Das Immaterielle ausstellen: Zur Musealisierung von Literatur und performativer Kunst 9783839440780

How can literature be preserved and depicted as an individual reading experience?

174 76 3MB

German Pages 280 Year 2017

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Das Immaterielle ausstellen: Zur Musealisierung von Literatur und performativer Kunst
 9783839440780

Table of contents :
Inhalt
Grußwort
Das Immaterielle ausstellen
I. Immaterielles und Materielles ausstellen
Immaterialität/Materialität
Warum hat Weimar kein Literaturmuseum?
Kunst, Leben und das Museum
II. Performance und Erzählung in Ausstellungen
Aktionsgeschichten
Kein Schlüssel zum Erfolg?
Ein Text ist eine Insel?
III. Zum Ausstellen von Resten und Relikten
Literaturvermittlung an den Resten der Literatur
Konzept – Performance – Aggregatzustand
›Laute Dinge‹
IV. Digitale Medien und interaktive Strategien in Ausstellungen
Zur inszenatorischen Immaterialisierung von Literatur als musealem Objekt
Tanz ausstellen – und ausprobieren
Möglichkeiten digitaler Kunstvermittlung
Autorinnen und Autoren

Citation preview

Lis Hansen, Janneke Schoene, Levke Teßmann (Hg.) Das Immaterielle ausstellen

Edition Museum | Band 28

Lis Hansen, Janneke Schoene, Levke Teßmann (Hg.)

Das Immaterielle ausstellen Zur Musealisierung von Literatur und performativer Kunst

Der Druck des Tagungsbandes wurde möglich durch die finanzielle Unterstützung des Zentrums für Kulturwissenschaftliche Forschung Lübeck (ZKFL), das Kooperationspartner für die Tagung war.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld, nach einem Konzept von Martin Stobbe Umschlagabbildung: © Martin Stobbe Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4078-6 PDF-ISBN 978-3-8394-4078-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Grußwort

Birte Lipinski | 7 Das Immaterielle ausstellen. Zur Einführung

Lis Hansen und Janneke Schoene | 11

I. IMMATERIELLES UND MATERIELLES AUSSTELLEN Immaterialität/Materialität. Über ein Gegensatzpaar, bei dem im Fall der Literaturausstellung die Lage klar scheint

Heike Gfrereis | 35 Warum hat Weimar kein Literaturmuseum?

Folker Metzger | 65 Kunst, Leben und das Museum. Gedanken zu Marina Abramović und Joseph Beuys

Janneke Schoene | 81

II. PERFORMANCE UND E RZÄHLUNG IN AUSSTELLUNGEN Aktionsgeschichten. Wie Ausstellungen Performance erzählen

Sarah Kristin Happersberger | 101 Kein Schlüssel zum Erfolg? Wie man einen Roman ausstellen kann

Vera Bachmann | 125 Ein Text ist eine Insel? Oder: Praxisbericht. Literatur ausstellen als Experiment

Caren Heuer | 141

III. ZUM AUSSTELLEN VON RESTEN UND RELIKTEN Literaturvermittlung an den Resten der Literatur

Sandra Potsch | 163 Konzept – Performance – Aggregatzustand. Yoko Ono’s Bag Piece ausstellen

Lisa Beißwanger | 181 ›Laute Dinge‹. Konzeptionelle Fragen im Vorfeld der Sanierung von Goethes Wohnhaus in Weimar

Anna Bers | 199

IV. DIGITALE MEDIEN UND INTERAKTIVE STRATEGIEN IN AUSSTELLUNGEN Zur inszenatorischen Immaterialisierung von Literatur als musealem Objekt

Vanessa Zeissig | 223 Tanz ausstellen – und ausprobieren. Rahmenbedingungen und Umsetzung der Ausstellung tanz! Wie wir uns und die Welt bewegen

Marie-Luise Welz | 239 Möglichkeiten digitaler Kunstvermittlung. Das Immaterielle vermitteln/Das immaterielle Vermitteln

Yvonne Reiners | 261

Autorinnen und Autoren | 275

Grußwort B IRTE L IPINSKI

Das Materielle erfährt derzeit in den wissenschaftlichen Beiträgen zum Museum und in den Ausstellungen selbst eine Renaissance. Genauer gesagt ist es das Exponat, das mit vermehrter Aufmerksamkeit bedacht wird. Neu sind vor allem die Aufgaben, die den präsentierten Originalen übertragen werden – oder auch nur die Explizitheit, mit der diese Aufgaben in den Debatten um das Museum benannt werden. Exponate sollen dem digitalen Zeitalter das ›Echte‹, das ›Authentische‹ entgegenhalten, sollen auratisch sein und berühren. Vor allem aber sollen sie erzählen. Ein besonders prominenter Vertreter des Konzepts der ›erzählenden Dinge‹ ist Robert Neil McGregor, der erfolgreich Geistesgeschichte in ausgewählten Objekten darstellt, zum Beispiel in der Ausstellung Germany – memories of a nation. A 600year history in objects, die nach ihrem großen Erfolg in London 2016 auch in Berlin zu sehen war. Noch größer angelegt war das Vorgängerprojekt: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten. Im Vorwort der zugehörigen Buchpublikation erklärt McGregor, er wolle »die Botschaften entziffern, die Objekte durch die Zeiten senden – Botschaften über Völker und Orte, über Umwelten und wechselseitige Beeinflussung, über verschiedene historische Augenblicke und über unsere eigene Zeit, die sich darin widerspiegelt.«1 Er habe stets »Objekte ausgesucht, die viele Geschichten erzählen und nicht nur von einem einzigen Ereignis künden«. Ist

1

Hier und im Folgenden MacGregor, Neil: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten, München: C. H. Beck 2011, S. 13.

8 | B IRTE L IPINSKI

angesichts der aktuellen Betonung des Objekts in Ausstellungskontexten die Fragestellung des vorliegenden Bandes ein museologischer Sonderfall? Die Fragestellung der Tagung und der vorliegenden Publikation Das Immaterielle ausstellen – Zur Musealisierung von Literatur und performativer Kunst ist auf den ersten Blick vorrangig für Literaturmuseen und vereinzelt für Ausstellungen in Kunstmuseen von Belang. Literatur wird in aller Regel in der individuellen Lektüre erschlossen und entwickelt ihre Erzählung und Bilder im Kopf des Lesers. Performancekunst lebt vom Moment. Was bleibt, sind in manchen Fällen materielle Relikte, nicht aber das eigentliche, immaterielle Ereignis als Kunstwerk des Augenblicks. Beide können nicht ausschließlich und nicht im herkömmlichen Sinne auf das Exponat als Vermittlungsform setzen. Die Tagung Das Immaterielle ausstellen hat Praxisbeispiele und theoretische Konzepte zur Präsentation von Literatur, Tanz und Performancekunst zusammengeführt. Sie hat damit einen wesentlichen Beitrag zur Debatte um moderne Ausstellungsformate geleistet. Doch die Frage um die Ausstellung des Immateriellen stellt nur scheinbar einen Spezialfall dar. Tatsächlich berührt sie die Konzeption jeder kulturhistorischen Ausstellung: Wenn die Dinge – wie oben skizziert – erzählen sollen, dann müssen sie über ihre Materialität hinaus das Immaterielle mittragen. Sie müssen narrativ werden, sie müssen Emotionen transportieren und ihre Bedeutung für die Gegenwart offenbaren. Die wenigsten Objekte werden ihre Geheimnisse dem Besucher aus ihrer reinen Dinglichkeit heraus offenbaren – noch weniger dem Besucher ohne große Vorkenntnisse. Auch die Exponate benötigen das Immaterielle, um wirken zu können. Mac Gregor definiert deshalb die poetische Vorstellungskraft als Basis der Objekterschließung.2 Akte »imaginärer Interpretation«3 werden zur Voraussetzung des Verstehens und müssen auch in die Ausstellung transportiert werden. Das Imaginäre ausstellen betrifft Literaturmuseen und die Ausstellung von Performancekunst zwar in besonderem Maße, doch es betrifft sie nicht allein. In diesem Sinne kann der vorliegende Band neue Erkenntnisse zur Ausstellung von Literatur und Performancekunst vorlegen, aber auch wichtige Anregungen über diesen spezifischen Gegenstand hinaus geben. Ich danke

2

Vgl. N. MacGregor: Eine Geschichte der Welt, S. 15.

3

Hier und im Folgenden vgl. ebd., S. 16.

G RUßWORT | 9

den Verantwortlichen in den drei kooperierenden Institutionen sehr herzlich für die angenehme und ertragreiche Gemeinschaftsarbeit; namentlich den Organisatorinnen Lis Hansen, Janneke Schoene und Levke Teßmann von der Graduate School Practices of Literature der Universität Münster, den Sprechern des Zentrums für Kulturwissenschaftliche Forschung der Universität Lübeck, Prof. Dr. Cornelius Borck und Prof. Dr. Hans Wißkirchen, und der wissenschaftlichen Koordinatorin Dr. Birgit Stammberger sowie der Initiatorin und Koordinatorin von Seiten des Buddenbrookhauses, Dr. Caren Heuer. Lübeck, im April 2017

Dr. Birte Lipinski Museumsleiterin Buddenbrookhaus Heinrich-und-Thomas-Mann-Zentrum, Lübeck

Das Immaterielle ausstellen Zur Einführung L IS H ANSEN UND J ANNEKE S CHOENE

Literatur und performative Kunst gelten als ›immateriell‹. Doch wie können derartig immaterielle Kunstformen ausgestellt werden? Wenn wir einen Ausstellungsraum betreten, begegnen uns zumeist materielle Dinge: Es sind Objekte in Vitrinen, die als Einzelstücke in besonderem Licht inszeniert, von Hinweisschildern und erklärenden Wandtexten in einen bestimmten Kontext gestellt und so gewissermaßen mit ›Bedeutung‹ versehen werden. Oft sind es Hinweise biografischer Art oder kulturhistorische Bezüge, die dabei eröffnet werden; die Objekte werden etwa als (mehr oder minder stumme) Zeugen für historische Ereignisse ausgewiesen und als kulturelle Bedeutungsträger markiert. Diese kulturellen Bedeutungsträger und ihre Materialität im musealen Raum gelten seit den Gründungen von Museen im 19. Jahrhundert als Garant und Versicherung einer kulturellen oder nationalen Identität sowie als Nachweis eines Wissens- beziehungsweise Ordnungssystems.1 Die Entwicklung der gegenwärtigen Museen aus Dingsammlungen, etwa den Wunderkammern der Frühen Neuzeit, in denen Objekte aus aller Welt als Kuriositäten ausgestellt wurden,2 beruht auf einer engen Verbindung von Ausstellungen und Objekten. Den Dingen wird, vor 1

Vgl. Vedder, Ulrike: »Museum/Ausstellung«, in: Ästhetische Grundbegriffe. Wörterbuch in sieben Bänden, Band 7, Stuttgart: Metzler 2010, S. 148-190, hier S. 151.

2

Vgl. Te Heesen, Anke: Theorien des Museums zur Einführung, Hamburg: Junius 2012, S. 48.

12 | L IS H ANSEN UND J ANNEKE S CHOENE

allem wenn es sich dabei um Originale handelt, ein besonderer Wert zugeschrieben. Eine Bewertung dieser Objekte, das Erkennen beziehungsweise das Zuschreiben von Bedeutung ist kulturspezifisch und nicht immer eindeutig – insbesondere bei immateriellen Kunst- und Kulturformen wie Literatur, Performancekunst oder Tanz. Eine besondere Herausforderung stellt der materielle Charakter von Ausstellungen im Falle von Literaturausstellungen dar, da das ›Wesen‹ von Literatur meist nicht als etwas Materielles, sondern vielmehr als intellektuelles, individuelles und persönliches Lektüreerlebnis verstanden wird. Das ›Eigentliche‹ der Literatur gilt somit gemeinhin als immateriell. Dies scheint zunächst konträr zu den Versuchen zu stehen, eben solche immateriellen Werte in einem institutionellen Raum materiell zu vermitteln. Anderseits kann ein Text im Grunde per definitionem nicht als immateriell charakterisiert werden, weil er aus Schrift und einem Schriftträger besteht. Die Frage nach der Bedeutung von Materialität beziehungsweise der Immaterialität von Literatur ist in Deutschland besonders aktuell, denn in den zahlreichen Literaturmuseen des Landes finden derzeit grundlegende Veränderungen statt: In Frankfurt am Main wird ein Museum für literarische Romantik gestaltet, in der Schillerstadt Marbach hat das Literaturmuseum der Moderne 2016 seine Dauerausstellung neu konzipiert und in der Hansestadt Lübeck, Heimat der Literaten Heinrich und Thomas Mann sowie Günter Grass, umfasst der Um- und Neubau des Buddenbrookhauses auch die Neukonzeption der Dauerausstellung.3 Somit stellt sich die nach wie vor dringliche Frage, wie Literatur überhaupt ausgestellt werden kann, noch einmal neu. Dazu bedarf es einer Reflektion der folgenden Aspekte: Was ist Literatur? Wie lässt sich Literatur erleben und vermitteln? Und was genau macht ihren besagten immateriellen Charakter aus? Dem Materiellen wurde insbesondere seit der Aufklärung im Zusammenhang mit dem ›Geistigen‹ zumeist ein marginaler Wert zugesprochen.4

3

Diese Aufzählung von Um- und Neubauten in den letzten Jahren ließe sich problemlos fortführen, etwa mit dem Kleist-Museum in Frankfurt (Oder), der Grimmwelt in Kassel, der neuen Goethe Dauerausstellung in Weimar usw.

4

In der westlichen Theorie und Kulturgeschichte wurde lange eine Differenzierung von Sinn und Materialität vorgenommen, die Folgen für das Verhältnis und Verständnis von Materialität und Immaterialität und ihren Bewertungen und Zuschreibungen hat. Vgl. Gumbrecht, Hans Ulrich: Diesseits der Hermeneutik.

D AS I MMATERIELLE AUSSTELLEN | 13

Buchseiten, Papierstapel und Manuskripte oder Schreibutensilien wurden nur als materielle Träger beziehungsweise Speicher der ›eigentlichen‹ Werte, dem ›Sinn‹ und dem ›Geist‹ einer (immateriellen) Erkenntnis angesehen, die sinnliche gegenüber der kognitiv-intellektuellen Erkenntnis abgewertet. Entsprechend dieser dichotomen Konzeption von Materialität und immateriellem ›Sinn‹ galt das Ausstellen von Literatur aufgrund ihrer fehlenden Gegenständlichkeit oder der Unmöglichkeit, etwas Immaterielles mit materiellen Mitteln zu vermitteln, als »umstritten«5. Dies kulminiert in der Auffassung, dass es Literaturausstellungen eigentlich nicht geben kann.6 Dass diese, natürlich provokative, Feststellung theoretischer Natur einer blühenden kulturellen Praxis gegenüber steht – allein in Deutschland gibt es unzählige Dichterhäuser, Gedenkstätten und Literaturmuseen –, hat die Diskussion um die Ausstellbarkeit von Literatur von Beginn an begleitet. Trotzdem sollten die Bedingungen der Möglichkeit oder eben die Bedingungen der Unmöglichkeit des Unterfangens deutlicher reflektiert werden.7 Bei der Genese von Literaturausstellungen aus der Tradition der literarischen Gedenkstätten, den Geburts-, Wohn- und Sterbehäusern der beiden Repräsentanten der Weimarer Klassik Goethe und Schiller,8 ging es zu-

Über die Produktion von Präsenz, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004 sowie Ders./K. Ludwig Pfeiffer: Materialität der Kommunikation, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995. 5

So die zusammenfassende Einschätzung von Michael Grisko im Metzler Literatur Lexikon, in das der Begriff ›Ausstellung‹ erst 2007 aufgenommen wurde. Metzler Lexikon Literatur, Stuttgart: Springer 2007, S. 446.

6

Vgl. Dotzler, Bernhard J.: »Die Wörter und die Augen. Zur Un-Möglichkeit der Visualisierung von Literatur«, in: Anne Bohnenkamp/Sonja Vandenrath (Hg.), Wort-Räume, Zeichen-Wechsel, Augen-Poesie. Zur Theorie und Praxis von Literaturausstellungen, Göttingen: Wallstein 2011, S. 39-52. Sowie auch Gfrereis, Heike: »Nichts als schmutzige Finger. Soll man Literatur ausstellen?«, in: Dies./Marcel Lepper (Hg.), Deixis. Vom Denken mit dem Zeigefinger, Göttingen: Wallenstein 2007, S. 81-88.

7

Vgl. Seemann, Hellmut Th./Valk, Thorsten (Hg.), Literatur ausstellen. Museale

8

Vgl. Seibert, Peter: »Literaturausstellungen und ihre Geschichte«, in: Bohnen-

Inszenierungen der Weimarer Klassik, Göttingen: Wallenstein 2012, S. 9. kamp/Vandenrath, Wort-Räume, Zeichen-Wechsel, Augen-Poesie (2011), S. 1538, hier S. 20.

14 | L IS H ANSEN UND J ANNEKE S CHOENE

nächst darum, auf der Grundlage genieästhetischer Vorstellung des 18. Jahrhunderts das verbliebene Material eines Autors zu sammeln. Im 19. Jahrhundert entwickelte sich von diesen Prämissen und Diltheys hermeneutischem Ansatz ausgehend eine lange wirksame Tradition im Umgang mit Literaturausstellungen. Dieser sah vor, das Leben des Autors und somit auch materielle Hinterlassenschaften, Schreibfedern, Alltagsgegenstände, Autografen etc. für die Interpretation und das Erkennen der ›Autorintention‹ einzuschließen, um auf diesem Wege der Autorinstanz und -intention nahe zu kommen und ein besseres Textverständnis zu erlangen.9 Allerdings gelten solche Bezugnahmen auf die Biografie einer Autorinstanz spätestens seit Mitte des 20. Jahrhunderts – zumindest aus poststrukturalistischer Sicht – nicht mehr als angemessen. Am deutlichsten wandte sich wohl Roland Barthes in den 1960er Jahren im Kontext der französischen Tradition, die sich noch stark am Biografismus orientierte und dem Zusammenhang zwischen Werk und Autobiografie nachspürte, gegen eine Fokussierung auf den Autor bei der Interpretation eines Textes.10 Vor Barthes kritisierte schon Boris Tomaševskij die »krankhafte Zuspitzung des Interesses für die sogenannte Literaturgeschichte, die Lebensweise, die Person […], den Autor als Menschen«11. Was aber bedeuten derartige theoretische Beiträge für die Literaturausstellung? Mit dem von Barthes konstatierten ›Tod des Autors‹, den Barthes letztendlich aus der Literatur selbst ableitete, ging die ›Geburt des Lesers‹ im 20. Jahrhundert einher, sodass nicht das literarische Werk, sondern die Lektüre eines jeden einzelnen als ästhetische wie individuelle Erfahrung im Vordergrund stehen sollte. Im Zuge der skizzierten theoretischen und fachgeschichtlichen Entwicklungen hat sich die Diskussion um die (Un)Möglichkeit von Literaturausstellungen inzwischen von der grundsätzlichen Frage des generellen ›Obs‹ zu einer relativeren Frage nach dem ›Wie‹ entwickelt. Bei dieser

9

Vgl. Seibert, Peter: »Literaturausstellungen und ihre Geschichte«, S. 19.

10 Vgl. Jannidis, Fotis u. a.: »Einleitung. Roland Barthes: Der Tod des Autors«, in: Ders. u. a. (Hg.), Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart: Reclam 2012, S. 181-184, hier S. 181. 11 Tomaševskij, Boris: »Literatur und Biographie«, in: Jannidis u. a., Texte zur Theorie der Autorschaft (2012), S. 49-61, hier S. 49.

D AS I MMATERIELLE AUSSTELLEN | 15

Frage spielt der Ausgangspunkt der verantwortlichen KuratorInnen12 eine wesentliche Rolle, also welches kulturhistorische wie theoretische Literaturverständnis einer Ausstellung zugrunde liegt.13 Von diesem Verständnis ausgehend lässt sich eine Typologie von Ausstellungen14 entwickeln. Christiane Holm erfasst bei ihrer Systematisierung der Möglichkeiten Literatur auszustellen drei Varianten: »autor- und werkzentrierte Ausstellungen, die die Exponate als auratische Zeugnisse präsentieren, kontextorientierte Ausstellungen, die Exponate als soziokulturelle Dokumente gruppieren, und schließlich rezeptionsorientierte Ausstellungen, die die Exponate als Gegenstand sinnlicher Erlebnisse inszenieren.«15 Grundsätzlich gilt jedoch bei fast allen Ansätzen, dass Literaturausstellungen auf »Substitutionen«16 angewiesen sind, um ›Immaterielles‹ zu vermitteln.17 Ähnliche Erkenntnisse werden in den Kunstwissenschaften diskutiert: In Bezug auf Performancekunst werden dokumentarische Formen wie Fotografien als Substitute verhandelt.18 Dem ließe sich auch die konzeptuelle Kunst zuordnen, die eben-

12 Ob und in welcher Form die AutorInnen dieses Bandes die weibliche und/oder männliche Form aufführen, wird diesen im Folgenden selbst überlassen. 13 Vgl. Hochkirchen, Britta/Kollar, Elke (Hg.): Zwischen Materialität und Ereignis. Literaturvermittlung in Ausstellungen, Museen und Archiven, Bielefeld: transcript 2015. S. 13. 14 Vgl. P. Seibert: »Literaturausstellungen und ihre Geschichte«. 15 Im Rekurs auf P. Seibert: Holm, Christiane: »Ausstellungen/ Dichterhaus/ Literaturmuseum«, in: Natalie Binczek/Till Dembreck/Jörgen Schäfer (Hg.), Handbuch Medien der Literatur, Berlin: De Gruyter 2013, S. 569-581, hier S. 573. 16 Barthel, Wolfgang: »Literaturausstellungen im Visier«, in: Neue Museumskunde 27/1 (1984), S.4 zitiert nach Wehnert, Stefanie: Literaturmuseen im Zeitalter der neuen Medien. Leseumfeld – Aufgaben – Didaktische Konzepte, Kiel: Ludwig 2002, S. 82. 17 Neben einem dem Ausstellungsstil zugrunde liegenden Literaturverständnis spielt für den Umgang mit Materialität beziehungsweise Immaterialität in Ausstellungen der praktische Umstand eine Rolle, ob AusstellungsmacherInnen auf Archivbestände, d.h. eine materielle Grundlage zurückgreifen können oder ihnen keine materielle Grundlage zur Verfügung steht und sie entsprechend damit umgehen müssen. 18 Vgl. Jones, Amelia: »Presence in Absentia: Experiencing Performance as Documentation«, in: Art Journal 56/4 (1997), S. 11-18, hier S. 16, vgl. auch Krauss,

16 | L IS H ANSEN UND J ANNEKE S CHOENE

falls dem materiellen Kunstwerk eine Idee, ein Konzept vorzieht und die Manifestation der Idee in einem materiellen Werk hintenanstellt. Hier zeigt sich eine Gemeinsamkeit zwischen Literatur und performativer Kunst. Beide Formen haben eine ähnliche kulturhistorische wie theoretische Entwicklung durchlebt und stehen somit vor ähnlichen Herausforderungen beim Ausstellen ihres ›Gegenstandes‹. Spätestens zu Beginn des 20. Jahrhunderts fand in der Kunstwelt eine tiefgreifende Abstrahierung und Konzeptualisierung statt, die mit der Auflösung des sogenannten traditionellen Werkbegriffs,19 einer Dematerialisierung und eben auch einer Performativierung einherging.20 Die Kunst wollte nicht mehr abbilden oder repräsentieren, sie sollte sich schlichtweg ereignen oder sein, Wirklichkeit beziehungsweise ›wirklichkeitskonstitutiv‹ sein. Der Akt des Vollzugs, gewissermaßen die Aufführung und somit der Körper der KünstlerInnen sollte nicht mehr Bedeutungen darstellen, sondern in seiner Existenz wahrgenommen werden.21 Den italienischen Futuristen – ebenso wie den Dadaisten –, die meist an den Anfang der Geschichte der Performance Kunst gesetzt werden und die im Theater agierten, ging es nicht darum, eine Bedeutung und Textgrundlage zu vermitteln. Handlungen und verwendeten Dinge in der Performance sollten das sein, als das sie erscheinen und wahrgenommen werden; die Semiotizität der Performancekunst wurde Erika Fischer-Lichte zufolge insofern reduziert.22

Rosalind: »Notes on the Index: Part 1«, in: Dies., The Originality of AvantGarde and Other Modernist Myths, London: MIT Press 1985, S. 196-209, hier S. 209 sowie Auslander, Philip: »The Performativity of Performance Documentation«, in: Performance Art Journal 84 (2006), S. 1-10. 19 Vgl. Belting, Hans: »Der Werkbegriff der künstlerischen Moderne«, in: Cornelia Klinger/Wolfgang Müller-Funk (Hg.), Das Jahrhundert der Avantgarden, München: Fink 2004, S. 65-79 sowie Wellershoff, Dieter: Die Auflösung des Kunstbegriffes, Frankfurt a.M.: edition Suhrkamp 1976. 20 Vgl. Battcock, Gregory (Hg.): The art of performance: A critical anthology, New York: Dutton 1984. 21 Vgl. Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2011. 22 Vgl. ebd., S. 245f. Andernorts fügt Fischer-Lichte hinzu, dass performative Kunst durchaus zwischen Materialität und Zeichenhaftigkeit oszilliert, vgl. Fischer-Lichte, Erika: »Theater als Modell für eine Ästhetik des Performativen«,

D AS I MMATERIELLE AUSSTELLEN | 17

Die vierte Wand sollte ›niedergerissen‹, das Theater verlassen – und somit auch die Trennung zwischen agierenden KünstlerInnen und passivem Publikum aufgehoben werden. Eine Performance entspricht als Erlebnis- und Erfahrungsmoment im Grunde der schlichten Kontinuität des Seins als fortlaufender ästhetischer Prozess. Leben und Kunst wurden ›enggeführt‹, wie es vielerorts vage heißt. Angesichts ihrer räumlichen und zeitlichen Gebundenheit an das ›Hier und Jetzt‹ und der daraus resultierenden stetigen Vergänglichkeit ist die Performance so ephemer – und ebenso immateriell oder materiell – wie ein jeder andere Moment im menschlichen Leben. Der Fokus wird auf das Leben selbst, das Erleben gelegt, die Kunst soll mitunter selbsterklärtermaßen dem Fluss von Energien dienen23 und Kunst ein theoretisches Konzept zur Gestaltung des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens bieten.24 Es wurde nicht nur eine Entgrenzung des Werkbegriffs und der Kunst vollzogen, sondern auch eine Immaterialisierung der Kunst angestrebt, die sich bis dato gültigen Kategorien des Wertes, ästhetischen Ansprüchen und dem Kunstmarkt zu entziehen suchte, obwohl strenggenommen nur ein Vakuum als wirklich immateriell gelten kann, wie Monika Wagner in ihrem Band Das Material der Kunst betont.25 Hans Belting beschreibt diesen Impuls der Kunst vor allem als Widerstand gegen den Anspruch, die Idee in einem Werk zu repräsentieren.26 Diese Entwicklung galt zunächst auch als Argument gegen das Ausstellen performativer Kunst, die Peggy Phelan zu-

in: Jens Kertscher/Dieter Mersch (Hg.), Performativität und Praxis, München: Fink 2003, S. 97-111, bes. S. 107-111. 23 Vgl. E. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 100 sowie Marina Abramović zitiert in Lüthy, Michael: »Struktur und Wirkung in der Performance-Kunst«, in: Martin Vöhler/Dirck Linck (Hg.), Grenzen der Katharsis in den modernen Künsten. Transformationen des aristotelischen Modells seit Bernays, Nietzsche und Freud, Berlin: De Gruyter 2009, S. 199-230, hier S. 222. 24 Vgl. Hannak-Lettner, Werner: Die Ausstellung als Drama. Wie das Museum aus dem Theater entstand, Bielefeld: transcript 2011, S. 100. 25 Vgl. Wagner, Monika: Das Material der Kunst. Eine andere Geschichte der Moderne, München: C.H. Beck 2001, S. 293. 26 Vgl. H. Belting: »Der Werkbegriff der künstlerischen Moderne«, S. 66.

18 | L IS H ANSEN UND J ANNEKE S CHOENE

folge nicht aufgezeichnet oder dokumentiert werden könne.27 Mittlerweile sind zahlreiche Stimmen gegen diese Auffassung laut geworden; Philip Auslander hat sogar auf die Performativität von Performancedokumentationen verwiesen.28 Und natürlich finden dabei auch verschiedene Medien als Form der Materialisierung Anwendung; es existieren futuristische Manifeste; nach wie vor werden Trägermaterialien wie Leinwände verwendet, etwa wie jene, auf denen Jackson Pollock – dessen Arbeit Allan Kaprow zufolge Anstoß für die Entwicklung performativer Kunst ist29 – scheinbar unerbittlich auf und ab lief und auf denen er auch sein Schaffen für die Kamera inszenierte.30 Es existieren Partituren, die der Planung von Aktionen dienen, und Objekte, die aus Aktionen und Happenings hervorgegangen sind, insofern als dass sie dabei Nutzen oder Anwendung fanden – und all diese Dinge werden von Museen vereinnahmt:31 Pollocks drippings hängen neben figurativer, dekorativer Kunst und auch Relikte von Performancekunst sind meist in ihrer Ausstellungsform von traditionellen ›Kunstwerken‹ nicht zu unterscheiden.32 So kann Arthur Danto widersprochen werden, der von einer Verkörperung der Bedeutung beziehungsweise der künstlerischen Intention im Werk ausging, die es ermögliche, Andy Warhols Brillo Boxes oder Marcel Duchamps Readymades von den Alltagsgegenständen zu unterscheiden, die sie eben schlichtweg sind oder imitieren.33

27 Vgl. Phelan, Peggy: Unmarked. The politics of performance, London/New York: Routledge 1993, S. 31. 28 Vgl. Auslander, Philip: »Zur Performativität der Performancedokumentation«, in: Barbara Clausen (Hg.), After the act. Die (Re)Präsentation der Performancekunst, Nürnberg: Verlag Moderner Kunst 2006, S. 21-34 sowie A. Jones: »Presence in Absentia«. 29 Vgl. Kaprow, Allan: »The legacy of Jackson Pollock«, in: Artnews 10 (1958), S. 24-26 und S. 55-57. 30 Vgl. Berger, Doris: Projected Art History: Biopics, Celebrity Culture, and the Popularizing of American Art, London: Bloomsbury 2014. 31 Vgl. Clausen, Barbara (Hg.): After the act. Die (Re)Präsentation der Performancekunst, Nürnberg: Verlag Moderner Kunst 2006. 32 Vgl. W. Hannak-Lettner: Die Ausstellung als Drama, S. 107. 33 Vgl. Danto, Arthur: Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2014.

D AS I MMATERIELLE AUSSTELLEN | 19

Daran wird das Charakteristikum performativer Kunst offenbar, die sich an der Grenze von Kunst und Leben bewegt, diese scheinbar überwindet, ohne sie gänzlich zu zerstören. Auf der einen Seite steht ihr Gelingen (als performativer Akt), auf der anderen ihre Ästhetisierung (als Kunst). Wenn etwa das selbstverletzende Verhalten von Marina Abramović in der Aktion Lips of Thomas34 von besorgten ZuschauerInnen unterbrochen wird, wird der Aktion ihr ästhetisches Potential als Kunst aberkannt; lässt man die Künstlerin aber gewähren, um die Zugehörigkeit zur Kunst zu respektieren, bleibt das ethische oder moralische Moment der Performance unbeachtet, das ihr eigen ist.35 Das Wesen performativer Kunst liegt gerade im Aufrechterhalten dieser Spannung. Zahlreichen künstlerischen Postulaten folgend schloss nun etwa Phelan, Performancekunst könne aufgrund ihrer Flüchtigkeit36 nicht ausgestellt werden und was bewahrt werde, sei keine Kunst.37 Fischer-Lichte fasst die Immaterialität des Performativen, das Charakteristische der ›Aufführungen‹ und das Postulat von Unmittelbarkeit in ihrer Theorie zur Ästhetik des Performativen sogar als Waffe im Kampf gegen die voranschreitende Medialisierung der Welt auf. Die Spuren, die Dokumente und Dokumentationen, die von Performances bleiben, weisen ihr zufolge geradezu auf die Spannung zwischen Aufführung und Objekt hin.38 Auch Dieter Mersch setzt die Aufzeichnungen der Ästhetik des Performativen entgegen, ergänzt aber, dass der Kunst, wenn sie Leben sein wolle, nach ihrem Vergehen nur die Dokumentation bleibe.39 Nun gilt es spätestens seit zahlreichen Ausstellungsversuchen und den Ausführungen von Auslander40 als etabliert – wenn

34 Während der Performance trat Abramović vollkommen entkleidet auf. Sie ritzte sich mit einer Rasierklinge einen fünfeckigen Stern in die Bauchdecke, geißelte sich und legte sich auf ein Kreuz aus Eisblöcken unter einen Heizstrahler. 35 Vgl. Laleg, Dominique: »Das Potenzial des Ästhetischen. Drei Fragen an Juliane Rebentisch zum Verhältnis von Ästhetik und Politik«, in: All-over Magazine 3 (2012): http://allover-magazin.com/?p=1072 vom 10.01.2017. 36 Vgl. P. Phelan: Unmarked, S. 31. 37 Vgl. Mersch, Dieter: Aura und Ereignis. Untersuchungen zu einer performativen Ästhetik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2011, S. 241. 38 Vgl. E. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 129. 39 Vgl. D. Mersch: Ereignis und Aura, S. 243. 40 Vgl. P. Auslander: »Zur Performativität der Performancedokumentation«.

20 | L IS H ANSEN UND J ANNEKE S CHOENE

auch nicht durchweg akzeptiert –, dass sich Performancekunst de facto ausstellen lässt. Über den Erfolg entsprechender Ausstellungen lässt sich natürlich streiten. Fischer-Lichte betont, dass das zurückbleibende Material nicht in den Bereich der Reproduktion, sondern der Dokumentation zu zählen ist.41 In einigen Fällen ist das Bildmaterial aber sicher anschaulich genug, um in den Köpfen emphatischer MuseumsbesucherInnen als ›Verkörperung‹ der Aktion zu fungieren, beziehungsweise ein Anwesend-Machen des Abwesenden selbst zu initiieren: Presence in absentia, wie es Amelia Jones formuliert hat.42 Mehr noch, Jones zufolge erreichen Performances gerade über ihre Dokumentation, die eben eine andere Form der Materialisierung darstellt, einen symbolischen Status. So bleibt das Verhältnis von immaterieller Aktion und materiellen Überbleibseln, Dokumentation etc. auszuloten – ebenso wie im Falle der Literatur(ausstellung). Für beide Kunstformen stellt sich die Frage: Wie können Ausstellungen gelingen und wie funktioniert die Kommunikation mit oder über die Dinge im Museum? Sind die Objekte in Ausstellungen also Zeichen für etwas Abwesendes oder Abstraktes43? Sind Kafkas Gabel44 oder Joseph Beuys’ Aktionsmaterial ›bloß‹ Reste oder Bedeutungsträger – oder werden sie erst in Ausstellungen als solche konstituiert? Was wird BesucherInnen durch das Ausstellen solcher Objekte vermittelt und wie? Beide Disziplinen sind mit ähnlichen Entwicklungen und Herausforderungen konfrontiert: Die Abkehr vom Werkbegriff in Literatur und Kunst

41 Vgl. E. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 127. 42 Vgl. A. Jones: »Presence in Absentia«. 43 Pomian bezeichnet Objekte in Ausstellungen als ›Semiophoren‹, als bedeutungstragende Zeichenträger, die etwas Unsichtbares repräsentieren. Vgl. Pomian, Krzysztof: Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln, Berlin: Wagenbach 1998, S. 50. Friedrich Waidacher hingegen benennt derartige bedeutungstragende Objekte als ›Nouophoren‹. Vgl. Waidacher, Friedrich: Vom redlichen Umgang mit Dingen. Sammlungsmanagement im System musealer Aufgaben und Ziele: http://www.smb.museum/fileadmin/website/Institute/Institut_ fuer_Museumsforschung/Publikationen/Mitteilungen/MIT008.pdf vom 17.03. 2017. 44 Vgl. dazu ausführlicher Kroucheva, Katerina/Schaff, Barbara (Hg.): Kafkas Gabel. Überlegungen zum Ausstellen von Literatur, Bielefeld: transcript 2013.

D AS I MMATERIELLE AUSSTELLEN | 21

sowie die damit verbundene Auflösung des traditionellen Kunstverständnisses stellen wesentliche kulturhistorische Zäsuren dar, die eine neue Perspektive auf das Ausstellen von Literatur und Performancekunst notwendig machen. Die Reflexion über die Frage, wie man vor dem Hintergrund entsprechender theoretischer Erkenntnisse und Prämissen ›Immaterielles‹ ausstellen kann, hat in beiden Bereichen Konjunktur. Besonders an dem Gefälle von Theorie und Praxis sowie an Konzepten von Aura und Authentizität kristallisieren sich ähnliche Herausforderungen von kunst- und literaturwissenschaftlicher Ausstellungstheorie und kultureller Praxis heraus. Durch das Ausstellen ›immaterieller‹ Kunst zeigt sich besonders ein Spannungsfeld zwischen »theoretischer Skepsis« und »boomender Praxis«45. Während die wissenschaftliche Forschung zumeist kritisch auf eine Auratisierung von Objekten blickt, üben ›originale Dinge‹ wie Goethes Schreibwerkzeuge im Nationalmuseum Weimar, das Taufkleid von Thomas Mann in Marbach oder Gegenstände, Instrumente und Werkzeuge, die in Performances verwendet wurden, auf das Publikum eine große Faszination aus. Besonders an der Wirkmacht der Aura46, die einen zentralen Wert des Originals47 ausmacht, offenbart sich die Differenz zwischen kulturtheoretischen Ansätzen,

45 Bohnenkamp, Anne/Vandenrath, Sonja: »Zur Einführung«, in: Dies., WortRäume, Zeichen-Wechsel, Augen-Poesie (2011), S. 9. 46 Der Begriff der Aura wird hauptsächlich für die Charakterisierung von Personen, Objekten oder Situationen im Sinne eines »konnotativen Sinnbildungsschemas« verwandt. Alltagssprachlich wird damit laut Peter Spangenberg eine »intensiv empfundene physisch-materielle ›Ausstrahlung‹, die einen Wahrnehmungsgegenstand zu umgeben scheint«, beschrieben. Die Bedeutung des Gegenstandes wird durch die »epistemologisch moderne Verknüpfung von Singularität, Individualität und Authentizität« begründet. Dabei ist allerdings umstritten, ob diese Wirkung dem Gegenstand selbst eigen ist oder ihm von gesellschaftlicher Seite zugeschrieben wird. In ästhetischen Kontexten erfuhr der Begriff vor allem im Zuge von Walter Benjamins Aufsatz Das Kunstwerk in Zeiten seiner technischen Reproduzierbarkeit eine Konjunktur. Vgl. Spangenberg, Peter M.: »Aura«, in: Ästhetische Grundbegriffe: historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Band 1, Stuttgart: Metzler 2010, S. 400-416, hier S. 400f. 47 Der Wert des Originals ist der Titel einer Marbacher Ausstellung, die vom 3. November 2014 bis 13. September 2015 im Literaturmuseum der Moderne gezeigt wurde.

22 | L IS H ANSEN UND J ANNEKE S CHOENE

wissenschaftlichen Ansprüchen und praktizierter Kulturvermittlung. Trotz der Ausdifferenzierung und Pluralisierung von Vermittlungskonzepten in Literatur- und Kunstausstellungen scheinen die Aspekte Authentizität, Original und Aura nach wie vor eine große Rolle für die RezipientInnen zu spielen. Ein wesentlicher Grund dafür mag die Genese der Literaturmuseen und Gedenkstätten aus den Geburts- und Sterbehäuser sein und die damit topografisch angelegte Verbindung zum auratischen, authentischen Ort. Der Kult um AutorInnen und KünstlerInnen scheint unsterblich.48 Dass BesucherInnen in den ehemaligen Wohn- und Arbeitsräumen oder bloßen Aufenthaltsorten eines/einer KünstlerIn oder einer ›Dichterpersönlichkeit‹ gern umher wandeln, scheint auf die Hoffnung zurückzugehen, auf diesem Wege die ›Aura‹ der Person zu spüren und durch Kontakt mit originalen Objekten oder der Handschrift49 in eine direkte Beziehung zu dieser Person zu treten. Häufig werden Dichterhäuser allerdings mit Requisiten der Zeit ausgestattet, welche laut Peter Seibert »die Gedenkstätte unter dem Schein der Authentizität zur Kulisse degradierte[n].«50 Ähnlich verhält es sich mit authentischen, auratisch aufgeladen Objekten, die von Performances übrig geblieben sind, beziehungsweise in Performances verwendet wurden.51 Dies sind einige Gründe dafür, dass die Aura für die museale Ausstellungspraxis »ein wichtiger Terminus technicus, ein zentrales Motiv, ja ein zentrales Anliegen für viele der auf dem Gebiet der Literaturvermittlung Schaffenden« ist.52 Dass die Aura für Objektinszenierungen konkret genutzt

48 Vgl. Schuster, Peter-Klaus (Hg.): Unsterblich. Der Kult des Künstlers, München: Hirmer 2008. 49 Vgl. Raulff, Ulrich: »Wie Wolken über einem Wasser. Der Zauber der Handschrift und die Schaulust am Text«, in: Deutsches Literaturarchiv Marbach (Hg.), Denkbilder und Schaustücke. Das Literaturmuseum der Moderne, Marbach am Neckar: Deutsche Schillergesellschaft 2008, S. 41-50 und Seibert, Peter: »Literaturausstellungen und ihre Geschichte«, in: Bohnenkamp/ Vandenrath, Wort-Räume, Zeichen-Wechsel, Augen-Poesie (2011), S. 15-38. 50 P. Seibert: »Literaturausstellungen und ihre Geschichte«, S. 33. Diese Kritik könnte nicht nur für Goethes Wohnhaus in Frankfurt am Main, sondern für nahezu jede andere Gedenkstätte in Deutschland gelten. 51 Vgl. Schimmel, Paul: Out of actions: Between Performance and the Object, 1949-1979, London: Thames and Hudson 1998. 52 K. Kroucheva (Hg.): Kafkas Gabel, S. 12.

D AS I MMATERIELLE AUSSTELLEN | 23

wird, könnte vielleicht sogar als »Alleinstellungsmerkmal einer (Literatur-)Vermittlung im Museum in Abgrenzung zu anderen Orten der Literaturvermittlung betrachtet werden.«53 Anja Thiele zufolge könnte besonders in Ausstellungen die »Wertpräsenz«54 von auratischen Gegenständen gegenüber lebensweltlicher Normalität erlebt werden. Somit könne das körperliche Erlebnis einer materiellen Präsenz in Zeiten digitaler Medien »durch Auratisierung von Objekten nicht nur geistige Reflexion, sondern auch sinnliches Erleben ermöglichen«55. Trotzdem stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis das Wesen der Literatur und der performativen Kunst zum Immateriellen beziehungsweise zum Materiellen steht – und inwiefern das vermeintlich Immaterielle im Grunde materiell vermittelt werden kann. Damit eng verknüpft ist die Frage, ob es bei der Ausstellung von Literatur und performativer Kunst um ein deiktisches Zeigen, ein Begreifen oder ein Erfahren und Erleben geht, und ob die materiellen Überbleibsel, Reste oder Relikte nun Erinnerungsstücke und Zeugen für eine kulturhistorische Entwicklung sind oder vielmehr ein ästhetisches Erlebnis ermöglichen. Denn nicht nur der Akt des Lesens und das Sich-Ereignen von Performances bieten einen Anlass ästhetischen Erlebens, auch die Musealisierung von Objekten kann – und sollte womöglich – ein ästhetisches Erleben anregen. Betrachtet man eine Ausstellung als Kommunikationsakt, der über Zeichen abläuft, sind im Sinne Barthes auch lustvolle (ästhetische) Lektüren jenseits der von den KuratorInnen gelenkten Narrative möglich.56 So gibt es verschiedene Vorstellungen davon und diverse theoretische und analytische Prämissen, wie Ausstellungen analysiert, rezipiert und ›gelesen‹ werden können, etwa ob eine ›Narratologie‹ im Sinne einer von dem/der KuratorIn intendierten und inszenierten Lesart in Ausstellungen

53 Thiele, Anja: »Die Aura in der Literaturvermittlung. Die Inszenierung einer Faust- Ausgabe in der Ausstellung Lebensfluten-Tatensturm im Goethe Nationalmuseum«, in: Hochkirchen/Kollar, Zwischen Materialität und Ereignis (2015), S. 137-154, hier S. 151. 54 P. Spangenberg: »Aura«, S. 400. 55 A. Thiele: »Die Aura der Literaturvermittlung«, S. 151. 56 Einen solchen Versuch unternimmt Christian Metz anhand des Literaturmuseums der Moderne in Marbach: Metz, Christian: »Lustvolle Lektüre. Zur Semiologie und Narratologie der Literaturausstellung«, in: Bohnenkamp/Vandenrath, Wort-Räume, Zeichen-Wechsel, Augen-Poesie (2011), S. 87-100.

24 | L IS H ANSEN UND J ANNEKE S CHOENE

möglich ist oder doch eher theatrale beziehungsweise dramatische Modi und Performativitätstheorien für den Zugang für die Analyse von Ausstellungen gewinnbringend sind.57 Dem vorliegenden Tagungsband liegt die Annahme zugrunde, dass angesichts dieser Fragen literaturwissenschaftliche von kunstwissenschaftlichen Auseinandersetzungen, Konzepten und Beschreibungsmodalitäten und vice versa profitieren können. Möglicherweise eignet sich zum Beispiel der literaturtheoretische Präsenzbegriff nach Hans Ulrich Gumbrecht, dessen mögliche Erweiterung um die Funktion der ›Re-Präsenz‹ diskutiert werden könnte, als fruchtbarer Anknüpfungspunkt für die kunstwissenschaftliche Auseinandersetzung. Und es bleibt die Frage, wie entscheidend der Aspekt des ästhetischen Erlebens, den schon Fischer-Lichte Ende der 1990er Jahre zu einem zentralen Punkt der Ästhetik des Performativen gemacht hat, für das Ausstellen von Literatur ist. Kann vielleicht das Schauen, das Nicht-Lesen eines Buches einen neuen Zugang ermöglichen? So eröffnen beispielsweise Performancetheorien neue Perspektiven auf die Frage »Was zeigt sich, wenn man Literatur zeigt?«58 Uwe Wirth erkennt dabei im Hinblick auf Performancetheorien: »Vielleicht ist eine Literaturausstellung eine Art Schau-Philologie, in der PerformanceAkte der Textwerdung durch das Präsentieren von Avant-Texten, Epitexten und Texten in (aufgeschlagenen) Büchern vorgeführt, sprich: vorgezeigt werden.«59 Neben der Frage nach dem entsprechenden Literatur- beziehungsweise Kunstverständnis und den damit verbundenen Vorstellungen einer gelungenen Ausstellung zeigt sich an den bestehenden Differenzen zwischen Materialität und Immaterialität ein Moment, das auch einen Mehr- und Eigenwert von Ausstellungen begründen könnte. So sieht Sebastian Böhmer Materialität eben nicht nur als »Speicher«, der gepflegt werden müsse, um »das immaterielle ›Eigentliche‹, die Bedeutung, zu bewahren«60. Sondern

57 Vgl. W. Hannak-Lettner: Die Ausstellung als Drama. 58 Wirth, Uwe: »Was zeigt sich, wenn man Literatur zeigt?«, in: Bohnenkamp/Vandenrath, Wort-Räume, Zeichen-Wechsel, Augen-Poesie (2011), S. 5364. 59 Ebd., S. 57. 60 Böhmer, Sebastian: »Was bedeutet die Materialität der Literatur für die Literatur(-ausstellung)? Ein Versuch«, in: Hochkirchen/Kollar, Zwischen Materialität und Ereignis (2015), S. 87-102, hier S. 87.

D AS I MMATERIELLE AUSSTELLEN | 25

er verweist auf jene Erkenntnisse, die in Folge des material turn und des performativ turn entstanden sind und für das Verhältnis von Materialität und Immaterialität in Ausstellungsräumen essentiell sind. Im Zuge besagter turns hat sich seit den 1980er Jahren das Verständnis etabliert, dass Materialität beziehungsweise den Dingen bei der Produktion von Wissen und Erkenntnis eine entscheidende Bedeutung zukommt. Entsprechend weist Böhmer auf die Bedeutung von Materialität für Sinnkonstruktionen hin, die nicht nur für die Literatur, sondern eben auch für die Materialität der Performancekunst gelten könnte: »Die große Chance für eine Ausstellung, die der Materialität der Literatur gilt, liegt – im Gegensatz zu einer Ausstellung von Materialien der Literatur – darin, dass sie den Blick freigibt für Phänomene nicht der Wechsel-, sondern der Zugleichverhältnisse von Sinn und Material.«61

Er lenkt den Blick somit auf die Verknüpfung von Materialität und Immateriellem im Moment des Ausstellens und erklärt weiter: »Erst wenn wir akzeptieren, dass unser Begriff der Literatur die Dichotomie von Signifikat und Signifikant überwinden – oder: hintergehen – muss, ist eine Materialität der Literatur im Sinne eines neuen Literaturbegriffs denkbar.«62 Das würde bedeuten, dass eine Ausstellung dem ephemeren Duktus einer Performance nicht gegenüber steht und diese materialisiert, vermarktet oder ähnliches, sondern dass die Spannung zwischen dem immateriellen, einstigen Moment und der Ausstellung, die auf weiterhin Sichtbares, also Materielles setzt, in der Ausstellung erhalten bleiben sollte. In Bezug auf die Ausstellbarkeit von Performancekunst und Literatur hieße dies also, dass der Eigenwert wie die Präsenz der Materialität nicht von ihrem immateriellen (geistigen oder situativen) Wert getrennt werden sollte, sondern in Ausstellungen gerade der Bezug dieser beiden Elemente aufeinander erfahrbar gemacht werden könnte. Durch die Beschäftigung mit diesen und ähnlichen Aspekten in einem interdisziplinären Dialog von literatur- und kunstwissenschaftlicher Forschung sowie musealer Praxis versteht sich der vorliegende Sammelband

61 Böhmer, Sebastian: »Was bedeutet die Materialität der Literatur für die Literatur(-ausstellung)?«, S. 98. 62 Ebd.

26 | L IS H ANSEN UND J ANNEKE S CHOENE

nicht nur als wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema der Musealisierung von Literatur und Kunst, sondern auch als Impuls für die dichte Landschaft der Literatur- und Kunstmuseen, den eigenen Gegenstand – die Literatur und Performancekunst – sowie ihre kuratorische und museumspädagogische Praxis einmal mehr zu reflektieren. So kann das problematische Verhältnis von Theorie und Praxis direkt in die Gesellschaft getragen und dort öffentlich sichtbar gemacht werden. Ausstellende Institutionen wie Museen haben bei diesem Prozess eine entsprechend gewichtige Funktion als (mehr oder weniger) öffentliche Schnittstelle von Wissenschaft und Gesellschaft. Es zählt zu den anerkannten Aufgaben des Museums, »zum Zwecke des Studiums, der Bildung und des Erlebens materielle und immaterielle Zeugnisse von Menschen und ihrer Umwelt« zu bewahren und auszustellen.63 Museen müssen dabei permanent ihre gesellschaftliche wie ökonomische Funktion und Relevanz belegen. Sie müssen sowohl einem Vermittlungsauftrag nachkommen als auch wissenschaftliche Standards bedienen, also zwischen kulturvermittelnder Praxis und wissenschaftlich-theoretischen Ansprüchen moderieren. Heutzutage werden dabei immer größere und spektakulärere Ausstellungen, regelrechte »Blockbuster«64 konzipiert. Institutionelle Ansprüche und Publikumserwartungen müssen dabei zwischen Erlebniskultur und kognitiver Erschließung ausbalanciert und ein Spagat zwischen Bildungsinstitution und Eventkultur geleistet werden. Das Museum ist zudem eine essentielle Schnittstelle zwischen KünstlerInnen und Gesellschaft, an der sowohl das Lektüreerlebnis von Literatur als auch performative Kunst als ästhetisches Erleben evoziert werden können. Zugleich steht die Institution Museum zum Teil aber künstlerischen Postulaten und Ansprüchen gegenüber, die sich etwa in der abwertenden Haltung italienischer Futuristen gegenüber dem Museum offenbarten.65 Die Erfüllung dieser Vermittlungsaufgaben auf verschiedenen Ebenen erweist sich besonders dann als Herausforderung, wenn – wie im Falle der Literatur und der Performancekunst – das vermeintlich ›Eigentliche‹ als immateriell gilt.

63 Vgl.

http://www.icom-deutschland.de/schwerpunkte-museumsdefinition.php

vom 14.04.2017. 64 A. Te Heesen: Theorien des Museums, S. 9. 65 Vgl. Wall, Tobias: Das unmögliche Museum: Zum Verhältnis von Kunst und Kunstmuseen der Gegenwart, Bielefeld: transcript 2006, S. 136f.

D AS I MMATERIELLE AUSSTELLEN | 27

Die folgenden Beiträge legen Gemeinsamkeiten und Unterschiede im wissenschaftlichen und praktischen Umgang mit den immateriellen Aspekten beim Ausstellen von Literatur und performativer Kunst frei und sie perspektivieren nicht zuletzt, wie das Immaterielle im Zeitalter digitaler Medien ausgestellt werden kann. Denn die begleitenden Medien beeinflussen die Rezeption und das Erlebnis einer Ausstellung essentiell und beziehen eine weitere Ebene des Immateriellen beziehungsweise Virtuellen mit ein. Die digitalen und medialen Formen scheinen gerade bei immateriellen Kulturformen66 eine besondere Möglichkeit bei der Vermittlung zu bieten. Einerseits wird, wie Seibert konstatiert, die Ausstellungspraxis durch die digitalen Medien weiter von dinglicher Präsenz entlastet,67 andererseits lässt sich ein »Hang zur (Fetischisierung von) Materialität« verstärkt ab dem Moment beobachten, in dem durch die Digitalisierung Erlebnisse von Körperlichkeit und Präsenz seltener werden.68 Das digitale Zeitalter birgt mit seinen technischen Möglichkeiten neue Chancen für das Ausstellen von Literatur und Performancekunst. Zugleich ergeben sich Hürden und Schwierigkeit in der praktischen Umsetzung, die eine eingehende Untersuchung erfordern. In den Beiträgen wird es um verschiedene Perspektivierungen und konkrete Beispiele gehen, die zeigen, wie AusstellungsmacherInnen und die Institution Museum mit den verschiedenen Ansprüchen und Herausforderungen umgehen. Diskutiert werden in den folgenden Beiträgen die Differenzen zwischen kulturtheoretischen Ansätzen, wissenschaftlichen Ansprüchen und praktizierter Kulturvermittlung. Gerade die Bewusstmachung der Materialität oder eben der Immaterialität des Gegenstandes und ein reflektierter Umgang mit diesem Umstand ist eine essentielle Voraussetzung für das Ausstellen von Literatur und performativer Kunst. Ziel dieses Sammelbandes ist es daher, unter anderem Begriffe wie ›Werk‹, ›Dokument‹ und ›Archivalie‹ zu reflektieren und an Beispielen zu untersuchen, sodass ein bewusster Umgang mit Vorstellungen vom Immateriellen in

66 Vgl. http://www.unesco.de/kultur/immaterielles-kulturerbe.html vom 14.04. 2017. 67 Vgl. P. Seibert: »Literaturausstellungen und ihre Geschichte«, S. 34. 68 Vgl. Gfrereis, Heike/Raulff, Ulrich: Literaturausstellungen als Erkenntnisform, in: Bohnenkamp/Vandenrath, Wort-Räume, Zeichen-Wechsel, Augen-Poesie (2011). S. 101-110, hier S.104.

28 | L IS H ANSEN UND J ANNEKE S CHOENE

Ausstellungen praktiziert und gesellschaftlich kommunizieren werden kann. In der ersten Sektion des Bandes erkundet die Kuratorin Heike Gfrereis das Verhältnis von Literatur zu Immaterialität und Materialität im Allgemeinen und vor allem in Ausstellungen. Sie wendet sich dem materiellen Charakter von Literatur wie Manuskripten, Handschriften und quantitativen, bildgebenden Verfahren als Zugangs- und Bedeutungsebene von Texten zu. Besonders der Eigenwert von Ausstellungen und der produktive Reiz von Unverständlichkeit werden dabei hervorgehoben. Im Anschluss daran wendet sich Folker Metzger konkret dem praktischen Umgang mit materiellen und immateriellen Aspekten beim Ausstellen von Literatur zu. Er erkundet, warum es in Weimar, immerhin Stadt der literarischen Größen Goethe und Schiller, eigentlich keine Literaturausstellung gibt. Untersucht wird dabei etwa der Einfluss institutioneller sowie kultur- und wissenschaftspolitischer Rahmenbedingungen auf die Konzeption von Ausstellungen am Beispiel der Klassikstiftung Weimar. Gründe für ein Fehlen einer Literaturausstellung sieht Metzger unter anderem in den historischen ›Friktionen‹ sowie der kulturpolitischen wie historischen Entwicklung Weimars zu einer »ästhetischen Topographie«. Metzger betont auch die Bedeutung des Publikums und seiner Erwartungshaltung und skizziert ausblickend, welche Chancen eine verstärkte Hinwendung zur Literatur(vermittlung) bieten könnte. Nach einer theoretisch-assoziativen und einer kulturpolitisch sehr konkreten Auseinandersetzung zum Ausstellen des Immateriellen in Bezug auf Literatur nähert sich Janneke Schoene dem Thema des (Im)Materiellen aus kunstwissenschaftlicher Perspektive an. Sie beleuchtet mit Blick auf Marina Abramović und Joseph Beuys verschiedene Darstellungs- und Dokumentationsformen sowie Materialisierungen, die in der Performancekunst häufig an die Instanz beziehungsweise ganz konkret an den Körper der KünstlerIn geknüpft werden. Damit ist in den Beispielen die Vorstellungen präsent, in der Kunst beziehungsweise in der Ausstellung das ›Lebens selbst‹ zu vermitteln. Die kunstwissenschaftlichen Darlegungen über das Verhältnis von Kunst, Leben und Ausstellen werden von einem Erlebnisbericht zu Abramovićs Performance The Cleaner ergänzt. Die zweite Sektion des Bandes widmet sich den unterschiedlichen Ausdrucksformen von Performances und Erzählungen in Ausstellungen. Sarah Happersbergers Beitrag beleuchtet narrative Strukturen und Lesarten von

D AS I MMATERIELLE AUSSTELLEN | 29

Ausstellungen und untersucht ausgehend von erzähltheoretischen Zugängen anhand verschiedener Beispiele von ›Aktionsgeschichten‹, wie Ausstellungen Performances ›erzählen‹. Während es in Happersbergers Beitrag um narrative Strukturen in Ausstellungskonzeptionen und Räumen geht, legt Vera Bachmann im Anschluss daran dar, wie tatsächliche Erzählungen, in diesem Fall der Roman Erfolg. Drei Jahre Geschichte einer Provinz von Lion Feuchtwanger, in einem Ausstellungsraum vermittelt werden können. Anhand der Ausstellung des Romans im Münchener Literaturhaus beschäftigt sich Bachmann mit neuen Konzepten der Ausstellung von Literatur: An die Stelle einer autororientierten Konzeption tritt eine Auseinandersetzung mit dem auszustellenden Roman, mit seiner inhaltlichen Ebene und Interpretation. Caren Heuer untersucht in ihrem Praxisbericht zu experimentellen Ausstellungen von Literatur anhand der Literaturausstellung Fremde Heimat im Buddenbrookhaus ebenfalls ein Ausstellungskonzept, das im Wesentlichen unabhängig von der Autorbiografie konzipiert ist. Heuer demonstriert die kuratorische Absicht von sogenannten ›Literaturinseln‹, in denen dem Publikum sowohl Zeitgeschehen als auch Literatur unmittelbar erfahrbar gemacht werden. Sie erörtert dabei zudem die Spannung zwischen Publikumserwartung und literaturwissenschaftlichen Ansprüchen. Im dritten Teil des Bandes geht es darum, wie Dinge, die von einem SchriftstellerInnenleben und den Schaffensprozessen oder einer künstlerischen Performance übrig bleiben, in Ausstellungen gezeigt werden können und welchen Gewinn das Ausstellen solcher Reste und Relikte bringen kann. Sandra Potsch geht der Frage nach, inwiefern das Ausstellen von Manuskripten und anderen Materialien, die von dem Entstehungsprozess eines Textes zeugen, einen Mehrwert für die literaturwissenschaftliche Deutung bieten. In ihrer Auseinandersetzung mit Martin Mosebachs Roman Der Nebelfürst wird deutlich, dass sich das Ausgangsmaterial wie vorgefundene Materialen nicht nur auf den Inhalt, sondern auch auf die Entstehungsweise, auf die Form und die stilistischen Besonderheiten eines Textes auswirken. Die Präsentation von Schrift und Schriftträger analysiert Potsch als visuelle und materielle Phänomene im Museum; das Manuskript wird dabei nicht nur als ästhetisches Objekt betrachtet, sondern hat eine Funktion als Interpretationsinstrument. Während Sandra Potsch sich mit den Materialien von Literaturproduktion befasst, beschäftigt Lisa Beißwanger hingegen aus kunstwissenschaftlicher Perspektive die Frage, wie immaterielle, ephemere Performances ausgestellt, das heißt materiell und medial vermit-

30 | L IS H ANSEN UND J ANNEKE S CHOENE

telt werden können. Anhand von Yoko Onos Bag Piece diskutiert sie unterschiedliche Materialisierungsformen des flüchtigen Performancemoments wie Fotografie oder Videomitschnitt, die sie als Aggregatzustände von Kunstwerken versteht. So kann zumindest für eine vorläufige Gleichwertigkeit unterschiedlicher Materialisierungsformen ein und desselben Werks argumentiert und mit einem solchen Zugang im Spannungsfeld zwischen Theorie und künstlerischer beziehungsweise musealer Praxis vermittelt werden. Anna Bers wendet sich nicht nur den übrig gebliebenen Dingen und ihrer Vermittlung zu, sondern nimmt ein ganzes Haus in den Blick. Sie untersucht die Gestaltung und entsprechende Wahrnehmung von Goethes Wohnhaus, die sich vor allem auf den Eindruck der Präsenz des Schriftstellers beziehe und häufig in dem Eindruck äußere: ›Als wäre Goethe gerade erst aus der Tür gegangen‹. Für diese Empfindung schlägt Bers den Begriff ›fixiertes Erinnerungsbild‹ vor und reflektiert dieses Phänomen in seiner Genese. Zugleich problematisiert sie, welche Aspekte der Erinnerung durch fixierte Erinnerungsbilder möglicherweise zu kurz kommen. Vor dem Hintergrund verschiedener Funktionen, die Goethes Wohnhaus als Erinnerungsort erfüllen kann – als Dichtermuseum, Nationalmuseum, historisches Wohnhaus, Kunstmuseum – zeigt Bers in Hinblick auf die Neustrukturierung des Museums alternative Akzentuierungsmöglichkeiten zum etablierten Ausstellungskonzept. Im letzten Abschnitt des Sammelbandes, der sich auf digitale Medien und interaktive Strategien in Ausstellungen konzentriert, regt Vanessa Zeissig zur Diskussion inszenatorischer Immaterialisierung von Literatur als musealem Objekt an. In der Untersuchung unkonventioneller Ausstellungskonzepte zeigt sie, wie Ausstellungen als Raum sinnlicher Erfahrungen gestaltet werden können und so eine ›alternative Wissensvermittlung‹ stattfinden kann. Von besonderer Bedeutung sind diese Konzepte für immaterielle Gegenstände wie Literatur sowie die Vermittlung biografischer Erfahrungen, die erlebbar gemacht werden sollen. Zeissig stärkt durch das aus dem Design entlehnte Konzept der Szenografie das Potenzial des sensuellen Erlebens. Die körperliche Erfahrung im Raum steht ebenfalls im Fokus des Beitrags von Marie-Luise Welz. Sie wendet sich der Ausstellbarkeit einer weiteren ephemeren Kunstform zu, die zunehmend wissenschaftliche Aufmerksamkeit und Institutionalisierung erfährt: dem Tanz. Anhand der Dresdener Ausstellung tanz! untersucht Welz, wie in einer umfassenden

D AS I MMATERIELLE AUSSTELLEN | 31

Ausstellung Tanz nicht nur präsentiert, sondern auch erfahrbar gemacht werden kann. Als Vermittlungsform des immateriellen Kulturerbes wird dem eigenen körperlichen Erlebnis, dem Tanzen und der Bewegung im Ausstellungsraum besondere Bedeutung beigemessen und besonders interaktive Formate im musealen Raum fokussiert. Weitere neue Zugänge, die ebenfalls Interaktionen und Erlebnisse im musealen Raum evozieren, ermöglichen digitale Medien. Yvonne Reiners nimmt in ihrem Beitrag Beispiele digitaler Formate und spielerischer Elemente als Möglichkeiten der Kunstvermittlung und der Medialisierung von immateriellen Inhalten in den Blick. Ausgehend von der eigenen Programmiererfahrung plädiert sie für einen mutigen Umgang mit digitalen Medien in der musealen Ausstellungspraxis. Als Organisatorinnen der Tagung69 und Herausgeberinnen des dazugehörigen Sammelbandes danken wir sehr herzlich dem Zentrum für kulturwissenschaftliche Forschung Lübeck, das sowohl der Tagung als auch dem Sammelband finanziell und mit Rat und Tat zur Seite stand und diese somit erst ermöglicht hat. Ferner danken wir der Kulturstiftung Hansestadt Lübeck, die sofort ein offenes Ohr für die Idee zur Tagung hatte und bei der Umsetzung große Unterstützung geleistet hat. Der Westfälischen WilhelmsUniversität Münster möchten wir herzlich für die weitere Hilfe zur finanziellen Realisierung der Tagung danken. Ohne die produktive und anregende Zusammenarbeit mit all unseren KooperationspartnerInnen wäre es nicht möglich gewesen, die Tagung und den daran anschließenden Sammelband zu realisieren.

69 Die interdisziplinäre Tagung Das Immaterielle ausstellen. Zur Musealisierung von Literatur und performativer Kunst fand vom 15.-16. April 2016 im Zentrum für kulturwissenschaftliche Forschung und im Buddenbrookhaus in Lübeck statt.

I. Immaterielles und Materielles ausstellen

Immaterialität/Materialität Über ein Gegensatzpaar, bei dem im Fall der Literaturausstellung die Lage klar scheint H EIKE G FREREIS

Da ich als Literaturausstellungskurator naturgemäß schon häufig über Literaturausstellungen geschrieben habe, möchte ich hier zu einer freien, rhapsodischen und auch vielstimmigen Denk- und Darstellungsform greifen. Ziel ist es nicht, eine Lösung anzubieten (etwa: Wie Literaturausstellungen das Immaterielle zeigen. Oder: Warum Literaturausstellungen das Materielle zeigen). Im Gegenteil. Ich möchte einen Schritt zurückgehen und die klare Zuordnung in Frage stellen. Warum ist Literatur – anders als die Kunst – nicht ausstellbar? Weil das Ausstellen der Literatur widerspricht, weil es schlicht unnötig ist oder weil es unseren Erwartungen, Konventionen und öffentlichen Diskursen zuwiderläuft? Am Ende ist vielleicht sogar die Grenze zwischen Materialität und Immaterialität, Zeigen und Sagen, bildender Kunst und Literatur, Bild und Schrift, Linie und Text, Form und Sinn, Wissen und Denken, Gestalten und Forschen viel fließender, weicher und offener, als wir es gedacht haben, und die dialektisch-antithetische Struktur nur einer der produktiven Energien jeder Kunst und jeder Wissenschaft.

36 | H EIKE G FREREIS

1. S ZENEN

AUS DEM

L EBEN

A. Kuratoren von Literaturausstellungen haben es nicht leicht. Nicht mit ihrem Gegenstand und nicht mit ihren möglichen Besuchern. Literatur ist zum Lesen da, sagen ihnen die einen. Warum Literatur auch noch sehen? Eine Literaturausstellung muss mir das Lesen ersparen, sagen die anderen. Also bitte: schnell, einfach, nur das Nötigste. Sie wissen doch: Besucher wollen klare Inhalte, das Wichtigste über Leben und Werk eines Autors, Einordnungen, Sicherheiten. Worauf die dritten bemerken: Dann genügt auch ein Lexikonartikel, der viel preiswerter, mobiler und bequemer als eine Ausstellung ist. Man muss nicht extra hinfahren. Überhaupt sind solche an Kürze, Klarheit und Wichtigkeit orientierten Besucher ganz sicher der Gegensatz zu jedem Leser, denn: »Lesen heißt ... manchmal vor Spannung den Atem anhalten, Geschichten in einem Rutsch durchlesen, komplett die Zeit vergessen, plötzlich laut loslachen, einfach mal aus Rührung mitweinen, die ganze Welt danach in einem anderen Licht sehen, seiner Fantasie Flügel wachsen lassen, mit jedem Wort Gänsehaut spüren, in der Geschichte anderer seine eigene entdecken, unstillbaren Wissensdurst lindern, in Gedanken auf Reisen gehen, von großen Ideen inspiriert werden, in vielen Welten zuhause sein ... Lesen ist ein großes Wunder«1. Eben, fallen die vierten ein: Lesen (nicht nur in der Werbung für den eBook-Reader tolino) ist eine Tätigkeit, die sich gerade dadurch auszeichnet, dass sie nichts braucht außer einen Text, der gerade nicht notwendig mit einem konkreten Medium und dessen konkreter Materialität verbunden ist. Lesen zielt nicht oder zumindest weniger auf materielle Erfahrungen wie das Anfassen und Riechen, sondern vor allem auf immaterielle Anschaulichkeit und emotionale Phänomene: Spannung, Zeitvergessensein, Fantasieflügelhaben, Loslachen, Mitweinen, Gänsehaut, Gedankenreisen, Ideeninspiration, Weltenwechseln.

1

So die Werbung für den tolino shine 2 HD eBook-Reader: https://www. weltbild.de/artikel/elektronik/tolino-shine-2-hd-ebook-reader_20421698-1 vom 02.07.2017.

I MMATERIALITÄT /M ATERIALITÄT | 37

B. Das leuchtet alles ein, sodass Kuratoren (mich eingeschlossen) meist bescheiden oder politisch werden: Man wolle ohnehin nur Anstöße fürs Lesen geben – die Literaturausstellung könne allerhöchstens eine Einladung sein, sich näher mit der Literatur zu beschäftigen. Sie wolle die Angst vor der Literatur nehmen, für jeden etwas bereit halten und dazu mit einer Fülle an Einfällen, Verbindungen und Perspektiven überraschen. Eine LiteraturVerführung. Oder fatalistisch-konsequent: Man habe eben eine Sammlung, die gezeigt werden solle, wenn es sie schon gäbe, oder – im Fall der literarischen Gedenkstätte – auch ein Haus, ein Zimmer, das bespielt werden müsse. Es gäbe doch eine Geschichte, der man sich verpflichten müsse. Ohnehin hätten die Sammlungen mit Literatur nicht viel zu tun, sie seien Ergebnis des literarischen Lebens, also vor allem das Material für kulturhistorische Ausstellungen. In der positiven, beredten und selbstbewussten Variante: Gegenstände und Orte aus dem Umfeld der Literatur seien elementar für unser kulturelles Gedächtnis, auch wenn sie etwas ganz anderes sind als Literatur – Fenster zum Immateriellen, Beweis der Geschichte, Spiegel unserer selbst, Schirm der Erinnerung, Platzhalter der Bedeutung, Brennpunkt von Sinn, Reservat des Rests, Reservoir kultureller Energien: »Originale besiegeln Echtheit, legitimieren Ursprünge, stiften Geschichte, erzeugen Ausstrahlung, garantieren Reinheit, versichern Einmaligkeit, beglaubigen Anfänge, erzeugen Wert, provozieren Fälschungen und Akte der Zerstörung, tragen Spuren aus einer anderen Welt und führen uns in die der Ideen und Träume, der Fiktionen und der Schöpfung.«2 C. Diese Begründungen und Interpretationen des Literaturausstellens setzen alle eins voraus: Die Materialität, die der Literatur in einer Ausstellung durch ihre überlieferten konkreten, ›originalen‹ Aggregatzustände und ›au-

2

Aus dem Einführungstext der Marbacher Ausstellung Der Wert des Originals (vgl. Gfrereis, Heike/Raulff, Ulrich: Der Wert des Originals, Marbach: Deutsche Schillergesellschaft 2014).

38 | H EIKE G FREREIS

thentischen‹ Kontexte – oder auch durch szenografische Bilder und Räume – verliehen wird, scheint vor allem die Erscheinungsform eines immateriellen Diskurses. Hinter ihnen liegt, den Verdacht werden wir beim Besuch solcher Ausstellungen kaum los, wie bei Ikonen die eigentliche Welt: Sie sind durchscheinend und durchlässig. Die Literaturausstellung ist, wenn wir dieser Logik folgen, am ehesten und mehr noch als andere Wissensausstellungen mit einer Übersetzungsleistung vergleichbar. Aus ihr scheint immer ein Text hervor, den sie bezeichnet, deutet und klärt. Literaturausstellungen sind daher oft das, was man ›dicht‹ kuratiert nennen könnte. In ihnen haben die Dinge wenig Freiraum, sie liegen nah bei erklärenden Texten, unterstützt von scheinbar sinnlicheren und leichteren Medien und innerhalb oft semantisch aufgeladener Raumbilder, als solle die Transluzenz der Dinge möglichst rasch in Transparenz verwandelt und deren diffuses Text-Jenseits in einen möglichst diesseitigen Text gefasst werden. Letztlich bieten sie uns statt der ›Aura‹ – jenem Wechselbalg von Sinn und Zeichen, Numinosität und Banalität – die sprachliche Reproduzierbarkeit der Dinge. Sie beweisen uns die immense Wichtigkeit des Immateriellen, wie wir es immer noch mit der Literatur verbinden: Tiefe, Innerlichkeit, Geist, Sinn. D. Alles, was in Literaturausstellungen gezeigt wird, verweist auf dieses Dritte, wobei es immer noch am einfachsten ist, weil durch die Tradition der Literaturausstellung am selbstverständlichsten und auch durch den Spurencharakter ihrer üblichen Exponate (Autografen) am naheliegendsten, dieses Dritte in einer Figur zu verorten: im Autor. Die öffentliche Rede über Literatur ist, allen Autoren-Toden um 1970 zum Trotz, immer noch vor allem eine über den Autor. Er scheint der Statthalter von Sinn und das unmittelbare Tor zum Text. Jürgen Kaube beklagt im Sommer 2016 die Vorabberichte über Christian Krachts Die Toten: »Es handelt sich um eine jener Ich-hab-mich-mit-dem-Autor-getroffen-Besprechungen, die stark zugenommen haben, ohne dass in jedem Fall klar würde, welche zusätzlichen Erkenntnisgewinne durch gemeinsames Mittagessen gesichert werden könnten. Romane enthalten keine Argumente, was sollte es für einen Sinn haben,

I MMATERIALITÄT /M ATERIALITÄT | 39

mit den Autoren über sie zu diskutieren? Über literarische Technik hingegen, über Formen und Figuren, über die sich mit ihnen durchaus reden ließe, wird bei solchen Gelegenheiten so gut wie nie gesprochen.«3

Oft ist die Literaturausstellung daher keine Ausstellung über Wortkunst, sondern über Autoren und ihre Geschichte. Sie steht, wie zum Beispiel auch der Deutschunterricht in der Schule, in einem natürlichen Spannungsfeld zwischen Literatur, Literaturkritik, Literaturwissenschaft und persönlicher Lese-Erfahrung, das selten frei diskutiert werden kann, weil mit ihm zu viele, auch öffentlich formulierte Erwartungen von verschiedenen Seiten verbunden sind.4 Jürgen Förster hat das 2002 für den Deutschunterricht zugespitzt: Während die Poesie in Frage stelle, »Gegensätze zum Wissenskult« entwerfe und sich gegenüber Einordnungen sperre, vereinnahmten die Lehrenden sie »für ihr Erziehungsgeschäft«, gegen jede Literaturwissenschaft werde immer noch »das kulturtragende Bild der Literatur als Sinnangebot und sein theoretisches Fundament, die Hermeneutik und deren Fixpunkte – Botschaft der Literatur, Autorität des Autors, Wirklichkeitsbezug des Themas, Perspektive der Darstellung – als kulturpolitische Mythenbildung oder Literaturlegende« vermittelt.5 Systeme sind relativ resistent, unabhängig von ihren einzelnen Teilen. Eines von vielen möglichen Beispielen soll das symptomatisch zeigen. Anlässlich eines ›Literatursymposions‹ Literatur in der Schule gab das badenwürttembergische Kultusministerium 2005 eine Broschüre heraus, die heute noch auf dem ›Landesbildungsserver‹ zum Download bereitgestellt wird:

3

Kaube, Jürgen: »Publikumstäuschung als Verkaufshilfe«, in: Frankfurter Allgemeine

Zeitung

vom

02.09.2016:

http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/

buecher/themen/christian-kracht-bei-denis-schecks-sendung-druckfrisch-144160 82.html vom 02.07.2017. 4

Vgl. die ausführliche Schilderung dieser institutionell-öffentlichen Entstehungsbedingungen von Ausstellungen in Tyradellis, Daniel: Müde Museen. Oder: Wie Ausstellungen unser Denken verändern können, Hamburg: edition KörberStiftung 2014.

5

Förster, Jürgen: »Analyse und Interpretation. Hermeneutische und poststrukturalistische Tendenzen«, in: Klaus-Michael Bogdal/Hermann Korte (Hg.), Grundzüge der Literaturdidaktik, München: dtv 2002, S. 231-246, S. 232.

40 | H EIKE G FREREIS

»Dabei darf nicht außer Acht bleiben, dass die sprachlichen Barrieren alter Texte manchmal sehr hoch sind. Sie zu überwinden ist oft nicht einfach. Ein vollständiges Verstehen ist vielfach nicht möglich – aber auch nicht nötig. Wir müssen den Schülerinnen und Schülern zumuten, was wir selbst als Leser immer wieder erfahren: dass manches nicht auf Anhieb zu verstehen ist, sondern sich erst später oder unter Umständen auch gar nicht erschließt. Auszüge sind daher auch unter dem Gesichtspunkt ihrer Verständlichkeit auszuwählen. Dabei hängt es vom Alter und vom Niveau der Schülerinnen und Schüler ab, wie das ›Bekanntwerden‹ mit den Autorinnen und Autoren der Vergangenheit erfolgreich gestaltet werden kann. Es gibt eine breite Palette von Möglichkeiten: Filme über Dichter oder Schriftsteller können deren Leben plastisch vor Augen stellen, Hörspiele an die Stelle der Lektüre treten, literarisch prägnante Orte (Marbach, Meersburg, Tübingen u.a.) ein Gefühl für die Autoren und ihre Zeitumstände vermitteln.«6

Die Theorie ist hier das eine, die Praxis das andere. Wir wollen es gern allen recht machen. Die Anschlussfähigkeit ist nach allen Seiten angelegt: Innerhalb eines Absatzes wird eine Didaktik der Zumutung und Überforderung, für die nicht wenig spricht, durch eine des Kleinmachens, Nahebringens und Gefühls ersetzt. Am Ende steht dann doch wieder die identifikatorische Lektüre: Das Dritte des Textes wird ›irgendwie‹ zwischen Autor und Leser ausgemacht. E. Sicher kann man dieses Dritte auch anders sehen, nämlich einfach als Textmaterial, Diskursnetz, Ideenklumpen oder als das auch optisch Unbewusste eines kreativen Prozesses, also wieder als materialen Gegenstand. Dann verstehen wir es in vielen Fällen besser und anders als ohne die Dinge, Orte, Bilder und Räume, was Sandra Potsch in diesem Tagungsband am Beispiel von Martin Mosebachs Roman Der Nebelfürst in der Marbacher Dauerausstellung Die Seele vorführt und was programmatisch für die Ausstellungen im Literaturmuseum der Moderne und im Schiller-Nationalmuseum in den letzten Jahren war.

6

http://www.bildung-staerkt-menschen.de/schule_2004/literatur_broschuere/BP_ Broschuere_Literatur_050629.pdf, S. 7.

I MMATERIALITÄT /M ATERIALITÄT | 41

Sie alle wollten eine Gegenbewegung sein zu den üblichen ›Übersetzungsrichtungen‹ und nicht mit den Dingen auf etwas Immaterielles verweisen, sondern umgekehrt: auf die immense Wichtigkeit der Materialität. Nicht, weil es uns etwas erzählt, sondern weil wir ihm unsere Seele leihen.7 Nicht, weil es einfach vor einem Text liegt, sondern ihn auch vorläufig simuliert und hintergründig kommentiert, also ein Teil von ihm ist, eine mögliche Lese- und Betrachtungsweise. Nicht, weil es nur Stufe, sondern Schicht und Raum ist. Nicht, weil es glatt ist, bloße Hülle, sondern rau, faltig, hart, widerspenstig, löchrig... Wichtige Kategorien unseres Denkens und große Ideen (wie Ordnung, Schicksal, Schöpfung, Macht, Freiheit, Seele) sind von den Dingen nicht zu trennen. Am kürzesten hat das Schiller in einem berühmten Brief an Wilhelm von Humboldt vom 2. April 1805 formuliert: »Und am Ende sind wir ja beide Idealisten und würden uns schämen, uns nachsagen zu lassen, dass die Dinge uns formten, und nicht wir die Dinge.«8 Die Materialität der Literatur, wie sie ein Literaturarchiv überliefert, kann gerade im Hinblick auf das Immaterielle eines Textes wunderbar dekonstruktiv, subversiv, ironisch, aufklärend und ausnüchternd sein.9 Wie kaum etwas anderes zeigt sie, was ästhetische Erfahrung sein kann, indem sie den Zeichen ihre Sperrigkeit lässt:

7

Vgl. Gumbrecht, Hans Ulrich: »Vom beseelenden Hauch der Literatur«, in: Heike Gfrereis/Ulrich Raulff (Hg.), Die Seele. Die Dauerausstellung im Literaturmuseum der Moderne, Marbach am Neckar: Deutsche Schillergesellschaft 2015, S. 66-76.

8

DLA Marbach, Cotta: Briefe, Schiller C3.

9

Vgl. z. B. die Marbacher Ausstellungskataloge: Hermann Hesse. Diesseits des Glasperlenspiels, Marbach am Neckar: Deutsche Schillergesellschaft 2002; Ordnung. Eine unendliche Geschichte, Marbach am Neckar: Deutsche Schillergesellschaft 2007; Autopsie Schiller. Eine literarische Untersuchung, Marbach am Neckar: Deutsche Schillergesellschaft 2009; Ernst Jünger. Arbeiter am Abgrund, Marbach am Neckar: Deutsche Schillergesellschaft 2010; Schicksal. Sieben mal sieben unhintergehbare Dinge, Marbach am Neckar: Deutsche Schillergesellschaft 2015; Die Seele, Marbach am Neckar: Deutsche Schillergesellschaft 2016; Das Bewegte Buch, Marbach am Neckar: Deutsche Schillergesellschaft 2016.

42 | H EIKE G FREREIS

»Das Wort ist nicht mit dem gemeinten Gegenstand identisch, der Satz lebt nicht an sich, sondern stellt eine jeweils aus einer Perspektive geäußerte Ansicht dar, ein Text weist auf einen Sinn, mit dem er nicht in eins fällt usw. In die Zweistelligkeit des Zeichens hineinzuwachsen heißt damit, sich von der Unmittelbarkeit, Leibhaftigkeit, Jetzigkeit, von der Positivität und Fraglosigkeit der direkten Wahrnehmung zu entfernen. Es handelt sich aber nicht allein um Abstraktionsfähigkeit: Während der Erwerb der technischen Lesefertigkeit darin besteht, das Zeichen gewissermaßen ganz zu vergessen, um sich ganz dem Bezeichneten zuwenden zu können, erfordert literarische Kompetenz, die Negativität des Signifikanten auf einer höheren Ebene als der des technischen Dechiffrierens weiter wirksam sein zu lassen.«10

F. Im Fall der Literatur scheint diese Materialität allerdings immer noch kompensatorisch, symbolisch, referentiell (strenggenommen ist sie das ja auch, wenn sie dekonstruktiv ist, weil die Selbstreferentialität nur relativiert, was wir an möglichst bedeutsamen und sinnhaften Referenzen außerhalb des Textes setzen), vorläufig und vielleicht sogar auch ein wenig peinlich. Nur kein Materialfetischismus, kein an und für sich, nicht zu viel von einer Art, aber aufpassen, dass nichts Wichtiges fehlt. Und auch: nur keine Theorie, keine Literaturwissenschaft, sonst versteht es keiner. Keine Fragen, keine offenen Dispositive. Jedes Kind, das liest, beweist das Gegenteil. Literatur ist immer auch: Freude an der Sprache als etwas zwischen Sinn und Form, Spiel mit dem Dechiffrieren und auch wieder Re-Chiffrieren, Erfahrung der »Bruderschaft von Schrift und Bild«11. G. Doch Ausstellungen (und das gilt für alle) sind Wertschöpfungsapparate, in denen die Dinge – und auch der, der sie auswählt und arrangiert, der sich

10 Rosebrock, Cornelia: »Schritte des Literaturerwerbs«, in: Lesezeichen – Mitteilungen des Lesezentrums der Pädagogischen Hochschule Heidelberg, 10 (2001), S. 35-62, hier zitiert nach: https://www.ph-heidelberg.de/fileadmin/user_upload/ deutsch/Lesezentrum_Archiv/Hefte_06-10/rosebrock.pdf vom 02.07.2017, S. 7f. 11 Vgl. Bredekamp, Horst: »Die Bruderschaft von Schrift und Bild«, in: Gfrereis/ Raulff, Die Seele (2015), S. 44-55.

I MMATERIALITÄT /M ATERIALITÄT | 43

mit ihnen etwas für andere denkt – in dem Maß an Wert gewinnen, in dem sie klar erkennbar auf etwas Immaterielles verweisen, das für die Öffentlichkeit einen großen, anerkannten Wert besitzt. Manchmal ist der immaterielle Wert so gewiss, dass man es sich durchaus leisten könnte, auch in einer Literaturausstellung die Dinge wie Kunst auszustellen, als Material an und für sich. Das sicherlich prominenteste Beispiel dafür: Franz Kafkas Prozess-Manuskript.12 Manchmal auch ist die Autorität des Kurators so groß, dass er selbst mit seiner Person und seinem Werk diesen Wert stiften kann. Wie der 64-jährige Jean-Francois Lyotard 1985 für seine Ausstellung Les Immatériaux. Einem gänzlich Unbekannten dürfte man dieses Labor der Irritationen, Isolationen, Inkommensurabilitäten, Undarstellbarkeiten und offenen Fragen kaum abgenommen haben: »Wir wollen sensibilisieren und mit Sicherheit nicht indoktrinieren. Die Ausstellung folgt einer postmodernen Dramaturgie. Keine Helden, keine Mythen. Ein Labyrinth von Situationen, das sich um Fragen herum organisiert: unsere Stationen... Der Besucher ist in seinem Alleinsein aufgefordert, sich an den Knotenpunkten des Netzes, das ihn hält, und der Stimmen, die ihn rufen, seinen Weg zu suchen. Hätten wir Antworten oder gar eine ›Lehre‹, wozu dann dieser ganze Aufwand?«13

Im Bereich der Literaturausstellungen sind solche offenen Verfahren immer noch die Ausnahmen.

12 Kafkas Prozess-Manuskript besitzt zudem eine in materieller Hinsicht so unsichere bzw. offene Gestalt, was die Reihenfolge der Blätter und Konvolute anbelangt, dass es sich selbst immer wieder gegen eine einfache Ausstellung und Reproduktion sperrt. Immer wieder tritt das Material in den Vordergrund und stört die einfache Gleichung Manuskript = Text. Vgl.: Gfrereis, Heike/Jaegle, Dietmar (Hg.): Der ganze Prozess, Marbach am Neckar: Deutsche Schillergesellschaft 2013. 13 Zitiert nach Obrist, Hans Ulrich: Kuratieren!, München: Beck 2015, S. 179.

44 | H EIKE G FREREIS

2. S ZENEN DER L ITERATUR A. Sehr viel, was das öffentliche Reden über Literaturausstellungen bestimmt, geht auf das Konto einer konventionellen Literatur-, Kunst- und Museumsdefinition. Das Ideal des Museums ist das Kunstmuseum. Das Ideal der Kunst ist das realistische Gemälde, das etwas zeigt, was wir als Abbild der Wirklichkeit identifizieren können, und das zugleich gezeigt wird, um es als Original für sich zu zeigen, weil es als ästhetisch herausragend gilt14 – also unsere Mustervorstellung einer Ausstellung, die das Materielle zeigt und zu Recht zeigt. Das Ideal der Literatur ist der realistische Roman, der als Buch gedruckt erscheint, eine Geschichte erzählt, die wir uns parallel zu unserer Wirklichkeit vorstellen können und von Anfang bis Ende ›verschlingen‹, also buchstäblich als Ganzes in unseren Köpfen haben, auch wenn wir uns nie und nimmer im Wortlaut daran erinnern können. Was wir für unausstellbar halten und was für uns so sehr mit Inhalten und so wenig mit Formen und Formaten verbunden ist, das ist vor allem der Roman. Anders als die Lyrik und anders als das Drama ist er tatsächlich auf das tendenzielle Verschwinden jeder Materialität angelegt: Der ideale Roman-Leser (der für uns übrigens immer auch ein naiver ist) vergisst die Zeit und die Welt, seinen Körper und den des Textes, er übersetzt möglichst ungestört Buchstaben in Geschichten, Zeichen in Plätze seiner Imagination und – spätestens seitdem der Prototyp des Romans der Bildungsroman ist und der naive Leser zum mündigen erzogen werden soll – Figuren und Handlungen in ihren ›Gehalt‹, in Wertsysteme und Sinnangebote. Dieses Paradigma des Romans, verbunden mit dem der Schrift und des Buchs, der Zeit, der Privatheit und der Erziehung, bestimmt das Klischee der immateriellen Literatur, auf das wir uns beziehen, wenn wir sagen: Literatur ist nicht ausstellbar. Sie scheint innerlich, jedem Leser für sich zu gehören und das Gefäß eines ›Gehalts‹ zu sein, der nach nichts aussieht. Doch halt. Auch hier. Wenn wir ehrlich sind, erkennen wir Romane auf den ersten Blick. Sie haben meist ein bestimmtes Format, einen bestimmten Umfang und ein bestimmtes Aussehen. Und wenn wir genauer lesen und

14 Vgl. Wiesing, Lambert: Sehen lassen. Die Praxis des Zeigens, Berlin: Suhrkamp 2013, bes. S. 180-191.

I MMATERIALITÄT /M ATERIALITÄT | 45

darüber nachdenken, werden wir noch mehr widerlegt. Schon der KunstRoman, wie er sich in England mit Sternes Tristram Shandy und Deutschland mit dem Werther von Goethe und dem Anton Reiser von Karl Philipp Moritz herausbildet und in Jean Pauls Romanen einen ersten Höhepunkt findet, stört diese inhaltsorientierten Ersetzungen und Übersetzungen, die seine Leser vornehmen, und spielt immer wieder seine Materialität in den Vordergrund. Der Kunst-Roman reflektiert Papier und Zeichen, thematisiert Rahmen, gibt uns reale Bilder, die seine fiktiven durchaus auch konterkarieren. Er setzt dem Leser Widerstände entgegen, wirft ihn damit (wenigstens versucht er es) immer wieder aus dem Was einer Geschichte heraus und verwickelt ihn stattdessen in das Wie ihrer Erzählung. Das heißt: Er exponiert sich. Er bringt nicht nur Geschichten zur Anschauung, sondern auch seine Struktur. Tristram Shandy gibt für diese tatsächlich ein Bild: eine bunt marmorierte Seite. Das, was in der Tiefe des Textes liegt, ist hier das Anschaulichste und Ausstellbarste, was man sich vorstellen kann. Nur ist das Display nicht notwendig das eines Museums oder Ausstellungsraums: Es genügt das Buch. Was aber nicht heißt, Literatur sei immateriell. B. Im Gegenteil. Wie sie ihre Materialität einsetzt, das ist eine Feuerprobe für gute Literatur und das wissen wir auch. Ein Roman-Anfang etwa wie dieser wäre, wenn man alles striche, was daran Form und Materialität ist und es auf den ›Inhalt‹ reduzierte (das, was sich so oder auch anders in etwa zusammenfassen lässt), nicht mehr da: »Lolita, light of my life, fire of my loins. My sin, my soul. Lo-lee-ta: the tip of the tongue taking a trip of three steps down the palate to tap, at three, on the teeth. Lo. Lee. Ta.«15 C. Jedes Zitieren – und damit das Grundelement von Analyse und Interpretation – schneidet auch lange Texte auf eine bildhafte Form zu und zielt darauf, dass sie sich zeigen. Man kann das beim Close Reading, dem Lesen des Textes Buchstabe für Buchstabe, ebenso ›sehen‹ wie beim Distant Rea-

15 So die berühmten Anfangssätze von Vladimir Nabokovs Lolita.

46 | H EIKE G FREREIS

ding, das mit Hilfe der computerbasierten Texterfassung oder auch des einen Text nur überfliegenden und ihn fragmentarisierenden Hyper Readings16 nach Elementen sucht, die zunächst einmal statistisch quantifizierbar sind. Das ›Writing Center‹ der Universität Harvard erklärt die Methoden und Ziele des Close Reading: »When you close read, you observe facts and details about the text. You may focus on a particular passage, or on the text as a whole. Your aim may be to notice all striking features of the text, including rhetorical features, structural elements, cultural references; or, your aim may be to notice only selected features of the text – for instance, oppositions and correspondences, or particular historical references.«17

Daraus folgen diese Schritte: 1. »Read with a pencil in hand, and annotate the text«, 2. »Look for patterns in the things you’ve noticed about the text – repetitions, contradictions, similarities«, 3. »Ask questions about the patterns you’ve noticed – especially how and why«18.

Muster, Wiederholungen, Gegensätze, Ähnlichkeiten sind Eigenschaften der sichtbaren Welt und Strategien des Sichtbarmachens. Wo man sie findet und darstellt, gewinnen Texte, aber auch zum Beispiel Melodien, soziale Handlungen und Naturereignisse über ihre zeitliche Erscheinungsweise eine bildhafte und räumliche und, wenn man es wie in der Anleitung mit dem Stift macht, sogar eine authentische und originelle Qualität. Sie werden evident, leuchten uns ein, werden uns nahe, sind eine Form der Aneignung und Distanzierung zugleich. Überspitzt könnte man sagen: Wir fangen überhaupt erst an, uns näher mit etwas zu beschäftigen, wenn wir nach solchen Elementen suchen.

16 Von James Sosnoski und Kathrine Hayles beschrieben und von Philipp Schweighauser ›ausgestellt‹ in Video-Clips: https://www.youtube.com/watch? v=cwOQtFBqR1E vom 02.07.2017 und https://www.futurelearn.com/courses/ reading-digital/ vom 02.07.2017. 17 http://writingcenter.fas.harvard.edu/pages/how-do-close-reading 2017. 18 Ebd.

vom

02.07.

I MMATERIALITÄT /M ATERIALITÄT | 47

D. Um Evidenz zu erkennen, muss man zurücktreten können und gleichsam von außen auf etwas schauen. Das heißt: Nicht lesen kann auch zum Ziel führen. Das Distant Reading, von Franco Moretti 2001 angesichts einer Literatur, die in ihre Masse nicht mehr durch das Lesen bewältigbar ist, als provokant-nüchternes Gegenmittel zum Close Reading entworfen, sucht wie dieses ebenfalls nach Visualisierungselementen – Mustern, Wiederholungen, Gegensätzen, Ähnlichkeiten. »Es ist wie eine Röntgenaufnahme: Auf einmal wird die Todesregion in Abbildung 5 sichtbar, die sonst durch die Opulenz des Stückes verdeckt wird«, deutet Moretti etwa eine Figurennetzwerkanalyse von Shakespeares Hamlet.19 Den Kurven, Karten, Stammbäumen widmet er ein eigenes Buch: »Abstrakte Modelle für die Literaturgeschichte«20. Warum gefällt uns diese konkrete Abstraktion von Literatur und Literaturgeschichte so gut? E. Eine Antwort könnte darauf sein: Weil sie unendlich viele Möglichkeiten zulässt und uns doch immer ein Ganzes in die Hand gibt – ein Bild, »das seine strukturelle, materielle Beschaffenheit in sich selbst völlig reflektiert und sie dem Betrachter genauso völlig offenbart.« Eine »ausschließliche Demonstration«, so erklärt Boris Groys für die bildende Kunst des 20. Jahrhunderts, seiner »eigenen Präsenz«21. Ein Traum also von Kunst und Sprache. Sie bedeutet nichts außer sich und kann doch in ihren unterschiedlichen Dimensionen, in ihren verschiedenen Lagen und Schichten immer wieder neu betrachtet werden. Sie scheint so einfach und ist es doch nicht. Wir können dabei mit den Abständen spielen, dicht herangehen und weit weg.

19 Moretti, Franco: Distant Reading, Konstanz: Konstanz University Press 2016, S. 198. 20 Moretti, Franco: Kurven, Karten, Stammbäume. Abstrakte Modelle für die Literaturgeschichte, Frankfurt: Suhrkamp 2009. 21 Groys, Boris: Logik der Sammlung. Am Ende des musealen Zeitalters, München: Hanser 1997, S. 214.

48 | H EIKE G FREREIS

Weil wir zwischen diesen Skalierungen hin und her wechseln können, beginnen wir, sie nicht beliebig, sondern sehr spezifisch zu verstehen. Jede Betrachtungsmethode lässt uns etwas anderes erkennen, das wir dann mit den anderen Stücken oder Schichten zu einem komplexen Gebilde zusammenbauen. Diese Skalierbarkeit des Lesens, dieses Scalable Reading, zwingt uns zur Langsamkeit, sie verzögert, sie lässt uns nicht zum Ende kommen22 – was wir mit einem Modell, einer konkreten Abstraktion und also einem sichtbaren, uns vor- und gegenüberliegenden Aggregatzustand (oder auch Surrogat), aller Vorläufigkeit zum Trotz sehr viel leichter aushalten als mit dem potentiellen Nichts einer immateriellen Ahnung. F. Die Forschergruppe Digital Literary Network Analysis (DLINA) zeigt das Figurennetzwerk von nahezu 500 Dramen als Poster: »In order to be a convincing Distant-Reading Showcase our poster should really show visualised data that could actually be read by viewers. The 465 character networks showing German-language dramas written/published between 1730 and 1930 are sorted chronologically, and one thing people should be able to spot is the decisive decade in which German authors started to binge-read and adapt Shakespeare. All of a sudden in the 1770s, they start to build character networks far bigger than the ones before: Goethe’s play ›Götz von Berlichingen‹ is one of the first that, instead of only 8 or 12 or 16 characters, started to let more than 70 characters appear on stage. You can witness this ›explosion‹ in the 3rd row from above, 3rd column from the right. There are other things you can actually recognise in the poster, just take the network built from Schnitzler’s ›Der Reigen‹ (›La Ronde‹), which describes

22 Vgl. Weitin, Thomas: »Pamphlet #1. Thinking slowly. Literatur lesen unter dem Eindruck

von

Big

Data«,

in:

Pamphlete

des

LitLab,

März

2015:

http://digitalhumanitiescenter.de/pamphlets/kl3-01_weitin-thinking-slowly.pdf vom 02.07.2017 und Mueller, Martin: »Morgenstern’s Spectacles or the Importance of Not-Reading«, in: Scalable Reading: http://sites.northwestern.edu/ nudhl/?p=433 vom 02.07.2017.

I MMATERIALITÄT /M ATERIALITÄT | 49

a circle in correspondence with the symptomatic course of the play (6th line from below, 7th column from the right; [...]).«23

Das Ergebnis der Analyse ist selbst wieder ein ästhetisch ansprechendes Bild, das sogar eine eigene Erscheinungsgeschichte hat: »To add a bit of suspense, we arrived in Leipzig with a still unfinished poster. A tiny little night shift at Café Telegraph settled things and on Wednesday, the very day of the poster presentations, we printed the actual poster on glossy paper in A0 format at the local print shop sedruck, their store at Beethovenstraße 23. The result was amazing, one of the best A0 printing experiences we had so far.«24

G. Als Physiker in über 100 bekannten literarischen Texten die Satzlängen untersuchen, finden sie heraus, dass sich diese wie Fraktale verhalten: Sie sind selbstähnlich – teilweise sogar auf multiplen Ebenen.25 In ihrem Bericht dazu bildet die Neue Zürcher Zeitung das Detail eines Romanescos ab: »Schön wegen seiner fraktalen Struktur: Romanesco-Blumenkohl«. Der Bericht selbst erklärt die Analogie: »Literatur gleicht einem Blumenkohl. Diese vielleicht überraschende Erkenntnis verdanken wir der Physik. Blumenkohl, insbesondere der grüne Romanesco, zeichnet sich durch eine strukturelle Besonderheit aus: Seine Form wiederholt sich auf mehreren Stufen. So bildet der Romanesco eine spitz zulaufende Rose, die aus spitz zulaufenden Röschen besteht, die wiederum aus spitz zulaufenden Röschen bestehen. Diese selbstähnliche Struktur ist nicht nur hübsch anzusehen, sondern auch ma-

23 https://dlina.github.io/Distant-Reading-Showcase-Poster-DHd2016-Leipzig/ vom 02.07.2017. 24 Ebd. Weitere Beispiele für diese ›schönen‹ Analysen finden sich bei Grandjean, Martin: http://www.martingrandjean.ch/network-visualization-shakespeare/ vom 02.07.2017. 25 Drozdz, Stanislaw u.a.: »Quantifying origin and character of long-range correlations in narrative texts«, in: Information Sciences, 331 (2016), S. 32-44: http://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0020025515007513 vom 02. 07.2017.

50 | H EIKE G FREREIS

thematisch bemerkenswert. [...] Die Warschauer Physiker weisen auch darauf hin, dass die Frequenzstrukturen der untersuchten 113 Werke jenen von Musik, Rede, Herzrhythmus und spontaner Hirnaktivität entsprechen. Anders gesagt: Der Rhythmus ist alles. Er verbindet Kunst, Kognition und Körper.«26

H. Der Reiz des Distant Reading ist es, mit naturwissenschaftlichen Verfahren einen immateriellen Gegenstand in einen sichtbaren, an und für sich schönen zu verwandeln und dabei dann auch noch sehen zu können, was sonst verborgen bliebe. Zauber der konkreten Abstraktion: »Wie die Notationen und Karten sind Schemata und Diagramme Mischformen, in denen sich Diskursives und Ikonisches, das Sagen und das Zeigen verbinden, um mithilfe räumlicher Ordnungsrelationen Bedeutungen ausdrücken zu können. [...] Wesentlich ist, dass das Diagrammatische eben nicht nur eine Darstellungsmodalität ist. Vielmehr wächst ihm immer auch ein operativer Charakter zu, insofern die Visualität des Diagramms nicht nur der Darstellung, sondern auch dem Problemlösen, der Komposition, der Konstruktion und der Exploration dient: Materialität, Sichtbarkeit und Handhabbarkeit greifen ineinander und lassen nicht einfach ›Bilder des Denkens‹, vielmehr ›Erkundungsräume‹ und ›Erfahrungsräume‹ entstehen. Versinnlichung – und nicht einfach nur Abstraktion und Verkörperung – ist der ›Zauberstab‹ der abendländischen Episteme. Doch dieser Zauberstab erschließt nicht nur Wissensräume, sondern auch Spielräume ästhetischer Erfahrung, Produktion und Analyse.«27

26 Läubli, Martina: »Was Literatur mit Blumenkohl zu tun hat«, in: Neue Zürcher Zeitung vom 17.06.2016: http://www.nzz.ch/feuilleton/buecher/fraktale-struktu ren-was-literatur-mit-blumenkohl-zu-tun-hat-ld.89892 vom 02.07.2017. 27 Krämer, Sybille: »Notationen, Schemata und Diagramme: über ›Räumlichkeit‹ als Darstellungsprinzip. Sechs kommentierte Thesen«, in: Gabriele Brandstetter/Franck Hofmann/Kirsten Maar (Hg.), Notationen und choreographisches Denken, Freiburg: Rombach 2010, S. 29-45, hier S. 42.

I MMATERIALITÄT /M ATERIALITÄT | 51

I. Aus diesem Grund, das als Nebenbemerkung, haben die Marbacher Ausstellungen in den letzten Jahren meist diagrammatisch-schematische Anordnungen bevorzugt und Besucherwege eher als choreografische Notationen denn als Zirkel, Bahn oder Parcours gedacht. Auf einen an traditionellen Größen wie Autor, Epoche oder ›Gehalt‹ ausgerichteten semantischen, illustrierenden Überbau – ein Raumbild etwa, welches das Manuskript von Berlin Alexanderplatz mit historischen Bildern vom Alexanderplatz hinterfängt, mit dem Film einer Straßenbahnfahrt durch Berlin, mit der Tonaufnahme einer Dampframme oder, der Collage zuliebe, lauter abgehängten Scheren – haben wir verzichtet. In allen Ausstellungen wurde Papier so gezeigt, dass es dinglich wurde: zu einem Material, das unmittelbar da ist – vor jeder Deutung und unabhängig von all den Bedeutungen, die durch Berührung und Beschreibung entstanden sind. Wir haben in den Ausstellungen sehr oft das Zeigen vom Vermitteln getrennt und das Papier als Exponat inszeniert: in seiner ganzen Merk- und Fragwürdigkeit, auch seiner bescheidenen Alltäglichkeit und meist in seiner ganzen Erscheinung, von allen Seiten aus und mit all seinen Blättern. Die Raumbilder sind nahezu alle mit dem Material Papier entstanden und haben es jeweils auf sehr unterschiedliche Weise präsentiert, in ganz verschiedenen Anordnungen und Kombinationen. Die Farben, Formen und Materialien dieser Ausstellungen waren höchstens semantisch in Bezug auf ihren Gegenstand und unsere Fragen an ihn. Sie waren Versuchsanordnungen, die unser Hauptexponat – Papier – ausnüchtern und zugleich auch etwas aus ihm herauslocken wollten, was wir nur mit ihm sehen und wissen können. J. Die in zumindest einer Hinsicht übergenauen, formalen Arten des Lesens entfalten ihre Funktion und Methode im Kontrast zu dem Lesen, wie wir es mit dem Roman verbinden. Wir verlieren uns weder beim Close Reading noch beim Distant Reading in das, was wir lesen. Wir haben das Ganze eines Textes nicht mehr in uns, sondern einen Teil vor Augen, der uns das Ganze als Bild einer Struktur erschließt. Bei seiner Analyse von Balzacs Novelle Sarrasine ist für Roland Barthes das kleinste räumliche Modell ei-

52 | H EIKE G FREREIS

nes Textes die ›Lexie‹, die Leseeinheit. In ihr kann man »die Bedeutungen beobachten«: »Der Text ist in seiner Masse dem Sternenhimmel vergleichbar, flach und tief zugleich, ohne Randkonturen, ohne Merkpunkte. So wie der Seher mit der Spitze seines Stabs daraus ein fiktives Rechteck herausnimmt (abteilt), um darin nach bestimmten Prinzipien den Vogelflug zu erkunden, zeichnet der Kommentator dem Text entlang Lektürebereiche auf, um darin die Wanderwege der Bedeutungen, die sanfte Berührung der Codes, das Vorbeigehen der Zitate zu beobachten.«28

K. Literaturwissenschaft, so könnte man es nach diesen Beispielen zuspitzen, überführt Texte in neue Aggregatzustände, die so materiell und visuell sind wie die Aggregatzustände, die traditioneller Weise in Literaturausstellungen gezeigt werden: Manuskripte. Jeder dieser Aggregatzustände zeigt – wie das realistische Gemälde – einen Text, den wir wiedererkennen, und wird dennoch auch an sich gezeigt. Es gibt an ihm etwas zu sehen, und er lässt uns etwas sehen, was wir nur so erkennen können. Allerdings – und das im Unterschied zum realistischen Gemälde, aber analog zu vielen Bildern der modernen Kunst – zeigen sie nicht die Realität der Welt, sondern die des Textes. Sie sind, wenn man so will, Formen einer Literatur über Literatur, Bilder über die Bilder der Literatur. Unabhängig davon, ob wir mit diesen Aggregatzuständen sehr nah an einen Text herangehen oder weit weg von ihm. »Je ambitionierter das Projekt, desto größer muss die Entfernung sein«, steht auf der Buchrückseite der deutschen Ausgabe von Distant Reading, antipodisch zu den Sätzen auf derjenigen von S/Z: »Mit Hilfe der Askese soll es manchen Buddhisten gelingen, eine ganze Landschaft aus einer Saubohne herauszulesen.« Der Satz von Barthes geht weiter: »Das hätten die ersten, die Erzählungen analysierten, gerne gekonnt: alle Erzählungen der Welt (sie sind Legion) aus einer einzigen Struktur herauszulesen.«29

28 Barthes, Roland: S/Z, Frankfurt: Suhrkamp 1987, S. 18. 29 R. Barthes: S/Z., S. 7.

I MMATERIALITÄT /M ATERIALITÄT | 53

L. »Literatur der Literatur« nennt Christian Benne das erste Kapitel seines Buchs Die Erfindung des Manuskripts.30 Was gestrichen ist, ist sichtbarer als das, was sich einfach lesen lässt. Vor allem, wenn man aus der Ferne darauf schaut. Gottfried Benn soll gesagt haben, er wäre ein großer Schriftsteller geworden, wenn er hätte alles lesen können, was er geschrieben hat. Friedrich Nietzsche kommentiert einen Brief: »Ja die Barbarei meiner Handschrift, die niemand mehr lesen kann, ich auch nicht! (Weshalb lasse ich meine Gedanken drucken? Damit die für mich lesbar werden. Verzeihung auch dafür!).«31 Nicht alle Manuskripte liegen zeitlich vor einem Text. Sie sind nicht immer Zeugen der Entstehung, die uns gleichsam in das Unbewusste eines Textsubjekts sehen lassen und an die Schriftgrenze des Textes führen: Literatur als etwas, was aus der Unlesbarkeit kommt. Nicht selten (bei Klopstock und Goethe ebenso wie bei Rilke und Hesse) sind Handschriften danach entstanden, als Medium einer bestimmten Kommunikation mit den Lesern. Der Autor zeichnet in diesem Fall mit dem Manuskript bewusst ein Bild seines Textes, das dazu anregt, den Text auf eine bestimmte Weise wiederzugeben oder zu ergänzen und ihn damit buchstäblich aus zweiter Hand zu lesen (um den Titel eines Videos von William Kentridge zu paraphrasieren: Second Hand Reading). Das Manuskript inszeniert den Text. Es

30 Wobei Benne selbst diesen Aggregatzustand vor allem begrifflich-immateriell nimmt, beim Diskurs stehen bleibt und in das Dilemma auch der Literaturausstellungskuratoren gerät: »Die vorliegende Studie [...] stellt [...] nicht die einzelne Handschrift ins Zentrum und hält sich überhaupt bewusst bei der Präsentation von Anschauungsmaterial zurück, um gar nicht erst in die Nähe eines bloßen Materialfetischismus zu gelangen.« Benne, Christian: Die Erfindung des Manuskripts. Zur Theorie und Geschichte literarischer Gegenständlichkeit, Berlin: Suhrkamp 2015, S. 39. 31 Zitiert nach Groddeck, Wolfram: »Textgenese und Schriftverlauf. Editionstheoretische Überlegungen zum Manuskript von Nietzsches Dithyramben-Entwurf ›Die Wetterwolke‹«, in: Sandro Zanetti (Hg.), Schreiben als Kulturtechnik. Grundlagentexte, Berlin: Suhrkamp 2012, S. 214-236, hier S. 214.

54 | H EIKE G FREREIS

ist für das Zeigen des Schreibens und also das Sehen und Lesen mit den Augen gemacht. Kurt Schwitters etwa hat sein 1919 veröffentlichtes Gedicht An Anna Blume nach dem Druck von Hand noch einmal abgeschrieben und dabei »Bitte wenden« auf die erste Seite geschrieben. Das Namens-Palindrom wird mit der Hand greifbar, wenn dann auf der Rückseite folgt: »Weisst Du es, Anna, weisst Du es schon? / Man kann Dich auch von hinten – – – lesen.«32 Rilke fertigte viele seiner Gedicht-Abschriften für Katharina und Anton Kippenberg an, Rilkes Verleger seit 1906: Sie geben Einblick in die Entstehung größerer Projekte, sichern einen noch nicht fertigen oder veröffentlichten Text, sind in manchen Fällen die Druckvorlage und immer ein Geschenk. »Katharina Kippenberg in diesen schon so weit erworbenen Besitz dankbar einsetzend«, ergänzte Rilke im Juli 1922 in einem Heft, das er im Februar an Anton Kippenberg geschickt hatte, um ihm Die Sonette an Orpheus zum Druck vorzuschlagen: »die mehr sorgfältige als schöne Abschrift wollte vor allem genau und deutlich sein, im Hinblick auf eine spätere Drucklegung.«33 Für Lou Andreas-Salomé schrieb Rilke das Stunden-Buch in zwei schwarze Hefte und stellte nahezu jedes Gedicht durch einen dazugesetzten Augenblick in den Kontext einer Erinnerung, die ausschließlich Lou und er teilten: »am Abend des 20. September, als nach langem Regen die Sonne durch den Wald ging und durch mich« oder »am gleichen Abend, als wieder Wind und Wolken kamen«34. Die Funktion dieser Abschriften erläuterte Rilke Lou am 21. August 1903, kurz vor seiner Abreise nach Florenz: »nimm das neue Buch mit Gebeten zu Dir, leg es zu dem ersten und lies es und hab es lieb mit ihm. Ich nehme zwar Abschriften von den einzelnen Gedichten mit, die es enthält, weil ich fühle, dass die Sehnsucht darin zu lesen kommen wird in Tagen und Nächten; aber ich werde diese Bruchstücke anders lesen, wenn ich weiß, dass

32 DLA Marbach, B:Schwitters, Kurt, 65.1428. 33 Schnack, Ingeborg: »Die Rilke-Handschriften der Sammlung Kippenberg«, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 7 (1963), S. 536-580, hier S. 547. 34 DLA Marbach, D:Andreas-Salomé, Lou, HS.1998.0012.00017.

I MMATERIALITÄT /M ATERIALITÄT | 55

das Ganze in Deinen Händen ruht, Du Gleichgewicht, – beschützt, angeschaut und zusammengefasst von Dir«35.

Sie antwortete ihm vier Tage später aus dem Riesengebirge, »auf einem Baumstamm« schreibend: »Mein Mann sandte Deinen Brief vom 21. August und die Nachricht, dass ein MS von Dir eingetroffen sei. Es wird in meiner Stube auf mich warten und mich dort begrüßen als der heimlichste Theil Deiner selbst.«36 M. Beim Drama und bei der Lyrik kippt das Klischee der Immaterialität vollends. Das erstere ist in seinem schriftlichen Aggregatzustand nur vorläufig und zielt auf Inszenierung, Öffentlichkeit, Bild, Raum, Stimme, Bewegung (es ist also per se eine Ausstellungsform).37 Das zweite ebenso, wenn es auch im Laufe des 18. Jahrhunderts zunehmend und nicht nur in der Ausnahmeerscheinung des Figurengedichts eine Kompensation dieser Elemente für den Druck mit sich führt: seine klare Gestalt, die sich durch den Platz auf allen vier Seiten von der Prosa abhebt, die Elemente des Verses deutlicher macht (auch ohne Metrum, was eine Voraussetzung für das Entwickeln des freien Verses ist) und uns unwillkürlich dazu veranlasst, eine andere Lesehaltung einzunehmen. Allein das dezidierte, architektonische Format des Textes macht aus Giuseppe Ungarettis Mattina ein Gedicht – sein berühmtestes und das kürzeste: M’illumino d’immenso.

Zeilen, Reime, Binnenreime, optische Analogien, auffallende Anfangsbuchstaben, »großer Schriftgrad, altertümliche oder eigens geschaffene

35 Pfeiffer, Ernst (Hg.): Rainer Maria Rilke, Lou Andreas-Salomé. Briefwechsel, Frankfurt a.M./Leipzig: Insel 1989, S. 118. 36 Ebd., S. 119. 37 Vgl. Hanak-Lettner, Werner: Die Ausstellung als Drama. Wie das Museum aus dem Theater entstand, Bielefeld: transcript 2010.

56 | H EIKE G FREREIS

Schrifttypen, teures Papier, Verschwendung von leerem Raum« sind das »optische Äquivalent zur hergebrachten akustischen Eigenart der Lyrik, zu Rhythmus und Melodie«, erinnern an die ursprünglichen Funktionen des Gedichts: Gebet, Zauberspruch, Gesang und Tanz, Feier und Fest, Rede mit Göttern und Geistern.38 Und sie sind Stimulanzien unserer Sprech- und Bewegungsmuskeln wie unserer Imagination. Wir neigen dazu, Gedichte allein aufgrund dieser Formatierung, die auch ihre Bühne ist, wenigstens mit der Bewegung der Lippen zu lesen, ihren Rhythmus mit den Fingern zu erfassen und Wort- und Bildfügungen hinzunehmen, die von den Regeln der normalen Schriftsprache abweichen. Auch dieser Materialität der Lyrik genügt in der Regel das Buch, das lose Blatt, der Screen oder auch (im Fall des Epigramms) ein anderer Gegenstand als Display.39 Man sieht im Fall der Lyrik tatsächlich auf den ersten Blick, was man liest, aber man braucht dazu nicht notwendig in ein Museum zu gehen.40 N. Das heißt: Literatur ist nicht immateriell und Textkultur immer auch materiell – von ihren Aufzeichnungs- und Trägermaterialien, ihrer immanenten Materialität (Textur und Struktur) und der Materialität ihrer Analyse und Interpretation aus betrachtet. Der neutrale und autonome, beliebig unveränderlich reproduzierbare Text, der nur in eine Richtung – hin auf ein Immaterielles – verweist, ist eine Illusion.

38 Schlaffer, Heinz: Geistersprache. Zweck und Mittel der Lyrik, München: Hanser 2012, S. 190. 39 Beispiele für alle Erscheinungsweisen in: Block, Friedrich W./Heibach, Christiane/Wenz, Karin (Hg.): p0es1s. Ästhetik digitaler Poesie, Stuttgart: Hatje Cantz 2004. 40 Hans Platzgumer und Richard Schwarz haben im Sommer 2016 in einer Marbacher Ausstellung diese Sichtbarkeit in eine immaterielle, doch sinnliche Erfahrung verkehrt, vgl. die Dokumentation: http://islandrabe.com/projekte/ poesiekubus/ vom 02.07.2017.

I MMATERIALITÄT /M ATERIALITÄT | 57

3. S ZENEN DES M USEUMS A. Strenggenommen braucht auch die bildende Kunst kein Museum. »Gedruckte Ausstellungen« hat Hans Ulrich Obrist ein Kapitel in seinem Buch Kuratieren! überschrieben: »Ausstellungen [können] immateriell sein und außerhalb von Museen und Ausstellungsräumen stattfinden.«41 Massenmedien wie das Buch, die Werbung und das Internet sind ebenso Ausstellungsorte wie Museen, Kunsthallen, Städte und Landschaften. Obrist hat ein eigenes Ausstellungsprojekt auf Instagram, »Art of Handwriting«:42 »Everything I do develops out of conversations. It’s an exchange, it’s a dialogue, it’s often a friendship. The project started during the Christmas holiday when I was with the poet Etel Adnan and artists Simone Fattal and Koo Jeong A. We were in a café where we were seeking shelter from the rain, and whilst I typed on my phone, Etel wrote a beautiful poem on a paper napkin. That, in a way, prompted me to start the project. I would always ask the artist to write something out of a conversation, or very often pick up a sentence they’ve just said. It’s really just what fits on a piece of paper. I have Post-its because I love Post-its and so often artists use my Post-its, though sometimes they want to use their own paper. While I was growing up in Switzerland I discovered the work of Robert Walser, 1878-1956. Already as an adolescent I was very fascinated by his microscripts, these tiny, microscopic, inscrutable, seemingly invisible scripts which he called ›pencil method‹ . They were drawn on very small fragments of paper, quite often on found papers, like business cards and so on. For many decades we assumed that they would not be decipherable. However, the great Werner Morlang, who just died recently, to whom I would like to dedicate this interview, dedicated decades of his life to show that they can be deciphered. I think that my passion for handwriting comes from a childhood and adolescent obsession with Robert Walser, and the beauty of

41 H.U. Obrist: Kuratieren!, S. 64. 42 https://www.instagram.com/hansulrichobrist/ vom 02.07.2017.

58 | H EIKE G FREREIS

these little scraps of paper. I mean, they are not drawings, but they are doodles. They are visual documents. I’ve never had training as a calligrapher, but obviously at school, we learned handwriting with a fountain pen. It was only possible in our childhood to write in ink, something which is now much less present. I think the importance of handwriting came from a text of Umberto Eco’s, that we should reintroduce calligraphy courses because, through the computer, handwriting faces potential extinction. This is why I have decided to celebrate handwriting on social media, and to use Instagram and Twitter as the medium. The experience of handwriting for me has always been as a way of thinking. I’m a doodler. I doodle, sketch, draw and handwrite every day. It’s the way I develop every exhibition and every book. Of course I write on the computer but every idea starts with a doodle. And I doodle non-stop, on trains, and a lot during conversation. I doodle a lot when I sit on panels in conferences. I just do it because I have always been so anxious to speak in public. To fight this anxiety, I feel slightly more secure when I doodle. [...] I think the relationship between social media and analogue art is Both/And instead of Either/Or or Nor/Nor. Radio was not destroyed by television but was reinvented, and today it is a more dynamic medium than ever before. I think in the time of digitalization, and of the internet, there is an increased desire for analogue things. The book hasn’t disappeared at all. Live concerts and exhibitions are more important than ever. So I think it’s often a relationship of complementarity, of reciprocity. I don’t think that one thing replaces the other. In any case we need to find ways of combining, of making hybrids between analogue and digital.«43

B. Ich habe Obrist auch deswegen so ausführlich zitiert, weil er eine Begründung nicht nur für die Handschrift gibt, sondern auch für das Museum: Es ist der Ort einer analogen Erfahrung. Selbst dann, wenn es digitale Texte,

43 http://prowlhouse.info/hans-ulrich-obrists-ode-to-handwriting/ vom 02.07.2017.

I MMATERIALITÄT /M ATERIALITÄT | 59

Bilder und Räume präsentiert. Auf eine eigentümliche Weise hat das Museum Ähnlichkeiten mit dem Kritzeln, wenn wir mit Obrist einen Blick darauf werfen. Es probiert Formen, Formate und Zusammenhänge aus, es lässt offene, freie Stellen, ist selbst nur ein Aggregatzustand aus vielen möglichen, Fortsetzung einer Konversation, Teil einer Denk- und Anschauungsbewegung – eine Skizze, die auch aussehen kann wie jene berühmte von Charles Darwin, überschrieben »I think«44. Wer ins Museum geht, taucht selten in eine kohärente Welt ein. Garderobe, Kasse, Shop, Museumspädagogik, Café und WC gehören dazu, ebenso wie Treppen und Aufzüge, oft auch Schwellen zwischen Alt- und Neubau und Klimatisierungsgeräte. Museen sind das Gegenteil von ›dicht‹ kuratiert. Die meisten sind viel zu komplex, um einen strengen Rundgang zu erlauben. Sich zu verlaufen gehört zum Museum dazu, ebenso wie die Erfahrung von Imperfektion, von Brüchen und Sprüngen. Kunst ist nicht nur Raumkunst, sondern auch Zeitkunst, nicht nur in Gattungen wie dem Happening, der Performance und der Videokunst. Sie braucht die Sukzession und ist vergänglich. In einem Museum fallen uns Bilder eher zu. Sie heben sich ab, setzen sich durch. Es steht uns frei, wie lange wir vor einem Bild stehen, wie wir dort hinkommen und wie wir von dort wieder weggehen. Kein Mensch muss im Neuen Museum mehr sehen als die Nofretete, wenn er nicht möchte. Wer in den Uffizien nach Botticelli sucht, stößt nahezu selbstverständlich auf die Bildformeln, die Aby Warburg beschäftigt haben: Das ›bewegte Beiwerk‹, der Faltenwurf der Nymphen-Gewänder, erscheint in unterschiedlichen Varianten am Rand des Weges, auch und vielleicht gerade dann, wenn man nicht so genau hinsieht. Museen sind Orte der zerstreuten Wahrnehmung.45 Sie sind in der Regel mit mehr kurzen als langen und tiefen Blicken verbunden. Max Imdahl schätzt, dass ein Besucher im Schnitt sieben Sekunden vor einem Bild steht. Häufig schauen Besucher nicht die Bilder an, sie haben sie im Rücken. Nicht selten sieht man geschlossene Augen. Museumsbesucher sind

44 http://www.amnh.org/exhibitions/darwin/the-idea-takes-shape/i-think/ vom 02. 07.2017. 45 Schlaffer, Heinz: »Flüchtige Wahrnehmung von Kunst. Ein Adonisfest in Alexandrien«, in: Merkur 7 (2008). S. 555-565: https://volltext.merkur-zeitschrift. de/article/mr_2008_710_0555-0564_0555_01 vom 02.07.2017.

60 | H EIKE G FREREIS

gern auch Tagträumer oder tatsächlich müde. Der stille und lange Kunstgenuss ist eine Illusion. Ebenso wie die Vorstellung, Besucher gingen durch eine Ausstellung, wie der Kurator es sich gedacht hat, mag er es auch noch so dogmatisch vertreten und durch die Gestaltung zu erzwingen versuchen. Allerhöchstens ›konditionieren‹, homogenisieren und ritualisieren Museen das Verhalten der Besucher: »Verlangsamung der Bewegungsabläufe, Vermeidung von Spontanäußerungen, Einschränkung der Sprechlautstärke, hypnotische Konzentration des Blicks, offenbarungsbereite Öffnung des psychischen Systems«46. C. Georges Didi-Huberman beendet sein Buch über den Faltenwurf der Nymphen mit einer »Coda: Die Muse des Lumpensammlers (Geschichte und Imagination)«: »Um die Augen zu öffnen, muß man sie schließen können. Beobachtung, Überprüfung und Offenlegung genealogischer Linien: der Historiker als Philologe. Wenn die Verbindungen durchbrochen, fehlerhaft oder unbeobachtbar sind (missing links): der Historiker vor dem Unbewußten der Zeit und das Labyrinth der Überdeterminierung. Hypothesen formulieren: den Blick verschieben, imaginieren. Imagination ist nicht Phantasie, sondern Wahrnehmung der ›geheimen inneren Beziehungen der Dinge‹ (Baudelaire). Warburg und die Heuristik der Imagination: Mnemosyne, eine Montage von Bildern, die aus dem Unvordenklichen ›aufsteigen‹.«47

Bilder erhalten ihre Bedeutung, ihre Geschichten, ihre Tiefe nicht nur im Museum, sondern vor allem zu Hause, wenn wir sie uns in Erinnerung rufen, im Katalog blättern oder auf eine Postkarte schauen. So weit ist die Kunst von der Literatur, praktisch betrachtet, nicht weg. Wassily Kandinsky schreibt im Rückblick über Monets Heuhaufen-Bild, das er 1896 in Moskau sah:

46 Brock,

Bazon/Steinhauer,

Fabian:

Museen

sind

Schöpfer

von

Zeit:

http://www.bazonbrock.de/werke/detail/?id=19§id=109 vom 02.07.2017. 47 Didi-Huberman, Georges: Ninfa moderna. Über den Fall des Faltenwurfs, Zürich: diaphanes 2006, S. 7.

I MMATERIALITÄT /M ATERIALITÄT | 61

»Und plötzlich zum ersten Mal sah ich ein Bild. Daß das ein Heuhaufen war, belehrte mich der Katalog. Erkennen konnte ich ihn nicht. Dieses Nicht-Erkennen war mir peinlich. Ich fand auch, daß der Maler kein Recht hat so undeutlich zu malen. Ich empfand dumpf, daß der Gegenstand in diesem Bild fehlt. Und merkte mit Erstaunen und Verwirrung, daß das Bild nicht nur packt, sondern sich unverwischbar in das Gedächtnis einprägt und immer ganz unerwartet bis zur letzten Einzelheit vor den Augen schwebt.«48

D. Kunst zielt seit jeher auch auf die Darstellung und Imagination des Unsichtbaren. Im 19. und 20. Jahrhundert wird unsere Kunstvorstellung durch die Fotografie und den Film erweitert: Durch Vergrößern, Verlangsamen und Durchleuchten etwa kann gezeigt werden, was mit dem bloßen Auge unsichtbar ist. Wir unterstellen den Bildern ein ›optisch Unbewusstes‹ oder auch eine Geschichte, eine Konversation oder einen Diskurs, die wir als Betrachter sichtbar machen wollen – wir denken zum Beispiel mit, was wir nicht sehen, wir lesen ein Bild, übersetzen es in Sprache, wenn wir uns näher damit beschäftigen, vielleicht übersetzen wir es sogar zurück in einen vorliegenden Text und wir sehen in einer Ausstellung immer eine Serie, eine Reihe oder eine Konstellation von Bildern, die wir unwillkürlich auch quer betrachten und gegeneinander lesen. Das Museum, auch das imaginäre, ist ein Ort der Evidenzerzeugung, was, wie schon gesagt, nichts mit der Betrachtungsintensität des Besuchers oder der Aura der Originale zu tun hat. Helmut Lethen schildert seine Museumserfahrung: »Wenn jemand gesagt hätte, Ausstellungen sind Orte der Depression, hätte es mir sofort eingeleuchtet. Denn ich habe lebenslang Schwierigkeiten mit der Aura der Originale gehabt, die mir ständig bedeutet haben: ›Du bist ein Fremdkörper im sakralen Raum der Hochkultur. Also verziehe dich doch gleich in den Museumsshop,

48 Kandinsky, Wassily: Autobiographische Schriften, Bern: Benteli 2004, S. 29.

62 | H EIKE G FREREIS

wo dir der Zugang mithilfe von Reproduktionen nicht nur erleichtert, sondern geradezu erst ermöglicht wird.‹«49

Der hermeneutisch-produktive Effekt der Museums-Hängung, aber eben auch der Postkartensammlung wird von Aby Warburg in seinem »Mnemosyne-Projekt« (verkleinert zum »Moodboard«) ebenso genutzt wie von El Lissitzky in seinen »Demonstrationsräumen«: »Wenn er sonst durch das Vorbeiziehen an den Bilderwänden durch die Malerei in eine bestimmte Passivität eingelullt wurde, so soll unsere Gestaltung den Mann aktiv machen.«50 Die Geschichte des Kunstmuseums ist aller Vermutung zum Trotz, es müsse doch ganz einfach nur Bilder an die Wand hängen, auch eine der Raumgestaltung, der Farben, Tapeten, Leisten, Ab- und Aufhängungen und des Lichts. Frederick Kiesler hängt, als er 1942 die Sammlung von Peggy Guggenheim in New York präsentiert, viele der Bilder von der Decke ab, sodass die Besucher die Bilder drehen können. Zugleich lässt er das Licht mit einer Zeitschaltuhr an- und ausgehen.51 Die Kunst ist hier relativ, ein Spiel aus Materialisieren und Immaterialisieren. Auch Andy Warhols serielle Kunst ist letztlich ein Galerieeffekt – verschiedene Aggregatzustände einer Bildformel, Bilder über Bilder und Bilder, die damit auch zeigen wollen, was sich sonst nicht und vielleicht auch nie sehen lässt und den Besucher dazu bringen, reale und imaginäre Bilder übereinander zu legen und abzugleichen. E. Maurice Blanchot beschreibt in Museumskrankheit. Das Museum, die Kunst und die Zeit das, was für ihn die Kunst (hier ein Bild) auszeichnet:

49 Lethen, Helmut: »Präsenz«, in: Heike Gfrereis/Thomas Thiemeyer/Bernhard Tschofen (Hg.), Museen verstehen, Göttingen: Wallstein 2015, S. 76-84, hier S. 76. 50 Zitiert nach te Heesen, Anke: Theorien des Museums zur Einführung, Hamburg: Junius 2012, S. 126. Vgl. die Abb. in Ackermann, Marion (Hg.): Farbige Wände. Zur Gestaltung des Ausstellungsraumes von 1880 bis 1930, München: Edition Minerva 2003, S. 91-99. 51 Ebd., S. 123f.

I MMATERIALITÄT /M ATERIALITÄT | 63

»Ja, das Bild ist Glück, – doch nahe bei ihm hält sich das Nichts, an seiner Grenze scheint es auf, und die ganze Macht des Bildes, aus der Tiefe gezogen, in der es sich gründet, kann sich nur ausdrücken, indem sie sich darauf beruft. Malraux, der einen berühmten Satz aus seinem letzten Roman zitiert, macht daraus gleichsam das Ruhmeslied der künstlerischen Schöpfung: ›Das größte Mysterium ist nicht, daß wir durch Zufall zwischen die Fülle der Materie und die der Sterne geworfen wurden, sondern daß wir in diesem Gefängnis aus uns selbst Bilder ziehen, die mächtig genug sind, unser Nichts zu verneinen.‹ Aber man muß vielleicht hinzusetzen: Das Bild, fähig, das Nichts zu verneinen, ist auch der Blick des Nichts auf uns. Es ist leicht und es ist ungeheuer schwer. Es glänzt, und es ist die diffuse Dichte, in der nichts sich zeigt. Es ist der Spalt, der Fleck dieser schwarzen Sonne, Zerrissenheit, die uns unter dem Schein des blendenden Glanzes das Negativ der unerschöpflichen negativen Tiefe gibt. Daher scheint das Bild so tief und so leer, so bedrohlich und so anziehend, reich an immer mehr Sinn, den ja wir unterstellen, und ebenso arm, nichtig und schweigend [...].«52

F. Sehr wohl vielleicht ästhetisch, aber nicht im Hinblick auf den Gegensatz von Materialität und Immaterialität oder auch Intentionalität und Zufälligkeit besteht ein Unterschied zwischen der Ausstellung eines Bildes und der einer Handschrift. Beides sind – wie die Literatur – Bilder der Sprache, keine sprechenden Bilder. Die Künstler (man denke nur an Cy Twombly) wissen das schon länger. G. Eine Ausstellung (wie ich sie mir wünsche) ist daher kein bebildeter Diskurs, kein Sprechen mit Hilfe von Bildern oder Dingen (eine Übersetzung, weil wir diese für stärker, weil realer und vorbegrifflicher halten, für eine Waffe, wenigstens für ein Argument). Eine Ausstellung führt ihren hermeneutischen Gegenstand beständig mit sich, ist ein Denken mit ihm über ihn. Die Spannung zwischen Materialität und Immaterialität ist jeder Ausstellung, weil jedem ihrer Exponate immanent. Die Notwendigkeit von Aus-

52 Blanchot, Maurice: Museumskrankheit. Das Museum, die Kunst und die Zeit, Köln: Wilfried Dickhoff 2007, S. 55f.

64 | H EIKE G FREREIS

stellungen liegt nicht darin, diese Spannung aufzulösen und zu beenden, indem sie Antworten gibt, die dann auch in einfache Sprache übersetzbar sind. Das hieße: Es käme durch Ausstellungen immer nur in die Welt, was auch ohne sie schon da wäre. Sie wären eine bloße Verdoppelung, zielgruppengerecht und auf sehr naive Weise inklusiv. Ein Vorteil der Ausstellung ist aber: Sie kann für jeden von uns diese Spannung aushalten. Allein durch ihre immer räumliche Dimension ist sie das Medium des In-Beziehung-Setzens und Zusammen-Stellens und damit der Aporien und Ambivalenzen, Polyphonien, Polyperspektiven und Polyvalenzen, Schichten und Skalierungen, Nähen und Distanzen, harten und weichen Fügungen. Eine Ausstellung stellt nicht etwas dar. Sie stellt es hin (oder legt oder hängt es). Sie zeigt es. In seiner ganzen Fülle, Weite, Tiefe, so dass uns immer bewusst bleibt, dass dies auch heißt: in seiner Masse, Unfassbarkeit und Relativität. Sie provoziert uns, überfordert uns vielleicht auch, aber sie bleibt uns in Gedanken als Frage an die Bilder und die Dinge, die auch dann da sind, wenn wir sie nicht anschauen: im Rücken, im Hintergrund, nachts, fort, zu, in echt. In dieser Hinsicht sind Ausstellungen Statthalter dessen, was in Annäherungen denkbar ist, aber kompliziert, komplex und nicht ganz auflösbar bleibt. Wie die Literatur, die Kunst und die Musik und in gewisser Hinsicht auch wie die Liebe. Sie sorgen dafür, dass wir beweglich bleiben und selbstkritisch: Es ist oft anders, als man denkt, und es gibt immer mehr, als man weiß.

Warum hat Weimar kein Literaturmuseum? F OLKER M ETZGER

Während sich die Tagung ›Das Immaterielle Ausstellen‹ um die Frage drehte, wie Literatur in Museen präsentiert und vermittelt werden kann, soll es im Folgenden darum gehen, wie sich die institutionellen Bedingungen und Abhängigkeiten von Museen als öffentlichen Einrichtungen auf die Konzeption von Ausstellungen und insbesondere Literaturausstellungen auswirken. Es soll aufgezeigt werden, dass Inhalte und Themen demzufolge weniger von gesellschaftlichen und politischen Zusammenhängen geprägt sind. Vor allem Letzterem muss eine größere Aufmerksamkeit zukommen, wenn Museen ihrer Aufgabe gerecht werden wollen, öffentliche Orte diskursiver, lebendiger und erkenntnisreicher Erfahrung für unterschiedliche Individuen zu sein. Ich möchte behaupten, dass gerade die Ausstellungspraxis in den deutschen Museen häufig weniger von gesellschaftlichen und öffentlichen Interessen bestimmt, als vielmehr von den spezifischen Sammlungen, kuratorischen Interessen und institutionellen Bedingungen beeinflusst wird. Unterstreichen lässt sich diese Diagnose anhand eines Vergleichs der deutschen und der englischen Definition dessen, was ein Museum ist und welchen Aufgaben es dient.1 Während der Deutsche Museumsbund bis vor kurzem ein eher statisches Selbstverständnis zum Ausdruck brachte, für das gesellschaftliche Fragen kaum eine Rolle spielten, bestimmt der Code of Ethics der englischen Museums Association die Aufga1

Vgl. http://www.museumsbund.de/de/das_museum/geschichte_definition/defini tion_museum/ vom 01.02.2017 und http://www.museumsassociation.org/down load?id=1155827 vom 01.02.2017.

66 | F OLKER M ETZGER

ben von Museen zuallererst aus der Perspektive einer sich wandelnden Gesellschaft. Zugespitzt formuliert: Die Selbstverständigung in den deutschen Museen orientiert sich an den historisch geprägten Ausrichtungen ihrer Häuser und an den eigenen Fachinteressen und lässt damit lebensweltliche Bezüge und gegenwartsbezogene Perspektiven in Teilen unberücksichtigt. Es sollte jedoch nicht nur über publikumsorientierte Ausstellungen diskutiert werden, sondern auch darüber, welche Methoden bei deren Entwicklung angewendet werden. So spricht vieles dafür, dass sich Museen erst dann zu öffentlichen Orten für alle entwickeln können, wenn sich Kuratoren als Partner eines Publikums begreifen, das sich aus ganz unterschiedlichen Gruppierungen zusammensetzt, wie etwa in der von Deutschland ratifizierten UN Behindertenrechtskonvention dargelegt. Hier wird nicht nur die Inklusion von Menschen mit körperlichen und kognitiven Beeinträchtigungen eingefordert, sondern ebenso die von Menschen mit unterschiedlicher sexueller Orientierung oder sozialer Herkunft. Museen müssen demzufolge darauf hin arbeiten, ihre Sammlungsstrategien und ihre Ausstellungskonzepte nicht als etwas zu begreifen, das allein von Experten festgelegt wird, sondern als etwas, das im Austausch verschiedener Gruppierungen und anhand verschiedener Perspektiven und Erfahrungshorizonte ausgehandelt wird. Schon die weitgehende Homogenität der Herkunftsmilieus vieler Museumsmitarbeiter und die des wissenschaftlichen Fachpersonals macht eine Umsetzung dieser Ziele schwierig, wie die Museums Association vorbildhaft reflektiert.2 Um jedoch überhaupt zu einer solchermaßen veränderten Museumskultur zu gelangen, gilt es in einem ersten Schritt darüber aufzuklären, von welchen Mechanismen die Ausstellungsarbeit bis heute bestimmt wird. Dies wird im Folgenden exemplarisch anhand der Literaturausstellungen der Klassik Stiftung Weimar dargestellt. Die Stiftung verantwortet einen großen Teil der sogenannten ›Dichterhäuser‹, Museen sowie weiteren historischen Stätten in Weimar. Diese institutionelle Konstellation ist zwar in ihrer Dimension und Komplexität kaum mit anderen literarischen Erinnerungsorten zu vergleichen, gleichwohl existieren auch anderswo literarische Stätten, die sich auf den Ort beziehen, in dem ein oder mehrere Dichter lebten und wirkten und somit, um nur ein Beispiel zu nennen, ebenfalls ein Spannungsfeld zwischen Personenge-

2

Vgl. http://www.museumsassociation.org/download?id=1194934 vom 15.04. 2017.

W ARUM HAT W EIMAR

KEIN

L ITERATURMUSEUM? | 67

denkstätte und Literaturvermittlung.3 Solche und andere Zusammenhänge können in Weimar vielschichtig nachgezeichnet werden, immerhin blickt man hier auf eine über 170-jährige Tradition des Literaturausstellens zurück.4 Allerdings – so meine Ansicht − ohne zu einem befriedigenden Ergebnis gekommen zu sein. Es gibt in Weimar derzeit keine dauerhafte Präsentation und nur selten Wechselausstellungen, die Literatur zum Thema haben – etwa zu Dramen von Goethe und Schiller, den Zeitschriftenprojekten, den Produktions- und Kommunikationsbedingungen von Literatur sowie den Theaterreformen. Dies allein zeigt, wie kontingent sich Ausstellungspraxis trotz eines wissenschaftlich hochkarätigen Umfelds manifestiert. Allerdings findet eine kultur- und erinnerungsgeschichtliche Aufarbeitung des Themenfelds statt. An erster Stelle stehen Publikationen, die im Rahmen des Göttinger DFG-Projekts Kulturgeschichte des Dichterhauses erschienen sind sowie ein Jahrbuch der Klassik Stiftung Weimar zum Thema Literatur ausstellen.5

I NSTITUTIONELLE B EDINGUNGEN Welche institutionellen Bedingungen verhinderten bisher dauerhafte Präsentationen über und zur Literatur in Weimar? Auch wenn die Bezeichnung Klassik Stiftung Weimar suggeriert, dass diese für die Bewahrung und Vermittlung dessen zuständig ist, was teilweise bis heute als Weimarer Klassik und damit als literarische Epochenbezeichnung fungiert, so ist sie darüber hinaus ebenso für die umfangreichen Kunstsammlungen, Schlösser und historischen Parkanlagen des vormaligen Herrscherhauses zuständig.

3

Vgl. Bohnenkamp, Anne/Breuer, Constanze/Kahl, Paul/Rhein, Stefan (Hg.): Häuser der Erinnerung. Zur Geschichte der Personengedenkstätte in Deutschland (= Schriften der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt, Band 19), Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2015.

4

Vgl. Hecht, Christian: Klassiker-Inszenierung im höfischen Kontext, in: Hellmut Seemann/Thorsten Valk, (Hg.), Literatur ausstellen. Museale Inszenierungen der Weimarer Klassik (= Jahrbuch der Klassik Stiftung Weimar), Göttingen: Wallstein 2012, S. 13-30.

5

Vgl. Kahl, Paul: Die Erfindung des Dichterhauses. Das Goethe-Nationalmuseum in Weimar. Eine Kulturgeschichte, Göttingen: Wallstein 2015.

68 | F OLKER M ETZGER

Außerdem verantwortet die Stiftung die der Literaturgeschichte nahestehenden Objekte und Bestände. Dazu zählen die Personengedenkstätten, also das Goethe und Schiller Wohnhaus nebst Museumsanbau, das Wielandgut Oßmannstedt und insbesondere das Goethe- und Schiller-Archiv sowie die Herzogin Anna Amalia Bibliothek. Dass sich diese vielfältigen Liegenschaften samt ihrer Bestände und die daraus resultierenden Aufgaben nicht nur auf die Literatur beziehen, spiegelt sich auch im Thüringer Gesetz über die Klassik Stiftung Weimar wider: »Die Stiftung hat die Aufgabe, die ihr übertragenen Stätten und die an den Orten ihrer Entstehung erhaltenen Sammlungen in ihrem historischen von der Aufklärung bis zur Gegenwart reichenden Zusammenhang als einzigartiges Zeugnis der deutschen Kultur in ihrer Einheit zu bewahren, zu ergänzen, zu erschließen, zu erforschen und zu vermitteln und zu einem in Deutschland und der Welt wirksamen Zentrum der Kultur, der Wissenschaft und der Bildung zu entwickeln. Dieser Stiftungszweck umfasst Maßnahmen zur Pflege und Erhaltung von Zeugnissen der klassischen deutschen Literatur, von Kunstschätzen und Denkmalen sowie zur Sicherung ihrer Zugänglichkeit für die Allgemeinheit.«6

Hinzu kommt, dass die Bestände und Stätten, die in Teilen als Welterbe klassifiziert wurden, sowie ihre mobilen Artefakte, wie etwa die Autografen von Goethe und Schiller, die zum ›Gedächtnis der Menschheit‹ zählen, innerhalb der Stiftung voneinander getrennt verantwortet werden. Das hat weitreichende Auswirkungen auf die Kernfrage dieser Ausführungen. Es gibt in der vom Bund und vom Land Thüringen sowie in kleinen Teilen von der Stadt Weimar finanzierten Stiftung je eine Direktion für die literarischen und musikalischen Archivalien (Goethe- und Schiller-Archiv) sowie für die historischen und zeitgenössischen Buchbestände, Karten, Grafiken sowie Atlanten (Herzogin Anna Amalia Bibliothek). Eine weitere Direktion wacht über alle Schlösser, Gärten und Bauten, ist also für alle Liegenschaften, so auch die ›Dichterhäuser‹, Schlösser, Parks sowie die ›Fürstengruft‹ zuständig. Die vierte Direktion Museen wiederum ist unter anderem für die kunst- und naturwissenschaftliche Sammlung Goethes, wie die der ehemaligen Herzöge, aber auch des Bauhauses und der Beständen zu Henry van

6

http://www.klassik-stiftung.de/uploads/pics/Stiftungsgesetz.pdf 2017.

vom

01.02.

W ARUM HAT W EIMAR

KEIN

L ITERATURMUSEUM? | 69

de Velde, für das Inventar der Personengedenkstätten sowie deren jeweilige Präsentation in Museen und Personengedenkstätten sowie Schlössern verantwortlich. Sie zeichnet sich damit für den größten Teil des Ausstellungsprogramms der Klassik Stiftung Weimar verantwortlich. Zwar wurden ein Forschungs- und Bildungsreferat sowie ein zentrales Marketingreferat ab 2005 etabliert, denen die Aufgabe zukommt, die Stiftung nach außen zu profilieren, doch können die einzelnen Direktionen laut Satzung weitgehend autonom handeln: »Die Direktoren sind für das wissenschaftliche und kulturelle Arbeitsprogramm sowie die bestandsbezogene Forschung in ihren Direktionen verantwortlich. Sie binden dabei das Forschungs- und Bildungsreferat sowie die Öffentlichkeitsarbeit der Stiftung ein.«7 Mögen solche Binnenansichten nachrangig erscheinen, so sind sie doch in vielen Fällen ein wichtiger Faktor für die Art und Weise, ob und wie Ausstellungen konzipiert werden. Weil in der Regel jede Direktion seine eigenen Ausstellungen konzipiert, gibt es kleinere Ausstellungen vor allem mit Autografen und getrennt davon mit historischen Büchern sowie wiederum anderenorts Expositionen mit kunst- und kulturgeschichtlichen Objekten und Kunstwerken. Bei der Analyse der Ausstellungsaktivitäten ist festzuhalten, dass relativ wenig Ressourcen der Stiftung in den Bereich des Ausstellens fließen: »Das wissenschaftliche Personal der Klassik Stiftung wendet 23 % seiner Arbeitszeit für Serviceleistungen auf, 22 % für Forschung, weitere 22 % für Bestandssicherung und -pflege sowie 20 % für Marketing und Kommunikation. Die Ausstellungstätigkeit (8 %) und die Bildung (5 %) beanspruchen vergleichsweise geringe Kapazitäten.«8

Ein großer Anteil des Personals widmet sich einer objektorientierten Forschung und Fragen der Digitalisierung sowie Bestandserhaltung und damit der Archivierung. Dazu zählt ein auf Jahrzehnte angelegtes Akademieprogramm zur Erschließung von Goethes Briefen im Rahmen einer historischkritischen Ausgabe.

7

http://www.klassik-stiftung.de/uploads/pics/Satzung_der_Klassik_Stiftung_Wei mar.pdf vom 14.01.2017.

8

http://www.wissenschaftsrat.de/download/archiv/1242-11.pdf vom 14.01.2017, S. 29.

70 | F OLKER M ETZGER

K ULTURPOLITISCHE A SPEKTE In einer stark auf Forschung ausgerichteten Kultureinrichtung beeinflussen wissenschaftspolitische Vorgaben mittelbar oder unmittelbar das Ausstellungsprogramm. Dazu gehören insbesondere die im Auftrag des Wissenschaftsrats und damit der politischen Akteure angefertigten Berichte, etwa derjenige der Strukturkommission von 2005 und die sich daran anschließende Empfehlung und Bewertung des Wissenschaftsrats, die – wiederum von politischer Seite unterstützt – in großen Teilen umgesetzt wurden. 2005 kritisiert die vom Deutschen Wissenschaftsrat beauftragte Strukturkommission in ihrem Gutachten die oben dargestellte ›Versäulung‹ der einzelnen Direktionen.9 Die Stiftung solle als Ganzes nach außen treten und die Zusammenarbeit innerhalb der Stiftung verbessern.10 Inwieweit wurde jedoch hier und in der nachfolgenden Stellungnahme von 2011 an die Literaturvermittlung gedacht?11 2005 wird auf diesen Auftrag an keiner Stelle verwiesen, sondern empfohlen, die Ausstellung Wiederholte Spiegelungen im Goethe-Nationalmuseum neu auszurichten und stärker auf ein breites Publikumsinteresse abzustellen. Diese Anregung wurde 2012 mit der Ausstellung Lebensfluten – Tatensturm umgesetzt, die teils kulturgeschichtlich, teils biografistisch angelegt ist und die Literatur hinter der umfangreichen Präsentation naturkundlicher und künstlerischer Artefakte Goethes zurücktreten lässt. Dass der Wissenschaftsrat wiederum vielfach Forschungsvorhaben empfiehlt und damit die bestehende Ressourcenaufteilung verstärkt, liegt meines Erachtens darin begründet, dass in den Kommissionen wie auch in Teilen des wissenschaftlichen Beirats der Klassik Stiftung Weimar, der ebenfalls in diese Analyse einzubeziehen ist, mehrheitlich Personen aus der universitären Forschung agieren. So führte die letzte Evaluierung des Wissenschaftsrats von 2011 zur Gründung des Forschungsverbunds Marbach – Weimar – Wolfenbüttel 2013.12 In diesem steht thematisch die

9

Vgl. http://www.wissenschaftsrat.de/download/archiv/6910-05.pdf vom 14.02. 2017, S. 6.

10 Vgl. ebd. 11 Vgl. http://www.wissenschaftsrat.de/download/archiv/1242-11.pdf vom 04.02. 2017. 12 Vgl.

http://www.mww-forschung.de/forschungsverbund-mww/?menuopen=1

vom 25.02.2017.

W ARUM HAT W EIMAR

KEIN

L ITERATURMUSEUM? | 71

Literatur im Vordergrund, insbesondere Autorenporträts und Autorenbibliotheken. Dabei ist der Transfer der Ergebnisse in eine breite Öffentlichkeit eine Aufgabe der Forschungsprojekte. Dies wird meist über temporäre Ausstellungen verwirklicht. So wird 2018 in Kooperation mit der Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung München aus einem Teilprojekt eine umfangreiche Exposition zu Faust in deren Ausstellungshaus zu sehen sein. Ein anderes großes Forschungsprojekt der Klassik Stiftung Weimar (2009-2012) wurde unter dem Titel Sinnlichkeit, Materialität, Anschauung. Ästhetische Dimensionen kultureller Übersetzungsprozesse in der Weimarer Klassik durchgeführt. Es präsentierte seine Ergebnisse 2012 für ein breites Publikum in der Ausstellung Weimarer Klassik. Kultur der Sinnlichkeit.13 Teilergebnisse zu den Schreibkulturen um 1800 werden in einem kleinen Kabinett in der Ausstellung Lebensfluten – Tatensturm im Goethe-Nationalmuseum präsentiert. Die Ausstellungsaktivitäten der Klassik Stiftung Weimar werden zudem durch kultur- sowie wirtschaftspolitische Rahmenbedingungen wie der Tourismusförderung beeinflusst, etwa durch eine Fokussierung auf die zudem von der Politik geförderten Jubiläen. Dies trug in den letzten Jahren mit dazu bei, dass die Literaturvermittlung bei Wechselausstellungen kaum noch zum Zuge kam. Es wurden stattdessen, um nur einige Beispiele zu nennen, Ausstellungen zum Bauhausjahr 2009, Lisztjahr 2011 und Cranachjahr 2015 gezeigt. Diesen kam auch die honorige Aufgabe zu, die vielfältigen Bestände der Klassik Stiftung Weimar einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen, aber eben auch die Ausstrahlung Weimars im touristischen und damit politischen Interesse Thüringens zu stärken – und dies umso mehr als Weimar als ›Marke‹ national und international bekannter ist als das Land Thüringen. Literaturausstellungen dagegen können selten hohe Besucherzahlen generieren. Sie sind aus diesem Grund für die Politik in der Regel weniger wichtig als kulturgeschichtliche Expositionen oder Kunstausstellungen, es sei denn, sie können das touristische Profil einer Stadt stärken, wie dies etwa in Lübeck mit dem Buddenbrookhaus und dem Günther Grass-Haus gelang. Zu den wichtigen kulturpolitischen Faktoren gehören auch die Freundeskreise von Museen. Diese können einen nicht unerheblichen Einfluss auf die Ausstellungspraxis nehmen. Sie gehö-

13 Vgl. Böhmer, Sebastian/Holm, Christiane/Spinner, Veronika/Valk, Thorsten (Hg.): Weimarer Klassik. Kultur des Sinnlichen (Kat.), München: Deutscher Kunstverlag 2012.

72 | F OLKER M ETZGER

ren zu den sogenannten ›Stakeholdern‹ von Kultureinrichtungen, zu denen die regionale und überregionale Politik ebenso zählen wie Presse und Medien sowie bestimmte Wissenschaftsinstitutionen. Beispielsweise gäbe es ohne die Freundeskreise der Klassik Stiftung Weimar und andere Förderer kein Wieland-Museum im nahe Weimar gelegenen Oßmannstedt. Ebenso gab es in den letzten Jahren erheblichen öffentlichen Druck, nun auch für Herder eine – je nach Interesse der ›Stakeholder‹ – eher dem Gedenken als der Reflexion dienende museale Erinnerungsstätte zu schaffen.

H ISTORISCHE F RIKTIONEN Womöglich verhindert, wie schon angedeutet, auch die Vielfalt und Vielschichtigkeit des historischen Erbes in Weimar eine Auseinandersetzung mit der Frage des Literaturausstellens. So ermittelte die Strukturkommission von 2011 folgende inhaltliche Schwerpunkte: »Sie [die Klassik Stiftung Weimar, F.M.] hat die ebenso verdienstvolle wie anspruchsvolle Aufgabe, einen Eindruck von dem geistigen und kulturellen Zentrum Weimars zu vermitteln, das rund 150 Jahre lang die allgemeine Geschichte sowie die Kulturgeschichte des deutschsprachigen Raums beeinflusst hat und als lieu de mémoire in Deutschland von herausragender Bedeutung ist. Der Komplex Weimar bietet ein breites Spektrum: im kulturellen Bereich Literatur, Musik, Malerei, Bildhauerei, Design und Architektur, im wissenschaftlichen Bereich Philosophie, Theologie, Geistes- und Naturwissenschaften sowie im historisch-politischen Bereich das ›goldene Zeitalter‹ unter Herzogin Anna Amalia und ihrem Sohn Carl August, das ›silberne Zeitalter‹ der Großherzogin Maria Pawlowna und ihres Sohnes Carl Alexander, die Weimarer Verfassung und Weimarer Republik, das Weimar zur Zeit des Nationalsozialismus mit dem Konzentrationslager Buchenwald und schließlich das Weimar der DDR-Zeit, in dem die Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur (NFG) gegründet wurden.«14

Die nicht ganz vollständige Aufzählung, erst in den letzten Jahren ist auch die Bedeutung Weimars in der Reformation heraus gearbeitet worden, ver-

14 http://www.wissenschaftsrat.de/download/archiv/1242-11.pdf vom 14.01.2017, S. 61.

W ARUM HAT W EIMAR

KEIN

L ITERATURMUSEUM? | 73

weist zudem auf zwei Bezugspunkte, einen geistes- und kulturgeschichtlichen und einen eng damit verbundenen erinnerungsgeschichtlichen.15 Weimar wurde insbesondere im 19. Jahrhundert unter kulturpolitischen Aspekten städtebaulich inszeniert. Dabei ging es neben touristischen Belangen darum, dem stets drohenden kulturellen und politischen Bedeutungsverlust entgegenzuwirken. So wurde just zur Reichseinigung 1870/71 vom damaligen Herzog ein neuer musealer Erinnerungsort, das ›Wittumspalais‹, initiiert, in dem die ›Tafelrunde‹ der Dichter zusammen mit Gelehrten und der Hofgesellschaft stattfand.16 Für das spätere 19. Jahrhundert sowie insbesondere in der Zeit um 1900 und darüber hinaus war Weimar ebenso Chiffre wie Austragungsort für das, was unter unterschiedlichen Vorzeichen meist in ausgrenzender Weise als ›Kulturnation‹ verstanden wurde.17 Das konservative national bis nationalistisch gestimmte ›Bildungsbürgertum‹ inszenierte seine Ideologien mit und in Weimar auch mit der Absicht, ein Gegenmodell zur modernen offenen Gesellschaft in Position zu bringen.18 In der NS-Zeit sowie noch umfassender in der DDR kam dem klassischen Weimar und damit den kulturellen Stätten für das Selbstverständnis des Staates eine umfassende Bedeutung zu.19 So wurde auf höchster reichspolitischer Ebene entschieden, einen Neubau des Goethe-Nationalmuseums mitzufinanzieren.20 In der DDR wurden erstmals zahlreiche literaturgeschichtliche Stätten der Zeit um 1800 in den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar gebündelt. Diese Maßnahme basierte auf der Vorstellung, dass die unter anderem in Weimar-Jena um 1800 entwickelte Humanitätsidee erst durch den Sozia-

15 Vgl. Bollenbeck, Georg: Das Ende des Bildungsbürgers, in: Die Zeit vom 14.01.1999: http://www.zeit.de/1999/03/199903.provinz1_.xml/komplettansicht vom 01.02.2017. 16 Vgl. Berger, Joachim: Anna Amalia und das ›Ereignis Weimar‹, in: Hellmut Th. Seemann (Hg.), Anna Amalia, Carl August und das Ereignis Weimar (= Jahrbuch der Klassik Stiftung Weimar), Göttingen: Wallstein 2007, S. 13-30. 17 Vgl. Holler, Wolfgang/Püschel, Gudrun/Wendermann, Gerda (Hg.): Krieg der Geister. Weimar als Symbolort deutscher Kultur vor und nach 1914 (Kat.), Dresden: Sandstein 2014. 18 Vgl. G. Bollenbeck: Das Ende des Bildungsbürgers. 19 Vgl. P. Kahl: Die Erfindung des Dichterhauses, S. 215-249. 20 Vgl. ebd., S. 163ff.

74 | F OLKER M ETZGER

lismus verwirklicht werden könne.21 Damit konnte die DDR beanspruchen, das bessere Deutschland zu sein, zumal das ehemalige KZ Buchenwald bei Weimar gelegen als ›Nationale Mahn- und Gedenkstätte‹ für den Antifaschismus vereinnahmt wurde, der ebenfalls zur Staatsdoktrin zählte.22 Fast alle diese erinnerungspolitisch motivierten Inszenierungen des klassischen Weimar mündeten nun aber nicht in einer Ausstellung, die sich explizit dem Anspruch verpflichtet hätte, ›Literatur‹ und nicht etwa nur eine Dichterbiografie zu vermitteln. Neben diesen erinnerungspolitischen Aspekten stehen allerdings auch exzeptionelle historische Ereignisse einer stärkeren Berücksichtigung der Literatur im Weg, sei es das Wirken von Franz Liszt, die Gründung des Nietzsche-Archivs durch Elizabeth Förster-Nietzsche oder des Bauhauses in Weimar, dessen Stätten in Teilen ebenfalls musealisiert wurden. Die Gründung und Entwicklung dieser Einrichtungen fand häufig unter Bezugnahme auf die Weimarer Klassik statt. Sie sind dadurch zugleich Teil einer diesbezüglichen Erinnerungskultur. Wir haben es folglich in Weimar mit einer durch und durch ›ästhetisierten Topografie‹ zu tun, welche sich sowohl im Stadtraum als auch in den zahlreichen Innenräumen manifestiert und bis heute zu einer spezifischen Form der Rezeption durch die Besucher beiträgt.23 So werden die klassischen Stätten auch gegenwärtig in Teilen entsprechend der Tradition des 19. Jahrhunderts, als wären sie an einem Pilgerpfad aufgereiht, besucht.24 Diese Traditionsbezüge und zum Teil bildungshistorischen Hypotheken tragen sicher nicht zuletzt dazu bei, dass die Gäste schon von vornherein erst gar nicht eine Literaturvermittlung erwarten. Allerdings trug die Vorgängerinstitution der

21 So zierte Briefumschläge der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur folgender Spruch: »Die Nationalen Forschungsund Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar tragen dazu bei, ein historisch wahres Bild der Klassik zu geben und das vorwärtsweisende Vermächtnis der Dichter, Künstler und Philosophen in die Kultur des Sozialismus einzufügen.« 22 Vgl. http://www.buchenwald.de/74/ vom 25.01.2017. 23 Bollenbeck, Georg: Weimar, in: Etienne François/Hagen Schulze (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte. Eine Auswahl, München: Beck 2005, S. 89-106. 24 Riederer, Jens: Wallfahrt nach Weimar. Die Klassikerstadt als sakraler Mythos (1780 bis 1919), in: Bohnenkamp/Breuer/Kahl/Rhein, Häuser der Erinnerung (2015), S. 223-292.

W ARUM HAT W EIMAR

KEIN

L ITERATURMUSEUM? | 75

Klassik Stiftung Weimar in der DDR den Begriff Literatur in ihrem Namen: Nationale Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar. Demzufolge war es nur konsequent, dass etwa die seit 1990 Herzogin Anna Amalia Bibliothek genannte, ehemals herzogliche Bibliothek, der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur einverleibt wurde. Durch die Einbeziehung vieler literarischer Erinnerungsstätten entstand erstmals eine zentral gesteuerte Kulturtopografie, die es Besuchern leichter und übersichtlicher machte, unterschiedliche Erinnerungsorte, die in Bezug zur Weimarer Klassik stehen, aufzusuchen. Dazu zählten Orte der Theatergeschichte wie die Erinnerungsstätte Schloss Kochberg mit seinem Liebhabertheater und das historische Goethe-Theater in Bad Lauchstädt. Ende der 1980er-Jahre wurde nach sehr langer Planung das Schiller-Museum in Weimar, unmittelbar an das Schiller Wohnhaus angrenzend, eröffnet und eine Ausstellung zu Schillers Leben, Werk und Wirkung realisiert. Diese lässt sich, soweit sich dies rekonstruieren lässt, trotz biografistischer Züge insgesamt als Literaturausstellung in einem eigens dafür gebauten Literaturmuseum bezeichnen.25 Es verwirklichte die richtige Vorstellung, dass der einer quasisakralen Tradition entstammenden Idee eines Dichterhauses eine Ausstellung beigefügt werden muss, auch um museologischen Ansprüchen in der Vermittlung zu genügen. Dieser Versuch endete 1995, unter anderem weil die Ausstellung in Teilen von der DDR-Ideologie mitbestimmt war. Von dieser kurzen Episode abgesehen kann also wegen der vor allem erinnerungspolitischen Ausrichtung der Gedenkstätten und in Teilen auch der musealen Einrichtungen Weimars behauptet werden, dass sich in der langen Geschichte der Musealisierung in der Stadt nie ein Ort entwickelt hat, der der Literatur jenseits des Biografistischen einen Raum gegeben hätte. Daran ändern auch die von der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur verantworteten Ausstellungen von 1960 und 1982 nichts, die als Literaturausstellungen verstanden wurden.26 Die realisierten Ausstellungen kreisten um das Leben des jeweiligen Dichters. Das Werk

25 Vgl. Kahl, Paul: Der Geschichtsort Schillerhaus in Weimar, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 69 (2015), S. 84-89; vgl. Golz, Jochen: »Eine Epoche ohne Folgen? Das Weimarer Schiller-Museum«, in: Seemann/Valk, Literatur ausstellen (2012), S. 227-242. 26 Vgl. P. Kahl: Die Erfindung des Dichterhauses, S. 217.

76 | F OLKER M ETZGER

wird diesem Paradigma schlicht zugeordnet. Die kulturgeschichtliche Kontextualisierung erfolgte also in den bisherigen Ausstellungen fast immer über die Person und nicht über übergeordnete und damit wissenschaftlichere bzw. systematischere Fassungen. Dazu könnte etwa eine struktur- und ereignisgeschichtliche Kontextualisierung genauso zählen, wie ein medientheoretischer oder politischer Zugang zur Literatur, die auch einfacher gegenwärtige gesellschaftspolitische Bezüge ermöglichen.27 Im Literaturarchiv Marbach wird seit einigen Jahren erfolgreich gezeigt, welche Bandbreite an Aspekten der Literatur im Medium des Buchs oder anhand von Autografen, also anhand von deren jeweiliger Materialität, vermittelt werden können. Diese Ansätze wurden zwar in Weimar in der Sonderausstellung Weimarer Klassik. Kultur des Sinnlichen (2012) erstmals realisiert, aber nicht konsequent fortgeführt. Allerdings steht in Marbach, von Schillers Geburtshaus abgesehen, auch kein prominentes Dichterhaus. Möglicherwiese verhindern Dichterhäuser einerseits durch ihre auratische Aufladung, andererseits der über die Räume und deren Interieur vor allem vermittelnden praktischen Lebenswelten des Dichters und seines Umfelds Zugänge zur Literatur. Bezeichnenderweise fand in Weimar vor der Etablierung der ›Dichterhäuser‹ (Schillers Wohnhaus 1847, Goethes Wohnhaus 1885, Goethes Gartenhaus 1922) zwischen 1835-1847 ein aus meiner Sicht weiter zu diskutierender Versuch statt, Literatur über eigens geschaffene Räumen mit quasi comichaften Malereien zu den Dramen und Balladen der Klassiker inklusive Wieland und Herder zu vermitteln.28 Diese damals nur eingeschränkt öffentlich zugänglichen ›Dichterzimmer‹ im ehemaligen Apartment der Herzogin Maria Pawlowna im heutigen Stadtschloss wurden gleichwohl mit jeweils heroisch wirkenden und entsprechend inszenierten Büsten der Dichter versehen. Des Weiteren hängt die Erfindung des ›Dichterhauses‹ aufs Engste mit der von Goethe maßgeblich mitentwickelnden Genieästhetik zusammen. Dieser war ein Meister darin, mit kommunikativen und inszenatorischen Mitteln die Erinnerung an seine Person sowie an Weimar maßgeblich zu lenken und mitzubestimmen. Man denke nur an die ›Fürstengruft‹, deren Konzeption und Architektur er maßgeblich beeinflusst hat. Erstmals wurden hier Dichter und Fürsten gemeinsam beigesetzt, wie auch erstmals Dichterbüsten und Herrscherporträts zu deren Lebzeiten im

27 Vgl. J. Berger: Anna Amalia und das ›Ereignis Weimar‹, S. 13-30. 28 Vgl. C. Hecht: Klassiker-Inszenierung im höfischen Kontext, S. 13-30.

W ARUM HAT W EIMAR

KEIN

L ITERATURMUSEUM? | 77

Rokokosaal der herzoglichen Bibliothek formal einheitlich präsentiert wurden. Zudem versuchte Goethe, die Sichtweisen auf Weimar als ›Ilm-Athen‹ durch performative Inszenierungen zu befördern, wie etwa die Aufbahrung der Herzogin Anna Amalia in der Bibliothek, wobei er sie als ›Begründerin des Musenhofs‹ stilisierte. Die Vermittlung oder besser Selbstinszenierung Weimars begann also schon im frühen 19. Jahrhundert. Ebendiese sich auch an konkreten Orten festmachenden Mythen wurden nach dem Ableben Goethes dankbar aufgegriffen und wirkten sich bis in die 1990er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts auf die Rezeption Weimars als geschichtlichen Ort aus.29 Durch die umfassende Bewahrung der literarischen Erinnerungsorte entstanden paradoxerweise Orte, die auch Literatur vermitteln könnten, denn sie waren Stätten des Schreibens, des Austauschs sowie des darstellenden Spiels, etwa im Falle des sogenannten Liebhabertheaters. Die Erinnerungsorte wurden so gestaltet, dass der Besucher bis heute der Suggestion erliegt, sich in Teilen des Stadtraums und darüber hinaus in der Zeit um 1800 zu bewegen. Unter autorenzentrierter Perspektive wurden in Innenräumen begehbare Bühnenbilder, wie etwa in den ›Dichterhäusern‹, in der Bibliothek sowie im Liebhabertheater geschaffen. Weitere Erlebnisräume bilden die historischen Parkanlagen, bestimmte Sichtachsen und architektonische Ensembles. Dies ermöglicht jenseits aller inszenatorischen Maßnahmen auch Erkenntnisse über die Produktionsbedingungen von Literatur, etwa über die sogenannte Kommunikationsverdichtung in Weimar um 1800. Gemeint ist damit, dass sich in dieser Zeit eine besondere räumliche Verdichtung − Jena mit einbezogen − des künstlerischen und intellektuellen Austauschs vollzog.30 Durch die unter erinnerungspolitischen Prämissen vorgenommene Bewahrung der vielen Stätten − dazu zählt unter architekturtheoretischer Sicht etwa das Römische Haus − kann die Zeit um 1800 in Weimar wiederum als eine ihr ebenfalls zugeschriebene Laborsituation verstanden werden.31 Die aus-

29 Vgl. J. Berger: Anna Amalia und das ›Ereignis Weimar‹, S.13-30. 30 Vgl. ebd. 31 Vgl. Beyer, Andreas: Dorisch in Weimar. Das ›Römische Haus‹ im Park an der Ilm, in: Klassik Stiftung Weimar, SFB Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800 der Friedrich-Schiller-Universität Jena (Hg.),Ereignis Weimar. Anna Amalia, Carl August und das Entstehen der Klassik 1757–1807 (Kat.), Leipzig: Koehler & Amelang 2007, S. 252-253.

78 | F OLKER M ETZGER

schweifende Bewahrung aller Dinge, die von den Dichtern berührt wurden, ermöglicht es des Weiteren, die performativen Bedingungen der Literaturproduktion nachzuvollziehen.32 Doch müsste dafür noch ein Vermittlungskonzept entwickelt werden, damit sich diese Aspekte dem Besucher erschließen. Derzeit wird die Überlieferungsgeschichte der Einrichtungen von Goethes Wohnhaus aufgearbeitet, woraus sich eine modifizierte Präsentation seines Interieurs ergeben wird.33 Allerdings sind Wohnhäuser eben auch Erinnerungsorte und Denkmäler und unterliegen nicht den gleichen Anforderungen wie Ausstellungen in Museen. Außerdem ist die Überschreibung der im 19. und 20. Jahrhundert vorgenommenen Inszenierungen unter erinnerungsgeschichtlichen Aspekten auch erhaltenswert. Ein Konzept der Literaturvermittlung in Weimar, so kann aus diesen etwas holzschnittartigen Darstellungen hoffentlich gefolgert werden, müsste sich nicht nur damit auseinandersetzen, ob und, wenn ja, wie eine Ausstellung konfiguriert werden kann, sondern eben auch damit, wie diese sich zur ›ästhetisierten Topografie‹ zu positionieren hätte.

R ESÜMEE Bis zu diesem Punkt habe ich vor allem die verschiedenen Bedingungen dargestellt, die zu einer bestimmten Ausstellungspraxis geführt haben, ohne dass dabei diejenigen, für die diese Ausstellungen und Vermittlungskonzepte gemacht werden, einbezogen wurden. Gleichwohl hatten und haben die Erwartungen der Weimarbesucher einen Einfluss auf die Ausprägung Weimars. Insbesondere das Schillerhaus als bildungsbürgerliches Projekt öffnete fast genau zu dem Zeitpunkt für die zunehmende Zahl interessierter

32 S. Böhmer/C. Holm/V. Spinner/T. Valk (Hg.): Weimarer Klassik. Kultur des Sinnlichen (Kat.). 33 Vgl. http://www.germanistik.uni-halle.de/neuere_literaturwissenschaft/literatur wissenschaft/parerga_und_paratexte/ vom 07.02.2017 sowie in diesem Band der Beitrag: Bers, Anna: ›Laute Dinge‹ – Konzeptionelle Fragen im Vorfeld der Sanierung von Goethes Wohnhaus in Weimar.

W ARUM HAT W EIMAR

KEIN

L ITERATURMUSEUM? | 79

Besucher, als Weimar an das Eisenbahnnetz angeschlossen wurde.34 Die ›Dichterhäuser‹ wurden also nicht nur aus erinnerungspolitischen Gründen von den Machthabenden als Personengedenkstätten errichtet. Sie entsprangen einem Bedürfnis der Weimarbesucher, die sich enttäuscht äußerten, dass so lange keines der Häuser betreten werden konnte. Dieses Bedürfnis der Besucher besteht bis heute. Primäres Ziel der meisten Weimarbesucher ist es, eines oder mehrere der ›Dichterhäuser‹ sowie den Rokokosaal in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek zu besuchen. In das Goethe- und Schiller-Archiv, den der Literatur im engeren Sinne am nächsten stehenden Ort, aber für Weimarer Verhältnisse etwas abseits gelegen, finden nur wenige Besucher. Wenn man Deutschlehrer fragt, warum sie Weimar mit ihren Schulklassen besuchen, so nennen diese ähnliche Beweggründe, wie sie Weimarbesucher im 19. Jahrhundert vorgebracht haben. Sie würden ihren Schülern zeigen wollen, wo und wie die Dichter gelebt hätten und zeigen, wie bedeutend das kleine Weimar gewesen ist. Selten wollen sich die verschiedenen Besuchergruppen mit Literatur auseinandersetzen. Allerdings gehört der Besuch einer Aufführung des Deutschen Nationaltheaters zum festen Programmpunkt, womit der Bedarf an Literaturerfahrung für viele abgedeckt ist. So könnte also gefolgert werden, dass eine Literaturausstellung im engeren Sinne aus Sicht der Besucher gar nicht benötigt wird. Demzufolge wäre unabhängig davon zu klären, warum überhaupt und, wenn ja, welche diesbezüglichen Ausstellungsinhalte und -formen für Weimar entwickelt werden sollten. So könnte weiter argumentiert werden: Gerade weil Weimar in so vielfältiger Weise überschrieben und damit inszeniert wurde, ohne dass sich dem Besucher dies ohne Weiteres erschließt, bedarf es eines Ortes, der dieser Tradition gegenläufig ist und damit mittelbar eine Reflexion über Weimar als ›ästhetisierte Topografie‹ ermöglicht. Anders gesprochen, wenn es einen Ort gäbe, der die literarischen Texte jenseits ihrer historischen Kontexte behandelte, dann würde diesem eine Korrektivfunktion zu einem traditionellen Weimarbesuch zukommen. So könnte die Relevanz der Texte für gegenwärtige Fragestellungen vermittelt werden, etwa zu Geselligkeitsformen oder interkulturellen Aspekten – allerdings ohne die Texte funktionalisieren zu wollen. Doch durch die in Wei-

34 Vgl. Kahl, Paul: Schillers Häuser und der Anfang weltlich-bürgerlicher Gedenkstättenkultur im Deutschland des neunzehnten Jahrhunderts, in Bohnenkamp/Breuer/Kahl/Rhein, Häuser der Erinnerung (2015), S. 41-57.

80 | F OLKER M ETZGER

mar stets präferierte Historisierung des Gegenstandes wird dieses Potenzial von Literatur in Teilen abgeschnitten. Deswegen sollten Literaturausstellungen in der umrissenen Form nicht in einem historischen Gebäude gezeigt werden, wie es etwa mit einer Ausstellung zu Goethes ›Wahlverwandtschaften‹ erfolgte.35 Der hier skizzierte Umgang mit Literatur ist nur einer von vielen diesbezüglich zu diskutierenden Optionen für Weimar, den es in einer breit angelegten Debatte zu überprüfen gilt, insofern der hier ausgeführten Argumentation gefolgt werden kann. Diese Schlusssetzung mag meinem Eingangsstatement einer umfassenden Besucherorientierung widersprechen. Jedoch glaube ich sehr wohl, dass die jeweilige Kulturinstitution erst einmal eine Selbstverortung vornehmen muss, um daraus ein Konzept zu generieren, das unter unterschiedlichster Perspektive zur Diskussion gestellt und dann entsprechend modifiziert werden kann. Dabei sollte nicht von einem bis dato in seiner sozialen Herkunft homogenen Weimarpublikum ausgegangen werden. Soll es in Zukunft gelingen, ein vielschichtiges Publikum zu gewinnen, kann es nicht allein von den derzeitigen Besucherbedürfnissen ausgehen, sondern die Stiftung muss Milieus in den Blick nehmen, die bisher wenig Zugang zur Weimarer Kulturgeschichte fanden. Dieser für alle öffentlichen Museen geltenden gesellschaftspolitischen Verantwortung sollten sich alle Personen und Mandatsträger, die das Museums- und Ausstellungswesen mitbestimmen, also die genannten ›Stakeholder‹ inklusive der öffentlichen Geldgeber, die Fachwissenschaftler, man denke nur an deren Funktion in den wissenschaftlichen Beiräten von Museen, als auch die Museumsmitarbeiter stellen.

35 Güse, Ernst-Gerhard/Blechschmidt, Stefan/Hühn, Helmut/Klauss, Jochen (Hg.): »Eine unbeschreibliche, fast magische Anziehungskraft«. Goethes Wahlverwandtschaften (Kat.), Weimar: Klassik Stiftung Weimar 2008.

Kunst, Leben und das Museum Gedanken zu Marina Abramović und Joseph Beuys J ANNEKE S CHOENE

D AS I MMATERIELLE

DER

K UNST

In ihrer kürzlich erschienenen Autobiografie Durch Mauern gehen (2016) beschreibt die heute 70-jährige Marina Abramović, die als Ikone der Performancekunst gefeiert wird, ihre Idee für die 2014 in London realisierte Ausstellung 512 Hours: Das Museum sollte vollkommen leer sein, die BesucherInnen ihr Hab und Gut beim Betreten des Museums zurücklassen und vor leeren Wänden stehen, als performende Subjekte fungieren, von Abramovićs Präsenz und Energie zehren: »Es würde keine Regeln geben – nur die Künstlerin, das Publikum und einige wenige Requisiten in dem leeren weißen Raum. Besser konnte ich immaterielle Kunst nicht veranschaulichen.«1 Während der gesamten Ausstellung war Abramović – wie schon in der Aktion The Artist is Present (2010) in New York – anwesend, während jegliche Ausstellungsobjekte fehlten. Der Ausstellungsraum fungierte insofern nicht als Ort der Präsentation von etwas, zählte nicht als realer Raum, sondern gewissermaßen als Sinnbild des inneren Raumes eines jeden Besuchers und einer jeden Besucherin, in dem man sich bewegte. Energetische Atmosphäre und radikale Leere,2 diese beiden Charakteristika 1

Abramović, Marina: Durch Mauern gehen, München: Luchterhand 2016, S. 457.

2

Vgl. Lorch, Cathrin: »Ein Nichts mit Körper«, in: Süddeutsche Online: http://www.sueddeutsche.de/kultur/aktion-hours-in-london-ein-nichts-mit-koer per-1.1994054 vom 11.06.2014.

82 | J ANNEKE S CHOENE

scheinen typisch für Abramovićs Performancekunst. Zumindest wie sie sie heute praktiziert und in der sie nicht mehr als Exempel für etwas fungiert, ihr Körper nicht mehr als Medium oder Zielobjekt gewaltsamer Aktionen dient, in denen sie sich etwa mit Metallbürsten den Kopf blutig kämmte (Art must be beautiful), sondern in der sie eine anleitende Funktion hat. Der Fokus, der auf die BesucherInnen als diejenigen gelegt und verschoben wird, deren Erfahrung zum Mittelpunkt gemacht wird, unterscheidet die späteren von den frühen, radikalen Performances, die oftmals im Zeichen der ›Body Art‹ standen. Anstatt um die Präsenz des Körpers scheint es heute um die Präsenz der Person(a) der Künstlerin zu gehen. In beiden Fällen aber stellt sich die Frage, wie die Performancekunst als ›immaterielle Kunst‹ und das Moment ästhetischer Erfahrung im Museum tatsächlich präsent gemacht und nach Verstreichen des performativen Moments repräsentiert werden kann, wie und ob das Museum nach Ende der Performance auch darüber hinaus Ort einer solchen Erfahrung sein kann. Allerdings stellt sich auch die Frage, ob beide Ausprägungen der Performancekunst als gleichermaßen immateriell gelten können. Im Folgenden wird die Ausstellung Marina Abramović – The Cleaner, die Anfang 2017 im Modernen Museum in Stockholm stattfand und einen umfangreichen Versuch darstellte, die verschiedenen Facetten von Abramovićs Schaffen zu vermitteln, als Ausgangspunkt genutzt, um zu diskutieren, wie performative Kunst ins Museum gebracht werden kann beziehungsweise welche Funktion und Rolle das Museum dann einnimmt.

D IE R EINIGUNG Die Struktur der Ausstellung The Cleaner folgte der chronologischen Entwicklung der Kunst von Abramović, begonnen bei frühen, bisher kaum oder zuvor nie ausgestellten eindringlichen Gemälden und Skizzen, die etwa einen Autounfall zeigen und wiederholen, Performances aus den 1970er Jahren, Aufnahmen von Zusammenarbeiten mit ihrem langjährigen Partner Ulay, die in einem dunklen Raum in historischer Atmosphäre gezeigt wurden, bis hin zu einem Raum, der verschiedene Installationen mit Kristallen und Edelsteinen sowie eine Rekonstruktion des Settings von The House with the Ocean View (2002) beherbergte. Eine Referenz auf letztere Performance, für die Abramović zwölf Tage lang in drei spärlichen offenen

K UNST , L EBEN

UND DAS

M USEUM | 83

Räumen in einer New Yorker Galerie lebte ohne zu reden und zu essen, findet sich sogar in einer Folge der Serie Sex and the City, auch wenn Abramović selbst nicht darin gezeigt werden wollte. Wenngleich die Hauptdarstellerin der Serie die Performance kaum versteht und sie verlacht, zeigt sich darin, dass sie zumindest als Spektakel oder als Teil eines bestimmten Lifestyles von der populären Kultur wahrgenommen wurde. Ausgehend von der Stockholmer Schau werden verschiedene Möglichkeiten des Ausstellens immaterieller Kunst erkundet und diskutiert. Schließlich wurden dort nicht nur Videoaufnahmen, deren Ton durch die Räumlichkeiten hallte, und Fotografien gezeigt – etwa großformatige schwarz-weiß Serien von den blutigen Händen der Künstlerin aus der Aktion Rhythm 10. Auch Objekte, die ihrerseits auratisch aufgeladen sind wie besagter Szenennachbau und ferner Objekte, die zum Aktivwerden aufrufen (sollten), darunter verschiedene an den Wänden angebrachte Steinformationen, an die BesucherInnen ihren Körper drücken sollten, um Energien nachzuspüren, waren Teil der Schau . Abramović versteht derartige Objekte als ›transitorische Objekte‹, als Objekte, die gewissermaßen die Funktion der Künstlerin einnehmen. Sie dienen der Künstlerin nicht zuletzt dazu, zukünftige Möglichkeiten des Performens in ihrer Abwesenheit auszuhandeln, so Abramović.3 Zudem fanden in Stockholm Re-enactments von Performances durch andere KünstlerInnen statt. Im Grunde wirkten diese aber – wie die übrigen Aufnahmen – fast statisch und distanziert. Und zuletzt umfasste die Schau eine gleichnamige neue Performance, in der Abramović wieder eine untergeordnete Rolle spielte. Die Performance schien weniger Abramovićs Performance zu sein, zum einen, weil neben ihr noch 29 weitere geschulte4 PerformerInnen agierten, zum anderen, weil die TeilnehmerInnen auf sich selbst zurückgeworfen wurden, so dass sie sich weniger auf Abramović konzentrieren oder fixieren konnten. Sie tauchte in der Masse der Anwesenden unter und verschwand darin, korrigierte lediglich hier und da eine Haltung oder legte ihren Arm auf die Schultern von BesucherInnen. Der theoretischen Auseinandersetzung mit der als immateriell gekennzeichneten

3

Vgl.

http://www.sculpture.org/documents/scmag01/nov01/abram/abram.shtml

vom 03.04.2017. 4

In einem sechstägigen Kurs – Cleaning the House – wurden die PerformerInnen in Stille und Langsamkeit geschult: https://www.svd.se/marina-abramovic-skarena-stockholm vom 10.04.2017.

84 | J ANNEKE S CHOENE

Kunst wird nun zunächst ein Erlebnisbericht vorangestellt, der einer wissenschaftlichen Annäherung womöglich gegenübersteht und insofern die Spannung verdeutlicht, die performativer Kunst eigen ist. Vom 27. Februar bis 5. März öffnet die Eric Ericsonhalle – eine ehemalige Kirche und bekannt als ›Stockholms Pantheon‹, das heute unter anderem als Konzertraum dient – zwischen 16 und 22 Uhr ihre Türen für die BesucherInnen der Performance. Die Performance The Cleaner gleicht einer sechsstündigen Yogasession. Schwarz gekleidete PerformerInnen führen die TeilnehmerInnen, die eintreten. Sie nehmen sie bei der Hand, weisen sie an, sich auf den Boden zu legen, zu atmen; sich auf einen Stuhl zu setzen, zu atmen; still zu stehen, zu atmen. Die Augen sollen geschlossen sein, das verdeutlichten sie im ruhigen Vorbeigehen immer wieder durch Gesten. Manchmal singt ein Chor. Wie spät es sein mag, lässt sich nur anhand der Lichtverhältnisse abschätzen. Uhren, Handys und Schuhe müssen die BesucherInnen vor Betreten des Raumes zurücklassen. Nach einer halben Stunde, das kann ich nur schätzen, möchte ich gehen. Eine innere Unruhe und körperliche Beschwerden drängen mich gleich zu Beginn zu gehen, aber ich bleibe doch drei Stunden. Bevor ich die Kirche verlasse, umarmt mich ein Performer verständnisvoll und lange. Ich löse mich nur ungern von der netten Gemeinschaft. Und es erscheint mir vom ersten Moment an, in dem ich in der Kirche stehe und eine freundlich und emphatisch lächelnde Performerin meinen wackligen, unnatürlich ausgebremsten Körper langsam durch den Raum führt, mich im Raum platziert, mich anweist, die Augen zu schließen und mich zittrig zurücklässt, völlig klar: mein Körper ist überflüssig. Die Medien werden die PerformerInnen später mitunter sogar mit Engeln vergleichen, die sich wie in Wim Wenders Film Himmel über Berlin mit den Menschen bewegen und sie begleiten,5 kaum spürbar führen, sodass eigener Wille und Anweisung fast nicht mehr zu unterscheiden sind. Es macht einen großen Unterschied, ob man sich theoretisch mit Performancekunst auseinandersetzt oder daran teilhat, denke ich noch, denn plötzlich glaube ich auch dran – und werde anders auf die Objekte und Dokumente schauen, die nun auch eigene Erinnerungsstücke sind. Dass dieser Eindruck entstehen kann (oder eben nicht entsteht), hängt sicher von der Einstellung und der Offenheit ab, die man als BesucherIn mitbringt. Man-

5

Vgl. https://www.svt.se/kultur/konst/the-cleaner vom 10.04.2017.

K UNST , L EBEN

UND DAS

M USEUM | 85

che der TeilnehmerInnen bewegen sich – entgegen der Regeln am Eingangstor – von alleine durch den Raum, blicken sich um, flanieren durch die Kirche, stören die Meditationen der anderen. Sie sind gekommen, um Kunst zu schauen, nehme ich an, um ins Museum zu gehen, zu nicken und zu sagen: ›Das ist Kunst, ich verstehe.‹ Vielleicht werden sie sich auch nicht am Eingang der Ausstellung, die ein paar Meter von der Kirche entfernt eingerichtet ist, an einen langen Tisch setzen, einen geräuschdämpfenden Kopfhörer aufsetzen, Handys und Uhren ablegen und Reiskörner und Linsen sortieren und zählen, nur um sie im Anschluss wieder auf den Haufen in der Mitte des Tisches zu werfen. Diese Gedanken begleiten mich auch, als ich im Anschluss an die Performance durch die Ausstellung gehe, mich am Ton der Videos störe, der durch die Räume dringt und der mich beim versunkenen Betrachten von Fotografien stört. Die Situation, die Performerin, die Abramovićs Performance Cleaning the Mirror von 1995 vor einem roten Theatervorhang aus Samt wiederaufführt, der den Zustand des Inszenierten zu kennzeichnen scheint, und die konzentriert ein Plastikskelett mit dreckigem Wasser schrubbt, erscheint mir im Grunde wie eine Videoaufnahme. Ich stoße auf sie, nachdem ich es nur kurz bei dem Gestank der aufgehäuften Knochen ausgehalten habe, die neben einigen Fotografien als Referenz auf die Performance Balkan Baroque dienen, bei der Abramović auf einem Berg von blut- und fleischverklebten Rinderknochen hockte und diese mühe- und hingabevoll säuberte. Bei Cleaning the Mirror war Abramović nackt, die junge Performerin trägt einen beigen, engen Overall. Trotz fehlender Nacktheit ist die Performance durch die Besonnenheit und Bedachtheit, die die langsam arbeitende Frau aufbringt, während sie ihrer unsinnigen Tätigkeit nachgeht, durchaus anrührend. Einwände gegen Re-enactments hängen doch letztlich allzu sehr am Werkbegriff, gegen den sich die Performancekunst schließlich wandte, schießt es mir durch den Kopf. Auch zum Zeitpunkt der ersten Aufführung wird jede/r Anwesende einen anderen Eindruck gehabt haben. Diese Form des ›Ausstellens‹, das Re-enactment, repräsentiert die ursprüngliche Aktion möglicherweise nicht, doch sie hält im besten Fall den Moment des Erlebens und den Anspruch der Präsenz am Leben. Ich fühle mich an eine Beuys-Ausstellung erinnert, die 2012 in einer Pariser Galerie gezeigt wurde. Neben Objekten, Multiples und Zeichnungen waren auch Dokumente, Aufnahmen und Materialien aus der knapp einstündigen Aktion Titus/Iphigenie zu sehen und ebenso ein Schimmel.

86 | J ANNEKE S CHOENE

Beuys war 1969 bei der Aktion auf einer Theaterbühne in Frankfurt am Main mit einem weißen Pferd aufgetreten. Er hatte aus Shakespeares Titus Andronicus und Goethes Iphigenie auf Tauris zitiert und Laute erzeugt, während der Schimmel hinter dem Künstler auf einer Eisenplatte stand. Beuys führte später aus, dass die Sprache als Objekt Gegenstand der Aktion war,6 auch wenn sich das den ZuschauerInnen im Theater sicher nicht zwangsläufig erschlossen haben muss. In Paris stand der Schimmel drei Tage lang in einer Ecke der Galerie in einem abgetrennten und mit Stroh ausgelegten Bereich. Der Geruch des Tieres und der von Heu, der sich im Galerieraum ausbreitete und noch gegenwärtig war, als das Pferd verschwunden war, ließ mich damals hoffen, dass die Ausstellung wenigstens ansatzweise vermitteln könnte, was längst vergangen ist. Dass die Ausstellung neben diesem Moment des Staunens und der Fragen ›Wie lange wird das Pferd hier stehen und was sagen TierrechtlerInnen dazu?‹ den meisten Beuys-Ausstellungen glich, sei dahingestellt. Natürlich hatte der Schimmel wenig mit dem ›Werk‹ von Beuys zu tun, seine Anwesenheit bedeutete im Grunde eine ›Eventisierung‹, doch durch die Präsenz des lebendigen Gegenübers fühlte man sich als BesucherIn durchaus auf seine eigene (Co-)Präsenz verwiesen. Die übrigen Objekte hätte es dazu womöglich nicht gebraucht. Mit der Erinnerung an diese Ausstellung gehe ich durch die Abramović-Schau in Stockholm, noch gefangen von der ›reinigenden‹ Yoga-Performance. Aber spätestens die Schuhe aus Bergkristall, die hinter dem Ausgang aus der Ausstellung im Sammlungsbereich zu sehen sind, lassen mich stutzig werden, besonders, als eine Besucherin ihre Winterstiefel abstreift und in die Schuhe schlüpft. Unfähig sich in den schweren Schuhen zu bewegen, kann sie nur versuchen, dem Energiefluss nachspüren.7

6

Vgl. Schneede, Uwe M.: »Titus/Iphigenie«, in: Ders.: Joseph Beuys. Die Aktionen. Kommentiertes Werkverzeichnis mit fotografischen Dokumentationen, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz 1994, S. 242-245.

7

Vgl. Marina Abramović in Lüthy, Michael: »Struktur und Wirkung in der Performance-Kunst«, in: Martin Vöhler/Dirck Linck (Hg.), Grenzen der Katharsis in den modernen Künsten. Transformationen des aristotelischen Modells seit Bernays, Nietzsche und Freud, Berlin: De Gruyter 2009, S. 199-230, hier S. 222.

K UNST , L EBEN

UND DAS

M USEUM | 87

Z U EINER ÄSTHETIK DES P ERFORMATIVEN UND DER P RÄSENZ Eine frühe Performance von Abramović diente Erika Fischer-Lichte Ende der 1900er Jahre zur Veranschaulichung einer Ästhetik des Performativen: Während der Performance Lips of Thomas (1973) trat Abramović wie nicht selten vollkommen entkleidet auf, löffelte zunächst bedacht einen Kilo Honig, trank einen Liter Wein, ritzte sich schließlich mit einer Rasierklinge einen fünfeckigen Stern in die Bauchdecke, geißelte sich und legte sich auf ein Kreuz aus Eisblöcken unter einen Heizstrahler. Nachdem sie eine halbe Stunde auf dem Eiskreuz verbracht hatte, bereiteten einige BesucherInnen dem ein Ende. Die Spannung zwischen einem ästhetischen und ethischen Moment, das lässt sich daraus schließen, ließ sich nicht aufrecht erhalten.8 Wie Juliane Rebentisch treffend beschreibt, kann Performancekunst nicht bloß als Kunstform und in einem historischen Kontext wahrgenommen werden, auch die ethische, die existentielle Seite muss gewürdigt oder wahrgenommen werden. Aus diesem Zusammenspiel resultiert die besondere Spannung performativer Kunst:9 Konzentriert man sich nur darauf, dass sich Abramovićs Handlungen in der Entwicklung der Kunst im 20. Jahrhundert verorten lassen, so lässt man die moralische Dimension außer Acht, die der ästhetischen Dimension gewissermaßen gegenübersteht. Wird nur die moralische Dimension der Performance fokussiert – so wie von jenen, die Lips of Thomas ein Ende bereiteten –, wird der künstlerische Aspekt missachtet, die ästhetische Dimension. Nicht in der Auflösung dieser Spannung liegt die ›Lösung‹, sondern im Bestehen. Besonders deutlich mag dies für Performances gelten, die auf religiöse Rituale referieren wie zahlreiche Aktionen von Joseph Beuys und ebenso für politisch konnotierte Aktionen wie Christoph Schlingensiefs Bitte liebt Österreich (Ausländer raus) (2001). Für diese ließ der Künstler ein großes Banner mit der Aufschrift ›Ausländer raus‹ in Wiens Innenstadt installieren und dort vermeintliche Asylbewerber in Big Brother ähnlicher Manier überwachen und – angeb-

8

Vgl. Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Stuttgart: Suhrkamp

9

Vgl. Laleg, Dominique: Das Potenzial des Ästhetischen. Drei Fragen an Juliane

2004, S. 9f. Rebentisch zum Verhältnis von Ästhetik und Politik, in: All-over. 3 (2012): http://allover-magazin.com/?p=1072 vom 11.03.2017.

88 | J ANNEKE S CHOENE

lich – nach und nach durch Publikumsentscheid aus dem Land werfen.10 Fischer-Lichtes Versuch einer Theorie des Performativen hat verdeutlicht, dass Performances, Happenings, Aktionen etc. nicht mit herkömmlichen kunsthistorischen beziehungsweise kunstwissenschaftlichen Instrumentarien erfasst werden können, da es kein Kunstwerk in dem Sinne gibt, als dass ein materielles Objekt zentral oder überhaupt zugegen wäre. Dabei hebt sie hervor, dass die ›Aufführungen‹ von Abramović und anderen PerformancekünstlerInnen das Postulat von Unmittelbarkeit als Waffe im Kampf gegen die voranschreitende Medialisierung der Welt in der damaligen Zeit eingesetzt hätten.11 Und auch Peggy Phelan urteilt, dass Performancekunst nicht bewahrt oder dokumentiert werden kann, beziehungsweise diese Dokumentationen nicht der Performancekunst entsprächen.12 Es mag stimmen, dass sich die Anfänge performativer Kunst mitunter gegen eine Medialisierung der Welt richteten, allerdings lässt sich daraus nicht zwangsläufig auf die Unmöglichkeit der Medialisierung performativer Kunst schließen, wie es oftmals geschieht. Amelia Jones hat anschaulich dargelegt, dass Fotografien und andere Aufnahmen – zumindest in einigen Fällen – sogar als Substrate von Performances fungieren und es erst ermöglichen, über die Performances zu sprechen, nachdem sie stattgefunden haben.13 In manchen Fällen beeinflusst die Dokumentation die Wahrnehmung der Performances wesentlich – und ebenso die Ikonografie mancher Künstler, ihren Mythos und den Kult um sie sowie die Symbolträchtigkeit ihrer Performances, wie anhand der Medialisierung einer Aktion von Beuys veranschaulicht werden kann. In diesem Zusammenhang hat Phillip Auslander ferner auf die Performativität von Performanceaufnahmen hingewiesen, die vergleichbar mit der Performativität des Performanceakts selbst ist.14

10 Allerdings hat diese Aktion auch einen gewissen ironischen Charakter, da die Muster der banalen Realityshow gebrochen wurden. 11 Vgl. E. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 116. 12 Vgl. Phelan, Peggy: Unmarked. The Politics of Performance, London: Routledge 1993, S. 1. 13 Vgl. Jones, Amelia: »Presence in Absentia. Experiencing Performance as Documentation«, in: Art Journal. 56/4 (1997), S. 11-18. 14 Vgl. Auslander, Philip: »Zur Performativität der Performancedokumentation«, in: Barbara Clausen (Hg.), After the Act. Die (Re)Präsentation der Performancekunst, Nürnberg: Verlag für Neue Kunst 2007 sowie Ders.: Surrogate Per-

K UNST , L EBEN

P RÄSENZ

UND

UND DAS

M USEUM | 89

R EPRÄSENTATION

Mit der Aktion »kukei«, »akopee-Nein!«, »braunkreuz«, »fettecken«, »modellfettecken« war Beuys 1964 nur einer von zahlreichen Künstlern, die simultan beim Festival der neuen Kunst in Aachen auf- und ausführten. Beuys befüllte dabei unter anderem ein Klavier mit Waschpulver, Papier und anderen Dingen, um anschließend auf dem verstimmten Instrument zu spielen; er erwärmte Fett in einer Zinkkiste, verwendete Karten mit geometrischen Zeichen und andere Elemente. Ein Moment, das sich tief in das kunsthistorische Gedächtnis und das Gedächtnis Kunstinteressierter gebrannt hat, ist auch auf eine Fotografie gebannt worden: Beuys hat den rechten Arm erhoben und präsentiert in der linken Hand eine Christusfigur am Kreuz, während ihm Blut aus der Nase über das Kinn läuft. Ein empörter Student hatte Professor Beuys die Nase blutig geschlagen.15 Diese Aufnahme hat das öffentliche Bild von Beuys und auch die Art und Weise seines Auftretens stark geprägt; sie wurde zigfach reproduziert und gezeigt. Uwe M. Schneede bezeichnet sie treffend als Ausgangspunkt des »Mythos Beuys«16, denn die Fotografie kann als Anfangspunkt des offensiven Habitus des Künstlers verstanden werden.17 Die übrigen Aufnahmen, die am Abend entstanden, sind weniger bekannt. Und auch die Beiträge der weiteren teilnehmenden Künstler haben wenig Beachtung gefunden.18 Auf den existierenden, aber erst 2008 veröf-

formances. Performance Documentation and the New York Avant-garde, ca. 1964-74: www.walkerart.org/collections/publications/performativity/surrogateperformances vom 03.05.2017. 15 Für Details siehe Pickshaus, Peter Moritz: »Man darf die Kartoffel nicht mit dem Messer schneiden«, in: Ders. (Hg.), Kunstzerstörer. Fallstudien: Tatmotive und Psychogramme, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1988, S. 341-374. 16 Schneede, Uwe M.: »Kukei, akopee-Nein!, Braunkreuz, Fettecken, Modellfettecken«, in: Ders., Joseph Beuys (1994), S. 42-67, hier S. 62. 17 Vgl. Schoene, Janneke: Beuys’ Hut. Künstlersubjekt und Autofiktion, Dissertation Münster 2016. 18 Vgl. Oellers, Adam C.: »FLUXUS +- RWTH Aachen !? technikstudenten erleben vier Jahre lang ein höchst erstaunliches kulturprogramm«, in: Brigitte Franzen/Arnold Karsten (Hg.), Nie wieder störungsfrei! Aachen Avantgarde seit 1964, Bielefeld: Kerber 2011, S. 22-34.

90 | J ANNEKE S CHOENE

fentlichten fragmentarischen Filmaufnahmen des Abends ist deutlich zu sehen, dass der auf besagter Fotografie festgehaltene Moment nur wenige Sekunden gedauert hat19 – und von den parallel stattfindenden und nahtlos anschließenden Geschehnissen abgelöst oder gar überlagert wurde. Die harsche Reaktion des Studenten erfolgte zudem erst nach kurzer Diskussion und Rangelei, an der Beuys nicht ganz unbeteiligt war. Beuys’ Reaktion folgte kaum so unmittelbar, wie es die Rezeption oftmals darstellt und wahrgenommen hat. Die Medien berichteten damals etwa von Schlägereien, von einer blutigen Auseinandersetzung und von Krawallen, die schließlich die Auflösung der Veranstaltung veranlasst hätten.20 Die Partizipation des Publikums, nämlich der Eingriff des Studenten, und die Medialisierung sowie die Rezeption dieser Medialisierung haben in diesem Fall dazu geführt, dass die einzelne Aktion auch außerhalb ihres Kunstrahmens wirksam wurde und das Bild von Beuys als ›authentisch‹ erschien. Ähnliches beschreibt Jones mit Bezug auf Caroline Schneemanns Aktion Interior Scroll, bei der die nackte Schneemann schließlich eine Schriftrolle aus ihrer Vagina zog und vorlas. Jones argumentiert mit Verweis auf weitere theoretische Beiträge, dass der Körper dabei in seinem ›repräsentativen Status‹ in Szene gesetzt werde und Schneemann sich als Subjekt und Objekt (Körper) im Bild der Performance konstituiert und präsent ist – möglicherweise ungeachtet der originären Situation des Aktes. Auch der direkte physische Kontakt mit der Künstlerin, genauer die Co-Präsenz, erzeuge womöglich kein drastischeres Wissen um ihre Subjektivität als das Betrachten der Aufnahmen, so Jones.21 Gerade der repräsentative Status der Performance und der Umstand, dass sie auf eine Dokumentation angewiesen ist, um einen symbolischen Status zu erhalten, machen deutlich, dass das Erfassen des Selbst und Subjekts auch durch körperliche Nähe letztlich nicht gänzlich möglich ist und der Mehrwert der Co-Präsenz möglicherweise zumindest

19 Vgl. »Joseph Beuys. Kukei, Akopee – Nein!, BRAUNKREUZ – FETTECKEN – MODELLFETTECKEN, 1964. FESTIVAL DER NEUEN KUNST, TH Aachen 20. Juli 1964. Rekonstruktion einer Aktion«, in: Joseph Beuys MedienArchiv: Atlantis – Joseph Beuys 3 Aktionen 1964-1965, Berlin 2008, DVD 24:55 Min, hier Min 12:21. 20 Vgl. U. Schneede: »Kukei, akopee-Nein!, Braunkreuz, Fettecken, Modellfettecken«, S. 49. 21 Vgl. A. Jones: »Presence in Absentia«, S. 13.

K UNST , L EBEN

UND DAS

M USEUM | 91

insofern hinfällig sein mag. Entscheidend ist in Hinsicht auf das Interesse dieses Beitrags, dass sich die performative Kunst vor allem durch die Medialisierung der Aktion als konstitutiv für die künstlerische Identität erweist, wie es auch bei Beuys der Fall ist und insofern nicht (mehr22) als Waffe gegen die Medialisierung gedeutet werden kann. Dabei wird ein weiterer Aspekt der Immaterialität performativer Kunst ersichtlich: der Künstler/die Künstlerin (beziehungsweise sein/ihr Bild und der Diskurs um ihn/sie) ist ebenfalls Teil des ›Werks‹.23 Zunächst mag der Körper allem voran Material sein, allerdings zeichnet sich oftmals eine Entwicklung hin zum Kult ab. So mag von manchen Seiten kritisiert werden, dass sich Abramović in dieser späteren Phase ihrer Karriere eher zurücknimmt. In Beuys’ Fall hat die Bedeutung der Inszenierung und des Auftritt des Künstlers nach seinem Tod letzten Endes sogar zu massiven Streitigkeiten um die Art und Weise des Ausstellens von ›Beuys‹ geführt.24

M ARKEN Wenn es um die Bedeutung der KünstlerInnenperson geht, spielen auch Kategorien wie Authentizität, Präsenz und Repräsentation, Inszenierung und Aufführung eine Rolle. Dabei ist das Verhältnis von ›making‹ und ›faking‹25 weiter zu diskutieren. Es sollte bedacht werden, dass auch die tägliche menschliche Performance, die ›everday life performance‹ nach Erving Goffman, von einem adaptierten und in diesem Sinne ›gefakten‹ Verhalten lebt und zehrt, das eine solche Performance erst wirklichkeitskonsti-

22 Möglicherweise ging dieser Anspruch performativer Kunst mit der Zeit und im Rückblick verloren. 23 Zur Problematik des Mangels eines Werkbegriffs vgl. Belting, Hans: »Der Werkbegriff der künstlerischen Moderne«, in: Cornelia Klinger/Wolfgang Müller-Funk (Hg.), Das Jahrhundert der Avantgarden, München: Wilhelm Fink 2004, S. 65-79. 24 Vgl. J. Schoene: Beuys’ Hut, O.A. 25 Vgl. Turner, Victor: From ritual to theatre, New York: Performance Arts Journal 1982, S. 93.

92 | J ANNEKE S CHOENE

tutiv macht.26 Entsprechendes soll für die Performancekunst am Beispiel Beuys kurz ausgeführt werden. Auf dem Multiple La rivoluzione siamo noi (Die Revolution sind wir) ist Beuys in einer Ganzkörperaufnahme zu sehen; bekleidet mit seiner markanten ›Uniformierung‹ aus Stiefeln, Jeans, Hemd, Weste und Hut schreitet er auf den Betrachter zu: ›Wir sind die Revolution!‹, verdeutlicht ein Schriftzug auf dem Multiple. Beuys tritt hier als Vertreter einer Gruppe, allerdings ohne die Menge auf, die er vertreten will und die ihm folgen soll. Besonders auffällig ist das im Vergleich mit einem Gemälde aus dem 20. Jahrhundert, das als Referenzgemälde gilt, Der Vierte Stand von Giuseppe Pellizza da Volpedo.27 Darauf ist eine große Gruppe von Landarbeitern zu sehen, die die Arbeiterbewegung der damaligen Zeit darstellt. In Beuys’ Version wird die gemeinschaftliche Revolution nur im Titel des Bildes aufgerufen. Beuys’ Uniformierung und vor allem sein Hut weisen auf dem Multiple besonders eindringlich den sozialen Status und die Zugehörigkeit des Künstlers aus. Der Hutträger muss die von ihm in seiner sozialen Rolle behaupteten beziehungsweise dargestellten Eigenschaften nicht erst aufweisen, ihre Behauptung bürgt für eine entsprechende Identität, als Zeichen eines Typus. Die Eigenschaften, die Beuys durch die Kopfbedeckung der Bürgerlichen und Progressiven28 behauptete und aufrief, lebte er zu Beginn seiner Karriere zunächst nicht aus, sondern adaptiert diese durch das Tragen des Accessoires. Entsprechende Eigenschaften wurden über den Hut als Markenzeichen und als Teil einer nicht nur künstlerischen, sondern auch sozialen Performance auf die Figur und Rolle von Beuys projiziert. Die Authentizität dieser Rolle ist ein Effekt des Auftritts des Künstlers. Im Grunde wird so der Aufführungsmodus der Person(a) betont, deren Authentizität in der Inszenierung generiert wird. So kann das Tragen des

26 Vgl. Goffman, Erving: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, München: Piper 2015. 27 Vgl. Lange, Barbara: Joseph Beuys. Richtkräfte einer neuen Gesellschaft. Der Mythos vom Künstler als Gesellschaftsreformer, Berlin: Reimers 1999, S. 227, Fußnote 26. 28 Vgl. Verspohl, Franz-Joachim: »Joseph Beuys, das ist erst einmal dieser Hut«, in: Kritische Berichte 14.4 (1986): www1.uni-jena.de/beuys/Material/1986 VerspohlHut.pdf vom 11.12.2016 sowie Hülsenbeck, Annette: »Künstlermode, Modekünstler«, in: Helga Stübs/Gisela Trautmann-Webeler (Hg.), Mode. Kleidung als Bedeutungsträger, Hannover: Schroedel 1991, S. 86-99.

K UNST , L EBEN

UND DAS

M USEUM | 93

Hutes als Beispiel für das self-fashioning im Sinne Stephen Greenblatts beschrieben werden.29 Der Hut markiert innerhalb der ›Selbstdarstellung‹ von Beuys seine Identität als Künstler, der sein Bewusstsein auf sein Leben als Kunstwerk richtet. So wird nicht nur Authentizität nach außen getragen oder suggeriert, sondern auch, dass diese ein Effekt und somit gewissermaßen künstlich ist. Daraus ergibt sich eine gewisse postmoderne Ironie, die im Falle Beuys’ kaum beachtet wurde. Das Bild des Künstlers, die persona, ist als Kunstwerk zu verstehen, sodass eine weitere immaterielle Dimension performativer Kunst deutlich wird, die im Museum immer angedeutet scheint. Nun ist Abramovićs Unterfangen, Leben und Kunst zusammenzubringen, vergleichbar mit der Universalität der Beuys’schen Utopie, allerdings scheint sie weniger das Künstlerbild mit zu reflektieren, indem sie etwa eine eventuelle Künstlichkeit der Person ausstellt. Dennoch bleibt auch bei Abramović die Frage nach der Authentizität, die mitschwingt, vor allem da eine Nähe zum Metaphysischen, zum Religiösen besteht.

U NIVERSALISIERUNG VON K UNST Ist das nun Kunst oder Esoterik? Der Kunstkritiker Jerry Saltz hat anlässlich einer weiteren Abramović-Ausstellung in New York geurteilt, man würde dort eines sicher nicht finden und das sei Kunst, wenngleich es zahlreiche BesucherInnen gäbe, die Abramovićs »mystischer künstlerischer Macht ewige Treue schwören«30. Ich fühle mich ertappt. Aber vielleicht gründet Saltz’ Urteil auch darin, dass er beim Betreten der Galerie nicht korrekt instruiert wurde und zunächst regungslos mit verbundenen Augen und geräuschdämpfenden Kopfhörern im Galerieraum stand, ohne zu wissen, dass er diesen erkunden, sich bewegen und in Kontakt mit anderen BesucherInnen treten durfte. Er blieb schließlich, bis das Museum schloss: »Man sagte mir, ich sei 40 Minuten in der Show gewesen. Es fühlte sich an wie 40 Jahre«, so sein Fazit.31 Warum aber handelt es sich – dem Kritiker

29 Vgl. Suntrup, Rudolf (Hg.): Self-Fashioning: Personen(selbst)darstellung, Frankfurt a.M.: Peter Lang 2003. 30 http://archiv.monopol-magazin.de/blogs/der-kritiker-jerry-saltz-blog/2013442/Marina-Abramovic-bleibt-weiter-im-Dunklen-Sean-Kelly.html vom 10.05.2017. 31 Vgl. ebd.

94 | J ANNEKE S CHOENE

zufolge – also nicht um Kunst? Schließlich nähert man sich auch Gemälden im Museum, Kunstwerken, die mit einem traditionellen Werkbegriff konform gehen, nicht wie Saltz sich Abramovićs Generator näherte. Zudem hatten viele Dinge, die in Museen als Kunstwerke ausgestellt werden, eine Bedeutung und einen Wert aufgrund ihrer bloßen Objekthaftigkeit; sie hatten eine Funktion im Leben. Ebenso postuliert Abramović, die Kunst ins Leben integrieren und das Leben durch die Kunst ritualisieren zu wollen,32 insofern zu ästhetisieren und den Blick auf die Form und nicht den Inhalt zu lenken. Dabei verneint Abramović bestimmt, dass sie ein Guru sei,33 auch wenn sie eine ästhetische Lehre vertritt und verbreitet und sich seit ein paar Jahren sogar das Marina Abramović Institute dieser Aufgabe annimmt. Das Institut fungiert als das ›Vermächtnis‹ der Künstlerin, das ›Zuhause‹ der sogenannten ›Abramović-Methode‹.34 Diese ist eine Serie von Übungen, die die Künstlerin basierend auf ihrer Erfahrung als Performerin und der Auseinandersetzung mit Körper und Geist entwickelt hat. Manche davon sind ganz einfach altbewährte Entspannungstechniken. Anders – vielleicht positiver – als das Credo von Saltz mögen Beurteilungen von dem ausfallen, was Abramović tat, als sie mit ihrem Performance-Partner Ulay in einem Bus umher reiste, durch die Lande zog und einfach lebte. Vital Art nannten beide das. In einem Manifest haben sie die Grundidee dessen zusammengefasst: Ziel und Anliegen ist es, in einem dauerhaften Zustand des Reisens zu leben, in einem Bus (der im Übrigen auch in der Schau The Cleaner ausgestellt war) und ständig unterwegs zu sein, ständig in Bewegung ohne Wiederholung.35 Es geht also darum, das Leben jederzeit bewusst und reflektiert zu leben, ein ›sinnvolles‹ Leben zu führen – wie auch immer ein solches aussehen mag. Einer Kunst mit solchen Ansprüchen muss man glauben, sie muss zumindest authentisch

32 Vgl.

http://www.sculpture.org/documents/scmag01/nov01/abram/abram.shtml

vom 03.06.2017: »We have forgotten how to dream, and I believe that it is very interesting to ritualize our daily lives. The only ritual we still have is drinking coffee.« 33 Vgl. Whitney, Erin: »Why Marina Abramović Is Not Your ›F*cking Guru‹«, in: Huffington Post vom 26.11.2014: www.huffingtonpost.com/2014/11/26/marinaabramovic-generator_n_6214916.html vom 13.04.2017. 34 Vgl. https://mai.art/about-mai/ vom 11.06.2017. 35 Vgl. http://pomeranz-collection.com/?q=node/39 vom 11.06.2017.

K UNST , L EBEN

UND DAS

M USEUM | 95

scheinen. Insofern wäre ein Erleben der Performance, der Präsenz, entscheidend. In Stockholm ist – im besten Fall – die Spannung zwischen Glaube und Zweifel gegenwärtig, die eine tiefergehende gedankliche Auseinandersetzung herausfordert. In Abramovićs Fall – und nicht nur in ihrem – mögen zwei Dinge in die Bewertung hineinspielen: Zum einen wäre da die Frage nach dem Verhältnis zum Kunstmarkt. Zu guter Letzt hat Abramović immerhin ein Institut gegründet, das ihr Vermächtnis weitertragen soll und neben dem ideellen Anspruch, der in dieser Geste liegen mag, schwingt auch eine Stärkung der ›Marke‹ Abramović mit. Insofern mag jede Performance als Referenz auf die Künstlerin selbst erscheinen, deren Rolle nicht mehr bloß die eines Mediums ist. Zum anderen ist die Universalisierung und Totalisierung der Kunst problematisch und trotz nobler Ideale negativ besetzt.36 Eine Bewertung hängt letztlich auch von der Bedeutung von Autorität und Macht ab. Wie Bazon Brock argumentiert, unterscheidet sich das künstlerische Gesamtkunstwerk etwa insofern von einem totalitären System, als dass die Kunst nicht auf eine tatsächliche Verwirklichung der Utopie abziele, sondern lediglich ein Postulat sei.37 Wie sich eine ›soziale‹, ›aktionistische‹ Kunst, die wirklich etwas verändert, nun genau von jener unterscheidet, die nur die Form und den Habitus des Aktionismus nutzt, soll hier nicht weiter ausgeführt werden. Während sich frühe Performancekunst – wie Jackson Pollocks dripping-Aktionen – vor allem darauf konzentrierte das eigene Medium zu erweitern, scheint performative Kunst nun oftmals per se mit einer totalitären Lösung verbunden zu sein – wie etwa Beuys’ ›Erweiterter Kunstbegriff‹ sowie sein Begriff der ›Sozialen Plastik‹, der die Gesellschaft als formbare Masse und jede menschliche Aktivität als Kunst setzt.38

36 Vgl. Groys, Boris: Gesamtkunstwerk Stalin. Die gespaltene Kultur in der Sowjetunion, München: Hanser 1996. 37 Vgl. Brock, Bazon: Der Hang zum Gesamtkunstwerk. Pathosformeln und Energiesymbole zur Einheit von Denken, Wollen und Können: www.bazonbrock.de/ werke/detail/?id=38§id=523#sect vom 11.06.2017. 38 Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=OyLKS-F4HwU, Min 5:55 vom 11.03. 2017.

96 | J ANNEKE S CHOENE

AUSKLANG Wie Abramović und Beuys träumte der französische Philosoph Michel Foucault davon, aus dem Leben ein Kunstwerk zu machen.39 Dabei ist für Foucault allerdings entscheidend, dass die tiefgreifende Ästhetisierung der Existenz nicht zwingend einem Leben entspräche, in dem man bestimmten Idealen folge und etwa gesund lebe, weil man glaube, die ›Wahrheit‹ über das Leben erkannt zu haben, sondern weil man all dies als Teil eines Ästhetisierungsprozesses verstehe. Es geht um die Aufmerksamkeit, die auf den Lebensstil, auf die Form gerichtet werden soll.40 Entsprechend ginge Boris Groys zufolge damit eine gewisse Defunktionalisierung einher.41 Stellt Abramovićs Habitus nun eine reflektierende, gar postmoderne Defunktionalisierung dar? Zumindest scheint es bei ihr weniger um die Autorität der Person oder die Person selbst42 zu gehen, die wie bei Beuys dem ganzen Unterfangen übergeordnet wäre – zumindest soweit sich das aus der Ferne sagen ließe. In Amerika, wo die Künstlerin in einem sternförmigen Haus lebt,43 das an Aktionen wie Lips of Thomas erinnert oder an Rhythm 5, bei

39 »Was mich erstaunt, ist, dass in unserer Gesellschaft die Kunst nur noch eine Beziehung mit den Objekten und nicht mit den Individuen oder mit dem Leben hat […]. Aber könnte nicht das Leben eines jeden Individuums ein Kunstwerk sein? Warum sind ein Gemälde oder ein Haus Kunstobjekte, aber nicht unser Leben?« Foucault, Michel: Zur Genealogie der Ethik: Ein Überblick über die laufende Arbeit, in: Daniel Defert/Francois Ewald (Hg.), Michel Foucault. Schriften in vier Bänden/Dits et Ecrits. Bd. IV: 1980–1988, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 747–776, hier S. 757f. 40 Vgl. dazu auch Menke, Christoph: »Zweierlei Übung. Zum Verhältnis von sozialer Disziplinierung und ästhetischer Existenz«, in: Axel Honneth/Martin Saar (Hg.), Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 283-299. 41 Vgl. Groys Boris: On Art Activism, in: e-flux. 56/2014: http://www.e-flux.com/ journal/56/60343/on-art-activism/ vom 11.06.2017. 42 Dabei ist Abramović sicher meist auf sich, ihr Leben, ihre Entwicklung, ihre Erkenntnis etc. fokussiert; auch auf das ›autobiografische‹ Theaterstück The Life and Death of Marina Abramović (2012) sei an dieser Stelle verwiesen. 43 Vgl. M. Abramović: Durch Mauern gehen, S. 413.

K UNST , L EBEN

UND DAS

M USEUM | 97

der sie sich in einen fünfzackigen brennenden Stern legte, und wo Abramović womöglich medienpräsenter ist, sieht man das vielleicht anders.

II. Performance und Erzählung in Ausstellungen

Aktionsgeschichten Wie Ausstellungen Performance erzählen S ARAH K RISTIN H APPERSBERGER

1. W ER ZEIGT , WER SPRICHT ? Ü BERLEGUNGEN ZUM N ARRATIV VON AUSSTELLUNGEN HISTORISCHER AKTIONS - UND P ERFORMANCEKUNST »Es sind die Kuratoren, auf die es jetzt ankommt«1 schrieb die Kunstkritikerin Catrin Lorch im März 2016 in einem Artikel über Ausstellungen von Hermann Nitsch, Günter Brus und den Wiener Aktionisten. Mit dieser Bemerkung bezog sie sich einerseits auf die umfangreiche Recherche, die Kuratoren2 für Präsentationen einst ephemerer Kunstaktionen häufig unternehmen müssen, andererseits auf die Fragilität der Exponate, die ihnen zur Verfügung stehen. Tatsächlich stellt das Ausstellen von künstlerischen Arbeiten, die ihre Kraft ursprünglich in einer Aufführung entfalteten, für Museen und Ausstellungshäuser eine Herausforderung dar. Wenngleich sich nicht wenige Künstler darum bemühten, ihre Aktionen3 von Freunden oder

1

Lorch, Catrin: »Blut, Schweiß und Gerede«, in: Süddeutsche Zeitung vom 07.03.2016.

2

Um die Lesbarkeit zu erleichtern, wird in der vorliegenden Arbeit das generische Maskulinum verwendet. Die männliche Form gilt im Folgenden daher immer für alle Geschlechter.

3

Ephemere Kunstwerke können sowohl mit dem englischen Begriff ›Performance‹ als auch dem deutschen Terminus ›Aktion‹ beschrieben werden. Die

102 | S ARAH K RISTIN H APPERSBERGER

professionellen Fotografen und Filmemachern dokumentieren zu lassen, stehen Kuratoren oft vor einem mehr oder weniger großen Sammelsurium von Skizzen, Fotografien, Filmen, Requisiten und Programmzetteln. Die potenziellen Exponate stehen alle in einem Bezug zu der Performance, variieren aber in ihrem Informationsgehalt und ihrer sinnlichen Qualität. Es ist Aufgabe der Ausstellungsmacher, Ordnung unter den Überresten zu schaffen und mittels ausgewählter Objekte und Dokumente, oder aber auch ReEnactments und Interventionen, die Inhalte und die Ästhetik der ursprünglichen Aktion zu vermitteln. Die Zahl der Inszenierungsmöglichkeiten ist unbeschränkt, richtet sich aber nach dem Typ der Aktion und diversen praktischen Gesichtspunkten, etwa dem konservatorischen Zustand, dem Umfang und der Zugänglichkeit der Relikte. Im Folgenden möchte ich mich mit der Frage auseinandersetzen, wie historische (Kunst-)Aktionen, die eng an den Künstlerkörper sowie den räumlichen, zeitlichen und kulturellen Kontext ihrer Präsentation gebunden sind und sich daher nur bedingt wieder aufführen lassen, in Ausstellungen vermittelt werden. Mich interessiert zum einen, inwiefern die Wahl der Exponate, deren Anordnung im Raum und das Ausstellungsformat zur Wahrnehmung und Interpretation der Performances beitragen. Zum anderen möchte ich herausarbeiten, welche Stimmen in retrospektiven Präsentationen von Aktionen zum Sprechen kommen – und inwiefern sich die Perspektive der Kuratoren womöglich mit der Sicht des Künstlers und derjenigen von Fotografen, Filmemachern und anderen Zeitzeugen vermischt. Gegenstand der Untersuchung ist nicht zuletzt auch die Rolle des Betrachters in Ausstellungen historischer Aktions- und Performancekunst. So möchte ich zeigen, dass Begleittexte, Displays und ausgesparte Fakten das Publi-

Konnotation der Begriffe ist insofern leicht verschieden, als mit Aktion tendenziell eher unangekündigte, politisch motivierte Auftritte beschrieben werden, Performance hingegen mit theatralen Praktiken verbunden wird. Performance wird aber auch als Überbegriff für alle Formen von Live Art verwendet. Zur begrifflichen Differenzierung vgl. Stiles, Kristine: »Uncorrupted Joy: International Art Actions«, in: Peter Noever (Hg.), Out of Actions. Between Performance and the Object 1949-1979, Ausst. Kat. Los Angeles (u.a.) 1998-1999, London: Thames & Hudson 1998, S. 235, 238. Da die Trennlinie zwischen den Begriffen unscharf ist, werden sie in der vorliegenden Arbeit synonym verwendet.

A KTIONSGESCHICHTEN

| 103

kum lenken und zugleich darauf schließen lassen, an welches Besucherspektrum die Ausstellung adressiert ist. In ihrer Gesamtheit soll die Analyse veranschaulichen, dass Aktionen in Ausstellungen immer wieder neu und anders formuliert werden – und dass sich die Lesart, aber auch das Verständnis einer Aktion mit jeder Präsentation verändert. Ich gehe hierbei mit Mieke Bal, Thomas Thiemeyer und Heike Buschmann davon aus, dass der Akt des Ausstellens mit demjenigen des Erzählens vergleichbar ist.4 So wie in einer Erzählung ein Erzähler mittels Worten von einer Reihe von Ereignissen berichtet, so stellt in einer Ausstellung ein »expositionierender Akteur«5 mittels Objekten historische oder aktuelle Geschehnisse dar. In beiden Fällen gibt es unzählige Möglichkeiten, die Erzählung zu gestalten – etwa durch die Selektion des Materials, den Umfang und die Chronologie der Darstellung oder die Kommentierung des Dargestellten. Da Bal in ihrer Analyse der Sammlungspräsentation des American Museum of Natural History erstaunliche Erkenntnisse über den Standort der erzählenden Instanz, aber auch die implizite ›Storyline‹6 der Ausstellung und die Rolle des Betrachters hervorgebracht hat, scheint es mir sinnvoll, für diese Untersuchung ebenfalls einen narratologischen Ansatz zu wählen. Ich werde mich hierbei, wie Buschmann vorschlägt, an Gérard Genettes Erzähltheorie orientieren und zwei Ausstellungen exemplarisch auf die Zeit, die Ordnung und den Modus der Erzählung befragen.7 Busch-

4

Vgl. Bal, Mieke: Kulturanalyse, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002; Buschmann, Heike: »Geschichten im Raum. Erzähltheorie als Museumsanalyse«, in: Joachim Baur (Hg.), Museumsanalyse, Bielefeld: transcript 2010, S. 149-169 und Thiemeyer, Thomas: »Simultane Narration – Erzählen im Museum«, in: Alexandra Strohmaier (Hg.), Kultur – Wissen – Narration. Perspektiven transdisziplinärer Erzählforschung für die Kulturwissenschaften, Bielefeld: transcript 2013, S. 479-488.

5

M. Bal: Kulturanalyse, S. 77.

6

Charlotte Martinz-Turek verwendet den Begriff der ›Storyline‹ für das Konzept, das hinter jeder Ausstellung steht – und betont damit den Zusammenhang zwischen Ausstellung und Erzählung. Vgl. Martinz-Turek, Charlotte: »Folgenreiche Unterscheidungen. Über Storylines im Museum«, in: Dies./Monika Sommer (Hg.), Storyline. Narrationen im Museum, Wien: Turia & Kant 2009, S. 15-29.

7

Vgl. H. Buschmann: »Geschichten im Raum« sowie Genette, Gérard: Die Erzählung, München: Wilhelm Fink 2010.

104 | S ARAH K RISTIN H APPERSBERGER

manns Einwand, dass Kunstausstellungen nicht narrativ seien und sich daher nicht für eine erzähltheoretische Analyse eignen würden, scheint mir insofern obsolet, als Ausstellungen historischer Performancekunst von der gleichen Prämisse ausgehen wie kulturhistorische Präsentationen: Sie haben das Ziel, etwas präsent zu machen, das in seiner ursprünglichen Form nicht mehr existiert – und sie verwenden als Zeichenträger vielfach Gegenstände, die ohne den entsprechenden Kontext wenig aussagen, aber eine sinnliche Ausstrahlung und Wirkkraft haben.8 Im Zentrum der Untersuchung stehen zwei Ausstellungen, die sich dem Werk von Pionieren der Aktions- und Performancekunst widmen: Eine Retrospektive der US-amerikanischen Künstlerin Carolee Schneemann, die vom 21. November 2015 bis zum 28. Februar 2016 im Museum der Moderne in Salzburg stattfand, und eine Überblicksausstellung zum Werk von Günter Brus, die vom 12. März bis zum 6. Juni 2016 im Martin-GropiusBau in Berlin zu sehen war. Ein Vergleich bietet sich an, da beide Ausstellungen monografisch angelegt waren und sich der Aufgabe stellten, provokante Körperaktionen aus den 1960er- und 70er-Jahren mittels Fotografien, Filmen und Objekten zu veranschaulichen.

2. C AROLEE S CHNEEMANN . K INETISCHE M ALEREI Die von Sabine Breitwieser, Branden W. Joseph und Tina Teufel kuratierte Ausstellung Carolee Schneemann. Kinetische Malerei hatte den Anspruch, das Werk der amerikanischen Künstlerin in seiner ganzen Dimension zu zeigen. Die als umfassende Werkschau angekündigte Überblicksausstellung ließ schon im Titel verlauten, dass es nicht ausschließlich um Aktionen gehen würde. Die Wortprägung »Kinetische Malerei«9 rückte mit der Malerei

8

Zur doppelten Rolle von kulturgeschichtlichen Objekten als Zeichenträger und Anmutungsobjekten vgl. Korff, Gottfried: »Deponieren, Exponieren – am Beispiel kulturhistorischer Ausstellungen«, in: Matthias Götz (Hg.),Villa Paragone. Thesen zum Ausstellen, Basel: Schwabe 2008, S. 123-135.

9

Sabine Breitwieser zufolge hat die als Landschaftsmalerin ausgebildete Carolee Schneemann den Begriff für ihre intermediale Kunst selbst entwickelt, vgl. Breitwieser, Sabine: »Vorwort«, in: Dies. (Hg.), Carolee Schneemann: Kineti-

A KTIONSGESCHICHTEN

| 105

das Medium in den Fokus, mit dem die Künstlerin ihre Laufbahn begonnen hatte. In der Pressemitteilung hieß es spezifischer, dass die Ausstellung ein »sechs Jahrzehnte umspannendes Werk als Genealogie einer Malerei«10 vorstellen würde. Gezeigt würden Gemälde, aber auch objekthafte ›Painting Constructions‹, experimentelle Filme, Choreografien und skulpturale Installationen. Angesichts der Tatsache, dass Schneemann mit feministischen Performances in die Kunstgeschichte eingegangen ist, stellt sich die Frage, welche Rolle ephemere Arbeiten in der Werkschau einnehmen – und inwiefern sie als Malerei klassifiziert werden können.11 Am Anfang der auf zwei Stockwerke angelegten, weitgehend chronologischen Ausstellung stehen Porträts, Landschaftsgemälde und abstrakte Kompositionen, darauf folgen Objekte und kinetische Installationen. Die körperbetonten Aktionen, für die Schneemann bekannt werden sollte, treten erst im zweiten Raum der Schau ins Blickfeld. Neben einer bunt bemalten Installation mit beweglichen Elementen, die mit dem Titel Four Fur Cutting Boards12 versehen ist, hängen die Fotografien aus der Serie Eye Body: 36 Transformative Actions for Camera13, einer Reihe von ›Transformationen‹, welche die Künstlerin 1963 in ihrem Atelier durchführte und die von ihrem Künstlerkollegen Erró festgehalten wurden. So schwer die farbige, raumgreifende Installation und die schwarzweißen, in einem querrechteckigen Block gehängten Fotografien zunächst auch zusammenzudenken sind: Wer sie sich genau anschaut, wird ihre Verbindung schnell erkennen. Die Installation kam in der Aktion zum Einsatz und ist auf den Fotos

sche Malerei, Ausst. Kat. Salzburg 2015/2016, München (u.a.): Prestel 2015, S. 7. 10 http://www.museumdermoderne.at/nc/de/ausstellungen/aktuell/details/mdm/caro lee-schneemann/mode/press/ vom 14.05.2017. 11 Die Klassifizierung von Schneemanns ephemeren Werken als Malerei ist nicht neu, Kristine Stiles hat bereits 1997 darauf hingewiesen, inwiefern ihre Performances aus der Perspektive einer Malerin geschaffen sind, vgl. K. Stiles: »Uncorrupted Joy«, S. 297. Das breite Publikum wird aber dennoch aufhorchen, wenn es darum geht, Schneemanns Aktionen mit der Malerei zu verbinden. 12 Four Fur Cutting Boards, 1963, Holzplatten, Ölfarbe, Glühbirnen, bunte Lichterkette, Plastikblumen, Fotografien, Stoff, Radkappe, Strumpfhose, motorisierte Regenschirme, The Museum of Modern Art, New York. 13 Eye Body: 36 Transformative Actions for Camera, 1963, Fotoserie, Fotos: Erró.

106 | S ARAH K RISTIN H APPERSBERGER

im Hintergrund zu sehen. Die Anordnung der Exponate im Raum ist tatsächlich ein kluger Schachzug: Indem die Installation der Fotoserie voran gestellt wird, erscheint sie erstens nicht als Requisit, sondern als eigenständiges Werk. Zweitens wird über die mit Farbe bearbeiteten kinetischen Objekte und Skulpturen ein fließender Übergang von den Gemälden zu den Aktionen geschaffen. Die Entwicklung der Künstlerin, so suggeriert die Präsentation, verläuft gradlinig von der Malerei bis zur Aktion im Raum. Bei einem Blick auf die Entstehungsdaten der Aktionen, die im Anschluss an Eye Body präsentiert werden, wird jedoch deutlich, dass der Weg nicht ganz so linear verlaufen ist, wie es zunächst erscheint. Glass Environment for Sound and Motion14 entstand bereits 1962, Chromelodeon15 wurde wenige Monate vor Eye Body realisiert. Beide Arbeiten bestanden aus verschiedenen Szenenbildern und Handlungen, die mit mehreren Teilnehmern im Raum realisiert wurden. Um gestische Aktionen mit Farbe handelte es sich jedoch nicht, als Malerei sind sie auch im weiteren Sinn nur schwer kategorisierbar. Der Eingriff in die Chronologie, die ›Prolepse‹, um mit erzähltheoretischen Begriffen zu sprechen, scheint umso logischer, als Schneemann später regelmäßig mit Gruppen von Menschen zusammenarbeitete, um mittels Material atmosphärische Raumbilder zu schaffen – die choreografierte Fleisch-Orgie Meat Joy16 ist dafür nur ein Beispiel von vielen. Die Reihenfolge der Exponate in der Ausstellung veranschaulicht daher nicht nur die These, dass sich die Aktionen aus der Malerei entwickeln, sondern veranlasst zugleich zu einer Lesart der ephemeren Arbeiten, nach der die Individualperformance der Gruppenarbeit und der Auftritt vor der Kamera demjenigen vor Publikum vorausgeht. Ein Scharnier zwischen zwei Ausstellungskapiteln, das mit Eye Body vergleichbar ist, bildet Up to and Including Her Limits17, eine Performance-

14 Glass Environment for Sound and Motion, 1962, Performance. Aufführung: The Living Theatre, New York, 1962. 15 Chromelodeon (4th Concretion), 1963, Performance. Aufführung: Judson Dance Theatre, Judson Memorial Church, New York, 1963. 16 Meat Joy, 1964, Performance. Aufführungen: Festival de la Libre Expression, American Center, Paris, 1964; Dennison Hall / Vauxhall Meeting House, London, 1964; Judson Dance Theatre, Judson Memorial Church, New York, 1964. 17 Up to and Including Her Limits, Performance Installation, 1973–1976. Aufführungen: 10th Annual Avantgarde Festival, 1973; Anthology Film Ar-

A KTIONSGESCHICHTEN

| 107

Installation, die Schneemann zwischen 1973 und 1976 an verschiedenen Orten zeigte. Die Installation mit sechs Monitoren, auf denen von der Künstlerin bearbeitete Videos von der gleichnamigen Performance zu sehen sind, steht am Beginn des zweiten Teils der Ausstellung und leitet den Übergang von der Aktion zur Multimedia-Installation ein. Ein Wandtext erläutert, inwiefern die Performance zur Auseinandersetzung mit dem Medium Video und schließlich zur Entwicklung eigenständiger MultimediaArbeiten führte. Wie in vielen Museen ist der Text in verständlicher Sprache geschrieben und nicht mit dem Namen des Verfassers versehen. Was irritiert, ist lediglich das Erscheinungsbild. Tatsächlich hat der Text das gleiche Format und Layout wie der Text, der neben dem Exponat an der Wand angebracht ist. Im Unterschied zu dem ersten Text sind bei diesem Text die Initialen der Autorin angegeben, die der Künstlerin. Ihre Anmerkungen übernehmen hier die Funktion klassischer Werktexte: die Beschreibung, Deutung und Einordnung der Exponate. In diesem Fall erläutert Schneemann jedoch erst ihre künstlerische Entwicklung bevor sie auf die besagte Performance eingeht: »[…] Als Landschaftsmalerin nahm ich Felder wechselnder Formen ein […]. In den Sechzigerjahren überführte ich die Malfläche dann mittels Collagen, Objekten und motorisierenden Elementen in die dritte Dimension. Das war die offenkundige Folge des Abstrakten Expressionismus. […] Up to and Including Her Limits war das direkte Ergebnis von Pollocks körperbetonten Malprozess. Bei Up to and Including Her Limits hänge ich am Gurt eines Baumchirugen an einem knapp zwei Zentimeter dicken Hanfseil, an dem ich mich von Hand hochziehen und herablassen kann, um so eine tranceartige Zeichenphase durchzuführen, bei der ich an meinen ausgestreckten Armen Buntstifte halte, mit denen ich auf die mich umgebenden Wände zeichne und so nach und nach ein Netz farbiger Markierungen anbringe.«18

Die abschließenden Hinweise beschreiben die Performance in neutralen Worten, in seiner Gesamtheit entspricht der Text aber einem Kommentar. Wann und für welchen Zweck Schneemann ihn verfasst hat, wird nicht transparent gemacht. Es ist jedoch offenkundig, dass Up to and Including chives, New York, 1974; The Kitchen, New York, 1976; Studiogalerie, Berlin, 1976. 18 S. Breitwieser: Carolee Schneemann, S. 228 (Schneemanns Anmerkungen sind im Katalog abgedruckt).

108 | S ARAH K RISTIN H APPERSBERGER

Her Limits mit diesen Anmerkungen als die Schlüsselarbeit in Schneemanns Werk gelesen wird, als die sie in der Ausstellung präsentiert wird. So bindet die Künstlerin die Arbeit nicht nur an die frühen Gemälde zurück, sondern erklärt im weiteren Verlauf ihres Statements auch, inwiefern dieses Werk am Ende einer spezifischen Auseinandersetzung mit der Performance steht.19 Wie Genette betont, ist in Erzählungen die Stimme, die von den Ereignissen berichtet, von der Instanz zu unterscheiden, die sie sieht.20 Mit ›Sehen‹ meint er den Wissenshorizont der Erzählerfigur, mit ›Stimme‹ die narrative Instanz, die spricht. In der Salzburger Ausstellung spricht zum einen das inszenierende Ich aus den Wandtexten, zum anderen die Künstlerin. Wenngleich beide Sprecher in ihren Äußerungen retrospektiv auf die Aktionen blicken und sie in einen größeren Kontext einordnen, ist ihr Verhältnis zur Geschichte nicht identisch. Während die Künstlerin als Protagonistin der Geschichte das Geschehen aus der Innensicht schildert, betrachtet die Stimme aus dem Ausstellungstext das Dargestellte aus der Außenperspektive.21 Da die Künstlerin ihre Werke einordnet, ist das Wissen, über das sie als Verfasserin des Textes verfügt, offenkundig umfassender als die Kenntnisse, die sie als Heldin der Geschichte besitzt – zumindest, wenn man von ihrem Wissenshorizont zum Zeitpunkt der Erstaufführung ausgeht. Das inszenierende Ich kennt ebenfalls das vollständige Geschehen. So verweist es im Text auf Werke, die vom Standpunkt des Betrachters aus nicht zu sehen sind und erklärt, welche Erfahrungen die Künstlerin in welchen Werken

19 Wörtlich heißt es: »Während Up to and Including Her Limits sich zu einem Solo-Werk entwickelte, das Film und die zufällige Anwesenheit von Betrachter_innen mit einbezog, wurde mir klar, dass ich beabsichtigte, das Folgende LOSZUWERDEN: 1. Performance, 2. Ein festgelegtes Publikum, 3. Geschirr – die bei Erkundungen und Proben zum Einsatz kamen, 4. Improvisation, 5. Sequenzen, 6. Bewusste Absicht, 7. Technische Hinweise, 8. Eine zentrale Metapher oder ein zentrales Thema. Was blieb da übrig?« (Abgedruckt in: S. Breitwieser: Carolee Schneemann, S. 228). 20 Vgl. G. Genette: Erzählung, S. 119. 21 Genette würde hier von einem heterodiegetischen, das heißt in der Geschichte abwesenden, und einem autodiegetischen Erzähler, dem Held der Geschichte, sprechen, vgl. G. Genette: Erzählung, S. 159.

A KTIONSGESCHICHTEN

| 109

verarbeitet hat.22 Der Allwissenheitsgestus, mit dem es spricht, kann auf die wegweisende Funktion der Wandtexte zurückgeführt werden, ist aber auch Ergebnis des musealen Anspruchs, Fakten und Sachwissen zu präsentieren.23 Auf der visuellen Ebene verhält sich die Erzählsituation etwas anders. Hier stehen im buchstäblichen Sinne die Blicke mehrerer Personen nebeneinander, die einen ähnlichen Standort haben und ungefähr gleich viel über das Geschehen wissen. Es handelt sich um Fotografen, die am Ort und zum Zeitpunkt der Performance präsent waren und diese mit der Kamera für die Nachwelt festgehalten haben. Sie sind im Gegensatz zur Stimme aus dem Ausstellungstext Teil der Geschichte, im Unterschied zur Künstlerin aber nur mittelbar Teil der Performance. Ihr Blick ist derjenige einer Figur, die als Zeuge in der Handlung vorkommt. Von Up to and Including Her Limits werden in der Ausstellung Aufnahmen von sechs Fotografen gezeigt, die jeweils eine der Aufführungen in zwei oder mehr Bildern festgehalten haben.24 Diese Fotos bieten durch die Bildausschnitte, aber auch den Umgang mit Licht und Schatten unterschiedliche Blickwinkel auf die Aktion. Gemeinsam ist ihnen jedoch, dass sie lediglich einen Moment aus der Performance zeigen – ein Faktum, das an den vom Rand abgeschnittenen Raumelementen im Bild sichtbar wird und eine entscheidende Differenz gegenüber den Texten markiert, welche die gesamte Performance schildern. Welchen Eindruck der Besucher von der Aktion gewinnt, hängt aber nicht nur von den Figuren ab, die das Geschehen via Text und Bild vermitteln. Maßgeblich beteiligt ist auch die Instanz, die die verschiedenen Perspektiven ordnet und im Ausstellungsraum präsentiert. Bei der vorliegen-

22 Zu den Werken, die erst in den Folgeräumen gezeigt werden, gehört beispielsweise Mortal Coils (1994/1995). Dem Text zufolge verarbeitet dieses Werk die Erinnerung an verstorbene Freunde der Künstlerin. 23 Bal hat am Beispiel von Wandtexten des American Museum of Natural History gezeigt, inwiefern die gegebene Deutung als historische Wahrheit präsentiert wird. Sie nimmt hierbei eine explizit institutionskritische Position ein und erklärt, dass das Museum prahlen würde, vgl. M. Bal: Kulturanalyse, S. 104. 24 Die Fotografien stammen von Tal Streeter (10th Annual Avantgarde Festival, 1973), Gwen Thomas (Anthology Film Archives, New York, 1974), Alan Tannenbaum (The Kitchen, New York, 1976), Shelley Farkas Davis (The Kitchen, New York, 1976) und Mary Harding (Studiogalerie, Berlin, 1976).

110 | S ARAH K RISTIN H APPERSBERGER

den Performance sind die Fotografien in zwei Reihen übereinander gehängt, sodass sich eine horizontale Formation ergibt. Durch dieses Display ist ohne die Legende nicht unmittelbar erkenntlich, dass die Fotos von verschiedenen Aufführungen stammen und von verschiedenen Personen gemacht wurden. Erst bei dem Versuch, die Fotos als Bildgeschichte zu lesen, stellt der Betrachter fest, dass hier nicht eine Aufführung in verschiedenen Zuständen gezeigt wird. Noch stärker verschliffen werden die Differenzen zwischen den verschiedenen Aufführungen einer Performance bei Interior Scroll25. Die ikonische Performance ist in der Ausstellung durch eine Fotoreihe von Anthony McCall, eine Schriftrolle und eine Collage repräsentiert. Die Abbildung der Schriftrolle auf den Fotos suggeriert, dass es sich um ein Relikt eben dieser Aufführung handelt. Tatsächlich stammt sie aber von einer Aufführung, die zwei Jahre später stattfand. Da die Referenz auf die Performance durch Medien verschiedener Gattungen erfolgt, ist nicht offensichtlich, dass unterschiedliche Aufführungen die Bezugsfolie bilden. Wenngleich die Abstände zwischen den Exponaten verhältnismäßig groß sind, veranlasst die Präsentation daher dazu, von ihnen auf eine einzige Performance zu schließen und die Aufführungszeiten und -räume zu einer Einheit zusammenzufügen. Was die Modi der Erzählung dieser Performance angeht, so weichen die Fotoserie und die Schriftrolle voneinander ab. Während die Fotos in ihrer Reihung veranschaulichen, dass es sich bei Interior Scroll um einen künstlerischen Akt handelt, der sich in der Zeit ausdehnt, lässt das Objekt keine Rückschlüsse auf die Zeitlichkeit der Performance zu. Mit den dunklen Flecken auf vergilbtem Papier vergegenwärtigt die Schriftrolle vielmehr die Materialästhetik der Performance, die auf den Bildern visualisiert wird. In der Erzählung der Aktion erscheint sie wie eine deskriptive Pause, in der ein Handlungsgegenstand aus der Nähe betrachtet und beschrieben wird. Durch die Positionierung zwischen den Bilddokumenten und der Vitrine wirkt das Relikt zugleich wie der Kern der Performance. Diese Inszenierung rückt das Objekt in die Nähe einer Reliquie, bietet aber zugleich die Möglichkeit, sich ihm aus einer sinnlichen Perspektive zu nähern. Indem sie den einzelnen Referenzmedien Raum gibt, sie aber dennoch in einen

25 Interior Scroll, 1975/1976, Performance. Aufführungen: Women Here & Now, East Hampton, 1975; Telluride Film Festival, Telluride, 1977.

A KTIONSGESCHICHTEN

| 111

Zusammenhang setzt, ermöglicht die Präsentation verschiedene Zugänge zu der Performance, macht aber sichtbar, dass diese nicht unabhängig voneinander zu denken sind. So bliebe die Bedeutung der Schriftrolle völlig unklar, wenn die Fotografien und die Collage ihre Rolle in der Performance nicht visualisieren würden.26 Was lässt sich über die Salzburger Ausstellung in ihrer Gesamtheit sagen? Zum einen, dass die Aktionen hier als Bestandteil einer künstlerischen Laufbahn dargestellt werden, die der Malerei gewidmet ist und scheinbar mehr oder weniger linear verläuft. Zum anderen, dass die ephemeren Werke mit verschiedenen Augen betrachtet, verschiedenen Stimmen erläutert und verschiedenen Objekten vergegenwärtigt werden, die Differenz der Blickwinkel und Zeitebenen aber zum Teil verwischt. Die Polymodalität führt insofern nicht zu Brüchen, als die Stimmen sich weniger widersprechen als ergänzen. Die Fotografien und Objekte bilden nur dann ein Störmoment, wenn das malerische Element einer Aktion nicht offensichtlich ist. So machen McCalls Fotos von Interior Scroll nicht klar, dass Schneemann die Umrisse ihres Körpers zunächst auf ein Laken malte und dann Posen eines Aktmodells einnahm. Der Betrachter muss daher den Text der Künstlerin lesen, um die Arbeit mit der ›Storyline‹ der Ausstellung in Einklang bringen zu können.27 Tatsächlich ist der Betrachter die Instanz, die bestimmt, ob der Plot der Ausstellung aufgeht und die Werke sich zu einer kohärenten Geschichte zusammenfügen.28 Es liegt an ihm, sie als Teil der »Genealogie einer Malerei«29, zu lesen, als die sie präsentiert werden. Man kann nur mutmaßen, wie viele Besucher dieser Leseanweisung folgen. Sicher ist, dass es für diejenigen, die einen guten Überblick über die Geschichte der modernen Malerei haben, einfacher ist als für diejenigen, die noch nie von Jackson Pollock

26 In ihrer Kommentarbedürftigkeit gleicht die Schriftrolle kulturhistorischen Objekten. Wie Korff darlegt, muss die Bedeutung und Funktion von Relikten immer mitvermittelt werden, da sie im Museum ihrem ursprünglichen Kontext entnommen sind und nicht selbst zum Betrachter sprechen. Vgl. G. Korff: »Deponieren«, S. 128f. 27 Für die Anmerkungen vgl. S. Breitwieser: Carolee Schneemann, S. 246-248. 28 Vgl. H. Buschmann: »Geschichten im Raum«, S. 168. 29 http://www.museumdermoderne.at/nc/de/ausstellungen/aktuell/details/mdm/caro lee-schneemann/mode/press/ vom 14.05.2017.

112 | S ARAH K RISTIN H APPERSBERGER

oder Willem de Kooning gehört haben. Sowohl die Texte der Künstlerin als auch diejenigen des inszenierenden Ichs setzen die Kenntnis des Abstrakten Expressionismus voraus,30 und sie gehen davon aus, dass der Betrachter in der Lage ist, diese Bewegungen mit Schneemanns Werken zu verknüpfen. Es ist ein gewisses Expertentum, das hier gefragt ist, zumindest, wenn man die leitende These der Ausstellung und nicht nur einzelne Arbeiten verstehen möchte.

3. G ÜNTER B RUS . S TÖRUNGSZONEN Die Günter-Brus-Ausstellung, die Britta Schmitz für die Staatlichen Museen zu Berlin im Martin-Gropius-Bau kuratiert hat, gibt sich nicht als Retrospektive aus, behauptet aber, retrospektiven Charakter zu haben.31 Wenngleich auch in diesem Fall die Entwicklung eines für seine Aktionen bekannten Künstlers nachvollzogen werden soll, setzt die Ausstellung bewusst Akzente. Neben dem Wiener Aktionismus lägen Schwerpunkte auf den Berliner Jahren und den sogenannten Freundschaftsbildern, heißt es in der Ankündigung der Ausstellung.32 Der Salzburger Ausstellung vergleichbar ist die Werkschau im Gropius-Bau weitgehend chronologisch gegliedert. Die Aktionen nehmen zwei von neun Ausstellungsräumen ein, teilen die zur Präsentation zur Verfügung stehenden Flächen aber mit Gemälden, Zeichnungen und Grafiken aus vorangehenden und nachfolgenden Schaffensphasen des Künstlers. Zu Beginn des Rundgangs steht eine umfassende Biografie, welche die einzelnen Lebens- und Werkabschnitte Brus’ erläutert und eine Betrachtung der Ausstellung entlang seiner Entwicklungslinien nahelegt. Die These, die

30 Der Einführungstext zur Ausstellung spricht von den 1950er- und 1960er-Jahren als einer Zeit, »in der der Abstrakte Expressionismus dominierte.« Schneemann erklärt im Text zu Up to and Including Her Limits: »Das war die offenkundige Folge des Abstrakten Expressionismus. Die Werke von [Jackson S.H.] Pollock (1912-1956) und [Willem S.H.] de Kooning (1904-1997) konnte man nur mit optischer Muskelkraft betrachten […].« 31 https://www.berlinerfestspiele.de/de/aktuell/festivals/gropiusbau/programm_mg b/veranstaltungsdetail_mgb_ausstellungen_144855.php vom 08.06.2017. 32 Vgl. ebd. sowie die Pressemitteilung und das Faltblatt zur Ausstellung.

A KTIONSGESCHICHTEN

| 113

im ersten Ausstellungsraum mittels Bild und Text vorgestellt wird, erinnert an diejenige aus der Schneemann'schen Ausstellung: die Entstehung der Aktion aus der Malerei.33 Neben informellen Gemälden werden Fotos von Aktionen wie Ana34, Selbstbemalung II35 oder dem Wiener Spaziergang36 gezeigt. Die Brücke zwischen den gestischen Malakten auf der Leinwand und den raumgreifenden Aktionen ist hier leichter herzustellen als bei Schneemann. Die Fotos offenbaren nicht nur auf ikonografischer Ebene eine Auseinandersetzung mit der Farbe und dem Akt des Malens. Sie präsentieren sich außerdem in dem gleichen Schwarzweiß wie die großformatigen Gemälde.37 Zusammenhänge zwischen den Medien werden darüber hinaus durch die Hängung der Fotos hergestellt. So wurde aus den Mappen, in denen Brus Aufnahmen von seinen Aktionen zusammengestellt hat, jeweils neun oder 16 Aufnahmen ausgewählt, sodass eine Hängung in Blöcken von 3 x 3 oder 4 x 4 Fotos möglich wurde. Diese Präsentation regt dazu an, die Aktionen wie eine Bildgeschichte zu lesen. Zugleich ordnen sich die einzelnen Fotos aber der Gesamtform unter, sodass sich der Eindruck eines in

33 Im Wandtext heißt es »Günter Brus löst sich gänzlich von der zweidimensionalen Leinwand und geht den Schritt in den performativen Aktionsraum.« Es wird allerdings auch betont, dass die Aktionen neue malerische Arbeiten hervorrufen – womit die Malerei eine ähnlich übergreifende Bedeutung erhält wie in der Schneemann-Ausstellung, die Entwicklung des Künstler aber weniger linear formuliert wird. 34 Ana, 1964/2004, 12 Schwarzweißfotografien, Leinenkassette, 39 x 30 cm (Fotos), Fotos: H. Khasaq (Siegfried Klein), Ludwig Hoffenreich, Otto Mühl, Hg. von Julius

Hummel,

Wien,

und

Sammlung

Friedrichshof,

Zurndorf,

BRUSEUM/Neue Galerie Graz, UMJ. 35 Selbstbemalung II, 1964/1984, 20 Schwarzweißfotografien, 1 Vorsatzblatt, 1 Faltblatt, Leinenkassette, 49,5 x 39,6 cm (Fotos), Fotos: Ludwig Hoffenreich, Hg. von Galerie Heike Curtze und Galerie Krinzinger, Wien, Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie. 36 Wiener Spaziergang, 1965/1989, 15 Schwarzweißfotografien, Leinenkassette, 1 Vorsatzblatt, 1 Faltblatt, 39 x 39 cm (Fotos), Fotos: Ludwig Hoffenreich, Hg. von Galerie Heike Curtze und Galerie Krinzinger, Wien, Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie. 37 Zu den Gemälden gehört beispielsweise Ohne Titel (Informel), 1961, Dispersion auf Nessel, 220 x 238 cm, H.M.Z. Privatstiftung.

114 | S ARAH K RISTIN H APPERSBERGER

mehrere Panels unterteilten Bildes vermittelt – einer frühen Bilderzählung vergleichbar.38 Da sich aus der Distanz der Eindruck einer Bildeinheit durchsetzt, werden die in der Zeit verlaufenden Aktionen hier erst bei näherer Betrachtung sukzessiv wahrgenommen. Auf den ersten Blick erscheinen sie synchron – wie die daneben hängenden Gemälde. Als Geschichte gelesen ermöglichen die Fotoserien den Nachvollzug der Aktionen auf der visuellen Ebene. Da die Fotos aber nur ausgewählte Momente zeigen, gibt es zwischen den Bildern narrative Leerstellen39, die der Betrachter mit seiner Vorstellung besetzen muss. Diese Leerstellen können wenige Sekunden oder ganze Handlungsphasen umfassen, müssen aber in jedem Fall so gefüllt werden, dass sich eine logische Geschehensabfolge ergibt. Bei Ana, einer Aktion für die Kamera, die Schneemanns Eye Body vergleichbar ist, ist das keine schwere Aufgabe: Auf den ersten Fotos sieht man, wie der Künstler den nackten Körper seiner Frau Ana mit weißer Farbe bemalt. Dann nimmt Ana verschiedene Positionen in einer Ecke des Raums ein und verschmilzt zunehmend mit der dunklen Wand hinter ihr. Am Ende ist der Künstler neben ihr zu sehen, ebenfalls kaum von der Wand unterscheidbar. Was hier gedanklich ergänzt werden muss, sind lediglich die Szenen, in denen Brus Anas Körper in schwarze Farbe taucht, sich selbst bemalt und zu ihr in die Ecke kauert. Eine größere Herausforderung für den Betrachter sind die Leerstellen, die sich auf Sachverhalte beziehen, die im Bild nicht angedeutet werden, etwa die Geräuschkulisse oder die Dokumentation der Aktion durch Fotografen und Filmemacher. Das inszenierende Ich der Ausstellung hat insofern die Möglichkeit, mit Leerstellen zu spielen und damit das Verständnis der Aktion zu steuern, als es Aufnahmen weglassen oder, sofern vorhanden, hinzufügen kann.40 So würde sich die Interpretation vermutlich verändern, wenn die Aufnahmen

38 Zur Wahrnehmung von mehrteiligen Bildern als Bildeinheit vgl. Thürlemann, Felix/Ganz, David: »Zur Einführung. Singular und Plural der Bilder«, in: Dies. (Hg.): Das Bild im Plural, Berlin: Dietrich Reimer 2010, S. 14-16. 39 Zum Begriff der Leerstelle vgl. Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, München: Fink 1994, S. 284f. 40 Hier zeigt sich, was Thürlemann und Ganz in ihrer Untersuchung über ›Plurale Bilder‹ betont haben: dass die Gesamtheit eines Bildgefüges und der gegebene räumliche Zusammenhang für den Rezeptionsakt und die Bedeutungsstiftung konstitutiv sind, vgl. F. Thürlemann/D. Ganz: »Zur Einführung«, S. 8-18.

A KTIONSGESCHICHTEN

| 115

mit dem Künstler im Bild fehlten – in diesem Fall würde sich das Verhältnis von Mann und Frau, Subjekt und Objekt in der Serie nämlich anders darstellen. Demgegenüber würden Quellen, Relikte und zusätzliche Aufnahmen – etwa von der Wohnung, in der die Aktion stattfand, – deutlich machen, inwiefern es sich hier um ein privates, aber dennoch präzise durchchoreografiertes Ereignis handelte. Da Ana als komplette Fotoserie gezeigt wird, aber keine weiteren Quellen hinzugezogen werden, sind die Leerstellen, die sich beim Lesen der Aktion ergeben, in der Ausstellung letztlich diejenigen, die in der Fotoreihe selbst angelegt sind. Eine Hilfestellung bei der Ergänzung der Leerstellen können die Texte leisten, die den Besucher durch die Ausstellung führen. Neben Wandtexten, die verschiedene Werkkomplexe und Lebensstationen Brus’, aber auch ausgewählte Aktionen erläutern, gibt es zahlreiche O-Töne. Wie in Salzburg werden zu fast allen performativen Arbeiten Texte des Künstlers zur Verfügung gestellt. In diesem Fall sind die Anmerkungen aber nicht nur mit dem Namen des Verfassers und ihrem Entstehungsdatum versehen, sondern auch in der Maschinenschrift gedruckt, die in der aktionistischen Phase vom Künstler genutzt wurde. Die Texte, aus denen das inszenierende Ich spricht, wurden hingegen in der Ausstellungsschrift gesetzt und auf Banner gedruckt, die von den Wänden hängen. Es existieren demnach auch in der Berliner Ausstellung zwei Stimmen, welche die Interpretation der Aktionen beeinflussen. Anders als in Salzburg werden die Zuständigkeitsbereiche aber klar geschieden und visuell markiert. Die von weitem sichtbaren, im Umfang beschränkten und in verständlicher Sprache geschriebenen Ausstellungstexte richten sich offenkundig an den Besucher, der Orientierung sucht und Grundlagen-Wissen benötigt. Sie fassen Aktionen kurz zusammen und geben Hinweise zum Entstehungskontext, die aus den Bildern nicht erschlossen werden können – etwa, wo die Aktionen stattfanden und welche Reaktionen sie beim Publikum auslösten. Die ›Storyline‹ wird zwar verfolgt, ist allerdings nicht streng linear ausgerichtet. So wird nur partiell auf die Beziehungen zwischen den Gemälden, Aktionen und BildDichtungen hingewiesen, eine stringente künstlerische Entwicklung wird nicht suggeriert.41 Im Gegenteil: die anonyme Erzählinstanz macht sogar

41 Beispielhaft für einen Text, der auf zuvor präsentierte, ältere Arbeiten verweist, ist der Wandtext mit dem Titel Störungszone. Hier heißt es, dass das aus der Ak-

116 | S ARAH K RISTIN H APPERSBERGER

selbst darauf aufmerksam, dass es »Brüche und Kontinuitäten«42 in Brus’ Werk gibt. Darüber hinaus offenbart sie Details zur Quellenlage und der Bedeutung der Fotografen und Filmemacher –43 Informationen, die in der Schneemann’schen Ausstellung nicht mit dem Publikum geteilt werden und als implizite Begründung für die vorliegende Präsentation betrachtet werden können. Die Texte des Künstlers erfordern im Gegensatz zu den Ausstellungstexten die explizite Zuwendung des Betrachters. Die folierten DinA4Ausdrucke hängen an der Wand neben den Werken und bieten Informationen, die sich an bereits gut informierte Besucher richten. Was Brus schreibt, ist nicht nur umfassender als die Anmerkungen des inszenierenden Ichs, sondern auch sehr subjektiv und auf die einzelnen Werke und ihren Entstehungskontext bezogen. Der Künstler spart nicht mit Kritik an seinen Arbeiten, ordnet die entsprechenden Werke zugleich aber auch in sein Schaffen und die Kunstgeschichte ein. Wie Carolee Schneemann betont er, dass seine Aktionen sich aus »der Aktionsmalerei, aus dem Drang, diese ›räumlicher‹ zu gestalten und den Maler aus dem sich ergebenden Werk nicht auszusperren«44 entwickelt haben und erwähnt die Namen von Künstlern aus seiner Zeit.45 Die Künstlertexte unterstützen demnach auch hier die These, die für die Präsentation der Aktionen konstitutiv ist, haben aufgrund

tionszeit stammende Interesse an Körpern sich in vielen späteren Bildern wiederfindet. 42 Wandtext mit dem Titel Grenzüberschreiter. 43 Über die Dokumentation wird in dem Text Aktionen folgendes gesagt: »Das Dokumentationsmaterial war lange nicht zugänglich und hat sich erst nach vielen Jahren wieder auffinden lassen. Brus hat die Fotografien in Mappen veröffentlicht und die Filme aufbereitet. Die Fotografen Klaus Eschen, Ludwig Hoffenreich, Khasaq (Siegfried Klein), Otto Mühl, Henning Wolters haben die Ereignisse dokumentiert und ermöglichen, den performativen Gestus der Aktionen zu einem gewissen Grad nachzuvollziehen. Als stilbildende Bildikonen der Körperkunst sind sie in die Kunstgeschichte eingegangen.« 44 Die Anmerkungen Brus’ sind im Ausstellungskatalog abgedruckt, vgl. Schmitz, Britta (Hg.): Günter Brus. Störungszonen, Ausst. Kat. Berlin 2016, Köln: Walter König 2016, S. 48-46. 45 Im Text zu Selbstbemalung verweist Brus etwa auf Arnulf Rainer, vgl. B. Schmitz: Günter Brus, S. 58.

A KTIONSGESCHICHTEN

| 117

ihrer weniger prominenten Position im Raum jedoch eine geringere Wirkmacht als die Ausstellungstexte. Die Aktionen, die im ersten Ausstellungsraum als Teil der aktionistischen Phase erzählt werden, nehmen etwa gleich viel Raum ein und sind durch die gleichen Medien repräsentiert: Es gibt stets eine Fotogeschichte, die als Block gehängt ist, und einen Text mit Kommentaren des Künstlers. Lediglich eine Vitrine mit Skizzen, die in der Mitte des Raums platziert ist, fällt aus diesem Rhythmus heraus. Wenngleich die Zeichnungen parallel zu den Aktionen entstanden und ebenfalls den Körper behandeln, ist der Zusammenhang zwischen den Linien auf Papier und den Gesten im Raum nicht evident. Da die Papierarbeiten keinen Aktionen zugeordnet sind, werden sie als autonome Werke rezipiert, die lediglich auf der thematischen Ebene Bezugspunkte zu den ephemeren Kunstereignissen aufweisen. Inwiefern die Zeichnungen auch die dramaturgische Funktion haben, auf folgende Kapitel vorauszuweisen und Kohärenz zwischen den Anfängen des Künstlers und seinen späteren Schaffensphasen zu schaffen, zeigt sich bei einem Blick in den folgenden Ausstellungsraum. Zu sehen sind nicht nur Filme zu den Aktionen, sondern auch zahlreiche Zeichnungen aus dem Mappenwerk Irrwisch46. Die Zeichnungen sind an einer Wand in einer rechteckigen Formation angeordnet, die an die Präsentation der Aktionsfotografien erinnert. So werden gegenüber vom Irrwisch Fotos von der Münchener Aktion Zerreißprobe47 gezeigt, die ebenfalls in Reihen angeordnet sind. Das Display regt durch seine Struktur dazu an, die Aktionen und Zeichnungen auf ihre Gemeinsamkeiten zu untersuchen.48 Da sowohl die Aktionsaufnahmen als auch die Zeichnungen farbig

46 Irrwisch, 1971, Bleistift, Farbstift und Schreibmaschinenschrift auf Papier, Cover und 136-seitiges Manuskript, je 29,6 x 21 cm, Walther König, Köln. 47 Zerreißprobe, 1970/2001, 12 Farbfotografien, 1 Vorsatzblatt, 1 Heft, Leinenkassette, 49 x 39 cm (Fotos), Fotos: Klaus Eschen, Hg. von Galerie Heike Curtze, Wien, Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie. 48 Wenngleich es sich nicht im engeren Sinne um eine Pendanthängung handelt, zeigt sich hier das Prinzip des vergleichenden Sehens, das für die Rezeption von kombinierten Bildern typisch ist. Als temporäre, räumliche Gruppierung von mehreren Bildern legen Ausstellungen grundsätzlich eine solche Betrachtung nahe, hier wird dieser Rezeptionsmodus durch das Display allerdings explizit aufgerufen. Zu kombinierten Bildpraktiken und deren Konsequenzen für die Re-

118 | S ARAH K RISTIN H APPERSBERGER

sind, wird auch auf medialer Ebene ein Zusammenhang zwischen den Ausdrucksformen geschaffen. Die Farbe und das Display übernehmen damit die Funktion, welche die Schwarzweißoptik und die Malerei im ersten Raum besitzen: von einer Werkphase in die nächste überzuleiten und den Gattungssprung anschaulich zu machen. Wenngleich mit der Zerreißprobe schon das Ende der aktionistischen Phase von Brus markiert ist, gibt es mit den Filmen in dem zweiten Raum noch ein Element, das für die Erzählung seiner ephemeren Arbeiten relevant ist. Die Mehrzahl der Filme wird in zwei Kabinetten projiziert, die sich rechts neben dem Eingang befinden. Entscheidend ist hierbei, dass es sich größtenteils nicht um Filme handelt, die weitere Aktionen schildern, sondern um Bewegtbilder der Aktionen, die im davor liegenden Ausstellungsraum auf Fotos präsentiert werden.49 Die Aufteilung der Dokumentationsmedien auf zwei Räume führt dazu, dass sie nicht nur auf ihre Inhalte befragt werden, sondern auch in ihrer eigenen Medialität zur Geltung kommen. Das intime Kabinett bietet dem Besucher einerseits die Möglichkeit, sich ungestört auf die Filme einzulassen, andererseits erlaubt es, die Aktionen in einem zeitlichen Modus zu rezipieren, der ihrer ursprünglichen Form entspricht. Die Rezeption ist hier nicht synchron, sondern linear und sukzessiv – sie dehnt sich in der Zeit aus. Als Räume im Raum separieren die Kabinette die Filme von anderen Arbeiten und Dokumenten. Dass damit nicht nur medialen Eigenschaften Rechnung getragen werden soll, sondern auch künstlerische Qualitäten betont werden, wird auf einem Wandtext angekündigt.50 Ob das im Umkehr-

zeption vgl. Blum, Gerd/Bogen, Steffen et al.: »Pendant Plus. Zur Einführung in das Konzept des Bandes«, in: Dies. et al. (Hg.), Pendant Plus. Praktiken der Bildkombinatorik, Berlin: Dietrich Reimer 2012, S. 9-22. 49 Zu den Filmen, die im Filmkabinett gezeigt wurden, gehören unter anderem Ana (1964, 16mm Film transferiert auf DVD, s/w, 2:37min, Kamera: Kurt Kren), Selbstbemalung (1965, 8mm-Film transferiert auf DVD, s/w, 3:53min, Kamera: Otto Mühl) und Wiener Spaziergang (1965, 8mm-Film transferiert auf DVD, s/w, 1:44 min, Kamera: Otto Mühl, Rudolf Schwarzkogler). 50 Im Wandtext heißt es »Die Filme sind nicht nur Informationsträger, sie eröffnen dem Betrachter neue Dimensionen des Erlebens und Erfahrens und stellen einen eigenen Werkkomplex dar. […] Zu seiner ersten Aktion hat Brus Kurt Kren ein-

A KTIONSGESCHICHTEN

| 119

schluss bedeutet, dass die Filme, die auf Monitoren in der Mitte des Raums präsentiert werden,51 keinerlei Werkcharakter besitzen, bleibt offen.52 Wenngleich der Umgang mit Filmen in der Schneemann-Retrospektive nicht analysiert wurde, lässt sich feststellen, dass die Brus-Schau sich von der Salzburger Ausstellung in der Erzählung der Aktionen leicht unterscheidet. Die Aktionen werden zwar auch hier in die künstlerische Laufbahn eingebettet und in den Kontext der Malerei gestellt. Dies wird jedoch nicht primär durch die Ordnung und Kommentierung der Exponate bewerkstelligt. Entscheidend sind vielmehr die Hängung der Objekte und der Umgang mit ihren medialen Eigenschaften, das heißt, ihrer Bildlichkeit, ihrer Materialität und dem in ihnen angelegten Wahrnehmungsmodus. Da die Aktionen in Form von Bild-Ensembles und Bewegtbildern vermittelt werden, treten die Zusammenhänge zwischen der Handlung und dem Medium des Bildes besonders deutlich hervor. Mit der Präsentation von Fotos und Filmen der gleichen Aktionen erlaubt die Berliner Ausstellung, Brus’ ephemere Arbeiten in verschiedenen Zeitmodi und aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu betrachten. Die Zahl der Perspektiven ist jedoch insofern geringer als in Salzburg, als von jeder Aktion nur eine Fotoserie von einem Fotografen und gegebenenfalls ein Film gezeigt wird. Durch die Beschränkung der Blickwinkel wird einerseits vermieden, dem Publikum allzu viel disparates Material anzubieten. Andererseits wird damit verdeckt, wie stark die Qualität der Aufnahmen und die Dokumentationsmodi variieren. Die Besucher sind somit von der Aufgabe befreit, zu entscheiden, welche Bedeutung den einzelnen Aufnahmen zukommt. Die Gefahr, verschiedene räumliche und zeitliche Ebenen zu vereinen, ist insofern nicht gegeben, als Brus im Gegensatz zu Schneemann seine Arbeiten nur einmal aufführte und daher keine Verwirrungen hinsichtlich der

geladen, ein profilierter Avantgardefilmer. Ebenso filmen seine Künstlerfreunde Rudolf Schwarzkogler, Otto Mühl und Hans Christof Stenzel.« 51 Auf den Monitoren waren unter anderem Osmose (1967, 16-mm Film transferiert auf DVD, s/w, stumm, 1:08 min, Kamera: Helmut Kronberger) und Pullover (1967, mit Anna Brus, 16mm-Film transferiert auf DVD, s/w, stumm, 02:40min, Kamera: Helmut Kronberger) zu sehen. 52 Die Kuratorin nennt als Gründe für die Präsentation einiger Filme auf Monitoren tatsächlich deren Qualität, das Filmformat wäre nur in einem Fall ausschlaggebend gewesen (Telefonat mit Britta Schmitz im April 2016).

120 | S ARAH K RISTIN H APPERSBERGER

korrekten Bezugshandlung vorkommen können. Auf der Ebene des Texts äußert sich die Mehrstimmigkeit in den Stimmen des Künstlers und des inszenierenden Ichs, auf Kommentare Dritter wurde – analog zu Salzburg – verzichtet. Wie bereits angesprochen, tritt die Stimme Brus’ stärker in den Hintergrund als Schneemanns in der Salzburger Schau, ist aber auch hier die Instanz, der die Autorität bei der Vermittlung der Aktionsinhalte zukommt. Wenngleich zeitgenössische Künstler häufig konsultiert werden, wenn es um die Deutung ihrer Arbeiten geht, ist es bemerkenswert, welche Präsenz ihren Aussagen in diesen beiden Ausstellungen zukommt. In der Regel werden ausgewählte Zitate mit dem Publikum geteilt, mitunter reformulieren Ausstellungstexte auch die Kommentare des Künstlers.53 Selten aber begleitet die Stimme des Künstlers die Besucher so kontinuierlich durch die Ausstellung. Dass die Verwendung von Künstlertexten mit dem Genre der Performancekunst in Verbindung steht, belegen beide Ausstellungen. So gibt es in der Schneemann-Ausstellung zu nahezu allen Performances Beschreibungen der Künstlerin, bei den Gemälden, Objekten, Installationen jedoch nicht. Gleiches gilt für die Brus-Ausstellung. Der konsequente Einsatz von Texten aus Künstlersicht mag damit zusammenhängen, dass es für Unbeteiligte schwierig ist, den Verlauf der Aktionen zu rekonstruieren und für das breite Publikum aufzubereiten. Es ist nicht nur zeitintensiv, Quellen zusammentragen, diese auf ihren Gehalt zu prüfen und sich davon ausgehend ein Bild von der Aktion zu machen, sondern birgt auch die Gefahr einer falschen Darstellung. Die Entscheidung, die Deutungshoheit an die Künstler abzugeben, ist daher durchaus nachvollziehbar. Letztere haben die Aktionen konzipiert und durchgeführt – als deren Urheber müssen sie, wie es scheint, um deren Verlauf und Bedeutung wissen. Wer sich uneingeschränkt auf die (mutmaßliche) Autorität der Künstler verlässt, läuft allerdings Gefahr, ihre Anmerkungen nicht mit der Reflexion zu lesen, die dem Genre des Künstlertexts gebührt. Wie Julia Gelshorn an

53 Stefan Nowotny weist in seiner Analyse von Ausstellungstexten explizit darauf hin, dass auch die anonymen Tafeln der Ausstellungsmacher sich oft auf die Aussagen des Künstlers berufen und damit die Autorschaft an ihn überschreiben, vgl. Nowotny, Stefan: »Polizierte Betrachtung. Zur Funktion und Funktionsgeschichte von Ausstellungstexten«, in: Beatrice Jaschke/Charlotte MartinzTurek/Nora Sternfeld (Hg.), Wer spricht? Autorität und Autorschaft in Ausstellungen, Wien: Turia + Kant, S. 72-92, hier S. 74.

A KTIONSGESCHICHTEN

| 121

Texten Gerhard Richters gezeigt hat,54 setzen nicht wenige Künstler ihre Werke in bestimmte Kontexte und steuern damit die Rezeption. Und auch wenn es sich hierbei nicht immer um einen intendierten Akt handelt, so ist es dennoch wichtig, darum zu wissen, dass Künstler ihre Aktionen in der nachträglichen Erzählung bewusst oder unbewusst formen. Denn der fragmentarische Charakter der Aktionen birgt letztlich nicht nur ein Risiko für Ausstellungsmacher – auch Künstler können mit räumlichem und zeitlichem Abstand die Geschehnisse verzerren und somit zu ›Unzuverlässigen Erzählern‹ werden.55

4. H YBRIDE E RZÄHLUNGEN ›Es sind nicht nur die Kuratoren, sondern auch die Künstler, auf die es ankommt‹, könnte man im Anschluss an die Analyse zu Catrin Lorch sagen. Wie bereits angemerkt, sind sie von den vielen Stimmen, die in den Ausstellungen zu Wort kommen, neben dem inszenierenden Ich diejenigen, die den Besucher am kontinuierlichsten begleiten. Angesichts der Tatsache, dass die meisten Performances von Schneemann und Brus durch die körperliche Präsenz der Künstler gekennzeichnet sind, scheint es, als ob ihre Texte in den Ausstellungen die Rolle ihrer Körper übernehmen würden. Anders gesagt: Wurde die Präsenz der Künstler während der Performances durch ihre Körper zum Ausdruck gebracht, so zeigt sie sich in deren retrospektiver Darstellung in Form ihrer Stimme. Es ist interessant, welche Bedeutung dem Text als künstlerischem Ausdrucksmedium in diesem Kontext zukommt. Wenngleich Fotografien, Fil-

54 Vgl. Gelshorn, Julia: »Der Künstler spricht. Vom Umgang mit den Texten Gerhard Richters«, in: Dies. (Hg.), Legitimationen: Künstlerinnen und Künstler als Autoritäten der Gegenwartskunst, Bern: Lang 2004, S. 127-148. 55 Als ›Unzuverlässiger Erzähler‹ gilt in der Narratologie eine Erzählinstanz, welche die fiktionale Wirklichkeit verzerrt darstellt. In der Regel ist die Erzählung so angelegt, dass die Unzuverlässigkeit des Erzählers offensichtlich wird. Vgl. Martinez, Matías/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, München: C.H. Beck 2007, S. 100. Das viel diskutierte Konzept geht auf Wayne C. Booth zurück, vgl. Booth, Wayne C.: The Rhetoric of Fiction, Chicago/London: The University of Chicago Press 1983.

122 | S ARAH K RISTIN H APPERSBERGER

me und Objekte in den Ausstellungen mehr Raum einnehmen, werden die Aktionen nicht ausschließlich durch die Exponate, sondern ebenso durch die Texte vermittelt.56 Insbesondere bei Werken, deren Präsentation durch eine große Anzahl von Leerstellen gekennzeichnet ist, sind die Erläuterungen für das Verständnis unabdinglich. Aber auch wenn viele Exponate zur Veranschaulichung der Performances zur Verfügung stehen, bedarf es der Texte, um den Kontext und die Bedeutung der Arbeiten mitzuteilen. Denn so viel Bilder und Objekte auch verraten – sie müssen auf Inhalte gelesen werden, um etwas über diese aussagen zu können.57 Da in beiden Ausstellungen Text- und Bildmedien zur Narration der Performances eingesetzt werden, kann die praktizierte Form des Erzählens als hybrid charakterisiert werden: Hier wird in verschiedenen Medien berichtet, die in ihrer ursprünglichen Gestalt erkennbar bleiben und zusammen eine Erzählung bilden, deren Bedeutung sich von derjenigen ihrer Bestandteile unterscheidet. Der Begriff des Hybriden Erzählens ist auch insofern eine geeignete Beschreibung des narrativen Akts in den analysierten Werkschauen, als er indirekt mit der Dokumentation von ephemeren Arbeiten verbunden ist. Stefanie Rentsch hat den Begriff für Werke von Sophie Calle und Jean Le Gac geprägt, aber explizit darauf hingewiesen, dass die von ihr untersuchten Arbeiten in der Verwendung von Bild und Text Parallelen zur ›Story Art‹ und der Dokumentation von Happenings aufweisen.58 Es liegt dementsprechend nahe, den Begriff auf räumliche Inszenierungen

56 Thiemeyer und Buschmann gehen davon aus, dass die Erzählung durch Dinge im Raum erfolgt. Thiemeyer betont zwar, dass Texte benötigt werden, um die Objekte zum Sprechen zu bringen, Buschmann macht aber klar, dass Texte lediglich als Para- und Hypertexte zu der Erzählung im Raum zu verstehen sind, vgl. T. Thiemeyer: »Simultane Narration«, S. 479 sowie H. Buschmann: »Geschichten im Raum«, S. 166f. 57 Zur Stummheit der Dinge vgl. Thiemeyer, Thomas: »Die Sprache der Dinge. Museumsobjekte zwischen Zeichen und Erscheinung«, in: Museen für Geschichte (Hg.), Online-Publikation der Beiträge des Symposiums ›GeschichtsBilder im Museum‹ im Deutschen Historischen Museum Berlin, Februar 2011: http://www.museenfuergeschichte.de/downloads/news/Thomas_Thiemeyer-Die _Sprache_der_Dinge.pdf vom 23.09.2015. 58 Vgl. Rentsch, Stefanie: Hybrides Erzählen. Text-Bild-Kombinationen bei Jean Le Gac und Sophie Calle, München: Wilhelm Fink 2010.

A KTIONSGESCHICHTEN

| 123

zu übertragen, in denen mittels visuellen und textuellen Elementen von künstlerischen Ereignissen erzählt wird. Dass es sich bei beiden Ausstellungen um Erzählungen handelt, zeigt sich einerseits daran, dass sie sich an einer ›Storyline‹ orientieren und diese durch Texte sowie das Display der Exponate transparent machen. Zum anderen wird es daran ersichtlich, dass das Material von einer erzählenden Instanz sortiert und von verschiedenen Figuren – den Künstlern, Fotografen und Filmemachern – präsentiert und kommentiert wird. Da Erzählungen wie Performances als Abfolge von Handlungen oder Szenenbildern beschrieben werden können, lässt sich die These aufstellen, dass das narrative Moment in der Repräsentation der Aktionen auch mit der Medialität der Werke zusammenhängt. Infolge ihrer linearen Struktur, aber auch der Möglichkeit von Perspektivwechseln bietet sich die Erzählung als Modell zur Wiedergabe von Aktionen an – und zwar ganz besonders, wenn letztere von verschiedenen Personen dokumentiert wurden. Narratologische Theorien sind demnach nicht nur relevant, wenn nach der erzählenden Instanz in Ausstellungen gefragt wird. Sie sind grundsätzlich zu beachten, wenn die Präsentation von historischen Aktionen und Performances in Museen und Ausstellungshäusern untersucht werden soll. Wenngleich die analysierten Ausstellungen Aktionen unterschiedlicher Künstler vorstellen, wird deutlich, dass sie die Werke gemäß einer These inszenieren: die Entwicklung der Aktion aus der Malerei.59 Inwiefern sich durch eine andere Kontextualisierung der Werke abweichende Deutungen der einzelnen Werke ergeben, bleibt zu untersuchen. Interessant wäre es in jedem Fall, zu überprüfen, ob die Schneemannsche Ausstellung in New York und Frankfurt am Main andere Eindrücke vermittelt.60 Angesichts der unterschiedlichen Architektur der Ausstellungshäuser ist es nicht unwahrscheinlich, dass sich selbst bei der gleichen ›Storyline‹ neue Interpretatio-

59 Diese These wurde in der Geschichtsschreibung der Performancekunst immer wieder aufgestellt und ist daher kunsthistorisch abgesichert. Vgl. beispielsweise den bereits zitierten Ausstellungskatalog von Peter Noever: Noever, Peter (Hg.): Out of Actions. Between Performance and the Object 1949-1979, Ausst. Kat. Los Angeles (u.a.) 1998-1999, London: Thames & Hudson 1998. 60 Die Ausstellung wird vom 31. Mai 2017 bis zum 24. September 2017 im MMK in Frankfurt am Main, und vom 22. Oktober 2017 bis zum 1. Februar 2018 im MoMA PS1 in New York gezeigt.

124 | S ARAH K RISTIN H APPERSBERGER

nen ergeben – etwa, wenn Bilder aufgrund von Platzmangel oder Leihgabenschwierigkeiten weggelassen werden, Objekte durch Raumaufteilungen in andere Konstellationen gestellt werden oder Wandtexte andere Wege leiten. Angesichts des Aufbaus der Ausstellung ist nicht anzunehmen, dass die Aktionen durch Einzelbilder statt Bildserien präsentiert werden. Da eine derartige Repräsentation das Verhältnis zwischen Bild und Text verschieben und den Betrachter vor die Herausforderung stellen würde, von einem Bild auf den Ablauf der gesamten Aktion zu schließen, wäre eine solche Analyse aber ein spannendes Unternehmen.

Kein Schlüssel zum Erfolg? Wie man einen Roman ausstellen kann V ERA B ACHMANN

Die Frage, wie man einen Roman ausstellt, ist in der Praxis oft durch die Hintertür beantwortet worden. Angesichts der technischen Reproduzierbarkeit des Mediums Literatur und damit einhergehend mangelnder Anschaulichkeit der einzelnen Druckseite behilft man sich in Literaturausstellungen oft mit Para- und Epitexten. Manuskripte, Korrekturfahnen, Notizbücher oder Briefe werden oft nur in illustrativer Absicht gezeigt. Oder man nähert sich über Arbeitsgeräte, Schreibmaschinen, Ebenholzsekretäre oder Füllfederhalter der Literatur von ihrer materiellen, oft von der biografischen Seite, stellt also Fotografien, Fahrscheine oder Zeichnungen aus, allerlei Reliquien und Devotionalien, die ein wenig von der Aura1 transportieren sollen, 1

Walter Benjamins Begriff der Aura, wie er ihn in seinem Aufsatz über »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« entwickelt (vgl. Benjamin, Walter: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, in: Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser (Hg.), Gesammelte Schriften. Band I, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1980, S. 471-508) ist nach wie vor die zentrale Kategorie in den theoretischen Auseinandersetzungen mit dem Medium Literaturausstellung. Eine interessante Position vertritt in diesem Zusammenhang Uwe Wirth, der darstellt, dass eine Aura nicht etwa Originalen per se zukommt und der Druckseite fehlt, sondern in der musealen Praktik heraufbeschworen wird. Die Auratisierung der Exponate sei Effekt ihrer Inszenierung, sie verlebendige die Gegenstände und determiniere die Art, wie der Besucher sie wahrnehme. Vgl. Wirth, Uwe: »Was zeigt sich, wenn man Literatur zeigt?«, in:

126 | V ERA B ACHMANN

die der bloßen Druckseite so augenfällig abgeht. Allen Abgesängen auf die Instanz des Autors zum Trotz2 – sie bleibt die zentrale Kategorie in vielen Literaturausstellungen. Die Biografie erschließt nach wie vor den Zugang zum Werk.3 Nun gibt es Autorinnen und Autoren, die reichhaltigere Nachlässe hinterlassen haben als andere, die ihre Manuskripte mit aufschlussreicheren Randbemerkungen versahen, deren Briefe intimere Details enthüllen oder die ihr Zeichentalent auf Druckfahnen und Leseexemplaren entfalteten. Möglicherweise lenken diese Umstände die Rezeption in Literaturausstellungen mehr. Und gerade von vielen deutschen Autorinnen und Autoren des 20. Jahrhunderts ist nach zahlreichen Stationen von Flucht und Exil zu wenig biografisches ›Material‹ geblieben, um die Schaulust des Publikums zu befriedigen. Bei Lion Feuchtwanger, um den es im Folgenden gehen soll, ist das der Fall, zumindest, was seine Zeit in München und Berlin sowie das Exil in Südfrankreich angeht. Zwar ist seine Biografie schillernd, seine Fluchten abenteuerlich und seine Frauenabenteuer skandalös – doch um all das zu illustrieren, haben Biografen und Ausstellungsmacher sich bisher an die begrenzte Auswahl überlieferter Fotografien aus der Feuchtwanger Memorial Library in Los Angeles halten müssen.

Anne Bohnenkamp/Sonja Vandenrath (Hg.), Wort-Räume, Zeichen-Wechsel, Augen-Poesie. Zur Theorie und Praxis von Literaturausstellungen, Göttingen: Wallstein 2011, S. 53-75. 2

Vgl. Barthes, Roland: »Der Tod des Autors«, in: Fotis Jannidis/Gerhard Lauer/Matias Martinez/Simone Winko (Hg.), Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart: Reclam 2000, S. 185-193. Die Geste Barthes’ musste natürlich Widerspruch hervorrufen, der sich ebenfalls im genannten Band nachvollziehen lässt. Allen Rehabilitierungsbemühungen zum Trotz spielt der Autor seither nicht mehr die zentrale Rolle als Analysekategorie in der Literaturwissenschaft, die er einmal eingenommen haben mag.

3

Ich schließe mich hier dem Plädoyer von Heike Gfrereis und Ulrich Raulff an, den Hang zur Dichterverehrung, zum Biografischen und Illustrativen zu überwinden und stattdessen dem zweidimensionalen Text im mehrdimensionalen Medium der Ausstellung seine ästhetische Dimension wiederzugeben. Vgl. Gfrereis, Heike/Raulff, Ulrich: »Literaturausstellungen als Erkenntnisform«, in: Bohnenkamp/Vandenrath, Augen-Räume, Zeichen-Wechsel, Augen-Poesie (2011), S. 101-109.

K EIN S CHLÜSSEL ZUM E RFOLG ? | 127

Im Literaturhaus München wurde 2014 für eine Ausstellung zu Lion Feuchtwangers Roman Erfolg. Drei Jahre Geschichte einer Provinz (1930)4 ein anderer Weg gesucht – schon aus praktischen Gründen: An biografischem Material rund um den Roman war in den Archiven nämlich kaum etwas aufzutreiben. In Zusammenarbeit mit dem Architektur- und Gestaltungsbüro unodue (Costanza Pugliesi und Florian Wenz) stellte sich die Arbeitsgruppe des Literaturhauses (bestehend aus dessen Leiter, Dr. Reinhard Wittmann, Karolina Kühn, Roxanna Höchsmann, Laura Mokrohs und mir) die Frage, wie man einen Roman als Roman ausstellen kann – nicht als Anlass, eine Biografie nachzuzeichnen. Die Frage zielt auf das ›Immaterielle‹ des Romans, also das, was zwischen, hinter oder unter den Zeilen des Textes vermutet wird und das gemeinhin als sein (tieferer) Sinn oder seine Bedeutung bezeichnet wird. Hans Ulrich Gumbrecht nannte Literaturausstellungen ein »Paradox«, weil sie »davon leben und ihre Besucher damit bei Laune […] halten, dass möglichst alle präsentierten Gegenstände – als Gegenstände – nachhaltig die Wahrnehmung faszinieren, während literarische Texte – wie alle anderen Texte – ja gerade darauf angewiesen sind, dass das auf ihren Seiten sichtbar Werdende in Sinn überführt und damit als Gegenstand der Wahrnehmung aufgehoben wird.«5 An diese Beobachtung knüpfte er ein Plädoyer für ein Ausstellen von Literatur, das statt der Sinn-Dimension die Emergenz von Literatur veranschaulicht und ihre »vergangenen Gegenwarten«6 präsent macht. Im Folgenden soll eine weitere Möglichkeit vorgestellt werden: der Versuch, einen Text selbst hinsichtlich seiner Struktur, seiner Poetik und durchaus auch seiner ›SinnDimension‹ auszustellen, also das ›Immaterielle‹ der Literatur sichtbar und greifbar zu machen.

4

Im Folgenden zitiert nach der Ausgabe: Feuchtwanger, Lion: Erfolg. Drei Jahre Geschichte einer Provinz, Berlin: Aufbau 2008. Realisiert wurde die Ausstellung unter dem Titel »Erfolg. Lion Feuchtwangers Bayern« im Literaturhaus München vom 15.10.2014 bis zum 15.02.2015.

5

Gumbrecht, Hans Ulrich: »Kann Literatur ausgestellt werden? Marbacher Antworten«, in: Jahrbuch der deutschen Schiller-Gesellschaft 58 (2014), S. 601604, hier S. 601.

6

Ebd., S. 603.

128 | V ERA B ACHMANN

M ATERIAL

JENSEITS DES

ARCHIVS

Lion Feuchtwanger, 1884 als Sohn einer jüdischen Fabrikantenfamilie in München geboren, zog 1925, enttäuscht von den politischen Entwicklungen in seiner Heimatstadt, nach Berlin. Dort begann er mit der Arbeit an einem Roman über seine Heimat, einem Epos, das ihm den doppelten Ruf eines Nestbeschmutzers und eines klarsichtigen und frühen Analysten der nationalsozialistischen Bewegung gebracht hat: Erfolg. Drei Jahre Geschichte einer Provinz. Der Roman spielt in den Jahren 1921-1924, also den turbulenten Anfangsjahren der Weimarer Republik und beschreibt den allmählichen Aufstieg der völkischen Bewegung, den ›Wahrhaft Deutschen‹ unter ihrem Führer Rupert Kutzner bis hin zum Putschversuch 1923 und dem anschließenden Prozess. Die Geschichte, die sich vor diesem zeithistorischen Hintergrund abspielt, ist die eines Justizskandals, der gleichzeitig ein Kunstskandal ist: es geht um den Subdirektor der Staatlichen Gemäldesammlungen namens Martin Krüger, der es gewagt hatte, Bilder in sein Museum zu hängen, die dem Geschmack und Moralverständnis einiger Politiker zuwider sind. Weil man ihn dafür nicht direkt angreifen kann, ohne den Ruf Münchens als Kunststadt zu gefährden, verstrickt man ihn in einen Meineidsprozess, der ihn für drei Jahre hinter Gitter bringt. Damit beginnt der Roman. Auf den folgenden knapp 800 Seiten werden die Anstrengungen seiner Freundin Johanna Krain beschrieben, seine Freilassung zu bewirken. Sie versucht die verschiedensten Akteure der Gesellschaft für ihre Sache zu gewinnen: die Politik und den Klerus, die Bauernführer und Künstler, die Großindustriellen und Varietébesitzer, den Adel und die Rechtsgelehrten – sie alle werden so auf die Bühne des Romans gebracht, der ein facettenreiches Panorama der Gesellschaft in den frühen 1920er Jahren in München entfaltet. Die ›Wahrhaft Deutschen‹ haben aus jedem dieser Kreise und aus den unterschiedlichsten Gründen Zulauf. Am Ende des Romans scheint, trotz der äußerst milden Strafen für Kutzners Putschversuch, die Hoffnung auf, dass Kunst und Vernunft letztendlich über den nationalistischen Wahnsinn triumphieren würden. Es ist vor diesem Hintergrund kein Wunder, dass Feuchtwanger sich damit die Feindschaft der Nationalsozialisten zuzog. Zum Zeitpunkt der Machtübergabe an Hitler befand er sich auf Lesereise in Amerika, seine

K EIN S CHLÜSSEL ZUM E RFOLG ? | 129

Frau Marta war beim Skifahren in der Schweiz.7 Das Haus der beiden in Berlin wurde aufgebrochen und geplündert. Es ist zu vermuten, dass auch die Unterlagen und Typoskripte zum drei Jahre zuvor erschienenen Roman Erfolg dabei verloren gegangen sind. Nebenbei bemerkt: Feuchtwanger hat nicht nur sein Haus im Berliner Grunewald, er hat auch Deutschland nie wieder gesehen. Zunächst fand das Ehepaar ein Exil in Südfrankreich, wo Lion Feuchtwanger 1940 interniert wurde. Ihm gelang aber die Flucht und Überfahrt nach Amerika. Dort allerdings geriet er wegen seiner Nähe zum Kommunismus ins Visier der Geheimdienste. Aus Angst, nicht wieder einreisen zu dürfen, hat er Amerika bis zu seinem Tod 1958 nicht mehr verlassen.8 Aus diesen Gründen ist im Nachlass, der im Feuchtwanger Archiv in Los Angeles liegt, nur wenig biografisches Material aus Feuchtwangers Zeit in Deutschland erhalten. Keine Notizhefte, keine Arbeitspläne, keine Sammelmappen erlauben einen Einblick in Feuchtwangers Arbeitsweise und seine Recherchen. Eine Handschrift des Romans hat es ohnehin nie gegeben, denn Feuchtwanger ging mit der Zeit und war leidenschaftlicher Verfechter der Schreibmaschine.9 Die bediente er freilich nicht selbst, sondern überließ das seiner Sekretärin Lola Sernau. Für die verschiedenen Überarbeitungsstufen des Typoskripts nutzte er Papier unterschiedlicher

7

Vgl. Feuchtwanger, Marta: Nur eine Frau. Jahre – Tage – Stunden, München: Knaur 1983, S. 236f. Vgl. zum Folgenden auch von Sternburg, Wilhelm: Lion Feuchtwanger. Die Biographie, Berlin: Aufbau 2014 und Heusler, Andreas: Lion Feuchtwanger. Münchner – Emigrant –Weltbürger, Salzburg: Residenz 2014.

8

Vgl. A. Heusler: Lion Feuchtwanger.

9

In einem Artikel für das Berliner Tageblatt schreibt er: »Es tut mir leid, ich kann Ihnen die Handschrift des Buches nicht überlassen, auch wenn Sie mir mehr dafür bieten, als ich für die Urheberrechte von all meinen Verlegern bekommen habe. Die Handschrift existiert nämlich nicht. Das Buch ist mit der Maschine geschrieben. […] Sie fragen mich, etwas höhnisch, sogar ein bisschen gekränkt, ob ich also Verse in die Maschine tippe, Visionen mit der Maschine festhalte. Sie fragen wörtlich: ›Gestatten Sie mir eine blöde Frage: dichten Sie also mit der Maschine?‹ Gestatten Sie mir eine blöde Antwort: ›ja‹.« Feuchtwanger, Lion: »Ode an die Schreibmaschine«, in: Berliner Tageblatt vom 21.11.1928.

130 | V ERA B ACHMANN

Farbe.10 Diese rosa, hellblauen oder gelben Bögen wären sicher sehr aufschlussreich (auch hinsichtlich der Frage, welchen Einfluss die Sekretärin und Erstleserin Lola Sernau auf den Entstehungsprozess hatte), aber leider sind sie verloren. Dafür hat sich Feuchtwanger nicht nur in zahlreichen Zeitungsartikeln, sondern auch im Roman selbst zu seiner Arbeitsweise geäußert. Wir entschieden daher, uns nicht von den historischen Materialien und biografischen Archivalien her dem Roman zu nähern, sondern vom Roman und seiner speziellen Poetik ausgehend seine historische Gegenwart zu erschließen. Das heißt nicht, die Intention des Autors in den Mittelpunkt zu stellen,11 sondern seine Arbeitsweise zu beleuchten und vor allem: sich mit dem Text auseinanderzusetzen. Was wiederum nicht bedeuten muss, den Ausstellungsraum »mit Bleiwüsten zu tapezieren«12; es geht vielmehr um die spezielle Ästhetik des Romans, die im Medium Ausstellung räumlich, akustisch und visuell umgesetzt werden kann.

D ER R OMAN IM O HR Die Grundlage der Ausstellung bildete somit ein knapp 800 Seiten starker Roman, der eine Vielzahl von Figuren und Nebenfiguren aufmarschieren lässt und eine Geschichte erzählt, die im zweiten Teil zugunsten der Schilderung des Aufstiegs der ›Wahrhaft Deutschen‹ in den Hintergrund gedrängt wird. Zudem zeichnet sich der Roman durch eine Fülle von zeitgenössischen Anspielungen und Referenzen aus. In der Ausstellung war dieser Text nur in kurzen Auszügen auf dem Audioguide zu hören. Denn dass der »solipsistische Akt«13 der Lektüre nicht in eine öffentliche Ausstellung zu transferieren sei, daran mag etwas sein, insbesondere bei einem Roman

10 Vgl. Sernau, Lola: »An Feuchtwangers Schreibmaschine. Intimitäten des Diktats«, in: Berliner Tageblatt vom 28.03.1929. 11 So der Verdacht Gumbrechts gegen traditionelle Ausstellungskonzepte. Vgl. H. U. Gumbrecht: »Kann Literatur ausgestellt werden?«, S. 602f. 12 So die mündlich geäußerte Befürchtung von Dr. Reinhart Wittmann, dem Leiter des Literaturhauses München. 13 Heilwagen, Oliver: »Über die Unmöglichkeit, Literatur angemessen auszustellen«, in: Christiane Kussin (Hg.), Zwischen Reliquienkult und Reizüberflutung, Berlin: ALG 2002, S. 119-143, hier S. 119.

K EIN S CHLÜSSEL ZUM E RFOLG ? | 131

dieser Länge. Aber, wie Hans Wißkirchen bemerkte, die »Tatsache, dass Literatur über das Lesen in einem individuellen Akt vermittelt wird, heißt nicht, dass dies der einzige Weg ist, museale Literaturausstellungen zu betreiben.«14 Im Gegensatz zum Lesen (oder dem Sehen eines Filmausschnitts) beansprucht das Hören nicht die vollständige Aufmerksamkeit des Besuchers, der gleichzeitig seine Umgebung wahrnehmen oder andere Exponate betrachten kann. Diese Simultanität kann man sich für eine Ausstellung zunutze machen: Die kurzen Textausschnitte, die in der Ausstellung zu hören waren, bezogen sich jeweils auf andere, visuell wahrnehmbare Exponate und verhielten sich dazu als Kommentar, Widerspruch oder Illustration. Das Verhältnis von Romantext und historischen Exponaten wurde so verdeutlicht, ohne dass dazu gesonderte Erläuterungen angebracht werden mussten. Ein Beispiel aus der Station Politik: dort war die Fotografie einer Rede Hitlers im Zirkus Krone zu sehen. Vor allem aber sticht die Masse des Publikums auf dem Bild ins Auge. Feuchtwanger beschreibt eine solche Rede in Erfolg,15 sein Fokus richtet sich dabei aber nicht auf die Rede Rupert Kutzners, der Hitlerfigur im Roman. Sie liefert nur die Stichworte, deren Wirkung auf die Hörer geschildert wird. Das Publikum und die Frage, was es am ›Führer‹ faszinierte, steht im Vordergrund. Dazu werden im Roman in einer Reihe von kurzen Lebensläufen die Wege verschiedener Nebenfiguren zu den ›Wahrhaft Deutschen‹ beschrieben. Sie sind in ihrer Banalität erschreckend und liefern vielleicht gerade deshalb eine ernstzunehmende Faschismustheorie. In der Ausstellung konnte man zu dem Bild der Hitlerrede diese kurzen Lebensläufe hören. So wurde ganz beiläufig auch Feuchtwangers Verfahren dargestellt: Der unpersönlichen Masse der Hitleranhänger wird in Erfolg ein Gesicht gegeben.

14 Vgl. Wißkirchen, Hans: »Der schwierige Anfang. Das ›Drehbuch‹ als wissenschaftliche Grundlage von Literaturausstellungen«, in: Kussin, Zwischen Reliquienkult und Reizüberflutung (2002), S. 46-63, hier S. 50. 15 Vgl. das Kapitel »Noch vor der Baumblüte«, L. Feuchtwanger: Erfolg, S. 514521.

132 | V ERA B ACHMANN

D AS P ANORAMA DER G ESELLSCHAFT Ein Drama, das auf seine Realisierung auf der Bühne hin angelegt ist, enthält direkte und indirekte Bühnen- und Regieanweisungen – Nebentexte, die auf die Inszenierung in Raum und Zeit zielen. Im Roman fehlen diese konkreten Handlungsanweisungen zwar, doch etabliert auch er bestimmte Raumstrukturen, konzipiert seine Figuren auf eine bestimmte Weise und gestaltet das Geschehen nach eigener Logik. Und während es auf dem Theater längst nicht mehr üblich ist, sich sklavisch an die Regieanweisungen des Textes zu halten, ist es im Bereich der Literaturausstellung zunächst einmal eine Herausforderung, die räumlichen, ästhetischen und poetologischen Besonderheiten eines Textes überhaupt in Bezug zur Ausstellungsästhetik zu setzen. Ziel wäre es, nicht nur die erzählte Geschichte darzustellen, sondern auch die Art und Weise ihrer Darstellung. Es bietet sich insbesondere an, die Raumstruktur des Romans in einer Ausstellung ins Dreidimensionale zu übertragen. Das Herausarbeiten der Raumstruktur gehört zur literaturwissenschaftlichen Kernkompetenz und beruht auf einer Interpretation des Textes. Das gilt allerdings nicht nur für die Raumstruktur, sondern für die gesamte Ausstellungsästhetik. Bewusst und unbewusst transportiert man als Kurator Vorstellungen davon, was Literatur ist und welche Funktion sie hat, wie sich ihr Verhältnis zur außerliterarischen Wirklichkeit gestaltet und welche Rolle ihr in der Gesellschaft zukommt. Wenn eine bewusste Auseinandersetzung mit den literaturtheoretischen Prämissen der kuratorischen Arbeit auch wünschenswert ist – es gibt kein eindeutiges ›richtig‹ und ›falsch‹ einer Literaturausstellung; sie ist darin mit anderen Literaturbearbeitungen wie Verfilmungen oder TheaterInszenierungen zu vergleichen; sie stellt eine bestimmte Lektüre des Textes dar und entwickelt dabei eine eigene Ästhetik. Feuchtwangers Erfolg meint mit der »Provinz« im Untertitel zwar Bayern, nennt aber als Schauplatz selbst immer wieder die »bayrische Hochebene«16 und spielt tatsächlich größtenteils in München.17 Diese bayrische

16 L. Feuchtwanger: Erfolg, S. 59 und passim. 17 Zum Münchenbild des Romans vgl. meinen Aufsatz: Bachmann, Vera: »Die Hauptstadt der Provinz. München in Lion Feuchtwangers Roman Erfolg«, in: Waldemar Fromm/Manfred Kendlik/Marcel Schellong (Hg.), Kleine Literaturgeschichte Münchens, Vorauss. Regensburg: Pustet 2017.

K EIN S CHLÜSSEL ZUM E RFOLG ? | 133

Hochebene begrenzte als halbrund aufgezogenes Panorama (die Reproduktion einer Reliefkarte des zeitgenössischen Historien- und Panoramamalers Michael Zeno Diener) den ersten Raum der Ausstellung. Der Begriff des ›Panoramas‹ stammt dabei nicht aus dem Roman selbst, sondern aus der Analyse und taucht auch in der Forschungsliteratur immer wieder auf. Die ausgestellte Raumstruktur ist also eine Abstraktionsstufe weiter vom Romantext entfernt als etwa die Darstellung der Figurenkonstellation, für die wir uns, und das ist natürlich hinterfragbar, an eine paratextuelle Aussage des Autors selbst gehalten haben: »Als moderner deutscher Romanschriftsteller habe ich an einem Helden oder einer Heldin kein Interesse. Ich wählte für diesen Roman Gruppen von Charakteren und nicht Einzelindividuen. Acht der eine Gruppe bildenden Personen stehen, wenn man will, ein wenig höher als die anderen, ihnen folgen dreißig Gestalten, die ihnen an Wichtigkeit fast gleichkommen, und nach diesen weitere hundert, die unbedeutend sind, jedoch dem Werke jene Lebensfülle verleihen, die ich suche. Unter diesen – den acht, den dreißig und den hundert – rangiert die große Masse, das bayrische Volk.«18

Entsprechend haben wir einige der Figuren zeichnen und in Lebensgröße auf Platten aufziehen lassen. Sie hingen in Stehhöhe an dünnen Fäden in der Ausstellung, darüber, in der Optik von Spielmarken, die Symbole der ›Heimlichen Regenten‹ des Landes: Adel, Klerus, Bauernführer, Wirtschaft. Romanintern werden sie immer wieder als diejenigen gehandelt, die die Geschicke des Landes eigentlich in der Hand hätten; Johanna Krain klopft an jede ihrer Türen, um die Freilassung ihres Mannes zu bewirken. (Sie erweisen sich, nebenbei bemerkt, fast alle als Enttäuschungen – die einzige Instanz, die im Roman tatsächlich über Macht verfügt, ist die Wirtschaft.) Die Nebenfiguren, die Masse des bayrischen Volkes, haben wir am Boden verteilt: als Holzstumpen unterschiedlicher Größe – Stolperfallen hier wie bei der Lektüre des Romans.

18 Feuchtwanger, Lion: »Mein Roman ›Erfolg‹ (1931)«, in: Wolfgang Berndt (Hg.), Centum opuscula, Rudolstadt: Greifen 1956, S. 397.

134 | V ERA B ACHMANN

Abbildung 1: Erfolg: Ein Panorama der Gesellschaft

Quelle: unodue München. Foto: Costanza Pugliesi

AUFSPERREN STATT E NTSCHLÜSSELN Feuchtwangers Roman wurde von Beginn der Rezeption an als Schlüsselroman gehandelt. Im Archiv in L.A. fand sich eine handschriftliche Liste, die historische Vorbilder einiger Romanfiguren identifiziert; sie stammt allerdings nicht mit Sicherheit aus Feuchtwangers Hand.19 Da sie unter anderem die Zuordnung der Romanfigur Kutzner zu Hitler vornimmt, muss sie für einen recht unkundigen Leser gedacht gewesen sein, denn zumindest diese Entsprechung war für Zeitgenossen offensichtlich. Es wäre daher naheliegend, dem Schema der Entschlüsselung zu folgen und in der Ausstellung Fotografien der historischen Personen zu zeigen, als die die Romanfiguren identifiziert wurden. Dagegen spricht aber zweierlei: Zum einen hat Feuchtwanger die realen Vorbilder seiner Romanfiguren fiktionalisiert, mit anderen überblendet und auf das Typische reduziert. Der Roman zielt nicht 19 Die Liste ist im Katalog zur Ausstellung abgebildet: Wittmann, Reinhard (Hg.), Erfolg. Lion Feuchtwangers Bayern (= Hefte zu Ausstellungen im Literaturhaus München, Nummer 6), München: 2014, S. 10.

K EIN S CHLÜSSEL ZUM E RFOLG ? | 135

auf eine realistische Darstellung von Politikern, Industriellen oder Künstlern der Zeit, sondern, wie es in einer dem Romantext nachgestellten »Information« heißt, auf das ›Typische‹: »Kein einziger von den Menschen dieses Buches existierte aktenmäßig in der Stadt München in den Jahren 1921/24: wohl aber ihre Gesamtheit. Um die bildnishafte Wahrheit des Typus zu erreichen, mußte der Autor die photographische Realität des Einzelgesichts tilgen. Das Buch ›Erfolg‹ gibt nicht wirkliche, sondern historische Menschen.«20

Dazu kommt, dass eine Fotografie Hitlers heute zwangsläufig andere Assoziationen hervorruft als 1930. Während ein Bild Hitlers heute unweigerlich die Erinnerung an Holocaust und den Zweiten Weltkrieg evoziert, kann ihn Feuchtwanger noch als Witzfigur zeichnen, gefährlich zwar, aber nicht so sehr, als dass Vernunft und Kunst nicht über ihn siegen könnten. Feuchtwanger beschreibt die Gesellschaft der Jahre 1921 bis 1924 als Nachkriegsgesellschaft, die geprägt ist von den Gewaltexzessen während der Niederschlagung der Räterepublik, gebeutelt von der Inflation und durchzogen von neuen, aus der Demütigung der Niederlage erwachsenden Narzissmen. Während er seinen Roman in Berlin schrieb, war die NSDAP eine marginale Randpartei, die 1928 bei der Reichstagswahl gerade einmal 2,6 Prozent der Stimmen holte. Als der Roman druckfrisch in den Buchhandlungen lag oder gerade auf dem Weg dorthin war, im September 1930, gewann die Partei bei der Reichstagswahl 18,3 Prozent der Stimmen. Dem Roman war in Deutschland zunächst kein großer Erfolg beschieden. Der Zeitroman wendet selbst den darstellungstechnischen Kniff an, sich als historischen Roman zu inszenieren: er nimmt eine Perspektive aus dem Jahr 2000 ein, aus deren Rückblick die nationalistischen Umtriebe in München wie ein böser Spuk erscheinen. Heute kann er nicht mehr gelesen werden, ohne dass die Abgründe, die sich dazwischen auftaten, in den Blick geraten. Die Ausstellung hat dennoch versucht, etwas von der Perspektive eines Romans freizulegen, der die realen Folgen des von ihm beschriebenen Geschehens zwar ahnte, aber nicht prophezeien wollte. Für die Figuren hieß das, dass auf das Zeigen von Fotografien der ›Vorbilder‹ verzichtet wurde.

20 L. Feuchtwanger: Erfolg, S. 773.

136 | V ERA B ACHMANN

Stattdessen haben wir Feuchtwangers Ästhetik der Figurencharakterisierung in die Ausstellung zu übertragen versucht. Um im Getümmel der zahlreichen Figuren und Nebenfiguren nicht den Überblick zu verlieren, bediente er sich einer Art Leitmotivtechnik, die er vermutlich am Vorbild Thomas Manns entwickelt hat. So lenkt der Roman den Blick immer wieder auf die eckigen, ungepflegten Fingernägel von Johanna Krain, die rotbraune Gesichtsfarbe des Ministers Otto Klenk oder die zerschlissene Lederjacke Kaspar Pröckls. Das Typische, auf das Feuchtwanger eigener Aussage nach mit seinen Figuren zielte, zeigt sich auch in ihrer holzschnittartigen, teils karikierenden Beschreibung. Für die Ausstellung wurden die Figuren daher von Illustrator Dirk Schmidt entsprechend gezeichnet: holzschnittartig, an die zeitgenössische Ästhetik des Simplizissimus erinnernd. An dünnen Fäden wurden sie auch deshalb in der Ausstellung aufgehängt, um das Marionettenhafte darzustellen, das ihnen im Roman zukommt. Auf der Rückseite wurden in einem Text die zeitgenössischen Bezüge beschrieben und eine Reihe möglicher Vorbilder genannt, aber auch auf die Modifikationen eingegangen, die Feuchtwanger jeweils vornahm. Statt zu entschlüsseln und zu identifizieren haben wir so versucht, dem Besucher die Tür zu einer differenzierten Lektüre zu öffnen.

M ETONYMISCHE O RTE Die meisten Schauplätze der Romanhandlung sind Innenräume. Während der öffentliche Raum vorrangig Zwecken der Repräsentation und, mit Erstarken der Partei der ›Wahrhaft Deutschen‹, der Machtdemonstration dient, sind die eigentlichen Schauplätze des Romans die halböffentlichen Räume der zahllosen Wirtshäuser und Weinstuben, Biergärten und Vergnügungslokale. Hier trifft man sich, isst und trinkt, hier kommt man ins Gespräch; und kommuniziert wird in Erfolg vorrangig mündlich und (sehr) direkt. Gesellschaft ist in diesem Roman nicht von einer speziellen Art der Geselligkeit zu trennen, die über bestimmte Lokalitäten definiert wird. Der zweite Raum der Ausstellung war entsprechend den zentralen Orten des Romans gewidmet, die jeweils metonymisch für verschiedene Bereiche der Gesellschaft stehen, also etwa das Gefängnis als Ort der Justiz, die Gemäldegalerie als Ort der Kunst, die Gastwirtschaft als Ort der Politik. Die politisierte Justiz beispielsweise produziert vor allem unschuldig Inhaf-

K EIN S CHLÜSSEL ZUM E RFOLG ? | 137

tierte wie den Kunsthistoriker Krüger und auf freien Fuß gesetzte Verbrecher wie Rupert Kutzner, den Anstifter des Putschversuches. Das Interieur der Gefängniszelle stammte aus den 1920er Jahren und der Justizvollzugsanstalt Straubing.21 Für die Ausstellung haben die Gestalter Florian Wenz und Costanza Pugliesi dafür einen ›beklemmenden‹ Raum gebaut, der sich nach hinten verengt und dessen Decke nach unten abfällt – von außen sieht das Ganze aus wie ein schwarzer Sarg, der im Zentrum des Ausstellungsraums steht.22 Abbildung 2: Die Zelle verengt sich nach hinten

Quelle: unodue. Foto: Costanza Pugliesi

21 Im Gefangenentrakt selbst wurde eine Zelle im Originalzustand belassen, wohl um die Inhaftierten (und uns als Besucher) vom Unterschied zum modernen Justizvollzug zu überzeugen. Aura hatte sie zweifellos. 22 Es ist eine offene Frage, inwieweit eine solche Symbolik auch vom Zuschauer bemerkt wird. Ob es jemandem aufgefallen ist, dass die Rückseiten der Stelen spiegelten, so dass sich die Zuschauer als Teil dieses Bayern wahrnehmen konnten, das Feuchtwanger darstellte? Ich weiß es nicht, aber allein die Idee von unodue war großartig.

138 | V ERA B ACHMANN

Ein zweites Beispiel ist die Station Politik. Ob das Wirtshaus, der Herrenklub oder die Weinstube: die Räume der Gastlichkeit sind auch die Bühne der Politik – nicht der Landtag oder das Kabinett. Sie sind Orte, an denen sich verschiedene gesellschaftliche Kreise überschneiden. Sorgfältig seziert Feuchtwanger ihre jeweilige soziale Zusammensetzung. Jede Lokalität in diesem Roman folgt ihren eigenen unausgesprochenen Gesetzen, die von der Tisch- und Sitz- bis zur Redeordnung die Begegnung der Gesellschaftsschichten, der Parteien und Gruppierungen aufs Genaueste regeln. Und auch für die im Roman zahlreich vorkommenden Varietés und Kabaretts, Theater und Kinos, selbst für die Säle, in denen Kutzner, der Führer der ›Wahrhaft Deutschen‹, seine Auftritte hat, gilt: die Bühne, der Feuchtwangers eigentliches Interesse gilt, ist der Publikumsraum. Das zentrale Symbol der Station Politik war ein rustikaler Wirtshaustisch, der allerdings schief hing – über seine abschüssige Tischplatte rutschten Flugblätter als Repräsentanten der zahllosen politischen Gruppierungen der Zeit, die nach und nach im Nationalsozialismus aufgingen. An den einzelnen Stationen wurden rund um das zentrale Symbol auch Reproduktionen historischen Materials gezeigt: Statistiken, Haftberichte, Briefwechsel, aus denen Feuchtwanger zitierte, Polizeifotografien von Fememorden, die er fiktionalisierte, verschiedene Bilder, die als Anregungen für die Beschreibung der modernen Kunstwerke im Roman dienen mochten, die im konservativen Bayern einen Kunstskandal auslösen. Es ging dabei nicht darum, dem Roman eine wie auch immer geartete ›Wirklichkeit‹ gegenüberzustellen oder den historischen Hintergrund zu illustrieren – vielmehr sollte Feuchtwangers Arbeitsweise gezeigt werden. Dass er in Zeitungen und anderen Quellen recherchierte, schreibt er in der dem Roman nachgestellten »Information« selbst23 und markiert damit (wenn auch

23 »Ausführliche Berichte über die deutschen Einsperrungsanstalten jener Zeit sind uns erhalten in den Aufzeichnungen der Schriftsteller Felix Fechenbach, Max Hoelz, Erich Mühsam, Ernst Toller, die in solchen Anstalten untergebracht waren. Material über die Sitten und Gebräuche der altbayrischen Menschen jener Epoche findet sich in einer Zeitung, die damals in einem altbayrischen Orte namens Miesbach erschien, dem ›Miesbacher Anzeiger‹. Diese Zeitung ist in zwei Exemplaren erhalten; das eine befindet sich im Britischen Museum, das andere im Institut zur Erforschung primitiver Kulturformen in Brüssel.« L. Feuchtwanger: Erfolg, S. 773.

K EIN S CHLÜSSEL ZUM E RFOLG ? | 139

mit Augenzwinkern) einen Anspruch auf dokumentarische Genauigkeit, den viele Romane der Neuen Sachlichkeit erheben. Wie genau er aber mit dem historischen Material umging, wie er es zurechtschnitt und collagierte, überblendete und fiktionalisierte, das konnte man im Vergleich mit den Textpassagen auf dem Audioguide detailliert nachverfolgen. In der gesamten Ausstellung zeigten wir unter all den Reproduktionen nur ein einziges Original,24 allerdings eines, das trotz des akribischen Spürsinns der literaturwissenschaftlichen Forschung hinsichtlich Feuchtwangers ›Quellen‹ bisher übersehen wurde. Im Zentrum der Kunstdiskussion des Romans steht eine kleine Plastik, die der marxistische Künstler Kaspar Pröckl (eine Parodie auf Feuchtwangers Freund Bert Brecht) beim Besuch des in einer Irrenanstalt internierten Künstlers Franz Landholzer entdeckt: das »bescheidene Tier«, eine kleine Holzskulptur, geschnitzt aus einer Sofalehne. Sie zeigt ein »Tier von nicht näher bestimmbaren Formen, den großen, riesenäugigen flachen und breiten Kopf dem Beschauer zugewandt«.25 »Damals wurde ich zum Künstler geschlagen«,26 kommentiert der schizophrene Landholzer das Werk. Kaspar Pröckl hängt nach der Begegnung mit diesem Kunstwerk die eigenen künstlerischen Ambitionen an den Nagel und wandert nach Russland aus, um den Kommunismus tätig zu unterstützen. Das bescheidene Tier, das Landholzer ihm schenkte, wirft er zuvor ins Feuer. Feuchtwangers Hoffnungen auf einen Sieg der Kunst über den Irrsinn des Nationalsozialismus haben sich kurz nach Erscheinen seines Buches zerschlagen, sie mögen falsch gewesen sein. Aber das kleine Holzobjekt, ein Sinnbild der Kunst, es hat außerhalb des Romans Weltkrieg und Bundesrepublik überlebt. Wir haben es im Museum der Sammlung Prinzhorn des Universitätsklinikums Heidelberg entdeckt und als Leihgabe erhalten.27

24 Zugegebenermaßen gab es noch ein Auto aus den 1920er Jahren, das den Anteil der Moderne im Roman illustrierte und einem lebensgroßen Stier gegenüberstand, dem Sinnbild der urtümlichen Bayern. Es besaß allerdings nur eine illustrative Funktion, im Roman kommen viele Autos, aber nicht genau dieses vor. 25 Vgl. L. Feuchtwanger: Erfolg, S. 455. 26 Ebd. 27 Vgl. dazu meinen Artikel: Bachmann, Vera: »Lion Feuchtwanger und das bescheidene Tier«, in: Thomas Röske/Ingrid von Beyme (Hg.), Ungesehen und

140 | V ERA B ACHMANN

In unserer Ausstellung hatte es seinen Platz als letztes Original, als so bescheidener wie würdiger Anwärter auf die Aura von Kunst.

F AZIT Eine Ausstellung der immateriellen Dimensionen der Literatur ist nicht nur zwangsläufig eine Interpretation – sie ist auch ein Experiment. Zum einen, weil die Umsetzung eines Konzepts von vielen Faktoren abhängt. Angefangen von räumlichen Gegebenheiten, Licht und Atmosphäre über Leihkonditionen und Budgetzwänge bis hin zu Kompromissen der Teamarbeit beeinflussen die unterschiedlichsten Unwägbarkeiten die Ausstellung. Nicht alles gelingt wie geplant. Zum anderen ist eine Ausstellung auch deshalb ein Experiment, weil sie die Besucherinnen und Besucher auf vielen Ebenen anspricht und ihnen vielfältige Angebote macht: sie erlaubt ein flüchtiges Durchwandern ebenso wie ein stilles Vertiefen (es hat mich immer wieder erstaunt, wie oft Besucherinnen oder Besucher auf einem der Stühle sitzend sich konzentriert mit einzelnen Exponaten beschäftigten), sie spricht verschiedene Sinne (und diese oft simultan) an und nimmt Anleihen bei anderen Formen und Medien der Literaturbearbeitung: etwa dem Theater, dem Film oder dem Hörbuch. Im Vergleich zu diesen Einzelmedien erlaubt eine Ausstellung eine autonomere Rezeption: die Besucherinnen und Besucher bestimmen Verweildauer, Geschwindigkeit und Aufmerksamkeit weitgehend selbst. Insofern ist eine solche Ausstellung auch ein Vorschlag – in unserem Fall ein Vorschlag zu einer bestimmten Lektüre und Deutung des Textes. Ein solcher Vorschlag ruft damit Zustimmung, vermutlich aber auch mehr Widerspruch und Kritik als eine illustrative Ausstellung hervor. In jedem Fall ist sie eine Auseinandersetzung mit dem Roman. Und möglicherweise regt sie sogar zu einer eigenen Lektüre oder Relektüre an.

unerhört. Künstler reagieren auf die Sammlung Prinzhorn. Bd. 2: Literatur/Theater/Performance/Musik, Heidelberg: Wunderhorn 2014, S. 14-21.

Ein Text ist eine Insel? Oder: Praxisbericht. Literatur ausstellen als Experiment C AREN H EUER

I Das Buddenbrookhaus ist ein Ort der Literatur, sein Name macht es überdeutlich: Am Handlungsort des Weltbestsellers Buddenbrooks von Thomas Mann steht seit 1993 ein Literaturmuseum, das dem namensgebenden Roman in besonderer Weise verpflichtet ist. Das Museum, zugleich Stammsitz der Familie Mann, soll bis 2021 um sein Nachbargrundstück erweitert werden und eine völlig neue Dauerausstellung erhalten, die inhaltlich und szenografisch auf dem neuesten Stand ist und fortan der gesamten Schriftstellerfamilie Mann gewidmet ist. Die erweiterte Ausstellungsfläche ermöglicht es, über das Romangeschehen in Buddenbrooks hinaus dem literarischen Werk der Familie Mann museal zu begegnen, das mit Texten wie Heinrich Manns Der Untertan, Klaus Manns Mephisto und Golo Manns Wallenstein einige der einflussreichsten deutschsprachigen Texte des 20. Jahrhunderts umfasst – von Thomas Manns Œuvre gar nicht zu reden. Für das Narrativ der neuen Dauerausstellung ist die Trias Biografie – Zeitgeschichte – Literatur Struktur gebend. In circa zehn Stationen wird die Ausstellung das Leben der Familie Mann von der Geburt Heinrich Manns 1871 bis in die Gegenwart behandeln.

142 | C AREN H EUER

In den Stationen, die bestimmten Themen zugeordnet sind, sind es die Manns selbst, die ihre Geschichte erzählen. Der Besucher1 soll die Familie Mann als sprachgewaltige Chronistin des 20. Jahrhunderts kennen lernen, die Perspektive der Familie weitgehend einnehmen und so die Ereignisse, vom Ausbruch des Ersten Weltkrieges über den Reichstagsbrand bis hin zu den Nürnberger Prozessen und dem Kalten Krieg, unmittelbar und ungefiltert erleben. Schlüsselexponate haben die Funktion, das jeweilige Ausstellungsnarrativ in den einzelnen Stationen zu entfalten beziehungsweise in die jeweilige biografisch-historische Station einzuführen. Und die Literatur? Den jeweiligen Stationen sind sogenannte ›Literaturinseln‹ zugeordnet, die ihrerseits einzelnen literarischen Texten der Familie Mann zugewiesen sind. Die Schnittstelle zwischen biografisch-historischen Stationen und ›Literaturinseln‹ ist thematisch-assoziativ, weniger die Entstehungszeit eines Textes ist für seinen Standort als ›Literaturinsel‹ in der Ausstellung entscheidend als sein Inhalt, der sich, wie auch immer, zu der benachbarten biografisch-historischen Station inhaltlich, thematisch verhalten muss. Der Insel-Charakter betont aber zugleich die Eigenständigkeit der Literatur: Es geht nicht um Werkgenese und Textproduktion, nicht um Rezeptionsgeschichte, nicht um biografische Ausdeutung im Rückgriff auf den Autor – die ›Literaturinsel‹ will nicht weniger, als das Wesen der Literatur, die Fiktion, zu einer Erfahrung im Museumsraum machen. Szenografisch heißt das, dass die ›Literaturinseln‹ eine eigene Gestaltung aufweisen sollen, die sich von den historisch-biografischen Stationen auf den ersten Blick hin unterscheidet. Für ein Literaturmuseum ist der Ansatz der ›Literaturinsel‹ durchaus ambitioniert, präsentiert das Literaturmuseum doch traditionell Texte von und über Schriftsteller an einem biografisch für den jeweiligen Schriftsteller relevanten Ort – etwa Geburts- oder Sterbehaus. Der zugrunde gelegte Textbegriff wird im Literaturmuseum in der Regel weit gefasst, das heißt, Text ist alles, was semiotisiert ist, ein Schulzeugnis des Dichters ebenso wie die Erstausgabe seines berühmtesten Werks oder sein Schreibwerkzeug. Schon diese kurze Nennung möglicher Exponate deutet die enge Beziehung an, welche im Literaturmuseum üblicherweise zwischen dem lite-

1

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird im Text verallgemeinernd das generische Maskulinum verwendet. Diese Formulierungen umfassen gleichermaßen weibliche und männliche Personen.

E IN T EXT

IST EINE I NSEL ?

| 143

rarischen Corpus und der Autorbiografie hergestellt wird. Für Thomas Mann und die Seinen gilt das in besonderer Weise: Das schriftstellerische Werk der Familie Mann wird mit deren wechselvollen Lebensläufen enggeführt, und zwar so eng, dass die Biografien für die Literatur einstehen müssen. Derart gerät die Dichtung als eigenständiges Kunstprodukt in den Schatten des Privaten und Skandalösen: »Die Person des Autors rückt vor den Text. Er ist Siegel auf die Wahrhaftigkeit des Textes, mehr noch, die Person verdrängt den Text.«2 Entsprechend hat sich die Wissenschaft lange und vornehmlich über biografistische Lesarten den Texten von Thomas Mann zugewandt. Auch das Literaturmuseum befeuert derartige Textinterpretationen – nicht nur im Fall der Familie Mann, sondern grundsätzlich. Indem das Literaturmuseum beides will, Dichterleben und Literatur vermitteln, verkommt der literarische Text in der kuratorischen Praxis oft genug zur Illustration des ausgestellten Dichterlebens. Das Missverständnis geht leicht so weit, dass Literaturausstellungen Leben und Werk in eins setzen und Exponate des Autordaseins vom Füller bis zur Tabaksdose als Authentifizierungsversuche heranziehen. Hierbei ist der Einfluss von Epitexten, etwa im Nachlass überlieferten Briefen und Tagebüchern, immens, indem ihnen die Aufgabe zukommt, den ›wahren Kern‹ eines Textes und/oder die Intention des Autors zu enthüllen. Ist dem zu entkommen? Oder handelt es sich um ein primär akademisches Anliegen, die Identität von Leben und Werk zurückzuweisen, das aber an dem Interesse des Besuchers, Zusammenhänge zwischen Fiktion und Leben erkennen und verstehen zu wollen, vorbei geht? Wie würden sich Literaturausstellungen und Dichterhäuser verändern, würde das Postulat vom Tod des Autors in der Ausstellung Berücksichtigung finden? Besteht im Literaturmuseum überhaupt die Möglichkeit, sich vom »Autor-Gott« und seiner Botschaft3 zu verabschieden?

2

Delabar, Walter: »Der Autor als Repräsentant, Thomas Mann als Star. Aufstieg und Niedergang der öffentlichen Funktion des Autors im 20. Jahrhundert«, in: Gunter E. Grimm/Christian Schärf (Hg.), Schriftsteller-Inszenierungen, Bielefeld: Aisthesis 2008, S. 86-102, hier S. 99.

3

Barthes, Roland: »Der Tod des Autors«, in: Fotis Jannidis/Gerhard Lauer/Matias Martinez/Susanne Vinko (Hg.), Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart: Reclam 2000, S. 185-193, hier S. 190.

144 | C AREN H EUER

Das Buddenbrookhaus prüft sein Konzept für die neue Dauerausstellung seit 2015 in jährlichen Laborausstellungen. Diese experimentellen Sonderausstellungen erproben bestimmte Aspekte der neuen Dauerausstellung, die das Buddenbrookhaus nach seinem Umbau präsentieren wird. Die Besucherresonanz der Laborausstellungen wird in gesonderten Evaluationen mittels Fragebogen und teilnehmender Beobachtung erhoben und excel-basiert ausgewertet. Damit erhalten die Kuratoren ein direktes Feedback zu konzeptuellen Ausstellungsentscheidungen, die reflektiert und gegebenenfalls modifiziert werden können. Wählte die Laborausstellung Erzähl mir Meer! (Kuratorin: Dr. Caren Heuer, Gestaltung: HFBK Hamburg) 2015 einen Zugriff, Literatur über Sound, Licht, Wind und Schrifttext zur konkreten Ausstellungserfahrung zu verdichten, versuchte Fremde Heimat 2016 (Kuratorin: Anna-Lena Markus, Gestaltung: drej), literarische Texte im Ausstellungsraum ebenfalls zu einem sinnlichen und interaktiven, gleichwohl aber haptischen und weniger abstrakten Ausstellungserlebnis zu machen. Kurzum: Der Anspruch der Ausstellung Fremde Heimat war es, das Konzept der ›Literaturinseln‹ beispielhaft an vier literarischen Werken zu testen, die unterschiedlicher kaum sein könnten: Thomas Manns Mario und der Zauberer4, Klaus Manns Mephisto5, Heinrich Manns Henri Quatre6 und Thomas Manns Doktor Faustus7. Der Literaturbegriff war innerhalb der Inseln eng gefasst, weder wurde die Entstehung eines Werks erläutert, noch biografische Zusammenhänge diskutiert oder Rezeptionszeugnisse in die Schau integriert: Die Literatur wurde auf sich selbst zurückgeworfen, interpretiert und in eine neue Sprache, die Sprache der Ausstellung, über-

4

Mann, Thomas: Mario und der Zauberer. Ein tragisches Reiseerlebnis (1930), in: Ders., Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Bd. VIII: Erzählungen. Fiorenza. Dichtungen, Frankfurt a.M.: S. Fischer 1990, S. 658-711.

5

Mann, Klaus: Mephisto. Roman einer Karriere (1936). 11. Auflage, Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 2006.

6

Mann, Heinrich: Die Jugend des Königs Henri Quatre (1935), Frankfurt a.M.: S. Fischer 2010, S. 293-295.

7

Mann, Thomas: Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde (1947), in: Ders., Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher. Bd. 10.1, Frankfurt a.M. S. Fischer 2007.

E IN T EXT

IST EINE I NSEL ?

| 145

setzt. Um diese Übersetzung und um ihre Bewertung, um die Grenzen und Chancen der neuen Sprache, soll es im Folgenden gehen.

II Die Ausstellung Fremde Heimat. Flucht und Exil der Familie Mann (24.06.2016-07.01.2017, Buddenbrookhaus, Lübeck) erzählte vom Exil der Familie Mann auf der Flucht vor dem Nationalsozialismus, von Fluchtwegen, vom politischen Engagement, vom Ringen mit der neuen und mit der alten Heimat, von Heimweh und Heimatlosigkeit, von neuen Chancen und vom Scheitern in der Fremde. Die Emigration der Familie Mann war eine erzwungene; in dem von Hitler ausgerufenen ›Dritten Reich‹ war kein Platz für die Freiheit des Geistes und des Lebens, welches die einzelnen Familienmitglieder in unterschiedlicher Weise repräsentierten und für sich in Anspruch nahmen. Allein der Grad der Bedrohung unterschied sich: Heinrich Mann entrann einer Verhaftung buchstäblich in letzter Minute, mit kaum mehr als einem Regenschirm angetan und nur wenige Tage nach der ›Machtergreifung‹. Thomas Mann hingegen wurde erst ausgebürgert, als er sich nach drei Jahren im schweizerischen Exil öffentlich gegen den Nationalsozialismus bekannte. Die Ausstellung Fremde Heimat setzt aber schon vor Hitlers Aufstieg zum Reichskanzler ein, nämlich mit dem Gefühl der Bedrohung, mit einer Atmosphäre des sich zusammen brauenden Unglücks, mit Thomas Manns Novelle Mario und der Zauberer (1930).

146 | C AREN H EUER

Abbildung 1: Mario und der Zauberer

Quelle: ©Buddenbrookhaus, Fotograf: Kai Nielsen

Der Besucher steht zunächst vor einer Box aus Holz, deren optische Ähnlichkeit mit Schiffskisten im Sinne von flucht- und exilbedingten Überfahrten gewollt war. Der Zugang der Box ist durch einen schwarzen Vorhang geschlossen; der Besucher weiß nicht, was sich hinter dem Vorhang verbirgt. Einziger Hinweis könnte dem Besucher der kleine Glaskasten an der Außenwand der Holzbox sein, worin sich der Erstdruck von Mario und der Zauberer befindet. Die Erstausgabe ist durch eine kurze Zusammenfassung der Novelle ergänzt. Aber keine Handlungsanweisung sagt dem Besucher, was zu tun ist. Der Besucher ist auf sich gestellt, leise Musik dringt aus der Box an sein Ohr; neugierig geworden, lüftet er den Vorhang der Box und übertritt die Schwelle. Dieser Übertritt katapultiert den Besucher direkt in den Text, der seinerseits von der Grenzüberschreitung erzählt, den freien Willen von Individuen zu brechen – ausgestellt auf einer Bühne und zur

E IN T EXT

IST EINE I NSEL ?

| 147

Belustigung eines sadistisch-voyeuristischen Publikums. Der Besucher wird beim Betreten zum Teil des Geschehens, zum Teil des literarischen Textes – dies in konsequenter Übertragung der Erzählperspektive auf den Raum, die dadurch gekennzeichnet ist, die vierte Wand zu durchdringen, also den Leser direkt anzusprechen. Analog zur Erzählhaltung löst die ›Literaturinsel‹ Mario und der Zauberer die Grenze zwischen einem literarischen Innen und nicht-literarischen Außen auf. In der Box, im Text also, sieht sich der Besucher einer projizierten, strahlenden Sonne gegenüber; die Hitze scheint auf der Leinwand zu flimmern. Textkundige Leser werden sich an die »afrikanische Hitze« der Novelle, »an die Schreckensherrschaft der Sonne« und die »Ungebrochenheit des Lichts«8 im Sommerurlaub an der italienischen Küste erinnern, von dem die Novelle berichtet. Die Besucher, die den Text nicht kennen, werden von der zur Mitnahme bereitgestellten Zusammenfassung informiert: »Eine Familie verbringt ihren Sommerurlaub in Italien. […] Die Hitze ist unerträglich […].«9 Wenn der Besucher den Film, der ihm ungefähr in Kniehöhe inmitten der Box respektive ›Literaturinsel‹ zur Ansicht geboten wird, sehen will, muss er sich, um das Gezeigte erkennen zu können, vor der Sonne verbeugen. Derart wiederholt sich szenografisch die Hypnose, durch die der Zauberer der Novelle den Willen seiner Probanden bricht. Als zentrale Textstelle, die gleichfalls dem Besucher zum Mitnehmen im Innern der Box bereitsteht, inszeniert die ›Literaturinsel‹ die Hypnose eines römischen Herrn, den der Zauberer Cipolla gegen dessen Willen zum Tanzen bringt. In gleicher Weise unbemerkt zwingt die Ausstellung den Besucher nicht zum Tanzen, aber doch in eine bestimmte Körperhaltung. Nimmt der Besucher die, ihm gestalterisch nahegelegte, gebeugte Haltung ein, sieht er in einem Monitor die Aufnahme einer Pferdedressur – die Ausstellung weist den Besucher mit dem Dressurfilm in einer deiktischen Geste darauf hin, was in Thomas Manns Mario und der Zauberer passiert und was die Ausstellung wiederholt: Manipulation und Verführung, um so die Frage nach dem freien Willen aufzuwerfen. Gibt es einen freien Willen? Oder gibt es ihn nicht? Im Hintergrund steigert der Sound der ›Literaturinsel‹ Tarantellarhythmen

8

Th. Mann: Mario und der Zauberer, S. 664.

9

Buddenbrookhaus. Heinrich-und-Thomas-Mann-Zentrum (Hg.): Fremde Heimat. Flucht und Exil der Familie Mann. Das Magazin zur Ausstellung, Lübeck: o.V. 2016, S. 59.

148 | C AREN H EUER

zur enervierenden Marschmusik; wenig subtil, und darin der Novelle ausgesprochen ähnlich, spielt die Klangcollage in Verbindung mit dem Rest der ›Literaturinsel‹ auf den Zusammenhang an zwischen dem italienischen Faschismus, an dem sich der deutsche Nationalsozialismus orientiert, und dem Verhältnis von Führer/Zauberer und hypnotisierter Masse/verführtem Publikum. Abbildung 2: Mephisto

Quelle: ©Buddenbrookhaus, Fotograf: Kai Nielsen

Der Besucher, der seinen Ausstellungsbesuch mit der ›Literaturinsel‹ Mario und der Zauberer beginnt, wird emotional angesprochen, gewissermaßen ›in Stimmung gebracht‹ für alles Weitere in der Ausstellung, zunächst für Hitlers Ernennung zum Reichskanzler, für die Eskalation der Gewalt gegen Oppositionelle und Juden und für das Ende der Demokratie, die im Reichstag buchstäblich in Flammen aufgeht. In Originalzitaten erzählt die Ausstellung, wie die Familie Mann emigrierte und sich im Exil mit der Frage konfrontiert sah, ob und wie man sich gegen die neuen Machthaber des ›Dritten Reichs‹ engagiert. Hat sich der Besucher gerade noch Vitrinen mit prominenten Exilzeitschriften, an denen unterschiedliche Mitglieder der Familie Mann mitwirkten, gegenüber gesehen, lädt ihn die nächste ›Literaturinsel‹ zum Betreten ein. Sie gleicht ebenfalls einer Schiffskiste, auch an ihr befin-

E IN T EXT

IST EINE I NSEL ?

| 149

det sich eine Textzusammenfassung des Romans, der als Erstausgabe neben dem Eingang in die ›Literaturinsel‹ zu betrachten ist: Mephisto. Roman einer Karriere (1936) von Klaus Mann. Der Eingang ist durch schwere rote Vorhänge markiert; der Besucher betritt eine golden leuchtende Box, in der nichts hängt als ein großer Spiegel, umrahmt von Glühbirnen, vor dem auf einem schmalen Brett ein Glas Wasser steht. Die Assoziation ist klar und intendiert; der Besucher befindet sich in einer Künstlergarderobe, in der er sich selbst im Spiegel sieht – kommentiert durch den Roman: »Da stand er in all seiner Grösse und funkelnden Fülle.«10 Um jedoch in die Garderobe zu gelangen, muss der Besucher über einen roten Teppich schreiten, auf den in weißen Lettern »ÜBER LEICHEN«11 gedruckt ist. Selbst wer Klaus Manns Schlüsselroman nicht kennt, der für alle Zeit mit dem Namen Gustaf Gründgens verbunden sein wird, kann den Text durch die szenografische Verräumlichung erfassen. Ein Künstler macht Karriere, indem er über Leichen geht. Als zentrale Textstelle wählt die ›Literaturinsel‹ den Pakt zwischen dem Künstler Hendrik Höfgen, bereits im Kostüm des Mephisto, und dem Repräsentanten des neuen Reichs, einem Göring nachempfundenen Fliegergeneral. In der Pause einer Faust-Aufführung kommt es in einer Loge zum Handschlag des Bösen in Generaluniform und dem Schauspieler in der Uniform des Bösen – neugierig bestaunt vom Theaterpublikum. Die Szene endet mit einem zweifelnden Künstler Höfgen: »Jetzt habe ich mich beschmutzt. […] Jetzt habe ich einen Flecken auf meiner Hand, den bekomme ich nie mehr weg…Jetzt habe ich mich verkauft…Jetzt bin ich gezeichnet!«12 Die Wiederholung ›jetzt, jetzt, jetzt, jetzt‹ markiert den Moment der Entscheidung Höfgens, sich mit dem Bösen gemein zu machen, um so zu künstlerischem Ruhm zu gelangen. Doch der Besucher sieht im Spiegel der ›Literaturinsel‹ nicht Hendrik Höfgen, sondern sich selbst. Die Ausstellung zieht den Besucher in den Text und fragt: Was tätest du? – Welche Möglichkeiten es geben könnte, deuten die Glühbirnen des Garderobenspiegels an, die einzelne Namen tragen. Manche leuchten hell, wie etwa die Glühbirne Gustaf Gründgens, der sein Licht den Nazis zur Verfügung stellte; andere Birnen sind erloschen, darunter die Erich Kästners, der Deutschland nicht verließ, sich aber in die sogenannte ›innere Emigration‹

10 K. Mann: Mephisto, S. 285. 11 So der Titel des 8. Kapitels in K. Mann: Mephisto. 12 Ebd., S. 263.

150 | C AREN H EUER

zurückzog; andere Lampenfassungen sind leer, von ihnen trägt eine den Namen Anna Seghers, die emigrierte und deren Licht in Deutschland aufhörte zu leuchten. Verlässt die ›Literaturinsel‹ hier ihr Ziel, von nichts als der Fiktion zu erzählen? – Nein. Klaus Manns Text ist seit seinem Erscheinen beim Exil-Verlag Querido im Herbst 1936 konsequent als Schlüsselroman gelesen worden.13 Die Frage, ob der Mephisto reale Personen literarisch verschlüsselt hat und zugleich Texthinweise zur Dechiffrierung liefert, gehört zur Rezeptionsgeschichte des Romans, der Jahrzehnte umfassende Rechtsstreitigkeiten auslöste.14 Insofern scheint es legitim und vielleicht sogar geboten, in der ›Literaturinsel‹ zum Mephisto den realhistorischen Bezug der Figurenkonstitution anzudeuten. Der eigentliche Clou der ›Literaturinsel‹ Mephisto besteht jedoch weniger im »erzählerische[n] Kalkül«15 des Textes, als Schlüsselroman gelesen zu werden, sondern im möglichen doppelten Zugang zur ›Literaturinsel‹; der Besucher kann die ›Literaturinsel‹ von vorne betreten, sprich durch den skizzierten roten Vorhang und »über Leichen« schreiten, oder aber von hinten. Wählt er den hinteren Eingang der ›Insel‹, trennt ihn eine Glasscheibe von der goldenen Künstlergarderobe des vorderen Teils. Der Besucher blickt in den Garderobenraum hinein, sieht womöglich andere Besucher, doch diese sehen ihn nicht: Der Spiegel ist ein Polizeispiegel, auch bekannt als Einwegspiegel oder Venezianischer Spiegel. Das hat zur Folge, dass der Besucher hinter dem Spiegel unbemerkt in die Garderobe hineinblicken kann, er beobachtet die Anderen, ohne selbst gesehen zu werden. Zugleich fungiert der Spiegel als Trennung, als hermetische Grenze zwischen Beobachteten und Beobachtendem. Der Besucher hinter dem Spiegel teilt die Situation des Mephisto-Erzählers, das Geschehen von außen zu betrachten und zu beschreiben, ohne aktiv eingreifen zu können. Zugleich nimmt der Besucher die moralisch überlegenere Position des Erzählers ein; die ›Ande-

13 Vgl. Braese, Stefan: Das teure Experiment. Satire und NS-Faschismus, Opladen: Westdeutscher Verlag 1996, S. 119. 14 Vgl. Anders, Ralf Peter/Dittmann, Britta: »›In Deutschland wird es verboten und verschlungen werden‹ – Die (Prozess)Geschichte von Klaus Manns Mephisto«, in: Schleswig-Holsteinische Anzeigen (2007), S. 458-465. 15 Rösch, Gertrud Maria: Clavis Scientiae. Studien zum Verhältnis von Faktizität und Fiktionalität am Beispiel der Schlüsselliteratur, Tübingen: Niemeyer 2004, S. 221.

E IN T EXT

IST EINE I NSEL ?

| 151

ren‹, zu denen Hendrik Höfgen gehört, stehen unter Verdacht, befinden sich – der Polizeispiegel evoziert diese Interpretation – gewissermaßen im Verhörraum des Präsidiums, in dem das in der Vernehmung Gesagte protokolliert und das Verhalten des (mutmaßlichen) Delinquenten genau beobachtet wird. Diese Position kennzeichnet nicht nur die Erzählhaltung im Mephisto, sondern auch die Außenperspektive des emigrierten Klaus Mann, der von Paris und Amsterdam aus beobachtet, wie der ehemalige Freund und ExSchwager Gustaf Gründgens im ›Dritten Reich‹ Karriere macht. In der Ausstellung Fremde Heimat bekommt der Besucher somit die Möglichkeit, die Erzählperspektive des Romans räumlich zu erfahren und damit die moralische, anklagende Haltung des Erzählers – und des Autors Klaus Mann – einzunehmen, wohingegen er in der beobachteten Künstlergarderobe Hendrik Höfgens selbst zum Verdächtigen wird. Abbildung 3: Die Jugend des Königs Henri Quatre

Quelle: ©Buddenbrookhaus, Fotograf: Kai Nielsen

Auch Heinrich Manns Die Jugend des Königs Henri Quatre (1935) erschien im Exil. Die Parallelen der Romanhandlung zur politischen Situation im nationalsozialistischen Deutschland liegen nicht ganz so sehr auf der Hand wie im Fall von Klaus Manns Mephisto, da der Roman im 16. Jahrhundert spielt und von den blutigen französischen Glaubenskriegen erzählt.

152 | C AREN H EUER

Ausführlich dargestellt sind die Ereignisse der Bartholomäusnacht, auch bekannt als Pariser Bluthochzeit, die als Heirat des protestantischen, späteren Königs Henri Quatre und der katholischen Medici-Tochter Margarete von Valois darauf abzielte, den Glaubenskrieg zwischen Hugenotten und Katholischer Liga zu befrieden, aber in einem Massaker endete. Diesem zentralen Textmoment widmete sich die ›Literaturinsel‹ Henri Quatre: In einem mannshohen Holzkasten ist Francois Dubois’ berühmtes Gemälde Le massacre de la Saint-Barthélemy (ca. 1572-84) zu sehen. Der Ausstellungsbesucher blickt auf das Bild wie in einem Schaukasten, er kann die ›Literaturinsel‹ erstmals nicht betreten, aber die Details des Pogroms trotzdem genau erkennen. Nimmt der Besucher den gewählten Textauszug zur Hand, der sich am Schaukasten befindet, fällt ihm auf, dass der Roman Details von Dubois’ Gemälde exakt widergibt und erzählerisch ausdeutet. Zugleich teilt der Besucher den Beobachterposten einer Romanfigur, konkret des inhaftierten Henri der Zeuge des Pariser Blutrauschs ist. Der Besucher sieht, was Henri sieht, wird aber vom Erzähler zunächst auf Distanz gehalten, der vom Vergangenen berichtet und seine kommentierend-reflexive Haltung nicht aufgibt. Erst im letzten Absatz des ausgewählten Textausschnitts nehmen die personalen Erzählelemente auf Kosten der auktorialen zu, der Tempuswechsel ins Präsens suggeriert die Unmittelbarkeit des Geschehens. Dennoch, der auktoriale Erzähler bleibt anwesend, er bedient sich der Reflektorfigur Henri nur punktuell und primär, um den Anschein von Direktheit und Authentizität des Erzählten zu vermitteln. Die ›Literaturinsel‹ wird beiden Erzählperspektiven gerecht; so wie der Ausstellungsbesucher die Seinswelt des allwissenden Erzählers nicht teilt, sondern sich von ihm über eine weit zurück liegende Vergangenheit berichten lässt, so bleibt er vom Romangeschehen ausgeschlossen: Die ›Literaturinsel‹ kann nicht betreten werden, die Handlung bleibt entrückt. Das entspricht auch der artifiziellen Sprache des Romans und den in den Text eingefügten französischen ›Moralités‹ insgesamt – beides schafft eine Distanz zum Leser.16 Andererseits bauen, wie oben skizziert, eingesetzte Reflektorfiguren, personale Erzählelemente und detailgenaue, atmosphärisch dichte Darstellungen eine

16 Vgl. Markus, Anna-Lena: »›Fremde Heimat. Flucht und Exil der Familie Mann‹. Zur Einführung in die Ausstellung«, in: Buddenbrookhaus. Heinrichund-Thomas-Mann-Zentrum, Fremde Heimat. Flucht und Exil der Familie Mann (2016), S. 8-15, hier S. 13.

E IN T EXT

IST EINE I NSEL ?

| 153

Brücke zum Leser, die ihn nicht zum Bestandteil, aber doch zum Zeugen des Geschehens machen. Mit Blick auf Dubois’ Gemälde avanciert der Ausstellungsbesucher zum Augenzeugen der Bartholomäusnacht gleich Manns Henri, der dem Massaker ohnmächtig zusieht: »Henri will aufschrein, der Laut kommt nicht. Er will eine Bewegung machen, eine Waffe holen und hinunterschießen.«17 Und der Besucher? Dem bleibt nur zu sehen, zu lesen und einen Lichtschalter zu bedienen, der am Äußeren des Schaukastens angebracht ist und mit dem Roman-Zitat »He! Licht«18 überschrieben ist. Drückt der Besucher den Knopf, tanzen Begriffe wie ›Vernunft‹, ›Güte‹ und ›Verantwortung‹ in leuchtenden Buchstaben über das historische Blutbad, um bald danach wieder zu verschwinden. Es ist also der Besucher selbst, der das Licht der Aufklärung betätigen und der Gewalt humanistische Werte entgegensetzen muss. Wie Henri muss der Besucher in Aktion treten, um das Licht der Humanität leuchten zu lassen; erst in seinen Handlungen zeigt sich der gute König, erst in der Tat erweist sich der gute Mensch. Henrich Mann hat seinen Roman rückwirkend als »ein Gleichnis«19 bezeichnet für den Kampf zwischen den Nationalsozialisten, dargestellt in der Katholischen Liga, und den Antifaschisten. Zahlreiche Textstellen evozieren eine solche Interpretation, indem sie sich zum Beispiel der Sprache des ›Dritten Reichs‹ und seines Figurenarsenals bedienen. Obwohl im Gewand des Historienromans verortet sich der Text überdeutlich im von Hitler bedrohten Europa. Auch Thomas Manns Doktor Faustus ist konsequent vor der Folie des Nationalsozialismus und seinen Wurzeln gelesen und interpretiert worden; Thomas Mann selbst sprach von dem »Teufelspakt als eine tief-altdeutsche Versuchung«20 und kennzeichnete so den Faust-Stoff als

17 H. Mann: Henri Quatre, S. 295. 18 Ebd., S. 247. 19 Mann, Heinrich: »Ein Zeitalter wird besichtigt«, in: Akademie der Künste der Deutschen Demokratischen Republik (Hg.), Gesammelte Werke. Bd. 24, Berlin/Weimar: Aufbau 1973, S. 456. 20 Mann, Thomas: »Warum ich nicht nach Deutschland zurückgehe«, in: Ders., Gesammelte Werke, Band XII: Reden und Aufsätze 4, Frankfurt a.M.: S. Fischer 1990, S. 953-962, hier S. 957.

154 | C AREN H EUER

»Schlüssel zum Verständnis deutschen Geistes und deutschen Verhängnisses«21. Abbildung 4: Doktor Faustus

Quelle: ©Buddenbrookhaus, Fotograf: Kai Nielsen

Die ›Literaturinsel‹ zum Doktor Faustus konzentriert sich auf diesen Aspekt und wählt die Rahmenhandlung des Romans als Ausgangspunkt der musealen Inszenierung: Nur sie, nicht die Binnenerzählung, kann der Ausstellungsbesucher betreten, er teilt allein die Position ihres Erzählers 21 Münkler, Herfried: »Wo der Teufel seine Hand im Spiel hat. Thomas Manns Deutung der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts«, in: Werner Röcke (Hg.), Thomas Mann: ›Doktor Faustus‹. 1947-1997. 2. Auflage, Bern u.a.: Lang 2004, S. 89-108, hier S. 91.

E IN T EXT

IST EINE I NSEL ?

| 155

Serenus Zeitbloms, der die Geschichte Adrian Leverkühns schildert, während Deutschland in Trümmer fällt. An den Wänden der ›Literaturinsel‹ sieht der Besucher Bilder vom zerstörten Deutschland, genauer von Berlin, München und Lübeck. Die Orte sind nicht zufällig gewählt; die Hauptstadt Berlin repräsentiert das ›Dritte Reich‹ ebenso wie den künstlerischen Schmelztiegel der Roaring Twenties, als Heinrich Mann und sein Neffe Klaus zur Berliner Avantgarde gehörten. München hingegen ist der jahrzehntelange und letzte Wohnort der Familie Thomas Mann in Deutschland und zugleich ›Hauptstadt der Bewegung‹; Lübeck wiederum führt als Herkunftsort der Schriftstellerfamilie Mann mit seiner großen hanseatischen Tradition sowohl Weltoffenheit als auch kulturelle Schaffenskraft mit sich. Aber auch Zerstörung wird von den zeitgenössischen Romanlesern mit Lübeck assoziiert, gilt doch Lübecks Bombardierung in der Nacht auf Palmsonntag 1942 als Reaktion auf die deutsche Zerstörung Coventrys und als Auftakt einer neuen Kriegsstrategie: Flächenbombardierung. Dieser fielen in Lübeck zwei Drittel der mittelalterlichen Altstadt mit ihrer berühmten Backsteingotik zum Opfer.22 Zugleich kann der Romanort des Doktor Faustus, Kaisersaschern, von aufmerksamen Lesern recht mühelos mit Lübeck identifiziert werden, was »Lübeck mit seiner tief im gotischen Mittelalter wurzelnden Geschichte zum Ort des Teufelspakts, eines Deutschtums, das mit einer gewissen geschichtlichen Notwendigkeit in die nationalsozialistische Katastrophe mündet«23, erhebt. Inmitten der ›Literaturinsel‹ liegen zertrümmerte Betonbuchstaben, die das Wort ›Kultur‹ bilden. Plakativ stellt die Ausstellung die Zerstörung der deutschen Städte, den Niedergang der deutschen Kultur heraus. Die Zusammenhänge der komplexen Romanbe-

22 Vgl. Wilde, Lutz: Bomber gegen Lübeck. Eine Dokumentation der Zerstörungen in Lübecks Altstadt beim Luftangriff im März 1942, Lübeck: Schmidt-Römhild 1999. 23 Vgl. von Schirnding, Albert: Die 101 wichtigsten Fragen. Thomas Mann, München: C.H. Beck 2008, S. 78. Mit Kaisersaschern war nicht allein und konkret Lübeck gemeint, sondern vielmehr der Typus einer bestimmten mittelalterlichen deutschen Stadt. Vgl. Wißkirchen, Hans: »Verbotene Liebe. Das DeutschlandThema im Doktor Faustus«, in: Ders./Thomas Sprecher (Hg.), ›und was werden die Deutschen sagen??‹. Thomas Manns Doktor Faustus, Lübeck: Dräger 1997, S. 179-209.

156 | C AREN H EUER

züge aber kann die ›Literaturinsel‹ nur andeuten, die Zerstörung der deutschen Kultur und Baukunst findet ihre Ursache in sich selbst. Ihren Zusammenbruch erfährt die deutsche Kultur in der ›Literaturinsel‹ Doktor Faustus direkt auf Albrecht Dürers ›Magischem Quadrat‹ aus Dürers Kupferstich Melencolia I, dessen Zahlen in jede Richtung addiert 34 ergeben. Im Roman hat das ›Magische Quadrat‹ eine leitmotivische Funktion; es hängt im Arbeitszimmer von Adrian Leverkühn, es korrespondiert mit der hermetischen Konstruktion der Zwölftonmusik, die Leverkühn ersinnt, ebenso wie mit Aufbau und Struktur des Romans24. Über dem ›Magischen Quadrat‹ und der am Boden liegenden deutschen Kultur hängen in der Ausstellung überdimensioniert große Augen, die aus ihren Höhlen zu treten scheinen und den Besucher fixieren. Es ist der Wahnsinn, der über der Szenerie schwebt, und dem Adrian Leverkühn anheimfällt, als er den Teufelspakt bricht und seinen geliebten Neffen verliert. Noch bevor Leverkühn, der verrückt genug war, sich absichtlich mit Syphilis zu infizieren, um geniale Musik schreiben zu können, in die geistige Umnachtung fällt, komponiert er sein bestes Stück Dr. Fausti Weheklang. Will der Besucher einen Eindruck von diesem Stück in Zwölftontechnik bekommen, kann er die Audiostation in der ›Literaturinsel‹ nutzen und über Kopfhörer Adolf Schönbergs Zwölftonmusik in einer Aufnahme des Deutschen Symphonie-Orchesters von 1935 hören. Die ›Literaturinsel‹ zum Doktor Faustus erweitert die Übersetzung vom literarischen Text in den dreidimensionalen Raum – wie auch die ›Literaturinsel‹ Mario und der Zauberer – um ein auditives Medium, so dass Literatur mit einem weiteren Sinn erfahren werden kann.

III »Ein interessantes Experiment« nannte Isabel von Wilcke in der FAZ den Versuch des Buddenbrookhauses, in der Ausstellung Fremde Heimat Literatur abseits der gängigen Ausstellungspraktiken museal zu inszenieren.25

24 Vgl. Schneider, Thomas: Das literarische Porträt. Quellen, Vorbilder und Modelle in Thomas Manns Doktor Faustus, Berlin: Frank und Timme 2005, S. 219. 25 von Wilcke, Isabel: Herzasthma eines Vertriebenen, in: FAZ vom 23.08.2016. Vgl. https://buddenbrookhaus.de/de/Presseberichte#inhalt vom 27.02.2017.

E IN T EXT

IST EINE I NSEL ?

| 157

Was aber der Film einer Pferdedressur mit der Novelle Mario und der Zauberer zu tun haben könnte, blieb von Wilcke rätselhaft. Man ist geneigt anzunehmen, dass von Wilcke, den ausgewählten Textauszug in der ›Literaturinsel‹ nicht gelesen hat, der doch nichts anderes als eine Menschendressur beschreibt: Der Zauberer lässt eine Peitsche knallen, die Versuchsperson wehrt sich entschlossen gegen den fremden Willen, um schließlich doch vor den Augen des Publikums zu unterliegen: »So war es, das Zucken und Zerren im Körper des Widerspenstigen nahm überhand, er hob die Arme, die Knie, auf einmal lösten sich alle seine Gelenke, er warf die Glieder, er tanzte […]. Man sah nun das Gesicht des Unterworfenen […].«26 Es wurden jedoch weitere hundert Ausstellungsbesucher zur Schau befragt und nur eine Minderzahl konnte die Transferleistung vom Textzitat zum Ausstellungsraum, zur jeweiligen ›Literaturinsel‹ herstellen. Dieses Unvermögen war vielfach dem Umstand geschuldet, dass der Text nicht gelesen wurde. Textunkundige wussten also häufig, die ›Literaturinseln‹ nicht zu entschlüsseln, wohingegen die Kenner der Texte ihre Freude daran hatten, das Rätsel der ›Literaturinseln‹ nach dem Motto ›Was will uns der Kurator damit sagen?‹ zu lösen. Es war also zumindest gelungen, einen Denkprozess zu initiieren: »Man sieht oder erlebt etwas, das man nicht einordnen kann. Sofort beginnt man nach einer Erklärung zu suchen. In dieser Bewegung entsteht Denken.«27 In dem Bedürfnis, einem Rätsel auf die Spur kommen zu wollen, wurden die Besucher aber enttäuscht, präsentierte das Buddenbrookhaus doch allein einen Interpretationsansatz, der bewusst nicht festgeschrieben, im Katalog dargestellt oder an die Wand geplottet wurde, um weitere Möglichkeiten der Lektüre zuzulassen. Das Nachdenken sollte weder durch thetische Feststellungen noch durch bloße Illustration des geschrieben Worts, noch durch den Versuch, den von Roland Barthes kritisierten ›Autor-Gott‹ durch einen Kurator-Gott und seine Botschaft zu ersetzen, unterbunden werden. Denken ist gerade nicht »die Wiederholung eines bereits bekannten Zusammenhangs oder der Nachvollzug von Abstraktionsleistungen und entdeckten Kausalitäten, sondern der Vorgang, der darin besteht, das Ungedachte ins Denken zu ziehen«28. Unterschätzt hatte das

26 Th. Mann: Mario und der Zauberer, S. 702f. 27 Tyradellis, Daniel: Müde Museen. Oder: Wie Ausstellungen unser Denken verändern könnten, Hamburg: Ed. Körber-Stiftung 2014, S. 147. 28 Ebd., S. 146.

158 | C AREN H EUER

Buddenbrookhaus aber die mangelnde Bereitschaft der Besucher, von den Standards tradierter Ausstellungspraktiken abweichen zu wollen. Viele der befragten Besucher waren überrascht und teilweise frustriert, keinen Entschlüsselungscode zu den ›Literaturinseln‹ und damit keinen Zugang zu einer richtigen oder falschen Antwort zu erhalten. Eine Erklärung dafür könnte sein, dass die Rezeptionshaltung der Besucher im Museum gerade nicht darauf trainiert ist, »das Denken aus den gewohnten Bahnen zu befreien«29 – ebenso wenig wie der Umgang mit literarischen Texten darauf ausgerichtet zu sein scheint, in Texten mehr als nur eine unterstellte AutorIntention literarisch verarbeitet zu sehen. Bot die Ausstellung in den ›Literaturinseln‹ also weder intentionale Äußerungen eines Autors zu seinem Werk noch der Kuratorin zur Ausstellung, blieb die Ausstellung, wie Isabel von Wilcke in der FAZ befand, »rätselhaft«. Dies hat womöglich mehr mit der Abweichung der Ausstellung Fremde Heimat, insbesondere der ›Literaturinseln‹, von gängigen Inszenierungspraktiken im Museum zu tun als mit der Qualität der Ausstellung selbst. Museale Vermittlung wird zu oft als bloße Abbildung von Wissen missverstanden – auch vom Besucher selbst, dessen museale Erfahrung womöglich ausschließlich auf Vermittlungsformaten basiert, die einen bestimmten Wissensstand, allein nach Maßstäben und in der Sprache der jeweiligen Wissenschaft kommunizieren30. Das Ziel sollte es also sein, zumindest wenn das Museum ein »Ort der Begegnung verschiedenster Evidenzen und der Entfremdung gegenüber dem eigenen Wissen und den eigenen Sehgewohnheiten«31 zu sein beabsichtigt, die Besucher für neue Ausstellungsstrategien zu sensibilisieren, die nicht auf ein ›richtiges‹ Verständnis des Ausstellungsgegenstandes abzielen. Diese Sensibilisierung müsste ferner andere Kuratoren und Wissenschaftler mit einschließen. So sahen sich die ›Literaturinseln‹ der Ausstellung Fremde Heimat vor allem scharfer Kritik durch Germanisten ausgesetzt, die sich daran störten, dass den Texten weder mit wissenschaftlichem Respekt noch mit ausreichendem Anspruch begegnet worden sei. Dieser Vorwurf traf insbesondere die ›Literaturinsel‹ zum Doktor Faustus; der Roman reflektiert kaum ein anderes Buch des 20. Jahrhunderts »die Wunschbilder und Aporien deutscher Geistes- und Kulturgeschichte, ästhetische[n] Fundamenta-

29 D. Tyradellis: Müde Museen, S. 205. 30 Vgl. ebd., S. 102. 31 Ebd., S. 240.

E IN T EXT

IST EINE I NSEL ?

| 159

lismus und die Überzeugung von der ›Endzeit der Kunst‹, deutsche Innerlichkeit und faschistische Gewalt«32. Kann ein solcher Jahrhunderttext überhaupt in wenigen Quadratmetern szenografisch erfasst und in 1.300 Zeichen zusammengefasst werden, wie von den Gestaltern vorgegeben? Ein solches Unterfangen muss zwangsläufig misslingen. Eine ›Literaturinsel‹ kann nicht mehr als einen Eindruck von einem literarischen Text vermitteln; dieser Eindruck kann thematisch, inhaltlich, atmosphärisch, sprachlich und ähnliches sein, aber niemals vollständig. Er sollte neugierig machen, zur Lektüre oder zum Wiederlesen einladen und animieren. Die ›Literaturinsel‹ darf irritieren, vielleicht umso mehr, wenn es der mit ihr ›übersetzte‹ Text ebenfalls tut. Der Anspruch der ›Literaturinsel‹ ist indes nicht, der Wissenschaft zu gefallen; eine Ausstellung sollte weniger die Fachkollegen begeistern, deren Profession eher die Abweichung von der Norm feststellt,33 als die übrigen Ausstellungsbesucher. Das wird bedeuten, auf Vollständigkeit zu verzichten und Regeln zu verletzen. Kann über Thomas Manns Doktor Faustus museal gesprochen werden, ohne Adorno und Nietzsche zu erwähnen, Fragen zur Musiktheorie aufzuwerfen und Syphilis als Künstlerkrankheit der Dekadenz zu thematisieren? Jede Literaturausstellung mit begrenzter Fläche ist dazu verdammt, sich einzelnen literarischen Werken lediglich unter bestimmten Aspekten widmen zu können, zumindest wenn sie mehr will als nur die Fachkollegen befriedigen und die Laienbesucher verunsichern. Das kann zu wissenschaftlichen Regelverletzungen führen, die zu vermeiden jedoch nicht die primäre Aufgabe einer Literaturausstellung ist. Ihr vordringliches Ziel könnte es aber sein, das Denken zu initiieren, das heißt der Ausstellung keinen theologischen Sinn, der zu enthüllen wäre, zu unterstellen und zugleich darauf zu verzichten, weder den Autor noch den Kurator als »eigentlichen Ort oder Garant der Bedeutung jenseits oder hinter dem Text«34 respektive der Ausstellung zu inszenieren. Es bleibt das Ziel des Buddenbrookhauses, mit seiner neuen

32 Röcke, Werner: »Thomas Mann ›Doktor Faustus‹. 1947-1997«, in: Ders. (Hg.), Thomas Mann: ›Doktor Faustus‹. 1947-1997. 2. Auflage, Bern u.a.: Lang 2004, S. 7-10, hier S. 7. 33 Vgl. D. Tyradellis: Müde Museen, S. 111. 34 Baßler, Moritz: »Mythos Intention. Zur Naturalisierung von Textbefunden«, in: Matthias Schaffrick/Marcus Willand (Hg.), Theorien und Praktiken der Autorschaft, Berlin/Boston: de Gruyter 2014, S. 151-167, hier S. 155.

160 | C AREN H EUER

Dauerausstellung den nachhaltigen Versuch zu unternehmen, einen Denkraum zu schaffen, der weniger den Anspruch hat, die Komplexität literarischer Werke zu kontrollieren, wohl aber einen Textsinn literarischer Werke für die Besucher zu öffnen.

III. Zum Ausstellen von Resten und Relikten

Literaturvermittlung an den Resten der Literatur S ANDRA P OTSCH

Was ist eigentlich Literatur? Aus was besteht sie? Aus was setzt sie sich zusammen? Der Versuch, einfache Antworten auf diese Fragen zu finden, stellt keine leichte Aufgabe dar. Grundbestandteil der Literatur, so ließe sich zunächst ganz allgemein sagen, ist die Sprache, in geschriebenen Texten eine Reihe arbiträrer Zeichen, die beim Lesen in Bedeutungen übersetzt werden. Doch gehört noch ein wenig mehr dazu, um Sprache zu Literatur, um einen Text zu einem poetischen Text werden zu lassen. Ein bestimmter Rhythmus beispielsweise, der den Worten zugrunde liegt, eine innere Stimme, die sich über die Zeilen legt, ein Sound, der im Ohr hängen bleibt. Ein Spiel mit dem Satzbau, mit grammatikalischen und logischen Strukturen und ihren Verknüpfungen. Eine Geschichte, ein Sujet, eben das, was in der Literaturtheorie als ›histoire‹ eines Textes bezeichnet wird, und vor allem eine bestimmte Art und Weise, in der davon erzählt wird, ein ›discours‹. Die Erfahrung von Literatur wird geprägt durch das sichEindenken in andere Perspektiven, durch das sich-Tragen lassen von einer fremden Stimme, den Eindrücken und der Stimmung, die ein Text entwickelt. Eine ganze Reihe von Eigenschaften, die sich sicher noch beliebig erweitern, subjektiv und gattungsspezifisch modifizieren ließe. Dennoch fällt bereits auf, dass sich unsere Vorstellung von Literatur vor allem an immateriellen Größen orientiert. Das sichtbare Material, auf dem und mit dem die Texte geschrieben sind, spielt dagegen für unser Verständnis von Literatur eine ähnlich geringe Rolle wie das Originalmanuskript, in dem sie

164 | S ANDRA POTSCH

erstmals zu Papier kamen. Wer liest, sieht nicht. Wenn wir lesen, versuchen wir gerade das Sichtbare, die Zeichen und die Fläche, auf der sie geschrieben sind, zu abstrahieren und in Bedeutungen – beziehungsweise Vorstellungsbilder – zu übertragen. Das gestaltet sich in gedruckten und reproduzierten Fassungen wesentlich einfacher und komfortabler als an den Originalen hinter der Vitrine. Die kryptischen und oftmals fragmentarischen Notizen der Originalmanuskripte führen bisweilen eher an die Grenzen der Lesbarkeit. Originale sind für die Literatur im Grunde genommen nichts als materielle Reststücke: Manuskripte und Papiere, die in dem Moment überflüssig werden, in dem sie in reproduzierter Form als Text verfügbar sind. Die Dinge, die in einem Literaturarchiv gesammelt und in einem Literaturmuseum gezeigt werden können, sind somit eigentlich nur das, was vom Text übrig bleibt, nachdem er in die Welt gesetzt wurde, Reste, die noch von dem Moment zeugen, in dem etwas entstanden ist. In den meisten Fällen sind sie kaum lesbar und stehen der kulturell erlernten Umgangspraxis mit dem Medium Literatur eher entgegen, denn die materiellen Eigenschaften der Originale, die Tintenflecke, unentzifferbaren Zeichen, Eselsohren, Risse, verblassten oder verschmierten Stellen, binden das Auge unweigerlich an den Textträger, werfen den Blick immer wieder zurück auf sich selbst, verfremden die Zeichen. Stattdessen entwickelt sich gerade aus den Widerständen, den nicht lesbaren Stellen, den Spuren des Schreibers und des Schreibprozesses − von Rotweinflecken, Kritzeleien und Klecksen bis hin zu Streichungen und Korrekturen − und den materiellen Eigenheiten − der Farbe und Stärke des Papiers, dem Format, überhaupt dem Schriftträger und dem Schreibwerkzeug − eine zweite Dimension des Werks, eine sichtbare oder, wie Davide Giuriato und Stephan Kammer es nennen, »graphische Dimension«1. Mit dem Sehen kommt man am Original meist weiter als mit dem Lesen. Die Dauerausstellung im Literaturmuseum der Moderne des Deutschen Literaturarchivs in Marbach am Neckar, konzipiert von Heike Gfrereis, ist eine Ausstellung, die dies mit aufnimmt. Sie versucht die Dinge, die eigentlich und ursprünglich einmal für das Lesen gemacht wurden, so zu zeigen, dass sie zu ›Blickfängern‹ werden. Durch die Art ihrer Präsentation werden

1

Giuriato, Davide/Kammer, Stephan (Hg.): Bilder der Handschrift. Die graphische Dimension der Literatur, Frankfurt a.M./Basel: Stroemfeld 2006.

L ITERATURVERMITTLUNG

AN DEN

RESTEN

DER

L ITERATUR | 165

die Schrift und ihre Schriftträger zu visuellen und materiellen Phänomenen, die auch entsprechend als Bilder betrachtet und auf ihre Materialität, Bildlichkeit und Räumlichkeit untersucht werden können. Daran anknüpfend wird Literatur in den Marbacher Literaturmuseen über das Zeigen und Verweisen auf das sichtbare Material der Originale vermittelt und versucht, über dieses Sichtbare zum Unsichtbaren des Textes vorzustoßen, das Immaterielle im Materiellen zu verankern. Was zunächst als bloßer Überrest des literarischen Textes erscheint, wird hier zum Erkenntnismaterial umdefiniert, als Speicher oder Ablagerungsraum der Literatur erkannt, der zum Kern des Textes führen kann. Die Originale werden als Zeugnisse betrachtet, in denen der Moment der Entstehung eines Werkes konserviert ist. Entlang ihrer Spuren lässt sich die Genese und Konzeption eines Textes mitverfolgen. Dies wird im Folgenden an Martin Mosebachs Materialien zu seinem Roman Der Nebelfürst beispielhaft veranschaulicht. Abbildung 1: Materialien Martin Mosebach: Der Nebelfürst

Foto: Johannes Kempf, DLA Marbach

M ARTIN M OSEBACH : D ER N EBELFÜRST Die Entstehungsmaterialien zu Martin Mosebachs Roman Der Nebelfürst im Marbacher Literaturarchiv lassen sich in zwei Konvolute unterteilen, die beide auf einem Vitrinenboden im Literaturmuseum der Moderne zu sehen sind. Das eine feinsäuberlich mit schwarzer Tinte und filigraner Schrift verfasst, das andere auf vergilbtem, brüchigem Papier, teils von Hand, teils mit

166 | S ANDRA POTSCH

der Schreibmaschine beschrieben. Letzteres ist inzwischen über hundert Jahre alt und sozusagen der Ideengeber, das Rohmaterial des Romans. Eine Reihe alter Papiere, die Mosebach Ende der 1960er Jahre in einer alten Frankfurter Villa gefunden hat, die bald darauf abgerissen werden sollte. Die Papiere beschrieb er folgendermaßen: »ein Bündel Papier, das von einer rostigen Heftklammer zusammengehalten und an den Ecken von Mäusen angefressen war. Ich hob das Bündel nur auf, weil das elfenbeinfarbene Deckblatt aus dickem Kanzleipapier mit einer auffällig schönen Handschrift bedeckt war. Obwohl um 1900 die Schreibmaschine schon in allgemeinem Geschäftsgebrauch war, wurde die Korrespondenz des Kaisers noch Kalligraphen anvertraut.«2

Es sind, wie sich herausstellen wird, Dokumente, die dem deutschen Journalisten Theodor Lerner gehörten, der sich im Jahr 1898 von Berlin aus aufmachte, um im arktischen Eismeer nach dem verschollenen Ingenieur Salomon August Andrée zu suchen, der im Jahr zuvor mit einem Gasballon zu einer Reise an den Nordpol aufgebrochen war. Bei dieser Gelegenheit nahm Lerner die nahe gelegene, ›herrenlose‹ Bären-Insel für das deutsche Kaiserreich in Besitz, um die dort vorhandene Kohle abzubauen. Ein Ereignis, das in dieser Zeit von den Zeitungen mit großem Interesse verfolgt wurde, allerdings nicht von Erfolg gekrönt war. Zuletzt blieb Lerner von seiner Landnahme der nebelumringten Insel allein der Spottname ›der Nebelfürst‹ erhalten.3 Hinter dem zweiten Konvolut verbirgt sich ein in winzig kleiner, filigraner Schrift verfasstes Romanmanuskript, in dem Mosebach die Geschichte von Theodor Lerner aufgreift und ins Fiktionale erweitert. Mosebach macht es sich dabei zur Aufgabe, jedes Kapitel auf je nur eine einzige Manuskriptseite zu bringen, eine Schreibweise, die ihm zu einem Stil verhilft, der bezeichnend für den Roman werden wird: Konzentration, Genauigkeit und Vermeidung jeglicher Redundanz. So betont Lutz Hagestedt in seiner

2

Mosebach, Martin: »Die Lücke in der Realität ist das Glück der Dichtung«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20.01.2006, S. 39: http://www.faz.net/ frankfurter-allgemeine-zeitung/theodor-lerner-die-luecke-in-der-realitaet-istdas-glueck-der-dichtung-1305447.html vom 23.12.2016.

3

Vgl. ebd.

L ITERATURVERMITTLUNG

AN DEN

RESTEN

DER

L ITERATUR | 167

Rezension des Romans in der Frankfurter Rundschau, die auch im Klappentext des Romans zitiert wird: »Mit wenigen Strichen, auf knappstem Raum, zeigt uns Mosebach die alte und die neue Welt in einem labilen Schwebezustand…«4. Mit den beiden Konvoluten ist somit anschaulich getrennt, was für gewöhnlich stets zusammengeht: Stoff und Form, histoire und discours. Wer sich die beiden Konvolute etwas genauer besieht, kann beinahe dabei zusehen, wie aus einer Geschichte Literatur wird, wie Fakten zu Fiktion werden.

D ER S TOFF ,

AUS DEM

G ESCHICHTEN WERDEN

Mosebach greift mit Lerners Geschichte auf gefundenes Material zurück, das er zum Ausgangspunkt seines Schreibens macht: »Bevor ich anfangen kann zu erfinden, muss etwas da sein. […] [E]ine Aufforderung, aus einer vorgegebenen Form, einer Briefmarke, einem Aufdruck, einer schon vorhandenen Schrift etwas anderes zu entwickeln. Es ist dieses Spiel, das dann auch beim Schreiben für mich wichtig ist: aus Vorgegebenem, bereits Empfangenem, Aufgenommenem, mit sich Herumgetragenem einen Satz, eine ganze Geschichte entfalten«5.

Nicht zwangsläufig muss es sich dabei um eine tatsächlich vollständige Geschichte handeln, auch visuelle Fundstücke oder eigenhändig gezeichnete Illustrationen, wie Mosebach sie häufig an den Anfang seines Schreibens setzt,6 können für ihn solch einen Impuls setzen. In diesem Fall sind es Papiere, die ein gewisses Alter haben und lange Zeit vergessen waren. Das brüchige Papier, die verblassten Stellen, die Ecken, die bereits von Mäusen 4

Hagestedt, Lutz im Klappentext zu: Martin Mosebach: Der Nebelfürst, Mün-

5

Mosebach, Martin: »Illustrationen« von Martin Mosebach. Mit einem Gespräch

chen: dtv 2008. zwischen Heike Gfrereis und Martin Mosebach, Marbach a.N.: 2010 (= Marbacher Magazin 131), S. 6. 6

Dies zeigte die Wechselausstellung Illustrationen im Jahr 2010 im Literaturmuseum der Moderne des Deutschen Literaturarchivs, nachzulesen im Ausstellungskatalog »Illustrationen« von Martin Mosebach.

168 | S ANDRA POTSCH

angefressen wurden und die Tatsache, dass sie sich in einer beinahe leer geräumten Abrissvilla befanden, lassen erahnen, dass es sich hier um einen historischen Stoff handelt. Aus der Wahl des Materials spricht Mosebachs Vorliebe für das ›Überholte‹ und ›Archaische‹ ebenso wie für das ›Gescheiterte‹.7 Wer in dem Konvolut blättert, so wie es Mosebach tat, stößt auf Dokumente und Briefe in Hand- und Maschinenschrift, teils mit offiziellen Briefköpfen, teils auf Hotelbriefpapier aus Berlin, Köln oder Lübeck geschrieben, auf Zeitungsausschnitte, Telegramme, Bittschriften, Gutachten, Kostenaufstellungen, Berechnungen und sogar das Protokoll einer Reichstagsdebatte. Mosebach macht es sich zur Aufgabe, daraus einen Roman entstehen zu lassen, der sich einzig und allein auf die Informationen stützt, die sich in der Sammlung befinden und alles andere, die Lücken und Leerstellen, mit Fiktion aufzufüllen: »Zur Bedingung stellte ich mir, nicht einmal ein Lexikon aufzuschlagen, wenn ich irgend etwas nicht wußte – die weißen Flecken auf der Landkarte meiner Information sollten ja gerade die allerfruchtbarsten sein«,8 so Mosebach. Ein Roman, der sich aus den Leerstellen speist. Das historische Konvolut wird zu einem Speicher für die Erschaffung der Romanwelt. Figuren wie der ›Sehr geehrte Herr Rittmeister‹, der ›Bergdirektor Valentin Neukirch‹, ›Herr W. Kohrs aus Lübeck‹, ›Ferdinand‹ oder ›Ilse‹ gehen ebenso wie die oftmals wechselnden Hotels auf den Briefbögen und die zahlreichen Korrespondenzen in den Roman mit ein. Was entsteht, ist eine Art Collage: In winzig kleiner Schrift setzt Mosebach an, die vorgefundenen Materialien zu einem Roman zu verweben, sodass keine Lücke mehr offen bleibt. Auf nur 42 Manuskriptseiten entwickelt sich so ein Roman, der im Druck zwischen 352 Seiten (in der Erstausgabe) und 304 Seiten (in der Taschenbuchausgabe des dtv Verlags) umfassen wird. Mosebach schreibt auf feines, auf eine genaue Größe von 33 x 20 cm zurechtgeschnittenes Papier mit teils weißem, teils leicht grauem Farbton und verwendet einen Füllfederhalter mit schwarzer Tinte, wobei die Feder gleichzeitig zum Motiv wird, das – bewusst oder unbewusst – den gesamten

7

Vgl. Wittstock, Uwe: »Martin Mosebachs Sympathie für Aussteiger«, in: Die Welt vom 03.08.2007: http://www.welt.de/kultur/article1077630/Martin-Mose bachs-Sympathie-fuer-Aussteiger.html vom 23.12.2016 und Wittstock, Uwe: »Die eigene Freiheit suchen. Der Romancier Martin Mosebach«, in: Neue Rundschau 118 (2007), S. 216-229, hier S. 219.

8

M. Mosebach: »Die Lücke in der Realität«.

L ITERATURVERMITTLUNG

AN DEN

RESTEN

DER

L ITERATUR | 169

Schreibvorgang begleitet. Während der Protagonist seine Geschäftspartner mit der Aussicht auf exotische Vögel von einer Investition in die BärenInsel zu überzeugen versucht, legt Mosebach zwischen die Manuskriptseiten eine gefundene Vogelfeder ein. Auf diese Weise werden die immateriellen Romaninhalte und -motive auch in der Manuskriptoberfläche gespiegelt, die andererseits wiederum in ihrer Materialität am Roman mitschreibt. Mosebach selbst beschreibt dies im Gespräch mit Heike Gfrereis: »Das ideale Manuskript, der Text, besteht nur aus den geschriebenen Wörtern, aber das wirkliche Manuskript, das Objekt, auch aus dem, was da zwischendrin gezeichnet worden ist. Wie in den alten Kodizes, den Messbüchern und Inkunabeln, die ja nicht im eigentlichen Sinne illustriert sind, sondern geschmückt: Da wird der Text begleitet von seltsamen Fabelwesen, die in ihn hineinschauen, ihn auf andere Weise fortsetzen, so wie die gotischen Wasserspeier außen an den Kathedralen sitzen, inhaltlich mit dieser Kathedrale wenig zu tun zu haben scheinen, aber dieses Bauwerk bewohnen, ihm anhaften, aus ihm hervorgehen. Auf eine eigentümliche Weise können sie nicht ins Innere hinein, da haben sie nichts verloren, aber sie kleben außen daran oder wachsen aus ihm heraus.«9

Andererseits erinnert das Manuskript mit den millimetergroßen schwarzen Lettern auf weißem, beziehungsweise grauem Papier an die dünnen, klein und möglichst ökonomisch bedruckten Bögen der Zeitungsseiten, auf denen ein ganzes Weltgeschehen auf engstem Raum untergebracht wird. Schon äußerlich verweist das Manuskript hiermit auf das große Thema, das den gesamten Roman durchzieht: das Zeitungs- und Zeitschriftenwesen um 1900 und seine Einflüsse sowohl auf die Leserschaft als auch das Zeitgeschehen. Ebenso wie die Zeitungsschreiber unterwirft sich Mosebach strenger Ökonomie und Prägnanz, indem Beschreibungen gezielt eingesetzt werden, wo sie Figuren plastischer und Handlungsmotivationen transparenter machen, und redundante Füllwörter vermieden werden. Stattdessen feilt Mosebach an der Sprache und verwendet stets sorgfältig gewählte Wörter, wodurch es ihm gelingt, ein ganzes Panorama der Jahrhundertwende auf nur knapp 300 Seiten darzustellen. Die Zeitung bildet somit ein Thema, das den Roman stilistisch wie inhaltlich durchzieht. Theodor Lerner arbeitet als Journalist beim Berliner Lokal-Anzeiger. Bisher nur als Lokalreporter für

9

M. Mosebach: »Illustrationen« von Martin Mosebach, S. 7.

170 | S ANDRA POTSCH

Brandmeldungen im Einsatz, lässt er sich nun von seiner Zeitung beauftragen, den verschollenen Ingenieur Andrée zu suchen und nutzt das Vorhaben, um die Bären-Insel einzunehmen, was gleichfalls mit großen Berichten im Berliner Lokalanzeiger wie auch der internationalen Presse kommentiert wird und ihm für kurze Zeit zu einer eher zweifelhaften Berühmtheit verhilft. Aus diesen Berichterstattungen trägt er schließlich den titelgebenden Namen ›Nebelfürst‹ davon, der bald darauf in aller Munde ist. Ein nicht minder verzweifelter Redakteur des Casseler Tageblatts stellt diesen Titel in gewollt herabsetzender Bedeutung der Meldung über Lerners kolonialen Streich voran. Lerners gesamte öffentliche Identität konstituiert sich somit über die Zeitungsberichte, die das Unternehmen Bären-Insel begleiten. In einer Zeit, in der die Neugier auf Abenteuer und Exotik durch die großen Reiseberichterstattungen der Illustrierten und Wildwestromane gerade en vogue war,10 kommt eine Geschichte wie jene von Theodor Lerner genau recht, um in den Zeitungen für Schlagzeilen zu sorgen. Zum Ende des 19. Jahrhunderts waren es die Reisejournalisten, die mit illustrierten Berichten aus fernen Ländern die Exotik und das Fremde in die bürgerlichen Wohnzimmer hineinbrachten. So wird auch Lerner nicht alleine ins Eismeer geschickt, Chefredakteur Schoeps »dachte vor allem auch an Photographen und Zeichner, um das Anschauungsbedürfnis der Abonnenten zu stillen«11 − wobei er gleichzeitig einräumt, dass sich der Nordpol ohnehin bei den meisten Fotografen nicht sehr von der Sahara unterscheide, sei es aufgrund der Qualität der damaligen Schwarz-Weiß-Fotografien, sei es aufgrund der spezifischen Bildsprache, die aus all diesen auf Exotik ausgerichteten Illustrationen spricht. Der Hunger nach universellem Wissen über die Welt und ihre Ursprünge sowie die Jagd nach den letzten, noch weißen, unentdeckten Flächen, angetrieben durch Alexander von Humboldt, Charles Darwin, Ernst Haeckel und andere, bestimmte das Interesse der Zeit und somit die Themen der Zeitung. So sinniert Lerner bei seinem Besuch im Frankfurter Senckenberg Naturmuseum:

10 Vgl. Spreckelsen, Tilmann: »Der große Bäreninsel-Schwindel«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 09.10.2001: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/bue cher/rezensionen/belletristik/martin-mosebachs-roman-der-nebelfuerst-der-gros se-baereninsel-schwindel-141955.html vom 23.12.2016. 11 Mosebach, Martin: Der Nebelfürst, München: dtv 2008, S. 29.

L ITERATURVERMITTLUNG

AN DEN

RESTEN

DER

L ITERATUR | 171

»Mit dem Museum verhielt es sich wie mit dem Wissen allgemein, dessen Tempel und Schatzhaus es darstellte: noch waren nicht alle Kammern des einst zu Wissenden betreten, aber man wußte schon, wo sie liegen würden und wie groß sie waren, und man ahnte, was sie beherbergten. Wenn dieses Museum einmal ganz voll war, dann würde auch die Erde vollständig erforscht sein. Schon waren die weißen Flecken auf der Weltkugel den Schneefeldern an einem südlichen Taunushang im März vergleichbar.«12

Wie sehr dieser Hang zur Exotik das Zeitgeschehen mit beeinflusst, zeigt Mosebach an der Kleidung seiner Figuren, die mit Pfauenfedermustern geschmückt sind und selbst in den Provinzen »ausgestopfte Vögel auf dem Kopf trugen«,13 oder an der schwarzhäutigen Tänzerin Madame Louloubou, die als Show-Attraktion zwischen Eisbären auftritt und den Protagonisten Theodor Lerner innerhalb kürzester Zeit in ihren Bann zieht.14 Jene Eisbären stellt auch Lerner gemeinsam mit anderen exotischen Jagdtieren, Vögeln und Pinguinen, den Investoren für das Bären-Insel-Unternehmen in Aussicht und plant nebenbei bereits ein Tourismusunternehmen aus Ferienhäusern mit »Eisbären, Schneehühner[n], Polarfüchse[n], Silberwölfe[n], eine[r] reinliche[n] Pelz- und Federpracht auf den Naturholzwänden.«15 Das materielle Pendant zu dieser Kolonialisierungsexotik im Roman bilden die Einlagen, die Mosebach seinem Manuskript beilegt: zwei Indianermasken, die er eigens farbig bemalt hat, und die Vogelfeder, die er gemeinsam mit den Masken zwischen die Blätter einlegt. Sie lassen bereits erahnen, dass es in diesem Roman auf Reisen geht, in die Zeit der Abenteuerromane von Karl May und Jules Vernes, an das Ende des 19. Jahrhunderts. Wie Mosebachs Notizen auf dem Vorblatt zum Manuskript verraten, wurde der Roman zumindest teilweise selbst auf Reisen geschrieben, was bei Mosebach keine Seltenheit ist, da er zum Schreiben immer auf – wie er es nennt – »Montage«16 geht. Allerdings entstand er, anders als das Sujet erwarten ließe, nicht bei Eis und Kälte: den zweiten Teil verfasste

12 M. Mosebach: Der Nebelfürst, S. 154. 13 Ebd., S. 125. 14 Vgl. ebd., S. 127. 15 Ebd., S. 122. 16 Mosebach, Martin: Lesung aus Das Blutbuchenfest am 06.02.2014 im Literaturhaus Stuttgart.

172 | S ANDRA POTSCH

Mosebach Mitte Mai 2001 auf Mallorca. Passend dazu zeichnet er auf das Vorblatt keine Eisbären und Eiskristalle, sondern exotische Pflanzen und Blüten. Den ersten Teil des Romans datiert er beinahe ein Jahr früher, gibt jedoch keinen Entstehungsort an. In einem Gespräch zur Lesung aus seinem späteren Roman Das Beben von 2005 erwähnte Mosebach allerdings, er wäre für das Schreiben am Nebelfürsten in Indien gewesen, in Sirohi am Mount Abu.17 Glaubt man den Angaben auf dem Vorblatt, so hat Mosebach den ersten Teil in 31 Tagen, den zweiten in 16 Tagen verfasst, also insgesamt nur 47 Tage an den 42 Kapiteln des Buches gearbeitet – circa ein Kapitel beziehungsweise eine eng beschriebene Manuskriptseite pro Tag. Abgeglichen mit den kurzen Zeitspannen, in denen Mosebachs Romane aufeinanderfolgen, wäre dies durchaus denkbar und spräche für eine intensive und konzentrierte Arbeit am Text, der ohne große Pläne, mehr oder weniger im Schreiben entsteht. Die Tatsache, dass Mosebach den Stoff zum Roman jedoch schon seit jungen Jahren mit sich herumtrug, spricht andererseits dafür, dass er sich bereits über mehrere Jahre zumindest mit dem Material auseinandergesetzt hat. Den zum Zeitpunkt seiner Entdeckung im wahrsten Sinne des Wortes bereits ›verstaubten‹ Stoff verarbeitet Mosebach zu einer Hochstaplergeschichte, deren kolossales Scheitern sich von Anfang an ankündigt. Beinahe lässt sich der Gedankengang des Chefredakteurs Schoeps wie eine Reflexion des Schreibers selbst lesen, wenn dieser zum Ende des dritten Kapitel resümiert: »Ein Stoff sei das schon. Material stecke da schon drin. Das habe dieser Möchtegern-Reporter schon richtig gesehen. Aber man werde zum Teufel doch nicht gerade einen Nonvaleur, einen Nutnick, eine Null mit eigenem Schiff in den Norden senden!«18 In der Folge lässt sich Mosebachs Roman wie eine Versuchsanordnung lesen, die genau dieses Experiment wagt und dessen vorauszusehenden Niedergang genüsslich durchspielt.

17 Vgl. Martin Mosebach im Gespräch mit Jan Bürger am 22.03.2006: http://www.dichterlesen.net/veranstaltungen/das-beben-2076/?L=0 vom 23.12. 2016. 18 M. Mosebach: Nebelfürst, S. 25.

L ITERATURVERMITTLUNG

S CHWARZ

AUF

AN DEN

RESTEN

DER

L ITERATUR | 173

W EIß

Neben dem verwendeten Material, eröffnet auch die Bildseite des Manuskripts spannende Perspektiven auf den Roman. Ohne Weiteres können Mosebachs Manuskripte als ästhetische Objekte betrachtet werden.19 Wer von Weitem auf die handgeschriebenen Seiten zum Nebelfürsten blickt, erkennt darauf keine Schrift, sondern nur schwarze Fläche auf weißem Grund. Weder Absätze noch Seitenränder lassen sich ausmachen, ein einziger, langer, schwarzer Textblock zieht sich über die weiße Papierfläche. So wie Theodor Lerner mit schwarz-weiß-roten Pfählen loszieht, um die Bären-Insel in Besitz zu nehmen, lassen sich auch Mosebachs Manuskriptseiten lesen wie eine Landnahme schwarzer Schrift auf weißem Papier. Tatsächlich beschreibt Mosebach die Tätigkeit des Schreibens in ganz ähnlichen Begriffen: »Ja, es erzeugt ein unendlich lustvolles Gefühl zu erleben, wie der Füller über das Papier gleitet und dieses weiße Feld in ein schwarzes Feld verwandelt.«20 Oder: »[ich muss] mich über das Lustvolle und das Spielerische in diese Betätigung des ›Papier-Schwarz-Machens‹, das Schreiben, hineinlocken.«21 Und: »Ich bin der schwarzen Kunst verfallen, dieser mich im schönsten Sinn schockierenden Verletzung der weißen Fläche, die durch eine Linie entsteht.«22 Worte, mit denen für gewöhnlich eher ein Maler seine Arbeit beschreiben würde. Einem solchen begegnet Lerner auf der Suche nach einem geeigneten Expeditionsbegleiter, der die BärenInsel für die Zeitung illustriert: dem französischen Maler Courbeaux, der ihn in seine Kunst des Schnee Malens einführt.»›Schnee zeichnet sich dadurch aus, daß er weiß ist‹, sagte Courbeaux, ›und Weiß ist der Todfeind, die Hauptgefahr der Malerei. Deshalb vernichte ich als erstes bei jeder neuen Leinwand das tödliche Weiß und bedecke es mit Schwarz. Das Weiß ist

19 Die Künstlerin Rebecca Horn stellte das Manuskript zu Mosebachs Roman Eine lange Nacht (2000) sogar an den Ausgangspunkt einer Reihe von Fotokunstwerken, die gemeinsam mit den reproduzierten Manuskriptseiten als Kunstbuch veröffentlicht wurden. Vgl. Horn, Rebecca: Das Lamm. Roman, Berlin: Holzwarth Publications 2005. 20 M. Mosebach: »Illustrationen« von Martin Mosebach, S. 5. 21 Ebd., S. 8. 22 Ebd., S. 12.

174 | S ANDRA POTSCH

dann geknebelt, es kann nicht mehr japsen.‹«23 Am Ende malt Courbeaux nicht die weiße Bären-Insel, sondern die schwarze Tänzerin Louloubou: »Das Schwarz hat mich immer beschäftigt − ich grundiere meine Bilder schwarz, aber ich habe mich an die Darstellung des Schwarzen selbst bis dahin nicht gewagt. Schwarz: Pech, Kohle, Ruß, Tinte, Lack, Marmor, Lava, und schließlich Augen, die Schwärze von wirklich schwarzen Augen, das ist ein Nuancenreichtum, der die Erfahrung eines ganzen Malerlebens fordert. Sehen Sie, malen besteht eigentlich darin, eine einzige Farbe zu zwingen, auch alle anderen Farben ausdrücken zu können.«24

Schwarz und Weiß sind also die Farben, die nicht nur Mosebachs Manuskript, sondern den gesamten Roman durchziehen. Ebenso wie der Maler Courbeaux definiert Mosebach das Weiß der Papierfläche als dasjenige, was es zu überwinden, mithilfe der schwarzen Tinte zu bändigen gilt. Auch für ihn stellt die schwarze Farbe das Werkzeug dar, mittels dessen er die Leere des weißen Blattes bezwingt und im gleichen Zug eine ganze Welt erschafft, die dem Leser Schauplätze, Figuren und Situationen vor Augen führt – einzig durch die Macht der Sprache, der genauen Beschreibung und Wortwahl. Im besten Fall gelingt es der schwarzen Schrift, die Imagination ihrer Leser zu wecken, sie weg von der Fläche und hin zu den Bildern zu führen. Nichtsdestotrotz werden auch jenseits der imaginierten Bilder, an der sichtbaren Oberfläche, wesentliche Motive des Romans erkennbar. Mit seiner filigranen und engen Schrift erzeugt Mosebach ein dichtes Netz aus Buchstaben und Wörtern, die kaum mehr Raum für Korrekturen und Einfügungen lassen, weder seitlich, noch am Kopf des Papiers hat er Ränder gelassen, als wolle er gleich einem Entdecker sicherstellen, keine weißen Flecken zu hinterlassen. Während Theodor Lerner die Bären-Insel erobert, ziehen Mosebachs schwarze Buchstaben in einen Feldzug auf weißem Papier. Bilder der Kolonialisierung durchziehen den Roman dabei von der ersten Seite an. Schon zu Beginn des Romans, an dem Lerner – nichtsahnend von dem ihn erwartenden Abenteuer Bären-Insel – vom Auswandern träumt, heißt es mit Bedauern: »Leider war Theodor Lerner kein Engländer, denen stand die halbe Welt offen, denn sie gehörte ihnen.«25 Die Sehnsucht

23 M. Mosebach: Nebelfürst, S. 246. 24 Ebd., S. 277f. 25 Ebd., S. 5.

L ITERATURVERMITTLUNG

AN DEN

RESTEN

DER

L ITERATUR | 175

nach der Ferne verbindet sich sogleich mit dem Wunsch nach Inbesitznahme. Nicht die bloße Lust auf Entdeckungen und Abenteuer führt Lerner ins Eismeer, vielmehr prallen in seiner Geschichte die alte und die neue Welt aufeinander, indem das Unternehmen Bären-Insel ganz nach der Logik kapitalistischer Prinzipien funktioniert: »Entdecker war nicht, wer auf einen Gegenstand stieß, ihn betrachtete und wieder fallenließ, sondern wer ihn in die Sphäre folgenreicher Wirklichkeit erhob. [...] ›Herrenlos‹ war die Bären-Insel gewesen, herrenlos aber heiße wertlos. Entdecken, das sei nichts anderes, als eine Sache zu dem zu machen, was sie eigentlich ist.«26

Umso weniger verwundert es, wenn im Zuge der Investorenakquise nicht nur mit der Möglichkeit des Kohleabbaus geworben wird, sondern auch mit der Jagd nach exotischen Tieren, und letztlich die krönende Idee aufkommt, eine arktische ›Eskimofamilie‹ von dort mitzunehmen, die in den Gehegen des Berliner Zoos ihr ›primitives Handwerk‹ vor den Augen der Besucher zur Schau stellt »und später dankbar und zufrieden wieder in ihre kalte Dunkelheit gebracht wird.«27 Immer wieder arbeitet Mosebach mit dem Kontrast von Schwarz und Weiß und lässt dabei die Bären-Insel in stetig neuem Licht erscheinen. Ist der zunächst noch skeptische Lerner erst einmal für das Abenteuer BärenInsel gewonnen, erlebt er spätestens mit der Ankunft auf derselbigen eine herbe Enttäuschung: Keine paradiesische einsame Insel, kein geheimnisvolles, unentdecktes Fleckchen erwartet ihn – »Stattdessen war dies von allen Inseln die reizloseste. Grau war der Stein, aber grau kam ihm auch das verkümmerte krautige Gewächs vor, das sich an diesen Stein klammerte. Es gab schon ein gewisses Auf und Ab der Landschaftslinien, aber ohne jedes Geheimnis. Diese Inselwelt war leichtest zu überblicken.«28 Nun aber gilt es, Geldgeber und Geschäftspartner für seine Entdeckung zu finden und so wird die Insel zu einer Projektionsfläche, auf welche sämtliche romantisierende Vorstellungen und Klischees vom Nordpol imaginiert werden, die das ausgehende 19. Jahrhundert prägten: Pinguine, Eisbären, exotische Vö-

26 M. Mosebach: Nebelfürst, S. 108. 27 Ebd., S. 241f. 28 Ebd., S. 47.

176 | S ANDRA POTSCH

gel und Jagdhütten.29 Die graue und trostlose Insel wird zu einem unbeschriebenen weißen Blatt, auf das im Laufe des Romans Allerlei projiziert wird. Allein der Nebel, der sich um die Insel legt, deutet bereits daraufhin, dass es sich bei dieser im Grunde um eine Ausgeburt reiner Fiktion handelt: »Der Nebel, der oft über der Bären-Insel lag, umgab sie mit einer Art Watte, und diese Watte machte sie ungreifbar und unwirklich.«30 So bemerkt Tilman Spreckelsen in seiner Rezension des Romans in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: »Lerner selbst, der auch nach seinem Kurzbesuch keine empirisch erworbene Vorstellung von der Bären-Insel hat, aber vor potentiellen Käufern ständig über sie referieren muß, gerät in einen derartigen Sog des Erzählens und Ausschmückens, daß er darüber zum Dichter seiner Insel wird und sie ganz neu erfindet.«31

Das Spiel von Schwarz auf Weiß durchzieht somit auch sprichwörtlich, im Sinne von Glaubwürdigem und Unglaubwürdigem, den gesamten Roman. Jeder der Protagonisten reimt sich ausgehend von dem, was er in Zeitungen und Briefen geschrieben findet, seine eigene Wirklichkeit zusammen. Beispielsweise wenn Lerner behauptet, »[z]wanzig Mann seien auf der ›Helgoland‹«, und hinzugefügt wird, »es waren nur zwölf, aber er log nicht bewußt, die Zwanzig hatte etwas mit dem Rhythmus seines Satzes zu tun…«32 oder Frau Hanhaus im Zusammenhang mit den morgendlich studierten Zeitungsmeldungen bemerkt: »Das ist das Erstaunliche an solchen Dokumenten. Es kommt hinten etwas anderes heraus, als vorne verkündet wird.«33 Während Mosebach die weißen Flecken immer mehr zu einer fiktiven Geschichte verwebt, verstricken sich seine Protagonisten in ein Netz aus falschen Versprechungen und reichlich ausgeschmückten Tatsachen.

29 Vgl. M. Mosebach: Nebelfürst, S. 221 und 241. 30 Ebd., S. 169. 31 T. Spreckelsen: »Der große Bäreninsel-Schwindel«. 32 M. Mosebach: Nebelfürst, S. 59f. 33 Ebd., S. 78.

L ITERATURVERMITTLUNG

AN DEN

RESTEN

DER

L ITERATUR | 177

E IN S CHACHROMAN ? Wie Mosebach diese Verwebung der einzelnen Handlungsfäden gelingt, kann mit einem Blick auf die Architektur des Romanmanuskripts nachvollzogen werden. Aufschluss darüber gibt vor allem die den eng beschriebenen Manuskriptseiten beigelegte Gliederung. In deutlich größerer Schrift notiert Mosebach hier die Titel der 42 einzelnen Kapitel mit kleinen Verweisen und fügt nachträglich die jeweiligen Kapitelnummern hinzu. Dabei wird deutlich sichtbar, dass Mosebach bei der Zusammensetzung der Kapitel mit Schere und Kleber zugange war. Die Kapitelüberschriften wurden nicht direkt auf das Blatt geschrieben, sondern müssen zunächst auf einem anderen Blatt gestanden haben und später noch einmal von dort ausgeschnitten und in neuer Reihenfolge arrangiert worden sein. Die aufgeklebten Streifen lassen erahnen, dass die Kapitel in ihrer Aufeinanderfolge mehrfach verschoben und durch zusätzliche Kapitel ergänzt wurden. Der Roman erzählt somit scheinbar keine durchgehende, streng lineare Geschichte, sondern vielmehr in Kapiteln oder Episoden, die variabel aneinander gefügt werden können. Wie Tilman Spreckelsen beobachtet, beginnt jedes der Kapitel an einem jeweils anderen Schauplatz und mit einer anderen Perspektive und endet letztlich mit einer unerwarteten Pointe »– die klassische Struktur einer einzelnen Fortsetzungsromanlieferung, mit deren Hilfe die Spannung des Lesers bis zur nächsten Folge wachgehalten werden soll.«34 Die Ästhetik der Zeitungsseite dringt auch in die architektonische und stilistische Machart des Romans hinein. Die ausgeschnittenen und in ihrer Reihenfolge mehrmals verschobenen Kapitel erinnern zugleich an die Karten eines Kartenspiels. Mit jeder neu ausgelegten Karte, sprich jedem neuen Kapitel, kommen neue Figuren auf den Spielplan, werden neue Orte besetzt oder neue Ereignisse ausgespielt. Nicht jede Karte passt auf jede beliebige und doch lassen sie sich – wie die Gliederung zeigt – durchmischen und neu kombinieren. Die kurzen, variabel aneinandersetzbaren Kapitel ließen sich demnach mit Spielzügen vergleichen, die strategisch eingesetzt werden können und dabei ein jeweils anderes Feld eröffnen. Nicht zufällig treffen sich die Protagonisten mehrmals im Schachcafé ›Pique-Dame‹, nicht zufällig trägt ein Kapitel des Ro-

34 T. Spreckelsen: »Der große Bäreninsel-Schwindel«.

178 | S ANDRA POTSCH

mans den Titel »Frau Hanhaus macht Rochade«,35 benannt nach der im Schach einmal pro Spiel erlaubten Rückzugsmöglichkeit des Königs im Tausch mit der sicheren Randposition des Turmes. Besieht man sich Mosebachs ersten ›Spielzug‹, den ersten Satz, mit dem er seinen Roman einleitet, etwas genauer, so fällt auf, dass dieser in der Manuskriptfassung nicht mit der später gedruckten Fassung übereinstimmt, der Roman zunächst ganz anders beginnen sollte. Im Manuskript steht nicht Lerner an erster Stelle, sondern eine gewisse Frau Neuhaus, die später in Frau Hanhaus umbenannt wird: »Frau Neuhaus Auftreten hatte immer etwas Plötzliches.« Mit diesem ersten Satz wäre jene automatisch zur Hauptfigur des Romans geworden, die von Anfang an auf dem Spielbrett steht und das Geschehen ins Rollen bringt. Stattdessen ändert Mosebach das erste Kapitel später noch einmal mit der Schreibmaschine um und stellt den Journalisten Theodor Lerner an den Anfang, als Träumer, der sich nach großen Reisen, Entdeckungen und Abenteuern sehnt, bisher jedoch immer nur dann zum Einsatz kam, »wenn es irgendwo brannte.«36 Einen ganz anderen Auftritt bekommt Frau Hanhaus schließlich am Ende des Kapitels, als sie zum ersten Mal im Redaktionsbüro der Zeitung auftaucht: »Draußen war ein Schatten wie von einer hochgewachsenen Frau mit bedeutendem Hut […] zu erkennen. Der bloße Schatten kündigte etwas Bedeutendes an. In den Hafen des Vorzimmers war ein fünfmastiges Schlachtschiff eingelaufen.«37 Von da an stellt Frau Hanhaus im wörtlichen wie übertragenen Sinne alles in den Schatten. Sie wird zu Lerners Schatten – auch hier tritt das Spiel mit Schwarz und Weiß wieder zutage – oder, wie Mosebach es selbst beschreibt, zu Lerners »Geschäftspartnerin, ökonomisch-phantastische[n] Muse und antreibende[m] Dämon«38. Der gesamte Romanverlauf wirkt wie ein Spiel, das Frau Hanhaus genau vorausgeplant hat. »Ich habe Wichtigeres mit Ihnen vor«,39 lässt sie bereits im ersten Kapitel verlauten. 281 Seiten später wird Lerner erkennen: »Sie hatte sich in seine Gehirnwindungen hineingeschlichen. In seine geheimsten Gedanken war sie immer irgendwie hineinverwoben. Die Hanhaus-Silhouette lag über

35 M. Mosebach: Nebelfürst, S. 257. 36 Ebd. 37 Ebd., S. 6f. 38 M. Mosebach: »Die Lücke in der Realität«. 39 M. Mosebach: Nebelfürst, S. 10.

L ITERATURVERMITTLUNG

AN DEN

RESTEN

DER

L ITERATUR | 179

allem. Er sprang herum, ohne die Grenzen ihres Schattens jemals zu überschreiten.«40 Frau Hahnhaus bildet somit das imaginäre Zentrum des Romans. Das Verhältnis der beiden Figuren schlägt sich sogar bis in deren Sprache und Rede nieder. Während Lerner seine Gedanken oftmals in Fragesätzen und im Konjunktiv – wäre, würde, müsste – formuliert, spricht Frau Hanhaus stets in Aussagesätzen. Zitat Lerner: »Wenn es jemals einen ›allwissenden Erzähler‹ gegeben hatte, dann war es Frau Hanhaus.«41 Innerhalb des Szenarios, das der Autor entwirft, findet sich ein zweites, das maßgeblich durch die Protagonistin Hanhaus gesteuert wird. Das Problem ist nur, dass deren Pläne keineswegs alle aufgehen, und obwohl Lerner deren Unvernunft oftmals vorauszusehen scheint, kann er sich ihnen doch nicht entziehen. Unweigerlich wird er in Projekte manövriert, die zunehmend aus dem Ruder laufen und an deren Ende letztlich doch nur er selbst, das Gesicht des Bären-Insel-Unternehmens, als Leidtragender zurückbleibt, der für Frau Hanhaus agiert. Während Frau Hanhaus, ›die Dame‹, in diesem Schachspiel letztlich eine Rochade wählen und sich zurückziehen kann, muss Lerner, ihre Spielfigur, für Alles alleine gerade stehen und bleibt zum Schluss kolossal gescheitert und als Antiheld, der er von Anfang an war, zurück. Die Impulse für ihre Spielzüge erhält Frau Hanhaus übrigens aus der Zeitung, ob aus den Tagesnachrichten oder den Todesanzeigen. Sie verfährt somit ganz ähnlich wie auch Mosebach selbst beim Schreiben des Romans – während sie ihre Pläne mithilfe von Fundstücke aus der Zeitung entwickelt, reimt sich Mosebach aus den vorgefundenen historischen Materialien seine eigene Geschichte des ›Nebelfürsten‹ zusammen.

F AZIT Mit Blick auf die materielle und sichtbare Dimension des Originalmanuskripts kann Mosebachs Roman noch einmal ganz anders erfahren, erschlossen und vermittelt werden. Aus den beiden Konvoluten, den brüchigen alten Papieren von Theodor Lerner und den ästhetischen, an den Rand des Lesbaren führenden Manuskriptseiten von Martin Mosebach, werden

40 M. Mosebach: Nebelfürst, S. 291. 41 Ebd., S. 210.

180 | S ANDRA POTSCH

die Machart und die damit verbundenen stilistischen Eigenheiten des Romans auf eine anschauliche Weise sichtbar. Hält man die Konvolute nebeneinander, so kann der Weg vom Ausgangspunkt, dem Stoff beziehungsweise der Story, zu einer geschickten Verwebung in Fiktion genau nachvollzogen werden. Gefundene Orte, Figuren und Materialien werden in einem gemeinsamen Setting verankert, Leitfiguren und -motive entwickelt, Spielzüge geschickt aneinander gereiht. Das dabei entstandene Manuskript ist alles andere als immateriell und lässt sich geradezu als ästhetisches Objekt betrachten. Zerlegt man es in seine Einzelteile, so wird deutlich, wie viele Wesensmerkmale des Romans sich bereits im Material ablagern und wie mit dem sehenden Blick auf die Originale auch der Roman aus einer neuen Perspektive gelesen werden kann.

Konzept – Performance – Aggregatzustand Yoko Ono’s Bag Piece ausstellen L ISA B EIßWANGER Museums preserve, interpret and promote the natural and cultural inheritance of humanity. [...] Museums are responsible for the tangible and intangible natural and cultural heritage. ICOM CODE OF ETHICS FOR MUSEUMS Museums should respect the integrity of the original when replicas, reproductions, or copies […] are made. ICOM CODE OF ETHICS FOR MUSEUMS I consider the ontological claims of live performance art as a means of resisting the reproductive ideology of visible representations. Defined by its ephemeral nature, performance art cannot be documented. PEGGY PHELAN

Ausstellungen sind als integraler Bestandteil der Aufgaben eines Museums auf materielle Objekte und Artefakte angewiesen. Diesem Anspruch widersetzt sich, wie das Zitat der Theaterwissenschaftlerin Peggy Phelan nahelegt, die ephemere Kunstform Performance. Damit ist in aller Kürze ein Spannungsfeld skizziert, das sich zwischen re-präsentierender Museums-

182 | LISA B EIßWANGER

praxis einerseits und liveness-orientierter Performanceontologie andererseits auftut.1 Jedoch scheint es, als habe dieses paradoxe Verhältnis keineswegs zum Bruch zwischen Institutionen und Kunstform geführt, sondern vielmehr zu einer wachsenden Zahl an Ausstellungen, die es sich explizit zur Aufgabe gemacht haben, künstlerisch-performative Praktiken zu zeigen und zu vermitteln. Sie greifen dabei auf verschiedene Vermittlungs- und Visualisierungsstrategien zurück, zum Beispiel Re-Produktions- und RePräsentationsmedien wie Bewegtbild, Fotografie und Text. Interaktive Displays, Re-enactments oder Wieder-Aufführungen dahingegen betonen den live-Charakter von Performances, indem sie den Rezipient/innen eine körperliche Erfahrung ermöglichen.2 Solche Praktiken bedeuten eine potenziell unendliche Vervielfältigung der Re-Präsentationsmöglichkeiten eines Werks, die den Werk- und Originalbegriff, auf welchen das Museum in besonderer Weise angewiesen ist, entschieden auf die Probe stellen. Zugleich zerschlagen diese Formen der ›Ding-bar‹ gemachten Performancekunst, sofern sie als Untersuchungsgegenstand denn ernstgenommen werden, die Hoffnungen derer, die glauben, die Kunstform könne als genuin institutionskritisches Medium ein als restriktiv wahrgenommenes Kunstsystem qua Immaterialität überwinden.3

1

Vgl. die vorangestellten Zitate: International Council of Museums, ICOM Code of Ethics for Museums, 2013: icom.museum/fileadmin/user_upload/pdf/Codes/ code_ethics2013_eng.pdf vom 16.02.2017, hier S. 1, 8. Das »Immaterielle« fand erst nach der Jahrtausendwende Eingang in die Statuten von ICOM und zeugt, wie auch die Tagung »Das Immaterielle ausstellen« in deren Kontext dieser Text entstanden ist, von einer wachsende Sensibilität für dieses Thema. Vgl. außerdem Phelan, Peggy: Unmarked. The politics of performance, London: Routledge 2005, S. 31.

2

Die hier und im Folgenden verwendete Schreibweise »Re-…« ist ein Versuch, Zeit- und Kontextverschiebungen, die immer mit dem Ausstellen von ephemerer Kunst verbunden sind, in der Diktion zu berücksichtigen. Vgl. ausführlich zu diesem Thema: Jones, Amelia/Heathfield, Adrian (Hg.): Perform, Repeat, Record. Live art in history, Bristol: Intellect Books 2012.

3

»[A]rtists chose performance to break free of the dominant media of painting and sculpture, and constraints of museum and gallery systems«. Goldberg, RoseLee: Performance art. From futurism to the present, London: Thames & Hudson 2014, S. 9.

K ONZEPT – P ERFORMANCE – A GGREGATZUSTAND | 183

Die folgenden Untersuchungen sind angetrieben von der Frage nach einem adäquaten Original- beziehungsweise Werkbegriff für PerformanceKunstwerke, der die genannten Re-Produktionen nicht als defizitär ablehnt, sondern als einzige und legitime Möglichkeit des Ausstellens von Performance ernst nimmt. Der Zugang erfolgt durch eine kontextanalytische Perspektive auf ein Beispiel aus der tatsächlichen Museumspraxis: der Präsentation von Yoko Onos konzeptueller Performance Bag Piece4 in der Ausstellung Yoko Ono: Half-A-Wind-Show – Eine Retrospektive in der Schirn Kunsthalle Frankfurt im Jahr 2013.5 Die Annäherung an das Werk erfolgt bewusst nicht im Sinne einer hermeneutischen Analyse ›vom Werk her‹, sondern in einer doppelten Rückschau auf ein historisches Werk und die inzwischen ebenfalls vergangene Ausstellungssituation.6 Dies entspricht der zwangsläufigen Perspektive einer dem vielbeschworenen ›AufführungsMoment‹ nachgeborenen, die Ausstellungssituation nacherzählenden Kunsthistorikerin.7 Die Frankfurter Ausstellung wurde von der Kuratorin Dr. Ingrid Pfeiffer gemeinsam mit Yoko Ono und dem Fluxus-Experten Jon Hendricks konzipiert.8 Als umfassende Retrospektive angelegt war sie in mehrere chronologisch angeordnete Bereiche gegliedert, in welchen Werke aus ins-

4

Die Datierungen der Werke Yoko Onos beziehen sich auf das Jahr ihrer Konzeption.

5

Ausstellungsdaten: Schirn Kunsthalle Frankfurt: 15.02.2013-12.05.2013; Louisiana Museum of Modern Art, Humblebaek: 01.06.2013-15.09.2013; Kunsthalle Krems: 20.10.2013-23.02.2014; Guggenheim Museum Bilbao: 18.03.201307.09.2014. Es sei angemerkt, dass die Schirn Kunsthalle kein Museum im eigentlichen Sinne ist. Für eine Untersuchung der Ausstellungspraxis stellt das Fehlen einer eigenen Sammlung jedoch keine Einschränkung dar.

6

Ein hermeneutischer Zugang würde bereits die Festlegung auf ein Original implizieren.

7

Vgl. Jones, Amelia: »›Presence‹ in Absentia: Experiencing Performance as Documentation«, in: Art Journal 4 (1997), S. 11-18. Der vorliegende Text bezieht sich im Hinblick auf die Performanz von Performance-Re-Produktionen auf Ideen von A. Jones.

8

Jon Hendricks ist Künstler und Kurator und begleitet Onos Werk bereits seit mehreren Jahrzehnten. Die Autorin des vorliegenden Textes war als kuratorische Assistenz am Projekt beteiligt.

184 | LISA B EIßWANGER

gesamt sechs Jahrzehnten gezeigt wurden. Eine vergleichsweise zurückgenommene Ausstellungsarchitektur strukturierte die Räumlichkeiten, deren integratives wie separierendes Merkmal changierend weiß oder grau gestrichene Wände und Einbauten waren.9 Das erste Drittel der Ausstellung war Onos Frühwerk – den Arbeiten der 1960er und frühen 1970er Jahre – gewidmet. Unter den in diesem Bereich präsentierten Werken waren Manifestationen ihrer konzeptuellen Malerei, einige teils museal präsentierte, teils partizipative Objekte und Installationen sowie in und über Vitrinen verschiedene Objekte und Ephemera, die zumeist im Kontext von Fluxus entstanden waren.10 Prominent im Zentrum dieses Bereichs platziert stand ein zu den Seiten hin offener Pavillon, dessen drei hochaufragende, L-förmige Wandkomponenten nach oben je mit einer weißen Stoffdecke geschlossen waren. In diesem zugleich in sich geschlossenen und durchlässigen Raum wurde Bag Piece als eine von sieben frühen konzeptuellen Performancewerken präsentiert.11 Die Präsentation von Bag Piece nahm zwei der insgesamt sechs verfügbaren Wände ein und umfasste zunächst fünf, auf etwa einen Meter vertikale Kantenlänge aufgezogene Fotografien, welche in horizontaler Reihung direkt auf die graue Wand aufgebracht waren. Zwei Hochformaten folgten zwei übereinander platzierte – und in der Größe an die vertikalen Kanten der Hochformate angepasste – Querformate, welchen sich rechts ein drittes Hochformat anschloss. Die Fotografien waren auf Augenhöhe eines/r Durchschnittsbesuchers/in angebracht. An einer der schräg gegenüberliegenden Wände war eine im Verhältnis zu den Fotografien größere Projektionsfläche vorgesehen, auf der im fortwährenden Wechsel je ein kurzer Auszug filmischer Aufzeichnungen von Bag Piece und Cut Piece (1964), Onos wohl bekanntester Performance, gezeigt wurden. Unterhalb der Fotografien und der Projektion waren Labels angebracht, welche die folgenden Informationen boten:

9

Entwurf: Karsten Weber Studio, Düsseldorf.

10 Ono stand im engen Austausch mit dem Kreis der Fluxus-Künstler/innen, ohne sich jedoch selbst der Bewegung zuzurechnen. 11 Folgende Arbeiten waren, allesamt in Form von Text und schwarzweißReproduktionen, dort vertreten: Lighting Piece (1955), Voice Piece for Soprano (1961), Shadow Piece (1963), Cut Piece (1964), Sky Piece to Jesus Christ (1965) und Lion Wrapping Event (1967).

K ONZEPT – P ERFORMANCE – A GGREGATZUSTAND | 185

»BAG PIECE, 1964 Performed von | by Yoko Ono und | and Anthony Cox Sōgetsu Art Center, Tokio | Tokyo, 11. August 1964 Fotos | Photographs: Yoshioka Yasuhiro Konzept: Sammlung der Künstlerin | Concept collection of the artist Concept Art on Show In London, 1966 Yoko Ono performt | performing BAG PIECE s/w | b/w 3:41 min Ausschnitt | Excerpt Courtesy British Pathé«12

Links neben der Fotoreihe zu Bag Piece war außerdem die dazugehörige schriftliche »Instruction« – so nennt Yoko Ono ihre kurzen Anweisungen und Konzepte – als Wandtext in großen, schwarzen Klebebuchstaben in einer an Schreibmaschinenschrift erinnernden Courier-Schrift angebracht: »BAG PIECE After the curtain has gone up (or if there is no curtain, at the designated time after the announcer announced the piece) two performers walk onto the stage. Performers may be two males, two females, or a mixed couple. Performers carry a bag large enough for both to get inside of. Bag made of non-transparent material. Both performers get inside of Bag. Both remove all clothing while inside of bag. Both put all clothing back on. They come out of bag. They exit with bag from stage. Yoko Ono, BAG PIECE from STRIPTEASE SHOW (1966)«13 12 Labels zitiert nach der Druckvorlage. 13 Die Zeilenumbrüche folgen den Angaben der Künstlerin. Zitiert nach: Pfeiffer, Ingrid/Hollein, Max (Hg.): Yoko Ono. Half-a-wind show. Eine Retrospektive, München/New York: Prestel 2013, S. 30. Dort aus: Ono, Yōko: Strip Tease Show, 1966 Selbstverlag.

186 | LISA B EIßWANGER

Durch die Anbringung in direkter Nachbarschaft zu den Fotografien waren Besucher/innen implizit angehalten, die »Instruction« mit der Folge der Fotografien abzugleichen. Wie das Label mitteilte, waren dort Yoko Ono und Anthony Cox zu sehen, bei einer Aufführung von Bag Piece am 11. August 1964 in Tokio. Von links nach rechts reihten sich folgende Szenen aneinander: Auf dem ersten Bild gehen beide in aufrechter Haltung über die Bühne. Sie sind schwarz und förmlich gekleidet, Ono hält ein zusammengeknülltes Stoffbündel – einen Sack – unter dem Arm. Auf dem zweiten Bild steigt Ono in den Sack, während Cox an seinen Schnürsenkeln hantiert. Auf dem dritten Bild scheint Ono sich bereits im Sack zu befinden, von Cox sind lediglich noch der Kopf, ein Bein und eine Hand zu sehen. Darunter folgte ein Bild, auf dem offenbar beide im Sack verschwunden sind, der nun gleich einer langgezogenen, amorphen Skulptur erscheint. Auf dem letzten Bild der Reihe hantiert Ono, wieder auf der Bühne stehend, mit dem Sack, während Cox sich die Schuhe anzieht.14 Die Aufnahmen sind dem Anschein nach bei einer öffentlichen Aufführung entstanden, die Perspektive des Fotografen aus der ersten Reihe zeigt jedoch nicht, ob tatsächlich Publikum anwesend ist. Der bereits genannte, gegenüber präsentierte Filmausschnitt zeigte ebenfalls Yoko Ono und Anthony Cox, diesmal offenbar nicht bei einem Liveauftritt, sondern in einem Atelier- oder Wohnraum, laut Label im Jahr 1966. Die Aufzeichnung scheint reichlich inszeniert, vermutlich ist sie für eine Fernsehdokumentation entstanden.15 Auf einem kleinen Podest stehend hält Cox den Sack geöffnet für Ono, die das Podest vom linken Bildrand her betritt. Beide tragen etwas weniger förmliche Kleidung als auf den Fotos und ziehen sich diesmal nicht die Schuhe aus, bevor sie in den Sack steigen. Nachdem beide im Sack verschwunden sind, transformiert sich dessen Stoff zu einer dunklen, bewegten Masse. Schnitte ermöglichen wechselnde Perspektiven auf das Geschehen. Nach wenigen Minuten kommen Ono und Cox wieder zum Vorschein, nehmen den Sack und verlassen das Podest.16

14 Die Reihung der Fotografien entsprach vermutlich nicht ihrer eigentlichen Chronologie. 15 Jon Hendricks im Gespräch während der Ausstellungsvorbereitungen. 16 Die vollständige Aufzeichnung ist nicht nur geschnitten, sondern besitzt auch eine Sequenz am Ende, in der Ono ein zweites Mal alleine in den Sack steigt. Diese Szene wurde für die Ausstellung herausgeschnitten.

K ONZEPT – P ERFORMANCE – A GGREGATZUSTAND | 187

Die geschilderte Ausstellungssituation kann als im besten Sinne konventionell bezeichnet werden. Mit großer Wahrscheinlichkeit ahnte kein/e Besucher/in, dass er/sie sich in einer theoretischen Grauzone befand, mitten im ›ontologischen Graben‹, der sich zwischen der objektorientierten Institution des Museums und ephemerer Performancekunst auftut. Im Gegenteil, Ausstellungssituationen wie diese besitzen insbesondere dann eine besondere Selbstverständlichkeit und Überzeugungskraft, wenn sie einer ästhetischen Logik folgen. Diese war gegeben durch die einheitlich auf die Wand tapezierten Schwarzweißfotografien, die allesamt Ono selbst beim Performen ihrer Konzepte zeigten und die alle aus etwa derselben Zeit, den 1960er Jahren, stammten. Diese Homogenisierung verstellt den Blick auf eine künstlerische Praxis, die explizit auf Heterogenität und Intermedialität abzielt.17 Ein Blick auf einige frühe Beispiele Onos künstlerischer Praxis soll dies verdeutlichen: 1964 schreibt Yoko Ono folgende Zeilen an den Fluxus-Gründer George Maciunas: »Many of my music pieces are meant to spread by word of mouth, therefore, do not have scores. This method is essential of the pieces, since the gradual change which occurs in the piece by word spreading is also part of the piece.«18 Diese Notiz begleitete die Vorbereitungen für eine geplante, gedruckte Sammlung ihrer »Instructions« und erklärt, warum Ono bestimmte »Pieces« nicht in schriftlicher Form per Post schicken wollte. Da sie konsequenterweise nicht nennt, um welche »Pieces« es sich handelt, sind diese dem wissenschaftlichen wie musealen Zugriff entzogen, sie bleiben immateriell. Das von ihr genannte Interesse an der Veränderung des Werks durch Übertragungsprozesse aber fand eine konkrete Materialisierung im Werk Word of Mouth Piece (1964), welches Ono zu verschiedenen Anlässen im Rahmen ihrer live-Aufführungen präsentiert hat.19 Ähnlich dem Kinderspiel ›Stille Post‹ flüsterte die Künstlerin

17 Im Ausstellungskatalog weist die Kuratorin wohlgemerkt explizit auf diesen Umstand hin: »Doch im Gegensatz zu vielen Künstlern, deren Lebenswerk ganz auf das Medium der Performance fokussiert ist, waren diese Auftritte für Ono nur ein Ausdrucksmittel unter vielen«. Pfeiffer, Ingrid: »Die Welt in Balance bringen. Yoko Onos Beitrag zu einer Kunst der Selbstreflexion von 1955 bis heute«, in: Pfeiffer/Hollein, Yoko Ono (2013), 23-35, hier S. 29. 18 Ono, Yoko: Grapefruit, Schreibmaschinengeschriebenes Manuskript 1964. O.S. 19 Aufgeführt unter anderem bei einer Veranstaltung in der Yamaichi Concert Hall, Kyoto 20.07.1964.

188 | LISA B EIßWANGER

einer Person im Publikum ein Wort ins Ohr, das in der Folge mündlich weitergetragen und damit nach und nach Gegenstand von Interpretationen und Veränderungen wurde, bis es zum Schluss wieder bei ihr ankam. Mit diesem Werk stellte die Künstlerin ihre schöpferische Autorität zur Disposition. Sie machte künstlerisch wirksam, was Jacques Derrida als »Différance«20 theoretisiert hat, nämlich die Tatsache, dass ein Zeichen aufgrund niemals identischer Kontextbedingungen, niemals im vollständigen Sinne des/r Autors/in wiederholt werden kann. Bei der Übertragung von Sinn entstehe immer ein Rest, eine »Différance«, die ergänzt und/oder fortgenommen wird.21 Ono bezieht diesen Rest explizit in ihre Werke mit ein. Die Separierung von Künstlerin, Konzept und dessen Materialisierung verfolgte sie auch mit ihren Instruction Paintings (1961). Deren Konzept materialisierte sie zuerst in Form von mit Tinte bearbeiteten Zuschnitten aus Jutestoff.22 Die Titel und »Instructions« zu den Werken teilte sie zunächst den Besucher/innen nur persönlich mit. Das Smoke Painting, um nur ein Beispiel zu nennen, sollte vom/von der Rezipienten/in angezündet werden, es dematerialisierte sich folglich im Moment seiner Kunstwerdung, der Aktivierung durch den/die Rezipienten/in.23 In einem zweiten Schritt ersetzte Ono dieselben »Gemälde« durch in japanische Schriftzeichen geschriebene »Instructions«, die sie nicht selbst schrieb, sondern schreiben ließ und die konventionell gerahmt – eben als Gemälde – präsentiert wurden. Nicht das Werk wird hier dematerialisiert, sondern die physische Verbindung der Autorin zum materialisierten Werk. Diese Versuche einer Abkopplung und Freigabe des Werks sind ein radikaler Schritt weg vom Konzept des (männlichen) Künstlers als Schöpfer und Genie.24 Doch wie Derri-

20 Derrida, Jacques: Signatur, Ereignis, Kontext, in: Ders. et al. (Hg.), Limited Inc., Wien: Passagen 2001. 21 Vgl. ebd., S. 29. 22 Für ihre erste Einzelausstellung Paintings & Drawings, 16.07.1961-30.07.1961, AG Gallery New York. 23 Die Idee dematerialisiert sich dabei selbstverständlich nicht. 24 »Yoko OnoȀs idea of license, the setting up of a situation where others could complete a work of art instead of the artist, was a radical departure from the existing concept of the role of the artist.« Hendricks, Jon: »Uncovering Fluxus – Recovering Fluxus«, in: Thomas Kellein (Hg.), Fluxus, London: Thames & Hudson 1995, S. 119-135, hier S. 120.

K ONZEPT – P ERFORMANCE – A GGREGATZUSTAND | 189

da auf Sprache und Schrift Bezug nehmend ebenfalls feststellt, ist eine absolute Trennung von Werk und Autor/in niemals vollständig möglich, selbst wenn sie sich zeitlich und räumlich weit voneinander entfernen.25 Vielleicht nach einer ähnlichen Erkenntnis, möglicherweise auch ganz und gar unphilosophisch dem Wunsch geschuldet ein größeres Publikum zu erreichen, änderte Ono 1964 ihre Strategie und veröffentlichte ihr berühmtes Künstlerbuch Grapefruit.26 Darin war eine Vielzahl der bis dato entstandenen »Instructions« in schriftlicher Form enthalten. Diese Verschriftlichung garantierte das Fortbestehen der konzeptuellen Werke, im Gegensatz zu den immateriell gebliebenen Ideen, die Ono in ihrem Brief an Maciunas erwähnt hatte. Sie werden für Nachgeborene beziehungsweise Nicht-dagewesene greifbar. Im Fall von Bag Piece gingen der schriftlichen Fixierung, die erst 1966 erfolgte, verschiedene physische Iterationen voraus, darunter jene Aufführung 1964 in Tokio und weitere, meist in Theater- oder Konzertkontexten realisierte, Aufführungen. Sie trugen dazu bei, dass Bag Piece für die Kunstgeschichte zu einer Performance wurde, obwohl die konzeptuelle Ausgangslage erst einmal ähnlich war wie bei den anderen »Pieces«, nämlich eine Idee.27 Eine solche Verengung der Rezeption hielt – und dies überrascht keineswegs – die Künstlerin selbst nicht davon ab, das Werk weiteren Metamorphosen zu unterziehen. Gemeinsam mit John Lennon erfand sie Bagism und transformierte das Werk gleichsam in eine politische Bewegung, ähnlich dem zeitgleich entwickelten Bed-In (1969), dessen mediale Wirkung weit über den Kunstkontext hinausreichte. Mehrere

25 »Die Repräsentation supplementiert in der Regel die Anwesenheit. Indem sie aber alle Momente der Erfahrung, soweit sie mit der Zeichengebung zu tun hat, verknüpft, [...] wird dieser Vorgang der Supplementierung [supplémentation] nicht als Unterbrechung der Anwesenheit, sondern als fortgesetzte homogene Wiederherstellung und Modifikation der Anwesenheit in der Repräsentation dargestellt.« J. Derrida: Signatur, Ereignis, Kontext, S. 21. Derrida interpretiert hier Étienne Bonnot de Condillac. 26 Veröffentlicht von Yoko Ono unter dem Verlagsnamen Wunternaum Press, Tokio, 04.07.1964. 27 Ono berichtet über den Ursprung der Idee – sie habe sich aus Schüchternheit vor einem Atelierbesucher verstecken wollen – in einer Fernsehshow. The Dick Cavett Show – John Lennon and Yoko Ono, 08.09.1971: https://www.youtube. com/watch?v=7kXCnKfdGOY vom 17.02.2017.

190 | LISA B EIßWANGER

gemeinsame öffentliche Aufführungen des Bag Piece beziehungsweise Bagism folgten, von Fernsehshows bis hin zu einer Pressekonferenz, die sie aus einem Sack heraus gaben.28 2013 konzipierte Ono schließlich für die Retrospektive in der Schirn Kunsthalle eine partizipative Installation mit dem Titel Moving Mountains, die im abschließenden Raum der Ausstellung gezeigt wurde. Dort lagen unterschiedlich große, schwarze Säcke bereit, in welche die Besucher/innen hineinklettern konnten. Zwei Jahre später, in einer Ausstellung im New Yorker Museum of Modern Art, wurde Bag Piece unter dem ursprünglichen Titel als interaktive Installation präsentiert, flankiert von gerahmten Schwarzweißfotografien von George Maciunas, die nicht den Ablauf einer Performance zeigten, sondern acht dramatisch ausgeleuchtete ›Sackskulpturen‹.29 Diese Interpretation des Werks wurde von einem wandfüllenden Spiegel ergänzt, der das Geschehen auf dem Podest spiegelte. Yoko Onos »sheer range of artistic expression and her poetic and intellectual style continued to puzzle the art establishment […] and the cataloguing, collecting, or display of her mostly ephemeral works remained a challenge most curators found daunting.«30 So schreibt die Kuratorin Alexandra Munroe zur Frage, warum die museale Rezeption von Onos Werk erst relativ spät eingesetzt hat. Vor dem Hintergrund der zahlreichen RePräsentationsmöglichkeiten von Bag Piece erscheint die Schwierigkeit vor allem in der musealen Orientierung am Original zu liegen. Denn die RePräsentation welches/r der genannten Aspekte von Bag Piece gewährleistet die Wahrung der »Integrität des Originals«?31 Was ist der angemessene Bezugspunkt? Ist es die erste überlieferte Aufführung? Die erste schriftliche

28 Zur inhaltlichen Aufladung der Arbeit vgl. Anm. 26 und Anm. 39; die Pressekonferenz fand in Wien am 31.03.1969 statt. 29 Yoko Ono: One Woman Show, 1960–1971, The Museum of Modern Art New York, 17.05.2015 - 07.09.2015. Die Fotografien zeigten eine Performance von Yoko Ono beim Perpetual Fluxfest, Cinematheque, New York, 27.06.1965. 30 Munroe, Alexandra: Spirit of YES. The Art and Life of Yoko Ono, in: Dies./Jon Hendricks (Hg.), Yes Yoko Ono, New York: Japan Society/Harry N. Abrams 2000, S. 10-37, hier S. 11. 31 International Council of Museums, ICOM Code of Ethics for Museums, 2013: icom.museum/fileadmin/user_upload/pdf/Codes/code_ethics2013_eng.pdf vom 16.02.2017, S. 8.

K ONZEPT – P ERFORMANCE – A GGREGATZUSTAND | 191

Fassung von 1966? Diejenige Aufführung, die am besten dokumentiert ist? Wenn an die Stelle eines einzigen Originals und vieler Reproduktionen zahlreiche Re-Präsentationsmöglichkeiten ein und derselben Idee treten, greift der klassische Werkbegriff offenbar zu kurz. Eine Möglichkeit dieser Herausforderung Rechnung zu tragen, eröffnet das durch Derrida für geschriebenen Text erweiterte Konzept der Performanz nach J. L. Austin, welches in Onos Werk bereits angelegt zu sein scheint.32 In einem Abschnitt des manifestartigen Vortrags der Künstlerin an der Wesleyan University 1966 schreibt sie allen ihren Werken einen »event bent«, also einen Ereignis-Charakter zu: »All my works […] have an ›Event bent‹ so to speak. […] Event, to me, is not an assimilation of all the other arts as Happening seems to be, but an extrication from the various sensory perceptions. […] Also, it has no script as happenings do, though it has something that starts it moving«33.

Onos Begriff von Ereignis meint hier keineswegs nur einen einmaligen Präsenz-Moment. Vielmehr geht es ihr um eine performative Aktivierung der Betrachter/innen durch das Werk. Sie selbst umschreibt das mit der Wendung »music of the mind«34 also eine innere ›Musik‹, die ihre Werke in den Betrachter/innen auslösen sollen und die nicht nur vom Werk sondern gleichzeitig immer von den Rezipienten/innen abhängt. An die Stelle einer vorgefertigten oder inszenierten Erfahrung tritt das individuelle Erlebnis. Damit verschiebt sich der Fokus des Interesses von der Frage nach der originalgebundenen Authentizität der Re-Präsentationsmöglichkeiten auf deren Wirksamkeitspotenzial. Für Bag Piece kann das aktivierende »something«, von dem Ono spricht, die »Instruction« sein, es kann aber auch von allen anderen medialen Repräsentationsformen ausgehen, darunter die zahl32 Derrida überträgt Austins Fragestellung der realitätskonstituierenden Wirksamkeit von gesprochener Sprache auf geschriebenen Text und bezieht damit eine Ebene der Mediatisierung in seine Überlegungen mit ein, welches sich in Onos Werk in radikaler Vervielfältigung der möglichen Re-Präsentationsmedien wiederfindet. Vgl. J. Derrida: Signatur, Ereignis, Kontext, S. 32. 33 Ono, Yoko: To the Wesleyan People, in: Dies./John Lennon: Yoko Ono – Grapefruit. A book of instructions + drawings, New York: Simon & Schuster 2000. O. S. 34 Ebd.

192 | LISA B EIßWANGER

reichen Aufführungen und historischen Momente der Materialisierung, die vielerorts abgedruckten »Instructions«, beschreibende Texte, Fotografien, Fotoserien, Filme und Videos, aufbewahrte oder neu angefertigte Säcke, Wiederaufführungen und sogar entfernt verwandte Versionen, wie Manifestationen von Bagism und Moving Mountains und wiederum deren mediale Repräsentationen. Im Moment der Rezeption erwachen sie zum Leben und besitzen trotz aller zeitlicher, örtlicher und medialer Varianz immer einen Bezug zum Konzept beziehungsweise der Idee der Künstlerin, die gleichsam in sie hineindiffundiert ist und aus ihnen heraus wirksam werden kann. Damit können sie alle als Aggregatzustände einer immateriellen Idee gefasst werden, die als potenzielle Re-Präsentationen von Bag Piece auch potenzielle Originale konstituieren. Gemeinsam mit allen anderen Iterationen repräsentieren sie das Werk, das dynamisch seine Form ändern, sich verfestigen oder verflüchtigen kann, ohne dabei, wie Peggy Phelan vermutet, je etwas anderes als es selbst zu sein.35 Die spezifische Qualität der Wirkung oder die Richtung der Aktivierung durch die unterschiedlichen Aggregatzustände kann selbstverständlich sehr unterschiedlich ausfallen. Keineswegs ist die Betrachtung einer Fotografie äquivalent mit dem Erleben einer livePerformance. Beide sind nur im Sinne eines grundlegenden Repräsentationspotenzials des Werks Bag Piece gleichwertig. Um einer mit einem solchen Werkbegriff einhergehenden, drohenden Nivellierung – alles wirkt immer irgendwie – entgegenzuwirken, bedarf es einer kontextspezifischen Differenzierung der Wirksamkeitspotenziale der Aggregatzustände. Ausstellungen zu kuratieren, bedeutet immer zu interpretieren und damit Verantwortung gegenüber den präsentierten Gegenständen zu übernehmen. Der Interpretationsspielraum wächst dabei mit der Anzahl der verfügbaren Aggregatzustände eines Werks. Kehren wir zum Beispiel der Frankfurter Ausstellung zurück. Die beschriebene Kombination der Projektion mit den Fotografien und dem Wandtext ist eine durchaus gängige Prä-

35 Eine Visualisierung dieser Idee könnte einer Wolke oder einem multidimensionalen Netzwerk gleichen, in dem der jeweils in den Fokus gerückte Aggregatzustand im Mittepunkt steht, ohne jedoch die Verbindung zu allen anderen Zuständen zu verlieren. Besonders wirksame Aggregatzustände, wie zur fotografischen Ikone geronnene Fotografien oder Aufführungen durch die Künstlerin selbst, käme ebenfalls eine besonders präsente Stellung in dieser Visualisierung zu.

K ONZEPT – P ERFORMANCE – A GGREGATZUSTAND | 193

sentationsform für Performancekunst, welche die unterschiedlichen Aktivierungspotenziale der Medien Schrift, Fotografie und Bewegtbild nutzt. Die Wahl einer Foto-Serie, die unterschiedliche Zeitpunkte der Performance in Tokio festhält, impliziert Bewegung und Dauer, Elemente, die durch den ergänzenden Film ebenfalls betont werden. Die Wahl besonders früher Aggregatzustände, welche zudem wiederholt die Künstlerin selbst abbilden, stellt Ono als eine herausragende Pionierin der Performancekunst dar, genau wie die Platzierung im Zentrum des ersten Ausstellungsbereichs, die zusätzlich die zentrale Wichtigkeit performativer Ausdrucksformen für Onos künstlerische Praxis betont. Die großformatige, alterierende Filmprojektion von Bag Piece und Cut Piece impliziert, dass es sich hierbei um die Hauptwerke handelt. Das Tapezieren der Fotografien – anstatt sie wie im MoMA als gerahmte Abzüge zu zeigen – und die Tatsache, dass sie stark vergrößert und beschnitten wurden, nimmt ihnen den Objektcharakter.36 Das führt zu einer visuellen Glättung oder Ästhetisierung, zu der auch die dezente Ausstellungsarchitektur beiträgt. Die Kuratorin strebte erklärtermaßen einen Fokus auf das Immaterielle und Poetische, das »Zen-hafte«37 in Onos Werk an, worauf auch der Titel ihres Katalogbeitrags hinweist: Die Welt in Balance bringen38. Diese Ästhetisierung geht auf Kosten einer Historizität, die durch andere Aggregate dargestellt hätte werden können. Während die in Courier-Schrift gesetzte »Instruction« und die ausschließliche Wahl von Schwarzweiß-Abzügen durchaus die 1960er Jahre assoziieren ließen und damit nochmals auf Onos Pionierrolle verwiesen, wurden Momente der körperlichen Erfahrung und eines ›so ist es gewesen‹, das oft mit historischen Performances verbunden wird, ausgeblendet. Keine der Fotografien aus Tokio zeigte das anwesende Publikum oder gar andere Fotografen/innen, die das Geschehen dokumentierten. Ebenso wenig wurden etwa unscharfe oder aus ›unglücklichen Perspektiven‹ aufgenommene Bilder gezeigt, welchen oft ein besonderes Authentizitätspotential zugesprochen

36 Damit tritt die Tatsache in den Hintergrund, dass die Fotografien nicht nur Onos Performance repräsentieren, sondern zugleich auch das Werk des Fotografen sind. 37 Die Kuratorin im Gespräch mit der Autorin während der Ausstellungsvorbereitungen. 38 Vgl. Anm. 16.

194 | LISA B EIßWANGER

wird.39 Nicht realisiert wurden zudem die Vorschläge, einen Stoffsack aus dem Archiv der Künstlerin, als historisches Performance-Relikt, auf einem Podest drapiert zu präsentieren oder eine gerahmte, von Ono mit der Schreibmaschine geschriebene »Instruction« zu zeigen. Das ›poetische Werk‹ wurde auch nicht durch körperliche Erfahrungsangebote für die Besucher/innen beeinträchtigt, wie dies bei einem Re-enactment, einer Wiederaufführung oder einer partizipativen Installation der Fall wäre. Im Vergleich dazu präsentierte die Retrospektive im MoMA die Arbeit zum einen durch gerahmte Fotografien, zum anderen, wie bereits erwähnt, explizit interaktiv – die Aktionen der Besucher/innen wurden sogar durch den dort angebrachten Spiegel verdoppelt, sodass sie sich aus dem Sack heraus selbst als Skulptur betrachten konnten. Sie wurden zusätzlich durch einen O-Ton der Künstlerin ergänzt, die über das Erlebnis der Performenden im Sack berichtet.40 Im Gegensatz zu dieser ›Erfahrungsperspektive‹ betonte die Kuratorin in Frankfurt explizit den skulpturalen Charakter von Bag Piece.41 Im Rahmen der Konzeption einer Ausstellung bedeutet ein wachsender Interpretationsspielraum durch eine große Anzahl möglicher Aggregatzustände keineswegs auch eine größere Interpretationsfreiheit oder gar eine Loslösung von der musealen Orientierung am Original. Im Gegenteil, das Kunstsystem fordert nach wie vor eine Authentifizierung, welche an die Idee der künstlerischen Signatur geknüpft ist, die, wie Derrida bemerkt, ein

39 Solche selten publizierten Bilder lassen sich oft auf Kontaktabzügen in Museumsarchiven einsehen. 40 »When I did the Bag Piece, we got in the bag and we’re very different and also – we’d see the world through it actually. And there’s a big difference between the world and us that way. By being in the bag you show the other side of you which is nothing to do with race, nothing to do with sex, nothing to do with – you know – age actually. Then you become just a spirit, a soul and you can talk soul to soul. I like that idea. To become something totally different. And that’s what you actually experience in the bag.« Ono, Yoko: Audioguide zur Ausstellung Yoko Ono – One Woman Show, Museum of Modern Art, New York 2015, Transkription der Autorin: https://www.moma.org/explore/multimedia/ audios/406/7255 vom 20.12.2016. 41 »[E]ine Aktion […] bei der es vor allem um die äußere Gestalt geht« I. Pfeiffer: Die Welt in Balance bringen, S. 30-31.

K ONZEPT – P ERFORMANCE – A GGREGATZUSTAND | 195

»Anwesend-Gewesen-Sein in einem vergangenen Jetzt«42 bezeugt. Anders als beispielsweise ein Gemälde, das eins ist mit seiner Signatur, da es gleichsam die Handschrift seines/r Autors/in verkörpert und damit auch in seiner/ihrer Abwesenheit eine Aura des Originals entfaltet, muss für aggregierte Werke wie Bag Piece diese ›Signatur‹ erst durch Autorisierungsprozesse bekräftigt werden. Die Autorschaft für die Bag Piece Aggregate ist ähnlich wie bei den Instruction Paintings zwar hinausgezögert, nie aber vollständig aufgehoben, was umgekehrt bedeutet, dass auch eine noch so entfernte Version des konzeptionellen Werks letztendlich unweigerlich auf die Künstlerin als Urheberin des Konzepts zurückverweist.43 Aus diesem Grund behält Ono, die als Urheberin mit allen Bag Piece Iterationen verbunden bleibt, das Privileg der größtmöglichen Autorität und Deutungshoheit über das Werk in allen seinen Manifestationen. Dies ermöglicht es ihr, eine Installation wie Moving Mountains geradezu frei zu assoziieren, was ein/e Kurator/in höchstwahrscheinlich nicht gewagt hätte.44 Es steht ihr aber auch frei, Verantwortung zu delegieren. So geschah die Authentifizierung der Re-Präsentationen von Bag Piece in Frankfurt nicht durch die Teilhabe der Künstlerin an allen Entscheidungsprozessen. Stattdessen gab die Künstlerin die Verantwortung an Jon Hendricks und andere Mitarbeiter/innen ihres Studios sowie an die Kuratorin ab, mit jeweils unterschiedlichen Entscheidungsspielräumen.45 Abschließend autorisierte sie deren Ar-

42 »Eine geschriebene Signatur impliziert per definitionem die aktuelle oder empirische Nicht-Anwesenheit des Unterzeichners. Aber, wird man sagen, sie kennzeichnet – und bewahrt auch sein Anwesend-Gewesen-Sein in einem vergangenen Jetzt [maintenant], welches ein zukünftiges Jetzt bleiben wird, also in einem Jetzt im allgemeinen, in der transzendentalen Form der Jetztheit/Bewahrung [maintenance]« J. Derrida: Signatur, Ereignis, Kontext, S. 43. 43 Derrida beschreibt das Ereignis des Unterzeichnens – den Beweis der Urheberschaft – als »reines Ereignis«. Ebd., S. 43. 44 Jedenfalls nicht im Kunstkontext. In anderen Ausstellungszusammenhängen oder auch in der Museumspädagogik wäre ein freierer Umgang denkbar. Beides sind Gebiete außerhalb der Regeln von Produktion, Präsentation, Distribution und Rezeption des Kunstsystems. 45 Je näher eine Person der Künstlerin steht, desto mehr scheint die Autorität über ihr Werk auf sie überzugehen. Dies eröffnet interessante Fragen nach der ›Vererbung‹ von Interpretationsautorität und einem Moment des ›Rien ne va plus‹,

196 | LISA B EIßWANGER

beit mit mehreren öffentlichen Statements, in welchen sie bekräftigte, dass sie mit der Ausstellung höchst zufrieden sei.46 Damit war die RePräsentationsautorität der Ausstellungsgegenstände im Gesamten durch die Künstlerin hergestellt. – The artist is/has been present.47 Wenn, im Sinne der ethischen Richtlinien von ICOM, Performancekunst als Teil des kulturellen Erbes betrachtet wird, sind Museen dazu verpflichtet, die hervorgebrachten Werke zu bewahren und qua Ausstellungspraxis zu vermitteln. Im Spannungsfeld zwischen Kunstform und Institution übernimmt das Format der Wechselausstellung eine interessante Scharnierfunktion, sie steht gleichsam zwischen den ephemeren Kunstwerken und dem sammelnden und bewahrenden Museum. Zum einen ähneln Ausstellungen, die selbst klaren zeitlichen Begrenzungen unterliegen, ephemerer, zeitbasierter Kunst insofern, als dass auch ihre Konzepte als ephemere Gebilde aggregiert und damit über ihre eigentliche Dauer hinaus bewahrt werden können. (Beispielsweise durch Ausstellungsbesprechungen, durch Dokumentationsmaterial und vor allem durch begleitende Ausstellungskataloge). Zum anderen tragen sie aber, durch eine interpretierende Auswahl der Aggregatzustände ephemerer Kunstwerke, zu deren geschichtsbildenden Deutung bei und besitzen in diesem Zusammenhang eine nicht zu unterschätzende Autorität, die sich bisweilen sehr direkt auf Praktiken des musealen Sammelns und Bewahrens auswirken kann.48 Es dürfte deutlich geworden sein, dass museale Ausstellungen auf Aggregatzustände eines Werks wie Bag Piece regelrecht angewiesen sind. Nur

sobald ein Werk in eine Museumssammlung aufgenommen wird oder kein/e Künstler/in mehr dafür verantwortlich zeichnet. 46 »Schirn did a very good job, itȀs an incredible curating job«. O-Ton Yoko Ono, in einem Video der Schirn Kunsthalle Frankfurt, 2013, Transkription der Autorin: https://www.youtube.com/watch?v=13PGM-sQ8cg&t=233s vom 16.02. 2017. 47 Eine Wendung, welche auf Einladungskarten zu Ausstellungseröffnungen die Anwesenheit des/der Künstlers/in ankündigt und die durch Marina Abramovićs gleichnamige Ausstellung 2010 im MoMA New York sprichwörtlichen Charakter erhielt. 48 Es wäre zum Beispiel vorstellbar, dass die für eine Ausstellung entstandene ReProduktion einer Fotografie von Bag Piece unter diesem Titel in die Sammlung eines Museums eingeht, sofern die Künstlerin diesen Transfer autorisiert.

K ONZEPT – P ERFORMANCE – A GGREGATZUSTAND | 197

durch mediale Vermittlung können immaterielle Ideen in die Welt treten und zum ›Kunst-Werk‹ werden. Den Bedenken gegenüber Performancedokumentation, wie sie im obenstehenden Eingangszitat von Peggy Phelan zum Ausdruck kommen, ist nur insofern zuzustimmen, als dass es tatsächlich unmöglich ist, einen vergangenen Aufführungsmoment verlustfrei wiederherzustellen.49 Doch mit Blick auf Derridas Überlegungen zu Kontext, Ereignis und Signatur und der dargestellten konzeptuellen Praxis Yoko Onos wird deutlich, dass jeder Aufführung eine Idee, beziehungsweise ein Konzept vorausgeht, von der aus betrachtet selbst die besonders ›originalverdächtig‹ erscheinende erste Aufführung nur eine von vielen möglichen Manifestationen eines Werks darstellt. Während die Idee zu einer Performance als immateriell bezeichnet werden kann, ist eine Aufführung zwar ephemer, zugleich aber eine sehr materielle und körperliche Situation. Sie erfüllt damit die visuelle und materielle Voraussetzung für eine mediale Übertragung in weitere Aggregatzustände, deren In-die-Welt-treten nicht mehr zwangsläufig auf den/die Künstler/in angewiesen ist. Abschließend sei noch einmal betont, dass das Konzept der Aggregatzustände es für Ausstellungsmacher/innen nicht erleichtert, Auswahlentscheidungen zu treffen, denn es tilgt weder das Phänomen künstlerischer Autorität noch die museale Fokussierung auf ein Original. Beim Ausstellen von Performancekunst beziehungsweise deren Aggregatzuständen gilt deshalb weiterhin die Prämisse, die »Integrität des Originals«50 zu wahren. Das bedeutet eine kontextbezogene, angemessene Art und Weise der RePräsentation zu finden, unter bewusster Akzeptanz von ›Différance‹, unter Abwägung aller möglichen Aggregatzustände, behutsamer Interpretation und Beachtung von Autorisierungsmechanismen. In der Theorie ermöglicht das Konzept der Aggregatzustände, alle möglichen Manifestationen eines Werks zunächst wertfrei nebeneinander stehen lassen zu können und ist damit geeignet, künstlerische Praktiken der Inter-

49 Solche Versuche scheitern unweigerlich, die Kunsthistorikerin Hannah Higgins fühlt sich durch sie an Zombies und Untote erinnert. Vgl. Higgins, Hannah: Reperformance. A Typology (= Symposium: Revisions: Object – Event – Performance since the 1960s), New York City September 21st. https://www.youtube. com/watch?v=W_ViObHFWXs 02:58:00 vom 16.02.2017. 50 icom.museum/fileadmin/user_upload/pdf/Codes/code_ethics2013_eng.pdf vom 16.02.2017, S.8.

198 | LISA B EIßWANGER

medialität und Fluidität beschreibend zu fassen und damit den engen musealen Werkbegriff zumindest für eine vorläufige Gleichwertigkeit unterschiedlicher Materialisierungsformen ein und desselben Werks zu öffnen. Ein in diesem Sinne erweiterter Werk- und Originalbegriff entspricht den heute fest mit den 1960er Jahren assoziierten, avantgardistischen Bestrebungen einer Erweiterung des Kunstbegriffs, deren produktiver Beitrag zur Entwicklung der Kunst nicht etwa in der Überwindung der Institutionen lag – diese wäre fulminant gescheitert –, sondern in einer Dehnung und Erweiterung der Möglichkeiten und Rahmenbedingungen des Kunstsystems, dessen Bestandteil Kunstausstellungen nach wie vor sind.

›Laute Dinge‹ Konzeptionelle Fragen im Vorfeld der Sanierung von Goethes Wohnhaus in Weimar A NNA B ERS

›Als wäre Goethe gerade erst aus der Tür gegangen‹, diese Formulierung trifft relevante Aspekte dessen, was eine Besucherin, ein Besucher des berühmten Goethe-Wohnhauses am Weimarer Frauenplan erlebt. Für diese Wahrnehmungsinhalte schlägt der Beitrag den Begriff fixiertes Erinnerungsbild vor. Dieses Phänomen wird in seiner Genese reflektiert und in seinem Wert für eine kulturelle Gemeinschaft umrissen. Anschließend wird diskutiert, welche Aspekte der Erinnerung durch fixierte Erinnerungsbilder möglicherweise zu kurz kommen.

1. AUSGANGSSITUATION Goethe hat den überwiegenden Teil seines Lebens (1782 bis 1832, mit Unterbrechungen) im Haus am Frauenplan gelebt. Er hat es zu seinen Lebzeiten immer wieder programmatisch umgestaltet und so selbst dafür gesorgt, dass es heute nicht nur die architektonische Hülle für Gegenstände der Goethe-Erinnerung und -Verehrung, sondern selbst eine Art Kunstwerk ist und zum Denkmal werden konnte.1 Die Geschichte des Hauses nach Goethes 1

Vgl. dazu weiter die aktuellste Begleitmonografie zum Haus: Holler, Wolfgang/Knebel, Kristin (Hg.): Goethes Wohnhaus, Weimar: Klassik Stiftung 2014.

200 | A NNA B ERS

Tod ist in ihren großen Linien schnell erzählt (für die Details, Exkurse und Brüche bedarf es der Sorgfalt):2 Die Erben Goethes öffnen das Haus nicht für den Publikumsverkehr, es bleibt zunächst Wohnhaus. Nur einzelne Räume (Arbeitszimmer, Bibliothek, Schlafzimmer) werden versiegelt und dienen punktuell dem Personenkult um Goethe im 19. Jahrhundert. Insbesondere diese wenigen Räume sind es, die den Eindruck von Originalität, Authentizität, Echtheit3 möglicherweise bis heute zu konservieren vermochten, weil ihre Einrichtung – vermeintlich lückenlos – auf 1832 rückführbar ist. Seit 1886/87 ist das Haus ein Museum, mehr noch – ein Nationalmuseum.4 Und schon der erste Direktor, Carl Ruland, setzt, wo es geht, auf das bis heute verfolgte museologische Gesamtkonzept: eine historische und/oder historisierende Einrichtung. Die bekannten Räume in der ersten Etage werden mit Mobiliar, Kunstwerken und anderen Gegenständen aus Goethes Besitz bestückt.5 Die ›Echtheit‹ und die ›Richtigkeit‹ der Wiedergabe gründet auf einem Kontinuum von Kenntnisständen: von Originalen am historischen Ort über Entscheidungen nach Zeitzeugenberichten bis zu stilistisch angemessenen Dingen an irgendwie passender Stelle.6 Von Beginn an hat also die bis heute dominierende Präsentationsform einen

2

Vgl. dazu die umfassende und kleinschrittige Aufarbeitung der Hausgeschichte von Kahl, Paul: Die Erfindung des Dichterhauses. Das Goethe-Nationalmuseum in Weimar. Eine Kulturgeschichte, Göttingen: Wallstein 2015.

3

Konzepte wie diese stehen im vorliegenden Beitrag auf dem Prüfstand. Zunächst können sie pauschal als Effekte der Rezeption behandelt werden, einzelne Diskussionen und weiterführende Literatur werden punktuell angeführt.

4

Vgl. P. Kahl: Erfindung, S. 129-133 und zuvor Breuer, Constanze/Kahl, Paul: »Nationalmuseen als personalisierte Erinnerungsorte. Zu einem Phänomen des 19. Jahrhunderts am Sonderfall des Goethe-Nationalmuseums in Weimar«, in: Anne Bohnenkamp (Hg.), Häuser der Erinnerung. Zur Geschichte der Personengedenkstätte in Deutschland, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2015, S. 197209.

5

Vgl. P. Kahl: Erfindung, S. 134-136.

6

Die frühen Einrichtungen zeigten in viel stärkerem Maße als heute in Räumen mit besonders unsicherer Quellenlage eine Mischform aus Interieur und einer Bestückung mit historisch nachempfundenen Vitrinen.

›L AUTE DINGE ‹ | 201

Platz im Haus. Ein Umbau im Wohnhaus von 1910,7 der Anbau von 1913/148 und der Neubau von 19359 verschaffen den umfangreichen Sammlungsbeständen zusätzliche Räume, sodass im Wohnhaus schließlich die (vermeintliche) Verbürgtheit der Einrichtungsgegenstände zum einzigen Kriterium wird. Für weitere Objekte, thematische Ausstellungen, Vitrinen, Text, Präsentation und historische Rahmung stehen nun zusätzliche Flächen zur Verfügung. Spätestens seit den 1950er Jahren sind schließlich alle Zimmer der ersten Etage bis heute unverändert.10 Aus konservatorischen Gründen soll das Haus nun in den nächsten Jahren – freilich nicht zum ersten Mal – beräumt werden. Eine anschließende grundhafte Sanierung von Bauteilen und technischen Anlagen ist notwen-

7

Vgl. Schuster, Gerhard: »›Wiederholte Spiegelungen‹«, in: Gerhard Schuster/Caroline Gille (Hg.), Weimarer Klassik: Wiederholte Spiegelungen 17591832. Ständige Ausstellung des Goethe-Nationalmuseums, München/Wien: Hanser 1999, S. 21-31, hier S. 22.

8

Vgl. den Überblick bei Chotiwari, Maja: »125 Jahre Goethe-Nationalmuseum am Frauenplan«, in: Dieter Höhnl/Jochen Klauß (Hg.), Goethe zieht Kreise. 125 Jahre Goethe-Nationalmuseum (1885-2010) und 100 Jahre Vereinigung der Freunde (1910-2010), Weimar: Keßler 2010, S.10-22. P. Kahl: Erfindung, S. 145-148 und 163-178.

9

Insbesondere die Geschichte des zweiten Anbaus, dessen Entstehen ohne die nationalsozialistische Landesregierung und Mittel aus einem Hitler persönlich unterstellten Fonds nicht möglich gewesen wäre, ist ein wichtiger Bestandteil der Hausgeschichte, vgl. neben P. Kahl: Erfindung, S. 163-178 auch Dietrich, Andrea: »›Ein Denkmal der Dankbarkeit Deutschlands‹. Der zweite Erweiterungsbau des Goethe-Nationalmuseums. Idee – Entwürfe – Ausführung 19301935«, in: Hans Wilderotter/Michael Dorrmann (Hg.), Wege nach Weimar. Auf der Suche nach der Einheit von Kunst und Politik, Berlin: Jovis 1999, S. 99-108 und Dietrich, Andrea: »›Geistige Weihestätten‹. Der zweite Erweiterungsbau des Goethe-Nationalmuseums und die Nietzsche-Gedächtnishalle«, in: Justus H. Ulbricht (Hg.), Klassikerstadt und Nationalsozialismus, Weimar: Stadtmuseum 2002, S. 145-156.

10 Vgl. Seibert, Peter: »›Unmittelbarster Zugang zu Goethes Leben und Schaffen‹. Goethe-Häuser und Goethe-Ausstellungen zwischen 1945 und 1951«, in: Hellmut Th. Seemann/Thorsten Valk (Hg.), Literatur ausstellen. Museale Inszenierungen der Weimarer Klassik, Göttingen: Wallstein 2012, S. 187-206.

202 | A NNA B ERS

dig. Im Zuge dieser Maßnahme soll auch die bisherige Präsentation einer kritischen Prüfung unterzogen werden – als Teil dieser Prüfung versteht sich der vorliegende Beitrag.11 Möglicherweise gibt es sehr gute Gründe, das Haus in der beschriebenen, vom Publikum liebgewonnenen und seit dem 19. Jahrhundert favorisierten Weise wieder zu bestücken. Angesichts neuerer kulturwissenschaftlicher Forschungen ist es aber sinnvoll, die Chance eines Tabula-rasa-Denkens nicht zu verpassen und so zumindest theoretisch keine Möglichkeit der Gestaltung außer Acht zu lassen. Einige Gründe hierfür und mögliche andere Ansätze werden im Folgenden diskutiert.

2. W AS

WIR SEHEN

Was Besucherinnen und Besucher sehen, wenn sie nach Weimar fahren und durch die Räume des Wohnhauses gehen, sind nicht selten ihnen bekannte Bilder. Nicht nur Goethe-Fans und Literaturwissenschaftler, Literaturwissenschaftlerinnen kennen etwa den Salve-Gruß an der Schwelle oder die Zimmerflucht im Vorderhaus. Und selbst wer diese Bilder noch nicht kennt, wird Konstellationen wie die genannten nach dem Besuch nicht als ungefilterte oder rohe visuelle Eindrücke, sondern als geordnete Erinnerungsbilder mit nach Hause nehmen und nicht so schnell vergessen. Es handelt sich bei ihnen nämlich um bereits ikonisch gewordene Erinnerungen als Träger des kollektiven Gedächtnisses.12 Dafür müssen die Bilder

11 Die Verfasserin war von 2015 bis 2016 als wissenschaftliche Volontärin der Abteilung Museen in der Klassik Stiftung Weimar an den Vorbereitungen zur Beräumung beteiligt. Der vorliegende Beitrag bewegt sich also im Spannungsfeld zwischen einem Praxisreport aus Sicht einer Beteiligten und theoretischer Reflexion einer externen Literaturwissenschaftlerin. Für eine konstruktive Auseinandersetzung und vielfachen sachlichen Input ist Bettina Werche, der Leiterin der Abteilung Goethe-Nationalmuseum innerhalb der Klassik Stiftung, zu danken. 12 Die Erinnerungs- und Gedächtnisforschung geht spezifizierend bekanntlich von den Arbeiten Maurice Halbwachs’ aus. Wenn hier von visuellen Erinnerungen die Rede ist, ließe sich auch an Aby Warburg denken, an dessen deutlich wertenden Zugang hier allerdings bewusst nicht angeknüpft werden soll. Als wich-

›L AUTE DINGE ‹ | 203

nicht einmal rationalisiert und kognitiv durchdrungen sein – ein Wissen um die Axiome der Klassik und der Farbenlehre sind für eine funktionalisierte Erinnerung der Türschwelle und der Raumflucht nicht von Nöten. Das fixierte Erinnerungsbild entsteht,13 indem es über eine lange Zeit von vielen Akteurinnen und Akteuren wiederholt und benutzt wird und so schließlich potenziell Unabhängigkeit von permanenter kommunikativer und interaktiver Aktualisierung erlangt. Am besten kann man das daran zeigen, dass man den Salve-Gruß als Fußmatte und die farbenprächtige Türrahmenreihe14 als Poster im Museums- oder Online-Shop der Klassik Stiftung bestellen und das Bild so konservieren und distribuieren kann.15 So arbeitet jede Besucherin, jeder Besucher zugleich an der Aktualisierung und Verstetigung der Erinnerung mit. Und: Das ist nichts Schlechtes. Die aus den Notwendigkeiten und Ideen der Gegenwart gespeiste Erinnerung einer Kultur läuft über Individuen, die niemals identische, aber einander dennoch verwandte und so kollektivierbare Erfahrungen machen und sich darüber austauschen.16 Dieses unumgängliche und notwendige Erinnern ist es, das hier vor dem Hintergrund eines Primats der ›lauten Dinge‹ beschrieben werden soll.

tigste Bezugsgröße der neueren deutschsprachigen Debatte sei auf die fortgesetzten Beiträge von Jan und Aleida Assmann verwiesen, die in diesem Kontext bibliografisch nicht vollständig wiedergegeben werden müssen. 13 Dieser Terminus soll vorgeschlagen werden, weil er – soweit nachvollziehbar – in der Erinnerungsforschung bisher nicht gebräuchlich und daher nicht mit wertenden Konnotationen versehen ist. 14 Dieses berühmte fixierte Erinnerungsbild offenbart sich deshalb als Konstruktion, weil zu Goethes Lebzeiten die Türen niemals sämtlich offenstanden und so der optische Eindruck allein für das Gedenken zugänglich ist, vgl. Trunz, Erich: »Das Haus am Frauenplan in Goethes Alter«, in: Ders.: Ein Tag aus Goethes Leben. Acht Studien zu Leben und Werk, München: Beck 1990, S. 42-70, hier S. 51-52. 15 Vgl. https://www.museumsshop-weimar.de/ vom 17.01.2017. 16 Man kann Erinnerung über drei Dimensionen fassen: eine materiale (hier: fixierte Erinnerungsbilder), eine mentale (hier: Erfahrungen der Individuen) und eine soziale (hier: kollektivierbare Erfahrung), vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung, Stuttgart/Weimar: Metzler 2005, S. 102-104.

204 | A NNA B ERS

Im Wohnhaus am Frauenplan ist der ›Lärm‹ vor allem visuell. Das konnten die beiden genannten Erinnerungsbilder hoffentlich verdeutlichen. Die Objekte sprechen vernehmlich und zwar mit der optischen (auch: räumlichen und manchmal haptischen) Wahrnehmung. Die leisen Töne lassen sich dagegen im Bereich des Immateriellen und Unsichtbaren verorten. Ziel dieses Beitrags ist es, nach der Notwendigkeit und den Möglichkeiten einer Balance aus lauten Dingen und leisen Geschichten zu fragen. Die synästhetische Metapher verweist deshalb durch ihren ›Fehler‹ darauf, dass das Sprechen über Dinge und Bilder einen Nachteil hat. Wie so viele verwandte Konzepte (die Aura scheint zu leuchten, die Echtheit liegt vermeintlich im Material und so weiter) klingt ›laute Dinge‹, als sei von erfahrungsunabhängigen Objekteigenschaften die Rede, als sprächen die Dinge von selbst. Und tatsächlich scheint es dem Besucher, der Besucherin ja auch so, als sei die Echtheit, Originalität, die Aura und Materialität etwas, das die Dinge aus sich heraus besäßen und das nun sekundär aufgenommen werde. Dass der Lärm der Dinge durch kulturelle Praxis und ein aktives Erinnern erst entsteht, verschleiert die Metapher – ebenso wie es Einrichtungskonzepte tun, die den Objekten bewusst den Status von sprechenden Instanzen einräumen. Die Existenz fixierter Erinnerungsbilder ist darüber hinaus auch nicht nur nichts Schlechtes, sondern auch nichts Neues. Das kollektive Gedächtnis besteht – konsensuell geläufigen Unterscheidungen zufolge17 – aus dem an die Gegenwart anschließenden kommunikativen Gedächtnis und dem drei Generationen entfernten kulturellen Gedächtnis. Für den Umgang mit den fixierten Erinnerungsbildern des kommunikativen Gedächtnisses sorgen im Fall der genannten Beispiele verschiedene Akteure und Akteurinnen mit ihren jeweiligen Anliegen und Bildungshintergründen: Besucher, Besucherinnen, der Audioguide, die Tourismusinstitutionen, bildungs- und kul-

17 Vgl. etwa die folgenden Einführungen und Nachschlagewerke: Bering, Dietz: [Art.] Kulturelles Gedächtnis, in: Nicolas Pethes/Jens Ruchatz (Hg.), Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt-Taschenbuch-Verlag 2001, S. 329-332; A. Erll: Kollektives Gedächtnis, S. 27 und S. 112-114 und Levy, Daniel: [Art.] Das kulturelle Gedächtnis, in: Christian Gudehus/Ariane Eichenberg/Harald Welzer (Hg.), Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart u.a.: Metzler 2010, S. 93101, hier S. 93.

›L AUTE DINGE ‹ | 205

turpolitische Entscheidungsträger, die Kuratoren und Kuratorinnen, die Postkartenshops in Weimar, die Klassik Stiftung, die Reisgruppen und so weiter. Das kulturelle Gedächtnis speist sich aus den Erinnerungen vergangener Generationen, die allerdings der Speicherung übergeben, institutionalisiert und somit stillgestellt werden. Es ist tatsächlich nachweisbar, dass die fixierten Erinnerungsbilder im Goethe-Wohnhaus am Frauenplan auf die Erinnerungspolitik des 19. Jahrhunderts zurückzuführen sind:18 Auf sogenannten Ansichtentassen des 19. Jahrhunderts19 findet sich das Haus in derselben ikonischen Repräsentationsform wie auf Postkarten der Gegenwart. Das neuere kommunikative Gedächtnis steht also hier in einer kontinuierlichen Traditionslinie mit dem kulturellen Gedächtnis. Diese Tatsache ist einerseits nahezu trivial. Eine derart kontinuierliche Erinnerung zeigt nichts anderes, als dass das Erinnerte (Goethe zum Beispiel) überzeitlich einen hohen und quasi-objektiven Stellenwert für die jeweilige Gegenwart hat. Es wird allerdings zu diskutieren sein, inwiefern die fixierten Erinnerungsbilder mit ihren lauten Dingen dazu beitragen, historische Brüche zugunsten eines solch glatten Narrativs zu überdecken und so die Kontinuität in den Vordergrund zu rücken.20 Darüber hinaus steht die Erinnerungskultur, die das Goethe-Nationalmuseum seit 1886 hervorbringt, nicht nur im Zeichen einer bis heute nachweisbaren Goetheverehrung, diese selbst ist vielmehr ihrerseits in zeitgenössische Bewegungen des nation buildings eingebunden.21 Und dieses Projekt ist heute genauso Teil unserer Geschichte und zugleich Fremdkörper der Kulturpolitik wie das Wort National-

18 Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in den frühen Hochkulturen, München: Beck 1992, besonders S. 50. 19 Vgl. etwa eine Tasse aus den Beständen der Klassik Stiftung, 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, Inv.Nr.: Kg-2012/12 und weitere Zeugnisse dieser Art bei Kahl, Paul: »Zur Einführung«, in: Höhnl/Klauß, Goethe zieht Kreise (2010), S. 4-9, hier S. 7. 20 Vgl. dazu die Kritik an der Vorstellung einer »ungebrochenen« Kontinuität bei Kahl, Paul: »Eine Hinweistafel fehlt: Das Weimarer Goethehaus im zwanzigsten Jahrhundert. Forschungsbericht und offene Fragen«, in: Weimar-Jena. Die große Stadt. Das kulturhistorische Archiv von Weimar-Jena 5/1 (2012), S. 28-37. Die Formulierung, auf die Kahl abhebt, findet sich in der ersten Auflage (2011) von Holler/Knebel, Goethes Wohnhaus (2011), hier S. 7. 21 Vgl. P. Kahl: Erfindung, S. 104-105.

206 | A NNA B ERS

museum uns unhinterfragt vertraut und dennoch in seiner Diktion antiquiert erscheinen mag. Ein weiterer Effekt der Kontinuität von fixierten Erinnerungsbildern ist der Folgende: Wenn viele der lauten Dinge – zu Recht – die Funktion einer Vergewisserung über die Generationen und einer Verstetigung der Erinnerung übernehmen, dann wird diese Funktion möglicherweise auch auf Dinge übertragen, die historisch einen anderen Status besitzen. »Zwei Generationen genügen wohl, um die Wahrheit eines Erscheinungsbildes mit seiner Wirklichkeit zu verwechseln.«22 An den Einrichtungsgegenständen im Wohnhaus lässt sich dies jedenfalls nachweisen: Es gibt einerseits eine große Zahl von Objekten im Haus, deren Besitzstand durch Quellen belegt sind. Diese Quellen sind ihrerseits nicht selten funktionaler Teil der Erinnerungskultur. Dass das Arbeitszimmer kurz vor oder kurz nach Goethes Tod schon so ähnlich aussah, wie es sich heute präsentiert, belegt das berühmte Schmeller-Gemälde (von 1831 oder 1834),23 auf das noch zurückzukommen sein wird. Bis zum heutigen Tage werden selbst die kleinsten Objekte in Übereinstimmung mit den Arrangements dieses Gemäldes und anderen Quellen drapiert.24 Es gibt auch solche Erinnerungsbilder, die sich an der Oberfläche für den Besucher und die Besucherin ganz ähnlich darbieten. Anders aber als im Arbeitszimmer, das seit jeher Gedenkort war, rekurriert die Darbietungsform dort aber auf nichts, was zeitgenössisch und dann kontinuierlich von Erinnerung begleitet vorlag. Das Kleine Esszimmer etwa ist in der heutigen Form eine museale Einrichtung, die nicht auf 1832 (oder Ähnliches) zurückgeht, sondern sich nach 1886 peu à peu (und von Quellenarbeit begleitet) so etabliert hat. Zwischenzeitlich war es das Direktorenzimmer des Museums. Dass auch mit dieser Oberfläche dennoch Erinnerungsbilder

22 G. Schuster: »Wiederholte Spiegelungen«, S. 27. 23 Joseph Schmeller: Goethe in seinem Arbeitszimmer John diktierend, 66 × 59,5 cm, 1834 [1831?], Identnummer: 846. Vgl. dazu G. Schuster: »Wiederholte Spiegelungen«, S. 22-23. 24 Auch bei dieser Einrichtung handelt es sich freilich um eine Inszenierung, die – selbst wenn jedes noch so kleine Detail verbürgt wäre – immer den Status eines Erinnerungsmediums hat und Originalität erst konstruiert, vgl. dazu weiter den vierten Abschnitt dieses Beitrags. Zu materiellen Veränderungen auch im Arbeitszimmer vgl. P. Kahl, »Eine Hinweistafel fehlt«, S. 30-31.

›L AUTE DINGE ‹ | 207

verbunden sind, deren Qualität sich nicht von denen der vermeintlich ›echten‹ unterscheidet, verweist auf den Konstruktionscharakter, der beiden Darbietungen zu eigen ist. Auch das ›originale‹ Arbeitszimmer ist heute das Resultat eines fast 200-jährigen kulturellen Handelns. Für diese Perspektive gibt es keinen Unterschied zwischen Original und Rekonstruktion:25 Das Erinnern verantwortet die ›lauten Dinge‹ – nicht Goethes Tun. Diese Perspektive einzunehmen, gehört zu den möglichen Strategien, die eine gedankliche Überprüfung der Einrichtung einnehmen können: Sie fragt nach dem Konstruktionscharakter der Erinnerung, der sowohl für verbürgt-historische als auch für ausschließlich historisierende Interieurs gleichermaßen charakteristisch ist. Dieser Charakter ist nicht nur immateriell – sondern gemessen an der lauten Präsenz der Objekte – auch leise. Man kann sich fragen, ob er zukünftig einen größeren Resonanzraum bekommen soll.

3. W AS

GEZEIGT WERDEN KÖNNTE

Das Spannungsverhältnis von lauten Dingen und leisen Geschichten kann man nun nicht nur mittels einer Mikroperspektive an einzelnen Erinnerungsbildern zeigen, sondern auch, wenn man eine Makroperspektive auf das Haus als Ganzes einnimmt. Dazu dient die Erörterung der folgenden Tabelle.

25 Vgl. P. Kahl, »Eine Hinweistafel fehlt«, S. 31-32: »Fundierende Geschichte hat die Aufgabe, ein Handeln oder einen Zustand in der Gegenwart – etwa die Unvergleichlichkeit einer Stätte – zu begründen und damit Identität zu stiften. Sie ist normativ und, so Assmann, ›völlig unabhängig davon, ob sie fiktiv oder faktisch ist‹.«

208 | A NNA B ERS

5. Bewertung

4. Problemfelder 3. Musealisierung 2. Medialer Status 1. Gegenstand

Tabelle 1 Goethe

Literatur / Goethes Werk

Das Haus als zeittypisches

als Geschichtsort

Die Nation

Bildende Kunst im Haus

Historische Biografie (immateriell)

Literatur (immateriell)

Bauliches Ensemble & Einrichtung (materiell)

Seine Geschichte (immateriell)

Die Nation(en) (immateriell)

Gemälde, Plastiken, Grafiken etc. (materiell)

Personengedenkstätte (Dichtehaus)

Literaturmuseum

Heimatmuseum, Bürgerhaus

Geschichtsmuseum

Nationalmuseum

Kunstmuseum

Geschichte ausstellen? Autorschaft, Inszenierung, Immaterialität

Immaterialtät, NichtAusstellbarkeit

Bewahren, Rekonstruieren, Konservierungsfragen

Ort kultureller Zuschreibung, Ideologisierung?

Konstruktion von Nation?

Aura, Original vs. Ausstellung

(++)

(-)

(- -)

(+)

(-)

(o) sekundär

Im Folgenden seien zunächst verschiedene Kandidaten von Gegenständen vorgestellt, die präsentiert und rezipiert (intendiert gezeigt und rezeptionsseitig wahrgenommen) werden. Die Relevanz des Gegenstandes ›Goethe‹ ist natürlich nicht dieselbe wie die des Gegenstandes ›Nation‹ – eine Tatsache, die die Präsentationsform als Tabelle aus systematischen Gründen zunächst verschleiert. Anschließend kann als zweites die mediale Verfasstheit dieser Gegenstände untersucht werden, die sich auch an die Frage der Ausstellbarkeit von Immateriellem rückbinden lässt. Aus diesen beiden Perspektiven auf das Haus lassen sich dann drittens unterschiedliche museale Grundformen ableiten, die historisch und systematisch mit ganz unterschiedlichen konzeptionellen Herausforderungen verbunden sind und die sich – viertens – auf kulturwissenschaftliche Problemfelder zurückführen

›L AUTE DINGE ‹ | 209

lassen. Schließlich kann eine vorläufige Bewertung unternommen werden,26 die hervorhebt, dass nicht alle Gegenstände denselben Stellenwert im Wohnhaus haben (müssen). 3.1 Gegenstände des Zeigens im Wohnhaus Der vermutlich relevanteste Gegenstand der Präsentation im Wohnhaus ist Goethe – als Dichter, Staatsmann, Naturwissenschaftler, Sammler, Gestalter des Hauses, aber auch als Familienvater, Ehemann und vor allem in seiner Eigenschaft, biografisch all diese Dimensionen zu vereinen. Ein zweiter Gegenstandskandidat wäre die Literatur. Hier sind Facetten wie die Präsentation und Verehrung des Goethe’schen Werks, der Literaturepoche oder auch der (deutschen) Literatur insgesamt denkbar. Die dritte Möglichkeit besteht darin, das Haus selbst als Gegenstand zu begreifen. Hier ließen sich zwei unvereinbare Modelle unterscheiden: einerseits das Haus als (typisches) Bürgerhaus des 18. und 19. Jahrhunderts (›Wie lebte, aß, schlief man um 1800?‹) und andererseits das Haus als extraordinärer Geschichtsort, an dem Literatur-, Kultur-, Geistes- und Nationalgeschichte wie an wenigen anderen Orten zusammenlaufen. Viertens ist auch die Nation möglicherweise ein Gegenstand der Darstellung, schließlich heißt das Ensemble bis heute Nationalmuseum und außerdem wird das Haus auch als Ort wahrgenommen, der in Beziehung zu aktuellen politischen Entwicklungen Deutschlands oder der deutschen Kultur steht. Die großen Bestände bildender Kunst, die im Haus zu sehen sind, stellen einen fünften Gegenstand dar. Weil Goethe sie besaß, sind sie bis heute im Haus zu sehen und stellen spezifische Anforderungen an Repräsentation und Konservierung. Damit ist die Reihe möglicher Gegenstände keineswegs abgeschlossen, weitere sind denkbar, können hier aber keine Berücksichtigung finden (etwa die historische Epoche, andere, etwa naturwissenschaftliche Sammlungen Goethes und vieles mehr). 3.2 Mediale Verfasstheit der Gegenstände Diese Gegenstände verhalten sich medial und ontologisch unterschiedlich. Nicht immer lässt sich ein einziger medialer Status ausmachen. So sind be-

26 Zur Perspektive der Bewertung vgl. Anm. 11.

210 | A NNA B ERS

stimmte Kontexte, die zum Verstehen des Hauses und der Kunstwerke benötigt werden, durchaus auch immateriell, und so ist Literatur immer an materielle Trägermedien gebunden, ebenso wie Biografien und Nationen. Welche Vermittlungsart und Verfasstheit aber gegenüber anderen dominieren, kann jeweils deutlich werden: Im Wohnhaus am Frauenplan lässt sich so festhalten, dass der Gegenstand Goethe, seine Biografie und die Inhalte unseres Personengedenkens immateriell sind. Das gilt auch für Goethes Werk, die Literatur, das Haus als Geschichtsort und ein Konstrukt wie ›Nation‹. Von (potenziell ›lauten‹) materiellen Objekten sind dagegen eine Ausstellung des Hauses als bauliches Ensemble mit Einrichtung und die Kunstbestände geprägt. 3.3 Virulente kulturwissenschaftliche Grundfragen All diesen Bedingungen entsprechen kulturwissenschaftliche Diskussionen, die zu führen wären, wenn ein oder mehrere Gegenstände gezeigt werden sollen.27 Alle Kategorien übergreifend stellt sich zunächst die Frage nach der Spannung zwischen Zeigen und Rezeption. Allgemeine Fragen der Deixis28 gegenüber der ästhetischen und sensorischen Erfahrung, der kuratorischen Intention und der empirischen Wahrnehmung durch die Besucher und Besucherinnen29 sind hier zu diskutieren. Darüber hinaus sind Museen auch grundsätzlich zugleich Instrumente der Wissensvermittlung und der Erinnerungskultur – was zu Spannungen führen kann, aber nicht muss. Das Vermitteln von Goethe als Gegenstand müsste sich mit Konzepten wie Autorschaft,30 Inszenierung31 oder Personenkult32 auseinandersetzen

27 Im Folgenden können stets nur Schlüsselwörter aufgerufen und ganz wenige, exemplarische Forschungsbeiträge zu überwiegend sehr umfangreichen Diskussionen genannt werden. 28 Vgl. Krämer, Sybille: »Sagen und Zeigen. Sechs Perspektiven, in denen das Diskursive und das Ikonische in der Sprache konvergieren«, in: Zeitschrift für Germanistik 3 (2003), S. 509-519. 29 Vgl. Baur, Joachim (Hg.): Museumsanalyse: Methoden und Konturen eines neuen Forschungsfeldes, Bielefeld: transcript 2010. 30 Vgl. etwa Schaffrick, Matthias/Willand, Marcus: Theorien und Praktiken der Autorschaft, Berlin/Boston: De Gruyter 2014 oder die Sammlung prominenter

›L AUTE DINGE ‹ | 211

und stünde vor Fragen der Ausstellbarkeit von Geschichte.33 Die Geschichte ist dabei ein ebenso notwendiges wie extrem fragwürdiges immaterielles Bezugskonzept wie es die Bedeutung eines Textes oder Werkes ist. Wenn Literatur also deshalb nicht ausstellbar sein sollte,34 weil sie vornehmlich aus erstens komplexen, zweitens kognitiven und drittens umfangreichen In-

Positionen bei Jannidis, Fotis u. a. (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart: Reclam 2000. 31 Vgl. Seel, Martin: »Inszenieren als Erscheinenlassen. Thesen über die Reichweite eines Begriffs«, in: Josef Früchtl/Jörg Zimmermann (Hg.), Ästhetik der Inszenierung. Dimensionen eines künstlerischen, kulturellen und gesellschaftlichen Phänomens, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001, S. 48-62; Thiemeyer, Thomas: »Inszenierung und Szenografie. Historische Semantik eines musealen Grundbegriffs und seines Herausforderers«, in: Zeitschrift für Volkskunde 108/2 (2012), S. 199-215. 32 Vgl. Kirchner, Alexander: »Personenkult«, in: Gert Ueding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 10, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2012, Spalte 872-886. 33 Vgl. Schröder, Vanessa: Geschichte ausstellen - Geschichte verstehen. Wie Besucher im Museum Geschichte und historische Zeit deuten, Bielefeld: transcript 2013; Christoph, Barbara/Dippold, Günter (Hg.): Geschichte im Museum - Objekte und Konstrukte: Vorträge einer Tagung des Bezirks Oberfranken und der Hanns-Seidel-Stiftung, Bayreuth: Bezirk Oberfranken, Servicestelle für Museen 2012. 34 Die Diskussion hat sich – anders als u.a. Hochkirchen, Britta/Kollar, Elke: »Einleitung«, in: Dies.: (Hg.), Zwischen Materialität und Ereignis: Literaturvermittlung in Ausstellungen, Museen und Archiven, Bielefeld: transcript 2015, S. 721, hier S. 7 hoffen, offenbar noch nicht gänzlich erschöpft, wie die eng verwandte, aber sinnvollerweise nicht auf Literatur allein beschränkte Frage nach der Ausstellbarkeit des Immateriellen in diesem Band zeigt. Die Immaterialität von literarischer Bedeutung ist in keiner relevanten Weise von der Immaterialität anderer kultureller Instanzen (etwa von Geschichte, naturwissenschaftlichen Kausalzusammenhängen, ästhetischen Programmen, kulturellen Narrativen etc.) verschieden. Gleichzeitig gibt es eine Reihe von sinnvollen Argumenten gegen die Unausstellbarkeitsthese. Statt nach der Unmöglichkeit, stellt sich deshalb eher die Frage nach sinnvollen Um- und Übersetzungen von kognitiven Gehalten in eine Ausstellung.

212 | A NNA B ERS

halten besteht,35 dann trifft das ungemindert auch auf die Gegenstände Biografie oder Geschichte zu.36 Weitere mögliche Diskussionen in Bezug auf den Gegenstand Literatur sind die Schwierigkeiten, fiktionale Texte museal zu präsentieren oder auch komplexe Sprachkunstwerke mit spezifischen Eigenschaften in andere Medien zu übersetzen37 sowie eine mögliche Skepsis gegenüber Kanonisierungsbewegungen durch Museen.38 Ebenso wie ›die Bedeutung‹ und ›die Geschichte‹ das Resultat von kognitiven Prozessen sind, so ist auch ›die Nation‹ als Gegenstand ein tückisches Objekt musealer Darstellung. Selbst wenn man aus einer Nation lieber eine Kultur macht und wenn man dann in etwa wüsste, was die deutsche Kultur auszeichnet, ist es nicht einfach, diese Konstruktionen im Museum zu vermitteln. Hier bedürfte es grundsätzlicher Debatten sowie einer Balance aus konzeptioneller Festsetzung und grundsätzlicher Offenheit. In einer Spannung zwischen kulturellem Gedächtnisort und individuellem Personengedenken, also zwischen historischen und nationalen gegenüber biografischen Referenzen befindet sich das Haus als Geschichtsort. Als konkretes Gebäude des 18. und 19. Jahrhunderts ist es dagegen vor allem von Fragen des Bewahrens, Konservierens und Reproduzierens betroffen. Beide Arten, das Haus zum Gegenstand zu machen (das Haus als historisches Ensemble und das Haus als Geschichts- und Gedenkort), unterscheiden sich durch ihre strukturell gegenläufigen Affinitäten zur Konservierung und Restaurierung auf der einen und Konstruktion und Rekonstruktion auf der anderen Seite. Die bildende Kunst im Haus ist ebenso wie das Haus als Kunstwerk überdies von Diskussionen über Authentizität, Aura, Originalcharakter etc. be-

35 So die Zusammenfassung und Wiederlegung wichtiger Argumente bei Wehnert, Stefanie: Literaturmuseen im Zeitalter der neuen Medien Leseumfeld – Aufgaben – didaktische Konzepte, Kiel: Ludwig 2002, S. 72-77; vgl. zur Artikulation dieser Argumente zuerst: Barthel, Wolfgang: »Literaturausstellungen im Visier«, in: Neue Museumskunde 27/1 (1984), S. 4-13, hier S. 4. 36 Vgl. dazu ebd. 37 Vgl. Bohnenkamp, Anne/Vandenrath, Sonja (Hg.): Wort-Räume. ZeichenWechsel. Augen-Poesie, Göttingen: Wallstein 2008. 38 Vgl. Breuer, Constanze: »Literarische Museen und Gedenkstätten im deutschsprachigen Bereich«, in: Gabriele Rippl/Simone Winko (Hg.), Handbuch Kanon und Wertung: Theorien, Instanzen, Geschichte, Stuttgart/Weimar: Metzler 2013, S. 205-209.

›L AUTE DINGE ‹ | 213

rührt, die sich stets auf die doppelte (an den Urheber, die Urheberin und die Rezipientin, den Rezipienten gebundene) Gemachtheit von Materiellem beziehen müssen. 3.4 Museologische Typologie Den beschriebenen Eigenschaften lassen sich durch eine weniger an kulturphilosophischen Grundfragen interessierte und dafür einer eher aus der Praxis gespeisten Debatte Museumstypen zuordnen.39 Mit diesen Typenbezeichnungen sind verschiedene Diskussionen und Praktiken verbunden.40 Die Tatsache, dass im Wohnhaus am Frauenplan potenziell sehr heterogene Gegenstände gezeigt werden (könnten), lässt sich also in eine Typologie der möglichen Museen umformulieren, die dann hier zugleich vertreten wären. Goethe als Gegenstand macht aus dem Haus eine Personengedenkstätte, genauer: ein Dichterhaus. Die Literatur oder Goethes Werk würde aus dem Haus ein Literaturmuseum machen. Das Haus als historisches Ensemble ließe sich in der Form eines Heimatmuseums oder eines volkskundlich erschlossenen Gebäudes (wie im Freilichtmuseum) darstellen, wohingegen das Haus als Geschichtsort aus ihm eine Mischung aus Gedenkstätte und Historischem bzw. Geschichts-Museum machen würde. Die Nation hätte im Wohnhaus ein Nationalmuseum und die bildende Kunst ein Kunstmuseum.

39 Museen zu typologisieren und nach objektiven Kriterien zu systematisieren, ist eine Herausforderung, vgl. Walz, Markus: »[Art.] Grundprobleme der Museumstypologie«, in: Ders. (Hg.), Handbuch Museum, Stuttgart: Metzler 2016, S. 78-80. Die hier aufgerufenen Subtypennamen verstehen sich daher als eine zur Diskussion anregende, eher alltagsprachliche Benennung. 40 Vgl. zu einigen Unterscheidungen, die hier aufgerufen werden: Kahl, Paul: »Museum – Gedenkstätte – Literaturmuseum. Versuch einer Begriffsklärung am Beispiel von Schillers Marbacher Geburtshaus 1859-2009«, in: Anne Bohnenkamp (Hg.), Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts, Göttingen: Wallstein 2010, S. 339-360, besonders S. 360 und Holm, Christiane: »Ausstellung/Dichterhaus/Literaturmuseum«, in: Natalie Binczek/Till Dembeck/Jörgen Schäfer (Hg.), Handbuch Medien der Literatur, Berlin: De Gruyter 2013, S. 569581.

214 | A NNA B ERS

3.5 Bewertung Dieser bewusst konjunktivisch gehaltene, systematische Durchgang durch verschiedene Gegenstände der Präsentation sollte zeigen, welche Konzepte im Haus am Frauenplan potenziell eine Rolle spielen könnten. Einige von ihnen sind dort tatsächlich umgesetzt, andere nicht. Für das Tabula-rasaGedankenexperiment war dieses Vorgehen nützlich. (Man stelle sich vor, aus dem Haus könnte ein Heimatmuseum zum Alltagsleben im 19. Jahrhundert oder eine Kunstaustellung werden, um auf diesem Wege zu erkennen, was längst gesetzt ist.) Die vorgestellten Gegenstände werden heute wie folgt bewertet.41 Der zentrale Gegenstand der Ausstellung im Goethe-Wohnhaus war42 und ist ganz klar: Goethe. Die Literatur – und das mag überraschen – ist es dagegen gerade nicht. Für deren Vermittlung gibt es einerseits die Dauerausstellung (derzeit: Lebensfluten – Tatensturm), die ebenfalls an Goethe als Person orientiert ist, aber zusätzlich wichtige Werke und ihre Deutungen inkludiert.43 Andererseits ist dafür innerhalb der Klassik Stiftung und in Weimar das Goethe- und Schillerarchiv verantwortlich. Dort werden die

41 Diese aktuelle Bewertung speist sich aus Intentionen des Zeigens und Rezeptionserfahrungen, also aus den mir mitgeteilten Haltungen der Abteilung Museen und demjenigen, was an Rezeptionszeugnissen zugänglich ist: Gespräche mit Besucherinnen und Besuchern, einer Studierendengruppe, Gästebucheinträge und eigene Beobachtungen. Eine methodisch fundiertere Erhebung wäre wünschenswert, konnte aber im Rahmen dieses Beitrags nicht geleistet werden. Zur Intention des Zeigens lassen sich aktuelle Publikationen der Klassik Stiftung, ihr Leitbild, das Gesamtkonzept Kosmos Weimar, Stiftungs-Monographien, das Jahrbuch etc. konsultieren; zur Besucherwahrnehmung im Goethe-Nationalmuseum vgl. die empirische Studie zu Personenmuseen in Israel und Deutschland von Irit Dekel, Institut für Sozialwissenschaften, HU Berlin; erste Teilveröffentlichungen voraussichtlich 2017. 42 Vgl. zum überzeitlich »gemeinsame[n] Nenner« Goethe, G. Schuster: »Wiederholte Spiegelungen«, S. 27. 43 Holler, Wolfgang/Püschel, Gudrun/Werche, Bettina (Hg.): Lebensfluten – Tatensturm. Die Ausstellung im Goethe-Nationalmuseum, Weimar: KlassikStiftung 2015.

›L AUTE DINGE ‹ | 215

Handschriften heute (als materielle Repräsentation von Literatur) beherbergt und gezeigt.44 Das Ensemble als zeittypisches ist kein Gegenstand der Darstellung, obgleich hier ein sehr gut erhaltener Gebäudekomplex und zahllose historische Objekte vorliegen.45 Das liegt einfach daran, dass das Haus alles andere als typisch ist. Es steht vielmehr für eine singuläre historische Konstellation und ihre Zentralfigur Goethe und weniger für die Zeit um 1800. Diese Singularität, die sich erst durch retrospektive historische Sortierungen (das Erinnern und Gedenken) ergibt, macht aus dem Haus aber gleichzeitig durchaus einen Geschichtsort. Und diese Dimension deutlicher als bisher hervorzukehren, könnte eine zukünftige Aufgabe sein. Im Rahmen des Konzepts Geschichtsort ist die Geschichte des Hauses spätestens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch Teil der Nationalgeschichte. Darauf verweist bis heute der Name Goethe Nationalmuseum. Hier ließe sich also ebenfalls konzeptionell weiterdiskutieren. Die bildende Kunst im Haus war und ist definitiv ein Gegenstand der Ausstellung. Sie ist es aber auf eine einzigartige Weise nur sekundär. Obgleich im Haus zahlreiche bedeutende Gemälde, Skulpturen, Plastiken, Keramiken etc. gezeigt werden, sind sie in ihrer Präsentation der Vermittlung von Goethes Leben nachgeordnet. Das sieht man am besten am Fehlen von Beschriftungen. Die Präsentation der Biografie setzt auf das beschriebene Konzept der fixierten Erinnerungsbilder, das offenbar nicht mit Beschriftungen zu vereinbaren ist. Dort, wo dies technisch möglich ist, sind heute im Haus übrigens Faksimiles angebracht, die nicht nur die Originale ins geschützte Depot zu verlagern, sondern auch weitere, gleichzeitige Kunst-Ausstellungen an anderen Orten

44 Vgl. Gfrereis, Heike: »Was man liest, wenn man sieht? Überlegungen zum Verhältnis von Literatur und Original, Archiv und Ausstellung«, in: Hochkirchen/Kollar, Zwischen Materialität und Ereignis (2015), S. 43-51. 45 Im Umgang mit den Dingen im Haus ist es das erklärte Ziel des Museums, diese – gemäß aktueller Ansätze aus der Dingforschung – als Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung mit den genannten immateriellen Ausstellungsgegenständen zu wählen. Vgl. exemplarisch die Studie zur Wissensordnung im Haus anhand des Mobiliars: Holm, Christiane: »Goethes Gewohnheiten. Konstruktion und Gebrauch der Schreib- und Sammlungsmöbel im Weimarer Wohnhaus«, in: Sebastian Böhmer u.a. (Hg.), Weimarer Klassik. Kultur des Sinnlichen, Berlin: Deutscher Kunstverlag 2012, S. 116-125.

216 | A NNA B ERS

ermöglichen. Diese Tatsache verweist zusätzlich darauf, dass der unumstößliche Auftrag des Museums, seine wertvollen Güter zu bewahren (und zu erforschen) nicht an deren Präsentation in einer ständigen Ausstellung gebunden ist. Alle hier erfolgten Fragen beziehen sich auf die Ausstellungsbeziehungsweise auf die Vermittlungssäule der bekannten ICOMStandards.46 Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass als Gegenstände einer Ausstellung im Wohnhaus am Frauenplan erstens Goethe, zweitens – das gälte es zukünftig zu prüfen – auch das Haus als historischer Gedenkort zwischen Hausgeschichte und Nationalgeschichte und drittens, allerdings nur über Goethe als Vermittler, die Kunstwerke im Haus in Frage kommen. Achtet man in Bezug auf diesen Schwerpunkt nun aber auf die mediale Verfasstheit, so ergibt sich ein besonderer Befund. Goethe und das Haus im Sinne eines Geschichtsortes als wichtigste Gegenstände sind dominant immateriell und die Inhalte, die zu vermitteln sind, besitzen die Eigenschaften besonders komplexer gedanklicher Konzepte: Biografie, Personengedenken, Geschichte, Nationalgeschichte und so weiter. Die materiellen Gegenstände – das historische Haus im Sinne eines Heimatmuseums und die bildende Kunst – spielen keine wichtige Rolle für ein sinnvolles museologisches Konzept. Das ist deshalb besonders interessant, weil – wie eingangs gezeigt wurde – die (vermeintlich) echten, originalen, historischen Dinge das Erlebnis und das kollektive Erinnern dominieren. Diese Diskrepanz lässt sich in der Formel ›Als wäre Goethe gerade erst zur Tür hinaus gegangen‹ fassen:47 Wir wissen, dass genau das nicht der Fall ist und dass historische Distanz und Erinnerungsarbeit zwischen uns und den Dingen stehen. Zugleich sind wir aber in der Lage, die attraktive Fiktion einer großen Nähe und eines Eintauchens in die Geschichte aufrecht zu erhalten.

46 Vgl. etwa in der Variante des Deutschen Museumsbunds: http://www.museums bund.de/fileadmin/geschaefts/dokumente/Leitfaeden_und_anderes/Standards_ fuer_Museen_2006.pdf vom 30.01.2017, hier S. 6. 47 Vgl. die Reflexion dieses Topos auch bei G. Schuster: »Wiederholte Spiegelungen«, S. 26.

›L AUTE DINGE ‹ | 217

4. W AS

MAN ZUSÄTZLICH ZEIGEN KÖNNTE

Diese besondere Situation macht möglicherweise den besonderen Reiz des Wohnhauses aus. Es kann sein, dass die lauten Dinge nicht nur einem linearen Erinnerungsnarrativ dienen, sondern auch das individuelle Erlebnis zu einem einzigartigen machen. Vielleicht tun sie das auch nicht obwohl, sondern gerade weil sie die genannten immateriellen Gegenstände übertönen – und zwar an einem Ort, der grundsätzlich für die abstrakten Konzepte Geschichte, Nation, Biografie, Literatur und so weiter zahlreiche Anknüpfungspunkte bieten kann (oder müsste). Anders formuliert: Vielleicht kann ein singulärer Ort wie das Goethe-Wohnhaus etwas bieten, was es nur (noch) selten gibt – Unmittelbarkeit, Echtheit, Authentizität, Originalität, Materialität und ähnliche Konstruktionen. Und vielleicht ist es genau richtig, dafür die Tatsache auszublenden, dass eben diese kulturell gemachten Wahrnehmungen im Dienste immaterieller Instanzen stehen, um so das Erlebnis nicht zu gefährden. Um die hier versuchsweise eingenommene Perspektive jedoch weiter zu verfolgen, kann man noch einmal fragen, welche Art von nicht-materiellen, leisen Geschichten denn zu hören wären, wenn man an der beschriebenen Situation etwas ändern würde. Damit kann man zur Mikroebene und zu einzelnen Gegenständen zurückkommen. Die Einrichtung des Arbeitszimmers, so wurde bereits angedeutet, hat sich tatsächlich nach Goethes Tod nicht grundlegend verändert. Und auch der erste Direktor Carl Ruland hatte keine Veranlassung, hier einzugreifen. Darüber hinaus basieren, wie beschrieben, die Einrichtung dieses und aller Zimmer, wenn möglich, auf Quellen. Die fixierten Erinnerungsbilder haben so überwiegend eine Beziehung zu historischen Situationen. Gleichzeitig ist es wichtig, sich vor Augen zu halten, dass eine historische Verbürgtheit alles andere als eine notwendige Bedingung zum Entstehen eines fixierten Erinnerungsbildes ist. Das genannte Schmeller-Gemälde ist zum Beispiel in seiner Funktion als Bürge selbst eine Konstruktion zum Zwecke der Erinnerung: Während das Haus nach Goethes Tod verschlossen bleibt, dient das Gemälde ab 1840 als bildkünstlerischer Stellvertreter der unzugänglichen Räume in der Bibliothek der Goetheverehrung.48 Es handelt sich in der Darstellung nicht um eine dokumentarische Momentaufnahme, sondern

48 Vgl. zu den Hintergründen G. Schuster: »Wiederholte Spiegelungen«, S. 24.

218 | A NNA B ERS

um ein Arrangement, das ebenso wie die heutige Einrichtung ein bestimmtes Bild fixieren und dann tradierbar machen will: Das Gemälde ist bekanntermaßen eine Montage49 aus dem Guckkastenzimmer, einzeln komponierten Requisiten sowie einer Goethe-Plastik von Rauch50 und einer früheren Schmeller-Skizze des Schreibers John.51 Schon früh wird so das Arbeitszimmer zur Kulisse für eine scheinbar authentische Erfahrung. Und diese Tatsache selbst könnte man in einer musealen Einrichtung zeigen. Die Fiktion, das Arbeitszimmer sei eine Art unberührter Zeitkapsel, lässt sich zudem an folgendem Sachverhalt diskutieren: Am 9. Februar 1945 wird das Haus an der Westseite von einer Bombe der Alliierten getroffen. Seitdem sind in einigen Räumen Bauteile durch Rekonstruktionen ersetzt worden (Mansardenräume, Junozimmer, Urbinozimmer und auch die Decke des Arbeitszimmers). Diese Beschädigung verweist, wenn man hier weiterdenkt, darauf, dass alle Bauteile und Möbel durch die Zeit, Witterungsverhältnisse, Umbauten, den Publikumsverkehr und viele weitere Faktoren nicht mehr denselben materiellen Status haben wie zu Goethes Lebzeiten – egal, ob sie sich selbst überlassen, kontinuierlich instandgehalten oder restituierend restauriert wurden. Die philosophische Frage nach dem Schiff des Theseus trifft auf die Objekte und die Architektur im Haus am Frauenplan zu. Sie fordert hier allerdings weniger eine Entscheidung für oder gegen den Originalstatus als vielmehr ein gemeinsames Nachdenken über diesen als kulturelle Konstruktion. Ebenfalls anhand des Arbeitszimmers könnte man außer an den Effekten von Unmittelbarkeit, Echtheit, Authentizität, Originalität und Materialität auch an der Wahrnehmung von ungebrochener Kontinuität sowohl der Objekte als auch der damit verbundenen Deutungen und Ideologeme rühren: Aus Sorge um die Einrichtung des Hauses war es nämlich während des zweiten Weltkriegs beräumt (übrigens nicht nur damals). Für den Transport

49 Vgl. »Bildet der Maler etwas ab, was uns durch ihn vertraut geworden ist – oder zieht er eine Summe von Bildlösungen, die ihrerseits das Bild konstituieren?«, ebd., S. 22. 50 Daniel Christian Rauch: Goethe im Hausrock, Klassik Stiftung Weimar / Museen, 36,5 × 13 × 12,5 cm, Gips, 1828, Identnummer: 1499. 51 Joseph Schmeller: Johann August Friedrich John während eines Diktats, Klassik Stiftung Weimar / Museen, 413 × 286 mm, Kohle, 1831, Identnummer: 202663.

›L AUTE DINGE ‹ | 219

ließen der Direktor des Museums – Hans Wahl52 – und der Bürgermeister von Weimar im Konzentrationslager Buchenwald von Häftlingen circa 80 Kisten zimmern.53 Dass die Kulturgüter unbeschadet den Krieg überlebt haben, hängt also unmittelbar mit der Existenz und Geschichte des Konzentrationslagers zusammen. Dieser Sachverhalt kann stellvertretend für die historische Verbindung zwischen Museum und Machteliten (aller Zeiten54) stehen. Das allerdings sieht man nicht. Und man könnte sich dazu entscheiden, die immaterielle historische Beschriftung, die den Gegenständen anhaftet, zu Wort kommen zu lassen. Zu diesem Zweck gibt es derzeit im Aufgang zur Dauerausstellung eine Installation der Künstlerin Naomi Tereza Salmon (geboren 1965) unter Verwendung der Transportkisten.55 Ein hausgeschichtlicher Ausstellungsbereich im Erdgeschoss des Wohnhauses ist in Vorbereitung. Es ließen sich weitere, auch weniger punktuelle und dafür konzeptionell übergreifende Repräsentationsformen der ›leiseren Geschichten‹ in Erwägung ziehen.

52 Vgl. zu dieser Zentralfigur, die wie keine andere für eine diskussionswürdige Kontinuität im Haus steht: Bomski, Franziska/Haufe, Rüdiger/Wilson, W. Daniel (Hg.): Hans Wahl im Kontext, Leeds: Maney 2015. 53 Vgl. u.a. P. Kahl: Erfindung, S. 198-199. 54 Die Beschäftigung mit dem Haus in der DDR-Zeit findet bereits statt, muss aber zukünftig sicher noch vertieft werden, vgl. Ehrlich, Lothar: »Gedenkstätten in der DDR. Der paradigmatische Erinnerungsort Weimar«, in: Bohnenkamp, Häuser der Erinnerung (2015), S. 293-304 und Ehrlich, Lothar: »›Aneignung des klassischen Erbes‹. Die Weimarer Goethe-Museen von 1960 und 1982«, in: Seemann/Valk, Literatur ausstellen (2012), S. 207-226. Die Zeit nach 1990 und auch die unmittelbare Gegenwart sollten – sobald die historische Distanz eine Auseinandersetzung erlaubt – ebenso zum Gegenstand der (Selbst-)Reflexion werden. 55 Tereza Salmon: Installation mit Fotoarbeit; Titel: ›Verlagerung‹, 1999.

220 | A NNA B ERS

5. Z USAMMENFASSUNG : D IE H ERAUSFORDERUNG – V ERMITTLUNG ZWISCHEN LAUTEN D INGEN UND LEISEN N ARRATIVEN Wie sich gezeigt hat, ist der Eindruck, Goethe sei gerade erst zur Tür hinausgegangen, kein Naturzustand. Er ist eine intendierte Konstruktion, die eine Funktion für das Erinnern und Gedenken hat. Es gibt gute Gründe, an dieser Konzeption festzuhalten. Diese Gründe aber zunächst zu reflektieren und dann gegebenenfalls transparent zu machen, ist eine Herausforderung. Sie lässt sich als Balance zwischen den fixierten Erinnerungsbildern mit ihren lauten Dingen und leisen, komplexen, immateriellen, an Brüchen reichen Geschichten und Fragen beschreiben. Man könnte sie außerdem als Spannung zwischen der Notwendigkeit einerseits homogenisierender Erinnerung und andererseits fragender Offenheit beschreiben – beides sollen Museen leisten. Im Haus am Frauenplan interferieren Literatur- und Kulturgeschichte, nationale Selbstvergewisserung, individuelle und gesellschaftliche Bildungsanliegen, Stadtpolitik, Personengedenken und vieles mehr seit zwei Jahrhunderten. Das Haus ist so ein hochgradig dichter Ort, der sowohl Kontinuitäten und Stabilität erlaubt als auch das Objekt von dynamischer Zuschreibung und von kulturellem Wandel ist. Beide Dimensionen zu beachten, könnte gewinnbringend sein. Die richtige Gewichtung der einen gegenüber der anderen Seite ist eine große Aufgabe. Der vorliegende Beitrag wollte dazu Anregungen liefern, indem er erstens die Struktur des Erinnerns im Wohnhaus am Frauenplan analysiert, zweitens die Gegenstände der Präsentation systematisch auf ihre Bedingungen und Möglichkeiten hin befragt und drittens sich aus diesen Kontexten ergebende Schwierigkeiten und Potenziale angerissen hat.

IV. Digitale Medien und interaktive Strategien in Ausstellungen

Zur inszenatorischen Immaterialisierung von Literatur als musealem Objekt V ANESSA Z EISSIG

Literaturausstellungen haben es nicht leicht. Allein im Deutschen Literaturarchiv Marbach sind 1.400 Schriftsteller- und Gelehrtennachlässe mit über 50 Millionen Blättern, Büchern und Gegenständen archiviert, die es in die Expositionen drängt.1 In den Museen und Gedenkstätten Deutschlands werden hauseigene literarische Schätze stolz präsentiert. Strenggenommen ist Literatur aber nicht materiell,2 sodass die zahlreichen Ausstellungen mit den Archivalien ihrem Namen kaum gerecht werden. Diese objektbezogene Zurschaustellung liegt zunächst darin begründet, dass das museale Ausstellungswesen noch heute von einer Dingwelt dominiert wird. Objekte gehören zum und ins Museum und sollen dort zumeist Vergangenes veranschaulichen. Während in der Antike das museion als früheste Referenz und wohl bedeutendste Ausprägung der Institution Museum der künstlerischen und wissenschaftlichen Weiterentwicklung sowie Erneuerung verpflichtet war

1

Vgl. https://www.dla-marbach.de/museen/dauerausstellung-die-seele/ vom 02.

2

Vgl. Hügel, Hans-Otto: »Einleitung. Die Literaturausstellung zwischen

07.2017. Zimelienschau und didaktischer Dokumentation: Problemaufriß – Literaturbericht«, in: Susanne Ebeling/Hans-Otto Hügel/Ralf Lubnow (Hg.), Literarische Ausstellungen von 1949 bis 1985: Bundesrepublik Deutschland – Deutsche Demokratische Republik. Diskussion, Dokumentation, Bibliographie, München: K.G. Saur 1991, S. 7-38, hier S. 13.

224 | V ANESSA ZEISSIG

und einen Ort der interdisziplinären Vernetzung formte,3 verharren heutzutage die meisten Museen in der vermeintlichen Ausübung ihres Bildungsauftrages im Vorzeigen von repräsentativen Objekten. Die politisch subversiven Bedeutungselemente des Terminus Museum verschwanden bis zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus dem kollektiven Gedächtnis,4 sodass die heutigen institutionellen Strukturen und Regularien sowie die Erwartungshaltung der zumeist bildungsbürgerlich sozialisierten Besucherinnen und Besucher tief verankert sind und ein Abweichen von der Norm erheblich erschweren.5 Der Präsentationscharakter eines Schaudepots bleibt somit weiterhin an der Institution Museum haften. Literaturausstellungen haben neben dieser eingefahrenen Praxis ein weiteres Problem: In der objektorientierten Museumswelt ist der eigentliche Gegenstand ihrer Vermittlung weder greifbar noch anschaubar, sondern immateriell. Aus dieser Schwierigkeit heraus entwickelte sich in den 1980er Jahren eine Debatte über die generelle Ausstellbarkeit von Literatur, die seither in der wissenschaftlichen Theorie und der expositorischen Praxis polarisiert. Literaturausstellungen haben seit Jahren Konjunktur, die gezeigten Inhalte und ihre Gestaltung unterscheiden sich allerdings nur marginal. Der Fokus liegt auf der Objektivierung des Literarischen und damit auf dem Ausweichen auf Ausstellbares. In der Regel werden in deutschen Literaturausstellungen somit nicht der Inhalt eines Romans oder seine Formkunst, sondern die Lebenswelt der Autorin oder des Autors und die Entstehung ihrer Werke in Form von materiellen Gegenständen gezeigt. Diese biografistisch orientierten Schauen reduzieren Literatur so jedoch auf vorzeigbare Objekte, die dadurch zu Substraten der Literatur degradiert werden und die inhaltliche Seite in den Hintergrund drängen. In Anbetracht dieser

3

Vgl. Bast, Gerald: »Museum ohne Dinge?«, in: Martina Griesser/Christine Haupt-Stummer/Renate Höllwart/et al. (Hg.), Gegen den Stand der Dinge. Objekte in Museen und Ausstellungen, Berlin: Walter de Gruyter 2016, S. 9-10, hier S. 9.

4

Vgl. Baur, Joachim: »Was ist ein Museum? Vier Umkreisungen eines widerspenstigen Gegenstandes«, in: Ders. (Hg.), Museumsanalyse. Methoden und Konturen eines neuen Forschungsfeldes, Bielefeld: transcript 2010, S. 15-48, hier S. 22.

5

Vgl. Tyradellis, Daniel: Müde Museen. Oder: Wie Ausstellungen unser Denken verändern könnten, Hamburg: edition Körber-Stiftung 2014, S. 25, 31.

Z UR

INSZENATORISCHEN I MMATERIALISIERUNG

| 225

Praxis wird die Frage laut, wie mit der immateriellen Dimension in Literaturausstellungen umgegangen werden kann. Der folgende Beitrag soll vor diesem Hintergrund Überlegungen sowie potenzielle Lösungsansätze für das Ausstellen der immateriellen Seite von Literatur vorstellen und mögliche konzeptionell-gestalterische Realisierungsmethoden beleuchten. Voraussetzung dafür ist es, die musealisierte Literatur anhand von szenografischen Praktiken zu re-immaterialisieren und damit das tatsächlich Literarische im Raum für ein heterogenes Publikum zugänglich zu machen. Als Überblick soll zunächst das Grundproblem von Literaturausstellungen aus meiner Perspektive als Gestalterin eruiert werden. Traditionell versteht man unter der musealisierten Literatur, also dem in Ausstellungen präsentierten Gegenstand, vor allem Bücher und Manuskripte als Zeugen der Entstehungsprozesse sowie Briefe, Tagebücher und persönliche Gegenstände als Zeugen der Lebensumstände der Autorinnen und Autoren. Ein Querschnitt durch die Literaturmuseumslandschaft zeigt schnell: Literatur als museales Objekt ist vorherrschend materiell und auf die Autorin oder den Autor sowie die Werkgenese bezogen. Nun bedeutet die Musealisierung von Objekten aber, dass man diese in einen anderen Kontext stellt, das bedeutet, dass sie ihren ursprünglichen Zusammenhang durch die Musealisierung und das Ausstellen verlieren. Wenn man also die Gabel Kafkas in einer Ausstellung betrachtet, dann hat diese ihre eigentliche Funktion als Instrument der Nahrungszuführung längst verloren. Die Gabel ist hier ein wertvolles, zur Schau gestelltes Original, welches mit dem Wissen über Franz Kafkas Erzählung Ein Hungerkünstler und seine eigenen Magenprobleme6 an Aura gewinnen kann – oder ohne dieses Wissen einfach nur eine Gabel ist, mit der man nicht mehr essen kann und die von sich aus auch nichts über Kafka ›erzählt‹. Folgt man nun der Logik der musealisierten, ihrem eigentlichen Kontext enthobenen Objekte, so bedeutet dies, dass man in Ausstellungen auch das exponierte Literarische nicht mehr liest, sondern es auf andere Weise wahrnimmt, weil es musealisiert wurde. Wenn es also selbstverständlich ist, mit besagter Gabel nicht mehr zu essen, warum sollte man den Buchinhalt dann nicht auch anders rezipie-

6

Vgl. Kußmann, Matthias: Schillers Locken und Kafkas Gabel – In der Schatzkammer des Deutschen Literaturarchivs Marbach. Deutschlandradio Kultur, Länderreport. Sendung vom 25.10.2012.

226 | V ANESSA ZEISSIG

ren können als durch den Akt des Lesens? Bevor sich das Buch als medialer Literaturträger durchsetzte, waren beispielsweise orale Realisationen von Literatur üblich.7 Heutzutage sind Film und Theater kollektiv anerkannte Medien, um Buchliteratur anders zu konsumieren, Ausstellungen hingegen wird das Vorzeigen von materiellen Literaturträgern und ihrer Schriftbildlichkeit sowie von Objekten der Literaturschaffenden zugestanden. Das tatsächlich Literarische, also der Inhalt und die Themen eines Romans sowie dessen Struktur und Stil, ist in Ausstellungen jedoch nicht weniger ein Original als die Gabel, die Schreibfeder oder die Handschrift der heroisierten Künstlerin oder des heroisierten Künstlers, sie ist lediglich geistiger statt materieller Natur. Die Frage, die sich nun stellt, ist: Wie kann dieses immaterielle Kulturgut in einen Raum übersetzt werden? Eine der wichtigsten Entwicklungen im Ausstellungswesen ist die Szenografie, die inszenatorische Gestaltung von Ausstellungen. Sie hat ihren Ursprung im Theaterwesen, entwickelte sich bereits in den 1970er Jahren und vollzog sich als scenografical turn in der Disziplin des Designs Anfang des neuen Jahrtausends.8 Die Inhalte werden durch eine dramatisierte und choreografierte Inszenierung in den Raum übertragen und anschaulich gemacht. Szenografie ist ein Element der Informationsvermittlung und umschreibt ein intendiertes Arrangement im atmosphärisch aufgeladenen Raum, der mit den Inhalten einen Dialog eingeht. Die Ausstellungsarchitektur und die Präsentationsmittel kreieren inszenierte Räume, die ein Gefühl für das Thema der Ausstellung vermitteln,9 dieses kontextualisieren und alle Sinne der Rezipientinnen und Rezipienten einbeziehen. Es werden,

7

Vgl. Heibach, Christiane: »Zwischen ›buchdruck-schwärzlichem Gewande‹ und ›Allgewalt der sinnlichen Empfindung‹. Literatur als Ereignis«, in: Britta Hochkirchen/Elke Kollar (Hg.), Zwischen Materialität und Ereignis. Literaturvermittlung in Ausstellungen, Museen und Archiven, Bielefeld: transcript 2015, S. 155173, hier S. 156f.

8

Vgl. http://www.scenology.eu/de/wp-content/uploads/2010/03/GrazBericht.pdf vom 02.07.2017.

9

Vgl. Jannelli, Angela: »Die performative Ausstellung als neues Ausstellungsformat«, in: FH Joanneum Graz (Hg.), Museumsakademie. Ausstellungsdisplays. Und wie man sie analysiert. Workshop in Kooperation mit dem Studiengang für Ausstellungs- und Museumsdesign, Graz: FH Joanneum 2010, S. 3135, hier S. 31.

Z UR

INSZENATORISCHEN I MMATERIALISIERUNG

| 227

vergleichbar zum Film oder zum Theater, »Mittel von Schnitt, Zitat, Atmosphäre und dem Erzählen von Geschichten« genutzt, dabei handelt es sich im Gegensatz zu den verwandten Medien jedoch um eine räumliche Installation, die durch das physische Durchwandern individualisiert wird10 und performativ ist. In vielen Literaturausstellungen scheint dies jedoch heute noch kaum Anwendung zu finden, da weiterhin die generelle Ausstellbarkeit von Literatur in Frage gestellt wird. Im Jahr 1984 erreichte ein Dogma zur Unausstellbarkeit von Literatur einen anerkannten Status, das auch heute noch reproduziert wird:11 Literatur stehe im Gegensatz zu jedem Versuch ihrer Visualisierung,12 Literatur vermittele sich nur durch Lektüre,13 man betrachte nicht Literatur sondern philologische Dinge, also Substrate und Substrate seien keine Literatur.14 Dem entgegen steht jedoch eine zweite Perspektive, die die Definition des Gegenstands Literatur modifiziert und konstatiert, dass Literatur auch das sei, »was nicht zwischen zwei Buchdeckel passt: Manuskripte, Fotos und Plakate, aber auch Filme, Töne und Objekte«15. Es wird die Position vertreten, dass Literaturausstellungen Ansichten von Literatur veranschaulichen,16 dass sie in ihren Zwischenräumen die

10 Kobler, Tristan: »Geschichten formen«, in: DASA/Gregor Isenbort (Hg.), Zur Topologie des Immateriellen – Formen der Wahrnehmung (= Szenografie in Ausstellungen und Museen, Band 7), Essen: Klartext 2016, S. 14-23, hier S. 17. 11 Vgl. Schütz, Erhard: »Literatur. Ausstellung. Betrieb«, in: Anne Bohnenkamp/Sonja Vandenrath (Hg.), Wort-Räume, Zeichen-Wechsel, Augen-Poesie. Zur Theorie und Praxis von Literaturausstellungen, Göttingen: Wallstein 2011, S. 65-75, hier S. 65. 12 Vgl. Dotzler, Bernhard J.: »Die Wörter und die Augen. Zur Un-Möglichkeit der Visualisierung von Literatur«, in: Bohnenkamp/Vandenrath, Wort-Räume, Zeichen-Wechsel, Augen-Poesie (2011), S. 39-51, hier S. 39. 13 Vgl. E. Schütz: »Literatur. Ausstellung. Betrieb«, S. 65. 14 Vgl. Wirth, Uwe: »Was zeigt sich, wenn man Literatur zeigt?«, in: Bohnenkamp/Vandenrath, Wort-Räume, Zeichen-Wechsel, Augen-Poesie (2011), S. 5364, hier S. 58. 15 Fetz, Bernhard (Hg.): Das Literaturmuseum – 101 Objekte und Geschichten. Katalog zur Dauerausstellung im Literaturmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek, Salzburg: Jung und Jung 2015, Klappentext. 16 Vgl. H.-O. Hügel: » Einleitung«, S. 14.

228 | V ANESSA ZEISSIG

Rahmenbedingungen für das Werden von Literatur zeigen,17 dass sie Kontexte der Literatur ausstellen und Literatur in Kontexte stellen.18 All die Substrate, die Bezüge, die zeitgeschichtlichen Kontexte sind für die expositorische Literaturvermittlung von diesem Standpunkt der erweiterten Literaturdefinition aus also obligatorisch. Trotzdem obliegt diese Perspektive einigen Einschränkungen. Erstens, das ist augenscheinlich, fokussiert sie die materielle Seite der Literatur und zweitens wird von ihren eigenen Vertreterinnen und Vertretern problematisiert, dass Literatur nur höchst fragmentarisch vorgezeigt werden und eine Literaturausstellung daher keinen Anspruch auf Ganzheitlichkeit erfüllen könne.19 Dieser Anspruch auf Ganzheitlichkeit ist allerdings bereits ein Trugschluss in sich, da Ausstellungen einem solchen Anspruch in keiner Weise verpflichtet sind. Bei der Betrachtung dieser zwei divergenten Argumentationsstränge wird deutlich, dass für die Beantwortung der Frage nach der Ausstellbarkeit eine einheitliche Definition von Literatur benötigt wird, die so jedoch nicht existiert.20 Literaturausstellungen können keinem homogenen oder allgemeingültigen Begriff von Literatur verpflichtet sein.21 Ihre Bedeutung und ihre Funktion muss daher in jeder Ausstellung neu festgelegt werden. Vor diesem Hintergrund und mit der Erinnerung daran, dass Musealisiertes seine ursprüngliche Funktion verloren hat, entsteht eine dritte Perspektive auf die Frage nach der Ausstellbarkeit von Literatur. Diese definiert Literaturausstellungen als eigenes Medium, welches keineswegs versucht, den intimen Akt des Lesens oder das Ereignis der Literatur zu imitieren, sondern neue Imaginationsräume öffnet22 und so der Fiktion einen Raum im Realen

17 Vgl. U. Wirth: »Was zeigt sich, wenn man Literatur zeigt?«, S. 63. 18 Vgl. E. Schütz: »Literatur. Ausstellung. Betrieb«, S. 69. 19 Vgl. Wehnert, Stefanie: Literaturmuseen im Zeitalter der neuen Medien. Leseumfeld – Aufgaben – Didaktische Konzepte, Kiel: Ludwig 2002, S. 74. 20 Vgl. H.-O. Hügel: » Einleitung«, S. 13. 21 Vgl. Seibert, Peter: »Zur Typologie und Geschichte von Literaturausstellungen«, in: Hochkirchen/Kollar, Zwischen Materialität und Ereignis (2015), S. 2541, hier S. 29. 22 Vgl. Danielczyk, Julia: »Literatur im Schaufenster. Über die (Un)Möglichkeit, Literatur auszustellen«, in: Meri Disoski/Ursula Klingenböck/Stefan Krammer (Hg.), (Ver)Führungen: Räume der Literaturvermittlung, Innsbruck: StudienVerlag 2012, S. 31-42, hier S. 36.

Z UR

INSZENATORISCHEN I MMATERIALISIERUNG

| 229

bietet.23 Die im Dogma der Unausstellbarkeit kritisierte Medienverschiebung ist demnach kein Nachteil, sondern untrennbar mit Literaturausstellungen verbunden – oder anders gesagt: Sie ist keine vorausgesetzte Handlung, um Literatur auszustellen, sondern schlicht eine Tatsache. Literatur wird durch ein Medium vermittelt, das eine räumliche Dimension bietet und die Besucherinnen und Besucher – unabhängig von der Buchlektüre – sowohl physisch als auch psychisch mitsamt ihrer eigenen Gegenwart einbezieht. Dem Medium Ausstellung wird allerdings meist nur eine eingeschränkte Vermittlungsleistung zugestanden,24 was auf eine Erwartungshaltung zurückzuführen ist, die ausgestellte Literatur im Hinblick auf Prozess und Effekt der Rezeption mit geschriebener Literatur, also mit dem Medium Buch gleichsetzt. In Ausstellungen ist der tradierte Rezeptionsweg des Lesens jedoch aufgehoben, sodass sich die Frage stellt, wie Literatur ohne den individuellen Leseakt zur Wirkung kommt.25 Um Lösungsansätze dafür zu entwickeln, gilt es vorab zu klären, welche Wirkung die Literatur überhaupt erzielen soll und welche alternativen Rezeptionswege es im expositorischen Kontext für sie geben kann, um sie begreif- und befragbar zu machen und dadurch die Auseinandersetzung mit aktuellen Themen zu ermöglichen. In der Praxis des immateriellen Ausstellens lassen sich neue Ansätze finden.

I MMATERIELLES AUSSTELLEN Zunächst allgemein gesprochen: Eine Ausstellung ist ein eigenes Medium, ein vieldimensionales Zeichensystem, eine nonverbale Sprache mit eigenen Vermittlungsstrategien und Auswirkungen auf ihre Rezipientinnen und Rezipienten. Seit circa einem Jahrzehnt »rücken anstelle von Sammlungsge-

23 Vgl. Vandenrath, Sonja: »Doppel-Blicke. Wort und Bild in Literaturausstellungen«, in: Bohnenkamp/Vandenrath, Wort-Räume, Zeichen-Wechsel, AugenPoesie (2011), S. 77-86, hier S. 84. 24 Vgl. P. Seibert: »Zur Typologie und Geschichte von Literaturausstellungen«, S. 27. 25 Vgl. Disoski, Meri/Klingenböck, Ursula/Krammer, Stefan: »Literaturvermittlung und/als (Ver)Führung. Eine Einleitung«, in: Dies., (Ver)Führungen: Räume der Literaturvermittlung (2012), S. 7-15, hier S. 10.

230 | V ANESSA ZEISSIG

genständen zunehmend Ideen, Geschichten und das Immaterielle ins Zentrum musealer Aufmerksamkeit.«26 Immaterielles Ausstellen bedeutet, dass man immaterielle Themen und Phänomene in den Raum übersetzt, um sie verständlich zu machen. Dabei dienen Gestaltungsmittel der visuellen, akustischen, olfaktorischen, taktilen (Luft, Vibration, Wärme) sowie haptischen Rezeption »nicht mehr nur der Atmosphäre, sondern zentral der Vermittlung von Inhalten und bringen [somit] die statische Präsentation auch in Bewegung.«27 Folgende basale Parameter sind bei der Entstehung immaterieller Ausstellungen zu beachten: 1. Der Ausgangspunkt ist das Thema und nicht der Sammlungsbestand beziehungsweise die Objekte des Museums.28 2. Das Abstrakte und Immaterielle muss denselben Status der Tatsächlichkeit erhalten wie das Konkrete und Materielle und in der Ausstellung anschaulich gemacht werden.29 3. Das Ausstellen muss die Fragen und Thesen, die ein Thema oder ein Phänomen aufwirft, in eine eigene Sprache umformulieren30 und dem Publikum stellen, ohne dabei zwangsläufig Antworten zu implizieren. Während der Fokus in klassisch gestalteten Ausstellungen auf dem originalen Objekt liegt, das im kommunikativen Prozess des Mediums als Zeitzeuge und Beweis für eine vergangene Wirklichkeit dienen soll, findet der Austausch und die Kommunikation in immateriellen Ausstellungsprojekten

26 J. Baur: »Was ist ein Museum? Vier Umkreisungen eines widerspenstigen Gegenstandes«, S. 18. 27 Muttenthaler, Roswitha: »Das Unsichtbare zeigen«, in: museums.ch 5 (2010), S. 45-48, hier S. 46. 28 Vgl. Hächler, Beat: »Vier Thesen aus der Arbeit mit der Ausstellung strafen des Stapferhauses Lenzburg«, in: Rosmarie Beier-de Haan/Marie-Paule Jungblut (Hg.), Das Ausstellen und das Immaterielle, Luxemburg: Musée d’Histoire de la Ville de Luxembourg 2007, S. 76-84, hier S. 80. 29 Vgl. Isenbort, Gregor: »Die thematische Ausstellung als Raum des Immateriellen. Beobachtungen zu einigen Grundfragen der Szenografie und zum Ausstellen als kultureller Tätigkeit«, in: DASA/Isenbort, Zur Topologie des Immateriellen – Formen der Wahrnehmung (2016), S. 6-13, hier S. 8. 30 Vgl. ebd.

Z UR

INSZENATORISCHEN I MMATERIALISIERUNG

| 231

im Zwischenraum der konzeptionellen und physischen Elemente der Ausstellung statt.31 Als Medium sind Ausstellungen multimodal und verfügen über verschiedene, miteinander kombinierte Kommunikationskanäle.32 Ein immaterielles Ausstellungsprojekt setzt sich aus diesen Elementen zusammen und kann folgende Ziele verfolgen:33 Thematisierung, Information, Veranschaulichung, Konfrontation, Identifikation, Reflexion und Impulsgabe. Es entsteht ein Raum, in dem das ausgestellte Thema mit seinen Diskursen und Informationen zu historischen Zusammenhängen und wissenschaftlichen Erkenntnissen veranschaulicht wird. Es gilt, darin die Besucherinnen und Besucher mit grundlegenden Fragen zum Ausstellungsthema zu konfrontieren und sie mit ihren persönlichen Erfahrungen abzuholen. So wird die Identifikation mit dem Thema ermöglicht, es werden Impulse für das eigene Handeln gegeben und ein Raum generiert, in dem die individuelle Position und das eigene Verhalten reflektiert werden können. In der Umsetzung dienen verschiedene Faktoren34 dem Erreichen dieser Ziele: Vor allem die Berücksichtigung der individuellen Eigenschaften und Vorstellungen der Besucherinnen und Besucher bietet einen einfachen Einstieg ins Thema. Wichtig dabei ist vor allem, dass die Erwartungen ob des Themas nicht zwangsläufig bedient werden, sondern dass ungewöhnliche Situationen geschaffen, überrascht und irritiert wird. Es sollen neue Fragen aufgeworfen, spielerische Situationen geschaffen sowie menschliche Interaktionen gefördert werden. Die somatischen und kognitiven Prozesse innerhalb der Ausstellungen lösen »atmosphärische und intellektuelle Erfahrungen«35

31 Vgl. Strauss, Jacqueline: »Mind the Gap. Erfolgsfaktoren für abstrakte Ausstellungsthemen«, in: DASA/Isenbort, Zur Topologie des Immateriellen – Formen der Wahrnehmung (2016), S. 46-53, hier S. 47. 32 Vgl. Hartung, Olaf: »Mit Szenografie Geschichte erzählen? Anmerkungen zu den kommunikativen Potenzialen von Museen«, in: DASA/Isenbort, Zur Topologie des Immateriellen – Formen der Wahrnehmung (2016), S. 28-39, hier S. 31. 33 Vgl. B. Hächler: »Vier Thesen aus der Arbeit mit der Ausstellung strafen des Stapferhauses Lenzburg«, S. 80f. 34 Vgl. Cohen, Orna: »Dialogue with Time«, in: DASA/Isenbort, Zur Topologie des Immateriellen – Formen der Wahrnehmung (2016), S. 62-73, hier S. 66f. 35 A. Jannelli: »Die performative Ausstellung als neues Ausstellungsformat«, S. 33.

232 | V ANESSA ZEISSIG

aus, sodass Orte der Reflexion entstehen können, deren Botschaften nachhaltig erinnert werden. Als Basis für neue Antworten darauf, wie das Immaterielle der Literatur auszustellen ist, ist die Zielsetzung einer Ausstellung elementar. Für die hier vorgestellten Ansätze werden als intendierte Wirkung ein erfahrbarer Eindruck von dem literarischen Werk sowie die Anregung zur Auseinandersetzung mit den im Werk inhärenten Themen im aktuellen Bezug vorausgesetzt. Da die expositorischen Vermittlungsmethoden von Literatur zahlreich sind, soll hier der Fokus auf zwei Ansätze als Grundprinzipien für Ausstellungskonzeptionen gelegt werden: Zum einen wird der Ansatz der Übersetzung des literarischen Inhalts in einen thematisch-aktualisierenden Zugang, also das Konzept des Gegenwartsbezugs beleuchtet, zum anderen soll die Übersetzung des literarischen Inhalts in leibliche Erfahrbarkeit innerhalb der Ausstellung betrachtet werden. Anhand der Methoden dieser beiden Konzepte wird der Inhalt psychophysisch, sinnlich und emotional erlebt und kann auf verschiedene Fragen antworten. Gestalterisch lässt sich sowohl aus Ausstellungsarchitekturen schöpfen, die aus den Inhalten generiert werden, als auch aus akustischen, olfaktorischen, taktilen und haptischen Gestaltungselementen.

G RUNDPRINZIP G EGENWARTSBEZUG Der Schweizer Ausstellungsmacher Beat Hächler, an dessen Arbeiten (teilweise) die basalen Parameter sowie die Ziele von immateriellen Ausstellungen in diesem Text angelehnt sind, konstatiert, die Gegenwart gehöre ins Museum.36 Diese sichtbar zu machen, um sie reflektieren zu können, sollte zu den institutionellen Aufgaben von Museen und Ausstellungen hinzugefügt werden. Museen würden sich damit »vermehrt für die Gegenwart zuständig erklären und einen Beitrag zum Verständnis der Gegenwart leisten«37. Das Prinzip basiert also auf dem Anspruch nach mehr Aktualität in Ausstellungen und setzt dabei auf Personalisierungen und Identifikationsmöglichkeiten, die das Verhalten und den Wissenserwerb des Publikums

36 Vgl. B. Hächler: »Vier Thesen aus der Arbeit mit der Ausstellung strafen des Stapferhauses Lenzburg«, S. 82. 37 Vgl. ebd., S. 83.

Z UR

INSZENATORISCHEN I MMATERIALISIERUNG

| 233

beeinflussen. Die Besucherinnen und Besucher werden nicht als passiv rezipierend verstanden, sondern »als Akteure [und Gegenwartsexperten] wahrgenommen, die durch ihre Vorerfahrung die Botschaft einer Ausstellung entscheidend beeinflussen«38. In der Umsetzung erfolgt beispielsweise die direkte Ansprache der Rezipientinnen und Rezipienten, indem eine Positionierung zum ausgestellten Thema gefordert wird. Dies kann subtil und oberflächlich passieren, indem man anonym seine Meinung abgibt: In einer Station der Ausstellung Mord und Totschlag. Eine Ausstellung über das Leben, die 2009/2010 im Historischen Museum der Stadt Luxemburg gezeigt wurde, konnte das Publikum zwischen verschiedenen Möglichkeiten auswählen, aus welchem Grund sie selbst töten würden.39 Die Ergebnisse wurden in Vitrinen, die entsprechend unterschiedlich mit Stimmzetteln gefüllt waren, präsentiert und machten somit die Einstellungen des Publikums zu einem Teil der Ausstellung. Eine unumgängliche Offenlegung der eigenen Position forderte hingegen die Ausstellung Glaubenssache. Eine Ausstellung für Gläubige und Ungläubige des Stapferhauses Lenzburg (2006/2007).40 Hier waren die Besucherinnen und Besucher bereits in der Eingangssituation gezwungen, ein Bekenntnis abzulegen, indem sie die Ausstellung entweder durch eine Tür mit der Aufschrift ›Eingang Gläubige‹ oder durch eine zweite Tür mit der Aufschrift ›Eingang Ungläubige‹ betreten mussten. In diesem Beispiel wird das Publikum selbst ein dynamischer Teil der Ausstellung. Durch diese performative Beteiligung verschwimmen die Grenzen zwischen Subjekt und Objekt und es wird deutlich, dass es bei dem Prinzip des Gegenwartsbezugs um wesentlich mehr geht, als nur um vermeintliche Meinungsumfragen zu aktuellen Themen.

38 A. Jannelli: »Die performative Ausstellung als neues Ausstellungsformat«, S. 31. 39 Vgl. http://mhvl.lu/de/exhibition/crimes-de-sang/ vom 02.07.2017. 40 Vgl. http://www.stapferhaus.ch/stapferhaus/vergangene-ausstellungen/glaubens sache/ vom 02.07.2017.

234 | V ANESSA ZEISSIG

G RUNDPRINZIP L EIBLICHKEIT Einen anderen Bezug zum Menschen baut das Prinzip der Leiblichkeit auf. Die sinnlich erfassbaren Komponenten in einem Raum, die die Atmosphäre formen, erzählen den Hintergrund einer Geschichte.41 Sie bilden den Rahmen und vermitteln als Einstiegssequenz den Zugang zum ausgestellten Thema. Die gestalterische Identität einer Ausstellung wird aus den inhaltlichen Parametern geformt. Die eigene Körperlichkeit der Menschen, die sich in jenem Raum befinden, spielt bei diesem Prinzip eine elementare Rolle. Durch körperliche Wahrnehmungen wie Enge und Weite, forcierte Körperhaltungen etc. werden Gefühle und somit Erkenntnisse direkt und ohne bewusste Rezeption vermittelt. Die Besucherinnen und Besucher sind somit keine passiven Augenpaare, die lediglich verschiedene Zeichen visuell aufnehmen, sondern erfahren und erleben Phänomene leiblich ohne erläuternde Texte oder verweisende Objekte.42 An einem Beispiel möchte ich diese Körperlichkeit in Kombination mit akustischen Elementen erläutern. Akustische Reize unterstützen und verstärken die leibliche Erfahrung, da sie eine Auswirkung auf das vegetative Nervensystem haben und dadurch eine motorische Anregung erzeugen, also den Körper in einen anderen Zustand versetzen.43 Die Übersetzung von Informationen in räumliche und in akustische Stimmungen ist miteinander vergleichbar, was ich im Folgenden anhand meines Masterprojekts Klangidentität (2013)44 veranschaulichen möchte: Meine Masterarbeit beschäftigt sich in der theoretischen Ausarbeitung mit dem auditiven Vermitteln in Ausstellungen und setzt dies im zweiten Teil innerhalb der experimentellen Ausstellung Klangidentität. Oder wie das Leben einer Widerstandskämpferin klingt in die Praxis um. Das Thema der Ausstellung umfasst das Leben der dominikanischen Juristin Minerva Mirabal (1926–1960) und ihren Kampf gegen die damals auf dem Inselstaat herrschende Diktatur. Während

41 Vgl. T. Kobler: »Geschichten formen«, S. 15. 42 Vgl. A. Jannelli: »Die performative Ausstellung als neues Ausstellungsformat«, S. 32. 43 Vgl. Spitzer, Manfred: Musik im Kopf, Stuttgart: Schattauer 2002, S. 146. 44 Vgl. https://www.plotmag.com/blog/2014/03/klangidentitat-oder-wie-das-lebeneiner-widerstandskampferin-klingt/ vom 02.07.2017, für weitere Informationen: https://vanessazeissig.com/klangidentität/ vom 02.07.2017.

Z UR

INSZENATORISCHEN I MMATERIALISIERUNG

| 235

des Entwurfsprozesses wurde ihre Biografie in die drei Lebensabschnitte Kindheit, Widerstand und Tod unterteilt und diesen charakteristischbeschreibende Eigenschaften zugewiesen. Nachdem diese Eigenschaften in Klangsymbole und akustische Stimmungen übersetzt worden waren, entstanden daraus drei Kompositionen, die die Lebensabschnitte auditiv ›erzählten‹. Die Charakteristika, die die Phasen von Minervas Leben ausmachten, wurden außerdem in die Dreidimensionalität, das heißt in den Raum übertragen. Dafür war elementar, wie sich die Besucherinnen und Besucher bewegen und welche Körpergefühle ausgelöst werden sollten. In der Ausstellung konnte man die Kompositionen in drei verschiedenen Holzskulpturen hören, die den Hörenden durch ihre Formsprache, also durch ihre eigene Architektur, die Körperhaltung vorgaben und somit das Hören leiblich lancierten. So musste man sich beispielsweise von der Kindheitsstation zur Widerstandsstation erheben und in einen konisch zulaufenden Tunnel eintreten. Dieser Übergang war als symbolischer Akt des Erhebens und des Eintritts in den Widerstand zu verstehen und wurde durch die mit Bedeutung aufgeladenen Klänge und Geräusche synergetisch unterstützt. Abbildung 1: Experimentelle Ausstellung Klangidentität

©Vanessa Zeissig, Foto: Clemens Müller

236 | V ANESSA ZEISSIG

Eben solche in den Raum übersetzten Metaphern ermöglichen es, das Immaterielle nicht nur anschaulich, sondern erfahrbar zu machen. Die somatische Erfahrung und Wahrnehmung wird durch das Zusammenspiel der genannten Komponenten erreicht. Im Hinblick auf Literaturausstellungen unterscheidet sich das Grundprinzip der Leiblichkeit jedoch eminent von räumlichen Inszenierungen der Literatur in Form von Rekonstruktionen aus der Fiktion: Diese sind zwar auch begehbare Rauminstallationen, doch zeigen sie eine nachgebaute, illustrative Szene aus dem subjektiv Imaginierten des Gelesenen seitens der Ausstellungsmacherinnen und Ausstellungsmacher. Diese Methode ist dementsprechend vorrangig der Versuch einer direkten Übersetzung der Buchrezeption in den Raum. Das Prinzip der leiblichen Erfahrbarkeit im Kontext des immateriellen Ausstellens soll hingegen eine eigene Beschäftigung mit den Aussagen und Thesen der literarischen Fiktion auslösen und den Besucherinnen und Besuchern dadurch eine individuelle Konstruktionsleistung zugestehen, die nur durch das Medium Ausstellung, nicht aber durch Buch oder Film, erreicht werden kann.

P OTENZIALE Das Ausstellen der immateriellen Dimension von Literatur, also das Inszenieren der inhaltlichen und stilistischen Aspekte eines Werkes, birgt viele Potenziale. Es öffnet den Raum für die Einbeziehung des aktuellen Zeitgeschehens, ermöglicht eine Rezeption des Literarischen durch verschiedene Sinneseindrücke sowie durch den Gegenwartsbezug und evoziert damit Fragen nach Werten, Wirkungen und Nutzen, die auch bei der Lektüre entstehen.45 Diese Form der Literaturvermittlung verweist also über ihren eigentlichen Gegenstand hinaus. Literaturausstellungen sollen die Lektüre dabei keinesfalls ersetzen, sondern vielmehr eine Plattform für die Auseinandersetzung mit den Themen, literarischen Stilmitteln etc. bieten. Sie erhalten durch das Ausstellen des Immateriellen eine neue Funktion und generieren so einen unkonventionellen Mehrwert. Dadurch werden dynamische Denkräume kreiert, die einen Perspektivwechsel ermöglichen und ak-

45 Vgl. Simon, Tina: Rezeptionstheorie. Einführungs- und Arbeitsbuch (= Leipziger Skripten. Einführungs- und Übungsbücher, Band 3), Frankfurt a.M.: Peter Lang 2003, S.9f.

Z UR

INSZENATORISCHEN I MMATERIALISIERUNG

| 237

tiv nutzbares Wissen produzieren. Die Funktion einer Ausstellung wäre demnach nicht nur repräsentativ und identitätsstiftend, sondern basierte auf der Idee der Ausstellung als soziales, dynamisches, prozesshaftes und politisches Medium, das Gefühle hervorriefe und Irritationen, Wut sowie das Verlangen nach mehr Wissen weckte.46 Wenn dem Medium Ausstellung seine Fähigkeiten und Vermittlungsleistungen tatsächlich zugestanden werden und es sein Potenzial entfalten darf, kann es dem Publikum einen Spiegel vorhalten und als Denkinstrument zur Auseinandersetzung mit wichtigen gesellschaftlichen Fragen anregen. Ich plädiere also dafür, den Raum, die Themen und das Publikum zu nutzen, die Architektur zum Träger von Botschaften zu machen47 und endlich mehr Mut für Experimente aufzubringen. Das Ausstellen des Immateriellen, insbesondere in Bezug auf Literatur, kann eine Form des Mediums Ausstellung generieren, die nicht nur vermeintliche Wahrheiten über Vergangenes vermittelt, sondern Raum und Themen einsetzt, um performativ Geschichten zu erzählen und um Austausch, Reflexion, Provokation und Handeln zu fördern. Ausstellungen dieser Art würden automatisch nicht als Schaudepot, sondern als Forum und Plattform mit Blick in die Zukunft genutzt werden.48

46 Vgl. Reinhardt, Uwe J./Teufel, Philipp (Hg.): Neue Ausstellungsgestaltung 02, Ludwigsburg: avedition 2010, S. 30. 47 Vgl. T. Kobler: »Geschichten formen«, S. 21. 48 Vgl. ebd., S. 22.

Tanz ausstellen – und ausprobieren Rahmenbedingungen und Umsetzung der Ausstellung tanz! Wie wir uns und die Welt bewegen M ARIE -L UISE W ELZ

Immaterielles auszustellen bedeutet im Grunde genommen, Unmögliches zu wagen. Fähigkeiten, Fertigkeiten, Bedeutungen, Wissen, auch implizites Wissen, sind weniger Objekte der einfachen Anschauung, vielmehr sind sie ephemer, wollen erschlossen und vermittelt werden. Zudem sind immaterielle kulturelle Ausdrucksformen häufig spontan und in ihrem Geschehen kaum reproduzierbar. Fassbar wird Immaterielles erst in Objekten, in welchen es sich materialisiert. Tanz ist in allen seinen Ausdrucksformen nicht an Materialität gebunden. Aus verschiedenen Anlässen entstehen jedoch Zeugnisse, Dokumente und Aufzeichnungen, die über das Geschehen im Tanz Auskunft geben und dieses eigentliche flüchtige und immaterielle Geschehen vermittelt darstellen können. Im Kulturerbe-Diskurs, der durch die UNESCO geführt wird, gehört Tanz zum immateriellen Kulturerbe. Die UNESCO benennt in ihrer im Jahr 2003 verabschiedeten und 2006 ratifizierten Konvention zum immateriellen kulturellen Erbe fünf Bereiche zur Identifizierung desselben. Auf den Tanz können drei dieser Bereiche angewandt werden. Er wird im Artikel 2 der Konvention im Bereich »a) darstellende Künste wie Musik, Tanz und Theater«1 als Ausdrucksform des imma-

1

Deutsche UNESCO-Kommission: Übereinkommen zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes, Offizielle Übersetzung des Sprachendienstes des Auswärtigen

240 | M ARIE-L UISE W ELZ

teriellen kulturellen Erbes genannt und er ist im Bereich »b) gesellschaftliche Bräuche, soziale Praktiken, Rituale und Feste«2 und in Teilen auch im Bereich »c). mündlich überlieferte Traditionen und Ausdrucksformen, einschließlich der Sprache als Träger des immateriellen Kulturerbes«3 zu verorten. Im Folgenden soll die Ausstellung tanz! Wie wir uns und die Welt bewegen, gezeigt vom 12. Oktober 2013 bis zum 20. Juli 2014 im Deutschen Hygiene-Museum Dresden, und ihr Umgang mit der immateriellen und der materiellen Seite des Tanzes betrachtet werden. Die Ausstellung ging von der Fragestellung aus, wie man den Tanz als kulturelle Praxis und das Tanzen, die Flüchtigkeit der Bewegung, adäquat in einer musealen Schau präsentieren könne. Die inhaltliche Konzeption unterwarf sich zudem, ausgehend von einem weiten Kulturbegriff dem Anspruch, dem Wissenskorpus Tanz in der ganzen Breite Raum zu geben, ohne dabei eine wertende Hierarchie vorzunehmen und ohne die feuilletonistische Betrachtungsweise4 zu übernehmen, die den Balletttanz an die Spitze einer solchen Hierarchie setzt.5 Ebenso wenig wollte die Ausstellung eine Einzelform des Tanzes zeigen6 oder die Kunstform Bühnentanz als elitäre Bewegungskultur in den Fokus rücken7. Stattdessen sollte die Betrachtung des Phänomens Tanz »mehrschichtig und polyperspektivisch«8 erfolgen und unterschiedliche Erzählstränge des Tanzes in allen gesellschaftlichen Bereichen sollten gleich-

Amts: www.unesco.de/infothek/dokumente/uebereinkommen/ike-konvention. html vom 20.04.2016. 2

Ebd.

3

Ebd.

4

Vgl. Wiegand, Barbara: »Leidenschaft, Ekstase, Konvention, ›tanz! – Wie wir uns und die Welt bewegen‹ im Deutschen Hygiene-Museum Dresden«: http://www.deutschlandradiokultur.de/leidenschaft-ekstase-konvention.1013.de. html?dram:article_id=264996 vom 29.03.2016

5

Vgl. Vogel, Klaus/Staupe, Gisela: »tanz! Wie wir uns und die Welt bewegen«, in: Colleen M. Schmitz (Hg.): tanz! Wie wir uns und die Welt bewegen, Zürich/Berlin: Diaphanes 2013, S. 9-10, hier S. 9.

6

Vgl. ebd.

7

Vgl. ebd.

8

Ebd., S. 9f.

T ANZ

AUSSTELLEN



UND AUSPROBIEREN

| 241

berechtigt nebeneinander präsentiert werden, um seine Bedeutung und gesellschaftliche Funktionsweise angemessen zu erfassen9. Über das Angebot einer interdisziplinären Wissensvermittlung hinaus ging es zudem darum, mit interaktiven Elementen die Performativität des Tanzes innerhalb der Ausstellungsräume zu inszenieren und für die Besucherinnen und Besucher Möglichkeiten der eigenen körperlichen Wahrnehmung zu schaffen, »Momente […], in denen tänzerische Bewegungen […] selbst Wirklichkeit werden können«10. Den Besucherinnen und Besuchern und ihrer Interaktion mit den Angeboten der Ausstellung kam eine wichtige Rolle in der Gestaltung des Rundgangs zu. Die Dimensionen des Tanzes, körperlich, akustisch und zeitlich-räumlich gaben, so die Idee, die Annäherung des Publikums an die Ausstellung vor.11 Nicht weniger als eine »performative Gesamtschau« des »tanzenden Menschen« und des immateriellen »Globalphänomens Tanz«12 war beabsichtigt. Um dieses Ziel zu erreichen, bediente man sich in der Szenografie einer Doppelstrategie: Zwei konzeptionell angelegte Leitfäden der Präsentation, die Wissensspur und die Bewegungsspur13, vermittelten einander ergänzend das Thema der Ausstellung. Sie sollten, neben der »Freilegung [der] […] dem Tanz innewohnenden Bedeutungsschichten«14 vor allem »Vergnügen und Erkenntnis«15 verbinden und somit Ratio und Emotio, intellektuelle mit über den Körper hergestellten emotionalen Erfahrungen und Wahrnehmungen verknüpfen. Nicht zuletzt war es ein erklärtes Ziel der Ausstellungsmacher, über den Besuch hinaus die Menschen zum eigenen Tanzen zu inspirieren und zum Anschauen von Tanz auf der Bühne anzuregen.16 Beide Aspekte, das Mitmachen und das aktive Zuschauen, zählen zu den besonderen Merkmalen der Szenografie, die besonders über die Bewegungsspur geför-

9

Vgl. K. Vogel/G. Staupe: »tanz! Wie wir uns und die Welt bewegen«, S. 9f.

10 Ebd., S. 10. 11 Vgl. Schmitz, Colleen M.: »Einführung in Ausstellung und Buch«, in: Schmitz, tanz! (2013),S. 13-14, hier S. 13. 12 K. Vogel/G. Staupe, »tanz!«, S. 9. 13 Vgl. C. M. Schmitz: »Einführung«, S. 13. 14 Ebd. 15 Ebd. 16 Vgl. Deutsches Hygiene Museum Dresden: »tanz! Wie wir uns und die Welt bewegen« (Film), www.dhmd.de/index.php?id=2210 vom 29.03.2016.

242 | M ARIE-L UISE W ELZ

dert wurden. Wissensspur und Bewegungsspur bedienten sich unterschiedlicher Vermittlungsformen. An späterer Stelle soll dies in einem Rundgang durch die Ausstellung nachvollzogen werden. Zunächst sei jedoch ein Blick darauf geworfen, innerhalb welcher Entwicklungen und Kontexte sie realisiert wurde. Das Hygiene-Museum plante schon länger eine Ausstellung zum Thema, ein erstes Konzept wurde einige Jahre zuvor nicht umgesetzt. Neue Entwicklungen auf wissenschaftlicher und kulturpolitischer Ebene sowie eine starke Vernetzung mit Akteuren und Experten trugen schließlich dazu bei, eine umfassende Schau der kulturellen Ausdrucksform Tanz verwirklichen zu können.

T ANZ

ALS NEUE

W ISSENSKULTUR

In den Jahren 2004 und 2005 wurde das Feld des Tanzes und der Bewegung von zwei Seiten als eine neue Wissenskultur institutionalisiert. Zum einen richtete im Jahr 2004 die Theater-, Literatur- und Tanzwissenschaftlerin Gabriele Brandstetter mit dem Preisgeld des Gottfried-WilhelmLeibniz-Preises der Deutschen Forschungsgemeinschaft an der Freien Universität Berlin ein Zentrum für Bewegungsforschung ein. Im September 2005 wurde unter der Herausgeberschaft von Brandstetter und der Soziologin, Kultur- und Tanzwissenschaftlerin Gabriele Klein die Reihe TanzScripte beim transcript Verlag initiiert. Der Katalog zu der hier im Zentrum stehenden Ausstellung dokumentiert die Bezugnahme auf diese Forschungsinitiativen, indem er unter anderem Beiträge von Brandstetter und Klein enthält. Brandstetter trat zudem als wissenschaftliche Begleitung und Beratung zur Ausstellung auf.17 Zum anderen nahm auch das Tanzarchiv Leipzig unter der damaligen Leitung der Kultur- und Theaterwissenschaftlerin Inge Baxmann mit den Forschungsschwerpunkten Bewegungskulturen zwischen Nation und Transnation und Wissenskulturen und Körperpolitik den Tanz als eine neue

17 Vgl. Marxreiter, Ute/Neumann, Marion: Pädagogischer Leitfaden zur Sonderausstellung »tanz! Wie wir uns und die Welt bewegen« 12. Oktober 2013 bis 20. Juli 2014 (unveröffentlicht, Stiftung Deutsches Hygiene-Museum, Archiv).

T ANZ

AUSSTELLEN



UND AUSPROBIEREN

| 243

Wissenskultur in den Blick.18 Diese beiden Forschungsfelder beschrieben, in der Auffassung von Anthropologie »als Wissenschaft vom Menschen«, den Tanz als »›anthropologische[r]‹ Disziplin«19. Unter anderem erfuhren in diesem Rahmen die französischen Archives Internationales de la Danse, welche von 1931 bis 1952 bestanden, erstmals eine wissenschaftliche Bearbeitung.20 Die Bedeutung der Archives Internationales de la Danse als Untersuchungsgegenstand lag darin, dass sie außereuropäische Tanzpraxis, europäische und einheimische Volkstanzkultur, moderne Stilrichtungen, Theorie und Geschichte der Bewegungskulturen sowie ihre Archivierung miteinander verknüpften. Aus diesen Gründen dienten und dienen die Archives noch immer als »Modell für ein immens weit gefasstes, enzyklopädisches Projekt zur Konstitution eines Wissenskorpus, letztlich eines körperlichen Wissens und seiner Bergung«21. Auch 2005 zeichneten sich die Ansätze der 1930er Jahre noch durch ihre innovative Bedeutung aus. Die tanz!-Ausstellung in Dresden verfolgte eine ebenso breit angelegte Darstellung.

N EUE B UNDESKULTURPOLITIK DES T ANZES

AUF DEM

G EBIET

Parallel zu der Konsolidierung des Wissenskorpus zum Tanz kam es in Deutschland auf Bundesebene zu mehreren kulturpolitischen Initiativen. Das Projekt Tanzplan Deutschland der Kulturstiftung des Bundes vernetzte in seiner Laufzeit von 2005 bis 2010 als strukturelles Förderprojekt bun-

18 Vgl. Baxmann, Inge/Cramer, Franz Anton: »Tanz als neue Wissenskultur«, in: Johannes Odenthal (Hg.), tanz.de, Zeitgenössischer Tanz in Deutschland – Strukturen im Wandel – Eine neue Wissenschaft, Arbeitsbuch 2005, Berlin: Theater der Zeit 2005, S. 32-33, hier S. 32f. 19 Gabriele Brandstetter: »Fundstück Tanz«, in: Odenthal, tanz.de (2005), S.12-19, hier S. 17. 20 Vgl. J. Odenthal (Hg.): tanz.de, S. 32-33; vgl. Baxmann Inge: Les Archives Internationales de la Danse 1931-1952, Paris: Centre national de la danse 2006; vgl. auch L’Hotellier, Sanja Andus: Les Archives Internationales de la Danse, Un projet inachevé 1931-1952, Cœuvres et Valsery: Ressouvenances 2012. 21 I. Baxmann/F. A. Cramer: »Wissenskultur«, S. 33.

244 | M ARIE-L UISE W ELZ

desweit nahezu alle Akteure und Institutionen der professionellen Tanzszene. Die Zielsetzung des Projekts lag darin, die Rahmenbedingungen für den Tanz in Deutschland zu verbessern und ihn als gleichwertige Kunstform neben Oper und Theater in der öffentlichen und der kulturpolitischen Wahrnehmung zu etablieren. Daran anknüpfend richtete die Kulturstiftung des Bundes im Jahr 2011 mit dem Projekt Tanzfonds Erbe eine längerfristige Finanzierung für die Sichtbarmachung des kulturellen Erbes Tanz in Deutschland ein22. Der 2006 ins Leben gerufene Tanzkongress, der seit 2010 dauerhaft als ein kultureller Leuchtturm der Kulturstiftung des Bundes gefördert wird, fand in seiner vierten Ausgabe (nach Berlin 2006, Hamburg 2009 und Düsseldorf 2013) als Höhepunkt des Tanzjahres 2016 in Hannover statt und hat sich nach eigener Darstellung seit dem Auftakt als eines der wichtigsten internationalen Foren für die Diskussion und Präsentation von Tanz, Choreografie und Bewegung etabliert23. Auch die Situation der professionellen Tanzausbildung in Deutschland erfuhr mit der Gründung der Ausbildungskonferenz Tanz am 6. Februar 2007 eine Stärkung und bessere Vernetzung. Sie ist die Arbeitsgemeinschaft und die nationale Interessensvertretung der staatlichen Ausbildungsinstitutionen für Tänzerinnen und Tänzer. Eines ihrer Instrumente ist die seit 2008 an wechselnden Orten stattfindende Biennale Tanzausbildung.24 Die Abschlussveranstaltung der 2014 in Dresden ausgerichteten Biennale Tanzausbildung wurde in das Begleitprogramm zur tanz!-Ausstellung25 aufgenommen.

22 Vgl. Kulturstiftung des Bundes: Tanzfonds Erbe, Fonds für künstlerische Projekte zum Kulturerbe Tanz, Eine Initiative der Kulturstiftung des Bundes: http://www.kulturstiftung-des-bundes.de/cms/de/programme/tanzerbe/tanzerbe. html vom 04.04.2016. 23 Vgl. Tanzkongress: http://www.tanzkongress.de/de/kongress/tanzkongress-20 16.html vom 04.04.2016. 24 Vgl. Ausbildungskonferenz Tanz: http://www.ausbildungskonferenz-tanz.de/de/ ueber-uns/ vom 04.04.2016. 25 Deutsches Hygiene-Museum Dresden, am 21. Februar 2014, Die Architektur tanzt, interaktive Installation; die Veranstaltung bildete den Abschluss der 4. Biennale Tanzausbildung, die vom 15. bis zum 22. Februar 2014 erstmals in Dresden stattfand.

T ANZ

AUSSTELLEN



UND AUSPROBIEREN

| 245

Am 9. Juli 2013 trat die UNESCO-Konvention zum immateriellen Kulturerbe in Deutschland in Kraft, nachdem Deutschland im Dezember 2011 die Einleitung des Ratifizierungsverfahrens beschlossen hatte. In das im Jahr 2014 erstmalig erstellte bundesweite Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes wurden zwei Beiträge aufgenommen, die die Bedeutsamkeit des Tanzes für die kulturelle Identität reflektieren. Der Moderne Tanz – Stilformen und Vermittlungsformen der Rhythmus- und Ausdruckstanzbewegung sowie die Deutsche Theater- und Orchesterlandschaft, welche Tanz und performative Veranstaltungen unterschiedlicher Art verwirklicht, fanden bereits im ersten Jahr Aufnahme auf die Liste. Mit dem Beitrag Volkstanzbewegung in ihren regionalen Ausprägungen in Deutschland wurde sie 2015 fortgeschrieben. Insgesamt verzeichneten die Konvention und das Konzept des Immateriellen seit 2003/2006 einen großen Erfolg und der Begriff des ›Immateriellen‹ hat seitdem Konjunktur.26 In der Folge der Konvention empfahl der Internationale Museumsrat in seiner auf der Generalkonferenz des Jahres 2004 formulierten Resolution das immaterielle kulturelle Erbe in den Museen stärker zu thematisieren.27

V ERNETZUNG Die Dresdener tanz!-Ausstellung ist ein Beispiel der vernetzten Tanzförderung von Bund, Ländern und Kommunen sowie Bühnentanz und freier Szene, wie sie seit der neuen kulturpolitischen Aufmerksamkeit angestrebt wird.28 Die Schau wurde von der Kulturstiftung des Bundes einerseits monetär gefördert, andererseits auch vom persönlichen Engagement der künstlerischen Direktorin der Kulturstiftung des Bundes, Hortensia Völckers, begleitet.29 Sicherlich profitierte die Ausstellung auch inhaltlich von der Kompetenz der Kulturstiftung in Bezug auf aktuelles Tanzwissen und die

26 Vgl. Markus Tauschek: Kulturerbe. Eine Einführung, Berlin: Reimer 2013, S. 117. 27 Vgl. ebd., S. 69f. 28 Vgl Schmidt-Feister, Karin: »Ein starkes Miteinander, Zweiter runder Tisch ›Tanzförderung‹ in der Akademie der Künste Berlin«, in: Oper&Tanz, Zeitschrift für Opernchor und Bühnentanz, 1 (2017), S. 15. 29 Vgl. K. Vogel/G. Staupe: »tanz!«, S. 10.

246 | M ARIE-L UISE W ELZ

Realisierung von Ausstellungen zum Thema Tanz und Bewegung, da diese Themen, wie oben beschrieben, seit einiger Zeit ihren Platz in den Förderprogrammen haben. Weiterhin förderte die Kulturstiftung des Landes Sachsen die Ausstellung mit einer Zuwendung und die Stadt Dresden rief im Zusammenhang mit der Ausstellung sich selbst als die Tanzstadt 2014 aus.30 Entscheidend für die Realisierung der Ausstellung war zudem, die vor Ort ansässigen Vertreter der künstlerischen Praxis, die Forsythe Company Frankfurt/Dresden, das Europäische Zentrum der Künste Hellerau, die Palucca Hochschule für Tanz sowie die Semperoper Dresden in die Umsetzung einzubinden. Sie entwickelten die Ausstellung inhaltlich als Projektpartner mit31, trugen zum umfangreichen Rahmenprogramm, bestehend aus einem Vermittlungsprogramm und Begleitveranstaltungen, bei32 und garantierten damit, die Ausstellung während ihrer Dauer auch über den eigentlichen Ausstellungsraum hinaus ausstrahlen zu lassen. Zusammen mit dem vor Ort ansässigen tanznetz Dresden, einem seit 2010 bestehenden, sich selbst organisierenden Netzwerk professionell arbeitender Tanzschaffender der freien Szene33, entstanden die begleitenden Schulprogramme und das tanznetz wirkte an der Erarbeitung einzelner Ausstellungsinhalte der Bewegungsspur wie den später beschriebenen Choreographischen Aktionen mit. Ein wichtiger Teil der Ausstellung war somit die Einbindung lokaler Akteure der kulturellen Praxis, die sich mit der Ausübung und Weitergabe beschäftigen und diese Gegenwärtigkeit und Lebendigkeit ins Museum holten.

30 Vgl. Völkers, Hortensia/Farenholtz, Alexander: »Grußwort«, in: Schmitz, tanz! (2013), S. 8. 31 Vgl. ebd. sowie Tanznetz: Homepage: http://www.tanznetz.de/blog/26116/tanz vom 29.03.2016. 32 Vgl. K. Vogel/G. Staupe: »tanz!«, S. 10 sowie Stiftung Deutsches HygieneMuseum (Hg.): Deutsches Hygiene Museum Dresden, Tätigkeitsbericht 2013, Dresden: 2014, S. 38-43, S. 52, S. 66-69, S.70. 33 Vgl. Tanznetz Dresden: http://www.tanznetzdresden.de/tanznetzdresden.html vom 29.03.2016.

T ANZ

AUSSTELLEN



UND AUSPROBIEREN

| 247

D ER AUSSTELLUNGSORT Der Bezug zum Tanz im Deutschen Hygiene-Museum Dresden reicht zurück bis zu seiner Eröffnung in das Jahr 1912 und die Zwischenkriegszeit. In diesem Zeitraum war das Museum selbst Ort von Tanzaufführungen. Dieser Zusammenhang wurde in der Ausstellung des Hygiene-Museums Mythos Dresden im Jahr 2006 herausgearbeitet, aber angesichts der globalen Konzeption der tanz!-Ausstellung 2013/2014 nicht im Besonderen herausgestellt. Die Auseinandersetzung mit dem tanzhistorischen genius loci in Dresden, an welchem es neben herausragenden Persönlichkeiten und Institutionen seinen Anteil hat, stellte jedoch eine Inspirationsquelle für die Ausstellung dar.34 Im 2016 erschienenen Band der Reihe Szenographie in Ausstellungen und Museen35 erläutert Gisela Staupe, stellvertretende Direktorin sowie Museums- und Ausstellungsleiterin der Stiftung Deutsches HygieneMuseum Dresden, die Grundsätze der Ausstellungsarbeit des Museums. Das Hygiene-Museum, das traditionell ein »Museum vom Menschen ist«36, versteht sich als zu den 90% der sogenannten Wissensmuseen in Deutschland gehörend. Mit seiner Leitfrage »Wie wollen wir leben?«37 unterstreicht das Museum seine Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen und zukünftigen Gesellschaft. Dementsprechend hat sich das Hygiene-Museum zur Aufgabe gesetzt, »relevante Themen aus der Mitte der Gesellschaft ins Museum zu holen«38. Seine Ausstellungsthemen spiegeln »aktuelle, gesellschaftlich relevante und gegenwartsbezogene Fragestellungen aus Wissenschaft, Gesellschaft, Kunst und Kultur«39 wider, »sie sind komplex und häufig immateriell«40. Anders als die »klassische, museale Präsentationsäs-

34 Vgl. K. Vogel/G. Staupe: »tanz!«, S. 9. 35 Vgl. Isenbort, Gregor (Hg.): Szenografie in Ausstellungen und Museen VII, Zur Topologie des Immateriellen, Formen der Wahrnehmung, Essen: Klartext 2016 36 Staupe, Gisela: »Der Mensch, Das Deutsche Hygiene-Museum und seine Ausstellungen«, in: Isenbort, Szenografie in Ausstellungen und Museen VII (2016), S. 84-97, hier S. 84. 37 Ebd., S. 84. 38 Ebd. 39 Ebd. 40 Ebd., S. 87.

248 | M ARIE-L UISE W ELZ

thetik«41, die für die ständige Ausstellung des Museums gewählt wurde und die über viele Jahre funktionieren muss, werden seine Sonderausstellungen zu »Laboratorien«, zu »Räume[n], in denen notwendige Bedingungen bereit gestellt werden, um auf traditionelle, aber auch auf experimentelle Weise (kulturelles, wissenschaftliches, gesellschaftliches) Wissen zu vermitteln. […] Und sie dürfen auch, wie jedes gute Experiment, scheitern!«42 Die für die jeweilige Sonderausstellung engagierten Kuratorinnen und Kuratoren prägen die Ausstellung inhaltlich entscheidend mit.43 Die Sonderausstellungen des Deutschen Hygiene-Museums Dresden werden nicht primär aus dem Sammlungsbestand entwickelt, im Gegenzug tragen sie jedoch dazu bei, den Sammlungsbestand zu erweitern.

S ZENOGRAFIE , R EZEPTION UND O BJEKTE Mit der Auslegung des Rundgangs durch die Schau und ihre Abteilungen als eine »Choreographie«44, in die die Besucherinnen und Besucher als Akteure einbezogen werden können oder die betrachtet wird, verstand sich die Ausstellung selbst als eine Performance. Für die Raumgestaltung wurde ein visuelles Konzept umgesetzt, das dem zeitgenössischen Tanz entlehnt war: Reduzierte schwarze Räume mit Markierungen auf dem Fußboden und theatralische Lichtinszenierung erinnerten an typische Studio-, Bühnen- und Aufführungssituationen.45 Vor diesem szenografischen Hintergrund bestand der Rundgang aus sechs objekt- und medienorientierten thematisch kuratierten Kapiteln in je einem Ausstellungsraum, die zusammen die Wissensspur bildeten. Die Kapitel wurden durch zwölf performative Installationen verbunden, welche einschließlich eines »Prologs« und eines »Epi-

41 G. Staupe: »Der Mensch, Das Deutsche Hygiene-Museum und seine Ausstellungen«, S. 92. 42 Ebd., S. 93. 43 Vgl. ebd., S. 95. 44 C. M. Schmitz: »Einführung«, S. 14. 45 Vgl. auch die Projektbeschreibung des mit der Umsetzung beauftragten Architekturbüros, Competitiononline: Ausstellung »tanz! Wie wir uns und die Welt bewegen« Deutsches Hygiene-Museum Dresden: http://www.competitionline. com/de/projekte/61335 vom 29.03.2016.

T ANZ

AUSSTELLEN



UND AUSPROBIEREN

| 249

logs«46 – auch hier verweisen die gewählten Begriffe auf die dramatische Handlung – die Bewegungsspur der Ausstellung bildeten. Im Wechsel zwischen einer Orientierung auf performative Momente und die zur Wissensvermittlung eingesetzten Objekte wurde so ein Gleichgewicht zwischen Performance- und Objektorientiertheit der Ausstellung angestrebt. Die Besucherinnen und Besucher eigneten sich die inszenierten Räume durch die Bewegungsaktionen der performativen Installationen an und wurden damit Akteure und ein integrierter Bestandteil der Ausstellung. In letzter Konsequenz nahmen somit die Besucherinnen und Besucher, angeleitet durch die Szenografie, die Rolle von Tänzerinnen und Tänzern im imaginierten Studio ein. Von den etwa 350 Ausstellungsstücken stammte nur ein geringer Teil aus den eigenen Beständen des Hygiene-Museums. Zahlreiche internationale private und öffentliche Leihgeber aus allen Bereichen der kulturellen Bildung konnten für die Ausstellung gewonnen werden. Institutionen aus Kunst, Kultur und Medien, darunter auch Tanzkompanien und auch der bereits erwähnte Tanzfonds Erbe stellten Ausstellungsobjekte unterschiedlicher Art, tanz- und kulturgeschichtliche Exponate sowie Objekte des zeitgenössischen Tanzes aus über 280 Provenienzen zur Verfügung und ermöglichten damit einen Wissenstransfer von der zeitgenössischen Praxis in die Institution Museum. Die große Fülle der Ausstellungsobjekte zeigt, dass die Strategie zur Vermittlung des immateriellen Phänomens Tanz und des Wissens über den Tanz in der Ausstellung über die Anbindung an materielle Objekte, an Dokumente und Medien erfolgte sowie deren Bezüge zueinander darstellte. Vor allem audiovisuelle Medien spielten für den Brückenschlag zum Immateriellen eine wichtige Rolle, da sie zeigen können, was beim Tanzen stattfindet. Die Vermittlungsstrategie über Objekte und Medien wurde durch die für die Ausstellung entwickelte Bewegungsspur und deren performative Installationen immer wieder um einen weiteren Schritt der Annäherung an das immaterielle Phänomen ergänzt, indem mit ihrer Hilfe Bewegung und Tanz durch die Besucherinnen und Besucher im inszenierten Rahmen der Ausstellung stattfanden. Im Folgenden soll der Rundgang durch die Ausstellung vorgestellt werden, um neben den Modi der Wissensvermittlung insbesondere die Strate-

46 Vgl. U. Marxreiter/M. Neumann: Pädagogischer Leitfaden, S. 7.

250 | M ARIE-L UISE W ELZ

gien der Inszenierung des Immateriellen in der Bewegungsspur zu verdeutlichen. Es soll veranschaulicht werden, wie der inhaltliche Bezug zur Thematik des jeweiligen Raumes in den performativen Installationen aufgenommen und umgesetzt wurde und wie die Vermittlung des Immateriellen an Besucherinnen und Besucher geleistet wurde.

P ROLOG Bereits vor dem Betreten der Ausstellungsräume wurden die Besucherinnen und Besucher im Foyer von der ersten interaktiven Installation, dem Tanzenden Gemälde (Schnellebuntebilder für das Deutsche Hygiene-Museum, mixed Media, 2013), einer großformatigen Projektion, begrüßt. Für die Projektion wurden die Bewegungen der Passanten mit einem Motion Capturing-Verfahren aufgenommen und nach Bearbeitung in Form von Verzerrung oder dem Slitscan-Verfahren um einen kurzen Moment zeitverzögert als Videocollage auf die Projektionsfläche zurückgeworfen. Durch die Zeitverzögerung der Wiedergabe und die Verfremdung der Bewegung regte die Installation zu weiterer Bewegung vor der Projektionsfläche an. Durch diese Installation wurden die Besucherinnen und Besucher von Beginn an ein Teil der Ausstellung, indem sie einerseits selbst ausgestellt wurden und indem sie andererseits in ihrer Interaktion mit der Installation, dem dynamischen Experimentieren mit dem eigenen Körper und ihrer Projektion von anderen betrachtet werden konnten. Im ersten Raum des Ausstellungsrundgangs empfing die von der Kuratorin Colleen M. Schmitz konzipierte raumfüllende Eingangsinstallation Choreosphäre (2013, Mixed Media) die Besucherinnen und Besucher. Neun silberne, übermenschengroße Bälle, die im Raum umhergeschoben werden konnten, waren angedacht, um für die physische Dimension des Tanzes und den Krafteinsatz, der geleistet werden muss, zu sensibilisieren.47 Nachdem die Eingangsinstallation den dynamischen Körpereinsatz forderte, handelte es sich hier um eine »sinnlich-poetische Installation«48. Zu Beginn des Jahres 2014 wurden die Bälle aufgrund von Materialermüdung gegen eine neue Installation im Raum ausgewechselt. Die zweite Ver-

47 Vgl. C. M. Schmitz (Hg.): tanz!, S.15. 48 Vgl. Abbildung im Katalog zur Ausstellung, C. M. Schmitz (Hg.): tanz!, S.15.

T ANZ

AUSSTELLEN



UND AUSPROBIEREN

| 251

sion der Installation des Eingangsraumes bestand aus von der Decke herab hängenden raumhohen, begehbaren Röhren aus semitransparentem Textil. Die Besucherinnen und Besucher konnten sich zwischen, aber auch in den Stoffelementen bewegen, Zwischen- und Innenraum veränderten sich abhängig von der Bewegung der Besucherinnen und Besucher, Licht und Ton lockten in die verschiedenen Röhren. Beide Versionen der Installation luden dazu ein, das Verhältnis von Körper und Raum auszuloten. Die sich anschließende Raumabfolge stellte ausgehend von der Konzeption keine Hierarchie und auch keinen chronologischen Ablauf im Sinne einer fortschreitenden Entwicklung dar. Jeder Raum war einem in sich geschlossenen inhaltlichen und gestalterischen Konzept unterworfen. Abbildung 1: Blick in den Raum »Archive«. Die Anordnung der Ausstellungsobjekte und die Form des Mobiliars unterstrichen die zu vermittelnden Prinzipen der Transformation und der Traditionslinien

Deutsches Hygiene-Museum Dresden, 2013, Foto: David Brandt

252 | M ARIE-L UISE W ELZ

D IE K APITEL DER AUSSTELLUNG Der zweite Ausstellungsraum mit der Überschrift Archive. Enzyklopädien der Bewegung (Abb.1) bildete den Auftakt der Wissensspur. Er war konzeptionell an dem von Michel Foucault geprägten Begriff des Archivs orientiert. Im Sinne Foucaults bezeichnet das Archiv die »Formation und Transformation von Aussagen«49 und das System der Bedingungen, welche die Grundlage von Traditionen bilden. In diesem Raum waren für drei exemplarisch gewählte Traditionslinien des Tanzes, der Inspiration, der Weitergabe und der Verehrung, Ausstellungsobjekte angeordnet. Der Komplex Inspiration beschäftigte sich mit einem klassischen Ausstellungsthema zum modernen Tanz, den Spiegelungen und Widerspiegelungen zwischen Tanz und bildender Kunst, bezog aber auch Erzeugnisse des Kunsthandwerks und den Film bis hin zum Videoclip mit ein, welche in ihrer Entstehungszeit aktuelle Strömungen einfingen und verbreiteten. Weitergabe widmete sich einerseits der Geschichte der Notation und andererseits der Weitergabe tänzerischen Könnens anhand von Aufzeichnungen, Anschauung, Anleitung und Nachahmung. Verehrung thematisierte den um den Körper der Tänzerin und des Tänzers betriebenen Kult und war damit Ausgangspunkt für die später in der Ausstellung weitergeführte Diskussion des über den Tanz verhandelten Körperbildes. Den Besucherinnen und Besuchern wurden in diesem Raum verschiedene Möglichkeiten zur Wiederaufnahme der Bewegungsspur geboten, wobei das Thema der Weitergabe aufgegriffen wurde. Zum einen wurde eine Playstation mit dem Tanzspiel Just Dance angeboten. In diesem Spiel wird das Nachtanzen von bekannten Videoclip-Tänzen aus der Popmusik eingeübt und mehrere Spielerinnen und Spieler können miteinander um die beste Bewertung beim ›Tanz-Karaoke‹ kämpfen. Zum anderen lud ein altes Fernsehgerät, in welchem eine Episode des in den 1960er Jahren populären Fernseh-Tanzunterrichts Gestatten Sie? Ein Tanzunterricht mit dem Ehepaar Fern abgespielt wurde, zum Mittanzen ein. Auch auf den Boden applizierte Schrittfolgen forderten unmittelbar zum Ausprobieren und Bewegen auf.

49 Ruoff, Michael: Foucault-Lexikon, Entwicklung, Kernbegriffe, Zusammenhänge, Paderborn: Wilhelm Fink 2007. S. 71, zit. nach: Michel Foucault, Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973, S.188.

T ANZ

AUSSTELLEN



UND AUSPROBIEREN

| 253

Der anschließende Raum Zwischen Himmel und Erde präsentierte sich als ein klassischer Vitrinen-Ausstellungsraum mit Objekten und audiovisuellen Medien, deren inhaltliche Spannweite vom rituellen Sufi-Tanz bis zum Techno-Rave reichte. In Anlehnung an die hier vorgestellten Derwisch-Tänze, bei denen sich der Tänzer zum Erreichen eines TranceZustandes beständig um die eigene Körperachse dreht, erfolgte die Anordnung der Vitrinen auf konzentrischen Kreisen, die grafisch auf dem Fußboden gestaltet waren. Sie boten einerseits eine freie, nicht-lineare Rezeptionsweise an und griffen andererseits das Prinzip des Kreisens und Drehens spiritueller Tänze auf. Der pädagogische Leitfaden zur Ausstellung regte an, bei Gruppenführungen darauf hinzuweisen, in welcher Art und Weise hier die Gestaltung des Raums die Besucherinnen und Besucher choreographiert50. Auch im folgenden Raum Grenzverschiebungen. Körperbilder im Wandel wurde die nicht-lineare, multimodale Rezeptionsweise beibehalten. Im Fokus standen hier einzelne Künstlerpersönlichkeiten des Tanzes, wie beispielsweise Josephine Baker oder Sasha Waltz, die jeweils neuartige Körperbilder prägten, aber auch Stars der Musikszene, wie Madonna oder David Bowie, die für ihre Performance und das Exponieren ihres Körpers bekannt sind. In einzelnen mit Hilfe von Fadenvorhängen geschaffenen Kabinetten wurden anhand von Installationen, Fotos und Dokumenten jeweils eine Künstlerin oder ein Künstler und dessen mediale Selbstdarstellung präsentiert. Hier erwiesen sich vor allem Bühnenfotografien zeitgenössischer Produktionen und inszenierte Studio-Fotografien des frühen 20. Jahrhunderts als wichtige Quellen. Diese Fotografien waren, beispielsweise auf Postkarten abgedruckt51, ein beliebtes Mittel, um für Stücke zu werben52. In ihrer Entstehungszeit oftmals provokativ angelegt, sorgten sie damals für ein entsprechendes Marketing und lassen sich zurückblickend ikonologisch-ikonografisch deuten. Diesem Raum war keine performative Installation zugeordnet. In ihrer Gesamtheit verwies die Gestaltung des Raumes jedoch mittels der separéeartig abgeteilten und andeutungsweise

50 Vgl. U. Marxreiter/M. Neumann: Pädagogischer Leitfaden, S. 20. 51 Vgl. Denner, Cindy/Schmitz, Colleen M./Weyrauch, Charlotte: »Grenzverschiebungen. Körperbilder im Wandel«, in: Schmitz, tanz! (2013), S. 107-135, hier S. 121. 52 Ebd., S. 113.

254 | M ARIE-L UISE W ELZ

sichtgeschützten Kabinette auf die Regie von Blicken und das Spannungsfeld von Intimität und Exposition des Körpers. Abbildung 2: Der Stepsequenzer war eines von vielen Angeboten, die mit Hilfe von optischen und akustischen Anregungen zur eigenen tänzerischen Bewegung innerhalb der Ausstellung aufforderten

Deutsches Hygiene-Museum Dresden, 2013, Foto: Oliver Killig

Im Übergangsbereich zum folgenden Raum mit dem Thema Klub. Spaß, Rebellion und Kommerz befand sich eine weitere, speziell für die Ausstellung entwickelte performative Installation, das Tanzinstrument Stepsequenzer (Schnellebuntebilder für das Deutsche Hygiene-Museum Dresden, mixed Media, 2013; Abb. 2). Nach den Angaben der Produzenten, dem Büro Schnellebuntebilder, einem Studio für Animation und Interaktion mit Sitz in Berlin, lag die Herausforderung darin,

T ANZ

AUSSTELLEN



UND AUSPROBIEREN

| 255

»die Besucher der Ausstellung ›tanz! Wie wir uns und die Welt bewegen‹ zum Tanzen zu bringen. Um aber die Spontanität des Tanzens nicht einzuschränken, haben wir den Spieß umgedreht und den Stepsequenzer entwickelt – ein Tool welches aus menschlicher Bewegung direkt Geräusche und Musik erzeugt. Sounds und Beats entstehen durch den Stepsequenzer nur solange wie der Besucher mit den verschiedenen Stationen des Exponats interagiert: Dem mittig projizierten ›Instrument‹ sowie drei verschiedenen physikalischen Stationen an der Seite – Springen, Drehen und Wippen. Die Felder auf dem Boden werden durch Berührung aktiviert. Ist ein Feld aktiviert, löst es einen entsprechenden Sound aus sobald der sich drehende Zeiger das Feld erreicht. Je nach Position des Feldes werden unterschiedliche Sounds ausgelöst und miteinander kombiniert. Hört der Besucher auf sich zu bewegen verstummt auch der Stepsequenzer.«53

Über vier große Leinwände wurde in diesem Ausstellungsraum in vier Blickrichtungen jeweils ein filmischer Essay zu den Tänzen Walzer, Rock’n’Roll, Pogo und B-Boying gezeigt. Die Filme vermittelten Hintergrundwissen zu den vier Stilformen, angefangen von ihrer Entstehung, dem anfänglichen Charakter als Ausdruck des Bruchs mit sozialen Konventionen und zur Abgrenzung bestimmter Gruppen bis hin zu ihrer Integration in die Gesellschaft und einer letztendlichen Kommerzialisierung. Darüber hinaus wurde das den Tänzen zugrundeliegende Bewegungsvokabular vorgestellt. Der Stepsequenzer interagierte mit den Inhalten der Wissensvermittlung durch die Erfahrung unterschiedlicher tänzerischer Bewegungsformen und deren Verbindung mit Klang beziehungsweise Musik. Ebenso spielte er in seiner Bedienung, entweder allein oder zusammen mit anderen Besucherinnen und Besuchern, auch auf den hier vorgestellten sozialen Aspekt des Tanzens an.54 Der anschließende Raum Heimatexotik. Über Grenzen thematisierte die Entstehung stereotyper nationaler Identitäten und die Erfindung von Nationen über das Narrativ der »Nationalisierung von Bewegungskulturen«55. Anschaulich wurde dieses Narrativ anhand der Ausstellung von Reproduktionen 26 verschiedener Reiseplakate der 1930er bis 1970er Jahre, die über

53 Schnellebuntebilder: Stepsequenzer: www.schnellebuntebilder.de/#/fourxfour/ stepsequencer vom 29.03.2016. 54 Vgl. U. Marxreiter/M. Neumann, Pädagogischer Leitfaden, S. 24. 55 Vgl. auch I. Baxmann/F. A. Cramer: »Wissenskultur«, S. 33.

256 | M ARIE-L UISE W ELZ

die Länge des Raumes verteilt frei über den Köpfen der Besucherinnen und Besucher hingen. Die Reiseplakate warben in ihrer ursprünglichen Funktion mit der Darstellung nationaler Tänze um Touristen und Touristinnen für das entsprechende Reiseland. Als museal präsentiertes historisches Artefakt zeigen sie, welche Rolle die über den Tanz verhandelte Folklore in der Tourismus-Entwicklung bis heute spielt und wie Nationalitäten über nationale Tänze ausgewiesen wurden und sich noch immer bestehende Klischeebilder manifestierten. Die Installation der Reiseplakate wurde unterhalb von einer Ebene mit Vitrinen begleitet, die mit verschiedenen Objekten bestückt waren, darunter schriftliche Dokumente, Kleidung, Fotografien, Alltagsobjekte und Grafiken der künstlerischen Produktion, ergänzt durch Video- und Hörstationen. Für die Länder Griechenland, Spanien, Irland, Indien und das geteilte Deutschland wurden die Entstehung und Erfindung der auf den Werbeplakaten gezeigten National-Tänze aufgearbeitet. Konterkariert wurde dieses Konzept der Konstruktion nationaler Tanzkulturen mit dem Videomitschnitt Bandoneon. Pina Bausch en Buenos Aires des Goethe Instituts Buenos Aires. In einem Interview stellt Pina Bausch die Attributierung ihres Tanztheaters als ›deutsch‹ in Frage, indem sie erläutert, dass viele ihrer Stücke von den Reisen ihrer Kompanie im Ausland inspiriert seien. Die diesem Raum zugeordnete interaktive und performative Videoinstallation Kulturbotschafter (Schnellebuntebilder für das Deutsche Hygiene-Museum Dresden, mixed Media, 2013) der Bewegungsspur zeigte auf zwei übereinander hängenden Bildschirmen einzelne tanzende Menschen, wobei der obere Bildschirm jeweils die obere Körperhälfte und der untere Bildschirm die untere Körperhälfte abbildete. So wurden Kostproben des irischen Jig, des spanischen Flamenco, des griechischen Sirtaki, des indischen Tanzes und des modernen Tanzes, teilweise auch miteinander kombiniert, dargeboten. Die Besucherinnen und Besucher konnten einen Tanz auswählen, anhand der Grundschritte eine kleine Tanzstunde absolvieren, sie aufzeichnen lassen und zur Wiedergabe in das Programm einfüttern. Neben der Anregung zur Bewegung enthielt die Installation einen deutlichen inhaltlichen Bezug zum Raum: Durch die Teilung des Bildschirms und die Kombination zweier verschiedener Tänze wurden die zuvor an den Vitrinen erläuterten Mechanismen der Konstruktion, Rekonstruktion und Hybridisierung spielerisch vor Augen geführt.

T ANZ

AUSSTELLEN



UND AUSPROBIEREN

| 257

An vier verschiedenen Stellen der Ausstellung, im Foyer, im ArchiveRaum und in den Kapiteln Zwischen Himmel und Erde und Heimatexotik fanden die Besucherinnen und Besucher in an der Wand angebrachten Behältern jeweils 15 verschiedene Postkarten vor, die zu Choreographischen Aktionen (Anna Till/Timo Rieke, Papier, 15x10 cm, 2013)56 aufforderten. Diese Interventionen stellten ein Beispiel für die Einbindung lokaler Akteure der zeitgenössischen Tanzszene dar, sie wurden gemeinsam mit der Dresdner Tänzerin und Choreografin Anna Till für die Ausstellung entworfen. Es galt, diese Aktionen entweder allein oder zusammen mit anderen Besucherinnen und Besuchern auszuführen. Beispielhaft dafür, wie die Besucherinnen und Besucher als Betrachter von Tanz in der Ausstellung angesprochen wurde, war die Postkarte mit der Anweisung: ›Stelle Dir vor, die anderen Menschen im Raum würden eine Choreographie für Dich aufführen‹. Auch anhand der Choreographischen Aktionen ging es darum, wie bereits in den Installationen des Prologs, einen aus dem Alltäglichen herausgehobenen Blick für die Wahrnehmung des Raums, der Objekte und der anderen im Raum befindlichen Menschen aus der Perspektive des Tanzes zu fördern. Die Wissensspur abschließend bot der Raum System. Spiegelbilder der Gesellschaft eine große, offene Video-Box, die mit Kopfhörern und Sitzgelegenheiten ausgestattet war. Der hier gezeigte zwanzigminütige filmische Essay, der für die Ausstellung produziert wurde, beinhaltete 22 Sequenzen aus stehenden und laufenden Bildern, die mit einer erzählenden Tonspur überlagert waren und die einen »Blick auf Organisationssysteme und Ideale […] in der westlich geprägten Kultur«57 vom 16. Jahrhundert bis in die Gegenwart des Jahres 2013 warfen. Der Essay thematisierte anhand der vorgestellten Tanzformationen, »wie wir als Menschen in der Gesellschaft zueinander stehen«58, und was der Tanz darüber verrät. Er war vor allem ein Vergleich zwischen aktuellen und historischen Gesellschaftsformen unter Betrachtung ihrer Tanzkultur und stellte abschließend das Phänomen wie-

56 Vgl. im Katalog zur Ausstellung sechs Postkarten der Serie: C. M. Schmitz (Hg.), tanz!, S. 17. 57 Lubich, Barbara/Marxenreiter, Ute: »System. Spiegelbilder der Gesellschaft«, in: C. M. Schmitz (Hg.): tanz! (2013), S. 233-149, hier S. 233. 58 Ebd.

258 | M ARIE-L UISE W ELZ

der in einen übergeordneten gesellschaftlichen und kulturhistorischen Zusammenhang.

E PILOG Im Epilog, dem letzten Raum, der den Abschluss der Bewegungsspur darstellte und der zusammen mit dem Tanzenden Gemälde im Foyer den Rahmen der Ausstellung über Bewegung und Tanz bildete, erwartete die Besucherinnen und Besucher die interaktive Bodenprojektion Licht. Bewegen. (Schnellebuntebilder für das Deutsche Hygiene-Museum Dresden, mixed Media, 2013) eine »Landschaft aus Licht und Klang«59. Vor allem dieser abschließende Raum wurde in den Rezensionen positiv hervorgehoben: »Filigraner als die Eingangsinstallation, aber umso wirkungsstärker kommt der Abschluss daher. In einem dunklen Raum wird der eigene Körper von Lichtstrahlen eingefangen, und mit seinen Bewegungen kann der Gast Musik und Form der Lichtformen verändern oder kleine Lichtpunkte durch den Raum schießen.«60

Eine ausdrückliche thematische Anknüpfung an ein Thema der Wissensspur ist hier, wie auch in den beiden Eingangsräumen der Ausstellung, nicht gegeben. Es handelte sich bei diesen Räumen um eigenständige Installationen, in denen die freie Anregung zur Bewegung im Mittelpunkt der Überlegungen stand. Unverkennbar war der Bezug dieser Installation zu multimedialen Projekten des zeitgenössischen Tanzes.

S CHLUSSBETRACHTUNG Die Ausstellung tanz! Wie wir uns und die Welt bewegen beantwortete die Herausforderung, wie das dezidiert immaterielle Phänomen des Tanzes in einer Ausstellung auch in dieser Immaterialität vermittelt werden könne, wie Bewegung ausstellbar gemacht und zugleich Wissen über die jeweils

59 C. M. Schmitz (Hg.): tanz!, S.16; hier auch mit Abbildungen. 60 Ibs, Torben: »Kulturgeschichte des Tanzes, Die Siegesgöttin und der Schuh«, in: taz vom 26.10.2013.

T ANZ

AUSSTELLEN



UND AUSPROBIEREN

| 259

angesprochene Form der Bewegung vermittelt werden kann. Dafür wurde mit zwei Vermittlungsebenen gearbeitet, die beide über die Immaterialität des Tanzes informierten. Die eine Ebene, die Wissensspur, unterrichtete vor allem über die Rezeption des Phänomens Tanz und über seine Wirkmacht in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen. Die große Anzahl der präsentierten Ausstellungsobjekte macht deutlich, dass die Vermittlung von Tanz, das Wissen um den Tanz als kulturelle Ausdrucksform und gesellschaftliches Phänomen stark an materielle und mediale Quellen gebunden ist. Die zweite Ebene, die Bewegungsspur, eröffnete die Möglichkeit zum eigenen Tun und der unmittelbaren körperlich-sinnlichen Erfahrung, dessen was Tanz ist und ausmacht. In diesem performativen Teil setzte die Schau auf eigens konzipierte Angebote in Form von performativen Installationen und Rauminstallationen, die der Einfühlung in tänzerisches Verständnis wie dem Bezug zum Raum und zu anderen Menschen oder dem Lernen durch Anschauung und Nachmachen dienten. Die performativen Installationen knüpften immer wieder an die Inhalte der Wissensvermittlung an und inszenierten die Bewegung der Besucherinnen und Besucher selbst als Objekt der Ausstellung. Während der Rezipient und die Rezipientin der Ausstellung auf der Wissensspur vor allem Empfänger und Empfängerinnen der Informationen waren, trugen sie durch die Teilnahme an den Angeboten der Bewegungsspur zur Vervollständigung der Szenografie teil. Das Mitmachen und das Betrachten und Beobachten der anderen Besucherinnen und Besucher bildeten einen wichtigen Teil des Rundgangs. Auf die konsequente szenografische Gestaltung der Ausstellung wurde großen Wert gelegt. Sie spielte eine Rolle als Träger der Botschaft der Ausstellung und gab anhand der Nachahmung eines typischen Ambientes einen Einblick in die Praxis des zeitgenössischen Tanzes. Die Szenografie kann somit als eine weitere, dritte Ebene der Vermittlung des Immateriellen betrachtet werden. Eine vierte Ebene der Vermittlung des Immateriellen wurde mit dem umfangreichen Rahmenprogramm zur Ausstellung realisiert.61 Der spielerische Ansatz zum Ausprobieren und Anschauen von Tanz innerhalb der Ausstellungsräume wurde in einem Kursprogramm und in einem Auffüh-

61 Vgl. Stiftung Deutsches Hygiene-Museum (Hg.): Das Begleitprogramm zur Sonderausstellung, Tanzveranstaltungen des Deutschen Hygiene-Museums und seiner Partner, Oktober 2013 bis Februar 2014, Dresden 2013.

260 | M ARIE-L UISE W ELZ

rungsprogramm vertieft. Insbesondere das Kursprogramm trug zur lebendigen Weitergabe von Bewegungswissen bei. Beide Programme trugen außerhalb des eigentlichen Ausstellungsortes und dem dort ›fixierten Wissen‹ der Spontanität und der Nicht-Reproduzierbarkeit des Tanzes Rechnung. Schließlich stellte die Ausstellung selbst ein Dokument eines neuen kulturpolitischen Stellenwertes der Sparte Tanz und eines neuen Forschungsinteresses am Tanz dar. Im Sinne der Kulturerbe-Forschung ist die mit der Ausstellung verknüpfte Bestandsaufnahme des aktuellen Wissensstandes und der aktuelle Umgang mit der kulturellen Ausdrucksform Tanz von Belang. Die Ausstellung trägt außerdem in ihrer Herangehensweise und mit der Aussage »Tanzen kann jeder«62 auch das Verdikt Rudolf von Labans für den Tanz der Moderne, ›Jeder ist ein Tänzer‹, weiter.

62 Deutsches Hygiene Museum Dresden: »tanz! Wie wir uns und die Welt bewegen« (Film), www.dhmd.de/index.php?id=2210 vom 29.03.2016.

Möglichkeiten digitaler Kunstvermittlung Das Immaterielle vermitteln/Das immaterielle Vermitteln Y VONNE R EINERS

1. S TATE

OF

E DUCATION

Die Arbeitsweisen und Ansprüche der Museen haben sich – insbesondere im Bereich der Kunst-und Kulturvermittlung – in den vergangenen Jahren sehr verändert. Technologiebasierte Vermittlung ist oft nicht mehr auktorial, sondern interaktiv, partizipativ, performativ und immateriell. Apps, maps, augmented- und virtual realities die wesentliche Veränderung in der heutigen Begegnung von Besucher*innen und Kunstwerk, nämlich den sehr personalisierten Zugang zu den ausgestellten Exponaten. ›Spielen‹ ist ein wichtiger Begriff für die zeitgenössische Kunstvermittlung, denn das Spiel ist eine produktive Methode, um gemeinsam zu lernen1. Indem das Spiel Regeln erfindet, werden die einer Gemeinschaft inhärenten Ausschlüsse, Legitimationen und Bedingungen angesprochen und zum Thema gemacht. Die Teilnehmer*innen sind dabei der Ausgangspunkt: Nur durch sie und mit ihnen kann im Spiel reflektiert werden, ›wer‹ aus ›welcher Perspektive‹ ›was‹ sieht. Lernen wird so als Prozess verstanden, in dem ein kritischer Blick auf die eigene Position möglich wird. Im Folgenden werde ich einige aktuelle Beispiele aus Gaming und ›Spiel‹ im Bereich der Kunstvermittlung mit digitalen Mitteln beschreiben, sowie Virtual Reality als kritisches, spielerisches tool sowohl für Institutionen als 1

Vgl. Feige, Daniel Martin: Computerspiele. Eine Ästhetik, Berlin: Suhrkamp 2015.

262 | Y VONNE R EINERS

auch als Möglichkeitsraum für Künstler*innen beleuchten. Anhand der Analyse exemplarischer digitaler (›immaterieller‹) Spiele und der Möglichkeiten des digitalen Formates Virtual Reality, immaterielle Werke und abstrakte Werte zu vermitteln, möchte ich hier auch einen Ausblick in die Vermittlungsarbeit der Museen 4.0 eröffnen.

2. E XEMPLARISCH : G AMES

IM

M USEUM

Spielen wird oft in einem Atemzug mit ›Partizipation‹ genannt. So versteht etwa Silke Feldhoff Spielen als ›Aktivierung‹ der Rezipient*innen2. Wer hingegen ›Games‹ und ›Museum‹ gemeinsam nennt, umschreibt den ansteigenden Einsatz von Spielen häufig mit dem Wort Gamification3. Ein eher klassisches, objektgebundenes Vermittlungsformat, das spielerische Züge trägt, ist das Projekt A la Carte zur Ausstellung KOSCHER & CO.

2

Vgl. hier: Feldhoff, Silke: Zwischen Spiel und Politik. Partizipation als Strategie und Praxis in der bildenden Kunst, Dissertationsschrift 2009, zitiert in: Manuela Naveau: Crowd and Art – Kunst und Partizipation im Internet, Bielefeld: transcript 2017, S. 257-259.

3

Im Allgemeinen versteht man unter ›Gamification‹ die »Übertragung von spieltypischen Elementen und Vorgängen in spielfremde Zusammenhänge mit dem Ziel der Verhaltensänderung und Motivationssteigerung bei Anwenderinnen und Anwendern.«

http://wirtschaftslexikon.gabler.de/Archiv/688938796/gamifica

tion-v5.html vom 02.05.2017. ›Gamification‹ ist dabei keine Idee der digitalen Gesellschaft. Die Erkenntnis, dass Spaß am Spiel motiviert und Motivation wiederum Konzentration fördert, hat dazu geführt, dass in der Pädagogik seit langem Lehr- und Lernkonzepte entwickelt werden, die spielerische Elemente einbeziehen. Elemente des Spiels können in Kulturinstitutionen in ganz unterschiedlicher Form implementiert werden – digital und analog. Es gibt Storybasierte Spiele, die den Nutzer*innen erlauben, sich wie in einer Schnitzeljagd entlang einer Narration durch eine Lernwelt zu navigieren (z.B. WW1: Love & Sorrow, Museum Melbourne), Anwendungen, die Objekt-basierte Interaktionen ermöglichen (z.B. Design a Wig, Victoria & Albert Museum London), oder solche, die spielerisch die Grenzen zwischen digitaler und analoger Erfahrung testen. (z.B. Being Faust – Enter Mephisto, Goethe-Institut Korea/Berlin, in Kooperation mit game lab Berlin).

M ÖGLICHKEITEN

DIGITALER

K UNSTVERMITTLUNG | 263

Eine Ausstellung über Essen und Religion, die 2009 bis 2010 im Jüdischen Museum Berlin stattfand. Besucher*innen der Ausstellung erhielten am Eingang einen Löffel, in dem sich ein RFID-Chip befand. In jedem der zehn Räume warteten Teller, deren Dekor zu dem der Löffel passte. Wenn ein Löffel auf einem Teller platziert wurde, begann dieser zu leuchten und ein Klingeln war zu hören. Nun war ein Rezept auf einem persönlichen Account gespeichert worden, das später online über die Website des Jüdischen Museums angesehen und ausgedruckt werden konnte. Am Ende sollten die Besucher*innen ihr Wissen über die Ernährungsregeln im Judentum und im Islam prüfen. Jede/r Besucher*in erforschte so die Ausstellung auf eigene Faust und nahm individualisierten ›Mehrwert‹, in Form von Rezepten, mit nach Hause. Dieses interaktive Angebot führte – idealerweise – zu einer intensiven Auseinandersetzung mit dem großen, abstrakten Thema ›Ernährung‹, indem es die Objekte mit einem zweiten augmentierten Layer ausstattete. Das von dem Designstudio The Green Eyle gestaltete Format A la Carte könnte man insofern als Spiel betrachten, als es Regeln (das Sammeln von Informationen mit dem Löffel), ein Ziel (Informationen zu Wissen verarbeiten, das abgefragt wird und sich zu Hause in Form von Rezepten materialisieren kann) und schließlich sogar eine Art ›Plot‹ hat (Sammeln, um später gemeinsam kochen zu können). Doch die Performanz des Spiels ist eher einseitig – am Ehesten entspricht A la Carte einem Spiel des Genres Point and Click, bei dem die Spieler bestimmte Dinge sammeln und kombinieren müssen, um in ein höheres Level aufzusteigen.

264 | Y VONNE R EINERS

Abbildung 1: A la Carte

Studio TheGreenEyl, A la carte, 2009

TotemȀs Sound von der österreichischen Künstlergruppe gold extra ist, im Gegensatz zu A la Carte, das auf das Sammeln und Abrufen von konkretem Wissen abzielt, ein narratives Adventure Spiel. Sein Plot schildert das Zusammentreffen verschiedener Kulturen und erzählt die Herkunftsgeschichte eines Teiles der Sammlung am Ethnologischen Museum Berlin. Ende des 19. Jahrhunderts brach der norwegische Kapitän Adrian Jacobsen im Auftrag des damaligen Museums für Völkerkunde an die amerikanische Nordwestküste und nach Alaska auf, um Objekte für die Sammlung zu erwerben. TotemȀs Sound besteht aus einem Computerspiel und einem Rundgang mit Tablet durch die Sammlung Jacobsens. Im ComputerAbenteuerspiel erleben die Besucher*innen einen Tag mit Kapitän Jacobsen und besuchen ein Dorf des Volks der Haida in Kanada. Bei der Tour mit dem Tablet kommen die Sammlungsobjekte selbst zu Wort und erzählen ihre Geschichte. Die Arbeiten der Künstlergruppe gold extra, die unter anderem im Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe und auf dem Festival Games for Change, New York, zu sehen waren, erproben hier zwar neue Erzählformen, indem sie dokumentarische Inhalte und künstlerische Inszenierung verbinden, doch Totem’s Sound bietet keine multiperspektivischen Möglichkeiten. gold extra beleuchten die Entstehung der Sammlung und die Rolle Jacobsens aus einer einzigen, für die Spieler*innen im Spiel nachzuvollzie-

M ÖGLICHKEITEN

DIGITALER

K UNSTVERMITTLUNG | 265

henden Perspektive. Die Performanz des Spiels One-way: Es gibt nur jeweils eine richtige Lösung für jedes Problem4. Die Spieler*innen sind nicht Pro- sondern Konsumenten. Sie selbst können nichts Eigenes zum Spiel beitragen. Ein komplett auf Partizipation ausgerichtetes Format hingegen ist das Projekt Play Your Place der Furtherfield Gallery. Die Furtherfield Gallery wurde 1997 als erster Projektraum für digitale Kunst und Kultur in London von den Künster*innen Ruth Catlow und Marc Garrett gegründet. 2013 begannen die beiden, öffentliche Veranstaltungen in ihrem Stadtteil, wie Straßenfeste, Girls Days oder Festivals, dafür zu nutzen, die in dem jeweiligen Rahmen organisierten Gruppen meist junger Leute aufzufordern, an Zeichen- und Scanworkshops teilzunehmen. Sie fragten, was sich in den Problembezirken Londons ändern solle und baten um kurze Cartoons, Storyboards und Ähnliches. Daraus entstand Play Your Place – eine Software, mit der jede/r am heimischen Rechner sich aus dem Pool gezeichneter und eingescannter Vorlagen bedienen kann, um ein eigenes, kurzes Jump and Run Spiel zu kreieren. Die Idee dahinter ist, dass eine Visualisierung des eigenen Verständnisses von regionalen und globalen Problematiken, wie etwa der Finanzkrise, und daraus resultierenden persönlichen Herausforderungen, wie Erwerbslosigkeit oder Rentenkürzung, schon eine Veränderung hin zur Verbesserung bedeutet. Dieses Spiel vermittelt keine künstlerischen Werke, es ist selbst ein künstlerisches Werk aus der Hand vieler Autor*innen5. Play your Place ist ein gelingendes Beispiel für die Vermittlung von Immateriellem6 – und dennoch auch kritisch zu reflektieren. Positiv ist hervorzuheben, dass Play your Place die Teilnehmer*innen dazu bringt, für die jeweils bearbeiteten Themen eine Visualisierung zu erfinden, was Partizipation voraussetzt, Reflexion notwendig macht und Teilhabe bedeutet. Auch dass der content von den Teilnehmer*innen komplett selbst erstellt wird, ist positiv hervorzuhe-

4

Wobei hier anzufügen ist, dass die Spieldesigner*innen gemeinsam mit den Kurator*innen sich sehr um eine kritische Haltung bemüht haben.

5

Siehe hierzu das Archiv der Furtherfield Gallery: http://localplay.org.uk/ vom

6

Hier verstanden als den gesellschaftlichen und sozialen Kontext der Teilneh-

31.05.2017. mer*innen und die mittels des kreativen Zugangs ›Spieldesign‹ verhandelten, individuellen Probleme.

266 | Y VONNE R EINERS

ben: in der praktischen Anwendung bedeutet das eine Möglichkeit zur Identifikation mit dem Projekt – und darüber hinaus keine Probleme mit Urheberrechten. Auch die Software, inklusive Quellcode, ist Open Source, das heißt: frei verfügbar. Die zumeist jungen Teilnehmer*innen können in Programmierworkshops lernen, wie sie dem Pool an Vorlagen neue Inhalte hinzufügen. Negativ fällt auf, dass die Vorlagen, aus denen die individuellen Spiele gestaltet werden können, sich sehr ähneln. Die Linearität des Spiels – Jump and Run in westlicher Leserichtung – schränkt den Gestaltungsspielraum und damit die Visualisierung von Inhalten stark ein. Ein großes Problem ist auch der immense Pflegeaufwand, der durch das Open Source Projekt entsteht: In Workshops wird zwar das Erstellen von content und Spielen vermittelt, dieser content jedoch nicht ›aufgeräumt‹. Halbfertige und sich stark ähnelnde Spiele ›verstopfen‹ das Online-Archiv, das dadurch unübersichtlich wird. Daraus kann man schließen, dass Ein Mehrwert wird hier durch das Vermitteln der Techniken erzeugt. Das Spiel selbst ist das Ziel des Spiels.

3. T RIAL

AND

E RROR

Eine andere Möglichkeit ist das Spiel als mögliche, künstlerische (Vermittlungs-)Form zu nutzen. Das Projekt Mapping the Commons versuchte nicht wie die vorgestellten interaktiven Medienformate A la Carte und Totems Sound, materielle Werke zu vermitteln. Vermittelt werden sollte vielmehr das Immaterielle, das diese Werke umgibt: Eine Institution. Zwar ist die nGbK – die neue Gesellschaft Bildende Kunst Berlin – kein Museum, sondern ein Kunstverein und hat ergo keine Sammlung, die sichtbar gemacht werden müsste. Doch die 1969 mit basisdemokratischer Struktur gegründete neue Gesellschaft für Bildende Kunst verfügt über eine immaterielle Sammlung. Sie hat sich, vor allem durch ihr Selbstverständnis als ein von den eigenen Mitgliedern geleiteter Kunstverein, als innovativer Ort zeitgenössischer Kunst- und Ausstellungsproduktion etabliert. Der nicht-sichtbare Wert ist hier also die neue Gesellschaft Bildende Kunst Berlin als Struktur – bestehend aus ihren Mitgliedern, ihrer Idee, ihrer Geschichte, ihren Themen. In meinem Entwurf für das von der neuen Gesellschaft Bildende Kunst Berlin jährlich ausgeschriebene Kunstvermittlungsstipendium fragte ich

M ÖGLICHKEITEN

DIGITALER

K UNSTVERMITTLUNG | 267

mich: Wie könnte man ein Spiel kreieren, das die Lage der neuen Gesellschaft Bildende Kunst Berlin sichtbar macht – in ihrer sozialen Einbettung in Netzwerke, geographischen Nachbarschaft und in das ökonomische, globale Ganze? Kann ein Spiel die Wünsche der Besucher*innen sammeln, die Utopien der benachbarten Kreuzberger Kiezbewohner*innen sichtbar machen und dabei alle Altersgruppen spielerisch einbinden? Wenn ja, wie entwickelt man ein solches Spiel und wie kann man ein solches Vorhaben so demokratisch wie möglich angehen? Gemeinsam mit dem Programmierer Nikolaus Baumgarten entstand schließlich die Idee zu Mapping the Commons – Zur Lage der nGbK. Entwickelt wurde es als basisdemokratisch entwickeltes Online-Spiel. Die Sammlung von Materialien, die Archivierung und Gestaltung des Spiels fand über ein Jahr gemeinsam mit der Kunstinstitution die neue Gesellschaft Bildende Kunst Berlin, ihren Mitgliedern, Besucher*innen und ihrer Nachbarschaft statt. Auch wenn ich als ›Gestalterin‹ und Autorin von Mapping the Commons kaum eine völlig objektive Rolle annehmen kann, will ich doch versuchen, im Folgenden so kritisch wie möglich die sich aus dem Projekt ergebenen Problematiken zu reflektieren. Zunächst einmal ließ sich natürlich – was nicht überrascht – das ideale Ergebnis aus finanziellen, zeitlichen und technischen Einschränkungen nicht erreichen. Der Zeitrahmen von einem Jahr – von der Konzeption bis hin zur Umsetzung – war zu kurz, um Kooperationen mit Schulen zu beginnen. Diese brauchten, wie jede größere Institution, eine längere Vorlauf- und Vorbereitungszeit. Um die Arbeit mit Schüler*innen zu leisten war auch das Ziel zu wenig konkret – der experimentelle Charakter schreckte viele der Bildungsträger eher ab. Die Teilnehmer*innen der begleitenden Workshops waren denn auch – was ebenfalls nicht überrascht – recht homogen. Sie waren in ähnlichen Berufen angestellt oder freiberuflich beschäftigt (im Bereich Journalismus, Theaterpädagogik oder Schauspiel, Kunst und Kultur), mehr als die Hälfte der Teilnehmer*innen lebte in wirtschaftlich prekären Verhältnissen, war europäisch oder asiatisch, Mitte 30 bis Ende 40 und gebildet. Die sich für das Format Interessierenden stammten aus einem ähnlichen sozialen Milieu, teilten ähnliche Ansichten und beschäftigten sich meist ohnehin schon mit dem Feld der kritischen Teilhabe. Ein weiteres Problem, insbesondere für die Kommunikation mit möglichen Kooperationspartnern, war der Gleichzeitigkeit von Entwurfsprozess

268 | Y VONNE R EINERS

und Entwicklung geschuldet. Bildlich gesprochen musste also, bedingt durch den engen Zeitrahmen, das Flugzeug gleichzeitig geflogen und gebaut werden. Das Spiel entstand durch die Teilnahme der Interessierten und durch das Engagement der beteiligten Künstler*innen, daher war es bis zum Ende fast unmöglich vorauszusagen, wie genau es aussehen würde. Der Programmierer und ich gaben einen Rahmen vor – doch innerhalb dieses Frameworks war alles möglich, was technisch umsetzbar war. Dies führte häufiger zu Irritationen, die man relativieren konnte, indem man das ganze Projekt nicht als rein didaktisches, sondern mehr als künstlerisches Vermittlungsprojekt begriff. Transparenz und dauernde Sichtbarkeit waren extrem wichtig für dieses Projekt, das so unmittelbar von der Diversität seiner Teilnehmer*innen abhing – die aber, wie oben beschrieben wurde, schwer zu erreichen war. Ein Ergebnis des Prozesses war ein MultiplayerChat-Spiel, das sich schließlich aus dem Immateriellen materialisierte. Das Spiel wird voraussichtlich im Sommer 2017 online gehen – unter der URL infinite.chat. Trotz – oder gerade wegen – der mannigfaltigen Stolpersteine, die die Umsetzung mit sich brachte, habe ich das Projekt Spieldesign als sehr bereichernd empfunden und kann das Spiel als Format für die Kunstvermittlung nur empfehlen. Abbildung 2: Mapping the Commons – Zur Lage der nGbK

Nikolas Baumgarten/Yvonne Reiners, infinite.chat 2017, Screenshot

M ÖGLICHKEITEN

4. W HAT

DIGITALER

K UNSTVERMITTLUNG | 269

IF

Ein kurzes Zwischenfazit soll nun helfen, nachdem vier Spiele vorgestellt wurden, die die Möglichkeiten des Digitalen auf sehr unterschiedliche Weise nutzen – A la carte zur didaktischen Wissensvermittlung, Totems Sound zur spielerischen Unterhaltung, Play your Place, um Open Source bzw. Teilhabe zu visualisieren und Mapping the Commons, um eine Institution über ihr Außen sichtbar zu machen. Allen ist gemeinsam, dass sie vom jeweils anderen Ansatz profitieren könnten. Ein performatives Spiel als angewandte Form der Wissensgenerierung müsste idealerweise eine lebendige, mehrdimensionale und interdisziplinäre Vorlage sein, die keine vorgefertigten Wahrnehmungsmuster, sondern vielmehr Optionen anbietet. Das Regelwerk sollte dabei verschiedene Wege der Betrachtung und Interpretation der jeweiligen Fragestellung aufzeigen, Fragen auch unbeantwortet stehen lassen und so einen erweiterten Denkrahmen schaffen. Der ›Plot‹, also die Rahmung des Spiels in eine Geschichte, sollte es zulassen, sich im Spiel zu verlieren, in einer Rolle aufzugehen und dadurch eine andere Realität zu gestalten. Der ›Als-ob‹-Faktor (im Englischen ›what if…?‹) ist, in Johan Huizingas Worten, »das Heraustreten aus (dem gewöhnlichen oder eigentlichen Leben) in eine zeitweilige Sphäre von Aktivität mit einer eigenen Tendenz«7. Daher möchte ich nun einen Ausblick – in Bezug auf andere Realitäten – geben: Es wird in der internationalen Museumslandschaft bereits mit Virtual Reality oder Augmented, also erweiterter, Reality gearbeitet. Man muss aber sagen, dass die meisten dieser Versuche keinen wirklichen Mehrwert generieren8. Im Folgenden werde ich kurz auf das Thema der sogenannten Virtual Reality tools als bewahrende oder erweiternde Möglichkeit für die Kunstvermittlung mit digitalen Möglichkeiten eingehen.

7

Johan Huizinga: Homo Ludens, Hamburg: Rowohlt 1956, S.16.

8

Vgl. https://www.cogapp.com/museum-digital-strategy-examples-resources vom 02.05. 2017.

270 | Y VONNE R EINERS

5. V IRTUAL R EALITY

TOOLS ALS

D IGITALISAT ?

Aktuelle digitale Strategien integrieren fast automatisch augmentierte oder virtuelle Narrationen in Museen. Ich halte ›das Virtuelle‹ dennoch für einen noch viel zu wenig ausgeschöpften Möglichkeitsraum für die Vermittlung von Kunst. Doch wie müsste ein sinnvolles – nicht nur in die technischen Möglichkeiten verliebtes – Virtual Reality tool für Kunstvermittlung aussehen? Unsere Gegenwart ist von Aspekten der Hybridität, Neuordnungen, Transformationen und Virtualität geprägt, demnach müsste dieses Tool eines sein, welches die Gegenwart in ihrer Gänze zu erfassen vermag. Eine solche Vermittlung hielte sich nicht an den Objekten eines digitalen Zeitalters auf, sondern sie würde automatisch darüber reflektieren, wie eigentümlich es eigentlich ist, in einem digitalen Zeitalter zu leben. Eine hybride ästhetische Form müsste Betrachter*innen demnach in einer Struktur platzieren, die zwischen multiplen Wahrnehmungsrealitäten oszilliert. Es entsteht kein Mehrwert, indem man einfach eine virtuelle Galerie nachbaut und Fotos oder Sounds einbaut. Ein Anknüpfungspunkt für eine weiterführende Diskussion, die vielleicht über Virtual Reality als »Sehnsucht zur Immersion«9 hinaus zu deuten vermag, wäre etwa: Wenn man Virtual Reality benutzen kann, um heikle chirurgische Situationen zu planen, militärische Strategien zu erproben oder auch Tatorte zu rekonstruieren, bietet es sich nicht geradezu an, vergängliche Werke wie Rirkrit Tirivanijas untitled pieces oder jegliche andere vergängliche Form von Performance nachzubilden und dadurch für die ›zu spät Geborenen‹, sowie Interessierte, die das Event ›verpasst haben‹ körperlich erfahrbar zu machen? Folgt man der These, dass jedes künstlerische Werk, das über die körperliche Erfahrung, gepaart mit der Bindung an eine bestimmte, das Werk ausführende Person funktioniert, irgendwann vergessen werden wird, so könnte man Virtual Reality als Form der Bewahrung nutzen, ganz ähnlich, wie man empfindliche und dem chemischen Verfall ausgelieferte Fotos archiviert und konserviert, indem man sie digitalisiert. Aber ist das ethisch zulässig? Dies würde

9

Vgl. Yvonne Reiners Vortrag bei dem Symposium des gamelab Berlin, Chancen und Risiken von Virtual Reality, November 2016, Interdisziplinäres Labor Bild Wissen Gestaltung, Berlin: https://www.kulturtechnik.hu-berlin.de/de/content/ symposi-hackathon-reality-sucks-chancen-und-risiken-von-virtual-reality/

M ÖGLICHKEITEN

DIGITALER

K UNSTVERMITTLUNG | 271

schließlich bedeuten, Fragen nach Autorschaft oder Kunst als Open Source10 – also als frei verfügbare Quelle – völlig neu zu stellen. Viele heikle Punkte würden im Vorfeld der Umsetzung eines solchen Virtual Reality tools analysiert und hinterfragt werden müssen: Ästhetisiert und ökonomisiert man die künstlerischen Arbeiten nicht durch das Schaffen von Artefakten? Darf man diese Herausforderung überhaupt annehmen und versuchen, Arbeiten upzudaten, Zeitgenossen zu erreichen und gelingt es, sinnlich Erfahrbares neu zu erschaffen, ohne ins Entertainment oder ins Spektakel11 zu verfallen? Hier könnte ein kritisches Virtual Reality tool ansetzen, indem es 1. sich fragt: Welche Intention steht hinter dem Kunstwerk, was sollte erzeugt werden? Kann man versuchen, die verlorene, reale Erfahrung des Werkes als wieder-erlebbaren, visuell wie akustisch nachgebildeten Raum nachzuempfinden? 2. seine Kritik aus heutiger Sicht mit reflektiert – in zeitgenössischer Form, denn Kunstwerke sind nie abgeschlossen, auch wenn sie nicht mehr körperlich im Original erfahrbar sind. Gerade Kunst und ihre Rezeption ist ständig im Wandel, diesen Prozess kann man mit digitalen Mitteln abbilden. 3. Ein solches tool müsste schließlich die Unzulänglichkeit der heutigen Virtual Reality und intelligenten Technik entweder mit reflektieren, ergo benennen und kenntlich machen und damit mutig experimentieren – und womöglich daran scheitern. Ein Ausblick in die Zukunft wäre es dass man in der Virtual Reality tatsächlich an innovativen, personalisierten Dialogen teilnehmen kann. Doch davon sind wir technisch noch weit entfernt: Unsere Artificial Intelligences (›AI‹) können weder im realen, noch im virtuellen Raum autark diskutieren, innovativ und schöpferisch kommunizieren oder intelligent

10 Diskutiert im Podiumsgespräch zur Wiederaufführung und Archivierung von Performances mit Jiří Kovanda, Karen Power, Pierre Bal-Blanc und Volker Straebel, November 2015, Akademie der Künste, Berlin; vgl. auch Lammert, Angela/Akademie der Künste (Hg.): Film als Skulptur, Dortmund: Kettler 2017. 11 Vgl. hier etwa Feldhoff, Silke: Zwischen Spiel und Politik. Partizipation als Strategie und Praxis in der bildenden Kunst, Dissertationsschrift 2009.

272 | Y VONNE R EINERS

scherzen12. Wir haben es vielmehr noch immer mit manuellen Prozessen zu tun, die der gelernten und automatisierten Interaktion zugrunde liegen, aufgebaut durch Mechanical Turks, also Billiglohnarbeiter, meist aus Schwellenländern, die den Maschinen Sprache ›beibringen‹13 Doch in jedem Falle gilt: würde man eine Anwendung erzeugen, die den oben genannten drei Punkten entspricht, könnte dies eine große Chance sein. Dies wäre keine Werbung oder animierte Galerie, hier würde ein eigenständiges künstlerisches Werk geschaffen, das sich inhaltlich auf die Ursprungsarbeit bezieht. Es wäre demnach unter dem Aspekt des Zeitdokuments zu untersuchen, auf seine technische Umsetzung, seine ›Anwendbarkeit‹ als Vermittlungsmedium und auf seine Qualität als künstlerische, ästhetische Arbeit.

6. V IRTUAL R EALITY TOOLS ALS I NTERVENTION IM M USEUM

SPIELERISCHE

Wie bereits beschrieben, reicht es meiner Meinung nach nicht aus, nur eine mögliche Wirklichkeit in der Virtualität (nach-)zu bauen. Technisch so genau wie möglich zu arbeiten, um täuschend echten Raum nachzubilden, mag nötig sein, um die Motion Sickness genannte Wahrnehmungsstörung (Schwindel) zu vermeiden, doch was ist hier der Mehrwert? Viele Museums-Apps nutzen die aktuellen technischen Möglichkeiten, etwa für eine Zeitreise in die Vergangenheit.14 Natürlich gibt es dazu auch etwas ›Bonusmaterial‹, etwa Kurzinfos zu einzelnen Werken der Sammlung, die hervorgehoben werden. Im Großen und Ganzen wirkt das tool aber vor allem wie Werbung für das Museum im neuen, digitalen Gewand. Es setzt den klassischen Flyer in ein 360°-Format um und verpasst dabei meiner Meinung nach, das, was ich zuvor als oszillierende multiple Wahrnehmungsrealitäten, als Möglichkeit für die Kunstvermittlung mit Virtual Reality be-

12 Vgl. http://www.nytimes.com/2013/01/06/opinion/sunday/can-computers-be-fun ny.html vom 31. 05.2017. 13 Vgl. Wikipedia Eintrag zu den ›Mechanical Turks‹ der Firma Amazon: https://en.wikipedia.org/wiki/Amazon_Mechanical_Turk vom 30.05.2017. 14 Vgl. die App Zeitreise des Städel Museums, 2017 https://www.nmy.de/de/1/ projekte/15/234/staedel-museum/ vom 14.11.2016.

M ÖGLICHKEITEN

DIGITALER

K UNSTVERMITTLUNG | 273

schrieb: Warum nicht heute und damals vermischen? Warum nicht kritischer auf die Sammlung, deren Provenienz eingehen, mutiger eintauchen und das ganze Register der immersiven15 Möglichkeiten ziehen, um dann Gegenwart mit Kommentaren – im Sinne eines partizipativen Museums16 – zu vermischen? Warum nur den Anschein der Möglichkeit zur Interaktion geben? Auch hier empfinde ich den what if Faktor des Formates Spiel als ideal für die Vermittlung des Immateriellen (hier: Zeit, Vergangenheit, Geschichte) mit digitalen Möglichkeiten. Künstlerische Produktionen erfüllen den what if -Faktor häufiger. Das können zwei Beispiele illustrieren: Das Beanotherlab arbeitet seit einigen Jahren an Installationen, die es einem erlauben, mittels VR in den Körper eines anderen zu schlüpfen17. Die Virtual Reality ›Experience‹ In the Eyes of the Animals von Marshmallow Laser Feast simuliert das Erlebnis, ein die Wildnis durchstreifendes Tier zu sein18. Hier passiert Immersion, eine neue Erfahrung wird erzeugt. Die Möglichkeiten der Virtual Reality verbleiben bei den Experimenten von Beanother und Marshmallow Laser Feast nicht im Versuch, die Realität nachzubilden. Wünschenswert wäre auch in der internationalen Museumslandschaft etwas mehr Abenteuerlust im Umgang mit dem Medium Virtual Reality, etwas mehr Experimentierfreude und weniger Furcht vor dem Scheitern. Sicherlich hängen, gerade im Umgang mit neuen Technologien, hohe Budgets und mangelnde personelle Ressourcen als Ballast an den Projekten – doch allmählich beginnen sich die Museen auf den demografischen Wandel und die veränderten Sehgewohnheiten im Digitalzeitalter einzustellen19.

15 Das Wort ›immersiv‹ leitet sich vom englischen Begriff ›immersion‹ her. Dies ist in etwa mit ›Eintauchen‹ oder ›Vertiefung in eine Sache‹ zu übersetzen. Der Betrachter identifiziert sich mit der fiktiven Welt, er taucht komplett in diese andere Realität ein. 16 Vgl. Simon, Nina: The Participatory Museum, 2010: http://www.participatory museum.org/read/ vom 02.01.2017. 17 Vgl. http://beanotherlab.org/ vom 31.05.2017. 18 Teaser zur Version für das Sundance Festival: https://vimeo.com/140057053 vom 30.05.2017. 19 Vgl.

https://www.cogapp.com/museum-digital-strategy-examples-resources

vom 31.05.2017. Diese Seite eignet sich gut als Übersicht der digitalen Strategien großer Häuser, vor allem in den USA. Die Stiftung Preussischer Kulturbesitz beginnt 2017 mit dem groß angelegten Projekt »Museum 4.0«. Als Partner

274 | Y VONNE R EINERS

Zögernd noch, aber immer öfter werden Stellen an Museen eingerichtet, die sich ausschließlich mit dem digitalen Auftritt des Hauses beschäftigen. Virtual Reality kommt der visitors experience vor den Originalen am Nächsten, Virtual Reality ist frameless, also ›rahmenlos‹, hebt somit die Distanz zwischen Werk und Betrachter auf und hat etliches anderes, bislang unausgeschöpftes Potential. Wie also oben beschrieben: Ever tried. Ever failed. No matter. Try Again. Fail again. Fail better. Es lohnt sich.

sind auch das Deutsche Auswandererhaus Bremerhaven, das Deutsche Museum München, die Fasnachtsmuseen Langenstein und Bad Dürrheim mit weiteren Museen der schwäbisch-alemannischen Fastnacht und das Senckenberg Museum für Naturkunde Görlitz beteiligt. »›Museum 4.0‹ ist ein visionär ausgerichtetes Pilotprojekt, in dem innovative Anwendungsmöglichkeiten digitaler Technologien für Museumsarbeit in einem gemeinsamen virtuellen Raum entwickelt und erprobt werden. Der Schwerpunkt liegt dabei auf den Themen Vermittlung, Kommunikation, Interaktion und Partizipation.« https://www.preussischerkulturbesitz.de/meldung/news/2016/11/15/meilenstein-fuer-digitale-transfor mation-bund-foerdert-museum-40.html vom 30.05.2017.

Autorinnen und Autoren

Vera Bachmann (Dr.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Passau, wo sie über Narrative der Inflation forscht. Das Projekt ist aus der Beschäftigung mit der Literatur der Weimarer Republik während ihrer Kuratorinnenentätigkeit am Literaturhaus München (2014-2015) für die Ausstellung Erfolg. Lion Feuchtwangers Bayern hervorgegangen. Weitere Forschungsschwerpunkte sind die Literatur des neunzehnten Jahrhunderts, insbesondere des Realismus, die Ästhetik von Oberfläche und Tiefe sowie die Geschichte von Motiv und Poetologie des Wassers in der Literatur. Lisa Beißwanger (M.A.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Kunstgeschichte des Instituts für Kunstpädagogik an der JustusLiebig-Universität Gießen und Doktorandin am GCSC - International Graduate Centre for the Study of Culture. Derzeit verfasst sie ihre Dissertation zum Thema Performancekunst im Museum. Zu den weiteren Forschungsschwerpunkten gehören Kunst nach 1945, Avantgarde-Theorien, Großkunstausstellungen und Ausstellungskonzeptionen. Anna Bers (Dr.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Deutsche Philologie der Georg-August-Universität Göttingen. Sie promovierte mit einer Arbeit zur Zeichenkonzeption in Goethes später Lyrik. Sie war von 2015 bis 2016 als wissenschaftliche Volontärin im GoetheNationalmuseum Weimar u.a. mit den ausstehenden Sanierungsmaßnahmen beschäftigt. Als Literaturwissenschaftlerin hat sie sich zuletzt mit theoretischen Aspekten der Lyrik-Performance, deutsch-baltischen Literaturbeziehungen, Authentizität in Popmusik sowie Felicitas Hoppe und Meret Oppenheim befasst.

276 | D AS I MMATERIELLE AUSSTELLEN

Heike Gfrereis (Prof. Dr.) ist derzeit als freie Kuratorin tätig und lässt ihre Beschäftigung als Leiterin der Abteilung Museen des Deutschen Literaturarchivs Marbach ruhen. Sie hat unter anderem das Gründungskonzept des Literaturmuseums der Moderne sowie zahlreiche Wechselausstellungen und die drei Dauerausstellungen der Marbacher Museen kuratiert. Sie ist Professorin an der Universität Stuttgart und hat vielfältige Arbeiten zu Museen, Literatur- und Ausstellungstheorie publiziert. Lis Hansen (M.A.) promoviert an der Graduate School Practices of Literature der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster mit einem Projekt zu literarischen Darstellungen und Funktionalisierungen von Müll in der Literatur nach 1950. Neben Themen der materiellen Kultur sind weitere Forschungsschwerpunkte von ihr literarische Umweltdiskurse sowie Ausstellungskonzeptionen. Sarah Kristin Happersberger (M.A.) ist Assistant Curator am internationalen Kunstzentrum Arnolfini in Bristol (UK). Sie hat sich in diversen Ausstellungen mit der Präsentation von ephemeren Arbeiten beschäftigt. Zu ihren Projekten gehören unter anderem 12 Rooms (Museum Folkwang, Essen, 2012), Beuys Brock Vostell (ZKM, Karlsruhe, 2014) und The Stage (Working Title) (Arnolfini, Bristol, 2017). Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Performance, Partizipation und Kunst im öffentlichen Raum. Caren Heuer (Dr.) koordiniert derzeit für die Kulturstiftung Hansestadt Lübeck den Umbau des Buddenbrookhauses und arbeitet kuratorisch. Ihre Dissertation, angefertigt an der Münsteraner Graduate School Practices of Literature, ist bei Königshausen & Neumann unter dem Titel Im Zeichen der Hermannsschlacht. Texte des Nationalen im 18. Jahrhundert erschienen. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Fragen der Identitätsforschung und der Ausstellungspraxis. Birte Lipinski (Dr.) leitet seit 2014 das Buddenbrookhaus / Heinrich-undThomas-Mann-Zentrum in Lübeck. Zuvor arbeitete sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Oldenburg. Sie wurde mit einer literaturwissenschaftlichen Arbeit zur Dramatisierung als Gattungswechsel. Vom Roman zum Bühnenstück promoviert.

A UTORINNEN

UND

A UTOREN | 277

Folker Metzger (Dr.) ist Bildungsreferent der Klassik Stiftung Weimar. Er ist Sprecher der Fachgruppe barrierefreie Museen und Inklusion des Bundesverband Museumspädagogik e.V. Er war am Badischen Landesmuseum Karlsruhe sowie Deutschen Hygiene-Museum Dresden als auch der Kunstund Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland im Bereich Bildung und Vermittlung tätig und hat sich in den Erziehungswissenschaften an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe promoviert. Sandra Potsch (M.A.) absolvierte von Oktober 2013 bis März 2016 ein wissenschaftliches Volontariat in den Literaturmuseen des Deutschen Literaturarchivs in Marbach a. N. Seit März 2016 arbeitet sie dort in der Literaturvermittlung der Museen. Daneben schreibt sie an einer Dissertation zum Thema Literatur sehen. Literaturvermittlung am Original. Yvonne Reiners (Dipl.) erarbeitet zurzeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Bildung und Vermittlung der Staatlichen Museen zu Berlin ein Gesamtkonzept für die Kulturvermittlung im Ethnologischen Museum Berlin im Humboldt Forum. Nach einem Studium der Kunstwissenschaft und der Freien Kunst an der HBK Braunschweig arbeitet sie darüber hinaus seit 2014 an ihrer Dissertation an der HFBK Hamburg zum Thema Performative Konversation. Ihre 2014 initiierte Salonreihe Performing Encounters erforscht Praxen des Dialogischen von 1960 bis heute und erprobt auch zeitgenössische Formate wie das gaming. Janneke Schoene (M.A.) unterstützt derzeit die Lehre im Fach Intermediale Studien an der Universität Lund sowie die Lehre im Germanistischen Institut der WWU. Sie hat an der Graduate School Practices of Literature an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster mit einer komparatistischen Arbeit zu Joseph Beuys promoviert (erscheint 2017). Diverse Vorträge und Veröffentlichungen zu den Themen Autorschaft und Performancekunst. Levke Teßmann (M.A.) promoviert an der Graduate School Practices of Literature der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster zu Macht- und Herrschaftsdarstellungen in der deutschsprachigen Literatur der Ersten Tschechoslowakischen Republik. Ihr Forschungsinteresse bezieht sich auf die Literatur der klassischen Moderne.

278 | D AS I MMATERIELLE AUSSTELLEN

Marie-Luise Welz (M.A.) ist derzeit Volontärin im Fachgebiet Gärten und Gartendenkmalpflege der Verwaltung der Staatlichen Schlösser und Gärten Hessen, Bad Homburg. Sie arbeitet an einer Dissertation zum Thema Das Kulturerbe Tanz in Deutschland. 2012 bis 2015 war sie als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Materielles und Immaterielle Kulturerbe der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Paderborn tätig. Vanessa Zeissig (M.A.) ist Szenografin und promoviert seit 2016 an der Hochschule für bildende Künste Hamburg (Arbeitstitel: Experiment Literatur: Ausstellungsmethoden des Literarischen). Im Zuge der Promotionsförderung »Lübecker Modell« des Zentrums für Kulturwissenschaftliche Forschung Lübeck absolviert sie seit 2015 ein wissenschaftliches Volontariat am Literaturmuseum Buddenbrookhaus. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der immateriellen Ausstellungsgestaltung sowie der sozialen und experimentellen Szenografie.

Museum Ann Davis, Kerstin Smeds (eds.)

Visiting the Visitor An Enquiry Into the Visitor Business in Museums 2016, 250 p., pb., numerous ill. 39,99 E (DE), 978-3-8376-3289-7 E-Book PDF: 39,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3289-1

NÖKU-Gruppe, Susanne Wolfram (Hg.)

Kulturvermittlung heute Internationale Perspektiven Januar 2017, 222 S., kart. 29,99 E (DE), 978-3-8376-3875-2 E-Book PDF: 26,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3875-6

Carmen Mörsch, Angeli Sachs, Thomas Sieber (Hg.)

Ausstellen und Vermitteln im Museum der Gegenwart 2016, 344 S., kart., zahlr. Abb. 34,99 E (DE), 978-3-8376-3081-7 E-Book PDF: 34,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3081-1

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Museum Robert Gander, Andreas Rudigier, Bruno Winkler (Hg.)

Museum und Gegenwart Verhandlungsorte und Aktionsfelder für soziale Verantwortung und gesellschaftlichen Wandel 2015, 176 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 29,99 E (DE), 978-3-8376-3335-1 E-Book PDF: 26,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3335-5

Carmen Mörsch, Angeli Sachs, Thomas Sieber (eds.)

Contemporary Curating and Museum Education 2016, 316 p., pb., numerous ill. 39,99 E (DE), 978-3-8376-3080-0 E-Book PDF: 39,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3080-4

Thomas Renz

Nicht-Besucherforschung Die Förderung kultureller Teilhabe durch Audience Development 2015, 324 S., kart. 34,99 E (DE), 978-3-8376-3356-6 E-Book PDF: 34,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3356-0

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de