Kunstakkorde – diagonal: Essays zu Kunst, Architektur, Literatur und Gesellschaft 9783205204800, 9783205202509

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Kunstakkorde – diagonal: Essays zu Kunst, Architektur, Literatur und Gesellschaft
 9783205204800, 9783205202509

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Heinz P. Adamek

Kunstakkorde – diagonal Essays zu Kunst, Architektur, Literatur und Gesellschaft

2016 Böhlau Verlag Wien Köln Weimar

Die ersten 33 Exemplare dieser Publikation sind nummeriert und vom Autor signiert.

Veröffentlicht mit Unterstützung der Universität für angewandte Kunst Wien

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie  ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2016 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H. & Co. KG, Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1, A-1010 Wien, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Philipp Rissel, Wien Umschlaggestaltung: Heinz P. Adamek, Wien Druck und Bindung: Buch.Bücher Theiss, St. Stefan Gedruckt auf chlor- und säurefrei gebleichtem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-205-20250-9

Inhalt

Kunstakkorde – Zum Geleit (Rektor Dr. Gerald Bast) . . . . . . . . . . . . .

 9

»Vivace cantabile« – Vorwort zur Einstimmung (Univ.-Prof. Dr. Patrick Werkner) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Worte zu Kunst und Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kunst – Schritte vom 19. ins 21. Jahrhundert Giovanni Segantini (1858–1899) Wegbereiter der Moderne – vergessener Österreicher. . . . . . . . . . . . .

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Hermann Heller (1866–1949) Kunst – Anatomie – Kunst. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33

Anton Kenner (1871–1951) Eine Expedition zwischen die Zeiten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

41

Michael Powolny (1871–1954) Wiener Keramik  ? Michael Powolny & Co  ! . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Bertold Löffler (1874–1960) Die Sphinx – Beispiele grafischer Assoziationen. . . . . . . . . . . . . . . .

59

Lucio Fontana (1899–1968) Der Goldene Schnitt des XX. Jahrhunderts. Eine Wiener Hommage. . . . . .

71

Grete Rader-Soulek (1920–1997) Ein verbotener Blick ins Auge Picassos. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

77

Aurelia Llois Fadenkünste oder Transposition. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Sallie McIlheran Close Encounters – eine Spurensuche. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

85

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Inhalt

Étienne Yver Menschliche Wesenhaftigkeit  : InCorpoRated – eine gemalte Parabel. . . . .

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Gustav Klimt – Die Zeit bis zur Zeitlosigkeit oder Von der Irritation zur Inspiration. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Architekturgeschichte(n) Andrea Palladio (1508–1580) Ein Fixstern am europäischen Architekturhimmel. . . . . . . . . . . . . . . . 105 Ettore Sottsass sen. (1892–1953) Harmonische Dissonanz – Wienvokabular um 1912 . . . . . . . . . . . . . 111 Heinrich von Tessenow (1876–1950) Villa Böhler/St. Moritz – ein Nachruf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127

Bühne – Visualisierung des Wortes Otto Niedermoser (1903–1976) »Jung Wien« – eine Versuchung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Elli Rolf (1913–2000) Wenn der Purpur fällt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Central University Theater Group Theaterseminar als Einführung in kulturelle Diversität . . . . . . . . . . . . . 165

Beziehungen und Einsamkeiten Liane und Pierre Abenteuer gelebter Fantasien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Arthur Schnitzler – Eugen Deimel In die Neue Welt – ein aufschlussreicher Briefwechsel  ?. . . . . . . . . . . . 191

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Inhalt

Hedy Kempny und Arthur Schnitzler Ein (gem)einsamer Weg. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Werner Pittschau Liebe, Hollywood und Eifersucht …. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Kurzbiografien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Textnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 Zusätzliche bibliografische Hinweise zu Themen dieses Bandes.. . . . . . . 248 Abbildungsnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251

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Kunstakkorde – Zum Geleit

Heinz Adamek war nicht nur als Universitätsdirektor jemand, der mit seinem Fachwissen die Institution »Angewandte« über Jahrzehnte geprägt hat. Mit »Kunstakkorden« stellt er sich seiner Leserschaft als eine umfassend gebildete Persönlichkeit vor. Die für diesen Band ausgewählten Texte beleuchten eine Facette von Heinz ­Adamek, dem langjährigen Universitätsdirektor der Hochschule, später Universität für angewandte Kunst Wien, die nicht sehr vielen Menschen vergönnt war, in dieser Dichte selbst zu erleben  : Eine Vielzahl von ProfessorInnen, Studierenden, Rektoren und Ministerialbeamten hat Heinz Adamek als kompetenten Experten und Strategen in Hochschulrecht, Hochschulverwaltung und Hochschulentwicklung kennen und schätzen gelernt. Wie sehr er aber gleichzeitig mit vielen Aspekten und Sparten der Künste vertraut ist, machen die hier vorliegenden Essays deutlich  : Mit manchmal längeren Abhandlungen, manchmal in Form von sprachlichen Miniaturen. Heinz ­Adamek macht mit seinen klugen und fundierten Texten, in denen auch immer wieder rein sprachliche Brillanz aufblitzt, in eindrucksvoller Weise sichtbar, was in den letzten Jahrzehnten – nachhaltig forciert von einem auf Spezialisierung und intellektueller Arbeitsteilung getrimmten Bildungs- und Wirtschaftssystem – in dramatischer Dimension verloren gegangen ist  : Bildung mit einem breiten Blick fürs Ganze. Und es ist, so meine ich, durchaus kein Zufall, dass jemand wie Heinz Adamek sein berufliches Leben an der jetzigen Universität für angewandte Kunst Wien verbracht hat. Hervorgegangen aus der Arts & Crafts Bewegung, die eine dezidierte künstlerische und soziale Gegenposition zur praktischen und intellektuellen Arbeitsteilung im Zuge der industriellen Revolution darstellte, war die »Angewandte« in der Folge auch an der Entwicklung der Bauhaus-Idee mitbeteiligt, und ist heute eine der führenden Kräfte im europäischen Universitätssystem, die auf Interdisziplinarität zur Erlangung von ästhetischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Wirkungskraft im Sinne eines kulturbezogenen Innovationsbegriffs setzt. Mögen die hier angeschlagenen Kunstakkorde samt dem Geist, der aus ihnen spricht, viele Leserinnen und Leser gewinnen und bei diesen noch lange nachklingen. Gerald Bast 

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»Vivace cantabile« – Vorwort zur Einstimmung

Heinz Adamek hätte die verschiedensten Laufbahnen einschlagen können. Er hätte wohl auch als Musiker, als Dramaturg, als Museumskurator oder Galerist reüssiert und wäre wohl auch ein erfolgreicher Diplomat geworden. Da er aber nach seinem Jus- und Sprachenstudium mit Nebenfach Kunstgeschichte und 4-jähriger universitärer Lehrtätigkeit bereits mit kaum 30 Jahren als jüngster Rektoratsdirektor Österreichs an die damalige Hochschule für angewandte Kunst kam, ergab sich der berufliche Fokus in der Verwaltung, oder besser  : Gestaltung dieser innovativen Hohen Schule der Kunst, die sich später – und von ihm mit umgesetzt – zur Kunstuniversität wandelte. Die umfassende Bildung, die Heinz Adamek mitbrachte – firm in mehreren Sprachen, ein großes historisches und kulturgeschichtliches Wissen, eine durchaus anspruchsvolle Vertiefung in klassische Musik seit Kindheit (Wiener Sängerknabe, Musik­ matura) – und sein den Gesprächspartner immer wieder verblüffendes Gedächtnis verbinden sich in seiner Persönlichkeit mit einer stets jung bleibenden Neugier und Teilnahme am kulturellen und öffentlichen Leben. Seine Erzählfreude und sein Talent, mit Anekdoten zu unterhalten, aber auch genaue Beobachtung und nachdenkliche Reflexion, kennzeichnen Heinz Adamek, der sein Leben lang auch immer wieder publizistisch tätig war. Der vorliegende Band bietet zu einem guten Teil eine Auswahl aus diesen Essays, die in Büchern, Ausstellungskatalogen, Kunstzeitschriften, Programmheften und an anderen, heute schwer greifbaren, Stellen erschienen sind. Das inhaltliche Spektrum der Essays reicht vom großen Renaissancearchitekten Andrea Palladio bis zu zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstlern in Österreich, Frankreich und den USA, aber auch zu Literatur, Gesellschaft und Theater der vorletzten Jahrhundertwende. Die ehemalige k. k. Kunstgewerbeschule, also die heutige »Angewandte« (Universität für angewandte Kunst Wien) hat Heinz Adamek naturgemäß immer wieder zu Recherche und Aktion inspiriert. Die im folgenden versammelten Beiträge über das Leben und die Werke von Hermann Heller, Anton Kenner, Bertold Löffler, Otto Niedermoser, Michael Powolny, Grete Rader-Soulek, Elli Rolf und Heinrich von Tessenow gelten durchwegs prägenden Gestalten unserer Institution. Vielfach hat Heinz Adamek Ausstellungen initiiert oder als Kurator an solchen mitgewirkt, wie beispielsweise an der großen Präsentation von Giovanni Segantinis Werk im Museum des 20. Jahrhunderts (Wien, 1981), oder an der Wanderausstellung über Bertold Löffler in den USA in den frühen 1980er-Jahren, bis hin zur Mitwirkung an der jüngst (2015) im venezianischen Grado gezeigten Ausstellung über Schmuck des Jugendstils nach Entwürfen von Josef Maria Auchentaller. Fin de Siècle in Wien und frühe Moderne zeigen sich damit bei unserem Autor als Gebiete besonderen Interesses, dem auch sein Engagement als Dramaturg und Regis-

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»Vivace cantabile« – Vorwort zur Einstimmung

seur in Personalunion für die Theateraufführungen des European Studies Program der Central University of Iowa in Wien galt. Mit den in Wien Studierenden dieser amerikanischen Universität realisierte Heinz Adamek Inszenierungen »klassischer« Theaterstücke der Wiener Moderne von Schnitzler und Bahr. Diese Epoche spielt nicht nur in der Geschichte der Angewandten eine Schlüsselrolle – man denke nur an Lehrer wie Josef Hoffmann, Kolo Moser und Alfred Roller bzw. Schülerpersönlichkeiten wie Gustav Klimt, Oskar Kokoschka und Margarete Schütte-Lihotzky –, sondern auch in der Familie von Heinz Adamek. Denn durch seinen Urgroßvater Peter Kempny, mit dem er sich ausführlich beschäftigt hat, ergibt sich eine unmittelbare Verbindung zur Lebenskultur des ausgehenden Jahrhunderts. Dieser Dr. Peter Kempny, 1862 – also im gleichen Jahr wie Arthur Schnitzler – geboren, Sohn eines k. k. Hofposamentierers in Wien, wurde als 25-Jähriger erster Gemeindearzt in Gutenstein. Früh zum Vollwaisen geworden und Erbe eines kleinen Vermögens, konnte er den Architekten Julius Deininger beauftragen, ihm ein Badhaus (mit zwei beheizten Freiluftschwimmbecken, damals eine große Novität) zu errichten, wodurch er in Gutenstein den Kurbetrieb begründete. Durch die aus Wien anreisende Klientel des Badbetriebs kam Deininger seinerseits bald mehrfach zu Auftraggebern für Villenbauten im typisch historistischen Stilmix. Peter Kempny besuchte, so wie sein Urenkel Heinz Adamek später, das humanistische Gymnasium in Wien Mariahilf (Amerlingstraße), das im Palais Kaunitz-Esterházy untergebracht war. 1970 wurde das Gebäude demoliert, ein Ärgernis für Heinz Adamek und die damals vergeblich protestierende Kunstöffentlichkeit. Zur Rettung in letzter Minute hatte ­Adamek ein Aktionskomitee »SOS für Wien« gegründet, dem neben der Kunsthistorikerin Erika Neubauer auch zwei Professoren der Angewandten – Otto Niedermoser und Fritz Weber – angehörten, vier Jahre vor seiner Bestellung zum Rektoratsdirektor der Angewandten … Das Fazit dieser Aktion war wenigstens die Rettung des oktogonalen Festsaal-Deckengemäldes »Der Olymp« des Florentiner Malers Antonio Marini. Kempny, dessen Vater sehr gut Cello spielte und auch Salonmusik komponierte, und dessen Mutter eine hervorragende Geigerin war, begann neben seiner pianistischen Ausbildung bereits mit 10 Jahren ebenfalls zu komponieren und hinterließ nach seinem frühen Tod eine beachtliche Zahl an Klavierwerken, Kammermusik, Liedern und Orchesterwerken, darunter zwei Symphonien, die erst vor Kurzem wieder aufgefunden wurden. Nicht zuletzt dilettierte Kempny bereits während seines Medizinstudiums als Insektenforscher so ernstzunehmend, dass eine Reihe seiner wissenschaftlichen Arbeiten von der k. k. zoologisch-botanischen Gesellschaft in Wien veröffentlicht und viele von ihm entdeckte Insektenarten nach ihm benannt wurden. Auch Kempny hatte einen bedeutenden Ururgroßvater, nämlich den Barockmaler Franz Sigrist, der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Kreis um Franz Anton Maulbertsch tätig war. Dieser schuf unter anderem im Festsaal des Lyzeums von Eger/ Ungarn das große frühklassizistische Fakultäts-Deckengemälde.

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»Vivace cantabile« – Vorwort zur Einstimmung

Damit kommen wir wieder zu den vorliegenden Essays zurück, denn eines der aufschlussreichsten ist Heinz Adameks Großtante Hedy Kempny, der zweiten Tochter von Peter Kempny, gewidmet, die mit Arthur Schnitzler während der letzten zwölf Jahre seines Lebens eine intensive platonische Beziehung pflegte und so zur Vertrauten seiner späten Jahre wurde. Jahrzehnte später konnte Heinz Adamek ihren Hunderte Schriftstücke umfassenden Briefwechsel publizieren. Und der jüngste hier vorgelegte Text gilt einem einstigen »rising star« des internationalen Films der 1920er Jahre, dem Schauspieler Werner Pittschau, Heinz Adameks ganz jung verstorbenem Onkel. Er war der Neffe von Adameks Großvater Heinrich Schützenhofer, dem Ehemann von Hedy Kempnys älterer Schwester Valentine. Weitere Bezüge biografischer Art ließen sich mühelos zwischen dem Autor und vielen Aspekten der folgenden Aufsätze herstellen. Kurz, sie führen aus eigener familiärer Verbindung und aus beruflich-institutionellem Interesse mitten hinein in den Reichtum von Kunst, Architektur und Design, von Literatur, Geschichte und Gesellschaft. Ich wünsche diesem Buch viele Leserinnen und Leser, die sich von Heinz Adameks stets inspirierter Art zu schreiben, fesseln und anregen lassen  ! Patrick Werkner

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Ein richtiger Verstand, geübte Urteilskraft und gründliche Vernunft machen den ganzen Umfang des intellektuellen Erkennungsvermögens aus. Immanuel Kant

Worte zu Kunst und Kritik …

»Die Kunst spiegelt in Wahrheit den Betrachter und nicht das Leben« (»It is the spectator, and not life, that art really mirrors«*, diese Worte Oscar Wildes sind der Schlüssel zur Dialektik von individueller Kunstwahrnehmung und subjektiver Reaktion, eine Aussage, die in gleicher Weise für (bildende) Kunst, Musik und Literatur Gültigkeit hat. Jeder Betrachter, Zuhörer, Interpret, Leser bringt bei »Konfrontation« mit einem Werk der Kunst andere Erinnerungen, Assoziationen und Fantasien als Instrument der Be- oder Verurteilung eines solchen mit, das ein subjektives dynamisches Werte­system darstellt, welches sich ständig durch neue Eindrücke und Selektion weiterbildet. Er lässt sich dabei in einen mentalen Dialog mit einem Kunstwerk – und damit auch mit seinem Schöpfer – ein und begibt sich im Geschauten/Gehörten/Gelesenen auf Spurensuche zur Spurenfindung und Spurendeutung. Ähnlich verhält es sich mit dem Phänomen der Kreativität, die auf Inspiration, ­Vision und Reflexion fußt, welche in gleicher Weise durch Erinnerungen und Assoziationen befördert wird. Wird ein »professioneller« Kunstkritiker mit Analyse und Spurendeutung von Kunst befasst – somit beruflich angehalten, sich über ein Werk der Kunst beurteilend zu äußern –, gewährt dieser mit der »abgelieferten Interpretation« seiner Wahrnehmung nicht zwangsläufig Einschau in seine Vorstellungswelt, in welche er das Kunstwerk nach Bewertung »verortet« hat, da allenfalls berufliche, gesellschaftliche oder etwa politische Rücksichten dabei Bedeutung haben könnten. Umso schöner ist es daher, ohne Direktiven sich mit Werken der Kunst und ihren Schöpfern auseinander setzen und Position beziehen zu können, was die vorliegende Auswahl aus meinen Beiträgen zu den Bereichen Bildende Kunst, Architektur, Literatur und Gesellschaft widerspiegelt. So stellt dieses Vorwort auch ein Nachwort, jedenfalls aber ein persönliches Für-Wort zur Kunst und somit ein Plädoyer für ihre Freiheit dar  ! Heinz P. Adamek *

Wilde, Oscar  : The Picture of Dorian Gray, Preface. – London  : Ward, Lock & Co 1891

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Kunst – Schritte vom 19. ins 21. Jahrhundert

Abb. 1: Ave Maria auf der Überfahrt, 1886, Öl/Lw, 120 x 93 cm, Segantini Museum, St. Moritz, Dauerleihgabe der Otto Fischbacher Giovanni Segantini-Stiftung.

Ognuno di noi sta solo sul cuor della terra trafitto da un raggio di sole ed è subito sera (Jeder von uns ist allein auf dem Erdenrund, wird von einem Sonnenstrahl erleuchtet, doch ganz plötzlich ist Abend.) Salvatore Quasimodo

Giovanni Segantini (1858–1899) Wegbereiter der Moderne – vergessener Österreicher

Oberengadin. Man schreibt das Jahr 1897. »Nach langer Fahrt im Pferdewagen über steile, aus den Felswänden herausgeschlagene Serpentinstraßen erreicht man das Hochplateau des Engadin, das von schneebedeckten Felsketten umsäumt zwischen Wiesen und gleißenden Seen eingebettet liegt, und trifft völlig unerwartet auf eine beinahe unreal elegante Welt mit mächtigen Hotels, die sich von Pontresina bis Maloja erstreckt. In diesen Festungen des Luxus umhüllen bei den Soireen flirrende, perlenbesäte Toiletten raffiniert mondäne Frauen, während die Herren stolz ihre Fracks mit blendendweißen Hemdbrüsten dem Blick von Anbeterinnen und Rivalen darbieten. Ein buntes Sprachengewirr bildet gedämpft die Geräuschkulisse in den Gesellschaftsräumen und Bars der Hotels, während Salonkapellen gelangweilte Gäste zu unterhalten suchen. Der Klatsch der europäischen Metropolen findet hier neugierige Ohren, und millionenschwere Gäste ziehen sehnsüchtige Blicke und zuweilen fiebernde Hände an.« Das Morgengrauen birgt die Welt der Gegensätze  : Während so mancher Bummler endlich seinem Hotel zustrebt, hallen zuweilen auch schwere Schritte von genagelten Schuhen durchs Dorf, die das Bellen aufgeschreckter Hirtenhunde auslösen. Mit Eispickel und Seil ausgerüstet brechen passionierte Alpinisten in dicken Pullovern auf, die felsige Schnee- und Eiswelt über Gletscher zu erobern, um den Sonnenaufgang von einem Grat über alle schwindelnden Tiefen hinweg erleben zu können. In dieser Welt von Luxustourismus und Naturbesessenen, von Aristokraten und Bauern, von Bankiers und Literaten, lebt damals in Maloja seit Kurzem Giovanni Segantini in seinem großen, dreistöckigen Haus, dem Chalet Kuomi, an welches das »Atelier«, ein Rundbau nach Plänen des Malers, anschließt. Die Lage des Chalets gewährt einen imposanten Blick auf die spektakuläre Gebirgsszenerie über das damals schon ehrwürdige Hotel Schweizerhof zur Kirche bis zum Silsersee, an dessen Ufern einst Goethe die Landschaft bewundert hatte, und ein Jahrhundert später

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Kunst – Schritte vom 19. ins 21. Jahrhundert

­Friedrich Nietzsche über Jahre die Sommermonate zubrachte, in denen sein Zara­ thustra1 entstand. Wenige hundert Schritte hinter Segantinis Chalet erhebt sich das Castello Belvedere, für welches sich Segantini besonders interessiert und 1899 ein architektonisches Konzept zum Ausbau zu einem »mittelalterlichen Zentrum« entwerfen sollte.2 Dieses gehört ebenso wie das Exklusivhotel Palace-Maloja einem äußerst ambitionierten Kunstverfechter namens Jean François Walther-Denz, den Segantini in gesellschaftlichen Fragen immer wieder zurate zieht, etwa über die Regeln des Golfspieles, dem Lieblingssport der Kinder des Künstlers, oder die aktuelle englische Sport- und Herrenmode. Obwohl Segantinis Schaffen in der europäischen Kunstwelt seit seinem spektakulären Erfolg mit dem Bild Ave Maria auf der Überfahrt 1883 in Amsterdam und bei den großen periodischen Kunstausstellungen in Mailand, London, Paris, München, Turin, Venedig, Wien und Dresden durch die Zuerkennung von Goldmedaillen gewürdigt wird, kämpft er Monat für Monat mit ungeduldigen Gläubigern und Steuerbehörden ums Überleben. Wegen seiner prekären Schuldensituation und bedrängt von Steuerbehörden hatte Segantini 1894 mit seiner Lebensgefährtin Bice Bugatti und seinen vier Kindern ­Gottardo, Alberto, Mario und Bianca, Savognin verlassen müssen und in Maloja neu Fuß gefasst, aber seine Idee, sich in einer noch höheren Gebirgsregion anzusiedeln, dürfte ihm auch aus anderen als den vorerwähnten »äußerlichen« Gründen willkommen sein  : Die seit Jahren gewohnte, landschaftliche Kulisse um Savognin hat für ­Segantini an Reiz verloren, und er vermerkt in seinem Schaffen verschiedentlich eine gewisse thematische Erschöpfung. Die daraus resultierende Unruhe, ja Unzufriedenheit, stimuliert ihn auf der Suche nach neuen Motiven, größerer Lichtintensität, tieferer Leuchtkraft der Farben der Natur, schließlich nach dünnerer Luft, die alle Eindrücke noch klarer konturiert. Diese Sehnsucht nach den letzten erreichbaren Gipfeln der Natur wie der Kunst reicht bis in das Grenzland von Traum und Wirklichkeit, in das Segantini mehr als einen Blick wagt  : Noch aus Savognin schreibt er zu Weihnachten 1893 in einer inneren Aufbruchstimmung an Vittore Grubicy  : »Ja, das wahre Leben ist ein einziger Traum, der Traum, sich allmählich einem Ideal zu nähern, das möglichst fern und hoch ist, hoch bis zum Erlöschen der Materie …«3 Doch auch im Engadin ist seine Lage manchmal katastrophal. Als er sich mit Familie im Winter 1896/97 wegen des milderen Klimas für Monate in Soglio aufhält, wird während seiner Abwesenheit sein Haus wegen offener Miet- und Steuerbeträge in Maloja amtlich versiegelt. Beinahe jedes Schreiben Segantinis an seine Mailänder Vertragspartner Antonio und Vittore Grubicy, denen Segantini seit der Brianza-Zeit seine gesamte künstlerische Produktion überlässt, die mit ihren Monatszahlungen oft in Verzug und daher an den finanziellen Engpässen des Künstlers mitschuldig sind, schließt mit der verzweifelten Bitte um Überweisung von Geld. Um sich der Verfolgung durch die Steuerbehörden zu entziehen, flüchtet Segantini wiederholt ins Hochgebirge, um so das Ärgste abzuwenden.

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Giovanni Segantini (1858–1899)

Abb  : 2: Bündnerin am Brunnen 1887, Öl/Lw, 34 x 79 cm, Segantini Museum, St. Moritz, Dauerleihgabe der Otto Fischbacher Giovanni Segantini-Stiftung.

Ein weiteres Hauptproblem, das dem Künstler auch in Maloja zu schaffen macht, ist das Fehlen seiner Ausweispapiere  : Dem Österreicher Segantini – 1858 im trentinischen Arco geboren – war seinerzeit wegen dessen Weigerung, der Militärpflicht nachzukommen, die Ausstellung eines Reisepasses verweigert worden. Noch am Zenit seines Ruhms wird er als Künstler »zweifelhafter Staatszugehörigkeit« bisweilen von den Schweizer Behörden aufgefordert, sich auszuweisen, widrigenfalls man ihn an die Grenze stellen würde. Segantinis wiederholte Versuche, die italienische Staatsbürgerschaft zu erlangen, schlagen fehl. Erst die späte Wertschätzung des Kaisers Franz Joseph, der sich 1896 von Segantinis Spitzenwerk Die bösen Mütter in der Ausstellung der Vereinigung Bildender Künstler Österreichs höchst beeindruckt zeigt, bewirkt für den Künstler, dass an die seinerzeitige Wehrdienstverweigerung keine weiteren Rechtsfolgen geknüpft werden, und er auf österreichischem Boden willkommen sei. In mehreren Briefen Segantinis klingt die Freude durch, nunmehr die alte Heimat Trient wiedersehen und einen österreichischen Reisepass erhalten zu können. Dieser Traum sollte sich für ihn jedoch nicht mehr erfüllen. Unter all den widrigen Umständen der Unsicherheit überrascht Segantinis Lebensstil der großen Welt umso mehr. So muss wohl manchen illustren Gast eine Einladung zum Diner im Haus Segantinis in Erstaunen versetzt haben  : Allein die extravagante Einrichtung des Speisezimmers aus der Werkstatt Carlo Bugattis, des eigenwilligen Architekten und Möbel-Designers, Freundes der Mailänder Jahre und Bruders von

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Kunst – Schritte vom 19. ins 21. Jahrhundert

Segantinis Lebensgefährtin Bice, muss inmitten der Welt von Bergbauern äußerst auffällig erscheinen. Dieser Eindruck der Exklusivität wird durch das Detail noch akzentuiert  : Eine hervorragende Argenterie der Firma Berndorf, goldgelbe monogrammierte Lüstergläser, silberne Jugendstil-Kerzenleuchter und chinesische Porzellanvasen mit plastischem Drachendekor prägen das Ambiente. Über all dem schweben drei Putti, die die Beleuchtung über der Tafel balancieren. Werden die Gäste nach Tisch in den Salon gebeten, setzt sich dort die Exklusivität fort  : Ein Schreibtisch, dessen Platte von einem vergoldeten, geschnitzten Faun getragen wird, zieht unwillkürlich den ersten Blick auf sich. Auf ihm entstehen Segantinis sprachlich anfangs unbeholfene, dafür aber umso glühendere Briefe in die weite Welt  : Segantini korrespondiert mit den Grubicys über Ausstellungen und finanzielle Nöte, aber auch über seine Wünsche nach englischen Schals oder Anzügen, Delikatessen oder Zigarren, Malutensilien oder Ferngläsern. Mit der italienischen Erzählerin Neera alias Anna Radius-Zuccari, die ihn immer wieder zu erhöhten literarischen Leistungen und der Entwicklung weltanschaulicher Konzepte anspornt, und vor der er seine Seele ausbreitet, verbindet ihn ein anregender Briefwechsel in verehrend-schwärmerischem Ton. Tosca-Librettist Luigi Illica, der Segantini in die Musikwelt Mailands einführt, hält ihn über die Welt der Oper auf dem Laufenden. So wie Segantini mit Gustav Klimt in brieflicher Verbindung steht, tauscht er mit dem Dichter Emiliano Domenico Tumiati Ideen über die Konzepte in der Kunst und im speziellen seiner Bilder aus. Auch theoretische Abhandlungen und Stellungnahmen zu aktuellen Fragen – wie etwa die Erwiderung auf Leo Tolstois 1898 im Ver Sacrum erschienenen Beitrag Was ist Kunst4 – bringt Segantini in diesem Ambiente zu Papier. Besonders aufschlussreich ist es, sich den Bildern anderer Maler zuzuwenden, mit denen sich Segantini in seinem Heim umgibt  : Hier hängt z. B. so manches schöne Bild französischer, holländischer und italienischer Provenienz, da gibt es eine vorzügliche Venus nach Giorgione, die ihm als Inspiration zu seiner Göttin der Liebe dient, Aquarelle des Freundes Max Liebermann, und schließlich fällt noch eine große mythologische Szene, ein bemerkenswertes Gemälde – laut Polizze der Basler Versicherungs-Gesellschaft ein Tizian – auf, das bei näherer Betrachtung erstaunen lässt  : Der Hintergrund – etwa in der Größe eines Viertels der Gesamtfläche – wurde von Segantini, wahrscheinlich zur Schließung einer Fehlstelle, in divisionistischer Technik ergänzt bzw. übermalt. Ein großer, historistischer Wandspiegel mit reichgeschnitztem Goldrahmen verleiht dem Salon zusätzliche Tiefe und großbürgerliches Gepränge. Die offenkundigen Widersprüchlichkeiten der luxuriösen Lebensführung der Familie Segantini trotz großer Geldnöte, der Zurückgezogenheit in die Bergeinsamkeit trotz reger Anteilnahme an gesellschaftlichen Ereignissen der mondänen Luxuswelt, sind sicherlich in Segantinis Streben nach Kompensation für die schweren Jahre einer trostlosen Kindheit ohne Elternhaus und einer Jugend großer Armut begründet.

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Giovanni Segantini (1858–1899)

Abb. 3: Die Heuernte, 1889/1898, Öl/Lw, 137 x 149 cm, Segantini Museum, St. Moritz, Leihgabe der Gemeinde St. Moritz.

Internationale Kunstzeitschriften und unzählige Bücher, unter ihnen die Werke Zolas und Tolstois, George Sands und Goethes, Nietzsches und D’Annunzios, füllen die Regale in Segantintis Haus und geben Aufschluss über seine Interessen und Anregungen aus dem Reich der Literatur. So mancher Impuls zu seinen Werken symbolischen Inhalts ging von hier aus, etwa die Illustrierung der italienischen Erstausgabe von Nietzsches Also sprach Zarathustra oder der vier Werke umfassende Nirvana-Zyklus (Strafe der Wollüstigen und Die bösen Mütter), zu dem Segantini von der Dichtung Nirvana seines Freundes Luigi Illica angeregt wurde, welcher das Werk als »Übersetzung« eines Gesanges aus dem buddhistischen Gedicht Panghiavali5 ausgibt. Heute erscheint es besonders interessant, dass die Strafe der Wollüstigen 1891 in Berlin, wo man bis dato Segantini zujubelte, eine sehr kühle Aufnahme erfährt, was

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Kunst – Schritte vom 19. ins 21. Jahrhundert

ihn veranlasst, das Bild von der Ausstellung zurückziehen zu wollen. Über die Gründe der Ablehnung schreibt der Segantini-Biograf Franz Servaes 1902, dass diese im Thema gelegen hätte. »Die Malerei erklärt sich nicht von selber, sondern bedarf einer Deutung  ; mit anderen Worten  : Es ist über das ›eigentliche‹ Gebiet der Malerei hinausgegriffen […] Der zweite Einwand aber betrifft die spezielle Lösung […] Segantini hat seine Wollüstigen […] für Spukgestalten zu körperlich gemalt …«6 Aus der heutigen Gesamtsicht des Werkes von Segantini wird der Einwand seiner Zeitgenossen als mangelndes Verständnis für dessen Gesamtkonzept zu werten sein  : Segantini macht zwischen »realen« Darstellungen und Fantasiegestalten keinen Unterschied. Die Identität der Malweise bei realistischen und phantastischen Themen entspricht der Identität seiner Vorstellungswelt. Im Jahr 1896 berichtet Segantini in seinem Brief an Alberto Grubicy vom 27. ­April erfreut, dass Kaiser Franz Joseph in der Wiener Ausstellung für Die bösen Mütter besonderes Interesse bekundet und den Wunsch nach näherer Information über die Ikonografie des Werkes ausgesprochen habe. Er ersucht daher Alberto ­Grubicy, dem Kaiser den Nirvana-Text von Illica mit einem Foto des Bildes7 zukommen zu lassen. Dass sich dieser Maler – wie kaum ein Künstler vor ihm – auch mit bösen Müttern beschäftigte, war vielen Anhängern nicht erklärlich. Dies stellt jedoch nur scheinbar einen Widerspruch dar  : Segantini sieht die Rolle der Frau von der Natur zur Mütterlichkeit bestimmt. So bilden beide Formen der Mutterfigur die Achse in Segantinis Weltkonzept. Seine Sehnsucht nach der behütenden und bewahrenden Mutter – geprägt von seiner tristen Kindheit – steht als Wunschbild der ganzen ­Epoche, das durch das Fortschreiten der Industrialisierung immer mehr bedroht erscheint. Daraus erklärt sich Segantinis gänzlicher Verzicht auf die Darstellung der Sinnlichkeit, im Gegensatz zur Thematik, die zu Ende des Jahrhunderts in Gestalten wie Salome, Sphinx, Judith, Lilith, Lulu u. a. – man könnte sagen der »femme fatale« schlechthin – die Szene der bildenden wie der darstellenden Kunst beherrscht. So klammert Segantinis Vorstellungswelt zum Unterschied zu allen großen Kollegen seiner Zeit aus seinem Werk jeglichen Hauch erotischen Flairs aus. Sein Frauenbild ist von seinem mütterlichen Weltbild determiniert. Aus der idealisierten Behandlung der Figur seiner frühverstorbenen Mutter8 in seiner, auf Aufforderung Neeras verfassten Selbstbiografie, in der er mittels dichterischer Freiheit Vergangenheitsbewältigung übt, lässt sich dieses sehr klar ablesen  : Liebevoll und behutsam »inszeniert« er in seinen Werken immer wieder das Motiv der Mutter mit Kind, sei es jetzt in der Rolle als Ernährerin, Beschützerin oder Bewahrerin  : Um das mütterliche Prinzip noch zu intensivieren, dupliziert Segantini manchmal das Mutter-Kind-Motiv mit der Darstellung eines Muttertiers und Jungen, wie etwa in dem 1889 entstandenen Bild Zwei Mütter, das ihm 1896 in Wien die Große Goldene Staatsmedaille einbrachte. Zu dieser Zeit herrscht in Wien große Begeisterung für den Divisionisten Segantini  : Die erste Kunstausstellung der Vereinigung bildender Künstler Österreichs »Seces-

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Giovanni Segantini (1858–1899)

Abb. 4: Ruhe im Schatten, 1892, Öl/Lw, 45 x 68 cm, Privatsammlung Schweiz

sion« zeigt 29 Werke des Künstlers, und Hermann Bahr jubiliert in der Wochenschrift Die Zeit in seiner Eigenschaft als Kunstkritiker und Kunstsammler  : »Das Größte was man in dieser Ausstellung sehen kann, für mein Gefühl überhaupt das Größte, was die moderne Malerei geschaffen hat, sind die Sachen von Segantini. Die Leute fühlen wohl seine Kraft, sie finden  : ›er ist phantastisch‹ […] Man weiß bei diesen Bildern eigentlich nie, ob etwas Mensch oder ob es ein Stück der Natur ist  ; eines geht in das andere über, es hören alle Unterschiede auf. Das ist unheimlich […]«9 Auch Ludwig Hevesi teilt im Rückblick auf die ersten acht Jahre der Secession Bahrs Begeisterung und berichtet über die Ausstellung, die beinahe 60.000 Besucher angelockt hatte  : »Als unsere Secession ihre erste Ausstellung eröffnete, ging Segantini am Wiener Himmel auf, wie eine neue Sonne. Man strömte ihm zu, umstritt ihn und seine seltsame Technik, gab sich aber seinen merkwürdigen Visionen hin und glaubte an seine Pinselstriche. Man sah in Wien eine neue Art, Natur zu sehen …«10 Während in Deutschland vor allem die Alpenlandschaften und die Schilderungen bäuerlichen Lebens größten Anklang finden, und in Italien seine Stillleben gefragt sind, ist Wien unter dem Einfluss der Secessionisten ebenso wie Liverpool, das literarische Themen schon seit der Zeit der Präraffaeliten kannte, eher bereit, symbolistische Bilder mit komplexer Thematik zu akzeptieren  : So kauft Liverpool Die Strafe der Wollüstigen.

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Nach der IX. Ausstellung der Secession 1901 erwirbt die Secession Die bösen Mütter auf massives Betreiben Gustav Klimts für die zu schaffende Moderne Galerie Wien als Gründungsbild. Darüber berichtet das Ver Sacrum  : »Trotz der Begeisterung, mit welcher Segantini von der Bevölkerung aufgenommen wurde, und ungeachtet der energischen Bemühungen und Vorstellungen von Seiten der Vereinigung, hat keine öffentliche Galerie Wiens ein Werk des Meisters angekauft. Was alle Sammlungen

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Giovanni Segantini (1858–1899)

Abb. 5: Die bösen Mütter, 1894, Öl/Lw, 120 x 225 cm, Österreichische Galerie Belvedere.

Deutschlands schon vor Jahren als ihre Pflicht erachteten, konnte Oesterreich für seinen Sohn, selbst nach dem Tode, nicht erreichen. Dank der Unterstützung opferwilliger Kunstfreunde ist es der Vereinigung gelungen, ein Hauptwerk Segantinis, ›Die bösen Mütter‹ zu erwerben und dem Staate für die zu erbauende ›Moderne Galerie‹ zu schenken.«11 In vertrauten Kreisen wusste man, wer mit diesen »opferwilligen Kunstfreunden« gemeint war – Kunstsammler und Mäzen Moriz Gallia …

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Was das Klischee Segantinis als eines sozialkritischen Malers anlangt, wird dieses bei näherer Betrachtung als romantischer Irrtum der Jahrhundertwende zu bewerten sein  : Segantini prangert weder soziale Missstände in den Städten an noch beschäftigen ihn die Probleme der Landbevölkerung. Er ist vielmehr der Maler eigengesetzlicher Harmonien aus pantheistischer Sicht. Sein Bestreben in der Menschendarstellung wird am ehesten mit einem Satz Millets fassbar  : »Ich möchte, dass die Wesen, welche ich darstelle, aussähen, als ob sie ganz in ihrer Lage aufgingen, und dass es unmöglich sei zu denken, dass ihnen der Gedanke kommen könnte, etwas anderes zu sein.«12 Als wesentlicher Zug Segantinis ist diese Art von Selbstverständnis hervorzuheben, mit dem übernommene Schemata als naturgegeben angesehen werden, und die im Leben zugeschriebene Rolle akzeptiert wird. Weder die simplifizierende Charakteristik Segantinis als des »Malers des Engadin schlechthin« durch den französischen Kunstschriftsteller Robert de La Sizeranne noch jene des österreichischen Biografen Franz Servaes, der Segantini als Maler, »der im tiefen Frieden mit der Natur, zugleich den Frieden mit sich selbst gefunden hat« bezeichnet, treffen aus heutiger Sicht den Kern, weil sie an der Komplexität des Phänomens Segantini vorbeigehen. Dies gilt sogar für die scheinbar »realistischen« Darstellungen, die das Publikum erschauern lassen, wie dies der Kunstkritiker Ludwig Hevesi im Nachruf auf den Künstler deutlich macht. Segantini nimmt zwar die thematischen Anregungen aus der Umwelt, überträgt sie jedoch inhaltlich oft nur scheinbar realistisch auf die Leinwand  : So verschiebt er z. B. bei dem Bild Frühmesse die in Wirklichkeit im Zentrum stehende Kirche von Veduggio (einem Dorf in der Brianza) in vergrößerten Proportionen auf den linken Bildrand (übrigens aus psychologisch höchst interessanten Motiven), verbreitert die Treppe und erfindet einen »Vorplatz«, um die Stufen in den Himmel münden zu lassen. Diese »Überarbeitung der Realität« findet sich bereits in dem Werk Die Segnung der Schafe, bei welchem die gesteigerte Monumentalität der Treppe in Realität zur nicht dargestellten Kirche von Inverigo (Brianza) führt. Auch Bergmassive, die auf manchen seiner Bilder in Jahrmillionen gewachsen und getreue Abbilder der Natur zu sein scheinen, sind in Wirklichkeit zuweilen nur partiell existent. Segantini registriert zunächst oft Eindrücke und »speichert« sie nach bestimmten ästhetischen Kriterien, um danach aus Teilen neue Panoramen bei teilweiser Verschiebung oder Zerrung der realen Bildebenen zu komponieren. Dabei wird Unwichtiges beiseitegelassen, und werden Elemente nach dramaturgischen Grundsätzen aneinandergefügt, wodurch eine Art innerer Polyfokalismus bei sehr bewusster Verlagerung der Spannungsmomente nach künstlerischen Notwendigkeiten ein Konzentrat der Realität entstehen lässt. Wassily Kandinsky definiert dieses Phänomen als »die Suche des Inneren im Äußeren«. Für die progressiven Maler des späteren 19. Jahrhunderts ist gerade jene Suche auf nicht materiellen Gebieten typisch  : So wie in England Dante Gabriel R ­ ossetti sich den Präraffaeliten zuwandte und ihre abstrakten Formen wieder zum Leben zu bringen ver-

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Giovanni Segantini (1858–1899)

Abb. 6: Heinz P. Adamek vor Giovanni Segantinis Sein (1896–1899), Öl/Lw, 235 x 403 cm, Museum Segantini St. Moritz, Depositum der Gottfried Keller Stiftung), 1993.

suchte, ging Arnold Böcklin auf das Gebiet des Mythologischen und Märchenhaften, wobei er im Gegensatz zu Rossetti seine abstrakten Gestalten in stark entwickelte Formen kleidete. Segantini, in dieser Reihe auf ersten Blick der »Materiellste«, verstand es laut Kandinsky, trotz der oft bis ins kleinste durchgearbeiteten sichtbar materiellen Formen »… abstrakte Gestalten zu schaffen, wodurch er innerlich vielleicht der Immateriellste dieser Reihe ist«.13 Um 1897 reifen in Segantini die ersten Pläne für ein großartiges Spektakel auf internationaler Bühne heran  : Seine Idee, das Engadin in Form eines gigantischen Rundpanoramas bei der Pariser Weltausstellung 1900 auf einer beinahe 4000 m² großen Fläche zu präsentieren, nimmt konkret Gestalt an. Er versucht mit fanatischer Begeisterung, alle einflussreichen Persönlichkeiten des Kantons und offiziellen Schweizer Stellen zur Finanzierung dieses Projekts zu bewegen, das jenes von Brüssel noch bei Weitem übertreffen soll. Von Beginn an berät sich Segantini mit dem eingangs erwähnten Hotelier Walther und schlägt zur Finanzierbarkeit des von ihm für einen projektierten Ausstellungs-Kuppelbau zu malenden, 20 m hohen Rundprospekts der Engadiner Bergwelt (bei einer Länge von 220 m  !) die Gründung einer Aktiengesellschaft vor.14 In einem Brief an Walther vom 10.12.1897 führt er vor allem auch das Szenario für das Panorama näher aus.15 Von künstlichem Wind und Schaffung

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eines kühlen Bergklimas, über einen rauschenden Bach, einem 16 m hohen Hügel, Waldstücken und mit Karossen befahrbaren Waldwegen bis zur Installierung eines Mondes mit raffiniertem Beleuchtungsmechanismus nach dem Muster jenes an der Columbia University in New York findet sich eine ausgeklügelte Inszenierung der Natur, die auf den von der Weltausstellung ermüdeten Besucher psycho-physische Reize ausüben soll. In richtiger Einschätzung der Korrelation der Sinnesempfindungen beabsichtigt Segantini, mit dieser Totalregie durch das Ansprechen aller Sinnesorgane das Publikum zu begeistern. Aus Gründen der letztlich unmöglichen Finanzierbarkeit des Grundstückankaufes in Paris nimmt er von der Idee dieses Gesamtkunstwerkes enttäuscht Abstand und beginnt die Arbeit an einer »kleinen« Weltausstellungs-Variante, dem übergroßformatigen Zyklus Werden, Sein und Vergehen. Kurz vor der Vollendung dieses Triptychons, zu der er trotz eines Traumes mit bösen Vorahnungen im September 1899 auf den 2700 m hohen Schafberg oberhalb von Pontresina aufsteigt, übernimmt unerwartet der Tod die unerbittliche Regie  : Wenige Tage nach Erkrankung an einer akuten Blinddarmentzündung und seiner anfänglichen Weigerung, um ärztliche Hilfe zu schicken, erliegt Segantini am 28. September 1899 in einer Berghütte an den Folgen einer Peritonitis. Die unerwartete Todesnachricht erschüttert die Kunstwelt, und der Wettlauf um Gedächtnisausstellungen beginnt. 1901 zeigt die IX. Ausstellung der Wiener Secession das Triptychon mit über 50 seiner bedeutendsten Bilder gemeinsam mit Plastiken von Auguste Rodin. Spätestens dabei wird klar, dass Segantini neben Edvard Munch, Ferdinand Hodler, Gustave Courbet und Georges Seurat souverän bestehen wird  : Kraftvoll, kompromisslos, richtungweisend, bedingungslos, dem unermesslichen Reichtum des Farbenspiels und der Verlockung, dem Geheimnis des Lichts auf die Spur zu kommen, ergeben. Mit seinem divisionistischen Werk wird er zum Verkünder der Heraufkunft einer völlig verwandelten Welt, das die Zeit bereits damals der Unvergänglichkeit in die Arme legte. Das k. k. Ministerium für Kultus und Unterricht in Wien ehrt Segantini posthum durch die Herausgabe einer großartigen, von Kolo Moser und Ferdinand Andri bibliophil gestalteten Monografie16 »… als einen der genialsten Söhne österreichischer Erde«.

Anmerkungen 1 Nietzsche, Friedrich  : Werke in drei Bänden. – Hg. Karl Schlechta. München  : Hanser, 1954. 2 Segantini, Giovanni, Brief an J.F. Walther aus Quinsac, Annie-Paule  : Segantini – Trent’anni di vita artistica europea nei carteggi inediti dell’artista e dei suoi mecenati. – Oggione-Lecco  : Cattaneo Editore, 1985, Brief Nr. 873.

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3 Arcangeli, Francesco – Gozzoli, Maria Cristina  : L’Opera completa di Giovanni Segantini. Milano  : Rizzoli 1973, S 87. 4 Bahr, Hermann  : Die Secession in Die Zeit – Wiener Wochenschrift für Politik, Volkswirtschaft, Wissenschaft und Kunst, Nr 183 – Wien  : Die Zeit 2.4.1898, S 11,12. 5 Quinsac, Annie-Paule. op. cit. S 346, Anm. 1 Brief 428. 6 Servaes, Franz  : Giovanni Segantini – sein Leben und sein Werk. – Wien  : M. Gerlach 1902, S 130, Anm. 4. 7 Segantini, Giovanni  : Brief an Alberto Grubici aus Quinsac Annie-Paule  : op. cit. S 394, Brief 496. 8 So berichtet Segantini beispielsweise in seiner Selbstbiografie, dass er im Alter von 5 Jahren seine geliebte 28-jährige Mutter verloren habe. Tatsächlich war er beim Tod seiner 37-jährigen Mutter 7 Jahre alt. 9 Vide Anm. 3) 10 Hevesi, Ludwig  : Acht Jahre Sezession (März 1897 – Juni 1905), Kritik, Polemik, Chronik. – Wien  : C. Konegen (E. Stülpnagel) 1906. 11 Ver Sacrum. – Wien  : Gerlach & Schenk Jg. 1901, S. 139. 12 « Je voudrais que les êtres que je représente aient l’air voués à leur position, et qu’il soit impossible d’imaginer qu’il leur puisse venir l’idée d’être autre chose. » Millet Jean-François  : Brief an den Journalisten und Kunstkritiker Théophile Thoré. in Marcel Henry Camille  : J.-F. Millet. Biographie critique. – Paris  : Librairie Renouard, Henri Laurens Ed. o.J. 13 Kandinsky, Wassily  : Über das Geistige in der Kunst. – Bern  : Benteli 1912. 14 Segantini, Giovanni  : Brief an J. F. Walther vom 29.9.1897. – Wien  : Kunstsammlung und Archiv der Universität für angewandte Kunst Wien, Inv. Nr. 4025/1. 15 Segantini, Giovanni  : Brief an J. F. Walther vom 10.12.1897. – Wien  : Kunstsammlung und Archiv der Universität für angewandte Kunst Wien, Inv. Nr. 4025/4. 16 Servaes, Franz  : Giovanni Segantini. Sein Leben und sein Werk. – Wien  : Gerlach & Co 1902.

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Abb. 7: Herakles am Scheideweg, Triptychon, Entwurf, 1900, Gesamtabmessungen 95 x 290 cm, Ausschnitt (linkes Bild) Bleistift, Pastell/Papier, Kunstsammlung und Archiv der Universität für angewandte Kunst Wien.

Ein Arzt, der kein Künstler ist, ist auch kein Arzt. Curt Goetz

Hermann Heller (1866–1949) Kunst – Anatomie – Kunst

Im 5. Jahrhundert vor unserer Zeitzählung formulierte Hippokrates eine Reihe medizinischer Erkenntnisse und Grundsätze, die bis in die Gegenwart als beachtlich angesehen werden. Abgesehen von dem ihm zugeschriebenen »Eid«, der in der Antike wahrscheinlich nie in der heute zitierten Diktion von den Ärzten auf Kos oder Knidos abgelegt wurde, sondern vielmehr hippokratisches Gedankengut in pythagoreischer Fassung enthält, verbreitete sich der Beginn eines Ausspruchs des Vaters der abendländischen Heilkunst – Ὁ βίος βραχὺς, ἡ δὲ τέχνη μακρὴ – »das Leben ist kurz, die Kunst (i.e. Heilkunst  !) ist groß«1 – über alle Landesgrenzen hinaus. Diese Aussage sollte in ihrer ursprünglich vollständigen Fassung für Hermann Heller bestimmend werden. Hingegen erfuhr der oft verkürzt zitierte Satz sehr bald – etwa schon bei Seneca – einen Bedeutungswandel und mutierte zum generellen Antagonismus der Begriffe Leben und Kunst schlechthin  : »Das Leben ist kurz, die Kunst ist lang.« Selbst Goethe und Schiller zitieren die weise Erkenntnis des größten der Ärzte der Antike in dieser veränderten Form. Als Sohn des Rechtsanwalts Joseph V. Heller wird Hermann Heller 1866 geboren. Schon in seiner frühen Kindheit fördern die Eltern seine Zeichenbegabung durch Privatunterricht. Heller besucht nach der Volksschule – ebenso wie drei seiner Brüder – das Mariahilfer Gymnasium. Diese Schule war damals nicht irgendein Gymnasium, sondern durch die Wiener Weltausstellung des Jahres 1873 in aller Munde  : Die Institution war nämlich nach einigen Jahren ihres Bestehens in ein neues Gebäude oder, besser gesagt, in ein für den Schulbetrieb von Oberingenieur Georg Haussmann funktional großzügig adaptiertes historisches Gebäude – das ehemalige Palais Kaunitz-Esterházy – umgezogen, das als so exemplarisch angesehen wurde, dass es mit Plänen, Dokumenten und spektakulären Sammlungsbeständen auf der Wiener Weltausstellung präsentiert wurde, jener Schau der Superlative, die sieben Millionen Besucher anlocken sollte … Aber nicht nur der Genius loci des ehemaligen Adelspalastes, sondern auch besondere Lehrer sowie modernste Lehrmittel und Sammlungen bewirkten den Zustrom von Schülern  : Abgesehen von einer Reihe hervorragender Altphilologen und

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Kunst – Schritte vom 19. ins 21. Jahrhundert

Abb  : 8: Paris, an der Seine bei Nacht, 1900, Bleistift/Papier, 22,5 x 29 cm, Privatsammlung Wien.

­ istoriker – es gab zu Hellers Schulzeit an diesem Institut allein neun LateinprofessoH ren, fünf Griechischprofessoren und vier Geschichtsprofessoren – lag bereits seit Gründung des Gymnasiums ein Schwerpunkt auf den Naturwissenschaften. Diese besondere Orientierung war dem ersten Direktor der Schule, Dr. med. Benedikt ­Kopezky (1815–1872), zuzuschreiben, der nicht nur in den naturgeschichtlichen Fächern an seinem Haus, sondern auch an der Universität Graz und der Universität Wien als Dozent lehrte. Als Mediziner und Zoologe hatte er zahlreiche wissenschaftliche Publikationen veröffentlicht und legte mit großem Ehrgeiz eine prominente anthro­pologische und zoologische Lehrsammlung des Gymnasiums an, deren Präparate und Schauobjekte in Vielfalt und Qualität vergleichbaren universitären Sammlungen in keiner Weise nachstanden. So nahm Hermann Heller schon frühzeitig in der humanistischen Atmosphäre dieses Gymnasiums viele Anregungen und Impulse auf, die für seinen späteren Lebensweg richtungweisend werden sollten. Nach der Matura entschließt sich Heller zu einer ungewöhnlichen akademischen Laufbahn  : Er immatrikuliert an der Akademie der Bildenden Künste die Studienrichtung Malerei und an der Universität Wien das Studium der Medizin.

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Hermann Heller (1866–1949)

Abb. 9: Versailles, Bassin de Flore, 1900, Bleistift/Papier, 22,5 x 29 cm, Privatsammlung Wien.

Als Hermann Heller 1895 sein Doppelstudium abschließt, laufen in Athen die Vorbereitungen der 1. Olympischen Spiele der Neuzeit auf Hochtouren. Für den Absolventen eines humanistischen Gymnasiums mit einer im Sinne Humboldts erworbenen umfassenden Bildung in Kunst und Wissenschaft ist dieses Ereignis Signal. (Dass er zwei Jahre später ausgerechnet anlässlich der Blockade Kretas als Korvettenarzt erstmals griechischen Boden betreten sollte, mindert in keiner Weise seine Faszination für die Antike, die in seinem weiteren Leben gleichsam einen Kanon für sein Verständnis von Kunst und Wissenschaft vorgeben sollte.) Doch in das Jahr 1895 fällt auch ein anderes markantes Ereignis für Heller  : Conrad Röntgen entdeckt die nach ihm benannten Strahlen. Nicht nur die Schwerkraft zu überwinden und in den Kosmos vorzustoßen, ist ein Jahrtausende alter Menschheitstraum  : Expeditionen in die Innenwelt des Menschen zu unternehmen, ein ebenso ehrgeiziges Ziel, wird durch dieses Verfahren zusehends Wirklichkeit, das die unblutige Möglichkeit eröffnet, das Innere des lebenden menschlichen Körpers in seiner Funktionalität sichtbar zu machen und zu beobachten. Nicht zu unterschätzen ist in diesem Zusammenhang auch die in diesen Jahren vorangetriebene Weiterentwicklung der »bewegten Bilder«, der Filmtechnik, die auch für den medizinischen Unterricht neue Dimensionen eröffnet.

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Kunst – Schritte vom 19. ins 21. Jahrhundert

Abb. 10: Humanatlas, Tafel 112, Tragen einer Last auf dem Kopf (Oberflächenplastizität), schwarze Kreide/Karton, 1919/1936, Kupferstichkabinett der Akademie der bildenden Künste Wien.

In diese »Achsenzeit«, in der ein neues Zeitalter am Horizont zwischen Vergangenheit und Zukunft sichtbar wird, fällt nicht zuletzt auch die Gründung der Wiener Secession. Es ist kein Zufall, dass Hermann Heller in jene damals progressive Institution, die gleichsam Wiege dieser umwälzenden Kunstströmung ist, als Dozent für Anatomie und anatomisches Zeichnen berufen wird, die k. k. Kunstgewerbeschule des Österreichischen Museums für Kunst und Industrie, in der er 18 Jahre lehren sollte. Die Stationen der weiteren Ausbildung Hermann Hellers lesen sich wie ein Roman  : Studienreisen durch Europa und in die Neue Welt, Habilitation an der Technischen Hochschule Wien für die Lehre vom Bau der menschlichen Gestalt, Bildhauereistudium an der Akademie der bildenden Künste Wien … Kurz nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, der für Millionen Menschen auf den Schlachtfeldern Europas Tod oder Verstümmelung bedeutet hatte, nimmt Heller, von der Tragödie des Kontinents erschüttert, das antike Thema der Humananatomie mit dem Wissen der Gegenwart auf, um es den Zwecken der Heilkunst dienstbar zu machen und mit der Sprache der Kunst auf die Ebene der Zeitlosigkeit zu heben  : Gerade durch seine vielseitige (Aus-)Bildung als Maler, Bildhauer und Arzt ist Hermann Heller dazu prädestiniert, die eingangs erwähnte Verfremdung des hippokratischen

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Hermann Heller (1866–1949)

Abb. 11: Humanatlas, Tafel 113, Tragen einer Last auf dem Kopf (Tiefenplastizität), Feder, Aquarellfarbe/Karton, 1919/1936, Kupferstichkabinett der Akademie der bildenden Künste Wien.

Begriffes der Kunst als Heilkunst zur Kunst schlechthin mit seinem anatomischen Atlas zu überwinden, indem er Kunst und Medizin überzeugend amalgamiert. Freilich beschäftigten sich bereits in der Renaissance die Giganten der Kunst­ geschichte aus verschiedenen Motivationen besonders mit der anatomischen Darstellung des menschlichen Körpers – man denke an Leonardo da Vinci, Michelangelo, Tizian oder Albrecht Dürer. Mit der Darstellung und Lehre der Architektur menschlicher Physizität, deretwegen nicht nur die Ärzte in den anatomischen Theatern um ihre Freiheit fürchten mussten, sondern auch die Künstler beträchtlichen Widerstand vonseiten staatlicher oder kirchlicher Autorität riskierten, leisteten sie Pionierarbeit in der Sichtbarmachung des Körpers in seiner Komplexität. Ein Jahrhundert später ist Rembrandts Darstellung Die anatomische Vorlesung des Dr. Nicolaes Tulp ein Indikator für die in der Zwischenzeit gestiegene Bedeutung der Anatomie in der ärztlichen Ausbildung. Der Prozess der Herausarbeitung der Strukturen des menschlichen Körpers bei Heller, dem Mediziner, ist jedoch einmalig  : Erstmals bar spekulativer Elemente, weil wissenschaftlich einwandfrei, trägt er gleichsam als Geograf den menschlichen Kör-

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perlandschaften bis in alle Tiefen Rechnung. Durch die Darstellungskompetenz des Zeichners fügt er jeder anderen Form der Sichtbarmachung – etwa mittels Modell, Fotografie, Film, Radiografie – eine weitere Dimension hinzu, indem er das Geschaute künstlerisch immortalisiert, und so in gewisser Weise die Hinfälligkeit der Materie besiegt. Hermann Heller reist viel. Auch in der Welt der Vorstellungen. Der Bogen seiner Interessen spannt sich in den Folgejahren von Rilkes Duineser Elegien bis zu den Erkenntnissen des Nobelpreisträgers Iwan Petrowitsch Pawlow über die Physiologie der bedingten Reflexe. In diesem Sinn kehrt Heller immer wieder an die Quelle des antiken Verständnisses zurück und gebiert einen neuen Geist, ohne die Wurzeln der Antike zu verleugnen. Vor diesem Hintergrund erfolgt die Bestandsaufnahme der Details der menschlichen Physis mit dem Stift, die 17 Jahre in Anspruch nimmt. Viele in diesen Jahren erworbenen wissenschaftlichen Erkenntnisse fließen teils unbewusst in dieses Werk ein, das aber auch vor einem stets im Wandel begriffenen Kunstgeschehen reflektiert wird. In der Gesamtschau des Heller’schen Oeuvres wird klar, dass Heller in der Darstellung des Menschen dessen Würde höchste Priorität einräumt  : Nie degradiert er aus Sensationslust den Menschen zum Schauobjekt. Weder bei Porträts, Karikaturen, Aktzeichnungen noch Totenbildern verlässt er den Grundsatz der Humanitas, sondern legt vielmehr in seinen Menschenbildern auch der Seele das Stethoskop an. Nie entkleidet er den Menschen seiner Hoffnungen und Freuden, Verzweiflungen und Resignationen, Träume und Enttäuschungen, was letztlich auch an seinen 132 Anatomietafeln deutlich ablesbar wird  : Nie erliegt er der Versuchung, den Menschen als Präparat zu verdinglichen, nie der plakativen Pathetik. Sein Skalpell bleibt der Stift, mit dem er unblutig die Körperstrukturen präziser als ein Demonstrator freilegt und sichtbar macht. Die Bedeutung Hermann Hellers als Lehrer kann in diesem Zusammenhang nicht hoch genug eingeschätzt werden  : 40 Jahre lang gibt er sein künstlerisch-wissenschaftliches Fachwissen zusammen mit seiner ethischen Grundhaltung an junge Menschen der drei Hohen Wiener Schulen weiter und prägt so zwei Generationen von Künstlern, nicht zuletzt Oskar Kokoschka, der wenige Jahre später im Haus am Stubenring Lehrer für Aktzeichnen wird … Bereits 1910 schreibt sein Schüler, der kroatische Bildhauer Ivan Meštroviˇ c, nach Absolvierung seiner Studien an der Kunstgewerbeschule in einem Brief an Heller  : »Seien Sie Professor, bleiben Sie aber immer auch Künstler, wie Sie es bis jetzt waren – das ist das Interessanteste und Schwere zugleich bei Ihnen.« Dieser doppelten Berufung von Wissenschaft und Kunst fühlte sich Heller sein Leben lang verpflichtet. Johann Gottlieb Fichte sagte einmal  : »Der Begeisterte siegt immer über den Nichtbegeisterten  !« Hermann Heller war ein Begeisterter. Es ist zu wünschen, dass die vor

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Hermann Heller (1866–1949)

wenigen Jahren erfolgte Drucklegung seines Vermächtnisses – Modelle der Künst­ leranatomie2 – im Dienste der Kunst hippokratischen Ursprungs diesen Funken der Begeisterung auf Menschen von heute immer wieder überspringen lässt.

Anmerkungen 1

Der Aphorismus in ungekürztem Wortlaut gibt Einblick in Hippokrates‘ Einschätzung des Erfolges medizinischer Heilkunst  : Ὁ βίος βραχὺς, ἡ δὲ τέχνη μακρὴ, ὁ δὲ καιρὸς ὀξὺς, ἡ δὲ πεῖρα σφαλερὴ, ἡ δὲ κρίσις χαλεπή (»Das Leben ist kurz, die [Heil]kunst ist groß, die Gelegenheit flüchtig, der Versuch mit Gefahr verbunden, die Entscheidung schwer«). 2 Modelle der Künstleranatomie von Hermann Heller – Straznicky, Kurt (Hg.) Wien – Bozen  : Folio 2001.

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Abb. 12: Mädchen am Seerosenbecken, (Diplomarbeit), 1896, Öl/Lw, 91 x 169,5 cm, Kunstsammlung und Archiv der Universität für angewandte Kunst Wien.

Une œuvre d’art devrait toujours nous apprendre que nous n’avions pas vu ce que nous voyons. (Ein Kunstwerk soll uns immer zeigen, dass wir nicht gesehen haben, was vor unseren Augen liegt.) Paul Valéry

Anton Kenner (1871–1951) Eine Expedition zwischen die Zeiten

»Über Kunst kann man reden. Doch die Kunst ist undefinierbar. Gewiss ist sie etwas Hohes, hat also hervorragende Eigenschaften, die sich auch für den schlichten Menschen nicht als unzugänglich erweisen. Alle Kunst ist ein Ganzes. Sie ist dem Menschen immer ein Mittel zur Erhebung gewesen, da sie aus seiner gesunden Geistesbeschaffenheit erwuchs. Man brauchte also auch für ihren Wert keine umständlichen Erklärungen …«1 Mit diesen Worten leitet Anton Kenner 1950 – beinahe 80-jährig – seine Betrachtungen über Kunst und Kunstlehre im Spiegel des Zeitgeschehens ein. Er diagnostiziert dabei den Mangel an Kritikfähigkeit des Publikums für die Gegenwartskunst. Es sei zwar viel schwerer, »über einen alten Meister Äußerungen von Wert zu machen, als über ein aformales modernes Experiment …«, aber letzteres sei oft das Übungsgebiet »für scheinbar logisch begründetes Kunstgeschwätz«, wie es immer bei Führungen in modernsten Ausstellungen Anstoß errege … Wirklich ­virulente Kunstepochen brauchten keine Erklärer. Müsse man eine Kunstäußerung erst begründen, so sei »dies schon ein Zeichen, dass Darbietung und Aufnahme gegeneinander arbeiten«. Die Grundfesten dieser Ansichten waren schon in Kenners früher Jugend gelegt worden. Sie sind Bestandteil seines damaligen Weltbildes, das von seinem soliden, gutbürgerlichen Elternhaus bestimmt war, in dem er mit seinen drei Brüdern sorglos heranwuchs und seinen Talenten und Interessen frönen konnte. Auch die Brüder – spätere Juristen und Bankbeamte – waren weit über den Durchschnitt musisch begabt  : Heinrich spielte vorzüglich Trompete, Fritz, der Cellist der Familie, komponierte und dichtete, und Eduard spielte meisterhaft Klavier. Bereits in den 1880er-Jahren fordert eine Reihe von Eindrücken Anton Kenner zur künstlerischen Umsetzung heraus. So etwa sind für ihn die jährlichen Sommerferien im Salzkammergut Anregung zur Schaffung eines 47 Blätter umfassenden, bemerkenswerten Landschaftszyklus Erin­ nerungen 1888–1893 in verschiedenen Techniken. Doch auch sein offenkundiger damaliger Einblick in das gesellschaftliche Gefüge mit seinen ausgeklügelten Konventionen, hinter denen die Scheinmoral alle Doppelbödigkeit geschickt tarnt, ist für die

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ersten literarischen Gehversuche des jungen Malers Stimulans  : Auf diesem Nährboden entsteht sein Roman Ein Jahr im Leben des Karl Kraner, den er Jahrzehnte später (1937 und 1943) überarbeiten sollte. Das im Typoskript 382 Seiten umfassende Werk weist Kenner als scharfen Beobachter aus, der mit einem Blick die Essenz von Eindrücken zu erfassen und auch zu verbalisieren vermag. Zum Teil ist die Handlung in Wien – besonders in der bescheidenen Junggesellenwohnung des Karl Kraner – zum Teil an einem österreichischen See angesiedelt, wobei kein Zweifel daran bestehen kann, dass damit der Attersee gemeint ist. Die intensiven Naturschilderungen mit dichter, stimmungsbetonter Atmosphäre finden sich optisch in Bildern und Studien dieser Zeit wieder  : »Nun stand er in seinem Zimmer und blickte aus dem Fenster ins Weite. Die Nebel hatten sich nicht verzogen  ; sie hatten sich verdichtet, und es begann leicht zu regnen. Die südliche Bergkette war durch tiefreichende Wolkenbänke fast verhüllt, und schwer, bleifarbig lag der See wie eingesunken davor. Die Häuser im Vordergrund, der Platz zwischen ihnen, die Bäume, alles erschien Karl Kraner als banale, stoffliche Wirklichkeit  ; ungenügend, nüchtern vorläufig … Der Regen sank hernieder  ; er fiel leicht, doch beständig, er färbte die Steine am Straßenrand dunkler, er drückte sachte den Staub zusammen, mengte ihn zu Brei und zog dann mitten durch denselben kleine Gerinne, die ihre Bahnen suchten … Die Schindeldächer hatten längst ihren Silberglanz verloren, nun setzten sich Säume von Tropfen an und begannen die Wasserrinnen zu speisen …«2 Die Personen des Romans hatten in Kenners Leben reale Vorbilder. Besonders die Figuren von Modellen, Malerinnen, (verkommenen) Malern und skrupellosen Kunsthändlern verraten Kenners frühes Vertraut-Sein mit der Kunstszene. Sicherlich lässt Kenner auch autobiografische Elemente in die Handlung einfließen. Genauso entschlossen, wie er den Pinsel auf der Leinwand führt, lässt er seine Worte über die Dinge gleiten, konturiert sie, zeichnet ihre Schärfe oder enthüllt ihre Weichheit, gibt ihnen Farbe und Form, verleiht ihnen Dimension und Plastizität und befreit sie von ihrer banalen Anonymität. Aus Diskretionsgründen dürfte Kenner bei der letzten Fassung des Typoskripts Orts- und Personennamen verfremdet haben. Nach Ablegung der Reifeprüfung im Jahr 1890 nimmt Kenner an der Kunstgewerbeschule des k. k. Österreichischen Museums für Kunst und Industrie das Studium der Malerei auf. Seine Lehrer – zunächst Ludwig Minnigerode, bei dem einige Jahre vor ihm auch Gustav Klimt studiert hatte, und ab 1893 Franz von Matsch, der mit den Brüdern Gustav und Georg Klimt eine Ateliergemeinschaft unterhielt – prägten den jungen, äußerst vielseitig interessierten und talentierten Kenner. Bereits 1894 – noch während seines Studiums – wird Kenner zum Assistenten Adolf Ginzels für das Fach Stillehre und zwei Jahre später zum Dozenten bestellt. In dieser Zeit entsteht eine Unzahl von interessanten Arbeiten, der phantastischen Geisteswelt E.T.A. Hoffmanns verwandt, die das Märchenhafte, Unheimliche, Skurrile, Spukhafte aufzeigen. Bei näherer Beschäftigung mit diesen Werken sind die Bezüge zum damals höchst aktu-

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Anton Kenner (1871–1951)

Abb. 13: Elchjagd, 1892, Aquarell/Papier, 34 x 37,5 cm, Kunstsammlung und Archiv der Universität für angewandte Kunst Wien.

ellen Thema »Unbewusstes – Unterbewusstes – Traum« nicht zu übersehen. Hier gibt es das Reich der Drachen und Ritter, der Prinzessin und des Einhorns, der Gnome und Hexen, der Fabeltiere und der Friedhofspukgestalten. So vernimmt man beim Betrachten des Versehganges beinahe das Pfeifen und Zischen der Hexen, die zu Walpurgisnacht auf ihren Besen durch die Lüfte fegen, während ein Priester ins Haus eines Sterbenden tritt, um ihn »kurz vor dem Ziel« nicht noch vom »rechten Weg« abkommen zu lassen … Wenn man erfährt, dass Kenners eigener Weg am Abend nach der Walpurgisnacht – dem 1. Mai 1951, ein Datum, gegen das er immer große Abneigung empfand – zu Ende gehen sollte, mutet dieses Bild wie eine sehr frühe Vorahnung an. Ende März 1897 kommt es in der Wiener Kunstszene zum Eklat des Jahrhunderts  : Nach jahrelangem Ringen progressiver Künstler in der »Genossenschaft bildender Künstler« gegen die Konservativen, die praktisch durch eine Art Ausstellungszensur das Sagen hatten, erfolgt der Auszug einer Reihe von Malern, Bildhauern und Architekten. Im ersten Moment ist diese neue Gruppe nur als Klub innerhalb der alten Genossenschaft gedacht, aber am 3. April 1897 wird mit dem Brief des Präsidenten der Secessionisten, Gustav Klimt, der endgültige Bruch eingeleitet  : Er ersucht darin den Ausschuss der Genossenschaft bildender Künstler zur Kenntnis zu nehmen, dass es deren Mitglieder für notwendig erachtet hätten, »das Wiener Kunstleben in einen lebendigen Zusammenhang mit der fortschreitenden Entwicklung der Kunst des Aus-

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landes und das Ausstellungswesen auf eine rein künstlerische, vom Marktcharakter freie Basis zu stellen«. (Diesem Schritt war 1889 in Paris die Gründung der Societé nationale des Beaux Arts und 1892 der ersten deutschen Secession in München vorausgegangen). In diesem bewegten Jahr schließt Kenner sein Studium unter Franz von Matsch mit Auszeichnung ab. Im Zusammenhang mit dessen Unterrichtsmethoden ist es interessant, auf die Beurteilung seines Schülers Kenner einzugehen  : »Herr Anton Ritter von Kenner […] zeichnete und malte während dieser Zeit vorwiegend nach dem lebenden Modell und nach der Natur. Seine Naturstudien bekunden eine richtige Auffassung derselben und eine vorzügliche, richtige Technik, sodass seine diesbezüglichen Erfolge vorzügliche sind. Herr von Kenner übte sich auch mannigfach im Componieren und Ausführen von theils malerisch decorativen, theils kunstgewerblichen Arbeiten und zwar ebenso mit vorzüglichem Erfolge …« Matsch verlangte nämlich von seinen Studenten, dass alle dargestellten Objekte existierten und nicht bloß der Fantasie entsprängen. Bei Kenners Diplomarbeit Mädchen am Seerosenbecken gewinnt dieser Grundsatz doppeltes Gewicht  : Kenner dokumentierte auf diesem Bild mit den Figurinen und Gerätschaften einen wertvollen Teil der Antikensammlung des Lehrers Matsch. (Besagte Antikensammlung wurde viele Jahre später durch Verkauf in den USA in alle Winde zerstreut). Wie sehr Kenner mit diesem Werk stilistisch dem Secessionismus verpflichtet ist – man vergleiche etwa Werke Max Klingers oder Gustav Klimts aus der Zeit – ist augenscheinlich. In der keramischen Plastik reichen Kenners erste Versuche weit in die Studienzeit zurück. Anregungen dazu gab es von professoraler und kollegialer Seite zur Genüge  : Abgesehen vom formal künstlerischen Aspekt war seit der Gründung der Kunstgewerbeschule der wissenschaftlichen Seite mit spezifischen ChemieVorlesungen und Übungen entsprechend Rechnung getragen. So wurden – etwa im Bereich Glasuren oder keramische Massen – laufend Laboruntersuchungen durchgeführt und experimentell neue Rezepturen erarbeitet. Kenners erste keramische Arbeiten – etwa aus 1892 – sind dem historistischen Grotesk-Stil florentinischer Prägung verpflichtet. Umso mehr ist es erstaunlich, dass sich Kenner gerade auf dem Sektor der keramischen Plastik bereits früh progressiven Tendenzen zuwendet. Als Beispiel können die kurz nach der Jahrhundertwende entstandenen Tierplastiken (Igel, Ziegen, Elch etc.) sowie Gnome und sakrale Plastiken (Hl. Florian) genannt werden. Vielfach spielt Kenner hier den organischen Effekt des rohen Materials aus, indem er es nur teilweise farbig, großteils aber farblos transparent glasiert und so sichtbar werden lässt. Wenn man z. B. damit die Objekte der »Wiener Keramik« Bertold Löfflers und Michael Powolnys aus der Zeit vergleicht, bedeuten Kenners keramische Arbeiten einen Vorgriff auf die Zwanzigerjahre. 1899 wird Kenner neben seinem Fach »Stillehre« mit der Leitung der neugegründeten Abteilung für Lehramtskandidaten betraut. Im selben Jahr entspringt Kenners

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Anton Kenner (1871–1951)

Abb 14: Gewitterstimmung am Attersee, um 1906, Öl/Lw, 26 x 31 cm, Privatsammlung Wien.

Feder ein neuer literarischer Versuch  : Veit Unterstützig, eine märchenhafte Erzählung, bei der die geschilderten Vorgänge an die Macht und Ohnmacht heutiger Politiker und deren oft wenig erfolgreiche internationale Konferenztätigkeit erinnern.3 Um diese Zeit sorgt der junge Künstler bei den abendlichen Gesellschaften der Familie Kenner für einen neuen, kulturhistorisch bemerkenswerten Akzent  : In der elterlichen Wohnung bilden seine Marionettenspiele für den um Hausparteien und andere Bekannte erweiterten Kreis der Familie die Attraktion – etwa Die Komödie im Haus Wallentin oder Das Spiel am babylonischen Königshof. 4 Während das Spiel um die Familie Wallentin die wechselhaften Schulerfolge eines Knaben – Sohn einer Schwägerin und des gefürchteten Landesschulinspektors Ignaz Wallentin – persifliert, entstammt das Spiel um einen König von Babylon mit erfundenem Namen – etwa Nabuchodrusor oder Hammaradi – der Idee Kenners, der, wie bereits erwähnt, seit 1897 Dozent für Stillehre war, und sein theoretisches Fachwissen über vergangene Epochen mit Fantasie und Humor versetzt auf der familiären Bühne zum Leben erweckte. Jedenfalls war (wie die prominente Archäologin Hedwig

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Kenner, des Künstlers Tochter, berichtete) die Handlung um ein aufregendes Ereignis – eine Revolution oder ein kriegerischer Einfall eines fremden Volkes – angesiedelt, welches dem König gemeldet wird. Der pessimistische Premierminister und der optimistische Feldherr treten auf den Plan, Intrigen werden gesponnen, die das »Auge« und das »Ohr« des Königs überwachen sollen (Übertragung der antiken Überlieferung für den persischen Großkönig auf Babylon  !). Des Weiteren bevölkern geheime Schreiber, Wachen des Königs (die fast nur aus Mund und Zähnen bestehen) und die hüftenwiegende, üppige Königin die Szene. Zur Aufheiterung des Königs steht eine Tänzerin im Einsatz, die auf dessen Ruf »Ich will Vergnügen« sofort auftreten und ihren Schleiertanz vorführen muss. Der dadurch eintretende Gemütsumschwung des Königs wird durch die Aufhellung seiner Stirn und sein im Rhythmus erfolgendes Wippen seiner Zehen sichtbar. Nach Lösung des militärischen Problems bringen die unterworfenen Stämme in einer barbarischen Sprache (durch Akzent und Infinitivformen verfremdet) dem König ihre Huldigung dar. Kenner befasst sich aber in jener Zeit nicht nur mit den bereits erwähnten Materien, sondern auch mit großformatigen Dekorationsentwürfen – z. B. 1902 für das prominente »Künstlerhaus-Gschnas«, was zur intensiven Beschäftigung des Künstlers mit Möbelentwürfen, Kaminwänden, ganzen Wohnungsinterieurs, Wandmalereien für Musikzimmer (etwa in einer Otto Prutscher-Villa in Baden oder die PapagenoSzenen im Haus Planer in Wien), ja sogar mit dem Entwurf eines Hauses, überleitet. 1903 erscheint ein vielbeachtetes Kinderbuch, das Ramsamperl, Gemeinschaftswerk der Brüder Anton (Illustration) und Fritz (Text) Kenner. 1906 wird auf Antrag Kenners, dem eine 20-seitige Analyse zugrundeliegt, die Abteilung für Lehramtskandidaten an der Kunstgewerbeschule aufgelöst, da die Ausbildung vorwärtsdrängender, an der Moderne orientierter Studenten nicht mit dem Erfordernis für biedere, konservative zukünftige »Mittelschullehrer« in Einklang zu bringen war. In der Folge wird Kenner mit einer Reihe von zusätzlichen Fächern (Leitung der Allgemeinen Abteilung, des offenen Aktkurses, des anatomischen Zeichnens und Modellierens unter Beibehaltung des Faches Stillehre) betraut. 1909 heiratet er seine Schülerin Berta Tragau. 1912 wird sein ehemaliger Schüler Oskar Kokoschka Kenners Assistent. In den Folgejahren entstehen ausdrucksstarke Kinderbilder zerbrechlicher Zartheit, für die Kenners kleine Tochter Hedwig als Modell dient. Im Ersten Weltkrieg wird im Hinblick auf seine Unabkömmlichkeit von seiner Einberufung ins Feld Abstand genommen. So entstehen 1916 seine Mosaiken für das legendäre Wiener Dianabad. Kenners wissenschaftliche Lehr- und Forschungstätigkeit findet ihren Niederschlag in einer Reihe von Arbeiten über Stilgeschichte, Figuralplastik, Trachten, Prähistorie, Inselkulturen, Gotik-Baumeister, Burg und Stadt. Im künstlerischen Schaffen hat er zu dieser Zeit die Bahnen des Jugendstils, der – wie spätere Stilausrichtungen – in Kenner nie Wurzeln schlug, sondern immer nur Gewürz blieb – längst verlassen. In diesen Jahren wird immer deutlicher, dass Ken-

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Anton Kenner (1871–1951)

Abb. 15: Aktstudien, 1919, Aquarell, Kohle/Karton, 21 x 29,5 cm, Privatsammlung Wien.

ner sich keinem Stil verpflichtet fühlt, und ähnlich wie Erich Mallina nie nach der Publikums- und Kritikergunst schielt, sondern einzig und allein für sich selbst malt, um Dinge seiner Gedanken- und Gefühlswelt adäquat auszudrücken. Ist Kenner etwa bei Aktstudien zeitlos, klar, gegenwärtig, sucht er durch die Darstellung antiker Stoffe Halt in einer unangefochtenen, stabilen Epoche abendländischer Hochkultur, in e ­ iner Zeit, in der überkommene Werte infrage gestellt, das jahrhundertealte politische und gesellschaftliche Gefüge zu Fall gebracht, und das kulturelle Erbe ins Wanken geraten war. Hier ist sein Farbauftrag klassisch, die Form unprätentiös, die Komposition alles andere als modernistisch, und daher stilistischer Imitation und dadurch inhaltlicher Oberflächlichkeit entzogen. Kenner taucht tief in die griechische Antike ein, verdichtet sein stilistisches, historisches und kunsthistorisches Wissen zur Atmosphäre Homers und Sophokles’ und »schreibt« so mit dem Pinsel streckenweise ­Hellas’ Götter- und Heldensagen, Tragödien und Satiren neu. Auch religiöse Themen oder narrative Naturbetrachtungen wie introvertierte Stillleben – in verschiedensten Maltechniken bis hin zur Emailmalerei – zählen zu dieser Epoche seines künstlerischen Schaffens. Nach Anton Kenners Emeritierung 1934 aus Altersgründen – im Jahr der Schaffung seines größten Freskos, des Christophorus, an der Fassade der Kirche in Mau-

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terndorf – wird er 1941 an die nunmehr in »Hochschule für angewandte Kunst« umbenannte bisherige Kunstgewerbeschule wegen des kriegsbedingten Professorenmangels wieder zum Dienst einberufen, aus dem er erst 1950 scheiden sollte. Ähnlich wie in vorangegangenen politischen Krisenzeiten hilft auch nun dem Künstler eine Art »Verdrängung« über die Abgründe jener Schreckenszeiten hinweg. So flüchtet er in seiner Bilderwelt zuweilen in Reiche der Fantasie wie das noch nie so ferne »Schlaraffenland« oder setzt diese zur Vergegenständlichung von Sinnsprüchen ein. Während die Kriegsmaschinerie über Europa hinwegrollt, gilt Kenners innere Hinwendung in der Malerei wie in der literarischen Auseinandersetzung der Beschaulichkeit der geordneten Welt eines idealisierten, ausklingenden Mittelalters. 1942 schreibt Kenner die märchenhafte Erzählung Irtogast, in der Kobolde und seltsame Wesen die Szene bevölkern. Dabei stößt man auf so manche Anklänge an heutige Vorstellungen und Zustände. Im Laufe der Handlung rührt Kenner wiederholt an das Phänomen des Unbewussten.5 1944 entsteht eine weitere Erzählung mit dem Titel Er­ innerungen an meine Wiener Wohnung, bei der als Ausgangspunkt die Möbelstücke und Objekte seiner Wohnung dienen, gleichsam als ob er dadurch diese und die an ihnen haftenden Erinnerungen vor der eventuellen Zerstörung durch einen Bombenangriff retten könnte. Eigentlich gewährt dieser Rundgang durch seine Wohnung aber Anlass zu Einblicken in sein eigenes Leben und das seiner Eltern, anderer bemerkenswerter Vorfahren und der Familie seiner Frau Berta. Aus dem zunächst antiquiert akribisch wirkenden Text erhebt sich allmählich wie eine Fata Morgana eine heile »Welt von gestern« Zweig’scher Prägung.6 Gegen Ende seines Lebens hält Kenner auch kritisch Rückschau auf seine Lehrtätigkeit und appelliert an das Verantwortungsbewusstsein junger Kollegen  : »Man glaubte früher, es sei notwendig, dass der Lehrer das, was er zu lehren habe, selbst könne. Nun lehrt er das, was er kann, und was er nicht zu lehren hätte. Eine Schule ist dazu da, jene Fähigkeiten zu vermitteln, die dem Schüler helfen, im Leben seinen ihm vorgezeichneten Weg zu gehen, nicht nur subjektiv persönliche Eigenheiten vom Lehrer zu übernehmen, die diesen vielleicht an die gesicherte Professorenstelle gebracht haben. Jeder Mensch wird einsehen, dass hier der Punkt ist, auf den hingewiesen werden muss, denn hier handelt es sich um Existenzen …«1) Mit dieser Aussage schließt sich der Kreis Kenner’schen Wirkens, in dem die Achtung jedes Menschen das unverrückbare Zentrum darstellt  : Diese Maxime ist die Formel des geistigen Universums von Kenner und zugleich der Schlüssel zu seiner Kunst.

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Anton Kenner (1871–1951)

Anmerkungen 1

Kenner, Anton  : Der Unterricht an der Abteilung für Lehramt des Freihandzeichnens für Mittel­ schulen an der k.k. Kunstgewerbeschule Wien. Typoskript. – Wien  : Kunstsammlung und Archiv der Universität für angewandte Kunst Wien. Inv. Nr. 10.870 Manu. 1950. 2 Kenner, Anton  : Ein Jahr im Leben des Karl Kraner. Typoskript. – Wien  : Kunstsammlung und Archiv der Universität für angewandte Kunst Wien. Inv. Nr. 9683 Manu. Fassung 1943. 3 Kenner, Anton  : Veit Unterstützig  : Die Geschichte wie ein Schuster König wurde. Typoskript. – Wien  : Kunstsammlung und Archiv der Universität für angewandte Kunst Wien. Inv. Nr. 9682 Manu. 1899. 4 Kenner, Hedwig  : Zu den Marionetten von Anton Kenner. – Die Komödie im Haus Wallentin und Das Spiel am babylonischen Königshof. – Typoskript. – Wien  : Kunstsammlung und Archiv der Universität für angewandte Kunst Wien. Inv. Nr. 17.937 Manu 1983. 5 Kenner, Anton  : Irtogast, eine märchenhafte Erzählung. Typoskript. – Wien  : Kunstsammlung und Archiv der Universität für angewandte Kunst Wien. Inv. Nr. 9285 Manu. 1942. 6 Kenner, Anton  : Erinnerungen an meine Wiener Wohnung. Typoskript. – Wien  : Kunstsammlung und Archiv der Universität für angewandte Kunst Wien. Inv. Nr. 9286 Manu. 1944.

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Abb. 16: Zwei Tänzerinnen, Michael Powolny, 1907, weißer Scherben, bunter Dekor, tlw. vergoldet, glasiert, Marken  : WK, Monogramm MP, H 24 cm, Galerie bei der Albertina, Wien.

Liebe und Kunst umarmen nicht, was schön ist, sondern was eben dadurch schön wird. Karl Kraus

Michael Powolny (1871–1954) Wiener Keramik  ? Michael Powolny & Co  !

Wien, 19. Oktober 1907. Im historischen Zentrum der Donaumetropole, Ecke Kärntner-Straße 33/Johannesgasse, an jener Stelle, an der man laut Karl Kraus »in das 20. Jahrhundert einbiegt«, fahren illustre Premierengäste im Fiaker vor, einige kommen zu Fuß oder sogar per Automobil, um beim gesellschaftlichen Ereignis des Jahres, der Eröffnung des Cabaret-Theaters »Fledermaus«, dabei zu sein. Wie man sich in den Salons erzählt, soll es hier nicht nur ein ungewöhnliches literarisches und musikalisches Programm, sondern auch ein von Josef Hoffmann und anderen secessionistischen Künstlern geschaffenes Souterrain-Theater zu entdecken geben … Berta Zuckerkandl, Salondame und Kulturkritikerin aus Passion, schwärmt  : »In diesen, mit äußerster Sinneskultur durchgebildeten Räumen kann man ersehen, was in Wien möglich gemacht worden ist. An dieser vollständigen Beherrschung aller Materialsprachen, der sicheren, würdigen, wahren, ja beinahe keuschen Prachtentfaltung, an dieser Harmonie und Kraft der Farbensprache, diesem aus Zweck kristallisierten Wohllaut der Gestaltung …«1 Der arrivierte Kunstkritiker Ludwig Hevesi meint schmunzelnd, dass dieses Cabaret ein Ort sei, »wo sauber gekleidete Musen nach der letzten Mode von nirgends ein artistisch zurechnungsfähiges Absteigquartier haben …«.2 Beim Betreten der Bar verstummt zumeist für einige Augenblicke das belanglose, gelangweilte Geplauder extravaganter, vielfach in Roben der Wiener Werkstätte gehüllter Damen von Welt mit arrogant befrackten Herren, um dann in spontane Begeisterung über das gauklerische Spiel von Farben und Formen des Interieurs umzuschlagen, die den Raum dominieren. Josef Hofmanns Rechnung ist aufgegangen  : Die Bar als stilvoller »Prolog« für den anschließenden, mit unterspielter Eleganz gestalteten Zuschauerraum, verführt zu verweilen und Augen, Kehle und Sinne, zu verwöhnen. Die Bar und die Wände des Raumes stellen bis zur halben Höhe einen Bilderbogen aus 7000 unterschiedlich großen, handgefertigten Majolikaplatten der »Wiener Keramik« dar, von denen etwa 1000 mit Karikaturen, Allegorien, Fabeltieren, Gnomen, Zerrbildern und Ornamenten handbemalt sind, die zu Hoffmanns weißer Möblierung einen reizvollen Kontrast bilden. Wenn die 1906 von Bertold Löffler und Michael Powolny gegründete und mit der »Wiener Werkstätte« affiliierte »Wiener Keramik«

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Abb. 17: Cabaret Fledermaus, Blick in den Bar-Raum, Foto 1907, Kunstsammlung und Archiv der Universität für angewandte Kunst Wien.

bis zu diesem Abend nur einem exklusiven Kreis von Kunstbegeisterten ein Begriff war, ist den beiden Künstlern spätestens mit diesem großen Wurf der Durchbruch in der Öffentlichkeit gelungen. (Einige Jahre später wird sich eine derartige, kollektive Begeisterung für Josef Hoffmann, die »Wiener Werkstätte« und die »Wiener Keramik« in Brüssel bei der Präsentation des Palais Stoclet wiederholen.) Freilich ist der optische Eindruck dieses neuen Etablissements besonderer Prägung auf das Premierenpublikum so stark, dass er dem Abendprogramm die Show stiehlt  :

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Michael Powolny (1871–1954)

Abb. 18: Cabaret Fledermaus, Wandfliesen »Amor venator«, Bertold Löffler, 1907, heller Scherben, bunter Dekor, tlw. vergoldet, glasiert, 29 x 29 cm, Privatsammlung Wien.

Trotz des Aufgebots von Lina Loos als Sprecherin von Peter Altenbergs Prolog, Gertrude Barrisons Tanz, der Masken von Peter Altenberg und der Darbietung alter und neuer Chansons, fällt die Kritik beim Ausklingen des Abends nachhaltig zugunsten der Raumwirkung des neuen Theaters aus, die ein damaliger Reporter trocken mit den Worten »hoffentlich wird das Programm mit der Zeit das künstlerische Niveau des Interieurs erreichen …« charakterisiert. Diese Facette aus dem secessionistischen Wien zeigt eine Momentaufnahme des Tanzes um die Moderne, des Ringens um neueste Ausdrucksformen, der Rebellion des Intellekts gegen die Tradition. Gustav Klimt, Egon Schiele, Josef Hoffmann, Otto Wagner, Adolf Loos, Bertold Löffler, Oskar Kokoschka, Arthur Schnitzler, Hermann Bahr, Sigmund Freud, Karl Kraus, Richard Strauss, Hugo von Hofmannsthal, Gustav Mahler sind nur einige Protagonisten unterschiedlichster Ausrichtung dieses frenetischen Kulturtaumels. Bertold Löffler etwa ist getrieben von schöpferischer Ungeduld. Stift, Kohle oder Pinsel laufen ihm zu langsam über das Papier, weil seine blitzenden Einfälle in ihrer Fülle sich überschlagen, ehe die Hand des Künstlers sie auszuformulieren vermag. Diese unerschöpfliche Fantasiewelt ist in den ersten Jahren permanente Anregung für den Bildhauer Michael Powolny, dessen Finger mit größter Sensibilität die Figuren Löfflers mit gestalterischer Sicherheit zu Körpern formen und sie mit raffinierten Farbgebungen und selbsterfundenen Glasuren nobilitieren. In den 7 Jahren der Existenz der »Wiener Keramik« entstehen etwa 300 Objekte, von denen Bertold Löffler nur einen kleinen Teil selbst modelliert. Auf dem Programm der »Wiener Keramik« steht das Skulpturale und nicht die Gefäßkeramik im Vordergrund. Jene ist immer nur ­»Vorwand« für die keramische Plastik und tendiert – anders als etwa in Italien bei Domenico Boccarini – von Anfang an zur Abstraktion und Vermeidung des Schwelgerisch-Floralen zugunsten der Geometrisierung. Während in Italien in jener Zeit der

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Kunst – Schritte vom 19. ins 21. Jahrhundert

Abb. 19: Frühling, Michael Powolny 1907, heller Scherben, mehrfarbig glasiert, Marken  : WK, Monogramm MP, H 37 cm, Galerie bei der Albertina, Wien.

technischen Mythologien und sklerotischen Hierarchien die Jahrhunderte alte Keramiktradition eine kreative Neuorientierung bremst, ja durch die im Lande verbreitete Ansicht, dass Keramik ein sterbender Zweig des Kunsthandwerks sei, beinahe verhindert, und Frankreich sich nach der Agonie des »marmornen Heroismus« unter Rodins Einfluss zu einem demütigen Virtuosentum durchringt, findet Michael Powolny in der Keramik zu einer unverwechselbaren Farb- und Formensprache, die in den ersten zwei Dezennien des XX. Jahrhunderts in ihrer Eigenart in Europa als führend angesehen werden kann. Sich in der raffinierten Sinnenwelt Klimts, der konkurrenzlosen Eleganz Hoffmanns, der vielseitigen Genialität Kolo Mosers, der überwältigenden Monumentalität Franz Metzners in einer Sprache zu behaupten, der bis dato in der Kunst nicht viel Gehör geschenkt wurde, ist beachtlich. Sicherlich kann und will sich Powolny anderseits der Stimulierung dieses überreichen, exotischen Gedankengebäudes und dessen Ausformung in höchster Vollendung durch vorgenannte Künstler nicht entziehen. In seinen Frauenfiguren schwingen beispielsweise all die Vor-Stellungen von der an der Jahrhundertwende ins Rampenlicht gerückten »femme fatale« mit, die in Literatur, Musik und bildender Kunst auftritt. Beim Anblick so mancher von

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Michael Powolny (1871–1954)

Abb. 20: Herzdose, Bertold Löffler 1907, weißer Scherben, tlw. reliefiert, Gold- und Buntglasur, H 4,6 cm, D 7,7 cm, Marken  : WK, Monogramm Lö, Privatsammlung Wien.

Powolny geschaffenen Frauenplastik vermeint man das sinnliche Flirren der Musik ­Richard Strauss’ zu vernehmen und wahrscheinlich bedürfte es nur des letzten Zauberwortes, um sie aus ihrer glasierten Starre zum Tanze zu lösen. Puttos, Zwergen und Fabeltieren aus der Märchenwelt Löfflers und Max Mells schenkt Powolny die dritte Dimension in so verlockender Weise, dass man sich mit dem Betrachten nicht zufrieden geben will, sondern sie auch anfassen möchte, um haptisch ihre Gestalten zu erfahren. Mit der Schließung der »Wiener Keramik« im Jahr 1913 und Fortführung der Produktion – z. T. in Form bereits bekannter Objekte in anderen Farbstellungen – durch die »Gmundner Keramik« trennen sich die künstlerischen Wege Löfflers und Powolnys wieder. Bei einem neuerlichen vergleichenden Blick nach Italien ist es interessant festzustellen, dass die führenden dortigen Keramiker – etwa Francesco Nonni – noch in den frühen Zwanzigerjahren hinter der Sprache Powolnys nachhinken. Freilich gibt es auch schon Überraschungen  : So erinnert das Werk Arturo Martinis skulptural b ­ ereits

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Abb. 21: Schreibzeug »Till Eulenspiegel«, 1908, weißer Scherben, grau, tlw. weiß gefasst, 16 x 31 cm, H 17cm, Entwurf Bertold Löffler, Ausführung Michael Powolny, Marken  : WK, Monogramm MP, Privatsammlung Wien.

an eine der herausragendsten Schülerinnen Powolnys  : Vally Wieselthier. Sie löst sich – wie andere Schülerinnen – stilistisch sehr bald von ihrem Lehrer, um eigene progressivere Wege – des Expressionismus – zu gehen. Powolnys weitere stilistische Entwicklung und vielseitig entfaltete Kreativität verläuft in der Folge immer in ruhigen Bahnen. Der Bogen vom Expressionismus bis zur »arte povera« wird von ihm bis zu seinem Tod im Jahr 1954 nicht berührt. Auf diese Weise bleibt ihm der »Leidensweg« eines Medardo Rosso erspart … Unglaublich, dass dem Phänomen Powolny in Wien erstmals im Jahr 1995 Rechnung getragen wurde  : Dieses Verdienst kommt der Galerie bei der Albertina zu, die im Oktober d.J. ihre Pforten zu einer eindrucksvollen Schau über das Schaffen des Künstlers öffnete. Im stilvollen Ambiente fanden sich in einer vom Bildhauer Walter Kölbl gestalteten Ausstellung wichtige Beispiele aus der legendären Zeit der »Wiener Keramik«  : Sowohl erlesene Goldglasuren (Schöne Helena, Aufsatz mit 3 knienden

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Michael Powolny (1871–1954)

Putten u. a.) wie Objekte der arroganten »Schwarz-Weiß«-Epoche (Putto mit Blumen, Mädchen mit Blumengirlanden u. a.) als auch buntgefasste Stücke (DonauweibchenDose, Tänzerinnen u. a.) und unglasierte Keramiken (Flötenputto) gab es zu bewundern. Erfreulich, dass auch unbekanntere Werke, z. T. aus späteren Jahren – etwa Daphne oder Stehender Frauenakt – vertreten waren. Zwei frühe Hoffmann-Bänke luden zum Verweilen und mußevollen Betrachten ein. Ein Spalier aus dünnen Fichtenstämmen erinnerte an ein kultiviertes Garten-Ambiente, was den intendierten Aufstellungsort der großen Keramiken (Frühling, Herbst) verdeutlichte. In den Vitrinen gegenüber wurde hingegen der »Juwelencharakter« der keramischen Kleinplastiken durch entsprechende Beleuchtung noch unterstrichen. Dazu legte kurz vor Ausstellungseröffnung Elisabeth Frottier das Buch Michael Powolny – Keramik und Glas aus Wien 1900–19503 vor  : Mit Akribie verfolgt die engagierte und stets kompetente Kunsthistorikerin 50 Jahre plastischen Schaffens des Künstlers und legt dem Leser in Wort und Bild das Ergebnis jahrelanger Forschungsarbeit vor. Verschollene Objekte und das unbekannte Spätwerk wurden fassbar und vervollständigen das bis dahin nur bruchstückhafte Wissen um diesen Künstler. Ein unentbehrliches Buch über das Gesamtwerk Powolnys mit einem komplett bebilderten Werkverzeichnis.

Anmerkungen 1 2 3

Zuckerkandl, Bertha  : Das Kabarett Fledermaus, in Wiener Allgemeine Zeitung. – Wien  : Jg. 28 Nr. 8871 v. 19.10.1907 S 3f. Vgl. Hevesi, Ludwig  : Altkunst – Neukunst. – Wien  : 1909. Frottier, Elisabeth  : Keramik und Glas aus Wien 1900 – 1950. – Wien  : Böhlau 1990.

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Abb. 22: Ex Libris Sigmund Freud, 1901, Golddruck auf Papier, 14,9 x 10,5 cm, Kunstsammlung und Archiv der Universität für angewandte Kunst Wien.

Those who dream by day are cognizant of many things which escape those who dream only by night. (Die am Tag träumen, kennen viele Dinge, die denen entgehen, die nur nachts träumen) Edgar Allen Poe

Bertold Löffler (1874–1960) Die Sphinx – Beispiele grafischer Assoziationen

Bertold Löfflers Beitrag zur Kunstgeschichte unseres Jahrhunderts ist beachtlich  : In den beiden ersten Dezennien ist er maßgeblich an der Innenraumgestaltung der Vorzeige­ architektur seiner Epoche – Sanatorium Purkersdorf, Kabarett Fledermaus, Palais Stoclet – beteiligt. Er arbeitet dabei mit den Kollegen Josef Hoffmann, Kolo Moser, Michael Powolny, Carl Otto Czeschka u. a. eng zusammen. Malerei und Grafik sind in gleicher Weise in all ihren Spielarten die wesentlichen Schwerpunkte seines künstlerischen Schaffens, in dem es für ihn keinen Unterschied zwischen freier Kunst und Auftragskunst gibt. Wiederholt wendet er sich daher in kritischen Karikaturen gegen Plagiat, Epigonentum und Kommerz, so als ob er Hermann Bahrs, in der ersten Nummer des Ver sacrum formuliertes Manifest (»Unsere Kunst ist kein Streit neuer Künstler gegen die alten, sondern die Erhebung der Künstler gegen die Hausierer, die sich als Künstler ausgeben und ein geschäftliches Interesse haben, keine Kunst aufkommen zu lassen. Geschäft oder Kunst, das ist die Frage unserer Secession«) verdeutlichen wollte. Aus Löfflers daraus ableitbarem ungeteilten Verständnis von freier und angewandter Grafik erklärt sich sein hoher künstlerischer und inhaltlicher Qualitätsanspruch bei seinen unzähligen »gebrauchs«grafischen Arbeiten. Nicht Deskription, sondern Analyse, nicht Illustration, sondern Interpretation reizen Bertold Löffler, um die visualisierte Konnotation des Gedankens zu erreichen, die Falllinie der Idee zum Bild. So setzt Löffler im Ex Libris Siegmund (sic  !) Freud zu Beginn unseres Jahrhunderts Ödipus und die Sphinx gleichsam als eine der markanten Metaphern für seine Zeit, die weit über die tabuisierte Inzestfantasie Freudscher Phänomenik hinausreicht. Sie steht für die kollektive Neurose einer Gesellschaft, die Sigmund Freud in seinem 1904 erscheinenden Werk Zur Psychopathologie des Alltagslebens ausleuchten sollte … Löffler legt mit dieser Darstellung gleichsam den Nerv seiner Epoche und ihrer Perspektiven bloß, durch die sich erst so mancher Komplex entwickeln wird. Im Gegensatz zu Ingres stellt er Ödipus, dem Betrachter zugewandt, der Sphinx nackt gegenüber und hält damit seiner Zeit gleichsam den Spiegel ihrer Scheinmoral vor

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Kunst – Schritte vom 19. ins 21. Jahrhundert

Augen, deren Zensur sich auch Gustav Klimt 1898 beim Plakat der ersten Ausstellung der Secession Theseus und Minotaurus in der Darstellung des Theseus beugen musste. Der Jüngling Ödipus, Symbol für das neue Jahrhundert, wird von Löffler nicht als Held, sondern als Mensch ohne Harnisch, ohne Maske, ohne Verkleidung dargestellt, Prototyp jenes Wesens, das am Morgen auf vier, am Mittag auf zwei und am Abend auf drei Beinen zu gehen pflegt, in den die Stadt Theben – stellvertretend für die neue Epoche – all ihre Hoffnungen setzt. Da Ödipus selbst die Personifikation des Rätsels Lösung der Sphinx ist, bedürfte es keiner weiteren verbalen Antwort auf deren Frage. Mit dieser expliziten Bildsprache greift der junge Grafiker Löffler dem Dramatiker Jean Cocteau (1889–1963) in der Interpretation der antiken Darstellung Hesiods vor. Löffler geht es dabei offenbar um den »fruchtbarsten Augenblick« im Sinne Lessings  : Er thematisiert demnach jenen Moment zwischen der Frage der Sphinx und der Antwort des Ödipus, in dem der Betrachter bereits den Triumph des Ödipus über die Sphinx und damit die thebanische Misere antizipiert. Genau jener Augenblick vor dem Sieg ist aber für Ödipus der Höhepunkt seines Lebensglücks. Diesen Moment des Innehaltens im Stundenschlag verdeutlicht Löffler durch die gelöste Körperhaltung Ödipus’ und dessen nach innen gekehrten Blick der Ruhe. Vorausschauend wird der Preis, der dem Sieger über die männermordende Sphinx winkt – die Herrschaft über Theben – von Löffler gleichsam als geschichtsrelevante fatale Verlockung dargestellt. Freilich stellt der Wanderstab, auf den sich Ödipus stützt, jenes erste Versatzstück des Dramas dar – das auf die schrittweise Erfüllung des schicksalhaften Delphischen Orakelspruchs hinweist – mit dem Ödipus kurz zuvor auf einer Wegkreuzung im Streit mit einem Kutscher unbeabsichtigt einen ihm unbekannten alten Mann tödlich traf, den König von Theben, Laios, seinen Vater … Schließlich enthüllt der zitierte Vers der sophokleischen Tragödie, in goldenen Lettern zwischen beiden Protagonisten »plakatiert«, den Triumph des Siegers als Danaidengeschenk.1 Doch jener Augenblick danach, der Ödipus vor der Welt zum Herrscher und damit zum Gatten Iokastes, der Witwe des Königs Laios, machen wird, scheint noch ungeboren im Schoß der Zukunft geborgen, das Freudengeschrei der Thebaner über seinen (noch nicht als Pyrrhussieg erkannten) Triumph fern. Freilich weiß der Betrachter, dass die Höllenmaschine des Schicksals, gleich der Cocteau’schen Machine ­infernale (»Baujahr« 1934  !) das Räderwerk der unentrinnbaren Vorsehung in Gang setzen und den Helden, dessen Mutter und zugleich Frau und deren zukünftige gemeinsame Kinder in den gierigen Rachen der Geschichte stoßen wird. Es erscheint nicht von ungefähr, dass Bertold Löffler – gerade zur Zeit des Entwurfs dieses Ex Libris für den Vater der Psychoanalyse – vom Wiener Verlag den Auftrag der grafischen Ausstattung der ersten offiziellen Ausgabe von Arthur Schnitzlers Rei­ gen erhält. Das zuvor nur in einem Privatdruck erschienene Werk hatte bereits die Wogen der Scheinmoral hochbranden lassen. Löffler beschränkt sich bei dieser Buch­

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Bertold Löffler (1874–1960)

Abb 23: Kunstschau Wien 1908, Plakat, Farbdruck/Papier, 36 x 50 cm, Kunstsammlung und Archiv der Universität für angewandte Kunst Wien.

illustration – im Gegensatz zur etwa zeitgleich von ihm gestalteten Ausgabe des im Verlag Martin Gerlach erschienenen Bandes Des Knaben Wunderhorn – auf ein sparsames Vokabular, gleich dem Autor, der durch knappe Dialoge die Verdichtung des Augenblicks bewirkt. So wählt er z. B. für das Titelblatt des Reigen einen geometrisierenden Spiegel aus zwei Typen von Dreiecken, die im ersten Moment Distanz zum Inhalt suggerieren, jedoch bei näherer Betrachtung zu mehrfachen erotischen Deutungen inspirieren. Jedenfalls stellen sie Codes für das Karussell erotischer Egoismen am Jahrmarkt der Leidenschaften dar, die das Dreiecksverhalten der zehn Protagonisten symbolisieren. Bertold Löffler verdeutlicht dabei die Matrix für die von A ­ rthur Schnitzler aufgezeigte doppelte Moral einer Epoche, die auf Lustgewinn abzielt, ohne es sich und der Welt eingestehen zu wollen, und diesen mit dem Etikett »Liebe« versieht, um ans Ziel der Begierde zu gelangen. Auch der Index mit der Auflistung der zehn Akteure ohne Namen ist jeweils mit zwei senkrechten geometrisierenden Schmuckleisten aus Dreiecken – gleichsam als Rahmen für die Geometrie der Sinne – akzentuiert und fasst diese sozialkritische Parabel grafisch adäquat. Die Vierecks-DreiecksOrnamentik der Paginierung zieht sich wie ein symbolischer (e)rot(i­sch)er Faden durch den Text. Jeder Pas de deux der Leidenschaft wird mit demselben Rosendekor-

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Kunst – Schritte vom 19. ins 21. Jahrhundert

Abb 24: Ecce Homo, um 1918, 37,5 x 28,5 cm, Kohle, Farbkreide/ Papier, Kunstsammlung und Archiv der Universität für angewandte Kunst Wien.

Zwischentitel als Schlüssel der Austauschbarkeit des prätentiös Unaustauschbaren eröffnet und entlarvt jenen als Wiederholbarkeit der geheuchelten Einmaligkeit. Auch in Des Knaben Wunderhorn bedient sich Löffler bei der Umrahmung des Textes von Guten Abend, gute Nacht  ! Mit Rosen bedacht … nicht zufällig eines Heckenrosendekors  : Sind es hier zarte Ranken in Anspielung auf das Heidenröslein, die dessen paradiesische Unschuld symbolisieren, die der wilde Knabe brechen wird, so sind die Zwischentitel in Arthur Schnitzlers Reigen jeweils von stereotypen üppigen Rosenknospen – Symbol für das Yin und Yang unverhüllbarer Nacktheit des Wollens – flankiert. Dabei verdeutlicht der beschnittene Rosenstamm all die längst verblühten Rosen von einst, während die späten Knospen kurz vor dem Aufspringen ihren intensiven Duft (grafisch mittels dreier Wellenlinien zwischen den Rosen veranschaulicht) – gleich einem sinnesbetörenden Aphrodisiakum verströmen. Unter jeder Szene zieht Löffler in der Form desselben Eulenspiegel-Symbols – der Schellen – den optischen Schlussstrich und demaskiert mit diesem sarkastischen Symbol – ebenso wie der vorstehende Dialog – Schnitzlers veranschaulichte Schattenbilder dieser »Beziehungen«  : Einsamkeiten. Im selben Jahr entwirft Löffler ein Arthur Schnitzler – Ex Libris, das mit der Figur des Gelehrten (Paracelsus  ? Erasmus  ?) den Dichter symbolisiert, der gleich einem Picador mit einem Pfeil den, einem Stier in Haltung und Gestalt nicht unähnlichen,

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Bertold Löffler (1874–1960)

Abb 25: Mädchenkopf (Tochter Lydia Löffler), um 1919, Kohle/Papier, 24,4 x 19,4 cm, Privatsammlung Wien.

Teufel am Nacken verwundet, ihn gleichsam zur Ader lässt, um dessen Blut in seinem Tintenfass aufzufangen und mit seiner angedeuteten Feder so mancher »böser Dinge hübsche Formel« auf Papier zu bannen. In den Folgejahren sollten sich die Wege Löfflers und Schnitzlers – direkt oder indirekt – noch mehrfach kreuzen. So eröffnet der Wiener Verlag 1905 in der »Bibliothek moderner deutscher Autoren« eine zwanzigbändige Serie mit Arthur Schnitzlers Novellenband Die griechische Tänzerin (Umschlagentwurf der broschierten Ausgabe Josef Engelhart), für den Bertold Löffler sowohl den gleichbleibenden blau/schwarzen Doppeltitel als auch den sonstigen Buchschmuck gestaltet. (Da Arthur Schnitzler spätere Publikationen aus Gründen des Copyright fast ausschließlich dem S. Fischer – Verlag Frankfurt anvertraut, finden sich keine weiteren Ausgaben des Autors, an denen Löffler grafisch beteiligt ist.) 1910 erhält Arthur Schnitzler von Marianne Benedikt (1848–1930) eine graue Till Eulenspiegel-Schreibtasse der »Wiener Keramik«, die zwar mit M.P. (Michael Powolny) bezeichnet ist, für deren Entwurf aber nicht nur laut autobiografischen Aufzeichnungen Löfflers und den Ausführungen Rochowanskis in seinem Werk Wiener Keramik aus 1923 – sondern auch aus formalen Überlegungen – Bertold Löffler verantwortlich zeichnet. Der Stempel M.P. beweist lediglich, dass die Till EulenspiegelSchreibtasse – wie viele andere Keramikentwürfe Löfflers – von Powolny ausgeführt

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wurde. (In diesem Zusammenhang sei auf die Eulenspiegel-Darstellung bei Löfflers Entwurf für die Einladungskarte des Maskenfests des Wiener Schubertbundes aus 1901 oder auf die mit dieser Keramik etwa zeitgleiche Eulenspiegel-Maske auf Löfflers Plakat für das Kabarett Fledermaus verwiesen). Den Erhalt dieses Geschenks vermerkt Arthur Schnitzler am 19. Oktober 1910 in seinem Tagebuch. (15 Jahre danach wird er diese Schreibtasse dem »Mädchen mit den dreizehn Seelen«, Hedy Kempny (1895–1986), seiner engsten Vertrauten der späten Jahre, verehren.) Wie eine weitere Eintragung Arthur Schnitzlers in seinem Tagebuch beweist, interessierte sich der Autor auch später für die Arbeiten Löfflers. So etwa besucht der Dichter laut Tagebuch den Maler am 15. April 1914 in seinem Dürnsteiner Atelier und lässt sich die neuesten Wachaubilder zeigen. 1912 erhält Bertold Löffler den Auftrag, im großen Saal des Hotel Pitter, dem »Salzburger Volkskeller« (Einrichtung Wiener Werkstätte, vorwiegend Josef ­Hoffmann) einen Wandbildzyklus in Secco-Technik zu schaffen. Im Falle des Salzburger Volkskellers sind Bertold Löfflers Wandmalereien, die Figuren aus der Mythenund Sagenwelt thematisieren und mit der Geschichte Salzburgs verknüpfen, originär. Kunstzeitschriften widmen diesem Interieur große Beiträge, in denen so manche ­Löfflers Stil mit dem Ferdinand Hodlers vergleichen. Max Mell (1882–1979) ist von diesem Bildepos so inspiriert, dass er dieses – gleichsam als literarisches Pendant zu ­Mussorgskis Bilder einer Ausstellung – in Verse fasst, die er der extravaganten Frau Löfflers, M ­ elitta geborene Feldkirchner, widmet. Die geplante Drucklegung der Reproduktionen des Bilderzyklus mit Max Mells Text gedeiht jedoch nur bis zum Bürsten­ abzug, scheitert dann aber letztlich infolge der Kriegsereignisse. Jahre später wird ­Löffler die grafische Gestaltung des Apostelspiels seines Freundes Max Mell anvertraut … Gar manchen Zeitgenossen begleitet Löffler mit seinem Stift über Jahre – etwa Peter Altenberg (1859–1919) – in grafischen Zitaten, Karikaturen, Porträts, Plakat­ ankündigungen. Dabei weiß er die »Betroffenen« oft zu überraschen. So geschieht es auch am 19. Oktober 1907 im neuen Kabarett »Fledermaus«, das gerade seine Pforten öffnet. Das von Josef Hoffmann gestaltete neue Etablissement wird von Kritik und Publikum enthusiastisch gefeiert. Wer knapp vor Beginn des Abendprogramms kam und durch Peter Altenbergs Prolog – den Lina Loos vorträgt – und Gertrude Barrisons Darbietung des »Tanzes der Masken« aus Altenbergs Feder eingestimmt wurde, hat erst in der Pause Gelegenheit, den Barraum mit der von Bertold Löffler und Michael Powolny kreierten keramischen Wandgestaltung mit Tausenden handgefertigten und bemalten, zum Teil reliefierten Majolikaplatten unterschiedlicher Größe auf sich wirken zu lassen. Wie mag wohl Peter Altenberg gestaunt haben, als er in diesem »keramischen Bilderbogen« zwischen einem »Amor venator« und Harlekin sein von Löffler geschaffenes Konterfei entdeckte, das von der Barwand in die Runde der Gäste blickte.

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Bertold Löffler (1874–1960)

Abb 26: Melitta Löffler, um 1924, Öl/Lw, 50 x 30 cm, Privatsammlung Wien.

Bertold Löfflers zahlreiche Porträts von Peter Altenberg – man denke dabei z. B. an das zu dessen 50. Geburtstag geschaffene Blatt – bis zum Plakat anlässlich der 1919 von der Secession im Konzerthaus veranstalteten Gedenkfeier, bei der Gertrude ­Barrison aus Altenbergs Werken las, zeigen, wie sehr er dieses Original des einstigen »Jung-Wien« schätzte. Bei der Durchsicht von Grafiken Löfflers fällt auf, wie spontan der Künstler auf aktuelle Vorgänge kritisch reagiert und in der Lage ist, diese zu hinterfragen. Hatte er aus seinem einjährigen Militärdienst im 9. Infanterieregiment (1895–1896) Zeichnungen von Gesichtern, Typen und Dörfern aus Randregionen der Monarchie zurückgebracht, so beschäftigt sich Löffler in der Zeit seines Kriegsdienstes (1915–1918) anfangs gleich einem Kriegsberichterstatter mit der Darstellung von Kriegsschiffen, Lagerszenen und Truppeninspektionen durch Erzherzog Karl, dem nachmaligen Kaiser. Zur Verdrängung der ernsten Eindrücke entspringt seiner Feder oder dem Pinsel auch so manche Karikatur. Wiederholt skizziert er dabei das Bild des naiven, belächelten Tölpels, der durch die Umstände zur Uniform verurteilt wurde. Man könnte glauben, in diesen Darstellungen Roda Rodas Johann Kiefer oder Jaroslav Hašeks Braven Sol­ daten Schwejk vor Augen zu haben. Als Erzherzog Karl das umkämpfte Erbe Kaiser

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Kunst – Schritte vom 19. ins 21. Jahrhundert

Abb 27: 10-Schillingbanknote/Österreichische Nationalbank, 1926, 12,5 x 7 cm, Kunstsammlung und Archiv der Universität für angewandte Kunst Wien.

Franz Josephs antritt, entsteht jenes große Blatt AUSTRIA ERIT IN ORBE ULTIMA, bei welchem Karl I. als neuer oberster Kriegsherr von Lorbeer umgeben dargestellt wird. Der Blick des Kaisers ist in die Ferne gerichtet, in die Ferne jener Zeit, die Arthur Schnitzler kurz zuvor in seinem Notat Und einmal wird der Friede wiederkehren von den Staatsmännern eingefordert hatte. In Löfflers Darstellung ist der Jubel der Menge verstummt, und die resignative Stille suggeriert – gleich einem Standbild eines Stummfilms – das visionäre Ende des Jahrhunderte alten Wahrspruches Friedrichs III., das schneller als erwartet hereinbricht  : Am Ende des Ersten Weltkriegs gebietet Löfflers expressionistisches Blatt Ecce Homo die selbe Ehrfurcht wie einst der von Pontius Pilatus der Menge vorgeführte gegeißelte Menschensohn. Ein geschundener Soldat im Stacheldrahtgewirr. Symbol für die Geißel einer Generation. Ein stummer Schrei der Anklage der Entrechtung, Entwürdigung, Entmenschung. Das namenlose Leid. Diese Eindrücke werden Löffler nicht mehr loslassen. Noch 1932 sendet er Fritz Kreisler (1875–1962), mit dem ihn eine langjährige Freundschaft verbindet, auf dessen Ersuchen eine Reihe von Kriegsdarstellungen nach Berlin, die den Komponisten tief beeindrucken.

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Bertold Löffler (1874–1960)

Abb 28: Strandweg in Dürnstein, 1925, Öl/Lw, 55 x 43 cm, Privatsammlung Wien.

Bei Durchsicht der Arbeiten der frühen 20er-Jahre drängt sich die Frage auf, ob für Löffler die Teilnahme an unzähligen Grafikwettbewerben in Frankreich, Deutschland, Jugoslawien, der Tschechoslowakei, der Schweiz, Ungarn, England, Polen, Schottland, Nord- und Südamerika eine Art Kompensation für den eingeschränkten Lebensraum, den Untergang des so kritisierten und doch als selbstverständlich angesehenen Vielvölkerstaates, den Verlust einer kosmopolitischen Realität, die Zerschlagung eines Jahrhunderte alten kulturellen Schmelztiegels darstellt. Bedeutet nicht andererseits Löfflers verstärkte Designertätigkeit für Kinderspielzeug (z. B. das ab 1921 von der Wiener Werkstätte vertriebene Löfflé) nicht den Blick zurück in die verlorene Kindheit, die Sehnsucht nach einer heilen Welt  ? Ist nicht schließlich die verstärkte Hinwendung Löfflers zur Landschaft der Wachau eine Art von Verdrängung, von innerer Emigration in biedermeierliche Idylle  ? Dafür würde auch nicht unwesentlich Löfflers Entwurf für die hochformatige 10-Schillingnote der Österreichischen Nationalbank aus 1926 sprechen, gerade ein Jahr, nachdem Benito Mussolini zum »Duce del Fascismo« avanciert war … Während Kafkas soeben erschienener Roman Das Schloss – posthum von Max Brod veröffentlicht – nicht nur Menschen der Welt von gestern betroffen macht, liefert Bertold Löffler mit dieser Banknote2 seinen Millionen Mitbürgern nicht die Wiedergabe eines großartigen Gebäudes, nicht die Darstellung eines Genius österreichi-

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scher Kulturgeschichte, noch die eines Symbols der jungen um Profilierung ringenden Republik, sondern einen Blick auf das sagenumwobene Dürnstein und dessen Ruine ins Haus, in der einst … ja, ja, die Geschichte von Richard Löwenherz und dessen wundersamer Befreiung durch den Sänger Blondel … Merkur, als Schutzgott des Handels, ist hier nicht wie in den Anfängen des Jahrhunderts als frecher, pummeliger Knabe, dem der Schalk im Nacken und der Flügelhelm locker sitzt, dargestellt, sondern feingliedrig, edel, Vertrauen einflößend … Nun, dies verwundert nicht, wenn man erfährt, wer sich hinter dem aparten Modell dieser Gestalt verbirgt  : Löffler wird auf der im Lande am weitest verbreiteten Grafik sozusagen »privat«, indem er Merkur die Gesichtszüge seiner Frau Melitta verleiht, die er in diesen Jahren besonders oft porträtiert, nicht selten mit Hut à la Wiener Werkstätte, der in seiner Form dem geflügelten Helm Merkurs beinahe gleicht … Unwillkürlich muss man bei diesem Stimmungsbild an jene Schlussverse Friedrich Schillers in seinem Antritt des neuen Jahrhunderts denken, die so gar nicht Sturm und Drang, sondern biedermeierliche Melancholie atmen und die gleiche Saite anschlagen  : »In des Herzens heilig stille Räume Musst du fliehen aus des Lebens Drang  ! Freiheit ist nur in dem Reich der Träume, Und das Schöne blüht nur im Gesang.«

Doch Löfflers zunehmende innere Hinwendung zu »neo-biedermeierlicher« Thematik in den späteren Zwanzigerjahren bedeutete die Abwendung von den Tendenzen der internationalen Kunstentwicklung. Seine in dieser Zeit bekundete wachsende Sympathie für die politische Entwicklung Deutschlands (laut späterer eigener Behauptung Mitglied der NSDAP ab ca. 1929)3 bewirkte 1935 im österreichischen Ständestaat nach Löfflers Suspendierung schließlich seine vorzeitige Pensionierung als Lehrer der Kunstgewerbeschule. Im selben Jahr gestaltet er in Trautmannsdorf a. d. Leitha die Gedenktafel und das Gedächtniskreuz für den im nationalsozialistischen Juliputsch ermordeten Bundeskanzler Engelbert Dollfuß … Nach Machtergreifung Hitlers in Österreich verpflichtete man Löffler zwar wieder zu einer Unterrichtstätigkeit an der Wiener Frauenakademie, jedoch wurde er trotz Anbiederung an die verordnete Ästhetik der Staatskunst enttäuscht, da ihm letztlich die erhoffte, künstlerisch hochrangige Anerkennung versagt blieb.

Anmerkungen 1 Sigmund Freud Ex Libris, Zitat aus Sophokles König Ödipus, Vers 1525, Chor  : ὃς τὰ κλείν’ αἰνίγματ’ ᾔδει καὶ κράτιστος ἦν ἀνήρ, (Der [i.e. Ödipus] die Rätsel zu lösen wusste, und ein sehr mächtiger Mann war).

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Bertold Löffler (1874–1960)

2 Mit dieser Banknote setzt Löffler übrigens die Reihe prominentester Entwerfer österreichischer Banknoten aus dem Haus am Stubenring 3 wie Josef Storck, Gustav Klimt, Kolo Moser, fort. Nach ihm sollte prominenten Schülern Löfflers wie Vinzenz Gorgon, Georg Jung, sowie anderen Absolventen der Kunstgewerbeschule oder deren Nachfolgeinstitution z.B. Remigius Geyling, Johann Salbaba, Fritz Zerritsch, Rupert Franke, Alfred Nefe, Roman Hellmann, Leo Frank, Bartolomäus Stefferl und Heimo Steinböck die Gestaltung österreichischer Banknoten anvertraut werden. 3 Löffler, Bertold  : handgeschriebener Lebenslauf 1938. – Österr. Staatsarchiv, Allgem. Verwaltungs­ archiv, Akt 130365/1938.

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Abb. 29: Lucio Fontana-Ausstellung, Hochschule für angewandte Kunst, 1992, Plakat »Tagli«, 84 x 59,5 cm, Kunstsammlung und Archiv der Universität für angewandte Kunst Wien.

Die Kreativität des Menschen ist das wahre Kapital. Joseph Beuys

Lucio Fontana (1899–1968) Der Goldene Schnitt des XX. Jahrhunderts Eine Wiener Hommage

Im ältesten Teil Wiens gießt die Augustsonne ihr gleißendes Licht auf die jahrhundertealte Dachlandschaft des Heiligenkreuzer Hofes, dessen Kernbau aus der Babenbergerzeit stammt. Bereits nach wenigen Schritten durch den ehemaligen Garten klingt die Stimmung der Gartenmauer mit ihren hochbarocken Skulpturen aus der Werkstatt Giovanni Giulianis nach und vermag einen auf die klösterliche Kühle einzustimmen, die einen beim Betreten des Gebäudes umfängt. Das noch vor Augenblicken genossene Spiel des Flimmerns der Luft über dem irisierenden Ziegeldach als Dialog zwischen Natur und »Archi-Tektur« kippt im Stiegenhaus zum negativen Nachbild. Beim Eintritt in die Ausstellungsräume ist der Blick »geläutert« und somit vorbereitet auf das Erlebnis der puren Sprache Lucio Fontanas. Gerade in der Zeit der Sommerpause setzt die Hochschule für angewandte Kunst in Wien in ihrem Ausstellungszentrum mit dieser anspruchsvollen Schau einen markanten Akzent. In der sich auf das Wesentliche konzentrierenden, intimen, zugleich ehrgeizigen Ausstellung – übrigens der ersten, die sich auf Wiener Boden diesem Künstler widmet – gewinnt der Besucher Einblick in die Welt des »Spazialismo« Fontanas und somit jenes Raumverständnisses, das nicht unerheblich auf Komponenten aus den argentinischen Jahren Fontanas basiert. So gesehen ist der Hochsommer der ideale Moment, dem Schöpfungsvorgang Fontanas nachzuspüren und jene Elemente in einem, dem Entstehungszeitpunkt der Werke ähnlichen Klima – das einst für Fontana elementar war – zum Mitschwingen zu bringen, die in der sonstigen relativen »Kühle« unserer Breitengrade starr bleiben müssten. Die gezeigten Werke bringen »Zitate« aus dem überreichen Schaffen Fontanas – der nicht nur Maler und Bildhauer, sondern auch Keramiker, Lichtkünstler, Raumspezialist und Erfinder war. Alle gezeigten Arbeiten stammen aus den letzten 20 Schaffensjahren, in denen auch die fundamentalen theoretischen Auseinandersetzungen Fontanas über kreative Vorgänge ausformuliert wurden. Ausgehend von der Periode des Manifiesto Blanco (Buenos Aires 1946)1, das die Gedanken des Futurismus aufgriff und eine Synthese von Malerei, Bildhauerei und Dichtung sowie eine Abkehr von herkömmlichen Materialien postulierte, wurde der imaginäre Kosmos Fontanas

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Kunst – Schritte vom 19. ins 21. Jahrhundert

Abb. 30: Concetto Spaziale, 1954, 25 x 31,5cm, Öl, Graffitti, Löcher/Terracotta unglasiert, Foto Dorotheum Wien, Auktionskatalog 25.11.2015.

von den »Schülern« des Künstlers »kodifiziert«. Diesem Manifest sollten drei weitere Manifeste folgen. Visionär heißt es bereits 1949 – vor dem Aufbruch des Menschen in den Weltraum zu Beginn der 1960er-Jahre – im Zweiten Manifest  : »wir Raumkünstler sind unseren Städten entflohen, haben unsere Schale aufgebrochen und unsere physische Hülle verlassen. Wir haben uns selbst von oben betrachtet und von Raketen aus die Erde fotografiert.«2 Mit den Manifesten seines Movimento spaziale (Raumkunst) vertrat Fontana ab dem Jahr 1947 das Abgehen von allen statischen Kunstgattungen, die durch eine dynamische Kunst zu ersetzen wären. Die Wirkung des Kunstwerkes sollte allein der Vorstellungskraft des Betrachters entspringen, indem es »von aller malerischen und propagandistischen Rhetorik« befreit werden müsste. Der Raum sollte fortan sowohl in der Malerei als auch in der Skulptur als ein »sich frei entfaltendes, unbegrenztes Kontinuum« betrachtet werden. Ab dieser Periode nennt Fontana seine Arbeit Con­ cetto spaziale (Raumkonzept). 

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Lucio Fontana (1899–1968)

Abb. 31: Concetto spaziale, 1952, Öl, Flitter/Leinenpapier, 79,2 x 79,2 cm, Sammlung Fondazione Lucio Fontana, Milano.

Die gezeigten Exponate veranschaulichen die Gewichtung der Gestik Fontanas – abgesehen von Tagli (Schnittbildern) und Disegni (Zeichnungen) – in den Pietre (Steinchencollagen), Barocchi, Inchiostri (Tintenarbeiten) und Olii (Ölbildern). Im Hinblick auf die bekannten Schwierigkeiten, Werke dieser Art und Bedeutung in einer Ausstellung aus verschiedenen Ländern zusammenzuführen, kommt diesem Vorhaben besondere Bedeutung zu. Es ist sehr zu begrüßen, dass öffentliche und private Sammlungen in Milano, Trento, Wien, Kaiserslautern, Leverkusen, Köln, Bludenz, Stockholm u. a. ihre Depots zu diesem Zweck öffneten. Besonders freut mich, dass sich die Witwe des Künstlers – Teresita Fontana – im Laufe meines Besuches in ihrem Mailander Domizil dazu bewegen und begeistern ließ, etwa 25 Werke ihres Mannes für die Wiener Ausstellung als Leihgabe zur Verfügung zu stellen.

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Beim Betrachten der gezeigten Zeichnungen Fontanas drängen sich einem automatisch jene zwei Fragen auf, die sich Marco Meneguzzo stellt  : »Was ist die Zeichnung Fontanas  ? Was bedeutet die Zeichnung für Fontana  ?« Sehr schnell wird einem klar, dass jedes Zeichen Fontanas auf Papier von einem »Konzept« im weiteren Sinn abgeleitet ist, sei es von einem Ideenkomplex, sei es aus dem Unterbewusstsein, wie es erstmals im Manifiesto Blanco proklamiert wird, welches nicht nur ein ästhetisches, sondern auch ein soziales Bekenntnis darstellt, das aus der damaligen Entwicklung Argentiniens vom Agrarland zum Industrieland erklärbar ist. (Übrigens ist es interessant, dass in diesem Manifest immer nur vom Unterbewussten und nicht vom Unbewussten die Rede ist. Die Thesen gipfeln in dem Satz »die Vernunft ist nicht schöpferisch. Bei der Schaffung von Formen ist ihre Funktion jener des Unterbewussten untergeordnet.«) Dies gilt auch für alle anderen Ausdrucksformen Fontanas. Die Beschränkung auf die simple Beschreibung seiner Kunst als »visualisierbares Ergebnis als diachrone Folge von Gedanke und Umsetzung desselben durch die Hand« würde das Wesen des Schöpfungsaktes Fontanas nicht erfassen. Das, was wirklich für Fontanas Schaffen charakteristisch ist, ist die absolute Gleichzeitigkeit von kreativem Gedanken und Ausführung desselben. Sie setzt zuweilen eine brutale Unmittelbarkeit im wahrsten Sinne des Wortes voraus (Meneguzzo spricht in diesem Sinne sehr richtig von der denkenden Hand Fontanas  : »Dem Geist oder dem Instinkt der Hand den Vorzug einzuräumen, hieße somit, die Eigenart des Künstlers in ihrer Gesamtheit leugnen. So ist die Geste Fontanas nicht als Teil der kodifizierten Trinität des Informel der Fünfziger Jahre zu sehen, das das Zeichen und die Materie als die anderen zwei Gottheiten anerkennt, sondern als Wort, das die Idee umschließt, wie der Wille die Handlung, vergleichbar mit einem Tanzschritt, der nur im Augenblick des Tuns existiert«).3 Was sonst wäre – etwa an den Schnittbildern – zu schätzen, wenn nicht die Fähigkeit Fontanas, uns den glücklichen Moment des »goldenen Schnitts« – ohne jegliche Möglichkeit nachträglicher Korrektur – vor Augen zu führen, indem er uns zu Zeugen seiner »Intervention« im wahrsten Sinn des Wortes, d. h. des Eindringens in Farbe und Material des Bildträgers macht, um für alle Zeiten die Einmaligkeit seines jeweiligen Tuns als unauslöschliches Zeichen gesichert zu wissen  ? Nur dadurch werden – wenn auch wichtige – Aspekte wie Projekt, Modell, Komposition und Qualität akzessorisch. In dem Augenblick, in dem die kreative Spur zur sichtbaren Erinnerung wird, »konkretisiert sich durch den Künstler ein Teil des menschlichen Raumes«. Seine raumbezogenen Installationen, z. B. sein Ambiente nero von 1948/1949, sind als die ersten Environments der modernen Kunst anzusehen. Schließlich bestätigen seine avantgardistischen Arbeiten mit Neonlicht-Kuben (Cubi di Luce) aus den späten Schaffensjahren seinen Vorreiterrang. Nur wenigen Künstlern der Nachkriegszeit kommt eine ähnlich führende Rolle zu. Vielleicht könnte man Joseph Beuys zu

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Lucio Fontana (1899–1968)

Abb. 32: Neon-Lichtskulptur für die IX. Triennale di Milano 1951, fotografisch »konjugiert« 2010 im Museo del Novecento/Milano mittels langer Verschlusszeit bei sehr kleiner Blende von Denis Džambić.

diesen wenigen zählen – wie es nicht wenige Kenner tun – auch wenn Fontana sich niemals einer Ideologie verschrieb.

Anmerkungen 1 Fontana, Lucio  : Manifesto Blanco. – Buenos Aires  : N.A. 1946. 2 […]»… Noi artisti spaziali, siamo evasi dalle nostre città, abbiamo spezzato il nostro involucro la nostra corteccia fisica e ci siamo guardati dall’alto, fotografando la terra dai razzi in volo« 3 Meneguzzo, Marco  : Il disegno come gesto – Fogli di Lucio Fontana.  In  : Da Modigliani a Fon­ tana. – Milano  : Mazzotta 1991.

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Abb. 33: Schweben, 1980, Öl/Lw, 95 x 119 cm, (Ausschnitt), Privatsammlung Wien.

Les gens ont des étoiles qui ne sont pas les mêmes. Pour les uns, qui voyagent, les étoiles sont des guides. Pour d’autres elles ne sont rien que des petites lumières. Pour d«autres, qui sont des savants, elles sont des problèmes. (Die Leute haben Sterne, aber sie sind nicht die selben. Für die einen, die reisen, sind die Sterne Führer. Für andere sind sie nichts als kleine Lichter. Für wieder andere, die Gelehrten, sind sie Probleme.) Antoine de Saint-Exupéry, Le Petit Prince

Grete Rader-Soulek (1920–1997) Ein verbotener Blick ins Auge Picassos

Pablo Picassos Auge auf der Titelseite einer Zeitschrift – ein »verbotener« Blick in dieses Auge, genügt der Studentin Grete Rader, um zu wissen, was Kunst der Gegenwart sein könnte. Man schreibt das Jahr 1943 … Diese Entdeckung in Zeiten der avantgardistischen Prohibition, der verordneten Stagnation des Denkens und Gestaltens unter dem Diktat naturalistischer Ästhetik, macht auf Grete Rader nach fast sechsjähriger Geschmackszensur tiefen Eindruck, woran auch die heftige Diskussion der Assistenten Professor Haerdtls, die sich an der »Entartung der Kunst Picassos« entzündet, nichts zu ändern vermag. Noch beschäftigt sich die junge Meisterschülerin mit Innenraumgestaltung, Textil- und Spielzeugentwürfen, doch die Neugierde auf die malerisch-avantgardistische Sehweise der Realität ist in ihr geweckt. Zunächst begnügt sich Rader für einige Jahre mit kleinstformatigen Annotationen malerischer Einfälle. Der konsequente Einstieg in ihr malerisches Schaffen ist erst zu Beginn der 50er-Jahre anzusetzen. Das Frühwerk Rader-Souleks stellt sich als eine interessante Orientierungsphase dar, die von phantastisch-realistischen Darstellungen bis zu düsteren Bildstrukturen in der Art von Pierre Soulage reicht. Die Farbgebung bleibt für beinahe ein Jahrzehnt verhalten, wobei häufig ein Farbton dominiert. Mitte der 60er-Jahre werden Kon­ traste und Konturen zusehends klarer und die Farbgebung sehr lebendig. Aus dieser Zeit gibt es sogar einige wenige Bilder, die sehr »wienerisch« sind, welche Motive reflektieren, die einst Gustav Klimt bei seiner partiellen Abwendung vom Räumlichen in seinen geometrisierenden Flächentexturen einsetzte, Strukturen, die eine Reihe späterer Künstler – wie Friedrich Berzeviczy-Pallavicini oder Friedensreich Hundertwasser – nachhaltig beschäftigten. Andere Bilder Rader-Souleks aus den späten 60er-Jahren zeigen in der Formensprache Ähnlichkeiten mit Andy Warhol (z. B. bei Ovalmotiven).

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Kunst – Schritte vom 19. ins 21. Jahrhundert

Abb. 34: Karibik, 1982, Öl/ Lw, 119 x 95 cm, Privatsammlung Wien.

In den 1970er-Jahren sind die Arbeiten der Künstlerin besonders dem Seriellen verpflichtet. Da gibt es zunächst die »Soldatenbilder», »Blütenbilder«, »Knöpfebilder«, »Sternbilder«, »Früchtebilder«, »Kopfbilder« … Diese »Serien« sind horizontal oder vertikal in ein-, zwei- oder mehrreihige Kategorien gegliedert, auf die Kompositionen mehrzeiliger Bandmotive folgen, die an Makroaufnahmen von Textilstrukturen erinnern. Diese sind Überleitung zu Arbeiten, welche von Patchwork-Mustern inspiriert sind. Doch Rader-Soulek wird hierbei nie streng geometrisch, sondern hält stets mit ihrer variablen, gewollten Unpräzision vom »Pattern-Painting« einer Kim MacConnel oder von der konstruktiven Perfektion der »Pop-art« etwas Abstand. Zu Beginn der 80er-Jahre beschäftigt sich Rader-Soulek in einem Zyklus großformatiger Bilder mit phytogenen Elementen, wobei ihr Farb- und Formenvokabular mit dem Fauvismus von Henri Matisse der letzten Jahre sympathisiert. In diesen Werken ist die Farbpalette oft subtropisch-sinnlich, aus denen afrikanische, lateinamerikanische oder karibische Stimmungen aufsteigen. Als emotionelle Antipoden umfasst der Zyklus Bilder in den Farben nordisch verhaltener Kühle oder arktischer Einöde.

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Grete Rader-Soulek (1920–1997)

Abb. 35: Nordkap, 1982, Öl/Lw, 119 x 95 cm, Privatsammlung Wien.

Die spätere Zeit ist durch eine Hinwendung der Künstlerin zu einer gewissen Strenge gekennzeichnet, die sich in ihren Ausdrucksformen der Huldigung von Geometrismen eines Max Bill oder eines Josef Albers nähert. In der Rückschau auf das Werk Rader-Souleks, das etwa 500 große Ölbilder und 1500 kleine Ölskizzen umfasst, wird deutlich, dass sie sich im Laufe ihres 40-jährigen Schaffens nie einer Stilrichtung oder Malweise ganz verschrieb, sondern stets autark blieb. In all den Jahren hält sich Rader-Soulek weder an einen Kanon der Fläche, geometrischer Paradigmata oder chromatischer Kontrapunktik. Die Unbeschwertheit in der Kombination von intellektueller Raffinesse und archaischer Sinnlichkeit, unverhohlener Elementarität und radikaler Reduktion wirkt bei ihr immer spontan, spielerisch, aleatorisch und dabei doch immer von einer eigengesetzlichen Ästhetik durchdrungen. Dabei stellen ihre Kompositionen innere, subjektiv reale Welten dar, optische Logarithmen von Dingen, Landschaften leidenschaftlicher Impulse, Zeitraffer von Dramoletten oder Zeitlupen serener Augenblicke, die eine ungemeine Dichte ihres vehementen, stets passionellen Kunstwollens verraten, und gleichsam das Spannungsfeld des Wissens und Fühlens als ekstatisches Stenogramm von Neigungen – Zuneigungen und Abneigungen – veranschaulichen. Bei so manchen Bildern Rader-Souleks führt gerade die Polarisierung von Farbe und Form im Schnittpunkt des

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Kunst – Schritte vom 19. ins 21. Jahrhundert

Abb. 36: Aus der Serie »Volksgarten«, 1986, Aquarell, Bleistift/Papier, 25 x 42 cm, Privatsammlung Wien.

Wollens zu einer Harmonisierung in atonaler Ausgewogenheit. Wenn man RaderSouleks virtuellen Realismus akzeptiert und sich auf ihre Wirklichkeit einlässt, erschließen sich einem ihre Welten narrativer Beschaulichkeit, nachdenklicher Verschlossenheit, melancholischer Reflexion, sehnsüchtiger Zuwendung, verhaltener Ironie, schmunzelnder Leichtigkeit, lachender Lebensfreude und flammender Leidenschaft. Begibt man sich auf eine Expedition in diesen Kosmos, vermag das Auge hinter dem ersten, realen Eindruck eine Reihe von Mikrokosmen zu entdecken, die die scheinbare Simplizität als verborgene Komplexität verraten. Der Versuch, Rader-Soulek in eine Kategorie beschriebener Kunstrichtungen einzuordnen, muss fehlschlagen, da die Künstlerin die Orthodoxie überkommener Ästhetizismen seit jeher ablehnt, ja sich ihnen gleichsam verweigert. Der Gedanke, ihre Malerei als »dekorativ« einzustufen, wie dies einmal geschah, nur weil ihr Duktus vorhandenen Schemata nicht subsumierbar ist, würde bedeuten, nicht einmal einen Versuch der Dechiffrierung ihrer Handschrift unternommen zu haben, und am Sinnhaften der Bildwelt der Künstlerin völlig vorbeizugehen. Der Schlüssel zu dieser Welt liegt in unsere Bereitschaft, in die Dinge hineinzusehen und ihr auf den Spuren zu den Reichen Exupérys, Morgensterns, Pergauds und so manch anderer Poeten zu folgen, sich ihren Jahreszeiten von Stimmungen auszusetzen und den Flussläufen der Fantasien bis zur Quelle unserer Kindheit nachzugehen, einen Flug bis zu den Sternen unserer Sehnsüchte zu wagen oder in die Tiefen des Unterbewussten vorzudringen.

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Grete Rader-Soulek (1920–1997)

Selten gewährt Rader-Soulek Einblicke in ihr Werk. Spätestens mit dieser Ausstellung* sollte klar werden, dass ihr der Publikumsapplaus Nebensache ist. Umso erfreulicher ist ihre Einladung, sich in die Welt der Abenteuer ihrer Realität zu begeben. * Galerie bei der Albertina, 1994

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Abb. 37: Wickelobjekt »12  :12«, Wolle, Leinengarn, Kunstfaser, Holzwolle, Watte  ; eloxiertes Aluminium, D 38 cm, 1994/95, Sammlung der Künstlerin.

Aurelia Llois – Fadenkünste oder Transposition

Stabile Labilität – labile Stabilität Experiment   : Erde – Universum Achse – Rotation – Hülle, Mikrokosmos blauen Alls um weißen Globus, wolkenverhangenes Sinnbild des (Ver)Bergens, Kokon neuer Realität. Motto  : Ariadne umgarnt Theseus oder »Wie gelange ich ans Ziel und zurück  ?« Rückschau auf das Labyrinth der Archaik … Entflechtung des Gedankens zur Verflechtung der Struktur, Verwicklung als Symbol der Ent-Wicklung, zentrifugale Gedanklichkeit mit Kursabweichungen. Artefakt  : ruhender Pol in der Erscheinungen Flucht Abstraktion der Wahrnehmung im Kraftfeld der Assoziation, Kodierung ästhetischen Wollens, Verknüpfung im strengen Satz immanenter Dodekaphonik, organischer Extrakt immaterieller Sinnhaftigkeit. Gedankenstenogramm zu Aurelia Llois’ »Transposition« von Heinz P. Adamek

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Abb. 38: Blue Hour, 2008, Öl/Lw, 30 x 30 cm, Kunstsammlung und Archiv der Universität für angewandte Kunst Wien.

El arte lava del alma el polvo de la vida cotidiana (Die Kunst wäscht den Staub des Alltags von der Seele.) Pablo Picasso

Sallie McIlheran – Close Encounters – eine Spurensuche

Endlich … Endlich gewährt Sallie McIlheran wieder Einblick in ihr vielschichtiges Schaffen. Wie schön, dass sie diesmal auch nach Wien kommt, in die Stadt ihrer Kunststudien an der Hochschule – seit 1998 Universität – für angewandte Kunst … Was sie einst aus der Neuen Welt, aus Texas, ins alte Europa an Eindrücken mitbrachte, was sie in Europa, zunächst vor allem in Wien, an »Bildern« – nicht nur in Museen und Galerien – seismografisch registrierte und bewusst-unbewusst auf ihren späteren zahlreichen Flügen in die verschiedenen Himmelsrichtungen aufnahm, stellt wohl eine Fülle an Momentaufnahmen dar, die schon in ihrer Studienzeit in ihrem Werk Spuren hinterließen, welche sich im weitgespannten Bogen an Themen und deren Interpretation abzeichnen, wobei es ihr stets um die menschliche Existenz geht. Immer lässt sie dabei den Betrachter scheinbar beiläufig an der Faszination für Bewegung nicht nur in Raum und Zeit, sondern vielmehr auch im Denken und Fühlen der Menschen teilhaben, denn Bewegung ist Leben … Da sind z. B. Sallie McIlherans Autobahnbilder in raffinierten Abschattierungen, Kolonnen bei Nacht … eingefangene Momente des Fortschritts  ? Des Dahinrasens oder des Schleichens auf ausgefahrenen Spuren von Millionen Menschen unserer Zeit  ! … Arterien der Zivilisation, die zur Sklerose neigen … Ein Phänomen, wie es bereits Rainer Maria Rilke vor mehr als 100 Jahren unübertroffen relativierte  : »… und nennen Fortschritt ihre Schneckenspuren und fahren rascher wo sie langsam fuhren und fallen tief aus Gleichgewicht und Maß.«

Diese dichten Darstellungen bergen aber auch gleichzeitig Poesie, sind subtile Balladen der Bewegung, vom WOHER und WOHIN, vom WO und WARUM … Sie suggerieren uns Erwartungen des Abschiedes oder des Wiedersehens, von Beziehungen und ihrem Scheitern, des Voneinander-Trennens oder des Zueinander-Kommens. Nie jedoch erscheinen diese Autokolonnen statisch, vielmehr erinnern sie an die vorbeiziehenden Bilder eines Stummfilms in Zeitlupe und haben durch ihre Lautlosigkeit etwas Unfassbares, Unreales, zuweilen Unheimliches. Aus ihnen atmet oft die Stille und

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Kunst – Schritte vom 19. ins 21. Jahrhundert

Abb. 39: High Noon, 2008, Öl/Lw, 30 x 30 cm, Privatsammlung Wien/Madrid.

Isolation des Einzelnen in der Menge, die Sprachlosigkeit einer Generation, wie sie einst Sallie McIlherans Landsmann Edward Hopper in seinen Darstellungen packend einfing. Gleichsam Gegenpol dazu sind die sehr filigranen, farbintensiven oder pastelligen Bilder von Gestalten auf Fahrrädern, die die Leichtigkeit des Dahineilens, den frischen Wind an roten Sommertagen, das Sich-Hingeben an den flüchtigen Augenblick spürbar machen, kurz, die an die erträgliche Leichtigkeit des Seins erinnern … Freilich gibt es auch Szenen, in denen Fahrräder die Route eines Taxis oder einer Limousine blitzschnell und todesmutig kreuzen, mit unsicherem Ausgang – für beide. Im Sinne Lessings Forderung nach »dem fruchtbarsten Augenblick in der Kunst« – dem Moment vor dem Höhepunkt des Geschehens – überlässt es Sallie McIlheran klug der

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Sallie McIlheran –

Abb. 40: Autobahn Nocturne – Herbst. 2009, Öl/Lw, 50 x 60 cm Privatsammlung Amarillo/ Texas.

Fantasie des Betrachters, wer in diesem ungleichen Verkehrsduell den Sieg davontragen wird, oder ob es gar in einer Kollision enden wird. So steigt mit diesem letzten, individuellen Schritt zur Gestaltung des Höhepunkts der Thematik der Betrachter in das Kunstgeschehen ein und wird Teil des Kunstwerks. Wie viel verbergen oder verraten uns andererseits ihre Porträts  ! … Freude und Kummer, Hoffnung und Resignation, Vergangenes und Zukünftiges (von dem die Protagonisten noch nichts wissen …). Wenn wir genau hinsehen, gewährt uns Sallie McIlheran dabei mit ihrem scharfsichtigen Blick – nicht nur ihrer graublauen Augen, sondern auch mit ihrem inneren Blick – ein Innehalten zwischen Vergangenheit und Zukunft, in der gleichsam der Zeitenlauf einen Lidschlag lang still steht, gleich einem Anhalten des Atems, hinter das Sichtbare, auf das Wesen, die Essenz menschlicher Existenz. Gerade weil die Kunst nie die sichtbare Realität mit ihren Mitteln absolut identisch wiederzugeben vermag – sind es die unzähligen Möglichkeiten, sich ein und demselben Objekt asymptotisch zu nähern, die den faszinierenden Reiz für den

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Kunst – Schritte vom 19. ins 21. Jahrhundert

Abb. 41: Windeseile, 2008, Aquarell/ Papier 20 x 20 cm, Sammlung der Künstlerin.

Künstler und die Qualität eines Kunstwerkes ausmachen – oder wie dies T. S. Eliot treffend formulierte  : »Art never improves but… the material of art is never quite the same …« Und so überrascht Sallie McIlheran den Betrachter mit Details, auf die sie den Fokus lenkt, immer aufs Neue – und sei es nur auf einen roten Tennisschuh, eine Espressotasse oder auf ein T-Shirt. Es muss wohl nicht betont werden, dass sie alle Regeln des Farbauftrags, alle Techniken des Tafelbildes, alle Facetten der Grafik seit der Renaissance beherrscht. Keine dieser Techniken verleugnet sie. Mit ihrem sensationell-präzisen Strich besticht sie ebenso wie mit ihren beinahe transparenten, geradezu »schwebenden« Aquarellen – stets souverän, ohne sich von einem Trend vereinnahmen zu lassen. Dass Sallie McIlheran mit ihrer Kunst Leben Gestalt verleiht – was schon William Shakespeare als Konstitutivum der Kunst ansah (»The object of art ist to give life a shape …«) –, wird spätestens nach einem Rundgang in der Ausstellung klar …

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Sallie McIlheran –

Abb. 42: In the Heat of the Day, 2006, Öl/Lw, 140 x 100 cm, Privatsammlung Freising.

Abb. 43: Sunset Boulevard, 2010, Öl/Lw, 60 x 50 cm, Privatsammlung Wien.

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Abb. 44: Traumgesichte, 2011, Öl/Lw, 81 x 65 cm, Sammlung des Künstlers.

Ce n’est pas l’esprit qui est dans le corps, c’est l’esprit qui contient le corps et qui l’enveloppe tout entier. (Nicht der Geist wohnt im Körper, es ist vielmehr der Geist, der den Körper in sich hat und ihn ganz umschließt.) Paul Claudel

Étienne Yver Menschliche Wesenhaftigkeit  : InCorpoRated – eine gemalte Parabel

Seit der Antike beschäftigen sich zahlreiche Denker mit der dualen Natur des Menschen als dem Wesen mit Körper und Geist, den Antagonismen oder Synergismen von Materie und Intellekt. Das bekannteste antike Zitat zum Thema ist wohl der stets verkürzt wiedergegebene – und dadurch ins Gegenteil verkehrte – Satz Juvenals »Mens sana in corpore sano« (»Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper«), dessen missbräuchliche Interpretation, von manchen totalitären Regimen – zur Ideologie erhoben – Erniedrigung, Folter und Mord rechtfertigen ließen … Dabei wandte sich Juvenals Aufruf »Orandum est, ut sit mens sana in corpore sano« (»Beten sollte man darum, dass in einem gesunden Körper ein gesunder Geist sei«) an seine Zeitgenossen, mit dem er sich gegen die sportlichen Idole seiner Zeit aussprach, deren geistige Fähigkeiten häufig hinter den körperlichen weit zurückblieben. Dies war vor allem umso mehr von Bedeutung, als im antiken Sport »Fairness« ein Fremdwort war, denn um im Wettkampf zu siegen, war auch die schwere Körperverletzung oder Verstümmelung des Gegners durchaus akzeptiert. Es würde den Rahmen dieses Beitrags bei Weitem sprengen, den Bogen unterschiedlichster Betrachtungsweisen der häufigen Inkongruenz von körperlichem und geistigem Impetus bis in die Gegenwart streiflichtartig zu beleuchten, obwohl beispielsweise die Erschließung des »Körper-Geist-Problems« über die Analyse des Gedächtnisses durch Henri Bergson in seinem Werk Matière et mémoire. Essai sur la re­ lation du corps à l’esprit (Materie und Gedächtnis. Abhandlung über die Beziehung des Körpers zum Geist) für so manche gezeigte Arbeiten Étienne Yvers aufschlussreich wären. Auch verdeutlichen nicht wenige Darstellungen Étienne Yvers, wenn wir uns auf die vielschichtige Bildwelt des Künstlers einlassen, Momente, in denen der Geist unser Du und der Körper unser Ich ist – ebenso wie umgekehrt –, in welchen diese im Widerstreit miteinander stehen. Beide zusammen sind das dem Menschen archetypische Ich. Dieses ist gleichzeitig auch dessen allernächstes Du, oder wie dies Paul

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Kunst – Schritte vom 19. ins 21. Jahrhundert

Abb. 45: O.K. – gedankenverloren, 2009, Öl/Lw, 100 x 100 cm, Sammlung E. Wolkenstein, Wien.

­ Valéry formuliert »Moi … c’est-à-dire le Toi le plus constant, le plus obéissant, le premier éveillé et le dernier couché« (»Ich … Das heißt das beständigste, das gehorsamste Du, das erste, das erwacht, und das letzte, das sich zur Ruhe legt«). Zentralthema Étienne Yvers Universums sind jedenfalls stets der Mensch in seiner Komplexität und die Beziehungen zwischen dem Ich und Du (i.w.S.) in all ihren Fa­ cetten. Schlüssel zu diesem Universum ist die Sinnlichkeit von Geist und Körper. Sie ist das Amalgam menschlicher Existenz. Ohne diese gäbe es kein Streben nach dem Du, somit keine Sinnhaftigkeit. Étienne Yver macht in seinen Bildern gerade diesen Sinn der Sinnlichkeit erfassbar, sie ist für ihn gleichsam das physische und psychische Korrelat der conditio humana. Er führt dabei den Betrachter zur Verdeutlichung der Idee nicht selten assoziativ zu historischen Vor-Bildern wie die Drei Grazien, Orest und Pylades oder Ariadne,

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Étienne Yver

Abb. 46: Peur et consolation, 2010, Öl/Lw, 81 x 65 cm, Sammlung des Künstlers.

Theseus und Minotauros. Gerne leuchtet er Spielarten der Doppelbödigkeit aus, konfrontiert uns mit Sein und Schein, und regt uns zu dessen Demaskierung an. Und so manches, was sich dem Auge entzieht, erschließt sich dabei unserem »inneren« Auge. Unmessbares, Unwägbares, Ungreifbares wird spürbar, begreifbar … Der Künstler lässt uns in der Folge in die Relativität des scheinbar Absoluten schauen, und so wie Fiebern und Frösteln gleichzeitig empfunden werden, wird letztlich klar, dass Lust und Schmerz, Angst und Freude, Verzückung und Verzweiflung, Liebe und Hass mit dem jeweils selben Nerv, jedoch an dessen entgegengesetzten Polen der Empfindung, registriert werden. Étienne Yver ist nicht zuletzt auch ein virtuoser Spieler, Spieler mit Wörtern. Er lotet – wie in seinen Bildvisionen – im verbalen Gleichklang verschiedene Begriffsinhalte aus, (er)findet in seinen Texten in unserer Zeit der Kommunikationsflut und gleichzeitigen Sprachlosigkeit immer neue Wortspiele, neue Assoziationsketten, gleichsam eine »neue Grammatik des Denkens« – (dazu zählen auch Titel von Ausstellungen wie z. B. Chair Amie, Suis-je Bête  ? oder diesmal InCorpoRated) – und regt mit seiner Bildsprache zur Revision existenzieller, althergebrachter Überzeugungen an. Auch was die Bedeutung der Lebensphasen angeht, ist Étienne Yvers Werk aufschlussreich. Keine dieser Perioden wird in seinen Darstellungen ausgeklammert. Aus ihnen ist ablesbar, dass die uns in der Grammatik tradierte, nach ihrer Wichtigkeit

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Kunst – Schritte vom 19. ins 21. Jahrhundert

Abb. 47: Geständnis, 2009, Öl/Lw, 81 x 65 cm, Privatsammlung Wien.

gereihte Abfolge der Zeiten und ihrer Auxiliare – HABEN – SEIN – WERDEN – in der »Grammatik des Lebens« eine andere »Chrono-Logie«, nämlich WERDEN – HABEN – SEIN, aufweist. So trachten wir besonders in der Jugend danach, jenes Ich zu WERDEN, das wir sein wollen. (Nach Gottfried Herder tragen wir alle »ein Ideal mit uns, was wir sein sollten und nicht sind  ; die Schlacken, die wir ablegen, die Form, die wir erlangen sollen, kennen wir alle«.) In den mittleren Jahren unserer Existenz – nicht zuletzt durch gesellschaftliche Faktoren bedingt – dominiert das HABEN unser Trachten. In der Spätphase des Lebens richtet sich schließlich unsere Konzentration im Wissen um die Endlichkeit auf das Festhalten am SEIN, oder wie es Arthur Schnitzler einmal einer seiner Figuren in den Mund legt, auf die Erkenntnis »… dass das Leben immer köstlicher (i.S. kostbarer) wird, je weniger davon übrig bleibt.« Wie gut, dass da Künstler sind, die uns vor Augen führen, dass es nicht nur ­»In-corpo(re)-ratio« – die Vernunft in uns – gibt, sondern auch die Fantasie als Element der geistigen Freiheit, die erst jede Art Fortschritt möglich macht, eine Erkenntnis, die Horaz in seiner Ars poetica schon vor 2000 Jahren konstatierte (»Pictoribus atque poetis quidlibet audendi semper fuit aequa potestas«/»Maler und Dichter hatten seit jeher die gleiche Freiheit zu wagen, was sie wollten«).

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Étienne Yver

Zu diesen zählt ganz sicher Étienne Yver – er hat Mühe, all die Fülle von Inspirationen zu bändigen und deren Kondensat auf die Leinwand zu bannen. Er ist einer von denen, die bisweilen wie Orpheus in den Hades menschlicher Existenz hinabsteigen und erstorbene Hoffnungen oder ins Unbewusste verbannte Sehnsüchte ans Licht führen und ebenso mühelos nach den Sternen greifen.

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Abb. 48: Wolfgang Stifter, Großer Brief an die Goldene Adele, 2008, Mischtechniken, collagiertes Blattgold/Lw, 300 x 200 cm, Sammlung des Künstlers.

Quel pittore che non dubita poco acquista (Der Maler, der nicht zweifelt, erreicht wenig.) Leonardo da Vinci

Gustav Klimt – Die Zeit bis zur Zeitlosigkeit oder Von der Irritation zur Inspiration

Gustav Klimt – nicht der seit drei Jahrzehnten progressiv von Werbung und Souvenirindustrie vereinnahmte und jüngst sogar als Titelfigur eines gleichnamigen Musicals vermarktete Maler des glamourösen Wien um 1900, sondern das Genie mit seinem komplexen grafischen und malerischen Kosmos – ist in seinem Jubiläumsjahr angekommen – angekommen, nicht nur international, sondern angekommen in der Zeitlosigkeit, gleichsam als Fixstern am Künstlerfirmament, wie einst Goethe Andrea Palladio bezeichnete … Unabhängig von zahlreichen Ausstellungen mit malerischen Spitzenwerken Klimts erscheint mir diese Feststellung durch den spektakulären Erfolg der von der Albertina im J. Paul Getty Museum Los Angeles im Sommer 2012 veranstalteten Ausstellung The Magic of Line – die sich auf Klimts Grafik »beschränkte«, und damit einem großen Publikum Neuland betreten ließ – mehr als gerechtfertigt. Der Weg dahin war weit – und zu Klimts Lebzeiten zuweilen steinig. Perioden wachsender Anerkennung, Begeisterung, Ablehnung und neuerlicher Wertschätzung wechselten einander ab. Bereits 1904 wundert sich Arthur Schnitzler  : »Wie unbegreiflich, dass die Leute nicht merken, in was für einer künstlerisch reichen Zeit sie leben […] die Mann’s, Hauptmann, Hofmannsthal, Strauss, Mahler, Klinger, Klimt …« (Tagebuch 4.11.1904).1 Gustav Klimt, umschwärmter Star des mondänen Wien, wird oft in prominenter Gesellschaft angetroffen, etwa im Mai 1905 im Hotel Imperial auf Einladung von Max Reinhardt im Kreis »seiner« Schauspieler mit Alfred Roller, Hans Pfitzner, Arthur Schnitzler, Felix Salten … Trotz dieser »Beliebtheit« hat er Zweifel an der Ehrlichkeit von Zeitgenossen – so äußert er im Kommentar zu einem »nicht existierenden Selbstportrait«  : »Malen und zeichnen kann ich. Das glaube ich selbst, und auch einige Leute sagen, dass sie das glauben. Aber ich bin nicht sicher, ob es wahr ist.«2 Doch auch an seinem Selbstbewusstsein nagen Zweifel. So bekennt er bei einem Besuch Arthur Schnitzlers (der mehrfach Zeichnungen Klimts erwerben sollte) im Hietzinger Atelier  : »Ich bin noch nach keinem (i.e. Bild) glücklich gewesen.« Und Schnitzler, dem Selbstkritik alles andere als fremd ist, vermerkt danach in seinem

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Kunst – Schritte vom 19. ins 21. Jahrhundert

Tagebuch (18.5.1915) beeindruckt  : »… und ich fühle bei allen Unterschieden, und der Überlegenheit seiner Künstlerschaft gegenüber – eine ganz im Tiefen verborgene Verwandtschaft«.3 Diese Vertrautheit zwischen Klimt und Schnitzler – der sogar aufschlussreiche Träume über Klimt im Tagebuch festhält – gipfelt am 23.1.1917 in Klimts Bemerkung »Es war noch kein Tag, an dem ich nicht unglücklich war«.4 Welch anderer, scheuer Klimt, der dem Klischee des »gefeierten Genies« so gar nicht entspricht. Freilich Weitblick beim Erfassen der überzeitlichen Bedeutung Klimts bewiesen damals neben Schnitzler vorwiegend andere Künstler wie Joseph Hoffmann oder ­Auguste Rodin, der ebenso wie Giovanni Segantini korrespondierendes Mitglied der Wiener Secession war. Ihnen fühlt sich Klimt kollegial bis freundschaftlich verbunden. Abgesehen vom jungen Egon Schiele wird Klimt auch von Bertold Löffler sehr geschätzt, und dessen schöne Frau Melitta beschließt, sich von Klimt porträtieren zu lassen, was jedoch wegen Klimts unerwartetem Tod nicht mehr zustande kommen sollte … Ein Jahrhundert danach erweckte das Jubiläumsjahr mit der Präsentation kunsthistorisch, historisch und psychologisch akribischer Forschungsergebnisse über die Person Gustav Klimts in mir größtes Interesse an einer hierzu ergänzenden, kreativen Auseinandersetzung von namhaften Künstlern der Gegenwart mit dem Phänomen Klimt. Der Einladung folgten vier Künstler aus Österreich (Wolfgang Stifter), Amerika (Sallie McIlheran), Frankreich (Étienne Yver) und Deutschland (Ben Siegel), die sich auf die unorthodoxe Thematik einließen und sich – Klimts Hinweis folgend (»Wer über mich – als Künstler, der allein beachtenswert ist – etwas wissen will, der soll meine Bilder aufmerksam betrachten und daraus zu erkennen suchen, was ich bin, und was ich will.«)5 auf Spurensuche begaben. Gerade der Blick aus der Perspektive von heutigen Künstlern aus verschiedenen Schulen und Kulturen mit unterschiedlichen Traditionen – ganz zu schweigen von ­deren individuell ausgeprägten Persönlichkeiten – versprach äußerst spannende Er­ gebnisse. Doch welche Wege zu Klimt würden sie einschlagen, was würde an seinem Werk irritieren, vorranging bestechen oder inspirieren – Thematik, Technik, Charakter  ? Seine »Dokumentation« des vibrierenden Lebensgefühls einer ganzen Epoche  ? Seine Darstellungen blühenden Lebens, atemberaubender Schönheit, raffinierter Sinnlichkeit oder jene unerfüllter Sehnsüchte, die Ambivalenz von Glück und Elend, die Sichtbarmachung der Vergänglichkeit, des Verfalls, des Augenblicks vor dem Schritt in die ewige Nacht, der nackten Fratze des Todes  ? Oder allgemeiner, die Fragestellungen in Klimts Werk zum Sinn des Lebens, zu dessen ewigem Kreislauf, zu Eros und Thanatos  ? Nun, alle vier Künstler kamen bei ihrer Spurensuche nicht nur mit ihren Arbeiten »zu Wort«, sondern bezogen auch verbal Stellung zu Gustav Klimt. Der Österreicher

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Gustav Klimt – Die Zeit bis zur Zeitlosigkeit

Abb. 49: Sallie McIlheran, Glanz des Goldes, 2012, Aquarell, Tusche/Papier, 39 x 28 cm, Privatsammlung Wien.

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Kunst – Schritte vom 19. ins 21. Jahrhundert

Wolfgang Stifter meinte  : »Gerade wenn man selbst eher der Art brut zuneigt und das Ursprüngliche schätzt, weil man dort den Atem der schöpferischen Person spürt, fühlt man sich doch auch besonders angezogen vom ganz Gegensätzlichen, von Eleganz und betörender Schönheit, von geschmeidiger Lineatur und fein nuancierter Farbigkeit, […] und vom sinnlich gemalten Inkarnat als Hommage auf die Schönheit der Frauen …«6) Der Franzose Étienne Yver, der vor der Auseinandersetzung mit der Thematik dieser Ausstellung Klimts Arbeiten – im Gegensatz zu zeitgleichen Werken Picassos, Ensors, Gauguins oder Munchs – als raffiniert, fein, aber auch dekorativ ansah, bekannte  : »Doch von dem Augenblick, in dem ich mich auf Klimt einließ, erkannte ich in diesem Meister einen ›Verwandten‹ und mögliche Bezugspunkte zu meiner Arbeit  : Spiel eindringlicher Blicke, Mischung aus Abscheu und Lust, klare Konturierung, fließende Grenzen zwischen Gegenständlichkeit und Ungegenständlichkeit… Ich entdeckte eine aufregende Sinnlichkeit, eine packende Morbidität, aber auch eine verwirrende Nachdenklichkeit über die Natur, die ich nie glaubte hier zu finden …«6 Im Gegensatz dazu führte die Amerikanerin Sallie McIlheran in ihren begleitenden Worten aus, dass ihr Fokus in den präsentierten Arbeiten mehr auf Klimts Thematik gerichtet gewesen sei  : »Seine große Faszination – unter anderem – für den Kreislauf von Leben und Tod, für das Entstehen des Lebens, das volle Erblühen und schließlich das unausweichliche Vergehen, war für meine Arbeit Inspiration«.6) Schließlich waren für den deutschen Bildhauer und Maler Ben Siegel Klimts Ornamentik und der Einsatz von Gold früher zu opulent. Doch bei intensiverer Beschäftigung mit der Bildwelt Klimts »fielen mir bei näherem Betrachten plötzlich Parallelen zu meiner Arbeit auf, wenn auch eher thematischer als formaler Art. Das duale Prinzip – wie schon bei den Ägyptern von Sonne (männlich) und Erde (weiblich), Symbol für Mann und Frau aber auch für den ewigen Kreislauf von Leben und Tod – entdeckte ich in Themen Klimts mit mythologischem oder biblischem Ursprung, mit denen auch ich mich in meinen Arbeiten auseinandersetze …«6) Wie erfreulich, dass nun zur Fülle jener Fragen mit dieser Ausstellung sehr unterschiedliche künstlerische Antworten vorliegen. Während Wolfgang Stifter Österreichs endgültigen Verlust eines Klimt-Gemäldes mit Kultcharakter – der Goldenen Adele – mit seinen Arbeiten thematisierte und im wahrsten Sinne des Wortes nachspürte, ­betonten die Künstler mit nichtösterreichischen Wurzeln, den Zugang zu Klimts ­Universum über dessen grafisches Werk gefunden zu haben, was bei einem guten Teil der gezeigten Arbeiten ablesbar ist. Dies mag sich daraus erklären, dass gerade die Zeichnung es dem Betrachter erlaubt, den kreativen Akt nachzuerfassen, hält sie doch den Augenblick der auf Papier »kondensierten« Inspiration fest. Sie ist der Schlüssel zur ihrem Schöpfer. So geben Künstler in der Zeichnung weit mehr von sich preis als in der – in einem technisch bedingten, längeren, »kontrollierten« Entstehungsprozess

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Gustav Klimt – Die Zeit bis zur Zeitlosigkeit

Abb. 50: Étienne Yver, Birkenwald, 2012, Acryl/Lw, 150 x 95 cm, Sammlung Wien Museum.

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Kunst – Schritte vom 19. ins 21. Jahrhundert

Abb. 51: Ben Siegel, Umarmung, 2007, Tusche/Papier, 40 x 50 cm, Sammlung des Künstlers.

­ geschaffenen – Malerei, die daher stets ein Abenteuer mit ungewissem Resultat darstellt. Dass Gustav Klimt beide »künstlerischen Sprachen« einzigartig souverän beherrschte, steht spätestens nach seinem Jubiläumsjahr außer Zweifel.

Anmerkungen 1

Schnitzler, Arthur  : Tagebuch. – Wien  : Österreichische Akademie der Wissenschaften 1981 – 2001, Jg. 1903 – 1908. 2 Klimt, Gustav  : Kommentar zu einem nicht existierenden Selbstporträt. – Wien  : Wienbibliothek im Rathaus, Handschriftensammlung, H.I.N. 152980. o. D. Das Dokument stammt aus dem Nachlass von Auguste Fickert (1865 – 1910). 3 Schnitzler, Arthur  : Tagebuch. – Wien  : Österreichische Akademie der Wissenschaften 1981 – 2001, Jg. 1913–1916. 4 Schnitzler, Arthur  : Tagebuch. – Wien  : Österreichische Akademie der Wissenschaften 1981 – 2001, Jg. 1917–1919. 5 Vide Anm. 2). 6 Zit. aus KLIMT revisited, Katalog zur Ausstellung. – Wien  : edition base-level 2013.

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Architekturgeschichte(n)

Abb. 52: San Giorgio Maggiore, Venedig, 1566/1610.

Architecti est scientia pluribus disciplinis et variis eruditionibus ornata, cuius iudicio probantur omnia quae ab ceteris artibus perficiuntur (Die Bildung des Architekten hat mehrere Disziplinen und mannigfache Elementarkenntnisse zu umfassen, da durch sein Urteil alle Ergänzungen von übrigen Künsten gebilligt werden müssen.) Vitruv, De architectura libri decem

Andrea Palladio (1508–1580) Ein Fixstern am europäischen Architekturhimmel

Spätnachmittag in der Lagunenstadt. Die Magie des Lichtes legt der Königin der Meere einen irisierenden Mantel über Türme, Dächer und Gesimse, während Tausende kleine Sonnen auf den Wellen tanzen … In diesen Momenten erfasst man mehr denn je die Einmaligkeit des Blicks vom Dogen­palast zur Insel San Giorgio Maggiore. Am Horizont zeichnet sich die gleichnamige Kirche mit ihrer unverwechselbaren Silhouette ab. Ihr Erbauer, Andrea ­Palladio, hatte mit ihr 1565, am Zenit seines Ruhms, den markantesten Punkt der Stadt erobert, der nunmehr seit über vier Jahrhunderten ihrem Gesicht die stolzen Züge verleiht. Von Weitem lässt die weiße Steinfassade, die an ein antikes Tempelportal erinnert, in ihrer Dreiteilung bereits auf die innere Gliederung des Baukörpers schließen. Das große Volumen der Kirche wird durch mächtige korinthische Halbsäulen auf ungewöhnlich hohen Sockeln raffiniert verborgen. Beim Betreten des imposanten Kirchenraums wird man von der Harmonie des Inneren überwältigt  : steingewordener Akkord der Musik in Weiß, Renaissance antiker Elemente, beseelt vom Geist, dem inneren Sinn auf die Spur zu kommen. Lässt man diese Harmonie einige Augenblicke auf sich wirken, glaubt man, soeben sei ein strahlender Choral Andrea Gabrielis zur Ehre Gottes verklungen … Auch heute zieht das Bauwerk wie einst mit seinen vier Säulen, die Chorquadrat und Hauptschiff vom Mönchschor und der Apsis trennen, den Besucher in seinen Bann, wie es sein Schöpfer beabsichtigt hatte. In seinen Quattro Libri dell’Architettura (1570) führt Palladio aus, dass »Tempel weite Portiken mit Säulenhallen haben müssen, die größer sind als jene, die sich zu anderen Bauwerken schicken. Es ist gut, wenn sie groß und prächtig sind, aber nicht größer, als es der Größe der Stadt entspricht«, und bemerkt zur farblichen Fassung des Innenraums  : »Von allen Farben passt keine Farbe so gut wie das Weiß, da die Reinheit

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Architekturgeschichte(n)

Abb. 53: Villa Almerico Capra gen. »La Rotonda« bei Vicenza, 1567/1591.

dieser Farbe und die Reinheit im menschlichen Leben im höchsten Maß Gott angemessen ist.« Den eigentlichen Schmuck von San Giorgio Maggiore stellt folglich ihre Architektur dar. Zum Zeitpunkt, als Palladio den Auftrag zur Errichtung dieser Benediktinerkirche erhält, ist er bereits seit Jahren ein gefragter Architekt und Garant raffinierten Geschmacks. So hatte er das Stadtbild von Vicenza mit der Schaffung der eleganten Loggia des Rathauses in markanter Weise verändert, und die Errichtung einer Reihe von Adelspalästen in derselben Stadt (Palazzo Thiene, Palazzo Chiaricati, Palazzo Porto, Palazzo Valmarano), aber auch von Landvillen im Veneto (Villa Almerico ­Capra, genannt »La Rotonda«, Villa Barbaro) hatte seinen Ruf weit über alle Grenzen getragen. Im Rückblick ist es erstaunlich, welche Karriere der einstige Maurerlehrling gemacht hatte  ! Sohn einfacher Eltern als Andrea di Pietro della Gondola 1508 in ­Padova geboren, war er 1524 wegen Abbruch seines Lehrvertrages nach Vicenza geflüchtet, wo er in die Steinmetzwerkstatt der Bildhauer Giovanni und Girolamo, genannt da Pedemuro (die die meisten Denkmäler und dekorativen Skulpturen in ­Vicenza schufen) als Lehrling und Gehilfe aufgenommen worden war, und es in 14 Jahren bis zum Meister gebracht hatte. Vicenza mit seinem Flair einer ritterlichen,

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Andrea Palladio (1508–1580)

Abb. 54: Chiesa del Redentore, Venedig, 1577/1592.

gebildeten, kunstsinnigen Stadt wurde die geistige Heimat des Padovaners. 1537 machte er die Bekanntschaft von Graf Giangiorgio Trissino, der für seinen Lebensweg die Weichen stellen sollte. Dieser, Amateurarchitekt, Dichter und Humanist, wurde Andreas Mentor. Er bildete ihn in seiner Akademie aus und führte ihn in die wichtigsten Architekturabhandlungen der Antike (Vitruv) sowie der Zeitgenossen (Serlios, Alberti) ein. Schließlich gab Trissino dem genial begabten Padovaner den Namen Palladio. 1541 fuhr Palladio erstmals nach Rom und war von den antiken Bauwerken überwältigt. Die gewonnen Eindrücke von Ästhetik und Geist des Zentrums einstiger kultureller Größe und politischer Weltmacht sollten ihn nachhaltig bei der Weiterentwicklung seiner Architektursprache inspirieren. Mehrere Reisen in die Stadt am Tiber folgten, die ihn sogar bewogen, einen Archäologischen Führer Roms zu verfassen. Dank seines überragenden Talents, seiner Studien und nicht zuletzt der Nobilitierung seines Namens öffneten sich Palladio die Türen zu den höheren Kreisen ­Vicenzas, die später seine Auftraggeber werden sollten  : Bereits in den 1530er-Jahren war die Begeisterung der Aristokratie Vincenzas und der reichen Bürger Venedigs für »das Landleben« erwacht und hatte sie in der Folge zu zahlreichen Grundstückskäufen auf der Terra Ferma bewogen. Im Wetteifer der Reichen um Luxus, Eleganz und städtischen Komfort auf dem Lande konnte Palladio mit seinen Herrschaftsvillen (bei

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Architekturgeschichte(n)

Abb. 55: Teatro Olimpico, Vicenza, 1580/1585.

denen er als Erster die Front des klassischen Tempels als Fassade für das luxuriöse Privathaus eingeführt hatte) beachtliche Beliebtheit erringen. In den 1560er-Jahren unternimmt Palladio im Zusammenhang mit verschiedenen Projekten ausgedehnte Reisen. In dieser Zeit wird er in Venedig mit mehreren Aufträgen für sakrale Bauten betraut, etwa mit der Planung des Klosters Santa Maria della Carità – sein erstes Bauwerk in der Stadt, architekturgeschichtlich ein bahnbrechendes Projekt, auch wenn es nur partiell realisiert werden sollte. Diesem Auftrag folgen das Refektorium von San Giorgio Maggiore, einige Jahre später der Neubau der Kirche und schließlich die epochemachende Fassade der Kirche San Francesco della Vigna (1562–1570), der für Jahrhunderte richtungweisender Charakter zukommen sollte. Als Folge der zahlreichen venezianischen Aufträge verlegt Palladio in dieser Zeit seinen Wohnsitz in die Lagunenstadt. Als 1576 die Pest in Venedig wütet, beauftragt der Stadtsenat Palladio mit der Errichtung der Votivkirche Il Redentore auf der Insel Giudecca. Erstaunlich, mit welcher Bravour Palladio hier trotz schwierigster Raumbedürfnisse eine epochale Lösung ersinnt, für die es keine Vorbilder gibt. Il Redentore wird sein sakrales Vermächtnis in Form eines architektonischen Credos, das im apotheotischen Jubel »et ascendit Deus

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Andrea Palladio (1508–1580)

in iubilo …« zu gipfeln scheint. Alles ist hier zu einer Einheit zusammengefasst  : Kuppel, Dach, Türme, Strebepfeiler. Der Raum in Form eines römischen Kreuzes vereinigt antikes Vokabular (Triumphbögen, Thermenfenster) mit dem Geist der Renaissance (quadratisches Presbyterium, gekrönt mit halbkugelförmiger Kuppel). Danach sollte der Meister noch einmal die Lagunenstadt verlassen und zur Realisierung des Teatro Olimpico nach Vicenza zurückkehren, doch lange vor der Fertigstellung dieses Wahrzeichens stirbt Palladio 1580, in jener Stadt, in der sein legendärer Aufstieg einst begonnen hatte. Mit seinem Schaffen hat Palladio nicht nur eine kometenhafte Bahn am Firmament seiner Zeit gezogen, sondern es gelang ihm auch der Brückenschlag vom Gestern zum Morgen  : Kein anderer Architekt hat durch sein Werk über Jahrhunderte eine vergleichbare Strahlkraft auf Europa und Amerika ausgeübt. Erstaunlich, dass manche Kritiker die palladianische Vielfalt – im Gegensatz zum Werk seiner Zeitgenossen – als Element der Inhomogenität verkannten. Doch diese spiegelt Palladios kritische Einstellung zu einer orthodoxen Architektursprache wider, da für ihn Architektur stets Suche mit offenem Ausgang bedeutete … Nicht von ungefähr bezeichnete Goethe Palladio als »Polarstern«, und bekennt in seiner Italienischen Reise  : »Palladio war durchaus von der Existenz der Alten durchdrungen und fühlte die Kleinheit und Enge seiner Zeit, wie ein großer Mensch, der sich nicht hingeben, sondern das Übrige so viel wie möglich nach seinen edlen Begriffen umbilden will. Palladio hat mir den Weg zu aller Kunst und Leben geöffnet.«

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Abb. 56: Looshaus, Michaelerplatz 3, 1010 Wien, Beleuchtung des Säulenganges, Detail.

L’architecture est la sculpture habitée (Architektur ist bewohnte Skulptur.) Constantin Brancusi

Ettore Sottsass sen. (1892–1953) Harmonische Dissonanz – Wienvokabular um 1912

»Durch die Einrückung ins Feld unterbrach er sein Studium. Trotzdem bin ich in der Lage, ihm das Absolutorium zu geben, nachdem Herr Sottsass eine sehr glückliche Begabung, leichte Auffassung, viel Fleiß und Eifer gezeigt hat. Seine Beteiligung an verschiedenen Konkurrenzen und sein letztes Projekt für eine Kirche mit Kloster für Tirol, das er in der Schule ausgeführt hat, bekunden eine sehr gute Hand und vorzügliche künstlerische Orientiertheit …«1 Mit diesen Worten beurteilt Friedrich Ohmann im Austrittszeugnis vom 16. November 1918 Ettore Sottsass, der somit für reif befunden wird, aus der traditionsreichen Wiener Akademie der bildenden Künste ins Berufsleben entlassen zu werden. Vier Tage zuvor war in Österreich die Republik ausgerufen worden, nachdem der letzte Kaiser seine Fahrt ins Exil angetreten hatte. Wie rasch war rückblickend in wenigen Jahren das Heute zur Welt von gestern geworden. Alte Ordnungen waren aufgehoben, der Erste Weltkrieg war kurz zuvor zu Ende gegangen, Reiche waren in Schutt und Asche gesunken, Völker hatten ihre Unabhängigkeit erkämpft oder waren in neue Abhängigkeiten geraten. Der greise Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn war auseinandergebrochen, und die Nachfolgestaaten stritten um das Erbe. Gleichsam als höherer Richter hielt der Tod unter den Großen dieses Kulturraumes auch reiche zivile Ernte  : Allein 1918 wurden u. a. Otto Wagner, Kolo Moser, Gustav Klimt, Egon Schiele, Wilhelm List, Viktor Adler, Alexander Girardi und Peter Rosegger hinweggerafft. Sechs Jahre zuvor hatte es Ettore Sottsass, nach zweieinhalbjähriger Ausbildung an der Innsbrucker Werkmeisterschule (baugewerbliche Richtung), nach Wien gezogen, an jene Akademie, an welcher der weit über alle Grenzen bekannte Otto Wagner durch 18 Jahre sein formales und konzeptionelles Architektur-Credo an Studenten weitergegeben hatte. Als Sottsass in Wien eintraf, war Otto Wagner nach vier Ehrenjahren gerade emeritiert. Sottsass fand an der Meisterschule von Friedrich Ohmann (1858–1927), der diese bereits seit 1904 leitete, Aufnahme. Wenige Wochen zuvor hatte ein berühmter Landsmann – Luigi Bonazza (der schon 1901 sein Studium bei Franz von Matsch an der »Klasse für Zeichnen und Malen« der Kunstgewerbeschule des k. k. Museums für Kunst und Industrie mit Auszeichnung abgeschlossen hatte) – nach 15-jährigem Aufenthalt Wien verlassen, um einem Ruf als ordentlicher Professor

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an das Technische Institut von Trento Folge zu leisten. (Jahre später sollten sich übrigens die künstlerischen Wege von Sottsass und Bonazza kreuzen, und zwar bei der Ausgestaltung von Trentiner Kirchenbauten Sottsass’ mit Fresken von Bonazza …) Damals schien trotz des nicht allzu fernen Waffenlärms vom Ersten Balkankrieg, aus dem Albanien als selbstständiger Staat hervorgeht, die Welt noch in Ordnung … Das Stein gewordene Symbol der künstlerischen Erneuerung – das Gebäude der Secession Joseph Olbrichs aus 1897 – war den Wienern längst ein gewohnter Anblick. Die Secession hatte die grenzüberschreitende Kunstauffassung so wirksam propagiert, dass Künstler ihr vielseitiges Talent virtuos einsetzten, etwa Maler und Architekten Mode entwarfen (Gustav Klimt, Josef Hoffmann, Eduard Wimmer-Wisgrill), oder die Führung auf dem Sektor des Möbel- und Produkt-Design übernahmen (Kolo Moser, Josef Hoffmann), Ärzte und Juristen schriftstellerisch in den ersten Reihen tätig wurden (Arthur Schnitzler, Hermann Bahr) und Komponisten Gemälde schufen ­(Arnold Schönberg). Die fließenden Grenzen innerhalb der Kunstgattungen fanden ihren konkreten Niederschlag in Produkten der »Wiener Werkstätte« (Josef Hoffmann, Kolo Moser), der »Wiener Keramik« (Bertold Löffler, Michael Powolny) und der »Wiener Mosaikwerkstätte« (Leopold Forstner). Schon zur Studienzeit Ettore Sottsass’ ist die Architekturlehre in Wien an drei Institutionen angesiedelt  : Die Technische Hochschule (heute Technische Universität), die Akademie der bildenden Künste und die k. k. Kunstgewerbeschule des Österreichischen Museums für Kunst und Industrie (heute Universität für angewandte Kunst). Die Absolventen aller drei hohen Schulen waren schon damals gleichberechtigt. Während an der Technischen Hochschule die Architekten Karl König (1841–1915), Karl Mayreder (1856–1935), Max Freiherr von Ferstel (1859–1936), Franz von Krauß (1865–1942) und Maximilian Fabiani (1865–1962) wirkten2, lehrten an der Akademie der bildenden Künste Friedrich Ohmann (1858–1927) und Leopold Bauer (1872–1938) und an der Kunstgewerbeschule Josef Hoffmann (1870–1956) und Heinrich Tessenow (1876–1950). Freilich gab es neben den soeben genannten »Schulen« eine Reihe hervorragender Architekten – so etwa Ludwig Baumann (1853–1936) oder »die« Theaterarchitekten der Monarchie, Ferdinand Fellner (1847–1916) und Hermann Hellmer (1849–1919) – die nicht nur durch ihre Bautätigkeit, sondern auch durch theoretische Abhandlungen, allen voran Adolf Loos (1870–1933), von großer Bedeutung waren. Jedenfalls waren zu dieser Zeit die Augen der kunstinteressierten Wiener besonders auf die Akademie der bildenden Künste und die Kunstgewerbeschule gerichtet, deren Architekturstudenten ihre »Glaubenskämpfe« in der Öffentlichkeit austrugen. Zum besseren Verständnis dieser spannungsreichen Situation erscheint an dieser Stelle ein Blick in die damaligen vier Architekturschulen angebracht  :

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Abb. 57: Palmenhaus im Burggarten, Joseph Ohmann, 1901–1906.

Die Schule Friedrich Ohmann Friedrich Ohmann, im äußersten Osten der Monarchie geboren, wirkte nach Beendigung seines Studiums zunächst als Assistent an der Technischen Hochschule in Wien bei Karl König, danach ein Jahrzehnt als Professor für Baukunst an der Kunstgewerbeschule in Prag. 1898 wurde Ohmann zum architektonischen Leiter der Wienflussregulierung bestellt und ein Jahr danach zum artistischen Leiter des Baues der neuen Wiener Hofburg ernannt. 1904 übernahm er an der Akademie der bildenden Künste die Meisterschule für Architektur nach Viktor Luntz (1840–1903). Erst in dieser Periode findet Ohmann zu seiner unverwechselbaren Architektursprache. Es ist bezeichnend für ihn, dass das Ausland kaum merklichen Einfluss auf sein Bauschaffen gewinnt. Seine erfolgreiche Tätigkeit bei John Groll in Holland ist nur eine Episode, wenn sie auch Ohmanns Namen zuerst bekannt gemacht hat. Ohmann ist über 40, als er das erste Mal nach Italien geht.3 Sein sensibles Vertiefen in frühere Baustile verleitet ihn nie zu nachempfindendem Historizismus, sondern lässt ihn eine durch-

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aus persönliche Ausdrucksweise entwickeln. Ohmann steht der modernen Strömung seiner Zeit nicht gleichgültig gegenüber, doch bedeutet der Jugendstil für ihn nur eine Durchgangsphase. Ohmanns Kunst ist ganz Einfühlung  : Er entwickelt sein Werk immer aus den Gegebenheiten heraus, aus der Landschaft, aus der Bodengestaltung, dem Stadtbildcharakter, der Lebensatmosphäre. In ihrer Substanz ist Ohmanns Architektur trotzdem unabhängiger von ihrer Zeit als es scheint. Sie besitzt zeitlose Maßstäbe der Qualität. Hinter einer gewissen virtuos-dekorativen Leichtigkeit verbirgt sich eine strenge, oft kühne Grammatik, die Ohmann als großen Raumkünstler ausweist. All diese Komponenten fließen offenkundig auch in Ohmanns Lehre ein.4 Es ist erstaunlich, wie sehr der Lehrer Ohmann mit seinem universalen Kunstverständnis seine Schüler – etwa Dagobert Peche und Oskar Strnad – prägt, für die vielfach eine besondere künstlerische Sensibilität und auffallende Skepsis gegenüber Tendenzen und Ideologien typisch ist.

Die Schule Leopold Bauer Leopold Bauer (1872–1938), der aus dem ehemaligen Österreich-Schlesien stammte, studierte nach der Absolvierung der Staatsgewerbeschule Brünn an der Akademie der bildenden Künste in Wien bei Karl Freiherr von Hasenauer und Otto Wagner und errang bald begehrte Preise und Auszeichnungen. Bauer war aufgrund seiner Arbeiten und seines kritischen Scharfsinns eine der bedeutendsten Persönlichkeiten der Wiener Kulturszene. Sein 1900 in Wien erschienenes Werk Verschiedene Skiz­ zen, Entwürfe und Studien wurde der aufwendigen Ausarbeitung einer »Philosophie moderner Architektur« zugrunde gelegt. Es ist unklar, ob seine Fehde mit Otto Wagner, durch die eine Art »Neo-Biedermeier« ziemlich gefördert wurde, dazu führte, dass er auch bei den letzten WagnerSchülern auf Ablehnung stieß, oder ob dies seinem Ehrgeiz zuzuschreiben ist, durch den Bauer sich schon 1903 die Sympathie der Secession verscherzt hatte. Als Bauer 1913 als Nachfolger Otto Wagners zum Leiter der Meisterschule an die Akademie der bildenden Künste berufen wurde, zogen es die letzten Wagner-Schüler nach Bauers Antrittsrede vor, ihr Studium beim alten Meister in seinem Hause abzuschließen. (Im Übrigen waren es auch Wagner-Schüler, die Bauer veranlassten, 1919 seine Professur zurückzulegen, was nicht ausschloss, dass viele der besten WagnerSchüler vor und während der Studienzeit in seinem Atelier arbeiteten …) Rückblickend schreibt Bauer über jene im Laufe der Jahre an der Akademie herangereiften Überzeugungen, die er seinen Studenten zum Thema »moderne Baukunst« mitzugeben versuchte  : »Um das Jahr 1900 glaubten wir, die neue Baukunst werde eine mehr oder weniger dekorative Angelegenheit sein. Die Künstler überboten sich in Erfindung neuer Ornamente und neuer Schnörkel und verbanden damit eine größ-

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tenteils missverstandene Forderung nach Materialechtheit und dergleichen. Heute wissen wir, dass damals auch nicht im Entferntesten die inneren Forderungen und der Kern des ganzen Problems einer neuen Baukunst begriffen wurden. Wenn wir nun jetzt bei dem Prinzip der Vereinfachung, der ›neuen Sachlichkeit‹ – um ein Schlagwort zu gebrauchen – angelangt sind, haben wir dadurch das Problem etwa schon gelöst  ? Gewiss nicht, denn das wichtigste für den Menschen ist und bleibt  : Er selbst. Er, das heißt das einzelne Individuum in seiner unüberbrückbaren Einsamkeit, mit seiner unstillbaren Sehnsucht nach einem freien, glücklichen Leben, das ihn mit der Natur und ihren Schönheiten vereinigt, und in dem er seine seelischen, geistigen und körperlichen Kräfte entfalten kann, ohne von seiner Umwelt behindert und abgelenkt zu werden. All diese Wünsche entspringen einer Art verklärten Nihilismus, der immer in unserer Seele schlummert und zugleich der Urgrund jeglichen Künstlertums im Menschen ist. Nur diejenige Baukunst, die diesem innersten Verlangen der Menschheit entgegenkommt, kann uns als wahrhaft modern gelten. Alle anderen Bestrebungen sind nebensächlich und bringen uns der Lösung des Problems um keinen Schritt ­näher.«5

Die Schule Josef Hoffmann Josef Hoffmann (1870–1956) studierte an der Akademie der bildenden Künste zunächst bei Karl von Hasenauer und sodann bei Otto Wagner. Bereits vier Jahre nach Beendigung seines Studiums wird er – 1899 – zum Professor an der Kunstgewerbeschule des k. k. Museums für Kunst und Industrie ernannt. (Unmittelbar danach wurden übrigens Kolo Moser, Alfred Roller, Leopoldine Guttmann, Carl Otto Czeschka, Rudolf von Larisch und Franz Metzner berufen, wodurch die Kunstgewerbeschule zur Hochburg der Secessionskünstler wird.) Die Unterrichtsmethode Hoffmanns war auf die Förderung der Persönlichkeit jedes Studenten abgestellt, ohne ihn durch Regeln einzuengen, was somit einer Methode der Nicht-Methode gleichkommt. Leopold Kleiner, ehemaliger Schüler Hoffmanns, führte dazu treffend aus  : »Der Pädagoge Hoffmann weiß, daß es in der Kunst nichts zu lehren gibt, daß somit seine Hauptaufgabe darin besteht, Talente zu erkennen, diese aber sich selbst vollenden und ausleben zu lassen. ›Ich kann Ihnen nur zeigen, was an Ihrer Arbeit unrichtig ist‹, pflegt Hoffmann dem Schüler zu sagen, ›ebenso kann ich Ihnen zeigen, was an ihr Richtiges und Gutes ist. Formal beeinflussen will ich Sie nicht, denn auf diese Dinge kommen Sie – sind Sie eine Persönlichkeit – ohnedies von selbst‹.«

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So pflegte Hoffmann auf die SchüIerfrage  : »Was soll ich arbeiten  ?« gewöhnlich mit der Gegenfrage  : »Wenn Sie selbst es nicht wissen, woran Sie Freude haben, wie kann ich es Ihnen sagen  ?« zu antworten …6 Zusammenfassend hält Hoffmann diese Grundsätze wiederholt – etwa 1923 – auch schriftlich fest  : »Wir wissen, daß wir von der Schule heute den einzigen wirklich wertvollen Mitarbeiter erwarten, d. h. den Lehrer, der die schöpferischen Fähigkeiten des Schülers mit liebevoller Fürsorge wecken, pflegen und entwickeln kann. Es ist zwecklos zu versuchen, die jungen Wiener starren Regeln zu unterwerfen … Deshalb darf man dem Lehrer auch keine strengen Vorschriften machen  ; man muß ihn vielmehr dazu ermuntern, seinen persönlichen Eingebungen zu folgen. Wir müssen wieder den Mut haben, an den unbegrenzten Einfluß einer großen Persönlichkeit zu glauben und anzuerkennen, wie wertvoll sie für die breite Masse ist.«7

Trotz dieser propagierten Nichteinflussnahme auf das stilistische Empfinden der Studierenden spiegeln deren Arbeiten die jeweilige Stilaktualität Hoffmanns in Variationen wider.

Die Schule Heinrich Tessenow Der aus Rostock stammende Heinrich Tessenow (1876–1950) studierte an der Technischen Hochschule in München. Danach nahm er die Stelle eines Assistenten an der Technischen Hochschule Dresden an. In diese Zeit fallen seine ersten Bauaufträge für Einfamilienhäuser und Siedlungshäuser sowie seine Mitarbeit an der deutschen Gar­ tenstadt Hellerau bei Dresden. Daran schließt die Planung und der Bau der Bildungs­ anstalt für rhythmische Gymnastik in Hellerau, die man als Hauptwerk bezeichnen kann. Mit diesem Bauwerk wird Tessenow über Nacht berühmt, und seither verbindet man mit seinem Namen einen ernsten, streng sachlichen und die ruhige schmucklose Fläche betonenden Purismus.8 1913 beruft ihn Alfred Roller als Nachfolger von Hermann Herdtle an die Kunstgewerbeschule nach Wien. Dabei beweist Roller großes Fingerspitzengefühl, indem er den Norddeutschen Tessenow, der als zurückhaltend, karg und streng in seinen Ausdrucksmitteln galt, als Antipode zu dem wienerisch-eleganten Josef Hoffmann nach Wien holt. Trotz gegensätzlicher Auffassungen kann sich Tessenow – seinen autobiografischen Skizzen zufolge – rasch in der neuen Umgebung einleben und knüpft – abgesehen von den guten Beziehungen mit Alfred Roller, Josef Hoffmann und Kolo Moser – auch mit Otto Wagner, Gustav Klimt und Anton Hanak Kontakte. Besonders die Wiener Umgebung und die Lehre an der Kunstgewerbeschule schie-

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nen Tessenow seine Wesensart noch deutlicher erkennen zu lassen und bewirkten in der Folge deren stärkere Akzentuierung. Gerade in der Wiener Szene findet Tessenow – nicht zuletzt bedingt durch die weltkriegsbedingte Bauflaute – Inspiration und Muße, sich auch intensiv theoretischen Schriften zu widmen. In diese Zeit fällt auch jene denkwürdige Diskussion an der Kunstgewerbeschule zwischen Tessenow und Walter Gropius über Probleme der Er­ ziehung zum Planer und die Frage, welcher Einfluss dabei einer handwerklichen Ausbildung zukomme. 1919 kehrt Tessenow nach Hellerau zurück. Der Versuch Josef Hoffmanns, Tessenow zur Rückkehr nach Wien zu bewegen, bleibt jedoch erfolglos. Trotz Tessenows kurzer Lehrtätigkeit in Wien gingen aus der Wiener Tessenow-Schule eine Reihe junger Architekten hervor, die durch das Engagement für den sozialen Wohnbau und ihren puristischen Stil weithin bekannt wurden (Franz Schuster, Margarete Lihotzky). Doch zurück zum Beginn der Studienzeit Ettore Sottsass in Wien. Die Bautätigkeit in der Donaumetropole, die mittlerweile über 2 Millionen Einwohner zählte, war zu dieser Zeit äußerst rege. Das urbane Gesicht der Stadt erhielt zusehends neue, straffere Züge, die Zweckbauten Otto Wagners – etwa der Stadtbahn – hatten dazu nicht unbeträchtlich den Grundstein für ein neues ästhetisches Verständnis gelegt. Mit der damit Hand in Hand gegangenen Einwölbung des WienFlusses hatten diese die Realisierung urbaner Wünsche nach Verbesserung der Infrastruktur (Errichtung eines Großmarktes, leistungsfähiger Verkehrsadern, Erschließung eleganter Villenviertel wie des Döblinger »Cottage« u. a.) durch die dadurch erfolgte Bauflächengewinnung in Sichtweite gerückt und einen Auftragsboom der öffentlichen Hand und des begüterten Bürgertums zur Folge. Abgesehen vom reichen architektonischen Erbe der Jahrhunderte wurden zahlreiche jüngste Projekte der lehrenden Architekten in Wien realisiert und konnten so den Studenten gleichsam als Anschauungsunterricht am Objekt dienen, was in heißen Diskussionen Gelegenheit zu Begeisterung, Kritik oder vehementer Ablehnung bot. In der Stadt der Musik lässt der Pluralismus der Baustile und architektonischen Überzeugungen, ja Weltanschauungen, automatisch an die Gesetzmäßigkeiten einer Symphonie denken, bei der jeder Satz zu den anderen Sätzen in einem determinierten, scheinbaren Gegensatz steht. So finden sich auf der Wiener Architekturszene im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts gleichzeitig stark historisierende Bauten imperialer Prägung neben secessionistischen mit floraler oder geometrisierender Dekorsprache, Architektur mit neoklassizistischen Tendenzen neben ornamentlosen, puristischen Bauten und, zu alldem im Gegensatz, Bauten mit frühem Einsatz von art deco-Elementen. Gerade die Gleichzeitigkeit dieses Vorausstürmens und Nachhinkens, welche die vieldiskutierten geschmacklichen Antipoden bildet, ergibt die Klangfarben dieses Orchesters trotz häufiger Dissonanzen einen unverwechselbaren »Wienerischen Klang« und entzieht sich so jeder Nivellierung.

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Nicht zuletzt galt aber neben der Fülle an kulturellen Höhepunkten die internationale Aufmerksamkeit auch dem technischen Fortschritt Österreich-Ungarns, insbesondere den Pionierleistungen in der Aviatik. Im Mai 1912 lockte die »Erste Internationale Flugausstellung« in der Wiener Rotunde Piloten und interessierte Gäste aus der ganzen Welt an, und im Juni jubelten Zehntausende beim »Ersten Internationalen Flugmeeting Wien« auf dem neu errichteten Asperner Flugfeld der österreichischungarischen Fliegerei zu, die mit 23 Weltrekorden der Aviatik hinter Frankreich die Weltrangliste anführte.9 Ettore Sottsass wird in seinen zwei Wiener Studienjahren Zeuge von zahlreichen markanten Veränderungen des Stadtbildes  : Während Leopold Baumann den kolossalen Komplex des Kriegsministeriums, den Festsaaltrakt der Wiener Hofburg, das Kon­ zerthaus und das Akademietheater (gemeinsam mit dem Spezial-Architektenbüro für Theaterbauten Ferdinand Fellner und Hermann Hellmer), das Gebäude der ­»Riunione Adriatica di Sicurità« sowie vier luxuriöse Wohnpaläste fertigstellt, präsentiert der gleichzeitig in Meran, Budapest, Grado, Prag und Karlsbad bauführende Architekt Friedrich Ohmann nach seiner sehr beachteten erwähnten Gestaltung des Wienfluss­ ambientes und des Glashauses im Kaisergarten das Gebäude der »Delug-Schule«, das Wohnhaus Regenstreif sowie die Neugestaltung des Palais Kranz. Otto Wagner fügt seinem bereits kolossalem Werk in diesen Jahren den Bau der Klinik Lupusheim und die spektakuläre Zweite Wagnervilla an, während Adolf Loos – neben mehreren Villenbauten und zwei Bankfilialen – das »Haus des Anstoßes«, das Haus ohne ­Augenbrauen, wie es scherzend im Volksmund genannt wird, am Michaelerplatz gegenüber der Hofburg vollendet. Max Fabiani setzt im Stadtbild nach dem gefeiertem Bau der Urania mit dem Palais Reithoffer einen neuen Akzent, während Leopold Bauer neben interessanten Wohnbauten das Großprojekt der Österreichisch-Ungarischen Nationalbank vorstellt, von dem zunächst das Gebäude der Banknotendrucke­ rei in Angriff genommen wird (das am Ende des Krieges zum Hauptgebäude umfunktioniert werden sollte, weil das Projekt wegen Geldmangels nicht mehr realisierbar erscheint). Josef Hoffmann ist zu dieser Zeit der international gefeierte Schöpfer des »Gesamtkunstwerkes« Palais Stoclet in Brüssel. Umso mehr rückt die in diese Zeit fallende Errichtung des Hauses Ast, der Villenkolonie Hertzka und besonders der Villa Skywa-Primavesi den in seiner Eleganz unerreichten Architekten in den Brennpunkt des Interesses. Dem scharfen, lernbegierigen Blick Ettore Sottsass’ entgehen jedoch weder die ­architektonischen Leistungen seines urbanen Umfeldes, wie jene der bildenden Künste (Gustav Klimt, Kolo Moser, Franz Metzner, Alfred Roller), noch das bunte Treiben des gesellschaftlichen Lebens der Großstadt mit ihrem unruhigen Puls. So gibt etwa das 1907 von Josef Hoffmann unter Mitwirkung von Bertold Löffler und Michael Powolny geschaffene Cabaret-Theater Fledermaus, in dem so mancher spätere Große, z. B. Oskar Kokoschka, seine ersten dramatischen Gehversuche expres-

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Abb. 58: Österreichisch-ungarische Bank, Hauptgebäude, Entwurfsmodell, Leopold Bauer, 1910/1911 (kriegsbedingt nicht ausgeführt).

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Abb. 59: Österreichische Nationalbank Hauptgebäude, (ursprünglich als BanknotendruckereiGebäude konzipiert), Leopold Bauer, 1912–1919. Nach Umfunktionierung des Rohbaus zum Hauptgebäude 1925 eröffnet.

sionistischer ­Richtung macht, den (satirischen) Ton an. Allzu markant sind auch die Ereignisse, die täglich Schlagzeilen machen  : Während Frank Wedekind 1912 mit seinem neuesten Theaterstück Franziska die Gemüter erhitzt, und Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal an der Wiener Hofoper mit dem Rosenkavalier endlich verdiente Triumphe feiern, gerät der noch im Mai dieses Jahres aus Anlass seines 50. Geburtstages mit 26 Aufführungen an Bühnen des Reiches geehrte Arthur Schnitzler mit seinem Theaterstück Professor Bern­ hardi unter Beschuss der Zensur, welche die am 25. Oktober 1912 am Deutschen Volkstheater in Wien angesetzte Premiere untersagt. (Erst kurz nach dem Fall der Monarchie – am 21. Dezember 1918 – sollte sich für dieses Schlüsselwerk über religiöse Intoleranz und falschverstandenes Berufsethos erstmals auf Wiener Boden im Volkstheater der Vorhang heben.) Auch 1913 kann der in Europa schwelende politische Brand nicht eingedämmt werden  : Der Ausbruch des 2. Balkankrieges lässt das Säbelrasseln deutlicher hören. Während der Tanz auf dem Vulkan frenetischer wird, bietet in der Rückschau das Kulturleben in Wien ein schier unbeschreibliches Mosaik an Spitzenleistungen, das dieser internationalen Szene aus dem fruchtbaren Widerstreit von Tradition und Fortschritt immer neue Glanzpunkte aufsetzt  : An der Hofoper reißt Puccinis Mädchen

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Abb. 60: Palazzo della Moda – Theaterfoyer, Turin, Ettore Sottsass sen., Entwurfszeichnung, Tempera/ Karton, 68 x 47 cm, 1937–38.

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aus dem goldenen Westen mit dem naturalistischen Gesangsgenie Maria Jeritza als Minnie ebenso wie Strawinskys Petruschka mit dem Diaghilew-Ballett die Wiener zu Begeisterungsstürmen hin. Um nichts weniger wird der legendäre Enrico Caruso, der sich wiederholt als Gast einstellt, vom Publikum umjubelt. Arnold Schönberg hat seine kontemplative Phase, in der er sich intensiv der expressionistischen Malerei gewidmet hatte, beendet und schockiert das konservative Publikum mit seinen unortho­doxen Klangschöpfungen. Wenige Wochen vor dem Pariser Opernskandal (Premiere von Igor Strawinskys Sacre du Printemps) entfesselt er schließlich mit seiner, von ihm selbst am 31. März 1913 im sakrosankten Musiktempel der Residenzstadt – dem Wiener Musikverein – dirigierten Kammersymphonie op. 9 ebenso wie mit Werken von Alban Berg, Anton Webern und Alexander Zemlinsky den Musikskandal des Jahrzehnts, »das Watschenkonzert«. Freilich traf den Komponisten an dieser Reaktion des Publikums eine gewisse »Schuld«. Sechs Wochen zuvor geriet nämlich die Uraufführung seiner Gurre-Lieder unter der Leitung von Franz Schreker zu einem überwältigenden Erfolg. Doch Schönberg konnte sich an dem Erfolg – wie er später ausführte – nicht recht freuen, da die ursprüngliche Komposition 13 Jahre zurücklag, und sich inzwischen seine Tonsprache radikal weiterentwickelt hatte. Deshalb weigerte er sich, den Applaus des Gutteils konservativen Publikums entgegenzunehmen. Bei der erwähnten nächsten Aufführung »revanchierten« sich konservative Zuhörer mit einem tumultartigen Skandal. Nach Presseberichten kam es zu handgreiflichen Szenen zwischen Befürwortern und Gegnern, die schreiend das Konzert störten.10 Als Schönberg sich zum Publikum wandte und drohte, den Saal von Ruhestörern räumen zu lassen, erklommen manche die Bühne, um Schönberg zu ohrfeigen und zertrümmerten Teile des Mobilars.11 Im selben Jahr sorgen Franz Kafkas Werk Das Urteil und Thomas Manns Der Tod in Venedig in literarischen Kreisen für einiges Aufsehen. 1914 schreckt Andre Gide die Welt mit seinem Blick in Die Verliese des Vatikan (Les Caves du Vatican), und James Joyce profiliert sich literarisch mit dem Werk Dub­ liners. Es mutet beinahe symbolhaft an, dass kurz vor den verhängnisvollen Schüssen in Sarajevo Bertha von Suttner stirbt, die 1905 für ihr Werk Die Waffen nieder  ! den ersten Friedensnobelpreis erhalten hatte. Die Ermordung des unbeliebten Thronfolgers Erzherzog Franz Ferdinand und seiner Gattin zünden die schon lange tickende Zeitbombe, die am 28. Juli 1914 mit der Kriegserklärung an Serbien explodiert. In der Folge wird Ettore Sottsass zu den Waffen gerufen und verlässt Wien … »Durch die Einrückung ins Feld unterbrach er sein Studium …«12 Steht man heute vor dem Werk Ettore Sottsass’ ist jener Zeitabstand gegeben, der eine gewisse Objektivität bei dessen Beurteilung verspricht. Dabei erhebt sich die Frage, wo die Wurzeln für Sottsass’ raumgestalterisches Wollen liegen. Was mag er – bewusst oder unbewusst – aus den Wiener Jahren in seine Heimat »mitgenommen« haben  ? So wie alle Kunstphänomene nicht isoliert, sondern nur in der Interde-

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Abb. 61: Palazzina per Antonia Peintner (Casa Sottsass), Turin, Ettore Sottsass sen., 1938.

pendenz von Kultur, Politik und Wirtschaft zu betrachten sind, kann auch die Architektur als eines dieser Phänomene nicht losgelöst von der Umwelt beurteilt werden. Was hatte Sottsass also in der Folge nicht bloß vordergründig, sondern substanziell beeinflusst und inspiriert  ? Wie waren die Wiener Eindrücke mit seiner neuen alten Umwelt im Einklang zu bringen, zu relativieren oder zu revidieren  ? Betrachtet man beispielsweise Sottsass’ Projekte für dörfliche oder gebirgige Regionen, so hat man den Eindruck, dass er wie manch andere dabei ohne Ausnahme den von Adolf Loos 1913 formulierten Regeln für den, der in den Bergen baut folgt. War es also vielleicht gerade der prominenteste »Außenseiter« der Wiener Architekturszene, Adolf Loos, der den klarlinigen Sottsass am meisten beeinflusste  ? Mussten nicht gerade Sottsass die von Loos bereits 1898 im Ver Sacrum unter dem Titel Die potemkinsche Stadt formulierten Ideen gegen falschen Schein und für völlige Schmucklosigkeit begeistern, die selbst die Secessionisten zu radikal empfanden  ? Oder war es noch mehr der von Loos 1908 verfasste Aufsatz Ornament und Verbrechen, der da postulierte  : »Der weg der kultur ist ein weg vom ornament zur ornamentlosigkeit. Evolution der kultur ist gleichbedeutend mit dem entfernen des ornaments aus dem gebrauchsgegenstande… Da das ornament nicht mehr organisch mit unserer kultur zusammenhängt, ist es auch nicht mehr der ausdruck unserer kultur.

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Das ornament, das heute geschaffen wird, hat keinen zusammenhang mit der weltordnung.«13 Musste es Sottsass in seiner Wiener Zeit da nicht amüsieren, zu hören, dass Loos es selbst nicht fassen konnte, seine Theorien in die Praxis umzusetzen und das Haus am Michaelerplatz realisieren zu können (»… das hätte ich mir wohl nie träumen lassen, dass ich auf meine alten tage noch ein haus bauen werde.«), was Karl Kraus schadenfreudig mit den Worten  : »Er hat ihnen (i.e. den Wienern) dort einen Gedanken hingebaut«, umschrieb. Aber ist nicht auch Ohmanns Schule bei Sottsass zu spüren, wenn man sieht, wie selbstverständlich er mit großen Bauvolumina – etwa bei seinem Palazzo della Moda in Turin – umzugehen versteht, und mit welcher Sicherheit großstädtische Bauvorhaben wie im Projekt des Bahnhofes für Florenz von ihm bewältigt werden  ? Und schwingt nicht schließlich auch etwas von der Ästhetik Josef Hoffmanns bei der Planung der Palazzina per Antonia Peinter14 – dem Wohnsitz der Familie Sottsass in Turin – im urbanen Verständnis von Sottsass mit  ? Jedenfalls waren Sottsass’ Wiener Studienjahre eine Art »Achsenzeit« der Wiener und damit europäischen Kulturszene, in die Sottsass als Zwanzigjähriger aus den Bergen kommend eintauchte, deren Anregungen, Herausforderungen und Reizen sich niemand entziehen konnte. Das Flirren einer mannigfaltigen, sensiblen, sinnlichen Kultur, die zum letzten Mal vor der großen Nacht all ihre Vielfalt, ihren Reichtum und ihre Raffinesse verschwenderisch darbot, bevor sie mit einem Donnerschlag im Rachen der Geschichte verschwand, hatte sicherlich auch auf Sottsass nachhaltige Wirkung.

Anmerkungen 1 Zeugnisprotokoll der Akademie der bildenden Künste, Band 13. – Wien  : 1903–1930. 2 150 Jahre Technische Hochschule Wien 1815 – 1965. – Technische Hochschule Wien. Wien  : H. Sequenz Verlag 1965. 3 Frey, Dagobert. – Friedrich Ohmann Gedächtnisrede. – Wien  : 1927. 4 Achleitner, Friedrich  : Eine Notwendigkeit – Wien  : Die Presse 29.11.1969. 5 Oberbaurat Professor Leopold Bauer. Seine Anschauung in Wort und Werk. Wien [u.a.]  : Elbemühl-Verlag 1931, S 8. 6 Kleiner, Leopold  : Josef Hoffmann – Berlin  : F. E. Hübsch (Neue Werkkunst) 1927, S XXIII. 7 Hoffmann, Josef   : La culture viennoise in L’amour de l’art IV/8, 1923, S 101. 8 Adamek, Heinz   : Tessenow a St. Moritz/Requiem for Villa Böhler – Milano   : Arca Nr. 36. 9 Silberer, Victor (Hg.)   : Wiener Luftschifferzeitung Nr. 5, Jg. II. – Wien   : Vlg. Allgemeine Sport-­ Zeitung 1912 sowie Lenotti, Wolfram   : Ein Traum vom Fliegen – 200 Jahre Luftfahrt in Öster­ reich. – Wien   : Brandstätter 1982. 10 Neue Freie Presse 1. April 1913, S 12 und Reichspost, Morgenblatt, Nr. 151/1913 S 7. – Wien  : 1913. 11 In seinem Aufsatz How one becomes lonely von 1937 berichtet Schönberg, was er anlässlich des Premierenerfolgs empfand  : „As usual, after this tremendous success, I was asked whether

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Ettore Sottsass sen. (1892–1953)

I was happy. But I was not. I was rather indifferent, if not even a little angry. I foresaw that this success would have no influence on the fate of my later works. I had, during these thirteen years, developed my style in such a manner that, to the ordinary concert-goer, it seemed to bear no relation to all preceding music. I had had to fight for every new work  ; I had been offended in the most outrageous manner by criticism  ; I had lost friends and I had completely lost any belief in the judgement of friends. And I stood alone against a world of enemies”. In  : Schönberg, Style and Idea, a. a. O., (S. 30–53), S. 41. Siehe auch  : Szmolyan, Walter  : Schönbergs Wiener Skandalkonzert. In  : ÖMZ 31. Jg. Heft 6, 1976, S. 293–304. 12 Zeugnisprotokoll der Akademie der bildenden Künste, Band 13. – Wien  : 1903–1930. 13 Loos, Adolf  : Ornament und Verbrechen, Ausgewählte Schriften – Die Originaltexte – Opel, Adolf (Hg.) – Wien  : Prachner 2000, S 236. 14 Benannt nach der Österreicherin Antonia Peintner, die Ettore Sottsass sen. bereits in seinen Studienjahren kennengelernt und 1916 geheiratet hatte.

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Abb. 62: Villa Böhler, Oberalpina/St. Moritz, Ostfassade, 1988, Kunstsammlung und Archiv der Universität für angewandte Kunst Wien.

Wir können umso weniger, je mehr wir zu können glauben. Die großen, wirklich großen Dinge sind immer sehr still. Heinrich von Tessenow, 1931

Heinrich von Tessenow (1876–1950) Villa Böhler/St. Moritz – ein Nachruf

Heuer gäbe es für St. Moritz Anlass zur Feier des 100-jährigen Bestehens seines bedeutendsten, architekturhistorisch modernen Bauwerks, wenn es nicht 1988 aus Unverstand und Geldinteressen der Spitzhacke preisgegeben worden wäre … Jahrelang war der Zerstörung ein Kampf um das bedeutendste Engadiner Haus des frühen XX. Jahrhunderts – der Villa Böhler in Oberalpina – vorausgegangen. Einen Tag nach einem banausischen Volksentscheid der Gemeinde St. Moritz, der sich gegen eine Unterschutzstellung aussprach, waren die Würfel gefallen, und somit das Todesurteil für ein Monument europäischer Kulturgeschichte gefällt, der es ohne Vorliegen einer rechtsgültigen Abbruchbewilligung in Schutt und Asche sinken lassen sollte. Grund für den negativen Ausgang der Abstimmung war – trotz Bejahung der Schutzwürdigkeit durch das Bundesgericht – die Auflage einer finanziellen Entschädigung des Eigentümers und Bauwerbers, Alfred A. Heineken, für den Fall der Unterschutzstellung des Bauwerks, die die Stimmbürger von St. Moritz nicht befürworteten. Der niederländische Bierindustrielle hatte die Villa erst Mitte der 1980er-Jahre vom Nachbesitzer der Witwe Heinrich Böhlers, einem aus Zürich kommenden Arzt, in nahezu ursprünglichem, besterhaltenen Zustand erworben, und gab unmittelbar nach seinem »Sieg« über die fachlich hochrangigen Befürworter der Erhaltung des Hauses den Startschuss zur Demolierung dieses markantesten Baudenkmals europäischen Ranges in dieser Region. Die Villa Böhler war 1916/18 von Heinrich von Tessenow für Heinrich Böhler erbaut worden und sollte des Architekten einziges Werk auf Schweizer Boden bleiben. Dieses Bauwerk gehörte neben dem Herrenhaus Czomaháza (1919) in Ungarn und der Wohnsiedlung Rannersdorf (1921) in Niederösterreich zu den wichtigsten Bauten der Wiener Zeit des Architekten, die nicht auf Wiener Boden stehen. Der Bauherr der Villa, Heinrich Böhler (1881–1940), war Erbe der steirischen Edelstahlwerke, eines Unternehmens mit Weltruf, das sein Vater Emil Böhler mit drei Brüdern gegründet hatte. 1909 heiratete Heinrich Böhler die Amerikanerin Mabel Forbes (1875–1963) in Wien. Da er in Oberweningen/Kanton Zürich geboren war, besaß er auch das Schweizer Bürgerrecht. Abgesehen davon hatte das Ehepaar auch andere Schweizbezüge  : so etwa einen weiteren Wohnsitz in Castagnola/­

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Architekturgeschichte(n)

Abb. 63: Grundrissplan Villa Böhler/Erdgeschoss, 1915. Katalog der HSAK, Katalog 1976/9, S 25.

Lugano. (Dazu sollte 1925 die Gründung der Dachorganisation und Holdinggesellschaft »Vereinigte Böhler Stahlwerke AG in Zürich«, die bis 1938 Bestand hatte, kommen.) 1911–1913 lebte das Paar in Tokio und Osaka, wo bereits 1908 eine Tochter­ gesellschaft des Stahlunternehmens, die »Bohler Brothers & Co. Ltd. Japan Branch«, gegründet worden war, deren Leitung Heinrich Böhler und seinem Vetter Richard übertragen wurde. Gerade diese fernöstliche Atmosphäre war für Heinrich und ­Mabel Böhler prägend und weckte deren große Begeisterung und Verständnis für die bildende Kunst. Unvergessliche Urlaubstage im Jahr 1913 im kurz zuvor eröffneten Grand Hotel Suvrettahaus oberhalb St. Moritz dürfte das Ehepaar Böhler dazu inspiriert haben, sich in dieser spektakulären Gebirgsregion eine Villa errichten zu lassen. Nahelie-

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Heinrich von Tessenow (1876–1950)

Abb. 64: Herrenhaus Czomaháza/Ungarn, Eingang Hoftrakt, (Entwurf), 1919, Katalog der HSAK, Katalog 1976/9, S 26.

gend war, sich mit dieser Idee an Josef Hoffmann zu wenden, dem sich die Böhlers seit einigen Jahren verbunden fühlten. Hoffmann hatte 1909 bereits die Wohnung des jungen Paares in der Wiener Belvederegasse gestaltet, kurz danach deren Haus in Baden bei Wien umgebaut und die Gartenanlage neu konzipiert. Laut Eduard Sekler soll Hoffmann Heinrich Böhler als »einen Mann von ganz besonderer Begabung und eigenartigem Witz« geschätzt haben. Auf Vermittlung Hoffmanns sei Heinrich Böhler sogar in den Genuss eines privaten Malunterrichts bei Egon Schiele gekommen.1 Von Josef Hoffmann dürfte daher auch Heinrich von Tessenow bei Böhlers eingeführt worden sein. Hierfür spricht nicht nur die Kollegenschaft Hoffmanns als Professor für Architektur an der Wiener Kunstgewerbeschule – Tessenow war ja 1913 von Alfred Roller an die Institution berufen worden –, sondern auch die bei Bauaufträgen wiederholte kollegiale Zusammenarbeit der beiden Architekten. Als der 40-jährige Tessenow mit dem Bau der Villa betraut wird, ist er am Höhepunkt seines Schaffens. Bereits 1915, unmittelbar nach Abschluss der Planung, veröffentlicht Tessenow in seinem Buch Hausbau und dergleichen2 den Entwurf. Parallel dazu entwirft Josef Hoffmann für die St. Moritzer Villa in Oberalpina die Innenausstattung.

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Architekturgeschichte(n)

Abb. 65: Villa Böhler, Oberalpina/St. Moritz, Südfassade, 1988, Kunstsammlung und Archiv der Universität für angewandte Kunst Wien.

Zwei Jahre danach, kurz vor Fertigstellung der Villa, beendet Tessenow die Arbeit an seinem Werk Handwerk und Kleinstadt3, dessen Ideen er mit Gründung der Handwerkergemeinde in Hellerau realisiert. Die Villa Böhler gerät zu einem Meisterstück. Obwohl Tessenow die Formensprache nicht aus der »alpinen Architektur« entlehnte, entsprach die Bauweise mit Bruchstein­sockel, gemauertem, verputztem Haupthaus und Steinplattendach der orts­ üblichen. Der Bau schien mit der Landschaft verwachsen. Niemand konnte sich der selbstsicheren Wirkung des Hauses verschließen, das sich wohltuend von vielen Bauten neueren Datums abhob, die sich bei ihrer gebauten Umgebung anbiedern, indem sie jede architektonische Handschrift verleugnen und auf billige Art und Weise vordergründig »sentimental« – und nicht sensibel – der Bautradition längst vergangener Epochen folgen und einen örtlichen Baustil kopieren, ohne sich mit dem Ort auseinanderzusetzen. Auch heute ist diese Verdichtung einer Architekturlüge weit verbreitet, durch Vortäuschen von einstiger rustikaler Dörflichkeit, nachgebaut in Beton und Stahl, geschmäcklerisch kaschiert durch Putz und historisierende Details, und im Inneren ausgestattet mit allem Komfort des digitalen Zeitalters … (Und diese Tendenz ist längst nicht mehr auf nichturbane Regionen beschränkt.)

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Heinrich von Tessenow (1876–1950)

Abb. 66: Portikusbereich (Nordfassade), Dokumentation des bereits fehlenden Lärchenholzstammes 1989, Kunstsammlung und Archiv der Universität für angewandte Kunst Wien.

Wie anders war dies bei der Villa Böhler  ! Bei ihrem Anblick hatte man beinahe das Gefühl, vor den zu Stein gewordenen, von Adolf Loos 1913 formulierten Kernsätzen aus seinen Regeln für den, der in den bergen baut4 zu stehen  : »Baue nicht malerisch. Überlasse solche wirkung den mauern, den bergen und der sonne … Baue so gut als du kannst. Nicht besser. Und nicht schlechter. Auch wenn du in die berge gehst, sprich mit den bauern in deiner sprache … Achte auf die formen, in denen der bauer baut. Denn sie sind der urväterweisheit geronnene substanz. Aber suche den grund der form auf. Hat die technik es möglich gemacht, die form zu verbessern, so ist immer diese verbesserung zu verwenden. Der dreschflegel wird von der dreschmaschine abgelöst … Die ebene verlangt eine vertikale baugliederung  ; das gebirge eine horizontale. menschenwerk darf nicht mit gotteswerk in wettbewerb treten … Denke nicht an das dach, sondern an regen und schnee. So denkt der bauer und baut daher in den bergen das flachste dach, das nach seinem technischen wissen möglich ist. In den bergen darf der schnee nicht abrutschen, wenn er will, sondern wann der bauer will. Auch wir haben das flachste dach zu schaffen, das unseren technischen erfahrungen möglich ist… Sei wahr  ! Die natur hält es nur mit der wahrheit …

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Architekturgeschichte(n)

Abb. 67: Heinz P. Adamek vor dem Portikus der Villa Böhler bei der Baubestandsaufnahme, 1989, Foto Dora Lardelli, Kunstsammlung und Archiv der Universität für angewandte Kunst Wien.

Fürchte nicht, unmodern gescholten zu werden. Veränderungen der alten bauweise sind nur dann erlaubt, wenn sie eine verbesserung bedeuten, sonst aber bleibe beim alten. Denn die wahrheit, und sei sie hunderte von jahren alt, hat mit uns mehr inneren zusammenhang als die lüge, die neben uns schreitet …«

Beim Blick in die Entwurfspläne der Villa erstaunt zunächst die beträchtliche Größe des Baus und die beachtliche Dimensionierung des Mauerwerks mit seinen polygonalen Umrissen (verbaute Grundfläche 23,40 x 16 m ohne die 5 m breite Terrasse), die gleichsam als »respektvolle Geste zur Landschaft« zu deuten sind. Das Bauwerk stand wie aus einem Guss, einem Monolith gleich, »souverän« in Hanglage, mit unvergleichlicher Aussicht, in die Landschaft integriert. Auf der Talseite schien die Hanglage das Erdgeschoß zu einer Beletage gleichsam »emporzuheben«. Die Fernsicht vom erhöhten Erker des Wohnraumes und der Terrasse – diagonal über den Silvaplanersee und das Tal bis zur Bergkulisse – bot den Bewohnern ein unglaubliches Panorama, welches vom Piz de la Margna beherrscht wurde. Der ungewöhnliche Umriss des Gebäudes vermittelte den Eindruck einer unangestrengten, organischen Eigenständigkeit. Dabei bestach die überzeugende Lösung der Abwicklung der Voll- und Hohlformen von Sockel und asymmetrischem Walmdach, kolossalem, von zwei Lärchenstämmen getragenen Eingangsportikus und Veranda.

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Heinrich von Tessenow (1876–1950)

Gerade das Natursteinplattendach, das mit seiner schuppenförmigen Eindeckung auf die örtlichen Verhältnisse Bezug nahm, war raffiniert, da es einer Art Reproduktion des landschaftlichen Umfeldes gleichkam. Darüber hinaus schien die Dachform in ihrer Linienführung von jedem Blickwinkel aus den bergbegrenzten Horizont formal geradezu nachzuzeichnen. Ergänzt wurde dieser kompakt-geschlossene Eindruck gleichsam durch einen, das Gebäude umgebenden »Steinplattenrahmen«, den ­Tessenow in den Entwurfszeichnungen besonders hervorhebt, welcher die Abgrenzung zu dem unmittelbar anschließenden Almboden darstellte. So manche Architekten von Weltrang machten im Lauf der Jahrzehnte der Villa Böhler ihre Aufwartung – unter ihnen in den 60er-Jahren Alvar Aalto und Oscar Niemeyer … Bis zu ihrer Demolierung war die Villa baulich in hervorragendem Zustand, obwohl bereits gezielte Vandalismusaktionen – etwa das Wegreißen eines der beiden Lärchenholzstämme des Portikus beim Haupteingang im Sommer 1988 – die »Abbruchreife« beschleunigen sollten. Es würde zu weit führen, alle »rechtlich« in den letzten vier Jahren des Gebäudes unternommenen Schachzüge zur Verwirklichung dieses Kulturfrevels nachzuzeichnen. All jenen, die die überregionale Bedeutung diese Bauwerkes erkannten und sich selbstlos für dessen Erhaltung einsetzten, sei hier Anerkennung gezollt – eine spätere, verständnisvollere Zeit wird den weitblickenden Kulturschützern recht geben  : Kulturelle Schandtaten wie die Zerstörung dieses Architekturmonuments zeugen nur von der Mittelmäßigkeit der Drahtzieher. Oder sollte diese Tat als eine zynische Kampfansage an die Vertreter künstlerischer Hochkultur gewertet werden  ? Jedenfalls zeigt sich ein weiteres Mal, dass Fragen der Kunst durch einen Volksentscheid nicht zufriedenstellend gelöst werden können. Mangels hinlänglichen Wissens um die Bedeutung des kulturellen Erbes und unveräußerlichen Vermögens unseres Lebensraumes sind Stimmbürger vielfach überfordert und daher oft nicht in der Lage, die Tragweite ihrer Entscheidung zu ermessen. Tessenows späte Entwurfsarbeiten galten vorwiegend dem Wiederaufbau von im Zweiten Weltkrieg zerstörten Städten (Lübeck, Neubrandenburg u. a.). Die diesbezüglichen Pläne sind von Texten begleitet, die in tiefer Resignation von der Zerstörung des kulturellen Reichtums der Altstädte während der letzten hundert Jahre sprechen, welche der Krieg nur beschleunigt hätte. Mutet es nicht geradezu im Zusammenhang mit der Demolierung eines seiner Hauptwerke ironisch an, wenn Tessenow bereits in den späten 40er-Jahren »die Feindlichkeit der modernen Welt gegen die alten Städte und ihre Unfähigkeit, sie der Gegenwart organisch einzuordnen«, anprangert  ?« Schade, St. Moritz verspielte mit Preisgabe dieses einzigartigen Gebäudes die Chance, ein international renommiertes Museum über das Bauen in den Bergen zu etablieren.

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Architekturgeschichte(n)

Anmerkungen 1 Sekler, Eduard F.: Josef Hoffmann  : Das architektonische Werk  ; Monographie und Werkver­ zeichnis. – Wien  : Akad. D. bildenden Künste (Hg.) 1982. 2 Tessenow, Heinrich von  : Hausbau und dergleichen. – Berlin  : Bruno Cassirer 1915. 3 Tessenow, Heinrich von  : Handwerk und Kleinstadt. – Bruno Cassirer, Berlin 1919. 4 Loos, Adolf  : Sämtliche Schriften in zwei Bänden – Erster Band. – Glück, Franz (Hg.). – München  : Herold 1962, S 329–330.

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Bühne – Visualisierung des Wortes

Abb. 68: Das weite Land, Arthur Schnitzler, Regie Emil Geyer, 1932, Bühnenbildentwurf »Villa Hofreiter« 2. Akt, Theater in der Josefstadt Wien, Bleistift, Pastell/Transparentpapier, 18,5 x 28,5 cm. Privatsammlung Wien.

Nach innen geht der geheimnisvolle Weg, in uns oder nirgends ist die Ewigkeit mit ihren Welten, die Vergangenheit und Zukunft. Novalis

Otto Niedermoser (1903–1976) »Jung Wien« – eine Versuchung

Als Otto Niedermoser 1924 mit Eugene O’Neills Anne Christie am Theater in der Josefstadt seine erste Talentprobe als selbstständiger Bühnenbildner abgibt, ist er 21 Jahre alt. Die Repräsentanten von »Jung Wien« – Arthur Schnitzler, Hermann Bahr und Hugo von Hofmannsthal – sind zu dieser Zeit bereits in die Jahre gekommen. Das Weltbild hat sich seit dem Aufbruch in das neue Jahrhundert weitgehend verändert, und über so manches, was einst enthusiastisch als Sieg über Tradition und Akademismus gefeiert worden war, sind Weltkrieg, Zusammenbruch von Imperien und gesellschaftliche Neuordnungen hinweggefegt. Die Bewegung der Wiener Secession, welcher bereits 1907 deren bedeutendste Vertreter den Rücken zuwandten, wird als überkommen abgetan, und als Reaktion auf die seinerzeit richtungweisende Kunstrevolution machen sich Expressionismus und Neue Sachlichkeit das Terrain streitig … Das Medium Film tritt in diesen Jahren zunehmend mit so manchen Streifen neben das Theater, was sowohl von Arthur Schnitzler als auch von Hugo von Hofmannsthal aufgegriffen wird. So entstehen in wenigen Jahren Verfilmungen von Liebelei, Der junge Medardus, Fräulein Else, Flucht im Morgengrauen (Daybreak), Der Rosenkava­ lier u. a., für deren Drehbücher die Autoren mehr oder minder verantwortlich zeichnen. 1932 – wenige Wochen nach Arthur Schnitzlers Tod – wird Otto Niedermoser von Max Reinhardt erstmals am Theater in der Josefstadt mit der Bühnenausstattung von Das weite Land (Regie  : Emil Geyer) betraut. (In vier Jahrzehnten sollte Otto Niedermoser noch weitere 23 Produktionen von Werken Schnitzlers, Bahrs und Hofmannsthals – wenn man die Einakter einzeln zählt – szenografisch gestalten, von denen er im Lauf seiner Karriere manche bis zu vier Mal realisiert). Schon wenige Jahre nach seinem Debüt als moderner Bühnenarchitekt gilt Niedermoser als herausragender Meister der Schaffung von »Wiener Atmosphäre«, die von Kritik und Publikum gerade bei den Repräsentanten »Jung Wiens« gefordert und geschätzt wird. Heute fragt man sich, woraus sich die Nachhaltigkeit dieses Rufes erklärt. Die Antwort liegt in Niedermosers weit komplexerer Auffassung von »wienerisch«, als es dem Klischee,

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Bühne – Visualisierung des Wortes

das mit einem falschverstandenen Wiener Lokal- und Zeitkolorit Hand in Hand geht, entspricht. Die Dichter von »Jung Wien« waren keine Heimatdichter. Sie behandeln das allgemein Menschliche – zuweilen auch das allgemein Unmenschliche – in all seinen Dimensionen und Abschattierungen und sind dabei im besten Sinn des Wortes kosmopolitisch, ohne ihre Wiener Herkunft zu verleugnen. Kaum einer anderen Stadt als Wien waren über Jahrhunderte so kontinuierlich Menschen aus allen Teilen Europas mit ihren unterschiedlichen Weltanschauungen, Kulturen und Religionen aus allen sozialen Schichten zugezogen, die sich in das multinationale Klima integrieren konnten. Zur Zeit Schnitzlers, Bahrs und Hofmannsthals hatten sie in Wien längst Wurzeln geschlagen, die grenzüberschreitend bis in die Tiefen mehrerer Jahrhunderte hinabreichten. So wie die Thematik bei den Repräsentanten von »Jung Wien« – abgesehen von Schnitzlers Der grüne Kakadu, Der tapfere Kassian, Die große Szene und Bahrs ­Josephine – großteils scheinbar lokal, d. h. im Wiener Raum, konfiniert bleibt, den Gedanken jedoch mit dem Wort über alle geografischen Grenzen in die Welt hinausträgt, wo sie aus der jeweiligen sozialen und mentalen »Verwandtschaft« verstanden wird, so stellen die Bühnenräume und Bühnenlandschaften Niedermosers nur bei oberflächlicher Betrachtung den historisch Wienerischen Rahmen des Geschehens vor. Wenn man Niedermosers Visualisierung dieses Ambientes genauer analysiert, so stellt man fest, dass er die »Künstlichkeit« der Welt Schnitzlers, Hofmannsthals und Bahrs, von der noch später die Rede sein wird, in all ihren Vordergründen und Hintergründen mit ungemeiner Stilsicherheit – die nichts mit historischer Authentizität und musealer Perfektion zu tun hat – erfasst. Dabei begreift er die Angaben des Dichters und allfällige Wünsche des Regisseurs gleichsam als Tonart, in der er jene Atmosphäre komponiert, bei der Wort und Geste, Gedanke und Gefühl wie ein Akkord zu einer Einheit verschmelzen können. Nicht unwesentlich erscheint in diesem Zusammenhang der Faktor Zeit als Überlagerung von Epochen, der in den Stücken intentiös – real und mental – seine unverkennbaren Spuren hinterließ, dem Niedermoser großes Augenmerk zur Glaubhaftmachung eines determinierten, gewachsenen Ambientes schenkt. Als Bühnenarchitekt vernachlässigt er dabei nie die Maximen Werktreue, räumliche Schlüssigkeit und Bespielbarkeit. Hierbei kommen ihm seine »ererbte« handwerkliche Virtuosität, seine bautechnische Kompetenz und seine beachtliche malerische Begabung zugute.

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Otto Niedermoser (1903–1976)

Otto Niedermosers Bühnenausstattungen für Werke von Arthur Schnitzler, ­Hermann Bahr und Hugo von Hofmannsthal 1932 Das weite Land (Schnitzler), Theater in der Josefstadt, Regie  : Emil Geyer 1933 Liebelei und Der tapfere Cassian (Schnitzler), Theater in der Josefstadt, Regie  : Paul Kalbeck 1936 Fräulein Else (Schnitzler/Lothar), Theater in der Josefstadt, Regie  : Hans Thimig 1938 (Oktober) Wienerinnen (Bahr), Theater in der Josefstadt, (danach als Gastspiel in den Berliner Kammerspielen), Regie  : Hans Thimig, Kostüme  : Otto Niedermoser 1938 (November) Die Familie (Bahr), Theater in der Josefstadt, Regie  : Hans Thimig 1940 Der Meister (Bahr), Theater in der Josefstadt, Regie  : Hans Thimig 1945 (September) Der Schwierige (Hofmannsthal), Theater in der Josefstadt, Regie  : Rudolf Steinboeck, (danach als Gastspiel in Zürich) 1954 (Juni) Liebelei und Komtesse Mizzi (Schnitzler), Akademietheater, Regie  : Ernst Lothar, Kostüme  : Ernie Kniepert, (danach als Gastspiel beim Holland Festival/Groningen) 1954 (September) Der Schwierige (Hofmannsthal), Theater in der Josefstadt, Regie  : Rudolf Steinboeck, Kostüme  : Elli Rolf 1957 Der Unbestechliche (Hofmannsthal), Burgtheater, Regie  : Ernst Lothar, Kostüme  : Ernie Kniepert 1959 (März) Josephine (Bahr), Wiener Volkstheater, Regie  : Gustav Manker, Kostüme  : Maxi Tschunko 1959 (Oktober) Das weite Land (Schnitzler), Akademietheater, Regie  : Ernst Lothar, Kostüme  : Ernie Kniepert 1959 (Dezember) Der Schwierige (Hofmannsthal), Burgtheater, Regie  : Ernst Lothar, Kostüme  : Ernie Kniepert 1960 Der grüne Kakadu und Literatur (Schnitzler), Theater in der Josefstadt, Regie  : Heinrich Schnitzler, Kostüme  : Gaby Niedermoser1 1960 (Herbst) Einakterzyklus Komödie der Worte – Stunde des Erkennens, Große Szene, ­Bacchusfest (Schnitzler), Theater in der Josefstadt, Regie  : Heinrich Schnitzler, Kostüme  : Gaby Niedermoser2 1964 Der Rosenkavalier (Strauss/Hofmannstahl), Deutsche Oper am Rhein Düsseldorf, Regie  : Wolfgang Liebeneiner, Dirigent  : Fritz Zaun/Carlos Kleiber, Kostüme  : Charlotte Flemming 1971 Der Unbestechliche (Hofmannsthal), Salzburger Festspiele/Kleines Festspielhaus, Regie  : Gustav Manker, Kostüme  : Maxi Tschunko 1973 Der Schwierige (Hofmannsthal), Theater in der Josefstadt, Regie  : Ernst Haeussermann, Kostüme  : Monika von Zallinger 1974 (Mai) Professor Bernhardi (Schnitzler), Regie  : Hans Jaray, Kostüme  : Eva Sturminger  ; letzte Ausstattung Niedermosers am Theater in der Josefstadt

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Bühne – Visualisierung des Wortes

Vom Wort zum Bühnenbild  : Autor – Regisseur – Szenograf Die textlichen Anweisungen des Autors sind die Ausgangsbasis zur Gestaltung und Einrichtung der Schauplätze für das Bühnengeschehen. So wie die Bühnenwerke selbst, sind Umfang und Inhalt dieser Angaben autorenspezifisch. Dies gilt insbesondere auch für die Stücke der Vertreter von »Jung Wien«, die den Bühnenbildner vor völlig unterschiedliche Ausgangssituationen zur Schaffung eines schlüssigen Raumkonzepts stellen, auf das der Regisseur mehr oder weniger gestalterischen Einfluss nimmt. (Der Fall, dass der Autor auf Vorschlag des Bühnenbildners die Handlung szenografisch umschreibt – was kein Geringerer als Jean Anouilh 1954 anlässlich der Inszenierung der Colombe im Akademietheater auf Vorschlag Niedermosers tat, indem er die Blickrichtung einer Szene umdrehte – stellt freilich eine seltene Ausnahme dar). Arthur Schnitzlers Bühnenangaben sind bei den von Niedermoser realisierten Stücken (Das weite Land, Liebelei, Der tapfere Cassian, Der grüne Kakadu, Kom­ tesse Mizzi, Literatur, Komödie der Worte, Professor Bernhardi) eher sparsam. In der ­Liebelei etwa beschränkt sich Schnitzler auf jeweils eine Zeile zur Beschreibung des Ortes der Handlung (1. Akt  : Zimmer Fritzens. Elegant und behaglich), welche aber beispielsweise aus dem Dialog Fritz  : …Und die schöne Aussicht  ! Über wie viele Dächer man da sieht… und da drüben – ja was ist denn das, das schwarze, das man da drüben sieht  ? Christine  : Das ist doch der Kahlenberg  ! (Liebelei, 2. Akt, 6. Szene)

noch manche schlüssige Ergänzung erfährt, die Niedermoser 1954 wie folgt umsetzt  : »Hintersetzer Erker kleiner Luftprospekt in Dreieckrahmen gespannt, transparent mit Landschaft Cobenzl bis Leopoldsberg 275 cm hoch, ca 650 cm in der Aufrollung  ; davor vier ausgeschnittene halbplastische Haus- und Kirchenvorsätze ca 125 cm h.«3

Wie sehr aber im Falle knapper Bühnenanweisungen des Autors ein Regisseur allenfalls seine bis ins Detail reichenden Vorstellungen für Bühnenbild und Requisite einbringt, mögen nachstehende Zeilen Heinrich Schnitzlers an Otto Niedermoser zum Thema der Ausstattung von Der grüne Kakadu illustrieren  : Herrn Professor Otto Niedermoser

Düsseldorf, 22. Januar 1960

Franzensgasse 25 W i e n V. Lieber und verehrter Herr Professor, Während der Probewochen hier in Düsseldorf habe ich das Regiebuch für den Schnitzler-

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Otto Niedermoser (1903–1976)

Abend fertig gemacht und möchte Ihnen nur ein paar Kleinigkeiten mitteilen, die sich im Laufe der Arbeit ergeben haben. DER GRÜNE KAKADU  : 1. Die Schank sollte rückwärts (sic) – dem Publikum unsichtbar – der ganzen Länge nach ein Fach (vielleicht sogar zwei Fächer) haben, so dass man Flaschen und Gläser dort unterbrin­ gen kann. 2. Hatten Sie geplant, wenigstens das eine der beiden Weinfässer praktikabel zu machen, sodass Prospère wirklich Wein aus dem Fass in Gläser oder Flaschen einfüllen kann  ? Es wäre schön, wenn sich das arrangieren liesse. 3. Der lange Tisch rechts vorne sollte so stehen, dass man auch rechts von ihm herumgehen kann (diese Gänge müssen aber vom Publikum kaum sichtbar sein). 4. Vor diesem langen Tisch rechts vorne müssen drei Hocker stehen können. 5. Die beiden runden Tische links müssen so klein wie möglich sein. Das Wichtige in dieser ganzen Gegend um die Tische herum ist Bewegungsfreiheit. Die Tischplatten selbst werden ja nur für ein paar Gläser, etc. verwendet und können daher so klein im Durchmesser sein wie nur möglich. Aber um die beiden Tische herum sind viele Gänge und überhaupt viel Bewegung nötig. 6. Man müsste sich rechtzeitig um das Aussehen der gestohlenen Uhren, die Maurice bringt, kümmern. Gab es damals nicht noch diese seltsamen Uhren in Eier- und Kugelform  ? Oder sahen alle Uhren schon so aus wie noch zur Zeit unserer Väter  ? 7. Im Verlauf des Stückes werden mindestens 15 Weinflaschen, oder Weinkrüge, oder Wein­ karaffen, benötigt. (Es können natürlich auch Flaschen, Krüge und Karaffen nebeneinander verwendet werden). Dazu kommen etwa 40 Gläser oder Becher (oder Beides). 8. Bei seinem zunächst unbemerkten Auftritt auf S.164 muss Henri einen grossen schwarzen (oder sonst wie dunklen) Mantel (eine Art Cape) anhaben, damit sein Auftreten womöglich auch vom Publikum kaum bemerkt wird. 9. Der Kommissär ist die einzige Figur im Stück, die zwei verschiedene Kostüme trägt, zuerst die Uniform, dann Zivil. 10. Ich werde im Ganzen 12 Statisten brauchen, die sich wie folgt verteilen  : 1. Aristokraten  : 3 Damen, 4 Herren  ; 2. »Volk«  : 2 Frauen, 3 Männer. Von den 4 männlichen Aristokraten sollen zwei möglichst jung sein.[…]4

Es folgen die Anweisungen für den Einakter Literatur. Hermann Bahr geht bei seinen Bühnenangaben (Wienerinnen, Der Meister, Die Fa­ milie, Josephine) in der Regel bis ins kleinste Detail, die pro Bild jeweils nahezu eine Seite füllen. Niedermoser konzentriert sich bei Bahr in seiner Bühnenarchitektur auf die Essenz der vom Autor gewünschten Raumwirkung. Im Jahr 1938 etwa lässt sich Niedermoser bei den Wienerinnen weder beim Bühnenbild noch bei den Kostümen zur Karikatur der Stilvielfalt und ihrer Auswüchse zur Zeit der Entstehung des Stückes

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verleiten – die damals nicht einmal vier Jahrzehnte zurückliegt –, sondern beschränkt sich, Räume und Kostüme als Visitenkarte für den »Geschmack« ihrer Charaktere wirken zu lassen. 1959 führt Niedermoser in Bahrs Josephine den Zuschauer mittels seiner »Portale« durch die Stationen des Lebens Napoleons, hinter denen man dem Korsen zunächst als Menschen voller Ideale, in der Folge als Helden und zuletzt wieder als (resignierten) Menschen begegnet, der seine Liebe zur Kreolin Josephine aus Staatsraison den Drogen Macht und Ruhm opferte. Mit Gegenwartsbezügen lockert Niedermoser die Empire-Szenerie auf, wodurch der vom Autor beabsichtigte Bruch zwischen Historie und Fiktion die Allgemeingültigkeit von Bahrs schmunzelnder Aussage noch augenscheinlicher macht. Hugo von Hofmannsthal gibt hingegen – ähnlich wie Schnitzler – bei seinen Stücken (Der Schwierige, Der Unbestechliche, Der Rosenkavalier) nur den Rahmen des Ambientes vor. Beispielsweise begnügt sich der Autor beim Schwierigen im 1. Akt mit der Ortsangabe »Mittelgroßer Raum eines älteren Wiener Stadtpalais, als Arbeits­ zimmer des Hausherrn eingerichtet«. Die diesbezügliche Bühnenarchitektur Niedermosers für die Josefstadt-Produktion im Jahr 1954 wird in den damaligen Zeitungskritiken nachhaltig gelobt. »Die Presse« kommt mit ihrer scheinbar sparsamen Kritik der Vielschichtigkeit von Niedermosers Bühnenkonzept am nächsten  : »Otto Niedermosers Schauplätze spiegeln eine Noblesse, über die sich die ersten Schatten der Dämmerung legen.« Tatsächlich scheint aus der – leicht abgelebten – Eleganz und Fragilität der Architektur, die Niedermoser damals auf der Bühne erstehen lässt, der Augenblick vor dem Versinken einer sozialen Schicht – dem imperialen spanisch-deutschen Hochadel Österreichs – ablesbar, die vor ihrem Abtreten von der öffentlichen Bühne von Hofmanns­ tahl in einer Momentaufnahme verewigt wurde.

Virtuelle Dimensionen der Bühne am Beispiel Seele – Verstand – Liebe »Das Natürliche ist das Chaos und die Seele ist ein weites Land« (Arthur Schnitzler, Das weite Land, Dr. Aigner, 2. Akt)

Die Schauplätze von Schnitzlers Das weite Land erstrecken sich weit über die relativ ausführlichen Ausstattungsangaben des Dichters hinaus. Ihre Grenzen verlaufen schon im ersten Akt des Schauspiels jenseits des Horizonts der Hinterbühne – und diesseits des Zuschauerraums … Noch sind es Grenzen, die sich aber im Lauf der Handlung – zunächst unmerklich – im Unendlichen verlieren, wenn auf einsamen Wegen zuweilen das Land der Seele, das Neuland psychologischer Selbsterkenntnisse, betreten wird.

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Otto Niedermoser (1903–1976)

Beim ersten Blick in dieses Terrain bietet sich dem vom Autor zum Beobachter gemachten Zuschauer ein moralisches, stellenweise sehr poetisches Panorama einer Gesellschaftsschicht, die sich bereits zehn Jahre nach Entstehung des Schauspiels teils in Nichts aufgelöst, teils in neue Gesellschaftsschichten gewandelt hatte. Ein Land also, das von der Landkarte der Gegenwart verschwunden ist  ? Im Zentrum dieses Panoramas eine Ehe, zerrüttet durch Trug und Gleichgültigkeit, Verzicht und Heuchelei, Einsamkeit und Gefühlskälte, der Schnitzler das Stethoskop ansetzt … Ein wienerisches Thema – oder  ? Vielleicht ist in diesem Zusammenhang gerade die Sicht seines Freundes Hugo von Hofmannsthal aufschlussreich, die dieser 1922 für die New Yorker Zeitschrift The Dial in einem Aufsatz über Arthur Schnitzler wie folgt formulierte  : »Schnitzler hat mit Vorliebe das Problem der Ehe, oder geradezu des Ehebruchs, in die Mitte seiner größten Dramen gestellt. Das andere Hauptmotiv seiner theatralischen Produktion dagegen ist ganz wienerisch und drückt unverkennbar die leidenschaftliche Vorliebe fürs Theater aus, in der sich in Wien hundertfünfzig oder zweihundert Jahre lang alle Stände, vom Fürsten bis zum Theaterkutscher, fanden und verstanden  : Ich meine das ›Theater‹ als Symbol, das ›Theater‹ welches alle Lebenden, indem sie sich voreinander zur Schau stellten, einander wechselweise bereiten, die Komödie der Worte, der Gebärden und der sozialen Handlungen, die großen und kleinen Szenen, mit denen man einander in der Liebschaft wie im Salon oder in der Politik aufwartet… Aus alledem hat Schnitzler in den geistreichsten Kombinationen und Permutationen der Motive das Triebwerk seiner größeren und kleineren Stücke zusammengestellt, und darin, gerade im Aufbau und im Antrieb dieser kleinen, aber sehr subtilen Maschinen, war er mehr Künstler, geistreicher und klüger, als die meisten deutschen Theaterautoren der letzten hundert Jahre – das Entscheidende aber und das internationalen Wert Gebende liegt nicht in diesen struktiven Elementen, sondern im Dia­log, der immer lebendig, in einer sehr künstlichen Weise scheinbar natürlich und absichtslos dahinfließt, und in welchem die Figuren einander gegenseitig analysieren und oft sehr tiefe Untergründe des Denkens und Fühlens bloßlegen, während das Gespräch fortläuft, als ob es nur um seiner selbst willen da wäre, das heißt, um sowohl die Personen auf der Bühne als auch die im Zuschauerraum zu amüsieren. […]«5

Anders als die eingangs erwähnte Produktion des »Weiten Landes« zur Zeit Max Reinhardts mit den vier vom Autor vorgesehenen Schauplätzen kommt 1959 die Ernst Lothar-Inszenierung am Akademietheater mit zwei Bildern aus. Niedermoser gelingt es mit seinem ausgeklügelten Raumkonzept, die vom Autor im ersten und zweiten Akt aus verschiedenen Perspektiven beschriebenen Ansichten der Badener Villa in einem Bühnenbild zu vereinigen. Er verlegt dabei den Tennisplatz des zweiten Aktes – räumlich – hinter den Schauplatz des ersten Aktes (Gartenpavillon – Laubengang – Eckrisalit der Villa mit Veranda) und lässt dabei den Zu-

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schauer schon etwas tiefer hineinsehen in das weite Land der Gefühlsverstrickungen. Diese Lösung ist dramaturgisch von großer Relevanz, da im zweiten und vierten Akt dem Tennisplatz nicht nur als realem Austragungsort »friedlicher Duelle« eine essenzielle Bedeutung zukommt. Hier regt sich erstmals in Hofreiter das Gefühl der Rivalität gegen den Fähnrich Otto, die letzten Endes zum sinnlosen, kaltblütig-tragischen Ende des biologischen Generationenkonflikts eskaliert. Wie so oft bei Schnitzler wird bereits in einem am Anfang des Stückes scheinbar beiläufig geäußerten Satz der jungen Erna Wahl – »Er nimmt sich von jedem, was ihm gerade konveniert. Um das, was sonst in dem Menschen stecken mag, kümmert er sich kaum« – der Charakter Hofreiters definiert, der alle Fäden im Spiel um Treue und Betrug, Ehre und Satisfaktion, Liebe und Tod zieht. Die Verringerung der Schauplätze von vier auf zwei erfordert vom Bühnenbildner eine Verdichtung der Treibhausatmosphäre für die Gefühle der Protagonisten, die der atmosphärischen Intention des Dichters in vier Bildern gerecht werden muss. Niedermoser erreicht dies mit einem raffinierten »Luftprospekt am letzten Zug, einem Schleierprospekt am vorletzten Zug, einem linken, unten ausgeschnittenen Seitenhänger mit Luftpanorama mit einem gemalten, unten ausgeschnittenen Schleier und gemalten Setzwänden hinter den Ausschnitten«2) – die mittels entsprechender Beleuchtung variierbare Effekte garantieren. Der dritte – zentrale – Akt des Schauspiels ist in der Halle des eleganten Hotels am Völser Weiher angesiedelt, dem ein eleganter Hoteldirektor, Dr. von Aigner, Frauenheld und Vater des Fähnrichs Otto, vorsteht. Im Dialog mit Hofreiter fasst er die Erfahrungen seines bewegten Lebens in den Satz »Das Natürliche ist das Chaos, und die Seele ist ein weites Land«, welcher, wie er zugibt, auch von einem Dichter stammen könne. Erweckt die Hotelhalle Niedermosers den Eindruck gediegener Großzügigkeit, so sorgt die scheinbar sich im Äther verflüchtigende Bergfront aus Drahtgaze und Cellophan hinter den zentralen Glasschiebetüren für die gewünschte imaginäre Transparenz in der Schlüsselszene. In dieser Atmosphäre von Südtiroler Höhenluft und Reizklima erliegt die junge Erna Wahl dem sinnlichen Drängen des verführerischen Routiniers Hofreiter, den sie – wie sie gesteht – bereits im Kindesalter anhimmelte … In der Nacht der (von Genia unbemerkten) vorzeitigen Rückkehr Hofreiters zur Badener Villa im vierten Akt gewinnt dieser mit Genugtuung die Gewissheit, dass Genia sich seine seinerzeitigen Vorwürfe zu Herzen genommen und den nächsten jungen schwärmerischen Verehrer, Otto, erhört hätte – um diesen nicht vielleicht auch in den Selbstmord »zu treiben« wie den »abgewiesenen« Pianisten Korsakow … Damit wäre in der Ehe, deren Fassade durch Kind und Konvention zusammengehalten wird, das »Gleichgewicht der Doppelmoral« hergestellt, doch gekränkte Eitelkeit und Bosheit setzen unter dem Vorwand der Verteidigung eines – sinnentleerten – Ehrbegriffs die verhängnisvolle Maschinerie in Gang  : Hofreiter fordert Otto zum Duell.

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Im fünften Akt, der von Lothar aus dem bei Schnitzler vorgesehenen, an die Veranda angrenzenden Raum in die Dekoration des vierten Aktes vor den »kultivierten Tournierplatz« verlegt wird, bringt der »gekränkte« Ehemann Genia scheinbar teilnahmslos die Nachricht, den jungen Rivalen erschossen zu haben. Genias Entsetzen  : »Warum also  ? Wenn dir an mir noch das geringste läge… wenn es Hass wäre… Wut… Eifersucht… Liebe…« begegnet Hofreiter aus den eisigen Abgründen seiner Seele egomanisch  : »Na ja, von all dem verspür ich allerdings verdammt wenig. Aber man will doch nicht der Hopf sein.« »Immer das Modernste – auch als Frau« (Hermann Bahr, Wienerinnen, Marie, 1. Akt)

»Der Zeit ihre Kunst, der Kunst ihre Freiheit« – die Devise der Wiener Secession, die über dem Portal des gleichnamigen Gebäudes seit dessen Errichtung durch Josef Olbrich im Jahr 1897 in goldenen Lettern prangt, war im Dunstkreis der revolutionären Kunstbewegung gegen das konservative Künstlerhaus unter der Federführung von Hermann Bahr geboren worden. Zu einem guten Teil war dessen nachhaltigem Betreiben die Realisierung dieses Tempels der Kunst von morgen zu verdanken. Die beinahe kultische Begeisterung oder konservative Ablehnung des »Secessionistischen« neuen Stils rief viele Nachahmer auf den Plan, die noch jahrelang in Imitation, Übertreibung und Vergröberung schwelgen sollten – obwohl ihre großen Vorbilder bereits längst die Secession verlassen und neue stilistische Wege eingeschlagen hatten – denen im Wesentlichen die Schuld an der späteren globalen Diskreditierung des »Jugendstils« bis zu dessen Ablehnung zuzurechnen ist. Bereits im Jahr 1900 sieht Hermann Bahr die Folgen dieser Entwicklung. Auch in den eigenen Reihen wird schon früh der Secessionismus zum Gegenstand von Verriss und Kritik – so etwa in Bertold Löfflers Quer Sacrum, einer satirischen Variante zum Ver Sacrum. Hermann Bahr, Schriftsteller, Kunstkritiker und Kunstsammler, thematisiert wiederholt diese Zeit des ästhetischen Aufbruchs und ihrer Verirrungen, der Kontraste und billigen Nachahmung, der Jagd nach Originalität und Moden. Niemand ist vor seiner witzigen, oft spitzen Feder sicher. So widmet er seinen »schnitzlerischen« Einakter Die tiefe Natur ›Meinem lieben Anatol‹ und schreibt in Anspielung auf Schnitzlers Liebelei eine Ehelei. Auch andere Kunstgattungen bleiben von ihm nicht verschont – etwa die Musikszene, in deren Welt er nicht erst durch seine Ehe mit der berühmten Opernsängern Anna Mildenburg gute Einblicke hatte  : 1909 widmet er Richard Strauss seine neue Komödie Das Konzert, die die Eitelkeit eines Pianisten zum Thema hat … Bereits 1900 hatte er einem anderen Künstler, dem von ihm bewunderten und geschätzten Architekten Joseph Olbrich, der übrigens auch Hermann Bahrs Wiener

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Abb. 69: Wienerinnen, Hermann Bahr, 1. Akt, Salon bei Frau von Elsinger, Regie: Hans Thimig, Theater in der Josefstadt/Kammerspiele Berlin, 1938. Kunstsammlung und Archiv der Universität für angewandte Kunst Wien.

Villa erbaute, in der Komödie Wienerinnen ein Denkmal gesetzt. In dieser Komödie hält Bahr am Beispiel zweier Ehen seinen Zeitgenossen den Spiegel ihrer Eitelkeiten und Egoismen, ihrer Oberflächlichkeit und Sensationslust, ihrer Jagd nach Geltung und Moden vor Augen. Den Sieg im Kampf um die Vernunft trägt schließlich die Hauptfigur Josef Ulrich (alias Joseph Olbrich) davon. Das stilistische Umfeld der Handlung nützt Bahr ausführlich zur Kritik am undifferenzierten Kunstverständnis der Gesellschaft. 1938 wird unter dem neuen Direktor des Theaters in der Josefstadt, Heinz Hilpert, der auch die Direktion der Berliner Kammerspiele innehat, Hermann Bahrs Komödie Wienerinnen in den Spielplan aufgenommen, die am 25. Oktober ihre von Kritik und Publikum mit Begeisterung gefeierte Premiere erlebt … Aus heutiger Sicht erscheint dieses Stück, ein halbes Jahr nach der Machtübernahme Hitlers in Österreich, zunächst harmlos, zeigt es doch längst gelöste Probleme einer längst unaktuellen Gesellschaftsschicht in einer Zeit, die andere Sorgen hat. Der Dialog im wienerisch gefärbten Konversationston mit witzig-klugen Bonmots des Autors verspricht Amüsement und der »Export der Wienerinnen« als Berliner Gastspiel Applaus für den Wiener Charme … Doch man vergisst dabei, dass dem Publikum von damals Hitlers Bannspruch gegen die moderne Kunst anlässlich des Nürnberger Reichsparteitages

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1934, seine Weisung zur »Säuberung der Museen« von der »entarteten« Kunst 1936 sowie die folgende Auflösung des Deutschen Künstlerbundes und die Schließung der modernen Abteilung der National-Galerie in Berlin nicht entgangen waren. Rigorose Beschlagnahme »deutscher Verfallskunst«, Bücherverbrennungen und Aufführungsverbot von Werken jüdischer Autoren sowie Berufsverbot für »entartete« Künstler waren gefolgt. Diese Maßnahmen zur autoritär verordneten Staatskultur hatte man von Österreich aus durch mehrere Jahre beobachten können, die auch in diesem Land zu »greifen« begonnen hatten. Ist es Zufall, dass gerade in dieser kritischen Zeit die Wiener Secession, Bastion der Freiheit der Kunst, von Wienerinnen im stimmigen Kostüm auf der Bühne verteidigt wird  ? Wie viele Künstler hatten seit der Annexion Österreichs das Land verlassen, wie viele waren aus der bedrohten Tschechoslowakei – wie Oskar Kokoschka eine Woche vor dieser Premiere – geflüchtet … Wie viele, die zu den Wienerinnen kamen, hatten Ohren, die hörten, Augen, die sahen, Verstand, der wusste … Auch in Berlin  ! Als Niedermoser 1938 am Theater in der Josefstadt mit der Ausstattung dieser Komödie beauftragt wird, ist er sich der delikaten Aufgabe voll bewusst. Die von Bahr geübte Kritik am überlebten Geschmack des 19. Jahrhunderts oder am importierten Stil aus Belgien findet bei Niedermoser zugunsten seiner pluralistischen Kunstauffassung bewusst nicht statt, obwohl gerade er bereits seit seiner Kindheit mit allen vom Dichter angesprochenen Stilrichtungen besonders vertraut ist. (Sowohl sein Vater und Onkel als auch sein Großvater richteten Wohnungen und Villen der wohlhabenden Wiener Gesellschaft – je nach Geschmack der Auftraggeber – ein). Im ersten Akt, der dem Historismus nachempfunden ist, geht es Niedermoser um den optischen Einstieg in eine Periode, die den darauffolgenden Aufbruch der Secession verständlich macht. Er entschärft dabei Bahrs gutbürgerliches, überladenes ­Interieur des Salons von Frau von Elsinger, Mutter dreier heranwachsender Kinder, indem er die vom Autor minutiös vorgegebenen stilistischen Versatzstücke (»Garnitur in ägyptisierenden Formen, Büste in Bronze von Vallgren, Tiffany-Gläser, Bilder in der Manier von Fröschl, Teetisch und Sessel im Geschmack von Sheraton« u. Ä.) weglässt. Gerade dieser Rahmen bietet Marie, der Freundin Daisys, der älteren Tochter Frau Elsingers, Gelegenheit, in hohlen Phrasen über (eine falsch verstandene) Moderne und Emanzipation der Frau durch Erziehung des Mannes zum Pantoffelhelden zu predigen  : »Immer das Modernste – auch als Frau.« Der zweite Akt stellt für Niedermoser mehr als eine Herausforderung dar, ist doch von ihm, dem Architekten, der Salon des inzwischen mit Daisy Elsinger vermählten – berühmten – Architekten Josef Ulrich nachzuempfinden. Diesen stattet Niedermoser in funktionaler Eleganz aus und kombiniert dabei markante Akzente des Secessionisten Olbrich mit seiner eigenen, rationalen Formensprache. Dieser Akt birgt mit dem Streit zwischen Dr. Mohn, einem snobistischen Kunstbanausen und Spötter, und Josef Ulrich, dem Verteidiger der Freiheit der Kunst, indirekt

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Zündstoff gegen die autoritäre politische Führung, in dessen Verlauf dieser in scharfen Worten (»Gassenbuben der guten Gesellschaft«) Kritik an nicht fachkundigen Kritikern übt … Im dritten Akt gestaltet Niedermoser das Speisezimmer in der neuen Villa des jungen Ehepaares Marie und Max Billitzer in üppig-floralem Jugendstil. Marie, die allen Moden und Trends das Wort redet, tyrannisiert mit ihren Launen den zum Pantoffelhelden erzogenen Max, der seiner Frau jeden Wunsch erfüllt. Die Nachricht von der Verlobung eines früheren Verehrers Maries löst bei dieser einen hysterischen Anfall aus. Am negativen Beispiel dieser Ehe gelingt es schließlich Josef ­Ulrich, seine eigene Ehe aus der Krise zu führen und seine Frau durch Verstand (»Du sollst deinen Willen haben, das möchte ich gar nicht anders  ! Aber deinen Willen, verstanden  ? Deinen Willen, nicht deine Launen  !«) für eine echte Partnerschaft zu gewinnen. »Wie du warst  ! Wie du bist  ! Das weiß niemand, das ahnt keiner« (Hugo von Hofmannsthal Der Rosenkavalier, Oktavian, 1. Akt)

»Nach einem unglücklichen Krieg müssen Komödien geschrieben werden«, diese Bemerkung aus den Fragmenten des Novalis beeindruckte Hugo von Hofmannsthal – wie er in seinem Tagebuch festhält – nachhaltig, und er kommentiert sie wie folgt  : »Das Element der Komödie ist die Ironie, und in der Tat ist nichts geeigneter als ein Krieg, der unglücklich ausgeht, uns die Ironie deutlich zu machen, die über allen Dingen dieser Erde waltet.« Schon zwei Jahrzehnte vor der Katastrophe des Ersten Weltkrieges trauert Hofmannsthal seiner Gegenwart als einer vergangenen Periode nach. Unter diesem Gesichtspunkt der »antizipierten« Katastrophe ist auch die Entstehung des Rosenkavalier zu sehen. Der Rosenkavalier, die melancholische Komödie von (erster) Liebe – oder dem, was man dafür hält – und Verzicht, Raffinement und Derbheit, Rivalität der Stände und Generationen, sowie der Ablöse alter Gesellschaftsordnungen durch neue, ist das Paradebeispiel für eine Handlung, in der ineinandergespielte Zeiten die Chronologie aufheben, bei der der Blick aus der Vergangenheit in die Zukunft reicht, die ihrerseits bereits dem Gestern angehört. Dies gilt auch für die Tonsprache der Oper, die wiederholt mit Walzerzitaten auf die Zukunft der jüngeren Vergangenheit voraus- bzw. zurückgreift. Die Summe all dieser Komponenten bildet einen effektvollen Zeitcluster für die Zeitlosigkeit menschlicher Befindlichkeit. In einem »ungeschriebenen Nachwort zum Rosenkavalier« von 1911 meint dazu Hugo von Hofmannsthal  : »[…] Es könnte scheinen, als wäre hier mit Fleiß und Mühe das Bild einer vergangenen Zeit gemalt, doch ist dies nur Täuschung und hält nicht länger an als auf den ersten flüchtigen Blick. Die Sprache ist in keinem Buch zu finden, sie liegt aber noch in der Luft, denn es ist mehr von der Vergangenheit in

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der Gegenwart, als man ahnt, und weder die Faninal, noch die Rofrano, noch die Lerchenau sind ausgestorben, nur ihre drei Livreen gehen heute nicht mehr in so prächtigen Farben. Von den Sitten und Gebräuchen sind diejenigen erfunden, die echt erscheinen. Auch hier ist ein lebendiges Ganzes und man kann den Figuren ihre Redeweise nicht vom Mund reißen, denn sie ist zugleich mit ihnen geboren  : Es ist ausgesprochene Sprache, mehr als sonst vielleicht auf dem Theater, aber sie will nicht für sich allein das Fluidum sein, von dem alles Leben in die Gestalten überströmt, sondern nur mit der Musik zusammen. Wo sie ihr zu widerstreben scheint, ist es vielleicht nicht ohne alle Absicht, wo sie sich ihr hingibt, geschieht es von innen heraus. […]«6 Niedermoser mag diese Zeilen Hofmannsthals gekannt haben oder nicht, jedenfalls bedient er sich ästhetisch der gleichen Sprache wie Dichter und Komponist, indem er in der Deutschen Oper am Rhein im ersten Akt scheinbar das Flair der Zeit Maria Theresias in das Schlafzimmer der Feldmarschallin zaubert, dabei jedoch ebenfalls stimmig jenen besagten stilistischen Schritt in die Zukunft der jüngeren Vergangenheit tut – der von keinem der damaligen Musikkritiker erkannt wurde. Der erste Eindruck des Rokkoko-Interieurs täuscht, denn in nicht wenigen Details erfolgt ein Vorgriff auf das Art déco, so wie einst Alfred Roller bei der Dresdner Uraufführung des Rosenkavalier im Jahr 1911 zahlreiche Elemente des Historismus in die Bühnengestaltung einbezog. Niedermoser wird der Intention des Dichters bei der Gestaltung dieses Raumes in allen Akzenten gerecht, die den Zuschauer die Zeitlosigkeit der Stunden vor Beginn der Handlung erahnen lassen. Noch hängt der Himmelbett-Himmel voller Geigen, noch liegt das Parfum der Sinnlichkeit in der Luft, wenn ­Octavian der Fürstin seines Herzens, »seiner« Marie-Theres, fassungslos seine Seligkeit gesteht  : »Wie du warst  ! Wie du bist  ! Das weiß niemand, das ahnt keiner«, noch sind die Liebenden in diesem Refugium vor dem offiziellen Lever der Marschallin in ihrer Intimität vor der Außenwelt abgeschirmt … Doch bereits über dieser Szene liegt die bittersüße Ahnung der Frau und Geliebten, dass alles früher oder später einmal endet, und »… wie man nichts halten soll, wie man nichts packen kann, wie alles zerläuft zwischen den Fingern, wie alles sich auflöst, wonach wir greifen, alles zergeht wie Dunst und Traum«. Diese Verquickung der Stilkomponenten setzt Niedermoser beim zweiten Akt im Palais des neureichen, jüngst geadelten Herrn von Faninal in noch augenscheinlicherer Weise ein, in der die Rokkoko-Wandgestaltung zur Decke hin raffiniert in Art déco ausschwingt. Gerade in diesem Salon soll die Nobilitierung von neureichem Geldadel um den Preis der Vermählung der Tochter Sophie mit dem reifen Baron Ochs auf Lerchenau, einem Repräsentanten des verarmten Geburtsadels, besiegelt werden. Doch bei der Überreichung der silbernen Rose für Baron Lerchenau löst der – von Sophie erwiderte – Blick des Brautwerbers Octavian den »coup de foudre« aus … Dass die Magie des Zueinanderwollens von Octavian und Sophie die arrangierte

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Abb. 70: Der Rosenkavalier, Hugo von Hofmannsthal, Richard Strauss, »Palais Faninal«, Regie  : Wolfgang Liebeneiner, Universität für angewandte Kunst Wien.

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Dirigent  : Fritz Zaun/Carlos Kleiber, 1964, Deutsche Oper am Rhein Düsseldorf. Kunstsammlung und Archiv der

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Verehelichung letztlich vereitelt, diese zu vereiteln vermag, bedeutet ebenfalls einen Zeitsprung, da die derartige Lösung eines Herzenskonflikts erst der Emanzipation der Gefühlskultur des beginnenden 20. Jahrhunderts zuzuschreiben ist. Den dritten Akt der Handlung, in dem diese Entscheidung von Octavian mittels einer Verkleidungsposse durch die Bloßstellung des Baron Lerchenau in einem übelbeleumundeten Vorstadtgasthaus erzwungen wird, richtet Niedermoser in einem Gartenpavillon ein, der – als separierter Baukörper zum Gasthof – den Begriff ­»Séparée« verstärkt suggeriert. Durch die wesentlich geringere Dimensionierung dieses Innenraumes bleibt Niedermoser im Verhältnis zu den früheren Schauplätzen in den Proportionen maßstabgetreu. Ein Blick in die technische Beschreibung verdeutlicht sein Raumkonzept  : »[…] Das frei in der Bühnenmitte stehende Lusthaus ist durch einen offenen, gedeckten Gang mit dem Wirtshaus durch zwei korrespondierende Türen verbunden, welches, 3mal geknickt, zur Bühnenmitte führt und ein Schindeldach erhält, von dessen Dachfenstern es möglich ist, das Dach des Lusthauses zu erreichen und durch die Dachfenster ins Innere des Lusthauses zu schauen. Rechts, zwischen Lusthaus und Bühnenportal, befindet sich eine enge Vorstadtgasse, von Gartenmauern begrenzt […]«7 Dieser Ort, an dem sich offenbar – ähnlich wie in Schnitzlers Der Grüne Kakadu – ungeachtet aller Standesunterschiede zuweilen gelangweilte Adelige mit Mädchen aus dem Volk »belustigen«, wird zum Ort für Spott und übles Spiel mit dem Rivalen, dem das Tribunal gegen den »Verführer« folgt. In seiner Bedrängnis spielt Baron Lerchenau visionär auf die noch ferne Französische Revolution an – gleichsam als Ausdruck des kollektiven Endzeitgefühls einer abtretenden Gesellschaft. Nur das Erscheinen der Marschallin, die außerhalb des gesellschaftlichen Spannungsfeldes steht, rettet diesen und den Brautvater – als »Dea ex machina« – vor dem Skandal … Wenn sich auch Hofmannsthal – nicht ohne melancholischen Zug – nur mühsam damit abfindet, dass der Jüngling über den reifen Mann den Sieg davonträgt, und die noble Frau in der schmerzlich-weisen Erkenntnis à la Hesse »Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne« vor dem jungen Mädchen zurücksteht, lässt er doch keinen Zweifel darüber offen, dass die Zeit, »die ein sonderbar Ding ist«, den »jungen Leut« gehört – dem hübschen, bürgerlich-albernen Dutzendmädchen Sophie, wie er, der Edle von Hofmannsthal, es erschuf und der bürgerliche Strauss durch die Musik adelte, und dem zur (Mes)alliance bereiten Octavian aus hohem Geblüt – mit denen sich ein neues Zeitalter mit neuer Gesellschaftsordnung ankündigt.

Von Hofreiter bis Bernhardi … In der Rückschau wird deutlich, wie klug Niedermoser war  : Der Versuchung, der Welt von »Jung Wien« den plakativen Stempel des »Wien wie es war« aufzudrücken, erlag er nie. Im Lauf von vier Jahrzehnten – vom Weiten Land Schnitzlers bis

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zu Schnitzlers Professor Bernhardi, seiner letzten Bühnenarbeit für das Theater in der Josefstadt im Jahr 1974 – bot er dem Publikum zitatweise den Blick in die Welt, wie sie (gewesen) sein könnte. Immer waren seine visionären Lösungen Schlüssel, die subtile Bezüge zum Zeitlosen des Werkes herstellten und gleichsam Tore in die Welt des Heute öffneten, durch die dem Zuschauer Einlass in das Bühnengeschehen gewährt wurde. Niedermoser war sich dabei stets bewusst, dass es nie eine ideale, d. h. überzeitliche szenografische Lösung für die Handlung, sondern nur asymptotische Annäherungen an das Ideal des jeweiligen Hier und Jetzt geben würde. »Im Gegensatz zu den Werken der bildenden Kunst und der Dichtkunst kann das Werk des Bühnenbildners ebenso wenig wie das des Regisseurs oder des Schauspielers auf das Verständnis künftigerer Generationen hoffen« formulierte Niedermoser einmal uneitel und unsentimental – den Gedanken weiterspinnend – diese Erkenntnis, in Anlehnung an das vielzitierte Dichterwort aus dem Prolog zu Wallensteins Lager  : »Dem Mimen flicht die Nachwelt keine Kränze« … Ob er damit nicht doch irrte  ?

Anmerkungen 1

Vgl. Adamek, Heinz P.: Im Streiflicht  : Gabriele Niedermoser. – Wien  : edition Forum Universität und Gesellschaft 2013. 2 Vgl. Adamek, Heinz P.: Im Streiflicht  : Gabriele Niedermoser. – Wien  : edition Forum Universität und Gesellschaft 2013. 3 Niedermoser, Otto  : Konstruktionsanweisung auf Bühnenbildentwurf für die Werkstätten. – Kunstsammlung und Archiv der Universität für angewandte Kunst Wien. 4 Schnitzler, Heinrich  : Brief an Otto Niedermoser. – Kunstsammlung und Archiv der Universität für angewandte Kunst Wien, Inv. Nr. 15.806/4/Aut. 5 Hofmannsthal, Hugo von  : Arthur Schnitzler. – New York  : The Dial, 1922. 6 Hofmannsthal, Hugo von  : Sämtliche Werke XXXIV  : Reden und Aufsätze 3 – 1910–1919. – Klaus E. Bohnenkamp, Katja Kaluga, Klaus-Dieter Krabiel (Hg.). – Frankfurt a. M.: S. Fischer 2011. 7 Niedermoser, Otto  : Konstruktionsanweisung auf Bühnenbildentwurf für die Werkstätten. – Kunstsammlung und Archiv der Universität für angewandte Kunst Wien.

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Abb. 71: Tartaglia (Theo Lingen) in C.Gozzis und O. Zoffs König Hirsch, Burgtheater 1958, Tempera/ Karton, 45 x 32,6 cm, Kunstsammlung und Archiv der Universität für angewandte Kunst Wien.

Les modes changent, étant nées elles-mêmes du besoin de changement (Die Moden ändern sich, da sie selber aus der Notwendigkeit des Wechsels entstehen.) Marcel Proust

Elli Rolf (1913–2000) Wenn der Purpur fällt …

»Die Zukunft ihrer Tochter liegt auf dem Papier  !« Mit diesen Worten prophezeite 1929 Eduard Wimmer-Wisgrill beim Betrachten einer Entwurfsmappe von Elli Rolf der Mutter die große Zukunft ihrer 16-jährigen Tochter. Diese Aussage eines der größten österreichischen Modeschöpfer aller Zeiten, der damals seit 20 Jahren mit den raffiniertesten Kreationen der Haute Couture New York, Paris und Wien zu Begeisterungsstürmen hinriss, sollte sich bewahrheiten … Elli Rolf nimmt hierauf ihr Studium an der Wiener Kunstgewerbeschule bei ­Wimmer-Wisgrill auf. Ihre Bahn als Stern am Modehimmel scheint vorgezeichnet  : Schon in den frühen Studienjahren lässt ihr Name bei Wettbewerben und Veranstaltungen, bei denen exquisiter Geschmack und genialer Einfallsreichtum gefragt sind, aufhorchen. Der Auftrag, für ein Modehaus in London eine Modekollektion zu entwerfen, bietet der jungen Künstlerin die Chance, in einem bereits von Arbeitslosigkeit und politischen Unruhen erschütterten Europa für einen Monat nach London zu reisen. Waren es in Elli Rolfs Fantasie der frühen Kindertage asiatische Kulturen, an denen sich ihre besondere Neugierde entzündete, und ermöglichten ihr einige Jahre später zum Teil längere Aufenthalte im damaligen Jugoslawien das erste direkte Erleben einer Fülle an formenreichen und farbenprächtigen Trachten mancher Regionen, so lockt sie bei diesem London-Aufenthalt neben den überwältigenden Eindrücken an weltstädtischem Flair und imposanten Kunstschätzen erstmals das Abenteuer, Menschen aus fernöstlichen und afrikanischen Ländern aus der Nähe zu betrachten und deren Eigenart in Kleidung, Frisuren, Gestik, Körperhaltung und Gang zu registrieren und sich einzuprägen. In diesen Tagen entstehen unzählige grafische »Stenogramme« der Entwerferin, vor deren Stift und Pinsel niemand und nichts »sicher« ist – weder Repräsentanten traditionellen Gepränges, etwa bei der Wachablöse vor dem Buckingham Palace, noch Kinderfräulein in Kensington Gardens in ihrer farblosen Uniformiertheit, noch unassimilierte Exoten im Hyde Park oder Gepäckträger auf Bahnhöfen …

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1937, am Vorabend der Apokalypse des zweiten Weltkrieges, bietet Europa bei der Pariser Weltausstellung, dem Jahrmarkt nationaler Eitelkeiten, noch einmal allen Reichtum an Leistungen auf. Dabei sorgt der allseits bestaunte Österreich-Pavillon Oswald Haerdtls an der Seine für so manche Überraschung – etwa eine beinahe 300 Quadratmeter große Fotomontage des Großglocknermassivs von Robert Haas oder österreichische Trachten, die in Paris unter dem Titel »Mode Tyrolienne« Schlagzeilen machen. Elli Rolf, die für die Legion an lebensgroßen Trachtenpuppen als Entwerferin verantwortlich zeichnet und diesen Sektor als Mitarbeiterin der Pariser Weltausstellung betreut, sieht sich in ihrem »Hobby«, dem Studium von Trachten, bestärkt, das bald zu einer wissenschaftlichen Domäne der Modeschöpferin wird, in der sie viel später europaweite Bedeutung und Anerkennung erfahren sollte. In Paris sind es besonders der so anders gefärbte Himmel als an der Donau, die Dächer der Stadt und die diffusen Lichter der belebten Boulevards, die Elli Rolf als Grafikerin faszinieren, und die in einer, der Filmsprache René Clairs ähnlichen Weise, in verschiedenen Techniken festgehalten werden. Dem Diplom aus »Modeentwurf und Modegrafik« 1938 folgt der Ruf der Meisterschule für Mode in München, dem Elli Rolf zugunsten einer sich in letzter Minute vor der Entscheidung in Wien bietenden Position nicht Folge leistet  : An der Kunstgewerbeschule Wien wird sie für das Fach »Allgemeine Formenlehre« an die Klasse des Bühnenausstatters Otto Niedermoser berufen. Die völlig neugeartete, eigentlich nicht adäquate Aufgabenstellung ist für Elli Rolf jedoch nicht Enttäuschung, sondern An­ regung und Herausforderung. Niedermoser, der in dieser Zeit auch im Ausstattungsbereich sehr beschäftigt ist und um den extravaganten Geschmack der Modeschöpferin weiß, schlägt diese 1940 dem Theater in der Josefstadt für den Entwurf der Kostüme des Stückes Theres und die Hoheit von W.E. Schäfer (Regie  : Steinböck mit Christl Mardayn, Hans Holt und Jane Tilden) vor. Elli Rolf erntet mit dieser Ausstattung von Kritik und Publikum Applaus, misst diesem aber keine weitere Bedeutung bei. Da stellt die Spielsaison 1941/42 Niedermoser bei der Ausstattung von Bernhard Shaws Pygmalion (Regie  : Hans Thimig) vor ein kniffliges Problem  : Paula Wessely soll in der Rolle der Eliza für den Auftritt als perfekte Lady einen Traum eines Kleides tragen, der sich jedoch in den Wiener Salons nicht finden lässt. In letzter Minute wendet sich Niedermoser an Elli Rolf, und wenig später wird ihr, ganz auf die Eigenart Paula Wesselys und die Rolle eingehendes Abendkleid das Gespräch der Saison … Damit ist der Name Elli Rolf über Nacht in Fachkreisen ein Begriff, ohne dass ihr die Tragweite dieses Erfolges bewusst wird, und ihr ein neuer kreativer Bereich erschlossen, der, neben ihrer Lehrtätigkeit, einer ganzen Generation zum Inbegriff kompetenter Visualisierung der musikalischen und dramatischen Weltliteratur werden sollte. Freilich mutet der Siegeszug der Kostümbildnerin im harten Alltag der Opern- und Theaterwelt in der Rückschau beinahe märchenhaft an  : Ihr, der Introvertierten, Zu-

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Elli Rolf (1913–2000)

Abb. 72: Modephantasie, 1935, Aquarell/Papier, 28,5 x 37,5 cm, Privatsammlung Wien.

rückhaltenden, Bescheidenen, fehlt jede Phantasie für Protektionswirtschaft, Eifersucht und Missgunst. Vielleicht ist es eine Art schlafwandlerischer Instinkt, der sie im Theaterdschungel davor schützt, sich in Intrigennetzen zu verfangen … Aber wozu auch den Blick nach links oder rechts wenden, wenn vorne das Ziel liegt  ? Es ist interessant, dass gerade in dieser Zeit Elli Rolf an der zur Hochschule für angewandte Kunst avancierten Kunstgewerbeschule das Pflichtfach »Aktzeichnen« für drei Jahre zusätzlich zu ihrer Lehrtätigkeit anvertraut wird. Gerade ihr Wissen um den menschlichen Körper im Zusammenspiel mit inneren Vorgängen, Stimmungen, Launen, Freuden und Ängsten lassen sie bei ihren Arbeiten diesen in seiner Komplexität erfassen und in Beziehung zu Kleidung, Gestik und Motorik setzen. Sie beherrscht die Anatomie des Menschen jedes Alters, jeder Region in jeder Lebenslage. So demaskieren ihre Masken oft hinter ausdruckslosen Gesichtern verborgene unmenschliche Perfidien oder enthüllen ihre Verhüllungen uneingestandene Sehnsüchte oder innige Zuneigungen. Dabei ist ihr nie die Freude an der Kritik oder am Aufzeigen von Schwächen, sondern immer der analytische Blick Motivation. Kaum einem Künstler gelang es so selbstverständlich wie Elli Rolf, unbeschwertes Kinderlachen in all seiner übermütigen Lebensfreude zu verewigen, oder den ersterbenden Schrei der Verzweiflung des Krieges in der Reduktion auf anklagende Arme und aufgerissene Münder auf Papier erstarren zu lassen. Die höhnische Fratze des

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Krieges, des Elends und der Hungersnöte werden von ihr tief empfunden, doch auch in den schwersten Momenten ist ihr Blick unbeirrbar auf das Ziel gerichtet  : Die Gestaltung einer höheren Realität, jener auf der Bühne, wobei der Poesie und Musik jene äußere Erscheinungsform zu verleihen ist, die immer kongenial der Intention des Autors oder des Komponisten gerecht wird. In den Folgejahren setzt Elli Rolf neben ihrer Tätigkeit als Grafikerin, Hochschullehrerin und Wissenschafterin bei der Ausstattung von über 100 Bühnenstücken in Wien, Salzburg, Bregenz, Berlin, Stuttgart und Hamburg neue Maßstäbe. Dabei kommt ihr ein ganz besonderes Verdienst mit der sensiblen Kostümfassung von Operetten zu. Bei diesem Genre liegt Rolfs Stärke in Noblesse und Raffinement, womit sie genau den Ton anschlägt, der den Charme einer ganzen Epoche ausmacht, und der heute kaum jemals getroffen wird. So erlebt manche Operette in der Ausstattung Rolfs mit über 400 Aufführungen Welterfolge. Auch bei mehreren Filmen zeichnet Elli Rolf für die Kostüme verantwortlich. Besonders zu unterstreichen ist auf diesem Sektor ihre gigantische künstlerische und wissenschaftliche Vorarbeit (1950–1952) für den Österreich-Film 1. April 2000, in ­welchem die Geschichte Österreichs, im Zeitraffer dargestellt, den Vorwand liefert, den Truppen der alliierten Besatzungsmächte vor Augen zu führen, dass sie ohne Einsichtigkeit wohl auch noch am 1. April 2000 in Österreich sein werden … Dieser Film fordert Elli Rolfs historisches Wissen in Kombination mit dem damaligen Zeit­ geschmack besonders heraus. Von den finsteren Anfängen über die barocke Prunkentfaltung beim Rossballett oder dem böhmisch-spanischen Hochzeitszug im Stephansdom, dessen Entwurfsskizze mit Hunderten Figurinen über 8 Meter lang war, bis zur Landung der Präsidentin der Weltraumkommission (Hilde Krahl) im Jahr 2000, für die eine extraterrestre Mode ausgedacht werden und die erforderlichen utopischen Vorgriffe auf die Zukunftsmode erfolgen mussten, weisen die Entwürfe einen schier endlosen Reichtum an Fantasie sowohl in technischen Accessoires wie morphologisch – etwa bei utopischen Wesen oder ästhetischen Prognosen – auf. Es ist interessant, dass die Entwerferin Rolf hier Materialien fordert, die erst Jahre später »erfunden« werden, oder dass modische Visionen – etwa von Leggins – Zukunftstrends instinktiv Jahrzehnte vorwegnehmen. Obwohl die Scheu Elli Rolfs, Wien zu verlassen – abgesehen bei ihren Ausstattungen für Stuttgart, Berlin und Hamburg – scheinbar der Internationalität abträglich schien, erlangt sie, weit über die Grenzen Österreichs, mit Filmen und einer Fernsehausstattung des Stückes Ein Dorf ohne Männer von Ödön von Horvath (Regie  : Axel Corti, 1964) europaweites Ansehen. Nicht zuletzt trug auch das Zusammenwirken Rolfs mit internationalen Regisseuren sowie Dirigenten, wie Hans Knappertsbusch (Freischütz), Heinrich Hollreiser (Zar und Zimmermann) oder Karl Böhm (Don ­Carlos) die Kunde ihrer verlockenden Bilderwelt weit über Österreichs Grenzen. So berichtet etwa Leopold Lindtberg, mit dem Elli Rolf eine langjährige Zusammenarbeit ver-

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Elli Rolf (1913–2000)

Abb. 73: Selbstbildnis Elli Rolf am Balkon des Hotels Régina de Passy/ Paris, 1937, Öl/Lw, 30 x 22,5 cm, Privatsammlung Wien.

band, welch respektvolles Staunen im Jahr 1960 die Kostümentwürfe Elli Rolfs für Offenbachs Hoffmanns Erzählungen an der Staatsoper Hamburg bei allen Instanzen – a ­ llen voran bei Intendant Rolf Liebermann – auslösten. Trotz des nur wenige Tage dauernden Hamburg-Aufenthaltes entstehen »nebenbei« ihre eindrucksvollen grafischen »Momentaufnahmen« von der Lüneburger Heide … So manchen Star der Oper oder Operette verwandelte Rolf in Bühnengestalten, die einst den Komponisten vorgeschwebt hatten  : Wolfgang Windgassen zum geprüften »Max« in Webers Freischütz, Maria Cebotari in die wendige »Saffi« aus Strauß’ Zigeunerbaron, Leonie Rysanek in die glaubhafte »Myrtocle« aus d’Alberts Die toten Augen, Elisabeth Schwarzkopf in die bräutliche »Agathe« aus Webers Frei­ schütz, George London in den abgründigen »Mephisto« aus Gounods Margarethe, Lisa della Casa in die temperamentvolle »Laura« aus Millöckers Bettelstudent, oder die legendäre Marie Jeritza in die bejubelte »Minnie« aus Puccinis Mädchen aus dem goldenen Westen … Burgtheater, Akademietheater und Theater in der Josefstadt sind ihr großes Betätigungsfeld bei der Schaffung unzähliger Gestalten der klassischen und modernen Weltliteratur. Man fragt sich, worauf das Geheimnis ihres unglaublichen Erfolges beruhe. Leopold Lindtberg meint dazu  : »Elli Rolf ist weder modern noch altmodisch. Sie ist gescheit. Von ihren enormen Kenntnissen der Kostümkunde weiß sie genau so

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viel einzusetzen, als es zur Schaffung der notwendigen Distanz zum banalen Heute bedarf, um die Gestalten eines klassischen Theaterstücks als Geschöpfe ihrer Zeit und gleichermaßen als Schlüsselfiguren der unseren begreiflich zu machen.« Nun, dies erklärt nur teilweise Rolfs Erfolg … Weshalb also verlangten Regisseure, Dirigenten oder Schauspieler immer wieder nach Elli Rolf, wie etwa Paula Wessely oder Oskar Werner  ? Vielleicht findet sich ein zweiter Schlüssel zu ihrem Erfolg in einem Brief Oskar Werners vom 18. September 1957, den dieser nach dem überwältigenden Erfolg des Reisetheaters »Der Guckkasten« mit Jean Cocteaus Bacchus an sie richtet  : Liebe gnädige Frau – Herr Franke, durch den ich Sie herzlich bitten ließ, die Kostüme für unsere Hamlet Tournee im Februar 1958 zu fabulieren und auszusinnen, brachte mir das Betrübliche Ihrer Absage. Nun will ich es aber nochmals versuchen und Sie fragen und bitten, ob Sie eine Möglichkeit sehen und uns beistehen. Mit lieben Gedanken Ihr sehr ergebener Oskar Werner

(Die deutsche Presse hatte zuvor den geschlossenen, dichten Eindruck des Stückes gewürdigt, das einen Brauch des 16. Jahrhunderts aufgreift, der zur Zeit der Weinlese einen jungen Burschen als Gott Bacchus das närrische Szepter über die Stadt schwingen ließ. Dabei sei »in den visionären Kostümen Rolfs der erschütternde Zusammenprall der blinden Rebellion der Jugend mit der gütigen Weisheit des Alters umso deutlicher geworden«). Es handelt sich demnach bei ihren Kostümentwürfen nicht um das Erstellen einer Kollektion für die Bühne, sondern um das Fabulieren über die Gestalten eines sprachlichen oder musikalischen Kunstwerkes zur Sichtbarmachung des Unausgesprochenen und doch Charakterinhärenten, des »Codes« einer Figur, mit den ihr eigenen Mitteln von Stift und Farbe. Nichts wird dabei dem Zufall überlassen. Jeder Strich ist vollkommen, gleichsam die Luftlinie der Idee zur Hülle. Nie finden sich bei Elli Rolfs freien Grafiken, Skizzen oder Entwürfen Korrekturen. Wünscht ein Regisseur die Abänderung eines Entwurfes, wird – weil dieser in sich stimmig und somit nicht abänderbar ist – ein neuer geschaffen, der den Wunsch des Auftraggebers als neue Konstante integriert. Souverän beherrscht Elli Rolf den »strengen Satz« einer unkodifizierbaren Ästhetik, die Regeln des Kontrapunkts im Spiel um den menschlichen Körper. Dabei schöpft sie aus den reichen Erfahrungen der Geschichte des Menschen. All seine Be- und Verkleidungen, seine Entblößungen und Verhüllungen, seine Masken und seine wahren Gesichter – wo auch immer auf unserem Planeten – sind ihr bestens vertraut. Wie nahe Elli Rolf mit dem Stift an einen Menschen heranzukommen vermag, um sein Innerstes freizulegen, zeigte sich auch in kleinsten Beispielen – etwa bei der Dar-

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Elli Rolf (1913–2000)

Abb. 74: Der Graf von Luxemburg, Figurinenentwurf, Franz Lehar, Staatsoper in der Volksoper Wien, 1953, Aquarell/Papier 47,5 x 31,1 cm (Ausschnitt), Privatsammlung Wien.

stellung des Schauspielers Leopold Rudolf auf einer Spielkarte des von ihr als Damenspende für den Ball des Theaters in der Josefstadt 1948 entworfenen Rummy-Spiels  : Bei ihrem Leopold Rudolf ist nichts mehr Kostüm. Alles reduziert sich auf die beklemmende Zerrissenheit, Bedrängnis und Ausweglosigkeit des Menschen Rudolf, den sie hinter der gespielten Kühle und Überlegenheit erfasst. Weder Rolle noch Gestik können Rolf über seine innere Tragödie hinwegtäuschen. Bei der »Diagnose« dieses Charakters bedient sich die Grafikerin der Sprache Egon Schieles, was sie durch Hervorheben der ähnlichen Gesichtszüge des Schauspielers mit dem Maler noch unterstreicht. Die Grafik Elli Rolfs ist Privatangelegenheit der Kostümbildnerin, der sie, weil dem Publikum entzogen, keinen höheren Stellenwert beimisst, als ein Hobby-Fotograf seinen Schnappschüssen. Dabei sind die zahllosen Skizzenblätter und grafischen Fantasien, auf denen Momente zur Zeitlosigkeit werden, äußerst beeindruckend. Rolf erfasst mit ihnen den Moment, in dem es für den Betrachter jenen letzten Schritt zum Höhepunkt zu setzen gilt, der die Dynamik des Vorganges subjektiv nachvollziehbar macht. Wird die Grafik Rolfs zur Karikatur, der Pinsel zum Degen, so respektiert sie stets den Ehrenkodex des guten Geschmacks. Dabei werden neben Pinsel, Bleistift, Feder auch die Finger selbst oder andere zufällige Malutensilien zum ausführenden Instrument der Idee und »manch böser Dinge hübsche Formel« im Geiste Hofmannsthals gefunden …

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Abb. 75: Der Graf von Luxemburg, Figurinenentwurf zum Diebsballett, Franz Lehar, Staatsoper in der Volksoper Wien, 1953, Mischtechnik/Karton 45 x 32,6 cm, Privatsammlung Wien.

Der Kostümentwurf Rolfs ist immer ein Fest für das Auge, die selten erreichte Kunst, einen Charakter in all seinen verborgenen Winkeln seiner Seele auszuloten und dem Interpreten auf den Leib zu malen, aus der Anonymität herauszuführen und die Symbiose von Schauspieler und Rolle maßgeblich zu beeinflussen. Gleichzeitig stellt aber Rolfs Kostümentwurf für die Werkstätten einen »Konstruktionsplan« höchster Präzision dar, dem man nicht ausweichen kann, und für dessen Realisierung es keiner weiteren verbalen Erläuterung bedarf. Beim Durchblättern der Figurinen eines Rolf-Stückes erfasst man mit einem Mal ihre große Kunst, sich alles erzeichnen zu können. Sie folgt dabei ihren Gestalten in die Verliese Shakespeares und in die Zauberwelt Raimunds, in die Parks Rattigans wie in Turgenjews Gewitterstimmung, in die Salons Wildes und Giraudoux antikes Theben. Man meint auf ihren Spuren das Klirren von Säbeln oder das Trippeln von Damenabsätzen zu hören, fernen Trommelwirbel oder das Klingen von Champagnergläsern zu vernehmen oder unfreiwillig Zeuge häuslicher Streitigkeiten oder zärtlichen Getändels zu werden … Aus so manchem Blatt steigt der Duft eines Frühlingsabends, die drückende Schwüle einer Industriestadt oder die Kälte des ersten Schnees auf … Und plötzlich fühlt man sich in die Welt »Anatols« magisch hineingezogen, hört dessen Schritte auf regennassem Pflaster, die sich verlangsamen, um Gabriele die Hand zu küssen, jener Mondänen aus der großen Welt, deren Augen hundertmal

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Elli Rolf (1913–2000)

»Vielleicht« gesagt, deren Lippen hundertmal »Mag sein« gelächelt, deren Ton der Stimme hundertmal nach »Gewiss« geklungen, die beim Abschied gestehen wird, dass sie vielleicht ebenso lieben kann wie das süße Mädl, und die den Mut dazu nicht hatte … Auf einmal versteht man, dass Judith Holzmeister durch Rolfs Zauberstab zum unsterblichen Inbegriff des Charakters wurde. 1970 empfahl sich Elli Rolf im Burgtheater mit Schillers Verschwörung des Fiesco zu Genua von ihrem Publikum, bei welchem am Ende des Stücks mit Verrinas Worten »Nun, wenn der Purpur fällt…« der Mantel des Fiesco gleichsam zum kostümhaften Abschiedssymbol wurde. 1979 bescherte sie der Wissenschaft das in Buchform vorliegende Ergebnis ihrer jahrzehntelangen Forschungsarbeit über das Phänomen menschlicher Kleidung und der Erfindung eines Kostümsystems, mit welchem – ähnlich einem Pflanzenbestimmungsbuch – jedes Kleidungsstück der Erde örtlich, zeitlich und sozial einordenbar wird  : Die Entwicklungsgeschichte des Kostüms.*) Bis zu ihrer Emeritierung als Hochschulprofessorin und Leiterin der Meisterklasse für Bühnenkostüm an der Hochschule für angewandte Kunst in Wien im Jahr 1983 vermittelte sie ihr kompendienartiges Wissen an zahlreiche junge Künstler. Am 16. Februar 2000 starb Elli Rolf in einem Wiener Seniorenheim. Es ist erstaunlich, wie unverändert gegenwartsbezogen Elli Rolf bis in ihre letzten Lebenstage war, deren innerer Blick in die Weite reichte und stets nur ein Maß aller Dinge kannte  : Den Menschen. *) Rolf, Elli: Die Entwicklungsgeschichte des Kostüms. – Wien – Köln – Graz. Böhlau 1979.

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Abb. 76: Sylvesternacht (A. Schnitzler), Leslie Oscamp (Agathe), (Duane J. Danis (Emil), 1985.

All the world’s a stage And all the men and women merely players  : They have their exits and their entrances  ; And one man in his time plays many parts (Die ganze Welt ist Bühne  Und alle Frauen und Männer bloße Spieler.  Sie treten auf und gehen wieder ab,  Sein Leben lang spielt einer manche Rollen.) Shakespeare, As You Like It

Central University Theater Group Theaterseminar als Einführung in kulturelle Diversität

Während meines ersten Unterrichtsjahres für das Vienna Study Program der Central University of Iowa kam mir der Gedanke, für junge Amerikaner eine spezifisch interaktive Lehrveranstaltung in Form eines Theaterseminars zur erheblichen Verbesserung ihrer Fremdsprachenkenntnisse anzubieten. Mir schien dies, gerade in der Theaterstadt Wien, in der das English Theatre als ältestes fremdsprachiges Theater in Europa zu den kulturell vielbeachteten Institutionen der Stadt zählt, eine naheliegende »reziproke« Herausforderung. Bei entsprechender Resonanz sollten interessierte Studierende ermutigt werden, Stücke in deutscher Sprache einzustudieren, mit dem Ziel, ihre fremdsprachlichen Fähigkeiten nicht nur in Wortschatz und Grammatik zu perfektionieren, sondern vor allem auch in Phonetik und Intonation zu optimieren, und das Ergebnis in öffentlichen Aufführungen zu präsentieren. Dank der Aufgeschlossenheit von Resident Director Marianne Haydon gelang es, ein Theaterseminar in das Lehrangebot des Wiener Programms der Central University einzubauen. Durch die Einführung des Seminars wurde mein didaktischer Wunsch, amerikanischen Studierenden österreichische Literatur durch Darstellung näher zu bringen, Realität. Das Experiment der Einstudierung – zunächst eines Einakters – (Anatols Hochzeitsmorgen von Arthur Schnitzler) stellte sich als so erfolgreich heraus, dass ich bestärkt wurde, in den Folgejahren eine Reihe weiterer Stücke mit begeisterten Studierenden zu erarbeiten und zu inszenieren. Sehr bald erlangte dieses Theaterseminar für die jungen Amerikaner eine wichtige Funktion. Abgesehen von der, in mancher Hinsicht bildenden, ja »erzieherischen« Seite ermöglichten die Theaterproduktionen den Studierenden einen profunden Einblick in die Wiener Gesellschaft und Kultur. Im Laufe von 15 Jahren gelang so die Realisierung von 18 Theaterproduktionen – von Schnitzlers Anatol-Zyklus über Liebelei, Das weite Land, Der einsame Weg

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u. a. bis zu Im Spiel der Sommerlüfte und Bahrs Das Konzert, Wienerinnen bis zu Die tiefe Natur – Produktionen, die im Lauf der Jahre zunehmend in Rundfunk und Presse Beachtung fanden. Man könnte sich fragen  : Was macht nun die Faszination des Theaters bei jungen Menschen aus  ? Was ist eigentlich so verführerisch daran, in die Haut eines anderen zu schlüpfen  ? Was rechtfertigt das intensive Engagement, den großen Zeitaufwand  ? Zunächst ist sicherlich die Herausforderung besonders reizvoll, das Gedankengebäude eines Schauspiels – das ja die meisten Menschen nur aus der Publikumsperspektive kennen – von der anderen, der interpretativen, d. h. der kreativ-reflektorischen Seite, anstelle der konsumativ-passiven Rolle des Zuschauers, zu erfassen. Ein Gutteil in diesem Streben kommt hierbei auch der Neugierde zu, indem man wissen will, was hinter der »Fassade« eines dramatischen Werkes, die beim Näherkommen oft einer Felswand gleicht, verborgen liegt. Erst wenn man den Gipfel erklommen hat, wird einem der Blick in ein bis dato unbekanntes Tal erschlossen. Beim Studium eines fremdsprachigen Drama-Textes beginnt, abgesehen von der harten Arbeit in Phonetik, Intonation und szenischem Agieren, die »echte« Probenarbeit mit dem Heranführen der Studierenden an den Kern der Rolle. Hierbei ist ihnen die Möglichkeit zu geben, die Problematik zu reflektieren, zu hinterfragen, eigene Sichtweisen des jeweiligen Charakters zur Diskussion zu stellen und sich schließlich mit der Ansicht des Regisseurs auseinanderzusetzen. Dabei ist es immer wieder erstaunlich zu beobachten, wie »therapeutisch« Theaterspielen für junge Menschen sein kann. Durch den Umweg, d. h. das »Ausweichen« in eine Rolle, ist es möglich, aus sich »herauszugehen«, ohne sich bloßstellen, und die eigenen Probleme bloßlegen zu müssen. Mithilfe der Fremddarstellung verlieren sie vielfach eine gewisse Scheu und gelangen so, beinahe unmerklich, zu der im Persönlichkeitsbildungsprozess so wichtigen Selbstdarstellung. Vielfach werden bei dieser Gelegenheit Schwächen und Stärken von Charakteren erstmals ausgeleuchtet, was die Basis für ein zunächst tolerantes Verhalten gegenüber Mitmenschen anderer Meinungen, Länder und Kulturen im Alltag zu schaffen vermag und schließlich zur Akzeptanz führen sollte. Es ist kein Zufall, dass ich bei der Auswahl der Stücke für dieses Seminar, nicht nur aus Gründen der Sprachqualität, im Wesentlichen immer wieder auf die Periode kurz nach der Jahrhundertwende (Arthur Schnitzler, Hermann Bahr) zurückgriff. Gerade in dieser Zeit des Aufbruchs in ein neues Zeitalter, in dem die überbrachten Werte infrage gestellt werden sollten, in der Weltreiche untergingen, und sich aus der Asche von Kriegen und Revolutionen neue erhoben, kommt der Literatur in ihrer vermeintlichen Rückschau in die scheinbar heile Welt der k. und k. ÖsterreichischUngarischen Monarchie, jenem jahrhundertealten Vielvölkerstaat mit acht offiziellen Staatssprachen und sieben Religionen, durch ihre prophetische Analyse höchste Bedeutung zu. Nicht zufällig versuchten Hugo von Hofmannsthal, Hermann Bahr und

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Abb. 77: »Liebelei«, Theaterplakat, Heinz P. Adamek, Siebdruck, 83,8 x 43,2 cm, 1981. Kunstsammlung und Archiv der Universität für angewandte Kunst Wien.

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Abb. 78: Das Konzert (H. Bahr), Carolyn Lantzy (Selma Meier), Cynthia Straatmeyer (Eva Gerndl), Karen Veigel (Frl. Wehner), Ellen Hieb (Caire Floderer), 1980.

Arthur Schnitzler durch ihre oft unbarmherzige Kritik das große Erbe der Jahrhunderte zu retten und gleichsam durch Vorhalten des Spiegels dessen Schwächen, die Menschen einer geliebten, jedoch erkrankten Gesellschaftsordnung zur Besinnung zu bringen und das Steuer nochmals zum Guten zu wenden. Dass sie, als kritische Beobachter einer Epoche, die letztmalig all ihre Genialität und Kreativität in einer Art Abgesang in überreichem Ausmaß auf höchster Höhe in Zeiten politischer Unsicherheit und Unruhe aufbot, ungewollt den Untergang mental förderten, liegt in der Dialektik der Antagonismen begründet. Um die Jahrhundertwende gibt es in der Kunstszene Wiens zahlreiche mehrfachbegabte Künstler, dichtende Musiker, musizierende Maler, malende Schriftsteller, schreibende Ärzte … Niemals vorher oder danach ist eine derartige Verquickung verschiedener Kunstgattungen in engerer Weise erreicht worden. Es ist erstaunlich, wie bei näherer Betrachtung besonders Arthur Schnitzlers Werk – auf den ersten Blick in einer verjährten Gesellschaft angesiedelt – heute wie zur vorletzten Jahrhundertwende in seinem Kern revolutionär-modern ist. Trotz der Behandlung bloß eines Ausschnitts der Gesellschaft seiner Zeit ist Schnitzler weit davon entfernt, ein genusssüchtiges und gewissenloses, leichtsinniges und hemmungsloses Fin-de-siècle zu verklären. Er ist nicht – wie Jean Améry richtig bemerkt – »der Trobadour der kakanischen Oberschicht, sondern ihr Richter. […] Sein Werk ist als das unerlässliche

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Abb. 79: Das Bacchusfest (A. Schnitzler), Wayne Haglund (Guido), Margaret Monostory (Agnes), 1985.

Komplement zu Musils ›Mann ohne Eigenschaften‘ und Karl Kraus‹ ›Die letzten Tage der Menschheit‹ zu verstehen«.1 Vom Leser oder Zuschauer zunächst unbemerkt, setzt Schnitzler seinen Gestalten das Stethoskop an, und ehe man sich gewahr wird, ist man Zeuge von Verflechtungen und Entflechtungen menschlicher Schicksale. Nie wird ein Charakter schwarzweiß gefasst, immer nähert sich Schnitzler konzentrisch kreisend dem Nerv einer Gestalt, ihrem Ich, entwickelt dabei nie erreichte Abschattierungen in der Analyse der menschlichen Seele, die – wie so oft zitiert – ein weites Land ist. Wie oft verraten, ja offenbaren sich bei ihm Gestalten durch das, was sie verschweigen. Wenn man auf den inneren Ton hört, ahnt man, dass Schnitzler von seinen Charakteren immer noch mehr weiß, als er sie aussprechen lässt. Die Handlung in seinen Werken nimmt vielfach an der Peripherie ihren Anfang. Scheinbar Wichtiges erreicht im Verlauf des Stückes keine besondere Bedeutung, scheinbar unwichtige Aspekte erlangen zunächst oft nur unmerklich Bedeutung, gewinnen allmählich an Gewicht und verdichten sich schließlich zur Essenz eines Schicksals. Aus zahlreichen unaufdringlich aufgebauten Spannungen und Gegensätzen blüht in den vielfältigsten Formen scheinbar spielerisch Dichtung auf. Nicht pathetisch oder mit erhobenem Zeigefinger, sondern scheinbar beiläufig wird in Schnitzlers Werken im Konversationston über Scheinmoral und den Ehrbegriff, über Intoleranz und Selbstmitleid, über Liebe

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Abb. 80: Die tiefe Natur (H. Bahr), Jill Snyder (Helene), Vinzent Danz (Leo), 1987.

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und Tod abgehandelt, und oft gewährt uns der Dichter hierbei Einblicke in Abgründe der menschlichen Seele. Wenn man aber dabei meint, eine Figur in ihrem Wesen erfasst zu haben, zeigt er uns eine andere Facette ihrer Persönlichkeit, und sie entgleitet uns wieder. Das ist die dramaturgische Technik, mit der er uns die subjektive Skala von Realität und Traum, Ernst und Spiel, Zufall und Schicksal, Bewusstem und Unbewusstem, Wirklichkeit und Fiktion vor Augen führt. Vielleicht ist dieses Phänomen am besten in seinem Paracelsus verbalisiert  : »Paracelsus  : Es war ein Spiel  ! Was sollt’ es anders sein  ? Was ist nicht Spiel, das wir auf Erden treiben, Und schien es noch so groß und tief zu sein  ! (Mit wilden Söldnerschaaren spielt der Eine, Ein And’rer spielt mit tollen Abergläubischen. Vielleicht mit Sonnen, Sternen irgend wer, – Mit Menschenseelen spiele ich. Ein Sinn Wird nur von dem gefunden, der ihn sucht.) Es fließen ineinander Traum und Wachen, Wahrheit und Lüge. Sicherheit ist nirgends. Wir wissen nichts von Andern, nichts von uns. Wir spielen immer, wer es weiß, ist klug.«

Mit seinem dichterischen und philosophischen Werk hat Schnitzler das 20. Jahrhundert vorausschauend erfasst und in seiner Vielschichtigkeit nachhaltig beeinflusst. Heute wie zu seiner Zeit zeigt er in subtiler Weise einen Weg auf, zwischen Philosophen und Sophisten, Dichtern und Literaten, Priestern und Pfaffen, Helden und Hochstaplern, zwischen Historikern und Journalisten und Ärzten und Quacksalbern unterscheiden zu lernen. Nicht nur der Applaus des stets zahlreichen Publikums der CCTG-Theaterabende, sondern auch die positive Resonanz der Studierenden auf die jeweilige Thematik der gewählten Theaterstücke bestätigten die Gründungsidee des Seminars. Besonders erfreulich war es, nach Jahren zu erfahren, dass dieses »Theaterabenteuer« bei einigen Protagonisten nachhaltig das Interesse am Beruf des Schauspielers oder Szenografen geweckt hatte, den sie nach entsprechendem Studium erfolgreich ergriffen. So vermögen auch Theaterseminare über alle Grenzen hinweg zur Völkerverständigung beizutragen und damit junge Menschen nicht nur für Toleranz zu sensibilisieren, sondern – wie Goethe es bereits forderte – für Akzeptanz anderer Kulturen und Weltanschauungen zu motivieren. Auch sind jene ein wesentlicher Schritt, die anderen und sich selbst besser kennen und schätzen zu lernen, und dadurch klarer in die Welt zu sehen …2

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Abb. 81: Komtesse Mizzi (A. Schnitzler), Mark Del Vecchio (Fürst Ravenstein), Marketa Oliver (Komtesse Mizzi), 1987.

Anmerkungen 1

Améry, Jean  : Inmitten des alten Österreich – Arthur Schnitzler in Literatur und Kritik Österr. Monatsschrift Nr. 151 – Salzburg  : Otto Müller Verlag 1981. 2 CCTG – Theaterproduktionen 1973 – 1987  : Anatols Hochzeitsmorgen (Schnitzler), Liebelei (Schnitzler), Das Konzert (Bahr), Der einsame Weg (Schnitzler), Wienerinnen (Bahr), Das weite Land (Schnitzler), Das Konzert (neue Produktion) (Bahr), Liebelei (neue Produktion) (Schnitzler), Anatol Zyklus  : Anatols Größenwahn, Frage an das Schicksal, Abschiedssouper, Anatols Hoch­ zeitsmorgen (2.) (Schnitzler), Der einsame Weg (Schnitzler), Bacchusfest (Schnitzler), Silvester­ nacht (Schnitzler), Literatur (Schnitzler), Stunde des Erkennens (Schnitzler), Schauspielerin und Dichter – Reigen (Schnitzler), Große Szene (Schnitzler), Komtesse Mizzi oder Der Familientag (Schnitzler), Die tiefe Natur (Bahr). Spielorte  : Festsaal Palais Miller-Aichholz – Europahaus, Theater des Italienischen Kulturinstituts, Theater der American School, Urania Mittlerer Saal, Bühnen­kostüme  : Bundestheater, Bühnen­ bild  : Absolventen der Bühnenbildklasse der Angewandten, z. T. mit Praktikabeln des Theaters in der Josefstadt.

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Abb. 82: Wohnhaus der Familie von »Liane de Rosveredos« alias Elsa Gotthilf, Maximilianplatz (heute Rooseveltplatz), 2015.

La fantasia dell’uomo  è il più grande potere delle donne.  Die Fantasie des Mannes ist die beste Waffe der Frauen. Sophia Loren

Liane und Pierre Abenteuer gelebter Fantasien

Zeitungsannoncen, Appelle zu wie immer gearteter Kontaktaufnahme mit den unterschiedlichsten Intentionen, waren schon lange vor dem Schlagwort »Kommunikation« im Basar der Gefühle en vogue. Seit ihrer Erfindung – im heutigen Zeitalter moderner Kommunikationsmedien in Form des Chatrooms – wird zwar nur ein kleiner Bruchteil an Hoffnungen und Sehnsüchten der Suchenden erfüllt, und doch üben sie offenbar unvermindert einen gewissen Reiz des Unbekannten auf so manche Leser aus. Nur äußerst selten werden sie schicksalsbestimmend, meist bleiben sie in einer Welt voll alltäglicher Gewissheit nur Spiel mit ungewissem Ausgang. Doch gerade solche in der Fantasie erlebte Abenteuer sind die dauerhaftesten, hartnäckigsten, tiefstgreifenden, und verblassen nie  ; weil gerade in ihrer Nichterfüllung Zeitlosigkeit liegt, und sie gerade durch ihre Unvollendung nicht den Gesetzen der Hinfälligkeit der Materie unterworfen sind … Wie sonst wäre es erklärbar, dass zu Beginn des 20. Jahrhundert eine junge Frau aus bester Familie, in glücklicher Ehe mit einem höchst renommierten, vielgefragten Architekten, auf eine Annonce unter einem Pseudonym antwortete und den sich daran schließenden fünfwöchigen Briefwechsel mehr als ein halbes Jahrhundert danach – höchst begütert – »als das Wertvollste, was ich besitze«, der Enkelin vererbt  ? Welchen Stellenwert muss sie diesem »Abenteuer« wohl auf Dauer eingeräumt haben, um diese Briefe über die Wirren von zwei Weltkriegen hinweg nach England zu retten und sorgfältig zu hüten  ? Irgendwie gewähren diese Briefe beispielhaft Einblick in gesellschaftliche und persönliche Beziehungen hinter bürgerlich etablierten Gemeinsamkeiten … und deren Schattenbilder  : Einsamkeiten … 8. September 1906 … Wien. Ein drückender Samstagnachmittag mit drohend schwarzen Gewitterwolken und einigen schweren Tropfen ist dem rosa Abendhimmel gewichen, der erstmals den Herbst ahnen lässt. Dem vorhersehbaren Sommergewitter war man am Stadtrand doch nicht ganz entkommen. So waren sie mit klatschnassen Kindern vom Spaziergang zurückgekehrt. Aber was würde es nützen, ihm danach wegen seines Misstrauens gegen Wetterprognosen mit Schadenfreude zu begegnen

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und ihn mit Molières Worten »Tu l’as voulu, George Dandin« zu tadeln  ? Er würde ja doch nur lächeln und ihr mit seinen Gedanken wieder entgleiten – zu den Plänen der Fassadengestaltung eines Gebäudes am Wiener Graben … Auch wenn sie diese Berufsleidenschaft von ihrem Vater – Baumeister und ebenfalls Architekt – her kennt, ist sie darüber manchmal etwas traurig. Dann lockt das innere Abenteuer und sie erfindet Geschichten, als ob sie erlebt wären, und ihre Fantasien nehmen Gestalt an, plastischer und klarer als wirklich Erlebtes … Sachte gleitet die Schwüle des Tages in die Dämmerung… Die Fenster des Salons stehen weit offen, und am Abendhimmel zeichnen sich die dunklen Konturen der filigranen Fialen und Türme der Votivkirche wie Scherenschnitte ab, um die Schwalben kreischend ihre Bahn ziehen. Erinnerung liegt in der Luft, Erinnerung an nicht erfüllte Mädchenträume … Elsa, eine junge Frau der guten Wiener Gesellschaft, blättert die schon überholte Donnerstag-Abendausgabe der »Neuen Freien Presse« gedankenverloren durch. Ihr Blick bleibt an einer überlangen Annonce hängen … »Intelligente junge Dame wird von alleinstehendem Kavalier, 45 Jahre, gesucht zur Führung seines Haushaltes. Auf eine hübsche, tadellose Erscheinung wird besonderes Gewicht gelegt, die mit Suchendem, der in wohlhabenden Verhältnissen lebt, anregende Unterhaltung führen kann. Als Minimum ist ein Gehalt von 50 fl. monatlich bei freier Station fixiert, welcher jedoch bei voller Zufriedenheit bedeutend erhöht werden kann. Suchender spricht nur gebrochen Deutsch und hat seinen ständigen Aufenthalt in der Mandschurei. Junge Damen, den besseren Ständen angehörend, die unter geschilderten Verhältnissen auf das Angebot eingehen würden, belieben ihre Photographie nebst Lebensgang und Adresse unter «R. R. R. 932» an das Ankündigungsbüro des Blattes einzusenden. Hin- und Rückreise wird selbstverständlich vergütet. Strengste Diskretion wird verlangt und zugesichert. Nichtkonvenierendes wird zurückgesandt. Zur Begleitung und Bedienung soll auf Kosten des Suchenden ein Stubenmädchen gemietet werden, weil die vorhandenen männlichen Dienstboten nur Russisch sprechen. 76 405-5«1

Das Spiel der »Verstellung« lockt. Weil man sich in ihm frei geben kann. Weil man als Frau anonym Dinge äußern kann, die man sich sonst versagen muss … Freilich gehört Courage dazu, doch die hat sie von ihrer Mutter – einer erfolgreichen Frauen­ rechtlerin – mitbekommen. Spontan lässt sie ihrer spekulativen Fantasie freien Lauf und greift zur Feder  :

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Abb. 83: Das alte Hotel Bristol, Kärntner Ring 3–7, Foto um 1906, Archiv Hotel Bristol Wien.

Sonnabend 2 Euer Hochgeboren  ! Ich vermute nämlich, daß Sie Graf sind, denn der Kavalier fängt erst beim Grafen an, oder nicht  ?  ! 45 Jahre sind gerade das beste Alter, u. wenn Ihre Erscheinung ebenso tadellos ist, wie die meine sein soll, wäre ich bereit, Ihnen bis in die Mandschurei zu folgen, obgleich mir Nizza im Winter, Paris im Frühling u. Ostende im Sommer offen gestanden lieber wären. Auch könnte ich dort mein spezielles Talent, Haus zu führen, besser zur Freude meiner Ange­ hörigen entfalten, aber es bildet sich auch ein Talent in der Stille – Sie verstehen  ?  ! Gegen mein Exterieur ist nichts einzuwenden, aber ich liebe es nicht, um die Sprache Ihrer Annonce zu reden – daß man besonderes Gewicht darauf legt  ! Ich sehe mehr auf gute Be­ handlung als auf Gehalt, insbesondere, da ich weiß, daß es sich bei jeder freien Station bis in die Mandschurei erhöhen wird, denn volle Zufriedenheit wird selbstredend garantiert. – Daß Sie gebrochen Deutsch reden, schadet nichts, je me sers de la langue française sans difficulté. Si vous n’avez rien à me dire, vous n’aurez qu’à vous taire, je ne tiens pas à ce qu’on me parle – vous saisissez  ?  !*) Russisch verstehe ich nur, was man so zum täglichen Leben braucht  ; und wozu hat man die Finger, wenn nicht zur Zeichensprache  ?  ! Zum Überfluß kann ich auch  : «Já tjebe lublu  !”3 sagen, das macht immer Freude. – Was verstehen Sie unter den besseren

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Ständen, u. wie stellen Sie sich die jungen Damen vor, die ihnen angehören  ? Ob ich dazu zu rechnen bin  ? Die Entscheidung darüber hängt von Ihnen ab. – Auf das «geschilderte Verhält­ nis”, ich bediene mich wieder Ihrer Blumensprache – würde ich gerne eingehen, aber photo­ graphieren habe ich mich noch nie lassen – die Photographen sind so unverschämt  ; übrigens sind Sie doch gewiß Amateur und werden die beste Stellung für mich finden. – Diskretion sichere ich Ihnen gerne zu, ich für meinen Teil verzichte drauf – in der Mandschu­ rei  ; denn wissen Sie, ich habe dort so wenig Bekannte. Sollte ich Ihnen wider Erwarten nicht convenieren, so fahre ich ganz allein (  ?  !) zurück, aber drängen lasse ich mich nicht. Ich habe tenue. – Ein Stubenmädchen genügt Ihnen  ? Und die männlichen Dienstboten sprechen nur russisch  ? Ei, ei, wie vorsichtig  ! Jetzt mein Lebensgang  : Geboren bin ich in Rio de Janeiro, ganz nahe beim großen Erdbe­ ben  ; mein Vater starb, da er mir das Leben gab, meine Mutter hieß Clotilde. So wurde ich eine Waise, aber aus guter Familie, das ist schließlich die Hauptsache. Erziehung  : Sacre coeur, der weitere Lebensgang graziös über Paris, Aix les Bains, Wien, Paris, Rundreisebil­ let (Cook). Sie verstehen  ?  ! Und nun vielleicht in die Mandschurei – Oh la la   ? . . . . . . Bevor ich jetzt schließe, erlaube ich mir noch eine Frage, die Sie vielleicht ein wenig indis­ kret finden werden, die mich aber fascinierte, während ich Ihre Annonce las. . . . Was suchen Sie eigentlich  ?  ! - - - - - - - Und hat der Suchende gefunden  !  ?- - - - - - Lassen Sie mich nicht lange auf Antwort harren – ein Gentleman weiß immer Mittel u. Wege zu finden, einer Lady mit einer Kleinigkeit zu zeigen, daß es ihm Ernst ist, ohne sie dabei zu verletzen. Also unter Liane de Rosveredos4 postlagernd Maximilianstraße – Wien.5 (heute  : Mahler Str.) L *) ich bediene mich ohne Schwierigkeiten der französischen Sprache. Wenn Sie mir nichts zu sagen haben, brauchen Sie nur zu schweigen. Ich lege keinen Wert darauf, daß man mit mir redet – verstehen Sie  ?

Die Antwort des »russischen« Kavaliers vom 13. September ist – wie alle folgenden – auf Briefpapier des Wiener Hotels Bristol abgefasst. In dieser zeigt sich der Schreiber der »Brasilianerin« intellektuell durchaus gewachsen. Sprachlich verschleiert er seine Herkunft durch die Mischung aus einem katastrophal (konstruiert  ?) mangelhaften Deutsch und einem ausgezeichneten Französisch … An seiner behaupteten russischen Herkunft muss jedenfalls gezweifelt werden, da er das von Liane russisch etwas fehlerhafte Zitat »Ich liebe dich« mit Fehlern wiederholt … Auch fällt bei genauem Studium seiner Handschrift auf, dass er zwar behauptet, nur schlecht Deutsch zu beherrschen, doch an zwei Stellen dieses Briefes verwendet er in der Lateinschrift

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einen Kurrentbuchstaben, was sicherlich nur jemandem passierte, der sich üblicherweise dieser Schrift bediente … Inhaltlich durchschaut er amüsiert die Schreiberin ebenso wie sie ihn, vom ersten Moment an. So nimmt er ihr von Beginn an die »Brasilianerin« nicht ab (»Sagen Sie mir die ganze Wahrheit – sind Sie Wienerin  ?«), und gesteht ihr unumwunden, dass er eine Liaison mit einer lieben Wienerin suche, da er von den Pariserinnen tief enttäuscht sei. Anderseits hält er weiter an seiner erfundenen russischen Abstammung fest (»Der Winter in St. Petersburg ist nun gräulich. Alle fürchten die Katastrophe…«) Abschließend kündigt er ihr ein Geschenk via Wertbrief an, mit welchem er ihrem Wunsch, »zu zeigen, dass es ihm ernst sei«, nachkommt. Alle auf diesen Einstieg folgenden Briefe sind in französischer Sprache abgefasst. Monsieur, was für eine Geschichte  ! Man wollte mir unter keinen Umständen Ihren berühmten »Wert­ brief« aushändigen, und so sterbe ich vor Neugier zu erfahren, was er enthält. Eilen Sie zum Postamt und beheben Sie den Brief  ! Und vor allem lassen Sie mich wissen, wie ich in den Besitz des Beweises Ihrer ehrbaren Gefühle gelangen könnte. Danach wird man sehen. Sie sind ein schlauer Fuchs – ich bin Wienerin, und Sie sollten mich besser kennen lernen. Beeilen Sie sich also  ! Übrigens finde ich es nicht convenierend, einem Herrn zu schreiben, dessen Namen ich nicht kenne. Ich setze daher voraus, dass Ihre Antwort ohne Ausflüchte mit Ihrem Namen unterschrieben sein wird. Mit dem Ausdruck meiner vorzüglichen Hochachtung L6

Diesen Zeilen ist zu entnehmen, dass Elsa offenbar der Ansicht ist, Ihr neuer Briefpartner wäre nicht mit den lokalen Bestimmungen vertraut. Tatsächlich kann sich ja die Adressatin am Postamt nicht mit einem auf ihr Pseudonym Liane de Rosveredos lautenden Personaldokument ausweisen, sodass man ihr die Herausgabe der Sendung verweigerte … Donnerstag7 Madame, für mich gibt es keinen Zweifel mehr. Sie sind eine Frau von Welt. Die feine Grazie ihres ersten Briefes, die gewollte Strenge des zweiten zeugen davon. Wenn eine Frau von Welt glaubt, einen »im Griff« zu haben, begehrt sie auf. Sie sind kein junges Mädchen mehr. Sie kennen das Leben zu gut. Und dennoch hat Ihr Stil nichts Kokettes. Sie formulieren Ihre Sätze gut. Sie sagen Dinge zum Todlachen mit einem Anflug von Unantastbarkeit. Ihr Fran­ zösisch fließt gut, obgleich Sie nicht Französin sind. Sie sind eine charmante Wienerin, ver­ heiratet oder Witwe. Eher verheiratet, da Sie Ihre Briefe mit einem simplen L. unterschreiben.

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Abb. 84: Liane de Rosveredos, Brief an Graf P.P. Pastnief/Konzept, 1. Seite, 20.9.1906.

Aber Sie müssen mich nicht zurückweisen  ! Ich bin ein »gentil garçon«, der Ihnen nur ange­ nehm sein will. Ich brauche Ihr Lächeln, Madame. Seit zwei Jahren hat mir keine Frau jenes Lächeln ge­ schenkt, das mich erbeben lässt. Übrigens, Madame, fahren Sie manchmal nach Venedig  ? Oder sind Sie der Gondeln, der Kanäle, die von Palais und Tauben des Markusplatzes gesäumt sind, müde  ? Ich gestehe Ihnen, dass ich Venedig noch immer liebe, obwohl ich schon drei Mal dort war. Nun, letztes Jahr sah ich in Venedig jedes Mal, wenn ich mein Domizil verließ, ein reizendes Mädchen mit reizendem Köpfchen, schlankem Hals und graziöser Hüfte auf den drei Stufen vor ihrer Tür am Kanal. Sie stand da, im Sonnenschein mitten im Gesindel, rein wie eine Amphore, betörend wie eine Blume. Sie lächelte. Was für ein Mund  ! Das edelste Juwel in schönstem Licht. Zum Glück entdeckte ich rechtzeitig, dass ihr Lächeln einem Metzgerjungen galt, der mit seinem Korb am Kopf hinter mir kauerte. Unter den Frauen von Welt gibt es sehr wohl so manche mit Charme, doch sie zu lieben, steht auf einem anderen Blatt. Aber ich liebe nun einmal nur Frauen von Welt… Da gab es eine in Paris, die mich grausam leiden ließ… Das war eine zwei Jahre währende Ge­ schichte. Seither, Madame, habe ich ganz Europa durchquert und habe nicht gefunden, wonach ich suche.

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Sie, Madame, sind für mich ein Rätsel, dessen ungelöster Sinn Wonnen birgt. Ich kenne Sie nicht und begehre Sie… Besitzt man jemals, was man liebt  ? Sind nicht Küsse und Zärtlichkeiten nur der Versuch, ei­ ner deliziösen Verzweiflung  ? Wenn ich eine geliebte Frau in den Armen halte, suche ich sie noch immer und habe sie nie, da ich sie immer will, weil ich in ihr das Unmögliche und das Unendliche will. Ich schwätze nicht immer so viel. Fürchten Sie nichts. Es ist dies nur, um den Eindruck des ungehobelten Klotzes zu verwischen, den ich am Anfang unserer etwas banalen Beziehung gemacht haben muss. In diesem Punkt dürfte ich Sie wohl schon überzeugt haben. Ich weiß im richtigen Augenblick zu schweigen, und gerade dann bin ich sehr beredt … Den berühmten Wertbrief habe ich behoben. War es ein Scherz oder entspricht es der Wahrheit, dass man Ihnen am Postamt die Aushändigung verweigerte  ? Habe ich Sie beleidigt  ? Ich bitte Sie inständig, es mir nicht übel zu nehmen. Ich wusste sehr wohl, dass Sie nur im Scherz einen realen Beweis meiner Gefühle forderten  ; ich vermute, dass Ihr Gatte der Sklave Ihrer geringsten Wünsche ist … Erweisen Sie mir die Ehre, sich bei einem Pariser Salon, dessen Adresse ich beilege, ein Kleid nach Ihrem Geschmack machen zu lassen. Es ist ein gutes Haus, und ich lege darauf Wert, es zu lancieren. Sie würden mir also einen Dienst erweisen, indem Sie mir dabei hel­ fen. Jetzt bleibt mir nur Sie zu bitten, mir Ort und Stunde zu nennen, wo ich Ihnen persönlich begegnen und sagen könnte, welches Vergnügen es mir bereitet, Ihre Briefe zu lesen. Sie werden es nicht bereuen. Ich halte mich für fähig, einer sehr schönen Frau von Welt, die ein wenig spöttisch, ein wenig sentimental und gleichzeitig kühn und gewissenhaft ist, kurz einer Frau wie Liane de Rosveredos, schöne Momente bescheren zu können. Mit dem Ausdruck meiner größten Wertschätzung Graf Pierre Pastnief P. S.: Morgen fahre ich auf die Jagd zu einem Freund auf der Durchreise, aber ich bin in 48 Stunden zurück. (Beilage  : Briefkarte  :) Maison Renou Dorville 5, Rue de la Paix Paris BON für ein Kleid für Madame Liane de Rosveredos Comte Pastnief Wien, 20. September Monsieur, haben Sie ausgejagt  ? Das war lange, noch ein Tag und ich wäre nicht mehr hier, Sie sehen, Sie haben Glück. Einen Wertbrief zurückholen können, den Ort verlassen, ohne

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den Anschluss für ein charmantes Abenteuer und eine ebensolche Wienerin zu verpassen … Was haben Sie eigentlich gejagt  ? Das muss eine Krankheit sein. Hat man schon jemals etwas Derartiges gesehen, dauernd was weiß ich zu jagen und zu suchen. War die Beute wenigstens liebenswert  ? Übrigens, Ihr Kleid ist reizend. Es ist eine Symphonie aus Spitzen und Pelzsamt mit Perlen bestickt. Chic, nicht wahr  ? Auch hielt ich mich in Paris auf, um es zu bekommen. Drei Tage sind nicht genug, um sich zu amüsieren, aber es ist zu viel, was den Aufwand anlangt, verste­ hen Sie  ? Man muss gestehen, dass das Haus, das Sie mir empfahlen, in jeder Beziehung gut ist. Um mir entgegenzukommen, arbeiteten sie Tag und Nacht, ohne die Kosten zu scheuen. Aber während ich mit Ihnen so nett wie nur möglich plaudere, verfolgen Sie nur Ihre Jagd­ pläne, Sie Egoist  ! Liane de Rosveredos Poste restante, IX., Garnisongasse Das wird Ihnen Abwechslung bringen, Sie Jäger Die von Ihnen Angebetete.8 Mittwoch9 Madame, ich verstehe heute überhaupt nichts mehr. Ihr Pariser Brief im »dernier cri« hat mich verwirrt. Im Grunde bin ich mir nicht ganz sicher, ob Sie sich nicht über mich lustig machen und glaube beinahe, ihren hochmütigen Mund zu sehen, der mit einem herablassenden Ton zu sagen scheint  : Oh Gott, wie sind die Männer dumm  ! – Trotzdem bin ich bereit, den schwarzen Kugeln des Wiener Clubs die Stirn zu bieten, um Ihnen zu gefallen, ganz in der Hoffnung, dort einen Weg zu finden, ihrem Gatten vorgestellt zu werden. Ich gestehe, es fällt mir schwer einzusehen, dass Sie Ihr Incognito weiter hüten, das Ihnen übrigens bestens »steht«. Alles was ich auf der Jagd »gefangen« habe, war eine arge Erkältung, die mich »spleenig« machte und hinderte, das Haus zu verlassen. Wird Sie also mein nächster Brief noch erreichen  ? Und welche »Folter« werden Sie sich das nächste Mal ausdenken  ? Sie werfen mir meine Inkonsequenz in Bezug auf Ihre Tugend vor (eine schöne und unan­ tastbare Sache), aber, Madame, Sie scheinen mir zu vergessen, dass nichts veränderlicher (vielleicht sogar flüchtiger) als die Tugend, nichts facettenreicher unter einem mehr oder weniger heißen Himmel ist. Die erste Frau, die Hosen anzog, wurde als maßlos angesehen  : die Maßlosigkeit unserer Zeit bestünde darin, sich ihrer zu entledigen. Übrigens gibt es nichts Verwirrenderes als Dessous mit ihrer Vielzahl an Volants, die mit en­ gen Seidenbändern – gleichsam wie kleine Festons – zusammengehalten werden  ? Und bei

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Abb. 85: Antwort von Graf P.P. Pastnief an Liane de Rosveredos, 1. Seite

einem geschmeidigen und wohlgeformten Frauenkörper mit katzenartigem Zauber, dessen unbestimmte Umrisse die Sinnlichkeit verwirren, kenne ich nichts Graziöseres als das sukzes­ sive Fallen des Morgenmantels, des aufgeschnürten Korsetts und der Rüschenhöschen, die für einen Augenblick der Frau das Aussehen eines frechen Knaben verleihen. Oh, Madame, was hätte ich alles getan, um Ihnen genießerisch bei der Anprobe Ihres Kleides bei Dorville zuzusehen  ! … Nun, ich bin entzückt zu hören, dass es Ihnen gefällt. Ich werde in ca. einer Woche im Wiener Club sein, und dort werde ich mein Geld nur ver­ lieren, um ein wenig mehr Glück im kapriziösen Spiel der Liebe zu haben. Ich schwöre Ih­ nen, die Wiener verstehen davon nichts und wissen damit nicht umzugehen. Werden Sie so freundlich sein und den nächsten Brief am Mittwoch am selben Postamt abholen zu lassen  ? Ich halte für Sie eine Überraschung bereit. Der Sie verehrende Comte Pastnief

Aus dem Spiel wird mit einem mal eine »liaison presque dangereuse«, als Pierre für Elsa die angekündigte »Überraschung« bereithält  :

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Dienstag10 Madame, hier ist meine Überraschung  ! Sie heißen Elsa Gotthilf, Ihr Gatte ist Architekt, und Sie haben ei­ nen kleinen Schlingel von Sohn, der einen braunen Überzieher und eine englische Kappe trägt. Sie lassen Ihre Briefe von einer Frau abholen, die wie eine Masseuse aussieht, und die ich etwa acht Tage beschatten ließ. Ich bin im Besitz von zwei Momentaufnahmen von Ihnen, die ich mir auf schwierige Weise verschaffte. Die eine stellt Sie gerade im Moment, in dem Sie das Haus Numero 6 des Plat­ zes, an dem Sie wohnen, verlassen, dar. Sie drehen sich zur Seite, Ihre feine Silhouette in schwarzen Stoff gehüllt. Sie sind wunderschön  ! Und ich weiß wirklich nicht, was ich mehr bewundern soll, Ihren sprühenden Esprit oder all die Details, die ihn umgeben… Madame, ich muss Sie sehr bald sehen. Lassen Sie mich nicht schmachten. Unsere kleine Plauderei fern der Welt war so hübsch  ! Warum sollten wir sie nicht mündlich fortsetzen  ? Ich muss Sie ansehen können  ! Madame, ich habe einige Verse gekritzelt, die ich Ihnen widme. Hier sind sie  : Les regards

Die Blicke

Les regards tendres des amants

Der Geliebten Blicke gleiten

Sur la peau des douces maîtresses

auf der Haut süßer Maitressen

à travers leurs longs vêtements

zart umkosend in die Weiten

Glissent d’impalpables caresses;

durch Gewänder traumvermessen  ;

Ils sont brûlants comme un baiser

eilen mit der Küsse Glut,

Ou fougueux comme une morsure

auf gar vielen Spuren fort,

Et s’en vont où sait les poser

kühn wie Bisse voller Mut,

Leur marche infatigable et sûre…

verlieren sich an manchem Ort.

Ils commandent les chauds frissons

Sie entlocken heiße Schauer,

Qui font rougir sous les dentelles,

bringen Frauen zum Erröten

Ils vont et viennent sans raison

unter Spitzen, nicht von Dauer,

Puis s’en volent à tire d’ailes…

und verfliegen ungebeten.

Écoute quand ils regardent bien

Schenke, so sie dich berühren,

C’est que l’amour est là qui passe  !

flüchtg’er Liebe dein Gehör,

Mais après perdus dans l’espace

wenn sie sich im Raum verlieren,

Les regards ne disent plus rien…

verraten Blicke gar nichts mehr…

Verspotten Sie mich nicht, diese Verse geschrieben zu haben. Es ist ein wenig altmodisch, Reime zu machen, nicht wahr  ; aber das überkommt mich manchmal.

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Und schließlich habe ich einen hervorragenden Tailleur, meine Schuhe und mein Bart sind bestens gepflegt  : mit diesen noblen Mitteln glauben wir auf Frauen den größten Eindruck zu machen. Aber leider machen wohl ein raffiniertes Gilet oder ein perfekter Krawattenknoten nicht mehr Eindruck auf Sie als das Produkt meiner bescheidenen Muse  ! Also, wie kann ich Sie besiegen  ? Sie überzeugen  !  !  ! Ich weiß keinen Rat mehr. So gibt es nur ein Argument, das stichhaltig sein möge  : Ihr guter Wille, m e i n e Dame (Darf ich Sie so nennen  ?) Es dürfte Ihnen bekannt sein, dass man bei Demel sehr gut isst. Werde ich das Glück haben, Ihnen dort durch Zufall zu begegnen  ? Nehmen Sie, Madame, die respektvollste Wertschätzung eines Jägers entgegen, der fei­ erlich die Spitzen der schlanken Finger des seltenen Rehs küsst, das sich soeben in seinem Netz verfing Pierre Paul Pastnief genannt der Herr, der fand

Elsa ist für einen Augenblick starr vor Schreck  : Solche Leidenschaft könnte zu allem fähig sein … Beinahe noch mehr erschreckt sie der Gedanke, dass dieser Unbekannte ihr längst nicht mehr gleichgültig ist … Diese Faktoren könnten alles ins Wanken bringen, ihre souveräne Stellung in der Familie erschüttern, das ihr von ihrem Gatten und der Familie uneingeschränkt entgegengebrachte Vertrauen untergraben … Die Gespenster Skandal, Duell, amerikanisches Roulette zeigen unerwartet ihre Fratze… Schließlich obsiegt ihre »Vernunft«. Bravourös zieht sie sich schließlich mit einem Hauch von Melancholie in die Reserve zurück, hoffend dass Pierre dies als Gentleman respektiert … Monsieur, Ich hätte Sie nicht für so ungeschickt gehalten… Übrigens wusste ich – ohne jegliche An­ strengung – von Ihrem ersten Brief an ihren Namen, mit einem Lächeln auf den Lippen. Doch ich schwieg, da es immer besser ist, eine »Reserve« zu haben und nicht alles, was man besitzt, in einem Feuerwerk zu »verpulvern«. Und als guter Jäger hätten Sie wissen müssen, dass man nicht Halali bläst, bevor man nicht sicher ist, dass einem das Reh nicht mehr ent­ wischt, und man so Gefahr läuft, sich lächerlich zu machen. Die Dame, von der Sie reden, ist mir bekannt, und ich weiß aus sicherer Quelle, dass die Briefe, die Sie die letzten Monate bezaubert haben, nicht von ihr geschrieben wurden. Sie haben alles verpatzt. Ein guter Photograph macht keine Momentaufnahmen, ein Künstler be­ obachtet, studiert sein Modell und geduldet sich. Doch zu große Eile verdirbt das Spiel. Und meinten Sie nicht in einem Ihrer letzten Schreiben, dass Sie im richtigen Moment schweigen können  ? Diesmal haben Sie ihn versäumt.

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Abb. 86: Dîner im Speisesaal des alten Hotel Bristol, Hans Stalzer (1878–1940), Öl/Lw, 193 x 300 cm, 1910.

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Hier ist nun vielleicht meine kleine Überraschung, die ich für Sie bereit hielt  : Es ist immer besser, Vertrauen zu haben, weil es zu nichts führt, sie entbehren zu müssen. Man muss den Augen vertrauen – bei geschlossener Kameralinse  ! Nützen Sie Ihre vierundzwanzig Stunden des Tages, um Ihre Vergrößerungen zu betrachten. Das Warten anstelle der unangebrachten Entspannung hätte Ihnen dazu verholfen, mir noch diese Woche vorgestellt zu werden. Jagen Sie, suchen Sie, annoncieren Sie auf’s Neue. Sie werden niemals wiederfinden, was Sie gerade verloren, bevor Sie es fanden. Aber Sie wollten es, Georges Dandin. Ein Rat in Parenthese  : Versuchen Sie nicht, der Dame zu schreiben, die Sie wagten zu erwähnen. Ihr Gatte öffnet all ihre Briefe, und ich möchte nicht, dass sie meinetwegen Unan­ nehmlichkeiten bekommt. L.11

Freilich ist Elsas Flucht nach vorne, die sie mit der Behauptung unternimmt, sie hätte von Anfang an die Identität des Schreibers gekannt, nur der schwache Versuch, sich vor den allenfalls familiär und gesellschaftlich brisanten Konsequenzen der Affäre abzusichern. Die Identität von Pierre Paul Pastnief blieb ihr – und bleibt bis heute – im Dunkel. Über sie gibt es nur Spekulationen. Logierte er wiederholt im Hotel Bristol oder war er Stammgast  ? Gehörte er vielleicht zur Belegschaft des Luxushotels  ? Ja wäre es nicht möglich, dass dieser »Comte Pierre Paul Pastnief« tatsächlich einem prominenten Grafengeschlecht angehörte und – wie so manche Adelige – 1910 im Speisesaal des alten Hotels beim Galadiner im großen Gemälde von Hans Stalzer verewigt wurde  ?12 Welche Bewandtnis mag es z. B. mit dem Modesalon Renou ­Dorville in Paris auf sich haben  ? Weder das Pariser Adressbuch noch das Telefonbuch dieser Zeit weisen einen Salon dieses Namens aus, auch wenn ich bei meinen Recherchen vor Ort zur fraglichen Zeit in dem Gebäude ein Damenmodesalon namens »Favre et Liégos« ausfindig machen konnte … Auch stellt sich die Frage, ob Pastnief der Versuchung widerstehen konnte, sich einmal später bei einem Abend in Gesellschaft Elsa vorstellen zu lassen  ? Ob Elsa wohl je das Gefühl hatte, »er«, der ihr soeben vorgestellt wurde, könnte es sein  ? Das Geheimnis könnte nur gelüftet werden, wenn Pastnief mit den Briefen Lianes ebenso sorgfältig umgegangen wäre, wie sie mit den seinen … und sich ihre Briefe in einem Nachlass wohlverwahrt fänden … Doch dazu bedürfte es besonderen Forscherglücks … Scheint dieser Briefwechsel zuweilen einer Briefnovelle Arthur Schnitzlers entnommen, so ist ein späterer Gotthilf-Bezug zum Dichter geradezu seltsame Fügung  : ­Stephan, Sohn der Gotthilfs, sollte 1927 in seiner Eigenschaft als Bankdirektor wiederholt Arthur Schnitzler in Bankangelegenheiten beraten … Einmal mehr finden Arthur Schnitzlers zeitlos gewordene, bereits zitierte Worte in Lianes und Pierres gelebter Geschichte Bestätigung  : »Es war ein Spiel, was sollt’ es anders sein, es fließen ineinander Traum und Wachen, Wahrheit und Lüge, …

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­ icherheit ist nirgends, wir wissen nichts von andern, nichts von uns, wir spielen imS mer, wer es weiß, ist klug.«

Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12

Neue Freie Presse, Abendausgabe, 6. September 1906, Seite 26, Rubrik »Offene Stellen«. Samstag, 8. September 1906. Richtig  : Já tjebja ljublju (= Я тебя люблю, Ich liebe dich). Pseudonym für Elsa Gotthilf. heute  : Mahlerstraße. o. D. 20. September 1906. o. D. 3. Oktober 1906. 9. Oktober 1906. o. D. Stalzer, Hans, Dîner im Speisesaal des alten Hotel Bristol, um 1910, Ölgemälde.

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Abb. 87: Flatiron Building (Fuller Building), 23rd Street zwischen Broadway und Fifth Avenue, Arch.: D. H. Burnham & Co., Ansichtskarte 1905.

Briefe von geliebten Menschen verbrennt man gleich oder nie. Marie Ebner von Eschenbach

Arthur Schnitzler – Eugen Deimel In die Neue Welt – ein aufschlussreicher Briefwechsel  ?

Anlässlich der 50 Wiederkehr des Todestages von Arthur Schnitzler im Jahr 1981 begann die Akademie der Wissenschaften sukzessive mit der Transkription, wissenschaftlichen Erschließung und Herausgabe des Tagebuches von Arthur Schnitzler. Man griff dabei bewusst zunächst auf die mittleren Jahre des Schriftgutes 1909– 1912 zurück. Beim Studium dieses ersten Bandes stieß ich auf drei kurze Eintragungen Schnitzlers, aus denen ich auf einen brieflichen Kontakt mit einem gewissen Eugen Deimel in New York schloss. Bald stellte sich heraus, dass dieser Eugen D ­ eimel, ein ehemaliger Jugendfreund Schnitzlers aus dem akademischen Gymnasium, offenbar in New York gelebt hatte. Meine Suche nach Briefen Arthur Schnitzlers an Deimel in diversen europäischen und amerikanischen Archiven verlief jedoch ergebnislos. Schnitzlers Briefe an Eugen Deimel blieben verschollen. 1985 wurde ich im Zuge meiner nachhaltigen neuerlichen Recherchen in New York überraschend fündig  : Die späte Vertraute Arthur Schnitzlers, Hedy Kempny – die seit 1947 in New York lebte –, hatte diese Briefe in den Sechzigerjahren erworben und im Verlag Frederic Ungar deponiert, dem sie bis 1981 als Mitarbeiterin angehörte. Bei Nachforschungen über den Verbleib der Briefe waren diese aber nicht auffindbar. Erst nach dem Tod Dr. Fritz Ungars wurden von dessen Witwe die Briefe 1991 auf meine neuerliche Anfrage hin zufällig entdeckt und gelangten so an mich. Im selben Jahr transkribierte ich Schnitzlers Briefe. Seit 1992 zählen sie zum Bestand der Handschriftensammlung der Österreichischen Nationalbibliothek. Die Briefe Eugen Deimels hatte aufgrund einer letztwilligen Verfügung des Sohnes Arthur Schnitzlers, Heinrich, zusammen mit anderen Materialien, Dokumenten und Fotografien seinerzeit das Schiller-Archiv in Marbach am Neckar erworben. Die vollständige Transkription dieser Briefe besorgte ich im Jahr 2001. Eugen Deimels Briefe an Arthur Schnitzler sind – wie in Arthur Schnitzlers Kondolenzschreiben an die Witwe Deimels vom 29. April 1920 vermerkt (»Ich besitze alle seine Briefe vom Jahr 1879 an bis zu seinem letzten vom 6. 12. 1919«) – vollständig erhalten. Wie im Falle anderer Briefwechsel finden sich bei wesentlichen Passagen auf den Autografen zuweilen eigenhändige Vermerke oder Unterstreichungen von Schnitzlers Hand.

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Beziehungen und Einsamkeiten

Die Briefe Schnitzlers aus der Münchner Zeit Deimels (1879–1882), die dieser nach Amerika mitnahm, gingen in den Wechselfällen seines anfänglichen Wanderlebens zusammen mit seinen Schulzeugnissen und Autografen seiner Jugendwerke in Philadelphia (vgl. Hinweis in Deimels Brief vom 15. Februar 1889) verloren.

In die Neue Welt … »Das Schiff landet  ; ich setze meinen Fuß auf den neuen Weltteil … Der graue Herbstmorgen überschattet Meer und Land  ; noch schwankt alles unter mir  ; noch immer fühle ich den Gang der Wogen … Aus dem Nebel erhebt sich die Stadt … neben mir, mit offenen Augen, lebendig, hastet die Menge. Nicht das Fremde empfinden sie  ; nur das Neue. Ich höre, wie der oder jener vor sich hinflüstert  : Amerika – als wenn er sich’s nur recht einprägen wollte, dass er jetzt wirklich hier sei, so weit  ! Ich stehe allein am Ufer. Nicht an das neue Amerika denk’ ich, von dem ich das Glück zu fordern habe, das mir die Heimat schuldig geblieben – ich denke an ein anderes…«

So beginnt Arthur Schnitzlers Essay Amerika, der 1887 entstand, mit dem der Dichter erstmals mental amerikanischen Boden betritt. 1889 wird er in der Zeitschrift An der schönen blauen Donau veröffentlicht. Im selben Jahr bricht Arthur Schnitzler sein siebenjähriges, beharrliches Schweigen gegenüber Eugen Deimel, der sich, 1882 nach Amerika ausgewandert, erstmals im Herbst dieses Jahres brieflich bei Schnitzler gemeldet hatte. Eugen Deimel, ein Schulkollege Schnitzlers, zählte zu dessen besten Freunden der Jugendzeit. Dieser stammte aus einer ursprünglich begüterten Familie, die Ende der 1870er-Jahre verarmt war. Arthur Schnitzler beschreibt Deimel rückblickend in seiner Jugend in Wien als blonden, hochaufgeschossenen Jungen, gutmütig, leichtfertig und stets zu Späßen, nicht immer von der feinsten Sorte, aufgelegt, der sich lieber im Kaffeehaus und Wirtshaus als daheim und in der Schule aufhielt, sentimental bis zur Weltschmerzlichkeit … »nicht ganz ohne bürgerliche Tendenzen, ein Nichtstuer mit ausgesprochen künstlerischen Bestrebungen, und bei allem Leichtsinn und Müßiggang ein durch und durch ehrlicher, innerlich anständiger, ja nobler Charakter.« Nachdem Deimel wegen der pekuniär tristen häuslichen Verhältnisse das Akademische Gymnasium vor der Matura verlassen hatte, begann er am Stadttheater als Statist, übernahm danach am Matzleinsdorfer Theater größere Rollen. Nebenbei schrieb er Gedichte und Tragödien. (Auf den Brettern dieser Bühne hatten so manche spätere Stars ihre ersten Auftritte. Auch Josef Kainz begann seine Bühnenkarriere an diesem Theater.) Bald darauf verließ Deimel aus finanziellen Gründen Wien und versuchte in München Fuß zu fassen. Er wurde Mitarbeiter des klerikal-konservativen Blattes Der freie

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Arthur Schnitzler – Eugen Deimel

Abb. 88: Eugen Deimel, 1896, Fotoatelier De Bear New York, Deutsches Literaturarchiv Marbach/SchillerNationalmuseum.

Landesbote, das unter der Leitung des damals neuen Redakteurs Theophil Boesl eine liberalere Richtung eingeschlagen hatte, und ging nebenbei unterschiedlichsten Gelegenheitsbeschäftigungen – wie Operationsgehilfe, Gerichtsprozess-Berichterstatter u. a. – nach. In dieser neuen Position bat Deimel Arthur Schnitzler wiederholt um Beiträge für die Zeitschrift. So erschien am 13. November 1880 in diesem Blatt die erste Veröffentlichung Schnitzlers, Liebeslied der Ballerine, zwei Tage danach Schnitzlers Aufsatz Über den Patriotismus. Bald darauf stellte das Blatt jedoch sein Erscheinen ein. Mit den knappen Mitteln eines von seinem Vater für diesen Zweck aufgenommenen kleinen Kredits und der bescheidenen finanziellen Unterstützung einiger ehemaliger Schulkollegen schiffte sich Eugen Deimel schließlich am 16. März 1882 in Antwerpen ein und gelangte auf abenteuerliche Weise nach Amerika. (Die Abreise Deimels hält Schnitzler übrigens in einem der unzähligen Notate seiner Materialiensammlung als Idee für eine allfällig spätere literarische Verwendung fest …)

Dokumente des Augenblicks Die vorliegenden Briefe sind Dokumente des Augenblicks, welche einst nicht mit dem Hintergedanken der Veröffentlichung verfasst wurden und somit einen authentischen

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Beziehungen und Einsamkeiten

Einblick in das Denken und die persönlichen Lebensumstände der Protagonisten gewähren. Schnitzlers Schilderungen an Deimel veranschaulichen gleichsam eine drei Jahrzehnte währende Reise des jungen Arztes mit literarischen Ambitionen bis zum weltbekannten Dichter mit medizinischer, psychologischer und sozialer Kompetenz, der auf den Bühnen Europas, Amerikas und Russlands Triumphe feiert, während ­Deimels Briefe die Höhen und Tiefen eines Einwanderers im Land der unbegrenzten Möglichkeiten widerspiegeln, die so manche Defizite – insbesondere kultureller und sozialer Natur – verdeutlichen. Darüber hinaus stellt aber diese Korrespondenz nicht zuletzt Berichte von kritischen Zeitzeugen über die kulturelle und gesellschaftliche Entwicklung zweier Weltstädte in ihrem so unterschiedlichen politischen Gefüge dar.

Deimels Briefe – Schnitzlers Brücke in die Neue Welt In frühen Jahren des Briefwechsels bedeuten für Arthur Schnitzler Deimels Schilderungen die ersten authentischen Berichte, die ihm Einblick in die Neue Welt gewähren. In der Realität sollte für Arthur Schnitzler Amerika, in das er in seiner Jugend Hoffnungen verschiedener Art setzt, nicht zuletzt wegen der Dominanz materieller Interessen im american way of life mit zuweilen marktschreierischer Sensationslust im Lauf der Jahre ein Land größter – nicht nur geografischer – Ferne werden  : Zur steten Verbesserung der Überwindung räumlicher Entfernung zwischen der »Alten und der Neuen Welt« wird – gleichsam verkehrt proportional – das kulturelle Auseinanderdriften der beiden Kontinente augenscheinlich … Schließlich machen »Weltmeer und Valuta« ein Zusammentreffen zwischen ihm und Deimel, das in vielen Briefen als Wunsch anklingt, zunehmend unmöglich. In einem Interview, das Schnitzler 1927 – Jahre nach Deimels Tod – George ­Sylvester Viereck geben sollte, meinte er auf die Frage, ob er gerne Amerika besuchen würde  : »Ich möchte Amerika gern sehen. Aber ich möchte nicht, dass Amerika mich sieht.«1 Und – in Anspielung auf Heines Traum der Allmacht – antwortete Schnitzler auf die Frage ob er, wenn er Gott wäre, die Flüsse in Sekt verwandeln würde, schmunzelnd  : »Ich würde das Wasser nicht in Sekt verwandeln – ausgenom­ men vielleicht in den trockenen Gebieten der Vereinigten Staaten.«1)

Amerika in Schnitzlers Werken In so manchen Werken Schnitzlers wird Amerika zum Synonym für ein Land, aus dem man kaum wiederkehrt, in dem man ein neues Leben anfangen kann, alles hinter sich lassend  :

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Arthur Schnitzler – Eugen Deimel

Abb. 89: Eugen Deimel, Brief an Arthur Schnitzler, 16. 3. 1892, Deutsches Literaturarchiv Marbach/SchillerNationalmuseum.

So bedeutet der Trost, den Max in Anatols Hochzeitsmorgen der empörten Ilona spendet, die Hoffnung der Düpierten, Anatol auch nach dessen Verehelichung nicht wirklich zu verlieren  : »Max  : Sie werden sich trösten  ! Ilona  : Wie schlecht sie mich kennen  ! Max  : Ja, wenn er nach Amerika ginge. Ilona  : Was heißt das  ? Max  : Wenn er Ihnen wirklich verloren wäre  ! Ilona  : Was bedeutet das  ? Max  : Die Hauptsache ist, dass nicht Sie die Betrogene sind  ! Ilona :  – Max  : Zu Ihnen kann man zurückkehren, jene kann man verlassen  ! …«

In der Novelle Leutnant Gustl überlegt der Protagonist nach der provozierten Auseinandersetzung an der Garderobe des Musikverein, sich der Schande durch Erschießen zu entziehen oder nach Amerika zu flüchten  : »Wenn ich lieber auf und davon fahren möchte, – nach Amerika, wo mich niemand kennt … In Amerika weiß kein Mensch davon, was heut’ abend gescheh’n ist… da kümmert sich kein Mensch

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drum … Neulich in der Zeitung ist gestanden von einem Grafen Runge, der hat fortmüssen wegen einer schmutzigen Geschichte, und jetzt hat er drüben ein Hotel und pfeift auf den ganzen Schwindel.« In Das weite Land überlegt Hofreiter, Glühlampenfabrikant mit amerikanischen Geschäftsbeziehungen, nach dem für den Fähnrich Otto letalen Ausgang des Duells  : »Wie immer es ausfällt, Verurteilung oder Freispruch, selbstverständlich fort aus der Gegend… aus dem Weltteil«, um sich der gesellschaftlichen Ächtung zu entziehen … In der Novelle Fräulein Else stellt Amerika das Land dar, in dem das große Kapital liegt  : »Neulich soll er (i.e. Dorsday) an einem Rubens, den er nach Amerika verkauft hat, allein achtzigtausend verdient haben.« Auch in Entwürfen Schnitzlers kehrt Amerika als Ziel der Auswanderung oder Flucht häufig wieder  : Figuren und Situationen der Neunzigerjahre auf dem Weg nach Amerika  : »Sie liebt ihn, fährt ihm nach Amerika nach. In Hamburg erlebt sie ihr letztes Abenteuer. Keine Gefahr, denn morgen verläßt sie ja Europa. Auf dem Schiff – er.«

Filmentwürfe  : »Mann am Fernrohr in Zermatt oder dergleichen. Er verfolgt eine Bergbesteigung. Die Bergbesteigung eine Frau und ein Mann. Diese Tour wurde noch niemals führerlos unternommen. Der Mann sieht sie durchs Fernrohr abstürzen in eine Gletscherspalte. Unfindbar. Tausend Meter tief. Eigentlich waren die Touristen, die Frau des Manns am Fernrohr und ihr Geliebter auf der Flucht. Neues Leben in Amerika. Es stellt sich heraus, dass alles gut vorbereitet und die scheinbar Verunglückten eigentlich Puppen waren. Entdeckung durch Auffindung der Puppe nach Jahrzehnten.« »Schiff, erste Klasse, eleganter Mensch hin und her, wirft einen Brief ins Wasser. Aber er flattert statt dessen auf das Verdeck dritter Klasse, fällt einem jungen Mädchen in die Hände, Tochter einer Auswandererfamilie. Wie sie versucht, den Mann kennen zu lernen, der den Brief geschrieben. Wiederbegegnung in Amerika. Der Moment, in dem sie ihm den Brief vorweist.«

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Schnitzlers Selbstdiagnose der Ursache seiner Verschlossenheit  : »Psychische Impotenz des Entgegenkommens« Von Anbeginn ist der Informationsaustausch zwischen den Briefpartnern thematisch einseitig, da Schnitzler in seinen Zeilen an den Jugendfreund gewandt jeden Blick in einen Sektor seines Innenlebens ausklammert – Beziehungen und deren Scheitern … Eine kleine Ausnahme von seiner Verschlossenheit über sein Gefühlsleben stellt auf Deimels Frage das »Geständnis« des Autors zur Entstehung seines ersten Welterfolges Liebelei dar  : July 13th 97 Lieber Arthur  ! Entschuldige mein langes Schweigen  ; deine Novelle ›Ein Abschied‹ habe ich erhalten. Herzlichsten Dank. Sie hat mich tief ergriffen  ; denn ich fand Anklänge an manchen Gedan­ ken, den ich selbst gedacht, an manches Gefühl, das ich an mir selbst erfahren. Du musst jedenfalls in deinen letzten fünfzehn Jahren viel erlebt haben, um einen so großen psycholo­ gischen Scharfblick zu besitzen. Umso mehr nahm’s mich Wunder, dass du dich im Urbild deiner ›Christine‹ so bitter ge­ täuscht haben konntest. Wäre das nicht auch einer psychologisch novellistischen Erklärung wert  ? […]«2� Wien, 18. 8. 97 Mein lieber Eugen, zwei deiner lieben Briefe liegen noch unbeantwortet vor mir, und für verschiedenes hab ich dir zu danken. Erstens darüber, dass du mir so freundliches über meine 2 Novelletten sagst, Frau des Weisen u Abschied. Im Winter lass ich heuer übrigens ein Buch erscheinen, in dem diese Geschichten u andre enthalten sein werden  ; ich schicke es dir gleich.[…] Ich muss bemerken, dass du eine Erläuterung in einem meiner letzten Briefe misverstanden (sic) hast. Jene Canaille war nicht das Urbild der Christine  ! Ich sagte nur  : bei Gelegenheit eines Zusammenseins mit der Person kam mir die erste Idee zu der ›Liebelei‹. Ich hatte sie nemlich sehr gern  ; war aber zugleich in unklaren und gefährlichen Beziehungen zu einer Frau. Da fiel mir, während ich einmal bei der ›Geliebten‹ auf dem Gang stand (Aussicht auf den Kahlenberg, Mondschein) ein – Donnerwetter, wenn dich jener ›Gemahl‹ mit dem Hackel erschlagt  ! (Da mir diese Gefahr drohte) – Aus diesem ›Donnerwetter‹ wurde die ›Liebelei‹ nach vielen vielen Jahren  ! […]3

Diese Episode aus Schnitzlers Jugendtagen wird literarisch abgewandelt, variiert und teilweise verfremdet in die Zeitlosigkeit des Bühnengeschehens gehoben, was im Text so klingt  :

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»Fritz  : Und die schöne Aussicht  ! Über wie viele Dächer man da sieht… und da drüben – ja, was ist denn das, das schwarze, das man da drüben sieht  ? Christine  : Das ist doch der Kahlenberg  !« (Liebelei, 2. Akt)

Aus diesem »Geständnis« wird deutlich, dass Schnitzler dem Charakter des Fritz doch gewisse eigene Wesenszüge verlieh … Freilich litt Schnitzler Zeit seines Lebens unter dem in der Öffentlichkeit verbreiteten Klischee, für eine seiner eigenen Figuren Pate gestanden zu sein  : Wurde er in seiner ersten Schaffensphase als Urbild des Anatol angesehen, war er später für das Publikum Paracelsus oder Bernhardi, was er stets zurückwies. Wenn Schnitzler auch nicht mit einem seiner Charaktere gleichgesetzt werden darf, werden doch anderseits so manche Äußerungen von Protagonisten seiner Werke gleichsam als Codes in sein Leben hineingenommen  : Wiederholt zitiert er, um einen Gedanken oder ein Gefühl des Menschen Arthur Schnitzler zu beschreiben, so manche seiner Gestalten, gleichsam zur Erläuterung der jeweiligen eigenen Befindlichkeit. Abgesehen von dieser Episode vertraut der Dichter in all diesen Jahren Deimel nicht eine einzige Herzensangelegenheit an und lässt den Jugendfreund somit im Bezug auf diesen Sektor seines Privatlebens auf dem »Wissensstand« von 1882 … Dies entspricht Schnitzlers misstrauischer Grundhaltung als Schriftsteller und passiver Beobachter, um mit seinem Privatleben nicht seinerseits Stoff für die Literatur anderer abzugeben. In einem späteren Brief an Josef Kainz wird er diese Haltung als »psychische Impotenz des Entgegenkommens« diagnostizieren … Anderseits ermuntert, ja bittet Schnitzler Deimel immer wieder, über sein persönliches Leben möglichst viel zu berichten, was in seiner Grundhaltung kein Einzelfall ist. Im Gegensatz zu Schnitzler zieht Deimel den Freund in all seinen Bedrängnissen und Nöten, wie Krankheiten und »Fehltritte« der Töchter oder Tod von Kindern, ins Vertrauen. Beispielsweise gewährt Schnitzler wie gewöhnlich auch in seinen Zeilen vom 25.7.1897 über seinen Paris-Aufenthalt dem Freund Deimel keinerlei Einblick in sein amouröses Gefühlsleben, eine Haltung, die er bis zum Ende der 30 Jahre währenden Korrespondenz nicht ändert. So verrät er Deimel mit keinem Wort, dass er diese Reise mit seiner damaligen Geliebten, der Gesangslehrerin Marie (»Mizi«) Reinhard (1871–1899) unternimmt, die zu dieser Zeit sein Kind erwartet … Kein Wort von der vorausgegangenen Leidenschaft für Adele Sandrock (1863–1937) oder seiner Beziehung zur Schauspielerin Mizzi Glümer (1867–1925) … Doch Deimel hat im Deuten von Schnitzlers Schweigen einen sechsten Sinn  : Er ortet hinter den ernsten Novellen Selbsterlebtes des Autors als Inspiration, doch auf seine diesbezügliche Frage erhält er nur eine ausweichende Antwort – so etwa vom

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Abb. 90: Die Wiener Ringstraße mit Blick auf Reichsratsgebäude (heute Parlament), Rathaus, Reichsratsstraße, Votivkirche, Universität, Hofburgtheater, Volksgarten. Um 1895.

21. November 1897 – in Form eines peripheren Eingeständnisses  : »Der Gedanke an den Tod beschäftigt mich seit vielen Jahren sosehr, dass ich zu Zeiten fast monomanisch davon geplagt bin. […] Davon abgesehen hab ich manches trübe erlebt und manches schwer genommen.« Spiegelt dieser Brief auch seine damalige tiefe Niedergeschlagenheit wider, so verschanzt sich Schnitzler auch vor seinem Jugendfreund hinter seinem literarischen Werk, ohne diesem die tragischen Ereignisse der vorangegangenen Wochen anzuvertrauen  : Am 24. September 1897 hatte Marie Reinhard Schnitzlers Kind tot zur Welt gebracht, am 4. November 1897 war Olga Waissnix – über die er einst, zu Beginn seiner Beziehung, im Tagebuch vermerkte  : »das süßeste und traurigste, was mein Herz bisher ausgestanden« – gestorben. Auch zwei Jahre später wird Schnitzler über den Schicksalsschlag des plötzlichen Todes »seiner Braut und Geliebten« Marie Reinhard (offiziell an den Folgen einer – ominösen – Sepsis), der ihn in eine existenzielle Krise stürzten sollte, Deimel gegenüber schweigen … Die Beispiele dieser »Sprachlosigkeit« ließen sich bis in die letzten Jahren seiner Ehe fortsetzen, über die Schnitzler seinem alten Freund mit keinem Wort das seit geraumer Zeit krisengeschüttelte Verhältnis zu seiner Frau Olga andeutet … Interessant ist in diesem Zusammenhang, welche Bedeutung Franz Werfel 1931 in seiner Gedenkrede auf Arthur Schnitzler der Einsamkeit des Dichters beimessen

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sollte  : »Zwei hohe Eigenschaften panzerten Schnitzlers weiche und gütige Natur gegen das Leben  : Seine Unbestechlichkeit und seine Einsamkeit. Unbestechlich war er sosehr, dass er nicht einmal durch sich selbst bestochen werden konnte. Der Kriegsschauplatz seines Lebens lag nicht in der Außenwelt sondern in seinem Gewissen. Noch wichtiger als diese Unbestechlichkeit erscheint mir des Dichters Einsamkeit. ­Arthur Schnitzler hat ihre Qual und ihre Wunder erprobt wie niemand. Er war ein großer Meister der Einsamkeit. Sie bildete den tiefsten Inhalt seiner Werke und Gestalten, vom ersten bis zum letzten. […]«4

Die Zeit, ein sonderbar Ding Das Gefühl der Melancholie der vergangenen unwiederbringlichen Jugendtage, des unaufhaltsamen Verrinnens der Zeit, schwingt jedoch in Schnitzlers Briefen an Deimel bereits früh mit (Brief vom 15. Februar 1898 »das Leben bleibt doch eine sonderbare Sache und die Zeit ein relativer Begriff«). Ähnliche Töne lässt Schnitzler so mancher seiner Figuren anschlagen wie z. B. Stefan von Sala in Der einsame Weg  : »Und wenn uns ein Zug von Bacchanten begleitet – den Weg hinab gehen wir alle allein […]. Das Altern ist nun einmal eine einsame Beschäftigung für unsereinen […]«. Oder Eligius Fenz in der Komödie der Verführung  : »…dass das Leben immer köstlicher wird, je weniger davon übrigbleibt.« Agathe in Schnitzlers Sylvesternacht meint »…bei jedem Fest kommt es auf das Morgen an. Und darum gibt es nur Feste, solang man auch morgen noch jung ist.« Hofreiter, der das Altern nicht hinnehmen kann, verbalisiert in Das weite Land nach dem Erschießen seines jungen Rivalen den biologischen Generationenkonflikt mit den Worten  : »Aus Erna, auch zwischen uns. Du bist zwanzig, du gehörst nicht zu mir. Erna  : Du bist jünger als alle. Friedrich  : Still  ! Ich weiß, was Jugend ist. Es ist noch keine Stunde her, da hab’ ich sie glänzen gesehn und lachen in einem frechen, kalten Aug’. Ich weiß was Jugend ist. – Und man kann doch nicht jeden …«

Bei Hofmannsthal klingen ähnliche Saiten an, etwa im Rosenkavalier  : Marschallin  : »Die Zeit, die ist ein sonderbar Ding. Wenn man so hinlebt, ist sie rein gar nichts. Aber dann auf einmal, da spürt man nichts als sie …« Nach außen hin versucht Schnitzler das Gefühl der Melancholie nicht aufkommen zu lassen und nimmt daher häufig die Stellung des Beobachters seines Spiels ein. Diesem Grundgefühl in Moll sind Schnitzlers Gedanken über das Altern und den

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Abb. 91: Arthur Schnitzler, St. Gilgen, in der Villa von Heinrich Sikora 1904, Foto Alexander Strial, Archiv des Autors.

Tod, die er Deimel wiederholt anvertraut, verwandt. Besonders in späteren Jahren, in denen Schnitzler sich für das geplante autobiografische Werk Nachklang mit dem systematischen Studium seiner Tagebücher beschäftigt, hält er verstärkt derartige Gedanken in seinem Tagebuch fest, wie etwa am 17. März 1919  : »Nm. (nachmittag) las ich – am Vorabend von M. (Marie) R.s (Reinhards) zwanzigstem Todestag das Tgb. 99 (Tagebuch 1899) – das sehr flüchtig gehalten. – Zwanzig Jahre… Man erschauert. Unendlich fern –   ? – Nah wie gestern –   ! ›Zeit ist nur ein Wort.‹ – Ja – aber Altwerden ist eine Tatsache.«5

Stellenwert der eigenen Briefe für den Verfasser Arthur Schnitzler Schnitzlers Frage vom 21. September 1909 »Hast du meine Briefe noch  ? besonders die aus den ersten Jahren  ? Ich möchte sie gern einmal wieder lesen  ; die deinen hab ich vor nicht langer Zeit alle durchgeschaut … nicht ohne Melancholie des Erinnerns…« zeigt auf, welche Bedeutung Schnitzler seinen eigenen Briefen beimisst. Für ihn sind sie gleichsam Dokumente von Lebenssituationen und – wie er an anderer Stelle ausführt – Zeugnisse wichtiger Ereignisse und persönlicher Augenblicke, Stationen seines äußeren und inneren Lebens, mit denen er dem New Yorker Freund

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Abb. 92: Der grüne Kakadu, Irving Place Theater New York, 1907, Regie  : Moritz Baumfeld, Kostüme  : Bertold Löffler.

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Szenenfoto Joseph Byron.

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Einschau in »Winkel seiner Seele« gewährt. Dabei bleibt Schnitzler wie oben erwähnt in gewissen Bereichen Eugen Deimel gegenüber völlig verschlossen. Den subjektiven Stellenwert seiner Briefe analysiert Schnitzler u. a. bereits 1891 in einer Tagebuchstelle (Eintragung vom 26. Februar) anhand eines Briefes an seine damalige Geliebte Mizzi Glümer  : »[…] Ein literarisch trefflicher Brief, den ich ihr schrieb, hat mich theilweise beruhigt. – Wie überhaupt, wenn ein Brief von ihr mich lebhaft verstimmt, meine Antwort, nur durch die stilistische Güte, mich wieder ein wenig herstellt.« (Übrigens sollte sich Schnitzler fast zwei Jahrzehnte danach laut Tagebuchnotiz vom 27. August 1910 gerade diese einstigen Briefe an Mizzi Glümer im Zusammenhang mit der Arbeit am Roman Zum großen Wurstel von der Adressatin ausborgen …) Diese Einstellung zur eigenen Korrespondenz – im erwähnten Fall geradezu therapeutisch – erklärt die nicht selten große Diskrepanz seiner im Tagebuch festgehaltenen Gedanken zur Verbalisierung derselben in Briefen. Dies ist umso aufschlussreicher, als er Briefe von anderen Verfassern in seinem Tagebuch bisweilen als literarisch einstuft, wobei er wohl von seiner eigenen Differenzierung des Wahrheitsgehaltes auf die anderer schloss (z. B. Tagebuch-Kommentar zu Brief Hedy Kempnys vom 22. Oktober 1924  : »zu literarisch«).

Rezeption des literarischen Werks Schnitzlers in Amerika Bei Berücksichtigung der verschiedensten Quellen über die Aufführungspraxis von Werken Schnitzlers in Amerika (Deimel-Briefe, Zeitungskritiken, Dissertationen u. a.) lässt sich zwischen 1897 und 1920 die beeindruckende Zahl von mindestens 39 Produktionen mit insgesamt nahezu 500 Aufführungen nachweisen, von denen sowohl Deimel als auch Schnitzler nur zu geringerem Teil Kenntnis erlangten. (Im Vergleichszeitraum wurden in Wien nur 29 Produktionen von Werken Schnitzlers gezeigt …) Dass Deimel trotz großen Bemühens eine Reihe von Produktionen entging, liegt nicht zuletzt daran, dass die englischen Fassungen dramatischer Werke Schnitzlers des Öfteren unter immer neuen Titeln aufgeführt wurden, die manchmal sogar von verschiedenen Übersetzern stammten. Auch dürfte Deimel sich vorwiegend aus den deutschsprachigen Zeitungen über kulturelle Ereignisse informiert haben, sodass er von eine Reihe englischer Schnitzler-Aufführungen keine Kenntnis erlangte. Dennoch war Eugen Deimel für Schnitzler mehr als zwei Jahrzehnte hindurch wichtiger Beobachter und Informant über die New Yorker Theater-Szene. Trotz der Schließung aller deutschsprachigen Theater Amerikas nach dem Ersten Weltkrieg sind bis zu Schnitzlers Tod (21. Oktober 1931) mindestens 12 weitere Produktionen – in englischer Sprache – auf New Yorks Bühnen festzustellen. Wenn auch

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Abb. 93: Arthur Schnitzler, Brief an Eugen Deimel, 3. 6. 1912, 1. Seite, Handschriftensammlung der Österreichischen Nationalbibliothek.

die Aufführungsfrequenz der Werke Schnitzlers nach dessen Tod in Amerika aus vielerlei Gründen merklich abnahm, so waren in New York bis heute doch noch über 40 Theaterproduktionen, Musicals, Radio- und Fernsehproduktionen sowie Filme – so vor einigen Jahren Stanley Kubricks weltweit gezeigter letzter Streifen Eyes Wide Shut (erste Filmversion der Traumnovelle aus 1999 mit Tom Cruise und Nicole Kidman) – zu sehen.

Deimels Tod Laut Brief Justine Deimels vom 21. März 1920 an Arthur Schnitzler erlag Eugen ­Deimel am 10. März 1920 nach kurzer schwerer Krankheit seinem Leiden. Am 26. März 1920 erlebt Arthur Schnitzlers Einakter Die letzten Masken in der englischen Fassung von Grace Isabel Colbron seine New Yorker Premiere. (Wien sollte sich übrigens 11 Jahre später von dem am 21. Oktober 1931 plötzlich verstorbenen Arthur Schnitzler mit einer Burgtheater-Gedenkvorstellung eben dieses Einakters verabschieden …) Aus dem Kondolenzbrief an die Witwe Deimels ist Schnitzlers schmerzliche Betroffenheit über den Tod des Freundes ablesbar  :

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Abb. 94: Brooklyn Bridge mit Blick auf die Skyline von Manhattan, 1920.

Mit tiefer Erschütterung erfahre ich aus Ihrem Brief, dass mein alter Freund, mein ältester eigentlich, gestorben ist. Die Nachricht traf mich natürlich ganz unvorbereitet, seine letzten Briefe, die nicht die geringste Andeutung seines kommenden Leidens enthielten, harrten noch der Beantwortung […]. Ich werde ihm ein treues Andenken bewahren, unvergessliche Jugenderinnerungen knüpfen uns zusammen, und ich besitze alle seine Briefe vom Jahre 1879 an bis zu seinem letzten vom 6. Dezember 1919. […]6

Mit dem Hinweis »Ich besitze alle seine Briefe« schlägt Schnitzler gleichsam den spiegelnden Grundakkord zu jenem an, den er mehrfach – etwa in seinen erwähnten Zeilen an Eugen Deimel vom 21. September 1909 – anklingen ließ  : »Hast du meine Briefe noch  ?« Aus solchen Zeilen spricht nicht nur der Chronist aus Arthur Schnitzler, sondern auch seine existenzielle Sorge um die Rettung des Augenblicks in die Zukunft durch das Wachhalten der Erinnerung, nur vergleichbar mit dem Stellenwert, den er seinem Journal beimisst  : Immer wieder liest er all die Jahre in seinen Aufzeichnungen, exzerpiert, und hält seine Gedanken über das Gelesene im aktuellen Tagebuch fest, wodurch gleichsam die Chronologie des Geschehens ständig aufgehoben wird  : »Nahtlos ineinander gespielte Vergangenheiten täuschen Unendlichkeit vor«, Vergan-

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genes wird mit Gegenwärtigem durchmengt, der lineare Ablauf des Zeitgeschehens bis zur Zeitlosigkeit verdichtet und bildet so einen Zeit-Cluster. Schnitzler bekennt am 22. August 1918 seinem Tagebuch  : »Es ist mein brennender Wunsch daß sie (i.e. Tage­bücher) nicht verlorengehen. Ist das Eitelkeit  ? Auch, gewiß. Aber irgendwie auch das Gefühl der Verpflichtung. Und als könnt’ es mich von der quälenden inneren Einsamkeit befreien, wenn ich – jenseits meines Grabs Freunde wüßte.« Nun, was Schnitzler angeht, erwies sich diese Sorge freilich stets als unbegründet. Deimels einstiges Hier und Heute blieb in dessen Briefen über seinen Tod hinaus bei Arthur Schnitzler geborgen, doch erst mit der Zusammenführung der beiden Briefkonvolute und deren Veröffentlichung gehört es nun ebenfalls der Zeitlosigkeit an.

Anmerkungen 1

Viereck, George Sylvester  : Die Welt Arthur Schnitzlers in Schlagschatten. – Berlin - Zürich  : o. J. [1930]. 2 Deimel, Eugen  : Brief an Arthur Schnitzler. – New York  : Marbach/Neckar, Schillerarchiv – Handschriftensammlung 1897. 3 Schnitzler, Arthur  : Brief an Eugen Deimel. – Wien  : 1897, Handschriftensammlung der Öster­ rei­­chischen Nationalbibliothek. siehe auch  : Adamek, Heinz P.: In die Neue Welt.  – Wien  : Holzhausen 2003, S 97, 98. Die New Yorker Premiere der Liebelei im renommierten Irving Place Theatre am 15. April 1897, der das das Ehepaar Deimel beiwohnte, fand auch in der englischsprachigen Presse begeisterte Aufnahme. Dieser große Erfolg war besonders der ­Regie von Heinrich Conried (1855 – 1909) und der bemerkenswerten Interpretin der Christine, Agnes Sorma (1865 –1927), zu danken. Arthur Schnitzler schätzte Agnes Sorma sehr. 4 Werfel, Franz  : Gedenkrede auf Arthur Schnitzler. – Frankfurt am Main  : S. Fischer 1932 S 1ff. 5 Schnitzler begann sich bereits ab 1901 mit dem Projekt einer Selbstbiografie unter verschiedenen Arbeitstiteln zu beschäftigen. Sie wurde erst 1968 von Therese Nickl und Heinrich Schnitzler aus dem Nachlass unter dem Titel Jugend in Wien bei Molden veröffentlicht. 6 Schnitzler, Arthur  : Brief an Justine Deimel. – Wien  : 1920, Handschriftensammlung der Öster­ reichischen Nationalbibliothek. siehe auch  : Adamek, Heinz P.: In die Neue Welt.  – Wien  : Holzhausen 2003, S 254.

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Abb. 95: Hedy Kempny im Kimono, 1920, Portrait-Foto O. Rietmann, St. Gallen/Schweiz.

Ich bewahre mir in dir meine Sehnsucht, die Hoffnung auf restlose Erfüllung – höchstes Glück. Arthur Schnitzler zu Hedy Kempny, 8.3.1925

Hedy Kempny und Arthur Schnitzler Ein (gem)einsamer Weg

»Ich habe den festen Entschluss, Schauspielerin zu werden« … Als Hedy Kempny diese Zeilen am 21. Dezember 1911, ihrem 16. Geburtstag, in ihrem Tagebuch festhält, betet sie einen Stern am Wiener Theaterhimmel an  : Käthe Hannemann. Auch Arthur Schnitzler gefällt die Schauspielerin sehr, nachdem sie ihn im Jänner 1909 als Christine in Liebelei, kurz darauf im Ruf des Lebens in der Rolle der Marie und ein Jahr später als Cora in Anatol durch ihre Leistung beeindruckt hatte. Käthe ­Hannemann ist des Öfteren bei Schnitzler zu Gast, und dieser zeigt sich in seinem Tagebuch über ihr angenehm gewinnendes Wesen, das »ganz unkomödiantisch« auf ihn wirkt, überrascht. Hedy Kempny hat zu dieser Zeit bereits ihre ersten literarischen Gehversuche hinter sich (Novellen Elsa, Bühnenluft, Mädchenträume) und beginnt eine intensive, jahrelange Korrespondenz mit Käthe Hannemann  : »lch habe alle Gründe erwogen, wohl sind große Hindernisse im Wege, aber alles was Theater heißt, übt auf mich eine unwiderstehliche Macht aus …«1 Am 2. Mai 1912 besteht sie am Konservatorium die Talentprüfung bei Eugenie Petrasch-Wohlmuth (bei der Mitte der 1890er-Jahre auch Marie Reinhard, Arthur Schnitzlers damalige Geliebte, Schauspielunterricht genossen hatte …). Diese bestätigt Hedy Kempny bemerkenswerte schauspielerische Begabung und bestärkt sie im (kostspieligen) Wunsch, Schauspielunterricht zu nehmen. Doch die Realisierung dieses Wunsches scheitert zunächst an der Finanzierbarkeit  : Seit ihrem 10. Lebensjahr Halbwaise – ihr Vater, Arzt in Gutenstein, verstarb jung –, sieht sich ihre Mutter mit drei halbwüchsigen Kindern nicht in der Lage, dafür die Mittel aufzubringen. Doch da begeistert Hedy Kempny in dieser Zeit auch eine gefeierte Solotänzerin der Wiener Hofoper  : Maria Kohler (1878–1965), Tochter des verantwortlichen Redakteurs der »Neuen Freien Presse« (und spätere 2. Gattin von Graf Alexander Beroldingen). Nach einem Treffen mit der Ballerina vermerkt sie im Tagebuch  : »Es interessiert sie sehr, daß ich zur Bühne will. Sie erklärt mich für sehr klar denkend und will mir zu meiner Zukunft verhelfen.«2 Der 50. Geburtstag Arthur Schnitzlers wird 1912 mit 26 Aufführungen an deutschsprachigen Bühnen besonders gefeiert. Hedy Kempny vertieft sich zuneh-

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mend in das Werk des Dichters und dessen Gestalten. Am 23. Juli 1912 schreibt sie Schnitzler den ersten Brief, den der Dichter höflich erwidert. Im selben Jahr wirft jedoch die Zensur auch ihre Schatten auf Schnitzlers Schaffen  : Dem Verbot der Reigen-Uraufführung in Budapest folgt die Untersagung der Premiere von Professor Bernhardi in Wien. Am 26. März 1913 tritt Hedy Kempny als Bankangestellte in die neuerbaute Niederösterreichische Escompte-Gesellschaft (Innere Stadt, Platz am Hof 2) ein, doch wenig später klagt sie im Tagebuch  : »[…] ist es nicht eine Sünde, mich in eine Bank zu setzen, und jetzt soll ich armes junges Ding in dieser Massenmaschine ein Teil sein […] Die Arbeit ist nicht das Entsetzliche, sondern die Eintönigkeit, täglich dasselbe …«3 Bald danach tröstet Maria Kohler die 17-Jährige mit einer guten Nachricht  : Durch ihre Vermittlung ermöglicht sie ihr, bei Burgschauspieler Ferdinand Gregori (1870– 1928) Schauspielunterricht zu nehmen, den ein Gönner und glühender Verehrer der Ballerina finanziert, welchen Hedy Kempny nie zu Gesicht bekommt. Ihre große Freude über diesen ersten Schritt auf die Bretter, die die Welt bedeuten, teilt sie Wolfgang von Miklosich mit, einem musikalisch und dichterisch sehr begabten jungen Mann aus ihrem Geburtsort Gutenstein, zu dem sie sich seit längerem (uneingestanden) leidenschaftlich hingezogen fühlt. Dieser antwortet auf ihre diesbezügliche Mitteilung  : »Ob es ein Glück ist, das Ihnen vor Augen schwebt, jenes Leben, ob Sie es erreichen werden und wirklich glücklich sein, ist Nebensache, aber Sie glauben wenigstens momentan daran, dass Sie es erreichen werden – Sie sind zu beneiden.«3) Im März 1914 schreibt Hedy Kempny Arthur Schnitzler zum zweiten Mal, drückt dem Dichter ihre Bewunderung für dessen Schaffen aus (»lch schätze Ihre Werke sehr, fühle mich sogar einigen Ihrer Gestalten ähnlich…«) und erzählt von ihrem Rollenstudium. Der Kriegsausbruch macht Hedy Kempny nachdenklich und ernst  : Am 12. Dezember 1914 notiert sie  : »Stimmungen halte ich ferne. Auch Männer. lch möchte nicht blind in eine Dummheit hineinrennen. Ich kann es fast immer, weil ich zu viele Predigten gehört habe… Wolfgang hat mir aus dem Feld geschrieben – seit 10 Monaten zum ersten Mal. Was soll ich denken  ? Bei derlei Dingen verwirrt sich alles, je länger ich darüber nachsinne… Wenn wir beide nicht Verstecken spielen würden, wäre es vernünftiger. Vielleicht wird es mir nach dem Krieg klar – wo hinaus  ! Jetzt aber …«4 Wolfgang von Miklosich gerät in russische Gefangenschaft, und in Hedy Kempny reift immer mehr die Sorge, aber auch die Sehnsucht nach ihrem Idol Wolfgang. Im August 1915 schreibt sie ihm nach Sibirien  : »Wolfgang, ich habe Dich so lieb und habe solche Sehnsucht und Angst, wie noch nie  ! Angst vor allem  ! Vor diesem Gräuel des Krieges, vor jedem finsteren Zimmer, vor mir, vor dem Alleinsein. Aber noch wahnsinnigere Angst vor Dir, daß Du nicht bist, was ich glaube  ! Gibt es denn nicht die Erfüllung dessen, wofür wir leben  ? Kommt nie der Moment, in dem man emp-

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findet, das ist Erlösung  ?« Doch auch Wolfgang von Miklosich empfindet für Hedy Kempny immer mehr  : In seinen monatlichen Briefen, die oft ein halbes Jahr unterwegs sind, eröffnet er ihr nur zögernd seine Gefühle, anfangs sehnsüchtig, später leidenschaftlich oder melancholisch in Prosa, Dialog- oder Gedichtform. Zu Allerheiligen 1916 schreibt sie in Seewalchen ins Tagebuch  : »Träume gibt’s nicht. Mein schönster ›Traum‹ ist jetzt die Wahrheit… Ich denke viel an Wolfgang. Es ist, als ob ich ihn immer in der Nähe hätte. lch weiß bestimmt, daß er in mein Schicksal schwerwiegend eingreifen wird … Alles bisher Erlebte ist nichts, wie ich jetzt sicher weiß …«5 Ihm, dem fernsten, ihrem Herzen nächsten Freund vertraut sie alles aus ihrem Leben, auch aus den dunklen Winkeln ihrer Seele an. Auf eines ihrer »Geständnisse« erwidert Wolfgang in Terzinen  : »Soll ich die Worte richtig so verstehen, Die du mir schriebst aus hellen Frühlingstagen, Die dir zum erstenmal die Brust umwehen  ? Muß einer leisen Hoffnung ich entsagen  ? Sind rote Freuden in dein Blut geflossen Und alle blassen Sterne dir zerschlagen  ? Heißfrohe Blüten üppig aufgeschossen Und weiße Astern in den Wind verstreut  ? Hab ich aus dunklen Worten recht geschlossen  ? Ich weiß es nicht – doch wundersam erneut Naht mir ein Bild aus jungen Sommerzeiten  ! Lebendig, wirklich, so, als wär’ es heut, Seh ich mein Ehemals dein Einst geleiten Durch schwere Felder und auf stillen Wegen  ; Fühl’ wieder Leib und Seele in mir streiten Und lächle. – Kämst du mir nun entgegen Mit gleichen Schritten, wüßt’ ich nicht zu nennen Dich besser, als ›mein Traum‹. – Das erste Regen Erwachter Sehnsucht lag in jenem Brennen Der Blicke  ; lag in allem, was wir trieben. – Bist du nun anders, will ich neu erkennen, Was schöner ward an dir, was schön geblieben, Und das, was neu und schön in dir erstanden, Dies alles will ich neu und anders lieben. – Doch nie vergessen, was wir einst empfanden  !«6

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Abb. 96: Arthur Schnitzler, Portrait-Foto Atelier Franz Löwy, Wien, um 1920.

Hedy Kempnys Lehrer, Gregori, wird 1916 infolge der Kriegsereignisse nach Deutschland zurückberufen. Er tröstet sie, dass der Krieg sicher in einigen Monaten vorüber wäre, doch sie erfasst diese Wendung als vom Schicksal gewollt und meint dazu am 17. Jänner 1917  : »Adieu Theater – es war ein Glück so, nimmer hätte ich dafür getaugt. Was weiß ein Gregori – was nützt das bisschen Talent und die äußere Gestalt  ! Was soll ich zwischen frechen Dirnen und Protektionswirtschaft  ? Ist das Kunst, dieses Ringen nach Verdienst  ? Andere stolzieren mit Leichtigkeit dort, wo ich mich mit höchster Kraft emporraffe und meine ganze Energie opfere. Ich wäre ja doch unglücklich  ! Meine selbstgeschaffenen Freuden sind viel mehr wert. Man muss nur gründlich lernen, mit sich allein zu sein und doch nicht sentimental zu werden. Immer der bleiben, der man ist  ! Nie sich selbst untreu werden und immer handeln, wie man selbst es meint, auch wenn es schlecht ist. Alles verantworten. Es ist so schön, wenn man vereinzelt mit einer Meinung dasteht und den Mut hat, sie laut zu sagen… Aber es wird spät. Nach Sibirien denke ich noch. Zu dir Wolfgang. Du verstehst das alles wortlos. Wenn ich Dir schreibe  :,Heute ist es schön‹, so wirst Du all die tausend Worte herauslesen, all die Gedanken, die ich träumte, während ich Dir schrieb. Wenn Du kommst – werde ich dann ruhig sein können  ? Wie wird sich die vielgeübte Komödienspielerei dann bewähren  ?«7

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Hedy Kempny und Arthur Schnitzler

Abb. 97: Hedy Kempny, Portrait-Foto Wiener Ring-Atelier, 1920.

Kurz nach Ausrufung der Republik fällt in »Deutsch-Österreich« die Theaterzensur, und für Schnitzlers Theaterstück Professor Bernhardi hebt sich am 21. Dezember 1918 zum ersten Mal im Wiener Volkstheater der Vorhang. Hedy Kempny ist von diesem »neuen Schnitzler« nachhaltig beeindruckt. Es veranlasst sie bald danach, ihm von ihrem Wunsch, mit ihm »einmal eine Stunde spazieren gehen zu wollen«, zu schreiben … Schnitzlers freundlich-erstaunte Antwort ist gleichzeitig »Einladung« zum Briefwechsel. Durch verschiedene Umstände kommt es erst am 23. Juli 1919 zum ersten Treffen. In der Folge entwickelt sich allmählich eine ganz eigenartige, enge Vertrautheit zwischen Hedy Kempny und dem Dichter, die es den beiden vor der neugierigen Öffentlichkeit zu verbergen gelingt. Im Lauf der folgenden zwölf Jahre manifestiert sie sich in täglichen Telefongesprächen, unzähligen Diskussionen und gemeinsamen Spaziergängen an der Peripherie Wiens. Hunderte Briefe, Karten und Tagebucheintragungen dokumentieren diese Beziehung und gewähren einen profunden Einblick in das Denken und Fühlen eines anderen, ganz privaten, unbekannten Schnitzler. Sie vermitteln gleichzeitig die Entwicklung einer außergewöhnlichen, jungen, »neuen Frau« des »Wien im Übergang«. Dieses Zeitdokument in Briefform ermöglicht es dem Leser, den (gem)einsamen Weg zweier Menschen zu verfolgen und sich in ihre subtile Gedanken- und Gefühlswelt zu versetzen.

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Aus den Texten ersteht das Wien der Nachkriegszeit, »der Donaumetropole«, deren Menschen sich zwar physisch, nicht aber intellektuell in einen kleinen, um seine Existenz ringenden »Nachfolgestaat« herübergerettet hatten, deren Lebensstil jedoch noch stark dem traditionsreichen Atem des monarchischen Vielvölkerstaates verhaftet war. Im Dialog zwischen der jungen, aparten Hedy Kempny und dem scheinbar abgeklärten, weltberühmten Dichter vermeint man den zuweilen unsynchronen Pulsschlag der aufstrebenden und der scheidenden Generation zu fühlen. Beinahe unmerklich verdichten sich die Details zur Essenz einer ganzen Epoche und aktualisieren anschaulich die Stimmung der spannungsträchtigen Zwanzigerjahre. Ganz unmittelbar vermeint man die Umwelt aus der Perspektive Hedy Kempnys und Arthur Schnitzlers mitzuerleben, die zunehmend von sozialen, ökonomischen und politischen Unruhen in Europa erschüttert wird und am Horizont das Gespenst einer weltweiten Krise heraufbeschwört. Man wird Zeuge der Flucht erlebnishungriger Menschen vor Armut, Inflation und Chaos in eine bisweilen betäubende, tropischüberhitzte Scheinwelt der Spekulation, Inflation und Vergnügungssucht. Arthur Schnitzler ist von der Person Hedy Kempny und deren Talent, Briefe in Form eigenständiger, dichter Kurzgeschichten zu schreiben, beeindruckt. Diese neue, beglückende Wendung in ihrem grauen Bankalltag wird durch einen unerwarteten Schicksalsschlag schwer erschüttert  : Hedy Kempny erhält am 27. September 1919 die Nachricht, dass Wolfgang von Miklosich, bereits auf der Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft in Wladiwostok, an Grippe erkrankt und gestorben sei … In der folgenden Zeit tiefster Depression sind ihr die Zwiesprache mit Arthur Schnitzler und das Erleben von Mahler-Symphonien einziger Trost. Auch Schnitzler versäumt trotz seiner zunehmenden Schwerhörigkeit kaum eine Mahler-Symphonie im Musikverein unter der Stabführung Oscar Frieds, mit welchem er freundschaftlich verbunden ist. Am 1. Februar 1921 erlebt Schnitzlers Reigen in den Kammerspielen seine Wiener Premiere, der jene im Kleinen Schauspielhaus Berlin am 23. Dezember 1920 vorausgegangen war  : Das Publikum verfolgt hier wie dort gierig das scheinbar frivole Geschehen, es wird dabei mehr oder minder auch zum Voyeur der Jugend des Dichters, besonders da die Szene Schauspielerin und Dichter einen Schlüssel zu Schnitzlers Autobiografie darstellt  : Adele Sandrock war Ende 1893 von der Hauptdarstellerin des Märchens zur privaten Favoritin des Dichters avanciert und sorgte in den Folgemonaten für exzentrische Höhepunkte im sonst geordneten Leben des »jungen Arztes mit dichterischem Talent«. Bereits wenige Wochen nach der ersten Begegnung hielt Schnitzler den Charakter der Schauspielerin mit ihrer konsequenten Inkonsequenz im Einakter Halbzwei fest. 1896 weist er in seinem Reigen von zehn erotisch-sozialkritischen Pas de deux dem Prototyp der für Adele Sandrock stehenden Schauspielerin einen schillernden Part in der Choreografie dieses »Tanzes« zu. Gerade diese Szene verzichtet auf die, dem damaligen Anstand gebührende, zum Schein geforderte Exklusivität der Zuneigung. Auch wenn die Protagonisten im

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Augenblick der Ekstase allen übrigen Figuren des Ringelspiels der Emotionen gleichen, bleiben sie durch die Aufrichtigkeit des eingestandenen Begehrens sich selbst und damit einander treu. Mehr als in allen anderen Werken wird im Reigen tendenziös die Vehemenz der Nivellierung des erotischen Aktes mit dem Tod vergleichbar. Nach organisierten Skandalen in Berlin und Wien wird im September desselben Jahres von der Staatsanwaltschaft wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses gegen Direktion, Regisseur und Schauspieler des Kleinen Schauspielhauses Berlin Anklage erhoben. Nach 5 Verhandlungstagen endet der Prozess mit Freispruch. (In einem Interview, das Schnitzler 1930 George Sylvester Viereck geben sollte, bezeichnet der Dichter in typisch kritischer Einstellung zu seinem Jugendwerk den Reigen als »einen seiner unwichtigsten Versuche, jedoch den Prozess, der seiner Unterdrückung folgte, einen Prozess, bei dem die Zensur auf der Anklagebank gesessen sei, als fesselnd«.) Zur selben Zeit begegnet Hedy Kempny bei einem Musikabend im Haus von ­Richard Stöhr, bei dem sie im Rahmen ihres Klavierstudiums am Wiener Konservatorium Harmonielehre hört, dem Schweizer Walter Pfund, Jurist, Dichter, Musiker, der auf sie spontan eine starke Faszination ausübt. Im Juni 1921 wird Arthur Schnitzlers Ehe, trotz seiner unermüdlichen Bemühungen um deren Aufrechterhaltung nach turbulenten jahrelangen familiären Spannungen, Zerwürfnissen und nervenaufreibenden Szenen, in Berlin geschieden, und die ihr entstammenden Kinder, Heinrich und Lili, werden dem Vater zugesprochen. Erst danach fühlt sich Schnitzler »berechtigt«, Hedy Kempny das Du-Wort anzutragen, das er mit den Worten »Du bist ja wie meine zweite Tochter und kommst gleich nach Lili« begründet. Es mutet geradezu symbolhaft an, wenn er ihr zum Geburtstag dieses für beide markanten Jahres seinen Reigen schenkt. (Wenige Jahre später meint er, Hedy mit seiner Tochter Lili vergleichend  : »Lili hat ein heiteres Wesen mit manchmal melancholischem Einschlag, du hingegen hast ein melancholisches Wesen mit zuweilen heiterem Einschlag«.) Walter Pfund, der bei einem seiner Wien-Aufenthalte auch die Bekanntschaft ­Arthur Schnitzlers macht, wird zur »großen Liebe« Hedy Kempnys, und Schnitzler wird Zeuge aller Höhen und Tiefen dieser leidenschaftlichen Verbindung. 1922 erreicht Hedy Kempny die Herausgabe von Walter Pfunds erstem expressionistischen Gedichtband lrrfahrt im Verlag Ed. Strache/Wien, der verdienterweise – nicht nur wegen des Gedichtes Herbsttag in Wien 1919 – Erfolg hat  : »Der Nebel trägt die Sonnenscheibe Über die Dächer hin. Sie welkt und birgt in flauem Leibe Winter und Todessinn.

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Sie hängt, gerötet, ohne Wärme, Lustlos ist ihr Lauf. Der Altstadt graue, feuchte Därme Bläht sie mit Alltag auf. Ein ödes Bild zieht durch die Stunde  : Jäh verschüttet ein Fest. Die große Stadt ist eine Wunde Drauf spukt ein Sonnenrest.«8

Doch Walter Pfund zieht es häufig in neue Himmelsrichtungen, in Trubel und Einsamkeit, und in die Arme anderer Frauen. Immer wieder kehrt er zu Hedy Kempny zurück und versucht ihr zu erklären, dass ihre Beziehung eine andere, mit keiner zu vergleichende, einzigartige wäre. Eines seiner Gedichte – Du kannst das nicht ver­ stehn – spiegelt jene typische Grundstimmung wider  : »Du kannst das nicht verstehn, Daß nachts ich durch Kasinos Lichter In Schwarz, Zylinder streifen muß, Durch lustverzerrte Blaßgesichter. In jener seidnen Farbenhast, Wo die Orchester zuckend wühlen, Verfängt mein Sinn sich wunderbar, Hockt blöd zugleich auf allen Stühlen. An nackten Armen gleitet er In warmbewußte weiche Hände Und bebt im Blutgeädernetz AIs ob ihn Irrlust spöttisch bände. Er fröstelt lüstern durch die Glut Und fühlt und haßt sein Auferstehn – O du, die mich von mir verbannt, Du kannst das nicht verstehn.«9

Den Schlussstrich unter diese einschneidende, rauschhafte Episode setzt Hedy Kempny nach dem Sieg ihrer Vernunft über Sehnsucht und Sinne zu Silvester 1923 in ihrem Tagebuch  :

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»[…] Da liegt nun ein Brief von Walter, und ich überlege, ob ich wieder nicht antworten soll. Nicht schreiben – seit August  ! Dann wird er wohl nie mehr schreiben, dann bekomme ich keine Silbe mehr, keine steilen, unleserlichen, lieben Buchstaben – nie mehr. Wozu auch  ? Ich muß hart bleiben, so hart, daß ich selbst nichts mehr von meinen Empfindungen weiß, nicht … ob ich ihn doch noch liebe – oder nicht. Vielleicht begreift er, daß er mich für immer verloren hat, vielleicht ist es ihm ganz gleichgültig, vielleicht aber auch nicht… Ein Jahr wieder zu Ende. Ich erfasse jeden Tag, jede Stunde, die ich erlebe, nehme was mir entgegenkommt, empfange, gebe… und glaube an mein Emporkommen – in dem Sinne, daß alles in der Beherrschung, im Wollen liegt. Vielleicht bin ich darum jetzt viel heiterer im allgemeinen – weil es gar nichts zu verlieren gibt – nichts  ; nirgends klammere ich mich an, alles muß Spiel bleiben, überall muß man sich losreißen können, ohne Weh. Er konnte es auch, er, Walter. Das hab ich nun gelernt, und wenn die heutige Nacht vergeht, ohne daß ich Walter schreibe, werde ich nie mehr in Versuchung kommen, ihm zu schreiben – denn es ist die letzte dieses Jahres. Es liegt Erinnerung in der Luft, wenn man es auch nicht zugibt«[…].10

In der Folge befreit sich Hedy Kempny von eigenen Zwängen und solchen ihrer Zeit und Umwelt und erkämpft sich – auf Unabhängigkeit einerseits, auf freiwillige Bindung andererseits bedacht – beachtliche charakterliche Eigenständigkeit. Fantasievoll, emotionsstark und tapfer geht sie auf der Suche nach der wahren Liebe so manches Risiko ein und lernt auch so manche Kehrseite von Beziehungen kennen. Nur Arthur Schnitzlers Begehren erliegt sie, trotz tiefster Vertrautheit, nie. Abgesehen von einer »Vater-Tabuisierung« (Schnitzler war im selben Jahr wie ihr Vater geboren, beide waren Ärzte, Schnitzler Dichter, der Vater Komponist, beide spielten hervorragend Klavier usw.) ist es erstaunlich, dass eine junge Frau Arthur Schnitzler widerstehen und durch ihre beharrliche Standhaftigkeit auf die Dauer in gewisser Weise noch stärker an sich fesseln konnte. Sicher war ihm unerklärlich, dass sie sich seinen Avancen durch zwölf Jahre immer wieder geschickt entziehen konnte, ihm gleichsam das Ziel seiner Sehnsucht kurz vor der erhofften Erfüllung wieder in eine gewisse spannende Entfernung rückte, ohne ihn dabei je als Mann in seinem Stolz zu verletzen. Skeptischen Auges und Sinnes beobachtet und erlebt Hedy Kempny die Liebe in ihren mannigfaltigen Verkleidungen. Im Innersten ihrer Seele ist sie sich auch bei Arthur Schnitzler bewusst, dass sie eigentlich die Stärkere in dem nach außen kameradschaftlich anmutenden, seltsam vertrauten Verhältnis ist. Die Vielschichtigkeit ihres Wesens veranlasst Schnitzler, sie in der Folge das Mädchen mit den dreizehn Seelen zu nennen. Auf sein wiederholtes Bitten lässt sie ihn auch immer wieder in die Facetten ihres scheinbar widersprüchlichen, komplexen, für ihn rätselhaften Innenlebens, das sich in Tagebüchern und Kurzgeschichten widerspiegelt, Einschau halten. Bei

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Abb. 98: Brief H.K. an A.S. vom 28. 7. 1928, Handschriftensammlung der Österreichischen Nationalbibliothek.

literarischen Analysen sind so manche Einflüsse und Anregungen Hedy Kempnys auf Schnitzlers Spätwerk festzustellen – wie etwa gewisse Parallelen Hedys mit der Figur des Fräulein Else, mit dem Charakter der Gräfin in der Komödie der Verführung – wie dies sogar Schnitzler in verschiedenen Äußerungen und in einem Traum eingesteht – oder etwa die »Verarbeitung« von Schriftgut Hedy Kempnys, beispielsweise einer ihrer Kurzgeschichten, in Schnitzlers Roman Therese. Es fällt auf, dass die Schilderungen und Essays Hedy Kempnys in der Mitte der Zwanzigerjahre – ohne Einbuße an Plastizität und sprachlicher Prägnanz – im Ausdruck straffer, konzentrierter, immer expressionistischer werden. Ab 1926 veröffentlicht sie laufend in verschiedenen, vorwiegend Schweizer Zeitschriften Kurzgeschichten, wozu sie Schnitzler durch Lob und Kritik ermutigt. Im letzten Jahrzehnt seines Lebens reist Schnitzler immer wieder per Bahn, ab und zu auch per Flugzeug, durch Europa  : Er liest aus eigenen Werken, trifft Kollegen, Verleger und Filmproduzenten, verfasst – fasziniert vom Medium Film – Drehbücher zu manchem seiner Werke und besichtigt Sehenswürdigkeiten von Stockholm bis Lissabon, von Athen bis Hamburg, von Istanbul bis zu den Kanarischen Inseln. Immer wieder sucht er Erholung in den Schweizer Bergen, wo er sogar zweimal mehrere Tage

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Abb. 99: Brief A.S. an H.K. vom 18. 8. 1928, Handschriftensammlung der Österreichischen Nationalbibliothek.

mit Hedy Kempny verbringt, die Gletscherpartien und Bergwanderungen ebenso wie Tennisturniere und Ballabende begeistern. 1927 stimmt Arthur Schnitzler schweren Herzens der Hochzeit seiner noch nicht 18-jährigen Tochter Lili mit dem zwanzig Jahre älteren italienischen Offizier Arnoldo Cappellini zu. Im selben Jahr bringt der Phaidon-Verlag/Wien Schnitzlers Buch der Sprüche und Bedenken heraus, in welchem auch Hedy Kempny zum Thema zu Wort kommt  : »Die Männer sind sich ohne weiters klar darüber, was sie bei uns erreicht haben  ; aber was sie alles bei uns n i c h t erreicht haben, davon haben sie meistens keine Ahnung.«11

(Einige Jahre später sollte – wie so oft bei Hedy Kempny – der Zufall Regie führen  : Am 1. Februar 1930 lernt sie den Inhaber dieses Verlages, Dr. Fritz Ungar, kennen, mit dem sie trotz aller Wechselfälle des Lebens ein gutes Stück des Weges gemeinsam gehen und bis zu ihrem Tod freundschaftlich verbunden bleiben soll.) Am 26. Juli 1928 erschießt sich Schnitzlers Tochter Lili mit der Pistole, die ihr Mann im Ersten Weltkrieg einem österreichischen Soldaten abgenommen hatte, aus offiziell nie geklärten Gründen. Ein angeblich belangloser Streit zwischen den jungen Eheleuten scheint jedenfalls glaubhaft nicht schwerwiegend genug, eine solche Affekt­handlung auszulösen. Das Motiv für die Verzweiflungstat Lilis dürfte vielmehr

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Abb. 100: Im Spiel der Sommerlüfte, Foto des Ensembles in der Pause der Hauptprobe vor der Uraufführung, Dezember 1929, Deutsches Volkstheater Wien, v.l.n.r. 1.R.: Dir. Rudolf Beer, Luise Ulrich, Tonio Riedl, Alexander Moissi  ; 2.R.: Arthur Schnitzler, Hans Homma.

im Überschreiten der Grenzen schwiegermütterlicher Sympathie für Arnoldo gelegen sein, der sich einem solchen Abenteuer nicht abgeneigt gezeigt haben soll. Ein Schicksal, das an eine griechische Tragödie erinnert… Der Dichter eilt per Flugzeug nach Venedig und kehrt als gebrochener Mann mit der Todesnachricht wieder. Zwei Tage nach Lilis Tod meldet sich Hedy Kempny mit höchst einfühlsamen Zeilen  : »28. Juli 1928 Könnte ich Dir nur ein Wort sagen, mein lieber Freund oder Dir beistehen  ! Ich denke unausgesetzt an Dich. Wenn es nur etwas gäbe, das ich Dir erledigen oder abnehmen könnte  ! Du weißt doch, wie es mir wohltun würde, wenn ich es dürfte. Denke daran, dass ich mit dir leide. Wenn es auch kein Trost ist, vielleicht kann dir das ­Gefühl doch ein bißchen helfen, daß mich Dein Unglück trifft, als wäre es mein eigenes. Bis Du in der Verfassung bist und mich sehen willst, bitte ich Dich, es mir zu sagen. Immer Deine Hedy«12

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Hedy Kempny und Arthur Schnitzler

Auf ihre folgenden einfühlsamen Zeilen meldet sich Schnitzler erstmals nach dem tragischen Ereignis  : »18. August 1928 (Hohenschwangau) Es war schön, Hedy, gleich am Morgen nach der Ankunft ein Wort von Dir zu finden – ein Wort sag ich, und es sind so viele, und so liebe und so wahre. Für heute kann ich nicht mehr tun und sagen, als Dir danken und Deine Hände und Augen küssen. Daß Du auf der Welt bist, ist ein tiefes Aufatmen für mich, Dein A.«13

Sein Leben wird nach diesem Schicksalsschlag beschwerlich und drückend. Hedy Kempny ist eine der wenigen, der Schnitzler seine Verzweiflung anvertraut  : »Ich habe das Gefühl, als ob mein Gehirn ein Rangierbahnhof wäre, in den plötzlich ein Komet gefallen ist. Alle Weichen, alle Verbindungen sind zerstört. Da ich doch geistig ziemlich rege bin, so kommt es vor, daß ich von den Gedanken an Lili abkomme, aber je tiefer ich mich in etwas anderes versenke, desto schmerzvoller ist das Zurückkommen.« (Tagebuch Hedy Kempny, 6. September 1928.)14 Nur vorübergehend bringen ihm die Premierenerfolge von lm Spiel der Sommerlüfte und Der Gang zum Weiher sowie die letzte kurze Liebe zu Susanne Clauser (alias Dominique Auclères) Aufatmen. Am 21. Oktober 1931 stirbt Schnitzler in Wien. Hinter Hedy Kempnys scheinbar emotionsloser, knapper Eintragung im Tagebuch verbirgt sich ihre mit Worten nicht fassbare Trauer  : »Am 21. Okt. 1931 ist Arthur Schnitzler einem Gehirnschlag – erlegen.«15

Der Tod des Dichters bedeutet für Hedy Kempny den zweiten tiefen Einschnitt in ihr Leben. Trotz ihrer Beziehung zu Fritz Ungar überschatten Momente des Gefühls des Alleingelassenseins und der Einsamkeit ihre nächsten Jahre. Noch 1933 versucht Sigmund Freud sie in einem Brief (»Der Freundin Arthur Schnitzlers kommen alle Sympathien entgegen…«)16 über den Tod des Dichters hinwegzutrösten. Ende 1934 schließt die Niederösterreichische Escompte-Gesellschaft als Folge der Weltwirtschaftskrise für immer ihre Pforten, und Hedy Kempny fasst im Verlagswesen neu Fuß. Die politischen Ereignisse in Europa steuern zusehends einem Tanz auf dem Vulkan zu. Bald nach Hitlers Machtübernahme in Österreich verlässt Hedy Kempny, nachdem ihr die spektakuläre Rettung ihres Freundes Fritz Ungar nach Kontaktnahme mit Selma Lagerlöf vor dem neuen Regime gelungen ist, in ihrem kompromisslosen Freiheitsstreben ihre Heimat und geht aus freien Stücken, ohne auch nur die engsten Verwandten und Freunde von ihrem Entschluss zu unterrichten, nach Zürich, wo sie sich neun Jahre hindurch, in Ermangelung einer Arbeitserlaubnis unter dem Decknamen »Fiammetta«, ihren Lebensunterhalt großteils mit journalistischer Tätigkeit für

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verschiedene Zeitungen wie das St. Galler Tagblatt verdient. Das einzige Gut, das sie in die Freiheit rettet, ist ihr Briefwechsel mit Arthur Schnitzler, der für den Fall seines Ablebens seine Sekretärin Frieda Pollak angewiesen hatte, alle Briefe und Karten Hedy Kempnys, die von ihm geordnet, eigenhändig datiert und mit diversen Bemerkungen und Unterstreichungen versehen sind, der Absenderin persönlich auszufolgen. Auf diese Weise war der Briefwechsel an Schnitzlers Todestag in der Hand Hedy Kempnys vereint worden. Bevor sie Österreich den Rücken kehrte, hatte sie die 593 Briefe und Karten in mehrere »unverdächtige Päckchen» verteilt und per Post an verschiedene Bekannte in die Schweiz gesendet, die ihr das Schriftgut nach ihrer Ankunft in Zürich wieder vollständig aushändigten. 1947 entschließt sich Hedy Kempny, aus privaten Gründen wieder in die Ungewissheit aufzubrechen und erwählt New York zum neuen Mittelpunkt ihrer Lebensin­ teressen. Dort nimmt sie nach anfangs hartem Kampf um eine neue berufliche Existenz wieder eine Tätigkeit im Verlagswesen an, aus der sie sich erst mit 85 Jahren ins Privatleben zurückzieht. Unverändert interessiert beobachtet sie auch danach den Wandel menschlicher Einstellungen und Beziehungen unsentimental und gegenwartsbezogen und verfolgt kritisch die Entwicklung der Zeit im Spiegel von Literatur und Politik. Als ich mich mit der Idee der Herausgabe des Briefwechsels und diesbezüglicher Tagebuchblätter an Hedy Kempny wende, begrüßt und unterstützt sie dieses Vorhaben, und im Herbst 1984 wird Das Mädchen mit den dreizehn Seelen auf der Frankfurter Buchmesse vom Rowohlt Verlag vorgestellt. Im Zuge des Erfolges bei Kritik und Publikum stimmt sie auch kurz vor ihrem 90. Geburtstag zu, für den Österreichischen Rundfunk ein einstündiges Interview zu geben. Noch in ihren letzten Lebensmonaten frönt sie ihrer großen Leidenschaft  : Sie korrespondiert mit Freunden und Verwandten, mit Erika Pluhar und der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, und löst dabei so manches auftauchende Problem bei der Transskription von Schnitzlers Tagebüchern. Für ihr publizistisches Wirken verleiht ihr Bundespräsident Kirchschläger Ende 1985 das Goldene Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich, ein Anlass, der ihr Gelegenheit gibt, mit diesem in Briefwechsel zu treten. Am 16. Mai 1986 stirbt Hedy Kempny an Herzversagen in New York. Die Österreichische Akademie der Wissenschaften richtet hierauf an mich die Bitte, mit dem mir zur Verfügung stehenden Material zur Klärung undeutlicher Eintragungen in Schnitzlers Tagebüchern beizutragen. So werde ich in der Folge u. a. ersucht, nach Möglichkeit über einen zu Beginn der Zwanzigerjahre bei Arthur Schnitzler mehrfach erwähnten »W. P.« Auskünfte zu erteilen. Nach anfangs schwieriger, beinahe kriminologischer Kleinarbeit haben meine Nachforschungen nach W(alter) P(fund) schließlich Erfolg, und im Herbst 1986 gehe ich am Ufer des Genfer Sees in Lausanne mit »Hedy Kempnys Walter« spazieren, einem völlig in der Gegenwart lebenden, intellektuellen Kosmopoliten, der bis zu seinem 90. Geburtstag das Amt

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des belgischen Honorarkonsuls in Lausanne innehatte. Als wir uns später in seiner Villa mit Blick über den Genfer See gegenübersitzen, während uns seine Gattin – die Schriftstellerin Anne Fontaine – Kaffee zubereitet, lässt er in seinen Worten, 65 Jahre nach seiner letzten Begegnung, die Hedy Kempny von einst wiedererstehen. Er schließt mit der Bemerkung, dass er niemals mehr in seinem Leben einer Frau begegnet sei, »die sosehr das Wesen der Dinge in Sekundenschnelle bis an ihre Wurzel erfasst hätte, einer Frau, die ihn für sein weiteres Leben beeinflusst und geformt hätte, ein Mädchen mit 13 Seelen…« Als ich ihm ein Exemplar des gleichnamigen Buches überreichte, in dem er auf so manche, mehr als ein halbes Jahrhundert offengebliebene Frage eine Antwort finden konnte, fühlte ich mich in ein Stück der Gedankenwelt Arthur Schnitzlers versetzt und ermaß einmal mehr, wie weit das Land der Seele ist.

Anmerkungen 1 Kempny, Hedy  : Tagebuch, Band 1911. – Wien. Archiv des Autors. 2 Kempny, Hedy  : Tagebuch, Band 1912. – Wien. Archiv des Autors. 3 Miklosich, Wolfgang von, zit. in Kempny Hedy  : Tagebuch, Band 1913. – Wien. Archiv des Autors. 4 Kempny, Hedy  : Tagebuch, Band 1914. – Wien. Archiv des Autors. 5 Kempny, Hedy  : Tagebuch, Band 1916. – Wien. Archiv des Autors. 6 Miklosich Wolfgang von, zit. in Kempny Hedy  : Tagebuch, Band 1916. – Wien. Archiv des Autors. 7 Kempny, Hedy  : Tagebuch, Band 1917 – Wien. Archiv des Autors. 8 Pfund, Walter  : Irrfahrt. – Wien-Prag-Leipzig  : Ed. Strache 1922, S 80. 9 Pfund, Walter  : Irrfahrt. – Wien-Prag-Leipzig  : Ed. Strache 1922, S 12. 10 Kempny, Hedy  : Tagebuch, Band 1923. – Wien. Handschriftensammlung der Österreichischen Nationalbibliothek. 11 Schnitzler, Arthur  : Buch der Sprüche und Bedenken. – Wien  : Phaidon Verlag 1927 S 120 – 75. 12 Kempny, Hedy  : Brief an Arthur Schnitzler. – Wien  : 1928, Handschriftensammlung der Österreichischen Nationalbibliothek. 13 Schnitzler, Arthur  : Brief an Hedy Kempny. – Wien  : 1928, Handschriftensammlung der Österreichischen Nationalbibliothek. 14 Kempny, Hedy  : Tagebuch, Band 1928. – Wien  : Handschriftensammlung der Österreichischen Nationalbibliothek. 15 Kempny, Hedy  : Tagebuch, Band 1931. – Wien  : Handschriftensammlung der Österreichischen Nationalbibliothek. 16 Freud, Sigmund  : Brief an Hedy Kempny. – Wien  : Archiv des Autors 12.4.1933.

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Abb. 101: Erzherzog Johann, Werner Pittschau, Igo Sym, Standfoto 1928. Filmarchiv Austria.

Ich habe alle Hoffnung auf das neue Jahr gesetzt, und ich sage mir selbst zum Trost, dass ich ja noch nicht -zig Jahre alt bin und wohl meinen Sturm und Drang, so schade es ist, noch eindämmen muss… Werner Pittschau, Dezember 1926

Werner Pittschau Liebe, Hollywood und Eifersucht …

28. Oktober 1928, Sonntagmorgen in Berlin… Verschlafen gähnt der Himmel über der Stadt … Als Werner die Wohnung seiner Mutter in der Emser Straße 39 b verlässt und die Treppe hinabhastet, wartet bereits seine Freundin in ihrem Sportca­brio­ let, einem La Salle, Modell 1927, vor dem Haus, um ihn zu einem Ausflug an die Ostsee nach Warnemünde abzuholen. Eine Windböe wirbelt ihm Blätter der Allee­ bäume entgegen, die bereits großteils ihr müdes Laub abgeworfen haben. Nach dem heftigen Regen der Nacht riecht es dumpf nach Herbst. Erinnerung liegt in der Luft … Ihn fröstelt. War es wirklich erst vor einem halben Jahr, dass er Wilma, kurz nach ihrem 24. Geburtstag, kennengelernt hatte  ? Als er in den Wagen steigt, denkt er wieder an den gestrigen Abend im ausverkauften Admiralspalast an der Friedrichstraße, dessen freizügige neue Haller-Revue Schön und Schick im vergnügungshungrigen Berlin für Schlagzeilen sorgt und die Theaterkassen stürmen lässt, wozu seit August der Song Ich bin die Marie von der Haller-Revue – eine Reverenz der Comedian Harmonists an die Show – auf Schellacks mit den Admiral-Girls oder in der Version Lea Seidls sein Übriges tut. Eigentlich war ihm gar nicht danach gewesen, sich die Vorstellung ein weiteres Mal anzusehen – es beschäftigte ihn vielmehr das neue Filmprojekt, für das er demnächst wieder einmal nach Budapest reisen muss, noch kurz vor der Überfahrt nach Amerika, wo ihn Hollywood mit einem lockenden Vertrag und Glamour, vielleicht aber auch mit dessen Kehrseite – rücksichtsloser Härte – für eine Rolle in einem großen Streifen erwartet. Er weiß, dass er diese Chance wahrnehmen muss, da sich der Filmhimmel rasant verändert, und sich der Horizont – nicht nur in der Neuen Welt mit den ersten Zeichentrickfilmen Walt Disneys (Mickey Mouse) und dem neuen Tonfilm, sondern auch in Russland seit Ventovs Das elfte Jahr mit bis dato unbekannter, spektakulärer Fotografie und Überblendungsexperimenten – bereits weiter als im krisen­ geschüttelten Europa spannt …

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Beziehungen und Einsamkeiten

Abb. 102: Die beiden Seehunde, Werner Pittschau, Charlotte Ander, Standfoto 1928.

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Werner Pittschau

Aber nach heftigen Diskussionen und zermürbenden Eifersuchtsszenen mit seiner Freundin Wilma wegen seiner Amerika-Pläne hatten ihn die Spannungen bewogen, gestern wenigstens nochmals in die Show zu kommen, in der sie unter dem Pseu­ do­­nym Wilma Harmy als Revue-Girl mitwirkt, um damit etwas den Wind aus ihren Segeln zu nehmen und die Wogen zu glätten. Freilich für den 26 Jahre alten, umschwärmten Kino-Shooting-Star, der bereits auf mehr als 30 Hauptrollen, meist als unwiderstehlicher junger Liebhaber oder smarter Offizier, zurückblicken kann, die ihm größte Erfolge bei Kritik, Kinopublikum und kiloweise Fanpost eingebracht hatten, besteht für ihre Beziehung, ohne dass er es sich eingestehen will, stets »das Risiko« eines Abenteuers mit einer raffinierten Filmpartnerin – nicht nur in Hollywood, das bekanntermaßen gerade solche »Affären« fördert und als Reklame für die neuesten Streifen in den Medien rücksichtslos vermarktet. Obwohl der frühe Tag grau und der Himmel noch regenverhangen ist, sollte dieser Ausflug vor dem Sprung über den Ozean ebenfalls dazu beitragen, Wilma etwas aufzuheitern, ja zu versöhnen und wieder einmal ihre unbegründet nagenden Befürchtungen zu zerstreuen … Wilma hatte rechtzeitig ihre Charlottenburger Wohnung in Westend, in der ­schicken Bredtschneiderstraße 16, verlassen, um »ihren Star Werner« wie vereinbart um 8 Uhr morgens von Wilmersdorf abzuholen. Die Fahrt bei vertraut gleichmäßigem Schnurren des Motors verläuft zunächst wortkarg, und der sonst zwischen ihnen belanglos heitere Gesprächston will nicht aufkommen … Auch sein Versuch, die getrübte Stimmung zu heben und sich über die kürzlich gemeinsam besuchte spektakuläre neue Produktion im Theater am Schiff­ bauer­damm, der in den Kritiken kontroversiell diskutierten »Dreigroschenoper« eines jungen Komponisten namens Kurt Weill nach Gedichten des gleichaltrigen Bert Brecht zu unterhalten, macht Wilma nicht gesprächiger. Zerstreut nimmt er im Vorbeifahren am Lietzenseepark zwei Knaben wahr, die ihre Drachen im Wind steigen lassen, und unwillkürlich erinnert er sich an seine frühen Kindheitsjahre in Berlin und Wien … 1902 als Sohn des deutschen Schauspielers Ernst Pittschau (1898 zunächst als häufiger Gast, ab 1905 bis 1916 fest am Hofburgtheater engagiert) und der Wiener Schauspielerin Hilda Hofer in Berlin geboren, war er bereits als Kind in seinem Persönlichkeitsdrang auffällig, doch er hatte sich bei fünf größeren Stiefgeschwistern behaupten müssen … So war er schon früh bei Sport oder Spielen von Kameraden als »Anführer« bewundert worden, eine Rolle, die er zusehends genoss. Auch hatte er bald sein Zimmer in der elterlichen Berliner Wohnung zu deren Leidwesen nach und nach in eine Art Werkstatt umfunktioniert, in der er »Experimente« machte und für Freunde Fahr­ räder, Dynamos, technische Geräte, ja sogar Foto- und Filmapparate verbesserte oder reparierte, was ihm besondere Sympathien einbrachte …

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Als er zwölf Jahre ist, öffnet im Wohnhaus der Eltern ein Kino seine Pforten. Fasziniert von diesem Medium freundet er sich mit den Söhnen des Kinobetreibers an, und nach einiger Zeit gelingt es ihm, bis in den Projektionsraum »vorzudringen«, wo er bald darauf einige Filme selbst vorführt. Ein unvorsichtiges Hantieren an der Apparatur führt zu einer gefährlichen Panne, die ihm, wenn er in letzter Minute nicht gerettet worden wäre, das Leben gekostet hätte. Nur kurz danach erkrankt sein Vater schwer, und dessen Tod im November 1916 – obwohl voraussehbar – erschüttert die Familie in ihren Grundfesten  : Während es Hilda Pittschau nach mehr als 10-jähriger kinderbedingter Abwesenheit von der Bühne gelingt, im Theater wieder Fuß zu fassen – sie erhält auf Empfehlung Harry Waldens ein einmonatiges Engagement an das Deutsche Theater in Prag, das auf sieben Jahre verlängert wird –, motiviert das tragisch-einschneidende Erlebnis den schlagartig erwachsenen 14-jährigen Werner zu einer ernsthaften Ausbildung zunächst an der Kadettenschule in Wien, danach in Prag, mit der Aussicht auf eine vielversprechende Offizierslaufbahn. Nach Ende des Ersten Weltkrieges, den Wirren des Zusammenbruchs der Monarchie und Ausrufung der Republik verlässt er die Kadettenschule und beginnt ein Studium an der Handelsakademie. Doch bald lockt auch ihn die Schauspielerei  : Sie ist nicht nur das Metier seiner Mutter. Auch sein Stiefbruder, Ernst Pittschau jun. – Sohn seines Vaters aus erster Ehe – ist seit beinahe einem Jahrzehnt ein international gefragter Filmschauspieler … Sein anderer Stiefbruder Walther ist ebenfalls dem Beruf der Eltern gefolgt. Ebenso wenig wie seine Mutter seinen Wunsch begrüßt, rät sie ihm von seinem Plan ab. So steht sein Entschluss fest, und es gelingt ihm nach kurzem Schauspielunterricht 1919 der Sprung auf die Bretter, die die Welt bedeuten, in Prag, wo er als jugendlicher Liebhaber ans Deutsche Theater engagiert wird. So ergibt es sich, dass er sogar zuweilen zusammen mit seiner Mutter und Stiefbruder Walther im selben Stück auftritt. Seiner eigenen Aussage zufolge wird ihm jedoch nach einiger Zeit Prag zu eng, und er kehrt in seine Geburtsstadt zurück, wo er ein Engagement an die Saltenburg-Bühnen erhält, von denen er bald an das staatliche Berliner Schiller-Theater wechselt. Doch Prag sollte indirekt für Werner Pittschaus weiteres Leben entscheidend werden  : Die filmerfahrenen Schauspielkollegen Erika Glässner und Hans Junkermann waren schon in Prag auf sein Talent aufmerksam geworden, und so ist es nur eine Frage der Zeit, dass man ihm auf deren Empfehlung 1924 die Hauptrolle des Fürsten Leopold im historischen Spielfilm Die Anne-Liese von Dessau anbietet. Mit dem großen Erstlingserfolg sind die Weichen für seine cinematografische Laufbahn gestellt. Wegen der wachsenden politischen Unruhen in Prag entschließt sich Hilda H ­ ofer 1924 ebenfalls nach Deutschland zurückzukehren und wird nach Gastspielen in Nürnberg für sieben Jahre an das Berliner Rose-Theater verpflichtet. Bereits 1925 ist Werner Pittschau in fünf Spielfilmen als Hauptdarsteller zu sehen und erntet von Presse und Publikum blendende Kritiken.

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Werner Pittschau

Abb. 103: Dirnentragödie, Werner Pittschau, Asta Nielsen, Standfoto 1927. ullstein bild Nr. 00036529.

In den folgenden drei Jahren wird er für zahlreiche weitere Hauptrollen von deutschen, österreichischen, ungarischen, tschechischen, englischen und anderen Produzenten gewonnen und bald als Film-Idol der Zwanzigerjahre gefeiert. Selbst die Modebranche – wie etwa das Haus »Prince of Wales« in der Berliner City – kommt auf ihn zu und macht ihn in Interviews zum Sprecher der neuesten Herrenmodetrends. Doch bereits 1926 äußert sich Werner Pittschau in einem Beitrag für ein Filmmagazin selbstkritisch zu seinen großen Erfolgen in den bisherigen Rollen als junger »schöner« Liebhaber, auf die er nicht fixiert werden möchte, und hofft auf eine baldige Gelegenheit, auch ernste Charaktere verkörpern zu können. Überraschend kurz danach wird ihm mit dem dramatischen Part im Streifen Die Liebe einer Nonne und im selben Jahr mit der in Berlin gedrehten und schon im April im Primus-Palast uraufgeführten Dirnentragödie als Partner der bereits legendären Asta Nielsen dieser Wunsch erfüllt. Gerade dieser Film – stilistisch an der Grenze zwischen Expressionismus und Realismus angesiedelt – sollte als einer der bedeutendsten und letzten AstaNielsen-Stummfilme in die Geschichte der Kinematografie eingehen.

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Abb. 104: Werner Pittschau, Portrait-Foto A. Binder, Berlin 1927.

Immer wieder steht Werner Pittschau aber auch in Wien vor der Kamera, so etwa unter der Regie von Max Neufeld für den satirischen Film Balletterzherzog, in dem k. und k. Monarchie und Gegenwart raffiniert ineinander verschmelzen, und dabei das Wien der späteren Zwanzigerjahre werbewirksam in Szene gesetzt wird. Bereits im Oktober 1926 im Wiener Elite-Kino uraufgeführt, der Presse jedoch erst ein Jahr danach vorgestellt, erfährt dieser Streifen von Deutschland über Italien bis in die USA internationale Verbreitung. Nicht von ungefähr wird Neufeld von einem Kritiker wegen der hier persiflierten Sehnsüchte nach der »guten alten Zeit« und der Entschlackung von einer gewissen Patina mittels ironischer Brechung mit Ernst Lubitsch verglichen. Doch auch »Irritationen« gibt es auf Werner Pittschaus Erfolgskurs  : So wird der im Frühjahr 1928 abgedrehte österreichische Film Das Geheimnis der Villa Saxen­ burg101 von der Berliner Filmprüfstelle im Juni wegen »der von der Gesamthandlung des Bildstreifens ausgehenden entsittlichenden Wirkung« verboten102, und die von der Filmfirma eingereichte Beschwerde gegen diesen Entscheid von der Berliner Oberprüfstelle abgewiesen103. Um den Streifen »zu retten«, müssen einige Szenen geschnitten und handlungsändernde Szenen nachgedreht werden, sodass er letztlich Ende August die Berliner Zensur passieren kann104 105. Das plötzliche Anhalten des Autos am Rand der Chaussee kurz nach Spandau holt ihn abrupt in die Gegenwart zurück. Wilma überlässt Werner – wie sonst öfter – das

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Abb. 105: Anny Ondra, Portrait-Foto Balzar, Prag 1928.

Lenkrad, aber instinktiv erfasst er, dass es diesmal nicht aus der Absicht geschieht, ihn seine Fahrleidenschaft auf der Landstraße auskosten zu lassen, sondern heute offenbar der Vorwand der Vater eines anderen Gedankens ist. Nach wenigen Kilometern Fahrt ist es offensichtlich  : Um sich nicht auf die Fahrbahn, sondern ganz auf ihre Argumente gegen den Antritt seines Hollywood-Engagements konzentrieren zu können, startet Wilma – einmal lockend, einmal leidenschaftlich, einmal unter Tränen – einen weiteren Versuch, ihn von seinen Amerika-Plänen in letzter Minute abzubringen. Hätten sich ihre Befürchtungen wenigstens bei jüngsten Dreharbeiten konkret an einer von Werners höchst attraktiven Filmpartnerinnen – wie Anny Ondra (Der erste Kuss) oder Carla Bartheel (Das Geheimnis der Villa Saxenburg) – entzünden können, richten sich ihre diesmaligen Ängste gegen ein Phantom … Doch all seine Beteuerungen, dass ihre quälenden Fantasien unbegründet wären, vermögen nichts gegen das schleichende Gift der Eifersucht, das ihre Verlustangst nährt. Nach einstündiger Fahrt hält Werner vor einem kleinen Café in Wustermark in der Hoffnung, ihre erhitzten Gemüter bei einer Tasse Tee zu beruhigen, doch die kurze Rast bedeutet nur ein Durchatmen … (Noch Jahre danach sollte sich eine Mutter mit ihrer damals halbwüchsigen, hübschen Tochter, die Werner Pittschau vor dem Verlassen des Cafés um ein Autogramm gebeten hatte, erinnern, dem Cabriolet voll Bewunderung nachgesehen zu haben, wie es in Richtung Pritzwalk davonfuhr …)

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Müde durchbricht die schwache Sonne über der herbstlichen Landschaft erstmals den Hochnebel, doch jetzt beherrscht frostiges Schweigen die beschleunigte Fahrt. Wie rasch jetzt die nackten schwarzen Alleebäume vorbeiziehen … Schon haben sie Pritzwalk passiert, und einige Minuten danach nimmt der Wagen behände die Kurve Richtung Meyenburg. Werner Pittschau denkt dabei an das Erlebnis seines ersten Fluges vor Wochen … Da ein Donnerschlag … Plötzlich ist er wieder da, der große Propellerlärm und das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren … Nur mehr blauer Himmel und rasende Wolken ziehen an ihm vorüber … Unfassbar, wie die vibrierende Maschine den Winden trotzt … Doch mit einem Mal, wie vom Blitz getroffen, versagen die Motoren ihren Dienst, und sie sackt immer rasanter in die Tiefe … Dann herrscht völlige Stille um ihn, und nach Momenten tiefster Nacht dämmert am Himmel wieder fahles Grau … Ein ihm unbekanntes Gesicht beugt sich über ihn, und das Echo aus weiter Ferne kommender unverständlicher Worte durchdringt die Stille … Er fragt den Fremden nach dem Warum, aber seine Lippen bewegen sich nicht und er starrt ins Leere … Noch einmal hatte die Traumfabrik Film am Charlottenburger Künstler- und Prominentenfriedhof An der Heerstraße bei der Trauerfeier für Werner Pittschau und Wilma Harmening ihre Scheinwerfer am Reformationstag auf das Paar gerichtet. Zur Beisetzung Seite an Seite war eine große Zahl an Trauergästen aus der Film- und Theaterwelt und den Medien erschienen. Emotionell geprägte Trauerreden ließen in den Köpfen der Anwesenden die tröstliche Überzeugung aufkommen, dass die beiden nun auf immer in Liebe vereint wären. Doch im Schlagschatten verbarg sich die ungeschminkte Realität  : Schon zuvor, in Werner Pittschaus letzten einsamen Momenten der Erinnerung vor dem Nichts, war es gewiss  : Was am Dämon Eifersucht zerbrochen war, würde der Tod vollenden und die Wege der beiden in alle Ewigkeit trennen, so als ob sich einmal mehr Arthur Schnitzlers Worte »Und wenn uns ein Zug von Bacchanten begleitet – den Weg hinab gehen wir alle allein«106 bewahrheiten sollten … Freilich gaben die ausführlichen, einander widersprechenden Unfallberichte in einem Dutzend Zeitungen Anlass zu Spekulationen, waren sie doch alle in ihren Darstellungen so voneinander abweichend, dass weder Unfallursache (verzweifelte Absicht oder Verhängnis  ?) noch Unfallhergang, ja nicht einmal die Fragen, wer den Wagen zuletzt gelenkt hatte, oder warum er an einem Baum zerschellte, nachvollziehbar waren … Nicht nur im Folgejahr wird – besonders nach Uraufführungen von Streifen, die erst nach technischer Fertigstellung in die Kinos gelangten (Schwester Maria, Erz­ herzog Johann, Straßenbekanntschaften) – in Presseberichten Werner Pittschaus gedacht, sondern auch Jahre nach dem Autounfall, der, wie Jahrzehnte später der Tod von James Dean, ähnlich unlösbare Rätsel aufgibt  :

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Abb. 106: Das Geheimnis der Villa Saxenburg, Carla Bartheel, Werner Pittschau, Szenenfoto aus Illustrierter Film-Kurier. Nr. 934, 10. Jg., 2. Seite.

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So etwa 1929 in starkultähnlichen Versen von Helena Pianta in einer Ausgabe des Magazins Mein Film  : »In memoriam Werner Pittschau Wie ein Blütenbaum, den jäh ein Blitz gefällt, Und grausam ihn zerschellt, als kaum sein Lenz begonnen, Da kaum sich ihm erschlossen des kurzen Daseins Wonnen, Riss dich ein grausames Geschick aus dieser Welt. Nicht hohe Kunst war’s, die wie tönend Erz Das Innerste erschüttert – nein, dein heit’rer Sinn Schuf Besseres. Du gabst das Köstlichste uns hin, Das dich so eng mit uns verband  : Dein Herz  ! So karg bemessen deine Zeit auch war – beschieden Ward dir dennoch das erhebende Bewusstsein  : viel Getan zu haben für das allerhöchste Ziel  : Den Menschen neu zu schenken Glück und Seelenfrieden  !«

Wie viel Zukunft hatten doch die beiden in der Blüte ihrer Jugend noch vor sich, die innerhalb weniger Sekunden in einem Autowrack zur eiskalten Zeitlosigkeit erstarrte … Doch wie meinte nicht ohne Sarkasmus schon der römische Komödiendichter ­Plautus vor gut 2000 Jahren in seiner Komödie Bacchides abgeklärt – »Quem di diligunt, adulescens moritur« … »Wen die Götter lieben, der stirbt jung« …

Filmografie Werner Pittschau (So weit bis dato eruierbar. Dem Klammerausdruck nach dem Filmtitel ist die Rolle Werner Pittschaus zu entnehmen. Die Jahreszahlen geben das Jahr der Premiere an, abgesehen von den Angaben bei den letzten Filmen – deren Premiere Werner ­Pittschau nicht mehr erlebte – das Jahr der technischen Fertigstellung. Die Premiere dieser Filme fand 1929 statt.) Zofia – Kriegs-Irrfahrten eines Kindes, 1915  ; mit Stiefbruder Ernst Pittschau jun. Der krasse Fuchs/The cool Fuchs (Willi Klauser), 1925. Die Anne-Liese von Dessau (Leopold von Anhalt Dessau), 1925. Volk in Not (Horst), 1925.

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Abb. 107: Filmplakat Herzog Hansl (Ausschnitt), Werner Pittschau, Igo Sym, 1929.

Die eiserne Braut, 1925. Luxusweibchen, 1925  ; mit Hans Albers. Hanseaten, 1925. Die letzte Droschke von Berlin (Karl Lüdecke), 1926. Die versunkene Flotte (Kapitänleutnant Fritz Kämpf), 1926, mit Hans Albers und Heinrich George. Die elf Schill’schen Offiziere (Udo von Reckenthin), 1926, mit Albert Steinrück. Die Wiskottens (Paul »der Poet«), 1926. Wien wie es weint und lacht (Leutnant Otto Hutters Sohn), 1926. Der Balletterzherzog = Das k. und k. Ballettmädl (Graf Paul Paladin sive Count Hohenstein), 1926. Der Stolz der Kompagnie = Die Perle des Regiments (Leutnant Fritz von G ­ ernsdorf), 1926. Dirnentragödie (Felix), 1927, mit Asta Nielsen. Ehekonflikte (Fernand), 1927. Sacco und Vanzetti. Im Schatten des elektrischen Stuhles = Am Tode vorbei (Sekretär Fullers), 1927. Die Liebe einer Nonne = Erinnerungen einer Nonne, 1927. Ein Mordsmädel, 1927.

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Die Geliebte des Gouverneurs = The Prince and the Dancer (Adjutant des Zarewitsch/Adjutant des Sohnes), 1927; mit Fritz Kortner. Die Geliebte auf dem Königsthron/Draga Maschin (Adjutant des Zarewitsch), 1927; mit Fritz Kortner. Tragödie im Zirkus Royal (Frank), 1928. Die Kaiserjäger (Leutnant der bayrischen Alpenjäger), 1928. Die beiden Seehunde = Seine Hoheit der Dienstmann (Prinz Emanuel Johannes), 1928. Der erste Kuss (Walter Stolz, Musiker), 1928; mit Anny Ondra. Das Geheimnis der Villa Saxenburg = Die weiße Sonate (Oberleutnant Graf Boris Utomski) 1928 (Uraufführung in Wien, 8 Tage nach Pittschaus tödlichem Unfall, am 5.11.28.). Straßenbekanntschaften (Jaroslav Klement), 1928 (1929). Erzherzog Johann = Herzog Hansl (Graf Ferdinand Prokesch), 1928 (1929); mit Igo Sym und Xenia Desni. Mária Növér = Schwester Maria = Der Roman einer Klosterschülerin (Franz Török, Maler), 1928 (1929).

Anmerkungen 1 Otto Spitzer Film/Sascha Film, Wien  ; Regie  : Louis Seeman. 2 Filmprüfstelle Berlin, Verbot des Streifens in 6 Akten vom 27.6.28, B. 13927. 3 Abweisung der Beschwerde gegen das Verbot der Filmprüfstelle und weitestgehende Bestätigung deren Entscheidung durch die Film-Oberprüfstelle Berlin (7 Seiten)  : Schlussbegründung  : »[…] Die von der Gesamthandlung des Bildstreifens ausgehende Wirkung würde […] ein Verbot auch dann rechtfertigen, wenn der Bilderstreifen wegen seiner niederziehenden Tendenz von einem Teil der Zuschauer innerlich abgelehnt würde. Das Wesen der entsittlichenden Wirkung eines Bildstreifens besteht nach Auffassung der Oberprüfstelle gerade darin, dass das schleichende Gift seines Inhalts in dem Beschauer fortwirkt und sein Fühlen und Denken beeinflusst. Gegenwerte in ethischer oder sonstiger Hinsicht fehlen.« 10.7.28, O. 00630. 4 Zulassung des Streifens in neuer Fassung (nunmehr 7 Akte) mit dem Zusatz »Jugendverbot« durch die Berliner Zensurbehörde vom 21.8.28, B. 19823. 5 In Österreich wird die neue Fassung von der Zensur zugelassen. Uraufführung in Wien am 5.11.28. 6 Schnitzler, Arthur  : Zitat aus Der einsame Weg. – 4. Akt, 8. Szene, Stephan von Sala.

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Kurzbiografien Deimel Eugen (1861–1920) In Wien geboren, entstammte Deimel einer ursprünglich gutbürgerlichen Familie mit Triestiner Wurzeln. Nach vorzeitiger Pensionierung seines Vaters Eugen Deimel, Oberfinanzrat im Finanzministerium – die offenbar in Zusammenhang mit dem Skandal um den geplanten Verkauf des Wienerwaldes erfolgte –, Verarmung der Familie und Abbruch des Schulbesuches im Akademischen Gymnasium. 1880 geht Deimel nach München  ; diverse Beschäftigungen. 1882 Auswanderung nach Amerika. Nach kürzeren Aufenthalten in Philadelphia, West Brighton, Hoboken wird Deimel im Herbst 1882 in New York sesshaft. 1884 Heirat mit Justine (»Dina«), einer aus Bayern stammenden Brauerstochter. In der Folge wechselhafte Berufe zwischen Journalismus und Gastronomie. 1920 stirbt Deimel nach kurzer schwerer Krankheit in New York. Fontana Lucio (1899–1968) Wurde 1899 in Rosario di Santa Fé/Argentinien als Sohn italienischer Einwanderer geboren. Ab 1914 besucht Lucio Fontana in Mailand das Istituto Tecnico Carlo Cattaneo. 1917 dient er als Soldat, wird jedoch bereits 1918 aufgrund einer Verletzung wieder entlassen und macht seinen Abschluss als Diplomingenieur. 1920 Studium der Bildhauerei an der Accademia di Brera in Mailand. 1922 Rückkehr mit seiner Familie nach Argentinien und Beginn der Mitarbeit im Bildhaueratelier seines Vaters Luigi. Ab 1924 eigenes Atelier in Rosario di Santa Fé. 1928 Rückkehr nach Mailand und Fortsetzung des Studiums bis 1930 an der Accademia di Brera.  1934 schließt er sich mit Fausto Melotti, Atanasio Soldati und Mauro Reggiani der Pariser Gruppe »Abstraction-Création« an. 1935 verfassen sie ein Manifest zur abstrakten Kunst  ; im selben Jahr erste Einzelausstellung Fontanas mit abstrakten Werken in der Mailänder Galleria del Milione. Ab 1939 lebt Lucio Fontana wieder in Argentinien. 1946 Mitbegründer und Lehrer der privaten Akademie Altamira  ; zusammen mit Studenten Manifiesto Blanco (Weißes Manifest). 1947 Begründung des »Movimento spaziale« in Mailand  ; Primo Manifesto dello Spazialismo. 1949 Secondo Manifesto dello Spazialismo. 1950 und 1951 Terzo Manifesto dello Spazialismo und Quarto Manifesto dell’Arte Spaziale.  Als einer der wichtigsten und einflussreichsten Künstler Italiens stirbt Lucio Fontana 1968 in Comabbio bei Varese. Gotthilf Elisabeth alias Rosveredos de Liane (1874–1965) In Wien als Tochter des Stadtbaumeisters Donat Zifferer und der Frauenrechtlerin Rosa, geb. Schüler, geboren. Eheschließung 1892 mit Architekt Ernst Gotthilf von Miskolczy. Kinder  : Stephan und Lotte.

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1939 Emigration nach England. 1965 Tod in Oxford. Heller Hermann (1866–1949) Als Sohn des Rechtsanwalts Joseph V. Heller in Hietzing geboren, erhält der begabte Knabe früh Privatunterricht in Zeichnen. Nach der Matura, 1888, Studium der Malerei an der Akademie der bildenden Künste Wien und Beginn des Medizinstudiums an der Universität Wien. 1895 Abschluss des Doppelstudiums. 1900 Forschungsstipendium nach Paris, Brüssel, Amsterdam, London, Bern und Basel. 1903 Habilitation an der TH Wien. Im selben Jahr Reise mit Felician von Myrbach nach New York, Washington und St. Louis, wo er monatelang als Bildhauer für die Weltausstellung tätig ist. 1906 Abschluss des Bildhauereistudiums an der Akademie der bildenden Künste Wien. 1906–1918 Lehrtätigkeit an drei Wiener Hochschulen, unterbrochen von Reisen und Einsätzen als Marinearzt. 1913 Heirat seiner Schülerin Vilma Grömmer. 1913/19 Publikation der Proportionstafeln der menschlichen Gestalt (Verlag Anton Schroll, Wien). 1928 Ernennung zum Ordentlichen Professor an der Akademie der bildenden Künste Wien. 1935 Verleihung des Titels eines Ordentlichen Professors an der TH Wien. 1949 Tod in Klagenfurt. Jurtschitsch siehe Llois Aurelia Kempny Hedy (1895–1986) Geboren in Gutenstein/Niederösterreich. Eltern  : Dr. med. Peter Kempny (1862–1906), Arzt, Komponist sowie renommierter Zoologe, und Valentine, geb. Berger (1866–1928). Geschwister  : Valentine verehel. Schützenhofer (1889–1958) und Dr. iur. Otto Kempny (1897– 1932). Nach Absolvierung der Mittelschule von 1913–1934 Bankbeamtin der Niederösterreichischen Escompte Gesellschaft. Gleichzeitig Studien am Musikkonservatorium (Klavier) und ab 1913 Schauspielunterricht bei Hofschauspieler Ferdinand Gregori, der ab 1910 auch Leiter der Akademie für Musik und darstellende Kunst in Wien war und einen hervorragenden pädagogischen Ruf genoss. Ab 1926 journalistisch tätig, insbesondere für Schweizer Zeitungen. 1934 nach Schließung der Bank infolge der Bankenkrise Mitarbeiterin des Saturn-Verlages Wien bis 1938. 1939–1947 in Zürich ansässig  ; in Ermangelung einer Arbeitserlaubnis unter Pseudonym als Journalistin tätig. 1947–1981 leitende Mitarbeiterin der New Yorker Frederick Unger Publishing Company. 1985 Goldenes Ehrenzeichen der Republik Österreich. 1986 Tod in New York. Kenner Anton Ritter von (1871–1951) Anton von Kenner wurde 1871 in Brunn am Gebirge geboren. Sein Großvater väter­licherseits war – abgesehen von seinem Beruf als Finanzbeamter – der Zeichner Joseph Kenner, sein Onkel Friedrich von Kenner war Archäologe.

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Anton von Kenner studierte 1891–1897 an der Kunstgewerbeschule in Wien und war bereits vor seinem Diplom bei Franz von Matsch als Assistent bei Anton Ginzel tätig. Ab 1896 Dozent für Stillehre an der Kunstgewerbeschule. 1904–1934 Professor für »Anatomisches Zeichnen und Modellieren« an der Kunstgewerbeschule. (1912/13 war Oskar Kokoschka, der als Student 1904–1906 Kenners »Abteilung für Lehramtskandidaten des Freihandzeichnens an Mittelschulen« besucht hatte, Assistent von Kenners »Kurs für Allgemeines Aktzeichnen«.) Ab 1941 wegen kriegsbedingten Professorenmangels wieder in Dienst gestellt, unterrichtete Kenner bis 1950 an der nunmehrigen Hochschule für angewandte Kunst. Der Ehe Kenners mit seiner Schülerin Berta Tragau (Eheschließung 1909) entstammte eine Tochter, Hedwig von Kenner (1910–1993), klassische Archäologin, die 1961 als Ordentliche Professorin an die Universität Wien berufen wurde. Hedwig Kenner erwarb sich – u. a. um die Ausgrabungen am Magdalensberg/Kärnten – große Verdienste und genoss international höchstes Ansehen. 1951 verstarb Anton Kenner in Wien. Llois Aurelia alias Jurtschitsch (Jg. 1955) Geboren als Aurelia Jurtschitsch in Langenlois, NÖ. 1978–1980 Studien an der Akademie der bildenden Künste Wien/»Meisterschule für Textiles Gestalten« Prof. Schulz. Ab 1984 Ausstellungen unter dem Namen Aurelia Llois, seit 1994 Schwerpunkt Textilkunst. Studium an der Universität Wien/Philosophische Fakultät (Europäische Volkskunde/Kunstgeschichte). 1991 Promotion Dr. phil. Seit 2002 Marketing und Autorin für www.artmagazine.cc Einzel- und Gruppenausstellungen. Lebt und arbeitet in Wien. Bertold Löffler (1874–1960) Geboren in Nieder-Rosenthal/Böhmen, entstammte Löffler einer Tuchmacherfamilie. 1888–1890 Abendkurse der Zeichenschule des Nordböhmischen Gewerbemuseums in Reichenberg/ Böhmen bei August Erben. 1890–1895 Student an der Wiener Kunstgewerbeschule (Allgemeine Abteilung). 1895–1896 Militärdienst im 9. Infanterieregiment. 1896 Fortsetzung der Studien an der Wiener Kunstgewerbeschule, Studienrichtung »Malerei und Grafik« bei Carl Otto Czeschka, Franz von Matsch, Anton Groll und Koloman Moser, Diplom 1900. 1903 Assistent bei Anton Groll. 1906 Gründung der Werkstätte »Wiener Keramik« zusammen mit Michael Powolny. 1907 Übernahme der »Fachklasse für Malerei und Werkstätte für Druckverfahren« an der Kunstgewerbeschule, aus der eine ganze Generation moderner österreichischer Grafiker – u. a. Oskar Kokoschka – hervorging. 1908 Mitbegründer der »Kunstschau« und des »Österreichischen Werkbundes«. 1909 Ernennung zum Professor. Daneben vielfältiges künstlerisches Schaffen für die Wiener Werkstätte, u. a. Postkarten, Plakate, Kalender. Beteiligung am Almanach der Wiener Werkstätte sowie an zahlreichen internationalen Kunstausstellungen mit Gemälden und grafischen Arbeiten. Mitarbeit als Illustrator bei den Zeitschriften Ver sacrum, Der liebe Augustin und Donauland. Abgesehen von den verschiedensten Formen der Gebrauchsgrafik Buch- und Zeitschriftenillustrationen, aber auch Kinderspielzeug sowie Banknoten und Postwertzeichen.

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1947 von der Regierungsbehörde als »minderbelastete Person« im Sinne des Verbotsgesetzes bestätigt. 1954 vielfache Würdigungen zum 80. Geburtstag, u. a. Verleihung des »Goldenen Lorbeers« durch das Wiener Künstlerhaus. 1960 stirbt Bertold Löffler in Wien. McIlheran-Wunner Sallie (Jg. 1968) Geboren in Forth Worth/Texas. 1986–1990 Kunststudium am Sweet Briar College, Virginia/USA. Studienjahr 1987/88 Auslandsstudienjahr mit CUI in Wien, Gasthörerin an der »Meisterklasse für Malerei« Prof. Hutter/Hochschule für angewandte Kunst und Universität Wien/Kunstgeschichte. 1990 Bachelor of Arts Degree und Wolrich Award of Fine Art. 1990–1994 ordentliches Studium an der »Meisterklasse für Malerei« Prof. Hutter/Hochschule für angewandte Kunst (Malerei und Grafik). 1994 Sponsion zur Mag.a art. Seither rege Ausstellungstätigkeit in Deutschland, USA, Österreich. Zahlreiche Ankäufe ihrer Werke von öffentlichen Sammlungen und Privatsammlern. Wintersemester 2014/15 Gastprofessur an der West Texas A & M University. Lebt und arbeitet in Freising/Deutschland. Niedermoser Otto (1903–1976) Wurde in Wien geboren. 1917–1922 Besuch der Kunstgewerbeschule (Studienrichtung Innenarchitektur), ­Diplom bei Oskar Strnad. 1923–1925 Assistent an der »Fachklasse für Architektur« Prof. Strnad. In diese Zeit fallen bereits seine ersten selbstständigen Bühnenausstattungen (abgesehen von Anna Christie unter Max Reinhardts Regie Faust und Ein Sommernachtsraum). 1925–1928 Architekturstudium an der Akademie der bildenden Künste, Meisterschule Prof. Behrens, mit Diplomabschluss. Bereits ab 1925 Ausstattungschef der »Komödie« unter der Leitung von Rolf Jahn/Otto Preminger. Ab 1928 Ausstattungschef am »Neuen Wiener Schauspielhaus« (heute Volksoper) unter der Leitung von Jakob Feldhammer/Otto Preminger. Ab 1930 freischaffender Architekt und Lehrtätigkeit an der Kunstgewerbeschule Wien, zunächst als Assistent an der »Fachklasse für Innenausbau«. 1935 Leiter der »Klasse für Allgemeine Formenlehre« und Nachfolger von Oskar Strnads »Bühnenbildnerlehrkurs«. Ab 1936 eigenständige Filmausstattungen. 1937 zusätzliche Leitung der neugeschaffenen »Bühnenklasse« der Kunstgewerbeschule in Verbindung mit dem »Max Reinhardt-Seminar«. In der Folge zahlreiche Ausstattungen für Bühne und Film. Ab 1950 neben der Leitung der »Meisterklasse für Bühnen- und Filmgestaltung« an der nunmehrigen Akademie (ab 1970 Hochschule) für angewandte Kunst Übernahme der »Meisterklasse für Möbelbau und Raumgestaltung« bis zu seiner Emeritierung 1973. 1976 Tod in Wien.

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Palladio Andrea (1508–1580) Wird 1508 als Andrea di Piero della Gondola, Sohn des Müllers Piero della Gondola, in Padua geboren. Früh gefördert durch seinen Taufpaten, den Bildhauer Vincenzo Grandi, erfährt Andrea zunächst eine Ausbildung als Bildhauer und Steinmetz in der Werkstatt von Bartolomeo Cavazza, die am Beginn seiner einmaligen Karriere als erster großer Berufsarchitekt der oberitalienischen Hochrenaissance stand. Der Palladio-Kenner Guido Beltramini führt im Werkverzeichnis Palladios über achtzig Hauptprojekte an, »darunter wenigstens sechzehn Stadtpaläste, dreißig Landsitze, vier öffentliche Gebäude, fünf Brücken, fünfzehn Sakralbauten, drei Theater und neun weitere Objekte wie Portale, Grabmonumente und triumphale Festapparate«. Durch seine Bauten und seine theoretischen Schriften gewann Palladio als Begründer des »Palladianismus« großen nachhaltigen Einfluss auf die dem Klassizismus verpflichtete Architektur in West- und Nordeuropa, Großbritannien und in den Vereinigten Staaten. Pittschau Werner (1902–1928) geboren in Berlin, entstammte einer Schauspielerdynastie. Eltern  : Ernst Pittschau sen. aus Egeln/Magdeburg (1859–1916), Burgschauspieler, Mutter Hilda, geb. Schützenhofer, aus Wien (1873–1961), Theater- und Filmschauspielerin  ; Künstlername Hilda Hofer-Pittschau. 1 Bruder (Hermann, Filmschauspieler) und 5 Stiefgeschwister aus 1. Ehe des Vaters (Ernst jun. Filmschauspieler, Walther, Theater- und Filmschauspieler, Regisseur.) Vorzeitige Beendigung der Kadettenschule nach Zusammenbruch der Monarchie, danach Schauspielausbildung. Debüt am Deutschen Nationaltheater Prag, danach Schillertheater Berlin. Ab 1925 Filmschauspieler. 1928 Tod bei Autounfall. Powolny Michael (1871–1954) Geboren in Judenburg/Steiermark. Nach der Absolvierung von Volks- und Bürgerschule Hafnerausbildung im Betrieb des Vaters. 1889, nach Tod des Vaters, Fortsetzung der Ausbildung in Steyr/Oberösterreich, danach durch 3 Jahre Besuch der »k.k. Fachschule der Thonindustrie« in Znaim. 1894–1901 Studium an der Kunstgewerbeschule Wien (Allgemeine Abteilung, M ­ odellierabteilung, Bildhauerei), danach freischaffender Bildhauer. 1906 gemeinsam mit Bertold Löffler Gründung der Werkstätte »Wiener Keramik«. 1909 Berufung an die Wiener Kunstgewerbeschule als Lehrer der neugegründeten »Werkstätte für Keramik«. 1912 Ernennung zum Professor. 1923–1931 Leitung der »Werkstätte für Glasbearbeitung«. 1932 Übernahme der »Fachklasse für Bildhauerei«. 1936 Pensionierung. 1937–1939 Lehrer an der Wiener Frauenakademie. 1954 Tod in Wien. Rader-Soulek Grete (1920–1997) Österreichische Textilkünstlerin, Malerin und Designerin, in Wien geboren, studierte nach dem Schulbesuch zunächst an der Bundeslehranstalt für Textilkunst, danach an der Hochschule für angewandte Kunst in Wien bei Oswald Haerdtl.

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1948 Eheschließung mit Arch. Alfred Soulek. 1947–1959 unterrichtete sie an der Modeschule der Stadt Wien in Hetzendorf, von 1959 bis 1988 leitete sie die »Meisterklasse für dekorative Gestaltung und Textil« (später »Meisterklasse für Tapisserie«) an der Hochschule für angewandte Kunst in Wien. Gleichzeitig war sie auch als Malerin und in der Möbel- und Spielzeuggestaltung tätig. Grete Rader-Soulek beteiligte sich mehrmals an der Mailänder Triennale und ebenso an der Brüsseler Weltausstellung 1958 mit Spielzeugdesign. Diverse öffentliche Aufträge und Einzelausstellungen. Tod in Wien 1997.  Rolf Elli (1913–2000) Geboren in Wien, zeigt bereits in frühem Kindesalter eine außerordentliche Zeichenbegabung und besonderes Interesse an der menschlichen Gestalt. 1930 wird sie in die »Klasse für Mode und Textilarbeiten« (Prof. Eduard Josef Wimmer-­Wisgrill) der Wiener Kunstgewerbeschule aufgenommen. Bereits in ihrer Studienzeit zahlreiche Modeentwürfe und Modegrafik für in- und ausländische Zeitschriften und Modehäuser. 1936 Aufenthalt in London zu Modellentwürfen. 1937 Mitarbeit für den Österreich-Pavillon der Pariser Weltausstellung. 1938 Diplom. 1939 Lehrauftrag an der Wiener Kunstgewerbeschule, »Klasse für Allgemeine Formenlehre«. 1941–1943 Leiterin des Pflichtfaches »Aktzeichnen«. 1940–1970 rege Bühnenkostüm-Ausstattungstätigkeit für Theater in der Josefstadt, Volkstheater, Burgtheater, Staatsoper, Volksoper, Wiener Festwochen, Bregenzer Festspiele, ab 1950 auch Film und Fernsehen. 1958 Gründung des »Seminars für Kostümkunde« an der Wiener Akademie für angewandte Kunst. 1969 Ernennung zur Hochschulprofessorin und Bestellung zur Leiterin der neugegründeten »Meisterklasse für Bühnenkostüm«. 1983 Emeritierung. 2000 stirbt Elli Rolf in Wien. Rosveredos de Liane siehe Gotthilf Elisabeth Schnitzler Arthur (1862–1931) Sohn des berühmten Laryngologen und Universitätsprofessors Dr. Johann Schnitzler und der Luise Markbreiter, deren Vater, Dr. Philipp Markbreiter, ebenfalls Arzt war. 1879 Matura am Akademischen Gymnasium mit Auszeichnung. 1885 bis 1888 Assistenz- und Sekundararzt am Allgemeinen Krankenhaus der Stadt Wien, danach bis 1893 Assistent seines Vaters an der Laryngologischen Abteilung der Poliklinik in Wien.  Zwischen 1886 bis 1893 publizierte Schnitzler zu medizinischen Themen über 70 Beiträge, meist Rezensionen von Fachbüchern, unter anderem als Redakteur der von seinem Vater gegründeten Inter­ nationalen Klinischen Rundschau. 1889 Publikation  : Über funktionelle Aphonie und deren Behandlung durch Hypnose und Sugges­ tion (Verlag W. Braumüller). 1902 Geburt des Sohnes Heinrich. 1903 Eheschließung mit Olga Gussmann. 1909 Geburt der Tochter Lili. 1921 Scheidung der Ehe.

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Kurzbiografien

1928 Tod der Tochter Lili in Venedig. 1931 stirbt Arthur Schnitzler in Wien. Auf ausführliche Biografien und Werkverzeichnis wird verwiesen. Segantini Giovanni (1858–1899) Geboren in Arco/Südtirol. Eltern  : Agostino Segatini (1802–1866) und Margherita de Girardi (1828–1865). Nach dem frühen Tod der Eltern in zweifelhafter »Obhut« einer böswilligen Stiefschwester aus erster Ehe des Vaters, aus der er mehrfach ausriss. Hierauf Aufenthalt in einer Erziehungsanstalt, in der er das Schustergewerbe erlernte. Danach diverse Gelegenheitsarbeiten. Ab 1875 Kursbesuch in »Malerei und Ornamentik« an der Mailänder Kunstakademie Brera, zu einer Zeit, in der er noch Analphabet war. Neider verdrängten schließlich den hochbegabten »Österreicher« nach zwei Jahren. 1877 Bekanntschaft mit Galerist und Kunstkritiker Vittore Grubicy, der Giovanni Segatini, welcher sich nun Segantini nannte, Aufträge verschaffte. 1880 Begegnung mit der Schwester seines Freundes Carlo Bugatti, Luigia genannt Bice (1863– 1938), die seine Partnerin fürs Leben wurde, welche er in Ermangelung von Ausweispapieren nicht heiraten konnte. Erst nach Segantinis Tod nimmt Bice Bugatti den Familiennamen »Segantini« an. Siegel Ben (Jg. 1966) Geboren in Stuttgart, 1989–1996 Studium an der Hochschule für angewandte Kunst in Wien, »Meisterklasse für Bildhauerei« Prof. Alfred Hrdlicka, Diplom mit Auszeichnung. 1996 Bühnenbild mit Alfred Hrdlicka und Eva Schärer zu Oskar Kokoschkas Mörder, Hoffnung der Frauen. 1996–1998 Lehrauftrag für Steinbildhauerei an der Hochschule für angewandte Kunst in Wien, Meisterklasse Prof. Alfred Hrdlicka. 1998–2000 Lehrauftrag für Steinbildhauerei an der Universität für angewandte Kunst Wien an der »Meisterklasse für Bildhauerei« Prof. Gerda Fassel. 2001 Gastprofessur an der Hochschule für Künste Bremen. Seit 2004 Kursleiter für »Bildhauerei und Aktzeichnen« an der Sommerakademie Zakynthos/Griechenland. Teilnahme an zahlreichen Ausstellungen, Bildhauersymposien in Deutschland und Österreich. Arbeiten in öffentlichen und privaten Sammlungen. Sottsass Ettore sen. (1892–1953) Wird 1892 in Nave San Rocco/Trento geboren. Nach seinen Architekturstudien in Innsbruck und an der Akademie der bildenden Künste in Wien widmet sich Sottsass ab 1920 in Trentino zunächst dem Wiederaufbau von im Krieg zerstörten Bauten im Sinne lokaler Lösungen von strenger Einfachheit. Ab 1928 wird er mit komplexeren Aufgaben – wie etwa der Errichtung des Rathauses von Meran (1928–1932) oder der Bäderanlage des Lidos in Bozen (1936) – betraut. Ab 1928 zählt er mit Giuseppe Pagano und Gino Levi-Montalcini zu den Promotoren der Piemonteser Gruppe MIAR (Movimento Italiano per l’Architettura Razionale/Italienische Bewegung für zweckmäßige Architektur) und ist 1933 Mitarbeiter am »Projekt der Via Roma« in Turin. 1938 zeichnet er für den Entwurf des Palazzo della Moda in Turin verantwortlich, der 1948 nach Kriegsschäden von Roberto Biscaretti di Ruffia und Pier Luigi Nervi in den Pallazzo delle Esposizioni umgestaltet wird.

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Kurzbiografien

In der Nachkriegszeit beschäftigen Sottsass besonders Rekonstruktionen zerstörter Gebäude. 1949 realisiert Sottsass zusammen mit seinem Sohn Ettore Sottsass jun. das Arbeiterdorf Iglesias/ Valverde (Cagliari). 1951/52 folgen urbanistische Projekte und Planungen für sozialen Wohnbau (z. B. Turin, La Falchera). Ettore Sottsass sen. stirbt 1953 in Turin. Soulek siehe Rader-Soulek Grete Stifter Wolfgang (Jg. 1946) Als Sohn des akademischen Malers und Kunstpädagogen Alfred Stifter und der T­ herese geb. Perndl in Ottensheim geboren. 1964 Matura am Stiftsgymnasium Wilhering mit Auszeichnung. 1964–1970 Studium an der Akademie der Bildenden Künste Wien, »Meisterschule für Malerei« Prof. Maximilian Melcher. 1969 Sponsion zum Mag. art. 1989 Ernennung zum Ordentlichen Professor an der Hochschule für künstlerische Gestaltung in Linz. 1991–2000 Rektor der Hochschule – ab 1998 Universität – für künstlerische Gestaltung Linz. 1997–2001 Vorsitzender des Landeskulturbeirates OÖ. Zwischen 2001 und 2005 diverse Studienaufenthalte in Chengdu, Sichuan/China, Paliano/Italien, Ballens sur Morges/Schweiz. 2014 Emeritierung als Ordentlicher Universitätsprofessor. Rege internationale Ausstellungs- und Publikationstätigkeit. Zahlreiche Arbeiten in öffentlichen und privaten Sammlungen. Tessenow Heinrich von (1876–1950) Wird 1876 als Sohn eines Zimmermeisters in Rostock geboren. Bis 1893 Schulbesuch, danach handwerkliche Ausbildung im väterlichen Zimmereibetrieb und Besuch der städtischen Bauschule in Neustadt, der kgl.-sächsischen Baugewerbeschule in Leipzig. Bis 1901 Architekturstudium an der Technische Hochschule München. 1909/11 nach diversen Stellen als Lehrer im Baufach, Assistent an der Technischen Hochschule Dresden, gleichzeitig erste private Bauaufträge. 1911/12 Planung und Bau der »Bildungsanstalt für rhythmische Gymnastik« in Hellerau. 1913 Berufung an die Wiener Kunstgewerbeschule zur Leitung einer Architekturklasse. 1919 Rückkehr nach Hellerau. 1920–1926 Professor an der Staatlichen Hochschule für bildende Künste in Dresden. 1926 Ordinarius an der Technischen Hochschule Berlin-Charlottenburg und Leiter eines Meisterateliers an den Vereinigten Staatsschulen für freie und angewandte Kunst in Berlin. 1931 Ausbau von Schinkels »Neuer Wache« in Berlin zum »Ehrenmal unter den Linden«. 1934 zwangsweise Einstellung seiner Lehrtätigkeit. 1937 Übertragung eines Meisterateliers der Preußischen Akademie der Künste. 1941 verordnete Emeritierung an der Technischen Hochschule Berlin. 1947 Wiederaufnahme der Lehrtätigkeit. 1950 stirbt Tessenow in Berlin.

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Inhalt

Wunner siehe McIlheran-Wunner Sallie Yver Étienne (Jg. 1955) geboren in Caen/Frankreich, wandte sich Yver nach dem Architekturstudium der Malerei zu und ist seit 1980 in zahlreichen Einzel- und Gruppenausstellungen mit seinen Werken in Europa, Amerika, Afrika und Australien präsent. Yvers künstlerische Bandbreite reicht jedoch über Malerei und Grafik in allen Techniken weit hinaus  : Sein Schaffen umfasst ebenso Skulptur, Bühnenbild und Videos wie wortspielerische und philosophische Texte. Oft reflektiert Yver in seinen Arbeiten Themen anhand von Werken prominenter Autoren (Sophokles, Shakespeare, Michelangelo, La Fontaine, Mallarmé, Apollinaire, Garcia Lorca, Yassin Adnan u.a.). Étienne Yver lebt und arbeitet – abgesehen von einer Reihe von Studienreisen und Auslandsaufenthalten – in Paris. Nicht unerwähnt bleiben sollen Yvers künstlerische »Interaktionen« mit Musik (Mozart, Satie, Greif, Forget, Casparov, Satie u. a.). Seine Werke finden sich in prominenten Privatsammlungen wie in zahlreichen Museen – so auch im Wien-Museum.

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Textnachweise Giovanni Segantini gekürzt erschienen in: Adamek, Heinz P.: Suche nach dünner Luft in Spectrum. – Wien: Die Presse 18./19. Sept. 1999. Hermann Heller Adamek, Heinz P.: Das Leben ist kurz, die Kunst ist lang in Modelle der Künstleranatomie von Her­ mann Heller. Straznicky Kurt (Hg.). – Wien-Bozen: Folio 2001. Anton Kenner Adamek, Heinz P.: Eine Expedition zwischen die Zeiten – zum Werk des Wiener Künstlers Anton Kenner (1871–1951). – München: Weltkunst Nr. 21, 1991. Michael Powolny Adamek, Heinz P.: Wiener Keramik? Michael Powolny & Co! – München: Weltkunst Nr. 21, 1990. Bertold Löffler Adamek, Heinz P.: Bertold Löffler und die Sphinx – Beispiele graphischer Assoziationen, in Bertold Löffler, Vagant zwischen Secessionismus und Neo-Biedermeier. – Patka Erika (Hg.). – Wien: Rema-Print 2000. Lucio Fontana gekürzt erschienen in: Adamek, Heinz P.: Lucio Fontana. – München: Weltkunst Nr. 18, 1992. Grete Rader-Soulek Adamek, Heinz P.: Das Sinnhafte der Bildwelt von Grete Rader-Soulek in Rader-Soulek – Katalog zur Ausstellung. – Wien: Galerie bei der Albertina 1994. Aurelia Llois Adamek Heinz P.: Stabile Labilität – labile Stabilität Gedankenstenogramm zu Aurelia Llois’ Transposition in Alpha – Kunst von Frauen. – Wien: Edition Atelier 1995. Sallie McIlheran Adamek, Heinz P.: Search for Traces / Sallie Mc Ilheran – eine Spurensuche, Vorwort zum Ausstellungskatalog Sallie Mc Ilheran – Close Encounters. – Wien: edition base-level 2010. Übersetzung seines Originaltextes aus dem Englischen vom Autor. Étienne Yver Adamek, Heinz P.: Le Déterminant Humain – une parabole figurée par Étienne Yver in Ausstellungskatalog In/corpo/rated. – Wien: edition base-level 2011. Übersetzung seines Originaltextes aus dem Französischen vom Autor.

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Textnachweise

Klimt revisited Adamek, Heinz P.: Gustav Klimt – Die Zeit bis zur Zeitlosigkeit oder von der Irritation zur Inspiration in Vorwort zum Ausstellungskatalog KLIMT revisited (Wolfgang Stifter, Étienne Yver, Sallie McIlheran, Ben Siegel). – Wien: edition base-level, 2013. Andrea Palladio gekürzt erschienen in: Adamek, Heinz P.: Andrea Palladio – Fixstern europäischer Architektur in Reise-Taschenbuch Vene­ dig. – Köln: DuMont 1993. Mindestens 7 Auflagen in Deutsch und Italienisch bis 2008. Ettore Sottsass teilweise zitiert aus: Adamek, Heinz P.: Armoniosa Dissonanza / L’Architettura Viennese intorno al 1912 in Ettore Sottsass sr. – Milano: Electa 1991. Übersetzung seines Originaltextes aus dem Italienischen vom Autor. Heinrich von Tessenow teilweise zitiert aus: Adamek, Heinz P.: Tessenow a St. Moritz – Requiem for Villa Boehler in Arca, La rivista internazio­ nale di architettura. – Milano: Arca 1990, Nr. 36. Übersetzung seines Originaltextes aus dem Italienischen vom Autor. Otto Niedermoser Adamek, Heinz P.: Jung Wien – eine Versuchung in Wiener Bühnen- & Filmausstattung, Otto Nie­ dermoser 1903 – 1976. Bönsch Annemarie (Hg.) – Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2003. Elli Rolf Adamek, Heinz P.: Wenn der Purpur fällt. – München: Weltkunst Nr. 3/1993. Central University Theatre Group Adamek Heinz: Central Theater Abroad – The Curtain Rises in Vienna, a Review. – Pella-Iowa: CUI 1983. Übersetzung seines Originaltextes aus dem Englischen vom Autor. Liane und Pierre gekürzt erschienen in: Adamek, Heinz P.: Der Herr, der fand – Liane und Pierre: Eine Zeitungsannonce aus dem Jahr 1906 und ihre Folgen in Spectrum. – Wien: Die Presse 3. 6.1995. Übersetzung der Originalbriefe aus dem Französischen sowie Nachdichtung vom Autor. Hedy Kempny – Arthur Schnitzler gekürzte Fassung aus: Adamek, Heinz P.: Hedy Kempny – Arthur Schnitzler, Ein (gem)einsamer Weg in Arthur Schnitzler und sein Reigen, Volksoper, Programmheft zum Ballett. – Wien: Österreichische Bundestheater 1988, Seite 269ff.

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Zusätzliche bibliografische Hinweise zu Themen dieses Bandes Giovanni Segantini 1) Adamek, Heinz P.: Aus Segantinis Schriften und Briefen in Giovanni Segantini 1858-1899, Ausstellungskatalog. – Wien: Museum des XX. Jahrhunderts 1981. 2) Adamek, Heinz P.: La Messa in Scena della Vita di Giovanni Segantini in Segantini. – Milano: Electa 1987. 3) Adamek, Heinz P.: Degradiert - Rehabilitiert / Zu Giovanni Segantinis kleiner Fassung des Gemäldes „Das Pflügen“. – München: Weltkunst Nr. 21/1989. Bertold Löffler 1) Adamek, Heinz: Bertold Löffler, Ausstellungskatalog Nr. 15. – Wien: Hochschule für angewandte Kunst in Wien 1978. 2) Adamek, Heinz P.: Bertold Löffler – A pioneer in the 20th century art pluralism of Vienna. Exhibition Catalogue. – New York: Austrian Institute 1982. Ettore Sottsass sen. Solai, Nadia: L’architetto Ettore Sottsass senior. Inventario dell’archivio conservato presso il Mart di Rovereto (1906-1955). – Trento: 2007/2008. Otto Niedermoser Adamek, Heinz P.: Im Streiflicht: Gabriele Niedermoser. – Wien: edition Forum Universität und Gesellschaft 2013. Central University Theater Group – Theaterseminar als Einführung in kulturelle Diversität 1) Adamek, Heinz P.: Arthur Schnitzler – „Liebelei“. – Programmheft der CCTG. – Wien: CUI 1981. 2) Adamek, Heinz: Mit Anatol fing alles an... – Programmheft der CCTG. – Wien: CUI 1982. 3) Adamek, Heinz: Im Spiel der Sommerlüfte – Schnitzlers transparentes Vermächtnis. – Programmheft der CCTG. – Wien: CUI 1983. 4) Adamek, Heinz: Arthur Schnitzler – Einakter der Zwischenmenschlichkeit (‚Bacchusfest‘, ‚Silves­ ternacht‘, ‚Literatur‘). – Programmheft der CCTG. – Wien: CUI 1985. 5) Adamek, Heinz: Arthur Schnitzlers Relativitätstheorie der Treue – (‚Stunde des Erkennens‘, ‚Schauspielerin und Dichter‘/ Reigen, ‚Komödie der Worte‘). – Programmheft der CCTG. – Wien: CUI 1986. 6) Matras, Silvia: Schnitzler – fast ohne Akzent. 13 Jahre Central College Theater in Wien, Einla­ dung nach New York. – Wien: Wiener Zeitung 14.11.1986 S 3. 7) Adamek, Heinz: Liebe – ein Gesellschaftsspiel? (Komtesse Mizzi: A. Schnitzler und Die tiefe Natur: H. Bahr) . – Programmheft der CCTG. – Wien: CUI 1987. Arthur Schnitzler – Eugen Deimel 1) Adamek, Heinz P.: Das Leben bleibt doch eine sonderbare Sache – Lange verschollen: Schnitz­

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Zusätzliche bibliografische Hinweise zu Themen dieses Bandes

lers Briefe in die Neue Welt sind jetzt nach Wien zurückgekehrt. – in Spectrum. – Wien: Die Presse 1.2.1992. 2) Adamek, Heinz P.: In die Neue Welt – Arthur Schnitzler-Eugen Deimel, Briefwechsel. – Wien: Holzhausen 2003. 3) Holzer, Konrad: Weltläufig. – in Buchkultur Österreich Spezial. – Wien: Buchkultur Verlagsges.m.b.H. 2003 S 33. 4) Fliedl, Konstanze: Amerika ist ein Vorurteil. – Wien: Die Presse, Beilage 26.7.2003. 5) N.N. : Weltschmerz Wien – New York. – Zürich: NZZ, 17.1.2004 S 48. Hedy Kempny – Arthur Schnitzler 1) Hedy Kempny / Arthur Schnitzler – Das Mädchen mit den dreizehn Seelen. – Adamek, Heinz P. (Hg.). – Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1984. 2) Hemberger, Marie-Theres: Dreizehn Seelen. – Buch der Woche. – Wien: Die Presse 27.2.1985. 3) Johnston, Andreas Scott: Notizen aus der Zuneigung. Ein besonders Buch. – Nürnberg: Nürn­ berger Nachrichten/Wochenmagazin 1985. 4) Schmieg, Elisabeth: Das Mädchen mit den dreizehn Seelen. – Heidelberg: Theater-Illustrierte Nr. 3/85. 5) er: Flucht aus Furcht vor dem eigenen Wesen. – New York: Aufbau 6. Dez. 1985. 6) N.N.: The Girl with Thirteen Souls. – Wien: Tafelspitz International No. 1 Spring 1985. 7) Schneider, Susi: The Girl with the Thirteen Souls. – in: Austrian Information. – New York: Aus­ trian Press and Information Service, 1986 Vol. 39 No. 3. 8) Wagner, Nike: Hedy Kempnys und Arthur Schnitzlers Briefwechsel; eine Anthologie. – in Ge­ schichten aus der Geschichte. – Hamburg: Die Zeit 11/1986. 9) Adamek, Heinz P.: Tredici anime e Schnitzler in Hedy Kempny – Arthur Schnitzler: La ragazza dalle tredici anime. – Milano: Feltrinelli, 1987. 10) Schaber, Susanne: Liebes, liebes, liebes Wesen – Hedy Kempny und Arthur Schnitzler: Eine Freundschaft eigener Art. – in Feuilleton VII. – Wien: Die Presse 1./2.4.1989. 11) Schaber, Susanne: Zur Freundschaft Hedy Kempny – Arthur Schnitzler. – Zürich: NZZ 6.10.1990. 12) Adamek, Heinz P.: The Girl with 13 Souls. – in Austria Kultur. – New York: Austrian Cultural Institute Vol. 5 No. 6 1995.

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Abbildungsnachweis

Heinz P. Adamek 8, 9, 18, 26, 28, 33, 34, 35, 36, 43, 56, 57, 59, 62, 65, 66, 68, 72, 73, 74, 75, 78, 79, 82,106, 107. Archivio Sottsass 60, 61. Tassilo Blittersdorff 37. Hotel Bristol Wien, Sammlung & Archiv 83, 86. Dorotheum Wien 30. Dumont-Verlag 52. Denis Džambic´ 32. Filmarchiv Austria 101. Fondazione Lucio Fontana Milano 31. Galerie bei der Albertina 16, 19. Kunstsammlung und Archiv der Universität für angewandte Kunst Wien 6, 7, 12, 13, 17, 22, 23, 24, 27, 29, 62, 63, 64, 65, 66, 67, 69, 70, 71, 77 sowie szt. Foto-ZW der HSaKW 1, 2, 3, 4, 5. Dora Lardelli 6, 67. Viktor Pêche 44, 45, 46, 47, 50. Privatarchiv Heinz P. Adamek 6, 14, 15, 20, 21, 25, 58, 73, 76, 80, 81, 84, 85, 87, 90, 91, 92, 93, 94, 95, 96, 97, 98, 99, 100, 102, 104, 105. Claudia Reiter 38, 39, 40, 41, 42, 49. Cathérine Rollier 10, 11. Senta Schwanda 76, 80, 81. Ben Siegel 51. Wolfgang Stifter 48. ullstein bild 103.

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Dank

Allen voran gilt mein besonderer Dank für das Zustandekommen dieses Essay-Bandes dem Rektor der Universität für angewandte Kunst Wien Dr. Gerald Bast. Großen Dank schulde ich weiters dem Leiter von Kunstsammlung und Archiv der Universität für angewandte Kunst Wien Univ.-Prof. Dr. phil. Patrick Werkner für die großzügige Bereitstellung von Archivmaterialien, sowie seinem stets effizienten Team, insbesondere der Leiterin des Universitätsarchivs OR Silvia Herkt, BA, MA, sowie Nathalie Feitsch und Hoa Maria Nguyen, die sich sehr um die Bildbearbeitung bemühte. Schließlich bin ich für die freundliche kostenlose Bereitstellung von Abbildungen dem Hotel Bristol Wien, dem Dorotheum Wien, der Fondazione Lucio Fontana Milano, der Galerie bei der Albertina Wien und Cathérine Rollier Wien sehr verbunden. Heinz P. Adamek

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MARTINA BAUER

LEOPOLD FORSTNER (1878–1936) EIN MATERIALKÜNSTLER IM UMKREIS DER WIENER SECESSION

Grafi ker, Designer, Mosaik- und Glaskünstler, Entwerfer für Denkmäler, Grabkunst, Innenarchitektur. Leopold Forstner (1878–1936) war ein Meister seiner Disziplin. Er interpretierte die Mosaik- und Glaskunst neu und führte sie einer Renaissance zu. Forstner war ein Universalkünstler, der die Kreativität eines Künstlers und die Perfektion eines Kunsthandwerkers in einer Person vereinte. Als Maler und Grafi ker wäre er einer unter vielen gewesen, als Mosaik-, Glas- und Materialkünstler war er ein Visionär. Sein Talent, Entwurf und Umsetzung zu verschmelzen und im Material zu denken, brachte ihm viele Aufträge namhafter Kunstgrößen und Architekten ein, wie etwa Gustav Klimt, Kolo Moser, Otto Wagner und Josef Hoffmann. Das Buch blickt auf die Stationen seines Lebens, auf die Projekte und Meilensteine im Schaffen dieses Künstlers, der nicht müde wurde, sich immer wieder neu zu erfinden. 2016. 247 S. 215 S/W- UND FARB. ABB. FRANZ. BR. 210 X 240 MM. ISBN 978-3-205-20087-1

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HANS ZITKO (HG.)

THEORIEN ÄSTHETISCHER PRAXIS WISSENSFORMEN IN KUNST UND DESIGN

Die Kunst der Neuzeit und später das Design werden von Beginn an von theoretischen Diskursen begleitet, die sich mit der Entstehung, Eigenart und Wirkung der Werke oder Objekte beschäftigen. Ohne spezifische Erkenntnisleistungen hätten sich beide Disziplinen nicht in dieser Form entwickeln können. Eine Untersuchung des relevanten Wissens sieht sich auch mit der Frage konfrontiert, welche Rolle Reflexion und Diskurs in den Produktionspraktiken von Künstlern und Designern selbst spielen und in welchem Maße gestalterisches Handeln theorieabhängig ist? Der Band versammelt Beiträge zu diesem komplexen Problemfeld, die im Kontext und Anschluss an einen Zyklus der Ringvorlesung »Theorien der Gestaltung« an der Hochschule für Gestaltung Offenbach entstanden sind. 2014. 257 S. 43 S/W- UND 13 FARB. ABB. GB. 170 X 240 MM. ISBN 978-3-412-20978-0

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NORBERT SCHNEIDER

THEORIEN MODERNER KUNST VOM KLASSIZISMUS BIS ZUR CONCEPT ART

Im Zentrum des Buches stehen die Theorien der wichtigsten Kunstrichtungen der Moderne. Die Darstellung deckt den Zeitraum von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis etwa 1980 ab. Der Fokus ist auf die Argumentationen der Künstler gerichtet, mit denen sie ihre ästhetische Praxis zu erläutern und rechtfertigen suchten. Dabei werden die philosophischen und wissenschaftlichen Denkmuster, die diesen Kommentaren zugrunde lagen, ebenso herausgearbeitet wie die sozialen und politischen Aspekte des jeweiligen künstlerischen Selbstverständnisses. In exemplarischen Analysen wird somit ein historisch-kritischer Zugang zu dem theoretischen Fundament der Kunst vom Klassizismus bis zum Ende der klassischen Moderne vermittelt. Ein ausführliches Glossar und eine umfangreiche Bibliographie runden das Buch ab. 2014. 553 S. 54 S/W-ABB. GB. 170 X 240 MM | ISBN 978-3-412-22172-0

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MARIA WELZIG, ANNA STUHLPFARRER (HG.)

KULTURQUARTIERE IN EHEMALIGEN RESIDENZEN ZWISCHEN IMPERIALER KULISSE UND URBANER NEUBESETZUNG. DAS WIENER „HOFBURG-MUSEUMSQUARTIER“ UND INTERNATIONALE ENTWICKLUNGEN

Ehemalige Residenzen mit ihren historischen Sammlungen, ihren Museumsund Bibliotheksbauten und ihrer spezifischen urbanen Figur treten seit dem Paradigmenwechsel der 1980er-Jahre wieder in den Fokus zeitgenössischer Kultur-, Architektur- und Stadtentwicklung. Damals wie heute sind es Orte, an denen Kultur und Politik aufs Engste ineinandergreifen. In ihrer Funktion als zentrale Erinnerungsorte spielen sie auch für alle Fragen von Öffentlichkeit eine Schlüsselrolle. Das Buch hat den Anspruch, das Wiener Hof burg-Museums-Quartier, welches im Zentrum vieler Begehrlichkeiten steht – von Tourismus, Kultur, Politik, kommerziellen Nutzungen bis zu Bürgerprotesten und informeller Nutzung – in seiner Gesamtheit wieder in Diskussion zu bringen und in den Kontext internationaler Entwicklungen zu stellen. 2014. 331 S. ZAHLR. S/W- UND FARB. ABB. FRANZ. BR. 170 X 240 MM. ISBN 978-3-205-79605-3

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