Ausnahmebestimmungen im Warenhandel im WTO- und EU-Recht [1 ed.] 9783428539017, 9783428139019

In der WTO und in der EU bestehen Ausnahmebestimmungen zur Rechtfertigung von legitimen Schutzzielen im Warenhandel. Die

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Ausnahmebestimmungen im Warenhandel im WTO- und EU-Recht [1 ed.]
 9783428539017, 9783428139019

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Hamburger Studien zum Europäischen und Internationalen Recht Band 59

Ausnahmebestimmungen im Warenhandel im WTOund EU-Recht

Von

Tim Stoberock

Duncker & Humblot · Berlin

TIM STOBEROCK

Ausnahmebestimmungen im Warenhandel im WTO- und EU-Recht

Hamburger Studien zum Europäischen und Internationalen Recht Herausgegeben von Thomas Bruha, Armin Hatje, Meinhard Hilf, Hans Peter Ipsen †, Rainer Lagoni, Gert Nicolaysen, Stefan Oeter

Band 59

Ausnahmebestimmungen im Warenhandel im WTOund EU-Recht

Von

Tim Stoberock

Duncker & Humblot · Berlin

Der Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Hamburg hat diese Arbeit im Jahre 2012 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2013 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0945-2435 ISBN 978-3-428-13901-9 (Print) ISBN 978-3-428-53901-7 (E-Book) ISBN 978-3-428-83901-8 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Diese Arbeit wurde im Wintersemester 2011 / 2012 von der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Hamburg angenommen. Zu der Entstehung dieser Arbeit haben viele beigetragen. Mein Dank gilt insbesondere Herrn Prof. Dr. Thomas Bruha, der die Arbeit betreut und zahlreiche wertvolle Anregungen gegeben hat. Herrn Prof. Dr. Armin Hatje danke ich für die sehr zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Im privaten Bereich bedanke ich mich herzlich bei meinen Eltern und meinen Schwestern, die mir während des Studiums, des Referendariats und der Promotionszeit, aber auch darüber hinaus, immer beiseite standen. Ganz besonderer Dank gebührt meiner Frau, Dr. med. Konstanze Stoberock, und unserem Sohn Johann. Ihnen ist diese Arbeit gewidmet. Meiner Frau, weil ich ohne ihre Liebe, Zuversicht und Zusprache diese Arbeit nicht beendet hätte. Johann, weil er zehn Monate und einfach wunderbar ist. Hamburg, im April 2013

Tim Stoberock

Inhaltsverzeichnis A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 B. Vergleich der Reichweite der Warenverkehrsfreiheit und des liberalisierten Warenhandels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 I. Regulierung der Zölle, zollgleicher Abgaben und der mengenmäßigen Beschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 1. Regulierung der Zölle und der zollgleichen Abgaben . . . . . . . . . . . 20 a) Zölle und zollgleiche Abgaben im WTO-Recht . . . . . . . . . . . . . 21 aa) Behandlung von Zöllen im WTO-Recht . . . . . . . . . . . . . . . 21 bb) Behandlung von „anderen Abgaben und Belastungen“ im WTO-Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 cc) Ausnahmebestimmungen zu den gebundenen Zoll­ zugeständnissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 (1) Änderung oder Zurücknahme von Zollzugeständnissen im Fall einer Verschlechterung der Wechselkurse (Art. II:6 GATT) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 (2) Änderung oder Zurücknahme von Zollzugeständ­nissen im Rahmen von Verhandlungen (Art. XXVIII:1 GATT) . 25 (3) Änderung oder Zurücknahme von Zollzugeständnissen im Falle besonderer Umstände (Art. XXVIII:4 GATT)  . 26 (4) Die Ausnahmebestimmung für die Abweichung von gebundenen „anderen Abgaben und Belastungen“ . . . . 27 dd) Direkte Anwendbarkeit der gemachten Zollzugeständnisse . 27 b) Verbot von Zöllen oder Abgaben gleicher Wirkung im EU-Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 aa) Das Zollverbot im EU-Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 bb) Das Verbot von Abgaben zollgleicher Wirkung . . . . . . . . . . 29 cc) Zulässige Gebühren  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 c) Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 2. Regulierung der mengenmäßigen Beschränkungen . . . . . . . . . . . . . 34 a) Mengenmäßige Beschränkungen im WTO-Recht . . . . . . . . . . . . 34 aa) Die ursprünglichen Ausnahmebestimmungen für Textil­ waren und Agrarerzeugnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 bb) Ausnahmebestimmung für den Fall der Mangelversorgung . 37 cc) Ausnahmen zur Förderung des Ausfuhrmarketings . . . . . . . 37 dd) Ausnahmebestimmungen für Erzeugnisse der Land­ wirtschaft und der Fischerei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 ee) Ausnahmebestimmungen zum Schutz der Zahlungsbilanz  . 40

8 Inhaltsverzeichnis ff) Allgemeine Anforderungen des Art. XIII GATT an mengen­mäßige Beschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 b) Mengenmäßige Beschränkungen im EU-Recht . . . . . . . . . . . . . 42 c) Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 II. Behandlung diskriminierender steuerlicher Maßnahmen im Recht von WTO und EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 1. Behandlung diskriminierender steuerlicher Maßnahmen im Recht der WTO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 a) Das Verbot des Art. III:2 Satz 1 GATT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 aa) Gleichartige Waren i. S. d. Art. III:2 Satz 1 GATT . . . . . . . . 48 bb) Höhere Abgabe oder sonstige Belastungen . . . . . . . . . . . . . 49 b) Das Verbot des Art. III:2 Satz 2 GATT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 aa) Unmittelbar konkurrierende oder zum gleichen Zweck geeignete Ware . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 bb) Das Erfordernis der ähnlichen Besteuerung . . . . . . . . . . . . . 52 cc) Schutz der heimischen Herstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 2. Das Verbot der diskriminierenden Besteuerung im EU-Recht . . . . 53 a) Das Verbot der Steuerdiskriminierung des Art. 110 Abs. 1 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 aa) Der Begriff der „gleichartigen“ Ware . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 bb) Der Begriff der „Diskriminierung“  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 b) Das Verbot protektionistischer Abgaben des Art. 110 Abs. 1 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 aa) Der Begriff des „Wettbewerbsverhältnisses“ . . . . . . . . . . . . 57 bb) Der Begriff der „Schutzwirkung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 c) Ausnahmen für legitime Schutzziele nach der Maßgabe „objektiver Kriterien“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 3. Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 III. Behandlung von innerstaatlichen Maßnahmen, die den Warenhandel beeinträchtigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 1. Das Prinzip der Inländergleichbehandlung im WTO-Recht in Bezug auf nichtsteuerliche Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 a) Vorliegen eines Gesetzes, einer Verordnung oder einer ­sonstigen Vorschrift i. S. d. Art.  III:4 GATT . . . . . . . . . . . . . . . . 63 b) Gleichartige Waren i. S. d. Art.  III:4 GATT . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 c) Keine weniger günstige Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 d) Ausnahmen von der Inländergleichbehandlung . . . . . . . . . . . . . 66 2. Das Verbot von Maßnahmen gleicher Wirkung wie mengenmäßiger Beschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 3. Das Verbot des Art. 35 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 4. Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 IV. Instrumentarien im WTO-Recht zur Erreichung eines liberalisierten Warenhandels ohne Äquivalent im EU-Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 1. Das Prinzip der Meistbegünstigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77

Inhaltsverzeichnis9 a) Handelsvorteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 b) Der Begriff der gleichartigen Waren i. S. d. Art. I:1 GATT . . . . 79 c) Unverzügliche und bedingungslose Gewährung des Vorteils . . 80 d) Spezifische Ausnahmen zum Prinzip der Meistbegünstigung . . 80 2. Andere nichttarifäre Handelshemmnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 3. Vergleich mit dem EU-Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 V. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht . . . . . . 85 I. Überblick über die im WTO- und EU-Recht enthaltenen Ausnahmebestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 1. Überblick über die Ausnahmebestimmungen im WTO-Recht . . . . 86 2. Überblick über die Ausnahmebestimmungen im EU-Recht . . . . . . 86 3. Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 II. Vergleich der allgemeinen Voraussetzungen der wichtigsten Ausnahmebestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 1. Allgemeine Voraussetzungen des Art. XX GATT . . . . . . . . . . . . . . 89 a) Prüfungsstandort und Zweck des Chapeaus . . . . . . . . . . . . . . . . 89 b) Keine willkürliche und ungerechtfertigte Diskriminierung . . . . 90 c) Keine verschleierte Beschränkung des internationalen Handels . 92 d) Auslegung des Art. XX GATT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 e) Beweislastverteilung im Rahmen des Art. XX GATT . . . . . . . . 95 aa) Beweislastverteilung bei der Anwendung gesundheits­ polizeilicher und pflanzenschutzrechtlicher Maßnahmen zur Verfolgung der Schutzziele des Art. XX lit. b) GATT  . 96 bb) Beweislastverteilung bei der Verfolgung von Zielen des Umweltschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 f) Die Möglichkeit eines Schutzes extraterritorialer Schutzziele . . 100 2. Allgemeine Voraussetzungen des Art. 36 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . 103 a) Auslegung des Art. 36 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 b) Beweislastverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 c) Keine willkürliche Diskriminierung oder verschleierte Handelsbeschränkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 d) Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 e) Die Möglichkeit eines Schutzes extraterritorialer Schutzziele . . 109 3. Allgemeine Voraussetzungen der Cassis-Formel . . . . . . . . . . . . . . . 113 a) Entwicklung der Cassis-Formel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 b) Die Cassis-Formel als Schutzbereichsbegrenzung oder Rechtfertigungsgrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 c) Die „zwingenden Erfordernisse“ der Cassis-Formel . . . . . . . . . 115 d) Verhältnismäßigkeitsprüfung und Behandlung von diskriminierenden Maßnahmen im Rahmen der Cassis-Formel . . . . . . . . . 118 e) Auswirkungen der Rechtsache Cassis de Dijon . . . . . . . . . . . . . 119 4. Allgemeine Voraussetzungen der „objektiven Kriterien“ im Rahmen des Art. 110 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120

10 Inhaltsverzeichnis 5. Vergleich der allgemeinen Voraussetzungen der Ausnahmebestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 a) Rechtsquellen der Ausnahmebestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . 124 b) Kein Verhältnismäßigkeitsprinzip im WTO-Recht . . . . . . . . . . . 126 c) Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Anforderungen an die Auslegung der Art. XX GATT und Art. 36 AEUV . . . . . . . 128 d) Möglichkeiten eines Schutzes extraterritorialer Schutzziele . . . 130 e) Beweislastverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 f) Gemeinsamkeiten und Unterschiede des Chapeau des Art. XX GATT und des Art. 36 S. 2 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 g) Sonstige Gemeinsamkeiten und Unterschiede . . . . . . . . . . . . . . 138 III. Vergleich ähnlicher Ausnahmebestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 1. Der Schutz der öffentlichen Sittlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 a) Der Schutz der öffentlichen Sittlichkeit im WTO-Recht . . . . . . 140 aa) Handelshemmnisse zum Schutz der öffentlichen Sittlichkeit der eigenen Bevölkerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 bb) Extraterritoriale Anwendungsmöglichkeit des Art. XX lit. a) GATT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 (1) Der Schutz der Menschenrechte als Belang der öffentlichen Sittlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 (2) Schutz sozialer Mindestrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 (3) Maßnahmen zur Beendigung tierquälerischer Handlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 cc) Die Auslegung des Notwendigkeitskriteriums . . . . . . . . . . . 169 b) Der Schutz der öffentlichen Sittlichkeit im EU-Recht  . . . . . . . 170 c) Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 2. Schutz von Gesundheit und Leben von Menschen, Tieren oder Pflanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 a) Schutz des Lebens und der Gesundheit von Menschen, Tieren und Pflanzen im WTO-Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 aa) Das Schutzniveau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 (1) Rechtfertigungsmöglichkeit des Art. XX lit. b) GATT für sog. globale Umweltgüter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 (2) Extraterritoriale Anwendung des Art. XX lit. b) GATT . 183 bb) Das Notwendigkeitskriterium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 (1) Auslegung des Notwendigkeitskriteriums durch die Streitbeilegungsorgane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 (2) Kritik an der Auslegung des Notwendigkeitskriteriums durch die Streitbeilegungsgremien  . . . . . . . . . . . . . . . . 190 (3) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 cc) Verhältnis des Art. XX lit. b) GATT zum ÜSPS . . . . . . . . . 193 dd) Verhältnis des Art. XX lit. b) GATT zum ÜTBT . . . . . . . . . 194 b) Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen, Tieren oder Pflanzen im EU-Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195

Inhaltsverzeichnis11 aa) Schutz des Lebens und der Gesundheit von Menschen . . . . 196 (1) Das Durchführen von gesundheitsbehördlichen Grenzkontrollen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 (2) Die Festsetzung von Grenzwerten  . . . . . . . . . . . . . . . . 199 (3) Das Verbot von Zusatzstoffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 (4) Die Gewährleistung der medizinischen Grund­ versorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 (5) Umweltschützende Maßnahmen im Schutzbereich dieser Ausnahmebestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 bb) Schutz der Gesundheit und des Lebens von Tieren oder Pflanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 (1) Maßnahmen zum Schutz von Tier- oder Pflanzenarten . 202 (2) Maßnahmen zum Schutz des Wohlbefindens von Tieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 c) Vergleich zwischen dem Schutz von Gesundheit und Leben von Menschen, Tieren und Pflanzen im EU- und WTO-Recht . 206 3. Ausnahmen zum Schutz des nationalen Kulturgutes von künst­ lerischem, geschichtlichem oder archäologischem Wert . . . . . . . . . 212 a) Die Ausnahmebestimmung des Art. XX lit. f) GATT . . . . . . . . 212 aa) Nationales Kulturgut von künstlerischem, geschichtlichem oder archäologischem Wert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 bb) Das Relationselement des Art. XX lit. f) GATT . . . . . . . . . 215 b) Ausnahmen zum Schutz des nationalen Kulturgutes von künst­ lerischem, geschichtlichem oder archäologischem Wert auf Ebene der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 aa) Der Kulturgutbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 bb) Die Einstufung eines Kulturgutes als ein nationales Kulturgut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 c) Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 4. Ausnahmebestimmungen zum Schutz geistiger Schutzrechte . . . . . 225 a) Die Ausnahmebestimmung des Art. XX lit. d) GATT . . . . . . . . 226 aa) Anwendung der Maßnahme zur Durchsetzung eines selber nicht GATT-widrigen Gesetzes oder Vorschrift . . . . . . . . . . 227 (1) Gesetze oder sonstige Vorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . 227 (aa) Art. XX lit. d) GATT als Rechtfertigungsmöglichkeit für den Schutz geistiger Schutzrechte . . . 227 (bb) Art. XX lit. d) als Rechtfertigungsmöglichkeit für andere legitime Schutzziele . . . . . . . . . . . . . . 230 (2) In Übereinstimung mit dem GATT . . . . . . . . . . . . . . . . 232 (3) Anwendung der Maßnahme zur Umsetzung der Gesetze oder sonstiger Vorschriften . . . . . . . . . . . . 232 cc) Das Notwendigkeitskriterium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 b) Die Ausnahmebestimmung zum Schutz geistiger Schutzrechte im EU-Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 c) Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235

12 Inhaltsverzeichnis 5. Ausnahmen aus Gründen der Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 a) Ausnahmen zur Wahrung der Sicherheit im WTO-Recht . . . . . 239 aa) Praktische Anwendung des Art. XXI GATT . . . . . . . . . . . . 239 bb) Möglichkeit der rechtlichen Überprüfung der Ausnahme­ bestimmung des Art. XXI GATT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 cc) Die einzelnen Ausnahmebestimmungen des Art. XXI GATT . 246 (1) Das Auskunftsverweigerungsrecht des Art. XXI lit. a) GATT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 (2) Die Ausnahmen des Art. XXI lit. b) GATT . . . . . . . . . 247 (3) Die Ausnahmebestimmung des Art. XXI lit. c) GATT . 251 b) Ausnahmen zur Wahrung der Sicherheit im EU-Recht . . . . . . . 251 aa) Die Ausnahmebestimmung zur Wahrung der Sicherheit des Art. 36 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 bb) Die Ausnahme zur Wahrung der Sicherheit aufgrund „objektiver Kriterien“ im Rahmen des Art. 110 AEUV . . . . 254 cc) Die Ausnahmebestimmungen zur Wahrung der Sicherheit der Art. 346 ff. AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 (1) Die Ausnahmebestimmungen des Art. 346 AEUV . . . . 255 (2) Die Ausnahmebestimmungen des Art. 347 AEUV . . . . 256 (3) Die Missbrauchskontrolle der Ausnahmebestimmungen der Art. 346 und Art. 347 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 c) Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 6. Ausnahmen aufgrund von Schutzmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 a) Die Ausnahmen für Schutzmaßnahmen im WTO-Recht . . . . . . 263 aa) Voraussetzungen für die Verhängung von Schutzmaßnahmen und vorheriges Verwaltungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 bb) Arten, Dauer und Kompensationen für Schutzmaßnahmen  . 265 b) Die ehemaligen Ausnahmebestimmungen für Schutzmaßnahmen im EU-Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 c) Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 7. Ausnahmen im Rahmen der Subventionskontrolle . . . . . . . . . . . . . 270 a) Ausnahmeregelungen im ÜSCM . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 b) Grundzüge der Ausnahmeregelungen über Beihilfen im EU-Vertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 c) Gegenüberstellung von Ausnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 aa) Art. 29 ÜSCM und Art. 107 Abs. 2 lit. c) AEUV . . . . . . . . 272 bb) Ausnahmen in der Subventionskontrolle für Entwicklungsländer und Regionalförderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 (1) Entwicklungsländer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 (2) Regionalförderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 (3) Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 cc) „De-minimis“-Regel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 dd) Landwirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278

Inhaltsverzeichnis13 ee) Ausnahmen im Subventionskontrollrecht der WTO ohne Äquivalent im EU-Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 ff) Ausnahmebestimmungen im Beihilfenrecht der EU ohne Äquivalent im WTO-Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 IV. Ausnahmebestimmungen im WTO-Recht ohne Äquivalent im EURecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 1. Die Ausnahmebestimmung des Art. XX lit. c) GATT zur Rechtfertigung handelsbeschränkender Maßnahmen für die Ein- oder Ausfuhr von Silber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 2. Ausnahmen für in Strafvollzugsanstalten hergestellte Waren . . . . . 287 a) Die Auslegung der Ausnahmebestimmung des Art. XX lit. e) GATT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 b) Keine entsprechende Ausnahmebestimmung im EU-Recht . . . . 290 3. Die Ausnahmebestimmungen des Art. XX lit. g) GATT . . . . . . . . . 292 a) Die Voraussetzungen des Art. XX lit. g) GATT . . . . . . . . . . . . . 293 aa) Der Begriff der erschöpflichen Naturschätze . . . . . . . . . . . . 293 bb) Das Relationselement des „relating to-Erfordernisses“ . . . . 294 cc) Inländische Beschränkungen der Produktion oder des ­Verbrauchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 b) Möglichkeit eines Schutzes extraterritorialer Schutzziele durch den Art. XX lit. g) GATT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 c) Keine entsprechende Ausnahmebestimmung im EU-Recht . . . . 298 4. Die Ausnahmebestimmung des Art. XX lit. h) GATT für interna­ tionale Rohstoffabkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 5. Die Ausnahmebestimmung des Art. XX lit. i) GATT . . . . . . . . . . . 303 6. Die Ausnahmebestimmung des Art. XX lit. j) GATT für Waren, an denen ein Mangel besteht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 7. Der Waiver als allgemeine Ausnahmebestimmung . . . . . . . . . . . . . 308 8. Die Nichtanwendungsklausel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 9. Ausnahmebestimmungen für bestimmte Waren (Textilien und Agrar­produkte) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 10. Ausnahmen für Entwicklungsländer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 a) Die Ausnahmebestimmung des Art. XVIII GATT . . . . . . . . . . . 312 b) Die Ausnahmebestimmung der „enabling clause“ . . . . . . . . . . . 314 c) Kein Äquivalent auf Ebene der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 11. Die Ausnahmebestimmung des Art. XXIV GATT für regionale Handelsabkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 V. Ausnahmebestimmungen im EU-Recht ohne Äquivalent im WTORecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 1. Die Ausnahmebestimmung des Art. 36 AEUV zum Schutz der öffentlichen Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 a) Die Auslegung der Ausnahmebestimmung des Art. 36 AEUV . zum Schutz der öffentlichen Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 b) Kein Äquivalent zum legitimen Schutzziel der öffentlichen Ordnung im GATT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320

14 Inhaltsverzeichnis 2. Die Ausnahmebestimmung zum Schutz der Umwelt . . . . . . . . . . . 321 a) Der Umweltschutz als „zwingendes Erfordernis“ und „objektives Kriterium“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 b) Der Umweltschutz als Ausnahmebestimmung im WTO-Recht . 324 c) Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 3. Schutz der Menschenrechte  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 a) Der Schutz der Menschenrechte als „zwingendes Erfordernis“ . 327 b) Der Schutz der Menschenrechte im WTO-Recht . . . . . . . . . . . . 328 c) Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 4. Schutz der Arbeitsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 a) Der Schutz der Arbeitsbedingungen im EU-Recht . . . . . . . . . . . 332 b) Kein Schutz von Arbeitsbedingungen im WTO-Recht . . . . . . . 333 c) Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 5. Die Ausnahmebestimmung des Verbraucherschutzes . . . . . . . . . . . . 335 a) Der Verbraucherschutz als Ausnahmebestimmung im EU-Recht . 335 b) Rechtfertigungsmöglichkeiten für verbraucherschützende Maßnahmen im WTO-Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 c) Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 6. Ausnahmebestimmungen zum Schutz kultureller Interessen . . . . . . 339 a) Die Ausnahmebestimmung zum Schutz kultureller Interessen im EU-Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 b) Rechtfertigungsmöglichkeiten für kulturelle Interessen im WTO-Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 c) Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 7. Andere Ausnahmebestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 D. Resümee  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368

„It is the maxim of every prudent master of a family, never to attempt to make at home what it will cost him more than to buy … What is prudence in the conduct of every private family, can scarce be folly in that of a great kingdom“ Adam Smith, An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, 17761

A. Einleitung Von Adam Smith ausgehend entwickelte sich das Konzept des Freihandels. Danach führt Freihandel zu einer Spezialisierung der Hersteller. Durch die Spezialisierung entstehen komparative Wettbewerbsvorteile, die wiederum zu einer maximalen Wohlfahrtssteigerung von Verbrauchern führen und eine optimale Allokation und effiziente Nutzung der weltweiten Ressourcen sichern.2 Seit dem Ende des zweiten Weltkrieges setzte sich das Konzept des Freihandels immer stärker durch. Auf der regionalen Ebene ist hier die EU als erfolgreichstes Beispiel anzuführen, während die WTO Prinzipien des Freihandels auf einer weltweiten Ebene umsetzt. Nach Art. 26 AEUV gehört die Verwirklichung eines Binnenmarktes zu den Schlüsselzielen der Europäischen Gemeinschaft. Zudem soll durch die Wirtschafts- und Währungsunion eine gemeinsame stabile Währung bei gesunder Finanzlage der Mitgliedsstaaten verwirklicht werden.3 Das GATT-Abkommen von 1947 („GATT“) und die Institutionalisierung des GATT in Form der Gründung der WTO verfolgten hingegen das Ziel den internationalen Warenhandel zu liberalisieren und sind somit in ihren Grundprinzipien dem freien Welthandel verpflichtet, welcher sich an marktwirtschaftlichen Grundsätzen orientiert.4 Hierdurch sollen die Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zwischen den partizipierenden Staaten verbessert werden, um so z. B. die Sicherung der Vollbeschäftigung, die Erhöhung des Lebensstandards und die Ausweitung der Produktion und des Handels mit Waren und Dienstleistungen zu erreichen. Gleichzeitig soll den Entwick1  Adam Smith, An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, 1776, zitiert in: Bernard, S. 3. 2  Kennedy, S. 3. 3  Herdegen, § 25 Rn. 2. 4  Wenig / Schübel, EuZW 1999, S. 545; Herrmann, ZEuS 2001, 454, 482; Her­ degen, Internationales Wirtschaftsrecht, § 7 Rn. 20.

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A. Einleitung

lungsländern ein Anteil am Wachstum des internationalen Handels gesichert werden, der den Erfordernissen ihrer wirtschaftlichen Entwicklung entspricht.5 Die Verwirklichung eines liberalisierten internationalen Handels soll also zu einer effizienteren Nutzung der knappen Produktionsfaktoren beitragen und so zu wirtschaftlichen Wachstum und allgemeiner Wohlfahrtssteigerung in den beteiligten Volkswirtschaften führen. Die WTO strebt damit einen liberalisierten Warenhandel durch die Reduzierung von Zöllen und anderen Handelshemmnissen sowie der Abschaffung von Diskriminierungen zwischen in- und ausländischen Waren an. Somit garantiert die EU die Warenverkehrsfreiheit, welche einen wichtigen Teil des Binnenmarktes darstellt, während die WTO zu einem liberalisierten Warenhandel durch die Bestimmungen des GATT und der anderen Abkommen die unter das WTO-Abkommen fallen, beiträgt. Es streben also beide Organisationen den Abbau von Handelshemmnissen an, um ihr jeweiliges Ziel, einen Binnenmarkt oder einen liberalisierten Warenhandel auf internationaler Ebene, zu erreichen. Daher weisen die WTO und die EU inhaltlich einen ähnlichen Kern auf, da sie beide auf den Abbau von Handelshemmnissen gerichtet sind. Jedoch sind weder die im EU-Vertrag verankerte Warenverkehrsfreiheit noch der nach dem GATT garantierte liberalisierte Warenverkehr unbeschränkt gewährleistet. Denn damit EU-Mitgliedstaaten und WTO-Mitglieder verschiedene legitime Schutzziele schützen können, bestehen sowohl im EU- als auch im WTO-Recht zahlreiche Ausnahmebestimmungen. Die Regierungen von EU-Mitgliedstaaten und WTO-Mitgliedern nutzen solche Ausnahmebestimmungen um mit handelsbeschränkenden Maßnahmen legitime Schutzziele wie etwa den Schutz der Umwelt, der Gesundheit, der Verbraucher, bestimmter kultureller Interessen oder von Menschenrechten zu erreichen. Die Einfuhr von Waren, die nicht bestimmten Gesundheits-, Sicherheits- oder Umweltstandards entsprechen oder die auf andere Art und Weise als wichtig empfundene gesellschaftliche Werte beeinträchtigen, ist oft verboten, erschwert oder wird begrenzt. Viele solcher Handelshemmnisse sind für den Schutz bestimmter sozialer und gesellschaftlicher Werte, d. h. legitimer Schutzziele, unabdingbar. Andere solcher Handelshemmnisse sind dagegen ein bloßer Vorwand für protektionistische Maßnahmen mittels derer inländische Hersteller von Konkurrenz durch Einfuhren geschützt werden sollen. Daneben bestehen sowohl auf Ebene der EU, aber vor allem auf Ebene der WTO Ausnahmebestimmungen, die eine Einschränkung des Warenhandels in seiner jeweiligen Form aufgrund wirtschaftlicher Interessen ermöglichen. 5  Vgl. Präambel des Übereinkommens zur Errichtung der Welthandelsorganisation (WTO).



A. Einleitung17

Damit stehen sowohl die WTO als auch die EU vor ähnlichen Problemen und Aufgaben. Denn in beiden Rechtsordnungen machen die Ausnahmebestimmungen es schwierig, die jeweilige Zielvorstellung, die Verwirklichung des Binnenmarktes bzw. eines liberalisierten Warenhandels, in die Tat umzusetzen. Einerseits sollen legitime Schutzziele geschützt werden können, andererseits sollen sie nicht aufgrund protektionistischer Erwägungen missbraucht werden. Wie jeweils auf beiden Ebenen mit diesen ähnlichen Problemen und Aufgaben umgegangen wird, soll im Folgenden dargestellt werden. Dafür sollen unter gemeinsamen Oberpunkten im Abschnitt B. zunächst die Bestimmungen, die Handelshemmnisse für den Warenhandel abbauen sollen, und anschließen im Abschnitt C. die Ausnahmebestimmungen in beiden Rechtsordnungen einander gegenübergestellt werden. Dabei werden die Gemeinsamkeiten und Unterschiede thematisiert und Erklärungsversuche unternommen. Abschließend werden in einem Resümee (D.) aus dem Vergleich der beiden Systeme rechtspolitische Forderungen aufgestellt, die zu einer Effektivierung des Schutzes bestimmter überragend wichtiger legitimer Schutzziele führen würden. Um das Ziel einer fortschreitenden Liberalisierung im Warenhandel zu erreichen, stützt sich die WTO insbesondere auf die Verpflichtungen aus dem GATT. Im EU-Recht sollen hingegen die Art. 28 bis Art. 30 AEUV, Art. 34 bis Art. 36 AEUV sowie die Art. 110 bis Art. 113 AEUV die Warenverkehrsfreiheit verwirklichen. Zu den Verpflichtungen aus dem GATT finden sich zahlreiche Ausnahmebestimmungen, insbesondere in Art. XX GATT. Aber auch in anderen Übereinkommen sowie in den Bestimmungen des GATT, die einen liberalisierten Warenverkehr gewährleisten, finden sich verschiedene Ausnahmebestimmungen. Im EU-Recht sind die Ausnahmebestimmungen zur Warenverkehrsfreiheit insbesondere in Art. 36 AEUV niedergelegt. Daneben bestehen bzw. bestanden verschiedene spezielle Ausnahmebestimmungen. Außerdem wurden zahlreiche Ausnahmebestimmungen durch den EuGH in Rechtsfortbildung entwickelt. Bei dem Vergleich der Ausnahmebestimmungen werden auch die Ausnahmen in der Subventionskontrolle beider Rechtsordnungen miteinander verglichen. Denn auch Subventionen gehören wie Zölle, zollgleiche Abgaben und mengenmäßige Beschränkungen zu einer Vielzahl von handelsbeschränkenden Maßnahmen, mit denen Staaten Märkte voneinander abschotten. Zudem gleichen sich beide Rechtsordnungen in ihren Bemühungen zur Erreichung einer Liberalisierung im Warenhandel und einer Warenverkehrsfreiheit auch darin, dass sie versuchen die Vergabe von Subventionen einzuschränken und zu kontrollieren. Denn sowohl für die Mitgliedsstaaten der EU als auch für die Mitglieder der WTO besteht oft die (vermeintliche) Notwendigkeit, die jeweils durch den Binnenmarkt und einen liberalisierten Warenhandel entstehenden Schwierigkeiten für die heimische Wirtschaft

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A. Einleitung

mittels der Vergabe von Subventionen abzumildern. Hierdurch wird aber die Wirkung der abgebauten Handelshemmnisse auf den Warenaustausch in vielen Fällen eingeschränkt oder wieder zunichte gemacht. Daher ist die Gewährleistung einer effektiven Subventionskontrolle sowohl für die EU als auch für die WTO von besonderer Bedeutung. Im Rahmen der jeweiligen Subventionskontrolle sind aber in beiden Rechtsordnungen zur Erreichung bestimmter legitimer Schutzziele sowie aus wirtschaftlichen Erwägungen Ausnahmen festgelegt worden, in denen die Subventionskontrolle nicht durchgreift. Daher sollen auch diese Ausnahmebestimmungen miteinander verglichen werden. Zwischen den beiden Rechtsordnungen bestehen große Unterschiede. Die WTO stellt eine Handelspräferenzzone dar, während innerhalb der EU ein Binnenmarkt verwirklicht werden soll. Die WTO ist eine internationale Organisation, die auf eine wirtschaftliche Integration ihrer Mitglieder gerichtet ist. Die EU ist hingegen eine supranationale, internationale Organisation, die in bestimmten ihr übertragenen Bereichen, autonom von der Willensbildung in den EU-Mitgliedstaaten, für diese verbindliche Regelungen erlassen kann. Darüber hinaus ist die wirtschaftliche Integration innerhalb der EU auch Mittel zum Zweck einer politischen Integration. Das Ziel der WTO-Mitglieder ist indessen ausschließlich auf eine fortschreitende wirtschaftliche Integration gerichtet. Trotz dieser großen Unterschiede ist ein Vergleich der Ausnahmebestimmungen im WTO- und EU-Recht dadurch gerechtfertigt, dass diese jeweils die gleiche Funktion – den Schutz legitimer Schutzziele – erfüllen sollen. Die Untersuchung der Gemeinsamkeiten und Unterschiede beider Rechtsordnungen bei der Wahrnehmung dieser Funktion ist Aufgabe dieser Arbeit. Diese Arbeit wird sich dabei von der Prämisse leiten lassen, dass einem möglichst unbeschränkter Warenhandel sowohl auf der regionalen Ebene der EU als auch auf der globalen Ebene der WTO ungeachtet hierbei potentiell bedrohter legitimer Schutzziele grundsätzlich den Vorrang zu geben ist. Denn Ökonomen vertreten selten eine einheilige Auffassung, dass die Prinzipien des Freihandels aber im Grundsatz für alle Beteiligten Vorteile bringen, wird kaum bezweifelt.

B. Vergleich der Reichweite der Warenverkehrsfreiheit und des liberalisierten Warenhandels Der zwischenstaatliche Handel mit Waren kann mittels einer Vielzahl von handelsbeschränkenden Maßnahmen behindert werden. Um solche Handelshemmnisse abzubauen, sichert das WTO-Recht die fortschreitende Liberalisierung des Warenhandels, indem insbesondere tarifäre Handelshemmnisse reduziert oder beseitigt werden, mengenmäßige Beschränkungen und Quoten grundsätzlich verboten werden und das Prinzip der Inländergleichbehandlung und das Prinzip der Meistbegünstigung Anwendung finden. Der AEUV zielt hingegen darauf ab, die Warenverkehrsfreiheit zu gewährleisten, indem Zöllen oder Abgaben gleicher Wirkung abgeschafft werden (Art. 28–30 AEUV), die Erhebung höherer Abgaben für Waren aus anderen Mitgliedstaaten grundsätzlich verboten wird (Art. 110–113 AEUV) und mengenmäßige Ein- und Ausfuhrbeschränkungen sowie Maßnahmen gleicher Wirkung zwischen den EU-Mitgliedstaaten grundsätzlich beseitigt werden (Art. 34–36 AEUV). WTO und EU haben daher gemeinsam, dass beide Rechtsordnungen darauf abzielen, Beschränkungen des Warenhandels zu beseitigen, um entweder einen liberalisierten Warenhandel oder einen Binnenmarkt zu erreichen. Sie unterscheiden sich allerdings in dem Ausmaß des Abbaus der Handelsbeschränkungen und der Art und Weise wie dieser Abbau erreicht wird. Dabei gehen die Ziele des AEUV in vielerlei Hinsicht über die Regelungen des WTO-Systems hinaus. Die daraus entstehenden Gemeinsamkeiten und Unterschiede werden in diesem Abschnitt untersucht. Zunächst wird die unterschiedliche Behandlung von Zöllen und mengenmäßigen Beschränkungen dargestellt (I.), bevor die Regelungen der Nichtdiskriminierung zwischen einheimischen und eingeführten Waren aufgezeigt werden, wobei zwischen der Diskriminierung durch steuerliche Maßnahmen (II.) und innerstaatliche Regelungen unterschieden wird (III.). Abschließend werden im letzten Teil des Abschnitts B. Regelungen über handelsbeschrän­ kende Maßnahmen untersucht, die sich nur im WTO-Recht finden (IV.).

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B. Reichweite der Warenverkehrsfreiheit und des Warenhandels

I. Regulierung der Zölle, zollgleicher Abgaben und der mengenmäßigen Beschränkungen Zölle, zollgleiche Abgaben und mengenmäßige Beschränkungen haben gemeinsam, dass sie den Marktzugang behindern. Sie haben bereits eine Wirkung an der Grenze. Die Rechtsordnungen von WTO und EU gehen mit diesen Handelsbeschränkungen jeweils unterschiedlich um. Um diese Unterschiede herauszuarbeiten, werden getrennt nach Zöllen und zollgleichen Abgaben sowie mengenmäßigen Beschränkungen zunächst die Begrifflichkeiten geklärt, bevor die jeweiligen Bestimmungen im WTO- und EU-Recht einander gegenübergestellt und verglichen werden. 1. Regulierung der Zölle und der zollgleichen Abgaben Bei Zöllen handelt es sich um staatliche finanzielle Abgaben, die in der Form der Besteuerung einer Ware aufgrund ihrer Ein- oder Ausfuhr auferlegt werden.1 Allerdings sind Ausfuhrzölle auf einheimische Waren heutzutage nicht mehr von besonderer Bedeutung. Nur noch wenige Staaten erheben sie, um damit etwa ein ineffektives Steuersystem zu kompensieren oder einen zu schnellen Rohstoffabbau zu verhindern.2 Zölle können als Prozentsatz auf den Wert (Wertzoll) oder als Betrag je Gewichts-, Volumen- oder Stückeinheit (Stück- oder Mengenzoll) erhoben werden.3 Zölle können auch als Kontingentzölle erhoben werden. Bei Kontingentzöllen kann nur eine bestimmte Menge an Waren zu einem niedrigeren Zollsatz eingeführt werden. Ist das Kontingent erschöpft, ist auf weitere Einfuhren der Ware ein höherer Zusatzzoll zu zahlen. Kontingentzölle werden insbesondere auf landwirtschaftliche Waren erhoben. Außerdem ist zwischen festen und variablen Zöllen zu unterscheiden. Während feste Zölle für einen längeren Zeitraum gültig sind, passen sich variable Zölle an das jeweilige Preisniveau der Ware an.4  I. Regulierung der Zölle, Abgaben und Beschränkungen

Bei dem Zweck eines Zolls wird zwischen Finanzzöllen und Schutzzöllen unterschieden. Finanzzölle dienen in erster Linie der Einnahmeerzielung, während Schutzzölle hauptsächlich inländische Waren schützen sollen, indem eingeführte Waren verteuert werden. In hochindustrialisierten Ländern sind Finanzzölle heute nahezu bedeutungslos geworden. Diese Länder verwenden stattdessen Zölle als Schutzzölle, um hiermit ihre inländische Pro1  Lowenfeld,

S. 29; van den Bossche, S. 377. § 10 Rn. 3 (Puth). 3  Hermann / Weiß / Ohler, Rn. 27. 4  Prieß / Berrisch, S. 107 (Berrisch). 2  Hilf / Oeter,



I. Regulierung der Zölle, Abgaben und Beschränkungen21

duktion zu schützen.5 Einnahmen des Fiskus werden hingegen durch ein gut ausgebautes Steuersystem erzielt. Anders ist dies hingegen bei vielen Entwicklungsländern. Aufgrund ihres nur ineffektiven Steuersystems beruht oftmals ein beträchtlicher Anteil der staatlichen Einnahmen auf Zöllen.6 Zölle, die eingeführten Waren auferlegt werden, führen zu einer niedrigeren Einfuhr und einem geringeren Konsum der durch den Zoll verteuerten Waren. Diese Waren haben einen Preisnachteil gegenüber vergleichbaren einheimischen Waren.7 Durch diese Preiserhöhung für eingeführte Ware erhalten zwar einheimische Produzenten einen Vorteil, allerdings werden einheimische Konsumenten benachteiligt.8 Da Zölle in den Staatshaushalt einfließen, haben sie jedoch einen positiven Fiskaleffekt.9 Als zollgleiche Abgaben gelten solche Abgaben, die einer Ware allein aufgrund ihres Grenzübertritts auferlegt werden, die aber nicht in einem Zolltarif aufgeführt sind, sondern auf anderen Rechtsgrundlagen beruhen. Zollgleiche Abgaben sind etwa Gebühren für Statistiken, Lizenzen oder für Qualitäts- und Gesundheitskontrollen.10 a) Zölle und zollgleiche Abgaben im WTO-Recht Im Rahmen des GATT werden grundsätzlich allein Zölle und zollgleiche Abgaben als legitime staatliche handelsbeschränkende Maßnahmen zur direkten Beeinflussung des Warenhandels an der Grenze anerkannt (sog. tariffs only-Maxime).11 Die WTO-Mitglieder sind also angehalten alle handelsbeschränkenden Maßnahmen in Zölle umzugestalten. Um eine Umgehung der „tariffs only-Maxime“ zu verhindern, stellt das WTO-Recht auch Anforderungen an zollgleiche Abgaben, die im WTO-Recht als „andere Abgaben oder Belastungen“ bezeichnet werden. aa) Behandlung von Zöllen im WTO-Recht Auch wenn das WTO-Recht Zölle als einziges legitimes staatliches protektionistisches Instrument zur direkten Beeinflussung des Warenhandels an 5  Streinz,

EUV / EGV, Art. 25 Rn. 10 (Kamann). den Bossche, S. 28. 7  van den Bossche, S. 379; Lal Das, S. 55. 8  Matsushita / Schoenbaum / Mavroidis, S. 259. 9  Hermann / Weiß / Ohler, Rn. 27. 10  Hilf / Oeter, § 10 Rn. 6 (Puth); Senti, WTO, Rn. 497; vgl. auch Calliess / Ruffert, Art. 25 EGV Rn. 6 ff. (Waldhoff). 11  Hilf / Oeter, § 10 Rn. 7 (Puth). 6  van

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B. Reichweite der Warenverkehrsfreiheit und des Warenhandels

der Grenze anerkennt, können diese oft ein erhebliches Hemmnis für den Handel mit Waren darstellen. Daher verpflichtet Art. XXVIIIbis:1 GATT die WTO-Mitglieder von Zeit zu Zeit über die verbindliche Reduzierung ihrer Zölle zu verhandeln. In diesen Verhandlungen einigen sich die WTO-Mitglieder auf Zollzugeständnisse für bestimmte Waren. Eine Verpflichtung von WTO-Mitgliedern Zollzugeständnisse auf sämtliche Waren anzubieten, besteht aber nicht.12 Die Verhandlungsrunden über die Reduzierung der Zölle richten sich nach Art. XXVIIIbis:1 GATT und Art. XXVIII:2 GATT, die jeweils von Verhandlungen auf „Grundlage der Gegenseitigkeit“ sprechen, nach dem Grundsatz der materiellen Reziprozität. Hierdurch soll ein permanenter Interessensausgleich zwischen den WTO-Mitgliedern sichergestellt werden.13 Das bedeutet, dass sich in den im Gesamtpaket enthaltenen wechselseitigen Konzessionen die Zugeständnisse und die ihm zufließenden Vorteile für jedes WTO-Mitglied wieder ausgleichen sollen. Die untereinander vereinbarten Zollzugeständnisse sind in Listen enthalten, die jedes WTO-Mitglied für sich formuliert und die nach Art. II:7 GATT Bestandteil des GATT werden. Sobald ein WTO-Mitglied einen Zolltarif für eine bestimmte Ware auf der Liste vermerkt hat, ist der Zoll gebunden. Eingeführte Waren werden nach Art. II:1 lit. b) Satz 1 GATT von allen Zöllen befreit, welche die gebundenen Zölle übersteigen. Zölle können daher nunmehr nicht mehr beliebig zu Lasten anderer WTO-Mitglieder geändert werden. Eine zusätzliche einseitige Zollsenkung ist aber jederzeit möglich. Eine darüber hinaus gehende Erhöhung des gebundenen Zolltarifs ist jedoch grundsätzlich nicht erlaubt.14 Seit Bestehen des GATT im Jahr 1947 haben acht Verhandlungsrunden stattgefunden.15 Die derzeit neunte Verhandlungsrunde, die im Jahr 2001 in Doha eröffnet wurde, wurde nach mehreren Anläufen im Juli 2008 abgebrochen und ist bislang nicht wieder aufgenommen worden. Die Verhandlungsrunden sind nach ihrem Verhandlungsort bzw. im Fall der Kennedy-Runde nach ihrem Initiator benannt worden. Diese Verhandlungsrunden haben zu einer signifikanten Reduzierung von Zöllen geführt. So haben die Industriestaaten innerhalb eines Zeitraumes von 50 Jahren ihre Zölle auf gewerbliche Güter von durchschnittlich 40 Prozent auf 3,9 Prozent gesenkt.16 Gleichzeitig sind durch eine Beseitigung der Zölle für insbesondere Pharmazeutika, medizinische Geräte, landwirtschaftliche Maschinen und Baugeräte in den 12  Mavoridis,

S. 55. S. 54, 55. 14  Vgl. B.I.1.a)cc) zu den Ausnahmebestimmungen für gebundene Zollzugeständnisse. 15  Jackson, The World Trade Organization Constitution and Jurisprudence, S. 21. 16  van den Bossche, S. 390. 13  Benedek,



I. Regulierung der Zölle, Abgaben und Beschränkungen23

Industriestaaten gemessen am Wert über 40 Prozent der eingeführten Waren vom Zoll befreit.17 Jedoch erheben sämtliche WTO-Mitgliedstaaten weiterhin hohe Zölle auf Agrarprodukte und Entwicklungsländer erheben deutlich höhere Zölle auf gewerbliche Güter.18 bb) Behandlung von „anderen Abgaben und Belastungen“ im WTO-Recht Im WTO-Recht beschränkt Art. II:1 lit. b) Satz 2 GATT auch die Möglichkeit für WTO-Mitglieder Abgaben und Belastungen, die keine Zölle sind, im Zusammenhang mit dem Grenzübertritt einer Ware, für die ein gebundener Zolltarif gilt, zu erheben. Der Begriff „andere Abgaben und Belastungen“ ist im GATT nicht definiert. Der Definitionsversuch eines Panels, wonach diese vorlägen, wenn der Grund für ihre Erhebung in exogenen Faktoren zu suchen sei,19 wurde vom Appellate Body nicht akzeptiert.20 Der Appellate Body gab in dieser Entscheidung aber auch keine eigene Definition vor. Die Streitbeilegungsgremien haben als „andere Abgaben und Belastungen“ u. a. einen Einfuhraufschlag, der zusätzlich zum normalen Zoll erhoben wurde,21 die Leistung einer Sicherheit,22 Gebühren für Statistiken um hiervon die Sammlung statistischer Daten zu finanzieren23 sowie eine Zollgebühr, mittels derer die Kosten für die Zollabfertigung finanziert wurden,24 eingestuft. Die auf der Uruguay-Runde zustande gekommene Vereinbarung über die Auslegung des Art. II:1 lit. b) GATT („Understanding of Article II:1(b)“) verpflichtete die WTO-Mitglieder in ihren Zollzugeständnissen alle „anderen Abgaben und Belastungen“, die auf Waren erhoben werden, für welche sie ihre Zölle gebunden haben, in die Listen mit aufzunehmen. Die in den Listen enthaltenen „anderen Abgaben und Belastungen“ sind auf dem Stand vom 15.04.1994 gebunden. Die „anderen Abgaben und Belastungen“ dürfen nach Art. VIII:1 lit. a) GATT auch nicht zur Einnahmeerzielung oder zum mittelbaren Schutze 17  Hermann / Weiß / Ohler,

Rn. 406. S. 98; Olarrega / Ng, S. 108. 19  Panel Report, Chile – Price Band System, Rn. 7.52. 20  Appellate Body Report, Chile – Price Band System, Rn. 278. 21  GATT Panel Report, Korea – Australia (Beef), Rn. 107. 22  van den Bossche, S. 437. 23  Appellate Body Report, Argentina – Textiles and Apparel, Rn. 87. 24  GATT Panel Report, US – Customs User Fee, Rn. 125. 18  Laird,

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B. Reichweite der Warenverkehrsfreiheit und des Warenhandels

inländischer Waren erhoben werden. Deshalb dürfen sie auch nicht die geschätzten Kosten einer solchen Dienstleistung übersteigen. Hierdurch soll verhindert werden, dass die WTO-Mitglieder die von ihnen gemachten Zollzugeständnisse mittels höherer „anderen Abgaben und Belastungen“ umgehen können. cc) Ausnahmebestimmungen zu den gebundenen Zollzugeständnissen Wie oben ausgeführt, sind die in die Listen aufgenommene Zölle und die „anderen Abgaben und Belastungen“ gebunden. Ihre Erhöhung ist grundsätzlich nicht erlaubt. Von der Bindung der Zollzugeständnisse enthält das WTO-Recht aber auch verschiedene Ausnahmebestimmungen. So ist die Änderung der Zollverpflichtungen den WTO-Mitgliedern nach Art. II:6 GATT bei größeren Veränderungen der Wechselkurse, nach Art. XXVIII:1 GATT bei stattgefundenen Verhandlungen oder nach Art. XXVIII:4 GATT bei Vorliegen besonderer Umstände möglich. Zudem können WTO-Mitglieder auch nach Art. II:2 GATT höhere „andere Abgaben und Belastungen“ erheben, als in den Listen festgehalten sind. (1) Ä  nderung oder Zurücknahme von Zollzugeständnissen im Fall einer Verschlechterung der Wechselkurse (Art. II:6 GATT) Art. II:6 GATT erlaubt die Änderung der Zollverpflichtungen eines WTOMitgliedes, falls dessen Währung abgewertet wird. Denn durch die Währungsabwertung verringert sich gleichzeitig der Wert der zu zahlenden Zölle. Art. II:6 GATT erlaubt daher eine entsprechende Angleichung der Zollsätze an die Verhältnisse vor der Währungsabwertung. Art. II:6 GATT wurde jedoch zu einer Zeit verfasst, in der das Bretton-Woods-System noch in Kraft war.25 Die Währungen der allermeisten der damaligen Vertragsparteien des GATT standen zu dieser Zeit noch in einem festen Wechselkurs, mit einer nur geringen Bandbreite zum US-Dollar, der wiederum zu einem bestimmten Preis in Gold umgetauscht werden konnte. Das System dieser festen Wechselkurse hatte jedoch nur bis zum Jahr 1971 Bestand. Da Art. II:6 GATT auf die Erfordernisse eines Systems der festen Wechselkurse hin formuliert war, haben die damaligen Vertragsparteien des GATT nach dem Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems Richtlinien zur Anwendung von Art. II:6 lit. a) GATT erlassen, um diese Ausnahmebestimmung in einem System der flexiblen Wechselkurse einsatzfähig zu gestalten.26 Nach 25  Vgl.

auch C.IV.1. zum Bretton-Woods-System. Rn. 523.

26  Senti,



I. Regulierung der Zölle, Abgaben und Beschränkungen25

diesen Richtlinien muss u. a. eine Berechnung der Abwertung der Währung des WTO-Mitgliedes vorgenommen werden, die innerhalb eines gewissen Zeitraumes einen Vergleich mit den WTO-Mitgliedern beinhaltet, die zusammen mindestens 80 Prozent der Einfuhren liefern. Bislang haben sechs Staaten von dieser Ausnahmebestimmung Gebrauch gemacht und insgesamt neunmal ihre Zölle aufgrund veränderter Wechselkursparitäten geändert.27 (2) Ä  nderung oder Zurücknahme von Zollzugeständnissen im Rahmen von Verhandlungen (Art. XXVIII:1 GATT) Nach Art. XXVIII GATT können die WTO-Mitglieder zudem im Rahmen von periodischen Verhandlungen, jeweils nach drei Jahren, ihre Zollzugeständnisse modifizieren oder zurücknehmen. Bei Art. XXVIII:1 GATT handelt es sich nicht um eine klassische Ausnahmebestimmung von den gebundenen Zollzugeständnissen. Denn nach dieser Vorschrift dürfen Zollzugeständnisse von einem WTO-Mitglied nur modifiziert oder zurückgenommen werden, wenn es hierüber vorher Verhandlungen mit bestimmten anderen WTO-Mitgliedern geführt hat. Und in der Praxis werden diese anderen WTO-Mitglieder in den Verhandlungen den geänderten Zollzugeständnissen nur gegen Zugeständnisse für andere Waren zustimmen.28 Durch diese zwingend durchzuführenden Verhandlungen mit den primär getroffenen WTO-Mitgliedern soll eine Lösung gefunden werden, die den Handel mit Waren möglichst wenig einschränkt. Die Verhandlungen müssen von dem WTO-Mitglied, welches seine Zollzugeständnisse ändern möchte, mit den WTO-Mitgliedern geführt werden, denen die ursprünglichen Verhandlungsrechte („Initial Negotiating Rights“, INR) zustehen, also den WTO-Mitgliedern, mit denen es ursprünglich über die nun zu ändernden Zollzugeständnisse verhandelt hat. Außerdem müssen an den Verhandlungen alle anderen WTO-Mitglieder beteiligt werden, die Hauptlieferant der betreffenden Ware sind. Hauptlieferanten sind nach der auf der Uruguay-Runde vereinbarten Anmerkungen zu Art. XXVIII („Understanding of Article XXVIII“) die WTO-Mitglieder, die einen großen Anteil an der Einfuhr der Ware in das betreffende WTO-Mitgliedsland haben. Die Ministerkonferenz kann zudem WTO-Mitgliedern den Status einen Hauptlieferanten zusprechen, falls die Waren, für die Zollzugeständnisse geändert werden sollen, einen Hauptteil ihrer Ausfuhren ausmachen. Außerdem muss das WTO-Mitglied, welches seine Zollzugeständnisse ändern möchte, darüber hinaus mit den WTO-Mitgliedern Konsultationen führen, 27  Senti,

Rn. 523.

28  Prieß / Berrisch,

B.I.1. Rn. 131 (Berrisch).

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B. Reichweite der Warenverkehrsfreiheit und des Warenhandels

die hieran ein „wesentliches Interesse“ haben. Ein „wesentliches Interesse“ haben jedenfalls die WTO-Mitglieder, die einen mindestens zehnprozentigen Anteil an den Einfuhren der betroffenen Ware haben.29 Art. XXVIII:2 GATT schreibt für die Verhandlungen vor, dass im Ergebnis durch zu vereinbarende Zollzugeständnisse für andere Waren das Niveau der gesamten Zollzugeständnisse nicht schlechter für den Warenhandel sein soll als vor der Änderung. Dabei handelt es sich jedoch letztlich um eine Sollvorschrift, denn nach Art. XXVIII:3 lit. a) GATT kann ein WTO-Mitglied auch dann seine Zollzugeständnisse ändern, wenn es nicht zu einer Einigung kommt. Allerdings können die WTO-Mitglieder, die sich auf ein INR berufen können oder die an den Verhandlungen ein „wesentliches Interesse“ haben, dann ihrerseits ihre Zollzugeständnisse ändern. (3) Ä  nderung oder Zurücknahme von Zollzugeständnissen im Falle besonderer Umstände (Art. XXVIII:4 GATT) Da die Änderung oder Zurücknahme von Zollzugeständnisse im Rahmen von Verhandlungen nach Art. XXVIII:1 GATT den Ablauf einer Dreijahresperiode voraussetzt, wurde um bei der Änderung von Zollzugeständnissen eine größere zeitliche Flexibilität zu ermöglichen im Jahr 1955 der Art. XXVIII:4 in das GATT eingefügt.30 Danach kann ein WTO-Mitglied bei Vorliegen „besonderer Umstände“ kurzfristig seine Zollzugeständnisse ändern. Der Begriff der besonderen Umstände ist im WTO-Recht nicht näher beschrieben. Er wird jedoch weit ausgelegt.31 Vor Änderung seiner Zollzugeständnisse muss das WTO-Mitglied allerdings mit allen anderen WTOMitgliedern Verhandlungen und Konsultationen führen, mit denen es dies auch im Falle eines Vorgehens nach Art. XXVIII:1 GATT tun müsste. Regelmäßig haben die beteiligten WTO-Mitglieder dann 60 Tage Zeit um sich auf Kompensationen für die zu ändernden Zollzugeständnisse zu einigen. Wie im Fall des Art. XXVIII:1 GATT sollen auch hier die Verhandlungen dazu führen, dass das Niveau der gesamten Zollzugeständnisse nicht schlechter für den Warenhandel ist als vor der Änderung. Falls es innerhalb dieses Zeitraumes zu keiner Einigung kommt, kann die Angelegenheit daraufhin an die Ministerkonferenz der WTO herangetragen werden, die dann hierzu eine Stellungsnahme abgibt. Kommen die beteiligten WTO-Mitglieder auch nach dieser Stellungsnahme zu keiner Einigung, dann steht es dem betreffenden WTO-Mitglied frei seine Zollzugeständnisse zu ändern. Die an den Verhandlungen und Konsultationen beteiligten WTO-Mitglieder können 29  van

den Bossche, S. 424. B.I.1. Rn. 136 (Berrisch); Senti, Rn. 524. 31  Prieß / Berrisch, B.I.1. Rn. 137 (Berrisch). 30  Prieß / Berrisch,



I. Regulierung der Zölle, Abgaben und Beschränkungen27

aber im Gegenzug innerhalb von sechs Monaten in einem gleichwertigen Umfang ihre Zollzugeständnisse gegenüber dem betreffenden WTO-Mitglied ändern. (4) D  ie Ausnahmebestimmung für die Abweichung von gebundenen „anderen Abgaben und Belastungen“ WTO-Mitglieder können aber auch von den von ihnen gebundenen „andere Abgaben und Belastungen“ abweichen. So können nach Art. II:2 GATT WTO-Mitglieder höhere „andere Abgaben und Belastungen“, als in den Listen festgehalten sind, erheben, wenn diese gleichwertig mit innerstaat­ lichen Abgaben für gleichartige einheimische Waren sind (lit. a) oder wenn es sich hierbei um WTO-konforme Antidumping- oder Ausgleichszölle handelt (lit. b), und zudem, wenn sie den Kosten für erbrachte Dienstleistungen entsprechen (lit. c). Beispiele für solche Dienstleistungen finden sich in Art. VIII:4 lit. a)–d). Die in Art. II:1 lit. b) GATT enthaltene Möglichkeit der Ausnahmen für Antidumping- und Ausgleichszölle wird in Art. VI GATT, im Antidumpingund dem Subventionsübereinkommen weiter ausgeführt. Die Dienstleistungen i. S. d. Art. II:1 lit. c) GATT müssen aber auch tatsächlich erbracht worden sein und für den Importeur auch tatsächlich den Charakter einer Dienstleistung haben. dd) Direkte Anwendbarkeit der gemachten Zollzugeständnisse Die von den WTO-Mitgliedern gebundenen Zölle sowie die anderen Abgaben und Belastungen sind vor den innerstaatlichen Gerichten der Mitglieder nicht durchsetzbar. Zwar trifft das WTO-Recht über seine unmittelbare Durchsetzung in den Rechtsordnungen der einzelnen WTO-Mitglieder keine Aussage.32 Aber eine unmittelbare Direktwirkung des WTO-Rechts und damit eine innerstaatliche Anwendbarkeit wird den von den WTO-Mitgliedern gebundenen Zöllen und zollgleichen Abgaben nicht zuerkannt.33 So hat der EuGH jedenfalls für das GATT eine unmittelbare Wirkung grundsätzlich abgelehnt. Private Personen und Organisationen konnten deshalb nicht, trotz Bindung der EU an das GATT, die Verletzung des GATT durch Maßnahmen der Gemeinschaftsorgane rügen.34 Dies hat der EuGH für das WTO-Recht 32  Behrens,

Die private Durchsetzung von WTO-Recht, S. 204. Internationales Wirtschaftsrecht, § 7 Rn. 40; Oppermann, Europarecht, Rn. 1805. 34  EuGH Urt. v. 12.12.1972, Rs. 21–24  / 72, International Fruit Company, Slg. 1972, 1219, 1229, Rn. 27. 33  Herdegen,

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B. Reichweite der Warenverkehrsfreiheit und des Warenhandels

bestätigt, indem er ausführte, dass Privatpersonen und sogar die EU-Mitgliedsstaaten sich nicht auf die WTO-Übereinkommen berufen können, um Rechtsakte der Gemeinschaft anzugreifen.35 Gegen eine zukünftige unmittelbare Anwendbarkeit des WTO-Rechts spricht auch ein Beschluss des Rates, demzufolge „das Übereinkommen zur Errichtung der Welthandelsorganisation einschließlich seiner Anhänge nicht so angelegt (ist), dass es unmittelbar vor den Rechtsprechungsorganen der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten“ angewendet werden kann.36 Auch vor amerikanischen Gerichten kann man sich nicht auf die GATT als Maßstab für die innerstaatliche Kontrolle wirtschaftspolitischer Maßnahmen berufen.37 Ebenso sehen die anderen wichtigen Handelsmächte innerhalb der WTO keine direkte Anwendbarkeit von WTO-Recht in ihren jeweiligen Rechtsordnungen vor.38 Damit richtet sich das WTO-Recht nur an die Mitgliedsstaaten als unmittelbare Normadressaten.39 b) Verbot von Zöllen oder Abgaben gleicher Wirkung im EU-Recht Art. 30 AEUV verbietet das Erheben von Zöllen und zollgleichen Abgaben im Warenhandel zwischen den EU-Mitgliedstaaten. Dieses Verbot von Zöllen und Abgaben gleicher Wirkung findet sich auch bereits in Art. 28 AEUV. Art. 30 AEUV ist unmittelbar anwendbar und ist damit von jedem nationalen Gericht eines EU-Mitgliedstaates zu beachten.40 Zu Unrecht erhobene Zölle oder Abgaben zollgleicher Wirkung sind vom betreffenden EU-Mitgliedstaat aufgrund eines gemeinschaftsrechtlichen Erstattungsanspruches zurückzuerstatten.41 Art. 30 AEUV war vor allem zu Beginn der Europäischen Gemeinschaft von besonderer Bedeutung. Denn zu dieser Zeit behinderten Abgaben, die für Waren mit deren Grenzübertritt fällig wurden, im besonderen Maße das Entstehen eines Gemeinsamen Marktes. Da mit der Verwirklichung des 35  EuGH Urt. v. 23.11.1999, Rs. C-149 / 96, Portugal . / . Kommission, Slg. 1999, I-8395, 8439 ff., Rn. 47, 52. 36  Beschluss 94 / 800 des Rates v. 22.12.1994, ABl. 1994 Nr. L 336 / 2. 37  Behrens, Die private Durchsetzung von WTO-Recht, S. 210. 38  Rosas, JIEL 2001,131,139. 39  Oeter, Gibt es ein Rechtsschutzdefizit im WTO-Streitbeilegungsverfahren?, S. 230. 40  Urt. des EuGH v. 05.02.1963, Rs. C-26 / 62, van Gend & Loos . / . Niederländi­ sche Finanzverwaltung, Slg. 1963, 3, 25 ff. 41  Urt. des EuGH v. 09.11.1983, Rs. C-199  / 82, Amministrazione delle finanze dello Stato . / . San Giorgio, Slg. 1983, 3595, 3612, Rn. 12.



I. Regulierung der Zölle, Abgaben und Beschränkungen29

Binnenmarktes im Jahr 1992 auch die Zollkontrollen zwischen den EUMitgliedstaaten abgeschafft wurden, verschwanden dementsprechend auch die Möglichkeiten der EU-Mitgliedstaaten Entgelte, Gebühren oder andere Abgaben zu erheben. Dennoch wurden auch in jüngerer Zeit vom EuGH Verletzungen des Verbotes der Abgaben zollgleicher Wirkung des Art. 30 AEUV festgestellt.42 aa) Das Zollverbot im EU-Recht Nach den inzwischen obsolet gewordenen Art. 12 bis Art. 17 EG a. F. hatten die EU-Mitgliedstaaten bis zum Ende eines Übergangszeitraumes, welcher im Jahr 1968 ablief,43 sämtliche Ein- oder Ausfuhrzölle abzuschaffen. Mit dem Ablauf dieses Übergangszeitraumes verbietet Art. 30 AEUV das Erheben jeglicher Zölle im Binnenhandel zwischen den Mitgliedstaaten der EU. Der EuGH hat bisher den Begriff des Zolls noch nicht vollständig und positiv definiert.44 Orientierung kann man jedoch in einer Definition des Bundesverfassungsgerichtes finden. Nach dieser sind Zölle „Abgaben, die nach Maßgabe des Zolltarifs von der Warenbewegung über die Grenze erhoben werden“.45 Der EuGH verlangt als weitere Voraussetzung, dass die Abgabe auch als Zoll bezeichnet wird.46 Der EuGH hat sich bisher nur in wenigen Fällen mit dem Zollverbot befasst, da die Mitgliedstaaten einer Zollunion verständlicherweise Abgaben nicht als Zölle bezeichnen, die im Zusammenhang mit dem grenzüberschreitenden Handel von Waren zwischen diesen Mitgliedstaaten erhoben werden. bb) Das Verbot von Abgaben zollgleicher Wirkung Art. 30 AEUV verbietet aber auch die Neueinführung von Abgaben gleicher Wirkung wie Ein- oder Ausfuhrzölle bzw. gebietet deren Abschaffung. Durch diese Abschaffung der Abgaben zollgleicher Wirkung soll eine Um42  Vgl. nur Urt. des EuGH v. 09.11.2004, Rs. C-72 / 03, Carbonati Apuani Srl. . / . Comune di Carrara, Slg. 2004, I-8027, 8060, Rn. 20 ff.; Urt. des EuGH v. 08.11.2005, Rs.  C-293 / 02, Jersey Produce Marketing Organisation Ltd., Slg. 2005, I-9543, 9602, Rn. 67; EuGH Urt. v. 09.08.1994, verb. Rs. C-363 / 93 u. a., René Lancry u. a. . / . Direction générale des douanes u. a., Slg. 1994, I-3957, 3991, Rn. 29. 43  Oppermann, Europarecht, § 19 Rn. 9. 44  Streinz, EUV / EGV, Art. 25, Rn. 9 (Kamann). 45  BVerfG 8, 260, 269. 46  EuGH Urt. v. 05.02.1976, Rs. 87 / 75, Bresciani . / . italienische Finanzverwal­ tung, Slg. 1976, 129, 143, Rn. 8, 9.

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B. Reichweite der Warenverkehrsfreiheit und des Warenhandels

gehung des Zollverbotes verhindert werden.47 Daher wurde der Begriff der Abgaben mit zollgleicher Wirkung vom EuGH weit ausgelegt.48 Erfasst wird jede – auch noch so geringfügige – Belastung, die in- oder ausländischer Waren wegen der Überschreitung der Grenze einseitig auferlegt wird, unabhängig von ihrer Bezeichnung und der Art ihrer Erhebung oder des Verwendungszweckes.49 Es genügt daher, dass die Wirkung eines Zolles entsteht, also eine ausländische Ware aufgrund ihres Grenzübertrittes mit einer finanziellen Belastung belegt wird und damit im Vergleich zur einheimischen verteuert wird. Eine aufgrund des Grenzübertritts einseitig auferlegte finanzielle Belastung stellt auch dann eine verbotene Abgabe zollgleicher Wirkung dar, wenn die Abgabe nicht aus protektionistischen Erwägungen erhoben wird, sondern der Erlös anderen Schutzzielen, wie sozialen Erwägungen oder den Schutz nationaler Kulturgüter, dienen soll.50 Auch eine analoge Anwendung der Ausnahmebestimmungen des Art. 36 AEUV hat der EuGH abgelehnt.51 Eine direkte Anwendung des Art. 36 AEUV scheitert bereits am Wortlaut dieser Ausnahmebestimmung, die sich auf die Art. 34 und 35 AEUV und nicht auf die Art. 28 oder 30 AEUV bezieht. Auch die Verfolgung legitimer sozialer Schutzziele kann den Anwendungsbereich des Art. 30 AEUV daher nicht einengen. Das Verbot der Abgaben zollgleicher Wirkung des Art. 30 AEUV wird vom noch zu behandelnden Verbot der steuerlichen Diskriminierung des Art. 110 AEUV52 danach abgegrenzt, ob die Abgabe ausschließlich grenzüberschreitende Warenbewegungen betrifft, in diesem Fall ist Art. 30 AEUV einschlägig, oder ob die Abgabe unterschiedslos sowohl eingeführte als auch einheimische Waren erfasst. In diesem Fall ist dann Art. 110 AEUV einschlägig.53

47  Barnard,

S. 36. Burca, S. 642. 49  EuGH Urt. v. 01.07.1969, Rs. 2 und 3 / 69, Sociaal Fonds voor de Diamantar­ beiders . / . S.A. Ch. Brachfeld und Chougol, Slg. 1969, 211, 221, Rn. 11–18. 50  EuGH Urt. v. 01.07.1969, Rs. C-2 und 3 / 69, Sociaal Fonds voor de Diaman­ tarbeiders . / . S.A. Ch. Brachfeld und Chougol, Slg. 1969, 211,221 Rn. 11; EuGH Urt. v. 10.12.1968, Rs. C-7 / 68, Kommission . / . Italien, Slg. 1968, 633, 644. 51  EuGH Urt. v. 10.12.1968, Rs. C-7 / 68, Kommission . / . Italien, Slg. 1968, 633, 644. 52  Vgl. B.II.2. zum Verbot der diskriminierenden Besteuerung im EU-Recht. 53  Oppermann, Europarecht, Rn. 1282. 48  Craig / De



I. Regulierung der Zölle, Abgaben und Beschränkungen31

cc) Zulässige Gebühren Wie im vorherigen Abschnitt ausgeführt, greift das Verbot der Abgaben zollgleicher Wirkung auch, wenn mit deren Erhebung legitime Schutzziele verfolgt werden. Eine Verletzung des Art. 30 AEUV kann somit nicht gerechtfertigt werden, egal wie gesellschaftlich wertvoll der hiermit verfolgte Zweck ist. Zulässige Gebühren werden vom EuGH hingegen nicht als Abgabe zollgleicher Wirkung angesehen und fallen daher nicht in das Anwendungsbereich des Verbots des Art. 30 AEUV. Dies gilt auch dann, wenn sie anlässlich eines Grenzübertritts erhoben werden. Der EuGH stuft eine Abgabe dann als zulässige Gebühr beim Vorliegen einer der drei folgenden Voraussetzungen ein: (1) wenn sie ein in der Höhe nach angemessenes Entgelt für einen dem Wirtschaftsteilnehmer tatsächlich geleisteten Dienst darstellt, dafür muss mit der Gebühr aber auch ein besonderer Vorteil für den jeweiligen Importeur oder Exporteur verbunden sein; (2) wenn sie eine Gebühr für Leistungen darstellt, die zur Erfüllung völker- oder gemeinschaftsrechtlicher Verpflichtungen durchgeführt wird oder wenn die Gebühr (3) Teil einer allgemeinen inländischen Gebührenregelung ist, die unterschiedslos auf einheimische und eingeführte Waren angewendet wird.54 Im 3. Fall fällt eine solche Gebühr dann allerdings in den Anwendungsbereich des Art. 110 AEUV.55 c) Vergleich Während auf Ebene der EU Zölle verboten sind, wird im Rahmen der WTO versucht, alle anderen Handelshemmnisse außer Zölle zu beseitigen, auch indem andere existierende Handelshemmnisse in Zölle umgestaltet werden. Dieser Unterschied ist jedoch nicht verwunderlich, denn die EU hat eine sehr viel weitgehendere Form der wirtschaftlichen Integration erreicht. Sie strebt nach Art. 26 AEUV die Errichtung eines Binnenmarktes an. Ein Binnenmarkt umfasst einen Raum ohne Binnengrenzen, in dem u. a. der freie Verkehr von Waren gewährleistet ist. Dazu gehören auch der Abbau von Binnenzöllen und Abgaben zollgleicher Wirkung sowie die Errichtung eines 54  EuGH Urt. v. 27.09., Rs. 18 / 87, Kommission . / . Deutschland, Slg. 1988, 5427, 5540, Rn. 6; EuGH Urt. v. 14.12.1972, Rs. 29 / 72, Marimex . / . Italienische Finanz­ verwaltung, Slg. 1972, 1309, 1319, Rn. 7; EuGH Urt. v. 11.10.1973, Rs. 39 / 73, Rewe-Zentralfinanz .  /  . Landwirtschaftskammer Westfalen-Lippe, Slg. 1973, 1039, 1043, Rn. 3; EuGH Urt. v. 25.01.1977, Rs. 46 / 76, Bauhuis . / . Niederlande, Slg. 1977, 5, 15, Rn. 7 / 11. 55  Vgl. B.II.2. zum Anwendungsbereich des Art. 110 AEUV.

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B. Reichweite der Warenverkehrsfreiheit und des Warenhandels

gemeinsamen Zolltarifs.56 Daher könnte die EU ohne die Abschaffung von Zöllen und zollgleichen Abgaben und mengenmäßigen Beschränkungen ihr weitergehenderes Ziel eines Binnenmarktes nicht erreichen. Die WTO strebt hingegen nur eine fortschreitende Handelsliberalisierung an, die zu einem möglichst unbehinderten Handel zwischen den beteiligten Mitgliedern führt. Deshalb erkennt das WTO-Recht den Bedarf der Mitglieder an, ihre Heimatmärkte schützen zu können. WTO-Mitglieder können das von ihnen gewünschte Schutzniveau ihres Heimatmarktes durch die Erhebung von Zöllen erreichen. Das WTO-Recht lehnt daher die Erhebung von Zöllen nicht ab. WTO-Mitglieder sind auch nur dann zur Handelsliberalisierung aufgerufen, wenn dies für beide Seiten vorteilhaft ist.57 Innerhalb der EU werden hingegen alle Handelshemmnisse abgebaut, ohne dass dies im Einzelfall für die EU-Mitgliedstaaten von Vorteil sein muss. Der Vorteil für die EU-Mitgliedstaaten ergibt sich stattdessen insgesamt aus der wirtschaftlichen und politischen Integration der beteiligten Staaten. Ein weiterer Unterschied ist darin zu sehen, dass das sich aus Art. 30 AEUV ergebende Verbot von Zöllen und zollgleichen Abgaben unmittelbar geltendes Recht in den EU-Mitgliedstaaten ist und vor den nationalen Gerichten erklagt werden kann. Eine solche unmittelbare Anwendbarkeit kommt dem WTO-Recht und damit auch denen in den Listen enthaltenen gebundenen Zolltarifen nicht zu. Denn vor den Gerichten des WTO-Mitgliedes ist keine Möglichkeit für private Personen oder Organisationen gegeben, sich unmittelbar auf das WTO-Recht und so auch auf die gebundenen Zölle zu berufen. Dieser Unterschied in der unmittelbaren Anwendbarkeit kann durch das Reziprozitätsprinzip erklärt werden. Danach wird sich ein Staat auch deshalb nicht völkerrechtswidrig handeln, da er sich andernfalls gegenüber einem anderen Staat nicht in dem Maße auf die von ihm verletzte Norm berufen kann.58 Das Reziprozitätsprinzip setzt aber die Dispositionsfreiheit der Parteien eines völkerrechtlichen Übereinkommens hinsichtlich der Suspendierung oder Aufhebung vertraglicher Pflichten voraus.59 An dieser Dispositionsfreiheit würde es jedoch fehlen, wenn private Personen und Organisationen sich vor den nationalen Gerichten unmittelbar auf den gebundenen Zolltarif berufen könnten. Durch eine direkte Anwendbarkeit des gebundenen Zolltarifs in der nationalen Rechtsordnung eines WTO-Mitgliedes würde das Verhalten dieses WTO-Mitgliedes aber aufgrund seiner rechtlichen Bindung an diesen vorhersehbar. Dies würde jedoch den handels­ 56  Streinz,

Europarecht, Rn. 906. AJIL 2000, 792, 810. 58  Jackson, WTO, S. 96; Ipsen, § 3 Rn. 11. 59  Behrens, Die private Durchsetzung von WTO-Recht, S. 208. 57  Chernowitz,



I. Regulierung der Zölle, Abgaben und Beschränkungen33

politischen Spielraum des betreffenden WTO-Mitgliedes in Verhandlungen zu sehr einengen. Die EU ist hingegen, wie oben dargelegt, mehr als eine internationale Organisation. Deshalb ist innerhalb des Gemeinschaftsrechts das Reziprozitätsprinzip gegenstandslos geworden.60 Zudem unterscheiden sich beide Rechtsordnungen darin, dass das EURecht den Anwendungsbereich des Verbotes von Zöllen und Abgaben zollgleicher Wirkung nicht durch Ausnahmebestimmungen einengt. Eine Verletzung des Zollverbotes kann daher nicht gerechtfertigt werden, selbst wenn durch entsprechende Zölle und Abgaben legitime gesellschaftliche Schutzziele verfolgt werden. Lediglich der Begriff der Abgaben zollgleicher Wirkung wird im EU-Recht so eingeschränkt, dass „zulässige Gebühren“ nicht hierunter fallen. Solche „zulässige Gebühren“ sind jedoch mit Ausnahme solcher Gebühren, die schon unter die steuerliche Vorschrift des Art. 110 AEUV fallen, finanzielle Gegenleistungen für Leistungen der Verwaltung. Anders als Beeinträchtigungen der Warenverkehrsfreiheit oder des Art. 110 AEUV kann daher eine Verletzung des Verbots der Erhebung von Zöllen oder Abgaben zollgleicher Wirkung nicht durch eine Berufung auf legitime Schutzziele gerechtfertigt werden. Dies unterstreicht die Bedeutung der Art. 28 und 30 AEUV für die Konstituierung eines Binnenmarktes. Während das EU-Recht also keine Ausnahmen vom Verbot von Zöllen und zollgleichen Abgaben kennt, bestehen für die WTO-Mitglieder verschiedene Möglichkeiten von ihren Zollzugeständnissen abzuweichen. Zusätzlich können sich die WTO-Mitglieder noch auf zahlreiche allgemeine Ausnahmebestimmungen, wie dem Art. XX GATT berufen, um eine Abweichung von den gebundenen Zollzugeständnissen zu erreichen. Somit können die WTO-Mitglieder sowohl zur Verfolgung legitimer Schutzziele als auch aus wirtschaftlichen Interesse von den von ihnen gebundenen Zollzugeständnissen abweichen. Die fehlende Rechtfertigungsmöglichkeit für die Erhebung von Zöllen im EU-Recht kann jedoch damit erklärt werden, dass Zölle und Abgaben zollgleicher Wirkung, die zur Verfolgung legitimer Schutzzwecke erhoben werden, ein konträres Handeln nur verteuern, aber nicht unmöglich machen, so dass das angestrebte legitime Schutzziel in den seltensten Fällen voll erreicht werden könnte, während andererseits eine Zollunion deren Verwirklichung an Ausnahmebestimmungen geknüpft ist, nie ganz verwirklicht werden könnte. Aufgrund der mangelnden Effektivität von Zöllen zur Erreichung legitimer Schutzziele, stellt Art. XX GATT übrigens auch keine praktisch relevante Rechtfertigungsmöglichkeit der WTO-Mitglieder für Zollerhebungen dar. Al60  Behrens,

Die private Durchsetzung von WTO-Recht, S. 208.

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B. Reichweite der Warenverkehrsfreiheit und des Warenhandels

lerdings weichen sie stattdessen oftmals aufgrund wirtschaftlicher Erwägungen von den von ihnen gebundenen Zollzugeständnissen ab. Eine gewisse Ähnlichkeit besteht jedoch in der Behandlung von zollgleichen Abgaben in beiden Rechtsordnungen. Damit weder das Zollverbot noch die gemachten Zollzugeständnisse umgangen werden, werden zollgleiche Abgaben in beiden Rechtsordnungen reglementiert. Deshalb wurde das Verbot zollgleicher Abgaben im EU-Recht auch an den Art. VIII GATT angelehnt.61 2. Regulierung der mengenmäßigen Beschränkungen Mengenmäßige Beschränkungen (Kontingente) begrenzen die Menge einer Ware, die eingeführt oder ausgeführt werden kann.62 Sobald also die begrenzte Menge erreicht ist, kann die Ware nicht mehr ein- oder ausgeführt werden. Mengenmäßige Beschränkungen führen dazu, dass die Zahl der verfügbaren Güter sinkt und dies führt im Allgemeinen dazu, dass der Preis der Ware steigt.63 Im Gegensatz zu Zöllen tritt ein positiver Fiskaleffekt für den Staatshaushalt nur dann ein, wenn Einfuhrgenehmigungen für Kontingente verkauft werden.64 a) Mengenmäßige Beschränkungen im WTO-Recht Nach Art. XI:1 GATT dürfen „Verbote oder Beschränkungen, sei es in Form von Kontingenten, Einfuhr- und Ausfuhrbewilligungen oder in Form von anderen Maßnahmen, weder belassen noch beibehalten werden.“ Somit enthält Art. XI:1 GATT ein Verbot von mengenmäßigen Beschränkungen und Quoten. Von Art. XI:1 GATT werden nur Maßnahmen beim Grenzübergang einer Ware erfasst. Das Verbot mengenmäßiger Beschränkungen gilt als einer der Ecksteine des GATT-Systems.65 Allerdings nimmt es seit der Uruguay-Runde keine so zentrale Rolle hinsichtlich nichttarifärer Handelshemmnisse mehr ein, da mit Gründung der WTO zahlreiche neue multilaterale Warenhandelsübereinkommen, wie etwa das ÜSPS, das ÜTBT, das TRIPS und das TRIMS, in Kraft traten, die sich alle ebenfalls mit nicht­ tarifären Handelshemmnissen befassen.66 61  Bernard,

S. 31.

62  Matsushita / Schoenbaum / Mavroidis, 63  Matsushita / Schoenbaum / Mavroidis, 64  Hermann / Weiß / Ohler,

S. 269. S. 270; Jackson, Law of the GATT, S. 309.

Rn. 27. Report, Turkey – Textiles, Rn. 9.63. 66  Hermann / Weiß / Ohler, Rn. 462. 65  Panel



I. Regulierung der Zölle, Abgaben und Beschränkungen35

Neben dem allgemeinen Verbot der mengenmäßigen Beschränkungen stellt Art. XI:1 GATT auch ein allgemeines Verbot handelsbeschränkender Maßnahmen beim Grenzübergang von Waren auf.67 Art. XI:1 GATT verbietet daher auch alle Maßnahmen, die von einem WTO-Mitglied angewendet oder aufrechterhalten werden und welche die Ein- oder Ausfuhr einer Ware verbieten.68 Art. XI:1 GATT wird daher auch durch Maßnahmen der WTOMitglieder verletzt, die auf innerstaatlichen Vorgaben beruhen, die in Bezug auf den Herstellungsprozess gemacht werden, die sich aber nicht im Endprodukt niederschlagen, sog. PPM-Maßnahmen (process and production methods). Unter das Prinzip der Inländergleichbehandlung des Art. III:2 GATT fallen hingegen interne Vermarktungs- und Produktionserfordernisse eines WTO-Mitgliedes.69 Ebenso fallen unter das Verbot des Art. XI:1 GATT handelsbeschränkende Maßnahmen in der Form von vorgeschriebenen Ein- und Ausfuhrlizenzen oder als Festlegung von Höchst- und Mindestpreisen als Einfuhrvoraussetzung von Waren.70 Vom Verbot der mengenmäßigen Beschränkungen des Art. XI:1 GATT finden sich allerdings verschiedene spezielle Ausnahmebestimmungen, von denen einige zwischenzeitlich abgeschafft wurden und andere fortbestehen. Diese sollen im Folgenden dargestellt werden. aa) Die ursprünglichen Ausnahmebestimmungen für Textilwaren und Agrarerzeugnisse Die Abschaffung von mengenmäßigen Beschränkungen im Handel mit Agrarerzeugnissen und mit Textilwaren hat sich über Jahrzehnte nicht durchsetzen können. Im Bereich des internationalen Textilhandels ist dies darauf zurückzuführen, dass die Textilindustrie in den Industriestaaten wegen ihrer hohen Arbeitsintensität und der damit einhergehenden Lohnkostenabhängigkeit unter einem hohen Wettbewerbsdruck steht. Unter dem Druck nationaler Interessensgruppen, die auf die stark gestiegene Ausfuhr von Textilwaren aus Entwicklungsländern reagierten, kam es unter dem seit 1974 geltenden Multifaserabkommen („Multifibre Agrement“, MFA) und dessen Vorläuferabkommen zu bilateralen Übereinkommen zwischen Entwicklungsländern und industrialisierten Ländern oder sogar unilateralen Maßnahmen, in deren 67  Hilf / Oeter,

§ 9 Rn. 21 (Puth). den Bossche, S. 445. 69  Hermann / Weiß / Ohler, Rn. 472; van den Bossche, S. 329; vgl. auch B.III.1. zum Prinzip der Inländergleichbehandlung im WTO-Recht. 70  Hilf / Oeter, § 9 Rn. 21 (Puth). 68  van

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B. Reichweite der Warenverkehrsfreiheit und des Warenhandels

Rahmen Einfuhrkontingente festgelegt wurden.71 Zudem verpflichteten sich die Ausfuhrländer oftmals zu freiwilligen Ausfuhrbeschränkungen („Voluntary Exports Restraints“), in denen sie sich dazu bereit erklärten, die Ausfuhr von Textilwaren in ein anderes Land zu reduzieren.72 Wie aus dem Namen bereits hervorgeht, werden freiwillige Exportbeschränkungen zwar grundsätzlich auf „freiwilliger“ Basis geschlossen, in der Praxis stimmten Ausfuhrländern diesen jedoch zu, da sie befürchteten anderenfalls unilateralen Maßnahmen ausgesetzt zu sein, die ihrer Ausfuhr einen noch größeren Schaden zufügen würden.73 Auch im Handel mit Agrarerzeugnissen wurden die Verpflichtungen aus dem GATT zur Abschaffung mengenmäßiger Beschränkungen systematisch ausgehöhlt. Zudem ermöglicht auch die Ausnahmebestimmung des Art. XI:2 lit. c) GATT die Verhängung mengenmäßiger Beschränkungen auf eingeführte Agrarerzeugnisse.74 Erst als Ergebnis der von 1986 bis 1993 stattgefundenen Uruguay-Runde sind die multilateralen Handelsübereinkommen, das Übereinkommen über Textilien und Bekleidung („Agreement on Textiles and Clothing“, ÜBT) und das Übereinkommen über Landwirtschaft („Agrement on Agriculture“, ÜLW) zustande gekommen, welche diese beiden Bereiche in das Regime des GATT überführten. Das ÜLW sieht nach Art. 4.2 ÜLW und der dazugehörigen Fußnote die Umwandlung von mengenmäßigen Beschränkungen für Agrarprodukte in Zölle vor. Das ÜBT bezweckt ebenfalls die Integration des Handels mit Textilien und Bekleidung in die allgemeine Handelsordnung des GATT.75 Dazu haben sich die WTO-Mitglieder nach Art. 9 ÜBT verpflichtet, bis zum Ende des Jahres 2004 die mengenmäßigen Beschränkungen in diesem Bereich abzuschaffen und durch Zölle zu ersetzen bzw. nur solche beizubehalten, die durch bestehende Ausnahmevorschriften innerhalb des GATT gerechtfertigt werden können. Nach Art. 9 ÜBT ist dieses Abkommen zum 01.01.2005 außer Kraft getreten. Somit sind die ursprünglichen, jedenfalls faktischen Ausnahmebestimmungen für den Handel mit Textilwaren und Agrarerzeugnissen abgeschafft worden.

71  Stoll / Schorkopf,

Rn. 253, 254; van den Bossche, S. 448. Rn. 467. 73  Vgl. auch: Report of the Chairman of the Safeguards Committee, BISD 30S / 216, 218 (1984). 74  Vgl. B.I.2.a)dd) zu den Voraussetzungen der Ausnahmebestimmung des Art. XI:2 lit. c) GATT. 75  Panel Report, US – Underwear, Rn. 165. 72  Hermann / Weiß / Ohler,



I. Regulierung der Zölle, Abgaben und Beschränkungen37

bb) Ausnahmebestimmung für den Fall der Mangelversorgung Art. XI:2 lit. a) GATT enthält eine Ausnahmebestimmung, um die Mangelversorgung mit Lebensmitteln oder anderen wichtigen Waren, womit vor allem erschöpfbare Rohstoffe gemeint sind,76 verhindern zu können. Um einer Mangelversorgung abzuhelfen, können vorübergehend Ausfuhrbeschränkungen erlassen werden. Eine Mangelversorgung ist bereits gegeben, wenn eine bestimmtes Nahrungsmittel oder eine andere wichtige Ware nur noch zu einem stark erhöhten Preis auf dem inländischen Markt zu erwerben ist. Eine nationale Notsituation wie eine Hungersnot muss nicht eingetreten oder zu befürchten sein.77 Sobald die Notsituation nicht mehr eingetreten oder zu befürchten ist, sind Maßnahmen nach Art. XI:2 lit. a) GATT nicht mehr gerechtfertigt.78 Auf Art. XI:2 lit. a) GATT gestützt wurde in den vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts ein australisches Ausfuhrverbot für Merino-Schafe. Hierdurch sollte sich deren Bestand nach einer Dürre wieder regenerieren können. Im Jahr 1973 wurde von der US-Regierung ein Ausfuhrverbot für Sojabohnen erlassen, damit die weltweit rasant gestiegene zusätzliche Nachfrage nach eiweißhaltigen Futtermitteln für die Tiermast nicht die heimische Versorgung gefährdete.79 Beide Ausfuhrverbote wurden wieder aufgehoben, als sich der australische Tierbestand an Merino-Schafen erholte bzw. gute Ernteergebnisse dazu führten, dass die US-Versorgung mit eiweißhaltigen Futtermitteln wieder gesichert war. Trotz ihrer bislang nur geringen praktischen Bedeutung kann dieser Ausnahmebestimmung gerade im Zuge der weltweiten Nahrungsmittelkrise wieder ein besonderes Gewicht zukommen. Denn viele Entwicklungsländer begrenzen derzeit die Ausfuhr von Lebensmitteln, um zumindest die einheimische Nachfrage befriedigen zu können. cc) Ausnahmen zur Förderung des Ausfuhrmarketings Art. XI:2 lit. b) GATT erlaubt als weitere Ausnahmebestimmung vom Verbot der mengenmäßigen Beschränkungen solche Verbote oder Beschränkungen der Ein- oder Ausfuhr, die im Interesse der Sortierung, Güteklasseeinteilung und dem Absatz von Waren (Marketing) im internationalen Handel notwendig sind. Notwendig sind die Verbote und Beschränkungen dann, wenn keine handelsbeschränkenden Maßnahmen ersichtlich sind, die 76  Hermann / Weiß / Ohler,

Rn. 480. S. 107. 78  Prieß / Berrisch, B.I.1. Rn. 56 (Berrisch). 79  Senti, Rn. 522. 77  Diehm,

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B. Reichweite der Warenverkehrsfreiheit und des Warenhandels

in einem geringeren Maße gegen die Verpflichtungen aus dem GATT verstoßen.80 In der Judikatur der Streitbeilegungsgremien spielte Art. XI:2 lit. b) GATT bisher nur eine Rolle, als die USA Ende der 1980er Jahren gegen ein kanadisches Verbot der Ausfuhr von unverarbeitetem Hering und Lachs vorgingen. Mit diesem Verbot wollte Kanada die einheimischen Fischverarbeiter schützen, deren Produkte nach Auffassung der kanadischen Regierung anderenfalls nicht gegenüber dem verarbeiteten Fisch US-amerikanischer ­ Fischverarbeiter konkurrenzfähig gewesen wären. Nach der Auffassung des Panels konnte sich ein solches Ausfuhrverbot jedoch nicht auf Art. XI:2 lit. b) GATT stützen. Denn diese Ausnahmebestimmung schütze allein die Verbesserung des Absatzes einer Ware und diene nicht der Verbesserung der Absatzchancen einer anderen Ware. Anderenfalls wäre jeder Ein- oder Ausfuhrschutz zugunsten der einheimischen Industrie gerechtfertigt. Bei verarbeitetem Fisch handele es sich jedoch um eine andere Ware als bei unverarbeitetem Fisch.81 Grund für diese Ausnahmebestimmung war, dass während der Genfer Verhandlungen zur Gründung der ITO Marketingmaßnahmen wie die australischen Butter-Exportlizenzen, mittels derer die Ausfuhrmengen über eine bestimmte Periode gleichmäßiger verteilt werden sollten, die aber die Ausfuhr insgesamt nicht kürzten oder einschränkten, von den Verpflichtungen aus dem GATT ausgenommen werden sollten.82 dd) Ausnahmebestimmungen für Erzeugnisse der Landwirtschaft und der Fischerei Art. XI:2 lit. c) GATT ermöglicht es unter bestimmten Voraussetzungen Einfuhrbeschränkungen, aber keine reinen Einfuhrverbote, für Erzeugnisse der Landwirtschaft oder Fischerei zu erlassen. Dafür müssen die Einfuhrbeschränkungen zur Durchführung der in Art. XI:2 lit. c) (i) bis (iii) GATT genannten staatlichen Maßnahmen notwendig sein. Handelsbeschränkende Maßnahmen sind nach Art. XI:2 lit. c) (i) GATT gerechtfertigt, wenn hierdurch die Angebotsmenge gleichartiger oder substituierbarer Waren auf dem Inlandsmarkt reduziert wird. Das WTO-Mitglied darf also nur Einfuhrbeschränkungen erlassen, wenn es gleichzeitig die Herstellung der Ware im eigenen Land reduziert.83 Zudem können durch 80  Diehm,  S. 144.

Panel Report, Canada – Herring and Salmon, Rn. 4.3. Rn. 554. 83  Senti, Rn. 555. 81  GATT 82  Senti,



I. Regulierung der Zölle, Abgaben und Beschränkungen39

handelsbeschränkende Maßnahmen die momentanen Überschüsse gleichartiger oder substituierbarer Waren über kostenlose oder vergünstigte Abgaben an bestimmte Verbrauchergruppen beseitigt werden (ii). Zusätzlich kann auch die Herstellung tierischer Erzeugnisse, „die vollständig oder größtenteils von der eingeführten Ware unmittelbar abhängt“, mengenmäßig beschränkt werden. Dafür muss die Inlandsherstellung jedoch relativ geringfügig sein. Gemeinsame Voraussetzung dieser drei Ausnahmebestimmungen ist, dass eine handelsbeschränkende Maßnahme nach Art. XI:2 lit. c) GATT zur Durchsetzung der Agrarpolitik des jeweiligen WTO-Mitgliedes notwendig ist. Ob eine Maßnahme notwendig ist, ist eine Frage des Einzelfalls. Jedenfalls dürfen die Einfuhrbeschränkungen nicht über die staatlichen Maßnahmen, die sie unterstützen sollen, hinausgehen.84 Zentrale Voraussetzung der Anwendung des Art. XI:2 lit. c) GATT ist aber das Erfordernis der Gleichartigkeit. Eine gleichartige Ware im Rahmen dieser Ausnahmebestimmung ist anders zu beurteilen als in anderen Vorschriften des GATT.85 Denn diese Ausnahmebestimmung bezieht sich nur auf Erzeugnisse der Landwirtschaft und der Fischerei. Bei diesen Erzeugnissen ist aber zu berücksichtigen, dass auch leicht veredelte und noch verderbliche Ware, die zu frischen Waren in unmittelbarer Konkurrenz stehen, bei ungehinderter Einfuhr die Frischwaren auferlegten Beschränkungen unwirksam machen würden. Daher können sowohl frische Tomaten und Tomatenkonzentrat als auch verschiedene Apfelsorten mit erheblichen Unterschieden in Preis und Qualität als gleichartige Waren i. S. d. Art. XI:2 lit. c) GATT angesehen werden.86 Art. XI:2 lit. c) GATT geht auf die Sektion 22 des „US Agricultural Adjustment Act“ von 1933 zurück. Dieser sah Einfuhrbeschränkungen für Agrarerzeugnisse vor, die Teil eines staatlichen Agrarförderungsprogramms waren. Die Ausnahmebestimmung des Art. XI:2 lit. c) GATT diente daher agrarprotektionistische Interessen, indem sie es den WTO-Mitgliedern ermöglichen sollte, eine landwirtschaftlich Binnenmarktpolitik mit Höchstpreisen und garantierter Absatzsicherung zu betreiben.87 Seitdem das LWÜ unter dem WTO-Übereinkommen in Kraft getreten ist, werden Fälle in denen Art. XI:2 lit. c) GATT als Ausnahmebestimmung einschlägig ist, immer auch auf dieser Rechtsgrundlage entschieden.88 Report, Japan – Agricultural Products, Rn. 6.7. B.II.1.a)aa); B.III.1.b) und B.IV.1.b) zum Begriff der Gleichartigkeit in anderen Bestimmungen des GATT. 86  Panel Report, EC – Processed Fruits and Vegetables, Rn. 4.12.; Panel Report, EC– Imports of Apples, Rn. 5.7. 87  Senti, Rn. 558. 88  Senti, Rn. 560. 84  Panel 85  Vgl.

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B. Reichweite der Warenverkehrsfreiheit und des Warenhandels

ee) Ausnahmebestimmungen zum Schutz der Zahlungsbilanz Neben den in Art. XI GATT enthaltenen Ausnahmebestimmungen findet sich eine weitere Ausnahmebestimmung vom Verbot der mengenmäßigen Beschränkungen in Art. XII GATT. Nach Art. XII GATT kann ein WTOMitglied handelsbeschränkende Maßnahmen, die gegen das Verbot der mengenmäßigen Beschränkungen des Art. XI:1 GATT verstoßen, rechtfertigen, wenn es zum Schutz seiner Zahlungsbilanz Menge und Wert seiner Einfuhren beschränkt. Eine ähnliche Ausnahmebestimmung findet sich auch in Art. XIV:5 GATT, der einen Verstoß gegen das Prinzip der Inländergleichbehandlung rechtfertigt.89 Ebenso lässt Art. XVIII:B GATT Ausnahmen zu, in deren Rahmen Entwicklungsländer aufgrund ihrer besonderen Bedürfnisse zum Schutz ihrer Zahlungsbilanz Menge und Wert ihrer Einfuhren beschränken können.90 Zur Ausfüllung des Art. XII GATT wurde 1994 das Understanding on Balance of Payments Provisions erlassen.91 Dieses legt zusammen mit den einzelnen Bestimmungen des Art. XII GATT die Voraussetzungen für ein WTO-Mitglied fest, unter denen es zum Schutz seiner Zahlungsbilanz einen Verstoß gegen das Verbot mengenmäßiger Beschränkungen rechtfertigen kann, und erlaubt einem WTO-Mitglied darüber hinaus auch zum Schutz seiner Zahlungsbilanz von seinem gebundenen Zollzugeständnissen abzuweichen.92 WTO-Mitglieder machen von der Ausnahmebestimmung zum Schutz der Zahlungsbilanz auch durchaus regen Gebrauch.93 Für diese Ausnahmebestimmungen zum Schutze der Zahlungsbilanz findet sich im EU-Recht in Art. 144 AEUV ein Äquivalent. So ermöglicht es Art. 144 AEUV den EU-Mitgliedstaaten bei einer plötzlichen Zahlungsbilanzkrise Schutzmaßnahmen zu ergreifen, wenn die nach Art. 143 AEUV vom Rat und der Kommission ermächtigten Schutzmaßnahmen nicht greifen oder solche nicht getroffen werden. Diese Möglichkeit steht aber nur EUMitgliedstaaten offen, die den Euro noch nicht als Zahlungsmittel eingeführt haben (Art. 144 Abs. 4 AEUV). Bislang hat jedoch noch kein EU-Mitgliedstaat auf diese Ausnahmebestimmung zurückgegriffen. 89  Vgl.

B.IV.1. zum Prinzip der Inländergleichbehandlung im WTO-Recht. C.IV.10.a). 91  van den Bossche, S.  668 ff. 92  Vgl. § 2 des Understanding on Balance of Payments Provisions; vgl. B.I.1.a) cc) zu den sonstigen speziellen Ausnahmebestimmungen zu den gebundenen Zollzugeständnissen. 93  van den Bossche, S. 673. 90  Vgl.



I. Regulierung der Zölle, Abgaben und Beschränkungen41

Sowohl im WTO- als auch im EU-Recht besteht daher die Möglichkeit zum Schutz der Zahlungsbilanz eines Landes den liberalisierten Warenhandel bzw. die Warenverkehrsfreiheit zu beeinträchtigen. Durch eine solche Möglichkeit des Schutzes der Zahlungsbilanz werden die Währungsreserven und damit die Währung eines Landes gestärkt. Im EU-Recht stellt diese Ausnahmebestimmung allerdings die letzte Rückgriffsmöglichkeit dar, wie dies aus dem Verweis in Art. 144 AEUV auf Art. 143 AEUV hervorgeht, der vertragskonforme Maßnahmen und einem gegenseitigen Beistand der EUMitgliedstaaten zur Behebung von Zahlungsbilanzschwierigkeiten eines EU-Mitgliedstaates vorsieht. In beiden Rechtsordnungen besteht also die Notwendigkeit den beteiligten Staaten zum Schutz ihrer Währungen das Recht einzuräumen Notstandsmaßnahmen zu ergreifen. Dies ist vor allem historisch zu erklären. Denn sowohl der Entwurf des GATT als auch der Vorläufer des EU geschah in einer Zeit, in der viele Staaten unter unausgeglichenen Zahlungsbilanzen und unter Devisenmangel litten. Die Ausnahmebestimmungen zum Schutz der Zahlungsbilanz auf beiden Ebenen sollten daher eine Rechtfertigungsmöglichkeiten bieten, damit der Zusammenbruch der eigenen Währung verhindert werden kann. Die im Vergleich zum WTO-Recht bisherige mangelnde praktische Relevanz dieser Ausnahmebestimmung ist nicht nur auf die jedenfalls bislang weniger krisenanfälligeren Währungen der EU-Mitgliedstaaten zurückzuführen. Wie die Finanzkrisen seit dem Jahre 2008 zeigen, stehen die EU und die Mitgliedstaaten der EU einander in wirtschaftlich schwierigen Zeiten nämlich auch solidarisch bei und können zudem in einem größeren Maße auf die Hilfe des IWF hoffen als viele WTO-Mitglieder, so dass bislang kein EUMitgliedstaat zum letzten Mittel des Art. 144 AEUV greifen musste. ff) Allgemeine Anforderungen des Art. XIII GATT an mengenmäßige Beschränkungen Wie oben dargestellt, bestehen zu Art. XI:1 GATT verschiedene Ausnahmebestimmungen. Auch aufgrund der noch darzustellenden Ausnahme­ bestimmung des Waiver werden oftmals mengenmäßige Beschränkungen erlassen.94 Daher sind mengenmäßige Beschränkungen trotz des grundsätzlichen Verbotes des Art. XI:1 GATT auch heute noch relativ häufig anzutreffen.95 Für solche mengenmäßige Beschränkungen, die durch Ausnahmebestimmungen gerechtfertigt sind, stellt Art. XIII GATT allgemeine Anfor94  Vgl.

C.IV.7. zur Ausnahmebestimmung des Waiver. Rn. 484.

95  Hermann / Weiß / Ohler,

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B. Reichweite der Warenverkehrsfreiheit und des Warenhandels

derungen auf. So gilt nach Art. XIII GATT für alle mengenmäßigen Beschränkungen das Prinzip der Meistbegünstigung.96 Falls ein WTO-Mitglied also doch mengenmäßige Ein- oder Ausfuhrbeschränkungen erlässt, muss es nach Art. XIII:1 GATT die Ein- oder Ausfuhren von gleichartigen Waren in bzw. aus anderen WTO-Mitgliedern oder anderen Ländern entsprechend beschränken. Hierdurch sollen gleichartige Waren unabhängig von ihrer Herkunft gleich behandelt werden.97 Ein Verstoß gegen Art. XIII:1 GATT stellt es etwa dar, wenn mit einigen Einfuhrländern freiwillige Selbstverpflichtungen vereinbart werden, gegenüber anderen WTO-Mitgliedern, die sich auf solche Selbstverpflichtungen nicht einließen, aber mengenmäßige Beschränkungen erlassen werden.98 Falls nur Beschränkungen, aber keine Verbote der Einfuhr erlassen werden, schreibt Art. XIII:2 GATT vor, dass die Beschränkungen so ausgestaltet werden müssen, dass die Verteilung des Handels zwischen den WTO-Mitgliedern soweit wie möglich der Handelsverteilung entspricht, die ohne Erlass der Einfuhrbeschränkungen bestehen würde. Art. XIII:2 GATT enthält zudem weitere Anforderungen an den Erlass von Einfuhrbeschränkungen. So sind möglichst „Kontingente festzusetzen, welche die Gesamtmenge der zugelassenen Einfuhren umfassen“. Die Höhe dieser Kontingente ist zu veröffentlichen (lit. a). Falls es nicht möglich ist, Kontingente festzusetzen, sollen „Einfuhrlizenzen oder Einfuhrbewilligungen“ erteilt werden (lit. b). Werden die Einfuhrbeschränkungen aber mittels Einfuhrkontingente vorgenommen, muss mit den Einfuhrländern, die hieran wesentlich interessiert sind, versucht werden eine Vereinbarung über deren Aufteilung anzustreben. Ist eine solche einvernehmliche Aufteilung nicht möglich, müssen die Kontingente zwischen allen WTO-Mitgliedern mit einem wesentlichen Interesse hieran entsprechend ihres Handelsanteiles in einer früheren Vergleichspe­ riode verteilt werden (lit. d). Als eine frühere Vergleichsperiode wird regelmäßig ein Zeitraum von drei Jahren herangezogen.99 b) Mengenmäßige Beschränkungen im EU-Recht Art. 34 AEUV verbietet mengenmäßige Beschränkungen für Einfuhren und Maßnahmen gleicher Wirkung, während Art. 35 AEUV mengenmäßige Beschränkungen für Ausfuhren sowie Maßnahmen gleicher Wirkung verbietet. Der EuGH legt mengenmäßige Beschränkungen als staatliche Begren96  Vgl.

B.III.1. zum Prinzip der Meistbegünstigung. Body Report, EC – Bananas, Rn. 190. 98  GATT Panel Report, EEC – Apples I (Chile), Rn. 4.11. 99  GATT Panel Report, EEC – Apples I (Chile), Rn. 4.16; GATT Panel Report, EEC – Dessert Apples, Rn. 12.22. 97  Appellate



I. Regulierung der Zölle, Abgaben und Beschränkungen43

zungen der Menge oder des Wertes von Ein- und Ausfuhren aus, die eine vollständige oder teilweise Untersagung von Ein-, Aus- oder Durchfuhren zur Folge haben könnte.100 Diese Verbote gelten für alle Waren, die aus den EU-Mitgliedstaaten stammen, ebenso wie für Waren aus Drittländern, die sich in den EU-Mitgliedstaaten im freien Verkehr befinden. Das Verbot mengenmäßiger Beschränkungen ist jedoch heute nicht mehr von praktischer Bedeutung, da diese von den EU-Mitgliedstaaten nicht länger verhängt werden. Denn die EU-Mitgliedstaaten scheuen die hierbei klar zutage tretenden, quantifizierbaren Handelsbeschränkungen.101 Auch das Verbot mengenmäßiger Ein- und Ausfuhrbeschränkungen aus den Art. 34 AEUV und Art. 35 AEUV entfaltet unmittelbare Wirkung, so dass Einzelne sich hierauf vor innerstaatlichen Gerichten berufen können. Außerdem verbietet Art. 34 AEUV auch Maßnahmen gleicher Wirkung wie mengenmäßige Beschränkungen. Zur vollständigen Gewährleistung des freien Warenverkehrs wird das Verbot der Maßnahmen gleicher Wirkung wie mengenmäßige Beschränkungen vom EuGH weit ausgelegt. Diese weite Auslegung beinhaltet auch mengenmäßige Beschränkungen. Der Begriff der Maßnahmen gleicher Wirkung wie mengenmäßige Beschränkungen wird jedoch im Zusammenhang mit der Untersuchung der Behandlung von innerstaatlichen Regelungen, die den Warenhandel beeinträchtigen, dargestellt.102 Denn über Ein- und Ausfuhrverbote hinaus umfasst der Begriff der Maßnahmen gleicher Wirkung wie mengenmäßige Beschränkungen jede Maßnahme, die eine handelsbeschränkende Wirkung hat. Daher kommt dieser Begriff in seinem Anwendungsbereich dem Art. III:4 GATT näher und wird dementsprechend auch in diesem Zusammenhang untersucht. c) Vergleich Die Behandlung mengenmäßiger Beschränkungen in den Rechtsordnungen von WTO und EU gleicht sich wesentlich mehr als die von Zöllen und zollgleichen Abgaben. Denn sowohl die WTO, auf deren Ebene nur eine Handelsliberalisierung angestrebt wird, als auch die EU, auf deren Ebene eine sehr weitgehende Wirtschaftsintegration erreicht wurde, sprechen sich für ein jedenfalls grundsätzliches Verbot von mengenmäßigen Beschränkungen aus. Die jedenfalls grundsätzliche Gemeinsamkeit in beiden Rechtsordnungen hinsichtlich der Behandlung mengenmäßiger Beschränkungen lässt sich jedoch damit erklären, dass diese den Warenhandel wesentlich stärker 100  Urt. des EuGH v. 12.07.1972, Rs. 2 / 73, Geddo . / . Ente Nazionale Rici, Slg, 1973, 865, 879, Rn. 7. 101  Moench, NJW 1982, 2689. 102  Vgl. B.III.2.

44

B. Reichweite der Warenverkehrsfreiheit und des Warenhandels

als Zölle behindern. Mengenmäßige Beschränkungen stellen nämlich nach ihrem Ausschöpfen ein absolutes Verbot dar, während Zölle, jedenfalls solche, die nicht prohibitiv sind, eine Ware nur verteuern.103 Außerdem können effiziente Hersteller die durch Zölle verursachten Handelshemmnisse überwinden, während selbst der effizienteste Hersteller das Hindernis einer ausgeschöpften Quote nicht überkommen kann. Zölle sind zudem transparenter als mengenmäßige Beschränkungen und von den hierdurch erzielten Einnahmen profitiert der Fiskus des Einfuhrstaates und nicht der Importeur durch eine künstliche Verteuerung des knapper werdenden Gutes. Zudem ist die administrative Verteilung von Kontingenten eher durch Korruption beeinflussbar als die Festsetzung eines Zolltarifes.104 Während das Verbot von mengenmäßigen Beschränkungen im EU-Recht aber vorbehaltlos gilt, bestehen zum Verbot mengenmäßiger Beschränkungen des Art. XI:1 GATT zahlreiche Ausnahmen, die dazu geführt haben, dass mengenmäßige Beschränkungen im Rahmen der WTO noch recht häufig anzutreffen sind. Die Ausnahmebestimmungen zum Verbot der mengenmäßigen Beschränkungen im EU-Recht sind im Gegensatz dazu allgemeiner Natur. Mangels Ausnahmebestimmungen im EU-Recht für mengenmäßige Beschränkungen ist auch eine dem Art. XIII GATT ähnliche Regelung, welche allgemeine Voraussetzungen für mengenmäßige Beschränkungen aufstellt, im EU-Recht nicht notwendig. Eine gewisse Ähnlichkeit zu den Ausnahmebestimmungen des WTORechts für mengenmäßige Beschränkungen besteht im EU-Recht aber insofern, als dass die Ausnahmebestimmungen des Art. XI:2 lit. a) bis c) GATT direkt oder in ihrem praktischen Anwendungsbereich auf den Handel mit Agrarprodukten zurechtgeschnitten sind. Diese Ähnlichkeit besteht darin, dass auch im EU-Recht die Liberalisierung des Handels mit Agrarprodukten zwar nicht durch die Möglichkeit der Verhängung mengenmäßiger Beschränkungen, aber durch andere handelsbeschränkende Maßnahmen deutlich abgefedert wird. So ist die Ein- und Ausfuhr von Agrarprodukten zwischen den EU-Mitgliedstaaten frei, doch stehen deren Produzenten unter dem besonderen Schutz der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) der Art. 38 AEUV bis Art. 44 AEUV. Die speziellen Regelungen der GAP gehen nach Art. 32 Abs. 2 AEUV den Vorschriften über die Erreichung der Warenverkehrsfreiheit und damit im Zweifelsfall auch den Verbot der mengenmäßigen Ein- und Ausfuhrbeschränkungen vor. Von einem ungehinderten Wettbewerb innerhalb der EU werden die Produzenten von Agrar- und Fischprodukten insbesondere durch Garantien von Mindestpreisen und Subventionen sowie vor allem neuerdings durch direkte Einkommensbeihilfen geschützt. 103  Weatherill / Beaumont, 104  van

S. 501. den Bossche, S. 443.



I. Regulierung der Zölle, Abgaben und Beschränkungen45

Also sind Agrar- und Fischereierzeugnisse sowohl im EU- als auch im WTO-Recht von dem Wettbewerb, den die beiden Rechtsordnungen sonst zu erreichen anstreben, in einem großen Umfange ausgenommen. Innerhalb der EU jedoch nicht durch die Möglichkeit mengenmäßiger Beschränkungen zwischen den EU-Mitgliedstaaten, sondern durch Subventionierung der Erzeuger und Abschottung des europäischen Marktes nach außen u. a. ebenfalls durch mengenmäßige Beschränkungen. Allerdings können Agrar- und Fischprodukte aus mehreren, durchaus noch heute gegebenen Gründen wie z. B. die Zufälligkeit der Ernte bzw. des Fangs sowie hiervon abhängigen Preisschwankungen und des Umstandes das Nahrung als Existenzgrundlage dient, nicht wie andere Waren behandelt werden.105 Zudem kann deren Privilegierung damit erklärt werden, dass sowohl in der EU als auch in Japan und den USA wegen struktureller Notwendigkeiten und massiven Lobbyismus anderenfalls nicht konkurrenzfähige Strukturen im Agrarbereich durch die verschiedensten Instrumentarien am Leben erhalten werden. Und da die EU zusammen mit Japan und den USA, die drei wichtigsten Vertragsparteien der WTO bilden, scheint sich das Interesse Agrar- und Fischereiprodukte vom unbegrenzten Wettbewerb auszunehmen, sowohl auf Ebene der WTO als auch auf Ebene der EU durchgesetzt zu haben. Dass im EU-Recht keine Ausnahmevorschriften für das Verbot der mengenmäßigen Beschränkungen von Textilerzeugnissen vorhanden ist bzw. vorhanden war, lässt sich damit erklären, dass der Ausschluss eines ganzen Sektors wie der Textilproduktion vom Verbot der mengenmäßigen Beschränkungen mit dem Konzept eines Binnenmarktes nur schwer zu vereinbaren ist. Zudem besteht für die Mitgliedstaaten der EU nicht in gleicher Weise die Notwendigkeit im Handel mit Textilien ähnliche Schutzmaßnahmen zu ergreifen, wie dies jedenfalls bei den hochindustrialisierten WTO-Mitgliedern der Fall ist. Zwar mögen innerhalb der EU-Mitgliedstaaten hinsichtlich der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und industriellen Entwicklung beträchtliche Unterschiede bestehen, die während des Entwurfs des EU-Vertrages und für viele neue Mitgliedstaaten vor ihrem Beitritt sogar noch wesentlich größer gewesen waren. Allerdings handelt es sich bei den EUMitgliedstaaten insgesamt um Länder, die die Phase der Industrialisierung bereits abgeschlossen haben und sich nun vorrangig auf die Herstellung von höherwertigen Waren spezialisiert haben. Außerdem haben sich ihre Lohnkosten jedenfalls in einem gewissen Maße aneinander angeglichen haben. Anders hingegen innerhalb der WTO. Hier treffen Industrienationen auf Entwicklungsländer, die Textilwaren als sehr arbeitsintensiv erzeugtes Gut, mit vergleichsweise geringen Anforderungen an den Stand der industriellen 105  Streinz,

Rn. 1068.

46

B. Reichweite der Warenverkehrsfreiheit und des Warenhandels

Entwicklung, in großen Mengen zu sehr günstigen Preisen anbieten können. Die innerhalb der WTO sehr einflussreichen Industriestaaten versuchten deshalb die Möglichkeit beizubehalten, durch mengenmäßige Beschränkungen ihre Textilerzeuger vor dem Wettbewerbsdruck aus Entwicklungsländern zu schützen. Dass aber auch im WTO-Recht grundsätzlich ein ganzer Sektor bei einer erfolgreichen Liberalisierung des Warenhandels nicht langfristig von dem Verbot mengenmäßiger Beschränkungen ausgenommen werden kann, zeigt sich im Zustandekommen des zwischenzeitlich außer Kraft getretenen ÜBT, welches mengenmäßige Beschränkungen für Textilwaren schrittweise beseitigte.

II. Behandlung diskriminierender steuerlicher Maßnahmen im Recht von WTO und EU Die Reduzierung oder die Abschaffung von Zöllen und das im WTORecht jedenfalls sehr umfassende Verbot und das im EU-Recht bestehende völlige Verbot mengenmäßiger Beschränkungen ermöglichen ausländischen Waren den Eintritt in fremde Märkte. Für die Erreichung des jeweils angestrebten Ziele – ein liberalisierter Warenhandel oder ein Binnenmarkt – ist dies jedoch nicht ausreichend. Ihre jeweiligen Ziele werden beide Rechtsordnungen nur erreichen können, wenn der Verkauf der eingeführten Waren im einheimischen Markt nicht durch nationale Regelungen behindert wird, die einheimische Waren bevorteilen. Eine solche Bevorteilung einheimischer Waren bzw. Benachteiligung eingeführter Waren kann durch eine diskriminierende Besteuerung geschehen, indem etwa eingeführte Waren einem höheren Mehrwert- oder Luxussteuersatz als einheimische Waren unterworfen werden. Sowohl WTO als auch EU müssen hierauf Antworten finden, damit eine diskriminierende Besteuerung nicht dazu benutzt werden kann, die Vorteile abgebauter bzw. reduzierter tarifärer und nichttarifärer Marktzugangshindernisse zu vernichten. Um dies zu verhindern, werden durch Art. III:2 GATT und Art. 110 AEUV Handelshemmnisse beseitigt, die durch Besteuerung verursacht werden. Inwieweit beide Rechtsordnungen mit dieser Herausforderung umgehen, wird im Folgenden dargestellt. Im Anschluss hieran wird im folgenden Abschnitt (III.) die Behandlung von innerstaatlichen Regelungen, die den Warenhandel beeinträchtigen, dargestellt.106

106  Vgl.

B.III.



II. Behandlung diskriminierender steuerlicher Maßnahmen47

1. Behandlung diskriminierender steuerlicher Maßnahmen im Recht der WTO Art. III:2 GATT ist eine spezielle Ausgestaltung des noch zu behandelnden Prinzips der Inländergleichbehandlung.107 Durch diese Bestimmung wird die diskriminierende Besteuerung ausländischer Waren verboten. Das allgemeine Prinzip der Inländergleichbehandlung ist in Art. III:1 GATT niedergelegt. Danach sollen innerstaatliche Maßnahmen „nicht derart angewendet werden (…), dass die inländische Erzeugung geschützt wird“. Nachdem ausländische Waren also in den einheimischen Markt eingetreten sind und der hierfür erforderliche Zoll bezahlt wurde, müssen sie genauso wie gleichartige einheimische Waren behandelt werden.108 Sowohl tatsächliche als auch potentielle Diskriminierungen fallen in den Anwendungsbereich des Art. III GATT, so dass alle benachteiligenden Regelungen, auch wenn sie nicht angewendet werden, verboten sind.109 Art. III GATT erfasst nicht handelsbeschränkende Maßnahmen, die an den Grenzübergang der Ware anknüpfen, sondern allein innerstaatliche handelsbeschränkende Maßnahmen. Falls die handelsbeschränkende Maßnahme auf die Ware zur Zeit oder am Ort der Einfuhr angewendet wird, so wird zur Abgrenzung zwischen Art. XI GATT und Art. III GATT darauf abgestellt, ob eine gleichartige einheimische Ware auch dieser Maßnahme unterworfen wird.110 a) Das Verbot des Art. III:2 Satz 1 GATT Art. III:2 Satz 1 GATT verbietet es, eingeführte Waren direkt oder indirekt höheren inländischen Abgaben oder sonstigen Belastungen zu unterwerfen, als gleichartigen einheimischen Waren auferlegt werden. Art. III:2 Satz 1 GATT wird im Rahmen eines zweistufigen Verfahrens geprüft (Twostep approach). Dabei wird in einem ersten Schritt untersucht, ob es sich um zwei gleichartige Waren handelt. Ist dies der Fall, wird in einem zweiten Schritt untersucht, ob die eingeführte Ware höheren inneren Abgaben oder sonstigen Belastungen unterliegt, als dies bei einheimischen Waren der Fall ist. Sind beide Voraussetzungen gegeben, liegt eine Verletzung des Art. III:2 Satz 1 GATT vor.111

107  Vgl.

B.IV.1. zum Prinzip der Inländergleichbehandlung. Panel Report, Italy – Agricultural Machinery, Rn. 11. 109  GATT Panel Report, United States – Section 337, Rn. 5.13. 110  van den Bossche, S. 329. 111  Appellate Body Report, Canada – Periodicals, Rn. 468. 108  GATT

48

B. Reichweite der Warenverkehrsfreiheit und des Warenhandels

aa) Gleichartige Waren i. S. d. Art. III:2 Satz 1 GATT Der Begriff der „gleichartigen Ware“ ist im GATT nicht definiert.112 Er wird im Zusammenhang des Art. III:2 Satz 1 GATT aber enger ausgelegt, als dies in anderen Bestimmungen des GATT der Fall ist. Diese strengere Auslegung beruht darauf, dass Art. III:2 Satz 2 GATT die Besteuerung unmittelbarer konkurrierender oder zu gleichen Zwecken geeigneter Waren regelt.113 Da Satz 1 eine weitergehendere Rechtsfolge als Satz 2 hat, würden anderenfalls nämlich Maßnahmen verworfen werden, die GATT-konsistent sind.114 Die Gleichartigkeit wird durch verschiedene Kriterien wie die körperlichen Eigenschaften und die Art und Qualität der Ware, wie auch ihre Endverwendung, aber auch anhand von Gewohnheiten und Geschmäckern festgelegt.115 Orientierung können bei der Prüfung der Gleichartigkeit auch bestehende Zolltarifklassifikationen geben.116 Bei der Unterscheidung, ob die Waren „gleichartig“ sind, werden auch die Gründe des betreffenden WTO-Mitgliedes für die Differenzierung berücksichtigt.117 Nicht mehr berücksichtigt wird dagegen der „aim-and effect“-Test. Nach diesem Test wird bei der Prüfung, ob Waren gleichartig sind, auch mit in Erwägung gezogen, ob die fragliche Besteuerung das Ziel und die Wirkung hatte, die einheimische Herstellung der Ware zu schützen.118 Die Streitbeilegungsgremien der WTO haben die Anwendung des „aim-and effect“-Tests jedoch zwischenzeitlich aufgegeben, da ein solcher Test als nur mit dem Wortlaut des Art. III:1 GATT, aber nicht als vereinbar mit dem Wortlaut des Art. III:2 Satz 2 GATT angesehen wurde. Außerdem wurde befürchtet, dass hierdurch die strengen Anforderungen des Art. XX GATT umgangen werden könnten.119 Ebenfalls nicht berücksichtigt bei der Prüfung der Gleichartigkeit wird, ob die Ware von kleinen oder großen Firmen hergestellt wird.120 Von den Streitbeilegungsgremien wurden z. B. als gleichartige Waren i. S. d. Art. III:2 Satz 1 GATT Wodka und Shochu eingestuft.121 Shochu ist 112  van

den Bossche, S. 334. B.II.1.b) zu den Voraussetzungen des Art. III:2 Satz 2 GATT. 114  Appellate Body Report, Japan – Alcoholic Beverages II, Rn. 112, 113. 115  Hilf / Oeter, § 9 Rn. 56 (Bender). 116  Appellate Body Report, Japan – Alcoholic Beverages II, Rn. 114, 115. 117  van den Bossche, S. 336. 118  GATT Panel Report, US – Taxes on Automobile, Rn.  5.8 ff. 119  Panel Report, Japan – Alcoholic Beverages II, Rn. 6.16, 7.17; Appellate Body Report, Japan – Alcoholic Beverages II, Rn. 115. 120  GATT Panel Report, US – Malt Beverages, Rn. 5.19. 121  Appellate Body Report, Japan – Alcoholic Beverages II, S. 17–23. 113  Vgl.



II. Behandlung diskriminierender steuerlicher Maßnahmen49

ein hochprozentiges japanisches Getränk, welches durch Destillation, insbesondere auf der Basis von Reis, Gerste oder Süßkartoffeln gewonnen wird. Ebenso wurden eingeführte und einheimische Biere und Weine als gleich­ artige Waren i. S. d. Art. III:2 Satz 1 GATT eingestuft. Dies gilt auch dann, wenn eine Steuererleichterung für Weine nur für einen solchen Wein gilt, der aus Trauben gekeltert wird, die nur in Gegenden mit bestimmten geographischen Bedingungen wachsen. Selbst wenn diese geographischen Bedingungen nicht nur im Gebiet des die Steuer erhebenden WTO-Mitgliedes, sondern auch in Gebieten anderer WTO-Mitglieder gegeben sind. In dieser Entscheidung berücksichtigte das Panel aber auch, dass der Grund für diese Differenzierung nach geographischen Bedingungen auf protektionistischen Erwägungen beruhte.122 Nicht als gleichartig i. S. d. Art. III:2 Satz 1 GATT wurden hingegen solche Autos befunden, die über US$ 30.000 kosteten und solche die preiswerter waren. Ebenfalls nicht gleichartig im Sinne dieser Bestimmung waren Autotypen, die einen unterschiedlichen Benzinverbrauch aufwiesen.123 Die genannten Beispiele sind jedoch nicht zu verallgemeinern, da die Streitbeilegungsgremien auch immer die spezifische Marktstruktur der jeweiligen WTO-Mitglieder im Blick hatten. Falls gleichartige Waren vorliegen, untersagt Art. III:2 Satz 1 GATT höhere innere Abgaben und sonstige Belastungen. Davon werden jedwede eigenständige fiskalische Maßnahmen umfasst. Nicht hierunter fallen aber finanzielle Maßnahmen zur Durchsetzung anderer Vorschriften.124 bb) Höhere Abgabe oder sonstige Belastungen Eine höhere Abgabe oder sonstige Belastung liegt bereits vor, wenn die entsprechenden Abgaben nur geringfügig höher sind („even the smallest amount of „excess“ is to much“) als die Abgaben, die auf eine „gleichartige“ einheimische Ware erhoben werden.125 Es ist auch nicht von Bedeutung, ob die höhere Abgabe irgendwelche handelsbeeinträchtigende Auswirkungen hat.126 Ebenso ist eine de minimis Ausnahme nicht anerkannt.127

Panel Report, US – Malt Beverages, Rn.  5.1 ff. Panel Report, US – Taxes on Automobile, Rn. 5.15, 5.32. 124  Panel-Report, US- Measures Affecting the Importation, Internal Sale and Use of Tobacco, Rn. 80. 125  Appellate Body Report, Japan – Alcoholic Beverages II, Rn. 115. 126  Appellate Body Report, Japan – Alcoholic Beverages II, Rn. 110. 127  GATT Panel Report, US – Superfund, Rn. 5.1.1. 122  GATT 123  GATT

50

B. Reichweite der Warenverkehrsfreiheit und des Warenhandels

b) Das Verbot des Art. III:2 Satz 2 GATT Das Verbot der diskriminierenden Besteuerung des Art. III:2 Satz 2 GATT folgt aus dieser Vorschrift selber im Zusammenhang mit ihrer interpretativen Anmerkung, die in Anhang I zum GATT zu lesen ist. Nach Art. III:2 Satz 2 GATT dürfen WTO-Mitglieder „auch sonst (…) innere Abgaben oder sonstige Belastungen auf eingeführte oder inländische Waren nicht in einer Weise anwenden, die den Grundsätzen des Abs. 1 widerspricht“. In der Anmerkung heißt es, dass eine höhere Besteuerung, welche die Voraussetzungen des Art. III:2 Satz 1 GATT erfüllt, nur dann gegen Art. III:2 Satz 2 GATT verstößt, wenn „die belastete Ware mit einer anderen unmittelbar konkurrierenden oder zum gleichen Zweck geeigneten, aber nicht mit einer ähnlichen Abgabe belasteten Ware im Wettbewerb steht“. Falls also in einer ersten Prüfung die Voraussetzungen des Art. III:2 Satz 1 GATT als nicht gegeben angesehen werden, wird in einem zweiten Prüfungsschritt die Vereinbarung der fraglichen Maßnahme mit Art. III:2 Satz 2 GATT geprüft.128 Der Appellate Body hat eine Verletzung des Art. III:2 Satz 2 GATT angenommen, wenn es sich bei den fraglichen eingeführten und einheimischen Waren, um unmittelbare konkurrierende oder zum gleichen Zweck geeignete Waren handelt, die in einem Wettbewerbsverhältnis zueinander stehen. Diese Waren müssen dann ähnlich besteuert werden und eine etwaige unterschiedliche Besteuerung darf nicht dem Schutz der heimischen Herstellung dienen.129 aa) Unmittelbar konkurrierende oder zum gleichen Zweck geeignete Ware Eine Definition für unmittelbar konkurrierende oder zum gleichen Zweck geeignete Waren, die in einem Wettbewerbsverhältnis stehen, findet sich im GATT nicht. Solche Waren dürfen jedenfalls nicht zur Gänze austauschbar sein. Denn dann wäre bereits der Anwendungsbereich des Art. III:2 Satz 1 GATT eröffnet.130 Da jedem Verbraucher regelmäßig nur ein bestimmtes Gesamtbudget zur Verfügung steht, stellt jede Kaufentscheidung gleichzeitig auch eine Entscheidung gegen den Kauf anderer Waren dar. Daher sind Waren unmittelbar konkurrierend oder zum gleichen Zweck geeignet, wenn sie dahingehend untereinander austauschbar sind, dass sie verschiedene Möglichkeiten beinhalten, den gleichen Bedarf oder Geschmack zu befrieBody Report, Canada – Periodicals, Rn. 486. Body Report, Japan – Alcoholic Beverages II, Rn. 116. 130  Appellate Body Report, Canada – Periodicals, Rn. 473. 128  Appellate 129  Appellate



II. Behandlung diskriminierender steuerlicher Maßnahmen51

digen.131 Sie müssen also aus Sicht des Käufers dasselbe spezifische Bedürfnis oder Interesse befriedigen können.132 Kriterien zur Bestimmung dieser Voraussetzung können wie im Rahmen des Art. III:2 Satz 1 GATT auch hier die körperlichen Eigenschaften und die Art, Qualität, die Endverwendung des Produktes, Gewohnheiten und Geschmäcker sowie bestehende Zolltarifklassifikationen sein. Als Kriterium herangezogen werden können auch der Preis und die Vertriebswege.133 Als Indiz kann zudem das Verbraucherverhalten in einem anderen Land herangezogen werden, dessen Wettbewerbsbedingungen denen im fraglichen Markt ähnlich sind.134 Daneben können aber auch die Wettbewerbsstrukturen in den jeweiligen Märkten und die Kreuzpreiselastizität zwischen den verschiedenen Waren von Bedeutung sein.135 Von Kreuzpreiselastizität spricht man, wenn sich die Preisveränderung einer Ware auf die Nachfrage einer anderen Ware auswirkt (Beispiel: Steigt der Preis von Butter, erhöht sich die Nachfrage nach Margarine). In die Reichweite dieser Definition fällt daher auch eine Besteuerung, die Verbraucher dazu beeinflusst tradi­ tionelle Vorlieben für eine bestimmte Ware beizubehalten.136 Ein Vorbereitungskommitte im Rahmen des Entwurfs des GATT hatte etwa angenommen, dass auch Äpfel und Apfelsinen durchaus unmittelbar konkurrierend oder zum gleichen Zweck geeignet sein können.137 Auch stehen Fachzeitschriften, die einen gleichen Interessensbereich wie etwa Sport, Musik oder Kochen bedienen, innerhalb dieses Interessensbereich in einem unmittelbaren Konkurrenzverhältnis zueinander. Auch wenn es sich dabei um US-amerikanische Fachzeitschriften handelt, die auf dem kanadischen Markt angeboten werden und dort mit kanadischen Fachzeitschriften konkurrieren. Nicht in einem unmittelbaren Konkurrenzverhältnis stehen jedoch Fachzeitschriften die verschiedene Interessensbereiche bedienen.138 Ebenfalls in einem Wettbewerbsverhältnis standen auf dem koreanischen Markt nach der Judikatur der Streitbeilegungsgremien eingeführter Whiskey, Brandy oder andere destillierte Alkoholika wie Wodka, Gin oder Rum mit destilliertem Soju, ein koreanisches branntweinähnliches Getränk auf der Basis von Reis, Weizen, Gerste und Süßkartoffeln. Für verdünnten, d. h. mit Body Report, Korea – Alcoholic Beverages, Rn. 114–116. B.I.1. Rn. 61 (Berrisch). 133  Appellate Body Report, Korea – Alcoholic Beverages, Rn. 143, 144. 134  Appellate Body Report, Korea – Alcoholic Beverages, Rn. 120. 135  Appellate Body Report, Korea – Alcoholic Beverages, Rn. 117. 136  Panel Report, Japan – Alcoholic Beverages II, Rn. 6.28. 137  Prieß / Berrisch, B.I.1. Rn. 61 (Berrisch). 138  Appellate Body Report, Canada – Periodicals, VI.B.1 (S.25). 131  Appellate

132  Prieß / Berrisch,

52

B. Reichweite der Warenverkehrsfreiheit und des Warenhandels

Wasser gemischten Soju galt dies aber nicht.139 Dass der koreanische Soju in den Anwendungsbereich des Art. III:2 Satz 2 GATT fiel, während die Besteuerung des japanischen Shochu des Art. III:2 Satz 1 GATT fiel, kann damit erklärt werden, dass der japanische Shochu im Regelfall einen wesentlich höheren Alkoholanteil hat. In einem direkten Wettbewerbsverhältnis auf dem chilenischen Markt standen auch Pisco, ein Weinbrand auf der Basis von Trauben sowie Whiskey, Brandy, Rum, Gin und Wodka.140 Die dargestellten Beispiele sind jedoch keinesfalls allgemeingültig. Denn ob es sich um unmittelbar konkurrierende oder zum gleichen Zweck geeignete Waren handelt, wird anhand des jeweiligen Falles entschieden, wobei alle relevanten Faktoren berücksichtigt werden.141 bb) Das Erfordernis der ähnlichen Besteuerung Als zweite Voraussetzung verlangt Art. III:2 Satz 2 GATT, dass unmittelbar konkurrierende oder zum gleichen Zweck geeignete Waren ähnlich besteuert werden. Die eingeführten Waren dürfen daher nicht höher besteuert werden. Da die Anmerkung zu Art. III:2 Satz 2 GATT nur von „ähnlichen Abgaben“ und nicht wie Satz 1 von „höheren Abgaben spricht“, wird ein de minimis Unterschied von dieser Bestimmung aber nicht erfasst.142 Von dieser Bagatellgrenze wurde aber nicht mehr ein chilenisches Besteuerungsmodell umfasst, das einen relativ niedrigen Steuersatz von 27 % bei einem Alkoholgehalt von bis zu 35 % und einen Höchststeuersatz von 47 % bei einem Alkoholgehalt ab 39 % vorsah. Eine Differenz im Alkoholgehalt von 4 % führte also zu einem Steuersatz der um 20 % höher lag. Wobei die chilenische Regierung es als zufällig darstellte, dass der in Chile selbst hergestellte Pisco mit einem Alkoholgehalt von 35 % gerade noch in die unterste Steuerklasse fiel, während ganz überwiegend eingeführte Alkoholika wie Whiskey, Brandy, Rum, Gin und Wodka mit einem Alkoholgehalt von meistens 40 % der obersten Steuerklasse angehörten.143

Body Report, Korea – Alcoholic Beverages, Rn. 128. Report, Chile – Alcoholic Beverages, Rn. 7.82. 141  Appellate Body Report, Korea – Alcoholic Beverages, Rn. 137. 142  Appellate Body Report, Japan – Alcoholic Beverages II, Rn. 118. 143  Appellate Body Report, Chile – Alcoholic Beverages, Rn. 67. 139  Appellate 140  Panel



II. Behandlung diskriminierender steuerlicher Maßnahmen53

cc) Schutz der heimischen Herstellung Falls es sich um unmittelbar konkurrierende oder zum gleichen Zweck geeignete Waren handelt, die nicht ähnlich besteuert werden, muss als dritte Voraussetzung die höhere Besteuerung auch in einer Weise angewendet werden, durch welche die einheimische Herstellung geschützt wird.144 Hier wird also geprüft, ob die Belastungsdifferenz zwischen verschiedenen, aber gleichwohl miteinander in einem Wettbewerbsverhältnis stehenden Waren, durch objektive Gründe gerechtfertigt werden kann.145 Ob objektive Gründe für die Belastungsdifferenz vorliegen, ergibt sich nicht zwingend aus den Motiven für das fragliche Gesetzgebungsverfahren. Stattdessen sind die Anwendungskriterien, die Struktur der steuerlichen Maßnahmen und deren allgemeine Anwendung als Indizien heranzuziehen.146 Dabei ist insbesondere zu beachten, ob höhere Steuertarife überwiegend ausländische Waren treffen, während von niedrigeren Steuerraten vor allem inländische Waren profitieren.147 Falls die steuerlichen Maßnahmen Zwecke verfolgen, die sich nicht auf den Handel beziehen, etwa den Schutz der Gesundheit in den Alkoholfällen oder Schutz der Umwelt, so wird vorgeschlagen, dass die handelsbezogenen gegen die sonstigen Gründe abzuwägen sind.148 Der vom Gesetzgeber verfolgte Zweck ist jedoch letztlich nicht nachzukontrollieren.149 Sonst bestünde die Gefahr, dass bei Berücksichtigung von nicht handelsbezogenen Zwecken die in Art. XX GATT niedergelegten Rechtfertigungsgründe verwischt werden würden. 2. Das Verbot der diskriminierenden Besteuerung im EU-Recht Art. 110 AEUV verbietet es den EU-Mitgliedstaaten eingeführte Waren diskriminierend zu besteuern oder den Verkauf eingeführter Waren mittels einer protektionistischen Steuerpolitik zu behindern.150 Hierdurch soll insbesondere verhindert werden, dass die Abschaffung der Zölle und Abgaben zollgleicher Wirkung (Art. 28 und 30 AEUV) umgangen wird, indem Waren aus anderen EU-Mitgliedstaaten einer diskriminierenden inländischen Besteuerung unterworfen werden. Dem Art. 110 AEUV kommt also eine Ergänzungsfunktion im System der Vorschriften über den freien Warenverkehr Body Report, Japan – Alcoholic Beverages II, Rn. 119. RIW 2004, 50, 56. 146  Appellate Body Report, Japan – Alcoholic Beverages II, Rn. 20. 147  van den Bossche, S. 347. 148  Prieß / Berrisch, B.I.1. Rn. 66 (Berrisch). 149  Vgl. auch Epiney, DVBl. 2000, 77, 80. 150  Weatherill / Beaumont, S. 466.

144  Appellate 145  Schön,

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B. Reichweite der Warenverkehrsfreiheit und des Warenhandels

zu. Es sollen Lücken geschlossen werden, die durch steuerliche Maßnahmen in die Vorschriften, welche die Warenverkehrsfreiheit gewährleisten, geschlagen werden könnten.151 Ebenso wie die Verbotsnorm des Art. 30 AEUV wirkt Art. 110 AEUV daher unmittelbar.152 Vor den innerstaatlichen Gerichten der EU-Mitgliedstaaten können zu Unrecht gezahlte Abgaben zurückgefordert werden.153 Die Erstattung der zu Unrecht erhobenen Abgaben richtet sich mangels gemeinschaftsrechtlicher Regelung nach dem Recht des jeweiligen Mitgliedstaates.154 Art. 110 AEUV erfasst alle „inländischen Abgaben gleich welcher Art“. Aufgrund dieses umfassenden Wortlautes werden neben indirekten Steuern und Abgaben155 auch produktbezogene Beiträge156 und Gebühren erfasst.157 Der Schwerpunkt liegt jedoch auf dem Gebiet der indirekten Steuern.158 a) Das Verbot der Steuerdiskriminierung des Art. 110 Abs. 1 AEUV Um die vollkommene Neutralität der mitgliedstaatlichen Besteuerung in Hinblick auf den Wettbewerb inländischer Waren und Waren aus anderen Mitgliedstaaten sicherzustellen,159 untersagt Art. 110 Abs. 1 AEUV eine Ungleichbehandlung von gleichartigen eingeführten und inländischen Waren durch die Erhebung inländischer Abgaben. aa) Der Begriff der „gleichartigen“ Ware Ausgangspunkt bei der Überprüfung der Vereinbarkeit einer nationalen Abgabenregelung mit Art. 110 Abs. 1 AEUV ist der Begriff der gleicharti151  EuGH

200.

Urt v. 01.07.1969, Rs. 24 / 68, Kommission . / . Italien, Slg. 1969, 193,

152  EuGH Urt v. 16.12.1992, Rs. C-17  / 91, Georges Lornoy, Slg. 1992, I-6523, 6554, Rn. 24. 153  Schütz / Bruha / König, S. 1040. 154  EuGH Urt. v. 12.07.1997, Rs. C-114 / 95 und 115 / 95, Texaco und Olieselska­ bet Danmark, Slg. 1997, I-4267, 4286 ff., Rn. 45 ff. 155  Urt. des EuGH v. 16.02.1977, Rs. 20 / 76, Schöttle . / . Finanzamt Freudenstadt, Slg. 1977, 247, 259, Rn. 16. 156  EuGH Urt v. 18.06.1975, Rs. 94 / 74, IGAV . / . ENCC, Slg. 1975, 699, 712. 157  EuGH Urt v. 15.12.1976, Rs. 35  / 76, Simmenthal . / . Italienisches Finanzmi­ nisterium, Slg. 1976, 1871, 1888, Rn. 43 / 45. 158  Oppermann, Europarecht, Rn. 1163. 159  EuGH Urt v. 03.03.1988, Rs. 252  / 86, Bergandi . / . Directeur Général des Impôts, Slg. 1988, 1343, 1374, Rn. 24.



II. Behandlung diskriminierender steuerlicher Maßnahmen55

gen Ware. Zur Definition dieses Begriffes hat der EuGH ursprünglich auf eine formale Begriffsbestimmung abgestellt und Gleichartigkeit dann für gegeben gehalten, „wenn Waren normalerweise steuerrechtlich, zollrechtlich oder statistisch (…) unter die gleiche Bezeichnung einzuordnen sind.“160 Dies stellt für den EuGH zwischenzeitlich jedoch nur noch ein wesentliches Indiz dar. Er stellt nämlich als maßgebliches Kriterium darauf ab, ob sie „in den Augen des Verbrauchers die gleichen Eigenschaften haben und denselben Bedürfnissen dienen“. Hierbei wird auf den Verbraucher in der gesamten Gemeinschaft und nicht auf unterschiedliche lokale Verbrauchergewohnheiten Bezug genommen.161 Bei der Bestimmung der Gleichartigkeit wird also abgestellt auf objektive Kriterien, wie gleiche Merkmale, Inhaltsstoffe und Herstellungsweise, und insbesondere subjektive Kriterien, wie ob die Waren aus Verbrauchersicht gleiche Eigenschaften besitzen und denselben Bedürfnissen dienen.162 Als gleichartige Waren i. S.d Art. 110 Abs. 1 AEUV hat der EuGH etwa Weine auf Basis von gekelterten Trauben und likörweinartige Obstweine angesehen.163 Ebenso sind Autos mit einer Nutzleistung bis einschließlich 16 CV (die auch von französischen Produzenten hergestellt wurden) und solche mit einer Nutzleistung über 16 CV (die nur von ausländischen Produzenten hergestellt wurden) gleichartige Waren.164 Dies gilt auch für Zigaretten aus dunklem Tabak (die nahezu ausschließlich in Frankreich hergestellt wurden) und Zigaretten aus hellem Tabak (die auch aus anderen EUMitgliedstaaten eingeführt wurden).165 Nicht gleichartige Waren sind hingegen likörweinartige Obstweine und Whiskey.166 Ebenfalls nicht gleichartig sind Bananen und andere Obstsorten.167

Urt. v. 04.04.1968, Rs. 27 / 67, Fink-Frucht, Slg. 1968, 334, 337. Urt v. 17.02.1976, Rs. 45 / 75, Rewe (Deutsches Branntweinmonopol), Slg. 1976, 181, 196 ff., Rn. 24. 162  Balke, S. 34. 163  EuGH Urt. v. 04.03.1986, Rs. 106 / 84, Kommission . / . Dänemark, Slg. 1986, 833, 872, Rn. 19. 164  EuGH Urt. v. 09.05.1985, Rs. 1112  / 84, Michel Humblot . / . Directeur des Services Fiscaux, Slg. 1985, 1367, 1377, Rn. 15. 165  EuGH Urt. v. 27.02.2002, Rs. 302 / 00, Kommission . / . Frankreich, Slg. 2002, 2055, 2088, Rn. 30. 166  EuGH Urt. v. 04.03.1986, Rs. 243 / 84, John Walker Sons, Slg. 1987, 875, 882, Rn. 14. 167  EuGH Urt. v. 07.05.1987, Rs. 184  /  85, Kommission . / . Italien, Slg. 1987, 2013, 2026, Rn. 10. 160  EuGH 161  EuGH

56

B. Reichweite der Warenverkehrsfreiheit und des Warenhandels

bb) Der Begriff der „Diskriminierung“ Art. 110 Abs. 1 AEUV verbietet inländische Abgaben nur dann, wenn sie eingeführte Waren aus anderen EU-Mitgliedstaaten mittelbar oder unmittelbar höher belasten als gleichartige einheimische Erzeugnisse. Hierunter fallen sowohl formelle als auch materielle Formen der Diskriminierung.168 Eine formelle oder auch offene Diskriminierung liegt vor, wenn die nationalen Abgabenvorschriften formell zwischen eingeführten und einheimischen Waren unterscheiden und letztere mit einer geringeren Abgabe belegt oder gar nicht besteuert werden.169 Formelle Diskriminierungen werden jedoch von den EU-Mitgliedstaaten nicht mehr angewandt, da dies ein zu offensichtlicher Verstoß gegen Art. 110 Abs. 1 AEUV wäre. Materielle oder versteckte Diskriminierungen haben hingegen in der Praxis eine wesentlich größere Bedeutung. Eine mittelbare Diskriminierung besteht, wenn die Abgabenregelungen nicht zwischen eingeführten und einheimischen Waren unterscheidet, aber die Waren, die typischerweise eingeführt werden, von einer weniger günstigen Abgabenregelung erfasst werden.170 Im Fall einer formellen Diskriminierung fordert der EuGH nur, dass eine potentielle Benachteiligung der Hersteller anderer EU-Mitgliedstaaten nachgewiesen wird.171 Anders ist dies für materielle Diskriminierungen. Hier muss nachgewiesen werden, dass die unterschiedliche Besteuerung einen Einfluss auf die Einfuhr von Waren hat oder den inländischen Produzenten bevorteilt.172 Dabei dürfen auch gleichartige Waren unterschiedlichen Abgabensystemen unterworfen sein, im Ergebnis darf die Besteuerung eingeführter Waren aber nicht höher sein als die der einheimischen Ware.173 Falls einheimische und eingeführte Waren gleichartig sind, ist der EUMitgliedstaat im Fall einer diskriminierenden Besteuerung verpflichtet die Besteuerung einander anzugleichen. Dabei ist es unerheblich, ob die diskriminierende Besteuerung in der Praxis kaum angewendet wird oder von ihrer 168  Calliess / Ruffert,

Art. 90 EGV Rn. 12, 13 (Waldhoff). Urt v. 27.02.1980, Rs. 55 / 79, Kommission . / . Irland, Slg. 1980, 481, 491 ff., Rn. 8 ff.; Urt. des EuGH Urt. v. 16.06.1966, Rs. 57 / 65, Lütticke . / . Haupt­ zollamt Saarlouis, Slg. 1966, 257, 265 ff. 170  Barnard, S. 53. 171  EuGH Urt. v. 23.05.1996, Rs. C-273 / 94, O’Flynn . / . Adjudication Office, Slg. 1996, I-2617, 2638, Rn. 19. 172  EuGH Urt. v. 03.03.1988, Rs. 252  / 86, Bergandi . / . Directeur général des impôts, Slg. 1988, 1343, 1372, Rn. 17; EuGH Urt. v. 07.04.1987, Rs. 196 / 85, Kom­ mission . / . Frankreich, Slg. 1987, 1597, 1616, Rn. 10. 173  EuGH Urt., Rs. 127  /  75, Bobie Getränkevertrieb .  /  . Hauptzollamt AachenNord, Slg. 1976, 1079 ff. Rn. 3. 169  EuGH



II. Behandlung diskriminierender steuerlicher Maßnahmen57

Wirkung aus vernachlässigbar ist. Denn genauso wie Art. 34 AEUV kennt Art. 110 AEUV keine Erheblichkeitsschwelle, wonach nur Verstöße der Maßnahme von einigem Gewicht zu ihrer Unvereinbarkeit mit dem Gemeinschaftsrecht führen.174 b) Das Verbot protektionistischer Abgaben des Art. 110 Abs. 1 AEUV Art. 110 Abs. 2 A ergänzt Art. 110 Abs. 1 AEUV. Durch die Vorschrift des Art. 110 Abs. 2 AEUV sollen einheimische und eingeführte Waren, die nicht gleichartig i. S. d. Art. 110 Abs. 1 AEUV sind, aber gleichwohl in einem Wettbewerbsverhältnis miteinander stehen, erfasst werden. aa) Der Begriff des „Wettbewerbsverhältnisses“ Falls der EuGH das Vorliegen von zwei gleichartigen Waren verneint, prüft er, ob die eingeführte Ware mit einer inländischen Ware in einem Wettbewerbsverhältnis (Substitutionswettbewerb) miteinander steht. Dabei reicht ein „teilweise, mittelbar oder potentiell“ bestehendes Wettbewerbsverhältnis aus.175 Der EuGH entscheidet, ob einheimische und eingeführte Waren in einem Wettbewerbsverhältnis miteinander stehen, in dem er verschiedene Tests anwendet. So greift er manchmal auf den Krosselastizitätstest zurück, indem er untersucht, ob der Verkauf einer Ware zunimmt, wenn sich der Preis einer anderen Ware erhöht.176 Ebenso berücksichtigt er das Herstellungsverfahren und die Rohstoffe, aus denen die fraglichen Waren hergestellt sind.177 Auch Verbrauchergewohnheiten und ihre zukünftige Entwicklung werden berücksichtigt.178 Insbesondere dürfen bestehende Verbrauchergewohnheiten nicht zu Gunsten einheimischer Waren zementiert werden.179 Letzten Endes stellt der EuGH indes darauf ab, ob die fragliche Steuerregelung eine protektionistische „Schutzwirkung“ zur Folge haben kann.180 174  Balke,

S. 40. Urt v. 07.05.1987, Rs. 184 / 85, Kommission . / . Italien, Slg. 1987, 2013, 2026, Rn. 11. 176  Barnard, S. 55. 177  EuGH Urt. v. 27.02.1980, Rs. 170 / 78, Kommission . / . Vereinigtes Königreich, Slg. 1980, 417, 434, Rn. 15. 178  EuGH Urt. v. 12.07.1983, Rs. 170 / 78, Kommission . / . Vereinigtes Königreich, Slg. 1983, 2265, 2292, Rn. 27. 179  EuGH Urt. v. 12.07.1983, Rs. 170 / 78, Kommission . / . Vereinigtes Königreich, Slg. 1983, 2265, 2286, Rn. 8. 180  EuGH Urt. v. 27.02.1980, Rs. 170 / 78, Kommission . / . Vereinigtes Königreich, Slg. 1980, 417, 433, Rn. 10. 175  EuGH

58

B. Reichweite der Warenverkehrsfreiheit und des Warenhandels

Ob ein Wettbewerbsverhältnis besteht, ist immer eine Frage des Einzelfalls. Der EuGH hat aber ein Wettbewerbsverhältnis zwischen Bier und preiswerten Weinen angenommen.181 Ebenfalls ein Wettbewerbsverhältnis wurde zwischen einerseits Bananen, die ganz überwiegend aus den französischen Überseegebieten eingeführt wurden, und andererseits anderen Früchten wie Äpfel, Birnen, Pfirsiche und Pflaumen, die überwiegend in Italien selber angebaut wurden, angenommen.182 Gerade in früheren Entscheidungen hat der EuGH in den Fällen der Besteuerung von Alkoholika teilweise keine klare Entscheidung zwischen Art. 110 Abs. 1 AEUV und Art. 110 Abs. 2 AEUV getroffen. Daher stehen Grappa und Rum,183 Aquavit und andere Spirituosen,184 Cognac und Whiskey185 sowie Ouzo und Whiskey186 jedenfalls in einem Wettbewerbs­ verhältnis miteinander. Auch wenn es aufgrund der obengenannten Krite­ rien teilweise näher liegen mag, diese Waren als jeweils gleichartig zu bezeichnen. Falls das Vorliegen von gleichartigen Waren abgelehnt wurde und mangels entsprechender inländischer Herstellung auch keine anderweitig im Wettbewerb stehende Waren i. S. d. Art. 110 Abs. 2 AEUV vorhanden sind, verstößt eine inländische Besteuerung, die nur auf eingeführte Waren angewandt wird und diese im hohen Maße belastet, nicht gegen Art. 110 ­AEUV.187 bb) Der Begriff der „Schutzwirkung“ Im Gegensatz zum rein rechnerisch zu bestimmenden Kriterium der höheren Abgabe in Art. 110 Abs. 1 AEUV, verwendet Art. 110 Abs. 2 AEUV den Begriff der Schutzwirkung. Ob die inländische Abgabe eine Schutzwirkung entfaltet, ist durch eine Abwägung aller wirtschaftlich in Betracht 181  EuGH Urt. v. 12.07.1983, Rs. 170 / 78, Kommission . / . Vereinigtes Königreich, Slg. 1983, 2265, 2288, Rn. 12. 182  EuGH Urt. v. 07.05.1987, Rs. 184  /  85, Kommission . / . Italien, Slg. 1987, 2013, 2026, Rn. 12. 183  EuGH Urt. v. 27.02.1980, Rs. 169 / 78, Kommission . / . Italien, Slg. 1980, 385, 408, Rn.  34 ff. 184  EuGH Urt. v. 27.02.1980, Rs. 171 / 78, Kommission . / . Dänemark, Slg. 1980, 447, 472 Rn. 35. 185  EuGH Urt. v. 27.02.1980, Rs. 168 / 78, Kommission . / . Frankreich, Slg. 1980, 347, 370, Rn. 41. 186  EuGH Urt. v. 18.04.1991, Rs. C-230 /  89, Kommission . / . Griechenland, Slg. 1991, I-1909, 1922 ff., Rn. 8 ff. 187  EuGH Urt. v. 17.06.2003, Rs. C-383 / 01, De Danske Bilimportorer . / . Skatte­ ministeriet, Slg. 2003, I-6065, Rn. 38, 39.



II. Behandlung diskriminierender steuerlicher Maßnahmen59

kommenden Umstände festzustellen.188 Dabei liegt ein Verstoß gegen Art. 110 Abs. 2 AEUV vor, wenn die betreffende Abgabe geeignet ist, den betreffenden Markt durch eine Verminderung des potentiellen Verbrauches der eingeführten Waren zugunsten der mit ihnen im Wettbewerb stehenden inländischen Waren zu beeinflussen.189 Falls die Waren zueinander in einem Substitutionswettbewerb stehen, muss die protektionistische Wirkung der Besteuerung miteinander im Wettbewerb stehenden Waren entfernt werden. Die Besteuerung muss jedoch nicht aneinander angeglichen werden.190 c) Ausnahmen für legitime Schutzziele nach der Maßgabe „objektiver Kriterien“ Falls einer der Tatbestände des Art. 110 AEUV verwirklicht ist und damit eine Diskriminierung feststeht, ist eine Rechtfertigung der steuerlichen Maßnahme durch den EU-Mitgliedstaat nicht möglich.191 So sind die Ausnahmebestimmungen des Art. 36 AEUV auf steuerliche Diskriminierungen nicht anwendbar. Jedoch werden bestimmte Fälle von materiellen Diskriminierungen in der Rechtsprechung des EuGH aufgrund des damit bezweckten Schutzes legitimer wirtschaftlicher oder sozialer Ziele („objektiven Kriterien“) als zulässig angesehen.192 In der Rechtsprechung des EuGH werden diese „objektiven Kriterien“ jedoch nicht als Rechtfertigungsgründe oder Ausnahmebestimmungen bezeichnet. Stattdessen zieht sie der EuGH lediglich heran um den Schutzbereich des Art. 110 Abs. 1 AEUV zu begrenzen. Bei diesen „objektiven Kriterien“, bei denen das Verbot für materielle steuerliche Diskriminierung nicht greift, handelt es sich jedoch ähnlich wie bei der Cassis-Formel193 um Ausnahmebestimmungen, da aufgrund legitimer Schutzziele der Anwendungsbereich der Vorschriften, welche die Warenverkehrsfreiheit gewährleisten sollen, nicht voll durchschlägt.194 Der EuGH hat sich bislang nicht dazu geäußert, ob nach der Maßgabe „objektiver Kriterien“ zum Schutze legitimer Schutzziele auch der Anwen188  Geiger,

Art. 90 Rn. 20. Urt. v. 09.07.1987, Rs. 356 / 85, Kommission . / . Belgien, Slg. 1987, 3299, 3324, Rn. 11. 190  Craig / De Búrca, S. 656. 191  EuGH Urt. v. 17.06.1988, Rs. 68 / 96, Grundig Italiana SpA, Slg. 1998, I-3775, 3805, Rn. 24. 192  Vgl. auch EuGH Urt. v. 03.03.1988, Rs. 252 / 86, Bergandi . / . Directeur géné­ ral des impôts, Slg. 1988, 1343, 1375, Rn. 29–32. 193  Vgl. C.III.2. zur Cassis-Formel. 194  Vgl. C.II.4. zu den allgemeinen Voraussetzungen der „objektiven Kriterien“. 189  EuGH

60

B. Reichweite der Warenverkehrsfreiheit und des Warenhandels

dungsbereich des Art. 110 Abs. 2 AEUV eingeschränkt werden kann. Dafür spricht jedoch, dass der EuGH, wie oben dargestellt,195 in Bezug auf Art. 110 AEUV auch einen „globalized approach“ verfolgt und oft nicht klar unterscheidet, ob Waren gleichartig sind oder nur in einem Wettbewerbsverhältnis zueinander stehen.196 3. Vergleich Sowohl WTO als auch EU haben auf die Herausforderung, die darin besteht, dass eine diskriminierende Besteuerung nicht dazu benutzt werden soll, die Vorteile abgebauter bzw. reduzierter tarifärer und nichttarifärer Marktzugangshindernisse zu vernichten, während gleichzeitig ausreichend Steuern zur Finanzierung staatlicher Aufgaben erhoben werden müssen, ähnliche Antworten gefunden. So bestehen schon bei der Herangehensweise zahlreiche Gemeinsamkeiten. Denn in beiden Rechtsordnungen wird im Rahmen eines zweigliedrigen Systems zunächst geprüft, ob es sich um gleichartige Waren handelt. Ist dies nicht der Fall, wird darauf abgestellt, ob ein Substitutionswettbewerb zwischen den fraglichen Waren stattfindet. Wird die Gleichartigkeit der Waren bejaht, wird darauf abgestellt ob die eingeführten Waren mit höheren Abgaben belegt werden. Für den Fall, dass ein Substitutionswettbewerb angenommen wird, stellen hingegen beide Rechtsordnungen auf die protektionistische Auswirkung der Besteuerung ab. Diese Gemeinsamkeiten im Aufbau der beiden Vorschriften lassen sich damit erklären, dass Art. 110 AEUV an Art. III:2 GATT angelehnt wurde.197 In der Auslegung dieser Bestimmungen haben sich hingegen die Streitbeilegungsgremien an der Rechtsprechung des EuGH orientiert.198 Allerdings legt der EuGH noch stärkeren Wert auf einen durch Steuern unbeeinflussten Warenhandel. Dies ist aber auf die engere wirtschaftliche Integration zurückzuführen, welche die EU im Gegensatz zur WTO anstrebt. WTO- und EU-Recht haben zudem gemeinsam, dass es den jeweiligen Mitgliedern frei steht über ihre eigenen Steuerregelungen zu bestimmen. Daher können die Mitglieder die von ihnen gewünschte Steuerpolitik verfolgen, solange diese nicht gegenüber eingeführten Waren diskriminierend ist. Sowohl die WTO-Mitglieder als auch die EU-Mitgliedstaaten scheuen 195  Vgl.

B.II.2.b)aa). auch EuGH Urt. v. 27.02.1980, Rs. 168 / 78, Kommission . / . Frankreich, Slg. 1980, 347, 362, Rn. 13; EuGH Urt. v. 27.02.1980, Rs. 169 / 78, Kommission . / . Italien, Slg. 1980, 385, 408, Rn. 36. 197  Streinz, Art. 90 EG, Rn. 5 (Kamann). 198  Kuyper, Legal Issues of European Integration, 1996, 129, 139. 196  Vgl.



II. Behandlung diskriminierender steuerlicher Maßnahmen61

davor zurück, ihre Steuerhoheit einer anderen Gewalt zu unterwerfen. Diese Gemeinsamkeit ist darauf zurückzuführen, dass die Steuergewalt als einer der wichtigsten Bestandteile der Finanzhoheit zu den Kernbereichen staatlicher Souveränität zählt. Sie ist auch unter dem Gesichtspunkt nachvollziehbar, dass die Steuerpolitik das Herzstück und der Kernbereich eines souveränen Regierungshandeln darstellt. In demokratischen Staaten ist das Budgetrecht zudem eines der vornehmsten Befugnisse des nationalen Parlamentes.199 Selbst innerhalb der EU, als die internationale Organisation, deren Integration weltweit am weitesten fortgeschritten ist, können Steuern und Abgaben nach Art. 113 AEUV nur mit einstimmigen Ratsbeschluss harmonisiert werden. Und dem Europäischen Parlament als eine Institution mit multilateralem Charakter steht hierbei in Form des Anhörungsrechtes nur eine bescheidene Befugnis zu.200 Auch dies ist ein Zeichen für den in Steuerfragen geltenden besonderen Souveränitätsvorbehalt der Mitgliedstaaten, welcher sich durch den gesamten EU-Vertrag zieht. Beide Rechtsordnungen müssen zudem damit umgehen, dass sowohl die Steuerpolitik der WTO-Mitglieder als auch die der EU-Mitgliedstaaten darauf ausgerichtet sind, Waren, die traditionell im großen Ausmaß im Inland hergestellt und konsumiert werden, bevorzugt zu besteuern. Dies zeigt sich insbesondere im Rahmen der Besteuerung von alkoholischen Getränken, aber auch in der von Autos. So lässt sich anhand der Judikatur der Streitbeilegungsgremien und der Urteile des EuGH ein interessanter Einblick in die Trinkgewohnheiten der verschiedenen Länder nehmen. Auch zeigt die jeweilige Judikatur in Bezug auf alkoholhaltige Getränke, das innerstaat­ liche Steuern- und Abgabenregelungen dazu benutzt werden, traditionell entstandene Verbrauchergewohnheiten zu festigen. Beide Rechtsordnungen verfolgen also im Hinblick auf die Beseitigung steuerlicher Maßnahmen als Handelshemmnisse einen ähnlichen Ansatz. Ein Unterschied liegt zudem auch hier in der unmittelbaren Anwendbarkeit. Art. 110 AEUV ist unmittelbar anwendbar, während Art. III:2 GATT eine solche Wirkung nicht für sich beanspruchen kann. Eine Erklärung warum WTO-Recht nicht unmittelbar anwendbar ist, wurde jedoch bereits oben gegeben.201

199  Oppermann,

Europarecht, Rn. 1153. Art. 93 EG Rn. 6 (Waldhoff). 201  Vgl. B.I.1.a)dd) und B.I.1.c). 200  Calliess / Ruffert,

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B. Reichweite der Warenverkehrsfreiheit und des Warenhandels

III. Behandlung von innerstaatlichen Maßnahmen, die den Warenhandel beeinträchtigen Die Abschaffung bzw. die Reduzierung von Zöllen sowie das Verbot mengenmäßiger Beschränkungen und diskriminierender steuerlicher Maßnahmen reichen alleine nicht aus um einen freien Handel zu verwirklichen. Auch nichtsteuerliche Maßnahmen können ernsthafte Handelshemmnisse darstellen. Daher ist es, sobald Waren ungehindert von mengenmäßigen Beschränkungen und Zöllen bzw. nur belastet mit sinkenden Zöllen, die Grenze überschritten haben, nicht alleine ausreichend diskriminierenden steuerliche Maßnahmen zu beseitigen, um einen Binnenmarkt oder einen liberalisierten Warenhandel zu erreichen. Denn andere innerstaatliche Regelungen können den Handel ebenso einschränken und damit die durch andere Instrumentarien erreichte Handelsliberalisierung wieder rückgängig machen. Mit diesem gemeinsamen Problem konfrontiert, versuchen sowohl das WTO- als auch das EU-Recht ihre Ziele zu erreichen, indem sie innerstaatliche Regelungen beseitigen, die den Warenhandel beeinträchtigen. Im WTO-Recht werden solche nichtsteuerlichen Maßnahmen durch das Prinzip der Inländergleichbehandlung erfasst. Dieses ist vor allem in Art. III GATT niedergelegt, dessen bereits oben behandelter Absatz II eine diskriminierende Besteuerung verbietet.202 Das Prinzip der Inländergleichbehandlung des Art. III:4 GATT verpflichtet die WTO Mitglieder eingeführte Waren nicht gegenüber einheimischen Waren schlechterzustellen. Auch im EU-Recht besteht eine Notwendigkeit zu gewährleisten, dass aus anderen EU-Mitgliedstaaten eingeführte Waren gegenüber einheimischen Waren, nicht durch andere als steuerliche Maßnahmen schlechter gestellt werden. Dies wird durch die weite Auslegung des Begriffs der Maßnahmen gleicher Wirkung wie mengenmäßige Beschränkungen gewährleistet, welche ebenso wie die oben203 bereits behandelten mengenmäßigen Beschränkungen durch Art. 34 AEUV verboten werden. 1. Das Prinzip der Inländergleichbehandlung im WTO-Recht in Bezug auf nichtsteuerliche Maßnahmen Das Prinzip der Inländergleichbehandlung gilt sowohl für steuerliche Maßnahmen als auch für andere innerstaatliche Maßnahmen. Das Verbot der Nichtdiskriminierung von einheimischen und eingeführten Waren durch innerstaatliche Maßnahmen, die keinen steuerlichen Bezug haben, kommt 202  Vgl. 203  Vgl.

auch B.II.1. auch B.I.2.b).



III. Behandlung von innerstaatlichen Maßnahmen63

insbesondere in Art. III:4 GATT zum Ausdruck. Art. III:4 GATT erklärt das Prinzip der Inländergleichbehandlung auch auf innerstaatliche Regelungen anwendbar. Art. III:4 Satz 1 GATT schreibt vor, dass hinsichtlich „aller Gesetze, Verordnungen und sonstigen Vorschriften“ eingeführte Waren „keine weniger günstige Behandlung erfahren (dürfen) als gleichartige Waren inländischen Ursprungs“. Die Streitbeilegungsgremien der WTO haben um die Vereinbarkeit einer Maßnahme mit Art. III:4 GATT zu prüfen eine dreistufige Prüfung aufgestellt. Zunächst wird geprüft, ob die Maßnahme ein „Gesetz, Verordnung oder sonstige Vorschrift“ i. S. d. Art. III:4 GATT ist, dann wird darauf abgestellt, ob es sich bei der einheimischen und der eingeführten Ware um gleichartige Waren handelt, bevor abschließend untersucht wird, ob die eingeführte Ware im Vergleich zur einheimischen Ware ungleich behandelt wird.204 a) Vorliegen eines Gesetzes, einer Verordnung oder einer sonstigen Vorschrift i. S. d. Art. III:4 GATT Art. III:4 GATT erfasst „alle Gesetze, Verordnungen und sonstigen Vorschriften über den Verkauf, das Angebot, den Einkauf, die Beförderung, Verteilung oder Verwendung im Inland“. Dieser Begriff ist weit auszulegen, so dass alle Maßnahmen in den Anwendungsbereich des Art. III:4 GATT fallen, welche die Wettbewerbsbedingungen zwischen eingeführten und einheimischen Waren nachteilig verändern.205 Das Panel bezog sich in diesem Spruch auf den englischen Wortlaut dieser Vorschrift, die anders als die deutsche Übersetzung von der Auswirkung der Maßnahme auf die Wettbewerbssituation spricht. Von dieser weiten Auslegung wird nicht nur das materielle Recht, sondern auch das Verfahrensrecht erfasst.206 Zudem kann auch das Handeln Privater unter diese weite Auslegung fallen, solange dieses von staatlichen Handeln beeinflusst wird.207 Nach der Auslegung der Streitbeilegungsgremien der WTO fielen unter dem Begriff der Gesetze, Verordnungen und sonstigen Vorschriften auch Mindestverkaufspreise, die sowohl auf eingeführtes als auch auf und einheimisches Bier anwendbar waren,208 ebenso wie die Begrenzung der Verkaufsorte für eingeführte alkoholische Getränke209 oder die Anforderung, 204  Appellate Body Report, Korea – Various Measures on Beef, Rn. 133; Appellate Body Report, EC – Bananas III, Rn. 216. 205  GATT Panel Report, Italy – Agricultural Machinery, Rn. 12. 206  GATT Panel Report, US – Section 337, Rn. 5.10. 207  GATT Panel Report, Canada – Autos, Rn. 10.106, 10.107. 208  GATT Panel Report, Canada – Provincial Liquor Boards (US), Rn. 5.30. 209  GATT Panel Report, Canada – Provincial Liquor Boards (EEC), Rn. 4.26.

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B. Reichweite der Warenverkehrsfreiheit und des Warenhandels

dass eingeführte Weine und Biere nur durch im selben Staat ansässige Großhändler oder andere Mittelsmänner und nicht durch Einzelhändler zu verkaufen sind.210 Auch ein Verbot von Zigarettenwerbung fällt hierunter.211 b) Gleichartige Waren i. S. d. Art. III:4 GATT Ebenso wie bereits Art. III:2 Satz 1 GATT verlangt auch Art. III:4 GATT, dass es sich bei eingeführter und einheimischer Ware um gleichartige Waren handelt. Die Feststellung der Gleichartigkeit unterschiedet sich jedoch in dieser Vorschrift von der in Art. III:2 Satz 1 GATT. So wird der Begriff der Gleichartigkeit in Art. III:4 GATT wesentlich weiter ausgelegt. Diese weite Auslegung ist darauf zurückzuführen, dass Art. III:4 GATT zwei verschiedene Sätze mit jeweils unterschiedlichen Voraussetzungen enthält, während Art. III:2 GATT sich einzig an gleichartige Waren richtet.212 Der Appellate Body hat unter Rückgriff auf das Bildnis eines Akkordeons darauf verwiesen, dass der Begriff der gleichartigen Ware eine erhebliche Spannbreite aufweist und jeweils nach dem Kontext der jeweiligen Falles enger oder weiter ausgelegt werden muss.213 Ob die fraglichen Waren gleichartig sind, kann dadurch festgestellt werden, dass die Art und das Ausmaß des Wettbewerbes zwischen und unter den verschiedenen Waren bestimmt wird. Dabei ist der Anwendungsbereich des Art. III:4 weiter als Art. III:2 Satz GATT, aber enger als der Begriff der unmittelbar konkurrierenden oder zum gleichen Zweck geeigneten Waren i. S. d. Art. III:2 Satz 2 GATT.214 Zu den Kriterien, die im Einzelfall die Gleichartigkeit einer Ware festlegen, können neben den körperlichen Eigenschaften und den Verbrauchergewohnheiten auch die Gesundheitsrisiken zählen, die mit der betreffenden Ware verbunden sind.215 Nicht hingegen zählen hierzu die Produktionsmethoden. Es darf also nur an die Eigenschaften einer Ware und nicht an ihre Produktion bzw. ihren Fang angeknüpft werden.216 Nicht entscheidend ist daher, ob Thunfisch besonders delfinschonend oder ob Shrimps besonders seeschildkrötenfreundlich gefangen werden.217 Panel Report, US – Malt Beverages, Rn. 5.32. Panel Report, Thailand – Cigarettes, Rn. 77. 212  Appellate Body Report, EC – Asbestos, Rn. 95, 96. 213  Appellate Body Report, EC – Asbestos, Rn. 88. 214  Appellate Body Report, EC – Asbestos, Rn. 99. 215  Appellate Body Report, EC – Asbestos, Rn. 113, 14, 115. 216  GATT Panel Report, US – Tuna (Mexico), Rn. 5.15. Dieser Report des Panels wurde jedoch von den Vertragsparteien nicht angenommen. 217  Vgl. auch die GATT Panel Reports US – Tuna (Mexico) und US – Shrimps. 210  GATT 211  GATT



III. Behandlung von innerstaatlichen Maßnahmen65

Aus der Judikatur der Streitbeilegungsgremien der WTO lässt sich entnehmen, dass Zement, der Fasern aus Chrysotil enthält, der auch als weißer Asbest bezeichnet wird und krebserregend sein kann, nicht gleichartig i. S. d. Art. III:4 GATT ist mit Zement der Fasern aus PCG, einen nicht krebserregenden Kunststoff, enthält, obwohl die Endverwendung beider Waren dieselbe ist.218 Ebenfalls nicht gleichartig i. S. d. Art. III:4 GATT sind Biere mit einem hohen und solchen mit einem geringen Alkoholgehalt.219 Dies gilt auch für Ammoniumsulfat und Natriumnitrat, beides wichtige Bestandstoffe von Düngemitteln.220 Gleichartig i. S. d. Art. III:4 GATT sind jedoch eingeführtes und einheimisches Benzin. Denn diese haben die gleiche chemische Zusammensetzung, die gleiche Endverwendung und sind perfekt gegeneinander austauschbar.221 Dies gilt auch für eingeführten und einheimischen Thunfisch.222 c) Keine weniger günstige Behandlung Eingeführte Waren dürfen gegenüber gleichartigen einheimischen Waren nicht schlechter behandelt werden. Eingeführte Waren werden benachteiligt, wenn im Ergebnis ihre Wettbewerbschancen beeinträchtigt werden.223 Eingeführten Waren müssen also die gleichen Wettbewerbschancen eingeräumt werden. Eingeführte Waren dürfen jedoch gegenüber einheimischen Waren formal ungleich behandelt werden, solange dies keine protektionistischen Auswirkungen zugunsten einheimischer Waren hat.224 Allerdings obliegt dem jeweiligen WTO-Mitglied dann die Beweislast dafür, dass die eingeführte Ware nicht weniger günstig behandelt wird.225 Eine Schlechterbehandlung erfuhr das in Korea eingeführtes Rindfleisch durch ein koreanisches Gesetz, nach dem eingeführtes und einheimisches Rindfleisch im Rahmen eines dualen Verkaufssystems nur räumlich getrennt verkauft werden konnte. Dies führte dazu, dass es ca. 45.000 Verkaufsstellen für einheimisches Rindfleisch aber nur ca. 5.000 Verkaufsstellen für eingeführtes Rindfleisch gab.226 Ebenfalls als eine SchlechterbeBody Report, EC – Asbestos, Rn. 144–147. Panel Report, US – Malt Beverages, Rn. 5.25, 5.26. 220  GATT Panel Report, Australia – Ammonium Sulphate, Rn. 9. 221  Panel Report, US – Gasoline, Rn. 6.9. 222  GATT Panel Report, US – Tuna (Mexico), Rn. 5.15. 223  GATT Panel Report, US – Section 337, Rn. 5.11. 224  Appellate Body Report, Korea – Various measures on Beef, Rn. 135, 135; vgl. auch Trebilcock / Howse, S. 103. 225  Prieß / Berrisch, B.I.1. Rn. 75 (Berrisch). 226  Appellate Body Report, Korea – Various measures on Beef, Rn.  143 ff. 218  Appellate 219  GATT

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B. Reichweite der Warenverkehrsfreiheit und des Warenhandels

handlung wurde ein Mindestpreis für Bier angesehen, da hierdurch eingeführtes Bier nicht billiger als einheimisches Bier verkauft werden konnte.227 Dies galt auch für ein generelles Werbeverbot für Zigaretten, da es hierdurch neue und ausländische Zigarettenmarken schwerer haben, sich auf den Markt des jeweiligen WTO-Mitgliedes durchzusetzen.228 Ebenso stellten bestimmte Voraussetzungen an den Transport von eingeführten Bieren und Weinen, denen im Bereich eines föderalen Gliedes eines WTO-Mitgliedes hergestellte Biere und Weine nicht unterworfen waren, eine Schlechterbehandlung dar.229 d) Ausnahmen von der Inländergleichbehandlung Vom Prinzip der Inländergleichbehandlung enthält das GATT einige spezifische Ausnahmen. Diese werden im Zusammenhang mit Art. III:4 GATT an dieser Stelle und nicht mit Art. III:2 GATT dargestellt, da sie entweder direkt oder in ihrer überwiegenden Anwendung eher auf innerstaatliche Regelungen als auf steuerliche Maßnahmen bezogen sind. So enthalten Art. III:10 Gatt und Art. IV GATT Ausnahmebestimmungen für Kinofilme in Filmtheatern.230 Art. III:4 Satz 2 GATT enthält eine Ausnahmeregelung für inländische Beförderungstarife. Art. III:8 GATT enthält Ausnahmen für die Bereiche öffentliches Beschaffungswesen und Subven­ tionen. Die in Art. III:4 Satz 2 GATT enthaltene Ausnahme für inländische Beförderungstarife bedeutet, dass sich das sonst in Art. III:4 GATT enthaltene Prinzip der Gleichbehandlung nicht auf eine etwaige unterschiedliche Behandlung zwischen gleichartigen eingeführten und einheimischen Waren bei inländischen Beförderungsabgaben bezieht. Daher sind unterschiedliche inländische Beförderungsabgaben zulässig, wenn sie nicht auf der Herkunft einer Ware beruhen, sondern allein nach wirtschaftlichen Kostenerwägungen bestimmt werden. Das Prinzip der Inländergleichbehandlung gilt nach Art. III:8 GATT auch nicht für Gesetze, Verordnungen oder sonstige Vorschriften, die das öffentliche Beschaffungswesen (Art. III:8 lit. a) GATT) oder die Vergabe von Subventionen an inländische Erzeuger regeln (Art. III:8 lit. b) GATT). Seit der Uruguay-Runde sind das öffentliche Beschaffungswesen und die Subventionsvergabe jedoch in speziellen Abkommen geregelt. Die AnfordePanel Report, Canada – Provincial Liquor Boards (US), Rn. 5.30. Panel Report, Thailand – Cigarettes, Rn. 78. 229  GATT Panel Report, US – Malt Beverages, Rn. 5.50. 230  Vgl. C.V.6.b). 227  GATT 228  GATT



III. Behandlung von innerstaatlichen Maßnahmen67

rungen des Welthandelsrechts an das öffentliche Beschaffungswesen finden sich seitdem im Übereinkommen über das öffentliche Beschaffungswesen („Government Procurement Agreement“, GPA), die über die Subventionsvergabe im Übereinkommen über Subventionen und Ausgleichsmaßnahmen (ÜSCM). Die im ÜSCM enthaltenen Ausnahmebestimmungen werden im Folgenden noch mit den Ausnahmebestimmungen im Beihilfenrecht der EU verglichen.231 2. Das Verbot von Maßnahmen gleicher Wirkung wie mengenmäßiger Beschränkungen Art. 34 AEUV verbietet neben mengenmäßigen Beschränkungen auch Maßnahmen gleicher Wirkung wie mengenmäßige Beschränkungen. Maßnahmen gleicher Wirkung werden vom EuGH nach der sogenannten Dassonville-Formel ausgelegt, als jede Handelsregelung eines Mitgliedstaates, die geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, aktuell oder potentiell zu behindern.232 Die fragliche Handelsregelung muss nicht gesetzlich verbindlich sein.233 Eine konstante Anwendung dieser Handelsregelung ist hierfür ausreichend.234 Die Dassonville-Formel gilt nicht nur für alle staatlichen Organe, sondern auch für Einrichtungen für deren Handeln staatliche Organe verantwortlich sind, wie für Kammern oder Standesorganisationen, die nach nationalen Recht die Berufsausübung regeln können.235 Das Verbot gleicher Maßnahmen wie mengenmäßiger Beschränkungen kennt keine de-minimis-Regelung. Also besteht kein Spürbarkeitserfordernis für eine Beeinträchtigung der Warenverkehrsfreiheit.236 Art. 34 AEUV hat jedoch keine horizontale Wirkung,237 so dass Maßnahmen Privater nicht in den Anwendungsbereich des Verbotes gleicher Maßnahmen wie mengenmäßiger Beschränkungen hineinfallen. 231  Vgl.

C.III.7. Urt. v. 11.07.1974, Rs. 8 / 74, Procureur du Roi . / . Dassonville, Slg. 1974, 837, 852, Rn. 5. 233  EuGH Urt. v. 24.11.1982, Rs. 249 / 81, Kommission . / . Irland (Buy Irish), Slg. 1982, 4005, 4023 Rn. 28. 234  EuGH Urt. v. 09.05.1985, Rs. 21  / 84, Kommission . / . Frankreich (Frankier­ maschinen), Slg. 1985, 1355, 1364, Rn. 13. 235  EuGH Urt. v. 24.11.1982, Rs. 249 / 81, Kommission . / . Irland (Buy Irish), Slg. 1982, 4005, 4021, Rn. 18; EuGH Urt. v. 18.05.1989, verb. Rs. 266 und 267 / 87, The Queen . / . Royal Pharmaceutical Society of Great Britain, ex parte Association of Pharmaceutical Importers, Slg. 1989, 1295, 1326 ff., Rn. 14, 15. 236  EuGH Urt. v. 05.04.1984, verb. Rs. 177 und 178 / 82, Strafverfahren gegen van de Harr und Kaveka de Meern, Slg. 1984, 1797, 1812, Rn. 13. 237  EuGH Urt. v. 06.06.2002, Rs. 159  / 00, Sapod-Audic . / . Eco-Emballages SA, Slg. 2002, I-5031, 5085, Rn. 74. 232  EuGH

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B. Reichweite der Warenverkehrsfreiheit und des Warenhandels

Vor diesem Hintergrund ist es sicherlich schwierig eine Definition zu finden, die noch einen weiteren Anwendungsbereich als die DassonvilleFormel hat. Nahezu ebenso schwierig ist es für einen EU-Mitgliedstaat eine Maßnahme zu gestalten, die einem Bezug zum Warenhandel hat, aber nicht in den weiten Anwendungsbereich der Dassonville-Formel fällt. Die weite Auslegung des Begriffs der Maßnahmen gleicher Wirkung wie mengenmäßige Beschränkungen durch die Dassonville-Formel machte es möglich nahezu jede Handelsregelung im einführenden EU-Mitgliedstaat in Frage zu stellen, falls diese strengere Anforderungen stellte als dies der ausführende EU-Mitgliedstaat tat. Daher würde die uneingeschränkte Anwendung der Dassonville-Formel dazu führen, dass das Verbot des Art. 34 AEUV sehr weit ausgedehnt werden würde und damit auch zahlreiche Maßnahmen, die keinen wirtschaftspolitischen Bezug haben, erfassen würde, da diese in irgendeiner Form eine mittelbare Auswirkung auf den gemeinschaftlichen Handel haben würden. Um dies zu vermeiden, begrenzte der EuGH den Anwendungsbereich des Art. 34 AEUV um eine Bereichsausnahme, indem er in der Rechtssache Keck und Mithouard entschied, dass nur produktbezogene Maßnahmen, aber nicht vertriebsbezogene Maßnahmen, welche den Absatz der inländischen Waren und der Waren aus anderen Mitgliedstaaten rechtlich und tatsächlich in gleicher Weise beeinträchtigt, Maßnahmen gleicher Wirkung darstellen.238 Produktbezogene Maßnahmen sind Regelungen, welche sicherstellen, dass Waren bestimmten Vorschriften entsprechen, wie etwa Vorschriften hinsichtlich ihrer Bezeichnung, Form, Abmessungen, Verpackung, Zusammensetzung, Aufmachung, Etikettierung und ihres Gewichts. Diese bleiben innerhalb des Anwendungsbereiches des Art. 34 AEUV.239 Der EuGH hat offengelassen, was vertriebsbezogene Maßnahmen sind. Dazu gehören aber etwa nationale Verkaufsmodalitäten hinsichtlich des Preises, der Werbung, der Verkaufsorte und der Verkaufszeiten. Vorschriften, welche die Änderung einer Verpackung erzwingen, die in anderen Mitgliedstaaten zugelassen ist, gehören als warenbezogene Regelung aber nicht dazu.240 Daher fällt Werbung, die sich unmittelbar auf das physische Erscheinungsbild einer Ware auswirkt, in den Anwendungsbereich des Art. 34 AEUV. 238  EuGH Urt. v. 24.11.1993, Rs. 267 und 268 / 91, Strafverfahren gegen Keck und Mithouard, Slg. 1993, I-6097, 6131, Rn. 16. 239  EuGH Urt. v. 24.11.1993, verb. Rs. 267 und 268  / 91, Strafverfahren gegen Keck und Mithouard, Slg. 1993, I-6097, 6131, Rn. 15. 240  EuGH Urt. v. 06.07.1995, Rs. C-470 / 93, Verein gegen das Unwesen in Han­ del und Gewerbe Köln . / . Mars, Slg. 1995, I-1923, 1940 ff., Rn. 12 ff.; EuGH Urt. v. 02.02.1994, Rs. C-315 / 92, Verband sozialer Wettbewerb . / . Clinique, Slg. 1994, I-317, 335, Rn. 13.



III. Behandlung von innerstaatlichen Maßnahmen69

Die Entscheidungen Dassonville und Keck und Mithouard ermöglichen es jedwede produktbezogene Maßnahme oder die vertriebsbezogenen Maßnahmen, welche nicht rechtlich oder tatsächlich in gleicher Weise angewendet werden, in einem EU-Mitgliedstaat in Frage zu stellen, falls an eine entsprechende Handelsregelung in anderen EU-Mitgliedstaaten weniger strengere Anforderungen angelegt werden. Daher können mittels des Art. 34 AEUV innerstaatliche Handelsregelungen in Frage gestellt werden, die sowohl für einheimische als auch auf eingeführte Waren gleichermaßen gelten. Die KeckRechtsprechung bezieht sich also auch auf nationale Maßnahmen, die aus anderen EU-Mitgliedstaaten eingeführte und einheimische Waren rechtlich und tatsächlich in gleicher Weise berühren. Es werden also auch solche produktbezogenen Regelungen erfasst, die nicht nur ohne formalen Unterschied angewendet werden, sondern die darüber hinaus auch keine versteckte Diskriminierung beinhalten, indem sie etwa Waren aus anderen EU-Mitgliedstaaten auf dem inländischen Markt mittelbar oder potentiell behindern würden. Da daher auch unterschiedslos anwendbare Maßnahmen gelten, unabhängig davon ob es sich um eingeführte Waren aus anderen EU-Mitgliedstaaten oder um einheimische Waren handelt, geht das Verbot gleicher Maßnahmen wie mengenmäßige Beschränkungen des Art. 34 AEUV über ein Diskriminierungsverbot hinaus und stellt ein Beschränkungsverbot dar.241 Der EuGH hat sich noch nicht ausdrücklich hierzu geäußert und noch nicht klargestellt, ob Art. 34 AEUV auch ein Beschränkungsverbot enthält. Dafür, dass auch der EuGH von einem Beschränkungsverbot ausgeht, spricht aber seine Auffassung, „dass in einem Mitgliedstaat hergestellte und in dem Verkehr gebrachte“ Waren „in die anderen Mitgliedstaaten eingeführt werden“ können müssen.242 Bereits vor der Entscheidung in Keck und Mithouard hatte der EuGH den Anwendungsbereich des Art. 34 AEUV eingeschränkt, indem er in der Entscheidung Cassis de Dijon Handelsregelungen dann nicht in den Anwendungsbereich des Art. 34 AEUV fallen ließ, falls eine entsprechende harmonisierende Rechtsangleichung in den betreffenden Bereich noch nicht stattgefunden hat und diese Handelsregelungen durch „zwingende Erfordernisse“ notwendig seien. Die innerstaatlichen Handelsregelungen müssen dabei auch unterschiedslos für einheimische Waren und die Waren aus anderen Mitgliedstaaten anwendbar sein. Außerdem müssen sie insofern verhältnismäßig sein, als dass nicht eine die Warenverkehrsfreiheit weniger berührende Alternative denkbar ist.243 241  Frenz,

Rn. 758. Urt. v. 20.02.1979, waltung für Branntwein (Cassis 243  EuGH Urt. v. 20.02.1979, waltung für Branntwein (Cassis 242  EuGH

Rs.20 / 78, Rewe-Zentrale AG v. Bundesmonopolver­ de Dijon), Slg. 1979, 649, 664, Rn. 14. Rs.20 / 78, Rewe-Zentrale AG v. Bundesmonopolver­ de Dijon), Slg. 1979, 649, 662 ff., Rn. 8–14.

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B. Reichweite der Warenverkehrsfreiheit und des Warenhandels

Obwohl die Cassis-Formel nach der Rechtsprechung des EuGH nur den Schutzbereich des Art. 34 AEUV einschränkt, wird sie in ihrer genauen Ausgestaltung im Rahmen der Ausnahmebestimmungen untersucht. Denn mit der Cassis-Formel hat der EuGH im Ergebnis nicht den Schutzbereich des Art. 34 AEUV eingeengt, sondern ungeschriebene Rechtfertigungsgründe anerkannt.244 3. Das Verbot des Art. 35 AEUV Art. 35 AEUV verbietet neben mengenmäßigen Ausfuhrbeschränkungen ebenfalls Maßnahmen gleicher Wirkung. Maßnahmen gleicher Wirkung i. S. d. Art. 35 AEUV werden ähnlich wie in der Dassonville-Formel ausgelegt. Allerdings werden nur solche Maßnahmen von dem Verbot des Art. 35 AEUV erfasst, die „spezifische Beschränkungen der Ausfuhrströme bezwecken oder bewirken und damit unterschiedliche Bedingungen für den Binnenhandel innerhalb eines Mitgliedstaates und seinem Außenhandel schaffen, so dass die nationale Produktion (…) einen besonderen Vorteil erlangt“.245 Die Dassonville-Formel gilt im Rahmen des Art. 35 AEUV allerdings nur eingeschränkt, da von Art. 35 AEUV nur inländische Waren erfasst werden und anderenfalls praktisch jede nationale Regelung, auch solche die keine spezifisch ausfuhrbeschränkende Wirkung haben und der heimischen Produktion keinen Vorteil bringen, die aber in irgendeiner Weise die Produk­tion oder den Vertrieb von Waren betreffen, unter das Verbot des Art. 35 AEUV fallen würden.246 4. Vergleich Die Behandlung von innerstaatlichen Maßnahmen, ohne einen steuerlichen Bezug, die den Warenhandel beeinträchtigen, unterscheiden sich in der Rechtsordnung von WTO und EU sehr weitgehend voneinander. Denn innerhalb der EU gilt zur Erreichung der Warenverkehrsfreiheit ein Beschränkungsverbot, während innerhalb der WTO nur ein Diskriminierungsverbot besteht. Daher fordert das WTO-Recht nur die Gleichbehandlung eingeführter und einheimischer Waren, während das EU-Recht auch auf solche Maßnahmen anwendbar ist, die auf eingeführte und einheimische Waren rechtlich und tatsächlich in gleicher Weise, also ohne Unterschiede, angewendet 244  Schwarze,

Art. 28 EGV Rn. 107 ff. (Becker); Frenz, Rn. 999. Urt. v. 08.11.1979, Rs. 15 / 79, Groenveld . / . Produktschap voor Vee en Vlees (Pferdefleisch), Slg. 1979, 3409, 3415, Rn. 7. 246  Zeitler, S. 79. 245  EuGH



III. Behandlung von innerstaatlichen Maßnahmen71

werden. Dies führt dazu, dass, falls auf Gemeinschaftsebene keine harmonisierende Rechtsangleichung vorgenommen wurde, die EU-Mitgliedstaaten die entsprechenden gesetzlichen Vorschriften anderer EU-Mitgliedstaaten anerkennen müssen und weitergehendere Maßnahmen nur dann anwenden dürfen, wenn sie diese aufgrund der im EU-Recht enthaltenen Ausnahmebestimmungen rechtfertigen können. Daher ist die Übereinstimmung mit innerstaatlichen Handelsregelungen nur ausreichend für den Warenhandel zwischen WTO-Mitgliedern, während innerstaatliche Handelsregelungen, die produktbezogen sind und den Warenhandel zwischen den EU-Mitgliedstaaten beeinträchtigen könnten, von dem anwendenden EU-Mitgliedstaat gerechtfertigt werden müssen. Hierdurch zwingt das EU-Recht die Mitgliedstaaten ihr Recht bezüglich produktbezogenen Handelsregelungen aneinander anzupassen. WTO-Mitglieder sind hingegen nicht einem ähnlichen Druck ausgesetzt. Die Ausübung ihrer Souveränität wird hauptsächlich durch Verpflichtungen begrenzt, die sie nicht zum positiven Tun, sondern zum negativen Unterlassen in Form der Nichtdiskriminierung anhalten.247 Das EU-Recht greift somit wesentlich stärker in die Rechtsordnung der EU-Mitgliedstaaten ein. Der Spielraum für politische Entscheidungen mit einem auch nur entfernten Bezug auf den Handel ist folglich für die EUMitgliedstaaten deutlich enger als für WTO-Mitglieder. Denn das WTORecht gewährleistet nur, dass eingeführte Waren nicht schlechter behandelt werden als einheimische Waren. Das EU-Recht gibt hingegen grundsätzlich Waren aus anderen EU-Mitgliedstaaten das Recht entsprechend den Handelsregelungen ihres Herkunftslandes behandelt zu werden. Maßnahmen eines EU-Mitgliedstaates müssen also nicht diskriminierend sein, um in den Anwendungsbereich des Begriffs der Maßnahmen gleicher Wirkung wie mengenmäßige Beschränkungen des Art. 34 AEUV zu fallen. Von Art. 34 AEUV werden also, anders als vom Prinzip der Inländergleichbehandlung, auch nicht diskriminierende innerstaatliche Maßnahmen, also Maßnahmen, die unterschiedslos auf in- und ausländische Waren angewendet werden, erfasst. Dieser Unterschied zwischen beiden Rechtsordnungen lässt sich damit erklären, dass die EU anders als die WTO als eine Integrationsgemeinschaft angelegt ist. Denn innerhalb der EU soll die Warenverkehrsfreiheit und innerhalb der WTO nur ein liberalisierter Warenhandel erreichen werden. Sinn und Zweck der Warenverkehrsfreiheit besteht aber darin, den innergemeinschaftlichen Warenverkehr so weit wie irgend möglich zu garantieren.248 Diesem Ziel wird ein Verbot jeglicher Beschränkungen eher gerecht als ein 247  Breining-Kaufmann,

S. 102. Urt. v. 20.02.1979, Rs. 20 / 78, Rewe-Zentrale AG v. Bundesmonopol­ verwaltung für Branntwein (Cassis de Dijon), Slg. 1979, 649, 664, Rn. 14. 248  EuGH

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B. Reichweite der Warenverkehrsfreiheit und des Warenhandels

Verbot lediglich formaler Diskriminierung. Denn der Handel von in einem Land rechtmäßig hergestellten und in den Verkehr gebrachten Waren kann sowohl durch diskriminierende als auch durch unterschiedslos anwendbare Maßnahmen ohne faktische Diskriminierung beeinträchtigt werden, da viele innerstaatliche Handelsregelungen von ihrer Natur her nicht diskriminierend sind, sie aber aufgrund der Unterschiede der verschiedenen Rechtsordnungen innerhalb der EU-Mitgliedstaaten Handelshemmnisse schaffen.249 Dies kommt daher, dass innerstaatliche Vorschriften, welche Anforderungen an die Inhaltsstoffe oder die Produktion einer Ware aufstellen, regelmäßig die jeweiligen nationalen Eigenheiten und Traditionen widerspiegeln werden. Diese innerstaatlichen Vorschriften behindern die Einfuhr aus anderen EUMitgliedstaaten, welche unterschiedliche Inhaltsstoffe enthalten, anders gestaltet sind oder entsprechend anderer Produktionsweisen hergestellt wurden. Somit haben innerstaatliche Vorschriften den wirtschaftlichen Effekt, dass sie die nationalen Märkte voneinander trennen und einen effizienten Wettbewerb zwischen Produzenten aus verschiedenen Mitgliedstaaten verhindern.250 Dies gilt in diesem Maße nicht für vertriebsbezogene Maßnahmen, die nur die Verkaufsmodalität einer Ware festlegen, denn sie erschweren nicht den Marktzugang, sondern nur den Absatz ausländischer Waren, ohne dass sich das Ausmaß dieses Absatzes gegenüber den Absatz inländischer Waren rechtlich und tatsächlich unterscheidet. Außerdem gewährleistet der EU-Vertrag die Warenverkehrsfreiheit, um die Schaffung eines Binnenmarktes zu erreichen. Ein Binnenmarkt kann aber nicht geschaffen werden, ohne die verschiedenen innerstaatlichen Handelsregelungen zu beseitigen. Der EU-Vertrag verfolgt, wie der EuGH unterstrichen hat, eine völlige Liberalisierung des Warenhandels durch die Abschaffung aller Hindernisse für die Ein- oder Ausfuhr.251 Das WTO-Recht kennt hingegen kein so grundsätzliches Recht auf den Marktzugang. Zudem will die WTO die Freiheit ihrer Mitglieder bewahren ihren Handel zu kontrollieren,252 während die weite Auslegung des Begriffs der Maßnahmen gleicher Wirkung wie mengenmäßige Beschränkungen auch dazu dienen soll, die EU-Mitgliedstaaten zur Harmonisierung ihrer Gesetzgebung anzuhalten. Denn die weite Auslegung der „Maßnahmen gleicher Wirkung wie mengenmäßige Beschränkungen“ baut einen Druck zur Harmonisierung ihrer Gesetzgebung für die EU-Mitgliedstaaten auf, den sie anderenfalls nicht hätten. Ohne eine solche Harmonisierung ist die Schaffung eines wahren 249  Craig / DeBúrca,

S. 677; Weatherill / Beaumont, S. 565. S. 565, 566. 251  EuGH Urt. v. 11.10.1979, Rs. 225 / 78, Procureur de la République . / . Bouhe­ lier und andere, Slg. 1979, 3151, 3160, Rn. 6. 252  Trebilcock / Howse, S. 83. 250  Weatherill / Beaumont,



III. Behandlung von innerstaatlichen Maßnahmen73

Binnenmarktes aber nicht möglich. Indem die EU-Mitgliedstaaten die Rechtsangleichung ihrer Vorschriften durch die hierfür insbesondere in Art. 113 AEUV vorhergesehenen Möglichkeiten steuern können, sind sie daher nach entsprechenden Urteilen des EuGH nicht gezwungen, niedrigere Schutzniveaus anderer EU-Mitgliedstaaten zu akzeptieren. Ein anderer Grund dafür, dass das EU-Recht ein soviel strengeres Instrumentarium zur Verfügung stellt, um innerstaatliche Handelsregelungen zu beseitigen, liegt darin, dass die weite Anwendung und Auslegung der „Maßnahmen gleicher Wirkung wie mengenmäßiger Beschränkungen“ vor allem auf die Rechtsprechung des EuGH zurückzuführen ist und nur zu einem geringeren Grade auf die Bemühungen der Kommission oder gar der EUMitgliedstaaten. Die EU-Mitgliedstaaten haben stattdessen typischerweise versucht diese Liberalisierungsbemühungen zu verhindern. Die WTO ist hingegen eine Organisation, die von ihren Mitgliedern gesteuert wird. Sie wird zu Recht als „member-driven“ bezeichnet.253 Auch fehlen der WTO Organe, die mit denen der Kommission der EU vergleichbar sind, denn sowohl dem Sekretariat der WTO als auch dem Generalsekretär stehen nur sehr beschränkte Kompetenzen und keine wirkliche Entscheidungsgewalt zu. Ihre Aufgabe kommt eher dem eines Mediators in den Verhandlungen zwischen den WTO-Mitgliedern gleich und sie dürfen höchstens eigene Akzente setzen.254 Darüber hinaus sind die Streitbeilegungsorgane der WTO nach Art. 3.2 und Art. 19.2 DSU in der Fortentwicklung des WTO-Rechts beschränkt. Sie dürfen nicht rechtsschöpferisch tätig sein, indem sie die in der WTORechtsordnung festgehaltenen Rechte und Pflichten der Mitglieder ergänzen oder einschränken. Eine Rechtsfortbildung, welche eine Form des sog. „judicial activism“ annehmen würde, ist den Streitbeilegungsgremien der WTO daher verwehrt.255 Mit „judicial activism“ ist die Kritik an der Auffassung gemeint, dass ein Vertragswerk, eine Verfassung oder eine sonstige Norm als lebendige Struktur einer politischen Gemeinschaft entsprechend fortentwickelt werden muss. Allerdings besteht ohne eine Fortentwicklung der Auslegung die Gefahr, dass sklavisch am Wortlaut und der mutmaßlichen Intention der damaligen Verfasser festgehalten wird, ohne dass geän253  van

den Bossche, S. 137. auch diese geringe Befugnis wird ihnen von den WTO-Mitgliedern teilweise abgesprochen. So veröffentlichen 15 Entwicklungs- und Schwellenländer eine Erklärung nach der „das Sekretariat und der Generalsekretär der WTO eine neutrale und objektive Rolle einnehmen sollten. Sie sollten keine Meinung in irgendeiner Form bezüglich der Themen ausdrücken, die in der Ministerkonferenz diskutiert werden“; vgl. WT / GC / W / 471 vom 24.04.2002. 255  van den Bossche, S. 185. 254  Aber

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B. Reichweite der Warenverkehrsfreiheit und des Warenhandels

derte gesellschaftliche Bedürfnisse berücksichtigt werden. Diese Behinderung der Streitbeilegungsgremien in der Auslegung der WTO-Übereinkommen ist auf die Furcht der WTO-Mitglieder zurückzuführen, dass die Streitbeilegungsgremien anderenfalls das WTO-Recht in eine Weise fortentwickeln würden, die nicht mehr von den ursprünglichen Vorstellungen der WTO-Mitgliedern gedeckt wären. Insbesondere von Seiten der USA wird ein solcher „judicial activism“ kritisch gesehen. Darüber hinaus folgt aus Art. 3.2 und Art. 19.2 DSU, dass die Streitbeilegungsgremien nicht nur nicht rechtsschöpferisch tätig sein dürfen, sondern auch hinsichtlich der Auslegung des GATT zurückhaltend vorgehen müssen. Eine dynamische Vertragsinterpretation, die sich von den subjektiven Willen der WTO-Mitglieder zum Zeitpunkt der Gründung der WTO zu stark entfernt, wird den Streitbeilegungsgremien deshalb ebenfalls versagt bleiben. Dafür spricht auch, dass die WTO-Mitglieder etwa hinsichtlich des Schutzes sozialer Mindestbedingungen eindeutig ihren Willen ausgedrückt haben, dass sie einen stärkeren Schutz durch die Streitbeilegungsgremien nicht wünschen.256 Die Rolle eines „Ersatzgesetzgebers“, eine Eigenschaft, die dem EuGH oder dem Bundesverfassungsgericht mitunter vorgeworfen wird, sich anmaßen zu wollen, können die Streitbeilegungsgremien der WTO deshalb schon nicht im Ansatz ausfüllen. Dem EuGH kommt hingegen eine Rechtsfortbildungsbefugnis zu. So ist dem EuGH auferlegt, die „Wahrung des Rechts“ im Anwendungsbereich des EU-Rechts zu sichern.257 Zum anderen aus dem Integrationsauftrag, welcher in der Präambel des EU-Vertrages und in Art. 1 Abs. 2 EU enthalten ist und die EU-Mitgliedstaaten ebenso wie die Gemeinschaftsorgane, zu denen auch der EuGH gehört, aufruft, „die Grundlagen für einen immer engeren Zusammenschluss der europäischen Völker zu schaffen“.258 Dem EuGH als Integrationsmotor der Gemeinschaft sind daher keine ähnlichen Grenzen wie den Streitbeilegungsgremien der WTO gesetzt und es steht ihm frei bei der Auslegung des EU-Rechts eine Rechtsfortbildung vorzunehmen.259 Folglich können die Streitbeilegungsgremien der WTO das WTO-Recht nicht in dem Maße fortentwickeln, wie das EU-Recht durch den EuGH geprägt wurde. Daher sind innerhalb der WTO nur deren Mitglieder in der Lage Handelshemmnisse abzubauen, die durch nichtdiskriminierende, aber gleichwohl den Marktzugang beschränkende Handelsregelungen verursacht 256  Vgl.

die Minister-Erklärungen von Singapur und Doha C.III.1.a)bb)(2). EuR 1995, 191, 194. 258  Sander, S. 46. 259  Vgl. Thiele, § 3 Rn. 23  ff. zu den Grenzen der Rechtsfortbildung für den EuGH. 257  Schockweiler,



III. Behandlung von innerstaatlichen Maßnahmen75

werden. Die WTO-Mitglieder sind hieran jedoch nicht interessiert, da dies ihrer inländischen Produktion eine verschärfte Konkurrenz auf dem einheimischen Markt aussetzen würde. Genauso wenig liegt es in ihrem Interesse der WTO mehr Instrumentarien in die Hand zu geben, um gegen innerstaatliche Handelsregelungen vorzugehen. Denn dies würde ihre Souveränität beeinträchtigen. Ein weiterer Unterschied zwischen beiden Rechtsordnungen besteht darin, dass im GATT selber verschiedene spezifische Ausnahmebestimmungen für das Prinzip der Inländergleichbehandlung enthalten sind. Diese Ausnahmebestimmungen dienen darüber hinaus, mit Ausnahme der Ausnahmebestimmung für Kinofilme, wirtschaftlichen Zwecken (inländische Beförderungstarife, öffentliches Beschaffungswesen und Subventionen) und nicht der Verfolgung von legitimen Schutzzielen.260 Im EU-Vertrag selber sind hingegen keine spezifischen Ausnahmebestimmungen für das Verbot gleicher Maßnahmen wie mengenmäßiger Beschränkungen, also dem Diskriminierungs- und Beschränkungsverbot des EURechts, enthalten. Die in Art. 36 AEUV enthaltenen Ausnahmebestim­mungen können nämlich sowohl Beeinträchtigungen dieses Diskriminierungs- und Beschränkungsverbotes als auch des Verbotes mengenmäßiger Beschränkungen rechtfertigen. Spezifische Ausnahmebestimmungen zum Diskriminierungs- und Beschränkungsverbotes des EU-Rechts in Form des Verbots gleicher Maßnahmen wie mengenmäßiger Beschränkungen wurden vom EuGH erst im Rahmen seiner Cassis-Rechtsprechung entwickelt, als klar wurde, dass die in Art. 36 AEUV enthaltenen Ausnahmebestimmungen nicht mehr ausreichten, um alle legitimen Schutzziele zu rechtfertigen, die in den Anwendungsbereich der weiten Auslegung des Verbots gleicher Maßnahmen wie mengenmäßiger Beschränkungen fielen. Eine Ausnahmebestimmung für Spielfilmkontingente war im EU-Vertrag hingegen nie notwendig gewesen. Denn mittels dieser Ausnahme wollten die anderen Vertragsparteien des GATT ihre inländische Kinoproduktion gegen die übermächtige Konkurrenz der US-amerikanischen Filmindustrie schützen. In keinen der EU-Mitgliedstaaten besteht jedoch eine Filmindustrie, die der Übermacht Hollywoods gleichkommen würde. Folglich bestand auch keine Notwendigkeit einen entsprechenden Passus in den EU-Vertrag mit aufzunehmen. Zudem würde durch eine Bereichsausnahme für Kinofilme die Warenverkehrsfreiheit auf einem Sektor nicht realisiert werden können. Dies wäre schwerlich mit dem Ziel der Schaffung eines Binnenmarktes zu vereinbaren. 260  Vgl. B.III.1.d) zu den Ausnahmebestimmungen zum Prinzip der Inländergleichbehandlung und C.V.6.b) zu den Ausnahmebestimmungen für Kinofilme.

76

B. Reichweite der Warenverkehrsfreiheit und des Warenhandels

Ähnlich schwer mit der Schaffung eines Binnenmarktes zu vereinbaren wäre eine Art. III:4 GATT entsprechende Ausnahme für inländische Beförderungstarife im EU-Recht. Eine solche Bevorteilung inländischer Waren, durch welche diese preisgünstiger angeboten werden könnten, würde nicht nur aus anderen EU-Mitgliedstaaten eingeführte Waren ungleich behandeln und offen diskriminieren, sondern auch ihren Absatz – aufgrund höherer Transportkosten – im Gegensatz zur inländisch hergestellten Ware beeinträchtigen. Außerdem passen Ausnahmen, die alleine auf wirtschaftlichen Erwägungen beruhen, kaum in das Konzept eines Binnenmarktes. Statt spezifische Ausnahmebestimmungen für das Vergabe- und Subventionsrechts hinsichtlich des Verbots gleicher Maßnahmen wie mengenmäßiger Beschränkungen des Art. 34 AEUV aufzuweisen, enthält der EU-Vertrag hingegen Sonderregelungen, die das öffentliche Auftragswesen (Art. 36 AEUV) und das Beihilferecht (Art. 107–109 AEUV) regeln.261 Auch im WTO-Recht wurden ausgehend von den im GATT enthaltenen Regelungen im Rahmen der Uruguay-Runde besondere Verträge für das Vergabe- und Subventionsrecht geschaffen. Daneben bestehen jedoch auch gewisse Gemeinsamkeiten zwischen Art. III:4 GATT und dem Verbot gleicher Maßnahmen wie mengenmäßiger Beschränkungen des Art. 34 AEUV. So haben beide Bestimmungen keine horizontale Wirkung, so dass sie nur auf staatliche Organe oder für Einrichtungen für deren Handeln staatliche Organe verantwortlich sind, anwendbar sind, aber nicht auf das Handeln von Personen. Daher können in beiden Rechtsordnungen Individuen uneingeschränkt von den jeweiligen weitreichenden Liberalisierungsvorschriften handeln. Diese Gemeinsamkeit lässt sich damit erklären, dass das WTO-Recht Bestandteil des Völkerrechts ist, welches grundsätzlich nur auf staatliche Akteure angewendet wird. Im EURecht hingegen haben die Grundfreiheiten nach überzeugender Auffassung keine unmittelbare Drittwirkung.262 Anderenfalls würde dies jedoch aufgrund der Reichweite des EU-Rechts einen zu großen Eingriff in die Privatautonomie bedeuten. Ebenso besteht hinsichtlich beider Bestimmungen weder im WTO-Recht noch im EU-Recht eine de minimis-Grenze. Dies wurde im EU-Recht vom EuGH ausdrücklich bestätigt. Eine solche Aussage haben die Streitbei­ legungsgremien bislang zwar nicht getätigt. Vor dem Hintergrund, dass in den Abkommen unter dem WTO-Übereinkommen de minimis-Regeln an verschiedener Stelle ausdrücklich geregelt sind (vgl. nur Art. 6.4 Übereinkommen über die Landwirtschaft, Art. 11 Abs. 9 ÜSCM) und im Rahmen 261  Vgl. 262  Vgl.

C.III.7. zum Beihilferecht der EU und dessen Ausnahmebestimmungen. Streinz, Rn. 838; Frenz, Rn. 1157; Streinz / Leible, EuZW 2000, S. 459.



IV. Instrumentarien im WTO-Recht 77

des Prinzips der Inländergleichbehandlung eine solche Ausnahme fehlt, ist eine de minimis-Regel im Rahmen des Art. III:4 GATT abzulehnen, da dies sonst die Grenzen der nach Art. 3.2 DSU und Art. 19.2 DSU zulässigen Rechtsfortbildung überschreiten würde. Folglich besteht in beiden Rechtsordnungen keine Bagatellgrenze innerhalb derer innerstaatliche den Handelsverkehr beeinträchtigende Vorschriften den Anwendungsbereich des Art. III:4 GATT bzw. Art. 34 AEUV entzogen wäre. Eine solche geringfügige Wirkung wäre aber auch äußerst schwer zu messen und würde Möglichkeiten des Missbrauchs eröffnen.

IV. Instrumentarien im WTO-Recht zur Erreichung eines liberalisierten Warenhandels ohne Äquivalent im EU-Recht Das GATT enthält zusätzlich auch Vorschriften, die auf eine fortschreitende Liberalisierung des Warenhandels abzielen, die aber kein entsprechendes Äquivalent im EU-Recht haben. So gilt im Warenhandel zwischen den Mitgliedern der WTO das Prinzip der Meistbegünstigung und nach Art. XI:1 GATT sind neben mengenmäßigen Beschränkungen auch andere Maßnahmen als mengenmäßige Beschränkungen verboten. Das EU-Recht kennt hingegen keine ähnlichen Vorschriften zur Gewährleistung der Warenverkehrsfreiheit. 1. Das Prinzip der Meistbegünstigung Durch das Prinzip der Meistbegünstigung soll allen WTO-Mitgliedern die gleichen Handelsvorteile eingeräumt werden, damit eingeführten Waren in den Genuss der gleichen externen Wettbewerbsvorteile kommen. Eingeführte Waren werden also untereinander gleichbehandelt. Dagegen stellt eine Bevorzugung inländischer Waren kein Verstoß gegen das Prinzip der Meistbegünstigung dar. Durch das Prinzip der Meistbegünstigung sollen die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass eingeführte Waren aus dem günstigsten Ausfuhrland bezogen werden können. Das Prinzip der Meistbegünstigung wurde durch den Appellate Body als Eckstein des GATT und als einer der Säulen des Handelssystems der WTO bezeichnet.263 Das Meistbegünstigungsprinzip ist in Art. I GATT niedergelegt. In zahlreichen weiteren Vorschriften des GATT wird dieses Prinzip zudem sinngemäß wiederholt oder auf einen spezifischen Sachverhalt angewandt. So in: 263  Appellate

Body Report, Canada – Automative Industry, Rn. 69.

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B. Reichweite der Warenverkehrsfreiheit und des Warenhandels

– Art. III:7 GATT, hinsichtlich inländischer Mengenvorschriften. – Art. IV lit. b) GATT, hinsichtlich des Verbotes das Spielfilmkontingent weiter nach Ländern aufzuteilen.264 – Art. V:2 GATT, Art. V:5 GATT und Art. V:6 GATT, hinsichtlich der Transit- und Durchfuhrfreiheit von Waren. – Art. IX:1 GATT, hinsichtlich der Vorschriften über die Kennzeichnung von Waren. – Art. XIII:1 GATT, hinsichtlich der nichtdiskriminierenden Verteilung von mengenmäßigen Beschränkungen zwischen verschiedenen WTO-Mitgliedern. – Art. XVII lit. a) GATT, hinsichtlich der Ein- und Ausfuhr von staatlichen Unternehmen. – Art. XVIII:20 GATT, der klarstellt, dass die Erlaubnis die wirtschaftliche Entwicklung durch staatliche Maßnahmen zu unterstützen, nicht berechtigt, vom Prinzip der Meistbegünstigung abzuweichen. – Art. XX GATT, dessen Chapeau klarstellt, dass die allgemeine Ausnahmen zur Verfolgung legitimer Schutzziele nicht zu einer willkürlichen und ungerechtfertigten Diskriminierung zwischen den Vertragsparteien führen dürfen.265 Nach Art. I:1 GATT werden alle „Vorteile, Vergünstigungen, Vorrechte oder Befreiungen, die einer Vertragspartei bei der Einfuhr oder Ausfuhr für eine Ware gewährt, welche aus einem anderen Land stammt oder für dieses bestimmt ist, unverzüglich und bedingungslos für alle gleichartigen Waren gewährt, die aus den Gebieten der anderen Vertragsparteien stammen oder für diese bestimmt sind.“ Aus Art. I:1 GATT lassen sich daher drei Voraussetzungen entnehmen, anhand derer geprüft werden kann, ob die fragliche Maßnahme mit dem Prinzip der Meistbegünstigung nach Art. I:1 GATT übereinstimmt. So muss die fragliche Maßnahme einen Handelsvorteil i. S. d. Art. I:1 GATT darstellen (1), bei den fraglichen Waren muss es sich zudem um gleichartige Waren i. S. d. Art. I:1 GATT (2) handeln und dieser Handelsvorteil muss unverzüglich und bedingungslos auf gleichartige Waren aus anderen WTO-Mitgliedern ausgedehnt werden (3).

264  Vgl.

auch C.V.6.b). C.II.1.b) zu den Voraussetzungen die an eine willkürliche und ungerechtfertigte Diskriminierung zwischen den Vertragsparteien i. S. d. Art. XX GATT gestellt werden. 265  Vgl.



IV. Instrumentarien im WTO-Recht 79

a) Handelsvorteile Das Prinzip der Meistbegünstigung des Art. I:1 GATT erfasst alle Maßnahmen, die Vorteile, Vergünstigungen, Vorrechte und Befreiungen einräumen. Dabei ist es gleichgültig, ob die Handelsvorteile einem Mitglied oder einem Nichtmitglied der WTO eingeräumt wurden. Art. I:1 GATT verpflichtet WTO-Mitglieder daher auch, einen Handelsvorteil ebenfalls allen anderen WTO-Mitgliedern einzuräumen, falls dieser irgendeinem Land gewährt wurde, welches kein Mitglied der WTO ist.266 In den Anwendungsbereich des Prinzips der Meistbegünstigung fallen nach Art. 1:1 GATT nicht nur Zölle und andere Abgaben, welche die Ein- oder Ausfuhr belasten, sondern auch alle anderen Handelshemmnisse i. S. d. Art. III:2 und 4 GATT. b) Der Begriff der gleichartigen Waren i. S. d. Art. I:1 GATT Das Prinzip der Meistbegünstigung gilt nur für gleichartige Waren. Waren, die nicht i. S. d. Art. I:1 GATT gleichartig sind, dürfen unterschiedlich behandelt werden. Der Begriff der gleichartigen Ware ist jeweils im Sinne des Kontextes, in dem er benutzt wird, auszulegen. Denn eine einheitliche Definition für den Begriff der gleichartigen Ware kennt das WTO-Recht nicht.267 Allerdings ähnelt der Begriff der gleichartigen Ware in Art. I:1 GATT, dem in Art. III:4 GATT sehr.268 Ob Waren gleichartig i. S. d. Art. I GATT sind, wird anhand des jeweiligen Einzelfalles entschieden.269 Anhaltspunkte, ob es sich um gleichartige Waren handelt, können in den jeweiligen Zolleinstufungen anderer WTO-Mitglieder,270 der Endverwendung und den jeweiligen Eigenschaften der Ware entnommen werden.271 Belege für die Einstufung als gleichartige Ware liefern auch der Verbrauchergeschmack und die Verbrauchergewohnheiten.272 Ebenso wie im Rahmen des Art. III:4 GATT können die produktionsbezogenen Methoden (PPMs) nicht zur Feststellung der Gleichartigkeit herangezogen werden. Es ist also bei der Feststellung der Gleichartigkeit nicht von Bedeutung, ob die Ware auf eine umweltfreundliche Art und Weise produziert wurde. Body Report, Canada – Automative Industry, Rn. 79. Rn. 394. 268  Vgl. hierzu B.III.1.b). 269  Appellate Body Report, Japan – Taxes on Alcoholic Beverages, Rn. 21. 270  GATT Panel Report, Canada – Tariff on Imports of Spruce, Pine, Fir (SPF) Dimension Labour, Rn. 167. 271  GATT Panel Report, Spain – Unroasted Coffee, Rn. 4.6–4.9. 272  van den Bossche, S. 316. 266  Appellate

267  Hermann / Weiß / Ohler,

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B. Reichweite der Warenverkehrsfreiheit und des Warenhandels

c) Unverzügliche und bedingungslose Gewährung des Vorteils Art. 1:1 GATT verlangt, dass ein einem anderen Land, welches kein WTO-Mitglied sein muss, gewährter Handelsvorteil unverzüglich und bedingungslos auch allen anderen WTO-Mitgliedern gewährt werden muss. Unverzüglich bedeutet, dass der Handelsvorteil allen WTO-Mitgliedern gleichzeitig und ohne zeitliche Verzögerung wie etwa durch eine gestaffelte Weitergabe zu gewähren ist.273 Ein Handelsvorteil wird bedingungslos weitergegeben, wenn die Weitergabe nicht von Kriterien abhängig gemacht wird, die nicht an die eingeführte Ware selbst anknüpfen.274 So darf die Gewährung der Handelsvorteils nicht von der Einhaltung eines gewissen lokalen Wertanteils der fertigen Ware oder von deren späteren Verwendung abhängig gemacht werden.275 Ebenso dürfen keine Bedingungen an die innerstaatliche Gesetzgebung des Ausfuhrstaates gestellt werden.276 Auch darf die Gewährung von Handelsvorteilen nicht vom Verhalten eines WTOMitgliedes abhängig gemacht werden.277 Die Anforderung, dass gewährte Handelsvorteile unverzüglich und bedingungslos weitergegeben werden, macht es dem gewährenden WTO-Mitglied nicht möglich, mit anderen WTO-Mitgliedern zu verhandeln und von diesen ebenfalls einen Handelsvorteil für ihr jeweiliges Entgegenkommen zu erhalten. Auf diese Weise gewährleistet das Prinzip der Meistbegünstigung, dass alle WTO-Mitglieder gleichermaßen die Möglichkeit haben Waren in den Markt eines anderen WTO-Mitgliedes einzuführen. d) Spezifische Ausnahmen zum Prinzip der Meistbegünstigung Art. I GATT enthält in Art. I:2 GATT bis Art. I:4 GATT Ausnahmen für historische Präferenzen, die bereits bei der Gründung des GATT im Jahre 1947 bestanden. Solche Präferenzübereinkünfte bestanden im Jahr 1947 zwischen den Ländern des Commonwealth, zwischen Frankreich und der Französischen Union, zwischen den Benelux-Ländern, zwischen Nachfolgestaaten des Osmanischen Reiches, zwischen Chile und verschiedenen lateinamerikanischen Ländern sowie zwischen den USA und jeweils Kuba, den Philippinen und Südkorea. Die Gründer des GATT wollten hierdurch 273  Senti,

Rn. 378. Report, Indonesia – Automobiles, Rn. 14.145. 275  Panel Report, Indonesia – Automobiles, Rn. 14.146. 276  GATT Panel Report, Belgium – Family Allowance, Rn. 3. 277  Panel Report, Canada – Automobiles, Rn. 10.23. 274  Panel



IV. Instrumentarien im WTO-Recht 81

die bestehenden Präferenzzölle auf dem im Jahr 1947 geltenden Niveau einfrieren.278 Die in Art. I:2 GATT bis Art. I:4 GATT enthaltenen Ausnahmen für historische Präferenzen sind heute nicht mehr von Bedeutung. Sie wurden entweder in die allgemeinen Präferenzsysteme überführt oder sie sind zwischenzeitlich ausgelaufen oder wurden gekündigt.279 Vom Prinzip der Meistbegünstigung bestehen zusätzlich noch Ausnahmen, die an anderer Stelle dargestellt werden. So bestehen Ausnahmebestimmungen zu Gunsten von Entwicklungsländern in Form der allgemeinen Präferenzsysteme oder der Ermächtigungsklausel („enabling clause“), die in Teil IV des GATT enthalten sind,280 für Zollunionen und Freihandelszonen281 sowie für die sog. Waiver.282 2. Andere nichttarifäre Handelshemmnisse Außer durch Zölle, zollgleiche Abgaben und mengenmäßige Beschränkungen kann die Ein- oder Ausfuhr von Waren auch in Form anderer nichttarifärer Handelshemmnisse beschränkt werden. Diese anderen nichttarifären Handelshemmnisse dürfen nach Art. XI:1 GATT wie mengenmäßige Beschränkungen weder erlassen noch beibehalten dürfen. Denn Art. XI:1 GATT regelt auch „Beschränkungen (…) in Form von anderen Maßnahmen“ und gibt Art. XI GATT hierdurch einen weiten Anwendungsbereich.283 Unter solchen nichttarifären Handelshemmnissen werden Handlungen verstanden, die dazu bestimmt sind Ein- oder Ausfuhren zu beeinträchtigen.284 Trotz dieser weiten Auslegung ist das Verbot von anderen nichttarifären Handelshemmnissen aber nicht als ein dem Art. 34 AEUV ähnliches Beschränkungsverbot anzusehen. Denn das GATT enthält nur ein Diskriminierungsverbot. Dafür spricht auch, dass eine solche weite Auslegung der nichttarifären Handelshemmnisse Art. III:4 GATT, der rein interne Regelungen erfasst, jedenfalls teilweise überflüssig machen würde.285 Von dem Begriff der anderen nichttarifären Handelshemmnisse werden eine Vielzahl von unterschiedlichen Maßnahmen und Handlungen erfasst. In 278  Senti,

Rn. 489.

279  Hermann / Weiß / Ohler,

Rn. 398; Senti, Rn. 489. C.IV.10. 281  Vgl. C.IV.11. 282  Vgl. C.IV.7. 283  Panel Report, Argentina – Hides Leather, Rn. 11.20. 284  Matsushita / Schoenbaum / Mavroidis, S. 271. 285  Weiß, EuR 1999, 499, 502. 280  Vgl.

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B. Reichweite der Warenverkehrsfreiheit und des Warenhandels

der Judikatur der Streitbeilegungsgremien wurde die Verpflichtung Daten zu sammeln, Überprüfungen durchzuführen oder das Bestehen eines Mindestpreissystems sämtlich als andere nichttarifäre Handelshemmnisse eingestuft.286 Dies gilt ebenso für die Auflage eine Kaution vor Einfuhr einer Ware zu hinterlegen oder für ein Verbot von Waren, die nicht auf eine bestimmte Art produziert wurden.287 Das Sekretariat der WTO hat eine Bestandsliste dieser nichttarifären Handelshemmnisse erstellt, in welcher zwischen den verschiedenen Gruppen von nichttarifären Handelshemmnissen unterschieden wird.288 In dieser Liste wird unterschieden zwischen: – der Beteiligung von Regierungen am Handel und restriktiven Handelspraktiken, die durch Regierungen toleriert werden (etwa staatlichen Hilfen in Form von Subventionen und Steuern und Vergabepraktiken), – das Zollverfahren und die Gestaltung der Einfuhr ausländischer Waren, – technischen Vorschriften, die Handelshemmnisse bilden, – gesundheitspolizeiliche und pflanzenschutzrechtliche Maßnahmen, – bestimmten Beschränkungen (etwa Ausfuhrsteuern, Verhängung eines Embargos, Kontingentzölle), – Abgaben auf Einfuhren, – und anderen Handelshemmnissen, etwa gewerblichen Schutzrechten, mangelnder Transparenz oder „safeguard measures“. Unter dem Oberbegriff der anderen nichttarifären Handelshemmnisse fallen also auch zahlreiche Maßnahmen wie Subventionen, Vergabe öffentlicher Aufträge, das Zollverfahren, technische Handelshemmnisse und gesundheitspolizeiliche und pflanzenschutzrechtliche Maßnahmen, die im GATT nur fragmentarisch behandelt werden, die aber in den verschiedenen Abkommen, die unter das WTO-Übereinkommen fallen, detaillierter geregelt sind. 3. Vergleich mit dem EU-Recht Ein entsprechendes Äquivalent zum Prinzip der Meistbegünstigung oder zum Verbot anderer nichttarifärer Handelshemmnisse ist im EU-Recht nicht gegeben. Panel Report, Japan – Trade in Semi-Conductors, Rn.  99 ff. Panel Report, EEC – Programme of Minimum Import Prices, Rn. 68. 288  Vgl. auch Table of Contents of the Inventory of Non-Tariff Measures, Note by the Secretariat, TN / MA / S / 5 / Rev. 1, vom 28.  November 2003. 286  GATT 287  GATT



V. Zwischenergebnis83

Ein Äquivalent zum Prinzip der Meistbegünstigung ist im EU-Recht jedoch nicht notwendig. Denn dieses Prinzip soll die Gleichstellung aller Handelsvorteile gewährleisten. Innerhalb der EU kann jedoch ein EU-Mitgliedstaat einen anderen Mitgliedstaat nicht besser behandeln und diesem einzelne Handelsvorteile gewähren. Dies hat seinen Grund zum einen darin, dass die Handelshemmnisse im Binnenmarkt so weitgehend niedergerissen sind, dass ein EU-Mitgliedstaat einen anderen Mitgliedstaat kaum noch weitergehendere Handelsvorteile gewähren kann, zum anderen stellt Art. 18 AEUV ein Diskriminierungsverbot auf, welches die Einräumung von Handelsvorteilen, die trotz Warenverkehrsfreiheit noch bestehen sollten, an einen bestimmten EU-Mitgliedstaat verhindern würde. Außerdem ist der wichtigste Anwendungsbereich für das Prinzip der Meistbegünstigung im WTO-Recht das der Zolltarife. Innerhalb der EU besteht jedoch die Zoll­ union, mit der die Abschaffung aller Zölle einhergegangen ist. Ebenso ist auch eine Notwendigkeit für ein Verbot anderer nichttarifärer Handelshemmnisse im EU-Recht nicht gegeben. Denn der breite Anwendungsbereich des Verbots der „Maßnahmen gleicher Wirkung wie mengenmäßiger Beschränkungen“ aus Art. 34 AEUV gewährleistet, dass die EUMitgliedstaaten, solange eine Harmonisierung nicht stattgefunden hat, die jeweiligen anderen Standards akzeptieren müssen. Dies gilt jedenfalls dann, wenn sie ihre eigenen höheren Standards nicht rechtfertigen können. Zudem erfasst die weite Auslegung des Art. 34 AEUV, die sich nicht darauf beschränkt, Diskriminierungen zu verbieten, sondern auch jede mittelbare oder potentielle Behinderung des innergemeinschaftlichen Handels umfasst, auch alle anderen Handlungen, die dazu bestimmt sind, Ein- oder Ausfuhren zu beeinträchtigen, und geht sogar noch hierüber hinaus.

V. Zwischenergebnis Der Vergleich des freien Warenverkehrs innerhalb der EU und des liberalisierten Warenhandels innerhalb der WTO hat gezeigt, dass das WTORecht den Warenhandel nicht so umfassend schützt wie das EU-Recht. Während innerhalb der EU Zölle völlig abschafft worden sind, setzt die WTO auf reduzierte Zölle als das grundsätzlich einzige Handelshemmnis im Warenverkehr. Ein Unterschied besteht ebenso bei der Behandlung von mengenmäßigen Beschränkungen. Zwar schreiben sowohl die Rechtsordnungen von EU als auch die der WTO deren Abschaffung vor. Innerhalb der EU ist dies jedoch schon längst verwirklicht, während mengenmäßige Beschränkungen innerhalb der WTO aufgrund zahlreicher Ausnahmebestimmungen noch regelmäßig angewandt werden. Eine gewisse Ähnlichkeit in beiden Rechtsordnungen besteht allerdings in der Behandlung diskriminierender steuerlicher Maßnahmen. So wird auf beiden Ebenen ein zweigleisi-

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B. Reichweite der Warenverkehrsfreiheit und des Warenhandels

ger Ansatz verfolgt, indem in einem ersten Schritt zunächst eine diskriminierende Besteuerung gleichartiger Waren verboten wird. Bevor, falls es sich nicht um gleichartige Waren handelt, in einem zweiten Schritt geprüft wird, ob es sich um Waren handelt, die in einem Substitutionswettbewerb miteinander stehen und ob die Besteuerung zugunsten der inländischen Ware protektionistische Effekte entfaltet. Ein sehr weit reichender Unterschied besteht hingegen bezüglich der Behandlung von innerstaatlichen Regelungen, die den Warenhandel beeinträchtigen. Während das WTO-Recht nur ein bloßes Diskriminierungsverbot enthält, gilt im EU-Recht darüber hinaus ein Beschränkungsverbot. Aufgrund des auf WTO-Ebene nicht bestehenden Beschränkungsverbotes werden die WTO-Mitglieder anders als die EU-Mitgliedstaaten nicht verpflichtet, sich den Handel mit Waren ohne Regulierungen zu öffnen. Stattdessen bietet die WTO-Rechtsordnung aber Verfahren und Mechanismen an, auf deren Grundlage die WTO-Mitglieder auf der Basis gegenseitiger Zugeständnisse solche Verpflichtungen zu einer weitergehenden Marktöffnung eingehen können. Die EU integriert daher 27 Volkswirtschaften zu einem Binnenmarkt, während die WTO nicht über eine Präferenzzone hinausgekommen ist. Trotz dieser gezeigten Unterschiede ist aber auch ersichtlich geworden, dass der ältere Vertragstext des GATT einen großen Einfluss auf die Gestaltung des EU-Vertrages genommen hat. So spiegelt sich das Prinzip der Inländergleichbehandlung aus Art. III GATT und das Verbot von mengenmäßigen Beschränkungen des Art. XI GATT in den Art. 110 AEUV, Art. 34 AEUV und Art. 35 AEUV wieder. Art. VIII GATT, der Anforderungen an Gebühren und Förmlichkeiten im Zusammenhang mit der Ein- oder Ausfuhr stellt, hatte hingegen Einfluss auf die Gestaltung des Verbots der Abgaben zollgleicher Wirkung des Art. 30 AEUV. Ob aber die Unterschiede und Gemeinsamkeiten, die zwischen der Warenverkehrsfreiheit auf Ebene der EU und dem liberalisierten Warenhandel auf Ebene der WTO bestehen, sich auch auf die jeweiligen Ausnahmebestimmungen auswirken, wird im folgenden Abschnitt untersucht.

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht Nachdem im vorangegangenen Abschnitt untersucht wurde, inwieweit sich die Schutzbereiche der Warenverkehrsfreiheit der EU und des liberalisierten Warenhandel auf Ebene der WTO voneinander unterscheiden, soll im Folgenden untersucht werden, inwieweit die jeweils gewährten Freiheiten einschränkbar sind. Denn weder die Warenverkehrsfreiheit noch der liberalisierte Warenhandel werden ohne Schranken gewährleistet. Die jeweiligen Mitglieder haben sich nämlich beim Verfassen der jeweiligen Verträge und Übereinkommen die Möglichkeit herausgenommen, den Warenhandel in seiner jeweiligen Ausprägung aus den verschiedensten Gründen wieder durch Ausnahmebestimmungen einzuschränken. Im Fall der EU wurde den Mitgliedstaaten die Möglichkeit zur Einschränkung der Warenverkehrsfreiheit zusätzlich auch noch durch den EuGH eingeräumt. Für die Untersuchung der Ausnahmebestimmungen wird im Folgenden unter gemeinsamen Oberpunkten zunächst ein Überblick über die im WTO- und EU-Recht enthaltenen Ausnahmebestimmungen gegeben (I.), bevor die all­ gemeinen Voraussetzungen von bestimmten Ausnahmebestimmungen aus WTO- und EU-Recht miteinander verglichen werden (II.). Danach werden einzelne Ausnahmebestimmungen aus den Rechtsordnungen von EU und WTO, die einander ähneln, gegenüber gestellt und miteinander verglichen. Dabei sollen Gemeinsamkeiten und Unterschiede thematisiert und hierfür Erklärungsversuche unternommen werden (III.). Dabei werden in diesem Abschnitt auch die Ausnahmebestimmungen im Rahmen der jeweiligen Subventionskontrolle untersucht. Für einzelne Ausnahmebestimmungen in den jeweiligen Rechtsordnungen fehlt es jedoch entweder im WTO- oder EU-Recht an einem entsprechenden Äquivalent. Auch diese Ausnahmebestimmungen sollen dargelegt werden und für das Fehlen eines entsprechenden Äquivalents wird ein Erklärungsversuch unternommen werden (IV. und V.).

I. Überblick über die im WTO- und EU-Recht enthaltenen Ausnahmebestimmungen Sowohl im WTO- als auch im EU-Recht finden sich zahlreiche Ausnahmebestimmungen, die im Falle ihrer Einschlägigkeit den Warenhandel beschränken.  I. Im WTO- und EU-Recht enthaltene Ausnahmebestimmungen

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C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

In der Darstellung der Instrumentarien, mittels derer das WTO-Recht einen liberalisierten Warenhandel gewährleistet, wurden bereits einige spezifische Ausnahmebestimmungen zum Verbot der mengenmäßigen Beschränkungen, dem Prinzip der Inländergleichbehandlung und dem Prinzip der Meistbegünstigung dargestellt. Daneben bestehen aber im WTO-Recht noch zahlreiche andere Ausnahmebestimmungen über die im Folgenden ein Überblick gegeben werden soll. Auch bei der Darstellung der Instrumentarien, mittels derer das EU-Recht die Warenverkehrsfreiheit gewährleistet, wurden bislang einzelne Ausnahmebestimmungen kurz angesprochen. Über diese soll zusammen mit anderen im EU-Recht enthaltenen Ausnahmebestimmungen in diesem Abschnitt ebenfalls ein Überblick gegeben werden. 1. Überblick über die Ausnahmebestimmungen im WTO-Recht Neben den bereits dargestellten spezifischen Ausnahmebestimmungen für einige Instrumentarien mittels derer im WTO-Recht ein liberalisierter Warenhandel gewährleistet werden soll, bestehen im WTO-Recht zahlreiche Ausnahmebestimmungen, die für die Verpflichtungen der WTO-Mitglieder aus dem GATT gelten. So enthält das WTO-Recht die „Allgemeinen Ausnahmen“ des Art. XX GATT, die „Ausnahmen zur Wahrung der Sicherheit“ des Art. XXI GATT, die Ausnahmebestimmung für Notstandsmaßnahmen des Art. XIX GATT, Ausnahmen von der Subventionskontrolle im ÜSCM, die Möglichkeit des Erlass eines Waiver (Art. XXV:5 WTO und Art. IX:3 und IX:4 WTO), die sog. Nichtanwendungsklausel (Art. XXXV GATT und Art. X II WTO), verschiedene Ausnahmebestimmungen für Entwicklungsländer (vgl. nur Art. XVIII GATT und die sog. „enabling clause“) und die Ausnahmebestimmung des Art. XXIV GATT für regionale Handelsabkommen. 2. Überblick über die Ausnahmebestimmungen im EU-Recht Im EU-Vertrag ist als Ausnahmebestimmung zunächst Art. 36 AEUV enthalten. Art. 36 AEUV rechtfertigt aber nur Maßnahmen, die im Gegensatz zu den Verpflichtungen der EU-Mitgliedstaaten aus den Art. 34 AEUV und Art. 35 AEUV stehen. Daher können die in Art. 36 AEUV niedergelegten Ausnahmen weder auf Art. 34 AEUV1 noch auf Art. 110 AEUV angewendet werden. 1  EuGH Urt. v. 10.12.1968, Rs. 7  / 68, Kommission . / . Italien, Slg. 1968, 633, 643 ff.



I. Im WTO- und EU-Recht enthaltene Ausnahmebestimmungen87

Daneben sind im EU-Vertrag noch die Ausnahmebestimmungen der Art. 346 AEUV und Art. 347 AEUV enthalten, durch welche die EU-Mitgliedstaaten ihre nationalen Sicherheitsinteressen schützen können. Diese Ausnahmebestimmungen sind auf alle Verpflichtungen der EU-Mitgliedstaaten aus dem EU-Vertrag anwendbar. Darüber hinaus enthielt der EU-Vertrag ursprünglich eine Ausnahmebestimmung für Schutzklauseln. Alle anderen Ausnahmebestimmungen, die in Bezug auf die Warenverkehrsfreiheit gelten, wurden vom EuGH entwickelt. Die wichtigste dieser höchstrichterlich gebildeten Ausnahmebestimmungen stellen die „zwingenden Erfordernisse“ der Cassis-Formel dar, welche die anderenfalls durch Art. 34 AEUV verbotenen „Maßnahmen gleicher Wirkung wie mengenmäßige Beschränkungen“ rechtfertigen. Zudem kann nach der Maßgabe bestimmter „objektiver Kriterien“ eine indirekte steuerliche Diskriminierung keine Verletzung des Art. 110 AEUV darstellen. Nach der Rechtsprechung des EuGH handelt es sich jedoch weder bei der Cassis-Formel noch bei den „objektiven Kriterien“ um Rechtfertigungsgründe. Stattdessen engen sie nur den Schutzbereich der jeweiligen Verpflichtung ein. Daher besteht, wenn eine Maßnahme gleicher Wirkung aufgrund der „zwingenden Erfordernisse“ der Cassis-Formel oder eine materiell diskriminierende Besteuerung aufgrund der Maßgabe „objektive Kriterien“ nicht in den Anwendungsbereich der Art. 34 AEUV bzw. des Art. 110 AEUV fällt, keine Verletzung der jeweiligen Verpflichtung. Es handelt sich also nach der Rechtsprechung des EuGH weder bei den „zwingenden Erfordernisse“ der Cassis-Formel noch bei den „objektive Kriterien“ um klassische Ausnahmebestimmungen oder gar Rechtfertigungsgründe. Denn durch die Verengung des Schutzbereiches ist noch nicht einmal der Tatbestand des jeweiligen Instrumentariums zur Gewährleistung der Warenverkehrsfreiheit eröffnet. Dennoch werden sowohl die „zwingenden Erfordernisse“ der Cassis-Formel als auch die „objektive Kriterien“ zusammen mit den dezidierten Ausnahmebestimmungen aus dem WTO- und EU-Recht untersucht werden, da sie genau wie diese Ausnahmen von einem freien Warenhandel aufgrund verschiedener legitimer Schutz­ziele zulassen. Hingegen hat der EuGH keine Ausnahmenbestimmungen für das Verbot von Zöllen oder für Abgaben zollgleicher Wirkung des Art. 30 AEUV im Wege der Rechtsfortbildung entwickelt. Der EuGH hat allerdings wie oben ausgeführt anerkannt,2 dass bestimmte Abgaben unter bestimmten Voraussetzungen rechtmäßig sein können.3 Unter sehr begrenzten Umständen findet das Verbot des Art. 346 AEUV und Art. 347 AEUV daher keine An2  Vgl.

B.I.1.b)cc). Urt. v. 27.09.1988, Rs. 18 / 87, Kommission . / . Deutschland, Slg. 1988, 5427, 5440, Rn. 6. 3  EuGH

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C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

wendung, da in diesen Fällen einige Abgaben von der Definition der Abgaben zollgleicher Wirkung nicht erfasst werden. Diese anerkannten ­ Umstände werden jedoch nicht in Zusammenhang mit den anderen Ausnahmebestimmungen verglichen werden. Denn die Erhebung dieser Abgaben dient nicht der Verfolgung legitimer Schutzziele, noch beruhen sie auf wirtschaftlichen Erwägungen, sondern es handelt sich hierbei eher um Verwaltungsgebühren. 3. Vergleich Ein Vergleich des Überblicks der im WTO- und EU-Recht enthaltenen Ausnahmebestimmungen zeigt, dass sich im Gegensatz zu den vielen verschiedenen Ausnahmebestimmungen des WTO-Rechts im EU-Recht nur eine geringe Anzahl von Ausnahmebestimmungen findet. Von den Ausnahmebestimmungen des EU-Rechts sind auch nur einige direkt im EU-Vertrag niedergelegt. Darüber hinaus gelten die Ausnahmebestimmungen des EU-Rechts mit Ausnahme der Art. 346 AEUV und Art. 347 AEUV immer nur für bestimmte Instrumentarien, mittels derer die Warenverkehrsfreiheit erreicht werden soll. So gilt Art. 36 AEUV nur für die Art. 34 AEUV und Art. 35 AEUV. Die wichtigsten Ausnahmebestimmungen des WTO-Rechts, etwa Art. XIX, XX, XXI GATT, stellen hingegen generelle Ausnahmen dar, die Verstöße gegen alle Instrumentarien rechtfertigen können, mittels derer ein liberalisierter Warenhandel erreicht werden soll. Daher besteht im EU-Recht keine Ausnahmebestimmung zum Zollverbot, während im WTO-Recht zahlreiche Ausnahmebestimmungen herangezogen werden können, um ein Abweichen von den gebundenen Zollzugeständnissen zu rechtfertigen. Insbesondere die Möglichkeit des Waivers und die Ausnahmebestimmungen für Entwicklungsländer werden in der Praxis auch häufig hierzu verwendet. Darüber hinaus enthält der EU-Vertrag keine spezielle Ausnahmebestimmung für das Verbot diskriminierender Besteuerung des Art. 110 AEUV. Diese musste erst vom EuGH geschaffen werden. Im WTO-Recht sind hingegen die allgemeinen Ausnahmebestimmungen des Art. XX GATT auch auf das Verbot der Steuerdiskriminierung des Art. III:2 GATT anwendbar. Das EU-Recht unterscheidet sich vom WTO-Recht auch dadurch, dass die meisten Ausnahmebestimmungen im EU-Recht auf Rechtsfortbildung beruhen. So hat der EuGH mit der Cassis-Formel und den „objektiven Kriterien“ zwei völlig neue Kategorien an Ausnahmebestimmungen entwickelt. Die Streitbeilegungsgremien haben sich dagegen darauf beschränkt, die in den Verträgen enthaltenen Ausnahmebestimmungen auszulegen, ohne neue zu erschaffen. In der Entwicklung des WTO-Rechts sind die Streitbeilegungsgremien der WTO in ihren Möglichkeiten jedoch durch die Art. 3.2 und Art. 19.2 DSU begrenzt, welche es ihnen verbieten, die in den



II. Allgemeine Voraussetzungen der wichtigsten Ausnahmebestimmungen89

„Übereinkommen enthaltenen Rechte und Verpflichtungen“ zu ergänzen oder zu schmälern.

II. Vergleich der allgemeinen Voraussetzungen der wichtigsten Ausnahmebestimmungen Im Folgenden werden die allgemeinen Voraussetzungen der wichtigsten Ausnahmebestimmungen, d. h. des Art. XX GATT, des Art. 36 AEUV, der Cassis-Formel und der „objektiven Kriterien“ dargestellt und miteinander verglichen. Alle diese Ausnahmebestimmungen können nur dann eine Verletzung rechtfertigen, wenn bestimmte allgemeine Voraussetzungen vorliegen. Durch dieses Erfordernis der allgemeinen Voraussetzungen soll die missbräuchliche Anwendung einer Ausnahmebestimmung verhindert werden. 1. Allgemeine Voraussetzungen des Art. XX GATT Die allgemeinen Ausnahmen, die in Art. XX GATT niedergelegt sind, rechtfertigen Maßnahmen der WTO-Mitglieder, die anderenfalls ihre vertraglichen Verpflichtungen aus dem GATT verletzen würden. Die in Art. XX lit. a)–j) GATT niedergelegten Schutzziele sind abschließend.4 Sie können also nicht, etwa durch die Judikatur der Streitbeilegungsgremien, erweitert werden. Dem Art. XX GATT vorangestellt ist ein sog. Chapeau, der festlegt, innerhalb eines welchen Rahmens von den einzelnen Ausnahmebestimmungen Gebrauch gemacht werden kann.5 Viele der umstrittensten Entscheidungen der Streitbeilegungsgremien haben sich mit den Voraussetzungen des Chapeaus befasst.  II. Allgemeine Voraussetzungen der wichtigsten Ausnahmebestimmungen

a) Prüfungsstandort und Zweck des Chapeaus Nach dem Chapeau dürfen die in Art. XX lit. a)–j) GATT enthaltenen Schutzziele nicht so angewandt werden, „dass sie zu einer willkürlichen oder ungerechtfertigten Diskriminierung zwischen Ländern, in denen gleiche Verhältnisse bestehen, oder zu einer verschleierten Beschränkung des internationalen Handels führen. Der Chapeau wird im Rahmen einer zweistufigen Prüfung erst geprüft, nachdem in einem vorherigen Schritt festgestellt wurde, ob die fragliche 4  Mavroidis,

5  Hilf / Oeter,

S. 186. § 9 Rn. 75 (Bender).

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C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

handelsbeschränkende Maßnahme den in Art. XX lit. a)–j) GATT statuierten Anforderungen genügt.6 Es müssen also zunächst die einzelnen Voraussetzungen der zulässigen Schutzziele vorliegen. Ist dies der Fall, werden in einem zweiten Schritt die Voraussetzungen des Chapeaus geprüft, um einen protektionistischen Missbrauch der einzelnen Schutzziele zu verhindern. Zu dem Zweck des Chapeaus hat der Appellate Body sich insbesondere in den Entscheidungen US – Shrimp und US – Gasoline geäußert. Danach soll durch den Chapeau sichergestellt werden, dass die Maßnahmen des jeweiligen WTO-Mitgliedes in einer Weise angewendet werden, welche das Gleichgewicht zwischen den Rechten und Pflichten aus dem GATT nicht beeinträchtigt.7 Gleichzeitig soll die Möglichkeit einer missbräuchlichen Anwendung einer der Ausnahmebestimmungen der Art. XX lit. a)–j) GATT verhindert werden.8 Außerdem stellt der Chapeau einen Ausdruck des völkerrechtlichen Prinzips von Treu und Glauben dar.9 Insgesamt soll der Chapeau daher in einer Weise angewendet und ausgelegt werden, die Sorge trägt für ein angemessenes Gleichgeweicht zwischen einerseits dem Recht von WTO-Mitgliedern handelsbeschränkende Vorschriften und Maßnahmen einzuführen und aufrechtzuerhalten, die den Schutz bestimmter gesellschaftlicher Zielvorstellungen dienen, und andererseits dem Recht von anderen WTO-Mitgliedern entsprechend den Liberalisierungsverpflichtungen aus dem GATT zu handeln.10 b) Keine willkürliche und ungerechtfertigte Diskriminierung Der Appellate Body hat eine Maßnahme entsprechend dem Wortlaut des Chapeaus dann als eine willkürliche und ungerechtfertigte Diskriminierung zwischen Ländern, in denen gleiche Verhältnisse bestehen, angesehen, wenn drei Voraussetzungen gegeben sind: erstens muss die Anwendung einer Maßnahme zu einer Diskriminierung führen, zweitens muss diese Diskriminierung einen willkürlichen und ungerechtfertigten Charakter haben und drittens muss diese Diskriminierung zwischen Ländern bestehen, in denen die gleichen Verhältnisse bestehen.11 Eine Maßnahme ist jedenfalls dann nicht diskriminierend, wenn das Prinzip der Meistbegünstigung eingehalten wird, etwa indem das Einfuhrverbot 6  Appellate Body Report, US – Gasoline, Abschnitt IV; Appellate Body Report, US – Shrimp, Rn. 116. 7  Appellate Body Report, US – Shrimp, Rn. 156. 8  Appellate Body Report, US – Gasoline, Rn. 22. 9  Appellate Body Report, US – Shrimp, Rn. 157, 158. 10  Appellate Body Report, US – Shrimp, Rn. 159. 11  Appellate Body Report, US – Shrimp, Rn. 150.



II. Allgemeine Voraussetzungen der wichtigsten Ausnahmebestimmungen91

gegenüber allen Ländern verhängt wird.12 Nicht herangezogen werden kann jedoch die Voraussetzung des Art. III:4 GATT, wonach auch bestimmte eingeführte Waren nicht weniger günstig behandelt werden dürfen. Denn der Chapeau des Art. XX GATT erlaubt diskriminierende Maßnahmen, allerdings dürfen diese nicht willkürlich und ungerechtfertigt sein.13 Das Vorliegen einer willkürlichen Diskriminierung wurde vom Appellate Body für den Fall eines Einfuhrverbotes von Garnelen angenommen, die nicht mittels eines Verfahrens gefischt wurden, welches den Beifang von vom Aussterben bedrohten Meeresschildkröten minimierte. Denn von den betroffenen WTO-Mitgliedern war erwartet worden, dass sie die US-amerikanischen Schutzmaßnahmen beim Garnelenfang für Meeresschildkröten im wesentlichen unverändert umsetzen, ohne dass auf den Entwicklungsstand und die Bedingungen, die im Ausfuhrland herrschten, Rücksicht genommen wurde.14 Eine starre und unflexible Anwendung der Maßnahme spricht also für das Vorliegen der Willkürlichkeit einer Maßnahme. Die handelsbeschränkende Maßnahme muss aber nicht die Bedingungen berücksichtigen, die im Gebiet jedes betroffenen WTO-Mitgliedes bestehen.15 Dieses Einfuhrverbot für Garnelen zum Schutz der Meeresschildkröten wurde vom Appellate Body ebenfalls als eine ungerechtfertigte Diskriminierung angesehen. Denn die US-Regierung hatte dieses Einfuhrverbot unilateral durchgesetzt, ohne vorher ernsthafte Verhandlungen mit allen betroffenen WTO-Mitgliedern zu führen.16 Ein WTO-Mitglied, welches vermeiden möchte, dass eine der Erreichung eines legitimen Schutzzieles dienende Maßnahme als ungerechtfertigte Diskriminierung eingestuft wird, sollte daher mit den WTO-Mitgliedern, aus denen es seine entsprechenden Einfuhren bezieht, zunächst über multilaterale Wege verhandeln, etwa durch Abschluss eines internationalen Abkommens, um das verfolgte legitime Schutzziel zu erreichen.17 Das Einfuhrverbot für Garnelen wurde auch deshalb als eine ungerechtfertigte Diskriminierung angesehen, da für die Einfuhrländer unterschied­ liche Bedingungen für eine Umstellung des Garnelenfanges auf eine meeresschildkrötenfreundliche Art galten, wie etwa unterschiedlich lange Übergangsfristen.18 Panel Report, US – Canada (Tuna), Rn. 4.8. Body Report, US – Gasoline, Rn. 23. 14  Appellate Body Report, US – Shrimp, Rn. 160. 15  Appellate Body Report, US – Shrimp (Article 21.5 – Malaysia), Rn. 140. 16  Appellate Body Report, US – Shrimp, Rn. 172. 17  Stoll / Schorkopf, Rn. 190. 18  Appellate Body Report, US – Shrimp, Rn. 73–176. 12  GATT

13  Appellate

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C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

c) Keine verschleierte Beschränkung des internationalen Handels Anders als das im vorherigen Abschnitt behandelte Erfordernis, dass es keine willkürliche und ungerechtfertigte Diskriminierung zwischen Ländern, in denen gleiche Verhältnisse bestehen, geben darf, ist das Erfordernis, dass es zu keiner verschleierten Beschränkung des internationalen Handels kommen soll, in der Praxis der Streitbeilegung von wesentlich geringerer Bedeutung. Mit dem Erfordernis einer verschleierten Beschränkung des internationalen Handels ist nicht gemeint, dass eine offen angekündigte Maßnahme nicht hierunter fallen würde. Dies wurde zwar im Jahr 1982 von einem Panel so gesehen, welches ein von den USA verhängtes Einfuhrverbot für Thunfische und Thunfischprodukte aus Kanada nicht als verschleierte Beschränkung des Handels einstufte, da es von US-amerikanischer Seite öffentlich als Handelsmaßnahme verkündet wurde.19 Es ist jedoch nicht ersichtlich, dass die Streitbeilegungsgremien diese Auslegung des Begriffs der verschleierten Handelsbeschränkung beibehalten haben. So nahm ein Panel hierzu keine Stellung, als diese Auslegung in einem anderen Streitbeilegungsverfahren von einer Vertragspartei herangezogen wurde.20 Zudem erscheint es nicht als überzeugend, dass Handelsbeschränkungen nur deshalb nicht gegen die Verpflichtungen aus dem GATT verstoßen, weil sie öffentlich als solche bezeichnet werden.21 Der Appellate Body hat folgerichtig in einer späteren Entscheidung auch ausgeführt, dass unter einer verschleierten Beschränkung nicht nur heimlich durchgeführte oder unangekündigte Maßnahmen zu verstehen sind.22 Eine Maßnahme stellt stattdessen eine verschleierte Beschränkung des internationalen Handels dar, wenn sie verhängt wurde, um eines der zulässigen Schutzziele zu missbrauchen oder unrechtmäßig zu gebrauchen.23 Es muss also anders, als vom Panel in US – Tuna (Canada) gefordert, nicht die Maßnahme verschleiert werden, sondern deren Zweck. Das ist z. B. der Fall, wenn der einzige Zweck der Maßnahme die Beschränkung des Handels darstellt.24 Zwar ist der Zweck einer Maßnahme nur schwer festzustellen, doch bieten sich Anhaltspunkte für die protektionistische Anwendung einer Maßnahme in deren Gestaltung und Struktur („design, architecture and revealing structure“).25 Panel Report, US – Tuna (Canada), Rn. 4.8. Panel Report, Canada – Herrings and Salmon, Rn. 3.29. 21  Diem, S. 75. 22  Appellate Body Report, US – Gasoline, Abs. IV (S.25). 23  Appellate Body Report, US – Gasoline, Abs. IV (S.25). 24  Panel Report, EC – Gasoline, Rn. 8.236. 25  Panel Report, EC – Asbestos, Rn. 8.236. 19  GATT 20  GATT



II. Allgemeine Voraussetzungen der wichtigsten Ausnahmebestimmungen93

d) Auslegung des Art. XX GATT Die in Art. XX lit. a)–j) GATT niedergelegten Schutzziele werden anhand des jeweiligen Einzelfalles ausgelegt („case-by-case base“).26 Obwohl es sich um einen im Völkerrecht anerkannten Grundsatz handelt, dass Ausnahmen eng auszulegen sind (singularia non sunt extendenda),27 versucht der Appellate Body im Rahmen des Chapeaus zwischen dem Ziel der Handelsliberalisierung und dem jeweiligen Zweck der verhängten Maßnahme abzuwägen.28 Dieser Auslegungsgrundsatz gilt sowohl für den Chapeau als auch für die einzelnen Schutzziele. Der Grundsatz, dass Art. XX GATT nicht eng ausgelegt wird, findet ein Argument auch in einer Entscheidung des Appellate Body zu einer Ausnahmebestimmung im Übereinkommen über gesundheitspolizeiliche Maßnahmen (ÜSPS). In dieser hat der Appellate Body ausgeführt, dass das Einstufen einer Norm als eine Ausnahmebestimmung es alleine nicht rechtfertigt, diese „restriktiver“ oder „enger“ auszulegen.29 Gegen eine nichtrestriktive Auslegung des Art. XX GATT spricht auch nicht, dass die einzelnen niedergelegten Schutzziele von den Streitbeilegungsgremien als „limited and conditional“ bezeichnet wurden.30 Denn das „limited“ bezieht sich darauf, dass die in Art. XX GATT niedergelegten Ausnahmebestimmungen nicht erweiterungsfähig sind, während sich das „conditional“ darauf bezieht, dass eine Ausnahmebestimmung nur dann als Rechtfertigungsgrund gilt, wenn ihre sämtlichen Bedingungen erfüllt sind. Der Chapeau sieht im Rahmen der Auslegung des Art. XX GATT keine Anwendung einer Verhältnismäßigkeitsprüfung vor. Die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips im Rahmen des Chapeaus wird zwar teilweise gefordert,31 ist aber abzulehnen. So haben die Streitbeilegungsgremien in ihrer Judikatur zum Chapeau bisher nicht etwa auf das „propotionality principle“ abgestellt. Außerdem engen die dafür notwendigen Kriterien der Erforderlichkeit aber insbesondere der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne die Souveränität eines Staates in einem Maße ein, welches nicht mehr mit dem in Art. 3.2 DSU und Art. 19.2 DSU festgelegten Verbot einer RechtsBody Report, US – Gasoline, Rn. 18. den Bossche, S. 599. 28  van den Bossche, S. 599, 600. 29  Appellate Body Report, EC – Hormones, Rn. 104. 30  GATT Panel Report, US – Section 337, Rn. 5.9; Appellate Body Report, US – Shrimps, Rn. 157. 31  Tietje, S.  313 ff.; ders., EuR 2000, 285, 291; auch v.  Bogdandy, EuZW 1992, 243, 246, 247, sieht alle Elemente einer Verhältnismäßigkeitsprüfung, also legitimes Ziel, Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne, in der Judikatur der Streitbeilegungsgremien als anerkannt an; a.  A. Thiedemann, S. 142. 26  Appellate 27  van

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C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

fortbildung in Übereinstimmung zu bringen ist. Gegen eine Verhältnismäßigkeitsprüfung innerhalb des Art. XX GATT spricht auch, dass der Vorschlag den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in das TBT-Übereinkommen (Übereinkommen über technische Handelshemmnisse) aufzunehmen, im Laufe der Verhandlungen abgelehnt wurde.32 Den Befürwortern der Anwendung ist jedoch zuzugestehen, dass im Rahmen der Prüfung des Chapeaus gewisse Kriterien einer Verhältnismäßigkeitsprüfung verwendet wurden. So stellte der Appellate Body darauf ab, dass einem WTO-Mitglied mehr als eine Maßnahme zur Verfügung gestanden hätte, um das gewünschte Ziel zu erreichen.33 Hierin ist jedoch noch keine Erforderlichkeitsprüfung zu sehen. Dies gilt auch hinsichtlich der Verhältnismäßigkeitsprüfung im engeren Sinne für die vom Appellate Body gestellte Anforderung, dass die Anwendung der Maßnahme den Erwägungen der Billigkeit folgen müsse.34 Weitere einer Verhältnismäßigkeitsprüfung ähnliche Voraussetzungen finden sich nicht nur im Chapeau, sondern auch im zweiten Prüfungsschritt bei den in Art. XX lit. a)–j) GATT niedergelegten zulässigen Schutzzielen. Diese einzelnen zulässigen Schutzziele können nämlich in einen Bestandteil (Tatbestandsteil) getrennt werden, der den materiellen Inhalt des Schutzzieles darstellt und in einem Bestandteil (Relationselement), der eine zusätz­ liche Anforderung in Form einer Konnexität oder einer gewissen Relation zwischen Maßnahme und Schutzziel stellt.35 Um die Voraussetzungen des Relationselementes zu erfüllen, müssen die Maßnahmen nach lit. a), b) und d) notwendig („necessary“) sein, nach lit. c), e) und g) müssen sie im Zusammenhang mit dem jeweiligen Schutzziel stehen („relating to“) oder sie müssen nach lit. f) erlassen („imposed for“) oder nach lit.) j wesentlich („essential“) sein, um das jeweilige Schutzziel zu erreichen. Daher bestehen bei den einzelnen Ausnahmebestimmungen des Art. XX GATT unterschiedlich hohe Voraussetzungen in Bezug auf das Verhältnis zwischen der Maßnahme und den Schutzziel.36 Gegen die Anwendung einer Verhältnismäßigkeitsprüfung im Rahmen des Art. XX GATT spricht im Übrigen daher auch, dass, die Art. XX lit. a)–j) GATT jeweils spezifische Anforderungen an die Relation, die zwischen angewendeter Maßnahme und verfolgten Schutzziel bestehen muss, stellen. Diese Anforderungen sind jedoch in sämtlichen Ausnahmebestimmungen, 32  Petersmann,

S. 86. Body Report, US – Gasoline, Abs. IV (S. 25). 34  Appellate Body Report, US – Gasoline, Abs. IV (S. 25 ff.). 35  Nadavukaren Schefer, S. 426. 36  Jackson / Davey / Sykes, S. 547. 33  Appellate



II. Allgemeine Voraussetzungen der wichtigsten Ausnahmebestimmungen95

die in den Art. XX lit. a)–j) GATT niedergelegt worden sind, wesentlich niedriger als die Anforderung die an das Prinzip der Verhältnismäßigkeit gestellt werden. Das Hereininterpretieren eines Verhältnismäßigkeitsprinzips in Art. XX GATT würde daher entgegen dem Wortlaut dieser Bestimmung die Befugnisse der WTO-Mitglieder zur Verfolgung legitimer Schutzziele einengen. Eine Auffassung wonach jedenfalls das Relationselement des „Notwendigkeitskriteriums“ des Art. XX lit. b) und das Konnexitätserfordernis des Art. XX lit. g) des „in Zusammenhang stehen“ gleich auszulegen sind, ist abzulehnen.37 Auch wenn es nachvollziehbar erscheint, dass der Schutz menschlicher Gesundheit nicht schwerer zu rechtfertigen sein sollte als der Schutz erschöpflicher Naturschätze, so berücksichtigt eine solche Auslegung nicht den unterschiedlichen Wortlaut beider Vorschriften und die Tatsache, dass von einem Panel des GATT festgestellt wurde, dass unter dem Begriff des „in Zusammenhang stehen“ wesentlich mehr Maßnahmen subsumiert werden können, als unter dem Begriff der „Notwendigkeit“.38 Eine Auslegung, die vom Appellate Body bestätigt wurde.39 Ebenso berücksichtigt diese Auffassung nicht den Umstand, dass zum Zeitpunkt des Entstehens des GATT der Schutz der in Art. XX lit. b) GATT niedergelegten Schutzgütern nicht eine ähnlich hohe Priorität wie heute eingeräumt wurde und zwischenzeitlich keine entsprechende Vertragsänderung stattgefunden hat. e) Beweislastverteilung im Rahmen des Art. XX GATT Das WTO-Mitglied, welches sich auf Art. XX GATT beruft, trägt die Beweislast. Dieses ergibt sich zwar nicht aus dem DSU, aber es stellt einen internationalen Rechtsgrundsatz dar, dass die Partei, die sich auf eine sie begünstigende Norm beruft, hierfür auch Beweise erbringen muss. Denn jede Partei trägt für diejenigen Tatsachen die Beweislast auf die sie ihre Klage bzw. Verteidigung stützt.40 Es gilt also die Regel, dass die beschwerdeführende Partei die GATT-Widrigkeit der Maßnahme glaubhaft machen muss. Wenn aber eine Verletzung des GATT feststeht und diese durch Berufung auf Art. XX GATT gerechtfertigt werden soll, so bedarf es einen entsprechenden Nachweis durch das WTO-Mitglied, welches gegen seine Verpflichtungen aus dem GATT verstößt, dass diese GATT-widrige Maßnahme unter eine der Ausnahmebestimmungen des Art. XX GATT fällt. aber Hilf / Oeter, § 9 Rn. 1 (Bender); Epiney, DVBl. 2000, 77, 83. Panel Report, Canada – Herring and Salmon, Rn. 4.5, 4.6. 39  Appellate Body Report, US – Gasoline, Rn. 18, 19. 40  Appellate Body Report, US – Wool Shirts and Blouses, Abs. IV (S. 14). 37  So

38  GATT

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C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

Der Beweis einer Gefährdung eines legitimen Schutzzieles muss im Zweifelsfall aufgrund wissenschaftlicher Methoden geführt werden.41 Bei der Bestimmung der Gefährdung werden auch die Umstände der Nutzung der betreffenden Ware mit einbezogen. So hat der Appellate Body das Argument Kanadas, dass von Asbest bei richtiger Handhabung keine Gefährdung ausgeht, zurückgewiesen, indem er darauf verwies, dass eine solche richtige Handhabung in der Praxis nicht durchsetzbar wäre, da im Baugewerbe sehr viele Menschen arbeiten und dieses schlecht zu regulieren sei.42 Nicht völlig klar ist, welche Voraussetzungen an die wissenschaftliche Fundierung bezüglich des Vorliegens der Gefährdung einer der legitimen Schutzziele des Art. XX GATT zu stellen sind. Dies ist insbesondere von Bedeutung bei Maßnahmen zum Schutze des Lebens und der Gesundheit von Menschen, Tieren und Pflanzen (Art. XX lit. b) GATT) und bei der Verfolgung von umweltpolitischen Zielen, die sich auf die Ausnahmebestimmung des Art. XX lit. g) GATT zum Schutz erschöpflicher Ressourcen stützen. aa) Beweislastverteilung bei der Anwendung gesundheitspolizeilicher und pflanzenschutzrechtlicher Maßnahmen zur Verfolgung der Schutzziele des Art. XX lit. b) GATT Maßnahmen zum Schutz der in Art. XX lit. b) GATT enthaltenen legitimen Schutzziele werden oftmals unter das ÜSPS fallen.43 Denn dieses gilt nach Art. 1.1 ÜSPS für alle gesundheitspolizeilichen und pflanzenschutzrechtlichen Maßnahmen, die sich unmittelbar oder mittelbar auf den internationalen Handel auswirken können. Gesundheitspolizeiliche und pflanzenschutzrechtliche Maßnahmen werden aber regelmäßig zum Schutz von Gesundheit und Leben von Menschen, Tieren oder Pflanzen verhängt werden. Das ÜSPS stellt hinsichtlich der Risikobewertung eigene Regeln für die Fundierung des wissenschaftlichen Beweises auf. So müssen die Maßnahmen nach Art. 2.1 ÜSPS auf wissenschaftlichen Grundsätzen beruhen und dürfen nicht ohne hinreichenden wissenschaftlichen Nachweis aufrechterhalten werden. Anforderungen an die Risikobewertung sind in Art. 5 ÜSPS enthalten. Zum Beweis des bestehenden Risikos müssen wissenschaftliche Studien hinreichend belegen, dass eine rationale Beziehung („rational element“) zwischen der Risikobewertung und der daraufhin beschlossenen Maßnahme besteht.44 Diese rationale Beziehung muss nicht auf wissenschaftlichen Studien beruhen, welche die herrschende wissenschaftliche 41  Wolfrum / Stoll / Seibert-Fohr,

S. 107 (Stoll / Strack). Body Report, EC – Asbestos, Rn. 8.196. 43  Vgl. C.III.2.a)cc) zum Verhältnis des Art. XX lit. b) GATT zum ÜSPS. 44  Appellate Body Report, EC – Hormones, Rn. 193. 42  Appellate



II. Allgemeine Voraussetzungen der wichtigsten Ausnahmebestimmungen97

Meinung widerspiegeln. Die abweichende Meinung einzelner qualifizierter und respektierter Wissenschaftler ist hierfür ausreichend.45 Auf die herrschende wissenschaftliche Meinung muss man sich also nicht stützen.46 Aufgrund der strengen Anforderungen an die Beweislast besteht aber eine hohe Kontrolldichte im Rahmen der Risikobewertung.47 Der Appellate Body hat das Vorsorgeprinzip nicht anerkannt.48 Reine Vorsorgemaßnahmen sind deshalb durch diese Bestimmung nicht gerechtfertigt. Daher reichen Zweifel, die nicht durch wissenschaftliche Fakten untermauert sind, für ein Verbot nicht aus. Allerdings findet sich im ÜSPS eine Vorschrift, welche Voraussetzungen für das Verhängen von Maßnahmen beim Vorliegen eines Gefahrenverdachts aufstellt und die damit dem Vorsorgeprinzip relativ nahe kommt. Denn falls noch keine ausreichenden wissenschaftlichen Erkenntnisse vorliegen, erlaubt Art. 5.7 ÜSPS den WTO-Mitglieder innerhalb eines vertretbaren Zeitraumes vorübergehend entsprechende Schutzmaßnahmen zu erlassen. Dafür müssen innerhalb einer vertretbaren Frist zusätzliche Informationen gesammelt und die betreffende Maßnahme überprüft werden. Die Länge der vertretbaren Frist hängt vom Einzelfall ab.49 Daher ermöglicht es das WTO-Recht bei einem bestehenden Gefahrenverdacht kurzfristig Maßnahmen zu ergreifen und so etwa massiven Protesten von Verbrauchern entgegenzutreten. Oder aber auch auf einem massiven Vertrauensverlust der Verbraucher in eine Ware zu reagieren, die den Markt dieser Ware zusammenbrechen lässt, ungeachtet davon ob es sich um eingeführte oder um einheimische Waren handelt. Somit können vorbeugende Schutzmaßnahmen getroffen werden, während gleichzeitig die WTO-Mitglieder unter einer Verpflichtung stehen, den wissenschaftlichen Nachweis für ihre Maßnahmen zu erbringen. Das Maß der wissenschaftlichen Fundierung des Beweises war insbesondere im „Hormonfleischfall“ zwischen der EU und der USA strittig. Ursache des Streites war ein EU-Einfuhrverbot für Fleisch von Rindern, zu deren schnelleren Aufzucht künstliche Wachstumshormone verwendet wurden. Die EU konnte in diesem Fall die Schädlichkeit der zur Aufzucht benutzten Wachstumshormone jedoch nicht belegen, da der Appellate Body die von der EU vorgelegten Studien als nicht ausreichend empfand.50 DesBody Report, EC – Hormones, Rn. 194. Body Report, EC – Asbestos, Rn. 178. 47  Eggers, EuZW 1998, 147, 150. 48  Appellate Body Report, EC – Hormones,  Rn. 123. 49  Appellate Body Report, Japan – Agricultural Products II, Rn. 93. Sicherlich dürfte aber ein Zeitraum von 30 Jahren, in dem Japan im betreffenden Fall keine neuen Informationen gesammelt hat, die vertretbare Frist bei weitem übersteigen. 50  Appellate Body Report, EC – Hormones, Rn. 198, 200, 206, 207, 208. 45  Appellate 46  Appellate

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C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

halb stellte das EU-Einfuhrverbot wenigstens in Teilen eine Verletzung des GATT dar. Die EU berief sich allerdings im Hormonstreitfall nicht auf Art. 5.7 ÜSPS. Anscheinend befürchtete sie, auch innerhalb eines vertretbaren Zeitraumes keinen wissenschaftlich fundierten Nachweis zu erbringen, zumal das Einfuhrverbot für das „Hormonfleisch“ schon seit 1985 bestand, ohne dass bislang ein entsprechender Nachweis gelungen war. Gleichzeitig sah sich die EU nicht in der Lage das Einfuhrverbot für Hormonfleisch auszuheben, da sie massive Verbraucherproteste und den Zusammenbruch ihres einheimischen Marktes für Rindfleisch, sowohl aus inländischer als auch ausländischer Produktion, befürchtete. Aufgrund der Anforderungen an den wissenschaftlichen Nachweis konnte daher das Verbot der Einfuhr für „hormonbelastetes“ Rindfleisch nicht durch Art. XX lit. b) GATT gerechtfertigt werden. bb) Beweislastverteilung bei der Verfolgung von Zielen des Umweltschutzes Wie im Folgenden noch ausgeführt werden wird, können im Rahmen des WTO-Rechts Maßnahmen zur Verfolgung gewisser umweltpolitischer Ziele bei Erfüllung bestimmter Voraussetzungen sowohl auf die Ausnahmebestimmung des Art. XX lit. b) GATT als auch auf die Ausnahmebestimmung des Art. XX lit. g) GATT zum Schutz erschöpflicher Ressourcen gestützt werden.51 Von Art. XX lit. b) GATT und dem ÜSPS werden auch das Leben und die Gesundheit von Tieren und Pflanzen geschützt, wobei auch Fische und wildlebende Tiere, Wälder und wildlebende Pflanzen miterfasst sind.52 Hinsichtlich der Beweislastverteilung zur Rechtfertigung von Maßnahmen zur Verfolgung des Umweltschutzes, die sich auf Art. XX lit. b) GATT stützen, kann daher auf die obigen Ausführungen verwiesen werden.53 Anders jedoch bei Maßnahmen zur Verfolgung des Umweltschutzes, deren Rechtfertigung auf Art. XX lit. g) GATT gestützt werden. Hier gelten die üblichen Vorschriften über die Beweislastverteilung, ohne dass die Vorschriften der ÜSPS anwendbar wären. Denn Maßnahmen zum Schutz erschöpflicher Ressourcen i. S. d. Art. XX lit. g) GATT werden regelmäßig keine gesundheitspolizeilichen oder pflanzenschutzrechtlichen Maßnahmen sein. Stattdessen wird es sich im Regelfall um Einfuhrbeschränkungen handeln, welche der Erhaltung von Tier- oder auch Pflanzenarten dienen sollen. 51  Vgl. zu den Voraussetzungen des Art. XX lit. b) GATT C.III.2.a) und C.IV.3. zu den Voraussetzungen des Art. XX lit. g) GATT. 52  Hermann / Weiß / Ohler, Rn. 544. 53  Vgl. C.II.1.e)aa).



II. Allgemeine Voraussetzungen der wichtigsten Ausnahmebestimmungen  99

Dafür, dass die im ÜSPS enthaltenen Beweisregeln keine Anwendung finden auf Maßnahmen, die sich auf die Ausnahmebestimmung des Art. XX lit. g) GATT stützen, spricht auch, dass die Präambel des ÜSPS ausführt, dass in diesen Übereinkommen insbesondere Durchführungsbestimmungen zu Art. XX lit. b) GATT enthalten sind. Daher können sich WTO-Mitglieder mangels Geltung des Art. 5.7 ÜSPS bei der Rechtfertigung von Schutzmaßnahmen für die Umwelt nicht einmal innerhalb eines vertretbaren Zeitraumes vorübergehend entsprechende Schutzmaßnahmen erlassen, falls noch keine wissenschaftlich ausreichenden Erkenntnisse vorliegen. Es wird zwar gefordert, dass für alle der in Art. XX GATT niedergelegten legitimen Schutzziele und damit auch für Art. XX lit. g) GATT eine Beweiserleichterung bereits bestehen soll, wenn eine objektiven Gefährdung, die auf fundierten Verdachtsmomenten beruht, dargelegt werden kann.54 Eine solche Beweiserleichterung verdient zwar Sympathie, es ist jedoch nicht anzunehmen, dass sie von den Streitbeilegungsgremien der WTO für Maßnahmen, die Umweltschutzziele verfolgen und die sich auf Art. XX lit. g) GATT stützen, anerkannt werden wird. So hat der Appellate Body das Vorsorgeprinzip bislang nicht explizit als allgemeines Rechtsprinzip des Völkerrechts anerkannt und angemerkt, dass selbst, wenn dies der Fall wäre, diesem kein Vorrang gegenüber den Bestimmungen aus den WTO-Übereinkommen zukommen würde.55  II. Allgemeine Voraussetzungen der wichtigsten Ausnahmebestimmungen 

Aber auch sonst wurden von den Streitbeilegungsgremien im Rahmen des Art. XX lit. g) GATT strenge Anforderungen an die Beweislast gestellt. So wurde das US-amerikanische Einfuhrverbot für mexikanische Thunfischprodukte, welches auf die Ausnahmebestimmung des Art. XX lit. g) GATT gestützt war, da mexikanische Thunfischfischer als Beifang in hoher Zahl auch Delfine fingen, u. a. auch deshalb als GATT-widrig angesehen, weil die USA nicht den Beweis dafür angetreten hatten, dass sie vor Erlass dieses Einfuhrverbotes alle anderen Maßnahmen zu einem besseren Delfinschutz ausgeschöpft hätten, die in einer größeren Übereinstimmung mit dem GATT gestanden hätten.56 Und dies, obwohl die Anzahl der von mexikanischen Thunfischfischern getöteten Delfine von 137.174 im Jahr 1986 auf „nur noch“ 3.605 im Jahr 1993 gesunken war, nachdem die Delfinschutzmaßnahmen aufgrund US-amerikanischen Drucks implementiert worden waren. Allerdings trugen zu diesem Erfolg für den Delfinschutz wohl auch noch andere Ursachen als das US-amerikanische Einfuhrverbot bei.57 Außerdem weist der Umstand, dass die Möglichkeit des Vorsorgeprinzips in Art. 5.7 ÜSPS nur für 54  Diehm,

S. 89, 90. Body Report, EC – Hormones, Rn. 123. 56  GATT Panel Report, US – Tuna, Rn. 5.28. 57  Helm, S. 90. 55  Appellate

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C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

gesundheitspolizeiliche und pflanzenschutzrechtliche Maßnahmen gilt und in anderen WTO-Übereinkommen nicht verankert ist, darauf hin, dass es sich hierbei um eine nicht analogiefähige Ausnahmevorschrift hinsichtlich der Beweiserleichterung handelt. Deshalb ist davon auszugehen, dass eine Beweiserleichterung mittels des Vorsorgeprinzips für Maßnahmen, die Ziele des Umweltschutzes verfolgen und die auf Art. XX lit. g) GATT gestützt werden, nicht möglich ist. Eine Beweislastverteilung zugunsten der Umwelt wäre daher nur mittels einer Vertragsänderung möglich. f) Die Möglichkeit eines Schutzes extraterritorialer Schutzziele Umstritten ist die geographische Reichweite des Art. XX GATT. Dahinter verbirgt sich die Frage, ob die in Art. XX GATT niedergelegten Schutzziele nur innerhalb des eigenen Hoheitsgebietes eines WTO-Mitgliedes von diesem geschützt werden können. Als Beispiel für diese Problematik kann das von einigen US-amerikanischen Bundesstaaten und der EU verhängte Verbot der Einfuhr der Pelze von mittels Tellereisen gefangener Tiere herangezogen werden.58 Hierdurch kommt der beabsichtigte Schutz von Tieren vor dieser qualvollen Fangmethode auch außerhalb der USA bzw. der EU überall dort zum Tragen, wo Pelzjagd betrieben wird. Nicht von Belang ist die Frage der extraterritorialen Reichweite z. B. bei US-amerikanischen Produktstandards für Benzin gewesen, mit denen innerhalb der USA das Ziel der Verbesserung der Luft erreicht werden sollte, wobei diese höheren Produktionsstandards jedoch von venezolanischen Raffinerien schwerwiegende Umstellungsprozesse erforderten. Dieses, durch die höheren Produktstandards erzwungene Produktionsverfahren, wurde von einem Panel problemlos akzeptiert.59 Fraglich ist jedoch, inwieweit Art. XX GATT als Rechtfertigung herangezogen werden kann, wenn sich die Unterschiede am Produktionsverfahren, wie im Falle der durch Tellereisen qualvoll gefangenen Pelztiere, nur am Produktionsort auswirken. Aus der Judikatur der Streitbeilegungsgremien lässt sich eine klare Antwort auf die Möglichkeit eines Schutzes extraterritorialer Schutzgüter nicht entnehmen. So hat der Appellate Body es vermieden, diese Problematik abschließend zu klären, als er die Rechtfertigung eines US-Einfuhrverbotes von Garnelen, die nicht mittels eines Verfahrens gefischt wurden, welches den Beifang von vom Aussterben bedrohten Meeresschildkröten minimierte, an Art. XX lit. g) GATT maß. Unter dem Hinweis darauf, dass eine ausreichende Verbindung („sufficient nexus“) zwischen dem verfolgten Schutzziel und dem 58  Vgl.

Verordnung (EG) Nr. 338 / 97 des Rates vom 09.12.1996. Report, US – Gasoline, Rn. 3.14.

59  Panel



II. Allgemeine Voraussetzungen der wichtigsten Ausnahmebestimmungen  101

WTO-Mitglied besteht, welches die handelsbeschränkende Maßnahme erlassen habe, da es sich bei Meeresschildkröten um weitwandernde Arten handelt, die auch in Meeresgebieten heimisch sind, die unter der Hoheit der USA stehen.60 Letztendlich spricht diese Entscheidung dafür, dass die Streitbeilegungsgremien den Art. XX GATT insgesamt eine gewisse extraterritoriale Schutzwirkung zubilligen. Denn nicht alle Meeresschildkröten, die durch dieses US-Einfuhrverbot geschützt werden, durchqueren auf ihren Wanderungen auch US-Hoheitsgewässer. Die Entscheidungen der GATT-Panels, die vor der Gründung der WTO ergingen, sind hingegen widersprüchlich. So hielt ein Panel ein US-amerikanisches Einfuhrverbot für mexikanischen Thunfisch auch deshalb für unzulässig, da die USA sich nicht erfolgreich auf die Rechtfertigungsgründe der Art. XX lit. b) und g) GATT berufen könnten, da durch das Einfuhrverbot Delfinbestände außerhalb amerikanischer Hoheitsgewässer geschützt werden sollten.61 Auch in der Literatur wurde herkömmlich vertreten, dass Art. XX lit. g) GATT nur in Bezug auf innerstaatliche Schutzziele anwendbar sein soll.62 Anders entschied das Panel aber, als es über ein Einfuhrverbot für Thunfisch urteilte, welches sich gegen Länder richtete, die Thunfisch aus Ländern einführten, in denen dieser ohne Rücksicht auf Beifang von Delfinen gefangen wurde. In diesem Bericht wurde ausgeführt, dass eine Maßnahme durch Art. XX lit. g) GATT auch dann gerechtfertigt sein könnte, wenn sie dem Schutz extraterritorialer Schutzziele dient.63 In diesem Bericht verwies das Panel auch auf zwei weitere Berichte von GATT-Panels, in denen Art. XX lit. g) GATT auch auf umherziehende Fischarten angewendet und dabei nicht unterschieden wurde, ob der strittige Fisch innerhalb oder außerhalb des Hoheitsgebietes des WTO-Mitgliedes gefangen wurde.64 Das Panel hat auch am Beispiel des Art. XX lit. e) GATT, der Einfuhrverbote für Waren aus Gefangenenarbeit zulässt, darauf hingewiesen, dass Art. XX GATT grundsätzlich den Schutz extraterritorialer Schutzziele zuBody Report, US –Tuna, Rn.  124 ff. GATT Panel Report, US – Tuna I, Rn. 5.27 (Art. XX lit. b) GATT) und Rn. 5.31 (Art. XX lit. g) GATT). Der Panel wies des weiteren darauf hin, dass das Einfuhrverbot nicht erforderlich (necessary) war, um den Schutz der Gesundheit der Tiere zu erreichen, da die USA vorher nicht alle Möglichkeiten einer multilateralen Vorgehensweise begangen hätten und der Umfang des Einfuhrverbotes sich nach den Fangmengen von US-Fischern richtete. Zudem sah das Panel im Rahmen der Prüfung des Art. XX lit. g) GATT die Voraussetzungen des „relating to-Erfordernisses“ als nicht erfüllt an. 62  Vgl. nur Jackson, The World Trading System, S. 237. 63  GATT Panel Report, US – Tuna (EEC), Rn. 5.15. 64  GATT Panel Report, Canada – Herrings and Salmon, Rn. 4.4 ff.; GATT Panel Report, US – Tuna (Canada), Rn. 4.9, 4.15. 60  Appellate 61  Vgl.

102

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

lässt.65 Der Verweis auf Art. XX lit. e) GATT scheint jedoch nicht vollkommen überzeugend. Denn wie im folgendem noch ausgeführt werden wird,66 trägt dieses Argument nur dann, wenn diese Ausnahmebestimmung nicht alleine als Schutzmöglichkeit der einheimischen Wirtschaft vor Wettbewerbsverzerrung durch billige von unbezahlten Gefangenen hergestellte Waren angesehen wird. Aus der Judikatur der Streitbeilegungsgremien lässt sich daher keine klare Antwort in Bezug auf den geographischen Anwendungsbereich des Art. XX GATT finden. Denn auch in den neueren Entscheidungen hat sich der Appellate Body nicht klar festgelegt und nur eine gewisse Tendenz hinsichtlich einer extraterritorialen Anwendung dieser Rechtfertigungsmöglichkeit erkennen lassen. In der Literatur wird die Frage der extraterritorialen Anwendung insbesondere im Bezug auf Menschenrechte und dem Umweltschutz, aber auch hinsichtlich sozialer Mindestrechte kontrovers diskutiert. Aus ökonomischer Sicht lässt sich diesbezüglich argumentieren, dass die Gewährleistung von Umweltschutzstandards und sozialen Mindestrechten regelmäßig zu einer Erhöhung der Herstellerkosten führt. Dies kann unter Umständen auch für den effektiven Schutz von Menschenrechten gelten. Der komparative Handelsvorteil vieler WTO-Mitglieder liegt aber gerade in ihren diesbezüglich niedrigen Standards. Allerdings besteht die Gefahr, dass WTO-Mitglieder in einem Wettbewerb der Standorte Standards in Bezug auf Umweltschutz und Arbeitsschutzbedingungen stetig senken (sog. race to the bottom-Effekt). Außerdem können die von einem WTO-Mitglied implementierten Umweltschutzstandards auch einen ökologisch wünschenswerten Effekt haben, indem sie dazu beitragen, dass andere WTO-Mitglieder ihre Standards entsprechend steigern. So haben die strengeren Abgasvorschriften des USBundesstaates Kalifornien dazu geführt, dass deutsche Automobilhersteller ihre Wagen entsprechend hergestellt haben und dass Japan und Korea ähnliche Vorschriften eingeführt haben. Ebenso hat Israel, eines der großen Ausfuhrländer von Obst in die EU, seine Vorschriften bezüglich des Einsatzes von Pestiziden geändert, um diese mit EU-Standards in Übereinstimmung zu bringen (sog. Kalifornien-Effekt).67 Allerdings werden Maßnahmen von WTO-Mitgliedern, die einen Kalifornien-Effekt hervorrufen sollen, regelmäßig durch Art. XX GATT gerechtfertigt sein, da sich diesbezügliche Standards nicht nur auf das Produktionsverfahren, sondern auch auf die Ware selber auswirken. Panel Report, US – Tuna (EEC), Rn. 5.16. C.IV.2. 67  Vogel, JIEL 2000, 265, 269, 270. 65  GATT 66  Vgl.



II. Allgemeine Voraussetzungen der wichtigsten Ausnahmebestimmungen  103

In dieser Untersuchung wird, wie im Folgenden bei der Untersuchung der einzelnen Ausnahmebestimmungen noch ausgeführt, die Auffassung vertreten, dass handelsbeschränkende Maßnahmen jedenfalls im Falle schwerster Menschenrechtsverletzungen im Hoheitsgebiet anderer WTO-Mitglieder unter bestimmten Umständen gerechtfertigt sein können.68 Die Möglichkeit eines extraterritorialen Schutzes von sozialen Mindestrechten69 oder von Umweltschutzgütern wird aber abgelehnt.70 2. Allgemeine Voraussetzungen des Art. 36 AEUV Art. 36 AEUV enthält einige Ausnahmebestimmungen, die es den Mitgliedstaaten der EU ermöglichen, Maßnahmen, die eine mengenmäßige Ein- oder eine mengenmäßige Ausfuhrbeschränkung oder Maßnahmen gleicher Wirkung, zu rechtfertigen. Art. 36 AEUV rechtfertigt aber nur Maßnahmen, die eine Verletzung der Art. 34 AEUV und Art. 35 AEUV darstellen. Art. 36 AEUV stellt daher keine Rechtfertigungsmöglichkeit für handelsbeschränkende Maßnahmen der EU-Mitgliedstaaten dar, die in das Zollverbot der Art. 30–32 AEUV oder in das Verbot der diskriminierenden Besteuerung des Art. 100 AEUV eingreifen. Die in Art. 36 AEUV niedergelegten Ausnahmebestimmungen sind abschließend. Weitere Ausnahmebestimmungen können in diesen abgeschlossenen Katalog nicht hineininterpretiert werden. Der EuGH begründete diese abschließende Aufzählung mit der engen Auslegung des Art. 36 AEUV.71 Andere Beeinträchtigungen der Warenverkehrsfreiheit durch legitime Schutzziele, können daher nur gerechtfertigt werden, wenn die, insbesondere in Hinblick auf diskriminierende Regelungen, strengeren Voraussetzungen der noch darzulegenden Cassis-Formel, vorliegen.72 Die EU-Mitgliedstaaten können sich nicht auf eine der in Art. 36 AEUV niedergelegten Ausnahmebestimmungen berufen, wenn ihre Maßnahmen Sachbereiche betreffen, in denen durch Sekundärrecht der EU eine abschließende Harmonisierung stattgefunden hat.73 Denn eine abschließende Regelung durch Sekundärrecht, welches das in Art. 36 AEUV festgelegte Schutz68  Vgl.

C.III.1.a)bb)(1). C.III.1.a)bb)(2). 70  Vgl. C.III.2.a)aa)(2) und C.IV.3.b); vgl. hinsichtlich des Verbots tierquälerischer Methoden auch C.III.1.a)bb)(3). 71  EuGH Urt. v. 17.06.1981, Rs. C-113  / 80, Kommission . / . Irland (Irische Sou­ venire), Slg. 1981, 1625, 1638 Rn. 7. 72  Vgl. C.II.3. 73  EuGH Urt. v. 20.09.1988, Rs. 190  / 87, Oberkreisdirektor . / . Moormann BV, Slg. 1988, 4689, 4720, Rn. 10. 69  Vgl.

104

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

bedürfnis beachtet, entfaltet eine Sperrwirkung. Die EU-Mitgliedstaaten können dann nur noch Maßnahmen anwenden, sofern dies das harmonisierte Sekundärrecht vorsieht. Ob das harmonisierte Sekundärrecht durch seine abschließende Regelung eine Sperrwirkung entfaltet, ist durch eine sorgfältige Auslegung zu prüfen.74 a) Auslegung des Art. 36 AEUV Die in Art. 36 AEUV enthaltenen Ausnahmebestimmungen werden vom EuGH eng ausgelegt.75 Durch diese enge Auslegung soll gewährleistet werden, dass die Ziele des EU-Vertrages möglichst weitgehend erreicht werden.76 Die in Art. 36 AEUV niedergelegten Ausnahmebestimmungen sind auch abschließend. Weitere Ausnahmebestimmungen können in diesen abgeschlossenen Katalog nicht hineininterpretiert werden.77 Teilweise wird vertreten, dass die enge Auslegung des Art. 36 AEUV nicht gilt, wenn Belange des Umweltschutzes betroffen sind. Beim Umweltschutz handelt es sich zwar um ein noch zu behandelndes „zwingendes Erfordernis“ i. S. d. Cassis-Formel,78 dennoch werden die Auslegungsmöglichkeiten des legitimen Schutzzieles des Umweltschutzes auch bereits an dieser Stelle diskutiert. Denn in dem Umweltschutz als „zwingendes Erfordernis“ fließen auch die in Art. 36 AEUV niedergelegten der Gesundheit und des Lebens von Menschen sowie des Schutzes von Tieren und Pflanzen ein. Und eine klare Trennung dieser Schutzziele ist nicht immer möglich. Im Bereich des Umweltschutzes wird gegen die sonst geltende enge Auslegung der „Grundsatz des bestmöglichsten Umweltschutzes“ geltend gemacht.79 Die Vertreter dieses Grundsatzes berufen sich darauf, dass die Querschnittsklausel des Art. 11 AEUV, die es für keinen anderen Politikbereich gibt, die Einbeziehung des Umweltschutzes in die anderen Gemeinschaftspolitiken verlangt, sowie darauf, dass der Umweltschutz in zahlreichen Bestimmungen des EU-Vertrages enthalten ist80 und dass Art. 191 74  EuGH Urt. v. 12.10.1993, Rs. C-37  / 92, Strafverfahren gegen Vanacker und Lesage, Slg. 1993, I-4947, 4978, Rn. 9; EuGH Urt. v. 13.12.2001, Rs.C-324 / 99, DaimlerChrysler . / . Baden-Württemberg, Slg. 2001, I-9897, 9932 ff., Rn. 42 ff. 75  Weatherill / Beaumont, S. 525; Craig / De Búrca, S. 696. 76  EuGH Urt. v. 25.01.1977, Rs. 46  / 76, Bauhuis . / . Niederlande, Slg. 1977, 5, 15, Rn.  7 / 11. 77  EuGH Urt. v. 17.06.1981, Rs. 113  / 80, Kommission . / . Irland (Irische Souve­ nire), Slg. 1981, 1625, 1638, Rn. 7. 78  Vgl. C.II.3.c) und C.V.2. 79  Zuleeg, NVwZ 1987, 280, 283; Epiney, S.  118 m. w. N. 80  Vgl. u. a.: Art. 11 AEUV, Art. 114 Abs. 3 und 4 AEUV, Art. 191 AEUV.



II. Allgemeine Voraussetzungen der wichtigsten Ausnahmebestimmungen  105

Abs. 2 AEUV ein hohes Schutzniveau für den Umweltschutz vorgibt. Auch wenn ein solcher Grundsatz aus ökologischen Gründen begrüßenswert erscheinen mag, so berücksichtigen die Vertreter dieses Grundsatzes nicht, dass bei dem Stellenwert der im EU-Recht der Warenverkehrsfreiheit eingeräumt ist, zu erwarten wäre, dass ein entsprechender Vorrang des Umweltschutzes vertraglich explizit festgehalten werden müsste. Auch lässt sich aus der Rechtsprechung des EuGH ein solcher „Grundsatz des bestmöglichsten Umweltschutzes“ nicht entnehmen. Der EuGH hat stattdessen ausgeführt, dass Art. 191 Abs. 2 AEUV zwar ein hohes, aber nicht das höchstmöglichste Schutzniveau fordere.81 Deshalb ist davon auszugehen, dass der Grundsatz der engen Auslegung der legitimen Schutzziele grundsätzlich auch hinsichtlich der Belange des Umweltschutzes gilt.82 b) Beweislastverteilung EU-Mitgliedstaaten, die eine Maßnahme aufgrund des Art. 36 AEUV rechtfertigen wollen, tragen auch die entsprechende Beweislast.83 Diese Beweislastverteilung folgt aus dem Regel-Ausnahmeverhältnis des Art. 36 AEUV zur Warenverkehrsfreiheit. Denn es entspricht allgemeinen Rechtsgrundsätzen, dass diejenige Partei, die sich auf eine Ausnahmebestimmung beruft, auch die entsprechende Beweislast zu tragen hat.84 Eine Beweiserleichterung besteht jedoch, falls auf bestehende internationale Schutzstandards verwiesen werden kann.85 Eine Beweiserleichterung wird auch im Hinblick auf das Vorsorgeprinzip anerkannt. Das Vorsorgeprinzip ist ein allgemeines Rechtsprinzip der EU, welches auch den EUMitgliedstaaten zugute kommt, die sich auf eine der Ausnahmebestimmungen des Art. 36 AEUV berufen.86 Das Vorsorgeprinzip ist insbesondere bei der Befürchtung einer Umwelt- oder Gesundheitsgefährdung von Bedeu81  EuGH Urt. v. 14.07.1998, Rs. C-284 / 95, Safety High Tech, Slg. 1998, I-4301, 4347 Rn. 49. 82  Zu beachten ist aber, dass der EuGH die „zwingenden Erfordernisse“ zum Schutz der Umwelt auch Maßnahmen rechtfertigen lässt, die zwischen einheimischen und aus anderen EU-Mitgliedstaaten eingeführten Waren diskriminieren, vgl. B.II.3.d) und C.V.2.a). 83  EuGH Urt. v. 14.12.1979, Rs. 34  / 79, Strafverfahren gegen Henn and Darby, Slg. 1979, 3795, 3810 ff. 84  Himmelmann, S. 160; Henke, S. 189. 85  EuGH Urt. v. 13.03.2001, Rs. C-379  / 98, Preussen Elektra . / . Schleswag AG, Slg. 2001, I-2099, 2184, Rn. 72 ff.; EuGH Urt. v. 11.07.2000, Rs. C-473 / 98, Toolex Alpha, Slg. 2000, I-5681, 5714 ff., Rn. 40 ff. 86  EuGH Urt. v. 11.07.2000, Rs. C-473  /  98, Toolex Alpha, Slg. 2000, I-5681, 5715 ff., Rn.  43 ff.; Appel, NVwZ 2001, 395; Schroeder, DVBl. 2002, 213, 218.

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C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

tung. Falls die EU-Mitgliedstaaten sich auf das Vorsorgeprinzip berufen, gelten daher unter folgenden Voraussetzungen Beweiserleichterungen bei der Risikobewertung und bei der Beurteilung, welche Schutzmaßnahmen zu ergreifen sind: – Ob ein Risiko besteht und wie hoch dieses ist, muss mit wissenschaft­ lichen Mitteln geklärt worden sein. – Es ist ausreichend, dass ein Schadensrisiko nur vermutet wird, wenn mangels wissenschaftlicher Sicherheit über schadensrelevante Zusammenhänge ein umfassender Nachweis zur Eintrittswahrscheinlichkeit und Zurechenbarkeit eines möglichen Schadensrisikos nicht geführt werden kann. – Falls eine entsprechende wissenschaftliche Sicherheit nicht besteht, muss jedoch dargelegt werden, dass besonders gefährliche und irreversible Folgen für die Umwelt oder Gesundheit von Menschen oder Tieren drohen.87 Aufgrund dieser Voraussetzungen wird eine Beweiserleichterung bei dem Risiko einer schwerwiegenden Umwelt- oder Gesundheitsgefährdung nur dann nicht anzunehmen sein, wenn ein solches Risiko durch wissenschaftliche Erkenntnisse eindeutig widerlegt ist. Ein unter Beachtung des Vorsorgeprinzips erlassenes Ausfuhrverbot der EU-Kommission für britische Rinder, Rindfleisch oder Rindfleischprodukte, welches sich auf wissenschaftliche Erkenntnisse stützte, nach denen das Risiko der Übertragbarkeit von BSE auf den Menschen in Form des Ausbruches der Creutzfeld-Jacob-Krankheit nicht ausgeschlossen werden konnte, hatte deshalb vor dem EuGH Bestand. Dieser urteilte, dass diese Schutzmaßnahme aufgrund der potentiellen erheblichen Gesundheitsgefahren hätte erlassen werden dürfen. Diese potentielle Gesundheitsgefahr wurde aufgrund der Wahrscheinlichkeit des Zusammenhanges zwischen BSE und Creutzfeld-Jacob-Krankheit, für die wissenschaftliche Veröffentlichungen sprachen, als ausreichend angesehen.88 Es gibt keinen Anlass zu der Vermutung, dass der EuGH anders geurteilt hätte, wenn es sich um ein auf Art. 36 AEUV gestütztes Einfuhrverbot für britisches Rindsfleisch eines anderen EU-Mitgliedstaaten gehandelt hätte. Denn es ist nicht ersichtlich, warum für die EU-Mitgliedstaaten ein anderer Maßstab als für die Kommission gelten soll. 87  Schroeder,

DVBl. 2002, 213, 218. Urt. v. 05.05.1998, Rs. C-180 / 96, Großbritannien . / . Kommission, Slg. 1998, I-2265, 2288, Rn. 61  ff., 98  ff.; siehe auch EuGH Urt. v. 05.05.1998, Rs.  C-157 / 96, National Farmers’ Union u. a., Slg. 1998, I-2211, 2259 ff., Rn. 63 ff. 88  EuGH



II. Allgemeine Voraussetzungen der wichtigsten Ausnahmebestimmungen  107

Die bisherigen Ausführungen zur Beweiserleichterung haben sich vor allem mit Maßnahmen bei dem bestehenden Risiko einer schwerwiegenden Gesundheitsgefährdung befasst. Es ist jedoch auch anzunehmen, dass eine Beweiserleichterung auch für zu rechtfertigende Maßnahmen gilt, die beim Risiko einer schwerwiegenden Umweltgefährdung erlassen werden und die sich auf eine der Ausnahmebestimmungen des Art. 36 AEUV stützen.89 Dafür spricht auch, dass der EuGH eine EU-Verordnung als rechtmäßig einstufte, welche die Verwendung von Treibnetzen mit mehr als 2,5 km Länge verbot. Diese Verordnung diente der Erhaltung der Fischbestände nicht nur aus wirtschaftlichen, sondern auch aus ökologischen Gründen.90 Obwohl keine ausreichenden wissenschaftlichen Erkenntnisse vorlagen, welche die Notwendigkeit eines solchen Treibnetzverbotes für die Erhaltung der Fischbestände belegten, konnte der Rat eine entsprechende Verordnung erlassen.91 Auch hier gibt es keinen Anlass zu der Vermutung, dass der EuGH anders geurteilt hätte, wenn es sich um ein auf Art. 36 AEUV gestütztes Verbot eines EU-Mitgliedstaates gehandelt hätte. Zudem ist das Vorsorgeprinzip als Rechtsprinzip im Bereich des Umweltschutzes nach Art. 191 Abs. 2 AEUV anerkannt. c) Keine willkürliche Diskriminierung oder verschleierte Handelsbeschränkung Die Ausnahmebestimmung des Art. 36 AEUV enthält zwei Schranken. Die erste Schranke ist in Art. 36 S. 2 AEUV enthalten. Nach Art. 36 S. 2 AEUV können mitgliedstaatliche Maßnahmen nur verhängt werden, wenn diese nicht „ein Mittel zur willkürlichen Diskriminierung noch eine verschleierte Beschränkung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten darstellen“. Nach dem EuGH dient das Verbot der willkürlichen Diskriminierung oder der verschleierten Handelsbeschränkung dazu, Missbrauch, Diskriminierungen von aus anderen EU-Mitgliedstaaten eingeführten Waren und den Protektionismus einheimischer Waren zu verhindern.92 Die zweite Schranke stellt der im nächsten Abschnitt zu behandelnde Verhältnismäßigkeitsgrundsatz dar. Bei Art. 36 S. 2 AEUV und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz handelt es sich um zwei unterschiedliche Vorausset89  Vgl. 90  Vgl.

auch Müller-Graff, Rn. 74. die Begründungserwägungen in Verordnung Nr. 345  /  92, ABl. L 42,

S. 15. 91  EuGH Urt. v. 24.11.1993, Rs.  C-405  /  92, Ètablissements Armand Mondiet SA . / . Armement Islais SARL, Slg. 1993, I-6133, 6176, Rn. 31. 92  EuGH Urt. v. 14.12.1979, Rs. 34  / 79, Strafverfahren gegen Henn and Darby, Slg. 1979, 3795, 3815, Rn. 21.

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C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

zungen. Denn die erste Schranke des Art. 36 S. 2 AEUV stellt keine besondere Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes dar.93 Zwar prüft der EuGH den Art. 36 S. 2 AEUV in verschiedenen Entscheidungen im Zusammenhang mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz,94 jedoch sind Fälle möglich, in denen eine Maßnahme zwar verhältnismäßig ist, aber ihre Anwendung eine willkürliche Diskriminierung darstellt. So etwa wenn eine anderenfalls gerechtfertigte Maßnahme aus protektionistischen Gründen nur gegenüber Waren aus bestimmten EU-Mitgliedstaaten angewendet wird.95 Der EuGH hat den Begriff der willkürlichen Diskriminierung bisher nicht definiert. Der EuGH hat aber eine willkürliche Diskriminierung im Falle einer Werbebeschränkung angenommen, die zwar durch Gesichtspunkte des Gesundheitsschutzes gerechtfertigt war, aber vor allem eingeführte Weine betraf, während Werbung für gleichartige einheimische Weine ohne entsprechende Einschränkungen möglich war.96 Von größerer Bedeutung insbesondere in Hinblick auf die Ausnahmebestimmung zum Schutze der Gesundheit ist jedoch das zweite Element der ersten Schranke, welches verschleierte Handelsbeschränkung verbietet. Eine verschleierte Beschränkung des innergemeinschaftlichen Handels liegt vor, wenn mittels der Maßnahme durch vorgetäuschte Gründe protektionistische Ziele verfolgt werden.97 Als eine verschleierte Handelsbeschränkung wurde ein britisches Einfuhrverbot für Geflügelprodukte eingestuft, welches von der britischen Regierung damit gerechtfertigt wurde, dass hiermit die Verbreitung von Tierkrankheiten verhindert werden sollte. Denn nach Auffassung des EuGH war der wahre Grund für das Einfuhrverbot nicht die Angst um die Verbreitung einer möglichen Tierseuche, sondern die Verhinderung der Einfuhr französischer Geflügelprodukte in der Weihnachtszeit.98

aber Epiney / Möllers, S. 81 (1992); Middeke, S. 168, 169. in EuGH Urt. v. 12.03.1987, Rs. 178  /  84, Kommission . / . Deutschland (Reinheitsgebot), Slg. 1987, 1227, 1273, Rn. 42 ff.; EuGH Urt. v. 04.06.1992, verb. Rs.  C-13 und 113 / 91, Strafverfahren gegen Debus, Slg. 1992, I-3617, 3641, Rn. 16; EuGH Urt. v. 14.07.1983, Rs. 174  /  82, Strafverfahren gegen Sandoz, Slg. 1983, 2445, 2463, Rn. 18. 95  Schwarze, Art. 30 Rn. 81 (Becker); Grabitz / Hilf, Art. 30 Rn. 9 (Leible). 96  EuGH Urt. v. 10.07.1980, Rs. 152 / 78, Kommission . / . Frankreich, Slg. 1980, 2299, 2316, Rn. 18. 97  Frenz, Rn. 1050. 98  EuGH Urt. v. 15.07.1982, Rs. 40  /  82, Kommission . / . Großbritannien, Slg. 1982, 2793, 2826, Rn. 40. 93  So 94  So



II. Allgemeine Voraussetzungen der wichtigsten Ausnahmebestimmungen  109

d) Verhältnismäßigkeit Den EU-Mitgliedstaaten steht es frei, das von ihnen als angemessen empfundene Schutzniveau bezüglich der in Art. 36 AEUV niedergelegten Ausnahmebestimmungen zu bestimmen. Es sind jedoch nur die Maßnahmen durch Art. 36 AEUV gerechtfertigt, die auch verhältnismäßig sind. Denn jede Maßnahme eines EU-Mitgliedstaates muss unter den Gesichtspunkten der Wichtigkeit der Warenverkehrsfreiheit und der Bedeutung der einzelnen in Art. 36 AEUV enthaltenen Schutzzielen miteinander abgewogen werden.99 Eine Maßnahme ist verhältnismäßig, wenn sie zur Erreichung des zulässigerweise verfolgten Zieles geeignet und erforderlich ist. Außerdem müssen die durch die Maßnahme verursachten Nachteile in einem angemessenen Verhältnis zu den verfolgten Schutzzielen bestehen.100 Eine Maßnahme ist zur Erreichung des angestrebten Schutzzieles geeignet, wenn sie zur Erreichung des Schutzzieles dient und hierzu nicht vollkommen untauglich ist.101 Sie ist erforderlich, wenn unter mehreren gleich geeigneten Maßnahmen die am wenigsten belastende gewählt wird.102 Die Angemessenheit der Maßnahme ist schließlich gegeben, wenn die durch die Maßnahme erfolgte Beeinträchtigung der Warenverkehrsfreiheit unter Berücksichtigung der Belange des Einzelfalles in einem ausgewogenen Verhältnis zum verfolgten Schutzziel steht.103 e) Die Möglichkeit eines Schutzes extraterritorialer Schutzziele Ob die in Art. 36 AEUV niedergelegten Ausnahmebestimmungen von den EU-Mitgliedstaaten auch als Rechtfertigungsgrund für extraterritoriale Schutzziele herangezogen werden dürfen, lässt sich aus der Judikatur des EuGH nicht eindeutig bestimmen. Denn der EuGH hat es bislang vermieden sich hierzu klar zu äußern. Stattdessen hat der EuGH jeweils, bevor er zu einer Prüfung der in Art. 36 AEUV niedergelegten Rechtfertigungsgründe hinsichtlich extraterritorialer Schutzziele kam, die Anwendung des Art. 36 AEUV aufgrund der Sperrwirkung abgelehnt, die durch eine stattgefundene abschließende Harmonisierung durch gemeinschaftsrechtliches Sekundär99  Oppermann,

Europarecht, Rn. 1308. Art. 30 EGV Rn. 49 (Schroeder). 101  EuGH Urt. v. 07.04.1981, Rs. 132 / 80, NV United Foods und PVBA Aug. Van den Abeele . / . Belgien, Slg. 1981, 995, 1012, Rn. 28. 102  EuGH Urt. v. 17.12.1981, Rs. 272  /  80, Biologische Producten, Slg. 1981, 3277, 3291, Rn. 14; EuGH Urt. v. 09.06.1992, Rs. C-47 / 90, Delhaize, Slg. 1992, I-3669, 3709, Rn. 36. 103  Frenz, Rn. 1060, 1062. 100  Streinz,

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C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

recht eingetreten war. Die Generalanwälte haben hingegen, soweit sie sich hierzu in Schlussanträgen geäußert haben, diesbezüglich unterschiedliche Auffassung vertreten. So führte der Generalanwalt in der Entscheidung Dassonville aus, dass Art. 36 AEUV nur eine eng auszulegende Ausnahmebestimmung sei, welche nur zum Schutz solcher Interessen bestehe, die nicht über die Grenzen der Hoheitssphäre des handelnden Staates hinausgingen.104 Anders dagegen in der Entscheidung Gourmetterie van den Burg. In dieser Entscheidung ging es um ein aufgrund eines inländischen Vogelschutzgesetzes erlassenes niederländisches Einfuhrverbot von in Großbritannien rechtmäßig erlegten schottischen Moorschneehühnern. Bei diesen handelt es sich um eine geschützte Vogelart, die in den Niederlanden aber nicht verbreitet ist. Die niederländische Regierung berief sich als Rechtfertigungsgrund für dieses Verbot auf Art. 36 AEUV. Der Generalanwalt vertrat die Auffassung, dass eine Berufung auf Art. 36 AEUV als Rechtfertigungsgrund für dieses Einfuhrverbot grundsätzlich gegeben sei, da der Artenschutz als ein grenzüberschreitendes Interesse angesehen werden könne. Im konkreten Einzelfall stufte er die niederländische Regelung aber als unverhältnismäßig ein.105 Aufgrund der Tatsache, dass das schottische Moorschneehuhn in den Niederlanden nicht vorkommt, hielt der Generalanwalt also eine extraterritoriale Anwendung jedenfalls der Ausnahmebestimmung zum Schutz des Lebens und der Gesundheit von Tieren anscheinend grundsätzlich für möglich. Der EuGH hielt jedoch aufgrund einer von der EU erlassenen Vogelschutzlinie die gemeinschaftsrechtliche Harmonisierung in Hinblick auf Nichtvogelzugarten wie das schottische Moorschneehuhn für abschließend. Der niederländischen Regierung war es daher aufgrund der Sperrwirkung des abschließend geregelten Sekundärrechts verwehrt, sich auf Art. 36 AEUV zu berufen.106 Der EuGH betonte dabei besonders, dass das schottische Moorschneehuhn weder in den Niederlanden vorkommt noch dass es sich hierbei um eine Zugvogelart handelt. Daher ist davon auszugehen, dass den Niederlanden nicht nur der Rückgriff auf Art. 36 AEUV wegen der stattgefundenen Harmonisierung verwehrt war, sondern auch, weil der EuGH den Art. 36 AEUV nicht zum Schutz extraterritorialer Schutzziele anwenden wollte. 104  EuGH Urt. v. 11.07.1974, Rs. 8 / 74, Procureur du Roi . / . Dassonville, Schlussantrag des Generalanwaltes Trabucchi, Slg. 1974, 855, 861. 105  EuGH Urt. v. 23.05.1990, Rs. C-169  / 89, Strafverfahren gegen Gourmetterie van den Burg, Schlussantrag des Generalanwaltes van Gerven, Slg. 1990, I-2143, 2158. 106  EuGH Urt. v. 23.05.1990, Rs. C-169  / 89, Strafverfahren gegen Gourmetterie van den Burg, Slg. 1990, I-2142, 2164, Rn. 15, 16.



II. Allgemeine Voraussetzungen der wichtigsten Ausnahmebestimmungen  111

In einer anderen Entscheidung lehnte ein Generalanwalt die Möglichkeit eines Schutzes extraterritorialer Schutzziele durch Art. 36 AEUV ab. In dieser Entscheidung ging es um ein britisches Ausfuhrverbot für Rinder nach Spanien. Dieses bestand, da die britische Regierung der Ansicht war, dass trotz einer entsprechenden EU-Richtlinie in Spanien Schlachttiere nur unzureichend oder gar nicht betäubt wurden. Die Berufung der britischen Regierung auf Art. 36 AEUV hielt der Generalanwalt für zulässig, da er die Auffassung vertrat, dass durch die bestehende Richtlinie über die Betäubung von Schlachttieren nur eine Teilharmonisierung erfolgt sei. Allerdings lehnte der Generalanwalt die Ausdehnung des Art. 36 AEUV auf extraterritoriale Schutzziele ab. Dagegen spräche das Gebot der engen Auslegung des Art. 36 AEUV und der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens im Gemeinschaftsrecht. Stattdessen verwies der Generalanwalt Großbritannien darauf, gegen Spanien wegen mangelnder Umsetzung der Richtlinie ein Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 AEUV zu führen. In einer Art Hilfsgutachten hielt er zudem das Ausfuhrverbot für unverhältnismäßig.107 Der EuGH entschied, dass die Richtlinie zu einer abschließenden Harmonisierung geführt hatte.108 Großbritannien konnte sich daher nicht auf Art. 36 AEUV berufen. Der gleiche Generalanwalt äußerte sich jedoch in der zeitlich späteren Rechtssache Compassion in World Farming differenzierter. Hier ging es um ein von britischen Tierschützern begehrtes Ausfuhrverbot für Kälber in EUMitgliedstaaten, in denen das Kälberverschlagssystem erlaubt war. Hierbei handelt es sich um eine Art der Kälberhaltung die vom britischen Gesetzgeber als für die Kälber besonders qualvoll verboten war. Eine Berufung auf Art. 36 AEUV, um den Tierschutz im Hoheitsgebiet eines anderen EUMitgliedstaates zu gewährleisten, lehnte der Generalanwalt weiterhin ab. Aufgrund der Gefahr einer negativen Reaktion der britischen öffentlichen Meinung auf die Ausfuhr von Kälbern, die einer als grausam erachteten Haltungsmethode unterworfen werden würden, wies der Generalanwalt darauf hin, dass es grundsätzlich möglich sei, dass die öffentliche Sittlichkeit der eigenen Bevölkerung durch Vorkommnisse in anderen EU-Mitgliedstaaten verletzt werden würde. Eine Verletzung der öffentlichen Ordnung durch den Protest der Tierschützer sah der Generalanwalt mangels eines hierfür notwendigen Umfanges nicht gegeben.109 Der EuGH äußerte sich jedoch 107  EuGH Urt. v. 23.05.1996, Rs. C-5 / 94, Hedley Lomas Ltd., Schlussantrag des Generalanwaltes Léger, Slg. 1996, I-2553, 2561 ff. 108  EuGH Urt. v. 23.05.1996, Rs. C-5 / 94, Hedley Lomas Ltd., Slg. 1996, I-2553, 2611, Rn. 18–20. 109  EuGH Urt. v. 19.03.1998, Rs. C-1 / 96, Compassion in World Farming, Schluss­ antrag des Generalanwaltes Léger, Slg. 1998, I-1251, 1269 ff.

112

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

nicht zu der Möglichkeit einer Berufung auf Art. 36 AEUV, da er den Art. 36 AEUV angesichts einer abschließenden Harmonisierung durch eine Richtlinie zur landwirtschaftlichen Tierhaltung für nicht mehr anwendbar hielt.110 Die Auffassung des Generalanwaltes in der Rechtssache Compassion in World Farming scheint überzeugend. Die in Art. 36 AEUV niedergelegten Rechtfertigungsgründe können nicht auf extraterritoriale Schutzziele ausgedehnt werden. Dagegen spricht, dass entsprechende Aus- oder Einfuhrverbote eine, wenn auch indirekte Bevormundung anderer EU-Mitgliedstaaten darstellen würde, die sich regelmäßig nach Abwägung der entscheidungserheblichen Umstände dazu entschlossen haben, eine andere Politik zu verfolgen. Einer solchen Bevormundung anderer EU-Mitgliedstaaten widerspricht jedoch der Pflicht zur Gemeinschaftstreue.111 Dieser Grundsatz besagt, dass die EU-Mitgliedstaaten eine gegenseitige Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit trifft.112 Außerdem können durch Aus- oder Einfuhrverbote einzelner EU-Mitgliedstaaten gewisse Praktiken in anderen EU-Mitgliedstaaten, die als anstößig erscheinen, nur abgemildert werden. Eine Abstellung solcher Praktiken lässt sich aber im Regelfall am effektivsten durch eine gemeinschaftsrechtliche Harmonisierung erreichen. Ein gemeinsames Vorgehen der EU-Mitgliedstaaten dürfte aber durch „Ein- oder Ausfuhrboykotte“ einzelner EU-Mitgliedstaaten nicht gefördert werden. Daher ist die Möglichkeit eines Schutzes extraterritorialer Schutzziele durch Art. 36 AEUV abzulehnen. Stattdessen besteht aufgrund des legitimen Schutzzieles der öffentlichen Sittlichkeit die Möglichkeit bei groben Missachtungen legitimer Schutzziele gewissermaßen mit einem „Spiel über Bande“ zum Schutz verfolgter Schutzziele auch im Hoheitsgebiet anderer EU-Mitgliedstaaten beizutragen.113 Dazu muss der betreffende EU-Mitgliedstaat allerdings fundiert darlegen, dass die Beeinträchtigung legitimer Schutzziele in einem anderen EU-Mitgliedstaat, zu der Ein- oder Ausfuhren aus seinem Hoheitsgebiet beitragen, ein Ausmaß angenommen hat, durch welches die öffentliche Sittlichkeit seiner Bevölkerung beeinträchtigt wird.114 Ein solches „Spiel über 110  EuGH Urt. v. 19.03.1998, Rs. C-1  / 96, Compassion in World Farming, Slg. 1998, I-1251, 1301, Rn. 69. 111  Vgl. auch Gornig / Silargi, EuZW 1992, 753, 756; Oliver, 8.13; Zeitler, S. 125; Everling, RIW (Beilage 2 zu Heft 3) 1993, 1, 10. 112  EuGH Urt. v. 10.02.1983, Rs. 280 / 81, Luxemburg . / . Europäisches Parlament, Slg. 1983, 255, 287, Rn. 37. 113  Vgl. C.III.1.a)bb)(1) zu den Voraussetzungen die vorliegend an das „Spiel über Bande“ gestellt werden. 114  Vgl. auch C.III.1.b) zu den Anforderungen an die öffentliche Sittlichkeit im EU-Recht.



II. Allgemeine Voraussetzungen der wichtigsten Ausnahmebestimmungen  113

Bande“ zum Schutz extraterritorialer Schutzziele dürfte jedoch nur in absoluten Ausnahmefällen möglich sein. So etwa wenn ein bedeutender Teil der öffentlichen Meinung eines EU-Mitgliedstaates die fraglichen Praktiken als empörend, grausam und unmoralisch einstuft und sich dabei sowohl auf autorative wissenschaftliche Stellungsnahmen als auch auf eine gewisse Anerkennung der durch diese Praktiken getroffenen Werte im Völkerrecht berufen kann. Außerdem ist eine Anerkennung dieser Werte im EU-Recht zu fordern, um eine gewisse Mindestkontrolle zu gewährleisten. Schließlich wird vom betreffenden EU-Mitgliedstaat zu erwarten sein, dass er auf ein Einschreiten der Gemeinschaft drängt und soweit möglich gegen den anderen EU-Mitgliedstaat auch eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 AEUV vor dem EuGH erhebt. Aufgrund dieser engen Voraussetzungen wird der Schutz extraterritorialer Schutzziele mittels eines „Spiel über Bande“ über das legitime Schutzziel der öffentlichen Sittlichkeit nur in Ausnahmefällen möglich sein. Dies gilt auch nach der EU-Osterweiterung in deren Rahmen der EU zahlreiche weniger wirtschaftlich entwickelte Länder, die regelmäßig über niedrigere Standards verfügen, beigetreten sind. Denn durch die wirtschaftliche Integration und eine damit einhergehende wirtschaftlich positive Entwicklung sowie einer zunehmenden rechtlichen Harmonisierung werden sich die verschiedenen Schutzstandards innerhalb der Mitgliedstaaten der EU einander immer weiter annähern. In der Zwischenzeit sind noch bestehende Missstände aufgrund der Pflicht zur Gemeinschaftstreue hinzunehmen. 3. Allgemeine Voraussetzungen der Cassis-Formel a) Entwicklung der Cassis-Formel Nach der Rechtsprechung des EuGH im Fall Dassonville verbietet Art. 34 AEUV alle innerstaatlichen Handelsregelungen, die strengere Voraussetzungen aufstellen als der Mitgliedstaat, aus dem die Ware eingeführt wird. Obwohl dieser weite Anwendungsbereich des Art. 34 AEUV durch die Entscheidung Keck und Mithouard eingeschränkt wurde, fielen weiterhin alle Vorschriften mit Ausnahme von Verkaufsmodalitäten, die sich als Handelshemmnisse auswirken, in das Verbot des Art. 34 AEUV und bedurften einer Rechtfertigung. Die Ausnahmebestimmungen des Art. 36 AEUV wurden jedoch im Jahr 1957 festgelegt und wurden seitdem nicht ergänzt. Daher spiegeln sie nicht die sich seitdem geänderten Prioritäten und Aufgabenfelder der EU wieder.115 Da die in Art. 36 AEUV niedergelegten Aus115  Barnard,

S. 65.

114

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

nahmebestimmungen vom EuGH aber eng und als abschließend ausgelegt werden,116 decken sie keineswegs alle legitimen Regelungsziele ab. Der EuGH entwickelte deshalb die Cassis-Formel, mittels derer er den Anwendungsbereich der Warenverkehrsfreiheit beschränkte. In der Rechtssache Cassis de Dijon führte der EuGH aus: „In Ermangelung einer gemeinschaftsrechtlichen Regelung der Herstellung und Vermarktung (einer Ware) ist es Sache der Mitgliedstaaten, alle die Herstellung und Vermarktung (dieser Ware) betreffenden Vorschriften für ihr Hoheitsgebiet zu erlassen. Hemmnisse für den Binnenhandel der Gemeinschaft, die sich aus den Unterschieden der nationalen Regelungen ergeben, müssen hingenommen werden, soweit diese Bestimmungen notwendig sind, um zwingenden Erfordernissen gerecht zu werden, insbesondere den Erfordernissen einer wirksamen steuerlichen Kontrolle, des Schutzes der öffentlichen Gesundheit, der Lauterkeit des Handelsverkehrs und des Verbraucherschutzes.“117

Der EuGH entschied also, dass nichtdiskriminierende nationale Maßnahmen, welche die Warenverkehrsfreiheit beschränken, diese im Ergebnis nicht verletzen, wenn sie auf zwingenden Gründen des Allgemeininteresses beruhen und verhältnismäßig sind. Die Cassis-Formel ist dabei nicht nur im Rahmen des Art. 34 AEUV, sondern auch auf Ausfuhrbeschränkungen nach Art. 36 AEUV anwendbar.118 b) Die Cassis-Formel als Schutzbereichsbegrenzung oder Rechtfertigungsgrund Anknüpfend an die EuGH-Entscheidung wird teilweise davon ausgegangen, dass die Cassis-Formel den Schutzbereich der Warenverkehrsfreiheit eingrenzt.119 Im Ergebnis handelte es sich hierbei jedoch nicht um eine Schutzbereichsbegrenzung der Warenverkehrsfreiheit, sondern um eine Ausnahmebestimmung in Form eines ungeschriebenen Rechtfertigungsgrundes. Dafür spricht, dass der EuGH in Bezug auf die Cassis-Formel oftmals von „Rechtfertigung“ spricht.120 Außerdem enthält auch die Cassis-Formel, wie im folgenden Abschnitt noch ausgeführt wird, eine Verhältnismäßigkeitsprüfung in deren Rahmen eine Abwägung der betroffenen Schutzpositionen 116  Vgl.

C.II.2.a). Urt. v. 20.02.1979, Rs. 20 / 78, Rewe-Zentrale AG v. Bundesmonopol­ verwaltung für Branntwein (Cassis de Dijon), Slg. 1979, 649, 662, Rn. 8. 118  Grabitz / Hilf, Art. 29 EGV, Rn. 6 (Leible). 119  Vgl. Dauses, C.I. Rn. 119 (Dauses / Brigola). 120  Vgl. etwa EuGH Urt v. 36.06.1997, Rs. C-368  / 95, Vereinigte Familiapress Zeitungsverlag- und Vertriebs GmbH . / . Heinrich Bauer GmbH, Slg. 1997, I-3689, 3715, Rn. 18; EuGH Urt v. 09.07.1997, verb. Rs. C-34 / 95, C-35 / 95 und 36 / 95, De Agostini und TV-Shop, Slg. 1997, I-3875, 3891, Rn. 46. 117  EuGH



II. Allgemeine Voraussetzungen der wichtigsten Ausnahmebestimmungen  115

stattfindet. Eine solche Abwägung findet aber typischerweise innerhalb des Rechtfertigungsgrundes statt und setzt zudem voraus, dass der Schutzbereich bereits eröffnet ist.121 c) Die „zwingenden Erfordernisse“ der Cassis-Formel In der Rechtsache Cassis de Dijon führte der EuGH einige „zwingende Erfordernisse“ auf, die es aus Gründen des Allgemeinwohles notwendig machen, von der Gewährleistung der Warenverkehrsfreiheit abzuweichen. Schon aus dieser Entscheidung wird aber deutlich, dass der EuGH in Cassis de Dijon keinen abschließenden Numerus clausus festgelegt hat, da er die Einleitung der Aufzählung der zwingenden Erfordernisse mit dem Wort „insbesondere“ einleitet. Die in der Entscheidung Cassis de Dijon enthaltene nicht erschöpfende Auflistung an „zwingenden Erfordernissen“ ist seither vom EuGH durch verschiedene Entscheidungen ergänzt worden. Dabei ist es die Aufgabe des EuGH und nicht die der nationalen Gerichte ein „zwingendes Erfordernis“ anzuerkennen. Aus der Rechtsprechung des EuGH lässt sich entnehmen, dass der EuGH bislang folgende „zwingende Erfordernisse“ anerkannt hat: – Eine wirksame steuerliche Kontrolle122. – Den Schutz der öffentlichen Gesundheit123. – Die Lauterkeit des Handelsverkehrs124. – Den Verbraucherschutz125. – Den Schutz der Umwelt126. – Das finanzielle Gleichgewicht der sozialen Sicherungssysteme127. auch Jarass, EuR 2000, 705, 719; Frenz, Rn. 999. Urt v. 20.02.1979, Rs. 20 / 78, Cassis de Dijon, Slg. 1979, 649, 662, Rn. 8; EuGH Urt v. 09.10.1980, Rs. 823 / 79, Strafverfahren gegen Carciati, Slg. 1980, 2773, 2780, Rn. 9. 123  EuGH Urt v. 20.02.1979, Rs. 20  / 78, Cassis de Dijon, Slg. 1979, 649, 662, Rn. 8. 124  EuGH Urt v. 22.01.1981, 58 / 80, Dansk Supermarked A / S . / . A / S Imerco, Slg. 1981, 181, 195, Rn. 16. 125  EuGH Urt v. 20.02.1979, Rs. 20  / 78, Cassis de Dijon, Slg. 1979, 649, 662, Rn. 8; EuGH Urt. v. 02.02.1994, Rs. 315 / 92, Verband sozialer Wettbewerb . / . Clini­ que, Slg. 1994, I-317, 336, Rn. 15. 126  EuGH Urt v. 20.09.1988, Rs. 302  / 86, Kommission . / . Dänemark (Dänische Pfandflaschen), Slg. 1988, 4607, 4630, Rn. 9; EuGH Urt v. 09.07.1992, Rs. C-2 / 90, Kommission . / . Belgien (Wallonische Abfälle), Slg. 1992, I-4431, 4479, Rn. 32. 127  EuGH Urt v. 28.04.1998, Rs. C-120  / 95, Decker . / . Caisse de Maladie des Employés Privés, Slg. 1998, I-1831, 1885, Rn. 39. 121  Vgl.

122  EuGH

116

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

– Den Schutz nationaler oder regionaler sozialen und kulturellen Besonderheiten128. – Den Schutz der Grundrechte129. – Die Aufrechterhaltung der Medienvielfalt130. – Den Schutz der Arbeitsbedingungen131. – gewisse kulturelle Interessen132. – Die Sicherung der Nahversorgungsbedingungen in relativ abgelegenen Gebieten133. Die Anerkennung weiterer „zwingender Erfordernisse“ i.  S.  d. CassisFormel durch den EuGH ist zu erwarten, falls sich eine entsprechende Notwendigkeit aus dem Sachverhalt einer zukünftigen Entscheidung oder dem Parteivorbringen ergibt. Die Anerkennung weiterer „zwingender Erfordernisse“ kommt insbesondere dann in Betracht, wenn der entsprechende 128  EuGH Urt v. 23.11.1989, Rs. C-145 / 88, Torfaen Borough Council . / . B & Q PLC, Slg. 1989, 3851, 3889, Rn. 14. Der EuGH hat dieses Schutzziel nicht im Rahmen der Cassis-Formel geprüft, da es um die Frage ging, ob eine Verkaufsmodalität gemeinschaftsrechtswidrig war. Er erwähnte dieses Schutzziel jedoch in einer Prüfung mit dem Schutz kultureller Anliegen (Cinéthéque) und den Schutz der Arbeitsbedingungen (Oebel). Daher ist davon auszugehen, dass der EuGH auch den Schutz nationaler oder regionaler sozialer und kultureller Besonderheiten als ein „zwingendes Erfordernis“ i. S. d. Cassis-Formel einstuft. 129  EuGH Urt. v. 12.06.2003, Rs. C-112 / 00, Eugen Schmidberger, Internationale Transporte und Planzüge . / . Republik Österreich, Slg. 2003, I-5659, 5718, Rn. 74. 130  EuGH Urt v. 36.06.1997, Rs. C-368 / 95, Vereinigte Familiapress Zeitungsver­ lag- und Vertriebs GmbH . / . Heinrich Bauer GmbH, Slg. 1997, I-3689, 3714, Rn. 14. 131  EuGH Urt v. 14.07.1981, Rs. 155 / 80, Bußgeldverfahren gegen Sergius Oebel (Nachtbackverbot), Slg. 1981, 1993, 2008, Rn. 12. Der EuGH sprach in diesem Zusammenhang davon, dass das Nachtbackverbot einen Schutz der „Arbeitsbedingungen in einem bekanntermaßen empfindlichen Sektor“ bezweckt. Und das dies „eine berechtigte wirtschafts- und sozialpolitische Entscheidung“ darstelle, „die den im allgemeinen Interesse liegenden Zielen des Vertrages entspricht“. 132  EuGH Urt. v. 11.07.1985, Rs. 60 / 84, Cinethéque . / . Fédération Nationale des Cinémas Français, Slg. 1985, 2505, 2625, Rn. 20 ff. Das eine Kulturpolitik, „die die Meinungsfreiheit der verschiedenen gesellschaftlichen, kulturellen, religiösen und geistigen Strömungen“ schützen soll, ein „zwingendes Erfordernis“ darstellen kann, hat der EuGH zudem in Hinblick auf die Dienstleistungsfreiheit festgestellt; vgl. EuGH Urt v. 25.07.1991, Rs. C-353 / 89, Kommission . / . Niederlande, Slg. 1991, I-4069, 4097, Rn. 30, 31; EuGH Urt v. 03.02.1993, Rs. C-148 / 91, Veronica Omroep Oranisatie, Slg. 1993, I-487, 518, Rn. 9. Angesichts der Entscheidung Cinéthéque besteht kein Grund anzunehmen, dass ein solches „zwingendes Erfordernis“ nicht auch i. S. d. Cassis-Formel anerkannt ist. 133  EuGH Urt. v. 13.01.2000, Rs. C-254  /  98, Schutzverband gegen unlauteren Wettbewerb . / . TK-Heimdienst, Slg. 2000, I-151, 172, Rn. 34.



II. Allgemeine Voraussetzungen der wichtigsten Ausnahmebestimmungen  117

Bereich, der durch sie geschützt werden soll, bereits im EU-Vertrag verankert ist. Außerdem können sie aus den Grundrechten abgeleitet werden.134 Die „zwingenden Erfordernisse“ der Cassis-Formel bieten keine Möglichkeit eines Schutzes extraterritorialer Schutzziele. Dafür spricht schon der Wortlaut der Rechtsache Cassis de Dijon, in welcher der EuGH ausführt, dass „es Sache der Mitgliedstaaten“ sei, „Vorschriften für ihr Hoheitsgebiet zu erlassen“.135 Wie unten ausgeführt, bezweckt die Cassis-Formel zudem einen Nivellierungswettbewerb der Mitgliedstaaten über die niedrigsten Standards für legitime Schutzzwecke im eigenen Land zu verhindern. Und aus der Entscheidung folgt auch ein „Prinzip der gegenseitigen Anerken­ nung“.136 Daher zielt die Cassis-Formel darauf ab, den EU-Mitgliedstaaten den Schutz legitimer Schutzziele im eigenen Land zu ermöglichen, verpflichtet sie aber gleichzeitig Standards in anderen Mitgliedstaaten zu akzeptieren. Eine extraterritoriale Schutzwirkung kann „zwingenden Erfordernisse“ demnach ähnlich wie die in Art. 36 AEUV niedergelegten Ausnahmebestimmungen nur über ein „Spiel über Bande“ mittels der in Art. 36 AEUV niedergelegten Ausnahmebestimmung zum Schutz der öffentlichen Sittlichkeit zu kommen.137 Hinsichtlich der Beweislastverteilung für das Vorliegen eines „zwingenden Erfordernis“ kann auf die Ausführungen im Rahmen des Art. 36 AEUV verwiesen werden.138 Denn auch bei der Cassis-Formel handelt es sich wie auch bei Art. 36 AEUV um eine Ausnahmebestimmung, für welche die Partei, die sich auf diese beruft, den Beweis erbringen muss.139 Die EUMitgliedstaaten trifft daher die Beweispflicht, falls sie sich auf die CassisFormel als Rechtfertigungsgrund berufen wollen. Soweit „zwingende Erfordernisse“ schwerwiegende Belange des Umwelt- oder Gesundheitsschutzes betreffen, können sich die EU-Mitgliedstaaten bei Beachtung des Vorsorgeprinzips aber auch auf eine Beweiserleichterung berufen.140 Denn das Vorsorgeprinzip ist ein allgemeiner Grundsatz des Gemeinschaftsrechts.141

134  Frenz,

Rn. 1032. Urt. v. 20.02.1979, Rs. 20 / 78, Rewe-Zentrale AG v. Bundesmonopol­ verwaltung für Branntwein (Cassis de Dijon), Slg. 1979, 649, 662, Rn. 8. 136  Vgl. C.II.3.e). 137  Vgl. hierzu C.II.2.e). 138  Vgl. C.II.2.b). 139  Himmelmann, S. 160; Henke, S. 189. 140  Vgl. zu den Voraussetzungen des Vorsorgeprinzips C.II.2.b). 141  Schroeder, DVBl. 2002, 213, 218. 135  EuGH

118

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

d) Verhältnismäßigkeitsprüfung und Behandlung von diskriminierenden Maßnahmen im Rahmen der Cassis-Formel Auch im Rahmen der Cassis-Formel gilt das Erfordernis einer Verhältnismäßigkeitsprüfung.142 Während der EuGH aber über die Anerkennung der „zwingenden Erfordernisse“ entscheidet, entscheiden die nationalen Gerichte über die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme.143 Allerdings behält der EuGH es sich im Einzelfall vor, über die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme auch selber zu entscheiden.144 Hinsichtlich der Prüfung der Verhältnismäßigkeit im Rahmen der Cassis-Formel kann auf die obigen Ausführungen in Bezug auf die Verhältnismäßigkeitsprüfung im Rahmen des Art. 36 ­AEUV verwiesen werden.145 Die Prüfung der Cassis-Formel unterscheidet sich aber von der des Art. 36 AEUV dadurch, dass eine Rechtfertigung grundsätzlich nur dann in Betracht kommt, wenn die zur Beeinträchtigung der Warenverkehrsfreiheit führende Maßnahme unterschiedslos auf inländische Waren und Waren aus anderen EU-Mitgliedstaaten angewendet wird.146 Diskriminierende Maßnahmen können nach dieser Rechtsprechung nur durch Art. 36 AEUV gerechtfertigt werden. In seiner neueren Rechtsprechung ist der EuGH hiervon, jedenfalls aus „zwingenden Erfordernissen“, die aus Gründen des Umweltschutzes, der öffentlichen Gesundheit und des finanziellen Gleichgewichts der sozialen Sicherungssysteme bestanden, abgewichen.147 In all diesen Entscheidungen ging es um nationale Maßnahmen, die zwischen inländischen Waren und Waren aus anderen Mitgliedstaaten der EU unterschieden. Trotz dieser dis142  Grabitz / Hilf,

Art. 28 EGV, Rn. 26 (Leible). S. 568. 144  Vgl. nur EuGH Urt. v. 23.10.1997, Rs. C-189 / 95, Strafverfahren gegen Fran­ zén, Slg. 1997, I-5909, 5976s, Rn. 76. In dieser Entscheidung hielt der EuGH ein schwedisches Gesetz, welches Anforderungen an den Verkauf alkoholischer Getränke stellte, weder für erforderlich noch für angemessen. 145  Vgl. C.II.2.b). 146  Vgl. u. a. EuGH Urt. v. 17.06.1981, Rs. 113  / 80, Kommission . / . Irland (Iri­ sche Souvenire), Slg. 1981, 1625, 1639 ff., Rn. 10 ff.; EuGH Urt. v. 10.01.1985, Rs.  229 / 83, Leclerc .  /  . Au ble vert, Slg. 1985, 1, 35, Rn. 28 ff.; EuGH Urt. v. 11.05.1989, Rs.  25 / 88, Strafverfahren gegen Wurmser u. a., Slg. 1989, 1105, 1128, Rn. 13; EuGH Urt. v. 25.07.1991, verb. Rs. C-1 und 176 / 90, Aragonesa de Publicad Exterior und Publivívia, Slg. 1991, I-4151, 4184, Rn. 13. 147  Vgl. EuGH Urt. v. 09.07.1992, Rs. C-2 / 90, Belgien . / . Kommission (Walloni­ sche Abfälle), Slg. 1992, I-4431, 4480, Rn.  34; EuGH Urt. v. 14.07.1998, Rs.  C-389 / 96, Aher-Waggon . / . Deutschland, Slg. 1998, I-4473, 4488 ff., Rn. 18 ff.; EuGH Urt. v. 13.03.2001, Rs. C-379 / 98, PreussenElektra . / . Schleswag AG, Slg. 1998, I-2099, 2185, Rn. 75; EuGH Urt. v. 28.04.1998, Rs. 120 / 95, Nicolas Decker . / . Caisse de maladie des employés privés, Slg. 1998, I-1831, 1883 ff., Rn. 34–36. 143  Weatherill / Beaumont,



II. Allgemeine Voraussetzungen der wichtigsten Ausnahmebestimmungen  119

kriminierenden Maßnahmen diskutierte der EuGH die Möglichkeit einer Rechtfertigung durch „zwingende Erfordernisse“. Mangels substantiierten Vorbringens lehnte er dies in der Rechtssache Decker ab. Die Maßnahmen in den Rechtssachen Wallonische Abfälle, Aher-Waggon und PreussenElek­ tra stufte der EuGH aber trotz ihres diskriminierenden Charakters aufgrund der Cassis-Formel als gerechtfertigt ein. Der EuGH hat trotz einer Aufforderung durch einen Generalanwalt bislang nicht klargestellt, ob „zwingende Erfordernisse“ i. S. d. Cassis-Formel nur unterschiedslos anwendbare Maßnahmen rechtfertigen können.148 Es ist jedoch aufgrund der dargestellten Judikatur des EuGH davon auszugehen, dass jedenfalls bei gesellschaftlich als von großer Bedeutung einzustufenden Schutzzielen auch Maßnahmen gerechtfertigt werden können, die zwischen inländischen Waren und Waren aus ­anderen EU-Mitgliedstaaten diskriminieren. Dafür spricht auch, dass die in Art. 36 AEUV niedergelegten Ausnahmebestimmungen nicht erweiterungsfähig sind und eng ausgelegt werden. Außerdem können im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung der Cassis-Formel an diskriminierende Maßnahmen strengere Anforderungen gestellt werden. e) Auswirkungen der Rechtsache Cassis de Dijon In der Rechtssache Cassis de Dijon hat der EuGH ausgeführt, dass jedes in einem EU-Mitgliedstaat rechtmäßig hergestellte und in den Verkehr gebrachte Ware grundsätzlich auf dem Markt aller anderen EU-Mitgliedstaaten zuzulassen ist.149 Es also gilt innerhalb des EU-Rechts ein „Prinzip der gegenseitigen Anerkennung“.150 Waren müssen nicht mehr den gesetzlichen Anforderungen des EU-Mitgliedstaates, aus dem sie ausgeführt, und den gesetzlichen Anforderungen des EU-Mitgliedstaates, in dem sie eingeführt werden, genügen. Statt der Übereinstimmung mit den doppelten gesetz­ lichen Vorschriften der beiden EU-Mitgliedstaaten gilt nur das Erfordernis der Übereinstimmung mit den gesetzlichen Vorschriften des Herkunftsstaates. Der EU-Mitgliedstaat, in dem die Ware eingeführt wird, muss diese Vorschriften anerkennen. Dies ermöglicht die Zirkulation aller in einem Mitgliedstaat legal hergestellten und in den Verkehr gebrachten Waren in allen anderen Mitgliedstaaten der EU. Für EU-Mitgliedstaaten mit strengeren Vorschriften ergibt sich hierdurch das Risiko, dass einheimische Konsumenten, die aufgrund der weniger strengeren Vorschriften, günstigeren ein148  EuGH Urt. v. 13.03.2001, Rs. C-379  / 98, PreussenElektra . / . Schleswag AG, Schlussantrag des Generalanwalts Jacobs, Slg. 1998, I-2099, 2156, Rn. 229. 149  EuGH Urt. v. 20.02.1979, Rs. C-20 / 78, Cassis de Dijon, Slg. 1979, 649, 662, Rn. 15. 150  Grabitz / Hilf, Art. 29 EGV Rn. 26 (Leible).

120

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

geführten Waren kaufen. Dies wirkt sich zum Nachteil der heimischen Arbeitsplätze aus, welcher dadurch verstärkt wird, dass es aufgrund der ­ Kapitalverkehrsfreiheit Produzenten auch relativ einfach fällt, in dem EUMitgliedstaat die Waren zu produzieren, welcher die am wenigsten strengen Vorschriften für die entsprechende Ware aufstellt. EU-Mitgliedstaaten hätten dadurch einen Anreiz möglichst niedrige Standards zu setzen. Dadurch besteht die Gefahr, dass die EU-Mitgliedstaaten in einem Wettbewerb der Standorte Standards stetig senken (sog. race to the bottom-Effekt).151 Diese Befürchtung wurde von der deutschen Bundesregierung bereits in der Rechtssache Cassis de Dijon zum Ausdruck gebracht, als sie ausführte, dass sich ohne Rechtfertigungsmöglichkeiten „als gemeinsamer Standard der niedrigste in irgendeinem Mitgliedstaat zulässige“ Standard durchsetzen würde.152 Die „zwingenden Erfordernisse“ der Cassis-Formel sollen einen solchen „Race to the bottom-Effekt“ aufhalten, indem sie den EU-Mitgliedstaat, der die Waren einführt, dann erlauben einzuschreiten, wenn ein vom EuGH anerkanntes legitimes Schutzziel beeinträchtigt wird. 4. Allgemeine Voraussetzungen der „objektiven Kriterien“ im Rahmen des Art. 110 AEUV Bei den Ausnahmen von Art. 110 AEUV zur Verfolgung legitimer Schutzziele nach der Maßgabe „objektiver Kriterien“ handelt es sich um das funktionale Gegenstück zu den „zwingenden Erfordernissen“ der CassisFormel. Ähnlich wie dies auch teilweise bei der Cassis-Formel angenommen wird,153 stellen die „objektiven Kriterien“ nach der Rechtsprechung des EuGH eine Schutzbereichsbegrenzung dar. Denn der EuGH hat festgestellt, dass eine Rechtfertigung des Art. 110 AEUV nicht möglich ist.154 Die „objektiven Kriterien“ im Rahmen des Art. 110 AEUV dienen jedoch der Verfolgung legitimer Schutzziele und werden daher zusammen mit den anderen Ausnahmebestimmungen untersucht. Die „objektiven Kriterien“, nach deren Maßgabe eine diskriminierende Besteuerung keine Verletzung des Art. 110 AEUV darstellt, sind nicht im EUVertrag niedergelegt, sondern entstammen der Rechtsprechung des EuGH. Dieser hat geurteilt, dass in bestimmten Fällen materielle steuerliche Diskriminierungen aufgrund des damit bezweckten Schutzes legitimer wirtschaft­ 151  Vgl.

hierzu C.II.1.f). Urt v. 20.02.1979, Rs. C-20 / 78, Cassis de Dijon, Slg. 1979, 649, 662,

152  EuGH

Rn. 12. 153  Vgl. C.II.3.b). 154  EuGH Urt. v. 17.06.1998, Rs. 68 / 96, Grundig Italiana SpA, Slg. 1998, I-3775, 3894, Rn. 24.



II. Allgemeine Voraussetzungen der wichtigsten Ausnahmebestimmungen  121

licher oder sozialer Ziele zulässig sind.155 Wie oben bereits dargestellt,156 liegt eine materielle steuerliche Diskriminierung dann vor, wenn die Abgabenregelungen nicht zwischen eingeführten und einheimischen Waren unterscheidet, aber die Waren, die typischerweise eingeführt werden, mit einer höheren Abgabenlast belegt werden. Für eine formelle Diskriminierung, die vorliegt, wenn die nationalen Abgabenvorschriften formell zwischen eingeführten und einheimischen Waren unterscheiden und letztere mit einer geringeren Abgabe belegt oder gar nicht erst besteuert wird,157 besteht hingegen keine Möglichkeit nach Maßgabe „objektiver Kriterien“ als zulässig angesehen zu werden. Wie ebenfalls bereits oben ausgeführt hat eine formelle Diskriminierung jedoch keine praktische Bedeutung. Eine Rechtfertigung nach Maßgabe „objektiver Kriterien“ bietet sich insbesondere bei einem differenziert ausgestalteten Steuersystem an, bei denen gleichartige Waren in verschiedene Steuergruppen mit einem unterschiedlich hohen progressiv steigenden Steuersatz unterteilt werden. Als „objektive Kriterien“, nach deren Maßgabe eine diskriminierende Besteuerung keine Verletzung des Art. 110 AEUV darstellt, hat der EuGH bislang eingestuft: – Die Absicht die Benutzung bestimmter Arten von Spielautomaten zu erschweren158. Dieses „objektive Kriterium“ schützt sowohl die öffentlichen Sittlichkeit als auch den Verbraucherschutz und stellt daher eine entsprechende Ausnahmebestimmung dar.159 – Förderung der Qualitätserzeugung in Gegenden mit besonders schwierigen landwirtschaftlichen Bedingungen.160 Dieses „objektive Kriterium“ schützt die regionale Entwicklung wirtschaftlich benachteiligter Gebiete und stellt daher eine entsprechende Ausnahmebestimmung dar. – Das Ziel die Erzeugung von Alkohol aus landwirtschaftlichen Erzeugnissen zu begünstigen und damit Erdölprodukte einer wichtigeren Verwendung zukommen zu lassen.161 Dieses „objektive Kriterium“ schützt die 155  Vgl. auch EuGH Urt. v. 03.03.1988, Rs. 252 / 86, Bergandi . / . Directeur géné­ ral des impôts, Slg. 1988, 1343, 1375, Rn. 29–32. 156  Vgl. B.II.2.a)bb). 157  Vgl. ebenfalls B.II.2.a)bb). 158  EuGH Urt. v. 03.03.1988, Rs. 252  /  86, Bergandi .  /  . Directeur général des impôts, Slg. 1988, 1343, 1375, Rn. 30. 159  Vgl. auch Bernard, S. 54. 160  EuGH Urt. v. 07.04.1987, Rs. C-196  /  85, Kommission . / . Frankreich, Slg. 1987, 1597, 1615 ff., Rn. 7–9. 161  EuGH Urt. v. 14.01.2981, Rs. C-140 / 79, Chemical Farmateuci S.p.A. . / . DAF S.p.A, Slg. 1981, 1, 14, Rn. 13; EuGH Urt. v. 14.01.1981, Rs. 46 / 80, S.p.A. Vinal . / . S.p.A. Orbat, Slg. 1981, 77, 93, Rn. 12.

122

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

öffentliche Sicherheit und stellt daher eine entsprechende Ausnahmebestimmung dar.162 Denn hierdurch wird die Versorgungssicherheit eines EU-Mitgliedstaates gewährleistet. Ebenso wird durch dieses „objektive Kriterium“ aber auch zur Erhaltung erschöpflicher Naturschätze beigetragen. Außerdem dient dieses „objektive Kriterium“ der Förderung der Landwirtschaft, so dass daher auch eine entsprechende Ausnahmebestimmung gegeben ist. Auf diese „objektiven Kriterien“ konnten sich EU-Mitgliedstaaten bislang erfolgreich berufen, so dass der EuGH in diesen Entscheidungen trotz einer materiell diskriminierenden Besteuerung keine Verletzung des Art. 110 ­AEUV annahm. Auch die Anerkennung des Umweltschutzes als „objektives Kriterium“ wird in der Literatur gefordert.163 Auf den Umweltschutz als „objektives Kriterium“ berief sich auch die griechische Regierung in einem Verfahren in dem es um die höhere Besteuerung von größeren Autos ging. Der EuGH befasste sich jedoch nicht mit diesem Argument, da das griechische Steuersystem schon nicht materiell diskriminierend war.164 Auch sonst steht bislang eine Entscheidung des EuGH zur Anerkennung des Umweltschutzes als „objektives Kriterium“ noch aus. Für den Umweltschutz als „objektives Kriterium“ spricht jedoch, dass der europäische Umweltpolitik im EU-Vertrag ein eigener Kompetenztitel eingeräumt ist und der EuGH den Umweltschutz als grundlegendes Interesse der Gemeinschaft und „zwingendes Erfordernis“ i. S. d. Cassis-Formel anerkannt hat.165 Ebenso wie die Anerkennung weiterer „zwingender Erfordernisse“ i. S. d. Cassis-Formel durch den EuGH möglich ist,166 sind auch die in diesem Abschnitt herausgearbeiteten „objektiven Kriterien“ nicht abschließend. So auch Bernard, S. 54. JuS 1997, 872, 880; Grabitz / Hilf, Art. 90 EGV, Rn. 33 (Voß); Bernard, S. 54. 164  EuGH Urt. v. 05.04.1990, Rs.  C-132  /  88, Kommission / Griechenland, Slg. 1990, I-1567, 1591 ff., Rn. 9, 20. Die griechische Regierung berief sich als Rechtfertigungsgrund auch auf die schlechte Infrastruktur des griechischen Straßennetzes. Ein „objektives Kriterium“ welches die regionale Entwicklung wirtschaftlich benachteiligter Gebiete schützt und daher eine entsprechende Ausnahmebestimmung darstellt. 165  Vgl. zum Umweltschutz als Gemeinschaftsinteresse nur EuGH Urt v. 07.02.1985, Rs.  240 / 83, Procureur de la République . / . ADBHU, Slg. 1985, 531, 549, Rn. 13; vgl. zur Anerkenntnis des Umweltschutzes als „zwingendes Erfordernis“ nur EuGH Urt v. 20.09.1988, Rs. 302 / 86, Kommission . / . Dänemark (Dänische Pfandflaschen), Slg. 1988, 4607, 4630, Rn. 9; EuGH Urt v. 09.07.1992, Rs. C-2 / 90, Kommission . / . Belgien (Wallonische Abfälle), Slg. 1992, I-4431, 4479, Rn. 32. 166  Vgl. C.II.3.c). 162  Vgl.

163  Müller-Franken,



II. Allgemeine Voraussetzungen der wichtigsten Ausnahmebestimmungen  123

bestehen schon gute Gründe für die Anerkennung des Umweltschutzes als „objektives Kriterium“. Außerdem spricht der EuGH im Zusammenhang mit dem „objektiven Kriterien“ von „legitimen wirtschaftlichen oder sozialen Zwecken“ ohne diese jedoch näher einzugrenzen.167 Daher kommt auch die Anerkennung weiterer „objektiver Kriterien“ durch den EuGH in Betracht. Das der EuGH ähnlich viele „objektive Kriterien“ wie „zwingende Erfordernisse“ i. S. d. Cassis-Formel entwickeln werden wird, ist hingegen nicht zu erwarten. Dagegen spricht, dass eine Besteuerung grundsätzlich aus fiskalischen Gründen erfolgt. Hingegen gibt es legitime Gründe bestimmte Waren aufgrund der mit ihnen verbundenen Risiken für Gesundheit, Umwelt oder anderen gesellschaftlichen Schutzzielen zu verbieten. Ein solches Verbot dürfte im Regelfall auch effektiver die Erreichung des verfolgten Schutzzieles gewährleisten, als eine höhere Besteuerung. Eine materiell diskriminierende Besteuerung, stellt aber nur dann nach der Maßgabe „objektiver Kriterien“ keine Verletzung des Art. 110 AEUV dar, wenn die Besteuerung keine protektionistische Wirkung entfaltet168 und das „objektive Kriterium“ in einer Art und Weise verfolgt wird, die das Verhältnismäßigkeitsprinzip beachtet.169 Hinsichtlich der Anforderungen an das Verhältnismäßigkeitsprinzip kann auf die oben bereits gemachten Ausführungen verwiesen werden.170 Ob den „objektiven Kriterien“ auch eine extraterritoriale Schutzwirkung zukommt, ist soweit ersichtlich bislang nicht in der Literatur diskutiert worden. Eine extraterritoriale Schutzwirkung der „objektiven Kriterien“, nach deren Maßgabe eine diskriminierende Besteuerung keine Verletzung des Art. 110 AEUV darstellt, ist aber abzulehnen. Theoretisch denkbar wäre dies etwa, wenn ein EU-Mitgliedstaat die Nutzung von „Atomstrom“ mit einer „Strafsteuer“ belegen würde, um die Nutzung anderer Energiequellen zu fördern. Und um auch in anderen EU-Mitgliedstaaten Alternativen zur Nutzung von „Atomstrom“ aufzuzeigen, aus diesen EU-Mitgliedstaaten eingeführten „Atomstrom“ ebenfalls mit einer „Strafsteuer“ belegen würde. Gegen die Möglichkeit einer solchen extraterritorialen Anwendung spricht schon, dass ein Einfuhrverbot im Regelfall deutlich effektiver sein dürfte als eine exzessive Besteuerung. Auch bei den „objektiven Kriterien“ gelten die normalen Regeln der Beweislastverteilung, so dass auf die entsprechenden Ausführungen zu 167  EuGH Urt. v. 03.03.1988, Rs. 252  /  86, Bergandi .  /  . Directeur général des impôts, Slg. 1988, 1343, 1375, Rn. 29. 168  EuGH Urt. v. 03.03.1988, Rs. 252  /  86, Bergandi .  /  . Directeur général des impôts, Slg. 1988, 1343, 1375, Rn. 31. 169  Barnard, S. 54. 170  C.II.2.d).

124

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

Art. 36 AEUV verwiesen werden kann.171 Denn auch bei den „objektiven Kriterien“ handelt es sich um Ausnahmebestimmungen zur Verfolgung legitimer Schutzziele, so dass der EU-Mitgliedstaat, der sich zur Verteidigung seines sonst EU-widrigen Steuersystems hierauf beruft, auch Beweise für das Vorbringen der entsprechenden Voraussetzungen erbringen muss. Anders als im Rahmen des Art. 36 AEUV und der Cassis-Formel ist aber nicht anzunehmen, dass das Vorsorgeprinzip etwa bei einer potentiellen Gefährdung von Belangen des Umwelt- oder Gesundheitsschutzes anerkannt wird. Dies aber nicht, weil der EuGH den Umwelt- oder den Gesundheitsschutz bislang noch nicht als „objektive Kriterien“ anerkannt hat. Selbst falls eine solche Anerkennung dieser legitimen Schutzziele als „objektive Kriterien“ stattfinden würde, wäre eine Beweiserleichterung aber immer noch abzulehnen. Denn es ist nicht ersichtlich, wie potentiell erhebliche Gefahren für die Umwelt oder die Gesundheit durch eine diskriminierende Besteuerung abgeholfen werden soll. Auch hier gilt daher, dass in solchen Fällen nur ein Einfuhrverbot zweckmäßig erscheint. 5. Vergleich der allgemeinen Voraussetzungen der Ausnahmebestimmungen Sowohl im WTO- als auch im EU-Recht gibt es legitime Gründe bestimmte Waren, etwa aufgrund der mit ihnen verbundenen Gesundheits- und Umweltrisiken oder anderen Auswirkungen aber auch aus Erwägungen des Verbraucherschutzes zu verbieten oder gewisse Anforderungen an sie zu stellen. Dementsprechend hat der Vergleich der allgemeinen Voraussetzungen der vier dargestellten Ausnahmebestimmungen, von denen eine dem WTO-Recht und die anderen drei dem EU-Recht entstammen, zahlreiche Gemeinsamkeiten dargelegt. Darüber hinaus bestehen jedoch auch verschiedene Unterschiede. Sowohl die Gemeinsamkeiten als auch die Unterschiede im System dieser Ausnahmebestimmungen werden im Folgenden dargelegt und es wird nach Erklärungen hierfür gesucht. a) Rechtsquellen der Ausnahmebestimmungen Schon die Rechtsquellen der Ausnahmebestimmungen sind unterschiedlich. Im EU-Recht sind die Cassis-Formel und die „objektiven Kriterien“ nicht im EU-Vertrag enthalten, sondern wurden vom EuGH in seiner Rechtsprechung entwickelt. Die Streitbeilegungsgremien der WTO haben hingegen keine völlig neue Kategorie von Ausnahmebestimmungen entwickelt. 171  Vgl.

C.II.2.b).



II. Allgemeine Voraussetzungen der wichtigsten Ausnahmebestimmungen  125

Wie oben bereits ausgeführt, sind die Streitbeilegungsgremien der WTO jedoch nach Art. 3.2 und Art. 19.2 DSU in der Fortentwicklung des WTORechts beschränkt.172 Sie dürfen nicht rechtsschöpferisch tätig sein, indem sie die in der WTO-Rechtsordnung festgehaltenen Rechte und Pflichten der Mitglieder ergänzen oder einschränken. Außerdem sind sie angehalten, sich in der Auslegung des GATT nicht zu weit von den subjektiven Willen der WTO-Mitglieder bei der Gründung der WTO zu entfernen. Die Schaffung einer völlig neuen Kategorie von Ausnahmebestimmungen ist ihnen daher verwehrt. Außerdem bestand auf WTO-Ebene diesbezüglich nicht eine entsprechende Notwendigkeit. Denn die Schaffung eines Äquivalents zu den „objektiven Kriterien“ ist auf Ebene der WTO schon deshalb nicht notwendig, weil es sich bei den in Art. XX GATT niedergelegten Ausnahmebestimmungen um allgemeine Ausnahmen handelt, die auch auf Verstöße gegen Art. III:2 GATT anwendbar sind, der Anforderungen an die diskriminierende Besteuerung von eingeführten und einheimischen Waren stellt. Die Anwendung der in Art. 36 AEUV niedergelegten Ausnahmebestimmungen als ein Rechtfertigungsgrund für ein Steuersystem welches gegen Art. 110 AEUV verstößt, ist hingegen nicht möglich. Auch für die Ausweitung der im GATT niedergelegten Ausnahmebestimmungen durch ein Äquivalent zur Cassis-Formel ist eine entsprechende Notwendigkeit wie im EU-Recht nicht im gleichen Maße gegeben. Denn aufgrund der durch die Dassonville-Formel sehr weit gehende Auslegung des Begriffs der Maßnahmen gleicher Wirkung wie mengenmäßiger Beschränkungen,173 besteht für den Handel mit Waren innerhalb der EU praktisch ein Beschränkungsverbot, welches sehr weitgehend in die Rechtsetzungsbefugnis der EU-Mitgliedstaaten eingreift. Die Handelsregelungen der EU-Mitgliedstaaten, die von demokratisch legitimierten Parlamenten und Regierungen erlassen werden, bezwecken hingegen in einer großen Anzahl von Fällen nicht den Schutz der heimischen Wirtschaft, sondern sollen nur legitime Schutzziele verfolgen. Damit die EU-Mitgliedstaaten trotz eines durch die Dassonville-Formel geltenden Beschränkungsverbotes aber auch weiterhin einen entsprechenden Handlungsspielraum haben, war auf EU-Ebene die Entwicklung der Cassis-Formel zum Schutz legitimer Schutzziele notwendig. Anders hingegen auf Ebene der WTO. Denn das WTO-Recht, in welches nur das Prinzip der Inländergleichbehandlung gilt und das somit ein Diskriminierungsverbot aufstellt, greift bei weitem nicht so stark in die Regelungsbefugnisse der WTO-Mitglieder ein. 172  Vgl. 173  Vgl.

B.III.4. B.III.2.

126

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

Keine Ausnahmebestimmung hat der EuGH dagegen zum Verbot der Zölle und zollgleicher Abgaben des Art. 30 AEUV entwickelt, während die „Allgemeinen Ausnahmen“ des Art. XX GATT sowie zahlreiche spezifische Ausnahmegenehmigungen174 auch auf die Vorschriften im GATT anwendbar sind, welche die gebundenen Zölle und zollgleichen Abgaben im WTORecht regeln. Die Möglichkeit innerhalb des EU-Rechts Zölle oder zollgleiche Abgaben zur Verfolgung legitimer Schutzziele zu erheben würde jedoch die Schaffung einer Zollunion unterminieren. Denn zur Herstellung der Zollunion gehört die vollständige Beseitigung aller Zölle und Abgaben zollgleicher Wirkung.175 Im Übrigen ist zu sagen, dass legitime Schutzziele nicht sehr effektiv mit Zöllen verfolgt werden können. Denn diese verteuern eine Ware nur. Dementsprechend weichen in der Praxis WTO-Mitglieder von den von ihnen gemachten Zollzugeständnissen nicht aufgrund von Ausnahmebestimmungen ab, mittels derer legitime Schutzziele verfolgt werden können, sondern aufgrund von Ausnahmebestimmungen, mittels derer wirtschaftliche Interessen verfolgt werden können.176 b) Kein Verhältnismäßigkeitsprinzip im WTO-Recht Aber nicht nur die Rechtsquellen der Ausnahmebestimmungen sind unterschiedlich. Ein weiterer Unterschied zwischen WTO- und EU-Recht besteht auch in der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips. Während das Verhältnismäßigkeitsprinzip im Rahmen der Prüfung einer Rechtfertigung durch Art. XX GATT keine Anwendung findet, kann eine anderenfalls EURecht verletzende Maßnahme, sei es durch Art. 36 AEUV, die Cassis-Formel oder nach Maßgabe „objektiver Kriterien“ nur dann gerechtfertigt werden, wenn die Maßnahme unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips angewendet wird. Allerdings ist das Verhältnismäßigkeitsprinzip ein allgemeiner Rechtsgrundsatz im gesamten Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts.177 Durch die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips, dessen Entwicklung in der Rechtsprechung des EuGH stark vom deutschen Recht beeinflusst wurde,178 wird gewährleistet, dass die Verfolgung legitimer Schutzziele durch die EU-Mitgliedstaaten nur dann zum Tragen kommt, wenn die 174  Vgl.

B.I.1.a)cc). auch Oppermann, Europarecht, Rn. 1275. 176  Vgl. etwa B.I.1.a)cc) zu Ausnahmebestimmungen mittels derer wirtschaftliche Interessen verfolgt werden. 177  Streinz, Art. 30 Rn. 49 (Schroeder). 178  Pollack, S. 122; Hauke, S. 58; Pache, NVwZ 1999, 1033, 1036; Hoffmann, S. 107. 175  Vgl.



II. Allgemeine Voraussetzungen der wichtigsten Ausnahmebestimmungen  127

Beschränkung der Warenverkehrsfreiheit und der Schutz des verfolgten Rechtsgutes in einem wohl abgewogenen Verhältnis zueinander stehen. Das mangelnde Erfordernis der Prüfung des Verhältnismäßigkeitsprinzips im Rahmen der allgemeinen Ausnahmebestimmungen zur Verfolgung legitimer Schutzziele im WTO-Recht, lässt sich hingegen damit erklären, dass das Verhältnismäßigkeitsprinzip die Möglichkeit von Regierungen zu handeln stark einschränkt. Ihre Einschätzungsprärogerative wird hierdurch überlagert. Beim Verhältnismäßigkeitsprinzip handelt es sich auch nicht um ein international anerkanntes Rechtsprinzip. Schon in anderen EU-Mitgliedstaaten kann das Verhältnismäßigkeitsprinzip nicht die Geltung beanspruchen, das ihm im deutschen Recht zukommt, in dem ihm Verfassungsrang zuerkannt wird,179 oder es im EU-Recht innehat. So ist das Verhältnismäßigkeitsprinzip als allgemeines Rechtsprinzip bislang weder im französischen, luxemburgischen oder im dänischen Recht anerkannt, sondern findet lediglich im Verwaltungsrecht eine allerdings auch nicht generelle Anwendung.180 Im belgischen Recht beschränkt sich die Verhältnismäßigkeitsprüfung auf offensichtliche Unverhältnismäßigkeit und spielt zudem in vielen Bereichen des öffentlichen Rechts keine Rolle.181 In den Niederlanden wird das Verhältnismäßigkeitsprinzip erst seit dem 1990er Jahren als Prüfungskriterium herangezogen, findet jedoch in vielen Rechtsbereichen keine Anwendung. Außerdem ist die gerichtliche Ermessenskontrolle beschränkt.182 In Großbritannien war das Verhältnismäßigkeitsprinzip lange unbekannt und es hat sich ebenso wie in den anderen EU-Mitgliedstaaten, in denen es mittlerweise eine gewissen Geltung hat, vor allem durch den Einfluss der Rechtsprechung des EuGH und des EGMR durchsetzen können.183 Außerhalb des Geltungsbereiches des EU-Rechts wird seine Anwendung im britischen Rechtssystem auch heute noch teilweise abgelehnt.184 In den Rechtsordnungen anderer wichtiger WTO-Mitglieder gilt das Verhältnismäßigkeitsprinzip zudem nur in Ansätzen. So werden Gesetze in den USA grundsätzlich nur danach geprüft, ob sie ein legitimes Ziel verfolgen und hierfür geeignet sind. Die Erforderlichkeit und Angemessenheit einer Maßnahme zu beurteilen, gilt im US-amerikanischen Staatsrecht grundsätzlich als Aufgabe des demokratisch legitimierten Souveräns und nicht als die eines Gerichts. 19, 342, 348 ff.; 43, 101, 106; 61, 119, 134; Stern, 20 IV 7. S. 27, 36; Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 664, 681; Koch, S.  64 ff., S.  114 ff., S.  120 ff. 181  Hauke, S. 32; Koch, S.  114 ff. 182  Hauke, S. 34; Koch, S. 119. 183  Hauke, S.  39 ff.; Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 678 ff.; Koch, S.  79 ff. 184  Hoffmann, S.  111 ff. 179  BVerfGE 180  Hauke,

128

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

Die Gründe dafür, dass das Verhältnismäßigkeitsprinzip in den Rechtsordnungen vieler Länder eine im Gegensatz zum EU-Recht wenn überhaupt nur begrenzte Geltung genießt, liegen darin, dass in der Kontrolldichte der Judikative, die dem Verhältnismäßigkeitsprinzip inhärent ist, oftmals ein Verstoß gegen den Grundsatz der Gewaltenteilung gesehen wird. Dem Parlament wird aus demokratietheoretischen Gründen eine Vorrangstellung eingeräumt, die nicht mittels des Verhältnismäßigkeitsprinzips durch Gerichte beschränkt werden soll. Ebenso lehnen es die WTO-Mitglieder ab, den Streitbeilegungsgremien der WTO durch das Verhältnismäßigkeitsprinzip eine höhere Kontrolldichte über die Akte, ihrer, wenn auch nicht in allen Ländern, demokratisch legitimierten Parlamente und Regierungen, zukommen zu lassen. Daher ist auch nicht damit zu rechnen, dass das Verhältnismäßigkeitsprinzip zukünftig in der Prüfung des Art. XX GATT eine Anwendung finden wird. c) Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Anforderungen an die Auslegung der Art. XX GATT und Art. 36 AEUV Hinsichtlich der Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Anforderungen an die Auslegungen der Ausnahmebestimmungen erscheint nur ein Vergleich zwischen den geschriebenen Anforderungen des Art. XX GATT und Art. 36 AEUV sinnvoll. Denn die ungeschriebenen Ausnahmebestimmungen der Cassis-Formel und der „objektiven Kriterien“ beruhen auf der Rechtsprechung des EuGH und sind als solche, anders als geschriebene Normen, der Auslegung nur schwer zugänglich. Hinsichtlich der Auslegung der geschriebenen Ausnahmebestimmungen weisen beide Rechtsordnungen einen weiteren Unterschied auf. Denn nur die in Art. 36 AEUV niedergelegten Ausnahmebestimmungen werden eng ausgelegt. Eine solche restriktive Auslegung nehmen die Streitbeilegungsgremien der WTO im Rahmen des Art. XX GATT hingegen nicht vor. Stattdessen wägen sie zwischen dem Ziel der Handelsliberalisierung und dem jeweiligen Zweck der verhängten Maßnahme ab. Das im Rahmen des WTO-Rechts der Grundsatz einer engen Auslegung der einzelnen Ausnahmebestimmungen nicht gilt, steht im Gegensatz zu dem internationalen Rechtsgrundsatz, dass Ausnahmebestimmungen eng auszulegen sind (singularia non sunt extenda). Auch der EuGH legt Art. 36 AEUV eng aus. Die enge Auslegung des Art. 36 AEUV durch den EuGH ist aber nicht auf die Geltung völkerrechtlicher Auslegungsgrundsätze zurückzuführen. Das EURecht hat nämlich die Regeln des allgemeinen Völkerrechts überlagert.185 185  Oppermann,

Europarecht, § 7 Rn. 19.



II. Allgemeine Voraussetzungen der wichtigsten Ausnahmebestimmungen  129

Stattdessen ist die enge Auslegung des Art. 36 AEUV darauf zurückzuführen, dass der EuGH Art. 36 AEUV als eine Ausnahme zur Warenverkehrsfreiheit betrachtet, einem der wichtigsten Rechte, die durch den EU-Vertrag garantiert werden. Durch die enge Auslegung soll gewährleistet werden, dass Art. 36 AEUV nicht zur Umgehung des grundsätzlichen Verbots handelsbeschränkender Maßnahmen benutzt wird. Dies folgt auch aus dem von dem EuGH vertretenen effet-utile-Grundsatz, einer Auslegungsmaxime wonach der EU-Vertrag so auszulegen ist, dass hierdurch eine möglichst weitgehende Erreichung der Vertragsziele ermöglicht wird.186 Bei einer nichtrestriktiven Auslegung befürchtet der EuGH auch die Gefahr massiver Handelshemmnisse unter dem Deckmantel der Verfolgung legitimer Schutzziele. Für den Appellate Body stellt der Zweck des Art. XX GATT hingegen eine Interessensabwägung zwischen dem Recht der WTO-Mitglieder zu Handeln und den Recht anderer WTO-Mitglieder Maßnahmen durchzuführen, die wichtige soziale Güter und andere Interessen schützen, dar.187 Außerdem genießt die Souveränität der Staaten im WTO-Recht einen weit höheren Stellenwert als im EU-Recht. Eine zu enge Auslegung des Art. XX GATT würde den WTO-Mitgliedern als souveräne Staaten die Möglichkeit nehmen, selber darüber zu entscheiden, inwieweit sie zur Beeinträchtigung ihrer Souveränität bereit sind. Im Übrigen kann gegen eine enge Auslegung der allgemeinen Ausnahmebestimmung des Art. XX GATT auch der Umkehrschluss zu dem völkerrechtlichen Prinzip des in dubio mitius, wonach souveränitätsbeschränkende Regelungen grundsätzlich eng auszulegen sind,188 angeführt werden. Denn der Art. XX GATT erweitert die Handlungsbefugnisse der WTO-Mitglieder. Folgerichtig hat der Appellate Body sich ausdrücklich auf das Prinzip des in dubio mitius berufen, als er ausführte, was gegen eine zu enge Auslegung des Art. XX GATT als eine souveränitserweiternde Vorschriften sprach.189 Eine Gemeinsamkeit besteht für beide Rechtsordnungen aber hinsichtlich der Auslegung darin, dass sowohl Art. XX GATT als auch Art. 36 AEUV abschließend ausgelegt werden. Der Katalog der in Art. XX GATT und Art. 36 AEUV enthaltenen Ausnahmebestimmungen kann also nicht erweitert werden. Diese Gemeinsamkeit hat jedoch unterschiedliche Ursachen. Falls die Streitbeilegungsgremien der WTO Art. XX GATT im Wege der Analogie 186  EuGH Urt. v. 25.01.1977, Rs. 46  / 76, Bauhuis . / . Niederlande, Slg. 1977, 5, 15, Rn. 7 / 11; EuGH Urt. v. 21.06.1974, Rs. 2 / 74, Reyners . / . Belgien, Slg. 1974, 631, 654, Rn.  21 / 23. 187  Appellate Body Report, US – Shrimps, Rn. 157. 188  Ipsen, Völkerrecht, § 11, Rn. 20 (Heintschel von Heinegg). 189  Appellate Body Report, EC – Hormones, Rn. 165 in Fußnote 154.

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C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

auf andere als die dort niedergelegten Ausnahmebestimmungen erstrecken würden, würde eine solche Weiterentwicklung des WTO-Rechts gegen das Verbot der Rechtsfortbildung aus Art. 3.2 DSU und Art. 19.2 DSU verstoßen. Der EuGH, dem durch das Gemeinschaftsrecht keine ähnlichen Fesseln hinsichtlich der Rechtsfortbildung angelegt sind, ist hingegen den Weg gegangen andere legitime Schutzziele als die in Art. 36 AEUV niedergelegten, im Wege der Rechtsfortbildung zu schützen, indem er die Cassis-Formel entwickelte. So konnte er seinen in einer früheren Entscheidung190 aufgestellten Grundsatz der engen Auslegung des Art. 36 AEUV aufrechterhalten. Zudem dürfen andere legitime Schutzziele im Rahmen der Cassis-Formel so nicht mittels diskriminierender Regelungen verfolgt werden.191 d) Möglichkeiten eines Schutzes extraterritorialer Schutzziele Eine Gemeinsamkeit zwischen beiden Rechtsordnungen besteht auch darin, dass nach der hier vertretenen Auffassung die jeweiligen Ausnahmebestimmungen grundsätzlich nicht zum Schutze extraterritorialer Schutzziele angewendet werden dürfen.192 Dies gilt nur dann nicht, wenn über das legitime Schutzziel der öffentlichen Sittlichkeit gewissermaßen mittels eines „Spiels über Bande“ Maßnahmen zum Schutz extraterritorialer Schutzziele angewendet werden können. Dafür muss die öffentliche Sittlichkeit im Land, welches die handelsbeschränkenden Maßnahmen verhängt, aber in einem Maße erregt sein, welche es für die Regierung des betreffenden Landes als notwendig erscheinen lässt, zum Schutz extraterritorialer Güter zu handeln. Abgesehen von diesen absoluten Ausnahmefällen ist sowohl für WTO-Mitglieder als auch für EU-Mitgliedstaaten der Schutz legitimer Schutzziele auf das eigene Hoheitsgebiet beschränkt. In beiden Rechtsordnungen besteht daher, jedenfalls de facto und auch nur bei der Erfüllung strenger Voraussetzungen, die Möglichkeit, legitime extraterritoriale Schutzziele zu schützen. Diese, wenn auch sehr stark begrenzte Möglichkeit zum Schutz legitimer extraterritorialer Schutzziele beeinträchtigt jedoch immer noch die Souverä190  Bereits in EuGH Urt. v. 25.01.1977, Rs. 46 / 76, Bauhuis . / . Niederlande, Slg. 1977, 5, 15, Rn. 12 / 15 stellte der EuGH fest, dass Art. 36 AEUV „als Ausnahme von der Grundregel, dass alle Hindernisse für den Warenverkehr zwischen den Mitgliedstaaten zu beseitigen sind, eng auszulegen“ ist. 191  Vgl. C.II.3.d). Wie in diesen Abschnitt auch dargelegt, wird der Grundsatz des Verbots diskriminierender Regelungen im Rahmen der Cassis-Formel durch einige EuGH-Entscheidungen hinsichtlich des Umweltschutzes und anderer überragend wichtiger legitimen Schutzziele durchbrochen. 192  Dies gilt natürlich nicht für die Ausnahmebestimmung des Art. XX lit. e) GATT für in Strafvollzugsanstalten hergestellte Waren.



II. Allgemeine Voraussetzungen der wichtigsten Ausnahmebestimmungen  131

nität der hiervon betroffenen Staaten über das von ihnen erstrebte und auch als realisierbar angesehene Schutzniveau selber zu entscheiden. Stattdessen besteht die Gefahr, dass wirtschaftlich schwächere Staaten von wirtschaftlich stärkeren Staaten gezwungen werden bestimmte Interessen zu schützen. Zudem können hierdurch Staaten anderen Staaten ihre Vorstellungen von Richtig oder Falsch aufdrängen. Allerdings bestünde ohne eine wenigstens in Ausnahmefällen bestehende faktische Möglichkeit des Schutzes extraterritorialer Schutzziele die Gefahr, dass die Legitimität des freien Warenhandels leiden würde. Denn in der Bevölkerung wohl aller EU-Mitgliedstaaten oder vieler WTO-Mitglieder könnte es auf großes Unverständnis stoßen, wenn heimische Ein- oder Ausfuhren zu schwerwiegenden Beeinträchtigungen von bestimmten Rechtsgütern, etwa Menschenrechtsverletzungen, beitragen oder diese erst ermöglichen würden. Dieses Unverständnis würde aber das Vertrauen in die durch einen Binnenmarkt bzw. einen liberalisierten Warenhandel erreichten und noch zu erreichenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritte unterminieren, bzw. könnte dieses gar zunichte machen. Dies würde jedoch dazu führen, dass eine weitere Integration bzw. Liberalisierung des Warenhandels in vielen Staaten auf noch schwerere innenpolitische Widerstände stoßen würde, als dies ohnehin schon der Fall ist. Bereits jetzt ist auf Ebene der EU eine weitergehendere Integration durch die ablehnenden Volksentscheide zur Europäischen Verfassung in Frankreich und den Niederlanden aus dem Jahr 2006 sowie das ablehnende Votum der Iren zum Vertrag von Lissabon gefährdet. Neben einer allgemeinen Europaverdrossenheit dürfte insbesondere die ablehnende Abstimmung in Frankreich darauf zurückzuführen sein, dass in weiten Teilen der französischen Bevölkerung empfunden wurde, dass der EU-Vertrag zu wenig Raum zum Schutz legitimer Schutzziele enthält. Auf Ebene der WTO sind dagegen die weitverbreiteten Proteste gegen weitere Handelsliberalisierungen, die sich bislang u. a. in zahlreichen oft gewalttätigen Protesten manifestiert haben, auch darauf zurückzuführen, dass vielfach empfunden wird, dass durch die Politik der WTO Entwicklungsländer benachteiligt werden und Standards in den Bereichen Umweltschutz und Menschenechte erodiert werden. Daher können, indem in Ausnahmefällen unter der Bedingung der Erfüllung besonders strenger Voraussetzung auch die Verfolgung extraterritorialer Schutzziele gewährleistet wird, gleichzeitig die Legitimität beider Rechtsordnungen gestärkt werden. Durch eine gestärkte Legitimität werden aber beide Organisationen in einem wesentlich größeren Umfange in der Lage sein ihre Ziele in der Form der Verwirklichung eines Binnenmarktes oder eines liberalisierten Warenhandels zu erreichen. Demgegenüber müssen Handelshemmnisse zurückstehen, die etwa zur Vermeidung schwerwiegender Menschenrechtsverletzungen errichtet werden. Da bei den Erfordernissen einer

132

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

modernen Wirtschaft die Verletzung solcher Schutzziele auch regelmäßig nur einen geringen Beitrag zur Volkswirtschaft leisten wird, werden durch die Möglichkeit eines Schutzes extraterritorialer Schutzziele auch nur geringe Beeinträchtigungen der Warenverkehrsfreiheit bzw. eines liberalisierten Warenhandels entstehen. Eine weitere Gemeinsamkeit zwischen beiden Rechtsordnungen besteht im Übrigen darin, dass sowohl die Streitbeilegungsgremien der WTO als auch der EuGH – wohl wissend um die Brisanz dieser Problematik – bislang eine klare Aussage hinsichtlich der Möglichkeiten eines Schutzes ­extraterritorialer Schutzziele vermieden haben. e) Beweislastverteilung Sowohl im WTO- als auch im EU-Recht trägt grundsätzlich die Partei welche sich auf die Ausnahmebestimmung beruft, die Beweislast. Dies kann auf das allgemeine internationale Rechtsprinzip zurückgeführt werden, dass die Partei die sich auf einen Umstand beruft, diesen auch beweisen muss (quicunque exception invokat, esjudem probare debet).193 Ein Unterschied besteht in beiden Rechtsordnungen aber hinsichtlich des Vorsorgeprinzips. Denn im WTO-Recht wird dieses nach Art. 5.7 ÜSPS nur bei potentiell schweren Gesundheitsgefährdungen und dann auch nur vorübergehend anerkennt. Im EU-Recht ist das Vorsorgeprinzip hingegen auch bei potentiell schweren Umweltgefährdungen anerkennt und unterliegt keiner zeitlichen Beschränkung. Wohl auch aufgrund der wesentlich größeren Judikatur sind im EU-Recht die Anforderungen an das Vorsorgeprinzip im Übrigen zudem detaillierter niedergelegt. WTO- und EU-Recht unterscheiden sich also hinsichtlich des Vorsorgeprinzips vor allem darin, dass im WTO-Recht das Vorsorgeprinzip nur für potentiell schwere Gesundheitsgefährdungen und für diese auch nur vorübergehend anerkannt ist. Die Verankerung des Vorsorgeprinzips für potentiell schwere Gesundheitsgefährdungen ist aber nur dem ÜSPS zu verdanken, durch welches Gesundheitsrisiken vermieden sollen. Der Anwendungsbereich des Art. XX lit. g) GATT – unter dem ebenfalls zahlreiche Umweltschutzmaßnahmen fallen – ist hingegen nicht vom ÜSPS erfasst. Ein dem ÜSPS vergleichbares Abkommen zur Vermeidung von Umweltschutzmaßnahmen, die in den Anwendungsbereich des Art. XX lit. g) GATT fallen würden, fehlt aber auf Ebene der WTO. 193  Mavroidis,

S. 185.



II. Allgemeine Voraussetzungen der wichtigsten Ausnahmebestimmungen  133

Dieses Fehlen lässt sich damit erklären, dass die Bekämpfung von Gefahren für die Gesundheit für die einzelnen WTO-Mitglieder einen wesentlich höheren Stellenwert hat als die Bekämpfung von Gefahren für die Umwelt. Denn der Schutz von Gefahren für die Gesundheit der Menschen gehört traditionell zu den Kernaufgaben des Staates. Dem Umweltschutz wird hingegen traditionell keine ähnliche Priorität eingeräumt. Zudem sind die wirtschaftlichen Auswirkungen, die von gesundheitsgefährdenden Waren ausgehen im Regelfall größer als diejenigen, die von Waren ausgehen, die eine Gefährdung für die Umwelt darstellen. Denn aufgrund der Ängste von Konsumenten besteht bei dem Vorkommen einiger gesundheitsgefährdeten Waren auf einem Markt die Gefahr, dass der gesamte Markt für diese Ware zusammenbricht. Auch wenn nachweislich nicht alle diese Waren gesundheitsgefährdend sind. So wäre der Markt für Rindfleisch in vielen EU-Mitgliedstaaten zusammengebrochen, wenn nicht gestützt auf das Vorsorgeprinzip die EU-Kommission in den 1980er Jahren ein Einfuhrverbot für hormonbehandeltes Rindfleisch und in den 1990er Jahren aufgrund des BSE-Verdachts ein Einfuhrverbot für britisches Rindfleisch für die übrigen EU-Mitgliedstaaten erlassen hätte. Waren, die eine potentiell schwere Umweltgefährdung darstellen, mögen sich zwar auf den Märkten einzelner WTO-Mitglieder Boykottaufrufen ausgesetzt sehen, den Zusammenbruch des Marktes auch aller ähnlichen Waren werden sie aber nicht auslösen. Innerhalb der meisten EU-Mitgliedstaaten besteht zudem ein deutlich höheres Risikobewusstsein, als dies bei anderen auch hochentwickelten WTO-Mitgliedern der Fall ist.194 Gleichzeitig besteht in den hochentwickelten Staaten, zu denen zumindest vor der EU-Osterweiterung alle Mitgliedstaaten gehörten, ein deutlich höher entwickeltes Umweltbewusstsein, welches auch dazu führte, dass der Umweltschutz im Zuge der Änderungen des EU-Vertrages in diesem verankert wurde. Dieser Umstand und die Möglichkeit der Rechtsfortentwicklung durch den EuGH ermöglichten auf EUEbene die Anerkennung des Vorsorgeprinzips für sämtliche Maßnahmen des Umweltschutzes. In den WTO-Übereinkommen ist der Umweltschutz hingegen nicht mit einem ähnlich hohen Stellenwert wie im EU-Vertrag verankert.195 Zudem sind die Streitbeilegungsgremien bei der Auslegung des GATT zu großer Zurückhaltung angehalten. 194  Als Beispiel kann die Einstellung gegenüber genveränderten Lebensmitteln herangezogen werden, die in den EU-Mitgliedstaaten ganz überwiegend auf weit verbreitete Ablehnung stoßen, die in anderen Ländern – auch hoch industrialisierten Ländern – aber eine sehr viel größere Akzeptanz haben. 195  Eine direkte Erwähnung findet der Umweltschutz nur in der Präambel des WTO-Übereinkommens.

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C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

Diese Gründe erklären warum das Vorsorgeprinzip im WTO-Recht bislang nur für solche Maßnahmen Anwendung findet, für die das ÜSPS gilt. Und für diese auch nur zeitlich begrenzt. Dieser Unterschied in beiden Rechtsordnungen führt aber dazu, dass etwa Maßnahmen, die auf den generellen Schutz einer wildlebenden Tierart abzielen nur im EU-Recht von der Beweiserleichterung des Vorsorgeprinzips profitieren können. Daher hatte vor dem EuGH in der Rechtssache Mondiet ein Treibnetzverbot zur Erhaltung der Fischbestände, welches sich nicht auf ausreichende wissenschaftliche Erkenntnisse stützen konnte, Bestand, während Einfuhrbeschränkungen für Thunfisch zum Schutz von Delfinen von einem Panel u. a. auch wegen der strengen Beweisanforderungen für GATTwidrig erklärt wurde. Obwohl in dem Zeitraum der Geltung des Einfuhrverbotes die Zahl der als Beifang getöteten Delfine drastisch gesunken war.196 Gleiches gilt für Lebensmittel. Der Streit um das EU-Verkaufsverbot für hormonbehandeltes Fleisch, das von vielen WTO-Mitgliedern verhängte Verbot gentechnisch veränderter Waren sowie ein diskutiertes Verbot für das Fleisch der Nachkommen geklonter Tiere innerhalb der EU machen deutlich, dass das Kriterium des wissenschaftlichen Nachweises innerhalb des WTO-Rechts zu anspruchsvoll sein könnte. Daher wird teilweise, um einen besseren Schutz gewährleisten zu können, gefordert, dass generell bereits fundierte Verdachtsmomente für den Beweis einer Gesundheitsgefährdung ausreichen sollten. Anderenfalls wird befürchtet, dass sich bis zum Vorliegen eines Beweises die Gefahr bereits realisiert haben könnte.197 Dagegen spricht jedoch, dass das Ausreichen eines bloßen Verdachtes protektionistischen Bestrebungen Tür und Tor öffnen würde. Das ÜSPS soll jedoch Schutz aber kein Protektionismus ermöglichen (protection, but no protectionism).198 Dies würde zudem praktisch eine Beweislast­ umkehr zum Nachteil des beschwerdeführenden WTO-Mitgliedes bedeuten. In den meisten Fällen dürfte es sich bei den strittigen Waren, die mit gesundheitspolizeilichen Maßnahmen belegt werden, um Agrarprodukte handeln. Diese werden oftmals von Entwicklungsländern ausgeführt, die auf die Erlöse dieser Ausfuhren auch dringend angewiesen sind. Diese Entwicklungsländer dürften jedoch von dem Erfordernis der Erbringung eines wissenschaftlichen Unbedenklichkeitsnachweises überfordert sein. Außerdem wäre ein WTO-Mitglied von der Verpflichtung zur Erbringung eines wissenschaftlichen Nachweises befreit, wenn der bloße Gefahrenverdacht für den Beweis einer Gesundheitsgefährdung und damit zum Erlass entsprechender Maßnahmen ausreichen würde. 196  Vgl.

C.II.1.e)bb). S. 89, 90. 198  Erklärung des WTO-Sekretariats, zitiert in: Eggers, EuZW 1998, 147, 150. 197  Diem,



II. Allgemeine Voraussetzungen der wichtigsten Ausnahmebestimmungen  135

Es ist jedoch davon auszugehen, dass die Beweislastregeln hinsichtlich schwerwiegender Gefahren für den Umwelt- oder Gesundheitsschutz im WTO-Recht reformbedürftig sind. Daher ist jedenfalls bei der potentiellen Gefahr schwerwiegender Belastungen für die Umwelt oder die menschliche Gesundheit die Anerkennung des Vorsorgeprinzips zu begrüßen. Denn weder mit dem Rechtsgut der Gesundheit noch mit dem Rechtsgut der Umwelt sollte aufgrund von dessen Bedeutung herumexperimentiert werden. Dies gilt auch dann, wenn dies zu Lasten eines liberalisierten Warenhandels geht. Außerdem werden in demokratischen Gesellschaften es die Wähler oft nicht hinnehmen, wenn Verbote aufgehoben werden, die auf den Vorsorgeprinzip beruhen. Auch Gegenmaßnahmen, etwa in Form von Strafzöllen, würden hieran regelmäßig nichts ändern und nur den liberalisierten Warenhandel empfindlich beinträchtigen. Als Abhilfe in Betracht käme eine Anerkennung von Beweiserleichterungen durch die Streitbeilegungsgremien für handelsbeschränkende Maßnahmen, die dem Umwelt- oder Gesundheitsschutz dienen und die auf die Ausnahmebestimmung des Art. XX lit. a) und lit. g) GATT als Rechtfertigungsgrund gestützt sind. Eine solche Anerkennung von Beweiserleichterungen durch die Streitbeilegungsgremien erscheint jedoch vor dem Hintergrund der den Streitbeilegungsgremien durch Art. 3.2 DSU und Art. 19.2 DSU gesetzten Grenzen als nicht möglich. So setzt Art. 5.7 ÜSPS als eine nicht analogiefähige Sondernorm der Anerkennung des Vorsorgeprinzips klare Grenzen. Denn diese Norm gilt alleine für gesundheitspolizeiliche und pflanzenschutzrechtliche Maßnahmen und für diese auch nur zeitlich begrenzt. Aus dem Umstand, dass die WTO-Mitglieder eine solche Sonderregelung nur für ganz bestimmte Maßnahmen und nur zeitlich begrenzt vertraglich vereinbart haben, folgt nämlich, dass bei ihnen ein Problembewusstsein bezüglich des Vorsorgeprinzips vorhanden war. Dennoch haben sie dem Vorsorgeprinzip keinen Anwendungsbereich außerhalb des ÜSPS eingeräumt. Deshalb ist eine Verankerung der Beweiserleichterung in Form des Vorsorgeprinzips für handelsbeschränkende Maßnahmen, die elementaren Gütern des Umwelt- oder Gesundheitsschutzes dienen, im WTO-Recht notwendig. Dies könnte etwa im Wege der Vertragsänderung nach Art. X WTO geschehen. Falls die Hürden für eine solche Vertragsänderung zu groß sind, bietet sich auch die Möglichkeit an, dass die WTO-Mitglieder nach Art. IX Abs. 2 WTO einzelne Bestimmungen des GATT so auslegen, dass weniger strenge Anforderungen an die wissenschaftliche Risikobewertung gestellt werden.199 199  Eine Vertragsänderung nach Art. X WTO setzt einen Beschluss der Ministerkonferenz voraus, der mindestens einer Dreiviertelmehrheit bedarf. Diese Änderung

136

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

f) Gemeinsamkeiten und Unterschiede des Chapeau des Art. XX GATT und des Art. 36 S. 2 AEUV Das Chapeau des Art. XX GATT fordert, dass die Anwendung der Maßnahmen nicht „zu einer willkürlichen und ungerechtfertigten Diskriminierung zwischen Ländern, in denen gleiche Verhältnisse bestehen, oder zu einer verschleierten Beschränkung des internationalen Handels führen“ dürfen. Nach Art. 36 S. 2 AEUV dürfen Maßnahmen „weder ein Mittel zur willkürlichen Diskriminierung noch eine verschleierte Beschränkung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten darstellen“. Diese Ähnlichkeit im Wortlaut des Chapeaus und des Satzes 2 ist Zeugnis dafür, dass Art. 36 AEUV nach dem Vorbild des älteren GATT verfasst wurde. Diese Ähnlichkeit besteht im Übrigen auch für einzelne der niedergelegten Ausnahmebestimmungen. Beide Organisationen wollten mit dem Verbot der willkürlichen Diskriminierung und der verschleierten Handelsbeschränkung Maßnahmen treffen, die zwar durch die Voraussetzung der niedergelegten Ausnahmebestimmungen gerechtfertigt sind, die aber missbräuchlich zu protektionistischen Zwecken erlassen wurden. Es geht also um Maßnahmen, die den Wortlaut aber nicht den Sinn der speziellen Ausnahmebestimmungen entsprechen. Eine Untersuchung der Judikatur der Streitbeilegungsgremien und des EuGH zeigt aber, dass dem Chapeau des Art. XX GATT im WTO-Recht eine deutlich höhere Bedeutung zukommt, als dies für Art. 36 S. 2 AEUV im EURecht gilt. So hat der EuGH den Begriff der willkürlichen Diskriminierung bislang nicht einmal definiert.200 Und auch zum Begriff der verschleierten Handelsbeschränkung finden sich nur wenige Entscheidungen in der Judikatur des EuGH Der EuGH greift also nur selten auf Art. 36 S. 2 AEUV zurück.201 Demgegenüber haben die Streitbeilegungsgremien für ihre Verhältnisse viele Entscheidungen zum Chapeau des Art. XX GATT getroffen und Maßnahmen von WTO-Mitgliedern zur Verfolgung legitimer Schutz­ ziele hieran gemessen und viele von diesen auch mangels Übereinstimmung tritt grundsätzlich nur in Kraft, wenn sie entweder nach Art. X Abs. 2 WTO von allen WTO-Mitgliedern oder nach Art. X Abs. 3 WTO von zwei Drittel der WTOMitglieder angenommen wurde, dann jedoch grundsätzlich nicht für diejenigen WTO-Mitglieder, die diese Vertragsänderung nicht angenommen haben. Die WTO-Mitglieder können nach Art. IX Abs. 2 WTO eine verbindliche Auslegung der Übereinkommen der WTO treffen. Dazu ist ein Beschluss mit einer Dreiviertelmehrheit der Ministerkonferenz oder des Allgemeinen Rates erforderlich. Anders als bei einer Vertragsänderung ist nicht die grundsätzliche Annahme durch jedes WTO-Mitglied erforderlich. 200  Frenz, Rn. 1046. 201  Schwarze, EU-Kommentar, Art. 30 EGV Rn. 79 (Becker).



II. Allgemeine Voraussetzungen der wichtigsten Ausnahmebestimmungen  137

mit dem Chapeau als GATT-widrig eingestuft. Im Regelfall liegt hingegen zu ähnlichen Bestimmungen in den beiden Rechtsordnungen im EU-Recht eine wesentlich umfangreichere Judikatur vor, da der Zugang zu den Streitbeilegungsgremien auf WTO-Mitglieder beschränkt ist und ein Äquivalent zur Kommission fehlt, welches die Mitglieder mittels juristischer Verfahren zur Einhaltung ihrer vertraglichen Verpflichtungen anhalten kann. Daher ist die Judikatur der Streitbeilegungsgremien zum Chapeau des Art. XX GATT wesentlich umfangreicher, als die Rechtsprechung des EuGH zu Art. 36 S. 2 AEUV. Dieser Unterschied lässt sich jedoch damit erklären, dass Maßnahmen, die einen Missbrauch des Art. 36 S. 1 AEUV darstellen oder zu protektionistischen Zwecken erlassen wurden, regelmäßig bereits an der strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung des EU-Rechts scheitern werden. Denn Maßnahmen die eine willkürliche Diskriminierung oder eine verschleierte Handelsbeschränkung darstellen, werden im Regelfall den Erforderlichkeitstest (kein milderes aber gleich effektives Mittel) und den Angemessenheitstest (ausgewogenes Verhältnis zwischen der erfolgten Beeinträchtigung und dem verfolgten Schutzziel unter Berücksichtigung des Einzelfalles) kaum überstehen.202 Deshalb können im EU-Recht Maßnahmen bereits mangels Vereinbarkeit mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip als ein nicht zu rechtfertigender Verstoß gegen die Warenverkehrsfreiheit eingestuft werden, so dass die Prüfung des Art. 36 S. 2 AEUV nicht mehr von Relevanz ist. Hingegen findet das Verhältnismäßigkeitsprinzip im WTO-Recht wie bereits dargestellt keine Anwendung.203 Daher kommt dem Chapeau des Art. XX GATT eine wesentlich größere Bedeutung zu. Das Chapeau des Art. XX GATT und Art. 36 S. 2 AEUV haben aber gemeinsam, dass zur Verfolgung legitimer Schutzziele in beiden Rechtsordnungen diskriminierende Maßnahmen benutzt werden können. Es darf also zwischen eingeführten und einheimischen Waren unterschieden werden. Die Erreichung eines effektiven Schutzes legitimer Schutzziele kann jedoch diskriminierende Maßnahmen notwendig machen. Denn Maßnahmen eines Staates zum Schutz legitimer Schutzziele sind oftmals schon deshalb diskriminierend, da Produzenten einheimischer Waren sich tradi­ tionell an diesen ausgerichtet haben, während diese für Produzenten eingeführter Waren eine Umstellung bedeuten und ihren Marktzugang behindern. Außerdem soll durch die Möglichkeit der Diskriminierung ausländischer Waren dafür gesorgt werden, dass legitime Schutzziele nur in einem gewissen Maße durch einheimische Waren beeinträchtigt werden, diese 202  Vgl. 203  Vgl.

C.II.2.d) zu den Voraussetzungen der Verhältnismäßigkeitsprüfung. C.II.1.d).

138

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

legitimen Schutzziele aber nicht völlig durch eine ungebremste Einfuhr von Waren erodiert werden können. Art. XX GATT und Art. 36 AEUV unterscheiden sich in der Diskriminierungsmöglichkeit eingeführter Waren von der Cassis-Formel. Denn im Rahmen der Cassis-Formel können grundsätzlich diskriminierende Maßnahmen nicht gerechtfertigt werden. Allenfalls für als elementar wichtig angesehene legitime Schutzziele der Cassis-Formel wie den Umweltschutz, die öffentliche Gesundheit oder das finanzielle Gleichgewicht der sozialen Sicherungssysteme scheint der EuGH hiervon Ausnahmen zu machen.204 Die jedenfalls grundsätzliche Nichtanwendbarkeit der Cassis-Formel auf diskriminierende Maßnahmen ist jedoch damit zu erklären, dass durch diskriminierende Maßnahmen die Warenverkehrsfreiheit in ihrem Kern ge­ troffen wird. Aufgrund der Vielzahl der „zwingenden Erfordernisse“ würde der Anwendungsbereich des Art. 34 AEUV zu stark eingeschränkt werden, wenn die Cassis-Formel auch diskriminierende Maßnahmen erfassen würde. Im Übrigen ist anzufügen, dass auch die „objektiven Kriterien“ diskriminierende Maßnahmen rechtfertigen. Damit ähneln sie Art. XX GATT und Art. 36 AEUV, die ebenfalls für diskriminierende Maßnahmen gelten. Der Grund für diese Ähnlichkeit liegt jedoch darin, dass Art. 110 AEUV gerade diskriminierende Besteuerungen erfasst und die „objektiven Kriterien“ eine Möglichkeit bieten sollen, nach deren Maßgabe eine diskriminierende Besteuerung keine Verletzung des Art. 110 AEUV darstellt. g) Sonstige Gemeinsamkeiten und Unterschiede An sonstigen Gemeinsamkeiten und Unterschieden ist anzumerken, dass Art. 36 AEUV und Art. XX GATT nicht nur eine Ähnlichkeit bezüglich ihres Chapeaus bzw. S. 2 aufweisen, sondern auch einige weitere ähnliche Vorschriften enthalten. So finden sich für Art. XX lit. a), b), und f) nahezu gleich lautende Gegenstücke in Art. 36 AEUV. Diese Ähnlichkeiten zeigen, dass die Verfasser des EU-Vertrages das ältere GATT-Übereinkommen auch nach dessen Vorbild geformt haben. Ein weiterer Unterschied zwischen den Ausnahmebestimmungen beider Rechtsordnungen besteht hingegen darin, dass eine Berufung auf die Ausnahmebestimmungen des Art. 36 AEUV und der Cassis-Formel nur möglich ist, solange den entsprechenden Schutzzielen nicht schon durch eine bestehende gemeinschaftsrechtliche Harmonisierung Rechnung getragen 204  Vgl.

C.II.3.d) und C.V.2.a).



III. Vergleich ähnlicher Ausnahmebestimmungen139

wurde. Jedoch kennt nur das EU-Recht die Möglichkeit einer solchen Harmonisierung der Rechtsvorschriften, in dem für das Funktionieren eines Binnenmarktes nachteilige Unterschiede in den Rechtsordnungen der einzelnen EU-Mitgliedstaaten beseitigt werden. Ein der Harmonisierung vergleichbares Instrument auf Ebene der WTO fehlt. So sind im WTO-Recht keine den Art. 114 AEUV bis Art. 117 AEUV ähnlichen Vorschriften enthalten, die Kompetenzen und Instrumente zur Rechtsangleichung beinhalten würden. Zwar gibt es auch auf Ebene des internationalen Handels die Möglichkeit der Angleichung der verschiedenen Rechtsordnungen zur Erleichterung des grenzüberschreitenden Handels im Rahmen unterschied­ licher internationaler Organisationen und Konferenzen (z. B. Haager IPRKonferenz, UN-Ausschuss für internationales Handelsrecht (UNCITRAL), Internationale Arbeitsorganisation (ILO), etc.). Die in diesen Gremien geschlossenen Vereinbarungen sind jedoch nicht mit einer Harmonisierung auf EU-Ebene zu vergleichen. So werden die Vereinbarungen regelmäßig durch völkerrechtliche Verträge umgesetzt, an denen kein Beteiligungszwang besteht und entsprechend auch nicht alle WTO-Mitglieder als Vertragspartner beteiligt sind. Vor allem ist aber die Regelungsdichte und die Verbindlichkeit der auf Ebene der EU vorgenommene Harmonisierung nicht mit den auf internationaler Ebene erfolgten Bemühungen zur Rechtsangleichung zu vergleichen.

III. Vergleich ähnlicher Ausnahmebestimmungen Zahlreiche Ausnahmebestimmungen im EU- und WTO-Recht dienen dem Schutz ähnlicher oder gar gleicher legitimer Schutzziele. Im Folgenden sollen die Schutzziele, die in der jeweils anderen Rechtsordnung ein Äquivalent haben auf ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede untersucht werden. 1. Der Schutz der öffentlichen Sittlichkeit Der Schutz der öffentlichen Sittlichkeit wird in beiden Rechtsordnungen als erste Ausnahmebestimmung aufgeführt. So ist die öffentliche Sittlichkeit in Art. XX lit. a) GATT verankert, ebenso ist die öffentliche Sittlichkeit als erstes unter den in Art. 36 S. 1 AEUV erwähnten legitimen Schutzziele aufgeführt. Ob es darüber hinaus weitere Gemeinsamkeiten in Bezug auf den Schutz der öffentlichen Sittlichkeit in beiden Rechtsordnungen gibt, wird im Folgenden dargestellt.

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C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

a) Der Schutz der öffentlichen Sittlichkeit im WTO-Recht Zu der in Art. XX lit. a) GATT enthaltenen Ausnahmebestimmung zum Schutz des legitimen Schutzziels der öffentlichen Sittlichkeit haben die Streitbeilegungsgremien bislang keine Entscheidung getroffen.205 Obwohl verschiedene WTO-Mitglieder sich auf die Ausnahmebestimmung des Art. XX lit. a) GATT berufen haben,206 sind die Streitbeilegungsgremien hierauf nicht eingegangen. Dies mag zu der Auffassung verleiten, dass die öffentliche Sittlichkeit als legitimes Schutzziel im internationalen Warenhandel ohne praktische Bedeutung ist. Jedoch wenden verschiedene WTO-Mitglieder zum Schutze der öffentlichen Sittlichkeit die unterschiedlichsten handelsbeschränkende Maßnahmen an. So verbietet Israel die Einfuhr von unkoscheren Fleischprodukten, um das Risiko für fromme Juden zu vermindern unabsichtlich religiöse Essrituale zu verletzen. Ebenso verbietet Israel die Einfuhr von Losen oder anderen Besitzurkunden aus dem Lotterie- oder Glücksspielbereich. Thailand wiederum verbietet die Ausfuhr von Buddha-Bildnissen und Statuen, da deren verunglimpfende Behandlung im Ausland befürchtet wird. Ein US-amerikanisches Handelsgesetz verbietet hingegen die Einfuhr von „unmoralischen Waren“, wobei es sich um „obszöne“ Bücher oder Bilder handelt. Ebenso verbieten die USA die Einfuhr gekaufter menschlichen Organen, um so den Organhandel zu bekämpfen.207 Von 1992 bis 2000 erließen die USA auch ein Einfuhrverbot für das Abtreibungsmedikament Mifepristine, welches ausdrücklich mit moralischen und ethischen Bedenken gegen die Möglichkeit einer Abtreibung mittels Medikamenteneinnahme statt eines operativen Eingriffes begründet wurde. Gleichzeitig wurde dieses Medikament in Großbritannien, Schweden, Frankreich und China legal vertrieben. Auch in Deutschland bestehen Einfuhrverbote aus Gründen, die dem legitimen Schutzziel der öffentlichen Sittlichkeit zugerechnet werden können. So ist nach § 86 Abs. 1 Nr. 4 StGB die Einfuhr von Propagandamitteln, die nach ihrem Inhalt dazu bestimmt sind, Bestrebungen einer ehemaligen na­ tionalsozialistischen Organisation fortzusetzen, in das Gebiet der Bundesrepublik verboten. Gleichzeitig können solche Propagandamittel im Gebiet anderer WTO-Mitglieder, etwa in den USA oder Dänemark legal vertrieben und in andere Länder ausgeführt werden.208 Schließlich ist in verschiedenen 205  Gray,

S. 455; Breining-Kaufmann, S. 106. Panel Report, US – Malt Beverages, Rn. 3.125; GATT Panel Report, US – Tuna, Rn. 3.71. 207  Vgl. auch Charnovitz, VJIL 1998, 68, 72; Panel Report, US – Gambling, Rn. 6.471. 208  Feddersen, S. 264, 265. 206  GATT



III. Vergleich ähnlicher Ausnahmebestimmungen141

islamischen Ländern wie etwa Saudi-Arabien aus religiösen Gründen die Einfuhr von alkoholhaltigen Getränken verboten. Zudem wird von verschiedenen Seiten vorgeschlagen, dass zur Rechtfertigung zahlreicher bestehender oder diskutierter handelsbeschränkenden Maßnahmen das legitime Schutzziel des Schutzes der öffentlichen Sittlichkeit nach Art. XX lit. a) GATT herangezogen werden könnte. So wurde der Vorschlag gemacht, dass einige WTO-Mitglieder, die Sanktionen für sog. Blutdiamanten erlassen haben, diese nach Art. XX lit. a) GATT rechtfertigen können. Bei Blutdiamanten handelt es sich um die von Kriegsparteien aus verschiedenen afrikanischen Ländern wie Liberia, Angola, Sierra Leone und den ehemaligen Zaire oft durch Zwangsarbeiter und unter unmenschlichen Bedingungen geförderte Diamanten, mit deren Erlös die Kriegsführung finanziert wurde.209 Aufgrund des Druckes von Nicht­ regierungsorganisationen kam es zum sog. Kimberley-Prozess, in dessen Rahmen die diamantenverarbeitende Industrie und verschiedene Staaten sich auf ein Zertifizierungssystem für Diamanten einigten. Die im KimberleyProzess getroffenen Vereinbarungen wurden von der EU aufgegriffen und in verschärfter Form in ein Einfuhrverbot umgesetzt.210 Auch das US-amerikanische Repräsentantenhaus verbot die Einfuhr solcher Diamanten.211 Andere WTO-Mitglieder erließen ebenfalls Einfuhrverbote, die aber nicht in jeden Fall ähnlich streng wie das der EU ausfielen. Für den KimberleyProzess und die damit einhergehenden Handelssanktionen wurde den WTOMitgliedern jedoch ein Waiver erteilt.212 Aufgrund dieses Waivers kann gegen diese handelsbeschränkenden Maßnahmen der WTO-Mitglieder, die am Kimberley-Prozess teilnehmen, kein Verfahren vor den Streitbeilegungsgremien eingeleitet werden. Außerdem ist vorgeschlagen worden, das legitime Schutzziel der „öffentlichen Sittlichkeit“ als Rechtfertigung für handelsbeschränkende Maßnahmen anzuwenden, die sich etwa gegen die Einfuhr von Pelzen von in Tellereisen qualvoll gefangenen Tieren richten.213 In der Literatur werden auch 209  Nadakavukaren

Schefer, S. 428; Fotter, S. 257. (EG) Nr. 2368 / 2002 des Rates vom 20.12.2002 zur Umsetzung des Zertifikationssystems des Kimberley-Prozesses für den internationalen Handel mit Rohdiamanten. 211  Clean Diamond Trade Act, zit. in: Cleveland, JIEL 2002, 133, 135. 212  Waiver Concerning Kimberley Process Certification Scheme for Rough Diamonds, Decision of 15 May 2003, WT / L / 518 (27 May 2003). Vgl. C.IV.7. zu den Voraussetzungen für den Erlass eines Waivers. 213  In Tellereisen gefangene Tiere sind schweren Qualen ausgesetzt. So werden die Gliedmaßen des gefangenen Tieres regelmäßig zerquetscht, dieses beißt sich Gliedmaßen ab in den meistens vergeblichen Versuch zu kommen. Außerdem ist das 210  Verordnung

142

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

handelsbeschränkende Maßnahmen auf alkoholische Getränke oder pornographische Materialien oder gegen Waren welche durch Kinderarbeit oder von Arbeitern, denen elementare Rechte vorenthalten werden hergestellt werden oder die in Ländern hergestellt werden, in denen es zu schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen kommt, durch Art. XX lit. a) GATT als grundsätzlich gerechtfertigt angesehen.214 Als ein Beispiel für handelsbeschränkenden Maßnahmen zum Schutz der öffentlichen Sittlichkeit können die von der USA gegen Myanmar, aufgrund der vom dortigen Militärregime verschuldeten schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen und der geduldeten Missachtung elementarer Arbeitsschutzbedingungen, verhängten Handelssanktionen angeführt werden. Diese Handelssanktionen wurden von den USA mit Verweis auf Art. XX lit. a) GATT begründet. Die Handelssanktionen der USA gegen Myanmar führten jedoch nicht zur Einleitung eines Streitbeilegungsverfahrens.215 Diese Beispiele machen deutlich, dass grundsätzlich ein praktischer Anwendungsbedarf für die Ausnahmebestimmung des Art. XX lit. a) GATT besteht. Mangels entsprechender Judikatur der Streitbeilegungsorgane fehlen jedoch verbindliche Aussagen über die Auslegung und das zulässige Schutzniveau für Maßnahmen mittels derer die öffentliche Sittlichkeit geschützt werden soll. Im Folgenden soll daher untersucht werden, ob und unter welchen Voraussetzungen tatsächlich auf das legitime Schutzziel des Schutzes der öffentlichen Sittlichkeit des Art. XX lit. a) GATT zurückgegriffen werden kann. Dabei ist zu unterscheiden, zwischen Handelshemmnissen die zum Schutz der öffentlichen Sittlichkeit der eigenen Bevölkerung und Handelshemmnisse, die ebenfalls zum Schutz der öffentlichen Sittlichkeit erlassen werden, mittels derer aber auf Missstände außerhalb des eigenen Hoheitsgebietes des jeweiligen WTO-Mitgliedes abgezielt wird. aa) Handelshemmnisse zum Schutz der öffentlichen Sittlichkeit der eigenen Bevölkerung Handelshemmnisse, deren einziger Zweck darin besteht, die öffentliche Sittlichkeit der eigenen Bevölkerung zu schützen, ohne dabei auf Verhaltensweisen außerhalb des eigenen Hoheitsgebietes einen Einfluss auszuüben, fallen regelmäßig unter die Ausnahmebestimmung des Art. XX lit. a) GATT. Von den genannten Vorschlägen aus der Literatur und Beispielen aus der Tier anderen Tieren ausgeliefert und muss oftmals stunden- bis tagelang in dieser ausweglosen Lage verbringen. Zudem werden hierdurch an sich wertlose Tiere gefangen, die aber dennoch ihr Leben unter qualvollen Bedingungen lassen müssen. 214  Gray, S. 455; Lowenfeld, S. 572; van den Bossche, S. 615. 215  Trebilcock / Howse, S. 568.



III. Vergleich ähnlicher Ausnahmebestimmungen143

Praxis sind hier Handelshemmnisse und Einfuhrverbote für alkoholhaltige Getränke, unkoschere Fleischprodukte, pornographische und „obszöne“ Materialien, Abtreibungsmedikamente oder nationalsozialistischen Propagandamaterialien zu nennen. Diese richten sich nicht gegen Praktiken im Ausland, sondern bezwecken alleine den Schutz der öffentlichen Sittlichkeit im eigenen Land. In diesen Fällen ist Art. XX lit. a) GATT als Ausnahmebestimmung einschlägig, da es den WTO-Mitgliedern freisteht, das Schutzniveau der öffentlichen Sittlichkeit innerhalb des eigenen Hoheitsgebietes festzulegen. Diese Annahme basiert auf verschiedenen Gründen. Zunächst spricht hierfür die Entstehungsgeschichte des GATT-Übereinkommens. Hier war beabsichtigt das Schutzgut der „öffentlichen Sittlichkeit“ weit auszulegen.216 Auch hat der Appellate Body bezüglich des Schutzes der Gesundheit nach Art. XX lit. b) GATT festgestellt, dass es jedem WTO-Mitglied freisteht über das von ihm als angemessen empfundene Schutzniveau selber zu entscheiden.217 Und ist es nicht ersichtlich, warum die Organe eines Staates zwar über das von ihnen als angemessen empfundene Niveau des Gesundheitsschutzes für ihre Bevölkerung entscheiden können, diesen Organen es aber verwehrt sein soll, eine Entscheidung über das von ihnen als opportun angesehene Niveau der öffentlichen Sittlichkeit in dem Land in dem sie die Verantwortung tragen, zu treffen. Zudem spricht für diese Auslegung auch, dass ein Panel zum Begriff der „öffentlichen Sittlichkeit“ in Art. XIV lit. a) GATS entschieden hat, dass dieser sich je nach „sozialen, kulturellen, ethischen und religiösen Werten“ ändern kann.218 Art. XIV GATS ist die Parallelvorschrift zu Art. XX GATT. In diesem Bericht hat das Panel übrigens den Begriff der „öffentlichen Sittlichkeit“ als alle Regeln, Prinzipien und Werte, die das Verhalten in einer Gemeinschaft oder Nation als richtig oder falsch charakterisieren, eingestuft.219 Auch haben sich WTO-Mitglieder im Streitbeilegungsverfahren unwidersprochen vom jeweils zuständigen Panel in diese Richtung geäußert. So hat sich Australien darauf berufen, dass ein Panel nicht über die öffentliche Sittlichkeit einer Vertragspartei urteilen könnte220 und die EU und die Niederlande haben ausgeführt, dass der Begriff der öffentlichen Sittlichkeit stark von den jeweiligen religiösen und kulturellen Traditionen bestimmt wird.221 Diese Berichte wurden allerdings beide nicht angenommenen. Letztlich würde eine 216  Nadakavukaren

Schefer, S. 429. Body Report, EC – Asbestos, Rn. 168. 218  Panel Report, US – Gambling, Rn. 6.461. 219  „The term ‚public morals‘ denotes standards of right and wrong conduct maintained by or on behalf of a community or nation“. Panel Report, US – Gambling, Rn. 6465. Diese Definition wurde vom Appellate Body nicht widersprochen. 220  GATT Panel Report, US – Tuna (Mexico), Rn. 4.4. 221  GATT Panel Report, US – Tuna (EEC), Rn. 3.71. 217  Appellate

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C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

einheitliche Auslegung des Begriffes der „öffentlichen Sittlichkeit“ von vielen auch als ein Mittel zur Durchsetzung westlicher Moralvorstellungen und damit als ein kultureller Paternalismus angesehen werden. Ein entscheidendes Argument für diese Auslegung des Begriffes der „öffentlichen Sittlichkeit“ ist aber, dass Handelshemmnisse, deren einziger Zweck darin besteht, die öffentliche Sittlichkeit der eigenen Bevölkerung zu schützen, ohne dabei auf Verhaltensweisen außerhalb des eigenen Hoheitsgebietes einen Einfluss auszuüben, regelmäßig, vielleicht mit der Ausnahme von Einfuhrverboten und sonstigen Handelshemmnissen für alkoholhaltige Getränke, Waren betreffen, denen nur eine geringe wirtschaftliche Bedeutung zukommt. Gleichzeitig wäre aber eine Auslegung des Begriffes der „öffentliche Sittlichkeit“, welche die Eigenheiten des jeweiligen WTO-Mitgliedes nicht ausreichend berücksichtigt, dazu geeignet Emotionen in der Bevölkerung des betroffenen WTO-Mitgliedes zu schüren, die zu einer Ablehnung des gesamten Projektes einer fortschreitenden Handelsliberalisierung unter dem Regime der WTORechtsordnung führen könnte. Demgegenüber muss die Handelsfreiheit von moralisch als fragwürdig anzusehenden oder ansehbaren Waren, wie rechtsextremes Propagandamaterial, pornographische und „obszöne“ Materialien, Abtreibungsmedikamente oder unkoschere Fleischprodukte zurückstehen. Im Ergebnis führt dies jedoch dazu, dass WTO-Mitgliedern immer dann eine nahezu völlige Gestaltungsfreiheit zukommt, wenn sie Handelshemmnisse zum Schutz der öffentlichen Sittlichkeit der eigenen Bevölkerung nach Art. XX lit. a) GATT rechtfertigen wollen. Einen Missbrauch des Art. XX lit. a) GATT können die Streitbeilegungsgremien der WTO jedoch durch eine fallgerechte Anwendung des Chapeaus entgegenwirken. Außerdem wird das WTO-Mitglied welches sich als Rechtfertigung für eine handelsbeschränkende Maßnahme auf die innerhalb seines Hoheitsgebietes bestehenden Vorstellungen der öffentlichen Sittlichkeit beruft, nach den im WTO-Recht geltenden Beweislastregeln,222 das Bestehen und die Akzeptanz solcher Vorstellungen auch nachweisen müssen. bb) Extraterritoriale Anwendungsmöglichkeit des Art. XX lit. a) GATT Bei handelsbeschränkenden Maßnahmen durch die neben dem Schutz der öffentlichen Sittlichkeit der eigenen Bevölkerung auch der Schutz extraterritorialer Schutzziele verfolgt wird, kann den WTO-Mitgliedern aber keine ähnliche nahezu völlige Gestaltungsfreiheit zugesprochen werden. Hierbei handelt es sich um Handelshemmnisse, die zwar auch den Schutz der Vorstellungen 222  Vgl. C.II.1.e) zu den Beweislastregeln bei den Ausnahmebestimmungen im WTO-Recht.



III. Vergleich ähnlicher Ausnahmebestimmungen145

über die öffentliche Sittlichkeit innerhalb des eigenen Hoheitsgebietes dienen, aber sozusagen „überschwappen“ und gleichzeitig ein als anstößig empfundenes Verhalten im Hoheitsgebiet anderer WTO-Mitglieder abstellen sollen. Als Beispiele lassen sich hier vor allem anführen: Einfuhrverbote und andere handelsbeschränkenden Maßnahmen die gegenüber WTO-Mitgliedern verhängt werden, in deren Hoheitsgebiet es zu Menschenrechtsverletzungen kommt, oder die Waren auferlegt werden, die unter Missachtung von Arbeitsschutzbedingungen oder durch Kinderarbeit hergestellt werden oder die bzw. deren Grundbestandteile auf eine tierquälerische Art und Weise erlangt werden. Fraglich ist daher, ob WTO-Mitglieder handelsbeschränkende Maßnahmen mittels derer auch Menschenrechtsverletzungen, der Missachtung von Arbeitsschutzbedingungen, der Kinderarbeit und tierquälerischen Methoden entgegengewirkt werden soll, mit einer Berufung auf die Ausnahmebestimmung zum Schutz der öffentlichen Sittlichkeit nach Art. XX lit. a) GATT rechtfertigen können. Denn Waren, die mit solchen Maßnahmen belegt werden, die in Bezug auf den Herstellungsprozess gemacht werden, der sich aber nicht im Endprodukt niederschlägt, sog. PPM-Maßnahmen (process and production methods), sind gleichartig i. S. d. entsprechenden GATT-Bestimmungen zu Waren, die ansonsten dieselben Produktcharakteristika haben, aber auf einen weniger anstößig erscheinenden Herstellungsprozess oder Produktionsort zurückblicken können. Daher stellen entsprechende Einfuhrverbote und andere Handelshemmnisse einen Verstoß gegen das WTO-Recht dar. Denn diese werden regelmäßig die Form der Rücknahme von Zollzugeständnissen (Art. II GATT),223 eines Verstoßes gegen das Prinzip der Meistbegünstigung des Art. I GATT,224 des Verbots der mengenmäßigen Beschränkungen des Art. XI GATT225 oder des Diskriminierungsverbot des Art. III GATT erfolgen.226 Daher werden sie durch Art. XX lit. a) GATT gerechtfertigt werden müssen, falls ein hierdurch betroffenes WTOMitglied sich gegen solche handelsbeschränkenden Maßnahmen in einem Streitbeilegungsverfahren zur Wehr setzt. Ob eine solche Rechtfertigungsmöglichkeit durch Art. XX lit. a) GATT gegeben ist, lässt sich mangels entsprechender Präzedenzfälle nicht der Judikatur der Streitbeilegungsgremien von GATT und WTO entnehmen. Daher ist durch Auslegung zu ermitteln, ob Handelssanktionen oder andere handelsbeschränkenden Maßnahmen, die aufgrund von Menschenrechtsverletzungen, der Missachtung von Arbeitsschutzbedingungen, von Kinderarbeit oder von tierquälerischen Methoden verhängt werden, die Ausnahmebestimmung des Art. XX lit. a) 223  Vgl.

B.I.1.a) zu den Voraussetzungen des Art. II GATT. B.III.1. zu den Voraussetzungen des Art. I GATT. 225  Vgl. B.I.2.a) zu den Voraussetzungen des Art. IX GATT. 226  Vgl. B.II.1. und B.III.1. zu den Voraussetzungen des Art. III GATT. 224  Vgl.

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C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

GATT als Rechtfertigungsmöglichkeit angewendet werden kann. Zur Klärung dieser Frage können internationale Vertragswerke, uni- und bilaterale Maßnahmen sowie Auffassungen in der Literatur herangezogen werden. (1) D  er Schutz der Menschenrechte als Belang der öffentlichen Sittlichkeit In den Übereinkommen unter dem WTO-Übereinkommen findet sich keine Erwähnung der Menschenrechte. Auch die Streitbeilegungsgremien haben bislang in ihren Entscheidungen noch nicht auf den Schutz der Menschenrechte abgestellt. Doch gerade in jüngerer Zeit wird insbesondere von Nichtregierungsorganisationen eine verstärkte Berücksichtigung der Menschenrechte in den Belangen des Freihandels gefordert. Fraglich ist daher, ob WTO-Mitglieder handelsbeschränkende Maßnahmen, die zur Abstellung von Menschenrechtsverletzungen in anderen Ländern beitragen sollen, auf die Ausnahmebestimmung des Art. XX lit. a) GATT zum Schutz der öffentlichen Sittlichkeit stützen können. Die Möglichkeit eines solchen Schutzes von Menschenrechten durch ihre Anerkennung als ein Belang der öffentlichen Sittlichkeit i. S. d. Art. XX lit. a) GATT stellt sich vor allem vor den Hintergrund, dass in den internationalen Verträgen zum Schutz der Menschenrechte, vielleicht mit Ausnahme der Europäischen Menschenrechtskonvention, keine oder jedenfalls nicht sehr effektive Durchsetzungsmöglichkeiten für den Menschenrechtsschutz vorhanden sind. Gleichzeitig bildet das Streitbeilegungsverfahren der WTO den auf internationaler Ebene effektivsten Rahmen für das Durchführen eines Streitbeilegungsverfahren und der Durchsetzung eines „Urteilsspruches“. Ein auch nur annäherndes Äquivalent zu diesem Streitbeilegungsverfahren ist hingegen auf internationaler Ebene hinsichtlich der Verfolgung des Schutzes der Menschenrechte nicht gegeben.227 Falls der Schutz der Menschenrechte daher als ein von der öffentlichen Sittlichkeit i. S. d. Art. XX lit. a) GATT geschützter Belang anerkannt wäre, könnten WTO-Mitglieder Handelssanktionen gegen andere WTO-Mitglieder verhängen, in denen es zu Verstößen gegen die Menschenrechte kommt. Diese Handelssanktionen wären dann aufgrund des Art. XX lit. a) GATT gerechtfertigt. Eine solche Rechtfertigungsmöglichkeit könnte dazu beitragen, Menschenrechtsverletzungen abzustellen. Handelssanktionen aufgrund von Menschenrechtsverletzungen können aufgrund einer Vielzahl von Gründen verhängt werden. So kann ein anderer Staat hierdurch für die innerhalb seines Hoheitsgebietes bestehende Men227  Cottier,

JIEL 2002, 122, 123.



III. Vergleich ähnlicher Ausnahmebestimmungen147

schenrechtspraxis bestraft werden, die Versorgung eines Regimes mit notwendigen Waren oder Devisen kann hierdurch erschwert werden, die Regierung des die Sanktionen verhängenden Staates kann ihre Empörung über bestehende Menschenrechtsverletzungen ausdrücken und zugleich verhindern, dass die Wirtschaft ihres Landes von diesen Menschenrechtsverletzungen profitiert. Schließlich besteht durch die Verhängung von Handelssanktionen die Möglichkeit sich moralisch von den Menschenrechtsverletzungen zu distanzieren und Druck für das Zustandekommen multilateraler Handelssanktionen zu gerieren.228 Handelssanktionen zum Schutz der Menschenrechte, die von WTO-Mitgliedern aufgrund eines entsprechenden Beschlusses des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen wegen Verletzung der Menschenrechte verhängt werden, benötigen jedoch keine Rechtfertigungsmöglichkeit durch diese Ausnahmebestimmung. Diese finden ihre Rechtfertigung nämlich in der noch zu behandelnden Ausnahmebestimmung des Art. XXI lit. c) GATT.229 Als ein Beispiel für von WTO-Mitgliedern verhängten Handelssanktionen zur Verfolgung des Schutzes der Menschenrechte können etwa Sanktionen der USA oder der EU gegen Südafrika, eines der ursprünglichen Vertragsparteien des GATT, genannt werden, die in ihren Anwendungsbereich weit über die Beschlüsse des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen hinausgingen.230 Das Ende der Apartheid ist sicherlich auch auf diese Handelssanktionen mit zurückzuführen. Ebenso verhängten im Jahr 1978 sowohl die USA als auch die EU aufgrund schwerster Menschenrechtsverletzungen des Idi Amin-Regimes Handelssanktionen gegen Uganda.231 Diese Sanktionen waren ein Grund dafür, dass das Idi Amin-Regime in einer kriegerischen Auseinandersetzung mit Tansania schnell zusammenbrach. Die Stadt New York verbot wiederum im Jahr 1991 New Yorker Firmen u. a. die Einfuhr von Waren aus Betrieben in Nordirland in denen Katholiken diskriminiert wurden. Die USA haben zudem ein totales Handelsverbot gegenüber Myannmar verhängt, und begründeten dies mit schweren Verletzungen der Menschenrechte und elementarer Arbeitsschutzbedingungen.232 Ein anderes US-amerikanisches Gesetz verbietet die Einfuhr von Waren, die mittels „erzwungener Kinderarbeit“ oder von Kindern in Leibeigenschaft hergestellt wurden.233 228  Cleveland,

2002, 133, 135. C.III.5.a)cc)(3) zu den Voraussetzungen des XXI lit. c) GATT. 230  Vázquez, 2003, 797, 804. 231  Charnovitz, VJIL1998, 689, 698. 232  Trebilcock / Howse, S. 558, 568; vgl. auch Burmese Freedom and Democracy Act of 2003. 233  Vázquez, JIEL 2003, 797, 811; vgl. § 411 lit. a) des Trade and Development Act of 2000. 229  Vgl.

148

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

Gegen Handelssanktionen, die sich jedenfalls auch auf den Schutz von Menschenrechten beriefen, wurden bislang zwei Streitbeilegungsverfahren eingeleitet, die aber nicht zu Ende geführt wurden. So begann die EU ein Streitbeilegungsverfahren gegen den US-amerikanischen sog. „Helms-Burton Act“.234 Dieses Gesetz bot u. a. US-Bürgern die Möglichkeit Ausländer und ausländische Firmen, die in Kuba investierten oder mit diesem Land Handel trieben, zu verklagen oder gegen diese Sanktionen verhängen zu lassen. Ausländische Unternehmen mussten sich also zwischen einem Engagement auf dem kubanischen Markt oder dem wesentlich größeren USMarkt entscheiden. Das Streitbeilegungsverfahren wurde für Verhandlungen ausgesetzt und nach dem einjährigen Zeitablauf des Art. 12.12 DSU mangels erneuter Verfahrensaufnahme nicht wieder aufgenommen, so dass das Mandat des Panels erlosch. Die EU erließ darüber hinaus eine Verordnung, die dieses Gesetz für innerhalb der EU als nicht anwendbar erklärte.235 Ebenso erließen Mexiko, Großbritannien und Kanada Rechtsvorschriften, welche zur Unanwendbarkeit des Helms-Burton Act innerhalb ihres jeweiligen ­Hoheitsgebietes beitragen sollen.236 Als ein weiteres begonnenes aber nicht vollendetes Streitbeilegungsverfahren gegen Handelssanktionen zum Schutz von Menschenrechten, kann ein Streitbeilegungsverfahren der EU und Japans gegen die USA angeführt werden, in dem es um ein Gesetz des US-Bundesstaates Massachusetts ging, in dem alle Unternehmen die Handel mit Myanmar trieben, von der Vergabe öffentlicher Aufträge ausgeschlossen wurden. Dadurch sollte eine Verbesserung der Menschenrechtslage in Myanmar erreicht werden. Auch hier erlosch aber nach stattgefundenen Verhandlungen das Mandat des Panel, nachdem das streitige Gesetz zwischenzeitlich von US-Gerichten für verfassungswidrig erklärt worden war.237 Nach dem Vorbild von Massachusetts erließen zahlreiche US-amerikanische Städte, darunter New York und Los Angeles, ähnliche Vorschriften.238

234  Cuban

Liberty and Democratic Solidarity (Libertad) Act of 1996. EG (VO) Nr. 2271 / 96 vom 22.11.1886, ABl. 1996 L 309 / 1; vgl. auch Paemen, S.  366 ff. 236  Vgl. zu Mexiko: Law of Protection of Commerce and Investments from Foreign Policies that Contravene International Law . / . Ley de Protección al Comercio y la Inversión de Normas Extranjeras que Contravengan el Derecho Internacional vom 23.10.1996; vgl. zu Großbritannien: Statutory Instrument 1992 Nr. 2449, aufgerufen am 17.09.2008 auf www.opski.gov.uk / si / si1992 / uksi_19922449_en_1.htm; vgl. zu Kanada: Foreign Extraterritorial Measure Act, aufgerufen am 17.09.2008 auf www2.parl.gc.cA / HousePublications / Publication.aspx?pub=. 237  Vgl. Hilf / Oeter, § 25, Rn. 39 (Göttsche); Cleveland, JIEL 2002, 144. 238  Schaefer, S. 337. 235  Vgl.



III. Vergleich ähnlicher Ausnahmebestimmungen149

Diese beiden Beispiele zeigen auch, dass Handelssanktionen verwendet werden können, um einen mittelbaren Schutz von Menschenrechtsverletzungen zu erreichen, indem der Handel von Drittstaaten sanktioniert wird. Ebenso hat die EU Handelssanktionen gegenüber Myanmar aufgrund der menschenrechtlichen Lage in diesem Land verhängt, die u. a. den Abbau von Handelszugeständnissen umfassen.239 Auch gegen Simbabwe wurden von der EU wegen Menschenrechtsverletzungen Sanktionen erlassen. Zudem wird der Erlass von Handelssanktionen gegen China aufgrund von Menschenrechtsverletzungen in diesem Land immer wieder diskutiert. Dabei sind sowohl Myanmar, Kuba, China als auch Simbabwe alle WTO-Mitglieder. Diese teilweise immer noch aktuellen Beispiele zeigen, dass es durchaus von praktischer Relevanz ist, ob Handelssanktionen, die zur Verbesserung der Menschenrechtslage in einem anderen Land erlassen werden, sich auf die Ausnahmebestimmung des Schutzes der öffentlichen Sittlichkeit nach Art. XX lit. a) GATT stützen können. Sowohl für als auch gegen eine solche Möglichkeit werden zahlreiche stichhaltige Argumente genannt. Für die Möglichkeit der Rechtfertigung von Handelssanktionen zur Verbesserung der Menschenrechtslage in einem anderen Land unter Berufung auf das Schutzziel der „öffentlichen Sittlichkeit“ des Art. XX lit. a) GATT wird angeführt, dass aus den Dokumenten über die Entstehungsgeschichte dieser Ausnahmebestimmung gefolgert werden kann, dass der Begriff der „öffentlichen Sittlichkeit“ der ohne weitere Erklärung benutzt wird bewusst unklar gehalten wurde und dazu bestimmt sei, weit ausgelegt zu werden. Der Begriff der „öffentlichen Sittlichkeit“ sei daher so weit auslegbar, dass wenigstens von der Staatengemeinschaft allgemein anerkannte elementare Menschenrechte darunter fielen und aller Wahrscheinlichkeit nach auch gewisse Menschenrechte, denen nicht eine ganz so weite Anerkennung zukommt.240 Denn die Normen des ius cogens genießen unter allen Umständen Vorrang.241 Auch beruhe die langfristige Legitimität eines Handelssystems auf der Berücksichtigung von Menschenrechten. Für die Berücksichtigung der Möglichkeit eines Schutzes der Menschenrechte innerhalb des Art. XX lit. a) GATT kann zudem angeführt werden, dass auch in anderen Ordnungen wie z. B. der EU eine fortschreitende Handelsliberalisierung zur Entwicklung innergemeinschaftlicher Strukturen zum Schutz der Menschenrechte geführt hat.242 239  Schaefer,

S. 333. Schefer, S. 429. 241  Tomuschat, S. 90. 242  Cottier, JIEL 2002, 111, 113, 132. 240  Nadakuvaren

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C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

Aufgrund dieser Erwägungen wird hinsichtlich der Auslegung des Art. XX lit. a) GATT ein sog. „evolutionärer Ansatz“ vorgeschlagen, mittels dessen menschenrechtliche Schutznormen, die zum ius cogens gehören und solche die durch völkerrechtliche Verträge für beide WTO-Mitglieder bindend geworden sind (erga omnes) unter den Schutz der öffentlichen Sittlichkeit nach Art. XX lit. a) GATT fallen sollen. So könnten z. B. Handelssanktionen mittels derer das Verbot rassischer Diskriminierung, das Verbot der Sklaverei, das Verbot der ausbeuterischen Kinderarbeit in einem anderen Land durchgesetzt werden sollen, durch eine solche erweiterte Auslegung gerechtfertigt werden. Auf Handelssanktionen, die aufgrund anderer elementarer Menschenrechtsverletzungen wie Massenhinrichtungen, Hinrichtungen Jugendlicher, Verschleppungen unliebsamer Personen und anderen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verhängt werden, soll durch entsprechende Auslegung die Ausnahmebestimmung zum Schutz des menschlichen Lebens nach Art. XX lit. b) GATT anwendbar sein.243 Auch andere Stimmen in der Literatur sprechen sich jedenfalls für die grundsätzliche Möglichkeit der Rechtfertigung von Handelssanktionen durch Art. XX lit. a) GATT, die zur Abstellung jedenfalls elementarer Menschenrechtsverletzungen verhängt werden, aus.244 Gegen die Möglichkeit der Rechtfertigung von Handelssanktionen zur Verbesserung der Menschenrechtslage in einem anderen Land wird allerdings angeführt, dass der Zweck des Welthandelssystems unter der Rechtsordnung der WTO in den Abbau von Handelshemmnissen liegt und der hierdurch bedingte bessere Lebensstandard und die verbesserten Beziehungen zwischen verschiedenen Ländern auf eine indirekte aber dennoch wesentlich effektivere Art zu einer Hebung des Niveaus des Menschenrechtsschutzes beitragen kann.245 Außerdem wird darauf abgestellt, dass Art. XX lit. a) GATT anders als evtl. Art. XX lit. g) GATT schon allein deshalb keine extraterritoriale Wirkung zukommen könnte, weil der Begriff der „öffentlichen Sittlichkeit“ wesentlich weiter ausgelegt wird. Sanktionen würden zudem gerade die Situationen für diejenigen Betroffenen verschlimmern, deren Menschenrechte durch diese geschützt werden sollen. Zudem wird damit argumentiert, dass eine solche Möglichkeit zum Schutz der Menschenrechte auch für protektionistische Zwecke missbraucht werden könnte.246 Außerdem wird auf die unterschiedliche Natur von Menschen243  Cleveland,

JIEL 2002, 133, 162. Charnovitz, VJIL 1998, 689, 744 ff.; Nadakuvaren Schefer, S. 429; wohl auch: Cottier, JIEL 2002, 111, 130 ff.; Feddersen, S. 304. Cottier und Feddersen beziehen allerdings keine klare Stellung, lassen aber ein gewisses Wohlwollen für die Rechtfertigungsmöglichkeit solcher Handelssanktionen erkennen. 245  Vgl. z. B. auch Lim, JWT 2001, 275, 297, 299, 300. 246  Vásquez, JIEL 2003, 797, 816, 829, 837. 244  Vgl.



III. Vergleich ähnlicher Ausnahmebestimmungen151

rechten und Handelsregelungen hingewiesen. Während Menschenrechte dem Einzelnen individuelle Rechte zugestehen, gewährleisten Handelsregelungen mit Ausnahmen geistiger Schutzrechte nur Rechte von Staaten, nicht von Individualpersonen. Handelssanktionen werden auch nicht für besonders geeignet gehalten ihr Ziel zu erreichen. So können Handelssanktionen die Regierung eines Landes in die Isolierung und Verhärtung ihrer Position treiben und dazu bewegen sich vermehrt andere Handelspartner zu suchen, die weniger Wert auf eine angemessene Achtung der Menschenrechte legen. Stattdessen könne unter dem Schlagwort „Handel und Wandel“ durch Handel und Investitionen zur besseren Umsetzung der Menschenrechtslage in einem anderen Land beigetragen werden.247 Denn ein freier Handel führt grundsätzlich in einem Land einen größeren Wohlstand herbei. Ein solcher Wohlstand bildet aber oftmals erst eine wichtige Voraussetzung für die staatliche Achtung gewisser Grundrechte und die Ausbildung einer Demokratisierung.248 Aufgrund dieser Argumente wird die Möglichkeit der Rechtfertigung von Handelssanktionen zur Verfolgung menschenrechtlicher Anliegen in einem anderen Land durch eine erweiterte Auslegung des Art. XX lit. a) GATT auch durchaus mehr oder weniger explizit abgelehnt.249 Für diese Auffassung spricht neben dem Umstand, dass Handelssanktionen sich weit negativer auf die Zivilbevölkerung auswirken, als sie dass im Regelfall auf die verantwortlichen Machthaber tun, auch, dass ein entsprechender Konsens zwischen den WTO-Mitgliedern nicht ersichtlich ist. Dies ist aber bei einer Organisation, die zu Rechts als „member-driven“ bezeichnet wird,250 unabdingbar. Beispiele aus der Praxis zeigen hingegen, dass selbst WTO-Mitglieder, bei denen wie z. B. bei der EU, Japan oder Kanada eine größere Sensibilität hinsichtlich Menschenrechtsverletzungen zu vermuten wäre, entsprechende Handelssanktionen nicht einfach hinnehmen. So 247  Cottier,

JIEL 2002, 111, 120, 125. Beispiel hierfür können Südkorea und Taiwan herangezogen werden. In diesen bestanden seit Ende des 2. Weltkrieges Autokratien und Militärdiktaturen. Mit zunehmendem Wohlstand haben sich in beiden Ländern seit den 1980er Jahre demokratische Strukturen herausgebildet. Als Beispiel für das Argument, dass Handelssanktionen ein Land auch in die Verhärtung seiner Position und „in die Arme“ von anderen Ländern treiben können, die wenig Wert auf die Einhaltung von Menschenrechten legen und entsprechend diesbezüglich wenig Ermutigung geben, kann der Sudan aufgeführt werden, der aufgrund der Reaktionen „westlicher Staaten“ auf massive Menschenrechtsverletzungen in Darfur nunmehr Anschluss an China sucht. Ähnliche Tendenzen lassen sich in anderen afrikanischen Staaten sowie in Kambodscha und Myanmar beobachten. 249  Vgl. Lim, JWT 2001, 275  ff.; Vásquez, JIEL 2003, 797 ff.; Cottier, 2002, 111 ff. 250  Vgl. hierzu B.III.4. 248  Als

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C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

wurden, wie oben erwähnt, Streitbeilegungsverfahren von der EG und Japan gegen zwei Rechtsvorschriften der USA, die auch einen Schutz der Menschenrechte in einem anderen Land erreichen wollten, eingeleitet, wenn auch nicht beendet. Ebenfalls erließen, wie oben erwähnt, verschiedene WTO-Mitglieder innerstaatliche Regelungen mittels derer die Unanwendbarkeit einer dieser US-Rechtsvorschriften innerhalb des eigenen Hoheits­ gebietes sichergestellt werden sollte. Daher kann kein uneingeschränkter Konsens zwischen den WTO-Mitgliedern über die Rechtfertigungsmöglichkeit von Handelssanktionen angenommen werden, welche jedenfalls auch die Verbesserung der Menschenrechtslage in einem anderen Land zum Ziel haben. Obwohl natürlich einzuräumen ist, dass gerade das hinter dem HelmsBurton Act stehende Anliegen, wohl in erster Linie in der Erreichung eines Machtwechsels auf Kuba bestand. Und erst dahinter die durchaus berechtigte Sorge über die Menschenrechtslage in Kuba kam. Vor dem Hintergrund, dass die Menschenrechtslage in Kuba als nicht wesentlich besorgniserregender als in anderen Staaten eingestuft werden kann,251 mit denen die USA ausgezeichnete Handelsbeziehungen unterhalten, zeigt gerade dieses Beispiel daher auch, dass Handelssanktionen zum Schutz der Menschenrechte immer in Gefahr stehen, für politische Zwecke missbraucht zu werden. Solche politischen Zwecke lassen sich jedoch kaum unter dem legitimen Schutzziel des Schutzes der „öffentlichen Sittlichkeit“ i. S. d. Art. XX lit. a) GATT subsumieren. Die WTO ist wie schon aus ihrem Namen folgt eine internationale Organisation zur Förderung des Welthandels. Sie soll ein Forum für weitere Handelsliberalisierungen darstellen und zur Lösung von Handelsstreitigkeiten beitragen. Entsprechend ist das Streitbeilegungssystem der WTO auf die Beurteilung von Verletzungen des Welthandelsrechts ausgelegt. Über die Verletzungen von Menschenrechten zu entscheiden, ist aber oftmals eine sehr politische Entscheidung. Hierdurch würden die Streitbeilegungsgremien eine Bedeutung beigemessen bekommen, welche die Verträge unter den WTO-Übereinkommen für sie gar nicht vorsehen. Daher ist auch davon auszugehen, dass eine Interpretation des Art. XX lit. a) GATT durch die Streitbeilegungsgremien der WTO, nach der Handelssanktionen zur Verbesserung der Menschenrechtslage in einem anderen Land gerechtfertigt werden können, offensichtlich nicht den Willen der WTO-Mitglieder entspricht. Für die Annahme einer solchen Rechtfertigungsmöglichkeit findet sich im WTO-Recht auch keine Stütze. Und dies, trotz der auf der Uruguay-Runde 251  Vgl. z. B. für einem Vergleich der Menschenrechtslage die jeweiligen Länderberichte im Amnesty Jahresreport 2008 für Kuba (S. 244 ff.), China (S. 121 ff.) und Saudi-Arabien (S.  349 ff.).



III. Vergleich ähnlicher Ausnahmebestimmungen153

in Kenntnis stattgefundener Handelssanktionen zum Schutze der Menschenrechte ausgehandelten neuen Verträgen. Daher ist davon auszugehen, dass eine solche Rechtfertigungsmöglichkeit die von Art. 3.2 DSU und Art. 19.2 DSU gesetzten Grenzen überschreiten würde. Zudem wäre der jetzt schon schwierige Kampf um eine fortschreitende Liberalisierung des internationalen Warenverkehrs auch enorm erschwert, wenn gerade Entwicklungsländer befürchten müssten, dass ihnen gegenüber eingegangene Zugeständnisse unter dem Vorwand wieder rückgängig gemacht werden könnten, dass in ihrem Hoheitsgebieten Menschenrechtsverletzungen stattfinden. Bedeutet die mangelnde Möglichkeit Handelssanktionen zur Verbesserung der Menschenrechtslage in einem anderen Land durch eine entsprechende Auslegung des Begriffes des Schutzes der „öffentlichen Sittlichkeit“ nach Art. XX lit. a) GATT zu rechtfertigen nun, dass WTO-Mitglieder gezwungen sind, mit einem anderen WTO-Mitglied, dessen Regierung schwerste Menschenrechtsverletzungen begeht, Handel zu treiben? Dies sicherlich nicht. Denn die auf den für das Abstellen von Menschenrechtsverletzungen als internationale Organisation eigentlich zuständige UNO kann durch ihren Sicherheitsrat auch im Fall von Menschenrechtsverletzungen Sanktionen verhängen, die nach Art. XXI lit. c) GATT von den WTO-Mitgliedern umgesetzt werden können, ohne dass sie hierbei ihre Pflichten aus dem GATT verletzen.252 Gerade in Zeiten einer zunehmenden Sensibilisierung der Weltgemeinschaft in Bezug auf die Achtung der Menschenrechte ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass der UN-Sicherheitsrat bei einhelliger Empörung innerhalb der Weltgemeinschaft über eklatante Verletzungen der Menschenrechte entsprechende Sanktionen verhängt. Die Praxis des Sicherheitsrates spricht auch dafür, dass dieser auch bei rein innerstaatlichen Situationen zunehmend häufiger nach Kapitel VII der UNCharta tätig wird. So verhängte der Sicherheitsrat bis zum Jahr 1990 umfassende Embargos nur gegen Rhodesien und Südafrika.253 In Rhodesien, dem heutigen Simbabwe geschah dies aufgrund der dort praktizierten Rassentrennung. In Südafrika geschah dies ebenfalls aufgrund der in diesem Land praktizierten Rassentrennung in der Form der Apartheid. Es handelte sich also in beiden Fällen um rein innerstaatliche Situationen. Eine Bedrohung des Friedens i. S. d. Art. 39 UN-Charta wurde aber in beiden Fällen aufgrund der Gefahr von Flüchtlingsbewegungen angenommen, die auch die Sicherheit angrenzender Länder gefährden könnten. Seit den 1990er Jahren hat der Sicherheitsrat neben grenzüberschreitenden Auswirkungen einer innerstaatlichen Situation zunehmend auf den Umfang und das Ausmaß der Menschenrechtsverletzungen in den betreffenden Staat abgestellt und auf252  Vgl. 253  Vgl.

C.III.5.a)cc)(3) zu den Voraussetzungen des Art. XXI lit. c) GATT. SC Res. 232; SC Res. 253; SC Res. 418.

154

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

grund dieser Menschenrechtsverletzungen wirtschaftliche Sanktionsmaßnahmen bis hin zur Verhängung eines umfassenden wirtschaftlichen Embargos erlassen.254 Daher ist in Art. XXI lit. c) GATT die Ausnahmebestimmung zu sehen, durch die Handelssanktionen aufgrund von Menschenrechtsverletzungen nach einem entsprechenden Beschluss des UN-Sicherheitsrates gerechtfertigt werden können. Schließlich ist die UNO anders als die WTO auch die Organisation die für solche Fragen von ihren Mitgliedern eine entsprechende Zuständigkeit eingeräumt bekommen hat. Insbesondere aufgrund der Vetomacht der fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates besteht aber bei deren Uneinigkeit immer die Gefahr, dass die UNO ihre Verantwortung für die Bewahrung des Friedens mittels Schutzes der Menschenrechte durch Verhängung von Sanktionen nicht wahrnehmen kann. Als aktuelle Beispiele hierfür können Sudan und Simbabwe herangezogen werden. Trotz jedenfalls genozidähnlicher von der sudanesischen Regierung wenigstens tolerierte Maßnahmen in Darfur bzw. der Verletzung elementarster Menschenrechte durch Anhänger des simbabwischen Präsidenten ist mit der Verhängung erfolgversprechender wirtschaftlicher Sank­ tionen durch den UN-Sicherheitsrat aufgrund der Vetomöglichkeit Chinas, welches große wirtschaftliche Interessen im Sudan hat und ein anderes Konzept hinsichtlich der Nichteinmischung in die innere Angelegenheiten anderer Staaten verfolgt, nicht zu rechnen. Aber auch, wenn aufgrund einer Blockade im UN-Sicherheitsrat das Verhängen von Handelssanktionen die durch Art. XXI lit. c) GATT gerechtfertigt sind, nicht möglich ist, werden wirtschaftlich prosperierende Industriestaaten, und in denen ist die Sensibilität für Menschenrechtsfragen im Regelfall am meisten ausgeprägt, die Möglichkeit haben, ungedeckt von ­ entsprechenden Resolutionen des Sicherheitsrates Handelssanktionen zu verhängen. Für solche WTO-Mitglieder, die sich dem Schutz und der Förderung der Menschenrechte verschrieben haben, dürften entsprechende Gegenmaßnahmen auch volkswirtschaftlich tragbar sein. Denn Länder in denen auch elementare Menschenrechte verletzt werden und nur in einer solchen Situation dürfte ernsthaft die unilaterale Verhängung von Handelssanktionen denkbar erscheinen, sind auch regelmäßig wirtschaftlich nicht besonders erfolgreich. Schließlich setzt eine erfolgreich funktionierende Marktwirtschaft die Gewährleistung eines gewissen Mindeststandard in Bezug auf die Einhaltung der Menschenrechte voraus. Zudem können sich an der Bereit254  Vgl. SC Res. 661 (Irak); SC Res. 841 (Haiti), SC Res. 942 (gegen den serbischen Teil von Bosnien-Herzegowina, der sog. Republik Skrspa); SC Res. 942 (gegen das ehemalige Jugoslawien); SC Res. 788 (Liberia); SC Res. 918 (Ruanda).



III. Vergleich ähnlicher Ausnahmebestimmungen155

schaft im Ernstfall auch entsprechende Gegenmaßnahmen hinzunehmen, die Ernsthaftigkeit eines WTO-Mitgliedes, auf die Verbesserung der Menschenrechtslage in einem anderen Land hinzuwirken, zeigen. Denn wenn die Gefahr von Gegenmaßnahmen besteht, dürfte die Neigung auch aufgrund von protektionistischen und nicht alleine aus moralischen Erwägungen Handelssanktionen zu verhängen, deutlich geringer sein. Dies zeigt, dass obwohl der Menschenrechtsschutz nicht als Ausnahmebestimmungen anerkannt ist, jedenfalls die wirtschaftlich potenten WTOMitglieder in der Lage sind, dennoch nach diesem legitimen Schutzziel ihre Handelspolitik auszurichten. Allerdings bleibt das „Stigma“, dass sie sich nicht WTO-Recht konform verhalten für WTO-Mitglieder bestehen, die sich eigentlich nur für den Schutz von Menschenrechten einsetzen wollen. Dies könnte ihre Position bei Verhandlungen über die weitere Liberalisierung des Welthandels deutlich erschweren. Zudem drohen WTO-Mitglieder die sich für den weltweiten Schutz der Menschenrechte einsetzen, weitaus empfindlichere Gegenmaßnahmen für Handelssanktionen, die auch WTO-Mitglieder treffen, die mit einem Land Handel treiben, in dem es zu Menschenrechtsverletzungen kommt. Als ein Beispiel hierfür können die oben erwähnten US-amerikanischen Regelungen herangezogen werden, welche aufgrund der dortigen Menschenrechtsverletzungen auf die Verhinderung des Handels Dritter mit Kuba und Myanmar abzielten. Daher bleibt die Frage bestehen, ob im Rahmen des Schutzes der „öffentlichen Sittlichkeit“ nach Art. XX lit. a) GATT eine Rechtfertigungsmöglichkeit für Handelssanktionen besteht, die aufgrund von Menschenrechtsverletzungen im Hoheitsgebiet anderer WTO-Mitglieder verhängt wurden. Für die Ausgestaltung einer solchen Rechtfertigungsmöglichkeit, die sich in Übereinstimmung mit dem Gebot des sog. „judiary-restraint“ aus Art. 3.2 DSU und Art. 19.2 DSU befinden, bietet sich ein Blick in das EU-Recht an. Wie oben anlehnend an die Auffassung eines Generalanwaltes beim EuGH entwickelt,255 besteht unter bestimmten Voraussetzungen mittels eines „Spiel über Bande“ die Möglichkeit extraterritoriale Schutzziele zu verfolgen, wenn durch ein Untätigbleiben sonst die „öffentliche Sittlichkeit“ der eigenen Bevölkerung verletzt wird. Dafür muss die öffentliche Sittlichkeit im eigenen Land aber in einem Maße erregt sein, welche es für die Regierung des betroffenen WTO-Mitgliedes als notwendig erscheinen lässt, die Menschenrechtsverletzungen nicht länger passiv ohne Verhängung von Handelssanktionen hinzunehmen. Eine solche Möglichkeit der Rechtfertigung von Handelssanktionen, die auf Menschenrechtsverletzungen abstellen, ist insbe255  Vgl.

C.II.2.e).

156

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

sondere vor dem Hintergrund einleuchtend, dass wie bereits festgestellt wurde, jedes WTO-Mitglied das Schutzniveau der öffentlichen Sittlichkeit innerhalb des eigenen Hoheitsgebietes festlegen kann. Dies soll, wie ebenfalls bereits herausgearbeitet wurde, zwar grundsätzlich dann nicht gelten, wenn die Maßnahme nicht nur zum Schutz der öffentlichen Sittlichkeit im eigenen Land dient, sondern gewissermaßen „überschwappt“ und Zustände außerhalb des eigenen Hoheitsgebietes treffen soll, die ebenfalls als eine Beeinträchtigung der öffentlichen Sittlichkeit wahrgenommen werden.256 Ein „Überschwappen“ der Maßnahme kann aber dann nicht den Rückgriff auf den Rechtfertigungsgrund des Schutzes der „öffentlichen Sittlichkeit“ nach Art. XX lit. a) GATT verwehren, wenn durch Verletzungen elementarer Menschenrechte in einem anderen Land anderenfalls die öffentliche Sittlichkeit der eigenen Bevölkerung in einem eklatanten Maße verletzt wird. Denn anders lässt sich der Grund für die Erregung der eigenen Bevölkerung nicht abstellen. Dafür spricht auch, dass anderenfalls ein WTO-Mitglied gezwungen werden könnte, mit Staaten zu handeln, in denen es zu elementaren Menschenrechtsverletzungen kommt. Dies würde aber der Akzeptanz und Legitimität des Freihandelssystems der WTO schaden. Voraussetzung für ein solches „Spiel über Bande“ müsste jedoch sein, dass ein bedeutender Teil der öffentlichen Meinung eines WTO-Mitgliedes diese Praktiken als empörend, grausam und unmoralisch einstuft und sich dabei sowohl auf autorative wissenschaftliche Stellungsnahmen als auch auf eine gewisse Anerkennung dieser Werte im Völkerrecht, d. h. in den internationalen Menschenrechtsschutzkonventionen, berufen kann. Eine Anerkennung dieser Werte im Völkerrecht ist zu fordern, um eine gewisse Mindestkontrolle zu gewährleisten. Keine Möglichkeit der Rechtfertigung durch das Berufen auf das legitime Schutzziel der öffentlichen Sittlichkeit mittels eines „Spiel über Bande“ würde jedoch für Handelssanktionen bestehen, die auf die Verhinderung des Handels von Drittstaaten mit Staaten, in deren Hoheitsgebiet Menschenrechte verletzt werden, abzielen. Etwa die US-amerikanischen Regelungen, welche die Verhinderung des Handels Dritter mit Kuba und Myanmar erreichen wollten, um so auf die in diesen Ländern geschehenen Menschenrechtsverletzungen abzuzielen. Dazu müsste nämlich dargelegt werden, dass die neutrale Tätigkeit des Handeltreibens das sittliche Empfinden der eigenen Bevölkerung verletzt. Ein solcher Nachweis dürfte jedoch nur schwer gelingen. Außerdem sind solche Regelungen, die an den Menschenrechtsverletzungen nicht beteiligte WTO-Mitglieder treffen sollen, vor dem Hintergrund 256  Vgl.

C.III.1.a)aa).



III. Vergleich ähnlicher Ausnahmebestimmungen157

mit Vorsicht zu bewerten, dass diese nicht nur zur Schädigung eines Landes in denen Menschenrechtsverletzungen begangen werden, verhängt werden können, sondern auch um der Konkurrenz aus Drittländern, die anders als die heimische Industrie keinen Restriktionen aufgrund von Handelssanktionen unterliegt, die lukrative Möglichkeit des Handeltreibens mit den zu boykottierenden Land zu nehmen. Aufgrund des noch darzustellenden Notwendigkeitskriteriums257 wird von einem WTO-Mitglied, welches aufgrund der innerhalb seiner Bevölkerung herrschenden Erregung über die im Hoheitsgebiet eines anderen WTOMitgliedes geschehenen Menschenrechtsverletzungen, gegen dieses die Verhängung von Handelssanktionen erwägt, aber erwartet werden können, dass es vorher versucht auf andere Art und Weise auf die Abstellung dieser Menschenrechtsverletzungen hinzuwirken. Als Forum hierfür würden sich verschiedene regionale Organisationen oder die UNO anbieten, denen anders als die WTO, auch jeweils eine Zuständigkeit für die Einhaltung der Menschenrechte zukommt. Aufgrund des Chapeaus des Art. XX GATT wird von dem Handelssanktionen verhängenden WTO-Mitglied außerdem zu erwarten sein, dass es entsprechende Handelssanktionen auch gegen alle anderen WTO-Mitglieder verhängt, in deren Hoheitsgebiet die Regierung ähnlich schwere Menschenrechtsverletzungen zu verantworten hat.258 Die Rechtfertigung der Verhängung von handelsbeschränkenden Maßnahmen zum Schutz der Menschenrechte im Hoheitsgebiet anderer WTO-Mitglieder dürfte daher in der Praxis durchaus schwierig werden. So ist aufgrund politischer Erwägungen und aus Gründen der Praktikabilität nicht zu erwarten, dass die sanktionsverhängenden WTO-Mitglieder jede ähnlich gravierende Verletzung von Menschenrechte anderer WTO-Mitglieder mit Sanktionen belegen. Eine solche ungleiche Vorgehensweise wäre jedoch nicht mit den Chapeau des Art. XX GATT zu vereinbaren. Abschließend bleibt festzustellen, dass nach der hier vertretenen Auffassung eine Rechtfertigungsmöglichkeit nach Art. XX lit. a) GATT über ein „Spiel über Bande“ für Handelssanktionen die zur Abstellung von Menschenrechtsverletzungen in Hoheitsgebieten anderer WTO-Mitglieder nur in Ausnahmefällen in Betracht kommen wird. So sind schon Ereignisse, welche die eigene Bevölkerung in eine Erregung versetzen, die einer Verletzung der öffentlichen Sittlichkeit bedeuten würden, rar gesät. Als Beispiel für die die deutsche Bevölkerung erregende Ereignisse, die hierzu geeignet gewe257  Vgl. 258  Vgl.

GATT.

C.III.1.a)bb). C.II.1. zu den Prüfungsvorsaussetzungen des Chapeaus des Art. XX

158

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

sen wären, können z. B. das Apartheidsregime in Südafrika in den 1980er und Anfang der 1990er Jahre, die geplante Versenkung der Ölbohrinsel „Brent Spar“ durch die Firma Shell im Nordatlantik im Jahr 1995259 oder die Reaktionen auf die französischen Atomtestversuche im Südpazifik im Jahr 1996 genannt werden. Vor dem Hintergrund, dass es sich bei den letzten beiden Ereignisse nicht um Menschenrechtsverletzungen handelte und zudem jeweils die Anforderungen des Chapeaus und des „Notwendigkeitskriteriums“ einzuhalten wären, wird deutlich, dass sich nur in seltenen Ausnahmefällen WTO-Mitglieder für die Rechtfertigung von Handelssanktionen, mittels derer Menschenrechtsverletzungen im Hoheitsgebiet anderer WTO-Mitglieder abgestellt werden sollen, erfolgreich auf das legitime Schutzziel des Schutzes der „öffentlichen Sittlichkeit“ nach Art. XX lit. a) GATT werden berufen können. (2) Schutz sozialer Mindestrechte Die Frage, ob auch Maßnahmen, mittels derer zum Schutz sozialer Mindestrechte in einem anderen Land beigetragen werden soll, durch einen Rückgriff auf den Schutz der „öffentlichen Sittlichkeit“ des Art. XX lit. a) GATT gerechtfertigt werden können, überschneidet sich in einem gewissen Maße mit der im vorherigen Abschnitt behandelten Frage, ob hierunter auch Maßnahmen von WTO-Mitglieder fallen, mittels derer zur Abstellung von Menschenrechtsverletzungen in anderen Ländern beigetragen werden soll. Denn jedenfalls elementare soziale Schutzrechte wie das Verbot der ausbeuterischen Kinderarbeit in industriellen Arbeitsprozessen, das Verbot der Zwangsarbeit, eine gewisse Ausprägung der Vereinigungsfreiheit oder das Verbot der Diskriminierung in Beschäftigung oder Beruf gewährleisten ebenso soziale Mindestrechte, wie sie elementare Menschenrechte darstellen.260 Daher gilt entsprechend der im vorherigen Abschnitt gemachten Ausführungen, dass GATT-widrige Maßnahmen unter Berufung auf das legitime Schutzziel des „Schutzes der öffentlichen Sittlichkeit“ des Art. XX lit. a) GATT bei Einhaltung strenger Voraussetzungen dann gerechtfertigt werden können, wenn diese aufgrund der Empörung in der eigenen Bevölkerung hierzu veranlasst sehen. Durch die Aufnahme dieser sozialen Mindestrechte in den Katalog elementarer Menschenrechte besteht bereits eine gewisse Rechtfertigungsmöglichkeit für den Schutz grundlegender sozialer Mindestrechte mit Handels259  Im Zuge der damaligen Proteste erklärten sogar Bundeskanzler und Bundesfinanzminister nicht mehr bei Shell tanken zu wollen. 260  Trebilcock / Howse, S. 443.



III. Vergleich ähnlicher Ausnahmebestimmungen159

sanktionen durch einen Rückgriff auf das legitime Schutzziel der „öffent­ lichen Sittlichkeit“ des Art. XX lit. a) GATT mittels eines „Spiels über Bande“. Sowohl ausbeuterische Kinderarbeit, als auch Zwangsarbeit wie auch eine massive Beeinträchtigung von Gewerkschaften, wie dies z. B. in Kolumbien der Fall ist, sind grundsätzlich alle dazu geeignet, die öffentliche Meinung in vielen Staaten zu erregen. Es ist jedoch im Allgemeinen nicht damit zu rechnen, dass die öffentliche Meinung eines Staates alleine durch solche Missstände in einer Erregung derartigen Ausmaßes versetzt werden wird, welches als Voraussetzung für eine Rechtfertigungsmöglichkeit mittels eines „Spiels über Bande“ zu verlangen ist. Zusätzlich wäre vom betreffenden WTO-Mitglied zu verlangen, dass es vorher die ILO als grundsätzlich hierfür zuständige internationale Organisation anruft oder sich sonst bemüht auf multilateralem Wege den fraglichen Missständen abzuhelfen. Des Weiteren wird der Chapeau des Art. XX GATT noch die Anforderung stellen, dass die gleichen Handelssanktionen auch gegen alle anderen WTO-Mitglieder verhängt werden, in deren Hoheitsgebiet es zu einer ähnlichen Verletzung elementarer sozialer Schutzrechte kommt. Natürlich müssen auch die sozialen Mindestrechte, deren Einhaltung im Ausland gefordert wird, im Inland gewährleistet werden. Aus all diesen Voraussetzungen folgt daher, dass der Schutz elementarer sozialer Schutzrechte, die gleichzeitig Menschenrechte darstellen, über das hier vorgeschlagene „Spiel über Bande“ eher eine theoretische als eine praktische Rechtsfertigungsmöglichkeit darstellt. Darüber hinaus bleiben von dieser vorgeschlagenen Rechtfertigungsmöglichkeit andere soziale Mindestrechte außen vor, die nicht zum Kernbestandteil der Menschenrechte gezählt werden können. Als Beispiel für solche Mindestrechte, die nicht hierunter fallen, können die Zustände in den sog. Sweatshops in Entwicklungs- und Schwellenländer herangezogen werden, in denen schlechtbezahlte Arbeiter gefährliche und gesundheitsschädliche ­Arbeiten verrichten, wobei ihnen gleichzeitig jedwede Arbeitnehmerrechte vorenthalten werden bzw. nur minimale Rechte zugestanden werden. In solchen Sweatshops werden massenhaft arbeitsintensive Waren insbesondere für den Export in hochindustrialisierte Länder hergestellt. Ebenso außen vor bleiben durch diese Rückgriffsmöglichkeit fehlende Mindeststandards in Bezug auf den Lohn, Arbeitszeit oder soziale Absicherung für das Alter oder im Fall von Unfall oder Krankheiten. Daher stellt sich die Frage, ob zur Abstellung solcher und ähnlicher Praktiken oder um zur Schaffung gewisser Mindeststandards im Hoheitsgebiet anderer WTO-Mitglieder beizutragen, Handelssanktionen verhängt werden können, zu deren Rechtfertigung eine Berufung auf das legitime Schutzziel der „öffentlichen Sittlichkeit“ des Art. XX lit. a) GATT möglich ist.

160

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

Diese Frage ist auch durchaus aktuell. So forderte bereits im Jahr 1999 der ehemalige US-Präsident Clinton in einer Rede auf der Ministerkonferenz in Seattle das elementare Arbeitsschutzbedingungen in die WTORechtsordnung aufgenommen werden sollten, mit der Möglichkeit diese auch mittels Sanktionen durchzusetzen.261 Zudem wurden im US-Kongress bereits mehrmals – bislang allerdings erfolglos – der Gesetzentwurf für den „Decent Working Conditions and Fair Competition Act“ eingebracht.262 Dieser Gesetzentwurf sieht ein Einfuhrverbot in die USA und andere Sanktionsmöglichkeiten gegen Waren vor, die in Sweatshops hergestellt werden. Dieser Gesetzesentwurf erfreut sich auch der Unterstützung von Gewerkschaften und anderen Nichtregierungsorganisationen. Auch in der Praxis von WTO-Mitgliedern finden sich Beispiele für Maßnahmen mittels derer die Realisierung oder Verbesserung von Arbeitsschutzbedingungen in anderen Ländern erreicht werden soll. Hierbei sind an erster Stelle die Mehrjahresschemen allgemeiner Zollpräferenzen der EU und der USA zu nennen. Bei den Mehrjahresschemen allgemeiner Zollpräferenzen, auch „Generalized Systemes of Preferences“ genannt, handelt es sich um eine zollmäßige Besserstellung von Entwicklungsländern.263 So hat die EU in ihren vergangenen Mehrjahresschemen für Zollpräferenzen sowohl die Möglichkeit beinhaltet bei Erfüllung bestimmter sozialer Mindestrechte zusätzliche Zollpräferenzen zugestanden zu bekommen, als sich auch vorbehalten Zollzugeständnisse bis hin zum ihren völligen Entzug zu suspendieren.264 Insbesondere das Mehrjahresschema allgemeiner Zollpräferenzen 2002 bis 2004 sieht in seinen Art. 26 Abs. 1 lit. b) die Möglichkeit der Rücknahme von gemachten Zollzugeständnissen für die Verletzung elementarer Arbeitsschutzbedingungen vor. Zudem werden Anforderungen an die Vereinigungsfreiheit und das Recht auf Kollektivverhandlungen gestellt. Ob diese geforderten sozialen Mindestrechte alle zum Kernbestandteil elementarer Menschenrechte gezählt werden können, ist jedenfalls zweifelhaft. Auch das Mehrjahresschema allgemeiner Zollpräferenzen der USA enthält Möglichkeiten zur Durchsetzung sozialer Mindestrechte Nach dem US-ameri261  McCrudden / Davies,

JIEL 2000, 43, 48. http: /  / dorgan.senate.gov / newsroom / record / .cfm?id=256778 aufgerufen am 14.05.2009. 263  Feddersen, S. 219; vgl. im Übrigen C.IV.10. zu den Ausnahmen für Entwicklungsländern. 264  Vgl. Art. 7 und Art. 9 Abs. 1 des Mehrjahresschema allgemeiner Zollpräferenzen 1994–1998, Verordnung (EG) Nr. 3281 / 92 vom 19.12.1994, ABl. L 348 vom 31.12.1994, S. 1; Art. 11 Abs. 1 und Art. 22 Abs. 1 des Mehrjahresschema allgemeiner Zollpräferenzen 1999–2001, Verordnung (EG) Nr. 2820  /  98 vom 21.12.1998, ABl. 1998 L 357. 262  Vgl.



III. Vergleich ähnlicher Ausnahmebestimmungen161

kanischen Handelsgesetz von 1974, dem „Trade Act of 1974“ dürfen in den Genuss von Zollpräferenzen nur Länder kommen, die Anstrengungen unternehmen „international anerkannte Arbeitnehmerrechte“ zu verwirklichen.265 Dazu zählen neben der Einhaltung von sozialen Mindestbedingungen, die auch als elementare Menschenrechte eingestuft werden können, auch annehmbare Arbeitsbedingungen in Hinblick auf Mindestlöhne und Arbeitszeit sowie auf Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz.266 Durch die Suspendierung von Zollpräferenzen kann auch auf die Einhaltung dieser sozialen Mindestrechte hingewirkt werden. Zudem gibt die „Section 301“ des „Trade Act of 1974“ dem US-Handelsminister die Möglichkeit zur Durchsetzung von sozialen Mindestrechten, da er hierzu Handelshemmnisse verhängen kann.267 Diese Beispiele zeigen, dass schon jetzt WTO-Mitglieder ihre Handels­ politik auch nach Maßstäben ausrichten, die den Schutz sozialer Mindestrechte beinhalten. Außerdem sind in regionalen Handelsabkommen soziale Mindeststandards enthalten. So sind in einem Nebenabkommen zur NAFTA, dem NAALC (North American Agreement on Labour Cooperation) gewisse Mindeststandards für Arbeitsbedingungen festgeschrieben. Im Falle des Verstoßes gegen diese können gegen den betreffenden NAFTA-Mitgliedstaat im Rahmen eines Streitbeilegungsverfahren Geldstrafen verhängt und hilfsweise auch im Rahmen der NAFTA gemachte Zugeständnisse suspendiert werden.268 Auch im EU-Recht stellt, wie im Folgenden noch dargelegt wird,269 der Schutz von Arbeitsbedingungen eine Ausnahmebestimmung dar. Allerdings ohne extraterritoriale Wirkung. Zudem scheinen Maßnahmen zur Verwirklichung von Arbeitsschutzbedingungen in anderen Ländern auch gewisse Erfolge mit sich zu bringen. Denn die Rücknahme von Handelspräferenzen oder die Drohung hiermit hat zu Änderungen im Arbeitsrecht und in den praktischen Arbeitsbedingungen in Malaysia, Chile und der Dominikanischen Republik geführt. So trug z. B. in der Dominikanischen Republik dieser Druck dazu bei, dass gesetzliche Hindernisse in Bezug auf die Kollektivfreiheit abgeschafft wurden.270 Für die Möglichkeit der Rechtfertigung von Handelssanktionen zur Verbesserung sozialer Mindestbedingungen im Gebiet eines anderen WTOMitgliedes unter Berufung auf das Schutzziel der „öffentlichen Sittlichkeit“ 265  Trade Act of 1974, Title V, Generalized System of Preferences; 19 U.S.C. §§ 2462 (b) (2) (G). 266  19 U.S.C. § 2467 (4). 267  Vgl. zu den Voraussetzungen der „Section 301“ Jackson / Davey / Sykes, S.  818 ff. 268  Vgl. Art. 39 Abs. 4 und Art. 41 NAALC. 269  Vgl. C.V.4.a). 270  Trebilcock / Howse, S. 449.

162

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

des Art. XX lit. a) GATT wird angeführt, dass anderenfalls ein „race to the bottom“ beginnen könnte,271 der dazu führen würde, dass durch eine fortschreitende Liberalisierung des Warenhandels in einigen WTO-Mitgliedern erreichte soziale Errungenschaften aufgrund des Konkurrenzdruckes wieder rückgängig gemacht werden könnten.272 Zudem hat eine Untersuchung der OECD ergeben, dass die Einhaltung von sozialen Mindestbedingungen für Arbeitnehmer keine signifikante Auswirkung auf den Handel hat und somit Entwicklungsländer auch kein komparativer Handelsvorteil genommen wird.273 Auch aufgrund dieser Argumente wird eine Rechtfertigungsmöglichkeit des Art. XX lit. a) GATT für handelsbeschränkende Maßnahmen, die hauptsächlich auf den Schutz von Arbeitnehmerrechten im Hoheitsgebiet anderer WTO-Mitglieder ausgerichtet sind, bejaht.274 Gegen die Möglichkeit der Rechtfertigung von Handelssanktionen zur Verbesserung sozialer Mindestbedingungen im Gebiet eines anderen WTOMitgliedes wird angeführt, dass dies ein Mittel von Industrieländern darstellt, um die Wettbewerbsbedingungen von Entwicklungs- und Schwellenländern zu benachteiligen, da dadurch deren Produktionskosten erhöht und auch Investitionen in diese Länder nicht begünstigt werden. Außerdem wird eine Überfrachtung der WTO befürchtet, wenn diese auch die Einhaltung elementarer Arbeitsschutzbedingungen gewährleisten müsste.275 Darüber hinaus würden Handelshemmnisse vor allem unmittelbar exportierende Unternehmen betreffen. Kinderarbeit und die Verletzung elementarer Arbeitsschutzbedingungen finden sich aber insbesondere in der bedarfsdeckenden Landwirtschaft und in binnenmarktorientierten Kleinbetrieben.276 Diese sind aber mit Handelssanktionen nicht gezielt zu treffen. Die Arbeit in den exportgerichteten Fabriken, die von solchen Sanktionen getroffen wird, stellt hingegen für viele Beschäftigte eine Verbesserung dar. Schließlich wird darauf hingewiesen, dass es keine wissenschaftlichen Belege dafür gebe, dass Sozialstandards in Industrienationen unter dem Druck von Billigeinfuhren tatsächlich aufgeweicht werden würden.277 271  Vgl.

C.II.5.f) zum „race to the bottom“-Effekt. JWT 1997, 25, 41. 273  Studie der OECD, Trade, Employment and Labour Standards: A Study of core workers’ rights and international trade, S. 105. 274  Charnovitz, VJIL 1998, 689, 729 ff.; Chatton, S. 104; vgl. Blüthner, S. 370– 375, der eine grundsätzliche Rechtfertigungsmöglichkeit zum Schutz von elementaren Arbeitnehmerrechten anerkennt, in der Praxis diese Rechtfertigungsmöglichkeit jedoch am Chapeau scheitern lässt, vgl. auch Spelten, S. 319, der die Durchsetzungsinstrumentarien der WTO zur Erzwingung von sozialen Mindestrechten nutzen möchte. 275  Salazar-Xirinachs, JIEL 2000, 377, 380, 383. 276  Hilf / Oeter, § 34 Rn. 37 (Hörmann). 277  Chatton, S. 40; Bhagwati, Verteidigung der Globalisierung, S. 203 ff. 272  Langille,



III. Vergleich ähnlicher Ausnahmebestimmungen163

Aufgrund dieser Argumente wird die Möglichkeit der Rechtfertigung von Handelssanktionen zur Verbesserung sozialer Mindestbedingungen im Gebiet eines anderen WTO-Mitgliedes durch eine entsprechende Auslegung des Schutzes der „öffentlichen Sittlichkeit“ i. S. d. Art. XX lit. a) GATT auch mehr oder weniger explizit abgelehnt.278 Für diese Auffassung spricht auch, dass die Havanna-Charta als Vorläuferin des GATT eine Bestimmung enthielt, die es Mitgliedern ermöglichen sollte, Maßnahmen gegen „unfaire Arbeitsbedingungen“ („unfair labour condition“) zu ergreifen.279 Im GATT wurde hingegen keine ähnliche Bestimmung aufgenommen. Als einzige Ausnahmebestimmung, die unmittelbar als Arbeitsschutzbestimmung auszulegen ist, enthält sie nur den Art. XX lit. e) GATT für Waren, die in Strafvollzugsanstalten hergestellt wurden.280 Das die Verfasser des GATT diese Möglichkeit aus der Havanna-Charta nicht übernommen haben, deutet darauf hin, dass sie solche Maßnahmen für den Geltungsbereich des GATT ausschließen wollten. WTO-Mitglieder wie Hongkong, Südkorea, Taiwan und Singapur zeigen zudem, dass Länder in denen noch vor relativ kurzer Zeit vor allem arbeitsintensive Waren, auch in sog. Sweat-shops hergestellt wurden, es geschafft haben, ihre Volkswirtschaft zwischenzeitlich auf vornehmlich den Export hochwertiger Waren sowie auf Dienstleistungen umzustellen. Auch in Thailand, Indien, Vietnam und insbesondere in den Küstengebieten Chinas ist derzeit eine solche Entwicklung im Gange und in einigen Regionen dieser Länder auch bereits abgeschlossen. Zudem besteht die Möglichkeit, die Kostenersparnis für eingeführte Waren, die unter Verletzung sozialer Mindestrechte hergestellt wird, dadurch wieder auszugleichen, dass solche Waren, die regelmäßig unter Verletzung sozialer Mindeststandards hergestellt werden, von Zollsenkungen herausgenommen werden oder auf GATT-konforme Art die Zölle für diese Waren wieder erhöht werden.281 Allerdings ist eine zielgerichtete Ausnahme von Zollsenkungen oder Erhöhungen der Zölle ausschließlich für die Waren, die unter Verletzung sozialer Mindeststandards hergestellt werden, nicht möglich, da eine unterschiedliche Herstellungsart keinen Einfluss darauf hat, ob es sich um gleichartige Waren handelt. Ausschlaggebend gegen die Möglichkeit der Anerkennung der Rechtfertigung von Handelssanktionen, zur Verbesserung sozialer Mindestbedingungen im Gebiet eines anderen WTO-Mitgliedes, durch eine entsprechende Salazar-Xirinachs, JIEL 2000, 377. S. 571. 280  Vgl. C.III.4. zu den Voraussetzungen des Art. XX lit. e) GATT. 281  Vgl. zu den GATT-konformen Möglichkeiten die Zölle anzuheben B.I.1.a)cc). 278  Vgl.

279  Trebilcock / Howse,

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C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

Auslegung des Schutzes der „öffentlichen Sittlichkeit“ i. S. d. Art. XX lit. a) GATT erscheint aber der Wille der WTO-Mitglieder, die sich in der Minister-Erklärung von Singapur aus dem Jahr 1996 ausdrückte. In dieser heißt es, dass der Gebrauch von sozialen Arbeitsbedingungen („labour standards“) aus protektionistischen Erwägungen abgelehnt wird und der komparative Handelsvorteil, insbesondere von Niedriglohnländern nicht in Frage gestellt werden dürfte. Elementare Arbeitsbedingungen sollten zwar aufrechterhalten werden, die Zuständigkeit für deren Überwachung wurde aber der ILO (Internationale Arbeitsorganisation, International Labour Organization) zugewiesen.282 Diese Minister-Erklärung war gerade eine Reaktion drauf, dass von Seiten der USA die Möglichkeit eines stärkeren Schutzes sozialer Mindestrechte durch die WTO-Rechtsordnung verlangt wurde.283 Die in der Singapur-Erklärung gemachten Aussagen wurden durch die Minister-Erklärung von Doha aus dem Jahr 2001 bekräftigt.284 Die ILO ist eine Sonderorganisation der UNO, die sich für eine generelle Verbesserung der Arbeitsbedingungen im weltweiten Rahmen einsetzt. Die ILO setzt, um die Einhaltung ihrer Konventionen zu gewährleisten, mittels derer soziale Mindestrechte geschützt werden sollen, auf eine diplomatische Vorgehensweise und eine konsensuale Entscheidungsfindung. Ein verbindliches Streitbeilegungsverfahren oder gar ein Verfahren zur Durchsetzung ihrer Verpflichtungen kennt die ILO anders als die WTO-Rechtsordnung aber nicht. Die WTO-Mitglieder haben durch die beiden Minister-Erklärungen von Singapur und Doha also eindeutig ihren Willen ausgedrückt, dass der Schutz sozialer Mindestbedingungen in den Aufgabenbereich der ILO und nicht in den der WTO fallen sollte. Darüber hinaus wurden seit den 1950er Jahren bis zur Uruguay-Runde von verschiedenen Vertragsparteien des GATT Vorschläge gemacht, die auf eine bessere Gewährleistung von sozialen Mindestbedingungen bis hin zur Schaffung einer entsprechenden Ausnahmebe282  Ministererklärung von Singapur vom 13.12.1996 auf der WTO-Ministerkonferenz, Rn. 4: We renew our commitment to the observance of internationally recognized core labour standards, and we affirm our support for its work in promoting them. We believe that economic growth and development fostered by increased trade and further trade liberalization contribute to the promotion of these standards. We reject the use of labour standards for protectionist purposes, and agree that the comparative advantage of countries, particular low-wage developing countries, must in no way be put into question. In this regard, we note that the WTO and the ILO Secretariats will continue their existing collaboration. 283  Trebilcock / Howse, S. 458. 284  Ministererklärung von Doha vom 14.11.2001 auf der WTO-Ministerkonferenz, Nr. 8.



III. Vergleich ähnlicher Ausnahmebestimmungen165

stimmung abzielten. Keiner dieser Vorschläge hat sich jedoch durchsetzen können.285 Würden die Streitbeilegungsgremien entgegen den ausdrücklichen Willen der WTO-Mitglieder den Begriff der „öffentlichen Sittlichkeit“ des Art. XX lit. a) GATT in einer Weise auslegen, dass hierunter auch die Gewährleistung sozialer Mindestbedingungen im Hoheitsgebiet eines anderen WTOMitgliedes fällt, ohne dass sich in der sonstigen Rechtsordnung der WTO hierfür Anhaltspunkte finden lassen, würde das eine Fortentwicklung des WTO-Rechts bedeuten, welche die von den Art. 3.2 und Art. 19.2 DSU gesetzten Grenzen überschreiten würde. Die Schaffung einer solchen Rechtfertigungsmöglichkeit fällt daher nicht in den Aufgabenbereich der Streitbeilegungsgremien, sondern in der der WTO-Mitglieder. Ihre Realisierung ist jedoch wie aus den Ministererklärungen von Singapur und Doha hervorgeht, sehr unwahrscheinlich. Denn die zahlreichen Entwicklungs- und Schwellenländer sehen in einer Verpflichtung zur Einhaltung sozialer Mindestbedingungen einen versteckten Protektionismus und fürchten außerdem um ihren komparativen Handelsvorteil. Abschließend bleibt festzuhalten, dass Handelssanktionen zur Verbesserung sozialer Mindestrechte im Gebiet eines anderen WTO-Mitgliedes – jedenfalls in der Praxis – nicht unter Berufung auf das Schutzziel der „öffentlichen Sittlichkeit“ des Art. XX lit. a) GATT gerechtfertigt werden können. (3) Maßnahmen zur Beendigung tierquälerischer Handlungen Des Weiteren stellt sich die Frage, ob auch Handelssanktionen, mittels derer tierquälerische Methoden im Hoheitsgebiet eines anderen WTO-Mitgliedes abgestellt werden sollen, durch einen Rückgriff auf den Schutz der „öffentlichen Sittlichkeit“ des Art. XX lit. a) GATT gerechtfertigt werden können. Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund aktuell, dass mehrere WTO-Mitglieder – darunter die EU – die Einfuhr von Pelzwaren verbieten, für die Tiere mittels Tellereisen gefangen wurden.286 Außerdem findet sich auch in der Kosmetik-Richtlinie 2003 / 15 / EG der EU, deren Vorschriften bis zum Herbst 2004 in mitgliedstaatliches Recht umgesetzt worden sein mussten, ein Beispiel für die extraterritoriale Wirkung der Maßnahme eines WTO-Mitgliedes mittels derer tierquälerische 285  Weiss,

S.  581 ff. (EWG) Nr. 3254 / 91 des Rates zum Verbot von Tellereisen in der Gemeinschaft und der Einfuhr von Pelzen und Waren von bestimmten Wildtierarten aus Ländern, die Tellereisen oder den internationalen humanen Fangnormen nicht entsprechende Fangmethoden anwenden vom 04.11.1991, ABl. L 308, S. 1. 286  VO

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C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

Handlungen auch in Hoheitsgebieten anderer WTO-Mitglieder abgestellt werden sollen.287 Denn diese Richtlinie enthält ein schrittweise einzusetzendes Verbot des Inverkehrsbringens von kosmetischen Mitteln, die als solche oder deren Bestandteile im Tierversuch geprüft wurden, obwohl bereits entsprechende Ersatzmethoden bestehen, die von der OECD validiert oder auf Gemeinschaftsebene angenommen wurden. Endgültiger Stichtag für das Verbot des Inverkehrbringens ist der 11.03.2013. Diese Richtlinie macht beim Verbot des Inverkehrbringens von Kosmetikwaren und Bestandteilen, die anhand von Tierversuchen getestet wurden, keine Unterscheidung zwischen Kosmetika die innerhalb der EU hergestellt wurde und von Kosmetika die eingeführt wurde. Damit bestehen schon jetzt für einige Kosmetikwaren, spätestens aber ab 2013 für alle Kosmetikwaren, die aus anderen WTO-Mitgliedern eingeführt wurden und die oder deren Bestandteile anhand von Tierversuchen getestet wurden, für die es alternative Methoden gibt, ein Verkaufsverbot. Da die Durchführung eines Tierversuches keine physischen Auswirkungen auf die kosmetische Ware selber hat, liegt hierin jedenfalls eine Diskriminierung i. S. d. Art. III:4 GATT. Zu einem ähnlichen Ergebnis kam übrigens auch die Kommission in einem ihrer Vorschläge im Vorwege des Erlasses der Richtlinie.288 Falls ein anderes WTO-Mitglied daher wegen eines mitgliedstaatlichen Verkaufsverbot für Kosmetikwaren, das aufgrund der Kosmetik-Richtlinie erlassen wurde, ein Streitbeilegungsverfahren durchführt, so ist als Rechtfertigungsgrund für die EU alleine der Art. XX lit. a) GATT ersichtlich. Denn dem Art. XX lit. b) GATT kommt keine extraterritoriale Geltung zu.289 Weiterer Bedarf für eine Rechtfertigungsmöglichkeit zur Beendigung tierquälerischer Handlungen könnte sich auch aus dem Umstand ergeben, dass aus dem Hoheitsgebiet von WTO-Mitgliedern lebende Schlachttiere exportiert werden, deren Transport oft besonders qualvoll vonstattengeht. So werden aus der EU wie auch aus Australien und Neuseeland in großem Umfange Schlachttiere vor allem in den arabischen Raum exportiert. Die EU exportierte z. B. 2004 insgesamt 174.000 Schlachtrinder vor allem in den Nahen Osten und erstattete den Züchtern u. a. durch Ausfuhrsubven­ tionen 52 Mio. EUR. Diese Ausfuhrsubventionen der EU für Lebendrinder sind zwar Großteils seit Anfang 2005 abgeschafft,290 immer noch werden aber aus der EU zahlreiche Lebendtiere exportiert. Im Jahr 2005 alleine 287  Richtlinie 2003  /  15  /  EG des Europäischen Parlamentes und Rates vom 27.02.2003, ABl. 2003 L 66 / 26. 288  ABl. 2000 C 311, S. 134, Rn. 1.2.3. 289  Vgl. C.III.2.a)aa)(2) zur extraterritorialen Geltung des Art. XX lit. b) GATT. 290  VO (EG) Nr. 615  / 98 der Kommission mit Durchführungsbestimmungen zur Ausfuhrerstattungsregelung in Bezug auf den Schutz lebender Rinder beim Transport vom 18.03.1998, ABl. L 82, S. 19.



III. Vergleich ähnlicher Ausnahmebestimmungen167

66.000 in den Libanon.291 Die Gründe für den Lebendexport von Tieren liegen u. a. darin, dass Lebendeinfuhren als eine noch weiterzuverarbeitende Ware in vielen Ländern mit geringeren Zöllen belegt werden, das Lebendtransporte ohne Minimalstandards preisgünstiger sind als der Transport von Fleischwaren, da dann auf eine Kühlung verzichtet werden kann und dass in vielen islamischen Einfuhrländern aus religiös-kulturellen Gründen von den dortigen Verbrauchern die eigene Schlachtung unter Beachtung bestimmter Riten bevorzugt wird. Sowohl die Zustände auf den Transport, als auch Haltung und Schlachtung in den Ausfuhrländern werden von Tierschützern als nicht artgerecht heftig kritisiert. Vor diesem Hintergrund ist es nicht ausgeschlossen, dass von WTO-Mitgliedern zur Gewährleistung eines gewissen Mindeststandards Ausfuhrverbote für Lebendtiere erlassen werden. Ein solches Ausfuhrverbot würde jedoch gegen Art. XI:1 GATT verstoßen.292 Eine Rechtfertigungsmöglichkeit für diese drei aufgezählten Beispiele käme in Betracht, wenn eine Berufung auf die Ausnahmebestimmung des Art. XX lit. a) GATT zum Schutz der öffentlichen Sittlichkeit mittels eines „Spiel über Bande“ möglich wäre. Eine solche Rechtfertigungsmöglichkeit ist darüber hinaus vom besonderen Interesse, da davon auszugehen ist, dass das Thema einer artgerechten Behandlung von Tieren im zunehmenden Maße eine höhere Priorität in den gesellschaftlichen Wertvorstellungen erreichen wird. Im EU-Recht ist, wie oben bereits ausgeführt,293 eine solche Rechtfertigungsmöglichkeit zur Gewährleistung der artgerechten Behandlung von Tieren in anderen EU-Mitgliedstaaten im Rahmen des Schutzes der öffentlichen Sittlichkeit des Art. 36 AEUV als grundsätzlich für möglich gehalten worden, im konkreten Einzelfall wegen des hierfür nicht ausreichenden Protestes bzw. Erregung jedoch nicht als gegeben angesehen.294 Damit Handelssanktionen, mittels derer tierquälerische Methoden im Hoheitsgebiet eines anderen WTO-Mitgliedes abgestellt werden sollen, durch die hier vorgeschlagene Rechtfertigungsmöglichkeit des „Spiels über Bande“ gerechtfertigt werden können, müssen die hierfür notwendigen Voraussetzungen vorliegen.295 Zunächst müsste eine notwendige Erregung der öffentlichen Meinung zu bejahen sein. Einen Anhaltspunkt dafür, dass auch tierquälerische Metho291  Vgl. www.dw-world.de / dw / article / 0,1503,1834777,00.html aufgerufen am 12.10.2008. 292  Vgl. B.I.2.a) zu den Voraussetzungen des Art. XI:1 GATT. 293  Vgl. C.II.2.e). 294  EuGH Urt. v. 23.05.1996, Rs. C-5 / 94, Hedley Lomas Ltd., Schlussantrag des Generalanwaltes Léger, Slg. 1996, I-2553, 2561 ff. 295  Vgl. hierzu C.III.1.a)bb)(3).

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C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

den außerhalb des eigenen Hoheitsgebietes das moralische Befinden einer Bevölkerung in einem Maße beeinträchtigen würde, dass dieses zu einer öffentlichen Erregung führt, findet sich in einer Online-Umfrage der EUKommission aus dem Jahr 2006. In dieser haben sich 93 % der Befragten aus allen EU-Mitgliedstaaten dafür ausgesprochen, dass sich die EU verstärkt für den Schutz der in Tierexperimenten verwendeten Tiere einsetzen sollte. 92 % der Beteiligten waren der Auffassung, dass die EU sich auch auf internationaler Ebene hierfür einsetzen sollte.296 Es ist allerdings fraglich, ob diese Momentaufnahme der öffentlichen Meinung im Zweifelsfall auch in öffentliche Erregung umschlagen wird. Darüber hinaus ist bei der hier vorgeschlagenen Rechtfertigungsmöglichkeit des „Spiels über Bande“ immer auch eine gewisse Anerkennung der fraglichen Werte im Völkerrecht zu fordern, um eine gewisse Mindestkontrolle zu gewährleisten. Denn anders als sonst im Rahmen der Ausnahmebestimmung der Art. XX lit. a) GATT zum Schutz der öffentlichen Sittlichkeit, kann bei einem „Spiel über Bande“ die Festlegung des Schutzniveaus der öffentlichen Sittlichkeit nicht alleine dem sich hierauf berufenden WTO-Mitglied überlassen werden. Denn hierdurch soll ein Verhalten nicht im eigenen Hoheitsgebiet, sondern im Hoheitsgebiet eines anderen WTO-Mitgliedes beeinflusst werden. Deshalb müssen an die Bestimmung des Schutzniveaus andere Maßstäbe angelegt werden. Ohne eine gewisse völkerrechtliche Anerkennung der Beweggründe welche die öffentliche Erregung auslösen, droht Art. XX lit. a) GATT zu einem Einfallstor für protektionistische Interessen zu werden bzw. durch partikulare Moralauffassungen überdehnt zu werden.297 Dementsprechend forderte auch der Generalanwalt, der im EU-Recht grundsätzlich Ausfuhrbeschränkungen aufgrund der Ausnahmebestimmung zum Schutz der öffentlichen Sittlichkeit des Art. 36 AEUV für gerechtfertigt hielt, wenn dies zur Abstellung von Praktiken in einem anderen EU-Mitgliedstaat geschehen sollte, die von einem bedeutenden Teil der öffentlichen Meinung als grausam und unmoralisch angesehen wurde, den EuGH auch auf, den Begriff der öffentlichen Sittlichkeit einer inhaltlichen Mindestkontrolle zu unterwerfen, um so missbräuchliche Handelsbeschränkungen zu verhindern.298 296  Vgl. die Umfrage der EG-Kommission zu Tierversuchen auf: http: /  / ec.europa. eu / environment / chemicals / lab_animals / questionaire1.htm, aufgerufen am 15.10. 2008. 297  Als Beispiel könnte Indien als hinduistisch geprägtes Land, sonst anderenfalls Handelssanktionen gegen McDonalds verhängen, bis dieser Konzern aufhört Rindfleischprodukte in anderen Ländern zu verkaufen. 298  EuGH Urt. v. 19.03.1998, Rs. C-1  / 96, Compassion in World Farming, Slg. 1998, I-1251, 1271, Rn. 101 ff. des Schlussantrages des Generalanwaltes Léger.



III. Vergleich ähnlicher Ausnahmebestimmungen169

Anders als für den Schutz von Menschenrechten oder der Gewährleistung sozialer Mindestrechte, findet sich jedoch für ein Verbot tierquälerischer Methoden keine ähnliche Verankerung in internationalen Konventionen. Eine Rechtfertigungsmöglichkeit mittels des „Spiels über Bande“ für Handelssanktionen, durch die tierquälerische Methoden im Hoheitsgebiet eines anderen WTO-Mitgliedes abgestellt werden sollen, ist daher abzulehnen. cc) Die Auslegung des Notwendigkeitskriteriums Nach dem englischen Wortlaut des GATT, der anders als der deutsche Wortlaut auch verbindlich ist, muss die Maßnahme zum Schutz der „öffentlichen Sittlichkeit“ auch notwendig sein. In der amtlichen deutschen Übersetzung ist zwar dieses Notwendigkeitskriterium nicht erwähnt, allerdings sind die offiziellen Vertragssprachen nach § 2 lit. c) Unterabsatz (i) des GATT 1994 Englisch, Französisch und Spanisch. Diese benutzen jedoch eine entsprechende Formulierung.299 Da die Streitbeilegungsgremien bislang noch keine Auslegung des Art. XX lit. a) GATT vorgenommen haben, kann auf eine entsprechende Judikatur kein Rückgriff genommen werden. Allerdings bietet der Bericht eines Panels zur gleichlautenden Ausnahmebestimmung zum Schutz der „öffent­ lichen Sittlichkeit“ im Rahmen des GATS, also nach Art. XIV lit. a) GATS Orientierung. Darin bezog sich das Panel auf die Entscheidungen des Appellate Body zu Art. XX lit. d) GATT in den Fällen EC – Asbestos und Korea – Various Measures on Beef, in denen ebenfalls das Notwendigkeitskriterium ausgelegt wurde. Aufgrund dieser Berichte des Appellate Body stellte das Panel folgende Kriterien auf, anhand derer geprüft werden kann, ob eine Maßnahme zum Schutz der „öffentlichen Sittlichkeit“ nach Art. XIV lit. a) GATS notwendig ist: – Die Bedeutung der Ziele oder Werte, die mit dieser Maßnahme geschützt werden sollen (falls diese von hoher Bedeutung sind, ist es eher wahrscheinlich, dass die Maßnahme notwendig ist). – Das Ausmaß in welchen die Maßnahme zur Verwirklichung des von ihr verfolgten Ziels beiträgt (je größer das Ausmaß ist, in dem die Maßnahme zum Ziel beiträgt, desto eher ist es wahrscheinlich, dass die Maßnahme notwendig ist). – Die Auswirkungen der jeweiligen Maßnahme auf den Handel (falls die Maßnahme nur eine relativ geringe Auswirkung auf den Handel hat, ist es eher wahrscheinlich, dass die Maßnahme notwendig ist. Dabei muss 299  „Necessary to protect public morals“; „nécessaire à la protection de la moralité publique“; „necesarias para proteger la moral pública“.

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C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

auch berücksichtigt werden, ob eine geeignete WTO-konsistente Maßnahme angewendet werden könnte.300 Es ist davon auszugehen, dass im Streitfall auch die Auslegung des Notwendigkeitskriteriums im Rahmen des Art. XX lit. a) GATT von den Streitbeilegungsgremien der WTO anhand dieser Kriterien vorgenommen werden wird. Die Streitbeilegungsgremien werden auch zu beachten haben, dass an ein umfängliches Einfuhrverbot ganz besondere Voraussetzungen zu stellen sind. Denn ein Einfuhrverbot gehört „gewöhnlich zu den schwersten Waffen aus dem Arsenal der Handelsmaßnahmen“.301 Außerdem werden sich die Streitbeilegungsgremien, ähnlich wie es das Panel in US – Gambling getan hat, an den Berichten zur Auslegung des Notwendigkeitskriteriums im Rahmen der anderen Ausnahmebestimmungen des Art. XX GATT orientieren. So haben auch die Streitbeilegungsgremien bei der Auslegung der Notwendigkeitskriterien der Art. XX lit. b) GATT und Art. XX lit. d) GATT jeweils auf die andere Ausnahmebestimmung verwiesen.302 Daher ist davon auszugehen, dass die jeweiligen Notwendigkeitskriterien grundsätzlich gleich ausgelegt werden können. Also kann bezüglich der Auslegung des Notwendigkeitskriteriums des Art. XX lit. a) GATT auch auf die Ausführungen der Streitbeilegungsgremien zu Art. XX lit. b) und Art. XX lit. d) GATT verwiesen werden.303 b) Der Schutz der öffentlichen Sittlichkeit im EU-Recht Art. 36 S. 1 AEUV nennt den Schutz der öffentlichen Sittlichkeit als erste Ausnahmebestimmung für Eingriffe in die Warenverkehrsfreiheit. In Art. 36 S. 1 AEUV wird die öffentliche Sittlichkeit als Teil eines Ordre-public-Vorbehalts zusammen mit den Ausnahmen für die öffentliche Ordnung und die öffentliche Sicherheit genannt. Die Ausnahmebestimmungen in Art. 36 S. 1 AEUV, welche die öffentliche Ordnung und Sicherheit schützen, werden jedoch an späterer Stelle untersucht.304 Denn das Äquivalent zur öffentlichen Sicherheit ist im WTO-Recht in Art. XXI GATT zu suchen, während dem legitimen Schutzziel der öffentlichen Ordnung ein direktes Äquivalent im GATT fehlt. Die getrennte Behandlung dieser drei Bestandteile des Ordrepublic-Vorbehalts ist auch möglich, da es sich um jeweils eigenständige legiReport, US – Gambling, Rn. 6.447. Body Report, US – Shrimps, Rn. 171. 302  Panel Report, EC – Tariff Preferences, Rn. 7.211–7.213. 303  Vgl. C.III.2.a)bb) zum Notwendigkeitskriterium des Art. XX lit. b) GATT und C.III.4.a)bb) zum Notwendigkeitskriterium des Art. XX lit. d) GATT. 304  Vgl. C.III.5.b)aa) zur öffentlichen Sicherheit und C.V.1. zur öffentlichen Ordnung. 300  Panel

301  Appellate



III. Vergleich ähnlicher Ausnahmebestimmungen171

time Schutzziele handelt.305 Die öffentliche Sittlichkeit ist daher ein eigenständiges legitimes Schutzziel, welches von der öffentlichen Ordnung einerseits und der öffentlichen Sicherheit andererseits zu unterscheiden ist. Verglichen mit der insgesamt sehr umfangreichen Rechtsprechung zur Warenverkehrsfreiheit, hat sich der EuGH bislang nur sehr selten mit der Ausnahmebestimmung zum Schutz der öffentlichen Sittlichkeit befasst. So hat der EuGH in nur zwei Entscheidungen die Rechtfertigung einer warenverkehrsbeeinträchtigenden Maßnahme anhand der Ausnahmebestimmung zum Schutz der öffentlichen Sittlichkeit des Art. 36 AEUV überprüft. In zwei weiteren Entscheidungen wurde eine solche Rechtfertigungsmöglichkeit durch den jeweils zuständigen Generalanwalt zwar diskutiert, aber von diesem im konkreten Fall auch abgelehnt. Zudem rechtfertigte der EuGH eine Beeinträchtigung des Art. 110 Abs. 1 AEUV aufgrund des legitimen Schutzziels der öffentlichen Sittlichkeit. Soweit ersichtlich haben sich auch sonst EU-Mitgliedstaaten nicht zur Rechtfertigung von Eingriffen in die Warenverkehrsfreiheit auf diese Ausnahmebestimmungen berufen. Beide Entscheidungen des EuGH zur Ausnahmebestimmung zum Schutz der öffentlichen Sittlichkeit betrafen handelsbeschränkende Maßnahmen von Seiten Großbritanniens für Waren, die einen sexuellen Bezug hatten. Erfolgreich war die Berufung Großbritanniens auf die Ausnahmebestimmung zum Schutz der öffentlichen Sittlichkeit in der Rechtssache Henn und Darby. In dieser ging es um ein Einfuhrverbot für aus den Niederlanden stammende pornographische Filme und Magazine. Dieses wurde vom E ­ uGH aufrechterhalten. Denn der EuGH stellt fest, dass „es grundsätzlich Sache jedes Mitgliedstaats ist, den Begriff der öffentlichen Sittlichkeit für sein Gebiet im Einklang mit seiner eigenen Werteordnung und in der von ihm gewählten Form auszufüllen.“ Daher kann ein Mitgliedstaat auch die Einfuhr von Waren verbieten, wenn diese Waren im Sinne seines innerstaat­ lichen Rechts als Verstoß gegen die öffentliche Sittlichkeit gelten. Das gilt auch dann, wenn diese Waren in einem anderen Mitgliedstaat nicht als eine Verletzung der öffentlichen Sittlichkeit gewertet werden.306 Nicht erfolgreich war hingegen die Berufung Großbritanniens auf die Ausnahmebestimmung zum Schutz der öffentlichen Sittlichkeit in der Rechtssache Conegate. In dieser ging es um eine handelsbeschränkende Maßnahme in Form einer Beschlagnahmung von Gegenständen aus deutscher Herstellung, die von den Beschwerdeführern in dem sich darauf anschließenden Zivilverfahren als Schaufensterpuppen bezeichnet wurden. 305  Schneider,

S.  33 ff. Urt. v. 14.12.1979, Rs. 34 / 79, Strafverfahren gegen Henn und Darby, Slg. 1979, 3795, 3813, Rn. 16, 17. 306  EuGH

172

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

Allerdings lag angesichts des Umstandes, dass es sich hierbei um auf Lebensgröße aufblasbare Gummipuppen handelte, die u. a. als „Love LovePuppen“ bezeichnet wurden, ein anderer Verwendungszweck näher. Die Berufung Großbritanniens auf Art. 36 AEUV war in diesem Fall jedoch nicht erfolgreich, da solche Waren innerhalb Großbritanniens frei hergestellt werden konnten und nur ihre Vermarktung in den verschiedenen Gebieten Großbritanniens unterschiedlich strengen Restriktionen ausgesetzt war.307 In einer weiteren Entscheidung ließ der EuGH das Verbot des Art. 110 Abs. 1 AEUV für eine materiell diskriminierende steuerliche Maßnahme aufgrund des damit bezweckten legitimen sozialen Schutzziels nicht eingreifen. Bei dieser materiell diskriminierenden steuerlichen Maßnahme handelte es sich um eine progressive Besteuerung von Spielautomaten, wobei die­ jenigen Arten von Spielautomaten am höchsten besteuert wurden, deren Benutzung aus sozialen Gründen erschwert werden sollte.308 Obwohl der EuGH sich nicht zu der Natur des betreffenden legitimen Schutzziel äu­ ßerte, so kann ein legitimes Schutzziel, welches der Zurückdrängung von als sozial unliebsam geltenden Spielautomaten dienen soll, doch mit Fug und Recht auch als das legitime Schutzziel zum Schutz der öffentlichen Sittlichkeit bezeichnet werden. Schließlich wurde noch vom Generalanwalt Léger die Rechtfertigung e­ines möglichen britisches Ausfuhrverbotes von Kälbern, die in anderen Mitgliedstaaten unter qualvollen Bedingungen gehalten wurden, durch die Ausnahmebestimmung zum Schutz der öffentlichen Sittlichkeit nach Art. 36 AEUV für möglich gehalten, da diese Bedingungen von einem bedeutenden Teil der öffentlichen Meinung in Großbritannien als grausam und unmoralisch angesehen wurde. Im gleichen Schlussantrag forderte dieser Generalanwalt übrigens den Begriff der öffentlichen Sittlichkeit durch den EuGH einer inhaltlichen Mindestkontrolle zu unterwerfen, um so missbräuchliche Handelsbeschränkungen zu verhindern. Trotz der Forderung nach einer solchen Mindestkontrolle stellte er klar, dass es nicht Sache des EuGH sei „über die Werte zu entscheiden, die die öffentliche Sittlichkeit eines Mitgliedstaats ausmachen und ihm daher eigentümlich sind“. Außerdem wies er darauf hin, dass „sich der Begriff der öffentlichen Sittlichkeit je nach Mitgliedstaat, Zeit und soziokulturellen Besonderheiten des Mitgliedstaates“ unterscheide.309 307  EuGH Urt. v. 11.03.1986, C-121 / 85, Conegate Ltd. . / . HMf Customs & Ex­ cise, Slg. 1986, 1007, 1022, Rn. 15. 308  EuGH Urt. v. 03.03.1988, Rs. C-252  / 86 Bergandi . / . Directeur Général des Impôts, Slg. 1988, 1343, 1375, Rn. 32. 309  EuGH Urt. v. 19.03.1998, Rs. C-1  / 96, Compassion in World Farming, Slg. 1998, I-1251, 1271, Rn. 101 ff. des Schlussantrages des Generalanwaltes Léger.



III. Vergleich ähnlicher Ausnahmebestimmungen173

Auch in der Rechtssache Torfaen forderte Generalanwalt van Gerven eine gewisse Mindestkontrolle des EuGH über den Begriff der öffentlichen Sittlichkeit. Diese von ihm vorgestellte Mindestkontrolle scheint aber relativ weitreichend zu sein da jedenfalls der Schutz des religiösen Empfindens für den Generalanwalt nicht unter dem Begriff des Schutzes der öffentlichen Sittlichkeit fiel.310 Der EuGH nahm jedoch in beiden Entscheidungen zum Begriff der öffentlichen Sittlichkeit keine Stellung. Denn in der Rechtssache Compassion in World Farming sah der EuGH aufgrund einer bereits vorgenommenen Harmonisierung keine Möglichkeit mehr für den EU-Mitgliedstaat sich auf Art. 36 AEUV zu berufen und in der Rechtssache Torfaen sah der EuGH schon nicht den Anwendungsbereich des Art. 34 AEUV eröffnet.311 Aus der Rechtsprechung des EuGH zur Ausnahmebestimmung zum Schutz der öffentlichen Sittlichkeit und der hierzu vertretenen Auffassungen der Generalanwälte folgt, dass es Sache der EU-Mitgliedstaaten ist, den Begriff der öffentlichen Sittlichkeit für ihr Hoheitsgebiet im Einklang mit der dort bestehenden Werteordnung und in der von ihnen gewählten Form auszufüllen. Denn eine Begriffsbestimmung des EuGH für die öffentliche Sittlichkeit fehlt. Dabei steht den EU-Mitgliedstaaten ein sehr weiter Beurteilungsspielraum zu. Eingeschränkt wird dieser sehr weite Beurteilungsspielraum der EU-Mitgliedstaaten über den Schutzbereich der öffentlichen Sittlichkeit selber zu entscheiden, wenn inländisch hergestellten Waren nicht den gleichen Regelungen unterworfen werden. Denn dann können auf Waren aus anderen EU-Mitgliedstaaten keine strengeren Regelungen angewendet oder gar deren Einfuhr verboten werden. Also muss im betreffenden EU-Mitgliedstaat auch ein entsprechendes Verbot der Herstellung und Vermarktung gleicher einheimischer Waren bestehen. Abzulehnen ist aber die Anregung zweier Generalanwälte dem Begriff der öffentlichen Sittlichkeit einer gewissen inhaltlichen Mindestkontrolle durch den EuGH zu unterwerfen. Dann bestünde nämlich die Gefahr, dass sich der EuGH im Ergebnis letztendlich doch zum Wächter über die Sittlichkeitsvorstellungen innerhalb eines EU-Mitgliedstaates aufschwingen würde. Ein erstes Anzeichen hierfür findet sich bereits in der Auffassung des Generalanwaltes in der Rechtssache Torfaen in der dieser das Bestreben religiöse Empfinden nicht zu verletzen, nicht unter dem Begriff der öffent310  EuGH Urt v. 23.11.1989, Rs. C-145 / 88, Torfaen Borough Council . / . B & Q PLC, Slg. 1989, 3851, 3881, Rn. 29 des Schlussantrages des Generalanwaltes van Gerven. 311  EuGH Urt. v. 19.03.1998, Rs. C-1  / 96, Compassion in World Farming, Slg. 1998, I-1251, 1300, Rn. 64; EuGH Urt v. 23.11.1989, Rs. C-145 / 88, Torfaen Bo­ rough Council . / . B & Q PLC, Slg. 1989, 3851, 3889, Rn. 17.

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C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

lichen Sittlichkeit fasste.312 Eine Behauptung, der nicht nur aufgrund der Erfahrungen aus dem Mohammed-Karikaturenstreit widersprochen werden muss, sondern auch weil das Sittlichkeitsempfinden jedenfalls großer Teile der Bevölkerung innerhalb der EU, wenn diese Anteile auch in den einzelnen EU-Mitgliedstaaten unterschiedlich groß sein mögen, im entscheidenden Maße durch religiöses Empfinden geprägt wird. Statt einer inhaltlichen Mindestkontrolle, sollte sich daher zwecks Verhinderung eines Missbrauchs dieser Ausnahmebestimmung die inhaltliche Prüfung auf eine Evidenzkontrolle beschränken. Auf diese Weise würde der EuGH nicht in die Gefahr geraten, als Moralwächter in die Kritik zu geraten. Gleichzeitig wird einem Missbrauch auch schon dadurch vorgebeugt, dass einheimischen und eingeführten Waren den gleichen Regelungen zum Schutz der öffentlichen Sittlichkeit unterworfen werden müssen. Außerdem kann durch das in den Mittelpunktstellen der Verhältnismäßigkeitsprüfung und der Wahrnehmung der Möglichkeiten, die Art. 36 S. 2 AEUV bietet, einen Missbrauch dieser Ausnahmebestimmung vorgebeugt werden. Nach diesen Ausführungen kann auch das in Deutschland aufgrund von § 86 Abs. 1 Nr. 4 StGB bestehende Einfuhrverbot für Propagandamitteln, die nach ihrem Inhalt dazu bestimmt sind, Werbung für nationalsozialistische Organisationen zu treiben und deren Herstellung und Vertrieb in Dänemark und Schweden legal sind, da diese Handlungen dort unter den Anwendungsbereich der Meinungsfreiheit fallen, durch die Ausnahmebestimmung zum Schutz der öffentlichen Sittlichkeit gerechtfertigt werden. Schließlich kann wie bereits dargelegt,313 nach der hier vertretenen Auffassung mittels eines „Spiel über Bande“ die Ausnahmebestimmung zum Schutz der öffentlichen Sittlichkeit auch als Rechtfertigungsgrund zur Erreichung extraterritorialer Schutzziele eingesetzt werden. Dazu muss jedoch ein bedeutender Teil der öffentlichen Meinung der eigenen Bevölkerung diese Praktiken, die im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaates abgestellt werden sollen, als empörend, grausam und unmoralisch einstufen sowie sich dabei sowohl auf autorative wissenschaftliche Stellungsnahmen als auch auf eine gewisse Anerkennung dieser Werte im EU-Recht berufen können. Eine Anerkennung dieser Werte im EU-Recht ist zu fordern, um eine gewisse Mindestkontrolle zu gewährleisten. Dadurch wird sichergestellt, dass nicht willkürlich und ohne jeden dahingehenden gemeinsamen 312  EuGH Urt v. 23.11.1989, Rs. C-145 / 88, Torfaen Borough Council . / . B & Q PLC, Slg. 1989, 3851, 3881, Rn. 29 des Schlussantrages des Generalanwaltes van Gerven. 313  Vgl. C.II.2.e).



III. Vergleich ähnlicher Ausnahmebestimmungen175

Wertekonsens ein anderer EU-Mitgliedstaat gedrängt wird, das betreffende Verhalten in seinem Hoheitsgebiet abzustellen.314 c) Vergleich Die Ausnahmebestimmungen zum Schutz der öffentlichen Sittlichkeit im WTO- und EU-Recht ähneln sich nicht nur darin, dass sie sowohl in Art. XX GATT als auch in Art. 36 AEUV als erstes unter den legitimen Schutzzielen aufgeführt werden, sondern auch in ihrer Auslegung. Denn in beiden Rechtsordnungen wird es sowohl den WTO-Mitgliedern wie den EU-Mitgliedstaaten überlassen, das jeweils gewünschte Schutzniveau für ihr Hoheitsgebiet selber festzulegen. Ein gemeinsames für die jeweils gesamte Rechtsordnung geltendes Niveau für den Schutz der öffentlichen Sittlichkeit besteht also nicht. Während die Gemeinsamkeit hinsichtlich des Wortlautes und der Stellung der beiden Ausnahmebestimmung zum Schutz der öffentlichen Sittlichkeit damit erklärt werden kann, dass der Art. XX GATT bei der Formulierung des Art. 36 AEUV Modell stand, ist die ähnliche Auslegung beider Ausnahmebestimmungen darauf zurückzuführen, dass sich sowohl WTO als auch EU aus vielen verschiedenen Mitgliedern zusammensetzen, die unterschiedlichen kulturellen, sozialen, ethischen und religiösen Prägungen unterliegen. Auch existiert keine weltweit akzeptierte Definition des Begriffes Moral oder Sittlichkeit.315 Eine Bestrebung den Begriff der „öffentlichen Sittlichkeit“ zu vereinheitlichen würde daher aller Voraussicht nach scheitern und würde auch von vielen als ein kultureller Paternalismus und im Fall der WTO als westlicher Werteimport angesehen werden. Welche Schwierigkeiten es bereiten würde, wenigstens gewisse gemeinsame Standards in Bezug auf die öffentliche Sittlichkeit festzulegen, zeigt sich innerhalb des kulturell, sozial und politisch vergleichsweise homogenen Europa nicht nur am Beispiel der EU, sondern auch an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Dieser ist ebenfalls der Auffassung, dass es innerhalb Europas keine einheitliche Auffassung über eine Definition des Begriffs der öffentlichen Sittlichkeit gebe und dass sich die einzelnen Staaten in einer wesentlich besseren Position befinden, um das Schutzniveau für die öffentliche Sittlichkeit festzulegen, als dies Richter eines internationalen Gerichts tun könnten.316 Dass die Auslegung der öffentlichen Sittlichkeit in 314  Vgl. im Übrigen C.III.1.a)bb)(1) zu weiteren Argumenten für eine Anerkennung der betreffenden Werte im EU-Recht. 315  Posner, Harvard Law Review 1998, 1637, 1639. 316  EGMR Urt. v. 07.12.1979, Handyside, Serie A Nr. 24, S. 23, Rn. 48 = EuGRZ 1977, 42; EGMR Urt. v. 24.05.1988, Müller u. a. .  /  . Schweiz, Serie A Nr. 133, Rn. 35 = EuGRZ 1988, S. 543.

176

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

beiden Rechtsordnungen bislang keine einheitliche Auslegung oder auch nur gewisse Mindeststandards gefunden hat, erklärt sich aber schon aus den Begriff der öffentlichen Sittlichkeit selber. Dieser Begriff, ist im Übrigen im heutigen Sprachgebrauch etwas veraltet, wahrscheinlich würde heute eher der Begriff der öffentlichen Moral gebraucht werden. Unter Moral sind die Gesamtheit der Verhaltensregel und Werte zu verstehen, die in einer Gesellschaft als Normen dienen.317 Über solche Normen einer Gesellschaft von außen zu urteilen, könnte sich sehr schnell für die öffentliche Akzeptanz und damit auch für die weitere Etablierung der jeweils von EU und WTO angestrebten Handelsordnung als schädlich erweisen. Denn Werte, welche die Normen einer Gesellschaft ausmachen, eignen sich auch hervorragend zur Mobilisierung von Protest gegen eine weiter voranschreitende Integra­ tion. Gleichzeitig handelt es sich bei Waren, gegen die aufgrund von Er­ wägungen der öffentlichen Sittlichkeit handelsbeschränkende Maßnahmen verhängt werden könnten, regelmäßig um solche, die nur eine relativ geringe wirtschaftliche Bedeutung haben. Diese nur sehr geringe wirtschaftliche Bedeutung zeigt sich auch darin, dass in der Judikatur beider Rechtsordnungen diese Ausnahmebestimmung zum Schutz der öffentlichen Sittlichkeit bisher keine bzw. nur sehr wenig praktische Relevanz erlangt. Selbst der EuGH, zu dem aufgrund des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV ein wesentlich umfangreicherer Zugang besteht als zu den Streitbeilegungsgremien der WTO, entschied bislang erst zweimal über die Rechtfertigung von handelsbeschränkenden Maßnahmen durch die Ausnahmebestimmung zum Schutz der öffentlichen Sittlichkeit. Diese nur geringe praktische Relevanz des legitimen Schutzzieles der öffentlichen Sittlichkeit sowie der Umstand, dass die Entscheidungen, in denen die öffentliche Sittlichkeit von Belang war, auf Vorlageverfahren beruhten, zeigen, dass weder die WTO-Mitglieder noch die Kommission ein großes Interesse daran haben, die doch sehr sensible Problematik der öffentlichen Sittlichkeit mittels der Einleitung eines Streitbeilegungsverfahrens bzw. eines Verfahrens vor dem EuGH anzustrengen.318 Gleichzeitig beste317  So der Generalanwalt Léger in seinem Schlussantrag in EuGH Urt. v. 19.03.1998, Rs.  C-1 / 96, Compassion in World Farming, Slg. 1998, I-1251, 1271, Rn. 101, der hierbei aus dem „le Petit Larousse“ zitierte. 318  Natürlich können auch die EU-Mitgliedstaaten eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 259 AEUV einleiten. Diese spielt in der Praxis aber nur eine marginale Rolle (vgl. Schwarze, EU-Kommentar, Art. 227 EGV Rn. 3). Die Gründe liegen zum einen in der diplomatischen Rücksichtsnahme und der aktiven Rolle der Kommis­ sion begründet, zum anderen sicherlich auch darin, dass zwischen den EU-Mitgliedstaaten eine faktische Solidarität der Verhänger handelsbeschränkender Maßnahmen zu bestehen scheint.



III. Vergleich ähnlicher Ausnahmebestimmungen177

hen, wie einleitend dargestellt,319 zahlreiche handelsbeschränkende Maßnahmen, die von verschiedenen Staaten aus Gründen der öffentlichen Sittlichkeit verhängt werden. Dieser Kontrast deutet darauf hin, dass dahingehend ein gewisser Konsens besteht, dass souveränen Staaten hinsichtlich der öffentlichen Sittlichkeit ein gewisser Freiraum gelassen werden soll. Trotz dieser Gemeinsamkeiten bestehen aber auch in Bezug auf die Ausnahmebestimmung zum Schutz der öffentlichen Sittlichkeit Unterschiede in beiden Rechtsordnungen. So konnte im EG-Recht zum Schutz von materiell diskriminierender Besteuerung eine der öffentlichen Sittlichkeit ähnliche Ausnahmebestimmung entwickelt werden. Im WTO-Recht wäre dies schon aufgrund der Grenzen, die den Streitbeilegungsgremien hinsichtlich der Rechtsfortbildung aufgrund der Art. 3.2 und Art. 19.2 DSU auferlegt werden, nicht möglich. Im Übrigen wäre dies aber auch im WTO-Recht für diskriminierende Besteuerungen gar nicht notwendig, da die in Art. XX GATT enthaltenen Ausnahmebestimmungen für alle Vorschriften innerhalb des GATT gelten, die einen liberalisierten Warenhandel gewährleisten und damit auch für Art. III:2 GATT, der diskriminierende steuerliche Maßnahmen verbietet. Anders als Art. 36 AEUV, der nur für Art. 34 AEUV und Art. 35 AEUV gilt, die nur das Verbot mengenmäßiger Beschränkungen und Maßnahmen gleicher Wirkung wie mengenmäßige Beschränkungen gewährleisten. Als weiterer Unterschied fällt ins Auge, dass obwohl die Ausnahmebestimmung zum Schutz der öffentlichen Sittlichkeit im WTO-Recht bislang keine praktische Anwendung gefunden hat, ihre potentiellen Einsatzmöglichkeiten doch jedenfalls größer sind als im EU-Recht. So wird in Bezug auf das WTO-Recht diskutiert, ob diese Ausnahmebestimmung auch zum Schutz von Rechtsgütern wie des Schutzes von Menschenrechten und so­ zialer Mindestbedingungen oder gar des Tierschutzes im Hoheitsgebiet anderer WTO-Mitglieder benutzt werden kann. Im EU-Recht wurde zwar von einem Generalanwalt die Möglichkeit eines solchen extraterritorialen Schutzes in Bezug auf die Abstellung von tierquälerischen Methoden durch die Ausnahmebestimmung zum Schutz der öffentlichen Sittlichkeit erwogen; dennoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass diese Ausnahmebestimmung zum Schutz extraterritorialer Rechtsgüter im WTO-Recht eine größere praktische Relevanz erlangen wird, als dies im EU-Recht der Fall sein wird, groß. Denn im EU-Recht müssen Mindeststandards nicht mittels der Verhängung von Handelshemmnissen durchgesetzt werden. So wird innerhalb der EU der Schutz der Menschenrechte in allen Mitgliedstaaten dadurch gewährleistet, dass alle EU-Mitgliedstaaten der Europäischen Menschenrechtskonvention angehören, die Grundrechtsstandards enthält. 319  Vgl.

C.III.1.a).

178

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

Auch die Einhaltung gewisser sozialer Mindestbedingungen innerhalb der EU wird trotz der insbesondere nach der EU-Osterweiterung sehr unterschiedlichen ökonomischen Möglichkeiten sowie Traditionen und Konzep­ tionen in der Sozialpolitik, die innerhalb der EU-Mitgliedstaaten bestehen, im EU-Recht in einem gewissen Umfang gewährleistet. So hat die Sozial­ politik im EU-Vertrag parallel zur Schaffung eines Binnenmarktes eine kontinuierliche Aufwertung erfahren. Der EU-Vertrag enthält nunmehr zwei Kapitel über soziale Bestimmungen. Nach Art. 162–164 AEUV kommt der EU eine breite Kompetenz zu, verschiedene sozialpolitische Aktionsmöglich­ keiten zu treffen. Die EU kann daher durch Harmonisierung auf Mindest­ standards hinsichtlich sozialer Rechte Einfluss nehmen. Nach Art. 146–148 AEUV kann die EU zudem mit Hilfe des Europäischen Sozialfonds soziale Maßnahmen in den EU-Mitgliedstaaten durch finanzielle Mittel fördern. Darüber hinaus gehören die EU-Mitgliedstaaten sämtlich der Europäischen Sozialcharta an. Die Europäische Sozialcharta ist ein vom Europarat initiiertes völkerrechtlich verbindliches Abkommen, das der Bevölkerung innerhalb der jeweiligen Unterzeichnerstaaten umfassend soziale Rechte garantiert. Durch all diese Maßnahmen werden sozial unliebsame Begleiterscheinungen des Binnenmarktes abgefedert. Das unterschiedliche Sozialniveau in den EU-Mitgliedstaaten wird zudem dadurch kompensiert, dass es sich bei den EU-Mitgliedstaaten ganz überwiegend um hoch entwickelte Industrieländer handelt. Bei dem Wettbewerb dieser Länder untereinander stellen die Sozialkosten aber nur ein Kostenfaktor unter vielen (Qualifizierung der Arbeitnehmerschaft, Produktivität, Infrastruktur, Steuerbelastung) dar. Daher sind innerhalb der EU-Mitgliedstaaten jedenfalls die Einhaltung von Menschenrechten und sozialen Mindestbedingungen in einem Maße gewährleistet, welche das Berufen auf die Ausnahmebestimmung zum Schutz der öffentlichen Sittlichkeit, um hierdurch solche extraterritorialen Rechtsgüter zu schützen, als nicht notwendig erscheinen lassen. Auch die Anwendung dieser Ausnahmebestimmung zum Schutze anderer extraterritorialer Rechtsgüter wie z. B. der Abstellung tierquälerischer Methoden oder andere Praktiken, die als anstößig empfunden werden können, wird wohl wenig relevant bleiben. Denn die Organe und Mitgliedstaaten der EU stehen unter einem wesentlich größeren demokratischen Legitimierungszwang als dies auf Ebene der WTO der Fall ist. Deshalb ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass als anstößig erscheinende Umstände, wenn schon nicht durch die EU-Mitgliedstaaten selber, dann doch durch die gemeinschaftsrechtliche Harmonisierung im Wesentlichen abgebaut werden. Als Beispiel hierfür kann die Harmonisierung der EU im Bereich des Lebendtransportes von Tieren herangezogen werden.320 320  Vgl.

C.III.2.b)bb)(2).



III. Vergleich ähnlicher Ausnahmebestimmungen179

2. Schutz von Gesundheit und Leben von Menschen, Tieren oder Pflanzen Art. XX lit. b) GATT rechtfertigt „Maßnahmen zum Schutze des Lebens und der Gesundheit von Menschen, Tieren und Pflanzen“, während Art. 36 AEUV eine Ausnahmebestimmung für Maßnahmen enthält, die dem „Schutze der Gesundheit und des Lebens von Menschen, Tieren oder Pflanzen“ dienen. Damit wird die Gesundheit und das Leben von Menschen, Tieren oder Pflanzen sowohl in Art. XX lit. b) GATT als auch in Art. 36 S. 1 AEUV in nahezu identischen Worten als jeweils zweites der legitimen Schutzziele aufgeführt. Ob es darüber hinaus weitere Gemeinsamkeiten aber auch Unterschiede in Bezug auf den Schutz dieser Güter in beiden Rechtsordnungen gibt, wird im Folgenden untersucht. a) Schutz des Lebens und der Gesundheit von Menschen, Tieren und Pflanzen im WTO-Recht Die Ausnahmebestimmung des Art. XX lit. b) GATT zum Schutz des Lebens und der Gesundheit von Menschen, Tieren und Pflanzen gehört zu den Ausnahmebestimmungen auf welche sich die WTO-Mitglieder am häufigsten berufen, um Verletzungen ihrer Verpflichtungen aus dem GATT zu rechtfertigen. Eine handelsbeschränkende Maßnahme, welche den Schutz von Leben und Gesundheit von Menschen, Tieren oder Pflanzen dient, muss sich der Rechtfertigungsprüfung der Ausnahmebestimmung nach Art. XX lit. b) GATT jedoch nur dann stellen, wenn die Maßnahme selber einen Verstoß gegen die Verpflichtungen aus dem GATT darstellt. Dies ist in der Regel dann nicht der Fall, wenn die jedenfalls potentiell gesundheitsschädliche Ware nicht gleichartig mit einer anderen Ware ist, die über diese jedenfalls potentiell gesundheitsschädlichen Eigenschaften nicht verfügt. Denn Waren die nicht gleichartig sind, dürfen unterschiedlich behandelt werden, so dass schon aus diesem Grund kein Verstoß gegen das GATT vorliegt. Bei der Bestimmung der Gleichartigkeit zu Art. III:4 GATT hat der Appellate Body in EC – Asbestos entschieden, dass asbesthaltige Faserstoffe, nicht gleichartig mit anderen Faserstoffen sind, die keine asbesthaltigen Inhaltsstoffe enthalten. Der Appellate Body argumentierte dabei, dass Gesundheitsrisiken herangezogen werden könnten, um die Gleichartigkeit der Waren zu bestimmen, da diese einen wichtigen Einfluss auf den Wettbewerb der Waren auf dem Markt haben und sie auch die Geschmäcker und Gewohnheiten der Verbraucher beeinflussen.321 321  Appellate

Body Report, EC – Asbestos, Rn. 115, 122.

180

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

Daher verstieß ein französisches Verbot des Verkaufs von asbesthaltigen Faserstoffen, welches sowohl asbesthaltige Faserstoffe inländischer wie ausländischer Herkunft verbot, nicht gegen das Prinzip der Inländergleichbehandlung des Art. III:4 GATT.322 Mit diesem Bericht des Appellate Body wurde auch der Bericht eines Panels aufgehoben, der asbesthaltige Faserstoffe aufgrund ihrer Ähnlichkeit mit anderen nicht-asbesthaltigen Faserstoffen als gleichartig angesehen hatte und deren Verbot in Frankreich deshalb als ein Verstoß gegen den Art. III:4 GATT einstufte,323 so dass dieses Verbot einer Rechtfertigung durch Art. XX lit. b) GATT bedurft hätte. Nach dieser Entscheidung des Appellate Body können daher bestehende Gesundheitsrisiken Waren in einem Maße differenzieren, dass sie nicht mehr gleichartig sind. Handelsbeschränkende Maßnahmen, die auf den Schutz der in Art. XX lit. b) GATT enthaltenen Ausnahmebestimmungen abzielen, und die Waren auferlegt werden, die auch weiterhin als gleichartig mit andere Waren eingestuft werden und somit gegen Art. III:4 GATT verstoßen oder deren Einfuhr Beschränkungen ausgesetzt ist und die somit gegen Art. XI:1 GATT verstoßen, bedürfen aber auch zukünftig einer Rechtfertigung durch die Ausnahmebestimmung des Art. XX lit. b) GATT. Die Voraussetzungen, die für eine Rechtfertigung durch Art. XX lit. b) GATT erfüllt werden müssen, wurden von den Streitbeilegungsgremien entwickelt. So hat das Panel in US – Gasoline in einem Bericht, gegen den nicht der Appellate Body angerufen wurde, die Voraussetzungen des Art. XX lit. b) GATT dahingehend ausgelegt, dass, die fragliche Maßnahme erstens als eine Maßnahme eingestuft werden muss, die in den Bereich der Politiken fällt, mittels derer das Lebens oder die Gesundheit von Menschen, Tieren oder Pflanzen geschützt werden soll und diese Maßnahme zweitens notwendig ist, um diesen Schutzzweck zu erreichen.324 An dieser Auslegung hat sich auch das Panel im Streitbeilegungsverfahren EC – Asbestos orientiert.325 Ebenso folgte das Panel im Streitbeilegungsverfahren EC – Tariff Preferen­ ces diesen Ansatz und berief sich dabei auch explizit auf die beiden vorherigen Berichte.326 Diese beiden von den Streitbeilegungsgremien der WTO geforderten Voraussetzungen des Art. XX lit. b) GATT werden im Folgenden näher untersucht.

322  Vgl.

B.III.1. zum Prinzip der Inländergleichbehandlung im WTO-Recht. Report, EC – Asbestos, Rn. 361–378. 324  Panel Report, US – Gasoline, Rn. 6.20. 325  Panel Report, EC – Asbestos, Rn. 8.184. 326  Panel Report EC – Tariff Preference, Rn. 7.198, 7.199. 323  Panel



III. Vergleich ähnlicher Ausnahmebestimmungen181

aa) Das Schutzniveau Die erste Anforderung an die Ausnahmebestimmung des Art. XX lit. b) GATT ist für das WTO-Mitglied, welches sich hierauf beruft, relativ einfach zu erreichen. Hierfür muss nach dem Panel in US – Gasoline sichergestellt werden, dass das Ziel der hinter der Maßnahme stehenden Politik darin besteht, die Gesundheit und das Leben von Menschen, Tieren oder Pflanzen zu schützen.327 Die erste Stufe der Prüfung des Art. XX lit. b) GATT erfordert also, dass die hinter der handelsbeschränkenden Maßnahme stehende Politik nicht in einem beziehungslosen Zusammenhang zu dem verfolgten Schutzziel des Art. XX lit. b) GATT stehen, sondern nach ihrer spezifischen Ausgestaltung gerade den Schutz von Leben und Gesundheit von Menschen, Tieren oder Pflanzen dient. Die Ausgestaltung des Niveaus des Schutzes bleibt dabei dem einzelnen WTO-Mitglied überlassen. Es steht also im Ermessen des jeweiligen WTO-Mitgliedes, das von ihm gewünschte Schutzniveau selber zu bestimmen.328 Daher haben sowohl eine Gesundheitspolitik, die auf eine Reduzierung des Zigarettenkonsums durch Einfuhrrestriktionen abzielte, als auch das Verbot bestimmter Asbeststoffe die Voraussetzung der ersten ­Bedingung dieser Ausnahmebestimmung erfüllt.329 Ebenso wurde von den Streitbeilegungsgremien akzeptiert, dass der Schutz des Lebens und der Gesundheit von Delfinen unter diese Ausnahmebestimmung fallen könnte.330 Nicht unter diese Ausnahmebestimmung fallen jedoch Maßnahmen zum Schutz des Wohlbefindens von Tieren.331 Fraglich ist jedoch, welche Rechtsgüter alle in den Anwendungsbereich dieser Ausnahmebestimmung fallen können. So ist umstritten, ob Art. XX lit. b) GATT auch eine mittelbare Schutzwirkung für sog. globale Umweltgüter oder extraterritoriale Schutzziele hat. (1) R  echtfertigungsmöglichkeit des Art. XX lit. b) GATT für sog. globale Umweltgüter Strittig ist, ob Art. XX lit. b) GATT Handelsmaßnahmen rechtfertigen kann, die nur eine mittelbare Schutzwirkung von Menschen, Tieren oder Report, US – Gasoline, Rn. 6.20. Body Report, EC – Asbestos, Rn. 168. 329  GATT Panel Report, Thailand – Cigarettes, Rn. 73; Appellate Body Report, EC – Asbestos, Rn. 162. 330  GATT Panel Report, US – Tuna (Mexico), Rn. 5.24–5.29; GATT Panel Report, US – Tuna (EEC), Rn. 5.30. 331  Wolfrum / Stoll / Seibert-Fohr, S. 103 (Stoll / Strack). 327  Panel

328  Appellate

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C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

Pflanzen entfalten und den Schutz sog. globaler Umweltgüter dienen. Bei globalen Umweltgütern handelt es sich um solche Umweltgüter, deren Eigentums- oder Nutzungsrechte keinen bestimmten Land zugeordnet ist, wie dies z. B. bei der Erdatmosphäre, der Ozonschicht, den Ozeanen, der Arktis oder der Antarktis sowie den dort lebenden Pflanzen und Tieren der Fall ist.332 Dies wird mit dem Argument vertreten, dass in dieser Ausnahmebestimmung keine nähere Spezifikation darüber enthalten ist, welches zeitliches, räum­ liches und funktionales Näheverhältnis zwischen den Schutzgütern und der handelsbeschränkenden Maßnahme bestehen muss.333 Teilweise wird eine mittelbare Schutzwirkung des Art. XX lit. b) GATT mit der Einschränkung vertreten, dass hiermit internationale Schutzabkommen verfolgt werden und dass das Unterschreiten bestimmter produktionsbezogener Umweltstandards im Hoheitsgebiet eines WTO-Mitgliedes sich nachteilig auf globale Umweltgüter auswirkt. Durch diese Voraussetzungen soll verhindert werden, dass ein WTO-Mitglied einseitig das Umweltschutzniveau anderer WTO-Mitglieder festlegen kann.334 Falls eine solche Möglichkeit anerkannt werden würde, könnten z. B. „Strafzölle“ auf Waren durch deren Herstellung übermäßig viel CO2 entsteht gerechtfertigt werden. Die Erhebung eines solchen „Strafzolles“ wird in verschiedenen Ländern auch durchaus diskutiert. Gegen die Möglichkeit einer solchen mittelbaren Schutzwirkung spricht allerdings, dass sich in der Judikatur der Streitbeilegungsgremien der WTO keine Anhaltspunkte dafür finden globale Umweltgüter ohne jedweden Bezug zum eigenen Hoheitsgebiet des WTO-Mitgliedes zu schützen, wie dies im folgenden noch bei der extraterritorialen Geltung des Art. XX lit. g) GATT dargestellt wird.335 Außerdem haben die späteren WTO-Mitglieder im Rahmen der Uruguay-Runde den Umweltschutz nicht als eigenen Punkt in die Verhandlungen mit aufgenommen, obwohl sie hierzu im Jahr 1992 von der Konferenz der Vereinten Nationen in Rio de Janeiro aufgefordert wurden.336 Diese Konferenz hatte sich gerade mit dem Schutz solcher globalen Umweltgüter befasst. Auch entsprechende Bemühungen vor allem von Seiten Schwedens, der Schweiz und Österreich scheiterten,337 ebenso wie spätere Vorstöße einzelner WTO-Mitglieder.338 Dies spricht dafür, dass die WTO-Mitglieder als Vertragsparteien eine Rechtfertigungsmöglichkeit zum Schutz globaler Umweltgüter gerade nicht 332  Schmidt / Kahl,

Rn. 113. § 30, Rn. 33 (Puth); Puth, S. 309. 334  Schmidt / Kahl, Rn. 109 ff.; grds. auch Düerkop, CMLR 1994, 807, 838. 335  Vgl. C.IV.3.b). 336  Prieß / Berrisch, B.I.1 Rn. 238 (Berrisch). 337  Zeitler, S. 29. 338  Wolfrum / Stoll / Seibert-Fohr, S. 105 (Stoll / Strack). 333  Hilf / Oeter,



III. Vergleich ähnlicher Ausnahmebestimmungen183

mit in das WTO-Vertragswerk aufnehmen wollten. Zudem würde hierdurch internationalen Abkommen zum Schutz der Umwelt ein Durchsetzungsinstrumentarium zur Seite gestellt, das von deren Vertragsparteien nicht beabsichtigt wurde. Es ist auch davon auszugehen, dass sich die Vertragsparteien dieser internationalen Umweltschutzabkommen zur Schaffung eines solchen Durchsetzungsinstrumentariums nicht bereit erklärt hätten. Außerdem dürfte dies gerade die Bereitschaft von Schwellenländern mindern, sich zukünftig an solchen Abkommen zu beteiligen, was letztlich für den Schutz gemeinsamer Umweltgüter Nachteile mit sich bringen würde. Darüber hinaus ist bei der Verhängung handelsbeschränkenden Maßnahmen zum Schutz globaler Umweltgüter die Gefahr besonders groß, dass dies in erster Linie zur Kompensierung des komparativen Handelsvorteils geschieht, welchen WTO-Mitglieder mit geringeren Umweltschutzanforderungen haben. Daher können unter die Ausnahmebestimmung des Art. XX lit. a) GATT nur solche handelsbeschränkenden Maßnahmen fallen, die unmittelbar dem Schutz der Gesundheit von Menschen, Tieren oder Pflanzen dienen. Eine unmittelbare Verbindung zwischen handelsbeschränkender Maßnahme und legitimen Schutzziel ist dann gegeben, wenn die zu schützenden Lebewesen oder Pflanzen voneinander abgegrenzt und individualisiert werden können. Ein solcher Anknüpfungspunkt steht auch in Übereinstimmung mit der Judikatur der Streitbeilegungsgremien zu Art. XX lit. g) GATT, die ebenfalls eine „ausreichende Verbindung“ („sufficient nexus“) zwischen handelsbeschränkender Maßnahme und legitimen Schutzziel fordern.339 Folglich bietet Art. XX lit. b) GATT keine Rechtfertigungsmöglichkeit für handelsbeschränkende Maßnahmen zum Schutz von globalen Umweltgütern. Daher könnten durch diese Ausnahmebestimmung auch etwaige „Strafzölle“ auf Waren durch deren Herstellung übermäßig viel CO2 entsteht, nicht gerechtfertigt werden. (2) Extraterritoriale Anwendung des Art. XX lit. b) GATT Mit der Frage der mittelbaren Schutzwirkung des Art. XX lit. b) GATT für globale Umweltgüter ist die Frage eng verknüpft, ob diese Ausnahmebestimmung auch zur Rechtfertigung von Maßnahmen zum Schutz von Menschen, Tieren oder Pflanzen herangezogen werden kann, die sich im Hoheitsgebiet eines anderen WTO-Mitgliedes befinden. Falls eine solche extraterritoriale Anwendungsmöglichkeit gegeben wäre, könnten mittels sämtlicher in Art. XX lit. b) GATT enthaltenen legitimen 339  Appellate

Body Report, US – Shrimp, Rn. 133, vgl. hierzu auch C.IV.3.b).

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C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

Schutzziele auch Belange des Umweltschutzes, z. B. Tier- und Pflanzenarten sowie Lebensräume, im Hoheitsgebiet anderer WTO-Mitglieder geschützt werden. Zudem könnten mittels der in Art. XX lit. b) GATT enthaltenen legitimen Schutzziele zum Schutz des Lebens und der Gesundheit von Menschen der Schutz von Menschenrechten und elementarer Arbeitsbedingungen im Hoheitsgebiet eines anderen WTO-Mitgliedes erreicht werden. So wurde in der Literatur vorgeschlagen, die Ausnahmebestimmung des Art. XX lit. b) GATT als Rechtfertigungsmöglichkeit für Einfuhrverbote von Waren zu verwenden, die mittels Produktionsmethoden hergestellt werden, welche für die Arbeiter gesundheitsschädlich oder lebensbedrohlich sind.340 Eine solche Rechtfertigungsmöglichkeit wäre nämlich dann denkbar, wenn es um Waren geht, die unter Arbeitsbedingungen hergestellt werden, die extrem gesundheitsgefährdend oder gar lebensbedrohlich sind. Eine entsprechende Auslegung wäre nämlich, wenn man die Möglichkeit des Schutzes extraterritorialer Rechtsgüter durch diese Ausnahmebestimmung anerkennen würde, dem reinen Wortlaut nach, „Schutz des Lebens und der Gesundheit von Menschen“, auch möglich. Ebenso wurde argumentiert, dass Art. XX lit. b) GATT eine Rechtfertigungsmöglichkeit für elementare Menschenrechtsverletzungen darstellen könne.341 Gegen die Möglichkeit einer solchen extraterritoriale Wirkung des Art. XX lit. b) GATT können zunächst die Bestimmungen aus dem ÜSPS herangezogen werden. Denn Nr. 1 lit. a) des Anhang A des ÜSPS spricht nur von Maßnahmen „zum Schutz des Lebens oder der Gesundheit von Tieren oder Pflanzen im Gebiet des Mitglieds“. Das ÜSPS geht daher nicht von einer extraterritorialen Wirkung des Art. XX lit. b) GATT aus. Allerdings stellt das ÜSPS nach Art. 2.4 ÜSPS nur insofern eine Interpretation des Art. XX lit. b) GATT dar, wie es sich um gesundheitspolizeiliche und pflanzenschutzrechtliche Maßnahmen handelt. Daher kann das ÜSPS nicht zur Auslegung aller Rechtfertigungsmöglichkeiten dieser Ausnahmevorschrift herangezogen werden.342 Gegen eine extraterritoriale Wirkung des Art. XX lit. b) GATT spricht darüber hinaus die Entstehungsgeschichte dieser Ausnahmebestimmung. Denn diese legt nahe, dass während der Verhandlungen über das Zustandekommen des GATT der Art. XX lit. b) GATT als Rechtfertigungsmög340  Bartels, JWT 2002, 353, 402; Neumann, S. 138; auch Senti lässt erkennen, dass er die Frage für offen hält, ob Art. XX lit. b) GATT auch zum Schutz arbeitsrechtlicher und sozialpolitischer Werte (z. B. Kinderarbeit oder sozialer Sicherheit der Erwerbstätigen) für anwendbar hält, vgl. Senti, WTO, Rn. 954. 341  Cleveland, 2002, 133, 162. 342  Vgl. C.III.2.a)cc) zum Verhältnis des Art. XX lit. b) GATT zum ÜSPS.



III. Vergleich ähnlicher Ausnahmebestimmungen185

lichkeit für gesundheitspolizeiliche und pflanzenschutzrechtliche Maßnahmen gedacht war.343 Auch aus der Judikatur der Streitbeilegungsgremien folgt eine solche extraterritoriale Anwendungsmöglichkeit des Art. XX lit. b) GATT nicht eindeutig. Das Panel im allerdings nicht angenommen US – Tuna (Mexi­ co) sprach sich z. B. aus zwei Gründen hiergegen aus. So berief es sich auf die Entstehungsgeschichte dieser Ausnahmebestimmung und stellte fest, dass die Verfasser des GATT in Bezug auf Art. XX lit. b) GATT vor allem den Einsatz von Gesundheitsmaßnahmen im eigenen Hoheitsgebiet vor Auge hatten.344 Außerdem wies das Panel darauf hin, dass falls eine solche extraterritoriale Anwendungsmöglichkeit gegeben sei, jede Vertragspartei des GATT einseitig eine Politik zum Schutz von Leben und Gesundheit bestimmen könnte, von der die andere Vertragsparteien nicht abweichen könnten, ohne ihre Rechte aus des GATT zu gefährden. Dies würde nach Meinung des damaligen Panels dazu führen, dass Rechtssicherheit in Bezug auf den Handel nur zwischen einer begrenzten Anzahl von Vertragsparteien mit einer ähnlichen innerstaatlichen Rechtslage bestehen würde.345 Von diesen Aussagen ist allerdings das Panel in US – Tuna (EEC) etwas abgewichen. So hielt es das Argument aus der Entstehungsgeschichte für unergiebig, da die historischen Nachweise nach seiner Auffassung keinen eindeutigen Rückschluss für eine gewollte restriktive Auslegung zuließen.346 Außerdem zeige Art. XX lit. e) GATT, der Einfuhrverbote für Waren aus Gefangenenarbeit erlaubt, dass Art. XX GATT einen extraterritorialen Schutz nicht generell ausschließe.347 Das Panel wies aber auch darauf hin, dass wenn Art. XX GATT auf eine Art und Weise ausgelegt werden würde, die es Vertragsparteien erlauben würde, Handelsmaßnahmen zu ergreifen, um andere Vertragsparteien zu einer Änderung ihrer Politik innerhalb ihres Hoheitsgebietes zu bewegen, dies zu einer ernsthaften Störung des Gleichgewichts der Rechte und Pflichten aus dem GATT führen würde und das GATT dann nicht länger als ein multilateraler Rahmen für den Handel zwischen den Vertragsparteien dienen könne.348 Das Panel vermied aber eine klare Festlegung und ließ eine Rechtfertigungs343  Cleveland, JIEL 2002, 133, 137 (Cleveland beruft sich allerdings auf Art. 32 der Wiener Vertragsrechtskonvention nach dem die vorbereitenden Arbeiten zu einem Vertrag nur ergänzende Auslegungsmittel sind); Vásquez, JIEL 2003, 797, ­ 818. 344  GATT Panel Report, US – Tuna (Mexico), Rn. 5.26. 345  GATT Panel Report, US – Tuna (Mexico), Rn. 5.27. 346  GATT Panel Report, US – Tuna (EEC), Rn. 5.15. 347  GATT Panel Report, US – Tuna (EEC), Rn.  5.15 ff., 5.31 ff. 348  GATT Panel Report, US – Tuna (EEC), Rn. 5.26, 538.

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C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

möglichkeit durch Art.  XX lit.  b) GATT am Notwendigkeitskriterium scheitern.349 Letztendlich ist jedoch eine extraterritoriale Anwendungsmöglichkeit des Art. XX lit. b) GATT abzulehnen.350 Anknüpfend an die Befürchtungen der Panels in den US – Tuna Fällen, spricht gegen eine solche Rechtfertigungsmöglichkeit, dass dann jedes WTO-Mitglied unilateral seine als richtig empfundene Politik anderen, im Regelfall wirtschaftlich schwächeren WTOMitglieder, aufzwingen könnte. WTO-Mitglieder unterwerfen sich aber den für sie oft mit einschneidenden wirtschaftlichen Veränderungen verbundenen Verpflichtungen aus dem WTO-Recht, da sie gleichzeitig von den hiermit verbundenen Rechten profitieren wollen und, dies gilt gerade für wirtschaftlich schwächere WTO-Mitglieder, an ein gewisses Maß an Rechtssicherheit interessiert sind und sie sich nicht der oft willkürlichen Handelspolitik wirtschaftlich starker WTO-Mitglieder aussetzen wollen. Außerdem kann hinsichtlich weiterer Argumente, die gegen eine extraterritoriale Anwendungsmöglichkeit des Art. XX lit. b) GATT zum Schutz der Menschenrechte und sozialer Mindestbedingungen sprechen, nach oben verwiesen werden.351 Hinsichtlich des Umweltschutzes kann ergänzend ausgeführt werden, dass wenn das einseitige extraterritoriale Setzen von Schutzstandards für Umweltgüter möglich wäre, vielen wirtschaftlich schwächeren WTO-Mitglieder, die erfahrungsgemäß nicht so hohe Umweltstandards unterhalten wie wirtschaftlich stärkere WTO-Mitglieder, der Anreiz fehlen würde, sich zu weiteren multilateralen Handelsliberalisierungen im Rahmen der WTO zu beteiligen. Erst ein größeres Maß an wirtschaftlichen Wohlstand ermöglicht es aber Gesellschaften bzw. setzt in diesen den Willen frei, tiefgreifende Umweltschutzmaßnahmen zu ergreifen. Die durch die Bestimmungen aus dem WTO-Recht ermöglichte Handelsliberalisierung trägt jedoch entscheidend zur Schaffung eines solchen gesellschaftlichen Wohlstandes bei. Außerdem muss bei dem notwendigen Stellenwert, den Belangen des Umweltschutzes eingeräumt werden sollte, auch immer berücksichtigt werden, dass Maßnahmen zum Schutz der Umwelt oftmals gleichzeitig auch protektionistischen Zwecken dienen. So dienten Recyclingvorschriften für Getränkebehälter, die von der dänischen Regierung oder der kanadischen Provinz Ontario erlassen wurden, sowohl den Umweltschutz, als dass sie auch einheimische Getränkeproduzenten bevorteilten, die sich leichter hierauf einstellen können. Ebenso haben in den 1980er Jahren in Deutschland umgesetzte Panel Report, US – Tuna (EEC), Rn. 5.39. auch Hilf / Oeter, § 34 Rn. 32 (Hörmann); Remmert, S. 236 ff. jeweils mit weiteren Nachweisen. 351  Vgl. B.III.1.a)bb)(1) hinsichtlich des Schutzes von Menschenrechten; vgl. B.III.1.a)bb)(2) hinsichtlich des Schutzes sozialer Mindestbedingungen. 349  GATT 350  Vgl.



III. Vergleich ähnlicher Ausnahmebestimmungen187

Umweltschutzstandards für Autos dazu beigetragen, dass deutsche Automobilhersteller keine Marktanteile an französische und italienische Konkurrenten verloren haben, die größere Schwierigkeiten hatten, diese Standards zu erfüllen. Auch US-amerikanische Anforderungen an den Benzinverbrauch von Autos haben nicht nur zur Senkung des Benzinverbrauchs beigetragen, sondern gleichzeitig eingeführte europäische Luxuswagen verteuert. Während ein US-amerikanisches Ausfuhrverbot für bestimmte unverarbeitetes Hölzer nicht nur dazu führte, dass weniger Urwälder den Kahlschlag zum Opfer fielen, sondern dass sich auch die Auslastung heimischer Holzverarbeitungsbetriebe steigerte.352 Auch das Vorgehen der USA im US – Shrimps Fall war nicht völlig frei von protektionistischen Erwägungen. Das Ziel des streitgegenständlichen Gesetzes war es zwar, den Beifang von Delfinen beim Thunfischfang zu vermindern, durch die detaillierten Anforderungen an die Fanginstrumente wurde aber auch gewährleistet, dass mexikanische Fischer ähnlich kostspielige Investitionen tätigen mussten, wie ihre USamerikanischen Kollegen.353 Die protektionistischen Tendenzen dieses Gesetzes zeigten sich auch daran, dass die mexikanischen Fischern zugestandene Beifangrate von Delfinen von der Beifangrate US-amerikanischer Fischer während derselben Fangperiode abhängig war und diese daher vor Beendigung der Fangperiode gar nicht wissen konnten, ob sie den USamerikanischen Anforderungen genügen würden.354 Zudem ist dem Panel in US – Tuna (Mexico) Recht zu geben, wenn es darauf hinweist, dass die Entstehungsgeschichte des Art. XX lit. b) GATT dafür spricht, dass diese Ausnahmebestimmung nicht für eine extraterritoriale Anwendung gedacht war. Denn während der begrenzten Debatte hierüber wurde keine Anmerkung zum Umweltschutz gemacht. Stattdessen wurde der Begriff „sanitary“ benutzt, um Art. XX lit. b) GATT zu charakterisieren.355 Dies sind jedenfalls Belege dafür, dass Art. XX lit. b) GATT nur als Rechtfertigungsmöglichkeit für gesundheitspolizeiliche Maßnahmen gedacht war. In der Konsequenz heißt die Ablehnung der extraterritorialen Anwendungsmöglichkeit des Art. XX lit. b) GATT, dass zwar umweltschützende Einfuhrverbote z. B. von Fellen oder anderen Waren, die aus gefährdeten Tierarten gewonnen werden, in aller Regel nicht gegen das GATT verstoßen, da in diesen Fällen grundsätzlich die Gleichartigkeit der Ware nicht gegeben sein wird. Das aber sobald die Gleichartigkeit bejaht wird, Produktionsmethoden hingenommen werden müssen, durch die Umweltschutzgüter schwer beeinträchtigt werden. Daher sind die WTO-Mitglieder in solchen die Beispiele in: Vogel, JIEL 2000, 265, 268. S.  500 ff. 354  Panel Report, US – Tuna (Mexico), Rn. .28. 355  Charnovitz, 1991, 37, 45. 352  Vgl.

353  Chessick,

188

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

Fällen mangels unilateraler Handlungsmöglichkeit durch handelsbeschränkende Maßnahmen zum Schutz der Umwelt auf eine multilaterale Vorgehensweise angewiesen. Da ein extraterritorialer Schutz der in Art. XX lit. b) GATT enthaltenen Schutzziele nicht möglich ist, kann hierauf auch nicht zum Schutz von Menschenrechten oder zur Gewährleistung sozialer Mindestbedingungen im Hoheitsgebiet anderer WTO-Mitglieder zurückgegriffen werden. bb) Das Notwendigkeitskriterium Der Schwerpunkt der Prüfung des Art. XX lit. b) GATT liegt regelmäßig auf dem Notwendigkeitskriterium, da es dem WTO-Mitglied überlassen ist, dass ihm als opportun erscheinende Schutzniveau selber festzulegen. Andere WTO-Mitglieder können das gewählte Schutzniveau nicht als etwa zu übertrieben angreifen. Sie sind darauf beschränkt zu argumentieren, dass die ergriffene handelsbeschränkende Maßnahme für das Erreichen dieses Schutzniveaus nicht notwendig ist. Daher wird es dem sich auf Art. XX lit. b) GATT berufenen WTO-Mitglied auch regelmäßig schwerer fallen, die zweite Bedingung dieser Ausnahmebestimmung zu erfüllen. (1) A  uslegung des Notwendigkeitskriteriums durch die Streitbeilegungsorgane Wann eine handelsbeschränkende Maßnahme zur Erreichung des Schutzziels notwendig ist, lässt sich der Judikatur der Streitbeilegungsgremien entnehmen. Aus der Judikatur der Streitbeilegungsgremien folgt ein gewisser Wandel in der Auslegung des Notwendigkeitskriteriums. Die Entwicklung der Auslegung des Notwendigkeitskriteriums nahm ihren Anfang im Bericht des Panels zu Thailand – Cigarettes. In diesem Bericht kam das Panel zu dem Ergebnis, dass eine Maßnahme notwendig i. S. d. Art. XX lit. b) GATT ist, wenn keine Maßnahme ersichtlich ist, die GATT-konform ist oder nur in einem geringeren Maße gegen die Verpflichtungen aus dem GATT verstößt und von der vernünftigerweise erwartet werden kann, dass ein WTO-Mitglied sie zur Erreichung des angestrebten Schutzziels anwendet.356 Daraus folgt, dass die alternative Maßnahme mindestens so effektiv in der Erreichung des angestrebten Schutzziels sein muss, wie die tatsächlich verhängte. Da das Panel der Auffassung war, dass durch Maßnahmen, die nicht gegen das GATT verstoßen, wie etwa Werbe- und Verkaufsver­ bote, die in Übereinstimmung mit Art. III:4 GATT stehen, ebenso effektiv 356  GATT

Panel Report, Thailand – Cigarettes, Rn. 73–78.



III. Vergleich ähnlicher Ausnahmebestimmungen189

die Menge der konsumierten Zigaretten in Thailand reduziert werden könnten, sah es die thailändischen Einfuhrbeschränkungen für ausländische Zigaretten nicht als notwendig zur Erreichung der von der thailändischen Re­gierung angestrebte Gesundheitsschutzpolitik an.357 Und dies obwohl ein ­unkontrollierter Tabakkonsum schwerwiegende Auswirkungen auf die Gesundheitssysteme gerade von Entwicklungs- und Schwellenländern haben kann.358 In US – Tuna (Mexico) stellte das Panel klar, dass GATT-konforme Maßnahmen insbesondere auch im Aushandeln multilateraler Verträge bestehen. Außerdem wurde die handelsbeschränkende Maßnahme in diesem Fall schon nicht als notwendig eingestuft, da sie auf einer unvorhersehbaren Bedingung beruhte.359 In US – Gasoline stellte das Panel wiederum darauf ab, ob das sich auf diese Ausnahmebestimmung berufende WTO-Mitglied eine Maßnahme hätte ergreifen können, die nicht oder nur in einem geringeren Maße gegen die Verpflichtungen aus dem GATT verstößt und von der vernünftigerweise hätte erwartet werden können, dass dieses WTO-Mitglied sie zur Erreichung des angestrebten Schutzziels anwendet. Dabei stellte das Panel jedoch klar, dass es nicht auf die Notwendigkeit der hinter der Maßnahme stehenden, das legitime Schutzziel verfolgenden Politik, sondern auf die Notwendigkeit der Maßnahme selber ankommt.360 Das Merkmal der alternativen Maßnahme, die das WTO-Mitglied hätte ergreifen können und die nicht oder nur in einem geringeren Maße gegen die Verpflichtungen aus dem GATT verstoßen hätte sowie von der vernünftigerweise hätte erwartet werden können, dass ein WTO-Mitglied sie zur Erreichung des angestrebten Schutzziels anwendet, wurde vom Appellate Body in EC – Asbestos näher bestimmt. Der Appellate Body stellte fest, dass bei der Bestimmung, ob vernünftigerweise von einem WTO-Mitglied das Ergreifen einer alternativen Maßnahme verlangt werden könnte, verschiedene Faktoren in Betracht gezogen werden müssen. Dazu gehört die Schwierigkeit der Umsetzung der Maßnahme.361 Der Appellate Body berief sich in diesem Bericht auch auf seine Entscheidung über die Bestimmung Panel Report, Thailand – Cigarettes, Rn. 75. hierzu Noeth, S.  102 ff. 359  GATT Panel Report, US – Tuna (Mexico), Rn. 5.28. Zu den unvorhersehbaren Bedingungen: vgl. die Ausführungen im vorherigen Abschnitt zur maximalen Beifangrate, die mexikanischen Fischern zugestanden wurde und über die sie während der Fangperiode nichts wissen konnten, da sie von der zeitlich parallelen Beifangrate ihrer US-amerikanischen Fischereikollegen abhängig gemacht wurde. 360  Panel Report, US – Gasoline, Rn. 6.22, 6.25. 361  Appellate Body Report, EC – Asbestos, Rn. 172. 357  GATT 358  Vgl.

190

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

des Notwendigkeitskriteriums in Art. XX lit. d) GATT im Fall Korea – Beef und darauf, wie er in dieser Entscheidung auf die Bedeutung des durch die Maßnahme verfolgten legitimen Schutzzieles sowie auf das Ausmaß zu der die alternative Maßnahme zum Schutz oder zur Förderung dieses Schutzzieles beitragen würde.362 Auch das Panel in EC – Tariff Preferences berief sich bei der Auslegung des Notwendigkeitskriteriums des Art. XX lit. b) GATT auf die Herangehensweise des Appellate Body bei der Auslegung des Notwendigkeitskriteriums des Art. XX lit. d) GATT im Fall Korea – Beef.363 In EC – Asbestos änderte der Appellate Body auch seine Anforderungen in Bezug auf die Bestimmung des Notwendigkeitskriteriums, als dass er nicht länger verlangte, dass die alternative Maßnahme nicht oder nur in einem geringeren Maße gegen die Verpflichtungen aus dem GATT verstößt. Stattdessen verlangte er, dass es keine alternative Maßnahme gibt, die dasselbe Ziel erreicht, aber weniger handelseinschränkend sind.364 Diese Anforderung wird auch als „Least-trade-restrictive-Test“ bezeichnet. (2) Kritik an der Auslegung des Notwendigkeitskriteriums durch die Streitbeilegungsgremien Der „Least-trade-restrictive-Test“ wird in der Literatur teilweise abgelehnt.365 Diese Ablehnung betrifft aber auch die vor dem „Least-trade-restrictive-Test“ gängige Auslegung des Notwendigkeitskriteriums, als dass vom WTO-Mitglied verlangt wurde, eine Maßnahme zu ergreifen, die nicht oder nur in einem geringeren Maße gegen die Verpflichtungen aus dem GATT verstößt und von der vernünftigerweise hätte erwartet werden können, dass dieses WTO-Mitglied sie zur Erreichung des angestrebten Schutzziels anwendet.366 Generell richtet sich die Kritik also gegen eine weite Auslegung des Notwendigkeitskriteriums. Diese Kritik wird damit begründet, dass die einzelnen Ausnahmebestimmungen allein den Schutz der dem liberalisierten Warenhandel entgegenstehenden legitimen Schutzziele, im Fall des Art. XX lit. b) GATT, dem Schutz von Menschen, Tieren und Pflanzen dienen. Die von der Wahrnehmung dieser Interessen ausgehende handelsbeschränkende Wirkung solle aber erst Body Report, EC – Asbestos, Rn. 72. Report, EC – Tariff Preferences, Rn. 7.211–7.213. 364  Appellate Body Report, EC – Asbestos, Rn. 174: „The (…) question (…) is whether there is an alternative measure that would achieve the same end and that is less restrictive of trade than a prohibition.“ 365  Puth, S. 310, 311; Charnovitz, JWT 1991, 37, 48 ff.; Schoenbaum, AJIL 1997, 268, 276; Appleton, JIEL 1999, 477, 483. 366  Schoenbaum, AJIL 1997, 268, 276. 362  Appellate

363  Panel



III. Vergleich ähnlicher Ausnahmebestimmungen191

im Rahmen des Chapeaus des Art. XX GATT von Bedeutung sein.367 Außerdem wird darauf verwiesen, dass das Erfordernis der geringeren Handelsbeschränkung eine Überdehnung des Wortlauts des Art. XX lit. b) GATT wäre und das anderenfalls der „Least-trade-restrictive-Test“ zwar für den Schutz von Leben und Gesundheit, nicht aber für den Schutz erschöpflicher Naturschätze gelten würde.368 In diesem Zusammenhang wird die Frage gestellt, ob nicht der Schutz menschlichen Lebens und Gesundheit wichtiger wäre, als der Schutz erschöpflicher Naturschätze für deren Relationselement geringere Anforderungen gestellt werden.369 Zudem wird die Befürchtung geäußert, dass bei einer solchen Auslegung des Notwendigkeitskriteriums viele Handelsbeschränkungen, die legitime Schutzziele verfolgen, nicht mehr aufrechterhalten werden können.370 (3) Stellungnahme Zusammenfassend und herunter gebrochen auf Begriffe des deutschen öffentlichen Rechts oder des EG-Rechts kann zur Auslegung des Notwendigkeitskriteriums gesagt werden, dass die Kritiker den Begriff des „necessary“ tendenziell im Sinne der Geeignetheit der Verhältnismäßigkeitsprüfung interpretieren, während die Streitbeilegungsgremien den Begriff des „necessary“ tendenziell im Sinne der Erforderlichkeit der Verhältnismäßigkeitsprüfung interpretieren. Daher engen die Streitbeilegungsgremien durch ihre weite Auslegung den Handlungsspielraum des WTO-Mitgliedes zur Erreichung des von ihnen gesetzten Schutzniveaus ein, während die Kritik in der Literatur, den WTO-Mitgliedern mehr Freiheit geben möchte, um insbesondere umweltpolitische Zielvorstellungen zu verfolgen. Für die enge Auslegung des Notwendigkeitskriteriums durch die Streitbeilegungsgremien und die ungefähre Gleichsetzung des Begriffs des „necessary“ mit der Erforderlichkeit der Verhältnismäßigkeitsprüfung spricht, dass durch eine solche Auslegung protektionistische Missbräuche des Art. XX lit. b) GATT besser verhindert werden können, ohne dass hinsichtlich der Erreichung des Schutzes der legitimen Schutzziele große Abstriche gemacht werden müssen. Denn die im vorherigen Abschnitt dargestellten Beispiele haben deutlich gemacht, dass Maßnahmen zum Schutze der Umwelt oft auch im Interesse der einheimischen Industrie implementiert werden.371 Diese 367  Puth,

S. 310. JIEL 1999, 477, 483. 369  Schoenbaum, AJIL 1997, 268, 276. 370  Charnovitz, JWT 1991, 37, 50; Esty, S. 49. 371  Vgl. die in C.III.2.a)aa)(2) aufgeführten Beispiele der Maßnahmen, die sowohl die heimische Umwelt als auch die heimische Industrie schützen. 368  Appleton,

192

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

Möglichkeit wird den WTO-Mitgliedern aber in einem stärkeren Maße genommen, wenn sie nur handelsbeschränkende Maßnahmen verhängen können, die obwohl genauso effektiv zur Erreichung des Schutzzieles, noch am weitreichendsten die Rechte anderer WTO-Mitglieder aus dem GATT gewährleisten. Durch das Erfordernis der gleichen Effektivität zur Erreichung des Schutzziels wird im Ergebnis daher das WTO-Mitglied nur in der Wahl seiner Mittel beschränkt, aber nicht darin, das von ihm angestrebte Schutz­ niveau zu verwirklichen. Außerdem haben die WTO-Mitglieder beim Aushandeln des ÜSPS in Kenntnis der vorangegangenen Judikatur der Panels in Art. 5.4 ÜSPS festgelegt, dass bei Festlegung des gesundheitspolizeilichen und pflanzenschutzrechtlichen Schutzniveaus das Ziel berücksichtigt werden muss, „die nachteiligen Auswirkungen auf den Handel auf ein Mindestmaß zu beschränken“. Da das ÜSPS die Anforderungen an zahlreiche handelsbeschränkenden Maßnahmen regelt, die durch Art. XX lit. b) GATT gerechtfertigt werden können,372 spricht dies dafür, dass auch die WTO-Mitglieder von einer weiten Auslegung des Notwendigkeitskriteriums ausgehen. Zudem deutet die wörtliche Auslegung des Begriffs des „necessary“ auf eine entsprechende Auslegung hin. Denn „necessary“ kann mit „notwendig“, „erforderlich“ oder „nötig“ übersetzt werden.373 Auf Englisch bedeutet des Begriffs des „necessary“ üblicherweise „indispensable“, „essential“ oder „that cannot be done without it“.374 Sowohl die Übersetzung als auch die Synonyme des Begriffs des „necessary“ deuten daher darauf hin, dass an das Relationselement des Notwendigkeitskriteriums eher strengere Anforderungen zu stellen sind. Für die enge Auslegung des Notwendigkeitskriteriums kann auch angeführt werden, dass in den einzelnen Ausnahmebestimmungen des Art. XX GATT nur dreimal das Notwendigkeitskriterium als Relationselement enthalten ist (vgl. lit. a), lit. b), lit. d)). Die anderen Ausnahmebestimmungen enthalten hingegen mit Ausnahme des Art. XX lit. j) GATT, Relationselemente, die einen wesentlich schwächeren Bezug zwischen der handelsbeschränkenden Maßnahme und dem verfolgten legitimen Schutzziel enthalten.375 Die drei Ausnahmebestimmungen, die das Notwendigkeitskriterium 372  Nach der Präambel des ÜSPS dient dieses Abkommen speziell der Durchführung insbesondere von Art. XX lit. b) GATT; vgl. im Übrigen C.III.2.a)cc) zum Verhältnis des ÜSPS zum Art. XX lit. b) GATT. 373  Pons, Großwörterbuch, 2007, S. 633. 374  Burchfield (ed.), The Oxford English Dictionary, S. 276. 375  Vgl. zu den Anforderungen an die jeweiligen Relationselemente: C.IV.1. zu lit. c); C.IV.2.a) zu lit. e); C.III.3.a)bb) zu lit. f); C.IV.3.a)bb) zu lit. g); C.IV.4. zu lit. h). C.IV.5. zu lit. i); C.IV.6. zu lit. j).



III. Vergleich ähnlicher Ausnahmebestimmungen193

enthalten, sind in ihrem Schutzbereich aber sehr umfassend und in ihrem Wortlaut wesentlich unspezifischer als andere in Art. XX GATT enthaltenen Ausnahmebestimmungen. So rechtfertigt etwa Art. XX lit. e) GATT nur Maßnahmen gegen in Strafvollzugsanstalten hergestellte Waren oder Art. XX lit. c) GATT „Maßnahmen für die Ein- oder Ausfuhr von Silber“, während eine Vielzahl von handelsbeschränkenden Maßnahmen in den Schutzbereich der drei Ausnahmebestimmungen fallen können, die das Notwendigkeitskriterium enthalten. Dies spricht dafür, dass die Verfasser des GATT in diesen drei Ausnahmebestimmungen mit dem Notwendigkeitskriterium bewusst ein Relationselement mit strengen Anforderungen verwenden wollten, um den weiten Anwendungsbereich der sehr offenen Tatbestände wieder einschränken zu können. Daher ist davon auszugehen, dass das Notwendigkeitskriterium im Sinne der Erforderlichkeit in der Verhältnismäßigkeitsprüfung ausgelegt werden muss. cc) Verhältnis des Art. XX lit. b) GATT zum ÜSPS Das ÜSPS ist eines der Abkommen unter den WTO-Übereinkommen. Es regelt die Anwendung gesundheitspolizeilicher und pflanzenschutzrecht­ licher Maßnahmen durch die WTO-Mitglieder. Solche Maßnahmen haben ein besonders großes handelspolitisches Konfliktpotential, wie etwa der Fall EC – Hormones zeigt. Denn handelsbeschränkende Maßnahmen, die unter das ÜSPS fallen, werden von der verhängenden Seite oftmals als elementar erforderlichen Verbraucher- und Gesundheitsschutz angesehen, während die hiervon betroffene Seite, die regelmäßig eine geringere Risikoaffinität aufweisen wird, hinter der Maßnahme protektionistische Erwägungen vermuten wird. Das ÜSPS enthält die grundlegenden Pflichten, die WTO-Mitglieder für die Anwendung gesundheitspolizeilicher und pflanzenschutzrechtlicher Maßnahmen einzuhalten haben. Etwa Anforderungen an die Beweislast und weit reichende Informationspflichten.376 Außerdem stellt das ÜSPS ein Verbot der Nichtdiskriminierung auf und enthält Chapeau-ähnliche Bestimmungen. Die sich aus dem ÜSPS ergebenden Verpflichtungen treffen die WTOMitglieder unabhängig davon, ob sie durch die betreffende Maßnahme auch Verpflichtungen aus dem GATT verletzen.377 Das Verhältnis des ÜSPS zum GATT, aber insbesondere zum Art. XX lit. b) GATT ist in Art. 2.4 ÜSPS geregelt. Danach gelten gesundheitspolizeiliche und pflanzenschutzrechtliche Maßnahmen dann als vereinbar mit 376  Vgl.

C.II.1.e)aa) zur Beweislast. Report, Australia – Salmon, Rn. 8.39.

377  Panel

194

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

dem GATT und insbesondere mit Art. XX lit. b) GATT, wenn sie mit den einschlägigen Bestimmungen des ÜSPS übereinstimmen. Das ÜSPS konkretisiert also den Art. XX lit. b) GATT und stellt für die hierin geregelten Maßnahmen die speziellere Bestimmung dar.378 Daher sind Maßnahmen, die in den Anwendungsbereich des ÜSPS fallen und nicht gegen dieses Abkommen verstoßen nach Art. XX lit. b) GATT gerechtfertigt. Nicht unter das ÜSPS können jedoch solche Maßnahmen fallen, die extraterritoriale Schutzziele schützen sollen. Denn nach Nr. 1 lit. a) des Anhang A des ÜSPS müssen Maßnahmen i. S. d. ÜSPS zur Abwendung von Gefahren „im Gebiet des“ jeweiligen WTO-Mitgliedes angewendet werden. Extraterritorial wirkende Schutzmaßnahmen fallen ebenso weiterhin in den Anwendungsbereich des Art. XX lit. b) GATT, wie handelsbeschränkende Maßnahmen zum Schutz des „Lebens und der Gesundheit von Menschen, Tieren und Pflanzen“, die keine gesundheitspolizeilichen oder pflanzenschutzrechtlichen Maßnahmen darstellen.379 dd) Verhältnis des Art. XX lit. b) GATT zum ÜTBT Das ÜTBT (Übereinkommen über technische Handelshemmnisse) be­ inhaltet Anforderungen an technische Vorschriften, Normen und Konformitätsbewertungsverfahren für Waren, bei denen es sich nicht um gesundheitspolizeiliche und pflanzenschutzrechtliche Maßnahmen i. S. d. ÜSPS handelt. Das ÜTBT enthält keine dem Art. 2.4 ÜSPS ähnliche Vorschrift, die das Verhältnis zwischen diesem Übereinkommen und den Art. XX lit. b) GATT regeln würde. Die Streitbeilegungsgremien der WTO haben sich bis heute nicht dazu geäußert, ob eine Maßnahme in Form einer technischen Vorschrift nicht nur den Anforderungen des ÜTBT, sondern auch denen des GATT entsprechen muss. Oder ob gar die Vereinbarkeit einer Maßnahme mit dem ÜTBT, deren Überprüfung anhand des Art. XX lit. b) GATT ausschließt. Dagegen spricht aber, dass der Appellate Body in EC – Asbestos das französische Einfuhrverbot von asbesthaltigen Faserstoffen anhand des GATT überprüfte, obwohl er einleitend feststellte, dass es sich bei dem französischen Einfuhrverbot um eine technische Vorschrift handelt, die unter das ÜTBT fällt.380

Report, EC – Hormones, Rn. 8.42; vgl. auch Fricke, S. 134. S. 97. 380  Appellate Body Report, EC – Asbestos, Rn.  58 ff. 378  Panel

379  Leyton,



III. Vergleich ähnlicher Ausnahmebestimmungen195

b) Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen, Tieren oder Pflanzen im EU-Recht Als zweite Ausnahmebestimmung schützt Art. 36 AEUV die Gesundheit und das Leben von Menschen, Tieren und Pflanzen. Diese Ausnahmebestimmung des Art. 36 AEUV ist diejenige auf welche sich die EU-Mitgliedstaaten am häufigsten berufen, um eine Verletzung der Warenverkehrsfreiheit zu rechtfertigen.381 Den EU-Mitgliedstaaten steht es frei, das Schutzniveau der in dieser Ausnahmebestimmung genannten legitimen Schutzziele innerhalb der durch das EU-Recht gesetzten Grenzen selber zu bestimmen.382 Wegen der wirtschaftlichen Bedeutung des Handels, der diese Bereiche betrifft, sowie der gemeinsamen Agrarpolitik wurde von der EU für zahlreiche Felder, die von dieser Ausnahmebestimmung betroffen sind, Sekundärrecht erlassen. Aufgrund der erfolgten Harmonisierung sind daher viele mitgliedstaatliche Maßnahmen, die dem Schutz der in dieser Ausnahmebestimmung enthaltenen legitimen Schutzziele dienen, nicht mehr am Art. 36 AEUV, sondern am harmonisierten Gemeinschaftsrecht zu messen. Damit ist der politische Gestaltungsspielraum der einzelnen EU-Mitgliedstaaten zum Schutz der legitimen Schutzziele dieser Ausnahmebestimmung wesentlich beschnitten worden. Die Mitgliedstaaten können sich bei erfolgter gemeinschaftsrechtlicher Harmonisierung nur noch dann auf die Ausnahmebestimmungen des Art. 36 AEUV berufen, wenn die Harmonisierung in Form von Richtlinien erfolgte, die im konkreten Fall entweder nicht einschlägig sind oder nur Mindeststandards enthielten.383 Ein Rückgriff auf den Art. 36 AEUV ist einem EU-Mitgliedstaat bei erfolgter gemeinschaftsrechtlicher Harmonisierung auch dann nicht möglich, wenn ein anderer Mitgliedstaat die gemeinschaftsrechtlich gesetzten Standards verletzt.384 Der Mitgliedstaat ist dann darauf verwiesen, gegen den Gemeinschaftsrecht verletzenden Mitgliedstaat ein Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 259 AEUV einzuleiten385 bzw. der Kommission vorzu381  Barnard,

S. 74. Urt. v. 20.05.1976, Rs. 104 / 75, de Peijper, Slg. 1976, 613, 635 ff., Rn. 14 / 18; EuGH Urt. v. 0.11.1994, Rs. C-320 / 93, Lucien Ortscheit GmbH . / . Eu­ rim-Pharm Arzneimittel GmbH, Slg. 1994, 5243, 5264, Rn. 16. 383  EuGH Urt. v. 17.09.1998, Rs. C-400  / 96, Strafverfahren gegen Harpegnies, Slg. 1998, I-5121, 5136, Rn. 27, 28; EuGH Urt. v. 14.07.1998, Rs. C-389 / 96, AherWaggon . / . Deutschland, Slg. 1998, I-4473, 4488 ff., Rn. 18 ff. 384  EuGH Urt. v. 23.05.1996, Rs. C-5 / 94, Hedley Lomas Ltd., Slg. 1996, I-2553, 2611, Rn. 18; EuGH Urt. v. 23.05.1996, Rs. C-1 / 96, Compassion in World Farming, Slg. 1998, I-1251, 1298 ff., Rn. 56 ff. 385  EuGH Urt. v. 23.05.1996, Rs. C-5 / 94, Hedley Lomas Ltd., Schlussantrag des Generalanwaltes Léger, Slg. 1996, I-2553, 2561 ff. 382  EuGH

196

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

schlagen ein Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 AEUV einzuleiten. Diese Ausführungen zur Einschränkung des Rückgriffs auf Art. 36 AEUV bei erfolgter gemeinschaftsrechtlicher Harmonisierung orientieren sich an der Rechtsprechung des EuGH, die zu der Ausnahmebestimmung zum Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen, Tieren oder Pflanzen ergangen ist. Sie sind aber verallgemeinerungsfähig für alle Ausnahmebestimmungen des Art. 36 AEUV. Aufgrund der unterschiedlichen Judikatur, die zu dem legitimen Schutzziel des Schutzes des Lebens und der Gesundheit des Menschen sowie des legitimen Schutzziel des Schutzes des Lebens und der Gesundheit von Tieren und Pflanzen ergangen ist, wird diese Ausnahmebestimmung getrennt nach den Lebens- und Gesundheitsschutz für Menschen und den Lebensund Gesundheitsschutz von Tieren und Pflanzen untersucht. aa) Schutz des Lebens und der Gesundheit von Menschen Der EuGH hat anerkannt, dass „die Gesundheit und das Leben von Menschen (…) unter den in Art. 36 AEUV geschützten Gütern und Interessen den ersten Rang einnehmen.“386 Auch ist es „Sache der Mitgliedstaaten, in den durch den Vertrag bestimmten Grenzen zu bestimmen, in welchem Umfang sie deren Schutz gewähren wollen.“387 In der Praxis berufen sich die EU-Mitgliedstaaten auf die Ausnahmebestimmung zum Schutz des Lebens und der Gesundheit von Menschen, wenn sie das Ziel des Gesundheitsschutzes der eigenen Bevölkerung verfolgen. Die Bedeutung des legitimen Schutzzieles des Gesundheitsschutzes wird dadurch noch unterstrichen, dass in Art. 168 Abs. 1 AEUV das Ziel eines hohen Schutzniveaus für dieses legitime Schutzziel festgeschrieben ist. Dabei bestimmt Art. 168 Abs. 2 AEUV, dass die Aufgabe der Kommission bei Erreichung dieses hohen Schutzniveaus inhaltlich auf die Ergänzung der Politiken der Mitgliedstaaten und organisatorisch auf die Förderung der Zusammenarbeit der EU-Mitgliedstaaten beschränkt ist. Der EU-Vertrag stellt daher in Art. 168 Abs. 2 AEUV klar, dass das erstrebte hohe Schutzniveau für dieses legitime Schutzziel auch durch die EU-Mitgliedstaaten erreicht werden kann. Auf die Wichtigkeit dieses legitimen Schutzzieles weist zudem hin, dass die Erreichung eines hohen Gesundheitsschutzni386  EuGH Urt. v. 20.05.1976, Rs. 104 / 75, de Peijper, Slg. 1976, 613, Rn. 14 / 18; EuGH Urt. v. 10.11.1994, Rs. 320  /  93, Lucien Ortscheit GmbH .  /  . Eurim-Pharm Arzneimittel GmbH, Slg. 1994, 5243, 5264, Rn. 16. 387  EuGH Urt. v. 28.09.2006, Rs. C-434 / 04, Strafverfahren gegen Ahokainen und Leppik, Slg. 2006, I-9171, 9195, Rn. 33.



III. Vergleich ähnlicher Ausnahmebestimmungen197

veaus nach Art. 6 Abs. 2 lit. a) AEUV zu den Gebieten gehört, auf denen die EU tätig wird. Für die Rechtmäßigkeit einer handelsbeschränkenden Maßnahme zum Schutz der Gesundheit der eigenen Bevölkerung ist letztlich das Verhältnismäßigkeitsprinzip entscheidend. Denn über das Schutzniveau können die EU-Mitgliedstaaten selber bestimmen, da es Sache der EU-Mitgliedstaaten ist, unter Berücksichtigung der Erfordernisse des freien Warenverkehrs zu bestimmen in welchen Umfang sie den Schutz menschlichen Lebens und Gesundheit gewährleisten wollen, solange keine Harmonisierung stattgefunden hat. Die EU-Mitgliedstaaten haben also einen weiten Ermessensspielraum innerhalb dessen sie bestimmen können, was sie zum Gesundheitsschutz für erforderlich halten.388 Innerhalb dieses Ermessensspielraums können sie auch besondere nationale Besonderheiten und Gewohnheiten berücksichtigen.389 So können die Mitgliedstaaten die in ihrem Gebiet herrschenden klimatologischen Bedingungen berücksichtigen.390 Ebenso können sie auf die Ernährungsgewohnheiten und das Verbraucherverhalten abstellen.391 Dabei darf das Verbraucherverhalten allerdings nicht vor Änderungen geschützt werden.392 Nicht in dem Schutzbereich dieser Ausnahmebestimmung fallen jedoch ekelerregende Umstände, soweit das Hervorrufen des Ekels nicht auch zugleich ein Gesundheitsrisiko beinhaltet. In dem hierzu entschiedenen Fall ging es um mitgliedstaatliche Kontrollen auf tote Larven in Fisch, wobei nur lebende Larven nachweislich gesundheitsschädlich sind.393 Ekelerregende Umstände, die kein Gesundheitsrisiko beinhalten, können also nur durch 388  EuGH Urt. v. 20.05.1976, Rs. 104  /  75, de Peijper, Slg. 1976, 613, 635 ff. Rn. 14 / 18; EuGH Urt. v. 06.06.1984, Rs. C-97 / 83, Strafverfahren gegen Melkunie, Slg. 1984, 2367, 2386, Rn. 18; EuGH Urt. v. 10.11.1994, Rs. C-320 / 93, Lucien Ort­ scheit GmbH . / . Eurim-Pharm Arzneimittel GmbH, Slg. 1994, I-5243, 5264, Rn. 13. 389  EuGH Urt. v. 06.06.1984, Rs. C-97  / 83, Strafverfahren gegen Melkunie, Slg. 1984, 2367, 2386, Rn. 19. 390  EuGH Urt. v. 19.09.1984, Rs. 94  / 83, Strafverfahren gegen Albert Heijn BV, Slg. 1984, 3280, Rn. 16 (für die Verwendung von Schädlingsbekämpfungs- und Pflanzenschutzmitteln). 391  EuGH Urt. v. 05.02.1981, Rs. 53 / 80, Koninklijke Kaasfabriek Eyssen BV, Slg. 1981, 409, 421 ff., Rn. 13 ff.; EuGH Urt. v. 06.06.1984, Rs. C-97 / 83, Melkunie, Slg. 1984, 2367, 2386, Rn. 19. 392  EuGH Urt. v. 15.12.1976, Rs. 35  / 76, Simmenthal . / . Italienisches Finanzmi­ nisterium, Slg. 1976, 1871, 1884, Rn. 12 / 14; EuGH Urt. v. 22.06.1994, Rs. C-426 / 92, Deutsches Milch-Kontor, Slg 1994, I-2757, 2778, Rn. 20, 21. 393  EuGH Urt. v. 25.5.1993, Rs. C-228  / 91, Italien . / . Kommission, Slg. 1993, I-2701, 2746, Rn. 28.

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C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

das zwingende Erfordernis des Verbraucherschutzes gerechtfertigt werden.394 Ebenfalls nicht der Schutz der menschlichen Gesundheit, sondern nur das zwingende Erfordernis des Verbraucherschutzes ist betroffen, wenn es um die bloße Qualitätssicherung geht.395 Die EU-Mitgliedstaaten haben, um Gefahren für die menschliche Gesundheit abzuwenden, insbesondere durch das Durchführen von gesundheitsbehördlichen Kontrollen, das Festsetzen von Grenzwerten, das Verbot der Beifügung von Zusatzstoffen sowie durch Maßnahmen welche die medizinische Grundversorgung gewährleisten sollen, gegen die Warenverkehrsfreiheit verstoßen. Inwieweit solche Maßnahmen zum Schutz der menschlichen Gesundheit durch Art. 36 AEUV gerechtfertigt werden können, soll im Folgenden dargestellt werden. Außerdem wird untersucht, inwieweit auch umweltschützende Maßnahmen unter den Schutz der Ausnahmebestimmung zum Schutz der menschlichen Gesundheit fallen können. (1) Das Durchführen von gesundheitsbehördlichen Grenzkontrollen Gesundheitsbehördliche Kontrollen an den Grenzen werden von den EUMitgliedstaaten insbesondere aus viehseuchenpolizeilichen Gründen als auch aufgrund von lebensmittelrechtlichen Anforderungen durchgeführt.396 Mit gesundheitsbehördlichen Kontrollen wird von EU-Mitgliedstaaten also nicht nur das legitime Schutzziel des Schutzes der menschlichen Gesundheit verfolgt, sondern hierdurch kann auch der Schutz der Gesundheit von Tieren oder der Schutz von Verbrauchern beabsichtigt werden. Gesundheitsbehördliche Kontrollen, insbesondere systematische Grenzkontrollen können nach Ansicht des EuGH wegen des damit verbundenen Zeitaufwand und der erhöhten Kosten eine empfindliche Beeinträchtigung der Warenverkehrsfreiheit darstellen.397 Daher hält der EuGH gesundheitsbehördliche Kontrollen nur in begründeten Fällen für zulässig. Schon aufgrund mangelnder Verhältnismäßigkeit sind Doppelkontrollen nicht zulässig. Die EU-Mitgliedstaaten müssen daher gleichwertige Kontrollen anderer Mitgliedstaaten anerkennen.398 Dies gilt nur dann nicht, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür beste394  Vgl.

hierzu C.V.5. Urt. v. 23.02.1988, Rs. 216 / 84, Kommission . / . Frankreich, Slg. 1988, 793, 812, Rn. 15. 396  Dauses, C.I. Rn. 201 (Dauses / Brigola). 397  EuGH Urt. v. 15.12.1976, Rs. 35  / 76, Simmenthal . / . Italienisches Finanzmi­ nisterium, Slg. 1976, 1871, 1884, Rn. 15, 16. 398  EuGH Urt. v. 08.11.1976, Rs. 251  / 38, Denkavit Futtermittel . / . Minister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, Slg. 1979, 3369, 3390, Rn. 20 ff.; EuGH Urt. v. 17.12.1981, Rs. 272  /  80, Biologische Producten, Slg. 1981, 3277, 3291, Rn. 14; EuGH Urt. v. 27.06.1996, Rs. C-293 / 84, Strafverfahren gegen Brandsma, 395  EuGH



III. Vergleich ähnlicher Ausnahmebestimmungen199

hen, dass die Kontrollen anderer EU-Mitgliedstaaten nicht verlässlich sind. Die Durchführung von gesundheitsbehördlichen Grenzkontrollen durch die Mitgliedstaaten ist auch dann nicht mehr zulässig, wenn aufgrund von EUVerordnungen bereits während der Herstellung der Waren in allen Mitgliedstaaten einheitlich Kontrollen durchgeführt werden, wie dies für Waren aus Rindfleisch der Fall ist.399 (2) Die Festsetzung von Grenzwerten Indem Mitgliedstaaten in ihren nationalen Rechtsordnungen für Nahrungsmittel zulässige Grenzwerte festlegen, verfolgen sie Ziele des Gesundheitsschutzes. Gleichzeitig verhindern sie damit jedoch den Verkauf, etwa von solchen Obst und Gemüse, die einen höheren Rückstand an Pestiziden oder auch von Fleisch und Fleischwaren, die einen höheren Rückstand etwa an Antibiotika, Hormonen oder Futterzusätzen aufweisen. Denn solche Waren erfüllen zwar die Anforderungen, die an die entsprechenden Grenzwerte in dem EUMitgliedstaat gestellt werden, in dem sie hergestellt wurden, können jedoch in EU-Mitgliedstaaten mit strengeren Grenzwerten nicht verkauft werden. Da die EU-Mitgliedstaaten das von ihnen angestrebte Schutzniveau des Gesundheitsschutzes selber festlegen können und es an ihnen liegt, „inwieweit sie den Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen sicherstellen wollen“,400 sind sie in der Festsetzung der Grenzwerte grundsätzlich frei.401 Sie müssen jedoch die Grenzwerte erhöhen, falls neue wissenschaftlichen Erkenntnissen dies nahe liegen und praktisch gangbare Ausnahmemöglichkeiten für Fälle vorhalten, in denen höhere Grenzwerte für den Gesundheitsschutz unproblematisch sind.402 Auch bei der Festsetzung der Grenzwerte können sich die EU-Mitgliedstaaten auf das Vorsorgeprinzip berufen.403 Slg. 1996, I-3159, 3177, Rn. 12; vgl. zu den Voraussetzungen der Gleichwertigkeit: von Borries / Pietschke, DVBl. 1996, 1343, 1344 ff. 399  Vgl. die aufgrund der BSE-Krise erlassenen Verordnungen der EG über Rindfleisch und Waren aus Rindfleisch VO (EG) Nr. 1760 / 2000, VO EG Nr. 820 / 97 und VO (EG) Nr.  1825 / 2000. 400  EuGH Urt. v. 13.03.1986, Rs. 54 / 85, Ministère Public . / . Mirepoix, Slg. 1986, 1067, 1079, Rn. 13. 401  Vgl. auch EuGH Urt. v. 19.09.1984, Rs. 94  / 83, Strafverfahren gegen Albert Heijn BV, Slg. 1984, 3263, 3280, Rn. 14. ff. 402  EuGH Urt. v. 19.09.1984, Rs. 94  / 83, Strafverfahren gegen Albert Heijn BV, Slg. 1984, 3263, 3280, Rn. 18; EuGH Urt. v. 13.03.1986, Rs. 54 / 85, Ministère Pu­ blic . / . Mirepoix, Slg. 1986, 1067, 1079, Rn. 16, 17. 403  A. A. wohl Schwarze, EU-Kommentar, Art. 30 EGV Rn. 77 (Becker); vgl. C.II.2.b) zum Vorsorgeprinzip.

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C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

(3) Das Verbot von Zusatzstoffen In einigen EU-Mitgliedstaaten sind Zusatzstoffe in Lebens- und Futtermitteln verboten, die in anderen Mitgliedstaaten erlaubt sind. Durch dieses Verbot wird die Warenverkehrsfreiheit beeinträchtigt, da hierdurch die Verkaufsmöglichkeit von Waren, die Zusatzstoffe entsprechend den gesetzlichen Regelungen ihres Herkunftsstaates enthalten, in anderen EU-Mitgliedstaaten beschränkt wird. Aufgrund der sehr unterschiedlichen Regelungen der Mitgliedstaaten in Bezug auf Zusatzstoffe, hat der EuGH sich in zahlreichen Entscheidungen mit dem Verbot von Zusatzstoffen befasst. Nach dieser Rechtsprechung ist das Verbot von Zusatzstoffen aus Gründen des menschlichen Gesundheitsschutzes gerechtfertigt, wenn bestimmte Anforderungen eingehalten werden. Zu diesen Anforderungen gehören, dass eine Genehmigungsmöglichkeit für verbotene Zusatzstoffe in einem leicht zugänglichen und zügigen Verfahren gegeben sein muss, wenn von dem fraglichen Zusatzstoff in dem betreffenden Lebensmittel keine Gefahr für die menschliche Gesundheit besteht und außerdem ein echtes Bedürfnis, insbesondere technologischer oder wirtschaftlicher Natur, für die Beisetzung des Zusatzstoffes gegeben ist.404 (4) Die Gewährleistung der medizinischen Grundversorgung Die Ausnahmebestimmung zum Schutz der menschlichen Gesundheit des Art. 36 AEUV umfasst auch das Funktionieren der medizinischen Grundversorgung in einem EU-Mitgliedstaat. Daher bestand aufgrund dieser Ausnahmebestimmung eine Rechtfertigungsmöglichkeit für die Verweigerung einer Einfuhrgenehmigung durch die zuständigen britischen Stellen für ein aus einem anderen EU-Mitgliedstaat stammendes Medikament. Denn im Falle 404  EuGH Urt. v. 14.07.1983, Rs. 174  /  82, Strafverfahren gegen Sandoz, Slg. 1983, 2445, 2463 ff., Rn. 19; EuGH Urt. v. 10.12.1985, Rs. 247 / 84, Strafverfahren gegen Motte, Slg. 1985, 3887, 3905, Rn. 22 ff.; EuGH Urt. v. 06.05.1986, Rs. 304 / 84, Ministére public .  /  . Muller u. a., Slg. 1986, 1511, 1528, Rn. 22; EuGH Urt. v. 12.03.1987, Rs.  178 / 84, Kommission . / . Deutschland, Slg. 1987, 1227, 1274, Rn. 44; EuGH Urt. v. 04.06.1992, verb. Rs. C-13 und 113 / 91, Strafverfahren gegen Debus, Slg. 1992, I-3617, 3641 ff., Rn. 17; EuGH Urt. v. 16.07.1992, Rs. C-293 / 89, Kom­ mission . / . Griechenland, Slg. 1992, I-4577, 4590 ff., Rn. 10 ff.; EuGH Urt. v. 16.07.1992, Rs.C-344 / 90, Kommission . / . Frankreich, Slg. 1992, I-4719, 4734, Rn. 10 ff.; EuGH Urt. v. 16.07.1992, Rs. C-95 / 89, Kommission . / . Italien, Slg. 1992, I-4574 ff., Rn. 10 ff.; EuGH Urt. v. 13.12.1990, Rs. C-42 / 90, Strafverfahren gegen Bellon, Slg. 1990, I-4863, 4882 ff., Rn. 14. Für einen detaillierten Überblick über die vom EuGH aufgestellten Voraussetzungen für die Zulässigkeit eines Verbotes von Zusatzstoffen, vgl. Dauses, C.I. Rn.  207 ff. (Dauses / Brigola).



III. Vergleich ähnlicher Ausnahmebestimmungen201

der Erteilung der Einfuhrgenehmigung für dieses Medikament wäre die wirtschaftliche Existenzfähigkeit des einzigen zugelassenen britischen Herstellers dieses Medikamentes bedroht gewesen. Dies hätte jedoch die stabile Versorgung der britischen Bevölkerung mit diesem Medikament gefährdet.405 Auch ein französisches Monopol für Apotheker in Bezug auf den Vertrieb von Arzneimitteln, wurde durch dieses Schutzziel des Gesundheitsschutzes gerechtfertigt.406 Keine Rechtfertigung bestand jedoch für ein deutsches Versandhandelsverbot von nicht verschreibungspflichtigen Arzneimitteln, durch welches eine niederländische „Internetapotheke“ keine derartigen Arzneimittel an Kunden in Deutschland ausliefern durfte. Denn der Kauf von nicht verschreibungspflichtigen Arzneimitteln im Versandhandel wurde vom EuGH nicht als eine Gefährdung der menschlichen Gesundheit angesehen. Nach Auffassung des EuGH könne jedenfalls einer etwaigen Gefahr effektiv begegnet werden, indem gewisser Anforderungen an den Versandhandel durch mitgliedstaatliche Vorschriften gestellt werden. Anders fiel die Entscheidung des EuGH jedoch in Bezug auf das Versandhandelsverbot für verschreibungspflichtige Arzneimittel aus. Dieses sah der EuGH aufgrund dem verschreibungspflichtigen Arzneimitteln inhärenten größeren Gefahrenpotential, als durch die Ausnahmebestimmung des Art. 36 AEUV zum Schutz der menschlichen Gesundheit gerechtfertigt an.407 Auch im Bereich der Gewährleistung der medizinischen Grundversorgung in einem EU-Mitgliedstaat können sich die EU-Mitgliedstaaten nicht mehr auf den menschlichen Gesundheitsschutz als Ausnahmebestimmung berufen, wenn im betreffenden Bereich eine Harmonisierung stattgefunden hat. Der Gesundheitsschutz ist daher gewährleistet, wenn das Gemeinschaftsrecht die gegenseitige Anerkennung von Qualifikationen vorsieht.408 (5) U  mweltschützende Maßnahmen im Schutzbereich dieser Ausnahmebestimmung Fraglich ist, ob umweltschützende Maßnahmen in den Schutzbereich dieser Ausnahmebestimmung des Art. 36 AEUV zum Schutze der Gesundheit und des Lebens von Menschen, Tieren oder Pflanzen fallen. Das umwelt405  EuGH Urt. v. 28.03.1995, Rs. C-324 / 93, Evans Medical und Macfarlan Smith Ltd, Slg. 1995, I-563, 608, Rn. 37. 406  EuGH Urt. v. 21.03.1991, Rs. C-60  /  89, Strafverfahren gegen Monteil und Samanni, Slg. 1991, I-1547, 11571, Rn. 43, 44. 407  EuGH Urt. v. 11.12.2003, Rs. C-322  /  01, Deutscher Apothekerverband . / . DocMorris = EuZW 2004, 21, 27, Rn. 114. 408  EuGH Urt. v. 28.04.1998, Rs. C-120 / 95, Nicolas Decker . / . Caisse de maladie des employés privés, Slg. 1998, I-1831, 1885, Rn. 42–44.

202

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

schützende Maßnahmen ein „zwingendes Erfordernis“ i. S. d. Cassis-Formel darstellen und somit Beeinträchtigungen der Warenverkehrsfreiheit rechtfertigen, ist unbestritten und wird im Folgenden noch dargestellt.409 Durch eine weite Auslegung der Ausnahmebestimmung zum Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen, Tieren und Pflanzen des Art. 36 AEUV, könnten aber auch Maßnahmen des Umweltschutzes durch Art. 36 AEUV gerechtfertigt werden, die den Lebens- oder Gesundheitsschutz von Menschen, Tieren oder Pflanzen nicht speziell zum Regelungsgegenstand haben, sondern allgemein aus Gründen des Gesundheitsschutzes angewendet werden, z. B. Klimaschutzmaßnahmen. Solche Maßnahmen wären dann durch Art. 36 AEUV aufgrund der verglichen mit der Cassis-Formel geringeren Anforderungen dieser Ausnahmebestimmung leichter zu rechtfertigen. Da der EuGH immer betont hat, dass die Ausnahmebestimmungen des Art. 36 AEUV eng auszulegen sind410 und er bislang den Umweltschutz nicht unter den Maßnahmen zum Schutz des Lebens oder der Gesundheit von Menschen, Tieren oder Pflanzen genannt hat, ist davon auszugehen, dass allein umweltschützende Maßnahmen nicht unter diese Ausnahmebestimmung fallen. Daher dienen umweltschützende Maßnahmen den Schutz dieser Ausnahmebestimmung zum Schutz des Lebens oder der Gesundheit von Menschen, Tieren oder Pflanzen nur dann, wenn sie gleichzeitig zu diesen Rechtsgütern in einem nachvollziehbaren Zusammenhang stehen.411 bb) Schutz der Gesundheit und des Lebens von Tieren oder Pflanzen Für die Ausnahmebestimmung zum Schutz der Gesundheit und des Lebens von Tieren oder Pflanzen gelten insbesondere in Bezug auf die Festlegung des Schutzniveaus die gleichen Grundsätze, die im vorherigen Abschnitt zur Ausnahmebestimmung des menschlichen Gesundheitsschutzes dargestellt wurden. Auf die Ausnahmebestimmung zum Schutz der Gesundheit und des Lebens von Tieren haben sich die EU-Mitgliedstaaten berufen, um handelsbeschränkende Maßnahmen zu rechtfertigen, die den Artenschutz von Tieren und Pflanzen oder den Wohlbefinden von Tieren dienen. (1) Maßnahmen zum Schutz von Tier- oder Pflanzenarten Durch verschiedene handelsbeschränkende Maßnahmen kann der Schutz von Tier- oder Pflanzenarten gesichert und so zur Bewahrung der biologischen Vielfalt beigetragen werden. 409  Vgl.

C.V.2. C.II.2.a) zur engen Auslegung des Art. 36 AEUV. 411  Epiney / Möllers, S. 26, 27; Middeke, S. 181. 410  Vgl.



III. Vergleich ähnlicher Ausnahmebestimmungen203

Die Judikatur des EuGH lässt sich hinsichtlich des Artenschutzes einerseits in handelsbeschränkende Maßnahmen für bedrohte Tier- oder Pflanzenarten oder für aus diesen erzeugte Waren und anderseits in handelsbeschränkende Maßnahmen mittels derer eine Verfälschung und Bedrohung der Flora und Fauna durch eingeschleppte Arten oder andere Bedrohungen verhindert werden soll, unterteilen. Handelsbeschränkende Maßnahmen für bedrohte Tier- oder Pflanzenarten oder für aus diese erzeugte Waren sind bislang vom EuGH nur in der Form von Einfuhrbeschränkungen geprüft worden. Als handelsbeschränkende Maßnahme zum Schutz für bedrohte Tier- oder Pflanzenarten sind allerdings auch Ausfuhrbeschränkungen für heimische Tier- oder Pflanzenarten, die in ihrem Bestand gefährdet sind, in andere EU-Mitgliedstaaten denkbar. Einen entsprechenden Fall hat der EuGH aber bislang noch nicht entschieden. Der EuGH sah das Verbot von bestimmten Pflanzenschutzmitteln u. a. deshalb als gerechtfertigt an, weil hierdurch Pflanzen geschützt werden sollten.412 Aufgrund der im Bereich des Vogelschutzes stattgefundenen Harmonisierung sah der EuGH aber keine Rechtfertigungsmöglichkeit einer niederländischen Einfuhrbeschränkung für schottische Moorhühner aus Großbritannien.413 Ebenso hat die EU Einfuhrbeschränkungen für bestimmte aus Robben und Wale gewonnene Waren sowie bezüglich von Pelzen wildlebender Tiere harmonisiert.414 Außerdem wird der Handel mit frei lebenden Tier- und Pflanzenarten durch verschiedene Restriktionen beschränkt.415 Aufgrund der in diesen Bereichen stattgefundenen Harmonisierung zum Schutz von bedrohten Tier- oder Pflanzenarten werden sich die EU-Mitgliedstaaten also nicht mehr zur Rechtfertigung handelsbeschränkender Maßnahmen auf die Ausnahmebestimmung des Art. 36 AEUV berufen können. Hinsichtlich der Verfälschung und Bedrohung der Flora und Fauna durch eingeschleppte Arten oder andere Bedrohungen hat der EuGH ein deut412  EuGH Urt. v. 07.11.1987, Rs. C-125  / 88, Strafverfahren gegen Nijman, Slg. 1989, 3533, 3548, Rn. 13 ff. 413  EuGH Urt. v. 23.05.1990, Rs. C-169  / 89, Strafverfahren gegen Gourmetterie van den Burg, Slg. 1990, I-2142, 2164, Rn. 15, 16; vgl. C.II.2.e) zum Sachverhalt dieser Entscheidung. 414  Vgl. RL 83 / 129 / EWG des Rates betreffend die Einfuhr in die Mitgliedstaaten von Fellen bestimmter Jungrobben und Waren daraus vom 28.03.1983, ABl. L 91, S. 30; VO (EWG) Nr. 348 / 81 des Rates über eine gemeinsame Regelung für die Einfuhr von Walerzeugnissen vom 20.01.1981, ABl. L 39, S.1; VO (EG) Nr. 1771 / 94 der Kommission über die Einfuhr von Pelzen und Fertigartikeln aus Exemplaren bestimmt wild lebender Tierarten vom 19.07.1994, ABl. L 184, S. 3. 415  VO (EG) Nr. 2087  / 2001 der Kommission zur Aussetzung der Einfuhr von Exemplaren frei lebender Tier- und Pflanzenarten in die Gemeinschaft vom 24.10.2001, ABl. L 282, S. 23.

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C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

sches grundsätzliches Einfuhrverbot für Flusskrebse, mittels dessen die Verbreitung der Krebspest verhindert werden sollte, welche die bereits stark beeinträchtigten deutschen Flusskrebsbestände bedrohte, nicht als gerechtfertigt angesehen. Denn der EuGH befand, dass die Ausbreitung der Krebspest durch mildere Maßnahmen wie Gesundheitskontrollen oder Einfuhrverbote nur für bestimmte Flusskrebsarten genauso effektiv begegnet werden könne.416 Als gerechtfertigt hat der EuGH hingegen ein Verbot der Haltung anderer Bienen als die einer bestimmten Bienenunterart auf einer dänischen Insel angesehen, mittels dessen diese Bienenunterart vor dem Aussterben bewahrt werden sollte. Gleichzeitig hat der EuGH ausgeführt, dass die Gefahr des Aussterbens der fraglichen Population nicht notwendig ist um eine Handelsbeeinträchtigung zu rechtfertigen, sondern dass bereits ein „wissenschaftliches oder anderes Interesse“ an dem Schutz der Population genügt.417 (2) Maßnahmen zum Schutz des Wohlbefindens von Tieren Neben dem Schutz der Artenvielfalt fällt auch das individuelle Wohlbefinden einzelner Tiere in den Schutzbereich dieser Ausnahmebestimmung. Handelsbeschränkende Maßnahmen können sich gegen als tierquälerisch angesehene Methoden richten. In Bezug auf solche Methoden hat sich der EuGH zweimal mit dem Halten von Kälbern in sog. Kälberverschlägen befasst. Ein niederländisches Gesetz, welches bestimmte Mindestbedingungen an Kälberverschläge stellte, um die Tiere hierdurch zu schützen, wurde durch diese Ausnahmebestimmung als gerechtfertigt angesehen.418 Anzufügen ist, dass der EuGH aufgrund der zwischenzeitlich ergangenen KeckRechtsprechung dieses niederländische Gesetz nicht mehr als eine Beeinträchtigung der Warenverkehrsfreiheit einstufen würde.419 Eine Rechtfertigungsmöglichkeit durch diese Ausnahmebestimmung für ein etwaiges Ausfuhrverbot für britische Kälber, die in anderen EU-Mitgliedstaaten in Kälberverschlägen gehalten wurden, die in Großbritannien selber verboten waren, wurde vom EuGH aber aufgrund der zwischenzeitlich im Bereich der Kälberhaltung erfolgten Harmonisierung abgelehnt.420 Ebenfalls wegen 416  EuGH Urt. v. 13.07.1994, Rs. C-131  /  93, Kommission. / . Deutschland, Slg. 1994, I-3303, 3322, Rn. 25 ff. 417  EuGH Urt. v.03.12.1998, Rs. C-67  / 97, Strafverfahren gegen Ditlev Bluhme, Slg. 1998, I-8033, 8066, Rn. 34. 418  EuGH Urt. v. 01.04.1982, Rs. C-141–143  /  81, Strafverfahren gegen Gerrit Holdijk und andere, Slg. 1982, 1299, 1314, Rn. 13. 419  Vgl. B.III.2. zur Keck-Rechtsprechung. 420  EuGH Urt. v. 19.03.1998, Rs. C-1  / 96, Compassion in World Farming, Slg. 1998, I-1251, 1301, Rn. 69.



III. Vergleich ähnlicher Ausnahmebestimmungen205

einer entsprechenden Harmonisierung war es der schwedischen Regierung verwehrt, die Einfuhr von Rindersamen aus Belgien zu verbieten, die einen genetischen Defekt (Muskelhypertrophie) aufwiesen, welcher sich zwar positiv auf die Fleischgewinnung bei den hiermit gezeugten Tieren auswirkte, bei den Trägern dieses genetischen Defektes und deren Muttertieren aber gleichzeitig unnötige Leiden auslöste.421 Ebenso hat die EU durch Sekundärrecht Anforderungen an die Massentierhaltung von Legehennen422 und der Massentierhaltung anderer Nutztierarten sowie deren Schlachtung423 sowie an den Lebendtransport von Tieren gestellt.424 Durch das Sekundärrecht der EU wird aber nicht nur das Wohlbefinden von Tieren geschützt, die sich innerhalb der EU befinden. Denn auch Einfuhrverbote für Pelze und anderen Waren, die aus bestimmten Wildtierarten gewonnen werden, welche mittels Tellereisen gefangen wurden, finden ihre Grundlage ebenso im Gemeinschaftsrecht, wie das Verbot von Tellereisen zum Fang von Wildtieren innerhalb der EU.425 Es hat also innerhalb der EU in Bezug auf die Nutzung der wirtschaftlich bedeutendsten Tierarten eine Harmonisierung stattgefunden, die den EUMitgliedstaaten den Rückgriff auf den Rechtfertigungsgrund dieser Ausnahmebestimmung verschließt. Ein mitgliedstaatlich angestrebter weitergehender Schutz des Wohlbefindens solcher Tiere, der eine Beeinträchtigung der Warenverkehrsfreiheit darstellen würde, wäre also regelmäßig nur durch eine weitergehendere Harmonisierung möglich.

421  EuGH Urt. v.19.11.1998, Rs. C-162 / 97, Strafverfahren gegen Gunnar Nilsson u. a., Slg. 1998, I-7477, 7508, Rn. 29. 422  RL 1999  / 74 / EG des Rates zur Festlegung von Mindestanforderungen zum Schutz von Legehennen vom 19.07.1999, ABl. L 203, S. 53. 423  RL 95 / 58 / EG des Rates über den Schutz landwirtschaftlicher Nutztiere vom 20.07.1998, ABl. L 221, S. 23; RL 91 / 629 / EWG des Rates über Mindestanforderungen für den Schutz von Kälbern vom 19.11.1991, ABl. L 340, S. 28; RL 91 / 630 / EWG des Rates über Mindestanforderungen für den Schutz von Schweinen vom 19.11.1991, ABl. L 340, S. 33; RL 93 / 119 / EG des Rates über den Schutz von Tieren zum Zeitpunkt der Schlachtung oder Tötung vom 22.1.21993, ABl. L 3240, S. 21. 424  VO (EG) Nr. 615  / 98 der Kommission mit Durchführungsbestimmungen zur Ausfuhrerstattungsregelung in Bezug auf den Schutz lebender Rinder beim Transport vom 18.03.1998, ABl. L 82, S. 19; VO (EG) Nr. 411 / 98 des Rates mit zusätzlichen Tierschutzvorschriften für Straßenfahrzeuge zur Beförderung von Tieren während mehr als acht Stunden vom 16.02.1998. 425  VO (EWG) Nr. 3254 / 91 des Rates zum Verbot von Tellereisen in der Gemeinschaft und der Einfuhr von Pelzen und Waren von bestimmten Wildtierarten aus Ländern, die Tellereisen oder den internationalen humanen Fangnormen nicht entsprechende Fangmethoden anwenden vom 04.11.1991, ABl. L 308, S. 1.

206

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

c) Vergleich zwischen dem Schutz von Gesundheit und Leben von Menschen, Tieren und Pflanzen im EU- und WTO-Recht Der nahezu gleiche Wortlaut der Ausnahmebestimmung zum Schutz von Gesundheit und Leben von Menschen, Tieren und Pflanzen im EU- und WTO-Recht und ähnliche Interessenslagen auf beiden Ebenen haben dazu geführt, dass zahlreiche Gemeinsamkeiten in der Verfolgung dieser Schutzziele bestehen. Diese Gemeinsamkeiten werden im Folgenden einander gegenübergestellt und es wird nach Erklärungen hierfür gesucht. Eine einheitliche Erklärung für zahlreiche Gemeinsamkeiten liegt natürlich auch in dem Umstand begründet, dass eine Politik die Ziele des Gesundheits- und Umweltschutzes verfolgt, stets auch als verschleierter Protektionismus missbraucht werden kann. Ebenso bestehen aber auch Unterschiede in beiden Rechtsordnungen. Auch hierfür werden Erklärungsversuche gegeben. Zunächst einmal stellt die Ausnahmebestimmung zum Schutz von Gesundheit und Leben von Menschen, Tieren und Pflanzen in beiden Rechtsordnungen diejenige dar, auf die sich sowohl die WTO-Mitglieder als auch die EU-Mitgliedstaaten zur Rechtfertigung handelsbeschränkender Maßnahmen jeweils am häufigsten berufen. Dies weist nicht nur darauf hin, dass dem Staat eine besondere Schutzpflicht für das Leben und die Gesundheit seiner Bürger trifft, sondern auch auf die große wirtschaftliche Bedeutung des von dieser Ausnahmebestimmung betroffenen Handels sowie auf die allgemeine Bedeutung dieser Schutzziele. Zugleich ist oftmals auch die heimische Industrie mittelbar von der Einfuhr gesundheitsgefährdender oder jedenfalls als solcher empfundener Ware beeinträchtigt. Denn es besteht die Gefahr, dass der Markt für bestimmte Waren völlig zusammenbricht. So könnten Verbraucher vom Kauf ähnlicher Waren, seien sie eingeführt oder einheimischen Ursprunges, absehen, wenn sie Gesundheitsrisiken durch eine eingeführte Ware befürchten. Diese Gefahr war auch mit ein Grund für den Erlass der einfuhrbeschränkenden Maßnahmen, deren Rechtfertigung in den Entscheidungen EC – Hormones und Korea – Beef untersucht wurde. Im EU-Recht wird in einem solchen Fall die Ausnahmebestimmung des Art. 36 AEUV von geringerer Bedeutung sein. Denn es ist davon auszugehen ist, dass vor dem drohenden Zusammenbruch eines Marktes aufgrund von Verbraucherängsten entsprechendes Sekundärrecht erlassen werden wird. Wie dies z. B. hinsichtlich der Einfuhr von Rinderfleisch im Zuge des BSEKrise passierte.426 Aufgrund der großen Bedeutung der von dieser Ausnahmebestimmung gewährleisteten Schutzziele, steht es den WTO-Mitgliedern und EU-Mit426  Vgl. VO (EG) Nr. 1760 / 2000 vom 01.07.2000, ABl. L 204, S. 1 ff.; VO (EG) Nr. 1825 / 2000, ABl. L 216, S. 8 ff.



III. Vergleich ähnlicher Ausnahmebestimmungen207

gliedstaaten auch jeweils frei, dass von ihnen angestrebte Schutzniveau autonom zu bestimmen. Aus der Anzahl der Panelberichte und Entscheidungen des Appellate Body sowie der Urteile des EuGH hinsichtlich dieser Ausnahmebestimmung wird zudem deutlich, dass sowohl die WTO-Mitglieder als auch die EU-Mitgliedstaaten ein unterschiedlich hohes Schutzniveau unterhalten. Länder mit einem höheren Schutzniveau könnten dieses ohne eine solche Ausnahmebestimmung anderenfalls nicht aufrechterhalten, da es sonst durch die Einfuhr ausländischer Waren unterminiert werden würde und so durch den Wettbewerb auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zusammenschmelzen würde. Eine gewisse Gemeinsamkeit zwischen beiden Rechtsordnungen besteht zudem insofern, als dass der Anwendungsbereich der jeweiligen Ausnahmebestimmung durch anderes Recht eingeengt wurde. Im EU-Recht ist der Rückgriff auf die Ausnahmebestimmung zum Schutz des Lebens und der Gesundheit von Menschen, Tieren oder Pflanzen in zahlreichen Bereichen ausgeschlossen, weil hierzu umfangreiches Sekundärrecht in Form von Verordnungen oder Richtlinien erlassen wurde. Im WTO-Recht ist hingegen im Anwendungsbereich des ÜSPS eine gesundheitspolizeiliche oder pflanzenschutzrechtliche Maßnahme an den Anforderungen des ÜSPS zu prüfen. Sind diese erfüllt, entfällt eine weitere Prüfung der Voraussetzungen des Art. 36 AEUV. In beiden Rechtsordnungen besteht also spezielleres Recht, nach welchem die handelsbeschränkende Maßnahme, die unter dieses Recht fällt, gerechtfertigt werden muss. Die jeweilige Ausnahmebestimmung wird durch das speziellere Recht verdrängt und bietet keine Rechtfertigungsmöglichkeit mehr. Die Unterschiede, die zwischen der Regelungsdichte und der Anwendungsbreite des ÜSPS sowie den zahlreichen Sekundärrecht das im Bereich dieser Ausnahmebestimmung im EU-Recht ergangen ist, bestehen, sind zwar beträchtlich. Dennoch kann als Gemeinsamkeit festgehalten werden, dass in beiden Rechtsordnungen der Regelungsbedarf aufgrund der wirtschaftlichen Bedeutung der von dieser Ausnahmebestimmung betroffenen Bereichen so groß war, dass die Regelung durch die ursprüngliche Ausnahmebestimmung nicht mehr ausreichte, sondern Bedarf nach einer jedenfalls gewissen Rechtsangleichung durch Schaffung speziellerer Regelungen bestand. Üblicherweise wird eine solche Rechtsangleichung sonst nur im EU-Recht vorgenommen. Im WTO-Recht musste zur Schaffung einer jedenfalls gewissen Rechtsangleichung mit dem ÜSPS ein eigener Vertrag geschaffen werden, während im EU-Recht der EU-Vertrag selber die Möglichkeit der Schaffung von Sekundärrecht beinhaltet. Eine weitere gewisse Gemeinsamkeit zwischen beiden Rechtsordnungen besteht zudem im Relationselement. Zwar besteht das Relationselement im WTO-Recht aus dem Notwendigkeitskriterium, während im EU-Recht die Verhältnismäßigkeitsprüfung gilt. Aber in nur wenigen anderen Ausnahme-

208

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

bestimmungen des WTO-Rechts findet sich ein solches strenges Relationselement. Es stehen sich also eine Erforderlichkeitsprüfung auf WTO-Ebene und eine Verhältnismäßigkeitsprüfung auf EU-Ebene gegenüber. Während sonst auf WTO-Ebene überwiegend nur verhältnismäßig schwache Relationselemente bestehen. Diese Ähnlichkeit, die das WTO-Recht diesbezüglich zum EU-Recht hat, kann mit den weiten Anwendungsbereich der Ausnahmebestimmung zum Schutz von Gesundheit und Leben von Menschen, Tieren und Pflanzen erklärt werden. Dadurch können zwar die legitimen Schutzziele dieser Ausnahmebestimmung effektiv geschützt werden, gleichzeitig besteht aber auch die Möglichkeit des protektionistischen Missbrauchs dieser Maßnahme. Um diese Missbrauchsgefahr möglichst einzudämmen, ist aber ein möglichst strenges Relationselement notwendig. Dementsprechend findet sich auch bei allen Ausnahmebestimmungen des Art. XX GATT, die einen relativ offenen Anwendungsbereich haben, nämlich, den lit. a), lit. b) und lit. d) das Notwendigkeitskriterium als Relationselement. Trotz dieser gewissen Gemeinsamkeiten, die hinsichtlich des Relationselementes in den beiden Rechtsordnungen bestehen, sind die Anforderungen an dieses im EU-Recht jedoch wesentlich strenger. Ein Verhältnismäßigkeitsprinzip für den Bereich des Gesundheitsschutzes mit ähnlich strengen Anforderungen wie innerhalb der EU würde die ordnungspolitische Vielfalt unterminieren, die in den zahlreichen Mitgliedsländern der WTO existiert. Außerdem würde dabei nicht berücksichtigt werden, dass sich das Risikobewusstsein in den zahlreichen Mitgliedsländern der WTO ebenso stark voneinander unterscheidet, wie die wirtschaftlichen Möglichkeiten zur Verwirklichung des Gesundheits- und Umweltschutzes. Als eine weitere Gemeinsamkeit kann festgehalten werden, dass die beiden Ausnahmebestimmungen sowohl im WTO- als auch im EU-Recht so ausgelegt werden, dass umweltschützende Maßnahmen nicht direkt unter diese fallen, wenn sie nur eine mittelbare Schutzwirkung für Menschen, Tiere oder Pflanzen beinhalten (WTO-Recht) bzw. zu den Schutz des Lebens oder der Gesundheit dieser Rechtsgüter nicht in einem nachvollziehbaren Zusammenhang stehen (EU-Recht). Reine Güter des Umweltschutzes fallen daher in beiden Rechtsordnungen nicht in den Anwendungsbereich dieser Ausnahmebestimmung. Als Erklärung für diese Gemeinsamkeit kann angeführt werden, dass es zum Zeitpunkt der Verhandlungen über die jeweiligen Ausnahmebestimmungen, Ende der 1940er Jahre über Art. XX GATT bzw. Ende der 1950er Jahre über die Vorläuferbestimmung des Art. 36 AEUV, noch kein allgemeines Umweltbewusstsein gab. Stattdessen sollten durch die jeweiligen Handelsliberalisierungen neben der Erreichung anderer politischer Ziele möglichst rasch die vom zweiten Weltkrieg und Weltwirtschaftskrise beeinträchtigte Wirtschaft wiederbelebt werden. Seit dem Inkrafttreten des GATT und des Vorläufervertrages des EU-Vertrages hat sich



III. Vergleich ähnlicher Ausnahmebestimmungen209

jedoch die Situation geändert. Die Probleme, die aus mangelndem Umweltschutz entstehen, sind zwischenzeitlich allgemein anerkannt. Doch haben WTO- und EU-Recht unterschiedlich auf diese Herausforderung reagiert. Während im EU-Vertrag Belange des Umweltschutzes aufgenommen wurden und der EuGH den Umweltschutz als zwingendes Erfordernis und somit als Ausnahmebestimmung anerkannt hat,427 beinhaltet das WTO-Recht keine Ausnahmebestimmung für reine Ziele des Umweltschutzes. Dieser Unterschied kann damit erklärt werden, dass gerade die Schwellen- und Entwicklungsländer in der WTO den wirtschaftlichen Vorsprung der Industrieländer, ungebremst von allzu rigiden Umweltschutzvorschriften, einholen wollen. Zudem sehen sie in Umweltschutzvorschriften die Gefahr des protektionistischen Missbrauchs. Gerade in den Schwellenländern herrscht die Auffassung vor, dass es jetzt die Aufgabe der Industrieländer sei, zum Schutz globaler Industriegüter beizutragen, während die Schwellenländer erst einmal mit den Industrieländern aufschließen müssten. Zusätzlich kommt hinzu, dass den Streitbeilegungsgremien der WTO, anders als dem EuGH, wie bereits mehrfach dargestellt,428 die Möglichkeit der Rechtsfortbildung nicht gegeben ist. Gemeinsam haben die beiden Rechtsordnungen auch, dass eine extraterritoriale Wirkung ihrer jeweiligen Ausnahmebestimmung nicht anerkannt ist.429 Im WTO-Recht haben die Streitbeilegungsgremien der WTO jedoch den Art. XX lit. g) GATT eine gewisse extraterritoriale Wirkung zugeschrieben, da sie diese Ausnahmebestimmung dann als Rechtfertigungsgrund akzeptieren, wenn die entsprechende Tierart, die durch handelsbeschränkende Maßnahmen im Hoheitsgebiet eines anderen WTO-Mitgliedes geschützt werden soll, als wandernde Tierart auch im Hoheitsgebiet des WTO-Mitgliedes vorkommt, welches die handelsbeschränkende Maßnahme verhängt.430 Im EU-Recht wurde der Anwendungsbereich dieser Ausnahmebestimmung zum Schutz der Tiere bislang nicht entsprechend weit gezogen. Allerdings besteht bezüglich des Schutzes von Zugtieren und anderer Tierarten, die auf dem Gebiet mehrerer EU-Mitgliedstaaten vorkommen, ein umfassendes Sekundärrecht.431 Aufgrund der Sperrwirkung dieses Sekundärrechts ist nicht davon auszugehen, dass es praktisch von Belang sein wird, ob auch Zugtiere, die im Hoheitsgebiet zweier EU-Mitgliedstaaten 427  Vgl.

C.V.2.a). nur C.I.3. 429  Vgl. zu den Gründen des Nichtanerkennens extraterritorialer Wirkung die Ausführungen unter C.II.5.d). 430  Vgl. C.IV.3. zu Art. XX lit. g) GATT, insbesondere zum Appellate Body Report US – Shrimps. 431  Vgl. für einen Überblick über das EU-Sekundärrecht zum Tierschutz: Lorz / Müller / Stöckel, B. Rn. 27 ff. 428  Vgl.

210

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

vorkommen, von einem dieser Mitgliedstaaten im Gebiet eines anderen Mitgliedstaates mittels handelsbeschränkender Maßnahmen geschützt werden darf.432 Zudem besteht bezüglich einer insgesamt eher nachhaltigen Nutzung wildlebender Tierarten innerhalb der Mitgliedstaaten der EU ein größerer Konsens, als dies in anderen weniger entwickelten Staaten der Fall ist, wo die wirtschaftliche Not einen Raubbau an den natürlichen Ressourcen fördert. Aus all diesen Gründen spielt auch der Streit um eine extraterritoriale Anwendungsmöglichkeit dieser Ausnahmebestimmung im EU-Recht eine weitaus geringere praktische Rolle. WTO- und EU-Recht weisen in Bezug auf ihre jeweiligen Ausnahmebestimmungen zum Schutz des Lebens und der Gesundheit von Menschen, Tieren oder Pflanzen aber auch zahlreiche Unterschiede auf. So haben beide Ausnahmebestimmungen teilweise einen unterschied­ lichen sachlichen und praktischen Anwendungsbereich. Hinsichtlich des sachlichen Anwendungsbereiches kann darauf verwiesen werden, dass handelsbeschränkende Maßnahmen zum Schutz des Wohlbefindens von Tieren nicht unter die Ausnahmebestimmung des Art. XX lit. b) GATT, aber unter die des EU-Rechts fällt. Mangels extraterritorialer Geltung des Art. XX lit. b) GATT würde selbst bei einer entsprechenden Auslegung dieser Ausnahmebestimmung den meisten handelsbeschränkenden Maßnahmen zum Schutz des Wohlbefindens von Tieren eine entsprechende Rechtfertigung versagt bleiben. Denn normalerweise haben Maßnahmen zum Schutz des Wohlbefindens von Tieren (z. B. Anforderungen an die Haltung, den Transport und die Schlachtung oder vorausgegangener Tierversuche) keine Auswirkungen auf die körperlichen Eigenschaften und die Art und Qualität der Ware oder auf ihre Endverwendung.433 Daher könnte sowohl das Tellereisenverbot als auch Ausfuhrbeschränkungen mittels derer qualvolle Tiertransporte verboten werden sollen, nicht unter Berufung auf Art. XX lit. b) GATT gerechtfertigt werden.434 Allerdings könnten Waren, die im Inland einen tierquälerischen Effekt haben, und die gleichartig zu anderen Waren sind, unter Berufung auf Art. XX lit. b) GATT verboten werden, wenn auch das Wohlbefinden von Tieren unter diese Ausnahmebestimmung fiele. Als ein Beispiel hierfür kann das vom EuGH verworfene schwedische Einfuhrverbot für Rindersamen angeführt 432  Vgl. auch EuGH Urt. v. 23.05.1990, Rs. C-169  /  89, Strafverfahren gegen Gourmetterie van den Burg, Slg. 1990, I-2142, 2164, Rn. 15, 16. In dieser Entscheidung lehnte der EuGH auch aufgrund einer stattgefundenen Harmonisierung die Berufung der Niederlande auf Art. 36 AEUV bezüglich eines Verkaufsverbotes für eine nur in Großbritannien vorkommenden Vogelart ab. 433  Vgl. nur B.II.1.a)aa) zur Gleichartigkeit von Waren. 434  Vgl. C.III.1.a)bb)(3) zu diesen und ähnlichen Beispielen.



III. Vergleich ähnlicher Ausnahmebestimmungen211

werden, die sowohl bei den hiermit gezeugten Tieren als auch bei deren Muttertieren unnötiges Leiden auslösten.435 Falls diese Rindersamen als gleichartig mit herkömmlichen Rindersamen eingestuft werden würden, könnte Art. XX lit. b) GATT als Rechtfertigungsgrund herangezogen werden, wenn hierunter auch das Wohlbefinden von Tieren subsumiert werden könnte. Dafür spricht, dass es keiner Rechtsfortbildung, sondern nur einer erweiterten Auslegung bedarf, um unter die Gesundheit von Tieren auch deren Wohlbefinden zu verstehen. Außerdem ist fraglich, ob Art. XX lit. b) GATT auf die Rechtfertigung von handelsbeschränkenden Maßnahmen zur Gewährleistung der medizinischen Grundversorgung anwendbar ist. Die Streitbeilegungsgremien haben sich hierzu noch nicht geäußert. Für eine entsprechende Auslegung spricht, dass eine medizinische Grundversorgung Gesundheit und Leben der Bevölkerung schützt. Nicht hierunter fallen würden jedoch Generika, z. B. gegen Krankheiten wie AIDA und Malaria. Denn dieser Bereich ist durch das TRIPS („Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums“) speziell geregelt.436 Als ein weiterer Unterschied kann festgehalten werden, dass der Art. XX lit. b) GATT, sobald es um den Schutz von Tierarten, aber auch anderer Belange des Umweltschutzes, wie z. B. sauberer Luft geht, gewissermaßen Verstärkung durch den Art. XX lit. g) GATT bekommt. Dieser Ausnahmebestimmung kann auch eine gewisse extraterritoriale Wirkung zukommen. Zudem verfügt sie über ein weniger strenges Relationselement.437 Der Art. XX lit. g) GATT diente jedoch ursprünglich zur Rechtfertigung der Beschränkung der Ausfuhr eigener Bodenschätze. Eine Ausnahmebestimmung für die es im EU-Recht keine Notwendigkeit gab.438 Erst durch die Auslegung der Streitbeilegungsgremien ist Art. XX lit. g) GATT auf die Rechtfertigung von Belangen des Umweltschutzes anwendbar geworden.

435  Vgl. zu dieser Entscheidung: EuGH Urt. v. 19.11.1998, Rs. C-162 / 97, Straf­ verfahren gegen Gunnar Nilsson u. a., Slg. 1998, I-7477, 7508, Rn. 29. 436  Vgl. C.III.4.a)aa)(1)(aa) und Hilf / Oeter, § 24 (Michaelis  / Bender) für einen Überblick über das TRIPS. 437  Vgl. C.IV.3. zur Ausnahmebestimmung des Art. XX lit. g) GATT und die Möglichkeiten hinsichtlich der extraterritorialen Anwendung dieser Ausnahmebestimmung und deren Relationselement. 438  Vgl. C.IV.3.c) zum Fehlen einer entsprechenden Ausnahmebestimmung zum Art. XX lit. g) GATT im EU-Recht.

212

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

3. Ausnahmen zum Schutz des nationalen Kulturgutes von künstlerischem, geschichtlichem oder archäologischem Wert Als nächste gemeinsame Ausnahmebestimmung findet sich in beiden Rechtsordnungen die Ausnahmebestimmung zum Schutz des nationalen Kulturgutes von künstlerischem, geschichtlichem oder archäologischem Wert. Diese wird sowohl von Art. XX lit. f) GATT als auch von Art. 36 AEUV geschützt. Bei dieser Ausnahmebestimmung handelt es sich um die letzte gemeinsame Ausnahmebestimmung unter den allgemeinen Ausnahmen des Art. XX GATT und des Art. 36 AEUV. Ohne der Begriffsbestimmung in den jeweiligen Ausnahmebestimmungen vorzugreifen, kann zur Einführung ein Kulturgut kann als das Ergebnis künstlerischer Produktion oder als ein anderes menschliches Zeugnis bezeichnet werden, das als wichtig und erhaltenswert anerkannt ist. a) Die Ausnahmebestimmung des Art. XX lit. f) GATT Die Ausnahmebestimmung des Art. XX lit. f) GATT ist bis heute nicht von einem WTO-Mitglied vor den Streitbeilegungsgremien als Rechtfertigungsgrund herangezogen worden. Auch sonst haben die Streitbeilegungsgremien in ihren Entscheidungen bislang nicht auf diese Ausnahmebestimmung abgestellt. Anders als der – bislang ebenfalls praktisch nicht relevante – Art. XX lit. a) GATT wird diese Ausnahmebestimmung auch von der Literatur kaum beachtet. Ebenso findet sich im GATS keine hierzu ähnliche Ausnahmebestimmung, so dass anders als bei Art. XX lit. a) GATT nicht auf eine entsprechende Judikatur der Streitbeilegungsgremien zu der Parallelvorschrift im GATS abgestellt werden könnte. Dennoch soll im Folgenden der Versuch einer Auslegung der Tatbestandsmerkmale dieser Ausnahmebestimmung unternommen werden. aa) Nationales Kulturgut von künstlerischem, geschichtlichem oder archäologischem Wert Der Begriff des nationalen Kulturgutes („national treasures“) wurde in einem englischsprachigen Kommentar zur GATT als all das definiert, was gemeinhin und insbesondere in internationalen Abkommen als Kulturgut („national property“) anerkannt ist.439 Hinsichtlich der internationalen Abkommen wird etwa auf die Haager Konvention von 1954 über den Schutz 439  Wolfrum / Stoll / Seibert-Fohr,

S. 139 (Matz-Lück).



III. Vergleich ähnlicher Ausnahmebestimmungen213

der Kulturgüter im Falle eines bewaffneten Konfliktes,440 die Pariser Konvention von 1970 zum Verbot und zur Verhinderung der unerlaubten Einfuhr, Ausfuhr und Eigentumsübertragung von Kulturgütern441 oder die Konvention der UNIDROIT von 1995 über die Rückführung gestohlener oder illegal exportierter Kulturgüter verwiesen.442 Allerdings ist der Begriff des Kulturgutes in Art. 1 der Pariser Konvention und des diesbezüglich textgleichen Anhangs I der Konvention der UNIDROIT wesentlich weiter definiert als in Art. 1 der Haager Konvention. Während die Haager Konvention auf bewegliche und unbewegliche Sachen von hohem kulturellen Wert, wie Denkmäler der Architektur, Kunst oder Geschichte sowie Museen, Bibliotheken und Archive abstellt, geben die Konventionen von Paris und der UNIDROIT verschiedene Kategorien von Kulturgüter an, zu denen wissenschaftliche, historische, archäologische, völkerkundliche und künstlerische Objekte, wie z. B. Bilder und Skulpturen, aber auch Bücher, Handschriften und sogar Briefmarken gehören. Da die Konventionen von Paris und der UNIDROIT hinsichtlich der Definition des Kulturgüterbegriffs textgleich sind, ist es auch nicht von Belang, dass die Konvention der UNIDROIT bis heute nur von 27 Staaten ratifiziert wurde und damit keine allgemeine Geltung besitzt. Im Anbetracht der Tatsache, dass die Haager Konvention der Zerstörung von Kulturgüter durch kriegerische Handlungen vorbeugen sollen, während der Anwendungsbereich der Konventionen von Paris und der UNIDROIT insbesondere auf die Ausfuhr von Kulturgüter abzielen, ist jedoch vorrangig auf den weiteren Begriff des Kulturgutes in den Konventionen von Paris und der UNIDROIT abzustellen. Die in diesen beiden Konventionen vorgenommene Definition kann jedoch nur als Anhaltspunkt dienen. Letztendlich bleibt es den WTO-Mitgliedern unbenommen zu bestimmen, welche Gegenstände sie als nationale Kulturgüter einstufen. Denn nur sie können beurteilen, welche Gegenstände ihre nationale kulturelle Identität aus­machen. Festzuhalten bleibt daher, dass die WTO-Mitglieder selber bestimmen können, welche Gegenstände zu ihren nationalen Kulturgütern gehören. Diese Freiheit der WTO-Mitglieder darf jedoch nicht soweit gehen, dass hierdurch dem legalen internationalen Kunsthandel seine Existenzberechtigung entzogen wird. Dieser stellt im Übrigen einen wirtschaftlich bedeutenden Markt dar, der im Jahr 2006 einen Umsatz von EUR 43,3 Mrd. aufwies und seinen Umsatz damit innerhalb von fünf Jahren mehr als ver440  BGBl.

1967 II S. 1235. 1999 I S. 1755 vom 11.08.1999. 442  Von der Bundesrepublik nicht ratifiziert. Eine Ratifizierung ist auch nicht geplant. 441  BGBl.

214

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

doppelte.443 Daher kann Art. XX lit. f) GATT den WTO-Mitgliedern auch keine völlige Freiheit einräumen, einstmals legale Teile des internationalen Kunsthandels nachträglich zu beschränken. Deshalb kann Art. XX lit. f) GATT nur handelsbeschränkende Maßnahmen rechtfertigen, die Formen des Kunsthandels beeinträchtigen, die einmal legal gewesen sind, wenn eine Abwägung zwischen der hiermit beabsichtigten Stärkung oder Bewahrung der nationalen Identität mit den Interessen des internationalen Kunstmarktes stattgefunden hat. Gleichzeitig darf die Freiheit der WTO-Mitglieder auch nicht soweit gehen, dass sie Art. XX lit. f) GATT als eine Ausnahmebestimmung zum Schutz der kulturellen Vielfalt auslegen könnten. Eine solche Tendenz lässt sich z. B. den Freihandelsabkommen entnehmen, die Singapur abschließt. In diesen wird, soweit auf Art. XX lit. f) GATT Bezug genommen wird, diese Ausnahmebestimmung so ausgelegt, dass sie auch Unterstützung für darstellende Kunst von nationaler Bedeutung enthalten, zu der auch Filme, Videos und Musik zählen.444 Der internationale Handel mit Filmen, Videos und Musik ist jedoch von großer wirtschaftlicher Bedeutung und zwischen verschiedenen WTOMitgliedern stark umstritten.445 Es fehlt jedes Indiz dafür, dass die WTO-Mitglieder einen solchen wichtigen Bereich mittels Ausnahmebestimmungen von den Verpflichtungen des GATT herausnehmen wollten. Außerdem handelt es sich bei diesen Singapurer Definitionsansatz des Art. XX lit. f) GATT explizit um einen solchen für Freihandelsabkommen, welche weitaus größere Handelsliberalisierungen mit sich bringt als das GATT, so dass auch ein Bedarf nach weitergehenderen Ausnahmebestimmungen besteht. Falls ein WTO-Mitglied einen Gegenstand als Kulturgut von künstlerischem, geschichtlichem oder archäologischem Wert eingestuft hat, muss dieses Kulturgut auch als ein nationales Kulturgut eingestuft werden können. Hinsichtlich der Frage, ob ein Kulturgut als ein nationales Kulturgut bezeichnet werden kann, wird auf die noch folgenden Ausführungen im EU-Recht verwiesen.446 Im Zweifel dürfte der diesbezügliche Einschätzungsspielraum der WTO-Mitglieder aber noch weiter sein, als der der EUMitgliedstaaten. Denn Art. XX GATT ist nicht so streng auszulegen wie Art. 36 AEUV.447 Grundsätzlich gilt, dass wenn ein WTO-Mitglied ein Gut 443  Vgl.

Art-Magazin vom 18.03.2007, S. 20. den Freihandelsabkommen die Singapur abschließt, wird häufig darauf hingewiesen, dass unter den Maßnahmen auf die Art. XX lit. f) GATT hinweist auch diejenigen zu verstehen sind, die notwendig sind um Kultur von nationalen Wert zu unterstützen. Hierunter fallen u. a. auch Film, Musik, Onlineangebote und Video. 445  Vgl. hierzu C.V.6. 446  Vgl. C.III.3.b)bb). 447  Vgl. C.II.5.b) zu der unterschiedlich strengen Auslegung beider Ausnahmebestimmungen. 444  In



III. Vergleich ähnlicher Ausnahmebestimmungen215

zu seinem nationalen Rechtsgut erklärt, dies von allen anderen WTO-Mitgliedern zu akzeptieren ist. Missbräuchen hiervon ist durch den Chapeau zu begegnen. bb) Das Relationselement des Art. XX lit. f) GATT Die Ausnahmebestimmung des Art. XX lit. f) GATT ist die einzige der Ausnahmebestimmungen des Art. XX GATT, die als Relationselement den Ausdruck „imposed for“ benutzt. Dies kann etwa mit „eingeführt zum“ Schutz von Kulturgütern übersetzt werden. Da das Relationselement des „imposed for“ unter den Ausnahmebestimmungen des Art. XX GATT nur im Rahmen des lit. f) genutzt wird, kann zur Auslegung dieses Relationselementes nicht auf die Judikatur der Streitbeilegungsgremien zu wortgleichen Relationselementen in anderen Ausnahmebestimmungen zurückgegriffen werden. In der Literatur wurde vorgeschlagen, dass das Relationselement des „imposed for“ ähnlich dem Relationselement des „relating to“ des Art. XX lit. g) GATT ausgelegt werden sollte.448 Die Voraussetzung des „relating to“ wird von den Streitbeilegungsgremien mit „hauptsächlich darauf abzielend“ ausgelegt.449 Für eine im Zweifelsfall sogar noch weitere Auslegung des Relationselementes spricht, dass die von Art. XX lit. f) GATT geschützten Rechtsgüter eng umgrenzt sind, während etwa Art. XX lit. f) und lit. g) GATT mit der Möglichkeit handelsbeschränkender Maßnahmen hinsichtlich der Ein- und Ausfuhr von Edelmetallen oder zur Erhaltung erschöpflicher Naturschätze wirtschaftlich wesentlich bedeutendere Bereiche betreffen, die es den WTO-Mitgliedern erlauben im größeren Maße von ihren Verpflichtungen aus dem GATT Abstand zu nehmen. Gegen eine solche weite Auslegung kann jedoch der Wortlaut der jeweiligen Relationselemente angeführt werden. Wie bereits dargelegt, kann „imposed for“ etwa mit „eingeführt zum“ Schutze übersetzt werden. „Relating to“ bedeutet jedoch „im Zusammenhang“ mit dem Schutze der legitimen Schutzziele stehen. Das Relationselement des Art. XX lit. f) GATT verlangt daher, dass gerade das Ziel der handelsbeschränkenden Maßnahme in dem Schutze des nationalen Kulturgutes liegen muss. Dies wird hingegen aus dem reinen Wortlaut des „relating to“ nicht deutlich. Daher stellt das Relationselement des Art. XX lit. f) GATT wesentlich mehr auf das Ziel der handelsbeschränkenden Maßnahme ab, als das Erfordernis des „relating to“. Zusätzlich spricht für eine engere Auslegung des Relationselementes des 448  Wolfrum / Stoll / Seibert-Fohr,

S. 139, 140 (Matz-Lück). C.IV.3.a)bb) zu den genauen Anforderungen, die an das Relationselement des „relating to“-Erfordernisses gestellt werden. 449  Vgl.

216

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

Art. XX lit. f) GATT, dass handelsbeschränkende Maßnahmen eines WTOMitgliedes deren Ziel vor allem darin bestehen, den internationalen Kunstmarkt zu treffen, nicht aber das nationale Kulturgut zu schützen, durch diese Ausnahmebestimmung keine Rechtfertigung erfahren können. Aufgrund dieser Erwägungen wird das Relationselement des Art. XX lit. f) GATT von den Streitbeilegungsgremien der WTO, wenn diese die Rechtfertigungsmöglichkeit einer handelsbeschränkenden Maßnahme durch diese Ausnahmebestimmung prüfen, enger auszulegen sein als das Erfordernis des „relating to“. Herunter gebrochen auf Begriffe des deutschen Rechts kann das Relationselement des „imposed for“ als eine Geeignetheitsprüfung eingestuft werden, die zudem das Erfordernis enthält, dass der Beweggrund der Verhängung der handelsbeschränkenden Maßnahme gerade im Kulturgüterschutz begründet ist. b) Ausnahmen zum Schutz des nationalen Kulturgutes von künstlerischem, geschichtlichem oder archäologischem Wert auf Ebene der EU Auch die Ausnahmebestimmung des Art. 36 AEUV schützt das nationale Kulturgut von künstlerischem, geschichtlichem oder archäologischem Wert. Bisher konnte sich noch kein EU-Mitgliedstaat erfolgreich auf diese Ausnahmebestimmungen berufen. Diese Ausnahmebestimmung kam bis heute auch nur in einem EuGH-Urteil zum Tragen, als die italienische Regierung versuchte, hiermit eine Ausfuhrabgabe zu rechtfertigen, mit denen Waren belegt wurden, die als nationale Kulturgüter eingestuft worden waren. Damit ist diese Ausnahmebestimmung diejenige unter den Ausnahmebestimmungen des Art. 36 AEUV, welche die geringste praktische Bedeutung hat. Die geringe praktische Bedeutung dieser Ausnahmebestimmung ist wohl auch darauf zurückzuführen, dass die Frage der Rückgabe von unrechtmäßig aus einem EU-Mitgliedstaat verbrachter Kulturgüter durch Sekundärrecht geregelt wurde.450 Der EuGH beurteilte im einzigen zu dieser Ausnahmebestimmung ergangenen Urteil die handelsbeschränkende Maßnahme in Form einer Ausfuhrabgabe als eine Abgabe mit zollgleicher Wirkung i. S. d. Art. 30 AEUV, so dass diese nicht in den Anwendungsbereich des Art. 34 AEUV fiel. Art. 36 AEUV war daher als Ausnahmebestimmung nicht anwendbar. Der EuGH 450  RL 93  / 7 / EG des Rates über die Rückgabe von unrechtmäßig aus dem Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates verbrachten Kulturgütern vom 15.03.1993, ABl. L 74, S. 74; Verordnung (EWG) Nr. 3911 / 92 des Rates vom 09.12.1992 über die Ausfuhr von Kulturgütern; Abl. EG Nr. L 395 S. 1, berichtigt Abl. EG Nr. L 267 vom 19.10.1996 S. 30.



III. Vergleich ähnlicher Ausnahmebestimmungen217

schloss zudem eine etwaige Verletzung des Art. 36 AEUV schon aus dem Grund aus, dass solche Maßnahmen die Ausfuhr nationaler Kulturgüter nur verteuern, aber nicht verhindern würden, so dass das Ziel der Schutzbestimmung des Art. 36 AEUV nicht erreicht werden würde.451 Da der EuGH in dieser Entscheidung nicht den Begriff des nationalen Kulturgutes definierte, kann zur Bestimmung dieser Ausnahmebestimmung nicht auf die Rechtsprechung des EuGH zurückgegriffen werden. Der EuGH stellte in dieser Entscheidung aber klar, dass Kulturgüter unter die Warenverkehrsfreiheit fallen und wies das Vorbringen der italienischen Regierung zurück, welche die Anwendung der Vorschriften der Warenverkehrsfreiheit abgelehnt hatte, da es sich bei Kulturgütern nicht um „Verbrauchsgüter oder Gegenstände des täglichen Gebrauchs“ handele.452 Ohne diese Ausnahmebestimmung besonders zu erwähnen, stellte der EuGH in einer anderen Entscheidung klar, dass die Erhaltung der kulturellen Vielfalt nicht auf Art. 36 AEUV, sondern nur durch ein „zwingendes Erfordernis“ gestützt werden könne.453 Bei dieser Ausnahmebestimmung handelt es sich um die Einzige unter den Ausnahmebestimmungen des Art. 36 AEUV, unter die eine Subsumierung der Erhaltung der kulturellen Vielfalt noch vertretbar gewesen wäre. Daher ist diese Ausnahmebestimmung auf den Schutz von Gegenständen beschränkt und kann nicht etwa als eine kulturelle Bereichs­ ausnahme verstanden werden. Allerdings finden sich im Sekundärrecht und in der Literatur Anhaltspunkte, die eine Bestimmung des Begriffs des nationalen Kulturguts ermöglichen. Hiernach ist zu trennen, ob es sich bei dem Gegenstand um ein Kulturgut handelt und wenn dies der Fall ist, ob dieser Gegenstand auch ein nationales Kulturgut darstellt. aa) Der Kulturgutbegriff Im Sekundärrecht der EU findet sich keine Definition, die bestimmt, ob ein Gegenstand ein Kulturgut von künstlerischen, geschichtlichem oder archäologischen Wert darstellt. Eine gewisse Orientierung findet sich jedoch in der Richtlinie RL 93 / 7 / EG und der EU-Verordnung VO 3911 / 92. Die Anhänge sowohl der Richtlinie als auch der Verordnung stellen auf das Alter und den Wert des fraglichen Gegenstandes ab. Die Altersgrenze, die 451  EuGH

Urt. v. 10.12.1968, Rs. 7 / 68, Kommission . / . Italien, Slg. 1968, 633,

452  EuGH

Urt. v. 10.12.1968, Rs. 7 / 68, Kommission . / . Italien, Slg. 1968, 633,

644. 642.

453  EuGH Urt. v. 29.01.1985, Rs. 231  / 85, Henri Cullet . / . Centre Leclerc, Slg. 1985, 305, 324, Rn. 30 ff.

218

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

mindestens überschritten werden muss, liegt je nach Kulturgut unterschiedlich bei 50, 75, 100 oder 200 Jahren. Außerdem muss der Gegenstand einen gewissen Mindestwert haben. Die Wertgrenzen liegen bei 0, 15.000, 50.000 und 150.000 Euro. Dafür, dass die im Sekundärrecht vorgenommene Definition des Begriffes Kulturgutes nur eine Orientierung bieten kann, spricht zum einen, dass Art. 1 der EU-Verordnung klarstellt, dass es den EU-Mitgliedstaaten trotz dieser Verordnung unbenommen bleibt, festzulegen welche Gegenstände sie als ein nationales Kulturgut einstufen. Zum anderen spricht gegen einen einheitlichen Begriff des Kulturgutes auch, dass die einzelnen EU-Mitgliedstaaten den Kulturschutz sehr unterschiedlich handhaben. So sind in Italien über 35 Millionen Kulturgüter registriert, für die u. a. Ausfuhrbeschränkungen- oder verbote bestehen, während dies in Deutschland nur für ca. 500 Kulturgüter der Fall ist.454 Hier zeigt sich auch ein struktureller Unterschied zwischen den EU-Mitgliedstaaten. MittelmeeranreinerMitgliedstaaten wie Griechenland und Italien verfügen über ein außerordentlich reiches Kulturerbe, gerade aus der Antike, und sind häufig Opfer eines illegalen Ausfuhres ihres Kulturgutes geworden. Andere EU-Mitgliedstaaten, wie Deutschland aber insbesondere die Niederlande und Großbritannien, sind hingegen Zentren des internationalen Kunsthandels. Daher haben diese EU-Mitgliedstaaten ein großes Interesse an einem liberalisierten Kunstmarkt. Es besteht also ein divergierendes Interesse zwischen verschiedenen Gruppen von EU-Mitgliedstaaten, welches die Schaffung einer einheitlichen Definition des Begriffes des Kulturgutes erschwert. Festzuhalten bleibt daher, dass die EU-Mitgliedstaaten die Befugnis haben, selber einzuschätzen, welche Gegenstände sie aus ihrem nationalen Verständnis heraus als Kulturgüter unter diese Ausnahmebestimmung fallen lassen.455 Ihr Beurteilungsspielraum wird aber dadurch eingeschränkt, dass sie nicht etwa handelsbeschränkender Maßnahmen gegen Massengegenstände, denen kein besonderer künstlerischer, geschichtlicher oder archäologischer Wert zukommt, aufgrund dieser Ausnahmebestimmung rechtfertigen können.456 Dadurch sollen Missbräuche dieser Ausnahmebestimmung verhindert werden. Grundsätzlich können aber auch durch Massenproduktion erzeugte Gegenstände als Kulturgüter eingestuft werden. Die Produktion einen Gegenstandes im Wege der Massenproduktion kann also nur ein gewichtiger Anhaltspunkt sein, dass es sich hierbei nicht um ein Kulturgut handelt. Dieser wird jedoch auch zu entkräften sein. Denn eine Massenproduktion ist keine neuere Erfindung. So fand schon in den Manufakturen des 18. Jahrhunderts 454  Uhl,

S. 67, 77. S. 41; Schwarze, NJW 1994, 111, 114. 456  Schwarze, EU-Kommentar, Art. 30 EGV Rn. 21 (Becker). 455  Wiese,



III. Vergleich ähnlicher Ausnahmebestimmungen219

eine Massenproduktion statt. Auch in der Bücherherstellung kann seit Erfindung des Buchdrucks von einer Massenproduktion gesprochen werden. Dennoch wird eine Gutenberg-Bibel als ein Kulturgut ersten Ranges einzustufen sein. Ebenso darf die Einstufung von Kulturgütern nicht so weit gehen, dass den grenzüberschreitenden Kunsthandel seine Existenzgrundlage entzogen werden würde. Sowohl die Gefahr, dass diese Ausnahmebestimmung missbraucht wird, um den grenzüberschreitenden Handel mit Massengegenständen zu beeinträchtigen oder um den legalen Kunsthandel den Boden unter den Füßen zu entziehen, kann dadurch begegnet werden, dass den EUMitgliedstaaten, die sich auf diese Ausnahmebestimmung berufen, gewisse nachvollziehbare Begründungspflichten auferlegt werden, mit denen sie ihr besonderes Interesse an den künstlerischem, geschichtlichen oder archäologischen Wert des betreffenden Gegenstandes darlegen. Dem EuGH wird es dabei versagt sein, seine Beurteilung hinsichtlich des künstlerischen, geschichtlichen oder archäologischen Wertes an die Stelle der EU-Mitgliedstaaten zu setzen. Denn hierbei handelt es sich um ein nichtjuristisches Werturteil. Stattdessen ist die Rolle des EuGH darauf beschränkt zu prüfen, ob der EU-Mitgliedstaat nachvollziehbar ein Interesse an dem Schutz des Gegenstandes dargelegt hat. Zusätzlich können Missbräuche sowohl durch die Verhältnismäßigkeitsprüfung als auch durch Art. 36 S. 2 AEUV begegnet werden. bb) Die Einstufung eines Kulturgutes als ein nationales Kulturgut Bei dem betreffenden Gegenstand muss es sich nicht nur um ein Kulturgut vom künstlerischen, geschichtlichen oder archäologischen Wert handeln, sondern dieser Gegenstand muss auch ein nationales Kulturgut darstellen. Auch hier wird den EU-Mitgliedstaaten ein sehr weiter Einschätzungsspielraum einzuräumen sein. Dieser dürfte sogar noch größer sein, als bei der Einstufung, ob der betreffende Gegenstand ein Kulturgut darstellt. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass viele Kulturgüter von jeweils verschiedenen Staaten gleichzeitig als ihr eigenes nationales Kulturgut angesehen werden.457 Für einen sehr weiten Einschätzungsspielraum spricht auch, dass die Missbrauchsmöglichkeiten dieser Ausnahmebestimmung in erster Linie bei der Frage bestehen, ob es sich bei dem Gegenstand um ein Kul457  Dies gilt insbesondere bei Kulturgütern, die im 19. Jhd. vom Hoheitsgebiet eines Staates in das Hoheitsgebiet eines anderen Staates verbracht werden. Etwa die sich in London befindlichen Akropolis-Fresken, die sowohl vom Großbritannien als auch von Griechenland jeweils als ihr nationales Kulturgut angesehen werden. Das gleiche gilt für den in Russland befindlichen Priamos-Schatz, der sowohl von Deutschland als auch von der Türkei als nationales Kulturgut beansprucht wird.

220

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

turgut vom künstlerischen, geschichtlichen oder archäologischen Wert handelt. Denn erst durch diese Einstufung kann der internationale Kunsthandel oder der Handel mit Gegenständen der Massenproduktion handelsbeschränkenden Maßnahmen unterworfen werden. Die Frage, ob das betreffende Kulturgut auch als ein nationales Kulturgut bezeichnet werden kann, ist hingegen viel eher dazu geeignet, mitgliedstaatliche Befindlichkeiten zu verletzen und hierdurch eine integrationsfeindliche Stimmung hervorzurufen, als durch einen EU-Mitgliedstaat verhängte handelsbeschränkenden Maßnahmen zu treffen. Als Orientierungspunkte, die herangezogen werden können, um zu bestimmen, ob ein Kulturgut auch als ein nationales bezeichnet werden kann, gehören die Nationalität oder sonstige nationale Zuordnung des Künstlers, der Herstellungs- und Bestimmungsort des Kulturgutes, die Nationalität oder sonstige nationale Zuordnung des ursprünglichen und jetzigen Eigentümers, die Bedeutung und Akzeptanz die innerhalb der Bevölkerung dem Kulturgut zugemessen wird, die Dauer des Aufenthaltes des Kulturgutes an einem bestimmten Ort, die rechtlichen und moralischen Faktoren der Verbringung des Kulturgutes und die funktionale und religiöse Bedeutung des Kulturgutes.458 Selbstverständlich können diese Orientierungspunkte auch herangezogen werden, wenn das Kulturgut nur solche Verbindungen zu einer bestimmten Region eines EU-Mitgliedstaates aufweist. c) Vergleich Aus der Darstellung der jeweiligen Ausnahmebestimmung zum Schutz nationalen Kulturgutes von künstlerischem, geschichtlichem oder archäologischem Wert, wird deutlich, dass hinsichtlich dieser legitimen Schutzziele in beiden Rechtsordnungen große Gemeinsamkeiten bestehen. Diese großen Gemeinsamkeiten in beiden Rechtsordnungen zeigen, dass sowohl die WTO-Mitglieder als auch die EU-Mitgliedstaaten ein gleiches Interesse haben. Dieses gemeinsame Interesse liegt darin das kulturelle Erbe des eigenen Landes zu schützen, indem bestimmte für die nationale Identität wertvolle Gegenstände, durch die Möglichkeit des Ausfuhrverbotes- oder Beschränkung, erhalten werden. Gleichzeitig wird es als ein legitimes Interesse von Staaten angesehen, bestimmte Erzeugnisse ihres kulturellen Lebens im eigenen Land zu behalten. Bestimmte Kulturgüter entfalten ihre kulturelle Bedeutung und Wirkungskraft auch gerade aus der Verwurzelung in einem geographischen oder geschichtlichen Umfeld, die oftmals gleichzeitig ihre ursprüngliche Umgebung darstellt. Dort können 458  Maurer,

S. 58.



III. Vergleich ähnlicher Ausnahmebestimmungen221

sie auch in einem besonderen Maße zur Bildung der nationalen Identität eines Staates beitragen. Zudem bestand zum Zeitpunkt der Schaffung des GATT und des Vorläufervertrages des EU-Vertrages auch ein besonderes Bewusstsein für die Notwendigkeit eines Kulturgüterschutzes. Denn die Erfahrungen des zweiten Weltkrieges, in welchen Kulturgüter nicht nur von anderen kriegsführenden Parteien entwendet, sondern auch aus materieller Not über die Grenzen hinweg veräußert wurden, machten deutlich, dass eine Ausnahmebestimmung für den Kulturgüterschutz notwendig war. Zudem besteht die Gefahr, dass ohne eine solche Ausnahmebestimmung wertvolle Kulturgüter in kapitalarmen aber kulturgüterreichen Staaten aufgekauft werden. Diese Erwägungen führten also dazu, dass sich der Kulturgüterschutz, der auf internationaler Ebene ursprünglich nur im Kriegsvölkerrecht verankert war, auch auf andere völkerrechtliche Abkommen ausdehnte und so sowohl in das WTO-Recht als auch in das EU-Recht Eingang fand. Aufgrund der Bedeutung, der dem Kulturgüterschutz beigemessen wurde, hatten auch zahlreiche Staaten die zu den ursprünglichen Vertragsparteien des GATT oder den Gründungsmitgliedern der EWG gehörten, bereits zu dieser Zeit gesetzliche Regelungen in Kraft, die entsprechende Handelsbeschränkungen für Kulturgüter vorsahen. So bestand z. B. in Großbritannien als einer der ursprünglichen Vertragsparteien des GATT bereits seit 1939 eine Ausfuhrkontrolle für Kulturgüter.459 Auch in den meisten Gründungsstaaten der EWG als Vorläuferin der EU bestanden solche gesetzliche Regelungen. So gilt in Italien seit 1939 ein sehr striktes Kulturgüterschutzgesetz. In Frankreich sind seit 1913 verschiedene Normen in Kraft getreten, die die Ausfuhr nationaler Kulturgüter beschränken und in Belgien ist seit 1931 die Ausfuhr von Kulturgütern gewissen Handelsbeschränkungen unterworfen.460 In Deutschland trat hingegen 1955 das „Gesetz zum Schutz deutschen Kulturguts gegen Abwanderung“ (KGSchG) in Kraft.461 Daher bestand jeweils die Notwendigkeit für diese staatlichen Regelungen Ausnahmebestimmungen zu schaffen. Im GATT bestand eine solche Notwendigkeit für bereits bestehende kulturgüterschützende Normen aufgrund der damaligen „grandfather-clause“ nicht.462 Allerdings hätte eine Weiterentwicklung 459  Import,

Export and Customs Powers (Defence) Act 1939. Maurer, S. 161 (Italien), S. 132 (Frankreich) und S. 112 (Belgien). 461  BGBl. 1955 Bd. I, S. 501 ff. 462  „Grandfather clause“ dienten ursprünglich dazu, die Afro-Amerikaner in den Südstaaten der USA vom allgemeinen Wahlrecht auszuschließen, aber gleichzeitig ärmere weiße Bevölkerungsschichten deren Großväter bereits gewählt hatten, das Wahlrecht zu belassen. Als „grandfather clause“ werden daher Bestandsschutzklauseln in Gesetzen oder Verträgen bezeichnet, die dem Begünstigten seine bisherigen 460  Vgl.

222

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

dieser Normen, ohne entsprechende Ausnahmebestimmung, zu einem Verstoß gegen das GATT führen können. Das Bewusstsein, dass das eigene nationale Kulturgut schützenswert ist, ist zwischenzeitlich auch noch weiter angewachsen. So gelten heute z. B. in allen EU-Mitgliedstaaten nationale Gesetze, die die Ausfuhr bestimmter Kulturgüter aus ihrem Staatsgebiet untersagen oder von der Erfüllung bestimmter Formalitäten abhängig machen.463 Dies stellt trotz der jeweils geringen praktischen Bedeutung einen Beweis für die Notwendigkeit dieser Ausnahmebestimmung, dar. In der geringen praktischen Bedeutung, die diese Ausnahmebestimmung sowohl im WTO- als auch im EU-Recht aufweist, liegt eine weitere Gemeinsamkeit beider Rechtsordnungen. So handelt es sich um die einzige Ausnahmebestimmung des Art. 36 AEUV, zu der bis heute erst eine Entscheidung des EuGH ergangen ist, während die Streitbeilegungsgremien sich bislang nicht mit dieser Ausnahmebestimmung haben beschäftigen müssen. Diese geringe praktische Relevanz im EU-Recht, in dem nicht nur EU-Mitgliedstaaten Zugang zum EuGH haben, erstaunt angesichts des Umfanges des internationalen Kunsthandels und der zahlreichen handelsbeschränkenden Regelungen die diesbezüglich in vielen Staaten bestehen. Sie wird damit erklärt, dass die meisten Fälle in der Praxis „unter der Hand“ mit einer wie auch immer gearteten Einigung zwischen staatlichen Behörden einerseits und den Ausfuhrinteressenten andererseits geregelt werden.464 Zu der geringen praktischen Bedeutung im EU-Recht wird auch der Grund beitragen, der im WTO-Recht dazu beigetragen hat, dass sich WTO-Mitglieder bis heute nicht über diese Ausnahmebestimmung auseinandergesetzt haben und diesen voraussichtlich auch in Zukunft nicht tun werden. Dieser Grund besteht darin, dass das Prinzip, nach dem ein Staat es verbieten kann Kulturgüter auszuführen, welche die nationale Identität ausmachen, weltweite Anerkennung findet. Ein weiterer Grund im WTO-Recht besteht darin, dass der internationale Kunsthandel zwar ein großes Volumen hat. Von einer gewissen volkswirtschaftlichen Bedeutung ist er jedoch, wenn überhaupt, dann nur für wenige WTO-Mitglieder wie die Niederlande, Großbritannien oder die Schweiz. Darüber hinaus liegt in einem juristischen Vorgehen auch immer die Gefahr der Begründung eines negativen Bildes in der Öffentlichkeit. Denn das Rechte oder Vorteile als Ausnahmetatbestand bewahren, obwohl die generelle Rechtssituation für künftige Betroffene anders geregelt ist. Die „grandfather clause“ wurde im Protokoll über die ursprüngliche Anwendung des GATT festgehalten. 463  Mitteilung der Kommission an den Rat über den Schutz nationalen Kulturguts von künstlerischem, geschichtlichem oder archäologischem Wert in Hinblick auf die Beseitigung der Binnengrenzen, in: KOM (89) 594. 464  Uhl, S. 42.



III. Vergleich ähnlicher Ausnahmebestimmungen223

Prinzip, dass ein Staat die zur Bildung seiner nationalen Identität beitragenden Kulturgüter schützen kann, ist auch tief in weiten Teilen der Bevölkerung verankert. Das Angreifen staatlicher Normen zum Schutze von Kulturgütern trägt daher sicherlich nicht zu einem guten Bild in der Öffentlichkeit dar. Als eine weitere Gemeinsamkeit fällt auf, dass Kulturgüter in beiden Rechtsordnungen als Waren gelten, die grundsätzlich den handelsliberalisierenden Regelungen des jeweiligen Vertragswerkes unterworfen sind, solange keine erfolgreiche Berufung auf die jeweilige Ausnahmebestimmung möglich ist. Im EU-Recht hat der EuGH ausdrücklich klargestellt, dass es sich auch bei Kulturgütern um Waren handelt.465 Im WTO-Recht konnten sich die Streitbeilegungsgremien mangels an sie herangetragener Fälle bis heute nicht hierzu äußern. Vor dem Hintergrund, dass Kulturgüter explizit unter den Ausnahmebestimmungen eines Vertragswerkes genannt werden, welches der Liberalisierung des Warenhandels dient, ist aber davon auszugehen, dass auch die Streitbeilegungsgremien Kulturgüter nicht die Einordnung als Ware absprechen würden. Dies scheint auf den ersten Blick zu verwundern. Denn Kulturgüter unterliegen nicht dem für eine Ware typischen Produk­ tionskreislauf, da sie jedenfalls nicht im herkömmlichen Sinne konsumiert werden und sie im Regelfall auch nicht praktisch genutzt werden, so dass sie nicht aufgrund von Verschleißerscheinungen ersetzt werden müssen. Kulturgüter sind eben nicht „Verbrauchsgüter oder Gegenstände des täg­ lichen Gebrauchs“ wie die italienische Regierung in dem oben genannten Urteil geltend machte. Die Einstufung von Kulturgütern, trotz ihrer Besonderheiten, als „normale“ Waren, die grundsätzlich den jeweiligen Liberalisierungsverpflichtungen unterliegen, findet aber ihre Bestätigung in den hohen Preisen, die auf Kunstaktionen erzielt werden sowie in den Umsätzen, die im internationalen Kunsthandel erwirtschaftet werden. Außerdem würde die totale Ausklammerung von Kulturgütern aus dem Warenbegriff des GATT oder des EU-Vertrages dazu führen, dass es möglich wäre, den Kunsthandel völlig willkürlich einzuschränken. Als eine weitere Gemeinsamkeit kann festgehalten werden, dass in beiden Rechtsordnungen zur Definition des Begriffes des nationalen Kulturgutes nicht auf anderes zwischenstaatliches Recht zurückgegriffen wird, sondern dass grundsätzlich das WTO-Mitglied bzw. der EU-Mitgliedstaat über die Einstufung eines Gegenstandes als nationales Kulturgut frei entscheiden kann. Dabei könnte im EU-Recht auf Sekundärrecht und im WTO-Recht auf mehrere völkerrechtliche Verträge zurückgegriffen werden, die jeweils eine Definition des Begriffes des nationalen Kulturgutes enthalten. Diese Definitionen können jedoch höchstens als Orientierungspunkte herangezo465  EuGH

642.

Urt. v. 10.12.1968, Rs. 7 / 68, Kommission . / . Italien, Slg. 1968, 633,

224

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

gen werden und genießen, wie übrigens im Sekundärrecht der EU ausdrücklich klargestellt ist, keinerlei Verbindlichkeit. WTO-Mitglieder und EUMitgliedstaaten sind daher bis zur Grenze des Missbrauchs frei, den Begriff des nationalen Kulturgutes unbeschadet der Orientierungspunkte aus anderen Normen selber zu definieren. Auch dies ein Beweis für die weltweite Anerkennung die das Prinzip genießt, nach dem Staaten die Ausfuhr von Gegenständen, die zur Bildung ihrer nationalen Identität beitragen, beschränken oder verbieten können. Trotz dieser großen Freiheit, die sowohl den WTO-Mitgliedern als auch den EU-Mitgliedstaaten eingeräumt wird, unterhält kein Staat Regelungen nach dem auch zeitgenössische Kunstwerke als geschütztes nationales Kulturgut eingestuft wird. Hierin gleichen sie den Orientierungspunkte bietenden Normen aus völkerrechtlichen Verträgen oder dem Sekundärrecht der EU, die auch jeweils Altersgrenzen enthalten, die ein Gegenstand als eine Voraussetzung erfüllen muss, um als nationales Kulturgut eingestuft zu werden. Der Grund dafür, dass weder WTO-Mitglieder noch EU-Mitgliedstaaten die Ausfuhr von Werken zeitgenössischer Künstler beschränken oder verbieten, ist jedoch nicht in der fehlenden rechtlichen Möglichkeit hierzu zu sehen, sondern ist in dem Umstand begründet, dass dann zwar nicht die Werke ausgeführt werden könnten, aber die Künstler auswandern würden. Außerdem haben die jeweiligen Ausnahmebestimmungen in beiden Rechtsordnungen gemeinsam, dass sie keine kulturellen Bereichsausnahmen darstellen. Sie sind stattdessen nur auf solche Gegenstände begrenzt, die einen Teil der nationalen kulturellen Identität bilden können. Diese Ausnahmebestimmungen können jedoch nicht Handelsbeschränkungen rechtfertigen, die andere kulturelle Interessen verfolgen. Eine solche Auslegung wäre jedoch inhaltlich schwer fassbar und es bestünde die Gefahr, dass ganze Marktsegmente voneinander abgeschottet werden würden, wie dies auch das Beispiel aus Singapur zeigt. Trotz dieser zahlreichen Gemeinsamkeiten unterscheiden sich die beiden Rechtsordnungen insofern, als dass es sich im EU-Recht um die einzige Ausnahmebestimmung handelt, die erschöpfliche Waren schützt. Denn Kulturgüter sind auch erschöpflich. Einmal zerstört oder ohne Hoffnung auf Rückkehr aus dem Hoheitsgebiet eines Staates verbracht, sind sie unwiederbringlich verloren. Im WTO-Recht werden hingegen außer Kulturgüter zusätzlich noch nach Art. XX lit. g) GATT erschöpfliche natürliche Ressourcen und nach Art. XX lit. c) GATT Gold und Silber geschützt. Ebenso finden sich Ausnahmebestimmungen für Rohstoffe in Art. XX lit. h) und lit. i) GATT.466 Im 466  Vgl. zu den Voraussetzungen dieser Ausnahmebestimmungen C.IV.3. zu lit. g), C.IV.1. zu lit. c), C.IV.4. zu lit. h) und C.IV.5. zu lit. i).



III. Vergleich ähnlicher Ausnahmebestimmungen225

WTO-Recht bestehen also für erschöpfliche Waren umfangreiche Ausnahmebestimmungen. Das EU-Recht macht also hinsichtlich erschöpflicher Waren nur bei Kulturgütern eine Ausnahme. Allerdings haben Kulturgüter anders als andere erschöpfliche Waren keinen typischen Produktionskreislauf, da sie nicht im herkömmlichen Sinne konsumiert werden. Ein weiterer Unterschied zwischen dieser Ausnahmebestimmung in beiden Rechtsordnungen besteht darin, dass die legitimen Schutzziele des Kulturgüterschutzes in Art. XX lit. f) GATT von einem deutlich schwächeren Relationselement geschützt werden. Während im EU-Recht eine handelsbeschränkende Maßnahme nicht nur den Tatbestand des Art. 36 AEUV zum Kulturgüterschutz, sondern naturgemäß auch dem Verhältnismäßigkeitsprinzip als allgemeinen Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts genügen muss. An andere Ausnahmebestimmungen wie Art. XX lit. a), lit. b) und lit. d) GATT stellt hingegen das Relationselement in Form des Notwendigkeitskriteriums deutlich strengere Voraussetzungen an die handelsbeschränkende Maßnahme. Art. XX lit. f) GATT enthält also nicht das Relationselement, das in seinen Anforderungen dem Verhältnismäßigkeitsprinzip am ähnlichsten ist. Dies bedeutet allerdings nicht, dass das GATT dem Kulturgüterschutz etwa eine höhere Priorität als den Schutz der öffentlichen Sittlichkeit einräumen würde. Stattdessen ist das im Vergleich schwächere Relationselement des Art. XX lit. f) GATT damit zu erklären, dass diese Ausnahmebestimmung einen relativ engen Anwendungsbereich hat – sie schützt eben nur Kulturgüter – während die Ausnahmebestimmungen der Art. XX lit. a), lit. b) und lit. d) GATT einen wesentlich offeneren Tatbestand haben, so dass ihr Anwendungsbereich wesentlich größer ist.467 4. Ausnahmebestimmungen zum Schutz geistiger Schutzrechte In der Ausnahmebestimmung des Art. XX lit. d) GATT werden zu den Gesetzen oder sonstigen Vorschriften zu deren Anwendung die WTO-Mitglieder Maßnahmen ergreifen können, auch solche zum Schutz „von Patenten, Warenzeichen und Urheberrechten“ genannt. Nach Art. 36 AEUV können Verletzungen der Warenverkehrsfreiheit aufgrund des „gewerblichen und kommerziellen Eigentums“ gerechtfertigt werden. Diese in den jeweiligen Ausnahmebestimmungen genannten Rechte werden im Folgenden mit dem Oberbegriff der geistigen Schutzrechte bezeichnet. Die Ausnahmebestimmung des Art. XX lit. d) GATT und die Ausnahmebestimmung zum Schutz des gewerblichen und kommerziellen Eigentums 467  Vgl. zu den Anwendungsbereichen dieser Ausnahmebestimmung C.III.1.a) zu lit. a), C.III.2.a) zu lit. b) und C.III.4.a) zu lit. d).

226

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

des Art. 36 AEUV sind diejenigen unter den gemeinsamen Ausnahmebestimmungen, welche hinsichtlich des Anwendungsbereiches die größten Unterschiede zueinander aufweisen. Sie gleichen sich aber darin, dass sie beide Ausnahmen für den Schutz geistiger Schutzrechte enthalten. Darüber hinaus enthält der Art. XX lit. d) GATT aber, im Gegensatz zu der Ausnahmebestimmung des Art. 36 AEUV, eine generelle Ausnahmebestimmung die handelsbeschränkende Maßnahmen rechtfertigt, die von den WTO-Mitgliedern ergriffen werden, um Gesetze oder sonstige Vorschriften anzuwenden, die selber nicht GATT-widrig sind. Trotz dieses daher sehr unterschiedlichen Anwendungsbereichs sollen in diesem Abschnitt beide Ausnahmebestimmungen dargestellt und untersucht sowie anschließend verglichen werden. Denn beide Ausnahmebestimmungen haben trotz des sehr viel größeren Anwendungsbereiches des Art. XX lit. d) GATT gemeinsam, dass sie eine Rechtfertigungsmöglichkeit für handelsbeschränkende Maßnahmen zum Schutz geistiger Schutzrechte darstellen. Bei diesem Vergleich soll auch untersucht werden, warum auf EUEbene für die sehr viel weitergehenderen Regelungen des Art. XX lit. d) GATT kein Äquivalent besteht. a) Die Ausnahmebestimmung des Art. XX lit. d) GATT Art. XX lit. d) GATT stellt eine Ausnahmebestimmung zur Rechtfertigung von handelsbeschränkenden Maßnahmen dar, die notwendig sind, um Gesetze oder sonstige Vorschriften, etwa Zollvorschriften oder geistige Schutzrechte, anzuwenden, die selber nicht GATT-widrig sind. Der deutsche Text des GATT-Übereinkommens verwendet zwar als Relationselement das Wort „erforderlich“ und kommt damit auch der hier vertretenen Auslegung dieses Relationselementes in der deutschsprachigen juristischen Begrifflichkeit näher. Angelehnt an den Begriff des „necessary“ in der englischsprachigen Originalversion soll aber, auch im Interesse einer einheitlichen Begriffsbezeichnung, dieses Relationselement mit „notwendig“ übersetzt werden. Nach einer Entscheidung des Appellate Body sind handelsbeschränkende Maßnahmen nach Art. XX lit. d) GATT gerechtfertigt, wenn sie erstens angewendet werden, um ein Gesetz oder eine Vorschrift, die selber nicht GATTwidrig sind, durchzusetzen und zweitens die Maßnahme notwendig zur Durchsetzung des Gesetzes oder der Vorschrift ist.468 Diese beiden Voraus­ setzungen sollen im Folgenden dargestellt werden.

468  Appellate

Body Report, Korea – Various Measures on Beef, Rn. 157.



III. Vergleich ähnlicher Ausnahmebestimmungen227

aa) Anwendung der Maßnahme zur Durchsetzung eines selber nicht GATT-widrigen Gesetzes oder Vorschrift Um die Voraussetzungen der ersten Anforderung zu erfüllen, muss es sich zunächst um Gesetze oder sonstige Vorschriften handeln (1), diese müssen sich außerdem in Übereinstimmung mit dem GATT befinden (2) und schließ­ lich muss die Maßnahme auch angewendet werden, um das entsprechende Gesetz oder die Vorschrift umzusetzen (3). (1) Gesetze oder sonstige Vorschriften Aus der Judikatur der Streitbeilegungsgremien lassen sich Hinweise entnehmen, welche Voraussetzungen Normen enthalten müssen, um unter den Begriff der „Gesetze oder sonstige Vorschriften“ des Art. XX lit. d) GATT zu fallen. Ein Panel unter dem GATT hat den Begriff des „zur Anwendung von Gesetzen oder sonstigen Vorschriften“ so ausgelegt, als dass die „Verpflichtungen aus den Gesetzen und Vorschriften durchgesetzt“ werden müssen und nicht „sicherzustellen, dass die Ziele der Gesetze und Vorschriften eingehalten werden“.469 Daraus lässt sich schließen, dass Gesetze und Vorschriften einen gewissen Normcharakter enthalten müssen. Die in Art. XX lit. d) GATT genannten Gesetze und Vorschriften sind, wie aus dem Begriff „einschließlich“ hervorgeht, nur beispielsweise aufgezählt und nicht abschließend zu verstehen. Daher können durch Art. XX lit. d) GATT zahlreiche handelsbeschränkende Maßnahmen zur Verfolgung legitimer Schutzziele gerechtfertigt werden, durch die anderenfalls GATT-konforme Normen angewendet werden sollen. Im Folgenden sollen getrennt zwischen geistigen Schutzrechten und anderen legitimen Schutzzielen untersucht werden, inwieweit Art. XX lit. d) GATT eine Rechtfertigungsmöglichkeit für handelsbeschränkende Maßnahmen darstellt, mittels derer anderenfalls GATT-konforme Normen angewendet werden sollen. (aa) A  rt. XX lit. d) GATT als Rechtfertigungsmöglichkeit für den Schutz geistiger Schutzrechte Zu den in dieser Ausnahmebestimmung unter einschließlich aufgezähl­ ten Gesetzen und Vorschriften gehören auch solche „über den Schutz von Patenten, Warenzeichen und Urheberrechten sowie über die Verhinderung irreführender Praktiken“. Solche Gesetze und Vorschriften können also Beschränkungen des liberalisierten Warenhandels rechtfertigen. Vor Gründung 469  GATT

Panel Report, EEC – Parts and Components, Rn. 5.17.

228

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

der WTO hatten sich die Streitbeilegungsgremien in zwei Entscheidungen mit solchen Gesetzen und Vorschriften befasst. Diese Entscheidungen betrafen beide Umsetzungsmaßnahmen der „Section 337“ des Zollgesetzes der USA in verschiedenen Fassungen.470 „Section 337“ ermöglichte es USamerikanischen Patentinhabern handelsbeschränkende Maßnahmen gegen eingeführte Waren verhängen zu lassen, die ihre Patentrechte verletzten. Außerdem konnte gegenüber jeden anderen Staat, der den Schutz geistiger Schutzrechte (wie er nach den Gesetzen der USA definiert war) nicht auf US-Unternehmen ausdehnte, gleichgültig ob es sich um eine GATT-Vertragspartei handelte, Strafzölle verhängt werden.471 In beiden Fällen befasste sich das Panel allerdings nicht explizit mit der Frage, inwieweit geistige Schutzrechte eine Ausnahmebestimmung darstellen. In der Entscheidung US – Spring Assemblies stellte das Panel nur fest, dass der Patentschutz zu den wenigen Bereichen nationaler Gesetze oder sonstigen Vorschriften zählte, die explizit in Art. XX lit. d) GATT erwähnt sind.472 In der Entscheidung US – Section 337 stellte das Panel fest, dass aufgrund des Art. XX lit. d) GATT das materielle Patenrecht eines WTOMitgliedes nicht in Frage gestellt werden kann. Die Entscheidung betraf aber im Übrigen auch nicht das materielle Patentrecht, sondern die Umsetzung einer Maßnahme und stellte insbesondere darauf ab, ob die Voraussetzungen des Notwendigkeitskriteriums eingehalten wurden.473 Aus beiden Entscheidungen folgt jedoch, dass WTO-Mitglieder die Gesetze zum Schutze ihrer geistigen Schutzrechte in einer Art und Weise anwenden sollen, die konform mit den Bestimmungen des GATT sind.474 Im Übrigen wird Art. XX lit. d) GATT als ein Rechtfertigungsgrund angesehen, aufgrund dessen Parallelimporte verboten werden können.475 Seit dem Bestehen der WTO sind die WTO-Mitglieder jedoch durch das TRIPS-Übereinkommen gebunden. Das TRIPS stellt gewisse Mindestvoraussetzungen an den Schutz geistiger Schutzgüter.476 Eine detaillierte Darstellung der Mindestvoraussetzungen der im TRIPS enthaltenen Mindest­ voraussetzungen für geistige Schutzrechte würde jedoch den Rahmen dieser Untersuchung sprengen.477 Daher soll im Folgenden nur ein kurzer Überblick über das TRIPS gegeben werden: 470  Omnibus

Trade and Competitive Act of 1988. Verteidigung der Globalisierung, S. 294. 472  GATT Panel Report, US – Spring Assemblies, Rn. 53. 473  GATT Panel Report, US – Section 337, Rn.  5.28 ff. 474  Wolfrum / Stoll / Seibert-Fohr, III, S. 128 (Reyes-Knoche / Arend). 475  Cottier, CMLR 1991, 383, 340. 476  Jackson, The World Trade Oganization Constitution and Jurisprudence, S. 23. 477  Vgl. hierzu Hilf / Oeter, § 24 (Michaelis / Bender). 471  Bhagwati,



III. Vergleich ähnlicher Ausnahmebestimmungen229

Das TRIPS enthält keine Definition des Begriffs des geistigen Schutzrechtes. Im TRIPS sind jedoch sieben Arten unterschiedlicher geistiger Schutzrechte erhalten, für welche die WTO-Mitglieder Mindeststandards gewährleisten müssen. Zur Bestimmung des Inhaltes geistiger Schutzrechte wird im TRIPS auf verschiedene internationale Übereinkommen verwiesen. Erfasst sind im TRIPS u. a. das Urheberrecht (Art. 9 ff. TRIPS), das Markenrecht (Art. 15 ff. TRIPS), geographische Herkunftsangaben (Art. 22 ff. TRIPS), gewerbliche Muster und Modelle (Art. 25 ff. TRIPS) sowie Patente (Art.  27 ff. TRIP). Art. 6 TRIPS stellt es zudem den WTO-Mitgliedern frei, die Reichweite der Erschöpfung von geistigen Schutzrechten selber zu bestimmen.478 Daher können WTO-Mitglieder Parallelimporte verbieten und damit den liberalisierten Warenverkehr einschränken. Bei Parallelimporten werden Waren, in denen geistige Schutzrechte verkörpert sind, neben und damit parallel zu einem vertraglich vereinbarten Vertriebsnetz eingeführt. Durch Parallel­ importe werden Preisunterschiede zwischen den verschiedenen Märkten aus­genutzt. Gleichzeitig werden durch Parallelimporte die Segmentierungen zwischen den Märkten abgebaut. WTO-Mitglieder können jedoch Parallelimporte verhindern, indem sie die territoriale Reichweite der Erschöpfung von geistigen Schutzrechten begrenzen. So kann etwa bei Geltung des Grundsatzes der nationalen Erschöpfung der Inhaber eines geistigen Schutzrechtes Parallelimporte verhindern. Unter Geltung des Grundsatzes der internationalen Erschöpfung führt hingegen das erstmalige Einbringen in den Handelsverkehr zur weltweiten Erschöpfung des geistigen Schutzrechtes. Eine Möglichkeit der Verhinderung von Parallelimporten besteht daher nicht. Das TRIPS stellt außerdem Anforderungen an die WTO-Mitglieder hinsichtlich der Durchsetzung geistiger Schutzrechte. So müssen die WTOMitglieder nach Art. 41  ff. TRIPS gerichtlichen – auch einstweiligen – Rechtsschutz für die Inhaber geistiger Schutzrechte gewährleisten. Dazu gehört auch die Möglichkeit der Anordnung der Zerstörung solcher Waren. Außerdem kann nach Art. 51 ff. TRIPS der Inhaber geistiger Schutzrechte bei den Zollbehörden beantragen, dass eingeführte Waren, die sein geistiges Schutzrecht verletzen, nicht freigegeben werden. Keine abschließende Gewissheit besteht über das Verhältnis zwischen Art. XX lit. d) GATT und dem TRIPS. So fehlt dem TRIPS eine dem Art. 2.4 ÜSPS ähnliche Bestimmung die das Verhältnis des TRIPS zum GATT, insbesondere zum Art. XX lit. b) GATT regeln würde.479 478  Wolfrum / Stoll / Seibert-Fohr,

VII, S. 173 ff. (Keßler). ÜSPS regelt das Verhältnis zum GATT, insbesondere zum Art. XX lit. b) GATT; vgl. hierzu C.III.2.a)cc). 479  Art. 2.4

230

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

Aufgrund der spezielleren und wesentlich detaillierteren Regelungen des TRIPS ist jedoch davon auszugehen, dass diese Regelungen der Ausnahmebestimmung des Art. XX lit. d) GATT vorgehen bzw. diese Ausnahmebestimmung ausfüllen. Dafür spricht auch, dass die dargestellten Entscheidungen des Panels in US – Spring Assemblies und US – Section 337 den Verlauf der Verhandlungen über das TRIPS maßgeblich beeinflusst haben.480 Zudem nahmen nach Gründung der WTO die Entscheidungen der Streitbeilegungsgremien, die Sachverhalte betrafen, in denen aus Gründen des Schutzes geistiger Schutzrechte handelsbeschränkende Maßnahmen verhängt wurden, nicht mehr auf Art. XX lit. d) GATT, sondern auf das TRIPS Bezug. Also ist davon auszugehen, dass handelsbeschränkende Maßnahmen zur Anwendung von Gesetzen oder sonstigen Vorschriften, die geistige Schutzrechte schützen, die den Anforderungen des TRIPS genügen, auch nicht gegen Art. XX lit. d) GATT verstoßen. Daher hat Art. XX lit. d) GATT als Rechtfertigungsmöglichkeit zum Schutz geistiger Schutzrechte keine eigenständige Bedeutung mehr. (bb) A  rt. XX lit. d) als Rechtfertigungsmöglichkeit für andere legitime Schutzziele Art. XX lit. d) GATT stellt aber nicht nur eine Rechtfertigungsmöglichkeit für handelsbeschränkende Maßnahmen zum Schutz geistiger Schutzrechte dar. Denn Art. XX lit. d) GATT rechtfertigt auch handelsbeschränkende Maßnahmen zur Anwendung anderer Gesetze und Vorschriften, die selber nicht GATT-widrig sind und die dem Schutz anderer legitimer Schutzziele dienen. Art. XX lit. d) GATT nennt beispielsweise und nicht abschließend neben den geistigen Schutzrechten auch die Durchführung von Zollvorschriften, die Durchführung von bestimmten Monopolen. Die Rechtfertigungsmöglichkeiten hinsichtlich der Durchführung von Zollvorschriften und von bestimmten Monopolen sollen aber in dieser Untersuchung außer Acht bleiben, da ihnen nur eine sehr geringe praktische Relevanz zukommt und sie im Übrigen nicht der Verfolgung legitimer Schutzziele dienen. Art. XX lit. d) zählt ebenso die „Verhinderung irreführender Praktiken“ auf. Hiermit sind insbesondere falsche geographische Herkunftsbezeichnungen gemeint,481 die heute unter die Art. 22 ff. TRIPS fallen. WTO-Mitglieder haben sich zur Rechtfertigung verschiedenster handelsbeschränkender Maßnahmen, durch die sie den Schutz legitimer Schutzziele verfolgten, auf die Ausnahmebestimmung des Art. XX lit. d) GATT beru480  Wolfrum / Stoll / Seibert-Fohr, 481  Wolfrum / Stoll / Seibert-Fohr,

III, S. 128 (Reyes-Knoche / Arend). III, S. 128 (Reyes-Knoche / Arend).



III. Vergleich ähnlicher Ausnahmebestimmungen231

fen. Zu solchen legitimen Schutzzielen gehören Verbraucherschutzerwägungen, aufgrund derer nach einem koreanisches Gesetz einheimisches und eingeführtes Rindfleisch nur in unterschiedlichen Läden verkauft werden durfte. Hierdurch sollte verhindert werden, dass Verbraucher über die Herkunft des Fleisches getäuscht werden können.482 Allerdings hielt der Appellate Body das Notwendigkeitskriterium nicht für erfüllt.483 Ebenfalls auf Erwägungen des Verbraucherschutzes berief sich die USA, um Einfuhrverbote für Thunfisch zu rechtfertigen, bei dessen Fang keine oder keine ausreichenden Maßnahmen ergriffen wurden, um den Beifang von Delfinen zu verhindern. Denn hierdurch sollten Unsicherheiten der Verbraucher beim Versuch „delfinfreundliche“ Waren zu kaufen, vermieden werden.484 Die USA konnten sich jedoch nicht erfolgreich auf diese Ausnahmebestimmung berufen, da das Panel schon das entsprechende US-Gesetz selber und nicht erst seine Anwendung als GATT-widrig einstufte.485 Ebenso versuchten die USA verschiedene bundesstaatliche Verkaufsbeschränkungen für eingeführte Alkoholika unter Berufung auf Art. XX lit. d) GATT zu rechtfertigen. Die USA beriefen sich hierbei darauf, dass durch diese Verkaufsbeschränkungen zum legitimen Schutzziel einer effektiven Besteuerung beigetragen werden sollte.486 Auch in diesem Fall wurde das Notwendigkeitskriterium vom Panel jedoch nicht für erfüllt gehalten.487 Ebenfalls auf das legitime Schutzziel einer effektiven Besteuerung berief sich die Dominikanische Republik bei der Rechtfertigung von Anforderungen, die an die auf Zigarettenpackungen aufgeklebten Steuermarken gestellt wurden. Daneben berief sich die Dominikanische Republik auch auf den Schutz der Gesundheit und dem Wohlbefinden seiner Bürger. Zudem sollten damit irreführende Praktiken verhindert werden.488 Nach Auffassung des Appellate Body erfüllten die handelsbeschränkenden Maßnahmen der Dominikanischen Republik jedoch nicht das Notwendigkeitskriterium.489 Ebenso wurde von den Parteien in einem Fall vor einem Panel des GATT erwogen, ob das Ziel die Zahl der Raucher zu vermindern, als ein legitimes Schutzziel durch ein Gesetz, welches den sonstigen Anforderungen des Art. XX lit. d) GATT genügt, nach dieser Ausnahmebestimmung gerechtfertigt werden kann.490 Das zuständige Panel ging hierauf jedoch nicht ein. Body Report, Korea – Various Measures on Beef, Rn. 173. Body Report, Korea – Various Measures on Beef, Rn. 182. 484  GATT Panel Report, US – Tuna (Mexico), Rn. 4.6. 485  GATT Panel Report, US – Tuna (Mexico), Rn. 5.39. 486  GATT Panel Report, US – Malt Beverages, Rn. 3.95. 487  GATT Panel Report, US – Malt Beverages, Rn. 5.43. 488  Appellate Body Report, Dominican Republic – Cigarettes, Rn. 10. 489  Appellate Body Report, Dominican Republic – Cigarettes, Rn. 74. 490  GATT Panel Report, Thailand – Cigarettes, Rn. 23. 482  Appellate

483  Appellate

232

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

Auch Mexiko konnte handelsbeschränkende Maßnahmen gegen Getränke, in denen andere Süßstoffe als Zuckerrohr verwendet wurden, nicht nach Art. XX lit. d) GATT rechtfertigen. Durch diese handelsbeschränkenden Maßnahmen wollte Mexiko andere völkerrechtliche Verpflichtungen einhalten. Doch nach Auffassung des Appellate Body stellt Art. XX lit. d) GATT schon keine Rechtfertigungsmöglichkeit für völkerrechtliche Verpflichtungen eines WTO-Mitgliedes dar.491 Somit eignet sich Art. XX lit. d) GATT – bei Einhaltung der übrigen Voraussetzungen dieser Ausnahmebestimmung – auch als (teilweise allerdings nicht sehr effektive) Rechtfertigungsmöglichkeit für Beschränkungen des liberalisierten Warenhandels zum Schutze anderer legitimer Schutzziele, wie des Verbraucherschutz, des Gesundheitsschutzes, der effektiven Besteuerung und des Umweltschutzes. (2) In Übereinstimung mit dem GATT Die Gesetze oder Vorschriften, die mittels handelsbeschränkender Maßnahmen angewendet werden, müssen selber mit dem GATT übereinstimmen. Daher haben die Streitbeilegungsgremien WTO-Mitgliedern in verschiedenen Entscheidungen die Berufung auf Art. XX lit. d) GATT verwehrt, in denen die Gesetze oder Vorschriften auf denen die handelsbeschränkenden Maßnahmen beruhten, selber gegen die Verpflichtungen aus dem GATT verstießen. So verstieß ein japanisches Handelsmonopol gegen Art. XI:1 GATT, so dass Japan aus diesem Grunde schon die Berufung auf Art. XX lit. d) GATT versagt war.492 Auch aufgrund eines US-amerikanischen Gesetzes erlassene handelsbeschränkende Maßnahmen, welches selber gegen die Verpflichtungen aus Art. XI:1 GATT verstieß, konnten nicht nach Art. XX lit. d) GATT gerechtfertigt werden.493 (3) A  nwendung der Maßnahme zur Umsetzung der Gesetze oder sonstiger Vorschriften Die handelsbeschränkende Maßnahme muss auch zur Umsetzung der Gesetze oder sonstiger Vorschriften angewendet werden. So können durch Art. XX lit. d) GATT solche handelsbeschränkenden Maßnahmen gerechtfertigt werden, die Handlungen verhindern sollen, die aufgrund der betref491  Appellate Body Report, Mexico – Tax Measures on Soft Drinks and other Beverages, Rn. 69–71. 492  GATT Panel Report, Japan – Agricultural Products, Rn. 5.2.2.3. 493  GATT Panel Report, US – Tuna (EEC), Rn. 5.41.



III. Vergleich ähnlicher Ausnahmebestimmungen233

fenden Gesetze oder sonstigen Vorschriften verboten sind. Daher können Maßnahmen, die nicht zur Anwendung von Gesetzen oder sonstigen Vorschriften dienen, nicht nach Art. XX lit. d) GATT gerechtfertigt werden. Darunter fallen auch solche Maßnahmen, die von einem WTO-Mitglied verhängt werden, um ein anderes WTO-Mitglied anzuhalten, vertragliche Verpflichtungen aus einem völkerrechtlichen Vertrag außerhalb der WTOÜbereinkommen, einzuhalten.494 Durch diese Voraussetzung wird ersichtlich, dass das WTO-Recht die regulatorische Vielfalt der WTO-Mitglieder anerkennt. Denn WTO-Mitglieder dürfen Gesetze und Vorschriften, die selber nicht gegen die GATT verstoßen, mittels handelsbeschränkender Maßnahmen durchsetzen, die einen Verstoß gegen die Verpflichtungen aus dem GATT darstellen. Aufgrund dieser Ausnahmebestimmung können zwar nicht die verfolgten Ziele, aber die verfolgten Mittel gerechtfertigt werden. cc) Das Notwendigkeitskriterium Schließlich muss eine handelsbeschränkende Maßnahme, um nach Art. XX lit. d) GATT gerechtfertigt zu sein, auch dem Notwendigkeitskriterium entsprechen. Die Voraussetzungen des Notwendigkeitskriteriums im Rahmen der Art. XX lit. a) und lit. b) GATT wurden bereits dargelegt.495 Da anerkannt ist, dass die Notwendigkeitskriterien der Art. XX lit. b) und lit. d) GATT gleich ausgelegt werden,496 und kein Grund für die Vermutung besteht, das Notwendigkeitskriterium des Art. XX lit. a) GATT hiervon unterschiedlich auszulegen, kann zur Bestimmung, ob eine handelsbeschränkende Maßnahme notwendig i. S.d Art. XX lit. d) GATT ist, auch immer auf die Judikatur der Streitbeilegungsgremien und die Literatur zu Art. XX lit. b) GATT sowie auf die Literatur zu Art. XX lit. a) GATT zurückgegriffen werden. Das Notwendigkeitskriterium des Art. XX lit. d) GATT wurde vom Appellate Body in der Entscheidung Korea – Beef so ausgelegt, dass in jedem einzelnen Fall eine Abwägung von Umständen stattfinden müsse, wie – Die relative Bedeutung der Ziele oder Werte, die mit dem Gesetz oder der sonstigen Vorschrift geschützt werden sollen. – Das Ausmaß in welchen die Maßnahme zur Verwirklichung der Anwendung des Gesetzes oder der sonstigen Vorschrift beiträgt. Report, Mexico – Taxes on Soft Drink, Rn. 8.175. C.I.1.a)cc) und C.I.2.a)bb). 496  Vgl. GATT Panel Report, Thailand – Cigarettes, Rn. 74. 494  Panel 495  Vgl.

234

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

– Die Auswirkungen der jeweiligen Maßnahme auf den internationalen Handel.497 Die Voraussetzungen des Notwendigkeitskriteriums des Art. XX lit. d) GATT gleichen also sehr stark den dargestellten Voraussetzungen der Notwendigkeitskriterien im Rahmen des Art. XX lit. a) und des lit. b) GATT. b) Die Ausnahmebestimmung zum Schutz geistiger Schutzrechte im EU-Recht Nach Art. 36 AEUV können Verletzungen der Warenverkehrsfreiheit aufgrund des „gewerblichen und kommerziellen Eigentums“ gerechtfertigt werden. Zu diesen geistigen Schutzrechten gehören nach den Entscheidungen des EuGH das Patenrecht,498 das Gebrauchsmusterrecht,499 das Markenrecht,500 das Urheberrecht,501 das Geschmacksmusterrecht,502 das Sortenschutzrecht503 sowie Ursprungsbezeichnungen504 und geographische Herkunftsbezeichnungen.505 Zu den von Art. 30 AEUV geschützten geistigen Schutzrechten zählt hingegen nicht die Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbs.506 Hierbei handelt es sich vielmehr um ein „zwingendes Erfordernis“.507 Diese Ausnahmebestimmung enthält keine Ausnahmen, die über das gewerbliche und kommerzielle Eigentum hinausgehen. Body Report, Korea – Beef, Rn. 162–164. Urt. v. 31.10.1974, Rs. 15 / 74, Centrafarm . / . Sterling Drug, Slg. 1974, 1147, 1164, Rn. 15. 499  EuGH Urt. v. 14.09.1982, Rs. 144  / 81, Keurkoop . / . Nancy Kean Gifts, Slg. 1982, 2853, 2870, Rn. 14. 500  EuGH Urt. v. 31.10.1974, Rs. 15  /  74, Centrafarm . / . Winthorp, Slg. 1974, 1183, 1195, Rn. 8 ff. 501  EuGH Urt. v. 20.01.1981, verb. Rs. 55 und 57 / 80, Musik-Vertrieb membram . / . GEMA, Slg. 1981, 147, 161, Rn. 9. 502  EuGH Urt. v. 14.09.1982, Rs. 144  / 81, Keurkopp . / . Nany Kean Gifts, Slg. 1982, 2853, 2870, Rn. 14. 503  EuGH Urt. v. 08.06.1982, Rs. 258 / 78, Nungesser . / . Kommission, Slg. 1982, 2015, 2063, Rn. 35. 504  EuGH Urt. v. 09.06.1992, Rs. C-47  / 90, Delhaize, Slg. 1992, I-3669, 3709, Rn. 16. 505  EuGH Urt. v. 10.11.1992, Rs. C-3  /  91, Exportur, Slg. 1992, I-5529, 5562, Rn. 28. 506  EuGH Urt. v. 17.06.1981, Rs. 113 / 80, Kommission . / . Irland (Irische Souve­ nire), Slg. 1981, 1625, 1638, Rn. 8. 507  Vgl.C.V.5.a) (Verbraucherschutz) zu den Voraussetzungen der Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbs als „zwingendes Erfordernis“. 497  Appellate 498  EuGH



III. Vergleich ähnlicher Ausnahmebestimmungen235

Aufgrund dieser geistigen Schutzrechte können die EU-Mitgliedstaaten Einschränkungen der Warenverkehrsfreiheit rechtfertigen. Dies gilt jedoch nur, solange der Kernbereich des geistigen Schutzrechtes betroffen ist. Den Kernbereich der jeweiligen geistigen Schutzrechte hat der EuGH in zahlreichen Entscheidungen konkretisiert.508 Eine Berufung auf die Ausnahmebestimmung zum Schutz geistiger Schutzrechte ist den EU-Mitgliedstaaten jedoch nicht mehr möglich, wenn die betreffende Ware, in der das geistige Schutzrecht verkörpert ist, vom Inhaber des geistigen Schutzrechtes selber, mit seiner Zustimmung oder von einer rechtlich oder wirtschaftlich von ihm abhängigen Person erstmals auf den Markt eines der Länder des Europäischen Wirtschaftsraum (EWR)509 gebracht worden ist.510 Sobald dies geschehen ist, ist das geistige Schutzrecht des Inhabers erschöpft und dieser kann der Einfuhr in einen anderen EU-Mitgliedstaat nicht mehr widersprechen. Keine Erschöpfung findet hingegen statt, wenn die betreffende Ware, in der das geistige Schutzrecht verkörpert ist, in der oben bezeichneten Weise außerhalb des EWR auf den Markt gebracht worden ist. Daher ist im EU-Recht keine Einfuhr von außerhalb des EWR erlaubt, wenn der Inhaber des geistigen Schutzrechtes hierzu sein Einverständnis nicht gegeben hat.511 Somit gilt im EU-Recht der Grundsatz der regionalen Erschöpfung. Die Ausgestaltung des Rechtsschutzes zur Durchsetzung der geistigen Schutzrechte ist Sache der EU-Mitgliedstaaten soweit diesen durch gemeinschaftsrechtliche Harmonisierung keine Grenzen gesetzt werden.512 c) Vergleich In beiden Rechtsordnungen besteht die Herausforderung den Warenhandel und den Schutz von geistigem Eigentum zu vereinbaren. Denn zwischen den Warenhandel und geistigen Schutzrechten besteht ein Spannungsverhältnis. Im grenzüberschreitenden Warenhandel wird nämlich die 508  Vgl. für einen Überblick über den Kernbereich der geistigen Schutzrechte: Dauses, C.III. Rn. 25 ff. (Ulrich / Konrad); Frenz, Rn.  997 ff. 509  Zum EWR gehören die EU-Mitgliedstaaten sowie Norwegen, Island und Liechtenstein. 510  EuGH Urt. v. 17.10.1990, Rs. C-10 / 89, SA CNL-SUCAL NV . / . HAG GF AG (HAG II), Slg. 1990, I-3711, 3757 ff., Rn. 12. 511  EuGH Urt. v. 16.07.1998, Rs. C-355  /  96, Silhouette International Schmied GmbH & Co. KG . / . Hartlauer Handelsgesellschaft mbH, Slg. 1998, I-4799, 4832 ff. Rn. 32 ff.; EuGH Urt. v. 20.11.2001, verb. Rs.C-414 und 416 / 99, Zino Davidoff SA . / . A&G Imports Ltd und Levi Strauss & Co. . / . Tesco Stores Ltd., Slg. 2001, I-8691, 8748, Rn. 32. 512  Dauses, C.III. Rn. 50 (Ulrich / Konrad).

236

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

Ware, in der geistige Schutzrechte verkörpert sind, verschiedenen, sich voneinander unterscheidenden Systemen von geistigen Schutzrechten unterworfen. Dies führt insbesondere dann zu Problemen, wenn das geistige Schutzrecht in den Märkten einen unterschiedlichen Umfang innehat. Ohne eine Ausnahmebestimmung würde das geistige Schutzrecht der Inhaber in einem Markt durch eingeführte Waren unterminiert werden. Dies hätte zwar wegen der sowohl von der WTO als auch von der EU angestrebten Liberalisierung des Warenverkehrs den grundsätzlich wünschenswerten Effekt, dass geistige Schutzrechte nicht zur Fragmentierung der Märkte benutzt werden könnten. Geistige Schutzrechte bestehen jedoch, um durch die damit einhergehende Monopolstellung einen Anreiz zu schaffen in geistige Neuentwicklungen zu investieren. Durch diese geistigen Neuentwicklungen kommt es zu technologischen und kulturellen Fortschritten, die wiederum dem Allgemeininteresse zugute kommen. Daher sind auch beide Rechtsordnungen darauf angewiesen, den Warenhandel durch eine Ausnahmebestimmung zum Schutz geistiger Schutzrechte einschränken zu können. Denn ein Staat kann den Schutz geistiger Schutzrechte nur dann gewährleisten, wenn die Einfuhr verletzender Waren unterbunden wird. Gleichzeitig wollen aber sowohl WTO als auch EU Handelshemmnisse abbauen bzw. beseitigen. Aufgrund der Bedeutung von geistigen Schutzrechten sehen daher beide Rechtsordnungen Ausnahmebestimmungen für geistige Schutzrechte vor. Außerdem handelt es sich sowohl bei Art. XX lit. d) GATT und der Ausnahmebestimmung des Art. 36 AEUV zum Schutz geistiger Schutzrechte um die jeweils einzigen Ausnahmebestimmungen in beiden Rechtsordnungen, die auch private Interessen wirtschaftlicher Art und nicht nur Allgemein­ interessen schützen. Dies ist innerhalb der EU eher als ein „Kollateralschaden“ anzusehen, da die Ausnahmebestimmungen des Art. 36 AEUV grundsätzlich nur legitime Schutzziele der Allgemeinheit schützen. Im WTO-Recht ist der Art. XX lit. d) GATT jedoch hinsichtlich des Schutzes geistiger Schutzrechte durch das TRIPS überlagert worden. Das TRIPS dient jedoch vornehmlich privaten Interessen. Denn es erlaubt den Inhabern geistiger Schutzrechte, insbesondere Pharma- und Softwareunternehmen aus hoch industrialisierten WTO-Mitgliedern, die Streitbeilegungsmechanismen des WTO-Rechts zu nutzen, um ihre geistigen Schutzrechte gewinnbringend auch in den Märkten anderer WTO-Mitglieder, insbesondere in Entwicklungsländern, in denen der Schutz geistiger Schutzrechte vor dem Inkrafttreten des TRIPS nur schwach ausgeprägt war, zu vermarkten. Hinsichtlich der Gemeinsamkeiten und Unterschiede in Bezug auf den Schutz geistiger Schutzrechte müssen daher auch die Ausnahmebestimmung des Art. 36 AEUV zum Schutz geistiger Schutzrechte und das TRIPS miteinander verglichen werden.



III. Vergleich ähnlicher Ausnahmebestimmungen237

Durch das TRIPS werden die WTO-Mitglieder verpflichtet, Mindeststandards hinsichtlich geistiger Schutzrechte einzuführen und ihr innerstaatliches Recht einander in gewissen Umfang anzugleichen. Während also im WTORecht die Frage vordringlich ist, wie alle WTO-Mitglieder auf Mindeststandards verpflichtet werden können, geht es im EU-Recht bei der Behandlung der geistigen Schutzrechte darum, möglichst die Fragmentierung der Märkte abzubauen. WTO und EU stehen allerdings, was den Schutz geistiger Schutzrechte angeht vor unterschiedlichen Interessenslagen. Innerhalb der WTO besteht insbesondere von Seiten der USA, der EU und Japan sowie von Seiten anderer industrialisierter Mitglieder ein großes Interesse an der Stärkung der geistigen Schutzrechte. Denn aus diesen WTO-Mitgliedern stammen die Unternehmen, die Inhaber wirtschaftlich wertvoller geistiger Schutzrechte sind. Die Entwicklungsländer erklärten sich hingegen vor allem aufgrund des Drucks der hoch industrialisierten WTO-Mitglieder dazu bereit, das TRIPS zu akzeptieren.513 Anders als das EU-Recht überlässt das WTO-Recht es den WTO-Mitgliedern auch, die territoriale Reichweite der Erschöpfung geistiger Schutzrechte selber festzulegen. Im EU-Recht hat sich das geistige Schutzrecht des Inhabers hingegen erschöpft, wenn dieser die Ware, in der das geistige Schutzrecht verkörpert ist, in einem Mitgliedstaat des EWR auf dem Markt gebracht hat. Daher können im Handel zwischen Mitgliedern der WTO geistige Schutzrechte dazu benutzt werden, dem Parallelimport von Waren in den Markt eines anderen Landes zu widersprechen. Die Geltung eines Grundsatzes der nationalen Erschöpfung würde jedoch aufgrund einer damit einhergehenden Fragmentierung der Märkte, den Ziel des EU-Vertrages, einen Binnenmarkt zu schaffen, zuwider laufen. Auf Ebene der WTO, auf der eine solche weitgehende Liberalisierung nicht beabsichtigt ist, würde die Verpflichtung der WTO-Mitglieder auf einen Grundsatz der internationalen Erschöpfung jedoch eine Beeinträchtigung der Rechte der Inhaber geistiger Schutzrechte bedeuten, die nicht durch den mit einer Handelsliberalisierung einhergehenden Wohlfahrtsgewinn aufgewogen wäre. Denn um einen Binnenmarkt zu schaffen, ist es notwendig zu gewährleisten, dass geistige Schutzrechte die nationalen Märkte nicht voneinander abschotten. Diese Notwendigkeit besteht im WTO-Recht nicht. Außerdem werden Parallelimporte erst durch das Ausnutzen von Preisunterschieden in verschiedenen Staaten, die vor allem auf deren unterschiedliche wirtschaftliche Kraft beruhen, möglich gemacht.514 Das Ausnutzen solcher Preisunterschiede muss hingenommen werden, wenn das verfolgte Ziel in der Schaffung eines 513  Vgl. auch zu den Gründen für das Zustandekommen des TRIPS Hilf / Oeter, § 24 Rn. 14 (Michaelis / Bender) und Bhagwati, S.  294 ff. 514  Dyrberg / Petursson, ELRev. 2002, 464; Barnard, S. 190.

238

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

Binnenmarktes besteht, aber es stellt keine Rechtfertigung dar, wenn der Vertragszweck lediglich in einem liberalisierten Warenhandel besteht. Entsprechend erkennt auch der EuGH selber einen internationalen Grundsatz der Erschöpfung nicht an.515 Die Unterschiede zwischen beiden Ausnahmebestimmungen bestehen aber nicht nur in der Behandlung geistiger Schutzrechte. Denn Art. XX lit. d) GATT erfasst darüber hinaus einen wesentlich weiteren Anwendungsbereich als die Ausnahmebestimmung zum Schutz geistiger Schutzrechte des Art. 36 AEUV. Denn wie oben dargestellt,516 eignet sich Art. XX lit. d) GATT – bei Einhaltung der übrigen Voraussetzungen dieser Ausnahmebestimmung – nicht nur als Rechtfertigungsmöglichkeit für Beschränkungen des liberalisierten Warenhandels zum Schutze geistiger Schutzrechte, sondern auch als Rechtfertigung für andere legitime Schutzziele, wie dem Verbraucherschutz, den Gesundheitsschutz, einer effektiven Besteuerung und dem Umweltschutz. Dies zeigt, dass das WTO-Recht die regulatorische Vielfalt der Mitglieder anerkennt. Im EU-Recht wird hingegen die regulatorische Vielfalt der EUMitgliedstaaten in Bezug auf die Anforderungen an Waren nicht durch Art. 36 AEUV gerechtfertigt. Auch einen entsprechenden ungeschriebenen Rechtfertigungsgrund hat der EuGH bis heute nicht geschaffen.517 Denn regulatorische Vielfalt zwingt die Hersteller ihre Waren an die Bestimmungen des jeweiligen Marktes anzupassen. Hingegen ist es gerade Ziel der weiten Auslegung des Art. 34 AEUV durch die Dassonville-Formel die bestehenden mitgliedstaatlichen Regelungen, die den Warenverkehr hemmen, niederzureißen. Daher würde eine vom EuGH geschaffene, dem Art. XX lit. d) GATT entsprechende ungeschriebene Rechtfertigungsmöglichkeit im EU-Recht, das Ziel der Schaffung eines Binnenmarktes konterkarieren. Außerdem erfüllt Art. XX lit. d) GATT die Funktion eines Einfallstores mittels dessen legitime Schutzziele, die in der abschließenden Aufzählung des Art. XX GATT nicht berücksichtigt wurden, in der Form von GATTkonformen Gesetzen auf eine GATT-widrige Art und Weise erreicht werden können. Ein solches Einfallstor ist im EU-Recht jedoch nicht notwendig, da aufgrund der Cassis-Formel legitime Schutzziele berücksichtigt werden können, die nicht im EG-Vertrag festgeschrieben sind.

515  EuGH Urt. v. 16.07.1998, Rs. C-355  /  96, Silhouette International Schmied GmbH . / . Hartlauer Handelsgesellschaft mbH, Slg. 1998, I-4103, 4829, Rn. 18, 19. 516  C.III.4.a.aa)(2)(bb). 517  Vgl. C.II.3. zu den ungeschriebenen Rechtfertigungsgründen der Cassis-Formel.



III. Vergleich ähnlicher Ausnahmebestimmungen239

5. Ausnahmen aus Gründen der Sicherheit Ausnahmebestimmungen aus Gründen der Sicherheit finden sich sowohl im WTO- als auch im EU-Recht. So beinhaltet Art. XXI GATT Ausnahmen zur Wahrung der Sicherheit. In den Art. 346 bis Art. 348 AEUV sind ähn­ liche allgemeine Ausnahmen in Bezug auf nationale und internationale Sicherheitsinteressen niedergelegt. Zusätzlich ist die öffentliche Sicherheit als Ausnahmebestimmung in Art. 36 AEUV niedergelegt. Ein entsprechendes Äquivalent in Art. XX GATT fehlt hierzu. Außerdem wurde vom EuGH anerkannt, dass eine indirekt diskriminierende Besteuerung kein Verstoß gegen den Art. 110 AEUV darstellt, wenn diese aus Gründen der öffent­ lichen Sicherheit gerechtfertigt werden kann. a) Ausnahmen zur Wahrung der Sicherheit im WTO-Recht Nach Art. XXI lit. a) und lit. b) GATT können die WTO-Mitglieder aufgrund ihrer „wesentlichen Sicherheitsinteressen“ Verletzungen ihrer Verpflichtungen aus dem GATT rechtfertigen. Nach Art. XXI lit. c) GATT können die WTO-Mitglieder vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen verhängte Sanktionen umsetzen. Bevor aber die in Art. XXI GATT enthaltenen einzelnen Ausnahmebestimmungen dargestellt werden, soll zunächst die zu Art. XXI GATT ergangene Judikatur untersucht werden sowie aufgezeigt werden, wann die WTO-Mitglieder sich hierauf berufen haben. aa) Praktische Anwendung des Art. XXI GATT Die Ausnahmebestimmung des Art. XXI GATT hat bislang vor den Streitbeilegungsgremien nur eine geringe praktische Relevanz gehabt. Allerdings haben sich WTO-Mitglieder in den verschiedensten Situationen auf diese Ausnahmebestimmung berufen. Bereits kurz nach dem Inkrafttreten des GATT im Jahr 1948 haben sich die USA erstmals im Jahr 1949 auf diese Ausnahmebestimmung berufen, als es zwischen den USA und der Tschechoslowakei zu Streitigkeiten über US-amerikanische Einfuhrverbote für verschiedene tschechoslowakische Waren kam. Da erst Mitte der 1950er Jahre erstmals Panels eingesetzt wurden,518 verhandelten die damaligen Vertragsparteien des GATT nach Art. XXII und Art. XXIII GATT über diese Streitigkeit. Die Tschechoslowakei trug vor, dass die USA den Begriff des „Kriegsmaterial“ des Art. XXXI lit. b) (ii) GATT so weit ausgelegt hatte, dass es nicht mehr möglich war, 518  Hilf / Oeter,

§ 5 Rn. 30 (Neugärtner).

240

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

zu bestimmen, welche Waren wirklich hierunter fallen würden. Die USA beriefen sich darauf, dass nur ca. 200 der über 3.000 vom tschechoslowakischen Zoll klassifizierten Waren von ihrem Einfuhrverbot betroffen wären. Die mit dieser Streitigkeit befassten damaligen Vertragsparteien des GATT stimmten – ohne eine Begründung hierfür abzugeben – mit großer Mehrheit zu Gunsten der USA ab.519 Die Entscheidung der damaligen Vertragsparteien des GATT in dieser Streitigkeit kann aber nicht nur aufgrund der fehlenden Begründung kaum zur Auslegung des Art. XXI GATT herangezogen werden. Denn vor dem Hintergrund, dass zum Zeitpunkt der Entscheidung der Kalte Krieg gerade begonnen hatte, die Tschechoslowakei nunmehr vollends Teil des kommunistischen Lagers geworden war und die USA, die mit weiten Abstand wirtschaftlich stärkste Vertragspartei der damaligen – gerade erst ein Jahr alten – GATT war, ist davon auszugehen, dass die Entscheidung der damaligen Vertragsparteien des GATT primär auf politischen Erwägungen beruhte und sie sich in ihrer Entscheidungsfindung nicht in erster Linie an den Anforderungen des Art. XXI GATT orientierten. In den Diskussionen, die diesen rere Vertreter die Auffassung, dass züglich seiner Sicherheit zu treffen dass dabei behutsam vorgegangen nicht auszuhöhlen.520

Beschluss vorausgingen, äußerten mehjedes Land die letzte Entscheidung behabe. Gleichzeitig stellten sie aber klar, werden müsse, um den GATT-Vertrag

Im Jahr 1961 rechtfertigte Ghana dann sein aufgrund der portugiesischen Kolonialpolitik erlassenes Einfuhrverbot für portugiesische Waren unter Berufung auf Art. XXI lit. b) (iii) GATT. Ghana erklärte in diesem Zusammenhang, dass jede Vertragspartei des GATT der einzige Richter über ihre wesentlichen Sicherheitsinteressen sei.521 Hiernach erfuhr diese Ausnahmebestimmung erst wieder Mitte der 1970er Jahre eine praktische Bedeutung, als Schweden unter Berufung auf Art. XXI GATT Einfuhrbeschränkungen für bestimmte Schuhe verhängte, um hiermit einen Schuhfabrikanten zu schützen, der auch Schuhe für das schwedische Militär herstellte. Schweden berief sich darauf, dass es notwendig sei, ein Minimum an einheimischen Produktionskapazitäten in essentiellen Industriezweigen aufrechtzuerhalten, um die Versorgung in „Kriegszeiten oder bei sonstigen ernsten Krisen in den internationalen Beziehungen“ aufrechtzuerhalten. Da andere Vertragsparteien des GATT das schwedische Vorgehen 519  Alexandroff / Sharma,

S. 15474. Georgetown Law Journal 1997, 405, 408, 409. 521  Lindsay, Duke Law Journal, 2003, 1277, 1282. 520  Browne,



III. Vergleich ähnlicher Ausnahmebestimmungen241

kritisierten und die Möglichkeit einer solchen Rechtfertigung hinterfragten, setzte Schweden die Einfuhrbeschränkungen nach zwei Jahren aus.522 Das schwedische Beispiel zeigt die Gefahr, dass die Ausnahmebestimmung zur Wahrung der Sicherheit auch aufgrund wirtschaftlicher Erwägungen missbraucht werden kann und nicht alleine sicherheitspolitischen Zwecken dient. Im Jahr 1982, im Zuge des Falkland-Krieges rechtfertigte dann die EU gegen Argentinien verhängte Handelsbeschränkungen, darunter ein vollständiges Einfuhrverbot argentinischer Waren, aufgrund „inhärenter Rechte“, die sich in Art. XXI GATT widerspiegeln. Auch Kanada und Australien hatten ähnliche Handelsbeschränkungen verhängt. Ein Streitbeilegungsverfahren wurde jedoch nicht eingeleitet. Die damaligen Vertragsparteien erklärten aber in einer Resolution, dass – bei Geltendmachung nach Art. XXI lit. a) GATT des Rechts Auskünfte zu verweigern, die Vertragsparteien im größtmöglichsten Ausmaß über die nach Art. XXI GATT verhängten Handelsmaßnahmen informiert werden sollten, – wenn Maßnahmen nach Art. XXI GATT verhängt werden, alle hiervon betroffenen Vertragsparteien ihre vollen Rechte bewahren.523 Diese etwas unklaren Formulierungen können jedoch nur schwerlich zur Auslegung der Ausnahmebestimmung des Art. XXI GATT herangezogen werden. In den 1980er Jahren spielte Art. XXI GATT dann in den Streitigkeiten zwischen den USA und Nicaragua eine Rolle, die auf die Machtergreifung der Sandinisten im Jahr 1979 zurückging, woraufhin die Reagan-Administration die Ausbreitung des Kommunismus in ihrem lateinamerikanischen „Hinterhof“ befürchtete. Um dieser angenommenen Gefahr zu begegnen, verhängten die USA im Jahr 1982 als eine der ersten handelsbeschränkenden Maßnahmen eine drastische Reduktion der Einfuhren von Zucker aus Nicaragua. In den daraufhin von Nicaragua initiierten Streitbeilegungsverfahren, beriefen sich die USA allerdings nicht auf die Ausnahmebestimmung des Art. XXI GATT. Stattdessen erklärten sie, dass die Einfuhrbeschränkungen gegen nicaraguanischen Zucker nicht aus wirtschaftlichen Überlegungen verhängt worden waren. Daher fielen diese Einfuhrbeschränkungen nicht in den „Anwendungsbereich des GATT“. Da die USA sich nicht auf Art. XXI GATT beriefen, ging das Panel nicht auf diese Ausnahmebestimmung ein 522  Sweden – Import Restrictions on Certain Footwear, 19. November 1975, GATT Doc L / 4250 (1975); vgl. auch Lindsay, Duke Law Journal, 2003, 1277, 1289. 523  Alexandroff / Sharma, S. 1575.

242

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

und stufte die Einfuhrbeschränkungen als ein Verstoß gegen Art. XIII:2 GATT ein.524 Aufgrund des Einspruchs der USA wurde dieser Bericht des Panels jedoch nicht angenommen. Nachdem sich der politische Konflikt zwischen diesen beiden Ländern zuspitzte, verhängten die USA im Jahr 1985 ein nahezu totales Handelsverbot in Form eines Embargos gegen Nicaragua. Die USA stimmten der von Nicaragua geforderten Einleitung eines Streitbeilegungsverfahrens unter der Bedingung zu, dass das Panel nicht über die Rechtmäßigkeit oder die Gründe für das Berufen der USA auf die Ausnahmebestimmung des Art. XXI GATT urteilen dürfe.525 Diese Einengung des Mandates des Panels war nach den damaligen Regeln über die Streitbeilegung möglich. Die USA beriefen sich zur Rechtfertigung ihres Handelsembargos auf Art. XXI lit. b) (iii) GATT. Da dem Panel aufgrund seines begrenzten Mandates eine Beurteilung der Rechtfertigungsmöglichkeit durch Art. XXI GATT verwehrt war und da Nicaragua auch von etwaigen ihr zugesprochenen Durchsetzungsmaßnahmen nicht hätte profitieren können – das Handelsembargo erfasste auch ein Ausfuhrverbot US-amerikanischer Waren nach Nicaragua – verzichtete das Panel darauf, den Vertragsparteien eine Empfehlung zu unterbreiten.526 Allerdings bemerkte das Panel, dass wenn die Auslegung des Art. XXI GATT alleine der Vertragspartei überlassen wird, die sich hierauf beruft, nicht sichergestellt werden könnte, dass diese Ausnahmebestimmung exzessiv oder für andere Zwecke als den hierin niedergelegten benutzt werden könnte.527 Diesmal wurde der Bericht des Panels aufgrund des Einspruches von Nicaragua nicht angenommen, dessen Regierung über die vom Panel nicht ausgesprochenen Empfehlungen verärgert war. Auch im Zuge des Jugoslawienkrieges war Art. XXI GATT von Bedeutung. Die EU verhängte nämlich im Jahr 1991 Handelshemmnisse gegen das aus Serbien und Montenegro bestehende Rest-Jugoslawien und berief sich dabei auf Art. XXI GATT. Das eingeleitete Streitbeilegungsverfahren wurde jedoch nie abgeschlossen, da Rest-Jugoslawien von der Mitarbeit am GATT ausgeschlossen wurde. Denn aufgrund des Staatszerfalls bestand Unklarheit, wer der Rechtsnachfolger Jugoslawiens war.528 524  GATT Panel Report, United States – Imports of Sugar from Nicaragua (Nica­ ragua I), Rn. 3.10, 3.11, 4.7; vgl. im Übrigen B.I.2.a)ff) zu den Voraussetzungen des Art. XIII:2 GATT. 525  GATT Panel Report, United States – Trade Measures Affecting Nicaragua (Nicaragua II), Rn. 1.2, 1.3. 526  GATT Panel Report, United States – Trade Measures Affecting Nicaragua (Nicaragua II), Rn. 5.11. 527  GATT Panel Report, United States – Trade Measures Affecting Nicaragua (Nicaragua II), Rn. 5.17. 528  Hahn, S. 341, 342.



III. Vergleich ähnlicher Ausnahmebestimmungen243

Nach Inkrafttreten der WTO und der damit einhergehenden geringeren Einflussmöglichkeiten der WTO-Mitglieder auf die Begrenzung des Mandates der Streitbeilegungsorgane, berief sich bis heute erst ein WTO-Mitglied – die USA – in einem Streitbeilegungsverfahren auf diese Ausnahmebestimmung. Ursache dieser Streitigkeit zwischen der USA und der EU im Jahr 1996 war das sog. „Helms-Burton-Gesetz“, das die Möglichkeit von Klagen von US-Bürgern gegen ausländische Investoren in Kuba sowie die Verweigerung von Visen für diesen Personenkreis vorsah.529 Im von der EU eingeleiteten Streitbeilegungsverfahren berief sich die USA auf Art. XXI GATT. Das eingesetzte Panel schloss diese Streitigkeit jedoch nie mit einem Bericht ab. Denn nachdem das Verfahren zum Zwecke von Verhandlungen zwischen den Parteien für mehr als zwölf Monate ausgesetzt wurde, erlosch nach Art. 12.12 DSU das Mandat des Panels.530 Vor Einleitung des Streitbeilegungsverfahrens wurde von Seite der USA noch angedeutet, dass sie sich auf die Ausnahmebestimmung des Art. XXI GATT berufen würden. Mit Beginn des Streitbeilegungsverfahrens erklärten jedoch Vertreter der USRegierung, dass sie sich nicht hieran beteiligen würden, da den Streitbeilegungsgremien die Kompetenz fehle, über eine Frage der nationalen Sicherheit zu entscheiden.531 Die Verhandlungen zwischen den USA und der EU führten zu den Ergebnis, dass das „Helms-Burton-Gesetz“ zwar nicht geändert wurde, einige seiner handelsbeschränkenden Bestimmungen aber durch eine in diesem Gesetz enthaltene Möglichkeit vom US-Präsident suspendiert wurden. Durch diesen Kompromiss wurde die zu diesem Zeitpunkt gerade zwei Jahre alte WTO, die aufgrund des hiermit befürchteten Souveränitätsverlustes insbesondere in den USA kritisch beäugt wurde, zwar von der Aufgabe entbunden, über diesen politisch hochbrisanten Streit zu entscheiden. Nicht ohne Grund, hatte der Generalsekretär der WTO die Einsetzung eines Panels herausgezögert. Allerdings bleibt aufgrund mangelnder Judikatur von Seiten der Streitbeilegungsgremien bis heute die Frage offen, ob die Berufung von WTO-Mitgliedern auf die Ausnahmebestimmung des Art. XXI GATT zur Rechtfertigung von Handelsbeschränkenden Maßnahmen auch juristisch überprüft werden darf. Von praktischer Relevanz war die Ausnahmebestimmung des Art. XXI GATT auch im Vorwege der Beitrittsverhandlungen Taiwans zur WTO, welches zwar nicht als Staat aber als separates Zollgebiet zum 01.01.2002 WTO-Mitglied wurde. Aufgrund der Zugeständnisse und Liberalisierungen, die Taiwan im Zuge der Beitrittsverhandlungen machen musste, war anzunehmen, dass zahlreiche Arbeitsplätze und Industriezweige nach China ab529  Vgl.

auch C.III.1.a)bb)(1) zum sog. „Helms-Burton-Gesetz“. S. 1578. 531  Browne, Georgetown Law Journal 1997, 405, 408. 530  Alexandroff / Sharma,

244

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

wandern würden. Daher wurde befürchtet, dass Taiwan nach seinem Beitritt sich gegenüber China auf Art. XXI GATT berufen würde, um wirtschaftliche Einbußen abzumildern. Aufgrund starken internationalen Drucks distanzierte sich der taiwanesische Premierminister aber von der Möglichkeit eines solchen Vorgehens.532 Dieser Überblick über die praktische Relevanz des Art. XXI GATT zeigt, dass bis heute keine angenommene Entscheidung eines Streitbeilegungsgremiums zu dieser Ausnahmebestimmung ergangen ist. Und das auch in den nicht angenommenen Entscheidungen eine juristische Auslegung des Art. XXI GATT nicht stattgefunden hat. Dies zeugt von der hohen politischen Brisanz dieser Ausnahmebestimmung. Den WTO-Mitgliedern muss jedoch insgesamt ein verantwortungsvoller Umgang mit dem Art. XXI GATT zugebilligt werden. Die dargestellten Beispiele zeigen, dass bis heute allein die in den 1970er Jahren verhängten schwedischen Handelshemmnisse zur Rettung einheimischer Schuhproduzenten einen eindeutigen protektionistischen Hintergrund aufweisen. In allen anderen Fällen, in denen eine Berufung auf Art. XXI GATT jedenfalls nahe lag, kann den Staaten, die jeweils die Handelshemmnisse verhängt hatten, nicht abgesprochen werden, dass wirtschaftliche Erwägungen für sie keine Rolle spielten, sondern dass es ihnen alleine um die Verfolgung politischer Ziele ging. bb) Möglichkeit der rechtlichen Überprüfung der Ausnahmebestimmung des Art. XXI GATT Ob und in welchen Umfang die Streitbeilegungsgremien die Streitbeilegungsgremien die Ausnahmebestimmung des Art. XXI GATT rechtlich überprüfen können, ist bislang mangels entsprechender Entscheidungen der Streitbeilegungsgremien ungeklärt. Die USA haben in den Fällen, in denen Art. XXI als Rechtfertigungsmöglichkeit für von ihnen verhängte Handelshemmnisse einschlägig war, die Auffassung vertreten, dass jeder Staat selber entscheiden kann, ob die Voraussetzungen dieser Ausnahmebestimmung erfüllt sind.533 Auch aus den sonst oben dargestellten Äußerungen der damaligen Vertragsparteien des GATT lässt sich eine solche Auffassung entnehmen. Zu Recht wird jedoch darauf hingewiesen, dass sich aus der Entstehungsgeschichte dieser Ausnahmebestimmung nicht entnehmen lässt, dass diese Ausnahmebestimmung den Streitbeilegungsverfahren entzogen ist.534 So wurde einer der Unterhändler des GATT mit den Worten zitiert, dass sie diese Ausnahmebestimmung weder zu eng noch zu weit fassen 532  Lindsay,

Duke Law Journal 2003, 1277, 1289. AJIL 1999, 424, 426. 534  Hahn, Michigan Journal of International Law 1991, 558, 567. 533  Schloeman / Ohlhoff,



III. Vergleich ähnlicher Ausnahmebestimmungen245

durften. Denn wenn sie diese zu eng gefasst hätten, dann könnten Maßnahmen, die ausschließlich aus Sicherheitsgründen verhängt wurden, verboten werden. Bei einer zu weiten Fassung könnten Länder hingegen unter den Deckmantel der Sicherheit Maßnahmen verhängen, die auf wirtschaftlichen Gründen beruhten. Bei einer zu weiten Fassung wäre daher „alles unter der Sonne erlaubt“.535 Auch in der DSU finden sich keine Anhaltspunkte, dass den Streitbeilegungsgremien eine Beurteilung der Voraussetzungen des Art. XXI GATT vorenthalten ist. Außerdem ist – wie das schwedische Beispiel zeigt – ein gewisses Maß an rechtlicher Überprüfung notwendig, um zu verhindern, dass diese Ausnahmebestimmung zu protektionistischen Zwecken missbraucht werden kann. Auch der Umstand, dass Art. XXI GATT bis heute noch nicht von einem Streitbeilegungsgremium ausgelegt wurde, spricht nicht gegen eine rechtliche Überprüfung. So konnten vor Gründung der WTO – wie die beiden Nicaragua-Fälle zeigen – die Parteien eines Streitbeilegungsverfahrens das Mandat des Panels empfindlich beschneiden. Eine solche Möglichkeit ist den WTO-Mitgliedern aufgrund der DSU nunmehr aber nicht mehr gegeben. Daher ist davon auszugehen, dass die Streitbeilegungsgremien der WTO das Vorliegen der Voraussetzungen der Ausnahmebestimmung des Art. XXI GATT genau so überprüfen können, wie das Vorliegen der Voraussetzungen sämtlicher anderer Bestimmungen des GATT. Aufgrund der hohen politischen Brisanz, die Fälle regelmäßig haben werden, in denen sich ein WTOMitglied auf diese Ausnahmebestimmung beruft und des Umstandes, dass Sicherheitspolitik ein Kernbestandteil der staatlichen Souveränität ist, werden die Streitbeilegungsgremien aber bei der Prüfung des Vorliegens der Voraussetzungen besonders umsichtig vorzugehen haben. Außerdem ist das Ausmaß der rechtlichen Überprüfung bereits durch den Wortlaut des Art. XXI GATT beschränkt. Denn sowohl Art. XXI lit. a) als auch lit. b) GATT stellen hinsichtlich einiger ihrer Voraussetzungen auf die Auffassung der WTO-Mitglieder ab.536 Daher ist die Überprüfung der Streitbeilegungsgremien darauf beschränkt, ob WTO-Mitglieder die politischen Gründe auf 535  „We recognized that there was a great danger of having too wide an excep­tion and we could not put it into the Charter, simply by saying: ‚by any Member of measures relating to a Member’s security interests,‘ because that would permit anything under the sun (…). We cannot make it too tight, because we cannot prohibit measures which are needed purely for security reasons. On the other hand, we cannot make it so broad that, under the guise of security, countries will put on measures which really have a commercial purpose.“ Zit. aus: Browne, Georgetown Law Journal 1997, 405, 411. 536  Vgl. C.III.5.a)cc)(1) zu den Voraussetzungen des Art. XXI lit. a) GATT und C.III.5.a)cc)(2) zu den Voraussetzungen des Art. XXI lit. b) GATT.

246

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

denen sie ihre handelsbeschränkenden Maßnahmen stützen, nachvollziehbar dargelegt haben und ob die Verhängung dieser handelsbeschränkenden Maßnahmen auch aufgrund dieser Gründe und nicht aus wirtschaftlichen Erwägungen erfolgte. Folglich sind die Streitbeilegungsgremien auf eine Kontrolle des offensichtlichen Missbrauchs dieser Ausnahmebestimmungen zur Wahrung der Sicherheit durch die WTO-Mitglieder beschränkt. cc) Die einzelnen Ausnahmebestimmungen des Art. XXI GATT Nachdem im vorherigen Abschnitt herausgearbeitet wurde, dass die Streitbeilegungsgremien im Falle des Berufens eines WTO-Mitgliedes auf diese Ausnahmebestimmung das Vorliegen der Voraussetzungen des Art. XXI GATT überprüfen können, sollen im Folgenden die einzelnen Voraussetzungen dieser Ausnahmebestimmung dargestellt werden. Gemeinsam haben jedoch alle in Art. XXI GATT enthaltenen Ausnahmebestimmungen, dass Art. XXI GATT anders als Art. XX GATT keinen Chapeau enthält. Damit entfällt ein Korrektiv, welches für einen gewissen Ausgleich zwischen den Rechten der WTO-Mitglieder, die sich auf ihre Sicherheitsinteressen berufen und den Rechten der WTO-Mitglieder, die das im GATT gewährleistete Recht zum Warenhandel ausüben wollen. (1) Das Auskunftsverweigerungsrecht des Art. XXI lit. a) GATT Art. XXI lit. a) GATT ermöglicht es WTO-Mitgliedern Auskünfte zu verweigern, wenn „deren Preisgabe nach ihrer Auffassung ihren wesentlichen Sicherheitsinteressen zuwiderläuft“. Solche Informationspflichten der WTOMitglieder können sich etwa aus den Art. VI:6 lit. c), VII:1, X, XI lit. c), XII:4 lit. a) XVI:1, XVII:4 lit. a), b), c) oder aus XIX:2 GATT ergeben. Da die WTO-Mitglieder „nach ihrer Auffassung“ über die Preisgabe von Informationen entscheiden können, kommt es gerade auf die Sicht des WTO-Mitgliedes an, so dass von einem weiten Ermessen auszugehen ist. Von einem solchen großen Ermessensspielraum und einen sehr weiten Anwendungsbereich der Ausnahmebestimmung des Art. XXI lit. a) GATT scheinen auch die WTO-Mitglieder auszugehen. So haben es die USA im Rahmen der Handelsstreitigkeiten mit der Tschechoslowakei als entgegen ihren wesentlichen Sicherheitsinteressen angesehen, die Rohstoffe zu benennen, die sie als strategisch wichtig einstufen.537 Auch in der oben dargestellten Resolution der Vertragsparteien zum Falkland-Krieg wurde nur gefor537  van

den Bossche, S. 629.



III. Vergleich ähnlicher Ausnahmebestimmungen247

dert, dass das nach Art. XXI GATT die Handelsmaßnahmen verhängende Mitglied im größtmöglichsten Umfang hierüber informieren solle.538 Dagegen wird verlangt, dass das WTO-Mitglied, das Auskünfte verweigert, dies auch nachvollziehbar begründen muss.539 Dies erscheint zwar wünschenswert, lässt sich jedoch aus der bisherigen Praxis zu dieser Ausnahmebestimmung nicht entnehmen. Außerdem ist zu beachten, dass es sich bei den Informationspflichten deren Verletzung mittels des Art. XXI lit. a) GATT gerechtfertigt werden kann, um wirtschaftlich relativ unbedeutende Pflichten handelt. Ihre Durchsetzung mittels von den Streitbeilegungsgremien genehmigten Sanktionen erscheint eher unwahrscheinlich. Daher ist von einer besonderen Begründungspflicht nicht auszugehen. Der Begriff der „wesentlichen Sicherheitsinteressen“ wird im folgenden Abschnitt bei Darstellung der Ausnahmebestimmung des Art. XXI lit. b) GATT dargestellt,540 da Sachverhalte für die die in Art. XXI lit. b) GATT enthaltenen Ausnahmebestimmungen einschlägig waren, bislang eine größere praktische Relevanz hatten. (2) Die Ausnahmen des Art. XXI lit. b) GATT Während Art. XXI lit. a) GATT nur einen Rechtfertigungsgrund für die Verletzung von Informationspflichten darstellt, rechtfertigt Art. XXI lit. b) GATT Ein- und Ausfuhrbeschränkungen sowie andere wirtschaftliche Maßnahmen. Damit erlaubt diese Ausnahmebestimmung ein Abweichen von Kernverpflichtungen der WTO-Mitglieder aus dem GATT. Art. XXI lit. b) GATT enthält drei unterschiedliche Ausnahmebestimmungen, die verschiedene Sachverhalte regeln. Gemeinsam haben sie jedoch, dass hinsichtlich jeder dieser Ausnahmebestimmungen die durch die WTO-Mitglieder verhängten Maßnahmen „nach ihrer Auffassung zum Schutz ihrer wesentlichen Sicherheitsinteressen notwendig sind“. Es ist also zwischen den Begriff der „wesentlichen Sicherheitsinteressen“ und dem Notwendigkeitskriterium zu unterscheiden. Unter „wesentlichen Sicherheitsinteressen“ fallen solche staatliche Interessen, die nicht die wirtschaftliche Situation eines WTO-Mitgliedes betreffen, sondern schwerwiegende Beeinträchtigungen seiner politischen und militärischen Interessen darstellen.541 Dazu passen sicherlich nur schwerlich 538  Vgl. C.III.5.a)aa) zur Resolution der GATT-Vertragsparteien, die aufgrund der Handelssanktionen erging, die von einigen der damaligen GATT-Vertragsparteien aufgrund des Falkland-Krieges gegen Argentinien verhängt wurde. 539  Hahn, S. 292. 540  Vgl. C.III.5.a)cc)(2). 541  Prieß / Berrisch,  S. 155.

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C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

– wie von Nicaragua bereits im Streitbeilegungsverfahren kritisch angemerkt – die Auswirkungen, die ein kleines Entwicklungsland wie Nicaragua auf eine Weltmacht wie die USA haben kann.542 Jedenfalls lässt sich die Aufrechterhaltung einheimischer Industriekapazitäten für Schuhe hierunter nicht subsumieren. Anderenfalls droht die Anerkennung einer Ausnahmebestimmung für jeden Industriezweig, der jedenfalls entfernt mit Fragen der Sicherheit in Verbindung gebracht werden kann, wie etwa die Lebensmittelproduktion oder die Schwerindustrie. Für den Schutz bestimmter Industriezweige, die die WTO-Mitglieder schützen wollen, stellt zudem der Art. XIX GATT die speziellere Ausnahmebestimmung dar.543 Das WTO-Mitglied muss nach seiner Auffassung auch die getroffenen Maßnahmen als notwendig zum Schutz seiner „wesentlichen Sicherheitsinteressen“ halten. Es erscheint nahe liegend, dass ein Streitbeilegungsgremium der WTO sich im Fall des Befassens mit dieser Ausnahmebestimmung an der zum Begriff des Notwendigkeitskriteriums in Art. XX GATT orientieren würde.544 Dafür spricht auch die Nähe und Ähnlichkeit, die die Ausnahmebestimmung des Art. XX GATT zu der Ausnahmebestimmung des Art. XXI GATT aufweist. Allerdings wird den WTO-Mitgliedern bei der Bestimmung des Notwendigkeitskriteriums im Rahmen des Art. XXI GATT ein wesentlich größerer Ermessensspielraum einzuräumen sein, als im Rahmen des Art. XX GATT. Denn WTO-Mitglieder können „nach ihrer Auffassung“ über die Notwendigkeit einer Maßnahme entscheiden. Nicht auf die subjektive Auffassung eines WTO-Mitgliedes wird hingegen in den in Art. XXI lit. b) (i)–(iii) GATT genannten Anwendungsbereichen abgestellt. Die Ausnahmebestimmung des Art. XXI lit. b) (i) GATT erlaubt es den WTO-Mitgliedern handelsbeschränkende Maßnahmen in Bezug auf „spaltbare Stoffe oder die Rohstoffe, aus denen sie hergestellt werden“ zu treffen. Daher kann die Ausfuhr von spaltbaren Stoffen oder Uran, sei es zu zivilen oder militärischen Zwecken, verboten werden. Durch diese Ausnahmebestimmung soll die nukleare Weiterverbreitung verhindert werden.545 Da die von dieser Ausnahmebestimmung betroffenen Waren besonders gefährlich sind, wird auch an die Voraussetzungen des Vorliegens „wesentlicher Sicherheitsinteressen“ keine besonders hohen Anforderungen zu stellen sein. Es ist jedoch nicht damit zu rechnen, dass Art. XXI lit. b) (i) GATT eine 542  GATT Panel Report, United States – Trade Measures Affecting Nicaragua (Nicaragua II), Rn. 4.5. 543  Vgl. C.III.6.a) zu den Voraussetzungen des Art. XIX GATT. 544  Vgl. C.III.1.a)cc); C.III.2.a)bb) und C.III.4.a)bb) zu den Voraussetzungen des Notwendigkeitskriteriums. 545  Matsushita / Schoenbaum / Mavroidis, S. 596.



III. Vergleich ähnlicher Ausnahmebestimmungen249

größere praktische Relevanz erfahren wird. Denn die Frage der Weiterverbreitung nuklearen Materials ist in zahlreichen spezielleren internationalen Abkommen geregelt,546 wie etwa dem Atomwaffensperrvertrag. Außerdem wird der Anwendungsbereich dieser Ausnahmebestimmung von der internationalen Atomaufsichtsbehörde IAEA („Internationale Atomenergieorganisation“) überwacht. Die IAEA ist eine besondere Organisation der UNO, die insbesondere die militärische Nutzung der Kernenergie durch Überwachungsmaßnahmen verhindern soll. Die Ausnahmebestimmung des Art. XXI lit. b) (ii) GATT rechtfertigt hingegen handelsbeschränkende Maßnahmen in Bezug auf den Handel mit Kriegsgütern oder Waren die für militärische Zwecke eingesetzt werden können. Zu unterscheiden ist dabei zwischen dem relativ klar bestimmba­ ren „Waffen, Munition und Kriegsmaterial“. Unter diesen Begriffen kann alles subsumiert werden, das auf eine Zerstörungswirkung ausgelegt ist.547 Schwieriger ist hingegen die Bestimmung der Waren, die „mittelbar oder unmittelbar zur Versorgung von Streitkräften“ dienen. Schließlich kann jede Ware wenigstens mittelbar militärischen Zwecken dienen. Aufgrund der Missbrauchsgefahr wird diese Voraussetzung der Ausnahmebestimmung also nur eingeschränkt auszulegen sein. Es können daher nur solche Waren unter die zweite Alternative dieser Ausnahmebestimmung subsumiert werden, denen eine besondere Bedeutung für militärische Zwecke zukommt.548 Den WTO-Mitgliedern wird hierbei aber ein besonders großer Ermessensspielraum nicht abzusprechen sein. Schuhe, wie im schwedischen Beispiel, dürften aber außerhalb dieses Ermessensspielraumes liegen. Unter diese zweite Alternative der Ausnahmebestimmung des Art. XXI lit. b) GATT fallen auch sog. „dual-use“ – Waren oder Mehrzweckgüter, also Waren die wie viele Hochtechnologien sowohl zu militärischen als auch zu zivilen Zwecken eingesetzt werden können. Zur Bestimmung solcher Waren kann jedoch auf das internationale Exportkontrollregime des Wassenaar-Arrangements zurückgegriffen werden. Dieses führt eine regelmäßig aktualisierte Liste über Mehrzweckgüter.549 Art. XXI lit. b) (iii) GATT ist die weitestgehende Ausnahmebestimmung des Art. XXI GATT. Hiernach können WTO-Mitglieder Maßnahmen rechtfertigen, die sie „in Kriegszeiten oder bei sonstigen ernsten Krisen in den internationalen Beziehungen“ treffen. Auch diese Ausnahmebestimmung weist daher wie der Art. XXI lit. b) (ii) GATT zwei Tatbestandsalternativen auf. Unter dem Begriff in „Kriegszeiten“ ist ein internationaler bewaffneter McGovern, S. 430, 431; Werner, RIW 1998, S. 179. Neutralität und Waffenhandel, S. 232. 548  Hahn, S. 306. 549  Werner, RIW 1998, 179. 546  Vgl.

547  Oeter,

250

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

Konflikt zu verstehen.550 Wesentlich unbestimmter ist hingegen die zweite Tatbestandsalternative dieser Ausnahmebestimmung der Begriff der „sonstigen ernsten Krisen in den internationalen Beziehungen“. Die Auffassungen was hierunter zu verstehen ist, bewegen sich zwischen den Polen, dass hierunter schon jedwede alleine aus politischen Gründen vorgenommen Verhängung einer handelsbeschränkenden Maßnahme zu verstehen ist auf der einen Seite und dem Erfordernis, dass das die handelsbeschränkenden Maßnahme verhängende WTO-Mitglied unter völkerrechtlichen Gesichtspunkten auch zur Verwendung militärischer Gewalt berechtigt ist.551 Für eine enge Auslegung dieser Tatbestandsalternative spricht, dass anderenfalls schon alleine abgekühlte politisch Beziehungen zwischen Staaten zur Rechtfertigung von handelsbeschränkenden Maßnahmen gebraucht werden könnten. Außerdem steht diese Tatbestandsalternative im Zusammenhang mit anderen Anwendungsbereichen des Art. XXI lit. b) GATT, wie etwa Krieg sowie Handel mit Kriegsmaterial und spaltbaren Material. Daher können von dieser Tatbestandsalternative nur besonders schwere und ernsthafte politische Krisen erfasst werden.552 Auch wenn die WTO-Mitglieder nach dem Wortlaut nicht nach ihrer Auffassung urteilen können, ob diese Tatbestandsalternative vorliegt, wird ihnen ein besonderes Ermessen nicht abgesprochen werden können. Vorgeschlagen wird auch die Tatbestandsalternative dieser Ausnahmebestimmung als Rechtfertigung für handelsbeschränkende Maßnahmen zu verwenden, mittels derer gravierende Menschenrechtsverletzungen im Hoheitsgebiet anderer WTO-Mitglieder abgestellt werden sollen.553 Dafür kann angeführt werden, dass schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen im Völkerrecht zunehmend als eine Bedrohung der internationalen Friedens und Sicherheit anerkannt werden. Dagegen spricht jedoch, dass Art. XXI lit. b) GATT nach dem Einleitungssatz auf die nationalen Sicherheitsinteressen abstellt. Die schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen müssen daher jedenfalls eine gewisse Auswirkung auf das Hoheitsgebiet des die handelsbeschränkenden Maßnahmen verhängenden WTO-Mitgliedes haben. Dies wäre etwa der Fall, wenn durch Menschenrechtsverletzungen im Hoheitsgebiet eines WTO-Mitgliedes große Flüchtlingsbewegungen hervorgerufen werden würden, die sich auch massiv im Hoheitsgebiet eines anderen, etwa benachbarten WTO-Mitgliedes auswirken würden.

550  Prieß / Berrisch,

S. 157. S. 337. 552  Prieß / Berrisch, S. 158. 553  Cleveland, JIEL 2002, 133, 183 ff. 551  Hahn,



III. Vergleich ähnlicher Ausnahmebestimmungen251

(3) Die Ausnahmebestimmung des Art. XXI lit. c) GATT Art. XXI lit. c) GATT erlaubt es den WTO-Mitgliedern von ihren Verpflichtungen aus dem GATT abzuweichen, um ihren „Verpflichtungen aus der Satzung der Vereinten Nationen zur Erhaltung des internationalen Friedens und der internationalen Sicherheit zu genügen“. Umstritten ist in diesem Zusammenhang, ob unter „Verpflichtungen aus der Satzung der Vereinten Nationen“ nur die nach Art. 41 UN-Charta für Staaten völkerrechtlich verbindlichen Maßnahmen des Sicherheitsrates zu verstehen sind oder ob auch Resolutionen des UN-Sicherheitsrates, die wie etwa Art. 39 UNCharta nur einen empfehlenden Charakter haben sowie Beschlüsse der Generalversammlung der Vereinten Nationen hierunter fallen. So haben die Niederlande im Zusammenhang mit einer nicht verbindlichen Resolution des UN-Sicherheitsrates über Rhodesien argumentiert, dass auch völkerrechtlich unverbindliche Resolutionen unter die Ausnahmebestimmung des Art. XXI lit. c) GATT fallen würden.554 Hiergegen spricht aber schon der Wortlaut dieser Ausnahmebestimmungen, die alleine auf die „Verpflichtungen aus der Satzung der Vereinten Nationen“ abstellt und nicht etwa auf Empfehlungen. Außerdem könnte anderenfalls jede unverbindliche Äußerung eines UN-Organs zur Rechtfertigung der Verhängung einer handelsbeschränkenden Maßnahme benutzt werden. Daher können WTO-Mitglieder nur handelsbeschränkende Maßnahmen aufgrund von nach Art. 41 UN-Charta völkerrechtlich verbindlichen Maßnahmen des Sicherheitsrates rechtfertigen. Als Beispiele für solche völkerrechtlich verbindliche Sanktionen des UNSicherheitsrates, die jedenfalls auch zum Schutz vor schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen in den jeweiligen Ländern erlassen wurden, können die Resolutionen genannt werden, die gegen dem Irak, Rest-Jugoslawien und Burundi ergingen.555 Somit besteht durch die Ausnahmebestimmung des Art. XXI lit. c) GATT eine Rechtfertigungsmöglichkeit für handelsbeschränkende Maßnahmen, die zur Abstellung schwerwiegender Menschenrechtsverletzungen im Hoheitsgebiet eines anderen WTO-Mitgliedes beitragen sollen, wenn diese im Einklang mit verpflichtenden Sanktionen des UN-Sicherheitsrates ergehen. b) Ausnahmen zur Wahrung der Sicherheit im EU-Recht Im EU-Recht finden sich drei verschiedene Arten von Ausnahmen zur Wahrung der Sicherheit. So schützt Art. 36 AEUV auch die öffentliche Si554  Vgl.

555  Lim,

auch Hahn, S. 288. JWT 2001, 275, 287.

252

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

cherheit. Zudem hat der EuGH die öffentliche Sicherheit als eines der „objektiven Kriterien“ anerkannt, die eine Rechtfertigungsmöglichkeit für Verstöße gegen Art. 110 AEUV darstellen. Schließlich finden sich in den Art. 346 ff. AEUV Ausnahmebestimmungen zur Wahrung der Sicherheit. Diese drei verschiedenen Ausnahmen sollen im Folgenden dargestellt werden. Dabei soll auch der unterschiedliche Anwendungsbereich dieser Ausnahmen herausgearbeitet werden. aa) Die Ausnahmebestimmung zur Wahrung der Sicherheit des Art. 36 AEUV Art. 36 AEUV schützt auch die öffentliche Sicherheit. Die dazu genannten legitimen Schutzziele der öffentlichen Sittlichkeit und der öffentlichen Ordnung werden jedoch an anderer Stelle untersucht und dargestellt, da sie wie die öffentliche Sittlichkeit nicht in Art. XXI GATT, sondern in Art. XX lit. a) GATT ihr Äquivalent finden,556 bzw. wie die öffentliche Ordnung kein Äquivalent im WTO-Recht haben.557 Bei der Untersuchung der Ausnahmebestimmung der öffentlichen Ordnung wird auch auf diejenigen Entscheidungen eingegangen, in denen die EU-Mitgliedstaaten zur Rechtfertigung von Beeinträchtigungen der Warenverkehrsfreiheit auf die anderenfalls drohende gewaltsame Reaktion von Interessensgruppen verwiesen, die von den Auswirkungen des unbegrenzten Wettbewerbes negativ betroffen wurden. Zwar berufen sich die EU-Mitgliedstaaten in diesen Entscheidungen sowohl auf das legitime Schutzziel der öffentlichen Sicherheit als auch auf das legitime Schutzziel der öffentlichen Ordnung.558 Jedoch erscheint in diesen Fällen gewalttätiger interner Auseinandersetzungen eher das legitime Schutzziel der öffentlichen Ordnung einschlägig. Denn bei gewalttätigen Protesten stehen die Verhinderung schwerwiegende Gesetzesverletzungen und nicht die Bewahrung der staatlichen Souveränität im Vordergrund. Die Ausnahmebestimmungen zur Wahrung der öffentlichen Sicherheit haben daher eher einen außenpolitischen, die zur Wahrung der öffentlichen Ordnung eher einen innenpolitischen Bezug. Außerdem handelt es sich bei der öffentlichen Sicherheit um einen Teilbereich der öffentlichen Ordnung.559 Dies erklärt das undifferenzierte Berufen der EU-Mitgliedstaaten sowohl auf die Ausnahmebestimmung der öffentlichen Sicherheit als auch auf die Ausnahmebestimmung der öffentlichen Ordnung, 556  Vgl.

C.III.1.b) zur öffentlichen Sittlichkeit im EU-Recht. C.V.1. zur öffentlichen Ordnung im EU-Recht. 558  Vgl. nur EuGH Urt. v. 29.01.1985, Rs. 231  / 85, Henri Cullet . / . Centre Le­ clerc, Slg. 1985, 305, 324, Rn. 32. 559  Frenz, Rn. 945. 557  Vgl.



III. Vergleich ähnlicher Ausnahmebestimmungen253

obwohl in den genannten Fällen die Ausnahmebestimmung der öffentlichen Ordnung einschlägig wäre. Anders als im Rahmen der Ausnahmebestimmung der „öffentlichen Sittlichkeit“ steht den EU-Mitgliedstaaten nicht das grundsätzliche Recht zu, den Begriff der öffentlichen Sicherheit zu bestimmen. Stattdessen handelt es sich um einen gemeinschaftsrechtlichen Begriff, den die EU-Mitgliedstaaten zwar in einer gewissen Hinsicht ausfüllen können, der aber durch den EuGH nach eigenen – gemeinschaftsrechtlichen Kriterien – ausgelegt wird.560 Der EuGH hat bislang nur in wenigen Entscheidungen die Gelegenheit gehabt, sich mit der Ausnahmebestimmung der öffentlichen Sicherheit des Art. 36 AEUV zu beschäftigen. Dabei hat der EuGH den Begriff der öffentlichen Sicherheit in Art. 36 AEUV eher weit ausgelegt.561 Der EuGH hat klargestellt, dass das legitime Schutzziel der öffentlichen Sicherheit sowohl die innere als auch die äußere Sicherheit eines EU-Mitgliedstaates umfasst,562 insbesondere „das Funktionieren seiner Wirtschaft, (…) das seiner Einrichtungen und seiner wichtigen öffentlichen Dienste und (…) das Überleben seiner Bevölkerung.“563 So kann ein EU-Mitgliedstaat zur Gewährleistung der inneren Sicherheit Verstöße gegen die Warenverkehrsfreiheit rechtfertigen, durch welche die Versorgung mit Waren sichergestellt werden soll, die für die Aufrechterhaltung des Gemeinwesens und das Überleben der Bevölkerung unverzichtbar sind. Daher war ein irisches Gesetz gerechtfertigt, welches Ölimporteuren aufgab 35 Prozent ihres Bedarfes zu einem festgeschriebenen Preis von einer inländischen Ölraffinerie zu kaufen. Hierdurch sollte die Sicherung der Erdölversorgung Irlands gewährleistet werden.564 Allerdings wird die Möglichkeit einer solchen Rechtfertigung auf wenige, essentiell wichtige Waren der Grundversorgung beschränkt sein, deren Versorgung auch nicht im Wege des Handels zwischen den EU-Mitgliedstaaten gewährleistet werden kann.565 So lehnte der EuGH die Rechtfertigung von handelsbeschränkenden Maßnahmen der griechischen Regierung zur Sicherung der Erdölversorgung ab, da diese Maßnahmen von griechischer Seite auch aufgrund 560  Millarg,

S. 142. S. 72. 562  EuGH Urt. v. 04.10.1991, Rs. C-367 / 89, Strafverfahren gegen Aimé Richardt und „Les Accessoires Scientifiques“ SNC, Slg. 1991, I-4621, 4652, Rn. 22. 563  EuGH Urt. v. 10.07.1984, Rs. 72 / 83, Campus Oil Ltd. . / . Minister für Indus­ trie und Energie, Slg. 1984, 2727, 2751, Rn. 34. 564  EuGH Urt. v. 10.07.1984, Rs. 72 / 83, Campus Oil Ltd. . / . Minister für Indus­ trie und Energie, Slg. 1984, 2727, 2755, Rn. 51. 565  Frenz, Rn. 945. 561  Barnard,

254

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

wirtschaftlicher Erwägungen verhängt wurden.566 Auch sonst waren die Berufungen der EU-Mitgliedstaaten auf diese Ausnahmebestimmung zum Schutz ihrer inneren Sicherheit nicht sehr erfolgreich. Ebenso ging der EuGH nicht auf die von Deutschland vorgetragene Rechtfertigung für Einfuhrbeschränkungen für Elektrizität aus Gründen der öffentlichen Sicherheit zur Gewährleistung der nationalen Stromversorgung ein. Das deutsche Argument wurde jedoch bereits vom Generalanwalt zurückgewiesen, da dieser u. a. keine besonders schwerwiegende Beeinträchtigung der Versorgungssicherheit gegeben sah.567 Zur Gewährleistung der äußeren Sicherheit können Aus- und Einfuhrverbote gerechtfertigt werden, wenn sie der Vermeidung äußerer Bedrohungen dienen. Daher war ein luxemburgisches Gesetz welches die Ausfuhr, Einfuhr und Durchfuhr von Waren von strategischer Bedeutung, die die Sicherheit eines EU-Mitgliedstaates beeinträchtigen können, von einer besonderen Genehmigung abhängig machte, gerechtfertigt.568 Die meisten von den EUMitgliedstaaten verhängten Ein- und Ausfuhrverbote zur Gewährleistung der äußeren Sicherheit dürften jedoch unter den Art. 346 AEUV fallen. Denn dieser stellt die speziellere Ausnahmebestimmung dar, soweit es sich um den Handel mit Waffen, Munition und Kriegsmaterial handelt.569 bb) Die Ausnahme zur Wahrung der Sicherheit aufgrund „objektiver Kriterien“ im Rahmen des Art. 110 AEUV Wie oben bereits dargestellt, können indirekt diskriminierende Besteuerungen durch EU-Mitgliedstaaten gerechtfertigt werden, wenn diese anhand „objektiver Kriterien“ zur Verfolgung legitimer Schutzziele beitragen.570 Nach der Rechtsprechung des EuGH zählt zu diesen „objektiven Kriterien“ auch die öffentliche Sicherheit. Dies folgt aus einer Entscheidung, in der der EuGH in einer indirekt diskriminierenden Besteuerung kein Verstoß gegen den Art. 110 AEUV sah. Diese Beeinträchtigung der Warenverkehrsfreiheit konnte nämlich aus Gründen der öffentlichen Sicherheit gerechtfertigt werden. Denn diese Besteuerung trug dazu bei, dass Erdöl einer wich566  EuGH Urt. v. 25.10.2001, Rs. C-398  / 98, Kommission . / . Griechenland, Slg. 2001, I-7915, 7942, Rn. 30. 567  Vgl. Schlussantrag des Generalanwalts Jacobs in: EuGH Urt. v. 13.03.2001, Rs.  C-379 / 98, PreussenElektra AG . / . Schleswag AG, Slg. 2001, I-2099, 2151, Rn.  207 ff. 568  EuGH Urt. v. 04.10.1991, Rs. C-367 / 89, Strafverfahren gegen Aimé Richardt und „Les Accessoires Scientifiques“ SNC, Slg. 1991, I-4621, 4652, Rn. 22. 569  Vgl. C.III.5.b)bb)(1) zu Art. 346 AEUV. 570  Vgl. B.II.2.c).



III. Vergleich ähnlicher Ausnahmebestimmungen255

tigeren Verwendung zukam.571 Dieses „objektive Kriterium“ schützt die öffentliche Sicherheit und stellt daher eine entsprechende Ausnahmebestimmung dar.572 cc) Die Ausnahmebestimmungen zur Wahrung der Sicherheit der Art. 346 ff. AEUV Die Ausnahmebestimmungen zur Wahrung der Sicherheit der Art. 346 ff. AEUV gelten für alle Verpflichtungen der EU-Mitgliedstaaten aus dem EUVertrag und damit auch in Bezug auf die Warenverkehrsfreiheit. Im Unterschied zu anderen Ausnahmebestimmungen im EU-Recht erlauben die Art. 346 ff. AEUV daher ein Abweichen von sämtlichen Verpflichtungen des EU-Rechts und nicht nur von bestimmten Bereichen, wie dies bei Art. 36 AEUV, den „zwingenden Erfordernissen“ der Cassis-Formel und den objektiven Kriterien der Fall ist. Die Art. 346 ff. AEUV enthalten in Art. 346 und Art. 347 AEUV sechs verschiedene Ausnahmebestimmungen. In Art. 348 AEUV ist die Möglichkeit der Überprüfung der von den EU-Mitgliedstaaten nach Art. 346 oder Art. 347 AEUV verhängten Maßnahmen durch die Kommission oder durch andere EU-Mitgliedstaaten vorgesehen. Außerdem enthält Art. 348 AEUV die Möglichkeit einer Missbrauchskontrolle durch den EuGH für die nach Art. 346 und Art. 347 AEUV verhängten Maßnahmen der EU-Mitgliedstaaten. Diese Missbrauchskontrolle durch den EuGH ist jedoch darauf beschränkt, zu prüfen, ob der EU-Mitgliedstaat sich an das Verfahren des Art. 346 AEUV oder des Art. 347 AEUV gehalten hat und ob die getroffenen Maßnahmen verhältnismäßig gewesen sind.573 (1) Die Ausnahmebestimmungen des Art. 346 AEUV Art. 346 AEUV enthält drei Ausnahmebestimmungen. Eine in Art. 346 Abs. 1 lit. a) AEUV und weitere zwei in Art. 346 Abs. 1 lit. b) AEUV. Gemeinsame Voraussetzung für das Vorliegen dieser Ausnahmebestimmungen ist jeweils, dass „wesentliche Sicherheitsinteressen“ eines EU-Mitgliedstaates betroffen sind. Unter „wesentlichen Sicherheitsinteressen“ ist ähnlich wie beim Begriff der „öffentlichen Sicherheit“ im Rahmen des Art. 36 571  EuGH Urt. v. 14.01.2981, Rs. C-140 / 79, Chemical Farmateuci S.p.A. . / . DAF S.p.A, Slg. 1981, 1, 14, Rn. 13; EuGH Urt. v. 14.01.1981, Rs. 46 / 80, S.p.A. Vinal . / . S.p.A. Orbat, Slg. 1981, 77, 93, Rn. 12. 572  Vgl. auch Bernard, The Four Freedoms, S. 54. 573  Koutrakos, CMLR 2000, 1339, 1355; Calliess / Ruffert, Art. 298 EGV Rn. 9 (Calliess).

256

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

AEUV sowohl die äußere als auch die innere Sicherheit eines EU-Mitgliedstaates erfasst. Allerdings ist der Begriff der „wesentlichen Sicherheitsinteressen“ enger auszulegen.574 Nach Art. 346 Abs. 1 lit. a) AEUV können EU-Mitgliedstaaten sicherheitsrelevante Auskünfte verweigern, die sie anderenfalls aufgrund von gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen geben müssten. Nach dieser Ausnahmebestimmung kann ein EU-Mitgliedstaat die Auskunft verweigern, wenn dies „seines Erachtens für die Wahrung seiner wesentlichen Sicherheitsinteressen erforderlich“ ist. Es wird also schon aus dem Wortlaut deutlich, dass dem jeweiligen EU-Mitgliedstaat ein weites Ermessen eingeräumt wird. Allerdings wird der EU-Mitgliedstaat, der die Erteilung von Auskünften verweigert, dies detailliert begründen müssen.575 Diese Ausnahmebestimmung hat jedoch bis heute keine praktische Relevanz gehabt.576 Nach Art. 346 Abs. 1 lit. b) AEUV kann ein EU-Mitgliedstaat Maßnahmen rechtfertigen, „die seines Erachtens für die Wahrung seiner wesentlichen Sicherheitsinteressen“ hinsichtlich der „Erzeugung von Waffen, Munition und Kriegsmaterial“ und dem Handel mit diesen Waren erforderlich sind. Auch diese Ausnahmebestimmung räumt dem betreffenden EU-Mitgliedstaat nach ihrem Wortlaut ein weites Ermessen ein. Die militärisch relevanten Waren, auf die diese Ausnahmebestimmung Anwendung findet, sind nach Art. 346 Abs. 2 AEUV in einer vom Rat bereits im Jahr 1958 beschlossenen und bis heute nicht erweiterten Liste festgelegt.577 Art. 346 Abs. 1 lit. b) AEUV erlaubt daher sowohl handelsbeschränkende Maßnahmen durch die EU-Mitgliedstaaten, die die Produktion von und den Handel mit Kriegsmaterial betreffen. Die Erzeugung von Kriegsmaterial betrifft eher Bereiche außerhalb der Warenverkehrsfreiheit wie das Beihilfe- oder Kartellrecht. Durch die Tatbestandsvariante des Handelns mit Kriegsmate­ rial können jedoch etwa Aus- oder Einfuhrverbote gerechtfertigt werden. (2) Die Ausnahmebestimmungen des Art. 347 AEUV Art. 347 AEUV enthält drei Ausnahmetatbestimmungen. Nach der ersten Ausnahmebestimmung können die EU-Mitgliedstaaten von den Verpflichtungen aus dem EU-Vertrag abweichen, wenn eine schwerwiegende innerstaatliche Störung der öffentlichen Ordnung besteht, also eine Beeinträchtigung der inneren Sicherheit gegeben ist. Nach der zweiten Ausnahmebe574  Grabitz / Hilf,

Art. 296 EG Rn. 14 (Jaeckel / Kotzur). Art. 296 EGV Rn. 6 (Karpenstein). 576  Peers, Yearbook of European Law 1996, 363, 379. 577  Grabitz / Hilf, Art. 296 EG Rn. 19 (Jaeckel / Kotzur). 575  Schwarze,



III. Vergleich ähnlicher Ausnahmebestimmungen257

stimmung können dies die EU-Mitgliedstaaten in Fällen des Krieges und der Kriegsgefahr tun, also wenn eine Beeinträchtigung der äußeren Sicherheit gegeben ist. Die dritte Ausnahmebestimmung erlaubt dies den EUMitgliedstaaten zur Erfüllung einer Verpflichtung zur Aufrechterhaltung des Friedens und der internationalen Sicherheit. Falls ein EU-Mitgliedstaat aufgrund einer der drei Ausnahmetatbestimmungen des Art. 347 AEUV handelsbeschränkende Maßnahmen ergreift, ist er verpflichtet ein Konsultationsverfahren einzuleiten, in dessen Rahmen die EU-Mitgliedstaaten und die Kommission durch ein gemeinsames Vorgehen Funktionsstörungen für den Binnenmarkt abwehren sollen. Eine Beeinträchtigung der inneren Sicherheit i. S. d. Art. 347 AEUV liegt vor, wenn eine Bedrohung oder ein Zusammenbruch der verfassungsmäßigen Ordnung gegeben ist.578 Diese Beeinträchtigung muss also viel weiter reichen, als eine Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit i. S. d. Art. 36 AEUV.579 Einen solchen Fall hat der EuGH bislang nicht angenommen. Eine Beeinträchtigung der äußeren Sicherheit i. S. d. Art. 347 AEUV liegt vor, wenn ein EU-Mitgliedstaat sich im Kriegsfall befindet, d. h. in einem internationalern bewaffneten Konflikt verwickelt ist.580 Obwohl sich bereits mehrere EU-Mitgliedstaaten in einem internationalen bewaffneten Konflikt befanden, etwa Großbritannien im Falkland-Krieg, hat sich bis heute kein EU-Mitgliedstaat zur Rechtfertigung von Verstößen gegen seine Verpflichtungen aus dem EU-Vertrag darauf berufen, dass es sich im Krieg befindet. Im Rahmen des Falkland-Krieges wichen jedoch einige EU-Mitgliedstaaten wie Italien, Irland und Dänemark von den beschlossenen Sanktionen der EU vorzeitig ab, ohne sich hierbei allerdings explizit auf die Art. 346 ff. AEUV zu berufen. Gegen Dänemark leitete die Kommission daraufhin ein Vertragsverletzungsverfahren ein, welches aber nicht zu Ende gebracht wurde.581 Von größerer Relevanz ist jedoch die zweite Tatbestandsvariante der Ausnahmebestimmung zum Schutz der äußeren Sicherheit für die eine ernste, eine Kriegsgefahr darstellende internationale Spannung gegeben sein muss. Hierauf berief sich Griechenland um ein nahezu vollständiges Handelsembargo gegen die ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien (EJRM) zu rechtfertigen. Hierdurch verstieß Griechenland gegen seine Verpflichtungen aus dem EU-Vertrag, u. a. auch gegen die Warenverkehrsfreiheit. Diese Sanktionen erließ Griechenland, da es aufgrund des Namens und der Staats578  Wirbel,

S. 82. Beschluss v. 19.03.1996, Kommission . / . Griechenland, Schlussantrag des Generalanwalts Jacobs, Slg. 1996, I-1513, 1526, Rn. 47. 580  Calliess / Ruffert, Art. 297 Rn. 4 (Calliess). 581  Groeben / Thiesing / Ehlermann, Art. 224 Rn. 25 (Gilsdorf / Kuijper). 579  EuGH

258

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

symbole der EJRM territoriale Ansprüche fürchtete. Die Kommission nahm die Klage jedoch aufgrund eines mit Griechenland erzielten Kompromiss zurück, so dass der EuGH die Begründetheit der Klage nicht prüfte.582 Der zuständige Generalanwalt hat aber in seinem Schlussantrag den EU-Mitgliedstaat, der sich auf Art. 346 und Art. 347 AEUV beruft, eine nahezu völlige Gestaltungsfreiheit eingeräumt. Denn er ging davon aus, dass es sich bei der Einstufung, ob eine Situation eine „ernste einer Kriegsgefahr darstellenden internationalen Spannung“ darstelle, um eine politische Frage handele, die juristisch nicht überprüft werden könne.583 Aufgrund der letzten in Art. 347 AEUV enthaltenen Ausnahmebestimmung kann ein EU-Mitgliedstaat einen Verstoß gegen seine Verpflichtungen aus dem EU-Vertrag rechtfertigen, wenn dies der Aufrechterhaltung des Friedens und der internationalen Sicherheit dient und der EU-Mitgliedstaat hierzu völkerrechtlich verpflichtet ist. Hierunter fallen völkerrechtlich verbindliche Beschlüsse des UN-Sicherheitsrates, aber auch verbindliche Verpflichtungen durch Regionalorganisationen wie der NATO.584 (3) D  ie Missbrauchskontrolle der Ausnahmebestimmungen der Art. 346 und Art. 347 AEUV Falls ein EU-Mitgliedstaat sich zur Rechtfertigung eines Verstoßes gegen seine Verpflichtungen aus dem EU-Vertrag auf eine der Ausnahmebestimmungen der Art. 346 und Art. 347 AEUV beruft, ist die gerichtliche Überprüfung durch den EuGH nach Art. 348 Abs. 2 AEUV auf eine Missbrauchskontrolle beschränkt. Der zuständige Generalanwalt in der MazedonienEntscheidung nahm einen Missbrauch dieser Ausnahmebestimmungen jedenfalls dann an, wenn handelsbeschränkende Maßnahmen nicht aufgrund eines politischen Streites, sondern zum Schutz der eigenen Wirtschaft verhängt würden. Ob der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit auch im Rahmen der Missbrauchskontrolle gilt, ließ der Generalanwalt offen. Er stellte jedoch auf die nur geringfügigen Auswirkungen des Handelsembargos für die Wettbewerbssituation innerhalb der EU ab. Zudem betonte der Generalanwalt, dass die Frage eines alternativen Vorgehens auf einer politischen Analyse beruht, die Sache des EU-Mitgliedstaates sei.585 582  EuGH Beschluss v. 19.03.1996, Kommission . / . Griechenland, Slg. 1996, I-1513, I-1540, Rn. 16. 583  EuGH Beschluss v. 19.03.1996, Kommission . / . Griechenland, Schlussantrag des Generalanwalts Jacobs, Slg. 1996, I-1513, 1530, Rn. 59. 584  Grabitz / Hilf, Art. 297 EG, Rn. 19 ff. (Jaeckel / Kotzur). 585  Schlussantrag des Generalanwalts Jacobs in EuGH Beschluss v. 19.03.1996, Kommission . / . Griechenland, Slg. 1996, I-1513, 1532, Rn. 67 ff.



III. Vergleich ähnlicher Ausnahmebestimmungen259

In der Literatur wird hingegen ein größeres Maß an gerichtlicher Kontrolle angenommen. Dem EuGH wird eine Evidenzkontrolle zugestanden, mittels derer er prüfen kann, ob die Einschätzung der Situation durch den EU-Mitgliedstaat evident unrichtig und ob die die von dem EU-Mitgliedstaat getroffenen Maßnahmen, etwa durch die Wahl evident ungeeigneter Mittel, grob unverhältnismäßig sind.586 Letztendlich ist jedoch den Ausführungen des Generalanwaltes in der Mazedonien-Entscheidung beizupflichten. Daher ist der EuGH in seiner Überprüfung auf eine Missbrauchskontrolle beschränkt. Denn es handelt sich um die Frage, ob eine politische Krisensituation vorliegt und wie diese beigelegt werden kann, also welche Mittel hierzu geeignet und erforderlich sind. Hierfür besitzen die Regierungen der EU-Mitgliedstaaten aber nicht nur die größere Sachkompetenz als der EuGH, sondern sie sind hierzu auch demokratisch legitimiert. Je gewichtiger die politischen Gründe sind, auf die sich ein EU-Mitgliedstaat für sein Handeln beruft, desto mehr tritt also die gerichtliche Kontrolle durch den EuGH zurück. c) Vergleich Die Ausnahmebestimmungen zur Wahrung der Sicherheit im WTO- und EU-Recht weisen große Gemeinsamkeiten auf. So ist Art. 347 AEUV den Art. XXI lit. b) und c) GATT nachgebildet worden. Der Wortlaut des Art. 346 Abs. 1 lit. a) AEUV wurde hingegen im Wesentlichen dem Art. XXI lit. a) GATT entnommen, der ebenfalls von wesentlichen Sicherheitsinteressen spricht. Bei der Ausarbeitung des EWG-Vertrages als Vorläufer des EU-Vertrages orientierte man sich also stark an dem Vorbild des GATT. Denn auch bei Gründung der EU fielen Fragen der inneren und äußeren Sicherheit nicht in den Rahmen der mit dem EWG-Vertrag von 1957 verfolgten Integration. Denn sowohl der EU-Vertrag als auch vor allem das GATT-Übereinkommen zielten jedenfalls ursprünglich insbesondere auf wirtschaftspolitische, aber nicht auf sicherheitspolitische oder militärische Bereiche ab. Deshalb war die Schaffung von Ausnahmebestimmungen zur Wahrung der Sicherheit für den Fall notwendig, dass es zu Wechselwirkungen zwischen diesen Bereichen kommen würde. Die Ausnahmebestimmungen der Art. XXI lit. b) (iii) und des Art. 347 AEUV spiegeln zudem den völkerrechtlich anerkannten Grundsatz wieder, dass es Staaten im Kriegsfall gestattet ist, völkerrechtliche Verträge, in denen sie sich gegenseitig zu Leistungen verpflichtet haben, zu suspendieren.587 Außerdem zeigen diese 586  Grabitz / Hilf, Art. 298 EG Rn. 11 (Jaeckel / Kotzur); Calliess / Ruffert, Art. 298 EGV Rn. 9 (Calliess); a. A.; Streinz, Art. 298 Rn. 9 (Kokott). 587  Ipsen, Völkerrecht, § 71 Rn. 7 ff.

260

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

Gemeinsamkeiten in den Ausnahmen zur Wahrung der Sicherheit, dass in den zwischenstaatlichen Beziehungen den nationalen Sicherheitsinteressen traditionell gegenüber Handelsvorteilen Priorität eingeräumt wird.588 Zudem hat schon Carl Schmitt gesagt, dass souverän ist, wer über den Ausnahmezustand bestimmen kann. Weder die EU-Mitgliedstaaten noch die WTOMitglieder scheinen auf Ausnahmebestimmungen verzichten zu wollen, an denen sie ihre Souveränität festmachen können. In der Zwischenzeit hat sich die EU allerdings weiterentwickelt und in ihren Kompetenz- und Koordinationsbereich fallen jetzt auch sicherheits­ politische Fragen. Dennoch haben Vorschläge der Kommission im Vorwege des Amsterdamer Vertrages, diese Ausnahmebestimmungen abzuschaffen, keinen Erfolg gehabt. Ebenso wurden diese Ausnahmebestimmungen auch in den nunmehr gescheiterten Verfassungsvertrag beibehalten.589 Dies spricht für die große Bedeutung von solchen Ausnahmebestimmungen für Regierungen, selbst in einer sehr weitgehend integrierten supranationalen Organisation wie der EU. Die Ausnahmebestimmungen zur Wahrung der Sicherheit sind zudem in beiden Rechtsordnungen nur einer sehr begrenzten juristischen Überprüfung zugänglich. Allerdings hat schon das Bundesverfassungsgericht, welchem es grundsätzlich fremd ist, staatliche Akte nicht der Judikative zu unterwerfen, ausgeführt, dass eine Regierung institutionell und personell durch Geheimdienste, diplomatische Kontakte sowie militärischen Mittel besser als ein Gericht in der Lage ist, die Außen- und Sicherheitspolitik zu bewerten.590 Weder die Streitbeilegungsgremien der WTO noch der EuGH wären also dazu gerüstet, ihre Einschätzung an die Stelle der Einschätzungen der Regierungen von WTO-Mitgliedern oder EU-Mitgliedstaaten zu setzen. Zudem handelt es sich bei Sachverhalten, die in den Anwendungsbereich dieser Ausnahmebestimmung fallen können, um grundlegende politische Richtungsentscheidungen. Diese zu treffen, sind Regierungen und Parlamente von WTO-Mitgliedern oder EU-Mitgliedstaaten jedoch nicht nur sachnäher, sondern genießen auch eine Legitimation, die sowohl den Streitbeilegungsgremien der WTO als auch den EuGH völlig fehlt. Dementsprechend sind statt einer tief greifenden juristischen Überprüfung die Ausnahmebestimmungen in beiden Rechtsordnungen durch die Verpflichtung geprägt, durch Konsultationen zu versuchen Funktionsstörungen für den liberalisierten Warenhandel bzw. den Binnenmarkt zu verhindern. Daher sind hinsichtlich der allgemeinen Ausnahmebestimmungen zur Wahrung der Sicherheit so588  van

den Bossche, S. 629. Art. III-132 EVV, der nur geringfügige textliche aber keine inhaltlichen Änderungen vorsah. 590  BVerfGE 68, 1, 87 ff. 589  Vgl.



III. Vergleich ähnlicher Ausnahmebestimmungen261

wohl die Streitbeilegungsgremien der WTO als auch der EuGH auf eine bloße Missbrauchskontrolle beschränkt. Neben diesen zahlreichen Gemeinsamkeiten finden sich jedoch auch verschiedene Unterschiede in den Ausnahmebestimmungen zur Wahrung der Sicherheit im WTO- und EU-Recht. Zunächst finden sich im EU-Recht neben den allgemeinen Ausnahmebestimmungen zur Wahrung der Sicherheit in den Art. 346 ff. AEUV auch eine spezielle Ausnahmebestimmung zur Wahrung der öffentlichen Sicherheit in Art. 36 AEUV, die nur Verletzungen der Warenverkehrsfreiheit rechtfertigt, und die vom EuGH geschaffene Ausnahmebestimmung zum Schutz der öffentlichen Sicherheit, welche eine diskriminierende Besteuerung rechtfertigt. Die Schaffung von eigenen Ausnahmebestimmungen ist den Streitbeilegungsgremien jedoch aufgrund des Verbots der Rechtsfortbildung nach Art. 3.2 und Art. 19.2 DSU verwehrt. Die Aufnahme des Schutzes der öffentlichen Sicherheit als legitimes Schutzziel in den Art. XX GATT hat sich hingegen bisher nicht als notwendig in dem Sinne erwiesen, dass mangels einer solchen Ausnahmebestimmung eine Schutzlücke für das legitime Schutzziel der öffentlichen Sicherheit bestehen würde. Denn auf EU-Ebene hat diese Ausnahmebestimmung bislang nur eine Rechtfertigungsmöglichkeit für Maßnahmen zur Gewährleistung der Versorgungssicherheit sowie Ein- und Ausfuhrverbote für Waren von strategischer Bedeutung gewährleistet. Ein- und Ausfuhrverbote für strategisch wichtige Waren können im WTO-Recht jedoch schon durch Art. XXI lit. b) (ii) GATT gerechtfertigt werden, der im Gegensatz zur Art. 346 Abs. 1 lit. b) AEUV auch Waren erfasst, die für militärische Zwecke eingesetzt werden können, d. h. Waren, die auch „mittelbar oder unmittelbar zur Versorgung von Streitkräften“ dienen. Daher geht Art. XXI lit. b) (ii) GATT in seinem Anwendungsbereich über Art. 346 Abs. 1 lit. b) AEUV hinaus und kann daher auch Ein- und Ausfuhrverbote für Waren von strategischer Bedeutung rechtfertigen, die im EU-Recht unter die Ausnahmebestimmung der öffentlichen Sicherheit des Art. 36 AEUV fallen würden. Allerdings enthält das GATT keine direkte Ausnahmebestimmung zur Gewährleistung der Versorgungssicherheit. Eine Rechtfertigungsmöglichkeit besteht lediglich für Rohstoffe nach den Art. XX lit. g) und i) GATT.591 Indes gelten diese Ausnahmebestimmungen nur für Rohstoffe, nicht für verarbeitete Ware, etwa Benzin statt Erdöl. Jedoch wurden auf Ebene der EU durch die Ausnahmebestimmung der öffentlichen Sicherheit des Art. 36 AEUV Maßnahmen zur Gewährleistung der Versorgungssicherheit gerechtfertigt oder versucht zu rechtfertigen, die nur einen Verstoß gegen die wei591  Vgl.

C.IV.3. zu Art. XX lit. g) GATT und C.IV.5. zu Art. XX lit. g) GATT.

262

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

tergehenderen Verpflichtungen aus dem EU-Vertrag darstellen, sich aber in Einklang mit den Verpflichtungen aus dem GATT befunden hätten. Art. XXI GATT unterscheidet sich auch darin von den Art. 346 ff. AEUV, dass er in Art. XXI lit. b) (i) GATT eine Ausnahmebestimmung für handelsbeschränkende Maßnahmen enthält, die auf spaltbare Stoffe abzielen. Das Fehlen einer ähnlichen Ausnahmebestimmung im EU-Vertrag erklärt sich jedoch damit, dass der Handel mit spaltbaren Stoffen durch den zeitgleich mit der EWG in Kraft getretenen Vertrag über die Europäische Atomgemeinschaft (EAG) geregelt war. Zudem ist die Möglichkeit handelsbeschränkende Maßnahmen auf Rüstungsgüter zu verhängen im WTO-Recht nicht nur auf solche beschränkt, die sich auf der vom Rat 1958 festgelegten – inzwischen technisch überholten – Warenliste befinden. Darüber hinaus geht Art. XXI lit. b) (ii) GATT in seinem Anwendungsbereich über Art. 346 Abs. 1 lit. b) AEUV hinaus und kann daher auch Ein- und Ausfuhrverbote für Waren von strategischer Bedeutung rechtfertigen. Auch sonst ist der Wortlaut der Ausnahmebestimmungen des Art. XXI GATT insgesamt offener als der der Ausnahmebestimmungen der Art. 346 ff. AEUV. Die WTO-Mitglieder haben daher einen noch weiteren Handlungsspielraum für den Einsatz unilateraler handelsbeschränkender Maßnahmen zur Wahrung ihrer Sicherheitsinteressen als die EU-Mitgliedstaaten. Diese Unterschiede erklären sich jedoch damit, dass die EU-Mitgliedstaaten nach den Art. 21 bis 46 EUV eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik betreiben. In diese Richtung war die EU auch von Anfang an hin angelegt. Die WTO ist hingegen als eine reine Handelsorganisation nicht für die Übernahme von Aufgaben in der Außen- und Sicherheitspolitik ausgelegt. Dies würde sie auch überfordern. Außerdem kann die Mitgliedsstruktur in der WTO in einem sicherheitspolitischen Sinne als wesentlich vielfältiger bezeichnet werden. So mögen zwischen verschiedenen EU-Mitgliedstaaten einige Animositäten bestehen. Tiefgreifende politische Auseinandersetzungen wie diese z. B. derzeit zwischen den WTO-Mitglied Israel und mehreren arabischen WTO-Mitgliedern, der USA und Venezuela, Großbritannien und Simbabwe bestehen, existieren auf Ebene der EU jedoch nicht. Auch kann grundsätzlich gesagt werden, dass die EU-Mitgliedstaaten in den internationalen Beziehungen mehr auf ein kooperatives Verhalten setzen, als dies oftmals auf weltweiter Ebene der Fall ist. Daher besteht auf Ebene der WTO eine größere Notwendigkeit für einen weitergehenderen politischen Spielraum als auf Ebene der EU. Infolgedessen ermöglicht das WTO-Recht auch Staaten wie den USA unilateral Kritiker zu bestrafen und Verbündete mit Handelsverträgen zu belohnen.592 592  Trebilcock / Howse,

S. 641.



III. Vergleich ähnlicher Ausnahmebestimmungen263

6. Ausnahmen aufgrund von Schutzmaßnahmen Die Ausnahmebestimmungen für Schutzmaßnahmen sind die einzigen unter den ähnlichen Ausnahmebestimmungen im WTO- und EU-Recht, bei denen das Äquivalent im EU-Recht nicht mehr in Kraft ist. So enthalten Art. XIX GATT und das Übereinkommen über Schutzmaßnahmen (ÜSM) für WTO-Mitglieder die Möglichkeit, zum Schutz einzelner Wirtschaftszweige, von Verpflichtungen aus dem GATT Abstand zu nehmen. Auch im ursprünglichen EU-Vertrag waren solche Ausnahmebestimmungen vorgesehen. Denn der EU-Vertrag enthielt verschiedene Möglichkeiten zur Durchbrechung der Warenverkehrsfreiheit bei wirtschaftlichen Notmaßnahmen, die jedoch zwischenzeitlich alle abgeschafft wurden. So war in Art. 226 EWG eine generelle Schutzklausel enthalten, auf die sich die damaligen EU-Mitgliedstaaten während einer bis Ende 1969 laufenden Übergangszeit berufen konnten, um handelsbeschränkende Maßnahmen zu rechtfertigen, mit denen auf erhebliche und voraussichtlich anhaltende Schwierigkeiten in einem Wirtschaftszweig oder Wirtschaftsgebiet reagiert wurde. Obwohl es daher seit 1970 keine ähnlichen Ausnahmebestimmungen für Schutzmaßnahmen im Recht der WTO und der EU mehr gibt, sollen die geltenden Ausnahmebestimmungen für Schutzklauseln im WTO-Recht und die ehemaligen Ausnahmebestimmungen für Schutzklauseln im EU-Recht dennoch zusammen dargestellt werden, um zu zeigen welche Gründe zur Notwendigkeit von solchen Schutzmaßnahmen in beiden Rechtsordnungen geführt haben und warum eine solche Rechtfertigungsmöglichkeit im EURecht nicht mehr enthalten sind. a) Die Ausnahmen für Schutzmaßnahmen im WTO-Recht Im GATT enthält Art. XIX GATT die Möglichkeit Verstöße gegen die Verpflichtungen des GATT zu rechtfertigen, wenn es sich um Schutzmaßnahmen handelt. Als Teil des Annexes zum WTO-Übereinkommen ist auch das ÜSM im Jahr 1994 in Kraft getreten. Das ÜSM stellt materielle Voraussetzungen für die Verhängung von Schutzmaßnahmen auf und setzt Verfahrensregeln fest. Damit eine Schutzmaßnahme gerechtfertigt ist, muss sie sowohl die Voraussetzungen des Art. XIX GATT als auch die des ÜSM erfüllen. Im ÜSM werden die Voraussetzungen für die Verhängung von Schutzmaßnahmen „definiert, klargestellt und in einigen Fällen modifiziert“.593 Vor Inkrafttreten des ÜSM griffen die damaligen Vertragsparteien des GATT ca. 150-mal auf das Verfahren des Art. XIX GATT zurück. Oftmals 593  Appellate

Body Report, Argentina – Imports of Footwear, Rn. 77.

264

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

benutzten sie aber zur Abwendung wirtschaftlicher Probleme, die aufgrund von Einfuhren aus anderen Ländern entstanden, die ebenfalls Vertragsparteien des GATT waren, andere Instrumente als Art. XIX GATT zur Beschränkung der Einfuhren. Durch „freiwillige“ Vereinbarungen, sog. „voluntary export restraints“, zwischen Ein- und Ausfuhrländer, verpflichten sich die Ausfuhrländer zu einer Beschränkung ihrer Ausfuhren.594 Von einer wirk­ lichen Freiwilligkeit konnte jedoch in diesen Fällen nicht die Rede sein. Denn die Ausfuhrländer unterwarfen sich diesen Vereinbarungen, da sie befürchteten anderenfalls noch einschneidenderen handelsbeschränkenden Maßnahmen unterworfen zu werden.595 Anders als die Schutzmaßnahmen des Art. XIX GATT waren für diese „freiwilligen“ Vereinbarungen keine Kompensationen notwendig. Außerdem konnten sie selektiv nur mit den Haupteinfuhrländern geschlossen werden.596 Aufgrund dieser Vorteile schlossen die ehemaligen Vertragsparteien des GATT wesentlich lieber solche „freiwilligen“ Vereinbarungen ab, als dass sie entsprechend dem Art. XIX GATT verfuhren. Diese „freiwilligen“ Vereinbarungen unterminierten jedoch das System des GATT, weshalb das ÜSM geschlossen wurde, um das System der Verhängung von Schutzmaßnahmen aus einem „Grauzonenbereich“ hinaus wieder in geregelte Bahnen zu bekommen. Auf die Ausnahmebestimmung für Schutzmaßnahmen darf sich ein WTOMitglied nur aus wirtschaftlichen Gründen berufen. Eine Berufung hierauf zum Zwecke des Schutzes sozialer Mindestrechte ist unstatthaft. Dies gilt auch dann, wenn die Nichtgewährleistung sozialer Mindestrechte Ursache der erhöhten Einfuhrmenge ist.597 aa) Voraussetzungen für die Verhängung von Schutzmaßnahmen und vorheriges Verwaltungsverfahren Art. XIX:1 lit. a) GATT und Art. 2 ÜSM stellen die Voraussetzungen für die Verhängung von Schutzmaßnahmen auf. Nach diesen Bestimmungen dürfen WTO-Mitglieder nur Schutzmaßnahmen verhängen, wenn insgesamt drei Voraussetzungen erfüllt sind. Diese Voraussetzungen sind das Vorliegen einer erhöhten Einfuhrmenge der fraglichen Waren, ein dadurch entstehender ernsthafter oder ein drohender ernsthafter Schaden für einen inländischen Wirtschaftszweig sowie ein Kausalitätserfordernis, wonach ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der erhöhten Einfuhr und den Schaden gegeben sein muss. 594  Prieß / Berrisch,

B.I.13. Rn. 2 (Berrisch). den Bossche, S. 448. 596  van den Bossche, S. 635. 597  Vgl. hierzu auch Blüthner, S. 324. 595  van



III. Vergleich ähnlicher Ausnahmebestimmungen265

Diese drei Voraussetzungen sind durch die einzelnen Bestimmungen des ÜSM und die Judikatur der Streitbeilegungsgremien näher konkretisiert worden. Das ÜSM stellt verschiedene Verfahrensvoraussetzungen auf, die ein WTO-Mitglied welches Schutzmaßnahmen verhängen möchte, vorher zu erfüllen hat. Hierdurch soll die Transparenz und die Interessen der von den Schutzmaßnahmen betroffenen WTO-Mitglieder gewahrt werden. So muss die Untersuchung der in Art. XIX GATT und der ÜSM niedergelegten Voraussetzungen aufgrund von vor der Untersuchung festgelegten und veröffentlichten Verfahrensregeln erfolgen. Die aufgrund der Untersuchungen getroffenen Maßnahmen sind zu begründen und zu veröffentlichen. Außerdem müssen im Rahmen der Untersuchung, die von der Verhängung der handelsbeschränkenden Maßnahmen betroffenen Parteien angehört werden. Fehler beim Untersuchungsverfahren führen dazu, dass das die Schutzmaßnahmen verhängende WTO-Mitglied nicht substantiiert darlegen kann, dass die in Art. XIX GATT und der ÜSM niedergelegten Voraussetzungen vorliegen. Folglich kann dann das WTO-Mitglied seinen Verstoß gegen seine Verpflichtungen aus dem GATT nicht rechtfertigen. bb) Arten, Dauer und Kompensationen für Schutzmaßnahmen Art. XIX GATT oder das ÜSM bestimmen nicht, welche Formen die von den WTO-Mitgliedern verhängten Schutzmaßnahmen anzunehmen haben. Da der Kernbestandteil der Liberalisierungsverpflichtungen des GATT das grundsätzliche Verbot der mengenmäßigen Beschränkungen und die Reduzierung der Zölle durch ihre Bindung in Zollzugeständnissen ist, werden Schutzmaßnahmen typischerweise die Form von höheren Zöllen, d. h. über der zugestandenen Bindung, welches einen Verstoß gegen Art. II:1 GATT darstellt,598 oder von mengenmäßigen Beschränkungen, welches einen Verstoß gegen Art. XI:1 GATT darstellt,599 annehmen. Schutzmaßnahmen sollen dem durch Einfuhren bedrohten inländischen Industriezweig nicht abschotten, sondern nur eine vorübergehende Atempause gewähren. In diesem Zeitraum sollen die notwendigen strukturellen Anpassungen an die durch die Handelsliberalisierungen entstandene Marktlage vorgenommen werden. Daher dürfen nach Art. 7 ÜSM Schutzmaßnahmen nur über eine Zeitdauer von vier Jahren verhängt werden. Über diesen Zeitraum müssen die Schutzmaßnahmen auch fortwährend gelockert werden. 598  Vgl.

B.I.1.a)aa) zur Bindung von Zollzugeständnissen im WTO-Recht. B.I.2.a) zum grundsätzlichen Verbot der mengenmäßigen Beschränkungen im WTO-Recht. 599  Vgl.

266

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

Unter bestimmten Voraussetzungen darf die Verhängung von Schutzmaßnahmen aber auch auf bis zu acht Jahre verlängert werden. Falls ein WTO-Mitglied Schutzmaßnahmen verhängt, muss es nach Art. XIX GATT und Art. 8 ÜSM den hiervon betroffenen WTO-Mitgliedern in Konsultationen Kompensationen anbieten, welche deren negativen Auswirkungen in einer angemessenen Weise ausgleichen sollen. Kommt es in den Konsultationen zu keiner Einigung, können die von den Schutzmaßnahmen betroffenen WTO-Mitglieder die Kompensationen einseitig festlegen. b) Die ehemaligen Ausnahmebestimmungen für Schutzmaßnahmen im EU-Recht Auch das EU-Recht enthielt Ausnahmebestimmungen für Schutzmaßnahmen mittels derer die Mitgliedstaaten von ihren Verpflichtungen zur Errichtung eines Gemeinsamen Marktes abweichen konnten. Als generelle Ausnahmebestimmung für Schutzmaßnahmen enthielt der EWG-Vertrag als Vorläufer des EU-Vertrages den Art. 226 EWG.600 Art. 226 EWG war aber auf eine Übergangszeit beschränkt und galt nach Art. 8 EWG nur bis zum 31.12.1969. Schon während der Übergangszeit verlor diese Ausnahmebestimmung zunehmend an Bedeutung.601 Mit dem Amsterdamer Vertrag wurde diese Norm, aus dem EU-Vertrag gestrichen. Bis dahin wurde sie auch noch zur Auslegung anderer Ausnahmebestimmungen herangezogen.602 Nach Art. 226 EWG konnten die Mitgliedstaaten bei erheblichen und voraussichtlich anhaltenden Schwierigkeiten in einem Wirtschaftszweig oder in einem Wirtschaftsgebiet bei der Kommission beantragen, handelsbeschränkende Maßnahmen verhängen zu können, die anderenfalls gegen das EU-Recht verstoßen würden. Art. 226 EWG stellte verschiedene Voraussetzungen auf. Zunächst musste der Mitgliedstaat das Vorliegen von erheblichen und voraussichtlich anhaltenden Schwierigkeiten feststellen. Anzeichen hierfür können etwa der Rückgang der Produktion und der Anzahl der Beschäftigten sein.603 Auf die Ursache der Schwierigkeit kam es nicht an. Denn diese Schwierigkeiten mussten nicht unbedingt auf die Einführung des Gemeinsamen Marktes 600  Daneben enthielt der EWG-Vertrag noch zahlreiche weitere Möglichkeiten Schutzmaßnahmen zu verhängen, vgl. hierzu Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 240 ff. Die meisten dieser Möglichkeiten zur Verhängung von Schutzmaßnahmen betrafen aber nicht die Warenverkehrsfreiheit. 601  Oppermann, EuR 1969, S. 232. 602  Groeben / Thiesing / Ehlermann, Art. 226 Rn. 3 (Schmidt). 603  Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 248 ff.



III. Vergleich ähnlicher Ausnahmebestimmungen267

zurückzuführen sein.604 Daher konnten auch andere Ursachen als die Liberalisierungsverpflichtungen aus dem EWG-Vertrag ein Abweichen der Mitgliedstaaten von der Warenverkehrsfreiheit begründen.605 Der Mitgliedstaat musste dann nach Art. 226 Abs. 1 EWG die Genehmigung zur Ergreifung solcher Schutzmaßnahmen bei der Kommission beantragen. Auf Grund dieses Antrages konnte die Kommission dann die „ihres Erachtens erforderlichen“ Schutzmaßnahmen bestimmen. Einen Katalog oder Beispiele für Schutzmaßnahmen enthielt der Art. 226 EWG nicht. Diese Ausnahmebestimmung stellte lediglich die Prämisse auf, dass die Schutzmaßnahmen geeignet sein müssen, „die Lage wieder auszugleichen oder den betreffenden Wirtschaftszweig an die Wirtschaft des Gemeinsamen Marktes anzupassen.“ In Betracht kamen u. a. Zölle, mengenmäßige Beschränkungen oder Beihilfen.606 Die Kommission konnte auch „die Bedingungen und Einzelheiten ihrer Anwendungen“ festlegen. Dabei hatte die Kommission nach Art. 226 Abs. 3 EWG mit Vorrang solche Schutzmaßnahmen auszuwählen, die das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes am wenigsten störten. Dabei konnte die Kommission auch Schutzmaßnahmen nur gegenüber einem Mitgliedstaat genehmigen, ohne dass dies ein Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot darstellte, falls die Schwierigkeiten der einheimischen Industrie nur von Einfuhren aus diesem Mitgliedstaat beeinträchtigt wurden. Das Verfahren nach Art. 226 EWG war zwingend. Die Mitgliedstaaten konnten sich weder auf die Dringlichkeit noch auf den Ernst der wirtschaftlichen Lage berufen, um ohne Genehmigung der Kommission Schutzmaßnahmen zu bestimmen.607 c) Vergleich Die Ausnahmebestimmung für Schutzmaßnahmen stellte im EU-Recht nur eine zeitlich begrenzte Aufschubsmöglichkeit von den Verpflichtungen zur Gewährleistung der Warenverkehrsfreiheit dar. Im WTO-Recht ist diese Ausnahmebestimmung hingegen weiterhin in Kraft und wird in der Praxis auch durchaus häufig angewendet. Damit besteht im EU-Recht nicht mehr, anders als im WTO-Recht, die Möglichkeit durch Schutzmaßnahmen dem durch Einfuhren bedrohten inländischen Industriezweig eine vorübergehen604  EuGH Urt. v. 18.02.1964, Rs. 73 und 74 / 63, N.V. Internationale Crediet- en Handelsvereniging „Rotterdam“ und Coöperative Suikerfabriek en Raffinaderij G.A. „Puttershoek . / . Minister für Landwirtschaft und Fischerei, Slg. 1964, 3, 27. 605  Vgl. auch Müller-Heidelberg, S. 93. 606  Groeben / Thiesing / Ehlermann, Art. 226 Rn. 10 (Schmidt). 607  EuGH Urt. v. 19.12.1961, Kommission .  / . Italien, Rs. 7 / 61, Slg. 1961, 695, 719.

268

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

de Atempause zu gewähren, in der notwendige strukturelle Anpassungen an die durch die Handelsliberalisierungen entstandene Marktlage vorgenommen werden können. Dieser Unterschied kann jedoch damit erklärt werden, dass die Ausnahmebestimmungen für Schutzmaßnahmen einen Kompromiss zwischen den völkerrechtlichen Prinzipen des „pacta sunt servanda“ auf der einen Seite und des „clausula rebus sic stantibus“ auf der anderen Seite darstellen.608 Während also anerkannt wird, dass vertragliche Pflichten einzuhalten sind, wird gleichzeitig anerkannt, dass sich die Umstände, die bei Vertragsschluss geherrscht haben, ändern können. Schutzmaßnahmen können dann dazu dienen, auf unvorhergesehene Schwierigkeiten zu reagieren, die aufgrund der mangelnden Wettbewerbsfähigkeit eines Industriezweiges in einem Vertragsstaat bestehen. Ziel vom Gemeinsamen Markt sowie von Binnenmarkt ist es jedoch gerade die Wettbewerbsfähigkeit der gesamten europäischen Wirtschaft zu steigern. Das ist mit dem Schutz nicht wettbewerbsfähiger Industriezweige in einzelnen EU-Mitgliedstaaten schlecht zu vereinbaren. Jedenfalls nachdem mittels einer solchen Ausnahmebestimmung im Zuge der Verwirklichung des Gemeinsamen Marktes gewisse Härten des Übergangs abgemildert werden konnten. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Möglichkeit in wirtschaftlichen Krisensituationen Schutzmaßnahmen zu verhängen auch immer die Gefahr eines Hineingleitens in ein protektionistisches Verhalten in sich birgt. Das EU-Recht stellt zudem keinen Bestandteil des Völkerrechts (mehr) da, sondern es hat sich zu einer supranationalen Rechtsordnung entwickelt. Aufgrund der großen wirtschaftlichen Integrationskraft die es entfaltet, ist in dieser Rechtsordnung die Legitimation für eine Ausnahmebestimmung, die auf wirtschaftlichen Erwägungen beruht, nicht mehr gegeben. Daher war im EURecht nach dem Ablauf einer Übergangsperiode für die Ausnahmebestimmung des Art. 226 EWG kein Platz mehr. Dennoch war das EU-Recht, wie es im WTO-Recht auch heute noch der Fall ist, zu Beginn auf diese Ausnahmebestimmung angewiesen. Denn in der Errichtungsphase des Gemeinsamen Marktes mussten bzw. müssen auch weiterhin in der immer noch stattfindenden fortschreitenden Handelsliberalisierung auf Ebene der WTO, besondere Vorkehrungen getroffen werden, um Abhilfen für außergewöhnliche Anpassungsprobleme zu schaffen. Die Möglichkeit Schutzmaßnahmen in Situationen zu verhängen, in denen durch Einfuhren einheimische Wirtschaftszweige beeinträchtigt werden, stellt also immer auch ein Sicherheitsventil für die an Handelsabkommen beteiligten Staaten dar. Anderenfalls hätte ohne ein solches Sicherheitsventil auf Ebene der EU die Gefahr bestanden bzw. würde auf Ebene der WTO weiterhin die Gefahr bestehen, dass die Regierungen außerhalb der Kontrolle der jeweili608  Vgl.

auch Constantinesco, NJW 1964, 331.



III. Vergleich ähnlicher Ausnahmebestimmungen269

gen Rechtsordnungen versucht hätten bzw. versuchen würden, wirtschaftliche Probleme zu verhindern oder zu überwinden. Diese Gefahr zeigt sich auch in den zahlreichen sog. „freiwilligen“ Vereinbarungen, die vor Inkrafttreten des ÜSM zwischen vielen der damaligen Vertragsparteien des GATT geschlossen wurde. Außerdem dienen Ausnahmebestimmungen für Schutzmaßnahmen auch immer der Beruhigung der Regierungen und Parlamente, die über die Annahme von Verträgen entscheiden. Dazu besteht aber oft nur dann eine Bereitschaft, wenn die Möglichkeit besteht, durch Schutzmaßnahmen den durch die völkerrechtliche Bindung eingetretenen Souveränitätsverzicht, im Falle besonderer Umstände wieder – wenigstens vorübergehend – rückgängig zu machen. Dementsprechend sind Ausnahmebestimmungen, nach denen Schutzmaßnahmen aus wirtschaftlichen Gründen verhängt werden können, in vielen Handelsverträgen verankert. Sie fanden sich bereits im Deutschen Zollvereinsvertrag von 1867. Über das US-amerikanische „Trade Agreement“ – Gesetz von 1934 fand diese Ausnahmebestimmung dann ihren Weg in das GATT.609 Beeinflusst vom GATT wurde die Möglichkeit einer Ausnahmebestimmung für Schutzmaßnahmen schließlich in den ursprünglichen EU-Vertrag mit aufgenommen. In beiden Rechtsordnungen wurde auch nicht in die jeweiligen Ausnahmebestimmungen eine nähere Bestimmung der möglichen Schutzmaßnahmen aufgenommen. Dies ermöglicht eine größere Flexibilität zur Beseitigung der Schwierigkeiten, als wenn nur ein bestimmter Katalog vorgegeben wäre. Beide Ausnahmebestimmungen wiesen jedoch auch zahlreiche Unterschiede auf. So ist im WTO-Recht das Verfahren zur Verhängung von Schutzmaßnahmen dem jeweiligen WTO-Mitglied überlassen. Nach Art. 226 EWG war ein Mitgliedstaat hingegen darauf beschränkt, einen Antrag bei der Kommission zu stellen, die auch das Ausmaß der Schutzmaßnahmen bestimmte und sich dabei in erster Linie daran orientierte, welche Schutzmaßnahmen das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes am wenigsten beeinträchtigte. Ein WTO-Mitglied ist also wesentlich freier, sowohl hinsichtlich der Frage, ob es Schutzmaßnahmen verhängt, als auch hinsichtlich deren Ausmaßes, als dies die damaligen Mitgliedstaaten waren. Ebenso sah Art. 226 EWG nicht die Möglichkeit vor Kompensationen zu gewähren. Der Zweck der Kompensationsgewährung im WTO-Recht besteht allerdings darin, dass hierdurch die Balance des GATT an Rechten und Verpflichtungen, die durch die Schutzmaßnahmen gestört wurde, wieder hergestellt werden soll. Allerdings diente die EU auch in ihrer Anfangsphase höheren Zwecken als den jeweiligen wirtschaftlichen Vorteilen ihrer Mitgliedstaaten. Denn durch ihre Gründung sollte eine schrittweise 609  Weber,

German Yearbook of International Law 1984, 212, 213.

270

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

europäische Integration erreicht werden. Daher mussten wirtschaftliche Vorteile einzelner Mitgliedstaaten bei der Überwindung von Anpassungsschwierigkeiten, die im Zuge der Errichtung des Gemeinsamen Marktes entstanden, zurückstehen. 7. Ausnahmen im Rahmen der Subventionskontrolle Subventionen, die auf Ebene der EU auch Beihilfen genannt werden, unterstehen sowohl im WTO- als auch im EU-Recht einer Kontrolle bis hin zum Verbot. Damit enthalten beide Rechtsordnungen den Grundsatz, dass durch staatliche Subventionen nicht der Wettbewerb verfälscht werden soll. Die Subventionskontrolle erfährt jedoch in beiden Rechtsordnungen aufgrund unterschiedlicher Ausnahmebestimmungen, die verschiedene legitime Schutzziele verfolgen oder die aufgrund von wirtschaftlichen Erwägungen erlassen worden sind, ihre Einschränkung. Daher sollen im Folgenden diese Ausnahmen im Rahmen der Subventionskontrolle in beiden Rechtsordnungen untersucht werden. Denn Subventionen dienen eben auch dazu, den Konkurrenzdruck aus einem liberalisierten Warenhandel zu kompensieren. Daher gehört auch die Möglichkeit Subventionen zu vergeben zu den Ausnahmebestimmungen, jedenfalls im weiteren Sinne.610 Die Subventionskontrolle ist sowohl für die Verpflichtungen aus dem GATT, mittels derer eine fortschreitende Liberalisierung des Warenhandels erreicht werden soll, als auch für die Warenverkehrsfreiheit essentiell. Ohne eine effektive Subventionskontrolle droht nämlich eine Unterhöhlung der durch diese Instrumentarien erreichten Erfolge. Denn trotz aller Vorteile eines liberalisierten Warenhandels oder eines Warenverkehrsfreiheit gehören einzelne Interessensgruppen durchaus zu den Verlierern von solchen Entwicklungen. Um innenpolitische Auseinandersetzungen mit Herstellern, Importeuren, Exporteuren, Gewerkschaften und Verbraucherverbänden zu umgehen oder abzumildern werden die Regierungen der WTO-Mitglieder und der EU-Mitgliedsstaaten immer wieder dazu tendieren, Subventionen zu vergeben. Zudem stehen der Verwirklichung der Ziele von WTO und EU die Interessen der einzelnen Staaten gegenüber auf dem heimischen Markt ihre Waren vor ausländischer Konkurrenz zu schützen und gleichzeitig ihre Exportstellung aufzubauen, sie zu festigen oder auszubauen.611 Mittels der Vergabe von Subventionen können so auch die Vorteile von abgebauten Handelshemmnissen besser ausgenutzt werden. Daher werden ohne eine effektive Subventionskontrolle sowohl die Verwirklichung der Ziele der WTO als auch die der EU scheitern. Das multilaterale Übereinkommen über 610  Weber, 611  Ruge,

S. 40. S. 133; S. 87.



III. Vergleich ähnlicher Ausnahmebestimmungen271

Subventionen und Ausgleichsmaßnahmen (ÜSCM) schränkt deshalb die WTO-Mitglieder hinsichtlich der Gewährung von Subventionen ein, lässt jedoch auch verschiedene Ausnahmen zu. Aus den gleichen Gründen enthält auch Art. 107 Abs. 1 AEUV ein Verbot der Gewährung staatlicher Beihilfen, welches durch die Ausnahmen in Art. 107 Abs. 2, 3 AEUV ausnahmsweise und in engen Grenzen aufgelockert wird.612 Diese Ausnahmen, bei deren Vorliegen die jeweilige Subventionskontrolle nicht greift, sollen im Folgenden miteinander verglichen werden. Aufgrund dieser Interessenslage kann eine Untersuchung der Ausnahmebestimmungen der Subventionskontrolle in beiden Rechtsordnungen auch nicht als ein Annex in einer Untersuchung der Ausnahmebestimmungen betreffend den Warenhandel in beiden Rechtsordnungen bezeichnet werden. Obwohl es sich bei der Subventionskontrolle weder um eine direkte Verpflichtung aus dem GATT handelt, da die Verpflichtungen hinsichtlich Subventionen in Art. XVI Abschnitt A GATT und Art. XVI Abschnitt B GATT weitgehend bedeutungslos geblieben sind,613 noch die Subventionskontrolle einen Bestandteil der Warenverkehrsfreiheit darstellt. a) Ausnahmeregelungen im ÜSCM Von den Regelungen des ÜSCM sind Subventionen im Agrarsektor und im Bereich der Zivilluftfahrt weitestgehend ausgenommen.614 Zudem unterliegen WTO-Mitglieder, die Entwicklungsländer sind, nach Art. 27 ÜSCM einer Sonderbehandlung. Außerdem gilt nach Art. 11.9 ÜSCM eine „Deminimis“-Regel, falls die Subventionierung weniger als ein Prozent des Wertes der Ware ausmacht. Schließlich sind in den Art. 28, 29 ÜSCM Übergangsregeln enthalten. Danach müssen bestehende Subventionsprogramme innerhalb bestimmter Fristen in Einklang mit den Subventionsübereinkommen gebracht werden. Für diejenigen Mitglieder, die sich im Übergang von einer Planwirtschaft zu einer Marktwirtschaft befinden, bestehen diesbezüglich Ausnahmeregelungen. b) Grundzüge der Ausnahmeregelungen über Beihilfen im EU-Vertrag Art. 107 AEUV enthält kein starres, sondern ein von vornherein differenziertes Regelungssystem, da Art. 107 Abs. 1 AEUV ein allgemeines Verbot 612  Behrens,

ZSR 2000, 284, 296. B.I.12. Rn. 2 ff. (Pitschas). 614  Vgl. Art. 3.1, 5 ÜSCM, Art. 13 Landwirtschaftsübereinkommen; Art. 6 ÜSCM; Carreau / Juillard, Rn. 355. 613  Prieß / Berrisch,

272

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

der Vergabe von Beihilfen statuiert, welches durch die Ausnahmen in den Absätzen 2 und 3 aufgelockert wird.615 Somit gilt das Beihilfenverbot weder absolut noch unbedingt. Art. 107 Abs. 1 AEUV konstituiert ein Verbot mit Erlaubnisvorbehalt. Die Legalausnahmen des Art. 107 Abs. 2 AEUV stellen einen eng umrissenen Bereich dar, in dem Beihilfen die nachteilsausgleichend, sozial oder schadensbeseitigend wirken als „per se“ mit dem Binnenmarkt vereinbar angesehen werden.616 Für die Genehmigung von Beihilfen nach Art. 107 Abs. 3 AEUV ist die Kommission alleine zuständig. Im Gegensatz zu den Beihilfen, die unter Art. 107 Abs. 2 AEUV fallen, verfügt die Kommission in den Fällen des Art. 107 Abs. 3 AEUV über ein außerordentlich weites Ermessen, ob die dort angeführten Beihilfen als mit dem Binnenmarkt vereinbar angesehen werden können.617 Ihr steht insofern ein „Genehmigungsmonopol“ zu, als dass nationale Behörden oder Gerichte nicht verbindlich feststellen können, ob eine Beihilfe unter die Ausnahmevorschrift des Art. 107 Abs. 3 AEUV fällt.618 Im Gegensatz zu den Legalausnahmen nach Art. 107 Abs. 2 AEUV haben die EU-Mitgliedsstaaten hier keinen Anspruch auf Gewährung der Beihilfe.619 c) Gegenüberstellung von Ausnahmen In der Subventionskontrolle von WTO und EU gibt es gewisse ähnliche Ausnahmebestimmung. Außerdem finden sich auf beiden Ebenen Ausnahmebestimmungen, denen kein Äquivalent zugeordnet werden kann. Die einander ähnlichen Ausnahmebestimmungen werden im Folgenden einander gegenübergestellt und verglichen. Im Anschluss hieran werden die Ausnahmebestimmungen ohne Äquivalent in der jeweils anderen Rechtsordnung untersucht. aa) Art. 29 ÜSCM und Art. 107 Abs. 2 lit. c) AEUV Die Ausnahmebestimmung des Art. 29 ÜSCM enthält eine inzwischen abgelaufene Übergangsfrist von sieben Jahren für verbotene und anfecht­bare 615  Stolba,

S. 64.

616  Schroth / Koch,

S. 35. Urt. v. 17.09.1980, Rs. 730  /  79, Philip Morris .  /  . Kommission, Slg. 1980, 2671, 2690, Rn. 17; Koenig / Kühling, EuZW 1999, 517, 519. 618  Soltész, EWS 2003, 167. 619  Stolba, S. 190. 617  EuGH



III. Vergleich ähnlicher Ausnahmebestimmungen273

Subventionen und andere Ausnahmeregelungen für diejenigen WTO-Mitglieder, die sich in einer Übergangsphase von einer Planwirtschaft zu einer freien Marktwirtschaft befinden. In dieser Zeit konnten sie die für diesen Übergang notwendigen Programme und Maßnahmen unbeschadet einer Subventionskontrolle anwenden. Gleichzeitig enthält die Ausnahmebestimmung des Art. 107 Abs. 2 lit. c) AEUV die sog. Teilungsklausel. Diese erklärt „Beihilfen für die Wirtschaft bestimmter, durch die Teilung Deutschlands betroffener Gebiete der Bundesrepublik Deutschland, soweit sie zum Ausgleich der durch die Teilung verursachten wirtschaftlichen Nachteile erforderlich sind“, als mit dem Binnenmarkt vereinbar. Hierunter fielen vor der Wiedervereinigung die Zonenrandförderung und die Förderung von West-Berlin.620 Damit würden das ÜSCM und der AEUV ähnliche Ausnahmeregelungen enthalten haben, wenn die Teilungsklausel nach der Wiedervereinigung sämtliche Beihilfen erlaubt, die der Angleichung der Wirtschafts- und So­ zialstrukturen der neuen an die alten Bundesländer dienen und die Folge der Anpassung ehemaliger planwirtschaftlicher an marktwirtschaftliche Strukturen sind. Dafür könnte sprechen, dass die Teilungsklausel in den Vertragsrevisionen von Maastricht und Amsterdam trotz der inzwischen stattgefunden Wiedervereinigung beibehalten wurde.621 Auch in Art. III-167 Abs. 2 lit. c) des nunmehr gescheiterten Europäischen Verfassungsvertrages war eine solche Ausnahmebestimmung weiterhin vorgesehen. Nach dem EuGH bedarf es jedoch für den durch die Teilung verursachten wirtschaftlichen Nachteil ein direktes Kausalitätsverhältnis zu der 1948 errichteten Demarkationslinie zwischen der Ostzone und den Westzonen.622 Dies erscheint insofern überzeugend, als dass der wirtschaftliche Rückstand der neuen Bundesländer im Vergleich zu den alten insbesondere auf das unterschied­liche politisch-wirtschaftliche System zurückzuführen ist und nicht auf die Teilung als solche. Also gilt die Teilungsklausel nicht für Beihilfen, mit denen der Übergang zur Marktwirtschaft in der ehemaligen DDR gestaltet werden soll und mit deren Hilfe sich Unternehmen aus den neuen Bundesländern den Wettbewerb innerhalb des Binnenmarktes Marktes stellen können.623 Genau diesen Zweck verfolgt aber die Ausnahmeregelung des Art. 29 ÜSCM für andere ehemals planwirtschaftlich strukturierte Länder. Folglich besteht ein Unterschied zwischen den Ausnah620  Kruse,

EuZW 1998, 229, 230. EuZW 2000, 127, 128. 622  EuG Urt. v. 15.12.1999, Rs. T-132 / 96 und T-143 / 96, Freistaat Sachsen u. a. . / . Kommission, Slg. 1999, II-3663, 3715, Rn.  134; EuGH Urt. v. 19.09.2000, Rs.  C-156 / 98, Deutschland . / . Kommission, Slg. 2000, I-6857, 6899, Rn. 52. 623  Uerpmann, DÖV 1998, 226, 227. 621  Wernicke,

274

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

meregelungen des Art. 107 Abs. 2 lit. c) AEUV und Art. 29 ÜSCM, obwohl die Ausgangsbedingungen in der ehemaligen DDR denen einiger WTO-Mitglieder wie Kroatien, Moldawien, Ungarn, Tschechien oder Polen ähneln, die früher ebenfalls planwirtschaftlich orientiert waren. Ein Grund dafür, dass die EU ehemals planwirtschaftlich strukturierte Gebiete anders behandelt, als die WTO dies mit ihren Mitgliedern tut, kann darin gesehen werden, dass anderenfalls für das gesamte Gebiet der ehemaligen DDR mit immerhin einer Bevölkerung von 15 Millionen Menschen eine Generalausnahme vom Beihilfensystem gelten würde. Dies würde eine erhebliche Wettbewerbsverzerrung bedeuten und wäre weder mit dem Vertragsziel des Schutzes vor Wettbewerbsverfälschungen nach Art. 26 AEUV noch mit dem Ziel der Schaffung eines Binnenmarktes vereinbar. Zudem besteht für die neuen Bundesländer die Möglichkeit in den Genuss von Ausnahmebestimmungen für die Regionalförderung zu kommen.624 Außerdem würden die zahlreichen neuen EUMitgliedstaaten, die bis zur Wende ebenfalls planwirtschaftlich strukturiert waren, sicherlich fordern, ebenfalls von dieser Ausnahmebestimmung profitieren zu können. Insofern haben beide Ausnahmebestimmungen praktisch nur noch gemeinsam, dass ihnen keine Relevanz mehr zukommt. Dem Art. 29 ÜSCM, da dessen Übergangszeit abgelaufen ist, dem Art. 107 Abs. 2 lit. c) AEUV, da er aufgrund der historischen Entwicklung seine Bedeutung verloren hat. bb) Ausnahmen in der Subventionskontrolle für Entwicklungsländer und Regionalförderung625 In Art. 27 ÜSCM ist eine spezielle und differenzierte Behandlung für Entwicklungsländer festgeschrieben. In den Bestimmungen des EU-Vertrages finden sich hingegen bezüglich der Beihilfenkontrolle in Art. 107 Abs. 3 lit. a) und lit. c) AEUV Ausnahmen bezüglich der Regionalförderung. (1) Entwicklungsländer In Art. 27 ÜSCM werden den Entwicklungsländern bestimmte Privilegien gewährt. Damit wird die Notwendigkeit anerkannt, den Entwicklungsländern, insbesondere den schwächsten unter ihnen, einen ihren Entwicklungs624  Vgl.

C.III.7.c)bb)(2). Ausnahmen in der Subventionskontrolle werden hier als ähnliche Ausnahmebestimmungen gemeinsam untersucht. Unter C.IV.10. werden die Ausnahmen für Entwicklungsländer hingegen ohne Äquivalent im EU-Recht dargestellt. Allerdings enthält das EU-Recht auch keine Ausnahmen von den Instrumentarien zur Gewährleistung der Warenverkehrsfreiheit zum Zwecke der Regionalförderung. 625  Die



III. Vergleich ähnlicher Ausnahmebestimmungen275

stand entsprechenden Anteil am Weltwirtschaftswachstum zuzusichern.626 Was unter Entwicklungsländer i. S. d. ÜSCM zu verstehen ist, wird in Anhang VII dieses Abkommens geregelt. Danach gehören hierzu diejenigen Länder, die von den Vereinten Nationen als am wenigsten entwickelt eingestuft werden und andere namentlich aufgeführte Länder, deren BNP pro Kopf die Summe von 1000 US$ nicht übersteigt.627 Da Subventionen in den Wirtschaftsentwicklungsprogrammen der Entwicklungsländer eine wichtige Rolle spielen, war es ihnen nach inzwischen abgelaufenen, nach Entwicklungsstand gestaffelten Übergangsfristen weiterhin gestattet Subventionen i. S. d. Art. 3.1 lit. b) ÜSCM zu geben.628 Außerdem mussten die Entwicklungsländer, die nicht zu den am wenigsten entwickelten gehören, nach Art. 27.4 ÜSCM ihre Ausfuhrsubventionen innerhalb einer inzwischen abgelaufenen Achtjahresfrist abbauen, durften deren Niveau allerdings auch in der Zwischenzeit nicht erhöhen. Eine Ausnahme hiervon oder Verlängerung der Frist ist ihnen nur mit Zustimmung des Ausschusses für Subventionen und Ausgleichsmaßnahmen erlaubt.629 Diese Achtjahresfrist verkürzte sich für diejenigen Waren von Entwicklungsländern, die als global wettbewerbsfähig gelten. Dieses Verbot der Gewährung oder Beibehaltung von Ausfuhrsubventionen erstreckt sich jedoch gem. Art. 27.2 lit. a) ÜSCM nicht auf die am wenigsten entwickelten Entwicklungsländer unter den WTO-Mitgliedern. Als weitere Sonderregelungen werden sie nach Art. 27.10 ÜSCM durch eine höhere „De-minimis“-Regelung privilegiert und können nach Art. 27.13 ÜSCM bei Privatisierungsprogrammen Maßnahmen vornehmen, die dann nicht als anfechtbare Subventionen gelten. Als Grundregel gilt bei dieser Ausnahmebestimmung, dass je weniger ein Mitglied entwickelt ist, desto weitreichender die Abweichungen von dem Standardregime des ÜSCM möglich sind.630 (2) Regionalförderung Art. 107 Abs. 3 lit. a) AEUV enthält eine Ausnahme für Regionalförderung. Allerdings muss es sich um Gebiete handeln, die nicht nach dem 626  Senti,

Rn. 371. namentlich aufgeführten Länder sind: Ägypten, Bolivien, Cote d’Ivoire, die Dominikanische Republik, Ghana, Guatemala, Guyana, Indien, Indonesien, Kamerun, Kenia, Kongo, Marokko, Nicaragua, Nigeria, Pakistan, Philippinen, Senegal, Simbabwe, Sri Lanka. 628  Sánchez Rydelsky, S. 315. 629  Rom, JWT 1994, 5, 6. 630  Stoll / Schorkopf, Rn. 387. 627  Die

276

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

nationalen Durchschnitt, sondern gemessen am Gemeinschaftsniveau extrem unterentwickelt sind.631 Bei Art. 107 Abs. 3 lit. c) AEUV handelt es sich um die am häufigsten angewandte Ausnahmebestimmung.632 In dieser wird die Regelung in gewissen Wirtschaftszweigen und die Regionalförderung in höher entwickelten Gebieten geregelt. Durch die Entwicklung einer Region im jeweiligen EU-Mitgliedsstaat dürfen jedoch keine Probleme auf andere EU-Mitgliedsstaaten verlagert werden und die Beihilfe muss wirklich einen Beitrag zur Entwicklung der Region leisten. Es dürfen hierdurch also keine nicht mehr wettbewerbsfähigen Strukturen erhalten werden.633 Die Kommission hat bei der Prüfung im Rahmen des Art. 107 Abs. 3 lit. c) AEUV die positiven Auswirkungen der Beihilfen auf die regionale Entwicklung mit ihren negativen Auswirkungen auf die Handelsbedingungen und die Aufrechterhaltung eines Systems unverfälschten Wettbewerbs gegeneinander abzuwägen.634 (3) Vergleich Zwar sind die Entwicklungsländer i. S. d. Art. 27 ÜSCM und die Regionen, die nach Art. 107 Abs. 3 lit. a) und lit. c) AEUV mit Beihilfen gefördert werden können vom Entwicklungsstand und vom Nachholbedarf gegenüber weiter entwickelten Ländern oder Regionen her nicht vergleichbar, aber dennoch lassen sich beide Ausnahmebestimmungen mit ähnlichen Erwägungen erklären. Denn um an einen liberalisierten Warenhandel oder an einem Binnenmarkt partizipieren zu können, müssen benachteiligte Regionen und Länder auch dazu in die Lage versetzt werden, konkurrenzfähige Waren anbieten zu können. Hierfür benötigen sie einen gewissen Grad an Sonderregelungen und Wirtschaftsinterventionismus. Ein Unterschied besteht jedoch insofern, als dass die Fortsetzung der Regionalförderung innerhalb der EU vom Bedarf der jeweiligen Region abhängt, während jedenfalls für die nicht am wenigsten entwickelten WTO-Mitglieder in vielen Bereichen nur inzwischen abgelaufene Übergangsfristen galten. Eine Erklärung hierfür könnte darin liegen, dass die EU nach Art. 174 AEUV dem Ausgleich regio­ naler Unterschiede und der harmonischen Entwicklung der Gemeinschaft als Ganzes verpflichtet ist. Hingegen ist die WTO auf die Schaffung eines an marktwirtschaftlichen Prinzipien orientierten Weltwirtschaftssystems ausge631  Lenz / Borchard,

Art. 87 EG Rn. 54 (Kreuschitz / Rawlinson). Art. 87 EGV Rn. 46 (Cremer). 633  EuGH Urt. v. 17.09.1980, Rs. 730  / 79, Philip Morris . / . Kommission, 2692, Rn. 26; EuGH Urt. v. 14.2.1990, Rs. 301 / 87, Frankreich . / . Kommission, Slg. 1990, I-307, 344, Rn. 54–57. 634  Grabitz / Hilf, Art. 92 EG Rn. 52. (v. Wallenberg). 632  Calliess / Ruffert,



III. Vergleich ähnlicher Ausnahmebestimmungen277

richtet.635 Ein solches nimmt naturgemäß weniger Rücksicht auf schwächere Partner als eine Solidargemeinschaft wie die EU. Fraglich bleibt, warum die Entwicklungsländer sich, obwohl sie sich ökonomisch in einer schlechteren Situation befinden als benachteiligte Regionen in der EU, auf diese Vereinbarungen eingelassen haben. Dies ist wohl damit zu erklären, dass sie sich eher auf die durch die WTO-Regelungen garantierten multilaterale Sonderkonditionen verlassen wollten, die sie in ihrer Entwicklung weniger einschränken, als auf unilaterale Zugeständnisse für regelmäßig unbedeutende Waren, die auch einseitig wieder zurückgezogen werden können. Da die WTO-Mitgliedsstaaten inzwischen über 90 Prozent des Welthandels an Gütern umfassen, würden zudem, auch ohne der WTO anzugehören, viele Entwicklungsländer auf rein faktischer Ebene eine zunehmende Einflussnahme durch WTO-Regeln verspüren, ohne gleichzeitig in den Genuss von Vorteilen aus den Mitgliedschaftsrechten zu gelangen.636 cc) „De-minimis“-Regel Sowohl das Beihilfenrecht als auch das ÜSCM enthalten eine „Deminimis“-Regel. Im Rahmen der ÜSCM gilt, dass, falls eine Subventionierung weniger als ein Prozent des Wertes einer Ware ausmacht, nach Art. 11.9 ÜSCM ein Verfahren zur Erhebung von Ausgleichsmaßnahmen nicht eingeleitet wird. Im EU-Recht hat hingegen der Rat, gestützt auf Art. 109 AEUV als zweckdienliche Durchführungsverordnung, zu Art. 107 Abs. 2 und Abs. 3 AEUV eine Ermächtigungsverordnung erlassen, welche es der Kommission erlaubt Gruppenfreistellungsverordnungen für horizontale Beihilfen zu erlassen.637 Nach der aufgrund dieser Gruppenfreistellungsverordnung ergangenen „De-minimis“-Verordnung638 fallen Beihilfen, die einem Gesamtbetrag von 100.000 Euro innerhalb von drei Jahren nicht übersteigen, nicht unter Art. 107 Abs. 1 AEUV. Folglich wird nach Art. 11.9 ÜSCM unwiderlegbar vermutet, dass bei einer Subventionierung von nur einem Prozent des Warenwertes keine Schädigung vorliegt. Gleichzeitig wird auf Ebene der EU eine Beihilfe von höchstens 100.000 Euro innerhalb von drei Jahren für ungeeignet gehalten eine Handelsbeeinträchtigung zwischen den Mitgliedsstaaten oder eine Wettbewerbsverfälschung darzustellen. 635  Herdegen,

Internationales Wirtschaftsrecht, § 7 Rn. 30. ZEuS 2003, 153, 156. 637  Verordnung (EG) Nr. 994 / 98 vom 07.05.1998, ABl. Nr. L 142 / 1. 638  Verordnung (EG) Nr. 69 / 2001 vom 12.01.2001 ABl. Nr. L10 / 30. 636  Rieck,

278

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

Damit verfügen sowohl das ÜSCM als auch das Beihilferecht der EU über eine Schwelle, unter der eine spürbare Auswirkung auf den liberalisierten Warenhandel oder den Binnenmarkt ausgeschlossen wird. Dass eine Beihilfe in Höhe von 100.000 Euro im Regelfall einen wesentlich geringeren Umfang einnehmen wird als eine Subventionierung von einem Prozent des Warenwertes, lässt sich angesichts der jeweiligen Tatbestandsvoraussetzungen erklären. Denn Subventionen i. S. d. ÜSCM müssen grundsätzlich schädigend wirken,639 während für das Vorliegen einer Beihilfe schon jede Einwirkung auf den innergemeinschaftlichen Handel ausreicht.640 Eine Subvention muss daher intensiver wirken als eine Beihilfe, so dass auch an die „De-minimis“-Regel im WTO-Recht geringere Anforderungen gestellt werden können. dd) Landwirtschaft Von den Regelungen des ÜSCM sind Subventionen im Agrarsektor weitestgehend ausgeschlossen. So finden nach Art. 38 AEUV die allgemeinen Bestimmungen des AEUV zu Beihilfen im Agrarsektor nur eingeschränkt, nach Maßgabe der Regelungen des Rates, Anwendung. Folglich gelten sowohl auf Ebene der EU als auch auf Ebene der WTO für Subventionen und Beihilfen im Agrarsektor ähnliche Ausnahmebestimmungen. Diese jeweilige Sonderstellung der Landwirtschaft in beiden Systemen geht vor allem auf Kosten von Entwicklungsländern, da diese überwiegend am ehesten mit landwirtschaftlichen Produkten auf die Märkte der Industriestaaten vordringen können und darauf auch im Interesse einer ausgewogenen Handelsbilanz angewiesen sind.641 Diese Privilegierung der Landwirtschaft kann für die EU damit erklärt werden, dass wegen struktureller Notwendigkeiten und massiven Lobbyismus nicht konkurrenzfähige Strukturen durch Beihilfen am Leben erhalten werden. Und da die EU zusammen mit Japan und den USA, die mit den gleichen Problemen zu kämpfen haben, die drei wichtigsten Vertragsparteien der WTO bilden, scheinen sich diese Interessen auch auf Welthandelsebene durchgesetzt zu haben.642 Diese Interessen haben im Übrigen auch dazu geführt, dass der Agrarsektor von den Liberalisierungsverpflichtungen des GATT und den Anwendungen der Warenverkehrsfreiheit weitestgehend ausgenommen ist.643 Prieß / Berrisch, B.I.12. Rn. 29 ff. (Pitschas). Art. 87 Rn. 29 ff. (Krauschitz / Rawlinson). 641  Josling, S. 18. 642  Rom, JWT 1994, 5, 8. 643  Vgl. B.I.2.a)aa); B.I.2.a)dd) und C.IV.9. zu weiteren Ausnahmebestimmungen im WTO-Recht betreffend den Agrarsektor. 639  Vgl.

640  Lenz / Borchard,



III. Vergleich ähnlicher Ausnahmebestimmungen279

ee) Ausnahmen im Subventionskontrollrecht der WTO ohne Äquivalent im EU-Recht Als weitere Ausnahmebestimmung findet sich im ÜSCM nur die sehr weitgehende Ausnahmeregelung im Bereich der Zivilluftfahrt.644 Diese Ausnahmebestimmungen für die Luftfahrzeugindustrie sind mit industriepolitischen und militärisch-strategischen Gründen sowie den stattgefundenen Konzentrationsprozess der Luftfahrzeugindustrie, der diese auf wenige wichtige WTO-Mitglieder konzentriert hat, zu erklären.645 Hingegen findet sich im EU-Recht mit Ausnahme des Agrarsektors kein nahezu genereller Ausschluss eines ganzen wirtschaftlichen Sektors wie der Zivilluftfahrt vom Beihilfeverbot. Dies wäre mit dem Konzept eines Binnenmarktes auch unvereinbar. Zudem wird der überwiegende Teil der Luftfahrzeugindustrie innerhalb der EU in Form des Airbuskonsortiums von wichtigen EU-Mitgliedsstaaten wie Frankreich, Deutschland, Spanien und Großbritannien gemeinsam betrieben.646 Also haben die WTO-Mitgliedsstaaten bezüglich ihrer jeweiligen Luftfahrzeugindustrien gegenläufige Interessen, während die EU-Mitgliedsstaaten diesbezüglich gemeinsame Interessen teilen. Insofern ist auf EU-Ebene auch aus diesem Grund eine Ausnahmeregelung für die Zivilluftfahrt entbehrlich. ff) Ausnahmebestimmungen im Beihilfenrecht der EU ohne Äquivalent im WTO-Recht Im Subventionskontrollrecht der EU besteht hingegen ein wesentlich differenzierteres System der Ausnahmebestimmungen. So enthält der AEUV weitere Ausnahmebestimmungen in Art. 107 Abs. 2 AEUV und verschiedene Ausnahmetatbestände in Art. 107 Abs. 3 AEUV. Nach Art. 107 Abs. 2 lit. a) AEUV können „Beihilfen sozialer Art an einzelne Verbraucher, wenn sie ohne Diskriminierung nach der Herkunft der Waren gewährt werden“, als mit dem Binnenmarkt vereinbar angesehen werden. Hierdurch können Fälle erfasst werden, in denen Verbraucher ausschließlich zu dem Zweck und der Bedingung sozialpolitische Fördermaßnahmen erhalten, dass sie die dadurch erhaltenen Mittel zum Bezug von Waren eines bestimmten Herstellers oder einer bestimmten Gruppe von Herstellern erhalten. Das in der Norm enthaltene Diskriminierungsverbot verbietet dabei eine einseitige Begünstigung des inländischen Unterneh644  Fn. 15, 16 zu Art. 6 ÜSCM, Fn. 23 zu Art. 8 ÜSCM, Art. 6 Übereinkommen über den Handel mit Zivilluftfahrzeugen. 645  Hermann / Weiß / Ohler, Rn. 1075; Stehmann, JWT 1999, 97, 98. 646  Prieß / Berrisch, B.V. Rn. 1 (Ohlhoff).

280

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

mers.647 Diese Ausnahmebestimmung ist bislang jedoch ohne nennenswerte praktische Relevanz geblieben.648 Nach den zweiten Ausnahmetatbestand gem. Art. 107 Abs. 2 lit. b) AEUV sind Beihilfen, die dem Schadensausgleich von Naturkatastrophen oder sonstigen außergewöhnlichen Ereignissen dienen, mit dem Binnenmarkt vereinbar. Diese Beihilfen dürfen jedoch nur dazu verwendet werden, das zur Schadensbeseitigung Notwendige auszugleichen, und dürfen nicht über das hierfür Notwendige hinausgehen. Also fällt eine über den Schadensausgleich hinausgehende Entwicklung des betroffenen Gebietes nicht unter Art. 107 Abs. 2 lit. b) AEUV.649 Bezüglich der Ausnahmetatbestände nach Art. 87 Abs. 3 AEUV verfügt die Kommission über einen weiten Ermessensspielraum. Denn die Anwendung von Art. 87 Abs. 3 AEUV setzt wirtschaftliche und soziale Wertungen voraus, die auf die Gemeinschaft als Ganzes zu beziehen sind.650 Allerdings sind die Ausnahmetatbestände restriktiv auszulegen. Nach Art. 107 Abs. 3 lit. b) AEUV können wichtige Vorhaben von gemeinsamen europäischen Interesse gefördert werden (1. Alt.) oder solche, die zur Behebung einer beträchtlichen Störung im Wirtschaftsleben eines Mitgliedsstaates dienen (2. Alt.). Die Vorhaben zur Förderung eines gemeinsamen europäischen Interesses müssen nach ihrer materiellen Zielsetzung zur Verwirklichung von Gemeinschaftszielen beitragen oder zwischenstaatliche Vorhaben und einzelstaatliche Leistungen erfassen, an deren Durchführung die Gemeinschaft oder mehrere EU-Mitgliedsstaaten ein unmittelbares Interesse haben.651 Die zweite Alternative erfasst nur erhebliche wirtschaftliche Störungen und wird von der Kommission äußerst vorsichtig angewandt.652 Die Ausnahmeklausel für Kulturförderung und Beihilfen zur Erhaltung des kulturellen Erbes in Art. 107 Abs. 3 lit. d) AEUV sind unter Berücksichtigung des die Kulturförderung zu einer EU-Politik erhebenden Art. 167 AEUV auszulegen.653 Schließlich wird durch Art. 107 Abs. 3 lit. e) AEUV eine Ausnahmeregelung normiert, wonach der Rat mit qualifizierter Mehrheit auf Vorschlag der Kommission sonstige Arten von Beihilfen als 647  Koenig / Kühling / Ritter,

S. 94. Rn. 55. 649  EuGH Urt. v. 28.04.1993, Rs. C-364  / 90, Italien . / . Kommission, Slg. 1993, I-2097, 2124, Rn. 14 ff. 650  EuGH Urt. v. 17.09.1980, Rs. 730  /  79, Philip Morris .  /  . Kommission, Slg. 1980, 2671, 2690, Rn. 26; EuGH Urt. v. 21.03.1990, Rs. C-142 / 87, Belgien . / . Kom­ mission, Slg. 1990, I-959, 1018, Rn. 56. 651  Koenig / Kühling / Ritter, S. 106. 652  Calliess / Ruffert, Art. 87 EG Rn. 45 (Cremer). 653  Lenz / Borchardt, Art. 87 EG Rn. 59 (Kreuschitz / Rawlinson). 648  Lübbig / Mártin-Ehlers,



III. Vergleich ähnlicher Ausnahmebestimmungen281

mit dem Binnenmarkt für vereinbar bestimmen kann. Diese Bestimmung findet jedoch lediglich Anwendung bei Beihilfen für den Schiffsbau oder den Steinkohlebergbau.654 Des Weiteren hat die Kommission gestützt auf die Ermächtigungsverordnung des Rates655 Gruppenfreistellungsverordnungen für die Bereiche Ausbildungsbeihilfen und Beihilfen an kleine und mittlere Unternehmen (KMU) erlassen.656 Diese sind von der Anmeldepflicht befreit. Zudem hat die Kommission in diversen Leitlinien und Gemeinschaftsrahmen die zulässigen Förderkategorien und Beihilfentatbestände für die Ausnahmen nach Art. 107 Abs. 2 und Abs. 3 AEUV detailliert geregelt. Die Kommission hat so z. B. Beschäftigungsleitlinien herausgegeben, die der Schaffung und Erhaltung investitionsungebundener Arbeitsplätze dienen,657 da die andauernde hohe Arbeitslosigkeit ein Hauptproblem der Gemeinschaft darstellt. Zudem hat sie in Umstrukturierungsleitilinien Rettungs- und Umstrukturierungsbeihilfen für Unternehmen in Schwierigkeiten erlassen.658 In Regionalbeihilfenleitlinien lässt die Kommission Investitions- und Betriebsbeihilfen an Unternehmen aller Wirtschaftsbereiche in regionalen Fördergebieten gem. Art. 107 Abs. 3 lit. a) und lit. c) AEUV zu.659 Beihilfen für Investitionen zugunsten des Umweltschutzes sind durch den Umweltschutz-Gemeinschaftsrahmen gerechtfertigt.660 Schließlich enthält der Gemeinschaftsrahmen für staatliche Forschungs- und Entwicklungsbeihilfen eine Rechtfertigung für Beihilfen i. S. d. Art. 107 Abs. 1 AEUV, die Unternehmen in dem Bereich der Forschung und Entwicklung gewährt werden.661 Im EU-Recht finden sich also zahlreiche Ausnahmebestimmungen für Beihilfen, die auf legitimen Schutzzielen wie den Schutz sozialer Belange, den Wiederaufbau nach Naturkatastrophen, der europäischen Integration, kulturellen Erwägungen und dem Zwecke der Forschung beruhen. Daneben finden sich allerdings auch zahlreiche Ausnahmebestimmungen aus primär wirtschaftlichen Gründen. Für beide Arten von Ausnahmebestimmungen gibt es im WTO-Recht kein Äquivalent. Für die WTO wären allerdings auch die weiteren Legalausnahmen nach Art. 107 Abs. 2 AEUV nicht von Belang. Denn die dort geregelten nach654  Calliess / Ruffert,

Art. 87 EG Rn. 61 (Cremer). (EG) Nr. 994 / 98 vom 07.05.1998, ABl. Nr. L 142 / 2. 656  Verordnung (EG) Nr. 68  / 01 vom 12.01.2001, ABl. Nr. L 10 / 20; Verordnung (EG) Nr. 70 / 2001 vom 12.01.2001, ABl. Nr. L 10 / 33. 657  ABl. 1995 C 334 / 4 vom 12.12.1995. 658  ABl. 1999 C 288 / 2 vom 09.10.1999. 659  ABl. 2000 C 258 / 5 vom 09.09.2000. 660  ABl. 2001 C 37 / 03 vom 03.02.2001. 661  ABl. 1998 C 48 / 2 vom 13.02.1998. 655  Verordnung

282

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

teilsausgleichenden und sozial wirkenden Ausnahmen können zwar wie für eine Beihilfe gefordert potentiell wettbewerbsverzerrend sein, der Nachweis einer wenigstens drohenden Schädigung, wie es für eine anfechtbare Subvention nötig ist, dürfte jedoch nicht gelingen. Deshalb ist eine den Legalausnahmen des Art. 107 Abs. 2 lit. a) und lit. b) AEUV ähnliche Regelung im WTO-Recht nicht erforderlich. Auch für die Ausnahmen nach Art. 107 Abs. 3 lit. c), d) und e) AEUV findet sich, nachdem die Regelung über nichtanfechtbare Subventionen in Art. 8 ÜSCM zum 31.12.1999 ausgelaufen ist, kein Äquivalent im ÜSCM. Doch verfolgt die WTO als eine dem Ziele des liberalisierten Welthandels verpflichtete Organisation keine der Ziele, die Beweggründe für Ausnahmebestimmungen zugunsten von Kulturpolitik (Art. 107 Abs. 3 lit. d) AEUV) oder der für die Förderung von wichtigen Vorhaben von gemeinsamen europäischen Interesse (Art. 107 Abs. 3 lit. c) 1. Alt. AEUV) waren. Auch die, wenn auch praktisch kaum bedeutenden Ausnahmen, die das Vorliegen einer erheblichen wirtschaftlichen Störung voraussetzen (Art. 107 Abs. 3 lit. c) 2. Alt. AEUV) oder die Möglichkeit für den Rat sonstige Arten von Beihilfen als mit dem Gemeinsamen Markt für vereinbar zu erklären (Art. 107 Abs. 3 lit. e) AEUV), sind aufgrund des rigideren Kontrollsystems von Beihilfen innerhalb der EU notwendiger als auf Ebene der WTO. Dieses rigidere Kontrollsystem trägt auch zur Notwendigkeit der Gruppenfreistellungsverordnungen, Leitlinien und Gemeinschaftsrahmen bei, durch welche auf Ebene der EU diverse Arten von Beihilfen, die im Voraus als mit dem Binnenmarkt vereinbar betrachtet werden können, von der Beihilfenkontrolle ausgenommen werden. Solche Ausnahmebestimmungen sind auf Ebene der WTO, die anders als das EU-Recht kein Durchführungsverbot einer Subvention bis zu einer Genehmigung kennt, entbehrlich. Folglich enthalten die Beihilfevorschriften wesentlich mehr Ausnahmetatbestände als das ÜSCM. Andererseits sind die geforderten Auswirkungen eines wirtschaftlichen Schadens bei Subventionen wesentlich höher als bei Beihilfen. So werden die Subventions- und Beihilfekontrolle auf unterschiedliche Art und Weise entlastet.

IV. Ausnahmebestimmungen im WTO-Recht ohne Äquivalent im EU-Recht Neben diesen zahlreichen ähnlichen Ausnahmebestimmungen in beiden Rechtsordnungen, finden sich im WTO-Recht viele andere Ausnahmebestimmungen, die sowohl auf legitimen Schutzzielen als auch auf anderen Erwägungen beruhen und für die kein Äquivalent im EU-Recht besteht. Diese



IV. Ausnahmebestimmungen im WTO-Recht283

Ausnahmebestimmungen sollen im Folgenden, beginnend mit den Ausnahmebestimmungen des Art. XX GATT, die bislang mangels Äquivalent im EU-Recht noch nicht untersucht wurden, dargelegt werden. Dabei wird auch auf die Frage eingegangen, warum es hierfür auf Ebene der EU kein Äquivalent gibt. Denn auch wenn im EU-Vertrag eine entsprechende Ausnahmebestimmung ursprünglich nicht vorgesehen ist, so hätte der EuGH, wenn er einen Bedarf und Notwendigkeit hierfür erkannt hätte, im Wege der Rechtsfortbildung eine solche Ausnahmebestimmung anerkennen können. 1. Die Ausnahmebestimmung des Art. XX lit. c) GATT zur Rechtfertigung handelsbeschränkender Maßnahmen für die Ein- oder Ausfuhr von Silber Art. XX lit. c) GATT rechtfertigt handelsbeschränkende Maßnahmen, die auf die Ein- oder Ausfuhr von Gold oder Silber verhängt werden. Diese Ausnahmebestimmung nimmt damit hauptsächlich Bezug auf Art. XI:1 GATT, der insbesondere mengenmäßige Ein- oder Ausfuhrbeschränkungen verbietet.662 Den WTO-Mitgliedern steht es daher frei, die Ein- und Ausfuhr von Gold und Silber erheblich zu behindern oder gar ganz zu verbieten. Mit dieser Ausnahmebestimmung haben sich die Streitbeilegungsgremien bis heute nicht befasst. Zwar befasste sich ein Panel des GATT in einem nicht angenommenen Bericht mit handelsbeschränkenden Maßnahmen, die süd­ afrikanischen Goldmünzen in der Form einer Besteuerung durch eine kanadische Provinz auferlegt wurde, allerdings umfasste das Mandat des Panels nicht die Ausnahmebestimmung des Art. XX lit. c) GATT.663 Diese Ausnahmebestimmung hatte also bislang keine praktische Relevanz gehabt. Das Panel stellte jedoch fest, dass es sich auch bei Goldmünzen um Waren und nicht nur um reine Investitionsgüter handelt.664 Auslegungsbedürftig bei den Tatbestandsvoraussetzungen des Art. XX lit. g) GATT ist nur das Relationselement. Nach der englischsprachigen Fassung muss die handelsbeschränkende Maßnahme im Zusammenhang zu dem Schutzziel stehen (relating to). Dieses Relationselement findet sich auch in den beiden Ausnahmebestimmungen des Art. XX lit. e) und Art. XX lit. g) GATT. Zur Auslegung des „relating to“-Erfordernisses im Rahmen des Art. XX lit. g) GATT besteht eine umfangreiche Judikatur der Streitbeilegungsgremien. Dieses wird so ausgelegt, dass die verhängte handelsbeschränkende Maßnahme vorrangig auf das legitime Schutzziel abzielen muss. Da662  Vgl.

B.II.2.a) zu den Voraussetzungen des Art. XI:1 GATT. Panel Report, Canada – Gold Coins, Rn. 2. 664  GATT Panel Report, Canada – Gold Coins, Rn. 51. 663  GATT

284

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

her werden die Voraussetzungen des Relationselementes des Art. XX lit. g) GATT dann erfüllt sein, wenn eine handelsbeschränkende Maßnahme vorrangig auf die Beschränkung der Ein- oder Ausfuhr von Silber abzielt. Hinsichtlich der genauen Voraussetzungen, die an das „relating to“-Erfordernis gestellt werden, wird aber auf die noch folgende Untersuchung der Ausnahmetatbestimmung des Art. XX lit. g) GATT verwiesen.665 Die Ausnahmebestimmung des Art. XX lit. c) GATT verdankt ihre Existenz verschiedenen Gründen. Zunächst stellt sie ein Überbleibsel des Merkantilismus dar. Der Merkantilismus ist eine Außenwirtschaftstheorie, die zuerst in Frankreich zu Zeiten Ludwig XIV, u. a. von dessen Finanzminister Colbert entwickelt wurde und im 17. und 18. Jahrhundert in den europäischen Staaten vorherrschend war. Der Merkantilismus geht davon aus, dass der Reichtum und die Macht einer Nation von deren Vermögen an Gold, Silber und Geld abhängig sind, welches durch einen möglichst großen Außenhandelsbilanzüberschuss erwirtschaftet werden soll.666 Um ihren Vorrat an Edelmetallen aber nicht zu beeinträchtigen, waren daher früher in vielen Staaten diesbezügliche Ausfuhrverbote oder Beschränkungen in Kraft. Ein weiterer wichtiger Grund eine Rechtfertigungsmöglichkeit für handelsbeschränkende Maßnahmen in die GATT aufzunehmen, die auf die Ein- oder Ausfuhr von Gold und Silber abzielten, lag im Bretton-WoodsSystem. Das Bretton-Woods-System war ein internationales Währungssystem von festen Wechselkursen, das von seiner Gründung im Jahr 1944 bis 1971 bestand. Ihm gehörten nicht nur alle damaligen Vertragsparteien des GATT, sondern auch nahezu alle anderen Staaten der Erde mit Ausnahme der Ostblockstaaten und anderen kommunistischen Staaten wie China an. Das Bretton-Woods-System bezeichnete ein internationales Währungssystem, das vom US-Dollar als Leitwährung bestimmt war. Die US-Regierung verpflichtete sich, den US-Dollar jederzeit gegen einen bestimmten Betrag in Gold umtauschen (sog. Goldstandard). Die Währungen der anderen teilnehmenden Staaten waren hingegen in einem festen Wechselkurs an den US-Dollar gekoppelt.667 Für die teilnehmenden Staaten bestand auch jedenfalls theoretisch die Verpflichtung genügend Goldreserven zu lagern um damit ihre Währung zu stützen.668 Zudem unterhielten die Notenbanken anderer westlicher Staaten einen Goldstandard oder hatten dies jedenfalls bis in die 1920er Jahre hinein getan. Also war der Goldhandel besonders wichtig. Dies traf mit gewissen Abstrichen auch für den Handel mit Silber zu. Denn viele Staaten garantierten den Wert ihrer Währungen mit einem 665  Vgl.

C.IV.3.a)bb). S. 9; Hermann / Weiß / Ohler, Rn. 19. 667  Lowenfeld, S. 12, 600, 622 ff. 668  Trebilcock / Howse, S. 155. 666  Lowenfeld,



IV. Ausnahmebestimmungen im WTO-Recht285

sog. Silberstandard, also der Selbstverpflichtung einen bestimmten Betrag ihrer Währung jederzeit gegen einen bestimmten Betrag in Silber umzutauschen. Allerdings wich der seit dem Mittelalter bestehende Silberstandard spätestens seit den 1890er Jahre immer mehr den Goldstandard. Die beteiligten Staaten haben sich daher beim Entwurf des GATT-Übereinkommens durch diese Ausnahmebestimmung die Möglichkeit offen gelassen, den Handel mit Gold und Silber, als den beiden traditionellen Edelmetallen zur Stützung einer Währung, zu kontrollieren. Heute ist die wirtschaftliche Bedeutung von Goldreserven für die Stützung einer Währung bei weitem nicht so bedeutend wie zum Zeitpunkt des Entwurfs des GATT-Übereinkommens. Bezeichnend dafür ist auch, dass die Notenbanken vieler Staaten sich derzeit von einem Großteil ihrer Gold­ reserven trennen. Dieser Abbau der Goldreserven geschieht allerdings auf eine maßvolle Weise, um keinen Preisverfall auszulösen. Und Silberreserven hatten schon zum Zeitpunkt des Entwurfs des GATT-Übereinkommens keine wirkliche wirtschaftliche Bedeutung für die Stützung einer Währung mehr. Doch trotz des zusammengebrochenen Bretton-Woods-Systems und des Umstandes, dass sich bislang noch kein WTO-Mitglied auf diese Ausnahmebestimmungen berufen hat, ist eine Rechtfertigungsmöglichkeit für Handelshemmnisse, die auf den Handel mit Edelmetallen verhängt werden auch in einer modernen Wirtschaft nicht völlig obsolet geworden. Denn auch nach dem Ende des Bretton-Woods-Systems spielen Edelmetalle, insbesondere Gold, immer noch eine wichtige Rolle für Staaten. Denn diese unterhalten Goldreserven, um hiermit in ökonomisch schwierigen Zeiten ihre Währung zu stützen. Dies gilt insbesondere für Staaten mit einer schwachen Wirtschaft oder für Entwicklungsländer. Auch Privatpersonen in solchen Ländern investieren traditionell oftmals in Edelmetalle, da es ihnen an Vertrauen in die Stabilität der Währung ihrer Heimatländer fehlt.669 Daher besteht auch heute noch in vielen Staaten ein legitimes Interesse die Ein- und Ausfuhr von Silber und Gold kontrollieren und notfalls verbieten zu können. Art. XX lit. c) GATT stellt hierfür eine Rechtfertigungsmöglichkeit dar, die trotz bisheriger fehlender praktischer Relevanz auch in Zukunft beibehalten werden sollte. Im EU-Recht fehlt ein entsprechendes Äquivalent zu dieser Ausnahmebestimmung. Das Fehlen einer ähnlichen Ausnahmebestimmung im EU-Recht kann damit erklärt werden, dass die EU-Mitgliedstaaten die Schaffung eines Binnenmarktes anstreben. In einem Binnenmarkt ist aber kein Raum für 669  Wolfrum / Stoll / Seibert-Fohr,

S. 121 (Matz-Lück).

286

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

eine Wirtschaftstheorie wie den Merkantilismus, der auf die Erzielung eines größtmöglichsten Außenhandelsüberschusses abzielt. Auch hatte keiner der damaligen Mitgliedstaaten der EU im Rahmen des Bretton-Woods-Systems ein ähnliches Versprechen abgegeben wie die USA, die sich verpflichtet hatten, den Dollar jederzeit gegen einen bestimmten Betrag in Gold umzutauschen. Denn für die damaligen EU-Mitgliedstaaten bestand im Rahmen des Bretton-Woods-Systems nur eine Verpflichtung ein festes Wechselverhältnis ihrer Währung zum US-Dollar einzuhalten. Außerdem wäre es mit der Schaffung eines Gemeinsamen Marktes oder gar eines Binnenmarktes nur schwer zu vereinbaren, den Handel mit zwei Metallen, denen eine große wirtschaftliche Bedeutung zukommt, durch eine solche Ausnahmebestimmung von der Anwendung der Warenverkehrsfreiheit auszuklammern. Daher konnte auf die Aufnahme einer solchen Ausnahmebestimmung in Art. 36 AEUV verzichtet werden. Der EuGH war jedoch mit einem Fall befasst, in dem es u. a. auch um ein britisches Ausfuhrverbot für nicht länger gültige Silbermünzen ging, deren Silberwert höher als ihr Umtauschwert war. Durch dieses Ausfuhrverbot sollte verhindert werden, dass die Silbermünzen in anderen Staaten eingeschmolzen wurden, um so den höheren Silberwert der Münzen zu verwerten. An diesen Silberwert wollte nämlich die britische Regierung durch die normale Fluktuation der Münzen gelangen. Der EuGH rechtfertigte dieses Ausfuhrverbot durch die Ausnahmebestimmung der öffentlichen Ordnung des Art. 36 AEUV.670 Denn er sah dieses Ausfuhrverbot als eine Ausprägung des Münzrechts an, welches er zu den wesentlichen Interessen des Staates zählte.671 Diese Entscheidung ist noch vor der Cassis-Formel ergangen. Es ist daher nicht ausgeschlossen, dass der EuGH die Verhängung von Ein- oder Ausfuhrbeschränkungen auf Gold oder Silber aus nichtwirtschaftlichen Gründen als einen ungeschriebenen Rechtfertigungsgrund i. S. d. Cassis-Formel anerkennen würde. Allerdings ist anzumerken, dass die Anerkennung einer solchen Ausnahmebestimmung eher unwahrscheinlich ist. Denn die Gründe, welche die Beibehaltung dieser Ausnahmebestimmung im WTO-Recht als sinnvoll erscheinen lassen, sind im EU-Recht so nicht vorhanden. So handelt es sich bei den EU-Mitgliedstaaten ganz überwiegend um wirtschaftlich stabile Staaten, die das Vertrauen in ihre Währung auch ohne Edelmetallreserven sicherstellen können und von denen viele EUMitgliedstaaten darüber hinaus eine gemeinsame Währungsunion unterhalten. Außerdem sind innerhalb der EU die Investitionen von Privatpersonen 670  Vgl.

Recht.

C.V.1. zur Ausnahmebestimmung der öffentlichen Ordnung im EU-

671  EuGH Urt. v. 23.11.1978, Rs. 7  /  78, Strafverfahren gegen Thompson, Slg. 1978, 2247, 2275, 2276, Rn. 34.



IV. Ausnahmebestimmungen im WTO-Recht287

in Edelmetalle, aufgrund mangelnden Vertrauens in die eigene Währung, bei weitem nicht so ausgeprägt wie dies in vielen Entwicklungs- oder Schwellenländern der Fall ist. Hinzukommt, dass die Ausnahmebestimmung des Art. XX lit. c) GATT auch nicht auf legitimen Schutzzielen im engeren Sinne, sondern vor allem auf wirtschaftlichen Erwägungen beruht. Die vom EuGH entwickelten Ausnahmebestimmungen wie die Cassis-Formel schützen jedoch Interessen nicht wirtschaftlicher Art. 2. Ausnahmen für in Strafvollzugsanstalten hergestellte Waren Die Ausnahmebestimmung des Art. XX lit. e) GATT rechtfertigt handelsbeschränkende Maßnahmen hinsichtlich der in Strafvollzugsanstalten hergestellten Waren. WTO-Mitglieder können also die Einfuhr von Waren, die durch Strafgefangene hergestellt werden, verbieten oder beschränken.672 Bisher haben die Streitbeilegungsgremien in ihren Entscheidungen nicht auf diese Ausnahmebestimmung abgestellt, noch waren sie mit Sachverhalten konfrontiert, in denen es um Waren ging, die von Strafgefangenen hergestellt wurde.673 Allerdings enthält das US-amerikanische Außenhandelsrecht ein Einfuhrverbot für Waren, die durch Strafgefangenenarbeit hergestellt wurden.674 Daher kommt der Ausnahmebestimmung des Art. XX lit. e) GATT eine gewisse praktische Relevanz zu, da hierdurch die anderenfalls GATT-widrigen Bestimmungen des US-amerikanischen Außenhandelsrecht gerechtfertigt werden. Der Grund für die Aufnahme dieser Ausnahmebestimmung in den Art. XX GATT ist strittig. Teilweise wird darauf abgestellt, dass dies geschah, um Erwägungen des Menschenrechtsschutzes in den Art. XX GATT mit aufzunehmen. Denn Zwangsarbeit sei zum Zeitpunkt des Entwurfs des GATTÜbereinkommens eines der wenigen völkerrechtlich regulierten Bereiche des Menschenrechtsschutzes gewesen.675 Herkömmlicherweise wird jedoch darauf abgestellt, dass diese Ausnahmebestimmung geschaffen wurde, um den damaligen Vertragsparteien des GATT die Möglichkeit zu geben, preisgünstige von Strafgefangenen hergestellten Waren als Konkurrenz auszuschalten.676 Denn Strafgefangene werden im Allgemeinen nicht oder nur 672  van

den Bossche, S. 615. S. 572. 674  McCrudden / Davies, JIEL 2000, 43, 52. 675  Cleveland, JIEL 2002, 133, 160; vgl. auch Neumann, S. 283, der eine analoge Anwendung des Art. XX lit. e) GATT auf Zwangsarbeit außerhalb des Gefängnisses für vertretbar hält. 676  Reuß, S. 98; Wolfrum / Stoll / Seibert-Fohr, S. 134 (Wenzel); Trebilcock / Howse, S. 572, 573, Bartels, JWT 2002, 353, 355; Zeitler, S. 93. 673  Trebilcock / Howse,

288

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

sehr gering bezahlt, so dass durch Strafgefangenenarbeit hergestellte Waren einen komparativen Vorteil gegenüber Waren haben können, die durch freie Arbeitnehmer hergestellt werden. Dafür, dass diese Ausnahmebestimmung zum Ausgleich des komparativen Vorteils von Strafgefangenenarbeit in den Art. XX GATT mit aufgenommen wurde, spricht, dass auch heute noch anerkannt ist, dass Strafgefangene einer Arbeitspflicht unterliegen.677 Das alleinige Bestehen einer solchen Arbeitspflicht für Strafgefangene stellt auch keine Menschenrechtsverletzung dar.678 Die Ausnahmebestimmung des Art. XX lit. e) GATT geht aber nicht auf konkrete Arbeits- und Lebensbedingungen von Strafgefangenen ein, unter denen Strafgefangenenarbeit eine Menschenrechtsverletzung darstellen könnte. Daher ist davon auszugehen, dass der Art. XX lit. e) GATT nicht zur Verfolgung legitimer Schutzziele in Form des Menschenrechtsschutzes, sondern aus wirtschaftlichen Erwägungen geschaffen worden ist. Gleichwohl kann diese Ausnahmebestimmung auch zur Verfolgung legitimer Schutzziele benutzt werden, indem handelsbeschränkende Maßnahmen gegen Waren verhängt werden, die mittels Arbeit von Strafgefangenen hergestellt wird, deren Arbeits- und Lebensbedingungen eine Verletzung von Menschenrechten darstellt. Daher ist die Ausnahmebestimmung des Art. XX lit. e) GATT auch die einzige Ausnahmebestimmung im WTO-Recht mit der extraterritoriale legitime Schutzziele geschützt werden können.679 a) Die Auslegung der Ausnahmebestimmung des Art. XX lit. e) GATT Die Ausnahmebestimmung des Art. XX lit. e) GATT ist sowohl hinsichtlich des Tatbestandselementes als auch hinsichtlich des Relationselementes auslegungsbedürftig. Strittig bei der Auslegung des Tatbestandselementes ist, ob diese Ausnahmebestimmung auch andere Formen von Zwangsarbeit als Strafgefangenenarbeit umfasst. So wird vertreten, dass durch diese Ausnahmebestimmung handelsbeschränkende Maßnahmen gerechtfertigt werden können, die sich auch gegen Waren richten, die mittels Zwangsarbeit hergestellt wurden.680 677  Vgl.

nur § 41 Abs. 1 StVollzG. § 41 Rn. 1 (Lückemann). 679  Nach der hier vertretenen Auffassung schützt Art. XX lit. a) GATT keine extraterritorialen legitimen Schutzziele. Stattdessen wird hierdurch alleine die Sittlichkeit der eigenen Bevölkerung geschützt. Mittels eines „Spiels über Bande“ kann Art. XX lit. a) GATT jedoch handelsbeschränkende Maßnahmen zur Abstellung schwerer Menschenrechtsverletzungen in Hoheitsgebieten anderer WTO-Mitglieder rechtfertigen; vgl. C.III.1.a)bb)(1). 680  Bartels, JWT 2002, 353, 355, 356. 678  Arloth / Lückemann,



IV. Ausnahmebestimmungen im WTO-Recht289

In eine solche erweiterte Auslegung wird teilweise auch die Möglichkeit einbezogen, gegen Waren vorgehen zu können, die mittels ausbeuterischer Kinderarbeit hergestellt wurden.681 Dabei wird auch darauf verwiesen, dass eine solche Auslegung den Vorteil hätte, dass an das Relationselement des Art. XX lit. e) GATT, das „relating to“-Erfordernis geringere Anforderungen gestellt werden, als an das Notwendigkeitskriterium des Art. XX lit. a) GATT.682 Durch eine solche weite Auslegung könnte die Ausnahmebestimmung des Art. XX lit. e) GATT gewissermaßen als ein Einfallstor für den Schutz von Menschenrechten in das WTO-Recht genutzt werden. Die Frage einer solchen weiten Auslegung dieser Ausnahmebestimmung erhält auch vor dem Hintergrund eine gewisse praktische Relevanz, dass das US-amerikanische Außenhandelsrecht Bestimmungen enthält, nach denen die Einfuhr von Waren, die mittels Zwangsarbeit hergestellt wurden, verboten ist.683 Durch eine weite Auslegung des Art. XX lit. e) GATT könnten jedoch diese anderenfalls GATT-widrigen Bestimmungen des US-amerikanischen Außenhandelsrechts gerechtfertigt werden. Gegen eine solche weite Auslegung dieser Ausnahmebestimmung wird jedoch der klare Wortlaut des Art. XX lit. e) GATT angeführt. Außerdem wird darauf verwiesen, dass der Grund für die Schaffung dieser Ausnahmebestimmung darin lag, etwaige komparative Vorteile von in Strafgefangenenarbeit hergestellten Waren ausgleichen zu können.684 Gegen dieses Argument könnte entgegengehalten werden, dass auch Zwangsarbeiter keinen marktadäquaten Lohn enthalten, so dass es durch Zwangsarbeit ebenfalls zu Wettbewerbsverfälschungen kommen kann. Allerdings spricht gegen eine solche weite Auslegung, dass in der Havanna-Charta, die nicht ratifizierte Vorläuferin des GATT-Übereinkommens den Schutz elementarer Arbeitsbedingungen insofern vorsah, als dass die Vertragsstaaten der geplanten Havanna-Charta verpflichtet gewesen wären gegen unfaire Arbeitsbedingungen vorzugehen.685 Diese Verpflichtung wurde jedoch nicht in das GATT-Übereinkommen übernommen, so dass nicht davon auszugehen ist, dass nach den Willen der Verfasser des GATT, Erwägungen des Schutzes elementarer Arbeitsbedingungen im GATT-Übereinkommen eine Rolle spielen sollten. Eine entsprechende Interpretation des Art. XX lit. e) GATT würde also gegen Art. 3.2 und 19.2 DSU verstoßen.686 681  Cleveland,

JIEL 2002, 133, 161, 162; Diller / Levy, AJIL 1997, 663, 683, 684. C.IV.3.a)bb) zur Auslegung des „relating to“-Erfordernisses und C.I.1.a) cc) zur Auslegung des Notwendigkeitskriteriums im Rahmen des Art. XX lit. a) GATT. 683  McCrudden / Davies, JIEL 2000, 43, 52. 684  Wolfrum / Stoll / Seibert-Fohr, S. 135 (Wenzel). 685  Trebilcock / Howse, S. 571. 686  Vgl. auch Blüthner, S. 340. 682  Vgl.

290

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

Letztendlich ist davon auszugehen, dass der Grund für diese Ausnahmebestimmung die Gesetzeslage in Großbritannien, Australien, Neuseeland und Südafrika – alles ursprüngliche Vertragsparteien des GATT – war, die jeweils Einfuhrverbote für Waren enthielten, die in Gefängnissen hergestellt wurden.687 Auch könnte selbst eine sehr weite Auslegung des Art. XX lit. e) GATT nur handelsbeschränkende Maßnahmen gegen Waren rechtfertigen, deren Herstellung in einem Zusammenhang mit Zwangsarbeit oder ausbeuterischer Kinderarbeit steht. Keine Möglichkeit bestünde hingegen aufgrund dieser Ausnahmebestimmung handelsbeschränkende Maßnahmen gegen WTOMitglieder zu verhängen, in denen es zu schweren Menschenrechtsverletzungen kommt, die nicht im Zusammenhang mit eingeführten Waren stehen. Nach der hier vertretenen Auffassung können jedoch handelsbeschränkende Maßnahmen zur Abstellung sämtlicher Formen schwerer Menschenrechtsverletzungen in Hoheitsgebieten anderer WTO-Mitglieder verhängt werden, die ihre Rechtfertigungsmöglichkeit gewissermaßen über ein „Spiel über Bande“ in Art. XX lit. a) GATT finden.688 Demnach besteht auch keine Notwendigkeit einer solchen weiten Auslegung. Folglich kann Art. XX lit. e) GATT keine handelsbeschränkenden Maßnahmen zum Schutz von Menschenrechten oder sozialen Mindestbedingungen außerhalb von Strafvollzuganstalten rechtfertigen. Die Ausnahmebestimmung des Art. XX lit. e) GATT enthält als Rela­ tionselement ein „relating to“-Erfordernis. Mangels Judikatur der Streitbeilegungsgremien zu dieser Tatbestandsvoraussetzung im Rahmen dieser Ausnahmebestimmung wird auf die folgende Untersuchung der Ausnahmetatbestimmung des Art. XX lit. g) GATT verwiesen.689 An dieser Stelle soll hinsichtlich der Voraussetzungen des Relationselementes des „relating to“Erfordernisses nur angemerkt werden, dass dieses mit vorrangig darauf abzielend ausgelegt wird. Also muss, um den Relationselement des Art. XX lit. e) GATT zu genügen, der hauptsächliche Grund für das Verhängen einer handelsbeschränkenden Maßnahme gegen eine Ware sein, dass diese mittels Strafgefangenenarbeit hergestellt wurde. b) Keine entsprechende Ausnahmebestimmung im EU-Recht Im EU-Recht findet sich keine entsprechende Ausnahmebestimmung in Art. 36 AEUV. Auch hat sich der EuGH bis heute nicht mit handelsbeCharnovitz, International Labour Review 1987, 565, 570. C.III.1.a)bb)(1). 689  Vgl. C.IV.3.a)bb). 687  Vgl. 688  Vgl.



IV. Ausnahmebestimmungen im WTO-Recht291

schränkenden Maßnahmen gegen Waren befasst, die mittels Strafgefangenenarbeit hergestellt wurden. Die Nichtaufnahme einer entsprechenden Ausnahmebestimmung in den ursprünglichen EWG-Vertrag kann darauf zurückgeführt werden, dass der Art. XX lit. e) GATT, wie oben dargestellt, seiner Existenz den Vorteil verdankt, dass hierdurch eine Möglichkeit geschaffen werden sollte komparative Handelsvorteile auszugleichen. Es bestanden also wirtschaftliche Gründe hierfür. Sämtliche Ausnahmebestimmungen des Art. 36 AEUV spiegeln jedoch Gründe des Allgemeininteresses wieder.690 Eine Ausnahmebestimmung aus wirtschaftlichen Gründen würde also gar nicht in die Systematik des Art. 36 AEUV passen. Außerdem können Ausnahmen von der Warenverkehrsfreiheit, wenn es darum geht einen Binnenmarkt zu schaffen, nur dann hingenommen werden, wenn höherrangige Interessen der Allgemeinheit hierfür sprechen. Hingegen würde die Beibehaltung von Handelshemmnissen aufgrund wirtschaftlicher Erwägungen dem Konzept eines Binnenmarktes widersprechen. Selbst wenn man sich entschlossen hätte, Beeinträchtigungen der Warenverkehrsfreiheit auch aus wirtschaftlichen Erwägungen hinzunehmen, so hätte hinsichtlich der Schaffung einer solchen Ausnahmebestimmung aber nicht die gleiche wirtschaftliche Notwendigkeit wie im WTO-Recht bestanden. Denn bei den EU-Mitgliedstaaten handelt es sich nicht um autoritäre Staaten die eine im internationalen Vergleich besonders hohe Anzahl von Strafgefangenen haben und somit Waren in großer Stückzahl besonders kostengünstig herstellen könnten. Zudem sind die Waren, die überwiegend in den EU-Mitgliedstaaten hergestellt werden, solche für die sowohl ein hohes Know-how als auch größere Investitionen notwendig sind. Strafgefangenenarbeit lohnt sich, wie andere erzwungene Arbeit, aber wirtschaftlich nur dort, wo Kapital fehlt und wo Herstellungsverfahren mittels einfacher technischer Mittel zum Einsatz kommen. Teure Maschinen wird man Strafgefangenen hingegen nicht anvertrauen. Dem allergrößten Teil der Strafgefangenen dürften auch die hierfür notwendigen Mindestqualifikationen fehlen. Gegen die Aufnahme einer entsprechenden Ausnahmebestimmung im EU-Recht sprach sicherlich auch, dass es sehr schwierig ist, die Herstel690  Dies gilt auch für die Ausnahmebestimmung des Art. 36 AEUV zum Schutz geistiger Schutzrechte. Zwar schützt diese auch private Interessen wirtschaftlicher Art. Durch diese Ausnahmebestimmung soll jedoch die Monopolstellung geistiger Schutzrechte gewährleistet werden, um einen Anreiz zu schaffen in geistige Neuentwicklungen zu investieren. Durch diese geistigen Neuentwicklungen kommt es zu technologischen und kulturellen Fortschritten, die wiederum dem Allgemeininteresse dienen, vgl. auch C.III.4.c).

292

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

lungsweise solcher Waren nachzuweisen. Dies ist auch einer der Gründe, warum die EU bis heute keine auf Art. XX lit. e) GATT gestützten handelsbeschränkenden Maßnahmen verhängt hat.691 Aber auch wenn, wie oben ausgeführt, teilweise vertreten wird, dass der Grund für die Aufnahme dieser Ausnahmebestimmung in den Art. XX GATT auf Erwägungen des Menschenrechtsschutzes zurückzuführen ist, dann würde dies keinen Grund darstellen, diese Ausnahmebestimmung in den Art. 36 AEUV zu übernehmen. Denn der ursprüngliche EWG-Vertrag von 1957 beinhaltete keine Vorschriften zum Schutz von Menschenrechten.692 Da in der Zwischenzeit alle EU-Mitgliedstaaten einen vergleichbaren Stand des Menschenrechtsschutzes erreicht haben und auch der EMRK angehören, die Strafgefangenen gewisse Rechte zusteht,693 ist eine solche Ausnahmebestimmung im EU-Recht auch nicht länger notwendig. Trotz der fehlenden Notwendigkeit einer solchen Ausnahmebestimmung im EU-Recht und dem Umstand, dass Art. XX lit. e) GATT im WTO-Recht bislang keine praktische Relevanz gehabt hat, sollte aber auf diese Ausnahmebestimmung auch zukünftig nicht verzichtet werden. Denn Art. XX lit. e) GATT stellt eine „Reserverechtfertigungsmöglichkeit“ dar, mit der, wenn auch nicht sehr zielgerichtet auf Menschenrechtsverletzungen reagiert werden kann. Außerdem besteht der Grund für die ursprüngliche Schaffung dieser Ausnahmebestimmung auch weiterhin. Denn verschiedene WTOMitglieder haben eine hohe Anzahl von Strafgefangenen. So sind etwas in den USA oder in China, verglichen mit anderen WTO-Mitgliedern, eine unverhältnismäßig hohe Zahl von Personen inhaftiert, in den USA etwa 2,3 Mio. und in China etwa 1,5 Mio. Menschen. Daher ist nicht auszuschließen, dass Art. XX lit. e) GATT in Zukunft eine praktische Bedeutung spielen könnte, falls es durch den Einsatz von Strafgefangenen in der Warenherstellung zu einer Verzerrung des Wettbewerbes kommt. 3. Die Ausnahmebestimmungen des Art. XX lit. g) GATT Die Ausnahmebestimmung des Art. XX lit. g) GATT gewinnt ihre besondere Bedeutung dadurch, dass durch sie auch handelsbeschränkende Maßnahmen gerechtfertigt werden können, die aus Gründen des Umweltschutzes verhängt wurden. Diese Ausnahmebestimmung rechtfertigt handelsbeschränkende „Maßnahmen zur Erhaltung erschöpflicher Naturschätze, sofern solche Maßnahmen im Zusammenhang mit Beschränkungen der inländischen 691  Feddersen, 692  C.V.6. 693  Vgl.

S. 227, 228.

Meyer-Ladewig, Art. 3 Rn. 10 ff., Art. 8 Rn. 30 ff., Art. 38 Rn. 13.



IV. Ausnahmebestimmungen im WTO-Recht293

Produktion oder des inländischen Verbrauches angewendet werden“. Nach dem englischsprachigen Originalwortlaut muss außerdem auch das Rela­ tionselement des „relating to-Erfordernisses“ erfüllt sein. a) Die Voraussetzungen des Art. XX lit. g) GATT Damit eine handelsbeschränkende Maßnahme nach Art. XX lit. g) GATT gerechtfertigt ist, müssen also drei Voraussetzungen erfüllt sein. Die Maßnahme muss erstens zur Erhaltung erschöpflicher Naturschätze verhängt worden sein, zweitens muss das Relationselement des „relating to-Erfordernisses gegeben sein und drittes muss die Maßnahme im Zusammenhang mit inländischen Beschränkungen der Produktion oder des Verbrauchs angewendet werden. aa) Der Begriff der erschöpflichen Naturschätze Es muss sich um eine Maßnahme zur Erhaltung erschöpflicher Naturschätze („natural ressources“) handeln. Die Ausnahmebestimmung des Art. XX lit. g) GATT wurde ursprünglich in das GATT-Übereinkommen aufgenommen, um den damaligen Vertragsparteien des GATT die Möglichkeit zu geben, die Ausfuhr ihrer Bodenschätze, insbesondere von Erdöl oder Metallen, zu beschränken.694 Dieser wohl ursprünglich von den damaligen Vertragsparteien des GATT beabsichtigte Anwendungsbereich des Art. XX lit. g) GATT hat sich jedoch stark erweitert. Denn der Begriff der erschöpflichen Naturschätze umfasst nicht nur Rohstoffe, sondern hierunter fallen auch lebende Ressourcen, wie Pflanzen- und Tierarten, die zu einer Erneuerung durch Reproduktion fähig sind. So hat der Appellate Body ausgeführt, dass Pflanzen- und Tierarten etwa aufgrund von Raubbau und Ausrottung erschöpflich sein können wie dies auch bei Erdöl, Eisen und anderen Rohstoffen der Fall ist.695 Der Appellate Body hat sich dabei darauf berufen, dass es sich bei dem Begriff der erschöpflichen Naturschätze nicht um einen statischen Begriff handelt, sondern dass dieser der Entwicklung zugänglich sei. Der Appellate Body wies in diesem Zusammenhang auch darauf hin, dass zahlreiche neuere internationale Vertragswerke unter diesen Begriff auch Pflanzen- und Tierarten fassten.696 Damit hat der Appellate Body die Judikatur der Panels unter dem GATT fortgesetzt. Denn bereits von einem Panel des GATT wurde anerkannt, dass auch wandernde Fischarten unter 694  Charnovitz, JWT 1991, 37, 45; Wolfrum / Stoll / Seibert-Fohr, S. 135 (MatzLück / Wolfrum); Imperiale, S. 243. 695  Appellate Body Report, US – Shrimps, Rn. 128. 696  Appellate Body Report, US – Shrimps, Rn. 130.

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C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

den Begriff der erschöpflichen Naturschätze fallen.697 Der Begriff der erschöpflichen Naturschätze erstreckt sich aber in ökologischer Hinsicht nicht nur auf Pflanzen- und Tierarten, so wurde von den Streitbeilegungsgremien anerkannt, dass auch saubere Luft hierunter fällt.698 Daher war auch eine handelsbeschränkende Maßnahme der USA gerechtfertigt, die zum Gebrauch von Benzin verpflichtete, welches beim Verbrennen weniger Rückstände hinterließ, um so die Luftqualität in vom Smog gefährdeten Gebieten zu verbessern. Daher folgt aus der Judikatur der Streitbeilegungsgremien, dass alle Ressourcen, die nicht künstlich vermehrt werden können, grundsätzlich unter den Begriff der erschöpflichen Naturschätze fallen können. Über die Frage, wann erschöpfliche Naturschätze als schutzbedürftig anzusehen sind und wer hierüber entscheidet, haben die Streitbeilegungsgremien bislang nicht entschieden, obwohl dies im US – Tuna Fall zwischen Mexiko und den USA streitig war. Es ist jedoch davon auszugehen, dass dem die handelsbeschränkende Maßnahme verhängenden WTO-Mitglied hierbei ein großer Beurteilungsspielraum einzuräumen ist. Eine Tier- oder Pflanzenart muss daher nicht akut vom Aussterben bedroht oder Objekt internationaler Schutzabkommen sein. Eine gewisse, wissenschaftlich nachgewiesene Gefährdung, dürfte daher ausreichend sein.699 bb) Das Relationselement des „relating to-Erfordernisses“ Die Ausnahmebestimmung des Art. XX lit. e) GATT enthält als Rela­ tionselement ein „relating to-Erfordernis“. Dieses Relationselement ist ebenfalls in den Ausnahmebestimmungen des Art. XX lit. c) GATT und des Art. XX lit. e) GATT enthalten. Zu diesen beiden Ausnahmebestimmungen ist jedoch von den Streitbeilegungsgremien bis heute noch keine Judikatur ergangen, so dass zur Auslegung dieses Relationselementes alleine auf die zu Art. XX lit. g) GATT ergangene Judikatur zurückgegriffen werden muss. Der Begriff des „relating to“ kann mit „beziehen“ übersetzt werden. Allerdings enthält die Ausnahmebestimmung des Art. XX lit. g) GATT keine Anhaltspunkte, inwiefern sich die handelsbeschränkende Maßnahme auf die Erhaltung der erschöpflichen Naturschätze beziehen muss. Noch vor Inkrafttreten der WTO führte ein Panel aus, dass das „relating to-Erfordernis“ einen weiteren Anwendungsbereich als das Notwendigkeitskriterium der 697  GATT Panel Report, Canada – Herrings and Salmon, Rn. 4.4 ff.; GATT Panel Report, US – Tuna (Canada), Rn. 4.9. 698  Panel Report, US – Gasoline, Rn. 6.37. Gegen diese Definition des Begriffes der erschöpflichen Naturschätze wurde von den beteiligten WTO-Mitgliedern keine Berufung eingelegt. 699  Diem, S. 82; Schmidt / Kahl, Rn. 112; Fauchald, S. 288.



IV. Ausnahmebestimmungen im WTO-Recht295

Art. XX lit. a), b) und d) GATT oder das Relationselement des „wesentlich“ des Art. XX lit. j) GATT habe. Unter dem Relationselement des Art. XX lit. g) GATT verstand das Panel ein „ein vorrangiges Abzielen“ („primarily aimed at“) der handelsbeschränkenden Maßnahme auf die Erhaltung erschöpflicher Naturschätze.700 Damit legte das Panel das „relating to-Erfordernis“ relativ eng aus. Denn der bloße Wortlaut, der nur eine Beziehung zwischen handelsbeschränkender Maßnahme und der Erhaltung erschöpf­ licher Naturschätze forderte, hätte sicherlich auch eine weitere Definition zugelassen. Das Panel verwies jedoch auf die Gefahr, dass anderenfalls wirtschaftliche Interessen verfolgt werden könnten, die nicht auf die Erhaltung erschöpflicher Naturschätze abzielten.701 Diese Definition wurde ebenfalls in zwei anderen, allerdings nicht angenommenen Entscheidungen von Panels des GATT verwendet.702 Der Appellate Body hat dann diese Definition bestätigt und konkretisiert. So verwies der Appellate Body in der Entscheidung US – Gasoline auf diese Definition und merkte gleichzeitig an, dass eine „substantielle Beziehung“ („substantial relationship“) zwischen den Grenzwerten für Benzin und den Bemühungen der USA zur Reinhaltung der Luft bestand.703 In der Entscheidung US – Shrimp forderte der Appellate Body eine „enge und reale“ („close and real“) Beziehung zwischen der handelsbeschränkenden Maßnahme und dem verfolgten Ziel.704 Gleichzeitig verzichtete der Appellate Body aber darauf, die Definition des „ein vorrangiges Abzielens“ erneut zu verwenden. Aufgrund der begrifflichen Nähe dieser beiden Definitionen ist aber nicht davon auszugehen, dass der Appellate Body den Anwendungsbereich des „relating to-Erfordernisses“ durch diese Entscheidung verengt oder erweitert hat. Daher sind die Voraussetzungen des Relationselementes des Art. XX lit. g) GATT erfüllt, wenn eine handelsbeschränkende anderenfalls GATT-widrige Maßnahme vorrangig auf die Erhaltung erschöpflicher Naturschätze abzielt. cc) Inländische Beschränkungen der Produktion oder des Verbrauchs Neben dem Tatbestands- und dem Relationselement enthält die Ausnahmebestimmung des Art. XX lit. g) GATT als dritte Voraussetzung das Erfordernis, dass die handelsbeschränkende Maßnahme im Zusammenhang mit Panel Report, Canada – Herring and Salmon, Rn. 4.5. Panel Report, Canada – Herring and Salmon, Rn. 4.6. 702  GATT Panel Report, US – Tuna (Mexico), Rn. 5.33; GATT Panel Report, US – Tuna (EEC), Rn. 5.22. 703  Appellate Body Report, US – Gasoline, S. 18, 19. 704  Appellate Body Report, US – Shrimp, Rn. 141. 700  GATT 701  GATT

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C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

inländischen Beschränkungen der Produktion oder des Verbrauchs angewendet werden muss. Durch diese Voraussetzung soll gewährleistet werden, dass nicht alleine ausländische Hersteller und Verbraucher die Lasten zu tragen haben, die im Zusammenhang mit der Erhaltung erschöpflicher Naturschätze entstehen. Entsprechend hat der Appellate Body diese Voraussetzung als erfüllt angesehen, wenn eingeführte Waren im Vergleich zu einheimischen Waren „unparteilich“ bzw. „objektiv“ („even-handedness“) behandelt werden.705 Eine gleiche Behandlung eingeführter und einheimischer Waren ist also nicht erforderlich. Allerdings ist es zweifelhaft, dass handelsbeschränkende Maßnahmen, die eingeführte Waren nicht „unparteilich“ bzw. „objektiv“ in Vergleich mit einheimischen Waren behandelt, überhaupt die Voraussetzung des „relating to-Erfordernisses“ erfüllt. Denn falls eingeführte Waren wesentlich schlechter als einheimische Waren behandelt werden, wird die handelsbeschränkende Maßnahme kaum vorrangig auf die Erhaltung der erschöpflichen Naturschätze abzielen, sondern eher protektionistische Interessen verfolgen. b) Möglichkeit eines Schutzes extraterritorialer Schutzziele durch den Art. XX lit. g) GATT Die Frage, ob durch eine der Ausnahmebestimmungen des Art. XX GATT auch extraterritoriale Schutzziele verfolgt werden können, ist in der Judikatur der Streitbeilegungsgremien im Rahmen des Art. XX lit. g) GATT relevant geworden. Die hierzu ergangenen Entscheidungen von zwei Panels des GATT, die allerdings nicht angenommen wurden, sowie einer Entscheidung des Appellate Body wurden bereits ausführlich dargestellt.706 Zusammenfassend kann zu diesen Entscheidungen gesagt werden, dass die Panels des GATT eine extraterritoriale Wirkung des Art. XX lit. g) GATT ablehnten.707 Der Appellate Body wich einer Entscheidung hingegen aus, da es sich bei den streitgegenständlichen Meeresschildkröten um eine wandernde Tierart handelt, gewissermaßen um ein Zugtier, die auch in Gewässern vorkommt, die zum US-Hoheitsgebiet gehören. Der Appellate Body nahm daher eine „ausreichende Verbindung“ („sufficient nexus“) zwischen den extraterritorial geschützten Naturschätzen in Form der Meeresschildkröten und dem US-Hoheitsgebiet an.708 Daraus folgt jedenfalls, dass handelsbeschränkende Maßnahmen, die ein WTO-Mitglied zum Schutz eines Body Report, US – Gasoline, S. 21. C.II.1.f). 707  GATT Panel Report, US – Tuna (Mexico), Rn. 5.26, 5.27; GATT Panel Report, US – Tuna (EEC), Rn. 5.31, 5.33. 708  Appellate Body Report, US – Shrimp, Rn. 133. 705  Appellate 706  Vgl.



IV. Ausnahmebestimmungen im WTO-Recht297

Ökosystems verhängt, das über sein Hoheitsgebiet herausreicht, in den Anwendungsbereich des Art. XX lit. g) GATT fallen. Entsprechend berief sich auch Chile in einem durch die EU eingeleiteten, aber durch eine gütliche Einigung zwischen den Streitparteien beendeten Streitbeilegungsverfahren, auf Art. XX lit. g) GATT. In diesem Streitbeilegungsverfahren ging es um Anlandungs- und Transitverbote von Schwertfischen, die von Fischern aus der EU in an Chiles ausschließlicher Wirtschaftszone angrenzenden Hohen See gefangen wurde.709 Fraglich ist jedoch die Einschlägigkeit dieser Rechtfertigungsmöglichkeit für handelsbeschränkende Maßnahmen, die ein WTO-Mitglied zum Schutz eines Ökosystems verhängt, das außerhalb seines Hoheitsgebietes besteht. Von einer vom Appellate Body geforderten „ausreichenden Verbindung“ zwischen den extraterritorial geschützten Naturschätzen und dem eigenen Hoheitsgebiet kann dann sicherlich nicht ausgegangen werden. Falls die Streitbeilegungsgremien gezwungen wären, diese Frage zu beantworten, ist jedoch auch unter Berücksichtigung der bisherigen Judikatur davon auszugehen, dass sie eine extraterritoriale Wirkung der Ausnahmebestimmung des Art. XX lit. g) GATT ohne eine „ausreichende Verbindung“ zwischen Schutzziel und eigenen Hoheitsgebiet ablehnen würden. Denn dies würde zu einer erzwungenen Harmonisierung der nationalen Schutzpolitik des WTO-Mitgliedes führen, gegen dem die entsprechenden handelsbeschränkenden Maßnahmen verhängt werden. Für die Harmonisierungen von Schutzpolitiken, ob diese erzwungen wurden oder im Verhandlungswege erreicht worden sind, fehlen der WTO jedoch die Kompetenz sowie der institutionelle Rahmen. Eine Erweiterung sowohl der Kompetenz der WTO als auch ihres institutionellen Rahmens ist jedoch nicht abzusehen. Außerdem werden Fragen des internationalen Umweltschutzes von anderen internationalen Übereinkommen und Organisationen behandelt. Die WTO würde überfrachtet werden, wenn in ihren Rahmen einseitig Umweltschutzziele umgesetzt werden würden. Damit einhergehend besteht die Gefahr, dass WTO-Mitglieder einseitig die Umweltschutzstandards anderer WTO-Mitglieder festsetzen könnten und sie sich dabei auch von protektionistischen Erwägungen leiten lassen würden. Denn geringere Umweltschutzstandards bedeutet auch ein komparativer Handelsvorteil, so dass stets der Anreiz besteht, diesen durch handelsbeschränkende Maßnahmen auszugleichen. Falls die WTO zum Forum eines unilateralen Vorgehens zur Verfolgung umweltpolitischer Ziele wird, droht dies jedoch eine weitere Handelsliberalisierung zu erschweren oder gar zum Scheitern zu bringen. Denn WTOMitglieder mit niedrigeren Umweltschutzstandards müssten befürchten, dass 709  Neumann,

ZaöRV 2001, 529, 534; Rheinisch, RIW 2002, 449, 450.

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C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

ihnen gewährte Handelszugeständnisse, für die sie ihrerseits Kompensationen geleistet haben, durch unilaterale Maßnahmen zum Schutz der Umwelt wieder entzogen werden würden. Grundsätzlich ermöglicht ärmeren Ländern aber oftmals erst der durch die Handelsliberalisierung geschaffene Wohlstand das Betreiben einer nachhaltigen Umweltpolitik. Daher ist davon auszugehen, dass handelsbeschränkende Maßnahmen zur Verfolgung extraterritorialer Umweltschutzziele nur nach Art. XX lit. g) GATT gerechtfertigt werden können, wenn jedenfalls eine „ausreichende Verbindung“ zwischen den eigenen Hoheitsgebiet eines WTO-Mitgliedes und den extraterritorialen Umweltschutzzielen besteht.710 Also ist es den WTO-Mitgliedern untersagt, unter Berufung auf den Art. XX lit. g) GATT handelsbeschränkende Maßnahmen zu verhängen, die extraterritoriale umweltschützende Ziele verfolgen, die aber keine ausreichende Verbindung zu ihrem eigenen Hoheitsgebiet aufweisen. Diese Auslegung mag unbefriedigend erscheinen. Allerdings ist es Aufgabe der Regierungen der WTOMitglieder dem Umweltschutz durch eine bessere Kooperation und Koordination zwischen internationalen Übereinkommen und Organisationen des internationalen Umweltschutzes und der WTO oder gar einer etwaigen Vertragsänderung, ein höheres Gewicht zu verleihen. Bis dahin steht es den WTO-Mitgliedern zwar frei, entsprechende handelsbeschränkende Maßnahmen zu verhängen, da das Streitbeilegungssystem der WTO keine zwingenden Instrumentarien enthält, sie müssen dann aber auch bereit sein, die Konsequenzen in Form von Gegenmaßnahmen hinzunehmen. c) Keine entsprechende Ausnahmebestimmung im EU-Recht Dem Art. 36 AEUV fehlt eine Ausnahmebestimmung zur Rechtfertigung handelsbeschränkender Maßnahmen, durch die erschöpfliche Naturschätze geschützt werden sollen. Der Grund für die Aufnahme des Art. XX lit. g) GATT als Ausnahmebestimmung in das GATT war jedoch, dass die USA sich hierdurch eine Möglichkeit offen halten wollten, ihre Ölausfuhren zu beschränken.711 Keiner der damaligen EU-Mitgliedstaaten verfügte jedoch zum Zeitpunkt der Gründung der EU über größere bekannte Ölvorkommen. Wichtigste Bodenschätze der damaligen EU-Mitgliedstaaten waren hingegen Kohle und Eisen. Die souveränen Verfügungsrechte hierüber hatten die damaligen EU-Mitgliedstaaten aber bereits 1952 durch den „Vertrag über die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl“ (EGKS) an eine suprana­ tionale Behörde, die die europäische Kohle- und Stahlindustrie verwaltete, abgetreten. 710  A. A.

Bender, S.  161 ff. m. w. N. S. 143 (Matz-Lück / Wolfrum).

711  Wolfrum / Stoll / Seibert-Fohr,



IV. Ausnahmebestimmungen im WTO-Recht299

Folglich bestand zum Zeitpunkt der Gründung der EU keine Notwendigkeit eine Ausnahmebestimmung aufzunehmen, mittels derer die Ausfuhr von Bodenschätzen hätte verhindert werden können. Zudem ist es kaum mit dem Ziel der Errichtung eines Gemeinsamen Marktes zu vereinbaren, wenn den teilnehmenden Staaten die Möglichkeit gelassen wird, die Ausfuhr von Rohstoffen zu be- oder verhindern. Schließlich stellte Art. XX lit. g) GATT ursprünglich eine Ausnahmebestimmung dar, die alleine wirtschaftliche Interessen verfolgte. Die Ausnahmebestimmungen des Art. 36 AEUV dienen jedoch grundsätzlich allein legitimen Schutzzielen des Allgemeininteresses. Aber auch im WTO-Recht hat diese Ausnahmebestimmung im Zusammenhang mit Bodenschätzen keine wirkliche Relevanz gehabt. Stattdessen gewinnt Art. XX lit. g) GATT seine praktische Bedeutung dadurch, dass durch diese Ausnahmebestimmung handelsbeschränkende Maßnahmen gerechtfertigt werden können, die Belange des Umweltschutzes verfolgen. Im EU-Recht stand es den EuGH allerdings frei im Rahmen der Cassis-Formel den Umweltschutz als ungeschriebenen Rechtfertigungsgrund anzuerkennen. Den Streitbeilegungsgremien der WTO ist die Neuschaffung eines Rechtfertigungsgrundes hingegen aufgrund des Verbotes der Rechtsfortbildung nach den Art. 3.2 und Art. 19.2 DSU verwehrt. Um Belange des Umweltschutzes wenigstens in einem gewissen Maße berücksichtigen zu können, waren die Streitbeilegungsgremien daher auf eine weite Auslegung des Art. XX lit. g) GATT angewiesen. Zu erwähnen bleibt noch, dass auch im EU-Recht das legitime Schutzziel erschöpfliche Naturschätze zu schützen in gewisser Hinsicht anerkannt ist. Denn das Ziel Erdöl einer wichtigeren Verwendung zukommen zu lassen, wurde vom EuGH als ein „objektive Kriterium“ anerkannt. Daher war eine diskriminierende steuerliche Maßnahme, die anderenfalls gegen Art. 110 Abs. 1 AEUV verstoßen hätte, gerechtfertigt.712 Dieses „objektive Kriterium“ wird zwar als ein Unterfall des legitimen Schutzzieles der öffentlichen Sicherheit aufgefasst.713 Daneben wird durch dieses „objektive Kriterium“ aber auch zur Erhaltung erschöpflicher Naturschätze beigetragen. Daher ist damit zu rechnen, dass der EuGH falls er mit einen entsprechenden Sachverhalt konfrontiert werden sollte, auch das Ziel der Erhaltung erschöpflicher Naturschätze, solange dies nicht alleine auf wirtschaftlichen Erwägungen beruht, als ein legitimes Schutzziel i. S. d. Cassis-Formel anerkennen würde und somit einen weiteren ungeschriebenen Rechtfertigungsgrund schaffen würde. 712  EuGH Urt. v. 14.01.2981, Rs. C-140  /  79, Chemical Farmateuci S.p.A. .  /  . DAF S.p.A, Slg. 1981, 1, 14, Rn. 13; EuGH Urt. v. 14.01.1981, Rs. 46 / 80, S.p.A. Vinal . / . S.p.A. Orbat, Slg. 1981, 77, 93, Rn. 12. 713  Vgl. Bernard, S. 54.

300

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

4. Die Ausnahmebestimmung des Art. XX lit. h) GATT für internationale Rohstoffabkommen Nach Art. XX lit. h) GATT sind handelsbeschränkende Maßnahmen gerechtfertigt, wenn diese zur Durchführung von Verpflichtungen aus internationalen Rohstoffabkommen verhängt werden. Nach der Anmerkung zu dieser Ausnahmebestimmung in der Anlage I des GATT-Übereinkommen müssen die internationalen Rohstoffabkommen auch die in der Resolution des Wirtschaftsund Sozialrates des Vereinten Nationen vom 28.03.1947 niedergelegten Bedingungen erfüllen. Die Bedingungen dieser Resolution erfüllen nur internationale Rohstoffabkommen, deren Mitgliedschaft sowohl den Ausfuhrstaaten des betreffenden Rohstoffes als auch dessen Einfuhrstaaten offen steht. Internationale Rohstoffabkommen werden häufig durch internationale Organisationen begründet, in denen sich die Erzeugerstaaten und teilweise auch die Verbraucherländer zusammenschließen.714 Internationale Rohstoffabkommen wurden u. a. für Rohstoffe wie Zinn, Jute, Kaffee, Tropenholz, Weizen, Olivenöl, Kakao, Kautschuk und Zucker geschlossen.715 Aber auch über Erdöl und Baumwolle wurden solche internationalen Rohstoffabkommen abgeschlossen. Zum Zeitpunkt des Entstehens des GATT bestanden u.  a. internationale Rohstoffabkommen über Weizen, Gummi, Holz und Kaffee. Ihren Höhepunkt hatten internationale Rohstoffabkommen in den 20er und 30er Jahren des letzten Jahrhunderts.716 Der Zweck internationaler Rohstoffabkommen besteht darin den Markt des jeweiligen Rohstoffes zu stabilisieren. Denn Rohstoffpreise sind extrem labil und kaum zu prognostizieren. Gerade Entwicklungsländer sind jedoch stark von den Einnahmen aus Rohstoffausfuhren abhängig. Durch das Instrumentarium internationaler Rohstoffabkommen soll der Rohstoffpreis langfristig auf einem höheren, als angemessen empfundenen Niveau gehalten werden. Zu diesen Instrumentarien zählt neben verschiedenen Arten der Kooperation und Koordination auch die Zuteilung von Ausfuhrquoten. Dabei wird den rohstoffexportierenden Vertragsstaaten eines internationalen Rohstoffabkommens jeweils eine bestimmte Ausfuhrquote zugeteilt. Durch diese Ausfuhrquoten werden die weltweit zur Verfügung stehende Menge des betreffenden Rohstoffes und damit auch dessen Preis gesteuert. Um aber die ihnen zugeteilte Ausfuhrquote nicht zu übertreffen, können die Vertragsstaaten eines Rohstoffabkommens dazu gezwungen sein, die Ausfuhr des betreffenden Rohstoffes zu beschränken und somit gegen WTO-Recht, insbesondere gegen Art. XI GATT zu verstoßen. 714  Herdegen,

§ 10 Rn. 2. S.  88 ff. 716  Weber, S.  56 ff. 715  Weberpals,



IV. Ausnahmebestimmungen im WTO-Recht301

Art. XX lit. h) GATT hat bis heute keine wirkliche praktische Relevanz erfahren. So wurde bislang kein Rohstoffabkommen dem Prüfverfahren unterworfen, welches Art. XX lit. h) GATT vorsieht.717 Außerdem hat sich noch kein WTO-Mitglied zur Rechtfertigung einer handelsbeschränkenden Maßnahme auf die Ausnahmebestimmung des Art. XX lit. h) GATT berufen. Ebenso sind die Streitbeilegungsgremien in ihrer Judikatur bislang nicht wirklich auf den Art. XX lit. h) GATT eingegangen. Bislang erwägte lediglich ein Panel unter dem GATT, ob das Lomé-Abkommen zwischen der EU und den AKP-Staaten ein solches internationales Rohstoffabkommen i.  S. dieser Ausnahmebestimmung darstellen könnte, lehnte dies jedoch ab.718 Allerdings haben sich auch die allermeisten internationalen Rohstoffabkommen nicht als erfolgreich erwiesen. Denn die Vertragsstaaten eines Rohstoffabkommens tendieren dazu mehr Rohstoffe auszuführen als ihnen nach der zugeteilten Quote zustehen würde und die meisten Rohstoffabkommen umfassen nicht alle bedeutenden Erzeugerstaaten.719 Das einzige internationale Rohstoffabkommen, welches den Rohstoffpreis erfolgreich langfristig kontrolliert hat, ist die Organisation der Erdöl exportierenden Länder (Organization of Petroleum Exporting Countries, OPEC). Die OPEC fällt jedoch gerade nicht unter die Ausnahmebestimmung des Art. XX lit. h) GATT, da zu ihren Mitgliedern nur Erzeugerstaaten zählen. Mangels erfolgreicher internationaler Rohstoffabkommen, die den Voraussetzungen des Art. XX lit. h) GATT genügen, wird sich ein WTO-Mitglied, welches die Ausfuhr seiner Rohstoffe mittels handelsbeschränkender Maßnahmen verringern möchte, zur Rechtfertigung dieser Maßnahmen auf andere Ausnahmebestimmungen stützen müssen. In Betracht kommen hierbei vor allem die Art. XX lit. g) und lit. i) GATT. Um internationalen Rohstoffabkommen zu einer größeren Relevanz zu verhelfen, wurde von einer Gruppe afrikanischer WTO-Mitglieder vorgeschlagen, dass der Anwendungsbereich des Art. XX lit. h) GATT erweitert werden sollte, damit auch internationale Rohstoffabkommen hierunter fallen, denen nur Ausfuhrstaaten angehören.720 Es ist jedoch nicht ersichtlich, dass dieser Vorschlag auf eine größere Resonanz gestoßen ist. Außerdem ist auch nicht zu erwarten, dass, selbst bei einer entsprechenden Änderung, andere internationale Rohstoffabkommen eine ähnliche Bedeutung wie die OPEC erlangen würde. Denn nur wenige andere Rohstoffe sind ähnlich 717  Tietje,

§ 6 Rn. 14 (Weiss). Panel Report, EC – Import Regime for Bananas, Rn. 166. 719  Trebilcock / Howse, S. 484, 485; Matsushita / Schoenbaum / Mavroidis, S. 770. 720  Vgl. die Vorlage der Afrikanischen Gruppe vom 29.06.2007 auf http:  /  / trade observatory.org / library.cfm?refID=99151, aufgerufen am 10.03.2009. 718  GATT

302

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

begrenzt und hochwertig wie Öl. Außerdem verfügen nur wenige rohstoffexportierende Länder, anders als die Mitglieder der OPEC, über die finanziellen Ressourcen, die es ihnen erlauben, die Ausfuhr ihrer Rohstoffe zu verringern, um so durch eine Verknappung den Preis auf einen von ihnen als angemessen empfundenen Niveau zu halten. Erwägt wurde, mittels dieser Ausnahmebestimmungen auch soziale Mindestrechte zu gewährleisten. Verschiedene internationale Rohstoffabkommen enthalten nämlich Verpflichtungen, die Arbeits- und Lebensbedingungen der betroffenen Arbeitnehmer zu verbessern. WTO-Mitglieder, die gleichzeitig diesen internationalen Rohstoffabkommen angehören, könnten daher unter Berufung auf Art. XX lit. h) GATT die Verhängung handelsbeschränkender Maßnahmen rechtfertigen, wenn anderenfalls ihre aus dem Rohstoffabkommen resultierende Verpflichtung zum Schutz von sozialen Mindestbedingungen beeinträchtigt wäre. Allerdings hat bislang keines der hierfür in Betracht kommenden Rohstoffabkommen das in Art. XX lit. h) GATT vorhergesehene Genehmigungsverfahren durchlaufen.721 Auch der Art. XX lit. h) GATT enthält ein Relationselement. Handelsbeschränkende Maßnahmen müssen „zur Durchführung von Verpflichtungen“ („undertaken in pursuance of obligations“) eines internationalen Rohstoff­ abkommen verhängt werden. Die Maßnahme muss also gerade auf einer Verpflichtung aus dem Rohstoffabkommen, etwa einer zugeteilten Ausfuhrquote, beruhen. Das EU-Recht enthält keine entsprechende Ausnahmebestimmung für internationale Rohstoffabkommen. Weder wurde eine solche Ausnahmebestimmung in den Art. 36 AEUV übernommen, noch hat der EuGH eine entsprechende Ausnahmebestimmung anerkannt. Aber zu den Vertragsstaaten internationaler Rohstoffabkommen zählen vor allem Entwicklungsländer, die im großen Maße von der Ausfuhr einiger bestimmter Rohstoffe abhängig sind und mit den Einnahmen hieraus auch ihre Einfuhren finanzieren. Keiner der EU-Mitgliedstaaten ist jedoch ein bedeutender Rohstoffexporteur. Als hochindustrialisierte Länder, die überwiegend fertige Industriewaren produzieren, haben sie hingegen ein besonderes Interesse daran Zugang zu möglichst preisgünstigen Rohstoffen zu erlangen. Internationale Rohstoffabkommen haben hingegen eher den Effekt Rohstoffe zu verteuern. Zudem würde der durch eine solche Ausnahmebestimmung mögliche Ausschluss des gesamten Rohstoffsektors aus dem Anwendungsbereich der Warenverkehrsfreiheit kaum in die Konzeption eines Binnenmarktes passen. Schließlich kann auch bei dieser Ausnahmebestimmung das Argument angeführt werden, welches bereits im vorherigen Abschnitt zur Erklärung für 721  Burianski,

S. 49, 136.



IV. Ausnahmebestimmungen im WTO-Recht303

das im EU-Recht fehlende Äquivalent zu Art. XX lit. g) GATT herangezogen wurde. Denn die wirtschaftlich wichtigsten Rohstoffe der damaligen EU-Mitgliedstaaten zur Zeit der Gründung der EU waren Kohle und Eisen. Beide wurden aber schon vor Gründung der EU von der EGKS verwaltet. Schließlich verfolgt diese Ausnahmebestimmung wirtschaftliche Interessen, da sie darauf abzielt rohstoffexportierenden WTO-Mitgliedern eine höhere Preisgestaltung zu ermöglichen. Im EU-Recht ist aber nur Raum für Ausnahmebestimmungen, die legitime Schutzziele des Allgemeininteresses verfolgen und nicht für solche, die auf wirtschaftlichen Erwägungen, d. h. letztendlich auf protektionistischen Gründen beruhen. Obwohl diese Ausnahmebestimmung bislang praktisch nicht relevant war und in der Rechtsordnung der EU zu Recht über kein Äquivalent verfügt, sollte sie auch in Zukunft beibehalten werden. Denn in Zeiten zunehmender Rohstofknappheiten ist es nicht ausgeschlossen, dass internationale Rohstoffabkommen eine größere Bedeutung erlangen und dann insbesondere Entwicklungsländer durch den Art. XX lit. h) GATT profitieren können. 5. Die Ausnahmebestimmung des Art. XX lit. i) GATT Auch Art. XX lit. i) GATT enthält ähnlich wie die beiden in den vorangegangen Abschnitten untersuchten Ausnahmebestimmungen des Art. XX lit. h) und lit. g) GATT eine Rechtfertigungsmöglichkeit für handelsbeschränkende Maßnahmen, die jedenfalls ursprünglich im Zusammenhang mit Rohstoffen standen. Dies verdeutlicht die Bedeutung, die der Versorgung mit Rohstoffen zum Zeitpunkt des Entwurfs des GATT-Übereinkommen im Jahr 1947 beigemessen wurde. Ebenso wie der Art. XX lit. h) GATT hat aber auch diese Ausnahmebestimmung bis heute keine praktische Bedeutung erlangt. Art. XX lit. i) GATT geht auf einen Vorschlags Neuseelands zurück, welches hiermit seine inländischen Preisstabilisierungsprogramme rechtfertigen wollte. Im Rahmen dieser Programme konnten inländische Hersteller Rohstoffe weit unter den Weltmarktpreis beziehen. Um einen Weiterverkauf dieser Rohstoffe in das Ausland zu verhindern, sollten durch diese Ausnahmebestimmung gegebenenfalls Ausfuhrbeschränkungen gerechtfertigt werden können.722 Die Ausnahmebestimmung des Art. XX lit. i) GATT rechtfertigt Ausfuhrbeschränkungen für inländische Rohstoffe. Art. XX lit. i) GATT verwendet zwar in seinem englischsprachigen Originalwortlaut den Begriff „materials“. Dieser stellt jedoch einen Sammelbegriff für Rohstoffe und weiterverarbeitete Rohstoffe dar. 722  Bhala,

S. 549.

304

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

Auf Rohstoffe verhängte Ausfuhrbeschränkungen können insbesondere gegen Art. XI GATT verstoßen. Durch Art. XX lit. i) GATT kann daher sichergestellt werden, dass die inländische verarbeitende Industrie über die erforderliche Menge Rohstoffe verfügt. Um zu verhindern, dass diese Ausnahmebestimmung von WTO-Mitgliedern genutzt wird, um eine monopolgleiche Verfügungsgewalt über Rohstoffe zu erlangen, ist die Anwendung des Art. XX lit. i) GATT an die Einhaltung von insgesamt fünf Voraussetzungen auf Tatbestandsseite geknüpft. Zusätzlich kommt noch ein Relationselement hierzu. So dürfen erstens Ausfuhrbeschränkungen nur auf einheimische Rohstoffe verhängt werden. Keine Rechtfertigungsmöglichkeit bietet Art. XX lit. i) GATT also für ein Wiederausfuhrverbot bereits eingeführter Rohstoffe. Zweitens dürfen Ausfuhrbeschränkungen nur zur Sicherung der „erforderlichen Mengen“ für die einheimische Industrie verhängt werden. WTO-Mitglieder dürfen daher unter Berufung auf diese Ausnahmebestimmung keine Vorräte anhäufen, die Überkapazitäten darstellen. Mangels Judikatur der Streitbeilegungsgremien zu dieser Ausnahmebestimmung gibt es keine gesicherte Definition, ab wann die gesicherte Menge an Rohstoffen nicht mehr erforderlich ist, sondern eine Überkapazität darstellt. Es ist jedoch davon auszugehen, dass im Streitfalle eine Einzelfallbetrachtung notwendig sein wird, die sowohl auf die Besonderheiten des jeweiligen Rohstoffes und der betreffenden einheimischen Industrie als auch auf die generelle Versorgungssicherheit abstellt. Drittens dürfen Ausfuhrbeschränkungen nur verhängt werden, wenn der Inlandspreis „im Rahmen eines staatlichen Stabilisierungsprogramm unter dem Weltmarktpreis gehalten wird“. Staatliche Stabilisierungsprogramme werden regelmäßig nur dann durchgeführt werden, wenn es anderenfalls zu einem Preisverfall des inländischen Rohstoffes oder zu Problemen der einheimischen Industrie kommen würde. Staatliche Stabilisierungsprogramme sind also ein Indiz für wirtschaftliche Probleme. Art. XX lit. i) GATT dürfte also nur dann von Bedeutung sein, wenn es darum geht wirtschaftliche Schwierigkeiten zu kompensieren, so dass sich die handelsbeschränkenden Wirkungen dieser Ausnahmebestimmung im Rahmen halten dürften. Viertens dürfen nach Art. XX lit. i) GATT gerechtfertigte Ausfuhrbeschränkungen keinen Schutz der jeweiligen einheimischen Industrie bewirken, noch dürfen sie zu einer Ausfuhrsteigerung dieser Industrie führen. Schließlich rechtfertigt diese Ausnahmebestimmung keine Verletzung der Vorschriften im GATT über die Nichtdiskriminierung. Also insbesondere nicht gegen Art. III GATT.723 723  Vgl. B.II.1. zu den Voraussetzungen des Diskriminierungsverbotes des Art. III:2 GATT und B.III.1 zu den Voraussetzungen des Diskriminierungsverbotes des Art. III:4 GATT.



IV. Ausnahmebestimmungen im WTO-Recht305

Durch diese fünf Voraussetzungen wird der Anwendungsbereich des Art. XX lit. h) GATT sehr stark eingeschränkt. Das eine handelsbeschränkende Maßnahme alle fünf Voraussetzungen des Tatbestandes des Art. XX lit. i) GATT erfüllt, dürfte wohl nur in den seltensten Fällen gegeben sein. Zusätzlich muss eine solche handelsbeschränkende Maßnahme noch das Relationselement erfüllen. Obwohl in der englischsprachigen Originalversion des Art. XX lit. i) GATT auch der Begriff des „necessary“ verwendet wird, ist das Relationselement nicht das Notwendigkeitskriterium. Der Appellate Body hat nämlich klargestellt, dass es sich bei dem Relationselement des Art. XX lit. i) GATT um ein „involving to“-Erfordernis handelt.724 Das „involving to“-Erfordernis wurde in der deutschsprachigen Fassung des GATT-Übereinkommens treffend mit „zur Folge haben“ übersetzt. Die Maßnahme muss also lediglich die Beschränkung der Ausfuhr zur Folge haben. Damit handelt es sich sicherlich um das weiteste der in den Ausnahmebestimmungen des Art. XX GATT enthaltenen Relationselemente. Zusätzlich wird gefordert, dass das Notwendigkeitskriterium hinsichtlich der Verbindung zwischen den Ausfuhrbeschränkungen und der Sicherung der „erforderlichen Mengen“ des betreffenden Rohstoffes angewendet werden soll.725 Dies erscheint jedoch angesichts der übrigen strengen Voraussetzungen des Art. XX lit. i) GATT, auch nicht im Interesse eines liberalisierten Warenhandels, erforderlich zu sein. Außerdem passt dieser Vorschlag nicht in die Struktur des Art. XX GATT. Denn anderenfalls würde der Art. XX lit. i) GATT anders als alle anderen Ausnahmebestimmungen des Art. XX GATT faktisch zwei Relationselemente enthalten. Im EU-Recht gibt es wie auch zu den beiden anderen Ausnahmebestimmungen des Art. XX lit. g) und lit. h) GATT keine entsprechende Ausnahmebestimmung. Die Gründe hierfür sind in den Umständen zu sehen, die bereits dazu geführt haben, dass es auch für diese beiden anderen Ausnahmebestimmungen, die wie der Art. XX lit. i) GATT zur Rechtfertigung von handelsbeschränkenden Maßnahmen in Bezug auf Rohstoffe konzipiert waren, kein Äquivalent besteht. Die Gründe hierfür wurden jedoch bereits dargelegt.726 Darüber hinaus stellen Preisstabilisierungssysteme Subventionen dar, da die Differenz zwischen Weltmarktpreis und günstigeren Abgabepreis an die inländischen Hersteller durch Subventionen geschlossen wird. Subventionen unterlagen jedoch schon im Vorläufer des EU-Vertrages einer strengen Kontrolle. Auf Ebene des Welthandels kann von dem Beginn einer solchen Kontrolle jedoch erst seit den 1970er Jahren die Rede sein. Daher war im EU-Recht von Anfang an kein Platz für eine solche AusnahmebeBody Report, US – Gasoline, S. 17. S. 162 (Matz-Lück / Wolfrum). 726  Vgl. C.IV.3.c) und C.IV.4. 724  Appellate

725  Wolfrum / Stoll / Seibert-Fohr,

306

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

stimmung. Spätestens mit dem Inkrafttreten des ÜSCM gilt dieses Argument aber auch für das WTO-Recht. Art. XX lit. i) GATT stellt also in einem gewissen Sinne einen Fremdkörper im WTO-Recht dar. Da dieser Ausnahmebestimmung jedoch bislang keine praktische Relevanz zugekommen ist und aufgrund ihrer strengen Voraussetzungen auch nicht damit zu rechnen ist, dass dies zukünftig der Fall sein wird, ist ihre Beibehaltung unschädlich. 6. Die Ausnahmebestimmung des Art. XX lit. j) GATT für Waren, an denen ein Mangel besteht Während die in den vorherigen drei Abschnitten behandelten Ausnahmebestimmungen der Art. XX lit. g), lit. h) und lit. i) GATT auf Rohstoffe zugeschnitten waren, handelt es sich beim Art. XX lit. j) GATT um eine Ausnahmebestimmung, durch die handelsbeschränkende Maßnahmen auf Agrarprodukte gerechtfertigt werden sollten.727 Diese Ausnahmebestimmung ist auf die Versorgungsengpässe mit Lebensmitteln, die nach dem 2. Weltkrieg bestanden, zurückzuführen.728 Nach Art. XX lit. j) GATT können WTO-Mitglieder handelsbeschränkende Maßnahmen ergreifen, wenn dies wesentlich „für den Erwerb oder die Verteilung von Waren“ ist, „an denen ein allgemeiner oder örtlicher Mangel besteht“. Es versteht sich, dass entsprechende Maßnahmen nur solange aufrechterhalten werden können, wie ein Mangel an der jeweiligen Ware besteht. Diese Ausnahmebestimmung enthält auch eine dem Prinzip der Meistbegünstigung ähnliche Verpflichtung,729 nach der allen anderen WTOMitgliedern jeweils ein gerechter Anteil der Warenmenge zusteht, die trotz Ausfuhrbeschränkungen exportiert wird. Darin ähnelt diese Ausnahmebestimmung im Übrigen auch den Art. XIII GATT.730 Als Relationselement enthält Art. XX lit. j) GATT das Erfordernis, dass die Maßnahme „für den Erwerb oder die Verteilung von Waren“ wesentlich („essential“) sein muss. Mangels Judikatur zum Art. XX lit. j) GATT kann zur Auslegung dieses Relationselementes nicht auf eine Definition der Streitbeilegungsgremien zurückgegriffen werden. Aus dem Wortlaut folgt aber, dass an die Auslegung dieses Relationselementes strengere Voraussetzungen zu stellen sind als an das Notwendigkeitskriterium.731 727  Wolfrum / Stoll / Seibert-Fohr,

S. 162 (Matz-Lück / Wolfrum). S. 551. 729  Vgl. B.IV.1. zum Prinzip der Meistbegünstigung. 730  Vgl. B.I.2.a)ff) zu den Voraussetzungen des Art. XIII GATT. 731  Vgl. C.III.1.a)cc); C.2.a)bb) und C.4.a)bb) zu den Voraussetzungen des Notwendigkeitskriteriums. 728  Bhala,



IV. Ausnahmebestimmungen im WTO-Recht307

Außerdem enthält der Art. XX lit. j) GATT eine Bestimmung, nach der die damaligen Vertragsparteien des GATT spätestens zum 30.06.1960 prüfen sollten, ob diese Ausnahmebestimmung länger beibehalten werden sollte. Diese Frist wurde von den damaligen Vertragsparteien des GATT mehrmals verlängert, bis schließlich das zeitlich unbefristete Bestehen dieser Ausnahmebestimmung beschlossen wurde.732 Dabei hat sich bis heute kein WTOMitglied zur Rechtfertigung handelsbeschränkender Maßnahmen hierauf berufen.733 Es ist auch nicht davon auszugehen, dass diese Ausnahmebestimmung in Zukunft von großer praktischer Relevanz sein wird. Denn XX lit. j) GATT spiegelt den Geist des Zeitraums wieder, in dem das GATT-Übereinkommen verfasst wurde. Kurz nach Beendigung des 2. Weltkrieges war die Frage der Versorgungssicherheit mit Lebensmitteln mehr als dringlich. Daher bestand ein Bedarf für eine Rechtfertigungsmöglichkeit für handelsbeschränkende Maßnahmen, die hinsichtlich knapper Lebensmittel verhängt wurden. Ein solcher Bedarf bestand aber im Jahr 1957 als der ursprüngliche EU-Vertrag verfasst wurde und die zunehmend industrialisierte Landwirtschaft der damaligen EU-Mitgliedstaaten bereits begann erste Überschüsse zu produzieren, nicht mehr. Außerdem ist die Landwirtschaftspolitik schon von Beginn der EU an in den Gemeinsamen Markt, der sich dann zum Binnenmarkt entwickelte, eingezogen worden.734 Im WTO-Recht war hingegen schon immer der Handel mit Agrarprodukten in einem großen Umfang von den Liberalisierungsverpflichtungen ausgenommen worden. Also bestehen zahlreiche Gründe dafür, dass es der Ausnahmebestimmung des Art. XX lit. j) GATT an einem Gegenstück im EU-Recht fehlt. Zusätzlich kann noch angeführt werden, dass es sich beim Art. XX lit. j) GATT um eine den Art. XIX GATT ähnliche Ausnahmebestimmung handelt.735 Denn beide Ausnahmebestimmungen behandeln wirtschaftliche Krisenlagen und verschaffen Abhilfe hierfür. Aber auch für Art. XIX GATT gibt es im EU-Recht nach Ablauf einer Übergangszeit kein Gegenstück mehr, da die Möglichkeit in wirtschaftlichen Krisensituationen Schutzmaßnahmen zu verhängen auch immer die Gefahr eines Hineingleitens in protektionistisches Verhalten in sich birgt. Trotz seiner bisherigen fehlenden praktischen Relevanz sollte Art. XX lit. j) GATT jedoch beibehalten werden. So könnte er auch für den Fall von durch Naturkatastrophen verursachten Nahrungsmittelknappheiten seinen Anwendungsbereich finden.

732  Bhala,

S. 552.

733  Stoll / Schorkopf,

Rn. 191. Rn. 2201 (Eiden). 735  Vgl. C.III.6.a) zur Ausnahmebestimmung des Art. XIX GATT. 734  Bleckmann,

308

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

7. Der Waiver als allgemeine Ausnahmebestimmung Alle bislang dargestellten Ausnahmebestimmungen verfolgten ein bestimmtes Ziel. Sei es, dass sie ein bestimmtes legitimes Schutzziel verfolgen, sei es, dass sie aus bestimmten wirtschaftlichen Erwägungen angewendet werden können. Anders ist dies mit dem Waiver, der allgemeinen Ausnahmebestimmung im WTO-Recht. Die Möglichkeit einen Waiver zu erlassen war bereits im GATT-Übereinkommen in Art. XXV:5 GATT vorgesehen. Mit Inkrafttreten der WTO wurde das Verfahren zur Erteilung eines Waivers modifiziert. Dieses modifizierte Verfahren ist nun in Art. IX:3 WTO und Art. IX:4 WTO niedergelegt. Die Erteilung eines Waiver ermöglicht es einem WTO-Mitglied von allen Verpflichtungen aus einen der Multilateralen Übereinkommen unter der WTO abzuweichen, die von diesem Waiver umfasst werden.736 Falls es einem WTO-Mitglied schwierig oder gar unmöglich ist, eine seiner Verpflichtungen aus einem Übereinkommen unter der WTO zu erfüllen, kann es sich von dieser Verpflichtung befreien lassen. Über die Erteilung eines Waivers entscheidet nach Art. IX:3 WTO die Ministerkonferenz oder der Allgemeine Rat mit einer Dreiviertelmehrheit. Hierfür müssen „außergewöhnliche Umstände“ vorliegen. Die Entscheidung, ob außergewöhnliche Umstände vorliegen, trifft die Ministerkonferenz bzw. der Allgemeine Rat. Sie unterliegt keiner juristischen Kontrolle durch die Streitbeilegungsgremien. Das Vorliegen außergewöhnlicher Umstände wurde von der Ministerkonferenz durch Erteilung eines Waivers in den verschiedensten Situationen bejaht. So wurde ein Waiver erteilt, nach dem WTO-Mitgliedern Entwicklungsländern besondere Präferenzen einräumen können. Außerdem wurden Waiver für die USA, die EU und die Türkei erteilt, welche es diesen WTO-Mitgliedern erlaubten, anderen Staaten mit denen sie aus historischen und / oder religiösen Gründen eine enge Beziehung verband, besondere anderenfalls GATT-widrige Handelsvorteile einzuräumen. Dies galt für die USA hinsichtlich früherer Treuhandgebiete im Pazifik, für die EU hinsichtlich früherer Kolonialgebiete einiger ihrer Mitgliedstaaten und für die Türkei hinsichtlich Bosnien-Herzegowinas, das einmal Teil des Osmanischen 736  Einem Multilateralen Übereinkommen unter der WTO gehören alle WTOMitglieder an. Etwa das GATT, dem TRIPS oder dem ÜSCM. Plurilaterale Übereinkommen regeln hingegen Bereiche, in denen sich nicht alle WTO-Mitglieder zu Liberalisierungen bereit erklärt haben. Rechte und Pflichten aus Plurilateralen Übereinkommen bestehen nur für diejenigen WTO-Mitglieder die diesen gesondert beigetreten sind. Grundsätzlich stehen aber Plurilaterale Übereinkommen allen WTOMitgliedern offen. Zu den Bereichen die von Plurilateralen Übereinkommen geregelt sind, gehört etwa der Handel mit Zivilluftfahrzeugen oder das öffentliche Beschaffungswesen.



IV. Ausnahmebestimmungen im WTO-Recht309

Reiches gewesen war und zudem teilweise muslimisch geprägt ist. Auch wurden den am Kimberley-Prozess teilnehmenden WTO-Mitgliedern, welcher den Handel mit „Blutdiamanten“ verhindern sollte,737 ein Waiver erteilt. Ebenso wurde verschiedenen Entwicklungsländern ein Waiver erteilt, aufgrund dessen sie hinsichtlich des Handels mit Medikamenten gegen HIV, Malaria und anderen lebensbedrohlichen Krankheiten von verschiedenen Verpflichtungen aus den TRIPS abweichen konnten.738 Diese Beispiele zeigen, dass Waiver auch durchaus zur Verfolgung legitimer Schutzziele und nicht nur aus wirtschaftlichen Erwägungen erteilt und beantrag werden. Die Erteilung eines Waivers unterliegt strengen formalen Anforderungen, sowohl hinsichtlich der Begründung des Antrages des WTO-Mitgliedes nach Art. XXV:5 GATT, falls das WTO-Mitglied eine Befreiung von den Verpflichtungen aus dem GATT begehrt, als auch hinsichtlich des Verfahrens. Zusätzlich muss der Waiver befristet sein. Üblich ist eine Befristung zwischen einen und zehn Jahren.739 Im EU-Recht ist keine solche allgemeine Ausnahmebestimmung vorhanden, nach dem ein EU-Mitgliedstaat eine generelle Befreiung von seinen Verpflichtungen zur Gewährleistung der Warenverkehrsfreiheit erteilt werden kann. Daher besteht im EU-Recht kein Äquivalent zum Waiver. Durch einen Waiver können jedoch grundlegende Verpflichtungen aus dem GATT und den anderen Übereinkommen unter der WTO durchbrochen werden. Aus politischen und wirtschaftlichen Gründen kann so die Liberalisierung des Warenhandels zurückgenommen werden. Die Errichtung eines Binnenmarktes setzt aber den Abbau jeglicher Marktzugangsschranken voraus. Aus politischen und wirtschaftlichen Gründen geduldete Marktzugangsschranken würden die Entstehung eines Binnenmarktes verhindern. Folglich ist im EURecht kein Raum für ein Äquivalent zum Waiver. 8. Die Nichtanwendungsklausel Art. XIII WTO enthält eine sog. Nichtanwendungsklausel. Eine solche Nichtanwendungsklausel war bereits in Art. XXXV GATT enthalten. Nach dieser Ausnahmebestimmung können WTO-Mitglieder durch Erklärung bei Beitritt eines neuen WTO-Mitgliedes, diesem gegenüber die Anwendung der Verpflichtungen aus den Übereinkommen unter der WTO versagen. Ebenso kann das neue WTO-Mitglied erklären, gegen ein bestimmtes WTO-Mitglied keine Verpflichtungen aus den Übereinkommen unter der WTO einzugehen. 737  Vgl.

C.III.1.a) zum Handel mit „Blutdiamanten“ und den Kimberley-Prozess. die Aufstellung der Waiver in van den Bossche, S. 116 und Stoll / Schor­ kopf, Rn. 168. 739  Hermann / Weiß / Ohler, Rn. 746. 738  Vgl.

310

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

Die Erklärung der Nichtanwendung kann jeweils nur zum Beitritt und nicht später erfolgen. Die praktische Bedeutung des Art. XIII WTO ist sehr gering. Bislang haben sich nur die USA gegenüber einigen ehemaligen kommunistischen Ländern, die der WTO neu beigetreten waren, auf diese Ausnahmebestimmung berufen.740 Der Art. XIII WTO scheint daher vor allem einen politischen Hintergrund zu haben. Staaten können von den Vorteilen einer Handelsliberalisierung profitieren, müssen aber gleichzeitig ihre Märkte nicht gegenüber Staaten öffnen mit denen sie einen Konflikt unterhalten. Deshalb hätte eigentlich diese Ausnahmebestimmung auch Bedeutung erlangen müssen, als etwa Saudi-Arabien, Oman oder die Vereinigten Arabischen Emirate der WTO beitreten. Diese Länder unterhalten wie die meisten anderen Mitgliedstaaten der Arabischen Liga gegenüber Israel ein Handelsboykott. Keiner der Regierungen dieser Länder berief sich jedoch auf diese Ausnahmebestimmung. Auch das Handelsboykott wurde nicht aufgehoben. Anscheinend hielten es alle Seiten für opportun diese sensible Materie stillschweigend zu übergehen. Auch für diese Ausnahmebestimmung fehlt im EU-Recht ein Äquivalent. Die EU ist jedoch weit mehr als eine bloße Handelsorganisation, sondern ein Staatenverbund in dem die EU-Mitgliedstaaten und die Beitrittskandidaten auch politisch eng zusammenarbeiten. Politische Streitigkeiten, die zur Verhängung handelsbeschränkender Maßnahmen führen würden, bestehen nicht zwischen ihnen. Falls zwischen einem Beitrittskandidat und einem EU-Mitgliedstaat aufgrund politische Streitigkeiten handelsbeschränkende Maßnahmen in Kraft sind, so müssten diese aufgrund der umfangreichen Integrationsverpflichtungen die ein Beitritt in die EU mit sich bringt, im Zuge der Beitrittsverhandlungen ausgeräumt werden. Diese dürften nach dem Beitritt des neuen EU-Mitgliedstaates nicht mehr in Kraft sein. Dies hat die EU-Kommission auch gegenüber der Türkei, die gegenüber Zypern aufgrund des Zypern-Konflikts verschiedene handelsbeschränkende Maßnahmen verhängt hat, im Rahmen der Beitrittsverhandlungen immer wieder deutlich gemacht. 9. Ausnahmebestimmungen für bestimmte Waren (Textilien und Agrarprodukte) Im WTO-Recht bestehen oder bestanden in der Form verschiedener Übereinkommen unter der WTO Ausnahmebestimmungen, nach denen WTOMitglieder für bestimmte Waren von den Verpflichtungen aus dem GATT abweichen konnten. 740  van

den Bossche, S. 118.



IV. Ausnahmebestimmungen im WTO-Recht311

So erlaubte das im Jahr 2005 ausgelaufene „Übereinkommen über Textilien und Bekleidung“ (ÜBT) während einer Übergangszeit die Abweichung vom Verbot mengenmäßiger Beschränkungen.741 Das „Übereinkommen über die Landwirtschaft“ (ÜLW) ermöglicht hingegen weiterhin nach Art. 5 ÜLW unter bestimmten Bedingungen die Einführung von mengenmäßigen Beschränkungen sowie die Erhöhung von gebundenen Zöllen für Agrarprodukte.742 Als weitere Sonderübereinkommen auf Ebene der WTO, die den Handel mit einer bestimmten Ware betreffen, ist das Plurilaterale Übereinkommen über den Handel mit Zivilluftfahrzeugen zu nennen.743 Dieses Zivilluftfahrzeugübereinkommen erlaubt den daran teilnehmenden WTOMitgliedern jedoch nicht die Abweichung von Verpflichtungen aus dem GATT, sondern hält sie im Gegenteil dazu an, diese einzuhalten.744 Daher handelt es sich hinsichtlich der Verpflichtungen der WTO-Mitglieder aus dem GATT nicht um eine Ausnahmebestimmung. Im EU-Recht fehlen Ausnahmebestimmungen, die es den EU-Mitgliedstaaten erlauben, für bestimmte Waren, von den Bestimmungen der Warenverkehrsfreiheit abzuweichen. Eine nur eingeschränkte Geltung der Warenverkehrsfreiheit wäre aber auch mit dem Konzept eines Binnenmarktes unvereinbar. Außerdem wurde der landwirtschaftliche Bereich gerade in den Gemeinsamen Markt, der sich dann zum Binnenmarkt entwickelte, mit einbezogen. Dies geschah auf Drängen Frankreichs, dass über einen besonders großen Agrarsektor verfügte. Hinsichtlich des Textilsektors bestand auf Ebene der EU zudem nie die gleiche wirtschaftliche Notwendigkeit für eine Ausnahmebestimmung wie auf Ebene der WTO. Denn in Industrieländern wie den EU-Mitgliedstaaten herrschen im Bereich der Herstellung von Textilien relativ ähnliche Wettbewerbsbedingungen. Industrieländer stehen jedoch hinsichtlich der Textilherstellung unter einem sehr starken Wettbewerbsdruck aus den Entwicklungsländern. Aufgrund nur geringer Herstellungs- und Arbeitskosten im Textilsektor haben diese nämlich einen großen Wettbewerbsvorteil. Um ihre Textilindustrie und die damit einhergehenden Arbeitsplätze zu schützen, haben die Industrieländer stets versucht durch die Verhängung handelsbeschränkender Maßnahmen die Einfuhr von Textilwaren einzudämmen. Eine entsprechende Rechtfertigungsmöglichkeit fanden die industrialisierten WTO-Mitglieder bis zum Jahr 2005 im ÜTC. 741  Vgl.

auch B.I.2.a)aa) zu diesen beiden Übereinkommen. B.I.2.a) zum Verbot der mengenmäßigen Beschränkungen im WTORecht und B.I.1.a) zur Behandlung der Zölle im WTO-Recht. 743  Vgl. C.IV.7. zur Rechtsnatur von Plurilateralen Übereinkommen. 744  Hingegen finden sich im Zivilluftfahrzeugübereinkommen Ausnahmeregelungen hinsichtlich der Subventionskontrolle, vgl. hierzu C.III.7.c)ee). 742  Vgl.

312

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

10. Ausnahmen für Entwicklungsländer Im WTO-Recht bestehen außerdem verschiedene Ausnahmebestimmungen zu Gunsten von Entwicklungsländern. Die Ausnahmebestimmungen zu Gunsten von Entwicklungsländern im Rahmen der Subventionskontrolle wurden bereits dargestellt.745 Aber nicht nur im ÜSCM, sondern auch in allen anderen Übereinkommen unter der WTO finden sich Ausnahmebestimmungen, die es WTO-Mitgliedern, die Entwicklungsländer sind, erlauben von ihren jeweiligen Verpflichtungen abzuweichen. An dieser Stelle sollen jedoch nur die Ausnahmebestimmungen dargelegt werden, die sich auf die Verpflichtungen aus dem GATT beziehen. Denn das GATT ist das Übereinkommen unter der WTO, in dem die allermeisten Verpflichtungen zur Liberalisierung des Warenhandels angelegt sind. Diese werden in den meisten anderen Übereinkommen nur noch konkretisiert. Das GATT enthält die Ausnahmebestimmung des Art. XVIII GATT, auf die Entwicklungsländer zurückgreifen können, um von ihren Verpflichtungen aus dem GATT abweichen zu können. Zusätzlich können alle WTOMitglieder aufgrund der „enabling clause“ zu Gunsten von Entwicklungsländern von ihren Verpflichtungen aus dem GATT abweichen. Eine Definition anhand derer feststellbar ist, welches WTO-Mitglied ein Entwicklungsland ist, gibt es nicht. Stattdessen steht es nach Art. XI:1 WTO den Vertragsparteien des GATT, die diesem Übereinkommen bereits vor Gründung der WTO angehörten, frei, sich selber als Entwicklungsländer einzustufen. Bei neu beizutretenden Mitgliedern wird hingegen nach Art. XII WTO im Laufe der Beitrittsverhandlungen entschieden, ob dieses Land als Entwicklungsland einzustufen ist. Anders ist dies hingegen jeweils bei den am wenigsten entwickelten Ländern, für die noch weitergehendere Ausnahmebestimmungen bestehen. Welches Land zu den am wenigsten entwickelten Ländern gehört, richtet sich nach einer Einstufung der Vereinten Nationen. a) Die Ausnahmebestimmung des Art. XVIII GATT Die Ausnahmebestimmung für Entwicklungsländer im GATT ist Art. XVIII GATT. Aus der Präambel des Art. XVIII GATT folgt, dass Entwicklungsländer nur von dieser Ausnahmebestimmung Gebrauch machen können, wenn die hierdurch gerechtfertigten handelsbeschränkenden Maßnahmen der „Hebung des allgemeinen Lebensstandards“ dienen. Durch die Ausnahmebestimmung des Art. XVIII GATT können Entwicklungsländer ihre unterentwickelten Wirtschaftszweige („infant industry“) 745  Vgl.

C.III.7.c)bb)(1).



IV. Ausnahmebestimmungen im WTO-Recht313

aufbauen sowie ihre Zahlungsbilanz schützen. Art. XVIII GATT enthält drei Ausnahmebestimmungen. Den Art. XVIII:7 GATT, den Art. XVIII Abschnitt B GATT und den Art. XVIII Abschnitt C GATT. Der in dieser Ausnahmebestimmung ebenfalls enthaltene Art. XVIII Abschnitt D GATT ist bislang ohne Bedeutung geblieben.746 Den Aufbau ihrer unterentwickelten Wirtschaftszweige können Entwicklungsländer nach Art. XVIII:7 GATT mittels der Änderung oder Rücknahme ihrer gemachten Zollzugeständnisse vorantreiben.747 Durch die Erhebung höherer Zölle kann sich der im Aufbau befindliche Industriezweig eines Entwicklungslandes dann – geschützt von preisgünstigeren Einfuh­ ren – ungestört entwickeln. Nach Art. XVIII Abschnitt C GATT kann ein Entwicklungsland aber auch mengenmäßige Beschränkungen zum Schutz eines im Aufbau befindlichen Industriezweiges verhängen. Sowohl Art. XVIII:7 GATT als auch Art. XVIII Abschnitt C GATT sehen ein Konsultationsverfahren vor, das ein Entwicklungsland durchlaufen muss, bevor es von seinen Verpflichtungen aus dem GATT abweicht. Allerdings sind die Anforderungen an das Konsultationsverfahren des Art. XVIII Abschnitt C GATT strenger. Im Rahmen der jeweiligen Konsultationsverfahren müssen die Entwicklungsländer auch den von ihren handelsbeschränkenden Maßnahmen am stärksten betroffenen WTO-Mitgliedern gewisse Kompensationen anbieten. Aus Art. XVIII:2 und Art. XVIII:7 GATT folgt, dass Entwicklungsländer zum Schutz ihrer im Aufbau befindlichen Industrie primär ihre Zölle zu erheben haben. Erst wenn diese Anstrengungen nichts fruchten, können sie mengenmäßige Beschränkungen einführen. Diese Ausnahmebestimmungen sind auf das „Infant-Industry-Argument“ zurückzuführen. Hiernach brauchen „junge“ Industrien, also unterentwickelte Wirtschaftszweigen in sich industrialisierenden Staaten einen befristeten Schutz, bis sie ein Stadium erreicht haben, in dem ein solcher Schutz nicht mehr erforderlich ist. Vor der Gründung der WTO beriefen sich Entwicklungsländer häufig auf Art. XVIII:7 GATT, um ihre Zölle zum Schutz ihrer sich entwickelnden Industriezweige anzuheben. Die damaligen Vertragsparteien des GATT verzichteten auch ganz überwiegend darauf, den Entwicklungsländern für ihr Abweichen von Verpflichtungen aus dem GATT Kompensationen aufzuerlegen. Seit dem Bestehen der WTO hat sich jedoch kein Entwicklungsland mehr auf diese Ausnahmebestimmung berufen.748 746  Hilf / Oeter,

§ 31 Rn. 24 (Michaelis / Jessen). B.I.1.a) zur Behandlung von Zöllen im WTO-Recht und der Möglichkeit der Änderung oder Rücknahme der gemachten Zollzugeständnisse für WTO Mitglieder die keine Entwicklungsländer sind. 748  van den Bossche, S. 678. 747  Vgl.

314

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

Mengenmäßige Beschränkungen können Entwicklungsländer zudem nach Art. XVIII Abschnitt B GATT zum Schutz ihrer Zahlungsbilanz verhängen.749 Durch den Schutz der Zahlungsbilanz sollen die Währungsreserven und damit die Währung eines Entwicklungslandes gestärkt werden. Auch bei dieser Ausnahmebestimmung müssen die sich hierauf berufenden Entwicklungsländer vorher ein Konsultationsverfahren durchlaufen. Bei allen drei Ausnahmebestimmungen haben die von den Abweichungen der sich hierauf berufenen Entwicklungsländer hauptsächlich betroffenen WTO-Mitglieder die Möglichkeit gewisse Gegenmaßnahmen zu treffen, deren Erhebung aber genau reglementiert ist und bei deren Erhebung auch die Ministerkonferenz oder der Allgemeine Rat der WTO ein Mitspracherat haben. b) Die Ausnahmebestimmung der „enabling clause“ Die „enbaling clause“ stellt eine Entscheidung der damaligen Vertragsparteien des GATT von 1979 dar. Nach Art. 1 lit. b) (iv) GATT 1994 ist sie Bestandteil des WTO-Rechts. Die „enabling clause“ ist eine Ausnahmebestimmung vom Prinzip der Meistbegünstigung des Art. I:1 GATT.750 Nach dieser Ausnahmebestimmung können WTO-Mitglieder, die keine Entwicklungsländer sind, anderen WTO-Mitgliedern, die Entwicklungsländer sind, Handelsvorteile einräumen, die sie im Gegensatz zu Art. I:1 GATT nicht auf gleichartige Waren aus WTO-Mitgliedern, die keine Entwicklungsländer sind, ausweiten müssen. Der Appellate Body hat klargestellt, dass die „enabling clause“ nicht alleine als eine Ausnahmebestimmung verstanden werden kann, durch die das Abweichen entwickelter WTO-Mitglieder von ihrer Verpflichtung aus Art. I:1 GATT gerechtfertigt wird, sondern dass die entwickelten WTO-Mitglieder hierdurch geradezu ermutigt werden sollen, zu Gunsten von Entwicklungsländern Maßnahmen zu ergreifen, die gegen das Prinzip der Meistbegünstigung verstoßen.751 c) Kein Äquivalent auf Ebene der EU Auf Ebene der EU besteht kein wirkliches Äquivalent zu den oben dargestellten Ausnahmebestimmungen. Zwar ist keiner der EU-Mitgliedstaaten als 749  Vgl. B.I.2.a)ee) für Ausnahmen zum Schutz der Zahlungsbilanz für alle WTO-Mitglieder. Entwicklungsländer müssen nach Art. XVIII:9 GATT einen geringeren Grad der Gefährdung ihrer Währungsreserven nachweisen, als dies für andere WTO-Mitglieder nach Art. XII:2 GATT der Fall ist. 750  Appellate Body Report, EC – Tariff Preferences, Rn. 99; vgl. B.IV.1. zum Prinzip der Meistbegünstigung. 751  Appellate Body Report, EC – Tariff Preferences, Rn. 111.



IV. Ausnahmebestimmungen im WTO-Recht315

Entwicklungsland einzustufen. Allerdings kann als ein gewisses Äquivalent zu Entwicklungsländern auf Ebene der EU die wirtschaftlich zurückgebliebenen Regionen der Gemeinschaft herangezogen werden. Denn auch die wirtschaftlich zurückgebliebenen Regionen der Gemeinschaft verfügen nicht über eine leistungsfähige Industrie, deren Waren mit denen aus weiter entwickelten EU-Mitgliedstaaten konkurrieren könnten.752 Für diese wirtschaftlich zurückgebliebenen Regionen sieht das EU-Recht keine Einschränkungsmöglichkeit der Warenverkehrsfreiheit vor. Lediglich in einem Ein­zelfall hat der EuGH anerkannt, dass eine diskriminierende französische Besteuerungsregelung für Weine durch das „objektive Kriterium“ der regionalen Entwicklung wirtschaftlich benachteiligter Gebiete gerechtfertigt sein kann.753 Eine Einschränkung der Warenverkehrsfreiheit zu Gunsten von wirtschaftlich zurückgebliebenen Regionen der EU würde jedoch den Marktzutritt von Waren empfindlich behindern und damit ein Kernprinzip des Binnenmarktes verletzen. Außerdem fördert die EU wirtschaftlich zurückgebliebenen Regionen nicht durch die Rechtfertigungsmöglichkeiten von handelsbeschränkenden Maßnahmen, sondern durch ihre Regionalpolitik mittels derer sie Gelder für die wirtschaftliche Entwicklung dieser Regionen zur Verfügung stellt. Die Regionalpolitik umfasst in einigen Fällen auch das Staatsgebiet eines gesamten EU-Mitgliedstaates. Dieses Instrumentarium steht der WTO wiederum nicht zur Verfügung. Der WTO fehlen allerdings zur Förderung von Entwicklungsländern sowohl die Institutionen als auch die Mittel. Außerdem ist die Regionalpolitik ein Ausdruck der Solidarität zwischen den EU-Mitgliedstaaten. Sie unterstreicht auch den staatsnahen Charakter der EU.754 Diese beiden Voraussetzungen sind aber auf Ebene der WTO nicht gegeben. Daher überlässt die WTO die Entwicklungspolitik den Staaten und anderen internationalen Organisationen und ermöglicht stattdessen Ausnahmen für Entwicklungsländer. Des Weiteren kann das „Infant-Industry-Argument“ auf Ebene der EU keine Geltung beanspruchen. Denn sämtliche EU-Mitgliedstaaten hatten zum Zeitpunkt ihres Beitritts bereits ihre Industrialisierung abgeschlossen. Diese Industrialisierungsphase war übrigens wie im Falle Deutschlands getreu dem „Infant-Industry-Argument“ von hohen Schutzzöllen begleitet. Auch ein Äquivalent zur Ausnahmebestimmung zum Schutz der Zahlungsbilanz für wirtschaftlich benachteiligte EU-Mitgliedstaaten fehlt völlig. 752  Vgl. im Übrigen C.III.7.c)bb)(3) zur Rechtfertigung eines Vergleichs zwischen Entwicklungsländern auf Ebene der WTO und wirtschaftlich benachteiligten Regionen auf Ebene der EU. 753  EuGH Urt. v. 07.04.1987, Rs. 196  /  85, Kommission / Frankreich, Slg. 1987, 1597, 1615 ff., Rn. 7–9. 754  Oppermann, Europarecht, § 13 Rn. 35.

316

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

Diese Ausnahmebestimmung dient jedoch der Währungsstabilität eines Entwicklungslandes. Innerhalb der EU besteht jedoch eine Währungsunion. Auch EU-Mitgliedstaaten die dieser nicht angehören können bei Problemen mit ihrer Zahlungsbilanz auf die Solidarität der Kommission und der anderen EU-Mitgliedstaaten rechnen. Dies hat sich auch in den Finanzkrisen seit dem Jahre 2009 erwiesen. Zudem ermöglicht es Art. 121 AEUV den EUMitgliedstaaten bei einer plötzlichen Zahlungsbilanzkrise Schutzmaßnahmen zu ergreifen, die auch die Warenverkehrsfreiheit beeinträchtigen können.755 Diese Ausnahmebestimmung gilt jedoch für alle und nicht für wirtschaftlich benachteiligte EU-Mitgliedstaaten. Abschließend kann das Fehlen eines Äquivalents zur „enabling clause“, welche ein Abweichen vom Prinzip der Meistbegünstigung rechtfertigt, damit erklärt werden, dass dieses Prinzip im EU-Recht keine Anwendung findet.756 11. Die Ausnahmebestimmung des Art. XXIV GATT für regionale Handelsabkommen Im GATT finden sich nicht nur die bereits dargestellten Allgemeinen Ausnahmebestimmungen des Art. XX GATT, die Ausnahmebestimmungen zur Wahrung der Sicherheit des Art. XXI GATT und die Ausnahmebestimmung für Notstandsmaßnahmen des Art. XIX GATT, sondern auch die Ausnahmebestimmung des Art. XXIV GATT für regionale Handelsabkommen. Der Art. XXIV:4–8 GATT rechtfertigt handelsbeschränkende Maßnahmen, die ein WTO-Mitglied aufgrund eines regionalen Handelsabkommens verhängt. Regionale Handelsabkommen umfassen nach Art. XXIV:5 GATT sowohl Zollunionen als auch Freihandelszonen sowie vorläufige Abkommen die zur Bildung einer Zollunion oder einer Freihandelszone führen sollen. Die Voraussetzungen, die an eine Zollunion oder eine Freihandelszone gestellt werden, sind in Art. XXIV:8 GATT näher definiert. Regionale Handelsabkommen müssen beim Allgemeinen Rat der WTO notifiziert werden. Im Jahr 2003 waren dort bereits 273 regionale Handelsabkommen notifiziert worden.757 Nur zwei WTO-Mitglieder, nämlich die Mongolei und Taiwan (Chinese Taipei) gehörten im Jahr 2004 keinen regionalen Handelsabkommen an.758 Bekannte Beispiele solcher regionalen Handelsabkommen sind die EU, die NAFTA, die ASEAN für Südostasien, die CARICOM für die Karibik oder die MERCOSUR für Südamerika. Je 755  Vgl.

B.I.2.a)ee). B.IV.3. 757  Hilf / Oeter, § 9 Rn. 37 (Bender). 758  van den Bossche, S. 650. 756  Vgl.



V. Ausnahmebestimmungen im EU-Recht317

schwieriger weitere Handelsliberalisierungen auf Ebene der WTO zu erreichen sind, desto mehr ist auch damit zu rechnen, dass die Bedeutung regionaler Handelsabkommen noch zunehmen wird. Denn auf regionaler Ebene ist ein Grad an Handelsliberalisierung erreichbar, der auf weltweiter Ebene ausgeschlossen erscheint. Der Grund für die Schaffung dieser Ausnahmebestimmung war jedoch nicht, dass die Verfasser des GATT den Erfolg dieser regionalen Handelsabkommen, insbesondere den der EU, voraussahen. Stattdessen drangen die USA auf eine entsprechende Ausnahmebestimmung, um ein geplantes aber nie erreichtes Freihandelsabkommen mit Kanada rechtfertigen zu können, dessen Verhandlungen parallel zu denen über das GATT stattfanden.759 Für die Ausnahmebestimmung des Art. XXIV GATT findet sich im WTORecht kein Äquivalent. Eine Ausnahmebestimmung, welche einigen EUMitgliedstaaten eine weitergehendere Liberalisierung des Warenhandels erlaubt, als dies von den Bestimmungen des EU zur Gewährleistung der Warenverkehrsfreiheit gedeckt ist, würde jedoch dem Diskriminierungsverbot des Art. 18 AEUV widersprechen. Zudem wäre ein funktionierender Binnenmarkt nicht möglich, wenn sich einige EU-Mitgliedstaaten gegenseitig Sonderrechte einräumen würden. Daher ist auch die von 1944 bis 1955 bestehende Wirtschaftsunion zwischen Belgien, den Niederlanden und Luxemburg (Benelux) in dem Gemeinsamen Markt aufgegangen,760 der sich dann zum Binnenmarkt entwickelte. Aber auch in einer zunehmend größer werdenden EU mit nunmehr 27 Mitgliedstaaten wurde erkannt, dass einige EU-Mitgliedstaaten zu einer größeren Integration fähig und willig sind als andere. Daher wurde interessierten EU-Mitgliedstaaten durch Art. 40 EU und Art. 43–45 EU die Möglichkeit eingeräumt in bestimmten Bereichen außerhalb der Warenverkehrsfreiheit eine tiefergehendere Integration anzustreben. Genutzt wurde dies z. B. zur Einbeziehung des Schengen-Übereinkommens in das EU-Recht, wodurch die Personenfreizügigkeit gefördert wurde.

V. Ausnahmebestimmungen im EU-Recht ohne Äquivalent im WTO-Recht Auch im EU-Recht finden sich zahlreiche Ausnahmebestimmungen für die im WTO-Recht kein Äquivalent vorhanden ist. Allerdings können einige der legitimen Schutzziele, die durch diese Ausnahmebestimmungen geschützt werden sollen, auch im WTO-Recht unter gewissen Umständen eine 759  Chase,

WTR 2006, 1, 3 ff. Europarecht, § 1 Rn. 17.

760  Oppermann,

318

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

Rechtfertigungsmöglichkeit finden. Die Ausnahmebestimmungen des EURechts ohne Äquivalent im WTO-Recht sollen im Folgenden, beginnend mit der Ausnahmebestimmung des Art. 36 AEUV, die bislang noch nicht untersucht wurde, dargelegt werden. Dabei wird jeweils auch auf die Frage eingegangen, warum auf Ebene der WTO kein Äquivalent hierfür vorhanden ist und ob eine Notwendigkeit besteht durch entsprechender Auslegung des GATT oder durch Vertragsänderung eine vergleichbare Ausnahmebestimmung zu schaffen. 1. Die Ausnahmebestimmung des Art. 36 AEUV zum Schutz der öffentlichen Ordnung In Art. 36 AEUV findet sich die Ausnahmebestimmung zum Schutz der öffentlichen Ordnung. Weder in Art. XX GATT noch in den sonstigen Bestimmungen des GATT findet sich ein Äquivalent hierfür. Allerdings enthält Art. XIV lit. a) GATS eine Ausnahmebestimmung zum Schutze der öffentlichen Ordnung. Die GATS ist jedoch nur für den Handel mit Dienstleistungen einschlägig. a) Die Auslegung der Ausnahmebestimmung des Art. 36 AEUV zum Schutz der öffentlichen Ordnung In den Rechtsordnungen der EU-Mitgliedstaaten wird der Begriff der öffentlichen Ordnung ähnlich wie auch im deutschen Recht regelmäßig weit ausgelegt.761 Der EuGH hingegen legt diese Ausnahmebestimmung wie auch die anderen in Art. 36 AEUV enthaltenen Ausnahmebestimmungen eng aus. Der EuGH hat es daher abgelehnt unter die Ausnahmebestimmung zum Schutz der öffentlichen Ordnung auch andere legitime Schutzziele wie den Verbraucherschutz762 sowie den Schutz der Währung eines EU-Mitgliedstaates fallen zu lassen.763 Grundsätzlich anerkannt wurde vom EuGH diese Ausnahmebestimmung bei Beeinträchtigungen der Warenverkehrsfreiheit, die zur Aufdeckung und Verfolgung von Straftaten erfolgen. Im konkreten Fall hielt der EuGH die handelsbeschränkenden Maßnahmen allerdings nicht für erforderlich.764 Schneider, S.  90 ff. Urt. v. 06.11.1984, Rs. C-177 / 83, Th. Kohl KG . / . Ringelhan & Ren­ net SA, Slg. 1984 3651, 3663, Rn. 19. 763  EuGH Urt. v. 09.06.1982, Rs. 95 / 81, Kommission . / . Italien, Slg. 1982, 2187, 2204, Rn. 26. 764  EuGH Urt. v. 09.06.1982, Rs. 154  /  85, Kommission . / . Italien, Slg. 1987, 2717, 2738, Rn. 13 ff. 761  Vgl.

762  EuGH



V. Ausnahmebestimmungen im EU-Recht319

Die Mitgliedstaaten der EU haben sich auch – bislang allerdings ohne Erfolg – auf die Ausnahmebestimmung der öffentlichen Ordnung berufen, um die Eingriffe von Interessensgruppen, die von den Auswirkungen des unbegrenzten Wettbewerbes negativ betroffen werden, in die Warenverkehrsfreiheit zu rechtfertigen.765 Die gewaltsamen Reaktionen dieser Gruppen – so wurde vorgetragen – führten zu Störungen der öffentlichen Ordnung.766 In der Entscheidung Leclerc wurde vom hiermit befassten Generalanwalt die Einschlägigkeit der Ausnahmebestimmung zum Schutz der öffentlichen Ordnung bei von privaten Interessensgruppen verursachten Unruhen zurückgewiesen.767 Der EuGH hat sich hingegen zu einer unterschiedlichen Herangehensweise entschlossen. Er hat grundsätzlich die Einschlägigkeit dieser Ausnahmebestimmung bei gewalttätigen Protesten, welche die Warenverkehrsfreiheit beeinträchtigen, anerkannt.768 Der EuGH hat jedoch klargestellt, dass die EU-Mitgliedstaaten alle erforderlichen und geeigneten Maßnahmen ergreifen müssen um die Warenverkehrsfreiheit zu gewährleisten.769 Bei der Entscheidung ob sie die Warenverkehrsfreiheit gewährleisten, steht den EU-Mitgliedstaaten aber ein Entscheidungsspielraum zu. Diesen verletzen nur die EU-Mitgliedstaaten die offenkundig und anhaltend dabei versagen, die Warenverkehrsfreiheit zu gewährleisten. Gewährleiste ein EU-Mitgliedstaat die Warenverkehrsfreiheit aufgrund von Protesten nicht, dann ist dies nur dann durch das legitime Schutzziel der öffentlichen Ordnung gerechtfertigt, wenn er nachweisen kann, dass er anderenfalls mit seinen Mitteln die Folgen für die öffentliche Ordnung nicht bewältigen kann.770 Bislang wurde die Ausnahmebestimmung der öffentlichen Ordnung vom EuGH nur in einem konkreten Einzelfall anerkannt und zwar wurde das Recht der Münzprägung, welches im fundamentalen Interesse des Staates liegt, als ein Belang der öffentlichen Ordnung anerkannt.771 765  Barnard,

S. 68. nur EuGH Urt. v. 29.01.1985, Rs. 231 / 85, Henri Cullet . / . Centre Le­ clerc, Slg. 1985, 305, 324, Rn. 32.­ 767  Schlussanträge des Generalanwalts van Themaat in EuGH Urt. v. 29.01.1985, Rs.  231 / 85, Henri Cullet . / . Centre Leclerc, Slg. 1985, 305, 312. 768  EuGH Urt. v. 29.01.1985, Rs. 231  / 85, Henri Cullet . / . Centre Leclerc, Slg. 1985, 305, 324. Rn. 32. 769  EuGH Urt. v. 09.12.1997, Rs. C-265  /  95, Kommission . / . Frankreich, Slg. 1997, I-6959, 6999, Rn. 32. 770  EuGH Urt. v. 09.12.1997, Rs. C-265  /  95, Kommission . / . Frankreich, Slg. 1997, I-6959, 6999 ff., Rn. 32 ff., Rn. 56 ff. 771  EuGH Urt. v. 23.11.1978, Rs. 7  /  78, Strafverfahren gegen Thompson, Slg. 1978, 2247, 2275, 2276, Rn. 34. 766  Vgl.

320

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

Aus der Judikatur des EuGH zur Ausnahmebestimmung der öffentlichen Ordnung des Art. 36 AEUV lässt sich keine Definition dieses legitimen Schutzzieles entnehmen. Allerdings hat der EuGH das legitime Schutzziel der öffentlichen Ordnung als Ausnahmebestimmung zur Personenfreizügigkeit definiert. Im Rahmen der entsprechenden Ausnahmebestimmung zu dieser Grundfreiheit hat der EuGH eine Störung der öffentlichen Ordnung bei einer tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung angenommen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Eine einfache Gesetzesverletzung reicht hierfür nicht aus.772 Die Übernahme dieser Definition auf den Begriff der öffentlichen Ordnung in Art. 36 AEUV wird allgemein befürwortet.773 b) Kein Äquivalent zum legitimen Schutzziel der öffentlichen Ordnung im GATT Das GATT enthält keine Ausnahmebestimmung zum Schutz der öffent­ lichen Ordnung. In der Havanna-Charta als Vorläuferin des GATT war im heutigen Art. XX lit. a) GATT hingegen noch eine Ausnahmebestimmung für „laws and regulations relating to public safety“ vorgesehen. Damit sollten nach Ansicht des vorschlagenden Komitees das legitime Schutzziel des „public orders“, also der öffentlichen Ordnung verfolgt werden. Nach dem Scheitern der ITO wurde von einer Arbeitsgruppe entschieden, diese Ausnahmebestimmung nicht in das GATT zu übernehmen. Eine Begründung hierfür wurde nicht angegeben.774 Ein möglicher Grund hierfür mag sein, dass die öffentliche Ordnung eher einen innenpolitischen Bezug hat. Die damaligen Vertragsparteien sind wohl nicht davon ausgegangen, dass dem GATT eine solche tiefe Wirkung auf den innerstaatlichen Rechtskreis zukommen könnte. In die mit der Gründung der WTO im Jahr 1994 in Kraft getretene GATS wurde hingegen eine solche Ausnahmebestimmung in Art. XIV lit. a) GATS mit einbezogen. Auf diese Ausnahmebestimmung soll jedoch nicht weiter eingegangen werden, da durch Art. XIV lit. a) GATS nur Verstöße gegen den liberalisierten Dienstleistungshandel gerechtfertigt werden können. Allerdings können durch die Ausnahmebestimmung des Art. XX lit. d) GATT im Regelfall dieselben legitimen Schutzziele verfolgt werden, wie dies durch die Ausnahmebestimmung der öffentlichen Ordnung des Art. 36 772  EuGH Urt. v. 27.10.1977, Rs. 30  / 77, Pierre Bouchereau, Slg. 1977, 1999, 2013, Rn. 33. 773  Vgl. nur Ahlfeld, S. 63; Frenz, Rn. 944. 774  Feddersen, S. 271, 272.



V. Ausnahmebestimmungen im EU-Recht321

AEUV möglich ist. Denn Art. XX lit. d) GATT stellt eine Ausnahmebestimmung zur Rechtfertigung von handelsbeschränkenden GATT-widrigen Maßnahmen dar, die notwendig sind, um Gesetze anzuwenden, die selber nicht GATT-widrig sind. Gesetze zum Schutz der öffentlichen Ordnung sind jedoch grundsätzlich selber nicht GATT-widrig. Dies zeigen die Beispielsfälle zu Art. 36 AEUV, in denen der EuGH jedenfalls grundsätzlich die Einschlägigkeit des legitimen Schutzziels der öffentlichen Ordnung anerkannt hat. Weder das Ziel gewalttätige Proteste zu verhindern, noch das Ziel Straftaten zu verfolgen und aufzudecken, noch das Recht eines Staates auf Münzprägung stellen einen denkbaren Verstoß gegen die Vorschriften des GATT dar, die einen liberalisierten Warenhandel gewährleisten. Solche gesellschaftlichen Grundinteressen kann ein WTO-Mitglied daher in Gesetze fassen, die auch GATT-konform sind. Eine etwaige GATT-widrige Umsetzung dieser Gesetze zum Schutze der öffentlichen Ordnung kann ein WTO-Mitglied dann immer noch nach Art. XX lit. d) GATT rechtfertigen. Die Aufnahme einer Ausnahmebestimmung zum Schutz der öffentlichen Ordnung in den Art. XX GATT wäre daher zwar klarstellend, würde in der Sache aber kaum einen größeren Spielraum für WTO-Mitglieder schaffen, die handelsbeschränkende Maßnahmen zur Verfolgung des legitimen Schutzzieles der öffentlichen Ordnung verhängen wollen. 2. Die Ausnahmebestimmung zum Schutz der Umwelt Weder Art. 36 AEUV noch Art. XX GATT enthalten eine ausdrückliche Ausnahmebestimmung, welche handelsbeschränkende Maßnahmen zum Schutze der Umwelt rechtfertigt. Im EU-Recht wird der Umweltschutz jedoch als eines der „zwingenden Erfordernisse“ der Cassis-Formel und als „objektives Kriterium“ anerkannt. Allerdings können umweltschützende Belange im WTO-Recht in den Anwendungsbereich der Art. XX lit. b) und lit. g) GATT fallen. Ob trotz dieser beiden Ausnahmebestimmungen eine Lücke zwischen EU- und WTO-Recht hinsichtlich der Rechtfertigungsmöglichkeiten für handelsbeschränkende Maßnahmen zum Schutze der Umwelt besteht, wird im Folgenden ebenfalls dargestellt. a) Der Umweltschutz als „zwingendes Erfordernis“ und „objektives Kriterium“ In der Entscheidung Cassis de Dijon zählte der EuGH den Umweltschutz noch nicht explizit unter den „zwingenden Erfordernissen“ der Cassis-Formel auf. Ausgehend von früheren Entscheidungen, in denen er die Bedeutung

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C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

des Umweltschutzes hervorgehoben hatte,775 hat der EuGH jedoch in der Entscheidung Dänische Pfandflaschen den Umweltschutz als „zwingendes Erfordernis“ anerkannt.776 Daher war ein aus Gründen des Umweltschutzes errichtetes dänisches Pfandflaschensystem gerechtfertigt, welches die Einfuhr ausländischer Getränke erschwerte. Bislang sind nur wenige Entscheidungen ergangen, in denen sich der EuGH mit dem Umweltschutz als Ausnahmebestimmung zur Warenverkehrsfreiheit befasste. So war eine deutsche Regelung, welche die Erstzulassung von aus dem Ausland eingeführten Flugzeugen in Deutschland von der Einhaltung bestimmter Lärmgrenzen abhängig machte, während die bereits im Inland zugelassenen Flugzeuge diese Voraussetzung nicht erfüllen mussten, aus Gründen des Umweltschutzes gerechtfertigt.777 Ebenso war die Festlegung von Mindestpreisen, für in Deutschland aus erneuerbaren Energien erzeugten Strom, aus Gründen des Umweltschutzes gerechtfertigt.778 Und dies, obwohl in anderen EU-Mitgliedstaaten erzeugter Strom aus erneuerbaren Energien nicht in den Genuss eines solchen Mindestpreisprivileges kam. Auch rechtfertigte der EuGH ein Einfuhrverbot für Abfälle, welches die belgische Region Wallonien erlassen hatte.779 Somit fasste der EuGH bislang unter die Ausnahmebestimmung zum Schutz der Umwelt Sachverhalte wie die Vermeidung einer Müllproblematik in den Entscheidungen Wallonische Abfälle und Dänische Pfandflaschen. Wobei in letzterer Entscheidung das dänische Gesetz auch noch von dem Zweck bestimmt war mit Ressourcen sparsam umzugehen. In der Entscheidung Aher-Waggon ging es hingegen um die Vermeidung übermäßig hoher Lärmemissionen, während die Entscheidung PreussenElektra in Sachen erneuerbarer Energien erging. Über den jeweiligen Einzelfall hinaus ist diesen Entscheidungen hinsichtlich des Begriffs des Umweltschutzes wenig zu entnehmen. Auch trennt der EuGH nicht klar zwischen der Ausnahmebestimmung des Umweltschutzes als „zwingendes Erfordernis“ und der Ausnahmebestimmung zum Schutz der Gesundheit und des Lebens von Tieren 775  EuGH Urt. v. 07.02.1985, Rs.  240  /  83, Procureur de la République .  /  . ADBHU, Slg. 1985, 531, 549, Rn. 15; EuGH Urt. v. 14.07.1976 Rs. 3, 4, und 6 / 76, Cornelis Kramer und andere, Slg. 1976, 1279, 1311, Rn. 30 ff. 776  EuGH Urt. v. 20.09.1988, Rs. 302  / 86, Kommission . / . Dänemark (Dänische Pfandflaschen), Slg. 1988, 4607, 4630, Rn. 9. 777  EuGH Urt. v. 14.07.1998, Rs. C-389  / 96, Aher-Waggon . / . Deutschland, Slg. 1998, I-4473, Rn. 19. 778  EuGH Urt. v. 13.03.2001, Rs. C-379  / 98, PreussenElektra . / . Schleswag AG, Slg. 2001, I-2099, 2184, Rn. 72 ff. 779  EuGH Urt. v. 09.07.1992, Rs. C-2  / 90, Kommission . / . Belgien (Wallonische Abfälle), Slg. 1992, I-4431, 4479, Rn. 32.



V. Ausnahmebestimmungen im EU-Recht323

oder Pflanzen des Art. 36 AEUV.780 Es ist jedoch davon auszugehen, dass unter die Ausnahmebestimmung des Umweltschutzes als „zwingendes Erfordernis“ all diejenigen handelsbeschränkenden Maßnahmen fallen, die allgemein aus Gründen des Umweltschutzes ergriffen werden, ohne speziell den Leben- und den Gesundheitsschutz von Menschen, Tieren oder Pflanzen zum Gegenstand zu haben. An den Entscheidungen Wallonische Abfälle, PreussenElektra und AherWaggon fällt auf, dass der EuGH Beeinträchtigungen der Warenverkehrsfreiheit auch dann mit der Ausnahmebestimmung des „zwingenden Erfordernisses“ zum Schutz der Umwelt rechtfertigt, wenn es sich faktisch um eine Maßnahme handelt, die zwischen einheimischen und aus anderen EUMitgliedstaaten eingeführten Waren diskriminiert. Diskriminierende Maßnahmen können aber grundsätzlich nicht durch die „zwingenden Erfordernisse“ der Cassis-Formel gerechtfertigt werden. Eine Ausnahme hiervon scheint der EuGH aber bei gesellschaftlich als von großer Bedeutung einzustufenden legitimen Schutzzielen zu machen.781 Bei der gesteigerten Bedeutung, die dem Umweltschutz im EU-Vertrag durch die Querschnittsklausel des Art. 11 AEUV und der Kompetenzgrundlage für eine Umweltpolitik der Art. 191–193 AEUV zukommt, sollte der EuGH die Geltung der Ausnahmebestimmung des „zwingenden Erfordernisses“ zum Schutz der Umwelt als Rechtfertigungsmöglichkeit auch für diskriminierende Maßnahmen nicht nur in der Praxis anerkennen, sondern aus Gründen der Rechtssicherheit auch eindeutig klarstellen, dass es eine solche Rechtfertigungsmöglichkeit gibt.782 Der Umweltschutz ist im EU-Recht aber nicht nur als ein „zwingendes Erfordernis“, sondern auch als ein „objektives Kriterium“ anerkannt. Daher kann auch ein Verstoß gegen Art. 110 AEUV durch eine indirekt diskriminierende Besteuerung gerechtfertigt werden, wenn diese Steuer aus Gründen des Umweltschutzes erhoben wird. Dies folgt aus einer Entscheidung des EuGH in der dieser in einem griechischen Steuersystem, welches Fahrzeuge mit einem größeren Hubraum überproportional besteuerte, keinen Verstoß gegen Art. 110 Abs. 1 AEUV gesehen hatte. Griechenland hatte dieses ­Steuersystem u. a. mit Erwägungen des Umweltschutzes gerechtfertigt.783

780  Vgl. EuGH Urt. v. 13.03.2001, Rs. C-379 / 98, PreussenElektra . / . Schleswag AG, Slg. 2001, I-2099, 2185, Rn. 75. 781  Vgl. C.II.3.d). 782  Vgl. auch Grabitz / Hilf, Art. 28, Rn. 20 (Leible); Weiß, EuZW 1999, 493, 497 ff.; Frenz, Rn. 1030. 783  EuGH Urt. v. 05.04.1990, Rs. C-132  / 88, Kommission . / . Griechenland, Slg. 1990, I-1567, 1597, Rn. 9 ff.

324

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

b) Der Umweltschutz als Ausnahmebestimmung im WTO-Recht Anders als das EU-Recht kennt das WTO-Recht keine eigene Ausnahmebestimmung zum Schutz der Umwelt. Allerdings besteht im WTO-Recht die Möglichkeit, dass handelsbeschränkende Maßnahmen, die aus Gründen des Umweltschutzes verhängt werden, durch Art. XX lit. b) und lit. g) GATT gerechtfertigt werden können.784 Jedoch ist die Rechtfertigungsmöglichkeit des Art. XX lit. b) GATT insofern begrenzt, als dass diese Ausnahmebestimmung verlangt, dass eine unmittelbare Verbindung zwischen handelsbeschränkender Maßnahme und legitimen Schutzziel gegeben sein muss, die zu schützenden Lebewesen oder Pflanzen also voneinander abgrenzbar und individualisierbar sein müssen.785 Andere Schutzgüter als die von Art. XX lit. b) GATT geschützten, können zwar durchaus in den Anwendungsbereich des Art. XX lit. g) GATT fallen, wie das Beispiel der sauberen Luft zeigt.786 Allerdings wird die Rechtfertigungsmöglichkeit des Art. XX lit. g) GATT dadurch begrenzt, dass eine „ausreichende Verbindung“ („sufficient nexus“) zwischen den extraterritorial geschützten Naturschätzen und dem eigenen Hoheitsgebiet gefordert wird.787 Eine solche „ausreichende Verbindung“ ist jedenfalls dann nicht gegeben, wenn die handelsbeschränkenden Maßnahmen zum Schutz eines Ökosystems verhängt werden, welches außerhalb des Hoheitsgebietes des WTO-Mitgliedes liegt. Außerdem verlangt Art. XX lit. g) GATT ein nutzungsrechtliches Interesse an den durch diese Ausnahmebestimmung geschützten Gütern.788 Daher bieten Art. XX lit. b) und lit. g) GATT zwar sehr weitreichende aber keine umfassenden Rechtfertigungsmöglichkeiten für Belange des Umweltschutzes. Handelsbeschränkende Maßnahmen die allgemein aus Gründen des Umweltschutzes ergriffen werden, ohne speziell das Leben- und den Gesundheitsschutz von Menschen, Tieren oder Pflanzen zum Gegenstand zu haben und die auf Schutzgüter abzielen an denen kein nutzungsrechtliches Interesse besteht oder die keinen territorialen Bezug zum eigenen Hoheitsgebiet haben, können nicht durch Art. XX lit. b) oder lit. g) GATT gerechtfertigt werden. Mangels einer expliziten Ausnahmebestimmung zum Schutz der Umwelt ist zudem sehr zweifelhaft, ob auch handelsbeschränkende Maßnahmen zum Schutz globaler Gemeinschaftsgüter, wie etwa die 784  Vgl. C.III.2.a) zu den Voraussetzungen des Art. XX lit. b) GATT und C.IV.3. zu den Voraussetzungen des Art. XX lit. g) GATT. 785  Vgl. C.III.2.a)aa)(1). 786  Panel Report, US – Gasoline, Rn. 6.37. 787  Appellate Body Report, US – Shrimp, Rn. 133. 788  Puth, S. 306.



V. Ausnahmebestimmungen im EU-Recht325

Ozonschicht oder das Erdklima durch Art. XX lit. g) GATT gerechtfertigt werden können. Durch die Schaffung eines solchen Ausnahmetatbestandes sowie dem Umstand, dass der Wohlstand, der durch die von der WTO ermöglichte Handelsliberalisierung geschaffen wird, oftmals erst die materiellen Voraussetzungen für einen effektiven Umweltschutz schafft und das langfristiges Wachstum nur auf der Basis einer gesunden Umwelt möglich ist,789 könnte der Umweltschutz dem ihn zustehenden Stellenwert im WTO-Recht teilnehmen. c) Vergleich Weder EU- noch WTO-Recht enthielten ursprünglich Ausnahmebestimmungen, die den Schutz der Umwelt bezweckten. Denn sowohl das GATT als auch der Vorläufer des EU-Vertrages wurden zu einer Zeit verfasst als die Auswirkungen eines Wirtschaftswachstums auf die Umwelt weder Thema noch Gegenstand des Völkerrechts waren. Unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg aber auch noch in den späten 1950er Jahren hatte der Wiederaufbau und die Stärkung des marktwirtschaftlichen Wirtschaftssystems sowie auf europäischer Ebene zusätzlich der europäische Integrationsgedanke und nicht der Umweltschutz Priorität. Seit der Stockholmer UN-Konferenz von 1972 hat jedoch der Umweltschutz zunehmend auch im Völkerrecht seine Verankerung gefunden. Außerdem sind Probleme des Umweltschutzes immer mehr in den Vordergrund der staats- und wirtschaftspolitischen Auseinandersetzungen gerückt, seit dem die Auswirkungen des Handels und der Warenherstellung auf die Umwelt und die damit verbundenen Gefahren für den Menschen immer deut­ licher wurden.790 Entsprechend dieser Entwicklung enthalten auch Art. 11 AEUV und Art. 191–193 AEUV Bestimmungen zum Umweltschutz und in der Präambel des WTO und des TBT wird ausdrücklich auf den Umweltschutz Bezug genommen. Im EU-Recht ist diese Bewusstseinsveränderung und die gesteigerte Bedeutung des Umweltschutzes durch die Aufnahme der umweltschützenden Bestimmungen im EU-Vertrag und die Anerkennung des Umweltschutzes als Ausnahmebestimmung sowohl in der Form des „zwingendes Erfordernisses“ als auch des „objektiven Kriteriums“ ausreichend berücksichtigt worden, wenn auch gewisse Klarstellungen wünschenswert wären. Im WTO-Recht 789  Eglin, 790  Senti,

S. 253. WTO, Rn. 657.

326

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

bestehen hingegen keine ausreichenden Rechtfertigungsmöglichkeiten für sämtliche Belange des Umweltschutzes. Im EU-Recht wurden die Ausnahmebestimmungen zum Schutz der Umwelt aber auch nicht von den EU-Mitgliedstaaten geschaffen, sondern vom EuGH entwickelt. Dies ist den Streitbeilegungsgremien aber verwehrt, da eine solche Auslegung des Art. XX lit. b) oder lit. g) GATT gegen Art. 3.2 und Art. 19.2 DSU verstoßen würde, die es den Streitbeilegungsgremien verbieten, die Rechte und Pflichten der WTO-Mitglieder zu ergänzen oder zu beschränken. Deshalb könnte die Aufnahme einer Ausnahmebestimmung zum Schutz der Umwelt, etwa durch eine Änderung des Art. XX GATT, nur durch die WTO-Mitglieder erfolgen. In Art. X WTO ist das notwendige Vertragsänderungsverfahren niedergelegt. Eine Dreiviertelmehrheit wäre hierfür erforderlich.791 Allerdings scheiterten schon während der Uruguay-Runde die Bemühungen einiger Staaten, insbesondere von Seiten Schwedens, der Schweiz und Österreichs, den Umweltschutz einen höheren Stellenwert im WTO-Recht einzuräumen.792 Auch sind alle Entscheidungen in denen sich die Streitbeilegungsgremien mit handelsbeschränkenden Maßnahmen zum Schutze der Umwelt beschäftigt haben, auf das Verhalten einiger wirtschaftlich sehr weit entwickelter WTO-Mitglieder wie der EU oder den USA zurückzuführen.793 Diesen Interessen stehen aber die Interessen der Entwicklungs- und Schwellenländer gegenüber, deren Wettbewerbsvorteil auch in den weniger strengen Umweltschutzvorschriften besteht. Diese WTO-Mitglieder befürchten, dass sie ihren wirtschaftlichen Rückstand nicht aufholen können, wenn wirtschaftlich weiter entwickelten WTO-Mitgliedern eine Rechtfertigungsmöglichkeit zur Verfügung steht, um handelsbeschränkende Maßnahmen verhängen zu können, um sie zu vergleichbaren Umweltschutzstandards zu erzwingen. Daher ist es jedenfalls mittelfristig sehr unwahrscheinlich, dass im GATT eine entsprechende Ausnahmebestimmung zum Schutz der Umwelt aufgenommen wird. Dies ist insofern problematisch, als dass ein großer Teil der Belastungen für die Umwelt auf wirtschaftliche Aktivitäten zurückzuführen ist und oftmals in einem Zusammenhang mit dem grenzüberschreitenden Warenhandel steht. Als Hoffnung bleibt, dass die durch das WTO-Recht ermöglichte Handelsliberalisierung zu einer Wohlstandssteigerung bei allen WTO-Mitgliedern führt, die es Entwicklungs- und Schwellenländern ermöglichen und in ihnen den Willen freisetzen, tief greifende Umweltschutzmaßnahmen umzusetzen.

791  Vgl. C.II.5.e) zu den Voraussetzungen die nach Art. X WTO an eine Vertragsänderung im WTO-Recht gestellt werden. 792  Zeitler, S. 29. 793  Jha, S. 473.



V. Ausnahmebestimmungen im EU-Recht327

3. Schutz der Menschenrechte Auch der Schutz von Menschenrechten war ursprünglich weder im EUVertrag noch im GATT als Ausnahmebestimmung enthalten. Der EuGH hat den Schutz von Menschenrechten jedoch als ein „zwingendes Erfordernis“ anerkannt. Eine vergleichbare Rechtfertigungsmöglichkeit besteht im WTORecht nicht. Allerdings können im WTO-Recht durch verschiedene Ausnahmebestimmungen, handelsbeschränkende Maßnahmen, die zum Schutz von Menschenrechten verhängt wurden, gerechtfertigt werden. Anzumerken bleibt noch, dass Menschenrechte im Terminus des Europarechts im Allgemeinen als „Grundrechte“ bezeichnet werden. Im Interesse des Gebrauchs eines einheitlichen Begriffs wird im Folgenden aber der Terminus der „Menschenrechte“ benutzt werden. a) Der Schutz der Menschenrechte als „zwingendes Erfordernis“ Der EWG als Vorläufer des EU-Vertrages enthielt ursprünglich keine Ausnahmebestimmung, nach der es den damaligen Mitgliedstaaten erlaubt war die Menschenrechte zu schützen. Denn die Verfasser des EWG-Vertrages übten diesbezüglich eine große Zurückhaltung aus. Diese Zurückhaltung war darauf zurückzuführen, dass frühere Vorschläge zur Errichtung einer Politischen Union der ursprünglichen EU-Mitgliedstaaten nicht weiter verfolgt wurden, nachdem die Errichtung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft im französischen Parlament gescheitert war. In den Entwurf des Vertrages zur Errichtung einer Politischen Union wurden auch Teile der Europäischen Menschenrechtskonvention mit aufgenommen. Mit den Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft beschränkten sich die Verfechter einer europäischen Integration primär darauf eine wirtschaftliche Integration zu erreichen794 Durch diese wirtschaftliche Integration sollte schließlich auch die Integration in anderen Bereichen ermöglicht werden. Der EuGH hat aber zwischenzeitlich den Schutz der Menschenrechte als ein „zwingendes Erfordernis“ i. S. d. Cassis-Formel anerkannt. Daher können auch dann Demonstrationen zugelassen werden, wenn sie den Handel zwischen den EU-Mitgliedstaaten beeinträchtigen. Dies wurde vom EuGH mit dem Verweis auf die Meinungsäußerungs- und Versammlungsfreiheit begründet.795 Ebenso durfte der Handel von Zeitschriften beschränkt werden, wenn dies dazu diente die Pressevielfalt zu erhalten, welche zur Mei794  Craig / De

Búrca, S. 380, 381. Urt. v. 12.06.2003, Rs. C-112 / 00, Eugen Schmidberger, Internationale Transporte und Planzüge . / . Republik Österreich, Slg. 2003, I-5659, 5717, Rn. 71 ff. 795  EuGH

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C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

nungsfreiheit beiträgt.796 In diesen beiden Entscheidung hat der EuGH auch klargestellt, dass er den Kanon der Menschenrechte, die eine Beeinträchtigung der Warenverkehrsfreiheit rechtfertigen können, insbesondere dem EMRK, aber auch anderen völkerrechtlichen Verträgen zum Schutz der Menschenrechte, zu deren Vertragsparteien die EU-Mitgliedstaaten gehören sowie den gemeinsamen Verfassungstraditionen der EU-Mitgliedstaaten entnimmt. b) Der Schutz der Menschenrechte im WTO-Recht In den Übereinkommen unter der WTO finden die Menschenrechte keine Erwähnung.797 Die Streitbeilegungsgremien haben eine solche Ausnahmebestimmung auch nicht zwischenzeitlich entwickelt. Allerdings haben sich die Streitbeilegungsgremien bis heute nicht mit Rechtfertigungsmöglichkeiten für handelsbeschränkende Maßnahmen befasst.798 Wie oben bereits dargestellt, haben die WTO-Mitglieder jedoch die Möglichkeit sich auf einige Ausnahmebestimmungen des GATT zu berufen, um handelsbeschränkende Maßnahmen zu rechtfertigen, die sie zum Schutz von Menschenrechten verhängt haben. So rechtfertigt Art. XXI lit. c) GATT die Verhängung handelsbeschränkender Maßnahmen, wenn hierdurch völkerrechtlich verbindliche Sanktionen des Sicherheitsrates umgesetzt werden sollen. Der UN-Sicherheitsrat verhängt solche Sanktionen auch durchaus zum Schutz von Menschenrechten.799 Außerdem können nach der hier vertretenen Auffassung durch die Ausnahmebestimmung des Art. XX lit. a) GATT mittels eines „Spiels über Bande“ in Ausnahmefällen handelsbeschränkende Maßnahmen gerechtfertigt werden, die zum Schutz von Menschenrechten verhängt werden.800 Schließlich rechtfertigt die bislang allerdings praktisch nicht relevante Ausnahmebestimmung des Art. XX lit. e) GATT die Verhängung handelsbeschränkender Maßnahmen auf in Strafvollzugsanstalten hergestellte Waren. So können handelsbeschränkende Maßnahmen gegen Waren verhängt werden, die mittels Arbeit von Strafgefangenen hergestellt werden, deren Arbeits- und Lebensbedingungen eine Verletzung von Menschenrechten darstellt.801 796  EuGH Urt. v. 26.06.1997, Rs. C-368 / 95, Vereinigte Familiapress Zeitungsver­ lags- und -vertriebs GmbH . / . Heinrich Bauer Verlag, Slg. 1997, I-3689, 3717, Rn.  26 ff. 797  Petersmann, EJIL 2002, 753, 755. 798  Petersmann, CMLR 2000, 1363. 799  Vgl. C.III.5.a)aa)(3). 800  Vgl. C.III.1.a)bb)(1). 801  Vgl. C.IV.2.a).



V. Ausnahmebestimmungen im EU-Recht329

Keine Rechtfertigungsmöglichkeiten für handelsbeschränkende Maßnahmen zur Abstellung von Menschenrechtsverletzungen im Hoheitsgebiet anderer WTO-Mitglieder stellen jedoch, obwohl dies gelegentlich diskutiert wird, Art. XX lit. b) GATT, mangels extraterritorialer Wirkung,802 sowie Art. XXI lit. b) (iii) 2. Alt. GATT dar.803 Hinsichtlich handelsbeschränkender Maßnahmen, die innerstaatlich gewährleistete Menschenrechte schützen sollen, steht es einem WTO-Mitglied frei, diese unter Berufung auf verschiedene Ausnahmebestimmungen wie den Art. XX lit. a), lit. b) und lit. d) GATT zu rechtfertigen. Keine solche Rechtfertigungsmöglichkeit bestand jedoch mangels einer Ausnahmebestimmung zum Schutz der Menschenrechte für eine handelsbeschränkende Maßnahme Kanadas in der Form einer steuerlichen Diskriminierung zugunsten einheimischer Zeitschriften. Hierdurch sollte die kanadische Pressevielfalt vor dem Druck US-amerikanischer Zeitschriften geschützt werden und so auch zur Meinungsfreiheit beigetragen werden. Also eine ähnliche Konstellation wie in der Entscheidung Familiapress des EuGH. Denn sowohl Kanada als auch Österreich wollten ihre einheimische Pressevielfalt vor den aufgrund des größeren Heimatmarktes wettbewerbsfähigeren Zeitschriften aus den USA bzw. aus Deutschland schützen. Anders als der EU-Mitgliedstaat Österreich konnte das WTO-Mitglied Kanada mangels einer Ausnahmebestimmung zum Schutz der Menschenrechte im WTO-Recht seine handelsbeschränkende Maßnahme nicht rechtfertigen.804 Daher bestehen zwar verschiedene Möglichkeiten im WTO-Recht handelsbeschränkende Maßnahmen zu rechtfertigen, die aufgrund menschenrechtlicher Erwägungen verhängt wurden, diese sind jedoch für die Mehrzahl der Fälle kaum relevant. c) Vergleich In Bezug auf den Schutz der Menschenrechte haben EU- und WTO-Recht gemeinsam, dass ursprünglich in beide Rechtsordnungen keine entsprechenden Ausnahmebestimmungen bestanden. Dies kann damit erklärt werden, dass in der Zeit der Entstehung des GATT und des Vorläufers des EUVertrages die Souveränität der Staaten im Vordergrund des Völkerrechts standen und die Rechte von Individualpersonen kaum Beachtung fanden. Außerdem sollten durch die beiden Übereinkommen insbesondere wirt802  Vgl.

C.III.2.a)aa)(2). C.III.5.a)cc)(2). 804  Vgl. den Panel Report und den Appellate Body Report zu Canada – Periodi­ cals, in denen Kanada sich mangels einer solchen Ausnahmebestimmung sich auch nicht auf diese berief. 803  Vgl.

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C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

schaftliche Zwecke verfolgt werden. Auch wurden auf beiden Ebenen frühere weiter reichendere Vorläufer nicht realisiert. Sowohl die Europäische Verteidigungsgemeinschaft und die Europäische Politische Gemeinschaft als auch die Havanna-Charta sahen stärkere Eingriffe in die Souveränität der beteiligten Staaten vor. Nach den Scheitern dieser beiden ehrgeizigeren Integrationsbemühungen wurde deshalb auf beiden Ebenen nur versucht Integrationsfortschritte in den Bereichen zu erzielen, in denen diese politisch auch durchsetzbar waren. In der Zwischenzeit hat sich jedoch das EU-Recht weiterentwickelt und beinhaltet nun eine Ausnahmebestimmung zum Schutz von Menschenrechte. Allerdings ist im Gegensatz zur WTO, die EU mit wesentlich mehr Kompetenzen und effektiven Mitteln zu ihrer Durchsetzung ausgestattet worden.805 Daher hat das EU-Recht auch eine viel größere Auswirkung auf soziale und politische Angelegenheiten. Außerdem ist es vielfach direkt anwendbar, so dass das Verhalten einer Individualperson hiervon direkt betroffen ist.806 Der WTO steht demgegenüber nur ein begrenztes Mandat zu.807 Sie wurde als eine internationale Handelsorganisation gegründet und nicht als ein Instrumentarium um den Schutz von Menschenrechten durchzusetzen. Durch die größere Regelungstiefe des EU-Rechts drohen daher auch innerhalb der EU-Mitgliedstaaten Normen zu erodieren, durch die innerstaatlich Menschenrechte gewährleistet werden. Eine solche Regelungs­ tiefe kommt dem WTO-Recht nicht zu. Normen, die innerstaatliche Sachverhalte regeln, ohne dabei zwischen eingeführten und inländischen Waren zu diskriminieren, sind nicht in der Gefahr vom WTO-Recht erodiert zu werden. Daher fällt es mit Ausnahme des Beispiels aus Canada – Periodi­ cals schwer, eine handelsbeschränkende Maßnahme zum Schutz innerstaatlich gewährleisteter Menschenrechte zu gestalten, die einen Verstoß gegen das GATT darstellt. Im WTO-Recht besteht hingegen ein Bedarf für eine Ausnahmebestimmung zum Schutz der Menschenrechte, um WTO-Mitgliedern die Möglichkeit zu geben, mittels der Verhängung handelsbeschränkender Maßnahmen, auf Menschenrechtsverletzungen in anderen Staaten reagieren zu können. Während die Ausnahmebestimmung zum Schutz der Menschenrechte im EU-Recht also dazu dient, die eigenen Standards halten zu können, würde sie im WTO-Recht insbesondere dazu benutzt werden können, anderen die eigenen, auf jeden Fall aber höhere Standards aufzuerlegen. Eine Notwendigkeit für einen solchen „Export an Menschenrechten“ besteht im EU805  Tomuschat,

Human Rights Between Idealism and Realism, S. 85. Búrca, EU Law, S. 381. 807  Petersmann, Human Rights and International Trade Law: Defining and Connecting the Two Fields, S. 37. 806  Craig / De



V. Ausnahmebestimmungen im EU-Recht331

Recht nicht, da alle EU-Mitgliedstaaten der EMRK angehören und auch sonst ein ähnliches Niveau im Bereich des Menschenrechtsschutzes erreicht haben. Zwischen den WTO-Mitgliedern, zu denen neben Staaten, die eine demokratische Staatsform in der unterschiedlichsten Ausprägung haben, auch zahlreiche autoritäre Staaten gehören, besteht hingegen in diesem Bereich ein erhebliches Gefälle. Überdies wurde die WTO als eine internationale Handelsorganisation gegründet und nicht als ein Instrumentarium um den Schutz von Menschenrechte durchzusetzen. Viele WTO-Mitglieder fürchten auch, dass entsprechende Rechtfertigungsmöglichkeiten zu protektionistischen Zwecken missbraucht werden könnten und außerdem wird teilweise argumentiert, dass Handelssanktionen ineffizient sind, um dieses Ziel zu erreichen.808 Letztendlich besteht aber im WTO-Recht im Gegensatz zum EU-Recht keine Ausnahmebestimmung zum Schutz der Menschenrechte. Dennoch zeigt eine Vielzahl von Beispielen,809 dass WTO-Mitglieder in der Lage sind ihre Handelspolitik entsprechend auszurichten. Außerdem trägt die WTO durch die innerhalb ihrer Rechtsordnung gewährleisteten Instrumentarien zur Herstellung einer liberalisierten Handelsordnung zum Schutz der Menschenrechte bei. Denn der hierdurch ermöglichte Wohlstand und die von vielen WTO-Übereinkommen geforderte Nicht-Diskriminierung und Rechtssicherheit sind wichtige Voraussetzungen für einen effektiven Schutz von Menschenrechten.810 Letztendlich ist aber die Aufnahme einer Ausnahmebestimmung zum Schutz der Menschenrechte in das WTO-Recht mit Ausnahme der hier vertretenen Möglichkeit eines „Spiels über Bande“ durch den Art. XX lit. a) GATT abzulehnen. Zwar erscheint das WTO-Recht vielen Befürwortern aufgrund seiner effektiven Durchsetzungsinstrumentarien als hierfür attraktiv. Es ist jedoch davon auszugehen, dass die WTO grundsätzlich nicht die richtige Organisation zur Implementierung von Menschenrechtsstandards in anderen Staaten darstellt.811 4. Schutz der Arbeitsbedingungen Im EU-Recht ist der Schutz der Arbeitsbedingungen als ein „zwingendes Erfordernis“ i.  S.  d. Cassis-Formel anerkannt. Im WTO-Recht stellt der Schutz der Arbeitsbedingungen hingegen keine Ausnahmebestimmung dar. 808  Petersmann, CMLR 2000, 1363, 1374, Bhagwati, Trade Linkage and Human Rights, S.  243 ff. 809  Vgl. C.III.1.a)bb)(1). 810  Vgl. auch Petersmann, Trade and Human Rights, S. 633. 811  Vgl. auch C.III.1.a)bb)(1) zu den Argumenten hierfür.

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C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

a) Der Schutz der Arbeitsbedingungen im EU-Recht Der Schutz der Arbeitsbedingungen ist vom EuGH als ein „zwingendes Erfordernis“ anerkannt worden. Daher war das deutsche Nachtbackverbot gerechtfertigt, demzufolge in Bäckereien und Konditoreien nicht vor 04.00 Uhr morgens gearbeitet und Backwaren nicht vor 05.45 Uhr morgens ausgeliefert werden durften. Durch dieses Nachtbackverbot sollten die ­Arbeitsbedingungen verbessert werden.812 Zudem hat der EuGH in einem englischen Sonntagskaufverbot kein Verstoß gegen die Warenverkehrsfreiheit gesehen.813 In dieser Entscheidung ging der EuGH zwar nicht explizit auf den Schutz der Arbeitsbedingungen ein, er erwähnte jedoch die „Verteilung der Arbeitszeiten und der arbeitsfreien Zeiten“, die auch den „sozialen (…) Besonderheiten angepasst“ sein müsse. Außerdem verfolgt ein Sonntagskaufverbot auch den Schutz dieser Ausnahmebestimmung. Beide Entscheidungen ergingen allerdings noch vor Keck und Mithouard. Heute würde der EuGH das streitgegenständliche Verbot in der Entscheidung Torfean als produktbezogene Maßnahme nicht in den Anwendungsbereich der Warenverkehrsfreiheit fallen lassen, so dass es auch keiner Rechtfertigungsmöglichkeit durch ein „zwingendes Erfordernis“ bedürfte. Dies gilt jedoch wahrscheinlich nicht für das Auslieferungsverbot von Backwaren vor einer bestimmten Uhrzeit, da ein solches Verbot eher als eine vertriebsbezogene Maßnahme einzustufen ist.814 Die Ausnahmebestimmung zum Schutz der Arbeitsbedingungen im EU-Recht wird daher nur dann relevant, wenn die Warenverkehrsfreiheit durch vertriebsbezogene Maßnahmen beeinträchtigt wird. Der Schutz von Arbeitsbedingungen kommt aber insbesondere bei der Herstellung von Waren und damit bei produktbezogenen Maßnahmen zum Tragen. Somit werden die meisten innerstaatlichen Regelungen zum Schutz von Arbeitsbedingungen schon nicht in den Anwendungsbereich der Warenverkehrsfreiheit fallen. Die EU verfügt zusätzlich nach Art. 153 AEUV über die Zuständigkeit Mindeststandards bezüglich des Schutzes von Arbeitsbedingungen festzulegen. Eine Rechtfertigungsmöglichkeit für handelsbeschränkende Maßnahmen zum Schutz von sozialen Mindestrechten in anderen EU-Mitgliedstaaten besteht aber nicht. Mindeststandards für soziale Mindestrechte werden jedoch in allen EU-Mitgliedstaaten zum einen durch die von Art. 153 AEUV ermöglichte Harmonisie812  EuGH Urt. v. 14.07.1981, Rs. 155 / 80, Bußgeldverfahren gegen Sergius ­Oebel, Slg. 1981, 1993, 2008, Rn. 12. 813  EuGH Urt. v. 23.11.1989, Rs. 145  / 88, Torfean Borough Council . / . B & Q plc, Slg. 1989, 3851, 3889, Rn. 14. 814  Vgl. B.III.2. zum vom EuGH in der Entscheidung Keck und Mithouard gezogenen Unterschied zwischen produktbezogenen und vertriebsbezogenen Maß­ nahmen.



V. Ausnahmebestimmungen im EU-Recht333

rung gewährleistet, zum anderen gilt in allen EU-Mitgliedstaaten die EMRK, welche in Art. 11 EMRK die Vereinigungsfreiheit insbesondere auch für Gewerkschaften schützt.815 Gewerkschaften sind jedoch ein tauglicher Garant für die Einhaltung sozialer Mindestbedingungen. Außerdem bestehen – auch nach dem Beitritt vieler osteuropäischer Staaten in die EU – in allen EU-Mitgliedstaaten Wirtschaftsordnungen, die aufgrund ihrer Komplexität auf die Einhaltung gewisser sozialer Mindeststandards angewiesen sind. Verbleibende Differenzen zwischen den EU-Mitgliedstaaten müssen als komparative Kostenvorteile hingenommen werden, können im Übrigen aber oftmals durch eine höhere Produktivität wieder kompensiert werden. b) Kein Schutz von Arbeitsbedingungen im WTO-Recht Während die Havanna-Charter als nicht ratifizierte Vorläuferin des GATT noch den Schutz elementarer Arbeitsschutzbedingungen vorsah („unfair labour condition“),816 besteht im WTO-Recht keine Ausnahmebestimmung zum Schutz von Arbeitsbedingungen oder eine Ausnahmebestimmung zum Schutz sonstiger sozialer Mindestrechte. Weder durch Art. XX lit. a) GATT noch durch Art. XX lit. b) GATT kann die Verfolgung solcher legitimer Schutzziele gerechtfertigt werden.817 Die Schaffung einer solchen Ausnahmebestimmung wäre Sache der WTO-Mitglieder. Sie ist allerdings nicht zu erwarten, da Schwellen- und Entwicklungsländer um den komparativen Handelsvorteil fürchten, den sie aufgrund niedrigerer Arbeits- und Sozialschutzstandards haben. Aber selbst ohne die Anerkennung einer Ausnahmebestimmung zum Schutz von Arbeitsschutzbedingungen im WTO-Recht, beeinflusst dieses legitime Schutzziel die Handelspolitik von WTO-Mitgliedern. So berücksichtigen sowohl die EU als auch die USA den Schutz elementarer Arbeitsschutzbedingungen, wenn sie WTO-Mitgliedern, die Entwicklungsstaaten sind, Handelspräferenzen einräumen.818 Obwohl WTO-Mitgliedern daher keine Rechtfertigungsmöglichkeit für die Implementierung von sozialen Mindestbedingungen im Hoheitsgebiet anderer WTO-Mitglieder zur Verfügung steht, bleibt es ihnen vom WTO815  Vgl. Meyer-Ladewig, Art. 11 Rn. 13 ff. zu den Rechten die Gewerkschaften durch die EMRK gewährleistet werden. 816  Trebilcock / Howse, S. 571. 817  Vgl. C.III.1.a)bb)(2) zur Ausnahmebestimmung des Art. XX lit. a) GATT in Hinblick auf den Schutz sozialer Mindestrechte und C.III.2.a)aa)(2) zur Ausnahmebestimmung des Art. XX lit. b) GATT in Hinblick auf den Schutz von Arbeitsbedingungen. 818  Vgl. C.III.1.a)bb)(2).

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C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

Recht unbenommen, für ihr eigenes Hoheitsgebiet die von ihnen gewünschten Sozialstandards festzulegen. Aufgrund der fehlenden Regelungstiefe des WTO-Rechts ist nämlich nicht ersichtlich, dass inländische Sozialstandards gegen das WTO-Recht verstoßen könnten. Allerdings besteht die Gefahr, dass höhere Standards aufgrund eines Wettbewerbsdruckes erodiert werden. c) Vergleich Auch bei der Ausnahmebestimmung zum Schutz von Arbeitsbedingungen fällt auf, dass ebenso wie bei der Ausnahmebestimmung zum Schutz von Menschenrechten diese im EU-Recht dazu dient, die eigenen Standards halten zu können, während sie im WTO-Recht dazu benutzt werden würde, anderen die eigenen Standards aufzuerlegen. Ein Bedarf für WTO-Mitglieder eigene Arbeitsschutzstandards mittels einer Ausnahmebestimmung zu sichern, ist mangels Regelungstiefe des WTO-Rechts nicht gegeben. Eigene Arbeitsschutzbedingungen können jedoch unter einem wirtschaftlichen Druck stehen. Selbst im sehr weit reichenden EU-Recht fallen die meisten mitgliedstaatlichen Normen, die den Schutz von Arbeitsbedingungen dienen, nicht in den Anwendungsbereich der Warenverkehrsfreiheit und bedürfen folglich keiner Ausnahmebestimmung. Viele WTO-Mitglieder sehen jedoch einen Bedarf für eine solche Ausnahmebestimmung um handelsbeschränkende Maßnahmen gegen WTO-Mitglieder verhängen zu können, in deren Hoheitsgebiet gewisse Mindeststandards an Arbeitsbedingungen nicht eingehalten werden. Der Bedarf für eine solche Ausnahmebestimmung ist auf moralische und wirtschaftliche Gründe zurückzuführen. Zum einen wird die Nichteinhaltung gewisser Standards als verwerflich angesehen, zum anderen wird um die Konkurrenzfähigkeit einheimischer Hersteller gefürchtet, die sich an solche Mindeststandards zu halten haben und daher höhere Produktionskosten haben. Dieser auf Ebene der WTO bestehende Bedarf für eine solche Ausnahmebestimmung ist jedoch auf Ebene der EU nicht gegeben. Denn innerhalb der EU können durch Harmonisierung Mindeststandards hinsichtlich des Schutzes von Arbeitsbedingungen festgelegt werden. Dadurch wird gewährleistet, dass alle Hersteller innerhalb der Eu gewisse Mindeststandards einzuhalten haben und ein etwaiger komparativer Handelsvorteil durch niedrigere Arbeitsschutzstandards nicht zu groß wird. Außerdem verfügen die EU-Mitgliedstaaten über eine hochindustrialisierte Wirtschaft. Die Entwicklung einer solchen Wirtschaft ist jedoch nur möglich, wenn gewisse Arbeitsschutzstandards implementiert werden. Dies folgt schon aus dem Grund, dass die Erfahrung lehrt, dass sich qualifizierte Arbeiter, die für eine solche hochindustrialisierte Wirtschaft gebraucht werden, die Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen sowohl auf betrieblicher Ebene erkämpfen als auch dafür



V. Ausnahmebestimmungen im EU-Recht335

Sorge tragen, dass gewisse Arbeitsschutzbedingungen in Gesetzesform implementiert werden. Die hierfür notwendigen Gewerkschaften sind innerhalb der EU-Mitgliedstaaten ebenfalls gewährleistet. Daher findet innerhalb der EU auch die soziale Dimension der Handelsliberalisierung Beachtung. Dies zeigt sich auch in der – allerdings bislang nicht in Kraft getretenen – Grundrechtecharta, in deren dritten Kapitel auch soziale Grundrechte erwähnt sind. Da davon auszugehen ist, dass ein freier Handel dazu führt, dass die Arbeitsbedingungen sich schrittweise verbessern, ist die Aufnahme einer solchen Ausnahmebestimmung in das WTO-Recht abzulehnen. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass es keinen volkswirtschaftlich unstrittigen Beweis dafür gibt, dass der Handel mit ärmeren Ländern wirklich zu einer Erosion der Löhne und Arbeitsbedingungen in hoch industrialisierten Ländern führt.819 5. Die Ausnahmebestimmung des Verbraucherschutzes Unter den Begriff des Verbraucherschutzes kann die Gesamtheit aller Maßnahmen gefasst werden, die den Interessen des Verbrauchers dienen.820 Der Verbraucherschutz ist im EU-Recht als ein „zwingendes Erfordernis“ anerkannt. Außerdem ist davon auszugehen, dass der Verbraucherschutz auch als „objektives Kriterium“ seine Anerkennung findet. Im WTO-Recht besteht hingegen keine solche explizite Ausnahmebestimmung zum Schutz von Verbrauchern. Allerdings stellen verschiedene Ausnahmebestimmungen eine Rechtfertigungsmöglichkeit für zahlreiche verbraucherschützende handelsbeschränkende Maßnahmen von WTO-Mitgliedern dar. a) Der Verbraucherschutz als Ausnahmebestimmung im EU-Recht Während die Ausnahmebestimmung des Art. 36 AEUV zum Schutz der Gesundheit die Ausnahmebestimmung ist, auf die sich die EU-Mitgliedstaaten am häufigsten berufen, ist die Ausnahmebestimmung des Verbraucherschutzes als „zwingendes Erfordernis“ der Cassis-Formel, das „zwingendes Erfordernis“ auf welches sich die EU-Mitgliedstaaten am häufigsten berufen.821 Im ursprünglichen EU-Vertrag war kein Hinweis auf den Verbraucherschutz enthalten. Denn es wurde angenommen, dass die Verbraucher ohnehierzu Bhagwati, Verteidigung der Globalisierung, S. 205 ff. m. w. N. S. 185. 821  Bernard, S. 117. 819  Vgl.

820  Voland,

336

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

hin von der Warenverkehrsfreiheit profitieren würden.822 Mit dem Maastrichter Vertrag wurde die Verbesserung des Verbraucherschutzes dann unter die Politiken der EU aufgenommen. Art. 169 AEUV gibt der EU entsprechende Befugnisse. Der EuGH hatte aber schon in der Entscheidung Cassis de Dijon den Verbraucherschutz als eines der „zwingenden Erfordernisse“ der Cassis-Formel anerkannt.823 Innerstaatliche Handelsregelungen die den Verbraucher schützen sollen, behindern gleichzeitig die Warenverkehrsfreiheit. Denn die Produzenten müssen ihre Waren und ihre Werbung den innerstaatlichen Regelungen anpassen. Um Handelshemmnisse abzubauen, die durch solche verbraucherschützende Regelungen entstehen, akzeptiert der EuGH Verbraucherschutz nur dann als Rechtfertigungsgrund, wenn bei dessen Ausgestaltung auf die „Erwartung eines durchschnittlich informierten, aufmerksamen und verständigen Durchschnittsverbraucher abgestellt“ wird.824 Auch kann die Zementierung bestimmter Verbrauchergewohnheiten nicht durch den Verbraucherschutz gerechtfertigt werden. Der Verbraucherschutz darf daher nicht dazu dienen, die Fortentwicklung von Verbrauchergewohnheiten zu verhindern.825 Die EU-Mitgliedstaaten berufen sich insbesondere auf die Ausnahmebestimmung des Verbraucherschutzes, um mitgliedstaatliche Etikettierungsvorschriften sowie Normen, die den Gebrauch von irreführenden Gattungs- oder Verkehrsbezeichnungen reglementieren sollen, zu rechtfertigen. Der Bereich der Etikettierungsvorschriften ist inzwischen weitgehend gemeinschaftsrechtlich harmonisiert worden,826 so dass in diesem Bereich eine Berufung der EU-Mitgliedstaaten auf das legitime Schutzziel des Verbraucherschutzes nicht mehr möglich ist. Eine Gattungs- oder Verkehrsbezeichnung ist irreführend und darf daher aufgrund der Ausnahmebestimmung des Verbraucherschutzes verboten werden, wenn beim Verbraucher hierdurch der Eindruck erweckt wird, es handelt sich um eine bestimmte Ware, während sich hinter der Bezeichnung eine andere Ware verbirgt.827 Der EuGH hat den Verbraucherschutz nicht nur als ein „zwingendes Erfordernis“, sondern auch ein „objektives Kriterium“ anerkannt. Also stellt eine indirekt diskriminierende Besteuerung keine Verletzung des Art. 110 Abs. 1 822  Weatherill / Beaumont,

S. 1030. Urt. v. 20.02.1979, Rs. 20 / 78, Rewe-Zentrale AG v. Bundesmonopol­ verwaltung für Branntwein (Cassis de Dijon), Slg. 1979, 649, Rn. 8. 824  EuGH Urt. v. 16.07.1998, Rs. C-210 / 96, Gut Springenheide GmbH v. Ober­ kreisdirektor des Kreises Steinfurt, Slg. I-1998, 4657, 4691, Rn. 31. 825  EuGH Urt. v. 12.03.2987, Rs. 174  /  84, Kommission .  /  . Deutschland (Rein­ heitsgebot für Bier), Slg. 1987, 1227, 1270, Rn. 32. 826  Frenz, Rn.  1009 ff. 827  EuGH Urt. v. 09.02.1999, Rs. C-383 / 97, Strafverfahren gegen van der Laan, Slg. 1999, I-731, 764, Rn. 32 ff. 823  EuGH



V. Ausnahmebestimmungen im EU-Recht337

AEUV dar, wenn sie aus Gründen des Verbraucherschutzes gerechtfertigt ist. Die Anerkennung des Verbraucherschutzes als „objektives Kriterium“ folgt aus einer Entscheidung des EuGH, in der er die unterschiedliche Besteuerung von Spielautomaten nicht als mit Art. 110 AEUV unvereinbar angesehen hat.828 Durch eine höhere Besteuerung wollte die französische Regierung die Benutzung eines bestimmten Typs von Spielautomaten unattraktiver machen. Folglich verfolgte diese Regelung sowohl das legitime Schutzziel der öffentlichen Sittlichkeit als auch das des Verbraucherschutzes, da hierdurch die Interessen natürlicher Personen, die zu privaten Zwecken an diesen Automaten spielen, gegenüber Personen geschützt werden sollen, die diese Automaten zu gewerblichen Zwecken betreiben. b) Rechtfertigungsmöglichkeiten für verbraucherschützende Maßnahmen im WTO-Recht Unter den Ausnahmebestimmungen des Art. XX GATT ist der Verbraucherschutz nicht enthalten. Anders ist dies in den „Allgemeinen Ausnahmen“ des Art. XIV GATS, der Parallelbestimmung zu Art. XX GATT im GATS. Art. XIV it. c) (i) GATS rechtfertigt nämlich den Handel mit Dienstleistungen einschränkende Maßnahmen, wenn dies etwa „zur Verhinderung irreführender und betrügerischer Geschäftspraktiken“ erforderlich ist. Handelsbeschränkende Maßnahmen, die von WTO-Mitgliedern zum Schutz der Verbraucher verhängt werden, können jedoch durch verschiedene Ausnahmebestimmungen im WTO-Recht gerechtfertigt werden. So kann ein WTO-Mitglied die Irreführung von Verbrauchern und deren Schutz von aggressiven Verkaufsmethoden als ein Verstoß gegen den in seinem Hoheitsgebiet bestehenden Maßstab der öffentlichen Sittlichkeit einstufen. Schließlich kann jedes WTO-Mitglied die Voraussetzungen der öffentlichen Sittlichkeit für sich selber festlegen.829 Insbesondere wird sich ein WTO-Mitglied zur Rechtfertigung von handelsbeschränkenden Maßnahmen, die es zum Schutz der Verbraucher verhängt, jedoch auf Art. XX lit. d) GATT berufen können. Die Ausnahmebestimmung des Art. XX lit. d) GATT rechtfertigt Einzelmaßnahmen, die notwendig sind, um die Einhaltung von Gesetzen oder sonstigen Vorschriften zu gewährleisten.830 Wie bereits dargestellt,831 haben sich bislang – allerdings erfolglos – Korea und die USA auf Art. XX lit. d) GATT berufen, 828  EuGH Urt. v. 03.03.1988, Rs. 252  /  86, Bergandi .  /  . Directeur général des impôts, Slg. 1988, 1343, 1375, Rn. 32. 829  Vgl. C.III.1.a)aa). 830  Vgl. C.III.4.a). 831  Vgl. C.III.4.a)aa)(1)(bb).

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C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

um handelsbeschränkende Maßnahmen zu rechtfertigen, die sie auch aus Erwägungen des Verbraucherschutzes verhängt hatten. Ein koreanisches Gesetz nach dem einheimisches und eingeführtes Rindfleisch nur in unterschiedlichen Läden verkauft werden durfte, damit die Verbraucher nicht über die Herkunft des Fleisches getäuscht werden konnten, konnte jedoch nicht nach Art. XX lit. d) GATT gerechtfertigt werden, da nach Auffassung des Appellate Body die Voraussetzungen des Notwendigkeitskriteriums nicht erfüllt waren.832 Ein US-amerikanisches Einfuhrverbot für Thunfisch, der ohne Delfinschutzmaßnahmen gefangen wurde, um hierdurch auch Unsicherheiten der Verbraucher beim Versuch „delfinfreundliche“ Waren zu kaufen, zu vermeiden, konnte schon deshalb nicht durch Art. XX lit. d) GATT gerechtfertigt werden, da der zuständige Panel schon das entsprechende US-Gesetz selber und nicht erst seine Anwendung durch Einzel­ maßnahmen als GATT-widrig einstufte.833 Auch in der Entscheidung Thai­ land – Cigarettes machte die thailändische Regierungen Verbraucherschutzerwägungen geltend.834 Der Panel prüfte jedoch nur Art. XX lit. b) GATT als Rechtfertigungsmöglichkeit und lies diese am Notwendigkeitskriterium scheitern.835 Obwohl WTO-Mitglieder sich bislang nicht erfolgreich auf Art. XX lit. d) GATT berufen konnten, um verbraucherschützende Einzelmaßnahmen, die gegen die GATT verstießen, zu rechtfertigen, besteht dennoch in dieser Ausnahmebestimmung eine Rechtfertigungsmöglichkeit für zahlreiche handelsbeschränkende Maßnahmen, die von WTO-Mitgliedern aus Gründen des Verbraucherschutzes verhängt wurden. Denn die meisten verbraucherschützenden Maßnahmen verstoßen schon nicht gegen die Diskriminierungsverbote des WTO-Rechts.836 c) Vergleich Hinsichtlich des Verbraucherschutzes stehen EU und WTO vor gleichen Herausforderungen. Grundsätzlich führt die durch EU und WTO ermöglichte Liberalisierung durch größeren Wettbewerb zu niedrigeren Preisen, einer größeren Auswahl und qualitativ besseren Waren. Damit profitieren Verbraucher von einer Handelsliberalisierung. Allerdings kann der durch die Handelsliberalisierung erfolgte Wettbewerb auch Verbraucherinteressen schädigen. Zudem muss auf Fehlverhalten der Anbieterseite reagiert werden. Body Report, Korea – Various Measures on Beef, Rn.  179 ff. Panel Report, US – Tuna (Mexico), Rn. 5.39. 834  GATT Panel Report, Thailand – Cigarettes, Rn. 24–27. 835  GATT Panel Report, Thailand – Cigarettes, Rn. 81. 836  Vgl. auch Volandt, S.  380 ff. 832  Appellate 833  GATT



V. Ausnahmebestimmungen im EU-Recht339

Daher kann die Verhängung handelsbeschränkender Maßnahmen von EUMitgliedstaaten bzw. WTO-Mitglieder notwendig sein, um Verbraucherinteressen zu schützen. Im EU-Recht hat der EuGH hierauf reagiert, in dem er den Verbraucherschutz sowohl als „zwingendes Erfordernis“ als auch als „objektives Kriterium“ anerkannt hat. Im WTO-Recht, in dem eine solche Rechtsfortbildung nicht möglich ist, können hingegen handelsbeschränkende Maßnahmen, die aus Gründen des Verbraucherschutzes verhängt werden, eine Rechtfertigungsmöglichkeit in Art. XX lit. a) oder lit. d) GATT finden. Von besonderem Interesse hierbei ist Art. XX lit. d) GATT, der die regulatorische Vielfalt der WTO-Mitglieder anerkennt. Allerdings sind die Rechtfertigungsmöglichkeiten für solche handelsbeschränkenden Maßnahmen begrenzt. Keine Rechtfertigungsmöglichkeit besteht für handelsbeschränkende Maßnahmen, die weder auf Handlungen der Anbieterseite abzielen, welche als ein Verstoß gegen die öffentliche Sittlichkeit einzustufen sind oder für solche handelsbeschränkende Maßnahmen, die auf einer GATT-widrigen Norm gestützt sind. Es stellt sich daher die Frage, ob eine Lücke im WTO-Recht hinsichtlich des legitimen Schutzzieles des Verbraucherschutzes besteht, welches durch die Schaffung einer expliziten Ausnahmebestimmung geschlossen werden müsste. Dagegen spricht jedoch, dass die WTO-Mitglieder, anders als die EU-Mitgliedstaaten, die Möglichkeit haben, ihre eigenen Verbraucherschutzstandards zu setzen und nicht die von anderen WTO-Mitgliedern übernehmen zu müssen. Außerdem zeigt die Entscheidung Korea – Beef, in der die Trennung des Vertriebssystems von einheimischen und eingeführten Waren vorgeschrieben war, dass das legitime Schutzziel des Verbraucherschutzes auch immer die Gefahr in sich birgt aus protektionistischen Zwecken missbraucht zu werden. Zudem sind es regelmäßig hoch industrialisierte Staaten, die einen starken Verbraucherschutz implementieren. Denn Verbraucherschutz muss sich eine Gesellschaft erst einmal leisten können. Ärmere WTO-Mitglieder hätten dann zusätzliche Probleme ihre Waren in diese Märkte einzuführen. Deshalb ist die Aufnahme des Verbraucherschutzes als Ausnahmebestimmung in das GATT abzulehnen. 6. Ausnahmebestimmungen zum Schutz kultureller Interessen Sowohl in Art. 36 AEUV als auch in Art. XX lit. f) GATT ist eine Ausnahmebestimmung zum Schutz des nationalen Kulturgutes von künstlerischem, geschichtlichem oder archäologischem Wert enthalten.837 Darüber hinaus stellt auch der Schutz kultureller Interessen ein „zwingendes Erfor837  Vgl.

C.III.3.

340

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

dernis“ i. S. d. Cassis-Formel dar. Im WTO-Recht fehlt eine solche explizite Ausnahmebestimmung. Gewisse kulturelle Interessen, die über Art. XX lit. f) GATT hinausgehen,838 finden jedoch eine Rechtfertigungsmöglichkeit in verschiedenen Ausnahmebestimmungen des GATT. a) Die Ausnahmebestimmung zum Schutz kultureller Interessen im EU-Recht Im ursprünglichen EU-Vertrag war kulturellen Interessen nur ein geringer Stellenwert eingeräumt worden. Nur in der Ausnahmebestimmung des Art. 36 AEUV fanden sie eine Erwähnung. Mit dem Maastricht-Vertrag wurde die Kultur aber unter den Politiken der EU aufgenommen (Art. 167 AEUV). Obwohl der EuGH dies nie ausdrücklich festgestellt hat, stellt der Schutz kultureller Interessen ein „zwingendes Erfordernis“ i. S. d. Cassis-Formel dar. Bislang konnte sich allerdings erst ein EU-Mitgliedstaat erfolgreich auf diese Ausnahmebestimmung berufen. So wurde in der Entscheidung Ci­ nethéque ein französisches Verbot, welches den Vertrieb von Filmen auf Videokassetten frühestens sechs Monate nach ihrem Start in den Kinos erlaubte, aufgrund des „zwingendes Erfordernisses“ des Schutzes kultureller Interessen gerechtfertigt. Durch dieses Verbot sollte die bevorzugte Verwertung von Filmen in Kinos erreicht werden. Filmproduktionen erreichen bei einer Verwertung im Kino nämlich die höchsten Gewinne. Es sollte also die Schaffung von Kinofilmen gefördert werden. Außerdem sollten Kinos als eine Form besonderen kulturellen Ausdruckes geschützt werden.839 In dieser Entscheidung berief sich der EuGH zwar nicht ausdrücklich auf kulturelle Interessen, wie ihn dies von der Kommission vorgeschlagen worden war. Er beschränkte sich stattdessen auf das legitime Schutzziel der Förderung der Filmproduktion.840 Anscheinend hatte der EuGH Vorbehalte hinsichtlich der Anerkennung einer zu weiten Ausnahmebestimmung. In seiner Rechtsprechung zur Dienstleistungsfreiheit hat der EuGH zwischenzeitlich aber kulturelle Interessen als Ausnahmebestimmung anerkannt.841 Es ist daher damit zu rechnen, dass der EuGH, falls er mit einem entsprechenden Sachverhalt konfrontiert werden würde, auch explizit den Schutz 838  Vgl.

C.III.3.a) zu den Voraussetzungen des Art. XX lit. f) GATT. Urt. v. 11.07.1985, Rs. 60 / 84, Cinethéque . / . Fédération Nationale des Cinémas Français, Slg. 1985, 2505, 2625, Rn. 20 ff. 840  EuGH Urt. v. 11.07.1985, Rs. 60 / 84, Cinethéque . / . Fédération Nationale des Cinémas Français, Slg. 1985, 2505, 2625 ff., Rn. 18, 20. 841  Ahlfeld, Zwingende Erfordernisse im Sinne der Cassis-Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes zu Art. 30 EGV, S. 204. 839  EuGH



V. Ausnahmebestimmungen im EU-Recht341

kultureller Interessen als ein „zwingendes Erfordernis“ i. S. d. Cassis-Formel anerkennen würde. In einer weiteren Entscheidung, in der es um eine französische Buchpreisbindung ging, kam der EuGH gar nicht erst zu einer Rechtfertigungsmöglichkeit durch die Cassis-Formel, da er diese Regelung als diskriminierend einstufte.842 Der EuGH scheint die Ausnahmebestimmung zum Schutz kultureller Interessen also nicht als ähnlich wichtig aufzufassen wie etwa die „zwingenden Erfordernisse“ des Umweltschutzes oder des finanziellen Gleichgewichts der sozialen Sicherungssysteme. Denn diese „zwingenden Erfordernisse“ lässt der EuGH auch faktisch diskriminierende Maßnahmen rechtfertigen.843 b) Rechtfertigungsmöglichkeiten für kulturelle Interessen im WTO-Recht Die Schaffung einer allgemeinen Kulturausnahme wurde im Rahmen der Uruguay-Runde gefordert, hat sich aber nicht durchsetzen können.844 Im WTO-Recht können aber einige kulturelle Interessen, die über die Ausnahmebestimmung des Art. XX lit. f) GATT zum Schutz nationaler Kulturgüter hinausgehen, durch verschiedene Ausnahmebestimmungen gerechtfertigt werden. Art. XX lit. f) GATT selber stellt keine generelle Rechtfertigungsmöglichkeit für kulturelle Interessen dar.845 Es besteht jedoch die Möglichkeit sich auf Art. IV und Art. III:10 GATT zu berufen, um Quoten für Kinofilme zu rechtfertigen. Außerdem ist es denkbar, dass sich WTO-Mitglieder im Einzelfall auf den Schutz der öffentlichen Sittlichkeit nach Art. XX lit. a) GATT berufen, wenn die Einführung bestimmter Waren, z. B. als anstößig empfundene Filme, verboten wird.846 Bislang ist der Schutz kultureller Interessen im Rahmen der Judikatur der Streitbeilegungsgremien nur in der Entscheidung Canada – Periodicals beiläufig erwähnt worden. Die kanadische Regierung berief sich in ihrer Rechtfertigung für Steuererleichterungen, die kanadischen Zeitungen gewährt wurden, darauf, dass diese Zeitungen ein wichtiges Element des kulturellen Ausdrucks Kanadas seien.847 Das Panel im vorgeschalteten 842  EuGH Urt. v. 10.01.1985, Rs. 229  / 83, Leclerc . / . Au ble vert, Slg. 1985, 1, 35, Rn.  28 ff. 843  Vgl.C.II.3.d). 844  Conrad, S. 96. 845  Vgl. auch Voon, S.  143 ff. 846  Neuwirth, S.  162 ff. 847  Appellate Body Report, Canada – Periodicals, S. 31.

342

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

Verfahren stellte jedoch klar, dass die Frage der kulturellen Identität eines WTO-Mitgliedes nicht Streitgegenstandes sei.848 Dies wurde weder von den Parteien noch vom Appellate Body beanstandet. Die Ausnahmebestimmung der Art. III:10 und Art. IV GATT rechtfertigt mengenmäßige Beschränkungen, die eingeführten Kinofilmen auferlegt werden sowie ihre unterschiedliche Behandlung verglichen mit Kinofilmen aus inländischer Produktion. Es mag nahe liegen, Kinofilme als Dienstleistung einzustufen, so dass auf diesem Bereich das GATS anzuwenden wäre. Allerdings sind sie auf einem Träger von Bild- und Tonsequenzen, wie z. B. einer Filmrolle, physisch greifbar und damit als Gegenstand verkörpert. Daher unterliegen sie dem Anwendungsbereich des GATT. Folglich kann ihre Einfuhr auch Zöllen unterworfen werden.849 Das gleiche gilt übrigens für Musik soweit sie auf Tonträgern verkörpert ist. Nach Art. III:10 GATT richtet sich die Rechtmäßigkeit von Ausnahmeregelungen für Spielfilmkontingente (sog. screen quotas) nach Art. IV GATT. Bei Art. IV GATT handelt es sich um eine Abweichung von Art. III:4 GATT, der die Gleichbehandlung eingeführter mit ausländischer Waren vorschreibt und von Art. XI GATT, der ein grundsätzliches Verbot mengenmäßiger Beschränkungen enthält.850 Spielfilmkontingente ermöglichen es, die Vorführung ausländischer Filme in Kinos auf einen bestimmten Anteil zu begrenzen und Filme aus inländischer Produktion einen Mindestanteil an den gesamten Vorführungen einzuräumen.851 Der Mindestanteil berechnet sich nach Art. IV lit. a) GATT auf die Gesamtspielzeit, in der ein Kino zu gewerblichen Zwecken Filme vorführt. Die Gesamtspielzeit muss mindestens auf ein Jahr berechnet sein. Art. IV lit. b) GATT führt das Prinzip der Meistbegünstigung in diese Ausnahmebestimmung ein und schreibt vor, dass die für Kinofilme verbleibende Spielzeit nicht weiter zwischen den Filmen ausländischer Produktionen anderer WTO-Mitglieder aufgeteilt werden darf.852 Dies galt nach der sog. „grandfather clause“ des Art. IV lit. c) GATT jedoch nicht für solche Spielfilmkontingente, die bereits vor dem 10.04.1947 Bestand hatten.853 Dadurch, dass den WTO-Mitgliedern durch Art. IV GATT nur eine Ausnahme vom Prinzip der Meistbegünstigung nicht aber vom Prinzip der Inländergleichbehandlung zugestanden wird, können keine kulturellen Affinitäten berückReport, Canada – Periodicals, Rn. 5.45. S. 179; Cottier, ZUM 749, 750. 850  Vgl. B.III.1. zum Prinzip der Inländergleichbehandlung und B.I.2.a) zum grundsätzlichen Verbot mengenmäßiger Beschränkungen im WTO-Recht. 851  Hahn, ZaÖRV 1996, 315, 334. 852  Vgl. B.IV.1. zum Prinzip der Meistbegünstigung im WTO-Recht. 853  Vgl. B.III.3.c) zur sog. „grandfather clause“. 848  Panel

849  Sander,



V. Ausnahmebestimmungen im EU-Recht343

sichtigt werden, die zu bestimmten anderen Ländern bestehen.854 Gleichzeitig können die WTO-Mitglieder jedoch bis hin zum vollständigen Verbot über das Ausmaß des Marktzugangs für ausländische Kinofilme frei entscheiden. WTO-Mitglieder können Spielfilmkontingente auch jederzeit neu einführen, so dass sie an einmal gemachte Liberalisierungen, anders als bei Zöllen, nicht gebunden sind. Spielfilmkontingente sind heute jedoch nicht mehr von Bedeutung. Denn diese bestehen für Kinofilme kaum mehr.855 Die EU hat sie bereits im Jahr 1965 abgeschafft.856 Art. III:10 und Art. IV GATT gelten auch nur für Kinofilme. Die teilweise vorgeschlagene Anwendung dieser Ausnahmebestimmung auch auf Fernsehprogramme ist abzulehnen.857 Dagegen kann der klare Wortlaut des Art. IV GATT, der von Kinofilmen spricht, angeführt werden. Also würde eine solche weite Auslegung dieser Ausnahmebestimmung, die unter Kinofilmen auch Fernsehprogramme fasst, ein Verstoß gegen Art. 3.2 DSU und Art. 19.2 DSU darstellen, die es den Streitbeilegungsgremien verbieten die Rechte und Pflichten der WTO-Mitglieder zu ergänzen oder zu beschränken. Art. III:10 und Art. IV GATT verdanken ihrer Entstehung den Umstand, dass bei der Abfassung des GATT viele der damaligen Vertragsparteien die Möglichkeit ihre heimische Filmproduktion vor Hollywoodfilmen und die Zuschauer vor US-amerikanischen Einfluss zu schützen, als anderenfalls nicht ausreichend erachteten.858 Durch diese Ausnahmebestimmung sollten also Kinofilme als kulturelle Ausdrucksform geschützt werden. Diese Vorschriften sind jedoch heute nicht mehr von großer Bedeutung, da Vorführquoten für Kinos heute kaum noch von Bedeutung sind. In der EU wurden sie z. B. bereits im Jahr 1965 abgeschafft.859 Das WTO-Recht enthält daher keine generelle Rechtfertigung für den Schutz kultureller Interessen.860 Daher fallen andere Waren als Kinofilme, die ebenfalls einen kulturellen Bezug haben, in den Anwendungsbereich der Verpflichtungen aus dem GATT, soweit eine Rechtfertigungsmöglichkeit nach Art. XX lit. a) oder lit. f) GATT ausscheidet. Also kann eine handelsbeschränkende Maßnahme zum Schutz kultureller Interessen mangels einer entsprechenden Ausnahmebestimmung grundsätzlich nicht gerechtfertigt werden. 854  Seelmann-Eggebert,

S. 81. auch Hilf / Oeter, § 35 Rn. 23 (Theune); Cottier, ZUM 1994, 749, 750, 856  Richtlinie 65 / 264 v. 13.05.1965, S. 1437. 857  So v. Bogdandy, EuZW 1992, 9, 16. 858  Seelmann-Eggebert, S. 82. 859  Hilf / Oeter, 35 Rn. 21 (Theune). 860  Vgl. auch Hahn, S. 223. 855  Vgl.

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C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

c) Vergleich Im EU-Recht stellen kulturelle Interessen ein „zwingendes Erfordernis“ i. S. d. Cassis-Formel dar. Allerdings harren sie noch ihrer expliziten Anerkennung durch den EuGH. Im WTO-Recht besteht hingegen keine Ausnahmebestimmung zum Schutz von kulturellen Interessen. Lediglich Art. XX lit. a) und lit. f) GATT können Rechtfertigungsmöglichkeiten für einige sehr begrenzte kulturelle Interessen darstellen. Und die Ausnahmebestimmung für Kinofilme hat keine praktische Bedeutung erlangt. Anders als im EURecht gibt es daher im WTO-Recht nur eine sehr begrenzte Möglichkeit den Warenhandel mit den Zielen nationaler Kulturpolitiken abzuwägen. Der Grund dafür, dass eine Ausnahmebestimmung zum Schutz kultureller Interessen im WTO-Recht nicht besteht und ihre Schaffung auch sehr unwahrscheinlich ist, kann aber insbesondere auf die ökonomische Interessenslage der USA zurückgeführt werden. In Bezug auf die Produktion von Filmen und Musik sind die USA eindeutig Weltmarktführer. Die Unterhaltungsindustrie ist daher einer der größten Exportindustrien der USA. Dementsprechend vertreten die USA die Ansicht, dass die üblichen Handelsregelungen auch in diesem Bereich Geltung finden sollen.861 Hingegen vertreten die EU, insbesondere unter den Einfluss Frankreichs, sowie Kanada, welche beide immer besonders ihre Unterhaltungsindustrie unterstützt haben,862 hier eine fundamental andere Haltung. Denn sie betrachten die Unterhaltungsindustrie als einen wichtigen Bestandteil ihrer nationalen Identität. Außerdem fällt ein großer Teil des Handels der kulturelle Interessen betrifft, unter die Verpflichtungen aus dem GATS, da es sich nicht um Waren, sondern um Dienstleistungen handelt, wie etwa das Fernsehen. Im Rahmen der GATS müssen die WTO-Mitglieder jedoch nach Art. II:1 GATS nur in dem Maße ihren Handel in Dienstleistungen liberalisieren, wie sie sich hierzu verpflichtet haben. Die EU hat hiervon hinsichtlich kultureller Belange im großen Maße Gebrauch gemacht.863 Abschließend stellt sich die Frage, ob ein Bedarf und eine Notwendigkeit für die Schaffung einer solchen Ausnahmebestimmung zum Schutz kultureller Interessen im Warenhandel auf Ebene der WTO bestehen. Ausnahmebestimmungen zum Schutz kultureller Interessen dienen den Zweck die nationale Identität und die eigenen Lebensformen zu bewahren. Außerdem beeinflusst die Unterhaltungsindustrie die kulturelle Identität und die Lebensformen einer Gesellschaft. Deshalb handelt es sich hierbei um legitime Schutzziele, die grundsätzlich unterstützenswert sind. Allerdings dürfen wirt861  Footer / Graber,

JIEL 2000, 115, 119. S. 32. 863  Vgl. Hahn, ZaÖRV 1996, 315, 317. 862  Folsom,



V. Ausnahmebestimmungen im EU-Recht345

schaftliche Interessen nicht völlig ausgeklammert werden, da durch eine solche Ausnahmebestimmung auch die inländische Unterhaltungsindustrie profitieren würde. Außerdem wird der technische Zugang zu Waren mit kulturellem Inhalt für den interessierten Verbraucher aufgrund des technischen Fortschritts wie dem Internet, DVDs oder dem Satellitenfernsehen immer einfacher. Selbst autoritäre Staaten wie China oder der Iran können deshalb den Zugang zu Waren mit kulturellem Inhalt kaum erfolgreich regulieren und einschränken. Außerdem haben sich Kulturen im Laufe der Zeit immer geändert und es ist auch nicht davon auszugehen, dass verschiedene Kulturen im Zuge der Globalisierung von einer amerikanischen „Lawine“ begraben werden. Deshalb ist eine Rechtfertigungsmöglichkeit für handelsbeschränkende Maßnahmen, die sich gegen Waren mit kulturellem Inhalt richten, abzulehnen. Im Übrigen steht es den einzelnen WTO-Mitgliedern auch frei die einheimische Kulturindustrie im Rahmen eines Förderprogramms zu unterstützen. Ein solches allgemeines Förderprogramm verstößt bei entsprechender Ausgestaltung auch nicht gegen das ÜSCM.864 Dem einheimischen Publikum bleibt es dann überlassen, darüber zu entscheiden welche Waren mit kulturellem Inhalt es konsumieren möchte. Aus diesen Gründen ist eine Ausnahmebestimmung zum Schutz kultureller Interessen im WTO-Recht abzulehnen. 7. Andere Ausnahmebestimmungen Der EuGH hat zudem weitere „zwingende Erfordernisse“ und „objektive Kriterien“ anerkannt, für die es auf Ebene der WTO kein Äquivalent gibt. So hat der EuGH als „zwingende Erfordernisse“ i. S. d. Cassis-Formel, welche Beeinträchtigungen der Warenverkehrsfreiheit rechtfertigen, bislang den Schutz der öffentlichen Gesundheit, eine wirksame steuerliche Kontrolle, die Lauterkeit des Handelsverkehrs, den Schutz der Finanzierung der Sozialversicherungssysteme, den ordnungsgemäßen Betrieb eines öffentlichen Kommunikationsnetzes, die Sicherung der Nahversorgungsbedingungen in relativ abgelegenen Gebieten eines EU-Mitgliedstaates und den Schutz landesweiter oder regionaler sozialer und kultureller Besonderheiten anerkannt. Als sonstige „objektive Kriterien“ wurden vom EuGH die Förderung der regionalen Entwicklung und die Förderung der Landwirtschaft anerkannt. Nicht alle diese Ausnahmebestimmungen hat der EuGH explizit als „zwingende Erfordernisse“ oder „objektive Kriterien“ bezeichnet. Aus den Entscheidungen wird aber deutlich, dass diese verschiedenen legitimen Schutzziele als solche einzustufen sind. 864  Vgl. Hilf / Oeter, § 35 Rn. 21 (Theune) zur Vereinbarkeit allgemeiner Kulturförderprogramme mit dem ÜSCM.

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C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

In der Entscheidung Cassis de Dijon hat der EuGH den Schutz der öffentlichen Gesundheit als ein „zwingenden Erfordernis“ anerkannt.865 Allerdings stellt schon die Ausnahmebestimmung des Art. 36 AEUV zum Schutz des Lebens und der Gesundheit von Menschen auf den Schutz eines ähn­ lichen legitimen Schutzzieles ab. Daher ist die Ausnahmebestimmung zum Schutz der öffentlichen Gesundheit nur relevant, wenn es um Beeinträchtigungen der Warenverkehrsfreiheit durch Maßnahmen geht, die keinen Bezug zum individuellen Gesundheitsschutz haben, sondern etwa der Funktionsfähigkeit oder Verbesserung des Systems des öffentlichen Gesundheitsschutzes diesen.866 Der Anwendungsbereich dieser Ausnahmebestimmung ist daher sehr begrenzt. Ebenfalls sehr begrenzt ist der Anwendungsbereich der Ausnahmebestimmung des „zwingenden Erfordernisses“ einer wirksamen steuerlichen Kontrolle. Dieses wurde vom EuGH an erster Stelle unter den „zwingenden Erfordernissen“ der Cassis-Formel genannt.867 Steuerliche Maßnahmen fallen jedoch insbesondere in den Anwendungsbereich des Art. 90 AEUV.868 Andere steuerliche Maßnahmen, die auf den Vertrieb einer Ware abzielen, stellen schon aufgrund der Keck-Rechtsprechung keine Beeinträchtigung der Warenverkehrsfreiheit dar,869 so dass sie auch keine Ausnahmebestimmung benötigen. Dementsprechend hat das „zwingende Erfordernis“ einer wirksamen steuerlichen Kontrolle bislang keine praktische Bedeutung erlangt. Im Übrigen haben sich bislang mehrere WTO-Mitglieder, wenn im konkreten Fall auch erfolglos, unter Berufung auf das legitime Schutzziel einer effektiven Besteuerung auf die Ausnahmebestimmung des Art. XX lit. d) GATT berufen.870 Hieran wird deutlich, dass dieses legitime Schutzziel durchaus eine Rechtfertigungsmöglichkeit im WTO-Recht finden kann. Auch die Ausnahmebestimmung des „zwingenden Erfordernisses“ zum Schutz der Lauterkeit des Handelsverkehrs wurde vom EuGH bereits in der Entscheidung Cassis de Dijon anerkannt.871 Mangels einer klaren Trennlinie vermischt sich der Anwendungsbereich dieses „zwingenden Erfordernisses“ teilweise mit dem Anwendungsbereich des „zwingenden Erfordernisses“ des 865  EuGH Urt v. 20.02.1979, Rs. 20  / 78, Rewe-Zentrale AG v. Bundesmonopol­ verwaltung für Branntwein (Cassis de Dijon), Slg. 1979, 649, 662, Rn. 8. 866  Frenz, Rn. 1001. 867  EuGH Urt v. 20.02.1979, Rs. 20  / 78, Rewe-Zentrale AG v. Bundesmonopol­ verwaltung für Branntwein (Cassis de Dijon), Slg. 1979, 649, 662, Rn. 8. 868  Vgl. B.II.2. zum Anwendungsbereich des Art. 110 AEUV. 869  Vgl. B.III.2. zur Keck-Rechtsprechung. 870  Vgl. C.III.4.a)aa)(1)(bb). 871  EuGH Urt v. 20.02.1979, Rs. 20  / 78, Rewe-Zentrale AG v. Bundesmonopol­ verwaltung für Branntwein (Cassis de Dijon), Slg. 1979, 649, 662, Rn. 8.



V. Ausnahmebestimmungen im EU-Recht347

Verbraucherschutzes.872 Beide Ausnahmebestimmungen können auch nebeneinander angewendet werden, sie unterschieden sich jedoch darin, dass sich der Schutz der Lauterkeit des Handelsverkehrs auf alle Wirtschaftsteilnehmer bezieht, während der Verbraucherschutz auf die privaten und wirtschaftlich unterlegenen Wirtschaftsteilnehmer abzielt.873 Die Ausnahmebestimmung zum Schutz der Lauterkeit im Handelsverkehr rechtfertigt die Beeinträchtigung der Warenverkehrsfreiheit, wenn dies zur Anwendung von guten und redlichen Handelsbräuchen, etwa der guten Handelssitten geschieht.874 Der Ausnahmebestimmung des „zwingenden Erfordernisses“ zum Schutz der Finanzierung der Sozialversicherungssysteme räumt der EuGH eine besondere Bedeutung ein, so dass hierdurch auch diskriminierende handelsbeschränkende Maßnahmen gerechtfertigt werden können.875 Dies ist ein Ausdruck der Zurückhaltung, die der EuGH den Sozialsystemen der EU-Mitgliedstaaten gegenüber pflegt. Diese Zurückhaltung ist darauf zurückzuführen, dass die Sozialsysteme in den Gesellschaften der EU-Mitgliedstaaten eine besonders wichtige Funktion wahrnehmen und ihre Finanzierung durchgehend problematisch ist. Aufgrund der völlig unterschiedlichen Struktur der Sozialsysteme in den einzelnen EU-Mitgliedstaaten und mangelnden politischen Willen ist eine Integration in diesem Bereich aber kaum möglich. Die Ausnahmebestimmung des „zwingenden Erfordernisses“ zum Schutz des ordnungsgemäßen Betriebs eines öffentlichen Kommunikationsnetzes rechtfertigte Zulassungserfordernisse für die Teilnahme von Telekommunikationsgeräten sowie Funksende- und Empfangsgeräte an öffentlichen Kommunikationsnetzen.876 Auch die Ausnahmebestimmung des „zwingenden Erfordernisses“ zur Sicherung der Nahversorgungsbedingungen in relativ abgelegenen Gebieten eines EU-Mitgliedstaates kann Beeinträchtigungen der Warenverkehrsfreiheit rechtfertigen. Daher können grundsätzlich Lebensmittelhändlern gewisse Auflagen gemacht werden.877 872  Vgl.

Recht.

C.V.5.a) zur Ausnahmebestimmung des Verbraucherschutzes im EU-

873  Ahlfeld,

S.  99 ff.; Frenz, Rn. 1003. Urt v. 22.01.1981, Rs. 58 / 80, Dansk Supermarked A / S . / . A / S Imerco, Slg. 1981, 181, 195, Rn. 18. 875  Vgl. C.II.3.d) und EuGH Urt v. 28.04.1998, Rs. C-120 / 95, Decker . / . Caisse de Maladie des Employés Privé, Slg. 1998, I-1831, 1884, Rn. 39. 876  EuGH Urt. v. 13.12.1991, Rs.  C-18  /  88, GB-Inno-BM (Fernsprechgeräte), Slg. 1991, I-5941, 5983, Rn. 31; EuGH Urt. v. 27.10.1993, verb. Rs. C-46 / 90 und 93 / 91, Procureur du Roi . / . Lagauche u. a., Slg. 1993, I-5267, 5328, Rn. 25. 877  EuGH Urt. v. 13.01.2000, Rs. C-254  /  98, Schutzverband gegen unlauteren Wettbewerb . / . TK-Heimdienst, Slg. 2000, I-151, 172., Rn. 34. 874  EuGH

348

C. Vergleich der Ausnahmebestimmungen in WTO- und EU-Recht

Schließlich rechtfertigte die Ausnahmebestimmung des „zwingenden Erfordernisses“ zum Schutz landesweiter oder regionaler sozialer und kultureller Besonderheiten ein sonntägliches Verkaufsverbot.878 Aufgrund der Keck-Rechtsprechung würde ein sonntägliches Verkaufsverbot heute jedoch nicht mehr als eine Beeinträchtigung der Warenverkehrsfreiheit angesehen werden, so dass ein Anwendungsbereich für diese Ausnahmebestimmung kaum noch gegeben sein dürfte. Neben diesen vom EuGH bislang anerkannten „zwingenden Erfordernisse“ hat der EuGH auch verschiedene „objektive Kriterien“ anerkannt, die bisher nicht dargestellt wurden. Die Ausnahmebestimmung des „objektiven Kriteriums“ zur Förderung der regionalen Entwicklung rechtfertigte eine indirekt diskriminierende Besteuerung durch die die Förderung der Qualitätserzeugung in Gegenden mit besonders schwierigen landwirtschaftlichen Bedingungen erreicht werden sollte.879 Ob die Ausnahmebestimmung des „objektiven Kriteriums“ zur Förderung der Landwirtschaft überhaupt besteht, ist allerdings fraglich.880 Der EuGH hat zwar eine indirekt diskriminierende Besteuerung, durch die die Erzeugung von Alkohol aus landwirtschaftlichen Erzeugnissen begünstigt wurde, gerechtfertigt.881 Allerdings hat der EuGH auch darauf abgestellt, dass durch diese Besteuerung primär Erdölprodukte für wichtigere Verwendung genutzt werden können. Daneben kommt auch eine Rechtfertigung durch die „objektiven Kriterien“ zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und zur Erhaltung erschöpflicher Naturschätze in Betracht.882 Daher ist fraglich, ob der EuGH eine indirekt diskriminierende Besteuerung alleine durch ein „objektives Kriterium“ zur Förderung der Landwirtschaft rechtfertigen würde. Dagegen spricht, dass alleine die Förderung der Landwirtschaft eher als ein wirtschaftlicher Beweggrund und weniger als ein legitimes Schutzziel des Allgemeininteresses einzustufen ist. Dieser Katalog an „zwingenden Erfordernissen“ und „objektiven Krite­ rien“ ist nicht abschließend. Es ist daher zu erwarten, dass der EuGH auch 878  EuGH Urt. v. 23.11.1989, Rs. 145  / 88, Torfaen Borough Council . / . B & Q plc, Slg. 1989, 3851, 3889, Rn. 14. 879  EuGH Urt. v. 07.04.1987, Rs. 196 / 85, Kommission . / . Frankreich, Slg. 1987, 1597, 1615 ff., Rn. 7–9. 880  So aber Bernard, S. 54. 881  EuGH Urt. v. 14.01.1981, Rs. 140  / 79, Chemical Farmateuci S.p.A. . / . DAF S.p.A, Slg. 1981, 1, 14, Rn. 13. 882  Vgl. C.III.5.b)bb) zum „objektive Kriterium“ zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und C.IV.3.c) zum „objektive Kriterium“ zur Erhaltung erschöpflicher Naturschätze.



V. Ausnahmebestimmungen im EU-Recht349

zukünftig weitere Ausnahmebestimmungen anerkennen wird, die auf legitimen Schutzzielen beruhen, wenn sich hierfür ein Bedarf ergibt. Für diese zahlreichen durch den EuGH entwickelten Ausnahmebestimmungen finden sich im WTO-Recht keine Äquivalente. Zunächst ist die Erklärung hierfür sicherlich darin zu suchen, dass die Streitbeilegungsgremien, anders als der EuGH aufgrund der Art. 3.2 und Art. 19.2 DSU keine Möglichkeit haben, neue Ausnahmebestimmungen zu entwickeln. Außerdem steht den WTO-Mitgliedern nach Art. XX lit. d) GATT die Möglichkeit offen legitime Schutzziele mittels GATT-widrigen Maßnahmen umzusetzen, solange hierdurch Gesetze oder sonstige Vorschriften angewendet werden, die selber nicht GATT-widrig sind. Schließlich ist für die allermeisten der in diesen Abschnitt behandelten Ausnahmebestimmungen schon aufgrund der wesentlich geringeren Regelungstiefe des WTO-Rechts im Vergleich zum EU-Recht kein Bedarf oder eine Notwendigkeit auf Ebene der WTO ersichtlich. Denn auf Ebene der WTO gilt nur ein grundsätzliches Diskriminierungsverbot, während auf Ebene der EU ein Beschränkungsverbot gilt. Außerdem fallen die Wirtschaftsbereiche, in denen die Ausnahmebestimmungen zum Schutz des ordnungsgemäßen Betriebs eines öffentlichen Kommunikationsnetzes, dem Schutz landesweiter oder regionaler sozialer und kultureller Besonderheiten, die Lauterkeit des Handelsverkehrs oder die Sicherung der Nahversorgungsbedingungen in relativ abgelegenen Gebieten angewandt werden können, auf Ebene der WTO teilweise eher in den Anwendungsbereich der GATS. Hier können die WTO-Mitglieder selber entscheiden, inwieweit sie den Handel mit Dienstleistungen liberalisieren wollen. Ebenso betrifft eine Ausnahmebestimmung zum Schutz der Finanzierung der Sozialversicherungssysteme insbesondere vom GATS geregelte Bereiche. So hat Indien während der Verhandlungen zum GATS gefordert, dass im Rahmen von Dienstleistungen entsendete ausländische Arbeitnehmer auch von der Sozialversicherungspflicht befreit werden können. Den liberalisierte Warenhandel betrifft diesen Bereich hingegen kaum. Die Ausnahmebestimmung zum Schutz einer wirksamen steuerlichen Kontrolle hat sich hingegen schon auf Ebene der EU kaum als praktisch relevant erwiesen. Dies gilt auch – bei Ziehung einer klaren Trennlinie zum individuellen Gesundheitsschutz – für die Ausnahmebestimmung zum Schutz der öffentlichen Gesundheit. Darüber hinaus verkörpern die Ausnahmebestimmungen zur Förderung der regionalen Entwicklung und die Förderung der Landwirtschaft insbesondere wirtschaftliche Interessen. Daher besteht kein Bedarf Ausnahmebestimmungen zu schaffen, die nicht primär legitime Schutzziele verfolgen.

D. Resümee Der Vergleich der Reichweite der Warenverkehrsfreiheit und des liberalisierten Warenhandels (B) hat gezeigt, dass das EU-Recht eine wesentlich größere Auswirkung auf den EU-Mitgliedstaat hat, als dies dem WTO-Recht innerhalb der Rechtsordnung des WTO-Mitgliedes zukommt. So sind weite Teile des EU-Rechts, darunter die Bestimmungen über die Warenverkehrsfreiheit unmittelbar anwendbar. Dem WTO-Recht kommt eine solche unmittelbare Wirkung hingegen nicht zu. Auch sind die Sanktionsmöglichkeiten bei GATT-widrigen Verhalten in Form der Ausgleichs- und Abhilfemaßnahmen wesentlich weniger effektiv als auf Ebene der EU. Jedenfalls wirtschaftlich mächtige WTO-Mitglieder können es sich auch erlauben diese hinzunehmen. Denn gerade kleinere Entwicklungs- und Schwellenländer werden wegen ihres geringen Handelsvolumens kaum in der Lage sein, ihre durch die Streitbeilegungsgremien bestätigte Position gegen WTO-Mitglieder wie die EU, Japan oder die USA mittels Gegenmaßnahmen durchsetzen zu können. Außerdem sind die Handelshemmnisse im Warenhandel zwischen den EUMitgliedstaaten nahezu beseitigt, während im Warenhandel zwischen den WTO-Mitgliedern nicht nur Zölle weiterhin einschränkende Handelshemmnisse darstellen. Zudem ist innerhalb der WTO die weit reichende Liberalisierung im Warenhandel nicht durch eine Erodierung handelsbeschränkender Maßnahmen durch die Streitbeilegungsgremien zustandegekommen, sondern durch vertragliche Übereinkommen zwischen den Mitgliedern, welche Zölle zwar erlauben, jedoch fortschreitend senken, mengenmäßige Beschränkungen und steuerliche Diskriminierungen grundsätzlich verbieten, das Prinzip der Meistbegünstigung zur Geltung bringen und strenge Voraussetzungen an andere handelsbeschränkende Maßnahmen knüpfen. Innerhalb der EU wurde hingegen eine Vielzahl von Handelshemmnissen durch die Rechtsprechung des EuGH beseitigt. Zudem dringt das EU-Recht aufgrund seiner größeren Regelungsintensität in sehr viel mehr Bereiche ein und beeinflusst diese. Durch die größere Regelungstiefe des EU-Rechts drohen innerhalb der EU-Mitgliedstaaten Normen zu erodieren, durch die innerstaatlich legitime Schutzziele gewährleistet werden. So gewährt die „Dassonville-Formel“ allen Waren aus anderen EU-Mitgliedstaaten grundsätzlich erst einmal einen freien Marktzugang. Eine solche Regelungstiefe kommt dem WTO-Recht nicht zu. Normen, die innerstaatliche Sachverhalte regeln, ohne dabei zwischen eingeführten und inländischen Waren zu diskriminieren, sind grundsätzlich nicht in der Ge-



D. Resümee351

fahr mit dem WTO-Recht in Konflikt zu geraten. Auf Ebene der WTO können nur solche innerstaatliche Regelungen GATT-widrig sein, die zwischen „gleichartigen“ in- und ausländischen Waren unterscheiden. Auf Ebene der EU besteht also ein Beschränkungsverbot, während auf Ebene der WTO nur ein Diskriminierungsverbot Anwendung findet. Dieser Unterschied in der Reichweite der Warenverkehrsfreiheit und des liberalisierten Warenhandels sowie der erheblich höhere Grad der Rechtsunterworfenheit machen sich auf Ebene der Ausnahmebestimmungen bemerkbar, wie im Abschnitt C gezeigt wurde. So dienen die Ausnahmebestimmungen auf Ebene der EU in erster Linie dazu, die eigenen Standards halten zu können. Eigene Standards sind für WTO-Mitglieder hingegen nur dann in Gefahr, wenn Waren als „gleichartig“ eingestuft werden, wie dies bei hormonbehandelten Rindfleisch der Fall ist oder bei Fleisch von Nachkommen geklonter Tiere sowie gentechnisch veränderter Waren der Fall sein könnte. Stattdessen ist auf Ebene der WTO die Frage aktuell, ob Ausnahmebestimmungen genutzt werden können, um anderen WTO-Mitgliedern die eigenen oder jedenfalls höhere Standards aufzuerlegen. Daher ist es im WTO-Recht von großer Bedeutung und stark umstritten, ob auch einzelnen Ausnahmebestimmungen eine extraterritoriale Anwendungsmöglichkeit haben. Innerhalb der EU spielt diese Diskussion kaum eine Rolle. Dieser Unterschied hinsichtlich der extraterritorialen Anwendungsmöglichkeit lässt sich jedoch damit erklären, dass innerhalb der EU-Mitgliedstaaten aufgrund ähnlicher wirtschaftlichen, sozialen und gesellschaftlichen Ausgangsbedingungen sowie durch die gemeinschaftsrechtliche Harmonisierung grundsätzlich vergleichbare Standards bestehen. Zwischen den WTO-Mitgliedern bestehen jedoch hinsichtlich der Schutzstandards große Differenzen. Dennoch ist grundsätzlich mit Ausnahme des „Spiels über Bande“, des Art. XX lit. e) GATT oder einer noch zu schaffenden Ausnahmebestimmung für den Umweltschutz eine extraterritoriale Anwendungsmöglichkeit der Ausnahmebestimmungen des Art. XX GATT abzulehnen. Nicht nur ist die Gefahr groß, dass handelsbeschränkende Maßnahmen unter dem Vorwand des Schutzes legitimer Schutzziele zu protektionistischen Zwecken missbraucht werden könnten, auch würde eine solche extraterritoriale Anwendungsmöglichkeit zu einer Überforderung der WTO führen. Letztendlich darf nämlich nicht vergessen werden, dass die WTO organisatorisch vor allem drei Aufgaben hat: Sie beaufsichtigt Gespräche über Handelsfragen, sie verfügt über ein kleines Sekretariat, das dem Generaldirektor und verschiedenen Fachausschüssen zuarbeitet und Streifragen prüft, ehe sich die Unterhändler der WTO-Mitglieder zusammensetzen, und sie verfügt über ein Streitbeilegungssystem, das auf der Grundlage der Abkommen unter dem WTO-Übereinkommen, über Beschwerden entscheidet, die von WTO-Mitgliedern eingereicht wurden. Die Lösung anderer, wenn

352

D. Resümee

auch sehr wichtiger, Probleme, würde die eigentliche Aufgabe der WTO – eine fortschreitende Handelsliberalisierung – beträchtlich erschweren. Eine fortschreitende Handelsliberalisierung ermöglicht jedoch gerade einen weltweit wachsenden Wohlstand, der wiederum dazu beitragen kann, als zu gering empfundene Standards zu erhöhen. Daher sind auf Art. XX GATT gestützte handelsbeschränkende Maßnahmen zum Schutze extraterritorialer Schutzziele grundsätzlich abzulehnen. Dies gilt auch vor dem Hintergrund, dass solche handelsbeschränkende Maßnahmen durchaus erfolgreich sein können. So kommt eine Studie, die 115 Fälle von Handelssanktionen über einen Zeitraum von 40 Jahren untersucht, zu dem Ergebnis, dass diese Sanktionen in 34 % der Fälle erfolgreich waren.1 Dennoch ist die Gefahr letztlich größer, dass solche handelsbeschränkenden Maßnahmen mehr Schaden anrichten, als dass sie Gutes tun. Hinzukommt, dass durch eine extraterritoriale Anwendung von Rechtfertigungsmöglichkeiten für legitime Schutzziele, anderen ärmeren Staaten Standards aufgezwungen werden, die häufig für diese weder angemessen sind, noch nach ihrer eigenen Auffassung erstrebenswert sind. Wobei anzumerken ist, dass diese Auffassungen in vielen Fällen in demokratisch bestimmten innenpolitischen Prozesses der Meinungsbildung zustande gekommen sind. Im Übrigen ist eine positive Kennzeichnung von Waren, bei deren Herstellung gewisse Standards, z. B. ökologische oder soziale Mindestbedingungen, eingehalten wurden, oftmals der effektivere Weg als die Verhängung handelsbeschränkender Maßnahmen. Effektiver kann es auch sein, ärmere Staaten dabei zu unterstützen Standards zu erreichen, die auch von reicheren Staaten als angemessen empfunden werden. Letztlich darf auch die protektionistische Missbrauchsgefahr einer Rechtfertigungsmöglichkeit für extraterritoriale Schutzziele nicht vergessen werden. Denn hierbei besteht immer die Möglichkeit, dass Standards absichtlich so hoch gesetzt werden, dass ausländische Hersteller diese nur unter großen Unkosten gewährleisten können und so ihre Konkurrenzfähigkeit verlieren. Die Untersuchung der Ausnahmebestimmungen im Recht von WTO und EU hat zudem gezeigt, dass auf Ebene der WTO zahlreiche Ausnahmebestimmungen ohne Äquivalent bestehen, die auf wirtschaftlichen Gründen beruhen, während auf Ebene der EU zahlreiche Ausnahmebestimmungen ohne Äquivalent bestehen, die auf legitimen Schutzzielen beruhen. Daher bestehen im EU-Recht wesentlich mehr Möglichkeiten als im WTO-Recht den Handel einzuschränken, um soziale, ökologische oder andere als gesellschaftlich bedeutend einzustufende legitime Schutzziele zu verfolgen. Daher finden sich für Ausnahmebestimmungen zum Schutze wichtiger legitimer Schutzziele wie dem Umweltschutz, der Menschenrechte, dem Wohlbefin1  Trebilcock / Howse,

The Regulation of International Trade, S. 450.



D. Resümee353

den der Tiere, der Gewährleistung der medizinischen Grundversorgung, dem Schutz der Arbeitsbedingungen oder dem Verbraucherschutz sowie dem Schutz kultureller Interessen keine oder keine ausreichenden Äquivalente auf Ebene der WTO. Auf Ebene der WTO kann dagegen auf verschiedene Ausnahmebestimmungen zurückgegriffen werden, um den liberalisierten Warenhandel aus wirtschaftlichen Gründen einzuschränken. Auf Ebene der EU bestehen als Ausnahmebestimmung, die auf wirtschaftlichen Gründen beruht, nach dem Auslaufen der Ausnahmebestimmung für Schutzklauseln jedoch nur die Ausnahmebestimmung zum Schutz vor einer plötzlichen Zahlungsbilanzkrise des Art. 12“ AEUV, ein vom EuGH geschaffenes „objektiven Kriterium“ zur Förderung der Landwirtschaft bei dem auch noch zweifelhaft ist, ob dieses nicht auch aufgrund legitimer Schutzziele geschaffen wurde, sowie verschiedene Ausnahmebestimmungen in der Subventionskontrolle. Hinsichtlich der auf Ebene der WTO bestehenden zahlreichen Ausnahmebestimmungen, die auf wirtschaftlichen Gründen beruhen und die kein Äquivalent im EU-Recht haben, kann zur Erklärung angeführt werden, dass aufgrund der großen wirtschaftlichen Integrationskraft die es entfaltet, im EU-Recht keine Legitimation für eine Ausnahmebestimmung, die auf wirtschaftlichen Erwägungen beruht, mehr gegeben ist. Eine Einführung von Ausnahmebestimmungen, die auf wirtschaftlichen Erwägungen beruhen, im EU-Recht ist daher abzulehnen. Außerdem sollten sie im WTO-Recht einer stärkeren Kontrolle unterworfen werden. Gerade in Zeiten wirtschaftlicher Schwierigkeiten sind diese Ausnahmebestimmungen besonders anfällig für einen protektionistischen Missbrauch. Hingegen lassen sich die Unterschiede hinsichtlich der legitimen Schutzziele zum einen damit erklären, dass alle diese Ausnahmebestimmungen zum Schutze legitimer Schutzziele ohne Äquivalent im WTO-Recht vom EuGH entwickelt wurden. Dieser riss durch seine Rechtsprechung zahlreiche handelsbeschränkende Maßnahmen zwischen den EU-Mitgliedstaaten nieder. Gleichzeitig musste der EuGH erkennen, dass Art. 36 AEUV alleine nicht ausreichte um alle legitimen Schutzziele zu rechtfertigen, die einer Rechtfertigung bedürfen. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass das EU-Recht eine sehr große Auswirkung auf die Rechtsordnung der EUMitgliedstaaten hat, denn es ist bei Erfüllung bestimmter Voraussetzungen direkt anwendbar. Außerdem können gegen die Mitgliedstaaten, die EURecht verletzen, Sanktionen angewendet werden. Der Handlungsspielraum zum Schutz legitimer Schutzziele, der den demokratisch legitimierten Regierungen und Parlamente der EU-Mitgliedstaaten zustehen würde, wäre daher ohne das vom EuGH entwickelte System an Ausnahmebestimmungen sehr gering. Im WTO-Recht kann hingegen die Anerkennung weiterer legi-

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D. Resümee

timer Schutzziele grundsätzlich nur durch eine Vertragsänderung oder eine verbindliche Interpretation von Seiten der WTO-Mitglieder erfolgen. Das würde aber bedeuten, dass WTO-Mitglieder, die derzeit einen komparativen Vorteil dadurch erlangen, dass sie gewisse legitime Schutzziele nicht oder nicht ausreichend beachten, bereit sein müssten, auf diese Vorteile, die auf unterschiedlichen Schutzstandards beruhen, zu verzichten. Zum anderen erklären aber auch die unterschiedlichen Möglichkeiten des Rechtsschutzes in beiden Rechtsordnungen den Umstand, dass das EU-Recht wesentlich mehr Ausnahmebestimmungen aufzuweisen hat. Zum einen sind die Streitbeilegungsorgane der WTO in der Rechtsfortbildung beschränkt. Einem sog. „judicial-activism“ müssen sie sich enthalten. Dies folgt aus Art. 3.2 und Art. 19.2 DSU, die es den Streitbeilegungsgremien verbieten die Rechte und Pflichten der WTO-Mitglieder zu ergänzen oder zu beschränken. Zum anderen ist der Zugang zum EuGH wesentlich einfacher als zu den Streitbeilegungsgremien der WTO. So ist die Möglichkeit als Partei an einem Streitbeilegungsverfahren teilzunehmen, auf die WTO-Mitglieder beschränkt. Diese leiten aber schon aus politischen Gründen in vielen Fällen kein Streitbeilegungsverfahren ein. Hingegen steht auch Ebene der EU der Zugang zum EuGH nicht nur EU-Mitgliedstaaten oder der Kommmission offen, sondern grundsätzlich auch Personen des Privatrechts. Bezeichnenderweise beruhen die allermeisten der hier behandelten Entscheidungen auf dem Vorlageverfahren nach Art. 267 AEUV, gefolgt von einem durch die Kommission angestrengten Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 AEUV. Äquivalente zu diesen Klagearten bestehen im Streitbeilegungssystem der WTO nicht. Daher haben die Streitbeilegungsgremien oftmals schon mangels an sie herangetragener Fälle nicht die Gelegenheit, die bestehenden Ausnahmebestimmungen in einer Weise auslegen, die einen größeren Schutz legitimer Schutzziele ermöglichen würde. Außerdem haben der deutlich kleinere Mitgliederkreis, eine Werteübereinstimmung, die sich aus einem gemeinsamen kulturellen Erbe ergibt, der politische Ansatz und die wesentlich stärkere demokratische Legitimation der EU dazu geführt, dass innerhalb der EU bei der Abwägung zwischen legitimen Schutzzielen und den Warenhandel, den legitimen Schutzzielen wesentlich mehr Gewicht eingeräumt wird. Auf Ebene der WTO sehen gerade die weniger entwickelten WTO-Mitglieder in den legitimen Schutzzielen Behinderungen ihrer Entwicklung, während die industrialisierten WTOMitglieder diese teilweise auch zum Schutz ihrer bereits entwickelten Wirtschaft verfolgen. Da das WTO-Recht in der Anerkennung von im GATT nicht enthaltenen legitimen Schutzzielen deutlich beschränkt ist, ist ein Ausgleich zwischen den liberalisierten Warenhandel und legitimen Schutzzielen, die im GATT nicht enthalten sind, wie den Menschenrechten, sozia­ len Mindestbedingungen, Verbraucherschutz oder Kultur, im WTO-Recht



D. Resümee355

nur schwierig zu erreichen. Der EU steht darüber hinaus die Möglichkeit offen durch Sekundärrecht einen Ausgleich zwischen der Warenverkehrsfreiheit und legitimen Schutzzielen zu treffen. Dies ist auf Ebene der WTO hingegen nicht möglich. All diese Argumente erklären, dass verschiedene legitime Schutzziele nur im EU-, aber nicht im WTO-Recht ihre Anerkennung finden. Die Untersuchung hat aber gezeigt, dass insbesondere bei handelsbeschränkenden Maßnahmen zum Schutz der Menschenrechte und der Umwelt, dem Wohlbefinden der Tiere oder der Gewährleistung medizinischer Grundversorgung ein Bedarf an entsprechenden Ausnahmebestimmungen besteht. Zum besseren Schutz des legitimen Schutzziels der menschlichen Gesundheit i.  S.  d. Art. XX lit. b) GATT sollte außerdem erwogen werden, Beweiserleichterungen in Form des im EU-Recht geltenden Vorsorgeprinzips anzuerkennen. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass davon auszugehen ist, dass dem WTO-Recht in Zuge zukünftiger Handelsliberalisierungen ein noch größeres Gewicht zukommen wird. Schon jetzt ist die Regelungsdichte des WTO-Recht seit dem Entwurf der ursprünglichen GATT im Jahr 1947 wesentlich umfassender geworden. Durch das neue Streitbeilegungsverfahren, das DSU, ist die Möglichkeit der Durchsetzung des WTO-Rechts auch deutlich effektiver geworden. Die WTO-Mitglieder verfolgen zudem unterschiedliche Ansätze in Bezug auf den Schutz der oben genannten legitimen Schutzziele, die im Einzelfall gegen ihre Verpflichtungen aus dem GATT verstoßen können. Es ist also die Zeit gekommen, damit zu beginnen das WTO-Recht weiterzuentwickeln. Dies kann nur in sehr geringen Umfang durch die Streitbeilegungsgremien passieren, die sich dabei zwar an der Rechtsprechung des EuGH orientieren können, jedoch in der Auslegung des WTO-Rechts beschränkt sind. Deshalb sind sowohl die WTO-Mitglieder als auch die Streitbeilegungsgremien gefragt, durch eine behutsame Weiterentwicklung des WTO-Rechts diesen legitimen Schutzzielen und ihrer Umsetzung einen größeren Schutz einzuräumen. Dies kann durch eine Auslegung des WTORechts durch die Streitbeilegungsgremien geschehen, die konsequent den Schutz dieser legitimen Schutzziele in den Vordergrund stellt. Dabei müssen die Streitbeilegungsgremien aber auch immer sorgfältig untersuchen und in Frage stellen, ob die jeweiligen Maßnahmen zum Schutz legitimer Schutzziele oder zum Zwecke der Schaffung von Handelshemmnissen dienen. Aber auch bei einer konsequenten Auslegung zum Schutz dieser legitimen Schutzziele sind die Streitbeilegungsgremien in der Fortentwicklung des WTO-Rechts begrenzt. Denn hierbei könnten sie schnell den Rahmen verlassen, den die Jurisprudenz im Rahmen des WTO-Rechts eingeräumt bekommen hat. Dies mag faktisch unbefriedigend sein. Jedoch ist das Ergreifen der wünschenswert erscheinenden Schritte nicht Aufgabe der Streit-

356

D. Resümee

beilegungsgremien oder der Rechtswissenschaft, sondern die der WTOMitglieder. Daher sind in erster Linie die WTO-Mitglieder gefragt. Durch Deklara­ tionen der Ministerkonferenz können sie dazu beitragen, dass dem Schutz dieser legitimen Schutzziele im WTO-Recht ein größeres Gewicht zukommt. Bislang haben Deklarationen wie die von Singapur und Doha allerdings eher dazu beigetragen, dass der Anwendungsbereich von Rechtfertigungsmöglichkeiten für legitime Schutzziele verkleinert statt vergrößert wurde. Daneben können auch durch Vertragsänderungen oder verbindlichen Interpretationen legitimen Schutzzielen ein größeres Gewicht eingeräumt werden. Außerdem können die WTO-Mitglieder z. B. durch Änderung des Art. XX GATT die legitimen Schutzziele des Schutzes der Menschenrechte und der Umwelt, dem Wohlbefinden der Tiere, der Gewährleistung medizinischer Grundversorgung oder dem Verbraucherschutz mit in diese Ausnahmebestimmung aufnehmen und soweit noch nicht geschehen diese legitimen Schutzziele in die Präambel des WTO-Abkommens aufzunehmen. Zusätzlich könnte, etwa durch eine Ergänzung des Art. 12 DSU eine Beweiserleichterung in Form des Vorsorgeprinzips für handelsbeschränkende Maßnahmen, die elementaren Gütern des Umwelt- oder Gesundheitsschutzes dienen, in das WTO-Recht aufgenommen werden. Dies müsste im Wege der Vertragsänderung nach Art. X WTO oder der verbindlichen Interpretation nach Art. IX Abs. 2 WTO geschehen. Ob dies alles politisch umsetzbar ist, ist fraglich. Denn ein effektiverer Schutz legitimer Schutzziele kann in bestimmten Fällen dazu führen, dass der Warenhandel behindert wird. Allerdings wird dieser Nachteil dadurch kompensiert, dass das WTO-Recht sich hierdurch einer größeren Legitimität und einer größeren öffentlichen Unterstützung erfreuen würde. Ohne einen solchen Schritt besteht die Gefahr, dass anderenfalls legitime Schutzziele, die meist durch demokratisch legitimierte Regierungen gesetzt wurden, erodiert werden. Und falls es, wie das einführende Zitat nahe legt, Sinn des freien Handels ist, in anderen Staaten die Waren zu kaufen, die im Inland nur teurer herzustellen sind, dann müssen hierbei auch gesellschaftliche Kosten mit berücksichtigt werden. Der durch einen freien Warenhandel erreichte volkswirtschaftliche Gewinn sollte nämlich nicht unter der völligen Ausschließung anderer Interessen berechnet werden.

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Stichwortverzeichnis Agrarpolitik  44, 310 Arbeitsbedingungen  331 Beschränkungsverbot   84, 125 Beweislastverteilung  95 ff., 104, 132 Bretton-Woods-System  284 Cassis-Formel  113 ff. Chapeau  89 ff., 135, 157 Dassonville-Formel  67, 70, 110, 125 de minimis Ausnahme  49, 52, 67, 277 Edelmetalle  284 enabling clause  314 Entwicklungsländer  21, 310 ff. erschöpfliche Naturschätze  292 ff. extraterritorialer Schutzziele  100 ff., 109 ff., 117, 130 ff., 144 ff., 296 ff. Gefahrenverdacht  97, 134 geistige Schutzrechte  225 ff. gleichartige Ware  48, 54, 64, 79 Handelssanktionen  142 Inländergleichbehandlung  62 ff. Integrationsmotor  70 judicial activism  73 Kalifornien-Effekt  102 Keck und Mithouard  68 ff. Kimberley-Prozess  141 Kreuzpreiselastizität  51

Kriegsgüter  249 Krosselastizitätstest  57 Kulturelle Interessen  339 ff. Kulturgüter  212 ff. Least-trade-restrictive-Test  190 Mangelversorgung  37 Meistbegünstigungsprinzip  77 ff. mengenmäßige Beschränkungen  34 ff. Menschenrechte  146 ff., 327 ff. Merkantilismus  284 Nichtanwendungsklausel  309 Notwendigkeitskriterium  169, 188 ff., 233 öffentliche Ordnung  318 ff. öffentliche Sicherheit  252 ff. öffentliche Sittlichkeit  139 ff. produktionsbezogene Methoden  79 race to the bottom – Effekt  102, 120, 162 regionale Handelsabkommen  316 ff. Relationselemente  192, 215, 225, 283, 290 Rohstoffabkommen  300 ff. Rohstoffe  303 ff. Schutzmaßnahmen  263 ff. Sicherheit  239 ff. soziale Mindestrechte  258 ff., 331 ff. Spiel über Bande  112, 290 ff., 328, 331, 351

Stichwortverzeichnis369 Strafvollzugsanstalten  287 ff. Subventionskontrolle  270 ff.

ÜSPS  93, 96 ff., 132

Tellereisen  165 Textilproduktion  310 ff. tierquälerische Methoden  165 ff. TRIPS  228 ff. Two step approach  47

Verbraucherschutz  335 ff.

Umweltschutz  98 ff., 104, 321 ff., 118, 122, 132, 138, 182 ff., 201 ff., 281, 297, 321 ff.

ÜTBT  194

Verhältnismäßigkeitsprinzip  127 ff. Vorsorgeprinzip  97 ff., 132, 355 Waiver  88, 141, 308 ff. Zahlungsbilanz  40 ff., 313 ff. Zwangsarbeit  158, 287 ff.