Aufklärung, Band 10/2: Nationalismus vor dem Nationalismus? 9783787334858, 9783787341887

Gegenstand des Jahrbuches Aufklärung« ist die Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte. Der Gedank

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Aufklärung, Band 10/2: Nationalismus vor dem Nationalismus?
 9783787334858, 9783787341887

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AUFKLÄRUNG Interdisziplinäre Halbjahresschrift zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte

In Verbindung mit der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts Herausgegeben von Günter Birtsch, Karl Eibl, Norbert Hinske unter Mitwirkung von Klaus Gerteis und Rudolf Vierhaus sowie Carsten Zelle

Jahrgang 10, Heft 2, 1995

Thema: Nationalismus vor dem Nationalismus? Herausgegeben von Eckhart Hellmuth und Reinhard Stauber

F E L I X M E I N E R V E R L AG H A M B U RG

Unverändertes eBook der 1. Aufl. von 1998. ISBN 978-3-7873-1218-4·  ISBN eBook 978-3-7873-3485-8  ·  ISSN 0178-7128

© Felix Meiner Verlag 1998. Das Jahrbuch und alle in ihm enthaltenen Beiträge sind urheber­ rechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.  www.meiner.de/aufklaerung

INHALT

Einleitung. Nationalismus vor dem Nationalismus? Von Eckhart Hellrnuth . . . . . . . .

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Abhandlungen John Brewer: Histories, Exhibitions, and Collections: The Invention ofNational Heritage in Britain 1770-1820 . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Eckhart Hellmuth: Die „Wiedergeburt" Friedrichs des Großen und der „Tod fürs Vaterland". Zum patriotischen Selbstverständnis in Preußen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Reinhard Stauber: Vaterland - Provinz - Nation. Gesamtstaat, Länder und nationale Gruppen in der österreichischen Monarchie 1750-1800 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Timothy H. Breen: Ideologie und Nationalismus am Vorabend der Amerikanischen Revolution, oder: Von der Notwendigkeit, den Revisionismus zu revidieren

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Kurzbiographie Karl Eibl: Johann Gottlob Benjamin Pfeil (1732-1800) . . . . . . . . . . . . . . . . • . . . . . 103 Diskussionen und Berichte Carsten Zelle: Aufklärung und Esoterik

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Rezensionen über Giorgio Tonelli (M. J. V. Lobeiras), Wyger R. E. Velema (0. Mörke), Arbeiten zu Karl Phillip Moritz, 1. Teil (H.-E. Friedrich), Holger Böning (R. Lächele), Michaela Triebs (H. Marti), Axel Bühler (R. Pozzo), Wolfgang Albrecht, Dieter Fratzke und Richard E. Schade (J. Rachold), Marianne Willems (W. Große), Karl H. L. Welker (H. Reiss) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109

AufkllNng ISSN 0178-7128, Jahrgang 10, Heft 2. 199S. ISBN 3-7873-1216·1 lnt.erdisziplinlre Halbjahresschrift zur Erforschung des 18. Jahrhunderu und seiner Wirkungsgeschichte. In Verbindung mit der Oeuts Zitate aus der Edition der Instruktion fllr den neuen Tiroler Gouverneur Graf Sauer 1786, ediert von Riedmann, Tyroler (wie Anm. 38), 240f.; Adam Wandruszka, Die Italiener in der Habsburgermonarchie, in: Erich Zöllner (Hg.), Volk, Land und Staat. Landesbewußtsein, Staatsidee und nationale Fragen in der Geschichte Österreichs, Wien 1984. 94-102, hier: 94, spricht vom überkommenen „Machiavelli-Klischee" in der Beurteilung Italiens und der Italiener. ,.. Levy, Govemance and Grievance (wie Anm. 51), 104f. ss Zu ihm siehe Ritchie Robertson, Joseph Rohrer and the Bureaucratic Enlightenment, in: R. Robertson und Edward Timms (Hg.), The Austrian Enlightenment and its Aftermath, Edinburgh 1991, 22-42.

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Heuchelei, Rachsucht, Prozessierwut, Eigennützigkeit usw., hob aber andererseits lobend ihre Aufgeschlossenheit „für nützliche Anordnungen und Verbesserungen" und ihre „hellere Denkart" hervor. 56 Attestierte er spiegelbildlich dazu den deutschen Tirolern einen „gewissen mit vieler Behaglichkeit verbundenen Ideenstillstand,"57 so bemerkt man an seiner Darstellung der Freiheit der Nordtiroler Bauern und ihrer Vertretung bei den Ständen des Landes doch auch Züge einer ganz unjosephinischen Faszination angesichts der Kraft und Wirksamkeit hergebrachter Lebensformen und autonomer Regelungsmechanismen gegenüber abstrakt von oben verordneter Uniformität. 58 Der Respekt vor dem schwer kontrollierbaren Gebirgsland und seiner Bevölkerung mischte sich bei den Regierenden in Wien, aber auch bei Beobachtern von außen mit Befürchtungen, die mit den Sonderinteressen und der exponierten Lage des „Lands im Gebirg" im Westen der Monarchie zusammenhingen und nicht selten die Gefahr eines „tuming swiss" heraufbeschworen. So schrieb der englische Gesandte in Wien 1765 an den Staatssekretär, den Duke of Grafton: „[...] the Tyrolians are a shrewd sturdy people, who are not easily dealt with, and who know very weil, how to avail themselves of the advantage of their situation, which makes them hard to be come at, and have more than once insinuated, that if they were ill used, they would throw themselves under the protection oftheir friends the Swiss."59 Montesquieu hatte bei seiner Reise durch das südliche Tirol 1729 festgehalten, dieses Volk an der Grenze zwischen Deutschland und Italien lebe in einer Art Niemandsland, werde von niemandem kontrolliert und sei frei, frech und aufinüpfig.60 Betrachten wir den Fall der italienischen Untertanen in Tirol noch einmal von der anderen Seite her, aus der Sicht der kulturellen Autodefinition dieser Minderheitengruppierung. 61 Die aufgeklärten Eliten des südlichen Tirol betrachteten sich zunächst einmal und vor allem als Italiener und begründeten dies nicht nur mit ihrem kulturellen Selbstgefühl, sondern auch in einem nahtlos an späthumanistische Traditionen anschließenden Diskurs inte!Jektueller Selbstvergewisserung auf der Basis der Lektüre der antiken Schriftsteller und Autoritäten. Selten noch begegnet uns hier vor 1790 das klassische, auf Sprach-, Sitten- und Rechtsgemeinschaft abhebende Nationenkonzept der slawischen Völker, noch seltener dessen offensive Anwendung gegen die Deutschen. An ein Ausscheiden aus dem Verband der Monarchie war zu keiner Zeit gedacht. Den terminologischen Schlüssel zur Beschreibung der eigenen Situation lieferte ein Begriffspaar, das der aufkläre-

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Joseph Rohrer, Uibcr die Tiroler. Ein Beytrag zur Oesterreichischen Völkerkunde, Wien 1796,

81-99, Zitat 89. s7 Ebd., 77.

" Vgl. ebd., 136-139. Robertson, Rohrer (wie Anm. 55), 32f., weist auf Parallelen zur Verteidigung überkommener lokaler Parti kulariUlten in Justus Mösers „Patriotischen Phantasien" Ober Osnabrück (1774178) hin. s9 Zit. n. Diclcson, Finance and govemment, Bd. 1 (wie Anm. 24), 395. 60 Charles de Montesquieu, Voyages, in: C. de Montesquieu, CEuvres completcs, hg. und komm. von Roger Caillois, Bd. 1, Paris 1979, 802. 61 Vgl. dazu ausführlich Reinhard Staubcr, „Natur" und „Politik". Aufklärung und nationales Denken im italienischen Tirol 1750-1820, in: Dieter Albrecht u.a. (Hg.), Europa im Umbruch 1750-1850, München 1995, 103-123.

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Reinhard $tauber

rischen Abwertung des Politikbegriffs entsprang: die überzeitlichen Anbindungskräfte der „Natur" seien es, die den „italicismo" des Südens von Tirol ausmachten, woran alle staatsrechtlichen, der „Politik" entspringenden Zufälle der herrschaftspolitischen Zuordnung nichts ändern könnten.

III. Einige tenninologische Beobachtungen führen uns zum letzten Schritt dieser Ausführungen, der maßgeblichen zeitgenössischen Begründung des Gesamtstaatscharakters der Monarchia Austriaca durch Josef von Sonnenfels, der den Begriff der „Nation" allerdings ebenfalls venneidet und das offensichtlich bewußt tut angesichts der sich aus der ethnischen Pluralität ergebenden Probleme. Bemerkenswerterweise begegnet uns in der österreichischen Monarchie des 18. Jahrhunderts der Nationenbegriff vor allem als regional bezogener, von der Zentrale aus angewandter Gliederungsbegriff. Wo es für die Hofkanzlei nur in bürokratischer Dürre definierte ,,Länder" gab, gebrauchten die Herrscher das Wort „Nation" in ihren Patenten und Ausschreiben recht häufig, allerdings nicht immer einheitlich. „Nation" wurde einerseits mit „Provinz" gleichgesetzt,62 um ein Kronland zu bezeichnen: „Die Nazion theile Ich in Pöbel und den Adel" schrieb Joseph IT. 1786 über Tirol63 und meinte damit natürlich die ganze gefürstete Grafschaft. Andererseits legen viele Stellen die Identifikation von „Nation" mit „Volk" im Sinne von „Sprachgruppe" nahe; 64 Leopold ll. sprach nicht nur die Ungarn, sondern auch die Banater Serben als ,,Nation" an.65 Auffällig ist allerdings, daß der Begriff „Vaterland" immer der Bezeichnung der Gesamtmonarchie vorbehalten wurde. Eine theoretische Grundlegung des österreichischen Gesamtstaatsgedankens im Sinne des Refonnabsolutismus legte Josef von Sonnenfels (1733-1817) mit der 1771 erschienenen Schrift „Über die Liebe des Vaterlandes" vor. Ihr Verfasser war nicht nur Theatertheoretiker, Zeitschriftenherausgeber („Der Mann ohne Vorurteil", 1765-1767), Kunstkritiker, Freimaurer und Bücherzensor, sondern vor allem seit 1763 Professor für Polizei- und Kameralwissenschaften an der Wiener Universität. 66 Sein 1765/67 erstmals erschienenes und bis 1819 in acht Auflagen vorliegendes, dreibändiges Handbuch der Staatswirtschaft und -verwaltung 6l Vgl. den Sprachgebrauch in Josephs berühmtem, bereits mehrfach zitierten „Hirtenbrier• vom Dezember 1783 („Erinnerung an seine Staatsbeamten"): „[„.) so muss nothwendig alle eifersucht, alles vorurtheil, so bis itzo öfters zwischen provinzen und nazionen, dann zwischen departements so viele unnütze schreibereyen verursacht hat, aufhören [„ .]" (Klueting, Der Josephinismus [wie Anm. 20), Nr. 149, 336). 63 Riedmann, Tyroler (wie Anm. 38), 240. 64 So Evans, Joseph II. and Nationality (wie Anm. 34), 213; im Patent Ober die Erklärung des Deutschen zur Amtssprache in Ungarn vom Mai 1784 ist beispielsweise die Rede von Ungarisch als „Nazionalsprache" und den „im Großfilrstenthume Siebenbirgen lebenden Nazionen" und ihren „Muttersprachen" (Klueting, Der Josephinismus [wie Anm. 20), Nr. 152, 213). Vgl. auch oben Anm. 30. 6s Wandruszka, Leopold II„ Bd. 2 (wie Anm. 47), 286, 334. 66 Vgl. zu Sonnenfels zuletzt die Beiträge in Helmut Reinalter (Hg.), Joseph von Sonnenfels, Wien 1988, und das populär gehaltene Lebensbild von Dolf Lindner, Der Mann ohne Vorurteil. Joseph von Sonnenfels 1733-1817, Wien 1983.

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(„Grundsätze der Polizey-, Handlung- und Finanzwissenschaft") diente der Untermauerung des politischen Reformprogramms Maria Theresias und wurde zum Grundlagenwerk für die Ausbildung der Beamten der Monarchie. 67 Titel wie jener Sonnenfels' hatten um die Mitte des 18. Jahrhunderts Konjunktur; erinnert sei nur an Johann Georg Zimmermann (Von dem Nationalstolze, 1758), Isaak Iselin (Rede über die Liebe des Vaterlandes, l 764) oder Thomas Abbt (Vom Tode fürs Vaterland, 1761). Sonnenfels tut uns nicht den Gefallen, das in seinem Titel angesprochene „Vaterland" im Text deutlich auf die habsburgische Ländermasse oder einen Teil davon zu radizieren; wir müssen uns also auf Umwegen dem Bedeutungsgehalt des Titelschlagworts nähern.6s Das Vaterland konstituieren zunächst einmal ganz allgemein ein beständiger Sitz, Gesetze und Regierungsformen sowie die Mitbewohner. „Die Vaterlandsliebe offenbart sich durch eine thätige Anhänglichkeit, die aus der Ueberzeugung von dem mit dem Wohl desselben unabsönderlich, und ausschlüssend verknüpften eigenen Wohl entspringt". Sie knüpft für Sonnenfels an allgemeine psychologische Erscheinungen wie Liebe zu Vertrautem und Verachtung für Fremdes an. Wahre Vaterlandsliebe, so Sonnenfels, bedürfe dann aber einer konkreten Grundlage, nämlich des Gefühls von Glück und Überzeugung, in einem Staat zu leben, in dem Regierung und Gesetzgebung allen Bürgern das bestmögliche Maß an Sicherheit, Freiheit und materiellem Wohlstand garantierten.69 Am Beispiel des Bauernstandes, dessen Bedeutung als für den Staat besonders nützliche und wichtige Gesellschaftsgruppe er in seinem Werk durchgehend hervorhob, zog Sonnenfels konkrete Folgerungen aus diesem Postulat: Das Gesetz müsse für alle gleich sein, dem Bauer müßten die von ihm bewirtschafteten Felder selbst gehören. Nur dann werde er sein Vaterland wahrhaft lieben und es notfalls auch mit seinem Leben zu verteidigen bereit sein, denn, so Sonnenfels' Kurzformel dazu: „Eigenthum des Bodens und persönliche Freiheit machen ein feldbauendes Volk zu Patrioten."70 Die Bedeutung der Sonnenfels'schen Argumente für das hier behandelte Thema läßt sich in drei Punkten zuspitzend zusammenfasseo;71 1. Sonnenfels steht, wie z.B. auch Thomas Abbt in Preußen, in jener Traditionslinie, die Patriotismus und aufgeklärte Gesetzesstaatlichkeit eng zusammenbringt. 72 Er ·setzt auf die Wirkungs- und Überzeugungskraft konkreter Maßnahmen, vor allem im Bereich des Privilegienabbaus. So bekommt er soziale Schichten 61

Grundlegend zu Sonnenfels als Kameralist und Verwaltungstheoretiker: Karl-Heinz Osterloh, Joseph von Sonnenfels und die österreichische Reformbewegung im Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus. Eine Studie zum Zusammenhang von Kameralwissenschaft und Verwaltungspraxis, Lübeck und Hamburg 1970, 29-123. 68 Grete Klingenstein, Sonnenfels als Patriot, in: Judentum im Zeitalter der Aufklärung, Bremen und WolfenbOttel 1977, 211-228; Ernst Wangermann, Joseph von Sonnenfels und die Vaterlandsliebe der Aufklärung, in: Reinalter (Hg.), Sonnenfels (wie Anm. 66), 157-169. 69 Josef von Sonnenfels, Ueber die Liebe des Vaterlandes, Wien 1771, 10-18, Zitat 13. 10 Ebd„ 38-46, Zitat 46. 71 Vgl. Ernst Wangermann, Deutscher Patriotismus und österreichischer Reformabsolutismus im Zeitalter Josephs II., in: Heinrich Lutz und Helmut Rumpler (Hg.), Österreich und die deutsche Frage im 19. und 20.Jahrhundert. Probleme der politisch- staatlichen und soziokulturellen Differenzierung im deutschen Mitteleuropa. Manchen 1982, 60- 72, hier: 64 f. 72 Vierhaus, Patriotismus (wie Anm. 10}, 105.

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Reinhard Stauber

in den Blick, die man sonst kaum mit patriotischer Gemeinschaftsbildung assoziiert - freilich als Objekte, nicht als Subjekte der Politik. 2. Sein Patriotismus ist nicht, wie Goethe in einer Rezension meinte, auf das Reich, sondern auf den territorialen Staat bezogen, denn dieser war der potentielle Raum einer entsprechenden Gesetzgebung. Die „handlungsmotivierende Anhänglichkeit an einen Staat, der als vernünftige Anstalt das Gemeinwohl aller sichert", die Einbindung aller personalen und partikularen Identitäten in die eine und einzige Loyalität gegenüber dem Staat - das sind die entscheidenden Konnotationen von Sonnenfels' Patriotismusbegriff.73 Im Fall Österreichs hatte Sonnenfels als „Vaterland" - darauf weist auch die vergleichbare Wortwahl Josephs II. hin - offensichtlich die Gesamtmonarchie vor Augen, ohne daß die nicht ohne weiteres überwindbaren Regulative der einzelnen Länderverfassungen dabei weiter bedacht worden wären. 3. Sonnenfels' „Vaterlandsliebe" ist weder Glaubensbekenntnis noch abstraktes politisches Konzept, sondern es ist Folge einer anthropologischen Grunddisposition (Eigenliebe) wie konkreter gesetzgeberischer Maßnahmen. Vaterlandsliebe ist also nach eudämonistischen Grundregeln herstellbar, geradezu „machbar", und zwar von jedem entsprechend handelnden Reformfürsten. Sonnenfels 74 sagt ausdrücklich: „Man kann ein ganzes Volk zu Patrioten machen." Sonnenfels' „kritisches Denken in praktischer Absicht," 75 der Zusammenhang von Patriotismus, aufgeklärtem Gesetzesstaat und „Polizey" mit seinen Mechanismen zur Vermittlung von Allgemeininteresse und Eigeninteresse und dem Ziel der Beförderung der allgemeinen Glückseligkeit unterstreicht die Tatsache, daß im Deutschland des 18. Jahrhunderts der Einzelstaat der eigentliche Bezugspunkt des aufgeklärten Patriotismus war, nicht die Gesamtnation. 76 Dennoch finden sich auch bei Sonnenfels Elemente, die in Richtung der integrativen Funktion des modernen Nationalismus vorausweisen, 77 wenngleich nicht so deutlich wie etwa bei n Klingenstein, Sonnenfels (wie Anm. 68), 225. Sonnenfels, Liebe des Vaterlandes (wie Anm. 69), 14. 1s So die Definition von „Aufklärung" bei Hans Erich Bödeker und Ulrich Herrmann (Hg.}, Über den Prozeß der Aufklärung in Deutschland im 18. Jahrhundert. Personen, Institutionen und Medien, Göttingen 1987, 5. 76 Jüngst wieder betont von Helga Schultz, Mythos und Aufklärung. Frühfonnen des Nationalismus in Deutschland, in: Historische Zeitschrift 263 (1996), 31 - 67. Die Staatsnähe der deutschen Aufklärung und die Vielgestaltigkeit ihrer konkreten Ansätze angesichts der vielfliltigen Territorialwelt des Reiches hebt hervor Wolfgang Hardtwig, Wie deutsch war die deutsche Aufklärung?, Wiederabdruck in: W. Hardtwig, Nationalismus und Bürgerkultur in Deutschland 1500-1914. Ausgewählte Aufsätze, Göttingen 1994, 55-78, hier: 57-59. 71 Zum Nationalismus als Integrationsideologie gesellschaftlicher Großgruppen nach wie vor grundlegend: Eugen Lemberg, Nationalismus, Bd. 2: Soziologie und politische Pädagogik, Reinbek 1964, 9- 125, vor allem die Definitionselemente 52-54. Zur Weiterwirkung des Konzepts vgl. Theodor Schieder, Probleme der Nationalismusforschung, Wiederabdruck in: T. Schieder, Nationalismus und Nationalstaat. Studien zum nationalen Problem im modernen Europa, hg. von Otto Dann und Hans-Ulrich Wehler, Göttingen 2 1992, 102-112, hier: 104f.; Dieter Langewiesche, Nationalismus im 19. und 20. Jahrhundert. Zwischen Partizipation und Aggression, Bonn 1994, 27 f.; Überblick zu Forschung und Literatur bezOglich der Gesamtthematik bei D. Langewiesche, Nation, Nationalismus, Nationalstaat: Forschungsstand und Forschungsperspektiven, in: Neue Politische Literatur 40 ( 1995), 190-236, und Reinhard Stauber, Nationalismus vor dem Nationalismus? Eine Bestandsaufnahme der Forschung 1•

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Klopstock in den 70er oder Herder in den 90er Jahren des 18. Jahrhunderts, die die Sprache als entscheidendes Bindeglied einer Nation, auch eines Staats postulierten. Sonnenfels' Ausgangspunkt ist jener der gesellschaftlichen Vertragstheorien des 17. und 18.Jahrhunderts: der natürliche Egoismus des Menschen, den es zu fassen, zu zähmen und im Rahmen eines Vaterlandes produktiv einsetzbar zu machen gilt. Als Kompensation für Sicherheit und Wohlfahrt verlangt Sonnenfels dann freilich auch eine konkrete Gegenleistung von allen Bürgern, ein Bekenntnis zur Superiorität des eigenen Vaterlandes: „Man muß für sein Vaterland so partheyisch seyn, es physisch und politisch für das Beste zu halten, das uns zu Tbeil werden konnte." 78 Zur so konzipierten „Vaterlandsliebe" gehört der „Nationalstolz"; sie muß parteiisch sein und andere Bindungen ausschließen und deswegen alle anderen Loyalitätskreise „verachten".79 Dieser Patriotismus ist keine allgemeine Menschenliebe mehr, sondern eine auf ein konkretes Gebiet und seine Verfassung bezogene „Vaterlandsliebe". Trotz aller rhetorischen Distinktionen ist diese „Vaterlandsliebe" auf dem Weg vom offenen, mit konkreten Arbeitsvorhaben operierenden Patriotismus zur geschlossenen Nationalkultur des Vaterlandes80 und gerät damit in den Schlagschatten jener Diskurse, die in den modernen Nationalismus führen.

„ Vaterland", „Provinz" und „Nation" sind zeitgenössische Termini, mit denen in der habsburgischen Monarchie zur Zeit des Reformabsolutismus die politisch-kulturelle Unterscheidung zwischen Gesamtmonarchie, Kronländern und ethnischen Gruppen eingefangen wurde. Ein Blick auf die Auswirkungen der sich intensivierenden staatlichen Interventionsmaßnahmen Josephs II. in Richtung Zentralisierung und Bürokratisierung zeigt, daß das gegenseitige Verhältnis dieser drei Größen sich nicht in einfachen Reaktionsmustern beschreiben läßt. Die versuchte Einführung des Deutschen als Staatssprache 1784 entsprang zwar reinen Effizienzüberlegungen, gab den nicht-deutschen regionalen Eliten aber Anlaß, gestützt aufdie Entdeckung der eigenen Sprachlichkeit Ideen zu einer eigenständigen kulturellen Identität zu entwickeln. Andererseits war die Polarität zwischen den drei Grunddimensionen noch nicht in der Schärfe des 19.Jahrhunderts ausgeprägt, bestand noch Platz für Formen vielfaltiger Koexistenz von Gesamtstaat und zu „Nation" und „Nationalismus" in der Frilhen Neuzeit, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 47 (1996), 139-165. 71 Sonnenfels, Liebe des Vaterlandes (wie Anm. 69), t t f. 79 Ebd., 13 („Der Nationalstolz ist ein Theil der Vaterlandsliebe"), 35 (es gebe „keine Glückseligkeit außer deinem Vaterlande"), 23 (Vaterlandsliebe sei nie ganz „ohne Beymischung einer Verachtung gegen alles Auswärtige"). lm Licht dieser Zitate scheint mir die These von Wangennann, Sonnenfels (wie Anm. 68), 158f., Sonnenfels grenze sein Konzept der Vaterlandsliebe von einem „unvernünftigen Nationalstolz" deutlich ab, nicht haltbar zu sein, ebensowenig die Wertung von Heindl, Gehorsame Rebellen (wie Anm. 19), 59, bei Sonnenfels handle es sich um „einen sehr prosaischen, emotionslosen Begriff der Vaterlandsliebe". 80 Vgl. zu dieser Thematik zuletzt überzeugend Heinrich Bosse, Patriotismus und Öffentlichkeit, in: Ulrich Hernnann (Hg.), Volk - Nation - Vaterland. Hamburg 1996, 67-88, vor allem 84-88, wo u.a. auch Sonnenfels als Vertreter einer Doktrin von „Integration durch Exklusion" behandelt wird.

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Reinhard Stauber

partikularen Kulturen. Ein Beispiel dafür ist der Rückhalt, den die Zentrale ethnischen Minderheiten bei Auseinandersetzungen mit den traditionellen Funktionseliten der Länder mehrfach vermittelte, diese Gruppierungen damit freilich wieder für die eigenen politischen Zwecke im Sinne der Gesamtstaatlichkeit einspannte. Eine ideengeschichtliche Facette der Legitimierung dieser obersten Ebene findet sich im von einer staatstragenden Intelligenz entwickelten Konzept vom „ Vaterland ". Der hier propagierte Patriotismus ist nicht mehr zur Deckung zu bringen mit allgemeiner Menschenliebe, ebensowenig war er noch offen für unterschiedliche Reichweiten von Zusammengehörigkeitsgefühl. Er ist vielmehr bezogen auf ein konkretes Gebiet, seine Verfassung und legislative Ausgestaltung, zielt auf Einbindung aller bisherigen personalen und partikularen Identitäten und auf eine Stilisierung des Vaterlands zum einzig rechtmäßigen Objekt von Loyalität und beschreitet so den Weg zum Bekenntnis zur Superiorität des eigenen Vaterlands. „Fatherland ", „province ", and „nation " are contemporary terms which were used in the Habsburg monarchy at the time ofreforming abso/utism to express the differences between the monarchy as a whole, the crown lands, and ethnic groups. A glance at the impact ofthe increasingly tough state measures to promote centralization and bureaucratization which Joseph II implemented shows that the relationship between these three entities cannot adequately be described in terms of simple reactive patterns. Although the attempt to introduce German as the language of the state in I 784 was dictated purely by considerations of efficiency, it gave the non-German regional elites cause to develop ideas concerning their own, independent cultural identity based on the discovery oftheir own linguistic nature. However, the polarity between the three basic dimensions was not yet as strong as it was to become in the nineteenth century, and there was still space for various forms of co-existence between the state as a whole and particular cultures. One example is the support which ethnic minorities frequently received from the centre in their disputes with the traditional functional elites in the „ Länder". In return, of course, the centre used these groups for its own political purposes relating to the whole state. In terms ofthe history ofideas, one facet ofthis top-level legitimation is found in the concept of „fatherland" developed by the intelligentsia that supported the state. The patriotism propagated here was no longer coincident with a general humanitarianism. Nor was it any /onger open to different degrees of a fee/ing of belonging together. Rather, it related to a specific area, its constitution, and legislative arrangements. Jts aim was to integrale all the identities which had previously been personal and particular, and to make the fatherland the only legitimate object of loyalty. lt thus embarked upon the path leading to a dec/aration of the superiority ofthe fatherland. Dr. Reinhard Stauber, Ludwig-Maximilians-Universität München, Institut fiir Neuere Geschichte, Wagmüllerstr. 23/II, 80538 München

TIMOTHY H. BREEN

Ideologie und Nationalismus am Vorabend der Amerikanischen Revolution, oder: Von der Notwendigkeit, den Revisionismus zu revidieren•

Die erste Anregung für diesen Aufsatz kam von einem einflußreichen Artikel, den Edmund S. Morgan vor mehr als vierzig Jahren veröffentlicht hat. „The American Revolution: Revisions in Need of Revising" läßt sich wahrscheinlich am besten als eine Art Reflexion über den damaligen Stand der anglo-amerikanischen Forschung zum 18. Jahrhundert bezeichnen.' Die Überlegungen von Morgan waren ähnlich wie die vorliegenden - eher spekulativ und verfolgten das Ziel, eine konstruktive Diskussion zu zentralen Forschungsfragen anzuregen. Bekannte Positionen wurden von einer anderen Perspektive her beleuchtet und Morgan kritisierte historiographische Stereotypen, um neue Wege aufzuzeigen, welche die Forschung zur Kolonialgesellschaft am Vorabend der Revolution einschlagen könnte. In seinem Überblick über die damalige Literatur stellte Morgan u. a. fest, daß amerikanische Historiker den Kontakt zur neueren britischen Historiographie verloren hatten. Ihre grundlegenden Annahmen über das britische Empire in der Mitte des 18. Jahrhunderts beruhten, so Morgan, auf dem Stand der Forschung, wie sie sich vor dem Ersten Weltkrieg dargestellt hatte. Aber gerade seit 1918 seien grundlegende neue Arbeiten erschienen. Laut Morgan hatte vor allem Sir Lewis Namier - damals Englands bekanntester Historiker - die Forschungslandschaft fast im Alleingang verändert. Namiers geradezu ikonoklastischen Arbeiten rückten ein britisches Empire in den Mittelpunkt, daß durch relativ engstirnige und selbstgefällige Landadelige regierte wurde, für die sich Politik gänzlich auf das Bemühen um Pa• Im April 1996 wurde auf einer Tagung in Krefeld eine fiilbere Version dieses Vortrags gehalten. Drei Teilnehmern der Konferenz gilt ein besonderer Dank fllr ihre hilfreichen Anmerkungen: Hartmut Lehmann, Herman Wellenreuther und James Hutson. Ebenso gilt mein Dank James Oakcs, Robert Wiebe, Jacob Lessner, J. G. A. Pocock, Lawrence Stone, Jack P. Greene, Jim Smyth und John Murrin. Zwei englischsprachige Versionen dieses Artikels finden sich in: Journal of American History 84 (1997). 13-39, und Hartmut Lehmann und Hermann Wellenreuther, German and American Nationalism. A Comparative Perspective (erscheint Frühjahr 1999). Aus dem Englischen Obersetzt von Gerd Mischler und Christoph Schroer. 1

Edmund S. Morgan, The Amcrican Revolution: Revisions in Need ofRevising, in: William and Mary Quarterly 14 (1957), 3-15. Aufklärung 10/2 C Felix Meiner Verlag, 1998, ISSN 0178-7128

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Timothy H. Breen

tronage reduzierte. 2 Wenn Namiers Beschreibung der englischen Gesellschaft zutreffend sein sollte, so seien amerikanische Historiker gut beraten, ebenfalls andere und vielversprechendere Themen aufzugreifen. Morgan sprach sich für die Erforschung der Alltagskultur der Kolonisten aus, für einen Blick auf die lokalen kolonialen Institutionen, statt sich in der politischen Welt von Hof und königlicher Bürokratie zu verlieren. Morgan wollte das Verdienst von Charles McLean Andrews und anderen Historiker der sogenannten 'imperialen Schule' nicht schmälern, doch sein Plädoyer verschob den Schwerpunkt der Forschung deutlich vom politischen Zentrum hin zur Peripherie. Aus einer allgemeineren Geschichte des britischen Empire wurde mehr und mehr eine Sozialgeschichte der einzelnen Kolonien. 3 Die revisionistischen Positionen von Morgan stehen nun ihrerseits zur Revision an. Denn selbstverständlich haben Historiker in den letzten vier Jahrzehnten das gesamte Forschungsfeld drastisch verändert und nach Namier der britischen Politik und Kultur des 18. Jahrhunderts wiederum neue Konturen verliehen. Die zahlreichen Arbeiten, die z.B. mit Namen wie John Brewer oder Linda Colley verbunden sind, können als Aufforderung an Historiker des vorrevolutionären Amerika verstanden werden, bestimmte Stereotypen über das britische Empire vor 1776 und seinen Einfluß auf die koloniale Gesellschaft zu überdenken. 4 Während Namiers Forschung amerikanische Historiker von der Betrachtung der britischen Gesellschaft abgeschreckt hat, sollten die neueren Arbeiten eher den gegenteiligen Effekt haben. Denn sie lenken die Aufmerksamkeit wieder auf Großbritannien, auf eine moderne, nordatlantische Konsumgemeinschaft und auf eine veränderte Beziehung zwischen einem expandierenden Staatengebilde - dem Empire - und den lose miteinander verbundenen amerikanischen Kolonien. Diese Forschungsrichtung ruft sogar dazu auf, zwei Gesichtspunkte miteinander in Beziehung zu setzen, die beide für sich bereits Literatur in unübersehbarer Fülle hervorgebracht haben, die nun aber zusammen eine grundlegende Neuinterpretation der Vorgeschichte der amerikanischen Revolution in Aussicht stellen könnten. Denn einerseits verändert diese neuere Forschung grundlegend unser Verständnis

2 Lcwis B. Namier, England in the Age of the American Revolution, London 1936; L. B. Namier, The Structure of Politics at the Accession ofGeorge 111, London 1957; L. B. Namier, Monarchy and the Party System, Oxford 1952. i Man sollte allerdings darauf hinweisen, daß Andrews von der Notwendigkeit überzeugt war, Sozial- und Kulturgeschichte bei einer größeren Studie über den britischen Imperialismus mitzuberilcksichtigen; vgl. Charles McLean Andrews, On the Writing of Colonial History, in: William and Mary Quarterly 1 (1944), 27-48. Eine Einführung in die Arbeiten von Andrews findet sich bei Richard R. Johnson, Charles McLean Andrcws and the Invention of American Colonial History, in: William and Mary Quarterly 43 (1986), 519-541. • Linda Collcy, Britons. Forging thc Nation, 1707-1837, New Haven 1992; Linda Colley, Radical Patriotism in Eighteenth-Century England, in: Ralph Samuel (Hg.), Patriotism. The Making and Unmaking ofBritish National Identity, 3 Bde„ London 1989, Bd. 1, 169-187; Linda Colley, Whosc Nation? Class and National Consciousness, in: Past and Present 113 ( 1986), 97-117; Linda Colley, The ApotheosisofGeorge III. Loyalty, Royalty and the British Nation, 1760-1820, in: Past and Present 102 (1984), 94-129; John Brewer, The Sinews of Power. War, Money and the English State 1688-1783, New York 1989; John Brewer, The Eighteenth-Century British State. Contexts and Issues, in: Lawrence Stone (Hg.), An Imperial State at War. Britain from 1689-1815, London 1994, 52-71.

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vom Ursprung und der Entwicklung des amerikanischen Nationalismus, andererseits vermittelt sie neue Einblicke in den Charakter der politischen Mentalität am Vorabend der Revolution, indem sie aufzeigt, warum ein naturrechtlicher Liberalismus Lockescher Provenienz größeren Anklang gefunden haben mag als etwa die ideengeschichtlichen Paradigmen des klassischen Republikanismus oder des „Civic Humanism". Eine Neubewertung der Geburt einer amerikanischen Identität innerhalb des britischen Empire beruht auf der jüngsten Forschung englischer Historiker. Wie bereits festgestellt wurde, stehen diese Arbeiten für eine Revision der Sicht Narniers und seiner Schule, und obwohl sie nur wenig Interesse für die Kolonien aufbrachten, zeigen uns ihre Veröffentlichungen eine Kultur und Gesellschaft, die wenig mit dem Bild einer traditionellen frühmodemen Welt gemeinsam hat, was amerikanische Historiker lange Zeit für selbstverständlich erachtet haben. Es schien darüberhinaus bis vor kurzem noch möglich, bei der Geschichte der amerikanischen Revolution die englische Seite einfach außer Acht zu lassen. Schließlich sei England, wie kürzlich ein Historiker mit Überzeugung feststellte, im 18. Jahrhundert eine Gesellschaft geblieben, in der „a static order" jeglicher Veränderung im Weg stand, und die dementsprechend als „traditional, conventional and conservative" zu bezeichnen sei. s Verallgemeinerungen dieser Art sind nicht mehr aufrecht zu erhalten. Erste Anzeichen einer veränderten Sicht ließen sich 1984 in einer Sammelrezension von Arbeiten zum englischen 18. Jahrhundert ausmachen, in der Lawrence Stone die Aufmerksamkeit auf eine „astonishing surge of historical research" lenkte.6 Das georgianische England war plötzlich 'en vogue'. Sogar Forscher, die selbst federführend an der Dekonstruktion der älteren Historiographie beteiligt waren, zeigten sich von der reinen Quantität interessanter neuerer Arbeiten überrascht. Paul Langford etwa verwies in seiner Monographie „A Polite and Commercial People" (1989) darauf, daß hier eine „transformation, social, cultural, religious, economic" aufgedeckt worden sei, „which occurred between the l 720s and the 1780s [that) was nothing, if not spectacular."7 Und einige Jahre später, 1995, stellte Kathleen Wilson fest: „Recent studies of popular politics, class relations, crime and law have done nothing less than revolutionize the ways in which we view and $ Robert Middlekauf, The Glorious Cause. TheAmcrican Revolution, 1763-1789, New York 1982, 14 und 21. Ähnlich Oberbolte Äußerungen finden sieb trotz zahlreicher und Oberzeugender Aufrufe

nach einer komparatistischen nordatlantischen Perspektive in der Literatur noch häufig. Vgl. fllr diese Aufrufe vor allem: Bernhard Bailyn und Philip D. Morgan (Hg.), Strangers witbin tbe Realm. Cultural Margins oftbe First British Empire, Cbapcl Hill 1991 ; J. G. A. Pocock, British History. A Plea for a New Subject, in: Journal ofModem History 47 ~1975), 601-621 ; Jack P. Greene und J. R. Pole, Reconstructing British-American Colonial History. An lntroduction, in: J. P. Greene / J. R. Pole (Hg.), Colonial British America. Essays in the New History ofthe Early Modem Era, Baltimore 1984, 1-17; Jack P. Greene, An Uneasy Connection: An Analysis of tbe Preconditions of the American Revolution, in: Stephen G. Kurtz und James H. Hutson (Hg.), Essays on the American Revolution, Chapel Hili 1973, 32-80. 6

Lawrence Stone, The New Eigbteenth Century, in: New York Review of Books, 29. MAn; 1984,

42-48. 1

Paul Langford, A Polite and Commercial People. England 1727- 1783, Oxford 1984. 679.

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interpret the expressions and excercise of power in eighteenth-century English society."8 Einige der revisionistischen Thesen haben seither mehr überzeugt als andere. Wie 'spektakulär' oder 'revolutionär' die Neuinterpretationen auch sein mögen, immer noch betrachten wir das 18. Jahrhundert als einen Zeitraum, in dem das Parlament durch die Glorreiche Revolution 1688/89 die konstitutionelle Souveränität erreichte. Auch die politische Dominanz der landbesitzenden Oligarchie wurde von der neuen Historikergeneration nicht ernsthaft in Frage gestellt. Trotzdem sind die Verschiebungen in der Interpretation gewaltig. Während sich die Forschung früher der politischen Aktivität der Eliten, der Parteiungen am Hof und im Parlament annahm, so lesen wir heute von der Entstehung und Herausbildung eines beeindruckenden Militär- und Finanzstaates. Zweifellos werden auch in Zukunft Landadelige und ihre Fuchsjagden eine Rolle in unserem Bild des englischen 18. Jahrhunderts spielen. Und der Monarch wird weiterhin eine prominente Position einnehmen. Aber diese Akteure müssen sich nun die historische Bühne mit einer sich eigenständig artikulierenden Mittelklasse teilen. Anstatt Stammbäume von Parlamentsmitgliedern zu durchforsten, untersuchen englische Historiker nun Bereiche wie die Entstehung einer dynamischen Konsumgesellschaft, die Schaffung eines effektiven Staatsapparates, den Aufstieg der frühen Industriestädte und expandierender Häfen und die Entwicklung verschiedener politischer Mentalitäten in der englischen Gesellschaft. Dynamik, Wachstum und Modernität erscheinen jetzt als geeignete Vokabeln, um dieses gar nicht mehr so traditionelle England des späten 18. Jahrhunderts zu beschreiben. Wir sollten uns daran erinnern, daß die amerikanischen Kolonisten diese erstaunliche Entwicklung aus der Feme mitbeobachteten. Allein die Distanz verhinderte allerdings, daß detaillierte Informationen über die englische Situation die Kolonien erreichten. Wahrscheinlich waren ihnen bestimmte Aspekte wie das lange Überdauern der Tories in einigen Grafschaften nicht bekannt. Ebenso wußte der durchschnittliche Amerikaner wenig vom rapiden Wachstum der Provinzstädte in ganz Großbritannien. Die Kolonisten erfuhren von der Transformation Großbritanniens im 18. Jahrhundert zwar nur in groben Zügen, aber die Auswirkung dieser Veränderungen auf ihre eigene Identität war sehr real und grundlegend. Es waren vor allem vier Bereiche, die das Selbstverständnis der amerikanischen Kolonisten beeinflußten: die militärische Stärke Großbritanniens, die Ausbreitung einer Konsumgesellschaft, die Entstehung einer selbstbewußten Mittelklasse und, was für mein Thema am wichtigsten ist, ein anwachsendes Bewußtsein britischer nationaler Identität.9 Die neuere Historiographie erinnert uns an etwas, das eigentlich offensichtlich sein sollte. Großbritannien befand sich in der Frühen Neuzeit nicht nur in einem fast dauerhaften Kriegszustand mit Frankreich oder Spanien, es blieb auch mei-

s Kathleen Wilson, The Sense ofthe People. Politics, Culture and Imperialism in England 1715-

1785, Cambridge 1995, 4. 9 Linda Colley, In Defiance ofOligarchy. The Tory Party 1714-1760, Cambridge 1982; P. J. Comfield, The Impact of English Towns, Oxford 1982.

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stens siegreich. 10 Paul Langford stellt dementsprechend fest: „In the mid-eighteenth-century Britain became the supreme example in the western world of a State organized for effective war-making." 11 Der Schlüssel zu diesem spektakulären militärischen Erfolg lag weniger im Mut oder der Kampfkraft der britischen Armee als vielmehr in der Fähigkeit des britischen Staates, die weitreichenden Kriege zu finanzieren, ohne dabei - im Gegensatz zu seinen kontinentalen Widersachern - die Ressourcen seiner Bürger gänzlich auszubeuten und ohne dabei jene Art von Unruhen und Aufständen auszulösen, die andere europäische Monarchien oft destabilisierten. Die Prozesse, die man gewöhnlich mit der Entstehung des modernen Staates in Verbindung bringt, wie z.B. eine Straffung der lokalen Steuereintreibung, waren in Großbritannien schon im 17. Jahrhundert sichtbar geworden, aber erst zu Beginn des folgenden Jahrhunderts erlebte der britische Staat jene finanzielle Revolution, die es ermöglichte, ein weltumspannendes Empire zu regieren und zu verteidigen. Wie Peter Dickson und John Brewer zeigen konnten, fand die britische Elite mit Hilfe des neuen Kreditwesens einen Weg, das militärische Engagement des englischen Staates auf dem Kontinent und in Übersee zu finanzieren. Gleichzeitig mit den innovativen Finanzmethoden und -institutionen entstand auch eine ganze Legion von Steuerbeamten und Inspektoren; kurz: eine neue Bürokratie, die ständig an das erinnerte, was Joanna Innes als „an impressively powerfill central state apparatus" bezeichnet hat. 12 Der zweite Bereich der Veränderung, der von den Kolonisten zweifellos wahrgenommen wurde, war die rapide Entwicklung einer Konsumgesellschaft um 1750. Eine wahre Flut von Waren verband die abgelegensten Teile der Kolonien mit der pulsierenden, urbanen Kultur Englands. Wenige Beobachter erkannten die kulturellen und damit auch die politischen Auswirkungen der wachsenden Konsumgesellschaft klarer als Benjamin Franklin. Die große Zahl britischer Importe führte ihn zu der Feststellung, daß die Waren durchaus auch die Selbstwahrnehmung der Kolonisten beeinflussen konnten. In Worten, die vielleicht auch ein Anthropologe des 20. Jahrhunderts gewählt hätte, erklärte Franklin in „The Interest of Great Britain Considered" ( 1760) seinen Mitbürgern, daß „[they] must 'know', rnust 'think', and must 'care', about the country they chiefly trade with."13 Wirtschaftshistoriker verweisen gerne etwas zu schnell auf die Tatsache, daß die britische Nation noch nicht in die Phase der industriellen Revolution eingetre10

Patrick K. O'Brien, Power with Profit. The State and the Economy 1688-1815, London 1991. Langford, Polite and Commercial people (wie Anm. 7), 692. 12 Joanna lnnes, Review Article: Jonathan Clark, Social History and England's 'Ancien Regime', in: Past and Present 115 (1987), 196. Zu Kriegsftlhrung und Finanzwesen vgl. Peter G. Dickson, The Financial Revolution in England: A Study in the Development of Public Credit, 1688-1716, London 1968; Brewer, Sinews of Power (wie Anm. 4); Stone, Imperial State at War (wie Anm. 4); Nacy F. Koehn, The Power ofCommerce. Economy and Govemance in the First British Empire, Ithaca 1994; M. A. Braddick, Parliamentary Taxation in 17th-Century England. Local Administration and Response, Woodbridge 1994; und Mark Greengrass (Hg.), Conquest and Coalesence. The Sbaping of the State in Early Modem Europe, London 1991. u Leonhard W. Labree und William Willcox (Hg.), The Papers of Benjamin Franklin, 32 Bde., New Haven 1959 ff., Bd. 9, 85; T. H. Breen, Narrative of Commercial Life. Consumption, ldeology and Community on the Eve ofthe American Revolution, in: William and Mary Quarterly 50 (1993), 471501. 11

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ten war. Doch auch ohne die Vorzüge größerer technischer Neuerungen gelang es den englischen Manufakturen, Konsumgüter in großer Anzahl zu produzieren. Diese begehrten Produkte nahmen dann ihren Weg von den spezialisierten Produktionsstätten zu den Läden im ganzen Land über neu errichtete Kanäle und Straßen, über eine neue Infrastruktur. Nicht nur die wohlhabenden englischen Bürger erstanden schließlich, was sie in den Anzeigen der expandierenden Presse sahen; auch weniger Betuchte konnten an diesem lebhaften Markt partizipieren. Ein leichter Anstieg der Realeinkommen erklärt diese allgemeinen Verbesserungen der materiellen Lebensumstände nur zum Teil. Letztendlich war es eine veränderte Mentalität, die diese Art von Wirtschaftssystem zum Leben eiweckte. Für Jan de Vries steht fest, daß diese 'Mentalität des Marktes' auch bei einfachen Bauernfamilien der Bedeutung von Produktivität neue Inhalte verlieh. Die Kommerzialisierung ländlicher Gesellschaften zeigte sich hier durch die gesteigerte Partizipation von Frauen und Kindern an der Produktion von Gütern, die für den offenen Markt, nicht für den eigenen Haushalt, bestimmt waren. Dies steigerte die Kaufkraft der einzelnen Haushalte. „A series of household-level decisions altered both the supply of marketed goods and labour and the demand for market-bought products. This complex changes in household behaviour constitutes an 'industrious revolution', driven by Smithian, or commercial, incentives, that preceded and prepared the way for the lndustrial Revolution." 14 Diese ökonomischen Veränderungen als Konsumrevolution zu bezeichnen, geht vielleicht zu weit. Neil McKendrick stellt jedoch ganz richtig fest, daß ,,more men and women than ever before in human history enjoyed the experience of acquiring material possessions. Objects which for centuries bad been the priviliged possessions of the rieb came, within the space of a few generations, to be within the reach of a lager part of society than ever before." 15 Josiah Tucker, Dekan von Gloucester im späten 18. Jahrhundert, hätte McKendricks Schlußfolgerung über den veränderten Charakter der materiellen Lebensumstände sicherlich zugestimmt. Menschen aller Schichten, so schrieb Tucker im Jahre 1757, „have better Conveniences in their Hauses, and affect to have more in Quantity of clean, neat Furniture, and a greater Variety (such as Carpets, Screens, Window Curtains, Chamber Beils, polished Brass Locks, Fenders, &c., &c.) (Things hardly known Abroad among Persons of such a Rank) than are to be found in any other Country in Europe, Holland excepted." Tatsächlich glaubte Tucker, „that almost the whole

" Jan de Vries, Purchasing Power and the World ofGoods, in: John Brewer und Roy Porter (Hg.), Consumption and the World ofGoods, London 1993, 107. " Neil McKendrick, John Brewer und J. H. Plumb, The Birth of a Consumer Society. The Commercialization of Eighteenth-Century England, Bloomington 1982, 1. Ein Überblick Ober die mittlerweile umfangreichen Studien zur Konsumgesellschaft in Großbritannien und dem kolonialen Amerika ergibt sich bei der LektOre von Roy Porter, English Society in the Eighteenth Century, Middlesex 1982, 201-268; Frank O'Gorman, The Recent Historiography ofthe Hanoverian Regime, in: Historical Journal 29 (1986), 1005-1020; Brewer /Porter, Consumption (wie Anm. 14); T. H. Breen, An Empire of Goods. TheAnglicization ofColonial America, in: Journal ofBritish Studies 25 (1986), 467-499; T.H. Breen, Narrative ofCommercial Life (wie Anm. 13), 471-501; Cary Carson, Ronald Hoffinan und Peter J. Albert (Hg.), Of Consuming lnterest. The Style of Life in the Eighteenth Century, Charlottesville 1994; und Carole Shammas, The Pre-Jndustrial Consumer in England and America, Oxford 1990.

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Body of People of Great Britain may be considered either as Customers to, or Manufactures for each other: A very happy Circumstance this." 16 Was Tucker hier über die englischen Konsumgewohnheiten berichtet, haben andere für die amerikanischen Siedler festgestellt. Auch die Kolonisten hatten die Annehmlichkeiten von Luxusgütern schätzen gelernt und identifizierten Glück immer häufiger mit Wohlstand. 17 Am Vorabend der amerikanischen Revolution ging ein Geistlicher sogar so weit, die Pflicht der Obrigkeit zu betonen, ihren Bürgern zu ermöglichen „[to live] in a quiet and peacable enjoyment of their persons and properties, i. e. their persons and wordly goods and estates, &c. together with all their just advantages and opportunities of getting more word/y goods and estates, &c. By labour, industry, trade, manufactures, &c." 18 Ein drittes Element in der dynamischen Welt der amerikanischen Kolonisten war sicherlich die Präsenz einer neuen sozialen Gruppe in Großbritannien, der sogenannten Mittelklasse. Ob man diese Gruppe nun als kohärente, sich selbst bewußt wahrnehmende soziale Klasse oder als Amalgam wirtschaftlich erfolgreicher Individuen definiert, die sich emsig um einen Platz in der sich entwickelnden Öffentlichkeit bemühten, ist hier nicht unbedingt von Bedeutung. Viel wichtiger ist indes ein anderer Aspekt: Da die Mittelklasse - ähnlich wie die religiöse Toleranz oder das repräsentative Prinzip staatlicher Ordnung - zu fast allen Zeiten als im Aufstieg befindlich gesehen wird, mag es fehlgeleitet erscheinen, ihre endgültige Entfaltung in die Mitte des 18. Jahrhunderts zu verlegen. Jedoch spricht bei näherer Betrachtung einiges für diese Annahme. Sicherlich, auch in anderen Nationen taucht im Laufe der Zeit das Phänomen der Mittelklasse auf, aber britische Historiker können für die Genese einer ganz bestimmten Mittelklasse im georgianischen England substantielle Belege vorweisen. Zum ersten Mal nämlich formt hier eine gebildete und wohlhabende Schicht ohne aristokratische Herkunft eine Gesellschaftsgruppe, die Langford als „polite and commercial" bezeichnet hat. Darüber hinaus erläutern Lawrence Stone und Jeanne C. Fawtier Stone: „English Society was given a basic fluidity of status by the vigour, wealth and numerical strength of the 'middle sort', mostly rural but also urban, whose emergence between 1660 and 1800 is perhaps the most important feature ofthe age." 19 Diese prosperierende Mittelklasse befleißigte sich der Nachahmung aristokratischer Gepflogenheiten und kreierte sich so als eigenständige soziale Gruppe immer wieder neu: Sie zelebrierte gewissermaßen neueste Moden jeglicher Art; die zahllosen Romane der Zeit fanden in ihr ihre Leser und sie war es, die die Seebäder und Kur-orte füllte. Daß diese neue soziale Schicht trotz der tiefgreifenden Transformation der englischen Kultur der traditionellen Elite die Herrschaft über die 16

Josiab Tucker, lnstructions for Travellers [1757), in: Robert L. Schuylcr (Hg.), Josiab Tuckcr. A Sclection from His Writings, New York 1931, 245-246. 17 T. H. Brcen, Thc Mcaning of Things. Consumption and Jdcology in the Eightecnth-Ccntury, in: Brewcr I Porter, Consumption (wie Anm. 14), 249-294; T. H. Brccn, Thc mcaning of 'Likcness'. Portrait Painting in an Eightcenth-Century Consumer Society, in: Word and Image 6 (1990), 325-350. 11 Dan Foster, A Short Essay on Civil Govcmmcnt. Thc Substance of Six Sermons, Preachcd in Windsor ... , Hartford 177S, 30. 19 Lawrcnce Stone und Jeanne C. Fawticr Stone, An Open Elite? England 1540-1880, Oxford 1984, 408.

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Nation nicht ernsthaft streitig machte, ist in diesem Kontext vielleicht das erstaunlichste Phänomen.20 Die Besucher aus den Kolonien fanden Unterkunft und Gastfreundschaft zumeist in den Familien von Kaufleuten, Juristen, Ärzten und Gelehrten, in einer Gesellschaftsschicht also, die selbst immer wieder auf den Zusammenhang zwischen Freiheit und Wohlstand in England rekurrierte. Was der koloniale Besucher auf diesem Weg zu sehen bekam, war sowohl aufregend als auch beeindruckend und überzeugend. Diese wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Transformationen brachten ein viertes Element hervor, das für die amerikanischen Kolonisten sicherlich das auffälligste gewesen sein mag: die Geburt eines weit verbreiteten und selbstbewußten britischen Nationalismus. Sich hier in definitorische Spitzfindigkeiten zu verlieren, erscheint überflüssig. Es mag durchaus sein, daß Großbritannien in dieser Zeit nicht die Entstehung eines 'ausgereiften' Nationalismus erlebte, zumindest nicht die eines romantischen Nationalismus, wie man ihn mit dem Europa des 19.Jahrhunderts assoziiert. Egal, welches Etikett man nun bemüht, es scheint heute klar zu sein, daß während der l 740er Jahre eine Atmosphäre entstand, die man entweder als ein dramatisches Anwachsen des nationalen Bewußtseins, als Heraufkunft eines aggressiven Patriotismus oder als verstärkte Artikulation nationaler Identität begreifen kann. Auch der Stolz über den Sieg gegen die verhaßten Spanier 1588 und die Zelebrierung englischer Tugenden durch die elisabethanischen Autoren läßt sich mit der georgianischen Erfahrung nicht vergleichen. Wenn die Erscheinung des Nationalismus im 18. Jahrhundert eine Intensivierung von älteren Traditionen darstellte, so umfaßte sie nun aber einen ungewöhnlich hohen Prozentsatz der Bevölkerung. Eine neue Presselandschaft, die Neuigkeiten über das Empire in Kaffeehäuser und Landgasthöfe brachte, unterstützte diese Entwicklung.21 Warum gerade zu diesem Zeitpunkt eine Intensivierung des nationalen Bewußtseins erfolgte, ist von englischen Historikern noch nicht überzeugend entschlüsselt worden. Linda Colley, die deutlicher als jeder andere auf den Nationalismus im 18. Jahrhundert aufmerksam gemacht hat, stellt fest: „lt remains unclear why this resurgence of interest in matters patriotic occured in so many different countries at the same time. The coming of war on a hitherto unprecedented scale, the growth of towns, the spread of printing and the increasing importance of that class we call the bourgeoisie must have all contributed to this widespread mood of national awakening," 22 Langford, Polite and Commercial People (wie Anm. 7), 59-121. Siehe auch Nicholas Rogers, Review Article: Paul Langford's Age of lmprovement, in: Past & Present 130 (1991 ), 201-209. 21 Allgemeinere Überlegungen zur nationalen Identität in verschiedenen historischen Kontexten finden sich bei E. J. Hobsbawm, Nations and Nationalism since 1780. Programme, Myth, Reality, Cambridge 1990; Emest Gellner, Nations and Nationalism, Oxford 1983; und Benedict Anderson, lmagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London 1991. Hervorragende Einblicke in die ideengeschichtlichen Rahmenbedingungen für den populären Nationalismus verschiedener europäischer Staaten vermittelt Maurizio Viroli, For Love of Country. An Essay on Patriotism and Nationalism, Oxford 1995. Weniger überzeugend im Umgang mit den verschiedenen europäischen Kontexten ist die ambitionierte, komparative Arbeit von Liah Grcenfeld, Nationalism. Five Roads to Modemity, Cambridge 1992, 27-87. Vgl. auch Richard Helgerson, Forrns ofNationhood. The Elizabethan Writing ofEngland, Chicago 1992. 22 Colley, Britons (wie Anm. 4), 86. 20

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Die sozialen Ursachen für diese Welle nationalen Selbstbewußtseins mögen noch unklar sein, aber der Charakter dieser Bewegung wird nicht mehr in Frage gestellt. Die breiten Bevölkerungsschichten - Arbeiter und Mittelklasse, Männer wie Frauen-, die das gerade komponierte Lied 'Rule Britannia' sangen und ebenso emotional ' God save the King' riefen, liehen ihre Stimme so den Zielen einer geradezu militanten protestantischen Kultur. Anders ausgedrückt: Sie demonstrierten ihre Verachtung gegenüber dem Katholizismus und allem, was mit dem zeitgenössischen Frankreich in Verbindung stand. Gerald Newman hat nicht unrecht, wenn er die anfängliche Reserve der britischen Aristokratie gegenüber der Ausbreitung eines massenhaften Patriotismus betont.2 3 Dennoch lernten Mitglieder der traditionellen Elite im Laufe der Zeit den Wert einer Symbolfigur wie 'John Bull' durchaus zu schätzen, um z.B. die Mobilisierung der Bevölkerung in Kriegszeiten zu erreichen oder die loyalistischen Bindungen an die Monarchie zu verstärken. Bei den meisten Engländern scheint zudem der Ausdruck nationalen Selbstbewußtseins aufrichtig gewesen zu sein. Tatsächlich hatten große Teile der Bevölkerung durch lautstarke Partizipation an patriotischen Ritualen überhaupt erst die Möglichkeit, auf der Bühne der nationalen Politik in Erscheinung zu treten: „English patriotism during the Georgian century should not be passed off as nothing but hegemonic social control, the conspiratorial ideological imprint of the ruling order; rather it signified a positive and critical articulation of the political voice ofthe middle class." 24 Für gewöhnlich führen englische Historiker die nationale Begeisterung als einigendes, genauer gesagt als vereinheitlichendes Element an, das soziale und wirtschaftliche Probleme überdecken konnte. Zweifellos hat diese Sicht viel für sich, aber man sollte auch daraufhinweisen, daß diese Historiker oft eine verengte, d. h. englische Perspektive bei der Betrachtung des Nationalismus an den Tag legen. Der dunklen Kehrseite des Nationalismus, seinem starken Hang zur Ausgrenzung und seiner Neigung dazu, dem „Anderen", wie auch immer man es definierte, einen minderwertigen Status zuzuweisen, hat man bisher wenig Aufmer~amkeit geschenkt. J. G. A. Poccick faßt dieses Problem folgendermaßen zusammen: „Instead ofhistories ofBritain, we have, first of all, histories ofEngland, in which Welsh, Scots, Irish, and, in the reign of George III, Americans appear as peripheral peoples when, and only when, their doings assume power to disturb the tenor of English politics."2S Gerald Newman, Tbc Rise of English Nationalism. A Cultural History 1740-1830, New York . 2• Roy Porter, Seeing the Past, in: Past & Present 118 (1988), 198. Vgl. auch Dror Wahnnan, National Society, Communal Culture. An Argument about the Recent Historiography of Eighteenth-Century Britain, in: Social History 17 (1992), 61-62, und Kathleen Wilson, Admiral Vemon and Popular Politics in Mid-Hanoverian Britain, in: Past & Present 121 (1988), 74-109. " Pocock, British History (wie Anm. S), 603; John Morrill, The British Problem c.1534-1707, in: John Morrill und Brendan Bradshaw (Hg.), Tbc British Problem, c.1543-1707. State Formation in tbe Atlantic Arcbipelago, London 1996, 1- 38. Obwohl wir in einigen Punkten unterschiedlicher Meinung sind, finden sich doch wertvolle Hinweise zur Entwicklung eines britischen Nationalismus in Michael Hechter, Interna! Colonialism. The Celtic Fringe in Britisb National Development 1536-1966, Berkeley 1975. Ebenso siehe Linda Colley, Britishness and Othemess. An Argument, in: Journal of British Studies 31 (1992), 309-329. ll

1987.

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Menschen „keltischer" Herkunft wurden durch diesen „britischen" Nationalismus seit etwa 1740 geradezu auf ihre eigene periphere Stellung hingestoßen. Paul Langford zieht daraus die Schlußfolgerung: „The most controversial, and the most corrosive, effects of English nationalism were feit at home. Popular animosity towards the remaining nations of the British lsles was deeply entrenched." 26 Auch wenn es vielleicht wenig Sinn hat, hier zu bestimmen, was „most controversial" und „most corrosive" genauer bedeuten mag, so kann man doch mit P. J. Marshall feststellen, daß der britische Nationalimus extrem unterschiedliche Auswirkungen auf jene hatte, die nicht das Glück hatten, „at home" zu leben. „The eighteenthcentury experience [...] revealed the 'imagined communities' of Britishness were parochial. English people could perhaps envisage a common community with the Welsh and, often with much difficulty, with the Scots, but they failed to incorporate the lrish or colonial Americans into their idea of nation."27 Der jakobitische Aufstand von 1745, dessen Ziel es war, die Stuarts wieder auf den Thron zu bringen, verschlechterte die ohnehin eher negativen Beziehungen zwischen England und Schottland zusätzlich. Kathleen Wilson merkt dazu verallgemeinernd an: „The Loyalists discourses of the moment [... ] exhibited the exclusive nature of definitions of 'Englishness' that were always at play andin tension with the broader categories of 'Britishness', or, to put it another way, the irreconcilable tensions between nation and empire."28 Um 1750 wurden die amerikanischen Kolonisten mit dem Phänomen eines neuen und deutlich akzentuierten britischen Nationalbewußtsein konfrontiert. Ausgebend vom urbanen Zentrum London griff es auf Provinz und Kolonien über und stellte dem Beamtenapparat des dynamischen und prosperierenden Empire ein effektives Vokabular zur Mobilisierung breiterer patriotischer Gesellschaftsschichten zur Verfügung. 29 Inmitten dieser Ideenrevolution versuchten die Kolonisten an der Peripherie, ihre eigene Identität zu finden bzw. zu erschaffen. Obwohl eine Diskussion zum Thema Identität schon mit der Ankunft der ersten europäischen Siedler in der Neuen Welt begonnen hatte, veränderte sich der Charakter dieses Diskurses zwischen Mutterland und Kolonie ab der Jahrhundertmitte dramatisch. Die Kolonisten mußten erkennen, daß England nicht mehr viel Ähnlichkeit mit der Nation hatte, die ihre Vorfahren verlassen hatten. Die ersten Reaktionen auf diese plötzliche Zelebrierung eines britischen Nationalismus waren

26 Langford, Polite and Commercial People (wie Anm. 7), 323. Vgl. auch Miles Taylor, John Bull and the lconography of Public Opinion in England c. 1712-1929, in: Past & Present 134 (1992), 93128; P. J. Marshall, Tbc British Empire in the Age of the American Revolution. Problems of Interpretation, in: William Fowler Jr. und Wallacc Coyle (Hg.), The American Revolution. Changing Pcrspcctives, Boston 1979, 196. 21 P.J. Marshall, A Nation Defined by Empire, 1755-1776, in: Alexander Grant und Keith J. Springer (Hg.), Uniting thc Kingdom? The Making ofthe British History, London 1995, 221. Siehe auch E. P. Thompson, The Making ofa Ruling Class, in: Dissent (Summer 1993), 377-382. 2s Wilson, Sense of the People (wie Anm. 8), 174; John Cannon, Samuel Johnson and the Politics ofHanoverian England, Oxford 1994, 236. 29 P. J. Marshall, Empire and Authority in the Later Eighteenth-Century, in: Journal of Imperial and Commonwealth History 51 (1987), 105-123.

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einhellig: Man versuchte Anschluß an diesen Nationalismus zu finden, indem man die eigene ' Britishness' betonte, Loyalität gegenüber König und Verfassung proklamierte und der tiefen Antipathie gegenüber Frankreich und dem Katholizismus Ausdruck verlieh. Stolz erklärte der Autor eines Pamphlets von 1768: „Britain seems now to have attained to a degree of wealth, power and eminece, which half a century ago, the most sanguine ofher patriots could hardly have made the object oftheir warmest wishes."30 Der Ausdruck 'salutary neglect' - geprägt von Edmund Burke und kopiert von unzähligen Historikern des vorrevolutionären Amerika - wird dieser veränderten und komplexen Situation in Amerika nicht gerecht. Wenn auch die bloße Anzahl von königlichen Beamten in den Kolonien nie besonders groß war, so war Großbritannien in der kolonialen Welt um 1750 doch mehr als präsent. Der stete Import von Konsumgütern aus den Zentren des Empire veränderte z.B. den amerikanischen Markt auf sehr sichtbare Weise. Die englischen Truppen, die an der Front im Norden gegen Franzosen und Indianer kämpften, trugen auf ihre Weise ebenso zur Präsenz des Mutterlandes bei wie die Wanderprediger vom Schlag George Whitefields, die den verunsicherten amerikanischen Dissentern die Rhetorik der englischen Evangelikalen nahebrachten. Den lesekundigen Kolonisten wurde in vielfältigen Presseerzeugnissen das Mutterland in den glühendsten Farben geschildert. England wurde sogar als die fortschrittlichste und kultivierteste Gesellschaft bezeichnet, die die Welt je gesehen hatte.3 1 Diese veränderte Perspektive auf Großbritannien im 18. Jahrhundert und die Betonung der dynamischen und urbanen Elemente hat weitreichende Auswirkungen auf unsere Sicht der Kolonien innerhalb des Empire. Zum einen legt es die neuere Forschung nahe, die amerikanischen Kolonien in einen breiteren komparativen Rahmen einzuordnen - den eines nordatlantischen Empires, das auch Schottland und Irland umfaßte. Denn die Menschen in all diesen Regionen fanden sich wie oben angesprochen worden ist - seit der Mitte des Jahrhunderts mit einem radikal neuen England konfrontiert. Während London gewissermaßen den Ton vorgab, versuchte man in der Provinz und den Kolonien, sich so gut wie möglich dem gesteigerten Selbstbewußtsein Englands anzupassen. In jeder der Regionen Schottland, Irland oder den Kolonien - fand man sich vor drängende Fragen gestellt. Was bedeutete es eigentlich, sich als 'British' zu bezeichnen? War man 30

James Parker, The Power and Grandeur of Great Britain, New York 1768, 3-4. Unter den Arbeiten, die eine komplexe Analyse der Verbindungslinien zwischen Mutterland und Kolonien im 18. Jahrhundert anbieten, sind: Jack P. Greene, Peripheriesand Centre. Constitutional Development in the Extended Polities of British Empire and the United States, 1607-1788, Athens (Ga.) 1986; J.P. Greene, Pursuits ofHappiness. The Social Development ofEarly Modem British Colonies and tbe Formation of American Culture, Cbapel Hili 1988, 175; Bailyn / Morgan, Strangcrs within the Realm (wie Anm. 5); T. H. Breen, ,,Baubles ofBritain": The American and Consumer Revolution ofthe Eighteenth-Century, in: Past & Prescnt 119 (1988), 73-104; Harold E. Selesky, War and Society in Colonial Connecticut, New Haven 1990; Fred Anderson, A People's Anny. Massacbusetts Soldiers and Society in the Seven Year's War, Chapel Hili 1984; Michael J. Crawford, Seasons of Grace. Colonial New England's Revival Tradition in Jts British Context, Oxford 1991; Timotby D. Hall, Contested Boundaries. Itineracy and the Reshaping of the Colonial American Religious World, Durham 1994; Michael Wamer, The Letters ofthe Republic. Publications and the Public Sphere in Eighteenth-Century America, Cambridge (Mass.) 1990; und Frank Lambert, Pedlar in Divinity. George Whitefield and the Transatlantic Revivals, 1737-1770, Princeton 1993. 31

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damit auch automatisch Engländer? Falls nicht, inwieweit konnte man außerhalb Englands überhaupt gleiche Rechte einklagen? Obwohl jedes der drei Gebiete unterschiedliche Positionen und Wahrnehmungen in den Diskurs einbrachte, war man doch in Schottland, Irland oder Amerika an einem gemeinsamen Projekt von Identitätsstiftung beteiligt. Daher erscheint es sinnvoll, den neuen Arbeiten zur Konstruktion der schottischen oder irischen Identität im imperialen Kontext verstärkt Aufmerksamkeit zu schenken.n Im politischen Diskurs Schottlands des 18. Jahrhunderts spielte die Union von 1707 eine wichtige Rolle, denn durch sie hatten die Schotten nicht nur eine eigenständige Identität verloren, sondern waren aus ihrer Sicht auch auf den Status eines Juniorpartners reduziert worden. Tatsächlich aber begünstigte die Union die schottische Wirtschaft. Und die Flut von neuen Handelsmöglichkeiten und Konsumgütern führte selbst bei hartgesottenen schottischen Patrioten zum Überdenken ihrer Beziehung zu England. Sie wurden gewissermaßen dazu gezwungen, sich ihren diskursiven Platz im expandierenden britischen Empire zu suchen. Diese intellektuelle Herausforderung wurde hauptsächlich von den brillanten Vertretern der schottischen Aufklärung aufgegriffen, obgleich der jakobitische Aufstand 1745 dies nicht einfacher machte. Führende Autoren versuchten, die Stellung und auch die Loyalität Schottlands im neuen britischen Machtgefüge zu betonen. Indem sie ihre 'Britishness' hervorhoben, glaubten sie, einige Aspekte der keltischen Kultur bewahren zu können. Wie jedoch der schottische Historiker Colin Kidd festgestellt hat, hatte Schottland im 18. Jahrhundert schlichtweg keine ausreichenden kulturellen Resourcen, um dieser Herausforderung erfolgreich begegnen zu können. Die schottische Geschichte bot für viele nicht mehr als eine höchst unattraktive Abfolge von gewalttätigen Auseinandersetzungen im feudalen Clansystem. Dies gab eine unsichere Grundlage für die Entstehung einer eigenständigen Identität eines modernen und progressiven Volkes ab. Welche moralischen Bauchschmerzen sie auch immer gehabt haben mögen, letztendlich waren die Schotten dazu übergegangen, die Vorzüge der konstitutionellen Monarchie und eines weltweiten Marktes anzuerkennen. Mit deutlicher Enttäuschung schließt Kidd: „lt is important to note not only the inability of the Scottish whig tradition to sustain a strong sense of Scottish nationhood, but also its failure to contribute to a genuinely British identity."33 32 Bei Pocock, British History (wie Anm. 5), 601-21, findet sich der überzeugendste Rahmen fllr eine allgemeinere, integrative Geschichte des frilhmoderncn England, d.h. eine Geschichte, die mehr als nur den Entwicklungen in England gewidmet ist. Frank O'Gorman erinnerte kürzlich an die Tatsache, daß „the most fundamental wcakness ofthe Hanoverian regime [...] neither its corruption, nor the exclusivcness of its elite nor its antiquatcd representative system" gewesen sei. „Rather, it was its assertion of imperial control over its Celtic sub-nations. Chauvinistic self-regard disablcd the rulers of Hanoverian England from identifiying the reasonable and objective grievenaces of Scotland and Ireland." (O'Gonnan, Recent Historiography ofthe Hanoverian Regime [wie Anm. 15], 1014). Eine anregende Sammlung komparativer Ansätze findet sich in Nicholas Canny und Anthony Pagden (Hg.), Colonial Identity in the Atlantic World, 1500-1800, Princeton 1987. FOr die ideologische Rechtfertigung der frilhmodemen europäischen Expansion vgl. Anthony Pagden, Lords of All the World. Ideologies of Empire: Spain, Britain and France c.1500-1800, New Haven 1995. 33 Colin Kidd, Subverting Scotland's Past. Scottish Whig Historians and the Creation of an AngloBritish ldentity 1689~.1830, Cambridge 1993, 272.

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Mit wieviel Phantasie von den schottischen Autoren auch immer nach einer sinnvollen eigenen Geschichte gefahndet wurde, am Ende klangen ihre öffentlichen Äußerungen eher englisch als britisch. Das deutliche englische Element in der schottischen Kultur hat die moderne schottische Forschung oft ein wenig irritiert, da die schottische Auflclärung anscheinend immer in Verbindung „with the commercialization of Scottish society, its incorporation into the English state and lost national identity" gesehen worden ist. 34 Die Anpassung an die neue Situation war sicherlich oft hart, aber es bleibt die Tatsache, daß die Schotten sich auf die neuen Handels- und Marktmöglichkeiten geradezu stilrzten und sich deutlich als englische Patrioten zu erkennen gaben. Aus militärischer Sicht was dies wohl auch die einzige Möglichkeit, denn sobald der britische Staat seine volle militärische Stärke mobilisierte, war eine Niederlage der schottischen Rebellen so gut wie sicher.35 Auf die Iren hatte die Intensivierung des englischen Nationalismus nicht denselben Einfluß wie auf die Schotten. Die irische Reaktion erklärt sich eher aus der langen Geschichte englischer Gewaltherrschaft und den ungeklärten religiösen Differenzen. Wenn im folgenden von Iren die Rede ist, so bezieht sich dies in der Mitte des 18. Jahrhunderts natürlich nur auf die Mitglieder der protestantischen Minderheit, der 'Protestant ascendancy', die die katholische Mehrheit unterdrückte. Trotz dieses Gefahrenpotentials blickten die Protestanten zu diesem Zeitpunkt optimistisch in die Zukunft. Nach Jahrzehnten relativer Ruhe schien von den Katholiken keine so große Gefahr mehr fllr den Frieden auszugehen wie in der Vergangenheit. Dazu kam noch, daß die irische Elite im Gefolge der Kommerzialisierung und auch einer gewissen Prosperität mehr und mehr das Vokabular des 'protestantischen Nationalismus' oder 'protestantischen Patriotismus' übernommen hatte. Nur kurzzeitig betonte die 'Ascendancy' im Anschluß an die Glorreiche Revolution ihre 'Englishness'. Schon bald hielt sie gerade im Bereich Handel und Gewerbe der englischen Intervention die irischen Besonderheiten in lokaler Kultur und Tradition entgegen. Ohne direkt die politische Autorität Londons herauszuforden, versuchte man sich der englischen Kontrolle zu entziehen. Einengewissen Grad von Unabhängigkeit zu erreichen, war dabei die Zielvorstellung. 3 6 Aus dieser Perspektive interpretierten die Iren ihre 'Britishness' als eine Kombination aus den Rechten englischer Bürger und einer spezifischen irischen Iden)4 Nicholas Phillipson, Politics, Politeness, and the Anglicisation of Early Eighteenth-Century Sconish Culture, in: Roger A. Mason (Hg.), Scotland and England 1286-181S, Edinburgh 1987, 226. Vgl. ebenso Eric Richards, Scotland and the Uses of the Atlantic Empire, in: Bailyn / Morgan (Hg.), Strangers within the Realm (wie Anm. S), 67-114, und Ncd Landsman, The Provinces and the Empire: Scotland, the American Colonies and thc Dcvelopment of British Provincial ldentity, in: Stone, Imperial State at War (wie Anm. 4), 2S8-287. >.s Bei Colley, Britons (wie Anm. 4), 101-193, findet sich viel zum Enthusiasmus, mit dem die Schonen zu Oberzeugten britischen Patrioten wurden. Vgl. allerdings zur Korrektur einiger Aspekte von Collcys Argumentation: Colin Kidd, North Britishncss and the Nature of Eightcenth-Century Britisb Patriotism, in: Historical Journal 39 (1996), 361-382; und Daniel Szcchi, The Hanoverians and Scotland, in: Greengrass (Hg.), Conqucst and Coalcscnce (wie Anm. 12), 116-131. u Zur allgemeinen kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklung Irlands im 18. Jahrhundcn sowie besonders zu den Versuchen, sich von der englischen Kontrolle zu emanzipieren, siehe R. F. Foster, Modem freiend 1600-1972, London 1988, 138- 194.

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tität. Auf Kritik und Intervention Englands reagierte man dementsprechend mit dem Argument, daß man die gleichen politischen Rechte besaß wie jeder Engländer. Diese Trotzhaltung spiegelt sich z. B. in den Schriften von Lockes Freund William Molyneux und in denen von Jonathan Swift. „When they [die Iren] first began to question what they perceived as the illegitimate intrusion of English government into lrish affairs", so kommentiert S.J. Connolly diese Haltung, „the basis oftheir argument was that they were being denied the constitutional rights of Englishmen."37 Die Frage der irischen Identität wurde umso brisanter, als klar wurde, daß England die irische Übernahme der ' Britishness' nicht als Grundlage für die Gleichstellung der Iren mit den Engländern ansah. Auch zeigte sich London wenig geneigt, die irische Kultur deshalb mehr zu schätzen. Die Betonung von Unterschieden zwischen England und den protestantischen Iren führte in Irland zu einem Reflexionsschub über die eigene, spezifisch irische Identität. Swift wandte sich mit Worten, die wir so ähnlich am Vorabend der amerikanischen Revolution wiederfinden werden, an seine Mitbürger: „[ ...] by the laws of God, of nature, of nations, and of our own country, you are and ought to be as free as your brethren in England." 38 Politische Rechte und Freiheit standen immer ganz oben auf der irischen Agenda. „While claiming all the privileges of freebom Englishmen", so erläutert J. L. McCracken die Situation der irischen Protestanten, „they regarded themselves as Irishmen entitled to control the destinies if the country that had become theirs by right of conquest. Any interference with their rights, any encroachment on their interests, was bitterly resented." 39 Selbst die überzeugtesten irischen Patrioten mußten jedoch einsehen, daß der protestantische Nationalismus keine großen Erfolgsaussichten hatte. Solange die Katholiken von der politischen Bühne ausgeschlossen blieben, solange benötigte die protestantische Elite den Kontakt zu London, um ihre Privilegien zu bewahren. Es gilt jedoch hier festzuhalten, daß der irische Nationalismus in der Mitte des 18. Jahrhunderts sowohl als Reaktion auf die politischen Interventionen Englands entstand, die Irland von politischer Partizipation auszuschließen drohten, als 3 7 S. J. Connolly, Varieties of Britishness. lreland, Scotland and Wales in the Hanoverian State, in: Grant / Springer, Uniting the Kingdom? (wie Anm. 27), 197. n Zu Jonathan Swifts Aussage im vierten Drapiers Letter vgl. J. C. Becken, The Making ofModern lreland 1603-1923, London 1981, 166. 39 J.L. McCracken, Protestant Ascendancy and the Rise ofColonial Nationalism 1714-1760, in: T. W. Moody und W. E. Vaughan (Hg.), A New History of lrcland, Bd. IV: Eighteenth-Century lreland 1691-1800, Oxford 1986, 106-108. Vgl. auch Joep Th. Leersen, Anglo-lrish Patriotism and lts European Context. Notes toward a Reassessment, in: Eighteenth-Century lreland 3 (1988), 7-24; Thomas Bartlett, "A Pcoplc Made Rather for Copies than Originals". Thc Anglo-Irish 1760-1800, in: International History Review 12 (1990), 11-25; lsolde Victory, The Making ofthe Declaratory Act of 1720, in: Gcrard O'Brien (Hg.), Parliament, Politics and People. Essays in Eightcenth-Century lrish History, Dublin 1989, 9-30; Sean Murphy, The Dublin Anti-Union Riot of 3 Dccember 1759, in: O'Brien, Parliament, Politics and People, 49-68; David Hayton, Anglo-lrish Attitudes. Changing Pcrccptions of National ldentity among thc Protestant Asccndancy in lreland, ca. 1690-1750, in: Studies in 18th-Century Culture 17 (1987), 145-157; Martin S. Flahcrty, Thc Empire Strikes Back. Annesley v. Sherlock and thc Triumph oflmperial Parliarnentary Supremacy, in: Columbia Law Review 87 (1987), 593-622; und lsolde L. Victory, Colonial Nationalism in lreland 1692-1725: From Common Law to Natural Rights, Diss. Trinity College, Dublin 1984.

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auch als Verteidigung gegen die Rhetorik des englischen Nationalismus, der sehr viel schärfer und deutlicher akzentuiert war als der irische. „lrish nationalism", erinnert uns C. A. Bayly, „arose from Ireland ·s preceived exclusion from empire, not her inclusion within it." 40 Ebenso wichtig ist die Tatsache, daß irische Patrioten wie William Molyneux die politischen Mißstände in Irland in die Naturrechtssprache von John Locke übersetzten. In der Geschichte frühmodemer politischer Ideen war dies ein innovativer Schachzug. Es überrascht daher nicht, daß Molyneux' einflußreicher Essay „The Case of Ireland's Being Bound by Acts of Parliament in England, Stated" (1698), am Vorabend der Amerikanischen Revolution höchst zustimmend rezipiert worden ist. Weitere irische Autoren folgten besonders nach der Verabschiedung des Declaratory Act für Irland 1720 - Vorbild für den Declaratory Act 1766 für die amerikanischen Kolonien - dem Beispiel Molyneux' und bedienten sich mehr und mehr der politischen Sprache des Naturrechts. Ähnlich wie auch die Amerikaner in den l 760er Jahren entdeckten sie bei ihrer Suche nach gradueller Unabhängigkeit von England die im Gegensatz zu historischen Fallbeispielen größere Überzeugungskraft naturrechtlicher Argumente.41 Auch wenn die amerikanischen Siedler wenig von den zeitgenössischen Vorgängen in Schottland und Irland wußten, standen sie doch ebenso den (Heraus-)Forderungen eines mächtigen, selbstbewußten Staatsgebildes gegenüber. Es gilt hier die Chronologie der Ereignisse im Auge zu behalten und auf die verschiedenen Stufen der diskursiven Auseinandersetzung mit England zu achten, welche die Kolonisten schließlich von Anpassung zu Widerstand, von 'Britishness' zur Unabhängigkeit filhrte. Ähnlich wie in Schottland versuchte man auch in Nordamerika anfangs, Loyalität zu demonstrieren. Oft äußerte sich diese fast gänzliche Anpassung an England in einer schrillen, patriotischen Sprache. Vor den l 760er Jahren nahm man gemeinhin an, daß der britische Nationalismus letztendlich integrativ wirken könne. Die Überzeugung, durch den Kampf gegen Frankreich in Kanada und die lautstarke Unterstützung der britischen Verfassung einen gleichrangigen politischen Status mit den britischen Bürgern jenseits des Atlantik einnehmen zu können, war weitverbreitet. Nur langsam gewöhnten sich die Kolonisten an den wachsenden Konflikt zwischen Nation und Empire, zwischen 'Englishness' und 'Britishness'. Sie verstanden diese beiden Kategorien - ähnlich wie die Iren - als einen Diskurs um imperiale Identität. 4 2 40

C. A. Bayly, Imperial Meridian. The British Empire and the World, 1780-1830, London 1989, 12. Siehe auch Jacqueline Hili, lreland without Union. Molyneux and His Legacy, in: John Robertson (Hg.), A Union for Empire. Political Tbought and the British Union of 1707, Cambridge 1995, 271296. 41 Hili, lreland without Union (wie Anm. 40). 2 • Die provokantesten und originellsten Einsichten in diese Spannungen bietet filr mich Jack P. Greene, Search for ldentity. An Interpretation of the Meaning of Selected Patterns of Social Response in Eighteenth-Century America, in: J. P. Greene, Imperatives, Behaviors, and ldentities. Essays in Early American Cultural History, Charlottesville 1992, 43-173. Erst künlicb hat Greene eine interessante Analyse vorgelegt, in der er zeigt, daß koloniale Amerikaner sich selbst als „Briten" sahen und vor allen Dingen die Teilhabe an den gleichen Rechten und Freiheiten forderten, die auch englische Bür-

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Die Geschichte der Konstruktion der amerikanischen Identität innerhalb des britischen Empire beginnt eigentlich erst in den l 740er Jahren. Frühere Generationen europäischer Siedler hatten selbstverständlich mit ähnlichen Problem zu kämpfen, wobei sie die wachsenden kulturellen Unterschiede teils begrüßten, teils bedauerten. Die Ursprünge dieser Entwicklung sind hier jedoch zweitrangig. Die amerikanischen Siedler wurden durch die oben angesprochenen dramatischen Veränderungen in der englischen Gesellschaft zum ersten Male gezwungen, sich mit der ganzen Bedeutung von 'Britishness' für ihr eigenes Leben auseinanderzusetzen. Die ersten Reaktionen waren eindeutig und geradezu enthusiastisch. Die Kolonisten akzeptierten ohne weitere Überlegungen das, was der Historiker John Dunn in einem anderen Kontext als „a strenuous ideological fiction" bezeichnet.43 Sie waren überzeugt, daß England sie als gleichberechtigte Partner im britischen Empire sah, als Alliierte im fortwährenden Krieg gegen Frankreich, als devote Verteidiger des Protestantismus und als eifrige Teilnehmer in einer wachsenden Konsumgesellschaft. Soweit die Amerikaner zu dieser Zeit überhaupt eine Sprache nationaler Identität gebrauchten, taten sie es als Patrioten innerhalb des britischen Empire. Ihr Selbstverständnis war eng mit dem Erfolg und Wohlstand Großbritanniens verknüpft. „To the extent that the settlers were self-conscious nationalists", so führt John Murrin aus, „they saw themselves as part of an expanding British nation and empire. Loyalty to colony meant loyalty to Britain."44 Und erst kürzlich hat Jack P. Greene in einer Studie der imperialen Politik Englands keine Spuren einer „American national consciousness" vor der Revolutionszeit ausmachen können.45 Die amerikanische Situation vor 1760 ähnelt daher gewissermaßen der schottischen. Ebenso wie die Schotten hatten auch die Kolonisten keine kohärente, gemeinsame Geschichte, die es ihnen ermöglicht hätte, eine eigenständige Identität gcr genossen. Vgl. Jack P. Grecne, The British Revolution in America, (=University ofTexas at Austin British Studies Distinguished Lectures 32), Austin 1996; sowie Ruth Bloch, Visionary Republic. Millenial Themes in American Thought 1756-1800, Cambridge 1985, 43-46; Jim Smyth, 'Like Amphibious Animals '. Irish Protestants, Ancient Britons 1691-1707, in: Historical Journal 36 (1993), 785-797 bietet einen vergleichenden Blick auf die Frage der Formierung von Identitäten innerhalb des Kolonialreiches. 43 John Dunn, Interpreting Political Responsibility. Essays 1981-1989, Cambridge 1990, 1. 44 John Murrin, A RoofWithout Walls. The Dilemma of American National ldentity, in: Richard Beeman, Stephen Botein und Edward C. Caner m (Hg.), Beyond Confederation. Origins ofthe Constitution and American National ldentity, Chapel Hill 1987, 334-338; vgl. auch John Murrin, Escaping Perfidious Albion. Federalism, Fear of Aristocracy, and the Democratization of Corruption in Postrevolutionary America, in: Richard K. Matthews (Hg.), Virtue, Corruption, and Self-lnterest. Political Values in the Eightecnth Century, Bethlehem 1994, 111-112. •5 Greene, Peripheriesand Centre (wie Anm. 31), 162-163; Greene, The British Revolution in America (wie Anm. 42), 11-20. Es sollte festgehalten werden, daß J. C. D. Clark die These ablehnt, die ich in diesem Aufsatz aufstelle und die von Grecne, Murrin, Colley und anderen unterstützt wird. Clark behauptet: „The dominance of Anglican, common law paradigms on both sides of the Atlantic leaves no room for an account of thc American Revolution as a result either of nascent American nationalism or of American reaction to nascent English nationalism", J. C. D. Clark, Language of Liberty 1660-1832. Political Discourse and Social Dynamics in the Anglo-American World, Cambridge 1994, 61: Wie groß die Verdienste sein mögen, die sich Clark durch seine transatlantischen Vergleiche erworben hat, in dem hier vorliegenden Fall strapaziert er seine Aussagemöglichkeiten zu sehr.

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außerhalb Großbritanniens zu begründen. Sie konnten sich nur auf lokale Traditionen berufen, die jedoch meist zu Recht in Vergessenheit geraten waren. Das Konzept einer größeren, imperialen Identität überdeckte die vorhandenen Unterschiede recht erfolgreich und schuf während des Siebenjährigen Krieges einen zumindest oberflächlichen Eindruck von Einheitlichkeit und Gleichheit. Ein Beispiel für diesen imperialen Patriotismus soll hier genügen. Der Herausgeber der neu gegründeten 'New-Hampshire Gazette' klärte 1764 seine Leserschaft über die soziale Bedeutung von Zeitungen auf. „By this Means", so schwärmte er, „the spirited Englishman, the mountainous We/shman. the brave Scotchman, and lrishman, and the loyal American, may be finnly united and mutually RESOLVED to guard the glorious Throne of BRITANNIA (...). Thus Harmony may be happily restored, Civil War disappointed, and each agree to embrace, as British Brothers. in defending the Common Cause."46 Viele Kolonisten teilten die Annahmen des Journalisten aus New England über den einheitlichen Charakter der imperialen britischen Identität. Einige unter ihnen waren relativ bekannt. Benjamin Franklin argumentierte für die Einheit und Einheitlichkeit des Empire, als er 1760 vor einem Komitee des Unterhauses sprach. Als ihm ein Abgeordneter die pointierte Frage stellte, ob denn die Expansion des britischen Empire in Nordamerika nicht tatsächlich nur „an American interest" sei, gab Franklin die Antwort: „Not particularly, but conjointly a British and an American interest."47 Jeremy Belknap - Pfarrer, talentierter Historiker und Gründer der Massachusetts Historical Society - fing in seinen Schriften ebenfalls den Geist des kolonialen Nationalismus der Jahrhundertmitte ein. Er ging, wie Franklin, vom gleichberechtigten Status Englands und Amerikas aus. Der Erfolg des einen Partners trug zum Erfolg des anderen bei, und umgekehrt. Beide definierten sich letztendlich über ihre gemeinsame 'Britishness'. Belknap sah Amerika durch die brillante Führungsgestalt William Pitts im Siebenjährigen Krieg noch näher an England gerückt. „We were proud of our connection with a nation whose flag was triumphant in every quarter ofthe globe [...]. We were fond ofrepeating every plaudit, which the ardent affection of the British nation bestowed on a young monarch [George III], rising to 'glory in the name of Britain'."48 Colin Kidds Arbeit zum Schottland des 18. Jahrhunderts erlaubt uns, die amerikanische Situation in einen komparativen Rahmen zu stellen. Er selbst definiert diesen Rahmen als ,,Anglo-Britishness". Selten versäumten es die amerikanischen Siedler ähnlich wie ihre schottischen und irischen Zeitgenossen - stolz darauf zu verweisen, daß sie ,,English freedoms in 'colonial' settings" reproduziert hätten. 49 Tatsächlich aber waren die Amerikaner keineswegs British Brothers. Bald wurde auf ernüchternde Weise immer deutlicher, daß der anwachsende britische 46

New-Hampshire Gazette, 13. Juli 1764. Labaree /Wilcox, Papm ofBenjamin Franklin (wie Anm. 13), Bd. 13, 151. 41 Jercmy Belknap, Tbc History ofNew Hampshire, 3 Bde„ Dover N.H. 1812, Bd. 2, 246. Professor Laure! Ulrich hat mich vor kurzem auf ein wunderbares Beispiel fllr den kolonialen Nationalismus der Jahrhundertmitte aufinerksam gemacht. Ein junges Mädchen aus Boston hat folgendes in ein Tuch eingestickt: „Sarah Silsbe is my name [.} 1belong to thc English nation [,}Boston and Christ is my salvation [„.}". Als Sarah Silsbc ihre Arbeit 1748 fertigstellte, war sie zehn Jahre alt. •9 Kidd, North Britishness (wie Anm. 35), 377-382. 47

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Nationalismus nichts anderes war als ein überdimensionierter englischer Nationalismus. Die aggressive Äußerung nationaler Gefühle, die Linda Colley so meisterhaft in 'Britons' beschrieben hat, definierte die Kolonisten als „Andere", als nicht ganz englisch, oder als Menschen jenseits der Grenzen des neuen nationalen Bewußtseins. Natürlich gab es Kategorisierungen innerhalb dieser Hierarchie, die unter dem Status eines freien, weißen Siedlers lagen, aber für die Amerikaner waren solche unvorteilhaften Unterschiede kaum von Belang. „We won't be their Negroes", fauchte 1765 der junge John Adams in der 'Boston Gazette' unter dem Pseudonym „Humphrey Ploughjogger". Adams beharrte darauf, daß die Vorsehung die Kolonien nicht für „Negroes" vorgesehen habe, „and therefore never intended us for Slaves [...]. 1 say we are as handsome as old English folks, and so should be as free."50 Adams' schrille und für uns unangenehm rassistische Reaktion auf den Stamp Act offenbart den Schock, der mit der Zurücksetzung durch die Engländer einherging. Die Quelle des Zorns war nicht etwa die Besteuerung ohne parlamentarische Repräsentation als vielmehr die plötzliche Erkenntnis, daß die Briten die weißen Kolonisten als Menschen zweiter Klasse ansahen, ja sogar als so minderwertig, daß ihnen aus der Sicht Londons weniger Freiheiten und Rechte zuzubilligen waren als den Engländern. Der Inhalt, wenn nicht sogar der Stil, der bitteren Vorwürfe von „Humphrey Ploughjogger" finden sich überall in der kolonialen Presse am Vorabend der Revolution. Sicherlich gab es in den unzähligen Presserzeugnissen auch andere Themen - wie z.B. religiöse und konstitutionelle Argumente - aber meist war der emotionale Ursprung der Äußerungen der amerikanischen Autoren bei der plötzlichen Entdeckung dieser Ungleichheit zu finden.s• Die Kolonisten in ganz Amerika stellten sich gemeinsam mit dem anonymen Schreiber in der 'Maryland Gazette' und der 'Boston Gazette' die unangenehme Frage: „Are not the People of America, BRITISH Subjects? Are they not Englishmen?"52 Da eine Antwort auf diese Frage nicht mehr zweifelsfrei formuliert werden konnte, entwickelte sich das Thema zum Gegenstand einer allgemeinen, öffentlichen Debatte. Beachtenswert sind dabei die teils defensiven, teils lächerlichen oder gar nörgelnden Versuche von amerikanischen Autoren, ihr Selbstwertgefühl gegenüber den Briten zu demonstrieren. Die Kolonisten seien „not an inferior Boston Gazette, 14. Oktober 1765. Zur Komplexität öffentlicher politischer Argumentationen siehe: James L. Kloppenberg, The Virtues of Liberalism. Christianity, Republicanism, and Ethics in Early American Political Discourse, in: Journal of American History 74 (1987), 9-33. Vor mehr als dreißig Jahren kam Paul A. Varg zu einer ähnlichen Schlußfolgerung bezilglich des reaktionären Charakters des amerikanischen Nationalbewußtseins. „Nationalism", behauptete Varg, „as a self-conscious phenomenon was stimulated by the British challenge of the colonists' illusion of equal status and their confidence in their future role [in the empire]."Nach der Lektüre einer großen Auswahl an Predigten und Pamphleten aus der Zeit vor der Revolution beschloß Varg, daß filr Amerikaner „feelings involving pride and status suffered greater injury than did financial interests", Paul A. Varg, The Advent of Nationalism 1758-1776, in: American Quarterly 16 (1964), 175-176. Vgl. zu dieser Frage auch Greene, The British Revolution i.n America (wie Anm. 42), 16-20. 52 Maryland Gazette, 8. August 1765 (Abdruck eines Artikels aus der Boston Gazette vom 15. Juli 1765). i

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of animals, made the beast of burden to lawless, corrupt administration."SJ Ahnliche Ausführungen über die angebliche koloniale Minderwertigkeit waren vielen Amerikanern zu Ohren gekommen. James Otis Jr., der leidenschaftliche Rechtsanwalt aus Boston, der die Verfassungsmäßigkeit des Stamp Act bezweifelte, reagierte mit etwas plumper Ironie. „Are the inhabitants ofBritish America", so fragte er rhetorisch, „all a parcel of transported thieves, robbers, and rebels, or descended from such? Are the colonists blasted lepers, whose company would infect the whole House of Commons?"54 Die Antwort war komplizierter, als Otis dies gerne gehabt hätte. Arthur Lee, Sohn eines Tabakplantagenbesitzers aus Chesapeake, sah sich in einer hitzigen Debatte mit „Mr. Adam Smith" einem ähnlichen Problem gegenüber. Ganz gleich was der große Ökonom denken mochte, für Lee war offensichtlich, daß die Gründungsväter von Virginia als „distinguished, even in Britain, for rank, for fortune, and for abilities" angesehen werden mußten. Trotz dieser hochrangigen Herkunft, so führte Lee mit deutlichem Groll weiter aus, würde seine Generation nun „not as the fellow-subjects but as the servants of Britain" behandelt. ss Andere Kolonisten befleißigten sich einer gemäßigteren Sprache, aber im Kern unterschieden sich ihre Beschwerden und Klagen nicht von dem, was Otis oder Lee gesagt hatten. „The people in the colonies and plantations in America are really, truly, and in every respect as much the King's subject as those bom and living in Great Britainave," äußerte sich etwas weinerlich der Gouverneur von Connecticut, Thomas Fitch, und in seinen Worten schwingt der schreckliche Zweifel mit, daß die englischen Zeitgenossen dem vielleicht nicht zustimmen würden.s6 Besonders verärgert war man angesichts des Verdachts, daß sich einfache Männer und Frauen in England den Siedlern überlegen fühlten. Die Respektlosigkeit dieser sozialen Gruppe war zuviel für die Kolonisten. Als Beleidigung fand sie ihren Weg zu den einfachen Leuten in den Kolonien und verwandelte die allgemeine, politische Unzufriedenheit in eine persönliche Herausforderung für jeden Einzelnen. Silas Downer, Patriot aus Rhode Island, der sich selbst nur als „Son of Liberty" bezeichnete, quälte sein Publikum geradezu mit dem Statusverlust im Empire. Downer hielt anläßlich der „dedication ofthe Tree ofLiberty" eine Rede und erklärte: „lt is now an established principle in Great Britain, that we are subject to the peop/e of that country, in the same manner as they are subjects to the Crown. They expressly call us their subjects. The language of every paltry scribbler [... ] is after this lordly stile, our co/onies - our western dominions - our p/antations - our is/ands in America - our authority - our government - with many more ofthe like imperious expressions." Downer führte weiter aus, „it would

'1

Samuel Sherwood, A Sennon. Containing ScriptUJal lnstructions ... ,New Haven 1774, VI. "' James Otis Jr., A Vmdication ofthe British Colonies (1765], in: Bemard Bailyn (Hg.), Pamphlets ofthe American Revolution, Cambridge (Mass.) 1965, Bd. 1, 568. " [Arthur Lee], An Essay in Vindication ofthe Continental Colonies of America. From a Censure ofMr. Adam Smith, in His Theory ofMoral Sentiments ... by an American, London 1764, 18-20. " Thomas Fitch u. a., Reasons Why the British Colonies in America Should Not Be Charged with Interna) Taxes (1764], in: Bailyn, Pamphlets of the American Revolution (wie Anm. 54), Bd. 1, 387388.

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not be in any degree so humiliating and debasing [to be ruled by an absolute monarch] as tobe govemed by one part ofthe King's subjects who are but equals."57 Adams hatte die Mentalität der einfachen Menschen in den Kolonien verstanden, als er sich unter dem Namen „Ploughjogger" (Scharwerksknecht) als Fanner aus New England bezeichnete. Die Kolonisten waren zumindest bis in die Mitte der l 760er Jahre nicht besonders an der Schaffung einer eigenständigen Identität interessiert. Die Betonung von Unterschieden ging von den Engländern aus und sie waren es auch, die den Kolonisten ein Gefühl von Unterlegenheit vennittelten. Anders ausgedrückt: 'Amerikanisch' als deskriptive Kategorie scheint in diesem Kontext eine externe Konstruktion gewesen zu sein. Ein Begriff, der in gewisser Hinsicht auch deshalb geprägt worden war, um „humiliating and debasing" zu sein. In einer umfangreichen Studie zum Inhalt aller kolonialen Zeitungen unmittelbar vor der Revolution stellte Richard L. Merritt fest, daß „available evidence indicates that the Englishmen began to identify the colonial population as 'Americans' persistently after 1763 - a decade before Americans themselves did so." 58 Die volle Tragweite von Meritts Pionierleistung ist lange Zeit nicht erkannt worden. Tatsächlich hat erst kürzlich P. J. Marshall wieder auf die Tatsache hingewiesen, daß „the rise of the concept of 'American' owed quite a lot to British usage."S9 Die Sprache der Ausscbliessung, die man aus der Metropole London hören konnte, war ein neues Phänomen. Sie kam überraschend und war beunruhigend, zumal sie die Grundlagen des kolonialen Nationalismus, der bis zur Stamp Act-Krise weitverbreitet war, in Frage stellte. Die Kolonisten fühlten sich übel hintergangen. „Nor could any thing more sensibly affect them [the colonial Americans], or be thought ofwith more regret", erklärte Daniel Shute 1768 in einer Predigt, „than to be rescined from the body ofthe empire, and their present connections with GreatBritain."60 Für die Verschiebung von Identitätsvorstellungen im Empire bedurfte es aber mehr als nur solcher Mißverständnisse. Englands Sicht seiner eigenen 'Englishness'war ein schwerer Schlag für die Kolonisten. Das Überraschungselement hilft uns, den erstaunlich emotionalen Charakter der politischen Literatur in den Kolonien zu erklären. Falls man die Vorgeschichte der Revolution als eine juristische Analyse von Besteuerung ohne politische Repräsentation oder als aufgeklärte Debatte über konstitutionelle Fragen erzählen will, so wird man sich sicherlich

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land

Son ofLiberty [Silas Downer], A Discourse. Delivered in Providence in the Colony ofRhode IsAt thc Dcdication of the Tree of Liberty. From the Summer House in the Tree, Providence

.„

1768, 7-8. ss Richard L. Merritt, Symbols of American Community 1735-1775, New Haven 1966, 58-59, 130-131. Vgl. auch John M. Murrin, War, Revolution, and Nation-Making. The Amcrican Revolution versus the Civil War, Assembly Lecture, 29. September 1994, Grinnell College (im Besitz des Autors). 59 Marshal, Nation Defined by Empire (wie Anm. 27), 220. Vgl. auch Brie Evans, National Cons-

ciousness? The Ambivalence of English Identity in the Eightcenth Ccntury, in: Claus Bjom, Alexander Grant und Keith J. Stringer (Hg.), Nations, Nationalism, and Patriotism in the European Past, Kopenhagen 1994, 145-160. 60 Reverend Daniel Shute, An Election Sermon (1768], in: Charles Hyneman und Donald Lutz (Hg.), American Political Writing during the Founding Era 1760-1805, 2 Bde., Indianapolis 1983, Bd. 1, 129.

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schwer tun, den schrillen, ja sogar paranoiden Ton in der öffentlichen Diskussion der Kolonien zu verstehen. Dieses merkwürdige Phänomen wurde bereits von anderen Historikern angesprochen. Bernhard Bailyn z.B. hat in seiner Monographie „The ldeological Origins of the American Revolution" die Diskrepanz zwischen der Rhetorik der einfachen Bevölkerung und den rechtlichen Realitäten betrachtet.61 Die amerikanische Reaktion auf viele parlamentarische Verordnungen erscheint ihm dabei sehr viel verbitterter, als man aufgrund der realen Steuererhebung annehmen sollte. Bailyn zieht daraus folgenden Schluß: Im Laufe des 18. Jahrhunderts hatten die amerikanischen Siedler ein höchst aufrührerisches Element aus dem englischen politischen Diskurs übernommen, das sich hauptsächlich gegen Korruption und Klüngelwirtschaft, gegen den Verlust bürgerlicher Tugend („Civic Virtue") und gegen die Restauration des Stuartabsolutismus verwenden ließ. Als das Parlament den Kolonisten Steuerlasten ohne politische Partizipation aufbürden wollte, befürchteten die Amerikaner das Schlimmste. Die Ereignisse schienen ihren politischen und ideologischen Alpträumen zu entsprechen. Aus dieser Situation heraus gebrauchte man die 'Country'-Rhetorik, die von englischen Politikern ursprünglich zur Kritik an der Korruption des Hofes („Court") verwendet worden war, um die imperialen Verordnungen Londons als getahrliche Verschwörung gegen Freiheit und Besitz darzustellen. Als Deutung der erstaunlich irrationalen Rhetorik der Siedler mag dies durchaus zutreffend sein, aber die jähe Artikulation persönlicher Erniedrigung, die damit einherging, wird damit nicht hinreichend erklärt. Die außerordentliche Verbitterung und Schärfe der kolonialen Rhetorik verlangt danach, die weitverbreitete Angst ernst zu nehmen, die Engländer würden die Kolonisten systematisch zu Menschen zweiter Klasse degradieren. Sicnerlich stand den Siedlern durch die Übernahme der 'Country'-Rhetorik eine überzeugende politische Sprache zur Verfügung, um ihr Leid zu artikulieren. Was man jedoch nicht vergessen sollte, ist die Klage, ihre „British Brothers" hätten begonnen, sie wie „negroes" zu behandeln ein Vorwurf, der nicht einfach als amerikanisches Echo englischer Oppositionsprache aufgefaßt werden kann.62 Der Rassismus, der mit der Furcht vor der Ausschließung einherging, scheint in den Schriften zahlreicher bedeutender Patrioten der Kolonien auf. Männer wie John Adams zeigten, daß sie erfolgreich zu einer immer größer werdenden Zahl unzufriedener Amerikaner sprechen konnten. Nur wenige verstanden sich besser darauf als James Otis Jr. In den 60er Jahren des 18. Jahrhunderts hielt er einem fiktiven Vertreter der englischen Gesellschaft einen öffentlichen Vortrag: „You think most if not all the Colonists are Negroes and Mulattoes - You are wretchedly Bemard Bailyn, The Ideological Origins of the American Revolution, Cambridge (Mass.) 1967. Das gleiche Interpretationsproblem wirft auch Gordon S. Wood, Rhetoric and Reality in the American Revolution. in: William and Mary Quartcrly 23 (1966), 3-32, auf. 62 Varg, Advent ofNationalism (wie Anm. 51), 169-181; vgl. auch Jack P. Greene, All Men are Crcatcd Equal. Some Reflections on the Character of the Amcrican Revolution, in: J. P. Greene (Hg.), Imperatives, Behaviors, and Ideotities (wie Anm. 42), 236-267; sowie J. P. Grcene, The Amcrican Revolution, in: J. P. Grcenc (Hg.), Intcrpreting Early America. Historiographical Essays, Charloncsville 1996, 505-509. 61

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mistaken - Ninety nine in a hundred in the more Northem Colonies are white, and there is as good blood flowing in their veins, save the royal blood, as any in the three kingdoms."63 Als Daniel Dulany - ein Rechtsanwalt aus Maryland - 1765 gegen die Art und Weise protestierte, in der englische Beamte gewöhnlich die amerikanischen Siedler beschrieben, schlug er in der Tat Töne wie ein „Ploughjogger" an. In einem der auflagenstärksten politischen Pamphlete, die vor der Revolution geschrieben wurden, führte dieser Gentleman der Aufklärung aus: „What a strange animal must a North American appear tobe from these representations to the generality of English readers, who have never had an opportunity to admire that he may be neither black nor tawny, may speak the English language, and in other respects seem, for all the world, like one ofthem."64 Der anonyme Verfasser des „Letter to the People of Pensylvannia" (1760) verglich die weißen Siedler zwar nicht mit Schwarzen oder Indianern, dennoch stellte er unangenehme Fragen zu den Beleidigungen, denen Amerikaner europäischer Abstammung durch die Engländer ausgesetzt waren. „Can the least spark of reason be offered why a British subject in America shall not enjoy the like safety, the same protection against domestic oppression? Are you not ofthe same stock? Was the blood of your ancestors polluted by a change of soil? Were they freemen in England and did they become slaves by a six-weeks' voyage to America?"6S Der Ausdruck „slaves" (Sklaven) sollte uns aufmerksam machen. Man kann sich nur schwer vorstellen, daß der Verfasser ihn in diesem Kontext als einen abstrakten Begriff politischer Theorie gebrauchte, um ein Volk ohne Rechte zu beschreiben. Die Beschwerde bezieht sich auf „the blood of your ancestors" und sollte eindeutig zum Ausdruck bringen, daß Amerikaner sich geradezu rassistisch erniedrigt fühlten. Vor diesem sich allmählich radikalisierenden kolonialen Hintergrund mußte der ' Stamp Act' die Amerikaner ganz besonders schmerzvoll an den zweitklassigen Rang erinnern, den man ihnen neuerdings zuwies. Selbstverständlich befaßte sich ein Großteil der kolonialen Rhetorik mit den Verfassungsfragen, welche die Besteuerung ohne politische Repräsentation aufwarf. Die Amerikaner begriffen, daß sie nicht nur in rechtlichen Fragen anders behandelt wurden als einfache Männer und Frauen, die zufällig in England lebten. „What, my Lord [William Pitt]", fragten die Mitglieder der Massachusetts Assembly, „have the colonists done to forfeit the character and privilege of subjects, and to be reduced in effect to a tributary state?"66 Die Politiker in der Provinz wußten genau, daß das englische ParJohn Hampton (James Otis Jr.] an William Pym, Boston Gazette, 9. Dezember 1765. Daniel Dulany, Considerations on the Propriety oflmposing Taxes in the British Colonies [1765], in: Bailyn, Pamphlets ofthe American Revolution (wie Anm. 54), Bd. 1, 635. 6.l A Letter to the People of Pennsylvania, Philadelphia 1760. 66 The House of Representatives of Massachusetts to the Earl of Chatham (2. Februar 1768), in: Harry Alonzo Cushing (Hg.}, Writings ofSamuel Adams, 4 Bde„ New York 1904, Bd. 1, 181. Die in diesem Artikel aufgestellte These schließt andere Sichtweisen der Bildung einer wirkmAchtigen nationalen Identität nicht aus. Die öffentlichen Rituale, die wir mit dem Boykott von Importen verbinden und die öffentliche Bekanntmachung dieses Wirtschaftsboykotts in den kolonialen Zeitungen sind nur ein Beispiel hierfür. Für die symbolische Bedeutung der Boykottbewegung und ihre Auswirkungen auf die Fähigkeit der Amerikaner, sich eine größere nationale Gemeinschaft vorzustellen, siehe Breen, Narrative of Commercial Life (wie Anm. 13), 471-501 und David Waldstreicher, Rites of Rebellion, 63

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lament in Friedenszeiten nicht gewagt hätte, dem Volk in Großbritannien derartige Lasten aufzubürden. Überdies ging es den Amerikanern bereits innerhalb des Empire nicht besonders gut. Die irischen Protestanten hatten immerhin ihre eigene Nationalversammlung; die Schotten entsandten gewählte Mitglieder ins Parlament. Vom amerikanischen Standpunkt aus sah man den 'Stamp Act' deshalb als eine genau berechnete Beleidigung an, als eine eindeutige politische Erklärung ihrer Ausschließung und somit als eine Ablehnung englischer Rechte für Amerikaner. John Hancock - amerikanischer Patriot und führender Kaufmann aus Boston - ging in seinem ersten Kommentar zu diesem Gesetz weit darüber hinaus, es lediglich als eine wirtschaftliche Belastung anzuprangern. „I will not be a Slave", erklärte er nachdrücklich, „I have a right to the Libertys & privileges of the English Constitution, & as an Englishman will enjoy them."6 7 In einem 1766 unter dem Titel „Liberty and Property Vindicated" veröffentlichten Essay vertrat auch Benjamin Church nachdrücklich diese Ansicht. Church erklärte, daß ein Engländer zu sein, „without hav[ing] the privileges of Englishmen, is like a man in a gibbet, with dainties set before him, which would refresh him and satisfy his craving appetite if he could come at them, but being debarr'd ofthat privilege, they only serve for an aggravation of his hunger."68 In seiner 1768 veröffentlichten Schrift „The Nature and Extent ofparliamentary Power" vertrat William Hicks den Standpunkt, daß „As a colonist, my most ambitious views extend no further than the rights of a British subject. 1 cannot comprehend how my being bom in America should divest me of these. [ ...] If we are entitled to the Liberties of British subjects we ought to enjoy them unlimited and unrestrained."69 Als sich die Verfassungskrise mit dem Parlament weiterentwickelte und es immer unwahrscheinlicher wurde, daß eine politische Aussöhnung zu erreichen war, verwandelte sich das amerikanische Gefühl der Erniedrigung allmählich in die Vorstellung, aus einem Empire verdrängt worden zu sein, das einst Freiheit und Eigentum garantiert hatte. Selbst zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit konnten sich die Siedler immer noch nicht so recht erklären, weshalb die Minister Georgs III. beschlossen hatten, ein stolzes Volk systematisch seiner Ehre zu berauben. „Had our petitions and prayers been properly regarded," predigte Reverend Henry Cummings 1781 am Ort der Schlacht von Lexington, „and moderate pacific measures pursued, we should have entertained no thoughts ofrevolt." Dies war wohl kaum ein Ausdruck des selbstbewußten Patriotismus, den man in dieser Situation erwarten würde. Doch Cummings spielte mit dem Topos der Ausschließung. „lt was far Rites of Assent. Celcbrations, Print Culture, and the Origins of Arncrican Nationalisrn, in: Journal of American History 82 (1995), 37-61. 6? John Hancock an Bamard und Harrison, 21. Oktober 1765, Letter book 1762-1783, 139, Manuscript Colleetion, Harvard Univcrsity Business School Library Boston (Mass). 61 Benjamin Church, Libcrty and Propcrty Vindicated [ ... ],Boston 1766, 12; vgl. auch: David S. Lovejoy, Rights Irnply Equality. The Case against Adrniralty Jurisdiction in America 1764-1776, in: William and Mary Quarterly 16 (1959), 459-484; Die beste Übersicht Ober die Organisation des kolonialen Widerstandes in Amerika gegen den Starnp Act bieten Edmund S. Morgan und Helen Morgan, Tbc Starnp Act Crisis. Prologuc to Revolution, Chapcl Hili 1953. 69 William Hicks, Tbc Nature and Extent of Parliamentary Power, Philadelphia 1768, 18.

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from our intention or inclination to separate ourselves from Great-Britain; and that we had it not even in contemplation to set up for independency; but on the contrary, earnestly wished to remain connected with her, until she had deprived us of all hopes of preserving such a connection, upon any better terms than unconditional submission."70 Thomas Jeffersons Unabhängigkeitserklärung - nicht die letzte, veröffentlichte Fassung, sondern die Arbeitsskizze, die er dem Kongress vorlegte - war vielleicht ein noch zynischerer Ausdruck des Gefühls, nicht dazuzugehören. Jefferson gönnt sich hier eine seltene Zurschaustellung von Gefühlen. Wie am Ende einer gescheiterten Ehe, so sind die Unterschiede auch hier sehr persönlich geworden, mehr Herzens- als Verstandesfragen. Eine Partei ist eindeutig im Unrecht. Es waren die Engländer, die ihre koloniale Beziehung zu Amerika neubestimmt und den Amerikanern - aufgrund ihres eigenen übersteigerten Nationalgefühls - die volle Gleichberechtigung innerhalb des britischen Empires verweigert hatten. Nun entsandte das Parlament nach einer Reihe unerklärbarer Beleidigungen Söldner, welche die Siedler abschlachten sollten. Das war die letzte und am wenigsten zu entschuldigende Erklärung der Respektlosigkeit durch das englische Mutterland. „These facts have given the last stab to agonizing affection, and manly spirit bids us to renounce for ever these unfeeling brethren. We must endeavour to forget our fonner love for them. [...] We might have been a free & a great people together; but a communication of grandeur & of freedom it seems is below their dignity. Be it so, since they will have it: the road to glory & happiness is open to us too." 71 Die Zurschaustellung nationaler Überlegenheit durch die Engländer zwang die Siedler nicht nur dazu, sich selbst als eigenständige Nation zu denken, sie hatte auch tiefgreifende Auswirkungen auf die Grundlagen politischer Ideologie in Amerika. In den l 760em griffen die Siedler die Sprache der Menschenrechte und des Liberalismus mit bisher ungekannter Leidenschaft auf.72 Diese Beobachtung ist nicht neu. In den letzten Jahren haben allerdings immer mehr Historiker, die sich mit der Geschichte politischer Ideen beschäftigen, den Einfluß Lockes im vorrevolutionären Amerika abgewertet. Für Bemard Baylin fehlte es dem liberalen Diskurs dieser Epoche unter anderem an Überzeugungskraft. „We know now," betont Baylin, „that Enlightenment ideas, while they fonn the deep background and give a general coloration to the liberal beliefs of the time, were not the ideas that directly shaped the Americans' responses to particular events."73 Bis zu einem 10 Henry Cummings, A Sennon Preached at Lexington on the 191• of April (1781], in: Ellis Sandoz (Hg.), Political Sermons ofthe American Founding Era 1730-1805, Indianapolis 1991, 671. 11 Julian P. Boyd (Hg.), The Papers ofThomas Jefferson, 26 Bde., Princeton, 1950ff., Bd. 1, 427. Zum Einfluß John Lockes auf Jefferson während dieser Zeit siehe: Garrett Ward Sheldon, The Political Philosophy ofThomas Jefferson, Baltimore 1990, 2-51. 12 Eine detaillierte Studie des wirkungsvollen Einflusses des Liberalismus und der Grundrechtsidee auf die Öffentlichkeit bietet T. H. Breen, Mr. Locke's Colonial Disciples. Restoring an American Public Philosophy, Vortrag auf der Konferenz „Republicanism as Anti-Monarchism", European Science Foundation, Max-Planck-Institut für Geschichte, Göttingen, 21. April 1996 (im Besitz des Autors), und T. H. Breen, Equality in the British Empire. James Otis' Radical Critique of John Locke (in Vorbereitung). n Bemard Baylin, The Ccntral Themes of the American Revolution. An Interpretation, in: Kurtz / Hutson, Essays on the American Revolution (wie Anm. 5), 17.

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gewissen Grad hat Baylin recht. Eine ältere Generation von Historikern hat die Forderung nach Grundrechten als sakrosankte Prinzipien beschrieben, als zeitlose und selbstverständliche Wahrheiten, deren Ansehen man nicht mit Faktoren der Gesellschaftsgeschichte erklären mußte. Wenn man die Bedeutung Lockescher Ideen in derart ehrfurchtsvollen Worten beschreibt, läßt sich nur schwer verstehen, weshalb einfache Menschen die Grundrechtsidee so überzeugend fanden, weshalb sie für solche Überzeugungen ihr Leben sogar auf dem Schlachtfeld riskierten. Die allgegenwärtige Diskussion über Grundrechte am Vorabend der Revolution scheint noch unerklärlicher geworden zu sein, seit Historiker wie John Dunn und Isaac K.ramnick kürzlich gezeigt haben, daß während des größten Teils des 18. Jahrhunderts weder amerikanische noch englische Autoren mehr als ein vorübergehendes Interesse an John Lockes „Second Treatise" (1689) hatten. 74 Natürlich beriefen sich die Siedler auf die Autorität Lockes in Debatten, die über religiöse Toleranz, Papiergeld und Pädagogik geführt wurden. Doch vor den 60er Jahren des 18. Jahrhunderts griffen nur sehr wenige koloniale Kommentatoren seine Argumente für politischen Widerstand, für die Gleichheit aller Menschen im Naturzustand oder für die Existenz von Grundrechten im Naturzustand auf. „lt was only in the second half of the century", erklärt Dunn, „when Locke's vast philosophical eminence conferred an intellectual stature on the work [Second Treatise] despite its low reputation, and when its practical implications became so hotly contested, that there was any great pressure to treat it with füll intellectual seriousness. " 75 Das Schlüsselwort hier ist „practical implications". Die politischen Schriften Lockes erlangten für solche Bürger eine besondere Bedeutung, die versuchten, sich dem zudringlichen Nationalismus des kolonialen Mutterlandes zu widersetzen. Sie hatten bereits in Irland eine ähnliche Rolle gespielt. Laut Patrick Kelly bezog sich William Molyneux zur Verteidigung des „sole right of the Irish parliament to legislate for Ireland" ausdrücklich auf das Werk Lockes. Anders gesagt: In Irland, und nicht in England, begann man erstmals zu schätzen, daß der Diskurs über Grundrechte eine außergewöhnliche Fähigkeit zur politischen Mobilisierung der Gesellschaft besaß. Molyneux, fährt Kelly fort, „reinterpreted Locke in a manner particularly applicable to the vexed prob lern of Ireland's relations with England in arguing that the natural right to consent to government meant that no one nation could have an exclusive right to dominate another. " 76

John Locke, Two Treatises of Govemment, hg. von Peter Laslett, Cambridge 1988. " John Dunn, Tbc Politics of Locke in England and Amcrica in thc Eightccnth-Ccntury, in: John W. Yolton (Hg.), John Locke. Problemsand Perspectives, Cambridge 1969, 69-75. Zur plötzlichen Ausweitung des Interesses an Locke in den 60er Jahren des 18. Jahrhunderts siehe: Isaac Kramnick, Republicanism and Bourgeois Radicalism. Political ldeology in Late Eightccnth-Century England and America, lthaca 1990, 4, 170-175. Vgl. auch A. John Simmons, The Lockean Theory of Rights, Princeton 1992; und Joyce Appleby, Liberalism and thc Amcrican Revolution, in: New England Quarterly 49 (1976), 3-26. 16 Patrick Kelly, Perceptions of Locke in Eightccnth-Century lreland, in: Procecdings of the Royal lrish Academy 89 (1989), 17-21. Siehe auch: J. G. Simms, Colonial Nationalism 1698-1776. Molyneux's Thc Casc of lreland .„ Statcd, Cork 1976, 9-39. Einen groben Überblick der politischen Bedeutung Lockcs in Bezug auf andere ideengcschichtlicbc Quellen der l 760cr Jahre bietet: Donald 1•

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Das Beispiel Irlands verhilft uns zu einem besseren Verständnis der logischen Beziehung zwischen dem neuerdings aggressiven Nationalismus in England und der beeindruckenden Anziehungskraft, welche liberale Grundrechtsideen im Amerika vor der Revolution hatten. Die Siedler konnten sich auf eine Vielzahl unterschiedlicher politischer Sprachen beziehen und taten dies auch. Begeistert nahmen sie einige Elemente des „Civic Humanism" auf, besonders seine beeindruckende Analyse von Tugend und Korruption. Aus der Tradition protestantischen Denkens übernahmen sie ein umfangreiches Vokabular des Widerstandes gegen Despotismus. Welchen Nutzen diese widerstreitenden Ideologien auch immer besessen haben mögen, keine von ihnen hatte viel über jene zwei Vorstellungen zu sagen, die nach 1763 die politischen Schriften in der Kolonie beherrschten Gleichheit und Grundrechte. In derartigen Fragen bot Locke hervorragende Hilfestellungen. Seine politische Philosophie war, zumindest in der Interpretation der Siedler, mehr als eine selbstgefällige Verteidigung des Individualismus und der Sicherheit des Eigentums. Ein Großteil dessen, was amerikanische Historiker über das liberale Gedankengut des 18. Jahrhunderts zu wissen glauben, ist letztlich nicht mehr als eine grobe Karikatur, nicht mehr als die Rückprojektion eines Kanons an Vorstellungen über das Individuum und den Staat in die spätkoloniale Gesellschaft, welche die Generation der amerikanischen Revolution nicht wiedererkennen würde. 77 Jene, die in unserer historischen Vorstellung Liberalismus durch „Civic Humanism" und Republikanismus ersetzen wollen, sollten sich vielleicht einmal Gedanken darüber machen, mit wieviel Erfolg diese Sprachen Türen geöffnet haben, die denen verschlossen blieben, die aus der politischen Gesellschaft ausgegrenzt waren. 78 Was auch immer die gegenwärtige Geschichte des Liberalismus dazu zu sagen hat, die Erklärung für die Attraktivität des Grundrechtsargumentes im spätkolonialen Amerika scheint doch in der Zwischenzeit eindeutig zu sein. Im Rahmen eines Empires, in dem es durch den übersteigerten Nationalismus des Mutterlandes zu Spannungen kam, bekam der Grundrechtsgedanke eine außergewöhnliche Überzeugungskraft. Auf die von außen kommende Bedrohung durch eine selbst-

S. Lutz, The Relative Jnfluence of European Writers in Late Eighteenth-Century American Political Thought, in: American Political Science Review 78 (1984). 193. n Ronald Hamowy, Jefferson and the Scottish Enlightenment. A Critique of Garry Wills's Inventing America: Jefferson 's Declaration of lndependence, in: William and Mary Quarterly 36 ( 1979), 503-523; Ronald Hamowy, Cato's Letters, John Locke, and the Republican Paradigm, in: Edward J. Haphram (Hg.), John Locke's Two Treatises of Government. New Interpretations, Lawrence 1992, 148-172. Vgl. auch: H. T. Dickinson, Liberty and Property. Political ldeology in Eighteenth-Century Britain, London 1977, 127-199. 1 • Ich halte an der Auffassung fest, daß explosive Debatten innerhalb des Liberalismus - etwa über Grundrechte und Gleichheit, über die fließenden Grenzen des politischen Miteinbezugs und über die Ausweitung des Bürgerrechtes - dem Grundrechts-Liberalismus erst ein dauerhaftes radikales Potential gaben, das alternativen Ideologien wie dem Civic Humanism, dem Kommunitarismus und dem Republikanismus fehlte. Es ist wichtig, sich in Erinnerung zu rufen, daß der Liberalismus der Zeit vor der Revolution nicht der gleiche war wie der am Ende des 19. Jahrhunderts. Konstruktive Neubewertungen des Liberalismus in der modernen amerikanischen Gesellschaft bieten Nancy L. Rosenblum (Hg.), Liberalism and the Moral Life, Cambridge (Mass.) 1989 und Bernard Yack (Hg.), Liberalism without lllusion. Essays on Liberal Theory and the Political Vision of Judith N. Shklar, Chicago 1996.

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bewußte Militärmacht, der anscheinend daran gelegen war, die Siedler an die Ränder des Empire abzudrängen, reagierten die Amerikaner mit der allumfassenden Sprache der Grundrechte, mit einer Sprache des politischen Widerstandes, die betonte, daß es ein Paket gottgegebener Rechte „prior to and independent of the claims of political authority" 79 gab. Der Locke des „Second Treatise" erschien den Amerikanern gerade deshalb die Verkörperung des gesunden Menschenverstandes zu sein, weil er allgemeine Überlegungen über Menschenrechte und Gleichheit von der traditionellen Rhetorik der britischen Geschichte ablöste. Er befreite die politische Theorie von den Zwängen der Zeit und des Gewohnheitsrechts, von rein englischen Präzedenzfällen. Jan Shapiro, ein Historiker aus dem Bereich der politischen Ideengeschichte, hat erklärt, daß „Locke shifted the basis of antiabsolutist conceptions of political legitimacy away from history and toward a moral justification based on an appeal to reason."80 Alle, die immer noch daran festhalten, daß die von J. G. A. Pocock so detailliert in „The Machiavellian Moment" beschriebene republikanische Ideologie den Kolonisten ebenso gute Dienste hätte erweisen können, stehen unter dem eindeutigen Erklärungszwang, was eine grundsätzlich historische Rechtfertigung der 'Ancient Constitution' zur Frage der Umsetzung zeitloser Menschenrechte zu sagen hat. 81 Wie folgerichtig die Begeisterung für den Grundrechtsliberalismus auch gewesen sein mag, sie war für die Siedler grundsätzlich ein strategischer Zug. In den Worten eines Fachmanns im Bereich des anglo-irischen Patriotismus verwandten die Amerikaner „transhistorical arguments of natural equity and human liberty [as] they did not have much of a historical leg to stand on."82 In ihrer kürzlich unter dem Titel „Colonial Identity in the Atlantic World" veröffentlichten Studie kommen Canny und Nicholas Pagden zu einer erstaunlich ähnlichen Schlußfolgerung. Die Amerikaner des 18. Jahrhunderts, erklären sie, „could only make their demands in terms either of claims of some set of political traditions that they shared with the metropolitan culture or, as most were ultimately to do, of claims ofa body ofnatural rights shared by all men everywhere."83 Diese Schlußfolgerung legt nahe, daß der amerikanische Liberalismus einen Großteil seiner an-

79 Dunn, Interpreting Political Responsibility (wie Anm. 43), 12, 13-15. Siebe auch: Isaac Kramnick, Republican Revisionism Revisited, in: Amcrican Historical Review 87 (1982), 629-664; und Yuhtaro Ohmori, The Artillery ofMr. Locke. Tbc Usc ofLockc's Second Treatisc in Pre-Revolutionary America, 1764-1776, Diss. Johns Hopkins University 1988. 80 Ian Shapiro, Tbc Evolution ofRights in Liberal Theory, Cambridge (Mass.) 1986, 279. 11 J. G. A. Pocock, The Machiavellian Moment. Florentine Political Thougbt and tbe Allantic Republican Tradition, Princeton 1975. Erst kürzlich hat Pocock den Charackter verbreiteter Ideologien am Vorabend der Amerikanischen Unabhängigkeit neu überdacht. Er behauptet, daß die Siedler die traditionellen „rights of Englishmen at common law" systematisch in „right by a higher law" übersetzten. Für Pocock „it was by this route that Americans came to believe that they enjoyed the rights ofEnglishmen in a bigher and more perfect sense than that in which Englishmen enjoyed them, and were by nature that which Englisbmen were merely by history"; J. G. A. Pocock, Empire, State, and Confederation. The War of American Independence as a Crisis in Multiple Monarchy, in: Robertson, Union for Empire (wie Anm. 40). 336. Vgl. auch: H. T. Dickinson, The Politics ofthe Pcople in Eighteenth-Century Britain, New York 1992, 164-165. 12 Leersen, Anglo-Irish Patriotism and Its European Context (wie Anm. 39). 21. u Canny / Pagden, Colonial ldcntity in the Atlantic World (wie Anm. 32), 273.

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fänglichen Anziehungskraft seiner Effektivität als rhetorischer Strategie verdankt haben könnte, als politische Sprache eines kolonialen Volkes, das sich selbst noch nicht als Nation erfunden hatte, und welches deshalb auch noch keine gemeinsame Geschichtssicht entwickelt hatte. In jeder öffentlichen politischen Diskussion findet man die Sprache der Grundrechte und der Gleichheit. Selbstverständlich sind Argumente für die Vorherrschaft eines bestimmten politischen Diskurses in egal welcher Epoche immer impressionistisch. Obwohl wir auch den Widerhall des klassischen Republikanismus und die Einflüsse des Protestantismus feststellen können, so treffen wir doch zumeist auf ein zorniges, schrilles und oftmals nervöses Beharren auf der Grundrechtsidee. In den 60er Jahren des 18. Jahrhunderts und in den frühen 70ern beriefen sich die Autoren in den Kolonien immer wieder auf die Autorität John Lockes. Die Ideen des großen Philosophen beeinflußten das öffentliche politische Bewußtsein auch dann, wenn sein Name nicht genannt wurde.84 Man berief sich nicht nur in den ausgefeilten Pamphleten auf die Grundrechte, die scheinbar von akademisch gebildeten Juristen für andere gelehrte Juristen verfaßt wurden, sondern auch in der Tages- und Wochenpresse und in Predigten. Überall im Amerika der Jahre vor der Revolution reagierten Männer und Frauen mit dem aufgebrachten Schrei „Wir sind genauso gut wie die Briten" auf das, was sie als die Arroganz der Engländer auffaßten. Kurz vor seinem Tod predigte Reverend Jonathan Mayhew vor einer Kirchengemeinde in Boston, die eben erst Zeuge gewalttätiger Unruhen gegen den Stamp Act geworden war. Er erzählte seinen Zuhörern, daß er für „commonly-received opinions" eintrat, für das was als „taken for granted" galt. „In pursuance of this plan", fuhr Mayhew fort, „it shall now be taken for granted, that as we are freebom, never made slaves by the right of conquest in war [.„] we have a natural right to our own, till we have freely consented to part with it, either in person, or by those whom we have appointed to represent, and to act for us."8S Mit anderen Worten rief der „Newport Mercury" im September 1767 seinen Lesern das gleiche in Erinnerung: „To enjoy our natural Rights and the Liberties of English subjects, is the supreme felicity of mankind. [„.] Natural Rights, and the Liberty of English subjects undoubtedly belong to Americans."86 Der Grundrechtsliberalismus war derart durchdringend, daß sich eine Stadtratssitzung in den Kolonien binnen kürzester Zeit in ein öffentliches Seminar über die Philosophie John Lockes verwandeln konnte. Am 20. November 1772 beauftragte der Stadtrat von Boston ein aus 20 Mitgliedern bestehendes Komitee damit, „to state the Rights of the Colonists, and of this Province in particular, as Men, as s• Siehe zum Beispiel: John Phillip Reid, Constitutional History ofthe American Revolution. The Authority of Rights, Madison 1988, 90-93; Richard R. Beeman, Deference, Republicanism and the Emergence of Popular Politics in Eighteenth-Century America, in: William and Mary Quarterly 49 (1992), 401-430, bringt sehr viel gesunden Menschenverstand in die Diskussion um die vorrevolutionäre Ideologie ein; vgl. auch Stephen Holmers, Liberalism for a World of Ethnic Passions and Decaying States, in: Social Research 61 (1994), 599-610. u Reverend Jonathan Mayhew, The Snare Broken. A Thanksgiving Discourse [ 1766), in: Sandoz, Political Sermons ofthe American Founding Era (wie Anm. 70), 239-240. s6 Newport Mercury, 14. September 1767.

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Christians, and as Subjects." Der Bericht des Komitees erhielt binnen kurzer Zeit die Zustimmung der Bostoner Grundbesitzer und anderer Einwohner. Man war sich darin einig, daß „All Men have a Right to remain in a State ofNature as long as they please." Keine Regierung könne ihre Untertanen dazu zwingen, daß sie ihre Rechte aufgäben. Gerade in diesem grundlegenden Punkt zitierten die Autoren des Berichtes Locke. Von ihm hatte das Bostoner Komitee erfahren, daß „The natural Liberty of Man is to be free from any Superior Power on Earth, and not to be under the Will or legislative Authority ofMan; but only to have the Law ofNature as bis Rule." In einer Erklärung, die eindeutig darauf abzielte, die Unterstützung einer breiten Öffentlichkeit zu mobilisieren, bestanden die Verfasser schließlich darauf, daß ,,All Persons born in the British American Colonies, are by the Laws of GOD and Nature [„.] entitled, to all the natural, essential, inherent, and inseparable Rights, Liberties and Privileges of Subjects born in Great-Britain, or within the Realm." 87 Was auch immer dieses Schriftstück sonst noch enthalten haben mag, es scheint weder außerordentlich religiös zu sein, noch ist es eine Ausgeburt des „Civic Humanism". Wie viele andere Amerikaner dieser Zeit auch, forderten die Mitglieder des Bostoner Komitees die Teilhabe an einem Empire, das scheinbar immer exklusiver wurde. Sie waren sich instinktiv darüber im Klaren, daß Argumente, die man der gemeinsamen britischen Vergangenheit entnahm, keine große Durchschlagskraft gegen ein Mutterland haben würde, das sich im Prozeß der Nationalisierung befand. Ein aggressiv gewordener englischer Staat zwang die Amerikaner dazu, die Geschichte zu überspringen und die Gleichheit aller Menschen und Kolonien auf der Grundlage zeitloser Grundrechte zu verteidigen. Das englische Nationalbewußtsein verwandelte die Amerikaner keineswegs in Grundrechtsliberale; es war lediglich ein notwendiger Katalysator. Wenn wir die Neuansätze Edmund S. Morgans noch einmal überdenken - oder anders gesagt, wenn wir unsere Interpretation des Vorlaufs der Revolution in den Kontext der neueren historischen Forschung über das England des 18. Jahrhunderts einbetten - dann verstehen wir, weshalb die vergessenen „Ploughjoggers" des kolonialen Amerika derart zornig und abwehrend waren, weshalb die Liberalen in der Kolonie sich derart vor der Zurückweisung fürchteten, und vor allen Dingen werden wir ein Volk entdecken, daß durch die sich verändernden Identitäten innerhalb des Empires grundlegend verwirrt wurde. Erst nach der Revolution, als die Amerikaner selbst der rassistischen und ausgrenzenden Logik ihres eigenen Nationalismus gegenüberstanden, hatten einfache Männer und Frauen - was auch immer aus ihrem Land geworden war - Veranlassung dazu, dankbar zu sein, daß sie als eine Gesellschaft begonnen hatten, die für Grundrechte und die Gleichheit der Menschen untereinander eintrat. Diese Vorstellungen sind heute nicht weniger radikal, als sie es damals waren.

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The Votes and Proceedings of the Freeholders and Othcr Inhabitants of the Town of Boston. In Town Meeting Assembled, According to Law, Boston 1772, 2-11.

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Die Forschung hat in den letzten Jahren verstärkt die Entwicklung eines neuen, sich intensivierenden und nach außen hin immer aggressiver agierenden britischen Nationalbewußtseins in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts herausgearbeitet, das als „british "firmierte, in Wahrheit aber zur Gänze englisch geprägt war. Zu den dabei zunehmend ausgegrenzten „peripheral people" gehörten auch die nordamerikanischen Kolonien, deren Eliten sich bisher dezidiert als Teil des Empire empfunden hallen. Überrascht und, wie eine Sichtung der politischen Literatur seit den J760er Jahren ergibt, zunehmend emotional reagierte man dort auf die geistigen Exklusionsstrategien im Muller/and, die den „Americans " eine abweichende politisch-soziale Identität zuwies. Nicht aufgrund endogener Entwicklungen in den Kolonien also, sondern auf die exogene Neudefinition von „britishness" reagierend, entwickelte man in Amerika eigene Identitätsvorstellungen, die zentral wichtig/Ur die politische Ideologie der Unabhängigkeitsbewegung wurden. Das wichtigste ideologische Versatzstück für die politische Mobilisierung der Gesellschaft dabei war ein naturrechtlicher Liberalismus Lockescher Provenienz. In recent years researchers have established that a new, more intense British national consciousness developed in the second halfofthe eighteenth century. lt was characterized by a growing aggression directed outwards, and while it posed as British, in reality it was completely English in nature. The peripheral people who were increasingly exc/uded as a result inc/uded the North American colonists, whose elites had until this time determinedly regarded themselves as part of the Empire. The American colonists reacted with surprise and, as an examination of the political literature since the 1760s shows, growing emotion to the intellectual strategies of exc/usion by which the motherland assigned the Amercians a divergent political and social identity. Thus the Americans developed notions of their own identity as a reaction to the exogenous redefinition of Britishness, and not as the result of endogenous developments in the colonies. These notions of identity were to be of great significance for the political ideology of the independence movement. The most important ideological component in terms of mobilizing society politically was a liberalism based on natural law and derivedfrom Locke. Prof. Timothy Brcen, Northwestem Univcrsity, Department of History, 1881 Sberidan Road, Evanston, Illinois, 60208-2220

KURZBIOGRAPHIE

JOHANN GOTTLOB BENJAMIN PFEIL (1732-1800)

Am Schönkopfsehen Mittagstisch in Leipzig speiste 1766 nicht nur der Student Goethe, sondern unter anderem auch „Hofrat Pfeil, Verfasser des Grafen von P„ eines Pendants zu Gellerts schwedischer Gräfin [...] ein feiner, beinahe etwas Diplomatisches an sich habender Mann, doch ohne Ziererei und mit großer Gutmütigkeit". Er „bewies mir eine ernste Neigung, indem er mein Urteil über manches zu leiten und zu bestimmen suchte." Durch Pfeil lernte er „das Bedeutende des Stoffes und das Konzise der Behandlung mehr und mehr zu schätzen" ('Dichtung und Wahrheit', 2. Teil, 7. Buch). Gleichwohl hat sich Pfeil in der Literaturgeschichte durch andere Taten einen Namen gemacht als durch die von Goethe berichteten. Er gilt neben Lessing als Begründer des deutschen Bürgerlichen Trauerspiels. 1755, im Juli, im Jahr von Lessings 'Miß Sara Sampson', erschien in den ' Neuen Erweitenmgen der Erkenntnis und des Vergnügens' eine Abhandlung 'Vom bürgerlichen Trauerspiele'. Sie erschien anonym, doch schon Wilhelm Scherer vermutete, daß sie von Pieil stammte, und Alberto Martino konnte den schlüssigen Nachweis liefern, daß diese Vermutung zutraf. In dieser Abhandlung vertrat Pfeil programmatisch den Standpunkt, daß das Personal des Trauerspiels sieb nicht nur auf hohe Personen beschränken müsse, sondern daß es „einen gewissen Mittelstand zwischen dem Pöbel und den Großen" gebe, der ebenfalls „desjenigen Grades der Tugend und Laster fähig" sei, „den die tragische Schaubühne erfordert". Die soziale Nähe der Figuren zu den Zuschauern mache Trauerspiele mit 'bürgerlichem' Personal sogar besonders geeignet, Schrecken und Mitleid zu erregen und mittels ihrer die Zuschauer zur

Verehrung der Tugend und zum Abscheu vor dem Laster anzuhalten. Von diesen Maximen ausgehend entwirft er eine regelrechte Poetik des Bürgerlieben Trauerspiels. Pfeil setzte seine Theorie auch gleich in die Praxis um. 1756 erschien ohne Angabe der Verfasserschaft sein Trauerspiel 'Lucie Woodvil', wie ' Sara Sampson' in einer Art von 'englischem' Milieu angesiedelt, denn England galt insgesamt als Herkun.ftsland dramatischer Innovation, vom sagenhaften Shakespeare (oder ' Sasper') bis zu George Lillos 1755 erstmals in Deutschland gespieltem 'Kaufmann von London'. Die Geschichte ist schaurig: Lucie, Frucht eines Fehltritts von Sir Willhelm (!), wird von diesem ins Haus genommen, ohne von ihrer Herkunft zu wissen. Sie verliebt sich in den Halbbruder Karl, der Vater kann, da er nicht zu einem Geständnis seines Fehltritts bereit ist, nur ohne Gründe die Heirat verbieten. Lucie wird schwanger, sie mordet den Vater, meuchelt sich selbst, der Bruder verfällt in Wahnsinn und als Wahnsiniger kann er denn auch die flilligen Zweifel an der Theodizee äußern: „Karl", so sagt er von sich selbst, „ist unschuldig. Er leidet, ohne es zu verdienen. Du, Himmel, erröte, daß du ihn gezwungen hast, lasterhaft zu sein." Die Vernünftigen aber wissen gleichwohl das richtige Schlußwort zu sprechen: ,,Laß uns aus Karls und Luciens unglücklichem Beispiele lernen, daß demjenigen das größte Laster nicht weiter zu abscheulich ist, der sich nicht scheut, das allergeringste auszuüben." 'Lucie Woodvil' soll anfangs mindestens ebenso erfolgreich gewesen sein wie 'Miss Sara Sampson'. Der von Goethe genannte Roman 'Geschichte des Grafen P.' erschien erstmals gleichfalls anonym - 1755, brachte es auf

Aufkliirung 10/2 C Felix Meiner Verlag, 1998, ISSN 0178-7128

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Kurzbiographie

fünf deutsche Auflagen, wurde ins Engli~he (1767) und ins Französische (1771) übersetzt - und vergessen. Der Roman gilt als Nachahmung von Gellerts 'Schwedischer Gräfin von G.', auch von Prevosts 'Manon Lescaut', der Romane Richardsons und der Tradition des galanten Romans - fast etwas zuviel für eine bloße Nachahmung. Aber Originalität wird man in dieser Zeit ohnedies nur in sehr engen Grenzen als Wert voraussetzen dürfen. Zudem weiß Pfeil seine Vorbilder geschickt zu adaptieren (vgl. hierzu besonders MeyerKrentler). Die der Prevostschen Manon-Geschichte nachgebildete Fanchon-Geschichte unterscheidet sich dadurch, daß Pfeils Held ganz von der Unschuld seiner Geliebten überzeugt ist und sie sogleich - gewiß unter schweren Krisen - fallen läßt, als er ihre Verworfenheit erkennt. Ein 'passion' wider besseres Wissen wie beim Vorbild des Grieux kommt im deutschen empfindsamen Milieu nicht in Frage. Bei Pfeil stehen dafür schon die beiden Mentorenfiguren, der Hofmeister Herr von F. und Herr Worden. Sie werfen ein festes und unverbrüchliches Koordinatensystem von Werten über den Roman - in dem der Held allerdings bis zur endgültigen Bekehrung munter irren und die Fehlbarkeit eines bloß dem guten Herzen vertrauenden Handelns demonstrieren darf. Ein drittes Genre, in dem Pfeil sich versuchte, ist die Moralische Erzählung. Pfeils 'Versuch in moralischen Erzählungen' von 1757 war immerhin so substantiell, daß Louis-Sebastien Mercier daraus plagiierte. Pfeils Protest dagegen im 'Journal von und für Deutschland' IV/! (1787), 92f. verdanken wir überhaupt erst die Aufklärung über seine Verfasserschaft der 'Lucie': „Ich ergreife diese Gelegenheit zu erklären, daß ich das Trauerspiel 'Lucie Woodvil', welches Schneider zu Leipzig, leider! im Jahr 1786 aus einer vergessenen Monatsschrift wieder abdrucken lassen, für nichts als unreifes, längst verdienterweise vennodertes Product meiner Jugendjahre erkenne und an diesem Abdruck nicht den geringsten Antheil habe." Er publizierte nun Seriöseres. Für das Jahr 1781 hatte der Mannheimer Oberappellationsrat Ferdinand von Lamezan anonym einen Preis ausgeschrieben für die Beantwor-

tung der Frage: „Welches sind die besten und ausführbarsten Mittel, dem Kindesmord abzuhelfen ohne die Unzucht zu begünstigen?" Mehr als 400 Schriften sollen eingegangen sein. Die drei gekrönten Preisschriften erschienen 1784 bei Schwan in Mannheim, an erster Stelle der Beitrag Pfeils. Härtere Bestrafung lehnt Pfeil ab, denn „niemals [war] ein einziger Kindesmord ein vorherüberlegtes und beschlossenes[...] Verbrechen." Auch von theatralischen Vorstellungen des Kindesmordes will er nichts wissen. Er setzt vor allem auf die Erziehung von „guten, nützlichen, glücklichen Untertanen und Bürgern". Pfeil starb, wie Erich Schmidt in seinem Artikel in der 'Allgemeinen deutschen Biographie' aus ungenannter Quelle zitiert, als „wohlbestallter hochfreiherrlich Friesischer und hochgräflich Hopfgart-Schaurottischer Amtmann des wohllöblichen Amtes Rammelburg". Neudrucke: Lucie Woodvil, in: Fritz Brüggemann (Hg.), Die Anfänge des Bürgerlichen Trauerspiels in den fünfziger Jahren, Stuttgart 1934 (und repr. Nachdruck Darmstadt 1964) 191-271). - Vom bürgerlichen Trauerspiele, in: Gotthold Ephraim Lessing, 'Miss Sara Sampson', hg. von Karl Eibl, Frankfurt/M. 1971, 173-189. -Die Geschichte des Grafen von P., Vierte Auflage, Nachdruck Minerva, Frankfurt 1970. Literatur: J. M. Rameckers, Der Kindesmord in der Literatur der Stunn-und-Drang-Periode, Rotterdam 1927, 84f. - Winfried Engler, Merciers Abhängigkeit von Pfeil und Wieland, in: Arcadia 3 (1968), 251-261. Alberto Martino, Geschichte der dramatischen Theorien in Deutschland im 18. Jahrhundert, Bd. 1, Tübingen 1972, 418-428. Eckhardt Meyer-Krentler, Ein Plagiat macht sich selbständig. Pfeils 'Geschichte des Grafen von P.' im Verhältnis zu Prevost und Geliert, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 96 (1977), 481-508. - Nadia Metwally, Johann Gottlob Benjamin Pfeils 'Lucie Woodvil' eine „Schwester der Sara"? in: Zeitschrift für deutsche Philologie 103 (1984), 161-177. Karl Eibl (München)

DISKUSSIONEN UND BERICHTE

Aufklärung und Esoterik Tagung in Zusammenarbeit mit der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts vom 2. bis 4. Oktober 1997 in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel Um dieses auf den ersten Blick oxymorale Tagungsthema einer Aufklärungsforschung 'in der Erweiterung' zu diskutieren, hatten sich gut 20 Referenten und ein starkes, 80 Köpfe umfassendes Publikum nach Wolfenbüttel begeben, wo sie der „immerwährenden Gastfreundschaft" der Herzog August Bibliothek gewiß sein durften, wofllr sich der Präsident der DGEJ, Jörg Schönert (Hamburg), beim Hausherrn, Helwig Schmidt-Glintzer, eingangs bedankte. Nach Gruß- und Dankwort steckte der Begrüßungsvortrag von Monika Neugebauer-Wölk (Halle), die die Tagung vorbereitet hatte, das Untersuchungstecrain der kommenden Tage ab. Gegenüber dem ubiquitären Hokuspokus des heutigen Reizwortes zielte der Begriff in Hinsicht auf das 18. Jahrhundert auf die Integration zweier Forschungsrichtungen, nämlich der älteren ideengeschichtlichen Untersuchtungen zur Rezeption naturphilosopbischen und hermetischen Gedankenguts im 18. Jahrhundert und der neueren sozial- und organisationsgeschichtlichen Erforschung von Aufklärungs- und Geheimgesellschaften. Zugleich überschreite die Frage nach dem Zusammenhang von Aufklärung und Esoterik gewohnte Segmentierungen der Erforschung des 18. Jahrhunderts in mindestens zwei Hinsichten. Unter religionswissenschaftlicher Fragestellung werde deutlich, daß es seit der Renaissance die Wahlmöglichkeit zwischen mindestens zwei Sinnsystemen gegeben habe, d. h. frühneuzeitliche Religionsgeschichte nicht auf Kirchengeschichte reduziert werden dürfe. Unter mentalitätsgeschichtlicher Fragestellung schärfe sich der Blick dafllr, ob das 18. Jahrhundert sozusagen ein doppeltes Jahrhundert gewesen sei: ein Jahrhundert der Aufklärung fllr die Elite und ein weiteres Jahrhundert der Befangenheit in Aberglauben und Magie fllr das ' Volk'. Die anschließenden Vorträge des ersten Tages leuchteten zunächst geistesgeschichtliche Traditionsbestände von langer Dauer aus. Das profunde Eindringen ägyptischer Arkantheologie in alte, vor-frühneuzeitliche und hermetische Wissensbestände; der Anfang des 17. Jahrhunderts einsetzende Rosenkreuzerdiskurs, der zusammen mit dem Pietismus zu einer 'zweiten Reformation' führte, die auf Weltveränderung, Selbstvervollkommnung und ein außerkirchliches, gleichwohl religiöses Gemeinschaftserlebnis setzte; das 'Collegium lucis' des Comenius, dessen pansophisches Reformschrifttum auf eine innerweltliche Perspektive zielte, dergestalt das 'Licht' noch vor dem Ende der Welt in die Finsternis komme. Die Thematisierung von Hermetismus, Rosenkreuzerei und Pansophie schlug einen frühneuzeitlichen Bogen, der das 17. Jahrhundert für die 18.-Jahrhundert-Forschung öffnete. Im Rahmen der Fachtagung fand die Jahresversammlung der DGEJ und das neu geschaffene Mitgliederforum, das in den kommenden Jahren noch ausgebaut werden soll, statt. Der Präsident der Internationalen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts (ISECS/SIEDS), Jochen Schlobach (Saarbrücken), zog in seinem Öffentlichen Vortrag eine Leistungsbilanz der „Wiedervereinigung der Aufklärung" und stellte dabei vor allem die Institutionen und Schwerpunkte der deutschen 18.-Jahrhundert-Forschung vor. Aufklärung 10/2 C Felix Meiner Verlag, 1998, ISSN 0178-7128

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Am zweiten Tagungstag wurde die Arbeit in zwei separaten Sektionen fortgesetzt, in denen das Spektrum der Esoterik in der Aufklärung ausgeleuchtet wurde. Die Untersuchung der Alchemie im 17. Jahrhundert legte die Einsicht in die Verbindung von Naturwissenschaft und Heilserwartung frei. Das Beispiel Johann Joachim Bechers und Johann Rudolf Glaubers belegte nachdrücklich die Selbststilisierung der ' modernen' Wissenschaften, insofern sie die gestörte Schöpfung wieder ins Lot zu bringen, d. h. den Sündenfall rückgängig zu machen vorgaben. So avancierte das Salz über seinen medizinischen Nutzen hinaus zum Universalheilmittel einer radikalen, sozialutopischen Besserung der Welt. Daß das hermetische Wissen im geistigen Haushalt der Gelehrten zu Beginn des 18. Jahrhunderts noch integriert war, zeigte sich mit Blick auf die Buchproduktion in Hamburg, aber auch in Hinsicht auf die Ausleihbücher der Herzog August Bibliothek. Als Beispiel eines „aufgeklärten Hermetismus" (Hans-Georg Kemper) wurde das Werk von Barthold Heinrich Brockes vorgestellt und demonstriert, wie in seiner Dichtung Hermetismus zum dichterischen Programm wurde. Esoterische Traditionen in der Freimaurerei, Hermetismus, Gold- und Rosenkreuzerei bei einzelnen Aufklärern und in den Aufklärungsgesellschaften und Esoterik als Form spätaufklärerischer Religiösität wurden herausgestellt. Als einer der großen Gesetzgeber des Altertums neben Moses oder Lykurg traf auch Zoroaster auf das Interesse von Aufklärern und Freimaurern, namentlich bei Christoph Meiners, Johann Friedrich Kleuker und Johann Gottfried Herder. Der Zoroaster-Diskurs im 18. Jahrhundert verknotete Religion, Alchemie und Politik, was einerseits Voltaire, andererseits Mozart belegen. Insgesamt schälte sich in beiden Sektionen eine vertrackte Komplementarität von Esoterik und Geisterglauben in der Aufklärung heraus. Geister waren integraler Bestandteil des mentalen Haushalts im späten 18. Jahrhundert, wobei die unterschiedlichen Formen des Geisterglaubens (Cagliostro, Gassner, Swedenborg) ab 1770 gerade in den Eliten hoch im Kurs standen. Sowohl funktionale als auch kompensatorische Erklärungsmodelle wurden diskutiert. Auf ein besonderes Interesse stieß die Thematisierung des Verhältnisses von Haskala und Kabbala sowie von Aufklärung und esoterischem Sabbatismus. Deutlich wurde zunächst, daß die Haskala, d. h. die jüdische Aufklärung in hebräischer Sprache noch immer ein „Stiefkind" (Christoph Schulte) der Aufklärungsforschung ist. Gegenüber dem universalistischen Anspruch der Aufklärung bleibt der Jude die Grenze, insofern der MendelssohnLavater-Streit die 'Doppelstrategie' der Haskala offenlege, Aufklärung zu betreiben und das Judentum beizubehalten. Gegenüber einer bequemen Gegenüberstellung von Haskala und Kabbala zeige sich nun, daß eine Entgegensetzung tatsächlich nicht existiert habe, zumal die Kabbala im Unterschied zur Esoterik keine Geheimlehre gewesen sei. Der Umgang der jüdischen Aufklärer mit der Kabbala reiche von der stillen Neutralisierung (Moses Mendelssohn) über die ironische Distanzierung bzw. persönliche Verabschiedung (Salomon Maimon) bis zur Funktionalisierung im esoterischen Freimaurerritual (Ephraim Joseph Hirschfeld). Obwohl oder besser: gerade weil die Haskala Stiefkind der deutschen Aufklärungsforschung ist, konnte das Verhältnis von Esoterik und Exoterik gleichwohl mit Blick auf das Tagungsthema exemplarisch im Zusammenhang der jüdischen Aufklärung fixiert werden. Seit Leo Strauss gilt Maimonides' in leichtem Hebräisch verfaßte 'Mischne Tora' als das Aufklärungsbuch, dessen arabisch geschriebener „Führer der Unschlüssigen" ('More Newuchim') dagegen als das esoterische Werk schlechthin. Die Haskala sah es freilich genau umgekehrt, insofern sie den „Führer der Unschlüssigen" gleichermaßen gegen den Dogmatismus der Talmudisten und gegen den Kabbalismus stellte. Eine solche Umwertung zeigt, daß das Esoterische nicht durch bestimmte Inhalte, sondern nur durch die formale Differenz von Esoterik/Exoterik bestimmt werden könne, die aber auf keiner semantischen Ebene, sondern ausschließlich auf der Ebene der Macht situierbar ist. Die vielfältigen Fäden des Tages knüpfte Monika Neugebauer-Wölk im öffentlichen Abendvortrag in Hinsicht auf die Mehrdimensionalität des Vernunftbegriffs im 18. Jahrhundert zusammen. Die Präsenz des Irrationalen im Zeitalter der Aufklärung ziele nicht auf

Aufklärung und Esoterik

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einen Gegensatz, sondern auf ein Steigerungsverhältnis von Vernunft und 'höherer Vernunft', insofern die Esoterik im gnostischen Sinne auf eine Erkenntnisquelle höherer Qualität orientiere. Die 'höhere Wahrheit' offenbare sich im Unterschied zum Christentum nicht im Modus des Glaubens, sondern der Zugang zum Absoluten erschlösse sich im Modus vernünftigen Wissens. Die Institutionen dieses gesteigerten Vernunftbegriffs bildeten die aufklärerischen Sozietäten. Die Freimaurerei institutionalisierte den sozialen Raum, in dem der Aufstieg zur höheren Vernunft im Medium gemeinsamen Erlebens sinnlich, d. h. in einem Ritus inszeniert werden konnte. Die Loge bildete den Erlebnisraum der Vernunft oder - mit einem Schlagwort des Berichterstatters - kurz: sie wurde zur „Kirche der Aufklärung". Im Plenum des dritten Tages wurden die gewonnenen Einsichten in die esoterische Komponente der Aufklärung ausgebaut, teilweise jedoch auch in Frage gestellt. Die Geheimkulte des Altertums, insbesondere die Eleusinischen Mysterien erwiesen sich (etwa im Blick auf einschlägige Schriften Meiners' und Reinholds) als nicht unbedeutend für die Formation des Illuminatenordens. Das antike Geheimbundwesen bildete sein Grundraster. Zugleich jedoch wurde davor gewarnt, die esoterische Seite des Illuminatenordens zu überschätzen und einen eher dekorativen Zug zu dessen Substanz zu hypostasieren. Ein solcher Ansatz verdecke die politische Dimension und damit die Brisanz von Weishaupts geheimbündlerischem Illuminatensystem, das auf den Marsch durch die Institutionen abgezielt habe. Die Ambivalenz des Zusammenhangs von Aufklärung und Esoterik spiegelte sich nicht zuletzt in der Affinität von Mesmerismus und Jakobinismus auf der einen, Spiritismus auf der anderen Seite. Mesmers Magnetopathie führte nicht in eine Sackgasse, sondern bildete eine Drehscheibe ins 19.Jahrhundert, die gleichermaßen in spiritistische Kreise wie zu Freud führe. Den Schlußpunkt der Tagung setzte die Engführung von Theosophie und Revolution bei St. Martin, der zunächst in Straßburg über der Entdeckung von Jakob Böhme die Pariser Ereignisse verschlief, sich dann aber seit 1791 als Volksvertreter schlagartig mit der Staatsumwälzung identifizierte. Die Verwandlung vom vorrevolutionären Mystiker zum Revolutionsadepten ist aber nur scheinbar verblüffend: Der Millenarismus St. Martins erweist sich besser an das revolutionäre Geschehen adaptierbar als eine bloße, aufklärerische Fortschrittstheorie: die Revolutionäre werden als Instrumente Gottes les-, der revolutionäre Terror insgesamt als notwendige Katharsis legitimierbar. Insgesamt hat die von der Fritz Thyssen Stiftung und der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefl'>rderte Tagung unser Bild vom Verhältnis zwischen Aufklärung und Esoterik modifiziert und die scheinbare Polarität dieser Konjunktion in ein Bedingungsgefüge verwandelt. Die Drucklegung der Tagungsakten in der Reihe 'Studien zum achtzehnten Jahrhundert' (Hamburg: Meiner) wird vorbereitet. Carsten Zelle (Siegen)

REZENSIONEN

GIORGIO TONELLI, Kant's Critique of Pure Reason within the Tradition of Modem Logic. A Commentary on its History. Edited from the Unpublished Works of Giorgio Tonelli by David H. Chandler (Studien und Materialien zur Geschichte der Philosophie, Bd. 37), Verlag Georg Olms Hildesheim, Zürich, New York 1994, XXXII u. 381 S., 128,00 DM. Der frühe Tod Giorgio Tonellis im Jahre 1978 bedeutete für die geisteswissenschaftliche Welt nicht nur in Westeuropa die plötzliche Unterbrechung einer der fruchtbarsten und aussichtsreichsten Karrieren der Nachkriegszeit im Felde der Geschichte der Philosophie. Für einige seiner Kollegen war das der Verlust eines wertvollen, weiterführenden intellektuellen Gesprächspartners. Es ist primär dem Engagement dieser Freunde zu danken, daß das hier zu besprechende Nachlaßwerk erscheinen konnte. Dem Herausgeber David H. Chandler ist es gelungen, mit der Unterstützung von Norbert Hinske, Claudio Cesa und Tonellis Ehegattin Grazia Tonelli ein kompaktes und im Vergleich zu Tonellis Aufsätzen in seinem Wesen abgeschlossenes Werk zu präsentieren, das auch siebzehn Jahre nach dem Tod des Verfassers noch brennende Aktualität besitzt und zahlreiche für die Forschung weiterführende Anregungen enthält. Die Aufsätze in memoriam Giorgio Tonelli von Cesa und Hinske, wiederabgedruckt im ersten Teil des Buches: Setting the Context (S. 11-25 und S. 27-34), verschaffen einen Einblick in Tonellis Leben und Werk. Die Persönlichkeit eines Forschers, der sich in verschiedenen Ländern aufgehalten hat, der seine Beiträge mühelos in vier europäischen Sprachen verfaßte (Italienisch, Deutsch, Englisch, Französisch; zu der Verbreitung seines Werkes zählen auch noch einige Übersetzungen ins Spanische) und der die Bestände vieler alter europäischer Bibliotheken und Antiquariate erschlossen hat, scheint heutzutage faszinierend, auch wenn sein Unterwegssein fern von der Heimat nicht immer gewollt war. Gerade in einer Zeit, in der die verschiedenen Länder Europas die ersten schüchternen Schritte eines gemeinsamen Weges tun wollen und in vieler Hinsicht auf bereichernde Vermittlungen angewiesen sind, erweisen sich Tonellis Leben und Werk als zukunftweisend. Diese Breite des Horizonts betriffi nicht nur Tonellis Biographie, sondern ebenso seine Forschungsmethode. Verdienste hat er sich vor allem im Bereich der Aufklärungsphilosophie erworben. Das 18. Jahrhundert war ,jenes Jahrhundert, dem Tonellis Liebe in besonderer Weise gegolten bat" (Norbert Hinske und Claudio Cesa, Vorwort, in: Kant und sein Jahrhundert. Gedenkschrift für Giorgio Tonelli, Frankfurt am Main, Berlin, Bern, New York, Paris 1993, S. XI). Um eine sachliche Basis für eine quellen- und begriffsgeschicbtliche Interpretation der verschiedenen philosophischen Probleme zu gewinnen, versuchte Tonelli immer eine möglichst umfassende und detaillierte Rekonstruktion des geistigen Umfeldes des Autors zu liefern. So sieht man gewöhnlich in seinen Aufsätzen das jeweils behandelte Problem von den verschiedensten Traditionssträngen umrahmt, die in einem bestimmten Zeitabschnitt zusammenfließen. Diese methodologischen Forderungen kennzeichnen auch das hier zu besprechende Werk. Der Herausgeber David H. Chandler fordert darüber hinaus eine sorgfältige Unterscheidung zwischen der Quelle einer Idee und dem historischen Hintergrund, zumal dieser Unterschied in Tonellis Corpus gelegentlich vermischt worden sei (vgl. Einleitung des Herausgebers, S. XII). Tonelli bat in diesem Werk insbesondere versucht, Kants Entwicklung aufzuspüren. Zu diesem Zweck zog er nicht nur die Druckschriften in Betracht, sondern auch die Reflexionen und Vorlesungsnacbschriften Aufklärung 10/2 C Felix Meiner Verlag, 1998, ISSN 0178-7128

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zur Logik, Metaphysik und philosophischen Enzyklopädie. Der Herausgeber macht in seiner Einleitung darauf aufmerksam, daß zur Zeit der Abfassung des Werkes als mögliche Datierung der Wiener Logik und der Logik Pölitz das Jahr 1790 allgemein akzeptiert war, während man jetzt aufgrund äußerer Indizien und Textvergleichsanalysen zu der Auffassung gekommen ist, daß diese beiden Vorlesungsnachschriften in die frühen 80er Jahre zu datieren sind (vgl. Einleitung des Herausgebers, S. XVI). Diesen Betrachtungen muß hier folgendes hinzugefügt werden: Es ist in der Kantforschung nicht unumstritten, ob man bei einer entwicklungsgeschichtlichen Rekonstruktion des Kantischen Denkens den Druckschriften und dem Nachlaß dasselbe Gewicht beimessen kann. Tonellis Verfahren in diesem Werk gewährt im Prinzip beiden Quellenarten denselben Status. Im ersten Teil des Buches ist der berühmte Beitrag Tonellis zum 4. Internationalen KantKongreß vom Jahr 1974: Kant '.s Critique of Pure Reason Within the Tradition of Modern Logic (ursprünglich in: Akten des 4. Internationalen Kant-Kongresses, Mainz 6.-10. April 1974, hrsg. von Gerhard Funke, Berlin, New York 1975, S. 186-191) wiederabgedruckt (S. 1-10), der zugleich dem Buch den Titel verlieben hat. Der Kongreßbeitrag bat für das Buch einen programmatischen Charakter: „Referring tbe Critique of Pure Reason to its logical matrix bas in my opinion the most far-reaching consequences on the very intelligibility, and on tbe historical and philosophical interpretation ofthis work" (S. 6), und enthält zugleich eine bündige Formulierung der in dem Buch zu belegenden These: „A careful reading ofthe Critique shows that this work is ~ae ofthe 'special logics' for the particular sciences, which Kant opposes, as methodologies, to 'general logic"' (S. 4). Mit dieser Auffassung will Tonelli jener anderen entgegenwirken, die sich zu Anfang des 20. Jahrhunderts durchsetzte und besonders in der angelsächsischen Welt weite Verbreitung fand, nach der die Kritik der reinen Vernunft als die erkenntnistheoretische Begründung der Newtonischen Naturwissenschaft (S. 2) zu verstehen sei. Für Tonelli gilt im Gegenteil: „What Kant intended to found in the Critique was metaphysics and metaphysics only" (S. 2). Der zweite Teil des Buches: The Work itself teilt sich in drei Kapitel. Deren gemeinsames Vorhaben ist, zu klären „what that book is about" (S. 1) - gemeint ist die Kritik der reinen Vernunft. Um diese Frage beantworten zu können, entwickelt Tonelli im ersten und dritten Kapitel zwei verschiedene Strategien. Wenn Kant selber zu erklären versucht, was die Kritik der reinen Vernunft eigentlich ist, bedient er sich der Bezeichnungen 'Kanon', 'Organon', 'Disziplin' und 'Doktrin' (S. 37). Das erste Kapitel ist dementsprechend einer detaillierten Untersuchung dieser Termini gewidmet. Das zweite Kapitel ergänzt das erste durch eine Untersuchung der historischen Vorlagen dieser Termini. Das dritte Kapitel folgt einer anderen Strategie. Um das Vorhaben Kants bei der Kritik der reinen Vernunft näher beleuchten zu können, versucht Tonelli, Kants Plan eines Systems der Philosophie mit besonderem Bezug auf die Stellung der ' Kritik' in diesem Plan aufzuschlüsseln. Das erste und das dritte Kapitel behandeln die wichtigsten und umstrittensten Fragen der Kantischen Philosophie. Es handelt sich nämlich um die Bedeutung von 'Kritik der reinen Vernunft', 'Metaphysik', 'Transzendentalphilosophie', ' Ontologie' und ' System der reinen Vernunft' und ihre Beziehung untereinander. Tonellis Absicht bei der Abfassung dieses Werks war es nach Angabe von Claudia Cesa (S. 24), eine Einleitung in die Kritik der reinen Vernunft bzw. einen Kommentar zu liefern. Tatsache ist, daß Tonelli im Gang des Werkes im ständigen Dialog mit einigen der großen Kant-Kommentatoren (z. B. Vaihinger, Heimsoeth und insbesondere Norman Kemp Smith) steht. Haben diese in ihren Werken Kant Paragraph für Paragraph oder sogar Zeile für Zeile kommentiert, so versucht Tonelli genau das Gegenteil, nämlich die Struktur der Kritik der reinen Vernunft selber (Bezeichnungen, Einteilungsprinzipien) zu interpretieren, in der Absicht, in den Sinn dieses Werkes von einem globalen Standpunkt aus einzudringen. Im ersten Kapitel nimmt Tonelli insbesondere den vieldiskutierten Abschnitt VII der Einleitung in die Kritik der reinen Vernunft: „Idee und Einteilung einer besonderen Wissen-

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schaft, unter dem Namen einer Kritik der reinen Vernunft" (A 10-16/B 24- 30) unter die Lupe. Er warnt vor der Gefahr, die 'Transzendentalphilosophie' mit dem 'System der reinen Vernunft' zu identifizieren: Während die 'Transzendentalphilosophie' nur mit Begriffen von Gegenständen überhaupt zu tun habe, befasse sich das 'System' auch mit Gegenständen (S. 72). Nach den Ausführungen in der Architektonik der Kritik der reinen Vernunft (A 840847/B 868-875) ist die 'Transzendentalphilosophie' als ein Teil des 'Systems der reinen Vernunft' (S. 73) zu verstehen. Eine weitere zu vermeidende Gefahr sei die Identifizierung von 'Transzendentalphilosophie'und 'Kritik der reinen Vernunft' (S. 74), auch wenn das für Kant selbst eine Sache ständigen Zögerns gewesen sei (S. 72). In diesem Zusammenhang entwickelt Tonelli seine These, daß die Kritik der reinen Vernunft im Grunde eine 'besondere Logik' sei. Das Hauptproblem dieser Interpretation liegt darin, daß Kant die 'besondere Logik' als 'Organon' definiert hat. Es gibt aber bekanntlich kein Organon für die reinen apriorischen Erkenntnisse (A 63/B 88; A 795/B 823). Tonelli stellt jedoch fest, daß Kant in der Kritik der reinen Vernunft die Bezeichnung Organon mit einer besonderen Bedeutung belegt hat, die es erlaubt, die Kritik der reinen Vernunft doch als eine besondere Logik im Sinne eines Organons zu interpretieren. •Organon' soll hier nicht als ars inveniendi verstanden werden, sondern als 'Canon' plus 'Disziplin', eine Bedeutung, die auch in den Reflexionen von 1775-1778 belegt ist (S. 82). Zu den verschiedenen Bedeutungen vom 'Organon' im Denken Kants siehe die Zusammenfassung aufS. 108. Zu den historischen Vorlagen derselben, insbesondere Lamberts Neues Organon (1764), siebe S. 123 ff. und das gesamte zweite Kapitel, S. 133- 196. Die oben genannte Reflexionsgruppe 1775-1778 stellt entwicklungsgeschichtlich ein Moment von besonderem Interesse dar, das Tonelli in seinen Ausführungen hervorgehoben hat (S. 52 ff.). Einige dieser Reflexionen geben praktisch das endgültige Schema der Kritik der reinen Vernunft wieder: Die allgemeine Metaphysik oder transzendentale (reine) Philosophie teilt sich in 'Kritik der reinen Vernunft' und 'Ontologie'. Diese allgemeine Wissenschaft wird manchmal mit dem ersten Teil derselben: der 'Kritik' identifiziert, die bisweilen 'Logik der reinen Vernunft' genannt wird. 'Metapb~1sik' ist strenggenommen der zweite Teil dieser Wissenschaft, auch ' Ontologie' genannt, die manchmal mit der 'transzendentalen Analytik' identifiziert wird. Dieser zweite Teil wird in 'Canon' und 'Disziplin' eingeteilt. Manchmal erscheint auch die 'Architectonik' im Schema. Im Vergleich zu dem Plan von 1781 fehlt z.B. die Eingliederung einer 'transzendentalen Ästhetik' im gesamten Bau. Dieser Entwicklungsschritt bewirke folgende Verschiebung: Erstens, was früher 'Transzendentalphilosophie' genannt wurde, heißt jetzt 'Kritik der reinen Vernunft'; zweitens, was früher 'Kritik' genannt wurde, wird jetzt als 'transzendentale Logik' bezeichnet (S. 59). Im dritten Kapitel von Tonellis Untersuchungen kommen einige der Höhepunkte der Kantischen Entwicklung zur Sprache. Hauptgegenstand dieses Kapitels sind die verschiedenen Systementwürfe Kants mit den entsprechenden Einteilungen der Wissenschaften. Zu den wertvollsten Bestandteilen des Buches gehören die sechzehn Tabellen, die die Schemata der sukzessiven Einteilungen wiedergeben (S. 325- 341). Diese Tabellen stellen aufs anschaulichste die verschiedenen Momente in Kants Entwicklung dar. Das gesamte dritte Kapitel ist im Grunde ein Kommentar zu jeder dieser Tabellen. Tonelli betont vor allem die Rolle der allgemeinen Logik und der propädeutischen Wissenschaft für die Metaphysik in den verschiedenen Systementwürfen. Die Logik wird manchmal als Bestandteil des Systems der Philosophie verstanden, manchmal aber bleibt sie außerhalb dieses Systems als allgemeine Propädeutik aller Wissenschaften. Besonders interessant ist das Schema der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785). Hier wird der Logik ein prominenter Platz zugewiesen. Die Kritik der reinen Vernunft erscheint in diesem Schema nicht. Tonellis Erklärung dafür ist, daß in diesem Moment die Kritik eindeutig als ein Teil der Logik im Sinne einer besonderen Logik konzipiert werde. Diese enge Verbindung von allgemeiner Logik und Kritik bewirke zugleich, daß erstere als ein Teil der Philosophie und nicht als

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eine allgemeine Propädeutik aller Wissenschaften verstanden wird (S. 305, s. a. Tabelle XIV, S. 339). Kants schwankende Entwicklung in diesem Punkt wird durch einen Vergleich des Schemas von 1785 und der beiden Einleitungen in die Kritik der Urteilskraft besonders deutlich. Die erste Einleitung gibt ein sehr ähnliches Schema wie die Grundlegung wieder, mit einem Unterschied: Die Kritik als propädeutische Wissenschaft wird ausdrücklich erwähnt und ihr Unterschied zum System der Philosophie hervorgehoben (S. 313). In der zweiten Einleitung verschwindet sogar die Logik aus dem Schema. Das ist nach Tonellis Meinung „a fact of major importance" (S. 318), und er bemüht sich um eine Erklärung. Bis zum Jahre 1790 hatte Kant die ersten zwei Kritiken geliefert, die mit der Zweiteilung der Metaphysik übereinstimmten. Sie erfüllten die Rolle von Methodologien jeweils der Metaphysik der Natur und der Sitten und könnten sogar im gesamten Schema als einführende Teile in beide Bereiche der Metaphysik betrachtet werden. Die Kritik der Urteilskraft bricht diese Korrespondenz. Die ' Kritik', als propädeutische Wissenschaft allgemein betrachtet, entspricht jetzt nicht dem System der Philosophie im ganzen und gewinnt dadurch eine gewisse Unabhängigkeit von ihm. Die Logik kann nun nicht mehr Bestandteil des Systems der Philosophie sein, da sie in diesem Fall der Kritik untergeordnet wäre. Sie erlangt jetzt wieder ihre völlige Unabhängigkeit. Im Verhältnis zum System der Philosophie erhält sie eine Außenstellung und wird erneut als allgemeine Propädeutik aller Wissenschaften betrachtet (S. 318 ff.). Die Tabelle II (S. 326), die die Einteilung der Wissenschaften in der Dissertatio von 1770 wiedergibt, ist etwas problematisch. Nach Tonellis Ansicht wird in der Dissertatio der Logik kein Platz im System der Wissenschaften zugewiesen (S. 228). M. E. hat Tonelli den logischen Verstandesgebrauch (usus logicus), der in diesem Werk thematisiert wird, außer acht gelassen. Der usus logicus entspricht der Logik und ist als allgemeine Propädeutik aller Wissenschaften zu verstehen, im Unterschied zum usus realis, der der Metaphysik als Wissenschaft des reinen Verstandesgebrauchs entspricht, einer Wissenschaft, die über die Logik hinaus eine besondere Methode benötigt (vgl. De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis, Sectio V, A 29). Im dritten Kapitel werden auch einige der großen Neuerungen des Königsberger Philosophen besprochen. Dazu gehört z. B. die Eingliederung der Ethik in das System der Metaphysik als Gegenstück zu Metaphysik der Natur (S. 276, S. 299) und die Schaffung einer Wissenschaft namens 'Rationalphysiologie', die zusammen mit der Ontologie die Metaphysik der Natur ausmacht (S. 283 ff., vgl. Tabelle XIII, S. 337-338). Kants Verwendung des Begriffs ' Physiologie' geht auf die Stoa zurück. Unter dieser Bezeichnung gruppiert er einige Wissenschaften, deren Zusammenstellung vor ihm nicht zu belegen ist. Ebenso ist die Verwendung des Adjektivs ' immanent' als Gegenbegriff zu ' transzendent' in diesem Zusammenhang eine Neuerung des Kantischen Wortschatzes (S. 291). Tonellis Forschungsmethode erweist sich bei solchen Analysen als besonders erfolgreich. Nur der Vergleich von Kants eigener Terminologie mit ihren historischen Vorlagen ermöglicht es, die wahre Originalität des Philosophen und somit die eigentliche Tragweite seines Denkens einzuschätzen. Tonellis Werk erfüllt nicht nur die Absicht seines Autors, eine Einleitung in die Kritik der reinen Vernunft zu liefern, sondern dient darüber hinaus als Kommentar zu wichtigen Passagen in anderen Werken und zu zahlreichen schwierigen Reflexionen des Nachlasses. Die historischen Ausführungen im zweiten Kapitel verschaffen einen tiefen Einblick in die Schulphilosophie der Aufklärung, die den fruchtbaren Boden der kritischen Philosophie ausmacht. Wir stehen ohne Zweifel vor einem baldigen Klassiker der Kantliteratur. Maria Jesus Vazquez Lobeiras (Trier)

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WYGER R. E. VELEMA, Enlightenment and Conservatism in the Dutch Republic. The Political Tbought ofElie Luzac (1721-1796), van Gorcum Assen u. Maastricht 1993, IX, 218 S. Das anzuzeigende Buch räumt mit einem Klischee auf. Mit dem Klischee vom 18. Jahrhundert als einer Epoche des Niedergangs, in der die niederländische Republik, anders als in der Glanzzeit des 17. Jahrhunderts, des 'Goldenen Zeitalters', auch bezüglich des politischphilosophischen Denkens kein eigenes Profil besaß. Der englischsprachige Band öffnet auch dem nichtniederländischen Leser eine profunde Einsicht in eine politische Kultur, die sich in den Kontext der europäischen politisch-philosophischen Debatte einband und vor der Folie ihrer eigenen Tradition genuine Fonnen dieser Debatte entwickelte. Der einer Hugenottenfamilie entstammende einflußreiche Leidener Publizist und Verleger Elie Luzac ist Beispiel für die gleichzeitige Verankerung eines niederländischen Intellektuellen in der europäischen wie nationalen Politikkultur. Velemas Studie, methodologisch der Cambridger Schule einer „new history of political thought" um J. G. A. Pocock und Qu. Skinner verpflichtet, ist, indem sie diese Doppelbindung deutlich herausarbeitet, mehr als die intellektuelle Biographie eines Individuums. Sie zeigt darüber hinaus, daß die politische Kultur der Republik insgesamt kein isoliert-exotisches Phänomen darstellt, sondern - bei aller Eigenheit - Bestandteil des europäischen Nonnendiskurses war. Die Topoi der europäischen Aufklärung lassen die Möglichkeit einer 'konservativen' Interpretation des politisch-gesellschaftlichen Systems der niederländischen Republik, wie sie Luzac repräsentiert, in der Auseinandersetzung mit der ebenfalls 'aufklärerisch' gegründeten und sich am Begriff der Volkssouveränität orientierenden Kritik dieses Systems zu. Die inhaltliche Vielfalt von Aufklärung und die Einheit von Aufklärung als Diskurssystem werden in den fünf Kapiteln des Bandes exemplarisch deutlich. Sie basieren vor allem auf einer Analyse des umfangreichen Luzacschen CEuvres. Zunächst schildert Velema die frühen Arbeiten Luzacs als Ausdruck der "rational, tolerant, and liberal Protestant values of an intrniational community of enlightened Hugueonts, best described as representing a Moderate Enlightenment" (S. 5). Kapitel 2 widmet sich der Rezeption der französischen Hochaufklärung, vor allem Montesquieus, und der Reaktion auf die Herausforderung durch die Thesen d 'Alemberts und Rousseaus. In Kapitel 3 wird der Einfluß Wolffs auf den konsequenten Rationalismus, die Moralphilosophie und die Naturrechtsinterpretation Luzacs deutlich. Sie bilden den methodischen Hintergrund seiner Beschäftigung mit den von ihm als Zentralthemen erachteten Feldern der politisch-sozialen Kultur der Republik, dem Handel und der Institution der Statthalterschaft, denen sich Kapitel 4 widmet. Im abschließenden Kapitel rückt die Auseinandersetzung mit der revolutionären niederländischen Patriotten-Bewegung der l 780er in den Mittelpunkt des Interesses. Der 'konservative' Mahner Luzac sah in ihr die verhängnisvolle Konsequenz einer Umsetzung des Antirationalismus der von ihm vehement publizistisch bekämpften 'radikalen' Aufklärung in die niederländische Politikpraxis. Die im letzten Kapitel deutlich werdende Fundamentalopposition gegen die Patriotten erscheint nach der Lektüre des Buches nicht als pessimistische Schnurre eines alten Mannes, sondern als unausweichliche Folge eines kohärenten politisch-philosophischen Konzeptes, dessen Grund bereits in den frühen Schriften Luzacs gelegt worden war. Lediglich die Akzente verschoben sich. Bereits in den l 740ern profilierte sich der junge Verleger als Protagonist einer politischen Gesinnung, für die die Freiheit der Meinungsäußerung als natürliches Recht Grundlage schlechthin eines dem Glück der Bürger verpflichteten politisch-gesellschaftlichen Systems ist. Aufgabe einer auf Recht und nicht auf Gewalt fußenden - und deshalb legitimen - Obrigkeit ist es, dieses Recht bedingungslos zu schützen. Widerstand gegen jedwede Obrigkeit ist nur in dem Fall möglich, daß deren Gründung im Recht von ihr verletzt wird. An dieser Stelle wird die Verbindung zu Widerstandsrechtskon-

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struktionen deutlich, die in der Tradition des späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts wurzelten. Sie gehörten bereits zum politiktheoretischen Rüstzeug des Aufstandes gegen die spanische Herrschaft und zum unverzichtbaren Legitimationsrahmen für die Existenz der frühen Republik. Gleichzeitig deutet sich die Distanz zum Konzept der Volkssouveränität an. Sie sollte Luzacs weiteres Werk bestimmen, band er doch die Legitimität souveräner Obrigkeit nicht an die Einsetzung durch das Volk als politischem Subjekt, sondern an die Verwurzelung im natürlichen Recht. Es zeigt sich damit die bewußte Orientierung an der seit dem Spätmittelalter gewachsenen Verfassungstradition der Republik, auf die sich Luzac immer wieder historisch legitimierend beruft. Freilich stand er nicht nur in dieser Beziehung in der Kontinuität der Republik. Die Ablehnung ausgedehnter politischer Partizipation deckt sich mit den sozialgeschichtlichen Befunden zum Regiment der bürgerlich-aristokratischen Regentenschicht des 17. und 18. Jahrhunderts. Just hier wird allerdings auch die Bruchlinie zwischen dem Denken des Aufklärers und der politisch-sozialen Faktizität der Herrschaftsform deutlich. Sie offenbart sich in der theoretischen Begründung von Luzacs Kritik an der Regentoligarchie der statthalterlosen Perioden der Jahre 1650 bis 1672 und 1702 bis 1747. In ihr setzte er sich von der mit den traditionellen Topoi des Alten Herkommens und des Gemeinen Besten arbeitenden Politikkritik des 17. und ftilhen 18. Jahrhunderts ab. Zwar machte auch er sich diese Begriffe der politisch-sozialen Sprache zunutze, gleichwohl lediglich als Hilfsargument. Die mit jenen Begriffen konnotierte Ausweitung der politischen Partizipation war für ihn kein positiv besetztes Primärthema. Im Gegenteil! Überließ er doch in seiner Idealvorstellung von dem das Glück der Bürger befördernden Staat das politische Tagesgeschäft professionellen Administratoren, die - unabhängig von der Demagogie der Interessengruppen - an die Wahrung der natürlichen Rechte der Bürger, an die Wahrung ihrer Freiheit, gebunden sind. Im Vordergrund stand die Berufung auf den vemunftfähigen Bürger, für den allein das Recht auf Meinungsfreiheit gilt. Die Definition der Vemunftfahigkeit lehnt sich an die systematisch-mathematisierende Methode Christian Wolffs an, deren Voraussetzungen klare Begriffsdefinition und logische Ableitung des politisch-sozialen Moralsystems sind. Die Fähigkeit zum Erkennen dessen, was gut ist, bindet sich an diese Qualitäten. Konsequenterweise mußte dies Luzac zur Ablehnung des Volkssouveränitätsgedankens als vernunftwidrig führen. Mit neuartiger - 'aufklärerischer' - Begründung legitimierte er die traditionelle gemischte Verfassung der Republik mit dem quasimonarchischen Element des Statthalters auf der einen und den Ständen auf der anderen Seite als adäquate Form der Politiktechnik. Allerdings zog er anstelle der 'gemischten Verfassung' den vorwärtsweisenden Begriff der Gewaltenteilung vor. Er allein war geeignet, seinem Plädoyer für eine starke, im Recht gegründete Exekutive in Form des Statthalters Nachdruck zu verleihen. Diese, herausgehoben aus den dernagogieanflilligen und deshalb vemunftfeindlichen Konflikten der Interessengruppen, sollte zum Garanten des sich im Handelsstaat manifestierenden Anspruches auf individuelles Glück und Freiheit werden. An dieser SteUe läßt sich besonders deutlich erkennen, daß der Erkenntniswert der Studie weit über ihren eigentlichen Gegenstand hinausgeht. Es wird nämlich das Entwicklungspotential des politischen Systems der Republik insgesamt unter Beweis gestellt. Mit der Substitution des auch in der politischen Debatte in der Republik des 17. Jahrhunderts an zentraler Stelle beheimateten Begriffes der 'gemischten Verfassung' durch die modernstaatliche Zentralkategorie der Gewaltenteilung, ohne daß Luzac damit wesentlich andere Inhalte verband, stellte er unter Beweis, daß er einerseits in der Vorstellungswelt Alteuropas verankert war, andererseits diese in einer politisch-sozialen Sprache zu fassen in der Lage war, die weit über den alteuropäischen Kontext hinauswies. Die verfassungs- und sozialgeschichtliche Tradition der Republik stand folglich nicht in einem unüberbrückbaren Widerspruch zu der Möglichkeit ihres Wandels durch die Veränderung der politisch-sozialen Sprache.

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Hier geraten Berührungspunkte zu der von Luzac so heftig bekämpften Bewegung der Patriotten ins Blickfeld, die weitaus bedeutender ausfallen, als Velema glauben macht. Die jüngsten verfassungs- und mediengeschicbtlichen Studien von Nicolaas van Sas und die sozialgescbichtlicben Arbeiten u. a. von Maarten Prak haben gezeigt, daß sich bei den Patriotten, trotz der Radikalität einer sich am Konzept der Volkssouveränität orientierenden Begriffiichkeit, wesentliche Verbindungslinien zum sozial- und politikgeschichtlichen Verhaltens- und Normenkanon der Republik des 17. und frühen 18. Jahrhunderts herauskristallisieren lassen. Daß der Autor diese aufgrund einer vielleicht allzu starken Identifikation mit seinem Gegenstand nicht erkennt, sei als - freilich marginaler - Kritikpunkt erwähnt. Er ändert nichts an dem uneingeschränkt positiven Urteil über eine bedeutende Studie, die überdies ausgezeichnet lesbar ist. Sie zeigt letztlich den Schwellencharakter der politischen Kultur der niederländischen Republik, deren Status und Entwicklung sich mit dem Begriffspaar 'traditionell' und 'modern' nicht vollends fassen lassen. Die Hervorhebung des individuellen Glücks als Ziel gesellschaftlichen Handelns durch die Individuen selbst, die Reduktion der Rolle des Staates auf die Funktion des Schutzes der Rahmenbedingungen, die jenem Glück die Entfaltungsmöglichkeiten in der Selbstregulierung des Marktes ideeller und materieller Güter verschaffen sollten, all dies war embryonal im sich an den Möglichkeiten der politisch-sozialen Tradition der niederländischen Republik orientierenden Denken Luzacs angelegt und weist doch weit ins 19. Jahrhundert voraus. Luzac war 'konservativ' lediglich Olaf Mör ke (Gießen) in Anführungsstrichen.

ARBEITEN ZU KARL PHILIPP MORITZ 1987-1997 1. Teil: 1987-1992

/. Mit schöner Regelmäßigkeit werden in der Moritzforscbung zwei Topoi bemüht: die Klage um die unzureichende Textgrundlage und die Behauptung, es handele sieb um einen vernachlässigten Autor. Jürgen Jahnke konnte 1988 noch vom Fortgang der von Petra und Uwe Nettelbeck herausgegebenen ersten Gesamtausgabe berichten. 1 Sie ist mittlerweile wohl aufgegeben worden, so daß weder die noch ausstehenden, noch der Kommentar zu den vorliegenden Bänden erscheinen werden. Folglich kann auch hier wieder einmal nur festgestellt werden, daß eine kritische Moritz-Ausgabe ein Desiderat ist. Die Klage, Moritz werde vernachlässigt und vorwiegend als minderer Autor eingestuft, ist mittlerweile obsolet. Die Moritzforschung kann einige hervorragende Arbeiten aus den achtziger Jahren vorweisen. 2 Im Vergleich zu ihnen sind viele der hier zu besprechenden 1 Vgl. Jürgen Jahnke, Versuche, „das Voluminöse kompendiöser zu machen" - Neues zu Karl Philipp Moritz. Sammelrezension mit erginzender Bibliographie (1980-1987), in: Das Achtzehnte Jahrhundert 12 ( 1988), 186-193. Der vorliegenden Sammelrezension ist keine weiterführende Bibliographie beigegeben. Vgl. Hans Amstutz, Bibliographie neuerer Literatur zu Karl Philipp Moritz ab 1983, in: Annelies Häck.i Buhofer (Hg.), Karl Philipp Moritz. Literaturwissenschaftliche, linguistische und psychologische Lektüren, Tübingen/Basel 1994 (Basler Studien zur deutschen Sprache und Literatur, 67), 129-141. 2 Im Anschluß an den exzellenten Überblick von Hans Joachim Schrimpf, Karl Philipp Moritz, Stuttgart 1980 (Sammlung Metzler, M 195) seien stellvertretend vor allem genannt: Raimund Bezold, Popularphilosophie und Erfahrungsseelenkunde im Werk von Karl Philipp Moritz, Würzburg 1984; Lothar Müller, Die kranke Seele und das Licht der Erkenntnis. Karl Philipp Moritz' 'Anton Reiser', Frank-

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Arbeiten qualitativ ein Rückschritt. Die Ausrichtung der Fragestellungen beginnt sich von der Fixierung auf den minderen Autor und Denker zu lösen. Bislang als Mängel aufgefaßte Phänomene, etwa die Thesen, die Romane seien ästhetisch mißglückt oder Moritz mangele es an philosophischem Systematisierungs- und Problemlösungsvermögen, werden sichtbar als Brüche, an denen grundlegende ästhetische und philosophische Probleme des späten 18. Jahrhunderts zu analysieren sind. Diese Tendenzen kennzeichnen einige der vorliegenden Arbeiten zu Moritz aus den Jahren 1987 bis 1992. Auf sehr unterschiedlichem Niveau befassen sich die meisten Monographien mit Aspekten der Subjektproblematik (II). Claudia Kestenholz rekonstruiert anhand des Gesamtwerks aus philosophiegeschichtlicher Sicht die Subjektivitätsproblematik als Signum der neuzeitlichen Philosophie. Die beiden Romane untersucht Bruno Preisendörfer unter dem Aspekt einer Behauptung des 'Selbst'. Einen historisch-soziologischen Zugriff annonciert Monika Born-Wagendorf, die 'Anton Reiser' und Goethes 'Wilhelm Meister' als Fallstudien zur Identitätsproblematik der bürgerlichen Gesellschaft auffaßt. Barbara Völkel vergleicht Moritz und Rousseau als Außenseiter der Aufklärung. Zweiter Frageschwerpunkt ist die Analyse von Epochenproblemen an Moritz'Werk (III). Walter Gartler wählt den bereits von Kestenholz anvisierten poststrukturalistisch-diskursanalytischen Blick; Alo Allkemper bemüht das Inventar der Frankfurter Schule, um die 'Dialektik der Aufklärung' an Moritz' Werk herauszuarbeiten. Einen neuen Themenkomplex erschließt Wolfgang Grams, der Moritz'Naturbegriff aus ökologischer Perspektive profiliert (IV).

II. Claudia Kestenholz) konstatiert aufgrund der kurrenten kritischen Auseinandersetzung mit den philosophischen Errungenschaften der Neuzeit erhöhte Aufmerksamkeit für Moritz. Ihr geht es um die Historizität der Subjektivitätsproblematik in seinem Werk, um den Hintergrund der philosophisch 'gediegeneren' Systeme des deutschen Idealismus zu erhellen. Infolge mangelnder Problemlösungskra.ft seien in Moritz' Schriften die Brüche im Denken der Epoche zu studieren. Konkret geht es um die Frage, „inwieweit die Hypostasierung des Subjekts in der Subjektivitätstheorie der Zeit nicht nur begleitet wird von Ich-Verlust, Sinn-Verlust und Agnostizismus, sondern sich in einem komplexen Wechselspiel Erfahrungen dieses Zuschnitts geradezu verdankt" (S. 8). Karl Philipp Moritz wird charakterisiert als eklektizistischer Dilettant mit Mut zum intellektuellen Experiment. Er setze Sinn dezisionistisch, stelle ihn dadurch aber potentiell infrage. Inkohärenzen und das Schwanken zwischen Extremen der philosophischen Selbstlegitimation sind die Folge. Die 'klassisch' verstandene Subjektivität hat nach Kestenholz drei Voraussetzungen: die Wende zum transzendentalen Subjekt, die strukturelle Aushöhlung theologischer Begründungszusammenhänge und die 'kopemikanische'Wende des religiösen Weltbildes. Dieser Problemkomplex wird herausgearbeitet an der visuellen Metaphorik und der philosophischen Metaphorisierung im Werk Moritz', da sich dessen Subjektivitätskonzept vorwiegend über metaphorisierte Begriffe visueller Wahrnehmung definiere. Eine der philosophischen Grundfragen der Zeit ist die Situierung des Individuums in der problematisch gewordenen Harmonie eines Großen Ganzen. Schillers Denken, entwickelt aus Anlaß eines Kommentars zum 'Magazin zur Erfahrungsseelenkunde', sei ein bewußt gewählter Idealismus. Die Harmonievorstellung wird nicht mehr auf das Wesen der Dinge befurt/M. 1987; Peter Rau, ldentitAtserinnerung und ästhetische Rekonstruktion. Studien zum Werk von

Karl Philipp Moritz, Frankfurt/M. 1983. 3 Vgl. Claudia Kestenholz, Die Sicht der Dinge. Metaphorische YisualitAt und Subjektivitätsideal im Werk von Karl Philipp Moritz, Mllnchen 1987.

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zogen, sondern als Bedürfnis des menschlichen Geistes bestimmt. Im Gegensatz zu Schillers erkenntnistheoretischem Subjektivismus pflegt Moritz radikal offenes Denken über dieses Problem. Die Harmonie der übergreifenden Sinnzusammenhänge zerfällt ihm in einen „Dualismus von reiner Empirie und reiner Dialektik im Ideal" (S. 22). Kestenholz bestimmt Moritz' Position als Selbstkonstitution des autonomen Subjekts am Rande eines Abgrunds. 4 Das hat Konsequenzen: den Verlust des metaphysischen Horizontes, die mangelnde Kraft zu philosophischer Synthese und die Zementierung des gesetzten Subjekts in der nur gefühlsmäßig verbürgten Sicherheit seiner Denkkraft. Das Subjekt am Abgrund erprobt experimentell radikale Positionen, Harmonie wird formalisiert, die Frage nach dem Telos ausgeblendet. Im 'Anton Reiser' wird folglich der philosophische Diskurs ersetzt vom fiktionalen Medium und der psychologischen Perspektive. Die reflektierende Denkkraft, als sleren Instanz der auktoriale Erzähler fungiert., wird aus dem skeptischen Reduktionspunkt der 'Feste des Subjekts' abgeleitet und ihrerseits zu neuer Totalität funktionalisiert. Die Harmoniemetapher wird als Effekt einer Vernetzung visuell bestimmt; optische Wahrnehmung erscheint als Synthese. Kestenholz deutet aufgrund der Formalisierungstendenzen diese Sicherheit der Selbstvergewisserung als ideologische Absicherung gegen metaphysische Heimatlosigkeit. Moritz' Verfahren, Reflexion nach dem Vorbild synthetisierender visueller Wahrnehmung zu begreifen, demonstriert Kestenholz am Beispiel seiner Umdeutungen der Leibnizschen Metaphysik. Die Hypostasierung der reflexiven Denkkraft führt zum Verlust philosophischer Begründungskapazität. Da Moritz etymologisch Begriffe als Metaphern begreift, wird Metaphorisierung zum Prinzip seiner Begriffsbildung. Die dicht und stringent argumentierende Arbeit weist Problemzonen jenseits ihres philosophiehistorischen Horizontes auf. Kürzlich hat Wolfgang Riede! eindringlich auf unsere mangelnde Kenntnis der Populärphilosophie des 18. Jahrhunderts hingewiesen.5 Dieses Manko wird in der Höhenkammorientierung der vorliegenden Studie deutlich. Kestenholz begreift die Texte ausschließlich ideenimmanent, ohne im Hinblick auf Veränderungen des Denkens sozialstrukturelle und historische Prozesse in Rechnung zu stellen. Problematisch scheint mir darüber hinaus, daß die 'gediegenen' philosophischen Systeme als Maßstab in ihrer Problemlösungskraft überschätzt werden. Niemand wird doch wohl behaupten, daß diese die Probleme Moritz' gelöst hätten und etwa den Hiatus zwischen Empirie und Theorie haben schließen können. Fragegestus und Experimentalcharakter von Moritz' Reflexionen sind zurecht als zentrale Merkmale seines Werks herausgestellt, so daß vor allem die Problemformulierungskraft seine Arbeiten auszeichnet. Hier müßte die Tendenz zur Ästhetisierung der philosophischen Spekulation6 in die Analyse einbezogen werden. Erhebt man aber mit Kestenholz die philosophische innere Einheit des Gesamtwerks und dessen Problemlösungskraft zum Maßstab, muß Moritz als schlechter Eklektiker gelten und seine philosophische Entscheidungsschwäche oder -unwilligkeit behauptet werden (vgl. S. 196). Hegels Eklektizismusverdikt wird repetiert, die Spezifik von Moritz' Reflexionen aber verfehlt.

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Ausgeftlhrt wird diese Gedankenfigur bei Karl Eibl, Abgrund mit Gelinder. Bemerkungen zur Soziologie der Melancholie und des 'angenehmen Grauens' im 18. Jahrhundert, in: Autli:!Arung 8.1 ( 1994), 3-14.

'Vgl. Wolfgang Riede!, Anthropologie und Literatur in der deutschen Splltaufk!Arung. Skizze einer Forschungslandschaft, in: Internationales Archiv fllr Sozialgeschichte der deutschen Literatur 1994. Sonderheft 6 Forschungsreferate 3. Folge, 93-157. 6 Sie wird von Moritz selbst gelegentlich angesprochen. Vgl. z.B. (im 'Anton Reiser') Karl Philipp Moritz, Werke, hg. von Horst Günther, Bd. 1, Frankfurt/M. 1981, 248.

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Kestenholz situiert Moritz im philosophiehistorischen Horizont der Säkularisierung. Im Anschluß an Hans Blumenbergs Kritik an der Säkularisationsthese beschreibt Bruno Preisendörfer' in seiner Dissertation die Subjektposition in Moritz' Werk mit den Kategorien der "Selbstbehauptung" und des "Opfers". Der Verlust metaphysischer Garantien werde mit der Konstruktion einer autonomen Gegenwelt beantwortet. Die beiden Kategorien seien elementar in Texten, wo autobiographischer Bezug und ästhetische Aktualität sich integrativ verbinden. Sie zielen auf Einheit des wahren Selbst oder Demontage des Selbst in der ästhetischen Konstruktion. Herausgearbeitet wird das anhand einer Rhetorik von Opfer und Selbstbehauptung als literarische Strategie.8 Das Problem der Denkbarkeit einer vernünftigen menschlichen Seinsordnung reflektiere Moritz in den ästhetischen Konstruktionen der Autobiographie und Biographie. Im 'Anton Reiser' habe Moritz versucht, autobiographische Wahrhaftigkeit und psychologische Wahrheit zur Synthese zu bringen. Beide beruhen allerdings auf zwei historisch ausdifferenzierten Wertsphären mit unterschiedlichen Geltungsansprüchen. Formal hat Moritz Autobiographie, Ästhetik und Psychologie gleichermaßen auszuarbeiten versucht. Diese unterschiedlichen Programme konnte er nicht zum Abschluß bringen. Die strukturelle Überforderung führte zum Fragmentcharakter des Romans. Wie Kestenholz kommt auch Preisendörfer zu dem Schluß, daß das Selbst weder konzipiert noch dargestellt, sondern nur behauptet werden konnte. In den ersten drei Büchern gehe es um die innere Geschichte des Protagonisten. Der Bruch zum nach der Italienreise entstandenen vierten Buch Liege darin, daß die kausalpsychologische Erzählform durchbrochen wird zugunsten der Eigengewicht gewinnenden ästhetischen Form. Auf zwei Ebenen des Textes situiert Preisendörfer die Selbstbehauptung: auf der Darstellungsebene als Selbstbehauptungsmittel des Helden, auf der rhetorischen Ebene als ' Behauptungen des Textes' , damit er als Geschichte eines Selbst lesbar sei. Erklärung und romanhaftes Erzählen seien so angelegt, daß bei Lücken und Sprüngen hin- und hergeschaltet werden kann. Das Verhältnis der beiden Romane Moritz' zueinander ist komplementär angelegt: der Rhetorik der Selbstbehauptung des 'Anton Reiser' korrespondiere die Rhetorik des Opfers in den ' Hartknopf'-Romanen. Dargestellt sei hier ein Prozeß der Sakralisierung. Der Romantext als Ganzer zeige den Evangelisten bei der Arbeit. Die sich aus der Umerzählung der Evangelien ergebenden grotesken Elemente zeigen das Versagen von Kategorien der Weltorientierung an. Modellhaft werde eine sakrifizielle Variante der Selbstbehauptung entwickelt. Durch Opfer des Lebens kann an der Konstruktion des ' Selbst' festgehalten werden. Die in den Details plausible Analyse bestätigt Ergebnisse von Kestenholz. Der theoretische Rahmen bleibt allerdings diffus und wird nicht hinreichend ausgeführt. ' Selbstbehauptung' bzw. 'Opfer' werden zwar klar herausgearbeitet, ihr kategorialer und begrifflicher Status bleibt jedoch unklar. Einmal werden sie als überzeitliche Kategorien autobiographischer Texte begriffen, das andere Mal aus Blumenbergs Kritik des Säkularisationsbegriffs bzw. Rene Girards Kritik an der opfertheologischen Interpretation der Evangelien entwickelt. Die sozialhistorische Situierung, die zur Profilierung der von Moritz reflektierten Probleme führen könnte, annonciert Monika Born-Wagendorf.9 'Anton Reiser' und 'Wilhelm Meisters Lehrjahre' werden als Thematisierung des Identitätsproblems, „Entwicklung und 7 Vgl. Bruno Preisendörfer, Psychologische Ordnung - Groteske Passion. Opfer und Selbstbehauptung in den Romanen von Karl Philipp Moritz, St. Ingbert 1987 (Saarbrücker Hochschulschriften, 4). 8 Preisendörfer verwendet den Begriff Rhetorik als heuristische Fiktion. Rhetorik sei „die Art und Weise, wie innerhalb eines TeKtes Aussagen über 'Ich' und 'Selbst' gemacht werden" (20). 9 Vgl. Monika Born-Wagendorf, Identitätsprobleme des bürgerlichen Subjekts in der Frühphase der bürgerlichen Gesellschaft. Untersuchungen zu 'Anton Reiser' und 'Wilhelm Meister', Pfaffenweiler 1989 (Reihe Sprach- und Literaturwissenschaft, 15).

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Entfaltung des eigenen Selbst" (S. 6), auf den 'frühbürgerlichen Vergesellschaftungsprozeß' bezogen. Er setze das bürgerliche Individuum zur freien Entfaltung seiner Persönlichkeit frei, verwerfe jedoch zugleich dessen Freiheit und Subjektivität. 'Anton Reiser' sei konzipiert als psychologische Fallstudie, 'Wilhelm Meister' als exemplarisches LebensmodeJI. Für den Bildungsroman werde eine „Ichdissoziation, repräsentiert durch Erzähler und Romanfigur, [...] zum formkonstitutiven Moment" (S. 11). ,,Anton Reiser[.] alias Karl Philipp Moritz[.)" (S. 17) gelange zu keiner Versöhnung mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Seine Lektüre, 'frühbürgerliche Literatur', wecke in ihm die Vors'tellung des freien, autonom handelnden Individuums. Aber seine Bedürfnisse werden rigoros mißachtet. Anton sei - ein entwurzelter Kleinbürger. Die Arbeit bei Lobenstein sei nicht mehr Ausdruck konkreter Individualität. Reisers Identitätssuche in der Natur fehle die gesellschaftliche Seite; in der Poesie werde die Identität von Poesie und Leben nur abstrakt antizipiert. Theater und Reisen seien Residualräume in Randzonen der bürgerlichen Gesellschaft. „Die fragmentarische Form des Romans korrespondiert dem ungelösten Widerspruch zwischen der Position des vernünftigen Erzählers, der das Identitätsproblem mittels Ursachenanalyse und Selbstreflexion für lösbar hält, und der Position des im Empfinden und Begehren befangenen Helden des Romans, für den Identität konkret erlebbar sein muß" (S. 67). Wilhelm Meister strebe nach uneingeschränkter Selbstverwirklichung. In seinem Elternhaus „konnte er nahezu uneingeschränkt seine Wünsche und Bedürfnisse ausleben und genießen. Diese Disposition ermöglicht ihm, die Suche nach Identität und damit nach einem geeigneten Platz in der Gesellschaft aufzunehmen, ganz im Sinne der Turmgesellschaft" (S. 82). Beider Lebensproblem ist die 'Dialektik der Aufklärung', denn die „Negativität dieser von Optimismus begleiteten Aufbauphase läßt sich (...) erst vom Standpunkt einer fortgeschrittenen Entwicklungsstufe der bürgerlichen Gesellschaft entdecken" (S. 226). Aus diesem kurzen Referat wird klar, daß Born-Wagendorf schlagwortartig den theoretischen Stand der siebziger Jahre bis hin zum Rekurs auf die Romantheorie Lukacs' aufwärmt. In solcher Manier kann der Begriff des 'Bürgers' beim gegenwärtigen Stand der wissenschaftlichen Diskussion nicht mehr verwendet werden. Kennzeichnend fllr das Niveau der Arbeit ist im Vergleich beider Romane das 'Ergebnis', der Modus der Verarbeitung derselben Vergesellschaftungserfahrung korreliere mit der Biographie der Autoren. Born-Wagendorf scheut nicht davor zurück, Wilhelms glückliches Leben auf Goethes glilcklichen Bildungsgang zurückzuführen (vgl. S. 238).IO Erinnert sei an einige selbstverständliche wissenschaftliche Standards: Der Rekurs auf Bürgerbegriff und Vergesellschaftungsprozeß sollte die Rekapitulation der jüngsten Forschung voraussetzen. Born-Wagendorf bevorzugt lange Nacherzählungen und belegt Moritz-Zitate häufig nicht aus den Quellen. Offenbar sind diese Texte nicht eingesehen. Schließlich: wenn schon im marxistischen Horizont argumentiert wird, sollte man nicht schreiben, daß die Theatromanie „bei der damaligen jungen Generation sehr verbreitet war und ihren faustischen Drang dokumentierte" (S. 58). Born-Wagendorfs Untersuchung genügt nicht dem Stand der gegenwärtigen Diskussion. Daß es schlimmer werden kann, zeigt die Arbeit von Barbara Völkel. 11 „Man könnte sagen, Rousseau und Moritz haben sie [die Aufklärung] gelebt und sind dabei in unzählige Widersprüche geraten, für die ihre psychopathischen Anfälle und ihre innere Zerrissenheit sym10 Entproblematisierung des Romans ist deutlich. Nicht nur, daß die Unterscheidung Autor - Erzähler - Romanfigur durch das nicht reflektierte Modell der Ichdissoziation verschwindet Auch Äußerungen Goethes, der seine Hauptfigur einen ' armen Hund' genannt hat, die Ironie im Roman usw. machen eine einseitige Auffassung von einer geglückten Biographie fragwürdig. 11 Vgl. Barbara VOike!, Karl Philipp Moritz und Jean-Jacques Rousseau. Außenseiter der Aufklärung, New York u. a. 1991 (Gennan Life and Civilization, 10).

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ptomatisch sind" (S. 2). Beide seien in Biographie, Charakter und Gedanken vergleichbar. Sie radikalisierten Gedanken der Aufklärung und formulierten Zweifel an aufklärerischen Grundpositionen. Völkel vergleicht die Lebensläufe anhand der Autobiographien, analysiert 'Anton Reiser' im Vergleich mit Rousseaus 'Emile', erarbeitet den gesellschaftskritischen Gehalt des 'Reiser' und bestimmt die Position beider Autoren zur Aufklärung. Völkel verkündet, sozialhistorische Forschung gebe es praktisch gar nicht. Wenn allerdings in der Bibliographie nicht einmal der bereits 1987 erschienene einschlägige Band von Wehlers 'Deutscher Gesellschaftsgeschichte' auftaucht, bleibt zu vermuten, daß schlicht nicht recherchiert wurde. Man wird auch nicht wie sie voraussetzen dürfen, daß die Annahme einer unumschränkt guten Natur des Menschen die Prämisse von Rousseaus ' Menschenbild' sei (vgl. S. 48). Abgesehen davon, daß im ' Emile' von einem heuristischen Modell auszugehen ist, ist gerade dieser Punkt eines der zentralen Probleme. Rousseau wird grundsätzlich nach der deutschen Übersetzung zitiert. Völkels Genauigkeit sei an einem Detail aufgezeigt: Um 1770 kommt im deutschen (!) Sprachraum Kritik an Lesesucht und Romanlektüre auf. Völkel reklamiert dies als Ursache von Intentionen, die im 1762 in Frankreich(!) erstmals erschienenen ' Emile' greifbar werden (vgl. S. 54, S. 161 f.). Das sollte doch wenigstens anhand der französischen Verhältnisse geprüft werden. Zitierfehler und bibliographische Nachlässigkeiten runden das Bild ab. Die beiden Arbeiten von Born-Wagendorf und Völkel sind sinnvoll lediglich als Markierungen unbearbeiteter Forschungsfragen zu verstehen. Die sozialhistorische Seite des lndividualitätsbegriffs und seine Reflexion im Werk von Moritz bleiben zu untersuchen.

III. Im Zentrum von Walter Gartlers Buch12 steht die „Topographie der ' kleinen Ökonomie"' (S. 59) im 'Anton Reiser'. Der Roman wird eingerückt in „einige der globalen Antinomien [„.), anhand derer sich die Aufklärung als universelle Kommunikationsgemeinschaft zu organisieren versucht" (S. 14). Konkret geht es um das Problem des Autors, der „im 18. Jahrhundert noch einmal" als „literarisch-hagiographische Figur des Anachoreten" (S. 14f.) begriffen werde. Am Autorproblem lasse sich im Werk Moritz' das von dieser Funktion Verdrängte studieren. „Im Namen von Karl Philipp Moritz werden wir unseren Blick [„.) auf die[.] anachoretische Seite der Aufklärung, damit aber auch auf die fehlende zweite oder subjektive Seite der Kantschen Reise der Vernunft heften und uns von dieser Vernunft im Roman des 'Anton Reiser' - also gleichsam im anachoretischen Zustand ihres Nomadisierens - überraschen lassen." (S. 15.) Gartler verleiht Moritz die Weihen des dekonstruktivistischen Denkens: Die Funktion des Autors nach Kant basiere auf Macht, die das „chaotische[.) Stimmengewirr" ausgrenze, „das jederzeit durch die demo-kratische Gleichberechtigung aller anwesenden Stimmen entstehen kann" (S. 32). Folglich werde die Etablierung von Kritik als souveränem Zensor im gelehrten Diskurs zum Vorgang, der die Struktur des bellum omnium contra omnes zum Bestandteil der Bibliothek als Dauerkrisis mache. Hinzuweisen ist darauf, daß Gartler 'Kritik' personalisiert und ausblendet, daß theoretisch jeder Teilnehmer am gelehrten Diskurs sich kritisch betätigen kann. Wichtig wäre eher, daß Kontrollmechanismen zur Zähmung des Zensors führen. Allerdings könnten dann nicht so effektvoll die dunklen Seiten der Hobbes-Anspielung fatalisiert werden. Nicht fehlen darf das Problem der Ausgrenzung des ' Begehrens', das etwa bei Lessing im „' Zwischenraum' seines unendlichen Schreibens" (S. 51) überlebe. 12 Vgl. Walter Gartler, Unglückliche Bücher oder die Marginalität des Realen. Eine Untersuchung im Vorfeld des deutschen Idealismus, Wien 1988.

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Im Fall Moritz kritisiert Gartler die Einschwörung der Forschung auf die biographische Lesart und die Fixierung auf die großen Autoren a.ls Maßstab. Beides habe den Blick auf die im 'Anton Reiser' waltende 'kleine Ökonomie' verstellt. Diese Kritik dürfte die Moritz-Forschung verwundern, denn sie untersucht häufig genau dieses Problem. Gartlers Kritik ist darin begründet, daß er nur eine Handvoll Moritz-Arbeiten gelesen hat, unter denen die von Thomas Saine von 1971 die aktuellste ist. Das ist unverzeihlich. Chuzpe ist es aber, auf solcher Grundlage der Forschung Versäumnisse vorzuwerfen. Abgesehen davon, daß so ein Verfahren arbeitssparend ist, hat solche Ausgrenzung der Forschung System, denn Gartler seinerseits fühlt sich nur bei großen Namen, bei veritablen 'Autoren', wohl: Kleist, Hegel, Kant, Lessing, Goethe, Heine, Freud und schließlich die Klassiker der modernen französischen Philosophie: Deleuze, Guattari, Lacan, Foucault, Derrida. Offenbar sind nur große Genies diskussionswürdig. Das verträgt sich kaum mit der großen pathetischen Geste, mit der die Macht, die Hierarchie, die 'große Ökonomie', die Ausgrenzung „im Namen von Moritz" entlarvt werden. Gartlers Argumentationsweise liest sich so: „Indem wir im Körper des anachoretischen Wunsches, im 'Wunschkörper' von Anton Reisers Lebensgeschichte, jenen fechtenden Tanzbären ausgemacht haben, der das Kleistsche Marionettentheater biographischer Erfahrung aufgeschlossen zeigt, haben wir uns auch schon entschieden, Aug' in Auge mit diesem Tier zu verharren, von dem wir jetzt kaum mehr länger bezweifeln wollen, daß es 'meine Seele darin lesen könnte' (S. 81). Das sind reine Imponiergesten. Sie täuschen darüber hinweg, daß Gartler wenig bietet, was nicht schon die neuere Moritz-Forschung diskutiert hätte. Weil er sie nicht zur Kenntnis genommen hat, kommt er auch nicht über sie hinaus. Alo Allkemper13 analysiert in seiner wissenschaftshistorisch verspäteten Arbeit Moritz als Paradebeispiel für die „Dialektik der Aufklärung". Er sei „paradigmatisch deshalb, weil Moritz aus der Perspektive des Defizits, Gestehungskosten und notwendige Kompensation, Gewinne und Verluste des 'Projekts der Modeme' aus unmittelbarer Erfahrung und konkreter Not beschreibt" (S. 8). Moritz erhebe den Anspruch auf die vernünftige Rechtfertigung der Welt. Die Totalität dieses Anspruchs aber Jasse aufgrund der damit verbundenen unendlichen Potenzierung der Sinndefizite des Aufklärungsprozesses die Vernunft tautologisch werden. Zur Lösung des Problems gebe Moritz eine ästhetische Reformulierung des Vernunftanspruchs. Kunst wird als autonome, vom Leben strikt getrennte Größe gesetzt. Den scharfen Blick auf die gesellschaftliche Realität führt Allkemper auf die Ausgrenzung des Autors aus dem 'bürgerlichen' Selbstverständnis zurück. Moritz'Werk sei geprägt von dem dialektischen Verhältnis von sozial negativ ausgezeichneter Basis und kritisch positiv gezeichneter Theorie. Damit rückt er ein in den bürgerlichen Verionerlichungs- und Entpolitisierungsprozeß. Die Kritische Theorie bietet also das Prokrustesbett einer immanenten, vorwiegend den Romanen - mit Einbezug eines breiteren Korpus - gewidmeten Analyse. Die Omnipräsenz des Erzählers im 'Anton Reiser' gilt als verdecktes Eingeständnis, daß er nicht sicher über das Erzählte verfügt. Das Erzählte sprenge den Rahmen für die Problemlösungen des Erzählers. Problem des Romans sei die Kombination der von Blanckenburg poetologisch geforderten idealen Struktur mit dem Ziel, eine faktengetreue Biographie zu bieten. Im Ergebnis scheitert die Fiktion an den Fakten. Die abgerissenen Erzählfäden sind 'Blamagen' des Erzählers. Auf der Ebene der Handlung bietet Allkemper eine Explikation der „schwarzen" Aspekte des Romans (Scheitern von Sozialisation, Gesellschaftskritik am Hauptübel Arbeitsteilung, Religionskritik, dezisionistischer Gottesbegriff usw.). Die Hauptfigur Reiser entwickelt mehrere ästhetische Lösungen: die neronischen Spiele ermöglichen eine Ich-Stabilisierung; die Lektüre zielt auf ästhetischen Schein und ist damit nolens volens Kritik an der Scheinpraxis der Gesellschaft; die Ästhetisierung der Natur ist Projektion; Poesie wird 13

Vgl. Alo Allkemper, Ästhetische Lösungen. Studien zu Karl Philipp Moritz, MOnchen 1990.

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als Verarbeitung von Lebensproblemen rezipiert; die fiktive Existenz des Schauspielers ermögliche das „Paradoxon nichtidentischer Identität" (S. 188). Moritz' Gesellschaftskritik schwanke, wie sich im Horizont der Kritischen Theorie versteht, zwischen Revolte und Affirmation. Die Komplexität des Romans resultiere aus der doppelten Funktion des kritischen und engagierten Erzählers. Das Erzählen gelingt und gelingt nicht. Allkemper interpretiert wie schon Preisendörfer und Kestenholz den 'Hartknopf' nicht als Lösung der Probleme des 'Reiser'. Die Lehre der Figur Hartknopf lasse sich nicht logisch rekonstruieren. Dessen Resignation sei Dezisionismus. Die ironische Distanz des Erzählers zur Lehre und deren Relativierung mittels der Christus-Analogien verweisen darauf, daß die Kontingenzprobleme bestehen bleiben. „Nur aus dem Wissen ist die Weisheit der Resignation nötig, daß der Umschlag des 'Nichts' in eine 'Vollkommenheit' Vorgabe, Wunsch, Schein einer die Resignation stabilisierenden Zusatzannahme ist" (S. 254 f.). Die ästhetische Lösung sui generis ist, natürlich, die Kunst. Anhand der ästhetischen Schriften wird die Begründung der Autonomie der Kunst herausgearbeitet. Das „schöne Kunstwerk" vermag „das Vollkommene, die rechte Ordnung der Welt gegen den Zugriff des Chaotischen, des blinden 'Ohngefähr', seinerseits zu retten" (S. 263). Das Schöne zeige in seiner Struktur eine Ordnung, die unter ethischen Gesichtspunkten das Gute ist. Es hat keine Moral, sondern ist in sich moralisch. Moritz' philosophische Mängel bestimmt Allkemper als Zeichen resignierter Theorie: Dezisionismus, dogmatische Setzungen, ungenaue Differenzierungen, pathetischer Stil mit hymnischen Einschüben. Allkempers Buch ist kontrovers aufgenommen worden. 14 Aus der Perspektive empirisch ausgerichteter Forschung bleibt sein philosophisch-systematischer Versuch ahistorisch. Die Argumentation führt häufig dazu, daß die stetig dialektisch fortschreitenden Ausführungen in Tautologien enden und sich verselbständigen. is Gelegentlich finden sich Leerformeln. 16 Die dialektische Argumentation ergibt sich häufig nicht aus dem Material, sondern aus der zugrundegelegten philosophischen Konzeption. Mit absolut fundierten Begriffen wird mit Adorno aus dessen „theologisch-messianische[r] Perspektive"17 auf Moritz' metaphorische Begrifflichkeit zugegriffen, dessen Werk als systematische Philosophie rekonstruien. Viele dialektische Wendungen folgen ausschließlich aus diesem Verfahren. Ebenso sind die Urteile über Scheitern oder Gelingen, Revolte oder Affirmation dem Wenehorizont der Frankfurter Schule verpflichtet. Es fehlt die Reflexion darüber, ob im 18. Jahrhunden nicht andere Entscheidungen über Scheitern oder Gelingen gefällt werden müßten. Moritz bleibt trotz einiger interessanter Einzelbefunde ein Anwendungsfall der Kritischen Theorie.

1•

Vgl. Alessandro Costazza, in: Internationales Archiv filr Sozialgeschichte der deutschen Literatur

17 (1992), H. 2, 227-238; Ernst-Peter Wieckenberg, in: Arbitrium 10 (1992), 93- 95. 15 Vgl.: "Zum Wertmaßstab der 'Selbstprüfung' nimmt Moritz einen Unwert - 'eingebildete göttliche RUhrungen ', der einen Wert - göttliche Gnade - in eins belegt und dessen Gegentei 1widerlegen kann; daraus kann nur eine totale Entwenung, ein umfassender Zweifel folgen, der sich auf Wert wie Unwert bezieht und beides verneint; [„.]" (43). Und: "Das Scheitern Anton Reisers an sich und der Welt ist zugleich ein Scheitern des Erzählers oder umgekehrt, Zeichen erzählerischen Gelingens" (194). 16 Z.B.: "Den dialektischen Prozeß der Ich-Findung im wechselseitigen Gegen- und Miteinander von Ich und Welt kennt Reiser nur in eindimensionaler VerkUrzung" ( 157). 11 RolfWiggershaus, Die Frankfurter Schule. Geschichte - Theoretische Entwicklung - Politische Bedeutung, MUnchen 1988, 584 und passim.

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rv. Wolfgang Grams 18 erschließt in seiner Studie zu Moritz' Naturbegriff einen neuen Gegenstandsbereich. Es geht ihm einerseits um eine historische Rekonstruktion des Begriffs in seinem ökologischen Kontext, andererseits um eine konstitutionslogische Erklärung und Kritik des gegenwärtigen Umgangs mit Natur. Er ist ein Spätling der Diskussion um die Legitimationskrise der Germanistik in den sechziger Jahren. Die damals impulsgebenden Theoretiker bilden die Tradition der Untersuchung: „In der Literatur soll der Naturbegriff untersucht werden, indem das Verhältnis von Individuum, Gesellschaft und Natur als ästhetisches Verhältnis in historischer Dimension mit aufklärerischer Absicht untersucht wird" (S. 24). Grams' Rekonstruktion der Leitbegriffe Moritz' zeigt, daß Selbst- und Sozialwahrnehmung in den Naturbegriff integriert sind. Die Kompensationsthese wird durchgängig modifiziert, bleibt aber als Argumentationsschema erhalten. Wie Allkemper begreift Grams die Gesellschaftskritik von Moritz als frühe Entfremdungskritik, akzentuiert emanzipatorische Aspekte bürgerlicher Naturwahrnehmung, wobei das obsolete Bürgerkonstrukt der alten theoretischen Konzepte bemüht wird. Natur wird bestimmt als Raum für ästhetische Probebandlungen, die auf soziale Erfahrung im Vorfeld gesellschaftlicher Emanzipation zielen. Das Verhältnis zwischen Mensch und Natur soll Moritz zufolge ein Allianzverhältnis sein. Allianz ist ebenso die Zielvorgabe für Moritz' Rbetorikkonzept, das dem stummen Dialog mit der als Subjekt angesprochenen Natur zugrundeliegt. Moritz entwickelt es aus der Kritik an der herkömmlichen Rhetorik als Versuch, in Regeln zu fassen, was nicht in Regeln zu fassen ist. Aufschlußreich ist der Kontext von Moritz'Naturbegriff, der aus der „Rekonstruktion historisch realer Naturverhältnisse, der Landschaft, der Vegetation, der Straßenverhältnisse, der frühen industriellen Infrastruktur, auch der Umweltbelastungen etc." (S. 179) gewonnen wird. Demnach zeichnet sich im späteren 18. Jahrhundert eine ökologische Krise als Referenzproblem der zeitgenössischen Natur-Mode ab. Der schwächste Abschnitt der Arbeit ist der letzte über 'Naturqualität und Fortschritt' bei Moritz, in dem Grams den Kontext der Aufklärung des 18. Jahrhunderts rekonstruiert. Hier werden Befunde, Parallelen systematisiert, die kaum ausgewertet werden. Eine Vielzahl von Einzelbeobachtungen werden aus einem breiten Textko1pus gewonnen. Im Gegensatz zu Allkempers Analyse markiert Grams deutlich, wo die theoretische Überformung der Befunde einsetzt, so daß im Fortgang der Moritz-Forschung Anschlußmöglichkeiten gegeben sind. Der Hervorhebung des anregenden Reichtums der Theoretiker (vor allem Bloch, Marx, Adorno u.a.) entspricht leider keine Kritik der strittigen oder überholten Vorannahmen. Entsprechend wird bei der Erläuterung der panoramatiscben Sichtweise auf Joachim Ritters Landschafts-Aufsatz zurückgegriffen, die Fortführung der Diskussion und die Kritik an Ritter vor allem von Seiten der Petrarca-Forschung aber ausgeblendet. Etwas unglücklich wirken affirmative Stellen, wo Grams plötzlich argumentiert, als sei er der bessere Moritz. Behauptet wird etwa, Moritz habe die Naturrhetorik der französischen Revolution sicher geteilt, Belege werden aber nicht gegeben (vgl. S. 114f., S. 171). Unangenehm ist das schulterklopfende Lob der 'Hartknopf'-Romane: ,,Die Romane sind so erfrischend frech, daß sie dem Literarhistoriker eine Bereicherung seiner oft tristen Arbeit sind, und der heutige Leser dem armen Moritz von Herzen gönnen mag, er hätte doch eine solche Haltung zu sich und der Welt schon eher, häufiger und konsistenter gelebt" (S. 154). 11 Vgl.

Wolfgang Grams, Karl Philipp Moritz. Eine Untersuchung zum Naturbegriff zwischen Aufklllrung und Romantik, Opladen 1992 (Kulturwissenschaftliche Studien zur deutschen Literatur).

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Im Überblick über die besprochenen Arbeiten wird man konstatieren müssen, daß der in einigen zu Recht gelobten Untersuchungen gesetzte Standard der Moritz-Forschung nicht gehalten wird. Die Untersuchungen tun sich schwer mit Moritz' Eigenart, philosophische Argumentation und Reflexion zu ästhetisieren, indem Begriffe als Metaphern gefaßt werden und mit Metaphern argumentiert wird. Das wird um so deutlicher, je strenger die theoretische Ausrichtung der Studie ist. Moritz'Verfahren wird immer wieder als Mangel im Sinne philosophisch strikter Argumentation aufgefaßt, nicht aber im Hinblick auf Funktion und Verfahren analysiert. Sowohl der Vergleich mit 'gediegenen' philosophischen (Kestenholz) als auch die Einbettung in moderne philosophische (Allkemper) Systeme führen zu diesem Befund. Zu fordern bleibt darüber hinaus in der Analyse die Berücksichtigung der zeitgenössischen Populärphilosophie. Auffällig ist im Besprechungszeitraum die Vorliebe für ältere und wenigstens in Teilen überholte theoretische Konzepte. Die Anknüpfung bei der Kritischen Theorie bedeutet leider immer auch die kritiklose Übernahme von deren überholten Positionen. Demnach wird etwa das Verhältnis zwischen Literatur und Gesellschaft je nach Argumentationsniveau offen oder implizit nach dem Basis-Überbau-Schema als Widerspiegelung begriffen. Nach wie vor geistert der „Bürger"-Begriff der ideologiekritisch-marxistischen Schule mit allen Folgen (Kompensationsthese, Geschichtsphilosophie, Revolte/Affinnation, anthropologische Grundannahmen usw.) durch die Arbeiten, ohne daß neuere historische Untersuchungen zum „Bürger" auch nur zur Kenntnis genommen würden. In manchen Untersuchungen, und dies ist sicher die unangenehmste Erfahrung, regiert blanker Dilettantismus. Zurückzuführen ist das häufig auf die Weigerung oder das Unvermögen, neuere Forschungsliteratur zur Kenntnis zu nehmen, ja gelegentlich sogar die zeitgenössischen Texte zu lesen. Eine Unsitte ist die Behauptung von Forschungslücken, wo offensichtlich nicht einmal nach Forschungsbeiträgen gefahndet wurde. Fazit: Von Ausnahmen abgesehen ist die Ausbeute an weiterführenden Fragestellungen zu Moritz gering. Hans-Edwin Friedrich (München)

HOLGER BÖNING (Hg.), Deutsche Presse. Biobibliographische Handbücher zur Geschichte der deutschsprachigen periodischen Presse von den Anfängen bis 1815. Kommentierte Bibliographie der Zeitungen, Zeitschriften, Intelligenzblätter, Kalender und Almanache sowie biographische Hinweise zu Herausgebern, Verlegern und Druckern periodischer Schriften. Ca. 40 Bde. HOLGER BÖNING, EMMY MOEPPS (Hg.), Bd. 1.1. Hamburg. Von den Anfängen bis 1765, Bd. 1.2. 1766-1795, Bd. 1.3. 1796 - 1815, frommann - holzboog, Stuttgart - Bad Canstatt 1996, 460 DM. Echte „Ereignisse" in der Wissenschaft lassen sich gemeinhin auf zwei Ursachen zurückführen: Entweder kommt es zur Realisierung eines methodischen Neuansatzes, kühn durchgeführt und gut geschrieben, oder eine spürbare Lücke bewegt jemanden dazu, mit großem Fleiß ein anspruchsvolles Ziel zu verfolgen. Letzteres liegt vor in dem Auftakt einer Gesamtbibliographie der deutschsprachigen periodischen Presse bis zum Jahr 1815. Jeder, Eier sich irgendwann einmal mit Presse in Deutschland im fraglichen Zeitraum beschäftigt hat, muß bald erkennen, daß es selbst für bedeutende Periodika trotz ihres hohen Gewichts für Politik, Literatur und Gesellschaft an essentiellen Infonnationen fehlt. Mehr noch stellt bis

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heute eine aus den Quellen gearbeitete Geschichte der Presse in Deutschland ein Desiderat dar. Mindestens für die wichtige Verlags- und Buchhandelsstadt Hamburg stimmt dies nun so nicht mehr. Dafür sorgt das dreibllndige, von Holger Böning und Emmy Moepps herausgegebene Werk „Hamburg. Kommentierte Bibliographie der Zeitungen, Zeitschriften, Intelligenzbllltter, Kalender und Almanache". Diese in drei Teilbänden erschienene Bibliographie stellt den Beginn eines auf etwa 40 Blinde angelegten Unternehmens „Deutsche Presse. Biobibliographische Handbücher zur Geschichte der deutschsprachigen periodischen Presse von den Anfangen bis 1815" dar. Als strukturierendes Prinzip haben sich die Herausgeber auf die Ortsbibliographie verständigt, wobei alle Orte im deutschsprachigen Raum berilcksichtigt werden, in denen bis 1815 periodische Schriften erschienen. Ihre Aufmerksamkeit galt dabei keineswegs nur bibliographischer Information. Durch die gründliche Auswertung der Periodika selbst, aber auch durch den Rückgriff auf Archivalien gelang es ihnen, etwa filr Hamburg rund 1000 Titel nachzuweisen, von denen 60 Prozent nicht in Kirchners bislang immer noch maßgebender Zeitschriftenbibliographie aufzufinden sind! Dieser überraschende Befund erhält weiteres Gewicht durch die Feststellung, daß nur die Hälfte der Hamburger Titel im „Gesamtverzeichnis des deutschsprachigen Schrifttums 1700-1910" aufgeführt sind. Zu begrüßen ist, daß die Herausgeber all jene Schriftstücke erfassen, die in regelmäßigen Abständen als Druckschrift erschienen. Denn damit rückt das große Spektrum periodischer Presse in den Mittelpunkt, das sich von wöchentlichen PredigtentwOrfen über ,,Der Critische Musicus" (Nr. 193) bis zur „Sammlung interessanter und durchgängig zweckmäßig abgefaßter Reisebesc.hreibungen filr die Jugend" (Nr. 593) erstrecken konnte. Zudem sind dabei die verschiedenen ,,Aggregatzustände" zwischen selbständiger Publikation und regelmäßig erscheinenden Periodika berücksichtigt. Die vielfachen Abgrenzungsschwierigkeiten werden dann jeweils im Kommentar diskutiert. Von vornherein ausgeschlossen haben die Herausgeber die sogenannten „geschriebenen Zeitungen" und die handschriftlichen Zeitschriften. Deren bibliographische Erschließung erforderte ganz eigene Anstrengungen. „Neue Zeitungen" und politische wie theologische Streitschriften bleiben gleichfalls außen vor. Hingegen wurden vielfach auch Periodika aufgenommen, deren Status oder Erscheinen in Hamburg unsicher ist. Dieses Vorgehen ist sehr zu begrüßen, da es die Diskussion über den Status des jeweiligen Periodikums ermöglicht (vgl. etwa „Unpartheiische Nachrichten Von denen in der Christlichen ... Kirche obschwebenden Streitigkeiten", erschienen „Im Lande der Redlichen" 1730 [Nr. 388)). Alle Titel finden sieb also dargestellt nach Autoren bzw. Herausgebern, Erscheinungsort, Verleger, Preis, Neu- und verbesserte Auflagen, Gegenschriften sowie Rezension- und Standortnachweisen. Die Bibliographie prllsentiert also von der „Practica dudesch" von 1492 über die „Thaler Collection" von 1709 - eine numismatische Zeitschrift - bis zur ,,Hamburgischen Dramaturgie" Gotthold Ephraim Lessings (1767-1769) ein wahrlich weites Feld. Als entscheidende Leistung dieser Bibliographie ist die aufwendige Kommentierung hervorzuheben, die eine Charakterisierung der jeweiligen Zeitschrift ermöglicht. Vielfach durch Zitate aus den Einführungen der Periodika ergänzt, läßt die Kommentierung erst richtig deutlich werden, was sich hinter einem Titel verbirgt. Die Kommentare können dabei zu eigenständigen Analysen der Periodika geraten, die teils recht umfangreich ausfallen. (Vgl. etwa die Ausführungen zum „Nordischen Mercurius" (1664-1675; Sp. 19-26), zur bedeutendsten Hamburger Zeitung „Aviso. Der Hollsteinische unpartheyische Correspondente ..." (1711-1934; Sp. 177-220), oder zur ,,Kayserlich privilegirten Hamburgische Neue Zeitung"(l 767-1846; Sp. 846-865}). Auch zur Diskussion über die Entstehung einer bürgerlichen Öffentlichkeit werden diese Bände beitragen. Die Herausgeber verweisen hier auf Blätter wie die „Unpartheyische Nachricht von denen, bey der allerhöchsten Kayserl. Commission in dem Mecklenburgischen Differentien" (1738-1742; Nr. 196), die einen Beleg dafür bieten können, daß auch

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politische Konflikte in der durch die Publizistik geschaffenen Öffentlichkeit ausgetragen wurden. Die fast 2000 Spalten umfassende Bibliographie wird ergänzt durch ein Personenregister und ein Register der pressegeschichtlich bedeutsamen Institutionen. Das Personenregister besticht durch biographische Angaben zu dem im hamburgischen Pressewesen aktiven Personenkreis, eine echte Fundgrube für die vielfach im biographischen Dunkel bleibenden Drucker und Verleger. Dem schließen sich ein Sach- und Ortsregister sowie ein Titelregister an. Vieles könnte noch genannt werden, wie etwa die Musikzeitschriften Georg Philipp Telemanns oder die wöchentlich erscheinenden „Predigtentwürfe", die den Lesern zur Vorbereitung auf den Gottesdienst dienten [Nr. 184, 197, 208, 218, 285 usw.), doch der gewaltige Umfang der Bibliographie verbietet eine ins einzelne gehende Besprechung. Nicht unterbleiben soll jedoch die berechtigte Vennutung, daß dieses Werk vielen Interessen dienen kann. Natürlich wird sich jeder an der Geschichte Hamburgs Interessierte dieser Bände bedienen, natürlich sind sie ein Muß für die Pressegeschichte. Doch auf dem Hintergrund der sich im frühen 18. Jahrhundert entwickelnden Fachperiodika dürfte fast jedes historisch orientierte akademische Fach von dieser Bibliographie profitieren. Nicht zuletzt bietet sie einen reichen Fundus für Fragestellungen der Geschlechtergeschichte (Stichwort: Frauenzeitschriften). Alles in allem also: ein echtes wissenschaftliches Ereignis. Rainer Lächele (Esslingen)

MICHAELA TRIEBS, Die Medizinische Fakultät der Universität Helmstedt (1576-1810). Eine Studie zu ihrer Geschichte unter besonderer Berücksichtigung der Promotions- und Übungsdisputationen (Repertorien zur Erforschung der frühen Neuzeit, Bd. 14), Harrassowitz Verlag Wiesbaden 1995, 354 S. Frühneuzeitliche medizinische und theologische Dissertationen deutscher Universitäten sind, bibliographisch schlechter erschlossen als die juristischen und philosophischen, bis jetzt kaum als universitätsgeschichtliche Quellen herangezogen worden. Michaela Triebs verzichtet zwar in ihrer Doktorarbeit auf eine genaue inhaltliche Auswertung der von ihr nun besser zugänglich gemachten Dokumente. Wie Werner Kundert mit seiner vor längerer Zeit erschienenen Bibliographie juristischer Helmstedter Dissertationen leistet die Autorin dennoch einen wichtigen Beitrag zur Erschließung alter medizinischer Dissertationen und schafft so bessere Voraussetzungen für eine auf breiter Quellenkenntnis beruhende Geschichte der Universität Helmstedt. Dem Vorwort und dem Einleitungskapitel (I.) folgt ein historischer Abriß von der Gründung der Hochschule (1576) bis zu ihrer Aufhebung (1810) (II.). Der nächste Hauptabschnitt (III.) ist der offiziell erst seit 1585 bestehenden medizinischen Fakultät gewidmet. Es werden (mit einigen philologischen Ungereimtheiten resp. Druckfehlern, z.B. S. 24, lateinischer Wortlaut 'consideratio naturae rerum a Deo conditorum [sie!]', Übersetzung mit falschem syntaktischem Bezug) deren Statuten und innere Organisation vorgestellt, dann die Lebensläufe der Helmstedter Medizinprofessoren. In diesen an sich verdienstvollen biographischen Teil haben sich leider zu viele Fehler eingeschlichen, die wohl durch eine sorgfältigere redaktionelle Bearbeitung des Texts hätten vennieden werden können (fehlendes Geburtsjahr bei Barteis, S. 43, bei Sigfrid, S. 64; falsche Jahrzahl bei Philipp Conrad Fabricius, der, 1714 geboren, bestimmt nicht 1531 [aber '1731 '?] in Gießen sein Studium begann, S. 49, und bei Jakob Horst [Tätigkeit in Schweidnitz), S. 54; Unklarheit bei Peter Immanuel Hartmann [wann genau erhielt er den Ruf nach Frankfurt/Oder?], S. 52; Versehen bei der Wiedergabe lateinischer Buchtitel [falsch: 'De principium cura circa sanitatem

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subditorum '], S. 53). Die häufigen Verweise auf Gewährsleute im laufenden Text der Viten lassen Zweifel aufkommen, ob mit der erforderlichen Gründlichkeit selbständige Quellenrecherchen vorgenommen wurden. Manche Prioritätsentscheide sind schwer nachvollziehbar. Warum wird Valentin Heinrich Vogler, damals u.a. wegen seiner literarhistorischen Aktivitäten ein über Helmstedt hinaus bekannter Mann, nur mit so wenigen Zeilen bedacht (S. 68), und wieso werden von Johann Karl Spies (1666-1729) außer der Dissertation nur deutschsprachige Werke angegeben (S. 65)? Die Biographien der Helmstedter Mediziner geben auch Auskunft über familiäre Gegebenheiten (Ehefrau, Kinder), hin und wieder über Verwandtschaftsbeziehungen zu anderen Gelehrten und ermöglichen, kollektiv ausgewertet, universitätsdemographische Schlußfolgerungen. Tabellen und Interpretationen zu den jährlichen Immatrikulationszahlen, Beobachtungen zur Herkunft der Medizinstudenten sowie ein Abschnitt über das äußere Erscheinungsbild der medizinischen Fakultät und des ihr angeschlossenen Geländes (botanischer Garten) schließen das Überblickskapitel ab. Der folgende Hauptabschnitt (IV.) beschäftigt sich mit dem Disputationswesen im allgemeinen sowie mit den medizinischen Disputationen und Promotionen in Helmstedt im besonderen. Leider wurde im allgemeinen Teil neuere Sekundärliteratur zur 'disputatio' in der Frühen Neuzeit mit dem Hinweis auf das Fehlen 'umfassenderer Darstellungen' (S. 83, Anm. 285) nicht herangezogen, und auch, was wohl schwerer wiegt, hauseigene frühneuzeitliche Disputationsliteratur (z.B. der mehrfach aufgelegte 'De processu disputandi liber' von Konrad Homeius) überhaupt nicht berücksichtigt - eine unvermeidliche Folge der Arbeitsteilung bei der Erstellung fakultätsbezogener Repertorien zur Geschichte der Disputation? Bleibt zu hoffen, daß das Manko des Fehlens eines interdisziplinären Blickwinkels im längst fälligen Repertorium beseitigt wird, das dereinst die philosophischen Helmstedter Disputationen besser erschließt. Der zusammenfassende Schlußabschnitt (V.) sieht Helmstedt, von Halle und Göttingen zeitweise hart konkurrenziert, nicht unbedingt als 'die innovationsfreudigste Universität im deutschsprachigen Raum' (S. 110). Ein QuellentextAnhang (VI.) enthält den Promotionseid und die Zusatzbestimmungen der Statuten der medizinischen Fakultät. Der Kataloganhang (VII.) setzt sich aus einem Verzeichnis der medizinischen 'pro-gradu' -Disputationen, aus einem solchen der Übungsdisputationen sowie aus einem Respondentenregister zusammen. Warum hat man sich, anstelle der erwähnten Doppelspurigkeit, nicht mit einer einzigen fortlaufenden Disputationenliste begnügt, diese aber durch ein alphabetisches Verzeichnis der Präsidesnamen und Titelnummern, durch ein Sachregister sowie durch ein Register der Herkunftsorte ergänzt? Grußadressen und Widmungen blieben leider, trotz der verhältnismäßig kleinen Anzahl von Titeln, unberücksichtigt. Obwohl die Lebensbeschreibungen der Helmstedter Medizinprofessoren alphabetisch angeordnet sind, hätte man auch die ersten sechs Kapitel des Buchs wenigstens mit einem Personenregister versehen und dem Nachschlagezweck besser entsprechend gestalten können. Vereinzelte lateinische Ortsbezeichnungen wären auch für die deutsche Verfasserin zu entschlüsseln gewesen (z.B. Herkunftsort 'Aroa' = Aarau [Schweiz), Nr. 201, S. 172). Ob Johann Friedrich Steiohausen (Nr. 477, S. 246) wirklich eine Dissertation verfaßte, ja überhaupt auch nur disputierte, ist fraglich, lassen doch die dem Doktordiplom entnommenen Informationen (unter 'Titel' in Klammem) eher auf eine Ehrenpromotion schließen. Michaela Triebs Doktorarbeit macht der universitätsgeschichtlichen Forschung gut 800 alte medizinische Dissertationen besser zugänglich. Da es sich um ein Textcorpus einer einzigen, eher kleinen Lehranstalt handelt, ist wohl die Annahme gerechtfertigt, daß der Bibliographie der (inwieweit umgesetzte?) Vollständigkeitsanspruch zugrundelag. Sie stellt, ungeachtet der erwähnten Mängel, ein brauchbares Arbeitsinstrument dar, das hoffentlich nun bald als Quellenrepertorium ausgeschöpft wird. Allerdings führt der Weg zu einer umfassenden Geschichte der Helmstedter medizinischen Fakultät über viele weitere Zwi-

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schenstationen. In einem nächsten Schritt wären auch die übrigen Druckschriften der Helmstedter Mediziner und das einschlägige handschriftliche Material bibliographisch gründlich, das heißt mit Standortnachweisen, zu erschließen. Hanspeter Marti (Engi/Schweiz)

AXEL BÜHLER (Hg.). Unzeitgemäße Hermeneutik. Verstehen und Interpretation im Denken der Aufklärung, Vittorio Klostermann Frankfurt am Main 1994, 275 S. Der vorliegende Band beschäftigt sich mit dem hermeneutischen Denken der Aufklärung, d.h. mit der Methode der Interpretation von Text und Rede und mit den zugrundeliegenden Theorien. In der Tat - unterstreicht der Hg. in seiner Einleitung - „gehörten die methodischen Grundlagen der Interpretation zu den zentralen Themen des Denkens der Aufklärung." (S. 1). Diesem Umstand ist allerdings von der einschlägigen Literatur und zwar sowohl von der Philosophie- als auch von der eigentlichen Hermeneutikgescbichte kaum Rechnung getragen worden. So besteht in der Philosophiegeschichte die Tendenz, die vorwiegend von Dilthey initiiert wurde, die Interpretationstheorien der Aufklärung zu vernachlässigen bzw. ganz außer Acht zu lassen. Auf Dilthey geht die Auffassung zurück, eine grundlagenkritische allgemeine Hermeneutik habe sich erst mit Schleiermacher herausgebildet. Die Auslegungslehren der Aufklärung seien sogar als völlig unangemessen im Vergleich zu Schleiermacher zu bewerten, als scholastische Ansammlungen formalistischer und inflexibler Regeln (S. 3-5). Zu beweisen, daß solche Auffassungen nicht haltbar sind, ist die Absicht dieses Bandes. Eine Herauskristallisierung der Hermeneutik des 18. Jahrhunderts im Verhältnis zur Sprach- und Erkenntnistheorie des nachcartesischen Rationalismus wurde von Hans Werner Arndt beschrieben (S. 12-25). So hatte Wolff, „in Anlehnung sowohl an empiristische, wie an rationalistische Vorbilder im 17. Jahrhundert, den Begriff des 'Wissens' in seiner nunmehr deutschen Terminologie im strengen Sinne festgelegt auf die wissenschaftliche, demonstrierbare Erkenntnis, wohingegen er den Bereich des vorwissenschaftlichen Wissens durch den Terminus 'Glauben' charakterisiert." (S. 15.) Die Hermeneutik gehört zum zweiten Bereich, weil für die Herausfindung der hermeneutischen Wahrheit nicht die Übereinstimmung der Zeichen mit der Sache relevant ist, sondern lediglich die sogenante 'Absicht des Autors' (intentio autoris), die allerdings auch auf dessen Sprachgebrauch bezogen werden muß, der seinerseits an die konventionellen Regeln der Bedeutungen sprachlicher Zeichen gebunden ist (S. 17). Mit der invetigatio mentis auctoris hat sich Luigi Cataldi Madonna beschäftigt anhand der Texte von Christian Wolff, Siegrnund Jacob Baumgarten und Georg Friedrich (nicht Friedrich Georg, S. 30) Meier. Insbesondere steht Meier das Verdienst zu, in der 'Billigkeit' die Grundlage einer allgemeinen Hermeneutik erkannt zu haben (S. 41). So lautet die wichtigste These: „Wolff sah das Ziel der Interpretation in der Feststellung der mens auctoris, also darin, daß Interpret und Autor dasselbe denken. Die hermeneutische Wahrheit kann wohl nicht absolut gewiß sein, sondern nur einen hohen Wahrscheinlichkeitsgrad haben. Zu einem gewissen Ausmaß ist es möglich, daß der Interpret den Autor besser versteht, als dieser sich selbst. Interpretation setzt die Rationalität der auszulegenden Person voraus, und aus diesem Grund nimmt die hermeneutische Billigkeit bei der Auslegung einen zentralen Platz ein." (S. 42.) Paolo Lombardi hat einen berühmten Streit über das Buch der Psalmen rekonstruiert (S. 43-68); Hans-Peter Schütt hat sich mit den hermeneutischen Vorsätzen von Johann Jakob Brucker (S. 69-87) beschäftigt. Dem Höhepunkt der Aufklärungshe.rmeneutik, Baumgartens zum ersten Mal 1742 erschienenem Unterricht von Auslegung der heiligen Schrift, wurde ein sehr umfangreicher Aufsatz von Lutz Danneberg gewidmet (S. 88-157). Meiers ebenso grundlegender, im Jahr 1757 (allerdings nur in einer Ausgabe) erschienener 'Versuch

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einer allgemeinen Auslegungskunst' wurde von Oliver R. Scholz eingehend analysiert (S. 158-191). Zum Schluß seines Beitrags beteuert Scholz, daß auch, wenn „viele Elemente bereitlagen, so ist doch Meiers bleibender Verdienst, die integrierende und konstitutive Rolle der hermeneutischen Billigkeit deutlich erfaßt zu haben und dieses Prinzip aller Auslegungsprinzipien in den Mittelpunkt einer umfassend konzipierten Zeichenhermeneutik gestellt zu haben." (S. 191.) Den Band schließen zwei Beiträge über Semlers theologische Hermeneutik von Gottfried Hornig (S. 192-222) und über Schleiermacher von Mario Longo (S. 223-240) ab, wobei nicht zu vergessen ist, daß Semler Schüler sowohl von Baumgarten als auch von Meier gewesen ist. Zum Schluß enthält der Band eine von Oliver R. Scholz akkurat erstellte Bibliographie der Primär- und Sekundärliteratur zur Hermeneutik des 17. und 18. Jahrhunderts (S. 241-257) sowie eine vergleichende Zeittafel zur Geschichte der allgemeinen Hermeneutik im 17. und 18. Jahrhundert (S. 258-261). Riccardo Pozzo (Washington)

WOLFGANG ALBRECHT, DIETER FRATZKE und RICHARD E. SCHADE (Hg.), Aufklärung nach Lessing. Beiträge zur gemeinsamen Tagung der Lessing-Society und des Lessing-Museums Kamenz aus Anlaß seines 60jährigen Bestehens (= Erbepflege in Kamenz, Schriftenreihe des Lessing-Museums Kamenz, 1992/93 12./13. Jahresheft), Kamenz 1992, 269 S., 18,00 DM. ,,Aufklärung nach Lessing", das klingt wie „Wissenschaft nach der Aufklärung", „Religion nach der Aufklärung" oder auch „Philosophie nach der Aufklärung". Hinter diesen Titeln steht bekanntlich Hermann Lübbe und seine Deutung von Aufklärung. Das „nach" bei Lübbe steht für sein Konzept, Aufklärung als eine geschichtlich abgeschlossene, überwundene Periode anzusehen. Die sich aus der Überschrift aufdrängende Nähe zu jenem Programm erweist sich jedoch schnell als Schein. Die hier abgedruckten 16 Beiträge demonstrieren auf eine erfrischende Weise eine Sicht, in der die Themen „Lessing" und ,,Aufklärung" eben nicht als abgeschlossen und beendigt., sondern als höchst aktuelle Aufgaben zur Gestaltung der Modeme verstanden werden. Jenes mehrdeutige „nach" ist insofern nicht temporal, sondern inhaltlich-kausal zu verstehen: also Aufklärung im Sinne Lessings! Die Tagung wurde in der Geburtsstadt Lessings im Mai 1991 durchgeführt. Das wissenschaftlich wie politisch Reizvolle daran besteht darin, daß diese Veranstaltung von drei Institutionen getragen wurde, die sich zwar alle mit Lessing befassen, jedoch gesellschaftlich und kulturell sehr unterschiedlich geprägt sind: im Lessing-Museum Kamenz wurde bis 1989 Aufklärung im Sozialismus und „nach" Marx, Engels und Lenin betrieben, (womit sich auf ganz vorzügliche Weise Philipp McKnight, S. 163 ff. auseinandersetzt). Die beiden anderen Institutionen sind die Lessing Society aus Cincinnati/Ohio/USA und die Wolfenbüttler Lessing-Akademie. Insofern handelt es sich hier nicht um Beiträge eines Symposiums unter vielen, sondern um den Versuch, die großartige wie mühevolle Aufgabe der Ostwest-Vereinigung auch auf wissenschaftlichem Gebiet zu praktizieren, und - das kann hier schon behauptet werden - dieses Projekt von Aufklärung ist gelungen. Die Publikation - der Abfolge der Beiträge auf dem Symposium entsprechend - gliedert sich in sechs Schwerpunkte. Den Auftakt bildet der Eröffnungsvortrag ,,Das 'richtige' Einmaleins aufgeklärter Geister" von Wolfram Mauser (Freiburg i. Br.). Der zweite Schwerpunkt ist dem Thema ,,Aufklärung und Spätaufklärung des 18. Jahrhunderts" gewidmet. Er umfaßt die Beiträge: „Windungen und Wendungen in Lessings 'Laokoon"' von Susan Gustafson (Rochester); „Heinrich Leopold Wagner und Lessing" von Wolfgang Wittkowski (Albany); „Der Diskurs über die Tugendhaftigkeit des Weibes. Frauenbilder und Weiblichkeitsmuster in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ..." von Heidi

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Ritter (Halle/Saale); „Lessing-Rezeption in den Kämpfen der Berliner Spätaufklärung" verfaßt von Peter Weber (Berlin) und schließlich „Lichtenbergs Aufklärungskonzept in den letzten beiden Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts" von Hans-Georg Werner (Halle/Saale). Der dritte Schwerpunkt behandelt den Zeitraum von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Wolfgang Stellmacher (Berlin) untersucht die „Lessing-Rezeption im deutschen Vonnärz ..."; Erich A. Frey (Los Angeles) behandelt „Thomas Manns politische Wirkung im amerikanischen Exil"; Wolfgang Albrecht (Weimar) widmet sich schließlich „Arno Schmidts Verhältnis zur Aufklärungsbewegung ..." . Der vierte Schwerpunkt enthält Beiträge zur Lessing-Rezeption der Gegenwart (die im Inhaltsverzeichnis zugleich angekündigten „Zukunftsperspektiven" entzogen sich ganz unaufklärerisch dem Blicke des Rezensenten). Ferdinand Piedmont (Bloomingten) sprach zum Thema „Lessings Theater weitertragen ..."; Philipp McKnight (Lexington) zu „Aufklärung und DDR-Literatur"; Helga Slessarev (Berkley) über „Aufklärung oder Aufklärungskritik im Werk lrmtraud Morgners"; Christiane Bohnert (St. Louis) schließlich untersuchte „Kant und die Praktische Vernunft in den achtziger Jahren" . Der fünfte Schwerpunkt ist dokumentarisch angelegt. Dieter Fratzke (Kamenz) schreibt über „60 Jahre Lessing-Museum Kamenz ..."; Richard E. Schade (Cincinnati) gibt einen Abriß von Stellungnahmen der amerikanischen Öffentlichkeit im Umfeld der Lessing-Pflege in Ohio/USA. Claus Ritterhoff (Wolfenbüttel) geht auf die wechselvolle Geschichte der Lessing-Forschung in Niedersachsen in „20 Jahre Lessing-Akademie" ein. Den Abschluß bildet der Diskussionsbericht, den Thomas Käppler (Kamenz) erstellte. Im Anhang wird ein Personenverzeichnis geboten, wobei die wohl interessanten und heute doch schon selbstverständlichen Informationen über Funktion und Status der Mitarbeiter leider unberücksichtigt bleiben und sich auch einige Ungenauigkeiten einschlichen, wofür der Rezensent allerdings vollstes Verständnis hat (z.B. Ritterhoff, Claus wird auch auf S. 235 und S. 246, nicht nur auf S. 258 genannt, im Inhaltsverzeichnis sogar „Ritterhof" geschrieben). Im folgenden können nicht alle Beiträge besprochen werden, auf die m.E. wichtigen aber sei näher eingegangen. Hier ist an erster Stelle der kurze aber äußerst konzise Eröffnungsvortrag von W. Mauser, Präsident der Lessing Society, zu nennen. Mauser nimmt gleich zu Beginn seiner Ausführungen zum Anliegen der Tagung Stellung: „Aufklärung nach Lessing" meine nicht Aufklärung als eine Epoche, sondern ihr Fortdauern (vgl. S. 12). Der Verfasser distanziert sich von der oben angedeuteten konservativen Lesart (Lübbe). Er sieht in der Rezeption der Gedanken Lessings vor allem Mittel zur Selbstverständigung, also zur Gestaltung und Bewältigung der Gegenwart (vgl. S. 11). Gegen alle Versuche, Aufklärung als ein geistig-kulturelles Medium der Bewahrung historisch gewachsener Verhältnisse zu verstehen, fordert Mauser dazu auf, im Kritiker nicht den Zerstörer von Recht und Ordnung, sondern den produktiven Herausforderer von Autorität und Obrigkeit, den Widersacher von Anmaßung und Dünkel zu sehen! Verhaltensweisen, deren die demokratische Gesellschaft dringend bedürfe (vgl. S. 15). Mauser versteht Lessings Aufklärungskonzept als eine Vorstufe des kommunikativen Modells der Gegenwart, also als einen Schritt in Richtung Sprachphilosophie und Theorie des kommunikativen Handelns. Ein Gedanke, den auch Christiane Bohnert in ihrem Beitrag aufnimmt und ausführlich entwickelt (vgl. S. 201 ff.). Mauser bringt diesen aufklärerischen und in aller Schärfe von Kant fonnulierten Gedanken auf den Punkt, wenn er schreibt, daß nicht die Institution, sondern allein der Einzelne die Instanz sei, über das Wahre und Richtige zu urteilen (vgl. S. 17). Diese prinzipiellen Überlegungen zur Aufklärung sind bei Mauser mit einer Kritik der Lessing-Deutung von Thomas Mann aus dem Jahre 1929 verbunden. Ein Problemkomplex, der auch von Erich A. Frey behandelt wird (vgl. S. l 13ff.). Mauser weist hin auf die romantisch, lebensphilosophisch geprägte Haltung von Thomas Mann und die daraus hervorgehende Kritik an Aufklärung und Rationalität. In diesem Zusammenhang stellt er die wichti-

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ge Frage, an welchen „Denkmustern" die Weimarer Republik eigentlich zugrunde ging? Dazu liegen interessante Antworten beispielsweise bei Helmuth Kiesel vor (vgl. H. Kiesel, Aufklärung und neuer Irrationalismus in der Weimarer Republik, in: J. Schmidt [Hg.), Aufklärung und Gegenaufklärung in der europäischen Literatur, Philosophie und Politik von der Antike bis zur Gegenwart, Darmstadt 1989, S. 497f.). Aus dem zweiten Schwerpunkt - ,,Aufklärung und Spätaufklärung des 18. Jahrhunderts" - sei auf die Beiträge von Heidi Ritter und Peter Weber näher eingegangen. Ritter zeigt am Bild der Frau des 18. Jahrhunderts die Grenzen des Gleichheits- und Emanzipationsverständnisses der Zeit, wobei sie in ihrem emanzipatorischen Eifer vergißt, daß die angestrebte Gleichstellung der Geschlechter in den modernen Industrieländern von den aufklärerischen Prämissen des 18. Jahrhunderts lebt. Peter Weber, der sich seit vielen Jahren um das Thema ,,Aufklärung in Preußen" bemüht und dazu auch vor Ort tätig wurde (vgl. Erbepflege im Kamenz, Schriftenreihe des LessingMuseums 8, Kamenz 1988, S. 25ff.) untersucht die theoretische, ja kulturelle Verwirrung im Kreis der Berl.iner Aufklärer (der Mittwochsgesellschaft) nach dem Erscheinen der 'Kritik der reinen Vernunft'. Der Autor arbeitet überzeugend heraus, daß Kant inhaltlich noch ganz auf dem Boden der Aufklärung steht, die Realisierung der aufl