle des Beamtenwesens verhandelt,844 ist die Frage der Nachfolge. Der greise König Kambyses, der es während seiner Regentschaft vermochte, die gesamtgesellschaftlichen Interessen gegen die Magier und die Geldhändler zu verteidigen und deren gegensätzliche Bestrebungen produktiv zu machen, muss erkennen, dass die Abhängigkeit von seiner Person den wunden Punkt der politischen Ordnung bildet: „Ich habe Kyros’ Haus auf meinen einzigen Leib gestellt und hätte wissen sollen, was für eine hinfällige Stütze und morsche Säule der ist.“ (233) Die Nachfolgefrage wird so zum eigentlichen Zukunftsproblem. Liest man den 1968 verfassten Prexaspes || 843 Die „offene Machtprobe“ (187) zwischen beiden ‚Klassen‘ wird bereits in der Exposition dargelegt, wenn der Magier Smerdes und der Geldhändler Otanes über das Eintreiben von Schulden in einer Genossenschaft streiten. Vgl. 183ff. 844 Hacks nennt Prexaspes eine „Beamtentragödie“ und bestimmt das Beamtenwesen folgendermaßen: „Die eigentümliche Begabung des Beamten ist, zu verhindern, daß etwas geschieht.“ Gleichwohl billigt er den Beamten eine historisch positive Rolle nicht nur im alten Persien, sondern auch im französischen Absolutismus wie im Sozialismus zu; schließlich führe die Institution der Beamten mit ihrer grundsätzlichen Tendenz zur Beharrung einen „Kampf gegen die Begierden von Teilen der Gesellschaft, welche sich dem Gesamt der Gesellschaft entgegensetzen“. HW 15, 158f. Prexaspes stellt die Frage „nach der Aufklärbarkeit des Apparats“ (AEV 24) und beantwortet sie negativ, zeigt aber zugleich die Notwendigkeit des Apparats auf und verdeutlicht damit einmal mehr die dialektischen, „krummen Wege des Fortschritts“. HW 13, 47. Siehe zur Beamtenfrage in Prexaspes: Bartels: Leistung und Demokratie, S. 147ff. – Indem Hacks in Prexaspes, gemischt mit Prosa, erstmals den Alexandriner, das Versmaß der französischen Klassik, verwandte, fand er zudem ein ästhetisches Äquivalent zur Tätigkeit der Beamten. Als „die Kunstsprache der Beamten“ (HW 15, 165) entspreche der Alexandriner aufgrund seiner strengen metrischen Beschaffenheit (ein sechshebiger jambischer Reimvers mit fester Zäsur und einem Wechsel von männlicher und weiblicher Kadenz) den Eigenschaften des Beamten, der in ähnlicher Weise das Zufällige unterdrücke und den Mangel verwalte; auch erinnere die Zäsur „an die Heftnaht einer Akte“ (HW 15, 168) und der eintönige Wechsel der Kadenzen verhindere ebenso wie der Beamte Wirkung. Insofern kann hier mit Hans Heinz Holz tatsächlich vom „Widerspiegelungscharakter der Versform“ gesprochen werden. Hans Heinz Holz: Erinnerungen an Peter Hacks. In: Hacks u. Holz, S. 15. Siehe hierzu: Püllmann: Von Brecht zu Braun, S. 350ff.

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als „kompromißloses Zeitstück“, das mit den behandelten Problemen auf die DDR der späten 1960er Jahre verweist,845 so stellt sich das Drama als modellhafte Diskussion der Nachfolgefrage im Sozialismus dar. Wie kann es gelingen, dass der in Hacks’ Sicht erfolgreiche Absolutismus Ulbrichts nicht von einer der beiden Fraktionen, dem Partei- oder dem Wirtschaftsflügel, in die Defensive gedrängt wird und die siegreiche Fraktion einen Nachfolger aus ihren Reihen stellt? Die Lösung, die Prexaspes gibt, könnte eindeutiger nicht sein. Mit Darios tritt ein Herrscher die Nachfolge an, der keiner der beiden Fraktionen zugehörig ist und der sowohl dem Leistungs- und Wissenschafts- als auch dem Demokratieprinzip folgt. André Müller sen. versteht das Stück daher als „tröstlich[e] […] Mitteilung, auf Ulbricht könne nur Ulbricht folgen“.846

Der poetische Blick „von oben“: Numa 4.7.1.2 Mit der Nachfolgefrage beschäftigt sich auch Numa. Während sich aber Prexaspes mittels der Aneignung des heroischen Alexandriners an der französischen Klassik orientiert, hat Numa Shakespeare zum Vorbild. Zudem verschiebt die Komödie die Perspektive. So verlässt der Text die Historie und rückt das dramatische Geschehen an die Gegenwart heran, distanziert diese aber auch: Numa spielt in einer „Sozialistischen Republik Italien“, die vor allem in der im Ort Klobbicke situierten Nebenhandlung Züge der Gegenwart erkennen lässt, und ist in Person des im Stück den „Riß zwischen Herrschaft und Nachfolge“ schließenden Numa Pompili und der streitenden Politbüromitglieder Sabino Pompili und Romano Schweitzer, die den Widerspruch von Leistung und Demokratie vertreten, zugleich antikisiert.847 Mit Fauno, einem Marx lesenden Faun, dessen „Lenker und geistiger Erzeuger“ (109) Numa ist, sowie Numas Freundin Egeria, einer Göttin, die im 3. Akt kurzerhand das Textbuch verändert und Sabino und Romano das Sprechen in Versen verordnet, erhält das Stück zudem eine phantastische Dimension.848 Numa, von Hacks selbst als „Gegenwartsdrama“ beschrieben, entspricht so dem poetischen Verfahren nach der aristophanischen Technik, die „das Poetische auch dem Stoff nach in die Gegenwart [bringt]“.849

|| 845 Trilse: Das Werk des Peter Hacks, S. 200. Vgl. Bartels: Leistung und Demokratie, S. 130ff. 846 GmH 32. 847 Hacks: Sechs Dramen, S. 87. Die Seitenangaben zu Numa werden im Folgenden nach dieser Ausgabe direkt im Text gegeben. Siehe zu Numa: Bartels: Leistung und Demokratie, S. 84ff. – Numa verweist auf den legendenhaften zweiten König von Rom, Numa Pompilius, Sabino Pompili, sein Bruder, auf das Volk der Sabiner, Romano Schweitzer auf das Volk der Römer. Sie stehen also für die beiden Völker, deren Vereinigung sich, so der Mythos, bei der Gründung der Stadt Rom vollzog. 848 Die Verbindung von Numa und Egeria entstammt ebenfalls dem Mythos. Vgl. Konrat Ziegler u. Walther Sontheimer (Hg.): Der kleine Pauly. Lexikon der Antike in fünf Bänden. Bd. 2. München 1979, Sp. 203. Fauno verweist auf die Figur Caliban aus Shakespeares Der Sturm. 849 HW 15, 140.

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In der Haupthandlung geht es um die Nachfolge des verstorbenen Staats- und Parteichefs Quirini. Numa wird, nachdem sich Romano und Sabino auf keinen Kandidaten einigen können, dieser aber von beiden „aus zutiefst gegensätzlichen Gründen“ (96) abgelehnt wird, von der Alterspräsidentin des Politbüros, Lucia, zum Nachfolger ernannt. Als „mittlere[r] Held“, worunter Hacks einen Helden „ohne ranggleichen Gegenspieler“850 versteht, bezeichnet Numa die dialektische Mitte zwischen den zwei entgegengesetzten Positionen Romanos und Sabinos.851 Sich zunächst gegen die Übernahme des Amtes sträubend – er will lieber in Klobbicke bleiben, wo er als Dorfvorsteher und als Richter tätig ist – begründet er dessen Annahme gegenüber seiner Freundin Egeria schließlich mit der Notwendigkeit der Aufrechterhaltung der „Dialektik von Demokratie und Liberalität“.852 Die Ausführung weist Numa als „vollkommenen Herrscher[ ]“853 aus und reflektiert Hacks’ Sichtweise auf den Sozialismus und dessen potentielle Gefährdungen: In der bisherigen Geschichte gab es Zeiten der Gleichheit aller und Zeiten der Bevorrechtung einiger; diese wie jene waren notwendig, und diese wie jene waren schrecklich. Wir erstreben Gleichheit und Reichtum, aber wie soll sich Reichtum mit Gleichheit abfinden, und wie soll Gleichheit nicht gegen Reichtum kämpfen? Wir sind also gezwungen, eine unermeßliche Menge von Gütern zu erzeugen; der Durst nach Vorrecht kann nicht anders getötet werden als ersäuft in Überfluß. Gleicher Reichtum also, reiche Gleichheit. Aber wenn der Weg bis dorthin lang wird, bleibt wieder eins auf der Strecke, die Gleichheit oder der Reichtum, oder, falls wir uns hiergegen sträuben, beides, und wir haben, wofern wir nicht sehr gut und sehr schnell handeln, alle gegen uns: die Reichen und die Gleichen. (110f.)

Der Widerspruch reflektiert sich in der Nebenhandlung anhand eines Rechtsstreits in Klobbicke: Rick Stein, Flieger der „Ackerflotte“ (101) klagt gegen den „Oberbuchhalter der Dörferschaft Klobbicke“, Alfons Ruschke, da dieser ihm mit der Begründung, er dünge bei seiner Tätigkeit für die Gemeinschaft auch seinen eigenen Garten, 1, 20 Lira von der Prämie abgezogen hat. Ruschke aber tritt vor Gericht nicht selbst auf, sondern lässt sich von seiner rhetorisch begabteren Schwester Emma vertreten. Emma und Rick verlieben sich ineinander; dass Alfons Ruschke ihr Bruder ist und sie vor Gericht in dessen Rolle geschlüpft ist, verheimlicht sie ihm aber. Der Rechtsstreit, dem sich im vierten Akt das Politbüro zugesellt und in dem Romano und Sabino ihrer jeweiligen Position entsprechend für Rick Stein bzw. für Alfons Ruschke Partei ergreifen, wird von Numa entschieden, indem er ihn ob seiner Nichtigkeit nicht

|| 850 HW 15, 179. 851 So äußert Numa: „Keinen Beschluß […] duld ich, / Der nicht entsprungen einem Für und Wider. / Kein Gegenstand ist einseitig beschaffen, / Kein Urteil vollständig, das eine Seite / Allein betrachtet hat.“ (148) 852 BD 1, 108. 853 HW 15, 181.

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entscheidet. Nach der Prämisse „in nichtigen Dingen Freiheit, / In wichtigen Wissenschaft“ (152) erklärt er den Streit für gegenstandslos: „Die Lösung ist, man sollte ihn nicht führen.“ (151) Auf diese ‚Lösung‘ des Konflikts folgt im fünften Akt ein römischer Karneval. Aber das frohe Fest wird getrübt durch das Zerbrechen der Beziehung zwischen Rick und Emma, da Rick, als er begreift, dass Emma sich als ihr Bruder ausgegeben hat, von ihrer Liebe nichts mehr wissen will. Das Ineinander von staatlichem Glück und privatem Unglück setzt die zentrale Aussage des Stücks, die Numa formuliert: Im übrigen, der Staat ist in den Fugen, / Und auf den Fugen sitzt ein Weib und weint. / Gut. Geben wir der rauhen Wahrheit statt / und enden, anders als wir gerne hätten: / Wenn sich die Menschheit längst gerettet hat, / Muß sich der Mensch noch immer selber retten. (176f.)

Während sich die politische Lösung der Nachfolgefrage also auch in Numa zum Besten auflöst – Numa ist ein würdiger Nachfolger des Staatsgründers Quirini, hinter dem man anhand der Aussagen Lucias leicht Walter Ulbricht erkennen kann –,854 bestehen die Probleme auf niedriger Ebene (der Rechtsstreit) und im Privaten fort. Damit ist angezeigt, dass „auch in einer Gesellschaft, die im Glück ist, das Glück der einzelnen immer wieder neu erobert werden muß, und daß es in einer solchen Gesellschaft keine Übereinstimmungsmechanismen geben kann“, wie Werner Mittenzwei anlässlich der Diskussion des Textes in der Akademie der Künste feststellte.855 Plädiert Numa dergestalt für eine Mäßigung der Erwartungen an die sozialistische Gesellschaft und für einen poetischen Blick „von oben“, von dessen Warte aus sich die vorhandenen Probleme mit Souveränität und Zuversicht betrachten lassen,856 rückt der Text zugleich die Frage nach der Qualität des politischen Herrschers im Sozialismus in den Vordergrund. Mit seinem Genie steht und fällt das notwendige Gleichgewicht. Es ist eben nicht so, wie Hacks noch 1964 über den klassischen Helden, der als „Anführer und Ausführer“ die Geschichte vorantreibt, schrieb, „daß die historischen Aufgaben ihren Löser allzeit zu finden wissen“.857 Von der politischen Führung, das ist die Aussage von Numa wie von Prexaspes, hängt alles ab. Die sozialistische Gesellschaft ist demnach nicht durch ihre nach wie vor existierenden || 854 „Er legte das neue Italien, diesen Grundstein, fast / Bewohnbar schon. Wer vor ihm hätte beides, / So viel begonnen und so viel vollendet? / Als seine Arbeit wir erledigt glaubten, / Die Änderung der Macht, längst hatte er, / […] die Arbeiten im Aug, die / Zu tun sein würden.“ (89). – Stefan Luckscheiter, der Numa irrtümlich bereits als Kritik Honeckers liest, kommt zu dem entgegengesetzten Schluss und meint, „daß Quirini unersetzt bleibt und die Lücke, die sein Tod gerissen hat, nicht geschlossen wird“. Stefan Luckscheiter: Anmerkungen zu einem Widerspruch in Felix Bartels’ Analyse des „Numa“. In: ARGOS (2010), H. 7, S. 93. Siehe hierzu auch: Felix Bartels: Widerspruch gegen einige Anmerkungen. In: ARGOS (2010), H. 7, S. 97–107. 855 BD 1, 95. 856 BD 1, 115. Vgl. HW 15, 182f. 857 HW 15, 146.

Das antagonistische Drama des Sozialismus: Königsdrama und Lehrstück | 315

Zwänge und ihre Erscheinungen des Autoritarismus bedroht, sondern von ihrer politischen Spitze her.858

4.7.2

Müllers Lehrstücke

Ganz anders als Hacks interessiert sich Heiner Müller nicht für solche ‚architektonischen‘ Fragen sozialistischer Staatlichkeit, sondern für staatliche Praktiken, d.h. für die gewaltförmige Praxis der zum Staat gewordenen sozialistischen Bewegung und deren öffentliche Erinnerung. Müllers weitere Lehrstücke vertiefen das bereits im Philoktet-Modell thematisierte Morden im Dienste der Allgemeinheit.

4.7.2.1 Die „unreine Wahrheit“: Der Horatier Der Horatier zeigt, dass die Widersprüche – der Horatier ist der Sieger über Alba und zugleich der Mörder seiner Schwester – auch in der unmittelbaren Bedrohung durch den Feind anerkannt werden müssen. Im Zentrum des Lehrstücks, das in seiner formalen, auf dramatische Rollen und Dialogpartien verzichtenden Gestaltung den Anfang von Müllers Bruch mit einem konventionellen dramatischen Theater markiert, steht die Frage, wie über die Taten des Horatiers gesprochen und wie an sie erinnert werden soll.859 Der chorisch strukturierte Text plädiert für die „unreine Wahrheit“,860 die der staatlichen Huldigung des Mörders, wie sie Corneille in seiner Tragödie Horace [1640] vorgenommen hat, eine Absage erteilt: „Und das Volk antwortete mit einer Stimme: / Er soll genannt werden der Sieger über Alba / Er soll genannt werden der Mörder seiner Schwester“. (84) Müller weist damit auf die Notwendigkeit hin, widersprüchliche Realitäten jenseits ideologischer Interpretationen anzuerkennen und diese sprachfähig zu machen. Dass bei diesem Verfahren ein „Rest, / [d]er nicht auf[geht]“ (85), bleibt – der Horatier wird zunächst geehrt und später hingerichtet, sein Leichnam wird erst mit dem Lorbeer bekränzt und dann den Hunden vorgeworfen – ist offensichtlich. Gerade diesen Rest zu thematisieren, Verdienst und Schuld

|| 858 Vgl. Jens Plassmann: Vom Ende der „prinzipiellen Lösbarkeit“. Zum Konfliktausgang in der Darstellung der sozialistischen Gesellschaft durch die DDR–Dramatik der 70er Jahre. Frankfurt/M. u.a. 1994, S. 77, der hieraus ableitet, dass die sozialistische Gesellschaft „[z]u Recht“ in „‚Führende‘ und ‚Geführte‘“ gespalten sei. 859 Vgl. Schulz: Heiner Müller, S. 94. Siehe zu Der Horatier: Jonathan Kalb: Der Horatier. In: HMH, S. 233–235; Klaus-Detlef Müller: „Nämlich die Worte müssen rein bleiben“. ,Arbeit an der Differenz‘ in Heiner Müllers „Der Horatier“. In: Olaf Hildebrand u. Thomas Pittrof (Hg.): „… auf klassischem Boden begeistert“. Antike-Rezeptionen in der deutschen Literatur. Freiburg 2004, S. 467–481 u. Marc Silberman: Heiner Müllers Fortschreibung der Brechtschen Dialektik: „Der Horatier“. In: Schulte u. Mayer, S. 197–210. 860 MW 4, 83. Die Seitenangaben zu Der Horatier werden im Folgenden direkt im Text gegeben.

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„[m]it einem Atem“ (84) zu nennen, ist, was Der Horatier im öffentlichen Gespräch des römischen Volkes, an dem auch die Stimme des toten Horatiers teilhat, performativ realisiert.861 Wird er nicht thematisiert, bedeutet das für das Gemeinwesen einen irreparablen Schaden: Nicht nur „[beschwert] [u]ngesprochenes Gespräch / […] den Schwertarm“ und „[macht] [v]erhehlter Zwiespalt / […] die Schlachtreihe schütter“ (78); jenseits der unmittelbaren außenpolitischen Bedrohung durch die Etrusker, vor deren Hintergrund das Spiel stattfindet, weist der Text auch auf die Spätfolgen hin, die eine Ignoranz der ,unreinen Wahrheit‘ zeitigt: „Was nicht getan wird ganz bis zum wirklichen Ende / Kehrt ins Nichts am Zügel der Zeit im Krebsgang.“ (83)

4.7.2.2 „Wozu das Töten und wozu das Sterben“? – Mauser Wie in Der Horatier geht es auch in Mauser um eine tragische „Erfahrung des Bruchs“862 im Rahmen einer internen Auseinandersetzung. Während aber Der Horatier auf der Ebene der Parabel verbleibt und der Kontext der sowjetischen Geschichte und des Stalinismus sich nur aus dem Zusammenhang von Müllers Werk sowie nachträglichen externen Kommentaren folgern lässt,863 führt Mauser direkt in das Zentrum sozialistischer Geschichte, die Liquidierung von Konterrevolutionären während des auf die Revolution folgenden Bürgerkriegs.864 Das Lehrstück behandelt die Auseinandersetzung zwischen einem das Kollektiv der Revolution repräsentierenden Chor und zwei Henkern der Revolution (A und B), denen im Zuge ihrer Tätigkeit die „Gewißheit“ abhandenkommt, ob „das Töten aufhören [wird], wenn die Revolution gesiegt hat“.865 Die schon in Philoktet aufgeworfene Frage, welchen Preis das rücksichtslose Handeln im Dienste des Allgemeinen hat, wird in Mauser – der Titel weist sich wie bei vielen Müller-Texten als mehrschichtige Metapher aus, die sowohl auf den während des Kriegskommunismus verwendeten Waffentyp Mauser als auch auf die Mauser, also den oft schmerzhaften Prozess des Federwechsels bei Vögeln, bezieht – anhand der Figuren A und B durchgespielt. Wie Vögel lassen diese im Zuge ihrer „an den Revolver [gebundenen]“ „Arbeit“ (250) Federn: Angesichts dessen, dass die „Feinde der Revolution“ Feinde „aus Unwissenheit“ (247) sind, ihre zerarbeiteten Hände sie als Angehörige derselben Klasse ausweisen, für die die Revolution kämpft,

|| 861 Vgl. Ette: Kritik der Tragödie, S. 512. Im Vordergrund steht also nicht so sehr die Entscheidung, was mit dem Horatier passieren soll; dementsprechend hat Müller frühere Überlegungen zur Beteiligung des Publikums – „Das Publikum ist mit Ja-Nein-Tafeln auszurüsten“ (MW 4, 566) – zurückgenommen. 862 Hans-Thies Lehmann u. Susanne Winnacker: Mauser. In: HMH, S. 253. 863 „Der Horatier war meine Reaktion auf Prag 1968, ein Kommentar zu Prag.“ KoS 203. 864 Siehe zu Mauser: David Bathrick u. Andreas Huyssen: Producing Revolution. Heiner Müller’s „Mauser“ as Learning Play. In: New German Critique (1976), H. 8, S. 110–121; Schulz: Heiner Müller, S. 108ff. u. Lehmann u. Winnacker. 865 MW 4, 253f. Die Seitenangaben zu Mauser werden im Folgenden direkt im Text gegeben.

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und „jeder dritte vielleicht […] nicht schuldig [ist]“ (251), stellt sich die Frage, die die im Text leitmotivisch und monoton wiederkehrende Prämisse der Revolution – „das Gras noch / Müssen wir ausreißen, damit es grün bleibt“ (245) – in Zweifel setzt: „Wozu das Töten und wozu das Sterben / Wenn der Preis der Revolution die Revolution ist / Die zu Befreienden der Preis der Freiheit“ (249)? Die Figuren A und B stellen zwei unterschiedliche Reaktionen vor: B „kann nicht mehr töten“ (248) und lässt drei Bauern, die er exekutieren soll, frei; A lädt die Gewalt sexuell auf – „mein Geschlecht der Revolver“ (251) –, das Töten wird ihm zu einem orgiastischen Rausch der Vernichtung, der auch vor den Toten nicht Halt macht: Ich nehme unter den Stiefel, was ich getötet habe / Ich tanze auf meinem Toten mit stampfendem Tanzschritt / Mir nicht genügt es zu töten, was sterben muß / Damit die Revolution siegt und aufhört das Töten / Sondern es soll nicht mehr da sein und ganz nichts. (254)

Sowohl auf A als auch auf B wirkt die Gewalt, die sie im Namen der Revolution ausüben, entfremdend. Da sie sich von ihrem „Auftrag“ (255) entfernt haben, werden sie als „Feind[e] der Revolution wie andere Feinde“ (255) hingerichtet. Der Text präsentiert das aber nicht in linearer Abfolge, sondern in Form eines Rollengedichts, das durch die beständige Wiederholung einzelner Textblöcke einen liturgischen Charakter bekommt und sich durch die Verschiebung der Zeitebenen als zyklisch ausweist: Der ganze Prozeß wird aus der Rückschau vergegenwärtigt, dadurch gehen die beiden HenkerGestalten A und B ineinander über. Als über A zu Beginn das Urteil verhängt wird, beginnt der Bericht über seine Geschichte als Parteihenker, die mit der Erschießung Bs begann, so daß, als am Ende das Urteil durch A selbst vollstreckt wird, sich das Stück […] wie ein Kreis schließt […].866

Die Zustimmung, die A zu seinem eigenen Tod geben soll, weil er die Grundsätze der Revolution missachtet und das Töten zu seiner eigenen Sache gemacht hat, verweist auf den Zusammenhang mit Brechts Maßnahme.867 Im Unterschied zu dieser fehlt Mauser aber die Gewissheit, dass der Preis, den die Revolution verlangt, sich auch lohnt, eine Frage, die Müller angesichts des aus seiner Sicht ausbleibenden Fortschritts ab Mitte der 1960er Jahre immer mehr umtreibt. Das Stück gibt darauf keine Antwort. Die „Frage […] nach dem Menschen“ (256), die A gegenüber dem Chor aufwirft, wird von diesem als „zu früh“ (256) zurückgewiesen. Am Ende stimmt A in den Chor mit ein und heißt seine eigene Erschießung gut: „TOD DEN FEINDEN DER REVOLUTION“ (258). Die Antwort auf die Frage nach dem Töten im Namen der Revolution und dem von ihm geforderten Preis, die sich als Frage nach dem Preis der Revolution erweist, wird an das Publikum weitergegeben, das „über einen größeren

|| 866 Schulz: Heiner Müller, S. 109. 867 Brechts Maßnahme sowie Die Mutter sind im Text auch intertextuell präsent. Vgl. Lehmann u. Winnacker, S. 252.

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geschichtsphilosophischen Horizont verfügt als die historische Bewusstseinserfahrung, die ein Drama dokumentiert“.868 Müller radikalisiert mit Mauser das Brecht’sche Lehrstück auf zweierlei Weise: erstens, indem er den gesellschaftlichen Zusammenhang, in dem gelernt werden soll, auf die Geschichte des Sozialismus und eines seiner blutigsten Kapitel ausweitet und mit der Thematisierung der revolutionären Gewalt als Mittel zur Geburt des ,neuen Menschen‘ das Experiment des Sozialismus selbst in Frage stellt;869 und zweitens, indem er eine dem Titel entsprechende, maschinenmäßig arbeitende Sprache und Form findet, die in ihrer ritualisierten Wiederholung den Text selbst zur physischen Erfahrung des Schreckens als „ERSTE ERSCHEINUNG DES NEUEN“ werden lässt und im Sinne Walter Benjamins auf „das aufzusprengende Kontinuum der Normalität“ verweist.870 Mauser schließt die tragische Versuchsreihe des Lehrstücks ab. Der Text markiert einen entscheidenden Schritt in Müllers Auseinandersetzung mit der Avantgarde871 und auf seinem Weg zu einem postdramatischen Theater, das sich von der herkömmlichen Vorstellung eines linearen, dialogischen Dramas zugunsten von „kompakten Text-Maschinen“ löst.872

4.7.3

Das antagonistische Drama des Sozialismus

Vergleicht man die Königsdramen und die Lehrstücke miteinander, so wird deutlich, wie der Unterschied, der sich bereits anhand der frühen Texte von Peter Hacks und Heiner Müller feststellen lässt, zum ästhetischen und politischen Gegensatz wird. Der optimistische und der „lidlose“873 Blick auf die Gegenwart entsprechen einer jeweils anderen Perspektive auf Geschichte: Wenn beide Autoren sich einem Stoff aus der mythischen römischen Frühgeschichte zuwenden, greift Hacks, wie bei Numa, auf den schiedsrichterlichen zweiten König Roms zurück, während Müller in Der Horatier || 868 Ette: Kritik der Tragödie, S. 510. 869 Dementsprechend war Mauser das einzige Stück Müllers, zu dem in der DDR ein explizites Verbot seitens des Kulturministeriums vorlag. Vgl. KoS 202f. Siehe zur versuchten und dann verbotenen Inszenierung in Magdeburg 1972: Maik Hamburger: M in M mit M’s M. Versuch einer „Mauser“-Inszenierung in Magdeburg 1972. In: TdZ 46 (1991), H. 11, S. 14–16. 870 MW 4, 259. Die Formulierung „DIE ERSTE GESTALT DER HOFFNUNG IST DIE FURCHT DIE ERSTE ERSCHEINUNG DES NEUEN DER SCHRECKEN“ (MW 4, 259) findet sich ab Ende der 1960er Jahre in zahlreichen Äußerungen Müllers. Sie steht leitmotivisch für Müllers literarische Untersuchungen der Geschichte des Sozialismus als der „Tragödie des Jahrhunderts“ (MW 11, 532). Siehe zu Benjamin: BGS 1, 701. 871 Das thematisiert der Text durch die konkrete Ortsangabe der weißrussischen Stadt Witebsk, einem der Geburtsorte der russischen Avantgarde, auch selbst. Vgl. Lehmann u. Winnacker, S. 255. 872 Fiebach: Inseln der Unordnung, S. 170. Siehe zum Begriff des postdramatischen Theaters: HansThies Lehmann: Postdramatisches Theater. Frankfurt/M. 2011, S. 27–32. 873 MW 8, 334.

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eine mythische Begebenheit aus der Regierungszeit von Tullus Hostilius, dem expansiven, kriegerischen Nachfolger Numas, rezipiert. Der dialektischen Aufhebung der Konflikte steht die ,unreine Wahrheit‘ gegenüber, die nach Ansicht von Hacks nicht öffentlich besprochen werden kann, weil das Verschweigen der Konflikte zur Grundvoraussetzung der absolutistischen Herrschaftsform gehört, nach Ansicht von Müller aber besprochen werden muss, da jedes Verschweigen und jede Verdrängung in den ,Krebsgang‘ führt. In Hacks’ und Müllers Texten der späten 1960er Jahre drücken sich dementsprechend zwei unterschiedliche Konzeptionen sozialistischer Dramatik aus, die miteinander um die realistische Beschreibung der DDR-Verhältnisse konkurrieren. Beide arbeiten an einem Theater, das sich als ästhetischer Raum öffentlicher Verständigung erkennt und in affirmativer Weise auf den Sozialismus als Alternative zur von Hacks wie Müller abgelehnten bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft bezieht; mithin intendieren beide ein sozialistisches Drama als eine der neuen Gesellschaft adäquate Form der Dramatik.874 Dabei aktualisieren sie jeweils unterschiedliche Traditionslinien. Seit dem späten neunzehnten Jahrhundert bewegt sich die der Arbeiterbewegung und dem Sozialismus verbundene Kunst in einem Spannungsfeld zwischen Klassik und Moderne, zwischen der ästhetischen Entscheidung für „das gute Alte“ oder „das schlechte Neue“, wie Brecht anlässlich der Exil-Debatten über den Realismus formulierte.875 Die Frage, welche Kunst, der politischen Bewegung des Sozialismus angemessen sei, hat die Sozialdemokratie von Beginn an begleitet und der Streit darüber ist nicht erst seit Wilhelm Liebknechts 1874 erhobener Forderung nach einer „sozialistische[n] Literatur“ in der Welt. Vorschläge, wie eine solche Literatur, jenseits „‚belletristische[r] Agitation‘“,876 beschaffen sein müsse, hatte Mitte des neunzehnten Jahrhunderts bereits Richard Wagner formuliert. Auf diesen geht denn auch eine der wesentlichen Strömungen zurück, die Tolstoi fortführte. Wagner sprach der Kunst eine „aktive Funktion für die Revolutionierung der Gesellschaft“ zu; sie sollte sich mit der emphatisch als ‚Volk‘ beschworenen Masse der arbeitenden Menschen verbinden und diesen im Gemeinschaftserlebnis der Kunst ein Gefühl für ihre Möglichkeiten eröffnen.877 Im Widerspruch zu einem solchen aktivistischen Kunstbegriff, der sich im Agitprop der 1920er und 1930er Jahre sowie in Walter Benjamin und Bertolt Brecht fortsetzt, befindet sich eine andere Tradition, für die vor allem Georg Lukács steht, zu der – ohne die Unterschiede zu leugnen – aber auch Franz Mehring

|| 874 Vgl. Mittenzwei: Antikerezeption, S. 547 u. Bernhardt: Heiner Müller und Peter Hacks, S. 47. 875 GBA 22.1, 457. 876 Frank Trommler: Sozialistische Literatur in Deutschland. Ein historischer Überblick. Stuttgart 1976, S. 13f. 877 Trommler: Sozialistische Literatur in Deutschland, S. 139.

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gezählt werden kann.878 Nach 1945 aktualisieren sich diese unterschiedlichen Traditionen und gehen in die Konstellation Lukács vs. Brecht über. Kurzum: Innerhalb der sozialistischen Kunstdiskussion hat man es mit einem rationalistischen, am ‚klassischen Erbe‘ orientierten und einem anarchischen und traditionsaversiven Pol zu tun. Hacks und Müller können diesen beiden Polen zugeordnet werden. Für das dramatische Feld der DDR markieren ihre Namen insofern einen „internen Epochengegensatz“.879 Das sozialistische Drama, an dem Müller arbeitet, repräsentiert keine teleologische Erzählung, die Widersprüche der neuen Gesellschaft in einen Komödienrahmen integriert, sondern ist, im alltagssprachlichen Sinne, selbst das ,Drama des Sozialismus‘. Die Verdrängungen von interner Gewalt und Unterdrückung, die von Beginn an das sozialistische Experiment begleiten, führen zu „Katastrophen“,880 die den Bestand des Projektes selbst gefährden. Das Haus des Sozialismus, wie Müller in Anlehnung an Brecht und die Psychoanalyse formuliert, sei gebaut worden, ohne vorher den Keller auszuräumen. Das „Durchbrechen des gesellschaftlich Verdrängten“, das ‚Ausräumen‘, ist, was Müller sich zur Aufgabe seines Theaters macht.881 Seine Lehrstücke zielen auf eine Sichtbarmachung der Widersprüche und deren Diskussion, aber nicht im Sinne einer reflexiven Abbildung und philosophischen Erfassung der sozialistischen Gesellschaft wie bei Hacks, sondern als produktive Störung, als kommunikativer Eingriff. Sie wollen Traumata aufrufen und zu deren Verarbeitung beitragen, indem sie eindeutige Festlegungen verhindern, und sich für eine andere Erfahrung offenhalten, die jenseits klar fixierbarer Erklärungen liegt. So rückt Müller die repressiven Strukturen der (sozialistischen) Gesellschaft und die Kosten der sozialistischen Entwicklung in den Fokus und konfrontiert diese mit den vom Rationalismus ausgeblendeten „dunklen Seiten der Aufklärung“,882 dem asozialen Begehren des Individuums und seinem anarchischen Potential. Für eine Umsetzung dieses Programms der Störung, das als „Sprengsatz“883 funktionieren soll, der die utopischen Energien des kommunistischen Projekts, den „Wärmestrom“ im Sinne Blochs,884 freilegt und das Theater als einen Raum sozialer Selbstverständigung zurückgewinnt, erscheinen Müller die konventionellen Muster der Dramatik und die mit ihnen verbundenen ästhetischen Konzepte obsolet. Es seien gerade die durch die Tradition befestigten Ordnungsstrukturen, die den Realismusge-

|| 878 Siehe zu Mehring: Trommler: Sozialistische Literatur in Deutschland, S. 163–172. 879 Püllmann: Von Brecht zu Braun, S. 24. 880 „Die Verdrängung macht die Katastrophen.“. MW 10, 330. 881 Raddatz: Dämonen unterm roten Stern, S. 2. Vgl. MW 8, 225 u. MW 10, 288. 882 KoS 161. 883 MW 10, 335. 884 Vgl. Bloch: Das Prinzip Hoffnung, S. 235ff.

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halt eines Textes einschränken. Die geschlossene Form und die auf dem sozialistischen Theater vorherrschende Gattung der Komödie erscheinen als Bemühungen der „Ausflucht“,885 als Versuche, Widersprüche zu kanalisieren und diese symbolisch in Richtung einer kohärenten, von der Wirklichkeit abweichenden Erzählung umzubiegen. Insbesondere die Fabel erweist sich in dieser Hinsicht als wesentliches Element eines illusionistischen Theaters, holt sie doch „unvermeidlich das Diskontinuierliche in ihr Kontinuum herein und hebt es dadurch auf“.886 Müller bekennt sich daher zu einer dramatischen Praxis jenseits fabelzentrierter Konzepte: „[W]as ich niemals gemacht habe, ist eine Fabel vorher durch[zu]konstruieren. Daran glaube ich auch nicht. Weil man dann dem Stoff oder dem Material die Eigenbewegung wegnimmt […].“887 An die Stelle des geschlossenen, auf Repräsentanz zielenden Textes tritt ein fragmentarischer Dramentext, der den „Prozeßcharakter“ des Dargestellten betont und die Schlussfolgerungen einem „koproduzieren[den]“ Publikum überlässt.888 Um den Ablauf zu stören und Erwartungshaltungen zu durchkreuzen, arbeiten Müllers Texte mit Unterbrechungen, Wiederholungen und Kommentaren. Auch verschwimmt im Aushandlungsprozess des Lehrstücks die Identität der Rollen, so wie in Der Horatier der Protagonist Held und Mörder zugleich ist. Gegenwart und (mythische) Vergangenheit oszillieren, wie bei Philoktet und Der Horatier, sehr augenfällig dann später in Germania Tod in Berlin [1971] und Zement [1972], ineinander. Der Brecht’schen Materialwert-Theorie889 entsprechend bedient sich Müller zudem anderer, vielfach auch eigener Texte, aus denen er Teile herausbricht oder die er in andere Zusammenhänge montiert. Müllers Lehrstücke arbeiten mittels einer negativen Dialektik an einem positiv zu verstehenden Theater der Verzweiflung. Der Hacks’schen fröhlichen Resignation, die im Kontext einer teleologischen Geschichtsphilosophie die Beschränkung des eigenen Handlungsspielraums anerkennt, stellt Müller das Konzept einer aktiven Verzweiflung gegenüber,890 deren Fluchtpunkt die Utopie ist. Diese ist in den Texten aber nur als „Lücke“,891 als möglicher anderer Ablauf, mithin als Negation des Gezeigten, präsent, so dass der Müller’sche Text „aus dem, was der Fall ist, den Funken einer Erinnerung an das schlägt, was der Fall sein könnte“.892

|| 885 HMA, Nr. 3037, zit. n.: MW 10, 837. 886 Bruno Hitz: Der Streit der Dramaturgien. Zum deutschsprachigen Drama nach Brecht. Ein Essay. Zürich 1992, S. 60. 887 HMA, Nr. 3037, zit. n.: MW 10, 836. 888 MW 8, 175. 889 Vgl. GBA 21, 182 u. GBA 21, 285f. 890 Vgl. Fischborn: Peter Hacks und Heiner Müller, S. 137. 891 MW 8, 261. In Bildbeschreibung [1984] heißt es: „gesucht: die Lücke im Ablauf, das Andre in der Wiederkehr des Gleichen, das Stottern im sprachlosen Text, das Loch in der Ewigkeit, der vielleicht erlösende FEHLER“. MW 2, 118. 892 Eke: Heiner Müller, S. 43.

322 | Differenzen

Hacks’ Konzeption einer sozialistischen Klassik, die sich im Kontext der angenommenen postrevolutionären Situation von einer Literatur der Brecht’schen Aufklärung verabschiedet und an einem klassischen, an Aspekten der „Gattungsrichtigkeit“ ausgerichteten Drama orientiert,893 das die zeitgenössischen Widersprüche mit einer Haltung der Souveränität diskutiert, steht Müllers Konzeption diametral gegenüber. In den Rationalisierungen des geschlossenen Dramas, das auf die ästhetischen Diskussionen des späten achtzehnten und des neunzehnten Jahrhunderts rekurriert, erkennt Müller gerade das Problem einer Dramatik, die sich selbst zur Wirkungslosigkeit verurteilt.894 Zusammengefasst lassen sich einzelne Aspekte des Hacks’schen und des Müller’schen Dramentypus als Gegensatzpaare beschreiben: Anti-Moderne vs. Moderne; Komödie vs. Tragödie; teleologische vs. offene Geschichtsphilosophie; geschlossene, gattungsgerechte Form vs. Fragment und Collage; fröhliche Resignation vs. Verzweiflung.895 In den ästhetischen Gegensätzen reflektiert sich die Frage nach dem richtigen „Bild der DDR“ und ihrem „Abbild auf dem Theater“.896 Hacks versteht die Widersprüche des Sozialismus als produktiv. In der Politik Walter Ulbrichts erkennt er die konsequente Umsetzung eines Programms, das auf eine Steigerung der allgemeinen Lebensqualität bei gleichzeitiger Modernisierung der Gesellschaft zielt, und zieht daraus den Schluss auf die berechtigte Hoffnung einer positiven gesellschaftlichen Entwicklung. Müller hingegen erkennt allerorten Anzeichen einer gesellschaftlichen Regression als Folge des nicht überwundenen Stalinismus. In seiner Perspektive haftet dem Sozialismus der „Weg an den Schuhen“,897 fehlt der DDR nach der Egalisierung der ökonomischen Verhältnisse eine demokratische Vertiefung der Revolution und der öffentlichen Diskussion der ,unreinen Wahrheiten‘, die durch den steigenden Wohlstand, der die Gräben zuschütte statt sie aufzureißen, verhindert werde. So gestaltet sich die Auseinandersetzung zwischen Hacks und Müller nicht zuletzt auch als „weltanschauliches Duell“.898

4.7.4

Das Ende der Gruppe Hacks/Müller

In der intellektuellen Öffentlichkeit der DDR galten Peter Hacks und Heiner Müller bis in die 1970er Jahre hinein als dramatisches Geschwisterpaar analog zu Bertolt || 893 HW 13, 225. Vgl. HW 14, 10ff. 894 Vgl. MW 10, 284. 895 Siehe auch die Gegenüberstellung bei: Bernhardt: Heiner Müller und Peter Hacks, S. 43f. 896 Helmut Kreuzer: Zur Dramaturgie im , östlichen‘ Deutschland (SBZ und DDR). In: Orbis Linguarum 17 (2001), S. 25. 897 MW 3, 396. 898 Werner Mittenzwei: Zwielicht. Auf der Suche nach dem Sinn einer vergangenen Zeit. Eine kulturkritische Autobiographie. Leipzig 2004, S. 406.

Das antagonistische Drama des Sozialismus: Königsdrama und Lehrstück | 323

Brecht und Arnolt Bronnen.899 Besonders die auf die Antike zurückgreifenden Dramen hatten den Eindruck einer gemeinsamen ästhetischen Bewegung erzeugt. In den 1960er Jahren wurden Hacks und Müller als Antike-Spezialisten betrachtet: „Wenn irgendeiner etwas Antikes wollte, wurde entweder ich oder Hacks angerufen“, erinnert sich Müller nachträglich.900 Hacks’ Essays, die nicht nur die sozialistische Klassik ausformulieren, sondern deren ästhetische Parameter teilweise auch anhand von dramatischen Texten Heiner Müllers und Hartmut Langes herausarbeiten, bestärkten zudem die Wahrnehmung eines dramatischen Triumvirats bestehend aus Hacks, Lange und Müller;901 hinzu kommt Hacks’ seit dem Erfolg des Frieden verstärkt akkumuliertes symbolisches Kapital, das seinen Äußerungen, vor allem in Westdeutschland, wo sich die Rezeption Hacks’ in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre intensivierte,902 zusätzliches Gewicht verlieh. Dass der äußere Eindruck einer gemeinsamen ästhetischen Gruppe Hacks/Müller trügt, verdeutlichen die bisherigen Betrachtungen ihrer Ästhetiken. Die agonale Spannung zwischen den unterschiedlichen Konzeptionen sozialistischer Dramatik führte bereits früh zu Distanzierungen. Hatte Hacks Müller anfangs unterstützt, indem er ihn seinem westdeutschen Verleger Hans-Joachim Pavel als „mit Abstand bedeutendste[n] deutsche[n] Stückeschreiber“ empfahl sowie den Kontakt zu Siegfried Unseld bei Suhrkamp herstellte,903 so rückte er im Laufe der 1960er Jahre sukzessive von Müller ab. Eine Distanzierung setzte, wie gesehen, bereits bei Philoktet ein. In einem Gespräch von 1974 äußerte Hacks über Müllers Der Bau [1963/64]: [I]ch halte das Stück für den endgültigen Abweg vom rechten Wege bei Heiner Müller [...], da hat er sich endgültig für die Mode und nicht für die Tugend entschlossen. Ich denke, ‚Bau‘ ist der Ost-Beckett [meine Hervorhebung, R.W.]. [...] In diesem Roman von dem Herrn Neutsch gibt es eine Fabel. Diese Fabel ist gesellschaftlich hochbedeutend und ohne weiteres für ein Stück zu verwenden. [...] Diese gesamte Fabel ist bei Müller, wenn nicht gestrichen, so doch auf Rudimente verstümmelt und in dem gesamten Text versteckt […]. Ich mag ‚Bau‘ nicht; ich rede nicht über das Talent dieses Autors, aber ich mag dieses Stück nicht, und alles, was danach kommt, noch weniger.904

|| 899 Vgl. Stillmark: Hacks und Müller, S. 428. 900 MW 10, 304. 901 Vgl. Rischbieter: Auf dem Weg ans Ende einer Utopie? – 1967 gab es sogar eine Fernsehreportage, die Hacks, Müller und Lange gewidmet war. Vgl. die Programmankündigung in: Mamama 818f. 902 Vgl. Ronald Weber: Geschichte eines Missverständnisses. Die Rezeption des Werkes von Peter Hacks in der BRD bis 1989. In: ARGOS (2008), H. 3, S. 127ff. 903 Peter Hacks an Hans-Joachim Pavel, 5. April 1957, DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit dem Drei Masken Verlag. Vgl. Peter Hacks an Siegfried Unseld, 6. Juni 1964, DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit dem Suhrkamp Verlag u. Peter Hacks an Heiner Müller, 20. April 1965, HMA, Nr. 291. 904 FR 45.

324 | Differenzen

Die Formulierung ‚Ost-Beckett‘ verdeutlicht die Schärfe der Kritik und die Entfernung zwischen Hacks und Müller zu Beginn der 1970er Jahre.905 In Müllers Entwicklung weg von einem fabelzentrierten Drama erkannte Hacks eine Annäherung an die westliche Moderne. Auch im „Brief an einen Geschäftsfreund“ [1971], der 1972 als Beitrag zu dem Sammelband Liebes- und andere Erklärungen. Schriftsteller über Schriftsteller erschien, ließ Hacks seine Distanz gegenüber Müller erkennen. In dem vom Stil her satirischen Autorenporträt lobt er Müller zwar als einen „außerordentlichen Mann“ von „gediegene[n] und aufbauende[n] Grundsätzen“, nennt ihn aber zugleich einen „Tragiker“, der dazu neige, „seine Fragmente nach einer hinreichenden Ablagerungsfrist für fertig zu erklären“.906 Müllers Werk sei insgesamt dadurch gekennzeichnet, dass es in zwei Teile zerfalle, die man kaum dem gleichen Autor zuordnen könne, was Hacks auf Müllers negative Dialektik zurückführt: Wie sein Stil gekennzeichnet ist durch bruchstückhafte Vereinzelung der Bestandteile und vollkommen schöne Ausformung der Bruchstücke, so erscheint die Welt bei ihm in unauflösbarer Spannung zwischen dem Zufälligen und dem Gesetz. […] Natürlich lassen sich alle diese gegensätzlichen Momente mit Hilfe der materialistischen Dialektik ohne unüberwindliche Schwierigkeiten vermitteln, und natürlich beherrscht Müller die materialistische Dialektik souverän genug, um das, wenn er will, zu können. Aber er wills nicht. Es gibt kaum eine Haltung, die seinem Wesen so fremd ist wie die vermittelnde.907

Gerade die von Hacks indirekt eingeforderte Vermittlung als Ausdruck seiner Orientierung am klassischen Drama betrachtete Müller umgekehrt als problematisch, erschien ihm die Klassik doch als eine „Wegstilisierung von der unmittelbaren Wirklichkeit“.908 In Hacks’ Texten erkannte er den Ausdruck einer Kompensationsästhetik. Folgt man André Müller sen., so ging Müller Hacks ab Mitte der 1960er Jahre aus dem Weg und äußerte sich zunehmend abfällig über dessen Texte, in denen er immer weniger DDR-Wirklichkeit zu finden meinte. André Müller sen. zitiert Müller im Oktober 1967 hinsichtlich von Hacks’ Komödie Amphitryon: „Das Stück hat überhaupt keine gesellschaftlichen Implikationen mehr.“ Hacks habe mit seinem idealistischen Pro-

|| 905 Samuel Beckett galt in der DDR offiziell als Autor des spätbürgerlichen Niedergangs, seine Stücke konnten an den Bühnen der DDR bis in die 1980er Jahre hinein nicht gespielt werden. Vgl. Frank Bechert: Keine Versöhnung mit dem Nichts. Zur Rezeption von Samuel Beckett in der DDR. Frankfurt/M. u.a. 1997. – Mit seiner Kritik wiederholt Hacks indirekt den Vorwurf, den die Kulturpolitik 1961 gegen Die Umsiedlerin formuliert hatte; Siegfried Wagner hatte damals von einem „Beckett des Ostens“ gesprochen. Transkription des Tonbandmitschnitts der Sitzung der Sektion Dramatik des DSV vom 17. Oktober 1961, Bl. 62, BKTA. 906 HW 13, 144 146, 146 u. 144. 907 HW 13, 147. 908 MW 10, 160.

Das antagonistische Drama des Sozialismus: Königsdrama und Lehrstück | 325

gramm die ihm gemäße, für die DDR typische, „Form der Gefängnisneurose“ entwickelt.909 In einem Interview äußerte Müller später, Hacks sei die Realität der DDR „zu miserabel, zu klein“, weshalb er sich mit seinen „utopische[n] Entwürfen“ des „endgültig emanzipierten Menschen“ von dieser entfernt habe.910 Gegen Ende der 1960er Jahre zeigt sich, dass die Gegensätze zwischen Hacks und Müller größer sind als ihre Gemeinsamkeiten. Waren beide mit dem Programm einer shakespeareschen Revitalisierung des Dramas durch die Ausweitung des Theatralischen und den Einsatz der Metapher angetreten, so distanzierten sie sich im Zuge der Ausbildung ihrer ästhetischen Konzepte immer stärker voneinander. Hacks’ Äußerung über Der Bau wie auch Müllers Beurteilung von Amphitryon geben Grund zur Annahme, dass die agonale Spannung auch Mitte der 1960er Jahre schon zum öffentlichen Streit hätte führen können. Dass dies nicht passierte, ist auf die Bedingungen im literarischen Feld der DDR zurückzuführen. Die Auflösung der häretischen Gruppe Hacks/Müller, die bereits zuvor nur als Negativ-Koalition zweier Akteure in der Phase ihrer „ursprünglichen Akkumulation symbolischen Kapitals“911 verstanden werden kann, wurde durch die allgemeine kulturpolitische Situation gebremst. Vor allem das 11. Plenum des ZK der SED vom Dezember 1965, das sogenannte Kahlschlag-Plenum, verhinderte eine Auseinandersetzung zwischen einzelnen Akteuren des literarischen Feldes und hemmte dessen Ausdifferenzierung. Das Plenum wirkte „wie eine eiserne Klammer [...], die die von der Partei Gescholtenen zusammenschweißte“, schreibt Friedrich Dieckmann treffend.912 Angesichts der harschen Kritik der SED, die ungeachtet der Unterschiede der neueren Kunstprodukte ein „Strafgericht über die Moderne“ abhielt und „den wirtschaftlichen Reformprozeß vom bis dahin mitlaufenden Aufbruch auf kulturellem Gebiet [entkoppelte]“,913 erschienen öffentliche Auseinandersetzungen über divergierende ästhetische Standpunkte nicht opportun. Die Angegriffenen, unter ihnen, wenn auch nicht in vorderster Reihe, auch Hacks und Müller, rückten näher zusammen.914 Der persönliche Kontakt wird Ende der 1960er Jahre trotz der Differenzen noch lose aufrechterhalten. Im März 1968 schreibt Hacks seiner Mutter, dass er mit Müller

|| 909 GmH 19. 910 MW 10, 92. 911 Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 422. 912 Dieckmann: Bruchstücke des Glücksgotts, S. 20. 913 Wolfgang Engler: Strafgericht über die Moderne. Das 11. Plenum im historischen Rückblick. In: Agde, S. 16. 914 Darüber gibt auch ein retrospektiver Bericht des MfS aus dem Jahr 1973 Auskunft: „In der Zeit nach dem 11. Plenum seien alle kritisierten Schriftsteller untereinander solidarisch gewesen z.B. Peter Hacks, Wolfgang Harich, Heiner Müller, Stefan Heym. In dieser Zeit habe keiner des anderen Arbeit oder Bücher kritisiert.“ Zit. n.: DLA, A: Hacks, Stasi-Akte Peter Hacks (7. März 1973, BStU 000235). Die einzige Ausnahme bildet Wolf Biermann, gegen den Hacks bereits 1967 polemisierte. Siehe hierzu: Kap. 5.7.3.1.

326 | Differenzen

„gequatscht und gesoffen“ habe, und noch im April 1970 berichtet Hacks von einem Treffen, bei dem sich beide „ganz gut vertragen“ hätten.915 Aus dem Jahr 1969 hat sich zudem ein Geburtstagsgruß Müllers erhalten, der auf eine gewisse Verbundenheit schließen lässt. Allerdings bilden auch hier die Angriffe der Kulturpolitik den Kontext, wenn Müller der ‚roten Rübe‘ Hacks mit einem Gedicht gratuliert, das die Schwierigkeiten der DDR-Kulturpolitik positiv als Düngemittel deutet: „Die Rübe wird jünger / Je älter der Dünger / Solang es nicht an Jauche fehlt / Sind unsre Tage nicht gezählt / In diesem Hain von Rüben“.916 Der Klammereffekt, den die kulturpolitischen Maßnahmen hervorbrachten, wurde Ende der 1960er Jahre in dem Maße brüchiger, als sich im Kontext der nun folgenden Re-Etablierung von Hacks und Müller auf den Bühnen der DDR die Konstellation im dramatischen Feld verschob und Hacks seine Primus-inter-pares-Rolle verlor. Mit den Inszenierungen der in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre verfassten und der Zensur zum Opfer gefallenen Stücke, wurden die ästhetischen Differenzen zwischen Hacks und Müller öffentlich. Die agonale Spannung, die zwischen beider Dramaturgien herrschte, ging in einen Streit über. Die Gruppe Hacks/Müller, ohnehin nicht viel mehr als der Zusammenschluss zweier Machtloser, zerbrach und am autonomen Pol des literarischen Feldes bildeten sich zwei gegensätzliche Lager heraus. Damit hatte sich auch der häretische Teil der DDR-Brecht-Schule gespalten. Aus dem dramatischen Geschwisterpaar Hacks und Müller waren feindliche Brüder geworden.

|| 915 Mamama 387 u. 495 (Peter Hacks an Elly Hacks, 29. März 1968 u. 2. April 1970). 916 DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit Heiner Müller. Es handelt sich um eine Collage. Auf rotem Karton sind Ausschnitte, wahrscheinlich aus einem Lexikon, über Rübengemüse und zwei Bilder sowie das kleine Gedicht Müllers aufgeklebt. Müller unterzeichnet handschriftlich: „für Peter Hacks / zum 21.3.1969 / von Heiner Müller“.

5

Der Streit im literarischen Feld Und so, wie also Goethe die Herren Schlegel als seine Todfeinde hatte, so beliebe ich, meine Romantiker als meine Todfeinde zu haben.1

5.1

Das literarische Feld in den 1970er Jahren

In den 1970er Jahren erfährt das literarische Feld der DDR einen grundlegenden Wandel, der sich als Ausdifferenzierung beschreiben lässt. Können die 1960er Jahre im Kontext der Ulbricht’schen Reformen und der allgemeinen Überzeugung einer technischen Meisterung gesellschaftlicher Probleme als eine Zeit des Aufbruchs verstanden werden, so erweist sich dieser am Ende der 1960er Jahre als „Aufbruch in die Stagnation“.2 Dazwischen liegen das sogenannte Kahlschlag-Plenum und die Niederschlagung des Prager Frühlings im August 1968, die für viele Intellektuelle in der DDR einen Bruch markiert.3 Die Zeit wurde, wie Rainer Kirsch 1971 in einem Gedicht feststellte, als „Aufschub“ empfunden. Das nach dem Mauerbau erwartete und anfänglich geführte gesellschaftliche Gespräch war am Ende doch ausgeblieben bzw. wieder einmal vertagt worden. „Einmal, denken wir, muß doch die Zeit kommen“, heißt es am Ende von Kirschs Gedicht.4

5.1.1

Der Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker

Zu Beginn des Jahres 1971 war Walter Ulbricht 77 Jahre alt und noch immer die führende politische Person der SED und der DDR. Unangefochten aber war seine Position nicht. Ulbrichts Versuch, der Partei wesentliche politische Steuerungselemente zu entwenden und diese auf Gremien zu übertragen, über welche er selbst die Kontrolle

|| 1 BD 2, 315. 2 Stefan Wolle: Aufbruch in die Stagnation. Die DDR in den Sechzigerjahren. Bonn 2005. 3 Siehe zum Prager Frühling und den Reaktionen in der DDR: Stefan Wolle: Der Traum von der Revolte. Die DDR 1968. Berlin 2008, S. 138ff. u. Wolle: Aufbruch nach Utopia, S. 345ff. 4 Rainer Kirsch: Gedichte & Lieder. Berlin 2004 (Werke. Bd. 1), S. 37.

328 | Der Streit im literarischen Feld

ausübte, die gegen eine starre Planwirtschaft gerichteten Reformen des Neuen Ökonomischen Systems sowie Ulbrichts Erklärung des Sozialismus zu einer eigenständigen ,sozialökonomischen Formation‘ stießen innerhalb der SED sowie auf Seiten der Sowjetunion zunehmend auf Widerstand. Verschärft wurden die Konflikte innerhalb der SED-Führung noch durch die Ende der 1960er Jahre auftretenden wirtschaftlichen Engpässe, Ulbrichts Festhalten an der weiteren Vertiefung der Reformen sowie seine deutschlandpolitische Position, die sich von derjenigen der Sowjetunion absetzte. Ulbricht war bereit, von der außenpolitischen Maximalforderung einer diplomatischen Anerkennung der DDR durch die BRD abzugehen. Von einer Verständigung mit der westdeutschen Regierung unter Willy Brandt erhoffte er sich Abhilfe für die wirtschaftlichen Probleme, d.h. Investitionen und Waren, deren Lieferung die Sowjetunion zuletzt verweigert hatte.5 Ab 1970 organisierten sich die ‚Konservativen‘ innerhalb der SED-Führung und orientierten auf Ulbrichts Ablösung. Für dessen Nachfolge war Erich Honecker vorgesehen, der im Juli 1970 von Leonid Breschnew das sowjetische Plazet für die Machtablösung erhielt. In den Augen Moskaus hatte sich Ulbricht seit Mitte der 1960er Jahre immer mehr als Querulant erwiesen. Seine Inszenierung als eigenständiger kommunistischer Politiker und das Hervorkehren des DDR-Sozialismus als vorbildliches Modell einer sozialistischen Industriegesellschaft untergrub den Führungsanspruch der KPdSU. Beim 14. Plenum des ZK der SED im Dezember 1970 wurde Ulbricht offen für seine Wirtschafts- und Deutschlandpolitik kritisiert. Es dauerte aber noch bis zum 3. Mai 1971, bis Ulbricht den Angriffen schließlich nachgab und als Erster Sekretär des Zentralkomitees und Vorsitzender des Politbüros der SED zurücktrat. Offiziell ging Ulbricht aufgrund seines angeschlagenen Gesundheitszustandes in den Ruhestand, inoffiziell aber hatte er den Machtkampf innerhalb der SED-Führung verloren; Versuche, auch nach dem Rücktritt auf die Geschicke der Partei bzw. der DDR Einfluss zu nehmen, wurden unterbunden.6 An die Stelle von Walter Ulbricht trat dessen ehemaliger politischer Ziehsohn Erich Honecker. Honecker vollzog sofort eine Abkehr vom NÖS. Auf dem VIII. Parteitag der SED im Juli 1971, nur einen Monat nach dem Sturz Ulbrichts, wurde unter dem Motto „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ eine neue wirtschaftspolitische Konzeption verabschiedet, die einen wesentlich stärkeren Akzent auf die Lohnentwicklung und den Konsum setzte und zu deren zentralen Aufgaben ein Wohnungsbau-Programm gehörte. Die neue Führung unter Honecker strebte eine Verbesserung des allgemeinen Lebensstandards der DDR-Bevölkerung an, um sich so deren Zustimmung zu versichern – frei nach der Maxime: „Die immer bessere Befriedigung der Bedürfnisse der Menschen stärkt ihr Vertrauen zu unserer Politik und zu unserem || 5 Siehe zu den Konflikten zwischen Ulbricht und der KPdSU: Kaiser, S. 232ff. u. Roesler: Geschichte der DDR, S. 67ff. 6 Vgl. Frank: Walter Ulbricht, S. 440ff.

Das literarische Feld in den 1970er Jahren | 329

Staat.“7 Hatte Ulbricht sich in erster Linie auf wirtschaftliche Investitionen, technische Modernisierung und die „Entwicklung der Wissenschaft zu einer Hauptproduktivkraft“ konzentriert, eine allgemeine Senkung der Preise aufgrund der noch nicht erreichten technischen Innovationen und des noch zu geringen „Mehrprodukt[s]“ aber erst für einen späteren Zeitpunkt in den 1970er Jahren als realistisch angesehen,8 so setzte Honecker auf einen ,Konsumsozialismus‘, d.h. auf staatliche Subventionen, die langfristig zuungunsten der wirtschaftlichen Entwicklung ausfielen.9 Begriffe wie ‚sozialistische Menschengemeinschaft‘ wurden fallen gelassen. Stattdessen betonte man wieder „die tatsächlich noch vorhandenen Klassenunterschiede“.10 Dass unter Honecker in Abgrenzung zu Ulbrichts Lob der Spezialisten allgemein die Perspektive der Partei wieder stärker in den Fokus rückte, zeigt nicht zuletzt dessen Personalpolitik: Nicht wissenschaftliche Ausbildung, sondern der ‚Stallgeruch‘ der Partei wurden wieder zu wesentlichen Kriterien einer politischen Spitzenkarriere in der DDR.11

5.1.2

Die Auswirkungen des Machtwechsels auf das literarische Feld

In kulturpolitischer Hinsicht bedeutete der Machtwechsel zunächst eine partielle Liberalisierung. Die Kulturpolitik unter Ulbricht war durch zahlreiche Verbote und ein Festhalten an den aus den 1950er Jahren stammenden Vorstellungen des Sozialistischen Realismus gekennzeichnet gewesen; davon wollte Honecker sich absetzen, nicht zuletzt, um der angestauten Unzufriedenheit bei vielen Intellektuellen ein Ventil zu geben. Auf der 4. Tagung des ZK der SED im Dezember 1971 präsentierte sich der neue Erste Sekretär als offen und liberal. In seinem Schlusswort äußerte er: „Wenn man von der festen Position des Sozialismus ausgeht, kann es meines Erachtens auf dem Gebiet von Kunst und Literatur keine Tabus geben. Das betrifft sowohl die Fragen der inhaltlichen Gestaltung als auch des Stils […].“12 In eine ähnliche Richtung argumentierte auch Kurt Hager, im ZK verantwortlich für Wissenschaft, Volksbildung und Kultur, als er ein halbes Jahr später bei der 6. Tagung des ZK der SED äußerte, man ziele auf „die Förderung einer lebendigen, reichen und vielgestaltigen Kunst“,

|| 7 Erich Honecker, zit. n.: Malycha u. Winters, S. 214. Siehe zur Wirtschaftspolitik Honeckers: Staritz, S. 282ff. u. Steiner: Von Plan zu Plan, S. 165ff. 8 Rede über den Perspektivplan 1971/75 im Jahre 1968 u. Rede vor dem Bezirksparteiaktiv in Halle im November 1966, zit. n.: Walter Florath: Von Ulbricht zu Honecker. In: Weißenseer Blätter 17 (1998), H. 3, S. 46 u. 53. 9 Vgl. Steiner: Von Plan zu Plan, S. 191ff. u. Roesler: Geschichte der DDR, S. 76f. 10 Kurt Hager: Der Marxismus-Leninismus ist die wissenschaftliche Basis für das bewußte Handeln des werktätigen Volkes. In: ND, 15. Oktober 1971, S. 3. 11 Vgl. Malycha u. Winters, S. 205ff. 12 Zur Verwirklichung der Beschlüsse des VIII. Parteitages. Aus dem Schlußwort von Erich Honecker. In: Neue Zeit, 19. Dezember 1971, S. 3.

330 | Der Streit im literarischen Feld

und gleichzeitig versicherte, dass diese Orientierung „keine ,zeitweilige‘ Variante, sondern langfristige Perspektive“ der Kulturpolitik sei, die die KünstlerInnen als „Entdecker neuer Wirklichkeiten“ auffasse.13 Die Differenz der neuen DDR-Führung zu Ulbricht drückt sich auch in der Revision der sogenannten Vollstreckertheorie aus, der zufolge die sozialistische Gesellschaft der historische Ort der Umsetzung der klassischen humanistischen Ideale sei und die Bevölkerung der DDR daran arbeite, den „dritten Teil des ,Faust‘ […] zu schreiben“.14 Im Gegensatz zur Hervorhebung des bürgerlich-humanistischen Erbes und dessen historischer wie gegenwärtiger Bedeutung für die DDR betonte die SED nun „die großen revolutionären Traditionen, die mit dem Kampf der Volksmassen gegen Ausbeutung und Unterdrückung verbunden sind“.15 Die stärker auf Klassenaspekte ausgerichtete Politik der SED unter Honecker gab sich als Rückkehr zu den revolutionären Wurzeln aus. Mit der neuen Kulturpolitik setzte ein pragmatischerer Umgang der SED mit AutorInnen und Texten ein. Konkret bedeutete das: eine tolerantere Veröffentlichungspraxis hinsichtlich bisher zurückgehaltener Texte der literarischen Moderne sowie aktueller DDR-Titel,16 eine Öffnung der Theater für bisher nicht gespielte Stücke sowie eine partielle Öffnung der intellektuellen Zeitschriften für Diskussionen, in welche sich die Kulturpolitik nicht direkt einmischte. Der Handlungsspielraum vieler AutorInnen erweiterte sich nicht zuletzt deshalb, weil sich neben der weniger strikten und flexibleren ideologischen Zensurpraxis im Zuge der außenpolitischen Anerkennung der DDR auch wieder ein engeres Verhältnis zwischen ost- und westdeutschem literarischem Feld etablierte und das westliche Interesse an DDR-Literatur stetig anwuchs. Ein Umbau des Literatursystems, d.h. eine strukturelle Autonomisierung des literarischen Feldes, die in letzter Konsequenz eine Aufhebung der amtlichen Zensur sowie eine veränderte Rolle des Schriftstellerverbands und ähnlicher Institutionen bedeutet hätte, blieb aber aus. Zwar erschienen in || 13 Kurt Hager: [Rede auf der 6. Tagung des ZK der SED am 6. Juli 1972]. In: Gisela Rüß (Hg.): Dokumente zur Kunst-, Literatur- und Kulturpolitik der SED 1971–1974. Stuttgart 1976, S. 507 u. 509. 14 Walter Ulbricht, Rede vor dem Nationalrat der Nationalen Front, 25. März 1962, zit. n.: Trommler: Die Kulturpolitik der DDR, S. 17. 15 Kurt Hager: Zur Theorie und Politik des Sozialismus. Reden und Aufsätze. Berlin 1972, S. 194. Siehe zur Position der 1960er Jahre: DKLS 1641f. Vgl. Karl Robert Mandelkow: Die literarische und kulturpolitische Bedeutung des Erbes. In: Schmitt (Hg.): Die Literatur der DDR, S. 104ff. u. Peter Uwe Hohendahl: Theorie und Praxis des Erbens. Untersuchungen zum Problem der literarischen Tradition in der DDR. In: ders. u. Herminghouse (Hg.): Literatur der DDR in den siebziger Jahren. Frankfurt/M. 1983, S. 14ff. 16 Die Lockerung der Veröffentlichungspraxis hatte sich schon in den späten 1960er Jahren aufgrund ökonomischer Zwänge ankündigt, da die SED am Verkauf von Büchern durch ihre organisationseigenen Verlage wie Aufbau, Volk und Welt, Mitteldeutscher Verlag usw. interessiert war und sich die kulturpolitisch genehme Belletristik schlecht verkaufte. Vgl. Lokatis: Paradoxien der Zensur in der DDR, S. 89f.

Das literarische Feld in den 1970er Jahren | 331

den Folgejahren einige Texte, die in den 1960er Jahren von der Zensur verhindert worden waren,17 im gleichen Zeitraum waren AutorInnen aber weiterhin mit administrativen Behinderungen und Kritik seitens der Kulturpolitik konfrontiert, die im Falle von Rainer Kirschs Komödie Heinrich Schlaghands Höllenfahrt [1972/73] sogar zu dessen Ausschluss aus der SED führte.18 Zudem wurden die Strukturen des MfS beständig ausgebaut.19 Die kulturpolitische Öffnung zu Beginn der 1970er Jahre stellte insofern statt einer wirklichen Liberalisierung mehr eine Art Grenzverschiebung dar, die der „ideellen Rückbindung der Intellektuellen“20 diente. Ein Effekt dieser Grenzverschiebung war das Sichtbarwerden bis dato unterschwelliger Konflikte im literarischen Feld. Die Anerkennung bisher ausgegrenzter AutorInnen führte am heteronomen Pol des literarischen Feldes zu Verunsicherungen. So meinte Erik Neutsch, dass sich „nach dem Parteitag eine rechte Gruppierung innerhalb der Literaturgesellschaft gebildet hat und daß sich die Schriftsteller, die seit Jahren als Verbündete der Partei schreiben und arbeiten, ihre politischen und ästhetischen Positionen gegen viele Angriffe verteidigen müßten“.21 In gewisser Weise wiederholte sich damit ein Vorgang, der bereits Mitte der 1960er Jahre beobachtet werden kann: Die gesteigerte öffentliche Aufmerksamkeit für Texte, die jenseits des Sozialistischen Realismus operierten, erhöhte insgesamt den „Druck, anders zu schreiben“, und bedrohte die Position der heteronomen, ,parteilichen‘ AutorInnen, die sich nach „[k]lare[n] Konturen“ sehnten.22

5.1.3

Verschiebungen im Kanon: Die zweite Lyrikdebatte und die Klassikdebatte

Eine weitere Folge der kulturpolitischen Liberalisierung war die Verschiebung der bis Ende der 1960er Jahre relativ festgefügten Grenzen des literarischen und kulturellen Kanons, eine Bewegung, die auf den Seiten der Akademiezeitschrift Sinn und Form

|| 17 Vgl. Manfred Jäger: Kulturpolitik der DDR während der 70er Jahre. In: Monika Estermann u. Edgar Lersch (Hg.): Deutsch-deutscher Literaturaustausch in den 70er Jahren. Wiesbaden 2006, S. 72. 18 Siehe zu Kirschs Stück: Leonore Krenzlin: Faust im Produktionseinsatz? DDR-Variationen im Umgang mit der Klassik. In: Herbert Mayer u.a. (Hg.): Goethe in der DDR. Konzepte, Streitpunkte und neue Sichtweisen. Berlin 2003, S. 54f. 19 Vgl. Walther, S. 202–220. 20 Walfried Hartinger: Wechselseitige Wahrnehmung. Heiner Müller und Christa Wolf in der deutschen Kritik – in Ost und West, hg. von Christel Hartinger u. Roland Opitz. Leipzig 2008, S. 59f. 21 Information über eine Diskussion während der Beiratssitzung des Mitteldeutschen Verlages am 13. April 1972, zit. n.: Brohm: Die Koordinaten im Kopf, S. 231. 22 Die Zitate entstammen dem Redebeitrag Helmut Sakowskis auf dem 11. Plenum 1965. DKLS 1108f. Vgl. auch die Diskussionen beim VII. Schriftstellerkongress im November 1973; siehe hierzu: Manfred Jäger: Kultur und Politik in der DDR. 1945–1990. Köln 1995, S. 156ff.

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unter ihrem Chefredakteur Wilhelm Girnus den Anfang nahm.23 Zwei Debatten, die jeweils auf unterschiedlichem Gebiet geführt wurden – zum einen in der Auseinandersetzung zwischen AutorInnen und Literaturwissenschaft, zum anderen in der Kritik der Konzeption des kulturellen Erbes –, sind in dieser Hinsicht von Bedeutung: die sogenannte zweite Lyrikdebatte und die Klassikdebatte.24 Die zweite Lyrikdebatte setzte eine Diskussion der 1960er Jahre fort, die seinerzeit von oben abgebrochen worden war. In der FDJ-Zeitschrift Forum war es 1966 im Anschluss an die sogenannte Lyrikwelle in der Zeit nach dem Mauerbau und die von Adolf Endler und Karl Mickel herausgegebene, für die neue Lyrik der DDR repräsentative Anthologie In diesem besseren Land zu einer Diskussion gekommen, bei der auch zahlreiche LyrikerInnen zu Wort kamen. Diese behaupteten – gegen zahlreiche LeserbriefschreiberInnen und einen Teil der sich ebenfalls an der Debatte beteiligenden Germanistik – ein Recht auf Subjektivität und verteidigten das anspruchsvolle, nicht unmittelbar nach der Erstlektüre eingängige Gedicht. Als die Diskussion, die die zentralen Parameter der Volkstümlichkeit und der Verständlichkeit unterminierte, der Forum-Redaktion zu entgleiten schien, wurde die Debatte unterbunden.25 Adolf Endler griff die Diskussion fünf Jahre später im Rahmen der Rezension einer Publikation des Jenenser Germanisten Hans Richter, die auch einen Aufsatz mit dem Titel „Versuch über Versuche junger Lyriker“ enthält,26 wieder auf. In seiner Rezension konstatiert Endler, was bereits die Forum-Diskussion ausgezeichnet hatte: ein mangelndes Verständnis der DDR-Germanistik für moderne Lyrik und deren spezifisches genealogisches Geflecht sowie einen „brutalen Dogmatismus“, der alles wegschneide, was nicht in die normative Vorstellung einer sozialistischen Literaturentwicklung passe. In ihrer Ignoranz beschimpfe die Germanistik „als eine dürre Gouvernante einen blühenden Garten“, was den, hier erstmals offen ausgesprochenen, „vollkommenen Abbruch der Beziehungen zwischen Germanisten und Poeten“ nachvollziehbar mache.27

|| 23 Vgl. Stephen Parker: Fortsetzung folgt. „Sinn und Form“ unter Wilhelm Girnus (1963 bis 1981). In: Simone Barck u.a. (Hg.): Zwischen „Mosaik“ und „Einheit“. Zeitschriften in der DDR. Berlin 1999, S. 346–359 u. Matthias Braun: Die Literaturzeitschrift „Sinn und Form“. Ein ungeliebtes Aushängeschild der SED-Kulturpolitik. Bremen 2004, S. 88ff. 24 Die Diskussion über die Rezeption der Romantik und deren Bedeutung wird in Kap. 5.3 gesondert behandelt. Siehe zur Konzeption des kulturellen Erbes innerhalb der sozialistischen Bewegung sowie der DDR: Trommler: Die Kulturpolitik der DDR u. Mandelkow: Die literarische und kulturpolitische Bedeutung des Erbes. 25 Vgl. zur Lyrikdebatte 1966: Kluge: Die Lyrikdebatte im „Forum“ (1966); Jäger: Kultur und Politik in der DDR, S. 129ff. u. Brohm: Die Koordinaten im Kopf, S. 93ff. 26 Vgl. Hans Richter: Versuch über Versuche junger Lyriker. In: ders.: Verse, Dichter, Wirklichkeiten. Aufsätze zur Lyrik. Berlin/Weimar 1970, S. 239–268. 27 Adolf Endler: Im Zeichen der Inkonsequenz. Über Hans Richters Aufsatzsammlung „Verse Dichter Wirklichkeiten“. In: SuF 23 (1971), H. 6, S. 1363.

Das literarische Feld in den 1970er Jahren | 333

Der weitere Verlauf der Diskussion verdeutlicht die veränderte kulturpolitische Situation gegenüber 1966. Diesmal wurden die Einwände nicht einfach übergangen. Und der Literaturwissenschaftler Martin Reso, der Endler vorgeworfen hatte, eine „Revision entscheidender kulturpolitischer Erkenntnisse“ voranzutreiben, musste sich in einer „Nachbemerkung der Redaktion“ von Sinn und Form, die unmittelbar auf seinen Text folgte, sogar über die „dialektische Methode kollektiver Wahrheitsfindung“, den „Meinungsstreit“, belehren lassen.28 Unter Verweis auf den ‚großen Bruder‘, die KPdSU, argumentierte der Chefredakteur Wilhelm Girnus, dass „die öffentliche Diskussion die wichtigste Methode zur Ermittlung der Wahrheit“ sei und konstatierte: „Das kleinbürgerliche Hinter-dem-Ofen-Mosern muß hinaus aus unserem Literaturleben.“29 In diesem Sinne rief Girnus zu einer kontroversen Debatte auf, die sich denn auch in den folgenden Heften von Sinn und Form entspann.30 Die Intervention der Redaktion (die sich damit, ohne dass sie Endlers Position teilte, auf dessen Seite schlug)31 sowie die Debatte an sich markieren einen Meilenstein in der Ausbildung einer literarischen Öffentlichkeit, einen „Wendepunkt“, den Girnus auch selbst als solchen benannte.32 Die zweite Lyrikdebatte steht für eine Ausdifferenzierung des literarischen Feldes. Institutionell bedeutet sie die Aufkündigung eines Konsenses, das Ende einer einheitlichen Frontstellung der verschiedenen feldpolitischen Institutionen;33 ästhetisch verdeutlicht sie die Abkehr von der gültigen „sozialistische[n] Traditionslinie in der Geschichte der deutschen Lyrik, die Linie Heine-Weerth-Herwegh und ihren ästhetisch-weltanschaulichen Bogen“, wie Michael Franz durchaus treffend formulierte.34 Was hier somit über den engeren Kreis der Lyrik hinaus zur Diskussion stand, war die bisherige marxistisch-leninistische Traditions- und Erbeauffassung, gegen die schon Bertolt Brecht und Hanns Eisler in den 1950er Jahren sowie die Teilnehmer der Prager Kafka-Konferenz von 1963 Sturm

|| 28 Martin Reso: A. Endler und die Literaturwissenschaft. In: SuF 24 (1972), H. 2, S. 432 u. Wilhelm Girnus: Nachbemerkung der Redaktion. In: SuF 24 (1972), H. 2, S. 442. 29 Girnus: Nachbemerkung der Redaktion, S. 440 u. 441. 30 Siehe hierzu: Anthonya Visser: Blumen ins Eis. Lyrische und literaturkritische Innovationen in der DDR. Zum kommunikativen Spannungsfeld ab Mitte der 60er Jahre. Amsterdam 1994, S. 63ff. u. Brohm: Die Koordinaten im Kopf, S. 180ff. 31 Siehe den Brief Girnus’ an Endler, in dem er ihm die Einsichtnahme in alle eingehenden Beiträge vor ihrer Publikation zusichert, in: Stephen Parker u. Matthew Philpotts: Sinn und Form. The Anatomy of a Literary Journal. Berlin 2009, S. 98. 32 Girnus: Nachbemerkung der Redaktion, S. 442. 33 Das zeigt sich, wenn die Redaktion den Vorschlag von Michael Franz, man solle doch die durchaus kontroversen Diskussionen des Lyrik-Aktivs im Schriftstellerverband in SuF veröffentlichen, in Parenthese, mitten in Franzʼ Text, mit dem Satz kommentiert: „Dazu müßte die Redaktion ,Sinn und Form‘ erst einmal zu ,verbandsinternen‘ Gesprächen zugelassen werden.“ Michael Franz: Diskussion um welchen Preis? In: SuF 24 (1972), H. 4, S. 889. 34 Franz: Diskussion um welchen Preis?, S. 888.

334 | Der Streit im literarischen Feld

gelaufen waren, und die sich trotz mancher Irritationen bis zum Ende der 1960er Jahre behauptet hatte.35 Das zeigt sich eindrücklich anhand der Klassik- bzw. Erbe-Debatte, die ebenfalls in Sinn und Form geführt wurde, deren Vorläufer aber bis in die 1930er Jahre und die „Wendung“ gegen die vormalige Orientierung an einer ,proletarischen‘ Kultur (und damit implizit auch gegen die Avantgarde) zurückgehen.36 In der Erbe-Debatte laufen verschiedene Auseinandersetzungen zusammen, die jeweils den Modernisierungsschub verdeutlichen, den das literarische wie das wissenschaftliche Feld der DDR zu Beginn der 1970er Jahre erfuhren. In ihren Zusammenhang gehören (1.) die Diskussionen über zwei zeitgenössische literarische Texte (Ulrich Plenzdorfs 1972 in Sinn und Form erschienene Erzählung Die neuen Leiden des jungen W. und Heiner Müllers Shakespeare-Bearbeitung Macbeth);37 (2.) die Auseinandersetzung mit einer sich im Nachgang der 68er-Bewegung im westlichen Universitätsbetrieb etablierenden linken, bis linksradikalen Germanistik, die sich, gegen einen bürgerlichen Klassik-Kult richtend, für eine Rezeption der bis dato ausgegrenzten demokratisch-revolutionären Literatur der Jakobiner, des Vormärz und der Avantgarden der 1920er Jahre einsetzte, und für die paradigmatisch der 1971 erschienene Sammelband Die Klassik-Legende steht;38 und (3.) die Diskussion von Positionen, die einen anderen als den kanonisierten Zugang zum sogenannten kulturellen Erbe formulierten, konkret: die von Werner

|| 35 Stationen der Erbe-Diskussion waren der 1. Allunionskongress der Sowjetschriftsteller (vgl. Hans-Jürgen Schmitt u. Godehard Schramm [Hg.]: Sozialistische Realismuskonzeptionen. Dokumente zum I. Allunionskongreß der Sowjetschriftsteller. Frankfurt/M. 1974), die ExpressionismusDebatte 1937/38 (vgl. Hans-Jürgen Schmitt [Hg.]: Die Expressionismusdebatte. Materialien zu einer marxistischen Realismuskonzeption. Frankfurt/M. 1973), die Formalismus-Diskussionen der 1950er Jahre rund um Brechts und Dessaus Oper Das Verhör des Lukullus und Eislers Libretto Johann Faustus sowie die Prager Kafka-Konferenz von 1963. Siehe hierzu den konzisen Überblick in: Püllmann: Von Brecht zu Braun, S. 247ff. sowie: Erbe: Die verfemte Moderne. 36 1931 erschien Johannes R. Bechers Aufsatz „Unsere Wendung“, der die ästhetische und politische Neuausrichtung des Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller bekannt gab. Vgl. Linkskurve 3 (1931), H. 10, S. 1–8. Siehe hierzu: Gallas 1971. 37 Siehe zu Die neuen Leiden des jungen W.: Jürgen Scharfschwerdt: Werther in der DDR. Bürgerliches Erbe zwischen sozialistischer Kulturpolitik und gesellschaftlicher Realität. Walter Müller-Seidel zum 60. Geburtstag. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 22 (1978), S. 235–276; Gudrun Klatt: „Modebuch“ und Diskussion „über das Leben selbst“. Ulrich Plenzdorfs „Die neuen Leiden des jungen W.“. In: Inge Münz-Koenen (Hg.): Werke und Wirkungen. DDR-Literatur in der Diskussion. Leipzig 1987, S. 361–398 u. Parker u. Philpotts: Sinn und Form, S. 343ff. Siehe zu Macbeth Kap. 5.2.2. 38 Vgl. Reinhold Grimm u. Jost Hermand (Hg.): Die Klassik-Legende. Second Wisconsin Workshop. Frankfurt/M. 1971. Siehe hierzu: Jost Hermand: Die Kontroverse um die „Klassik-Legende“. In: Jost Hermand: Fünfzig Jahre Germanistik. Aufsätze, Statements, Polemiken 1959–2009. Oxford u.a. 2009, S. 277–289. Siehe auch: Egidius Schmalzriedt: Inhumane Klassik. Vorlesung wider ein Bildungsklischee. München 1971.

Das literarische Feld in den 1970er Jahren | 335

Mittenzwei und anderen in die Debatte eingebrachte materialwert-ästhetische Position Brechts.39 Wie bei der Lyrikdebatte trafen im Zuge der Auseinandersetzung unversöhnliche Standpunkte aufeinander. Die Vertreter der ,traditionellen‘ Auffassung konnten sich allerdings auch hier nicht durchsetzen: Friedrich Karl Kaul, der die Debatte über Die neuen Leiden des jungen W. mit einem scharfen Brief an die Redaktion von Sinn und Form eröffnet hatte, wurde unter Hinweis auf seinen „belanglos[en]“ Beitrag ebenso zurückgewiesen wie Wolfgang Harich im Fall von Macbeth,40 und auch die institutionellen Vertreter eines affirmativen Klassik-Konzepts wie der Generaldirektor der NFG, Helmut Holtzhauer,41 wurden angesichts ihres unversöhnlich vorgebrachten Wahrheitsanspruchs von den meisten Diskussionsbeiträgern rechts liegen gelassen. War die Intention Wilhelm Girnus’ ursprünglich gewesen, eine offene Diskussion gegen ,revisionistische‘ und ,ultralinke‘ Ansichten hinsichtlich des kulturellen Erbes im Allgemeinen und Goethes im Besonderen zu führen – und zwar im Westen wie im Osten –, so trug die Klassikdebatte letztlich dazu bei, die Hegemonie der bis Ende der 1960er Jahre offiziell vertretenen Position zu brechen und Brechts kritisch-funktionalen Umgang mit dem Erbe als zumindest gleichberechtigt zu legitimieren; daran konnte auch der durch Girnus vollzogene Abbruch der Debatte im Jahr 1974 nichts mehr ändern.42 Die Konsequenz der Diskussion, die ihre Vorläufer bereits Ende der 1960er Jahre hatte43 und die im Spannungsfeld von ästhetischem Konservatismus und Moderne bis zum Ende der DDR weitergeführt wurde, war ein Paradigmenwechsel. Lothar Ehrlich, seinerzeit selbst an der Diskussion beteiligt,44 fasst die Klassikdebatte folgendermaßen zusammen:

|| 39 Vgl. die verschiedenen Beiträge der Debatte in: Werner Mittenzwei: (Hg.): Wer war Brecht. Wandlung und Entwicklung der Ansichten über Brecht. Berlin 1977, S. 485ff. Siehe zur Klassikdebatte und deren Verortung: Werner Mittenzwei: Der Realismus-Streit um Brecht (III). Grundriss zu einer BrechtRezeption der DDR. In: SuF 29 (1977), H. 2, S. 343–376 u. Lothar Ehrlich: Die Klassik-Debatte in „Sinn und Form“ 1973/74. In: Ehrlich u.a. (Hg.): Weimarer Klassik in der Ära Honecker, S. 109–126. Siehe auch: Jens Saadhoff: Germanistik in der DDR. Literaturwissenschaft zwischen „gesellschaftlichem Auftrag“ und disziplinärer Eigenlogik. Heidelberg 2007, S. 322ff. 40 Stephan Hermlin: [Erwiderung auf Friedrich Karl Kaul]. In: SuF 25 (1973), H. 1, S. 244. Vgl. Friedrich Karl Kaul: Brief an Wilhelm Girnus (12. Juni 1972). In: SuF 25 (1973), H. 1, S. 219–220. Siehe zu Harich: Kap. 5.2.2.2. 41 Vgl. Helmut Holtzhauer: Von Sieben, die auszogen, die Klassik zu erlegen. In: SuF 25 (1973), H. 1, S. 169–188. 42 Vgl. Wilhelm Girnus: Die Glätte des Stroms und seine Tiefe. Betrachtungen über unser Verhältnis zur literarischen Vergangenheit. In: SuF 26 (1974), H. 3, S. 555–602. 43 Vgl. Heike Steinhorst: Zur Klassikdebatte in den „Weimarer Beiträgen“. In: Lothar Ehrlich u. Gunther Mai (Hg.): Weimarer Klassik in der Ära Ulbricht. Köln u.a. 2000, S. 313f. 44 Vgl. Lothar Ehrlich: Bertolt Brecht und die deutsche Klassik. In: SuF 26 (1974), H. 1, S. 221–227.

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Das wichtigste Ergebnis war die Einschränkung der Spitzenstellung der Weimarer Klassik innerhalb des literarischen Kanons zugunsten einer größeren ‚Weite und Vielfalt‘, einer Integration bislang vernachlässigter oder gar ausgeschlossener Felder (Romantik), auch verschütteter oder gar unterdrückter avantgardistischer proletarischer Experimente.45

Die Klassikdebatte und die sich daran über den gesamten Zeitraum der 1970er Jahre anschließenden Erbe-Debatten hatten mithin eine Öffnung des bisher reglementierten literarischen Kanons zur Folge. Die Vorbildhaftigkeit der Klassik nahm ab, während andere Traditionen wie die Romantik und die literarische Moderne eine Aufwertung erfuhren. Das drückt sich neben den Auseinandersetzungen im literarischen Feld46 auch in den diskursiven Verschiebungen im wissenschaftlichen Feld aus. Insbesondere die Literaturwissenschaft bemühte sich, unter Beibehaltung des Realismusparadigmas, früh um eine partielle Revision des Kanons und sorgte bis zum Ende der 1970er Jahre für eine Integration der Romantik in das kulturpolitische Traditionsverständnis.47

5.1.4

Enttäuschung und Utopieverlust

Unabhängig von der kulturpolitischen Liberalisierung und der mit ihr einhergehenden Öffnung des restriktiven Konzepts des kulturellen Erbes zeigen die 1970er Jahre in Hinblick auf das literarische Feld einen einschneidenden Paradigmenwechsel, der den Charakter der DDR-Literatur wesentlich veränderte. Waren die 1960er Jahre insgesamt von einer Verständigung über die Modalitäten des sozialistischen Aufbaus und von einer großen gesellschaftlichen Erwartung geprägt, so stehen die 1970er Jahre angesichts einer wachsenden Differenz von Vorstellung und Realität des Sozialismus im Zeichen von „Ernüchterung und Enttäuschung“.48 Angesichts innenpolitischer Stagnation und außenpolitischem Patt, der die zweite internationale Offensive des Sozialismus, d.h. die antikolonialen Befreiungsbewegungen, zum Halt brachte, verbreitete sich in den 1970er Jahren die Vorstellung,

|| 45 Ehrlich: Die Klassik-Debatte in „Sinn und Form“, S. 121. Vgl. Hohendahl: Theorie und Praxis des Erbens u. Mandelkow: Die literarische und kulturpolitische Bedeutung des Erbes, S. 104ff. In Erwin Prachts Einführung in den sozialistischen Realismus ist dann bereits 1975 zu lesen, dass die frühe DDRKonzeption des Sozialistischen Realismus die „Suche nach neuen formalen Gestaltungsmöglichkeiten, nach neuen ästhetischen Lösungswegen in der Kunst, nicht zuletzt das Experiment“ vernachlässigt habe. Erwin Pracht: Einführung in den sozialistischen Realismus. Berlin 1975, S. 292f. 46 Siehe hierzu Kap. 5.6.4. 47 Siehe hierzu Kap. 5.3.2. Siehe für ein DDR-internes Resümee der Debatten in der ersten Hälfte der 1970er Jahre: Manfred Starke: Zu den Literaturdebatten der letzten Jahre. In: SuF 27 (1975), H. 1, S. 183–199. 48 Jürgen Schröder: „Die neuen Leiden“: Ein Jahrzehnt dramatischer Ernüchterung und Enttäuschung. In: Barner (Hg.): Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart, S. 765.

Das literarische Feld in den 1970er Jahren | 337

dass man es mit einer „längere[n] Wegstrecke der Entwicklung“49 zu tun habe. Der DDR-Literaturwissenschaftler Dieter Schlenstedt konstatierte bereits 1976 ein für die 1970er Jahre neues Zeitbewusstsein, „das sich im Spannungsfeld schon eigener sozialistischer Vergangenheit und realistischer Sicht auf die Zukunft“ bewege und gekennzeichnet sei durch „Veränderungen auch im allgemeinen Lebensinhalt, die sichtbar wurden im Wachstum neuer Vorstellungen vom Erreichten und zu Erreichenden, vom wirklich Wichtigen im menschlichen Leben“.50 In den Fokus rückten die Mängel und Fehler des Sozialismus sowie die menschlichen Kosten der sozialistischen Industriegesellschaft, die im Kontext von Konsum, Entfremdung und Funktionalisierung mehr und mehr als konvergent zu den westlichen Gesellschaften aufgefasst wurden. Fragen nach der Selbstverwirklichung des Individuums und nach dem Verhältnis der Geschlechter wurden neu gestellt, allgemein trat die private Sphäre in den Vordergrund. Die 1973 zum „real existierenden Sozialismus“ erklärte Gesellschaft der DDR und die Honecker’sche Beschwichtigungspolitik boten vor allem der jüngeren, bereits in der DDR sozialisierten AutorInnengeneration immer weniger utopische Anknüpfungspunkte, zumal die Niederschlagung des Prager Frühlings bis in die 1970er Jahre hinein prägend wirkte. In einer Rezension zu Thomas Braschs Kargo weist Heiner Müller 1977 auf die Differenz zwischen den eigenen Empfindungen am Ende des Nationalsozialismus und den Erfahrungen der jungen DDR-AutorInnen hin: Die Generation der heute Dreißigjährigen in der DDR hat den Sozialismus nicht als Hoffnung auf das andere erfahren, sondern als deformierte Realität. Nicht das Drama des Zweiten Weltkriegs, sondern die Farce der Stellvertreterkriege (gegen Jazz und Lyrik, Haare und Bärte, Jeans und Beat, Ringelsocken und Guevara-Poster, Brecht und Dialektik). Nicht die wirklichen Klassenkämpfe, sondern ihr Pathos, durch die Zwänge der Leistungsgesellschaft zunehmend ausgehöhlt. Nicht die große Literatur des Sozialismus, sondern die Grimasse seiner Kulturpolitik: den verzweifelten Rückgriff unqualifizierter Funktionäre auf das 19. Jahrhundert […].51

Der in den 1970er Jahren angesichts der „wachsende[n] Kluft zwischen Utopie und Geschichte“52 zu konstatierende schleichende Utopieverlust stellt sich allerdings nicht allein als Auflösung, sondern als Verschiebung dar. Die Utopie, die in den

|| 49 Hans Kaufmann: Veränderte Literaturlandschaft. In: WB 27 (1981), H. 3, S. 31. 50 Dieter Schlenstedt: Prozess der Selbstverständigung. Aspekte der Funktionsbestimmung in unserer neueren Literatur. In: WB 22 (1976), H. 12, S. 22. 51 MW 8, 196f. Hacks formuliert weniger konkret, aber ähnlich: „Ich glaube, die Altersgruppen vor und nach mir hatten weniger Spielraum zum Kennenlernen menschlicher Chancen und weniger Anlaß zum Glauben an eine Chance des Menschen überhaupt.“ HW 13, 215. Lothar Trolle äußerte rückblickend über die 1960er Jahre. „[F]ür uns war […] damals alles[,] was aus dem Osten kam, Scheiße, das hatte den Geruch von Staatskunst.“ Holger Teschke: Eher kleistisch… Gespräch mit Lothar Trolle über Heiner Müller. In: Hörnigk u.a. (Hg.): Ich wer ist das, S. 40. 52 Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR, S. 239.

338 | Der Streit im literarischen Feld

1960er Jahren mehrheitlich affirmativ an die Gesellschaft der DDR gebunden war, verliert ihren konkreten historischen Gegenstand und wird, wie schon der Begriff in seiner ursprünglichen Bedeutung sagt, ortlos, während die DDR selbst im Zuge der ab der zweiten Hälfte der 1970er Jahre wiedereinsetzenden kulturpolitischen Repression und deren Gipfelpunkt, der Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976, zur Negativfolie der Utopie wird. So erweisen sich die 1970er Jahre in Bezug auf große Teile der DDR-Literatur trotz der von vielen AutorInnen zu Beginn begrüßten kulturpolitischen Liberalisierung als ein Jahrzehnt der Erosion. Die bereits Ende der 1960er Jahre erkennbare Distanz zwischen vielen Akteuren des Feldes der kulturellen Produktion und der SED hatte zu einem Riss geführt, dessen Ausmaß sich bis zum Ende der staatlichen Existenz des sozialistischen Staates nicht mehr verringern sollte. Zudem kam nun die bereits in den 1960er Jahren einsetzende „innere Differenzierung in auseinanderstrebende Positionen“53 zum Tragen.

5.1.5

Westliche Einflüsse

Unter Erich Honecker setzte, von Breschnew souffliert, ab 1972 eine verstärkte Abschottung der DDR gegenüber der BRD ein, die sich vor allem in der Abkehr von einer potentiellen Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten ausdrückte. In der Konsequenz betonte die DDR-Führung den eigenständigen Charakter der „sozialistische[n] Nation“.54 Nominelle Verweise auf den nationalen Charakter der DDR wurden gestrichen bzw. ersetzt. So war die DDR nach der Änderung der Verfassung 1974 nur noch ein „sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern“;55 ebenso strichen zahlreiche Institutionen das Attribut ,deutsch‘ aus ihrem Namen: 1972 wurde aus der Deutschen Akademie der Künste die Akademie der Künste der DDR, ein Jahr später wurde der Deutsche Schriftstellerverband in Schriftstellerverband der DDR umbenannt usw. Die Abgrenzungspolitik war Ausdruck des Bedürfnisses, die Verortung der DDR im sozialistischen Lager zu betonen und den nach wie vor virulenten nationalen Stimmungen in der Bevölkerung zu begegnen.56 Mit der Aufnahme in die UNO 1973 glaubte die DDR-Führung die Abgrenzung gegenüber dem anderen deutschen Staat schließlich endgültig vollzogen zu haben. Zugleich sorgten die staatlichen Verhandlungen zwischen der BRD und der DDR, die 1972/73 zum Grundlagenvertrag führten, || 53 Brohm: Die Koordinaten im Kopf, S. 235. 54 Protokoll des VIII. Parteitags der SED, zit. n.: Staritz, S. 289. 55 Verfassung der DDR vom 6. April 1968 (in der Fassung vom 7. Oktober 1974), Abschn. 1, Kap. 1, Art. 1, http://www.documentarchiv.de/ddr/verfddr1968.html (zuletzt eingesehen am 3. April 2014). In der Verfassung von 1968 hatte es geheißen: „Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat deutscher Nation.“ Verfassung der DDR vom 6. April 1968, http://www.documentarchiv.de/ddr/verfddr1968.html (zuletzt eingesehen am 3. April 2014). 56 Vgl. Staritz, S. 288.

Das literarische Feld in den 1970er Jahren | 339

aber für eine Annäherung. Allein der 1972 geschlossene Verkehrsvertrag erlaubte einen wachsenden Austausch zwischen Ost und West; 1973 besuchten bereits ca. acht Millionen Menschen aus der Bundesrepublik und West-Berlin die Hauptstadt der DDR. Mittels eines Touristenvisums ließen sich nun Besuche und Gespräche zwischen west- und ostdeutschen AutorInnen organisieren, die von den Behörden der DDR toleriert wurden. So kam es zwischen 1974 und 1977 zu regelmäßigen Treffen in Ostberlin, an denen von westlicher Seite u.a. Günter Grass, Uwe Johnson, Max Frisch, Peter Schneider und andere teilnahmen.57 Mit dem intensiveren Austausch wuchs auch der westliche Einfluss auf das literarische Feld der DDR. Bereits in den 1960er Jahren war die SED daran gescheitert, die literarische Kommunikation zwischen der BRD und der DDR einzuschränken. So wurde das allgemeine postalische Einfuhrverbot für ausländische Literatur vom 22. August 1961 bereits 1964 durch eine vom Kulturministerium erwirkte „Sondergenehmigung zum Empfang von Westliteratur“, die für alle Theater der DDR galt, unterlaufen. Zeitschriften wie Theater heute oder Kursbuch, aber auch andere westliche Bücher konnten daraufhin relativ leicht eingeführt werden und gingen durch zahlreiche Hände.58 Besondere Sorge bereitete der Kulturpolitik der Einfluss der Neuen Linken in der DDR, deren antiautoritäres und anti-staatliches Grundverständnis in scharfem Gegensatz zum Marxismus-Leninismus stand. Schriften wie Herbert Marcuses Kultbuch Der eindimensionale Mensch wanderten deshalb in die Giftschränke der Bibliotheken. Kontakte zwischen Ost- und Westberliner StudentInnen wurden äußerst aufmerksam registriert.59 Ließ sich im Fall der StudentInnen mittels Druck und Exmatrikulationen eine gewisse Kontrolle herstellen, so fiel dies in Bezug auf das literarische Feld schwieriger. Besonders an den Theatern scheint die Einwirkung der Neuen Linken relativ groß gewesen zu sein. So heißt es in einem Bericht vom März 1970 über die Situation am Deutschen Theater: Es gibt eine eigenartige Haltung bei den geistig führenden Kräften am Theater, die entnehmen ihre Linie aus dem Kursbuch. / Lenin – Trotzki, Lenin – Luxemburg wurde eingehend studiert. Sie haben eigene Vorstellungen über die Durchführung der Weltrevolution. / Die sozialistische Arbeiterklasse ist nach ihrer Meinung durch die erfolgreiche Durchführung der wissenschaftlich-technischen Revolution korrumpiert und hat daher eine abwartende Haltung im Klassen-

|| 57 Vgl. Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR, S. 251. Siehe zu den Kontakten zwischen West und Ost: Roland Berbig: Stille Post – zwischen West und Ost. Einleitung. In: ders. (Hg.): Stille Post. Inoffizielle Schriftstellerkontakte zwischen West und Ost. Von Christa Wolf über Günter Grass bis Wolf Biermann. Berlin 2005, S. 9–18. 58 Vgl. Gero Hammer: Referat zur Dramaturgenkonferenz am 27. Januar 1966, BArch, DR 1/8776, Bl. 15. 59 Vgl. Wolle: Der Traum von der Revolte, S. 116ff.

340 | Der Streit im literarischen Feld

kampf. […] / Im Theater gehen West-Illustr. von Hand zu Hand. Biermann-Artikel werden diskutiert aus West-Illustrierten. / […] Der Klassenstandpunkt ist in der Parteileitung verpönt und primitive Dinge des Parteilebens werden hier nicht beherrscht.60

Neben solchen Einflüssen, die eine Ausdifferenzierung verschiedener, sich ausschließender Sozialismusvorstellungen verdeutlichen, zählt die sukzessiv voranschreitende Integration von Teilen der DDR-Literatur in das westdeutsche literarische Feld zu den bedeutendsten Veränderungen der 1970er Jahre. Das hatte Auswirkungen auf die DDR selbst. Mit dem wachsenden Erfolg von DDR-Autoren in der BRD ab Ende der 1960er Jahre erschloss sich für einige AutorInnen nicht nur eine neue finanzielle Einnahmequelle, die den Geltungsbereich des spezifischen sozialen Kapitals der DDR, des politischen Kapitals, einschränkte. Die aus der engeren Bezugnahme beider Felder resultierenden Rückkopplungseffekte hatten auch zur Folge, dass sich der diskursive Raum des literarischen Feldes der DDR erweiterte. Zählte vorher, was ein Kritiker im Neuen Deutschland oder der Berliner Zeitung über einen literarischen Text oder dessen Aufführung geschrieben hatte, so kamen nun immer stärker auch die Urteile westlicher Medien hinzu, zumal viele DDR-Texte aufgrund der restriktiven Veröffentlichungspolitik exklusiv in der BRD erschienen bzw. zahlreiche Theaterstücke, die in der DDR am Genehmigungsverfahren scheiterten, ihre Uraufführung im deutschsprachigen westlichen Ausland erlebten. Das führte, unabhängig von der kulturpolitischen Problematik, dass sich eine positive West-Rezension negativ auf die Wahrnehmung in der DDR auswirken konnte,61 zu Spaltungen im literarischen Feld der DDR: Die westdeutsche Anerkennung vertiefte den Konflikt zwischen autonomem und heteronomem Feldpol, da auch in der DDR wenig arrivierte und mit nur geringem politischem Kapital ausgestattete AutorInnen im Westen Erfolg hatten.

5.1.6

Konkurrenz: Die Etablierung Hacksʼ und Müllers in der DDR und in der BRD

Peter Hacks und Heiner Müller waren nach den Skandalen um ihre Gegenwartsstücke und den Angriffen auf dem 11. Plenum nur noch mit Nebenwerken und Bearbeitungen auf dem Theater der DDR präsent.62 Ihre ab der zweiten Hälfte der 1960er Jahre

|| 60 K. Rösler: Notizen aus dem Gespräch mit Prof. Perten – Deutsches Theater, 11. März 1970, SAPMO, DY 30/IV A2/2.024/19. 61 Das bekannteste Beispiel ist sicherlich die Besprechung von Christa Wolfs Roman Nachdenken über Christa T. durch Marcel Reich-Ranicki, die maßgeblich zum Stopp der Auslieferung des bereits gedruckten Buches beitrug. Vgl. Angela Drescher (Hg.): Dokumentation zu Christa Wolf „Nachdenken über Christa T.“. Hamburg u.a. 1991, S. 104ff. 62 Neben Der Müller von Sanssouci, Der Frieden, Polly oder Die Bataille am Bluewater Creek und Die Kindermörderin wurde von Hacks in den 1960er Jahren vor allem Die schöne Helena gespielt. Von

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entstandenen Stücke – Müllers Philoktet, Herakles 5, Der Horatier und Mauser sowie Hacksʼ Margarete in Aix, Amphitryon, Prexaspes, Omphale und Numa – hatten angesichts der kulturpolitischen Situation keine Chance auf eine Inszenierung.63 Das änderte sich mit der Liberalisierung der Kulturpolitik, die den Theatertexten von Hacks und Müller neue Möglichkeiten an den Bühnen der DDR und vor allem an ihrem bedeutendsten Standort Berlin eröffneten. Damit aber verschärfte sich auch die Konkurrenz zwischen beiden Dramatikern. Die Spielzeit 1972/73 brachte zwei wichtige Hacks-Erstinszenierungen: Am 3. Oktober 1972 feierte Omphale am Berliner Ensemble, am 7. November 1972 Amphitryon am Deutschen Theater Premiere. Bereits im Juli 1972 hatte Benno Besson Die schöne Helena an der Volksbühne herausgebracht. In der Spielzeit 1973/74 waren dann Adam und Eva am Dresdner Staatsschauspiel (Premiere 19. September 1973) und Margarete in Aix an der Volksbühne zu sehen (Premiere 14. Oktober 1973). Damit waren die wesentlichen Texte Hacksʼ, die auf Grundlage der neuen Ästhetik entstanden waren (mit Ausnahme von Prexaspes und Numa) in der DDR gespielt.64 In der Folge etablierte sich Hacks – nach dem unangefochten an der Spitze des DDR-Theaters stehenden Rudi Strahl – zum meistgespielten zeitgenössischen Dramatiker der DDR, wozu neben Amphitryon und Adam und Eva vor allem die Goethe-Bearbeitung Das Jahrmarktsfest zu Plundersweilern [1973], das Monodrama Ein Gespräch im Hause Stein über den abwesenden Herrn von Goethe [1974] sowie das Kinderstück Armer Ritter [1977] beitrugen.65 Seit der Absetzung von Moritz Tassow Anfang des Jahres 1966 waren in der DDR keine Theaterstücke mehr von Hacks publiziert worden. Noch 1968 hatte es die Redaktion von Sinn und Form abgelehnt, Amphitryon zu drucken, weil der Text, wie

|| Müller wurden in den 1960er Jahren jeweils nur einmal die Bearbeitungen Ödipus Tyrann und Horizonte, die Übersetzungen Der Arzt wider Willen, Don Juan oder Der steinerne Gast, Wie es Euch gefällt, das Libretto zu Drachenoper und Zehn Tage, die die Welt erschütterten gespielt. Vgl. Anamaria Corcaci: Inszenierungen. In: HMH, S. 402–427. Siehe zu den Inszenierungsdaten: Ronald Weber: Wer spielte Hacks? Peter Hacks auf den Bühnen der DDR. Premieren von 1956 bis 1990. Manuskript. Berlin 2011 u. Ludwig: Heiner Müller, Ikone West bzw. den CD-ROM-Anhang: Inszenierungstabelle mit Legende. Sämtliche folgenden Angaben zu Inszenierungen basieren auf diesen Aufstellungen. 63 Eine Ausnahme bildet Hacksʼ Amphitryon. Der Text war für die Spielzeit 1969/70 am Deutschen Theater geplant. Hacks konnte sich mit dem Intendanten Hans Anselm Perten auf keinen Regisseur einigen und löste den Aufführungsvertrag daher Ende 1970 wieder auf. Siehe hierzu: Kap. 5.6.3.1. 64 Die UA von Prexaspes erfolgte am 19. Februar 1976 in Dresden. Numa wurde bis heute nicht aufgeführt. 65 Eine Aufstellung über die meistgespielten AutorInnen des Kalenderjahres 1977 verortet Hacks nach Rudi Strahl und Jewgeni Schwarz an dritter Stelle noch vor Brecht und Shakespeare. Vgl. Direktion für das Bühnenrepertoire (Hg.): Wer spielte was? Bühnenrepertoire der DDR 1977. Berlin 1978, S. 305. Siehe auch die Angaben zum Kalenderjahr 1980, die ein ähnliches Ergebnis zeigen: Direktion für das Bühnenrepertoire (Hg.): Wer spielte was? Bühnenrepertoire der DDR Spieljahr 1980. Berlin 1981, S. 265.

342 | Der Streit im literarischen Feld

Wilhelm Girnus an Hacks schrieb, „[w]eder literarisch noch realgeschichtlich“ für die DDR förderlich sei.66 Die eingeschränkte Publikationsmöglichkeit in der DDR, der Hacks dadurch begegnete, dass er seine Texte in der BRD in Theater heute sowie bei Suhrkamp veröffentlichte, wurde durch den kulturpolitischen Wechsel zu Beginn der 1970er Jahre aufgehoben. Bereits 1970 war Omphale in Sinn und Form erschienen. 1972 kam bei Aufbau ein erster Band Ausgewählte Dramen und bei Reclam ein Band Stücke heraus; beide erreichten 1974 eine zweite Auflage. 1975 erschien bei Aufbau unter dem Titel Oper ein Band mit Libretti und dem Essay „Versuch über das Libretto“. 1976 folgten Ausgewählte Dramen 2 und ein Band mit Das Jahrmarktsfest zu Plundersweilern und Rosie träumt.67 Bereits vor dem Durchbruch in der DDR war Hacks die Etablierung auf den westdeutschen Bühnen gelungen. War Hacks dort nicht zuletzt auch aus politischen Gründen nach seiner Übersiedlung in die DDR nur wenig gespielt worden,68 so setzte die Rezeption in der BRD in der Spielzeit 1966/67 zunächst mit Die Schlacht bei Lobositz ein, die gleich vier Mal gespielt wurde. Neben dem dramatisierten Märchen Der Schuhu und die fliegende Prinzessin entwickelte sich in den folgenden Spielzeiten vor allem Amphitryon zu einem großen und langanhaltenden Erfolg. In der Spielzeit 1968/69 wurde das Stück an zehn verschiedenen Bühnen inszeniert und hielt sich auch danach dauerhaft in den Spielplänen – bis Ende der 1970er Jahre wurde es durchschnittlich vier Mal pro Spielzeit inszeniert. 1970/71 war Hacks bereits mit achtzehn Inszenierungen in den westdeutschen Spielplänen vertreten und stand damit auf Platz drei der meistgespielten Gegenwartsautoren in der BRD, Österreich und der Schweiz.69 Mit den Stücken Adam und Eva sowie Das Jahrmarktsfest zu Plundersweilern und Ein Gespräch im Hause Stein setzte sich dieser Erfolg bis zum Ende der 1970er Jahre fort, wobei der Höhepunkt in den Spielzeiten 1976/77 und 1977/78 mit jeweils dreißig Inszenierungen liegt.70 Vergleicht man demgegenüber die Anzahl der Inszenierungen Müllers, so zeigt sich, dass dieser weit weniger gespielt wurde. Die eigentliche Rezeption Müllers in der BRD setzte mit der Uraufführung von Philoktet in München am 13. Juli 1968 ein. Das Stück, das im Jahr darauf mit der Münchner Inszenierung auch zum Berliner Theatertreffen eingeladen wurde und dort großen Erfolg hatte, erlebte in den folgenden zwei Spielzeiten jeweils vier Inszenierungen. Es folgten eine Inszenierung von Drachenoper sowie zwei Inszenierungen von Macbeth und Der Horatier. Über die 1970er || 66 Wilhelm Girnus an Peter Hacks, 31. Januar 1968, DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit SuF. 67 Vgl. die Angaben in: Weber: Peter-Hacks-Bibliographie. 68 Vgl. Weber: Geschichte eines Missverständnisses, S. 120ff. 69 Vgl. Michael Patterson: German theatre today. Post-war theatre in West and East Germany, Austria and Northern Switzerland. London u.a. 1976, S. 116. 70 Siehe zu den Inszenierungszahlen: Ronald Weber: Wer spielte Hacks? Peter Hacks auf den Bühnen Westdeutschlands, Österreichs und der Schweiz. Premieren von 1955 bis 1990. Manuskript. Göttingen 2007.

Das literarische Feld in den 1970er Jahren | 343

Jahre blieben die Inszenierungszahlen Müllers in der BRD konstant niedrig. Zwar galt der Dramatiker bereits Anfang der 1970er Jahre als Geheimtipp,71 eine breite Bühnenpräsenz erreichten seine Texte aber erst in den 1980er Jahren, als mit Die Hamletmaschine [1977] und Quartett [1980/81] auch der internationale Erfolg einsetzte.72 Ein wesentlicher Katalysator der Müller-Rezeption in der BRD war die ab 1974 bei Rotbuch erscheinende Werkausgabe, die unter dem unprätentiösen Titel Texte Müllers Werk in loser Reihenfolge vorstellte und sich in ihrer Gattungsgrenzen überschreitenden Konzeption und ihrem bewusst ausgestellten Produktionscharakter an Brechts „Versuche“-Hefte anlehnte.73 Die preisgünstigen Taschenbücher trugen maßgeblich zu Müllers Etablierung im literarischen System der BRD bei. Mit den ersten beiden Bänden, die unter dem Titel Geschichten aus der Produktion 1 und 2 Müllers frühe Stücke vorstellten, sowie der Inszenierung des Lohndrückers am 31. August 1974 an der Schaubühne am Halleschen Ufer veränderte sich das öffentliche Bild Müllers schlagartig. War Müller zuvor aufgrund von Philoktet bis auf wenige Ausnahmen als Existenzialist und Kritiker der DDR angesehen worden, so zeigten ihn die frühen Produktionsstücke nun als den Aufbau des Sozialismus in der DDR kritisch begleitenden „kommunistische[n] Schriftsteller“.74 Ähnlich wie in der BRD verlief auch die Rezeption von Müllers Texten auf den Bühnen der DDR schleppend. In den Spielzeiten 1971/71 und 1971/72 hatte Müller mit Weiberkomödie zwar einigen Erfolg – der Text wurde insgesamt neun Mal inszeniert –, das Stück selbst entspricht aber eher einer Gelegenheitsarbeit.75 Darüber hinaus wurden 1971/72 Drachenoper in Dresden und Macbeth in Brandenburg gespielt. Nach der Zeit der Verbote erfolgte Müllers eigentliche „Rehabilitation“76 am 12. Oktober 1973 am Berliner Ensemble mit der Uraufführung von Zement, einer Dramatisierung von Fjodor Gladkows gleichnamigem Roman über die Frühzeit der Sowjetunion. Die Aufführung wurde, nachdem sie von der Intendantin Ruth Berghaus bei HansJoachim Hoffmann, dem neuen Minister für Kultur, durchgesetzt worden war, in der

|| 71 Später dichtete der Schriftsteller Frank-Wolf Matthies: „lch sag nur eins: Geheimtip ist / (die Tinte stockt im Füller) / Als Zonen-Beckett stadtbekannt - / Ich sag nur HEINER MÜLLER!!!“. Zit. n.: Lutz Rathenow: Nachdenken über Heiner Müller. In: Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 15 (1997), H. 9, S. 57. 72 Vgl. Ludwig: Heiner Müller, Ikone West, S. 53. 73 Vgl. Friedrich Christian Delius: Zwischen Dschuhs und Whisky. Die Entstehung der Werkausgabe. In: Stiftung Archiv der Akademie der Künste (Hg.): Heiner-Müller-Archiv, S. 31. 74 Wolfgang Schivelbusch: Die schonungslose Redlichkeit des Dramatikers und Erzählers Heiner Müller. „Geschichten aus der Produktion“. In: FAZ, 12. November 1974, Beilage, S. 1. Vgl. Hartinger: Wechselseitige Wahrnehmung, S. 67ff. 75 Als der Text 1975 im 4. Band der Rotbuch-Ausgabe erschien, schrieb Müller in einer Anmerkung, der Text bewege sich „auf dem Niveau einer Art (sozialistische[n]) Bierzeitung“ und solle „nicht als mehr gelesen werden“. Zit. n.: MW 4, 569. 76 KoS 191.

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DDR (analog zum unter Honecker erneuerten Bekenntnis zur revolutionären Tradition) als „[e]in Stück vom schweren Anfang“ ausnehmend positiv und mit großer Resonanz besprochen.77 In der Öffentlichkeit erschien Müller als ein ,parteilicher‘ Autor, der mit seinem Text, wie er in einem zwei Tage vor der Premiere im Neuen Deutschland abgedruckten Gespräch äußerte, einen „Beitrag gegen die politische Weltverschmutzung durch antisowjetische Propaganda“ und eine „Ermutigung im heutigen Klassenkampf“ leisten wolle.78 Mit Zement war Müller der Durchbruch in der DDR gelungen. In der Folge wurden anlässlich des 2. Volksbühnen-Spektakels Herakles 5 zusammen mit Prometheus [1968] und der Szene „Das Laken oder Die unbefleckte Empfängnis“ aus Die Schlacht [1951/74] sowie Traktor [1951/61/74] und Die Schlacht inszeniert.79 Am 30. Mai 1976 erfolgte schließlich an der Volksbühne, nunmehr unter dem Titel Die Bauern, eine Aufführung der Umsiedlerin. Bereits ein Jahr zuvor war im Henschel Verlag eine Auswahl von Müller-Texten unter dem Titel Stücke erschienen, und auch in Theater der Zeit wurden nun wieder Müller-Texte abgedruckt: 1971 wurde hier die Weiberkomödie veröffentlicht; 1972 folgte Macbeth, 1974 Zement, 1975 Traktor, 1978 Der Bau.80 Dennoch blieb die DDR-Bühnenpräsenz Heiner Müllers im Vergleich zu Peter Hacks wesentlich geringer. Das verdeutlicht die Zahl der Aufführungen in der Spielzeit 1975/76. Während Müllers Stücke, die ausschließlich in Berlin gespielt wurden, insgesamt 33 Aufführungen erfuhren, wurde allein Adam und Eva am Deutschen Theater 55 Mal gespielt; insgesamt gab es in der Spielzeit 319 Hacks-Aufführungen, davon 146 in Ostberlin.81 Spricht das quantitative Verhältnis der Inszenierungen eine deutliche Sprache, so ist damit noch nichts über die Anerkennung im literarischen bzw. dramatischen Feld und die sich in den 1970er Jahren verschärfende Konkurrenz zwischen Hacks und Müller ausgesagt. Denn tatsächlich zeigt sich hier eine Diskrepanz, die auf den kulturellen Wandel der 1970er Jahre, also das sich verändernde Traditionsverständnis und das Aufkommen des Regietheaters zurückgeführt werden kann. Während Hacks zum unangefochtenen Theaterstar sowohl in der DDR als auch in der BRD

|| 77 Rainer Kerndl: Ein Stück vom schweren Anfang. Heiner Müllers „Zement“ am Berliner Ensemble. In: ND, 14. Oktober 1973, S. 4. Wilfried Hartinger zählt zwölf Beiträge in zehn großen Zeitungen der DDR. Vgl. Hartinger: Wechselseitige Wahrnehmung, S. 67. Siehe zu den kulturpolitischen Problemen der Zement-Inszenierung: Hauschild, S. 306f. 78 Elvira Mollenschott: Ermunterung im heutigen Klassenkampf. ND-Gespräch mit dem Dramatiker Heiner Müller zur Uraufführung von „Zement“ am Berliner Ensemble. In: ND, 10. Oktober 1973, S. 4. 79 Siehe zum Begriff des Spektakels und dessen Geschichte auf dem Theater der DDR: Stuber, S. 227. 80 Vgl. Heiner Müller: Stücke. Berlin 1975. Siehe zu den Publikationen in TdZ die Angaben in: Schmidt u. Vaßen: Bibliographie Heiner Müller. 1948–1992. 81 Vgl. Akademie der Künste der Deutschen Demokratischen Republik, Sektion Darstellende Künste: Dramatiker und Komponisten auf den Bühnen der Deutschen Demokratischen Republik. Spielzeit 1976/77 (bis 31. Dezember 1976). Berlin 1979, S. 70ff. u. 135f.

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wurde und sich sein institutionalisiertes kulturelles Kapital durch die Verleihung des Deutschen Kritikerpreises für Literatur 1971 und des DDR-Nationalpreises 2. Klasse 1974 sowie die Aufnahme in die Akademie der Künste 1972 erhöhte, blieb Müller in dieser Hinsicht weiterhin ein Außenseiter, auch wenn er mit der Verleihung des Lessing-Preises 1975 für seine „bedeutenden Leistungen der sozialistisch-realistischen Bühnendramatik“ in der DDR durchaus öffentliche Anerkennung erfuhr.82 Bedeutung hinsichtlich der Müller’schen Handlungsressourcen hat aber vor allem dessen soziales Kapital, d.h. Müllers sich ausweitendes, zunehmend grenzüberschreitendes Netzwerk, die „Heiner-Müller-Mafia“, wie Peter Hacks und André Müller sen. den Kreis um Müller seit Ende der 1960er Jahre nannten.83 In den 1970er Jahren konvergiert Müllers ästhetisches Verständnis eines Theaters als „Laboratorium sozialer Phantasie“84 mit der Veränderung der DDR-Theaterlandschaft, in die Müller durch seine Tätigkeit als Dramaturg am Berliner Ensemble (1970-1976) und an der Volksbühne (1976-1982) sowie die Mitarbeit an den Inszenierungen seiner eigenen Stücke85 aktiv eingebunden war. Eine besondere Rolle spielt in diesem Zusammenhang die Volksbühne unter Benno Besson, an der Regisseure wie Manfred Karge, Matthias Langhoff und Fritz Marquardt arbeiteten, die sich eng mit Müller verbunden fühlten und dessen Texte inszenierten.86 Mit dem Nimbus des Außenseiters ausgestattet, wurde Müller als wichtigster Vertreter der DDR-Avantgarde und prononcierter Kritiker des Realsozialismus im Laufe der 1970er Jahre zu einer intellektuellen Figur, die junge KünstlerInnen aus der DDR wie Thomas Brasch, Einar Schleef, Stefan Schütz, Lothar Trolle u.a. sowie Intellektuelle aus dem Westen anzog und auch auf andere Künste ausstrahlte.87 Umgekehrt schwand Hacksʼ Einfluss auf die VertreterInnen der jungen, wenig etablierten literarischen Bohème mit dessen wachsendem Erfolg; und zwar nicht allein, weil Hacks in

|| 82 Lessing-Preis 1975 verliehen. In: BZ, 30. September 1975, S. 6. 1974 und 1976 erhielt Müller zudem für Zement, Die Schlacht und Die Bauern den Kritikerpreis der BZ. 83 GmH 79. Bereits 1967 spricht André Müller sen. von Heiner Müllers „Getreuen, die ihm fast hündisch ergeben sind.“ GmH 20. 84 Werner Hecht (Hg.): Brecht-Dialog 1968. Politik auf dem Theater. Dokumentation 9. bis 16. Februar 1968. Berlin 1968, S. 217. Müller gebrauchte die Formulierung auch des Öfteren selbst. Vgl. MW 8, 162 u. MW 8, 176. 85 Vgl. Fritz Marquardt zu Müllers Mitarbeit bei der Inszenierung von Die Bauern: Fritz Marquardt: Ich spiel euch nicht den Helden. Aus einem Gespräch mit Martin Linzer. In: Hörnigk (Hg.): Ich wer ist das, S. 21f. 86 Vgl. Stuber, S. 222ff. u. Irmer u. Schmidt: Die Bühnenrepublik, S. 136ff. Siehe zu Besson: Christina Neubert-Herwig (Hg.): Benno Besson – Theater spielen in acht Ländern. Texte – Dokumente – Gespräche. Stiftung Archiv der Akademie der Künste. Berlin 1998. 87 Vgl. Stefan Schütz: „Wenn dir dein Vater nicht gefällt…“. Im Gespräch mit Frank Raddatz; Hannover im August 1988. In: Storch (Hg.): Explosion of a Memory, S. 22–23; Thomas Brasch: Wiederbelebungsversuch. In: Hörnigk (Hg.): Ich wer ist das, S. 30; Paul Gratzik: Ich kam nicht zur Erntezeit. In: Hörnigk (Hg.): Ich wer ist das, S. 53–56 u. Teschke.

346 | Der Streit im literarischen Feld

die Position eines arrivierten Autors aufrückte, sondern vor allem, weil er sich gegenüber der Entwicklung der Theater wie der Künste im Allgemeinen negativ äußerte und die künstlerischen Experimente und das Regietheater als Ableitungen der westlichen Moderne bekämpfte.88 In dem Maße, wie Hacksʼ klassizistische ästhetische Positionierung deutlicher wurde und er sich immer stärker als „Opponent[ ] der Opposition“89 betätigte, setzten viele Akteure des kulturellen Feldes diesen mit der offiziellen Position der SED gleich und gingen auf Distanz.

5.1.7

Hacksʼ Schlussfolgerungen aus dem Machtwechsel und der neuen Kulturpolitik

In Walter Ulbricht erkannte Peter Hacks einen hervorragenden Staatsmann, dem die Deutschen Wesentliches zu verdanken hätten. In einem bisher unveröffentlichten panegyrischen Gedicht heißt es in Abgrenzung zu den insgesamt als „[v]ernagelt“, „brutal“ und „rückständig“ beschriebenen deutschen Regierenden über den gelernten Möbeltischler: Ulbricht, der erste und einzige Staatsmann der Deutschen, / Der nicht auf Krieg aus ist, sondern auf Frieden, / Nicht nimmt, sondern gibt, dem Volk dient und nicht das Volk ihm. / Ausrottet er die Unwissenheit, den Hunger, / Die Ungleichheit. Weise ist er und nützlich. / Er geht die Straße, nicht hastig, nicht zögernd, mit / Dem sichern Schritt dessen, der sie gut kennt, die / Doch nie begangne Straße, die doch schwierige / Straße ins Morgen. […]90

In Hacksʼ Augen war Ulbricht als Politiker ein Glücksfall, hatte er doch mit dem NÖS den entscheidenden Schritt hin zu einer wirtschaftlichen Konsolidierung des Sozialismus getan. Im Kontext der in den 1960er Jahren ausgebildeten Absolutismus-Analogie des Sozialismus erwies sich Ulbricht zudem als Herrscher, der geschickt zwischen den jeweiligen Parteiungen manövrieren und sich deren Widersprüche zunutze machen konnte. Da Hacks schon in den 1960er Jahren von einer parteiinternen Opposition gegen Ulbricht ausgegangen war, interpretierte er den Machtwechsel entgegen der öffentlichen Wahrnehmung von Beginn an als eine Art Putsch. An einen freiwilligen Rücktritt Ulbrichts glaubte er nicht.91 || 88 Siehe Kap. 5.6.3 u. Kap. 5.6.4. 89 Friedrich Dieckmann: Vom Reich, dem Lindenblatt und der Beugehaft. Unterhaltungen mit Wolfgang Harich. In: SuF 47 (1995), H. 5, S. 748. Die von Friedrich Dieckmann für Wolfgang Harich gebrauchte Formulierung lässt sich eins zu eins auf Hacks übertragen. 90 DLA, A: Hacks, Konvolut: Verschiedenes. Ähnlich heißt in einem Bericht des MfS vom März 1966, Hacks habe geäußert, man könne Ulbricht „zu Recht als den deutschen Staatsmann dieses Jahrhunderts bezeichnen“. Zit. n.: DLA, A: Hacks, MfS-Akte Peter Hacks (25. März 1966, BStU 000112). 91 Vgl. GmH 62. Siehe auch das Gedicht „Der Fluch“ (HW 1, 201ff.), das auf die Glückwünsche des Politbüros zu Ulbrichts 78. Geburtstag und ein in diesem Zusammenhang im ND abgedrucktes Foto

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In der neuen Politik Honeckers erkannte Hacks jene Prinzipien wieder, die er im Zusammenhang mit seiner politischen Analyse der sozialistischen ‚Klassen‘ dem Parteiapparat zugeschrieben hatte. Worauf Honecker setzte, war nach Ansicht von Hacks eine einseitige Auflösung des Widerspruchs von Leistung und Demokratie zugunsten Letzterer, eine „linke Politik“, die den egalitären Verteilungsanspruch des Kommunismus als politisches Primat ausgibt, ohne sich um die Produktion des zu verteilenden wirtschaftlichen Reichtums zu kümmern.92 Dass er von Honeckers politischen Qualitäten wenig hielt, hatte Hacks schon Mitte der 1960er Jahre im Anschluss an das 11. Plenum geäußert – so hält es die MfS-Zusammenfassung eines Gesprächs zwischen Hacks und dem Autor Gotthold Gloger fest: „Gegen Erich Honecker bestehe unter den meisten Künstlern eine tiefe Abneigung. Er gelte als der ‚Kronprinz‘ der Partei; hoffentlich komme es vorläufig nicht zur ‚Thronbesteigung‘“.93 Und gegenüber André Müller sen. äußerte Hacks nach dem achten Parteitag der SED die Vermutung, dass „dieser Rücktritt […] das Unglück für dieses Land sein wird“. „Ulbricht leider ist tot und Schluß mit der Staatskunst in Deutschland“, heißt es dementsprechend in einem unmittelbar nach Ulbrichts Tod am 1. August 1973 verfassten Gedicht.94 Die Deutung des Machtwechsels als negatives politisches Omen bedeutet aber nicht, dass Hacks die neue kulturpolitische Situation nicht begrüßte. Zwar zeigte er sich gegenüber dem neuen Kurs, den er als „Vulgärmarxismus“95 verstand, ablehnend, angesichts der „konkrete[n] historische[n] Lage“ erkannte Hacks aber ein großes Bedürfnis nach ästhetischer Diskussion: Zehn Jahre war Kunst als solche überhaupt verboten und das Über-Kunst-Reden also gar nicht möglich. Künstler haben natürlich das Bedürfnis, über Kunst zu reden […]. Und ich bin also der Meinung, daß das Diskutieren, das zur Zeit im Land stattfindet, […] einem Bedürfnis entspricht und Ergebnisse zeitigt.96

Insofern verstand Hacks die oben angeführten Debatten als Ausdruck einer durch die vormalige Situation hervorgerufenen Gegenbewegung von Akteuren des kulturellen

|| anspielt. Vgl. ADN: Politbüro beglückwünschte Genossen Walter Ulbricht. In: ND, 1. Juli 1971, S. 3. In einem späteren Interview aus dem Jahr 2003 spricht Hacks von Honeckers „Ulbricht-Mord“. AEV 102. Laut André Müller sen. fragte Hacks sich bereits 1969, ob Ulbricht „den Apparat noch völlig in der Hand [habe]“. GmH 37. 92 GmH 158. Später spricht Hacks dementsprechend von einer „Diktatur des Apparats“. BD 3, 223. 93 Zit. n.: DLA, A: Hacks, MfS-Akte Peter Hacks (25. März 1966, BStU 000112). 94 GmH 63 u. HW 1, 374. Später überlegt Hacks sogar, den Sturz Ulbrichts zum Gegenstand eines Dramas zu machen. Vgl. Jens Bisky: Also ist die Lösung nicht die Lösung. Staatskünstler ohne Staat. Lange hat der sozialistische Klassiker Peter Hacks ein Ulbricht-Drama geplant. In: ARGOS (2008), H. 3, S. 232–239. 95 GmH 66. 96 FR 36.

348 | Der Streit im literarischen Feld

Feldes, die sich nun außerhalb des engen diskursiven Korsetts der 1960er Jahre äußern konnten und den neu gewonnenen Freiraum besetzten, ein Schritt, den Hacks selbst ab Ende 1972 im Rahmen der Akademie der Künste mit der Gründung der Arbeitsgruppe Dramatik vollzog. Darüber hinaus begrüßte Hacks den sich nach 1971 abzeichnenden Rückzug der Kulturpolitik aber auch aus prinzipiellen Erwägungen. Seiner Ansicht nach hat jede administrative Bemühung der Kunstförderung aufgrund der Differenz der systemischen Eigenschaften von Bürokratie und Kunst einen Schaden der Kunst zur Folge: Dann würde ich auch sagen, daß die Bemühungen von behördlicher Seite mir wenig Sinn versprechen, weil es halt wirklich zum Wesen einer Bürokratie – und ich rede wirklich nicht nur von unserer, sondern einfach der soziologischen Einrichtung Bürokratie – gehört, nicht musisch zu sein. […] [U]nd was sie auch immer anrichten, es ist wahrscheinlicher, daß es zum Schaden ausgeht als zum Guten, selbst wenn das Gute gemeint ist. Immer, wenn mal unsere Kunst recht gefördert wurde von oben, dann brach sie doch wieder zusammen. Fördern und Totschlagen: das ist doch schon beinahe ein Synonym.97

Gleichwohl erschien Hacks die Situation als problematisch. Als Autor, der sich in den 1960er Jahren einen eigenständigen Zugang zur Klassik erarbeitet und offensiv gegen die literarische Moderne positioniert hatte, lehnte Hacks die Öffnung des Kanons sowie die Entwicklung des Regietheaters ab und interpretierte den Verlauf der öffentlichen Debatten als potentiellen Schaden für seine Bemühungen um eine neue Klassik. Insbesondere Anleihen an die westliche Moderne, die Hacks in zahlreichen Diskussionsbeiträgen erkannte, brachten ihn zu der Ansicht, dass die AnhängerInnen der Moderne in der DDR das neue kulturpolitische Vakuum nutzten, um die Rezeption westlicher ästhetischer Ansätze in den DDR-Diskurs einzuspeisen. Da die Kulturpolitik dem nichts entgegensetzte und sich in die, ohnehin auf einen kleinen Bereich der Öffentlichkeit begrenzten, Debatten nicht einmischte, stand Hacks mit seiner Position zu Beginn der 1970er Jahre vor einem Widerspruch: Einerseits empfand er die Richtung, welche die Diskussionen nahmen, als schädlich, andererseits wünschte er nicht, dass die SED zu ihrer alten administrativen Praxis zurückkehrte und die ästhetischen Debatten von außen reglementierte. Die Lösung bestand für Hacks daher darin, sich selbst an der Diskussion zu beteiligen und die seiner Ansicht nach reaktionären Tendenzen im literarischen Feld zu bekämpfen. So äußerte er sich auch gegenüber Wolfgang Harich. In einer Notiz des MfS vom April 1973 heißt es: Der Schriftsteller Peter Hacks habe bei einem Gespräch ihm gegenüber die Meinung vertreten, daß bestimmte Genossen in der Parteiführung [...] eine breite, liberale Politik auf dem Gebiet der Kultur betreiben würden. Das habe nach Ansicht von Peter Hacks gute und schlechte Seiten. Einerseits würde dadurch das Kulturleben lebendiger und vielseitiger, andererseits sei damit aber immer verbunden das Aufkommen reaktionärer Ideologien, die sich diese Politik zunutze

|| 97 FR 37f.

Das literarische Feld in den 1970er Jahren | 349

machten. […] / Die Gefahr sehe Hacks darin, daß die große Mehrheit der Intelligenz zu der Meinung komme, man könne sich jetzt verschiedenes leisten und dann diese reaktionären Ideologien aufkommen lassen, ohne sie zu bekämpfen. / Wenn die aufkommenden reaktionären Strömungen überhand nehmen und beherrschend würden, könne die Partei sich gezwungen sehen, wieder in eine enge, starre und administrative Politik zurückzufallen und damit würden die Chancen zu einem vielseitigen und reichhaltigen Kulturleben wieder behindert.98

Deshalb, so gibt das MfS die über Harich vermittelte Meinung Hacksʼ wieder, „müßte man jetzt zwar diese breite, liberale und tolerante Kulturpolitik unterstützen, aber gleichzeitig damit einen scharfen ideologischen Kampf gegen die aufkommenden reaktionären Tendenzen verbinden […].“99 Damit war die Auseinandersetzung, die Hacks in den späten 1960er Jahren angesichts der kulturpolitischen Situation noch nicht führen wollte, eröffnet. Sie entzündete sich, wie im folgenden Kapitel zu sehen sein wird, zunächst an Heiner Müllers Bearbeitung von Shakespeares Macbeth [1971], ging dann im Rahmen der Hacks’schen Konzeptionalisierung von Klassik und Romantik schnell ins Grundsätzliche und erreichte schließlich 1976 mit Hacksʼ Zustimmung zur Ausbürgerung Wolf Biermanns ihren Höhepunkt.

|| 98 Zit. n.: DLA, A: Hacks, MfS-Akte Peter Hacks (2. April 1973, BStU 000213). 99 Zit. n.: DLA, A: Hacks, MfS-Akte Peter Hacks (2. April 1973, BStU 000213).

350 | Der Streit im literarischen Feld

5.2

Das Öffentlich-Werden des Streits: Heiner Müllers Macbeth

Als ein Beispiel für die „aufkommenden reaktionären Tendenzen“ im literarischen Feld nannte Peter Hacks 1973 gegenüber Wolfgang Harich „den ‚Macbeth‘ von Heiner Müller“.100 Mit der Kritik von Müllers Shakespeare-Bearbeitung beginnt die öffentlich wahrnehmbare Auseinandersetzung zwischen Hacks und Müller, die sich in den folgenden Jahren zu einem dauerhaften Schlagabtausch entwickelte, der vor allem von Hacks mit aller Vehemenz geführt wurde. Dass der Streit anhand von Macbeth ausbrach, ist dabei keineswegs zufällig, sondern hinsichtlich des zur Rede stehenden Gegenstandes vielmehr folgerichtig, firmierte Shakespeare doch seit dem neunzehnten Jahrhundert als der dritte deutsche Klassiker neben Goethe und Schiller und nahm im Rahmen des kulturellen Kanons der DDR als realistischer Dichter des Humanismus einen Spitzenplatz ein.101 Zudem wurde Shakespeare im Anschluss an Brecht sowohl für Hacks wie auch für Müller zu einem der wichtigsten dramatischen Bezugspunkte; sein Name erscheint als eine Chiffre für Poetik und dramaturgisches Handwerk, aber auch für Staatstheorie und Politik. Als unerreichbares Vorbild fungierte Shakespeare als „von den dramatischen Genies das größte“, wie Peter Hacks 1964 formulierte.102

5.2.1

„Shakespeare verändern von Zeile zu Zeile“: Müllers MacbethBearbeitung

Die Bearbeitung Shakespeares hat in Deutschland eine lange Tradition, die bis auf den Beginn der Shakespeare-Rezeption im achtzehnten Jahrhundert zurückgeht.103 Hierbei spielte vor allem die Einrichtung Shakespeares für die Bühne eine Rolle.104 Ein solch freier Umgang mit den Texten Shakespeares wurde später im Zeichen der Shakespeare-Verehrung des neunzehnten Jahrhunderts scharf zurückgewiesen. Die

|| 100 Zit. n.: DLA, A: Hacks, MfS-Akte Peter Hacks (2. April 1973, BStU 000213). 101 Vgl. J. Lawrence Guntner: Introduction. Shakespeare in East Germany. Between Appropriation and Deconstruction. In: ders. u. Andrew M. McLean (Hg.): Redefining Shakespeare. Literary Theory and Theater Practice in the German Democratic Republic. Newark 1998, S. 29–57. 102 HW 13, 71. 103 Siehe für das Zitat in der Überschrift: MW 10, 41. 104 Vgl. Renata Häublein: Die Entdeckung Shakespeares auf der deutschen Bühne des 18. Jahrhunderts. Adaption und Wirkung der Vermittlung auf dem Theater. Berlin 2005. Siehe auch die Bibliographie zu deutschen Übersetzungen und Bearbeitungen: Hansjürgen Blinn u. Wolf Gerhard Schmidt: Shakespeare-deutsch. Bibliographie der Übersetzungen und Bearbeitungen. Berlin 2003.

Das Öffentlich-Werden des Streits: Heiner Müllers Macbeth | 351

Texte galten nun als sakrosankt, Bearbeitungen erschienen im Rückblick als „Machwerke“ und „rohe Verhunzung[en]“.105 Eine Praxis der Bearbeitung mit dem Ziel, Shakespeares Dramen als Material zu nutzen und zeitgenössischen ästhetischen oder politischen Gesichtspunkten anzupassen, setzte dann erst im zwanzigsten Jahrhundert wieder ein und erlebte ab den 1960er Jahren einen Höhepunkt.106

5.2.1.1 Shakespeare-Rezeption bei Müller Die Auseinandersetzung mit Shakespeare geht bei Heiner Müller bis an die Anfänge seiner literarischen Produktion zurück. Der Versuch der Übersetzung des ersten Aktes von Timon von Athen sowie das Hamlet-Gedicht „Zwei Briefe“107 zeigen bereits den charakteristischen Zugang Müllers zu Shakespeares Werk: Einerseits betätigte er sich als Übersetzer, andererseits nutzte er Shakespeares Texte als Steinbruch.108 Der Beginn der Shakespeare-Beschäftigung mit Hamlet. Prinz von Dänemark verweist auf Müllers lebenslange Faszination, ja „Obsession“, für die Figur Hamlets, modernes Sinnbild des Intellektuellen, der die Bewegungsgesetze seiner Zeit erkennend und an diesen irre werdend im „Riß zwischen zwei Epochen“ untergeht.109 Lässt man die Anspielungen auf Shakespeares Hamlet in der Figur des Ingenieurs Hasselbein in dem Stück Der Bau außer Acht, so stellt Macbeth die dritte dramatische Auseinandersetzung Müllers mit einem Stück von Shakespeare dar. 1967 übersetzte Müller Wie es Euch gefällt. Ein Jahr später verarbeitete er Motive aus dem Sommernachtstraum in Waldstück. Die Auseinandersetzung mit Macbeth steht am Ende der Müller’schen Lehrstückphase und markiert einen Übergang. Aus der Arbeit an Shakespeare zog Müller neue Energie. Er selbst verglich die Arbeit mit einer „Bluttransfusion“: „Wenn man in einer Schreibkrise oder mit einer Phase zu Ende ist, dann ist das auch eine vampiristische Tätigkeit, einen Shakespeare zu übersetzen oder zu bearbeiten.“110 Auf die Bearbeitung von Macbeth folgte 1976 gemeinsam mit Matthias

|| 105 Häublein, S. 1f. Gleichwohl begann der Trend der Shakespeare-Übersetzung erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Vgl. Blinn u. Schmidt, S. 12f. 106 Vgl. Hortmann u. Günther Erken: Die Rezeption Shakespeares in Literatur und Kultur: Deutschland. In: Ina Schabert (Hg.): Shakespeare-Handbuch. Die Zeit – Der Mensch – Das Werk – Die Nachwelt. Stuttgart 2009, S. 627–651. Siehe auch: Klaus-Peter Steiger: Die Geschichte der ShakespeareRezeption. Stuttgart u.a. 1987. 107 Vgl. MW 1, 34f. 108 Siehe zu den Spuren Shakespeares in Müllers Werk: Alexander Karschnia: William Shakespeare. In: HMH, S. 166f. Vgl. zur Shakespeare-Rezeption: Bernhard Greiner: Explosion einer Erinnerung in einer abgestorbenen dramatischen Struktur. Heiner Müllers „Shakespeare Factory“. In: Jahrbuch der deutschen Shakespeare-Gesellschaft West (1989), S. 88–112 u. Roland Petersohn: Heiner Müllers Shakespeare-Rezeption. Frankfurt/M. u.a. 1993. 109 MW 10, 217 u. MW 11, 496. 110 MW 10, 351.

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Langhoff die Übersetzung von Hamlet unter dem Titel Hamlet, Prinz von Dänemark und 1977 Die Hamletmaschine, mit der Müller einen radikalen Bruch mit allen dramatischen Konventionen vollzog und dazu überging, „das Material ,Shakespeare‘ für eigene Stücke zu ver-, bzw. zu zerarbeiten“.111 1984 schrieb Müller dann als letzte dramatische Shakespeare-Bearbeitung Anatomie Titus Fall of Rome. Ein Shakespearekommentar. Allerdings endet die Arbeit an Shakespeare damit nicht. Auch in späteren Texten finden sich Zitate und Verweise auf den Dramatiker aus Stratford-upon-Avon. Shakespeare beschäftigte Müller gewissermaßen bis an das Ende seines Lebens; noch kurz vor seinem Tod im Dezember 1995 arbeitete er an der Übertragung eines Shakespeare-Sonetts. Shakespeare ist für Müller aber nicht einfach ein Lieferant von Textmaterial. Ähnlich wie der Mythos fungiert Shakespeare für Müller als eine Art Maschine, in die der Autor sich hineinbegibt und in deren Rhythmus er arbeitet. So hat Müller die sprachliche und dramaturgische Qualität Shakespeares hervorgehoben, die er im Rahmen seiner Übersetzung von Wie es Euch gefällt kennengelernt habe: Es war, als arbeitete ich in seinem Körper. Ich bekam ein Gefühl für die Doppelgeschlechtlichkeit, diese Mischung aus Schlangen- und Raubkatzenbewegung in seiner Sprache, in der Dramaturgie seiner Stücke. Seither glaube ich ihn persönlich zu kennen.112

Die persönliche Bekanntschaft geht dabei vor allem auf die Verortung Shakespeares als eines Dichters von Krieg und Revolution zurück, dessen Aktualität auch vierhundert Jahre nach dessen Ableben noch gegeben sei: „[A]us jedem Trümmerhaufen (unserer) Geschichte singt spricht schreit Shakespeare“, heißt es in einer Notiz im Nachlass.113 Für Müller ist Shakespeare „ein Spiegel durch die Zeiten“, dessen Texte den „Clinch von Revolution und Konterrevolution“ reflektieren, den Müller als „Grundfigur der Mammutkatastrophen des Jahrhunderts“ betrachtet.114 In diesem Sinne erkennt Müller in Shakespeares Figuren Verweise auf die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts – „Lenin was a shakespearean character, Trotsky was a shakespearean character, Stalin was a shakespearean character“ –115 und liest Shakespeares Texte als aktuelle Kommentare im Kontext von Macht und Gewalt. Nicht dem vermeintlichen Humanismus Shakespeares, sondern dessen realistischer Gestaltung der Machtkämpfe des ausgehenden Feudalismus gilt Müllers Interesse.116 In seiner 1988 bei den Weimarer Shakespeare-Tagen gehaltenen Rede „Shakespeare eine Differenz“ hat

|| 111 Karschnia: William Shakespeare, S. 167. 112 MW 10, 591f. 113 Zit. n.: Karschnia: William Shakespeare, S. 164. 114 MW 8, 335. 115 Heiner Müller: „Like Sleeping with Shakespeare”. A Conversation with Heiner Müller and Christa and B. K. Tragelehn. In: Guntner u. McLean (Hg.): Redefining Shakespeare, S. 186. 116 Vgl. Petersohn, S. 51.

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Müller den Realismus Shakespeares, der Widersprüche nicht durch geschichtsphilosophische Annahmen verdecke und auch den Toten ihr Recht gebe, hervorgehoben: Die Toten haben ihren Platz auf seiner Bühne, die Natur hat Stimmrecht. Das hieß in der Sprache des neunzehnten Jahrhunderts, die zwischen Oder und Elbe noch Konferenzsprache ist; Shakespeare hat keine Philosophie, keinen Sinn für Geschichte.117

Ähnlich wie beim Mythos erkennt Müller Parallelen zwischen der Elisabethanischen Zeit und seiner Gegenwart. Die Faszination, die von Shakespeare ausgeht, ist jene, die auch der Mythos ausstrahlt, und die Müller erneut auf die Formel der „Wiederkehr des Gleichen“118 bringt. Die Strukturen, die Shakespeare beschreibt, sind nicht vergangen, sie haben sich nur gewandelt, sind im Kern aber dieselben geblieben: Probleme der Macht, der Rachsucht, der Herrschaft des Menschen über den Menschen. Insofern betont Müller die „Differenz“, mit der er seine programmatische Rede betitelt. Diese Differenz bleibt eine gesellschaftliche Hoffnung, ein Arbeitsauftrag, eine Utopie, die sich als Negation des Dargestellten in Shakespeares (und Müllers) Texten findet, und die erst dann zu Tage tritt, wenn die Verbindung zur Vorgeschichte getrennt wird: „Shakespeare ist ein Spiegel durch die Zeiten, unsere Hoffnung eine Welt, die er nicht mehr reflektiert. Wir sind bei uns nicht angekommen, solange Shakespeare unsere Stücke schreibt.“119

Müllers Macbeth als „Spiel der Macht“ 5.2.1.2 Shakespeares Macbeth [1606], die Tragödie über den schottischen Adligen, der, von der Prophezeiung der Hexen und dem Machthunger und Ehrgeiz seiner Ehefrau angeleitet, seinen König Duncan tötet, sich selbst zum König macht, getrieben von Schuldgefühlen und halb im Wahnsinn seine Macht mittels Gewalt gegen alle, die ihm gefährlich erscheinen, sichert, um am Ende durch das Schwert seiner Gegner zu fallen und durch Duncans Sohn Malcom ersetzt zu werden, gehört zu den bekanntesten Stücken des englischen Dramatikers.120 Seit dem achtzehnten Jahrhundert erfreut sich der Text bei ÜbersetzerInnen und BearbeiterInnen großer Beliebtheit; öfter bearbeitet wurde wohl nur Hamlet.121 Müllers Bearbeitung stellt zunächst das genaue Gegenteil der Schiller’schen Einrichtung des Macbeth für die Bühne dar, die am 14. Mai 1800 zur Uraufführung kam.

|| 117 MW 8, 336. 118 MW 8, 337. 119 MW 8, 335. 120 Siehe für das Zitat in der Überschrift: MW 4, 268. 121 Vgl. Blinn u. Schmidt, S. 14. Siehe auch: Sven Rank: Twentieth-Century Adaptions of „Macbeth“. Frankfurt/M. u.a. 2010.

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Hatte Schiller den Shakespeare’schen Text entsprechend der klassischen Maxime gemildert, die sprachlichen Derbheiten und drastisch-komischen Einlagen zurückgenommen und die Tragik des großen, Mitleid erheischenden Charakters Macbeth im Gegensatz zu dessen dämonischer Getriebenheit betont, damit freilich die böse Rolle der Lady Macbeth trotz sprachlicher Milderung eher noch hervorgehoben,122 so setzt Müller an einem anderen Punkt des Textes an. Müller interessiert nicht das bei Shakespeare entfaltete tragische Charakterdrama, sondern die Klassenkonstellation und das ‚Drama der Macht‘, dessen objektiven und subjektiven Zusammenhang seine Bearbeitung zu betonen sucht. So wird aus dem Shakespeare’schen Text durch die Streichung aller Verweise auf Gott oder irgendeine Teleologie, ganz ähnlich der Verfahrensweise bei Philoktet, „die story eines brutalen und blutigen feudalen Machtkampfs“.123 Um diesen Eindruck zu erreichen, hat Müller, der sich im Wesentlichen an die Handlung Shakespeares hält, einige Änderungen vorgenommen. Zunächst hob er das geschlossene fünfaktige Schema auf und raffte durch Weglassung und Verkürzung einzelner Szenen die Handlung. Zudem schrieb er fünf Szenen, die das Volk, d.h. Soldaten und Bauern, in das soziale Panorama des Textes integrieren und eine andere Perspektive auf das Geschehen eröffnen, komplett neu.124 Neben den Volks- und Soldatenszenen, auf die weiter unten genauer eingegangen wird, zeigt sich die deutlichste Änderung gegenüber Shakespeare innerhalb der unmittelbaren Sphäre der Macht. Lässt Shakespeare ein Geschehen ablaufen, an dessen Ende die dynastische Ordnung wiederhergestellt ist – auf den guten König Duncan folgt dessen Sohn, „the ideal ruler“ Malcom –125 so beschreibt die Müller’sche Handlung eine Kreisbewegung, die sich bis ins Unendliche fortsetzt.126 Denn Macbeths Herrschaft markiert keine Ausnahme; sein Vorgänger Duncan und sein

|| 122 Vgl. Schiller 3, 1001f. u. Heinz Gerd Ingenkamp: Bühnenbearbeitungen. In: Luserke-Jaqui (Hg.): Schiller-Handbuch, S. 530f. 123 Hans-Thies Lehmann: Macbeth. In: HMH, S. 247. 124 Vgl. zu den Änderungen: Petersohn, S. 62, Anm. 2. Ob Müller dem Shakespeare’schen Macbeth damit gerecht geworden ist, ist in der Forschung kontrovers diskutiert worden. Der Position, Müller habe im Rahmen seiner Neuinterpretation des Textes „as much of Shakespeare’s text as possible“ (Ulrich Broich: Present-day Versions of „Macbeth“ in England, France and Germany. In: German Life & Letters 28 [1974], H. 3, S. 227) erhalten, steht die Auffassung gegenüber, Müller habe Shakespeare aufgebrochen. Vgl. Günter Klotz: Shakespeare-Adaptionen in der DDR. In: Shakespeare-Jahrbuch 124 (1988), S. 229. B. K. Tragelehn spricht von einer Skelettierung des Shakespeare’schen Textes durch Müller. Vgl. B. K. Tragelehn: Hexen. In: Hörnigk (Hg.): Ich wer ist das, S. 47f. 125 E. M. W. Tillyard, zit. n.: G. K. Hunter: ‚Macbeth‘ in the Twentieth Century. In: Shakespeare Survey 19 (1966), S. 8f. Siehe zur Charakterisierung Duncans: Shakespeare 4, 621. 126 Zu solch einem Urteil neigt auch die moderne Shakespeare-Forschung, die Shakespeares Macbeth eine „zirkuläre Struktur“ attestiert. Sabine Schülting: Die späten Tragödien. In: Schabert (Hg.): Shakespeare-Handbuch, S. 557.

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Nachfolger Malcom handeln vielmehr ebenso brutal und rücksichtslos gegen ihre adligen Gegner und das Volk wie Macbeth. Dass Duncans Macht auf Gewalt und Tod basiert, verdeutlicht die einleitende Regiebemerkung der 3. Szene mit Drastik: „Duncan, auf Leichen sitzend, die zu einem Thron geschichtet sind“.127 Auch sein Verhalten gegenüber dem Than128 von Cawdor und seine Haltung gegenüber den Bauern zeigen, dass er keineswegs ein milder Herrscher ist.129 Das Gleiche gilt für seinen Sohn Malcom, wenn dieser die in der Schlacht gefangenen Bauern in den nächsten Sumpf werfen lässt (270) und seine erste Amtshandlung als König am Ende des Stücks der Mord an Macduff ist (324). Das Töten potentieller Gegner gehört in Müllers Macbeth zum allgemeinen Geschäft der Herrschaftssicherung. Gewalt und Brutalität sind nicht allein Ausdruck der Verunsicherung und Hybris Macbeths, der seine illegitime Herrschaft durch immer weitere Morde zu stabilisieren sucht, sondern Kennzeichen der im Stück gezeigten Gesellschaft. „Mein Tod wird euch die Welt nicht besser machen“ (323), sind Macbeths letzte Worte. Sein Tod ändert nichts an der Gesamtkonstellation. Die Akzentuierung der Gewalt hebt so Shakespeares zielgerichtetes Tragödienmodell auf und lenkt die Aufmerksamkeit auf die Grundlagen der im Stück gezeigten Gesellschaft. Auch die Hinzufügung von Volksszenen sowie die allgemeine Akzentuierung des Klassencharakters markieren eine Änderung gegenüber Shakespeare. Gleich zu Beginn des Stücks wird offenbar, dass die schottische Gesellschaft durch einen Antagonismus von Herrschenden und Bauern gekennzeichnet ist. Denn der Aufstand Macdonwalds ist nicht einfach eine Adelsrevolte, sondern ein von ihm angeführter Bauernaufstand, dem der König „[m]it Blut und Eisen“ (263) begegnet. Gewalt gegenüber den Unteren gehört in Müllers Macbeth zur Normalität. Sie sind Sklaven, Menschenmaterial, dessen sich die Herrschenden nach Lust und Laune entledigen, wobei die Betonung durchaus auf dem Lustaspekt liegt. Das zeigt sich anhand der 9. Szene (bei Shakespeare die 2. Szene des 2. Akts): Auf die Langsamkeit des ihnen das Tor zu Macbeths Schloss öffnenden Pförtners und dessen betrunkene Rede über sein Holzbein reagieren Macduff und Lenox mit lustvoller Aggression:

|| 127 MW 4, 269. Im Folgenden wird hiernach direkt im Text zitiert. 128 Than ist zunächst die Bezeichnung für einen Gefolgsmann, später dann für die Angehörigen des königlichen Dienstadels. In Schottland war ein Than bis ins fünfzehnte Jahrhundert auch ein Lehnsträger der Krone. Vgl. Heribert Raab u. Konrad Fuchs: Wörterbuch Geschichte. Berlin 2002 (Digitale Bibliothek. Bd. 71), S. 5579. 129 Der Than von Cawdor hatte sich mit dem norwegischen König verbündet und war auf Befehl Duncans hingerichtet worden. Bei Shakespeare vernimmt Duncan die Botschaft seines Todes und äußert Enttäuschung über dessen Verrat. Vgl. Shakespeare 4, 615. Bei Müller manifestiert sich die Enttäuschung in Gewalt, wenn Duncan den von Lenox herbeigebrachten Kopf des Than „[o]hrfeigt“. (269)

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MACDUFF: Soll ich dich an die Pforte nageln, Pförtner. Tut es mit dem Schwert. LENOX: Ich will dir Beine machen, Armstrumpf. Lauf. Haut ihm das Stelzbein ab. Beide lachen. Macbeth. LENOX: Wir mußten Eurem Pförtner, Herr, ein wenig die Zeiger richten. Er hinkt gegen die Uhr. MACBETH: Dank für die Arbeit. LENOX: Wir haben sie gern getan. (284)

Bei aller Lust an der Gewalt geht diese dennoch stets auf einen rationalen Kern zurück. Gewalt wird immer dann angewandt, wenn die gesellschaftliche Hierarchie durch widerständiges Verhalten oder Einsichten in die Funktionsweise der Macht infrage gestellt wird.130 In der 18. Szene wird ein abtrünniger Adliger bestraft. Macbeth lässt seine Soldaten Rache an ihm nehmen und erfreut sich an dem Schauspiel. Einer der Soldaten ist der Sohn eines Bauern, der aufgrund einer Pachtschuld von den Hunden dieses Adligen getötet worden ist. Er will nun persönlich Rache nehmen und die „Rechnung […] begleichen“ (312), indem er ihn genauso behandelt wie sein Vater behandelt worden ist. Das findet auch bei den anderen Soldaten Zustimmung, die schon immer wissen wollten, „[w]ie unter seinem Fell aussieht ein Herr“. (312) Rosse und Lenox empfinden das als „Aufruhr“ (313), schinden die Soldaten in dem Adligen doch nicht den Verräter am König, sondern den ihnen Höhergestellten und vollziehen „in einer Ersatzhandlung einen Aufstand“.131 Macbeth quittiert das mit dem Ausspruch: „Das Eis ist dünn / Auf dem wir unsere Bauern rösten“ (313) und stellt, indem er den Soldaten befiehlt, den aufsässigen Bauernsohn zu töten, die symbolische Herrschaftsordnung wieder her. Gleiches geschieht, wenn Macduff in der neunten Szene einem aufmüpfigen Diener, der auf die Austauschbarkeit der Herrscherfigur aufmerksam macht – „Der König ist der König. Und / Ists der nicht ists ein andrer. Der oder der.“ (286) – die Zunge herausschneidet. Das Schreien des Dieners quittiert Macduff mit dem Ausspruch: „Das spart die Glocke“ (286); tatsächlich erfüllt das Brüllen des Geschundenen die Funktion, die auf dem Schloss Anwesenden zu wecken und über den Mord an Duncan zu unterrichten. Macduffs Reaktion verweist auf die Handhabung des Komischen in Müllers Macbeth. Noch deutlicher als in Die Umsiedlerin und Der Bau arbeitet Müller hier mit einer lakonischen Komik des Schreckens, die in ihrem scharfen Kontrast zur dargestellten Gewalt jeglichen Mitleids entbehrt. Die Massakrierung des Dieners wie des Pförtners ist Ausdruck einer Schadenfreude, die im Text durch keine anderweitige Perspektivierung gemildert wird. Das Lachen und der sarkastische Kommentar gehören zum Morden dazu: „Jedes Handwerk hat seinen Humor“ (299), äußert einer der

|| 130 Vgl. Petersohn, S. 71. 131 Peter Iden: Uns verändernd. Über Ionescos, Müllers, Bonds Stücke nach Shakespeare. In: Th (1972), Jahrbuch, S. 38.

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Mörder Banquos gegenüber Macbeth. Als Macbeth in Szene 18 die Soldaten beobachtet, die den abtrünnigen Adligen foltern, äußert er: „Als hätten sie Ovid gelesen“ (313), und zitiert aus dessen Metamorphosen die Passage, in der Apollon Marsyas die Haut abzieht, damit zugleich darauf verweisend, dass auch ein Adliger schnell in die Rolle des Unterdrückten gelangen kann: „ROSSE leise: Marsyas war ein Bauer. / MACBETH lacht: Die Zeiten wechseln.“ (313) Die Welt, die Müller in Macbeth auf die Bühne bringt, ist für die Bauern ausweglos. Ihnen bleibt nichts als die totale Unterordnung. Aber selbst diese garantiert nicht das Überleben. In der 22. Szene gerät ein Bauer zwischen die Fronten der schottischen und der englischen Soldaten. Beide wollen ihn aufhängen, da der schlecht über die aktuelle politische Konstellation Informierte auf Befragung hin jeweils den falschen König nennt. Als er schließlich aufgrund der anhaltenden Kämpfe der Todesstrafe durch Erhängung entkommt, beschließt er sich selbst aufzuhängen, „eh die Soldaten wiederkommen, die einen oder die andern“. (319f.) Gerade hinsichtlich der Volksszenen ist es naheliegend zu fragen, inwiefern Müllers Shakespeare-Bearbeitung an Brecht anknüpft. Wie Brecht bei seiner Rundfunkbearbeitung des Macbeth [1927] vorgegangen ist, lässt sich leider nicht mehr rekonstruieren, da das Manuskript verlorengegangen und lediglich eine Dialogszene zwischen Macbeth und Banquo überliefert ist.132 Diese Szene sowie die „Vorrede zu ,Macbeth‘“ lassen vermuten, dass Brecht relativ resolut in den Text eingegriffen hat, zumal er Shakespeare betreffs der Weissagung der Hexen über die Zukunft von Banquos Sohn Fleance eine gewisse „Schlamperei“ unterstellt, würden die ZuschauerInnen doch erwarten, dass nicht nur die Prophezeiung in Bezug auf Macbeth, sondern auch in Bezug auf Fleance in Erfüllung gehe.133 Hinsichtlich der Rolle des Volkes ergeben sich aus Brechts Aussagen zu Macbeth aber keine Anhaltspunkte. Interessanter scheint hier Brechts Bearbeitung des Coriolan [1951].134 Vergleicht man beide Texte miteinander, wird allerdings deutlich, was Müller von Brecht trennt. Die von Müller dem Text hinzugefügten Volksszenen dienen offensichtlich nicht dazu, die Rolle des Volkes aufzuwerten und dessen möglichen Bewusstseinswandel oder Humanismus zu demonstrieren. Die nachträgliche Interpretation des Klassenkampfes, die Brecht in den Coriolan hineingearbeitet hat, findet bei Müller nur insofern ihr Pendant, als die schottische Gesellschaft als brutale Klassengesellschaft gezeigt wird,

|| 132 Vgl. GBA 10.1, 550ff. 133 GBA 10.1, 547. Siehe zur Shakespeare-Rezeption Brechts: Rodney T. K. Symington: Brecht und Shakespeare. Bonn 1970 u. Dieter Hoffmeier: Voller Bewunderung und Kritik. Arbeitsbeziehungen Brechts zu Shakespeare. In: Shakespeare-Jahrbuch 115 (1979), S. 7–24. 134 Siehe zu Coriolan: Peter Gebhardt: Brechts Coriolan-Bearbeitung. In: Shakespeare-Jahrbuch (West) (1972), S. 113–135; Nancy C. Michael: The Affinities of Adaption: The Artistic Relationship between Brechtʼs Coriolan and Shakespeareʼs Coriolanus. In: The Brecht-Yearbook 13 (1984), S. 145–154 u. Knopf: Brecht-Handbuch. Theater, 304ff.

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nicht aber hinsichtlich der politischen Botschaft, die die Handlungsfähigkeit des Volkes betonen soll. Bei Müller ist es vielmehr genau umgekehrt: Das Volk ist gegenüber den Herrschenden und ihren Vasallen vollkommen schutz- und hilflos, Klassensolidarität existiert nicht. Zwar zögern die Soldaten, als sie denjenigen von ihnen, der seine private Rache an dem Adligen genommen hat, töten sollen, der Befehl aber wird ausgeführt. Besonders eindrücklich ist diesbezüglich die von Müller hinzugefügte 10. Szene: In einer Schneelandschaft treten eine Frau und ihr Sohn auf, ein junger Bauer (eben der, der später Soldat wird und Rache für seinen Vater nimmt), um die Überreste des Ehemanns und Vaters aufzuklauben, der aufgrund fehlender Pachtzahlungen zu Tode gefoltert worden ist. Die unmittelbare Reaktion der Frau schlägt von Entsetzen über die Zurichtung ihres Mannes in Wut um, allerdings nicht gegen den Pachtherrn, sondern gegen ihren Mann selbst, dem sie die Schuld für seine Peinigung gibt: „Gebt mir meinen Mann wieder. Was habt ihr mit meinem Mann gemacht. Ich bin nicht verheiratet mit einem Knochen. Warum hast du die Pacht nicht gezahlt, du Idiot. Schlägt die Leiche.“ (289) Die Reaktion der Bäuerin steht für eine Gewalt, die aus der Verzweiflung erwächst. Fern jeder Hoffnung auf Änderung erscheint das Volk bei Müller als ebenso unmenschlich wie die Herrschenden. Radikal anti-teleologisch vermeidet der Text jeden Hinweis auf eine potentielle Lösung und deren gesellschaftliche TrägerInnen. Zwar gibt es neben der Autoaggression auch Widerstand, wie der Bauernaufstand zu Beginn des Stücks verdeutlicht, beide aber laufen ins Leere. Eine Perspektive der Befreiung gibt es nicht. Die Ausweglosigkeit der mittelalterlichen Klassengesellschaft ist absolut: „Müller bricht Shakespeares Welt in zwei Teile. Ein in sich gespaltenes Machtzentrum steht einer Masse unterdrückter und gefolterter Bauern gegenüber, die sich bei Gelegenheit erheben – und geschlagen werden.“135 Im Widerspruch zu Brecht steht auch, dass der Klassencharakter der schottischen Gesellschaft nicht durch ökonomische Belege im Text rückgebunden wird und Müller ökonomische Motive der Herrschaft ausspart. Macbeths Motivation ist Macht, nicht Reichtum. Die exzessive Gewalt folgt keinem ökonomischen Kalkül.136 Indem Müllers Text durch die Aussparung einer Perspektive jedes Anzeichen einer fortschrittskompatiblen Antwort verweigert, steht er im Gegensatz zu Brechts Bearbeitung des Coriolan.137 Wie auch bei den Lehrstücken lässt Müller das Geschehen bewusst offen. Macbeth erinnert insofern nicht an den späten, sondern an den frühen Brecht. In der || 135 Lehmann: Macbeth, S. 247. 136 Joachim Fiebach erkennt daher eine Parallele zwischen Müllers Macbeth und der Inszenierung von Brechts Antigone durch das Living Theatre. Auch diese sei Brecht nur insofern gefolgt, als sie „den Krieg des Kreon als imperialistische Aggression interpretierte. Sie betonte aber nicht, obwohl Brechts Fassung benutzend, ökonomische Motive, sondern Machthunger. Man zeigte vor allem Individuen, die mit schwer ergründbarer Besessenheit, irrational, nach Macht streben, sich an Macht klammern.“ Fiebach: Inseln der Unordnung, S. 106. 137 Siehe auch Müllers Distanzierung von Coriolan: MW 10, 624.

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„Vorrede zu ‚Macbeth‘“ hatte dieser die Offenheit der Shakespeare’schen Texte gegenüber der deutschen Dramatik des späten achtzehnten und des neunzehnten Jahrhunderts und die sich daran anschließende Möglichkeit zur Koproduktion des Publikums betont: Wo die deutschen Dramenschreiber, wie etwa im Fall Hebbel und früher schon im Fall Schiller, zu denken anfingen, fingen sie an zu konstruieren. Shakespeare etwa hat das Denken nicht nötig. Bei ihm konstruiert der Zuschauer. Shakespeare biegt keineswegs den Verlauf eines Menschenschicksals im zweiten Akt etwas zurecht, um einen fünften Akt zu ermöglichen. Alle Dinge laufen bei ihm natürlich aus.138

Tatsuji Iwabuchi hat daher mit Recht betont, dass sich Müller bei seiner Bearbeitung des Macbeth an den frühen Brecht anlehnt. Als dramatisches Vorbild hebt er Brechts und Lion Feuchtwangers Bearbeitung von Christopher Marlowes Leben Eduard des Zweiten von England [1923/24] hervor.139 Übereinstimmungen erkennt Iwabuchi nicht nur hinsichtlich der Integration zusätzlicher Volksszenen, die eine „durchs Elend erzeugte Apathie“ der Unteren zeigen,140 sondern auch in der Übernahme einzelner sprachlicher Bilder und Motive. So lässt Brecht einen Balladenverkäufer auftreten, der wie Müllers Pförtner in der 9. Szene ein Holzbein hat;141 ebenso erinnert der Ausspruch Macbeths „Ein Schwert hat keine Nase“ (280) an Brecht, bei dem es im Kaukasischen Kreidekreis [1944] heißt: „Der Furz hat keine Nase“.142 Auffällig ist auch die Übernahme des Motivs der Machtverhaftung. Eduard II. äußert über die Krone: „Ich kann sie nicht abtun, mein Haar geht mit / Das ganz verwachsen ist mit ihr“;143 ähnlich spricht Macbeth: „An meinem Schädel festgewachsen ist die Krone“. (316) Der Machtwille, der sich in Eduard II. ausdrückt, sowie die dargelegten Übernahmen scheinen allerdings die einzigen Analogien zu sein. Iwabuchi erörtert zwar weitere motivische Anleihen, so erkennt er zwischen der Verwandlung Eduards II. in einen „Tiger“ und der Entwicklung Macbeths Parallelen.144 Das aber scheint mir den direkten Brecht-Bezug zu stark zu betonen und den eigenständigen Charakter von Müllers Bearbeitung zu vernachlässigen. Schließlich stellt Müllers Macbeth nicht den Versuch dar, die Bearbeitungspraxis des frühen Brecht an einem ähnlichen textuellen Gegenstand nachzuvollziehen.

|| 138 GBA 10.1, 549 (Vorrede zu „Macbeth“). 139 Vgl. Tatsuji Iwabuchi: Heiner Müllers „Macbeth“. Auf der Spur von Brecht. In: Japanische Gesellschaft für Germanistik (Hg.): Sprachproblematik und ästhetische Produktivität in der literarischen Moderne. Beiträge der Tateshina-Symposien 1992 und 1993. München 1994, S. 161–178 u. GBA 2, 7ff. Siehe zum Entstehungskontext von Eduard II.: GBA 2, 395ff. 140 Iwabuchi, S. 165. 141 Vgl. GBA 2, 15. 142 GBA 8, 87 u. 180. 143 GBA 2, 60. 144 GBA 2, 41. Vgl. Iwabuchi, S. 168.

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Gleichwohl folgt Müllers Macbeth mit der Aufnahme der Volksszenen auch einem Impuls, der typisch für die Brecht-Schule in der Tradition des Gedichts „Fragen eines lesenden Arbeiters“ ist, ging es Müller nach eigener Aussage doch auch darum, „den MACBETH materialistisch zu erzählen“, d.h. die Opfer der Vergangenheit, ihre „Blutspuren“, kenntlich zu machen und der Geschichte der Großen gegenüberzustellen.145 Ursprünglich wollte Müller den Text lediglich übersetzen, eine Art Fingerübung im Anschluss an Wie es Euch gefällt, entstanden aus Langeweile während eines Krankenhausaufenthaltes. Dann aber sei ihm klar geworden, dass der Text auf ideologischen Voraussetzungen wie Prädestination und Gottesgnadentum basiere, die in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts schlicht inakzeptabel seien und verändert werden müssten. So entstand der Plan, Shakespeare zu ändern, ihn zu modernisieren.146 Lässt man das im Stück auftretende Volk beiseite, das hinsichtlich der Handlung keine wesentliche Rolle spielt und eher einen sozialen Hintergrund bildet, so zeigt sich, dass die Bearbeitung im Kern ein „Spiel der Macht“ (268) und der Gewalt vorstellt, und zwar einer Gewalt, die aus dem Ruder läuft und sich gegen ihren eigenen Urheber wendet. In Macbeth erkennt Müller einen Herrscher, der zur Erhaltung seiner Macht alle Grenzen niederreißt und „die pure Selbsterhaltung im Jetzt über alles stellt“.147 Dabei setzt sich Macbeth identisch mit dem Staat, den Müller in aktualisierender Absicht in den Text einführt. Insbesondere die sprachlichen Modernisierungen, die sich um den Komplex des Staates gruppieren, verdeutlichen den parabolischen Charakter der Bearbeitung.148 Nicht die historische Auseinandersetzung um den schottischen Thron, sondern die Konfiguration der Macht im Allgemeinen, ihre Unbeschränktheit, ihre Gewaltneigung und die fatalen Konsequenzen für die ihr Unterworfenen interessieren Müller. Der brutale Cliquenkampf innerhalb der Adligen, die sich gegenseitig bespitzeln (303) und Gewalttat auf Gewalttat häufen, aber immer die Nähe zur Macht suchen (302), verweist dabei erkennbar über die spätmittelalterliche Welt Schottlands hinaus. Das verdeutlicht nicht nur die zu Beginn des Stücks fallende und auf den deutschen Imperialismus unter Otto von Bismarck verweisende Äußerung eines Soldaten, man sei dem Bauernaufstand „[m]it Blut und Eisen“ (263)

|| 145 MW 10, 41 u. MW 10, 697. 146 Vgl. Hauschild, S. 279f. Siehe auch Müllers Darstellung in KoS 204, die von Beginn an eine Bearbeitungsabsicht nahelegt. 147 Lehmann: Macbeth, S. 249. 148 So begründet Macbeth den Mord an Banquo mit der Äußerung „weils der Staat braucht“. (294) Die Modernismen der Bearbeitung dienen also nicht allein dazu, „den ästhetisch-unverbindlichen Genuß“ des Shakespeare’schen Blankverses zu zerstören (Helmut Fuhrmann: „Where violent sorrows seems a modern ecstasy“. Über Heiner Müllers „Macbeth nach Shakespeare“. In: Arcadia 13 [1978], H. 1, S. 67), sondern haben eine inhaltliche Funktion. Weitere sprachliche Modernisierungen drehen sich vor allem um den Begriff ‚Arbeit‘. Vgl. Petersohn, S. 73f.

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begegnet, sondern auch der zweideutige, gleichermaßen temporal zu interpretierende Titel der Bearbeitung: Macbeth. Nach Shakespeare. (261)149 Seit Philoktet ist immer wieder diskutiert worden, inwiefern die Müller’schen Bearbeitungen hinsichtlich ihrer Aktualisierungen den Stalinismus meinen. Und wie im Falle von Philoktet hat Müller eine solche Lesart des Macbeth zumindest nicht ausgeschlossen: „Man kann ziemlich viel über Stalin mit ‚Macbeth‘ sagen.“150 Zugleich findet sich aber, wie so oft bei Müller, ebenfalls die gegenteilige Aussage: „Bei MACBETH war ich mir keiner Schuld bewußt, was das Stalin-Thema betrifft.“151 Der aktuelle Bezug von Müllers Bearbeitung erhellt sich, wenn man den Text in den Müller’schen Werkzusammenhang stellt. Macbeth markiert zeitlich die Mitte zwischen Mauser, dem Lehrstück über den Mörder im Dienst der Revolution, und Zement, der Dramatisierung von Gladkows Roman über den sowjetischen Bürgerkrieg. Dass die Auseinandersetzung mit Macbeth thematisch direkt an Mauser anschließt, hat Müller selbst betont.152 Es ist daher naheliegend, Macbeth auch als Stück über die Ausdrucksformen der Herrschaft in der Sowjetunion zu lesen, als Metapher einer Politik, die vor allem an Machtzuwachs orientiert ist und deren Handlungen Ausdruck einer Getriebenheit sind, welche sie selbst produziert. Die Verbindung zu Mauser verdeutlicht sich vor allem durch die Veränderungen, die Macbeth im Zuge seiner Selbstbehauptung erfährt. Kann der Mord an Duncan als Akt der Subjektwerdung mittels der selbständigen Arbeit des Tötens verstanden werden – „Zum erstenmal dein eignes Schwert warst du“ (280) –,153 so befreit sich Macbeth nur vermeintlich. Denn mit der Errichtung der eigenen Herrschaft wächst auch die Angst um diese, die die weitere Ausübung von Gewalt nach sich zieht. In Hinblick auf seinen (durch den Hexenspruch, an den Macbeth glaubt, belegten) ärgsten Konkurrenten Banquo äußert sich diese Angst in sexualisierten Vorstellungen von Gewalt, die an die exzessive Rauschhaftigkeit des Tötens in Mauser erinnern: „Ich will im kürzen sein zu steiles Glied / Bis ihn der Wurm begattet, seine Brut auch.“ (292)154 Macbeths Gewaltphantasie ist aber nicht einfach Produkt einer Allmacht, die sukzessive auf das Unbewusste zurückgreift und die Mordtaten mit Lust auflädt. Sie

|| 149 Hans-Thies Lehmann erkennt in der Äußerung „Die Gegend ist rasiert. […] / Hier wächst kein Gras mehr“ (270) daher auch eine Anspielung auf den „Napalm-Terror der USA in Vietnam“. Lehmann: Macbeth, S. 248. 150 MW 11, 338. Siehe für die Stalinismus-Interpretation: Hans-Thies Lehmann: Macbeth. In: Schulz: Heiner Müller, S. 99–107 sowie insgesamt: Schulz: Heiner Müller. 151 KoS 204. 152 Vgl. KoS 204. 153 Vgl. Eke: Heiner Müller, S. 146. 154 Siehe zum Aspekt des Sexuellen in Shakespeares Macbeth: Ralph Berry: Macbeth. The Sexual Underplot. In: Harold Bloom (Hg.): William Shakespeareʼs Macbeth – New Edition. New York 2010, S. 101–115.

362 | Der Streit im literarischen Feld

hat auch einen realen Hintergrund: Macbeth selbst ist zeugungsunfähig. Seine Herrschaft hat ein erwartbares Ende, denn sie kann sich nicht dynastisch fortsetzen: „Auf meinem Kopf dürr wie ein Stroh die Krone / In meinem Griff ein Zepter ohne Frucht / Von fremder Hand mir aus der Faust gebrochen / Tot oder lebend, weil in meiner Blutspur / Kein Sohn den Stiefel hebt […].“ (292)

Eben deshalb kämpft Macbeth nicht nur einen Kampf gegen seine adligen Rivalen, sondern auch gegen die Zeit, deren Räderwerk er mittels Gewalt zum Stillstand bringen und so seine Herrschaft verewigen will: „Ich will der Zukunft das Geschlecht ausreißen. Wenn aus mir nichts kommt, kommt das Nichts aus mir.“ (293) Jenen Kampf gegen die Zeit und ihr unablässig zählendes „Uhrwerk“ (309), den schon Shakespeare thematisiert,155 stellt Müller in den Mittelpunkt seiner Macbeth-Bearbeitung. Macbeth mordet gegen die Zeit, er verwandelt sich dem Tode an – „ich kommandiere / Den Tod in Schottland“ (309) –, weil er glaubt, so seine eigene Endlichkeit aufhalten zu können: „Ich will die Häute meiner Toten anziehen / […] Und überdauern mich in Todes Maske. / Ich will vermehren die Armee der Engel. / Ein Wall aus Leichen gegen meinen Tod.“ (309) Gleichzeitig weiß Macbeth um seine eigene Endlichkeit und um die Aussichtslosigkeit seiner Absichten. Indem er sich außerhalb der Geschichte stellt, muss er scheitern. Er kann den Tod nicht besiegen. Immer mehr ergreift dieser Besitz von seiner eigenen Identität, so dass dieser schließlich, trotz aller grausamen Versuche, die Eroberung durch die feindlichen Truppen aufzuhalten, den eigenen Tod herbeiwünscht: MACBETH: Das wartet auf den Tod / Als wärs ein Beischlaf. SEYTON: Auf Euren, Herr. MACBETH: Wie ich. (321)

Hans-Thies Lehmann hat die Entwicklung, die Macbeth in Müllers Bearbeitung nimmt, zusammengefasst. Die unbeschränkte Macht veräußert sich im immer weiter um sich greifenden Mord: Zunächst erzeugt sie eine Art ‚Identitätskrise‘, die den Tod, auch den schändlichsten, herbeisehnen lässt […]. Der nächste Schritt ist der Wunsch, Zeit, Geschichte, das Dasein, Bewusstheit hinter sich zu lassen […]. Und dann folgt die ekelgeborene Wendung, den Tod sich zum Erlebnis zu

|| 155 Als Macbeth vom Tod seiner Gattin erfährt, äußert er: „To-morrow, and to-morrow, and to-morrow, / Creeps in this petty pace from day to day / To the last syllable of recorded time / […] Life’s but a walking shadow […] / [...] it is a tale / Told by an idiot, full of sound and fury, / Signifying nothing.” William Shakespeare: Complete Works, hg. von W. J. Craig. London 1966, S. 867f.

Das Öffentlich-Werden des Streits: Heiner Müllers Macbeth | 363

machen, um überhaupt das eigene Leben noch zu erfahren. Gegen den Schrecken des vom Tod gesicherten Lebens braucht der Herrscher – das Morden […].156

So wird Macbeth bei Müller zu einer „Charakterstudie der Macht“.157 Macbeths einziges Interesse besteht darin, so lange wie möglich weiter zu existieren. Eine Lösung für dieses Problem zeigt das Stück nicht auf. Diese liegt, so steht zu vermuten, außerhalb der in Macbeth dargestellten Klassengesellschaft bzw. der Art von Politik, die das Stück vorstellt, einer Politik nämlich, die in erster Linie auf den Erhalt der Macht und die Zeitlichkeit der eigenen Lebenszeit beschränkt ist. Müller selbst hat das 1988 in einem Gespräch mit Frank Raddatz folgendermaßen beschrieben: [D]iese ganze politische Scheiße – gerade in unserem Jahrhundert wird das besonders manifest – entsteht doch aus der Todesangst der Politiker. Die Wirkung der Politik als Bremse gesellschaftlicher Veränderungen, als Bremse des Fortschritts […], resultiert daraus, daß sich die Politiker so wichtig finden […]. Weil alles fortlaufend auf sie konzentriert ist, denken sie immer an den schrecklichen Moment, wenn sie nicht mehr wichtig, also nicht mehr vorhanden sind.158

Während Müllers Macbeth in seiner Kreislaufbewegung eine ausweglose Welt brutalnihilistischer Herrschaft zeigt, enthält der Text aber auch „ein geschichtsoptimistisches Moment: die Hexen“.159 Bei Shakespeare stehen sie (zusammen mit Lady Macbeth) für eine „dämonisierte Weiblichkeit“ und wirken als „Katalysator“ der Untaten Macbeths. Sie verwischen die „Grenzen zwischen gut und böse“; zugleich bleibt aber unklar, ob letztlich sie es sind, die Macbeths Handlungen initiieren.160 In Müllers Stück erhalten die Hexen eine andere Funktion. Indem er die feudale Welt der schottischen Adligen als grundsätzlich negativ zeigt, hebt Müller die Negativität der Hexen auf; ihre dämonische Gestalt161 wandelt sich. Sie sind nicht mehr die Kraft, die die Saat des Bösen im Guten zum Keimen bringt, sondern ein destruktives Element in Bezug auf das Böse, das „ausnahmslos alle Mächtigen“ zerstört:162 Sie zerstören Duncan, dessen Wachspuppe sie in Szene 2 verbrennen (265),163 ebenso sehr wie Macbeth;164 und es ist zu erwarten, dass dasselbe auch mit Malcom geschehen wird, lässt Müller die Hexen doch am Ende des Stücks und entgegen der Shakespeare’schen

|| 156 Lehmann: Macbeth, S. 251. 157 Rolf Jucker: Heiner Müllers „Macbeth“. Sozialer Realismus als Mehrwert gegenüber Shakespeare/Tieck. In: Wallace (Hg.): Heiner Müller, S. 197. 158 MW 11, 327. 159 MW 10, 42. 160 Schülting, S. 558f. 161 Vgl. Max Lüthi: Shakespeares Dramen. Berlin 2011, S. 83. 162 MW 10, 42. Siehe auch: Tragelehn: Hexen, S. 44. 163 Müller greift hier auf die Chronicles of England, Scotland, and Ireland von Raphael Holinshed zurück, wie er im Gespräch selbst äußerte. Vgl. MW 10, 620. 164 Siehe Szene 16 (307f.) im Vergleich zu Akt 4, Szene 1 bei Shakespeare.

364 | Der Streit im literarischen Feld

Vorlage erneut auftreten und gibt ihnen das letzte Wort: „Heil Malcom Heil König von Schottland Heil.“ (324) Indem die Hexen in einer destruktiven Welt als Zerstörerinnen tätig sind, stehen sie für eine Alternative. Müller versteht sie ausdrücklich als Frauen und assoziiert sie, ganz im Einklang mit der feministischen Forschung der 1970er und 1980er Jahre, mit der Frauenbewegung: Also was mich an der Hexengeschichte interessiert, unabhängig von Shakespeare, ist, daß das ja im Mittelalter, diese ganze Hexenbewegung, offensichtlich auch eine pervertierte Emanzipationsbewegung war. Das war eine Frauenbewegung.165

Die Hexen erinnern somit an die zerstörerischen, der Männerwelt gegenüber unversöhnlichen Frauengestalten Müllers, etwa an Medea aus Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten, dessen Mittelteil „Medeamaterial“ Müller bereits 1968 verfasste.166 In ihnen scheint eine Alternative auf. Die „Freude an der Zerstörung des Zerstörerischen“,167 die sie an den Tag legen, erscheint als etwas Positives, als ein Gegenangebot.

5.2.2

Die öffentliche Diskussion über Macbeth

Heiner Müllers Macbeth ist auch ein Kommentar zur marxistischen Diskussion des kulturellen und literarischen Erbes, die 1972 mit Vehemenz einsetzte. Nach Ansicht Müllers ist es notwendig, Kulturprodukte der Vergangenheit nicht einfach „rein“ zu übernehmen, sondern bei deren Betrachtung immer auch den Entstehungskontext miteinzubeziehen. Die in seinen Augen falsche Erbe-Rezeption der DDR betonte Müller 1976 gegenüber den DDR-TheaterwissenschaftlerInnen Gerda Baumbach und Gottfried Fischborn: Und das geht dann doch ein bißchen auf den Punkt, den als einziger eigentlich der Benjamin richtig gesehen hat und der völlig fehlt in dem, was wir so Erbe-Rezeption nennen: daß man da immer auch – jeder Tempel, der da ausgegraben wird, in jedem Tempel sind Blutspuren, alles das ist auf Leichen von Sklaven usw. gebaut und auf, na, das ganze Erbe hat eben ungeheuer viele Leute viel gekostet, und wir tun so, als ob das einfach rein – das Blut ist abgewaschen durch

|| 165 MW 10, 633. Siehe zu Hexenforschung und Frauenbewegung: Claudia Opitz-Belakhal: Frauenund geschlechtergeschichtliche Perspektiven der Hexenforschung, in: Lexikon zur Geschichte der Hexenverfolgung, hg. von Gudrun Gersmann u.a. 2008, online verfügbar unter: http://www.historicum.net/no_cache/persistent/artikel/5654 (zuletzt eingesehen am 17. April 2014). 166 Vgl. Ludwig: Frauenfiguren, S. 70. 167 Tragelehn: Hexen, S. 46.

Das Öffentlich-Werden des Streits: Heiner Müllers Macbeth | 365

die Zeit –, und wir übernehmen das ganze rein. Man kann aber das Blut nicht mehr übersehen, glaube ich, jetzt.168

Die Volksszenen der Macbeth-Bearbeitung können in diesem Sinne als Korrektur gelesen werden, als Beispiel eines anderen Umgangs mit dem Erbe, der ‚jetzt‘ zur Diskussion stehe. Die Auseinandersetzung um Müllers Macbeth beschäftigte sich dementsprechend von Beginn an mit den Fragen, ob es statthaft sei, einen ShakespeareText auf solche Art und Weise zu bearbeiten, welche Tendenz Müllers Bearbeitung erkennen lasse und inwiefern dieser ein kulturpolitischer Mehrwert zukomme. Nachdem die Uraufführung am Theater Brandenburg (11. März 1972) zunächst wenig Aufmerksamkeit erfuhr und die Bearbeitung im Neuen Deutschland von Rainer Kerndl sogar positiv besprochen wurde,169 begann die Diskussion über das Stück wenig später mit der skandalumwitterten Schweizer Erstaufführung in Basel (22. März 1972) und dem Abdruck des Textes in Heft 4 von Theater der Zeit.170 Dabei teilt sich die Diskussion in zwei Etappen – vor und nach der Veröffentlichung von Wolfgang Harichs berühmt gewordener Polemik „Der entlaufene Dingo, das vergessene Floß“, die gewissermaßen den Höhepunkt der Auseinandersetzung markiert. Der erste Teil der Diskussion fand in Theater der Zeit statt. Martin Linzer, Reaktionssekretär des Theaterblattes und seit Ende der 1960er Jahre Angehöriger des Müller-Kreises,171 eröffnete die Debatte mit einem Beitrag, der den aufklärerischen Gestus des Müller’schen Textes und dessen „Katharsis-Wirkung“ betonte. Müller habe Shakespeares Text durch „konsequente Historisierung“ und „Eliminierung politischer (und taktischer) Projektionen aus der Entstehungszeit des Stücks“ eine zusätzliche Dimension abgewonnen, so dass nunmehr „die tatsächliche historische Ebene des Stücks“ sichtbar werde. Damit legte Linzer die Aufmerksamkeit auf das ‚Plus‘

|| 168 MW 10, 697. 169 Vgl. Rainer Kerndl: Das Volk und die Kämpfe der Lords. Heiner Müllers „Macbeth“ nach Shakespeare am Theater Brandenburg uraufgeführt. In: ND, 15. April 1972, S. 4. 170 Siehe zur Inszenierung in Basel: Hauschild, S. 282. Im Juni 1972 wurde Macbeth auch in Th, abgedruckt, wo noch im gleichen Jahr eine Hamlet-Parodie von Karl Hoche erschien, die sich satirisch mit den Theaterentwicklungen nach 1968 beschäftigt und vorgibt, dass jeweils eine Szene von Rolf Hochhuth, Peter Weiss, Friedrich Dürrenmatt, Peter Handke, Heiner Müller, Erich Fried, Martin Walser, Franz Xaver Kroetz, Martin Sperr, Bertolt Brecht, Peter Hacks und Günter Grass bearbeitet worden sei. Vgl. den Nachdruck: Karl Hoche: Hamlet, Prinz von Dänemark. Ein Trauerspiel. Bearbeitet von deutschen Stückeschreibern. Übermittel von Karl Hoche. In: Gerhard Müller-Schwefe (Hg.): Shakespeare im Narrenhaus. Deutschsprachige Shakespeare-Parodien aus zwei Jahrhunderten. Tübingen 1990, S. 395–418. Die Müller zugeschriebene Szene ist eine direkte Parodie von dessen Macbeth-Bearbeitung. Vgl. Hoche, S. 410–412. Die Hacks zugeschriebene Szene spielt auf dessen vielfach dem 19. Jahrhundert entstammende Sprache sowie dessen Antiquitäten betreffende Sammelleidenschaft an. Vgl. Hoche, S. 416f. 171 „[I]ch mußte zunächst durch eine Hacks-Phase, ehe ich mich ganz und gar für Müller entschied.“ Pietzsch, S. 111.

366 | Der Streit im literarischen Feld

Müllers gegenüber Shakespeare, einen „Vergleich Shakespeare-Müller“ lehnte er ab. Zudem warnte er – damit bereits mögliche Reaktionen antizipierend – vor einer Verletzung der „Dialektik von Inhalt und Form“ und einer isolierten Betrachtung einzelner Details.172 Auf Linzers Beitrag folgte im nächsten Heft von Theater der Zeit eine Stellungnahme Anselm Schlössers, die sich schon im Titel durch die Aufnahme des Zitats „Die Welt hat keinen Ausgang als zum Schinder“ (279) als Widerspruch zu erkennen gab. Zwar bat Schlösser, als DDR-Herausgeber der Werke Shakespeares, Mitherausgeber des Shakespeare-Jahrbuchs, Vorstandsmitglied der seit 1964 separat als DDR-Organisation existierenden Deutschen Shakespeare-Gesellschaft in Weimar und Professor für Anglistik einer der profiliertesten sozialistischen Shakespeareianer,173 darum, seine Kritik „nicht als feindselig“ aufzufassen und betonte unter Verweis auf Brecht, dass man Shakespeare durchaus bearbeiten könne. Gleichwohl kritisierte er Müllers Bearbeitungspraxis unmissverständlich: Müllers Text zeichne sich durch „das Fehlen jeden Schimmers von Menschlichkeit bei den Unterdrückten“ aus und vermittle ein Menschenbild, das oben und unten gleich abstoßend wirkt und die Parteinahme für das Volk gegen die Ausbeuter eher hindert als fördert. Zudem verwies Schlösser auf den Zusammenhang zwischen Müllers Bearbeitung und einer Inszenierung von Macbeth durch Peter Gill, die Schlösser im Jahr zuvor beim Stratford-Festival in Kanada gesehen hatte und deren Konzeption er als „anarchistisch und antikommunistisch“ bezeichnete: Man kann ferner nicht ganz umhin, zu vermerken, daß abgeschnittene Brustwarzen und Genitalien, mit welchen letzteren in Müllers ‚Macbeth‘ ein frivoles Spiel getrieben wird, in der neueren amerikanischen Literatur nachgerade zu gängigen Requisiten geworden sind.

Zum Schluss seines Beitrags riet Schlösser Müller noch, doch lieber ein Stück „über die Gräuel des Imperialismus in Vietnam“ zu schreiben und verdeutlichte damit, dass sich Müller mit Shakespeare den falschen Gegenstand für die Art seines Herangehens gesucht habe.174

|| 172 Martin Linzer: Historische Exaktheit und Grausamkeit. Einige Notizen zu Heiner Müllers „Macbeth“ und zur Uraufführung in Brandenburg. In: TdZ 26 (1972), H. 7, S. 22f. 173 Vgl. Günter Walch: Anselm Schlösser zum 75. Geburtstag. In: Shakespeare-Jahrbuch 121 (1985), S. 217. 174 Anselm Schlösser: „Die Welt hat keinen Ausgang als zum Schinder“. Ein Diskussionsbeitrag zu Heiner Müllers „Macbeth“. In: TdZ 26 (1972), H. 8, S. 46f. Auch wenn Schlösser seine Kritik relativ moderat äußerte, war er doch ein scharfer Gegner von Müllers Bearbeitung. Das zeigt sich auch noch in den 1980er Jahren. Als Robert Weimann der Shakespeare-Gesellschaft vorschlug, Heiner Müller zu den Shakespeare-Tagen nach Weimar einzuladen, äußerte Schlösser: „Solange es mich gibt, wird Müller nicht in Weimar sein.“ Robert Weimann im Gespräch mit Silke Meyer. In: Shakespeare-Jahrbuch 136 (2000), S. 149.

Das Öffentlich-Werden des Streits: Heiner Müllers Macbeth | 367

Die Beiträge Linzers und Schlössers markieren die beiden Pole, zwischen denen sich die Macbeth-Debatte bewegte: Sichtbarmachung der Klassengesellschaft und damit marxistische Innovation auf der einen, vordergründige Grausamkeit und Fatalismus im Zuge einer Rezeption westlicher Ästhetik und Zerstörung des Shakespeare’schen Humanismus auf der anderen Seite.175 Im Anschluss an Schlösser erschienen in Heft 9 von Theater der Zeit zwei weitere Beiträge, die Müllers Bearbeitung verteidigten und deren Autoren wie Martin Linzer aus dem engeren Kreis um Heiner Müller kommen. Der Philosoph Wolfgang Heise, seit Ende der 1960er Jahre mit Müller befreundet,176 wies einmal mehr den Vorwurf von „Genuß an Sex oder Gewalt“ zurück und betonte die Berechtigung von Müllers „geschichtsphilosophische[m] Stück“;177 und Friedrich Dieckmann, seit 1972 wie Müller Dramaturg am Berliner Ensemble und später am dem Versuch beteiligt, Macbeth dort zu inszenieren,178 bekräftigte, dass es sehr wohl möglich sei, die ,Gräuel des Imperialismus‘ „in dem sowohl vereinfachenden als verallgemeinernden Bilde einer Shakespeareschen Fabel“ darzustellen.179

5.2.2.1 Wolfgang Harichs Warnung vor dem Kulturverfall Wolfgang Harichs 1973 in Heft 1 von Sinn und Form erschienener Rundumschlag „Der entlaufene Dingo, das vergessene Floß“ stellt in unserem Zusammenhang den wichtigsten Beitrag der Macbeth-Debatte dar. Harichs Polemik, die den seitdem im Kontext der DDR-Kritik immer wieder auf Müller angewandten Begriff des „Geschichtspessimismus“ prägte,180 markiert genau den Punkt, an dem der Streit zwischen Peter Hacks und Heiner Müller als Auseinandersetzung zwischen zwei entgegengesetzten Richtungen der DDR-Literatur öffentlich wahrnehmbar wird; oder, um es mit den Worten von André Müller sen. zu formulieren: Sie „machte erstmals

|| 175 Siehe auch das im April 1973 abgehaltene Rundtischgespräch über Adaptionen und Bearbeitungen Shakespeares zur Eröffnung des Kolloquiums der Shakespeare-Tage, wo Müllers Bearbeitung ebenfalls kontrovers und entlang der skizzierten Pole diskutiert wurde; Armin-Gerd Kuckhoff vertrat hier die Position Schlössers, Robert Weimann die Linzers. Vgl. Das Werk Shakespeares: Interpretation – Adaption – Bearbeitung – Neuschöpfung. Rundtischgespräch mit Anselm Schlösser, Fritz Bennewitz, Rolf Rohmer, Robert Weimann, Armin-Gerd Kuckhoff. Leitung: Johanna Rudolph. In: Shakespeare-Jahrbuch 110 (1974), S. 18ff. 176 Vgl. Rosemarie Heise: Begegnungen mit Heiner Müller. In: Hörnigk (Hg.): Ich wer ist das, S. 10. 177 Wolfgang Heise: Notwendige Fragestellung. In: TdZ 26 (1972), H. 9, S. 45. 178 1975 wollten die Regisseure B. K. Tragelehn und Einar Schleef Macbeth am BE inszenieren, bekamen dafür aber keine Erlaubnis. Auch der Versuch, das Stück in einem Keller des Staatlichen Kunsthandels in kleinem Rahmen zu inszenieren, scheiterte. In diesem Zusammenhang kam es zu Leseproben in Tragelehns Wohnung, an denen auch Dieckmann beteiligt war. Vgl. Teschke, S. 41. 179 Friedrich Dieckmann: Heiner Müller und die Legitimität. In: TdZ 26 (1972), H. 9, S. 46. 180 Wolfgang Harich: Der entlaufene Dingo, das vergessene Floß. Aus Anlaß der „Macbeth“-Bearbeitung von Heiner Müller. In: SuF 25 (1973), H. 1, S. 214.

368 | Der Streit im literarischen Feld

den Riß sichtbar, der sich zwischen der klassischen und der romantischen Richtung aufgetan hatte“.181 Der Philosoph Wolfgang Harich, der während seiner Haft intensiv die klassische Literatur rezipiert und sich nach seiner Haftentlassung mit dem Aufkommen der neuen Linken im Westen auseinandergesetzt hatte,182 war einer an Georg Lukács orientierten Literaturauffassung verpflichtet. Er kann im Rahmen der ästhetischen Auseinandersetzungen der 1970er Jahre zur ‚Partei‘ Hacksʼ gezählt werden. Zwar unterschied er sich in seiner ökosozialistischen Ausrichtung prinzipiell von diesem, in ästhetischer und philosophischer Hinsicht stand er ihm aber nahe.183 Ob Hacks Harich tatsächlich zu seiner Polemik gegen Macbeth angeregt hat, wie Müller behauptet,184 ist daher nebensächlich. Harich, der schon in den 1950er Jahren als blendender Polemiker galt, zeichnet sich wie alle Mitglieder der Lukács-Schule durch eine „Intransigenz gegen jede Ver- oder Aussöhnung mit dem Feind“ aus.185 Und dass Harich in Müller einen solchen erblickte, daran besteht kein Zweifel, berichtet doch Müller in seiner Autobiographie selbst darüber: Ich habe dann […] etwas Unqualifiziertes gegen den Dekadenz-Begriff bei Lukács gesagt: Die Art, wie Lukács mit dem Etikett Dekadenz umginge, fände ich schon ziemlich faschistisch. Da sprang Harich auf, zerdrückte sein Sektglas in der Hand und schrie: ‚Sie, Sie sind ein Idiot. Ich werde nie mehr im Leben ein Wort mit Ihnen reden.‘ Dann lief er mit blutender Hand hinaus. Am nächsten Tag hat er Wolfgang Heise angerufen: ‚Ich werde den Müller jetzt mit zehn Bänden Lukács auf die gute, alte stalinistische Art totschlagen.‘ Und dann hat er diesen Text gegen MACBETH geschrieben.186

|| 181 André Müller sen.: Jakob und die Folgen; „Macbeth“. In: Stefan Dornuf (Hg.): Wolfgang Harich zum Gedächtnis. Eine Gedenkschrift in zwei Bänden. Bd. 1. München 1999, S. 246. 182 Vgl. die Ausführungen zur Bautzener Gefängnisbibliothek, in: Prokop: Ich bin zu früh geboren. Auf den Spuren Wolfgang Harichs. Berlin 1997, S. 150. Siehe zur Auseinandersetzung mit der neuen Linken: Wolfgang Harich: Zur Kritik der revolutionären Ungeduld. Eine Abrechnung mit dem alten und dem neuen Anarchismus. Berlin 1998. 183 So schreibt Harich im „Dingo“-Essay, Hacks liege seinem Geschmack näher als Müller. Vgl. Harich: Der entlaufene Dingo, S. 189. Auch brieflich äußerte sich Harich verschiedentlich anerkennend gegenüber Hacksʼ ästhetischer Position. Vgl. DLA, A: Hacks, Schriftwechsel zwischen Peter Hacks und Wolfgang Harich. Siehe zu Harichs politischer Position: Wolfgang Harich: Kommunismus ohne Wachstum? Babeuf und der ‚Club of Rome‘. Sechs Interviews mit Freimut Duve und Briefe an ihn. Reinbek 1975 sowie Siegfried Prokop: Ich bin zu früh geboren, S. 144ff. 184 Vgl. KoS 111. Ein Nachweis für Müllers Behauptung lässt sich nicht erbringen. Nach der Darstellung von André Müller sen. war es nicht Hacks, der Harich animierte, den „Dingo“-Essay zu verfassen, sondern ein Gespräch zwischen Müller sen. und Harich, aus welchem Harich den Schluss zog, Müller sei „der Hauptfeind“: „Ich werde gegen ihn schreiben.“ GmH 72 u. 349. 185 Reinhard Pitsch: Harich tragikótos oder Einleitung in eine Gedenkschrift. In: Dornuf (Hg.): Wolfgang Harich zum Gedächtnis. Bd. 1, S. 14. Siehe zu Harichs Verhältnis zu Lukács: Prokop: Ich bin zu früh geboren u. Wolfgang Harich: Ahnenpaß. Versuch einer Autobiographie, hg. von Thomas Grimm. Berlin 1999. 186 KoS 207. Siehe auch: GmH 72.

Das Öffentlich-Werden des Streits: Heiner Müllers Macbeth | 369

Unabhängig davon, ob die von Müller erzählte Geschichte im Wortlaut stimmt oder nicht, die Bezeichnung ‚totschlagen‘ trifft durchaus den Duktus von Harichs Text. Ausgehend von Müllers Bearbeitung von Sophokles/Hölderlins Ödipus Tyrann [1967], die seine „erste Enttäuschung“ über Müller dargestellt habe, kommt Harich zu dem Schluss, dass Müllers Macbeth Ausdruck eines „literarischen Parasitentum[s]“ sei, dass sich mittels „Streichungen“ und „literarisch völlig unerheblichen Einschiebsel[n]“ den Namen Shakespeares anmaße,187 was für die Zukunft Schlechtes befürchten lasse: Wird dem Verfall der Sitten nicht Einhalt geboten, so wird nächstens keiner mehr etwas daran auszusetzen finden, daß jeder beliebige Student der Theaterwissenschaft sich jedes beliebige Stück eines Klassikers aus dem Regal angelt, es ein bißchen kürzt und dann seinen Namen darüber setzt.188

In Müllers Bearbeitung erkennt Harich eine Veränderung des Shakespeare’schen Textes, die in formaler und inhaltlicher Hinsicht einer Umkehrung, ja einer Zerstörung gleichkomme. So erscheint ihm Müllers Macbeth „als negativ bis zum äußersten“; Müller habe „durch rigorose Elimination aller zukunftsweisenden, Hoffnung offenhaltenden Momente“ den „aus dem Geist der Renaissance“ entstandenen Macbeth in eine „moderne Reprise Schopenhauerscher Philosophie“ verwandelt.189 In Müllers Fassung sei von dem fortschrittlichen Inhalt der „über die Mächte des Mittelalters triumphierenden absoluten Monarchie“ nichts mehr zu erkennen; alle „pro-absolutistischen Elemente der Fabel“ Shakespeares seien gestrichen und das Stück so zu einer modernen Parabel umfunktioniert, „die uns die Zeitgemäßheit pessimistischer Geschichtsphilosophie suggerieren soll“.190 Daran ändere auch die Hervorhebung der gesellschaftlich Untersten, also der BäuerInnen, nichts, diene deren Integration in den Text doch ausschließlich der Darstellung von Grausamkeiten, die durch die Fabel nicht motiviert seien, und zeichne ein Mittelalterbild, dessen inhärenter Sadismus weniger auf den Feudalismus als auf die Vorstellungswelt des Bearbeiters selbst schließen lasse.191 Neben dem von Martin Linzer explizit bestrittenen „genußvolle[n] Ausbreiten von Grausamkeiten“ nimmt Harich besonders an der „Sex-Einblende“ Müllers Anstoß, die schon Anselm Schlösser beklagt hatte.192 Gemeint ist das Ende der 11. Szene (bei Shakespeare die 2. Szene des 3. Akts), wenn Lady Macbeth gegenüber Macbeth

|| 187 Harich: Der entlaufene Dingo, S. 190, 191, 214 u. 195. 188 Harich: Der entlaufene Dingo, S. 192. 189 Harich: Der entlaufene Dingo, S. 192 u. 214. 190 Harich: Der entlaufene Dingo, S. 216. 191 Vgl. Harich: Der entlaufene Dingo, S. 215f. 192 Linzer: Historische Exaktheit und Grausamkeit, S. 23 u. Harich: Der entlaufene Dingo, S. 197

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ihre Brüste entblößt. (296) Nach der Lesart Harichs verstößt die unterwürfige Handlung der Lady Macbeth nicht nur gegen die Fabel, in deren Rahmen ihr eine treibende Kraft bei der Machteroberung zukommt, sondern ist auch Ausdruck einer Mode, der Müller folge, „der westlichen Pornowelle“ nämlich.193 Dass Müller sich der neuesten ästhetischen Moden des Westens bediene, ist überhaupt der Kernpunkt von Harichs Polemik. Denn es geht ihm nur in zweiter Linie um Macbeth. Im Vordergrund steht eine allgemeine Entwicklung, „üble Zeittendenzen, die in ihm [dem Gegenstand Macbeth, R.W.] sich zusammenballend, weit über ihn hinausgreifen“.194 So erkennt denn Harich in Müllers ‚parasitärer‘ Bearbeitungspraxis auch nicht so sehr die Nachfolge Brechts, sondern sieht ihre „Quelle im Westen“, bei Hans Magnus Enzensberger, Heinar Kipphardt, Peter Weiss, Erika Runge und anderen, kurz: in der seit den 1960er Jahren aufkommenden dokumentarischen Literatur.195 Und die Drastik und Grausamkeit in Müllers Text führt er direkt auf „die Bestialitäten aus ‚A Clockwork Orange‘“ zurück, Stanley Kubricks 1971 erschienenem Film über den Anführer einer brutalen Jugendbande und dessen Schicksal.196 Die spezifische Praxis der Be- und Verarbeitung literarischen Materials ohne Rücksicht auf dessen kulturgeschichtlichen Kontext, die Harich als „Variante kulturvernichtender Auswirkung bürgerlicher Ideologie“ beschreibt, stehe in engem Zusammenhang mit den „Marktmechanismen der kapitalistischen Konsumgesellschaft“; so unterliege auch die Kunst einem gewissen Innovationszwang, was zu einer Atmosphäre führe, „in der das Neue generell überbewertet und folglich die Originalitätssucht der individualistisch-parasitären Intellektuellen in nie dagewesenem Ausmaß stimuliert wird“.197 Zugleich gehe diese Bewegung des „Kulturverlusts und Traditionsabbaus“ mit „linkem Engagement“ einher, das sich mangels anderer gesellschaftlicher Möglichkeiten auf dem Gebiet der Kunst als „Pseudorebellion“ am falschen Gegenstand abarbeite. Auf dieser Grundlage lasse sich die „Motivlage eines modernen Regisseurs“ nachvollziehen, wenn er, von antiquierten Wertbegriffen wie Werktreue ungehemmt, desgleichen ohne Rücksicht auf das Bildungsbedürfnis seines Publikums, darüber nachgrübelt, mit welchen schockierenden Einfällen er seine nächste Klassikerinszenierung anreichern soll, um noch neuer, noch origineller, noch ‚revolutionärer‘ zu wirken als seine Konkurrenten.198

|| 193 Harich: Der entlaufene Dingo, S. 213. 194 Harich: Der entlaufene Dingo, S. 189. 195 Harich: Der entlaufene Dingo, S. 196. Siehe hierzu bei Harich die Seiten 199ff. 196 Harich: Der entlaufene Dingo, S. 217. Vgl. Christian W. Thomsen: A Clockwork Orange. In: Anne Bohnenkamp (Hg.): Literaturverfilmungen. Stuttgart 2005, S. 274–283. 197 Harich: Der entlaufene Dingo, S. 205, 208 u. 206. 198 Harich: Der entlaufene Dingo, S. 208 u. 206.

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Harich konstatiert für diese Entwicklung im westlichen Feld der kulturellen Produktion eine gewisse Folgerichtigkeit, die er neben der allgemeinen Entwicklung des Kapitalismus auf den von ihm hervorgebrachten Menschentypus zurückführt. Unter Verweis auf den US-amerikanischen Soziologen David Riesman und dessen Bestseller Die einsame Masse argumentiert Harich, dass sich das opportunistische Individuum der westlichen Welt von seiner Umwelt leiten lässt,199 was ebenfalls für die westlichen Intellektuellen gelte: Ein ziellos hin und her wogender Massenopportunismus ist die Konsequenz, und bei den Intellektuellen, die meist privilegiert sind […] verselbständigt dieser von seinem materiellen Ausgangsmotiv losgelöste Opportunismus sich zu hemmungsloser Hingabe an jede beliebige, neu auftauchende und bald wieder verschwindende Modeströmung. Um ‚in‘ zu sein und mit dabeizusein, denkt man, wie die anderen denken, schreibt man, wie die anderen schreiben. Andernfalls ist man ein abseitiger, stehengebliebener Idiot. Das schließt keineswegs aus, daß man originell sein möchte, ja, es wird erwartet, daß man es ist.200

Die Folge dieser Entwicklung hin zum außengeleiteten Sozialcharakter sei, so Harich, der Niedergang eines Schriftstellertypus, wie ihn Thomas Mann oder George Bernhard Shaw repräsentierten, und dessen Ablösung durch einen Typus, dem die kulturelle Tradition nur noch Material sei, an dem man einen „betonten Nonkonformismus“201 bezeugen könne, der in Wahrheit nur eine Modeerscheinung sei, auf welche zwangsläufig die nächste folge. Damit aber drohe ein Kulturverfall, der Harich an einen „Rückfall in die Barbarei, in die Steinzeit“ gemahnt.202 Dem außengeleiteten Charakter der westlichen Welt setzt Harich einen innengeleiteten Charakter entgegen, den Riesman als Sozialcharakter des neunzehnten und des frühen zwanzigsten Jahrhunderts beschreibt und der, maßgeblich durch die Familie sozialisiert, über einen „seelischen ,Kreiselkompaß‘“ verfüge, der ihm auch dann noch Orientierung erlaube, wenn er mit seiner Umwelt in Konflikt gerate.203 Harich interpretiert den innengeleiteten Charakter als sozialistischen:

|| 199 Siehe zum außengeleiteten Charakter bei Riesmann: David Riesman u.a.: Die einsame Masse. Eine Untersuchung der Wandlungen des amerikanischen Charakters. Mit einer Einführung in die deutsche Ausgabe von Helmut Schelsky. Reinbek bei Hamburg 1960, S. 137ff. 200 Harich: Der entlaufene Dingo, S. 207f. Harich schließt hier an Überlegungen von Georg Lukács an. Vgl. Georg Lukács: Wozu braucht die Bourgeoisie die Verzweiflung? In: ders.: Schicksalswende. Beiträge zu einer neuen deutschen Ideologie. Berlin 1956, S. 152. 201 Harich: Der entlaufene Dingo, S. 208. 202 Harich: Der entlaufene Dingo, S. 208. Von hierher leitet sich auch die Titelmetapher des Aufsatzes ab: Der Menschheit des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts drohe es ähnlich zu ergehen wie den indigenen Völkern Australiens, die einst mit Flößen übergesetzt seien und sich einen Haushund, einen Dingo, hielten, über die Zeit aber dieses Wissen verlernt hätten: „Das Erbe der Kultur ihrer Vorväter war ihnen abhanden gekommen. Der Dingo war ihnen entlaufen, das Floß hatten sie vergessen.“ Harich: Der entlaufene Dingo, S. 209. 203 Riesman u.a.: Die einsame Masse, S. 32.

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Der Sozialismus hat in der Tat die bleibend wertvollen Züge innengeleiteter Mentalität – die Prinzipienfestigkeit, die unbeirrbare Treue zu langfristigen Aufgaben, den Widerstand gegen Abweichungen vom strategischen Kurs, die Fähigkeit, Augenblicksinteressen hintanzustellen, und somit auch den immer in dieselbe Richtung weisenden inneren Kompaß – mit neuem Inhalt in die Gegenwart herübergerettet. Er vollbrachte diese dialektische Leistung, mit den Mitteln revolutionärer Umwälzung historische Kontinuität zu gewährleisten, dadurch, daß er der Gesellschaft im ganzen ein erstrebenswertes Ziel setzte, das Kommunismus heißt, und die Eigeninteressen der Individuen, sich betätigend in Politik, Wirtschaft, Kultur, in eine vernunftgesteuerte Gesamtentwicklung einmünden ließ […].204

Von dieser Bestimmung ausgehend, konstatiert Harich, dass die „pessimistische Auffassung der Weltgeschichte“,205 die sich in Müllers Macbeth ausdrücke, dem Sozialismus fremd sei, Müllers Stück mithin das sichtbare Zeichen einer auf die DDR übergreifenden Mode sei, die es, und davon gibt der scharfe Ton des Aufsatzes lebhaft Zeugnis, im Interesse der Bewahrung des kulturellen Erbes zu bekämpfen gelte. Schließlich wäre die sich in Müllers Bearbeitung ausdrückende Geschichtsphilosophie nur in einem denkbaren Fall berechtigt, dem nämlich, dass man die Geschichte des Sozialismus seit 1917 in die ‚Vorgeschichte‘ „unterschiedslos“ miteinbeziehe, was Harich kategorisch ausschließt, ließe sich doch „[f]ür systemeigene Übel des Sozialismus als solchen […] kein einziges Beispiel nennen“.206

5.2.2.2 Die Reaktionen auf Harichs Intervention Harichs Polemik versetzte die literarische Öffentlichkeit der DDR in Staunen. Nicht nur, dass hier einer, der als Angehöriger der innersozialistischen Opposition 1957 wegen der Bildung einer staatsfeindlichen Gruppe zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt worden war, von denen er immerhin etwas mehr als acht Jahre absitzen musste, eine kulturpolitische Position vertrat, die in ihrer Unversöhnlichkeit an die 1950er Jahre erinnerte, sorgte für Unverständnis; auch die Begründung, die Harich für die „Schärfe“ seines Beitrags lieferte, missfiel. Denn Harich gestand offen, dass es gerade die Verteidigung Müllers durch die „maßgebenden Kritiker“ Dieckmann, Heise und Linzer sowie die Zensur Schlössers war (der eigentlich schärfer gegen Müller hatte schreiben wollen, aber von der Theater der Zeit-Redaktion „mit der Begründung, man wolle fortan ,nicht mehr so dogmatisch sein‘, veranlaßt worden war, Wasser in seinen kritischen Essig zu gießen“), die ihn zu seinem Angriff auf Müller motiviert hatte. In der „erdrückende[n] Übermacht antikritischer Repliken“, also den Verteidigungen Müllers, erkannte Harich entsprechend die nämliche Tendenz, die er dem Müller’schen Text selbst unterstellte: In dem Moment, wo die Kulturpolitik die Zügel

|| 204 Harich: Der entlaufene Dingo, S. 213. 205 Harich: Der entlaufene Dingo, S. 213. 206 Harich: Der entlaufene Dingo, S. 218.

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locker ließe, setze sich an die Stelle des alten Dogmas ein neues Dogma, ein „antidogmatisches Meinungsmonopol“, das den begrüßenswerten und „vernünftigen Entwicklungen“ der Kulturpolitik sogleich neuen Schaden zufüge.207 Die Antworten des von Harich beschworenen antidogmatischen Meinungsmonopols sind mehr als deutlich; und sie veranschaulichen in ihrer durchgehend ablehnenden Haltung einmal mehr den sich zu Beginn der 1970er Jahre vollziehenden diskursiven Wandel im Feld der kulturellen Produktion, der im vorigen Kapitel bereits anhand der anderen, im weitesten Sinne um das Problem des kulturellen Erbes kreisenden Debatten dargestellt worden ist.208 Friedrich Dieckmanns in Heft 3 des Jahrgangs 1973 von Sinn und Form erschienene „Antwort an Wolfgang Harich“, die Harich „Oberflächlichkeit“ und „Zynismus“ unterstellt, immerhin aber zugesteht, „einen Gutteil“ von Harichs Sorgen zu verstehen, ist noch die freundlichste Wortmeldung.209 Wesentlich direkter ist da schon die Replik des Volksbühnen-Schauspielers Jürgen Holtz. Das von Harich gezeichnete „Schreckensbild von Sittenverfall und Verrohung“ bezeichnet Holtz als „kulturelle[ ] Dolchstoßlegende“; Harich sei ein „Hygienedilettant“, der die ihm missliebigen Erscheinungen der Gesellschaft „hinter den Schrank stopfen [möchte], bis es zum Himmel stinkt“, um schließlich „die Nase zum Tode [zu] verurteilen“; seine Position sei hoffnungslos veraltet und sein Shakespeare-Verständnis gehe „nicht weiter als das Friedrichs II. von Preußen“. Jenseits solcher Gegenpolemik trifft Holtz gleichwohl ziemlich genau den Punkt, der den Unterschied zwischen der Position Harichs (und Hacksʼ) und dem Großteil der VerteidigerInnen von Müllers Macbeth markiert: Brecht ist ebenfalls ein Erbe, das uns verpflichtet. Der Rezensent aber zieht gegen die zu Felde, die sich dessen erinnern. Das Brechtsche Erbe des politischen Theaters, sein Verhältnis zum Zuschauer unterschlägt W. H. Es anzueignen ist eine Schlüsselfrage unserer jetzigen Theatersituation.210

Es ist gerade die Frage nach der koproduktiven Leistung des Publikums, nach dessen Vermögen, sich den Macbeth selbst zu aktualisieren, damit gleichsam nach der Offenheit des literarischen Textes überhaupt, die Holtz stellt und die für Müllers Theater- und Kunstverständnis von zentraler Bedeutung ist. Das setzt auch voraus, dass

|| 207 Harich: Der entlaufene Dingo, S. 192f. Die Nähe zu Hacksʼ Argumentation ist offensichtlich. 208 Vgl. die tabellarische Aufstellung bei: Püllmann: Von Brecht zu Braun, S. 257. 209 Friedrich Dieckmann: Antwort an Wolfgang Harich. In: SuF 25 (1973), H. 1, S. 684 u. 687. Dass Dieckmanns Verständnis nicht sehr weit ging, zeigt freilich dessen zweite Äußerung in der Debatte, die ganz auf die Verteidigung Müllers zielt und die gelungene Aktualisierung des Macbeth lobt. Vgl. Friedrich Dieckmann: Lesarten zu „Macbeth“. In: SuF 25 (1973), H. 3, S. 676–680. 210 Jürgen Holtz: Der Dingo und die Flasche. In: SuF 25 (1973), H. 4, S. 829, 845, 832 u. 831.

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Texte anders und, je nach den sich verändernden Bedingungen, neu gelesen werden können, schließlich habe die Kunst „ein respektloses Verhältnis zum Erbe“.211 Für Holtz stellt Harichs Position die „Haltung einer ‚schweigenden Minderheit‘“ dar; sie formuliere die Meinung derjenigen, die eine realitätsferne Kunst und eine Rückkehr zum alten Dogmatismus wollten. Die Zeit, in der solche Positionen sich durchsetzen konnten, aber sei vorbei, davon zeuge nicht zuletzt der Wandel der Kulturpolitik. In diesem Sinne stehe Harichs Kunstverständnis denn auch nicht nur gegen die „übergroße Mehrheit der Bevölkerung“, sondern richte sich zudem „gegen den Auftrag des VIII. Parteitages zur Entfaltung der sozialistischen Demokratie“.212 Jürgen Holtzʼ im Ton bisweilen ähnlich ätzende Polemik wie die von Harich steht am Ende der in Sinn und Form geführten Diskussion über Macbeth, die eindeutig zugunsten Müllers endete. Unterstützung erfuhr Harich von keiner Seite, schließlich hatte er mit seinem Rundumschlag nicht nur die AnhängerInnen Müllers vor den Kopf gestoßen. Aus dem Westen meldete sich der Mitherausgeber der DKP-nahen Zeitschrift Kürbiskern, Oskar Neumann, der Harichs Angriffe auf die Dokumentarliteratur und einzelne BRD-AutorInnen zurückwies.213 Und selbst Helmut Holtzhauer, der als ehemaliger Vorsitzender der Staatlichen Kommission für Kunstangelegenheiten und Generaldirektor der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar zu den bekanntesten kulturpolitischen Dogmatikern gezählt werden kann – Ernst Busch bezeichnete ihn in den 1950er Jahren ironisch als „Holzhacker“214 – griff Harich an, freilich nicht wegen dessen Müller-Kritik, sondern weil er sich zu Recht in jenem „Verfechter des Dogmas“ wiedererkannte, vor dem Harich Linzer und Co. gewarnt hatte.215 Zuspruch erfuhr Harich einzig und allein von Günter Zehm im Feuilleton der Tageszeitung Die Welt. Zehm, wie Harich Ende der 1950er Jahre in der DDR wegen seiner Stalinismuskritik inhaftiert, 1961 in die BRD geflohen und seitdem einer der profiliertesten rechtskonservativen Kulturkritiker, begrüßte Harichs Beitrag als „höchst erfrischend“ und erkannte in Harich einen potentiellen Bündnispartner im Kampf gegen

|| 211 Holtz, S. 831. 212 Holtz, S. 847. 213 Vgl. Oskar Neumann: Contra Wolfgang Harich. In: SuF 26 (1974), H. 2, S. 418–424. Ähnlich reagierte auch Hartmut Lange, der Harich unterstellte, die „Sprache des Staatsanwalts“ zu sprechen. Hartmut Lange: Wolfgang Harichs Angst vor einem Kunstzerfall in der DDR. Seine Attacke gegen den Dramatiker Heiner Müller und was sie bedeutet. In: FAZ, 6. Juli 1973, S. 32. Siehe hierzu auch den erweiterten „Dingo“-Essay, der auf Langes Kritik antwortet, in: Literaturmagazin (1973), H. 1, S. 88– 122; hier: S. 121f. 214 Ernst Busch, zit. n.: Jochen Voit: Er rührte an den Schlaf der Welt. Ernst Busch. Die Biographie. Berlin 2010, S. 253. 215 Harich: Der entlaufene Dingo, S. 193. Vgl. Helmut Holtzhauer: Ohne Glacéhandschuhe. In: SuF 25 (1973), H. 1, S. 687–688.

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die Neue Linke, welche „das geistige Leben in Westdeutschland an den Rand des Erlöschens gebracht“, „die Universitäten verwüstet“ und „die Theater leergespielt“ habe.216 Zehm war freilich der falsche Bündnispartner. Seine Zustimmung signalisiert indes das Problem der Position Harichs bzw. Hacksʼ: Der Widerstand gegen das Aufkommen eines freien Umgangs mit dem kulturellen Erbe, wie er sich im Zuge der 1970er Jahre entwickelte, fand in der BRD vor allem Beifall von rechts. Das ließ sich, wie Peter Hacks im November 1975 in einem Gespräch der Arbeitsgruppe Dramatik der Akademie der Künste äußerte, nicht verhindern.217 Für die Diskursfähigkeit der ‚klassischen‘ Position stellte das, wie die weitere Auseinandersetzung zeigen wird, ein großes Problem dar, identifizierte man die Position Hacksʼ doch umstandslos als konservativ.

5.2.3

Hacksʼ Kritik an Macbeth

Am 18. Dezember 1972, einen Monat bevor Wolfgang Harichs Angriff auf Müllers Bearbeitung in Sinn und Form erschien, traf sich in den Räumen der Akademie der Künste zum ersten Mal die Arbeitsgruppe Dramatik. Peter Hacks, seit Ende September 1972 Mitglied der Akademie, hatte diese initiiert, um mit anderen DramatikerInnen, AutorInnen und WissenschaftlerInnen aktuelle Texte zu diskutieren und über zentrale ästhetische Fragen Einverständnis zu erzielen.218 Im Lauf der Zeit diskutierte die bis 1977 bestehende Arbeitsgruppe zahlreiche DDR-Stücke und Inszenierungen. Am Anfang aber stand ein Gespräch über die Dramentheorie Hegels, zu dem auch Heiner Müller, zu diesem Zeitpunkt noch nicht Mitglied der Akademie, erschienen war und währenddessen man auch auf dessen Macbeth zu sprechen kam.219 Ausgehend von der Bemerkung, dass auch an Hacksʼ Die Sorgen und die Macht die „satirischen Züge“ übersehen worden seien, drückte Müller sein Unverständnis

|| 216 Günter Zehm: Föhnwitterung aufgenommen? Zu einem Aufsatz von Wolfgang Harich in der Ostberliner Zeitschrift „Sinn und Form“. In: Die Welt, 13. März 1973. 217 „Und das zur Frage des falschen Anhangs. Es tut mir leid, wenn man über Kunst vernünftig redet, kriegt man auch manchmal Beifall von den Nazis.“ BD 1, 376. 218 Siehe zur Arbeitsgruppe Dramatik: BD 1 u. 2 sowie Jens Mehrle: Arbeit der Poesie. Nachwort. In: BD 5, 10ff. Jens Mehrle, dem an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich und herzlich für Ratschläge und Diskussionsbereitschaft gedankt sei, arbeitetet zurzeit an einer Promotion über Peter Hacksʼ Tätigkeit im Rahmen der Arbeitsgruppen. Auf die Arbeitsgruppe Dramatik folgte 1978 die Arbeitsgruppe Ästhetik, die bis 1979 tagte. Vgl. BD 3. Schließlich initiierte Hacks 1988 eine weitere Arbeitsgruppe unter dem Titel „Technik des Dramas“, die 1990 mit dem Ende der DDR ihre Arbeit einstellte. Vgl. BD 4. Siehe zur Wahl Hacksʼ in die Akademie: Berger: Fünf „meiner Götter“ bei der Arbeit, S. 274f. 219 Weitere Beteiligte des Gesprächs waren Helmut Baierl, Rainer Kerndl, Wolfgang Kohlhaase, Günther Rücker und Anna Elisabeth Wiede.

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über die Rezeption seines Stücks aus, dabei offenbar auf Schlössers im August 1972 erschienenen Beitrag anspielend: Ich finde da sehr viel komisch und habe […] auch sehr viel komisch gemeint. […] Das wird aber überhaupt nicht bemerkt, dieser ganze Aspekt der Geschichte. Man kann sicher darüber streiten, wieweit das etabliert ist oder sonst etwas. Aber dadurch, daß das nie bemerkt wird, gerät man dann auf eine Ebene, wo man staunt, daß die Leute erschrecken. Ich wundere mich immer, daß die Leute erschrecken und daß sie plötzlich von Geschichtspessimismus reden. Ich weiß gar nicht, was das ist. Ich weiß es wirklich nicht.220

Nachdem Müllers Bemerkung im Gespräch zunächst übergangen wurde und man sich anderen Fragen wie der Gültigkeit der deutschen Misere zuwandte, der Müller erwartungsgemäß zustimmte und die Hacks, wie zu erwarten, verneinte, kam Hacks als Leiter der Runde auf den Punkt, „[o]b ‚Macbeth‘ komisch oder nicht komisch gemeint ist“, zurück, um Müller schließlich frontal anzugreifen. So unterstellte er ihm eingedenk der Grausamkeits-Szenen der Bearbeitung und in Übereinstimmung mit Wolfgang Harich nicht nur, dass er ein „Sadist vom Dienst“ sei, negierte also Müllers Bemerkung, Macbeth sei auch komisch gemeint, sondern kritisierte auch, dass Müller die Fabel Shakespeares zerstört habe.221 Bei Shakespeare zeichne sich Macbeth durch den Widerspruch aus, König werden zu wollen, aber „kein wirklich großer“, sondern stattdessen ein „neurotischer Charakter“ zu sein. Dieser Widerspruch, die Unfähigkeit Macbeths „zum Entstehen der absoluten Monarchie bei[zu]tragen“, bewege die Fabel. Bei Müller aber sei davon nichts mehr zu erkennen: Da du in diesem Stoff die Notwendigkeit großer Charaktere für das englische Königtum und unter Umständen für die Menschheit bestritten hast, da du bestritten hast, daß es nötig ist, bestimmte große Taten zu tun, hast du aus dem Stück den Widerspruch herausgestrichen, der es kunstfähig macht. / Deshalb sind deine Wirkungen, die übrigbleibenden Wirkungen – seien sie tragisch oder komisch oder gräßlich –, bloß psychologische Wirkungen […].222

Was Hacks mit der Bemerkung der mangelnden Größe von Macbeth und dessen Unfähigkeit zu absolutistischer Politik meint, geht aus dem Gespräch selbst nicht hervor. Der Zusammenhang erhellt sich, wenn man sich vor Augen hält, wie Hacks den englischen Absolutismus versteht (nämlich als über den Klassen Adel und Bürgertum

|| 220 BD 1, 23. 221 BD 1, 31. Tatsächlich betrachtete Hacks das Argument des Komischen als Ausrede, wie aus einem anderen Gespräch der Arbeitsgruppe hervorgeht: „Ich kenne diese Leute, die uns sadomasochistische Greuel vorführen. Ich kenne Leute, die uns die Sinnlosigkeit der Welt demonstrieren. Und wenn man ihnen auf die Schliche gekommen ist und wenn man sie Punkt für Punkt gezwungen hat, zuzugeben, daß das, was sie geschrieben haben, auch drinsteht, dann plötzlich sagen sie: Ja, haben Sie gar keinen Humor? Dann plötzlich sagen sie: Wissen Sie, das ist doch alles wahnsinnig lustig.“ BD 2, 52. 222 BD 1, 31f.

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stehende Macht, die deren gegensätzliche Interessen reguliert),223 und man sich fragt, wie er vor diesem Hintergrund die Macbeth-Fabel liest. Da von Hacks selbst keine schriftliche Analyse von Macbeth existiert, sei an dieser Stelle auf eine zu Beginn der 1990er Jahre entstandene Arbeit von André Müller sen. verwiesen, die von derselben Grundthese, der Unfähigkeit Macbeths, ausgeht.224 Müller sen. liest Shakespeares 1606 entstandenes Stück ähnlich wie der Großteil der Shakespeare-Forschung als historische Tragödie, der eine Betrachtung der politischen Verhältnisse unter dem Nachfolger Elisabeths I. zugrunde liegt und in deren Mittelpunkt der Königsmord steht. Im Gegensatz zur Shakespeare-Forschung geht Müller allerdings davon aus, dass Shakespeare Macbeth nicht zu Ehren von Jakob I. schrieb, der England seit 1603 regierte, sondern dass das Stück eine kritische Analyse von dessen Regierungspolitik darstelle. So erkennt er Jakob I. auch nicht hinter der Figur des guten Königs Duncan, sondern hinter Macbeth, dessen Mord an Duncan als poetisches Bild für die Zerstörung des von Elisabeth I. begründeten Absolutismus stehe. Jakob I. wollte, schreibt Müller sen., die absolutistische Politik seiner Vorgängerin fortsetzen, und wenn seine eigens dazu übernommenen Berater warnten, er weiche von ihr ab oder bringe sie gar in ernste Gefahr – mit der Adelsbevorzugung zu Beginn seiner Herrschaft, seinem Umgang mit dem Parlament, dem Wiederzulassen des katholischen Kultus –, versuchte er oft erschreckt zu ihr zurückzukehren. Die Vorstellung, er bringe mit seiner Politik die seiner Vorgänger um, war ihm entsetzlich, er wollte das auf keinen Fall. Aber wenn er handelte, versuchte er immer nur seine Träumereien von einer schief verstandenen Selbstherrschaft, auf der Basis königlicher Willkür, in die Tat umzusetzen, die er in den Jahren seines schottischen Elends in sich ausgebildet hatte. Damit brachte er aber zwangsläufig den vorgefundenen englischen Absolutismus der Tudors um; die ersten zwei Jahre seiner Herrschaft bewiesen das bereits. Genau das bedeutet die Tat, die Macbeth nicht begehen will und doch begeht.225

Nach Müller sen. zeichnet Shakespeare mit Macbeth ein „große[s] politische[s] Gemälde“, das die Auseinandersetzungen zwischen den Klassen des Bürgertums und des Adels um die englische Königsmacht zeigt.226 In diesem steht Lady Macbeth, die Macbeth in seinen Bestrebungen unterstützt, für den Adel und Macduff, Lenox, Rosse und die anderen Thane für das englische Bürgertum, dessen „Doppelcharakter“

|| 223 Siehe hierzu die Ausführungen in Kap. 4.5.6. 224 Vgl. Müller sen.: Jakob und die Folgen, S. 282ff. Da Hacks seine Einschätzung des Absolutismus gemeinsam mit Müller sen. entwickelte und dessen materialistische Lesart Shakespeares grundsätzlich begrüßte (vgl. HW 13, 117ff.), kann davon ausgegangen werden, dass Müllers Analyse im Wesentlichen Hacksʼ Verständnis des Macbeth entspricht; das legt auch ein später Brief Hacksʼ nahe. Vgl. Peter Hacks an André Müller sen., 1. November 2002, DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit André Müller sen. 225 Müller sen.: Jakob und die Folgen, S. 292f. 226 Müller sen.: Jakob und die Folgen, S. 311.

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Shakespeare in der Figur Macduffs darstelle.227 Mit dem Mord an Banquo, der „den Beraterkreis, den Jakob von Elisabeth übernahm“, repräsentiert,228 und dem Mord an der Familie von Macduff schwingt Macbeth sich zum Tyrannen auf und überlässt sich vollends seinen eigenen Vorstellungen, was nicht nur seinen eigenen Untergang, sondern auch den des Königtums zur Folge hat. So stehe am Ende des Stücks mit dem neuen König Malcom auch nicht die Wiederkehr des Absolutismus, sondern eine Verschiebung des Klassengleichgewichts hin zum Bürgertum, „eine[ ] Art konstitutionelle Monarchie, in der die Bourgeoisie die wahre Macht besitzt“.229 Mit André Müller sen. gelesen, versteht Hacks Macbeth also als ein Drama des Niedergangs, das die „Ersetzung der Staatskunst durch Tyrannei“230 veranschauliche und dem englischen Absolutismus eine schlechte Zukunft bzw. dessen Abschaffung durch das Bürgertum voraussage, was historisch dann mit dem Ausbruch des englischen Bürgerkriegs unter der Regentschaft von Jakobs Nachfolger Karl I. eintrat. Unabhängig davon, wie stichhaltig diese Lesart von Shakespeares Drama ist, erscheint Müllers Bearbeitung vor diesem Hintergrund als grundlegende Veränderung, ja als Zerstörung der ursprünglichen Aussage. Denn von der Klassenkonfiguration Shakespeares bleibt bei Müller ebenso wenig übrig wie von dem Problem der politischen Nachfolge absolutistischer Systeme, das Hacks so brennend interessierte. In gewisser Weise markiert zwar auch Müllers Macbeth einen Kommentar zur Nachfolgefrage, der aber fällt vollkommen anders aus als bei Hacks. Bei Müller bleibt sich alle Herrschaft gleich, eine aus gesellschaftlichen Widersprüchen hervorgegangene Differenz zwischen verschiedenen königlichen Herrschaftsformen existiert nicht, eine Entwicklung findet nicht statt, denn für die Unteren ist die Nachfolge Malcoms bedeutungslos: „Sie leben unterhalb der Geschichte. Geschichte wird nur auf ihrem Rücken gemacht. Es spielt für sie keine Rolle, ob der Duncan heißt oder Macbeth oder Malcom [...].“231 An diesem Punkt liegt denn auch der politisch-philosophische Dissens zwischen Hacks und Müller, denn Ersterer erkannte in einer solchen Position, die bereits weiter oben in die Nähe von Brechts Gedicht „Fragen eines lesenden Arbeiters“ gerückt worden ist, eine „linkssektiererisch[e]“, „arbeiterdemokratische Abweichung“, eine Fehlwahrnehmung, die die „Doppelnatur der Ausbeuter“ (einerseits Ausbeutung, andererseits Organisation der Produktion) ausblende.232 Dass er Müllers Bearbeitung ablehne, hatte Hacks im Rahmen des Akademiegesprächs zu Hegel mehr als deutlich gemacht. Zwei Jahre später, die Debatte über

|| 227 Müller sen.: Jakob und die Folgen, S. 304. Siehe dort zu Lady Macbeth: S. 297 u. 324f. und zu Macduff und den anderen Thans: S. 302ff. 228 Müller sen.: Jakob und die Folgen, S. 311. 229 Müller sen.: Jakob und die Folgen, S. 321. 230 Müller sen.: Jakob und die Folgen, S. 319. 231 MW 10, 639. 232 BD 1, 62.

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Müllers Text war da schon seit einem Jahr beendet, bekundete Hacks seine Meinung zu Macbeth schließlich in aller Öffentlichkeit. In dem 1974 erschienenen Band Lieder, Briefe, Gedichte finden sich unter dem Titel „Beiseites“ zwölf distichische Epigramme, die als Aktualisierung der Goethe’schen und Schiller’schen Xenien aufgefasst werden können.233 Der Titel verweist auf das theatrale Beiseite-Sprechen, also auf eine Information, die lediglich für das Publikum von Relevanz ist. Eine der Xenien, die Hacks nun dem Publikum zu Gehör bringt, trägt den Titel „Auf ‚Macbeth‘ von Heiner Müller“: Heiner le diable: kein Zweifel, ihn zeugte der westliche Satan. Aber die Mutter ja auch brauchts, die verklemmte, dazu.234

Hacksʼ Epigramm formuliert gewissermaßen die Quintessenz der Harich’schen Polemik und verschärft diese noch.235 Müller erscheint hier als Teufel, der im Kielwasser der westlichen Mode operiert, dessen literarische Praxis sich aber erst, wie der Pentameter ausführt, durch ihre genealogische Abkunft erklären lässt, denn mit der ,verklemmten Mutter‘ ist niemand anderes gemeint als Bertolt Brecht, in dem Hacks in den 1970er Jahren schon nicht mehr den durch die Verhältnisse verhinderten Klassiker, sondern den „Erfinder des bedenkenlosen Bearbeitens“ erkannte.236 Für Hacks ist Müller „ein wirklicher Brecht-Schüler“, der sich ganz wie der Lehrer an den klassischen Texten Shakespeares ,vergeht‘ und diese zeittypisch aktualisiert: Wie unendlich dauerhaft sind die ‚Antigone‘, der ‚Don Juan‘, der ‚Coriolan‘. Wie kurzlebig […] sind sie gewesen, als der Brecht sie auf den Brecht gebracht hatte. […] Wahrhaftig, sofern Brecht mit seinem ‚Coriolan‘ etwas bewiesen hat, dann eines: die Unersetzlichkeit des Shakespeare.237

|| 233 Vgl. Peter Hacks: Lieder, Briefe, Gedichte. Berlin 1974, S. 97f. Hacks erweiterte die Sammlung später (vgl. Peter Hacks: Die Gedichte. Berlin/Weimar 1988, S. 195ff. u. HW 1, 245ff.), allerdings ohne den Abdruck des Müller-Epigramms. Frieder von Ammon, der sich mit der Rezeption der Xenien beschäftigt hat, erkennt allgemein in der DDR-Literatur eine „Renaissance der Gattung“. Frieder von Ammon: Ungastliche Gaben. die „Xenien“ Goethes und Schillers und ihre literarische Rezeption von 1796 bis in die Gegenwart. Tübingen 2005, S. 286; so schrieben neben Peter Hacks auch Johannes Bobrowski, Heiner Müller, Volker Braun, B. K. Tragelehn, Rainer Kirsch und Peter Gosse Xenien. Vgl. Ammon, S. 288ff. 234 Hacks: Lieder, Briefe, Gedichte, S. 97. 235 Dass Hacks Harichs Ansichten teilte, gab er 1975 in einem Gespräch der Arbeitsgruppe Dramatik zu Protokoll. Vgl. BD 1, 389. Bereits 1966 hatte Hacks sich gegen die Darstellung des Sexuellen auf dem Theater ausgesprochen, sofern „die Beschreibung sexueller Handlungen […] mit der Beschreibung brutaler, ordinärer oder sonst tadelhafter Handlungen“ einhergehe. Peter Hacks: Gehirn und Gemächt. In: Th 7 (1966), H. 4, S. 3. 236 BD 1, 377. 237 BD 2, 57.

380 | Der Streit im literarischen Feld

Darf man Klassiker verändern? – Hacksʼ Essay „Über das Revidieren von Klassikern“ Das Epigramm „Auf ‚Macbeth‘ von Heiner Müller“ markiert den öffentlichen und endgültigen Bruch zwischen Peter Hacks und Heiner Müller.238 Auf die literarische folgte im Sommer 1975 im Jahrbuch von Theater heute mit „Über das Revidieren von Klassikern“ die ästhetisch-essayistische Verurteilung von Müllers Bearbeitung.239 Der Essay, der bemängelt, dass das „Herumschreiben in ehrwürdigen Texten“ wieder als so selbstverständlich gelte wie im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert,240 ist sowohl ein Angriff auf Müller als auch eine Selbstverständigung über die eigene Bearbeitungspraxis. Dass der Text auf Müller zielt, wird offenbar, wenn Hacks erklärt, dass er zu Wolfgang Harichs im „Dingo“-Essay geäußerten Absichten „mit ein paar Festlegungen und Unterscheidungen“ beitragen wolle, und vorschlägt, den von Harich benutzten Terminus des Umarbeitens durch den Ausdruck „Zum-Krüppel-Schlagen“ zu ersetzen.241 In den modernen Bearbeitungen erkennt Hacks ganz wie Harich „Forderung[en] der Mode“, ein Vorgehen, das von vorgefassten Meinungen und einer übermäßigen Subjektivität zeuge, nicht aber von einem den Gehalt des bearbeiteten Kunstwerks antizipierenden Verständnis.242 Dementsprechend bezeichnet Hacks Müllers Shakespeare-Bearbeitung als „Vampirismus“; wie Herostrat den Tempel der Artemis habe dieser mit seiner „‚Macbeth‘-Schändung“ Shakespeares Stück aus Ruhmsucht zerstört, um „den Namen Müller zum Begriff zu machen“.243 Schon 1962 hatte Hacks anlässlich von Fritz Kortners Sendung der Lysistrata bemerkt, „Klassiker sind heilig. Man darf sie nur verändern, wenn man sie verbessert“,244 und damit seiner Überzeugung Ausdruck verliehen, dass der literarische Text als Kunstwerk und nicht lediglich als Material wahrgenommen werden müsse. In „Über das Revidieren von Klassikern“ legt Hacks dar, unter welchen Umständen ein Eingriff in einen literarischen bzw. dramatischen Text erfolgen dürfe. Hacks nennt drei Voraussetzungen, die er, die literarische Bearbeitung mit der Tätigkeit des Chirurgen vergleichend, als Indikationen bezeichnet: 5.2.3.1

(1.) die pragmatische Indikation; hierunter versteht Hacks die Einrichtung eines Textes für die Belange der Bühne, also Kürzungen, die aufgrund von äußeren Umständen wie einem zu kleinen Ensemble und ähnlichem unvermeidbar sind.

|| 238 „Seitdem ist da eine Feindschaft“, schreibt Müller in seiner Autobiographie. KoS 111. 239 Der Text sollte eigentlich in SuF erscheinen, wurde aber abgelehnt. Vgl. BD 1, 375. 240 HW 13, 169. 241 HW 13, 170. 242 HW 13, 170. 243 HW 13, 172. 244 HW 13, 55.

Das Öffentlich-Werden des Streits: Heiner Müllers Macbeth | 381

(2.) die ethnisch-soziologische Indikation; sie gilt für Textstellen, die ein zeitgenössisches Verständnis erschweren: „Sie betrifft Kunstwerke, die aus fremden – ausländischen oder vergangenen – Kulturen stammen“, meint aber auch Ansichten und Urteile, die als überholt gelten dürfen, beispielsweise den „naive[n] Antisemitismus“, der sich im Spiel im Spiel in Goethes Jahrmarktsfest zu Plundersweilern [1773/78] äußert.245 (3.) die medizinische Indikation, die Hacks „die in Wahrheit befugte“ nennt;246 gemeint sind Fragmente, also Texte, die aufgrund von äußeren Umständen oder wegen konzeptioneller Schwierigkeiten unvollständig geblieben sind. Im Anschluss an die drei genannten Voraussetzungen formuliert Hacks einen aus fünf Punkten bestehenden „kleine[n] Katechismus“ des Bearbeitens, der den Gegenstand auf Texte mit einer gewissen philosophischen Qualität sowie diejenigen Stücke, die „in irgendeiner Hinsicht“ fragmentarisch geblieben sind, einschränkt und den Bearbeiter verpflichtet, sich im Horizont des bearbeiteten Textes zu bewegen – „Die beste Bearbeitung ist das Begreifen.“ –, was voraussetzt, dass der Beweggrund des Bearbeitens „nicht Kritik am Stück, sondern das Stück“ ist. Als einen letzten Punkt erklärt Hacks eine gewisse Ranggleichheit zwischen Bearbeiter und Bearbeitetem und folgert daraus: „Shakespeare, folglich, darf niemals ...“247

Die Bearbeitung von König Heinrich IV. 5.2.3.2 Erzeugt der letzte Satz zunächst den Eindruck, dass auch hiermit Müllers MacbethBearbeitung sowie die Bearbeitung Shakespeares überhaupt gemeint seien, so verweist die durch Auslassungspunkte gekennzeichnete Ellipse doch auf anderes, nämlich auf Hacksʼ eigene Bearbeitung von Shakespeares König Heinrich IV. Teil I und II, und damit die Frage, unter welchen Umständen Shakespeare bearbeitet werden dürfe. König Heinrich IV. stammt aus dem Jahr 1964, entstand also weit vor der Auseinandersetzung um Macbeth. Die Bearbeitung geht zurück auf eine Verabredung mit Wolfgang Langhoff, der zu dieser Zeit schon nicht mehr Intendant des Deutschen Theaters war, dort aber weiterhin inszenieren konnte und ein Interesse daran hatte, Hacks weitere Arbeiten an diesem Theater zu ermöglichen.248 Die Vorgeschichte der || 245 HW 13, 175 u. BD 1, 371. 246 HW 13, 176. 247 HW 13, 180f. 248 Vgl. Hans-Rainer John an Peter Hacks, 3. Dezember 1963, DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit dem Deutschen Theater. Die Inszenierung kam aufgrund der einsetzenden Krebserkrankung Langhoffs dann nicht mehr zustande. Vgl. Slevogt, S. 460. Die Bearbeitung wurde erst am 9. Oktober 1970 am Berliner Schiller-Theater uraufgeführt. Vgl. Gunther Nickel: Nachwort. In: Peter Hacks: Shakespeares König Heinrich der Vierte, S. 150f.

382 | Der Streit im literarischen Feld

Bearbeitung erstreckt sich allerdings bis in das Jahr 1959, als Langhoff Hacks um ein Gutachten zu Shakespeares Trilogie Heinrich VI. bat.249 Interessant ist die Differenz zwischen 1959 und 1964, liegt doch in der Zwischenzeit die Abkehr Hacksʼ von Brecht und die Hinwendung zur sozialistischen Klassik, die über Shakespeare vermittelt ist. Hatte sich der frühe Hacks zunächst kaum mit Shakespeare beschäftigt – von 1957 ist einzig die im Kontext der Brecht-Rezeption zu verortende Äußerung, die „realistische Tradition des deutschen Theaterstücks“ gehe auf Shakespeare zurück, überliefert –,250 so setzte die Auseinandersetzung 1959 mit dem Gutachten zu Heinrich VI. ein. Aus dieser Zeit stammt auch eine zum 200. Geburtstag Schillers in den Stuttgarter Nachrichten erschienene Wortmeldung, in der Hacks die Qualität Shakespeares gegenüber Schiller betont: Was bei Shakespeare Welthändel sind, sind bei Schiller Intrigen. Wo bei Shakespeare gesellschaftliche Mächte kämpfen, kämpft bei Schiller die Tugend mit der Notwendigkeit. Wenn bei Shakespeare Politiker agieren, tönen bei Schiller Sprachröhren des Zeitgeistes. Shakespeares Sprache ist das außerordentlichste Kunstmittel, das je geschaffen wurde, witzig und mutig, nervig und elegant, strahlend und wahr und zuhauend und treffend. Da wird das Unendliche gebändigt, die Welt formuliert.251

Verweist bereits die Geringschätzung Schillers auf Brechts oben zitierte Ausführungen aus dem Vorwort zu dessen Macbeth-Rundfunkbearbeitung,252 so zeigt auch das von Hacks vorgelegte Gutachten den Einfluss Brechts. In diesem heißt es, an Brechts Bearbeitung des Coriolan erinnernd, dass es für eine mögliche Aufführung der Heinrich VI.-Trilogie notwendig sei, „Shakespeares Klassenstandpunkt auf unseren“ umzuschalten, schätzte Hacks Shakespeares politische Position zu dieser Zeit doch noch als „falsch“ ein, da dieser „ganz auf dem feudalen Standpunkt“ stehe. Auch befürwortete Hacks eine „zeitgemäße Bezüglichkeit“.253 1964 hatte Hacks seine Meinung in dieser Hinsicht geändert und erkannte in Shakespeare den Dichter des Absolutismus,254 als den er ihn auch in der Auseinandersetzung zu Macbeth lobte. Dementsprechend ging Hacks bei der Bearbeitung von Heinrich IV., bei der er sich im Wesentlichen an der Übersetzung August Wilhelm Schlegels orientierte, äußerst behutsam vor. Er straffte die Handlung, strich einzelne Figuren, sah aber von einer entlarvenden Politisierung und somit „radikalen Umtexturierung[ ]“ des Dramas ab, wie sie

|| 249 Vgl. Nickel: Nachwort, S. 144f. 250 Hacks: Das Theater der Gegenwart, S. 128. 251 Peter Hacks: „Redst du von einem, der da lebet?“. In: Stuttgarter Nachrichten, 7. November 1959, Schiller-Beilage anlässlich des 200. Geburtstags Friedrich Schillers, S. 34. 252 Vgl. GBA 10.1, 549. 253 Peter Hacks: Über die Aufführbarkeit von Shakespeares Heinrich VI., zit. n.: Mamama 710f. u. 714. 254 Vgl. GmH 14. Der Übergang findet mit dem Essay „Versuch über das Theaterstück von morgen“ [1960] statt. Vgl. HW 13, 29f.

Das Öffentlich-Werden des Streits: Heiner Müllers Macbeth | 383

Peter Palitzsch und Jörg Wehmeier 1970 vorgenommen hatten.255 Hacks griff nicht in die Fabel ein, sondern verstärkte nur deren absolutistische Tendenz, so dass die Durchsetzung des Fortschritts von Oben zur „[t]ragende[n] Idee“ der Bearbeitung wird, wie Christoph Trilse schreibt.256 Auch hinsichtlich der Sprache verfuhr Hacks nicht aktualisierend, obgleich er die Übersetzung Schlegels teilweise deutlich veränderte; während er moderne Begriffe wie „Solidarität“ einfügte, behielt er zugleich zahlreiche veraltete Wendungen bei und fügte sogar neue hinzu.257 Insgesamt ergibt sich so das Bild einer vorsichtigen Bearbeitung, die keineswegs darauf zielt, ein neues Stück zu schaffen, sondern Shakespeares Text auf die Bühne zu verhelfen, gehört es doch zur Inszenierungstradition, das zweiteilige Stück für einen Abend zu bearbeiten.258 Dementsprechend lautet der Titel des 1964 als Bühnenmanuskript vervielfältigten Textes denn auch nicht ‚Peter Hacks: Heinrich IV.‘, sondern Shakespeares König Heinrich der Vierte. Für einen Abend bearbeitet und teilweise neu übersetzt. Nach dem deutschen Text von August Wilhelm Schlegel. Man kann daher sagen, Hacks orientierte sich bereits 1964 an den ein Jahrzehnt später von ihm aufgestellten Bearbeitungsprämissen, indem er im Wesentlichen der pragmatischen Indikation folgte.259

5.2.4

„Der Eskapismus-Vorwurf ist Unsinn“: Müllers Reaktion

Mit dem Essay „Über das Revidieren von Klassikern“ sprach Hacks sich also nicht für ein generelles Bearbeitungsverbot Shakespeares aus, sondern griff die seiner Ansicht

|| 255 Günther Erken: Die deutschen Übersetzungen. In: Schabert (Hg.): Shakespeare-Handbuch, S. 840. Siehe zu dieser Bearbeitung: Horst Zander: Shakespeare „bearbeitet“. Eine Untersuchung am Beispiel der Historien-Inszenierungen 1945–1975 in der Bundesrepublik Deutschland. Tübingen 1983, S. 178ff. 256 Trilse: Das Werk des Peter Hacks, S. 179. Siehe auch die gegenteilige, im Widerspruch zu eigenen Aussagen von Hacks stehende (vgl. Nickel: Nachwort, S. 149), Einschätzung von Horst Zander, der in der Bearbeitung, den Shakespeare-Analysen Jan Kotts entsprechend (vgl. Jan Kott: Shakespeare heute. München 1980), eine Konzentration auf „die Morbidität der illustrierten Gesellschaft“ erkennt und meint, Hacks führe „ein korruptes, durch Widersprüche zerrissenes System und den Untergang einiger seiner prominentesten Repräsentanten“ vor. Zander 1983, S. 173. Siehe zu den Streichungen das von Gunther Nickel erstellte Bearbeitungsschema: Hacks: Shakespeares König Heinrich der Vierte, S. 140. 257 Vgl. Zander, S. 170f. u. Trilse: Das Werk des Peter Hacks, S. 177. 258 Vgl. Nickel: Nachwort, S. 146f. 259 Warum Dennis Püllmann zu dem Schluss kommt, für Hacksʼ Heinrich IV. träfen ähnliche Kritikpunkte zu, wie sie Harich gegenüber Müllers Macbeth formulierte, ist daher nicht nachvollziehbar. Vgl. Püllmann: Von Brecht zu Braun, S. 258.

384 | Der Streit im literarischen Feld

nach schädliche, aktualisierende Bearbeitungspraxis an, die sich mit dem Regietheater ab Mitte der 1960er Jahre etablierte.260 Dass dieser Angriff auch auf Heiner Müller zielte, ist offensichtlich. In einem im Mai 1974 in der Wochenzeitung Die Zeit erschienenen Interview verteidigte sich Müller. Bereits 1972 hatte er in einem Gespräch mit DDR-SchülerInnen auf ein allgemeines Rezeptions-Missverständnis aufmerksam gemacht, das schon Brecht in Hinblick auf die Neue Sachlichkeit beanstandet hatte, die Verwechslung der „Darstellungen einer bösen Welt“ mit den Werken angeblich „böser Menschen“.261 Im Zeit-Interview betonte Müller nun den „materialistisch[en]“ Charakter seiner Bearbeitung und argumentierte, dass die Darstellung von Katastrophen auch „etwas Mobilisierendes“ habe; schon die Gestaltung des Textes, die Schönheit der Form, sei schließlich „ein Schritt aus dem Depressiven heraus“.262 Auf Wolfgang Harichs Vorwurf des Geschichtspessimismus angesprochen, antwortete Müller dann überraschenderweise, als hätte der Zeit-Redakteur direkt nach Hacks gefragt; nicht er, sondern Hacks verzeichne die Realität: „Der Eskapismus-Vorwurf ist Unsinn. Hacks: der schließt sich immer weiter von der Realität aus – baut sich sein privates Weimar auf und erklärt das dann für allgemeinverbindlich.“263 1975, sicherlich nicht ohne Hacksʼ weitere Invektive in dem Essay „Über das Revidieren von Klassikern“ zur Kenntnis genommen zu haben, bringt Müller Hacksʼ Position dann auf den politischen Begriff: Hacks sei „Monarchist“, heißt es im Gespräch mit dem Dramaturgen Horst Laube, das im gleichen Jahresheft von Theater heute erschien wie auch Hacksʼ Bearbeitungs-Essay. Bezüglich der Poetik der sozialistischen Klassik befragt, antwortete Müller: Die Theorie ist sicher schwachsinnig, eine besonders vornehme Art von Eskapismus. […] Für den Hacks war und ist doch das Problem, daß er eigentlich nicht von dieser Welt ist. Die DDR war für ihn immer ein Märchen – er hat sie als eine Märchenwelt erlebt und beschrieben. Das Unglück ist, daß seine Theorien, weil sie so witzig und pointiert formuliert sind, immer nur eine halbe Wahrheit enthalten. Wenn es stimmen würde, könnte es nicht so witzig sein. Das ist das, was die Wirkung ausmacht, weil es sich dadurch so leicht zitieren läßt. So ist das hier zu einem Kompendium geworden für die Lektüre von DDR-Dramatik, was sehr bedauerlich ist.264

Dass Hacksʼ Texte einer kritischen gesellschaftspolitischen Dimension entbehrten und in ihrem Klassizismus zur Zementierung der die Entfaltung des Sozialismus lähmenden Tendenzen beitrügen, hatte Müller bereits in den späten 1960er Jahren geäußert. Nun vertrat er diese Position öffentlich und lieferte mit dem Vorwurf des Eskapismus ein Schlagwort, das für die westdeutsche Rezeption von Hacks ab Mitte der || 260 Siehe für das Zitat in der Überschrift: MW 10, 41. 261 GBA 22.1, 468. Vgl. MW 10, 610. 262 MW 10, 41f. Ähnlich in Bezug auf die Form von Macbeth argumentierte Müller auch im Gespräch mit Gerda Baumbach und Gottfried Fischborn. Vgl. MW 10, 698. 263 MW 10, 41. 264 MW 10, 63 u. 64f.

Das Öffentlich-Werden des Streits: Heiner Müllers Macbeth | 385

1970er Jahre maßgebend wurde. Noch im gleichen Jahr schrieb der Theaterkritiker Heinz Klunker in einer Studie über das Gegenwartstheater der DDR, Hacks habe sich „in einen Elfenbeinturm der Utopie und Poesie“ zurückgezogen und mit der SED arrangiert.265

5.2.5

Hacks und Müller: Eine Feldschlacht

Damit ist der Bruch zwischen Hacks und Müller vollzogen. Die wesentlichen Zuschreibungen stehen fest: eine aus dem Geist des (westlichen) Nihilismus geborene Verzerrung der Geschichte, die zu einer Suspendierung des Fortschrittsbegriffs führt, auf der einen und eine über den Widersprüchen thronende, die Realität beschönigende und von „homerische[r] Blindheit“ zeugende „Pose des Klassikers“ auf der anderen Seite.266 Jetzt kann der Graben, der fortan die DDR-Literatur spalten wird, vermessen, können die Positionen sortiert und gewertet werden. Einer der ersten, der ein Resümee der Diskussion über Müllers Macbeth wagt, ist Volker Braun, der jüngste der DDR-Brecht-Schüler. Unter dem Motto „Literatur und Geschichtsbewußtsein“ erläuterte Braun bereits auf dem VII. DDR-Schriftstellerkongress im November 1973 in erstaunlicher Offenheit seine Sicht auf die „theorievernebelte[ ] Feldschlacht“ ums Erbe, die mit dem Vorstoß Harichs ihren ersten „Kriegsbericht[ ]“ zu verzeichnen habe.267 Braun macht zwei Tendenzen aus, die sich miteinander in „erbittert[em]“ Kampf befänden: Die erste Tendenz, welche die Sichtweisen des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts restauriert sehen wolle, einem sozialistisch verbrämten bürgerlichen Humanismus anhänge und die Aufgaben der Literatur „bruchlos aus weimarer Verhältnissen“ interpretiere, halte die „Arbeiten der Gesellschaft für erledigt“; die zweite Tendenz, welche der Auffassung sei, dass sich Kontinuität hinsichtlich des literarischen Erbes nur durch Aufhebung herstellen lasse, und die einen neuen Realismus, einen „neuen Helden, eine neue Art Fabel und Dramaturgie“ intendiere, halte – Braun sagt es nicht explizit, aber so muss man aufgrund der Gegenüberstellung wohl folgern – die Arbeiten der Gesellschaft nicht für erledigt, sie sei dem „Experiment“ verpflichtet, behaupte „den Widerspruch und die Dialektik“ und sei deshalb „unbequem“.268

|| 265 Heinz Klunker: Zeitstücke und Zeitgenossen. Gegenwartstheater in der DDR. München 1975, S. 55. Ähnlich hatte sich zuvor schon Wolfgang Schivelbusch geäußert. Vgl. Schivelbusch, S. 83 u. 209. Siehe auch: Urs Allemann: Die poetischen Rückzugsgefechte des Peter Hacks. Vom „Tassow“ zu „Prexaspes“. In: Th 17 (1976), H. 5, S. 33–39. 266 MW 8, 176. 267 Volker Braun: Literatur und Geschichtsbewußtsein. Thesen für eine Arbeitsgruppe auf dem VII. Schriftstellerkongress der DDR. In: ders.: Texte in zeitlicher Folge. Bd. 4. Halle/Leipzig 1990, S. 311. 268 Braun: Literatur und Geschichtsbewußtsein, S. 312f.

386 | Der Streit im literarischen Feld

Für die Eingeweihten lassen sich Brauns Tendenzen leicht entschlüsseln; es sind die Positionen Hacksʼ und Müllers, die hier zur Rede stehen.269 Wem Braun den Vorzug gibt, ist ebenfalls offensichtlich, auch wenn er am Ende seiner Rede dazu aufruft, „über unserem Getümmel […] nicht die Schlacht gegen die Konterrevolution“270 zu vergessen: Braun argumentiert entschieden für den Ansatz Müllers. Mit ihm ist er der Ansicht, dass die künstlerische Wiedergabe der „wirklichen Verhältnisse“ nicht mehr mittels einer „klassizistischen Dramaturgie“, sondern nur durch eine neuartige ästhetische Praxis geleistet werden könne, die mit „alte[n] Verabredungen“, sprich: mit der bisherigen Dramenästhetik, breche.271 Brauns Resümee der Macbeth-Diskussion schreibt den Unterschied der Dramaturgien Hacksʼ und Müllers auf die Differenz von Bewahrung und Veränderung fest: Hacksʼ ästhetische Position erscheint als veraltet und den DDR-Verhältnissen inadäquat, während Müller mit seinen Bekenntnissen zum Experiment das Neue repräsentiere. Mitte der 1970er Jahre hat sich die seit den 1950er Jahren geführte Auseinandersetzung um die Nachfolge der Brecht’schen Dramatik in einen Streit zwischen den beiden aus ihr hervorgegangenen Richtungen der DDR-Dramatik transformiert. So direkt und beredt wie 1974/75 wird der Streit zwischen Hacks und Müller in den kommenden Jahren aber nicht mehr ausgetragen. Im Juli 1975 war beim jährlich vom Theaterverband veranstalteten Erich-Engel-Seminar eine Art Showdown erwartet worden, das Gespräch aber blieb aus, wie Gottfried Fischborn erinnert: Auf dem Erich-Engel-Seminar 1975 [...] saß ich im total überfüllten Saal des Berliner Künstlerclubs ‚Möwe‘ und hatte ein Dreiergespräch zwischen Peter Hacks, Heiner Müller und Volker Braun zu moderieren. Ein Alptraum noch in der Erinnerung. So etwas von Sprachlosigkeit, Insich-Hineinschweigen dreier Dichter habe ich nie wieder erlebt.272

Im Dezember des gleichen Jahres legte Hacks mit einem Anhang zu seiner „Ekbal“Erzählung, in der er die Umstände um das Verbot der Umsiedlerin geschildert hatte, zwar noch einmal nach; in diesem heißt es über den Müller der 1970er Jahre: „Der Mullah […] hat seinen Unterhalt als Haupt einer Derwischbande frommer und verrückter Räuber; seine – immer noch zarte – Seele zerstreut sich beim Pfählen, Bauchaufschlitzen und Abziehen der Haut von lebendigen Menschen“.273 Im Zentrum von Hacksʼ Aufmerksamkeit stand zu diesem Zeitpunkt aber schon nicht mehr Müller allein, sondern die Romantik, als deren Vertreter er Müller fortan auffasste.

|| 269 Die Hinweise sind eindeutig. So heißt es bezüglich der ersten Tendenz: „[D]ie Bewußtesten unter ihnen erklären sich selber als Bürger einer postrevolutionären [meine Hervorhebung, R.W.] Gesellschaft“. Braun: Literatur und Geschichtsbewußtsein, S. 312. 270 Braun: Literatur und Geschichtsbewußtsein, S. 314. 271 Braun: Literatur und Geschichtsbewußtsein, S. 312f. 272 Fischborn: Peter Hacks und Heiner Müller, S. 12. 273 HW 9, 76.

Kanon-Revision: Was ist die Romantik? | 387

5.3

Kanon-Revision: Was ist die Romantik?

Die Öffnung des literarischen Kanons, die in den vorherigen Kapiteln am Beispiel der Diskussion über die moderne Lyrik, den Stellenwert der Klassik und die Frage der modernen Shakespeare-Rezeption behandelt wurde, lässt sich für den Zeitraum der 1970er Jahre auch für die Romantik feststellen. Wie auch der Klassik kam der Romantik im offiziellen kulturpolitischen Erbe-Konzept eine besondere Stellung zu, die auf die unmittelbare Nachkriegszeit zurückgeht, als die Romantik zunächst als eine der ideellen Mitverursacherinnen des Faschismus galt. Im Folgenden wird in einem ersten Schritt die Stellung der Romantik im literarischen Kanon der DDR in den 1950er und 1960er Jahren und die zentrale Rolle Georg Lukácsʼ bei der Ausarbeitung einer dichotomen Einteilung in eine als positiv besetzte Klassik und eine negativ verstandene Romantik nachvollzogen. In einem zweiten Schritt wird der Wandel des Romantikbildes in den 1970er Jahren sowohl im wissenschaftlichen als auch im literarischen Feld aufgezeigt. Zum Schluss wird Peter Hacksʼ aktualisierende Auffassung der Romantik im Anschluss an Lukács beschrieben.

5.3.1

Die offizielle Erbe-Auffassung und die Romantik

Im sozialistischen Lager, insbesondere der DDR, kam dem Konzept des (kulturellen) Erbes eine besondere Bedeutung zu. War der Sozialismus nach Marx/Engels und Lenin nicht als absoluter Bruch mit seinen Vorgängergesellschaften zu verstehen, sondern als deren Aufhebung,274 so war damit auch die Frage aufgeworfen, in welcher Traditionslinie sich der Sozialismus verorten sollte bzw. welche Traditionen es wert waren, aufgehoben und angeeignet zu werden. Die Unterscheidung verschiedener Traditionen impliziert bereits ein bestimmtes Verständnis des Begriffs, das auf eine Selektion verweist. Tradition erscheint nicht mehr, wie noch bei Herder, als eine Kette der Überlieferung, an die der Mensch in einem Zusammenhang von Ursache und Wirkung gebunden ist, sondern als Ergebnis einer bewussten Tradierung, ein Erbe, das angetreten oder ausgeschlagen werden kann.275 In diesem Kontext einer aktiven Aneignung des Erbes sah sich der Sozialismus als Nachlassverwalter der griechischen Antike, des Humanismus, der Aufklärung und der Klassik. Die Weimarer Klassik, vor allem aber ihr Zentralvertreter Goethe, der || 274 Vgl. MEW 3, 43 u. Lenin 31, 308. Siehe hierzu: Manfred Naumann: Zum Begriff des Erbes in der Kulturtheorie Lenins. In: Reinhard Weisbach u. Werner Mittenzwei (Hg.): Revolution und Literatur. Zum Verhältnis von Erbe, Revolution und Literatur. Leipzig 1971, S. 377–409. 275 „Dies Erben ist zugleich Empfangen und Antreten der Erbschaft.“ Hegel 18, 21f. Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch die Dominanz des Erbe-Begriffs gegenüber dem der Tradition. Siehe zu Herders Kettenmetapher: Vanessa Albus: Weltbild und Metapher. Untersuchungen zur Philosophie im 18. Jahrhundert. Würzburg 2001, S. 384ff.

388 | Der Streit im literarischen Feld

Repräsentant „aller progressiven Klassen“, stand denn auch in den 1950er und 1960er Jahren im Mittelpunkt des Erbe-Diskurses, während die Romantik als reaktionär galt.276 Noch 1966 hieß es in der in großer Auflage erschienenen Deutschen Literaturgeschichte in einem Band, die erstmals „ein wissenschaftlich begründetes Bild des historischen Werdens unserer Nationalliteratur von ihren Ursprüngen bis auf unsere Tage“ geben sollte: Während die fortschrittliche bürgerliche Literatur mit Goethe und Schiller in Weimar noch ihrer klassischen Höhe zustrebte, bildete sich in Jena der Ausgangspunkt einer Gegenströmung, die bald in allen Bereichen der Ideologie und Kunst große Teile der jungen Generation erfaßte und eine Zeitlang in ihre rückwärtsgerichteten Bahnen zog: die Romantik. Sie stellt in der Literatur der bürgerlichen Emanzipationsbewegung in Deutschland die erste Krisenerscheinung dar. […] Die Romantik wirkte nicht nur der Klassik entgegen, sondern bedeutete im Kern die Zurücknahme der gesamten Aufklärungsbewegung, ja selbst der Renaissance und der Reformation.277

Neben der Beschreibung der Romantik als gegenaufklärerisch kommen weitere Elemente hinzu, die zum mehr oder weniger festen Bestandteil des Romantik-Diskurses bis weit in die 1960er und teilweise die 1970er Jahre gehören: Formzerstörung, Irrationalismus, Obskurantismus, Mystizismus, übersteigerte Innerlichkeit, Weltabgewandtheit, Subjektivismus, Apologetik, Anti-Demokratismus und Chauvinismus. Solche Zuschreibungen finden sich in den meisten literaturgeschichtlichen Veröffentlichungen der frühen DDR und dienen nicht zuletzt dazu, die potentiellen Auswirkungen einer aktualisierten Romantik aufzuzeigen. In dem ebenfalls repräsentativen und 1965 in großer Auflage erschienenen Band Deutsche Literatur im Überblick ist dementsprechend zu lesen: [Die Romantik] hat Chauvinismus und ideologische Reaktion unterstützt und kann heute noch zur Rechtfertigung dekadenter Kunst herhalten. Die Neigung vieler Deutscher, vor der Notwendigkeit politischen Handelns in eine tiefsinnige Innerlichkeit zu flüchten, hat sie in unheilvoller Weise gefördert.278

|| 276 Hans Jürgen Geerdts: Literatur in unserer Zeit. Rudolstadt 1961, S.10. Gerne zitiert wird in diesem Zusammenhang der frühe Marx, bei dem es über das Aufkommen des Kapitalismus heißt: „Die sentimentalen Tränen, welche die Romantik hierüber weint, teilen wir nicht.“ MEW 40, 505. Siehe zum Klassikdiskurs: Jürgen Scharfschwerdt: Die Klassik-Ideologie in der Kultur-, Wissenschafts- und Literaturpolitik. In: Hans-Jürgen Schmitt (Hg.): Einführung in Theorie, Geschichte und Funktion der DDR-Literatur. Stuttgart 1975, S. 109–163; Lothar Ehrlich u. Gunther Mai (Hg.): Weimarer Klassik in der Ära Ulbricht. Köln/Weimar/Wien 2000 u. Saadhoff, S. 311ff. Siehe zum Romantik-Diskurs: Günter Hartung: Zum Bild der deutschen Romantik in der Literaturwissenschaft der DDR. In: WB 22, H. 11, S. 167–176; Hans-Georg Werner: Zur Problematik des Romantikverständnisses in der DDR. In: WB 36 (1990), H. 1, S. 20–51 u. Saadhoff, S. 343ff. 277 Geerdts (Hg.): Deutsche Literaturgeschichte in einem Band, S. 279. 278 Hans-Georg Werner u.a. (Hg.): Deutsche Literatur im Überblick. Leipzig 1965, S. 108.

Kanon-Revision: Was ist die Romantik? | 389

Das offizielle Verständnis der Romantik sah sich in der Tradition der Romantikkritik Goethes, Heines und Mehrings; mitunter stellte auch Hegel, durch ein Verdikt Stalins bis in die späten 1950er Jahre verpönt,279 einen positiven Bezug dar, insbesondere bei Georg Lukács, der das negative Romantikverständnis der frühen DDR entscheidend geprägt hat. Unter Bezugnahme auf diese Autoritäten wurde der Romantik – womit zumeist die Früh- und Hochromantik gemeint war, bei Franz Mehring aber bereits eine mehr allgemeine romantische Schule, deren neoromantische Kennzeichen sich auch im Naturalismus zeigten280 – eine übersteigerte Subjektivität, eine Negation der Wirklichkeit, eine Faszination für das Dunkle und Hässliche und eine in Bezug auf die Aufklärung und die Französische Revolution politisch reaktionäre Positionierung unterstellt, kurz: eine „deutsche Tollheit“, die sich angesichts des unaufhaltsamen Fortschritts in die Welt des Mittelalters zurückgezogen habe.281 Von Goethes Maxime „Klassisch ist das Gesunde, romantisch das Kranke“282 ausgehend, erschien die Romantik als das Andere der Klassik, weshalb Helmut Holtzhauer, bis 1971 Leiter der NFG, zeitweise vorgeschlagen hatte, den Begriff der Romantik durch den der „Antiklassik“ zu ersetzen.283

5.3.1.1 Romantik und Antifaschismus Wie das obige Zitat aus der Deutschen Literatur im Überblick mit dem Verweis auf die ,Neigung vieler Deutscher, vor der Notwendigkeit politischen Handelns in eine tiefsinnige Innerlichkeit zu flüchten‘ bereits andeutet, erkannte man in der Romantik

|| 279 Hegel galt in der Sowjetunion als Vertreter der „preußische[n] Reaktion“, seine Philosophie sei „ebenso wie die ganze übrige deutsche Philosophie um 1800 eine aristokratische Reaktion auf die Französische Revolution und den französischen Materialismus“ und sei dementsprechend „vom Faschismus im Kampf gegen Kommunismus und Wissenschaft genutzt“ worden. Große Sowjet-Enzyklopädie. Berlin 1955, S. 11f. (Reihe Geschichte und Philosophie. Bd. 43). Siehe zur Auseinandersetzung um Hegel in der frühen DDR: Camilla Warnke: „Das Problem Hegel ist längst gelöst.“ Eine Debatte in der DDR-Philosophie der fünfziger Jahre. In: Volker Gerhardt u. Hans-Christoph Rauh (Hg.): Anfänge der DDR-Philosophie. Ansprüche, Ohnmacht, Scheitern. Berlin 2001, S. 194–221. 280 Vgl. Franz Mehring: Ästhetische Streifzüge u. ders.: Naturalismus und Neuromantik. In: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 11, S. 221ff. u. 227ff. Siehe auch Mehrings Darstellung der Romantik in: Deutsche Geschichte vom Ausgang des Mittelalters. In: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 5, S. 106f. 281 Heinrich Heine: Die romantische Schule. In: ders.: Werke und Briefe in zehn Bänden. Bd. 5, S. 31. Siehe zur Kritik der Romantik durch Heine und Hegel: Karl Heinz Bohrer: Die Kritik der Romantik. Der Verdacht der Philosophie gegen die literarische Moderne. Frankfurt/M. 1989, S. 97ff. sowie speziell zu Hegel: Otto Pöggeler: Hegels Kritik der Romantik. München 1999. Siehe zu Goethes Verhältnis zur Romantik: Hartmut Fröschle: Goethes Verhältnis zur Romantik. Würzburg 2002, hier S. 12–159 auch ein umfassender Forschungsbericht. Siehe zu Mehring: Josef Schleifstein: Franz Mehring. Sein marxistisches Schaffen (1891–1919). Berlin 1959, S. 147f. 282 Goethe 12, 487. 283 Vgl. Hartung: Zum Bild der deutschen Romantik in der Literaturwissenschaft der DDR, S. 172.

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aber nicht lediglich eine der Klassik entgegengesetzte Literaturströmung, sondern auch einen ideen- und mentalitätsgeschichtlichen Hintergrund, der das Aufkommen des Faschismus erleichtert habe, in gewisser Weise eine Bestätigung der Forschungen der nationalsozialistischen Germanistik unter umgekehrten Vorzeichen.284 So heißt es in einer von Hans Kaufmann verfassten Einleitung zu Heines Romantischer Schule aus dem Jahr 1955: Befangen in solchen [romantischen, R.W.] Anschauungen, wurden Generationen deutscher Intellektueller zu Verteidigern und Mitläufern einer militaristischen Gewaltpolitik schlimmster Art oder standen ihr zumindest wehrlos gegenüber. Die radikale, die Sache an der Wurzel fassende Kritik der deutschen Romantik ist darum ein wichtiger Abschnitt in der kritischen Sondierung unseres Erbes.285

Eine solche Vorortung der Romantik als Strömung des Irrationalismus gehörte in der unmittelbaren Nachkriegszeit, als „ein grob antithetisches Verfahren […] dem Bedürfnis der ersten Stunden“ entsprach, durchaus zum Common Sense unter zahlreichen Intellektuellen nicht allein marxistischer Provenienz.286 Denn nicht nur Alexander Abusch, kommunistischer Kulturpolitiker und später in der DDR Minister für Kultur, urteilte in seinem 1945 zunächst in Mexiko erschienenen Bestseller Der Irrweg einer Nation: „Es ändert nichts, dass der ein oder andere Romantiker persönlich fortschrittlich dachte und handelte – die Romantik diente der Reaktion und wurde durch diese gefördert.“287 Auch Autoren wie der Romanist Victor Klemperer und der Germanist Fritz Strich, beide in den Jahren der Weimarer Republik konservative jüdische Deutsche, erkannten einen engen Zusammenhang zwischen Romantik und Nationalsozialismus. In Klemperers Lingua Tertii Imperii [1947] ist zu lesen:

|| 284 Siehe zur Rezeption der Romantik in der Literaturwissenschaft und der allgemeinen Öffentlichkeit des Nationalsozialismus: Ralf Klausnitzer: Blaue Blume unterm Hakenkreuz. Die Rezeption der deutschen literarischen Romantik im Dritten Reich. Paderborn u.a. 1999 u. Karl Robert Mandelkow: Vom Kaiserreich zur neuen Bundesrepublik. Romantikrezeption im Spiegel der Wandlungen von Staat und Gesellschaft in Deutschland. In: Hartwig Schultz (Hg.): „Die echte Politik muß Erfinderin sein“. Beiträge eines Wiepersdorfer Kolloquiums zu Bettina von Arnim. Berlin 1999, S. 288ff. 285 Hans Kaufmann: Einleitung. In: Heinrich Heine: Die romantische Schule, hg. vom Ministerium für Kultur. Dresden 1955, S. 31f. 286 Werner Krauss: Französische Frühaufklärung und deutsche Romantik. In: Klaus Peter (Hg.): Romantikforschung seit 1945. Königstein/Ts. 1980, S. 178. Vgl. Ursula Heukenkamp: Diskurse über den Irrationalismus in der SBZ/DDR zwischen 1945 und 1960. In: Howard Gaskill (Hg.): Neue Ansichten. The Reception of Romanticism in the Literature of the GDR. Amsterdam 1990, insb. S. 100 den Verweis auf die erste Ausgabe der Zeitschrift Sonntag, die unter der Überschrift „Verstand und Gefühl“ erschien und dazu aufrief, das „Grundübel“ des Irrationalismus zu eliminieren. 287 Abusch: Der Irrweg einer Nation, S. 149. Siehe zu Abuschs Buch: Helmut Peitsch: Nachkriegsliteratur 1945–1989. Göttingen 2009, S. 84ff. Siehe auch die bereits 1938 formulierte Ablehnung der Romantik durch Alfred Kurella: Alfred Kurella: Deutsche Romantik. In: Heide Hess u. Peter Liebers (Hg.): Arbeiten mit der Romantik heute. Berlin 1978, S. 141–146.

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Ich hatte und habe das ganz bestimmte Wissen um die engste Verbundenheit zwischen Nazismus und deutscher Romantik in mir; ich glaube, er hätte zwangsläufig aus ihr erwachsen müssen [...]. Denn alles, was den Nazismus ausmacht, ist ja in der Romantik keimhaft enthalten: die Entthronung der Vernunft, die Animalisierung des Menschen, die Verherrlichung des Machtgedankens, des Raubtiers, der blonden Bestie... [...] Die furchtbare Anklage besteht zu Recht, trotz aller von der Romantik geschaffenen Werte.288

Und im Vorwort der vierten Auflage seiner 1922 erstmals erschienenen Studie Deutsche Klassik und Romantik oder Vollendung und Unendlichkeit schreibt Fritz Strich 1949, damit seine vormalige Position revidierend: Wenn es damals [in den 1920er Jahren, R.W.] eine Aufgabe war, das eigene Recht der Romantik gegenüber der Klassik ins Licht zu stellen, so gestehe ich heute, daß mich die Entwicklung der Geschichte dazu geführt hat, in der deutschen Romantik eine der großen Gefahren zu erkennen, die dann wirklich zu dem über die Welt hereingebrochenen Unheil führten.289

In der Romantik – die hier freilich schon weiter gefasst ist und als eine über die Wende zwischen dem achtzehnten und dem neunzehnten Jahrhundert hinausgreifende ‚politische Romantik‘ im Sinne einer romantischen Geisteshaltung verstanden wird290 – die „Abdankung der europäischen Vernunft“291 zu erkennen, markiert also nach 1945 keinen explizit sozialistischen Standpunkt. Nach dem Ende des Nationalsozialismus gab es vielmehr einen relativ breiten Diskurs, der im Sinne einer negativen Teleologie nach den spezifisch (ideen-)geschichtlichen Ursachen des Faschismus suchte und diese u.a. in der Romantik bzw. der deutschen Nationalstaatsbildung unter romantischen Vorzeichen fand.292

Die Rolle Georg Lukácsʼ als marxistischer „Praeceptor Germaniae“ 5.3.1.2 Dass die Romantik in vielen literaturwissenschaftlichen DDR-Publikationen, denen gleichsam der Charakter mehr oder weniger offizieller politischer Äußerungen zukam,293 auch in den 1960er Jahren noch als Gesamterscheinung der ,Reaktion‘ galt,

|| 288 Victor Klemperer: LTI. Notizbuch eines Philologen. Leipzig 1998, S. 182. 289 Fritz Strich: Deutsche Klassik und Romantik oder Vollendung und Unendlichkeit. Ein Vergleich. Bern 1949, S. 9. 290 Der Begriff der politischen Romantik geht auf Carl Schmitts gleichnamigen Essay aus dem Jahr 1919 zurück. Vgl. Carl Schmitt: Politische Romantik. Berlin 1998. Siehe hierzu: Bohrer: Die Kritik der Romantik, S. 284ff. Siehe zum Begriff der politischen Romantik unabhängig von Schmitt: Markus Schwering: Politische Romantik. In: Helmut Schanze (Hg.): Romantik-Handbuch. Stuttgart 2003, S. 479–509. 291 Strich, S. 12. 292 Vgl. Rüdiger Safranski: Romantik. Eine deutsche Affäre. Frankfurt/M. 2009, S. 348ff. 293 Siehe zur Verknüpfung von wissenschaftlichem und politischen Feld in der DDR der 1950er Jahre: Hubert Laitko: Wissenschaftspolitik und Wissenschaftsverständnis in der DDR – Facetten der

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geht wesentlich auf den prägenden Einfluss des ungarischen Literaturtheoretikers und Philosophen Georg Lukács zurück.294 Lukács hatte sich in den 1930er Jahren federführend an den innerkommunistischen Exil-Auseinandersetzungen um eine marxistische Realismustheorie beteiligt und mit seinen Positionen weitgehend durchsetzen können.295 Die literaturtheoretischen Aufsätze, in welchen er seine Ansichten über das Bedingungsverhältnis von objektiver Wirklichkeit und Literatur, den Totalitätscharakter realistischer Kunst, den Emanzipationsprozess der bürgerlichen deutschen Literatur (mit der Weimarer Klassik und Goethe als Höhepunkt und „Seele einer Befreiungsbewegung“), die Ablehnung der „sogenannten Avantgarde“ als antirealistisch und die Literatur als „Ausdruck und Spiegelung des deutschen Volksschicksals“ äußerte,296 erschienen ab 1945 im Aufbau Verlag in Auflagen, „wie sie früher nur Erfolgsromane erzielten“, und wirkten vor allem auf die junge Generation der Literaturkritiker und -wissenschaftler.297 In den ersten Nachkriegsjahren konnte

|| fünfziger Jahre. In: Clemens Burrichter u. Gerald Diesner (Hg.): Auf dem Weg zur „Produktivkraft Wissenschaft“. Leipzig 2002, S. 107–139. Siehe hierzu allgemein: Jürgen Kocka: Wissenschaft und Politik in der DDR. In: Jürgen Kocka u. Renate Mayntz (Hg.): Wissenschaft und Wiedervereinigung. Disziplinen im Umbruch. Berlin 1998, S. 435–459 u. Andreas Malycha: „Produktivkraft Wissenschaft“ – Eine dokumentierte Geschichte des Verhältnisses von Wissenschaft und Politik in der SBZ/DDR. In: Burrichter u. Diesner (Hg.): Auf dem Weg zur „Produktivkraft Wissenschaft“, S. 39–104. Siehe für das Zitat in der Überschrift: Wolfgang Harich: Georg Lukács und Deutschland. Gedanken zum 70. Geburtstag. In: Sonntag, 17. April 1955, S. 9. 294 Siehe zur Wirkung Lukács in der SBZ/DDR: Caroline Gallée: Georg Lukács. Seine Stellung und Bedeutung im literarischen Leben der SBZ, DDR 1945–1985. Tübingen 1996; Matthias Marquardt: Georg Lukács in der DDR. Muster und Entwicklung seiner Rezeption. Der Grundriß eines Paradigmas. Phil. Diss. Humboldt Universität Berlin. Berlin 1997 u. Matthias Marquardt: Dialog und Kontroverse mit Georg Lukács in der DDR-Literaturwissenschaft? Konturen einer Diskursgeschichte. In: Dahlke u.a. (Hg.): LiteraturGesellschaft DDR, S. 366–392. Siehe speziell zur unmittelbaren Nachkriegszeit: Detlef Glowka: Georg Lukács im Spiegel der Kritik. Die Interpretation des Lukács’schen Denkens in Deutschland 1945–1965. Phil. Diss. Freie Universität Berlin. Berlin 1968 u. Ute Zacharias: Die Aufnahme der literaturtheoretischen und literaturgeschichtlichen Auffassungen von Georg Lukács in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands von 1945 bis 1949. Phil. Diss. Pädagogische Hochschule Erfurt. Erfurt-Mühlhausen 1992. 295 Vgl. Erbe: Die verfemte Moderne, S. 46ff. sowie Werner Mittenzwei: Der Streit zwischen nichtaristotelischer und aristotelischer Kunstauffassung. In: ders. (Hg.): Dialog und Kontroverse mit Georg Lukács. Der Methodenstreit deutscher sozialistischer Schriftsteller. Leipzig 1975, S. 153–203. Siehe zu den einzelnen Beiträgen: Schmitt (Hg.): Die Expressionismusdebatte. Lukács deshalb mehr oder weniger als Wegbereiter des Sozialistischen Realismus darzustellen, wie David Pike dies tut (vgl. David Pike: Deutsche Schriftsteller im sowjetischen Exil 1933–1945. Frankfurt/M. 1981, S. 369), geht aber fehl und übersieht die Differenz zwischen Lukácsʼ Realismusbegriff und der von offizieller Seite eingeforderten Parteilichkeit. 296 Lukács: Fortschritt und Reaktion, S. 9; Georg Lukács: Es geht um den Realismus. In: ders.: Essays über Realismus. Berlin 1948, S. 129 u. Lukács: Fortschritt und Reaktion, S. 10. 297 Mittenzwei: Das Leben des Bertolt Brecht. Bd. 2, S. 315. Siehe zu den Auflagen: Marquardt: Dialog und Kontroverse mit Georg Lukács, S. 371. Siehe zur Bibliographie der bis 1956 (dem Jahr in dem

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Lukács eine Art „Theoriemonopol“298 für sich beanspruchen, was auf das Vakuum zurückgeführt werden kann, in dem sich die Institutionen der DDR-Literaturwissenschaft nach dem Ende des Nationalsozialismus etablierten. Zudem existierte keine verbindliche marxistische Ästhetik, die als Orientierung hätte dienen können.299 Dass Lukácsʼ Schriften von einem Großteil des literaturwissenschaftlichen Nachwuchses positiv aufgenommen wurden,300 hängt darüber hinaus mit dessen öffentlicher Anerkennung zusammen. Lukácsʼ Realismustheorie, die die traditionellen, auch in der Arbeiterbewegung vorherrschenden Vorbehalte gegen die literarischen Avantgarden bestätigte, lag ganz auf der Linie der die Kulturpolitik der frühen DDR prägenden Akteure wie Alexander Abusch, Johannes R. Becher und Alfred Kurella.301 Besonders Johannes R. Becher, Begründer des Kulturbundes und später Kulturminister, sah

|| Lukács in der Regierung von Imre Nagy den Posten des Ministers für Volksbildung übernahm und in der DDR in Ungnade fiel) erschienenen Bücher und Aufsätze Lukácsʼ in der DDR: Jürgen Hartmann: Chronologische Bibliographie der Werke von Georg Lukács. In: Frank Benseler (Hg.): Festschrift zum achtzigsten Geburtstag von Georg Lukács. Neuwied u.a. 1965, S. 625–696. Paradigmatisch für Lukácsʼ Position sind vor allem die Essays „Kunst und objektive Wahrheit“ [1934] und „Es geht um den Realismus“ [1938]. Vgl. Georg Lukács: Kunst und objektive Wahrheit. In: ders.: Kunst und objektive Wahrheit. Essays zur Literaturtheorie und Geschichte. Leipzig 1977, S. 63–112 u. Lukács: Es geht um den Realismus). Siehe zu Lukácsʼ theoretischer Position der sogenannten dritten Periode (1933–1956): Werner Mittenzwei: Gesichtspunkte. Zur Entwicklung der literaturtheoretischen Position Georg Lukácsʼ. In: ders. (Hg.): Dialog und Kontroverse mit Georg Lukács, S. 65–83; Sung-Wan Ban: Das Verhältnis der Ästhetik Georg Lukácsʼ zur deutschen Klassik und zu Thomas Mann. Frankfurt/M. u.a. 1977, S. 57–87; László Sziklai: Georg Lukács und seine Zeit 1930–1945. Berlin u.a. 1990, S. 124–155 u. Karin Brenner: Theorie der Literaturgeschichte und Ästhetik bei Georg Lukács. Frankfurt/M. 1990. 298 Saadhoff, S. 85. 299 Vgl. die Ausführungen Hans Mayers hinsichtlich der literaturwissenschaftlichen Ausgangssituation nach 1945: Hans Mayer: [O.T.]. In: O.A.: Georg Lukács zum siebzigsten Geburtstag. Berlin 1955, S. 167. Als die ersten Schriften Lukácsʼ 1945 erschienen, existierte keine marxistische Orientierungshilfe in Sachen Literatur; selbst die einflussreiche und bis Ende der 1960er Jahre immer wieder neu aufgelegte und erweiterte, kanonische Sammlung Über Kunst und Literatur, die Äußerungen von Marx, Engels und Lenin, später auch Stalin, enthielt, erschien erst 1948. 300 Vgl. Dieter Schiller: Der abwesende Lehrer. Georg Lukács und die Anfänge marxistischer Literaturkritik und Germanistik in der SBZ und frühen DDR. Berlin 1998 u. Saadhoff, S. 209ff. 301 Siehe zur Abwehr der Moderne allgemein: Georg Bollenbeck: Tradition, Avantgarde, Reaktion. Deutsche Kontroversen um die kulturelle Moderne 1880–1945. Frankfurt/M. 1999. Siehe zu den bildungsbürgerlichen Kontinuitäten der frühen DDR: Thomas La Presti: Bildungsbürgerliche Kontinuitäten und diktatorische Praxis. Zur Kulturpolitik in der DDR der 50er Jahre. In: Georg Bollenbeck u. Gerhard Kaiser (Hg.): Die janusköpfigen 50er Jahre. Wiesbaden 2000, S. 30–52 u. Gunter Schandera: Zur Resistenz bildungsbürgerlicher Semantik in der DDR der fünfziger und sechziger Jahre. In: Georg Bollenbeck (Hg.): Traditionsanspruch und Traditionsbruch. Die deutsche Kunst und ihre diktatorischen Sachwalter. Wiesbaden 2002, S. 161–173. Freilich dürfen auch die Differenzen zu Lukács und dessen „nur philosophiegeschichtlich[er]“ (Alexander Abusch: [O.T.]. In: O.A.: Georg Lukács zum siebzigsten Geburtstag, S. 6) Methode nicht übersehen werden. Auch lassen nicht wenige der Beiträger des Aufbau-Gedenkbandes zum siebzigsten Geburtstag eine gewisse Ambivalenz angesichts der

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sich als Schüler Lukácsʼ, dem er in einem Gedicht anlässlich von dessen siebzigstem Geburtstag empathisch offenbarte: „Wir wurden mündig erst in deiner Lehre.“302 Damit aber erschienen die Positionen Lukácsʼ quasi als offizielle marxistische Verlautbarungen der Kulturpolitik, zumal diese auch von sowjetischer Seite und durch marxistische Germanisten wie Hans Mayer und Gerhard Scholz bestätigt wurden.303 Des Weiteren waren andere Wege zu einer marxistischen Ästhetik, für die Ernst Bloch, Bertolt Brecht und Hanns Eisler standen, in den späten 1940er und den 1950er Jahren nur schwer zugänglich bzw. kaum publiziert, so dass ein etwaiger Abgleich nicht möglich war.304 Neben solchen feldpolitischen Kontexten begründet sich die Dominanz Lukácsʼ aber auch durch den Inhalt seiner Schriften – und das nicht nur aufgrund ihrer „Qualität […], in der sich die Kompetenz und Souveränität traditioneller Gelehrtenkultur mit avanciertem politisch-weltanschaulichem Impetus und populären, brillant-essayistischen Ausführungen vereinigt“.305 Lukácsʼ dichotomer Argumentation, die auf eine ideologiekritische Entlarvung der als reaktionär ausgemachten AutorInnen und Strömungen setzte, kam ein nicht unerheblicher Entlastungscharakter zu, betonte Lukács doch explizit das fortschrittliche deutsche Kulturerbe und den kathartischen „dramatischen Charakter des gegenwärtigen Augenblicks“, der einer „Schicksalswende“ gleichkomme, die von allen Deutschen eine eindeutige Positionierung verlange.306 Mit Lukács konnte man sich auf den Boden der fortschrittlichen Tradition stellen und das „Spießertum“ überwinden, das allenthalben die deutsche Misere befördert habe.307 So wirkte Lukács für zahlreiche junge Intellektuelle in den desorientierten Zeiten des Postfaschismus als Orientierungshilfe und wurde zum „abwesende[n] Lehrer“, der innerhalb des wissenschaftlichen und literarischen Feldes zwar keine eigene Schule ausbildete, dessen Überlegungen zum Realismus, zur Klassik, zur Romantik und zur Dekadenz aber nicht zuletzt deshalb nachhaltig wirkten, weil

|| mitunter apodiktischen Urteile Lukácsʼ erkennen. Vgl. O.A.: Georg Lukács zum siebzigsten Geburtstag. 302 Johannes R. Becher: G.L. In: O.A.: Georg Lukács zum siebzigsten Geburtstag, S. 8. Siehe hierzu: Simone Barck: „Wir wurden mündig erst in deiner Lehre…“. Der Einfluß Georg Lukácsʼ auf die Literaturkonzeption von Johannes R. Becher. In: Mittenzwei (Hg.): Dialog und Kontroverse mit Georg Lukács, S. 249–285. 303 Vgl. Saadhoff, S. 209. 304 Vgl. die Beiträge der Genannten in: Schmitt (Hg.): Die Expressionismusdebatte. 305 Marquardt: Georg Lukács in der DDR, S. 34. 306 Georg Lukács: Schicksalswende. In: ders.: Schicksalswende, S. 149. 307 Lukács: Fortschritt und Reaktion, S. 7.

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sie, u.a. im Rahmen der Formalismuskampagne der 1950er Jahre, dogmatisiert und „in vergröberter Form lange Zeit richtungsweisend für die Kulturpolitik“ wurden.308

5.3.1.3

„Die Romantik als Wendung in der deutschen Literatur“: Lukácsʼ Romantikbild Zu den frühesten Schriften von Georg Lukács, die in der Sowjetischen Besatzungszone erschienen, zählen zwei knappe literarhistorische Abrisse – Deutsche Literatur im Zeitalter des Imperialismus [1945] und Fortschritt und Reaktion in der deutschen Literatur [1947].309 Von besonderem Einfluss hinsichtlich der Romantik war vor allem die letztgenannte Monographie, die später in veränderter Form als Skizze einer Geschichte der neueren deutschen Literatur [1953] publiziert wurde. Lukács macht es sich hierin zur Aufgabe, die Entwicklung der deutschen Literatur bis 1848 nachzuzeichnen und die bestimmenden Faktoren dieser Entwicklung herauszuarbeiten. Dabei geht er in der Tradition des Marxismus von einer engen Verbindung zwischen der materiellen Geschichte und den literarischen Texten bzw. den politischen Standpunkten der jeweiligen AutorInnen aus. Als wesentliches Merkmal der deutschen Literatur bestimmt Lukács die Vorrangstellung des „Sollen[s]“ vor dem „Sein“, d.h. die Dominanz eines weltabgewandten Idealismus, der „die Entstehung eines fortschrittlichen, eines revolutionären Realismus in Deutschland“ verhindert habe310 und angesichts der Verunsicherung über die Französische Revolution und ihrer Folgen, den aufkommenden Kapitalismus und die Verwissenschaftlichung der Welt durch den Fortschritt der Naturwissenschaften in einen Irrationalismus umgeschlagen sei, der durch seine umfassende Verbreitung im späten neunzehnten Jahrhundert letztendlich die Durchsetzung des Faschismus ermöglicht habe.311

|| 308 Schiller: Der abwesende Lehrer u. Erbe: Die verfemte Moderne, S. 46. Vor einer Dogmatisierung der Positionen Lukácsʼ hatte 1955 bereits Wolfgang Harich gewarnt. Vgl. Wolfgang Harich: Hochverehrter, lieber Genosse Georg Lukács! In: O.A.: Georg Lukács zum siebzigsten Geburtstag, S. 84. In gewisser Weise antizipiert selbst Lukács eine Vereinfachung seiner Ansichten, wenn er im Vorwort von Fortschritt und Reaktion in der deutschen Literatur vor einer „gewisse[n] Einseitigkeit“ seines Verfahrens warnt: „Unsere Skizze ähnelt notgedrungen einer Landkarte, die ja auch die wesentlichen ästhetischen und sonstigen Eigenarten der Städte und Landschaften nicht wiederzugeben vermag.“ Lukács: Fortschritt und Reaktion, S. 11. 309 Siehe für das Zitat in der Überschrift: Lukács: Fortschritt und Reaktion, S. 51. 310 Lukács: Fortschritt und Reaktion, S. 7. 311 Der Irrationalismus, d.h. „Herabsetzung von Verstand und Vernunft, kritiklose Verherrlichung der Intuition, aristokratische Erkenntnistheorie, Ablehnung des gesellschaftlich-geschichtlichen Fortschritts, Schaffen von Mythen“ (Georg Lukács: Die Zerstörung der Vernunft. Bd. 1. Darmstadt/Neuwied 1973, S. 15), ist für Lukács das wesentliche Kennzeichen der Reaktion seit dem ausgehenden achtzehnten Jahrhundert. Angefangen bei Schelling über Nietzsche, den „Begründer des Irrationalismus der imperialistischen Periode“ (Lukács: Die Zerstörung der Vernunft. Bd. 2, S. 7), bis hin zur Lebensphilosophie und Teilen der deutschen Soziologie erkennt Lukács im Irrationalismus

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Als maßgeblicher literarhistorischer Einschnitt, als „Wendung in der deutschen Literatur“,312 erscheint in dieser Hinsicht die Romantik. Während sich der klassische Humanismus dem Realismus angenähert habe und die Klassiker Goethe und Hegel „die Beseitigung der feudalen Überreste in Deutschland […] von Napoleon“ erwarteten, hätten sich die Romantiker, „als sie infolge der Schlacht bei Jena aus ideologischen Zuschauern zu Personen der Handlung wurden“, als chauvinistische Reaktionäre erwiesen.313 Diese Entwicklung erscheint bei Lukács als notwendige Folge der frühromantischen Ästhetik und Philosophie, die sich zunächst positiv auf die Französische Revolution bezogen, dann aber im Sinne einer „Dialektik der notwendigen Entstehung und der notwendigen Zerstörung der Illusionen“, einen „Bruch mit der Aufklärung“ vollzogen habe.314 Ungeachtet einer feudalen Orientierung bestimmt Lukács den „sozialen Inhalt“ der Romantik, die er als „geistige Strömung“ auffasst, als „bürgerlich“;315 nicht die Rückkehr zu feudalen gesellschaftlichen Verhältnissen, sondern „eine Verteidigung der feudalen Überreste Deutschlands“, d.h. ein „politisch und sozial reaktionäre[r] Kapitalismus, der die feudalen Überreste ,organisch‘ in sich aufnimmt und so aufbewahrt“, sei ihr Ziel gewesen.316 Im Mittelpunkt der Romantikbetrachtung bei Lukács stehen Friedrich Schlegel und Novalis. Vor allem Ersterer erscheint als Repräsentant der romantischen Ästhetik, die durchweg gegen die Vorstellungen gerichtet sei, die die Klassik zu etablieren versucht habe: Herabsetzung der Antike bzw. eine allgemeine „,Modernisierung‘ der

|| nicht nur den entscheidenden philosophischen Gegner des Materialismus, der als „Reaktionsform […] auf die dialektische Entwicklung des menschlichen Denkens“ entstehe (Lukács: Die Zerstörung der Vernunft. Bd. 1, S. 93), sondern auch eine Form „der indirekten Apologie des kapitalistischen Systems“, eine romantische Form „seiner ideologischen Rettung in der Form seiner Kritik“, „die dann im Faschismus ihre hohlste und eklektischste Zusammenfassung“ gefunden habe. Georg Lukács: Wie ist die faschistische Philosophie in Deutschland entstanden? In: ders.: Zur Kritik der faschistischen Ideologie. Mit einem Nachwort von László Sziklai. Berlin/Weimar 1989, S. 53. Dementsprechend erscheint der Gegensatz zwischen Hegel und Schelling Lukács als derjenige „von Klassik und Romantik“. Georg Lukács: Wie ist Deutschland zum Zentrum der reaktionären Ideologie geworden? In: ders.: Zur Kritik der faschistischen Ideologie, S. 279. Lukács hat seine Argumentation ausführlich dargelegt in Die Zerstörung der Vernunft [1954]; siehe hierzu: Rainer Rosenberg: Georg Lukács: „Die Zerstörung der Vernunft“. In: Walter Erhart u. Herbert Jaumann (Hg.): Jahrhundertbücher. Große Theorien von Freud bis Luhmann. München 2002, S. 262–277; Bodo Gaßmann: Wieder gelesen! „Die Zerstörung der Vernunft“. In: Erinnyen. Zeitschrift für materialistische Ethik (2005), H. 16, S. 68–72 u. Tobias Christ: Lukácsʼ Begriff des Irrationalismus. Versuch einer Rekonstruktion. In: Christoph J. Bauer (Hg.): Georg Lukács. Kritiker der unreinen Vernunft. Duisburg 2010, S. 59–84. 312 Lukács: Fortschritt und Reaktion, S. 51. 313 Lukács: Fortschritt und Reaktion, S. 66. Siehe dort zum klassischen Humanismus Goethes: S. 32– 50. 314 Georg Lukács: Heinrich Heine als nationaler Dichter. In: ders.: Deutsche Literatur in zwei Jahrhunderten. Neuwied/Berlin 1964 (Werke. Bd. 7), S. 327 u. Lukács: Fortschritt und Reaktion, S. 54. 315 Lukács: Fortschritt und Reaktion, S. 52 u. 54. 316 Lukács: Fortschritt und Reaktion, S. 52f.

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Vergangenheit“; „bewußte Überspannung“ der Subjektivität; „Auflösung aller Gattungen“; Vermischung von Kunst und Leben, so dass „[d]ie ästhetischen Kategorien […] nicht mehr Spiegelungen des Lebens, sondern […] Aufbaukräfte des Lebens darstellen“; „Kult des Unmittelbaren und Unbewußten“; Hervorhebung des Hässlichen und Pseudokritik des „deutsche[n] Spießertums“, die in ihr Gegenteil umschlage und an die Stelle des „ordinären Philister[s]“ den „überspannten Philister“ setze.317 Aufgrund dieser Eigenschaften, in denen Lukács „eine Vorwegnahme der dekadenten Strömungen“ des ausgehenden neunzehnten und des frühen zwanzigsten Jahrhunderts erkennt,318 die er also als das Gegenteil einer realistischen Kunst auffasst, kommt Lukács zu dem Schluss: „Darum ist die Kritik der Romantik eine höchst aktuelle Aufgabe der deutschen Literaturgeschichte. Diese Kritik kann niemals tiefschürfend und scharf genug sein.“319 Die scharfe Verurteilung der Romantik, die letztlich auf deren politische Positionsnahme zurückgeht,320 darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass Lukács durchaus differenziert. So hebt er hervor, dass „in der Romantik doch der Reflex der ersten – wenn auch noch so verworrenen und schwachen – Volksbewegung in Deutschland seit dem Bauernkrieg erscheint“, was mitunter „auch eine wirklich volkstümliche Erzählkunst“ hervorgebracht habe.321 Zudem gesteht Lukács der romantischen Kritik des Kapitalismus – nicht zuletzt aus bündnispolitischen Erwägungen – eine gewisse Berechtigung zu; sofern diese eine „wirkliche Entlarvung des Kapitalismus“ sei, könne sie von KommunistInnen als „Vorbereitung der Massen für die Ideen des Sozialismus, für die Erschütterung ihres Glaubens an Güte und Vollkommenheit der kapitalistischen Gesellschaft ausgenützt“ und daher durchaus als Teil einer „Bewegung in Richtung auf die Zukunft“ verstanden werden.322 Obwohl die romantische Kritik des Kapitalismus „die Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft zuweilen scharfsinnig aufdeckt“ und „mit echter Erbitterung […] bekämpft“, || 317 Lukács: Fortschritt und Reaktion, S. 56, 60, 59, 60, 65 u. 62. Siehe zur romantischen Ästhetik: Ernst Behler: Frühromantik. Berlin/New York 1992 u. Schanze (Hg.): Romantik-Handbuch, S. 208ff. 318 Lukács: Fortschritt und Reaktion, S. 56. 319 Lukács: Fortschritt und Reaktion, S. 69. 320 „Von der mittelalterlichen Kaiserherrlichkeit, von den pseudopoetischen Verklärungen der sozialen und politischen Ketten, der ,organisch‘ erwachsenen historischen Macht, bis zur Verherrlichung des ,Gemütslebens‘, bis zum verstandesfeindlichen quietistischen Versinken in die Nacht eines beliebigen Unbewußten, einer beliebigen ,Gemeinschaft‘, bis zum Haß gegen Fortschritt und freiheitliche Selbstverantwortung – erstrecken sich die Folgen des Sieges der romantischen Ideologie, die bis heute an der deutschen Psyche spürbar sind.“ Lukács: Fortschritt und Reaktion, S. 68f. 321 Lukács: Fortschritt und Reaktion, S. 70f. 322 Georg Lukács: Marxismus oder Proudhonismus in der Literaturgeschichte? In: ders.: Moskauer Schriften. Zur Literaturtheorie und Literaturpolitik 1934–1940, hg. von Frank Benseler. Frankfurt/M. 1981, S. 118, 125 u. 118. Vgl. dort auch den Abschnitt zur romantischen Kritik des Kapitalismus (S. 118– 128), wo es u.a. heißt, dass „aus falschen Prämissen richtige und wichtige Entdeckungen“ (S. 128) entstehen können.

398 | Der Streit im literarischen Feld

bleibt aber doch der Umstand, dass diese letztlich „ihr Wesen zu begreifen“ nicht imstande sei, so dass „die richtige Kritik in eine gesellschaftliche Unwahrheit“ umschlage.323 Daher gelte es zwischen den einzelnen Romantikern zu differenzieren und Autoren wie Eichendorff und E. T. A. Hoffmann – der „größten Gestalt“ der Romantik und „ein wirklich großer Realist“, wie Lukács betont324 – „von den ins total Unwahre umschlagenden Erscheinungsweisen (à la Friedrich Schlegel) zu unterscheiden“.325 Ähnliches gilt für Ludwig Uhland und anderer Vertreter einer „liberale[n] Romantik“, die immerhin den „Kampf[ ] gegen den Absolutismus“ aufgenommen hätten, wenn auch nur in einer „zaghaft spießbürgerliche[n] Form“.326 Und selbst Kleist, dessen „Verklärung der Hohenzollernherrlichkeit“ und „wildfanatischen Fremdenhaß“ Lukács kritisiert, wird von einer allzu pauschalen Verurteilung ausgenommen, gebe es bei ihm doch auch „Siege des Realismus über romantische Voreingenommenheit“.327 Ein differenziertes Bild der Romantik entsteht so freilich nicht, zumal die polare Entgegensetzung von Romantik und Klassik Lukácsʼ Analyse grundlegend bestimmt.328 Es wird aber offenbar, dass die Kritik der Romantik durchaus keiner absoluten „Schwarz-Weiß-Malerei“ entspricht,329 auch wenn sich die Mehrheit der jungen DDR-Literaturwissenschaft vor allem an den zugespitzten Urteilen in Fortschritt und Reaktion in der deutschen Literatur orientierte.

|| 323 Georg Lukács: Eichendorff. In: ders.: Deutsche Literatur in zwei Jahrhunderten, S. 243. Lukács hat die Kritik des romantischen Antikapitalismus später verstärkt. Vgl. Lukács: Die Eigenart des Ästhetischen, Bd. 1, S. 535. Die Schlussfolgerung Stefan Bodo Würffels, Lukács habe eine „Erbschaft der Romantik“ angetreten, die sich auch beim mittleren und späten Lukács in einer „Sehnsucht nach dem unentfremdeten Leben“ äußere (Stefan Bodo Würffel: Revision der Romantik. Anmerkungen zum Romantikbild von Georg Lukács. In: Lukács. Jahrbuch der Internationalen Georg-Lukács-Gesellschaft 1 [1996], S. 150), ist daher nicht nachvollziehbar. 324 Lukács: Fortschritt und Reaktion, S. 71f. 325 Lukács: Eichendorff, S. 245. Siehe zu Eichendorff, den Lukács auch in Fortschritt und Reaktion in der deutschen Literatur positiv erwähnt: Lukács: Eichendorff. Siehe zur Eichendorff-Rezeption in der DDR: Bernd Springer: Eichendorff und der Dornröschenschlaf der Romantik in der DDR. In: Theresia Schüllner u. Wilhelm Gössmann (Hg.): Joseph von Eichendorff. Seine literarische und kulturelle Bedeutung. Paderborn u.a. 1995, S. 233–281; Ralf Klausnitzer: „Taugenichts“ im real existierenden Sozialismus. Aspekte der Eichendorff-Rezeption in der DDR. In: Aurora. Jahrbuch der Eichendorff-Gesellschaft 62 (2002), S. 171–195 u. Klaus Werner: Vom Ideologem zum Text. Zur ostdeutschen Romantik- inklusive Eichendorff-Rezeption. In: Athenäum. Jahrbuch der Friedrich Schlegel-Gesellschaft 20 (2010), S. 143–181. 326 Lukács: Fortschritt und Reaktion, S. 71. 327 Lukács: Fortschritt und Reaktion, S. 69f. 328 Die neuere Forschung hat gerade diese Gegenüberstellung hinter sich gelassen und versteht Klassik und Romantik im Sinne einer „dialektische[n] Einheit auf dem gemeinsamen Untergrund von Aufklärung und Französischer Revolution“. Gerhart Hoffmeister: Forschungsgeschichte. In: Schanze (Hg.): Romantik-Handbuch, S. 205. 329 Krauss, S. 178.

Kanon-Revision: Was ist die Romantik? | 399

Welche konkreten Auswirkungen die Arbeiten Lukácsʼ auf die Beschaffenheit des offiziellen DDR-Kanons hatten, lässt sich rückblickend nur schwer nachvollziehen. Übersieht man die Veröffentlichungen von Texten der Romantik in der DDR bis Anfang der 1970er Jahre, zeigt sich allerdings, dass nicht ausschließlich die von Lukács hervorgehobenen Autoren wie Eichendorff, Hoffmann und Kleist oder die Grimm’schen Märchen verlegt wurden. Relativ zahlreich sind die Veröffentlichungen Achim und Bettina von Arnims, Brentanos, Chamissos, Hauffs und Tiecks – und sogar Texte von Novalis und Friedrich Schlegel wurden publiziert.330 An der Spitzenstellung der Klassik und der Nachordnung der Romantik innerhalb des offiziellen Kanons ändert das gleichwohl wenig. Die Romantik stand wenn nicht außerhalb des Kanons, so doch außerhalb des Kernbereichs des kulturellen Erbes, das der Sozialismus anzutreten beanspruchte. Das verdeutlicht auch eine aus dem Jahr 1955 stammende Hausmitteilung des Aufbau Verlags, die der Stellvertretende Cheflektor Wolfgang Harich verfasste. In Reaktion auf den Vorschlag der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt, eine gemeinsame Ausgabe der Werke von Karoline von Günderrode herauszugeben, heißt es: Daß unser Verlag sich an der Herausgabe einer solchen Ausgabe beteiligt, scheint mir für die nächsten zehn Jahre kaum in Frage zu kommen. Erst wenn wir den dringenden Bedarf an neuen Ausgaben der Werke unserer Klassiker und zum Teil [meine Hervorhebung, R.W.] auch der Romantiker befriedigt haben […], können wir zu einem späteren Zeitpunkt eventuell daran denken […].331

5.3.2

Kanon-Revision: Die Romantik-Rezeption in den 1970er Jahren

Das durch Lukács popularisierte Verdikt der Romantik ließ sich in den 1970er Jahren nicht länger aufrechterhalten. Wie bei anderen aus dem offiziellen Kanon ausgrenzten oder bewusst in dessen Zentrum gestellten literarischen Strömungen fand auch hier eine Revision statt, die schließlich zur Auflösung der früheren Position und Reintegration der Romantik in den DDR-Kanon führte. Das drückt sich am sinnfälligsten darin aus, dass die von dem Goetheaner Helmut Holtzhauer begründete Bibliothek deutscher Klassiker, die seit 1973 als abgeschlossen galt, 1975 unter dem neuen Direktor der NFG Walter Dietze mit der Aufnahme romantischer Autoren fortgesetzt

|| 330 Vgl. Eva Heyse: Auswahlbibliographie der in der DDR erschienen Romantik-Ausgaben. In: Hess u. Liebers (Hg.): Arbeiten mit der Romantik heute, S. 154–160. Von Novalis erschienen 1957 und 1962 Auswahlausgaben; Schlegels Lucinde erschien 1970 zusammen mit Schleiermachers Vertrauten Briefen über Schlegels „Lucinde“. Vgl. Heyse, S. 160. 331 Wolfgang Harich, Hausmitteilung v. 30. November 1955, zit. n.: Werner Mittenzwei: Im AufbauVerlag oder „Harich dürstet nach großen Taten“. In: Dornuf (Hg.): Wolfgang Harich zum Gedächtnis. Bd. 1, S. 227f.

400 | Der Streit im literarischen Feld

wurde.332 1980 äußerte der Kulturminister Hans-Joachim Hoffmann, dass der offiziellen DDR „kein Erbe irgendeiner Kulturepoche“ gleichgültig sei: „Wir wahren und pflegen das großartige Erbe der deutschen Klassik und des bürgerlichen Humanismus ebenso wie die Denkmale des Barock und Rokoko, […] wie die volksverbundenen Leistungen und Züge der deutschen Romantik [meine Hervorhebung, R.W.].“333 Maßgeblich verantwortlich für diese Kanon-Revision war allerdings nicht die Kulturpolitik, die in solchen Fragen konzeptionell kaum noch eine Rolle spielte; in die Auseinandersetzung um die Romantik griff sie ebenso wenig ein wie in die anderen ums Erbe geführten Diskussionen, die ab 1971 geführt wurden. Die Aufwertung der Romantik ist vielmehr das Ergebnis der Bemühungen zweier unterschiedlicher Kräfte: der DDR-Literaturwissenschaft und einiger DDR-AutorInnen.

5.3.2.1 Die Romantik-Rezeption im literaturwissenschaftlichen Feld 1967 erschien der Romantik-Band der auf Breitenwirkung angelegten Serie Erläuterungen zur deutschen Literatur. Die Romantik galt hierin trotz des Anspruchs, sie „so differenziert wie möglich zu analysieren“, weiterhin als „krisenhaft-regressive Bewegung“ und als „unhistorisch und subjektivistisch“.334 Ein solches Urteil wurde allerdings bereits zu Beginn der 1960er Jahre in Zweifel gezogen. So fragte Hans Mayer im Juli 1962 auf einer der Romantik gewidmeten Arbeitstagung in Leipzig, ob es nicht doch eine „relative geschichtliche Berechtigung bestimmter romantischer Grundpositionen gegenüber Goethe“ gebe und regte dazu an, die Kontinuität von Sturm und Drang und Romantik in den Blick zu nehmen sowie dem fortschrittlichen Charakter der Romantik „in der Entwicklung des historischen Denkens in Deutschland“ größere Beachtung zu schenken.335

|| 332 Vgl. Wilfried Lehrke: Die NFG in den Jahren 1975–1981. Das Direktorat von Walter Dietze. In: Lothar Ehrlich (Hg.): „Forschen und Bilden“. Die Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar 1953–1991. Köln u.a. 2005, S. 114ff. 333 Zit. n.: Peter Lübbe: Dokumente zur Kunst-, Literatur- und Kulturpolitik der SED 1975–1980. Stuttgart 1984, S. 1013. In der Folge wurde 1981 in Jena im ehemaligen Wohnhaus Fichtes eine Gedenkstätte für die Romantik eröffnet. 334 Kollektiv für Literaturgeschichte im volkseigenen Verlag Volk und Wissen (Hg.): Romantik. Unter Mitarbeit von Kurt Böttcher. Berlin 1967, S. 6 u. 83. Die gleichen Formulierungen finden sich auch noch in der 4. bearb. u. 5. Auflage von 1980 bzw. 1985, was für die Persistenz des Kanons in Bezug auf den Schulunterricht und die Lehrerbildung spricht. Tatsächlich erfolgte die Aufnahme der Romantik in die Lehrpläne der Schulen erst Mitte der 1980er Jahre. Vgl. Saadhoff, S. 359. 335 Hans Mayer: Fragen der Romantikforschung. In: ders.: Zur deutschen Klassik und Romantik. Pfullingen 1963, S. 293. Siehe auch den Beitrag des Romanisten Werner Krauss, der dazu aufrief, sich von „Einseitigkeiten“ der Romantikbetrachtung bei Lukács zu befreien. Krauss, S. 178. Siehe zu Kraussʼ Position: Claus Träger: Werner Krauss und die Romantik. In: Akademie der Wissenschaften der DDR (Hg.): Literaturgeschichte als geschichtlicher Auftrag. In Memoriam Werner Krauss. Berlin 1978, S. 86–94 u. Richard Faber: Werner Kraussʼ Beitrag zur kritischen Romantik-Forschung. In: Dirk

Kanon-Revision: Was ist die Romantik? | 401

Nach diesem Präludium, das freilich sofort zurückgewiesen wurde,336 distanzierten sich Ende der 1960er Jahre erstmals auch Literaturwissenschaftler der jüngeren Generation von der „absolute[n] Antinomik“ und plädierten für ein „Verständnis des wirklichen Prozesses“ der Literaturentwicklung des ausgehenden achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhunderts.337 In den 1970er Jahren setzte dann ein Aufwertungsprozess der Romantik ein, der maßgeblich von dem Berliner Germanisten HansDietrich Dahnke, dem Hallenser Hans-Georg Werner und dem in Leipzig ansässigen Claus Träger vorangetrieben wurde.338 Der Ansatz Lukácsʼ wird nun als „unhaltbar“ ausgewiesen, halte er doch „keiner etwas tieferdringenden Analyse stand“; stattdessen wird auf eine Ausdifferenzierung gesetzt, die nicht nur „den politischen Konservatismus des alten Goethe“, sondern auch die neuen Möglichkeiten der „literarischen Kapitalismus-Kritik“ der Romantik, ihren Vorstoß in „neue Bereiche der Individualpsychologie“ und ihren Beitrag zum „Verhältnis[ ] zwischen Individuum und Gesellschaft“ würdigt.339 Was vormals als Ausdruck der Weltfremdheit und als unzulässige Subjektivierung galt, wird nun als positiv betont, so das „Ringen um das Problem

|| Winkelmann u. Alexander Wittwer (Hg.): Von der ars intelligendi zur ars applicandi. Festschrift für Willy Michel zum 60. Geburtstag. München 2002, S. 61–74. 336 Vgl. Klaus Hammer u.a.: Fragen der Romantik-Forschung. In: WB 9 (1963), H. 1, S. 173–182. 337 Hans-Dietrich Dahnke: A.W. Schlegels Berliner und Wiener Vorlesungen über die romantische Literatur. In: WB 14 (1968), H. 4, S. 794. Siehe auch: Claus Träger: Ideen der französischen Aufklärung in der deutschen Romantik. Referat auf dem AILC-Kongreß in Belgrad 1967. In: WB 14 (1968), H. 1, S. 175–186; Hans-Georg Werner: Die Erzählkunst im Umkreis der Romantik (1806–1815). Teil 1. In: WB 17 (1971), H. 8, S. 11–38 u. Hans-Georg Werner: Die Erzählkunst im Umkreis der Romantik (1806–1815). Teil 2. In: WB 17 (1971), H. 9, S. 82–111. 338 Siehe zu Träger: Monika Schneikart: Claus Träger und die germanistische Romantik-Forschung an der Universität Leipzig in den siebziger Jahren. In: Jan Cölln (Hg.): Positionen der Germanistik in der DDR. Personen, Forschungsfelder, Organisationsformen. Berlin u.a. 2013, S. 230–247. Siehe überblicksweise: Patricia Herminghouse: Die Wiederentdeckung der Romantik. Zur Funktion der Dichterfiguren in der neueren DDR-Literatur. In: Jos Hoegeveen u. Gerd Labroisse (Hg.): DDR-Roman und Literaturgesellschaft. Amsterdam 1981, S. 217–248 u. Saadhoff, S. 349–364. Siehe speziell zur Rezeption Friedrich Schlegels: Margret Pötsch: Zur Rezeption Friedrich Schlegels in der Literaturwissenschaft der DDR. Frankfurt/M. u.a. 1996. Siehe zu den Erbe-Debatten der DDR-Germanistik in den Weimarer Beiträgen: Stefan Willer: Politik der Aneignung. Die „Erbetheorie“ in den „Weimarer Beiträgen“ Anfang der siebziger Jahre. In: WB 51 (2005), H. 1, S. 44–64. 339 Hans-Georg Werner: Zum Romantik-Problem aus germanistischer Sicht. Ein Diskussionsbeitrag. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, Sonderband zur 1. Greifswalder Romantikkonferenz anläßlich der Caspar-David-Friedrich-Ehrung 1974. Greifswald 1977, S. 22f.

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der nichtentfremdeten Arbeit und einer ungefährdeten Ausbildung der menschlichen Individualität“ und „das echt Utopische der romantischen Entwürfe zu einem lebenswerten Leben“.340 Im Oktober 1977 veranstaltete die Humboldt-Universität eine Konferenz in Frankfurt/Oder zum Thema „Zu Problemen der literarischen Romantik und ihrer Rezeption in unserer Gesellschaft, unter besonderer Berücksichtigung des Werks von Heinrich von Kleist und E. T. A. Hoffmann“. Hans-Dietrich Dahnke zog hier in gewisser Weise das Fazit der jüngsten Entwicklung, wenn er mit Blick auf Lukács betonte: Unsere marxistische Forschung hat diesen Positionen gegenüber inzwischen gründliche Differenzierungen vorgenommen: Sie hat das politisch-progressive Engagement, vor allem der Frühund Übergangsstufen, herausgearbeitet; sie hat die humanistischen Intentionen gekennzeichnet; anstelle des moralischen Verdikts gegen Libertinage hat sie das Emanzipationsstreben freigelegt; gegenüber den klassizistisch-normativen Formregeln von Lukács hat sie Verständnis für die Innovationsleistung entwickelt.341

Dass damit bei aller Anerkennung der Romantik – sowie der mehr oder weniger impliziten Abwertung der Klassik –342 noch kein grundsätzlicher Wechsel der Vorzeichen vollzogen war, verdeutlicht der Konferenzbeitrag Wolfgang Heises, der darauf aufmerksam machte, die „ambivalente und auch verhängnisvolle Rolle [der Romantik, R.W.] innerhalb der deutschen Geschichte“ nicht zu übersehen.343 In den 1980er Jahren setzte sich der Prozess der Ausdifferenzierung des Romantikbildes fort. Das verdeutlicht das 1986 zum ersten Mal erschienene und von Claus Träger verantwortete Wörterbuch der Literaturwissenschaft, das nunmehr den von Träger bereits 1976 kritisierten „dogmatisierte[n] Gegensatz von Klassik und Romantik“ als „Projektion einer einzigen nationalliterarischen […] Ausprägung“ zugunsten einer europäischen Geschichte der Romantik und der Auffassung einer dialektischen Wechselbeziehung zwischen Klassik und Romantik überschreitet.344 Wenn sich im (literatur-)wissenschaftlichen Feld auch weiterhin Widerstände gegen eine Revision || 340 Claus Träger: Geschichtlichkeit und Erbe der Romantik. In: Hess u. Liebers (Hg.): Arbeiten mit der Romantik heute, S. 24. Träger betont, dass die Romantik deshalb ein „unveräußerliche[r] Bestandteil auch der sozialistischen Nationalkultur“ (S. 27) sei. 341 Hans-Dietrich Dahnke: Zur Stellung und Leistung der deutschen romantischen Literatur. Ergebnisse und Probleme ihrer Erforschung. In: WB 23 (1978), H. 4, S. 14. Siehe auch den Konferenzbeitrag: Claus Träger: Historische Dialektik der Romantik und Romantikforschung. In: WB 24 (1978), H. 4, S. 47–73. 342 „Die Musterhaftigkeit des Aufklärerisch-Didaktischen, des Klassisch-Objektiven, des Vormärzlich-Operativen wird auch in ihren verfeinerten Erscheinungsformen als ermüdend und fehlleitend [meine Hervorhebung, R.W.] empfunden.“ Dahnke: Zur Stellung und Leistung der deutschen romantischen Literatur, S. 6. 343 Wolfgang Heise: Weltanschauliche Aspekte der Frühromantik. In: WB 24 (1978), H. 4, S. 44. 344 Träger: Geschichtlichkeit und Erbe der Romantik, S. 25. Siehe auch: Träger: Historische Dialektik der Romantik, S. 67. Siehe die Lemmata ‚klassisch, Klassik(er), Klassizismus‘ und ‚Romantik‘ in:

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des Romantikverständnisses meldeten,345 so war diese doch nicht mehr aufzuhalten, zumal sich mit dem Aufkommen einer rezeptionsorientierten Literaturwissenschaft ein offeneres, nicht mehr abbildtheoretisches Verständnis literarischer Texte durchsetzte, was zur Folge hatte, dass sich die Forschungen der 1980er Jahre größtenteils von den politischen Fragestellungen und Prämissen einer wie auch immer konzeptionalisierten Widerspiegelungstheorie abwandten und verstärkt auf die konkreten Texte und deren ästhetische Eigengesetzlichkeit konzentrierten.346 1989 resümierte Hans-Georg Werner noch einmal die Geschichte des Romantikverständnisses in der DDR und zeichnete ein „historisch richtiges Bild der deutschen Romantiker“. In diesem Bild repräsentieren die RomantikerInnen „nicht die reaktionäre Seite einer Alternative“, derjenigen von Klassik oder Romantik nämlich, „sondern eine […] Stimme im literarischen Chorus derer, die aus Sorge über ihre Zeit die Stimme erhoben“.347

5.3.2.2 Die Romantik-Rezeption im literarischen Feld Wenn Wolfgang Heise in seinem Vortrag auf der erwähnten Romantikkonferenz in Frankfurt/Oder betonte, die Romantik sei „Modell […] für immer wieder erneut aufkommende romantische Wellen“,348 zielte er damit direkt auf die Gegenwart, d.h. die Rezeption der Romantik durch einige AutorInnen der DDR, die sich in unterschiedlichen belletristischen und essayistischen Arbeiten sowie Editionen niederschlug.349

|| Claus Träger (Hg.): Wörterbuch der Literaturwissenschaft. Leipzig 1986. Peter Weber schlug zu Beginn der 1980er Jahre vor, ganz auf Epochenbegriffe wie ‚Klassik‘ oder ‚Romantik‘ zu verzichten und diese durch den von Heine stammenden Begriff der ‚Kunstperiode‘ zu ersetzen. Vgl. Peter Weber: Einleitung. „Kunstperiode“ als literarhistorischer Begriff. In: ders. (Hg.): Kunstperiode. Studien zur deutschen Literatur des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Berlin 1982, S. 7–30. Die Bezeichnung Kunstperiode bzw. Kunstepoche hat seitdem vielfach Verwendung gefunden. Vgl. Wolfgang Beutin u.a.: Deutsche Literaturgeschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart u.a. 2008, S. 182–238. 345 Siehe zu den fachinternen Widerständen: Saadhoff, S. 356. 346 Zentral für die Durchsetzung der Rezeptionstheorie war die Studie Gesellschaft – Literatur – Lesen. Vgl. Manfred Naumann (Hg.): Gesellschaft – Literatur – Lesen. Literaturrezeption in theoretischer Sicht Berlin/Weimar 1976. Siehe ausführlich hierzu: Saadhoff, S. 249–291. Der Wandel der DDRLiteraturwissenschaft lässt sich wiederum anhand des Wörterbuchs der Literaturwissenschaft feststellen, das auf ein für die marxistische Ästhetik so zentrales Lemma wie ‚Totalität‘ verzichtet. Vgl. Träger (Hg.): Wörterbuch der Literaturwissenschaft. 347 Werner: Zur Problematik des Romantikverständnisses in der DDR, S. 44f. 348 Heise: Weltanschauliche Aspekte der Frühromantik, S. 44. 349 Zur Rezeption der Romantik in der Literatur der DDR liegen zahlreiche Forschungsbeiträge vor. An dieser Stelle seien nur diejenigen genannt, die einen allgemeinen Überblick geben: Herminghouse; Leistner: Neuere DDR-Literatur und die klassisch-romantische Tradition; Olaf Reincke: Romantikrezeption in der DDR-Literatur. In: Thomas Gey (Hg.): Die deutsche Literatur im 20. Jahrhundert. Vortragsmanuskripte. Germanistentag 1992. Berlin 1993, S. 403–446 u. Walter Hildebrandt: Die Romantik und ihr systemrelevanter Herausforderungscharakter. Zur literarischen Erberezeption in

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Als VorreiterInnen hatten diese die Grundlagen für die Revision des Kanons gelegt, die die Literaturwissenschaft ab Mitte der 1970er Jahre mit immer größerer Entschiedenheit vollzog. Man kann die Aufwertung der Romantik in den 1970er Jahren daher als Ergebnis einer Bündniskonstellation verstehen. Während es der Literaturwissenschaft darum ging, eine vereinfachende Dichotomie und die mit ihr verbundenen methodischen Probleme der Widerspiegelungstheorie aufzubrechen, um so zu einer differenzierten Sichtweise auf die Literatur der Zeit um 1800 zu kommen, das Ziel demnach Verwissenschaftlichung hieß, verwiesen die AutorInnen auf eine „ungebrochene Aktualität“ der Romantik; man sah sich mit einer ähnlich „postaufklärerische[n] Situation“ konfrontiert wie einige ProtagonistInnen der Frühromantik, d.h. die Romantik wurde zur historischen Folie, zum „Projektionsraum“ für das eigene Unbehagen über den sich immer weiter von den utopischen Vorstellungen des Kommunismus entfernenden Realsozialismus der DDR.350 Erscheint die Romantik in diesem Sinne ganz allgemein als „Mittel, die eigene Situation und die der DDR bloßzulegen“,351 so drücken sich in der jeweils spezifischen Rezeption unterschiedliche Motive aus, die von Christa Wolfs feministisch inspirierter Beschäftigung mit Karoline von Günderrode und Bettina von Arnim,352 Günter de Bruyns auf die erzwungenen Anpassungsleistungen eines modernen Autors zielende,

|| der DDR. Eine kultursoziologische Studie. In: Kultursoziologie. Aspekte, Analysen, Argumente. Wissenschaftliche Halbjahreshefte der Gesellschaft für Kultursoziologie e.V. 6 (1997), H. 2, S. 43–78. 350 Leistner: die klassisch-romantische Tradition, S. 415; Leistner: Goethe, Hoffmann, Kleist, et cetera, S. 131 u. Christa Wolf: Projektionsraum Romantik. Gespräch mit Frauke Meyer-Gosau. In: dies.: Die Dimension des Autors. Essays u. Aufsätze, Reden u. Gespräche. 1959–1985. Bd. 2. Berlin/Weimar 1986, S. 422–439. Auf die Parallelität zwischen 1789ff. und 1945/49ff. hat 1977 bereits Hans-Dietrich Dahnke hingewiesen, wurzelt seiner Überzeugung nach das Interesse an der Romantik doch „sowohl in den erweiterten gesellschaftlichen Bedürfnissen und Möglichkeiten als auch [meine Hervorhebung, R.W.] in neuen, sich aus unseren geschichtlichen Entwicklungen ergebenden Widersprüchen“. Hans-Dietrich Dahnke: Erbe und Tradition in der Literatur. Leipzig 1977, S. 71. 351 Monika Totten: Zur Aktualität der Romantik in der DDR. Christa Wolf und ihre Vorläufer(innen). In: Zeitschrift für Deutsche Philologie 101 (1982), H. 2, S. 245. 352 Vgl. Christa Wolf: Der Schatten eines Traumes. Karoline von Günderrode – ein Entwurf. In: dies.: Die Dimension des Autors. Bd. 2, S. 55–115 u. Christa Wolf: Nun ja! Das nächste Leben geht aber heute an. Ein Brief über die Bettine. In: dies.: Die Dimension des Autors. Bd. 2, S. 116–154. Siehe zur Rezeption der Romantik bei Wolf: Patrick Baab: Die Mitwelt hat Anspruch auf Auskunft. Konzeptuelle Wandlung der Rezeption des „negativen“ romantischen Erbes in der DDR am Beispiel von Christa Wolf. In: Die Horen 29 (1984), H. 4, S. 49–61; Gizela Kurpanik-Malinowska: Stil und Traditionsbezüge gehören zusammen: Zu Christa Wolfs Aufarbeitung der deutschen Romantik. In: Erika Tunner (Hg.): Romantik – eine lebenskräftige Krankheit. Ihre literarischen Nachwirkungen in der Moderne. Amsterdam 1991, S. 135–144 u. Annette Firsching: Kontinuität und Wandel im Werk von Christa Wolf. Würzburg 1996, S. 123ff.

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zensurkritische Auseinandersetzung mit Jean Paul353 über Franz Fühmanns rationalismus- und miserekritischer Befassung mit E. T. A. Hoffmann354 bis hin zu Günter Kunerts Identifikation mit Kleist355 und Heiner Müllers an den Verhältnissen verzweifelnder, selbstzerstörerischer Kleist-Figur in Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei reichen.356 Zumindest in Bezug auf Christa Wolf und

|| 353 Vgl. Günter de Bruyn: Das Leben des Jean Paul Friedrich Richter. Halle/S. 1975. Siehe hierzu: Steffen Richter: „… die Zustände der Zeit muss man vor Augen haben“. Günter de Bruyn und Jean Paul. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Günter de Bruyn. München 1995, S. 51–58. 354 Vgl. Franz Fühmann: Ernst Theodor Amadeus Hoffmann. Rede in der Akademie der Künste der DDR. In: ders.: Essays, Gespräche, Aufsätze. 1964–1981. Rostock 1983, S. 216–238; Franz Fühmann: Ernst Theodor Wilhelm Amadeus Hoffmann. Ein Rundfunkvortrag. In: ders.: Essays, Gespräche, Aufsätze, S. 239–255; Franz Fühmann: „Klein Zaches genannt Zinnober“. In: ders.: Essays, Gespräche, Aufsätze, S. 311–327 u. Franz Fühmann: Fräulein Veronika Paulmann aus der Pirnaer Vorstadt oder Etwas über das Schauerliche bei E. T. A. Hoffmann. In: ders.: Essays, Gespräche, Aufsätze, S. 328– 399. Siehe hierzu: Werner Jung: Klassiker und Romantiker, oder Rainer Kirsch und Franz Fühmann. In: Hans-Christian Stillmark (Hg.): Rückblicke auf die Literatur der DDR. Amsterdam 2002, S. 179–190 u. Swantje Rehfeld: „… seltsames Knistern unter Bindestrichen“. Franz Fühmanns produktive Rezeption E. T. A. Hoffmanns. Trier 2007. 355 Vgl. Günter Kunert: Pamphlet für K. In: SuF 27 (1975), H. 5, S. 1091–1094; Günter Kunert: Notwendiges Nachwort zum „Pamphlet“. In: SuF 27 (1975), H. 5, S. 1094–1097 u. Günter Kunert: Ein anderer K. Hörspiel. Stuttgart 1977. Siehe hierzu: Jacques Lajarrige: Wahnsinn mit Gänsefüßchen. Zur Rehabilitierung Heinrich von Kleists in Günter Kunerts „Ein anderer K.“. In: Tunner (Hg.): Romantik – eine lebenskräftige Krankheit, S. 145–158. 356 Siehe Kap. 5.5.2.2, S. 452f. Siehe zu Müller und Kleist: Hans-Christian Stillmark: Zur Kleist-Rezeption Heiner Müllers. In: Kleist-Jahrbuch (1991), S. 72–81; Hans-Thies Lehmann: Kleist/Versionen. In: Kleist-Jahrbuch (2001), S. S. 99–103; Monika Meister: Zu Heiner Müllers Kleist-Lektüre. In: Schulte u. Mayer (Hg.): Der Text ist der Coyote, S. 177–188 u. Florian Vaßen: „Die Arbeit an der Differenz“. Heinrich von Kleist, Heiner Müller und der Untergang des „Prinzen von Homburg“. In: Branka Schaller-Fornoff u. Roger Fornoff (Hg.): Kleist. Relektüren. Dresden 2011, S. 223–248. Des Weiteren zu nennen sind Helmut T. Heinrichs, Stephan Hermlins und Gerhard Wolfs Auseinandersetzungen mit Hölderlin. Vgl. Helmut T. Heinrich: Hölderlin auf dem Wege von Bordeaux. Erzählungen. Berlin 1971; Stephan Hermlin: Scardanelli. In: SuF 21 (1970), H. 3, S. 513–534 u. Gerhard Wolf: Der arme Hölderlin. Berlin 1972. Siehe zu weiteren AutorInnen den Sammelband: Gaskill (Hg.): Neue Ansichten. The Reception of Romanticism in the Literature of the GDR. Amsterdam 1990. Eine wichtige Rolle bei der Romantikrezeption spielte die Grande Dame der DDR-Literatur Anna Seghers, die schon in der Auseinandersatzung mit Georg Lukács die Romantik verteidigt hatte (vgl. Schmitt [Hg.]: Die Expressionismusdebatte, S. 264–301) und auch in ihrem Spätwerk, so in Das wirkliche Blau [1967] und Die Reisebegegnung [1973], auf Themen der Romantik bzw. romantische Autoren wie E. T. A. Hoffmann zurückgriff. Siehe hierzu: Walter Kusche: Die „blaue Blume“ und das „wirkliche Blau“. Zur RomantikRezeption im Spätwerk von Anna Seghers. In: WB 20 (1974), H. 7, S. 58–79 u. Sonja Hilzinger: Die „Blaue Blume“ und das „Wirkliche Blau“. Zur Romantik-Rezeption in den Erzählungen „Das wirkliche Blau“ und „Die Reisebegegnung“ von Anna Seghers. In: Literatur für Leser 11 (1988), H. 4, S. 260– 271.

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Franz Fühmann vollziehen die AutorInnen so auch eine Korrektur ihrer eigenen, in den 1950er Jahren geäußerten anti-romantischen Positionen.357 Entscheidender als eine solche Korrekturfunktion ist aber der Aspekt der Künstlerproblematik, d.h. die autobiographische Selbstreflexion anhand der Künstlerschicksale der RomantikerInnen, deren Leiden am aufkommenden Kapitalismus und der sich damit potenzierenden Entfremdung auf der einen und deren Hoffnung auf eine Welt jenseits der Zweckrationalität und des immer prosaischeren Lebens auf der anderen Seite als überhistorische Entsprechungen erscheinen. Christa Wolf schreibt: Der Dekadenz, zumindest der Schwäche, der Lebensuntüchtigkeit geziehen, sterben sie zum zweitenmal an der Unfähigkeit der deutschen Öffentlichkeit, ein Geschichtsbewußtsein zu entwickeln, sich dem Grundwiderspruch unserer Geschichte zu stellen; ein Widerspruch, den der junge Marx in den lapidaren Satz faßt, die Deutschen hätten die Restauration der modernen Völker geteilt, ohne allerdings auch ihre Revolutionen zu teilen. Ein zerrissenes, politisch unreifes und schwer zu bewegendes, doch leicht verführbares Volk, dem technischen Fortschritt anhangend statt dem der Humanität, leistet sich ein Massengrab des Vergessens für jene früh zugrunde Gegangenen, jene unerwünschten Zeugen erwürgter Sehnsüchte und Ängste.358

Die Kontinuität der deutschen Misere, die bis in die Gegenwart der DDR reicht, wird hier recht deutlich. Die Enttäuschung über die nicht eingelösten utopischen Sozialismus-Vorstellungen, führt zu einer Überprüfung des eigenen Standpunkts, die eine Suchbewegung innerhalb der Literaturgeschichte auslöst, deren Ergebnis der affirmative Bezug auf die bis dato ausgeschlossene und abgewertete Romantik ist.359 Die Zeit um 1800 erfüllt somit erneut die Funktion einer Rückversicherung hinsichtlich

|| 357 In seiner Erzählung „Kameraden“ schob Franz Fühmann der negativen Soldatenfigur Karl neben Nietzsche und George auch „einen Band deutscher Romantiker Tieck, Brentano, Novalis“ unter (Franz Fühmann: Kameraden. In: ders.: Erzählungen. 1955–1975. Rostock 1977, S. 29), und noch 1964 beschrieb er die Romantik als „[r]eaktionäre Literaturströmung[ ]“. Zit. n.: Gunnar Decker: Franz Fühmann. Die Kunst des Scheiterns. Eine Biographie. Rostock 2009, S. 244. Auch Christa Wolf äußerte sich in den 1950er Jahren negativ über die Romantik. Vgl. Christa Wolf: „Freiheit“ oder Auflösung der Persönlichkeit? Hans Erich Nossack: „Spätestens im November“ und „Spirale, Roman einer schlaflosen Nacht“. In: ndl 5 (1957), H. 4, S. 135–142 u. Christa Wolf: Kann man eigentlich über alles schreiben? In: ndl 6 (1958), H. 6, S. 3–16. 358 Wolf: Der Schatten eines Traumes, S. 56. Wesentlich nüchterner äußerte sich Günter de Bruyn, der, nach seinem Verhältnis zu Fontane gefragt, antwortete: „Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts, das war eine Zeit des Umbruchs, des Aufbruchs, auch der Enttäuschungen. Das steht meiner Generation näher als das festgelegte spätere 19. Jahrhundert.“ Karin Hirdina: Interview mit Günter de Bruyn. In: dies.: Günter de Bruyn. Leben und Werk. Berlin 1983, S. 12. 359 Als Vorreiter kann hier Johannes Bobrowskis Erzählung „Boehlendorff“ [1964] gelten. Vgl. Johannes Bobrowski: Die Erzählungen, vermischte Prosa und Selbstzeugnisse, hg. von Eberhard Haufe. Stuttgart 1999 (Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Bd. 4), S. 97–112. Siehe hierzu: Dennis Tate: Unexpected affinities. Johannes Bobrowskiʼs “Boehlendorff” and Franz Fühmannʼs “Barlach in Güstrow” as landmarks in the early evolution of GDR literature. In: John Wieczorek (Hg.): Johannes Bobrowski (1917–1965). Reading 1996, S. 37–52.

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des eigenen Standorts, diesmal unter umgekehrtem Vorzeichen: „Während der klassische Idealismus dazu beitrug, die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft zu legitimieren, erwächst ihre Kritik aus dem romantischen Weltschmerz.“360 Die Konsequenz einer solchen Romantikrezeption ist die Aufwertung der Künstlerpersönlichkeit, eine „Hypertrophierung der schriftstellerischen Existenz“, wie es polemisch in einer Rezension zu Christa Wolfs Roman Kein Ort. Nirgends [1977] hieß.361 Denn die Darstellung der RomantikerInnen als „kleine Gruppe von Intellektuellen – Avantgarde ohne Hinterland“362 hat auch zur Folge, die Situation des Schriftstellers bzw. der Schriftstellerin als existenziell aufzufassen. Die Künstlerpersönlichkeit wird zu einem Subjekt, das in „schöpferische[r] Qual“ und mit „volle[m] Einsatz der eigenen moralischen Existenz“363 gegen die Verdinglichung, die abstrakte Herrschaft und die kalte Rationalität der anbrechenden kapitalistischen Epoche kämpft; ein Kampf, der nun auch in der DDR gekämpft wird und in dem den KünstlerInnen als Sprachrohr der Verzweifelten eine VorkämpferInnen-Rolle zukommt: die KünstlerInnen als Avantgarde, deren Unterdrückung und Scheitern paradigmatisch für die Situation der von der (sozialistischen) „Philister“364-Mehrheit oder den Herrschenden Ausgegrenzten und Unterdrückten steht, für die Situation der Frauen, der Subkulturen, der ,echten‘ KommunistInnen oder auch des Volkes – eine Vorstellung, die sich nicht nur in Kein Ort. Nirgends und in Stephan Hermlins Scardanelli, sondern ebenfalls, wenn auch in abgewandelter Form, in Heiner Müllers Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei und dem damit assoziierbaren Konzept einer „kleinen Literatur“, wie es Gilles Deleuze und Félix Guattari entwickelt haben, findet.365 Jenseits einer historischen Projektionsfläche für die empfundene Krise des Sozialismus, der mehr und mehr als „Zerrbild einer zugrunde gerichteten Idee“366 erscheint, kam der Romantik aber noch eine weitere Funktion zu, diente die im offiziellen Kanon vorgenommene Abwertung doch nicht nur den politischen und philosophischen Positionen der Romantik, sondern auch der romantischen Ästhetik, die Lukács ja als „Vorwegnahme“ der Moderne, d.h. als dekadent, gekennzeichnet hatte.367 Mittels der Schlegel’schen Konzeption des offenen Kunstwerks, das, wie es im 116. Athenäums-Fragment heißt, „alle getrennten Gattungen der Poesie wieder […]

|| 360 Herminghouse, S. 234. 361 Sigrid Bock: Christa Wolf: Kein Ort. Nirgends. In: WB 26 (1980), H. 5, S. 156. 362 Wolf: Der Schatten eines Traumes, S. 58. 363 Fühmann: E. T. A. Hoffmann. Rede in der Akademie der Künste, S. 237 u. Christa Wolf: Lesen und Schreiben. In: dies.: Die Dimension des Autors. Bd. 2, S. 32. 364 Fühmann: E. T. A. Hoffmann. Rede in der Akademie der Künste, S. 237. 365 Vgl. Breuer, S. 341. Siehe zu Müllers Leben Gundlings sowie dem Konzept einer ‚kleinen Literatur‘: Kap. 5.5.2.2. 366 Reincke, S. 422. 367 Lukács: Fortschritt und Reaktion, S. 56.

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vereinigen und die Poesie mit der Philosophie und Rhetorik in Berührung […] setzen“ soll,368 ließ sich der eng gesteckte Rahmen des Sozialistischen Realismus und die mit ihm verbundenen Parameter der Totalität und der Entwicklung des Subjekts im Verhältnis zum Objekt Welt in Richtung der literarischen Moderne überschreiten. An die Stelle der Totalität, die die Elemente des Textes dem Ganzen einer Idee unterordnet, das zugleich in der geschlossenen Form erfahrbar sein soll, tritt eine arabeske Struktur, ein heterogenes Verfahren – Schlegel spricht von einer „chaotische[n] Form“ bzw. einem „gebildete[n] künstliche[n] Chaos“ –,369 das nicht mehr der Nachahmung der Natur, also dem klassischen Verfahren der Mimesis bzw. der Widerspiegelung verpflichtet ist, sondern auf die Aufnahme ganz unterschiedlicher Elemente zielt, so dass der Roman als die romantische Literaturgattung schlechthin Funktionen des Gedächtnisses, der Introspektion, des philosophischen Diskurses sowie der Phantasie übernimmt. Im Mittelpunkt des Handlungsgeschehens steht zudem nicht mehr die Ausbildung des Subjekts wie in Goethes Wilhelm Meister; an die Stelle des im Hegel’schen Sinne zu sich selbst kommenden Subjekts treten vielmehr die Reflexion des Ich und das Unbewusste.370 Aus einer solchen Struktur der Arabeske, verstanden als nicht totalitätszentriertes Ganzheitsprinzip des Textes – Schlegel spricht von einer „Konstruktion des Ganzen“ –,371 ergeben sich für die RezipientInnen auch neue Möglichkeiten des Textverstehens, vereint der Text doch Heterogenes, das von den LeserInnen/ZuschauerInnen interpretiert werden muss und Phantasie voraussetzt.372 Einen Rückgriff auf die frühromantische Ästhetik, insbesondere die Romantheorie Schlegels, erkennt Bernhard Greiner bereits in einigen DDR-Romanen der späten 1960er Jahre, in Christa Wolfs Nachdenken über Christa T., Fritz Rudolf Friesʼ Der Weg nach Oobliadooh und Johannes Bobrowskis Litauische Claviere; in ihnen werde „das bisher verbindliche System von Prinzipien zugunsten eines neuen Paradigmas aufgegeben“.373 Spuren einer solchen Ästhetik finden sich auch in Franz Fühmanns Zweiundzwanzig Tage oder Die Hälfte des Lebens [1973], Fühmanns „eigentliche[m] Eintritt

|| 368 Friedrich Schlegel: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hg. von Ernst Behler. Bd. 2. München u.a. 1967, S. 182. 369 Friedrich Schlegel: Literarische Notizen 1797–1801, hg. von Hans Eichner. Frankfurt/M. u.a. 1980, S. 184 u. 146. 370 Vgl. zur Theorie des romantischen Romans: Gerhart Hoffmeister: Der romantische Roman. In: Schanze (Hg.): Romantik-Handbuch, S. 208–241. Siehe zu Schlegels Kunstphilosophie: Manfred Frank: Einführung in die frühromantische Ästhetik. Vorlesungen. Frankfurt/M. 1989, S. 287ff. 371 Schlegel: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Bd. 2, S. 318. 372 Siehe zur Kategorie der Arabeske als Gegenstück zur Totalität: Karl Konrad Polheim: Die Arabeske. Ansichten und Ideen aus Friedrich Schlegels Poetik. München u.a. 1966 u. ÄGB 1, 279ff. 373 Bernhard Greiner: „Sentimentaler Stoff und fantastische Form“. Zur Erneuerung frühromantischer Tradition im Roman der DDR (Christa Wolf, Fritz Rudolf Fries, Johannes Bobrowski). In: Jos Hoegeveen u. Gerd Labroisse (Hg.): DDR-Roman und Literaturgesellschaft. Amsterdam 1981, S. 259.

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in die Literatur“, einem ,arabesken‘ Text, Tagebuch und Essay, Notizbuch und Protokoll von Träumen und literarischen Projekten zugleich, in dessen Zentrum Fühmanns „eigenes Ich“ und seine „eigene Vergangenheit“ steht.374 Und auch von Heiner Müllers fragmentarischen Theatertexten der 1970er Jahre, die sich obsessiv mit deutscher Geschichte befassen und die subjektive Erfahrung der Enttäuschung betonen, lassen sich Verbindungen zur Schlegel’schen Universalpoesie wie auch zum Wagner’schen Gesamtkunstwerk ziehen.375 Die Rezeption der Romantik kann so auch in ästhetischer Hinsicht als einflussreich gelten. Sie öffnete den Blick für eine andere Literatur jenseits des Verantwortungs- und Abbildungsparadigmas des Sozialistischen Realismus; ihr kommt insofern eine „‚Brückenfunktion‘ […] für die Rückeroberung der Moderne“ zu.376 Ein weiterer Aspekt der Romantik-Rezeption zeigt sich bei Franz Fühmann und dessen Beschäftigung mit E. T. A. Hoffmann. Im Vordergrund stand hier nicht die Identifikation mit der Biographie des Künstlers. Was Fühmann dazu brachte, in Hoffmann seinen „Meister“ zu entdecken, dessen „treuer Knappe“ er sein könne,377 war vielmehr der Hoffmann’sche Realismus, d.h. die literarischen „Modelle der Romantik“, die in angemessener, nämlich gespenstischer, Weise auf den aufkommenden Kapitalismus reagierten und die „auch heute und hier“ – Mitte der 1970er Jahre in der DDR – „noch […] tauglich“ seien:378 Hoffmanns Gespenster entstammen dem Leben, das Gespenstische seiner Erzählungen ist jene Erfahrungsrealität des Daseins, die das Räderwerk der Wissenschaft mit dem Wort ‚Gespenster‘ gewiß nicht faßt […]. Darum stimmt der Untersatz jenes Schlusses auf Hoffmanns Irrealismus nicht: Der Mittelbegriff hat die Bedeutung gewechselt. – Ein Gespenst wissenschaftlichen Realitätserfassens ist nicht gleich dem Gespenst als literarischer Erscheinung, das dort rechtens – und das heißt nach meinem Begreifen: realistisch – als Äquivalent auftritt, wo der Alltag des Lebens gespenstisch wird.379

Welches subversive Potential der Romantik in der literarischen Öffentlichkeit der DDR zukam, verdeutlicht sich vor dem Hintergrund des nach 1945 etablierten Romantik-Diskurses. Die in den 1970er Jahren sich nach und nach vollziehende Umwertung dieses Diskurses bedeutete nicht nur eine Revision der bis zu Beginn der 1970er Jahre unangefochtenen literarhistorischen Stellung Goethes – dessen ,Realismus‘,

|| 374 Franz Fühmann: Zweiundzwanzig Tage oder Die Hälfte des Lebens. Rostock 1974, S. 130. 375 Vgl. Lehmann u. Schulz. Siehe zur ,romantischen‘ Ästhetik Müllers Kap. 5.5. 376 Reincke, S. 421. Siehe hierzu: Erbe: Die verfemte Moderne, der auf die Bedeutung der Romantikrezeption allerdings nicht gesondert eingeht. Siehe zur DDR-Literatur der 1980er Jahre und der Rezeption der Moderne: Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR, S. 396ff. 377 Franz Fühmann: Briefe. 1950–1984. Eine Auswahl, hg. von Hans-Jürgen Schmitt. Rostock 1994, S. 123 (Franz Fühmann an Kurt Batt, 29. August 1973). 378 Fühmann: E. T. A. Hoffmann. Rede in der Akademie der Künste, S. 237. 379 Fühmann: E. T. A. Hoffmann. Rede in der Akademie der Künste, S. 227f.

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wie am Beispiel Günter Kunerts noch näher zu zeigen sein wird, nunmehr als Ausdruck der ,Fürstenknechtschaft‘ und des Arrangements mit der Macht erschien –, sie leitete auch eine „Umgestaltung des gesamten literarischen Bezugssystems“ ein.380 In der Folge setzte sich die in den späten 1940er Jahren zusammen mit der Romantik aus dem offiziellen Kanon ausgeschlossene ästhetische Moderne auf breiter Front durch. Die Bezeichnung ,Front‘ ist an dieser Stelle bewusst gewählt, denn die Rezeption der Romantik und die sich darin ausdrückende ästhetische Opposition führte im literarischen Feld der DDR zu erheblichen Konflikten und zu einer deutlichen Lagerbildung, die einer Spaltung des literarischen Feldes nahekommt.381 Die Orte dieser Auseinandersetzung waren die Zeitschriften der DDR und die Akademie der Künste, d.h. die Sektion Literatur und Sprachpflege sowie die von Peter Hacks initiierte Arbeitsgruppe Dramatik. Bevor wir aber zur Schilderung dieser Auseinandersetzungen kommen, in die Hacks maßgeblich verwickelt war, besser gesagt: in die er sich maßgeblich verwickelte, soll zunächst Hacksʼ Verständnis der Konstellation von Klassik und Romantik sowie dessen Romantikauffassung dargelegt werden.

|| 380 Opitz u. Hofmann, S. 284. 381 Olaf Reincke spricht von einem „mit der literarischen Romantikrezeption zu Beginn der 70er Jahre eingeleiteten Spaltungsprozess[ ] der gesamten Kunstszene in der DDR“. Reincke, S. 409. Erinnert sei in diesem Zusammenhang noch einmal an Volker Brauns Formulierung der „Feldschlacht“ von 1973. Braun: Literatur und Geschichtsbewußtsein, S. 311.

„Nix Schlegel“: Das Romantikbild von Peter Hacks | 411

5.4

„Nix Schlegel“: Das Romantikbild von Peter Hacks

Peter Hacks gilt als einer der schärfsten Kritiker der Romantik.382 Sein Romantikbild folge, so Theo Honnef, einer „völlig einseitige[n] Betrachtungsweise“, die sogar noch Georg Lukácsʼ Urteil übertreffe.383 Hacksʼ Äußerungen zur Romantik entsprechen ab Mitte der 1970er Jahre einer apodiktischen Verurteilung auf der Grundlage der oben ausgeführten Klassik-Romantik-Dichotomie.384 Dabei geht die Ablehnung der Romantik als Negation der Mitte unmittelbar auf Hacksʼ Verständnis der Klassik als Position der dialektischen Vermittlung sowie dessen Auseinandersetzung mit dem Absolutismus bzw. Bonapartismus zurück. Nach 1971, nach dem Sturz Ulbrichts, reflektiert Hacks, welche Möglichkeit klassischer Kunst in nachklassischen Zeiten zukomme.385 Ähnlich wie andere DDR-AutorInnen sucht er nach parallelen historischen Situationen und Figuren, die über die Gegenwart Aufschluss geben können. Goethe, der in den 1970er Jahren auch aufgrund seiner politischen Haltung zur bedeutendsten Bezugsperson Hacksʼ wird, spielt hier eine wichtige Rolle, ebenso Hegel, dessen Position Hacks mit derjenigen Goethes identifiziert, und ab den späten 1980er Jahren der nahezu unbekannte Schriftsteller Saul Ascher (1767–1822).386 || 382 Siehe für das Zitat in der Überschrift: Handschriftliche Bemerkung von Peter Hacks unter einem Brief der Germanistin Heidi Ritter, die gefragt hatte: „Hat bei Ihren Überlegungen zu einer sozialistischen Klassik die Schiller’sche Kunsttheorie eine Rolle gespielt oder steht dem marxistischen Künstler etwa die romantische Theorie näher, in die Friedrich Schlegel mit seinen Vorstellungen von einer progressiven Universalpoesie ja das Moment der Bewegung hineingebracht hat? Die Rolle, die Sie der Utopie im Drama geben, ließe darauf schließen. Oder irre ich mich da?“ Heidi Ritter an Peter Hacks, 8. Dezember 1975, DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit LeserInnen. 383 Theo Honnef: „Was nie anwendbar war, wird es nicht mehr.“ Peter Hacks und die Romantik. In: Germanic Review 66 (1991), H. 3, S. 130. 384 Das Festhalten an dieser Dichotomie ist einer der Gründe, warum die Literaturwissenschaft Hacksʼ Äußerungen zur Romantik weitgehend ignoriert bzw. scharf verurteilt hat. So schreibt Jochen Hörisch in seiner Rezension zu Zur Romantik [2000] von einem „widerwärtige[n] Traktat“ und einem „Haßausbruch“; Hacks habe eine „genuin faschistische Hetzschrift“ vorgelegt. Jochen Hörisch: „Urwaldartiges Geheul“ – Peter Hacks enttarnt die Romantiker. In: Athenäum. Jahrbuch der Friedrich Schlegel-Gesellschaft 12 (2002), S. 263. Siehe auch: Michael Maar: Die Elixiere des Teufels oder Die Ratte in der Milchkanne. Peter Hacks über die Romantik, Rosenkreuzer und Trotzkisten. In: Literaturen 2 (2001), H. 11, S. 94–98. Siehe zur Darstellung von Hacksʼ Romantikbegriff: Honnef u. Nikolas Immer: Literaturgeschichte als Provokation. Zu Peter Hacksʼ kritischer Abrechnung mit der Romantik. In: Köhler (Hg.): Salpeter im Haus, S. 53–69. 385 Vgl. HW 13, 129–137. 386 Vgl. HW 14, 321–448. Siehe zu Saul Ascher: Walter Grab: Ein Volk muß seine Freiheit selbst erobern. Zur Geschichte der deutschen Jakobiner. Frankfurt/M. 1984, S. 461–494; Marco Puschner: Antisemitismus im Kontext der Politischen Romantik. Konstruktionen des „Deutschen“ und des „Jüdischen“ bei Arnim, Brentano und Saul Ascher. Tübingen 2008, S. 242–457 u. Renate Best: Der Schriftsteller Saul Ascher. Im Spannungsfeld zwischen innerjüdischen Reformen und Frühnationalismus in Deutschland. In: Saul Ascher: Ausgewählte Werke, hg. von Renate Best. Köln u.a. 2010, S. 7–57.

412 | Der Streit im literarischen Feld

5.4.1

Die Romantik als anti-bonapartistische Fronde

Dass Hacks den Blick auf die Zeit um 1800 richtet, geht allerdings nicht allein auf dessen Affinität zu Goethe zurück. Die Erklärung hierfür ist vielmehr in der Epochenschwelle zu finden, für welche die Französische Revolution und die mit ihr auf die Tagesordnung gesetzten Fragen moderner Staatlichkeit stehen. Die bürgerliche Revolution und ihre Napoleonische Nachgeschichte hat die MarxistInnen von jeher fasziniert: als Paradigma einer modernen Revolution, ihrer Dynamiken und Probleme, aber auch als Tradition, aus welcher der Sozialismus im Kontext des genealogischen Verständnisses von Marx und Engels hervorging. Klassik und Romantik erklären sich für Hacks vor dem Hintergrund der Französischen Revolution, wie aus seiner Sicht überhaupt die deutsche Literaturgeschichte ohne die sowohl anziehende als auch abstoßende Wirkung Frankreichs nicht zu verstehen ist.387 Klassik und Romantik sind gewissermaßen Ableitungen – „politische[ ] Richtungen, die, dem damaligen Umgangston entsprechend, als Kunstrichtungen firmierten“388 – und stehen für unterschiedliche Haltungen zur entscheidenden Frage der Zeit um 1800: dem Modus des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus.389 Nach Hacks etablierten sich mit Frankreich und England zwei verschiedene Entwicklungswege des Kapitalismus: Die ständische Herkunft gibt dem Kapitalismus Erlaubnis zu rücksichtslosem Ellbogengebrauch gegen den Staat und alle Mitstände. Die bonapartistische Herkunft ermutigt ihn zur Inbesitznahme des Staates und zur Nutzung jener Vorteile, die ihm aus einer zweckmäßigen Ordnung des gesellschaftlichen Ganzen entstehen, selbst wenn er sich damit zu einigen Rücksichten verpflichtet, die ein Staat auf Wohl und Wehe seiner sämtlichen Glieder einmal zu nehmen hat.390

|| 387 Vgl. BD 2, 157 u. HW 15, 243. 388 HW 14, 339. 389 Aus Hacksʼ Verortung der Romantik als Phänomen des Überbaus ergibt sich die Differenz in der Auffassung zu Carl Schmitts Begriff des Romantischen. Schmitt versteht Romantik als „subjektivierten Occasionalismus“, „der jeden beliebigen Inhalt zum Anlaß ästhetischen Interesses nehmen kann“. Schmitt: Politische Romantik, S. 167. Zudem denkt er den staatlichen Souverän bzw. den Herrscher seinem dezisionistischen politischen Konzept folgend als Entscheidungsinstanz von Konflikten, während Hacks dem Souverän die Kompetenz der Vermittlung zuschreibt, die im Sinne der historischen Dialektik aber zu keiner Lösung eines Problems, sondern zu dessen Reproduktion auf höherer Ebene führt. Übereinstimmungen im Romantikbild zwischen Hacks und Schmitt sind dementsprechend „phänomenologischer Natur“. Detlef Kannapin: Warum hat Peter Hacks Carl Schmitts „Politische Romantik“ ignoriert? Anmerkungen zum Romantikbegriff von Hacks gelegentlich dreier Winke zu seiner politischen Großraumwirkung. In: Köhler (Hg.): Salpeter im Haus, S. 108. Siehe zum Vergleich von Hacks und Schmitt auch: Kai Köhler: Zur Romantik, zum Ausnahmezustand, zu Politik und Staat. Peter Hacks und Carl Schmitt. In: ARGOS (2012), H. 9, S. 453–473. 390 HW 13, 324. „Der Kapitalismus kann zwei Gesichter tragen, eins zum Staat hin und eins vom Staat ab.“ HW 13, 325.

„Nix Schlegel“: Das Romantikbild von Peter Hacks | 413

Der Widerspruch zwischen dem französischen und dem englischen Weg ergibt sich demzufolge aus dem Verhältnis zum Staat, ein Widerspruch, der selbst schon in den Notwendigkeiten der kapitalistischen Produktion angelegt ist, die sowohl die nichtregulierte Konkurrenz wie auch eine staatlich garantierte Ordnung durch (Arbeits-)Gesetze, sichere Handelswege, Rechtsschutz usw. benötigt. Während der Staat im englischen Fall in eine „kapitalistische Maschine“, den „ideelle[n] Gesamtkapitalist[en]“,391 umgebaut wird und an die Stelle der „Standeswillkür“ die „Willkür nach dem Besitzstand“ tritt,392 verbleibt der Staat nach Hacks im Bonapartismus in relativer Unabhängigkeit. Als nicht von den Kapitalinteressen dominierte Kraft leiste er im Rahmen der „Dreikörpergesellschaft“ des Bonapartismus (d.h. Adel, Bourgeoisie und, als historisch neu auftretender Akteur, das Volk), was bereits zuvor der Absolutismus geleistet habe, die Vermittlung der verschiedenen Klasseninteressen im Interesse „übergeordnete[r] Aufgaben“.393 Der Staat in Gestalt des Bonapartismus ist für Hacks die Garantie einer fortschrittlichen Entwicklung; er schränkt die Rechte des Adels ein und setzt an die Stelle dieses „wüste[n] Aggregat[s] von Privilegien gegen alle Gedanken und Vernunft überhaupt“394 eine aufgeklärte Rationalität, die bei Hacks wie bei Hegel als Garant der historischen Vernunft erscheint: Die Grundüberzeugung des Revolutionszeitalters ist, daß das Absterben des Staates nicht auf dem Wege seiner ständigen Entkräftung, sondern allein auf dem Wege seiner ständigen Vervollkommnung zu erzielen sei [...]. Der Staat, so wurde und wird immer wieder entgegnet, solle doch besser nicht jede Einzelheit regeln. Aber was der Staat nicht regelt, regeln andere. Der Irrtum der Staatsängstlichen besteht in der Annahme, daß, wo der Staat nicht ist, die Freiheit sein müsse.395

|| 391 MEW 20, 260. 392 HW 13, 324. „Zwischen reichsritterlicher Freiheit und Gewerbefreiheit, zwischen Patrimonialgerichten und Werkspolizei, zwischen den Zünften und den Zünften der Arbeiterbewegung, den Tradeunions, deren Bettlergilden, die Arbeitslosen, eingeschlossen, gibt es nicht nur Ähnlichkeiten und Möglichkeiten des Vergleichs, sondern diese entspringen ursächlich aus jenen.“ HW 13, 324. 393 HW 13, 314. Hacks bestimmt den Begriff des Bonapartismus denn auch als das für das neunzehnte Jahrhundert typische „Muster von Klassengewichten“. HW 13, 335. Siehe auch: HW 15, 254. Hacksʼ Begriff des Bonapartismus weicht von der herkömmlichen Bedeutung, die vor allem auf Marx zurückgeht (vgl. MEW 8, 111–207), ab: Zum einen bezieht Hacks den Begriff bereits auf Napoleon I. und nicht erst auf das zweite Kaiserreich unter Napoleon III., zum anderen verwendet er ihn für eine Konstellation, in der sich nicht zwei Klassen (Bourgeoisie und Proletariat), sondern drei gegenüberstehen. Vgl. zur marxistischen Bonapartismus-Diskussion: HKWM 2, 283–290. Siehe auch den Eintrag ,Cäsarismus, Bonapartismus, Führer, Chef, Imperialismus‘ in: Otto Brunner u.a. (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 1: A – D. Stuttgart 1992, S. 726–771, insb. S. 758–761. 394 Hegel 12, 528. 395 HW 14, 338.

414 | Der Streit im literarischen Feld

Als das positive historische Ergebnis von 1789 erscheint so nicht die Herrschaft des Bürgertums, die in der marxistischen Revolutions- und Geschichtstheorie die proletarische Revolution vorbereiten hilft und eine notwendige Durchgangsposition auf dem Weg zum Sozialismus einnimmt, sondern die Weiterentwicklung des modernen Staats, weshalb Hacks die Zeit nach dem Wiener Kongress auch nicht als Restauration, sondern als eingeschränkte Fortsetzung des Bonapartismus auffasst.396 Das „Verschwinden der Gesellschaft im Staat“, verstanden als die Nivellierung der Privilegien und sonstigen durch Herkunft erlangten Rechte, sowie die Einschränkung der Folgen der Industrialisierung und der beginnenden bürgerlichen Hegemonie bedeuten in Hacksʼ Augen „das Programm der lebendigsten Emanzipationsarbeit“ und den „höchsten Zustand der Freiheit“, d.h. den unter den gegebenen Bedingungen weitestmöglich ausgedehnten.397 Hacks erweist sich in dieser Hinsicht ganz als Hegelianer.398 Er favorisiert die „jakobinisch-bürgerlich-feudale Mischgesellschaft“ des Absolutismus, weil es zu dieser jenseits des ständischen Wegs in den Kapitalismus keine Alternative gebe und sich eine neuzeitliche Verwaltung nur im Rahmen der Fürstentümer, nicht aber für die ganze Nation, die schon Hegel als die „Lüge eines Reiches“ bezeichnet hatte, umsetzen lasse:399 Einen Gesamtstaat Deutschland konnte und durfte es bei der statthabenden gesellschaftlichen Unreife nicht geben; wer von Deutschland redete, redete vom Deutschland hinten, vom Barbarossa-Deutschland, dem von Wien, Regensburg und Wetzlar. Neuzeitlich verwaltbar sind höchstens die Fürstentümer. Der Absolutismus hat sich weiterhin als die Staatsverfassung zu erweisen, welche aus dem Vorhandenen das äußerste Machbare herausholt […].400

Aus den gegensätzlichen Antworten auf die Frage ‚Mit dem Staat oder gegen den Staat? ‘, erwächst für Hacks der Gegensatz von Klassik und Romantik in Deutschland, der sich in der Zeit der Napoleonischen Besatzung in den Gegensatz zwischen Bonapartismus und Anti-Bonapartismus übersetzt: Während Goethe und Hegel den Fortschritt Napoleons anerkennt hätten und deshalb „Bonapartist[en]“ waren, hätten

|| 396 Vgl. HW 13, 327. Hacks spricht von „Territorialbonapartismus“. HW 13, 327. 397 HW 13, 319. Wie bereits an anderer Stelle ausgeführt, entspricht Hacksʼ Freiheitsbegriff einer Vermittlung von Subjekt und Objekt/Struktur bzw. von Wollen und Müssen: „Freiheit ist das Vermögen, zu können, was man will.“ HW 13, 57. 398 Bei Hegel heißt es: „[D]ie Idee der Freiheit [ist] wahrhaft nur als der Staat […].“ Hegel 7, 124. 399 HW 15, 254 u. Hegel 12, 539. 400 HW 13, 326.

„Nix Schlegel“: Das Romantikbild von Peter Hacks | 415

sich die Romantiker gegen Napoleon und die Verbreitung „seine[r] liberale[n] Einrichtungen“ in Europa gerichtet401 und einem antisemitisch und chauvinistisch grundierten Nationalverständnis verschrieben.402 Der Anti-Bonapartismus ist demnach die zentrale Gemeinsamkeit der Romantik, die als politische Erscheinung den Charakter einer Fronde, eines ungleichen, nur zeitweilig übereinstimmende Interessen vertretenden Bündnisses gehabt habe. Demgemäß erscheint die Romantik in ihren „scheinbar antinomischen Paaren“, in ihrer ‚linken‘, republikanisch-herrschaftskritischen wie in ihrer ‚rechten‘, patriotisch-katholischen Ausprägung, als widersprüchliche Einheit der Negation des modernen Staates: Die Romantik, das sind die in einer Stimmung versammelten Abneigungen gegen Napoleon. Die Romantik ist der Geist aller Geister, die dem 19. Jahrhundert sich verweigern. Die Romantik ist der Überbau der gegenbonapartistischen Fronde.403

Die Grundlage, auf welcher diese Fronde zusammenfindet, ist ein sich von der Klassik unterscheidender Freiheitsbegriff. Während die Klassik um den nicht auflösbaren und nur im Rahmen einer Bewegung vermittelbaren Widerspruch von Subjekt und Objekt wisse, setze die Romantik einen unbedingten Freiheitsbegriff, der statt auf einer Freiheit zu, auf einer Freiheit von basiere. Solcherart lassen sich die modernen subjektbetonenden Positionen der Frühromantiker mit dem feudalistischen Freiheitsethos eines Adam Müller verbinden. Die Schnittstelle, an der der individuelle, revolutionäre Freiheitsbegriff und die Vorstellungen eines „universellen Republika-

|| 401 HW 13, 312f. „Hegel, wie man weiß oder wissen sollte, war Bonapartist, und er war es ohne Einschränkung.“ „Daß Goethe ein Bonapartist gewesen, wird mir jeder gern zugestehen, von dem nicht verlangt wird zuzugestehen, daß Goethe ein Bonapartist im gemeinen Wortsinn eines politischen Anhängers war. […] Goethe nennt Napoleon ein Kompendium der Welt, und das besagt nur dann nichts, wenn man nicht will, daß es etwas besagt.“ HW 13, 312f. Siehe auch: HW 15, 256ff. Dass Goethe und Hegel Hoffnungen auf Napoleon setzten, ist unumstritten. Ob sie deshalb als Bonapartisten bezeichnet werden können, gilt in der Literatur aber als fraglich. Siehe zu Goethe und Napoleon: GonthierLouis Fink: Goethe und Napoleon. In: Goethe-Jahrbuch 107 (1990), S. 81–101 u. Gustav Seibt: Goethe und Napoleon. Eine historische Begegnung. München 2008. Siehe zu Hegel und Napoleon: Jacques Hondt: Hegel et Napoléon. In: Hans-Christian Lucas (Hg.): Hegels Rechtsphilosophie im Zusammenhang der europäischen Verfassungsgeschichte. Stuttgart-Bad Canstatt 1986, S. 37–67 u. Horst Althaus: Hegel und die heroischen Jahre der Philosophie. Eine Biographie. München 1992. 402 Hegel 12, 533. Siehe zur Verurteilung des Antisemitismus und Nationalismus der Hochromantik bei Hacks: HW 13, 264 u. HW 14, 387–399. 403 HW 13, 317f. Siehe auch: HW 14, 382. Hacks spricht hier explizit von einer romantischen Linken, Mitte und Rechten. Vgl. HW 14, 398. Siehe auch: HW 15, 92. Markus Schwering schreibt: „Die gemeinsame Gegnerschaft führt […] die Konservativen, die schon den Umsturz von 1789 abgelehnt haben, und die ehemaligen Republikaner unter den Romantikern zusammen.“ Schwering, S. 494.

416 | Der Streit im literarischen Feld

nismus“ sowie der positive Bezug auf das Mittelalter und die Ständegesellschaft zusammenkommen,404 ist die Ablehnung des modernen Staatswesens, das seit dem Aufkommen des Absolutismus im Entstehen begriffen und durch die Französische Revolution und Napoleon verbreitet worden ist. Wie bei Lukács erscheint die Romantik so als bürgerlich und feudal in einem. Sie sucht den ständischen Weg in den Kapitalismus und will die „Wiederherstellung des Reiches“, das 1806 untergegangen ist; „Freiheit und Feudalismus“ laute ihre Parole.405 Damit bestimmt Hacks die Romantik in der Tradition des oben geschilderten Romantik-Diskurses als reaktionär; reaktionär aber nicht allein im Sinne der Aufrechterhaltung unzeitgemäßer Verhältnisse, sondern auch hinsichtlich der Etablierungsmodi des Kapitalismus. Im Rahmen der romantischen Bewegung gingen ‚linke‘ und ,rechte‘ Positionen, verbunden über den gemeinsamen Freiheitsbegriff, ineinander über, so dass die Romantik als eine sich revolutionär gebärende Gegenrevolution, eine „proslavery rebellion“,406 erscheine. Eine Äußerung Joseph Görres aufgreifend, schreibt Hacks: War das Geistesschwert rückwärts die alte Reichsverfassung, so ist das Geistesschwert vorwärts der deutschen Romantik kein anderes als der Vorschlag, die alte Reichsverfassung, zum Nutzen des Bürgertums, durch einige unumgängliche Änderungen in eine der englischen ähnliche zu verwandeln.407

Die Romantik stellt damit ebenso wie die Klassik ein modernes Phänomen dar. Beide repräsentieren Reaktionen auf die Französische Revolution und das anhebende kapitalistische Zeitalter: den Napoleonischen, staatsbejahenden und den antinapoleonischen, staatsverneinenden Weg. In Ascher gegen Jahn gibt Hacks seine Unterscheidung von Klassik und Romantik noch einmal in nuce: Wie ließen die Begierden dieser zähnezeigenden Klasse sich im Zaum halten, wie die Klassengewichte sich ausgleichen und gesellschaftlicher Frieden sich wahren? – Auf diese selbe Frage nun hatten sie zwei einander ausschließende Antworten. / Die Klassik: Durch den über die Gruppenwillen sich erhebenden Gesamtwillen des Staats, durch Staatsaufsicht. Die Romantik: Durch das unbehinderte Spiel der Gruppenwillen und deren historisch beärmelte Ellenbogen. / Die Klassik war keine Bourgeoispartei. Die Romantik war keine Adelspartei [meine Hervorhebung, R.W.]. […] / Kurz, die Klassik glaubte an das Gesetz, die Romantik glaubte an Rechte. Man versteht von jenen Zeitläuften nichts, wenn man nicht verstanden hat, daß alle geistigen und politischen

|| 404 Schlegel: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Bd. 7, S. 22. Siehe zu den widersprüchlichen politischen Positionen der Romantik: Schwering. 405 HW 13, 318 u. HW 15, 19. Bei Lukács heißt es: „Sie [die Romantik, R.W.] erstrebt […] nicht eine Wiederherstellung der vorkapitalistischen Gesellschaftsordnung, sondern einen politisch und sozial reaktionären Kapitalismus, der die feudalen Überreste ‚organisch‘ in sich aufnimmt und so aufbewahrt.“ Lukács: Fortschritt und Reaktion, S. 53. 406 HW 14, 349. 407 HW 13, 323. Siehe auch: BD 2, 295.

„Nix Schlegel“: Das Romantikbild von Peter Hacks | 417

Kämpfe Abwandlungen eines Kampfes waren: des Kampfs für oder gegen den Staat oder, wie der Freiherr vom Stein sich ausdrückt: den ,Sultanismus‘.408

5.4.2

Romantische Ästhetik, oder: Friedrich Schlegel und die indirekte Apologie

Die Definition der Romantik als Fronde, als ein Bündnis Ungleicher, hat Hacks erstmals 1982 vor der Goethe-Gesellschaft in Weimar vorgetragen. Sein Begriff der Romantik hat sich danach kaum verändert, eher hat sich der Ansatz, literarische Erzeugnisse auf ökonomische wie realpolitische und – wie Hacks in Zur Romantik ausführt – geheimdienstliche Ursprünge zurückzuführen, später noch verstärkt,409 so dass Hacksʼ Romantikauffassung insgesamt als ein geschlossenes System bezeichnet werden kann. Am Anfang der Hacks’schen Auseinandersetzung mit der Romantik stand aber zunächst die Beschäftigung mit der Frühromantik, konkret mit Friedrich Schlegel und dessen Ästhetik. Diese setzt bereits zu Beginn von Hacksʼ Studiums in München ein. In einer 1946 verfassten Seminararbeit mit dem Titel „Die deutsche Romantik und ihre Stellung zur Klassik“ beschreibt Hacks die Frühromantik in Anlehnung an Rudolf Haym, Heinrich Heine und Friedrich Theodor Vischer als eine negative Reaktion auf die Aufklärung.410 Die Frühromantik stelle eine Überwindung des Verstandes „durch den Intellektualismus“ dar und stehe für einen „absolute[n] Subjektivismus“. Ästhetisch zeichne sie sich durch „künstlerische Willkür“ und „Antipathie gegen das Geregelte“ aus. Ferner bediene sie sich aufgrund ihrer „Systemlosigkeit“ Verfahren der Satire und der Ironie, die negativ und lächerlich wirkten, und nutze mit der Allegorie eine Form der Bildlichkeit, die oftmals auf eine „esoterische Bedeutung“ ziele und das Verständnis erschwere; „in ihrer Liebe zum Ursprünglichen“ sei sie zudem „reaktionär“ und daher in „Dekadenz“ und „Hurrahpatriotismus“ abgedriftet. Hacksʼ Beurteilung der Frühromantik, die den Einfluss des Junghegelianismus verrät, zeigt noch keine Spuren marxistischen Denkens. Die Französische Revolution wird nur beiläufig erwähnt, die politische und ökonomische Situation wird ausblendet. Gleichwohl sind bereits in dieser frühen Arbeit die wesentlichen negativen Urteile über die Romantik

|| 408 HW 14, 347. 409 Siehe das Kapitel „KRYPTEIA“ in Zur Romantik: HW 15, 48–73. Spuren hiervon finden sich bereits 1976, wenn Hacks ausführt, dass Friedrich Schlegel erst dann „verständliche Gedichte“ geschrieben habe, als er in Metternichs Diensten stand. HW 13, 268. 410 Hacks nennt Heines Romantische Schule als Quelle und zitiert Hayms Romantische Schule und Vischers Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Als weitere Quellen sind genannt: Fritz Strich: Die zweite Generation der Goethezeit; Franz Schultz: Klassik und Romantik u. Richard Benz: Die deutsche Romantik. – Die folgenden Zitate bis zum Ende des Absatzes entstammen alle der genannten Seminararbeit, die demnächst im Rahmen der von Gunther Nickel besorgten Edition „Der junge Hacks“ erscheinen wird. Ich danke Gunther Nickel für die Überlassung des Manuskripts.

418 | Der Streit im literarischen Feld

und ihren Theoretiker Friedrich Schlegel enthalten. Was sich im Laufe der Zeit verändert, ist demnach nicht so sehr die Beurteilung der Romantik, sondern der Klassik, die Hacks 1946 noch als „fortschrittsfeindliche Richtung“ gilt. Das Schlussurteil ist dementsprechend ausgewogen: „Bei der Frage nach der künstlerischen Bedeutung von Klassik und Romantik ergibt sich also, daß an absolutem Wert die erstere, an Lebensfähigkeit und befruchtender Wirkung die zweite der anderen um vieles überlegen gewesen ist.“ Im Grunde genommen gelten dem jungen Hacks sowohl Romantik als auch Klassik als überlebt. Die Alternative hieß „Rationalismus in Kunst und Wissenschaft“, und das bedeutete zu dieser Zeit für Hacks vor allem: Brecht. Eine Beschäftigung mit der Romantik setzt dann erst wieder in den 1970er Jahren ein. Frühere Äußerungen sind nur beiläufig, zeigen aber, dass Hacks auch in seiner Brecht-Phase an der negativen ästhetischen Einschätzung der Romantik festhielt.411 Eine scharfe Verurteilung der Romantik und ihres „Erfinder[s]“ Friedrich Schlegel stellt die im Juni 1976 vor der Sektion Dichtung und Sprachpflege der Akademie der Künste gehaltene Rede „Der Meineiddichter“ dar, die die Romantik literarhistorisch fasst und negativ gegenüber der Klassik absetzt.412 Hier finden sich zahlreiche Urteile der frühen Seminararbeit wieder, allerdings in zugespitzter Form: Friedrich Schlegel erscheint als der „Erzvater der deutschen Décadence“ (262), der mit der Ausrufung der progressiven Universalpoesie den von der Klassik etablierten Gattungsgedanken aufgehoben und an seiner statt die subjektive Willkür des Gesamtkunstwerks gesetzt habe, was bereits auf dessen Modernität im negativen Sinne verweise. Statt eines ausgewogenen Verhältnisses von Inhalt und Form existiere bei Schlegel eine Einseitigkeit, die entweder „ein Übermaß an Form auf einen albernen Inhalt“ (266) verbringe oder aber die Form gänzlich zerstöre und programmatisch durch die „Unform“ (266) ersetze. Als Beispiele nennt Hacks das Drama Alarcos [1801] und den Roman Lucinde [1799]. Zudem habe Schlegel durch die Einführung der Assonanz auch bezüglich der Lyrik negativ gewirkt. (268) Die wesentliche Äußerungsform Schlegels, das Fragment, verweise auf dessen „Lob des Projektemachens“ (259), Projekte die allesamt gescheitert seien, sich in Form des Fragments aber als fertig ausgäben. Das Fragment, das nach Schlegel „die Unendlichkeit des Auszusagenden“ (259) anzeigen solle, erscheint so als Verschleierung des Scheiterns: Das Vollendete, wende ich ein, deutet die Vollkommenheit des Auszusagenden an. Ein Könner unterscheidet sich vom Nichtkönner dadurch, daß er wohl weiß, in welchem Grade auch das fertigste Kunstwerk Bruchstück wird geblieben sein müssen. Es gibt keine Sorte von Autoren, die ihre Sachen für unübertrefflich erachten, ausgenommen die Verfasser von Fragmenten. (259)

|| 411 In dem Essay „Einige Gemeinplätze über das Stückeschreiben“ beschreibt Hacks das Volksstück als den Vorläufer des epischen Theaters und grenzt dieses vom „intellektuellen, romantischen UnTheater“ (GüS 123) ab, was von der Formulierung her an den 1946er-Text erinnert. 412 HW 13, 258. Zitatnachweise werden im Folgenden in Klammern direkt im Text angegeben.

„Nix Schlegel“: Das Romantikbild von Peter Hacks | 419

Schlegels Geschäft sei „die Zerstörung von Kunst und Gesittung“ (265) gewesen. Er habe die Ästhetik des Hässlichen etabliert und eine Abkehr von der griechischen Antike zugunsten einer neuen Mythologie vollzogen, welche er in der Kastengesellschaft des alten Indien fand, bis er sich 1808 dem ‚Original‘, dem Katholizismus, zugewandt habe. Darüber hinaus habe Schlegel einen einseitigen Begriff der Kritik in die Literatur eingeführt und die Kritik „zur vornehmsten der Künste“ (266) erklärt, was bezüglich der Gattung Drama die Ersetzung von Handlung und Haltungen durch Reflexion zur Folge gehabt habe.413 Die romantische Literatur erscheint Hacks insgesamt als eine übersteigerte Kritik, die kein eigenes Zentrum besitze; sie sei eine Äußerungsform des „Zeitgeist[s]“ (263) und als solche „weinerliche Tagesschriftstellerei“. (263) Besondere Aufmerksamkeit verdient Hacksʼ Einschätzung der frühromantischen Kapitalismuskritik. Schon Lukács hatte bemerkt, dass sich Schlegels Kapitalismuskritik ins „total Unwahre“ verkehre.414 Hacks konkretisiert: Die verkürzte Kritik der Entfremdung habe bei Schlegel die Verherrlichung der ständischen Gesellschaft zur Folge, und zwar notwendigerweise, weil dessen Kritik des Kapitalismus einer indirekten Apologetik gleichkomme, wie sie Lukács vor allem bei Nietzsche festgestellt hat.415 Weil die frühromantische Kritik des aufkommenden Kapitalismus416 diesen absolut negiere, an dessen Stelle aber nur das Bild einer vergangenen oder doch um 1800 vergehenden Welt setze, komme sie einer Art Pseudo-Rebellion gleich, die letztlich nur das bestätige, was sie verwerfe. Die hinter diesem Gedanken steckende dialektische Figur zielt auf den der Romantik unterstellten fehlenden Realismus und das daraus resultierende Verhältnis zur Utopie: Die Forderung nach Herrschaftsfreiheit, nach „Gemeinschaft, Freiheit und Gleichheit“, wie sie der frühe Schlegel in seinem „Versuch über den Begriff des Republikanismus“ [1796] aufgestellt hat,417 stellt für Hacks eine Negation der Wirklichkeit dar, weil die Revolution in Deutschland nicht durchsetzbar gewesen sei. Während sich die Klassik für den umsetzbaren Fortschritt interessierte, habe die Romantik den absoluten Fortschritt gefordert und damit nur den Beweis von dessen fehlender Umsetzbarkeit angetreten. In der Konsequenz schlage die Negation so in eine Affirmation um und stelle daher eine indirekte Apologetik dar. In der „Meineiddichter“-Rede führt Hacks diese Überlegung, die, wie noch zu zeigen sein wird, das zentrale Kriterium der ‚linken‘ Romantik darstellt, nur insofern aus, als er einen ebensolchen Zusammenhang zwischen Schlegels Republikanismus und dessen späterer Affirmation des österreichischen Kaisertums herstellt. (259) Auf den Punkt gebracht hat Hacks den Gedanken erst drei Jahre später in dem Essay „Saure Feste“ [1979]. Dort heißt es:

|| 413 Vgl. BD 2, 179. 414 Lukács: Eichendorff, S. 245. 415 Vgl. Georg Lukács: Der deutsche Faschismus und Nietzsche. In: ders.: Schicksalswende, S. 13. 416 Vgl. Hans Kals: Die soziale Frage in der Romantik. Köln u.a. 1974. 417 Schlegel: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Bd. 7, S. 21.

420 | Der Streit im literarischen Feld

Die romantische Ästhetik ist einfach die Ästhetik des bürgerlichen Zeitalters. Der Kapitalismus unterscheidet sich von den übrigen Gesellschaftsformen dadurch, daß es unmöglich ist, ihn ins Gesicht hinein zu loben. Die Romantik ist die Summe der Mittel, es hinterm Rücken zu tun. Sie schlug die sofortige Abschaffung des Kapitalismus vor, und jeder sah, daß das nicht ging. Sie forderte seine vollständige Zurücknahme und die Heimkehr in gesellschaftliche Zustände, in die heim keiner wollte. Sie setzte der Wirklichkeit jedes beliebige Unwirkliche entgegen, erklärte Träume für Handlungen, Verwirrung für Untersuchung, Innen für Außen, und alle Welt begriff, in wie unerschütterlichem Maße das Wirkliche das Wirkliche war. Welche Einwände die Romantik gegen den Kapitalismus immer erhob, sie waren von dem Grad der Albernheit, daß sie in Gründe für ihn umschlagen mußten. Die Übermäßigkeit der Flucht vor ihm wurde zum Beweis seiner Unausweichlichkeit.418

Für Hacks ist Friedrich Schlegel die Figur der Frühromantik, weil sich auf ihn „die gesamte Weite und Vielfalt der antirealistischen Schreibweise“ gründe419 und er die ‚linke‘ und die ‚rechte‘ Romantik in seiner Biographie vereinige. In Schlegels biographischer Bewegung vom radikalen Republikaner zum Verteidiger der „germanische[n] und freie[n] ständisch gesetzliche[n] christliche[n] Universalmonarchie“ erkennt Hacks die typische Entwicklung der Romantik.420 Aus der Verzweiflung über die Ergebnisse der Französischen Revolution und den „sittlichen Zusammenbruch […] der bürgerlichen Hoffnung“ (262) folge die Abkehr von dieser und die Bezugnahme auf eine vermeintlich universale Position, welche die Ganzheit der Welt ausdrücken soll, die der aufkommende Kapitalismus auflöst.421 Hacks beschreibt die Romantik in diesem Sinne als „Studentenrevolte[ ]“ und als „zornige Spielart des Nicht-begriffen-Habens“, die zu keiner realistischen Einschätzung der historischen Gesamtsituation komme und schließlich in die Reaktion abdrifte.422

|| 418 HW 15, 246f. Siehe auch: HW 15, 262. 419 Akademie der Künste, Sitzung der Sektion Literatur und Sprachpflege vom 1. Juni 1976, AdK-O, Nr. 894, Bl. 165. 420 Schlegel: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Bd. 20, S. 115. Der Umschwung Schlegels bedeutet nach Ansicht Johannes Webers aber keine „prinzipielle Abkehr von den einstigen utopischen Vorstellungen“, weil sich auch beim frühen Schlegel bereits organische Vorstellungen finden. Johannes Weber: Goethe und die Jungen. Über die Grenzen der Poesie und vom Vorrang des wirklichen Lebens. Tübingen 1989, S. 62. So heißt es im 214. Athenäums-Fragment: „Die vollkommene Republik müßte nicht bloß demokratisch, sondern zugleich auch aristokratisch und monarchisch sein; innerhalb der Gesetzgebung der Freiheit und Gleichheit müßte das Gebildete das Ungebildete überwiegen und leiten, und alles sich zu einem absoluten Ganzen organisieren.“ Schlegel: Kritische Friedrich-SchlegelAusgabe. Bd. 2, S. 198. Siehe zum ,Paradoxon Schlegel‘: Hanna Schnedl-Bubeniček: „Das Lächeln eines Fluches“. Betrachtungen und Bemerkungen zum Paradoxon Friedrich Schlegel. In: dies. (Hg.): Vormärz: Wendepunkt und Herausforderung. Beiträge zur Literaturwissenschaft und Kulturpolitik in Österreich. Wien/Salzburg 1982, S. 85–104. 421 Vgl. Paul Michael Lützeler: Einleitung. In: ders. (Hg.): Europa. Analysen und Visionen der Romantiker. Frankfurt/M. 1982, S. 9–53. 422 BD 2, 163 u. BD 2, 300.

„Nix Schlegel“: Das Romantikbild von Peter Hacks | 421

5.4.3

Was ist die Romantik und wer sind die RomantikerInnen in der DDR?

Die Formulierungen verweisen auf den überzeitlichen Charakter der Romantik. Während für Hacks die literarhistorisch fassbare Romantik mit der Niederlage Napoleons und dem Wiener Kongress endet und danach das Biedermeier als klassisch-romantische Misch-Epoche einsetzt,423 Autoren wie Eichendorff, Hoffmann und Uhland, die schon Lukács als Ausnahmen klassifiziert hatte, demnach aus der Romantik ausgenommen werden,424 setzen sich die Grundformen des romantischen Denkens und der romantischen Kunst bis in die Gegenwart fort. Klassik und Romantik sind dementsprechend „typologisch[e]“ Begriffe.425 Sie erscheinen bei Hacks als überzeitliche Haltungen, als Positionen des Realismus und des „Antirealismus“, die in einen dauerhaften Streit verwickelt sind.426 Wie die Klassik sich mittels eines hohen Standpunkts über ihre Zeit erhebe und deren Widersprüche in Hinblick auf eine Emanzipation des Menschen untersuche, also das Bestehende weder verneine noch bejahe und sich so als „indirekte Affirmation“427 des Fortschritts setze, einfach weil sie in einer Haltung der fröhlichen Resignation an dem Gedanken eines sinnhaften menschlichen Daseins festhalte, so bleibe die Romantik in der Negation stecken und produziere eine zeitgebundene Kunst, die die unmittelbare Gegenwart verabsolutiere, weil sie von dieser keinen dialektischen Begriff entwickle und „[i]hr bißchen Jahrzehnt […] für die Ewigkeit“ ansehe.428 Romantik stellt sich für Hacks derart insgesamt als eine Abkehr vom Realismus dar, weil sie sich in erster Linie als Kritik verstehe und eine subjektive Position stark mache, die keine dialektische Vermittlung mit der objektiven Wirklichkeit erfahre; in ihr veräußere sich lediglich ein Gefühl der Verzweiflung und eine moralische Optik der Gesellschaft, die Ausdruck eines „mechanische[n] Denken[s]“ sei, das

|| 423 Vgl. BD 2, 157. 424 Vgl. Lukács: Fortschritt und Reaktion, S. 70ff. „[...] Dichter wie Uhland oder Eichendorff, Hoffmann oder Chamisso […] lebten, fühlten und fragten im Biedermeier und sind eine andere Sache“. HW 13, 258. 425 BD 2, 267. 426 HW 13, 133. Hacksʼ Auffassung des Gegensatzes von Klassik und Romantik weist Ähnlichkeiten mit der des liberalen Hegelianers Benedetto Croce auf. Vgl. Benedetto Croce: Geschichte Europas im neunzehnten Jahrhundert. Frankfurt/M. 1979, S. 38–50. Auch Croce erscheint die Romantik als „eine Gefahr, die ihrem sittlichen Wesen nach zeitlos“ sei und sich in allen Feldern der modernen Gesellschaft durchgesetzt habe. Croce, S. 46. Den Ähnlichkeiten und Differenzen, die vor allem in Richtung der materialistischen Grundlegung von Hacksʼ Romantikkritik zu suchen sind, kann hier nicht nachgegangen werden. Siehe zur Beurteilung Croces durch Lukács: Lukács: Die Zerstörung der Vernunft. Bd. 1, S. 23. Siehe auch: Cesare Vasoli: Lukács und Gramsci über Croce. In: Benseler (Hg.): Festschrift zum achtzigsten Geburtstag von Georg Lukács, S. 303–316. 427 BD 2, 275. 428 HW 13, 133f.

422 | Der Streit im literarischen Feld

leicht in den „Irrationalismus“ umschlage.429 Bei einer Sitzung der Arbeitsgruppe Dramatik bringt Hacks den aus seiner Sicht bestehenden Gegensatz von Klassik und Romantik auf den Widerspruch zwischen Wesen und Erscheinung, also zwischen strukturbestimmender Eigenschaft und realer, über das Invariante hinausgehender Gestalt: Denn die Frage, um die es jetzt geht, ist, verwirklichen wir das Ziel der Emanzipation, der Utopie unter Rücksichtnahme auf die Wirklichkeit oder unter Absehung von der Wirklichkeit. Und die Romantik ist der Meinung, daß man das unter Absehung vom Wesen der Wirklichkeit und im Hinblick auf die Erscheinung der Wirklichkeit lösen müßte, während die Klassik der Meinung ist, daß man es unter Absehung von der Erscheinung und im Hinblick auf das Wesen tun müsse.430

Den zu Beginn der 1970er Jahren einsetzenden positiven Bezug auf einzelne romantische Biographien und Texte nimmt Hacks als eine „vernunftfeindlich[e]“ Reaktion auf die politischen Stagnation des Sozialismus wahr.431 Ähnlich wie Günter Kunert zwischen der Zeit um 1800 und der DDR ein „Netzwerk von unsichtbaren Querverbindungen durch die Zeit“432 erkennt, stellt auch Hacks eine Parallele zur sozialistischen Gegenwart fest. Denn seiner Ansicht nach reagieren die DDR-Romantiker auf den der ‚Revolution‘ folgenden Katzenjammer in ähnlicher Weise wie die historischen Romantiker: Sie bilden eine subjektive Ästhetik aus, die in ihrer gebrochenen Form der gebrochenen Gegenwart entsprechen soll, und setzen auf eine „Literatur im Widerspruch“, die wesentlich moralisch fundiert ist.433 Hacks sieht hierin nicht nur die Basis für eine problematische, die Widersprüche der historischen Entwicklung ausblendende Kritik des Sozialismus, der nunmehr als das Gegenteil einer romantischen Utopie der Freiheit erscheint, sondern auch einen Angriff auf sein Literaturkonzept, das ja für sich beansprucht, Ideal und Wirklichkeit formbewusst miteinander zu vermitteln, die Freiheitspotentiale des Individuums in der Geschichte zu untersuchen und dergestalt Affirmation des Fortschritts und Kritik der Gegenwart in einem zu sein, ohne den relativen Fortschritt der sozialistischen Gesellschaft zu negieren. Auf dem Gebiet der Dramatik ist es insbesondere die Auflösung der Form bzw. die Außerkraftsetzung oder sinnentstellende Umfunktionalisierung ästhetischer Mittel, der „theatralische Destruktionismus“, für die Hacks die Romantik als historische

|| 429 BD 3, 147. 430 BD 2, 315. Siehe zur philosophischen Konzeptionalisierung von Erscheinung und Wesen: Ritter u.a. Bd. 12, Sp. 637–644 u. Buhr u. Kosing, S. 341f. 431 BD 1, 78. 432 Kunert: Pamphlet für K., S. 1094. 433 Fühmann: E. T. A. Hoffmann. Rede in der Akademie der Künste, S. 237. „Warum sollte sich nicht auch der sozialistische Autor als ‚Moralist‘ begreifen?“ Christa Wolf: Subjektive Authentizität. Gespräch mit Hans Kaufmann. In: dies.: Die Dimension des Autors. Bd. 2, S. 349.

„Nix Schlegel“: Das Romantikbild von Peter Hacks | 423

Urheberin verantwortlich macht.434 Der der Romantik unterstellte Antirealismus geht insofern über die Frage des Verhältnisses von Subjekt und Welt hinaus und zielt direkt auf die romantische Ästhetik. Die Romantik arbeite mit antirealistischen Mitteln und zerstöre das Genre der Dramatik. Hacks beurteilt das romantische Drama, das er in zwei unterschiedliche „Typen“ differenziert, „den spanische[n] Schlegels“ und den „aristophanisch-englische[n] Tiecks“, insgesamt als schlechtes Drama, „das nicht an seinen Zweck glaubt“.435 Zumeist sei in den romantischen Dramen nicht einmal der Ansatz einer Fabel vorhanden oder diese werde durch Beliebigkeiten zerstört; statt dramatischer Szenen gebe es „unwahrscheinliche Konstellationen“, „Geheimnis“ statt Spannung, „abergläubische und ethnologische Rituale“ statt Gesellschaftlichkeit, „Vers- und Reimkünstelei“ statt echter Dialoge; glaubliche Charaktere seien nicht vorhanden, von Totalität im Sinne einer formalen Geschlossenheit und objektivierenden ästhetischen Realitätsverarbeitung könne keine Rede sein.436 Spuren dieses Befundes im Sinne einer romantischen Tradition erkennt Hacks auch in der Gegenwart, wenn er feststellt, „daß diese technischen Formeln in allen schlechten Zeiten wiederkehren“; in einer solchen Zeit, „sollte man wissen, warum wer einen an wen erinnert“.437 An wen Hacks sich hier in erster Linie erinnert, ist natürlich Heiner Müller, über den es bereits im Februar 1974 in einem Brief heißt: „Ich halte ihn für das Haupt der romantischen Schule in der DDR, und ich vermute, dass seine Nachwirkungen für die fernere Entwicklung nicht nur der dramatischen Kunst verhängnisvoll sein werden.“438 Aber Müller ist für Hacks nur der Gipfel einer Entwicklung, die sich von diesem an über die Moderne bis hin zur Romantik zurückverfolgen lässt. Hacks konstruiert in diesem Sinne eine Linie der Auflösung des Dramas und der Durchsetzung des Antirealismus. Diese setze mit der Romantik ein und finde

|| 434 HW 13, 386. 435 BD 2, 147 u. 161. Hacks fällt sein Urteil auf Grundlage der Untersuchung von Stücken von Schlegel, Tieck, Brentano und Werner. Vgl. BD 2, 146–161. Heinrich von Kleist erscheint in Hacksʼ Betrachtung nur als „Zwischenfigur“ (BD 2, 163) und wird nicht eigens untersucht, was verwundern muss. Siehe zum Verhältnis von Hacks zu Kleist: Kai Köhler: Die „Objektivität der Konterrevolution“. Heinrich von Kleist bei Peter Hacks. In: ders. (Hg.): Salpeter im Haus, S. 111–127. 436 BD 2, 160. Eine Ausnahme macht Hacks hinsichtlich Tiecks Drama Ritter Blaubart [1796], das er einen „kleine[n] Othello“ nennt und für eines von den „ganz gelungenen und von den runden zweitrangigen Stücken der Weltliteratur“ hält. BD 2, 149. – Hacksʼ Einschätzung des romantischen Dramas trifft sich durchaus mit dem Urteil der Forschung, die in Rücksicht auf die überlieferten Maßstäbe des Dramas urteilt, dass es „die Gesetze der Bühnenwirksamkeit eines Dramas (wie die streng geraffte Handlung und straffe Dialogführung, klar ausgearbeitete Konflikte und Kontraste usw.)“ unterlaufen habe. John Fetzer: Das Drama der Romantik. In: Schanze (Hg.): Romantik-Handbuch, S. 290. Siehe zum romantischen Drama auch: Uwe Japp u.a. (Hg.): Das romantische Drama. Produktive Synthese zwischen Tradition und Innovation. Tübingen 2000. 437 BD 2, 162. 438 Peter Hacks an die AdK, Sektion Literatur und Sprachpflege, 15. Februar 1974, DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit der AdK.

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in Büchner, Wagner, Nietzsche und dem Fin de Siècle ihre Fortsetzung, um im zwanzigsten Jahrhundert mit Beckett und Brecht schließlich in zwei unterschiedliche, aber vom Standpunkt der klassischen Ästhetik doch ähnliche Ausprägungen überzugehen.439 Die von Hacks bereits in den 1960er Jahren geäußerte Kritik am absurden wie am epischen Theater geht somit in einen neuen Beschreibungsmodus über: den der Dekadenz. Diese leitet sich wesentlich aus dem romantischen Zugriff ab, d.h. was in den 1960er Jahren als Ausdruck „äußerster Produktionsanarchie“ oder als „Tendenzstück“ im Sinne eines Übergewichts der Politik gegenüber der Kunst verstanden wurde,440 wird jetzt als Ausdruck der Romantik aufgefasst. Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch die in den 1970er Jahren schärfer werdende Kritik an Brecht, der nunmehr als ein „durch Dogmatismus deformierter Dekadent“ und „Schänder der Gattung“ fungiert, der sein als „Anarchist“ begründetes ästhetisches Selbstverständnis „ohne Änderung […] in die Zeit, wo er ein überzeugter Anhänger eines sozialistischen Staates war“, übernommen habe.441 Behauptet ist damit keine Gleichsetzung Brechts mit Beckett. Hacks erkennt explizit an, dass die „soziale Nachricht von Brecht […] sehr viel fortschrittlicher ist als die bösartige Nachricht von Beckett“, dessen Stücke er als „Lehrstücke vom Einverständnis“ mit dem Imperialismus liest.442 Aber ästhetisch sieht Hacks in Brechts Rückgriff auf ästhetische Mittel wie die Allegorie oder das Lehrstück eine Entsprechung zu Beckett, die in einer Negation des Realismus gründet. Indem Hacks somit den Vorrang der klassischen Ästhetik vor der Politik behauptet, wird einmal mehr die Differenz zur Position Brechts, aber auch den offiziellen Auffassungen des Sozialistischen Realismus offenbar: Politische Parteilichkeit ist kein künstlerisches Kriterium, weder im Sinne eines „gute[n] kommunistische[n] Willen[s]“443 noch des an die jeweilige politische Position der SED gekoppelten Standpunkts. Die Begründung der sozialistischen Klassik erfolgte ja gerade auf Grundlage der Annahme, dass die politischen Probleme im Wesentlichen gelöst seien und die

|| 439 Siehe zur literarhistorischen Genealogie der indirekten Apologie: BD 2, 66. Siehe die Äußerungen zu Büchner in: BD 2, 201, 204 u. 207. Siehe zu Büchner auch: HW 13, 375–388. Bei der sich an die „Meineiddichter“-Rede anschließenden Diskussion äußerte Hacks, man könne vom frühen Brecht über das Fin de Siècle, Nietzsche und Wagner bis hin zu Schlegel zurückgehen. Vgl. Akademie der Künste, Sitzung der Sektion Literatur und Sprachpflege vom 1. Juni 1976, AdK-O, Nr. 894, Bl. 165. Übereinstimmungen zwischen Beckett und Brecht sieht Hacks in der Einführung von Clowns sowie dem Verfassen von Lehrstücken. Vgl. BD 2, 56 u. 51ff. Siehe zur Kritik an Beckett: BD 2, 11f. 440 HW 13, 23 u. 30. 441 FR 56 u. BD 1, 23 u. BD 3, 107f. 442 BD 2, 57 u. 66. 443 BD 2, 175.

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weitere Entwicklung des Sozialismus sich evolutionär vollziehe, woraus Hacks folgert, dass man sich nunmehr darauf konzentrieren könne, „was die Kunst will“, ohne „ununterbrochen und fanatisch daran zu denken, was der Weltsozialismus will“.444 Die Schlussfolgerung, die Hacks aus dem Primat des Ästhetischen zieht, geht aber noch weiter und hat unmittelbare Konsequenzen für den Modus der Auseinandersetzung mit der Romantik. Denn entscheidend ist nun nicht mehr der wie auch immer progressive Gehalt eines literarischen Textes, sondern dessen Realismusgehalt, verstanden als Maßeinheit der ästhetischen Verarbeitung von objektiver Wirklichkeit in Hinsicht auf das Ideal und der Vermittlung von Subjekt und Objekt.445 Sich somit auf die Lukács’sche Position des Realismus stellend,446 ersetzt Hacks die Lenin’sche Theorie der zwei Kulturen, d.h. die Unterscheidung zwischen einer fortschrittlichen und einer rückschrittlichen Kultur als Überbau der jeweiligen Klassen,447 durch die Differenz „realistisch oder antirealistisch“.448 Die Antinomie entspricht dem von Lukács für das Feld der Philosophie konstatierten Gegensatz von Rationalismus und Irrationalismus und drückt die Schärfe aus, die Hacks in die Ablehnung der Romantik legt, die nunmehr zur Chiffre des Negativen, ja zur Antikultur wird.449 1973 stellte Wolfgang Kohlhaase bei einem Gespräch der Arbeitsgruppe Dramatik fest, dass sich in der DDR „eine neue Romantik auftut“, die „politisch verführbar“ sei.450 Das bedeutet, der DDR-Romantik wird unterstellt, sie könne wie die historische ‚linke‘ Romantik in die Reaktion umschlagen, konkret: sie könne zu einem Kristallisationspunkt der Opposition in der DDR werden und deren Entwicklung langfristig schaden. Gerade der revolutionäre Impetus der DDR-Kritik, der das nach wie vor vorhandene, unter Honecker aber schlecht genutzte Potenzial der nach 1945 eingeleiteten sozialistischen Entwicklung ignoriere, stelle ein gegenrevolutionäres Risiko dar,

|| 444 BD 1, 78. 445 Vgl. HW 13, 237. 446 Vgl. Lukács: Kunst und objektive Wahrheit. Siehe auch die spätere Konkretisierung einer marxistischen Ästhetik durch Lukács in Die Eigenart des Ästhetischen. 447 Vgl. Lenin 20, 8f. 448 BD 2, 298. 449 „[W]enn, wie ich glaube, es tatsächlich eine Zwei-Kulturen-Gesetzmäßigkeit gibt und wenn deren Inhalt […] ist: realistisch oder antirealistisch, dann ist die Klassik nicht die Aufhebung, sondern dann ist die Klassik die Kultur, und das andere ist nicht die Kultur [meine Hervorhebung, R.W.].“ BD 2, 298. 450 BD 1, 74.

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könne er doch in eine Fronde eingebracht werden, deren Ergebnis eben nicht die Verbesserung des Sozialismus, sondern dessen Zerstörung wäre.451 Nicht zuletzt aus dieser Perspektive erklärt sich Hacksʼ Kampf gegen die Romantik. Die „Romantik zu entlarven“, wurde so aus ästhetischen wie aus politischen Gründen zur vordringlichen Aufgabe, zumal aus Hacksʼ Perspektive das romantischen Denken und der damit einhergehende Wandel der ästhetischen Wertmaßstäbe längst hegemonial zu werden drohte.452 In Georg Lukácsʼ Fortschritt und Reaktion in der deutschen Literatur heißt es: „In der imperialistischen Epoche erleben wir ein neues weltanschaulich-politisches Wiedererwachen der Romantik“, weshalb „die Kritik der Romantik eine höchst aktuelle Aufgabe“ sei.453 Was bei Lukács einerseits als Aufgabe der Literaturgeschichte gefasst ist und sich andererseits auf die Kultur im kapitalistischen Umfeld bezieht, wird von dem „Lukácsianer“454 Hacks aktualisiert und auf die Gegenwartsliteratur der DDR, auf Christa Wolf, Franz Fühmann, Stephan Hermlin, Heiner Müller und andere, bezogen. Der Kampf zwischen Klassik und Romantik erfährt so eine Wiederauflage unter anderen und doch ähnlichen Vorzeichen und unter stetem Bezug auf die Geschichte des ausgehenden achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhunderts. In diesem Sinne wird die Literaturgeschichte zum Schlachtfeld, „wo jeder seine Toten aufsucht, die er liebt und womit er verwandt ist“.455 Auf diesem Schlachtfeld „kämpfen die Geister der DDR-Literatur […] ihre allerheutigsten Kriege aus“.456 Bevor wir uns Hacksʼ Kampf gegen die Romantik und dessen verschiedene Ausprägungen näher ansehen, wird im folgenden Kapitel zunächst die dramatische Entwicklung Heiner Müllers in den 1970er Jahren und dessen Übergang zum postdramatischen Theater untersucht, eine nach Hacksʼ Auffassung romantische Entwicklung der Form- und Sinnzerstörung, die sich erneut anhand von Müllers Umgang mit Shakespeare verdeutlicht.

|| 451 Vgl. Peter Hacks: Sieben Fragen zum Thema – Ein fiktives Gespräch. In: Hans Dollinger (Hg.): Revolution gegen den Staat? Die außerparlamentarische Opposition – die neue Linke. Eine politische Anthologie. Bern/München/Wien 1968, S. 135. 452 BD 2, 314. Vgl. BD 2, 174. 453 Lukács: Fortschritt und Reaktion, S. 51 u. 69. Schärfer noch schreibt Lukács in „Kunst und objektive Wahrheit“: „Wir müssen in diesen Tendenzen [des Zerfalls der ästhetischen Form, R.W.] denselben imperialistisch-parasitären Charakter erkennen und entlarven, den die marxistisch-leninistische Erkenntnistheorie in der Philosophie des imperialistischen Zeitalters schon längst entdeckt und entlarvt hat.“ Lukács: Kunst und objektive Wahrheit, S. 99. 454 „Ich fühle mich also durchaus als ein Lukácsianer [...]“. BD 2, 314. 455 Heine: Die romantische Schule. In: ders.: Werke und Briefe in zehn Bänden. Bd. 5, S. 25. 456 HW 13, 311.

Vom Negativ der Utopie zur Utopie der Kunst: Müllers Drama in den 1970er Jahren | 427

5.5

Vom Negativ der Utopie zur Utopie der Kunst: Müllers Drama in den 1970er Jahren

Die 1970er Jahre bedeuten für Heiner Müller einen Hoffnungsverlust. Angesichts der gesellschaftlichen „Stagnation“457 werden die negativen Kontinuitäten, die die DDR mit der deutschen Geschichte verbinden, immer offensichtlicher, erscheinen die „Lücken“ der universalen Gesellschaftstheorie des Marxismus-Leninismus als immer größer, zumal sich keine Bewegung abzeichnet und die Theorie „nicht auf den Stand der Probleme“ gebracht wird.458 Müller reagiert darauf, indem er sein ab Mitte der 1960er Jahre am Mythos und an der sowjetischen Revolutionsgeschichte erprobtes Theater radikalisiert. Die Ende der 1960er Jahre noch favorisierte Form des Lehrstücks wird angesichts des fehlenden Wissens über die eigenen Adressaten und den Stillstand der Geschichte aufgegeben.459 Das Theater soll zwar weiterhin „Laboratorium sozialer Phantasie“460 sein, der inhaltliche Fokus aber liegt auf Ent-Täuschung und „Ideologiezertrümmerung“461 und richtet sich auf die deutsche Geschichte und die bis in den DDR-Sozialismus reichenden Kontinuitäten der deutschen Misere. „Wenn du siehst, daß der Baum keine Äpfel mehr bringt, daß er anfängt zu faulen, siehst du nach den Wurzeln“, erklärt Müller rückblickend seine Motivation.462 Zentral ist in diesem Zusammenhang die Erfahrung des Faschismus, die bereits in den frühen Texten eine große Rolle spielt. Aber Müllers ‚Suche nach den Wurzeln‘ geht darüber hinaus, denn der Faschismus bildet nur den Tiefpunkt der deutschen Misere, die für Müller bis zu den Bauernkriegen zurückreicht: Die Bauernkriege waren eine zu frühe Revolution, deswegen konnte das Potential für Jahrhunderte zerschlagen werden, oder, wie Brecht es formuliert hat, der deutsche Nationalcharakter ist damals zermahlen worden. Da kam der dreißigjährige Krieg, und da ging der Rest kaputt. Denn diese Katastrophen sind ja immer eine negative Selektion: Wer das Maul aufreißt, stirbt als erster, und übrig bleibt eine geduckte Masse. Seit dieser zu frühen Revolution herrscht in Deutschland die Tendenz zur Verspätung, kommt in Deutschland immer alles zu spät. Und die Verspätung bedingt es auch, daß sich die Energien nur noch in der Katastrophe entladen können.463

|| 457 KoS 201. Siehe auch: MW 10, 133f. 458 MW 10, 681f. 459 Vgl. MW 8, 187. 460 MW 8, 176. 461 MW 8, 226. 462 KoS 201. „[M]an kann ein DDR-Bild nicht geben, ohne die DDR im Kontext der deutschen Geschichte zu sehen, die zum größten Teil auch eine deutsche Misere ist. Nur aus diesem Kontext der deutschen Misere kriegt man ein richtiges DDR-Bild im Drama.“ MW 10, 75. 463 MW 11, 524. Siehe ähnlich auch: MW 10, 369f.

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In den Deutschland-Stücken Müllers rückt die Schilderung der Katastrophen in den Mittelpunkt.464 Die deutsche Geschichte stellt sich als katastrophische Wiederholung dar, die bis in den Sozialismus hinein wirkt, hat dieser doch aufgrund seines autoritären Zuschnitts das preußische Erbe übernommen und fortgesetzt. Der Sozialismus erscheint somit ebenfalls als ein Ort, „wo die Welt mit Brettern vernagelt ist“.465 Das Spezifische dieses Erbes ist die maßlose Gewalt, die sich letztlich als Autoaggression entpuppt. Sie ist das Ergebnis der deutschen Geschichte wie allgemein des westlichen Zivilisationsprozesses, der auf der Unterwerfung und Verdrängung der Natur, des Todes, des Körpers und des weiblichen Geschlechts basiert.466 Die Wiederkehr des Gleichen als eines Anderen im Sozialismus negiert die Vorstellung eines an den Prämissen von Linearität und Fortschritts ausgerichteten Geschichtsprozesses. Mitte der 1970er Jahre, als Müller erstmals seinen „Glücklosen Engel“ veröffentlicht,467 erscheint ,Geschichte‘ nur noch als Durchsetzung subjektfeindlicher Rationalität, als negative Triebgeschichte im Sinne eines katastrophischen Ausagierens des Verdrängten. Müllers Texte halten dieser Form der Geschichte (die sich von der im „Glücklosen Engel“ implizit beschriebenen Geschichte als potentieller, wenn auch nicht teleologischer Fortschrittsgeschichte unterscheidet) fortan den Widerstand der ‚Natur‘ entgegen: den Tod als das Andere des Lebens, den Körper als das Widerstrebende einer rationalen, alles Chaotische ausschließenden Gesellschaft und das weibliche Geschlecht als das Andere der männlichen Zivilisation. Müller mobilisiert gewissermaßen Kräfte gegen den Geschichtsverlauf, denen er zwar nicht das Potential zuschreibt, diesen umzukehren oder in eine andere Richtung zu lenken, mit denen er aber die Punkte anzeigt, die den Sozialismus in der Vorgeschichte gefangen halten.

|| 464 Die Deutschland-Stücke werden in der Regel als eine neue Form des Geschichtsdramas aufgefasst. Siehe zum Geschichtsdrama bei Müller: Helen Fehervary: Enlightenment or Entanglement. History and Aesthetics in Bertolt Brecht and Heiner Müller. In: New German Critique (1976), H. 8, S. 80– 109; Norbert Otto Eke: Heiner Müller. Apokalypse und Utopie. Paderborn u.a. 1989; Raddatz: Dämonen unterm roten Stern; Heinz-Dieter Weber: Heiner Müllers Geschichtsdrama – die Beendigung einer literarischen Gattung. In: Der Deutschunterricht 43 (1991), H. 4, S. 42–57; Mieth: Die Masken des Erinnerns; Hermann Korte: Traum und Verstümmelung. Heiner Müllers Preußen. In: Arnold (Hg.): Heiner Müller. Neufassung, S. 72–85; Yasmine Inauen: Dramaturgie als Erinnerung. Geschichte, Gedächtnis, Körper bei Heiner Müller. Tübingen 2001; Stefanie Stockhorst: Geschichtsfähigkeit als Menschheitstraum. Geschichtsphilosophische Perspektiven in Heiner Müllers dramatischer Historiographie. In: Daniel Fulda u. Silvia Serena Tschopp (Hg.): Literatur und Geschichte. Ein Kompendium zu ihrem Verhältnis von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Berlin u.a. 2002, S. 515–540 u. Breuer, S. 323–393. 465 HMA, Nr. 3394, zit. n.: Francesco Fiorentino: Der Krieg der Landschaften. In: Wolfgang Storch u. Klaudia Ruschkowski (Hg.): Sire, das war ich. Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei. Heiner Müller Werkbuch. Berlin 2007, S. 215. 466 Vgl. Ette: Kritik der Tragödie, S. 484–499. 467 Siehe hierzu Kap. 4.1.1.

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Den genannten „Repräsentanten der ‚Natur‘“468 kommen in den Müller’schen Dramen der 1970er Jahre daher besondere Funktionen zu. Der Ausgrenzung des Todes setzt Müller die Toten entgegen. Sie sind Teil der Gegenwart und als von ihr Verdrängte haben sie Anspruch auf Repräsentanz. Erst die „Befreiung der Toten“, bei Müller, in Anlehnung an Walter Benjamin eine wiederkehrende Metapher für den Kommunismus, öffnet den Raum der Freiheit.469 Solange der Sozialismus aber das Kontinuum der Geschichte nicht aufsprengt und die Opfer der Vergangenheit in sich aufhebt, übergeht die Geschichte sie weiterhin. Deswegen beschwört Müllers Theater in den 1970er Jahren den „Dialog mit den Toten“, der mittels einer künstlerischen Archäologie im Sinne Foucaults zu einer „Befreiung der Vergangenheit“ beitragen soll, die im Drama freilich nur Ersatzhandlung sein und sich erst „auf dem Hintergrund von Weltgeschichte, die den Kommunismus (Chancengleichheit) zur Bedingung hat“, entfalten kann.470 Der Körper tritt als Gegenkraft zur Geschichte auf, er ist das Objekt, das der Geschichtsprozess zurichtet und das diesem Prozess Widerstand entgegenbringt.471 Da aber auch die Sprache Teil der Geschichte und qua ihrer grammatisch-teleologischen Struktur in gewisser Weise ihr Äquivalent ist,472 äußert sich der Widerstand des Körpers vornehmlich nichtsprachlich, über Formen des Schweigens bzw. den Schrei, der als Artikulation der Verweigerung und der Revolte in Müllers Drama Einzug hält. Die Frau ist für Müller das Menetekel des leer laufenden Fortschritts. Sie steht als Objekt der Geschichte für die Unterdrückung schlechthin. Der auch in den egalisierten Verhältnissen der sozialistischen Gesellschaft anhaltenden Unterdrückung der Frau, der weiterhin die Aufgabe der Reproduktion zugeschrieben wird und die selbst Anteil an ihrer Unterdrückung hat, setzt Müller eine Vorstellung der Verweigerung

|| 468 Ette: Kritik der Tragödie, S. 492. 469 MW 8, 237. Bei Benjamin heißt es: „Bei Marx tritt sie [die Arbeiterklasse, R.W.] als […] die rächende Klasse auf, die das Werk der Befreiung im Namen von Generationen Geschlagener [meine Hervorhebung, R.W.] zu Ende führt.“ BGS 1, 700. 470 MW 3, 165. 471 Vgl. MW 10, 211. Beim späten Müller heißt es: „Der Körper ist immer ein Einspruch gegen Ideologien.“ MW 12, 362. 472 Sprache ist an die Grammatik des Satzes gebunden. Dieser stellt eine Totalität dar, „in der Anfang und Ende nicht aufeinander folgen, sondern aufeinander verweisen, ja auseinander hervorgehen“, so dass der Satz ein teleologisches Modell repräsentiert. „Das heißt, im propositionalen Gefüge selbst liegt eine geschichtsphilosophische Tendenz; das intakte und geordnete Sprechen verführt dazu, auch die großen geschichtlichen Prozesse teleologisch synthetisieren zu wollen. Davon ist die zeitliche Rhythmik körperlicher Prozesse verschieden. Sie enthält zyklische Elemente, aber auch chaotische, gewissermaßen irreguläre Impulse, Prozesse mit offenem Ausgang.“ Ette: Kritik der Tragödie, S. 490.

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entgegen, ein Ausbrechen aus der ,natürlichen‘ Ordnung des Mannes. Die Frau wird so zur Chiffre der Revolte, die sich der männlich codierten Vernunft widersetzt.473 Müllers Drama besitzt damit im Zusammenhang der revolutionären Maulwurfsarbeit des „konstruktiven Defaitismus“ durchaus einen starken wirkungsästhetischen Impuls,474 geht es Müller doch darum, herrschende Diskurse über Geschichte und Fortschritt und die aus ihnen resultierenden Geschichtsmythen mit „,Spuren‘ der verdrängten Vergangenheit“ zu konfrontieren und zu dekuvrieren.475 Auf die Kraft des Negativen setzend und die „Lust an der Katastrophe“ betonend, arbeitet Müller an einer „Organisierung des Pessimismus“, einem „Theater der Grenzerfahrung“, das „die tiefsten, eingewurzelten Ängste“ der ZuschauerInnen ansprechen und aufbrechen soll:476 Die Aufgabe eines Dramas besteht gerade darin, den Zuschauer dazu anzuhalten, über sich als Menschen nachzudenken, nicht dabei die dunklen Seiten der eigenen Persönlichkeit zu ignorieren, sich über das eigene Zusammenleben mit der Macht zu befragen, sogar über den eigenen Stand eines potentiellen Mörders, der ein jeder von uns ist.477

Mit der deutschen Geschichte im Gepäck versucht Müller eine Bresche in die Selbstwahrnehmung der DDR zu schlagen und „den Leuten so viel aufzupacken, daß sie nicht wissen, was sie zuerst tragen sollen“.478 Das Drama wird somit zum „Ort einer unaufhörlichen Selbstbefragung der herrschenden Diskursformen“, dessen Impetus der Aufschrei und der Protest gegen die Verhältnisse ist, nach Müller ein „neuer Ansatz von Aufklärung“.479 Mithin lässt sich zwischen den Lehrstücken der späten

|| 473 Vgl. Ette: Kritik der Tragödie, S. 492–499. Siehe zu Geschlechterfragen bei Müller die Literaturangaben auf S. 164, Anm. 227. 474 MW 8, 187. Der letzte Satz des Textes lautet: „Die Maulwürfe oder der konstruktive Defaitismus“. Der Maulwurf, der, aus Shakespeares Hamlet übernommen (vgl. Shakespeare 4, 290), bereits in Marx’ 18. Brumaire als Wappentier der Revolution auftritt (vgl. MEW 8, 196), steht in einer „Tradition des radikalen linken Sprachgebrauchs“. Elizeveta Liphardt: Aporien der Gerechtigkeit. Politische Rede der extremen Linken in Deutschland und Russland zwischen 1914 und 1919. Tübingen 2005, S. 214. So erscheint er auch bei Georges Bataille als Metapher des wühlenden Proletariats. Vgl. Karlheinz Stierle: Der Maulwurf im Bildfeld. Versuch zu einer Metapherngeschichte. In: Archiv für Begriffsgeschichte 26 (1982), S. 138. Siehe auch: Alfred Opitz u. Ernst-Ulrich Pinkert: Der alte Maulwurf. Die Verdammten unter dieser Erde. Geschichte einer revolutionären Symbolfigur. Berlin 1979. Siehe zur Metapher des Maulwurfs und zum Verständnis des konstruktiven Defätismus bei Müller: MüllerSchöll: Das Theater des „konstruktiven Defaitismus“, S. 582ff. 475 Breuer, S. 344. 476 MW 10, 145; Pierre Naval, zit. n.: BGS 2, 308; Heimböckel: Kein neues Theater mit alter Theorie, S. 59 u. MW 10, 687. 477 MW 10, 794. Die „eigentliche Funktion“ des Theaters bestimmt Müller dementsprechend: „daß die Leute ihr Leben durchspielen können und Variationen von Situationen“. MW 10, 86. 478 MW 10, 60. 479 Lehmann u. Schulz, S. 76 u. MW 10, 301.

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1960er und den Texten der 1970er Jahre durchaus eine Verbindung herstellen, d.h. Müller vollzieht keinen Bruch, sondern eine Radikalisierung. Im Unterschied zu den Lehrstücken ist eine „LEHRE“ jetzt aber nicht mehr zu haben; sie liegt zu „tief vergraben“, und wer ihrer habhaft werden, wer sie sprachlich ausdrücken will, ergreift doch nur ein schiefes Bild, eine leere Moral, hantiert mit Begriffen, deren Bedeutungen sich längst abgelöst haben.480 Was Müller dem Status quo der Stagnation entgegenhält, ist keine Hoffnung auf eine Erlösung – „Abschied von morgen“ heißt es programmatisch in dem Gedicht „Allein mit diesen Leibern“ vom Ende der 1960er Jahre –,481 sondern einen Realismus jenseits von „Hoffnung und Verzweiflung“,482 eine Kunst, die als einzig verbliebener Ort der Utopie radikal mit dem falschen Vorstellungen des Fortschritts ins Gericht geht. Das ist der zentrale Unterschied zu den negativ auf eine Utopie verweisenden Lehrstücken.483 Die Kunst wird zum Messer am Patienten ‚Geschichte‘, zur „Chirurgie“.484 Auffällig ist hierbei, dass Müller nun autobiographische Erfahrungen in die Texte einfließen lässt. Die „historisch-gesellschaftliche[ ] Entfaltung autobiographischer Momente“485 wird zum Grundmuster von Müllers Theater der 1970er Jahre. Müller, der sich selbst als „Objekt der Geschichte“ und „Geschichte als persönliche Erfahrung“ versteht, speist seine eigenen Traumata in die Texte ein, der Überzeugung folgend, dass man „über Geschichte nur noch schreiben [kann], wenn man seine eigene historische Situation mitschreibt“.486 Damit verleiht er ihnen eine Authentizität, die das historische Material, mit dem Müller arbeitet, bricht. So kommt Tabuisiertes und Verdrängtes zum Vorschein, ohne dass die Dramen zu autobiographischen Erzählungen oder Reflexionen würden. Das Ergebnis ist vielmehr genau umgekehrt: Die Subjektivität, mit der Müller die deutsche Geschichte und die DDR konfrontiert, verliert den Charakter einer privaten Äußerung und verweist auf eine kollektive Erfahrung; das Subjektive eröffnet einen „Zugang zur Objektivität“ im Sinne einer „historisch-gesellschaftliche[n] Dimension der Subjektivität“, die in den außerhalb des

|| 480 MW 8, 187. Wie der Begriff ‚Humanismus‘, der, so Müllers westliches Beispiel, „nur noch als Terrorismus“ (MW 8, 187) vorkommt. Vgl. Müller-Schöll: Das Theater des „konstruktiven Defaitismus“, S. 583f. 481 MW 1, 201. 482 MW 10, 377. 483 Deshalb spricht Müller auch davon, dass „die christliche Endzeit [meine Hervorhebung, R.W.] der MASSNAHME“, hier verstanden als das Paradigma des Lehrstücks, abgelaufen sei. MW 8, 187. Damit ist ausgedrückt, dass die ‚Erlösung‘ durch die ‚richtige‘ Politik, welche der Brecht’schen Lehrstückkonzeption immanent ist, außerhalb der Kunst nicht (mehr) zu haben ist. Siehe zur Verbindung von Erlösungshoffnung und Christentum: MW 10, 377. 484 MW 3, 165. 485 Raddatz: Dämonen unterm roten Stern, S. 1. 486 MW 10, 202 u. 210 u. MW 10, 74.

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offiziellen Diskurses stehenden Äußerungen des Verdrängten und Ausgeschlossenen aufscheint.487 Die von Müller in das Drama eingebrachte Subjektivität erzeugt Brüche, die ihre Entsprechung in der dramatischen Form finden. Um zum „Sprengsatz“488 zu werden, muss sich das Drama selbst verändern, liegt doch nach Ansicht Müllers in der teleologischen Struktur des klassischen Dramas, das Wirklichkeit zeitlich als durch Anfang und Ende bestimmt präsentiert, selbst ein Problem.489 Das herkömmliche Drama erscheint als „Manufakturprodukt“, als „fertiges Muster“, das der Wirklichkeit übergestülpt wird und sich somit ähnlich verhält wie eine Geschichtsphilosophie, die die offene Dialektik der Wirklichkeit gerade nicht abbildet, sondern überformt.490 Der Umstand, dass der Konflikt auf der Bühne gelöst wird, verhindert, „daß man das Publikum […] konfrontiert“;491 er klammert das Publikum aus und hält die Trennung zwischen Bühne und ZuschauerInnenraum aufrecht, die Müller überwinden will. Hinzu kommt, dass der klassische Handlungsbogen, der auf Repräsentativität setzt, eine bestimmte Geschwindigkeit des Handlungsablaufs voraussetzt, einerseits um eine gewisse Glaubwürdigkeit durch Raffung zu erzeugen, andererseits um die ZuschauerInnen in die Handlung hineinzureißen.492 Diese Geschwindigkeit aber verhindert Reflexion. Um diese zu ermöglichen, setzt Müller auf eine Verlangsamung des dramatischen Geschehens. Vor dem Hintergrund einer grundsätzlichen Sprachskepsis sucht er nach alternativen Ausdrucksmöglichkeiten und bedient sich der „nicht-mimetischen und a-logischen Ausdrucks- und Verknüpfungsformen“ der europäischen Avantgarde, insbesondere des Surrealismus.493 Die Texte der 1970er Jahre spielen daher Theatralität im Sinne einer Aufwertung der „vitale[n] Funktion“ des Theaters gegen die klassische diskursive Dramaturgie aus, die dem Sinnlichen und Außersprachlichen nach Ansicht Müllers keinen Raum bietet.494 Um den linearen Ablauf zu stören, zerstückelt Müller den geschlossenen, auf Repräsentanz zielenden Dramentext. An seine Stelle tritt ein fragmentarisches Theater, || 487 Raddatz: Dämonen unterm roten Stern, S. 38. 488 MW 10, 335. 489 Vgl. MW 8, 175. 490 MW 10, 61 u. MW 10, 85. „In gewisser Weise wird die Geschichte im Drama durch ihre Darstellung verraten. Die Wirklichkeit wird, um als geschichtlicher Prozess ins Drama Eingang zu finden, ums Moment der Geschichte verkürzt.“ Ette: Kritik der Tragödie, S. 506. 491 MW 10, 110. 492 Vgl. Ette: Kritik der Tragödie, S. 24. 493 Eke: Apokalypse und Utopie, S. 46. Siehe ausführlich zur Rezeption der Avantgarde bei Müller: Eke: Apokalypse und Utopie, S. 46ff. u. Fiebach: Inseln der Unordnung, S. 96ff. Siehe zum Surrealismus: Kai Bremer: Erholung durch Störung. Zum Status surrealistischer Malerei und Literatur bei Heiner Müller. In: Friederike Reents (Hg.): Surrealismus in der deutschsprachigen Literatur. Berlin/New York 2009, S. 205–216. 494 MW 10, 93. Vgl. auch: MW 10, 736. Siehe für die Dramentexte ab Hamletmaschine: Katharina Keim: Theatralität in den späten Dramen Heiner Müllers. Tübingen 1998.

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das den „Prozeßcharakter“ des Dargestellten betont und die Schlussfolgerungen einem „koproduzieren[den]“ Publikum überlässt.495 Die Texte der 1970er Jahre arbeiten mit Unterbrechungen und Wiederholungen und forcieren, gerade auch hinsichtlich des historischen Themas der deutschen Misere, bewusst Anachronismen.496 Handlung im Sinne personal zuzuordnender dramatischer Aktion wird mehr und mehr durch historisches, literarisches und autobiographisches Material ersetzt, das Müller analog zur Brecht’schen Materialwert-Theorie aus anderen, vielfach auch eigenen, älteren Texten herausbricht und zu neuen Zusammenhängen montiert. Ziel dieser Montagen sind aber nicht mehr wie bei Brecht „lebende Abbildungen von überlieferten oder erdachten Geschehnissen zwischen Menschen“,497 sondern a-personale Textmaschinen, die sich verschiedenste Materialien zum Zweck „zitathafte[r] Auftritt[e]“ einverleiben oder diese umarbeiten; so entstehen Allegorien, die auf die Darstellungsbedingungen des dramatischen Textes und das Problematische kohärenter dramatischer Personalisierung selbst verweisen.498 Zudem greift Müller auf nichtdiskursive Mittel zurück: Er arbeitet mit Pantomimen, (Film-)Projektionen und (Pop-)Musik und wertet den Nebentext auf. Auf diese Weise entsteht ein illusionszerstörendes „Theater des Kommentars“,499 das nicht so sehr auf eine an einem gesellschaftlichen Zweck ausgerichtete Verfremdung wie bei Brecht, sondern auf eine Potenzierung und Intensivierung des Theatralischen, eine Freisetzung von Phantasie und eine Störung vereinfachter Sinnproduktion zielt, nicht zuletzt, um der Institution Theater, die auch sperrige Texte an ihre traditionellen Spielmuster anpasst, etwas entgegenzusetzen.500 In den 1970er Jahren entwickelt Müller nach und nach ein solches Theater der Entdramatisierung, das mit Hans-Thies Lehmann als postdramatisch bezeichnet werden kann, d.h. als eine Form des ,Dramas‘, die mit dem „Paradigma ,dramatisches Theater‘“, verstanden als „Vergegenwärtigung von Reden und Taten auf der Bühne

|| 495 MW 8, 175. Das Fragment tritt somit an die Stelle einer Ganzheitsvorstellung, die es implizit weiterträgt, fungiert die „Metapher des Fragments“ doch „gleichsam als verdeckte Totalitätskategorie“ Ostermann, S. 1f. Vgl. auch: Volker Klotz: Geschlossene und offene Form im Drama. München 1999, S. 221. 496 „[I]ch glaube, […] daß man ohne Anachronismen Geschichte nicht mehr beschreiben kann“. MW 10, 81. 497 GBA 23, 66 498 Vgl. Evelyn Annuß: Kein Gesicht unter der Maske. Heiner Müllers Lessing. In: Storch u. Ruschkowski (Hg.): Sire, das war ich, S. 289–296; das Zitat dort: S. 291. Siehe zum Verfahren der Montage und der Allegorie auch: Erika Fischer-Lichte: Zwischen Differenz und Indifferenz. Funktionalisierungen des Montageverfahrens bei Heiner Müller. In: dies. u. Klaus Schwind (Hg.): Avantgarde und Postmoderne. Prozesse struktureller und funktioneller Veränderungen. Tübingen 1991, S. 231–246. Siehe hierzu grundlegend Walter Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels: BGS 1, 344ff. 499 Patrick Primavesi: Theater des Kommentars. In: HMH, S. 45. 500 „Nur wenn ein Text nicht zu machen ist, so wie das Theater beschaffen ist, ist er für das Theater produktiv oder interessant.“ MW 10, 57.

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durch das nachahmende Spiel“, bricht und auf eine „neue Dramaturgie“ orientiert.501 Diese Zerstörung des dramatischen Theaters, des herkömmlichen Dramas, wie es sich seit der Neuzeit in Europa entwickelt hat, beginnt bei Müller bereits in den 1960er Jahren, wenn die Figur Hasselbach in Der Bau aus ihrer Rolle fällt und den Blick auf eine andere Dimension jenseits des sozialistischen Fortschrittsparadigmas lenkt; und sie setzt sich mit den Lehrstücken Der Horatier und Mauser, in denen die individuellen Identitäten der Figuren verschwimmen und die Frage einer möglichen Bühnenrealisierung vom Text her offen bleibt, fort. Die Distanzierung vom Lehrstückkonzept und der ihr zugrundeliegenden politischen Botschaft vollzieht sich dann sukzessive in den 1970er Jahren mit Zement [1972], Traktor [1955/61/74], Germania Tod in Berlin [1956/71] sowie Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei [1976] und findet mit der fast vollständigen Reduktion des Dramatischen in Hamletmaschine [1977] ihren vorläufigen Höhepunkt.

5.5.1

Episch durchbrochene Dramen

Als episch durchbrochene Dramen werden hier diejenigen Theatertexte Müllers aufgefasst, die sich im Wesentlichen an die Konventionen des klassischen Dramas halten, also über eindeutig erkennbare Figuren und eine nachvollziehbare Fabel verfügen, die dramatische Handlung aber durch kommentarartige Verfremdungen unterbrechen, so dass das Drama „einen unwirklichen Charakter annimmt“.502

Theater des Kommentars: Zement 5.5.1.1 Vorformen einer solchen epischen Unterbrechung, die auf eine Irritation und Erweiterung des Verstehensprozesses zielt, finden sich bereits in Der Bau. In Zement, einem Stück, das durch seinen panoramatischen Zuschnitt ein repräsentatives Bild der Frühzeit der Sowjetunion gibt, entwickelt Müller dieses Verfahren weiter. Der fabelseitig an Fjodor Gladkows 1925 erschienenem Roman Zement angelehnte Text verfügt über 14 Szenen, die, wie bei Der Bau, Titel tragen, die projiziert oder gesprochen werden sollen.503 Die Titel, die in der Tradition „gräko-sowjetische[r] Stilisierung“504 teilweise mythische Anspielungen darstellen (HEIMKEHR DES ODYSSEUS, MEDEAKOMMENTAR, SIEBEN GEGEN THEBEN), verleihen dem Text eine pathetische Dimension

|| 501 Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 20 u. MW 10, 134. Siehe hierzu auch: Fiebach: Inseln der Unordnung, S. 170f. 502 Ette: Kritik der Tragödie, S. 507. 503 Vgl. MW 4, 466. Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe im Text zitiert. 504 Fritz Mierau: „Zement“ – fünfzig Jahre danach. In: Fjodor Gladkow; Heiner Müller: Zement. Mit einem Anhang, hg. von Fritz Mierau, Leipzig 1975, S. 519.

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und tragen zu dessen Entzeitlichung bei, was Müllers explizit „nicht naturalistisch[es]“ (466) Verständnis des Textes betont. Neben diesen indirekten Kommentaren, die das Publikum durch Rückgriff auf sein Wissen über die antike Mythologie entschlüsseln kann, existieren drei weitere mythologische Kommentare. Diese in der Forschung häufig als ,Intermedien‘ bezeichneten „Kommentartexte“ (466)505 unterbrechen direkt den Handlungsablauf des Dramas und etablieren mittels der Konfrontation der Revolutions- und Aufbauerzählung „mit Sachverhalten, die im engeren Sinne nichts mit sozialökonomischen Umwälzungen zu tun haben“,506 eine zusätzliche, weit über den konkreten Textzusammenhang hinausgehende Perspektive, so dass dem eigentlichen Drama „ein zweites Drama unterlegt“ wird.507 Die ersten beiden Kommentare erfolgen in der Szene BEFREIUNG DES PROMETHEUS. Geschildert wird die Konfrontation zwischen dem Protagonisten Tschumalow und dem bürgerlichen Ingenieur Kleist. Tschumalow, der, als Rotarmist aus dem Bürgerkrieg zurückgekehrt, die Produktion des ehemaligen Zementwerks wiederaufnehmen will, droht sich an dem Ingenieur zu rächen, weil dieser drei Jahre zuvor Kommunisten, unter ihnen auch Tschumalow, an die Konterrevolution verraten hat. Als Tschumalow in Tötungsabsicht die Hände an den Hals des Ingenieurs legt, unterbricht der erste Kommentartext die Handlung. Er erzählt die Geschichte der grausamen Rache Achills an Hektor aus der Ilias. Im Anschluss an den Kommentar zeigt sich, dass Tschumalow Kleist nicht erwürgt hat, weil er diesen für den Wiederaufbau benötigt: Sind Sie erschrocken, Genosse Ingenieur. / Das ist das Werk, ein Friedhof für Maschinen. / Ein Friedhof wird es bleiben ohne Sie, Kleist. / Zehntausend Hände zerrn an meiner Hand / Und halten sie zurück von Ihrer Kehle / Weil Ihr Hals Ihren sehr geschätzten Kopf trägt / In dem das Werk bewahrt ist Strich um Strich / Nach dem zehntausend Hände hungrig sind. (402)

Anhand der Inkongruenz von dramatischer Handlung und Kommentar erweist sich die Differenz zwischen sowjetischer Gegenwart und Mythos, die als humanisiert erscheint. Die archaische Rache muss vor dem Gemeinwohl zurückstehen. Auf ähnliche Weise funktioniert auch der zweite Kommentartext, der von der Befreiung des Prometheus durch Herakles berichtet. Prometheus, der nicht befreit werden möchte, wehrt || 505 Da Müller selbst von Kommentartexten spricht, wird diese Formulierung im Folgenden übernommen, zumal der Begriff des Intermediums bzw. des Intermezzos als performatives Genre auf eine Art Einlage (Zwischenspiel, Entremés) verweist, die zumeist in keinem Zusammenhang mit der Aufführung oder dem Spiel steht, das sie unterbricht. Vgl. Burdorf u.a., S. 355. 506 Fiebach: Inseln der Unordnung, S. 88. 507 Ette: Kritik der Tragödie, S. 507. Damit handelt es sich bei Zement um eine attributive Szenenmontage. Vgl. Wolfgang Seibel: Die Formenwelt der Fertigteile. Künstlerische Montagetechnik und ihre Anwendung im Drama. Würzburg 1988, S. 138ff., der weiterhin zwischen kombinativer und additiver Szenenmontage unterscheidet.

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sich gegen seinen Befreier, wird von diesem aber schließlich auf die Schulter gehoben und unter dem Steinbeschuss der Götter aus dem Kaukasusgebirge getragen. Am Ende nimmt Prometheus „die Haltung des Siegers ein, der auf schweißnassem Gaul dem Jubel der Bevölkerung entgegenreitet“. (406) Auch hier wirft die Differenz zwischen mythologischem Kommentar und Handlung ein positives Licht auf die Sowjetunion der 1920er Jahre, denn Kleist, der sich zunächst weigert, hilft schließlich das Werk mit aufzubauen und verbündet sich mit Tschumalow. Steht Herakles in dem genannten Kommentar, wie häufig in der sozialistischen Literatur, für die historische Mission des Proletariats, so zeichnet der letzte der Kommentartexte ein anderes Bild. HERAKLES 2 ODER DIE HYDRA folgt auf die Szene DIE BAUERN, in der die Einführung der Neuen Ökonomischen Politik Lenins angekündigt und an deren Ende vom Ausbleiben der Revolution in Deutschland berichtet wird. Damit sitzt die Russische Revolution, die auf weitere gesellschaftliche Erhebungen in Westeuropa gesetzt hat, in der Falle, was der Kommentar verdeutlicht: Herakles ist auf dem Weg zur Hydra, um diese zu töten, eine Parabel auf den Kampf gegen die vielköpfige Konterrevolution. Auf dem Weg dorthin aber bemerkt er, dass der Wald, den er durchschreitet, bereits der Feind ist. Die „Personalunion von Feind und Schlachtfeld“ (427) zwingt ihn, „[s]ich den Bewegungen des Feindes an[zu]passen. Ihnen aus[zu]weichen. Ihnen zuvor[zu]kommen. Ihnen [zu] begegnen“. (426) So wird der Weg zum Kampf selbst zum Kampf, in dem Herakles sich verändert: Im Gewirr der Fangarme, die von rotierenden Messern und Beilen nicht, der rotierenden Messer und Beile, die von Fangarmen nicht, der Messer Beile Fangarme, die von explodierenden Minengürteln Bombenteppichen Leuchtreklamen Bakterienkulturen nicht, der Messer Beile Fangarme Minengürtel Bombenteppiche Leuchtreklamen Bakterienkulturen, die von seinen eigenen Händen Füßen Zähnen nicht zu unterscheiden waren in dem vorläufig Schlacht benannten Zeitraum aus Blut Gallert Fleisch, […] in dauernder Vernichtung immer neu auf seine kleinsten Bauteile zurückgeführt, sich immer neu zusammensetzend aus seinen Trümmern in dauerndem Wiederaufbau […]. (427f.)

Der Ausgang ist ungewiss, deutlich aber wird, dass der Sozialismus, so lässt sich der Kommentar lesen, sich selbst Schaden zufügt, indem er sich im isolierten Kampf gegen die wahre und die vermeintliche Konterrevolution in eine „permanent rekonstruierende Kampf- und Tötungsmaschine verwandelt“.508 Der Text etabliert somit inmitten der erfolgreichen Erzählung über die Wiederinbetriebnahme des Zementwerks einen Zweifel an der Zukunftsfähigkeit des Sozialismus, der in der folgenden Szene || 508 Gerhard Fischer: Zement. In: HMH, S. 301. Müller selbst hat den Text später folgendermaßen kommentiert: „Sozialismus in einem unterentwickelten Land hieß Kolonisierung der eigenen Bevölkerung. Und das ist der Punkt in dieser kurzen Szene in ZEMENT.“ KoS 192. Wolfram Ette liest den Text ergänzend als ein „Modell der ‚Dialektik der Aufklärung‘“: „Indem man sich der Natur entgegensetzt und sie in sich bekämpft, reproduziert man sie in sich. Die Natur, die man unterdrückt, wächst in den Unterdrücker hinein und bestimmt ihn stärker als zuvor.“ Ette: Kritik der Tragödie, S. 501.

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MEDEAKOMMENTAR bestätigt wird. In dieser eskaliert der Konflikt zwischen Tschumalow und seiner Frau Dascha, der sich bereits vorher angekündigt hat. Dascha, die sich während des Krieges zu einer selbständigen Kommunistin entwickelt hat, verweigert die Mutter- und Eherolle. Die Konsequenz ist der Tod des gemeinsamen Kindes im Kinderheim und die Trennung von Tschumalow. Der Bürgerkrieg hat sie die Erfahrung gelehrt, dass in jedem Mann ein „Junker“, „Bourgeois“ und „Weiße[r]“ steckt, aber dass auch in ihr die alten Rollenmuster fortwirken, dass sie eine Beteiligte an jenem „Walzer aus Gewalt und Unterwerfung“ ist, den das Patriarchat darstellt: In mir ist etwas, das den Junker will, Gleb. / So wie der Hund die Peitsche will und nicht will. / Das muß ich aus mir reißen jedesmal / Wenn ich mit einem Mann im Bett lieg. […] Vielleicht muß ich die Liebe / Oder was man so nennt, mir auch ausreißen / […] daß endlich aufhört / Der Walzer aus Gewalt und Unterwerfung / Der uns zurückschraubt in die Bourgeoisie / Solang es auf der Welt Besitzer gibt. (433)

Daschas Verweigerung, die klassischen Rollenmuster zu bedienen, wird gegen Ende der Szene von dem Intellektuellen Iwagin mit Medea verglichen, die aus Rache für ihre Zurückweisung durch Jason ihre gemeinsamen Kinder tötet. Auch hier setzt der mythologische Bezug eine Differenz, denn Dascha handelt nicht wie Medea aus Rache; zudem ist ihr Verhalten nicht allein reaktiv. Dascha steht für eine Frau, die sich aus den Fesseln des Patriarchats zu lösen versucht und sich nicht mehr über den Mann, sondern ihre revolutionäre Tätigkeit definiert.509 Ob diese Befreiung gelingt oder in (Selbst-)Zerstörung umschlägt,510 bleibt aber ungewiss, zumal sich eine ähnliche Veränderung bei Tschumalow, der in traditionellen Rollenmustern der Eifersucht und der Gewalt verhaftet bleibt, nicht ereignet.511 Nimmt man das gesamte Stück in den Blick, erscheint die Entwicklung der Sowjetunion – die zugleich für die Gegenwart der DDR steht, für „den Entwurf der Welt, in der wir leben“ (466) – als verhalten positiv. Zement verrät noch ein gewisses „Restvertrauen in die Geschichte“,512 obgleich die den Erfolg des sozialistischen Projekts behindernden Faktoren klar thematisiert werden. Dies geschieht mittels der mythologischen Kommentare (besonders HERAKLES 2 ODER DIE HYDRA), die die Frage nach dem tatsächlichen Fortschritt des Sozialismus zu Beginn der 1970er Jahre aufwerfen und dem Publikum eine alternative Erzählung anbieten, die das Ineinander von Alt und Neu hervorhebt. Die Titelmetapher erweist sich insofern wie schon bei Der Bau und Mauser als doppeldeutig: Zement, das ist einerseits der Baustoff des industriellen Aufbaus, der die Grundlage des Sozialismus bildet, und es ist andererseits

|| 509 Vgl. Fischer, S. 300. 510 Vgl. die Pantomime „Medeaspiel“: MW 1, 177. 511 Genia Schulz bemerkt daher zu Recht, dass Müller hier ein „eher rhetorische[s] Hoffnungszeichen“ setzt. Schulz 1982, S. 62. 512 Ette: Kritik der Tragödie, S. 516.

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ein sprachlicher Ausdruck für die erstarrende Dynamik der gesellschaftlichen Verhältnisse, für deren Zementierung.

5.5.1.2 Theater des Autokommentars: Traktor Um ein solches Ineinander, um „den schmerzhaften Prozeß einer historischen Subjektwerdung unter [...] veränderten historisch-politischen Bedingungen“,513 geht es auch in Traktor. Das Stück, das auf den ersten Blick zunächst zu den ProduktionsStücken Müllers zu zählen ist, handelt, nachdem es mit einer kurzen Szene einsetzt, in der ein Wehrmachtssoldat angesichts der absehbaren Niederlage den Sinn der Landverminung anzweifelt und dafür als Hochverräter getötet wird, von der Geschichte eines Traktoristen, der in den Nachkriegsjahren beim Pflügen eines Feldes auf eine Mine fährt und ein Bein verliert.514 Versuche, die Verstümmelung unter Verweis auf sozialistisches Heldentum bzw. die historische Dimension des (land-)wirtschaftlichen Wiederaufbaus und die Nichtigkeit des Einzelnen mit Sinn aufzuladen, scheitern. Der Verlust des Beines wirft den Traktoristen auf sein eigenes Ich zurück: „Mein Beinstumpf ist der Mittelpunkt der Welt.“515 Trotz der anfänglichen Weigerung, sein eigenes Schicksal im Kontext des historischen Prozesses zu betrachten, zeigt sich der Traktorist aber später als gewandelt: Ich hätte genauso gut Glück haben können und was mir passiert ist wäre einem anderen passiert. Ein Bein ist besser als kein Bein, jeder macht seine Arbeit, ein Held spart den nächsten, und jedem kann alles passieren, wenn er bloß über die Straße geht […] Wenn jeder bei jedem Handschlag wissen will wozu der gut ist, können wir gleich die Daumen drehn und warten, bis uns das Gras aus dem Bauch wächst. (500)

Nicht die eigene Aufwertung als Held motiviert diesen Wandel, sondern eine Erfindung: „DAS KOLONNENPFLÜGEN“, das „DIE HELDEN ÜBERFLÜSSIG MACHT“. (502)516 Das erinnert an die Episode des Traktoristen aus der Umsiedlerin, der die Notwendigkeit der Großfeldwirtschaft erkennt: Nicht die moralische, sondern die materielle Veränderung bringt den Fortschritt. Traktor endet denn auch mit der bereits aus der Umsiedlerin bekannten Erzählung des Traktoristen über die Tötung eines sowje-

|| 513 Eke: Heiner Müller, S. 167. 514 Müller greift hier, wie schon bei der Umsiedlerin auf eine Erzählung Anna Seghersʼ zurück, die in dem Band Der Bienenstock unter dem Titel „Der Traktorist“ erschien. Vgl. Seghers. Bd. 2, S. 180– 184. 515 MW 4, 499. Zitate werden im Folgenden unter Angabe der Seitenzahl im Text belegt. 516 Beim Kolonnenpflügen ziehen zwei Traktoren den Pflug an einem langen Seil, so dass „die gefährliche Ackerfläche nicht […] betreten“ (502) werden muss.

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tischen Bauern, der noch im Angesicht des Todes auf seinem Kollektivbesitz beharrt.517 Unabhängig von der Kritik eines konventionellen individuellen bzw. militärischen Heldenbegriffs wird das Problem des Beinverlustes in Traktor aber nicht rationalisiert, zählt es nach Ansicht Müllers doch zu den Problemen, „die nicht zu lösen sind“.518 Die Integration eines alten Textes verweist auf das Produktionsprinzip von Traktor, das wie Zement einem schwachen, attributiven Montageverfahren folgt, von Müller 1975 selbst als „Versuch, ein Fragment synthetisch herzustellen“, beschrieben.519 Traktor basiert auf Szenenentwürfen aus den 1950er Jahren, die Müller 1974 zusammen mit anderen kommentierenden Texten520 collagiert hat. Im Kontext der episch durchbrochenen Dramen nimmt das Stück insofern eine Sonderposition ein, stellt es doch sein Produktionsprinzip offensiv aus. Zugleich rekurriert Müller damit auf die historische Situation der 1970er Jahre, deren Wirklichkeit sich mittels „eine[r] Geschichte, die ‚Hand und Fuß‘ hat (die Fabel im klassischen Sinn)“, nicht mehr darstellen lasse.521 Das bewusst hergestellte ‚synthetische Fragment‘ Traktor soll dieser Ausgangslage begegnen, indem es von Anna Seghersʼ Erzählung über den Traktoristen nur rudimentäre Aspekte aufnimmt, die durch vielfache Kommentare gebrochen werden, und dem Publikum so einen Freiraum für eigene Assoziationen verschafft.522 Drei dieser Kommentare verdienen besondere Aufmerksamkeit, da sie sich mittelbar auch auf die Arbeit des Autors selbst beziehen. Das ist zunächst die Erzählung über die Arbeit des Sisyphos und den „Wettlauf mit dem Stein“: Hoffnung und Enttäuschung. Rundung des Steins. Gegenseitige Abnutzung von Mann Stein Berg. Bis zu dem geträumten Höhepunkt: Entlassung des Steins vom erreichten Gipfel in den jenseitigen Abgrund. Oder bis zum gefürchteten Endpunkt der Kraft vor dem nicht mehr erreichbaren Gipfel. Oder bis zu dem denkbaren Nullpunkt: niemand bewegt auf einer Fläche nichts. (500)

|| 517 Vgl. 503f. Siehe die bis auf die Streichung eines Verses komplett übernommene Textstelle in Die Umsiedlerin: MW 3, 256f. 518 MW 10, 663. 519 MW 8, 175. Um eine schwache Form der attributiven Szenenmontage handelt es sich deshalb, weil die Fabel zeitweise von den montierten Teilen in den Hintergrund gedrängt wird. 520 Zitaten von Lenin und Ernst Thälmann, Empedokles und dem sowjetischen Regisseur Dsiga Wertow, Gedichtstrophen von Pu Sung Linh und Po Chü-i sowie zahlreichen Zitaten aus dem 1951 erschienenen Sammelband Helden der Arbeit. 521 MW 8, 175. 522 „‚Synthetisches Fragment‘ bedeutet auch, daß die Synthese, die synthetische Arbeit, nicht vom Autor vollzogen wird, sondern vom Publikum, nicht auf der Bühne, sondern im Kopf des Zuschauers […].“ Maier-Schaeffer, S. 35. Vgl. Christ: Die Splitter des Scheins, S. 199ff. Siehe zur Frage von Materialästhetik und Fragment auch: José Galisi Filho: Zum Begriff des ästhetischen Materials in Heiner Müllers Poetik. Phil. Diss. Universität Hannover. Hannover 2003, S. 50ff., online unter: http://edok01.tib.uni-hannover.de/edoks/e01dh03/362298068.pdf (zuletzt eingesehen am 15. April 2014).

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Verweist die Arbeit des Sisyphos einerseits auf die Tätigkeit des „ewige[n] Traktorist[en]“ (490)523, auf die Frage nach der Linearität des Fortschritts und dessen möglicher Erstarrung, so stellt sie gleichzeitig auch einen Kommentar über das Projekt des Schreibens im Sozialismus und dessen potentielles Scheitern dar. In diese Richtung weist auch der zweite Kommentar, ein längeres Zitat des vorsokratischen Philosophen Empedokles, das die widersprüchliche Entstehung des Menschen thematisiert und mit dem Satz Müllers: „Die Befreiung der Toten findet in Zeitlupe statt“ (502) endet. Die stockende ‚Befreiung der Toten‘ verstärkt den Eindruck des Zweifels und bricht das die Traktoristen-Erzählung prägende Aufbaupathos. Aber auch hier enthält der Kommentartext eine doppelte Aussage, denn die vorsokratische Auffassung von der zufälligen, je nach der Art der Montage verfahrenden Zusammensetzung des Menschen, lässt sich auch als „Bild […] für die Entstehung des Textes ,Traktor‘“524 lesen: „Wo nun alles zusammenkam, wie wenn es zu einem bestimmten Zwecke geschähe, das blieb erhalten, da es zufällig passend zusammengetroffen war. Alles aber, was sich nicht so vereinigte, ging und geht zugrunde.“ (501f.) Wie problematisch das Schreiben in Hinblick auf die historische Hoffnung der ‚Befreiung der Toten‘ ist, zeigt der dritte Kommentar, der einen wesentlichen Bruch der konventionellen Dramenform darstellt, ist dieser doch nicht nur Kommentar, also epische Unterbrechung des Handlungsablaufs, sondern Autokommentar: Das Gefühl des Scheiterns, das Bewußtsein der Niederlage beim Wiederlesen der alten Texte ist gründlich. Versuchung, das Scheitern dem Stoff anzulasten, dem Material (ein kannibalisches Vokabular […]), der Geschichte des amputierten Helden [...]. Die Wahrheit ist konkret, ich atme Steine. Leute, die ihre Arbeit machen, damit sie ihr Brot kaufen können, haben für solche Betrachtungen keine Zeit. Aber was geht mich der Hunger an. Uneinholbarkeit des Vorgangs durch die Beschreibung; Unvereinbarkeit von Schreiben und Lesen; Austreibung des Lesers aus dem Text. Puppen, mit Wörtern gestopft statt mit Sägemehl. Herzfleisch. Das Bedürfnis nach einer Sprache, die niemand lesen kann, nimmt zu. […] Eine Sprache ohne Wörter. Oder das Verschwinden der Welt in den Wörtern. Stattdessen der lebenslange Sehzwang, das Bombardement der Bilder (Baum Haus Frau), die Augenlider weggesprengt. Das Gegenüber aus Zähneknirschen, Bränden und Gesang. Die Schutthalde der Literatur im Rücken. (491f.)

Der Kommentar, der eine Reflexion Müllers über den eigenen Schreibprozess und den Sinn der Literatur in der stagnierenden Epoche der ‚Zeitlupe‘ darstellt, markiert in doppelter Weise einen Bruch; zum einen aufgrund der unvermittelt erscheinenden Autorenperspektive, zum anderen, weil der Kommentar den Text in zwei Teile teilt:

|| 523 Die Formulierung spielt auf die später antisemitisch gewendete christliche Legende vom ewigen Juden Ahasveros an, der verurteilt ist, bis zum Ende der Geschichte durch die Welt zu wandern. Hendrik Werner, der die christlichen Anspielungen von Traktor aufschlüsselt (vgl. Hendrik Werner: Im Namen des Verrats: Heiner Müllers Gedächtnis der Texte. Würzburg 2001, S. 126f.), hat den Ahasveros-Bezug offenbar übersehen. 524 Schulz: Heiner Müller, S. 125.

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vor und nach der Explosion der Mine. Müller integriert das eigene Scheitern in seinen Text und spiegelt sich damit gewissermaßen in der Arbeit des Traktoristen. Das wird deutlich, wenn man sich die gesamte Szene, in welche der Kommentar integriert ist, ansieht. Sie steht unter der Überschrift MINENPFLÜGEN. Bevor der Kommentar einsetzt, beschreibt der Traktorist seine Arbeit in Bildern, die auf die gesellschaftliche Arbeit des Autors hindeuten: Die Welt ein Brachfeld. Der einzige Pflüger ich. / Der ewige Traktorist, wie lang ist ewig. / […] Und eine Mine nach der andern sprengt / Von meiner Pflugschar aufgerissen mich. / Der Acker ist aus Glas, die Toten starrn / Zu mir herauf aus leeren Augenlöchern / Heil durch die Toten aus dem letzten Krieg / Scheinen die Toten aus den andern Kriegen / In langen Reihen treiben sie vorbei / Vom Grundwasser gewaschen. Warum ich. (490f.)

Die in der Gegenwart präsenten Toten der Geschichte erinnern wiederum an Walter Benjamin und stellen einen Bezug zu dem bereits erwähnten Empedokles-Kommentar dar. In der Rede des Traktoristen erhält der Acker eine mythische Dimension. Er wird zum „Totenacker der Geschichte“,525 zum Bild für die Gesellschaft, in welche sich die Katastrophen der Kriege eingeschrieben haben. In diesem Sinn verweist auch der Titel Traktor auf mehr als nur die landwirtschaftliche Maschine. Wie bei anderen Stücken Müllers erweist er sich als polyvalent: lat. trahere = ziehen, hin und her zerren; tractare = bearbeiten, behandeln, auch: misshandeln; tractor = ich werde bearbeitet.526 Nimmt man den fast durchgängigen Blankvers des Textes und die Bedeutung von Vers bzw. lat. versus (= umwenden) mit hinzu, ergibt sich eine merkwürdige Verschiebung: Nunmehr liest sich die gesamte Szene als „Selbstreflexion und Selbstdarstellung des Autors“.527 Müller pflügt das Feld der Geschichte, er setzt sich dem „Bombardement der Bilder“ (492) und dem „Dialog mit den Toten“ aus, eine (Erinnerungs-)Arbeit, deren Notwendigkeit er gerade angesichts der Stagnation des revolutionären Prozesses immer wieder betont hat.528 Indem Traktor den widersprüchlich-grausamen Gang der Geschichte und die Arbeit des Autors bzw. die Bedingungen seiner eigenen Produktion thematisiert und überblendet, etabliert Müller ein Theater des Selbst-Kommentars. Weil aber die „ästhetische Entfaltung individualpsychologischer Motivationen“ historisch rückgebunden wird, „erhalten die subjektiven Momente Materialcharakter“, d.h. ihnen wächst der Charakter einer objektiven Gegenposition zu, sie werden zu Gegenbildern des offiziellen historischen Narrativs.529

|| 525 Eke: Heiner Müller, S. 168. 526 Vgl. Schulz: Heiner Müller, S. 126. 527 Schulz: Heiner Müller, S. 125. 528 MW 3, 165. „Eine Funktion von Drama ist Totenbeschwörung – der Dialog mit den Toten darf nicht abreißen […].“ MW 10, 514. 529 Raddatz: Dämonen unterm roten Stern, S. 7.

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Traktor weist damit bereits auf Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei voraus, nicht zuletzt, weil der Kommentar, der eine zentrale Position im Gesamttext einnimmt, das Ungenügen der ‚alten Texte‘ feststellt. Deren ‚kannibalisches Vokabular‘, das die Realität vernichtet, statt sie in die Kunst zu holen, schließt das Publikum aus, treibt es aus dem Text. Müller formuliert hier erstmals die Notwendigkeit einer neuen, einer anderen Kunst, die sich dem Zwang der Bedeutung entzieht und einer ‚Sprache ohne Wörter‘ bedient. Die frühen Texte können hierfür nur noch als Bruchstücke dienen; einer ,Schutthalde‘ gleich (also einem Ort voller Dinge, die im Ganzen nicht mehr zu gebrauchen sind, deren Teile man sich aber bedienen kann) werden sie als Material im Rahmen der Montage gehandhabt, für die Traktor beispielhaft steht. Eine einheitliche Sinndimension weist Traktor nicht auf. Gerade die Selbstkritik im Autokommentar verweist ja auf ein Scheitern des Schreibens der 1950er Jahre und des damit verbundenen, längst hohl gewordenen Aufbaupathos. Gleichwohl setzt der Text am Ende das verhaltene Zeichen einer Utopie. Die zu anfangs erwähnte Episode über den sowjetischen Bauern, die Müller aus der Umsiedlerin übernommen hat, bekommt im Kontext von Traktor durch einen weiteren kommentarartigen Vorsatz, eine zusätzliche Bedeutung. Denn hier heißt es, dass „MANCHER DER SCHON NICHT MEHR WAR [SIEGTE]“. (503) Das bezieht sich sowohl auf den sowjetischen Bauern als auch auf den in der ersten Szene des Stücks erwähnten Soldaten. Die Erfindung des Kollonenpflügens und die sozialistische Kollektivierung verhelfen ihnen nachträglich zum Sieg.530 Der sowjetische Bauer und der Soldat zählen somit zu den Toten, an deren Befreiung der Sozialismus in der DDR arbeitet.

5.5.2

Revuen

Als Revuen lassen sich diejenigen Texte Müllers bezeichnen, die anhand der Verbindung der einzelnen Szenen oder Bilder keine Fabel mehr erkennen lassen. Die Revuen folgen zwar ebenfalls einem Montageprinzip, setzen aber die Chronologie und den Vorgang linearer dramatischer Darbietung außer Kraft. Geschichte erscheint dargestellt im Modus eines „Zeitraffer[s]“.531 Nicht Geschichten oder Erzählungen, sondern motivische Komplexe bestimmen das Gesamt der Texte, sodass von einem leitmotivischen Verfahren gesprochen werden kann.532

|| 530 Vgl. Schulz: Heiner Müller, S. 128. 531 MW 10, 81. 532 Vgl. Ette: Kritik der Tragödie, S. 513. Siehe zu Begriff und Gattung der Revue: Klaus Weimar u.a. (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 3. Berlin 2010, S. 278–281.

Vom Negativ der Utopie zur Utopie der Kunst: Müllers Drama in den 1970er Jahren | 443

Dementsprechend können diese Texte mit hermeneutischen Werkzeugen der Dramenanalyse nur noch unzureichend analysiert werden. Sie sind in ihrer motivischen Verknüpfung mehrdimensional und folgen ab Leben Gundlings einer „Psychomechanik des Unbewußten“, d.h. sie lassen sich nur noch begrenzt an einzelnen Handlungssträngen oder den ohnehin immer problematischer werdenden, zu „Abbreviaturen“ und „Frakturen“ neigenden, Figuren festmachen und sperren sich aufgrund ihrer an diverse Diskurse anschließbaren Offenheit gegen eine „organische Synthese“.533 Das macht es unerlässlich, Müllers Rezeption der literarischen Moderne, der Psychoanalyse und der poststrukturalistischen Philosophie bei der Analyse und Interpretation der Texte im Hinterkopf zu behalten.534 Des Weiteren ergibt sich daraus die Notwendigkeit, sehr nah an den Texten zu arbeiten, will man nicht Gefahr laufen, diese nur als Illustrationsmaterial von Theorien zu behandeln, was besonders bei der Hamletmaschine vielfach geschehen ist. Konkret bedeutet das, den immer mehr Raum einnehmenden Nebentexten Müllers die nötige Aufmerksamkeit zu widmen und diese als gleichrangige Texte in die Interpretation miteinzubeziehen. In diesem Sinne gilt, was der späte Müller über die theatrale Interpretation der eigenen Texte formuliert hat: „Auf Antworten kann man nur kommen, wenn man eisern von den Texten ausgeht“.535

5.5.2.1 Theater des Anachronismus: Germania Tod in Berlin Zu den ersten Revue-Texten Müllers zählt Germania Tod in Berlin. Der Text besteht aus dreizehn teilweise bereits 1956 verfassten Szenen, deren thematische Klammer die deutsche Geschichte bis zum Juni-Aufstand in der DDR ist. Das Anordnungsprinzip der Szenen ist anachronistisch; nicht Linearität, sondern Gegenüberstellung im Rahmen einer Doppelungsstruktur ist das dominierende Prinzip.536 So sind die meisten Szenen mit Nummern versehen, was einen Spiegelungseffekt ergibt: DIE STRASSE 1; DIE STRASSE 2; BRANDBURGISCHES KONZERT 1;537 BRANDENBURGI-

|| 533 Axel Schalk: Geschichtsmaschinen. Über den Umgang mit der Historie in der Dramatik des technischen Zeitalters. Eine vergleichende Untersuchung. Heidelberg 1989, S. 184; Hitz, S. 59 u. Ette: Kritik der Tragödie, S. 566. 534 Siehe hierzu: Klaus Teichmann: Der verwundete Körper. Zu Texten Heiner Müllers. Freiburg 1989, S. 7ff. 535 MW 12, 806. 536 Vgl. Seibel, S. 203ff. Nach Seibel, S. 144 handelt es sich bei dem Text um eine kombinative Szenenmontage. 537 Bei BRANDENBURGISCHES KONZERT 1 handelt es sich um jene Konstellation zwischen Friedrich II. und dem Müller von Sanssouci, die Hacks Ende der 1950er Jahre in seiner Komödie Der Müller von Sanssouci aufgegriffen hatte. Müller organisiert die Konfrontation als ein Clownsspiel, an dessen Ende der Clown, der den Müller spielt, Friedrichs Stock isst und sich daran aufrichtet, um schließlich

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SCHES KONZERT 2 usw. Die erste Szene schildert jeweils eine Episode aus der Vorgeschichte des Sozialismus, die zweite jeweils eine aus der DDR. Auf diese Weise entsteht vor dem Hintergrund der ungelösten Widersprüche von Autoritarismus, Gewalt, Nationalismus, geschlechtsspezifischer Unterdrückung und Selbstzerstörung ein Zusammenhang, der das Publikum sowohl auf die Kontinuitäten als auch die Differenzen bezüglich der deutschen Misere verweist. Wie bereits in Philoktet rückt so die „Wiederkehr des Gleichen als eines anderen“ in den Fokus.538 Germania Tod in Berlin thematisiert die „unaufhebbare[ ] Ambivalenz“539 der Geschichte, den Fortschritt im Rückschritt und den Rückschritt im Fortschritt. Mit Kategorien, die auf der Annahme eines linearen Fortschritts basieren, ist das Drama somit nicht lesbar. Der Text lässt sich daher kaum auf eine der in der öffentlichen Diskussion des Stücks dominanten, antithetischen Positionen (Kritik der BRD vs. Kritik der DDR; Geschichtspessimismus vs. Geschichtsoptimismus) herunterbrechen.540 Als Leitthema des Stücks zeigt sich das durch Hass geprägte Verhältnis der Deutschen untereinander, der „‚Brüderhass‘ […], der eigentlich Selbsthass ist“541 und sich in Akten brutaler Gewalt Bahn bricht. Begründet wird dieses destruktive Element aber nicht ontologisch, sondern historisch, wie die Szenen DIE BRÜDER 1 und DIE BRÜDER 2 zeigen. In Letzterer sitzen zwei Brüder, der eine Kommunist, der andere Nazi, während des Aufstands des 17. Juni in der gleichen Gefängniszelle; beide waren Kommunisten, aber der eine wurde nach seiner Verhaftung durch die Gestapo von den anderen GenossInnen geschnitten, da man einen Spitzel und Verräter in ihm vermutete: NAZI: Ich war dein Bruder. / Streckt die Hand aus. Der Bruder nimmt sie nicht. / Aber mein Bruder hatte keine Hand frei. / Ich bin dein Bruder. KOMMUNIST: Ich habe keinen Bruder.542

Dass das Band der Familie keine Identität stiftet, sondern diese grundsätzlich politisch bestimmt ist, verdeutlicht auch das Ende der Szene. Der Kommunist hofft, obwohl er selbst von seinen eigenen GenossInnen ins Gefängnis geworfen worden ist, auf die Niederschlagung des Aufstands – „Warum schießen sie nicht. […] / Genossen, || „im Paradeschritt“ (MW 4, 338) in den Krieg zu ziehen. Müller selbst spricht in Bezug auf Hacksʼ Vorlage von einer Kolportage. Vgl. KoS 110. Siehe zum Vergleich zwischen Hacks und Müller: Mieth: Die Masken des Erinnerns, S. 45f. u. 211–213. 538 MW 10, 335. Heinz-Dieter Weber schreibt: „Die Paarung der Szenen macht die Differenz und Kontinuität zugleich deutlich.“ Weber: Heiner Müllers Geschichtsdrama, S. 51. Siehe zur Struktur des Stücks: Volker Bohn: Germania Tod in Berlin. In: HMH, S. 208. 539 Deiters, S. 250. 540 Vgl. Bohn, S. 208. Siehe zur Rezeption von Germania Tod in Berlin: Hauschild, S. 326ff. 541 Ette: Kritik der Tragödie, S. 513. 542 MW 4, 367. Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe im Text zitiert. Die Szene nimmt die Szene DIE NACHT DER LANGEN MESSER aus Die Schlacht auf. Vgl. MW 4, 471ff.

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haltet das Gefängnis. Schießt“ (369) –, wofür er, als sich diese abzeichnet, von seinem Bruder und den beiden anderen Mitgefangenen getötet wird. Müller kontrastiert diese Szene in DIE BRÜDER 1 mit einer Passage aus den Annalen des Tacitus über den Cherusker-Fürsten Arminius und seinen in römischen Diensten stehenden Bruder Flavus. (364f.) Durch die Voranstellung der Tacitus-Stelle erscheint DIE BRÜDER 2 in einem über die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts hinausgehenden Zusammenhang. Sich in zwei feindlichen Lagern gegenüberzustehen, ist laut Müller „eine altdeutsche Situation“,543 die sich seitdem in vielen Variationen wiederholt hat. Bei näherer Betrachtung der beiden Szenen, die im Vergleich zu den übrigen Szenen des Stücks den historisch größten Zeitraum überbrücken (16 u. Z. und 1953), lässt sich allerdings eine entscheidende Differenz ausmachen. Während Arminius und Flavus über den Dienst unter der falschen Macht und die Relevanz des Patriotismus streiten, sich dabei aber offenbar freiwillig für ihre Position entschieden haben, stehen die beiden Brüder im zwanzigsten Jahrhundert wesentlich stärker unter dem Druck äußeren Zwangs. Sowohl die Gestapo-Haft als auch die Haftszene in der DDR schildern ausweglose Situationen, in denen sich die Subjekte zwar verweigern können, eine auf die Zukunft gerichtete Lösung für den Einzelnen aber nicht existiert. Darauf deuten auch die Mehrheitsverhältnisse innerhalb der Zelle: drei DDR-Gegner gegen einen Kommunisten. Die Szene DIE BRÜDER 2 und das Motiv der feindlichen Brüder verweist so auf ein weiteres Motiv, das sich durch Müllers Stück zieht: die Situation des Kessels, aus dem es keinen Ausweg gibt, und die Suche nach dem „Loch im Kessel“ (343), die zum Sinnbild der deutschen Geschichte wird.544 In der Szene HOMMAGE À STALIN fallen drei Soldaten im Stalingrader Kessel über einen weiteren Soldaten her, reißen ihm den Arm aus und überlassen den abgenagten Arm Gaius Julius Cäsar, der im Gefolge Napoleons aus einem Schneesturm auftaucht. Der Anachronismus wirft nicht nur ein Schlaglicht auf die deutschen Kriegsaussichten – auch Napoleon scheiterte 1812 mit der historisch bis dato größten Armee an der Einnahme Russlands –, sondern betont auch das sich durch die Geschichte ziehende Scheitern der großen Feldherrn, die als Leichen produzierende und verschlingende Schlächter dargestellt werden. Damit aber nicht genug; denn Müller schließt das Geschehen im Kessel auch mit der deutschen Mythologie kurz. Als immer mehr Soldaten auf die Bühne kriechen, „treten überlebensgroß in verrosteten Harnischen die Nibelungen Gunther, Hagen, Volker und Gernot auf“ und kämpfen gegen „imaginäre Hunnen“. (341f.) Nach getaner Arbeit meldet Gernot Zweifel an: „Immer dasselbe. […] Ich sage nicht, daß ich nicht mehr mitmachen will. Aber worum geht es eigentlich.“ (342) Die anderen setzen ihm ihre Motive auseinander: Rache für Siegfried, den die Hunnen aus dem Hinterhalt ermordet hätten. Als Gernot diese Lüge anzweifelt und Hagen als den wahren Mörder || 543 MW 10, 186. 544 Siehe zum Motiv des Kessels: Löschner, S. 73ff.

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Siegfrieds benennt, erklären die anderen Siegfried kurzerhand zum Verräter: „Er war ein Verräter. […] Ich wollte es dir eigentlich nicht sagen. Man soll der Jugend ihre Illusionen lassen, solange es irgend geht.“ (342) Damit aber fällt der Grund für den ewigen Kampf gegen die Hunnen weg: GERNOT: Ich weiß immer noch nicht, warum wir uns hier mit den Hunnen herumschlagen. VOLKER: Bist du ein Hunne, daß du zum Kämpfen einen Grund brauchst. HAGEN: Weil wir aus dem Kessel nicht herauskommen, darum schlagen wir uns mit den Hunnen herum. GERNOT: Aber wir brauchen doch nur aufzuhören, und es gibt keinen Kessel mehr. (342f.)

Das Anzweifeln der Notwendigkeit, ein Verstoß gegen die nicht zu hinterfragende ‚Sache‘, bringt die anderen gegen Gernot auf, die ihn schließlich töten. Aber auch die verbliebenen drei Nibelungen schlachten sich am Ende der Szene gegenseitig ab, wobei aus einer Äußerung Gernots – „Ich will nicht jede Nacht sterben“ (343) – hervorgeht, dass es sich um ein wiederkehrendes Ereignis handelt. Der Kampf der Nibelungen gegen einen imaginären Feind, dessen Grundlage gegenseitiger Verrat und Vernichtung sind, wird zur Metapher für den sinnlosen Kampf um Stalingrad. Müllers Anachronismus verdeutlicht zudem „den Einschuß einer Vergangenheit in die Textur der Gegenwart“, wie es bei Walter Benjamin heißt.545 Das gilt auch für die DDR, in welcher die folgende Szene HOMMAGE À STALIN 2 spielt. Die Geräuschkulisse der vorangegangenen Szene, an deren Schluss sich die verschiedenen auf der Bühne verteilten Leichenteile „mit Lärm aus Metall, Schreien, Gesangsfetzen zu einem Monster aus Schrott und Menschenmaterial“ (344) formieren, leitet in diese über; die autoritäre Tradition und die Situation des Kessels, das „Nibelungen-Modell“ und das ihm zugrunde liegende „Vakuum“, in dem „eine durch die Isolation radikalisierte Linke“ mit Gewalt ihre Macht behauptet, finden in der DDR stalinistischen Zuschnitts ihre Fortsetzung.546 Das gilt, wie die Kneipenszene anhand der Stalingrad-Erzählung des Betrunkenen verdeutlicht, in anderer Weise auch für die Bevölkerung.547 Das Stück betont so, dass zwar der Krieg gewonnen wurde, der eigentliche Kampf gegen den Faschismus, der „im Inneren der Subjekte“548 geführt werden muss, aber noch ausstehe: „Der Krieg ist nicht zu Ende. Das fängt erst an.“ (349)

|| 545 BGS 2, 479. Vgl. Maier-Schaeffer, S. 28f. 546 MW 10, 131. 547 In der Szene erzählt u.a. ein Betrunkener, ein ehemaliger Kommunist, wie er einen Soldaten seiner Kompanie wiedergetroffen hat, der mittlerweile Staatssekretär in einem Ministerium ist. Mit ihm gemeinsam rekonstruiert er „mit Bier auf dem Parkett“ den Stalingrader Kessel, „unseren Kessel“, während die Ehefrau des Staatssekretärs in der Küche eingeschlossen wird. 548 Raddatz: Dämonen unterm roten Stern, S. 93.

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Eine Ausnahme in Müllers kontrastierendem ‚Spiel der deutschen Misere‘ bildet die Szene NACHTSTÜCK. Sie besitzt kein szenisches Korrelat und ist zudem rein pantomimisch. Der Titel verweist auf das Genre des Nachtstücks.549 In der surrealen Szene steht ein Mensch auf der Bühne, der „vielleicht eine Puppe“ (372) ist. Er ist mit Plakaten bekleidet. Sein Gesicht verfügt über keinen Mund. Als ein Fahrrad auftaucht, will sich der Mensch/die Puppe dieses Fortbewegungsmittels bedienen, fällt aber über eine aus dem Boden auftauchende Schwelle. Da die Figur glaubt, über ihre eigenen Beine gestolpert zu sein, reißt sie sich diese aus. Später reißt sie sich auch die Arme aus, so dass nur ein Torso übrigbleibt. Als der Mensch/die Puppe weint, erscheinen zwei „Beckett-Stachel[n]“, die ihm/ihr die Augen ausstechen. „Aus den leeren Augenhöhlen […] kriechen Läuse und verbreiten sich schwarz über sein Gesicht. Er schreit. Der Mund entsteht mit dem Schrei.“ (373) Der kurze Text, der die Rezeption Antonin Artauds, Samuel Becketts und Lautréamonts erkennen lässt,550 kann im Sinne einer geschichtsphilosophischen Zusammenfassung von Germania Tod in Berlin als eine Allegorie der historischen Stagnation verstanden werden. Die Puppe repräsentiert den heteronomen Menschen, dessen Handlungen keine Auswirkungen auf die Geschichte haben. Der Versuch sich des Fahrrads, verstanden als Metapher des historischen Fortschritts, zu bedienen, misslingt nicht zuletzt, weil der Puppe keine Einsicht in die Ursachen ihres Scheiterns zuteilwird. Das Ausstechen der Augen durch die Stacheln erinnert insofern an die Selbstblendung des Ödipus, dessen Versuch, das Schicksal zu hintergehen, ihn in

|| 549 In der Musik bezeichnet ein Nachtstück (notturno ital. Nacht werdend) Werke für abendliche oder nächtliche Aufführungen, die eine entsprechend ‚nächtliche‘ Stimmung vermitteln. Zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts wurde der Begriff auch auf die Literatur übertragen, wo er für eine Literatur extremer psychischer Zustände, für die ‚Nachtseiten‘ des menschlichen Lebens steht. Vgl. Walther Killy (Hg.): Literaturlexikon: Autoren und Werke deutscher Sprache. Bd. 14. Gütersloh 1993, S. 140f. 550 Der Schrei erinnert an Artauds Theater und dessen Rückführung der Sprache auf den Schrei. Vgl. Antonin Artaud: Das Theater und sein Double. Berlin 2012 (Werke in Einzelausgaben. Bd. 8). Siehe zu Artaud: Joachim Fiebach: Artaud und Theaterkonzeptionen in der allgemeinen Krise der bürgerlichen Gesellschaft. Berlin 1973 u. Karl Alfred Blüher: Antonin Artaud und das „Nouveau Théâtre“ in Frankreich. Tübingen 1991. Siehe zu Müllers Artaud-Rezeption: Fiebach: Inseln der Unordnung, S. 249f. u. Patrick Primavesi: Heiner Müllers Theater der Grausamkeit. In: Schulte u. Mayer (Hg.): Der Text ist der Coyote, S. 143–164. Neben der direkten Benennung („Beckett-Stachel“) verweist der Text sowohl auf Becketts Akt ohne Worte II, in dem ein Stachel vorkommt, als auch auf Becketts Endspiel, in dem die Figuren ebenfalls körperlich beschädigt sind (blind und beinamputiert); auch das Fahrrad kann als Verweis auf Becketts Roman Molloy aufgefasst werden. Fahrräder sind zudem zentrale Objekte des Surrealismus und seiner Vorläufer, man denke etwa an Alfred Jarry oder Marcel Duchamp. Die Läuse verweisen auf Lautréamonts Gesänge des Maldoror. Vgl. Fiebach: Inseln der Unordnung, S. 270f.

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den sicheren Untergang führt. Der Mensch ist nicht Herr seiner Dinge, „[d]ie vollkommene Niederlage ist unausweichlich“, wäre dann die Quintessenz der Szene.551 Eine solche Interpretation bleibt aber ambivalent, lässt sich die Metapher der mit Plakaten bekleideten Puppe doch auch als Schmetterlingsmotiv verstehen. Liest man die Szene so, ereignet sich auf der Bühne die Metamorphose des neuen Menschen, denn der mundlosen Figur wächst mit dem Schrei der Qual ja überhaupt erst das Organ zu, um diesen zu äußern.552 Schreien steht bei Müller für „eine Ursprungsmacht, ein akustisches Ereignis, wo sich Sprechen, Geräusch und Musik noch nicht getrennt haben“; Schreien heißt „noch einmal zu beginnen“.553 Die Szene in Traktor, die sich an die Explosion der Mine anschließt, heißt DER SCHREI; und im 1979 verfassten Essay „Der Schrecken die erste Erscheinung des Neuen“, der eine zentrale Formulierung aus dem Vorwort zum Glücksgott-Fragment wiederaufnimmt, heißt es: Die guten Texte wachsen immer noch aus finsterm Grund, die bessere Welt wird ohne Blutvergießen nicht zu haben sein, das Duell zwischen Industrie und Zukunft wird nicht mit Gesängen ausgetragen, bei denen man sich niederlassen kann. Seine Musik ist der Schrei des Marsyas, der seinem göttlichen Schinder die Saiten von der Leier sprengt.554

NACHTSTÜCK ist ein Sinnbild für den Schrecken als „die erste Erscheinung des Neuen“.555 Die Szene verweist auf den Doppelcharakter der Kunst Müllers in den 1970er Jahren: Sie behandelt zugleich den Untergang und den Neuanfang, sie handelt von „den Schrecken/Freuden der Verwandlung in der Einheit von Geburt und Tod“.556 Einen solchen widersprüchlichen Doppelcharakter weist auch Germania Tod in Berlin selbst auf. Zeugt der Text einerseits vom Scheitern des klassischen (Geschichts-)Dramas mit seinen Techniken der symbolischen Darstellung und Raffung von Ereignissen im Rahmen einer konsistenten Erzählung mit eindeutigen Konfliktlinien, so vermittelt er andererseits die Aufrechterhaltung des Anspruchs, Geschichte bühnentauglich zu präsentieren. NACHTSTÜCK ist deshalb auch eine Allegorie der Entwicklung der Müller’schen Kunst, die im Fortschritt (das Fahrrad) angesichts der

|| 551 Bohn, S. 211. Vgl. Paul Gerhard Klussmann: Deutschland-Denkmale: umgestürzt. Zu Heiner Müllers „Germania Tod in Berlin“. In: ders. u. Heinrich Mohr (Hg.): Deutsche Misere einst und jetzt, S. 175; Deiters, S. 249 u. Rainer E. Schmitt: Geschichte und Mythisierung. Zu Heiner Müllers Deutschlands-Dramatik. Berlin 1999, S. 116. 552 Vgl. Deiters, S. 249f.; Eke: Heiner Müller, S. 183 u. Breuer, S. 362. 553 Manfred Schneider: The Management of Pain. Nietzsche und Heiner Müller. In: Renner u. ders. (Hg.): Häutung, S. 227. Georg Wieghaus bezeichnet den Schrei daher zu Recht „als die erste Artikulation einer neuen Sprache“. Georg Wieghaus: Zwischen Auftrag und Verrat. Werk und Ästhetik Heiner Müllers. Frankfurt/M. u.a. 1984, S. 263. 554 MW 8, 210. Siehe zum Glücksgott-Vorwort: MW 3, 166. Vgl. Schneider: Kunst in der Postnarkose u. Breuer, S. 361ff. 555 MW 8, 210. 556 MW 8, 177.

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historischen Stagnation keine Antriebskraft mehr findet und sich selbst amputieren muss (das Abreißen der Gliedmaßen), um im Tod eine Wiedergeburt zu erfahren, die durch die Beckett-Stacheln verursacht wird. Vereinfacht ausgedrückt, bedeutet das: Will das Drama an der Utopie als Fluchtpunkt festhalten, so muss es sich von einer traditionellen Dramaturgie lösen und auf andere Traditionen zurückgreifen, welche die Szene ja auch anzitiert: das avantgardistische Theater des Surrealismus und der Absurden; die ‚Läuse‘ Lautréamonts stehen also ebenso wie der Schrei für den Neuanfang.557 Der Beginn der neuen Kunst aber, den Müller hier in Germania Tod in Berlin ankündigt und deren Notwendigkeit auch in Traktor betont wird, hat das Ende der Utopie in Raum und Zeit zur Voraussetzung. Die Utopie, die ihren gesellschaftlichen Verankerungspunkt verloren hat, wandert in die Kunst. Insofern ist das Ende von NACHTSTÜCK bereits eine Antizipation des SCHERZO-Bildes aus der Hamletmaschine,558 auch wenn Müller die mögliche Identität von Kunst und Utopie hier nur andeutet und Germania Tod in Berlin aller Ambivalenz zum Trotz doch noch eine Zukunftsperspektive eröffnet. Das verdeutlicht das Ende des Stücks mit den Szenen TOD IN BERLIN 1 und TOD IN BERLIN 2, die entsprechend der Reihung des Gesamttitels ein Resümee ziehen. In der letzten Szene stirbt der „ewige Maurer“ (377) Hilse an Krebs, der für die durch den Geschichtsverlauf zerfressene Utopie des Kommunismus steht. An sein Todesbett tritt „Der junge Maurer“ (374) gemeinsam mit seiner Freundin. Hilse, bereits im Sterben, erkennt in ihr Rosa Luxemburg und beschwört das Bild einer DDR, die „die Kapitalisten eingemauert“ hat und an der Erfüllung der Utopie arbeitet: „Wenn du noch Augen hättest / Könntest du durch meine Hände scheinen sehn / Die roten Fahnen über Rhein und Ruhr“. (377) Diese Utopie aber ist tot, sie ist die „Illusion eines Sterbenden“.559 An ihre Stelle tritt die realistische Perspektive des jungen Maurers, der, schon durch die Namensgebung als Nachfolger Hilses ausgewiesen, Augen für die widersprüchliche Realität des Sozialismus hat. Das reflektiert sich auch in den Zuschreibungen von dessen Freundin, die „eine Hure“ und „die Heilige Jungfrau“ (374f.) ist;560 sie steht für den widersprüchlichen Charakter der Partei und des Sozialismus, der die Utopie aufbewahrt und zerstört: „Ich bin besoffen, wenn ich sie bloß anseh / […] Bloß manchmal wird mir / Ein Messer umgedreht zwischen den Rippen.“ (375f.) Dieser Doppelcharakter wird durch die Schwangerschaft der jungen Frau noch verstärkt, repräsentiert diese doch wie schon in Der Bau ein, wenn auch gestörtes, Sinnbild des || 557 Das übersieht Franz-Josef Deiters, wenn er von einer „unaufhebbaren Ambivalenz“ des Textes spricht. Deiters, S. 250. Siehe zur Rezeption Lautréamonts und des Surrealismus sowie Becketts bei Müller: Bremer u. Helmut Fuhrmann: „Etwas frißt an mir“. Aspekte produktiver Beckett-Rezeption bei Heiner Müller. In: Forum modernes Theater 2 (1987), H. 1, S. 18–33. 558 Siehe hierzu: Kap. 5.5.2.3, S. 486ff. 559 Eke: Apokalypse und Utopie, S. 184. 560 Der junge Maurer lernt diese in der Szene HOMMAGE À STALIN 2 kennen und verliebt sich in sie ohne Kenntnis ihres Berufs. Vgl. 346 u. 351.

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Neuanfangs. Am Totenbett der Utopie, dem „Kindertraum eines jungfräulich-reinen Sozialismus“;561 erscheint dergestalt deren realistische Aktualisierung, die die ‚unreine Wahrheit‘ anerkennt. Hilse kann versöhnt sterben, während die junge Frau vor ihm, von ihrem Freund souffliert, ein letztes Mal das Bild eines vereinigten deutschen Sozialismus aufscheinen lässt, „ein kleines improvisiertes Theaterstück für einen sterbenden Kommunisten“:562 JUNGER MAURER: Du mußt was sagen. Irgendwas. / Der stirbt jetzt. MÄDCHEN: Ich kann sie ohne Augen sehn – / Der junge Maurer souffliert. / Genosse. / Die roten Fahnen – / Der junge Maurer souffliert. / Über Rhein und Ruhr. / Der sterbende Maurer lächelt. (377)

Der Schluss des Stücks bleibt damit ebenso ambivalent wie der gesamte Text. Die Utopie, das ist unmissverständlich, ist tot, gleichzeitig existiert eine Zukunftsperspektive: Der junge Maurer und seine Freundin wollen sich offenbar in dieser widersprüchlichen DDR einrichten.563

5.5.2.2

Die Erfindung des postdramatischen Theaters: Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei Eine Spezifizierung der Misere-Thematik weist Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei auf.564 Einerseits, weil Müller das Problem Deutschland auf seinen preußischen Kern zurückführt und dessen Genese analog zu Foucaults Konzept der Biomacht als eine Bewegung vom Fremd- zum Selbstzwang deutet, der sich in den Körpern niederschlägt;565 andererseits, weil die Frage, „welche Auswirkungen die deutsche Misere auf die innere Konstitution des Intellektuellen hatte“,566 in den Fokus rückt und damit auch die Bedingungen der eigenen Arbeit in der DDR reflektiert werden. Als Leitthema von Leben Gundlings lässt sich daher „die spezifisch || 561 Eke: Apokalypse und Utopie, S. 185. 562 Ette: Kritik der Tragödie, S. 515. Damit ist auch der Kontrapunkt zu TOD IN BERLIN 1 gesetzt, den beiden Terzetten aus Georg Heyms Sonett „Berlin VIII“, in dem die Toten auf einem Armenfriedhof unruhig auf die Erfüllung ihrer Träume warten. Vgl. Georg Heym: Dichtungen und Schriften. Gesamtausgabe. Bd. 1: Lyrik, hg. von Karl Ludwig Schneider. Hamburg/München 1964, S. 188. 563 Diese Ambivalenz übersieht Wolfram Ette, wenn er hinsichtlich des Endes ein grundsätzliches Scheitern attestiert. Vgl. Ette: Kritik der Tragödie, S. 514f. 564 Vgl. MW 4, 509–536. Die Zitatnachweise werden im Folgenden unter Angabe der Seitenzahl direkt im Text angegeben. 565 Vgl. Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit. 3 Bde. Frankfurt/M. 1997. „[W]enn ich von der Mechanik der Macht spreche, denke ich an die feinsten Verzweigungen der Macht bis dorthin, wo sie an die Individuen rührt, ihre Körper ergreift, in ihre Gesten, ihre Einstellungen, ihre Diskurse, ihr Lernen, ihr alltägliches Leben eindringt.“ Michel Foucault: Mikrophysik der Macht. Über Strafjustiz, Psychiatrie und Medizin. Berlin 1976, S. 32. 566 Schulz: Heiner Müller, S. 140.

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preußische Körper- und Kunstfeindlichkeit“ bestimmen, die Müller auf die Tradition des Rationalismus und der Aufklärung zurückführt, dient Kunst in Preußen, wie das Stück zeigt, doch als „sentimentaler Soft Skill, der die Brutalität der politischen Herrschaft verdecken soll“.567 Formal dem kombinativen Prinzip von Germania Tod in Berlin ähnlich, setzt Leben Gundlings die Rezeption des Surrealismus fort, d.h. der Text ist eine Montage voller intertextueller Verweise.568 Zugleich bedeutet er durch einen verstärkten Rückgriff auf außersprachliche Bühnenmittel (Pantomime, Projektionen, [Pop-]Musik, Geräusche) und eine Ausweitung der Anachronismen einen weiteren Schritt auf dem Weg zu einem postdramatischen Theater. Leben Gundlings besteht aus neun Szenen, die sich analog zum Titel in drei Abschnitte einteilen lassen: (1.) die Geschichte Jakob Paul Freiherr von Gundlings, dem Hofgelehrten und Hofnarren von Friedrich Wilhelm I. sowie erstem Präsidenten der Preußischen Akademie der Wissenschaften; (2.) die Geschichte Friedrichs II. von seiner Kindheit569 über die Tötung seines Jugendfreundes Hans Hermann von Katte, seiner Besteigung des Throns als Friedrich der Große bis zu seinem Tod (nebst einem sozialen Panorama Preußens: Kriegsgeschehen mit sterbenden Soldaten, die Puppen sind; versuchte Verhinderung der Hinrichtung eines Deserteurs durch seine Ehefrau; preußisches Irrenhaus, in dem ein Patient mittels Zwangsjacke zur ,Vernunft‘ erzogen wird,570 sowie Unterdrückung und Indienstnahme der Kunst); und (3.) die bereits in den vorigen Szenen, insbesondere in ET IN ARCADIO EGO: DIE INSPEKTION, behandelte Problematik des Verhältnisses von || 567 Ette: Kritik der Tragödie, S. 513. Dass sich die Kritik der Aufklärung auch gegen Brecht und dessen „vorsätzliche Blindheit für die dunklen Seiten der Aufklärung“ (KoS 161) richtet, verdeutlicht der Untertitel „Ein Greuelmärchen“, der auf Brechts denselben Untertitel tragendes Stück Die Rundköpfe und die Spitzköpfe anspielt. Vgl. Emmerich: Der Alp der Geschichte, S. 124f. Diesen Zusammenhang übersieht Helmut Fuhrmann, wenn er meint, ‚Greuelmärchen‘ sei Müllers „Verdeutschung des Begriffs Satire“. Helmut Fuhrmann: „Warten auf Geschichte“. Der Dramatiker Heiner Müller. Würzburg 1997, S. 37. Wenn Müller mit dem Begriff überhaupt auf eine Genrebezeichnung abzielt, dann wohl eher auf eine „merkwürdige Einheit“ aus Tragödie und Märchen bzw. Sarkasmus; als solche bezeichnet Müller Lessings Nathan der Weise – „eine Komödie auf dem Hintergrund von Pogromen, […] und das Stück ist ein Märchen [meine Hervorhebung, R.W.]“ (MW 10, 376) –, wodurch sich auch ein direkter Bezug zu der Lessing-Rezeption des Stücks herstellen lässt. 568 Vgl. KoS 210f. Müller bezieht sich hier explizit auf Max Ernst, dessen Collageromane „[v]on der Methode her“ (KoS 210) ähnlich funktionierten. Siehe hierzu: Max Ernst: Der Mechanismus der Collage. In: Storch u. Ruschkowski (Hg.): Sire, das war ich, S. 116. Siehe zum Montageverfahren auch: Fischer-Lichte: Avantgarde und Postmoderne. 569 Dieser Strang beginnt allerdings schon in der ersten Szene, wenn Friedrich mitansehen muss, wie Gundling durch Friedrich Wilhelm und dessen Offiziere gequält wird. 570 Das Motiv der Zwangsjacke erinnert an Hölderlin und dessen Aufenthalt in der Autenrieth’schen Klinik in Tübingen, wo neben anderen Methoden auch mit Zwangsjacken und Knebelmasken gearbeitet wurde. Sowohl Stephan Hermlin als auch Gerhard Wolf hatten zu Beginn der 1970er Jahre dieses Motiv in ihren Arbeiten über Hölderlin aufgenommen. Vgl. Hermlin: Scardanelli u. Wolf: Der arme Hölderlin.

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Kunst/Künstler und Herrschaft, die am Beispiel einer Kleist-Pantomime sowie der abschließenden Szenefolge LESSINGS SCHLAF TRAUM SCHREI entfaltet wird. Behandeln die ersten beiden Abschnitte, den Opportunismus von Wissenschaft und Kunst in Preußen/Deutschland sowie den repressiven Zuschnitt der Aufklärung, die seelische (Selbst-)Unterdrückung und -verstümmelung der Subjekte zu „gelehrige[n] Körpern“ im Prozess autoritär-maschineller Zurichtung,571 so rückt Müller am Ende des Stücks die Figur des Künstlers/Intellektuellen und dessen Handlungsalternativen in den Fokus. In gewisser Weise läuft das Stück auf die Frage hinaus, wie der allgegenwärtigen Verpreußung, der „Zurichtung der Subjekte zu zwanghaften, gewaltbereiten, zerstörerischen, dabei gutfunktionierenden Maschinen“,572 d.h. dem Prinzip: „Jeder ist sein eigener Preuße“ (526), entgegengewirkt werden kann. Dergestalt lässt sich der Text mit Wolfgang Heise als „Stück zur Selbstaufklärung deutscher Intelligenz“ verstehen, eine Art Fallstudie, die am Beispiel von Gundling, Friedrich II., dem Psychiater, Schiller, Voltaire, Kleist, Lessing (und Heiner Müller) mögliche Verhaltensweisen Intellektueller gegenüber der Staatsmacht vorstellt.573 Von besonderem Interesse ist die letzte Sequenz LESSINGS SCHLAF TRAUM SCHREI. Ihr voran geht eine Kleist-Pantomime (HEINRICH VON KLEIST SPIELT MICHAEL KOHLHAAS), die als „Performance der Zerstückelung“574 bereits einen Bruch im bisherigen Ablauf des Textes ankündigt. Der Prozess der autoritären (Selbst-)Disziplinierung wird hier als zerstörbar gezeigt. Kleist, der laut Anmerkung von dem Schauspieler gespielt werden soll, der auch den Prinzen Friedrich spielt,575 tritt hier in Uniform gemeinsam mit einer Kleist-, einer Frauen- und einer Pferdepuppe sowie einem Richtblock auf, wobei letztere als Requisiten auf Kleists Kohlhaas-Erzählung verweisen: Kleist berührt Gesicht Brust Hände Geschlecht der Kleistpuppe. Streichelt küßt umarmt die Frauenpuppe. Schlägt mit dem Degen der Pferdepuppe den Kopf ab. Reißt der Frauenpuppe das Herz heraus und ißt es. Reißt sich die Uniform vom Leib, schnürt den Kopf der Kleistpuppe in die Uniformjacke, setzt den Pferdekopf auf, zerhackt mit dem Degen die Kleistpuppe: Rosen und Därme quellen heraus. Wirft den Pferdekopf ab, setzt die Perücke (fußlanges Haar) der Frauenpuppe auf, zerbricht den Degen überm Knie, geht zum Richtblock. Nimmt die Perücke ab, breitet das Frauenhaar über den Richtblock. Nimmt die Perücke ab, breitet das Frauenhaar über den Richtblock, beißt

|| 571 Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt/M. 1977, S. 177. Vgl. Thomas Weitin: Auflösung und Ganzheit. Zur Maschine bei Ernst Jünger und Heiner Müller. In: WB 45 (1999), H. 3, S. 394f. Siehe in Bezug auf Friedrich II.: Schalk, S. 183–189. 572 Emmerich: Der Alp der Geschichte, S. 153. 573 Wolfgang Heise: Beispiel einer Lessing-Rezeption: Heiner Müller. In: Storch (Hg.): Explosion of a Memory, S. 87. Vgl. Emmerich: Der Alp der Geschichte, S. 125 u. 157. Siehe die ausführlichen Analysen des Stücks bei: Emmerich: Der Alp der Geschichte; Raddatz: Dämonen unterm roten Stern, S. 98ff. u. Breuer, S. 344ff. sowie das TdZ-Werkbuch: Storch u. Ruschkowski 2007. 574 Weitin: Auflösung und Ganzheit, S. 395. 575 Vgl. MW 4, 537.

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sich eine Pulsader auf, hält den Arm, aus dem Sägemehl rieselt, über das Frauenhaar auf dem Richtblock. (532f.)

Unter Bezugnahme auf das „patriotische Puppenspiel“ aus dem Friedrich-Teil, bei welchem Friedrich „Soldaten (Puppen)“ Noten für ihre Performance erteilt – „I (ausgezeichnet) für die Toten“ (517) –, sowie dem Zusammenhang von mechanischen Automaten – „politische Puppen“ im Sinne Foucaults –576 und Disziplin lässt sich die Pantomime als Versuch der Zerstörung des gesellschaftlichen Disziplinierungszusammenhangs lesen, bei dem Kleist den Wunsch ausagiert, jemand anderer zu werden, eine Frau nämlich. Der versuchte Geschlechtertausch aber scheitert ebenso wie der Prozess der Destruktion: „Vom Schnürboden wird ein graues Tuch über die Szene geworfen, auf dem ein roter Fleck sich schnell ausbreitet.“ (533) Wird mit der Kleist-Pantomime eine selbstzerstörerische Reaktionsweise auf die autoritären Verhältnisse gezeigt, die – das verrät schon die Ortsbeschreibung: „Verkommenes Ufer (See bei Straußberg)“ (532) – über die historische Figur Kleist hinaus auch in der Gegenwart der DDR angetroffen werden kann, so setzt die darauffolgende Lessing-Sequenz einen Kontrapunkt, der sich zunächst formal beschreiben lässt. So wie Kleist die Uniform ablegt, legt Müller die „Uni-Form“577 des Dramas ab. Was nun folgt, entspricht einer anderen Dramenästhetik, die das herkömmliche, auf Linearität, Repräsentation, Dialog und figurale Identität basierende Drama hinter sich lässt. Die Lessing-Sequenz funktioniert als „Triptychon“, deren Bühneneinrichtung „nicht auf einem Schauplatz nacheinander, sondern überlappend“ vollzogen werden soll.578 Im ersten Bild (SCHLAF) spricht ein illusions- und traumloser Lessing, ein radikaler Gegner Preußens (das „sklavischste Land Europas“), über seine Erfahrung als Intellektueller und Künstler:579 Mein Name ist Gotthold Ephraim Lessing. Ich bin 47 Jahre alt. Ich habe ein / zwei Dutzend Puppen mit Sägemehl gestopft das mein Blut war, einen Traum vom Theater in Deutschland geträumt und öffentlich über Dinge nachgedacht, die mich nicht interessierten. Das ist nun vorbei. Gestern habe ich auf meiner Haut einen toten Fleck gesehen, ein Stück Wüste: das Sterben beginnt. […] Übrigens bin ich damit einverstanden. Ein Leben ist genug. Ich habe ein neues Zeitalter nach dem anderen heraufkommen sehn, aus allen Poren Blut Kot Scheiße triefend jedes. Die Geschichte reitet auf toten Gäulen ins Ziel. (533)

|| 576 „Die berühmten Automaten waren nicht bloß Illustrationen des Organismus; sie waren auch politische Puppen, verkleinerte Modelle von Macht“. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 175. 577 Weitin: Auflösung und Ganzheit, S. 396. 578 MW 4, 537. 579 Lessing Bd. 11, S. 623 (Gotthold E. Lessing an Friedrich Nicolai, 25. August 1769). Das sich auf Lessings Traumlosigkeit beziehende Zitat zu Beginn der Szene geht auf Johann Anton Leisewitz zurück. Vgl. Alexander Karschnia: Anti-Fritz im Angesicht des Todes. In: Storch u. Ruschkowski (Hg.): Sire, das war ich, S. 297–299. Siehe zu Lessing und Preußen auch: Franz Mehring: Die Lessing-Legende (Gesammelte Schriften. Bd. 9).

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Lassen sich bereits in den vorigen Szenen einzelne Details als Anspielungen auf die DDR lesen, so dass diese als „Fluchtpunkt der dargestellten Entwicklung preußischer Geschichte“ erscheint,580 gehen Vergangenheit und Gegenwart im Rahmen von Lessings Monolog nunmehr ineinander über. Hinter der „Lessingmaske“ (533) eines Schauspielers wird der Autor Heiner Müller sichtbar, der das gleiche Alter hat (Jahrgang 1929, also zum Zeitpunkt der Entstehung des Stücks 1976 ebenfalls 47 Jahre alt ist)581 und dem die Differenz der Zeitalter (der Machtantritt des ,Philosophenkönigs‘ und aufgeklärten Absolutisten Friedrich II. und der Übergang vom Faschismus in die stalinistische DDR) ebenso verschwimmt.582 Dass eine teleologische Geschichtsphilosophie sich selbst ad absurdum führt, zeigt das Bild der toten Gäule, das eine Entwicklung zwar nicht direkt verleugnet, am Beispiel des Folgenden aber verdeutlicht, dass der Fortschritt u.a. auf geschlechterpolitischer Ebene auf der Stelle tritt: „Ich habe die Hölle der Frauen von unten gesehen: Die Frau am Strick Die Frau mit den aufgeschnitten Pulsadern Die Frau mit der Überdosis AUF DEN LIPPEN SCHNEE Die Frau mit dem Kopf im Gasherd.“ (533f.)583 Der Anspruch der Aufklärung ist gescheitert, das zeigt der durchweg problematische Status der Intellektuellen und Künstler im gesamten Stück. Daraus erwächst der Wunsch nach Distanz, „nach Schweigen“, vor dem Hintergrund des „wachsenden Ekel[s] an der Literatur“ (534), die nichts auszurichten vermag und in das preußisch-sozialistische Herrschaftsprojekt integriert wird. Das zweite Bild (TRAUM) versetzt Lessing nach Amerika auf einen „AUTOFRIEDHOF IN DAKOTA“, wo dieser „DEM LETZTEN PRÄSIDENTEN DER USA“ (534) begegnet.584 Der Kontinent, der zu Lebzeiten Lessings als Land der Hoffnung galt, erweist sich als Anti-Utopie. Der Traum der Demokratie ist ein Alptraum. Die Begegnung Lessings mit dem Präsidenten ist die Begegnung mit einem „Roboter ohne Gesicht“ (543), der auf einem elektrischen Stuhl, Symbol des pervertierten technischen Fortschritts,

|| 580 Breuer, S. 341. 581 Vgl. Wieghaus: Zwischen Auftrag und Verrat, S. 260. 582 Es geht also nicht um eine autobiographische Äußerung Müllers – das poetische Ich ist nicht der Autor –, sondern um einen „Topos, der die Übereinstimmung sozialer Lebenserfahrung des Dichters der Aufklärung und der Gegenwart […] herstellt“. Brunhild Neuland: „Arbeit an der Differenz“. Zu Heiner Müllers Dramaturgie von „Lessings Schlaf Traum Schrei“. In: Klaus Krippendorf (Hg.): Das zwanzigste Jahrhundert im Dialog mit dem Erbe. Jena 1990, S. 143. 583 Die Beschreibung, die wortgleich auch in Hamletmaschine erfolgt (vgl. MW 4, 547), bezieht sich in verallgemeinernder Form auf den Selbstmord von Inge Müller. Vgl. MW 2, 99f. 584 In den Black Hills in South Dakota befindet sich das Mount Rushmore National Memorial, das die Porträts von Washington, Jefferson, Roosevelt und Lincoln zeigt und auch als „Shrine of Democracy“ bezeichnet wird. Dass die USA in Müllers Text erscheint, geht auf die Eindrücke von dessen erster USA-Reise im Jahr 1975 zurück. Vgl. KoS 222ff. Siehe zu Müllers USA-Bild: Thomas Irmer: Heiner Müllers Amerika – vom Kapitalismus mit Rändern zum dritten Rom. In: Heeg u. Girshausen (Hg.): Theatrographie, S. 198–205.

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sitzt.585 Im Hintergrund läuft Pink Floyds „Welcome to the machine“, aus dem Album Wish you were here, ein Lied, das die Besetzung der Träume und Wünsche durch den Kapitalismus ausdrückt („It’s allright, we told you what to dream“). Lessings Traum ist der ‚American Dream‘, der keine Alternative gegenüber der alten Welt darstellt.586 Als neben der Lessing-Figur dessen literarische Figuren Emilia Galotti und Nathan erscheinen und aus Emilia Galotti und Nathan der Weise rezitieren, erklingt eine „Polizeisirene“: „Emilia und Nathan vertauschen ihre Köpfe, entkleiden umarmen töten einander. Weißes Licht. Tod der Maschine auf dem Elektrischen Stuhl. Bühne wird schwarz.“ (535) Der preußische Zivilisationsprozess und dessen amerikanische Fortsetzung finden ihr Ende. Die Literatur der Aufklärung und die Strategie des Humanismus, für die Lessings Stücke stehen (Emilia Galottis Selbstopfer und Nathans kämpferische Toleranz), die hier, wie Wolfgang Emmerich anmerkt, „gewissermaßen ohne Sinn und Verstand“ zitiert werden, sind obsolet geworden.587 Sie sind Teil der Kulturindustrie und schlagen, wenn Emilia und Nathan sich gegenseitig töten, unter der polizeilich-staatlichen Ordnung der Aufklärung (‚Polizeisirene‘) in ihr Gegenteil um.588 Welche klägliche Rolle die Literatur Lessings, Inbegriff der bürgerlichen Literatur, dann noch spielt, veranschaulicht das letzte, pantomimische Bild APOTHEOSE SPARTAKUS EIN FRAGMENT, dessen Titel sowohl auf den antiken Sklavenaufstand und die Novemberrevolution wie auch auf Lessings Fragment gebliebene Tragödie Spartacus589 anspielt: Auf der Bühne ein Sandhaufen, der einen Torso bedeckt. Bühnenarbeiter, die als Theaterbesucher kostümiert sind, schütten aus Eimern und Säcken Sand auf den Haufen, während gleichzeitig Kellner die Bühne mit Büsten von Dichtern und Denkern vollstellen. Lessing wühlt im Sand, gräbt eine Hand aus, einen Arm. Die Kellner, nun in Schutzhelmen, verpassen Lessing eine Lessingbüste, die Kopf und Schultern bedeckt. Lessing, auf den Knien, macht vergebliche Versuche, sich von der Büste zu befrein. Man hört aus der Bronze seinen dumpfen Schrei. Applaus von Kellnern Bühnenarbeitern (Theaterbesuchern). (535f.)

|| 585 Die negative Konnotation des Präsidenten hat Müller später in KoS bestätigt, wo er den Präsidenten mit Charles Manson identifiziert: „Überhaupt hatten alle amerikanischen Präsidenten viel mehr Leute umgebracht als er. Manson ist deshalb als USA-Präsident in die Schlußszene von GUNDLING eingegangen, Manson for President.“ KoS 222. 586 Darauf verweist nicht zuletzt der Kolonialismusbezug, bezeichnet doch Dakota, ursprünglich den Namen eines indigenen Stammesverbandes innerhalb der Sioux. Vgl. Christ: Die Splitter des Scheins, S. 222. 587 Emmerich: Der Alp der Geschichte, S. 150. 588 Wolfgang Heise schreibt: „[D]ie Masken fallen, die Rollenträger sind austauschbar, übrig bleiben sehnsüchtig, gierig und tödlich übereinander herfallende Menschen: Realität jenseits der Theaterwelt.“ Heise: Beispiel einer Lessing-Rezeption, S. 88. Siehe auch: Neuland, S. 145. 589 Vgl. Lessing Bd. 7, S. 373–376.

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Mit Lessing, dessen Identität unter der Büste verschwindet, die wie die berühmte Eiserne Maske funktioniert und auf die Gipsklassik und Lessings Rezeptionsgeschichte im Sinne eines „Paradigma[s] ideologischer Vereinnahmungen“590 anspielt, wird auch das Programm des Aufstands, das wie Lessings Text Fragment geblieben ist, ruhiggestellt. Die Apotheose, d.h. die Kanonisierung, integriert Lessing/die Novemberrevolution in das Projekt der Herrschaft; von seinen/ihren aufklärerischen/revolutionären Absichten bleibt nichts als ein Denkmal, womit nicht zuletzt auf die „Stillstellung des ‚Kulturerbes‘ im realen Sozialismus“591 verwiesen wird. Das Ende des Stücks entwirft ein düsteres Bild über den Aktionsradius der Literatur. Deren letzte Möglichkeit bleibt der Schrei, Müllers „Chiffre der Rebellion“;592 allerdings nicht der Schrei Lessings, der unter der Büste nur dumpf nachklingt und eine die utopischen Intentionen entstellende Kanonisierung nicht verhindern kann,593 was einmal mehr auf die Wirkungslosigkeit der alten Dramen- und Kunstkonzepte verweist. Wo Müller das Potential für eine sich einer solchen Integration widersetzende Literatur sieht, verdeutlicht der Schluss des zweiten Bildes, der an den schwarzen Bühnenraum des Nathan/Emilia-Auftritts anschließt, ein Text der von einer anonymen Stimme gesprochen wird und gleichzeitig als Projektion erscheint. Dieser Text kann als das Programm einer utopischen Kunst gelesen werden: STIMME (UND PROJEKTION): STUNDE DER WEISSGLUT TOTE BÜFFEL AUS DEN CANYONS GESCHWADER VON HAIEN ZÄHNE AUS SCHWARZEM LICHT DIE ALLIGATOREN MEINE FREUNDE GRAMMATIK DER ERDBEBEN HOCHZEIT VON FEUER UND WASSER MENSCHEN AUS NEUEM FLEISCH LAUTREAMONTMALDOROR FÜRST VON ATLANTIS SOHN DER TOTEN (535)

Der bereits aus der Szene NACHTSTÜCK bekannte Schrei als Symbol einer neuen Kunst bekommt hier einen vagen Inhalt: die Anrufung der Natur, des Triebhaften und nicht Reglementierten, die Geburt des neuen Menschen im Prozess der „Zerreißung“ des Individuums,594 die radikale Verweigerung und das Bündnis mit den Toten, d.h. den durch die Geschichte nicht Gerächten, auch durch den Sozialismus nicht wieder ins Recht Gesetzten. Entsprechen die Tiere (Büffel, Haie, Alligatoren) und die Canyons „Bilder[n] wilder Militanz“, die auf einen Aufstand der Kolonisierten verweisen könnten,595 so rufen sie zugleich Assoziationen des Vitalen und des Natürlichen als Gegenteil der Zivilisation hervor und deuten auf Gefahr und Abenteuer, eine der || 590 Grimm u.a.: Lessing, S. 386. 591 Wolfgang Emmerich: Gotthold Ephraim Lessing. In: HMH, S. 130. 592 Breuer, S. 350. 593 Das übersieht Schalk, S. 206, wenn er dem Schrei eine „utopisch[e]“ Qualität zuschreibt. 594 MW 8, 261. 595 Fiebach: Inseln der Unordnung, S. 176. Fiebach assoziiert den Text direkt mit den „afroamerikanische[n] Minderheiten im heutigen Amerika“ (S. 14) und spricht dementsprechend von einer „Projektion zum Minderheitenaufstand“. (S. 176)

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Qualitäten, die Müller hinsichtlich des Schreibprozesses betont.596 Die ,GRAMMATIK DER ERDBEBEN‘ verweist – ähnlich wie das Erdbeben von Lissabon 1755 den aufklärerischen Optimismus erschütterte – auf die von Müller intendierte schockhafte Wirkung von Theater im Kontext seiner Poetik der „Überschwemmungen“.597 Wer die Gewährsmänner einer solchen Kunst sind, zeigt der Text durch Zitate und Anspielungen an: Rimbaud; Lautréamont und Artaud, d.h. die Vertreter der französischen Ecole du mal.598 Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei läuft seiner Gesamtanlage nach auf das Lessing-Triptychon zu, das die Erzählung von der gewaltförmigen, Triebstrukturen unterdrückenden und gepanzerten Aufklärung durch den anachronistischen Sprung in die Gegenwart der USA steigert und mittels des anonym gesprochenen Textes in der Mitte des Triptychons bricht. Dieser formuliert als „utopisches Referential des Ästhetischen“599 ein Programm, das die Vernunft, die im Bündnis mit der Macht ist,600 hinter sich lässt601 und auf eine Literatur jenseits des bürgerlichen Kulturbetriebs und dessen Zentrierung auf das Individuum, für das Lessing steht, setzt; eine Literatur, die die eigene Erfahrung und die eigenen Traumata (,Die Frau mit dem Kopf im Gasherd‘ usw.) aufnimmt, die den „Ort der eigenen Unterentwicklung“ auffindet, „die eigene Dritte Welt, die eigene Wüste“, wie Gilles Deleuze und Félix Guattari in ihrer Studie Kafka. Für eine kleine Literatur [1976]

|| 596 „Das ist, was ich am Schreiben mag: Es ist ein Risiko, ein Abenteuer“. MW 10, 216. 597 MW 10, 60. Siehe zum Erdbeben von Lissabon: Horst Günther: Das Erdbeben von Lissabon und die Erschütterung des aufgeklärten Europa. Frankfurt/M. 2005. 598 Den Begriff der Ecole du mal prägte Karl Heinz Bohrer. Vgl. Karl Heinz Bohrer: Die permanente Theodizee. Über das verfehlte Böse im deutschen Bewußtsein. In: Merkur 41 (1987), H. 458, S. 267– 286. Siehe auch: Peter-André Alt: Ästhetik des Bösen. München 2010. Siehe die Aufschlüsselung der Zitate und Anspielungen bei Breuer, S. 351f. u. 388 u. Raddatz: Dämonen unterm roten Stern, S. 123f. Siehe zur Rezeption Lautréamonts bzw. des Surrealismus in Leben Gundlings auch: Karlheinz Barck: Roter Adler und schwarzer Engel. Die Maske Lautréamont in Heiner Müllers „Leben Gundlings“. In: Storch u. Ruschkowski (Hg.): Sire, das war ich, S. 85–94. Vgl. auch die Analyse Horst Domdeys, der in Müllers Text das „klassische[ ] Muster des Dionysosmythos“ erkennt. Horst Domdey: „Der Tod eine Funktion des Lebens“ – Stalinmythos in Texten Heiner Müllers. In: Klussmann u. Mohr (Hg.): Dialektik des Anfangs, S. 80. 599 Eke: Zeit/Räume, S. 144. 600 „Der Mediziner weiß: die Staaten ruhn auf dem Schweiß ihrer Völker, auf Kotsäulen die Tempel der Vernunft.“ (526) 601 „In einem Aufsatz über Lautréamont […], da war der Versuch einer Analyse der Geschichte der europäischen Linken, die eigentlich davon bestimmt ist, daß sie sich immer rationalistisch gegeben und artikuliert hat. Damit hat sie wesentliche Triebkräfte und Trends in der Geschichte, die vor allem für die Massenbewegung sehr wichtig sind, der Rechten überlassen. Ich glaube, daß man von dieser Rationalisierung wegkommen muß.“ MW 10, 94. Der Aufsatz, auf den Müller sich bezieht, stammt vom Julien Gracq. Vgl. Julien Gracq: Lautréamont und kein Ende. In: Storch u. Ruschkowski (Hg.): Sire, das war ich, S. 82–84.

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schreiben, auf die Müller sich in der Rede Zebahls am Ende der Irrenhaus-Szene mutmaßlich bezieht:602 ZEBAHL flüstert: Ja, ich habe die Welt erschaffen. Ich bin der Narr, ich bin der Verbrecher. Ich kann mir die Augen ausreißen und sehe euch doch. Wenn ich sterben könnte. Ich habe meinen Sohn geschlachtet. Ich Kot meiner Schöpfung Erbrechen meiner Engel Eiterkorn in meinen Harmonien. Ich bin die Fleischbank. Ich bin das Erdbeben. Ich bin das Tier. Der Krieg. Ich bin die Wüste [meine Hervorhebung, R.W.]. Schrei. Schwarze Engel bevölkern den Zuschauerraum und fallen lautlos über das Publikum her. (529)603

Müller deutet am Ende des TRAUM-Bildes also das Programm einer Literatur an, die auf das ,revolutionäre‘ Potential der Avantgarden, die „Errungenschaften der Bildenden Kunst“ und das „ungeheure[ ] Material“ des Surrealismus und dessen Montagetechniken setzt;604 revolutionär aber nicht im Sinne eines politischen Programms oder einer positiv oder negativ formulierbaren Utopie (denn eine solche ist, davon zeugt

|| 602 Gilles Deleuze u. Félix Guattari: Kafka. Für eine kleine Literatur. Frankfurt/M. 1976, S. 27. Müller selbst hat den Einfluss des Buches bestätigt. Vgl. Arlene Akiko Teraoka: The silence of entropy or universal discourse. The postmodernist poetics of Heiner Müller. New York u.a. 1985, S. 19. Siehe auch: KoS 231f. Müllers spätes Großgedicht „Mommsens Block“ ist zudem Félix Guattari gewidmet. Vgl. MW 1, 257. 603 Der Nebentext am Ende von Zebahls Rede (,Schrei. Schwarze Engel […]‘) verweist zudem auf Lautréamont, ein Pseudonym, das auf Eugène Sues Roman L’autre Amon zurückgeht, womit der Engel des Bösen gemeint ist. Dass die Figur Zebahls, die auch als „der blutige Baal“ (528) bezeichnet wird, „Bezüge zu Brecht“ nahelegt, wie Ingo Breuer meint (Breuer, S. 388), ist allerdings unwahrscheinlich. Breuer übersieht, dass es sich bei der Rede um die Montage eines Textes aus Werner Hegemanns Buch Friedericus oder das Königsopfer handelt auf den Müller in KoS 210 hinweist. Vgl. Werner Hegemann: Das Sühneopfer. In: Storch u. Ruschkowski (Hg.): Sire, das war ich, 226–229. 604 MW 10, 96f. Der gesamte Text reflektiert das bereits in seiner ästhetischen Realisation und stellt es durch die erwähnten Verweise sowie die Hegemann-Montage gewissermaßen offen aus. Siehe zu Hegemanns Verfahren: Caroline Flick: Verwirrung als epische Form. In: Storch u. Ruschkowski (Hg.): Sire, das war ich, S. 117–119. – Horst Domdey konstatiert davon abweichend vor allem die Rezeption Nietzsches (vgl. Domdey: „Der Tod eine Funktion des Lebens“, S. 82–85) und spricht polemisch von einem „KraftdurchUntergang-Programm“ (S. 89). Siehe auch: Horst Domdey u. Richard Herzinger: Byzanz gegen Rom. Heiner Müllers Manichäismus. In: Arnold u. Meyer-Gosau (Hg.): Literatur in der DDR, S. 246–257. Richard Herzinger hat diese Perspektive radikalisiert; in Müllers Literatur erkennt er ab den 1970er Jahren einen Einfluss konservativer Modernekritik und Lebensphilosophie, die Ausdruck „eines kruden, romantisierenden Antiokzidentalismus“ sei. Richard Herzinger: Masken der Lebensrevolution. Vitalistische Zivilisations- und Humanismuskritik in Texten Heiner Müllers. München 1992, S. 12. Siehe auch: Richard Herzinger: Der Tod ist die Maske der Utopie. Heiner Müller und die Mission des romantischen Modernismus. In: Arnold (Hg.): Heiner Müller. Neufassung, S. 51–69. Siehe zur Kritik an Herzinger, der den Einfluss des Poststrukturalismus und der literarischen Moderne auf Müller ausblendet: Uwe Sänger: Herzinger, Richard: Masken der Lebensrevolution. Vitalistische Zivilisations- und Humanismuskritik in Texten Heiner Müllers. In: Schmidt u. Vaßen: Bibliographie Heiner Müller. 1948–1992. Bd. 2, S. 345–348.

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die Verabschiedung des Lehrstücks, angesichts des historischen Leerlaufs der 1970er Jahre selbst problematisch geworden), sondern im Sinne einer Mobilisierung des Anderen als Störendes und Uneindeutiges, einer „Verweigerung von Sinn“,605 die das Publikum irritieren soll und im Kontext einer ,kleinen Literatur‘ auf andere Zusammenhänge aufmerksam macht. Unter einer ‚kleinen Literatur‘ verstehen Deleuze und Guattari eine Literatur, die sich vom Repräsentationscharakter der ‚großen Literatur‘ abwendet. Eine solche Literatur, die nicht auf eine nationale oder soziale Minderheit beschränkt sein muss, sondern auch große gesellschaftliche Gruppen wie Frauen umfassen kann,606 zeichnet sich durch „Deterritorialisierung der Sprache, Koppelung des Individuellen ans unmittelbar Politische“ und „kollektive Aussageverkettungen“ aus.607 Das meint, dass eine ,kleine Literatur‘, für die Kafka als Beispiel steht, die ,große Sprache‘ durch eine ,kleine Sprache‘ aushöhlt und deren durch Konventionen und Herrschaft befestigten Sinn stört, dass sie die eigenen Erfahrungen als politisch ausstellt und somit, über die Sprecherposition des einzelnen Subjekts hinausgehend, kollektive Aussagen trifft, die den repräsentativen Charakter von Schrift überschreiten und neue Möglichkeiten jenseits der hegemonialen und heteronomen Differenzen (Mann/Frau, weiß/nicht-weiß, Mensch/Tier) eröffnet.608 Müller setzt ein solches Programm um, indem er auf das bereits bekannte Verfahren der Metaphorisierung zurückgreift und es radikalisiert. Der Schluss des TRAUMBildes operiert mit einer Bildsprache, die in keinem logischen Verhältnis zum bisher entfalteten Drama mehr steht und sich durch eine „hohe Komplexität und eine kaum auszuschöpfende Mehrdeutigkeit auszeichnet“;609 Zitate von und Verweise auf Autoren der Avantgarde – hier ausdrücklich gekennzeichnet durch den Hinweis auf Lautréamont: ,LAUTREAMONTMALDOROR FÜRST VON ATLANTIS SOHN DER TOTEN‘ – kreuzen sich mit imaginären Bildern des Aufstands und einer Zeit nach dem neuzeitlichen Menschen, einem ,MENSCHEN AUS NEUEM FLEISCH‘, der mutmaßlich den Widerspruch zwischen „der Zeit des Subjekts und der Zeit der Geschichte“,610 den Widerspruch zwischen Natur und Geschichte, hinter sich gelassen hat. So entstehen „Mehrzweckhallen des Sinns“, Texte, die ganz im Sinne der Deterritorialisierung bei Deleuze und Guattari auf einen „rein intensiven Sprachgebrauch“ zielen und beim Publikum Phantasie freisetzen sollen.611 || 605 MW 8, 342. 606 Vgl. Elias Kreuzmair: Die Mehrheit will das nicht hören. Gilles Deleuzeʼ Konzept der littérature mineure. In: Helikon. A Multidisciplinary Online Journal (2010), H. 1, S. 36f. 607 Deleuze u. Guattari: Kafka, S. 27. 608 Vgl. Claire Colebrook: Gilles Deleuze. London/New York 2002, S. 122. 609 Raddatz: Der Demetriusplan, S. 148. Müller hebt als besondere Qualität der Metapher hervor, dass sie „nicht reduzierbar, […] nicht rückführbar auf eine Bedeutung“ ist. MW 10, 165. 610 MW 8, 215. 611 Raddatz: Der Demetriusplan, S. 148 u. Deleuze u. Guattari: Kafka, S. 28.

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Unterstützt wird ein solches Verfahren der „Metaphernschwemme“612 durch eine Veränderung der Syntax, die sich schon im Titel des Gesamtstücks wie auch des Triptychons (LESSINGS SCHLAF TRAUM SCHREI) ausdrückt und die bereits zuvor in anderen Texten Müllers, etwa in HERAKLES 2 ODER DIE HYDRA, zu finden ist. Die Nominalreihung ohne Konjunktionen und Satzzeichen am Ende des TRAUM-Bildes führt zu einer Beschleunigung und Rhythmisierung der Sprache. Der Effekt einer solchen Verschiebung von einer grammatikalisch-syntaktischen zu einer rhythmischmusikalischen Darstellung ist die Aufwertung der Prosodie, was zusätzlich durch die typographische Gestaltung in Majuskelschrift unterstützt wird.613 Müller, der hier in Rhythmus und Schriftbild ebenfalls an Experimente der Avantgarde anknüpft,614 erzielt so eine intensivierte, affektive Wahrnehmung des Textes; d.h. die an die zentrale, nämlich mittlere, Stelle des Triptychons gesetzte Äußerung, zeichnet sich nicht allein durch ihre semantische Besonderheit, sondern auch durch eine spezifische Körperwahrnehmung des Textes aus.615 In gewisser Weise erzeugt der Text beim Lesen, auch wenn man sich vorstellen könnte ihn leise und langsam zu sprechen, einen Lautsprecher-Effekt. Das wird zusätzlich durch die Unbestimmtheit der Sprecherposition – der Nebentext vermerkt lediglich ‚STIMME (UND PROJEKTION) ‘ – verstärkt.616 Hier spricht kein Individuum, sondern eine kollektive Stimme. Der Text repräsentiert eine jener „kollektive[n] Aussageverkettungen“ von Deleuze und Guattari, die an die Stelle eines erst noch zu schaffenden Kollektivs (des ‚MENSCHEN AUS NEUEM FLEISCH‘) treten und „vorerst nur als drohende böse Mächte (oder als erst noch zu schaffende revolutionäre Kräfte) existieren“.617 Was sich im Autokommentar in Traktor als Notwendigkeit einer anderen Kunst ankündigt und in der allegorischen Darstellung der NACHTSTÜCK-Szene in Germania Tod in Berlin als Sinnbild der (dramen-)ästhetischen Entwicklung erscheint, wird in der Mitte des Lessing-Triptychons konkretisiert. Lessings TRAUM ist der Traum von

|| 612 MW 10, 164. 613 Vgl. Keim, S. 76. Siehe zur Funktion der Majuskeln bei Müller: Günter Zahn: Papier schlägt Stein. Die textimmanente Poetologie, Theatertheorie, ästhetische Theorie und das Spiel in den mittleren und späten Werken Heiner Müllers. Norderstedt 2010, S. 41–47. 614 Vgl. Hugo Friedrich: Die Struktur der modernen Lyrik. Von der Mitte des neunzehnten bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts. Reinbek bei Hamburg 1977, S. 149–152. 615 Siehe hierzu die Ausführungen bei: Keim, S. 76f. Mit der affektiven Wahrnehmung beziehe ich mich auf Hans-Ulrich Gumbrecht, der drei Funktionen des sprachlichen Rhythmus unterschiedet: die gedächtnisstützende, die affektive und die koordinierende Funktion. Vgl. Hans-Ulrich Gumbrecht: Rhythmus und Sinn. In: ders. u. K. Ludwig Pfeiffer (Hg.): Materialität der Kommunikation. Frankfurt/M. 1988, S. 716f. 616 Es gibt noch drei weitere Textstellen, die projiziert und gesprochen werden (vgl. 517 u. 533f.), die sich aber von dem hier zur Rede stehenden Text durch den Nebentext unterscheiden. 617 Deleuze u. Guattari: Kafka, S. 26f.

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einer anderen Literatur, die Müller hier vollzieht. Dass Müller sich hierbei durchaus positiv auf Lessing bezieht, den er später als „eine Art Vorbildfigur“ beschreibt,618 zeigt eine erneute Analyse des Emilia/Nathan-Teils, dem eine ähnliche Ambivalenz wie der NACHTSTÜCK-Pantomime zukommt. Liest man nämlich den Nebentext, der auf die Rezitation der Lessing-Texte folgt und dem Bild des apokalyptischen Aufbruchs in der ‚STUNDE DER WEISSGLUT‘ vorangeht, nicht als Niederlage, sondern als Versuch des Ausbruchs angesichts der Macht (‚Polizeisirene‘),619 ergibt sich ein anderer Eindruck, der Analogien zur Kleist-Pantomime erlaubt. Wie in letzterer scheitert zwar auch Emilias und Nathans Versuch des Geschlechtertauschs (‚Emilia und Nathan vertauschen ihre Köpfe, entkleiden umarmen töten einander.‘) und endet in gegenseitiger Destruktion; im Unterschied zur Kleist-Pantomime aber hat der Versuch ein anderes Ergebnis. Erscheint bei Kleist „ein graues Tuch […], auf dem ein roter Fleck sich schnell ausbreitet“ (533), als Symbol des Todes in Uniform (der graue Rock des Soldaten), so folgt hier ‚Weißes Licht‘, das auf die ‚STUNDE DER WEISSGLUT‘ vorausweist, d.h. der das TRAUM-Bild beschließende Text bedeutet keinen Bruch mit dem Vorangegangenen, sondern dessen Steigerung in einem utopischen Bild, im Sinne einer „Einheit von Geburt und Tod“.620 Dass schon die Emilia- und die Nathan-Figur im Geschlechtertausch einen utopischen Akt vollziehen, wird zusätzlich durch den ‚Tod der Maschine auf dem Elektrischen Stuhl‘ unterstützt, die im Sinne Foucaults für die Zurichtung der Subjekte zu gelehrigen Körpern durch den Staat und die Selbstdisziplinierung steht. Versteht man die Maschinen-Metapher auf ästhetischer Ebene auch als „maschinell-ganzheitliche[s] Idealbild“,621 so erscheint der Tod der Lessing’schen Dramencharaktere als Transformation des klassischen figural-diskursiven Dramas in eine neue Form, die ebenfalls als maschinell beschrieben werden kann – eine Maschine, die aber nicht auf Totalität ausgerichtet ist, sondern auf Offenheit, eine Maschine im Sinne der Wunschmaschinen von Deleuze und Guattari, deren „Funktionsmechanismus der Konnexion […] die fixierbaren Unterscheidungen unterläuft, indem er permanent Übergänge schafft“.622 Die offene, heterogene und intertextuelle Funktionsweise dieser Montagemaschine wird nicht nur anhand der Schlussprojektion deutlich; sie zeigt sich auf niedrigerer Stufe schon durch die Verwendung der Emilia- und Nathan-Figuren, die von Müller unvermittelt in einen anderen Kontext gerückt werden. Lessings || 618 MW 10, 375. 619 Siehe zur Verwendung der Polizei-Metapher: MW 10, 146. 620 MW 8, 177. Vgl. Fischer-Lichte: Avantgarde und Postmoderne, S. 241. Sofern sich die Sekundärliteratur überhaupt eingehend mit dem Bild des Geschlechtertauschs beschäftigt hat, wertet sie diesen als erfolglos. Vgl. Emmerich: Der Alp der Geschichte, S. 151; Heise: Beispiel einer Lessing-Rezeption, S. 88 u. Eke: Heiner Müller, S. 195. 621 Thomas Weitin: Technik – Ökonomie – Maschine. In: HMH, S. 107. 622 Weitin: Auflösung und Ganzheit, S. 397. Vgl. Gilles Deleuze u. Félix Guattari: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I. Frankfurt/M. 1977, S. 503.

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Text und seine Figuren werden verarbeitet. Sie sind Zeichenträger, auf welche die Maschine aus dem Fundus der „klassische[n] Theaterfiguren und Filmstars“ (534) zurückgreift, mit welchen Müller den Spielort des Autofriedhofs bevölkert; da sie „gleichzeitig“ (535) reden und die Auslassungspunkte am Ende ihrer Textteile auf eine stetige Wiederholung im Sinne einer „seriell fortschreitenden Reproduktion“ hinweisen, erscheint es, als seien Lessings Texte in eine „Zitiermaschine[ ]“ geraten, die mit zu hoher Geschwindigkeit operiert und deshalb heiß läuft.623 Die Literatur Lessings wird damit aber nicht desavouiert. Im Schlussbild APOTHEOSE SPARTAKUS EIN FRAGMENT wird zwar offenbar, dass sie ihr Wirkungspotential angesichts der Entwicklung, welche die europäischen wie auch die amerikanische Gesellschaften genommen haben, verloren hat. Im Kontext des zweiten TRAUM-Bildes aber werden die Lessingzitate aus Nathan der Weise und Emilia Galotti zum sarkastischen Kommentar und erhalten damit gerade jene Qualität, die Müller an Lessings Dramentexten hervorgehoben hat: Das ist ein […] Punkt bei Lessing, der interessant ist – […] es ist, sagen wir, eine ironische Tragödienkonzeption oder auch eine sarkastische [meine Hervorhebung, R.W]: also die Verbindung von Sicht auf tragische Konstellationen oder Konflikte und Skepsis. […] Man ist gewöhnt, so vom Schulwissen her, daß Skepsis das Tragische zerstört oder neutralisiert. Das ist bei Lessing eben nicht so, bei ihm bleibt eine merkwürdige Einheit beider, und das ist ein neues Genre [meine Hervorhebung, R.W], glaube ich, in der Dramatik.624

Man kann daher sagen, dass Müller die Tradition Lessings, so wie er sie versteht, in seinem eigenen Tragödienkonzept fortführt, zeichnet sich doch Leben Gundlings wie zuvor schon Germania Tod in Berlin durch ein ähnliches Spannungsverhältnis zwischen Tragödie und Sarkasmus aus, durch einen grotesken Humor, der die Konstellationen des Zwangs und der Unterdrückung bis zum Lächerlichen steigert.625 Wenn Müller betont, Lessing stehe ähnlich wie Brecht „am Ende einer Periode“ und entwerfe „eine neue“,626 wird zudem ersichtlich, dass die Auswahl Lessings im abschließenden Triptychon nicht zufällig erfolgt; Lessing fungiert hier als Chiffre einer positiven Tradition, die Müller mit seinem Theater der Störung im Sinne einer „Aufklärung von einer anderen Flanke her“, d.h. durch Negation, fortzusetzen beansprucht.627 Indem Müller sich wie zu Beginn des Triptychons in Lessing spiegelt und

|| 623 Weitin: Auflösung und Ganzheit, S. 397. In diesem Sinne ließe sich auch der Pink Floyd-Song als mehrdeutig interpretieren, denn Emilia und Nathan sind ja nicht wirklich anwesend. Sie werden zur „konjunktivischen Vorstellung: ‚Wish you were here‘“. Weitin: Auflösung und Ganzheit, S. 396f. 624 MW 10, 376. 625 Vgl. Müller-Schöll: Tragik, Komik, Groteske, S. 86f. 626 MW 10, 377. 627 MW 10, 301. Interessant ist, dass Müller als besondere Qualität der Lessing’schen „Schreibtechnik“ dessen „Reflexionsinseln“ betont, die „einen einzelnen Augenblick […] isolieren, damit man ihn unabhängig vom Kontext sieht und damit wieder den Kontext auf eine andere Weise sieht“. MW 10,

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Lessing als Maske benutzt, stellt er sich ebenfalls als Autor am Ende einer Periode aus, der etwas Neues beginnt: das postdramatische Drama, das alle gesellschaftliche Hoffnung fahren lässt, den Stillstand der Verhältnisse mittels der Reduktion des Dramatischen in seine eigene ästhetische Struktur aufnimmt und die Ganzheitsmaschine des klassischen Dramas durch eine auf Offenheit zielende Konnexionsmaschine ersetzt. Der Kampf der Intellektuellen um die Utopie, so die Botschaft von Leben Gundlings, ist verloren. Selbst die Konstruktion der Utopie aus der Negation, im Stück nur noch durch eine Anmerkung Müllers als satirische Reminiszenz anwesend, ist obsolet geworden, weil sie im historischen Prozess keinen Anknüpfungspunkt mehr hat.628 Was bleibt, sind Strategien der Verstörung und der Irritation sowie die Öffnung des Dramas für eine andere Utopie: Irritation, wenn das Publikum schon allein aufgrund der Finalstellung der Pantomime im letzten Bild dem Lessing’schen Scheiterns applaudieren muss (es sei denn es verweigert der gesamten Aufführung den Applaus – ein nicht auflösbares Dilemma); Öffnung für die Utopie durch die Mobilisierung apokalyptischer Bilder, die auf eine Realität hinter der Realität verweisen, sowie den Geschlechtertausch Emilias und Nathans. Diese beiden Elemente sind als Stellvertreter der Natur das Ferment der Utopie in Leben Gundlings. Als solche erscheinen sie im Mittelteil des Triptychons, das gattungsgemäß dem Höhepunkt des Dargestellten vorbehalten ist.629

Der Einbruch der Utopie in den Text: Die Hamletmaschine 5.5.2.3 Die Hamletmaschine ist zweifelsohne der berühmteste Theatertext Heiner Müllers. Mit ihm gelang dem Dramatiker der internationale Durchbruch. Seit seinem Erscheinen

|| 381. Das erinnert an Müllers Formulierung, dass in einer geordneten und reglementierten Welt „Inseln der Unordnung“ geschaffen werden müssten. MW 8, 245. Die positive Sicht auf Lessing wird zudem dadurch deutlich, dass Lessing im Schlussbild auch unter der Büste noch schreit (vgl. 536), während Schiller am Ende des Bildes ET IN ARCADIO EGO: DIE INSPEKTION in einer ähnlichen Situation nur leise „hustet“. (532) Vgl. Breuer, S. 369. Siehe zur Rezeption Lessings bei Müller: Heise: Beispiel einer Lessing-Rezeption u. Emmerich: Gotthold Ephraim Lessing. – Es mag kaum verwundern, dass sich der Antagonismus zwischen Hacks und Müller auch in Bezug auf Lessing fortsetzt. Hacks lehnte Lessing, dem er unterstellte, „dem Bürgertum die Alleinmacht zu wünschen“ (HW 13, 511), nicht nur politisch, sondern auch ästhetisch ab; schließlich habe dieser die „Verneinung“ der Klassik betrieben und musste „das deutsche Drama nach ihm zum andern Mal erfunden werden“. HW 15, 307. 628 „Nach dem Irrenhaus-Bild können Schauspieler in einem improvisierten Schäferspiel eine bessere Welt entwerfen.“ MW 4, 537. Vgl. MW 8, 187. Die Verbindung von negativer Utopie und Lehrstück übersieht Barbara Christ, wenn sie schreibt, das Publikum könne „in ‚Negation der Negation‘ aus dem Text gesellschaftliche Utopie konstruieren“. Christ: Die Splitter des Scheins, S. 224. 629 Über den Mittelteil eines Triptychons heißt es im Lexikon der Kunst: „Die Akzentuierung der Mittelachse erhebt das Dargestellte ins Repräsentative, Würdevolle, Programmatische, Sinnbildhafte und Monumentale“. Olbrich Bd. 7, S. 414.

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im Dezember 1977 in Theater heute fasziniert er die internationale Literatur- und Theaterwissenschaft.630 Besonders Robert Wilsons New Yorker und Hamburger Inszenierung der Hamletmaschine von 1986 gilt heute als Klassiker des modernen Theaters.631 Aber auch über Fachkreise hinaus erlangte Müllers Text aufgrund seiner subkulturkompatiblen Sprache und der auf die RAF und die Manson-Family verweisenden radikalen Protestgeste Popularität, wozu nicht zuletzt die Hörspielfassung der Einstürzenden Neubauten [1992] beitrug.632 Erste Auseinandersetzungen Müllers mit dem Hamlet-Thema gehen bis in die 1950er Jahre zurück. Mit Arbeiten zu einem Hamlet-Drama begann Müller bereits zu Beginn der 1960er Jahre. Ausgehend von der Erfahrung des Ungarnaufstands 1956 konzipierte er unter dem Arbeitstitel „Hamlet in Budapest“ ein Drama, das die Hamlet-Konstellation vor dem Hintergrund der Hinrichtung des kommunistischen Politikers Laszlo Rajks in einen sozialistischen Kontext übersetzte.633 Von diesem ca. 200 Seiten umfassenden Text blieben bei der Arbeit, die 1975 einsetzte und zusätzlich durch eine Übersetzung des Shakespeare’schen Originals begleitet wurde, am Ende nur neun Seiten übrig. Die Hamletmaschine ist ein „Schrumpfkopf“, eine Reduktion des Dramas, und markiert in vielerlei Hinsicht einen Endpunkt in Müllers Schreiben.634 Der metadramatische Text der Hamletmaschine verfügt (mit einer einzigen Ausnahme) über keine dramatische Binnenkommunikation mehr. Die Regieanweisungen unterstützen nicht das Spiel und sind in diesem Sinne „alle unrealisierbar“;635 auch identifizierbare Figuren existieren nicht, das Drama operiert vielmehr jenseits

|| 630 Die literatur- und theaterwissenschaftliche Rezeption der Hamletmaschine ist enorm; die Bibliographie des 2003 erschienenen Heiner Müller-Handbuchs zählt allein 93 Titel, die sich explizit mit dem Text beschäftigen, und seitdem sind zahlreiche weitere Aufsätze und Monographie erschienen, die Die Hamletmaschine unter dramentheoretischen, performativen, intertextuellen, feministischen usw. Vorzeichen in den Blick nehmen. 631 Vgl. Keim, S. 172ff. Siehe zu Müller und Wilson: Christel Weiler: Zusammenarbeit mit Robert Wilson. In: HMH, S. 338–345. 632 Vgl. Heiner Müller: Die Hamletmaschine. Musik: Einstürzende Neubauten. Blixa Bargeld und Wolfgang Rindfleisch (Regie). CD. Hamburg 1992. Wolfram Ette, der den Text zu Recht als „Songtext der Subkultur“ bezeichnet, schreibt: „Ein Student erzählte mir, in den frühen neunziger Jahren habe der Text in der Karl-Marx-Städter Punkszene Kultstatus besessen. ,Herr brich mir das Genick im Sturz von einer Bierbank‘ [MW 4, 546]: das entsprach dem Weltgefühl von Menschen, die auf den durch die Wende sozusagen offiziell gewordenen Utopieverlust durch Zerstörung und Selbstzerstörung reagierten.“ Ette: Kritik der Tragödie, S. 518. 633 Vgl. Carl Weber: Heiner Müller: The Despair and the Hope. In: Performing Arts Journal 4 (1980), H. 3, S. 137. 634 KoS 230. „Vom LOHNDRÜCKER bis zu HAMLETMASCHINE ist alles […] ein Prozeß von langsamer Reduktion. Mit meinem letzten Stück HAMLETMASCHINE hat das ein Ende gefunden.“ MW 10, 133. Siehe zum zeithistorischen Hintergrund: KoS 229. 635 MW 12, 805.

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einer konkreten Subjektidentität der Charaktere, wie sie im gängigen Drama erscheint.636 Das zeigt sich bereits zu Beginn des ersten Bildes: „Ich war Hamlet“; im zweiten Bild äußert Ophelia „Ich bin Ophelia“, aber der Nebentext gibt als Sprecherinneninstanz an: „OPHELIA (CHOR/HAMLET)“; im vierten Bild existiert neben Hamlet zusätzlich noch ein „HAMLETDARSTELLER“.637 Die Figuren des Textes erscheinen so nicht als repräsentative Identifikationsangebote, sondern als Diskursinstanzen. Sie sind „‚soufflierte‘ Rede“, zusammengesetzt aus dem Material, das die Hamlet-Maschine, welche der Text vorstellt, verarbeitet und neu zusammensetzt.638 Dieses Material besteht auf der untersten Ebene, gewissermaßen als Basistext, aus Shakespeares Hamlet. Prinz von Dänemark [1601/02]; weitere Schichten sind dessen Rezeptionsgeschichte in der Moderne,639 eigene Texte Müllers (u.a. „Hamlet in Budapest“), die historische Entwicklung des Sozialismus und des Kapitalismus, konkret: „das Thema Budapest 1956 […] und die Geschichte der RAF“,640 sowie nicht zuletzt die poststrukturalistische Philosophie und deren Gegenwartsdiagnosen. Folgt man diesen Materialschichten entsteht das Bild einer „Übermalung“.641 Ausgehend von Shakespeares Text konfrontiert Müller das Problem Hamlet, das als das Problem des versagenden Intellektuellen par excellence erscheint, mit der Geschichte der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Hamlet wird zum Prätext, zum Muster, auf dessen Basis die Hamletmaschine ihre Aussagen über den Handlungsraum des linken Intellektuellen und die Möglichkeiten der Kunst generiert.642 Die Hamletmaschine folgt somit einem anderen Prinzip der Montage als Leben Gundlings, kann aber aufgrund des dem Text zugrundeliegenden Leitmotivs des scheiternden Intellektuellen ebenfalls zu den Revuen gezählt werden. An Leben

|| 636 Vgl. Keim, S. 45–78 u. Renata Plaice: Spielformen der Literatur. Der moderne und der postmoderne Begriff des Spiels in den Werken von Thomas Bernhard, Heiner Müller und Botho Strauß. Würzburg 2010, S. 117–134. Siehe zu den performativen Aspekten des Textes auch: Stefanie Charlotte Maeck: Theatralität als Performanz des literarischen Textes. „Die Hamletmaschine“ und die intermedialen Bezüge ihrer Schrift. In: Heeg u. Girshausen (Hg.): Theatrographie, S. 351–362. 637 MW 4, 545, 547 u. 549. Zitate werden im Folgenden in Klammern direkt im Text nachgewiesen. 638 Keim, S. 66. Vgl. Martin Buchwaldt: Zur Sprache des Außen. Zur Subjektproblematik in der „Hamletmaschine“ von Heiner Müller. In: Holger Dauer (Hg.): „Unverdaute Fragezeichen“. Literaturtheorie und textanalytische Praxis. St. Augustin 1998, S. 35. 639 Vgl. Schülting, S. 534f. Siehe zur Rezeptionsgeschichte in Deutschland: Franz Loquai: Hamlet und Deutschland. Zur literarischen Shakespeare-Rezeption im 20. Jahrhundert. Stuttgart 1993. Siehe auch: Jürgen Krätzer: Hamlet und kein Ende. Les-Arten, Spiel-Räume & Kunst-Stücke. Bremerhaven 2004. 640 KoS 230. 641 Keim, S. 60. 642 „Die Intelligenz ist verunsichert. Die Utopie, die Perspektive ist immer schwerer auszumachen. […] Es herrscht eine allgemeine Verunsicherung. Und in dieser sucht man nach einer Position zwischen den Zeiten, den Epochen. In einer solchen Lage bietet sich Hamlet immer an als eine Figur, in die man seine Probleme projizieren kann.“ MW 8, 292.

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Gundlings bzw. das Lessing-Triptychon schließt der Text zudem in besonderer Weise an, etabliert Die Hamletmaschine doch nicht nur das bereits an Lessings Texten erprobte Verfahren der literarischen Materialverarbeitung im Sinne einer seriellen Konnexionsmaschine,643 sondern folgt im Ganzen auch dessen Aufbau; d.h. die Form des Lessing-Triptychons nimmt die Form der Hamletmaschine vorweg: LESSINGS SCHLAF (= Scheitern), TRAUM (= Utopie des Geschlechtertauschs), SCHREI (= scheiternder Versuch des Widerstands). Die Hamletmaschine kann dergestalt als das im Lessing-Triptychon im Kleinen bereits angekündigte Programm eines anderen Dramas gelesen werden, das nicht mehr aus einer linear entwickelten Handlung und vom Ende her zu verstehen ist, sondern als ein sich aus Dekonstruktion und Rekonstruktion realisierender und dergestalt „unendliche Dimensionen von Wahrnehmungsangeboten“644 aufbauender Text, dessen utopische Botschaft „in der Mitte“ zu finden ist.645 Wie diese Mitte hergestellt wird und was sie bedeutet, soll im Folgenden näher in den Blick genommen werden. Für ein adäquates Verständnis ist es aber zunächst nötig, sich den Aufbau des Gesamttextes zu vergegenwärtigen. In einem zweiten Schritt wird dann eine genauere Übersicht über die den Mittelteil umfassenden Bilder gegeben, um schließlich in einem letzten Schritt zu diesem selbst zu kommen.646 Die Hamletmaschine besteht analog zu Shakespeares Tragödie aus fünf Bildern: (1.) FAMILIENALBUM; (2.) DAS EUROPA DER FRAU; (3.) SCHERZO; (4.) PEST IN BUDA SCHLACHT UM GRÖNLAND und (5.) WILDHARREND / IN DER FURCHTBAREN RÜSTUNG / JAHRTAUSENDE. Die Ähnlichkeit mit dem klassischen fünfaktigen Drama ist aber rein äußerlich. Zwar liegt auch hier der Höhepunkt des Textes im dritten Bild, aber genau genommen markiert SCHERZO den einzigen Ort dramatischer Handlung im Sinne des klassischen Dramenverständnisses, das auf sprachlicher Kommunikation und figuraler Interaktion basiert.647 Die restlichen Bilder sind monologisch. Das lenkt die Aufmerksamkeit automatisch auf den Text als „musikalisches Material“.648 Wolfgang Rihm, der 1983 bis 1986 eine Hamletmaschinen-Oper komponierte, hat den musiktheatralischen Charakter des Textes hervorgehoben, dessen „Verläufe […] wie Musik“ funktionierten und Die Hamletmaschine daher als „Theater aus dem Geist der

|| 643 Vgl. Weitin: Auflösung und Ganzheit, S. 399f. Vgl. zur Montage der Zitate auch: Keim, S. 69–72. 644 Keim, S. 54. 645 Ette: Kritik der Tragödie, S. 529. 646 Bei meiner Interpretation folge ich weitgehend der überzeugenden und luziden Analyse von Wolfram Ette. Vgl. Ette: Kritik der Tragödie, S. 518–569. 647 Siehe zu Verbindung von Dialog und Drama: Pfister, S. 196. Siehe allgemein die Lemmata ‚Drama‘ u. ‚Dramatisch‘ in: Weimar u.a. Bd. 1, S. 392–296 u. 398. 648 MW 11, 73.

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Musik“ bezeichnet.649 Die Hamletmaschine lässt sich dementsprechend wie eine Symphonie in fünf Sätzen beschreiben: Das erste Bild stellt einleitend die Themen und Motive vor; das zweite Bild wirkt kontrastiv; das dritte steht, wie schon der Name SCHERZO betont, für den Mittelsatz; das vierte und fünfte Bild nehmen die Themen und Motive der ersten beiden Bilder auf und erweitern bzw. variieren diese.650 Bezogen auf die Struktur des Textes ergibt sich folgendes Schema: A (‚Hamlet‘) – B (Ophelia) – C (Hamlet und Ophelia) – B’ (Hamlet) – A’ (‚Ophelia‘).651

FAMILIENALBUM Im ersten Bild FAMILIENALBUM spricht eine nicht näher bezeichnete Sprecherinstanz einen Monolog. Der Sprecher, der sich zu anfangs mit dem Satz „Ich war Hamlet“ (545) vorstellt, gibt sich später als „Schauspieler“ zu erkennen: „Ich spiele Hamlet“ (546). Der Schauspieler ist aber zugleich ein Regisseur, der die Handlung orchestriert und die auftretenden Personen mittels Sprache auf die Szene ruft: „Auftritt Horatio“; „Ophelia, sie kommt auf ihr Stichwort“; „Hast du deinen Text verlernt, Mama, ich souffliere“. (546) Der Sprecher inszeniert ein imaginäres Hamlet-Drama, an dem er zwar beteiligt ist, von dem er selbst aber nicht affiziert wird.652 Er behält vielmehr die Kontrolle, während er einzelne Szenen von Shakespeares Stück anzitiert und mögliche Varianten durchspielt: Ich stoppte den Leichenzug, stemmte den Sarg mit dem Schwert auf […] und verteilte den toten Erzeuger FLEISCH UND FLEISCH GESELLT SICH GERN an die umstehenden Elendsgestalten. Die Trauer ging in Jubel über, der Jubel in Schmatzen, auf dem leeren Sarg besprang der Mörder die Witwe SOLL ICH DIR HINAUFHELFEN ONKEL MACH DIE BEINE AUF MAMA. Ich legte mich auf den Boden und hörte die Welt ihre Runden drehn im Gleichschritt der Verwesung [meine Hervorhebung, R.W.]. (545)

Das erste Bild wirkt insofern wie ein Traum; Müller selbst nennt das Bild in seinen Manuskripten „dream 1“.653 Es ist die Phantasie einer nicht näher bezeichneten Figur,

|| 649 Wolfgang Rihm: Gangarten. Hamletmaschine. Brief an P. O. In: Storch (Hg.): Explosion of a Memory, S. 78. Siehe zu Rihms Oper: Regine Elzenheimer: Wolfgang Rihm: Die Hamletmaschine. In: HMH, S. 353–356. 650 Vgl. Bert Schwarzer: Hamlet liest Hamlet. Produktive Rezeption eines weltliterarischen Schlüsseltextes in der Moderne. Frankfurt/M. u.a. 1992, S. 188. Siehe zur Symphonie und ihrer musikhistorischen Entwicklung: Friedrich Blume (Hg.): Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik. Bd. 12. Kassel 1965, S. 1803. 651 Ich lehne mich hier an die Veranschaulichung Jean Jourdheuils an. Vgl. Jean Jourdheuil: Die Hamletmaschine. In: HMH, S. 224. 652 Vgl. Ette: Kritik der Tragödie, S. 542. 653 Zit. n.: Jourdheuil, S. 224.

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der zu Bewusstsein kommt, „daß [ihr] Dasein der Figur Hamlets von Shakespeare vergleichbar ist“654 (‚Ich war Hamlet‘), und die dem Publikum mitteilt, was das bedeutet: nämlich eine Person innerhalb des Dramas (innerhalb der Geschichte) zu sein und gleichzeitig außerhalb von diesem. Der Sprechende ist eine Person, die mit sich selbst nicht eins ist, die zwar weiß, was passiert ist (der Mord am Vater durch den eigenen Onkel unter Mitwisserschaft der Mutter), und dies als problematisch erkennt, daraus aber keine praktischen Schlüsse zieht, weil ihr, was geschieht, gleichgültig ist:655 „Dieser Hamlet weiß schon alles, er inszeniert es vorweg und er hat mit alledem nichts zu tun.“656 Der Sprecher, der Hamlet ist und zugleich nicht ist, erscheint somit in dem gleichen Zwiespalt gefangen, wie Shakespeares Hamlet. Er will handeln, aber dies ist ihm durch Reflexion verwehrt: „WIE EINEN BUCKEL SCHLEPP ICH MEIN SCHWERES GEHIRN“. (545) Handlungslosigkeit, Gefühllosigkeit und Untätigkeit sind die Kennzeichen seiner verstörten Subjektivität.657 Drückt der erste Teil des Bildes so die Apathie des Sprechers aus, äußert sich der Sprecher im zweiten Teil, wenn er die Figuren seines ‚Familienalbums‘ aufruft (den Vater, Horatio, Ophelia und die Mutter; bereits zuvor schon den Onkel) immer zynischer und aggressiver. So heißt es über den Vater, auf dessen brutale Herrschaft der Sprecher bereits vorher aufmerksam gemacht hat,658 er habe „Blut an den Schuhen“ (546); demonstrativ stellt der Sprecher seine Fühllosigkeit aus: „Was geht mich deine Leiche an.“ (546) Und Horatio, der Freund, wird, nachdem er aufgerufen worden ist, mit Polonius identifiziert und kurzerhand umgebracht: „Dänemark ist ein Gefängnis, zwischen uns wächst eine Wand. Sieh was aus der Wand wächst. Exit Polonius.“ (546)659 Am Ende

|| 654 Theo Girshausen (Hg.): Die Hamletmaschine. Heiner Müllers Endspiel. Köln 1978, S. 58. Das Zitat stammt von dem Schauspieler Gerhard Winter. 655 „I’M GOOD HAMLET GI’ME A CAUSE FOR GRIEF / AH THE WHOLE GLOBE FOR A REAL SORROW“ (545), heißt es; der Sprecher wünscht sich also Gefühle der Trauer und der Sorge, die er nicht verspüren kann. 656 Ette: Kritik der Tragödie, S. 541. Ette verweist in diesem Zusammenhang auf einen Text Sigmund Freuds über Patienten, die „bereits über das Verständnis [ihrer] Symptome“ unterrichtet sind und diese abwehren, indem sie sie thematisieren: „Ein verdrängter Vorstellungs- oder Gedankeninhalt kann also zum Bewußtsein durchdringen, unter der Bedingung, daß er sich verneinen läßt. Die Verneinung ist eine Art, das Verdrängte zur Kenntnis zu nehmen […], aber freilich keine Annahme des Verdrängten.“ Sigmund Freud: Die Verneinung. In: ders.: Gesammelte Werke. Bd. 14, S. 12. 657 Frank Raddatz, der die ‚Spielmacher-Funktion‘ der Sprecherinstanz übersieht, interpretiert den Sprecher, den er umstandslos mit Hamlet identifiziert, demgegenüber als aufständisch, Hamlet stelle sich „auf die Seite einer revoltierenden Praxis“. Raddatz: Dämonen unterm roten Stern, S. 172. 658 Über dessen ‚Staatskunst‘ äußert er: „ER WAR EIN MANN NAHM ALLES NUR VON ALLEN.“ (545) 659 Der Text spielt hier auf die 4. Szene des 3. Akts bei Shakespeare an, in der Hamlet Polonius, der sich hinter einer Wand verborgen hat, tötet, weil er ihn für Claudius hält. Die Art, wie dieser Mord bei Müller sprachlich veranschaulicht wird, verdeutlicht das imaginative Regietheater, das die Sprecherinstanz in Szene setzt. Siehe zur Identifikation Horatios mit Polonius: Eke 1989, S. 84f.

Vom Negativ der Utopie zur Utopie der Kunst: Müllers Drama in den 1970er Jahren | 469

des Bildes steigert sich der Sprecher dann zu einer Inzestphantasie gegen die Mutter, was Freuds Deutung von Shakespeares Hamlet aufruft:660 Ich werde dich wieder zur Jungfrau machen, Mutter, damit dein König eine blutige Hochzeit hat. DER MUTTERSCHOSS IST KEINE EINBAHNSTRASSE. Jetzt binde ich dir die Hände auf den Rücken, weil mich ekelt vor deiner Umarmung, mit deinem Brautschleier. Jetzt zerreiße ich das Brautkleid. Jetzt mußt du schreien. Jetzt beschmiere ich die Fetzen deines Brautkleids mit der Erde, die mein Vater geworden ist, mit den Fetzen dein Gesicht deinen Bauch deine Brüste. Jetzt nehme ich dich, meine Mutter, in seiner, meines Vaters, unsichtbaren Spur [meine Hervorhebung, R.W.]. Deinen Schrei ersticke ich mit meinen Lippen. Erkennst du die Frucht deines Leibes. (546f.)

Die Beschreibung dieser Vergewaltigung entspricht nur scheinbar einer „ödipalen Revolte“.661 Zwar setzt sich der Sprecher, wie die Hervorhebung zeigt, an die Stelle seines Vaters, aber was hier aufgerufen wird, entspringt keinem sexuellen Begehren, sondern dem Bedürfnis, die Mutter „als Mutter“662 zu vernichten. Der Sprecher, der sich als Hamlet imaginiert, reagiert auf seine zwiespältige Situation mit Aggression und Gewalt, die auf die Vernichtung seiner selbst bzw. in letzter Konsequenz die Menschheit zielt: Ich wollte, meine Mutter hätte eines [ein Loch, R.W.] zu wenig gehabt, als du [der Vater, R.W.] im Fleisch warst: ich wäre mir erspart geblieben. Man sollte die Weiber zunähn, eine Welt ohne Mütter. Wir könnten einander in Ruhe abschlachten […]. (545f.)

Aber ungeboren zu sein ist unmöglich; was sich im Rahmen der Inzestphantasie realisiert, ist die Panzerung des eigenen Selbst im Akt der Identifizierung mit dem Vater. Der Sprecher schließt das Weibliche im Rahmen einer misogynen Machtphantasie aus sich aus. Die Inzestphantasie läuft auf eine Demütigung der Mutter hinaus: „Jetzt geh in deine Hochzeit, Hure, breit in der dänischen Sonne, die auf Lebendige und Tote scheint.“ (547) Der Sprecher steigert seine Gefühllosigkeit: „Wer seine Mutter vergewaltigt hat, ist durch nichts mehr zu berühren, er hat über die Realität selbst triumphiert.“663 Das Bild aber endet nicht mit der sprachlichen Inszenierung der Vergewaltigung. Die Beschleunigung und Rhythmisierung, die der Text durch den wiederholten Einsatz des Temporaladverbs ‚jetzt‘ erfährt, wird wieder zurückgenommen. Am Ende wird Ophelia, die bereits zuvor als „tragische Rolle“ aufgerufen worden war, angesprochen: „Dann laß mich dein Herz essen, Ophelia, das meine Tränen weint.“ (547)

|| 660 Vgl. Sigmund Freud: Die Traumdeutung. In: ders.: Gesammelte Werke. Bd. 2.3, S. 271f. 661 Eke: Apokalypse und Utopie, S. 83. 662 Ette: Kritik der Tragödie, S. 542. 663 Ette: Kritik der Tragödie, S. 544.

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DAS EUROPA DER FRAU Damit springt der Text ins zweite Bild DAS EUROPA DER FRAU. Im Nebentext heißt es: „Enormous room. Ophelia. Ihr Herz ist eine Uhr.“ (547). Was die Sprecherinstanz des ersten Bildes essen will, ist also eine Uhr. Was bedeutet das? Die Uhr ist als Zeitmessinstrument ein Symbol der modernen Rationalität. Sie ist Ausdruck einer Objektivität, die einer subjektiven Wirklichkeitserfahrung entgegensteht, und als solche ein „Symbol der Fremdbestimmung“.664 Das Verhältnis von objektiver Zeit und Subjektivität ist ein Verhältnis der Nichtidentität, weshalb sich die Uhr mit der Sprecherinstanz, die Hamlet spielt, identifizieren lässt, für den ja dasselbe Verhältnis gilt: „Diese Form der Zeit, gleichsam in einen Charakter geschlagen, ist Hamlet. In ihm pflanzt sich die formale Nichtidentität darin fort, verzweifelt nicht man selbst sein zu wollen und sich in dieser Selbstabstoßung auf Schritt und Tritt zu begegnen.“665 Die Ophelia, deren Herz eine Uhr ist, stellt demnach nicht eine reale Figur dar, sondern ist eine weitere Projektion, „das Imaginäre des in seinem Gedankengefängnis eingeschlossenen Melancholikers“,666 der nunmehr, wie der Nebentext anzeigt, als Hamlet aufgefasst werden kann: „OPHELIA (CHOR / HAMLET)“. (547) Ophelia ist aber nicht nur ein „Mundstück Hamlets“.667 Das zweite Bild, das in Analogie zum ersten (‚dream 1‘) als dream 2 bezeichnet werden kann, ist mehrdeutig, denn Ophelia wird eben auch durch einen ‚CHOR‘ vertreten, d.h. sie ist zugleich die Repräsentantin einer Gruppe. Ophelia steht, wie der Titel des Bildes andeutet, stellvertretend für die Frau und ihre Situation in Europa, eine Chiffre Müllers für einen Zustand der Zerstörung.668 Ihr Text gleicht der Rede aus dem TRAUM-Bild des LessingTriptychons: „Ich bin Ophelia. Die der Fluß nicht behalten hat. Die Frau am Strick Die Frau mit den aufgeschnittenen Pulsadern Die Frau mit der Überdosis […].“ (547) Worauf hier angespielt wird und was durch den Verweis auf den ‚Enormous room‘ im Sinne eines zeitlosen Raums der Unterdrückung,669 noch verstärkt wird, ist das Patriarchat, das nach der Vorstellung von Friedrich Engels im Laufe der Antike auf das || 664 Keim, S. 67. Vgl. auch Benjamins 15. Geschichtsthese: BGS 1, 702f. Siehe zum Begriff der Zeit und deren Geschichtlichkeit: Martin Burckhardt: Metamorphosen von Raum und Zeit. Eine Geschichte der Wahrnehmung. Frankfurt/M. 1994 u. Gerhard Dohrn-van Rossum: Die Geschichte der Stunde. Uhren und moderne Zeitordnungen. Köln 2007. 665 Ette: Kritik der Tragödie, S. 545. 666 Eke: Apokalypse und Utopie, S. 89. In diesem Sinne lässt sich auch die Bühnenanweisung ‚Enormous room‘ verstehen. Sie spielt auf E. E. Cummings gleichlautenden Roman von 1922 an, in dem dieser einen Gefängnisraum in einem französischen Internierungslager während des 1. Weltkriegs darstellt. Die in diesem Raum Zusammengepferchten stehen unter der Aufsicht eines Direktors, so wie Ophelia unter der Kontrolle des Regisseurs Hamlet steht. Vgl. James David Hart u. Phillip Leininger (Hg.): The Oxford Companion to American Literature. New York 1995, S. 200. 667 Ette: Kritik der Tragödie, S. 545. 668 „Europa ist eine Ruine“. MW 4, 491. 669 Müller spielt hier auf E. E. Cummings gleichnamigen Roman an, in dem der ‚Enormous room‘ für ein Gefangenenlager im 1. Weltkrieg steht. Vgl. Eke: Apokalypse und Utopie, S. 87f.

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Matriarchat folgte und „die weltgeschichtliche Niederlage des weiblichen Geschlechts“ markiert.670 Aber die Opferrolle, die der Text aufruft, wird von Ophelia hinter sich gelassen: „Gestern habe ich aufgehört mich zu töten.“ (547) Der Chor, der Ophelia neben Hamlet konstituiert, erinnert insofern an die Chöre aus Brechts Lehrstücken und die mit ihnen verbundene Annahme, dass sinnhaftes Handeln möglich sei. Norbert Otto Eke bezeichnet Ophelia daher treffend als „die (ersehnte) Kollektivität eines revolutionären Sprechersubjekts“.671 Wie Dascha in Zement setzt sie zu einer Revolte an, bei welcher sie die „Werkzeuge“ ihrer (Selbst-)Unterdrückung zerstört: Ich zertrümmre die Werkzeuge meiner Gefangenschaft den Stuhl den Tisch das Bett. Ich zerstöre das Schlachtfeld das mein Heim war. Ich reiße die Türen auf, damit der Wind herein kann und der Schrei der Welt. Ich zerschlage das Fenster. Mit meinen blutenden Händen zerreiße ich die Fotografien der Männer die ich geliebt habe und die mich gebraucht haben auf dem Bett auf dem Tisch auf dem Stuhl auf dem Boden. Ich lege Feuer an mein Gefängnis. Ich werfe meine Kleider in das Feuer. Ich grabe die Uhr aus meiner Brust, die mein Herz war [meine Hervorhebung, R.W.]. Ich gehe auf die Straße, gekleidet in mein Blut. (547f.)

Indem Ophelia die Uhr aus sich herausreißt, gewinnt sie ihre Subjektivität gegenüber der Heteronomie der von außen gesetzten Zeit zurück. Das korrespondiert mit dem Gang auf die Straße, ins Freie. Ophelia löst sich von Hamlet, d.h. sie unterliegt nicht mehr dessen Regie. Die Figur verwandelt sich also im Laufe der Szene aus einer Projektion Hamlets in eine ‚wirkliche‘ dramatische Figur. Dementsprechend kann sie Hamlet im nächsten Bild als sie selbst, als Sprecherin mit eindeutiger Identität gegenübertreten. Der Akt des Uhren-Ausgrabens verändert aber offenbar auch etwas an Hamlet. Die Konfrontation mit der Uhr, die Ophelia im dritten Bild hervorruft, wenn sie Hamlet fragt: „Willst du mein Herz essen“ (548) – d.h., wenn sie ihn fragt, ob er seine Uhr essen wolle, die er in sie verpflanzt hat –, führt zu einem Aufbrechen der bisherigen Konstellation. Der Zweifler, der sich an nichts beteiligt und alles gefühllos mitansieht, verwandelt sich. Der Sprecher lässt die Haltung des unbeteiligten Regisseurs hinter sich und wird zu Hamlet, zum Mitspieler in seinem eigenen Drama. Er tritt aus der Panzerung seines Selbst heraus. Zögerlich, die „Hände vorm Gesicht“, spricht er zu Ophelia: „Ich will eine Frau sein.“ (548) Was das bedeutet und welche Entwicklung das dritte Bild danach nimmt, soll später erst genauer betrachtet werden. Vorerst ist nur wichtig festzustellen, dass sich das SCHERZO-Bild qualitativ von den anderen Bildern unterscheidet. Ophelia und Hamlet stehen sich hier gleichberechtigt gegenüber und für einen kurzen Moment wird die Hamletmaschine zum dialogischen Drama, das schließlich in eine surreale Szene übergeht, in der die Grenzen verschwimmen. Müller formuliert in SCHERZO, wie noch genauer zu zeigen ist, das Bild einer Utopie

|| 670 MEW 21, 61. 671 Eke: Heiner Müller, S. 137.

472 | Der Streit im literarischen Feld

des Ausbruchs aus der zweidimensionalen Geschlechterordnung, dem bürgerlichen Verständnis des Individuums und der als linear verstandenen Geschichte, ein Bild der Kunst als Mittel und Ort der Utopie.

PEST IN BUDA SCHLACHT UM GRÖNLAND Diese Utopie geht im vierten Bild PEST IN BUDA SCHLACHT UM GRÖNLAND, wenn Hamlet in den Raum zurückkehrt, den Ophelia im zweiten Bild durch ihren Aufstand „zerstört“ (549) hat,672 wieder verloren bzw. sie erweist sich als nicht praktikabel. Das vierte Bild ist vom textlichen Umfang her das längste der Hamletmaschine. Es transponiert den bisher vor dem Hintergrund von Shakespeares Hamlet verhandelten Konflikt in den politischen Raum der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Hamlet, in Nietzsches Interpretation der Inbegriff des Intellektuellen, der „einen wahren Blick in das Wesen der Dinge“ getan hat und den es nun „ekelt […] zu handeln“,673 wird hier zum Paradigma des oppositionellen Linken. Zu Beginn des Bildes spricht Hamlet, der sich, offenbar noch durch die Verwandlung im dritten Bild affiziert, mit der Wirklichkeit konfrontiert: Der Ofen blakt im friedlosen Oktober / A BAD COLD HE HAD OF IT JUST THE WORST TIME / JUST THE WORST TIME OF THE YEAR FOR A REVOLUTION / Durch die Vorstädte Zement in Blüte geht / Doktor Schiwago weint / Um seine Wölfe / IM WINTER MANCHMAL KAMEN SIE INS DORF / ZERFLEISCHTEN EINEN BAUERN (549)

Hamlet umreißt hier auf denkbar knappstem Raum die historisch-politische Situation des Intellektuellen in Bezug auf den Sozialismus am Beispiel des ungarischen Volkstaufstands vom Oktober 1956, worauf der erste Teil des Bildtitels PEST IND BUDA sowie die erste Zeile der Rede anspielen (Buda, ungar. Ofen).674 Der ungarische Aufstand, den die Rote Armee blutig niederschlug, steht für das zwiespältige Verhältnis der marxistischen Intellektuellen gegenüber der Sowjetunion. Der ‚friedlose Oktober‘ führt zu einer Erkrankung, einer Erkältung (‚A BAD COLD‘).675 Es ist eine schlechte Zeit für Veränderungen, die Geschichte steht still, der ‚Zement in Blüte‘. Der ungarische Aufstand ist aber auch ein Aufstand, der partiell von enttäuschten Intellektuellen ausging (dem Petöfi-Kreis). Darauf spielt die Erwähnung Doktor Schiwagos an,

|| 672 Im Nebentext heißt es: „Raum 2, von Ophelia zerstört“. (549) 673 Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie. In: ders.: Sämtliche Werke. Bd. 1, S. 56. 674 Buda ist zudem der Stadtteil Budapests, in dem sich das Denkmal Józef Bems befindet, an dem die große Demonstration vom 23. Oktober endete, die am Beginn des Aufstands stand. Vgl. György Dalos: 1956. Der Aufstand in Ungarn. München 2006, S. 56. 675 Der in Majuskeln gesetzte Text zitiert T. S. Eliots Gesicht „Journey of the Magi“. Vgl. Eke: Apokalypse und Utopie, S. 94.

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Boris Pasternaks Romanheld, der sich nach anfänglicher Begeisterung von der Oktoberrevolution abwendet und der als Alter Ego Hamlets verstanden werden kann.676 Schiwagos enttäuschte Hoffnung erzeugt eine Haltung der Distanz, die die beiden letzten in Majuskeln gesetzten Verse, ein Selbstzitat aus Zement, als konterrevolutionär denunzieren. Das Leiden des Intellektuellen ist nicht das Leiden des Volkes, für das hier wie so oft bei Müller die Bauern stehen. Im Anschluss an diesen Problemaufriss des Verhältnisses von Intellektuellem und Sozialismus legt Hamlet „Maske und Kostüm“ (549) ab. Von nun an spricht der „HAMLETDARSTELLER“. (549) Was bedeutet das? Das Ablegen des Hamletkostüms kann als Anerkennung der „Belanglosigkeit seiner Rolle“677 als Intellektueller verstanden werden. Es markiert zudem einen Ausstieg aus der Kunst: „Das Spiel verabschiedet sich von sich selbst.“678 Ein Schauspieler, der sein Kostüm ablegt, bricht die Illusion des Spiels: „Ich bin nicht Hamlet. Ich spiele keine Rolle mehr.“ (549) Das Abnehmen der Maske lässt sich daher auch noch in einem weiteren Zusammenhang verstehen, als Entblößung des Autors nämlich. Müller versteht Drama als das Erproben verschiedener Haltungen, zu welchem Zweck der Autor sich „Masken“ aufsetzt und „Rollen“ aneignet.679 Wenn Hamlet seine Maske ablegt, kommt also nicht nur der Hamletdarsteller, sondern auch Müller selbst zur Ansicht, der gegen Ende des Bildes als „Fotografie des Autors“ (552) tatsächlich auf der Bühne präsent ist. Wer also spricht? Das bleibt im Verlauf des Bildes uneindeutig. So wie der Signifikant Hamlet seine Gegenwärtigkeit verliert, verschwimmt auch der Hamletdarsteller. Er und der Autor Müller gehen ineinander über, um sich schließlich wieder voneinander zu lösen. Der Rest des Bildes lässt sich in drei Abschnitte gliedern, die bereits semantisch im Titel des Bildes, Müllers Verfahren der Reihung entsprechend, angedeutet sind. Auf die politische Bedeutung von PEST IN BUDA wurde bereits verwiesen. Das wird im ersten Abschnitt als Einsicht in die historische Stagnation und Bekenntnis zu einem Scheitern der Politik und der in sie gesetzten Hoffnungen auf eine revolutionäre Veränderung der Gesellschaft entfaltet: „Mein Drama findet nicht mehr statt. […] Die Hoffnung hat sich nicht erfüllt.“ (549)680

|| 676 Vgl. Eke: Apokalypse und Utopie, S. 94f. 677 Schulz: Heiner Müller, S. 152. 678 Plaice, S. 129. 679 MW 10, 207. Siehe hierzu: Ludwig: Heiner Müller, Ikone West, S. 119ff. Im Lateinischen entspricht der Begriff der ‚persona‘ nicht nur der Rolle oder dem Charakter des Schauspielers, sondern kann auch mit ‚Maske‘ übersetzt werden. 680 Drama lässt sich hier mit Nietzsche auch mit „Ereignis“ oder „Geschichte“ übersetzen. Friedrich Nietzsche: Der Fall Wagner. In: ders.: Sämtliche Werke. Bd. 6, S. 32. Die Bewegung der Geschichte, die den Unterboden des Dramas bildet, kommt zum Erliegen und mit ihr auch das Drama selbst.

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PEST IN BUDA verweist durch die Schreibweise, die den Begriff der Pest hervorhebt und damit indirekt auf Artaud und dessen Konzeption eines Theaters der Grausamkeit aufmerksam macht,681 auch auf den zweiten Abschnitt, die Inszenierung eines Aufstands (der in seiner Beschreibung wiederum an den Beginn des Ungarnaufstands erinnert) und den Entwurf einer Haltung jenseits der Parteiungen, wobei sich der Sprecher explizit als involviert zu erkennen gibt: „Mein Platz, wenn mein Drama noch stattfinden würde, wäre auf beiden Seiten der Front, zwischen den Fronten, darüber.“ (550) Diese Passage untersucht die Möglichkeit der Kunst, sich gegenüber der stagnierenden Geschichte zu verhalten. Sie formuliert das Programm eines Dramas, das die Zuordnungen von richtig oder falsch, von dafür oder dagegen überwunden hat. Formuliert wird „eine mögliche Synthesis im Mittel der Kunst“, die die Grenzen des Subjekts überschreitet:682 „Ich [meine Hervorhebung, R.W.] knüpfe die Schlinge, wenn die Rädelsführer aufgehängt werden, ziehe den Schemel weg, breche mein [meine Hervorhebung, R.W.] Genick.“ (551) SCHLACHT UM GRÖNLAND, nimmt man den Titel ernst, ein sinnloses Projekt (der Kampf um eine menschenleere und, zumindest in den 1970er Jahren noch, ökonomisch unbedeutende Weltgegend),683 antizipiert die Sinnlosigkeit eines solchen Dramas. Der dritte Abschnitt steht dementsprechend für das Scheitern des aufständischen Dramas (das ja gar „nicht stattgefunden [hat]“ (551) und nur die Imagination eines politischen Aufstands im Namen der Kunst war), den Rückzug und die erneute Unterwerfung unter die Macht des Faktischen im Prozess einer „Pendelbewegung“,684 an deren Ende der Hamletdarsteller wieder „Kostüm und Maske“ anlegt und in die „Rüstung“ (553) steigt, die seit Anbeginn des gesamten Bildes leer auf der Bühne stand. Der Sprecher, der aufgrund der Verwandlung im dritten Bild für eine Zeitlang nicht Hamlet war, wird wieder zu Hamlet, d.h. der Text kehrt an die Ausgangsposition des ersten Bildes zurück. Dieser Rückzug vollzieht sich in SCHLACHT UM GRÖNLAND in drei Phasen. Er setzt ein, wenn sich der Hamletdarsteller bewusst wird, dass seine Position ‚zwischen den Fronten, darüber‘ unmöglich ist und sein eigenes Drama denunziert: „Wortschleim absondernd in meiner schalldichten Sprechblase über der Schlacht“. (551) Es folgt die Thematisierung des eigenen „Ekel[s]“ (551) an der Gegenwart als Beschäftigung mit sich selbst, der Rückzug auf die eigene Person: „Ich gehe nach Hause und schlage die Zeit tot, einig / Mit meinem ungeteilten Selbst.“ (551) Wolfram Ette weist

|| 681 Vgl. Ette: Kritik der Tragödie, S. 555f. Siehe: Antonin Artaud: Das Theater und die Pest. In: ders.: Das Theater und sein Double, S. 18–41. 682 Wolfram Ette: Hamlet | Maschine. Ästhetische Transzendenz bei Shakespeare und Heiner Müller. Vortrag an der Universität Aachen, online unter: http://www.etteharder.de/Hamletmaschine.html (zuletzt eingesehen am 15. April 2014). Vgl. Ette: Kritik der Tragödie, S. 557f. 683 Vgl. Ette: Kritik der Tragödie, S. 556. 684 Ette: Kritik der Tragödie, S. 559.

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darauf hin, dass die Formulierung ‚einig / Mit meinem ungeteilten Selbst‘ „ein Widersinn“ ist.685 Sie fungiert als Markierung für die Spaltung der eigenen Persönlichkeit, die sich besonders gegen Ende an der nun folgenden, an das Vater unser angelehnten, radikalen Kritik des Bestehenden offenbart: Fernsehen Der tägliche Ekel Ekel / Am präparierten Geschwätz Am verordneten Frohsinn / […] Unsern täglichen Mord gib uns heute / Denn Dein ist das Nichts Ekel / An den Lügen die geglaubt werden […] Geh ich durch Straßen Kaufhallen Gesichter / Mit den Narben der Konsumschlacht Armut / Ohne Würde Armut ohne die Würde des Messers des Schlagrings der Faust / […] Heil COCA COLA. (551)

Ist zunächst nicht klar, ob hier vom Osten oder vom Westen die Rede ist – der ,verordnete Frohsinn‘ erinnert durchaus an die DDR-Fernsehunterhaltung mit ihren Shows wie „Ein Kessel Buntes“686 oder an das „überoptimistische Sprechen in den Öffentlichkeiten des realen Sozialismus“687 –, so zeigt das Ende des Zitats an, dass Müller allgemein auf einen „Konsumfaschismus“ zielt, der als „neue Religion“688 erscheint, die die Menschen entwürdigt, und ihnen die Mittel des Widerstands, d.h. im kapitalistischen Kontext konkret: die Kriminalität,689 nimmt – ein Phänomen, das in den 1970er Jahren nach Ansicht Müllers längst auch auf die DDR übergegriffen hat.690 Was sich hier äußert, ist „die Position des von der Welt angeekelten Kulturkritikers, der theoretisch über den Dingen steht“ und sich in Zynismus flüchtet.691 ‚Heil COCA COLA‘ ist eine zynische Wendung. Das Mittel, dass der Hamletdarsteller gegen den Status quo ins Feld führt, ist dementsprechend: Ein Königreich / Für einen Mörder / ICH WAR MACBETH DER KÖNIG HATTE MIR SEIN DRITTES KREBSWEIB ANGEBOTEN ICH KANNTE JEDES MUTTERMAL AUF IHRER HÜFTE RASKOLNIKOW AM HERZEN UNTER DER EINZIGEN JACKE DAS BEIL FÜR DEN / EINZIGEN / SCHÄDEL DER PFANDLEIHERIN / In der Einsamkeit der Flughäfen / Atme ich auf Ich bin / Ein Privilegierter Mein Ekel / Ist ein Privileg / Beschirmt mit Mauer / Stacheldraht Gefängnis. (552)

|| 685 Ette: Kritik der Tragödie, S. 559. 686 Vgl. Reinhold Viehoff u. Rüdiger Steinmetz (Hg.): Deutsches Fernsehen Ost. Eine Programmgeschichte des DDR-Fernsehens. Berlin 2008, S. 279ff. 687 Fiebach: Inseln der Unordnung, S. 189. 688 Raddatz: Dämonen unterm roten Stern, S. 188. 689 „Bei Fourier steht, daß Kriminalität im Kapitalismus immer etwas sei, was mit der Zukunft schwanger geht.“ MW 10, 130. 690 „LOTHRINGER: Die sozialistische Utopie, verheiratet mit westlichem Konsum. MÜLLER: Das ist die gegenwärtige Aussicht […]. Ich habe kein Interesse an dieser Art von Leben […].“ MW 10, 195. An anderer Stelle spricht Müller vom „Smog der Medien, der auch in dem Land, aus dem ich komme, den Massen die Sicht auf die wirkliche Lage nimmt, ihr Gedächtnis auslöscht, ihre Phantasie steril macht [...]“. MW 8, 209. 691 Ette: Hamlet | Maschine. Vgl. Ette: Kritik der Tragödie, S. 560.

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Mit Macbeth und Raskolnikow werden zwei literarische Gestalten Shakespeares und Dostojewskis aufgerufen, die das Töten als Selbsterfahrung praktizieren und so den Widerspruch ihres eigenen Selbst aufheben wollen.692 Die Erfahrung der Selbstentfremdung der Sprecherinstanz aus dem ersten Bild kehrt hier in radikalisierter Form wieder, wenn der Zynismus in eine Vernichtungsphantasie umschlägt.693 Am Ende der ersten Phase geht dann der Zynismus in eine Form der Affirmation über. Müller reflektiert das, indem er sich selbst ins Zentrum dieser Passage stellt, was noch durch die Bühnenanweisung „Fotografie des Autors“ (552) verstärkt wird. Der Intellektuelle zwischen Ost und West, der zwischen den Welten hin und her pendelt und in keiner von beiden seine Ruhe findet, erkennt sich als Nutznießer, als Privilegierter. Das führt zum Selbstekel und zu Negation des eigenen Selbst: „Ich will nicht mehr essen trinken atmen eine Frau lieben einen Mann ein Kind ein Tier. Ich will nicht mehr sterben. Ich will nicht mehr töten. Zerreißung der Fotografie des Autors.“ (552) Damit setzt die zweite Phase des Rückzugs ein, die eine Gegenbewegung markiert. Der Wunsch der Selbstvernichtung geht von der Erkenntnis aus, dass die eigenen Privilegien die Konsequenz von Unterdrückung und Ausbeutung sind: „Irgendwo werden Leiber zerbrochen, damit ich wohnen kann in meiner Scheiße. Irgendwo werden Leiber geöffnet, damit ich allein sein kann mit meinem Blut.“ (552f.) Der Hamletdarsteller, der hier mit dem realen Autor Müller verschwimmt, weist sich hinsichtlich der „Mehrheit der Bevölkerung[en]“694 als ein Zerrissener aus, der, wie Shakespeares Hamlet, an der Erkenntnis der Wirklichkeit leidet: „Mein Gehirn ist eine Narbe.“ (553) Im Unterschied zu Hamlet aber wird hier eine Alternative aufgezeigt, eine Alternative, die versucht, die Erfahrungen der Anderen in sich aufzunehmen: „der universale Diskurs, der nichts auslässt und niemanden ausschließt“695 und für den die Die Hamletmaschine als Ganzes steht: „Ich will eine Maschine sein. Arme zu greifen Beine zu gehen kein Schmerz kein Gedanke“. (553) Damit ist das Schlüsselwort gefallen, das Die Hamletmaschine bereits im Titel trägt und das sich als Vorverständnis über die gesamte Interpretation des Textes legt. Im Kontext der an die Zerreißung der Autorenfotografie sich anschließenden Rede ist darunter zweierlei zu verstehen: der „Wunsch nach Mechanisierung“,696 die die Grenzen des Subjekts sprengt und das Subjekt in maschineller Weise mit dem ihm Äußeren verbindet; die Maschine ist in diesem Sinne eine „Chiffre des Menschen, der die historische Gestalt des Individuums hinter sich gelassen hat“.697 Für eine solche Auflösung des Subjekts steht auch die Zerstörung des Fotos, die als performatives Zitat

|| 692 Siehe zu Müllers Interpretation von Macbeth: Kap. 5.2.1.2. 693 Vgl. Ette: Kritik der Tragödie, S. 561. 694 MW 10, 73. 695 MW 8, 212. 696 Keim, S. 66. 697 Ette: Kritik der Tragödie, S. 562.

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der Autorschaftskritiken von Roland Barthes und Michel Foucaults verstanden werden kann.698 Die Zerreißung ist insofern ein symbolischer Akt. Das Foto meint nicht den realen Autor, sondern den Autor an sich. Wenn an die Stelle des Autorschaftssubjekts, das hier verabschiedet wird, der Wunsch tritt, eine Maschine zu sein, so ruft das, und das wäre die zweite Bedeutung der Maschinen-Metapher, abermals wie schon bei Leben Gundlings Deleuzes und Guattaris Konzept einer ,kleinen Literatur‘ auf, das die Literatur am Beispiel Kafkas in emphatischer Weise als „literarische Maschine“ auffasst, die „den Boden für eine kommende revolutionäre Maschine“ bereite.699 Für Deleuze und Guattari ist Kafka nicht nur ein Autor, sondern ein „Maschinenmensch“, dessen Literatur „weder auf ein Subjekt der Aussage als seine Ursache noch auf ein Subjekt des Ausgesagten als seine Wirkung“ verweist.700 Literatur wird so zu einer „Produktion ohne Produzenten“, zu einer „[a]bstrakte[n] Maschine“, die qua der „kollektiven Aussage[n]“, die sie zu formulieren imstande ist, eine neuartige Funktion erfüllen kann: sie wird zu einer „Angelegenheit des Volkes“.701 Steht Die Hamletmaschine für eine solche Literatur, die sich in einem dynamischen Spiel an verschiedene Diskurse anschließt – und insofern anstrebt, ein dramatischer Text ohne Autorsubjekt zu sein –,702 so erscheint das Drama des Aufstands, das der Hamletdarsteller zuvor geschildert hat, als deren mögliche Programmatik: eine Literatur, die konventionalisierte Zuordnungen unterläuft und „Inseln der Unordnung“ als „Freiräume für Phantasie“ schafft, ganz egal, „ob die Inhalte nun böse sind oder gutartig“.703 Der Schluss der Hamletdarsteller-Passage gibt davon einen Eindruck. Während Hamlet sein Kostüm ablegt und damit in gewisser Weise das Drama unterbricht, geht die Handlung im Bühnenraum weiter: „Bühnenarbeiter stellen, vom Hamletdarsteller unbemerkt, einen Kühlschrank und drei Fernsehgeräte auf. Geräusch der Kühlanlage. Drei Programme ohne Ton.“ (549) Unmittelbar nach der Äußerung des Maschinen-Satzes sind die „Bildschirme schwarz“ und aus dem Kühlschrank, dem kapitalistischen

|| 698 Vgl. Roland Barthes: Der Tod des Autors. In: Fotis Jannidis u.a. (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart 2000, S. 185–193 u. Michel Foucault: Was ist ein Autor? In: Jannidis (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft, S. 198–232. 699 Deleuze u. Guattari: Kafka, S. 26. Müller hat den Einfluss des Kafka-Buches von Deleuze und Guattari beim Verfassen der Hamletmaschine nachträglich selbst bezeugt. Vgl. KoS 231f. 700 Deleuze u. Guattari: Kafka, S. 13 u. 26. 701 Plaice, S. 126 u. Deleuze u. Guattari: Kafka, S. 66 u. 26. Bei dem letzten kursiv gesetzten Text handelt es sich um einen Tagebucheintrag Kafkas vom 25. Dezember 1911. Vgl. Franz Kafka: Tagebücher 1910–1923, hg. von Max Brod. Frankfurt/M. 1983, S. 152. Dass Müller die Perspektive von Deleuze und Guattari teilt, untermauert seine Äußerung, Kafka sei „der erste bolschewistische Schriftsteller“ (MW 10, 327), die wiederum auf Brecht zurückgeht. Vgl. BGS 2, 1203f. 702 Vgl. Plaice, S. 129–131 u. Ette: Kritik der Tragödie, S. 563. 703 MW 8, 245.

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Massenkonsumgut, läuft „Blut“. (553) Vor diesem Hintergrund, der die historische Situation, die der Hamletdarsteller geschildert hat, noch einmal in knappen Bildern zusammenfasst, erscheinen „Marx Lenin Mao“ als „[d]rei nackte Frauen“, die auf Deutsch, Russisch und Chinesisch Marx’ berühmten Satz „ES GILT ALLE VERHÄLTNISSE UMZUWERFEN, IN DENEN DER MENSCH...“ (553) anzitieren.704 Die nackten Frauen erinnern an das zweite Bild der Hamletmaschine und die sich durch die Geschichte ziehende Unterdrückung des weiblichen Geschlechts. Dass sie als Marx, Lenin und Mao (die Leitfiguren des sozialistischen Blocks Mitte der 1970er Jahre) erscheinen, muss im sozialistischen Kontext als Provokation wirken, verweist aber auf das geschlechterpolitische Manko, das auch der Sozialismus fortsetzt. Marx’ „kategorische[r] Imperativ“705 wird in dieser Hinsicht zu einer radikalen politischen Forderung, die im Zusammenhang mit der durch Internalisierung aufrechterhaltenen Unterdrückung des weiblichen Subjekts und der neurotischen Hamlet-Figur über den unmittelbaren Bereich des Politischen hinausgeht und auch die „Selbstunterdrückung des Einzelnen durch die Form seiner Subjektivität“706 mit einschließt. Dass die drei nackten Frauen den Marx-Satz nicht zu Ende zitieren und genau dort, wo die konkrete Beschreibung der Zustände folgt, abbrechen, kann im Zusammenhang mit dem weiteren Verlauf des Bildes, das nun in die dritte Phase des Rückzugs übergeht, verstanden werden; denn während sie sprechen, legt der Hamletdarsteller wieder „Kostüm und Maske an“. (553) Die Auslassungspunkte erinnern insofern an die Rede der Sprecherinstanz im ersten Bild: „Ich stand an der Küste und redete mit der Brandung BLABLA“ (545), d.h. die Worte haben im konkreten Textzusammenhang keine Bedeutung, sie werden durch das Bühnengeschehen negiert. Das wird am Ende des Bildes sinnfällig, wenn der Hamletdarsteller wieder „in die Rüstung tritt“ und „mit dem Beil die Köpfe von Marx Lenin Mao [spaltet]“. (553) Der Hamletdarsteller wird wieder zu Hamlet. Angesichts der Konfrontation mit der Realität zieht dieser sich zurück „IN DEN PANZER“. (553) Damit ist auch die metapoetische Reflexion über die Möglichkeiten des Dramas und die Rolle des Autors beendet, worauf zuvor bereits der Satz: ,Ich will eine Maschine sein‘ hindeutet; denn das ist die dritte Bedeutungsschicht der Maschinen-Metapher: sein „nackte[s] Gesicht zurückzunehmen hinter das (geschlossene) Gitter Visier der Dichtung, in die Maschine [meine Hervorhebung, R.W.] des Dramas“, wie es in einem aus dem Nachlass veröffentlichten und während der Abfassung der Hamletmaschine geschriebenen Text Müllers heißt.707

|| 704 „[...] ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“. MEW 1, 385. 705 MEW 1, 385. 706 Ette: Kritik der Tragödie, S. 564. 707 MW 2, 168. Siehe hierzu: Röder, S. 284–286.

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Die Rückverwandlung in Hamlet wird durch ein Selbstzitat aus dem frühen Gedicht „Zwei Briefe“708 begleitet: HAMLET DER DÄNE PRINZ UND WURMFRASS STOLPERND / VON LOCH ZU LOCH AUFS LETZTE LOCH ZU LUSTLOS / IM RÜCKEN DAS GESPENST DAS IHN GEMACHT HAT / GRÜN WIE OPHELIAS FLEISCH IM WOCHENBETT / UND KNAPP VORM DRITTEN HAHNENSCHREI ZERREISST / EIN NARR DAS SCHELLENKLEID DES PHILOSOPHEN / KRIECHT EIN BELEIBTER BLUTHUND IN DEN PANZER (553)

Was sich hier vollzieht, ist noch einmal im Spiegel Hamlets die „Geschichte eines Mannes, der sein Wissen wegwarf / Sich beugend unter einen dummen Brauch“, wie es an anderer Stelle in dem Gedicht heißt.709 Es ist der Verrat des linken Intellektuellen als Verrat der Linken an sich selbst. Der ‚dritte Hahnenschrei‘ verweist auf Petrus’ Verrat an Jesus,710 das ‚Schellenkleid des Philosophen‘ auf den Intellektuellen als Narr, der ‚Bluthund‘ schließlich assoziiert den Sozialdemokraten Gustav Noske, der im Bündnis mit den Freikorps die Novemberrevolution niederschlagen half und seitdem von KommunistInnen als Bluthund bezeichnet wird. Die Panzer stehen insofern für die militärische Niederschlagung der Revolution mithilfe der sozialdemokratischen Linken, sie erinnern aber auch noch einmal an die sowjetischen Panzer 1956 in Ungarn (bzw. 1953 in Ostberlin und 1968 in Prag) und verweisen im Kontext der im Stück thematisierten Hamletfigur auf die erneute Panzerung des eigenen Selbst. Hamlet/der Intellektuelle vollzieht eine Bewegung vom Zynismus zur Ohnmacht, die ihn schließlich an die Seite der Macht und zum Verrat an seinen Idealen führt: Marx, Lenin und Mao werden mit ebenjenem Beil, das zu Beginn des vierten Bildes „im Helm“ (549) der von Hamlet verlassenen Rüstung steckte, die Köpfe gespalten.711 Damit aber vollzieht sich nicht nur die Negation der linken Theorie, die den umfassenden Anspruch auf Befreiung formuliert, sondern auch, wie bereits erwähnt, die Negation der Negation des Patriarchats. Der Versuch der Befreiung im Zeichen des Geschlechtertausches ist gescheitert. Was bleibt ist: „Schnee. Eiszeit.“ (553), Müllers || 708 Vgl. MW 1, 35. 709 MW 1, 34. 710 Vgl. Die Bibel. Altes u. Neues Testament. Einheitsübersetzung, hg. im Auftrag der Bischöfe Deutschlands u.a. Freiburg/Basel/Wien 1996, S. 1124 (MT 26, 69–75). 711 Müller scheint hier Brechts Interpretation des Hamlet aufzurufen: „[d]er Idealist, der zum Zyniker wird“. GBA 26, 447. Darauf deutet auch die Bezeichnung des Bluthundes als ‚beleibt‘ hin; Brecht beschreibt Hamlet im Kleinen Organon als „jungen, aber schon etwas beleibten Menschen“. GBA 23, 94. In einem früheren Text Brechts heißt es, Hamlet sei „dick und asthmatisch“ (GBA 21, 243), und in dem zu den „Studien“ gehörigen Sonett „Über Shakespeares Stück ‚Hamlet‘“ ist Hamlet schlicht „de[r] Dicke“, „träg und aufgeschwemmt“. GBA 11, 269. Bei Shakespeare selbst findet sich in der Schlegel/Tieck-Übersetzung ebenfalls ein Hinweis, wenn Gertrud äußert, Hamlet sei „fett und kurz von Atem“. Shakespeare 4, 383; die Übersetzung gilt allerdings heute als zu frei. Vgl. Volker Zumbrink: Metamorphosen des kranken Königssohns. Die Shakespeare-Rezeption in Goethes Romanen „Wilhelm Meisters Theatralische Sendung“ und „Wilhelm Meisters Lehrjahre“. München 1997, S. 268f.

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immer wieder verwendete Metapher für den historischen Stillstand bzw. die Vorgeschichte der Menschheit.712

WILDHARREND / IN DER FURCHTBAREN RÜSTUNG / JAHRTAUSENDE Die Hamletmaschine wird für gewöhnlich als Verhandlung der „Realgeschichte des Sozialismus als Terrorzusammenhang“ und der spezifischen Rolle des „kommunistischen Intellektuellen“ verstanden.713 Das ist insofern richtig, als der Text im vierten Bild explizit auf diese Geschichte rekurriert. Übersehen wird aber zumeist, dass der Text auch auf die Rote Armee Fraktion bzw. Ulrike Meinhof verweist, ein Zusammenhang auf den Müller selbst aufmerksam macht und der ihm offenbar so wichtig war, dass er Verhandlungen mit dem Suhrkamp Verlag platzen ließ, weil Siegfried Unseld sich weigerte, „das Ulrike-Meinhof-Foto nach der Strick-Abnahme“ abzudrucken: „Für mich war das ein Ehrenpunkt. Darum ist es [Die Hamletmaschine, R.W.] bei Suhrkamp nicht erschienen.“714 Müller, der sich auch bei der Bearbeitung von Brechts Fatzer-Fragment [1978] für Ulrike Meinhof und die RAF interessierte, sah die westdeutsche Linke in demselben Dilemma der Isolation gefangen, wie die vier Revolutionäre in Brechts Fatzer.715 Richard Weber hat daher zu Recht vorgeschlagen, das Stück auch als „Psychogramm der ‚Neuen Linken‘“ zu lesen.716 Dazu passt, dass die Hamletmaschine zu den von den nackten Frauen vertretenen Ikonen der Linken auch Mao zählt, der sich aufgrund seiner poetischen Sprache bei der Neuen Linken und insbesondere der RAF großer Beliebtheit erfreute; so heißt es in der programmatischen Erklärung „Über den bewaffneten Kampf in Westeuropa“ [1971]: „Es gilt der Satz Maos allgemein: ,jeder Kommunist muß die Wahrheit begreifen: die politische Macht kommt aus den Gewehrläufen.‘“717

|| 712 In Der Bau spricht Barka den berühmten Satz: „Ich bin / Der Ponton zwischen Eiszeit und Kommune.“ MW 3, 393. 713 Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR, S. 277 u. Fuhrmann: „Warten auf Geschichte“, S. 100. 714 KoS 231. Siehe auch: MW 10, 760. 715 Vgl. MW 10, 131f. Vgl. zu Fatzer und RAF: Vaßen: Lehrstück und Gewalt, S. 196ff. Siehe zur FatzerBearbeitung auch: Judith Wilke: Fatzer-Bearbeitungen. In: HMH, S. 203–207 u. Karl-Wilhelm Schmidt: „Fatzer“: Begegnung zwischen Heiner Müller und Bertolt Brecht. In: Anja Kreutz u. Doris Rosenstein (Hg.): Begegnungen. Facetten eines Jahrhunderts. Siegen 1997, S. 28–35. 716 Richard Weber: „Ich war, ich bin, ich werde sein!“. Versuch, die politische Dimension der Hamletmaschine zu orten. In: Girshausen (Hg.): Die Hamletmaschine, S. 88. In einem Text über Hamlet schreibt Müller explizit von den „Ausläufer[n] der Bewegung von 1968“. MW 8, 292. Siehe hierzu auch: Ludwig: Heiner Müller, Ikone West, S. 205–221. 717 Klaus Bittermann (Hg.): Die alte Strassenverkehrsordnung. Dokumente der RAF. Berlin 1987, S. 91.

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Die Erfahrung des linken Terrorismus hat sich in der Hamletmaschine vor allem im fünften Bild WILDHARREND / IN DER FURCHTBAREN RÜSTUNG / JAHRTAUSENDE niedergeschlagen. Die Szene wechselt hier entsprechend der oben beschriebenen Gesamtstruktur des Textes wieder zu Ophelia, die einen abschließenden Monolog spricht: Tiefsee. Ophelia im Rollstuhl. Fische Trümmer Leichen und Leichenteile treiben vorbei. OPHELIA während zwei Männer in Arztkitteln sie und den Rollstuhl von unten nach oben in Mullbinden schnüren: Hier spricht Elektra. Im Herzen der Finsternis. Unter der Sonne der Folter. An die Metropolen der Welt. Im Namen der Opfer. Ich stoße allen Samen aus, den ich empfangen habe. Ich verwandle die Milch meiner Brüste in tödliches Gift. Ich nehme die Welt zurück, die ich geboren habe. Ich ersticke die Welt, die ich geboren habe, zwischen meinen Schenkeln. Ich begrabe sie in meiner Scham. Nieder mit dem Glück der Unterwerfung. Es lebe der Haß, die Verachtung, der Aufstand, der Tod. Wenn sie mit Fleischermessern durch eure Schlafzimmer geht, werdet ihr die Wahrheit wissen. Männer ab. Ophelia bleibt auf der Bühne, reglos in der weißen Verpackung. (554)

Ophelias Monolog zeigt sich als „durchdrungen vom terroristischen Diskurs“ der 1970er Jahre; ihre Rede schließt sich „bis hin zur Mimikry an die Begriffe und das spezifische Pathos“ der RAF an:718 Die ,Sonne der Folter‘ verweist auf Jean-Paul Sartres Vorwort zu Frantz Fanons Die Verdammten dieser Erde, ein von der Neuen Linken stark rezipierter Text, der zum Aufstand gegen den Kolonialismus aufruft;719 ,Metropolen‘ ist ein Schlagwort der Neuen Linken zur Bezeichnung der Zentren des westlichen Imperialismus, die RAF nannte sich selbst „Stadtguerilla […] in den Metropolen“;720 ,Es lebe der Aufstand‘ kann ebenfalls in einem solchen Kontext verstanden werden. Zudem findet sich bereits in DAS EUROPA DER FRAU ein Verweis auf Ulrike Meinhof. Müller selbst gibt darüber Auskunft; demnach hat Ophelias Ausspruch „Ich zertrümmre die Werkzeuge meiner Gefangenschaft den Stuhl den Tisch das Bett. Ich zerstöre das Schlachtfeld das mein Heim war“ (547) eine Aktion der Baader-Meinhof-Gruppe zum Vorbild, bei der in der gemeinsamen Wohnung von Ulrike Meinhof und Klaus Rainer Röhl „alles zerschlagen und die Möbel aus dem Fenster geworfen wurden“, was Müller als „Ausstieg aus dem bürgerlichen Leben“ interpretierte.721 Eine weitere Textstelle (‚Wenn sie mit Fleischermessern durch eure Schlafzimmer geht, werdet ihr die Wahrheit wissen‘) lässt sich zwar nicht mit der RAF

|| 718 Ette: Kritik der Tragödie, S. 526 u. 537. 719 Bei Sartre heißt es: „[H]eute steht die sengende Sonne der Folter am Zenit und blendet alle Länder.“ Jean-Paul Sartre: Vorwort. In: Frantz Fanon: Die Verdammten dieser Erde. Frankfurt/M. 1981, S. 27. 720 Bittermann, S. 76. 721 MW 10, 760 u. KoS 230f.

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in Verbindung bringen, steht aber ebenfalls in einem terroristischen Kontext. Das Zitat wird Susan Atkins zugeschrieben, einem Mitglied der Manson-Family, die 1969 in Kalifornien zahlreiche Morde beging und mit dem Blut ihrer Opfer Botschaften wie „Death to pigs“ und „Rise“ hinterließ.722 Das letzte Bild der Hamletmaschine wird in der Forschung häufig vor dem Hintergrund einer feministischen Lesart, die Ophelia als revolutionäres Subjekt interpretiert, als „Brechung des männlichen Gewaltmonopols durch die Frau“, mitunter sogar als Prophezeiung eines „neue[n] Matriarchats“ verstanden.723 Der sich auf Susan Atkins beziehende Satz wird in diesem Zusammenhang zwar als irritierend angesehen, das ändert aber wenig an der Interpretation: [D]och auch wenn mit dem Susan-Aktins-Zitat […] ein Mitglied der Manson-Bande das letzte Wort hat, so kommt der weiblichen Emanzipation hier doch eine prinzipiell neue Qualität zu, die darauf zielt, die historische Kontinuität seit dem Beginn der patriarchalischen Geschichte im Abendland zu durchbrechen.724

Es spricht allerdings einiges dafür, dass die Ophelia-Rede nicht einfach einen „auf dem Primat der Rache, als Form der Gerechtigkeit“725 fußenden und apokalyptisch ins Negative gewendeten Aufruf zur Befreiung darstellt. Wolfram Ette, der den Spuren des in der Forschung häufig ausgeblendeten Terrorismus-Diskurses im letzten Bild nachgegangen ist, kommt vielmehr zu dem Schluss, dass es sich bei Ophelias Rede um eine „kritische[ ] Darstellung des Terrorismus“ handle.726 Das legt nicht nur das Moment der Erstarrung nahe, mit dem das fünfte Bild endet (‚reglos in der weißen Verpackung‘) und das in seltsamem Kontrast zu der aktivistischen Rede Ophelias

|| 722 Siehe zur Geschichte der Manson-Family: Ed Sanders: The Family. Die Geschichte von Charles Manson. Reinbek bei Hamburg 1995. 723 Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR, S. 360 u. Georg Guntermann: Heiner Müller: Die Hamletmaschine. In: Hajo Kurzenberger u. Lothar Pikulik (Hg.): Deutsche Gegenwartsdramatik Bd. 1: Zu Theaterstücken von Thomas Brasch, Heiner Müller, Friederike Roth, Franz Xaver Kroetz, Heinar Kipphardt, Thomas Bernhard. Göttingen 1987, S. 52. Siehe auch: Teraoka, S. 110; Genia Schulz u. Hans-Thies Lehmann: Es ist ein eigentümlicher Apparat. Versuch über Heiner Müllers „Hamletmaschine“. In: Th 20 (1979), H. 10, S. 13 u. Erika Fischer-Lichte: Geschichte des Dramas. Epochen der Identität auf dem Theater von der Antike bis zur Gegenwart. Bd. 2: Von der Romantik bis zur Gegenwart. Tübingen/Basel 1999, S. 282. Siehe auch: Ludwig: Heiner Müller, Ikone West, S. 265–282, die hierzu viel Material ausbreitet, ohne sich auf die oben beschriebene Interpretation festzulegen. 724 Raddatz: Dämonen unterm roten Stern, S. 29. 725 Raddatz: Dämonen unterm roten Stern, S. 193. 726 Ette: Kritik der Tragödie, S. 537. Siehe auch: Helen Fehervary: Autorschaft, Geschlechtsbewußtsein und Öffentlichkeit. Versuch über Heiner Müllers „Die Hamletmaschine“ und Christa Wolfs „Kein Ort. Nirgends“. In: Irmela von der Lühe (Hg.): Entwürfe von Frauen in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Berlin 1982, S. 140 u. Albert Meier: Konstruktiver Defaitismus. Inwiefern sich „Die Hamletmaschine“ von Heiner Müller verstehen lässt. In: Zeitschrift der Germanisten Rumäniens 13/14 (2005), S. 188.

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steht. Auch die destruktiven Elemente des Monologs (‚Ich nehme die Welt zurück‘; ‚Es lebe […] der Tod‘) verweisen auf einen Stillstand, eine Zurücknahme, bei der der Tod nicht die transitorische Möglichkeit des Neuen bedeutet, sondern einen Endpunkt. Mehr als deutlich schließt in diesem Sinne der Monolog mit dem Atkins-Zitat. Aber selbst wenn man den Verweis auf die Manson-Family, mit deren Geschichte Müller sich während seines USA-Aufenthalts 1975 beschäftigte, als Provokation, ja als Strategie einer „betonte[n] Asozialität“ auffasst,727 bleibt doch die Frage, wie Müller die Verbindung von terroristischer Aktion und Frauenbefreiung, die das Schlussbild entwickelt, einschätzt. Müller hat sich verschiedentlich zur RAF und zu Ulrike Meinhof geäußert. Seiner Ansicht nach waren die Handlungen der RAF „ein Produkt von Verzweiflung“ vor dem Hintergrund der Isolation der deutschen Linken, eine Reaktion „blinder Gegengewalt auf Gewalt“ und insofern Ausdruck eines „bürgerliche[n] Drama[s]“.728 Die Anschläge und Morde der RAF erscheinen als eine Form der Selbsterfahrung, der Vergewisserung, dass Handeln möglich ist in einer Situation der Stagnation: Sie [die Angehörigen der RAF, R.W.] tun es in der Hoffnung, daß andere nachfolgen. Wenn das nicht stattfindet, bleibt nur der Weg in den individuellen Terror, ein sehr romantischer Import, der viel schlimmere Folgen hat als die beabsichtigten. Der Terrorismus – besonders in seiner deutschen Form – ist doch nichts weiter als eine Verlängerung des bürgerlichen Humanismus. In diesem Sinn – etwas pointiert formuliert – ist ein Molotowcocktail das letzte bürgerliche Bildungserlebnis.729

Sympathie kann aus diesem Statement nicht herausgelesen werden.730 Die Geschichte der RAF erscheint vielmehr als tragisch. Ulrike Meinhof ist ein Opfer, eine terroristische Wiedergängerin Rosa Luxemburgs.731 In seiner Dankesrede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises nennt Müller sie eine „Braut“ Kleists, die die eigene Auslöschung verweigert habe, eine „Protagonistin im letzten Drama der bürgerlichen Welt, der bewaffneten WIEDERKEHR DES JUNGEN GENOSSEN AUS DER KALKGRUBE“.732

|| 727 Jost Hermand: Diskursive Widersprüche. Fragen an Heiner Müllers „Autobiographie“. In: ders. u. Fehervary: Mit den Toten reden, S. 106. Siehe zur Auseinandersetzung mit der Manson-Family: KoS 222. 728 MW 10, 132 u. MW 10, 399. 729 MW 10, 132. Siehe auch die ähnliche Formulierung in: MW 8, 187. 730 Selbst Erich Frieds Lob des Bombenanschlags auf das europäische Hauptquartier der US-Armee in Heidelberg vom 24. Mai 1972, der aktiv zur Sabotage des Vietnam-Krieges beigetragen hat, wird von Müller einsilbig mit „[v]erdienstvoll“ kommentiert und schließlich mit der Frage nach politischem „Engagement oder Poesie“ gekontert. MW 11, 120f. 731 In der Fatzer-Bearbeitung erscheint sie in einer Projektion gemeinsam mit Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg. Vgl. MW 6, 67. 732 MW 8, 282. Der ‚junge Genosse aus der Kalkgrube‘ verweist auf Brechts Maßnahme und damit einmal mehr auf das Thema der Isolation.

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Die Aktionen der RAF, die den zeithistorischen Hintergrund des letzten Bildes ausmachen, stehen somit nicht für die Hoffnung auf eine Lösung oder eine wie auch immer geartete Utopie, sondern für ein blindes Handeln aus Verzweiflung: „Erlösung durch Vernichtung“.733 Ophelias Rede ist kein positiver feministischer Diskurs, kein „promise for future revolutions staged by the victims of history“,734 sondern der destruktive Aufstand der Unterdrückten, der sich im Sinnlosen (das Atkins-Zitat) verliert,735 ein bewusst gewähltes, verstörendes Bild über die negativen Handlungsmöglichkeiten nicht nur der Frauen in einer historischen Situation der ,Eiszeit‘. Dass selbst dieser destruktive Aufstand im wahrsten Sinne des Wortes gefangen bleibt, zeigt der Nebentext. Der Spielort des letzten Bildes ist die ‚Tiefsee‘, ein Ort der Ausgrenzung, von dem aus „die Geschichte wie ein fernes Lichtspiel an der Wasseroberfläche“736 erscheint: das „Leben in der Tiefe“, das nach Müller „zwei Drittel oder Drei Viertel der Menschen“ leben.737 Im Kontrast zu ihrer aufständischen Rede sitzt Ophelia im ‚Rollstuhl‘ und wird von ‚zwei Männern in Arztkitteln in Mullbinde‘ geschnürt. Das erinnert an die Irrenhaus-Szene aus Leben Gundlings und den medizinisch-psychiatrischen Diskurs bei Foucault, also an eine Praxis der Stigmatisierung und Ausgrenzung des Abweichenden.738 Am Ende des Stücks verharrt Ophelia dementsprechend diszipliniert und von oben bis unten eingeschnürt ‚reglos‘ auf der Bühne. Was immer sie danach noch äußert, muss dumpf in der ‚Verpackung‘ verhallen, wie Lessings Schrei am Ende des Lessing-Triptychons. Die Ophelia des Schlussbildes ist, so legt es eine Notiz Müllers aus dem Nachlass nahe, wie bei Shakespeare eine Sterbende bzw. Tote, die ins Wasser gegangen ist.739 Hamlet, der ‚beleibte Bluthund‘ hat am Ende des vierten Bildes den Anspruch auf Befreiung und damit auch Ophelia verraten. Befindet sich also Ophelia deshalb in der ‚Tiefsee‘ – gewissermaßen analog zu Rosa Luxemburg, die von ihrem ehemaligen Parteigenossen Noske verraten, mit dessen Unterstützung umgebracht und in den Landwehrkanal geworfen wurde?740 Wie so oft bei Müller weist auch das abschließende Bild mehr als nur eine Dimension auf. ‚Tiefsee‘ verweist nämlich noch auf eine andere Form der Fremdbestimmung, auf die bereits Ophelias Monolog selbst aufmerksam macht. Ihr Sprechort wird mit ‚Im Herzen der Finsternis‘ konkretisiert, dem deutschen Titel von Joseph Conrads Roman Heart of Darkness, einer Anklage gegen

|| 733 MW 11, 441. 734 Teraoka, S. 112. 735 „[D]as Phänomen des Terrorismus oder der RAF überhaupt ist der Sinnentzug. Es macht keinen Sinn, was die machen.“ MW 8, 342. 736 Ette: Kritik der Tragödie, S. 494. 737 MW 11, 441 u. 440. 738 Vgl. Weber: Heiner Müller: The Despair and the Hope, S. 140 u. Buchwaldt, S. 39f. 739 Vgl. Ludwig: Heiner Müller, Ikone West, S. 231. 740 Vgl. Teraoka, S. 110.

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den Kolonialismus. Die Erzählperspektive dieses Romans ist aber die eines Kolonisten, die die authentische Stimme der Kolonisierten ausschließt.741 Das legt nahe, dass es nicht Ophelia allein ist, die hier spricht, dass ihre Rede unter dem Einfluss des sich nunmehr in der ‚Rüstung‘ befindlichen Hamlets steht, worauf auch der Titel des Bildes, ein Zitat Hölderlins, hindeutet: WILDHARREND / IN DER FURCHTBAREN RÜSTUNG / JAHRTAUSENDE.742 Ophelias Stimme ist demnach eine Stimme des Außen.743 Die ‚Tiefsee‘ lässt sich als die ‚Tiefe‘ Hamlets auffassen, als dessen Unterbewusstes. Ophelia in der ‚Tiefsee‘, unter der Wasseroberfläche, in der sich der Betrachter spiegelt, ist eine Projektion Hamlets.744 Das fünfte Bild erscheint hinsichtlich der Frage der SprecherInnenidentität damit ähnlich ambivalent wie bereits das zweite. Müller schreibt in „Deutschland ist Hamlet“ in Bezug auf Hamlets Situation: Dazu kommt, daß Shakespeares Stück die Problematik des Terrorismus zumindest streift. Also die blinde Aktion aus Mangel an einer Perspektive und aus dem Verlust einer Position, die man eingenommen hat, die aber nicht mehr zu halten ist, weil sie durch gesellschaftliche Kräfte nicht mehr gedeckt ist.745

Die Option des Aufstands, der alles mit sich in den Abgrund zieht, wird im fünften Bild von Hamlet auf Ophelia projiziert. Sie muss an seiner statt die Revolte proben und damit eine Variante des Handelns durchspielen, zu der der ohnmächtige Hamlet selbst sich nicht durchringen kann. Nicht zufällig gibt sie sich als die Rächerin Elektra aus, vollzieht diese doch dem Mythos zufolge mit Hilfe ihres Bruders Orest, woran Hamlet in Shakespeares Drama scheitert: die Blutrache an Aigisthos und Klytaimnestra zur Strafe für den Mord an ihrem Vater Agamemnon.746 Dass es Hamlet ist, der im fünften Bild spricht, darauf deuten nicht zuletzt die Analogien zum ersten Bild hin: zum einen der Sprechort ‚Tiefsee‘, der auf die Aussage des Sprechers „Ich stand an der Küste“ (545) verweist; zum anderen Ophelias Proklamation: ‚Ich nehme die Welt zurück, die ich geboren habe. Ich || 741 Vgl. Richard Humphrey: Conrad, Joseph: Heart of Darkness. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Kindlers Literatur-Lexikon. CD-ROM-Ausgabe. Stuttgart/Ravensburg 2009ff. 742 Friedrich Hölderlin: Sämtliche Gedichte und Hyperion, hg. von Jochen Schmidt. Frankfurt/M./Leipzig 1999, S. 426. 743 Vgl. Buchwaldt, S. 39. 744 Vgl. Fehervary: Autorschaft, Geschlechtsbewußtsein und Öffentlichkeit, S. 140. Das entspricht der literarischen Tradition, in der Ophelia vielfach als „hamletische Wunschprojektion[ ]“ erscheint. Schwarzer, S. 125. Jacques Lacan schreibt: „She is linked forever […] to the figure of Hamlet.“ Jacques Lacan: Desire and the Interpretation of Desire in “Hamlet”. In: Yale French Studies (1977), H. 55/56, S. 20. Siehe hierzu: Schwarzer, S. 125–154; Simone Kindler: Ophelia. Der Wandel von Frauenbild und Bildmotiv. Berlin 2004 u. Frauke Bayer: Mythos Ophelia. Zur Literatur- und Bild-Geschichte einer Weiblichkeitsimagination zwischen Romantik und Gegenwart. Würzburg 2009. 745 MW 8, 292. 746 Siehe hierzu auch Müllers „Elektratext“ vom Ende der 1960er Jahre: MW 1, 197f. Günter Zahn weist zudem auf die von Jan Kott in Gott-Essen eröffnete Analogie zwischen Hamlet und Elektra hin. Vgl. Zahn, S. 53f.

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ersticke die Welt, die ich geboren habe, zwischen meinen Schenkeln. Ich begrabe sie in meiner Scham‘, die an die Hoffnung des Sprechers auf eine ‚Welt ohne Mütter‘ erinnert.747 Der Text ist an seinen Anfang zurückgekehrt. Hamlet ist wieder der handlungsunfähige Regisseur, während sich an der gesellschaftlichen Konstellation nichts verändert hat. In Brechts Fatzer heißt es: „Auf dem Grunde [meine Hervorhebung, R.W.] / Erwartet dich die Lehre“, was sich ebenfalls mit dem Spielort ‚Tiefsee‘ assoziieren lässt.748 Die am Ende der Hamletmaschine vermittelte Lehre aber ist das Nichts, die Leere von Raum und Zeit. Stellt man sich die in Mullbinden eingewickelte Ophelia bildlich vor, so erscheint sie als eine Mumie, verdammt zur ewigen Präsenz in einem geschichtslosen Raum. Dies vollzieht sich zwar, wie man dem Bildtitel entnehmen kann, in einer ,wild harrenden‘ Haltung, aber diese erscheint, befragt man die Sinnhaftigkeit von Ophelias finalem Ausspruch (‚Wenn sie mit Fleischermessern durch eure Schlafzimmer geht, werdet ihr die Wahrheit wissen‘) als sinnloses Warten auf eine Utopie, die nicht kommen wird: Die Wahrheit, die hier zu erfahren ist, ist nichts anderes, „als dass ein sinnloser Tod das sinnvolle Ende eines sinnlosen Lebens ist, […] dass der Tod die Wahrheit über das Leben darstellt“.749 Der Schluss des Stücks reflektiert insofern Müllers gesellschaftspolitische Resignation in den späten 1970er Jahren, in der nicht nur die „sozialistische Welt völlig am Ende“ ist,750 sondern auch die Gesellschaften des Westens jeden Ausweg verunmöglichen. Versteht man Hamlet als den Vertreter des handlungsgehemmten, autoritär auf den ,Vater Staat‘ fixierten Ost-Intellektuellen und Ophelia als Vertreterin einer militanten, anarchistischen West-Linken, die sich angesichts der blockierten Verhältnisse in den Dezisionismus und die Propaganda der Tat flüchtet (und die insofern in seinem Wunsch nach Handlung auch eine Projektion des östlichen Intellektuellen darstellt), artikuliert Die Hamletmaschine tatsächlich „eine kollektive Erfahrung“ und kann als ein „gesamtdeutsches Stück“ aufgefasst werden.751

SCHERZO: der Einbruch der Utopie in den Text Frank Raddatz kommt am Ende seiner Analyse der Hamletmaschine zu dem Urteil, es handle sich um „das mit Abstand negativste Stück Müllers“, weil es über keinen „wie

|| 747 Vgl. Ette: Kritik der Tragödie, S. 527. 748 GBA 10.1, 512. Darauf machen Schulz u. Lehmann, S. 12 aufmerksam. Bert Schwarzer meint, ‚Tiefsee‘ sei „ein Bildzitat des holländischen Malers Carel Willink“ (Schwarzer, S. 189), führt aber nicht weiter aus, auf welches Bild hier Bezug genommen werden soll. 749 Ette: Kritik der Tragödie, S. 539. 750 KoS, Typoskriptfassung, zit. n.: Hauschild, S. 348. 751 Etre allemand aujourdʼhui. Entretien avec Heiner Muller. In: Liberation, 8. August 1988, zit. n.: Fiebach: Inseln der Unordnung, S. 298 u. Ludwig: Heiner Müller, Ikone West, S. 282.

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auch immer gebrochenen, positiven Kontrapunkt“ mehr verfüge.752 Das stimmt insofern, als Die Hamletmaschine das Verfahren der utopiegenerierenden Negation des Dargestellten, das für die Lehrstücke kennzeichnend war und sich auch noch in Germania Tod in Berlin reflektiert, hinter sich lässt. Im Wortsinne aber trifft Raddatz’ Urteil nicht zu, denn Die Hamletmaschine enthält sehr wohl ein utopisches Moment. Nur realisiert sich dieses eben nicht mehr als immanente Kritik oder Negation der Utopie, sondern als ein von außen kommender Einbruch in den Text, als etwas Fremdartiges und Irritierendes. Dieser Einbruch vollzieht sich im dritten Bild SCHERZO, das entsprechend der oben beschriebenen Struktur der Hamletmaschine, Shakespeares Spiel im Spiel im dritten Akt des Hamlet ähnlich, an einer besonderen Position steht. Müller selbst bezeichnet das offensiv surreal verfahrende und durch die Dominanz des Nebentextes der Prosa bzw. dem Film angenäherte Bild in seinen Manuskripten auch als „Traum im Traum“,753 was sich ebenfalls als Differenzbestimmung zu den ersten beiden Bildern (‚dream 1‘ und ‚dream 2‘) verstehen lässt. SCHERZO ist als „Zwischenspiel“ ein Ausbruch aus der in den anderen Bildern vonstattengehenden bruchstückhaften ‚Handlung‘754 und sticht zusätzlich dadurch hervor, dass es den einzigen Dialog des gesamten Stücks enthält. Ich habe oben behauptet, dass SCHERZO ein utopisches Bild der Kunst im Sinne einer Gegenmacht entwickle und dass sich dies auf drei Ebenen zeige: dem Geschlechtertausch, der Auflösung des bürgerlichen Individuums und der Negation einer teleologischen Geschichtsphilosophie. Wie sich das konkret vollzieht, soll nun erläutert werden. Schauen wir uns das Bild also Schritt für Schritt an. SCHERZO beginnt mit der folgenden Regiebemerkung: Universität der Toten. Gewisper und Gemurmel. Von ihren Grabsteinen (Kathedern) aus werfen die toten Philosophen ihre Bücher auf Hamlet. Galerie (Ballett) der toten Frauen. Die Frau am Strick Die Frau mit den aufgeschnittenen Pulsadern usw. Hamlet betrachtet sie mit der Haltung eines Museums-(Theater)-Besuchers. Die toten Frauen reißen ihm die Kleider vom Leib. Aus einem aufrechtstehenden Sarg mit der Aufschrift HAMLET 1 treten Claudius und, als Hure gekleidet und geschminkt, Ophelia. Striptease Ophelia. (548)

Die ‚Universität der Toten‘ verweist auf Hamlet, den Intellektuellen, der an der „hohen Schul’ in Wittenberg“755 studiert hat, und ruft durch die Vorstellung des Büchermenschen erneut den Topos des zu jeder Handlung Unentschlossenen aus dem ersten Bild auf. Wenn die ‚toten Philosophen ihre Bücher‘ auf Hamlet werfen, zeugt das

|| 752 Raddatz: Dämonen unterm roten Stern, S. 193. 753 Vgl. Jourdheuil, S. 225. 754 Weber u. Girshausen 1978, S. 14. Vgl. Teraoka, S. 114. 755 Shakespeare 4, 274.

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von einem Konflikt zwischen diesen und Hamlet. Der nächste Satz wirkt wie ein filmischer Schnitt, er schließt nahtlos an, signalisiert aber einen Ortswechsel. Die ‚Galerie (Ballett) der toten Frauen‘ wiederholt wortgleich Ophelias Text aus dem Bild DAS EUROPA DER FRAU und evoziert erneut die Vorstellung der unterdrückten und nunmehr aufbegehrenden Frau. Durch die Verbindung mit der ‚Universität der Toten‘ ergibt sich ein Verhältnis von Theorie und Praxis, die im Widerstreit zueinander stehen: patriarchale Theorie vs. feministische Praxis.756 Man muss sich die Szene als gleichzeitig vorstellen. Hamlet steht zwischen Theorie und Praxis, hat aber der Praxis seine Aufmerksamkeit zugeneigt. Vor diesem Hintergrund erklärt sich das Bücherwerfen der Philosophen. Sie wollen Hamlet nicht einfach nur „als Apostat bestraf[en]“,757 sie wollen ihn ablenken, seinen Blick ablenken; er soll sich ihnen (wieder) zuwenden. Was sich hier vollzieht, ist demnach der Widerstreit zwischen Theorie und Praxis in Hamlets Kopf, ausgelöst durch Ophelias Rede (‚Ich grabe die Uhr aus meiner Brust‘), die Hamlet offenbar verunsichert hat. Wie schaut Hamlet auf die ‚toten Frauen‘? Die gedoppelte Haltung des ‚Museums(Theater-) Besuchers‘ zeigt einen Widerspruch an: Hamlet bewegt sich zwischen dem distanzierten Blick eines ‚Museumsbesuchers‘, der das von ihm geschaute Objekt (‚Galerie‘) mit Abstand betrachtet und dem involvierenden Blick eines Theaterzuschauers, der das Gezeigte (‚Ballett‘) mit Anteilnahme verfolgt. Dieser Widerspruch wird aufgehoben, wenn die Frauen ihm ‚die Kleider vom Leib reißen‘ und Hamlet mit Gewalt zum Mitspieler machen.758 Hamlet ist nackt. Das Folgende ruft Shakespeares Hamlet auf. ‚HAMLET 1‘, das ist der Ursprungstext, das Material, das sich die Hamletmaschine einverleibt. ‚HAMLET 1‘ ist aber auch der Hamlet, den wir im ersten Bild kennengelernt haben. Der ‚Sarg‘ verweist darauf, dass dieser tot ist. Nimmt man diesen Tod nicht wörtlich, sondern versteht den Sarg als Zeichen für etwas, dessen Inhalt vergeht, so lassen sich Claudius und die ,als Hure gekleidete und geschminkte‘ Ophelia als Repräsentationen von Hamlets Unterbewusstsein begreifen, derer der verwandelte, nackte Hamlet nun ansichtig und die er im weiteren Verlauf des Bildes los wird: Claudius, der Mörder des Vaters und neue Ehemann der Mutter, der für „die Realisierung seiner verdrängten Kinderwünsche“ steht, wie es bei Freud heißt,759 und der zugleich, wie sich im Weiteren herausstellt,

|| 756 In einem der Manuskripte zur Hamletmaschine heißt es, Hamlet gehe an den „toten Philosophen vorbei, die einander ihre Utopien in die leeren Gehörgänge schrein/brüllen“ Zit. n.: Ludwig: Heiner Müller, Ikone West, S. 230. 757 Ette: Kritik der Tragödie, S. 548. 758 Das Kleider-vom-Leib-Reißen assoziiert einen Akt der Aggression und wird in der Forschung vielfach als Fortsetzung des Aufstands aus dem zweiten Bild interpretiert. Vgl. Fischer-Lichte: Avantgarde und Postmoderne, S. 240, die hier eine Parallele zu Orsinas Rede in Emilia Galotti (IV, 7) erkennt. Vgl. Lessing Bd. 7, S. 355f. 759 Freud: Die Traumdeutung. In: ders.: Gesammelte Werke. Bd. 2.3, S. 272. Das zeigt sich anhand des „Murder of Gonzago“-Spiels in der sogenannten Mousetrap-Szene (III, 2): „Das Spiel im Spiel

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„Hamlets Vater“ (548) ist; und Ophelia, die gleichermaßen Verachtete und Geliebte, die bei Shakespeare mehrmals mit dem Begriffsfeld der Prostitution verknüpft wird und die in Verbindung mit dem ersten Bild, in dem der Sprecher seine Mutter zur „Hure“ (547) macht, sowie Shakespeares Tragödie, in der Ophelia als „potentielles Gegenstück“ zu Hamlets Mutter erscheint, ebenfalls die Mutter repräsentiert.760 Versammelt ist hier also die aus FAMILIENALBUM bekannte Konstellation, die den nackten Hamlet beobachtet. Wenn Ophelia nun im ‚Striptease‘ ebenfalls ihre Kleidung ablegt, ist auch sie nackt und damit offenbar keine Projektion Hamlets mehr, ebenso wie dieser nicht mehr der Regisseur ist, der er war. Jetzt beginnt das eigentliche Drama, es folgt der einzige Dialog im gesamten Text der Hamletmaschine: OPHELIA: Willst Du mein Herz essen, Hamlet. Lacht. HAMLET: Hände vorm Gesicht: Ich will eine Frau sein. (548)

Ophelias Frage nimmt zunächst Bezug auf den von Hamlet am Ende des ersten Bildes geäußerten Wunsch nach dem Verzehr ihres Herzens. In diesem Kontext erscheint ihre Frage wie eine provozierende Rückversicherung, was durch ihr Lachen unterstützt wird: ‚Willst du das wirklich, jetzt, wo du gesehen hast, was es bedeutet, eine Frau zu sein?‘761 Wir erinnern uns: Ophelias Herz ist eine Uhr, die symbolisch für die Fremdbestimmung des Subjekts steht. Im zweiten Bild hat Ophelia sie aus ihrer Brust herausgerissen und sich damit von der Kontrolle durch Hamlet befreit. Jetzt hält sie ihm ihr Herz/die Uhr vor, gleichsam als Ausweis dessen, was es heißt, eine Frau zu sein. Hamlets zögerliche und verschämte Antwort, denn so muss man wohl die Geste der vor dem Gesicht gehaltenen Hände deuten, lautet: Ja. Indem Hamlet äußert ‚Ich will eine Frau sein‘, sagt er, dass er das Herz, das eine Uhr ist, essen will; er will es sich einverleiben und damit selbst zur Frau werden.762 Im Folgenden vollzieht sich,

|| bringt die Ambivalenz an den Tag, von der die Racheforderung überschattet ist. Weil Hamlet den Onkel und seine Tat nicht nur verachtet, sondern auch Genugtuung angesichts ihrer empfindet, verschwimmen ihm die Ermordung seines Vaters und die Rache an seinem Onkel ineinander. Dass im Bühnenspiel der Neffe den Mord ausführt, ist so zu deuten, dass Hamlet selbst gerne seinem Vater das Leben genommen hätte“. Ette: Kritik der Tragödie, S. 358. 760 Schülting, S. 533. Siehe zur Thematisierung der Prostitution: Kindler, S. 42–44 u. Kay Stanton: Hamletʼs Whores. In: John Manning u. Mark T. Burnett (Hg.): New essays on Hamlet. New York 1994, S. 167–188. 761 Vgl. Eke: Apokalypse und Utopie, S. 91. 762 „Die Frau, die Hamlet werden will, ist nicht rein, sondern Komplizin der Macht; Hamlet bejaht damit die Verstrickung, der er sich bislang entzog. Er spielt nicht mehr, sondern will sich aufgeben, verwandeln.“ Ette: Kritik der Tragödie, S. 550. Schon in der Kleist-Pantomime in Leben Gundlings verweist das Essen des Herzens auf eine tierische bzw. geschlechtliche Verwandlung. Vgl. MW 4, 532.

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durch das Motiv des Entkleidens und der Nacktheit vorbereitet, der Geschlechtertausch:763 Hamlet zieht Ophelias Kleider an, Ophelia schminkt ihm eine Hurenmaske, Claudius, jetzt Hamlets Vater, lacht ohne Laut, Ophelia wirft Hamlet eine Kußhand zu und tritt mit Claudius / Hamlets Vater zurück in den Sarg. Hamlet in Hurenpose. (548)

Ophelia und Hamlet sind für einen Moment gleich; beide tragen die ‚Hurenmaske‘, das entfremdete Bild der Frau. Aber Hamlet verharrt nicht einfach in einer „Pose der zum Objekt gemachten Frau“, wie Bernhard Greiner meint.764 In symbolischer Hinsicht geht er hier tatsächlich in einen anderen Zustand über. Hamlet wird zu einer Figur, die bezüglich des biologischen Geschlechts weiterhin ein Mann ist, sich aber als Frau ausgibt und kleidet, d.h. Hamlet wird zum Transvestiten bzw. zu einem Transgender, einer Person, die ihr biologisches Geschlecht und die damit verknüpften sozialen Rollenerwartungen zurückweist und ihr Gender selbst wählt.765 Indem Hamlet sich ‚in Hurenpose‘ aufstellt, übt er sich in der neuen Rolle. Der Vorgang der Verwandlung Hamlets wird von Claudius, der ‚jetzt Hamlets Vater‘ ist, mit einem Lachen ‚ohne Laut‘ kommentiert, einem abfälligem Schmunzeln; die ‚Kußhand‘ Ophelias hingegen kann als Geste des Lobes aufgefasst werden oder des freundlichen und leichten Abschieds.766 Wenn beide nun in den Sarg zurücktreten, weicht die Imago der verhassten und geliebten Autoritätsperson Onkel/Vater wie auch der misogynen || 763 „Die wörtliche und symbolische Ent-Deckung des nackten Körpers […] initiiert den vitalen Rollentausch.“ Plaice, S. 133. 764 Bernhard Greiner: Die Hamletmaschine. Heiner Müllers „Shakespeare-Factory“ und Robert Wilsons Inszenierung. In: Carl-Schurz-Haus u.a. (Hg.): Die Postmoderne. Ende der Avantgarde oder Neubeginn? Eggingen 1991, S. 83. Die Szene wird vielfach so gedeutet, als stelle Hamlet sich „blind gegenüber der widersprüchlichen Erscheinung Ophelias“ und halte deshalb die Hände vor dem Gesicht. Eke: Apokalypse und Utopie 1989, S. 91. Das aber missachtet meines Erachtens die konkrete Abfolge des Textes und klammert die Bedeutung Herz = Uhr aus. Siehe auch: Fischer-Lichte: Avantgarde und Postmoderne, S. 241, die lediglich die Reduktion „auf einen bloßen Kleider- und Rollentausch“ und insofern ein „‚scherzhaftes‘ Intermezzo“ erkennt, was im Widerspruch zu dem von ihr im TRAUMBild in Leben Gundlings analysierten Geschlechtertausch steht (Fischer-Lichte: Avantgarde und Postmoderne, S. 240), der ja ebenfalls nur symbolisch durch Masken- und Kleiderwechsel veranschaulicht wird. Siehe hierzu: Kap. 5.5.2.2, S. 461. 765 Wolfram Ette spricht von einer „gender-crossing-personality“. Ette: Kritik der Tragödie, S. 551. Siehe hierzu allgemein: Susanne Schröter: FeMale. Über Grenzverläufe zwischen den Geschlechtern. Frankfurt/M. 2002. 766 Der Dornseiff assoziiert ‚Handkuss‘ mit Achtung, Höflichkeit und Zärtlichkeit, Lautlosigkeit hingegen mit Verwunderung und Beklemmung. Vgl. Franz Dornseiff u.a.: Der deutsche Wortschatz nach Sachgruppen. Mit einer lexikalisch-historischen Einführung und einer ausführlichen Bibliographie zur Lexikographie und Onomasiologie. Berlin 2004, S. 638 u. 103. Auch Frank Raddatz erkennt hier ein „[A]uslachen“, führt das aber darauf zurück, dass Claudius/Hamlets Vater „auf die Täuschung […] einer autonomen erotischen Sphäre der Frau hereinfällt“. Raddatz: Dämonen unterm roten Stern, S. 180.

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Projektion Ophelia/Mutter. In psychologischer Sicht ist, so lässt sich der Abschied dieser Erscheinungen aus Hamlets Unterbewusstsein deuten, „ein Konflikt ‚erledigt‘“.767 Was nun folgt, ist das hochgradig symbolisch aufgeladene Bild des neuen Menschen, der nicht nur die feste Kategorie der Geschlechtlichkeit, sondern auch die Individualität aufkündigt und in einen Raum jenseits der linear aufgefassten Geschichte eintritt: Ein Engel, das Gesicht im Nacken: Horatio. Tanzt mit Hamlet. STIMME(N) aus dem Sarg: Was du getötet hast sollst du auch lieben. Der Tanz wird schneller und wilder. Gelächter aus dem Sarg. Auf einer Schaukel die Madonna mit dem Brustkrebs. Horatio spannt einen Regenschirm auf, umarmt Hamlet. Erstarren in der Umarmung unter dem Regenschirm. Der Brustkrebs strahlt wie eine Sonne. (548f.)

Mit Horatio tritt eine männliche Figur an die Seite Hamlets. Was bedeutet es, dass Horatio ‚ein Engel‘ ist, der ‚das Gesicht im Nacken‘ trägt? Der Engel ist bei Müller ein Passwort für Geschichte und Geschichtsphilosophie und in der Forschung dementsprechend als „Verkörperung des ‚Engels der Geschichte‘“ aus Walter Benjamins neunter Geschichtsthese verstanden worden.768 Aber repräsentiert Horatio tatsächlich Benjamins Engel? Bei Benjamin heißt es, der Engel entferne sich von etwas, „worauf er starrt […]. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet [meine Hervorhebung, R.W.], aber der Sturm „vom Paradiese her […] treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt [meine Hervorhebung, R.W.]“.769 Wenn Müller mit der Assoziation Horatio = Engel auf Benjamin anspielt, dann also nicht in „Übereinstimmung mit Benjamins Engelbild“,770 sondern in Differenz zu diesem. Benjamins Engel ist ein Motiv, das Die Hamletmaschine aufruft und das sie verändert; denn wenn Horatio ,das Gesicht im Nacken‘ hat, so meint das, „dass der Engel seinen Kopf verkehrt herum aufhat“,771 d.h. er schaut gerade nicht in die Vergangenheit, sondern in || 767 Ette: Kritik der Tragödie, S. 550. 768 Zahn, S. 57. Siehe auch: Girshausen (Hg.): Die Hamletmaschine, S. 14; Greiner: Die Hamletmaschine, S. 84 u. Raddatz: Dämonen unterm roten Stern, S. 178. Siehe abweichend hiervon: Eke: Apokalypse und Utopie, S. 92, der die „Vereinigung von Engel und Hure, Opfer und Mörder, in der homoerotischen […] Figur des Tanzes“ im Kontext des Geschichtsengels als „nicht unbedingt stringent“ beurteilt. Wenig plausibel scheint mir die Bemerkung Renata Plaices, Horatio sei ein „Engel ohne Gesicht, ohne Identität“ (Plaice, S. 133), denn das ‚Gesicht im Nacken‘ zu tragen, bedeutet ja noch nicht, keines zu haben. Einen Hinweis auf die Vorlage für den Auftritt Horatios als Engel, gibt Müller selbst in einem Gespräch mit Carl Weber. Demnach geht das Bild auf eine Szene aus dem nicht fertiggestellten Text “Hamlet in Budapest” zurück: „For instance, there was to be a scene in the graveyard where Horatio, having been killed by Hamlet, appears to him as an angel.“ Weber: Heiner Müller: The Despair and the Hope, S. 138. 769 BGS 1, 697f. 770 Raddatz: Dämonen unterm roten Stern, S. 178. 771 Ette: Kritik der Tragödie, S. 551.

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die Zukunft, während sein Körper aber der Vergangenheit zugerichtet ist. Bei Benjamin steht der Engel für die Hoffnung, dass der Sturm des Fortschritts aussetzen könnte und sich so eine Möglichkeit ergebe, „das Zerschlagene zusammenzufügen“.772 Diese Möglichkeit aber, die letztlich auf ein dialektisches Moment der Verbindung von Vergangenheit und Zukunft verweist, an deren Schnittstelle sich der Engel befindet, kann Müllers Engel aufgrund seiner gestörten Visuomotorik nicht ergreifen. Wo der Benjamin’sche Engel zumindest potentiell im Vergangenen arbeiten könnte, muss Müllers Engel an dieser Arbeit scheitern, weil er sie blind ausführen müsste. Horatio steht vor dem Hintergrund von Benjamins Engel-Metapher also für das Auseinandertreten von visueller Wahrnehmung und Motorik, was bezüglich der Tatsache, dass die optische Wahrnehmung den motorischen Apparat anleitet, als ein „Auseinanderfallen von Theorie und Praxis“773 verstanden werden kann. Für einen solchen Widerspruch von Theorie und Praxis steht Hamlet, der Intellektuelle, selbst. Tritt ihm also mit Horatio sein altes Ich gegenüber? Tanzt Hamlet mit sich selbst? Der Text bleibt an dieser Stelle uneindeutig; zumal die ‚STIMME(N) aus dem Sarg‘ Hamlet auffordern: ‚Was du getötet hast sollst du auch lieben.‘ Auf wen bezieht sich diese Aufforderung? Günter Zahn meint, dies sei Ophelia, und sieht die Erfüllung der Aufforderung insofern gegeben, als Hamlet „sich mit ihr identifiziert und sogar als Ophelia agiert“.774 Wenn das stimmen sollte, erscheint die Aufforderung seltsam gegenstandslos, denn der Geschlechtertausch, welches Ergebnis er auch immer haben mag, hat sich ja bereits vorher vollzogen. Wozu dann also die Aufforderung? Es liegt meines Erachtens nahe, die Aufforderung im Kontext des Spiels zu interpretieren, welches der Nebentext beschreibt. Geht man davon aus, dass der Auftritt Horatios und dessen Aufforderung zum Tanz Hamlet verunsichert haben – aus der Formulierung ,Tanzt mit Hamlet‘ geht nicht hervor, wie sich dieser Tanz zu anfangs gestaltet, deutlich wird aber, dass Horatio hier den aktiven Part übernimmt –, so käme die Aufforderung einer Bekräftigung gleich, sich dem Tanz hinzugeben. Und das passiert dann ja auch: ‚Der Tanz wird schneller und wilder‘. Mit der getöteten

|| 772 BGS 1, 697. Benjamins Kritik des Fortschritts läuft darauf hinaus, dass die Vorstellung des Fortschritts konzeptionell nur das Zukünftige in den Blick nehme und deshalb die Gegenwart, die nur als Mittel auf dem Weg in die Zukunft erscheint, abwerte. Vgl. Jeanne Marie Gagnebin: „Über den Begriff der Geschichte“. In: Burkhardt Lindner (Hg.): Benjamin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart u.a. 2011, S. 290. 773 Ette: Hamlet | Maschine. 774 Zahn, S. 56. Wolfram Ette, der sonst sehr nah am Text arbeitet, übergeht diese Stelle stillschweigend.

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Person wäre dann Horatio gemeint, den Hamlet im ersten Bild, also vor seiner Verwandlung, in der Gestalt Horatio/Polonius umgebracht hat. Ihn soll Hamlet lieben, das meint, er soll die Tat anerkennen.775 Diese Anerkennung vollzieht sich offenbar im Tanz, was ‚aus dem Sarg‘ wiederum mit ‚Gelächter‘, also abfällig, kommentiert wird.776 Sehen wir uns diesen Tanz genauer an. Wofür steht er? Es ist ein seltsames Paar, das hier tanzt: Hamlet, der seine Identität als männlicher und handlungsfeindlicher Intellektueller hinter sich gelassen hat, eine queere Identität, vielleicht einer Dragqueen ähnlich, und Horatio, der Freund, der als verunstalteter Engel der Geschichte auftritt und der als männlicher Gegenpart und Spaltprodukt von Theorie und Praxis an dieser Stelle „ein Stück weit die Rolle des alten Hamlet“ übernimmt.777 Was sich hier im Tanz vollzieht, ist die Zusammenführung des Getrennten, die Vereinigung der Geschlechter sowie die Vereinigung von Individuum und Geschichte. Sie alle werden in eine Drehbewegung hineingezogen (‚Der Tanz wird schneller und wilder‘), deren Kulmination schließlich eine Aufhebung zur Folge hat. Wo der Engel sein Gesicht trägt, dessen Verkehrtheit Ausweis der aus dem Tritt geratenen Geschichtsphilosophie ist, erweist sich im Tanz als unerheblich: hinten ist vorne und vorne ist hinten. Ebenso verschwindet „im rauschhaften Tanz […] das Subjekt stets aufs Neue, indem es in endlose Prozesse von Transformation und Transfiguration verwickelt wird“.778 Am Ende von SCHERZO sind Hamlet und Horatio eins. Das ‚Erstarren in der Umarmung‘ ist Müllers Bild für die Vollendung dieser rasend-kreisenden Bewegung des Tanzes. Diese Erstarrung ist aber keine „Bewegungslosigkeit“779 im Sinne einer Unterbrechung, sondern der Höhepunkt des Tanzes, ein Moment der Ruhe, einem Brummkreisel ähnlich, der in voller Bewegung still zu stehen scheint und seine bemalte Fläche präsentiert. Als „Grenzwert der Beschleunigung“ markiert die Erstarrung den Punkt, „an dem sich das aus der Geschichte herausschraubende Karussell des tanzenden Paares in ein stehendes Bild verwandelt“.780 In der Forschung dominiert die Annahme, das dritte Bild treibe die Negativität der vorangegangenen Bilder auf die Spitze. Es ist aber genau umgekehrt. Das dritte

|| 775 Auch Norbert Ette und Frank Raddatz erkennen in der Person, die Hamlet zu lieben aufgefordert wird, Horatio, lesen hierin aber aufgrund der Vereinigung im Tanz einen homoerotischen bzw. homosexuellen Hintergrund. Vgl. Eke: Apokalypse und Utopie, S. 92 u. Raddatz: Dämonen unterm roten Stern, S. 181. 776 Es liegt daher nahe, die ‚STIMME(N) aus dem Sarg‘ einerseits mit Ophelia, die die Liebes-Aufforderung spricht, und Claudius/Hamlets Vater, der erneut seine Distanz ausdrückt, in Verbindung zu bringen. 777 Ette: Hamlet | Maschine. 778 Plaice, S. 133. 779 Eke: Apokalypse und Utopie, S. 92. Ähnlich auch bei: Teraoka, S. 117 u. Raddatz: Dämonen unterm roten Stern, S. 181. 780 Ette: Kritik der Tragödie, S. 553.

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Bild hebt die Negativität der ersten beiden Bilder auf und überführt sie mittels einer kontrafaktischen, surrealistischen Darstellung in eine neue utopische Qualität. SCHERZO ist als ‚Traum im Traum‘ Hamlets Traum der Befreiung, der Traum von einer Existenz jenseits der Geschlechterverhältnisse, des Individuums und der Geschichte. Müller hat darauf aufmerksam gemacht, dass man Die Hamletmaschine „als Komödie“ begreifen müsse, da man ansonsten „mit dem Stück scheiter[e]“.781 Diese Äußerung scheint sich explizit auf SCHERZO zu beziehen, das insgesamt als karnevalesk und fröhlich verstanden werden muss.782 Das legt schon der auf die musikalische Satzform des Scherzo (scherzo, ital. Scherz, Spaß) verweisende Titel nahe, der den Charakter des Bildes passend beschreibt. Das Scherzo ist eine sich in der Musik seit dem achtzehnten Jahrhundert etablierende Satzform von zumeist rascher und rhythmisch eigenwilliger Qualität, die an die Stelle des Menuetts tritt, das wiederum ursprünglich eine Unterbrechung markiert: einen Paartanz mit stilisierten Figuren. Das Scherzo hat seit Joseph Haydn, wo es einen scherzhaft-tändelnden Charakter hat, verschiedene Ausprägungen erfahren. Bei Ludwig von Beethoven dominieren burleske Züge, im neunzehnten Jahrhundert nimmt das Scherzo wie etwa bei Gustav Mahler auch einen grotesken Charakter an.783 SCHERZO ermuntert sich, analog zu einer alten Definition des Scherzens von Johann Georg Sulzer, „zur Fröhlichkeit [...], wenn auch keine unmittelbare Materie dafür vorhanden ist“.784 Auf Die Hamletmaschine übertragen, bedeutet das: Der ‚fröhliche‘ Charakter des dritten Bildes transzendiert die Utopie in die Kunst und zeigt einen Ausweg an, der nur noch im Kunstzusammenhang, nicht aber im Rahmen der realen Geschichte erfahrbar ist.785 Müller hat das zu Beginn der 1980er Jahre betont:

|| 781 MW 10, 235. 782 Vgl. Schwarzer, S. 192. Schwarzer, der das Bild im Zusammenhang mit Michail M. Bachtins Theorie des Karnevalesken versteht, spricht, meines Erachtens zu Recht, von der „Festtagsstimmung des ,SCHERZO‘, das den Respekt vor allen Implikationen des Hamletmaterials nimmt.“ Schwarzer, S. 193. 783 Vgl. Blume (Hg.): Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Bd. 11, 1682–1688 u. Carl Dahlhaus u.a. (Hg.): Brockhaus Riemann Musiklexikon in vier Bänden und einem Ergänzungsband. Bd. 4. Mainz 1995, S. 105. 784 Zit. n.: Blume (Hg.): Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Bd. 11, 1682. 785 Das reflektiert auch Shakespeares Tragödie, die im dritten Akt durch das „Murder of Gonzago“Spiel einen möglichen Ausweg jenseits des Handlungsgeschehens aufzeigt: „Darin, dass das Spiel die Konflikte sichtbar macht, die Hamlets Handeln begleiten, in seiner realanalytischen Kraft also, liegt sein produktiver Vorsprung vor der nihilistischen Metaphysik, in die das Stück ausläuft.“ Ette: Kritik der Tragödie, S. 359. Siehe zum Spiel im Spiel in Hamlet: Ette: Kritik der Tragödie, S. 358ff. Siehe auch: John Dover Wilson: What happens in Hamlet. Cambridge 1967, S. 137ff. u. Carl Schmitt: Hamlet oder Hekuba. Der Einbruch der Zeit in das Spiel. Stuttgart 1985, S. 42ff.

Vom Negativ der Utopie zur Utopie der Kunst: Müllers Drama in den 1970er Jahren | 495

Das Problem ist, daß Utopie und Geschichte sich immer weiter voneinander entfernen. Es ist unmöglich geworden, sich die Utopie innerhalb des historischen Prozesses vorzustellen. Die Utopie steht heute jenseits oder neben der Geschichte, jenseits oder neben der Politik.786

Hamlet träumt seine Befreiung im Medium der Kunst. In diesem Sinne ist auch ‚die Madonna mit dem Brustkrebs auf einer Schaukel‘ zu interpretieren, deren Krebs am Ende des Bildes ‚wie eine Sonne‘ strahlt. Sie symbolisiert nicht „die reale Unterdrückung der Frau im christlichen Abendland“, sondern ist ein „Abbild der christlichen Verheißung“ und insofern ein Symbol der Geschichtsphilosophie.787 Als solches ist die Madonna ähnlich defekt wie Horatio als Engel der Geschichte. Die der offiziellen marxistischen Geschichtsphilosophie zugrundeliegende Auffassung einer linearen Bewegung der Geschichte ist außer Kraft gesetzt. Sie ist einem Hin und Her (‚Schaukel‘) gewichen. In diesem Zusammenhang muss auch der Brustkrebs als etwas Positives aufgefasst werden.788 Er ist ein Zeichen dafür, dass „die Vorstellung von Geschichte“, auf der die Geschichtsphilosophie basiert, „nicht zu halten ist“, wie es bei Walter Benjamin heißt.789 An die Stelle einer solchen reinen Auffassung des Geschichtsverlaufs tritt der wuchernde und chaotische, unkontrollierbare Krebs, der ‚strahlt wie eine Sonne‘. Die Sonne erinnert im Sinne einer Persiflage an die christliche Madonnen-Ikonographie, die Darstellung Marias gemeinsam mit Jesus in einem ihre Heiligkeit repräsentierenden Strahlenkranz. Intertextuell verweist sie zugleich auf einen der künstlerischen Gewährsmänner Müllers: Antonin Artaud. In dessen Kurzdrama Der Blutstrahl (Le Jet de Sang), das 1977 im gleichen Heft von Theater heute abgedruckt wurde wie auch Die Hamletmaschine, gibt es eine Figur, „Die Amme“, deren Brust wie nach einer Brustkrebs-OP „vollkommen flach“ ist und deren Vagina, aus der unzählige Skorpione hervortreten, am Ende „glänzend wie eine Sonne“ erscheint.790 Damit ist der Kontext zu einer Kunstauffassung hergestellt, die Müller schon in NACHTSTÜCK und in der TRAUM-Szene des Lessing-Triptychons aufgerufen

|| 786 MW 10, 194. 787 Raddatz: Dämonen unterm roten Stern, S. 181 u. Ette: Kritik der Tragödie, S. 553. Arlene A. Teraoka schreibt, „the cancerous Madonna halts the sacred teleological progression of history“. Teraoka, S. 117. 788 Ette: Kritik der Tragödie, S. 692 verweist auf ein spätes Gedicht Müllers, in dem Müller sich „stolz“ über seinen „unbesiegten Tumor“ zeigt: „Einen Augenblick lang Fleisch von meinem Fleisch“. MW 1, 325. 789 BGS 1, 697. 790 Antonin Artaud: Der Blutstrahl. In: Th 18 (1977), H. 12, S. 38. Müller war mit dem Text vertraut. 1977 erschien Der Blutstrahl in einer Anthologie der Berliner Festwochen, zu der Müller einen Text über Artaud als Faksimile beisteuerte. Vgl. MW 8, 188; siehe auch die Anmerkung dazu: MW 8, 651. Auf den Zusammenhang mit Artauds Text hat Teraoka, S. 117f. aufmerksam gemacht. Ette: Kritik der Tragödie, S. 692 erkennt zudem über die als unkontrollierbar aufgefasste Metapher des Krebses einen Verweis auf Artauds Text „Das Theater und die Pest“. Vgl. Artaud: Das Theater und sein Double, S. 18–41.

496 | Der Streit im literarischen Feld

hat. Der Schluss von SCHERZO ist ein „dekadentes […] Bild der Schönheit“, eine Allegorie der Kunst, „die dysfunktional und destruktiv jeder Verantwortung gegenüber der Geschichte abgesagt hat“; als solches deutet das Bild mittels der Sonne auch auf die Ikonographie der Arbeiterbewegung und das nach dem Ersten Weltkrieg populäre Lied „Brüder zur Sonne zur Freiheit“ und steht somit in affirmativer Weise für „die Ankündigung eines neuen Zeitalters […], von dem die Kunst einen Vorschein gibt“.791 Man muss sich, und in diesem Zusammenhang ist der Verweis auf die Mariendarstellungen der katholischen Kirche hilfreich, das Ende von SCHERZO als das Gemälde eines Altarbildes vorstellen: Unter der strahlenden Madonna mit Brustkrebs als Sinnbild der krankenden Geschichte vereinigen sich Hamlet und Horatio tanzend in einer Umarmung zu einer einzigen Person, während sich der Schirm einem Padiglione oder Baldachin gleich über sie spannt und als Insignie der Anmut, ja ,Heiligkeit‘ dieses Pärchens fungiert. Der Text wird hier zum „Bild der Kunst als Gegenmacht der Zeitläufte“.792

5.5.3

Müllers „Theater aus Gehirnströmen“: Ein beliebiges Spiel der Signifikanten?

Jan Kott beschreibt Hamlet in Shakespeare heute als „ein Drama der aufgezwungenen Situationen“.793 Hamlet (wie auch Ophelia, Laertes und Fortinbras) haben sich die äußeren Umstände, in denen sie agieren, nicht ausgesucht, aber es bleibt ihnen nichts anderes übrig, als sich darin zu verhalten. Die Hamletmaschine gibt einen Eindruck davon, was eine solche tragische Konstellation in einem Subjekt auslöst. Sie ist in gewisser Weise eine Antwort auf die von Charles Marowitz gestellte Frage: If one could see into Hamlet’s mind, into the mind, that is, of a young man who returns home to find his father dead, his mother remarried, a ghost urging him to murder, a Court full of treachery, a State, threatened by invasion, and every imaginable pressure forcing him towards an act he is temperamentally incapable of, what would one see?794

If one could see into Müller’s mind? Folgt man Georg Wieghaus, ist Die Hamletmaschine die „Vergegenständlichung eines inneren Monologs“.795 Ein Sprecher vergegenwärtigt sich die Hamletkonstellation, vergleicht sich mit ihr, imaginiert sich als

|| 791 Ette: Kritik der Tragödie, S. 692 u. 553 u. Ette: Hamlet | Maschine. 792 Ette: Kritik der Tragödie, S. 554. 793 Kott, S. 81. Siehe für das Zitat in der Überschrift: MW 12, 805. 794 Charles Marowitz: Introduction. In: ders.: The Marowitz Hamlet. A collage version of Shakespeareʼs play. London 1968, S. 11f. 795 Georg Wieghaus: Heiner Müller. München 1981, S. 268. Die Bezeichnung ‚innerer Monolog‘ ist im Kontext des Dramas unglücklich, da diese eigentlich erzählenden Texten vorbehalten bleibt. Vgl.

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Hamlet und als Ophelia, seine Liebe, die er verraten hat und die den Selbstmord wählt.796 Es ist ‚Hamlet’s mind‘, der in Hamletmaschine die Bühne betritt. Die Hamletmaschine ist kein mimetisch verfahrendes Drama mehr, das eine Handlung mittels einer Fabel, dramatischen Figuren und einem klar umrissenen Schauplatz in Gang setzt. Den Text, der einem solchen Drama vielleicht nahe gekommen wäre, „Hamlet in Budapest“, hat Müller nicht geschrieben, weil er sich als dialogisches Drama nicht mehr schreiben ließ: Was ich schon in Bulgarien gemerkt hatte, war die Unmöglichkeit mit dem Stoff zu Dialogen zu kommen, den Stoff in die Welt des sogenannten real existierenden Sozialismus-Stalinismus zu transportieren. Es gab da keine Dialoge mehr. Ich habe immer wieder zu Dialogen angesetzt, es ging nicht, es gab keinen Dialog, nur noch monologische Blöcke.797

Die spezifische Qualität der Hamletmaschine hängt mit dieser monologischen Perspektive zusammen. Müller selbst hat kurz vor seinem Tod von einem „Theater aus Gehirnströmen, aus Schädelnerven“ gesprochen.798 Die Hamletmaschine ist ein KopfTheater, das das Publikum vor dem Hintergrund „einer abgestorbenen dramatischen Struktur“, wie es im Kommentar zu Bildbeschreibung [1984] heißt, mit den Gedanken Hamlets und Ophelias konfrontiert799, oder besser: den Gedanken der vielen Hamlets und Ophelias der 1970er Jahre, der linken Intellektuellen in Ost und West, die sich einer gesellschaftlichen Hoffnung verschrieben haben, die sich anders erfüllte, als sie erwartet hatten, bzw. die sich gar nicht erfüllte. Die Hamletmaschine markiert den Höhepunkt einer Entwicklung, die sich langsam vollzieht, deren programmatischer Kern – Kritik der instrumentellen Vernunft, der (marxistischen) Aufklärung, der patriarchalen Geschlechterordnung, des bürgerlichen Subjektbewusstseins, der Gewalt und der Geschichtsphilosophie – sich aber bereits in den 1960er Jahre ausbildet. Das dramentheoretische Parallelprogramm zur Kritik der Gesellschaften in Ost (und West) heißt Reduktion des Dramatischen und

|| das Lemma ,Innerer Monolog‘ in: Weimar u.a. Bd. 2, S. 148. Was Wieghaus hervorheben will, ist die fast durchgehend monologische Perspektive des Textes, die allerdings sowohl introspektiven als auch epischen Charakter aufweist. Vgl. das Lemma ,Monolog‘ in: Weimar u.a. Bd. 2, S. 629–631. Die Monologe der Hamletmaschine erfüllen teilweise die Funktion des antiken Klagegesangs, ihnen kommt aber auch im Kontext der Inszenierung des Textes durch die Sprecherinstanz im ersten Bild eine Art Spielmeisterfunktion zu. Versteht man die Ophelia-Monologe zudem als Projektionen Hamlets, ergibt sich eine Sonderform des inneren Dialogs. Siehe zum inneren Dialog: Manfred Pfister: Das Drama. Theorie und Analyse. München 2001, S. 184f. 796 Es wäre zu leicht Die Hamletmaschine in diesem Kontext autobiographisch zu lesen: Ophelia als Inge Müller, die an einer Gasvergiftung starb: ‚Die Frau mit dem Kopf im Gasherd‘. Dass diese eine der möglichen Realisationen der Ophelia-Figur ist, ist gleichwohl offensichtlich. 797 KoS 230. Siehe: Weber: Heiner Müller: The Despair and the Hope, S. 138. 798 MW 12, 805. 799 MW 2, 119. Vgl. Norbert Otto Eke: Geschichte und Gedächtnis im Drama. In: HMH, S. 55.

498 | Der Streit im literarischen Feld

des Figuralen bei gleichzeitiger Aufwertung des Theatralischen. An die Stelle des Dramas als abgeschlossenen Text treten auf Performanz orientierte Szenarien mit maximaler Offenheit. Die Kommentartexte der episch durchbrochenen Dramen erscheinen hier als Vorläufer des postdramatischen Theatertextes, ebenso die einzelnen, sich hinsichtlich des textuellen Umfangs in Bezug auf die Gesamtstücke Germania Tod in Berlin und Leben Gundlings ausweitenden Bilder NACHTSTÜCK und LESSINGS SCHLAF TRAUM SCHREI.800 Müllers Texte der 1970er Jahre sind „Versuchsanordnungen, an denen im Prinzip unablässig experimentiert werden kann“.801 Die Hamletmaschine ist in diesem Sinne nicht greifbar. Dem Verständnis des Ganzen sind Sperren eingebaut; ständig öffnen sich neue Assoziationsräume, schließt sich der Text an andere Diskurse an, lassen sich weitere Interpretationen an diesen herantragen, die vorherige negieren oder verändern. Insofern reproduziert Die Hamletmaschine die Qualität der Shakespeare’schen Vorlage: Je nachdem, von wo aus man an den Text herantritt und welchen Weg des Verstehens man einschlägt, realisiert sich ein anderer Hamlet. Die Hamletmaschine kann dementsprechend positiv-feministisch, autobiographisch, politisch-pessimistisch usw. gelesen werden und geht in diesen Lesarten doch nicht auf. Der Text reflektiert diese Mehrdeutigkeit bereits im Titel. Die ‚Maschine‘ lässt sich in unterschiedliche Richtungen auslegen. Sie kann verstanden werden als a-humane Maschine der literarischen Produktion, die im Sinne von Deleuze und Guattari den Subjektstatus des Autors überschreitet, oder auch als intertextueller Verweis auf Hamlets Bewusstsein, zitiert doch in Shakespeares Tragödie Polonius in der zweiten Szene des zweiten Akts aus einem Brief Hamlets: „Der Deinige auf ewig, teuerstes Fräulein, solange diese Maschine [meine Hervorhebung, R.W.] ihm zugehört“.802 Müller selbst hat darüber hinaus weitere Interpretationshinweise gegeben. So verweist er auf Marcel Duchamps „Junggesellenmaschine“, dem unteren Teil der Installation „Großes Glas“, sowie auf Andy Warhols Bekenntnis: „Ich will eine Maschine sein“, das im Zusammenhang mit Warhols Auffassung mechanischer Kunstproduktion steht.803 Müller eröffnet damit einen weiten Interpretationsraum, der sich über den Begriff der Junggesellenmaschine wieder an Guattari und Deleuze anschließen lässt,804 in dem aber zugleich der gesamte Mensch/Maschinen-Diskurs des neunzehnten und des frühen zwanzigsten Jahrhunderts und das spezifisch Obsessive, Unnütze und sexuell bzw. geschlechterpolitisch und gewalttätig Aufgeladene der imaginären

|| 800 Das Lessing-Triptychon steht hier nur beispielhaft. Leben Gundlings enthält weitere Bilder und Bildteile, die den Rahmen des Dramatischen sprengen. 801 Fiebach: Inseln der Unordnung, S. 150. 802 Shakespeare 4, 299. 803 Vgl. MW 10, 235 u. MW 10, 428. Siehe das Warhol-Zitat in: Hans-Rainer Crone: Das bildnerische Werk Andy Warhols. Berlin 1976, S. 155. 804 Vgl. Deleuze u. Guattari: Anti-Ödipus, S. 24f.

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Maschinen Platz findet, wie sie die literarische Moderne entworfen hat.805 Nicht zuletzt hat Müller Die Hamletmaschine auch schlicht als Umsetzung seiner Initialen H. M. ausgegeben, was ein Schlaglicht auf die Frage wirft, inwieweit der Text individualpsychologisch gelesen werden kann.806 Die Mehrdeutigkeit der Titel-Metapher scheint gewollt. Sie folgt einer bewussten Strategie Müllers, der in Krieg ohne Schlacht in zweideutiger Weise anmerkt: „Man kann in bezug auf HAMLETMASCHINE viel konstruieren.“807 Müllers Hinweise zielen allerdings nicht darauf, eine feste Bedeutung zu verschleiern, sondern sie offen zu lassen. Die Metapher ist in diesem Sinne bewusst mehrdeutig angelegt, „um Phantasie freizumachen und um Erfahrungen zu machen, die man begrifflich nicht so schnell formulieren und fassen kann“.808 Ist Die Hamletmaschine deshalb ein postmodernes Kunstwerk, ein Text, der die Grundpfeiler des abendländischen Denkens und die großen Geschichtserzählungen mittels Dekonstruktion unterhöhlt, auf allgemeine Begriffe von Macht und Unterdrückung abhebt, die Befreiung der sogenannten Minderheiten (der ,Anderen‘) fordert, die Grenzen von Hoch- und Populärkultur einreißt, jede identifizierbare Struktur und Ordnung in einer dekonstruktivistischen Dramaturgie auflöst und die ZuschauerInnen/LeserInnen zu einem Spiel der Zeichen einlädt, das der Phantasie freien Lauf lässt, sie in einen potentiell unbegrenzten Raum hineinzieht und sich so jeder schlüssigen Interpretation verweigert? In gewisser Weise, ja. Die Affinität des Textes zum französischen Poststrukturalismus ist nicht zu übersehen.809 Auffällig ist auch, wie sich Die Hamletmaschine, obwohl sie schon aufgrund ihres Prätextes als hochkulturell bezeichnet werden muss, an die Populärkultur anschließt, wie Müller bewusst mit den Konventionen des Theaters bricht und den Text als Arbeitsmaterial an die

|| 805 „[I]n ihrer wunderbaren Zweideutigkeit stehen die Junggesellenmaschinen gleichzeitig für die Allmacht der Erotik und deren Verneinung, für Tod und Unsterblichkeit, für Tortur und Disneyland, für Fall und Auferstehung ...“. Harald Szeemann: Junggesellenmaschinen. In: Hans Ulrich Reck (Hg.): Junggesellenmaschinen. Wien u.a. 1999, S. 59. Siehe zum Mensch/Maschinen-Diskurs: Günter Metken: Vom Menschen/Maschine zur Maschine / Mensch – Anthropomorphie der Maschine im 19. Jahrhundert. In: Reck (Hg.): Junggesellenmaschinen, S. 106–118. Siehe zu den Maschinen der literarischen Moderne und der Vorstellung der Junggesellenmaschine: Reck (Hg.): Junggesellenmaschinen, wo sich auf S. 268f. auch eine „Chronologie der Junggesellenmaschinen“ findet. 806 Vgl. MW 10, 235. 807 KoS 231. 808 MW 10, 165. Dementsprechend begegnet Müller auch ihm offensichtlich widerstrebenden Interpretationen mit Neutralität: „Sie können das so interpretieren.“ MW 10, 269. 809 Siehe zum Verhältnis zum Poststrukturalismus: Fiebach: Inseln der Unordnung, S. 146–159.

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Seite einer anti-offiziellen Kultur stellt;810 Die Hamletmaschine kann in diesem Zusammenhang und vor dem Hintergrund der radikalen, sich einer No-Future-Haltung nähernden Verweigerungsgesten der Ophelia-Figur als Punk bezeichnet werden.811 Die Offenheit des Textes und dessen Rekurs auf Denkmodelle des Poststrukturalismus, der ja in genealogischer Hinsicht als Produkt der neuen, sich vom traditionellen, staatgewordenen Marxismus distanzierenden Linken aufgefasst werden kann, bedeutet allerdings nicht zwangsläufig, dass Die Hamletmaschine gänzlich mit allen politisch-gesellschaftlichen Implikaten gebrochen hat und ihre Signifikanten in einer „nackten Referenzlosigkeit“812 erscheinen. Man muss nicht so weit gehen wie Horst Domdey, der Müller in polemischer Absicht die Bewahrung „der Erhabenheit des Sozialismusprojekts“ unterstellt.813 Es ist aber nicht zu übersehen, dass auch Die Hamletmaschine weiterhin „bedeutungsträchtige Darstellungen“ enthält, die auf den „Marxsche[n] Entwurf einer herrschafts- und ausbeutungsfreien Gesellschaft und die Ansätze in Europa und der Sowjetunion, ihn zu verwirklichen“, verweisen und sich insofern signifikant von einer Postmoderne unterscheidet, die sich ganz dem „Spiel einer referenzlosen Erhabenheit“ hingibt.814 Die Hamletmaschine ist kein ‚Endspiel‘ im Sinne von Becketts apokalyptischem Einakter, sie ist kein Abgesang auf die Geschichte, sondern ihr Klagegesang. Müllers Theater besitzt zwei in dieser Hinsicht entscheidende Bezugspunkte, die Die Hamletmaschine klar herausstellt: die Utopie eines befreiten Menschen, die Müller als Überwindung des Kapitalismus denkt und häufig mit dem Begriff des Kommunismus kennzeichnet,815 und die Geschichte als einen Raum historischer Bewegung, in dem sich diese Befreiung vollziehen kann. In dem in der Zeit der Abfassung der Hamletmaschine geschriebenen Text „Verabschiedung des Lehrstücks“ heißt es: „Was bleibt: einsame Texte, die auf Geschichte warten [meine Hervorhebung, R.W.].“816 In diesem Warten drückt sich die implizite Hoffnung aus, dass sich der – um im Bildbereich der Müller-Benjamin’schen Metapher zu bleiben – Engel der Geschichte wieder bewegen möge.817 Dementsprechend distanziert

|| 810 Davon zeugt auch die Rotbuch-Ausgabe, in welcher Die Hamletmaschine ganz am Ende, nach den Lehrstücken und denen zu ihnen ausgebreiteten Materialien und abgetrennt durch eine Fotomontage quasi als Anhang und Zusatzmaterial steht. Vgl. Müller: Mauser. 811 Vgl. Wolfram Ettes Überlegungen zur subkulturellen Rezeption des Textes: Ette: Kritik der Tragödie, S. 518–523. 812 Plaice, S. 119. 813 Horst Domdey: Heiner Müller – letzter Poet der Klassenschlacht. In: ders.: Produktivkraft Tod. Das Drama Heiner Müllers. Köln/Weimar/Wien 1998, S. 152. 814 Fiebach: Inseln der Unordnung, S. 158 u. 157 u. Eke: Geschichte und Gedächtnis im Drama, S. 54. 815 Vgl. MW 10, 325f. Hier, S. 321, bekennt Müller sich auch zu einem kritischen Marxismus. 816 MW 8, 187. 817 Noch in dem 1991 verfassten Gedicht „Glückloser Engel 2“ heißt es über den nunmehr gesichtslosen Engel: „Der Engel ich höre ihn noch“. MW 1, 236. Ette: Kritik der Tragödie, S. 682 hebt in diesem

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steht Müller Konzeptionen gegenüber, die mit einer Kritik des Fortschrittsbegriffs auch die Möglichkeit historischer Bewegung an sich negieren. Gerade der Verweis darauf, „wie schamlos die Lüge vom POSTHISTOIRE vor der barbarischen Wirklichkeit unserer Vorgeschichte“ sei,818 zeigt an, dass Müller Geschichte und Gesellschaft weiterhin als wandelbar auffasst. Diesen Anspruch auch in Zeiten der Stagnation aufrecht zu erhalten, eine als „revolutionär“ betonte „Sehnsucht [zu] wecken nach einem anderen Zustand der Welt“,819 ist nach Ansicht Müllers die Aufgabe der Kunst, der sich auch Die Hamletmaschine stellt. Müller bleibt insofern einem Theater der Aufklärung verhaftet, aber einer Aufklärung nach der Brecht’schen Aufklärung und in Kritik dieser Aufklärung, deren Leerstellen Müller mit anderen literarischen Vorbildern auffüllt: Rimbaud, Lautréamont, Kafka, Joyce, Majakowski, Artaud und Beckett.820 Aufklärung deshalb, weil Müller (1.) an einer antinaturalistischen Vorstellung von Realismus festhält und einen Begriff der Kritik stark macht, dem er die Möglichkeit zuschreibt, auf Differenzen aufmerksam zu machen und damit gesellschaftliche Wirkungen im Sinne einer sozialen Phantasie auszulösen; (2.) aufgrund der sozialen Verbindlichkeit, die Müller für die Kunst einfordert, die zum Arbeitsmaterial werden soll, zum praktischen Gegenstand, mit dem beliebig experimentiert werden kann, und die gerade durch ihre Offenheit an verschiedenste Kontexte und Situationen anschließbar ist; und (3.) aufgrund der Speicherqualität der Kunst, nicht nur im Sinne einer „Erinnerung an die Vergangenheit […], sondern auch [einer] Erinnerung an die Zukunft“, der Funktion der Kunst als ein „Ort der Utopie“, als „Museum, in dem die Utopie aufgehoben wird für bessere Zeiten“.821 Diese Utopie ereignet sich in Die Hamletmaschine nun aber nicht mehr als Negation des Dargestellten wie noch in den Lehrstücken, sondern als Einbruch in den Text. Müller hat immer wieder hervorgehoben, dass sich das Politische auf dem Theater nicht über Inhalte vermittle: „Die Politik steckt in der Form, sonst wozu die Anstrengung der Kunst.“822 Das dritte Bild kann in dieser Hinsicht, wie gezeigt, als „Dreh- und Angelpunkt des Stücks“823 aufgefasst werden. Die Tragödie, welche der Verlauf der Hamletmaschine insgesamt darstellt, wird in der Mitte unterbrochen. Im

|| Zusammenhang treffend hervor, „dass bei Müller die Auflösung der Geschichte in Natur einen geschichtsphilosophischen Index trägt“. 818 MW 8, 282. An anderer Stelle spricht Müller in Bezug auf die Auslöschung von Gedächtnis von einer „postmodernen Ballnacht“. MW 11, 391. 819 MW 10, 270. 820 Vgl. MW 8, 211. Brecht bleibt gleichwohl grundlegend für Müller: „[I]ch setze den Brecht immer voraus.“ MW 10, 76. 821 MW 11, 369 u. MW 12, 41f. 822 MW 8, 354. 823 Ludwig: Heiner Müller, Ikone West, S. 273.

502 | Der Streit im literarischen Feld

Bild des tanzenden Paares Hamlet-Horatio steht der tragische Verlauf für einen Moment still; „das Tragische […] wird durch einen Seitenausgang verlassen.“824 SCHERZO markiert die subversive Überwindung des tragischen Geschehens und macht den Blick frei auf eine Konstitution des Menschen jenseits von Geschlecht, Individuum und Geschichte. Die Hamletmaschine bewahrt damit eine Utopie außerhalb von Hamlets Tragödie der Herrschaft, der (Selbst-)Unterdrückung und der Untätigkeit, eine Utopie, die außerhalb der Handlung wie außerhalb der Zeit steht und in der politischen Realität der 1970er Jahre keine Anknüpfungspunkte hat. Die „Kritik der Tragödie“, für Wolfram Ette eines der wesentlichen Merkmale der Tragödie von der Antike bis in die Moderne,825 wird auf eine neue Stufe gehoben. Sie erfolgt nicht mehr unter Bezugnahme auf einen potentiell anderen Handlungsverlauf, dessen Möglichkeit sich aus einer außerfiktionalen Hoffnung wie noch bei Brecht ergibt. Sie ist nicht mehr Entschleunigung oder Unterbrechung der Handlung mit dem Ziel einer „Entdeckung der Zustände“,826 sondern Kritik des Tragischen im Namen der Kunst. Während sich das Tragische fortsetzt, woran die beiden letzten Bilder der Hamletmaschine keinen Zweifel lassen, behauptet Müllers Stück in seinem Mittelteil derart eine Utopie jenseits der „christliche[n] Endzeit“, eine Beschwörung des Anders-Möglichen „ohne Hoffnung und Verzweiflung“827 – und insofern eine Utopie, die als Utopie der Kunst mehr als prekär genannt werden muss.

|| 824 Ette: Kritik der Tragödie, S. 568. 825 Ette versteht darunter eine immanente Kritik der Tragödie am tragischen Geschehen durch unterschiedliche Formen der Distanzierung von eben diesem. Vgl. Ette: Kritik der Tragödie, S. 9–33. Siehe auch: Olga Taxidou: Tragedy, modernity and mourning. Edinburgh 2004, S. 2. 826 BGS 2, 522. 827 MW 8, 187 u. MW 10, 377.

Hacksʼ Kampf gegen die Romantik | 503

5.6

Hacksʼ Kampf gegen die Romantik

Im Februar 1977 schreibt Hacks in Vorbereitung auf das Erscheinen seines Essaybandes Die Maßgaben der Kunst ein Vorwort, in welchem er Rechenschaft über seine künstlerische Entwicklung und die Zeitumstände ablegt. Der Text konstatiert zunächst eine qualitative Verschlechterung des DDR-Theaters und geht dann der Goethe’schen Frage nach, „wann und wo ein klassischer Nationalautor entstehe“ – womit Hacks unzweifelhaft auch sich selbst meint.828 Entsprechend den Überlegungen zur sozialistischen Klassik kommt Hacks zu dem Schluss, dass „gesellschaftlicher Erfolg künstlerischen Erfolg“ nicht automatisch nach sich ziehe.829 Letzterer gehe auf spezifische Bedingungen zurück, die in der Bewegungsform der Gesellschaft selbst zu suchen seien. Diese Bedingungen sind nach Hacks: (1.) ein gesellschaftlicher Aufbruch, „welcher auf eine vorhandene Lebensweise von Kultur oder doch wenigstens Brauchtum trifft“, d.h. eine sich verändernde Gesellschaft, die die Fäden, die sie mit ihrer hergebrachten Kultur verbinden, nicht durchtrennt; (2.) „[e]ine klassische Lage der Gesellschaft“, also jener Zustand des Klassengleichgewichts, der eine absolutistische Regierungsform ermöglicht und der in künstlerischer Hinsicht „geistige Gerechtigkeit zum Überbau“ hat; und (3.) eine „Bewegung der klassischen Lage zum Bessern“, womit eine kontinuierliche Entwicklung und prinzipielle Zukunftsoffenheit gemeint ist, ein „Rückenwind der Geschichte“.830 Die genannten Voraussetzungen treffen, Hacks zufolge, allesamt auf die DDR der 1960er, nicht aber auf die der 1970er Jahre zu. Was also tut ein klassischer Autor in nachklassischen Zeiten? Hacks gibt auf diese Frage drei Antworten. Die erste lautet: Was von den Künstlern in guten Jahren sich sammeln läßt, meint er [der Verfasser, R.W.], sind Scheunen voll handwerklicher Fertigkeiten und Speicher voll Hoffnung. So bevorratet, sollten sich minder ermutigende Abschnitte überstehen lassen, auch wenn sie ausgedehnt sind und auf die augenblickliche Verschlechterung, die der Kunst nie viel anhat, allem Mutmaßen nach eine weitere Verschlechterung folgen wird. Kunst greift immer vor, aber wo sie im Besitz starker Mittel sich befindet, hat sie das Zeug zum Vorgriff auch übers Absehbare hinaus: zum langen Vorgriff.831

Neben dem Rückgriff auf die in der klassischen Situation gewonnenen Kenntnisse, also dem Vertrauen in das eigene ästhetische Vermögen, versichert Hacks sich zweitens der Haltung anderer Autoren, die sich in ähnlichen Situationen des Verlusts ihrer politischen Grundlage befanden und den Zeitläuften künstlerisch trotzten; das || 828 HW 13, 129. Vgl. Goethe 12, 240f. 829 HW 13, 130. 830 HW 13, 131f. Als weitere, „nicht notwendig[e]“ Bedingungen nennt Hacks weiterhin: (4.) eine ausreichende materielle Versorgung der Künstlerpersönlichkeit sowie (5.) „[e]in mittlerer Grad an Entfremdung“ und eine „permeable Zensur“. HW 13, 132. 831 HW 13, 133.

504 | Der Streit im literarischen Feld

sind Euripides, Shakespeare und Goethe. Goethe kommt in diesem Zusammenhang besondere Bedeutung zu. Er wird in den 1970er Jahren nicht nur zum „Paradefall des Herrwerdens über unerquickliche Zustände“, zum Vorbild für die Bewahrung (ästhetischer) Haltung in widrigen Zeiten und zur zentralen literarischen Bezugsperson, sondern insgesamt zum Paradigma des Klassischen, zu einer Art Übervater, der Hacks in vielfacher Hinsicht zur Orientierung dient.832 In dem Gedicht „1.8.1973“ (das Datum von Ulbrichts Todestag) heißt es: „Ulbricht leider ist tot und Schluß mit der Staatskunst in Deutschland. / Immer mächtiger treibts mich in den Goethe hinein [meine Hervorhebung, R.W.].“833 In Goethes Situation nach der Niederlage Napoleons 1815 bei Waterloo erkennt Hacks eine Entsprechung seiner eigenen Lage, denn mit Napoleons Niederlage habe der Bonapartist Goethe ebenso seinen klassischen Unterboden verloren wie Hacks mit Ulbrichts Absetzung. Das aber habe Goethe keineswegs davon abgehalten Faust II zu schreiben, wie ja auch Euripides nach der Niederlage Athens im Peloponnesischen Krieg Die Bakchen und Shakespeare nach dem Ende der Herrschaft Elisabeths I. den Sturm geschrieben hätten. Hacks kommt daher zu dem Schluss, dass klassische Kunst auch in nachklassischen Zeiten hergestellt werden könne, ja, dass die „tiefsten klassischen Gelegenheiten […] die gescheiterten klassischen Gelegenheiten“ seien.834 Die dritte Antwort auf die oben gestellte Frage, ist diejenige, die in unserem Zusammenhang von Interesse ist, denn sie betrifft die Verhältnisse im literarischen Feld selbst. Neben der klassischen, in gewisser Weise stoischen Reaktion auf den Wandel der Verhältnisse existiert als weitere mögliche Reaktion die romantische Antwort. Hacks bringt sie auf die Formel: „bei schlechtem Wetter muß die Kunst schlecht sein.“835 In der Romantik erkennt Hacks, wie gesehen, nicht nur eine Gefahr für seine eigene ästhetische Konzeption, eine „leere Negation“, die er insgesamt als „Regression“836 auffasst, sondern auch eine politische Gefahr für den Sozialismus. Die verschiedenen „ästhetischen Gruppierungen“ erscheinen Hacks als „versteckte politische Gruppierungen“.837 Hacks bezieht das zum einen ganz konkret auf Heiner Müller

|| 832 Werner: Heitere Renitenz, S. 330. Siehe zu Hacks und Goethe: Philip Brady: On not being intimidated. Socialist Overhauling of a Classic. In: Elizabeth M. Wilkinson (Hg.): Goethe revisited. A collection of essays. London u.a. 1984, S. 31–52; Durzak: „Ein Gespräch im Hause Hacks über den anwesenden Herrn von Goethe“; Heidi Urbahn de Jauregui: Hoffnung ohne Welt. Zwei Klassiker: Goethe und Hacks. In: Huth (Hg.): Vorsicht, Hacks!, S. 95–112; Bernd Leistner: Unruhe um einen Klassiker. Zum Goethe-Bezug in der neueren DDR-Literatur. Auszug. In: ders: In Sachen Peter Hacks, S. 9–18 u. Bernd Leistner: Der gegenwärtige Klassiker. Goethe im Werk von Peter Hacks. In: ders.: In Sachen Peter Hacks, S. 71–91. 833 HW 1, 374. 834 Vgl. HW 13, 135. 835 HW 13, 135. 836 BD 1, 389. 837 FR 32.

Hacksʼ Kampf gegen die Romantik | 505

und dessen postdramatisches Drama, das, wie die romantische Kunst insgesamt, „[d]as Elend […] auf elende Weise“ zeige und demgegenüber Hacks sich nun offen feindlich positioniert.838 Zum anderen sind damit in einem weiteren Sinne die AnhängerInnen Müllers im literarischen und theatralischen Feld (die besagte ‚Müller-Mafia‘) sowie überhaupt alle Akteure gemeint, die mit ihrer Kunst zuvörderst auf eine Kritik der DDR zielen. Die dritte Antwort auf die oben gestellte Frage lautet demnach: In nachklassischen Zeiten bekämpft ein klassischer Autor die Romantik bzw. die von ihr vertretenen Inhalte und ästhetischen Praktiken, und zwar im Interesse der eigenen ästhetischen Konzeption wie auch der Gesamtentwicklung der Kultur. In den Jahren 1975 und 1976 führte der US-amerikanische Germanist Richard A. Zipser zahlreiche Interviews mit DDR-AutorInnen nach einem standardisierten Fragebogen. Auf dessen Frage nach dem Ziel des eigenen Schreibens, die später nicht in die Gesamtpublikation der Interviews aufgenommen wurde, antwortete Peter Hacks: „Mein Ziel ist, die sozialistische Literatur zu erfinden und durchzusetzen. Den leichteren Teil der Sache, den ersteren, habe ich erreicht.“839 Das in den 1960er Jahren entwickelte Konzept einer die Möglichkeiten des Sozialismus akzentuierenden Literatur, die zugleich deren wesentliche Konflikte thematisiert und die Kritik und Affirmation in einem sein will, steht für Hacks insgesamt für eine der sozialistischen Gesellschaft entsprechende Literatur, für ,die sozialistische Literatur‘. Mit der sich wandelnden Situation der 1970er Jahre im politischen wie im literarischen Feld erfährt die sozialistische Klassik nun eine Veränderung, zwingt die Romantik Hacks doch, „sich mit ihr zu beschäftigen“.840 In dem Maße, in dem Hacks versucht sein Konzept durchzusetzen, einzelne Prämissen für allgemeinverbindlich zu erklären und andere, eben romantische Literaturbegriffe und -inhalte auszuschließen, verliert die sozialistische Klassik an Souveränität. Die Position der Mitte, die noch die gegnerischen Anschauungen in sich aufnimmt und transzendiert841 und die Hacks in den 1960er Jahren als notwendige Voraussetzung einer klassischen Ästhetik behauptet hatte, wird so eingeschränkt. Klassische Kunst ist dementsprechend nicht mehr das Resultat einer Vermittlung „zwischen den Gesetzestafeln, die vom Genre aufgestellt werden, und denen, die eine Zeit einrichtet“,842 sondern erweist sich nunmehr ausschließlich als gattungsgerecht, während der Einfluss der Zeit, d.h. des Zeitgeistes, negiert bzw.

|| 838 HW 13, 133. „Erstens mal gibt es in der Republik zwei Dramatiker, und die sind verfeindet.“ FR 32. 839 HW 13, 219. Siehe zu den Interviews: Richard Zipser: DDR-Literatur im Tauwetter. Bd. 3: Stellungnahmen. New York 1985. 840 HW 13, 134. 841 Vgl. HW 13, 76. Vgl. Bartels: Selbst auf den Schultern der Gegner, S. 42, Anm. 5. 842 HW 14, 11.

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ganz der Romantik zugeschrieben wird, die untersuche, „inwieweit die Kunst zur Zeit paßt“.843 Auf der Grundlage des in den 1970er Jahren als konstitutiv für den literarischen wie den politischen Prozess anerkannten Gegensatzes von Klassik und Romantik wird Hacksʼ ästhetisches Klassikkonzept zu einem Kampfprogramm. Die nachklassischen Zeiten sind polemische Zeiten. Angesichts der „Welle von Romantik“,844 der Hacks sich gegenübersieht, wird die Klassik Partei. Hacks spricht das im April 1977 offen aus: „[A]lle diese Denkrichtungen, die ich romantisch nenne und die es wohl auch sind, die will ich ausgeschaltet haben aus dem Geschäft, da will ich nicht mehr tolerant sein.“845 Der Versuch, die Grenzen des literarischen Feldes der DDR neu zu ziehen, indem an einzelnen Strömungen der Literatur ein symbolischer Ausschluss vollzogen wird,846 hat zur Folge, dass der Lukácsianer Hacks das Moment der Ideologiekritik aufwertet. Für die Zeit ab 1970 lässt sich daher von Hacksʼ „ideologiekritische[r] Phase“ sprechen.847 Unmittelbarer Ausdruck der Ideologiekritik ist eine terminologische Veränderung: An die Stelle des Begriffs der Utopie tritt derjenige des Ideals, da der Utopiebegriff nach Hacksʼ Auffassung von der Romantik als Modewort in Beschlag genommen worden sei und das terminologische Verständnis des Begriffs mehr und mehr dem einer Opposition zur Gegenwart bzw. einem illusionären Programm entspreche, der Begriff also ein falsches Bewusstsein reflektiere: Ich ziehe den Begriff des Ideals dem der Utopie im Grunde vor: teils, weil wir ihn einmal eigentümlich besitzen, teils des Mißbrauchs wegen, der mit dem Wort Utopie von allen, die geboren sind, um Unrecht zu haben, getrieben wird. […] Die falschen Weisen, mit dem Begriff der Utopie umzugehen, lassen sich kaum vollständig aufzählen. Häufig nimmt man sie für ein vorgeblich Einführbares, so wie in Freedom now oder Kommunismus hier; derlei barer Unsinn ist, auch wenn er sich terroristisch gebärdet, Utopie aus Schwäche und nichts Besseres als die rote Verbasterung der blauen Blume.848

Im Kontext solcher terminologischen Anpassungen wird jetzt auch das eigene Werk einer Uminterpretation unterzogen. Moritz Tassow, Hauptfigur der gleichnamigen Komödie und als großer Charakter ein Stellvertreter der antizipierten Utopie, gilt

|| 843 HW 13, 133. Vgl. BD 2, 284. Siehe zur sich verändernden Definition des Publikums, die ebenfalls auf den Verlust der Mitte zurückgeführt werden kann: Bartels: Selbst auf den Schultern der Gegner, S. 43f. 844 BD 1, 78. 845 BD 2, 317. 846 Siehe hierzu die Ausführungen Bourdieus über die Funktionsweise von Kämpfen im literarischen Feld: Bourdieu: Das intellektuelle Feld. 847 Bartels: Die Landkarte und die Landschaft, S. 70. 848 HW 13, 235. Siehe auch: FR 27. Im September 1990, kurz vor dem Ende der staatlichen Existenz der DDR heißt es schließlich: „Utopie ist derzeit einfach ein Wort für Gegenrevolution.“ HW 13, 490.

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fortan als „Trottel“;849 sein revolutionärer Impetus wird abgewertet. Demonstrativ heißt es 1974 in einem Interview: „Mattukat rettet die Revolution, Blasche hält sie am Leben.“850 Eine positive Funktion kommt Tassow nicht mehr zu, er wird nicht einmal mehr genannt. Dass Hacks sich in einer Auseinandersetzung wähnt, in welcher die eigene Position gut begründet sein will, um dem Gegner keine Munition zu liefern, zeigt auch die Ablehnung einer Anfrage des Regisseurs Friedo Solter. Dieser erkundigte sich im Dezember 1975, ob man für das Programmheft zu einer Inszenierung von Shakespeares König Lear auf Notizen von Hacks aus dem Jahr 1970 zurückgreifen dürfe. Was Solter als Analyse des Shakespeare-Stücks versteht, gilt Hacks allerdings höchstens als „Schmierzettel“, der zudem ungenügend und deshalb anfechtbar sei: Wir leben nicht mehr 1970. Wir haben ein Niveau der Klassik-Debatte erreicht und Ansprüche erhoben, die uns nicht mehr erlauben, Fehler zu machen. Mein Schmierzettel ist gut als Schmierzettel, aber in der jetzigen Lage benötigen wir absolute Unanfechtbarkeit [meine Hervorhebung, R.W.].851

Wie sich Hacksʼ Kampf gegen die Romantik in den 1970er Jahren konkret gestaltete, soll im Folgenden dargestellt werden. Dabei richtet sich das Augenmerk auf vier unterschiedliche Komplexe: die Bemühung, sich mit Gleichgesinnten im Rahmen der Akademie der Künste zu verständigen, die Reflexion und Kritik der Romantik in Hacksʼ dramatischen Texten, die Kritik der Romantik im Theaterfeld und schließlich den direkten, durchaus ad hominem zielenden Angriff auf die in Hacksʼ Augen romantischen AutorInnen der DDR.

5.6.1

„Umlagert von Beatgruppen“: Verständigungsversuche in der Akademie

Peter Hacks, der am 29. September 1972 zum ordentlichen Mitglied der Akademie der Künste gewählt wurde, betrachtete die Akademie von Beginn als mögliches Forum der Verständigung.852 Neben den Sitzungen der Sektion Literatur und Sprachpflege, die er in den 1970er Jahren regelmäßig besuchte, initiierte er bereits unmittelbar nach seiner Aufnahme die Arbeitsgruppe Dramatik, die von 1972 bis 1977 fünfzehn Mal tagte; daran schloss sich die Arbeitsgruppe Ästhetik an, die 1978/79 sechs Mal zusammenkam.853 Hacksʼ Arbeitsgruppe stellt ein Novum im Rahmen der Akademie dar. Zum einen weil sie ein konstantes Diskussionsforum zur Verfügung stellte, in dem

|| 849 BD 1, 260. 850 Isasi: Sorry, ich kenne das nicht. Siehe zu Moritz Tassow: Kap. 4.3.7. 851 Peter Hacks an Friedo Solter, 26. Dezember 1975, DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit dem DT. Siehe dort auch die Anfrage Solters vom 12. Dezember 1975. 852 Siehe für das Zitat in der Überschrift: BD 2, 327. 853 Vgl. Mehrle: Arbeit der Poesie, S. 9. Siehe die Gesprächsprotokolle in BD 1–3.

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offen und ohne Rücksichten über ästhetische und (kultur-)politische Probleme gesprochen werden konnte, zum anderen weil sie sich aufgrund der allgemeinen Entwicklung des literarischen Feldes bald zu einem mehr oder weniger einheitlichen Kreis entwickelte.854 Zum festen Kern der Arbeitsgruppe zählten die Akademiemitglieder Helmut Baierl, Wolfgang Kohlhaase und Günther Rücker, zumeist auch Benito Wogatzki, des Weiteren die Nicht-Akademiemitglieder Anna Elisabeth Wiede, Rainer Kerndl und der Literaturwissenschaftler Werner Mittenzwei. Später kamen noch der Anglist Robert Weimann, Wieland Herzfelde und Wolfgang Harich hinzu, wobei diese nicht an jeder Sitzung teilnahmen; zudem nahmen auch Personen wie der ehemalige Kulturminister Alexander Abusch oder der Komponist Siegfried Matthus an einzelnen Sitzungen teil.855 Zu Beginn war Hacks sichtlich bemüht, auch seine literarischen Gegner in die Diskussion miteinzubeziehen. So lud er unter anderem Erwin Strittmatter und Heiner Müller ein;856 Müller nahm an der ersten Sitzung teil, erschien aber danach nicht mehr.857 Ausgangspunkt der Arbeitsgruppe war das Interesse sich mit künstlerischen Produktionsfragen zu befassen, mit Fragen der „Arbeit der Poesie“, wie es Hacks in Umkehrung der Fragestellung „Poesie der Arbeit“, mit der sich die Akademie 1972/73 beschäftigt hatte, formulierte.858 Die Sitzungen, die alle von Peter Hacks geleitet wurden, konzentrierten sich nach einem Einstieg zu Hegels Dramentheorie zunächst auf dramatische Texten der Gegenwart sowie exemplarische Dramen der Weltliteratur und deren Inszenierungen. Im Zentrum standen dramentheoretische Erörterungen. Hacks verfolgte eine spezifische Agenda. Die Hegel-Diskussion diente einer ersten Klärung und der Herstellung einer gemeinsamen Grundlage. Von dieser ausgehend wollte Hacks weitere Fragen behandelt wissen, die er im März 1973 wie folgt formulierte: Es gibt viele Punkte, über die in Zukunft zu reden sein wird. Es gibt die Frage, ob die Tragödie erlaubt sei; mit anderen Worten, ob die Tatsache, daß eine Zeit gesellschaftlich notwendige Tote hervorbringt, hinreicht, um die Tragödie zu rechtfertigen, oder ob es noch irgendeine Sorte von höherer Begründung geben müsse. Es gibt die Frage, ob Genre vor Zeitgeschmack oder Zeitbedürfnis vor Genre geht. Es gibt die Frage, welche Arten von Kollisionen im Sozialismus möglich sind. Es gibt die Frage nach der Rolle des kleinen Mannes. [...] Es gibt die Frage des Zufalls, des Verhältnisses von Wesen und Erscheinung im Drama. Es gibt die Kohlhaase-Frage nach dem

|| 854 Eine andere Arbeitsgruppe konstituierte sich, wie Werner Mittenzwei berichtet, um Christa Wolf. Vgl. Mittenzwei: Zwielicht, S. 401. Daneben existierten weitere temporäre Arbeitsgruppen wie etwa die AG Film oder die AG Literatur und Kritik. Vgl. Günther Rücker: Einschätzung der Arbeit der Sektion Literatur und Sprachpflege seit dem 8. Parteitag der SED, o.D., AdK-O, Nr. 1764, Bl. 110. 855 Siehe zu den TeilnehmerInnen: BD 5, 69–94. 856 Vgl. Mehrle: Arbeit der Poesie, S. 9. 857 Siehe hierzu Kap. 5.2.3. 858 Zit. n.: Erika Pick u. Ulrich Dietzel (Hg.): Poesie der Arbeit. Berlin 1973, S. 52.

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Film, nämlich ob nicht etwas, was seit zweitausend Jahren als ein Genrefehler betrachtet wurde, einem inneren und nur technisch nicht reifem Bedürfnis entspricht und eine mögliche Schönheit des Dramas sein könne.859

In Hacksʼ Fragenkatalog drückt sich das Bedürfnis nach einer über die konkrete Textdiskussion hinausgehenden, allgemeinen ästhetischen Verständigung aus. Nicht zufällig reflektieren die Fragen, mit Ausnahme der ‚Kohlhaase-Frage‘, gerade jene Aspekte, mit denen sich Hacks seit den 1960er Jahren beschäftigt hatte und an deren Klärung er interessiert war. Es verwundert insofern auch nicht, dass Hacks die Diskussionen der Arbeitsgruppe in weiten Teilen dominierte. Überblickt man die Sitzungen im Gesamten, merkt man, dass sich das Programm ab 1976 merklich verschiebt. Die Diskussion über Becketts Warten auf Godot im März gerät zu einer Abrechnung mit der Moderne; und im Oktober 1976 steht eine Debatte über Klassik und Romantik in der DDR auf der Tagesordnung, auf die im April 1977 eine Auseinandersetzung mit Hacksʼ Klassikkonzeption und der Frage nach der Aktualität der Klassik folgt, die in weiten Teilen ebenfalls eine Romantikdebatte darstellt. Die Diskussionen ab 1976 drehen sich darum, wie die Literatur sich zu den gesellschaftlichen Entwicklungen in der DDR verhalten soll, und reflektieren die Entwicklung im literarischen Feld. Beklagt wird ein Verfall der Kunstmittel, die sich abzeichnende Spaltung des Feldes und ein „Zustand von Echolosigkeit“, den die neue Honecker’sche Kulturpolitik erzeugt habe.860 Gegenüber der Mainstreamentwicklung des literarischen Feldes empfinden sich die DiskutantInnen in der Minderheit – „[u]mlagert von Beatgruppen“, wie Hacks formuliert.861 Die TeilnehmerInnen der Arbeitsgruppe erweisen sich in diesem Zusammenhang als eine relativ meinungshomogene Gruppe, die trotz deutlicher Kritik an der Kulturpolitik der 1960er Jahre die Hegemonie des ästhetischen Laisser-faire, den Niedergang des Realismus und die neue Romantik beklagt. So führt etwa Wolfgang Kohlhaase aus, dass der verkürzte Realismusbegriff unter Ulbricht „vorübergehend aus Gründen zu einer sehr verkümmerten Praxis“ geführt habe, was nun seine romantischen Folgen habe: Und der augenblickliche Zustand ist nicht, daß der Realismus neu gewonnen wird in einem breiteren, lustvolleren Umgang mit ihm, sondern daß eigentlich gar nichts stattfindet. Und dann bietet sich die Romantik an, also eine hinreichend dunkle Zeit, um in ihr Lösungen zu vermuten für etwas, was der öffentliche Umgang der Gesellschaft mit Realismus nicht hergibt. Die Gesellschaft setzt bestimmte enge Definitionen nicht mehr durch, aber andererseits verweigert sie sich einem breiteren, erneuerten Umgang mit dem Realismus. Ich glaube, in einem solchen Zustand von scheinbarer Windstille [...] bietet sich die Romantik einfach an; schon, weil sie aussieht wie dunkler, unerforschter Wald.862

|| 859 BD 2, 71. 860 BD 2, 177. 861 BD 2, 327. 862 BD 2, 182.

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Trotz der gemeinsamen Klage über den Status quo gab es aber auch innerhalb der Arbeitsgruppe Differenzen. Zwar teilten die meisten TeilnehmerInnen die Feststellung, dass man es mit dem Phänomen einer neuen Romantik zu tun habe, das sich nicht nur auf die Literatur, sondern auch auf die Theaterpraxis auswirke, die Schärfe, die Hacks in die Auseinandersetzung hineintrug, stieß aber auf Widerspruch. Auf seinen unversöhnlichen Kampf gegen die Romantik wollte man sich nicht einlassen. So ging etwa Günther Rücker davon aus, dass Erscheinungen wie das Regietheater auf lange Sicht „durch den Kunstverstand sowohl als auch durch sich selbst vom Publikum überwunden, nicht mehr verlangt, nicht mehr applaudiert, gemieden werden und letztlich abtreten“.863 Und Rainer Kerndl bestritt explizit „die Notwendigkeit eine solche apodiktische Frontstellung [zwischen Klassik und Romantik, R.W.] aufzumachen“.864 Als Hacks der Arbeitsgruppe im April 1977 seine Bestimmung der Klassik vortrug und diese als überhistorisches Phänomen mit dem Realismus gleichsetzte, wurden, neben vielen Fragen, vor allem von dem Literaturwissenschaftler Werner Mittenzwei Zweifel angemeldet. Zum einen kritisierte er die von Hacks aus dem englischen Absolutismus auf die DDR übertragene Konstellation des Klassengleichgewichts als „Idealkonstruktion“, die „nicht von der Basis aus gesehen“ sei, sondern „aus einer verklärten Konstellation des Überbaus“ erfolge; zum anderen meinte er, dass „dieser unversöhnliche Ton und diese Kampfstimmung“, die Hacks in die Auseinandersetzung mit der Romantik hineintrage, zwar in gewisser Weise „der tatsächlichen Situation entspricht“, Hacksʼ Angriff aber dennoch „ins Leere“ stoße, weil er lauter Missverständnisse erzeuge, die schon damit begännen, dass die literarische Öffentlichkeit unter Romantik gerade das verstehe, was Hacks für sich beanspruche, „das Prä für die Phantasie, für spielerische Lösungen“.865 Hacks scheint sich anfangs von der Arbeitsgruppe eine gewisse Unterstützung hinsichtlich der Auseinandersetzungen im literarischen Feld versprochen zu haben. So äußerte er 1974, er habe versucht, die Künstler zusammenzuführen, von denen ich gehofft hatte, in ihnen wüchsen Möglichkeiten, die sie selber noch nicht völlig ausgenutzt haben, oder mit ihnen zusammen, könnte man dieses oder jenes bewirken, zum Beispiel einen Kampf gegen die Theaterunsitten aufnehmen.866

Sollte Hacks die Absicht gehabt haben, mit der Arbeitsgruppe so etwas wie eine ästhetische Fraktion zu bilden, die an seiner Seite in den sich abzeichnenden Kampf der ästhetischen Richtungen ziehen würde, muss ihm allerdings schon frühzeitig klar geworden sein, dass die Gruppe dafür zu heterogen war und die ästhetischen Positionen

|| 863 BD 2, 184. 864 BD 2, 282. 865 BD 2, 294f. u. 306. 866 FR 35.

Hacksʼ Kampf gegen die Romantik | 511

zu weit auseinander lagen.867 Dementsprechend äußerte Hacks bereits im April 1974 in Bezug auf die Arbeitsgruppe, damit die Schlussfolgerungen aus der für ihn unbefriedigenden Diskussion über sein Stück Numa vom Mai 1973 ziehend: „[I]ch würde lügen, wenn ich sagen würde, es funktioniere sehr gut“.868 Gleichwohl fungierte die Arbeitsgruppe für Hacks als Ort der Selbstverständigung und des Gesprächs, das im Rahmen der Sektion Literatur und Sprachpflege angesichts der sich seit 1975 zuspitzenden Konfrontation zwischen den SchriftstellerInnen immer schwieriger wurde. Hier konnte er in einem kleinen Kreis seine Positionen zur Diskussion stellen und seine Argumentation überprüfen.

5.6.2

Klassische Dramatik angesichts „mieser Männer und einer miesen Zukunft“

In Hacksʼ Stücken der 1970er Jahre dominiert die Kritik romantischer Auffassungen. Die Stücke beschäftigen sich mit Äußerungsformen falschen Bewusstseins, mit falschen Utopien und Denkrichtungen des Irrationalismus.869 Während das bereits in den Stücken der 1960er Jahre vorhandene Moment der Ideologiekritik (beispielsweise in Bezug auf die Figur des Sosias in Amphitryon)870 in den Vordergrund tritt, nimmt der Anspruch die DDR-Gesellschaft in ihrer Totalität zu reflektieren ab. Das Drama wird zum Medium der Kritik, zur „polemischen Waffe gegen die eigene Gegenwart“.871 Im Folgenden soll zunächst gezeigt werden, wie Hacks romantische Mittel in seine Dramen aufnimmt, sodann wie er in den Texten Zeitkritik in ideologiekritischer Absicht übt, schließlich von welchen ‚falschen‘ Kunstrichtungen sich die Klassik distanziert.

|| 867 Werner Mittenzwei schreibt: „Als Anhänger konnte er uns weder im literarischen und erst recht nicht im politischen Sinn bezeichnen.“ Mittenzwei: Zwielicht, S. 402. Das trifft freilich auf Mittenzwei in besonderer Weise zu, zählte Hacks ihn doch zu den Verbündeten Manfred Wekwerths am BE. Vgl. AEV 138 (Peter Hacks an Kurt Gossweiler, 31. Dezember 1998). 868 FR 36. 869 Siehe für das Zitat in der Überschrift: GmH 64. 870 Sosias wird von Hacks gegenüber den literarischen Vorlagen zu einem kynischen Philosophen umgestaltet, dessen Credo lautet: „Der Weisheit Krone ist die Seelenruhe.“ HW 4, 130. Im Laufe des Stücks wird Sosias in einen Hund und schließlich in einen „Hundsstern“ verwandelt, ein „Stern der Dürre, Quell der Trockenheit, Leuchtturm des Nichts und Herr der langen Weile“. HW 4, 178. Siehe zur Figur des Sosias: Volker Riedel: ‚Sosia philosophus‘. Ein Amphitryon-Motiv in Antike, Mittelalter und Neuzeit. In: Mittellateinisches Jahrbuch 29 (1994), H. 2, S. 29–42. 871 Bartels: Die Landkarte und die Landschaft, S. 71.

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5.6.2.1 Die formale Aufnahme romantischer Mittel: Rosie träumt und Die Fische Dass in den Dramen von Peter Hacks jenseits der Rezeption der griechischen Mythologie GöttInnen, ZauberInnen und andere übersinnliche Wesen vorkommen, ist ungewöhnlich. Zwar tritt bereits in dem frühen Lehrstück Die Geschichte eines alten Wittibers im Jahre 1637 der Tod persönlich auf und ebenso finden sich in den Dramentexten der 1960er Jahren solche Figuren, etwa die Magier in Prexaspes oder die Göttin Egeria in Numa; diesen kommt aber jeweils eine spezifische politisch-soziale oder poetische Funktion zu, d.h. sie stehen, wie die Magier, für eine gesellschaftliche Gruppe oder verweisen, wie Egeria, auf den poetischen Standpunkt des klassischen Dramas. Die Häufung von Wundern und übernatürlichen Wesen in dem 1974 verfassten Stück Rosie träumt, das verschiedene Motive und Handlungselemente der Dramen der Stiftsdame Hrotsvit von Gandersheim zusammenführt, ist daher bemerkenswert.872 Bereits die von Hacks gewählte Genrebezeichnung „Legende in fünf Aufzügen“ lässt aufhorchen, verweist diese doch nicht nur auf Hrotsvit, die Hacks in Person der naiv-gläubigen Titelfigur Rosie selbst im Stück auftreten lässt, und gibt einen ironischen Hinweis auf das Märtyrerdrama, das das Stück entfaltet, sondern erlaubt auch den Text in einen Zusammenhang mit der Romantik zu stellen, die sich neben Märchen intensiv für mittelalterliche Legenden und Heiligenviten interessierte.873 In dem Stück, das im Rom des dritten Jahrhunderts u. Z. unter der Herrschaft Diokletians während der Christenverfolgung spielt, wird Rosie mit dem Willen ihres Vaters Diokletian konfrontiert, den designierten Juniorkaiser Gallikan entgegen ihres christlichen Gelübdes zu heiraten, und geht schließlich mit der Absicht, Gallikan von der christlichen Religion zu überzeugen, „als Sklavin“874 mit diesem. Im Laufe der Handlung bewirkt sie zahlreiche Wunder. Direkt zu Beginn erweckt sie ihre beiden Schwestern, die sich dem Ansinnen des Vaters verweigerten und ihres Glaubens wegen hingerichtet wurden, wieder zum Leben. Mit der Hilfe Gottes kann sie sodann den Versuch einer Vergewaltigung Gallikans abwenden. Später entscheidet sie mittels zweier Wunder die von Gallikan geführte Schlacht gegen die Karpen, die der Stabilisierung des Römischen Reiches dient. Und schließlich bekehrt sie die Buhlerin

|| 872 Siehe zur Biographie Hrotsvits: Neue Deutsche Biographie/Alte Deutsche Biographie: Lemma: Hrotsvit von Gandersheim, online unter: http://www.deutsche-biographie.de/sfz34032.html (zuletzt eingesehen am 9. April 2014). Siehe zu den bei Hacks verarbeiteten Motiven und Handlungselementen Hrotsvits: Walter Pallus: Parodie und Aktualisierung des Mittelalters in „Rosie träumt“ von Peter Hacks. In: Deutung und Wertung als Grundprobleme philologischer Arbeit. Greifswald 1989, S. 174ff. u. Bernadette Grubner: „So jagen Schatten Schatten“. „Romantik“ in „Rosie träumt“. In: Köhler (Hg.): Salpeter im Haus, S. 89ff. 873 Siehe zur Gattung der Legende und zum Legenden- bzw. Märtyrerdrama: Burdorf u.a., S. 424f. u. 477f. Siehe zur Legenden-Rezeption in der Romantik: Hellmut Rosenfeld: Legende. Stuttgart 1982, S. 83ff. 874 HW 5, 162. Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe im Text zitiert.

Hacksʼ Kampf gegen die Romantik | 513

Thais, zu welcher Gallikan sie „als Lehrling“ (187) schickt. Am Ende fährt sie gemeinsam mit Gallikan, der sich zwischenzeitlich zum Christentum bekannt hat und mit dem zusammen sie auf Befehl ihres Vaters hingerichtet wurde, in den Himmel auf. Zu den Helfern Rosies, die maßgeblich die Schlacht gegen die Karpen entscheiden, gehören drei Gestalten, die der christliche Einsiedler Pafnatius von einem Pakt mit dem im Stück auch selbst auftretenden Teufel befreit hat. Einer von ihnen ist „ein toter Sodomiter“, der „jedem hübschen Buben begehrenswert“ erscheint (166f.); er lenkt die karpischen Soldaten von der Schlacht ab und führt sie in den Tod: Die molossischen Rüden, / Die doppelt mannsgroßen, verlieben sich / In seine dürr und duftenden Hinterbacken / Und lecken ihn, und folgen, wo er geht. / Er aber, zu dem Felsengrund führt er sie / Des Quellbachs, hängt sich da an eine Wurzel, / Und die Molosser, geil, ihn anzuspringen, / Verfehlen ihn und liegen nun zerschmettert. (185)

Erklären sich einige der Wunder mit der Übernahme einzelner Handlungsstränge und Motive aus den Dramen Hrotsvits, entsprechen also nicht, wie Wolfram Buddecke und Helmut Fuhrmann meinen, einem Verfahren der Parodie,875 sondern vielmehr einem Verfahren der „poetische[n] Montage“,876 so ist dadurch gleichwohl noch nicht ersichtlich, warum Hacks Schauer- und Gruselmotive (wie den untoten Sodomiter, einen Zombie also, oder die Wiedererweckung der toten Schwestern zum Leben), die auf die literarische Tradition der Schwarzen Romantik bzw. der Gothic Fiction verweisen,877 in die Handlung aufgenommen hat. Welche Funktion erfüllt also die Übernahme und teilweise Überspitzung der Wunder? Und in welchem Zusammenhang stehen sie mit dem im Titel anklingenden Traum-Motiv, das Hacks dem HrotsvitDrama Dulcitius entlehnt?878 Um diese Fragen zu beantworten, ist es nötig, die Utopie und ihre spezifische Rolle in Rosie träumt in den Blick zu nehmen. Doch bevor dies geschieht, soll noch auf ein weiteres Beispiel formal-romantischer Anleihe eingegangen werden, auf das Drama Die Fische [1975].

|| 875 Vgl. Buddecke u. Fuhrmann, S. 307. Ähnlich auch: Ulrich Profitlich u. Frank Stucke: “Only limited Utopias are realizable”. On a Motif in the Plays of Peter Hacks. In: Contemporary Theatre Review 4 (1995), H. 2, S. 53. 876 FR 72. Auch die sexuellen Anspielungen, etwa die „heiße Lust“, die Rosie zu Jesus zieht (162), stellen nicht Parodien, sondern Übernahmen dar, ist doch das Thema Lust und Lustunterdrückung in vielen Texten Hrotsvits präsent. Vgl. Grubner, S. 90f. Siehe auch: Albrecht Classen: Sex on the Stage (and in the Library) of an Early Medieval Convent: Hrotsvit of Gandersheim. In: Orbis Litterarum 65 (2010), H. 3, S. 167–200. 877 Siehe zur Schwarzen Romantik/Gothic Fiction: Mario Praz: Liebe, Tod und Teufel: Die schwarze Romantik. München 1981; André Vieregge: Nachtseiten. Die Literatur der Schwarzen Romantik. Frankfurt/M. u.a. 2008 u. Jerrold E. Hogle (Hg.): The Cambridge Companion to Gothic Fiction. Cambridge u.a. 2011. 878 Vgl. Hrotsvitha von Gandersheim: Dulcitius. In: dies.: Werke in deutscher Übersetzung. München/Paderborn/Wien 1972, S. 209.

514 | Der Streit im literarischen Feld

Hacks selbst nennt Die Fische bezüglich ihrer Gattung ein „Horrordrama“879 und bezieht sich damit auf den Ursprung der Science-Fiction bei Mary Shelley, also deren im Jahr 1816, dem Jahr ohne Sommer, verfassten Roman Frankenstein oder Der moderne Prometheus.880 Das Gattungsschema der Horrorliteratur beschreibt Hacks wie folgt: Ein Wissenschaftler überhebt sich und verwechselt sein partikulares Genie mit dem Bewußtsein der Menschheit. Er stellt seine Gedankengänge und Werte über alle anderen Gedankengänge und Werte. Er setzt sich als Gott und wird zum Monster.881

In einem Brief an Helga Thron, seine Lektorin beim Aufbau Verlag, ergänzt Hacks: Das einzig Neue, das die Fische diesem Schema hinzufügen, ist eine größere wissenschaftstheoretische Genauigkeit: es ist nicht die Hybris der Wissenschaft, die angegriffen wird, sondern die Hybris der Naturwissenschaft. Simon löst gesellschaftliche Probleme mit biologischen Denkwerkzeugen (den Vietnamkrieg mit Mitteln der Genetik) und endet also als Faschist.882

Die titelspendenden Fische beziehen sich auf eine Fischart, die ein Professor namens Simon Mitte des neunzehnten Jahrhunderts in einer Höhle in Mexiko entdeckt hat. Das Besondere dieser Fische ist, dass diese eigentlich Menschen sind, Embryonen getöteter, schwangerer Frauen, die in der spezifischen Umgebung der Höhle überlebt und sich zu Fischen ausgebildet haben. Professor Simon hatte seinerzeit einen dieser Fische nach Frankreich gebracht und dort zu einem Menschen verwandelt. Nun kehrt er im Mai 1866 mitten im Krieg gegen die französische Besatzung unter dem Kaiser Maximilian I. nach Mexiko zurück, um weitere Fischexemplare für die Forschung zu retten und diese in Menschen zu verwandeln. Mit einer Vollmacht Napoleons III. und daher mit militärischer Begleitung ausgestattet, gelangt Simon zu der Höhle und beginnt mit seiner Arbeit. Während um ihn herum der Krieg der Mexikaner unter Führung des Präsidenten Benito Juárez tobt und sich die Franzosen bereits zurückziehen, gilt Simons Interesse einzig seiner Tätigkeit „[f]ür die Menschheit“, die er in sozialdarwinistischer Manier als „Pflicht zum Höheren“ begreift und für deren Durchsetzung er auch vor Gewaltanwendung nicht zurückschreckt: „Keine Verwandlung als

|| 879 HW 15, 223. 880 Siehe zu Frankenstein: Anne K. Mellor: Making a „monster“. An Introduction to „Frankenstein”. In: Esther Schoor (Hg.): The Cambridge Companion to Mary Shelley. Cambridge u.a. 2003, S. 9–25. 881 HW 15, 214. 882 Peter Hacks an Helga Thron, 8. April 1981, DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit dem Aufbau Verlag.

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durch Zwang und Not.“883 Den sich auf gesellschaftspolitischer Ebene mit der beginnenden Unabhängigkeit Mexikos abspielenden Fortschritt nimmt Simon nicht wahr. Die ganze militärische Auseinandersetzung, die in seiner unmittelbaren Nähe zahlreiche Tote fordert, hält er im Grunde genommen für eine lästige Störung seiner Arbeit. Als ihm der kommandierende Oberst Goyon schließlich mitteilt, dass man die gefangenen Fischexemplare nicht zu dem an der Küste wartenden Schiff transportieren werde und Napoleon III. sich auf Simons Mission überhaupt nur eingelassen habe, weil man in ihm einen Spion vermutete, den man auf frischer Tat ertappen wollte, offenbart sich der fanatische Charakter des Wissenschaftlers. Das Scheitern seines Unternehmens erscheint ihm als Menschheitsscheitern: Ich kann mich eines Gefühls nicht erwehren: des Gefühls, als befinde sich die gesamte Menschheit noch im Larvenzustand. Vermutlich sitzen wir alle miteinander in einem unersteigbaren Bassin am Grunde einer dunklen Höhle und warten auf einen, der uns herausfischt, um uns endlich in erwachsene Menschen zu verwandeln.884

Dass Simon, dessen Name als ironische Anspielung auf Simon Petrus, den „Menschenfischer“ gelesen werden kann,885 sich selbst als jenen imaginiert, ‚der uns herausfischt‘, zeigt seine letzte Tat: Er bringt Goyon, den einzigen, der von einer gegenteiligen Vollmacht Napoleons III. weiß, kurzerhand um: „Man muß ihn natürlich zwingen. Zwingen muß man sie, alle. Das ist es, man muß sie zwingen.“886 Hacksʼ ‚Horrordrama‘ stellt eine Vermengung von natur- und gesellschaftswissenschaftlichen Fragen vor, deren Ergebnis nicht der Fortschritt der Gesellschaft, sondern dessen Gefährdung ist. Im Mittelpunkt des für Hacksʼ Entwicklung seit dem Ende der 1950er Jahre ungewöhnlichen Textes – das Drama ist durchgehend in Prosa verfasst und besteht ähnlich wie Becketts Warten auf Godot aus nur zwei Akten –887

|| 883 HW 5, 235 u. 243. Schon zuvor verweigert Simon das für den Transport der Fische mitgebrachte Eis zur Kühlung von Verwundeten, sind ihm doch die Fische wichtiger als die Menschen. Vgl. HW 5, 226. 884 HW 5, 257. 885 Die Bibel, S. 1161 (Lk 5, 1–11). Der Name verweist zudem auf den Propheten Simeon, der nach der biblischen Überlieferung den Messias erkennt. Die Bibel, S. 1157f. (Lk 2, 25–35). Im Kontext des Dramas verdeutlicht der Namenshintergrund einmal mehr die Hybris des Naturwissenschaftlers. 886 HW 5, 258. 887 Das letzte reine Prosadrama Hacksʼ, die Bearbeitung von Wagners Die Kindermörderin, stammt von 1957. Die Versifikation ist Ausdruck des klassischen Dramas; es handelt sich hier also um eine Rücknahme. Mit Pandora [1979] legte Hacks später noch ein weiteres Drama in zwei Akten bzw. Handlungen vor. Während sich aber die zweiaktige Struktur der Pandora vor dem Hintergrund der Goethe’schen Vorlage erklären lässt – Goethe plante eine Fortsetzung seiner Pandora [1807/08], so dass sich ein zweiaktiges Stück ergeben hätte (vgl. Goethe 5, 693–695) –, erscheint die formale Gliederung bei den Fischen einerseits als Anspielung auf das mangelnde Formverständnis des romantischen Dramas (vgl. Hacksʼ Äußerungen zu sechs- statt fünfaktigen Dramen in: BD 2, 160), andererseits als Verweis auf Dürrenmatts zweiaktiges Stück Die Physiker, neben Brechts Leben des Galilei

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steht die Kritik eines falschen Fortschrittsbegriffs, die Hacks unter Bezugnahme auf das romantische Genre des Horrors und dessen spezifische Ausprägung, wie sie seit Frankenstein geläufig ist, transportiert. Im „Gegensatz von Naturwissenschaft und Gesellschaftswissenschaft“ erkennt Hacks eine zeitgemäße Aktualisierung des Horrorgenres: Es geht nicht mehr um die ziemlich verzweifelte romantische Frage: Wissenschaft oder Verzicht auf Wissenschaft. Es geht um den Zuständigkeitskampf zweier Wissenschaften. Wer, bei unserem Kenntnisstand, durch naturwissenschaftliche Hybris sündigt, versündigt sich nicht bloß mehr an Gott, sondern an der Wissenschaft selbst. […] Was sollen wir von einem Mann sagen, der sich die Rettung aus einer dermaßen ungemütlichen Lage von der Biologie verspricht?888

Für Hacks ergibt sich damit auch eine Parallele zur biologischen Kriegsführung der US-Amerikaner in Vietnam,889 die sich freilich aus dem Text selbst nicht unmittelbar erschließt. Dessen ungeachtet scheint mir das Thema, auf welches der Text mittels der Rezeption des romantischen Genres hinaus will, recht eindeutig zu sein: Es geht um eine Kritik wissenschaftsromantischer Vorstellungen, konkret: um eine Kritik der falschen Mittel; Professor Simon steht für „die Tragödie eines Mannes, welcher alle richtigen Antworten auf eine falsche Frage weiß“.890 Die Fische sind die entschiedene

|| eine der mutmaßlichen Vorlagen und auch ansonsten hinsichtlich der Einheit von Handlung, Ort und Zeit sowie der Enthüllungsdramaturgie den Fischen ähnlich. Darüber hinaus verweist die Zwei-AktStruktur auf den Boulevardcharakter des Textes. Boulevardstücke sind im Sinne eines einfachen Spannungsaufbaus oft zweiaktig. 888 HW 15, 223. 889 Vgl. HW 15, 223. 890 Peter Hacks: Noten zum Schauspiel „Die Fische“. In: ders.: Die Maßgaben der Kunst (Ostberlin), S. 403. Die wenigen Interpretationen des Dramas gehen in eine andere Richtung. So wertet Christoph Trilse das Gegenspiel zwischen Simon und Goyon zu stark auf und versteht Die Fische als eine Variante des „immerdar sich anders darstellende[n] […] Verhältnis[ses] von Geist und Macht“. Trilse: Das Werk des Peter Hacks, S. 255. Frank Hörnigk liest den Text als eine Art Revolutionsdrama, dessen Aussage darauf hinaus laufe, dass es „keine Entwicklung, keinen Wandlungsprozeß ohne die Ausübung von Zwängen“ gebe, was er, davon ausgehend, dass die Hacks’schen Dramen der 1960er Jahre in einem politik- und gesellschaftsfernen Raum der Utopie angesiedelt sind, als eine Repolitisierung begreift. Frank Hörnigk: Erinnerungen an Revolutionen. Zu Entwicklungstendenzen in der Dramatik Heiner Müllers, Peter Hacks’ und Volker Brauns am Ende der 70er Jahre. In: Hans Kaufmann (Hg.): Tendenzen und Beispiele. Zur DDR-Literatur in den 70er Jahren. Leipzig, 1981, S. 171. Andrea Jäger schließlich stellt hinsichtlich der Fische fest, es sei Hacks „fraglich geworden, ob der Mensch wirklich Subjekt seiner Verhältnisse sei“. Andrea Jäger: Peter Hacks (1928). In: Alo Allkemper u. Norbert Otto Eke (Hg.): Deutsche Dramatiker des 20. Jahrhunderts. Berlin 2000, S. 525.

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Verurteilung einer spezifischen Ausprägung des Irrationalismus, des „Methodenmonismus“, der nur eine Sichtweise als zulässig erklärt und sich somit in seiner undialektischen Art des Zugriffs auf Probleme als „ungeeignete Zange“ erweist.891

5.6.2.2 Irrationalismus und Utopie: Rosie träumt und Die Vögel Ähnlich wie bei Die Fische wird auch bei Rosie träumt die Kritik einer aus Hacksʼ Sicht falschen, weil den Umständen unangemessenen, Utopie mit den Formen der literarischen Romantik selbst betrieben: Kritik der Romantik mit den ästhetischen Mitteln der Romantik. Beide Dramen veranschaulichen negative Utopien bzw. das Negative der Utopie. In Die Fische zeigt sich das durch den Bezug auf den Topos des verrückten Wissenschaftlers und dessen irrationale Hybris. In Rosie träumt ergibt sich die Kritik erst aus dem metaphorischen Zusammenhang. Der Fokus der Kritik ist hier verschoben, transportiert Rosie träumt, wie jetzt zu zeigen sein wird, doch keine Kritik der Utopie an sich, sondern eine Kritik ihrer romantischen Auslegung, die nach Hacks nicht nur für die DDR-Romantiker, sondern auch die westliche Neue Linke kennzeichnend ist. Bezüglich Rosie träumt war zuletzt die Frage gestellt worden, inwiefern die zahlreichen Wunder des Stücks mit dem im Titel anklingenden Traummotiv verbunden sind und wie sich die Utopie in diesem Zusammenhang verorten lässt. In Rosie träumt steht die Utopie, i.e. Rosies Traum, für Jesus bzw. den Himmel. „Jesus, er steht mir bei“ (170), ist Rosies Credo. Sie lebt für den Einzug ins Himmelreich, wo der göttliche „Klang der Sphären“ (193) ertönt, den Rosie schon zu Lebzeiten zu vernehmen glaubt. Rosie weiß Gott hinter sich, deshalb tritt sie selbstbewusst auf, deshalb schreckt sie nichts – selbst Folter ist ihr nur Hilfe „zur Süße Gottes“ (169) –, deshalb kann sie die zahlreichen Wunder wirken, die am Ende darauf hinauslaufen, Gallikan für sich zu gewinnen und mit ihm gemeinsam „ins ewige Leben“ (201) einzuziehen. Nun ist allerdings interessant, wie sich dieser Himmel, in welchen sich die Szene am Ende des fünften Aufzugs verwandelt, darstellt. Erst von hieraus, vom Ende her, erschließt sich die Doppeldeutigkeit des Traummotivs, denn der Himmel erweist sich keineswegs als die „Vollkommenheit“ (203), an die schließlich auch Gallikan nach Hinrichtung und Auferstehung zu glauben geneigt ist. Das zeigt sich anhand der bereits erwähnten „Musik der Sphären“, die profan und „langweilig[ ]“ (204) ist, sowie daran, dass der Henker, der Rosie und Gallikan ins Jenseits befördert hat und im Anschluss daran vom Blitz erschlagen worden ist, ebenfalls im Himmel und nicht in der Hölle ist. Die Jungfrau Maria, auf die Gallikan und Rosie treffen, erklärt das mit dem Umstand einer fehlenden Alternative: „Alle kommen in den Himmel, wo sollen sie || 891 HW 15, 225. Dass damit keine Verurteilung der Naturwissenschaft an sich beabsichtigt ist, macht Hacks eigens deutlich, wenn er Brecht für dessen Atomwissenschaftler-Kritik als „geborene[n] Romantiker“ bezeichnet. HW 15, 224.

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sonst hin.“ (205) Die Vorstellung von der Vollkommenheit des ewigen Lebens bei Gott wird dann vollends zerschlagen, als Rosie nach Jesus und Gottvater fragt. Während Ersteren „die Bischöfe gegessen“ (206) haben, weiß von der konkreten Existenz des Letzteren nicht einmal die Jungfrau Maria, sicher ist nur, dass er sich irgendwo im Himmel aufhält: Gallikan: Und Gott? Jungfrau: Wo Gott wohnt? Gallikan: Ja. Jungfrau: Wer kann denn sagen, wo Gott wohnt? Sicherlich im Himmel. Rosvitha: Aber wir sind im Himmel, sagst du. Jungfrau: In diesem. Der hier herrscht, heißt Aeon oder Längere Zeit, und im nächsten Himmel regiert ein gewisser Nous, was meist mit Verstand übersetzt wird, das immerhin scheint festzustehen, aber Gott? Es gibt so viele Himmel, doch kaum weniger als sieben, wenn das schon reicht. Einige vertreten die Meinung, es walte ein ungezeugter Vater, ganz oben, und durch Unverdrossenheit und reines Dranbleiben gelange man zu seiner Erkenntnis. Die Lehre ist ja in sich nicht unstimmig, aber sie haben natürlich keinerlei Beweise. (206)

Das Stück endet schließlich mit Rosies Frage, ob denn wenigstens die Jungfrau Maria angesichts einer so profanen und undurchsichtigen Einrichtung an Gott glaube. Und diese antwortet: „Je nun, mein Kind, ich denke, man muß glauben, wenn man noch kann.“ (206) Rosies Traum vom Himmel entpuppt sich als etwas Gewünschtes, das in der Realität keine Entsprechung erfährt. Am Ende sind ihre Illusionen zerstört; auch im Himmel trifft Rosie jene Unvollkommenheiten an, die das Leben auf der Erde auszeichnen, welches sie aber ja doch einzig in Hinblick auf den Himmel, d.h. kraft ihres Idealismus, ertragen hat. Die Verbindung von Realität und Utopie – einer Utopie, die nur in Annäherungen erreichbar ist; es gibt sieben oder mehr Himmel – erinnert an Hacksʼ thematische Konstellation der 1960er Jahre, wie sie hinsichtlich der realpolitischen Verhältnisse der DDR vielleicht am eindeutigsten in Moritz Tassow gestaltet ist. Moritz Tassow ist denn auch das Stück, vor dessen dramaturgischem Hintergrund sich die in Rosie träumt entfaltete Polemik gegen die Utopie erhellt. Beide Texte funktionieren dramaturgisch ähnlich, nämlich als dialektische Triade: Diokletian ist der mittlere Held, Gallikan der Pragmatiker (die Rechts-Abweichung), Rosie die Utopie (die Links-Abweichung). Aber die Ähnlichkeit ist rein oberflächlich, denn Hacks lässt in Rosie träumt gerade die eigene Form des klassischen Dramas ins Leere laufen:892 Diokletian erscheint nur anfangs als kluger Herrscher, der sich frühzeitig um seine politische Nachfolge kümmert, am Ende dankt er altersmüde ab und lässt den Thron verwaist: „Ach ja, die Krone. Nehm sie, wer sie mag.“ (202); Gallikan, der Pragmatiker der Macht, schlägt sich auf die Seite des Christentums und erweist sich als Opportunist,

|| 892 Vgl. zum Folgenden: Grubner, S. 82ff.

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er glaubt nicht an Gott, hält es aber vorsichtshalber mit der Religion, der angesichts der deutlichen Verfallserscheinungen des Römischen Reiches die Zukunft gehört;893 und Rosie, die Verkörperung der Utopie, zeigt sich in ihrer Frömmigkeit zwar als radikale Christin, ihre Utopie hat aber keinen konkreten gesellschaftlichen Gehalt, sondern ist allein auf das Jenseits bzw. die Wiederkehr Jesu auf Erden ausgerichtet, was sich am Ende als Wunschbild erweist.894 Erscheint die klassische Triade-Dramaturgie lediglich als die leere Außenseite von Rosie träumt, so verhält es sich mit dem römischen Stoff, auf den Hacks zurückgreift, ähnlich. Um die Mitbedeutung des DDR-Absolutismus zu erhalten, griff Hacks in den 1960er Jahren auf Stoffe zurück, in denen er analoge absolutistische bzw. aufsteigende Konstellationen erkannte: bei Margarete in Aix auf das Frankreich Ludwigs XI., bei Prexaspes auf den Beginn des persischen Reichs unter Kambyses II. und Dareios I. und bei Numa auf die Regentschaft des römischen Königs Numa Pompilius. In Rosie träumt aber befindet sich das römische Reich unter der Herrschaft Diokletians bereits im Niedergang, der sich dann historisch etwa hundert Jahre später mit der Reichsteilung und den Gebietsverlusten des Weströmischen Reiches an Franken, Vandalen und Goten vollzog.895 Das heißt, auch in dieser Hinsicht widerspricht der gewählte Stoff dem Verfahren der historischen Dramen der 1960er Jahre. Rom steht auf metaphorischer Ebene nicht für die DDR. Wofür aber steht es dann? Einen entscheidenden Hinweis, wie sich die Beziehung zwischen Rosies christlicher Utopie und ihrem Kampf gegen das Römische Reich interpretatorisch auflösen lässt, gibt einerseits die bereits zitierte Schlussszene im Himmel und andererseits Hacksʼ Begleitessay zum Stück. In Letzterem wird Rosie zu Beginn als „Mädchen von der Apo...“ bezeichnet, was später mit „Apostolischen Richtung“ ergänzt wird.896 Denkt man in dieser Richtung weiter und stellt zudem in Rechnung, dass Rosie und ihre Mitstreiter gegen ein Imperium kämpfen, das den etymologischen Kern des Begriffs Imperialismus bildet (imperium romanum), so wird eine Bedeutungsebene von

|| 893 Die desolate wirtschaftliche und verwaltungstechnische Lage des Römischen Reiches wird am Ende des 4. Aufzugs von dem Einsiedler Emmerich, einem christlichen ‚Funktionär‘, geschildert, der Pafnatius nach Rom schickt, um dort Demonstrationen gegen Diokletian zu organisieren. (195f.) Dass es um das Reich nicht gut steht, schildert auch Diokletian zu Beginn des fünften Aufzugs: „Rom, wie immer, siegt. / Nur, das ist neu an dieser Zeit, es wird des Sieges nicht froh.“ (197) 894 So begründet Rosie denn auch ihre Unterstützung für Gallikan bzw. Rom im Krieg gegen die Karpen: „Wo, wenn er wiederkommt, / Soll Jesus wohnen als in Rom.“ (183) 895 Vgl. Klaus Bringmann: Römische Geschichte. Von den Anfängen bis zur Spätantike. München 2002, S. 108ff. 896 HW 15, 206 u. 210. An einer anderen Stelle schreibt Hacks, er habe Hrotsvith „von dem göttlichen Platz des Autors auf den anfechtbaren eines Schäfchens zu seiner Ultralinken [meine Hervorhebung, R.W.] zurückversetzt“. HW 15, 211.

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Rosie träumt erkennbar, die eben nicht auf die DDR, sondern den Kampf der 68erLinken im Westen verweist.897 Hacks stand der Neuen Linken im Westen von Beginn an distanziert bis ablehnend gegenüber. Seiner Ansicht nach repräsentierte sie in großen Teilen eine linke, anarchistische Spielart der Romantik. Mit Wolfgang Harich teilte er die Kritik ihrer „revolutionären Ungeduld“ und ihres an einer persönlichen Befreiung orientierten unmittelbaren Rufs nach der Revolution.898 Bereits 1968 hatte Hacks in einem schriftlichen Interview, das noch im gleichen Jahr in dem Band Revolution gegen den Staat? Die außerparlamentarische Opposition – die neue Linke erschien, argumentiert, dass es in einer nicht-revolutionären Situation töricht sei, die Revolution zu versuchen.899 Ein, wenngleich milder, Angriff auf die politischen Vorstellungen der 68er findet sich auch in Numa. Dort kommt es im 4. Aufzug zu einem Gespräch zwischen dem von Numa erzogenen Fauno und einem Vertreter der Partei. Fauno möchte in die Partei aufgenommen werden, wird aber mit dem Hinweis, dass er sich lediglich auf den jungen Marx beziehe, der ein „Abweichler“900 gewesen sei, zurückgewiesen. Wenngleich hier auch eine Kritik an der dogmatischen Marx-Auslegung der SED und deren geringer Flexibilität im Umgang mit der jungen Generation formuliert ist, so ist doch die Verurteilung der naiven Vorstellungen Faunos, der meint, „das Ziel / [s]einer Befreiung“ müsse in erster Linie „[s]eine Freiheit“ sein,901 eindeutig. Um ebendiese naive Erwartung, „das […] Ganzheitliche nicht nur zu wollen, sondern auch in der Praxis tun zu können“, und den darauf folgenden Katzenjammer geht es auch in Rosie träumt.902 Rosie, vollständig eingenommen von ihren utopischen Erwartungen, muss erkennen, dass diese Erwartungen nichts als Illusionen waren. Rosies Traum erfüllt sich nicht; am Ziel ihrer Wünsche angekommen, entpuppt sich der Himmel als eine Einrichtung, in der zwar der Weg in die Zukunft offen ist, deren quasi-bürokratische Beschaffenheit aber zugleich an die Verhältnisse auf

|| 897 Eine Verbindung von Christentum und 68er-Linker stellt auch das auf Hegel verweisende Distichon „Paris 68; Rechtsphilosophie § 5“ dar: „Mairauch und Wirren – das Wortpaar eben sachte geschüttelt, / Schon durch den linken Odeur schwadet das Christliche durch.“ HW 1, 246. 898 Harich verfasste 1971 eine dezidierte Kritik der Neuen Linken unter dem Titel Zur Kritik der revolutionären Ungeduld, in welcher er vor allem den blinden Aktionismus der 68er-Linken kritisierte, den er auf die Verbindung von Klassenkampf und den unmittelbaren Wunsch, „schleunigst glücklich und frei“ zu sein, zurückführte. Harich: Zur Kritik der revolutionären Ungeduld, S. 19. Ähnliche Formulierungen finden sich in zahlreichen Äußerungen Hacksʼ, sehr deutlich bspw. in: BD 2, 300. Beim späten Hacks heißt es apodiktisch: „[...] die 68er Revolte war eine proimperialistische Revolution“. AEV 159 (Peter Hacks an Kurt Gossweiler, 28. August 2000). 899 Vgl. Hacks: Sieben Fragen zum Thema, S. 124. 900 Hacks: Sechs Dramen, S. 141. 901 Hacks: Sechs Dramen, S. 141. 902 Pallus, S. 177. Siehe auch: Werner Jehser: Zur Dialektik von Ideal und Wirklichkeit in den Stücken von Peter Hacks seit Mitte der siebziger Jahre. In: WB 29 (1983), H. 10, S. 1732.

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Erden erinnert. Versteht man also die poetische Montage, die Hacks mit den dramatischen Texten Hrotsvits vollzieht, auf ihrer Bedeutungsebene als Anspielung auf die Neue Linke und deren romantischen Utopiebegriff, so warnt das Stück vor einer allzu direkten und persönlichen Auslegung der kommunistischen Utopie; denn wie sich die schwärmerischen Hoffnungen auf ein anderes Leben im Imperialismus nicht erfüllen können, so wenig erfüllen sie sich unmittelbar in der ihn überwindenden Gesellschaft, dem Sozialismus. In diesem Sinne steht der Himmel für die DDR bzw. die realsozialistischen Gesellschaften der 1970er Jahre und deren politische Stagnation, allerdings nicht als reines Negativbild, sondern als einzig realistische Alternative einer, wenngleich gestauchten, Entwicklung hin zur Utopie.903 „Ich muss“, schreibt Hacks über seine ProtagonistInnen Rosie und Gallikan, „ihre Illusionen zerstören und sie auf die Weltgeschichte verweisen“.904 Mit der Ablehnung eines gesteigerten Utopismus bleibt Hacks sich in gewisser Weise treu, behandelt doch auch Moritz Tassow das nämliche Thema. Im Unterschied zu dem zu Beginn der 1960er Jahre verfassten Drama und dessen plebejischem Helden ist die Utopie Rosies aber inhaltlich leer. Hacksʼ mit ästhetischen Formen der literarischen Romantik versetzte Aktualisierung des Utopiethemas formuliert die entschiedene Kritik einer falschen Utopieauffassung – eine Abwägung, die wie in Moritz Tassow auch die positiven Aspekte des Utopischen in Rechnung stellt, findet hier nicht mehr statt. Dass sich Hacksʼ Kritik einer falsch, weil unmittelbar, verstandenen Utopie nicht allein auf die Neue Linke im Westen, sondern auch auf die Opposition innerhalb der DDR bezieht, verdeutlicht die 1973 entstandene Aristophanes-Bearbeitungen Die Vögel. Aristophanesʼ 414 v. u. Z. bei den Städtischen Dionysien uraufgeführtes Stück, in welchem die Athener Exilanten Pisthetairos und Euelpides gemeinsam mit den Vögeln und gegen die Götter ein utopisches Reich namens Wolkenkuckucksheim errichten, wird in der Forschung mitunter als Darstellung eines politisch idealen Staates, häufiger aber als Anti-Utopie aufgefasst.905 In Das Prinzip Hoffnung stellte Ernst Bloch Die Vögel, Aristophanes als politischen Reaktionär einschätzend, als eine Verspottung der „sozialistische[n] Utopie schlechthin“ dar; Heinrich Heine sah darin umge-

|| 903 Vgl. Allemann, S. 36. 904 HW 15, 211. 905 Die anti-utopische Lesart geht zurück auf ein Verständnis des Textes als politische Allegorie auf die Sizilische Expedition Athens im Rahmen des Peloponnesischen Krieges 415/413 v. u. Z. Siehe zu den Forschungspositionen sowie der konkreten Auslegung der Allegorie: Peter von Möllendorff: Aristophanes. Hildesheim u.a. 2002, S. 108ff. u. Stucke: Die Aristophanes-Bearbeitungen von Peter Hacks, S. 151ff.

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kehrt eine scharfe Kritik Aristophanesʼ, eine demonstrative „Vermählung“ von Narrheit und Macht, einen „Narrensieg und Narrentriumph“.906 An letztere Einschätzung schließt Hacks mit seiner Version der Vögel an.907 Die Bearbeitung, die nach dem Libretto Noch ein Löffel Gift, Liebling? [1971] zu Hacksʼ zweitem Opernversuch zählt, greift nicht zuletzt aufgrund der durch den Gattungswechsel gebotenen Kürze in radikaler Weise in die aristophanische Vorlage ein,908 behält aber den anti-utopischen Kern bei. Das zeigt sich bereits an der Umdeutung des Auswanderungsmotivs. Die Hacks’schen Protagonisten Hoffmeier und Liebinger haben Athen nicht wie bei Aristophanes aufgrund der in der Stadt grassierenden Prozesswut („doch ihr ganzes Leben / Verzirpen im Gerichtshof die Athener“),909 sondern wegen der politischen Einrichtung der Demokratie verlassen. Das gilt zumindest für Hoffmeier, der, nach dem Grund der Auswanderung befragt, antwortet: „Demokratie ist, wenn alle dürfen, was alle wollen […] und keiner darf, was er will“; das führe dazu, dass in Athen „die Köchin […] regieren [muß]“.910 Die Erwähnung der Köchin assoziiert den Lenin zugewiesenen Ausspruch, dass im Sozialismus jede Köchin, d.h. „die Masse der Bevölkerung“, den Staat regieren könne.911 Damit wird zweierlei nahegelegt: (1.) Bei Athen handelt es sich um einen sozialistischen Staat, in dem der Widerspruch von Leistung und Demokratie zugunsten Letzterer verschoben ist, was zur Folge hat, dass spezialisierte Qualifikationen wenig zählen (die Köchin regiert statt zu kochen, weshalb in Athen „[n]icht mehr“ (160) gut gekocht wird); und (2.) Hoffmeier ist ein entschiedener Gegner der aktuellen politischen Situation in Athen, da er sich in seiner persönlichen Freiheit beschnitten sieht. Dessen einseitiger Freiheitsbegriff erweist sich dann, als Hoffmeier die politische Führung von Wolkenkuckucksheim übernimmt, als problematisch.912 Denn die

|| 906 Bloch: Das Prinzip Hoffnung, S. 505 u. Heine: Die Romantische Schule. In: ders.: Werke und Briefe in zehn Bänden. Bd. 5, S. 80 u. 78. 907 In dem Begleitessay zum Stück bezeichnet Hacks den Inhalt der Vögel als eine „Massenbewegung von Narren“. MW 15, 193. 908 Siehe zu den die Handlung und die Figuration betreffenden Kürzungen: Stucke: Die Aristophanes-Bearbeitungen von Peter Hacks, S. 122ff. 909 Aristophanes: Die Vögel. In: ders.: Sämtliche Komödien. Bd. 2. Zürich 1968, S. 326. 910 Peter Hacks: Die Vögel. Komische Oper nach Aristophanes. In: ders.: Oper. Berlin/Weimar 1978, S. 159f. Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe im Text zitiert. 911 Lenin 25, 503. In „Staat und Revolution“ heißt es im Zusammenhang: „Im Sozialismus wird unvermeidlich vieles von der ,primitiven‘ Demokratie wieder aufleben, denn zum erstenmal in der Geschichte der zivilisierten Gesellschaften wird sich die Masse der Bevölkerung zur selbständigen Teilnahme nicht nur an Abstimmungen und Wahlen, sondern auch an der laufenden Verwaltungsarbeit erheben. Im Sozialismus werden alle der Reihe nach regieren und sich schnell daran gewöhnen, daß keiner regiert.“ 912 Zu einer „politisch fragwürdigen Gestalt“ wird Hoffmeier erst zu diesem Zeitpunkt und nicht „von Anfang an“, wie Stucke: Die Aristophanes-Bearbeitungen von Peter Hacks, S. 164 meint, der die von Hacks zugrunde gelegte „Dialektik von Demokratie und Liberalität“ (BD 1, 108), d.h. die anhand

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Verfassung, die er ausarbeitet, verwirft nicht nur die Götter, sondern ist auch ganz auf ihn zugeschnitten: „Dies erklären wir Vögel von uns und unserer Bestimmung, / Daß wir […] / Keinen fürchten als Hoffmeier“. (178) Und dass Hoffmeier zu fürchten ist, zeigt die von Aristophanes übernommene, bei Hacks lediglich episodische Szene, in der Hoffmeier Vögel, die sich als „Verächter […] der Vogelfreiheit“ (188) erwiesen haben, mit Käse und Olivenöl zubereitet. Auf die Errichtung des Vogelreichs folgt Terror. Die Vögel verhindern den Verkehr zwischen den Menschen und den Göttern, „sperrn […] der Opfer ernährenden Rauch“, „den labenden Trank der Gebete“ und „scheißen […] in die Tempel“ (185); und sie unterwerfen Athen und verordnen, „[d]aß ein jeder zu fliegen vermöge“ (186), was anhand einer „neuzeitliche[n] Hexenprobe“913 überprüft wird: Die Menschen müssen von „der Kugel des Turms“ springen; können sie fliegen, sind sie anerkannt, fallen sie aber „[w]ie ein Sack in den rußigen Spreefluß“, droht ihnen „[a]uf hundert Minuten / Verschärfte Bratpfanne“. (186) Auch hinsichtlich der internen Verhältnisse des Vogelreichs steht es nicht zum Besten. Liebinger, der gemeinsam mit Hoffmeier zu den Vögeln aufgebrochen ist, um vor den zudringlichen Athenerinnen zu fliehen, die „stets auf der Suche nach Festem“ (160), d.h. der Ehe, seien, findet zwar in Philomele seine große Liebe, diese wird aber nicht erwidert. „Seltsam, wenig anders gehts mir hier als dort“ (172), stellt Liebinger fest. Steht bei Hacks die Liebe sonst häufig als Vorwegnahme der Utopie, so scheitert sie hier. Wolkenkuckucksheim hat keine utopische Qualität, diese wird als Anspruch vielmehr explizit aufgegeben: „Schluß mit / Dauerndem Anspruch, grenzenlosem Drang und / Hoher Bemühung“ (185), äußert der Chor programmatisch in der Parabase. Schließlich entschließt sich Zeus, dem Gebaren der Vögel ein Ende zu machen, was im Gegensatz zu Aristophanes, bei dem die Abgesandten vom Olymp (Herakles, Poseidon und ein Barbarengott) scheitern und sich die Vögel unter der Führung von Pisthetairos durchsetzen, erfolgreich ist. Hacks streicht die beiden anderen Götter und lässt allein Herakles, der hier das genaue Gegenteil der tumben Schilderung Aristophanesʼ darstellt,914 als Deus ex Machina auftreten und das Vogelreich auflösen.915 Das Erscheinen Heraklesʼ zielt allerdings nicht allein auf eine Verurteilung der unbedingten und einseitigen Freiheitsutopie, die Hoffmeier mit seiner Ablehnung der

|| der Demokratie-Stelle transportierte Kritik der Regierung Honecker übersieht. Siehe zur Interpretation der Demokratie-Textstelle auch: Bartels 2010: Leistung und Demokratie, S. 142f. 913 Stucke: Die Aristophanes-Bearbeitungen von Peter Hacks, S. 134. 914 Die Gesandtschaft der Götter scheitert bei Aristophanes vor allem an Herakles, der sich durch die Aussicht auf gebratene Vögel, die Pisthetairos zubereitet, und durch gutes Zureden einwickeln lässt. Vgl. Aristophanes, S. 394ff. 915 Damit folgt Hacks seinen eigenen ästhetischen Überlegungen aus „Versuch über das Libretto“, wo es heißt: „Der Gott aus der Maschine ist der klassische Stückschluß.“ HW 14, 26.

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Demokratie verdeutlicht hat, sondern zeichnet auch ein Gegenbild, das das Verhältnis von Utopie und Realität, mithin die Dialektik von Wollen und Müssen, ins rechte Verhältnis setzt. Die Figur des Herakles bietet sich dafür in besonderer Weise an, ist Herakles als Sohn Zeusʼ und Alkmenes doch ein Halbgott, der sich, wie Hegel schreibt, „durch die Arbeit […] in das Göttliche“ gesetzt hat und die Utopie (das Göttliche) und die Realität (das Menschliche) in sich vereint.916 Die beiden Seiten des Herakles verdeutlicht Hacks, indem er unter Rückgriff auf den elften Gesang der Odyssee zwei Herakles-Figuren auftreten lässt, die sich dem Vogelreich zugleich aus dem Olymp und dem Hades nähern. Beide, „Herakles, Gott“ und „Herakles, Schatten“, fordern von den Vögeln unter Verweis auf die fehlende Vernunft des Vogelreichs und die Störung, die dieses für „den Gang der wirklichen Dinge“ und „den Flug der Entwürfe“, für die Realität wie die Utopie also, bedeutet, „ein Ende“ zu machen. (194f.) Da die Vögel die beiden Heraklese aber nur auslachen, vereinigen sich schließlich beide „zu einer heroischen Person“ und verwandeln das Vogelreich in seinen ursprünglichen Zustand: „Die Vögel sind wieder gemeine Gegenstände […], welche durcheinander laufen […]; Hoffmeier und Liebinger wieder zwei greise Clowns“. (196) Der Schluss ist, wie Frank Stucke zu Recht bemerkt, „ein bloßes Anhängsel, durch das dem konventionellen Schluß der Aristophanischen Komödie Rechnung getragen wird“:917 Die Vögel erklären sich zufrieden und es gibt ein Fest, bei dem Hoffmeier Prokne und Liebinger Philomele heiratet. Hacksʼ Vögel formulieren eine entschiedene Kritik falschen Utopieverständnisses, Kritik einer Auffassung der Utopie, die glaubt, das schöne Leben jenseits des Gegebenen finden zu können. Dass diese Kritik nicht abstrakt gemeint ist, sondern sich konkret auf die Situation der DDR im Jahr 1973 bezieht, verdeutlichen nicht nur die lokalspezifischen Aktualisierungen, die Hacks gegenüber der Vorlage vorgenommen hat.918 Frank Stucke vermutet, Hacks ziele mit seiner Kritik auf die in den 1970er Jahren erstarkende DDR-Aussteiger-Bewegung oder den „von Hacks wenig geschätzten Honecker-Kurs“, schränkt jedoch ein, dass dies im Text selbst „kaum konkretisiert[ ]“ sei.919 Die von Stucke lediglich als negative Charakterisierung Hoffmeiers interpretierte Demokratie-Stelle, die bereits oben zitiert wurde, lässt allerdings durchaus auf die Honecker’sche Regierungspolitik, wie Hacks sie verstand, schließen, also auf eine

|| 916 Hegel 17, 108. Hacks hat sich bereits in Omphale [1969] der Figur des Herakles bedient, um den Widerspruch von Realität und Utopie zu veranschaulichen. Aufgrund ihrer Eigenschaften ist die Figur des Herakles in der DDR-Literatur besonders beliebt. Vgl. Riedel: Antikerezeption in der Literatur der Deutschen Demokratischen Republik, S. 37ff. 917 Stucke: Die Aristophanes-Bearbeitungen von Peter Hacks, S. 150. 918 Die Erwähnung der Lenin’sche Köchin verweist, wie bereits erwähnt, auf einen sozialistischen Staat; der in der Parabase vom Chor erwähnte Test, ob die Menschen auch fliegen können, weist Athen durch die Nennung des Fernsehturms (die „Kugel des Turms“) und die Spree (186) zudem als Berlin aus. 919 Stucke: Die Aristophanes-Bearbeitungen von Peter Hacks, S. 167.

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einseitige Auflösung des Widerspruchs von Leistung und Demokratie bzw. Freiheit und Gleichheit zugunsten Letzterer. Die im Stück geäußerte Kritik richtet sich aber nicht gegen die Regierungspolitik Athens, sondern die Reaktionen, die sich aus ihr ergeben. In einem Brief an den Komponisten Siegfried Matthus, mit dem Hacks 1973 an den Vögeln arbeitete, schreibt Hacks: Das Thema Schwarmgeisterei im Sozialismus wird den Rest des Jahrhunderts füllen. […] Immer wird die Schmuddeligkeit und Verworrenheit unserer übergehenden Zustände bewirken, daß eine neue Linke das Denken aufgibt und von der Vollkommenheit schwärmt; unausrottbar wird das Äußerste verlangt und das Tunliche mißachtet werden.920

Worauf Hacks zielt, ist demnach eine allgemeine Haltung, die er bereits 1973 in der DDR auf dem Vormarsch sah und in der er das Phänomen einer neuerlichen Romantik erblickte. Dementsprechend schreibt er in dem 1984 verfassten Begleitessay zu Die Vögel, dass diese nicht nur „tirilieren“, sondern auch „dissidieren“, und assoziiert sie umstandslos mit der Opposition in der DDR, zuvörderst mit seinem „ehemaligen Kollegen Heiner Müller“.921

5.6.2.3 Die Klassik und ihre Gegner: Das Jahrmarktsfest zu Plundersweilern In der 1973 verfassten Goethe-Bearbeitung Das Jahrmarktsfest zu Plundersweilern geht es um eine Kritik der Romantik als Kunstrichtung. Hacks schrieb das Stück für die befreundeten SchauspielerInnen Cox Habemma und Eberhard Esche, die auf der Suche nach einem für Tourneetheater mit kleiner Besetzung geeigneten Schauspiel waren. Die satirisch-polemische Anlage des Textes geht auf Goethes Vorlage von 1778 zurück, die bereits eine anspielungsreiche, am Fastnachtsspiel Hans Sachsʼ orientierte Posse auf den Darmstädter Kreis und dessen im Zeichen der Empfindsamkeit stehendes literarisches Programm ist.922 Hacks hat diese Grundtendenz des Textes

|| 920 Peter Hacks an Siegfried Matthus, 26. August 1973, Bl. 3f., DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit Siegfried Matthus. 921 HW 15, 191f. 922 Siehe zu Goethes Jahrmarktsfest: Johann Wolfgang von Goethe: Der junge Goethe 1757–1775, hg. von Gerhard Sauder. München 1985 (Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Bd. 1.1), S. 946ff. u. Eric Hadley Denton: Goetheʼs Mixed Media. The Entertainers in „Jahrmarktsfest zu Plundersweilern“. In: Goethe Yearbook 13 (2005), S. 19–52. Siehe zum Vergleich zwischen Hacksʼ und Goethes erster Version, auf die Hacks sich stützt: Ruth Ellen B. Joeres: Hereinspaziert! Hereinspaziert! Goethe and Hacks at the „Jahrmarktsfest zu Plundersweilern“. In: Germanic Review 51 (1976), H. 4, S. 259–277 u. Rémy Charbon: Plundersweilern hinter der Mauer. Peter Hacks bearbeitet Goethe. In: Edith Anna Kunz u.a. (Hg.): Figurationen des Grotesken in Goethes Werken. Bielefeld 2012, S. 61–78, insb. das Vergleichsschema S. 68. Siehe auch: Bosker, S. 85–109.

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beibehalten und aktualisiert, so dass sich das Jahrmarktsfest von 1973 als Beschreibung des Status quo der DDR-Literatur sowie als Kommentar über das Verhältnis von Kunst und Macht sowie Kunst und Publikum lesen lässt.923 Analog zur Vorlage, von dieser aber durch eine dreiaktige Struktur unterschieden, besteht das Stück zum einen aus in Knittelversen gehaltenen Jahrmarktsszenen und zum anderen aus einem in Alexandrinern verfassten Spiel im Spiel, dem auf das „Buch Esther“ des Alten Testaments zurückgehenden Esther-Drama, das auf dem Jahrmarkt aufgeführt wird. Plundersweilern, „mit Rußland verbündet“,924 steht für die DDR bzw. deren Hauptstadt: „Plundersweilern ward oft schon hingestellt / Als langweiligste Stadt der Welt. / So sagt Herr Braun, davor Herr Heym, / Vor dem Herr Brecht – ein alter Reim.“ (85) Die Erwähnung Volker Brauns, Stefan Heyms und Bertolt Brechts ist einer der direktesten Gegenwartshinweise des Textes, der darüber hinaus voller Anspielungen auf den literarischen Betrieb der DDR steckt. So weist der Amtsdiener dem Schattenreißer einen Platz vor dem „Lukas-Lazarett“ (55) zu, was auf die Verfemung von Georg Lukács nach 1956 verweist. Und in der Rede des Amtsdieners zu Beginn des Stücks findet sich ein Angriff auf Volker Braun, wenn es dort heißt: „– Ich sags auf deutsch für Hinz und Kunzen: / Die arme Sau kennst du am Grunzen. / Doch nun sie halt nichts Rechtes können, / Wir ihnen auch ein Plätzchen gönnen.“ (54) Die Beschreibung Brauns als ‚arme Sau‘, die ‚nichts Rechtes kann‘ bezieht sich auf dessen Stück Hinze und Kunze [1973]. Hacks zählte das Stück zu einer „schlechten Art von Aufklärung“ und erkannte in Braun einen Epigonen Brechts, Müllers, Langes und Hacksʼ, der „die Regeln der Dramatik nicht zur Kenntnis genommen“ habe und sich noch zehn Jahre später auf dem gleichen ungenügenden Boden bewege wie seinerzeit das Didaktische Theater.925 Der Verweis auf Volker Braun ist die einzige Anspielung des Stücks, die sich derart eindeutig entschlüsseln lässt; ein Hinweis auf Heiner Müller findet sich nicht. Insgesamt zielt die „literarisch-ästhetische Situationsanalyse“926 ohnehin nicht auf einzelne Autoren, sondern auf Kunstrichtungen. Die Aufklärung stellt eine von diesen dar. Für ihre unterschiedlichen Ausprägungen stehen im Stück der Schattenreißer und Dörte Schievelbusch. Der Schattenreißer, der seine Tätigkeit als „Gipfelzweig der Bildniskunst“ anpreist, weil sie sich der „Wissenschaft“ annähere und ihr so das Potential zukomme, etwas über „des Menschen Wesen“ (55) auszusagen, erinnert an Brechts Theorie des epischen Theaters und dessen Anspruch, durch die „Benutzung

|| 923 Vgl. Trilse: Das Werk des Peter Hacks, S. 239. 924 HW 5, 53. Im Folgenden werden Zitate nach dieser Ausgabe im Text nachgewiesen. 925 BD 1, 84 u. 56. Siehe auch: FR 53f. In einem späten Distichon mit dem Titel „Der Angestrengte“ heißt es in Bezug auf Volker Braun: „Schwer hat er neu sein, der Kleine. Alle abscheulichen Stücke / Schrieb Heiner Müller bereits, alle erhabenen ich.“ HW 1, 249. 926 Werner Mittenzwei, zit. n.: BD 1, 353.

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einiger Wissenschaften“ ein Theater für „die Kinder des wissenschaftlichen Zeitalters“ zu begründen, das der Unterhaltungsfunktion eine Funktion der Aufklärung über die Funktionsweise der Gesellschaft und die sie maßgeblich strukturierenden Verkehrsformen der kapitalistischen Ökonomie an die Seite stellt.927 Der Begriff der Wissenschaft fungiert gewissermaßen als Schlüsselwort, ein Begriff, den Hacks selbst in den 1950er Jahren mehrfach für seine Theaterbemühungen in der Nachfolge Brechts und im Kontext des Didaktischen Theaters verwendet hat. Was in der Figur des Schattenreißers, der ja nicht mehr tut, als einen Umriss, d.h. ein nur unzureichendes Bild, seines Gegenstands zu geben, angegriffen wird, ist also ein soziologisierendes und typologisierendes Theater, das glaubt, ,des Menschen Wesen‘ bzw. das Wesen der Gesellschaft in der Literatur und auf der Bühne allein durch gesellschaftlichsoziologische Abbildung zeigen zu können. Das von der Tochter des Magister Schievelbusch vorgetragene Gedicht namens „Vernunftreiche Gartenentzückung“ markiert die Steigerung eines solchen auf Politisierung zielenden Kunstprogramms, denn hier wird das Ästhetische, verstanden als das Schöne, auf der Grundlage einer gesellschaftlichen Nützlichkeitsüberlegung ganz aus der Kunst verwiesen:928 Die Kartoffel auch ist eine Blume. / Und mit gelben Federn blüht der Mais. / Und gereicht es nicht dem Dill zum Ruhme, / Wie er zierlich Frucht zu tragen weiß? / Ihr in Eurem Prunk und Wohlgeruche, / Stolze Rosen, bleiche Lilien, / Ließet nagen uns am Hungertuche, / Nur was nützet, ist vollkommen schön. (86f.)

Die Rückführung von Schönheit auf Nützlichkeit, erinnert an eine andere Form der literarischen Aufklärung, an die Kulturpolitik der SED der 1950er und frühen 1960er Jahre sowie die damit verbundene Literatur. Unter den Auspizien der Partei wurde die Kunst zu einer Kennziffer im Kampf um die für den Aufbau des Sozialismus lebenswichtige Produktionssteigerung, während Literatur, die sich diesem Ziel nicht verschreiben wollte, als unnütz angegriffen wurde. Das Gedicht übersetzt das in das Bild des Hungers, den Rosen und Lilien nicht stillen können. Nutzpflanzen müssen her: Die Kartoffel entspricht in diesem Sinne der Betriebsreportage, der Mais dem Aktivistenroman und der Dill der Trakoristenlyrik. Das Gegenbild einer solchen Literatur, die sich zwischen Aufklärung und Propaganda bewegt, nimmt der Magister Schievelbusch selbst ein. Als er auf den Prinzipal, den Leiter des in Plundersweilern gastierenden Theaters trifft,929 bittet er diesen, ihm

|| 927 GBA 22.1, 112 u. GBA 23, 70. 928 Den „halb positiven“ Stellenwert des Gedichts, den Trilse: Das Werk des Peter Hacks, S. 237 auf dessen „Materialismus“ zurückführt, kann ich nicht erkennen. 929 Unter einem Prinzipal, eine über das Lateinische herrührende Entlehnung aus dem Französischen (= der Erste, der Vornehmste), versteht man den Leiter eines Theaters oder einer Schauspieltruppe. Vgl. Grimm u. Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 13, Sp. 2129, online unter: http://woerterbuchnetz.de/DWB (zuletzt eingesehen am 9. April 2014).

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auf seiner „Laute“ etwas zur „Unterhaltung“ (81) vortragen zu dürfen. Der Prinzipal lässt den „geringe[n] Dorfpoet[en]“ (81), der gleichwohl „[w]ie ein Catulle getadelt“ sein will“ (82), entgegen seiner Abneigung gewähren, woraufhin Schievelbusch ein Lied vorträgt, das den Titel „Ausflug mit Aphrodite, oder: Herzerquickende Morgen-, Mittags- und Abendstunden“ trägt.930 Der ein erotisch-antikisierendes Liebessujet ankündigende Titel hält in mehrfacher Hinsicht nicht, was er verspricht: Die Verse des Liedes sind unbeholfen und das poetische Ich und Aphrodite finden nicht zueinander, vielmehr klingt das Lied statt in einer erotischen Vereinigung in einer prüden Freundschaftsbekundung aus. Der Magister erweist sich zudem als in seiner Reaktion wenig feinfühlig. Auf das vom Prinzipal verantwortete Drama angesprochen, beurteilt er das Esther-Spiel als Gegenteil von „Wahrheit und Geschmack“ (87), weil er dessen poetische Bilder für realistisch in einem platten Sinne nimmt, und bezeichnet dessen Verse als „liederlich und mangelhaft“, da sie gegen „Mutters Teutsch“ (88) verstießen. Damit ist auf die heroischen Alexandriner des Spiels im Spiel verwiesen. Der Magister ist ein bekennender „Regelfeind“ (88), der das ordnende, mit einer festen Zäsur nach der sechsten Silbe arbeitende Prinzip des Alexandriners ablehnt und demgegenüber freie Rhythmen bevorzugt: „Vom Herzen immer weg und hin / Geht teutscher Rede Biedersinn.“ (88) Diese Ablehnung spielt nicht allein auf die seit dem achtzehnten Jahrhundert verbreitete Verurteilung des vormals auch im deutschen Sprachraum verwendeten Alexandriners als undeutsch und gefühllos an, sondern komplettiert auch das Bild des Magisters, der einen Romantiker vorstellt, wie Hacks ihn versteht: Er lehnt die überlieferten literarischen Formen und Gattungen ab, erweist sich gegenüber dem eindeutig höher stehenden Prinzipal als missgünstig und neidisch, beurteilt alles nach unverbindlichen, weil von ihm selbst gesetzten Regeln – „Weil jede Sache nur soweit gilt, / Als sie passet in unser Bild.“ (89) – und setzt seine eigene, von Georg Hensel zu Recht im Kontext der „,neuen Sensibilität‘“ als „tugendhafte Empfindsamkeit“ beschriebene931 Subjektivität unter Absehung der Objekte als verbindlich. Den beiden unzureichenden Kunstauffassungen (der aufklärerischen und der romantischen), steht die klassische gegenüber. Sie wird von dem Prinzipal vertreten und im Spiel im Spiel verdeutlicht. Auf den gemeinsamen Angriff des Magisters und

|| 930 Der Name Schievelbusch verweist auf den Literaturwissenschaftler Wolfgang Schivelbusch, der Hacks während seiner Promotion besuchte und dessen politische Urteile Hacks ablehnte. Vgl. GmH 97. Schievelbuschs Promotion erschien im Druck aber erst nach der Abfassung der Jahrmarktsfests. Vgl. Schivelbusch. Neben dieser Namensanspielung erinnern die Attribute des Magisters (Gitarre und Singen) wie auch die Situation (unaufgefordertes Vorsingen) aber auch an Wolf Biermann. 931 Georg Hensel: Spielplan. Der Schauspielführer von der Antike bis zur Gegenwart. Berlin 2007 (Digitale Bibliothek. Bd. 165), S. 2167.

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seiner Tochter, der „verbeamteten Aufklärung“ und der „vergammelten Empfindsamkeit“,932 reagiert der Prinzipal, der die Realität der literarischen Verhältnisse angesichts ihrer Hegemonie „mit bescheidnem Sinn / […] als gegeben hin[nimmt]“ (89), mit einer programmatischen Rede. Wenn auch die Gegenwart nichts Gutes verheiße, so werde doch die Zukunft ein Zeitalter der „freie[n] / Poeterei“ (89) sein, das die Kunst nicht gesellschaftlichen Interessen ausliefere, sondern umgekehrt die gattungskonforme Maxime aufstelle: „Das Volk der Kunst“. (89) Unter diesem hohen Anspruch funktioniert denn auch das Esther-Spiel, dessen letzter Akt auf die Auseinandersetzung zwischen dem Prinzipal, dem Magister und seiner Tochter folgt. Im Unterschied zu Goethes Spiel im Spiel fungiert der Alexandriner hier aber nicht als Distanzmarker gegenüber der französischen Klassik; er ist vielmehr affirmativ eingesetzt, erkannte Hacks doch im Alexandriner-Drama und der französischen Klassik auf der Grundlage seiner Absolutismuskonzeption „die aktuellste Dramatik für die DDR“.933 Das ist nicht der einzige Unterschied zu Goethes Version. Wo Goethes Esther-Drama mit der Bitte Mardochais, sich beim König für ihn einzusetzen, endet (was Esther aber ablehnt, da getötet wird, wer sich Ahasveros ohne Aufforderung nähert), führt Hacks das Spiel im Spiel, der Erzählung im „Buch Esther“ entsprechend, zu einem glücklichen Ende.934 Zudem sind Mardochai und Haman bei Hacks zwei Dichter, sodass die Verfolgung Mardochais, die Haman beim König Ahasveros erwirkt, als Ausdruck einer Dichterfehde erscheint: „Er hat mich angeschwärzt, weil er auch Verse macht, / Worüber alle Welt, und das aus Gründen, lacht.“ (76) Interessant ist, dass das Argument, mit welchem Haman den König von der Schlechtigkeit der Juden bzw. Mardochais überzeugen will, mit Worten ausgeführt wird, mit denen Hacks auch die auf das Ideal ausgerichtete sozialistische Klassik beschreibt: „Auf Dinge, die nicht sind, geht stets der Dichter Trachten. / Wie soll man derlei Volk für zuverlässig achten?“ (62) Das ist kein Zufall, denn Mardochai stellt sich am Ende des Esther-Dramas, das im Gegensatz zu Goethe auch das Ende des gesamten Stücks bedeutet, als ein Vertreter des Klassischen heraus, der Vernunft und Liebe, die in den im Jahrmarkts-Teil des Stücks vorgestellten Literaturkonzeptionen als einseitige Extreme von Aufklärung und Romantik vorgestellt worden sind, miteinander vereint: „Es herrscht der Unsinn ja, wo nicht ein Philosoph. / Doch hoch beglückt das Land, wo Macht sich selbst entgleitet, / Von Liebe eingelullt, von Weltweisheit geleitet.“ (95) Das Spiel im Spiel hebt somit die in der Rahmenhandlung verhandelten Kunstkonflikte auf und stellt sich als klassische Lösung der Mitte aus, die nicht von ungefähr an die in Margarete in Aix entwickelte Kunstutopie erinnert, die dort, ebenfalls im Spiel im Spiel am Ende des von René erdachten Salomon-Spiels mit

|| 932 HW 15, 197. 933 BD 1, 357. Auch in Prexaspes [1968] finden sich dementsprechend bereits mit Prosa alternierende Alexandriner. 934 Vgl. Die Bibel, S. 520f. (Esther 6–7)

530 | Der Streit im literarischen Feld

ähnlichen Worten entwickelt wird: „Wie ist dein Name, Weisheit oder Torheit? / Mein Nam ist Weisheit, von Schönheit bezwungen.“935 Im Jahrmarktsfest kann die Klassik also noch die Position der Mitte behaupten. Im Unterschied zu den danach verfassten Stücken Die Vögel, Rosie träumt und Die Fische tritt die im Stück entfaltete Polemik am Ende in den Hintergrund. Das Auseinanderstrebende im Rahmen einer Synthese wieder zusammenzubringen und somit eine mögliche Utopie anzudeuten, gelingt Hacks erst 1979 wieder mit der Bearbeitung der Goethe’schen Pandora. Davor aber liegt eine Zeit, in der Hacks – von dem Haltungsdrama Senecas Tod [1977] abgesehen – zunächst keine Dramen mehr schrieb, ein ungewöhnlicher Umstand, bedenkt man, dass Hacks seit 1953 nahezu jeden Sommer ein Stück verfasste. Der Grund, so steht zu vermuten, lag nicht allein in der Sorge, mit den zahlreichen Stücken, die gleichzeitig auf den Bühnen der DDR gespielt wurden, „de[n] Markt […] halb totgequetscht“ zu haben, sondern ist auch in den Auseinandersetzungen im literarischen Feld zu finden, in die Hacks sich ab 1975 intensiv verwickelte.936

5.6.3

Die Romantik auf dem Theater: Der Kampf gegen das Regietheater

Das Verhältnis von Peter Hacks zum Theater war stets widersprüchlich. Hacks hielt die Institution Theater für „grundsätzlich literaturfeindlich“: „Das Theater haßt Dichtung. Es war Schmiere und will es bleiben.“937 Hacks zählt nicht zu den Dramatikern, die sich wie Brecht oder Heiner Müller für die Inszenierung ihrer eigenen Texte interessieren938 oder als Regisseure betätigen; er meinte vielmehr, AutorInnen seien die potentiell schlechtesten Regisseure ihrer eigenen Texte: „Autoren können nicht inszenieren, weil ihr Text sie nicht mehr anregen kann.“939 Wie auch die moderne Gesellschaft funktioniert das Theater arbeitsteilig. Die Bühnenumsetzung des Textes ist

|| 935 HW 4, 55. 936 Peter Hacks an den Henschel Verlag, 31. Oktober 1975, DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit dem Henschel Verlag. An Gerhard Piens schreibt Hacks von seinem festen Entschluss, „im Jahr 75 und im Jahr 76 überhaupt kein Stück zu machen. Ich habe anderes vor.“ Peter Hacks an Gerhard Piens, 10. Februar 1975, DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit Gerhard Piens. 937 FR 62. „Es gibt keine Gleichberechtigung zwischen Theater und Drama. Dem Drama gegenüber ist das Theater ein Überflüssiges; im Grunde hat das Drama seine eigene Aufführung schon besorgt. Drama ohne Theater ist Kunst, Theater ohne Drama kann, was immer es sein mag, nicht Kunst sein.“ HW 14, 149. 938 Vgl. HW 13, 160. 939 NIR 80.

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nach Hacksʼ Ansicht daher nicht die Arbeit des Autors. Dieser habe keine Regiekompetenz zu beanspruchen. Dementsprechend gering war Hacksʼ Interesse „für den Arbeitsprozeß auf der Bühne. Proben langweilen ihn.“940 Dennoch verfügte Hacks über eine konkrete Vorstellung, was die Aufgaben des Regisseurs sind, nämlich die unterschiedlichen Künste, die zu einer Inszenierung beitragen (Schauspielkunst, Skenographie und dramatischer Text), in ein stimmiges Gesamtkonzept zu bringen, dessen Ausgangspunkt der dramatische Text ist. Für Hacks bedeutet Theater Kommunikation. Eine Theateraufführung ist ein Kommunikationsprozess zwischen Autor und Publikum mittels des Kunstwerks. Hacks versteht sie als einen „Dialog zwischen Menschen über die Natur“: „[D]ie Gesellschaft [verhandelt] mit der Gesellschaft die Gesellschaft“.941 Einen solchen Kommunikationsvorgang in bestmöglicher Weise zu organisieren, ist das Geschäft des Regisseurs. Dazu zählen unterschiedliche Arbeitsvorgänge: Er [der Regisseur, R.W.] muß den Text begreiflich machen als einen literarischen Vorgang, er muß die Fabel begreiflich machen als einen Vorgang, der innerhalb des Bühnenraumes stattfindet, er muß ihn übersetzen in Bewegungen innerhalb des Bühnenraumes, und er muß drittens die gesellschaftliche und realistische Wahrheit des Stücks begreiflich machen, indem er die Natur nachahmt […]. Die Menschen müssen menschenähnlich sein, und ihre Handlungen müssen den Handlungen von Menschen ähneln, in welcher Übersetzung auch immer, in welcher ästhetischen Sprache immer, aber sie müssen sich noch ähneln als Menschen, als solche erkennbar sein.942

Entscheidend sind also drei ineinandergreifende Kriterien: Fabel, Räumlichkeit943 und Gestus/Psychologie.944 Besonderen Wert legt Hacks auf die „Übersetzung von Fa-

|| 940 GmH 25. 941 HW 13, 107 u. HW 13, 428. Siehe zu den rezeptionsästhetischen Implikationen von Hacksʼ Theaterauffassung: Kap. 4.5.10. 942 FR 92. Siehe auch: NIR 79. 943 Wesentlich für die Raumstruktur ist das Bühnenbild. Als vorbildlich gilt Hacks hier Karl von Appen, der 1956 auch das Bühnenbild zu Der Held der westlichen Welt, Hacksʼ erster Inszenierung in der DDR, entwarf. Appen erarbeitete auch die Bühnenbilder zu den Inszenierungen von Polly oder Die Bataille am Bluewater Creek in Halle (1965) und von Senecas Tod in Berlin (1980). Siehe zu Karl von Appen: Karl von Appen: Altes und Neues. Bilder und Texte. Berlin 1975, wo sich zu Beginn auch ein Werkverzeichnis 1945–1975 findet. Siehe auch den Band: Karl von Appen u. Friedrich Dieckmann: Karl von Appens Bühnenbilder am Berliner Ensemble. Szenenbilder, Figurinen, Entwürfe und Szenenphotos zu achtzehn Aufführungen. Berlin 1971 sowie Hacksʼ Text „Appen-Thesen“ [1979]: HW 13, 298f. 944 Hacks formuliert sehr allgemein: ‚in welcher ästhetischen Sprache immer‘. Die sich nach strengem Verständnis ausschließenden Begriffe des Gestus und der Psychologie werden daher gemeinsam genannt.

532 | Der Streit im literarischen Feld

belstruktur in Raumstruktur“, eine Fähigkeit, die er besonders Benno Besson zuschreibt; ebenso lobt er die Gestik bzw. Psychologie Brechts und Wolfgang Heinzʼ.945 Das eigentliche Regie-Vorbild Hacksʼ war aber Wolfgang Langhoff, dessen Inszenierung von Lessings Minna von Barnhelm am Deutschen Theater er für die Aufführung hielt, „die einer guten Regie am nächsten kommt“.946 In Langhoff erkannte er den Gipfelpunkt der Regiekunst in der DDR. Hacksʼ Theatervorstellungen sind explizit anti-modern. Verbindlich ist die Guckkasten- bzw. Kulissenbühne. Sie allein sei klassischem Drama angemessen, weil sie zugleich „der Ort ist und der Ort auch nicht“ ist; sie verharrt also zwischen der symbolischen Andeutung der Stilbühne und der konkret-dinglichen Vergegenwärtigung der naturalistischen Bühne. Zudem ermögliche die Kulissenbühne „das Erscheinen dramatischer Strukturen“, indem sie das „Bauprinzip“ des Dramas mittels des Vorhangs betone. Die Distanz zwischen Zuschauerraum und Bühne setze das Publikum in die Freiheit „ästhetische[r] Mündigkeit“, da der Zuschauer „ein sowohl Mitvollziehender als Beobachtender“ sei. Als ein „Geschmacksurteilender“ sitze er der Darbietung gegenüber und werde nur so weit in diese hineingezogen, wie er will. Wie hinsichtlich der Ästhetik orientierte sich Hacks also auch in Fragen der Bühneneinrichtung am neunzehnten Jahrhundert: „Der vorläufig letzte stimmige Ausstattungsstil war der der Meininger.“947 Der Kulissenbühne entsprechend gilt Hacks das Hoftheater daher als das eigentliche Theater. Dieses verfüge im Vergleich zu den modernen Volkstheatern nicht nur über die bessere Akustik und Optik,948 sondern garantierte schon baulich durch die Trennung von Bühne und Proszenium bzw. Bühne und Zuschauerraum den ästhetischen Kommunikationsprozess als einen dialektischen Prozess von Distanz und Beteiligung.949 Womit allerdings nicht direkte, physische Beteiligung gemeint ist; das Bühnengeschehen funktioniert, wie Hacks unter Verweis auf Goethes „Regeln für Schauspieler“ ausführt, ähnlich wie ein Tafelbild: „Die Figuren sind, wie im Gemälde, zugleich um ihret und um des Betrachters willen da. Sie zeigen sich im Bild, aber kommen nicht aus ihm heraus. Sie spielen für

|| 945 FR 92. 946 FR 92. Die Inszenierung hatte am 30. März 1960 Premiere. In der Arbeitsgruppe Dramatik äußerte Hacks: „Das beste Theater, das es auf der Welt gab, war das, was Langhoff gemacht hat, als er von Brecht beeinflußt war.“ BD 2, 228. 947 Alle vorigen, nicht gekennzeichneten Zitate: HW 13, 298f. Die ‚Meininger‘ ist der gebräuchliche Name für das Meininger Hoftheater, das Ende des neunzehnten Jahrhunderts europaweit für Aufsehen sorgte. Vgl. Andreas Kotte: Theatergeschichte. Eine Einführung. Köln u.a. 2013, S. 351–354. André Müller sen. formulierte in diesem Zusammenhang in Bezug auf eine Dresdener Inszenierung, die Hacks sehr gefiel: „Die Inszenierung kann auch wie eine von 1890 sein, und ich bin sicher, Hacks würde sie jeder modernen Inszenierung vorziehen.“ GmH 90. 948 Vgl. HW 13, 328f. 949 Siehe zum Theaterbau des Absolutismus: Manfred Brauneck: Die Welt als Bühne. Geschichte des europäischen Theaters. Zweiter Band. Stuttgart/Weimar 1996, S. 415–423.

Hacksʼ Kampf gegen die Romantik | 533

den Zuschauer, nicht an ihm.“950 Im modernen Volkstheater falle die Trennung von Bühne und Zuschauerraum weg, was fatale Konsequenzen habe: Keine Achtung vor der Rampe gilt mehr; sie wird erst bespielt, dann überspielt und endlich von Baggern eingeebnet. Aus dem Parkett werden die Stühle gerissen. Das Publikum muß stehen, das Publikum muß laufen; zu irgendeinem Zeitpunkt wird es zur Vorstellung überhaupt nicht mehr zugelassen: die Komödianten haben, in einem urwaldmäßigen Go-In, den Saal besetzt. Die architektonischen Zustände, die das weiterschreitende Volkstheater durchläuft, sind zunächst die Fabrik und hiernach, mit vollkommenem ästhetischen Recht, das vom Finanzminister eingesparte Theater.951

Man merkt den Sätzen die Polemik gegen das in den 1970er Jahren sich mehr und mehr durchsetzende Regietheater an.952 Denn auch in der DDR galt die in der BRD schon ab den 1960er Jahren auf breiter Front bröckelnde Ansicht, dass sich das Theater möglichst genau am dramatischen Text zu orientieren habe, längst für veraltet.953 Hacks zeigte sich daher mit den Leistungen der DDR-Theater immer unzufriedener. Auf die „fetten Theaterjahre[ ]“ der 1960er Jahre folgten die „magern Jahre“: Die Augenweiden schrumpften. Wo einst klassische Stiere und Widder sich mästeten, nagten ganz naturalistisch verelendete Ochsen und Schöpse mürrisch an welken Halmen; einige von ihnen, vor Hunger toll geworden, drehten sich auf immer demselben Fleck, verrenkten die Gliedmaßen und schrien abstoßend. Selbst die Mumie der heiligen Kuh Brecht, nachdem sie bei schlechter Pflege vom Fleisch gefallen war, zeigte erstaunliche Mißbildungen des Skeletts. Frank und unbiblisch gesprochen: die Schauspielhäuser waren verödet, weniger im Zuschauerraum als auf der Bühne.954

Mitte der 1970er Jahre befanden sich die Berliner Theater, die als Hauptstadt-Theater für Hacks maßgeblich waren, „in einem Zustande des vollständigen Verfalls und der

|| 950 HW 13, 330. Vgl. Goethe 12, 260, § 85. 951 HW 13, 331. 952 Unter Regietheater wird im Folgenden eine Regiepraxis verstanden, die den inszenierten Text ganz der interpretierenden Perspektive des Regisseurs unterwirft und somit den Regisseur zum eigentlichen Urheber der Inszenierung macht. Die Entwicklung zu einem solchen Theater setzte bereits Ende des neunzehnten Jahrhunderts ein. Vgl. Guido Hiß: Synthetische Visionen. Theater als Gesamtkunstwerk von 1800 bis 2000. München 2009, S. 123ff. Die Emanzipation des Theaters vom Dramentext erhält dann vor allem ab den 1960er Jahren mit der Anwendung einer solchen interpretierenden Inszenierungsart in Bezug auf alte bzw. klassische Dramentexte neue Impulse. Siehe hierzu: Günther Rühle: Anarchie in der Regie? Frankfurt/M. 1982, S. 92–124. 953 Vgl. Irmer u. Schmidt: Die Bühnenrepublik, S. 137–140. Siehe zum BRD-Theater die aufschlussreiche Studie: Dorothea Kraus: Theater-Proteste. Zur Politisierung von Straße und Bühne in den 1960er Jahren. Frankfurt/M./New York 2007. 954 HW 13, 129. Siehe auch das Gedicht „Theaterrede“: HW 1, 217.

534 | Der Streit im literarischen Feld

endgültigen Verrottung“; sie hätten insgesamt „aufgehört Stücke zu spielen“.955 Stattdessen würden die Bühnen von den Einfällen der Regisseure beherrscht, so dass es „kaum noch lohnt, Stücke zu schreiben“.956 Als im negativen Sinne beispielhaft galten Hacks die Fräulein Julie-Inszenierung B. K. Tragelehns und Einar Schleefs am Berliner Ensemble sowie die Inszenierung von Müllers Schlacht durch das Regie-Duo Manfred Karge und Matthias Langhoff in der Volksbühne.957 Vorläufer einer solchen Entwicklung erkannte Hacks aber bereits in den 1960er Jahren in den Inszenierungen Manfred Wekwerths am Berliner Ensemble.958 Die Entwicklung des Theaters hängt nach der Meinung Hacksʼ eng mit der kulturpolitischen Entwicklung zusammen. Nach der dogmatischen Bevormundung durch die Theaterpolitik in den 1960er Jahren hätten sich die Theater in dem kulturpolitischen Vakuums der 1970er Jahre dem Zeitgeist ausgeliefert und spielten „lauter West-Unsinn“.959 Anstatt an die Bemühungen eines politisch und ästhetisch hochstehenden Theaters der 1960er Jahre anzuknüpfen, betrieben die Regisseure und Intendanten „West-Hurerei“,960 d.h. sie griffen jene Ideen und Konzepte auf, die durch die modernen Theater und Theatergruppen in den USA, England und der BRD erprobt worden waren. Die Theater hatten sich „geschlossen zur romantischen Schule“ geschlagen.961

5.6.3.1 Der Kampf gegen die Regisseure Aus der Einsicht heraus, dass die meisten Intendanten und Regisseure „kaputt“ und „impermeabel“962 seien, und um nicht in die Maschine des Regietheaters zu geraten, versuchte Hacks in den 1970er Jahren verstärkt Einfluss auf die Auswahl von Regisseuren zu nehmen. Ein Beispiel hierfür ist die Auseinandersetzung um die Inszenierung von Amphitryon am Deutschen Theater. Das DT hatte Hacks im Februar 1969 || 955 FR 18 u. 89. 956 NIR 79. 957 Strindbergs Fräulein Julie (10. April 1975); Müllers Die Schlacht (30. Oktober 1975). Christoph Müller bezeichnete die Fräulein Julie-Inszenierung als „keckste[n] Provo-Schocker der Saison“ und als „wild hämmernde[ ] Beat-Orgie ekstatisch zuckender Leiber“. Christoph Müller: „Julie“-Schocker. In: Th 15 (1975), H. 5, S. 1. Die Inszenierung wurde nach zehn Aufführungen abgesetzt. 958 Vgl. BD 2, 85. In einem späten Brief heißt es: „Die Einführung des reaktionären antirealistischen Bühnenstils, des sogenannten Regietheaters, war das Werk Wekwerths: praktisch im Berliner Ensemble, theoretisch vermöge seiner Dissertation, welche die gegen uns andrängenden westlichen Theoreme übernahm.“ AEV 138 (Peter Hacks an Kurt Gossweiler, 31. Dezember 1998). Siehe Wekwerths Dissertation: Manfred Wekwerth: Theater und Wissenschaft. Überlegungen für das Theater von heute und morgen. München 1974. 959 NIR 80. Vgl. HW 13, 136. 960 Mamama 533 (Peter Hacks an Elly Hacks, 31. Januar 1971). 961 HW 13, 135. 962 FR 19 u. NIR 81.

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mitgeteilt, dass es Interesse gebe, das Stück zu spielen, und Uta Birnbaum als Regisseurin vorgeschlagen, die bereits 1966 die Uraufführung von Hacksʼ Der Schuhu und die fliegende Prinzessin verantwortet hatte.963 Nachdem Hacks eine erste Konzeptionsskizze übersandt worden war, stimmt er der Anfrage zu, behielt sich allerdings „das Recht der Mitbestimmung“ bei einem etwaigen Regiewechsel vor und bestand auf einer Terminvereinbarung, so dass im Falle, das Stück werde in der Spielzeit 1970/71 nicht realisiert, eine Vertragsstrafe von 3.000 Mark fällig würde; zudem gewährte er dem DT bis zum 15. März, also lediglich knapp zwei Wochen, Zeit, einen Vertrag abzuschließen.964 Hans-Rainer John meldete daraufhin Bedenken wegen der Regieklausel an und argumentierte: [D]as wäre ein absoluter Präzedenzfall, den wir nicht schaffen wollen, weil er unreal ist. Er würde nur Vertragsunsicherheit schaffen, an der beiden Seiten nicht gelegen sein kann. Denn was tut die den Vertrag eingehende Theaterleitung beispielsweise, wenn sich Autor und Regisseur im Falle einer Besetzung nicht einigen könnten?965

Des Weiteren lehnte John Hacksʼ Vorschlag, das Stück nicht, wie geplant, in den Kammerspielen, sondern im Großen Haus des DT zu spielen, ab. Im Juni kam dann doch ein Vertrag zustande, der auch die Regieklausel enthielt, die Aufführung aber verzögerte sich, so dass die Aufführungsfrist bis Ende 1971 verlängert wurde.966 In der Zwischenzeit hatten sich aber die Umstände verändert. Uta Birnbaum war nicht mehr für die Regie vorgesehen und Hanns Anselm Perten, vormals am Volkstheater Rostock, war neuer Intendant des DT geworden. Hacks und Perten waren bereits in den 1950er Jahren im Kontext der Auseinandersetzungen um das Didaktische Theater aneinander geraten967 und Hacks machte aus seiner Ablehnung Pertens, den er eher für einen Funktionär, denn für einen Künstler hielt, keinen Hehl. In einem Brief an Heinar Kipphardt schrieb er im November 1969, dass mit Perten „das DDR-Theater definitiv liquidiert wäre“; wenig später wettete er sogar mit Friedo Solter und André Müller sen. um zwölf Flaschen Champagner, dass sich Perten in Berlin nicht länger als eine

|| 963 Vgl. Hans-Rainer John an Peter Hacks, 17. Februar 1969, DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit dem DT. Schuhu hatte am 29. April 1966 an der Staatlichen Schauspielschule in Berlin Premiere. 964 Peter Hacks an Hans-Rainer John, 2. März 1969, DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit dem DT. 965 Hans-Rainer John an Peter Hacks, 10. März 1969, DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit dem DT. 966 Vgl. Peter Hacks an Hanns Anselm Perten, 15. März 1970, DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit dem DT. Der Vertrag, in welchem Hacks sich, wie aus dem weiteren Kontext hervorgeht, hinsichtlich der Regieklausel durchsetzen konnte, wurde leider nicht aufgefunden. Dass es einen Aufführungsvertrag mit dem Unterzeichnungsdatum vom 18. Juni 1969 gab, geht aber aus einem Brief des DT an Hacks vom 21. Dezember 1970 hervor. DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit dem DT. 967 Vgl. Stuber, S. 176f.

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Spielzeit werde halten können.968 In der Folge betrieb Hacks „ein wenig Theaterpolitik“,969 d.h. er versuchte gegenüber Perten seinen Wunschregisseur Friedo Solter durchzusetzen. Im Nachlass von Hacks befindet sich ein dreiseitiges Telefonprotokoll, das Hacks nach einem Gespräch mit Perten im September 1970 erstellte. Laut Protokoll orientierte Hacks auf eine Konfrontation. Nicht nur lehnte er Pertens Wunsch, Amphitryon selbst zu inszenieren, ab und gab ihm zu verstehen, dass er ihn nicht als Intendanten gewollt habe, er erklärte ihm auch offen seine Feindschaft: H: Entschuldigen Sie, jetzt greifen Sie aber sehr weit vor. Habe ich richtig verstanden, daß Sie selbst Amphitryon zu inszenieren vorhaben? P: Das haben Sie richtig verstanden. H: Aber, Herr Perten, so verzweifelt ist die Lage doch noch nicht. P: Inwiefern verzweifelt? H: Ich bin sicher, daß es uns gelingt eine Lösung zu finden. P: Würden Sie mir bitte diese Äußerung erläutern? H: Nun, schauen Sie. Sie haben niemals etwas von mir gehalten und ich niemals etwas von Ihnen. Wir können doch nicht plötzlich ein öffentliches Beilager miteinander vollziehen. P: Ich habe nicht vor, mich vor Ihnen zu rechtfertigen... H: Um Gotteswillen, nein. P: Tatsachen sind: ich habe Solter angeboten, Ihren Heinrich IV zu inszenieren, mit Heinz als Falstaff. Ich hatte Amphitryon bereits für den Rostocker Spielplan vorgesehen, warum? Weil ich Ihr Stück für gut halte, weil ich etwas für mich darin gefunden habe. Jeder wird dieses Motiv verstehen und nichts anderes dabei denken. H: Herr Perten, wir sind doch beide sehr berühmte Leute. Die Welt ist ziemlich unterrichtet über das, was wir denken. Wenn wir von einem auf den anderen Tag Haß in Liebe umwandeln, machen wir uns ja lächerlich, Sie wie ich. P: Ich habe niemals jemanden gehaßt. H: Haß war metaphorisch. Sagen wir präzis: künstlerische Meinungsverschiedenheiten. P: Ich rede von diesem einen Stück, das mir gefällt. Ich halte mich nicht bei früheren Meinungen auf, ich löse Fragen im Vorwärtsschreiten. H: Nun, wenn es bei Ihnen Meinungen waren, bei mir waren es Urteile. Die ändern sich weniger leicht. Sie müssen schon davon ausgehen, daß wir verschiedene Leute sind.970

Da Perten aufgrund des bestehenden Vertrags, den er, wie es im Protokoll heißt, „von der vorigen Direktion habe übernehmen müssen“, kaum Spielraum blieb, kam es schließlich im Dezember 1970 zur Auflösung des Vertrags, was Hacks als Alternative zu dem von ihm vorgeschlagenen Regisseur Solter angeboten hatte.971 Kurze Zeit später einigten sich das DT und Hacks auf einen neuen Vertrag. In diesem hatte Hacks

|| 968 DWF 119 (Peter Hacks an Heinar Kipphardt, 30. November 1969). Siehe zur Wette: GmH 52. 969 DWF 12 (Peter Hacks an Heinar Kipphardt, 2. Juli 1970). 970 Telephongespräch über Amphitryon. Nach der Natur und unverbessert von Peter Hacks, 28. September 1970, DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit dem DT. 971 Telephongespräch über Amphitryon. Nach der Natur und unverbessert von Peter Hacks, 28. September 1970, DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit dem DT.

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sich auf ganzer Linie durchgesetzt; unter Punkt 9 „Über Regie, Bühnenbild, Musik und Besetzung sind folgende Abmachungen getroffen“ heißt es: „Regie führt Herr Friedo Solter. Im Fall seiner Verhinderung besetzt das Theater den Regisseur im Einvernehmen mit dem Autor.“972 Die DDR-Erstaufführung von Amphitryon fand schließlich unter der Regie Solters am 7. November 1972 im Großen Haus des DT statt und wurde von Hacks als „ehrbares Mittelmaß“ beurteilt.973 Dass Hacks so beharrlich auf Mitsprache bei der Regieauswahl drängte, hängt mit dem Spielort Berlin zusammen. Hacks fasste Berlin als seine Theaterstadt auf und das Ostberliner Publikum als „optimal“: [E]s ist ein Hauptstadt-Publikum, es ist, man darf es nicht vergessen, das Publikum einer außerordentlich traditionsreichen Theaterstadt. Es ist ein Publikum, das wirklich, von diesem preußischen Temperament her, meine Sorte von Wirkungen mag. […] Und es ist eben dieses neue sozialistische Publikum, das aus einer doch eben gebildeten Intelligenz, aber auch einem sehr gebildeten Laienstande und auch aus Mächtigen, die nicht dumm sein müssen, zusammengesetzt ist.974

In der Hauptstadt der DDR wollte Hacks seine Texte daher, in seinem Sinne, angemessen gespielt sehen; Ostberlin verstand er als sein „Reservat für Anstand“, wie er gegenüber Perten äußerte.975 Für die DDR der 1970er Jahre sind Verhandlungen zwischen einem Autor als einzelnem Rechtssubjekt und einem Theater ungewöhnlich. Normalerweise ließen sich die AutorInnen vertreten. Für Theatertexte existierte in der DDR aber lediglich ein Verlag, der seit 1952 parteieigene Henschel Verlag, dem eine Art Monopolstellung zukam und der bei der Annahme von Theaterstücken entsprechend wählerisch war.976 1967 hatte Henschel Hacksʼ Stück Margarete in Aix abgelehnt, da der Text, wie das MfS berichtet, „zu viele offensichtliche Mehrdeutigkeiten“ enthielt.977 Hacks zeigte sich über die Ablehnung verärgert und hatte dem Henschel Verlag in der Folge keine

|| 972 Aufführungsvertrag zwischen Peter Hacks und dem DT zu Amphitryon, 10. Januar bzw. 27. Januar 1972, DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit dem DT. 973 NIR 81. 974 FR 16f. 975 Telephongespräch über Amphitryon. Nach der Natur und unverbessert von Peter Hacks, 28.9.1970, DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit dem DT. 976 Vgl. Hammerthaler, S. 195ff. 977 Zit. n.: DLA, A: Hacks, MfS-Akte Peter Hacks (15. April 1967, BStU 000050). Siehe zur Diskussion über Margarete in Aix: Kap. 4.6.3.8.

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weiteren Stücke mehr angeboten. Stattdessen vertrieb er fortan seine Stücke in Eigenregie.978 Als Henschel zu Beginn der 1970er Jahre Interesse an den Stücken Amphitryon und Omphale anmeldete, reagierte Hacks daher zunächst zögerlich. Es dauerte schließlich noch eineinhalb Jahre, bis er sich mit dem Verlag auf einen Generalvertrag einigte, der die Vertretung durch Henschel in der DDR sowie den RGW-Ländern vorsah. Hacksʼ besondere Bemühungen gegen das Regietheater und zum Schutz seiner Texte sind auch in diesen Vertrag eingegangen: Zum einen ließ er sich eine „werktreue Wiedergabe“ zusichern und bestimmte Henschel dazu, Aufführungen zu verhindern, „die in böswilliger oder unzumutbar fahrlässiger Weise die Absichten des Textes beschädigen“; zum anderen klammerte Hacks die Berliner Bühnenrechte aus dem Vertrag aus, nahm auf Berliner Inszenierungen also weiterhin direkten Einfluss.979 Besonders die Frage der werktreuen Wiedergabe rückte in den 1970er Jahren in den Mittelpunkt von Hacksʼ Aufmerksamkeit, ließ sich doch mit der Berliner Entscheidungsbefugnis über Vertragsabschlüsse allein noch kein direkter Einfluss auf die Auswahl der Regie ausüben. Hierin reflektiert sich auch die Erfahrung, die Hacks am 16. April 1972 mit der Uraufführung seiner ersten, gemeinsam mit dem Komponisten Siegfried Matthus verfassten Oper Noch ein Löffel Gift, Liebling? [1971] machte. Walter Felsenstein, der Intendant der Komischen Oper, hatte den zu Beginn der 1970er Jahre bereits international erfolgreichen Regisseur Götz Friedrich mit der Inszenierung betraut. Hacks hielt wenig von diesem und überwarf sich schnell mit ihm. In einem Brief an Elly Hacks schreibt er: „Von ihren schlechten Regisseuren haben sie mir nun den schlechtesten gegeben, einen Quidam namens Friedrich.“980 Nach Hacksʼ Meinung war die Oper ein Durchfall, da Friedrich „Musik und Dramaturgie mit gleicher Gewissenhaftigkeit vernichtet“ habe.981 Ähnlich, wenngleich weniger scharf, urteilte auch die Kritik, die von einer „szenisch unglückliche[n] Uraufführung“ schrieb und „merkwürdige Mißdeutungen der Figuren“ beklagte.982 Vor allem sei die Inszenierung von einer „ermüdenden Länge“ gewesen, was einerseits Hacks und

|| 978 Das MfS fürchtete zeitweise, Hacks würde gemeinsam mit anderen AutorInnen eine „freie Agentur“ schaffen, die „gewissermaßen auf privatwirtschaftlicher Basis die Stücke ‚ohne Zensur‘ verwertet.“ Zit. n.: DLA, A: Hacks, MfS-Akte Peter Hacks (6. März 1972, BStU 000107). 979 Vgl. den später als „Generalvertrag“ bezeichneten Vertrag, der am 1. Juni 1972 in Kraft trat. DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit dem Henschel Verlag; das Zitat dort: § 2 d). Die Ausklammerung Berlins aus dem Vertrag wird in § 1 b) geregelt. 980 Mamama 542 (Peter Hacks an Elly Hacks, 28. März 1971). 981 Peter Hacks an James Krüss, 24. April 1972, DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit James Krüss. 982 Hansjürgen Schaefer: Das Eigene und das Fremde. Anmerkungen zu „Noch ein Löffel Gift, Liebling?“. In: Musik und Gesellschaft 23 (1973), S. 535 u. Hansjürgen Schaefer: Das Heitere, das so schwer zu machen ist. Komische Kriminaloper nach Matthus aufgeführt. In: ND, 22. April 1972, S. 4.

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Matthus, andererseits Götz Friedrich angelastet wurde.983 Ungeachtet der Kritik an Libretto und Komposition lag die Verantwortung für den Durchfall für Hacks eindeutig bei Götz Friedrich, schon allein deshalb, weil er in der am 9. Juni 1972 erfolgten Eisenacher Inszenierung der Oper durch Harald Joachim einen großen Erfolg sah, der er, wie er Horst Seeger, dem Chefdramaturgen der Komischen Oper, schrieb, „weder künstlerisch noch konzeptionell etwas hinzuzufügen“ habe.984 Weitere Vorstellungen wurden an der Komischen Oper auf Hacksʼ Intervention hin zunächst abgesagt; eine Erkrankung der Sängerin Jutta Vulpiusʼ führte dann dazu, dass an eine Wiederaufnahme bis zum Ende der Spielzeit ohnehin nicht mehr zu denken war. Hacks drängte auf einen anderen Regisseur, zunächst Harald Joachim, später dann Benno Besson. Zu einer Verständigung zwischen Hacks und Friedrich, der im Winter 1972 nach einer Gastinszenierung in Stockholm nicht mehr in die DDR zurückkehrte und wenig später ein Engagement an der Hamburgischen Staatsoper übernahm, kam es nicht mehr. Die Oper wurde in Berlin nicht wiederaufgenommen. Der Misserfolg der Oper war Hacks Anlass zu einer grundsätzlichen Abrechnung mit dem Regietheater. Im sechsten Heft von Sinn und Form veröffentlichte er Ende 1972 unter dem Titel „Geschichte meiner Oper“ die fiktive Erzählung einer scheiternden Operninszenierung, die sich leicht als Polemik gegen Götz Friedrich entschlüsseln lässt.985 In der später nicht mehr mitabgedruckten „Anmerkung des Verfassers“ legt Hacks zudem offen, worum es ihm mit dem Text geht:

|| 983 Wolfgang Lange: Sing mir das Lied vom Mord. Zur Uraufführung von Matthusʼ / Hacksʼ „Noch ein Löffel Gift, Liebling?“ an der Komischen Oper Berlin. In: TdZ 27 (1972), H. 7, S. 4. Kritischer gegenüber Hacks/Matthus äußerte sich Manfred Schubert. Vgl. Manfred Schubert: Komische Opern sind immer ein Risiko. Musikalische Kriminalkomödie von Hacks und Matthus uraufgeführt. In: BZ, 20. April 1972, S. 6. Siehe auch: Manfred Grabs: „Noch einen Löffel Gift, Liebling?“. Notizen nach der Uraufführung der Oper von Peter Hacks und Siegfried Matthus. In: Mitteilungen der Deutschen Akademie der Künste zu Berlin 10 (1972), H. 4, S. 17 u. Wolfram Schwinger: Krimigroteske – mit Musik verdünnt. In: SZ, 19. April 1972. 984 Peter Hacks an Horst Seeger, 6. Juli 1972, DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit der Komischen Oper. Siehe zur Eisenacher Inszenierung: Wolfgang Lange: Noch einen Löffel Gift, Liebling? Landestheater Eisenach. In: TdZ 27 (1972), H. 9, S. 57 u. Christa Müller: Anmerkungen nach der Eisenacher Premiere der Oper von Peter Hacks und Siegfried Matthus. In: Mitteilungen der Deutschen Akademie der Künste zu Berlin 10 (1972), H. 4, S. 17–18. 985 Vgl. HW 9, 77–100. Die fiktive Erzählung über den Durchfall der Oper „Ariadne auf Naxos“ stimmt in zahlreichen Details mit dem Realgeschehen überein. So berichtet der Sänger Hans-Martin Nau nachträglich von Friedrichs jähzornigem Verhalten gegenüber seinen Mitarbeitern. Vgl. Ivo Zöllner: „Diese ausdrucksvollen Züge!“. Streiflicht: Kammersänger Hans-Martin Nau. In: Der neue Merker 22 (2009), H. 155, online unter: http://www.der-neue-merker.at/druck.php?area=33&pgm_00013_id=60&pgm_00040_id=23 (zuletzt eingesehen am 15. April 2014), was auch in der Erzählung reflektiert wird; und auch der bereits anlässlich der Uraufführung beklagte sächsische Dialekt der Sängerin Gisela Pohl findet sich dort als „Arie im Leipziger Tonfall“. HW 9, 91.

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Der Bericht „Geschichte meiner Oper“ schildert, in metaphorischer Form aber – ich versichere es ausdrücklich – mit genauester Treue des Details, die Probenarbeit des Regisseurs Götz Friedrich bei der Uraufführung der Oper „Noch einen Löffel Gift, Liebling?“. Während der Drucklegung erfuhr ich von dem Entschlusse, meines Helden, sein Tätigkeitsfeld zu verlegen – einem Entschlusse, den ich, im Namen des Berliner Publikums, mit ungetrübtem Vergnügen begrüßen würde, wenn mir nur das Hamburger Publikum nicht so sehr leid täte. Ich habe eine Weile darüber nachgedacht, ob sich, angesichts der verbesserten Lage, der Abdruck meiner Erzählung erübrige. Ich bin zu der Meinung gelangt, ich sollte sie drucken lassen. Erstens erreicht sie ihren Adressaten auch dort, wo er ist, und zweitens befinden sich unter den im Lande verbliebenen Personen solche, die, obgleich ich mich nicht mit ihren besonderen Taten befasse, aus der Beschäftigung mit diesem warnenden Beispiel vielleicht doch einigen Gewinn auch für ihre eigenen, im Grunde ja nicht unedlen Seelen zu ziehen vermöchten.986

Mit den ‚im Lande verbliebenen Personen‘ stritt Hacks sich auch im weiteren Verlauf der 1970er Jahre um die Frage, was eine angemessene Regie sei. Wie wenig er bereit war, insbesondere in Berlin Kompromisse einzugehen, zeigt die Auseinandersetzung um die DDR-Erstaufführung der Margarete in Aix (14. Oktober 1973), ein Stück, das Hacks als eines der ersten seiner klassischen Dramen besonders schätzte und von dem er, wie André Müller sen. vermutet, sehr konkrete Inszenierungsvorstellungen besaß.987 Sowohl die Basler Uraufführung (23. September 1969) als auch die westdeutsche Erstaufführung des Stücks in Göttingen und Wuppertal (8. November 1969) waren Misserfolge gewesen. In eine DDR-Premiere setzte Hacks daher große Hoffnungen. Die Regie verantwortete Benno Besson, mit dem Hacks in den 1960er Jahren gute Erfahrungen gemacht hatte. Der von Besson eingerichtete Frieden war einer der größten Theatererfolge Hacksʼ, auch dessen Schöne Helena blieb lange in den Spielplänen, und Moritz Tassow lobte Hacks als „Bessons beste Inszenierung“ und als „Höhepunkt der Höhepunkte“.988 Gleichwohl war Hacks immer auch skeptisch gegenüber Besson; er schätzte zwar dessen auf große Gesten setzenden Inszenierungsstil, gleichwohl misstraute er der betonten Volkstümlichkeit seiner Inszenierungen und hielt ihn für eigenwillig und tendenziell westorientiert. Im Oktober 1967 kam es zum Bruch, als Hacks die von Besson verantwortete Premiere des Stücks Der Lorbaß von Horst Salomon bereits nach dem ersten Bild verließ. André Müller sen. schreibt: „In der Pause steht er mit der Garderobe vor dem Ausgang und wartet auf die Frauen. […] [D]as ist der offene Bruch mit Besson, der nun kein Stück von Hacks mehr wird inszenieren wollen.“989 Anfang der 1970er Jahre hatte sich das Verhältnis

|| 986 Peter Hacks: Geschichte meiner Oper. In: SuF 24 (1972), H. 6, S. 1247. 987 Vgl. GmH 96. 988 Mamama 282 (Peter Hacks an Elly Hacks, 7. Oktober 1965). 989 GmH 21. Siehe zum Verhältnis Hacks und Besson auch: GmH, 16ff. Die Premiere des Lorbaß beschreibt Hacks auch in einem Brief an seine Mutter. Vgl. Mamama 368 (Peter Hacks an Elly Hacks, 15. Oktober 1967).

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zwischen Hacks und Besson aufgrund der Vermittlungsbemühungen von André Müller sen., der Besson für einen der profiliertesten Hacks-Regisseure hielt, aber wieder gebessert. Im September 1972 inszenierte Besson erneut Die schöne Helena, eine Aufführung, mit der sich Hacks sehr zufrieden zeigte. Schließlich bekundete Besson Anfang 1973 sein Interesse Margarete in Aix zu inszenieren. Die Komödie wurde auch in der DDR kein Erfolg. Ernst Schumacher schrieb in der Berliner Zeitung von einem „Neoklassizismus“, der „auf dünnen Beinen“ daherkomme und die Gegenwart nicht berühre; und auch Rainer Kerndl urteilte im Neuen Deutschland: „Die Sache bleibt verschlüsselt-hintersinnig, bleibt verschlossen dem Begreifen.“990 Daran habe auch die Inszenierung Bessons nichts zu ändern vermocht, die bewusst auf Witz und Clownerie gezielt habe: „Die Pointe wurde wichtiger als das Stück, der kultiviert gemachte Ulk bedeutender als der Sinn.“991 Es war gerade dieser von Besson gewählte Zugang zum Stück, der Hacks missfiel. Hinzu kam das Bühnenbild – Besson spielte vor weitgehend leerer Kulisse und weißen Tüchern –, das Hacks als modernistisch empfand. Wie bereits 1967 bei Der Lorbass, nur eben dieses Mal bei seinem eigenen Stück, ließ Hacks es wieder zum Eklat kommen. Am Ende auf die Bühne gebeten, verweigerte er dem Ensemble und dem Regisseur die Anerkennung. André Müller sen. schreibt: [N]ach dem 15. Vorhang, dem sogenannten Regievorhang, geht Besson mit allen Schauspielern auf die Bühne und schickt die vier Mädchen in den Zuschauerraum, um Hacks zu holen. Dieser steht widerwillig auf und geht lässig, mit finsterem Gesicht, eine Hand in der Hosentasche, von der zehnten Reihe aus auf die Bühne. Ich sehe, wie er sich verdrossen verbeugt, die Karusseit leicht auf die Wange küsst und dann wieder – die Hand weiter in der Hosentasche – zurück zu seinem Platz geht. […] Der Skandal ist ungeheuer […].992

Einige Tage nach der Premiere versicherte Hacks der Volksbühne bzw. deren Intendanten Karl Holán brieflich, „der Margarete-Durchfall ist jedenfalls nicht durch mangelnden Ernst oder ungenügende Anstrengung Ihres Hauses verschuldet“ und bot eine Absetzung der Aufführung an.993 Seine Haltung gegenüber Besson nahm er nicht zurück. Benno Besson war unter Modernismus-Verdacht geraten und somit durchgefallen.

|| 990 Ernst Schumacher: Die ‚gebildete Komödie‘ um die Margarete in Aix. Theater der Unverbindlichkeit in der Volksbühne. In: BZ, 16. Oktober 1973, S. 6 u. Rainer Kerndl: Pointierter Ulk um die Margarete in Aix. Benno Besson inszenierte Peter Hacksʼ Komödie. In: ND, 17. Oktober 1973, S. 4. 991 Rainer Kerndl: Pointierter Ulk. Ähnlich erinnerte auf der 2. Peter-Hacks-Tagung am 7. November 2009 in Berlin auch Jochanaan Trilse-Finckelstein die Inszenierung, die so sehr auf Pointen gesetzt habe, dass das Publikum die wichtigen Stellen des Textes nicht ernst genommen und schlicht überlacht habe. 992 GmH 91f. 993 Peter Hacks an Karl Holán, 19. Oktober 1973, DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit der Volksbühne. Margarete in Aix erlebte schließlich 19 von ursprünglich 35 geplanten Vorführungen.

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An den Berliner Bühnen sah Hacks in der Folge für seine Stücke keine Zukunft mehr. Zudem gingen viele Intendanten zu ihm auf Abstand. Im Februar 1975 schrieb Hacks an den Studienfreund Gerhard Piens, dass „die Welt zur Zeit [...] kein Theater besitzt, für das zu schreiben lohnt“.994 Eine Ausnahme kam in dieser Hinsicht höchstens dem Staatstheater Dresden zu, wo der von Hacks geschätzte Klaus-Dieter Kirst am 19. September 1973 Adam und Eva aufgeführt hatte – „ein Abend, der einen glücklich gemacht hat“, wie Hacks nachträglich urteilte.995 Hacks übergab Kirst daraufhin mehrere seiner Stücke zur Uraufführung.996 Aber Dresden war im Vergleich zu Berlin Provinz. In der Hauptstadt der DDR feierten andere Erfolge; so Heiner Müller, der als Dramaturg am Berliner Ensemble und später an der Volksbühne in den 1970er Jahren langsam aber sicher zum Theaterstar aufstieg – „umgeben von der neuen Mafia“, wie Paul Gratzik schreibt.997

Mit dem Theater gegen das Theater: „Brot für Schauspieler“ 5.6.3.2 Neben den AutorInnen galten Hacks auch die SchauspielerInnen als Opfer des Regietheaters. Dass diese sich „geschlossen“ über die Entwicklung des Theaters beklagten, erwähnt Hacks bereits 1974 und hebt das als positives Merkmal hervor, schließlich seien sie „noch nicht so verdorben, daß es ihnen schon wurscht ist, also, sie sind noch nicht Westschauspieler geworden“.998 Weit davon entfernt die Mitte der 1970er Jahre auch im DDR-Theater verbreiteten Forderungen nach mehr demokratischer Mitbestimmung innerhalb der Ensembles zu erheben – Hacks ist davon überzeugt, dass Theater nur als Top-down-Einrichtung mit starken Intendanten funktioniert, die durch organisatorisches und künstlerisches Geschick Autorität ausstrahlen –999 erkannte Hacks in den SchauspielerInnen natürliche Verbündete im Kampf gegen das Regietheater, bekämpften sich seiner Ansicht nach auf den Theatern der DDR doch zwei Parteien: „hie Publikum und Schauspieler für die Kunst, dort Regisseure und Leitungen gegen sie“.1000 Nachdem Hacks sich bereits im 1975 in Auszügen veröffentlichten Gespräch mit Theaterwissenschaftlern in diese Richtung geäußert hatte, versuchte er 1977 bei den

|| 994 Peter Hacks an Gerhard Piens, 10. Februar 1975, DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit Gerhard Piens. 995 NIR 80. 996 Prexaspes, 19. Februar 1976; Ein Gespräch im Hause Stein über den abwesenden Herrn von Goethe, 20. März 1976; Senecas Tod, 27. September 1980 (gemeinsam mit Cox Habbema); Die Vögel, 3. Juni 1981. 997 Gratzik, S. 54. 998 FR 96f. 999 Vgl. HW 13, 161 u. 164f. Siehe auch FR 97ff. 1000 Peter Hacks an Hans-Rainer John, 29. März 1977, DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit TdZ.

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SchauspielerInnen der DDR zu intervenieren. Der Text „Brot für Schauspieler. Versuch einer Denkempfehlung“, den Hacks als „ein kleines Mitbestimmungsmanifest“ verstanden wissen wollte,1001 erschien in Heft 7 von Theater der Zeit. Unabhängig davon fand zeitgleich eine Diskussion über das Selbstverständnis von SchauspielerInnen und deren Probleme im Anschluss an eine Umfrage des Verbandes der Theaterschaffenden statt. Die Umfrage hatte u.a. ergeben, dass viele Regisseure der „Verantwortung als Pädagoge und Erzieher“ nicht gerecht würden und „wider Vernunft (der Darsteller) und Werk den formalen, äußerlichen Seiten von Figuren den Vorrang geben und den Darsteller in eine Form zwingen, die er nicht ausfüllen kann oder will.“1002 In mehreren Heften von Theater der Zeit meldeten sich daraufhin SchauspielerInnen mit ihren Berufsproblemen zu Wort. Es scheint zunächst, als sei Hacksʼ Text eine Reaktion auf diese Debatte. Tatsächlich entstand er aber unabhängig davon als Versuch, eine öffentliche Diskussion über das Regietheater unter SchauspielerInnen anzuregen. Dementsprechend hatte Hacks der Redaktion von Theater der Zeit bereits im Februar 1977 vorgeschlagen, seinen Text an verschiedene SchauspielerInnen zu schicken und deren Stellungnahmen einzuholen.1003 Hacksʼ Text verknüpft die Frage nach der Befreiung der SchauspielerInnen mit der „Befreiung des Theaters“ und fordert die SchauspielerInnen dazu auf, „Theaterleitungen, welche die Gründe vergessen haben, aus denen man Theater spielt, zu bekämpfen“.1004 Hacks formuliert vier Forderungen; die zweite zielt direkt auf das Regietheater. Gefordert wird eine Regie, die ihnen anmutet, einem Kunstzweck zu dienen, nicht den Zwecken eines Regisseurs. In einem zusammenwirkenden Schaffensvorgang darf Verfügungsgewalt nicht in Selbstherrschertum ausarten, insbesondere nicht ins Selbstherrschen der Hilflosigkeit, das sich als dreistes Belieben und launische Willkür äußert.1005

Sichtliche Folgen hatte die Intervention nicht. Ob Theater der Zeit, wie zugesichert, die erwähnten SchauspielerInnen zur Stellungnahme aufgefordert hat, geht aus der in Hacksʼ Nachlass befindlichen Korrespondenz nicht hervor. Stellungnahmen erschienen jedenfalls nicht, und auch in den noch bis Heft 11 von Theater der Zeit abgedruckten, auf die Verbandsumfrage Bezug nehmenden Beiträgen verschiedener

|| 1001 Peter Hacks an Hans-Rainer John, 29. März 1977, DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit TdZ. 1002 Klaus Pfützner: Nach einer soziologischen Erhebung in Schauspielerensembles der DDR. In: TdZ 32 (1977), H. 6, S. 18. 1003 Hacks nennt: Horst Drinda, Rolf Ludwig, Eberhard Esche, Dieter Mann, Ekkehard Schall, Erika Pelikowsky, Gisela May, Karin Gregorek und Marianne Wünscher. Vgl. Peter Hacks an Hans-Rainer John, 24. Februar 1977, DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit TdZ. 1004 HW 13, 239f. 1005 HW 13, 240.

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SchauspielerInnen, findet Hacksʼ Text keine Erwähnung. So verhallte dessen Aufforderung an die SchauspielerInnen ungehört.

5.6.3.3 Der Kampf gegen die Theaterkritik Am 15. Dezember 1975 hielt Hacks im Rahmen der Akademie-Veranstaltungsreihe „Dialog am Abend“ ein Referat über Torquato Tasso. Ausgangspunkt des Referats war eine Inszenierung von Goethes Stück durch Friedo Solter am Deutschen Theater. Ernst Schumacher, Theaterkritiker der Berliner Zeitung, hatte die Inszenierung kritisiert, woraufhin Solter Hacks gebeten hatte, diese öffentlich gegen Schumachers zu verteidigen.1006 Hacks nahm dieses Angebot an, ergab sich doch so auch die Möglichkeit gegen Schumacher zu polemisieren, den er als orthodoxen Brechtianer gering schätzte und der wiederum schlecht über Hacksʼ Stücke geschrieben und im Gegenzug Heiner Müller gelobt hatte.1007 Hacksʼ Redebeitrag, der später unter dem Titel „Drei Blicke auf Tasso und ein schielender“ in den Maßgaben der Kunst erschien, stellt nicht die erste öffentliche Äußerung gegen Schumacher dar. Schon Ende der 1950er Jahre war Hacks mit diesem aneinander geraten.1008 Auch in dem im Juni 1975 verfassten Essay „Das Arboretum“, der ursprünglich den Titel „Mit Kritikern leben“ trug,1009 findet sich ein Angriff auf Schumacher. „Das Arboretum“ ist ein fiktiver Dialog zwischen Hacks und einem jungen Schriftsteller, der Hacks besucht, um mit ihm über „das allgemeine Versagen der Kritik“ zu sprechen.1010 Ausgangspunkt des Gesprächs ist der „Kritiker N.“, über den der junge Schriftsteller äußert, dass er Hacks „aufs Schmählichste herab[setze]“, sich in „tödlich sicheren Fehlurteile[n]“ ergehe und durch „Feigheit, politische Bosheit und unverhohlene Mißgunst“ auszeichne.1011 Dass sich hinter dem ,Kritiker N.‘ Schumacher verbirgt, geht aus dem Kontext hervor: Der junge Schriftsteller kommt eben von der Uraufführung eines Dramas, dass der Kritiker N. geschrieben hat und welches als besonders schlecht beschrieben wird; darüber hinaus heißt es, er sei „Professor

|| 1006 Vgl. Ernst Schumacher: Nicht in das Zeitlose gerückt. Zu Friedo Solters Inszenierung von Goethes „Tasso“ im Deutschen Theater. In: BZ, 8. Oktober 1975, S. 6 u. GmH 135. Die Premiere von Torquato Tasso fand am 2. Oktober 1975 statt. 1007 1974 hatte Müller auf Anregung Schumachers hin den Kritikerpreis der BZ erhalten. Siehe zur Einschätzung Hacksʼ durch Schumacher: Schumacher: Ein bayerischer Kommunist im doppelten Deutschland, S. 236ff., 372ff., 405 u. 456ff. 1008 Vgl. HW 13, 12, wo Hacks sich gegen Schumachers Interpretation von Brechts Leben des Galilei (vgl. Ernst Schumacher: O.T. In: Ingeburg Kretzschmar [Hg.]: Literatur im Zeitalter der Wissenschaft. Berlin 1960, S. 9–30) gewandt hatte. 1009 So nennt Hacks den Text in einem Brief an TdZ. Vgl. Peter Hacks an Hans-Rainer John, 18. April 1975, DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit TdZ. 1010 HW 13, 185. 1011 HW 13, 185, 186, 189 u. 190.

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der Literaturwissenschaft“.1012 Ernst Schumacher, seit 1966 Professor für Theorie der darstellenden Künste an der Humboldt Universität, hatte ein Einstein-Drama mit dem Titel Die Versuchung des Forschers. Visionen aus der Realität verfasst, das am 4. April 1975 in Rostock unter der Regie Hanns Anselm Pertens uraufgeführt wurde und das Hacks als eine „in Fabel verwandelte Allegorie“, d.h. als romantisch, ansah.1013 Dass das Stück von N. schlecht sei, ist aber nicht die Nachricht des Dialogs. Es müsse notwendig schlecht sein, so Hacks, schließlich beschäftigten sich Kritiker zwar intensiv mit Theater, verstünden deshalb aber umso weniger von Kunst. Worum es in „Das Arboretum“ geht, ist die Frage nach der Funktionsweise der Theaterkritik. Hacks setzt dem jungen Schriftsteller auseinander, dass es unklug sei, gegen Kritiker vorzugehen: „Man muß mit Kritikern leben.“1014 Ihre Kunsturteile seien zwar immer falsch, aber schließlich sei das auch nicht ihre Aufgabe. Als „Fachleute[ ] des Laientums“ sollten sie vielmehr dem „Bewußtseinsstand des Publikums“ Ausdruck verleihen: Das Publikum ordnet aus seiner Mitte Personen ab, die genug Oberflächlichkeit besitzen, um täglichen Theaterbesuch zu erdulden, genug Glauben an Vorurteile, um, was sie gesehen zu haben meinen, ganz frank herauszusagen, und eine gewisse aufsaugende Durchschnittlichkeit, die sie in den Stand setzt, sich von dem, was alle für angenehm erachten oder bald für angenehm erachten werden, durchdringen zu lassen. Ihre Fühlorgane sind nicht auf die Bühne, sie sind auf den Zuschauerraum gerichtet. Sie sind gleichsam die Zungen des Publikums, welche den Zeitgeschmack sowohl empfinden als auch aussprechen. Die großen Kritiker sind, in dem Bild zu verweilen, die feineren Zungen; so hat Kerr die Wedekindmode und Jhering die Brechtmode eher erleckt als andere.1015

Was die Kritiker vermittelten, ist „Zeitgeist“; in diesem Sinne seien sie wichtig als Vermittler einer „Nachricht über das Publikum“.1016 In Kunstdingen aber kämen ihre Urteile einer „ununtersuchten Geschmacksmeinung“ gleich, was auch gar nicht anders sein könne, schließlich fehlte ihnen Zeit und Muße für eine intensive Beschäftigung mit einzelnen Kunstwerken.1017 Hacksʼ Text stellt insgesamt einen Angriff auf die Theaterkritik dar, insofern er aussagt, dass diese über Theaterstücke keine Urteile zu fällen in der Lage sei. Zugleich rät Hacks im Dialog aber dem auf offenen Kampf drängenden jungen Schriftsteller davon ab, sich auf eine Auseinandersetzung mit der Kritik einzulassen. Zum einen seien die Nachrichten der Kritiker erfahrenswert, schließlich seien es, was jeden Künstler interessierte, solche über sein Publikum; zum anderen aber seien Kritiker für einen Künstler „nicht satisfaktionsfähig“ und eine

|| 1012 HW 13, 196. 1013 AdK, Sitzung der Sektion Literatur und Sprachpflege vom 1. Juni 1976, AdK-O, Nr. 894, Bl. 169. 1014 HW 13, 192. 1015 HW 13, 188f. 1016 HW 13, 193 u. 195. 1017 HW 13, 195.

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Auseinandersetzung mit ihnen sei müßig, da man sie doch nicht überzeugen könne und letzten Endes nur Zeit verschwende.1018 Bei „Dialog am Abend“ griff Hacks den anwesenden Ernst Schumacher für seine Lesart des Torquato Tasso dennoch offen an. Dieser hatte Friedo Solter vorgehalten, Goethes Stück nicht „historisch-materialistisch ‚aufzubrechen‘“, sodass die „feudalen Abhängigkeitsverhältnisse“ nicht ausreichend kenntlich würden und sich kein „Bezug auf zeitgemäße Formen des Ausbeutungsverhältnisses herstellen“ ließen.1019 Hacks kritisierte die aktualisierende Interpretation des Tasso und stellte dieser seine eigene entgegen: „[D]er bestmögliche der Staaten leidet an einem begabten, aber krankhaft lebensuntauglichen Schriftsteller, der nichts im Kopf hat, als die Geduld seiner Mitmenschen bis zu ihrem Zerreißpunkt hin auszuproben.“1020 Damit wies er Schumachers Verständnis des Tasso als Revolutionär zurück und unterstellte ihm, „zum Verfälschen der klassischen Autoren aufzurufen“: „Er will sie alle umgedichtet oder doch wenigstens uminszeniert haben.“1021 Als „[d]er läppischste unter unseren Kritikern“ übertreffe Schumacher sogar noch den Proletkult, also die bewusst politisierende Interpretation, denn „jede andere Verirrung vom Realistischen weg, das hat seine ‚Julie‘- und seine ‚Schlacht‘-Kritik gezeigt, ist ihm ebenso lieb“.1022 Hacksʼ Kritik zielte auf Schumachers Modernismus. Als Kritiker erkannte er in ihm einen Vertreter des Regietheaters, dessen „Galle“, „sobald er eines Gekonnten ansichtig wird“, wie es in Hinblick auf Solters Inszenierung heißt, „anhebt abzusondern“.1023 Das war ein deutlicher Affront. Schumacher bezeichnete Hacks daraufhin als „den arrogantesten aller Autoren“ und unterstellte ihm, in seiner Interpretation des Stücks hinter die bürgerliche Ästhetik des neunzehnten Jahrhunderts zurückzufallen und eine „Antizipationstheorie“ zu vertreten, nach welcher im Stück das Ideal und nicht die Wirklichkeit gestaltet werde. Letztlich, so Schumacher, sei Hacksʼ Position reaktionär: [W]enn es nach ihnen ginge, wäre in Deutschland noch ein Weimarer Staat von damals, den Sie als den idealen Staat betrachten mit Ihnen als Hofdichter. Aber Gott sei Dank hat es Leute gegeben, die sich mit diesen Zuständen nicht abgefunden haben, Gott sei Dank hat es Leute gegeben, die diesen Zustand als beklemmend empfunden haben und die Welt verändert haben. Bei Ihnen

|| 1018 HW 13, 192. 1019 Schumacher: Nicht in das Zeitlose gerückt. 1020 HW 13, 208. Aus diesem Grund war Hacks auch der Ansicht, der Sozialismus habe „starken Anlaß“ sich für das Stück zu interessieren, verweise der „gruppenpsychologische[ ]“ (HW 13, 206) Charakter der Auseinandersetzung am Hof von Ferrara doch auf den Konflikt zwischen der Regierung der DDR und den romantischen Künstlern. Siehe zu Hacksʼ Tasso-Interpretation: Nickel: Kunst versus Politik, insb. S. 21f. 1021 HW 13, 211f. Schon in Über das Revidieren von Klassikern hatte Hacks Schumacher einen „bearbeitenden Rezensenten“ genannt. HW 13, 180. 1022 HW 13, 211f. 1023 HW 13, 212.

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läuft das alles auf das Verstehen hinaus. Sie sind ein nachträglicher Rechtfertiger dessen, was sich in der deutschen Geschichte als reaktionär herausgestellt hat.1024

Hacks wiederum antwortete, dass Schumacher stets die Forderung erhebe, „daß ein Stück von der Revolution zu handeln habe“, sich also so verhalte wie das Gros der DDR-Literatur in den 1950er Jahren; da die Revolution aber vorbei sei, frage er sich seit längerem, „gegen wen er diese Revolution eigentlich ausüben will“.1025 Die Diskussion kam zu keinem Ergebnis. Hacksʼ Lesart, in Tasso einen Idealisten zu erkennen, der zu weit geht und dafür bestraft wird, stand Schumachers Interpretation der Unterdrückung Tassos vor dem Hintergrund der deutschen Misere gegenüber.1026 Das einzige Resultat der Debatte war, dass Schumachers Hacks-Kritiken in der Berliner Zeitung fortan noch negativer wurden, als sie es ohnehin schon waren. Ende Dezember erkannte er unter dem „poetischen Aufputz“ von Rosie träumt eine „läppische Unverbindlichkeit“ und im August 1976 wiederholte er in aller Öffentlichkeit, was er Hacks bereits in der Akademie vorgeworfen hatte: Die famose Theorie vom sogenannten ‚postrevolutionären Theater‘ [...] ist objektiv reaktionär. Würde sie angewandt, verlöre das sozialistische Theater den welthistorischen Prozeß aus dem Auge, verlöre sich in psychologischer Nabelschau historisch unkonkreter Individualitäten, verlöre sich in Nichtigkeiten und, was den Blick nach vorn betrifft, in mehr oder weniger abstrakten Utopien. Besonders an den Theatern der Hauptstadt, an der unmittelbaren Nahtstelle zweier entgegengesetzter Gesellschaftssysteme, kann es für eine solche Pseudotheorie keinen Platz geben.1027

|| 1024 Protokoll „Dialog am Abend“ zur Inszenierung von Torquato Tasso, 15. Dezember 1975, AdK-O, Nr. 1009, Bl. 75, 81 u. 97. 1025 Protokoll „Dialog am Abend“ zur Inszenierung von Torquato Tasso, 15. Dezember 1975, AdK-O, Nr. 1009, Bl. 107. 1026 Siehe auch die spätere Reflexion der Diskussion bei Schumacher: Schumacher: Ein bayerischer Kommunist im doppelten Deutschland, S. 372f. 1027 Ernst Schumacher: Mit Röslein bedeckt… Peter Hacksʼ Stück „Rosie träumt“ im Maxim Gorki Theater. In: BZ, 23. Dezember 1975, S. 6 u. ders.: Der alte „Drache“ ist immer noch originell. Zwischen den Spielzeiten – Bilanz der Berliner Sprechtheater in der Saison 1975/76 (IV). In: BZ, 19. August 1976, S. 6. In seinem Tagebuch bezeichnete Schumacher Hacks später in Anlehnung an den VaudevilleDichter Eugène Scribe als „Scribe des Sozialismus“. Tagebucheintrag vom 16. April 1985, zit. n.: Schumacher: Ein bayerischer Kommunist im doppelten Deutschland, S. 241.

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5.6.4

Der Angriff auf die romantischen Autoren

Für Hacks ist Literatur „Fortsetzung der Politik mit schöneren Mitteln“,1028 d.h. sie ist Ausdruck politischer Haltungen und in ihren verschiedenen ästhetischen Richtungen und Positionen Bestandteil einer Auseinandersetzung, die, wie es die Abwandlung des bekannten Clausewitz-Satzes nahelegt, kriegerischen Charakter hat. Ende des Jahres 1975 weitete Hacks diesen ,Krieg‘, der als Angriff auf Heiner Müller im Kontext der Diskussion über Macbeth begonnen und mit dem im Sommer 1975 in Theater heute erschienenen Essay „Über das Revidieren von Klassikern“ seine Fortsetzung gefunden hatte, auf andere Autoren aus.1029 Heiner Müller tritt hierbei zunächst in den Hintergrund. Wie zu sehen sein wird, ist er als „Haupt der romantischen Schule in der DDR“1030 aber stets mitgemeint. Diese ‚romantische Schule‘ erstreckt sich nach Hacksʼ Einschätzung über weite Teile des kulturellen Feldes der DDR. Sie hat ihre VertreterInnen ebenso am autonomen wie am heteronomen Pol. Schenkt man einem IM des MfS Glauben, so unterschied Hacks 1973 zwischen zwei verschiedenen Fraktionen dieser Schule: der „feinsinnige[n] Mafia“ und der „Zeuthener Mafia“.1031 Zur Ersteren zählt Hacks Autoren wie Stephan Hermlin und Erich Arendt. Sie stünden für eine liberale Position, die auf eine Öffnung des Kanons in Richtung der bürgerlichen Literatur ziele. Als beispielhaft kann in diesem Zusammenhang das seit 1972 nachweisbare Bemühen Stephan Hermlins, Nietzsche in die offizielle Erbeauffassung der DDR zu integrieren, angeführt werden.1032 Kennzeichnend für diese Gruppe sei, dass sie versuche ihren Einfluss über die Institutionen des Feldes, namentlich die Akademie der Künste, auszuweiten und „sich gegenseitig hoch[zu]loben“. Zur zweiten Gruppe zählt Hacks den im Brandenburgischen Zeuthen lebenden Paul Dessau, Heiner Müller und andere; diese verträten eine „extrem modernistische Richtung in der Kunst“ und stünden für eine ultralinke Position.1033 Es fällt sofort auf, wie sich Hacksʼ dialektisches Schema auch in seiner Einschätzung der romantischen Gruppen in der DDR || 1028 HW 13, 342. 1029 Siehe hierzu: Weber: Die „allerheutigsten Kriege“. 1030 Peter Hacks an die AdK, Sektion Literatur und Sprachpflege, 15. Februar 1974, DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit der AdK. 1031 Vgl. DLA, A: Hacks, MfS-Akte Peter Hacks (6. März 1973, BStU 000236). 1032 Siehe das von Hermlin 1972 für Erich Honecker verfasste Papier mit Vorschlägen zur Veränderung der Kulturpolitik, das explizit auf Nietzsche verweist: Stephan Hermlin: Aide-Mémoire. Papier für Erich Honecker, Mai 1972. In: ders.: In den Kämpfen dieser Zeit. Berlin 1995, S. 7. 1976 nahm Hermlin Nietzsches Gedicht „An den Mistral“ in das von ihm herausgegebene Deutsche Lesebuch auf (vgl. Stephan Hermlin [Hg.]: Deutsches Lesebuch. Von Luther bis Liebknecht. Leipzig 1976, S. 504), über das es im September 1989 bei Hacks heißt, in diesem sei „die deutsche Literatur vom Gesichtsort der Frühromantik vorgeführt“. HW 13, 392. 1973 hatte Hacks allerdings noch anders geurteilt und Hermlins Auswahl für das Lesebuch als „gediegen“ und „gebildet“ bezeichnet. Protokoll der Sektion Literatur und Sprachpflege, 7. Juni 1973, AdK-O, Nr. 900, zit. n.: Berger: Fünf „meiner Götter“ bei der Arbeit, S. 286. 1033 Alle Zitate: DLA, A: Hacks, MfS-Akte Peter Hacks (6. März 1973, BStU 000236).

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widerspiegelt: auf der einen Seite die Rechtsabweichung, die auf mehr Freiheit abzielt, auf der anderen die an der Avantgarde sowie an Brecht orientierte Linksabweichung, deren gemeinsamer Gegner der in den 1950er und 1960er Jahren etablierte Kanon ist. Dass es zwischen beiden Fraktionen nicht zum Widerspruch komme, liege daran, dass die Akteure der sogenannten ‚feinsinnigen Mafia‘ „Liberalisten sind und Liberalisten das Prinzip hätten, alles zu dulden und alles zu fördern“; daher sei „die ‚feinsinnige Mafia‘ eine Stütze der ‚Zeuthener Mafia‘“.1034 Im Zentrum von Hacksʼ Angriff auf die Romantik steht die Verteidigung des Klassischen, was einer Verteidigung des offiziellen Kanons gleichkommt. Der sich in den 1970er Jahren vollziehende Wandel des offiziellen Kanons, der in der Rückschau einer Auflösung gleichkommt, ist Ausdruck eines Kanonkampfes, der das gesamte Jahrzehnt prägt und bis zum Ende der DDR anhält. Maßgeblich daran beteiligt waren AutorInnen wie Günter Kunert, Franz Fühmann und Christa Wolf, die mittels Essays und Reden auf dekanonisierte AutorInnen und Strömungen wie die Romantik und den Expressionismus aufmerksam machten, was zugleich auch Auswirkungen auf die öffentliche Wertung der sich mehr und mehr an der Moderne orientierenden Gegenwartsliteratur hatte.1035 Versteht man Kanones als „Produkte sozialer Handlungen“,1036 so lassen sich Kanonauseinandersetzungen als Prozesse gesellschaftlicher Aushandlung beschreiben, an denen verschiedene soziale Felder bzw. deren Akteure und Institutionen beteiligt sind. Kennzeichnend für die Situation der 1970er Jahre ist nun, wie bereits erwähnt, dass die den kanonischen Aushandlungsprozess dominierenden Institutionen der Kulturpolitik sich aus der unmittelbaren Normgebung im literarischen Feld selbst zurückziehen,1037 so dass einerseits Freiräume entstehen, die die Öffnung des offiziellen Kanons überhaupt erst ermöglichen, und andererseits einzelne Akteure in die Rolle von Normhütern aufsteigen, die in der öffentlichen Auseinandersetzung tendenziell den Platz einnehmen, den zuvor die Kulturpolitik eingenommen hat. Zwar ist Normwahrung nicht Hacksʼ primäres Interesse in den im Folgenden diskutierten Auseinandersetzungen, objektiv kommt Hacks aber genau diese Funktion zu.1038

|| 1034 DLA, A: Hacks, MfS-Akte Peter Hacks (6. März 1973, BStU 000236). 1035 Vgl. zum Expressionismus: Dieter Schlenstedt: Doktrin und Dichtung im Widerstreit. Expressionismus im Literaturkanon der DDR. In: Dahlke u.a. (Hg.): LiteraturGesellschaft DDR, S. 33–103. 1036 Achim Barsch: Probleme einer Geschichte der Literatur als Institution und System. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 19 (1994), H. 2, S. 209. 1037 Das bedeutet freilich nicht, dass mittels Zensur, Preisverleihungen usw. nicht weiterhin institutionelle Wertungsprozesse stattfanden, sondern heißt lediglich, dass diese nicht mehr offensiv im literarischen Feld durchgesetzt wurden. 1038 Eine ähnliche Rolle spielte Wolfgang Harich in den 1980er Jahren, als er den philosophischen Kanon der 1950er/60er Jahre gegen die Aufwertung Nietzsches verteidigte. Vgl. Wolfgang Harich: Nietzsche und seine Brüder. Eine Streitschrift in sieben Dialogen. Zu dem Symposium „Bruder Nietzsche?“ der Marx-Engels-Stiftung in Wuppertal. Schwedt 1994.

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5.6.4.1 Kafka und Kleist statt Mann und Goethe: Contra Günter Kunert Kritiker sind „nicht satisfaktionsfähig“, schreibt Hacks im Sommer 1975 in „Das Arboretum“.1039 Warum griff er dann Ernst Schumacher in der Akademie der Künste an? Verstieß Hacks damit nicht gegen seine eigene Maxime? Nein, denn der Angriff auf Schumacher galt nicht allein Schumacher; Hacks bemerkt selbst, dass „die Kauzigkeiten eines einzelnen Rezensenten […] ja noch kein Anlaß zum Einschreiten“ sei.1040 Was die Intervention motivierte, war der Umstand, dass Schumacher für eine Position stand, die ihren Ursprung nach Hacksʼ Meinung nicht im Publikum, sondern im literarischen Feld hatte. Der Angriff auf Schumacher markiert denn auch nur den Auftakt zu einer Polemik gegen eine „geschäftsfähige Person“,1041 gegen Günter Kunert nämlich. Dieser hatte sich im Sommer 1975 an einer Umfrage der Frankfurter Allgemeinen Zeitung anlässlich des hundertsten Geburtstags von Thomas Mann beteiligt und dort seine bereits 1973 in einem Interview geäußerte ablehnende Haltung gegenüber Mann wiederholt, dessen Werk er eine „unüberwindbare Irrelevanz“ attestierte. Für Kunert ist Mann im negativen Sinne ein „Märchenerzähler“, der mit Realismus nichts gemein hat. Ihm stellt er Kafka gegenüber: Wieviel antizipatorische Wahrheit dagegen in den trüben, so schwer greifbaren, beinahe amorphen Gestalten Kafkas, dessen Traumwelt – wir wissen es jetzt nur zu genau – ein Alpdruck mit anschließender Verwirklichung gewesen ist.1042

Eine ähnliche Gegenüberstellung findet sich auch in Kunerts „Pamphlet für K.“, das im gleichen Jahr für den Sammelband Schriftsteller über Kleist verfasst, von dessen Herausgeber Peter Goldammer aber zurückgewiesen und schließlich im Herbst 1975 in Sinn und Form veröffentlicht wurde. Kunert wendet sich hierin in scharfer Weise gegen Goethe, dem er aufgrund seiner ablehnenden Haltung indirekt eine Mitschuld an Kleists Selbstmord unterstellt: Goethe, der „Denunziant“, „der sich für alles kompetent hielt“, habe Kleists literarischem Aufstieg „in seiner hinterfotzigen Art“ Steine in den Weg gelegt und mit der Abwertung des Zerbrochenen Krugs und des Amphitryon ein Urteil festgeschrieben, das sich seitdem durch die Literaturgeschichte fortsetze, was Kunert anhand des 1972 in der DDR erschienenen Lexikons deutschsprachiger Schriftsteller belegt.1043 In einem Nachwort zu „Pamphlet für K.“ griff Kunert zudem Goldammer für dessen „rigide[n] Zensurismus“ an und unterstellte diesem

|| 1039 HW 13, 192. 1040 HW 13, 212. 1041 HW 13, 212. 1042 Alle Zitate: Günter Kunert: [Der Märchenerzähler]. In: FAZ, 31. Mai 1975, Beilage. Siehe das Interview von 1973: Günter Kunert u. Joachim Walther: Gespräch unter anderem über Realismus. In: Hess u. Liebers (Hg.): Arbeiten mit der Romantik heute, S. 40–41. 1043 Kunert: Pamphlet für K., S. 1092.

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„Professor Unrat“ ein bürgerliches und affirmatives Goethebild.1044 Kunerts Beitrag läuft auf die Aussage ‚Kleist statt Goethe‘ hinaus. Erstgenannter sei von unbestreitbarer Aktualität; die Gegenwart sei mit ihm durch ein „Netzwerk von unsichtbaren Querverbindungen durch die Zeit“ verbunden: „Von dieser sandigen Stelle am Wannsee aus erstreckt sich eine solche Linie durch die Historie, und wer heute Kleist sagt, meint zugleich Erscheinungsweisen von Sensibilität und von Gerechtigkeitsempfinden“.1045 Mit dem Angriff auf Goethe und der Aufwertung Kleists wies Kunert sich in den Augen Hacksʼ als Parteigänger der Romantik aus und schloss sich einem Diskurs an, der seit der Goethefeindlichkeit der kommunistischen Literaturbewegung der Weimarer Zeit existierte, in den 1930er Jahren im Zuge der Expressionismus- und Realismusdebatte aber zurückgedrängt worden und schließlich einer allgemeinen Verehrung Goethes als quasi präsozialistischem Autor gewichen war. Indem Kunert Kleist als Identifikationsfigur auswies, gab er zudem zu verstehen, dass sich an den gesellschaftlichen Verhältnissen zwischen 1811 und 1975 nicht viel verändert habe, dass Kleists Schicksal „dem unseren ähnlich ist“ und auch die AutorInnen der DDR Ausgegrenzte und Unterdrückte seien.1046 Damit sind genau jene Topoi aufgerufen, die Hacks der neuen Romantik unterstellte: überhistorische Identifikation mit den Schicksalen der RomantikerInnen und damit indirekte Kritik der DDR sowie Abwertung der literarischen Leistungen Goethes bei gleichzeitiger Denunziation seiner politischen und philosophischen Positionen. Hacks konnte den Angriff auf Goethe ebenso wenig unpariert lassen wie die Invektive gegen Thomas Mann, den er seit seiner Jugend als „direkte[n] Erben“ Goethes verehrte und dessen in Lotte in Weimar gefundene Formulierung der „Kühnheit im Schicklichen“ für ihn gerade die „Haltung der Klassik zur Welt“ ausdrückt.1047 Umgekehrt ist Kleist als historische Person für Hacks eben kein Unterdrückter, sondern ein Anhänger des Feudalismus, einer derjenigen, „die den Krieg wollten“, ein Äußerer

|| 1044 Vgl. Kunert: Notwendiges Nachwort zum „Pamphlet“, S. 1095. Kunert schrieb in Reaktion auf Goldammers Ablehnung das Hörspiel Ein anderer K., in dem Goldammer als Amadeus Grollhammer erscheint. Das Goethe-kritische Hörspiel wurde vom DDR-Rundfunk an Goethes Geburtstag 1976 ausgestrahlt (vgl. Leistner: Goethe, Hoffmann, Kleist, et cetera, S. 130), was Hacks als weiteres Anzeichen für den romantischen Wandel der DDR-Kultur aufgefasst haben dürfte. Siehe auch Goldammers Reaktion auf Kunerts Polemik: Peter Goldammer: Der Mythos um Heinrich von Kleist. Vorbemerkung. Pamphlet für G. In: SuF 28 (1976), H. 1, S. 198–210. 1045 Kunert: Pamphlet für K., S. 1094. 1046 Kunert: Pamphlet für K., S. 1094. Siehe auch Kunerts Hörspiel: Kunert: Ein anderer K. 1047 Hacks: Über den Stil in Thomas Manns „Lotte in Weimar“, S. 245 u. BD 2, 275.

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„judenfresserische[r] Zoten“, der zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts gemeinsam mit Friedrich Schlegel, Friedrich Ludwig Jahn und anderen den „Ton der Nazis“ in die Welt gebracht habe.1048 Im Manuskript von Hacksʼ „Tasso“-Rede heißt es in Reaktion auf Kunert: Günter Kunert hat in diesem traurigen Jahr 1975 zwei literarische Einschätzungen bekanntgemacht. Thomas Mann, so verlautbart er, war ein oberflächlicher Causeur und Goethe ein Vielzuvielschreiber. / Ich werde jetzt ganz intim. Wenn ich Kunerts Romane geschrieben hätte, würde ich in meinem Urteil über Thomas Mann, und wenn ich Kunerts Gedichte geschrieben hätte, würde ich in meinem Urteil über Goethe zurückhaltender sein.1049

Kunerts Feststellung von ‚Querverbindungen durch die Zeit‘ wies Hacks indes nicht zurück. Er bestätigte sie vielmehr, indem er die Aktualität der Auseinandersetzung zwischen Klassik und Romantik bezeugte und sich selbst als Nachfolger Goethes im Kampf gegen den ‚Bummler‘ Kunert anbot: Goethes ästhetischer und politischer Hauptfeind waren die Bummler, mochten sie nun unter dem Namen der Empfindsamkeit, als Richtung des Rotz und Trotz oder als Frühromantik sich versammeln; die nämlichen drei Ausprägungen der nämlichen Münze übrigens gibt es heute noch.1050

5.6.4.2 „Der Sarah-Sound“, oder: Literatur ist rational „Es gibt keinen besseren deutschsprachigen Dichter“, schreibt Hacks im April 1976 in dem Essay „Der Sarah-Sound“ über die Lyrikerin Sarah Kirsch.1051 Der Text demonstriert anhand der Umwandlung des Gedichts „Du, die ich lieb“ von Johannes R. Becher in ein Kirsch-Gedicht die Qualität ihrer Lyrik. Anlass des Essays, der unverständlicherweise, und mitunter bis heute, als kritisch oder gar als „spöttische Glosse“ wahrgenommen wurde,1052 war zunächst das Lob der Lyrikerin. Hacks war seit den

|| 1048 HW 13, 343 u. HW 13, 321. Siehe zu Hacksʼ Kleistbild: Köhler: Die „Objektivität der Konterrevolution“. 1049 HW 13, 212. Bereits im November 1975 hatte Hacks sich gegen Kunerts Goethe-Kritik verwahrt und diesem eine „Einschränkung der Goetheschen Meinungsfreiheit“ bescheinigt. Kunerts Argumentation laufe darauf hinaus zu sagen: „Wenn er [Goethe, R.W.] eine Meinung über Kleist hat, ist das eine Denunziation. Und wenn er eine Meinung über eine romantische Richtung hat, ist das präfaschistisch.“ Protokoll der Sektion Literatur und Sprachpflege, 4. November 1975, AdK-O, Nr. 898, Bl. 170. 1050 HW 13, 210. 1051 HW 13, 256. 1052 Alo Allkemper: Sarah Kirsch. In: Hartmut Steinecke (Hg.): Deutsche Dichter des 20. Jahrhunderts. Berlin 1994, S. 837. Zuletzt geschehen im Nachruf auf Kirsch: Wulf Segebrecht: Ach, geh nicht weck. Sie führte uns die Eigenwilligkeit des Dichtens vor. Zum Tode der Lyrikern und Büchnerpreisträgerin Sarah Kirsch. In: FAZ, 23. Mai 2013, S. 27.

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1960er Jahren mit Kirsch befreundet. Beide pflegten, wie der persönliche Ton ihrer Briefe aus dem Nachlass zeigt, einen engen Umgang miteinander. Zudem schätzte Hacks Kirsch nicht nur als Lyrikerin, sondern auch als Erzählerin; so hielt er ihre Erzählung „Die ungeheuren bergehohen Wellen auf See“ für „die beste Novelle, welche seit hundert Jahren geschrieben worden“.1053 Hacksʼ Lob ist zunächst ein Akt der Solidarität. „Der Sarah-Sound“ reiht sich ein in eine Kette von Texten, die seit 1972 von so verschiedenen Autoren wie Heinz Kahlau, Adolf Endler und Franz Fühmann verfasst wurden. Sie alle haben zum Ziel, das Spezifische der Lyrik Kirschs herauszustellen und diese gegen eine oberflächliche Kritik zu verteidigen.1054 Hacksʼ Beitrag reflektiert das nicht zuletzt, indem er den Vorwurf Andreas Reimanns, die junge Lyrik vernachlässige die Form, pariert. Reimann schreibt: Wenn Johannes R. Becher noch forderte, daß das Gedicht ein Geheimnis enthält, scheinen junge Autoren Simplizität zu fordern. Der Niedergang des Formalen hat auch zu einem Niedergang der sinnlichen Qualität geführt.1055

Dass Kirschs Gedichte, die sich weigerten, „alte Schläuche für jungen Wein wiederzubenutzen“, Form hätten, zeigt Hacks in seinem Essay gerade an der Differenz zu Becher auf, dessen sterile Vorbildlichkeit Hacks demontiert.1056 Hacks geht es darum, zu veranschaulichen, wie Kirschs Gedichte formal funktionieren, mithin zu zeigen, dass ihrem ‚Geheimnis‘ auf rationalem Wege, d.h. textanalytisch näherzukommen sei. Hacksʼ Verfahren, die Umwandlung des Becher-Gedichtes in ein vermeintliches Kirsch-Gedicht, der „Erkenntnisweg der Tat“, wie Hacks das nennt, ist dabei ungewöhnlich, fungiert aber als sinnlich erfahrbarer Beweis, zu dem Hacks im Übrigen die Probe aufs Exempel machte, indem er „Zeugen von Zuständigkeit“ befragte, die Hacksʼ Kirsch-Gedicht „für ein echtes Werk von Sarah hinzunehmen gewillt waren“.1057 Bereits in dem Essay „Wie Gedichte zu machen“ [1974], der sich in einer Art

|| 1053 Peter Hacks an Gert Hillesheim, 22. November 1974, DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit der AdK. Hacks schlug Kirsch in diesem Schreiben für den Heinrich-Mann-Preis 1975 vor. 1054 Vgl. Heinz Kahlau: Engel sucht Wohnung. In: BZ, 2. Juli 1972, S. 10; Adolf Endler: Sarah Kirsch und ihre Kritiker. In: SuF 27 (1975), H. 1, S. 142–170 u. Fühmann: Vademecum für Leser von Zaubersprüchen. Zu einem Gedichtband der Sarah Kirsch. In: ders.: Essays, Gespräche, Aufsätze, S. 146–187. 1055 Andreas Reimann: Es ging nicht um Herrn Ypsilon. In: SuF 26 (1974), H. 6, S. 448. 1056 HW 13, 248. Hacks, der Bechers Kunstphilosophie schätzte, ihn aber für einen „schlechte[n] Schriftsteller“ hielt (FR 59), beschreibt den „Becher-Ton“ als „klassisch“ und „platt“ zugleich. HW 13, 248. 1057 HW 13, 243 u. 256. Hacks schickte das falsche Kirsch-Gedicht mit der Bitte um nähere Auskunft über deren Verfasserin, da ihm nur das Manuskript, nicht aber der Name der Dichterin bekannt sei, an Heinz Kahlau, Adolf Endler, Franz Fühmann, Stephan Hermlin und Rainer Kirsch. Hermlin und Fühmann tippten auf Sarah Kirsch, die anderen Angeschriebenen reagierten zurückhaltender und vermuteten eine Kirsch-Nachahmerin. Vgl. Gunther Nickel: Dokumente zur Entstehung von Peter

554 | Der Streit im literarischen Feld

Lyrik-Werkstattbericht mit der Entstehung von Gedichten beschäftigt, hatte Hacks sich für die Anschaulichkeit und Nachvollziehbarkeit literarischer Produktion ausgesprochen. Literatur sei, wie andere Erzeugnisse auch, ein Produkt menschlicher Arbeit, dementsprechend lassen sich Aussagen über ihren Herstellungsprozess treffen. Hier waltet kein Geheimnis; sosehr auch das Unbewusste in der Literatur eine Rolle spielen mag, „an die Arbeit selbst darf es mir nicht heran“, versichert Hacks.1058 Die Betonung des „Handwerklich=Mitteilbare[n]“ (Arno Schmidt),1059 die auch den „Sarah-Sound“ auszeichnet, verweist auf den Subtext des Essays, denn das Lob Kirschs stellt, neben der Verteidigung der Dichterin, auch einen Nebenschauplatz der Romantik-Auseinandersetzung dar. Hacks erwähnt in seinem Text selbst die Vorgänger, die sich mit Kirschs Lyrik befasst haben. Während er Heinz Kahlau lobt und Adolf Endler dafür kritisiert, die Eigenbewegung der Literatur gegenüber der Kulturpolitik zu niedrig anzusetzen, bescheinigt er Franz Fühmann, die „wichtigste Abhandlung“ verfasst zu haben, fügt aber zugleich an, dass dieser „sich bei der Tiefe seiner Deutungen für mein Gefühl zu sehr dem Weltmittelpunkt nähert, wohin ich ihm nicht in jedem Fall gern folgen möchte“.1060 Damit ist auf den dunklen und schwelgerischen Ton Fühmanns verwiesen, der Kirschs Gedichte als „Zaubergelände“ betritt und denen er als „Vorzug gültiger Lyrik“ zuspricht, dass sie sich „dem völligen Auflösen ins Rationale“ widersetzen.1061 Das gerade bestreitet Hacks, der meint, Sarah Kirschs „dunkle[r] Stil“ führe „ins durchaus Klare“; ihren Gedichten eigne zwar eine „[b]laue Grammatik“, von einem „blauen Sinn“, einem romantischen also, könne jedoch keine Rede sein.1062 Hacksʼ Polemik gegen Fühmann, die im Sommer 1976 mit der Schlegel-Rede ihren Höhepunkt finden wird, erscheint hier nur en passant. Sie zeigt aber doch einen Dissens an. „Der Sarah-Sound“ stellt insofern auch einen Gegentext zu Fühmanns „Vademecum für Leser von Zaubersprüchen“ dar, insbesondere vor dem Hintergrund, dass Hacks Sarah Kirsch zu seinen ‚Leuten‘ zählte,1063 wovon der Essay Ausdruck gibt.

|| Hacksʼ Essay „Der Sarah-Sound“. Aufgespürt, ediert und kommentiert von Günter Nickel. In: ARGOS (2010), H. 7, S. 109–127. 1058 HW 14, 126. 1059 Arno Schmidt: Muss das künstlerische Material kalt gehalten werden? (Anmerkungen zu Extrakten aus Bennʼs „Pallas“ und „Kunst und Macht“). In: ders.: Das essayistische Werk zur deutschen Literatur in 4 Bänden. Bd. 4. Zürich 1988, S. 317. 1060 HW 13, 242. Hacks lobt Fühmann aber gleichwohl für „scharfblickende und kenntnisreiche Beobachtungen“ zu handwerklichen Fragen. HW 13, S. 242f. 1061 Fühmann: Vademecum für Leser von Zaubersprüchen, S. 148 u. 155. 1062 HW 13, 252 u. 254. 1063 Vgl. FR 32.

Hacksʼ Kampf gegen die Romantik | 555

5.6.4.3 Wider die meineidigen Dichter: Hacksʼ Schlegel-Rede Wenn die im Dezember 1975 gehaltene Tasso-Rede der Auftakt des Romantikstreits innerhalb des literarischen Feldes darstellt, dann ist Hacksʼ Rede über Friedrich Schlegel vom 1. Juni 1976 deren vorläufiger Höhepunkt, ruft sie doch unmissverständlich dazu auf, die Romantik in der DDR zu bekämpfen: [W]er fortan über die Ruheplätze der deutschen Literatur den Weg nimmt und zufällig über Friedrich Schlegels Grabstatt wandelt, sollte ihm, um des Rechten und der Rechtschaffenheit willen, kräftig auf die Hand treten und nicht dulden, daß er seine widerlichen Leichenfinger mitten in die höchst lebendigen Tätigkeiten unserer Literatur hineinsteckt.1064

Hacksʼ Rede, die später unter dem Titel „Der Meineiddichter“ veröffentlicht wurde, ist zunächst eine Reaktion auf einen Vortrag Franz Fühmanns, den dieser am 24. Januar 1976 an gleichem Ort anlässlich des 200. Geburtstags von E. T. A. Hoffmann gehalten hatte.1065 Der Bezug auf Fühmann geht darüber hinaus aus den dem eigentlichen Vortrag vorangeschickten Worten Hacksʼ hervor: „Der Fühmann hat mich ja gezwungen, auf Literatur zu machen.“1066 Die Äußerung legt nahe, dass Fühmann eine politische Rede in ästhetischem Gewand gehalten habe. Und tatsächlich geht Fühmanns Hoffmann-Laudatio weit über das Lob des Verfassers des Goldenen Topfes und des Ritter Gluck hinaus, so dass von einer Grundsatzrede gesprochen werden kann, die versucht das Verhältnis zur Romantik neu zu bestimmen.1067 Fühmann berichtet zunächst von einem „merkwürdigen Phänomen persönlicher Erfahrung“, dass ihm nämlich die Schriften Tiecks, Arnims, Eichendorffs, Brentanos, Fouqués, Görresʼ und der Brüder Schlegel näher stünden als die Gegenwartsliteratur der DDR, um dieses „Romantik-Erlebnis“ schließlich als keineswegs privat, sondern als Ausdruck eines „unübersehbar hervortretende[n] Bedürfnis[ses] vieler“ zu bestimmen.1068 Hoffmann gilt Fühmann in diesem Zusammenhang als ein besonderes Beispiel: „Die Literatur der Romantik hat Modelle neuer Erfahrung geschaffen, und in ihr Ernst Theodor Amadeus Hoffmann wiederum solche besonderer Art und Präzision.“1069 Bezeichnend für diese Modelle sei, dass sie das Unwirkliche der alle Tradition hinter sich lassenden, modernen kapitalistischen Warenwirtschaft realistisch wiedergeben und den Erfahrungen der Entfremdung des modernen Individuums

|| 1064 HW 13, 272. Siehe zu den einzelnen ästhetischen Argumenten gegen Schlegel: Kap. 5.4.2. 1065 In der Einladung der Akademie wird sie angekündigt als „Weiterführung der von Franz Fühmann [...] begonnenen Diskussion zur deutschen Romantik“. AdK, Sitzung der Sektion Literatur und Sprachpflege, 1. Juni 1976, AdK-O, Nr. 894, Bl. 147. 1066 AdK, Sitzung der Sektion Literatur und Sprachpflege, 1. Juni 1976, AdK-O, Nr. 894, Bl. 149. 1067 Siehe zu Fühmanns Rede auch: Decker, S. 242–257 u. Püllmann: Von Brecht zu Braun, S. 265ff. 1068 Fühmann: E. T. A. Hoffmann. Rede in der Akademie der Künste, S. 217f. 1069 Fühmann: E. T. A. Hoffmann. Rede in der Akademie der Künste, S. 221.

556 | Der Streit im literarischen Feld

weitaus angemessener seien als die von der klassischen Literatur Goethes unterbreiteten Lösungen, weshalb sie zu Recht am Beginn der modernen Literatur stünden. Aber nicht nur für die Frühzeit des neunzehnten Jahrhunderts sei die Hoffmann’sche Literatur von besonderem Wert, ihr epochenübergreifender Realismus zeige sich auch vor dem Hintergrund der faschistischen (Nach-)Geschichte, wie Fühmann in Bezug auf Die Elixiere des Teufels ausführt: Die Sünden der Väter koch und gären in meinen Blut – das ist doch, jener Schrei aus den ,Elixieren des Teufels‘, das ist doch kein Beitrag zur Erbbiologie und kein Kalkül zur Molekulargenetik, das ist doch unsere Sache, die Hoffmann hier abhandelt, man sucht sich seine Väter doch nicht aus. Der meine war stolz, die Ortsgruppe der NSDAP in meinem Heimatort gegründet zu haben […].1070

Das Unheimliche bei Hoffmann stehe so auch für die deutsche Nachkriegsgesellschaft, in der man nie wisse, mit wem man es zu tun habe, weil „die Eichmanns und Mulkas aussehn wie Herr Müller“.1071 Besonderen Wert legt Fühmann auf die Alltagsschilderungen Hoffmanns, auf dessen „Modelle eines gespenstisch werdenden Alltags“, der sich einer intuitiven Rationalität entziehe; dass Fühmann hiermit aber nicht allein die kapitalistischen Gesellschaften meint, sondern auch die DDR, wird deutlich, wenn er konstatiert, dass die Modelle der Romantik „auch heute und hier noch […] tauglich“ seien.1072 Was unter dieser Tauglichkeit zu verstehen ist, führt Fühmann zudem am Beispiel des Künstlers aus, dessen Verhältnis zur Gesellschaft sich wesentlich von dem der Bürger unterscheide: „Das Glück am Erreichten ist eine Kategorie, deren Dauerzustand dem Bürger gemäß ist. Ihr Gegenstück beim Künstler ist die schöpferische Qual“; das Verhältnis des Künstlers zur Gesellschaft ist eines des „Widerspruch[s]“.1073 In diesem Sinne lasse sich von Hoffmann lernen, dessen Werk Fühmann in eine Reihe mit James Joyce stellt und dem er das Prädikat „Weltliteratur“ verleiht.1074 Darauf läuft denn auch die Rede hinaus: E. T. A. Hoffmann sei ein, wie Fühmann „mit Inbrunst“ betont, unersetzlicher Bestandteil des sozialistischen Kulturerbes; wie die Klassik gehöre auch die Romantik notwendig zu diesem: Aus dem Erbe läßt sich ebensowenig eine einzelne Linie als die gültige herauspräparieren, wie eines der beiden Nervensysteme aus dem lebendigen Organismus. Nervus vagus und nervus sympathicus wirken widereinander, aber nur beide im Widerstreit machen den Menschen aus.1075

|| 1070 Fühmann: E. T. A. Hoffmann. Rede in der Akademie der Künste, S. 227. 1071 Fühmann: E. T. A. Hoffmann. Rede in der Akademie der Künste, S. 229. 1072 Fühmann: E. T. A. Hoffmann. Rede in der Akademie der Künste, S. 229 u. 237. 1073 Fühmann: E. T. A. Hoffmann. Rede in der Akademie der Künste, S. 237. 1074 Fühmann: E. T. A. Hoffmann. Rede in der Akademie der Künste, S. 233. 1075 Fühmann: E. T. A. Hoffmann. Rede in der Akademie der Künste, S. 237f.

Hacksʼ Kampf gegen die Romantik | 557

Dass seine Rede im Kontext der offiziellen Erbeauffassung eine Provokation darstellte, war Fühmann bewusst. Der Beginn der Rede lässt explizit erkennen, dass Fühmann eine Auseinandersetzung herbeiführen wollte: „Meine Damen und Herren, verehrte Freunde und Gegner!“1076 Hacks erkannte sich als einen dieser ,Gegner‘, und das in besonderem Maße, ist Fühmanns Beitrag doch nicht nur ein entschiedener Vorstoß hin zur Aufwertung der Romantik – in Zur Romantik heißt es später, Fühmann habe die „Inthronisation der Romantik“ bezweckt –,1077 sondern bedeutet implizit auch eine Abwertung Goethes, mit dessen klassischer Haltung in nachklassischen Zeiten Hacks sich zunehmend identifizierte.1078 Die Rede über Friedrich Schlegel ist daher als Versuch, „die Romantik bei der Wurzel und in ihrem Wesen zu packen“,1079 als grundsätzliche Abrechnung mit der alten und der neuen Romantik aufzufassen. Hacksʼ Kritik der Romantik, die „Der Meineiddichter“ ausbreitet, ist bereits in Kapitel 5.4 beschrieben worden. Hier bleibt nun nachzutragen, wie die Rede aufgebaut ist und worauf sich der im Titel ausgewiesene Meineid bezieht, um schließlich zu fragen, wer denn ihr eigentlicher Adressat ist. Wie schon erwähnt, erkennt Hacks in Friedrich Schlegel den „Erfinder der Romantik“; indem er sich in die „Rolle des [poetischen] Richters“ setzt, der über Schlegel den Stab bricht, handelt Hacks an ihm exemplarisch die gesamte Romantik ab.1080 Die Argumentation bedient sich dabei eines intertextuellen Verfahrens, denn Hacks hat seiner Rede einen fremden Text eingeschrieben, der diese motivisch strukturiert. Hierbei handelt es sich um die Sage „Der falsche Eid“ aus den Deutschen Sagen der Brüder Grimm. Diese lautet wie folgt:

|| 1076 Fühmann: E. T. A. Hoffmann. Rede in der Akademie der Künste, S. 217. 1077 HW 15, 85. Hacks schließt das in der Arbeitsgruppe Dramatik u.a. daraus, dass Fühmann sich Hoffmann zum Gegenstand gewählt hat: „Fühmann ist von dem stärksten Mann, einem Mann, den man doch vertreten kann, von Hoffmann ausgegangen und hat von dort extrapoliert nach vorn und nach hinten […].“ BD 2, 164. So erklärt sich auch, dass Hacks nicht weiter auf Hoffmann eingeht, den er im strengen Sinne nicht zur Romantik zählt, sondern zum Biedermeier. Vgl. HW 13, 258. Diese Position veränderte sich später. Vgl. HW 15, 14ff. 1078 Dass Fühmann sich umgekehrt mit Hoffmann identifizierte, geht aus einem Brief an seinen Verleger Kurt Batt hervor, in dem es heißt, in Hoffmann „habe ich nun den Meister gefunden, dessen treuer Knappe ich sein könnte. […] ETAH – das wäre ein Banner und ein Dienst“. Fühmann: Briefe, S. 123f. (Franz Fühmann an Kurt Batt, 29. August 1973). Tatsächlich findet Fühmann, der sich zeitlebens für „die Magie der Zahlen“ (Decker, S. 246) interessierte, „insgesamt 37 Gemeinsamkeiten“ zwischen Hoffmann und sich, „zwischen dem [18]22 Gestorbenen und dem [19]22 Geborenen“, so u.a. dass „beide mit 33 ihre erste Novelle veröffentlichten“ und „den Traum als wesenhafte Wirklichkeit ansahen“. Fühmann: Briefe, S. 124 (Franz Fühmann an Kurt Batt, 29. August 1973). Siehe zur ,Magie‘ der Zahl 22 bei Fühmann: Hans Richter: Franz Fühmann. Ein deutsches Dichterleben. Eine Biographie. Berlin 2001, S. 80ff. 1079 HW 15, 85f. 1080 HW 13, 258 u. 165.

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Im Odenwald beim Kloster Schönau liegt ein Ort, genannt zum falschen Eid. Da hat auf eine Zeit ein Bauer geschworen, der Acker gehöre sein; alsbald öffnete sich der Erdboden unter seinen Füßen, und er versank, daß nichts übrigblieb als sein Stab und zwei Schuhe. Davon hat die Stelle den Namen erhalten. / Sonst weiß man auch von Meineidigen, daß ihnen die aufgerichteten Finger erstarren und nicht mehr gebogen werden mögen oder daß sie verschwarzen; auch daß sie nach dem Tode der Leute zum Grab herauswachsen.1081

Hacks interpretiert die Sage als Metapher auf die Romantik: Die ‚erstarrten Finger‘ stehen für deren mangelnde literarische Qualität, das ‚Verschwarzen‘ für deren Übertritt zum Katholizismus und das ‚Zum-Grab-Herauswachsen‘ für die bis in die Gegenwart reichende romantische Tradition der Formzertrümmerung und des Subjektivismus.1082 Der Meineid bezieht sich auf Schlegels 116. Athenäums-Fragment, an dessen Ende es heißt: „Die romantische Dichtart ist die einzige, die mehr als Art, und gleichsam die Dichtkunst selbst ist: denn in einem gewissen Sinn ist oder soll alle Poesie romantisch sein.“1083 So wie der Bauer geschworen hat, ,der Acker wäre sein‘, so habe Schlegel behauptet, „er allein […] habe das Recht, das Feld der Poesie zu beackern“; das eben ist der Falscheid, denn Hacks sieht es als erwiesen an, dass Schlegels These, die romantische Literatur sei die eigentliche Literatur, aufgrund der deutschen Klassik schon zu ihrer Zeit als widerlegt gelten könne: „Der Eid war falsch.“1084 Übertragen auf die Gegenwart des Jahres 1976 bedeutet das: Das Literaturkonzept, das Fühmann vertritt, beansprucht sich als die DDR-Literatur zu setzen – und genau das ist es auch, was der späte Hacks Fühmann vorwirft: „Er wollte die Romantik an die Macht“.1085 Es sei in diesem Zusammenhang noch einmal daran erinnert, dass sich die romantische Literatur in Hacksʼ Perspektive durch die Zerstörung des Widerspruchs zwischen Realität und Ideal bzw. zwischen Gegenwart und Zukunft auszeichnet, und zwar dergestalt, dass ein Ideal gesetzt wird, das nicht mit der Realität vermittelbar ist und damit de facto außer Kraft gesetzt wird; während die Zukunftsperspektive negiert wird, erfährt die Gegenwart als Gegenstand der Kritik eine Aufwertung.1086 Die Diagnose der Gegenwart durch die Literatur und die Verortung des Einzelnen in der Gegenwart entspricht Fühmanns „Literaturbegriff“. In der Hoffmann-Rede führt dieser aus:

|| 1081 Grimm u. Grimm: Deutsche Sagen, S. 136f. 1082 Vgl. den Einsatz der Grimm-Stellen: HW 13, 265, 269 u. 272. 1083 Schlegel: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Bd. 2, S. 183. 1084 HW 13, 258. Olaf Reinckes Ansicht, es handle sich um einen „moralische[n] Vorwurf“, der sich „auf die Verehrung des jungen Schlegel für Goethes Kunststil“ beziehe (Reincke, S. 418), geht insofern fehl. 1085 HW 15, 85. 1086 Vgl. HW 13, 133f.

Hacksʼ Kampf gegen die Romantik | 559

In diese Gesellschaftsformationen ist der Mensch mit der ganzen Existenz gestellt, und die Kunst, vor allem die Literatur, liefert Modelle wesenhafter Erfahrung, die es dem einzelnen gestatten, sich im phantastischen Selbsterlebnis in seiner Umwelt wiederzufinden und sich mit den Mitmenschen zu vergleichen: betroffen, erschüttert, bestätigt als ganzer Mensch.1087

In diesem Literaturkonzept erkennt Hacks eine Verengung, eine Zusammenziehung auf die Kritik der Gegenwart – „Literatur ist immer Literatur im Widerspruch“, heißt es bei Fühmann –,1088 die einer „Flucht ins Leben“ entspreche, die den Anspruch aufgibt, „die Möglichkeiten einer Zeit zu untersuchen im Hinblick auf die Möglichkeiten, die die Menschheit als solche hat“.1089 Die Schlegel-Rede ist der Versuch, ihre ästhetischen und politischen Grundlagen aufzudecken und sie so in die Schranken zu weisen; dementsprechend der Aufruf, dem meineidigen Schlegel, dem ja aufgrund des Meineids die Finger aus dem Grab wachsen, auf ,die Hand zu treten‘. In gewisser Weise verbirgt sich hinter dieser Aufforderung eine Angst, erkennt Hacks doch – wie er gegen Ende seiner Rede mit Bezug auf Schlegels Feststellung „Alle Künstler sind Dezier“1090 ausführt – die Gefahr, dass „das Schlachtfeld aufs Vollständigste“ gereinigt werde: „Ob aus meiner Wenigkeit etwas wird, sagt der Feldherr der Romantiker, soll mir gleich sein; Hauptsache, aus meinen Feinden von der klassischen Richtung wird auch nichts.“1091 Dass es Hacks nicht um die Klärung des historischen Romantikbegriffs, sondern die Romantik in der DDR ging, war schon dem Sektionssekretär Günther Rücker aufgefallen, der im Anschluss bemerkte: „Und es geht auch gar nicht um Schlegel, habe ich das Gefühl, sondern es geht um den Schlegel im Jahre 1976.“1092 Damit ist die Frage aufgeworfen, wer der Adressat der Rede war: die AutorInnen der DDR im Allgemeinen, die DDR-Romantiker, Franz Fühmann – oder Heiner Müller? Bedenkt man die Konkurrenzsituation zwischen Hacks und Müller, so läge es nahe, den „Meineiddichter“ als verschlüsselten Angriff auf Müller zu interpretieren, dessen Ansprüche auf das Drama der DDR zurückgewiesen werden sollen. Das aber blendet nicht nur den konkreten Kontext aus, Fühmanns Rede nämlich, sondern schränkt auch den allgemeinen Charakter, den Hacks mit seiner Romantikverurteilung beansprucht, ein. Hacks nutzte Schlegel nicht als „Projektionsfläche“, die Rede ist keine Camouflage, || 1087 Fühmann: E. T. A. Hoffmann. Rede in der Akademie der Künste, S. 220f. 1088 Fühmann: E. T. A. Hoffmann. Rede in der Akademie der Künste, S. 237. 1089 BD 2, 188. 1090 Schlegel: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Bd. 2, S. 269. 1091 HW 13, 272. Dem römischen Konsul Publius Decius wird nachgesagt, sich in der Schlacht gegen die Latiner 340 v. u. Z. selbst geopfert zu haben. Vgl. Ziegler u. Sontheimer Bd. 1, Sp. 1409–1411. Livius beschreibt ihn als eine Art modernen Selbstmordattentäter. Vgl. Livius: Römische Geschichte seit Gründung der Stadt. Zweiter Band, hg. von Heinrich Dittrich. Berlin/Weimar 1978, S. 155f. 1092 AdK, Sitzung der Sektion Literatur und Sprachpflege vom 1. Juni 1976, AdK-O, Nr. 894, Bl. 165. An anderer Stelle äußerte Rücker: „Er [Hacks, R.W.] zielt manchmal auf Leute, die er nur nicht namentlich nennt.“ Bl. 195.

560 | Der Streit im literarischen Feld

die sich in Wirklichkeit „mit den Müllerschen theoretischen Positionen auseinander[setzt]“, wie Rüdiger Bernhardt meint.1093 Ebenso stellt es eine Bedeutungsverengung dar, wenn Hans-Christian Stillmark in dem Umstand, dass Heiner Müller sich in dem 1975 verfassten Text „Ein Brief“ positiv auf Schlegel bezieht, den „Anlaß“ für Hacksʼ Rede erkennt und noch die Heranziehung des Grimm’schen Märchens darauf zurückführt, dass Müller Hacks im gleichen Jahr vorgeworfen hatte, in einer DDR“Märchenwelt“ zu leben; ein Vorwurf, dem Hacks, so Stillmark, „mit heiligem Ernst eine besondere Pointe abzugewinnen trachtet“.1094 Die sich ab Ende 1975 verschärfende Polemik gegen die Romantik kann nicht allein auf Heiner Müller, den Hacks ja schon im Sommer 1975 in „Über das Revidieren von Klassikern“ offen angegriffen hatte, zurückgeführt werden. Dass es in der Rede trotzdem auch um Müller geht, ist gleichwohl offensichtlich. Die Polemik gegen das Grässliche erinnert deutlich an die Debatte über Macbeth: „Wo einer die Abscheulichkeiten willkürlich einrührt und die blutigen Wirkungen beliebig aus der Tüte schüttelt, tritt Abgeschmacktheit für Tragik.“1095 Der von Franz Fühmann aufgedeckte und von Hacks fortgesetzte agonale Charakter der Auseinandersetzung dominierte auch die sich an die Rede anschließende Diskussion. So fühlte sich Wieland Herzfelde an die apodiktischen Urteile Georg Lukácsʼ erinnert und warf Hacks vor, in seinem „summarischen Zorn“ zu weit zu gehen.1096 Die eigentliche Auseinandersetzung entspannte sich aber zwischen Hacks und Stephan Hermlin, dem einzigen der anwesenden DDR-Romantiker, mit dem Hacks bereits 1973 im DDR-P.E.N. bei einer Debatte über die CSSR aneinandergeraten war.1097 Hermlin argumentierte, Hacks habe gegen die eigenen Prämissen seiner sozialistischen Klassik verstoßen und sei von der Position der Mitte abgewichen; in der Literatur „zwei Grundrichtungen“ herausfinden zu wollen, sei ein Grundfehler.1098 Hacks wies das zurück. Eine Gleichordnung von Klassik und Romantik erschien ihm

|| 1093 Bernhardt: Heiner Müller und Peter Hacks, S. 42f. Einen Anhaltspunkt hierfür erkennt Bernhardt kurioserweise darin, dass Müller „fast auf den Tag genau einhundert Jahre später“ (S. 43) als Schlegel geboren wurde. 1094 Stillmark: Hacks und Müller, S. 433f. Stillmark unterstellt sogar, dass der Adressat der Maßgaben der Kunst „vorwiegend im Antipoden Heiner Müller zu erblicken ist“. Stillmark: Hacks und Müller, S. 435. Siehe zum Schlegel-Bezug: MW 8, 176. Siehe zur Märchen-Äußerung: MW 10, 65. 1095 HW 13, 268. Müllers Hamletmaschine war zu diesem Zeitpunkt noch nicht verfasst. Vor dem Hintergrund von Hacksʼ an Goethe angelehnter Analyse des Hamlet kann es aber als sicher gelten, dass Hacks den Text in ähnlicher Stoßrichtung kritisiert hätte wie bereits die Macbeth-Bearbeitung. Eine Äußerung Hacksʼ zu Hamletmaschine ist nicht überliefert. Siehe zu Hacksʼ Analyse des Hamlet: HW 13, 117–121 u. HW 15, 303f. Siehe auch die spätere Diskussion der Arbeitsgruppe „Technik des Dramas“ im Mai 1990: BD 4, 375–416. 1096 AdK, Sitzung der Sektion Literatur und Sprachpflege vom 1. Juni 1976, AdK-O, Nr. 894, Bl. 177. 1097 Vgl. GmH 81f. 1098 AdK, Sitzung der Sektion Literatur und Sprachpflege vom 1. Juni 1976, AdK-O, Nr. 894, Bl. 178.

Hacksʼ Kampf gegen die Romantik | 561

angesichts Goethes unpassend: „Was ist eigentlich der Fehler von Goethe, der ergänzt werden muß?“, fragte er; und auf den Realismus Goethes und dessen Kapitalismuskritik in Faust II verweisend, argumentierte er, dass es gerade die Romantik sei, welche die Mitte negiert habe, indem sie „die Enden der Welt, die Grenzen der Welt zur Mitte gemacht“ habe.1099 Hermlin erregte vor allem die pauschale Verurteilung der Romantik als literarisch minderwertig: Ich lasse mir nicht einreden, daß die Romantiker, wie das hier diktatorisch behauptet wurde, samt und sonders schlechte Dichter gewesen wären. […] Wenn mir jemand erzählen wollte, daß ‚Der blonde Eckbert‘ – eines der höchsten Produkte deutscher Prosa meiner Meinung nach – schlecht geschrieben wäre, erübrigt sich jede weitere Diskussion.1100

Ein Ergebnis hatte der Schlagabtausch, wie nicht anders zu erwarten, nicht. Hacks beharrte auf der in der Rede ausformulierten Position, dass die Romantiker „politisch nachdrücklich rückschrittlich“ und die romantische Literatur ästhetisch ungenügend sei.1101 Den Verteidigern der Romantik unterstellte er einen moralischen Reflex, ohne dass sie die romantische Literatur, insbesondere das romantische Drama, wirklich zur Kenntnis genommen hätten. Zum Schluss lud Hacks Hermlin in die nächste Sitzung der Arbeitsgruppe Dramatik ein, welche das romantische Drama auf die Tagesordnung gesetzt hatte. Es mag kaum verwundern, dass Hermlin dort nicht erschien. Hacksʼ Schlegel-Rede ist eine offene Kampferklärung an die neue Romantik, ein bewusster Versuch, in die seit Beginn der 1970er Jahre stattfindende sukzessive Umwertung des literarischen Kanons zu intervenieren. Das Ergebnis war – entgegen der Hoffnung Günther Rückers auf eine „lebendige“1102 Debatte – eine Verhärtung der Fronten. Eine Fortsetzung der Diskussion über die Romantik im Rahmen der Akademie der Künste fand nicht mehr statt. Und auch eine Publikation des „Meineiddichters“ in Sinn und Form kam nicht zustande, weil Hacks den Herausgeber der Akademie-Zeitschrift Wilhelm Girnus offen ablehnte.1103 Stattdessen wählte Hacks die neue deutsche literatur als Veröffentlichungsort, wo „Der Meineiddichter“ schließlich

|| 1099 AdK, Sitzung der Sektion Literatur und Sprachpflege vom 1. Juni 1976, AdK-O, Nr. 894, Bl. 188 u. 192. 1100 AdK, Sitzung der Sektion Literatur und Sprachpflege vom 1. Juni 1976, AdK-O, Nr. 894, Bl. 179f. Hacks scheint hierauf in Zur Romantik Bezug zu nehmen, wenn er Tiecks Kunstmärchen aufgrund der Wiederholung von Adjektiven und Adverbien wie ‚seltsam‘ und ‚wunderbar‘ „absichtlich schlechte[n] Stil“ unterstellt. HW 15, 32. 1101 AdK, Sitzung der Sektion Literatur und Sprachpflege vom 1. Juni 1976, AdK-O, Nr. 894, Bl. 190. 1102 AdK, Sitzung der Sektion Literatur und Sprachpflege vom 1. Juni 1976, AdK-O, Nr. 894, Bl. 195. 1103 Über Girnus, der auch Mitglied der Sektion für Literatur und Sprachpflege war, hatte Hacks sich vor ebendieser bereits im November 1975 beschwert. Vgl. Protokoll der Sektion Literatur und Sprachpflege, 4. November 1975, AdK-O, Nr. 898, Bl. 169. In Zur Romantik heißt es, unter Girnus sei SuF „eine antisozialistische Zeitschrift“ gewesen. HW 15, 86.

562 | Der Streit im literarischen Feld

im Mai 1977, fast ein Jahr nach dem Vortrag, erschien und für wütende Reaktionen sorgte.1104 Die Spaltung des literarischen Feldes war da, sechs Monate nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns, längst in vollem Gange.

|| 1104 Siehe die beiden in ndl 25 (1977), H. 9, S. 169–173 abgedruckten Leserbriefe. Peter Brasch schrieb in Reaktion auf Hacksʼ Text eine Polemik unter dem Titel „Hacks und der Meineiddichter“, in der er Hacks vorwirft, „seine privaten Ausdünstungen in die Öffentlichkeit zu lassen“. AdK, PeterBrasch-Archiv, Nr. 331.

Die Eskalation des Streits: Die Ausbürgerung Wolf Biermanns und die Folgen | 563

5.7

Die Eskalation des Streits: Die Ausbürgerung Wolf Biermanns und die Folgen

Das Jahr 1976 bedeutet nicht nur den Höhepunkt des Romantikstreits, sondern markiert mit der Ausbürgerung Wolf Biermanns auch die Eskalation der Auseinandersetzungen zwischen den Akteuren des kulturellen Feldes. Im Folgenden soll beschrieben werden, wie die Ausbürgerung und der Protest gegen diese zustande kamen, wie Hacks darauf reagierte und welche Konsequenzen für das literarische Feld die Ausbürgerung hatte.

5.7.1

Wolf Biermann und die DDR

Wie Peter Hacks gehört auch Wolf Biermann zu den wenigen West-Ost-Emigranten, die aus politischer Überzeugung in die DDR gingen. Aus kommunistischer Familie kommend, übersiedelte er 1953 mit gerade einmal siebzehn Jahren nach Ost-Berlin. Dort studierte er ab 1957 an der Humboldt-Universität zunächst Politische Ökonomie, später Philosophie und Mathematik. Von 1957 bis 1959 war er als Regieassistent am Berliner Ensemble tätig. 1959 begann er dann Gedichte und Lieder zu schreiben. 1961 gründete er zusammen mit Brigitte Soubeyran das Berliner Arbeiter- und Studententheater (b.a.t.).1105 Im Zuge der Lyrikwelle zu Beginn der 1960er Jahre wurde Biermann schnell bekannt. Im Dezember 1962 trat er bei der von Stephan Hermlin organisierten Lesung junger Lyrik in der Akademie der Künste auf, wo er u.a. das Gedicht „An die alten Genossen“ vortrug, an dessen Schluss es heißt: „Setzt eurem Werk ein gutes Ende / Indem ihr uns / Den neuen Anfang laßt“.1106 Im Januar 1963 las er gemeinsam mit anderen Lyrikern anlässlich des VI. Parteitags in der Humboldt-Universität.1107 Auf Seiten der SED stießen Biermanns kritische Lieder auf wenig Gegenliebe: Im März 1963 wurde er als Leiter des b.a.t. abgesetzt. Das Theater ging in die Kontrolle der Staatlichen Schauspielschule über. Biermann wurde als Kandidat der SED gestrichen und erhielt ein halbjähriges Auftrittsverbot. Danach konnte Biermann zunächst wieder auftreten. Im April 1964 sang er im Haus der tschechoslowakischen Kultur in Ostberlin, im Juni im Künstlerklub „Möwe“ bei einem Jour fixe; zudem trat er als Gast im Kabarett „Die Distel“ auf. Noch im gleichen Jahr erschienen elf seiner Gedichte in

|| 1105 Siehe zum b.a.t.: Stuber, S. 201ff. 1106 Biermann: Alle Gedichte, S. 19. 1107 Vgl. das Foto des Berliner Lyriker-Forums auf der Homepage des Bundesarchivs: http://www.bundesarchiv.de/oeffentlichkeitsarbeit/bilder_dokumente/02783/index-6.html.de (zuletzt eingesehen am 22. November 2013).

564 | Der Streit im literarischen Feld

der Anthologie Sonnenpferde und Astronauten.1108 Zugleich stieg Biermanns Bekanntheit in Westdeutschland. Im Dezember 1964 gestattete ihm die Regierung eine Konzertreise durch Westdeutschland und ein halbes Jahr später bestritt Biermann gemeinsam mit dem westdeutschen Kabarettisten Wolfgang Neuss ein Konzert beim Ostermarsch in Frankfurt am Main, das kurz danach als LP veröffentlicht wurde. Im Herbst 1965 kam schließlich Biermanns erster selbständiger Gedichtband Die Drahtharfe bei Wagenbach in Westberlin heraus. Hatte schon Biermanns Auftritt im Haus der tschechoslowakischen Kultur für negative Reaktionen seitens der SED gesorgt, so stieg der Argwohn gegen ihn noch zusätzlich durch ein Interview, das er im September 1964 dem Prager Rundfunk gab und in dem er sich vorstellte „als einer, der kritisiert ist und oft nicht singen durfte“.1109 Besondere Probleme bereitete der SED, dass Biermann mit seiner Kritik an dem in seinen Augen falschen Weg des sozialistischen Aufbaus in westlichen Medien großen Anklang fand. „Wenn von der kritischen jungen Lyrik von drüben die Rede ist, so muß man an erster Stelle von Wolf Biermann sprechen“, schrieb etwa Sabine Brandt in der FAZ und lobte Biermann als den einzigen Gegenwartsautor, „der die Spaltung als einen Schmerz des ganzen Volkes empfindet“.1110 Zudem stieg Biermanns Popularität auch in der DDR. So bemerkt eine Information der Abteilung Kultur beim ZK der SED vom April 1965 kritisch gegen das eigene Fernsehen: „Auch seine Wirkung auf bestimmte, vor allem jüngere Künstler der DDR ist nicht gering, wozu solche Beiträge wie die DDR-Fernsehberichterstattung vom Ostermarsch, wo er fast 10 Minuten ,im Blickpunkt‘ stand, nicht unwesentlich beitragen.“1111 In Biermann sah man die Gefahr eines gesamtdeutschen Stars, der sich, das dokumentierte die nicht mit den zuständigen Stellen abgesprochene Veröffentlichung der Drahtharfe, der eigenen Kontrolle entzog, hatten doch mehrere Gespräche, die Biermann auf die Linie der SED einschwören sollten, ihren Zweck verfehlt.1112 Die SED reagierte, indem sie eine geplante DDR-LP Biermanns zurückzog. Anfang Dezember 1965 erschien im Neuen Deutschland ein Artikel über Biermanns „negative Entwicklungstendenz“. Klaus Höpcke, später Kulturminister, warf Biermann darin vor, „Geringschätzung gegenüber den Leistungen des Volkes“ zu zeigen und in einen

|| 1108 Zwischen 1962 und 1965 erschienen Gedichte von Biermann in insgesamt fünf DDR-Anthologien. Vgl. Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR, S. 230. 1109 Vgl. Dietmar Keller u. Matthias Kirchner: Biermann und kein Ende. Eine Dokumentation zur DDR-Kulturpolitik. Berlin 1991, S. 11ff. u. Wolle: Aufbruch nach Utopia, S. 264–267; das Zitat dort: S. 266. 1110 Sabine Brandt: Ein Dinosaurier tanzt auf dem Marx-Engels-Platz. Wolf Biermann, ein deutscher Dichter – „Die Drahtharfe“ / Balladen, Gedichte, Lieder. In: FAZ, 23. November 1965, S. 41. 1111 Zit. n. Keller u. Kirchner, S. 28. Laut FAZ hieß es in der Thüringischen Landeszeitung, Biermann habe „ein großes Herz für alle, denen Unrecht geschah“. Wieder Angriffe gegen Zonen-Schriftsteller. Jetzt Kritik an Bräunig / Provinzblätter loben Biermann. In: FAZ, 18. Dezember 1965, S. 3. 1112 Siehe zu den Aussprachen mit Biermann: Keller u. Kirchner, S. 14, 24ff. u. 37–42.

Die Eskalation des Streits: Die Ausbürgerung Wolf Biermanns und die Folgen | 565

„Sog antikommunistischen Liedermachens“ hineingeraten zu sein. Biermanns Lieder vermittelten eine „anarchistische Philosophie“ und verbreiteten „Skeptizismus“.1113 Das war bereits der Ton des 11. Plenums, dessen Kritik sich neben vielen anderen Akteuren vor allem gegen Biermann sowie Robert Havemann und Stefan Heym richtete. In seinem Einleitungsreferat griff Honecker Biermann offen an: Die Orientierung auf die Summierung von Fehlern, Mängeln und Schwächen wird von Kreisen genährt, die daran interessiert sind, gegenüber der Politik der DDR Zweifel zu erwecken und die Ideologie des Skeptizismus zu verbreiten. Zu diesen Kreisen gehört zum Beispiel Wolf Biermann. In einem Gedichtband, der im Westberliner Wagenbach-Verlag erschien, hat Biermann die Maske fallen lassen. Im Namen eines schlecht getarnten spießbürgerlich-anarchistischen Sozialismus richtet er scharfe Angriffe gegen unsere Gesellschaftsordnung und unsere Partei. Mit seinen von gegnerischen Positionen geschriebenen zynischen Versen verrät Biermann nicht nur den Staat, der ihm eine hochqualifizierte Ausbildung ermöglichte, sondern auch Leben und Tod seines von den Faschisten ermordeten Vaters.1114

In der Folge erhielt Biermann in der DDR ein Auftritts- und Publikationsverbot. Weitere Maßnahmen, wie etwa eine Ausweisung aus Berlin, die bereits angedacht war,1115 erfolgten aber nicht, zum einen, weil die Angriffe auf den Liedermacher und Lyriker Proteste im Westen auslösten,1116 zum anderen, weil Margot Honecker ihre schützende Hand über Biermann hielt. Die seit 1963 amtierende Ministerin für Volksbildung war gemeinsam mit Biermann in Hamburg aufgewachsen, nachdem beider Väter aufgrund ihrer Antifa-Arbeit festgenommen und umgebracht worden waren, und hatte sich seit dessen Übersiedlung in die DDR um diesen gekümmert.1117 Bereits vor dem 11. Plenum war Biermann zum Freundeskreis von Robert Havemann gestoßen. Havemann, der infolge seiner parteikritischen Vorlesungen an der Humboldt-Universität und deren Publikation im Westen unter dem Titel Dialektik ohne Dogma bereits 1964 aus der SED ausgeschlossen worden war, wurde in den

|| 1113 Klaus Höpcke: … der nichts so fürchtet wie Verantwortung. Über „Antrittsrede“ und „Selbstporträt“ eines Sängers. In: ND, 5. Dezember 1965, S. 6. 1114 Erich Honecker: Bericht des Politbüros an die 11. Tagung des Zentralkomitees der SED (Auszug). In: Agde, S. 244. 1115 Vgl. Keller u. Kirchner, S. 63. 1116 So schrieb etwa Peter Weiss einen Offenen Brief an Wilhelm Girnus. Vgl. Keller u. Kirchner, S. 48ff. Siehe dort die weiteren Protestschreiben: S. 33 u. 45ff. 1117 Schenkt man Reinhold Andert, der 1990 Gespräche mit Margot und Erich Honecker führte, Glauben, so kam Biermann „regelmäßig mit seiner Gitarre zu ihr ins Ministerium“ und brauchte „weder Termin noch Passierschein, um seiner ‚großen Schwester‘ etwas vorzusingen“. Reinhold Andert: Nach dem Sturz. Gespräche mit Erich Honecker. Leipzig 2001, S. 158. Ähnlich äußern sich zahllose ehemalige WeggefährtInnen Biermanns, so etwa auch Gisela Steineckert: Gisela Steineckert: Das Leben hat was. Berlin 2013, S. 98f.

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1960er Jahren der bekannteste Dissident der DDR, der immer wieder mit Artikeln, Büchern und Interviews in westlichen Medien für Aufsehen sorgte.1118 Für den vaterlos aufgewachsenen Biermann wurde er eine Identifikationsfigur: „Robert war […] mein engster, liebster, bester, treuester Freund in all diesen Jahren und ich glaube nicht, daß es eine Übertreibung ist, wenn ich behaupte, daß ich ohne ihn wahrscheinlich kaputt gegangen wäre nach 1965.“1119 Nach 1965 konnte Biermann nur noch im Westen veröffentlichen. Seine Gedichtbände erschienen dort weiterhin bei Wagenbach; 1973 schloss er einen Vertrag mit dem US-amerikanischen Plattenlabel CBS ab. Innerhalb der DDR war Biermann auf private Räume beschränkt. Seine Lieder und Gedichte fanden aber dennoch vielfach Verbreitung in der DDR, weil sie als Abschriften herumgereicht wurden; auch gab es kleinere illegale Konzerte.1120 Zudem war Biermann über die westlichen Medien präsent, etwa durch ein von niederländischen Freunden in seiner Wohnung aufgezeichnetes Konzert, das das ZDF im Juni 1972 ausstrahle.1121 Als sich zu Beginn der 1970er Jahre die Kulturpolitik veränderte, bedeutete das zunächst keine Erleichterungen für Biermann. Das Auftrittsverbot blieb bestehen. Gleichwohl deuteten einige Zeichen darauf, dass die absolute Isolierung der späten 1960er Jahre ihrem Ende entgegenging. So lud etwa Erik Neutsch Biermann im Frühjahr 1973 bei der Leipziger Buchmesse öffentlich zur Mitarbeit an einer Chile-Anthologie ein. Reisen in den Westen wie zur Entgegennahme des Jacques-Offenbach-Preises der Stadt Köln wurden Biermann aber weiterhin verweigert. Stattdessen legte man ihm seitens des Kulturministeriums nahe, die DDR zu verlassen, was „ohne Umstände“ sofort erfolgen könne.1122 In einem Interview mit dem Spiegel hatte Biermann 1973 den Wunsch geäußert, wieder in der DDR auftreten zu wollen: „Ich wäre ja auch gar nicht dagegen, wenn man mich auf unspektakuläre Weise allmählich wieder einfädelt in das sogenannte kulturelle Leben der DDR.“1123 Im September 1976 kam es zu einem Konzert unter dem Dach der evangelischen Nikolai-Kirche in Prenzlau, Biermanns erstem öffentlichen

|| 1118 Vgl. Bernd Florath u. Werner Theuer: Robert Havemann Bibliographie. Mit unveröffentlichten Texten aus dem Nachlass. Berlin 2007. 1119 Wolf Biermann: Ausgebürgert. Fotografien von Roger Melis. Mit abschweifenden Anmerkungen und wichtigen Nichtigkeiten von Wolf Biermann, hg. von Oliver Schwarzkopf u. Beate Rusch. Berlin 1996, S. 186. 1120 Vgl. Ekkehard Maaß: Vom Pfarrhaus in Schönburg zur Schönhauser Allee. In: Fritz Pleitgen (Hg.): Die Ausbürgerung. Anfang vom Ende der DDR. Berlin 2001, S. 182. 1121 Siehe zu Biermanns westlicher Medienpräsenz die Bibliographie in: Jay Rosellini: Wolf Biermann. München 1992, S. 155f. 1122 Zit. n.: Keller u. Kirchner, S. 69. 1123 „Rückschläge in finstere Zeiten denkbar“. Der Ost-Berliner Liedermacher Wolf Biermann über Entspannungs-Chancen in der DDR. In: Der Spiegel, 22. Oktober 1973, S. 92.

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Auftritt nach elf Jahren. Das Konzert war aber kaum das Signal für eine kulturpolitische Wende, sondern ging auf ein Versehen des MfS zurück.1124 Zu weiteren Konzerten in der DDR kam es nicht. Stattdessen gewährte man Biermann im November 1976 überraschend die Genehmigung für eine von der IG Metall organisierte Konzertreise durch die BRD. Vorangegangen war eine Unterschriftenkampagne „Freiheit der Meinung, Freiheit der Reise für Wolf Biermann, Wolf Biermann nach Bochum“ mit mehreren Zehntausend UnterzeichnerInnen, darunter zahlreiche linke westdeutsche Intellektuelle und KünstlerInnen.

5.7.2

Die Ausbürgerung, der „intellektuelle Aufstand“ und die Folgen

Die Ausbürgerung Biermanns erfolgte am 17. November 1976 und wurde über die Nachrichtenagentur der DDR offiziell bekannt gegeben.1125 In der Begründung heißt es: „Mit seinem feindseligen Auftreten gegenüber der Deutschen Demokratischen Republik hat er [Biermann, R.W.] sich selbst den Boden für die weitere Gewährung der Staatsbürgerschaft entzogen.“1126 Tatsächlich war das Kölner Konzert, bei dem Biermann sich für den Eurokommunismus aussprach, den Prager Frühling als Vorbild für die DDR hinstellte und mit Rosa Luxemburg freie Wahlen sowie Presse und Versammlungsfreiheit forderte,1127 aber nur der Vorwand für die Ausbürgerung. Diese selbst war vom MfS seit 1971 ins Auge gefasst und von Erich Honecker gutgeheißen worden. Die Pläne zur Ausbürgerung wurden dann 1976 offenbar aufgrund der Panne mit dem Konzert Biermanns in Prenzlau beschleunigt. Biermanns Antrag zur Konzertreise der IG Metall erwies sich in diesem Zusammenhang als willkommener Anlass. Offiziell beschlossen wurde die Ausbürgerung auf der Sitzung des Politbüros vom 16. November 1976.1128 In die Vorbereitung dieser Maßnahme war außer dem MfS und

|| 1124 Vgl. Heribert Schwan: Ausbürgerung – Der Vorlauf – Der Anlaß – Die Konsequenz – Die Reaktion – Verstärkter Kampf. In: Pleitgen (Hg.): Die Ausbürgerung, S. 267. Siehe hierzu auch: „Ich bin ein Soldat im Freiheitskriege“. Wolf Biermann über seine Rolle beim Untergang der DDR, sein Leben im Exil und den Bruch mit seinen kommunistischen Idealen. In: Die Zeit, 17. September 2009. 1125 Siehe für das Zitat in der Überschrift: HV A – Information von Markus Wolf aus dem Jahr 1978 zur kritischen Haltung der Sowjetunion. BStU, MfS, Abt. X, Nr. 1857, http://www.bstu.bund.de/SharedDocs/Bilder/DE/Pressestelle/Reko_Wolf_an_Beater_wegen_Biermann.html (zuletzt eingesehen am 8. April 2014). 1126 Zit. n.: Keller u. Kirchner, S. 128. 1127 Vgl. Keller u. Kirchner, S. 98f. Siehe Biermanns Äußerungen am 13. November 1976 in der Kölner Sporthalle: Keller u. Kirchner, S. 97–126. Hinsichtlich des Eurokommunismus hatte sich Biermann bereits im April 1976 positiv in der ARD geäußert. Vgl. Rosellini, S. 84. 1128 Vgl. Schwan, S. 259–270. Siehe den Beschluss des Politbüros in: Roland Berbig u.a. (Hg.): In Sachen Biermann. Protokolle, Berichte und Briefe zu den Folgen einer Ausbürgerung. Berlin 1994, S. 68f.

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Erich Honecker kaum jemand eingeweiht, nicht einmal der Minister für Kultur.1129 So traf die Meldung von der Ausbürgerung nicht nur die KünstlerInnen der DDR wie ein Schock, auch die Partei war überrascht und wurde vor vollendete Tatsachen gestellt. Unmittelbar nach der Ausbürgerung reagierten dreizehn KünstlerInnen mit einer Petition, die von der Regierung verlangte, die Ausbürgerung zurückzunehmen und sich mit Biermann auseinanderzusetzen: Wolf Biermann war und ist ein unbequemer Dichter – das hat er mit vielen Dichtern der Vergangenheit gemein. Unser sozialistischer Staat, eingedenk des Wortes aus Marxens ,18. Brumaire‘, demzufolge die proletarische Revolution sich unablässig selbst kritisiert, müßte im Gegensatz zu anachronistischen Gesellschaftsformen eine solche Unbequemlichkeit gelassenen Nachdenkens ertragen können. / Wir identifizieren uns nicht mit jedem Wort und jeder Handlung Wolf Biermanns und distanzieren uns von den Versuchen, die Vorgänge um Biermann gegen die DDR zu mißbrauchen. / Biermann selbst hat nie, auch nicht in Köln, Zweifel darüber gelassen, für welchen der beiden deutschen Staaten er bei aller Kritik eintritt. Wir protestieren gegen seine Ausbürgerung und bitten darum, die beschlossenen Maßnahmen zu überdenken.1130

Die Petition, die maßgeblich auf die Initiative Stephan Hermlins zurückging, wurde am 17. November nachmittags dem Neuen Deutschland sowie der französischen Nachrichtenagentur AFP übergeben, die die Erklärung allerdings erst nach einer dreistündigen Sperrfrist verbreiten sollte. Da das Neue Deutschland nicht reagierte, gelangte der Text der Petition am frühen Abend in die westlichen Nachrichten, wo er die TopSchlagzeile darstellte. Nicht nur der Umstand, dass aus der DDR ein offener Protest erfolgte, sorgte für Aufsehen. Bemerkenswert war vor allem, dass dieser von den im Ausland bekanntesten KünstlerInnen unterzeichnet worden war. Die ErstunterzeichnerInnen waren: Sarah Kirsch, Christa Wolf, Volker Braun, Fritz Cremer, Franz Fühmann, Stephan Hermlin, Stefan Heym, Günter Kunert, Heiner Müller, Rolf Schneider, Gerhard Wolf, Erich Arendt und Jurek Becker. In den folgenden Tagen schlossen sich zahlreiche weitere KünstlerInnen an.1131 Damit sah sich die SED nicht nur im Ausland, wo die Empörung über die Ausbürgerung bis weit in die Reihen der kommunistischen Parteien hineinreichte, mit Protesten konfrontiert. Für die DDR kam der Protest der KünstlerInnen einem „politische[n] Erdrutsch“ gleich.1132 Verschärfend kam hinzu, dass die ARD, deren Programm fast überall in der DDR emp-

|| 1129 So erfuhren auch die kulturpolitischen Kader wie etwa Kurt Hager aus der Zeitung von der Ausbürgerung. Vgl. Keller u. Kirchner, S. 130ff. 1130 Zit. n.: Keller u. Kirchner, S. 137. 1131 Siehe die Liste der Namen in: Berbig u.a. (Hg.): In Sachen Biermann, S. 70f. Zudem gab es auch eigenständige Erklärungen von KünstlerInnen an die Bezirksleitungen der SED sowie direkt an Erich Honecker. Vgl. Keller u. Kirchner, S. 139f. 1132 Robert Havemann an Wolf Biermann, 27. Dezember 1976. In: europäische ideen (2007), H. 139, S. 4.

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fangen werden konnte, am 19. November das vollständige Kölner Konzert ausstrahlte, so dass sich nun auch die Mehrheit der DDR-BürgerInnen, der Biermann bis zu dessen Ausbürgerung zum größten Teil unbekannt war, einen eigenen Eindruck verschaffen konnte. Die SED reagierte mit einer Zustimmungskampagne. Auf den Seiten des Neuen Deutschland sowie weiteren Zeitungen erschienen Erklärungen von Akteuren des kulturellen Feldes, die die Ausbürgerung unterstützten. Im Fokus stand hier vor allem der Umstand, dass sich die Protestierenden „kapitalistischer Übermittlungs- und Verstärkeranlagen“ bedienten, wie Hermann Kant schrieb.1133 Dass sich die PetitionistInnen an die westlichen Medien gewandt hatten, stand auch im Mittelpunkt der Diskussionen im Schriftstellerverband, der am 23. und 26. November Parteisitzungen abhielt, die das Ziel hatten, von den ErstunterzeichnerInnen, unter ihnen acht Mitglieder der SED, eine Distanzierung von der Protesterklärung zu erreichen.1134 Zudem versuchte die SED einzeln auf die jeweiligen UnterzeichnerInnen einzuwirken. Distanzierungserklärungen erfolgten daraufhin von Volker Braun, Stephan Hermlin und Heiner Müller; Fritz Cremer hatte bereits unmittelbar nach der Veröffentlichung der Protestresolution von ihr Abstand genommen.1135 Die anderen AutorInnen beharrten auf ihrer Position. So erklärte etwa Christa Wolf gegenüber der Parteileitung des Berliner Schriftstellerverbandes, dass sie keine Möglichkeit sehe, „wie ich anders hätte handeln sollen“.1136 In der Folge sahen zahlreiche der UnterzeichnerInnen für sich in der DDR keine Zukunft mehr: In der ersten Hälfte des Jahres 1977 reisten Sarah Kirsch, Manfred Krug und andere aus, 1978 folgten u.a. Jurek Becker und Erich Loest, 1979 u.a. Günter Kunert und Rolf Schneider.1137 Die SED hoffte, das Klima durch den Weggang bzw. die großzügige Gewährung langfristiger Visa zu entspannen. Nach den Ereignissen infolge der Ausbürgerung

|| 1133 Wir sind es gewohnt, mitzudenken. Stellungnahmen und Erklärungen von Künstlern und Kulturschaffenden unserer Republik zur Aberkennung der DDR-Staatsbürgerschaft Biermanns. In: ND, 20. November 1976, S. 3. Siehe zu den weiteren Unterstützungserklärungen auch: Überwältigende Zustimmung der Kulturschaffenden der DDR zur Politik von Partei und Regierung. Für die weitere kontinuierliche Fortsetzung der Politik des IX. Parteitages der SED. In: ND, 22. November 1976, S. 3– 5. 1134 Siehe den Abdruck der Sitzungsprotokolle in: Berbig u.a. (Hg.): In Sachen Biermann, S. 71–90 u. 95–198. Siehe auch die Beschreibung der Sitzungen durch Karl-Heinz Jakobs: Karl-Heinz Jakobs: Das endlose Jahr. Begegnungen mit Mäd. Berlin 1990, S. 83ff. 1135 Vgl. die entsprechenden Dokumente in: Berbig u.a. (Hg.): In Sachen Biermann, S. 247, 261f., 276f. u. 260. 1136 Erklärung von Christa Wolf für die Parteileitung des Berliner Schriftstellerverbands, 7. Dezember 1976, zit. n.: Berbig u.a. (Hg.): In Sachen Biermann, S. 278. 1137 Siehe zu den bis zum Ende der DDR anhaltenden Ausreisewellen von KünstlerInnen: Andrea Jäger: Schriftsteller aus der DDR – Ausbürgerungen und Übersiedlungen von 1961 bis 1989. Autorenlexikon. Frankfurt/M. u.a. 1995 u. Andrea Jäger: Schriftsteller aus der DDR. Ausbürgerungen und Übersiedlungen von 1961 bis 1989. Frankfurt/M. 1996.

570 | Der Streit im literarischen Feld

sollte vor allem wieder Ruhe einkehren. Dementsprechend verzichtete sie auch auf exemplarische Bestrafungen. Die Erstunterzeichner der Petition blieben „seitens der Staatsorgane nahezu unbehelligt“.1138 Es folgten Parteistrafen und Ausschlüsse, negative Konsequenzen für Veröffentlichungen in der DDR gab es aber nicht. Das betraf freilich nur die ohnehin prominenten ErstunterzeichnerInnen. Für weniger bekannte Akteure hatte der Protest erhebliche Konsequenzen. So wurde der zum HavemannKreis gehörende Schriftsteller Jürgen Fuchs bereits am 19. November festgenommen; am 21. November folgten die Verhaftungen Gerulf Panachs und Christian Kunerts, die der bereits 1975 verbotenen Band Klaus Renft Combo angehörten. Über das Missverhältnis der Bestrafungen hatte sich Anfang Dezember bereits der Anwalt und Schriftsteller Friedrich Karl Kaul beschwert. In einem Brief an den Kultursekretär der Berliner Bezirksleitung der SED schrieb er: Selbst die sogar rottenmäßig betriebene Niederträchtigkeit der Stellungnahme für den Bänkelsänger Biermann und die Ermöglichung der Veröffentlichung durch die Medien des Klassenfeinds führte nicht dazu, daß die Mitglieder des harten Kerns dieser Machenschaften, soweit sie Mitglieder unserer Partei sind, mit Schimpf und Schande ausgeschlossen wurden, während ich in disziplingemäßer Weisungsfolge als Chefjustitiar unseres Fernsehens daran mitzuwirken genötigt bin, daß in untergeordneten Positionen primitive Mitläufer härtester arbeitsrechtlicher Disziplinierung ausgesetzt werden, wobei die angeordnete Form der Durchführung dieser Disziplinierung Klarheit und Eindeutigkeit unseres Standpunktes vermissen läßt.1139

Dass solche Disziplinierungen erfolgen konnten, liegt nach Ansicht von Karl-Heinz Jakobs – der, weil er auf seinem Standpunkt beharrte, 1977 aus der SED ausgeschlossen wurde – nicht zuletzt auch an der Haltung Hermlins; die Welle, die er mit der Protesterklärung lostrat, hätte ihm bewusst sein müssen, so Jakobs. Mit seiner späteren Distanzierung habe er sich aus der Verantwortung gestohlen und somit insgesamt die Rolle eines „Agent provocateur“ gespielt: Es war ein Glück ohnegleichen für die SED, als sich plötzlich Hunderte ungeduldiger Menschen zu erkennen gaben, indem sie sich mit den zwölf Erstunterzeichnern solidarisierten. Wir alle sahen Hermlin und die Personen, die zu ihm in die Wohnung gekommen waren, in Gefahr und stellten uns vor sie. Wenn nicht jetzt, dann nie. / Der Staatssicherheitsdienst hatte es noch nie so leicht gehabt. Er brauchte nur die Leute einzusammeln, die sich im Vertrauen auf die Lauterkeit der Erstunterzeichner und auf deren Verantwortungsbewußtsein vor Hermlin stellten. Sie

|| 1138 Jörg Judersleben: „Ich muß es vielen Leuten sagen“. Casus belli: Öffentlichkeit. In: Berbig u.a. (Hg.): In Sachen Biermann, S. 35. Auf einer Präsidiumssitzung des P.E.N. am 29. November 1976 berichtete Hermlin von einem Gespräch mit Honecker. Dieser habe ihm zugesichert, „daß die Unterzeichner der Protestresolution mit keinen Repressalien zu rechnen haben“. Zit. n.: Bores, S. 634. 1139 Friedrich Karl Kaul an Roland Bauer, 8. Dezember 1976, zit. n.: Berbig u.a. (Hg.): In Sachen Biermann, S. 370.

Die Eskalation des Streits: Die Ausbürgerung Wolf Biermanns und die Folgen | 571

gingen alle ins Elend, es sei denn, sie widerriefen, wie Hermlin es später tat. Sie gingen ins Elend, und er erhielt den Vaterländischen Verdienstorden in Gold.1140

Eine unmittelbare Folge der Ausbürgerung Biermanns sowie der Auseinandersetzungen um die Proteste gegen diese war die Spaltung des literarischen Feldes. Die Kluft ging, wie die Protokolle der Parteisitzungen des Schriftstellerverbands zeigen, quer durch die Mitgliedschaft der SED. Vor den gefährlichen Folgeerscheinungen für das kulturelle Leben der DDR hatte dort unter anderem Eva Strittmatter gewarnt: Wenn wir es nicht schaffen, wirklich – nicht ein Einverständnis, das will ich jetzt nicht sagen – aber ein Verständnis zu erreichen und uns die Fähigkeit zu erhalten, miteinander weiter zu reden, werden wir einen solchen Zwiespalt haben für lange Sicht in unserer Literatur [meine Hervorhebung, R.W.] [...].1141

Während der offizielle Kulturbetrieb weiter funktionierte, als sei nichts geschehen, erwies sich die Ausbürgerung Biermanns im kulturellen Feld als folgenschwer. Sie führte nicht nur zu „einem allgemeinen Gesprächsverlust“ und einer „Polarisierung zwischen den Intellektuellen“, die den Charakter von „Feindschaften“ annahm, wie Christa Wolf im Nachhinein urteilte, 1142 sondern hatte auch eine Veränderung der Regeln und Normen, nach denen das kulturelle Feld der DDR funktionierte, zur Folge. Von nun an war die Frage, wie sich die jeweiligen Akteure hinsichtlich Biermanns verhielten, mitentscheidend für die An- bzw. Aberkennung symbolischen Kapitals. LeserInnen schickten Unterstützern der Ausbürgerung wie Hermann Kant oder Paul Wiens ihre Bücher zurück.1143 Der Code oppositionell/nicht-oppositionell wurde zu einem relevanten Kriterium der Anerkennung: Wer nicht für Biermann unterschrieben oder gar die Regierung im Neuen Deutschland unterstützt hatte, büßte unabhängig von der eigenen künstlerischen Produktion an Ansehen ein.

|| 1140 Jakobs, S. 171. 1141 Zit. n.: Berbig u.a. (Hg.): In Sachen Biermann, S. 139. 1142 Wolfgang Kohlhaase, zit. n.: Berbig u.a. (Hg.): In Sachen Biermann, S. 140 u. „Nehmt Euch in Acht“. Die Schriftstellerin Christa Wolf spricht im FR-Interview über den Prager Frühling, existenzielle Kämpfe in der DDR und die widersprüchliche Rolle der West-68er. In: Frankfurter Rundschau, 11. Juli 2008. 1143 Vgl. AdK, P.E.N. (Ost), Nr. 101, Protokoll der außerordentlichen Präsidiumssitzung vom 29. November 1976, Bl. 4. Günter Kunert berichtet, stark stilisiert, in seiner Autobiographie von der gegenteiligen Erfahrung mit dem Publikum, in diesem Fall drei Kohlenlieferanten: „Die drei Männer erwarten mich schweigend, fast drohend. Der jüngste tritt vor und stellt die Gretchenfrage: ‚Haste unterschrieben?!‘ Sofort weiß ich Bescheid. ‚Ja, ich habe unterschrieben...‘ Die nächste Frage lautet: ‚Haste die Unterschrift zurückjezohren?!‘ ‚Nein, nicht zurückgezogen!‘ Dreifache Zufriedenheit. Mir wird eine schwarze Hand hingehalten, in die ich einschlage. Und höre: ‚Denn kriechste ooch imma Koks...‘“. Günter Kunert: Erwachsenenspiele. Erinnerungen. München 1999, S. 391.

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Für Heinz Kamnitzer, Präsident des P.E.N.-Zentrums der DDR, vermittelte Biermanns Kölner Konzert jenseits aller Zwischentöne vor allem eine „Gebrauchsanweisung“: „Auflehnung, Auflehnung und noch einmal Auflehnung!“1144 Dass von ebenjener ‚Anweisung‘ nach dem November 1976 in vielfacher Weise Gebrauch gemacht wurde, zeigen nicht nur die weiteren Entwicklungen im Bereich der Künste. Ebenso sorgte die Ausbürgerung Biermanns außerhalb des kulturellen Feldes für zahlreiche Proteste.1145 Am 7. Oktober 1977, dem 28. Jahrestag der DDR, entlud sich nach einem Konzert auf dem Berliner Alexanderplatz die Wut Hunderter Jugendlicher gegen die Polizei. Es kam zu Ausschreitungen. Zu den Parolen, die die Jugendlichen riefen, zählte, wie das MfS festhielt, auch: „Honecker raus – Biermann rein“ und „Freiheit für Biermann“.1146 Mit der Ausbürgerung war Biermann genau das geworden, was die SED zu verhindern versucht hatte, eine Identifikationsfigur, auf die sich Teile der DDR-Gesellschaft einigen konnten.

5.7.3

Peter Hacks und Wolf Biermann

Peter Hacks gehörte nicht zu den KünstlerInnen, die die Ausbürgerung Biermanns im Neuen Deutschland unterstützten. In der Öffentlichkeit schien es zunächst so, als habe Hacks sich überhaupt nicht zu Biermann geäußert, bis er im Dezemberheft der Weltbühne sowie im Forum, der Zeitschrift des Zentralrates der FDJ, unter dem Titel „Neues von Biermann“ ein Pasquill veröffentlichte, das an seiner ablehnenden Haltung keinen Zweifel ließ und für einen Skandal sorgte, der weit über die eigentliche Biermann-Affäre hinausreichte. Hacksʼ Ablehnung Biermanns wirkte für die Öffentlichkeit überraschend. Sie hat indes eine Vorgeschichte. Hacks und Biermann waren seit 1962 miteinander bekannt. Hacks hatte Biermann, den er in einem Brief an seine Mutter als „äußerst begabte[n] Knaben“ bezeichnete, bei einer Lesung kennengelernt, bei welcher Biermann Lieder vortrug.1147 Begeistert von dem jungen Liedermacher schlug er einen Monat später in seiner Funktion als Dramaturg am Deutschen Theater dem Chefdramaturgen Gerhard Piens vor, Lieder von sich und Biermann in ein Hörspiel von Wera Küchenmeister zu

|| 1144 Zit. n.: Berbig u.a. (Hg.): In Sachen Biermann, S. 78. 1145 Vgl. Robert Grünbaum: Wolf Biermann 1976. Die Ausbürgerung und ihre Folgen. Erfurt 2006, S. 41ff. 1146 MfS: Auflistung der Parolen und Sprechchöre während der Ausschreitungen am 7. Oktober 1977. BStU, MfS ZOS Nr. 3839, S. 52, http://www.bstu.bund.de/DE/Presse/Themen/Hintergrund/Dokumente/20121007_alexanderplatz_1977_quelle_02/_tabelle.html?nn=3418830 (zuletzt eingesehen am 8. April 2014). Siehe zu den Krawallen auch: Andreas Förster: Blutige Erdbeeren unterm Fernsehturm. Vor 23 Jahren rebellierten am Alex Tausende von Jugendlichen. In: BZ, 7. Oktober 2000. 1147 Mamama 163 (Peter Hacks an Elly Hacks, 17. Februar 1962).

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montieren, um mit deren „Lustspiel über den dreizehnten August“, also den Mauerbau, „zu einem richtigen berliner Vaudeville und einem Erfolg zu kommen“.1148 In den folgenden Jahren waren Hacks und Biermann lose miteinander befreundet. Hacks schätzte den „tüchtige[n] Junge[n]“ so sehr, dass er ihn im April 1965 für die Mitgliedschaft des P.E.N. vorschlug, in dessen Präsidium Hacks seit 1964 saß.1149 Biermann wurde dann auch tatsächlich gewählt, sehr zum Ärger der SED-Mitglieder im P.E.N., die geschlossen gegen Biermanns Kandidatur gestimmt hatten.1150 Der P.E.N. war damit die einzige Künstler-Organisation innerhalb der DDR, in welcher Biermann nach seiner Isolation im Anschluss an das 11. Plenum noch präsent war.1151 Auch nach dem 11. Plenum, bei dem neben Biermann, Havemann und Heym ja auch Hacks und Müller angegriffen worden waren, brach der Kontakt Hacksʼ zu Biermann nicht ab.1152 Dennoch ging Hacks ab 1966 auf Distanz. Ihm missfiel Biermanns enges Verhältnis zu Havemann, den er laut MfS für einen „Revisionist[en]“ hielt; zudem beklagte er, dass Biermann „in Westdeutschland Gedichte gegen die DDR veröffentlicht, die er hier nicht zu bringen wage“, womit offenbar die Veröffentlichung der Drahtharfe bei Wagenbach in Westberlin gemeint ist.1153 Zugleich verurteilte Hacks den Umgang der SED mit den Künstlern im Zusammenhang mit dem 11. Plenum, insbesondere kritisierte er den im Neuen Deutschland erschienenen Artikel Klaus Höpckes gegen Biermann. So weiß das MfS zu berichten, dass Hacks geäußert habe,

|| 1148 Peter Hacks an Gerhard Piens, 25. März 1962, DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit dem Deutschen Theater. Eine Inszenierung des Hörspiels, das laut Brief den Titel Udo, der Bekehrte trägt, konnte nicht ermittelt werden. Sie kam wahrscheinlich nicht zustande. 1149 Peter Hacks an Hans-Georg Michaelis, 18. April 1965, zit. n.: DMT 181. Die Angaben zu Hacksʼ Präsidiumstätigkeit gehen auseinander: Auf einer Liste der Präsidiumsmitglieder vom Oktober 1964 taucht Hacks zum ersten Mal auf. Vgl. AdK, P.E.N. (Ost), Nr. 147, Bl. 27. Das legt nahe, dass Hacks bei der Mitgliederversammlung am 28./29. September 1964 in Potsdam gewählt wurde. Aber auf der Vorschlagsliste für das Präsidium findet sich der Name Hacks nicht; auch Bores erwähnt Hacks in dem Zusammenhang nicht. Obwohl Hacks nicht gewählt wurde und auch gar nicht zur Wahl stand, wird er bei der Präsidiumssitzung am 8. April 1965 unter die Präsidiumsmitglieder gezählt und ist anwesend. Vgl. AdK, P.E.N. (Ost), Nr. 147, Bl. 37, 1. Entgegen den Angaben in den Protokollen der Präsidiumssitzungen erwähnen die internen Unterlagen des P.E.N. Hacksʼ Präsidiumsmitgliedschaft erst als ab 1967 gültig. Vgl. AdK, P.E.N. (Ost), Nr. 2, Mitglieder G–J. 1150 Vgl. Bores, S. 439ff. 1151 Versuche, Biermann aus den Aktivitäten des P.E.N. herauszuhalten, scheiterten in der Folge mehrfach. Vgl. Bores, S. 537ff. 1152 Der Kontakt lief vor allem über Eva-Maria Hagen, die Geliebte Biermanns, mit der Hacks 1963/64 ein Verhältnis gehabt hatte. Vgl. Eva-Maria Hagen u. Peter Hacks: Liaison amoureuse. Berlin 2013. Das MfS weiß u.a. von einem Treffen Hacks, Biermanns und Eva-Maria Hagens im November 1967 in Biermanns Wohnung. Vgl. Eva-Maria Hagen: Eva und der Wolf. Düsseldorf 1998, S. 144. 1153 DLA, A: Hacks, MfS-Akte Peter Hacks (29. April 1966, BStU 000006). Siehe auch die Figur des dissidentischen Professors Konrad Erdschlipf in Hacksʼ Komödie Die Binsen, die an Havemann erinnert. – Gisela Steineckert berichtet von unangemeldeten Besuchen Biermanns bei Hacks. Vgl. Gisela Steineckert: Einer meiner Lehrer. In: Thiele (Hg.): In den Trümmern ohne Gnade, S. 52.

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er könne gegen Biermann nicht öffentlich auftreten, „weil er sich dann mit Leuten wie HÖPCKE vom ND verbinden müßte, was er nie tun würde“.1154 Offenbar sah Hacks sich nach 1965 in einer Zwickmühle. In einem Gedichtentwurf, der nach dem 11. Plenum niedergeschrieben sein dürfte, heißt es: Ich soll mich, will die Stunde, zwischen beiden / Sofort entscheiden. / Und habe aber leider keinen gerner, / Nicht den Wolf Biermann und nicht den Paul Verner. / […] O könnt ich mich von hinnen heben / […] Und ich, entschuldigt schon, verziehe mich (verzieh mich – kiemig, striemig) / Ins altbewährte deutsche Innenleben.1155

5.7.3.1 „Wolf und Günter sind völlig identisch“: Biermann, der Kleinbürger Hacks aber zog sich nicht ins Innenleben zurück.1156 Er löste das Dilemma, gegen Biermann polemisieren, aber nicht der Kulturpolitik nach dem Munde reden zu wollen, mittels eines Textes, der sich als Entwurf für ein neues Theaterstück ausgibt. Unter dem Titel „Brief über ein neues Stück“ veröffentlichte er diesen im Januar 1967 außerhalb der DDR in Theater heute. Held des Stücks ist ein „deutscher Kleinbürger“, der den Namen „Wolf-Günther“ trägt und beim Bau der Mauer geteilt wird: „Er existiert jetzt in zwei gesonderten Hälften: einer Ost-Hälfte, die ich Wolf nennen würde, und einer West-Hälfte, für die mir dann der Name Günter verbleibt.“1157 Es ist offensichtlich, wer sich hinter diesen beiden Kleinbürgern verbirgt, die „völlig identisch“ und „im Grunde eine Person“ sind: Wolf Biermann und Günter Grass.1158 Hacks attestiert ihnen eine Wesensgleichheit, die er auf ihre Oppositionslust zurückführt. Da beiden „jedes Verständnis für politische Wirklichkeit“ fehle, seien sie nicht in der Lage einzusehen, „daß die deutschen Staaten, der sozialistische wie der kapitalistische, genau so sind, wie sie nach Maßgabe der historischen Lage sein

|| 1154 Vgl. DLA, A: Hacks, MfS-Akte Peter Hacks (29. April 1966, BStU 000006). Siehe Höpckes Artikel: Höpcke: … der nichts so fürchtet wie Verantwortung. 1155 DLA, A: Hacks, Konvolut Verschiedenes. Paul Verner war von 1959 bis 1971 Erster Sekretär der SED-Bezirksleitung Berlin und stand für eine harte kulturpolitische Linie. Die Nennung Verners geht wahrscheinlich darauf zurück, dass Hacks ihn hinter der Kampagne gegen sein Stück Moritz Tassow vermutete, das zu Beginn des Jahres 1966 abgesetzt wurde. Siehe hierzu die entsprechenden Äußerungen und Dokumente in: DMT. 1156 Siehe für das Zitat in der Überschrift: HW 13, 124. 1157 HW 13, 123f. Der im November 1966 verfasste Text trägt in späteren Veröffentlichungen den Titel „Ein Plan“. 1158 HW 13, 124. Unmissverständlich ist die Beschreibung ihres Äußeren: „Wolf-Günter […] ist ein mittelgroßer Mensch, dunkelhaarig, ein Dichter. Er trägt […] einen Schnauzbart von der gemütlichsten Dämonie“. (S. 123) Des Weiteren heißt es, sie hätten „eine unglückliche Liebe zu einer Kunstgattung: der Dramatik“ (S. 124), womit auf Biermanns 1963 abgesetztes Stück Berliner Brautgang und auf Grass’ Stück Die Plebejer proben den Aufstand, das im Januar 1966 am Berliner Schillertheater seine Uraufführung erlebte, angespielt ist.

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müssen“; stattdessen meinten sie, „beide Staaten könnten, wenn sie nur wollten, etwas wolf-günterscher sein“: „so geraten sie, nicht weil sie wollen, in schlechte Gesellschaft und den Ruch der Opposition.“1159 Die Handlung des Stücks bestehe daraus, dass beide immerfort ihre Regierungen beraten wollen und dafür bestraft werden, was an Hacksʼ Analyse des Tasso vom Dezember 1975 erinnert: Höhepunkt ist die Szene, wo Wolf und Günter bei ihrem Staatschef vorsprechen möchten, um ihm ihren Rat anzubieten. Hier wird die illusionistische Vorgabe, als sei der eine Schauspieler zwei Schauspieler, fallen gelassen; den Auftritt schreibe ich simultan. Rechts sitzt der Kanzler, links der Vorsitzende, auf der Mitte der Vorderbühne treibt der Schauspieler seine Lazzi, und seine Sätze gelten zugleich für Wolf und Günter, und er wird, beider Schicksal duldend, von beiden Oberhäuptern in den Hintern getreten.1160

Indem er ihn mit Günter Grass gleichsetzt, der die DDR bei einer Gastrede auf dem V. Schriftstellerkongress im Mai 1961 scharf angegriffen hatte,1161 spricht Hacks Biermann jede politische Ernsthaftigkeit ab. Für ihn ist er ein Oppositioneller um der Opposition willen, ein Schriftsteller, der in erster Linie auf politische und erst in zweiter auf künstlerische Wirkungen zielt.1162 Der „Brief über ein neues Stück“ wurde kurz nach seinem Erscheinen in Theater heute auch im Spiegel abgedruckt und erreichte so eine große Verbreitung. Die Distanzierung war unmissverständlich; Eva-Maria Hagen, seit Mitte 1965 Biermanns Lebenspartnerin, fand denn auch, dass Hacks „den (stillschweigenden, insgeheim aber solidarischen) Kollegen in’ Rücken fällt“.1163

|| 1159 HW 13, 124. 1160 HW 13, 125. 1161 Vgl. Günter Grass: Wer könnte uns das Wasser reichen? Rede auf dem V. Schriftstellerkongreß in Ostberlin. In: ders: Essays und Reden; Bd. 1. 1955–1969, hg. von Volker Neuhaus u. Daniela Hermes, Göttingen 1997 (Werkausgabe. Bd. 14), S. 33–35. 1162 Die Position eines engagierten Schriftstellers hatte Hacks bereits beim Hamburger Streitgespräch des P.E.N. im April 1961 kritisiert und sich „für nichtengagierte Literatur von engagierten Autoren“ ausgesprochen. Zit. n.: Thiel, S. 290. 1163 Hagen, S. 111 (Tagebucheintrag vom 7. Februar 1967). Siehe auch: Hagen, S. 144 u. Hagen u. Hacks, S. 83. Biermann reagierte auf Hacksʼ Text in seinem Wintermärchen. Hier heißt es im 6. Kapitel: „Unteilbar ist auch nach wie vor / Der Gartenzwerg, der deutsche / Der Westen hat den Peter Hacks / Wir haben unsre Neutsche.“ Wolf Biermann: Deutschland. Ein Wintermärchen. Berlin 1976, S. 25. Siehe zu Grass’ Reaktion: Günter Grass an Uwe Johnson, 9. Februar 1967, AdK, Günter-Grass-Archiv, Nr. 3379. – Erstaunlicherweise war die Ironie des Textes – zusätzlich dadurch betont, dass Hacks schreibt, der Stoff biete „überhaupt keine Handlung“ und deshalb „die Chance zu den modernsten dramaturgischen Experimenten“ (HW 13, 125) – aber nicht für alle nachvollziehbar. So berichtet Hacksʼ westdeutscher Verleger Hans-Joachim Pavel bereits Ende Januar, dass Anfragen von verschiedenen Theatern vorlägen, die sich für das ‚Stück‘ interessierten. Vgl. Hans-Joachim Pavel an Peter Hacks, 31. Januar 1967, DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit dem Drei Masken Verlag. Und sowohl Friedrich-Karl Kaul, zu der Zeit Hacksʼ Anwalt, als auch Gerhard Piens beschwerten sich unabhängig voneinander bei Hacks über die Frechheit, den westdeutschen Kanzler und den ostdeutschen Parteivorsitzenden, d.h. den ehemaligen Nazi Kurt Georg Kiesinger und Walter Ulbricht, gleichzusetzen.

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5.7.3.2 Hacksʼ „Neues von Biermann“ Den Äußerungen über Biermann vom Januar 1967 entsprechend war 1976 nicht mit einer Unterstützung Hacksʼ für Biermann zu rechnen. Die PetitionistInnen versuchten es dennoch. Aber Hacks weigerte sich rundweg, den von Hermlin entworfenen Text als vierzehnter zu unterschreiben: „Dr. Hacks, den sie anrufen, lehnt ab mit der Begründung, noch sei er nicht verrückt.“1164 Auch die späteren Versuche Eva-Maria Hagens und Manfred Krugs wies Hacks zurück.1165 Für Hacks, dessen politische Anschauungen „die Akzeptanz auch grober Methoden“1166 nicht ausschloss, war die Ausbürgerung, wie er auf einer Sitzung des P.E.N.-Präsidiums Ende November formulierte, die bessere Lösung: Biermann hat mehrmals erklärt und im ‚Spiegel‘ darüber geschrieben, daß er seit langem auf seine Verhaftung gewartet habe. Warum glaubt er sich nun beklagen zu dürfen – die Regierung hat, statt ihn zu verhaften, beschlossen ihn verreisen zu lassen.1167

Gleichwohl erkannte Hacks in der Regierungsmaßnahme den Ausdruck einer Defensive der SED. Die Ausbürgerung erschien ihm als die indirekte Folge der liberalen Kulturpolitik Honeckers. Ohne eine wirkliche kulturpolitische Konzeption hatte die SED lange Zeit eine Offenheit propagiert, die sie in Gänze nicht gewähren wollte und konnte. So war die Ausbürgerung seiner Meinung nach das Ergebnis einer Handlung aus Schwäche heraus. Der Versuch, Biermann ohne größere Verwerfungen los zu werden, war gescheitert. Das Ergebnis war eine tiefe Verunsicherung der SED. Die DDR stand als Staat, der sich einer Praktik bediente, wie sie zuletzt die Nationalsozialisten angewandt hatten, international am Pranger. Zugleich hatte Wolf Biermann für seine Kritik des „EDV-Stalinismus“1168 eine Öffentlichkeit wie nie zuvor, die durch die westlichen Radio- und Fernsehprogramme zudem direkt in die DDR hineinwirkte.

|| Vgl. Friedrich-Karl Kaul an Peter Hacks, 31. Januar 1967, DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit FriedrichKarl Kaul u. Gerhard Piens an Peter Hacks, 29. Januar 1967, DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit Gerhard Piens. Siehe als weitere Reaktion auch die gleichermaßen verständnislose Glosse von Max Walter Schulz: Deutsche Komödie heute. In: ders.: Stegreif und Sattel. Anmerkungen zur Literatur und zum Tage. Halle/S. 1967, S. 149–154. 1164 Jakobs, S. 82. Hacks überliefert seine Aussage ähnlich in: Pasiphaë, S. 63. André Müller sen. meint hingegen, man habe gar nicht versucht, Hacks für eine Unterschrift zu gewinnen. Vgl. GmH 148. 1165 Vgl. Hagen, S. 450 (Tagebucheintrag vom 26. November 1976) u. GmH 148. 1166 Kai Köhler: Die Technik des Stils. Zu Peter Hacksʼ Briefen. In: Huth (Hg.): Vorsicht, Hacks!, S. 157. 1167 AdK, P.E.N. (Ost), Nr. 101, Bl. 11, Präsidiumssitzung vom 29. November 1976. Siehe hierzu auch: Bores, S. 631–635. 1168 Wolf Biermann: „Die rechte Bande nimmt mich nicht mehr an die Brust“. konkret-Gespräch mit Wolf Biermann. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Wolf Biermann. München 1980, S. 47.

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Hacks hatte die Entwicklung unter der Führung Honeckers bereits zuvor mit Argwohn beobachtet. Einer sich zunehmend durch westliche Kredite abhängig machenden, damit ‚Geschenke‘ an die Bevölkerung finanzierenden und somit ihre Herrschaft stabilisierenden Partei stand eine wachsende Anzahl von KünstlerInnen gegenüber, die auf eine grundsätzliche Reform des Sozialismus drängten und damit vor allem Freiheits- und Menschenrechte verbanden. Einer ihrer profiliertesten Vertreter war, neben Wolf Biermann, Franz Fühmann, der seit 1973 das Verständnis eines kritischen Intellektuellen stark machte und eine demokratische Öffnung der Medien sowie eine „an die Wurzel“ rührende Kritik des Bestehenden forderte, die „in der sozialistischen Gesellschaft wieder zu einer moralischen Institution“ werden müsse.1169 In solchen Haltungen erkannte Hacks ebenjene romantische Opposition wieder, die er ab Ende 1975 angriff. Wie die historischen Frühromantiker seien Autoren wie Fühmann die Vorhut einer subjektiv progressiven, objektiv aber reaktionären Revolte. Denn die Forderungen nach einer Reform des Sozialismus konvergierten mit der Verlagerung der Systemauseinandersetzung zwischen Imperialismus und Sozialismus von wirtschaftlichen Fragen hin zu solchen der Menschenrechte. Nach Hacksʼ Ansicht hatte sich das sozialistische Lager bereits mit der Unterzeichnung der KSZESchlussakte in Helsinki im August 1975 in die Defensive treiben lassen, da die Anerkennung der Nachkriegsgrenzen, die der internationale Vertrag regelte, auch Zugeständnisse im Bereich der Menschenrechte bedeutete; mit der Schlussakte war eine Rechtsgarantie geschaffen, auf welche sich die Ausreisewilligen und die Oppositionsbewegungen in den sozialistischen Ländern in den folgenden Jahren beziehen konnten.1170 Sie stellte ein wichtiges Mittel im „Seelenkrieg“ dar, als welchen Hacks die Systemauseinandersetzung auffasste.1171 Aber nicht nur die USA und Westeuropa hatten die Themen Demokratie und Freiheit auf die Tagesordnung gesetzt, auch die Neue Linke in der BRD war neben wirtschaftlicher Gleichheit vor allem an Freiheitsrechten interessiert. So entstand im Zusammenhang mit der Aufwertung der DDR-Literatur in der BRD ab Ende der 1960er Jahre eine Gemengelage, in der sich Teile der westdeutschen Linken als Bestandteil derselben „Kultur der Dissidenz“1172 verstanden, an deren Erzeugung der Westen im sozialistischen Teil der Welt ein großes Interesse hatte. Hinzu kam schließlich noch der Eurokommunismus, also die ab 1975 vor allem in den

|| 1169 Fühmann: Zweiundzwanzig Tage oder Die Hälfte des Lebens, S. 159. Siehe auch Fühmanns Beitrag beim VII. Schriftstellerkongress im November 1973: Franz Fühmann: [Diskussionsgrundlage der Arbeitsgruppe IV Literatur und Kritik]. In: Schriftstellerverband der DDR (Hg.): VII. Schriftstellerkongreß der DDR, 14. bis 16. November 1973 in Berlin. Protokoll (Arbeitsgruppen). Berlin/Weimar 1974, S. 248–264, insb. S. 263. 1170 Siehe zur KSZE-Schlussakte und deren Bedeutung für die Opposition in der DDR: Erhart Neubert: Geschichte der Opposition in der DDR 1949–1989. Bonn 2000, S. 210f. 1171 HW 13, 425. Siehe zu Hacksʼ Einschätzung zu Helsinki auch: AEV 102f. 1172 Bathrick: Die Intellektuellen und die Macht, S. 242.

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kommunistischen Parteien Frankreichs, Italiens und Spaniens einsetzende reformkommunistische Abwendung vom Marxismus-Leninismus und die Anerkennung eines demokratischen Wegs zum Sozialismus.1173 Hacks war in seinem politischen Denken deutlich der Freund-Feind-Logik des Kalten Krieges verhaftet. Die Kritik des Sozialismus aus Kreisen der mehr oder weniger oppositionellen AutorInnen erschien ihm im Kontext der oben beschriebenen Zusammenhänge als reale Gefahr einer Destabilisierung. Wie aus einem Bericht des MfS hervorgeht, erinnerte Hacks die Situation zu Beginn des Jahres 1976 an den Prager Frühling; in diesem Zusammenhang fiel auch das Wort von einem „‚Tschechenklüngel‘ in der DDR“.1174 Angesichts dieser Situationseinschätzung sah Hacks sich veranlasst, zur Ausbürgerung Biermanns Stellung zu beziehen, handelte es sich hierbei doch um einen „Grenzfall, wo Politik vor Kunst geht“.1175 Er tat das Anfang Dezember, nachdem die Medienöffentlichkeit um die Ausbürgerung bereits zurückgegangen war, mit der Veröffentlichung von „Neues von Biermann“ in der Weltbühne.1176 Der Text lässt an der Ablehnung Biermanns und der Richtigkeit der Ausbürgerung keinen Zweifel. Da Biermann bei seinem Kölner Konzert öffentlich den Vorschlag gemacht habe, „das Ziel des Kommunismus doch lieber mit bürgerlichen Mitteln zu erreichen“, sei er, wie andere vor ihm aus der Partei, „aus der DDR geschlossen“ worden.1177 Biermanns Beteuerungen, „ihm sei am Aufbau des Sozialismus in der DDR gelegen“, seien „so glaubwürdig, wie es der ‚Spiegel‘ wäre, wenn er seinen Titel änderte und das, was er bislang immer geschrieben hat, fortführe unter dem Titel ‚Die

|| 1173 Siehe zum Eurokommunismus: HKWM 3, 979–994. Auf der Konferenz der kommunistischen und Arbeiterparteien Ende Juni 1976 in Ostberlin war insbesondere der Vorsitzende der Kommunistischen Partei Italiens Enrico Berlinguer mit einer Kritik des Staatssozialismus aufgetreten. Vgl. ND, 1. Juli 1976, S. 7. 1174 Zit. n.: Walther, S. 104. 1175 So Hacks nachträglich während einer Sitzung der Sektion Literatur und Sprachpflege am 1. Februar 1984, zit. n.: Berger: Die Arbeit der Sektion Literatur und Sprachpflege, S. 173. Laut André Müller sen. wollte Hacks sich eigentlich aus der Auseinandersetzung heraushalten. Da aber „der Sozialismus auf dem Spiel“ stehe, sah Hacks sich zu einer Positionierung gezwungen. GmH 149. 1176 Siehe hierzu: Margy Gerber: Peter Hacks and the Chocolate Lenin. In: GDR Monitor (1979/80), H. 2, S. 33–41 u. Felix Bartels: Biermann, Hacks und die Morphologie des Unzureichenden. In: Robert Allertz (Hg.): Sänger und Souffleur. Biermann, Havemann und die DDR. Berlin 2006, S. 126–153. Laut André Müller sen. war es Hacksʼ Absicht, den Text „in einem unbedeutenden Blatt“ zu veröffentlichen. GmH 149. Bernd Leistner berichtete bei der 6. Peter-Hacks-Tagung im November 2013, dass Hacks den Text dem ND angeboten, die Redaktion aber abgelehnt habe. Mitunter findet sich die Behauptung, Hacks habe neben dem Weltbühnen-Artikel auch eine „Unterstützungsadresse für das SED-Regime unterzeichnet“. Schumacher: Ein bayerischer Kommunist im doppelten Deutschland, S. 405. – Ähnlich wie Hacks reagierte auch Wolfgang Harich, der sich ebenfalls den Ergebenheitsadressen im ND verweigerte. Stattdessen gab er der linksradikalen Westberliner Zeitschrift Extra-Dienst ein Interview, in dem er Biermann scharf angriff. Vgl. den Nachdruck in: Keller u. Kirchner, S. 159–165. 1177 HW 13, 273.

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Rote Fahne‘ zu schreiben.“1178 Für Hacks handelt es sich bei Biermanns Äußerungen gegen die DDR um Revisionismus; in diesem Sinne bezeichnet er Biermann, dessen Talent überschätzt worden und der vom „Volksliedsänger zum Kabarettisten“ herabgesunken sei, als „Eduard Bernstein des Tingeltangel“, dessen Kunst „des Skandals“ bedürfe.1179 Neben Biermann geht es in Hacksʼ Text auch um die AutorInnen, die den Protest unterzeichnet hatten, dem Hacks sich verweigerte. Dass es zu diesem Protest kam, ist für Hacks das Resultat eines falschen Verständnisses des Sozialismus. Die UnterzeichnerInnen sind ebenjene, die Hacks der Romantik zurechnet und denen er unterstellt, ein Recht der Kritik unabhängig von gesellschaftlichen Kontexten zu beanspruchen: Wir Schriftsteller reden hier viel und seit langem gegeneinander. Der Streitgegenstand ist immer derselbe: das Recht der Dichter auf Unbildung. Viele meinen, der Künstler müsse sich immer mitteilen, wie es ihm ums Gemüt sei. Die anderen wieder leugnen das gar nicht, mögen indessen nicht einsehen, wieso dieser richtige Satz den Künstler hindere, gelegentlich einen Blick in die ersten Abschnitte von ‚Was tun?‘ zu werfen. Gewiß ist die Vorstellung, man könne die Vorzüge des Sozialismus mit den paar noch übrigen Vorzügen des Imperialismus verbinden, angenehm. Aber sie ist, zur gegenwärtigen Zeit, eine ungebildete Vorstellung. Es ist der Wunsch nach einem schokoladenen Leninismus, und ein Lenin, der aus Schokolade wäre, würde schnell schmelzen.1180

Hacks wiederholt hier mit anderen Worten, was er bereits in „Brief über ein neues Stück“ geschrieben hatte. Der Verweis auf Lenins Schrift Was tun?, deren erster Abschnitt sich einer falsch verstandenen „Freiheit der Kritik“ widmet,1181 stellt den Zusammenhang zu Hacksʼ allgemeiner Ablehnung einer sich als ‚kritisch‘ verstehenden Kunst her und ist gleichzeitig eine Warnung, einen solchen Weg nicht weiter zu beschreiten. Die AutorInnen, die sich mit ihrer Unterschrift zur Opposition gegen die DDR bekannt hätten, sind in Hacksʼ Augen „Tuis“, wie er in Anlehnung an Brechts Kurzformel für die bürgerlichen Intellektuellen formuliert;1182 Hacks setzt sie dementsprechend indirekt mit linksliberalen AutorInnen des Westens gleich, wobei er sich einen Ausfall gegen Heinrich Böll erlaubt, der Biermann wie zuvor schon Alexander Solschenizyn in seinem Haus aufgenommen hatte:

|| 1178 HW 13, 273. 1179 HW 13, 276. Siehe auch: GmH 147. Eduard Bernstein gilt als Begründer des Revisionismus innerhalb der Sozialdemokratie. – Mit seiner Einschätzung Biermanns als Skandalmacher steht Hacks nicht allein. Von einer völlig entgegengesetzten Position beurteilte etwa auch Erich Fried Biermann. Vgl. MW 11, 119. 1180 HW 13, 275. 1181 Vgl. Lenin 5, 361ff. 1182 GmH 260.

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Böll, man kennt ihn, ist drüben der Herbergsvater für dissidierende Wandergesellen. Biermann hat in seinem Bett übernachtet, und ich hoffe, er hat nicht noch Solschenizyns Läuse darin gefunden. Ich habe Herrn Böll im Fernsehen gesehen. Er machte Augen wie ein Hund von Thurber und zeigte wieder einmal sein geübtes Staunen darüber, daß Konterrevolution in sozialistischen Ländern verboten ist.1183

5.7.3.3 Die Aberkennung von Hacksʼ symbolischem Kapital Die Nachricht, dass sich der erfolgreichste Dramatiker der DDR von Biermann distanzierte, schlug im Westen ein wie eine Bombe. Die Entrüstung war so heftig, „als sei Biermann ein zweites Mal ausgewiesen worden“, schrieb Hellmuth Karasek im Spiegel.1184 Zeitweilig wurde aus der Causa Biermann eine Causa Hacks. Joachim Kaiser verglich Hacks in der Süddeutschen Zeitung mit Knut Hamsun, der 1935 die KZ-Haft Carl von Ossietzkys gerechtfertigt hatte, und in der Zeit hieß es, Hacks sei ein „Oberzensor“.1185 In München wurde Das Jahrmarktsfest zu Plundersweilern vom Spielplan abgesetzt und der Vertrag über die Inszenierung des Gesprächs im Hause Stein gekündigt. Auch wenn es, wie zeitweise vermutete wurde, nicht zu einem umfassenden Hacks-Boykott kam, im westdeutschen Kulturbetrieb war Hacks fortan eine Persona non grata.1186 Die Empörung erklärt sich nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Vorstellung, die die westdeutsche Öffentlichkeit von Hacks hatte. Zwar erinnerte man sich, dass der Verfasser von Die Sorgen und die Macht und Moritz Tassow den Mauerbau gutgeheißen hatte, bestimmend für dessen Wahrnehmung waren aber die Verbote seiner Stücke. Hacks erschien daher als ein Autor, der, ähnlich wie Biermann, zeitweilig mit einer Art Berufsverbot konfrontiert war. Hacks war zudem nie Mitglied der SED gewesen und agierte seit den 1960er Jahren außerhalb des Schriftstellerverbands. So galt er zwar nicht als Oppositioneller, aber doch als Autor, der sich in eine politisch unverbindliche Welt der klassischen Poesie geflüchtet und von der Realität der DDR entfernt habe.1187 Wie wenig eine solche Vorstellung mit der politischen Haltung Hacksʼ gemein hatte, war im Laufe der 1970er Jahre auch in der Bundesrepublik dem ein oder anderen aufgefallen. So konstatierte etwa Urs Allemann im Mai 1976:

|| 1183 HW 13, 274. 1184 Hellmuth Karasek: Die grauen Tinten des Peter Hacks. In: Der Spiegel, 24. Januar 1977, S. 124. 1185 Joachim Kaiser: Empörung und Konsequenz. Hacks, die Kammerspiele und Cordula Trantow. In: SZ, 7. Januar 1977, S. 10 u. Rolf Michaelis: Der erste Sklave spricht. Der „Fall Biermann“ und die Grenzen literarischer Polemik. In: Die Zeit, 17. Dezember 1976, S. 33. – Auch Heinar Kipphardt ging auf Distanz. „Ach, Peter, man äußert sich nicht zu persönlichen Feinden, und besonders nicht, wenn denen gerade Böses angetan wird“, heißt es am 10. Januar 1977 in einem Brief. DWF 137. 1186 Vgl. Weber: Geschichte eines Missverständnisses, S. 138ff. 1187 Vgl. Weber: Geschichte eines Missverständnisses, S. 131ff. u. André Müller sen.: Der Irrtum Hacks. In: Kürbiskern (1977), H. 2, S. 125–127.

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Hacks ist ein politischer Dissident, ein ‚Systemkritiker‘ vom Schlage der Solschenizyn oder Amalrik nie gewesen. Er steht heute (und stand immer) fest auf dem Boden des ‚realen Sozialismus‘; an seiner nicht aus Opportunismus, sondern aus politischer Überzeugung gespeisten Loyalität gegenüber seinem Staat und dessen führender Partei ist nicht zu zweifeln; als Trumpf für Kalte Krieger sticht Hacks nicht.1188

Stimmen wie die Allemanns sind vor der Ausbürgerung Biermanns allerdings die Ausnahme. So erklärt sich die scharfe Reaktion des westdeutschen Feuilletons auch aus der Enttäuschung, Hacks nicht auf Seiten der Biermann-Verteidiger zu finden, zumal der bundesdeutsche Kulturbetrieb sich vor allem für diejenigen DDR-Künstler interessierte, die eine kritische Distanz gegenüber der DDR erkennen ließen.1189 Nicht minder heftig waren die Reaktionen in der DDR. Hacksʼ Stellungnahme wurde weithin als Entsolidarisierung aufgefasst. Für viele DDR-AutorInnen hatte sich Hacks mit seinem Text als „kecke Kreatur des Regimes“ erwiesen, wie Biermann später meinte.1190 In einem Brief schrieb Jurek Becker, Unterzeichner der Petition und enger Freund Biermanns: Bester Hacks, nun, da ich zu der Überzeugung gelangt bin, daß Ihr erhebliches schriftstellerisches Vermögen bei weitem nicht ausreicht, um Ihren Charakter zu kompensieren, will ich Ihnen das auf keinen Fall verschweigen.1191

Auch zahlreiche LeserInnen gingen auf Distanz. Die Briefe, die Hacks nach Erscheinen des Artikels erhielt, geben einen Einblick in das Verständnis der Ausbürgerung innerhalb der DDR-Bevölkerung. Hacks wurde, ähnlich wie im Westen, vorgehalten, einer Maßnahme zuzustimmen, die dem Stil der Nationalsozialisten gleiche. Entsprechend erinnerte „Neues von Biermann“ manchen der Briefeschreiber an den Stil „eines Aufsatzes im ‚Reich‘ oder im ‚Stürmer‘“, der der Weltbühne unwürdig sei.1192 Zudem wurde Hacks unterstellt, er handle aus Opportunismus oder persönlicher Missgunst, und es wurde prophezeit, dass sich in Zukunft „kein intelligenter Mensch

|| 1188 Allemann, S. 33. 1189 Vgl. Bathrick: Die Intellektuellen und die Macht, S. 242. 1190 Zit. n.: Hauschild, S. 291. 1191 Jurek Becker an Peter Hacks, 10. Dezember 1976, AdK, Jurek-Becker-Archiv, Nr. 822. Karl-Heinz Jakobs forderte zudem die Weltbühne auf, auf Hacks replizieren zu dürfen. Vgl. Berbig u.a. (Hg.): In Sachen Biermann, S. 364f. Eine positive Reaktion kam hingegen von Helmut Baierl, der der Ausbürgerung im ND zugestimmt hatte. Als Postskriptum einer Geburtstagseinladung schrieb er am 23. Dezember 1976: „Respekt, Peter, vor dem Artikel!“. DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit Helmut Baierl. 1192 Ronald Weber: Bestürzte Volksseele. „Lebte Ihr Vater noch, er hätte Sie sicherlich eigenhändig übers Knie gelegt“ – Reaktionen von DDR-Lesern auf Peter Hacksʼ Essay „Neues von Biermann“. In: jW, 16. November 2011, S. 10–11, Dok. 1. Die Nazi-Assoziation kam bei den meisten LeserInnen offenbar dadurch zustande, dass sie die Bemerkung, Biermann sei der ‚Eduard Bernstein des Tingeltangel‘ als antisemitisch auffassten.

582 | Der Streit im literarischen Feld

mehr [findet], der an Hacks Interesse hat“.1193 Die Verleihung des Nationalpreises I. Klasse im Jahr 1977 vertiefte den Eindruck, dass Hacks hier für seine loyale Haltung belohnt wurde, zumal er vor dem Hintergrund der „sonst üblichen zeitlichen Intervalle zwischen den einzelnen Preisen“ noch nicht an der Reihe gewesen wäre, wie die ehemalige Akademie-Mitarbeiterin Christel Berger urteilt.1194 „Neues von Biermann“ hatte sowohl im west- als auch im ostdeutschen literarischen Feld eine Abwertung von Hacksʼ symbolischem Kapital zur Folge. Auf lange Sicht nahm die Zahl der Inszenierungen an den Theatern in Ost und West ab.1195 Besonders eindrücklich zeigt sich die Distanzierung anhand von Theater heute, dessen Herausgeber Henning Rischbieter Hacks bis in die 1970er Jahre hinein sehr zugeneigt war. Ähnliches gilt allgemein für das bundesdeutsche Feuilleton, wo der Name Hacks fortan unwiderruflich mit der Ausbürgerung Biermanns verknüpft war. „Der staatsbewußte Artist“, schreibt Friedrich Dieckmann treffend, „schmiedete sich an einen Felsen, von dem in einer a- und antiliterarischen Welt, die sich darin gefällt, den Dichter daran zu messen, ob und wie weit er zum Politiker taugt, nicht leicht wieder loszukommen war.“1196 Hacks selbst hat später davon gesprochen, dass er nach 1976 boykottiert worden sei.1197 Den sinkenden Stern Hacksʼ allein auf dessen Zustimmung zur Biermann-Ausbürgerung zurückzuführen, greift aber zu kurz. Betrachtet man die Rezeptionsgeschichte Hacksʼ seit Beginn der 1970er Jahre, ergibt sich ein differenzierteres Bild. Dass Hacks in den 1980er Jahren von den Spielplänen verschwand, geht auf unterschiedliche Faktoren zurück. (1.) wandelte sich die Sichtweise auf seine Dramen mit den Veränderungen des kulturellen Feldes in den 1970er Jahren. Die Orientierung auf ein Konzept der Klassik stand quer zum kulturellen Trend und wurde in dem Maße, in dem sich die Literatur nach 1968 im Westen politisierte bzw. im Osten das Moment der Kritik des Sozialismus an Bedeutung gewann, als ,unpolitisch‘ wahrgenommen. Heiner Müllers Äußerung, dass Hacks die Realität der DDR nur gefiltert, als ‚Märchen‘ rezipiere, korreliert hier mit der westlichen Wahrnehmung eines Rückzugs Hacksʼ ins Reich der Poesie sowie mit Ernst Schumachers Polemiken gegen dessen antirevolutionäres Theater. Zusammengenommen etablierten solche Äußerungen ein Narrativ

|| 1193 Weber: Bestürzte Volksseele, Dok. 6. 1194 Berger: Fünf „meiner Götter“ bei der Arbeit, S. 319. 1195 Vgl. Weber: Wer spielte Hacks? Peter Hacks auf den Bühnen Westdeutschlands, Österreichs und der Schweiz u. Weber: Wer spielte Hacks? Peter Hacks auf den Bühnen der DDR. 1196 Friedrich Dieckmann: Die Verteidigung der Insel. Der Artist und sein Asyl. Über Peter Hacks. In: SuF 55 (2003), H. 3, S. 416. 1197 Vgl. AEV 99. Dass damit kein organisierter Boykott gemeint ist, erklärt sich aus Hacksʼ Verständnis des Boykotts als eine Form des „Verbot[s] mittels Übereinkunft“. HW 14, 277.

Die Eskalation des Streits: Die Ausbürgerung Wolf Biermanns und die Folgen | 583

vom weltfremden ‚Dichter‘, der die Realität nur noch durch die Brille eines übersteigerten Klassizismus wahrnehme.1198 Seinen Texten kam der Verstehenskontext abhanden. Die Stücke standen quer zum allgemeinen kulturellen Wandel, zur Hybridisierung der Kultur, d.h. der Aufnahme popkultureller Elemente sowie neuer Medien wie Musik und Film – nach Hacksʼ Meinung eine romantische „Mixed-Media-Schlamperei“1199 –, und dem, was Wolfgang Emmerich als „geschichtsphilosophische[n] Paradigmenwechsel“1200 bezeichnet hat: das in den 1980er Jahren in der DDR steigende Interesse an der eigenen widersprüchlichen Geschichte vor dem Hintergrund einer Kritik der rationalistischen, wachstumsorientierten Moderne mit ihren Phänomenen wie Umweltzerstörung, Atomgefahr und der Abwendung von einer allgemeinen Vorstellung gesellschaftlicher Aufklärung. Hacksʼ Gestus rationaler Überlegenheit und seine Texte, die poetische Gegenwartsdiagnosen und Zukunftsperspektiven darstellen, in denen aber keine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit stattfindet, galten in diesem Zusammenhang als zu glatt, zu wenig widersprüchlich, zu klassizistisch, als dass Regisseure mit den Texten etwas anfangen konnten oder wollten. Hinzu kommt (2.) Hacksʼ „Clinch mit allen Regisseuren“. Aufgrund seiner Theaterpolitik, d.h. dem Versuch, die Kontrolle über die Umsetzung seiner Stücke zu behalten, galt Hacks „bei den Intendanten als besonders schwierig“, wie sich Werner Mittenzwei, ab den 1970er Jahren selbst als dramaturgischer Berater am Berliner Ensemble tätig, erinnert.1201 Das verschärfte sich in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre noch dadurch, dass Hacks zu der Überzeugung gelangt war, die Schauspielerin Karin Gregorek, seit 1974 seine Lebensgefährtin, sei die beste Regisseurin seiner Stücke.1202 Mit der Forderung, diese als Hauptdarstellerin1203 oder für die Regiearbeit zu engagieren, verschreckte Hacks viele Intendanten. Am Konflikt um Karin Gregorek zerbrach letztlich sogar das enge Verhältnis zum Deutschen Theater in Göttingen unter Günther Fleckenstein, dem einzigen Haus in Westdeutschland, das sich mit Hacks verbunden fühlte.1204

|| 1198 Symptomatisch ist in diesem Zusammenhang der bereits vor der Ausbürgerung erschienene Aufsatz Urs Allemanns. Vgl. Allemann. Ähnliche Urteile finden sich seit den 1970er Jahren aber in vielen feuilletonistischen Äußerungen. 1199 HW 14, 87. 1200 Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR, S. 273. 1201 Mittenzwei: Zwielicht, S. 384. Siehe zu Hacksʼ Theaterpolitik: Kap. 5.6.3. 1202 „[S]ie ist der beste Regisseur Deutschlands“. Peter Hacks an Hans-Joachim Pavel, 14. Oktober 1982, DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit dem Drei Masken Verlag. Ähnlich auch in einem Brief an die Leiterin der Abteilung Kultur beim ZK der SED Ursula Ragwitz vom 25. Februar 1982, Bl. 2. DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit der SED. 1203 So geschehen in Bezug auf Die Binsen und Jona. Vgl. Mittenzwei: Zwielicht, S. 385 u. Manfred Wekwerth: Dr. Hacks zum 75. Ein Nachtrag. In: jW, 22. März 2003, S. 14. 1204 Vgl. Ronald Weber: Eine Säule. Peter Hacks, Günther Fleckenstein und das Deutsche Theater in Göttingen. In: ARGOS (2011), H. 8, insb. S. 92f.

584 | Der Streit im literarischen Feld

(3.) und letztens blieb der Theatererfolg Hacksʼ ab Mitte der 1970er Jahre, von dem 1974 verfassten Ein Gespräch im Hause Stein abgesehen, nicht zuletzt auch deshalb aus, weil sich der Charakter der Stücke in Hacksʼ ideologiekritischer Phase veränderte. Im Vergleich zu den 1960er Jahren waren sie „kühler, nüchterner, auf grimmige Weise unterhaltsam“.1205 Mit Die Fische [1975], Senecas Tod [1977], Musen [1979], Die Binsen [1981] und Barby [1982] konnte Hacks an die früheren Erfolge nicht mehr anknüpfen. Und auch sein großer Utopieentwurf, die Bearbeitung der Goethe’schen Pandora, wusste nicht zu überzeugen. Die Zustimmung zur Ausbürgerung Biermanns mag hierbei insofern als Katalysator gewirkt haben, als Hacks vielen Kritikern, Regisseuren und Intendanten nach 1976 als suspekt erschien; die Veränderung der Theaterlandschaft und Hacksʼ eigenes Verhalten gegenüber den Bühnen trugen aber ebenso dazu bei.

5.7.4

Inversion: Von ,Hacks und Müller’ zu ,Müller und Hacks’

Anders als Hacks unterstützte dessen Antipode Heiner Müller die Petition gegen die Ausbürgerung Biermanns. Müller bekannte zwar im Nachhinein, dass er sich bewusst gewesen sei, es handle sich bei dem Protest um eine „Naivität“,1206 er sah diesen aber als notwendig an. Dabei ging es Müller nicht so sehr um Biermann selbst, mit dem er zwar seit Ende der 1950er Jahre bekannt war, den er aber im Laufe der 1960er Jahre aus den Augen verlor: „vielleicht auch mit Absicht, weil das irgendwann ein Kreis war, aus dem man sich heraushielt, wenn man selbst ungestört arbeiten wollte“.1207 Müller sah in dem Protest gegen die Ausbürgerung „eine Chance […] über Dinge zu reden, über die wir eigentlich alle reden wollen“.1208 Kurze Zeit später distanzierte er sich von der Petition, nachdem Ruth Berghaus, die Intendantin des Berliner Ensembles, an dem er als Dramaturg angestellt war, ihn „bearbeitet“ hatte, was Müller zwar als „feige Volte“ ausgelegt wurde, aber zu keinen weiteren Verwicklungen führte – zumal die Distanzierung nicht über das Neue Deutschland verbreitet wurde wie im Fall von Volker Braun.1209 Interessant ist, dass Müllers Position durchaus Ähnlichkeiten zu der von Hacks aufweist. In einem Gespräch mit Bernard Umbrecht, das ein Jahr nach der Ausbürgerung in LʼHumanité erschien, äußerte Müller: || 1205 Dietmar Dath: Wohin willst du denn schänden? Peter Hacks erklärt sich die Kunst (vor Publikum). In: Peter Hacks: Die Maßgaben der Kunst. Berlin 2010, S. 1243. Bernd Leistner schreibt, Hacks würde die „Widersprüche mehr bloß[ ]legen als sie […] zu vermitteln“. Leistner: Nachwort, S. 383. 1206 MW 10, 559. 1207 KoS 214. 1208 Zit. n.: Manfred Krug: Abgehauen. Ein Mitschnitt und ein Tagebuch. Düsseldorf 1996, S. 69. 1209 KoS 215 u. Stephan Suschke, zit. n.: Hauschild, S. 332. Siehe den Text der Distanzierung: MW 8, 186. Siehe zu Volker Braun: Berbig u.a. (Hg.): In Sachen Biermann, S. 246f.

Die Eskalation des Streits: Die Ausbürgerung Wolf Biermanns und die Folgen | 585

Biermann, der hat für mich, nach meiner Meinung, doch eine romantische Position. Also man kann nicht Ulbricht kritisieren von einem geträumten Thälmann her. Also die Position von Ulbricht kritisieren von einer fiktiven Thälmann-Position her. Und wenn man hier als Autor politisch wirken will, muß man wissen, daß die Politik unter anderem aus Kompromissen besteht. Das heißt nicht, daß man in seinen Texten Kompromisse machen muß. Man muß aber wissen, daß Literatur hier nicht getrennt von Politik existieren kann in einer solchen Gesellschaft. […] Und dann muß man eben wissen, daß Politik u.a. bedeutet, daß man es mit den Kategorien des Möglichen zu tun hat. Und man kann nicht auf dem Unmöglichen bestehen. Das führt eben nicht zu einer Ausweitung des Bereichs des Möglichen.1210

Für Müller war Biermann ein Utopist, der zu weit gegangen war. Müller rechtfertigte die Maßnahme der Ausbürgerung nicht, aber in gewisser Weise passte sie in das Bild vom Sozialismus als „blutverschmierte alte Vettel“1211, das er auch in seinen Texten präsentierte. Den Wunsch, die DDR zu verlassen, erzeugte die Ausbürgerung bei Müller nicht. Im Interesse seiner eigenen Arbeit hielt er sich mit dem Fall Biermann nicht länger auf. Bereits eine Woche nach der Unterzeichnung des Protests äußerte er bei einer Lesung von Der Bau in der Humboldt-Universität: Für mich ist Biermann heute kein Diskussionsgegenstand mehr. Es wird von ihm abhängen, wann er das wieder wird. Wir können unsere Probleme nur in unserem Land selbst und nur selber lösen. Mit Sicherheit ohne Beifall des Gegners. Es wäre mir recht, wenn wir jetzt zur Tagesordnung übergehen können.1212

Für Werner Mittenzwei äußert sich hierin das zynische ‚Wegwischen‘ eines „lästigen Konkurrenten“.1213 Mittenzweis Einschätzung, die in Bezug auf ein direktes Konkurrenzverhältnis allein schon aufgrund des Umstands, dass Biermann eigentlich nicht als Dramatiker arbeitete, fehlgeht, trifft, betrachtet man Müllers Position im kulturellen Feld nach 1976, auf vermittelte Weise durchaus zu. Denn die Funktion, die Biermann zuvor eingenommen hatte, ging nun teilweise auf Müller über; innerhalb der kulturellen Opposition besetzte Müller fortan eine wichtige Position. So äußerte Müller später, dass er „nachdem Biermann weg war, eine Art Institution, einfach ein Kristallisationspunkt“ wurde: „[N]ach der Austreibung Biermanns war ich eine Anlaufadresse.“1214 Müllers Bild blieb von der ‚feigen Volte‘ bezüglich Biermann unberührt. Ende der 1970er Jahre setzte sein Aufstieg im Westen ein. In den USA wuchs das Interesse an seinen Texten und Jean Jourdheuils Doppel-Inszenierung von Hamletmaschine und

|| 1210 MW 10, 119. 1211 KoS 141. 1212 Zit. n. Berbig u.a. (Hg.): In Sachen Biermann, S. 277. 1213 Mittenzwei: Die Intellektuellen, S. 288. 1214 MW 11, 341 u. MW 11, 347.

586 | Der Streit im literarischen Feld

Mauser im Januar 1979 machte Müller in Frankreich populär. Bereits 1978 verzeichnete Theo Girshausen einen „Müller-Boom“,1215 der sich nicht nur in einer steigenden Zahl von Inszenierungen in Westdeutschland ausdrückte, sondern auch in Müllers festem Platz in den Medien.1216 Für Aufmerksamkeit im linken und linksliberalen Kulturmilieu sorgten besonders die ab Mitte der 1970er Jahre verfassten Texte, die den Zusammenhang von deutscher Geschichte und autoritärer Gegenwart in den Blick nehmen und die Utopie suspendieren. Janine Ludwig hat gezeigt, wie die Rezeption in der BRD in dieser Hinsicht mit dem Scheitern der 68er-Linken und dem Verlust der Hoffnung auf eine sozialistische Transformation korreliert und Müller durch das Aufgreifen von für die Westlinke relevanten Zusammenhängen wie dem Terrorismus zugleich als ein gesamtdeutscher Künstler betrachtet werden kann.1217 Die gesteigerte Anerkennung, die Müller im Westen sowie dem alternativen Kunstmilieu der DDR erfuhr, drückt sich 1979 in einem von Wolfgang Storch in Westberlin herausgegebenen Sammelband zu Müllers fünfzigstem Geburtstag aus.1218 In der DDR wurde Müller zwar noch immer wenig gespielt,1219 dafür wurde Müller mehr und mehr zum Mittelpunkt eines kulturellen Lebens jenseits der offiziellen DDR-Kultur; seine Wohnung am Kissingenplatz in Pankow, wo er bis 1979 lebte, bevor er nach Lichtenberg zog, war „Ausflugslokal und Wallfahrtsort für Besucher aus Ost und West“.1220 Mit Müllers steigendem Erfolg und den seit der Biermann-Ausbürgerung manifesten Vorbehalten gegenüber Peter Hacks änderte sich schließlich die Reihenfolge in der Namensnennung der lange Zeit als Weggefährten aufgefassten Dramatiker: aus

|| 1215 Girshausen (Hg.): Die Hamletmaschine, S. 6. 1216 Siehe etwa die äußerst positive, dreiseitige Rezension von Müllers Rotbuch-Werkausgabe: Ernst Wendt: Ewiger deutscher Bürgerkrieg. Heiner Müllers Texte 1 – 6. In: Der Spiegel, 17. April 1978, S. 260–262. Siehe zu den Inszenierungszahlen Müllers die Tabelle bei Ludwig: Heiner Müller, Ikone West, S. 53. 1217 Vgl. Ludwig: Heiner Müller, Ikone West, S. 199ff. Die These hat in polemischer Weise 1979 bereits Michael Schneider aufgestellt: „Die geschichtsphilosophische Verzweiflung, die in Müllers letzten Stücken so kraß zutage tritt, paßt wunderbar zu jenem modischen Pessimismus und koketten Nihilismus, der spätestens seit Mitte der 70er Jahre das Klima der bundesrepublikanischen Kulturszene prägt. Nicht nur die konservativen Skeptiker, auch die Kultur-Linke hier hört man als neuen Gewährsmann ihres neoexistenzialistischen Ekels an Politik, Geschichte und Aufklärung immer häufiger Heiner Müller zitieren.“ Michael Schneider: Heiner Müllers Endspiele. Vom aufhaltsamen Abstieg eines sozialistischen Dramatikers. In: ders.: Den Kopf verkehrt aufgesetzt oder Die melancholische Linke. Aspekte des Kulturzerfalls in den siebziger Jahren. Darmstadt/Neuwied 1981, S. 187f. 1218 Vgl. Wolfgang Storch (Hg.): Geländewagen 1. Heiner Müller zu seinem fünfzigsten Geburtstag. Berlin 1979. 1219 Gespielt wurden vor allem die thematisch auf den Nationalsozialismus und die Revolutionsgeschichte eingegrenzten Stücke. Walfried Hartinger spricht in diesem Zusammenhang zu Recht von einem „restringierten Müller-Kanon“. Hartinger: Wechselseitige Wahrnehmung, S. 107ff. 1220 Peter Voigt, zit. n.: Hauschild, S. 372.

Die Eskalation des Streits: Die Ausbürgerung Wolf Biermanns und die Folgen | 587

‚Hacks und Müller‘ wurde Mitte der 1970er Jahre ‚Müller und Hacks‘. Eine Verständigung zwischen beiden gab es zu diesem Zeitpunkt nicht mehr. Man betrachtete sich mit Argwohn. Nach Hacksʼ Meinung hatte Müller sich mit der Unterstützung der Biermann-Petition ganz auf die Seite der Romantik geschlagen.1221 Die Trennung der Gruppen, des ‚Hacks-Clans‘ und des ‚Müller-Clans‘, wird sinnfällig in der Schilderung, die André Müller sen. von der Uraufführung von Senecas Tod am 27. September 1980 im Deutschen Theater gibt: Es ist ein wunderbarer Altweibersommer, und man steht wie üblich vor dem Deutschen Theater, dem Ort von Hacksens größten Triumphen. Für mich, der ich an mehreren Premieren nicht mehr teilnahm, ist es ein dauerndes Händeschütteln und Alte-Bekannte-begrüßen […]. Es ist erstaunlicherweise fast das gleiche Publikum wie damals bei der berühmten Premiere von ‚Frieden‘, nur zwanzig Jahre älter. Auffällig ist: es gibt keine Gegner mehr aus anderen Lagern, weder vom Berliner Ensemble, noch von der Volksbühne, noch vom Heiner-Müller-Clan ist einer anwesend. Die Fronten sind, scheint es, streng geschieden.1222

|| 1221 Amüsiert fragte Hacks sich, wie lange Müller wohl brauche, bis er seine Unterschrift aus Feigheit wieder zurückziehe (vgl. GmH 150), und berichtete seinem Freund André Müller sen., dass Müller sich wohl „vor seinen Läusen & Anhängern noch mehr fürchtet als vor Roland Bauer“, dem Kultursekretär der Berliner Bezirksleitung der SED. Peter Hacks an André Müller sen., 18. Dezember 1976, DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit André Müller sen. 1222 GmH 240f.

6

Ausblick

Gegen den Niedergang kommt keiner an.1

Die 1980er Jahre markieren ein „Müller-Jahrzehnt“.2 Während Müller in der DDR in die Rolle des „‚Übervater[s]‘“ des DDR-Dramas hineinwuchs und sich selbst als Nachfolger auf dem Brecht-Thron stilisierte,3 wurde er im Westen zunehmend zu einer Kultfigur mit Popstar-Status. Dazu trug neben den erfolgreichen Inszenierungen seiner Texte am Schauspielhaus Bochum und der Zusammenarbeit mit dem US-amerikanischen Regisseur Robert Wilson vor allem Müllers steigende mediale Präsenz bei.4 1985 erhielt Müller den Georg-Büchner-Preis, ein Jahr später den Nationalpreis I. Klasse. Er verfügte damit über die jeweils höchsten Auszeichnungen beider deutscher Staaten. Das mit dem Nationalpreis verbundene politische Kapital ermöglichte ihm den endgültigen Durchbruch in der DDR: „Die Folge des Nationalpreises war einfach, daß kein Funktionär in irgendeiner Bezirksstadt mehr sagen konnte: ‚Müller nicht‘.“5 Ab 1987 stieg die Zahl der Inszenierungen in der DDR sprunghaft an; war Müller 1987 sieben Mal gespielt worden, so gab es 1988 bereits 24 Inszenierungen.6 Im Februar 1988 wurde Müller schließlich wieder in den Schriftstellerverband aufgenommen, aus dem er nach dem Skandal um Die Umsiedlerin 1961 ausgeschlossen worden war. Bereits 1984 war er zum Mitglied der Akademie der Künste gewählt worden. In Hacksʼ Augen hatte sich mit Müller in der DDR die Romantik durchgesetzt. Die Theater seien ebenso wie die Kulturabteilung des ZK, das Ministerium für Kultur und die Akademie von Müller’schem Geist durchzogen, äußerte er zu Beginn der 1980er Jahre gegenüber André Müller sen.7 Das Müller’sche Theater betrachtete er als AntiTheater. In dem 1984 verfassten Essay zu seinem Stück Die Vögel bezeichnet er Müller als einen „ehemaligen Kollegen“; Müller sei zu einem „Regievorleger“ geworden, man arbeite nicht mehr im gleichen Beruf.8 In einem Distichon, das 1988 in dem Band || 1 HW 1, 288. 2 Alexander Karschnia u. Hans-Thies Lehmann: Zwischen den Welten. In: HMH, S. 15. 3 Kreuzer, S. 36. Siehe zur Aneignung der Brecht-Nachfolge: Raddatz: Der Demetriusplan. 4 Siehe zur internationalen Rezeption die verschiedenen Beiträge in: HMH. Seit 1982 war Müller auch in westdeutschen Schulbüchern präsent. Vgl. Angelika Hahn an Heiner Müller, 11. Januar 1982 u. 9. Februar 1982, AdK, Heiner-Müller-Archiv, Nr. 35, Schriftwechsel mit dem Henschel Verlag. 5 KoS 280. Siehe hierzu auch: Hartinger: Wechselseitige Wahrnehmung, S. 115f. 6 Vgl. Ludwig: Heiner Müller, Ikone West, S. 53. 7 Vgl. GmH 287. 8 HW 15, 192. Ähnlich heißt es später in der AG Technik des Dramas, Müller habe „als erster dramatischer Autor seinen Zettelkasten zum dramatischen Werk erklärt“. BD 4, 180.

590 | Ausblick

Die Gedichte erschien, wirft Hacks Müller vor, noch hinter Brecht zurückgegangen zu sein. Unter dem Titel „Schuld und Sühne“ heißt es: „Brecht im Fegefeuer, schmorend. Und kein Erbarmen, solange / Eine Zeile von Münz noch oder Müller erscheint.“9 1990 äußerte Heiner Müller, dass die Ansichten zwischen ihm und Hacks „so weit auseinander“ lägen, „daß ein Gespräch nicht mehr sinnvoll ist“.10 Das zeigte sich bereits im April 1985, als die Akademie der Künste anlässlich des 100. Geburtstags von Georg Lukács eine öffentliche Diskussion veranstaltete, zu der neben Günter de Bruyn, Hermann Kant und Werner Mittenzwei auch Hacks und Müller geladen waren. „Die Einladung hatte einen voraussehbaren Zulauf“, erinnert sich Werner Mittenzwei, versprach man sich doch „ein Duell der beiden Toppolemiker“.11 Das Duell aber blieb aus, und das nicht nur, weil der Lukácsianer Hacks zunächst Werner Mittenzwei angriff und diesem vorwarf, sein einleitendes Referat sei eine „LukácsSchmähung“ gewesen.12 Während Hacks sich grundsätzlich zu Lukács äußerte, diesen als Ästhetiker lobte und dessen These der Zerstörung der Vernunft bejahte, blieb Müller in dem Gespräch im Hintergrund bzw. betätigte sich lediglich als „Zwischenrufer“, weil er keine Zeit gehabt habe, „irgendetwas vorzubereiten“.13 Zwar ist die Reibung zwischen Hacks und Müller im Protokoll der Veranstaltung durchaus spürbar – etwa wenn Müller auf eine längere Ausführung Hacksʼ über den Wert von Lukácsʼ Werk lapidar erwidert: „Ich habe kein Lukács-Bild.“14 Zu einem wirklichen Zusammenstoß kam es aber nicht. Einzig als sich das Gespräch zeitweilig um das Prinzip der Montage drehte, wurde für einen Moment der Grundkonflikt zwischen Hacks und Müller als derjenige zwischen Tradition und Moderne sichtbar:

|| 9 Hacks: Die Gedichte, S. 199. Der Theaterwissenschaftler Rudolf Münz war von 1982 bis 1991 Rektor der Leipziger Theaterhochschule „Hans Otto“. Mit seiner Orientierung an Konzepten der Theatralität (vgl. Rudolf Münz: Theatralität und Theater. Zur Historiographie von Theatralitätsgefügen. Mit einem Beitrag von Gerda Baumbach, hg. von Gisbert Amm. Berlin 1998) repräsentierte er für Hacks die Romantik im wissenschaftlichen Feld. 10 MW 11, 749. 11 Mittenzwei: Die Intellektuellen, S. 351. 12 Gespräch über Georg Lukács zu seinem 100. Geburtstag am 22. April 1985 in der Akademie der Künste, AdK-O, Nr. 2579, Bl. 26. 13 Gespräch über Georg Lukács zu seinem 100. Geburtstag am 22. April 1985 in der Akademie der Künste, AdK-O, Nr. 2579, Bl. 36. Hacks hat daraus später eine böse Anekdote gemacht, die folgendermaßen endet: „Haben Sie Müller jemals vorbereitet erlebt? fragte Kant Hacks, als sie weggingen. / Doch, sagte Hacks. Darauf, einem Konkurrenten ein Geschäft zu verderben, einem Kollegen die Ehre abzuschneiden, einem Kommunisten die Gurgel umzudrehen, auf diese drei Aufgaben werden Sie Heiner Müller vorbereitet finden, wann immer sich ihm eine Gelegenheit bietet, es gefahrlos zu tun, an jedem einzelnen Tag und zu jeder einzelnen Stunde.“ Pasiphaë, S. 34. 14 Gespräch über Georg Lukács zu seinem 100. Geburtstag am 22. April 1985 in der Akademie der Künste, AdK-O, Nr. 2579, Bl. 41.

Nachwende | 591

Heiner Müller: Wenn ich ein Stück schreibe – ich gelte ja auch als Montagedenker – dann fange ich vorn an und höre hinten auf. Wenn ich was machen soll, ich montiere nicht, aber das ist eine Frage für mich, wie Sie das darstellen würden. Hacks: Ich muß dem Müller das erklären (Heiterkeit). Ein Mensch, der ein Theaterstück vorn anfängt und hinten aufhört, ist natürlich ein Montagedenker. Ein Dramatiker fängt hinten an und hört vorn auf. Müller: Ich rede nicht vom Denken (Heiterkeit). Hacks: Gut, trotzdem bin ich Müller dankbar dafür, daß er diese leidige Montagefrage aus der Debatte geworfen hat. Er ist auch dagegen, es ist also keiner mehr außer Mittenzwei dafür (Heiterkeit).15

Hacksʼ Reaktion zeigt, dass die Polemik gegen Müller nicht im Fokus stand. Gleiches gilt für eine gemeinsame Veranstaltung der Sektion Darstellende Kunst und der Sektion Dichtung und Sprachpflege in der Akademie der Künste anlässlich der Internationalen Brecht-Tage 1988. Auch diesmal blieb der erwartete Disput zwischen Hacks und Müller aus.16 Es wiederholte sich lediglich, was sich bereits 1975 beim Erich-Engel-Seminar ereignet hatte: Man sprach mehr über- als miteinander. Und dieses Übereinander-Sprechen beschränkte sich zudem immer mehr auf Hacks, der Müller seit den 1980er Jahren mit Invektiven verfolgte. Das Verhältnis der 1960er Jahre hatte sich jetzt vollkommen gewandelt. Hinsichtlich des Konkurrenzverhältnisses setzte Müller sich auf ganzer Linie durch. Während er 1988 mit der Eigeninszenierung des Lohndrückers am Deutschen Theater, Hacksʼ ehemaliger Hausbühne, einen großen Erfolg feierte und mit der Inszenierung von Hamlet/Hamletmaschine im März 1990 gleichsam den Kommentar zum Untergang der DDR lieferte,17 wurde es um Hacks still. Dem Staatsdichter, als den Hacks sich sah und dessen Problematik er 1991 noch einmal in dem Voltaire-Essay „Ödipus Königsmörder“ reflektierte, war sein Staat in gewisser Weise schon 1971 verlustig gegangen; wie Voltaire seine „Lebenswunde“ mit dem Tod Ludwigs XIV., so erfuhr Hacks seine mit dem Ende Ulbrichts.18 Für

|| 15 Gespräch über Georg Lukács zu seinem 100. Geburtstag am 22. April 1985 in der Akademie der Künste, AdK-O, Nr. 2579, Bl. 36f. 16 Siehe das Protokoll der Veranstaltung: Stenografische Niederschrift der gemeinsamen Sitzung der Sektion Darstellende Kunst und der Sektion Literatur und Sprachpflege zum Gedenken an Bertolt Brecht, 8. Februar 1988, AdK-O, Nr. 1273. 17 Vgl. Hartinger: Wechselseitige Wahrnehmung, S. 117–121. Siehe zu Hamlet/Hamletmaschine die Dokumentation Christoph Rüters: Christoph Rüter: Die Zeit ist aus den Fugen. Heiner Müller, Hamlet/Maschine und der 9. November 1989. Berlin 1991. Siehe zur späten Rezeption Müllers in der DDR auch: Matias Mieth: Zur Rezeption von Heiner Müller in DDR und BRD. Eine Erinnerung an das Verhältnis von politischer und ästhetischer Wertung. In: WB 37 (1991), H. 4, S. 610f. 18 HW 14, 516. Dass Hacks sich in Voltaires Schicksal und dessen Verhältnis zu Ludwig XV. spiegelt, wird im Essay an verschiedenen Stellen deutlich. Immer wieder betont Hacks die Parallelität seines Verhältnisses zu Erich Honecker, ohne sie jedoch direkt anzusprechen: „Was ist, wenn einer für eine Herrschaftsform einsteht, aber nicht für deren Vertreter? Was, wenn er einer Weltrichtung beistimmt und aber den Mann tadeln muß, der die Richtung nimmt?“ HW 14, 516.

592 | Ausblick

Honecker empfand Hacks nur Abscheu. Gleichwohl hoffte er, seinem Verständnis des Absolutismus als einer diskontinuierlichen Herrschaftsweise entsprechend,19 nach 1971 stets auf eine Wende der Verhältnisse, auf eine Rückkehr zur absolutistischen Herrschaftsweise Ulbrichts; sei es, dass er ihre Möglichkeit in Juri W. Andropow erblickte, der 1982 Generalsekretär der KPdSU wurde und bald darauf verstarb, oder, wie zeitweise, in Michail S. Gorbatschow.20 Bereits 1986 hatte Hacks in dem Trauerspiel Jona der DDR den Untergang vorausgesagt: „Ninive“, das im Stück für die DDR steht, „will untergehen“, äußert der Prophet und liefert auch die Begründung gegenüber Semiramis, der Königin Assurs, die für Honecker steht: Für schlechte Führung, minderwertigen Dienst / In deinem Amt, dem Staat. Denn wahrlich, auf / Zwei Herrschaftsweisen ist der Staat gegründet, Auf Staatsvernunft, die das Vorhandene regelt, / Und Staatskunst, die ins Mögliche sich dehnt; / Doch was dem Staat den Grund entzieht, ist Staats- / Schlaubergerei: dies selbstverliebte Lügen, / Dies alles dulden und so alles kränken, / Dies immer eins tun und das andre auch / Und keines folglich ganz, dies nicht den ärmsten / Gewinn ausschlagen und am Ende jeden / Verpassen: So entsteht der Ekel und / Der Niedergang.21

Jona ist, wie Gunther Nickel schreibt, „der Aufschrei eines geradezu verzweifelten Autors der DDR, der durch die eigene Staatsführung den Sozialismus bedroht sieht“.22 Es blieb ein ungehörter Aufschrei des Staatsdichters Hacks. Das Stück wurde zwar 1988 in Sinn und Form gedruckt, gespielt aber wurde es nicht.23 Mit Hacksʼ Texten wussten die Theater der späten DDR nichts mehr anzufangen; ihr ‚Staatsdichter‘ hieß Heiner Müller. Im Laufe der 1980er Jahre wurde der Name Hacks aus der Kombination ‚Müller und Hacks‘ schließlich ganz getilgt. Es war fortan Heiner Müller, dessen Name synonym für den Begriff des DDR-Dramas stand. Damit hatte sich die an der Moderne orientierte Tradition des DDR-Dramas durchgesetzt.

|| 19 Vgl. BD 2, 293f. 20 Vgl. GmH 290f. u. 306. Die Hoffnung Gorbatschow währte kurz. Bereits in einem Brief vom 19. Juli 1987 heißt es: „Er [Gorbatschow, R.W.] ist Dubzek. Er hat überhaupt nichts in petto.“ NBK 68. 21 HW 6, 485 u. 477f. Siehe zur allegorischen Lesart des Dramas: NBK 6. Bereits in Pandora hatte Hacks Honecker in der Figur des Phileros kritisiert. Dort ist nicht nur von „Hohneckerei“ die Rede. HW 6, 97. Hacks lässt Phileros, Sohn des Prometheus, auch bei einem Autounfall gemeinsam mit den Töchtern des Epimetheus sterben, was Ulrich Profitlich und Frank Stucke zu Recht als „rather a happy ,accident‘“ bezeichnen (Profitlich u. Stucke, S. 55), eröffnet sich doch so die Möglichkeit, die Utopie (Pandora) wieder in den Blick zu bekommen. 22 Gunther Nickel: Peter Hacksʼ Parabolien. In: Hans-Werner Heister u. Bernhard Spies (Hg.): Mimesis, Mimikry, Simulatio. Tarnung und Aufdeckung in den Künsten vom 16. bis zum 21. Jahrhundert. Berlin 2013, S. 232. Dass Hacks dem Überleben des Sozialismus nur noch geringe Chancen zumaß, zeigt sich bereits 1981 in Die Binsen. Justine Mencken, die aufrechte Heldin der Komödie, scheitert dort am Schlendrian und Mittelmaß der übrigen Beteiligten. 23 Die Uraufführung von Jona erfolgte erst zwanzig Jahre nach dem Ende der DDR am 6. November 2009 in Wuppertal unter der Regie von Marc Pommerening.

Nachwende | 593

6.1

Nachwende

Mit dem Ende der DDR war der Kommunikationsraum verloren, in dem Peter Hacks und Heiner Müller ihre Texte verortet hatten. Die antikapitalistische Alternative, die auch für Müller trotz aller Kritik, schon allein deshalb, weil „der Kapitalismus keine Lösung für die Probleme der Welt hat“, bis zum Schluss eine „Zukunftsstruktur“ dargestellt hatte,24 war gescheitert. Hacks und Müller reagierten darauf höchst unterschiedlich. Während Hacks sich aus der Öffentlichkeit zurückzog und nicht an den Debatten, die auf die Wiedervereinigung folgten, beteiligte, wurde Müller zum Medienstar, zum Inbegriff des omnipräsenten Intellektuellen. Bei der großen Demonstration am 4. November 1989 in Ostberlin gehörte er wie selbstverständlich zu den DDRIntellektuellen, die zu den DemonstrantInnen sprachen.25 1990 ließ er sich zum Präsidenten der Akademie der Künste wählen, die sich unter seiner Ägide 1993 mit der Westakademie vereinigte. 1992 wurde er Direktoriumsmitglied des Berliner Ensembles, ab 1995 leitete er das Theater alleine. Die frühen 1990er Jahre markieren den Gipfelpunkt von Müllers Ruhm. 1990 widmete ihm die Experimenta 6 in Frankfurt am Main allein neunzig Veranstaltungen, im gleichen Jahr erhielt er den Kleist-Preis, 1991 den Europäischen Theaterpreis. Unzählige Interviews, durch die Zusammenarbeit mit Alexander Kluge auch im Fernsehen, öffentliche Gespräche, Talkshows und Stellungnahmen begründen das Bild vom ‚Medien-Müller‘, der Whisky trinkend und Zigarre rauchend alles und nichts kommentiert.26 Wie sehr die Figur Heiner Müller zu Beginn der 1990er Jahre in der Öffentlichkeit präsent war, verdeutlicht vielleicht am besten ein großformatiges Straßenplakat der Wochenzeitung Die Woche, die für ihre aktuelle Ausgabe mit einem Porträt Müllers und dem Zitat „Zehn Deutsche sind dümmer als fünf“ warb.27 Müllers mediale Präsenz steht in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis zu seinem dramatischen Werk. Das letzte Stück Müllers stammt mit dem fünften Teil von Wolokolamsker Chaussee: Der Findling aus dem Jahr 1987, ein neues Stück, Germania 3 Gespenster am toten Mann, beendete Müller erst 1995 kurz vor seinem Tod. Mit dem realen Sozialismus als defizitäre Verkörperung der kommunistischen Utopie war Müller der Widerstand abhandengekommen, den seine dramatischen Texte brauchten, der „Erfahrungsdruck des ‚sozialistischen Lagers‘“, der seine „Produktionsbedingung“ war.28 Müller reflektiert das in dem Gedicht „Vampir“: || 24 MW 11, 700 u. MW 10, 773. 25 Müller sprach allerdings keinen eigenen Text, sondern verlas einen Aufruf zur Gründung eigenständiger Gewerkschaften. Vgl. KoS 278f. u. 332. 26 Siehe hierzu: Hauschild, S. 456ff. u. Frauke Meyer-Gosau: Monument Müller. Ein Bild und seine Spiegelungen. In: Arnold (Hg.): Heiner Müller. Neufassung, S. 8–21. 27 Vgl. Müller: Müller MP3, S. 129. Das Zitat entstammt dem gleichnamigen Interview: MW 11, 80– 99. 28 MW 8, 429f.

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Die Masken sind verbraucht fin de partie / Prolet und Mörder Bauer und Soldat / Aus den geborgten Mündern dringt kein Laut / Zerstoben ist die Macht an der mein Vers / Sich brach wie Brandung regenbogenfarb / […] Statt Mauern stehen Spiegel um mich her / Mein Blick sucht mein Gesicht Das Glas bleibt leer.29

Die Masken stehen für das Drama, bei dem der Autor sich verschiedene Masken vorhält und diese ins Spiel bringt. Das Gedicht konstatiert das Ende des dramatischen Sprechens. An seine Stelle tritt ein anderes Sprechen, das sich in der Introspektion reflektiert (die Spiegel) und in der Lyrik realisiert. Diese wird in den 1990er Jahren die vorherrschende Gattung, in der Müller sich literarisch artikuliert.30 Die Schreibkrise, die sich im Gattungswechsel ausdrückt, geht unmittelbar auf den Verlust der Utopie zurück, die sich als an den wie auch immer defizitären Realisierungsversuch in der DDR gebunden erweist. In „Der glücklose Engel“ hatte Müller Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre die Geschichte als Wartesaal dargestellt, in dem die Menschheit gefangen ist. Der Schluss des Textes aber, der die Erwartung auf den erneuten Flug des Engels ausdrückt, war positiv. Die Bewegung der Geschichte erschien möglich. Diese Möglichkeit wird nun verabschiedet – zwar nicht gänzlich, aber doch für das lyrische Subjekt. In dem 1991 verfassten Gedicht „Glückloser Engel 2“ heißt es: Zwischen Stadt und Stadt / Nach der Mauer der Abgrund / Wind an den Schultern die fremde / Hand am einsamen Fleisch / Der Engel ich höre ihn noch / Aber er hat kein Gesicht mehr als / Deines das ich nicht kenne31

Vor dem Hintergrund, dass der Sozialismus in den Augen Müllers erst dann wieder eine Chance hat, wenn die ehemalige DDR-Bevölkerung gelernt hat, dass die Konsumgesellschaft in die Irre führt und eine gewisse „Übersättigung“ an „Beate Uhse und Coca Cola“ eingetreten ist, bleibt für den über sechzigjährigen Müller nur das „Warten auf nichts“, zumal sich Müller nicht sicher ist, ob es tatsächlich noch einmal eine „andere Chance“ geben wird.32 Eine solche Hoffnungslosigkeit, die sich im zunehmenden literarischen Verstummen äußert, lässt sich bei Peter Hacks nicht feststellen. Hacks, der in gewisser Weise schon vor dem Ende der DDR in eine Art innere Emigration gegangen war, hatte sich

|| 29 MW 1, 317. 30 Siehe zu Müllers später Lyrik: Ebrecht, S. 115ff.; Marcus Kreikebaum: Heiner Müllers Gedichte. Bielefeld 2003, S. 276ff. u. Dennis Püllmann: Spätwerk. Heiner Müllers Gedichte 1989–1995. Berlin 2003. 31 MW 1, 236. Siehe hierzu: Ludwig: Heiner Müller, Ikone West, S. 35f. 32 MW 11, 700; MW 1, 288 u. MW 11, 699. Siehe zu Müllers Äußerungen zur Wiedervereinigung: Pam Allen: „Was hier gebraucht wird, ist Hackfleisch“. Heiner Müller zum „neuen“ Deutschland und das „neue“ Deutschland zu Heiner Müller. In: Claudia Mayer-Iswandy (Hg.): Zwischen Traum und Trauma – die Nation. Transatlantische Perspektiven zur Geschichte eines Problems. Tübingen 1994, S. 99–109.

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bereits 1977 in Senecas Tod die Frage vor Augen gehalten, wie einem nicht zu billigenden politischen Zustand begegnet werde könne. Die Antwort lautete: mit Ironie und Haltung.33 Gerade weil sich an den Umständen nichts ändern ließe, sei die Haltung, die man diesen gegenüber einnähme, das letzte bleibende Moment der Selbstbestimmung: Haltung ist die Vorwegnahme menschlicher Selbstbestimmung auf geschichtliche Lagen, auf Lagen also, die keine anderen sein können als aufgezwungene; der Mensch, der Haltung hat, verhält sich als Erwachsener, während die Umstände die Menschheit noch gängeln. Alles mündige und eigenverantwortliche Betragen ist Vorwegnahme, ist eine Form der Hoffnung.34

Gegenüber dem Ende der DDR, das er als „Konterrevolution“ wahrnahm, verhielt Hacks sich daher stoisch und kämpferisch zugleich.35 Der Sozialismus hatte eine Niederlage erfahren, die marxistische Philosophie mit ihrem Hegel’schen Unterbau war deshalb nicht widerlegt: „Es gibt kein noch so elendes Jetzt ohne Zukunft. Alles geht weiter und, wie bestimmte Überlegungen und die Erfahrungen lehren, auf lange Sicht höher.“36 Das Ende der DDR war für Hacks kein Anlass, seine Geschichtsphilosophie zu revidieren. Noch in seinem letzten Interview im März 2003 kurz vor seinem Tod äußerte er sich optimistisch über die Zukunft der kommunistischen Weltbewegung.37 Das Ende der DDR reflektierte er wie Müller in Gedichten, die er ab 1998 in der Zeitschrift konkret publizierte und später unter dem Titel „Jetztzeit“ zusammenfasste; unter ihnen auch das Wende-Gedicht mit dem Titel „1990“: Nun erleb ich schon die dritte Woche / Die finale Niedergangsepoche. // Pfarrer reden in den Parlamenten. / Leipzig glaubt an einen Dirigenten. // Die Fabriken alle sind zuschanden. / Das Proletariat ist einverstanden. // Rings nur westkaschubische Gesichter. / Botho Strauss passiert für einen Dichter. // Auch die Freundin zeigt sich beinah prüde. / Von Erwerbs- und Nahrungssorgen müde. // Kann sie sich nur eingeschränkt entschließen, / mit dem Freund den Abend zu genießen. // Freilich ich, von Schwachheit keine Rede, / Bin nicht jeder, und sie ist nicht jede, // Und so folgen dem, was ich ihr tue, / Höhepunkte, und in großer Ruhe // Sehn wir nachher beim Glenfiddichtrinken / Hinterm Dachfirst die Epoche sinken.38

|| 33 An Gottfried Fischborn schrieb Hacks am 20. September 1978: „Senecas Tod, das ist sehr einfach ein vergnügtes Stück für schlechte Zeiten.“ DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit Gottfried Fischborn. 34 HW 15, 236. 35 HW 15, 84. Siehe zu Hacksʼ politischen Urteilen 1989/90: Heidi Urbahn de Jauregui: Peter Hacks und die Wende. In: ARGOS (2007), H. 1, S. 15–24. 36 HW 13, 477. Im Prolog zu Orpheus in der Unterwelt [1995], ursprünglich für das Deutsche Theater verfasst, heißt es dementsprechend: „Mein Urwort drauf. Die Wende kann sich wenden. / Was schlecht begann, es muß ja nicht schlecht enden.“ HW 8, 8. 37 Vgl. AEV 107. Siehe auch: AEV, S. 76. 38 HW 1, 287.

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Auffällig ist hier im Vergleich zu Müller neben der strengeren Form vor allem der polemische und ironisch-selbstbehauptende Ton. Das lyrische Subjekt konstatiert eine Zeitenwende, über die es sich selbst als erhaben darstellt: Mag die Welt ‚verrückt‘ werden, das eigene Selbst ist deshalb nicht in Zweifel zu ziehen. Anlässlich des Gesprächs zum 100. Geburtstag Georg Lukácsʼ hatte Günter de Bruyn die Frage aufgeworfen, ob es nicht die Aufgabe der Kunst wäre, die Zerstörung der Vernunft widerzuspiegeln. Hacks hatte das bejaht und gleichzeitig entschieden zurückgewiesen, sich deshalb selbst „die Vernunft zerstören zu lassen“.39 Auch einem Zustand der Unvernunft, und die kapitalistischen Verhältnisse nach 1990 galten Hacks zweifelsohne als der Gipfel einer solchen, müsse der Künstler mit vernünftigen Kunstmitteln begegnen. Hacksʼ Mittel gegen die Zeitläufte hieß Arbeit. Im Unterschied zu anderen DDRAutoren, die sich wie Hacks auch nach 1989 noch politisch zur DDR bekannten, nach der Wende aber literarisch weitgehend verstummten, blieb Hacks anhaltend produktiv. In polemischen Essays setzte er sich mit der neuen politischen und literarischen Situation auseinander, trieb Studien für seine 2000 abgeschlossene Schrift Zur Romantik und schrieb Stücke in rascher Folge. In ihnen behandelte er, an der Gattung der Komödie festhaltend, die politische Situation der Nachwende-Zeit, d.h. die Eigentums- und Kapitalproblematik (Fafner, die Bisam-Maus [1991] und Der Geldgott [1991]),40 verarbeitete seinen eigenen Niedergang als Klassiker (Der Maler des Königs [1991]),41 verwies auf die Eigentümlichkeit der Genies (Die Höflichkeit der Genies [1992]), stellte im Gewand der Genoveva-Sage und mit Anspielungen auf die späte SED die Frage, die schon die klassischen Dramen der 1960er Jahre gestellt hatten: „Läßt sich die Menschheit einrichten?“ (Genovefa [1993]),42 und zeigte in den Stücken der sogenannten Russen-Trilogie eine „Entwicklungsgeschichte des Absolutismus“

|| 39 Gespräch über Georg Lukács zu seinem 100. Geburtstag am 22.April 1985 in der Akademie der Künste, AdK-O, Nr. 2579, Bl. 47. 40 Siehe zu Fafner: Andrea Jäger: Wie viel Komik enthält der Untergang des realen Sozialismus? Theaterstücke nach der Wende. In: dies. (Hg.): Heitere Spiele über den Ausgang der Geschichte. Peter Hacks und die Komödie im Kalten Krieg. Berlin 2012, S. 118–122. Siehe zu Geldgott: Stucke: Die Aristophanes-Bearbeitungen von Peter Hacks, S. 169–213; Jäger: Wie viel Komik enthält der Untergang des realen Sozialismus?, S. 122–131 u. Olaf Brühl: Der Geldgott, die Blindheit und das Glück. Oder die Frau als Metapher der Menschheit. In: Köhler (Hg.): „… und nehmt das Gegenteil“, S. 173–188. 41 Vgl. Ute Baum: Der Maler des Königs. In: Köhler (Hg.): Staats-Kunst, S. 73–80. 42 HW 7, 241. Siehe zu Genovefa: Heidi Urbahn de Jauregui: Eine altdeutsche Legende von Peter Hacks. In: dies.: Zwischen den Stühlen, S. 211–218 u. Friedrich Dieckmann: Die Zeit war’s, die sie verstieß. Alles ist sehr traurig: Uraufführung von Peter Hacksʼ „Genovefa“ in Chemnitz. In: FAZ, 16. Januar 1995, S. 27.

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im Sinne des „Entwurf[s] einer unidealischen Utopie“ (Bojarenschlacht, Tatarenschlacht und Der falsche Zar [alle 1996]).43 Vor allem die letzten Stücke, in deren Zusammenhang auch das Dramolett Der Bischof von China [1999] zu nennen ist, lassen in ihrem grundsätzlichen historischen Optimismus und dem Vertrauen auf den widersprüchlichen Gang der Geschichte erkennen, dass Hacks auch nach 1989 durchaus an eine Renaissance des Sozialismus glaubte.44 Entsprechend heißt es in einem der „Jetztzeit“-Couplets unter der Überschrift „Abschied vom zweiten Jahrtausend“: „Gut, das Jahrtausend war nichts. Sprechen wir / Von Nummer drei, Genossen, oder vier.“45 Vom nunmehr deutsch-deutschen Literaturbetrieb setzte Hacks sich damit deutlich ab. Und das nicht nur, weil er nicht davon abließ, auf den Sozialismus zu rekurrieren, sondern weil er als einziger der vor 1990 im Westen berühmten AutorInnen offensiv die DDR verteidigte und ihre Gegner schmähte. Die Polemik gegen die Bürgerrechtsbewegung der späten DDR ist in dem oben zitierten Gedicht mit der Nennung Leipzigs und dem ‚Glauben an einen Dirigenten‘ sowie den in den Parlamenten sprechenden Pfarrern bereits angeklungen.46 In anderen Gedichten griff Hacks die DDR-Opposition offen an und überantwortete sie, unter dem Beifall junger Pioniere, der Guillotine („Appell“), beschrieb die Wiedervereinigung als Besatzung („Tamerlan in Berlin“), die Mauer als „[d]er Erdenwunder schönstes“ („Das Vaterland“)47 und lobte Stalin als absolutistischen und klugen Herrscher („Denkmal für ein Denkmal [1]“ und „Venus und Stalin“). Das wurde seinerzeit vielfach als Provokation wahrgenommen, war vor dem Hintergrund von Hacksʼ Absolutismusbild aber durchaus ernst gemeint.48 In der literarischen Öffentlichkeit der neuen Bundesrepublik spielte

|| 43 Ute Baum: Über Peter Hacksʼ „russische“ Stücke. In: ARGOS (2008), H. 2, S. 79f. Siehe hierzu auch: Frank Göbler: Russische Wendezeiten, zweifach gespiegelt. Peter Hacksʼ Dramentrilogie. In: ARGOS (2011), H. 8, S. 39–54 u. Erhard Hexelschneider: Die russische Trilogie von Peter Hacks und ihre Quellen. In: Kultursoziologie 20 (2011), H. 2, S. 197–214. 44 Gunther Nickels Urteil, Hacks habe sich analog zu seiner eigenen Aussage über Voltaire (vgl. HW 14, 492) „mit Ausweichtätigkeiten“ beschäftigt und in einen „Kampf gegen den Kapitalismus“ verrannt, „den er in seiner besten Zeit mit Scherzen abgefertigt hatte und den er nun zum Hauptziel der Wut seiner Vernunft machte“ (Nickel: Peter Hacksʼ Parabolien, S. 234), trifft daher nur auf die unmittelbar nach der Wende geschriebenen Stücke Fafner, die Bisam-Maus und Der Geldgott zu. 45 HW 1, 327. 46 Der ‚Dirigent‘ ist Kurt Masur, Initiator des Leipziger Aufrufs „Keine Gewalt!“. Mit den ‚Pfarrern‘ sind Rainer Eppelmann und Joachim Gauck gemeint. 47 HW 1, 335. Siehe zu diesem Gedicht: Jens Mehrle: „Man weint um Hellas“. Poesie und Klassenkampf in Peter Hacksʼ Gedicht „Das Vaterland“. In: Köhler (Hg.): „… und nehmt das Gegenteil“, S. 113–128. 48 Diese „Provokationsästhetik“ (Peter O. Chotjewitz: Reimpatrouille. In: konkret [2000], H. 1, S. 54) sorgte bei den LeserInnen von konkret für wütende Leserbriefe. Siehe zur Diskussion in konkret die Hefte ab Heft 8/1998 sowie Rayk Wieland: Unbeängstigt. Anmerkungen zu den Gedichten von Peter Hacks. In: konkret (1999), Beilage Literatur, S. 31 und die verschiedenen Beiträge in Heft 1/2000.

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Hacksʼ „linksaristokratischer Fundamentalismus“49 gleichwohl keine Rolle. Sein Wirkungsfeld nach 1990 beschränkte sich auf linke Teilöffentlichkeiten; nicht einmal im Rahmen des sogenannten deutsch-deutschen Literaturstreits, der harsch mit der Literatur der DDR ins Gericht ging, kam der Name Hacks vor.50

6.2

Heiner Müllers Mantel

Neben seiner Tätigkeit im Rahmen der Akademie der Künste, seinen Arbeiten als Regisseur sowie der Lyrik wurde Müllers eigentliches kulturelles Betätigungsfeld nach 1989 die Performance, verstanden als Inszenierung der eigenen Person im medialen Raum (Interviews, Lesungen, Talkshows) und mit den Müller-typischen Requisiten Whisky, Zigarre und schwarzes Oberteil.51 Müller selbst sprach bereits 1984 angesichts der steigenden Zahl von Interviews von „Performances“: „Man produziert sich in dem Sinne, wie sich Leute auf der Bühne produzieren.“52 Müllers Gespräche und Interviews können angesichts des Umstands, dass sie „in ihrer Eigensinnigkeit in die Dichtung […] treiben“, einer eigenen Gattung zugerechnet werden, einer Form des „Autoreninterview[s] als Kunstform“,53 d.h. eine zwischen Literarizität und Theatralität angesiedelte Art des Gesprächs, bei dem Müller als Autor agiert und sich selbst als Kunstereignis inszeniert – und in dem er, wie Torsten Hoffmann zu Recht feststellt, einen eigenen „Personalstil“ entwickelte.54 Friedrich Dieckmann hat das bereits Ende der 1980er Jahre auf den Punkt gebracht:

|| 49 Michael Braun: Ich bin die große Lüge des Landes. Melancholie statt Utopie: Die „Wendezeit“ in Gedichten. In: Hiltraud Casper-Hehne u. Irmy Schweiger (Hg.): Deutschland und die „Wende“ in Literatur, Sprache und Medien. Interkulturelle und kulturkontrastive Perspektiven. Göttingen 2008, S. 85. 50 Siehe hierzu: Karl Deiritz (Hg.): Der deutsch-deutsche Literaturstreit oder „Freunde, es spricht sich schlecht mit gebundener Zunge“. Analysen und Materialien. Hamburg 1991 u. Bernd Wittek: Der Literaturstreit im sich vereinigenden Deutschland. Eine Analyse des Streits um Christa Wolf und die deutsch-deutsche Gegenwartsliteratur in Zeitungen und Zeitschriften. Marburg 1997. 51 Vgl. Meyer-Gosau, S. 8. Siehe zu Performance/Performanz die Sammelbände: Uwe Wirth (Hg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt/M. 2002 u. Lutz Musner (Hg.): Wie wir uns aufführen. Performanz als Thema der Kulturwissenschaften. Wien 2006. 52 MW 10, 319. 53 MW 10, 814 u. Holger Heubner: Das Eckermann-Syndrom. Zur Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte des Autoreninterviews. Berlin 2002, S. 175. „Kunst ist nichts anderes als mit sich selbst reden“, äußerte Müller in einem Gespräch (MW 11, 825); man könnte ergänzen: mit sich selbst vor Publikum. 54 Hoffmann: Das Interview als Kunstform, S. 278. Vgl. Löschner, S. 55 u. 59. Siehe auch: Heubner, S. 177ff. u. Gaetano Biccari: Heiner Müllers Fernsehinterviews. Performance – Oralität – Autobiographie. In: Heeg u. Girshausen (Hg.): Theatrographie, S. 215–226.

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Es ist merkwürdig und bezeichnend: in dem Maße, da seine Theatertexte […] ins Lyrisch-Monologische […] entrückten, pointierte Müller das dialogische Moment auf einer improvisatorischen und publizistischen Ebene: der hermetische Dramatiker zeigte sich einem verblüfften Publikum als Deutsch-Deutschlands Interview-Künstler. Der das Unsägliche der Wirklichkeit auf dem Theater in stumm-beredten Bildern vor die Leute brachte, wurde als Antwortgeber von unerschütterlicher Prägnanz zum Praeceptor Germaniae, der noch den unzuständigsten Inquaerenten zu seinem Eckermann umfunktionierte. […] Wenn das Theater in Bildern verstummt, wird die Zeitung, die Zeitschrift zum theatralischen Ort [...].55

Ob Müller mit seinen Performances nach 1989 tatsächlich Inhalte transportieren konnte oder ob diese von der Medienöffentlichkeit nicht vielmehr ausschließlich als „kulturelles event“ konsumiert wurden, wie Frauke Meyer-Gosau meint, sei dahingestellt; es ist in jedem Fall jene Müller’sche „Projektions-, Plauder- und Räsoniermaschine“,56 auf die Hacks indirekt im November 1989 mit seinem Essay „Unter den Medien schweigen die Musen“ (eine Abwandlung des römischen Sprichworts „Unter den Waffen schweigen die Musen“) anspielt. Hacks, der selbst viel von Performance im Sinne literarischer Inszenierung verstand, als selbsternannter „Stalinist der Schaubühne“ aber die bürgerlichen Medien scheute,57 untersucht hierin die Perspektiven der Kunst in der Mediengesellschaft und konstatiert eine allgemeine „Exterminierung der Wirklichkeit der Welt und ihre Ersetzung durch eine Medienwelt“.58 Deren soziologisches Produkt ist der „Medienmensch“, dessen spezifisch künstlerische Ausprägung Hacks als „Medienkünstler“, als „Homo Mediarum, kurz […] H. M.“, bestimmt:59 ein Künstler ohne Werk, dessen symbolisches Kapital im Wesentlichen durch die Aufmerksamkeitsökonomie der Medien generiert wird. Zwar handelt der zweite Teil seines Essays über „de[n] geborene[n] H. M.“ Gottlieb Hiller, einen sächsischen Naturdichter des späten achtzehnten Jahrhunderts, die Beschreibung des H. M., die Hacks gibt, legt aber nahe, dass damit en passant auch Heiner Müller gemeint ist, in Übereinstimmung mit dessen Initialen Hacks den Homo Mediarum bildet und über den es 1992 in einem Brief an André Müller sen. heißt, er habe „außerhalb der Medien überhaupt kein Vorhandensein mehr“.60 So schreibt Hacks, dem

|| 55 Friedrich Dieckmann: Zeit-Wege. In: Storch (Hg.): Explosion of a Memory, S. 13. 56 Meyer-Gosau, S. 19 u. 8. 57 NBK 84. Eine genauere Untersuchung von Hacksʼ Medienstrategie nach 1989 muss hier Desiderat bleiben. 58 HW 13, 435. Hacks beschreibt die „Generalnachricht der Medien“ als „die Große Lüge“, die besage, „daß es mit dem Zustand der Gesellschaft seine Unabänderlichkeit und seine Richtigkeit habe“. Das Verfahren, diese Lüge zu verbreiten, sei der Meinungspluralismus, die „Ausgewogenheit“, die darauf abziele, die Logik durch die Ethik zu ersetzen: Es gilt ja als unhöflich, irgendwas genau wissen zu wollen.“ HW 13, 435f. 59 HW 13, 435, 442 u. 434. 60 HW 13, 460 u. Peter Hacks an André Müller sen., 22. Oktober 1992, DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit André Müller sen. Siehe zu Hiller: Neue Deutsche Biographie / Alte Deutsche Biographie: Lemma:

600 | Ausblick

H. M. eigne ein unverkennbares Markenzeichen, ein „optischer Puschel“, der „sich dem Gedächtnis einprägt“, und nennt als Beispiel den „Beuyshut“, die „Warholperücke“ und Richard Wagners Barett.61 Dass sich hierzu auch Müllers Zigarre denken lässt, ist offensichtlich. Und auch die „Gemeinplätze des H. M.“ erinnern an MüllerInterviews: „Der Mensch ist schlecht. Die Welt ist blutig. Das Meiste ist zweifelhaft.“62 Als Bestandteil des nunmehr gesamtdeutschen Kulturbetriebs griff Hacks Müller schließlich in dem „Jetztzeit“-Gedicht „Fin de Millenaire“ an und stellte ihn an die Seite des Aktionskünstlers Christo, der zusammen mit seiner Frau Jean-Claude im Sommer 1995 den Berliner Reichstag verhüllte. Auch hier zeigt sich im zweiten Quartett des Sonetts wieder die stoische Haltung der Ruhe, diesmal als sich bescheidende Resignation, die der Gewaltwunsch am Ende als erzwungene ausweist: Wer nie vom Schönen je vernahm, vermißt nichts. / Ein Bürokrat sucht Intendanten aus. / Müller kann nichts, weiß nichts, ist nichts. / Ein Irrer wickelt Lappen um ein Haus. // Ich gähne nur in jedem solchen Falle. / Gegen den Niedergang kommt keiner an. / Ich laß sie machen, weil ich sie nicht alle / In einem Dahmesee ersäufen kann.63

Die negative Einschätzung korrespondiert mit einer Notiz Müllers aus dem Nachlass. Verortet Hacks Müller im Kreis der modernen KünstlerInnen, die sich wie Christo medial inszenieren, erkennt Müller in Hacks umgekehrt einen „‚Nurphilosoph[en]‘“, der für „das sozialistische Experiment […] sein Leben + sein Denken reduziert“ habe; so sei Hacks zum „Erfinder des klassizistischen Kabaretts“ geworden, dies sei sein „fester Platz in der Literaturgeschichte“.64 Im Februar 1993 verlieh die kurz vor ihrer Vereinigung mit der Westakademie stehende Ostberliner Akademie der Künste Peter Hacks den Alex-Wedding-Preis für sein jugendliterarisches Werk. Als Präsident der Akademie oblag es Heiner Müller, Hacks dies mitzuteilen. Dem offiziellen Brief fügte Müller ein handschriftliches Postskriptum an, das als Versuch der Versöhnung verstanden werden kann. Müller hatte 1990 in einem Interview mit konkret bekannt, dass er und Hacks einander „[m]it großen Respekt“ verabscheuen würden.65 Nunmehr stattete Müller Hacks seinen späten Respekt für dessen Unterstützung im Rahmen der Umsiedlerin-Affäre von 1961 ab:

|| Hiller, Gottlieb, online unter: http://www.deutsche-biographie.de/sfz32359.html (zuletzt eingesehen am 9. April 2014). 61 HW 13, 444. 62 HW 13, 446. Siehe auch das fiktive Interview Hillers, das stark an Äußerungen Müllers erinnert: HW 13, 460f. 63 HW 1, 288. 64 HMA, Nr. 4598. 65 MW 11, 749.

Heiner Müllers Mantel | 601

Lieber Peter, ich weiß, ich sollte diesen Brief mit „Schuwalkin“ unterschreiben. Ich weiß auch, seit 1961, was ich Dir schulde, herzlichst Heiner.66

Bei Schuwalkin handelt es sich um einen russischen Kanzlisten, der sich traut, den mit Depressionen niederliegenden Potemkin aufzusuchen, um diesen um dringend benötigte Unterschriften zu bitten. Walter Benjamin erzählt die Geschichte in einem Essay über Kafka als Sinnbild für dessen Literatur. Schuwalkin dringt zwar zu Potemkin vor und erhält von diesem auch tatsächlich die erbetenen Unterschriften, als er aber aus dessen Gemächern zurückkehrt, wo die Staatsräte ungeduldig auf die unterzeichneten Akten warten, stellt sich heraus, dass Potemkin alle Akten mit ,Schuwalkin‘ unterzeichnet hat.67 Der Verweis auf Schuwalkin ließe sich also so deuten: Indem Müller bemerkt, er sollte eigentlich mit dem Namen des Kanzlisten unterzeichnen, gibt er zu verstehen, dass er Hacksʼ Rang anerkennt. Aber die Metapher Schuwalkin bleibt, wie so oft bei Müller, doppeldeutig. Ist Müller Schuwalkin, der Kanzlist, oder Potemkin, der mächtige Fürst? Immerhin ist Müller 1993, über vierzig Jahre nach dem Skandal um Die Umsiedlerin, nicht mehr der machtlose Dramatiker, sondern der Präsident der Akademie der Künste, ebenjener Akademie, aus der Hacks am 11. Oktober 1991 aus Protest über den Versuch, gewählte Mitglieder auszuschließen, ausgetreten war.68 Eine persönliche Antwort auf Müllers Postskriptum ist nicht überliefert. Hacksʼ Antwortbrief an die Akademie ist formell und enthält die Bedingungen, die Hacks sich bereits 1981 für die Annahme des Heinrich-Mann-Preises ausbedungen hatte: Ich setze natürlich voraus, dass die Vergabe dieses Preises an keine Bedingung geknüpft ist. Will sagen, dass ich mich mit seiner Annahme zu keiner Handlung verpflichte und zu keiner Unterlassung verbinde. Dies vorausgesetzt, hat der Einfall meine herzliche Billigung.69

|| 66 Heiner Müller an Peter Hacks, 2. Februar 1993, DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit der AdK. Glaubt man dem Schauspieler Eberhard Esche, einem engen Freund Hacksʼ, so ließ Müller zu Beginn der 1990er Jahre auch Grüße an Hacks ausrichten: „Grüß den Hacks von mir, ich weiß, er hält mich für ein Schwein.“ Eberhard Esche: Wer sich grün macht, den fressen die Ziegen. Berlin 2005, S. 325. 67 Vgl. BGS 2, 409f. 68 Vgl. AEV 30. Siehe zu Hacksʼ Ablehnung der Vereinigung mit der Akademie der Künste Westberlins: Peter Hacks an das Präsidium der Akademie der Künste, 12. März 1990, DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit der AdK. Siehe zu Hacksʼ Agieren in der Akademie 1990/91 auch: Berger: Fünf „meiner Götter“ bei der Arbeit, S. 330–333. Siehe zur Geschichte der Akademie nach 1990: Hans Gerhard Hannesen: Die Akademie der Künste in Berlin – Facetten einer 300jährigen Geschichte. Berlin 2005, S. 149ff. u. Stiftung Archiv der Akademie der Künste (Hg.): Zwischen Diskussion und Disziplin. Dokumente zur Geschichte der Akademie der Künste (Ost) 1945/1950–1993. Mit einem Vorwort von Inge Jens. Berlin 1997, S. 546ff.; hier S. 609 auch die Namen der anderen Mitglieder, die austraten. 69 Peter Hacks an Akademie der Künste, 1. März 1993, DLA, A: Hacks, Schriftwechsel mit der AdK.

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Wenige Monate nach der Verleihung des Alex-Wedding-Preises befragte die Zeitung Die Woche Hacks nach seiner Meinung zu Müller. Die Antwort ist denkbar knapp: „Fand Müller früher ‚nicht schädlich‘, hält ihn inzwischen für ‚übergeschnappt‘“.70 Dass Müller, dessen Zusammenarbeit mit dem MfS 1993 publik wurde (wenn auch nicht als IM, wie die Medien vorschnell behaupteten),71 das Ende der DDR ebenso wie Hacks als Verlust und die Wiedervereinigung von Beginn an als „Eroberung“ und „Unterwerfung“, ja als „Krieg gegen die DDR“ wahrnahm, dass er noch 1994 daran festhielt, dass „die eigentliche Tragödie des Jahrhunderts […] das Scheitern des sozialistischen Experiments“ und die „eigentliche Katastrophe […] der Wegfall der OstWest-Konfrontation“ sei,72 klammerte Hacks aus. Müller galt ihm als Vertreter jener, die vor 1989 gegen die DDR gearbeitet hätten und sich nun nach deren Ende zu ihr zurücksehnten; Müller sei, äußerte er 2003 kurz vor seinem Tod, „mit einem Bruch abgegangen. Er wollte nicht von Kommunisten ernstgenommen werden. Er wollte vom Broadway ernstgenommen werden.“73 In Hacksʼ Augen war Müller eines der führenden Mitglieder der romantischen Bewegung in der DDR gewesen. Als solches taucht er in allegorischer Verkleidung auch in Hacksʼ autobiographischem Märchen „Die Gräfin Pappel“ [1992] auf. Philibert, i.e. Peter Hacks, wird in diesem von der Gräfin Pappel, die für den Imperialismus steht, über den Erdball verfolgt, da diese ihn heiraten will. Die Fluchtstationen markieren verschiedene Felder des Sozialismus (Politik, Kunst und Wissenschaft), die durch das Auftreten der Gräfin Pappel nach und nach zerstört werden – mit Unterstützung durch Eostro, den Sturmkönig, wie sich am Ende herausstellt. Eostro steht für die Sowjetunion.74 Das Märchen weist damit eben jene Struktur auf, die Hacks nach 1989 als Erklärung für den Untergang des Sozialismus heranzog: Die Sowjetunion habe die DDR an den Westen verkauft und sich schließlich unter Gorbatschow selbst abgeschafft.75

|| 70 Reinhard Hesse: Alles Müller – aber wie! Diese Woche eröffnet Heiner Müller mit „Tristan und Isolde“ die Bayreuther Festspiele. Reinhard Hesse über den Dramatiker, ohne den Theater heute in Deutschland nicht wäre, was es ist. In: Die Woche, 22. Juli 1993. 71 Siehe hierzu: KoS 345–407, insb. S. 384–389. Siehe überblicksweise zu den Feuilletondebatten um Müller nach 1990: Karl-Heinz Schmidt: Literaturdebatten des westlichen Feuilletons um Heiner Müller. Vom ‚IM‘ zum ‚Neuen Rechten‘. In: Peter Monteath u. Reinhard Alter (Hg.): Kulturstreit – Streitkultur. German literature since the wall. Amsterdam/Atlanta 1996, S. 51–73. 72 Zit. n.: Stiftung Archiv der Akademie der Künste (Hg.): Zwischen Diskussion und Disziplin, S. 557; MW 11, 760 u. Über die Aktualität der Vergangenheit. Ein Interview mit Heiner Müller. In: Neue Zürcher Zeitung, 16. Dezember 1994. 73 AEV 104. 74 Siehe zur Interpretation des Märchens: Dieckmann: Die Verteidigung der Insel, S. 412–415 u. Felix Bartels: Der ennuyierte Odysseus. Zur Deutung der Gräfin Pappel. In: ARGOS (2008), H. 3, S. 39–117. 75 „Der Staat ist nicht gescheitert. Durch eine Übereinkunft zwischen Moskau und Washington ist dieser Staat abgeschafft worden.“ AEV 35. Siehe auch: AEV, S. 102ff.

Heiner Müllers Mantel | 603

Auf seiner Flucht durchquert Philibert die Wüste Mondo und gelangt in die Oase Schönschein. Dieses von dem Piraten und „Weltverbesserer“ Jogoff, i.e. Brecht, gegründete Reich der Kunst wird vom Geschlecht der Äfferlinge bewohnt, Nachfahren Jogoffs, der sich hier einst mit den ansässigen Affenweibchen vereinte.76 Philibert fühlt sich in Schönschein zunächst wohl, auch wenn aus der Erzählung recht klar hervorgeht, dass es sich insgesamt um einen „Ort der Romantiker“77 handelt, was bereits bei Philiberts Ankunft durch einen Komponisten veranschaulicht wird, der sich selbst die Trommelfelle durchstochen hat. „Als er erkannte, daß er außerstande sein würde, Töne von solcher Neuartigkeit und Kühnheit zu erfinden, wenn er selbst sie würde anhören müssen, ist er lieber freiwillig ertaubt, als daß er abgelassen hätte, die Töne hervorzubringen“ (160f.), berichtet einer der Äfferlinge dem erstaunten Philibert. Gleichwohl drückt sich hierin eine milde Variante der Romantik aus: Die Äfferlinge seien zwar „dreist und aufgeregt, aber alles in allem harmlos“. (165) Philibert, dem „das Äffische abging“ (163), erscheint die Oase Schönschein als Fluchtort daher zunächst lebenswert. Das ändert sich mit dem Auftritt der „Ewigen Drei“. (165) Diese drei Äfferlinge, die von den anderen aufgrund einer ansteckenden Krankheit gemieden werden und zurückgezogen leben, treten eines Tages gemeinsam mit der Gräfin Pappel auf. Nun muss Philibert erneut fliehen, denn infolge der Präsenz der Ewigen Drei breitet sich eine Krankheit aus, die die anderen Äfferlinge zunächst träge, dann schwermütig und schließlich aggressiv macht, bis sie sich gegenseitig durch Bisse zu töten drohen (vgl. 168). Diese Krankheit ist, man hat das Goethe zugeschriebene Wort im Ohr, die Romantik. Am Ende des Märchens stellt sich heraus, dass sie auf einen „in Ur hergestellten Erreger“ (177) zurückgeht, also aus dem Westen kommt, mit dessen allegorischer Verkörperung (der Gräfin Pappel) sie ja auch auftritt. Die Namen der Ewigen Drei lauten: „Der Dichter-der-in-seiner-Jugend-was-geschrieben-habensollte“, „Die Tränenfeuchte“ und „Die Wiedergeburt“. (165f.) Die ersten beiden Namen zu entschlüsseln, fällt vor dem Hintergrund der Hacks’schen Romantik-Auseinandersetzung leicht: Es handelt sich um Stephan Hermlin, den „Nährvater der gesamten Romantik“,78 und Christa Wolf. Die Person, die hinter dem dritten Namen steht, ergibt sich erst aus der Erläuterung, die Hacks gibt: „Die Wiedergeburt hatte ihren Namen daher, daß sie in ihrem früheren Leben Richard Wagner gewesen war. Sie glich diesem Ausnahmemenschen vollkommen: in der Art zu denken, in der Art Schulden zu begleichen, und natürlich in der Statur.“ (166) Die dritte Person ist

|| 76 HW 9, 162. Zitate werden im Folgenden nach dieser Ausgabe direkt im Text belegt. 77 Bartels: Der ennuyierte Odysseus, S. 85. 78 Bartels (Hg.): Der Briefwechsel zwischen Peter Hacks und André Thiele, S. 39 (Peter Hacks an André Thiele, 14. April 1998).

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Heiner Müller, nach Hacksʼ Auffassung aufgrund der Auflösung des klassischen Dramas ein Nachfolger Wagners, in dem Hacks wiederum neben Nietzsche eine Fortsetzung Friedrich Schlegels erkannte.79 Als führenden Vertreter der romantischen Fronde macht Hacks Müller für den Untergang der DDR mitverantwortlich. Entsprechend liest sich denn auch Hacksʼ Nekrolog auf den 1995 Verstorbenen. In Zur Romantik heißt es: Das erste Auftauchen der Romantik in einem Land ist wie Salpeter in einem Haus, Läuse auf einem Kind oder der Mantel von Heiner Müller am Garderobenhaken eines Vorzimmers. Ein von der Romantik befallenes Land sollte die Möglichkeit seines Untergangs in Betracht ziehen.80

|| 79 Vgl. HW 14, 86ff. u. HW 13, 267. 80 HW 15, 95f.

7

Fazit

die einzig sinnvolle einteilung, die allerdings auch gleich die gesamte ddrliteratur erfaßt, ist die in die einerseits hacksmorgner und andererseits die müllerwolffraktion, also die in klassik und romantik. alle beteiligten haben sie reflektiert; sie ist allseits unbemerkt geblieben. abgesehen von ihr also kann die ddrliteratur nicht geteilt werden. Die ddr eint sie. (Ronald M. Schernikau)1

Peter Hacks und Heiner Müller stehen für zwei mögliche Ausprägungen eines sich als sozialistisch verstehenden Theaters. In die späte DDR-Literaturgeschichte sind sie als feindliche Brüder eingegangen, die der Kunst des jeweils anderen den Realismus absprachen und sich gegenseitig mit Invektiven verfolgten. In den 1950er Jahren aber gehörten sie gemeinsam zu einer Gruppe von AutorInnen, die sich einem revolutionären, epischen Theater (Didaktisches Theater) verschrieben, das den Aufbau des Sozialismus aktiv unterstützen sollte. Ihr ästhetischer Leitstern hieß Brecht. Durch dessen unbedingtes Bekenntnis zum Aufbau des Sozialismus und die Theorie eines dialektischen Theaters, das eine ästhetische Umsetzung des Marxismus für sich beanspruchte, rückte dieser quasi automatisch in die Rolle einer Vorbildfigur für große Teile der jungen AutorInnen. So bildete sich bald eine Brecht-Schule heraus, zu deren bekanntesten Protagonisten Hacks und Müller gehören. Wie unterschiedlich die beiden Dramatiker Brecht auslegten, zeigen aber nicht nur die frühen Stücke, die am Anspruch eines operativen Theaters ausgerichtet sind. Auch die Fortschreibung des Glücksgotts verdeutlicht, dass Hacks und Müller zwei verschiedenen Rezeptionslinien folgten, die als solche im Werk Brechts angelegt sind: Müller orientierte sich an den Lehrstücken und deren programmatischer Offenheit hinsichtlich des Rezeptionsprozesses, Hacks rezipierte die Brecht’schen Parabeln. Damit sind ferner verschiedene Gattungspräferenzen verbunden: Steht Hacksʼ Theater von Beginn an im Zeichen der Komödie, so sind Müllers Produktionsstücke gegenüber tragischen Erfahrungen offen. Die ästhetische Differenz erscheint zu Beginn der 1960er Jahre zunächst unerheblich. Sie hatte keine Auswirkungen auf das

|| 1 Ronald M. Schernikau: Die Tage in L. Darüber, daß die DDR und die BRD sich niemals verständigen können, geschweige mittels ihrer Literatur. Hamburg 1989, S. 186.

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gegenseitige Verhältnis der beiden Autoren, die sich bei der Umsetzung eines Brecht gemäßen – und das bedeutet fünf Jahre nach dessen Tod: eines post-Brecht’schen – Theaters gegenseitig unterstützten und zudem mit der Rezeption Shakespeares eine ähnliche ästhetische Entwicklung vollzogen. Die Auseinandersetzung um Die Umsiedlerin erscheint als Nagelprobe für ein solidarisches Verhalten angesichts einer repressiven Kulturpolitik, die in Müllers Komödie die Sichtbarmachung des von ihr selbst sorgfältig Ausgeklammerten angriff und krampfhaft versuchte, an einem störungsfreien Image des sozialistischen Aufbaus festzuhalten. Der Streit um Die Umsiedlerin hatte aber für Hacks zugleich bereits die Punkte zum Gegenstand, die für die sich in den 1960er Jahren ankündigende Kontroverse von zentraler Bedeutung waren: Geschlossenheit der Form, Integration des Tragischen und Transgressiven in einen positiven Rahmen sowie Bestimmung der neuen, sozialistischen Freiheit des Subjekts. Wie unterschiedlich sich der Rückgriff auf Shakespeare bei Hacks und Müller gestaltet, zeigt der Vergleich der beiden Agrarkomödien Die Umsiedlerin und Moritz Tassow. Hacks wie Müller diente Shakespeare als Antidot zu Brecht. Während aber Müller mit Shakespeare gegen die Brecht’sche Intoxikation der geschichtsphilosophisch motivierten Vereinfachung und Simplifizierung kämpfte und Shakespeare als einen historisch weniger verzerrten, feineren Spiegel als den Brecht’schen auffasste, erkannte Hacks in Shakespeare vor allem den Klassiker, der jenseits der Brecht’schen Aufklärung operierte und dessen ästhetische Meisterschaft hinsichtlich der Plot-Konstruktion und des Poetischen er für unerreicht hielt. Mithin überwanden Hacks und Müller den von ihnen unterschiedlich aufgefassten Brecht mit einem jeweils unterschiedlich aufgefassten Shakespeare: Müller las ihn als Dichter von Krieg und Revolution, als produktiven Störfaktor gesellschaftlicher Ordnung, Hacks als Meister der dramatischen Objektivität und affirmativen Dichter des englischen Absolutismus. Dass dennoch beide Shakespeare als Realisten auffassten, offenbart deren unterschiedliches Realismusverständnis. Das zeigt sich anhand der Übersetzung Shakespeares ins Gegenwartsdrama. Hacksʼ Narr Moritz Tassow hat mit Müllers Fondrak wenig gemein. Fondrak rührt an die ‚dunklen‘, vom offiziellen Narrativ des sozialistischen Aufbaus ausgeblendeten Zonen, das nicht kanalisierbare, asoziale Begehren des Subjekts, das sich keiner Ordnungsvorstellung verpflichtet weiß; Moritz Tassow steht als Verkörperung einer sinnenfrohen Vernunft für eine Überholung der Gegenwart, der er den Spiegel vorhält, deren Kritik durch die Abwertung der Figur im Rahmen der dialektischen Fabel aber zugleich relativiert wird. Unabhängig vom unterschiedlichen Transgressionsgehalt der beiden Gegenwartsdramen Moritz Tassow und Die Umsiedlerin und dem sich in ihnen reflektierenden Blick auf die Gegenwart der DDR zu Beginn der 1960er Jahre stießen beide Texte an die kulturpolitische Grenze, die bereits in den Jahren zuvor in zahlreichen Auseinandersetzungen markiert worden war: DDR-Realität sollte auf den Bühnen der DDR

Fazit | 607

nur als ‚schöne‘ Realität verhandelt werden, was als Conditio sine qua non die Darstellung der SED als Löserin aller Konflikte voraussetzte. Dementsprechend wurden beide Komödien wie bereits vorher Hacksʼ Die Sorgen und die Macht verboten und fehlte Müllers Der Bau von Beginn an die Chance auf eine Bühnenrealisierung. Angesichts der verschärften Zensur verabschiedeten sich beide Dramatiker Mitte der 1960er Jahre von zeitaktuellen Stoffen, wobei sich die von der Forschung und Theaterkritik attestierte Flucht in Mythos und Geschichte als ästhetische Befreiung erwies. Hacks wie Müller bescheinigten der Zensur daher eine durchaus katalytische Funktion. Mit den tradierten antiken und historischen Stoffen, auf die sie fortan zugriffen, ließ sich ein polyvalenter Beziehungsreichtum herstellen, der dem Gegenwartsdrama fehlte. Vor dem Hintergrund von Mythologie und Geschichte konnten Hacks und Müller die dramatische Reflexion des sozialistischen Status quo weitertreiben und ihre Texte für unterschiedliche Lesarten offenhalten, auch wenn diese weiterhin nicht nur von der DDR-Kulturpolitik als eindimensionale Parabeln verstanden wurden. Wie bei der Rezeption Brechts und Shakespeares vollzogen Hacks und Müller mit der Abwendung vom Gegenwartsdrama und der Rezeption der Antike eine ähnliche ästhetische Bewegung, die gleichwohl grundverschieden ist, was sich nicht nur an der differenten Bestimmung und Funktionalisierung des Mythos als poetisches Reservoir der Utopie bei Hacks und diagnostisches Instrument und Spiegel der Gegenwart bei Müller, sondern ebenso anhand der gattungsspezifischen Rezeption zeigt: Hacks folgte der aristophanischen Komödie, Müller der antiken Tragödie. In der Auseinandersetzung mit dem Mythos entwickelten Hacks und Müller ihre jeweiligen ästhetischen Konzepte, die bereits Mitte der 1960er Jahre zwei divergierende Auffassungen von der Aufgabe des Theaters im Sozialismus erkennen lassen. Während Müllers ästhetische Selbstverständigung erst Mitte der 1970er Jahre im Medium des Gesprächs einsetzte, arbeitete Hacks seit Beginn der 1960er Jahre an der Verfertigung einer ästhetischen Theorie, die er als sozialismusadäquat betrachtete und dementsprechend mit dem Terminus sozialistische Klassik fixierte. Die in zahlreichen Essays dargelegte Poetologie, die sich als explizite Distanzierung von Brecht versteht, fundiert sich in der historischen Analogie von Absolutismus und Sozialismus, die Hacks in ästhetischer wie in politischer Hinsicht fruchtbar machte und die auf einer grundsätzlich optimistischen Einschätzung der historischen Entwicklung basiert. Die Verbindung von Shakespeare und Weimarer Klassik mit der Hegel’schen und Marx’schen Philosophie eröffnete einen ästhetischen Zugriff auf den Sozialismus, der sich in deutlicher Abgrenzung zu den Ansätzen der 1950er Jahre als ästhetisch autonom bestimmte und das Theater als poetischen Raum eines handlungsmächtigen Subjekts zurückgewinnen wollte. Hacksʼ ästhetischer Ansatz fand in der ersten Hälfte der 1960er Jahre zunächst Zuspruch und übte auch auf andere Autoren wie etwa Hartmut Lange Einfluss aus.

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Eine Hacks-‚Schule‘ kam aber nicht zustande, denn Lange teilte Hacksʼ politische Beurteilung der DDR letztlich ebenso wenig wie Heiner Müller. Das dramatische Triumvirat Hacks-Lange-Müller, das Hacks Mitte der 1960er Jahre anstrebte, erwies sich als Illusion. Die Unterschiede zwischen Hacks und Müller lassen sich am Beispiel von Margarete in Aix und Philoktet veranschaulichen. Wo Hacks eine funktionierende Dialektik des Fortschritts entwirft, die trotz aller Widersprüche durch die progressive Rolle des Staates, der als Garant der Kunst erscheint, abgesichert wird, etabliert Müller ein negatives Modell, das an Die Dialektik der Aufklärung erinnert und den tragischen Zusammenstoß zwischen Individuum und Gesellschaft in den Fokus rückt. Die Differenz geht auf die einander ausschließenden Geschichtsphilosophien Hacksʼ und Müllers zurück: ein von Hegel inspiriertes teleologisches Geschichtsbild der historischen Selbstrealisierung der Vernunft, das Marx und Engels in die Konzeption des Historischen Materialismus hineingearbeitet haben vs. eine von Walter Benjamin inspirierte Auffassung der Geschichte als kontinuierliche Katastrophe, welche durch die Revolution zum Halten gebracht werden soll. Dergestalt standen sich Hacks und Müller bereits in den späten 1960er Jahren als Vertreter zweier divergierender Konzeptionen des sozialistischen Dramas gegenüber. Das zeigt sich anhand der Königsund Lehrstücke. Plädiert Hacks für einen ruhigen Blick auf die DDR-Gesellschaft, deren widersprüchlichen, durch die Verhältnisse der Klassen und ihre Beziehung zum Herrscher bestimmten Fortschritt die Dramen Prexaspes und Numa hervorheben, so erfahren die Widersprüche in Müllers Lehrstücken Der Horatier und Mauser keine Aufhebung, sondern werden als offene Fragen im Sinne der Brecht’schen Koproduktion an das Publikum delegiert. Ende der 1960er Jahre wurde deutlich, dass die Differenz nicht nur inhaltlich, sondern auch formal bestimmt war. Der Verzicht auf eine klare Gliederung in dramatische Rollen und Dialogpartien und der Übergang zu einem lyrischen Monolog mit verteilten Rollen wie in Mauser kündigen Müllers Bruch mit dem ‚dramatischen‘ Drama an. Beide Autoren betrachteten sich bereits zu dieser Zeit mit zunehmender Skepsis. Zum Bruch aber kam es noch nicht. Die Erklärung hierfür liegt in der allgemeinen kulturpolitischen Situation. Die repressive Kulturpolitik der SED, deren Höhepunkt das Kahlschlag-Plenum Ende 1965 markiert, hatte den Effekt einer gegenseitigen Solidarisierung über die bestehenden Differenzen hinweg. So wurde das Zerwürfnis zwischen Hacks und Müller erst zu Beginn der 1970er Jahre vor dem Hintergrund der liberaleren Kulturpolitik Erich Honeckers sichtbar. Die durch Ironie gemilderte Kritik, die sich noch in Hacksʼ „Brief an einen Geschäftsfreund“ zeigt, wich anlässlich von Müllers Macbeth-Bearbeitung einer schroffen Ablehnung und offenen Distanzierung. In der Folge ging auch Müller auf Abstand zu Hacks. Beide unterstellten dem jeweils anderen eine verzerrte Wahrnehmung der DDR-Realität und den Anschluss an eine anti-realistische literarische Tradition.

Fazit | 609

Müller erkannte in Hacksʼ Texten eine Idealisierung der Verhältnisse auf der Grundlage der Weimarer Klassik, Hacks warf Müller den Anschluss an die Subjektzentrierung der Moderne und die Zerstörung des Dramas vor. Die Kluft vergrößerte sich im Laufe der 1970er Jahre, je mehr Müller sich von der Form des fabelzentrierten Dramas löste, den positiven Charakter von Fragmenten betonte und Autoren aus dem Umfeld des Surrealismus rezipierte. War die Gruppe Hacks/Müller schon in den 1960er Jahren lediglich eine Negativkoalition vor dem Hintergrund der spezifischen Verhältnisse im literarischen Feld gewesen, so ging sie mit ihrer schleichenden Auflösung Ende der 1960er Jahre in eine Konstellation der Feindschaft über, in einen Kampf um die Vorherrschaft im dramatischen Feld und die ‚richtige‘ Theorie des sozialistischen Dramas. Dabei war die Verschärfung der Auseinandersetzung wesentlich durch Hacks bestimmt, der seine Polemik gegen die literarische Moderne nun zunehmend gegen Müller richtete. Den Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker nahm Hacks im Gegensatz zur Mehrheit der DDR-KünstlerInnen als einen Rückschlag für den Sozialismus wahr. Unter Ulbricht hätte die DDR die Chance auf eine ruhige, wirtschaftlich prosperierende Entwicklung gehabt, in deren Verlauf auch den Künsten wieder mehr Freiräume zugestanden worden wären. In der neuen Führung aber erkannte Hacks eine gefährliche Einseitigkeit. Während Honecker zunächst die positiven Ergebnisse von Ulbrichts Politik zugutekamen, verfügte dieser selbst über keine eigenständige Konzeption. Neben einem verbalen Rückzug auf die Normen des Marxismus-Leninismus stand eine ‚Schönwetter-Politik‘, die auf die Anerkennung der SED innerhalb der Bevölkerung zielte, eine realistische ökonomische Perspektive aber vermissen ließ. In diesem Kontext betrachtete Hacks auch die liberalisierte Kulturpolitik, sosehr er sie auch begrüßte, mit Skepsis, denn sie eröffnete Räume für die Artikulation von Dissidenz, ohne dass die SED dem etwas entgegensetzte. Zudem erkannte Hacks, dass die ästhetischen Debatten der frühen 1970er Jahre ihren Fluchtpunkt in der Moderne hatten und sein ästhetischer Ansatz sukzessive zurückgedrängt wurde. Den sich in den 1970er Jahren vollziehenden Traditionswechsel im literarischen Feld, der mit einer Erosion des offiziellen, klassikzentrierten Kanons einherging, interpretierte Hacks als das Aufkommen einer neuen Romantik, die er im Zeichen einer historischen Analogie zwischen der ‚postrevolutionären‘ Situation Ende des achtzehnten Jahrhunderts und den 1970er Jahren verstand. Romantik erschien Hacks dabei nicht als literarhistorische Strömung, sondern als allgemeines literarisches und politisches Phänomen, als eine anti-realistische und subjektivistische Reaktion der Enttäuschung auf die stagnierende historische Entwicklung seitens der sozialistischen Intellektuellen. Dementsprechend erblickte er in der in den 1970er Jahren einsetzenden Rezeption der Romantik und der ästhetischen Moderne durch AutorInnen wie Christa Wolf, Franz Fühmann und Heiner Müller nicht allein eine seiner eigenen ästhetischen Richtung entgegenlaufende Entwicklung, sondern eine Gefahr für die

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Stabilität des Sozialismus. Hacks befürchtete, dass Teile des autonomen Pols des literarischen Feldes, weil sie sich einer an Freiheitsrechten orientierten staatskritischen Position und einem allgemeinen Demokratie- und Menschenrechtsdiskurs näherten, mit den Interessen westlicher Staaten bündnisfähig würden, also wie die historische Romantik eine Fronde bildeten. Müllers dramatische Entwicklung interpretierte Hacks im Kontext des RomantikSchemas, d.h. er sah Müller als den führenden Vertreter der Romantik in der DDR an, der die herkömmliche Form des Dramas zerstöre und sich an Autoren wie Beckett orientiere. Vor allem Müllers Bearbeitung von Macbeth erregte Hacksʼ Argwohn, betrachtete er diese doch als eine Destruktion bzw. Fehlinterpretation der klassischen Shakespeare’schen Vorlage und damit als Ausdruck romantischen Geistes. Müller habe sich der westlichen Mode der Aktualisierung angeschlossen, die auf den ursprünglichen Gehalt eines Textes keine Rücksicht mehr nehme und diesen lediglich als Gerüst für eigene Anschauungen benutze, lautete Hacksʼ Vorwurf. Darüber hinaus verurteilte er vor allem die inhaltliche Aussage der Bearbeitung. Müller habe Shakespeares differenzierte Analyse absolutistischer Machtproblematik in ein plumpes Oben-unten-Drama verwandelt, das den historischen Fortschritt verleugne und alle Vorgeschichte als grausam zeige. Die Schärfe der Polemik, die derjenigen Wolfgang Harichs in nichts nachstand, erklärt sich damit, dass Hacks in Müllers Bearbeitung eine Negation seiner eigenen Bemühungen erkannte, einen Verrat an seiner Position, die er zu Beginn der 1960er Jahre noch für eine gemeinsame gehalten hatte. Hacksʼ Polemik gegen Macbeth ist bereits ein Präludium des Kampfes gegen die Romantik, den Hacks in Stellvertretung der Kulturpolitik und in Verteidigung seines eigenen ästhetischen Ansatzes führte. Mitte der 1970er Jahre weitete Hacks diesen Kampf auf verschiedene Gebiete aus. So argumentierte er nicht nur für ein regelhaftes klassisches Drama, sondern griff auch die Entwicklung hin zum Regietheater und die das Regietheater unterstützende Theaterkritik an. Zudem trat er mit der AkademieRede über Friedrich Schlegel offen gegen die Romantik auf und polemisierte gegen deren Unterstützer in der DDR, namentlich Franz Fühmann. Wie sehr der Kampf gegen die Romantik Hacksʼ Denken in den 1970er Jahren bestimmte, zeigt die Entwicklung seiner eigenen Dramatik. Beschäftigen sich die dramatischen Texte der 1960er Jahre mit der Vermittlung von Realität und Utopie, ohne beider Ansprüche zu negieren, so denunzieren Stücke wie Die Vögel, Rosie träumt und Die Fische eine Maßlosigkeit der Utopie, deren fehlende Rückbindung an die Wirklichkeit Ausweis einer unrealistischen und somit gefährlichen Politik sei. In den 1970er Jahren rückten Polemik und Ideologiekritik zeitweise ins Zentrum von Hacksʼ Texten, die vor falsch aufgefassten Utopien und deren potentiell negativen gesellschaftlichen Folgen warnen. Den Höhepunkt der Romantik-Auseinandersetzung bildet die Biermann-Ausbürgerung. Für Hacks war Wolf Biermann der Romantiker par excellence. Einen ‚wahren Sozialismus‘ beschwörend, griff er die Regierung der DDR an und nutzte dafür die westlichen Medien. In Hacksʼ Augen wurde er so zum Erfüllungsgehilfen des Kalten

Fazit | 611

Krieges auf Seiten des Westens, ganz unabhängig davon, dass er kein Anhänger des Westens war. Auch bei den Protesten gegen die Ausbürgerung Biermanns ging es nach Meinung Hacksʼ nicht um den Liedermacher, sondern um die DDR und den Versuch ihrer Destabilisierung. Die Intervention der führenden DDR-KünstlerInnen gegen die repressive Maßnahme der Regierung erschien ihm als erstes Anzeichen einer romantischen Fronde. Gegen diese wollte Hacks sich so eindeutig wie möglich positionieren. Die Reaktionen auf Hacksʼ Stellungnahme gegen Biermann waren weitgehend negativ. Die Erklärung zur Ausbürgerung wurde als vorbehaltlose Zustimmung aufgefasst, wobei die Angriffe gegen Böll und Solschenizyn für zusätzliche Irritationen sorgten. Für zahlreiche Akteure, nicht zuletzt an den Theatern der DDR sowie in den westdeutschen Feuilletons, hatte Hacks sich mit seiner Positionierung diskreditiert. Das Ergebnis war eine langfristige Isolierung. Das Jahr 1976 bildet insofern den Scheitelpunkt von Hacksʼ Bühnenruhm: Einerseits feierte er mit Ein Gespräch im Hause Stein über den abwesenden Herrn von Goethe seinen größten Theatererfolg, andererseits sorgte er selbst dafür, dass sein Name auf lange Sicht mit der Zustimmung zur Biermann-Ausbürgerung verbunden wurde. In gewisser Weise veranschaulicht die äußere Entwicklung Hacksʼ einen Gedanken der Hegel’schen Philosophie: Auf den rasanten Aufstieg zum meistgespielten deutschen Dramatiker in den späten 1960er und den frühen 1970er Jahren folgte Mitte des Jahrzehnts die dialektische Gegenbewegung, d.h. Hacksʼ Texte wurden zunehmend als ästhetisch veraltet wahrgenommen und sein Klassizismus mit einer Position des Konservatismus identifiziert. Hacks erkannte im Niedergang seines Theatersterns vor allem einen im Anschluss an seine Biermann-Erklärung initiierten Boykott. Dass seine Dramen aufgrund des allgemeinen kulturellen Wandels sowie seiner rigiden Theaterpolitik weniger nachgefragt wurden und ihr polemischer Zuschnitt ein Anknüpfen an frühere Erfolge behinderte, blendete er weitgehend aus. Die Biermann-Affäre spaltete das literarische Feld der DDR langfristig in Befürworter und Gegner der Ausbürgerung. Am Beispiel der Ausbürgerung wird der Grad der Distanz zwischen Hacks und Müller offenbar. Parallel zur Abwertung von Hacksʼ symbolischem Kapital erfuhr Müller seit den 1970er Jahren eine beständige Aufwertung. Diese drückt sich in den späten 1980er Jahren neben einer enormen medialen Präsenz auch in einer steigenden Zahl von Inszenierungen aus. Vom dramatischen Brüderpaar Hacks und Müller blieb so am Ende der DDR nur noch Müller übrig, der nach 1990 als der DDR-Dramatiker kanonisiert wurde. Die Kombination ‚Hacks und Müller‘ bzw. ‚Müller und Hacks‘ war nunmehr nur noch vor dem Hintergrund der literarischen und essayistischen Invektiven präsent, mit welchen vor allem Hacks hervortrat. Die Müller-Schmähung wurde ab den 1980er Jahren gewissermaßen zu einer Hacks’schen Gattung. Dass Hacks sie mit solcher Vehemenz betrieb, zeigt an, wie tief er den Verrat empfand, den er Müller unterstellte. Im Jahr 2000, während Hacks an seiner Schrift Zur Romantik arbeitete, die die schärfste Verurteilung des Kontrahenten

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enthält, schrieb er an André Thiele, dass sich, wenn er über Müller schreibe, in seinem Stil „was Ähnliches“ bemerken ließe wie in dem Lenins, wenn dieser über die menschewistische Zeitung Lutsch schrieb.2 Müller galt Hacks demnach, um im Bild zu bleiben, als ein sozialdemokratischer Revisionist, der sich ästhetisch dem Feind angedient hat. Aber die späten Invektiven Hacksʼ sind im Rahmen der agonalen Auseinandersetzung der beiden Dramatiker lediglich Nachhutgefechte. Die Diskussion über die dem Sozialismus in der DDR adäquate Dramatik war da längst vorüber; und das nicht allein, weil der Beginn der öffentlichen Kontroverse zwischen Hacks und Müller zu Beginn der 1970er Jahre bereits deren Höhepunkt markiert, sondern vor allem, weil die Ausdifferenzierung der DDR-Literatur ab den späten 1970er Jahren immer weniger erlaubte, einen gemeinsamen Bezugspunkt herzustellen. Das von der Literaturgeschichte für die 1980er Jahre vielfach konstatierte Nebeneinander verschiedenster Ästhetiken gilt auch für die Dramatik. Vor dem Hintergrund einer Dramatik, die nicht mehr ‚DDR-Dramatik‘, sondern nur noch ‚Dramatik aus der DDR‘ sein wollte, war die Auseinandersetzung zwischen Hacks und Müller in gewisser Weise obsolet geworden. Das Hacks’sche Königsstück und das Müller’sche Lehrstück einer negativen Dialektik stehen für zwei gegensätzliche Ausprägungen sozialistischen Theaters, verstanden als eine Ästhetik des Dramas, die sich positiv auf den Sozialismus als philosophisches Konzept und als gesellschaftliche Praxis bezieht und dessen Reflexion anstrebt. Von einem antinaturalistischen, von Brecht herrührenden Realismusverständnis ausgehend, das Poesie und Artifizialität miteinschließt, entwickelten Hacks und Müller in den 1960er Jahren ihre je eigenen dramenästhetischen Programme. Versteht man Brecht als Fixpunkt innerhalb der DDR-Literaturgeschichte, kann ihre Bewegung als Entzweiung aufgefasst werden: Während Hacks von Brecht aus und mit Lukács auf die ästhetischen Überlegungen der Weimarer sowie der französischen Klassik orientierte und, historisch gesehen, nach ‚hinten‘ schritt, nahm Müller von Brecht aus und mit Walter Benjamin den umgekehrten Weg über Antonin Artaud und Samuel Beckett in die Moderne. Mit dem Königsstück und dem Lehrstück aktualisierten Hacks und Müller zwei unterschiedliche Traditionslinien, die auf entgegengesetzte Kunstkonzeptionen verweisen: Hacks will die gesellschaftlichen Probleme des Sozialismus im Rahmen klassischer Dramatik abbilden, indem er sie in historische und mythologische Fabeln übersetzt. Im Kontext des für sein Denken konstitutiven Widerspruchs zwischen Ideal und Realität, der sich in den Texten als Widerspruch von Subjekt und Objekt bzw. Individuum und Gesellschaft zeigt, zielt er auf eine Reflexion gesellschaftlicher Probleme vor dem Hintergrund der kommunistischen Utopie. Von einer funktionierenden || 2 Bartels (Hg.): Der Briefwechsel zwischen Peter Hacks und André Thiele, S. 265 (Peter Hacks an André Thiele, 4. Dezember 2000).

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historischen Dialektik ausgehend, erscheinen Konflikte unter grundsätzlicher Anerkennung gesellschaftlicher Widersprüche als lös- bzw. aufhebbar. Die bevorzugte Gattung ist daher die Komödie. Fasst Hacks den Gang der Geschichte als gelingend auf, so erscheint dieser bei Müller umgekehrt als katastrophisch. Schon die philosophische Anlehnung an Benjamin verweist auf eine andere marxistische Lesart der Geschichte, die nicht teleologisch argumentiert. In der Perspektive Müllers ergeben sich die gesellschaftlichen Probleme des Sozialismus aus dem nicht vollständig vollzogenen Bruch mit seiner Vorgeschichte. Im Zentrum der Müller’schen Lehrstücke steht die Thematisierung der gesellschaftlichen Entstehungskosten des Sozialismus, deren fehlende Reflexion diesen selbst in seinem Bestand bedroht. Die Lehrstücke fokussieren daher auf Verdrängtes, auf Widersprüche, die nicht dialektisch aufhebbar sind, und sind inhärent tragisch. Ihr Ziel ist eine produktive Störung auf der Grundlage einer Dramenästhetik, die die herkömmliche dramatische, fabel- und subjektzentrierte Kommunikationsform hinter sich lässt, weil sie diese selbst als problematische Mittel gesellschaftlicher Verschleierung erkennt. Die negative Dialektik, die die Lehrstücke entfalten, soll nicht durch eine innerfiktionale Behauptung oder den Verweis auf eine außerfiktionale, geschichtsphilosophische Hoffnung aufgehoben werden, sondern wird an das Publikum delegiert, das, ganz im Sinne der Brecht’schen Koproduktion, die entscheidende Instanz innerhalb des performativen Kommunikationszusammenhangs darstellt. Als Schüler Brechts widmeten sich Hacks wie Müller der Frage nach der künstlerischen Beschreibung des Sozialismus, den schon zu DDR-Zeiten sprichwörtlich gewordenen „Mühen der Ebenen“.3 Grundlegend für die Differenz der dramatischen Konzepte Hacksʼ und Müllers ist eine politisch verschiedene Auffassung dieser Ebenen, konkret: der Rolle und der Bedeutung des Staates im Rahmen der gesellschaftlichen Moderne und im Sozialismus. Hacks, der nicht nur in ästhetischer Hinsicht ein Anhänger Hegels genannt werden muss, erkennt im Staat den einzigen Akteur, der in der Lage ist, jenseits von Partikularinteressen zu handeln, die nach Hacksʼ Überzeugung, das verdeutlicht sein Klassenschema, auch im Sozialismus fortexistieren. Für Hacks ist der Staat „die Form der Vernunft“.4 Mit ihm steht und fällt der Fortschritt. Hacksʼ Königsdramen sind allesamt Staatsdramen, Texte also, in denen Konflikte um die Herrschaft im Staat und dessen Funktionsweise ausgetragen werden. Diesem dramatischen Etatismus steht mit Müllers Lehrstücken ein Anti-Etatismus gegenüber, der sich wesentlich aus der Einsicht speist, dass auch der sozialistische Staat zu Verbrechen fähig und die ‚politische Farbe‘ des repressiven Staates und der ihm angegliederten Institutionen aus der Perspektive des einzelnen Subjekts bedeutungslos ist. Wo Hacks im Kontext der realpolitischen fröhlichen Resignation auf eine

|| 3 GBA 15, 205. 4 HW 13, 363.

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Vermittlung setzt, die im Sinne des Hegel’schen Freiheitsbegriffs eine Selbstbeschränkung impliziert, orientiert Müller, der Parole der Befreiung der Toten eingedenk und immer die Opfer im Blick, auf eine Gerechtigkeit, die poststaatlich gedacht ist. Hacksʼ Dramen wollen gesellschaftliche Verständigungsmedien sein. Den Ausgleich von Realität und Utopie, den sie leisten, weisen Müllers Texte zurück, weil die Utopie, die Sehnsucht nach dem Anderen, wie Müller verschiedentlich formuliert, jenseits des Wirklichen gedacht ist. Dergestalt erscheint die gesellschaftliche Bewegung im Rahmen des Staates und seiner instrumentellen Vernunft in Müllers Texten über die sozialistische Revolution hinaus als eine „Einheit von Fortschritt und Verbrechen“, wie André Müller sen. hinsichtlich des Lehrstücks Der Horatier treffend bemerkt hat.5 Die ästhetischen und politischen Positionen beider Dramatiker sind eng miteinander verzahnt; der Ablehnung des fabel- und figurenzentrierten Dramas entspricht eine negative Staatstheorie und vice versa. Verdeutlicht man sich die Entwicklung des Verhältnisses zwischen Hacks und Müller, so lässt sich von einer Spaltung des autonomen Feldpols sprechen, deren Vorzeichen bereits Ende der 1960er Jahre im Antagonismus von Königs- und Lehrstück erkennbar sind. Vor dem Hintergrund der von der Mehrheit der Forschung vertretenen Autonomisierungsthese der DDR-Literatur ergibt sich somit für den Bereich der Dramatik ein differenziertes Bild des literarischen Autonomisierungsprozesses. Zum einen zeigt sich, dass das literarische Feld der DDR ein Ort binnenliterarischer Auseinandersetzungen war, Konflikte also nicht allein auf Kämpfe um Anerkennung seitens des heteronomen Pols bzw. feldexterne Anerkennung und die Notwendigkeit der Akkumulation politischen Kapitals zurückgehen. Zum anderen erweist sich der ästhetische Autonomisierungsprozess als ein in sich selbst widersprüchlicher Vorgang innerhalb des autonomen Pols des Feldes, so dass sich hinsichtlich der Dramatik von zwei Zentren der Autonomisierung sprechen lässt, die sich agonal zueinander verhielten. Denn Hacks muss, obschon sein Erfolg früh einsetzte und er daher bereits ab Mitte der 1960er Jahre zur arrivierten Avantgarde gezählt werden kann, allein schon aufgrund des feldpolitischen Kontextes innerhalb des autonomen Feldpols positioniert werden; sosehr seine Dramenästhetik in ihrer Ausrichtung anti-avantgardistisch und anti-modern ist, wurde sie doch zugleich aufgrund ihres ästhetischen Autonomiepostulats seitens vieler Akteure des heteronomen Pols sowie der Kulturpolitik als bürgerlich abgelehnt. Der Konflikt zwischen Hacks und Müller war keine Auseinandersetzung Heteronomie vs. Autonomie, sondern ein Streit über die Beschaffenheit sozialistischer Dramatik innerhalb des autonomen Feldpols, eine Auseinandersetzung zwischen den zwei paradigmatischen Schulen des DDR-Dramas.

|| 5 GmH 35.

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Diese literarhistorische Erkenntnis gilt es zunächst einmal festzuhalten. Von ihr ausgehend wäre zu fragen, ob sich in der Literaturgeschichte der DDR ähnliche Konstellationen und Kontroversen finden, die vielleicht verdeckt abliefen und deshalb weniger Publizität erzeugten, oder ob die Konstellation Hacks/Müller eine Ausnahme in einem ansonsten deutlich abgezirkelten literarischen Feld bildet. Die zahlreichen, im Laufe der Arbeit am Rande immer wieder gestreiften Kontroversen zwischen AutorInnen legen die Vermutung nahe, dass es sich nicht um eine Ausnahme handelt, auch wenn das spezifische polemische Temperament, das Peter Hacks in die Auseinandersetzung mit Heiner Müller einbrachte, sicherlich eine Besonderheit dieser Kontroverse darstellt. Betrachtet man die Theaterlandschaft der Gegenwart im Kontext des Streits zwischen Hacks und Müller, könnte man zu dem Schluss kommen, dass Müller sich auf ganzer Linie durchgesetzt hat. Das klassische Drama hat zwar an den kleineren städtischen und Landesbühnen, wo auch die Stücke von Peter Hacks mitunter noch inszeniert werden, sein Refugium, dominiert wird die Theaterlandschaft aber von den dramatisierten Romanen, den Inszenierungen des Regietheaters und den postdramatischen medialisierten Performances. Als einer der internationalen Vorreiter eines neuen Theaters kann Müller in dieser Hinsicht als maßstabsetzend gelten, während Hacksʼ Dramenästhetik absonderlich und anachronistisch wirkt, eine Erscheinung wie aus der Zeit gefallen. Aber der Eindruck täuscht. Der Befund, dass sich das Theater Heiner Müllers durchgesetzt habe, isoliert einzelne formale Elemente und ist oberflächlich. Der politische Kern der Müller’schen Dramatik, das Bekenntnis zum Theater als einem ‚Laboratorium sozialer Phantasie‘ vor dem Hintergrund des Sozialismus als einziger Alternative der Menschheit jenseits der Barbarei des Spätimperialismus ist längst bis zur Unkenntlichkeit zusammengeschmolzen. Müllers Werk gilt heute als „Generalinventur eines mißlungenen Experiments“,6 als ‚Soundtrack zum Untergang‘, wie man in Anlehnung an die Punk-Affinität der Hamletmaschine sagen könnte. Die Kritik am Sozialismus hat dessen grundsätzliche Affirmation in Müllers Texten verdrängt. Von der von André Müller sen. konstatierten ‚Einheit von Fortschritt und Verbrechen‘ sind nur die Verbrechen geblieben. In der Rückschau erscheinen die Sozialisten Hacks und Müller als zwei „Extremisten“ im Zeitalter der Extreme.7 Die Frage, die hier als Kern der Auseinandersetzung vorgestellt wurde, nämlich: wie ‚sozialistisches Drama‘ beschaffen sein müsse, ist vor dem Hintergrund des Untergangs des Sozialismus obsolet geworden. Sie ist lediglich noch von literarhistorischem Interesse. Ist der Streit zwischen Hacks und Müller am Ende also doch ein „folgenloser Streit“, 8 weil er der Gegenwart nichts zu

|| 6 Eke: Heiner Müller, S. 36. 7 Fischborn: Peter Hacks und Heiner Müller, S. 82. 8 Stillmark: Hacks und Müller, S. 424.

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sagen hat? Die allerorten vernehmbare Unzufriedenheit mit dem kapitalistischen Kulturbetrieb und die Kritik des postmodernen Theaters sprechen in dieser Hinsicht eine andere Sprache.9 Und wer will behaupten, dass es bleibt, wie es ist? Angenommen, es bleibt nicht so, wird auch der Streit zwischen Hacks und Müller jenseits seiner kulturhistorischen Bedeutung wieder von Interesse sein, veranschaulichen der ihm zugrundeliegende Antagonismus zwischen Tradition und Moderne sowie die politischen und philosophischen Implikate der Hacks’schen und der Müller’schen Dramenästhetiken doch das widersprüchliche Ensemble einer sich als sozialistisch verstehenden Dramatik.

|| 9 Siehe neuerdings: Bernd Stegemann: Kritik des Theaters. Berlin 2013.

Literaturverzeichnis In den Fußnoten zitierte Theaterkritiken und andere Zeitungsartikel wurden im Literaturverzeichnis aus Platzgründen nicht mehr eigens berücksichtigt.

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Index Abel, Günter 298 Abusch, Alexander 47, 49, 53, 184, 197, 390, 393, 508 Ackermann, Anton 173 Adelung, Johann Christoph 76 Adorno, Theodor W. 173, 297f. Agde, Günter 18 Aischylos 116 Albert, Claudia 22, 28 Albus, Vanessa 387 Alexander, Caroline 288 Alheit, Peter 21 Allemann, Urs 385, 521, 580f., 583 Allen, Pam 594 Allkemper, Alo 206, 552 Alt, Peter-André 457 Althaus, Horst 415 Ammon, Frieder von 379 Anderson, Perry 218f. Andert, Reinhold 565 Andropow, Juri W. 592 Annuß, Evelyn 433 Apitz, Bruno 135, 142 Appen, Karl von 531 Arendt, Erich 548, 568 Aristophanes 86, 169, 186, 188, 204, 242, 521ff. Aristoteles 58, 112, 293, 295 Arnim, Achim von 399 Arnim, Bettina von 399, 555 Artaud, Antonin 447, 457, 474, 495, 501, 612 Ascher, Saul 411 Assmann, Aleida 162 Assmann, Jan 162 Atkins, Stuart 178 Atkins, Susan 482ff. Auras, Sigrid 38 Auty, Robert 257 Baab, Patrick 404 Bachtin, Michail M. 169, 494 Bahro, Rudolf 193, 217 Baierl, Helmut 25, 37, 46f., 50ff., 54, 61f., 65, 68, 90f., 106, 112, 132, 140, 148ff., 158f., 176, 195, 375, 508, 581

Baldzuhn, Kurt-Uwe 26 Ban, Sung-Wan 393 Barck, Karlheinz 457 Barck, Simone 8, 17, 28, 41f., 95, 141, 196, 394 Barlösius, Eva 11 Barner, Wilfried 281, 283, 286 Barsch, Achim 549 Bartels, Felix 13, 84, 153, 177f., 180f., 213, 223ff., 228, 230, 263, 310ff., 314, 505f., 511, 523, 578, 602f., 612 Barthes, Roland 477 Bartsch, Kurt 46, 190 Bassistow, Jurij 18 Bataille, Georges 430 Bathrick, David 6, 20, 50, 316, 577, 581 Bauer, Roland 587 Baum, Ute 596f. Baumbach, Gerda 14, 364, 384 Bayer, Frauke 485 Becher, Johannes R. 25, 28, 40, 53, 206, 334, 393f., 552f. Bechert, Frank 324 Becker, Jurek 568f., 581 Beckett, Samuel 324, 343, 424, 447, 449, 500f., 509, 515, 610, 612 Beethoven, Ludwig von 494 Behler, Ernst 397 Bem, Józef 472 Benjamin, Walter 10, 124f., 172, 249, 270, 292, 318f., 429, 441, 446, 470, 491f., 495, 500, 601, 608, 612 Bennewitz, Fritz 367 Benthien, Claudia 295 Bentzien, Hans 193 Benz, Richard 417 Berbig, Roland 110, 339, 567ff., 581, 584 Berendse, Gerrit-Jan 110 Berger, Christel 26, 32, 43, 375, 548, 582, 601 Berger, Uwe 92 Berghaus, Ruth 249, 343, 584 Berlinguer, Enrico 578 Bernhard, Julia 13 Bernhardt, Rüdiger 2, 247, 279, 319, 322, 560 Bernstein, Eduard 89, 579, 581 Berry, Ralph 361

674 | Index

Bertram, Mathias 222 Besson, Benno 137, 341, 345, 532, 539ff. Best, Renate 411 Beutin, Wolfgang 403 Biccari, Geatano 598 Biermann, Benno 110 Biermann, Wolf 3, 15f., 46, 87, 196, 325, 338f., 349, 528, 562ff., 571ff., 584ff., 610f. Bill-Bjelozerkowski, Wladimir 69 Birnbaum, Uta 535 Bisky, Jens 347 Bismarck, Otto von 183ff., 220, 360 Bittermann, Klaus 480f. Blinn, Hansjürgen 350f., 353 Bloch, Ernst 43, 70f., 166, 229, 320, 394, 521f. Blüher, Karl Alfred 447 Blume, Friedrich 494 Blumenberg, Hans 245ff. Bobrowski, Johannes 23, 110, 379, 406, 408 Bock, Sigrid 407 Bock, Stephan 92, 183 Bock, Ursula 164 Bodek, Richard 48 Böhme, Waltraud 41 Bohn, Volker 444, 448 Bohrer, Karl Heinz 389, 391, 457 Böll, Heinrich 579, 611 Bollenbeck, Georg 393 Bores, Dorothée 15, 573, 576 Borew, Jurij 63 Borgwardt, Angela 24 Bork, Kurt 193 Bosker, Margo Ruth 70, 166, 211, 525 Böthig, Peter 15 Bourdieu, Pierre 10ff., 20ff., 24, 26ff., 111f., 161, 325, 506 Bradley, Laura 15, 25, 141, 191, 193f. Brady, Philip 504 Brandt, Sabine 564 Brandt, Willy 328 Brasch, Thomas 337, 345, 562 Braun, Matthias 14, 26, 43, 50, 137f., 141, 332 Braun, Michael 598 Braun, Volker 19, 46, 198, 264, 379, 385f., 410, 526, 568f., 584 Braune, Asja 131 Brauneck, Manfred 532 Brecht, Bertolt 1, 3f., 7, 15, 26, 31ff., 38ff., 43ff., 56ff., 72ff., 81f., 88, 92, 95, 98, 101, 106ff.,

111ff., 123, 125, 127f., 130ff., 147, 150, 152ff., 170, 172, 181, 183, 186, 188, 198, 200, 207, 209ff., 236f., 249, 264, 281f., 284, 289, 295ff., 310, 317, 319ff., 326, 333ff., 341, 343, 345, 350, 357ff., 366, 370, 373, 378f., 382, 384ff., 394, 418, 424, 427f., 431, 433, 451, 458, 462, 471, 477, 479f., 483, 486, 501f., 515, 517, 526f., 530, 532f., 544, 549, 579, 589ff., 603, 605ff., 612f. Bredel, Willi 143 Breitinger, Jakob 237 Bremer, Kai 432, 449 Brenner, Karin 393 Brenner, Peter J. 43 Brentano, Clemens 399, 406, 423, 555 Breschnew, Leonid 328, 338 Breuer, Ingo 252, 407, 428, 430, 448, 452, 454, 456ff., 463 Bringmann, Klaus 519 Brohm, Holger 24, 263, 332f., 338 Broich, Ulrich 354 Bronnen, Arnolt 323 Brosig, Maria 24, 28 Bruckner, Ferdinand 35, 107 Brühl, Olaf 596 Brummack, Jürgen 295 Brunner, Otto 413 Bruyn, Günter de 405f., 590, 596 Buch, David Joseph 131 Büchner, Georg 57f., 107, 131, 172, 424 Buchwaldt, Martin 465, 484f. Budde, Gunilla-Friederike 163 Buddecke, Wolfram 43, 101, 265, 513 Buhr, Manfred 59, 174, 422 Bunge, Hans 46, 63, 78, 138, 209 Burckhardt, Martin 470 Burdorf, Dieter 8, 139, 269, 435, 512 Burke, Peter 162 Busch, Ernst 69, 374 Busch, Wilhelm 178 Buschkiel, Jürgen 273 Camus, Albert 189 Cancik, Hubert 246 Castro, Fidel 128 Celato, Claudia 70 Certeau, Michel de 7 Chamisso, Adelbert von 399

Index | 675

Charbon, Rémy 525 Chotjewitz, Peter O. 597 Christ, Barbara 119, 439, 455, 463 Christ, Tobias 396 Chruschtschow, Nikita S. 39, 222 Clasen, Adolf 279, 281 Classen, Albrecht 513 Claudius, Eduard 92 Cofalla, Sabine 110 Colebrook, Claire 459 Conrad, Joseph 484 Cooke, Paul 15 Corcaci, Anamaria 341 Cremer, Fritz 568f. Creutz, Lothar 37 Croce, Benedetto 421 Crone, Hans-Rainer 498 Cummings, E. E. 470 Czarnecka, Miroslowa 165 Dahlhaus, Carl 494 Dahnke, Hans-Dietrich 401f., 404 Dalos, György 472 Dath, Dietmar 224, 239, 584 Dau, Rudolf 239 Decker, Gunnar 406, 555, 557 Decker, Kerstin 206 Degen, Andreas 23 Deiritz, Karl 598 Deiters, Franz-Josef 210, 444, 448f. Deleuze, Gilles 407, 457ff., 477, 498 Delius, Friedrich Christian 343 Denton Eric Hadley 525 Dessau, Paul 111, 114, 117ff., 125ff., 130ff., 138, 334, 548 Dieckmann, Friedrich 80, 119, 123, 125, 189, 325, 346, 367, 372f., 531, 582, 596, 598f., 602 Dieckmann, Walther 9 Dietze, Walter 399 Dietzel, Ulrich 508 Döblin, Alfred 183 Dohrn-van Rossum, Gerhard 470 Domdey, Horst 457f., 500 Döring, Ulrich 193 Dörner, Andreas 19 Dornseiff, Franz 490 Dostojewski, Fjodor Michailowitsch 476 Drescher, Angela 340

Drinda, Horst 543 Duchamp, Marcel 447, 498 Duchhardt, Heinz 217 Dürrenmatt, Friedrich 515 Durzak, Manfred 189, 198, 204, 504 Dwars, Jens-Fietje 40 Dymschitz, Alexander L. 18 Ebrecht, Katharina 35, 594 Ehrlich, Lothar 335f., 388 Eichendorff, Joseph von 398f., 421, 555 Eichhorn, Jaana 217 Eichler, Klaus-Dieter 247 Eisler, Hanns 63, 95, 111, 300, 333, 394 Eke, Norbert Otto 93, 125, 153, 156, 206, 287, 298f., 302, 321, 361, 428, 432, 438, 441, 448ff., 457, 461, 468ff., 489ff., 493, 497, 500, 615 Eliot, T. S. 472 Elzenheimer, Regine 467 Emmerich, Wolfgang 3, 6, 23, 27, 178, 184, 190, 197, 217, 226, 244, 246ff., 298, 337, 339, 409, 451f., 455f., 461, 463, 480, 482, 564, 583 Empedokles 439ff. Endler, Adolf 106, 332f., 553f. Engel, Rudolf 34 Engels, Friedrich 175, 218f., 229f., 249, 387, 393, 412, 470, 608 Engler, Jürgen 274 Engler, Wolfgang 325 Enzensberger, Hans Magnus 370 Eppelmann, Rainer 597 Erbe, Günter 6, 19, 217, 334, 392, 395, 409 Erken, Günther 351, 383 Ernst, Max 451 Erpenbeck, Fritz 40, 43f., 53, 56, 67 Esche, Eberhard 525, 543, 601 Ette, Wolfram 109, 157, 249, 289, 293, 297, 308, 316, 318, 428ff., 432, 434ff., 442ff., 450f., 464, 466ff., 474ff., 481f., 484, 486, 488ff., 500, 502 Euripides 242, 276, 278, 504 Faber, Richard 400 Fanon, Frantz 481 Fehervary, Helen 157, 164, 428, 482, 485 Felsenstein, Walter 538 Fetzer, John 423

676 | Index

Feuchtwanger, Lion 359 Fichte, Johann Gottlieb 400 Fiebach, Joachim 245f., 282, 292, 318, 358, 432, 434f., 447, 456, 475, 486, 498ff. Fink, Gonthier-Louis 415 Fiorentino, Francesco 283, 285, 428 Firsching, Annette 404 Fischborn, Gottfried 2, 14, 159, 215, 224, 245, 321, 364, 384, 386, 595, 615 Fischer, Ernst 89 Fischer, Gerhard 436f. Fischer-Lichte, Erika 433, 451, 461, 482, 488, 490 Flashar, Hellmut 189 Fleckenstein, Günther 583 Flick, Caroline 458 Florath, Bernd 566 Florath, Walter 329 Förster, Andreas 572 Foucault, Michel 429, 450, 452f., 461, 477, 484 Fouqué, Friedrich de la Motte 555 Frank, Manfred 408 Frank, Mario 221f., 328 Franz, Michael 333 Frenzel, Elisabeth 253, 258, 276 Frese, Jürgen 111 Freud, Sigmund 239, 468f., 488 Freytag, Gustav 231f. Fried, Erich 483, 579 Friedrich II. 68, 72ff., 104, 183ff., 217, 443, 451f., 454 Friedrich, Götz 538f. Friedrich, Hans-Edwin 12 Friedrich, Hugo 460 Fries, Fritz Rudolf 408 Frisch, Max 339 Fröhlich, Gerhard 11, 27 Fröschle, Hartmut 389 Frye, Northrop 181 Fuchs, Jürgen 570 Fuchs, Konrad 355 Fühmann, Franz 135, 405ff., 422, 426, 549, 553ff., 568, 577, 609f. Fuhrmann, Helmut 43, 101, 153, 177, 179, 265, 360, 449, 451, 480, 513 Fulbrook, Mary 17, 163 Funke, Christoph 49 Fürnberg, Louis 214

Gaertner, Jan Felix 129 Gagnebin, Jeanne Marie 492 Galisi Filho, José 439 Galle, Roland 302 Gallée, Caroline 392 Gansel, Carsten 17f., 42 Garaudy, Roger 197 Garbe, Hans 91f., 99 Gaßmann, Bodo 396 Gauck, Joachim 597 Gebhardt, Peter 357 Geerdts, Hans Jürgen 96, 388 Geipel, Ines 36f., 103 Gelfert, Hans-Dieter 293 Gendries, Klaus 192 George, Marion 259, 272 George, Stefan 406 Gerber, Margy 153, 578 Gerhard, Ute 163 Getzschmann, Lutz 81, 83 Giese, Peter Christian 63, 168 Gill, Peter 366 Giraudoux, Jean 189 Girnus, Wilhelm 275, 332f., 335, 342, 561, 565 Girshausen, Theo 2, 42, 47, 50, 52, 55ff., 67, 70, 90, 93f., 104, 115, 148, 468, 487, 491, 586 Gladkow, Fjodor 279, 343, 361, 434 Gloger, Gotthold 48, 347 Glowka, Detlef 392 Göbler, Frank 597 Goethe, Johann Wolfgang von 3, 52, 57ff., 166, 178, 180f., 185, 190, 202, 209, 231, 239ff., 287, 301, 335, 341, 350, 379, 381, 387, 389, 392, 396, 400f., 408f., 411f., 414f., 503f., 515, 525, 529, 532, 544, 546, 550ff., 556f., 560f., 603 Goldammer, Peter 550f. Goldhahn, Johannes 212 Gorbatschow, Michail W. 300, 592, 602 Görres, Joseph 416, 555 Gosse, Peter 379 Gossweiler, Kurt 223, 225 Grab, Walter 411 Grabbe, Christian Dietrich 58 Grabs, Manfred 539 Gracq, Julien 457 Graf von Pocci, Franz 107 Grass, Günter 339, 574f. Gratzik, Paul 345, 542

Index | 677

Greene, Roland 263 Gregorek, Karin 543, 583 Greiner, Bernhard 50, 72, 95, 168, 170, 172, 176, 225, 351, 408, 490f. Gries, Rainer 95 Griese, Sabine 258 Grimm, Gunter E. 287, 456 Grimm, Jacob 184, 527, 557f. Grimm, Reinhold 7, 334 Grimm, Wilhelm 184, 527, 557f. Gruber, Bettina 247f., 282, 285 Grubner, Bernadette 512f., 518 Grünbaum, Robert 572 Grünberg, Karl 92 Guattari, Félix 407, 457ff., 477, 498 Gumbrecht, Hans-Ulrich 460 Gundling, Jacob Paul von 451f. Guntermann, Georg 482 Günther, Horst 457 Günther, Sergio 79 Guntner, Lawrence 350 Haase, Horst 5, 51, 279 Habemma, Cox 525 Hacks, Elly 538 Haffner, Herbert 70 Hagen, Eva-Maria 573, 575f. Hager, Kurt 329f., 568 Hähnel-Mesnard, Carola 23f. Hamburger, Maik 318 Hammel, Claus 37, 70 Hammer, Gero 25, 339 Hammer, Klaus 401 Hammerthaler, Ralph 17, 537 Hamsun, Knut 580 Hannemann, Ernst 15 Hannesen, Hans Gerhard 601 Hanuschek, Sven 3 Harich, Wolfgang 39, 43, 89, 325, 335, 346, 348ff., 365, 367ff., 379f., 383ff., 392, 395, 399, 508, 520, 549, 578, 610 Harlan, Veit 75 Harris, Joseph 262 Hart, James David 470 Hartinger, Walfried 212, 331, 343f., 586, 589, 591 Hartmann, Jürgen 393 Hartung, Günter 388f. Harvey, Ruth 262

Haslinger, Josef 17 Haß, Ulrike 246 Häublein, Renata 350f. Hauff, Wilhelm 399 Hauschild, Jan-Christoph 2, 34ff., 38, 56, 92, 99, 105, 126, 136, 297, 302, 344, 360, 365, 444, 486, 593 Hauser, Harald 53f., 140f. Havemann, Robert 196, 565, 570, 573 Haydn, Joseph 494 Haym, Rudolf 417 Heartfield, John 49 Hecht, Werner 40, 95, 131, 133, 345 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 4, 122, 146, 155, 175f., 185, 226, 233, 240, 249, 284, 294, 302, 375, 378, 387, 389, 396, 408, 411, 413ff., 508, 524, 608, 613 Hegemann, Werner 458 Heimböckel, Dieter 125, 430 Heine, Heinrich 57, 107, 181, 255, 333, 389, 417, 426, 521f. Heine, Roland 198, 228 Heinrich, Helmut T. 405 Heinz, Wolfgang 532 Heise, Rosemarie 367 Heise, Wolfgang 367f., 372, 402f., 452, 455, 461, 463 Hempel, Leon 23f. Henrich, Dieter 51 Hensel, Georg 528 Henshall, Nicholas 217 Herder, Johann Gottfried 387 Hermand, Jost 7, 73, 89f., 183, 189, 334, 483 Herminghouse, Patricia 401, 403, 407 Hermlin, Stephan 1, 193, 335, 405, 407, 426, 451, 548, 553, 560f., 563, 568ff., 576, 603 Herodot 310 Hertling, Ralf 204 Herwegh, Georg 333 Herzberg, Guntolf 39, 42 Herzfelde, Wieland 241, 508, 560 Herzinger, Richard 458 Hesse, Reinhard 602 Heubner, Holger 598 Heukenkamp, Ursula 3, 6, 74, 390 Hexelschneider, Erhard 597 Heym, Georg 450 Heym, Stefan 28, 196, 325, 526, 565, 568, 573 Heyse, Eva 399

678 | Index

Hiemer, Horst 46, 52, 58 Hildebrandt, Walter 403 Hildermeier, Manfred 89 Hill, Claude 64 Hiller, Gottlieb 599f. Hilzinger, Sonja 36, 88, 103, 405 Hinck, Walter 181 Hirdina, Karin 406 Hirschfeld, Alexandra von 164 Hiß, Guido 533 Hitler, Adolf 93, 100f., 184f. Hitz, Bruno 321, 443 Hoche, Karl 365 Hoffmann, E. T. A. 398f., 402, 405, 409, 421, 555ff. Hoffmann, Hans-Joachim 343, 400 Hoffmann, Ludwig 48 Hoffmann, Torsten 14, 598 Hoffmann-Ostwald, Daniel 48 Hoffmeier, Dieter 357 Hoffmeister, Gerhart 398, 408 Hofmann, Michael 8, 32, 410 Hogle, Jerrold E. 513 Hohendahl, Peter Uwe 330, 336 Holán, Karl 541 Hölderlin, Friedrich 369, 405, 451, 485 Holinshed, Raphael 363 Holl, Hanns 54 Holtz, Jürgen 373f. Holtzhauer, Helmut 335, 374, 389, 399 Holz, Hans Heinz 13, 307, 311 Holzweißig, Gunter 5 Hondt, Jacques 415 Honecker, Erich 3, 196, 314, 328ff., 337f., 344, 347, 425, 509, 523f., 548, 565, 567f., 570, 572, 576f., 591f., 608f. Honecker, Margot 565 Honnef, Theo 411 Höpcke, Klaus 564f., 573f. Hörisch, Jochen 411 Horkheimer, Max 173, 297f. Horn, Maren 13 Hörnigk, Frank 19, 36, 105, 107, 145, 157, 197, 345, 516 Hortmann, Wilhelm 197, 351 Hrotsvit von Gandersheim 512f., 521 Huberth, Franz 24, 28 Huchel, Peter 193 Huller, Eva C. 276f., 282, 287, 301

Humphrey, Richard 485 Huyssen, Andreas 316 Iden, Peter 356 Ihering, Herbert 33, 59, 74 Immer, Nikolas 411 Inauen, Yasmine 428 Ingenkamp, Heinz Gerd 354 Irmer, Hans-Jochen 78, 127, 264 Irmer, Thomas 345, 454, 533 Iwabuchi, Tatsuji 359 Jäger, Andrea 82, 85, 153, 176, 188, 212, 219, 233f., 255f., 259, 267f., 271f., 274, 516, 569, 596 Jäger, Manfred 331f. Jahn, Friedrich Ludwig 552 Jakobi, Carsten 181f. Jakobs, Karl-Heinz 569ff., 581 Janka, Walter 43, 89 Janke, Pia 279 Jarry, Alfred 447 Jauß, Hans Robert 173 Jehser, Werner 520 Jentzsch, Bernd 46 Jewtuschenko, Jewgeni 128 Joachim, Harald 539 Joch, Markus 11, 22 Joeres, Ruth Ellen B. 525 John, Hans-Rainer 535 Johnson, Uwe 339 Joost, Jörg Wilhelm 281 Jost, Roland 63 Jourdheuil, Jean 467, 487, 585 Joyce, James 501, 556 Jucker, Rolf 363 Judersleben, Jörg 570 Jung, Werner 405 Jurt, Joseph 11, 20, 25, 112 Kafitz, Dieter 124 Kafka, Franz 107, 245, 459, 477, 501, 550, 601 Kahl, Volker 13 Kahlau, Heinz 46, 553f. Kähler, Hermann 51, 69, 81, 83, 176, 279 Kaiser, Joachim 580 Kaiser, Monika 196, 221, 226, 328 Kaiser, Paul 110 Kalb, Jonathan 315

Index | 679

Kals, Hans 419 Kamnitzer, Heinz 73, 572 Kamper, Dietmar 162 Kannapin, Detlef 412 Kant, Hermann 28, 571, 590 Karasek, Hellmuth 580 Karge, Manfred 345, 534 Karschnia, Alexander 351f., 453, 589 Kästner, Erich 32 Kastner, Jens 11 Kaufmann, Hans 165, 337, 390 Kaufmann, Walter 15 Kaul, Friedrich Karl 335, 570, 575 Kayser, Wolfgang 169 Kebir, Sabine 131 Keim, Katharina 432, 460, 464ff., 470, 476 Keisch, Henryk 53, 192 Kekewich, Margaret Lucille 251 Keller, Dietmar 564ff., 578 Keller, Herbert 50f., 64f., 68, 91 Kempner, Friederike 214 Kendall, Paul Murray 251, 273 Kerndl, Rainer 280, 344, 365, 375, 508, 510, 541 Kesting, Marianne 33 Ketelsen, Uwe-Carsten 62, 153, 177, 179 Kiesinger, Kurt Georg 575 Killy, Walther 447 Kindler, Simone 485, 489 Kipphardt, Heinar 38, 48, 50, 54ff., 64, 69, 131f., 136, 139ff., 151, 305, 370, 535, 580 Kirchner, Barbara 224, 239 Kirchner, Matthias 564ff., 578 Kirfel, Bert 52 Kirsch, Rainer 46, 327, 331, 379, 553 Kirsch, Sarah 82, 327, 405, 552ff., 568f. Kirst, Klaus-Dieter 542 Klatt, Gudrun 48, 50, 52, 90f., 334 Klaus, Georg 59 Klausnitzer, Ralf 390, 398 Klein, Alfred 43 Klein, Christian 92 Klein, Thomas 23 Kleist, Heinrich von 3, 107, 398f., 402, 405, 423, 452f., 461, 483, 550f. Klemperer, Victor 390f. Klotz, Günter 354 Klotz, Volker 433 Kluge, Alexander 593 Kluge, Gerhard 263, 332

Klujew, Viktor 145 Klunker, Heinz 385 Klussmann, Paul Gerhard 448 Knauth, Joachim 54, 190, 204 Knopf, Jan 78, 357 Knörrich, Otto 139 Kobbe, Peter 200 Koch, Gerd 128 Kocka, Jürgen 392 Köhler, Kai 3, 74, 235, 249, 251, 254ff., 258f., 261, 264, 268f., 271ff., 411f., 423, 552, 576 Kohlhaase, Wolfgang 26, 111, 375, 425, 508f., 571 Korbschmitt, Hans Erich 90 Korte, Hermann 428 Kortner, Fritz 380 Kosing, Alfred 174, 422 Kost, Jürgen 168, 252, 259, 270, 308 Kott, Jan 383, 485, 496 Kotte, Andreas 532 Kotzebue, August von 178 Krabiel, Klaus-Dieter 64 Kraft, Stephan 63, 227 Krätzer, Jürgen 465 Kraus, Dorothea 533 Kraus, Manfred 275ff., 282f., 285 Krause, Christian 191 Krauss, Werner 390, 398, 400 Kreikebaum, Marcus 594 Krenzlin, Leonore 153, 162, 173, 331 Krenzlin, Norbert 58 Kreuzer, Helmut 322, 589 Kreuzmair, Elias 459 Krug, Manfred 569, 576, 584 Krüss, James 80 Kubrick, Stanley 370 Küchenmeister, Claus 50ff., 64f., 68f., 133 Küchenmeister, Wera 46, 50ff., 64f., 68f., 133, 572 Kuckhoff, Armin-Gerd 367 Kuczynski, Jürgen 73, 217 Kügelgen, Bernt von 80 Kunert, Christian 570 Kunert, Günter 46, 405, 410, 422, 549ff., 568f., 571 Kurella, Alfred 42, 47, 67, 138, 141, 191, 390, 393 Kurpanik-Malinowska, Gizela 404 Kusche, Lothar 69

680 | Index

Kusche, Walter 405 Küsters, Hanns Jürgen 42 Kuttner, Jürgen 192 La Presti, Thomas 393 Lacan, Jacques 485 Laitko, Hubert 391 Lajarrige, Jacques 405 Lamping, Dieter 206 Lang, Lothar 75 Lange, Hartmut 8, 81, 190, 198, 204, 323, 374, 526, 607 Lange, Wolfgang 539 Langenbucher, Wolfgang R. 41 Langermann, Martina 17ff., 22f., 25 Langhoff, Matthias 345, 352, 534 Langhoff, Wolfgang 33, 136, 190f., 194, 381f., 532 Laube, Horst 176, 271, 273, 384 Lautréamont (Isidore Lucien Ducasse) 447, 449, 457ff., 501 Leeder, Karen 133 Lefèvre, Eckhard 285 Lehmann, Hans-Thies 35, 107, 125, 295, 316ff., 354, 358, 360ff., 405, 409, 430, 433f., 482, 486, 589 Lehmann, Joachim 135, 194 Lehrke, Wilfried 400 Leininger, Phillip 470 Leistner, Bernd 3, 203, 234, 239, 403f., 504, 551, 578, 584 Lenin, Wladimir I. 63, 89f., 229, 387, 393, 425, 439, 478f., 522, 579, 612 Lenz, Jakob Michael Reinhold 57f. Lessing, Gotthold Ephraim 57, 71, 210, 287f., 433, 451ff., 460ff., 466, 484, 488, 532 Liebert, Wolf Andreas 9 Liebknecht, Karl 78, 483 Liebknecht, Wilhelm 319 Lietzau, Hans 294 Lindenberger, Thomas 20 Linzer, Martin 44, 53, 90, 365ff., 370, 372, 374 Liphardt, Elizeveta 430 Lisewski, Oliver 113, 116, 119, 125, 131 Loest, Erich 43, 569 Löffler, Dietrich 41 Lokatis, Siegfried 17, 19, 23, 330 Loquai, Franz 465 Löschner, Sascha 14, 445, 598

Lubich, Gerhard 257 Lucke, Hans 43, 52, 54, 81 Luckscheiter, Stefan 314 Lüdtke, Alf 24 Ludwig XV. 591 Ludwig, Janine 2, 8, 19, 35f., 64, 97f., 153, 162, 164, 272, 286, 297f., 300, 341, 343, 364, 473, 480, 482, 484, 486, 488, 501, 586, 589, 594 Ludwig, Rolf 543 Lukács, Georg 7, 10, 26, 41, 62, 180, 183, 319f., 368, 371, 387, 389, 392ff., 405, 407, 411, 416, 419, 421, 425f., 526, 560, 590, 596, 612 Luther, Martin 2, 185 Lüthi, Max 363 Lützeler, Paul Michael 420 Luxemburg, Rosa 449, 483f., 567 Maar, Michael 411 Maaß, Ekkehard 566 Maassen, Hans 141 Maczewski, Johannes 177 Mäde, Hans Dieter 99, 167 Mädler, Peggy 162 Maeck, Stefanie Charlotte 465 Mahler, Gustav 494 Mai, Gunther 388 Maier-Schaeffer, Francine 124, 249, 439, 446 Majakowski, Wladimir 104, 120, 501 Mally, Lynn 48 Malycha, Andreas 221, 226, 329, 392 Mandelkow, Karl Robert 330, 332, 336, 390 Mann, Dieter 543 Mann, Thomas 107, 212, 371, 550f. Manson, Charles 455 Mao Zedong 478ff. Marchal, Guy P. 261 Marcuse, Herbert 116, 339 Marko, Gerda 36, 126 Marlowe, Christopher 359 Marowitz, Charles 496 Marquardt, Fritz 263, 345, 392, 394 Marquardt, Mara 58 Marx, Karl 4, 33, 117, 131, 158, 174f., 187, 218f., 229f., 249, 294, 312, 387f., 393, 406, 412f., 430, 478f., 500, 520, 608 Masur, Kurt 597 Matthies, Frank-Wolf 343

Index | 681

Matthus, Siegfried 508, 525, 538f. Matusche, Alfred 54 Maurer, Helen E. 251 Maximilian I. (Ferdinand Maximilian Joseph Maria von Österreich) 514 May, Gisela 543 Mayer, Hans 43f., 61, 138, 393f., 400 McInnes, Edward 232 Mehring, Franz 183, 231, 319f., 389, 453 Mehrle, Jens 375, 507f., 597 Meier, Albert 482 Meinhof, Ulrike 480f., 483 Meister, Monika 405 Mellies, Otto 194 Mellor, Anne K. 514 Menke, Christoph 284, 302 Mertens, Lothar 217 Metken, Günter 499 Metscher, Thomas 3, 167 Meulemann, Heiner 17 Meuser, Mirjam 8, 19 Meyer-Gosau, Frauke 593, 598f. Michael, Klaus 15 Michael, Nancy C. 357 Michaelis, Hans-Georg 13 Michaelis, Rolf 580 Mickel, Karl 46, 82, 190, 241, 332 Middell, Eike 207, 236 Mierau, Fritz 434 Mieth, Corinna 173 Mieth, Matias 185, 428, 444 Milfull, John 2, 153, 177, 179 Mitchell, Michael 231, 253 Mittenzwei, Werner 2ff., 7, 39f., 49ff., 57f., 72ff., 83, 91, 95, 172, 183, 196, 213, 279, 314, 319, 322, 335, 392ff., 508, 510f., 526, 583, 585, 590 Mix, York-Gothart 17, 28f. Molière (Jean-Baptiste Poquelin) 131 Mölk, Ulrich 262f., 265 Möllendorff, Peter von 521 Mollenschott, Elvira 344 Möller, Siegfried 55 Morus, Thomas 228 Mozart, Wolfgang Amadeus 131 Mueller-Stahl, Hagen 37, 50f., 53f., 64, 88, 90 Mühlberg, Dietrich 95 Mühlberg, Heidi 193

Müller sen., André 1, 13, 46f., 218, 273, 312, 324, 345, 347, 367f., 377f., 532, 535, 540f., 576, 578, 580, 587, 589, 599, 614f. Müller, Beate 15 Müller, Christa 539 Müller, Christoph 534 Müller, Inge 1, 36f., 51, 88, 91, 99, 103, 117, 121, 123, 126f., 138, 193, 454, 497 Müller, Karl-Heinz 192 Müller, Klaus-Detlef 183, 315 Müller, Kurt 34 Müller, Wolfgang P. 71 Müller-Kampel, Beatrix 168 Müllers, Inge 37 Müller-Schöll, Nikolaus 108, 115, 158, 170, 296, 430f., 462 Mulsow, Martin 51 Münkler, Herfried 78 Münz, Rudolf 590 Musner, Lutz 598 Nagel, Ivan 273 Nagy, Imre 393 Nahke, Heinz 36 Napoleon I. (Napoleon Bonaparte) 58, 396, 413ff., 421, 445, 504 Napoleon III. (Charles Louis Napoléon Bonaparte) 205, 413, 514f. Nassehi, Armin 11 Nau, Hans-Martin 539 Naumann, Manfred 387, 403 Naval, Pierre 430 Neef, Wilhelm 52, 88 Nestroy, Johann 107 Neubert, Erhart 577 Neubert-Herwig, Christa 189, 345 Neuland, Brunhild 454f. Neumann, Oskar 374 Neuss, Wolfgang 564 Neusüss, Anselm 228 Neutsch, Erik 331, 566 Nibbrig, Christiaan L. Hart 162 Nickel, Gunther 178, 180, 252, 381ff., 546, 553, 592, 597 Nietzsche, Friedrich 161, 298, 395, 406, 419, 424, 458, 472f., 548f., 604 Nollmann, Gerd 11 Noske, Gustav 479, 484

682 | Index

Novalis (Georg Philipp Friedrich von Hardenberg) 396, 399, 406 Oehme, Matthias 13, 33 OʼHara, Saul 132 Ohlerich, Gregor 12, 24ff. Olbrich, Harald 233, 463 Opitz, Alfred 430 Opitz, Michael 8, 32, 410 Opitz-Belakhal, Claudia 364 Ort, Claus-Michael 232 Ossietzky, Carl von 580 Ostermann, Eberhard 119, 433 Ostheimer, Michael 284f., 292ff., 298, 308 Ottow, Raimund 217 Ovid (Publius Ovidius Naso) 304, 357 Palitzsch, Peter 33, 383 Pallus, Walter 512, 520 Pamperrien, Sabine 17 Panach, Gerulf 570 Pannen, Sabine 49 Panse, Wolf-Dieter 58 Parker, Stephen 133, 332, 334 Pasternak, Boris 473 Patterson, Michael 342 Pavel, Hans-Joachim 575 Pechlivanos, Miltos 7 Peitsch, Helmut 390 Pelikowsky, Erika 543 Pernkopf, Johannes 94 Perten, Hans Anselm 340f., 535ff., 545 Petersohn, Roland 159, 351f., 354, 356, 360 Petöfi, Sándor 81 Petzold, Claudia 110 Pfeifer, Wolfgang 121, 229, 258 Pfeiffer, Hans 52, 195 Pfister, Manfred 466, 497 Pfohlmann, Oliver 194 Pfützner, Klaus 48, 543 Philpotts, Matthew 334 Phrynichos 201 Pick, Erika 508 Pickerodt, Gerhart 179 Pieck, Wilhelm 221 Piens, Gerhard 58, 138, 141, 143, 145, 148, 530, 542, 572, 575 Pietzsch, Ingeborg 44, 365 Pike, David 392

Pinkert, Ernst-Ulrich 430 Pitsch, Reinhard 368 Plaice, Renata 465, 473, 477, 490f., 493, 500 Plassmann, Jens 315 Platon 287 Plenzdorf, Ulrich 334 Podewin. Norbert 196, 221 Pöggeler, Otto 389 Pohl, Gisela 539 Pokorný, Jaroslav 218f., 222 Polheim, Karl Konrad 408 Pollack, Detlef 17, 42, 227 Pollatschek, Walther 143, 194 Pommerening, Marc 592 Potemkin, Gregor Alexandrowitsch 601 Pötsch, Margret 401 Pracht, Erwin 336 Prandi, Julie D. 181 Praz, Mario 513 Primavesi, Patrick 433, 447 Profitlich, Ulrich 50, 62, 72, 74, 82f., 86, 144, 279, 282, 293, 513, 592 Prokop, Siegfried 39, 368 Püllmann, Dennis 4, 46, 52, 74, 76, 78, 132, 156, 209, 249, 263f., 305, 311, 320, 334, 373, 383, 555, 594 Puschner, Marco 411 Quaas, Ingeborg 23, 110 Raab, Heribert 355 Raddatz, Frank 124, 164, 275f., 292, 296, 301f., 320, 345, 363, 428, 431f., 441, 446, 452, 457, 459, 468, 475, 482, 486f., 490f., 493, 495, 589 Raddatz, Fritz J. 7, 43, 179 Rajk, Laszlo 464 Rank, Sven 353 Reck, Hans Ulrich 499 Redeker, Horst 196 Reed, John 88, 90 Rehbein, Boike 11, 27 Rehfeld, Swantje 405 Reichl, Karl 262 Reich-Ranicki, Marcel 340 Reichwald, Fred 52 Reimann, Andreas 553 Reimmann, Jacob Friedrich 6 Reincke, Olaf 403, 407, 409f., 558

Index | 683

René I. d’Anjou (René der Gute) 250 Renner, Ursula 119 Reso, Martin 333 Rey, William H. 233 Richter, Hans 332, 557 Richter, Manfred 50f., 65, 68f. Richter, Werner 65 Riedel, Volker 190, 511, 524 Riesman, David 371f. Rihm, Wolfgang 466f. Rimbaud, Arthur 457, 501 Rischbieter, Henning 96, 191, 197f., 280, 300, 323, 582 Ritter, Heidi 184f., 231, 411 Ritter, Joachim 228, 287, 422 Rödel, Fritz 47, 69, 75 Rodenberg, Hans 192 Röder, Levin D. 13, 478 Roeder, Caroline 199 Roesler, Jörg 221, 226, 328f. Röhl, Klaus Rainer 481 Rohmer, Rolf 367 Rohner, Ludwig 9 Rosellini, Jay 566f. Rosenberg, Rainer 5, 8, 396 Rosenfeld, Hellmut 512 Rösler, K. 340 Rossade, Werner 58 Rothmann, Kurt 5 Rücker, Günther 54, 375, 508, 510, 559, 561 Rudolph, Johanna 190 Rühle, Günther 533 Rülicke, Käthe 31, 33, 92, 97 Runge, Erika 370 Rüter, Christoph 591 Rüther, Günther 87, 99 Saadhoff, Jens 335, 388, 393f., 400f., 403 Safranski, Rüdiger 391 Sakowski, Helmut 331 Salheiser, Axel 21 Salomon, Horst 540 Sand, Uwe 83 Sander, Hans-Dietrich 68, 307 Sanders, Ed 482 Sänger, Uwe 458 Sapiro, Gisèle 24 Sartre, Jean-Paul 161, 177, 189, 481 Sauerland, Karol 280, 290

Schaefer, Hansjürgen 538 Schäfers, Bernhard 110 Schalk, Axel 443, 452, 456 Schall, Ekkehard 543 Schandera, Gunter 393 Schanze, Helmut 232 Scharfschwerdt, Jürgen 334, 388 Scheid, Judith R. 233, 236f. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 395f. Schemel, Bianca 162 Schenk, Fritz 188 Schernikau, Ronald M. 215, 605 Schildt, Axel 32 Schiller, Dieter 26, 42f., 110, 393, 395 Schiller, Friedrich 57f., 190, 202, 231f., 234, 236, 239, 242, 251, 261, 269, 294f., 350, 353f., 379, 382, 452, 463 Schillers, Friedrich 231, 239, 252 Schirdewan, Karl 42 Schivelbusch, Wolfgang 81, 104, 177, 198, 279, 343, 385, 528 Schleef, Einar 345, 367, 534 Schlegel, August Wilhelm 383, 555 Schlegel, Friedrich 231, 252, 327, 382, 396, 398f., 401, 407ff., 416ff., 423f., 552, 554f., 557ff., 604, 610 Schleiermacher, Friedrich 399 Schleifstein, Josef 231, 389 Schlenker, Wolfram 58 Schlenstedt, Dieter 213, 337, 549 Schleyer, Winfried 74, 168, 179, 259, 266, 269 Schlich, Jutta 124 Schlösser, Anselm 366f., 370, 372, 376 Schmalzriedt, Egidius 334 Schmaus, Marion 240 Schmidt, Arno 554 Schmidt, Gertrud 70f. Schmidt, Getrud 191 Schmidt, Ingo 2, 37, 344 Schmidt, Jochen 180 Schmidt, Karl-Heinz 602 Schmidt, Karl-Wilhelm 480 Schmidt, Matthias 345, 533 Schmidt, Wolf Gerhard 40, 43, 48, 50, 64, 68f., 82ff., 87, 92, 140, 163, 178f., 182, 190, 350, 353 Schmitt, Carl 391, 412, 494 Schmitt, Hans-Jürgen 5, 334, 392, 394, 405 Schmitt, Rainer E. 448

684 | Index

Schmitz, Walter 204 Schnedl-Bubeniček, Hanna 420 Schneider, Manfred 119, 288, 291, 448 Schneider, Michael 586 Schneider, Peter 339 Schneider, Rolf 568f. Schneikart, Monika 401 Schnell, Ralf 6, 178 Schock, Ralph 204 Scholz, Gerhard 394 Schopenhauer, Arthur 241 Schramm, Godehard 334 Schröder, Jürgen 43, 162, 179, 187, 336 Schroeder, Max 33 Schröter, Susanne 490 Schubert, Manfred 539 Schuhmann, Klaus 212 Schüle, Annegret 19 Schülting, Sabine 354, 363, 465, 489 Schultz, Franz 417 Schultz, Helga 217 Schulz, Genia 35, 102, 148, 153, 156, 164, 171, 200, 279, 315ff., 361, 409, 430, 437, 440ff., 450, 473, 482, 486, 604 Schulz, Kristin 55, 161, 172 Schulz, Max Walter 576 Schumacher, Ernst 38, 48, 197, 273, 280, 541, 544ff., 550, 578, 582 Schütrumpf, Jörn 103 Schütte, Uwe 283 Schütz, Stefan 345 Schütze, Peter 33, 59, 62, 74, 188, 203, 211f., 235f., 238 Schwan, Heribert 567 Schwarz, Jewgeni 341 Schwarz, Otto 39 Schwarzer, Bert 467, 485f., 494 Schweikart, Hans 31 Schwender, Clemens 239 Schwering, Markus 391, 415f. Scott, Walter 252, 261, 270 Scotts, Walter 252, 270 Scribe, Eugène 547 Seeger, Horst 539 Seeger, Kurt 69 Segebrecht, Wulf 552 Seghers, Anna 19, 138, 157, 161, 194, 405, 438f. Seibel, Wolfgang 435, 443 Seibt, Gustav 415

Serke, Jürgen 36 Shakespeare, William 58, 64, 141, 149, 152, 198, 202, 208, 218f., 242, 252, 255, 312, 334, 341, 349ff., 357f., 360ff., 365ff., 369f., 373, 376ff., 387, 426, 430, 464ff., 472, 476, 479, 484f., 487ff., 494, 498, 504, 507, 606f., 610 Shaw, George Bernhard 107, 371 Shelley, Mary 514 Siegfried, Detlef 32, 41 Silberman, Marc 296, 315 Skare, Roswitha 6 Slevogt, Esther 70, 191, 381 Solschenizyn, Alexander 579, 611 Solter, Friedo 507, 535ff., 544, 546 Sontheimer, Walther 312, 559 Sophokles 246f., 275ff., 281f., 286, 293, 369 Söring, Jürgen 276 Soubeyran, Brigitte 563 Spoerhase, Carlos 9 Springer, Bernd 398 Staadt, Jochen 40 Stachowiak, Herbert 281 Stalin, Josef 81, 279, 361, 393, 597 Stamm, Marcelo 51 Stanislawski, Konstantin S. 40 Stanton, Kay 489 Staritz, Dietrich 135, 142, 221, 226, 329, 338 Starke, Manfred 336 Steffin, Margarete 113 Stegemann, Bernd 616 Steiger, Klaus-Peter 351 Steineckert, Gisela 565, 573 Steiner, André 135, 142, 221, 329 Steinhorst, Heike 335 Steinmetz, Rüdiger 475 Steinweg, Reiner 64 Stenzel, Jürgen 10 Stephan, Erika 14 Stern, Fritz 32, 161f. Stierle, Karlheinz 430 Stillmark, Hans-Christian 2, 137, 140, 145, 150, 323, 405, 560, 615 Stockhorst, Stefanie 428 Stockinger, Claudia 232 Stolper, Armin 178, 190 Storch, Wolfgang 586 Stöver, Bernd 32, 199 Strahl, Rudi 239, 341

Index | 685

Streisand, Marianne 88, 100, 102f., 105, 136, 149, 153, 157, 159, 161, 164, 173 Strich, Fritz 390f., 417 Strittmatter, Erwin 25, 140f., 152, 192f., 508, 571 Stuber, Petra 1, 20, 40, 50, 344f., 535, 563 Stucke, Frank 70, 188, 199, 248, 513, 521ff., 592, 596 Suárez Sánchez, Fernando 247 Sue, Eugène 458 Sulzer, Johann Georg 494 Suschke, Stephan 584 Swaanswyk, Lubertus Jacobus 33 Swartz, David 11 Symington, Rodney T. K. 357 Synge, John M. 33 Szeemann, Harald 499 Sziklai, László 393 Szondi, Peter 210 Szymani, Ewa 3, 165, 270f., 274 Tate, Dennis 406 Taterka, Thomas 18f., 22f., 25 Teichmann, Klaus 443 Teraoka, Arlene Akiko 458, 482, 484, 487, 493, 495 Teroerde, Heiner 108 Teschke, Holger 337, 345, 367 Thälmann, Ernst 439 Theuer, Werner 566 Thiel, Jens 214, 273 Thiele, André 212, 612 Thomä, Dieter 114 Thomsen, Christian W. 370 Thomson, George Derwent 247, 249 Thron, Helga 514 Tichy, Frank 226 Tieck, Ludwig 399, 406, 423, 555, 561 Tillyard, E. M. W. 354 Tjahjandari, Lily 29 Tolstoj, Leo 319 Torquato Tasso 178 Totten, Monika 404 Tragelehn, B. K. 4, 46, 50, 52, 55f., 67, 70, 72, 90, 95, 106, 112, 136ff., 141, 154, 186, 198, 352, 354, 363f., 367, 379, 534 Tragelehn, Christa 138 Träger, Claus 400ff. Trebeß, Achim 12, 28

Trilse, Chistoph 177f., 190, 231, 236, 251f., 259, 265, 272, 279 Trilse, Christoph 2, 69, 74, 77, 84, 178, 189f., 252, 272, 310, 312, 383, 516, 526f., 541 Trolle, Lothar 337, 345 Trommler, Frank 18, 319f., 332 Trotzki, Leo 299 Turk, Horst 1f., 153f., 158f. Uhland, Ludwig 398, 421 Ulbricht, Walter 18, 42, 47, 50, 85, 135, 137, 141, 191, 196, 206, 219ff., 227, 241f., 273, 312, 314, 322, 327ff., 346f., 411, 504, 509, 575, 591f., 609 Ullrich, Renate 40 Umbrecht, Bernard 584 Unseld, Siegfried 323, 480 Urbahn de Jauregui, Heidi 166, 224, 253, 255, 261, 264, 267, 504, 595f. Vanovitch, Katherine 165f. Vasoli, Cesare 421 Vaßen, Florian 2, 37, 113f., 117, 119, 284, 296, 344, 405, 480 Verner, Paul 193, 574 Vester, Heinz-Günter 110 Viehoff, Reinhold 475 Vieregge, André 513 Vietta, Egon 31 Vischer, Friedrich Theodor 417 Visser, Anthonya 333 Vogel, Juliane 232 Vogt. Ludgera 19 Voigt, Peter 586 Voltaire 452, 591, 597 Vonhoff, Gert 269 Voßkühler, Friedrich 241 Vulpius, Jutta 539 Wacquant, Loic J. 24, 112 Wagener, Hans-Jürgen 217 Wagner, Heinrich Leopold 58, 70f., 515 Wagner, Richard 203, 224, 319, 409, 424, 600, 604 Wagner, Siegfried 47, 138, 140f., 149, 324 Wahl, Stefanie 41 Walch, Günter 366 Walther, Joachim 15, 331 Wangenheim, Gustav von 49, 191

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Warhol, Andy 498 Warnke, Camilla 389 Warnke, Uwe 23, 110 Way, Ingo 2, 173, 226 Weber, Carl 464, 484, 491, 497 Weber, Heinz-Dieter 428, 444 Weber, Hermann 83 Weber, Johannes 420 Weber, Max 216f. Weber, Peter 403 Weber, Richard 50, 480, 487 Weber, Ronald 2f., 33, 113, 132, 194, 323, 341f., 548, 580ff. Weber, Thomas 124 Weerth, Georg 333 Wehler, Hans-Ulrich 216f. Wehmeier, Jörg 383 Wehren, Michael 246 Weidermann, Volker 1 Weigel, Alexander 83, 137, 191, 193f., 197 Weigel, Helene 131 Weiler, Christel 464 Weimann, Robert 218f., 222, 366f., 508 Weimar, Klaus 442, 466, 497 Weis, Norbert 9 Weiskopf, F. C. 36, 207 Weiss, Peter 370, 565 Weitin, Thomas 452f., 461f., 466 Wekwerth, Manfred 4, 33, 132, 151, 511, 534, 583 Wendt, Ernst 191 Weninger, Robert 9 Wenzke, Rüdiger 42 Werner, Hans-Georg 58, 75, 83f., 388, 401, 403 Werner, Hendrik 440 Werner, Klaus 239, 398, 504 Werner, Zacharias 423 Wertheim, Albert 211 Wertow, Dsiga 439 White, Hayden 7 Wiede, Anna Elisabeth 31, 33, 54, 80, 126ff., 130ff., 375, 508 Wieghaus, Georg 448, 454, 496f. Wieland, Rayk 597 Wiens, Paul 48, 92, 571 Wilczek, Markus 283, 288 Wilhelm, Frank 141, 146

Wilke, Judith 480 Willer, Stefan 401 Willink, Carel 486 Wilpert, Gero von 70, 77 Wilson, John Dover 494 Wilson, Peter H. 219 Wilson, Robert 464, 589 Winckler, Lutz 19 Winnacker, Susanne 316ff. Winter, Winter 468 Winters, Peter Jochen 221, 226, 329 Wirbelauer, Eckhard 292 Wirth, Uwe 598 Wischnewski, Wsewolod W. 58 Wittek, Bernd 598 Wogatzki, Benito 508 Wolf, Christa 19, 206, 331, 340, 404ff., 422, 426, 508, 549, 568f., 571, 598, 603, 609 Wolf, Friedrich 28, 43, 49, 71, 162 Wolf, Gerhard 405, 451, 568 Wolf, Norbert Christian 11 Wölfel, Ute 24 Wolff, Udo W. 75 Wolle, Stefan 191, 221, 327, 339, 564 Wrage, Henning 6, 11f., 17, 22, 135, 196 Wulf, Christoph 162 Wünscher, Marianne 543 Würffel, Stefan Bodo 398 Zacharias, Ute 392 Zahn, Günter 460, 485, 491f. Zander, Horst 383 Zehm, Günter 374f. Zelle, Carsten 295 Zetkin, Clara 242 Ziegler, Konrat 312, 559 Zimmermann, Peter 88, 97 Zinner, Hedda 52, 54, 112, 159 Ziomek, Jerzy 168 Zipes, Jack 43, 177, 179 Zipser, Richard A. 17, 505 Zirmunskji, Viktor 51 Zöllner, Ivo 539 Zöllner, Mara 190 Zumbrink, Volker 479 Zwerenz, Gerhard 59