Ökonomischer Nationalismus. Soziologische Analysen wirtschaftlicher Ordnungen 9783593511238, 9783593442518, 9783593442501

Der europäische Integrationsprozess, Migrationsbewegungen, internationale Arbeitsteilung, die Warenmärkte und Kapitalstr

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Ökonomischer Nationalismus. Soziologische Analysen wirtschaftlicher Ordnungen
 9783593511238, 9783593442518, 9783593442501

Table of contents :
Inhalt
Ökonomischer Nationalismus – Konzeptionelle Grundlagen
- Nation und Nationalität in der Wirtschaftssoziologie
- Wettbewerb und Nation – Überlegungen zum Problem des Begriffs »Wirtschaftsnationalismus«
- Machtprestige und Wirtschafts­nationalismus – Überlegungen zur symbolischen Ökonomie von Staatseliten

Wirtschaftsnationalismus im Vergleich
- Konservativer Nationalstaat als Entwicklungsagentur – Ideenproduktion und Praxis in Polen, Ungarn und Russland
- Die moralische Ökonomie des Schutzsolls: Der Fall der Solarindustrie
- Alltagsnationalismus und Orthodoxie im zeitgenössischen Russland: Die Rolle der wirtschaftlichen Eliten
- Regionale Nationalismen als kollektives Kosten-Nutzenkalkül: Einflussfaktoren auf den Wahlerfolg regionalistischer Parteien in West-Europa

Globale Wirtschaftsordnung und Nationalismus
- Ökonomischer Nationalismus als Determinante von Freihandel und Protektionismus
- Widersprüche der Globalisierung: Der Aufstieg Chinas und der Wirtschaftskrieg mit den USA
- Die wirtschaftspolitischen Ideale der Brexit-Kampagne: Zwischen ökonomischem Nationalismus und globalem Freihandel
- Wirtschaftliche Gesetzesbürokratie – Der missing link zwischen Globalisierung und Nationalismus

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Ökonomischer Nationalismus

Klaus Kraemer ist Professor für Angewandte Soziologie: Wirtschaft, Organisa­ tion, soziale Probleme an der Universität Graz. Sascha Münnich ist Professor für die Soziologie der Wirtschaft an der EuropaUniversität Viadrina in Frankfurt (Oder).

Klaus Kraemer, Sascha Münnich (Hg.)

Ökonomischer Nationalismus Soziologische Analysen wirtschaftlicher Ordnungen

Campus Verlag Frankfurt/New York

ISBN 978-3-593-51123-8 Print ISBN 978-3-593-44251-8 E-Book (PDF) ISBN 978-3-593-44250-1 E-Book (EPUB) Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Trotz sorgfältiger inhaltlicher Kontrolle übernehmen wir keine Haftung für die Inhalte externer Links. Für den Inhalt der verlinkten Seiten sind ausschließlich deren Betreiber verantwortlich. Copyright © 2021. Alle Rechte bei Campus Verlag GmbH, Frankfurt am Main. Umschlaggestaltung: Campus Verlag GmbH, Frankfurt am Main Satz: publish4you, Roßleben-Wiehe Gesetzt aus der Garamond Druck und Bindung: Beltz Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza Printed in Germany www.campus.de

Inhalt

Ökonomischer Nationalismus – Konzeptionelle Grundlagen Nation und Nationalität in der Wirtschaftssoziologie . . . . . . . . . . . 9 Sascha Münnich und Klaus Kraemer Wettbewerb und Nation – Überlegungen zum Problem des Begriffs »Wirtschaftsnationalismus« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Dieter Reicher Machtprestige und Wirtschafts­nationalismus – Überlegungen zur symbolischen Ökonomie von Staatseliten . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Klaus Kraemer

Wirtschaftsnationalismus im Vergleich Konservativer Nationalstaat als Entwicklungsagentur – Ideenproduktion und Praxis in Polen, Ungarn und Russland . . . . . . 115 Katharina Bluhm und Mihai Varga Die moralische Ökonomie des Schutzzolls: Der Fall der Solarindustrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Timur Ergen Alltagsnationalismus und Orthodoxie im zeitgenössischen Russland: Die Rolle der wirtschaftlichen Eliten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Tobias Köllner

6 Inhalt Regionale Nationalismen als kollektives Kosten-Nutzenkalkül: Einflussfaktoren auf den Wahlerfolg regionalistischer Parteien in West-Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Nico Tackner

Globale Wirtschaftsordnung und Nationalismus Ökonomischer Nationalismus als Determinante von Freihandel und Protektionismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Max Haller Widersprüche der Globalisierung: Der Aufstieg Chinas und der Wirtschaftskrieg mit den USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Stefan Schmalz Die wirtschaftspolitischen Ideale der Brexit-Kampagne: Zwischen ökonomischem Nationalismus und globalem Freihandel . . . . . . . . . 291 Lisa Suckert Wirtschaftliche Gesetzesbürokratie – Der missing link zwischen Globalisierung und Nationalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 Jürgen Schraten Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361

Ökonomischer Nationalismus – Konzeptionelle Grundlagen

Nation und Nationalität in der Wirtschaftssoziologie Sascha Münnich und Klaus Kraemer

Die Soziologie diskutiert in den letzten Jahren (wieder) stärker die Bedeu­ tung von Nation, Nationalität und Nationalismus. Dies hat mit politischen Umbrüchen und gesellschaftlichen Dynamiken der letzten Jahrzehnte in al­ len Teilen der Welt zu tun, in denen der spätestens seit der Freihandelswelle der 1980er und 1990er Jahre deutliche Trend unter den wirtschaftlich stärks­ ten Nationen des globalen Nordens, institutionell zu kooperieren und sogar Teile ihrer nationalen politischen Souveränität an trans- und internationa­ le Institutionen abzugeben, sich zugunsten einer gegenläufigen Tendenz der »Nationalisierung« abschwächt. Am Ende einer langen Phase des Heraus­ wachsens von ökonomischen und politischen Beziehungen und Organisa­ tionsformen aus dem nationalen »primary cultural container« (Wallerstein 1979: 92) scheint die symbolische und institutionelle Bedeutung nationaler Grenzen und Zugehörigkeiten ungebrochen, und nationalistische Anklänge der Politik scheinen jederzeit (re-)aktivierbar zu sein. Als Erstes fällt der Blick hier auf den durch national orientierte Poli­ tik gekennzeichneten wirtschaftlichen und politischen Aufstieg Chinas zum zentralen Rivalen um die globale ökonomische und politische Hegemonie gegenüber den USA, in deren Politik ihrerseits seit den frühen 2000er Jah­ ren, besonders aber seit 2016 primär am nationalen Wachstum und natio­ naler politischer Stärke orientierte Strategien deutlich im Vordergrund ste­ hen. Der politische und ökonomische Bedeutungszuwachs der so genannten »Schwellenländer«, wie Indien, Brasilien, Südafrika, aber auch kleinerer süd­ ostasiatischer Gesellschaften ist seinerseits überall Ausdruck eines verstärk­ ten wirtschaftlichen Protektionismus und politischen Nationalismus. Auch für Russland lässt sich eine Strategie der nationalen Selbstbehauptung durch Statussicherung und Statuswiederaufstieg konstatieren. Wenngleich es sich bei all diesen Verschiebungen um nationale Wachstumspolitiken handelt, die nur durch historisch spezifische Regulierungs-, Produktions- und Kos­ tenstrukturen der internationalen Wirtschaft möglich waren, so sind sie doch

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Ausdruck einer Strategie, die nicht die Liberalisierung des globalen Handels allein als Quelle wirtschaftlichen und politischen Prestiges sieht. Sie gehen vielmehr mit partiellem Protektionismus, partiellen Entkopplungen, vor al­ lem in Regulierungsfragen, und offensiven staatlichen Wettbewerbsstrategi­ en gegen andere Wirtschaftsnationen einher. Mit dieser Entwicklung verbunden ist auch eine Verschiebung der inne­ ren politischen und sozialen Kräfteverhältnisse innerhalb der liberalen De­ mokratien des Nordens. Man denke nur an die Erschütterungen fast aller europäischen und nordamerikanischen Parteiensysteme und das Wieder­ erstarken des Nationalismus oder an die fortgesetzt hohe Bedeutung von Forderungen nach Einheit von Ethnie, Nation und staatlicher Organisati­ on, die die Konflikte des globalen Südens überall begleiten und befördern. Zugleich sieht man auch auf wirtschaftspolitischer Seite eine Rückkehr als historisch unwiederbringlich überwunden geglaubter Formen des Protekti­ onismus von Nationalstaaten, sowie die Re-Orientierung mancher Unter­ nehmen an festen nationalen Standorten. Zölle und Außenhandelsbeschrän­ kungen, Einschränkungen des freien Waren- und Personenverkehrs werden als Instrumente der Wirtschaftspolitik wieder stärker normalisiert. Zudem tritt spätestens seit 2015 neben die Debatten um den freien Verkehr von Waren auch eine wiedererstarkte Debatte um die räumliche Mobilität von Menschen (Migration) (Manow 2018: 26ff.). Wenngleich die soziologische Forschung die Kontinuität rechtsextremer und nationalistischer Einstellun­ gen in der Bevölkerung schon seit den 1990er Jahren immer wieder nachge­ wiesen hat, Heitmeyer spricht vom »Irrtum endgültiger liberaler Demokra­ tieentwicklung« (Heitmeyer 2001: 501), so lassen sich doch Verschiebungen beobachten, die zeigen, dass mit der Etablierung rechtspopulistischer Par­ teien und Bewegungen in den west- und osteuropäischen Nationalparla­ menten auch die Akzeptanz nationalistischer Töne im politischen Diskurs in den letzten zehn Jahren nochmals deutlich gestiegen ist. Beginnend mit der Finanzkrise von 2008/09 und jüngst in der COVID-19-Pandemie wuchs zudem die Bedeutung der nationalstaatlichen Kontrolle von Märkten und Wertschöpfungsketten über alle Parteigrenzen hinweg auch regulativ. Diese grundlegenden Transformationsprozesse des Verhältnisses von na­ tionaler und internationaler Ebene sowie, damit verbunden, der Beziehun­ gen zwischen Ökonomie, Staat und Zivilgesellschaft, werfen vielfältige Fra­ gen auch für die Wirtschaftssoziologie auf, die die Bedeutung kultureller und politischer Einbettung von Märkten und Unternehmen betreffen. Ste­ hen wir am Anfang einer neuen postliberalen Ära, die die vorherrschenden



Nation und Nationalität in der Wirtschaftssoziologie

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»neoliberalen« Ordnungsvorstellungen in Wirtschaft, Staat und Gesellschaft aufweichen oder sogar unterminieren? Handelt es sich hierbei um eine Re­ naissance des alten, klassischen Protektionismus? Oder ist die Idee des Frei­ handels und der offenen Märkte immer schon in nationale Narrative und Ordnungskonzepte »eingebettet« gewesen? Werden nicht in jeder staatlichen Ordnung, und zwar ganz gleich, ob diese etatistisch-autoritär oder demo­ kratisch-pluralistisch verfasst ist, wirtschaftspolitische Instrumente ergriffen, um »nationalen« Unternehmen Vorteile im internationalen Wettbewerb zu verschaffen? Was ist neu am »neuen« »liberal economic nationalism« (Hellei­ ner 2002) bzw. »economic patriotism« (Clift/Woll 2012)? Ist der neue libe­ rale Wirtschaftsnationalismus gar ein alter, der auf protektionistische Steu­ erungsinstrumente (nichttarifäre Handelshemmnisse wie Importquoten, Einfuhrzölle, Exportsubventionen und Steuererleichterungen für inländi­ sche Unternehmen) zurückgreift? Welche Kontinuitäten und Brüche kön­ nen zwischen älteren und neueren Formen von Wirtschaftsnationalismus beobachtet werden? Zugleich stellt sich die Frage, welche Folgen solche Ent­ wicklungen für die wirtschaftsliberale Öffnung vormals national segmen­ tierter »Wirtschaftscontainer« haben? Stehen transnationale Wirtschaftsbe­ ziehungen, wie etwa der Ausbau des europäischen Binnenmarktes oder die Etablierung von Freihandelsabkommen wie NAFTA, AFTA bzw. CETA, und die Wiederkehr nationaler bzw. nationalistischer Ordnungskonzepte in einem sich gegenseitig aufschaukelndem Verhältnis? Kern aller dieser Leit­ fragen ist die Frage, ob die eigentümliche Gemengelage aus Transnationali­ sierung, Postnationalismus und Re-Nationalisierung auf eine tiefergehende Rekonfiguration der ökonomischen, institutionellen und sozialen Ordnung kapitalistischer Gesellschaften hinweist. Dieser Band versammelt zentrale Beiträge der Konferenz »Ökonomi­ scher Nationalismus« der Sektion Wirtschaftssoziologie der Deutschen Ge­ sellschaft für Soziologie, die im Juni 2018 an der Karl-Franzens-Universität in Graz stattfand. Es ging Autorinnen, Autoren und Herausgebern darum, die Frage zu stellen, welcher Beitrag zur Erklärung der Ursachen, Dimensio­ nen und Folgen des (Wieder-)Aufstiegs der symbolischen und institutionel­ len Bedeutung von Nation und nationalen Zugehörigkeitsvorstellungen aus einer dezidiert wirtschaftssoziologischen Perspektive gewonnen werden kann. Der Vorteil einer solchen Perspektive ist, dass sie es erlaubt, sich der Fra­ ge aus der Breite einer schon lange ausführlich, aber mit oft nur vorläufigen Ergebnissen geführten soziologischen Debatte um den Begriff der »Nation« und der »Nationalität« heraus zu nähern und zugleich auf dieses Phänomen

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als ein ökonomisches, ökonomisch bedingtes und ökonomisch wirksames Phänomen zu schauen (Weber 1988: 162f.). Dabei ist es gerade die in weiten Teilen der Wirtschaftssoziologie geteilte Grundüberzeugung von der NichtTrennbarkeit der Handlungs-, Organisations- und Deutungszusammenhän­ ge der Ökonomie vom Rest der Gesellschaft, die einen besonderen Blickwin­ kel auf die Frage des Nationalen eröffnet. Norbert Elias hat Nationalismus als einen Begriff zur Beschreibung des »Wir«-Aspektes im Ich verortet und somit als »unlöslich in die Persönlich­ keitsorganisation des Individuums« eingehend beschrieben (Elias 1989: 198f.). Wenn dies zutreffend ist, dann ist nicht nur jedes politische, sondern auch jedes wirtschaftliche Handeln, bzw. jedes soziale Handeln in ökonomi­ schen Zusammenhängen, immer schon in nationale Wir-Bezüge eingebun­ den, wenngleich der Grad dieser Wir-Bezüge unterschiedlich ausgeprägt sein mag und in Konkurrenz zu anderen Wir-Bezügen, etwa regionalen oder kos­ mopolitischen, beruflichen, organisations- oder gruppenbezogenen, religiö­ sen oder familiären, milieu- oder auch klassenspezifischen stehen kann. Da­ mit hat Elias eine originär soziologische Perspektive eingenommen, die es zwingend erfordert, einen Begriff des Nationalismus zu entwickeln, der »ohne Untertöne der Mißbilligung oder Zustimmung« (ebd.) auskommt, also ohne jede normative Färbung, wie sie etwa in der Freiburger Antrittsrede Max We­ bers (1980 [1895]) oder auch bei Ludwig Gumplowicz (1978 [1926]) auf­ scheint. Folgt man Elias (1989: beide Zitate 198), dann ist es in der Soziologie unumgänglich, »den Ausdruck ›Nationalismus‹ in einem etwas anderen Sinn […] als im alltäglichen Leben« zu verwenden. Und weiter heißt es: »Der üb­ liche Sprachgebrauch setzt etwa das Adjektiv ›nationalistisch‹ oft locker von Worten wie ›national‹ oder ›patriotisch‹ ab, wobei man mit Hilfe des ersteren Mißbilligung, mit Hilfe der letzteren Zustimmung bekundet. Was aber ›Na­ tionalismus‹ heißt, ist in vielen Fällen einfach der ›Patriotismus‹ anderer, und ›Patriotismus‹ die eigene Form von ›Nationalismus‹.« Gegen derartige nor­ mative Auf- und Abwertungen von gruppenbezogenen Selbst- und Fremd­ zuschreibungen, die in alltäglichen Kommunikationen über begriffliche Eti­ kettierungen wie »Patriotismus« und »Nationalismus« transportiert werden, spricht sich Elias aus und plädiert für eine strikt soziologische Beobachterper­ spektive. Für ihn ist »Nationalismus« zunächst einmal eine gemeinsam geteil­ te, in modernen Gesellschaften weit verbreitete Glaubensvorstellung, in der eine besondere enge Beziehung eines Individuums zu einer Wir-Einheit ange­ nommen und zum Ausdruck gebracht wird. Nationale Glaubensvorstellun­ gen schaffen, so Elias (ebd.: 200), »Wir-Bindung« und »Wir-Repräsentanz«.



Nation und Nationalität in der Wirtschaftssoziologie

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Wenn man nun Elias’ Überlegungen zur soziologischen Analyse von Natio­ nalismus zugrunde legt, und diese mit Max Webers Ausführungen zur »Na­ tion« im Kapitel »Politische Gemeinschaften« von Wirtschaft und Gesellschaft (1980 [1895]: bes. 527ff.) verbindet, dann ist zunächst, auch in Abgrenzung zum Primordialismus und zu klassischen Modernisierungstheorien sowie im Anschluss an die neuere konstruktivistische Nationalismusforschung (vgl. zum Forschungsstand Eriksen 1993; Smith 2001; Salzborn 2011; Tada 2018) festzuhalten, dass »nationale« Gemeinsamkeitsvorstellungen niemals nur auf ­bloße Abstammung, den Geburtsort oder die – subjektiv geglaubte bzw. fak­ tisch bestehende – Zugehörigkeit zu bestimmten Konfessions-, Sprach-, Kul­ tur- oder Erinnerungsgemeinschaften zurückgeführt werden können. Zweitens basiert der »Glaube[n] an den Bestand einer ›nationalen‹ Ge­ meinsamkeit« (Weber 1980 [1895]: 242) auf einer Einheitssemantik, die al­ lerdings mit unterschiedlichen Vorstellungselementen und Wertbeständen verbunden werden kann. Die jeweiligen Vorstellungselemente und Wertbe­ stände, die von einer nationalen Glaubensgemeinschaft kollektiv geteilt wer­ den, können sich zudem von denen anderer nationaler Glaubensgemein­ schaften mehr oder weniger unterscheiden, aber paradoxerweise zuweilen auch weitgehend ähnlich sein (z. B. »Fleiß«, »Strebsamkeit«, »weltoffen«), ohne dass markante Unterschiede benennbar sind. Drittens, und darauf hat schon Weber insistiert, ist der nationale Gemeinsamkeitsglaube nicht nur ideell wirksam, etwa als Wertidee oder Ideologie, sondern leitet auch tatsächlich das individuelle oder kollektive Handeln der Gemeinsamkeitsgläubigen an. Ungeachtet seiner ideellen und praktischen Wirkmächtigkeit ist mit We­ ber viertens davon auszugehen, dass sowohl die Geltungsgründe als auch der Grad der Zustimmung empirisch kontingent ausgeprägt sein können. Wie bereits Weber (ebd.: 229) gezeigt hat, kann die Intensität der Zustimmung von »emphatischer Bejahung« über indifferente und »unerweckte« Haltun­ gen bis hin zu rigoroser Ablehnung reichen. Und fünftens kann, wenn man Weber (ebd.) weiter folgt, weder aus einem nationalen Gemeinsamkeitsglau­ ben noch aus der formal-rechtlichen Zugehörigkeit zu einer nationalen poli­ tischen Gemeinschaft (Staatsbürgerschaft) ein tatsächlich einheitliches, uni­ formes Gemeinsamkeitshandeln kausal abgeleitet werden. Wenn nun die Wirtschaftssoziologie die Einbettung ökonomischen Han­ delns in soziale Strukturen, Normen und Werte beschreibt, so ist aus der Per­ spektive der soziologischen Nationalismusforschung naheliegend, dass kol­ lektiv geteilte, national »Wir-Bindungen« und »Wir-Repräsentanzen« (Elias) bzw. »Gemeinsamkeitsvorstellungen« (Weber) auch in der Ökonomie in em­

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pirisch unterschiedlichen Ausprägungen wirkmächtig werden können. Mit Elias (1989: 201) würde dann gelten, dass die Einbettung von Märkten im­ mer gleichermaßen einen »egalitären Wertkanon« des Nationalen aus der ge­ meinsamen (perzipierten) Zugehörigkeit der Marktteilnehmer zu einer Na­ tion als auch einen »nicht-egalitären Wertkanon« des Nationalen, d. h. die Abgrenzung gegenüber anderen Nationen, umfasst. In Märkten sind mithin nicht nur Konfliktmuster des Wettbewerbs und kollektiv geteilte Werte und Identitätszuschreibungen gemeinsam wirksam, wie dies die Marktsoziologie gegenüber dem Marktmodell individueller Rationalität immer wieder be­ tont. Zugleich können nationale Einheitssemantiken in ökonomischen Are­ nen immer auch als graduell abgestufte Mechanismen der Inklusion nach innen und Exklusion nach außen wirken, entlang der ideellen oder praktisch wirkmächtigen Differenz Wir/Andere. Wenn man nun noch einbezieht, dass Märkte und Marktordnungen in räumlicher Hinsicht auf vielfältige Wei­ se soziale Beziehungen über die nationalen Grenzen von Recht und Politik hinaus aufspannen, zeigt sich ein wirtschaftssoziologisch kaum erschlosse­ nes Feld der Analyse des komplexen Zusammenspiels von Markt und Nati­ on, in dem nationale Aspekte des »Wir« auch dann (oder sogar gerade dann) fortwirken, wenn die Marktbeziehungen die nationalen Grenzen räumlich schon längst hinter sich gelassen haben und »transnationalisiert« sind. Zu­ gleich ist es denkbar, dass selbst dort, wo nationale Container ökonomisch fortbestehen, die institutionell-rechtlichen Grenzziehungen des Nationalen und die Grenzen der geglaubten nationalen Zugehörigkeit im wirtschaftli­ chen Handeln gar nicht deckungsgleich sind. Besonders anschaulich kann eine solche Entwicklung am Beispiel des europäischen Integrationsprozesses, globaler Migrationsbewegungen, der internationalen Arbeitsteilung sowie der weltweiten Warenmärkte und Ka­ pitalströme aufgezeigt werden. Im Schatten dieser Entwicklungen ist seit jüngerer Zeit ein Erstarken von normativen Rechtfertigungen zu beobach­ ten, die in Konkurrenz zu kosmopolitischen und postnationalen Deutungs­ angeboten danach streben, »das Nationale« als Leitunterscheidung sozialer Ordnungen wieder aufzuwerten (Kraemer 2018). Derartige Leitunterschei­ dungen zielen darauf ab, neue segmentäre Schließungen oder Abschottun­ gen gleich welcher Art entlang der Differenz Inländer/Ausländer zu legiti­ mieren. Solche Schließungsprozesse betreffen die politisch-institutionelle und wohlfahrtsstaatliche ebenso wie die wirtschaftliche Ordnung. Sie stehen in einem latenten oder offenen Spannungsverhältnis zu den transnationalen Öffnungen nationaler Containergesellschaften der letzten vier Jahrzehnte.



Nation und Nationalität in der Wirtschaftssoziologie

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Die mangelnde Beschäftigung der Wirtschaftssoziologie mit der Frage des Nationalismus im Ökonomischen steht in einem bemerkenswerten Kon­ trast zu den Befunden der Vergleichenden Politischen Ökonomie und der Debatte um die »Spielarten des Kapitalismus« (Deeg/Jackson 2006), in der national-institutionell divergierende Produktions- und Verteilungsregime und national dominierende Wachstumsmodelle (Baccaro/Pontusson 2016) bei aller Betonung globaler Tendenzen wie Finanzialisierung und Tertiärisie­ rung nach wie vor eine zentrale Rolle spielen, um das Zusammenspiel von nationaler Politik und globalem (oder manchmal auch gar nicht so globa­ lem) Kapitalismus zu beschreiben. Schon allein die ungebrochene Domi­ nanz nationaler Rechtsordnungen und politischer Willensbildungsprozesse und den zunehmenden Einfluss transnationaler Organisationsformen legen es doch nahe, auch über die soziologischen Implikationen der Konzepte von »Nation« nachzudenken, die solche Ordnungen tragen und mit sich brin­ gen. Man denke nur an die ubiquitären Debatten um nationale Standorte und »national champions« oder auch die Bedeutung nationaler Schlüsselin­ dustrien und nationalstaatlich kontrollierbarer Lieferketten. Obwohl auch im Feld der Politischen Ökonomie prominente Kritiker wie Sum und Jes­ sop (2013) oder Blyth (2013) auf die Rolle divergierender kollektiver Iden­ titäten als Einflussfaktor auf Kapitalismus-Varianten hingewiesen haben, so findet sich in den ideenorientierten Erklärungsansätzen kaum Forschung, die die Brücke zur soziologischen Nationalismusforschung sucht. Ein mög­ licher Grund für diese Lücke in der Betrachtung der Rolle des Nationalis­ mus in der vergleichenden Kapitalismusforschung mag darin liegen, dass sich Historischer Institutionalismus und Rational-Choice Ansätze (Hall/ Taylor 1996) in der Politischen Ökonomie oft dort konzeptionell treffen, wo Unternehmen, Arbeitergruppen und -verbände oder auch staatliche Ak­ teure primär als von rationalen Interessen und eben nicht als von symboli­ schen »Wir«-Konstruktionen getriebene Subjekte konzipiert worden sind. Nationale »Container« wurden hier als Regelsysteme und Ressourcencluster verstanden, nicht aber als symbolische Zuschreibungen und Bezugspunkte von Deutungsmustern. Im Regelfall geht die Vergleichende Kapitalismus­ forschung von einem auf historischen Institutionen und materiellen Inter­ essenkonstellationen basierenden Verhältnis von Politik und Ökonomie aus, in dem wenig konzeptioneller Raum für die kulturelle bzw. diskursive Kon­ struktion von Interessen als Orientierungspunkte des Handelns der Wirt­ schaftssubjekte ist. Dies schließt in Hinblick auf empirische Fallanalysen je­ doch gerade nicht aus, dass in den Narrativen der historisch-vergleichenden

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Politischen Ökonomie nationale Denkweisen oder Traditionen durchaus als Teil der Entstehung und Evolution von Institutionen auftauchen. Hier sei nur auf »thick descriptions« der nationalen Pfade des Keynesianismus in Frankreich, den USA und Großbritannien verwiesen, die in Peter Halls vielzitiertem Buch versammelt sind (Weir 1989; Rosanvallon 1989). So legt etwa Rosanvallon die Resonanz der keynesianischen Beschäftigungspolitik in Frankreich mit Konzepten der Nation nahe: »France had long-standing traditions of state-led action where public works were concerned, for stra­ tegic reasons as well as for purpose of territorial unification since the eigh­ teenth century« (Rosanvallon 1989: 177). Auch in aktuellen Debatten um die Krise des Euro und die Möglichkeit der transnationalen Einhegung des globalen Kapitalismus auf der EU-Ebene findet sich der Aspekt nationaler »Wir«-Gefühle als potentielle Quelle wohlfahrtsstaatlicher Solidarität und demokratischer Legitimation, so etwa bei Wolfgang Streeck, wenn er von na­ tionalen wie sub-nationalen, »auf räum­liche Nähe gegründeten Wirtschaftsund Identitätsgemeinschaften« (Streeck 2013: 65) spricht, die für die Legi­ timität politischer Entscheidungen zentral sind und die Etablierung einer transnationalen europäischen Demokratie erschweren. Auch dies spräche für eine weitergehende soziologische Beschäftigung mit der Frage, wann natio­ nale und sub-nationale »Wir«-Gefühle bzw. Gemeinsamkeitsvorstellungen wirtschaftliches Handeln einbetten und unter welchen Bedingungen Markt­ beziehungen diese ablösen, abschwächen oder verstärken. Ein weiterer Blickwinkel, der zur Frage des Verhältnisses von Markt und Nation führt, ist die Frage nach den sozioökonomischen Interessen und Koa­ litionen, die den jüngsten (Wieder-) Aufstieg des Rechtspopulismus getragen haben. Parallel zu der Analyse der Rolle divergierender unternehmerischer Interessen für die Ausgestaltung von Wohlfahrts- und Produktionsregimen (Mares 2003; Swenson 2004; Estevez-Abe u. a. 2001; Iversen/Soskice 2001), wäre auch eine Analyse der Verbindung dieser jüngsten politischen Kräf­ teverschiebung mit den Interessen unterschiedlicher Kapitalfraktionen ein Schritt zum besseren Verständnis der ökonomischen Dimension des Nati­ onalismus. Philip Manow hat hier Wege aufgezeigt, wo er unterschiedliche Arten des Populismus mit einer vergleichenden Analyse nationaler Arbeits­ markt- und Wohlfahrtsregime verknüpft und herausarbeitet, unter welchen Bedingungen eher der freie Warenverkehr und unter welchen Bedingungen eher die Freizügigkeit von Menschen zum politischen Problem werden. Hier ist vor allem die exkludierende Seite des nationalen »Wir«-Gefühls als Aus­ druck der Verteidigung von Arbeitsmarkt- und Wohlfahrtspositionen großer



Nation und Nationalität in der Wirtschaftssoziologie

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Arbeitnehmergruppen angesprochen, sowie die enge historische Verbindung von Wohlfahrtsstaatenbildung und Konstruktionen nationaler Zugehörig­ keit, nicht nur in Deutschland (vgl. Tennstedt 1997). In seinen Überlegun­ gen zur symbolischen Ökonomie des Neonationalismus hat Klaus Kraemer dagegen darauf hingewiesen, dass die Kongruenz der Unterstützung für nati­ onalistische Parteien mit spezifisch sozialen und ökonomischen Milieus nur eingeschränkt besteht (Kraemer 2018). Zum einen beschränkt sich die politi­ sche Unterstützung auf Modernisierungs- oder Globalisierungsverlierer, zum anderen gehören auch überall Vertreter der von diesen Parteien angegriffe­ nen politischen und ökonomischen Eliten zu ihren Anhängern (vgl. ebd.: 286ff.). Während also, so ließe sich argumentieren, eine polit-ökonomische vergleichende Betrachtung des Populismus, wie Manow sie vorschlägt, eine überzeugende Erklärung für die Frage bietet, wann sich wo eher Links- als Rechtspopulismus herausbildet, so ist doch die Einbeziehung symbolischer Statuszuschreibungen zwischen nationalen Containern notwendig, um der wirtschaftlichen und symbolischen Komplexität des Verhältnisses von Na­ tion und Interesse gerecht zu werden. Aus einer solchen Perspektive wäre daher die Bedeutung der nationalen Zugehörigkeit als ihrerseits vorstruk­ turierte ideelle Ermöglichung von fraktions- und klassenübergreifenden Inte­ ressenkoalitionen in den Blick zu nehmen. Die Frage ist nicht nur, welche Unternehmen im Bunde mit welchen Arbeitnehmergruppen von einer Stär­ kung nationaler Grenzziehungen gegenüber Migranten und Waren jeweils profitieren, sondern auch wie kollektive »Wir«- Bezüge Einfluss auf die se­ lektive Wahrnehmung oder Konstruktion solcher wirtschaftlichen Interessen nehmen (vgl. Münnich 2011; Haas 1992; Campbell/Pedersen 2015).

1. Ökonomischer Nationalismus und nationaler Protektionismus Sowohl die ökonomische Theorie, die als selbstverständliche Gegnerin oft die erste Adressatin der Theorien der Neuen Wirtschaftssoziologie ist (vgl. Be­ ckert 2009; Swedberg 1994; Caliskan/Callon 2009), als auch die Politikwis­ senschaft gehen in ihren Grundmodellen davon aus, dass Nationalismus als Einfluss einer spezifischen Ideologie auf Präferenzstrukturen gesehen werden muss. In der Politikwissenschaft und manchmal auch in der Politischen So­ ziologie ist der Begriff des »Nationalismus« eine spezifische politische Ideolo­

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gie oder Philosophie, die neben Liberalismus und Marxismus besteht und zu diesen in Konkurrenz tritt. Natürlich treten auch ideologische Mischformen auf, etwa ein nationalistischer Marxismus, der in China und der Sowjetunion im 20. Jahrhundert anzutreffen ist, oder nationalliberale Weltbilder, die sich historisch schon 1848 und in der Industrialisierungspolitik und Sozialpolitik des Deutschen Reiches unter Bismarck beobachten lässt (Becker 1986: 92). Die Verbindung von nationalen Interessen- und Freihandelspolitiken wurde auch für Großbritannien zu Zeiten des Empires und bis in die heutige Zeit diagnostiziert (Helleiner 2002), sowie für die USA seit dem Zweiten Welt­ krieg: »Liberal ideology prevailed in the world of social science reflecting the easy and unquestioned economic hegemony of the United States«. (Waller­ stein 1979: 67) Entscheidend ist jedoch, dass das Nationale hier eben als »is­ mus«, also primär als ein politisches Weltbild verstanden wird, das politische Entscheidungen anleiten kann. Benedict Anderson hat gegen diese Perspek­ tive eingewendet, dass die Bedeutung des »Nationalen« insgesamt tiefer und weiter reicht. Es müsste soziologisch nicht zwischen politischen Ideologien verortet werden, sondern sei eher mit »religion« oder »kinship« vergleichbar (Anderson 2016: 5). Daraus ließe sich der Gedanke weiterführen, dass der Zu­ schreibungen des Nationalen auch mit einem kultur- und religionssoziologi­ schem Begriffsapparat analysiert werden müssen. Anderson selbst beschreibt Nation als eine durch symbolische Kommunikation aufgerufene imaginierte Gemeinschaft, die »historische Fatalität« in »Kontinuität« (ebd.: 11) verwan­ deln kann und durch diese eschatologische Dimension als eine säkularisierte Form der Religion gedeutet werden muss. Folgt man Andersons soziologi­ schem Konzept der Nation, der auch an Max Webers Überlegungen zu Nati­ on als kollektiver Gemeinsamkeitsglauben anknüpft, so ist das Nationale oder »Nationalität« als Modus der kollektiven Selbst- und Fremdzuschreibung na­ türlich auch in der Ökonomie allgegenwärtig. Aus Sicht der Wirtschaftsso­ ziologie ist nämlich ökonomisches Handeln auf Märkten, wie auch die Inter­ aktionsformen in und zwischen Unternehmen, immer symbolisch vermittelt und kulturell geprägt. Ökonomisches Handeln nimmt immer schon Bezug auf historische Kontinuitäten und gemeinsam geteilte Zukunftserwartungen. So wie Nationalismus keine dem politischen System vorbehaltene Kategorie ist, gibt es auch keinen Grund für die Annahme, dass die auf Märkten wirk­ samen Symbole, Rechtfertigungsmuster, Kognitionen und Handlungsmoti­ ve nur aus dem Deutungszusammenhang der Ökonomie stammen können. Aus Sicht der Wirtschaftstheorie tritt das Nationale vor allem als Ein­ schränkung des freien Austauschs der Produktionsfaktoren, Güter und Prä­



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ferenzen auf Märkten auf. Nationalismus ist eine Form des kollektiven, wohlfahrtsschmälernden Eingriffs in die freie Konkurrenz, eine nur exogen, d. h. durch falsche staatliche Anreize oder mangelnde Rationalität der In­ dividuen erklärbare Steuerung von Mengen und Preisen, deren Sinnhaftig­ keit in der klassischen Entgegensetzung von David Ricardo und Friedrich List als Teil der ökonomischen Paradigmengeschichte gelehrt, aber zumeist doch im Sinne der Effizienz- und Wohlfahrtsgewinne durch die komparati­ ven Kostenvorteile entschieden wird, die im Freihandel ausgespielt werden können. Wenngleich in der Tradition des Ordo-Liberalismus wie auch in der historischen politischen Praxis vieler liberaler Regierungen eine über den klassischen Nachwächterstaat hinausgehende Förderung einheimischer Inf­ rastruktur und Kapitalentwicklung durchaus anerkannt wird – insbesondere aus makroökonomischer Sicht in Zeiten des Angstsparens und der Unter­ konsumption – so ist Nationalismus aus wirtschaftstheoretischer Sicht doch in erster Linie Protektionismus und synonym mit dem steuernden Eingriff des Staates in das freie Spiel der Kräfte. Er ist mit Vorsicht zu genießen, da es potentiell brachliegende Produktionskapazitäten und »faules« Kapital, sowie eine für das Wachstum gefährliche Schieflage zwischen Produktivi­ täts- und Einkommensverteilung hervorbringt. Letztlich gilt Nationalismus in der makroökonomischen Theorie als eine mögliche ideologische Ausprä­ gung der kollektiven Marktverzerrung und ist auch hier somit als Ideologie zu verstehen, die ökonomisch nur unter ganz bestimmten historischen Be­ dingungen Wohlfahrtsgewinne erlaubt und daher stärker normative als ana­ lytische Bedeutung hat. Wirtschaftssoziologisch betrachtet kann und wird ein Markt aber nie­ mals eine vollkommen neutrale Arena des freien Austauschs sein. Der Grund dafür liegt darin, dass Märkte ohne soziale, politische und kulturelle Einbet­ tungen die Kontingenzprobleme rationalen Handelns und die nicht kalku­ lierbare Ungewissheit der Verhaltensweisen aller anderen Marktteilnehmer nicht mehr bewältigt werden könnten (Beckert 1996; Etzioni 1986). Die neuere wirtschaftssoziologische Forschung hat gezeigt, welche sozialen In­ teraktions- und Organisationsformen gewissermaßen »naturwüchsig« über­ all dort entstehen, wo freier Markt und freie Konkurrenz drohen. So stre­ ben Anbieter beispielsweise danach, Netzwerke und Cliquen zu bilden, die sich gegenseitig beobachten und sich so voneinander abgrenzen, so dass eine sozial differenzierte Marktstruktur entsteht, die jenseits staatlicher Eingrif­ fe Marktkontrolle durch kleine Gruppen erlaubt (White 1993)  – und das schon weit unterhalb der Schwelle, die die ökonomische Theorie als »Mono­

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polbildung« beschreiben würde (Münnich 2017: 113). Die neoinstitutiona­ listisch ausgerichtete Wirtschaftssoziologie rückt dagegen die Orientierung von Unternehmen an für legitim erachtete Arbeits- und Organisationsfor­ men ins Zentrum und beschreibt sie als stärkeres Handlungsmotiv als die Profitmaximierung, solange die Profitabilität nicht lebensbedrohlich abge­ senkt wird. Soziales Überleben (Fligstein 2002: 17) des Unternehmens und seine Anpassung an die als legitim erachteten Blaupausen der sozialen Um­ gebung (DiMaggio/Powell 1991) erscheinen in dieser Perspektive wichtiger als die Verfolgung maximaler ökonomischer Renditen. Auch die Rolle des Staates als einflussreicher und strukturbildender Akteur auf Märkten für Ka­ pital und Arbeit, Güter und Dienstleistungen ist von großer Bedeutung für das Funktionieren jedes Marktes durch Setzung von Regeln und die Stimu­ lierung von Investitionen. In den letzten Jahrzehnten hat die Wirtschafts­ soziologie nicht-ökonomische Handlungsformen, Organisationsmuster, institutionelle Regeln, kulturelle Skripts und Narrative als notwendige Be­ standteile von Märkten nachweisen können. Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, auch den Einfluss kollektiv geteilter, identitätsstiftender Selbst- und Fremdzuschreibungen, – in unserem Fall nationaler Gemeinsamkeitsvorstel­ lungen, wie sie etwa in der soziologischen Nationalismusforschung von We­ ber über Elias bis Anderson beschrieben worden sind, – in Unternehmen, Märkten und wirtschaftlichen Ordnungen genauer zu rekonstruieren. Mit anderen Worten geht es also darum, nationale Gemeinsamkeitsvorstellun­ gen als weiteren endogenen Faktor der sozialen Konstitution von Märkten, als eine mögliche Orientierung unter Ungewissheit für »intentional rationale« Marktakteure, als eine Legitimationsquelle für die Organisationsform von Unternehmen und bzw. oder als einen weiteren sozialen Referenzrahmen von Netzwerkbildungen in Unternehmen und auf Märkten zu erforschen.

2. Nationalismus zwischen Wirtschaft und Gesellschaft Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass es zwei zentrale Grundper­ spektiven der Wirtschaftssoziologie sind, die einen originären Beitrag zur Frage des »Nationalen« anleiten können. Erstens lassen sich auf der Mikroe­ bene Interessen, Präferenzen und Rationalitäten in der Marktwirtschaft we­ der als rein ökonomisch noch als extern gegeben beschreiben. Dies bedeu­ tet, dass Nationalismus weder als Einbruch nicht-ökonomischer Rationalität



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oder Irrationalität in einen ansonsten sauberen Marktprozess verstehen lässt, noch sich auf das plötzliche und kontingente Auftauchen exogen festgesetz­ ter »nationalistischer Präferenzen« bestimmter Marktteilnehmer reduzieren lässt. Handlungsorientierungen in Märkten sind durch den sozialen, poli­ tischen und kulturellen Kontext beeinflusst. Sie sind in »on-going systems of social relations« (Granovetter 1985: 487) eingebettet. Dies bedeutet, dass die Frage untersucht werden muss, unter welchen Bedingungen sich national eingefärbte Zugehörigkeitsvorstellungen und Handlungsorientierungen bei Marktakteuren zeigen, wodurch diese befördert werden, und empirisch un­ tersucht werden müsste, wie sie die Funktionsweisen von Produktion und Distribution beeinflussen. Zu diesen nationalen Zugehörigkeitsvorstellun­ gen und Handlungsorientierungen gehören neben den wirtschaftlichen In­ teraktionsmustern zwischen und in Unternehmen auch die Interessen und Präferenzen der Akteure selbst, die sich durch ihre permanente Einbettung in symbolisch imaginierte soziale Gemeinschaften deutlich von dem unter­ scheiden können, was unter dem Gesichtspunkt von Effizienz und Produk­ tivität zu erwarten wäre. Im vorliegenden Band zeigt etwa Lisa Suckert diese symbolische Tiefenstruktur der Präferenzen zum Brexit, in denen symbo­ lische Vorstellungen der »Britishness« und ökonomische Interessen mitei­ nander verbunden auftreten. Die Artikel von Tobias Köllner und auch von Katharina Bluhm und Mihal Varga zeigen durch vergleichende und ethno­ graphische Betrachtungsweisen, wie tief diese Symboliken in die Konstruk­ tion von Wirtschaftsräumen und unternehmerische Alltagspraktiken in Ost­ europa verwoben sind. Auch Dieter Reicher weist in seinem Beitrag darauf hin, wie historisch variabel und instabil, aber zugleich wirkmächtig »WirBezüge« in der Wirtschaftspolitik und den Interaktionen nationalstaatlicher Akteure in der internationalen Ökonomie sind. Zugleich folgt aus der Ein­ sicht der Wirtschaftssoziologie in die gesellschaftliche Variabilität und sym­ bolische Überformung von ökonomischen Interessen, dass Nationen auch ökonomisch nicht als Entitäten betrachtet werden können. Ökonomien sind nie »liberal« oder »nationalistisch« sondern wir haben es immer mit komple­ xen sozialen Konfliktlagen um ökonomische Fragen zu tun, in denen sich Koalitionen von ökonomischen Interessen zwischen und quer zu politischen Räumen oder territorialen Zugehörigkeiten bilden können. Umgekehrt ist ebenso denkbar, dass wirtschaftliche Akteure gerade deswegen miteinander kooperieren, weil sie sich symbolisch derselben nationalen Wir-Gruppe zu­ ordnen oder dieser Wir-Gruppe von anderen Wirtschaftsakteuren zugerech­ net werden, die sich wiederum selbst einer konkurrierenden nationalen Wir-

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Gruppe zugehörig fühlen. Auch sind Interaktionsformen und Konfliktlinien zwischen »localists« und »globalists« denkbar, die nicht nur quer zu allen »rein« ökonomischen Branchenlogiken verlaufen, sondern eben auch quer zu allen nationalen Selbst- und Fremdzuschreibungen. Allemal ist davon auszugehen, dass einfache Zuordnungen von Wirtschaftsakteuren entlang einer gedachten Achse nicht möglich sind, an deren Polen nationale bzw. transnationale Handlungsorientierungen verortet sind. Eher ist von einem Kontinuum ineinander übergehender und sich überlappender Handlungs­ orientierungen auszugehen, welches alle erdenklichen Zwischenformen, Grauzonen und hybriden Muster einschließt. Zweitens kann auch für die Frage sozialer Ordnung die Grundannahme der Wirtschaftssoziologie zur sozialen Einbettung wirtschaftlichen Handelns fruchtbar gemacht werden, um zu prüfen, welchen Einfluss nationale Zu­ schreibungen in der Ökonomie haben: Das Argument lautet, dass Märk­ te und Unternehmensorganisationen inhärent politisch sind und politischkulturellen Logiken unterliegen (Fligstein 1996; Weber 1980 [1895]). Wenn Märkte und Unternehmen immer auch in kulturellen Deutungsmustern und politischen Auseinandersetzungen eingebettet sind, die feldspezifisch die Regeln und legitimen Praktiken einzelner Märkte oder Branchen prägen, dann können entsprechende Koalitionen von »incumbents« oder »challen­ gers« in Märkten natürlich auch »nationale« Legitimationsmuster und Kog­ nitionen verfolgen oder sich entlang nationaler symbolischer Zuschreibun­ gen integrieren. Über die soziale Konstitution und Einbettung der Marktteilnehmer hi­ naus ist in der Wirtschaftssoziologie die Bedeutung von Marktöffentlich­ keiten betont worden (Goldstone 2004: 333). Gemeint ist damit, dass in Marktöffentlichkeiten Marktakteure, Marktintermediäre und Marktereig­ nisse beobachtet, Markterwartungen formuliert und von Experten an das Publikum adressiert, Narrative über Produktinnovationen und zukünftige Marktentwicklungen kommuniziert und gemeinsam geteilt werden usw. Marktöffentlichkeiten sind insbesondere dann national segmentiert, wenn es sich um Marktsegmente handelt, deren Produkte oder Dienstleistungen an Endkonsumenten verkauft werden sollen. Dies zeigt sich selbst dort, wo die Produktionsseite, insbesondere Wertschöpfungs- und Lieferketten längst supra- oder transnational organisiert sind. Weiterhin ließe sich an die For­ schungsliteratur zu Bewertungen und Wertigkeiten in Märkten anschlie­ ßen, die die Bedeutung von »Instanzen der Urteilsbildung« (Karpik 2010: 44ff.) für den Wert von Gütern und den Prozess von »classification, cluste­



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ring and sorting« (Callon/Muniesa 2005: 1235) betont. Auch der soziale Sta­ tus von Firmen wirkt auf die Qualitätszuschreibungen des Marktpublikums (Beckert 2011: 763f.), auf Anbieter, Nachfrager und das Publikum gleicher­ maßen. Es ist naheliegend, das Augenmerk auf Aspekte der nationalen Zu­ rechnung in solchen Statusordnungen zu richten, auf nationale Rahmungen bei der zugeschriebenen Wertigkeit und Qualität von »singulären« (Karpik 2010) Produkten. Beispiele finden sich in der französischen Économie des conventions, etwa in der Forschung zum Markt für Camembert in Frank­ reich, der als »nationaler Mythos« beschrieben worden ist (Boisard/Miller 2003). Gisèle Sapiro (2018: 11ff.) zeigt am Beispiel des Marktes für »symbo­ lische Güter« wie Filme, Literatur und Popularmusik, welche Maßnahmen u. a. die nationale Kulturpolitik in Frankreich ergreift, um in diesen Markt­ segmenten die Diversität der nationalen »small-scale production« vor der global dominanten, anglo-amerikanischen »large-scale production« zu pro­ tegieren und global sichtbarer zu machen. Und jüngst haben Luc Boltanski und Arnaud Esquerre in der Studie Bereicherung (2018: 46ff.) am Beispiel der wachsenden Bedeutung des französischen Gastro-, Wein-, Städte- und Ökotourismus nachgezeichnet, dass kulturelle Produkte und Dienstleistun­ gen in nationale Narrative (»französische Lebensart«) eingebunden werden, um ihre exklusive Wertigkeit und damit höhere Marktpreise zu rechtferti­ gen. Hierbei greifen Boltanksi und Esquerre u. a. auf die Befunde von Mi­ chaela DeSoucey (2010) zum »Gastronationalismus« in Europa zurück. In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, dass nationale staatliche Institu­ tionen nicht als externe Akteure fungieren, sondern (de-)legitimierend und sanktionierend in das Marktgeschehen eingreifen, indem z. B. Standards des Konsumentenschutzes definiert und Qualitätszuschreibungen national ein­ gefärbt werden (Nessel 2016: 75ff.). Weiterhin ließe sich konstatieren, dass nationale Traditionen und tra­ dierte Formen des Interessenausgleichs unter Branchen- und Marktteilneh­ mern oder zwischen Kapitaleigentümern und abhängig Beschäftigten, etwa dort, wo neokorporatistische Institutionen stark sind, eine prägende Wir­ kung auf betriebliche Organisationsformen, Managementpraktiken und kalkulatorische Standards der Unternehmen haben. Solche institutionellen Arrangements und Praktiken können national begründet und legitimiert werden, – man denke nur an die sozialwissenschaftlichen Befunde über ei­ nen »rheinischen« oder »deutschen« Kapitalismus (Streeck 1995). In diesem Zusammenhang ist auf Michael Billig zu verweisen, der in seinen kulturso­ ziologischen Studien die Alltagsbedeutung bzw. »Banalität« des Nationalen

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betont. Nationale Sinnrahmungen interpretiert Billig als tief eingeschriebe­ ne und permanent aktivierbare Identitätszuschreibungen: »To have a natio­ nal identity is to possess ways of talking about nationhood. [...] typically, it means being situated within a homeland, which itself is situated within the world of nations.« (Billig 1995: 8) Folgt man Billigs Argumentation, dann entfaltet »Nationalismus« seine soziale Wirkmächtigkeit nicht so sehr als eine politische Ideologie, die von bestimmten, ideell integrierten Virtuosen oder Gruppen strategisch ins politische Spiel eingebracht wird und die ein geschlossenes Weltbild umfasst. Vielmehr betont Billig das gesellschaftliche Potential, in jeder alltäglichen Kommunikation nationale Einheitssemanti­ ken und Identitätszuschreibungen aufzurufen. »National banalism« (Billig) ist in viele gesellschaftliche Praktiken und allgegenwärtige Artefakte einge­ schrieben, von der Beflaggung und Benennung offizieller Einrichtungen bis zur Struktur sportlicher Wettbewerbe. Es ist naheliegend, ähnliches auch für die nationalen Rahmungen und Selbstbeschreibungen von Märkten, Unter­ nehmen, Produkten, Gewerkschaften, Unternehmensverbänden oder auch ökonomischen Think Tanks anzunehmen. Selbst dort, wo politische Ideen, die die Auseinandersetzungen um die Regulierung und Schaffung von Märk­ ten begleiten, nicht nationalistisch im ideologischen Sinne sind, ist doch die Symbolik nationaler Bezugnahmen in alle mikropolitischen Konflikte und Aushandlungsprozesse eingeschrieben. Der banale Nationalismus des Alltags kann auch von Interessenkoalitionen in Märkten strategisch aufgerufen und in bestimmten Kontexten erfolgreich für ökonomisches Handeln aktiviert werden. Genauer zu untersuchen wären in diesem Zusammenhang »banale« Marketingstrategien, die symbolische Aufladung von Produkten oder auch Kämpfe um die Legitimierung und Delegitimierung von Arbeitskämpfen. So widmet sich im vorliegenden Band Nico Tackner einer ähnlichen Proble­ matik, wenn er die Wirkung von regionalen Nationalismen innerhalb euro­ päischer Länder untersucht. Es ist gerade das Zusammenspiel aus kulturell eingeschriebenen sub-nationalen Identitäten in Sprache und Alltagswelt und daran symbolisch anbindbaren ökonomischen »Stärken« gegenüber anderen Regionen eines Landes, die politische Absetzungsbewegungen von Regionen verstärkt und politische Segmentierung der Nationalstaaten begünstigt. Timur Ergen argumentiert am Beispiel der Schutzzölle zur Förderung der hei­ mischen Solarenergie in den USA und Europa, dass Handelspolitiken im Kontext nationaler moralischer Ökonomien diskutiert und legitimiert wer­ den. Er schließt, dass diese moral economies entscheidend sind für die Frage, wann Liberalisierung und Freihandel sich durchsetzen könnten. Sie treten



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somit gleichberechtigt neben Überlegungen zu Effizienz und Wohlfahrtsma­ ximierung bzw. rahmen, wie die Akteure diese abstrakten Ziele in konkre­ ten Handlungssituationen definieren und gewichten. Jürgen Schraten zeigt in seinem Beitrag über den Verlauf des Reformprozesses der europäischen Harmonisierung des Insolvenzrechtes seit 2016, wie vordergründig an eigen­ tumsrechtlichen Grundprinzipien sich festmachende Auseinandersetzungen eine nationale Tiefenstrukturierung haben. Juristische Fachdebatten und po­ litische Konflikte werden unter Bezugnahme auf deutsche und amerikani­ sche Rechtskulturen ausgetragen und tragen so nationale Deutungsmuster in die institutionelle Grundstruktur des Privateigentums in kapitalistischen Gesellschaften. Darüber hinaus gilt es, dieses Zusammenspiel von nationalen Deutungs­ mustern und ökonomischen Ordnungen auch auf internationaler Ebene zu verfolgen. Max Haller wirft in seinem Beitrag zu historischen Konstellatio­ nen von nationalen und internationalen Wirtschaftspolitiken, u. a. in China, den USA und der früheren Sowjetunion, ebenfalls Sand in das Getriebe der blanken Entgegensetzung von Protektionismus und Freihandel und plädiert für eine kontextsensitive Analyse der Mischverhältnisse von nationalen und internationalen ökonomischen Handlungsstrategien von Nationalstaaten. Zu einem ähnlichen Schluss kommt auch Stefan Schmalz in seinem Beitrag, der sich ebenfalls mit dem komplexen Verhältnis von Nation und internati­ onaler Handelsordnung beschäftigt. Der jüngste Handelskonflikt zwischen China und den USA hat über die ökonomischen Interessen der nationalen Produktionszweige hinaus eine soziologische Dimension, der sich aus der Weltsystemtheorie heraus als wachsender materieller aber auch symbolischer Konflikt um die globale Hegemonie zwischen beiden Ländern deuten lässt und multiple Statusordnungen und Organisationsformen auf nationaler, in­ ternationaler, aber auch regionaler Ebene sichtbar macht. Klaus Kraemer schließlich greift die sozialtheoretische Dimension dieser Frage auf und legt Max Webers Überlegungen zu Machtprestige und Kul­ turprestige verschiedener Nationen zugrunde, um die Verwobenheit von po­ litischen und ökonomischen Statusfragen zwischen Staaten zu beleuchten. Eine Analyse der Statusordnung zwischen Nationalstaaten, die sowohl öko­ nomische als auch kulturelle Aspekte einbezieht, muss zugleich, so das Argu­ ment von Kraemer, auch die Bedeutung symbolischer Machtverhältnisse be­ rücksichtigen, wie sie bei Pierre Bourdieu und Heinrich Popitz beschrieben sind. Dabei ergibt sich über Bourdieus Schriften zur Staatselite ein weite­ rer wichtiger Aspekt, nämlich die Bedeutung der politischen und ökonomi­

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schen Prestigeordnung innerhalb eines Nationalstaats, in dem unterschiedli­ che symbolische Konstruktionen der internationalen Ordnung konkurrieren können und von unterschiedlichen Gruppen getragen werden. Für die Frage der innernationalen Konflikte um Zugehörigkeit lässt sich auch an die Überlegung von Norbert Elias anschließen, der auf die völlig un­ terschiedlichen ideengeschichtlichen und klassenhistorischen Sphären hin­ gewiesen hat, die sich zwischen der Ethik der internationalen Diplomatie als Erbe der Aristokratie und der nationalen bürgerlichen Ideale seit dem 18. Jahrhundert aufgetan hat. Das »eigentümliche Gepräge von Nationalge­ fühlen« (Elias/Schröter 1989: 186) gewann die internationale Politik erst in der »Klassen- und nicht in der Standesgesellschaft« (ebd.). So beschrieben ist politischer Nationalismus historisch eng geknüpft an die bürgerlichen Ide­ ale und eng verwandt mit der Vorstellung freiheitlicher Bürgerrechte und des freien Unternehmertums und der Konkurrenz. Nationalismus ist daher immer Ausdruck spezifischer ökonomischer Verhältnisse und an diese rück­ gebunden. Zugleich lebt aber auch die Tradition der internationalen Diplo­ matie der Standesgesellschaft weiter, in der eine Staatselite, die untereinan­ der sozial stärker verbunden war (historisch sogar miteinander verwandt) als mit der Bevölkerung in ihren Ländern, mit nationalen Grenzen gegenläufi­ gen »Wir«-Bezügen auftritt, so dass nationale Bezugnahmen von politischen Gruppen zur (innernationalen) Bekämpfung der Privilegien von (historisch aristokratischen) Staatseliten in Stellung gebracht werden können. Es stellt sich die Frage, inwieweit solche Ambivalenzen der »Außen« und »Innen«-Di­ mension von nationalen Zuschreibungen auch auf Gruppenkonflikte inner­ halb von wirtschaftlichen Organisationen übertragen werden können, etwa zwischen einer globalen Konzernleitung und dem regionalen Management oder den Belegschaften national verankerter Betriebe und Standorte.

3. Nationalismus als Gegenstand der Wirtschaftssoziologie – vier Verkomplizierungen Führt man diese Überlegungen zusammen, so gelangt man zu vier Verkom­ plizierungen für theoretische Sichtweisen und empirische Untersuchungsde­ signs, die die Wirtschaftssoziologie gegenüber den beiden Sichtweisen von Nationalismus als politische Ideologie und Nationalismus als ökonomischer Protektionismus vornehmen sollte.



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1. Das »Nationale« ist in den symbolischen Formen der Vergesellschaftung verankert, und damit auch in der Ökonomie ständig gegenwärtig und aktivierbar, in Institutionen und Organisationsprinzipien ebenso wie in den Praktiken der Produktion, Distribution und Konsumption. Es steht damit in Konkurrenz zu allen anderen Formen der gesellschaftlichen Einbettung wirtschaftlichen Handelns und ist ein elementarer Bestand­ teil der soziologischen Analyse (scheinbar) rein ökonomischen Handelns. Es ist in Webers (1988: 162f.) Sinne »wirtschaftlich bedingt« und »wirt­ schaftlich relevant« zugleich, so dass es weder exklusiv in der Politik noch in der Ökonomie verortet werden kann. Wir müssen seinen Beitrag viel­ mehr in der Begleitung, Unterstützung und Beschränkung der Entfal­ tung von Gruppenidentitäten, als mindestens potentiellen Bezugspunkt jedes kollektiven Handelns auf Märkten oder in Unternehmen sehen, der immer auch durch politische Diskurse und kulturelle Narrative geformt wird. Der Staat ist demnach nicht nur als regelsetzende Instanz mit eige­ ner Ressourcenausstattung ein Akteur in wirtschaftlichen Feldern, son­ dern beeinflusst auch maßgeblich die symbolische Repräsentation des Nationalen und alle darauf bezogenen Handlungsorientierungen der wirtschaftlichen Akteure, die in Institutionen eingeschrieben und von mehr oder wenig breit geteilten »Wir«-Bezügen getragen sein kann. 2. Bei der Analyse der Wirkung von Nation und Nationalismus in der Öko­ nomie ist eine strikte Trennung von internationalen und nationalen Be­ ziehungs- und Deutungsmustern kaum plausibel. Das Verhältnis der beiden Ebenen für die soziologische Analyse von Märkten und Unterneh­ men sollte weder an klare Grenzziehungen eines nationalen Wirtschafts­ raumes noch als ein unvereinbares gegeneinander von Nationalstaat und globalen Märkten oder Unternehmen gebunden sein. Stattdessen könn­ te eine Analyse »globaler Referenzverhältnisse« (Schwinn 2005: 209) in einer gleichermaßen mit nationalen Referenzen operierenden Ökono­ mie als Ausgangspunkt dienen. Symbolische Statusordnungen von Nati­ onalstaaten nach innen (»Wir«) und nach außen (»Die Anderen«) sollten zusammen analysiert werden. Dies spricht für eine deutlichere Koope­ ration zwischen der Wirtschaftssoziologie internationaler Wertschöp­ fungsketten und den kulturorientierten Paradigmen in der politikwis­ senschaftlichen Forschung. Mehrebenenanalysen zwischen nationalen und internationalen Legitimationsmustern sind nicht nur für politische Konflikte prägend, sondern auch für Organisationsformen und Wettbe­ werbsstrukturen in der Ökonomie. Für die Analyse unterschiedlicher na­

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tionaler Spielarten des Kapitalismus wären zudem sektorale Aspekte zu berücksichtigen. Einige branchenspezifische Institutionenregime, etwa in exportorientierten Sektoren, sind stärker an internationalen Marktund Prestigeordnungen orientiert, als eher auf regionale oder nationale Nachfrage orientierte Sektoren. Diese domestic sectors wiederum können aber symbolisch auf ähnliche Sektoren in anderen Volkswirtschaften Be­ zug nehmen, wenn sie etwa in anderen Ländern erfolgreiche Strategien des protektionistischen Schutzes bestimmter Schlüsselsektoren oder ein­ zelner Großunternehmen (»national champions«) nachahmen. Hilfreich wäre hier auch eine stärkere Beschäftigung der Wirtschaftssoziologie mit der Makroökonomie, die dann als internationales Beziehungsnetz zwi­ schen unterschiedlich eingebetteten Märkten und Sektoren konzipiert werden müsste. In ihm nehmen symbolische nationale (und internati­ onale) Bezüge einen formierenden Einfluss auf die ökonomischen Aus­ tausch- und Abgrenzungsbeziehungen zwischen Märkten in einem Land und zwischen Ländern auf einem Markt. 3. Die wirtschaftssoziologische Analyse von ökonomischem Nationalismus sollte zudem sensibel sein für die Bedeutung unterschiedlicher sozialer Trä­ gergruppen und sozialstruktureller Bedingungen von nationalen oder in­ ternationalen Bezügen. Die Einsichten der Wirtschaftssoziologie in die historische Kontingenz, Variabilität und Kontextabhängigkeit von öko­ nomischen Interessen und Präferenzen machen es notwendig, begriffliche Konstruktionen von Globalists vs. Localists, Modernisierungsgewinnern vs. -verlierern oder auch Elite vs. Bevölkerung sozialstrukturell zu hinterfragen und auf die symbolische Konstruiertheit und Fluidität dieser Handlungs­ orientierungen hinzuweisen. Wenngleich damit natürlich die Sinnhaftig­ keit idealtypischer Analysemethoden ausdrücklich nicht in Frage gestellt sein soll, so sollte man doch gegenüber dem »Portfolio«-Modell des Ak­ teurs (Whitford 2002) Vorsicht walten lassen. So wie Akteure eben nicht einfach Nutzenfunktionen ausführen oder Rollenmuster reproduzieren, so sollten sie auch nicht als von ihren Zuschreibungen des Nationalen ge­ trieben beschrieben werden. Entscheidend ist vielmehr, bei idealtypischen Konstruktionen von Handlungsmotiven auch deren Geltungsbedingun­ gen als soziale Kontextfaktoren einzubringen und so situative und institu­ tionalisierte Konstellationen des Wirtschaftsnationalismus zu beschreiben. 4. Mit der Frage der Trägergruppen verbunden ist auch die Erkenntnis, dass nationale Bezugnahmen unterschiedliche Reichweiten haben und eher explizit oder eher implizit wirken können. In der oben beschrie­



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benen Kritik an der Theorie strategischer Handlungsfelder (Goldstone/ Useem 2012; Fligstein/McAdam 2011) kam zum Ausdruck, dass Wert­ orientierungen und Vorstellungen sozialer Zugehörigkeit nicht nur eine Ressource der Organisierung von Gruppen und der Verfolgung von strategischen Zielen sein können, sondern dass deren Kraft und Stabi­ lität auch von einer umgebenden Struktur geteilter Vorstellungen ge­ prägt wird, die insbesondere durch historisch gewachsene Institutionen getragen wird. Institutionen sind auch immer symbolische Ordnungen mit spezifischen Leitbildern oder »Rationalitätskriterien« (Lepsius 1996; Rehberg 1994). Institutionen repräsentieren die symbolische Ordnung des Sozialen und (re-)produzieren die in einer Gesellschaft als relevant angenommenen Konflikte und Gemeinsamkeiten (Barlösius 2005: 47). Von daher ist es eine wichtige Frage, wie gruppen- und akteursspezifi­ sche Narrative an Repräsentationen von »Nation« anknüpfen, wenn die Stabilität und Durchsetzungskraft solcher Narrative erklärt werden soll. Symbolische Bezugnahmen auf die Nation gibt es also immer zugleich im strategischen Handeln selbst und im institutionell-symbolischen Ma­ krokontext des Handlungsfeldes. So verfängt eine Erzählung über die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Automobilindustrie leichter, sobald der historisch-institutionelle Kontext eines durch Korporatismus gepräg­ ten »Wir«-Gefühls zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern in die­ sem Sektor dahintersteht und mag dann im deutschen Kontext sogar von Seiten der Politik oder der Unternehmen als Machtressource gegen die Interessenlage von abhängig Beschäftigten genutzt werden. Mit an­ deren Worten kann die Artikulation sozialer Gruppen- oder Klassenin­ teressen neutralisiert werden, wenn »die Nation« als gedachter Repräsen­ tant der übergreifenden sozialen Ordnung symbolisch angerufen wird. Hingegen entfalten nationale Einheitssemantiken in Wirtschafts- und Sozialordnungen ohne vergleichbare Tradition (»Sozialpartnerschaft«) und Branchenidentität und ohne vergleichbarem wirtschaftsnationalen Gemeinsamkeitsglauben offensichtlich eine geringere Wirkung. Dassel­ be mag für die Anrufung einer »nationalen Kultur« gelten, die etwa in Großbritannien als Garant einer vertrauenswürdigen Selbstregulierung der Finanzmärkte wahrgenommen wird. Im historisch-institutionellen Kontext von Empire und Finanzmacht ist jedenfalls die »Londoner City« eine weitaus engere Verbindung mit wirtschaftsnationalen Einheitsvor­ stellungen eingegangen als dies in Kontinentaleuropa der Fall ist (Mün­ nich 2018; Goede 2005: 81ff.).

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Führt man diese vier Verkomplizierungen zusammen, so lassen sich unter­ schiedliche Dimensionen der Einbettung von Märkten durch nationale Ein­ heitssemantiken unterscheiden, die die wirtschaftssoziologische Analyse des ökonomischen Nationalismus strukturieren. In Tabelle 1 werden typische Sozialformationen unterschieden, die die Wirtschaftssoziologie üblicherwei­ se in den Blick nimmt: Markt, Organisation (Unternehmen) und Wirtschaftsordnung. Diese Sozialformationen können zu den unterschiedlichen Modi in Beziehung gesetzt werden, in die Märkte, Wirtschaftsorganisationen und Wirtschaftsordnungen sozial eingebettet sind. Damit soll zum Ausdruck ge­ bracht werden, dass alle drei Sozialformationen – Märkte, Unternehmens­ organisationen und Wirtschaftsordnungen – durch Narrative, Praktiken und kollektive Repräsentationen eingebettet werden. Tabelle 1: Dimensionen der »nationalen« Einbettung der Wirtschaft

Markt

Organisation (Unternehmen)

Wirtschaftsordnung

Narrative

»Made in Germany«, »Britishness«

»Unternehmenskultur« (VW vs. McDonalds)

»Modell Deutsch­ land«, »America First«

Praktiken

Grad der Schließung/ Öffnung von Märkten

»Systemrelevante Betriebe«, Außenwirt­ schaftsrecht

VoC

Repräsen­ tationen

Gault Millau, S&P 500, Billboard Charts

Betriebliche Leistungs­ kennzahlen

IWF, Weltbank, Leitwährung Dollar

Quelle: Eigene Darstellung

Die Modi der Einbettung der Wirtschaft durch nationale Einheitsseman­ tiken variieren je nach Sozialformation. Märkte können durch nationale Narrative, Praktiken und Repräsentationen gerahmt oder eingebettet wer­ den. Die narrative Einbettung von Märkten entlang der Differenz natio­ nal/nicht-national zeigt sich beispielsweise bei Produkten, denen bestimmte Qualitäten aufgrund ihrer nationalen Herkunft oder national gültiger Qua­ litätsstandards zugeschrieben werden, die wiederum von Produkten unter­ schieden werden, die anderswo produziert oder zusammengebaut worden sind. »Made in Germany« oder »Britishness« sind diskursive Verdichtun­ gen solcher Narrative. Ganz ähnlich werden Wirtschaftsunternehmen na­



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tional eingefärbte »Unternehmenskulturen« und Managementpraktiken zu­ geschrieben, die je nach nationaler Zurechnung beispielsweise mit »flachen« Arbeitshierarchien, »innovativen« Produktionskonzepten, »effizienten« Be­ triebsorganisationen oder »sozialpartnerschaftlichen« Konflikteinhegungen assoziiert werden. Auch auf der Makroebene von Wirtschaftsordnungen können narrative Zuschreibungen identifiziert werden, die nationale Be­ sonderheiten signalisieren sollen (»Wohlstand für alle«, »Modell Deutsch­ land«, »Vom Tellerwäscher zum Millionär«, »America First«). Ganz gleich, ob Märkte, Wirtschaftsorganisationen oder Wirtschaftsordnungen in na­ tionale Einheitssemantiken eingebettet werden, stets geht es um die nor­ mative Rechtfertigung von Differenz gegenüber potentiellen oder tatsächli­ chen »ausländischen« Konkurrenten, um die symbolische Markierung von Produktivitäts-, Qualitäts- und Preisunterschieden und nicht zuletzt immer auch um die Signalisierung von Unvergleichbarkeit innerhalb einer sich glo­ balisierten, auf Nivellierung drängenden Ökonomie. Die narrative Einbet­ tung von Märkten, Wirtschaftsunternehmen und Wirtschaftsordnungen in nationale Einheitssemantiken steht in einem diskursiven Spannungsverhält­ nis zum Narrativ der globalen Konkurrenz um die »besten Köpfe und Ide­ en«, das nicht auf die nationale Schließung wirtschaftlicher Aktivitäten setzt, sondern die transnationale Öffnung von nationalem Wettbewerb symbo­ lisch prämiert. Wichtig ist es auch, an dieser Stelle auf die besondere Zeitordnung des modernen Kapitalismus hinzuweisen (Beckert 2016: 33). Narrative spielen eine prominente Rolle bei der Ermöglichung des zukunftsgerichteten Han­ delns unter Ungewissheit. Narrative der zukünftigen technologischen Ent­ wicklung von Unternehmen, des Erfolgs von Investments als auch die Pro­ gnosen der Entwicklung von Branchen oder Volkswirtschaften stehen im Zentrum ökonomischer Entscheidungen. »Although fictional, these imagi­ ned futures, if deemed credible  – justify, inform and legitimate decitions, thus influencing the unfolding of economic processes.« (ebd.: 270) Was An­ derson als »eschatologische« Dimension bezeichnete (Anderson 2016: 11), ist die Fähigkeit der Bezugnahme auf die Nation, historische Fatalität in Gewiss­ heit zu verwandeln. Angesichts einer ungewissen ökonomischen Zukunft hat demnach ein beim Publikum verfangener Bezug auf die Nation also die Kraft, ein imaginiertes Zukunftsnarrativ mit Glaubwürdigkeit zu versehen und etwa ökonomische Investitionsentscheidungen zu ermöglichen. Märkte, Wirtschaftsorganisationen und Wirtschaftsordnungen können nicht nur durch Erzählungen, sondern auch durch Praktiken national einge­

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bettet werden. Praktiken umfassen soziale Netzwerke und institutionelle Ar­ rangements. Sie können informelle und formelle Formen annehmen. In der neueren wirtschaftssoziologischen Forschung sind netzwerkförmige und ins­ titutionelle Einbettungen nationaler Wirtschaftspraktiken vielfach beschrie­ ben worden, ohne dass die Mechanismen der graduellen nationalen Schlie­ ßung bzw. transnationalen Öffnung dezidiert untersucht worden sind. Auf Märkten sind informelle und institutionelle Praktiken der Schließung und Öffnung entlang der Achse national/transnational vielfach anzutreffen. Ty­ pische Beispiele für die Schließung des Marktzugangs sind etwa geschütz­ te Herkunftsbezeichnungen für Lebensmittel (Feta, Camembert, Steirisches Kernöl, Nürnberger Lebkuchen, Parmigiano-Reggiano). In diesem Fall wird die graduelle Schließung des Marktzugangs entlang regionaler oder natio­ naler Herkunftsbezeichnungen bemerkenswerterweise überhaupt erst durch die Praktiken supranationaler Institutionen (z. B. EU) ermöglicht. Ande­ re Formen der institutionellen Schließung werden – auf der Ebene einzel­ ner Unternehmen oder Branchen – durch nationalstaatliche Organisationen rechtlich kodifiziert, wie am Beispiel der jüngeren Debatte über »systemrele­ vante« nationale Betriebe und der Verschärfung des nationalen Außenwirt­ schaftsrecht illustriert werden kann. Und auf der Aggregatebene der nationa­ len Wirtschafts- und Sozialordnung werden in der sozialwissenschaftlichen Debatte über die Konvergenz und Divergenz der »varieties of capitalism« institutionalisierte Öffnungs- und Schließungspraktiken vielfach diskutiert worden. Schließlich können Märkte, Wirtschaftsorganisationen und Wirtschafts­ ordnungen nicht nur in national eingefärbte Narrative und Praktiken, son­ dern auch in Repräsentationen eingebettet sein. Repräsentationen sind Sozialformationen, die kollektive Geltung beanspruchen, keineswegs nur re­ gional und national, sondern ebenso international. Sie können in Anlehnung an einen an Pierre Bourdieu angelehnten Vorschlag Eva Barlösius’ (2005) als wahrnehmungsregulierende Konstrukte bzw. Klassifikationen der sozialen Welt beschrieben werden, die als öffentliche Wahrnehmungsschwellen fun­ gieren und maßgeblich darüber entscheiden, was in einer sozialer Ordnung als legitim und prestigeträchtig anzusehen ist und was in legitimer Weise abgewertet oder sogar skandalisiert werden kann. Wenn man diese katego­ riale Untersuchungsebene für wirtschaftssoziologische Problemstellungen fruchtbar macht, dann signalisieren Repräsentationen die kollektiv als le­ gitim wahrgenommene Statusgeltung einzelner Märkte, Unternehmen und sogar ganzer Wirtschaftsordnungen. Mit anderen Worten symbolisiert die



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jeweilige Statusgeltung eines Marktes, eines Unternehmens oder – auf der Makroebene – einer nationalen Wirtschaftsordnung den jeweiligen Grad der legitimen Akkumulation von Markt-, Unternehmens- und Wirtschaftspres­ tige. Es versteht sich von selbst, dass die Unterscheidung zwischen den drei Einbettungsmodi – Narrative, Praktiken und Repräsentationen – eine ana­ lytische ist. In der sozialen Wirklichkeit des ökonomischen Handelns sind vielfältige und wechselseitige, vor allem auch selbstverstärkende positive und negative Effekte zwischen diesen Modi der Einbettung theoretisch denkbar und empirisch wahrscheinlich. Übertragen auf den Untersuchungsgegenstand des vorliegenden Bandes zur Soziologie des ökonomischen Nationalismus folgt aus diesen Überlegun­ gen, dass Repräsentationen auf Märkten, in Unternehmen und auf der Ma­ kroebene von Wirtschaftsordnungen als Prestigezuschreibungen fungieren können, die national zentrierte Reputation befördern oder beschädigen kön­ nen. Die soziale Plausibilität und kollektive Geltung nationaler Einheitsse­ mantiken kann auf Märkten, in Unternehmen und Wirtschaftsordnungen in Form von Repräsentationen zum Ausdruck kommen. In Marktsegmenten repräsentieren Bewertungssysteme wie der Gastronomieführer Gault Millau, Börsenindizes wie S&P 500 oder Verkaufsrankings der Unterhaltungsindus­ trie wie Billboard Charts die Geltung nationaler Marktprodukte und ihre Sichtbarkeit im globalen Wettbewerb um Markterfolge und Marktreputa­ tion. Auf der Ebene der Unternehmen repräsentieren betriebsökonomische Kennzahlen wie Marktanteile, Marktkapitalisierung, oder Rentabilitätskri­ terien die Leistungsfähigkeit von Erwerbsbetrieben im nationalen und in­ ternationalen Wettbewerb. Je »besser« derartige Kennzahlen ausfallen und umso höhere Rankingplatzierungen Unternehmen erreichen, umso größeres nationales – und internationales – Prestige kann akkumuliert werden. Und schließlich hängt auf der Makroebene die nationale und interna­ tionale Prestigegeltung einer Volkswirtschaft von hochaggregierten Kenn­ zahlen ab, die ihre Leistungs- und Innovationsfähigkeit im internationalen Wettbewerb dokumentieren sollen. Über derartige numerische Repräsenta­ tionen hinaus kann die Prestigelage einzelner Volkswirtschaften aber auch durch nationale Politiken protegiert werden. Die nationale Verteilung von Stimmrechten in internationalen, wirtschaftsrelevanten Organisationen wie dem Internationalen Währungsfonds oder der Weltbank ist exemplarisch zu nennen, aber auch die Relevanz oder Irrelevanz nationaler Währungen im globalen Zahlungsverkehr. Die nach wie vor unangefochtene Leitwährung Dollar sticht hierbei auf der Prestigeskala miteinander konkurrierender nati­

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onaler Wirtschaftsordnungen in exponierter Weise hervor. Der Dollar reprä­ sentiert nämlich keineswegs nur in monetärer Hinsicht die Globalisierung ökonomischer Lieferketten und Tauschbeziehungen, sondern unterstreicht zugleich den politischen und ökonomischen Anspruch der führenden Hege­ monialmacht des Westens bei der nationalen Kontrolle des internationalen Zahlungsverkehrs. Zum Abschluss lässt sich also festhalten, dass sich ein üppiges Bild bis­ her nur unvollständig genutzter wirtschaftssoziologischer Forschungsmög­ lichkeiten ergibt, wenn man die soziologischen Perspektiven, die Max We­ ber, Pierre Bourdieu, Norbert Elias sowie viele grundlegende Arbeiten der angelsächsischen soziologischen Nationalismusforschung mit einer Wirt­ schaftssoziologie zusammenbringt, die aus ihrer Verankerung im Paradigma der Einbettung von Märkten heraus stärker dazu übergeht, die multiplen und ambivalenten symbolischen Bezugspunkte wirtschaftlichen Handelns und wirtschaftlicher Ordnungen empirisch und theoretisch in den Blick zu nehmen. Eine so verstandene Wirtschaftssoziologie, so die Überzeugung der Herausgeber dieses Bandes, reagiert auf die gesellschaftlich derzeit so viru­ lente Frage des Nationalismus im globalen Kapitalismus so, dass sie die Rolle von Zuschreibungen nationaler Zugehörigkeit weder rein ökonomisch noch rein politisch analysiert. Sie stellt vielmehr die Verschiebungen der Bedeu­ tung des »Nationalen« in den Narrativen, Repräsentationen und Praktiken von Akteuren und Gruppen ins Zentrum der ungebrochen virulenten Fra­ ge nach den sozialen Bedingungen von Produktion, Distribution, Konsum und Akkumulation.

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Wettbewerb und Nation – Überlegungen zum Problem des Begriffs »Wirtschaftsnationalismus« Dieter Reicher Die Erforschung dessen, was »Wirtschaftsnationalismus« bedeuten könnte, ist an zwei Schwierigkeiten gebunden. Die erste Schwierigkeit ist von ana­ lytischer Natur. Sie umfasst eine Begriffsproblematik und die Frage, ob das sprachliche Konzept »Wirtschaftsnationalismus« überhaupt ein brauchbares Instrument der Analyse darstelle. Als ein solches wird »Wirtschaftsnationa­ lismus« in einigen Publikationen als quasi-objektiver und technisch-wissen­ schaftlicher Begriff verwendet. Dort meint er einerseits protektionistische Maßnahmen, die einem liberalen Freihandelsideal entgegenstehen, insofern dafür »nationale« Gründe ins Spiel gebracht werden. Andererseits wurde auch das Konzept des sogenannten »liberalen Wirtschaftsnationalismus« in ergänzender Weise eingeführt, um solche Politiken zu klassifizieren, die gera­ de in umgekehrter Weise Forderungen nach Freihandel ihrerseits wiederum »national« legitimieren (vgl. Helleiner 2005; Pickel 2005; Clift/Woll 2012; Callaghan/Hees 2017). Beides ist allerdings problematisch. »Wirtschaftsnationalismus«, mit wel­ chen Adjektiven auch immer versehen, ist nämlich kein wertneutraler Be­ griff. In ihm verstecken sich stets unterschiedliche, vielschichtige und nor­ mativ aufgeladene Sinngehalte. Darüber hinaus erfasst der Begriff des »Wirtschaftsnationalismus«, wie auch ähnliche sprachliche Konzepte, bloß einen selektiven Ausschnitt der Menge von »national« gefärbten Wir-Bezügen, die empirisch in Zusammen­ hang mit »wirtschaftlich« gedachten Themengebieten vorliegen. Der sozio­ logisch relevante Tatbestand besteht dabei bereits darin, zu untersuchen, wie und warum diese semantische Selektion vorgenommen worden ist. Das bedeutet, eine soziologische Untersuchung von Sachverhalten, die unter dem Begriff des »Wirtschaftsnationalismus« subsumiert werden soll, soll zunächst einerseits seine standortbezogene Normativität und andererseits seine intendierte Selektivität rekonstruieren. Ich schlage vor, »Wirtschaftsna­ tionalismus« bloß als einen subjektiven Praxisbegriff zu verstehen und die­ sen ausschließlich aus einer emischen Perspektive zu betrachten. Darüber hi­

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naus sollen solche subjektiven Bedeutungsinhalte als relationale Größen von Sprechakten interpretiert werden, die Bestandteile eines konkreten »sozialen Feldes« (Bourdieu 1996) oder einer »Figuration« (Elias 2006) darstellen. Der heuristische Mehrwert des Konzepts »Wirtschaftsnationalismus« erschließt sich somit nur aus dem Verstehen seiner jeweils pragmatischen Anwendung. Welche Individuen, Gruppen oder wirtschaftspolitischen Programme werden von wem, warum, unter welchen Bedingungen als »nationalistisch« etiket­ tiert? Bzw. wer definiert, warum und wann den eigenen wirtschaftspolitischen Standpunkt als »antinationalistisch«? Welche weiteren »national« gefärbten Bezüge, die allerdings nicht mit diesem Begriff etikettiert werden, verbinden sich noch irgendwie mit wirtschaftspolitischen Diskursen? Warum werden diese in der Regel nicht als »Wirtschaftsnationalismus« kategorisiert? Welche strategischen Interessen sind mit dieser Begriffspraxis verknüpft? Die zweite Schwierigkeit in der Untersuchung dessen, was unter »Wirt­ schaftsnationalismus« fallen könnte, ist an die »etische« Perspektive der For­ scher gebunden. Sie ist von synthetischer Natur. Wie werden die real exis­ tierenden Zusammenhänge zwischen Wettbewerbskonstellationen, sozialem Standpunkt im »Feld« oder in der »Figuration« und empirisch erfassbarer »nationaler« Wir-Bezüge modelliert? Hinsichtlich dieser zweiten, syntheti­ schen Schwierigkeit wird vorgeschlagen, sowohl innerstaatliche Gruppen­ beziehungen, wie auch zwischenstaatliche Konkurrenz als veränderbare und miteinander verzahnte Statushierarchien zu verstehen. An diesem Punkt möchte ich Norbert Elias folgen und diese zwei For­ men von Statushierarchien als geschichtete Mehrebenen-Figurationen auffas­ sen (vgl. ebd.). Einerseits bestehen auf der Ebene einer nationalstaatlich defi­ nierten Ordnung zwischen Statusgruppen (das können etwa Milieus, Klassen, Bildungsschichten, Regionen, ethnischen Gruppen, Religionsgemeinschaften, Generationen oder Geschlechter sein) mehr oder weniger ungleiche Macht­ balancen. Andererseits bilden sich auch auf einer höheren figurativen Etage, auf der Ebene zwischenstaatlicher Rivalität, ebenfalls Beziehungen zwischen Etablierten und Außenseitern heraus. Das bedeutet, dass auch internationa­ le Machtungleichheit zu Figurationen ungleicher Wir-Gruppen führt, die in irgendeiner Weise Statusaspirationen an »Erfolg« oder »Misserfolg« im zwi­ schenstaatlichen Konkurrenzkampf knüpfen. Folgt man Elias (2014) in sei­ ner Weiterentwicklung von Webers Konzepts des Charismas, sind derartige Machtunterschiede zwischen großen, abstrakten Einheiten, wie z. B. Staaten – vor allem wenn sie »national« aufgefasst und mit einem »Wir« versehen wer­ den – mit Gruppencharisma oder Gruppenschande verbunden. Statuseigen­



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schaften derartiger Großeinheiten können unter solchen Umständen sogar auf die Persönlichkeitsstruktur (Habitus) ihrer Mitglieder abfärben. Derartige Wir-Gruppen, die prestigemäßig ihre Position irgendwie »national« definie­ ren und damit in ein internationales Konkurrenzgeflecht gebunden werden, können äußerst unterschiedlicher Art sein. Sie reichen von politischen, wirt­ schaftlichen, wissenschaftlichen, künstlerischen, sportlichen Eliten bis zu Ak­ teuren in den Massenmedien. Sie umfassen allerdings vor allem diverse breitere Bevölkerungssegmente, die an ein nationales Prestige-Denken orientiert sind. Modelle von Mehrebenen-Figurationen legen also nahe, innerstaatliche Sta­ tuskonkurrenz nicht isoliert von der Tatsache internationaler Beziehungen zu verstehen. Damit steht diese Sichtweise dem vorherrschenden soziologischen Paradigma gegenüber. Dieses blendet nämlich internationale Staatenkonkur­ renz und Geopolitik zumeist aus ihrem Analyse-Rahmen aus und tendiert zur Modellierung »reiner« inner-gesellschaftlicher Statusgruppen- oder Klassenbe­ ziehungen. Sie ignoriert damit auch die Tatsache einer gegenwärtigen Welt, die sich in politischer Hinsicht in Nationalstaaten strukturiert. Der hier vertretene Blickwinkel einer Mehrebenen-Figuration sprengt allerdings auch den Rah­ men einiger Ansätze des politikwissenschaftlichen Faches Internationale Bezie­ hungen (IB). Hier vertritt vor allem der sogenannte Realismus die Auffassung, internationale Beziehungen bloß als eine Figuration zwischen Regierungen, die als rationale Akteure gedacht werden, zu begreifen. Dieser Realismus blen­ det nun seinerseits die innerstaatlichen Prozesse aus und behandelt diese, aus der Sicht einer arbeitsteiligen Pragmatik, als soziologische Probleme ohne wei­ tere Relevanz für die eigene Untersuchung (vgl. Reicher 2004). Gemäß dieser Problemstellung folge ich in einem ersten Schritt dem Vor­ schlag von Elias, die Formierung von Staaten als »Überlebenseinheiten« un­ ter Konkurrenzbedingungen zu begreifen. In einem zweiten Schritt soll klar gemacht werden, dass ein substantialistisches und essentialistisches Verständ­ nis von Nation heuristisch wertlos ist. Dagegen wird hier vorgeschlagen wer­ den, »Nationen« auch als kommunikative Gemeinschafts-Tools im Rahmen relationaler Sprechakte zu verstehen. In einer solchen Form treten sie ent­ weder als nationale Wir-Ideale, die auf einen Topos von »Kultur« verweisen oder als kulturalistisch »leerer« Wir-Bezüge in Erscheinung. In einem drit­ ten Schritt möchte ich Vorgänge der Diffusion nationaler Wir-Bezüge in­ nerhalb des staatlichen Ordnungsrahmens nachzeichnen, die hier als Prozes­ se der Nationalisierung und als Zustand der Wir-Krise bezeichnet werden. In einem vierten Schritt werden die verzahnten Zusammenhänge zwischen äußerer (»internationaler« oder »geopolitischer«) und innerer (Klassen- und

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Statusgruppen-bezogener) Verschiebungen von Machtbalancen anhand konkreter historischer Epochen untersucht. Hier soll gezeigt werden, wie Zustände anhaltender stabiler Machtbalance Prozesse der Nationalisierung und solche labiler Machtbalancen nationale Wir-Krisen hervorrufen kön­ nen. In einem fünften Schritt werden aufbauend auf dieser Basis sowohl der Begriff »Wirtschaftsnationalismus«, wie auch die damit gemeinten Sachver­ halte adäquat untersucht werden können. Schlussendlich wird gezeigt, dass eine solche Studie über den »Wirtschaftsnationalismus« eine aufschlussrei­ che Bewertungsgrundlage für den allgemeinen Zustand der nationalstaatlich organisierten Weltordnung darstellen kann.

1. Überlebenseinheiten, Staatsbildung und Nationalisierung Folgt man Elias (1983; 2001: 314; 2003: 174; 2006: 184), sollen »Überle­ benseinheiten« drei Grundfunktionen befriedigen können: a) Beherrschung der Natur (Schutz vor Naturgewalten, Aneignen und Umwandelung natür­ licher Ressourcen, ökonomische Bedürfnisse), b) Schutz vor konkurrieren­ den oder feindlichen Außengruppen, c) Stiftung von Sinn und Orientierung (Kategorisierung der Welt). Überlebenseinheiten weisen vor allem zwei Ei­ genschaften auf: 1. Sie sind Bestanteil von Konfigurationen weiterer konkurrierender Über­ lebenseinheiten und sind somit stets in »internationale« oder »geopoliti­ sche« Strukturen gebettet. 2. Sie bestehen aus Mitgliedern, die ein Bewusstsein von Zugehörigkeit und eine gefühlsmäßig gefärbte Vorstellung von »Wir« aufweisen. Diese zweite Eigenschaft wird hier Wir-Bezug genannt. Sie folgt weitgehend dem, was Richard Jenkins (2008) mit dem Begriff der Identität umschreibt, wenn auch, wie noch besprochen werden wird, einige zusätzliche Kompli­ kationen berücksichtigt werden müssen. Ein Wir-Bezug weist unterschied­ liche Aspekte auf. Er repräsentiert als Kategorie des Denkens und Sprechens einerseits eine Vorstellung über Aufbau und Zusammensetzung des Verban­ des, der mit »Wir« gemeint ist (Wir-Bild), bzw. alle jene, die nicht als solche adressiert werden (Sie-Bild oder Ihr-Bild). Ein weiterer Aspekt besteht darin, dass Wir-Bilder nicht bloß neutrale Beschreibungen teilnahmsloser Sprech-



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Akteure darstellen. Vielmehr verbinden Personen mit solchen Vorstellungen gewünschte Zustände und mehr oder weniger klar ausformulierte und kon­ sistente Gesellschaftsideale (Wir-Ideal). Der dritte Aspekt umfasst die Qua­ lität und die Intensität der emotionalen Bindung an die Wir-Gruppe; ein aktiver Vorgang, der auch als Identifizierung bezeichnet wird (Wir-Gefühle). Überlebenseinheiten sind also Wir-Gruppen, die mindestens eine auf zwei Ebenen verschachtelte Figuration bilden. Auf der ersten, »internationalen« oder »geopolitischen« Ebene der Figuration stehen Überlebenseinheiten an­ deren Überlebenseinheiten, die wiederum für sich Wir-Gruppen darstellen, kompetitiv gegenüber. Der Wettbewerb mit anderen derartigen Wir-Gruppen kann zu »Ausscheidungskämpfen« und zur Eliminierung der besiegten Einheit führen. Derartige »internationale« Wettbewerbe treten entweder in Form un­ gebundener oder gebundener Statuskämpfe in Erscheinung (vgl. Elias 1995). Ungebunden sind solche »internationalen« oder »geopolitischen« Kon­ kurrenzsituationen, wenn die Beziehung zwischen zwei oder mehreren der­ artigen Einheiten lose und unregelmäßig verläuft, sodass ein geringer Grad gegenseitiger Vertrautheit, Ritualisierung und Institutionalisierung besteht. Beispiel 1: zufällig oder erstmalig treffen zwei Jäger- und Sammlergruppen zusammen und konkurrieren um die Ressourcen in einem Wald. Beispiel 2: die Terrororganisation ISIS bekämpft die irakische Armee im Jahr 2016; es bestehen keine diplomatischen oder andere regelmäßigen Beziehungen zwi­ schen dem »Kalifat« und der irakischen Regierung; die Kämpfer von ISIS werden weder als offizielle Kombattanten anerkannt, die den Regeln des Kriegsvölkerrechts unterliegen, noch behandeln sie selbst Gefangene und Zivilbevölkerung gemäß völkerrechtlicher Statuten. Gebunden ist dieser »internationale« Wettbewerb, insofern ein bestimm­ ter Grad an Routine in der Beziehung zwischen derartigen Wir-Gruppen Einzug gehalten hat und damit auch institutionelle Regeln als Rahmung vorliegen. Beispiel 1: Eingebettet in Rituale und Zeremonien tauschen die Leute eines einfachen, vormodernen Bauerndorfes Waren und Statusgüter mit Nomaden regelmäßig zu bestimmten Zeiten und an spezifischen Orten aus. Beispiel 2: WTO-Ministerkonferenz in Buenos Aires 2017; die Vertreter der Mitgliedsstaaten beschließen, dass auch der internationale Rechtsschutz für kleinere Firmen gestärkt werden soll. Gebundene internationale Ausscheidungskämpfe sind das Resultat eines langfristig sich entwickelnden – jedoch stets brüchigen – »Prozesses der Zi­ vilisation«. Solche Kämpfe um Statusgüter finden unter bestimmen Bedin­ gungen im Rahmen vorhersehbarer »Spielzüge« und vorausplanbarer mögli­

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cher Konsequenzen statt. Körperliche Gewalt ist dabei entweder stark in ein Regulativ eingerahmt oder gilt überhaupt als Foul-Spiel und wird moralisch verbannt. Werden solche gebundenen internationalen Ausscheidungskämp­ fe aufgrund stabiler Machtverhältnisse zur Gewohnheit – werden sie also Teil des Habitus – so kommt es zu einem Selbstverständnis bei der Weitergabe von derartigen Wettbewerbsregeln und zivilisierten Verhaltensvorschriften von Generation zu Generation; es findet Akkulturation statt. Das Problem von Gebundenheit und Ungebundenheit von Regeln im internationalen System wurde bereits von diversen Standpunkten aus disku­ tiert. Michael Mann (1994) untersucht zum Beispiel antike Multi-StaatenSysteme und solche des Italiens der Renaissance und stellt deren relative De­ zentralität der Entwicklung von universalistischen Großreichen gegenüber. Er vergleicht diese Multi-Staaten-Systeme außerdem mit dem modernen in­ ternationalen Staatensystem, das sich nach dem Westfälischen Frieden lang­ sam entwickelte und zu einem System der Nationalstaaten mutierte. Die Vertreter der »Englischen Schule Internationaler Beziehungen«, etwa Her­ bert Butterfield, Hedley Bull oder Martin Wight, entwickelten das Konzept »internationaler Gesellschaft« (international society) oder »Weltgesellschaft« (world society), die auf verbindlichen Normen beruhen würde (vgl. Watson 1992: 2ff.). Linklater schlägt vor, zwischen staatsinternen (domestic) und glo­ balen Zivilisationsprozessen zu unterscheiden und fokussiert auf die Evo­ lution von mehr oder weniger verbindlichen und normativ durchgesetzten Vorstellungen eines »zivilisierten« oder »barbarischen« Verhaltens (die soge­ nannte »Staatengemeinschaft« und die »Schurkenstaaten«), die das politische Handeln legitimieren (Linklater 2007: 177). Reicher (2012; 2013; 2017) hat versucht zu zeigen, dass bestimmte ritualisierte internationale Statuskämp­ fe um symbolische Güter ebenfalls zur Bildung von »internationalen Ge­ meinschaften« führen kann, die durch hierarchische Statussysteme gekenn­ zeichnet sind. Dazu zählen symbolische Statuskämpfe zwischen »Nationen« im Sport, in der Bildung und der Wissenschaft (Nobelpreise, PISA-Studien, Universitätsrankings etc.), in der Kunst (Stolz auf bedeutende Künstler), im Film (Oscars und andere Filmpreise), in der Musik (z. B. Eurovision Song Contest), bei Schönheitswettbewerben (Miss World etc.) oder in der Wirt­ schaft (vergleichende Wirtschaftsstatistiken in den Zeitungen); zu solchen internationalen Prestigesystemen auf dem Feld des Sports siehe auch Haut et al. (2017). Prestige wird dabei unter dem ideologischen Blickwinkel eines er­ worbenen Status (Linton 1936) und des meritokratischen Prinzips von »Er­ folg« verstanden. Die diversen Akteure solcher Wettbewerbe werden durch



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massenmediale Vermittlung als nationale Repräsentanten rezipiert. Darüber hinaus erzeugt eine derartige massenmediale Darstellung das Bild einer in­ ternationalen Wettbewerbsgemeinschaft, die auf den Idealen zivilisierender Normen der Rivalität zwischen Staaten beruhen würde. Die zweite, »untere« Ebene bezieht sich auf das interne Beziehungsge­ flecht der einzelnen Überlebenseinheiten. Je nach Größe und Komplexi­ tät der Überlebenseinheit und ihren internen Machtbalancen ist einerseits die Ausformung der Wir-Bezüge unterschiedlich kompliziert und anderer­ seits die Abgrenzung nach außen mehr oder weniger durchlässig und klar. Bestanden Überlebenseinheiten in Jäger- und Sammlergesellschaften noch aus einer überschaubaren Anzahl an Individuen mit stark homogenen WirBezügen, so galt dies nicht mehr in einfachen Agrargesellschaften oder in den differenzierteren Stadtstaaten, traditionellen Reichen, feudalen Fürsten­ tümern oder gar den dynastischen Staaten der europäischen Neuzeit. Die Staatsgesellschaften des Industriezeitalters zeigen den bisher größten Grad an Heterogenität von Wir-Bezügen. Dies gilt obwohl, oder gerade weil solche Staaten sich zunehmend als »Nationalstaaten« zu verstehen begannen. Sie sind durch einen sehr hohen Grad an Arbeitsteilung, funktionaler Demo­ kratisierung und der Monopolisierung kollektiv organisierter Gewalt nach innen und außen gekennzeichnet. Das Komplex an Wir-Bezügen in solchen Gesellschaften umfasst Familien, Arbeitskollegen, Sport- und Freizeitverei­ ne, Gemeinden, Provinzen, Parteien, Weltanschauungen, Religionsgruppen oder eben die nationalstaatliche Einheit, um nur einige zu nennen. Simmel (1989) meinte, dass in solchen Gesellschaften ganz unterschiedliche Kom­ binationen an sozialen Kreisen einen geschichtlich einmaligen Prozess der Individualisierung hervorbrachte. Aus der Sicht von Elias (2001) trat eine Verschiebung in der Wir-Ich-Balance ein, ein Vorgang, der bis heute anhält, und der zu einer stärkeren Akzentuierung von Ich-Bezügen im Verhältnis zu Wir-Bezügen führte. Das Ergebnis ist eine hochgradig plurale Gesellschaft.

2. Nationen als kommunikative Gemeinschafts-Tools: wider einem substantialistischen Verständnis Man könnte auf den ersten Blick die Prozesse der Nationalisierung und der Individualisierung/Pluralisierung als widersprüchlich bewerten oder als ge­ genläufig interpretieren. Aus der Sicht des Primordialismus mit seinem es­

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sentialistischen und substantialistischen Verständnis von »Nation«, die diese fälschlicherweise als homogene kulturelle Einheit definiert, würde ein sol­ cher Widerspruch tatsächlich bestehen. Modernistische Ansätze haben je­ doch richtigerweise erkannt, dass die Idee der Nation gerade im Umfeld industrialisierter und heterogener Gesellschaften Karriere macht. Gellner (1983) geht etwa davon aus, dass Nationalisten bloß fälschlicher Weise die Annahme einer alten einheitlichen Kultur vertreten würden. Tatsächlich würde erst dieser nichterkannte Irrtum in ungeplanter (und auf ironischer) Weise zu Bildung einer standardisierten »nationalen« Hochkultur führen; die allerdings in ihrem Aufbau von den ursprünglichen Phantasievorstellun­ gen der Nationalisten erheblich abweichen würde. Hobsbawm (1983) geht noch weiter. Er sieht »Nationen« bloß als »erfundene Traditionen«, die in in­ strumenteller Weise dafür benutzt werden würden, Herrschaft und Klassen­ struktur zu rechtfertigen. Anderson (2005) sieht »Nationen« überhaupt bloß als »vorgestellte Gemeinschaften« und als Produkt der Rezeption von mas­ senmedial verbreiteten Inhalten (wie Romane oder Tageszeitungen). Das Problem der Ansätze von Gellner und Anderson liegt vor allem da­ rin, dass sie weder zwischenstaatliche Konflikte ernst nehmen, noch dass sie innerstaatlichen Statuskämpfen eine große Bedeutung zuschreiben. »Nati­ onen« sind zwar vorgestellt, dennoch besteht in komplexen Gesellschaften nicht »die« eine Vorstellung, sondern eine Reihe unterschiedlicher nationa­ ler Wir-Bezüge. Hobsbawm wiederum schreibt zwar den antagonistischen Prozessen eine große Rolle zu. Dennoch betont dieser fast ausschließlich den ideologischen Charakter des Nationalismus. In Anlehnung an Mannheims Diktion lassen sich dagegen neben einem ideologischen und »seinsbestäti­ genden« Charakter auch ein »utopischer und seinsverändernder « erkennen (vgl. Mannheim 1995). Nationalistische Vereinigungen und der organisier­ te Nationalismus sind zumeist revolutionäre Strömungen, die die bestehen­ den Verhältnisse über den Haufen werfen wollen. Dementgegen setzen sich sowohl die »patriotische« staatliche Propaganda, wie auch die im Kontext stabiler politischer Ordnungen entwickelten »banalen« Wir-Bezüge; verglei­ che etwa Billigs (1995) »banaler Nationalismus«. Diese sind nämlich stärker diffus und Bestandteil der Alltagsroutinen und des Habitus der Bewohner in solchen politisch stabilen Nationalstaaten. Nationale Ideologien werden meist in den weniger reflektierten Etagen des praktischen Bewusstseins wahr­ genommen und in dementsprechender, relativ unreflektierter Form interna­ lisiert (vgl. Giddens 1988). Sie lassen tatsächlich die bestehende Ordnung als gegeben oder als natürlich erscheinen. Utopische nationale Wir-Bezüge be­



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sitzen dagegen nicht nur einen seinsverändernden Charakter, sie operieren auch als overt und reflexiv formulierte politische Dogmen und Programme. Teilweise gelingt es dem Symbolischen Interaktionismus und einigen konstruktivistischen und situationalistischen Ansätzen dieses Problem zu umgehen. In Anschluss an Frederic Barth (1969) weist etwa Eriksen auf das Wechselspiel gegenseitiger Zuschreibungen in Kontakt zwischen ethnisch Fremden hin. Dadurch würden die Definitionen von »Wir« und »Sie« einer steten Änderung unterzogen werden (vgl. Eriksen 1993). Identität (und da­ her auch die Vorstellung von »Nation«) sollen daher nicht als außerhalb sozi­ aler Beziehungen stehende Größen betrachtet werden. Sie wären keine qua­ si objektiven Erscheinungen. Anderenfalls bestünde tatsächlich die Gefahr ihrer Verdinglichung (vgl. Brubaker 1998; Malesevic 2013). Jenkins (2008) sieht Identitätsbildung als Produkt von Interaktionen. Diese führen bei den Beteiligten zu Annahmen über Gleichheit/Ähnlichkeit und Differenz zwi­ schen der Ich-Definition und einer Wir-Gruppe. Laut Wimmer (2008) wäre dies ein Vorgang der Ziehung symbolischer Grenzen (boundary drawing), der allerdings wieder rückgängig gemacht werden könne; symbolische Grenzen können verwischen oder verschwinden. Als Folge träte eine Re-Kategorisie­ rung der sozialen Welt ein und damit eine neue Zurechnung von Personen zu bestimmten Wir- oder Sie-Gruppen. Allerdings macht erst die historische Soziologie mit ihrer langfristigen Perspektive auf Prozesse der Staats- und Nationenbildung deutlich, dass sich unterschiedliche »national« gefärbte Wir-Bezüge entwickelten, die oftmals sogar in Konkurrenz zueinanderstehen. Je nach Berufsgruppe, Bildungs­ stand, Region, Alter oder Parteilichkeit und ihren Beziehungsformen zu anderen derartigen Statusgruppen formen sich unterschiedliche nationale Wir-Bezüge heraus, die in ihrer Vielfältigkeit zueinander nicht selten wider­ sprüchlich, inkonsistent oder unklar ausgestaltet sind. Ich schlage auf der Basis des bisher Gesagten vor, »Nationen« auch (aber nicht ausschließlich) als kommunikative Tools von Sprechakteuren in konkre­ ten figurativen Anordnungen zu verstehen, durch die Akteure versuchen, ein Gefühl der Gemeinschaft und Gemeinsamkeit zu erzeugen. »Nationen« sind freilich nicht die einzigen kommunikativen Gemeinschafts-Tools. Marx’ be­ rühmte Unterscheidung von »Klasse an sich« und »Klasse für sich« weist darauf hin, dass auch die Schaffung eines Klassenbewusstseins die Folge kommuni­ kativer Sprechakte von Aktivisten, Marxisten, Gewerkschafter oder sozialisti­ schen Politikern darstellen würde, mit dem Ziel Solidarität zwischen bislang gemeinschaftlich unverbundenen Individuen und Gruppierungen zu schaf­

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fen.1 Nicht ganz unähnlich ließe sich auch eine »Nation an sich« und eine »Nation für sich« unterscheiden.2 Primordialisten irren nämlich, wenn sie mei­ nen, dass geteilte Attribute, wie Sprache, Religion etc. bereits »an sich« einen verbindlichen Charakter besitzen würden. Erst die Aktivitäten dieser Natio­ nalisten, auch wenn deren Gemeinsamkeitsglaube manchmal auf fehlerhaften Annahmen beruhte, schuf eine »Nation für sich«. D.h., nationale Wir-Bezüge diffundieren erst allmählich ausgehend von den Idealen kleiner avantgardisti­ scher (und oft sektenhafter) Gruppen – von Nationalisten erster Stunde – in größere soziale Milieus. Hrochs (1968) Dreistufenmodell mag, wenn nicht für alle, so für bestimmte Fälle (z. B. Osteuropa) eine adäquate Beschreibung sol­ cher Muster der Ausbreitung (hier Nationalisierung genannt) darstellen. Die Gestaltung von »Nationen« als kommunikative GemeinschaftsTools hinsichtlich ihrer Wir-Bilder und Wir-Ideale stellt für den Erfolg der Ausbreitungsmission einen wichtigen Faktor dar. Eine zu enge Gestaltung, die zu wenige Gruppierungen umfasst oder zu spezifische Ziele formuliert, mag in einem kulturell heterogenen Umfeld als zu obskur erscheinen oder an den Interessen eines zu kleinen Sozialverbandes gebunden sein, als dass ein solcher Entwurf integrativ wirken würde. Solche Entwürfe sind zu stark mit dem Topos einer spezifischen »Kultur« aufgefüllt. Hierbei tritt das kom­ munikative Gemeinschafts-Tool »Nation« in direkte Konkurrenz zu anderen kommunikativen Gemeinschafts-Tools. Historisch erhielt zum Beispiel je­ nes von »Klasse« größere politische Bedeutung, indem einerseits Sozialisten einen »Klassenkampf« »nationalen« Interessen antagonistische gegenüberge­ stellten, weil man dachte, letztere wären bloß getarnte Ansprüche der Bour­ geoisie. Andererseits wurde aus bürgerlicher Sicht eine »Nation« im 19. Jahr­ hundert tatsächlich bloß als eine bürgerliche Gesellschaft aufgefasst, zu der Arbeiter keinen Zugang hätten (»Nation« als Klassen-Nation).

1 E. P. Thompson (1987) hat bereits darauf hingewiesen, dass der Begriff der »Arbeiter­ klasse« in der Wirklichkeit des 19. Jahrhunderts oftmals ganz unterschiedliche Realitä­ ten beschrieb. August Bebel (2004 [1910]) weist in seiner Autobiographie ebenfalls auf die Schwierigkeit hin, ein Gemeinschaftsgefühl zwischen damaligen Fabriksarbeitern und Handwerkern (Bebel war Drechsler), die mit Verachtung auf die minderwertig be­ trachteten Fabriksgüter blickten, zu finden. 2 Brubaker (1998) bestreitet zur Gänze das Vorhandensein einer »Nation an sich« und überhaupt die ontologische Existenz von Gruppen. Seiner Ansicht nach gäbe es nur ei­ nen »Gruppismus«, d. h., einen geteilten Glauben an die Existenz einer solchen Gruppe als »Nation«. Brubaker leugnet also jede Form von tatsächlicher Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung als Folge eines Gruppenglaubens.



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»Nationen« als erfolgreiche und integrativ wirkende GemeinschaftsTools, die also viele zu überzeugen wissen, besitzen stets einen gewissen Grad an Offenheit. Dabei kann das Ausmaß an »Entleerung« von kulturell spezifi­ schen Inhalten stark variieren. Solche Tools sind zwar immer noch Werkzeu­ ge der sozialen Schließung hinsichtlich bestimmter Minderheiten. Sie sind jedoch vor allem Symbole der Inklusion in Beziehung zu großen Bevölke­ rungsgruppen. Je »leerer« derartige kommunikative Gemeinschafts-Tools ge­ staltet werden, desto mehr Heterogenität kann darin aufgenommen werden. »Nationen« werden somit oft zum bloßen kleinsten gemeinsamen Vielfa­ chen einer pluralistischen Sozialrealität. Ab einen bestimmten Punkt des Grades an Entleerung setzt somit ein Ef­ fekt ein, der die Bindung an die »Nation« nicht mehr so sehr davon abhängig macht, sich als prinzipiell anders in Bezug auf eine signifikant andere Grup­ pe zu verstehen, sondern der Aspiration zu folgen, »besser« oder »erfolgrei­ cher« als andere »Nationen« und deren stereotypisierten Mitglieder zu sein; ein Vorgang, der an einer anderen Stelle als »leerer« Nationalismus beschrie­ ben wurde (vgl. Reicher 2013).

3. Nationalisierung und Wir-Krisen »Nationen« sind allerdings nicht nur kommunikative Gemeinschafts-Tools. Sie besitzen auch Aspekte der Vergesellschaftung und der Vergemeinschaf­ tung. Diese sind jedoch eher langfristig-historisch und ergeben sich erst all­ mählich aus dem Zusammenspiel der sozialen Kräfte; aus der Verstrickung und aus dem Zusammenprall der Interessen und sonstiger Handlungen in­ nerhalb einer bestimmten Menge von Individuen. Solche langfristig-historischen Vorgänge führen vor allem zur Herausbil­ dung von Institutionen. Rechtssysteme oder politische Ordnungen sind Fol­ gen solcher Verstrickungsmuster auf einer kollektiven Ebene. Im Kontext dieser Studie sind jedoch zwei weitere Effekte von Bedeu­ tung, einerseits der der »Entleerung« und andererseits der der »Füllung« nationaler Wir-Bezüge mit »Kultur«. Beide Effekte werden weiter un­ ten als Nationalisierung (Effekt 1) und als Wir-Krise (Effekt 2) diskutiert werden. Der erste Effekt führt jedenfalls zur »Entleerung« nationaler Wir-Bezüge. Dieser Effekt tritt nämlich tendenziell unter einer bestimmten Bedingung in

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Kraft: nämlich wenn nationale Wir-Bezüge, die in den Raum gestellt wer­ den, weitgehend auf Konsens stoßen. Unter dieser Konsens-Bedingung kann es in realita zu einem nicht-intendierten Vorgang allmählicher Gewöhnung und Habitualisierung kommen. Es kommt zu einer klammheimlichen Ak­ zeptanz verbindlicher Statusordnungen und national gefärbter Wir-Vorstel­ lungen. Dieser psychogenetische Vorgang der Gewöhnung inkludiert auch die Verinnerlichung internationaler Statushierarchien, die neben der eigenen auch Wir-Bezüge anderer sich »national« definierender Gruppen umfassen. Damit geht die Akzeptanz der Konkurrenz um gleiche symbolische Güter einher, die wiederum Nationalstaaten und deren Repräsentationsfiguren an­ einander in antagonistische, zwischenstaatliche Wettbewerbsgemeinschaften schmieden. Nur vor diesem Hintergrund erscheint internationaler Wettbe­ werb, zumindest in einer gebundenen Form, möglich. Fehlt eine derartige Leere, rückt die Vorstellung von kultureller Anders­ artigkeit und Einmaligkeit wieder in den Vordergrund. Dieser Vorgang re­ präsentiert den zweiten möglichen langfristigen Effekt. Tiefgreifende Kon­ flikte über Akzeptanz und Nichtakzeptanz bestimmter Wir-Vorstellungen innerhalb einer Gesellschaft können Diskurse und Debatten auslösen. Im Zuge solcher heißen Auseinandersetzungen »füllen« sich Wir-Bezüge mit ei­ nem Topos von »Kultur«. Es kommt zu einem psychogenetischen Vorgang der Enthabitualisierung. Debatten bringen Nations-Vorstellungen als kom­ munikative Gemeinschafts-Tools wieder zurück in die Öffentlichkeit, die auf Dissens innerhalb bedeutsamer sozialer Kreise stoßen. Nun tritt einerseits eine distinktive Differenzierung zwischen Statusgrup­ pen im inneren von Staatsgesellschaften zutage. Andererseits wird auch der Statuswettbewerbe nach außen torpediert. Etwa taucht unter dem Vorwand eines solchen »Kulturnationalismus« der Topos einer »ethnischen« oder »na­ tionalen« Würde auf, der es unmöglich machen würde, sich mit bestimm­ ten anderen wettbewerbsmäßig zu messen (da diesen eine solche spezifische Würde fehle). Wie bereits erkenntlich, ist die Bedeutung und der Modus von »Wirt­ schaftsnationalismus« stark an den Grad der Leere oder der kulturellen Fül­ lung gebunden. Das »Nationen« nicht ausschließlich als kommunikative GemeinschaftsTools begriffen werden können, wurde bereit von Jenkins (2008) hervorge­ hoben. Er verweist etwa auf den engen Zusammenhang zwischen Identität und Interessen. Demnach besitzen nationale Wir-Bezüge, die einen Ge­ meinsamkeitsglauben stiften, Konsequenzen für die Definition späterer In­



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teressen und damit für die Mobilisierung größerer Menschengruppen. An­ derseits fördern Interessenlagen spezifischer Eliten, wie Hobsbawm (1983) hervorhebt, die Diffusion von nationalen Wir-Bezügen, sodass Spezialinter­ essen mit den Prestige-Prätentionen größer Bevölkerungssegmente überlap­ pen (vgl. Weber 1980: 520ff.). Gerade im Bereich wirtschaftlicher Fragen überlappen sich ständig As­ pekte von Identität und Interesse. Das gilt sowohl für Fragen nach mehr oder weniger Freihandel, nach mehr oder weniger Sozialleistungen oder nach mehr oder weniger umwelt- und ressourcenschonenden Vorgehenswei­ sen. Eine Erweiterung oder Neuausrichtung von Wir-Bezügen führt stets zu einer Neuformulierung des Interesses. Die Identifizierung mit bestimmten Gruppen oder mit idealistischen Anliegen – oder umgekehrt die beharrliche Weigerung, die Anliegen solcher Verbände oder solcher Ideen zu den eige­ nen zu erklären – legt in einem hohen Ausmaß die strategische Ausgangslage eines jeden Akteurs fest. Somit bestimmt der Grad der Wirkung von kommunikativen Gemein­ schafts-Tools die Interessenlage und das solcherart motivierte Handeln. Al­ lerdings treten Rückkoppelungseffekte auf. Die geplanten oder nichtgeplan­ ten Folgen dieses Handelns können wiederum zu einer Neuausrichtung und Rekalibrierung von Wir-Bezügen und Identität führen. Auf jeden Fall können derartige kommunikative Gemeinschafts-Tools eine Reihe nicht-intendierter Konsequenzen mit sich zur Folge haben. Zwei solcher Effekte, auf die bereits weiter oben verwiesen wurde, sollen hier nä­ her beschrieben werden: Effekt 1 – Nationalisierung Prozesse der Staatenbildung vom 18. bis in das 20. Jahrhundert führten zur Integration immer weiterer Bevölkerungssegmente. Damit wandelten sich auch die vorherrschenden nationalen Wir-Bezüge. Der Begriff der »Nation« meinte im 18. und im 19. Jahrhundert vor allem Klassen-Nation. Im Fall von Polen, Ungarn oder England war das zunächst eine Adels-Nation, im Falle der Französischen Revolution oder von Deutschland und Italien die politi­ sche Gemeinschaft des Bürgertums. Emanuel Joseph Sieyès (1748–1836) deklarierte am Vorabend der Fran­ zösischen Revolution, dass der Dritte Stand »alles« sei und damit die »Nati­ on« ausmachen würde. In der Praxis bedeutete dies de facto eine Nation der »bürgerlichen Gesellschaft«. Schon aufgrund des Zensuswahlrechtes blieben

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Arbeiter, einfache Leute, die Landbevölkerung, aber auch Frauen und Kin­ der weitgehend aus diesem nationalen Wir-Bezug ausgeschlossen. Allerdings führte eine intensiver werdende politische Agitation von Seiten der Arbeiter­ bewegung und der Suffragetten Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhun­ derts dazu, dass die Idee der »Nation« auf immer mehr Personenkreise ausge­ weitet wurde. Eugen Weber (1976) zeigt in einer wegweisenden Studie, dass im ländlichen Frankreich erst am Vorabend des Ersten Weltkrieges oder im Zuge dieses Krieges ein französisches Nationalbewusstsein allgemeine Ver­ breitung fand. Der Prozess der Nationalisierung beschreibt daher die Ausbreitung und die Verinnerlichung von nationalen Wir-Bezügen. Dieser Prozess geht meist von einer kleinen Avantgarde aus und umfasst immer größere Teile der Be­ völkerung. Der Prozess der Nationalisierung beschreibt sowohl die psychi­ sche, soziale, wie auch die regionale Vertiefung eines nationalen Bewusst­ seins. In unterschiedlichen Staaten verlief dieser Prozess zeitlich, räumlich und im Grad der Intensität unterschiedlich. Allerdings nahm dieser in fast allen Fällen keinen linearen Verlauf ein. Er wurde meist durch »Wir-Krisen«, Phasen heftiger Auseinandersetzungen und Uneinigkeit über den gewünsch­ ten sozialen und räumlichen Umfang der »Nation« durchbrochen. Oft stand sogar zur Debatte, ob der Staat überhaupt ein »nationaler« sein sollte; etwa bei der »Nationalitätenfrage« in Österreich-Ungarn oder auch im gegenwär­ tigen Diskurs über das Verhältnis von Nationalstaat und EU. Dagegen können relativ stabile außen- und innenpolitische Figuratio­ nen unter bestimmten Bedingungen zu einer umfassenderen Integration unterschiedlicher Statusgruppen führen. Konsensgeleitete Vorstellungen rücken dabei stärker in den Vordergrund. »Nationen« als kommunikative Gemeinschafts-Tools tendieren in einer solchen Lage »leerer« zu werden. Die einst deutlich zu Tage getretenen Kontraste zwischen den Wir-Bezügen un­ terschiedlicher Statusgruppen werden allmählich nivelliert, Statusgrenzen verschwimmen. Hält dieser Zustand aufgrund politischer Stabilität lange genug an, be­ wirkt eine allmähliche Gewöhnung das Absinken von Wir-Bezügen in die noch konturloseren und »leereren« Formen des praktischen Bewusstseins (vgl. Giddens 1988). Nationale Wir-Bezüge werden zu Bestandteilen eines weit verbreiteten Habitus, der allerdings nicht mehr nur als Klassen-Habitus zu interpretieren ist, sondern als »nationaler« Habitus in Erscheinung tritt (vgl. Elias 1992; Kuzmics u. a. 2020). Die Vorstellung von »Nation« verwan­ delt sich dabei zu einer nicht mehr weiter problematisierten Größe.



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Derartige Prozesse der Verinnerlichung und der Habitualisierung spren­ gen allerdings den Blick situativer Ansätze. Die ersteren verweisen auf das Vorhandensein von präreflexiven Schemata der Wahrnehmung, Typisierung und Deutungsmuster als Bestandteil des alltäglichen Wissensvorrates. Situa­ tive Ansätze beziehen sich dagegen bloß auf reflexives Wissen und Definitio­ nen der »Situation«. Nationale Wir-Bezüge sind dabei nur strategisch einge­ setzte Kategorien in einem Prozess wechselseitigen »Ausverhandelns«. Effekt 2 – Nationale Wir-Krisen Soziale Schließung, starke Zuwanderung, Kriege, außenpolitische Krisen, die rasante Vertiefung der Globalisierung und wirtschaftlicher Niedergang können labiler werdende politische Ordnungen hervorrufen. Konsens wird dabei zu Dissens. Es kommt zu einer Relativierung des Modells des Natio­ nalstaates. Es entsteht Zweifel darüber, ob überhaupt der Nationalstaat eine Überlebenseinheit darstellt; bzw. besteht Unklarheit darüber, wer überhaupt diese Funktionen erfüllen soll. In einer solchen Situation formiert sich auf der einen Seite ein neuer »Nationalismus«. D.h., ein Teil der Bevölkerung wird auf Grundlage des To­ pos von »Kultur« darauf eingeschworen, die verlorengegangene »nationale« Ordnung wiederherzustellen. Auf der anderen Seite mobilisieren sich »antinationalistische« Kräfte und formulieren Gegenentwürfe. Derartige antagonistische Polarisierungen lassen die Bindungskraft rela­ tiv »leerer« Wir-Bezüge schwinden. Es kommt zu Dynamiken des Aufschau­ kelns. Identitäre Kategorien werden nun tatsächlich strategische Instrumente (wie situative Ansätze vermuten). Statusdistinktionen treten stärker hervor. Damit wird aber auch die Akzeptanz internationaler symbolischer Sta­ tusgüter und Statuswettbewerbe wieder relativiert. »Antinationalisten« und »Nationalisten« der unterschiedlichsten Spielarten initiieren unterschiedli­ che Identitätspolitiken, formulieren politische Dogmen, utopische Entwürfe und stark partikularistische Vorstellungen.

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4. Stabile und labile Machtbalancen: Ihr Zusammenhang mit Prozessen der Nationalisierung und nationaler Wir-Krisen Gemäß der oberen Ausführungen weisen staatsgesellschaftliche Wir-Grup­ pen äußere und innere Anordnungen auf. Ein solche Mehrebenen-Figurati­ on bringt sowohl labile als auch stabile Machtbalancen hervor. Innere und äußere Labilität und Stabilität sind dabei in der Realität meist eng verzahnt. In diesem Abschnitt soll dieses Verhältnis anhand eines Überblicks über drei Epochen (1919 bis 1939/45, 1945 bis ungefähr 1990 und seit 1990) im west­ europäischen Kontext besprochen werden. Die Zwischenkriegszeit wird da­ bei als eine Epoche der Wir-Krisen verstanden. Diese wurde abgelöst von einer stabilen Epoche der Nationalisierung während des Kalten Krieges; in dieser bilden sich auch diverse internationale Statussysteme. Eine dritte, da­ rauffolgende Epoche der vertiefenden Globalisierung, führt wiederum in ei­ nen labileren Zustand. Inwieweit dieser eine neuerliche nationale Wir-Krise zur Folge hat, bleibt vorläufig offen. a)

Innere Stabilität und Labilität

Stabile innenpolitische Ordnungen begünstigen die Ausweitung bürgerli­ cher, politischer und sozialer Rechte. Sie bewirkt nach Marshall (1950) »the great extension of the area of a common culture and a common experience«. Diese, sich ausweitende »gemeinsame Kultur« der Bürger eines modernen Nationalstaates umfasst daher auch Arbeiter und untere Schichten. Sie funk­ tioniert jedoch nach dieser Sicht bloß auf der Basis eines Wohlfahrtsstaates und einer staatlichen Umverteilungspolitik. Laut Marshall würde im Zu­ sammenspiel mit bereits erworbenen rechtsstaatlichen Errungenschaften und dem Wahlrecht dadurch derartige soziale Rechte ein höherer Grad an Sicherheit gewährleistet werden. Tatsächlich waren die Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg in West­ europa und in Nordamerika durch die Einführung bedeutender sozialpoli­ tischer Maßnahmen gekennzeichnet. Diese wurden vorwiegend »national« begründet. Beispiele sind die »Folkhemmet« in Schweden oder kriegswirt­ schaftliche Maßnahmen in anderen Ländern. Die hohen Vermögenssteuern der 1940er und 1950er Jahre gehen auf derartige kriegswirtschaftliche Not­ wendigkeiten zurück (vgl. Piketty 2014). In dieser Zeit wurden praktisch in allen westeuropäischen Ländern Teile der Verkehrsinfrastruktur, der Energie­



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gewinnung und der Schwerindustrie verstaatlicht. Ab ungefähr der zweiten Hälfte der 1950er Jahre erlebte die Wirtschaft dieser Länder einen bis dahin noch nie gesehenen Wirtschaftsaufschwung und einen Wohlstandsgewinn. Sozialwissenschaftler dieser Epoche sahen die Zukunft in einer »nivel­ lierten Mittelstandsgesellschaft«, ein Begriff der von Schelsky 1953 eher bei­ läufig geprägt wurde, der jedoch die bundesdeutsche Gesellschaft der Nach­ kriegsjahrzehnte wie kein anderer charakterisieren sollte (vgl. Münkler 2010: 215). Es würde zu einer »Verbürgerlichung des Proletariats« bei gleichzei­ tiger »Proletarisierung des Bürgertums« kommen. Dadurch besitzt »Klas­ sengeschmack« und das »kulturelle Kapital« der gehobenen Schichten nicht mehr dieselbe distinktive Funktion wie in den Jahrzehnten davor (Bourdieu publizierte zwar La Distinction 1979. Sein empirisches Material stammt al­ lerdings aus den 1960er Jahren und beschreibt eine Klassengesellschaft, die zum Zeitpunkt der Herausgabe der Studie gar nicht mehr in der ursprüngli­ chen Form bestand). In den 1960er und 1970er Jahren wurde in vielen west­ europäischen Ländern das Bildungssystem massiv ausgebaut. Neue Schulen und Hochschulen wurden errichtet, Gymnasien und Universitäten konn­ ten frei besucht werden und wurden von erheblich mehr Schülern und Stu­ denten belegt als in den Jahrzehnten davor (Bildungsexplosion). Traditio­ nelle Klassenkonflikte schienen eine abnehmende Bedeutung zu spielen, die feindlichen Lager der Zwischenkriegszeit fanden zu einem neuen Konsens und selbst das Konzept der »Klasse« schien anderen, wie dem von Milieu oder Lebensstil zu weichen. Trotz Ölschock und Krise der 1970er Jahre sah die Soziologie der 1980er Jahre eine neue Form von »horizontaler Schich­ tung«, einen »Fahrstuhleffekt« (Beck 1986) oder zumindest »postmaterialis­ tische« Einstellungen in der jüngeren Generation im Vorrücken (vgl. Ingle­ hart 1977). Die Zeitspanne der späten 1940er Jahre bis in die frühen 1990er Jahre stellt das Goldene Zeitalter des Nationalstaates in Westeuropa dar (vgl. auch Judt 2006). »Nation« als ein kommunikatives Gemeinschafts-Tool trat in veränderter Bedeutung in Erscheinung. Der »Nationalismus« dieser Zeit­ epoche in Westeuropa entspricht vor allem dem Prozess der Nationalisie­ rung. Er gleicht weder dem völkischen und faschistischen »Nationalismus« der Zwischenkriegszeit noch dem »Kulturnationalismus« des modernen po­ litischen »Populismus«. »Nation« im Goldenen Zeitalter des Nationalstaates wurde viel seltener, wie noch in der Zwischenkriegszeit zu einem politischen Kampfbegriff, der mit dem Topos der »Kultur« aufgeladen wurde. Dieser Begriff und diese Vor­

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stellung »entleerte« sich in diesen Jahrzehnten immer stärker von distink­ tiven Kulturaspekten. Der damalige Nationenbegriff drückte eher ein re­ lativ unproblematisch gewordenes Verhältnis vieler sozialer Gruppierungen zum Staat und seinen Symbolen aus. Das geteilte und militärisch besetzte Deutschland bildete in dieser Zeit eher die Ausnahme in Westeuropa, da hier erst, aus der Sicht einiger, durch die deutsche Einheit eine erhoffte »Norma­ lität« Einzug gehalten hat. Aber auch in Westdeutschland lassen sich in die­ ser Epoche des Kalten Krieges bereits Ansätze einer »entleerten« und relativ unproblematischen Praxis nationaler Wir-Bezüge beobachten, wie zumeist im Sport, etwa beim »Wunder von Bern« 1954 oder bei der Fußballwelt­ meisterschaft 1974. Im Großen und Ganzen war jedoch im Gegensatz zur Zwischenkriegs­ zeit oder den Epochen davor, nach 1945 in den anderen Ländern Westeu­ ropas, aber in gewisser Weise auch in Osteuropa und der Sowjetunion das Staatsmodell eines Nationalstaates relativ unumstritten. Es wurde sogar in der Form von »Nation building« auch in die neuen, entkolonialisierten Ge­ biete Afrikas und Asiens exportiert und war (bzw. ist heute noch) fester Be­ standteil der völkerrechtlichen Bestimmungen der Vereinten Nationen. Dagegen herrschte zwischen 1919 und 1939/45 kein derartiger Konsens über gesellschaftliche Ideale und Vorstellungen. Diese Zeit war eine Epoche großer sozialer Auseinandersetzungen und veritabler Wir-Krisen. In diesen Jahren wurde über die Art der Staatlichkeit, bzw. ob und wie »national« der Staat und seine Bürger sein sollten, feurig und gewaltsam gestritten. In die­ ser Epoche waren Begriffe wie »Nation«, »Volk« etc. zu politische Kampf­ begriffen umfunktioniert worden. Traditionelle Vorstellungen von »Wir« galten nicht mehr. Dabei stellt der »Kulturnationalismus«, die Stilisierung des Topos von »Kultur« als ausgrenzendes und utopisches Merkmal, eine Grundposition dar. Im Zuge von nationalen Wir-Krisen stehen solchen »kulturnationalistischen« Positionen andere nationale Wir-Bezüge oder so­ gar anti-nationale Bezüge gegenüber. Dabei ging es um Klassenkampf, um Vorstellungen einer konservativen oder faschistischen Staatsordnung; es ging um »Weltrevolution«, »Nation« oder »Rasse«. Nationale Wir-Bezüge spitzen sich zu völkischen oder rassischen Vorstellungen zu. Auf der anderen Seite standen anarchistische oder bolschewistische Ideale eines Klassenkampfes. Gemäßigtere Wir-Ideale, westlich-liberale Vorstellungen kamen in der Zwi­ schenkriegszeit in vielen Ländern Europas zunehmend in Bedrängnis.



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b) Äußere Stabilität und Labilität Stabile außenpolitische Ordnungen sind zunächst durch ein geopolitisches Machtgefüge gekennzeichnet, das organisierte Gewalt im großen Stil mög­ lichst unterbindet. Die Monopolisierung der Gewalt nach Innen, der Aus­ bau eines tragfähigen Steuersystems und schließlich auch die Einführung eines Wohlfahrtsstaates, einer staatlichen Umverteilungspolitik und einer staatlich kontrollierten Wirtschaft waren eng mit Krieg und zwischenstaatli­ cher Konkurrenz verbunden. Die Verleihung von Bürgerrechten und politi­ schen Rechten ging bereits im 19. Jahrhundert Hand in Hand mit der mili­ tärischen Notwendigkeit äußeren Konkurrenten zu widerstehen. Der Prozess der Nationenbildung ist somit auch international ausge­ richtet. Tilly (1990), McNeill (1982) oder Skocpol (1979) verweisen auf die geopolitischen Aspekte der inneren Nationalisierung. Tilly meint, dass die Konkurrenzsituation, die aus der militärischen Rivalität zwischen Territo­ rien, Stadtstaaten und dynastischen Reichen entsprungen ist, letztendlich zur Bildung von Nationalstaaten geführt habe. McNeill streicht zum Bei­ spiel die Notwendigkeit großer stehender Heere hervor, um in diesem Kon­ kurrenzgeflecht bestehen zu können. Derartige Armeen wurden in der Regel nur mehr auf Grundlage der allgemeinen Wehrpflicht möglich; zumindest seit der Schlacht von Valmy: »[…] die Kriege der Könige waren damit zu Ende gegangen, die Kriege der Völker begannen« (Marschall Foch). Elias (1995) sieht »innere« Prozesse der Monopolisierung der Gewalt und die Bil­ dung eines Steuermonopols mit der »äußeren« Rivalität und der Fähigkeit ein schlagkräftigeres Heer zu besitzen verbunden. Max Weber (1980) hat vor allem den Punkt eines internationalen Pres­ tigesystems für die Formierung nationaler Wir-Bezüge hervorgehoben. Für Weber (ebd.: 520ff.) war die Möglichkeit der militärischen und außenpoliti­ schen Dominanz einer Großmacht mit einer »Ehre der Macht« verbunden. Die Träger eines solchen »Machtprestiges« seien feudale Herrenschichten, aber auch moderne »Offiziers- und Amtsbürokratien«. »Große politische Ge­ meinschaften« würden viel eher als »potentielle Prätendenten« von Macht­ prestige in Erscheinung treten, weil sie eine Bedrohung für Nachbarstaa­ ten darstellen würden; z. B. in Form von Anwendung oder Androhung von Gewalt (»Alle politischen Gebilde sind Gewaltgebilde«). In diesem Sinne werden diese in eine »unvermeidliche Machtdynamik« mit Konkurrenten verstrickt (z. B. Frankreich und Deutschland um 1900). In kleinen, mili­ tärisch »neutralisierten« Staaten (Weber verweist auf die damalige Schweiz oder auf Norwegen) ist eine derartiges Machtprestige weniger möglich. Hier

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aber könne ein »Nationalgefühl« pathetisch mit Sitten oder ähnliche Kultur­ erscheinungen in Verbindung gebracht werden. Ein derartiges »Kulturpres­ tige« könne allerdings auch eng an ein »Machtprestige« gebunden sein, wie Weber in einer Notiz ausführt (vergl. ebd.: 242ff. und 530). Webers Dichotomie relativierte sich für die Staatenwelt nach dem Zwei­ ten Weltkrieg und der Auseinandersetzung zwischen den beiden Supermäch­ ten und ihren Blöcken. Im Zeitraum zwischen 1945 und 1990 verloren an­ dere Großmächte, das besiegte, besetze und geteilte Deutschland, aber auch die ehemaligen Kolonialreiche und Siegermächte des Zweiten Weltkrieges, England und Frankreich, ihren militärischen und außenpolitischen Bewe­ gungsspielraum. Sie wurden von Großmächten zu Mittelmächten redu­ ziert oder rutschten überhaupt in eine geopolitische Bedeutungslosigkeit ab. Gleichzeitig formte sich in Westeuropa der Wohlfahrtsstaat heraus und da­ mit wurden andere Überlebensfunktionen direkt verstaatlicht, während die militärische einer größeren Supermacht übertragen wurde. Gerade diese zu­ nächst aufgezwungene und später von den meisten gerne akzeptierte, pazi­ fizierte Version von »Nation« als ein kommunikatives Gemeinschafts-Tool trieb vielleicht besser als davor den Prozess der Nationalisierung voran. c)

Wir-Bezüge in wirtschaftlichen und kulturellen Wettbewerbsfeldern

Dieser Mix aus geopolitischer Neutralisierung durch die Supermächte und innerer Verstaatlichung brachte es mit sich, dass in Westeuropa internati­ onales Prestigedenken nicht mehr so sehr kriegerisch oder militärisch de­ finiert wurde. Wir-Bezüge verbanden sich dafür stärker mit den Feldern der Wirtschaft, der Kultur oder des Sports. Da durch die Blockbildung der »Sacro-Egoismus«, eine Politik des rücksichtslosen Nationalismus der Zwi­ schenkriegszeit, nicht mehr möglich war, wandelte sich auch die innere Aus­ richtung nationaler Wir-Bilder und Wir-Ideale. Die freiwillige oder unfrei­ willige Akzeptanz der neuen Weltordnung und ihrer Institutionen richtete die nationalen Politiken der einzelnen westeuropäischen Länder und ihrer je­ weiligen öffentlichen Meinung (großteils dominiert durch staatliche Rund­ funkanstalten) auch auf die neugeschaffenen friedlichen internationalen Sta­ tussysteme aus. Für Dani Rodrik (2011) stellen diese ersten Jahrzehnte nach dem Zwei­ ten Weltkrieg den Höhepunkt einer durch internationale Organisationen gesteuerten Form von Globalisierung dar. Neben den Vereinten Nationen, waren vor allem die Regelwerke des Breton Wood-Systems, die IWF und die



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Weltbank für die Entstehung eines einigermaßen gut austarierten Gleich­ gewichts zwischen Globalisierung, Demokratie und Nationalstaat verant­ wortlich. Der wirtschaftliche Wettbewerb zwischen Ländern wurde durch institutionelle Regeln kontrolliert und die negativen Folgen des grenzüber­ schreitenden Handels durch Sozialpolitik abgefedert. In einem etwas stärke­ ren Ausmaß wurde dasselbe durch die lose Form der europäischen Integra­ tion, durch die Römischen Verträge, die EG und die EFTA bewerkstelligt. Erst der Maastricher Vertrag führte zu einer ersten starken Vertiefung der europäischen Einigung und veränderte ihren Charakter nachhaltig; damit auch die Dynamik zwischen Nationalisierung und »Kulturnationalismus«. Aber auch in anderen Feldern formten sich in jenen Jahrzehnten robuste internationale Institutionen heraus, die Regeln von einem friedlichen Wett­ bewerb zwischen »Nationen« und die damit den Aufbau internationaler Status- und Prestigesysteme ermöglichen. Das beste Beispiel kommt dabei wahrscheinlich vom Sport. Zwar stammen einige internationale Sportorga­ nisationen und deren Wettbewerbsstrukturen bereits aus der Zeit vor 1939. Allerdings explodiert die Anzahl internationaler Sportverbände, Weltmeis­ terschaften, Europameisterschaften, Weltcups etc. erst in den Nachkriegs­ jahrzehnten. In Verbindung mit den neuen, ebenfalls boomenden  – und meist staatlich organisierten – Radio- und Fernsehanstalten wird »Nationen­ sport« zu einer wichtigen Projektionsfläche für die Ausbildung nationaler Wir-Bezüge. Jenseits von kriegerischen Idealen können auf dieser Projekti­ onsfläche auch die Verlierer des Krieges, die neuen Nationen und die gede­ mütigten ehemaligen Kolonialländer einen massentauglichen und akzeptab­ len »Nationalismus« praktizieren (vgl. Reicher 2013). Die innere und äußere Stabilität in den Nationalstaaten Westeuropas wurden allerdings nach dem Ende des Kalten Krieges erschüttert. Der Rück­ zug der Sowjetunion hat in Osteuropa zu neuen Nationalismen geführt, die teilweise in blutige Konflikte mündeten (wie in Jugoslawien, im Kaukasus oder der Ukraine) oder sie führte zu autoritären, bzw. semi-demokratischen Regimen (z. B. Russland, Weißrussland, Polen oder Ungarn). In Westeuro­ pa wurde zwar einerseits die europäische Vertiefung vorangetrieben. Ande­ rerseits führten die tiefer werdende Globalisierung und der massive Zustrom von Zuwanderern zu größer werdender kultureller und ethnischer Hetero­ genität. »Kultur« wird in solchen Situationen wieder stärker thematisiert. Außerdem mutierte das Verhältnis von tiefer Globalisierung, Demokratie und Nationalstaatlichkeit in ein »Trilemma«. In dem Ausmaß, in dem sich die geregelte Globalisierung der Nachkriegsjahrzehnte in die »tiefe« Globali­

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sierung der Zeit danach wandelte, traten schwerwiegende Widersprüche zur nationalstaatlich basierten Demokratie zutage (Rodrik 2011). Immer mehr Vereinbarungen des reglementierten Freihandels wurden gelockert. Im Lau­ fe der 1980er und 1990er Jahre wurden Schrittweise der internationale Ka­ pitalverkehr liberalisiert, Zölle wurden weitgehend eliminiert, multilatera­ le Handelsverträge abgeschlossen. Gleichzeitig wuchsen die Widerstände in Teilen der Bevölkerung gegen diese Politik. Es entstand der Eindruck, dass nicht mehr die Parlamente und gewählten Regierungen Entscheidungen im Einklang mit der Mehrheitsmeinung treffen. Stattdessen würden diese durch komplizierte Regeln umgangen werden. In dieser Situation der neuerlichen Relativierung der Nationalstaatlich­ keit gerät der Strom der Nationalisierung ins Stocken. Die Idee der »Nation« rutscht stärker ins diskursive Bewusstsein. Sie wird einerseits zu einem poli­ tischen Kampfbegriff des Rechtspopulismus. Auf der anderen Seite formiert sich ein neuer »Kosmopolitismus« in den höheren Bildungsschichten. Die­ ser rückt den »National«-Staat und die »Nation« zunehmend in ein »natio­ nalistisches« Licht. Die Vertiefung der Europäischen Union – und vielleicht sogar das Projekt der »Vereinigten Staaten von Europa« oder die »Republik Europa« – wird zur einzig moralisch akzeptierten Variante erklärt. Alles an­ dere wäre, aus dieser Sicht, eine Rückkehr zum »Nationalismus« (vgl. Me­ nasse 2012; Rössel/Schroedter 2015; vgl. auch die Diskussion bei Kraemer 2018: 294f.).

5. Was bedeutet »Wirtschaftsnationalismus«? Der Prozess der Nationalisierung und die nationalen Wir-Krisen verkörpern also zeitlich ungleichförmige Vorgänge. D. h., dominant ideologische und do­ minant utopische Diskurse folgen in verzahnter Weise, jedoch phasen- oder epochenartig versetzt. Sie sind asynchron hintereinander gereiht und »dialek­ tisch« oder irgendwie zyklisch aufeinander bezogen. Der Prozess der Natio­ nalisierung fördert allmähliche soziale Integrationen. Er ist ein stärker hin­ tergründiger Vorgang, der auf Routinisierung und Habitualisierung basiert. Dagegen führen Wir-Krisen zu bewusster kulturalistischer Identitätspolitik und einer Polarisierung. Während der Phase von nationalen Wir-Krisen wird der Begriff des »Nationalismus« zu einem Sammelbegriff, der eine selektive Auswahl von Wir-Bezügen umfasst, die als problematisch erachtet werden.



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Aus einer streng emischen Perspektive ist zu erkennen, dass »Wirtschafts­ nationalismus« auch einen Kampfbegriff darstellt. In erster Linie mutiert er heute zu einem Kampfbegriff des Wirtschaftsliberalismus, sofern er sich für die Überwindung nationaler Grenzen im Handel für Güter, Dienstleis­ tungen oder Finanzen einsetzt. Gegenwärtig etikettieren damit insbesondere Vertreter des WTO-gestützten Welthandelssystems und ihre diversen vertie­ fenden Abkommen bestimmte oppositionelle Politiken, die im Namen der »Nation« öffentlich in Erscheinung treten. a)

»Nation« als anti-liberales und utopisches Gemeinschafts-Tool

Aus historischer Sicht findet man eine Reihe von unterschiedlichen Stand­ punkten, die »national« argumentieren, um damit breite Unterstützung ge­ gen eine liberale Freihandelsdoktrin zu suchen. Diese reichen von Fichtes Utopien einer autarken nationalen Wirtschaft bis hin zu sozialistischen An­ sätzen; James weist darüber hinaus auf die enge Beziehung von Fichtes Der geschlossene Handelsstaat aus dem Jahr 1800 und den Utopien des Frühsozia­ listen François Noël Babeuf hin (vgl. James 2011: 45ff.). In dieses breite Spektrum fallen auch liberale Positionen, die dennoch protektionistisch argumentieren. Unter bestimmten Gegebenheiten (d. h. in Rahmen bestimmter geopolitischer Konstellationen) traten diese als Natio­ nalliberalismus in Erscheinung und befürworteten eine protektionistische Wirtschaftspolitik. Beispiele stellen etwa Deutschland oder die USA des 19. Jahrhunderts dar. Die Standpunkte Alexander Hamiltons oder Friedrich Lists waren »li­ beral«, insofern sie für den Aufbau eines einheitlichen Wirtschaftsgebietes innerhalb ihrer Staaten eintraten. Sie maßen auch dem Privateigentum und den Bürgerrechten große Bedeutung zu. Allerdings meinten diese beiden Ökonomen auch, dass Freihandel mit anderen Ländern erst möglich sei, nachdem die eigene Industrie und Wirtschaft ein konkurrenzfähiges Niveau erreicht hätte. Man müsse die amerikanische oder die deutsche Wirtschaft zunächst vor der überlegenen englischen protektionistisch schützen (vgl. Harlen 1999). Damit entfernte sich dieser Liberalismus von der Freihandelsdoktrin Smiths und von Ricardos Außenhandelslehre der komparativen Kostenvor­ teile, die zur selben Zeit in England die Position der Whigs darstellten. Diese Gruppe richtete sich gegen die Corn Laws, die 1846 allmählich abgeschafft

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wurden und polemisierte gegen den Standpunkt der konservativen Groß­ grundbesitzer (vgl. Hollander 1977; Schonhardt-Bailey 2006). Versucht man das Polemisieren um die Corn Laws im Rahmen des Mehr­ ebenen-Figurations-Modells zu verstehen, so wird klar, dass die Gentry und die Großgrundbesitzer einer Reihe von Gruppierungen gegenüberstanden, die in irgendeiner Weise vom Export profitierten. Allen voran waren dies Fabrikanten, die ihre Erzeugnisse aufgrund des technologischen Vorsprungs Englands als billige Massenwaren im Ausland absetzen konnten. Zu die­ ser Gruppe zählten aber auch Händler und aufsteigende städtische Mittel­ schichten, die sich zu einem Sammelbecken zusammenschlossen, aus der die liberale Partei hervorgehen sollte. Gestützt wurde diese Haltung durch die englische Kanonenboot-Politik, die durch eine überlegene Flotte Märkte in Asien und Afrika mit Gewalt öffnen und Handelswege schützen konnte. Man erkennt, dass eine Spaltung innerhalb der englischen Eliten in zwei wirtschaftspolitisch antagonistische Fraktionen zu Allianzen mit Vertretern unterer sozialer Schichten führte. Im Fall der Whigs kam es zu einem Bünd­ nis mit den Mittelschichten, im Fall der Gentry und den Torries entstand allmählich das Fundament einer konservativen und patrimonialen Sozialpo­ litik, die vor der Ausbeutung durch die Industriellen warnte; siehe etwa Dis­ raelis Protektionismus und sein Diktum von den »zwei Nationen«, Arbeiter und Begünstigte, die bedauerlicherweise in zwei Welten leben müssten und die Tory-Position des paternalistischen One-nation conservativism von etwa Chamberlain bis zum Aufstieg von Thatchers New Right. Ähnliches ließe sich auch Mitte des 20. Jahrhunderts über die »liberalen« Ökonomen John Maynard Keynes oder Harry Dexter White sagen. Diese Initiatoren der Bretton-Woods-Konferenz wollten zwar den internationalen Handel fördern, sie traten jedoch für strenge Kontrollen und Limitierungen ein. Zölle, Tarife und Quoten sollten durch Vertreter der jeweiligen Natio­ nalstaaten genau austariert und nur für die jeweiligen regionalen Bedürfnisse angepasst werden. Dieses System der geregelten Globalisierung beruhte al­ lerdings auf der amerikanischen geopolitischen Dominanz der ersten Nach­ kriegsjahre, deren Kinder die vielen neuen internationalen Institutionen wa­ ren, die unter anderem auch dazu dienten die europäischen Kolonialgebiete für amerikanische Handelsinteressen zu öffnen (vgl. Steil 2013). Nach dem Niedergang des Bretton-Wood-Systems (in den 1970er Jahren als Folge des Vietnamkrieges und der amerikanischen Verschuldung) und spätestens mit dem Übergang des GATT-Abkommens zu den neuen Ver­ einbarungen im Rahmen der WTO (seit 1994), bedeutet »Wirtschaftsnati­



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onalismus« die Anschuldigung, überhaupt Zölle einzuführen oder aufrecht erhalten zu wollen. Zölle wurden nun pauschal »Strafzölle« genannt. Es wur­ den gewisse Gesetze der »Antidiskriminierung« eingeführt, die auf ein Meist­ begünstigungsprinzips, Inländerbehandlung oder Kontingentverbote abziel­ te. Als »Nationalismus« galt nun jede Maßnahme, die dazu diente, diese »Diskriminierung« aufrechtzuerhalten oder wiedereinführen zu wollen. Das­ selbe gilt für die Gegnerschaft gegenüber multilateralen und völkerrechtlich bindenden Freihandels- und Investitionsschutzabkommen, wie etwa TTIP oder CETA, die im Fall Europas, sogar von der EU und nicht den Natio­ nalstaaten verhandelt werden, und die auch nichtstaatliche Gerichte zum Zweck der Schlichtung von Handelsstreitigkeiten vorsieht.3 »Wirtschaftsnationalismus« etikettiert aus einer extremen Freihandelspo­ sition heraus, alle Wir-Bezüge, die staatliche Souveränität einfordern und stempelt diese zu einem sozialen Problem ab. Theoretisch ist daher die Band­ breite »wirtschaftsnationalistischer« Positionen groß. Sie reicht von ExtremUtopien, wie Fantasien über nationale Autarkie der Wirtschaft bis hin zu den moderat liberalen Positionen einer gelenkten Globalisierung à la Bret­ ton Woods und GATT-Abkommen. Faktisch bezieht sie sich jedoch bloß auf letztere. Denn mit Ausnahme des nordkoreanischen Juche-Kommunismus (der gar nicht mehr in dieser Form existiert) und diverse, in die Defensive gedrängte antikapitalistische Positionen, bilden heute nur mehr die Gewerk­ schaften und die moderate Politik der gelenkten Globalisierung eine eini­ germaßen wirksame Gegnerschaft zur radikal-liberalen Freihandelsdoktrin. »Wirtschaftsnationalismus« ist also eine Form der Etikettierung. Dieser Begriff stellt seinerseits ein kommunikatives Tool dar, das dazu dienen soll, »anti-nationalistische« Kräfte aller Art für die eigene Sache zu mobilisieren. Unter dem Deckmantel, der »Nationalismus« könne wieder zurückkehren, erhoffen sich Freihandels-Apologeten in der gegenwärtigen Situation auch paradoxerweise von traditionellen linken, kapitalismuskritischen oder »kos­ mopolitischen« Lagern Zuspruch zu finden. Freihandel wird in diesem Sinn mit dem höheren Ziel der Bewahrung des Friedens und der Menschlich­ keit in Zusammenhang gebracht. Protektionismus, welcher Art auch im­ mer, wäre dagegen, so diese rhetorische Figur, der erste Weg in den Krieg. Bezogen auf den Ausbau der seit dem Maastrichter Vertrag verankerten vier 3 Im Grunde verfolgt jedoch auch China, trotz WTO-Mitgliedschaft, nach wie vor nach dem Vorbild Hamiltons und Lists eine protektionistische Politik, um im geschützten Nest die chinesische Wirtschaft unter Zuhilfenahme massiver Wirtschaftsspionage in einen Zustand der Konkurrenzfähigkeit zur bringen.

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Freiheiten wird unter Berücksichtigung des Arguments der Überwindung des »Wirtschaftsnationalismus« daher auch das Gesamtprojekt der Europä­ ischen Union in die Vergangenheit zurückprojiziert und als Friedensprojekt verkauft; obwohl in Wirklichkeit vor allem die Befriedung durch beide Su­ permächte und die atomare Bedrohung die europäischen Länder militärisch neutralisierten. Eine andere Argumentation behauptet, dass die allmähliche wirtschaftliche Integration automatisch die politische hinter sich herziehen würde. In Wirklichkeit umfasst das Angstbild mit dem Topos »der Weg zurück in den Nationalismus« bloß alle jene nationalstaatlichen Arrangements, die in den Nachkriegsjahrzehnten auf der Basis eines moderaten Protektionis­ mus, einer Einschränkung des freien Kapitalverkehrs und einer verstaat­ lichten Grundinfrastruktur den inneren Frieden in vielen westeuropäischen Ländern erst ermöglichte. Der Begriff des »Wirtschaftsnationalismus« ist jedoch selektiv. Er zielt bloß auf eine Reihe von »national« gefärbten Wirtschaftspolitiken ab, die die neoliberale Freihandelsordnung gefährden oder überwinden könnte. Um wieder an Mannheims Diktum anzuschließen, umfasst dieser Begriff also nur »utopische« Aspekte. »Wirtschaftsnationalismus« findet dagegen keine pragmatische Anwendung für die Menge aller »national« ausgelegten WirBezüge, die in irgendeiner Weise diese liberale Ordnung des Außenhandels zu stärken scheinen, bzw. diese nicht weiter problematisieren. b) »Nation« als ideologisches und pro-liberales kommunikatives Gemeinschafts-Tool Derartige pro-liberale Freihandel befürwortende »national« gestimmte WirBezüge gibt es bei genauerer Betrachtung in vielfältiger Weise. Diese sind »ideologischer« Natur, weil sie eben Kategorien darstellen, die im Rahmen der bestehenden Freihandelsordnung »national« gefärbte Wir-Gefühle, WirBilder und Wir-Ideale mit der wirtschaftlichen Performance national ausge­ legter Repräsentanten verbindet. Ein Blick in die tägliche Zeitung und in die täglichen Fernsehnachrich­ ten genügt, um eine Vielzahl derartiger – im Sinne Mannheims – »ideolo­ gischer« nationaler Wir-Bezüge zu erkennen. Ihre ideologischen Haltungen werden umso offensichtlicher, indem erkannt wird, dass sie die bestehende liberale Freihandels-Ordnung nicht weiter in Frage stellen. Solche Wir-Be­ züge werden in der Regel auch nicht weiter als Problem – nämlich als »Na­



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tionalismus« – etikettiert. Dieselben Journalisten, die vor dem »nationalisti­ schen« Schrecken des Protektionismus warnen, bedienen sich bedenkenlos nationaler Wir-Bezüge, wenn es darum geht, zu zeigen, wie »erfolgreich« oder wie »weit hinten« das eigene Land in Beziehung zu bestimmten wirt­ schaftspolitischen Maßnahmen sei. Man sieht bei diesem Blick in die tägliche Zeitung international verglei­ chende Tabellen mit der genauen Position des eigenen Landes und liest, wie dieses – ähnlich dem Sport – eine Position »aufgeholt« oder »verloren« hätte. Selbst über Bildungspolitik wird unter diesem wirtschaftsdogmatischen und national-ideologischen Topos des Erfolgs für das Land berichtet. Bei die­ ser Bildungspolitik geht es eigentlich immer nur um wirtschaftlichen »Er­ folg«. Mit Sorge verfolgen die Journalisten, dass die heimischen Kinder beim PISA-Test Plätze verloren hätten; diese Entwicklung könne der zukünftigen Wirtschaft schaden. Universitätsrankings, so zweifelhaft diese auch sein mö­ gen oder die Anzahl der Nobelpreisträger (allerdings nur für die Naturwis­ senschaften) gelten nach diesem Verständnis als Indikatoren für den Wohl­ stand der »Nation« oder zumindest als eine Frage des Standortwettbewerbs. »Wir«, »Nation«, »Österreich«, »Deutschland«, »Schweiz« oder ande­ re Bezeichnungen sind in diesem Kontext kommunikative GemeinschaftsTools, die weit genug entworfen wurden, »leer« genug sind, um die Adres­ saten von bestimmten wirtschaftspolitischen Maßnahmen zu überzeugen. Hier verbinden sich Spezialinteressen von Unternehmern mit einem breite­ ren national unterfütterten Prestigedenken, das als hilfreich erachtet wird, für Klientenpolitik Rückhalt zu finden. Der ideologische Charakter dieses »leeren« Wirtschaftsnationalismus (der allerdings von niemanden so genannt wird) problematisiert nicht weiter die in­ ternationale Ordnung mit ihren offenen Grenzen für Güter, Dienstleistungen und Kapital. Vielmehr wird diese Ordnung zu einem quasi natürlichen Spiel­ feld erklärt, in der Staaten, wie Fußballspieler (oder eher wie Einzelkämpfer) in Konkurrenz zueinanderstehen und gar nicht anders können. Wettbewerb zwischen Ländern wird als gegeben akzeptiert; der bestenfalls ein Wettbewerb zwischen Firmen und Konzernen ist. Weitergehend scheinen auch Details un­ ausgesprochen und unveränderlich zu sein. Etwa, die zu hohen Steuern, die Wettbewerbsnachteile mit sich bringen würden. Wirtschaftsstatistiken mit international vergleichenden Tabellen dienen zur Argumentationshilfe. Hier kann der Leser erkennen, ob das eigene Land wettbewerbsfähiger geworden ist oder nicht, ob es bei Inflation, Arbeitslosigkeit, Produktivität, BIP/Kopf, Gi­ ni-Koeffizient, Unternehmerfreundlichkeit, Innovation etc. Plätze gewonnen

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oder verloren hätte. Jede dieser Statistiken tritt, wieder ähnlich den Regeln der FIFA oder des IOC im Sport, als interessenslose, freischwebende und objek­ tive Darstellung der Realität den Rezipienten entgegen. Sie naturalisieren so­ mit bestimmte politische Anliegen. Der Glaube an eine solche Ordnung und gesellschaftliche Ziele, die sich an ihr blindlings orientieren, können als »lee­ rer« Wirtschaftsnationalismus bezeichnet werden, der der klassischen ökono­ mischen Abschottungspolitik gegenübersteht. Aus der selektiven Wahrnehmung der Gegner des sogenannten »Wirt­ schaftsnationalismus« erscheinen noch weitere Formen national gefärbter Wir-Beziehungen unproblematisch. Dabei handelt es sich um nationale Wir-Gefühle, wie Stolz, die aus werbetechnischen Gründen emotionale Bin­ dung zwischen Kunden und Produkten herstellen sollen. Etwa das Vertrau­ en aufgrund der Ausweisung der Regionalität des Produkts oder die Verbin­ dung dieses mit der Idee einer besonderen Qualität, die es von ausländischen Konkurrenten abheben sollte. Damit verbinden sich eben auch gewisse Stolz- und Prestigeansprüche mit den Siegeln wie »Made in Germany«. Das Konzept von »corporate nationalism« (Silk u. a. 2005) befasst sich mit der Bindungskraft nationaler Symbole im Kontext von Konsumentscheidungen, für die das nationale Branding wichtig sein kann und Quelle eines Natio­ nalstolzes darstellt. Diese Form von Prestige-Prätention funktioniert aller­ dings nur, wenn das Wissen darüber besteht, dass auch anderswo – unabhän­ gig vom Topos der »Kultur«  – derselbe Qualitätsgedanke vorherrscht und mit dem eigenen Land verbunden wird. D.h., Voraussetzung ist das Wissen über die Stereotype der Anderen über das eigene Land; etwa man weiß, dass »deutsche« Qualität auch von anderen geschätzt wird. Im Hintergrund verbirgt sich eine weit verbreitete ideologische Haltung, ein internalisiertes und zum Habitus gewordenes Weltbild, in dem natio­ nale Wir-Bezüge wie natürlich hergestellt werden können. Nicht nur die li­ berale Wettbewerbsordnung, auch die Teilung der Welt in Nationen wird dabei nicht weiter problematisiert. Nur unter diesen Voraussetzungen kön­ nen die oben genannten Indikatoren und die veröffentlichten Wirtschafts­ statistiken als Teil eines weltkulturellen Statussystems Gültigkeit erlangen. Dieses Streben nach dem Gleichen und die damit verbundenen Prestigeund Wir-Gefühle würden bei einer zu starken Relativierung der bestehen­ den Ordnung ihren Wert verlieren. Das Bild der »Nation« wird somit mit einem fiktiven oder teilweise auch real existierenden internationalen Status­ system verbunden, in dem erworbener Status mehr Bedeutung einnimmt als zugeschriebener.



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Die ideologische und »leere« Version eines »Wirtschaftsnationalismus« – bzw. ein national gefärbter Wir-Bezug, der mit internationalem PrestigeDenken und Statuswettbewerb verknüpft wird – bestimmt auch weitgehend, die aus ihr resultierenden strategischen Interessen von Akteuren. Nur unter Berücksichtigung der durch Habitualisierung erworbenen Wir-Bezüge, die nicht weiter hinterfragt werden, kann so manche Verschiebung strategischer Ausgangslagen verstanden werden. Nun erst – im Rahmen einer gegebenen und akzeptierten Wettbewerbsordnung und eines nicht weiter hinterfragten Prozesses der Nationalisierung – können partikulare Interessen als rationa­ le Formen des Handelns interpretiert und in einen »vernünftig« geglaubten Zusammenhang mit bestimmten Wir-Vorstellungen gebracht werden. Der­ selbe Vorgang würde in einem Zustand der tiefen Wir-Krise auf große Ab­ lehnung stoßen. Innerhalb eines solchen ideologischen Rahmens scheint es nämlich »ra­ tional« zu sein, international vergleichende Wirtschaftsstatistiken als Bewer­ tungsgrundlage für die Performance des eigenen Staates, seiner Institutionen und Wirtschaftsakteure heranzuziehen. Die Idee eines »nationalen Interes­ ses«, das mit einer solchen Wettbewerbs-Performance verknüpft wird, ent­ wickelt unter diesen Bedingungen eine gewisse Legitimations- und Über­ zeugungsmacht. Dasselbe gilt auch für Verbesserungen der Statusposition hinsichtlich aller möglicher statistisch gebildeter Rangreihenfolgen. Unter Akzeptanz dieses Rahmens stellt die »Nation« ein kommunikati­ ves Gemeinschafts-Tool dar, das hilft, im politischen Diskurs Überzeugung zu leisten, Ressourcen für einen solchen Wettbewerb zu mobilisieren. Mög­ liche soziale oder finanzielle Kosten erscheinen dabei als ein hinnehmbaren Kollateralschaden.

6. Fazit Diese Analyse legt nahe, dass eben auch »leere« Wir-Bezüge im Wirtschafts­ journalismus und der politischen Berichterstattung eine ernstzunehmende Größe darstellen. Diese publizistische Praxis zeugt somit indirekt davon, dass der Prozess der Nationalisierung immer noch Wirksamkeit besitzt. Der Nationalstaat ist eben doch kein Auslaufmodell der Geschichte, wie seine Gegner oft behaupten. Auch die neoliberalen und Pro-Freihandels-Kräfte sind darauf angewiesen, zumindest in einem gewissen minimalen Ausmaß

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»national« gefärbte Wir-Bezüge für die politische Kommunikation einzuset­ zen, um dadurch breitere Unterstützung erhalten zu können. Diese publizistisch »leeren« Wir-Bezüge weisen jedoch auch darauf hin, dass Nationalstaatlichkeit und die Legitimität einer liberalen Freihandels­ doktrin aus der Sicht vieler Journalisten und ihrer Leser problemlos mitein­ ander kombinierbar sind. Die Redaktionen der wichtigsten Zeitungen und Fernsehanstalten Westeuropas vertreten immer noch einen derartigen Kon­ sens; auch wenn die Kritik am »Neoliberalismus« durch Globalisierungsgeg­ ner unterschiedlicher politischer Spielart lauter geworden ist. Aber auch auf der Ebene der parlamentarischen Politik äußert sich kaum tragbare Gegner­ schaft zum Freihandelssystem á la WTO; bestenfalls ist eine solche zögerlich und widersprüchlich. Selbst die meisten rechtspopulistischen Parteien, die zwar eine Gegnerschaft zur EU und dem Euro formulieren, vertreten meist selbst eine liberale Wirtschaftspolitik. Die immer stärker in die Enge getrie­ benen Sozialdemokraten wissen ihrerseits nicht den Graben zwischen Natio­ nalstaat und EU, bzw. der vorherrschenden Freihandelsdoktrin überzeugend zu überwinden. Einige Interessengruppen malen den Teufel des »Wirtschaftsnationalis­ mus« an die Wand. In wieweit ein solcher überhaupt vorliegt, ist Gegenstand eines normativ durchwachsenen Diskurses, indem subjektive Positionen und Parteiungen aneinanderstoßen. Möglicherweise liegt bei Vertretern einer dieser subjektiven Positionen folgende Argumentationsstrategie vor: Dieses Schreckgespenst dient als geschickt inszeniertes ideologisches Instrument, um kapitalismuskritische Gruppierungen davon abzuhalten, der Versuchung nachzugeben, eine staatsintervenistische Wirtschaftspolitik zu verfolgen, die in irgendeiner Weise durch eine Wohlstandssteigerung des »Volkes« oder der »Nation« gerechtfertigt sein würde. Wer möchte schon ein »Nationalist« sein? Somit wird auch möglicherweise intendiert, jeden Versuch zu neutra­ lisieren, eine kontrollierte Form der Globalisierung mit vorgeschriebenen Handelskontingenten und beschränktem Kapitalverkehr mehrheitsfähig er­ scheinen zu lassen. Da das Konzept des »Nationalismus« sowohl Kampfbegriff ist, wie auch ein technisch-wissenschaftliches Instrument der Analyse darstellt, liegt ein gewisses Dilemma für die Forschung vor; ein Dilemma, das übrigens auch hinsichtlich einiger anderer Begriffe besteht. Ich meine, die Hauptaufgabe der Soziologie sollte nicht darin liegen, in solche normativ durchwachsene Diskurse parteiisch einzugreifen, sondern relational die streitenden Positio­ nen nachzuzeichnen und in ihrer Dynamik zu untersuchen. In solchen Fäl­



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len kann es problematisch sein, wenn die Forschung sich unreflektiert dem­ selben Begriff bedient, der vorbelastet bereits im Feld als Kampfbegriff im Einsatz ist. Hierbei ist Vorsicht geboten. Meiner Meinung nach kann eine prozess- oder figurationssoziologische Vorgangsweise einen Ausweg aus die­ sem Dilemma weisen. Praxisbegriffe – wie »Nationalismus« oder »Nation« – bergen jedoch in sich auch heuristische Möglichkeiten für die soziologische Analyse (man sollte daher solche Praxisbegriffe nicht analytisch eliminieren). Solche Mög­ lichkeiten können jedoch nur unter bestimmten Bedingungen zugänglich gemacht werden: Erstens müssen dafür subjektive Bedeutungen vorsichtig rekonstruiert werden. Welche strategischen Ziele, bzw. welchen Sichtweisen verbinden Ak­ teure mit kommunikativen Gemeinschafts-Tools wie »Nation« oder »Volk«? Zweitens müssen die Entstehungszusammenhänge und die kurz- bzw. historisch-langfristigen Wirkungszusammenhänge im Rahmen von sich stets verändernden Machtbalancen und Figurationen begriffen werden. Einer die­ ser Wirkungszusammenhänge kann darin bestehen, dass im Laufe der Zeit aufgrund von Gewöhnung »Nation« als kommunikatives GemeinschaftsTool in den Bereich des habitualisierten Praxisbewusstseins abrutscht. Die­ ses kann zur Ideologie werden. Im Zuge dieses psychogenetischen Vorgangs können die kulturellen Inhalte, die mit diesem Begriff verbunden wurden, »entleert« werden. In dieser »leeren« Form kann die Vorstellung von »Nati­ on« zu einem Wir-Bezug im Rahmen einer globalen Wettbewerbsordnung heranreifen. »Nationen« als kommunikative Gemeinschafts-Tools können anderer­ seits jedoch auch mit »Kultur« aufgeladen und mit utopischen Wir-Idealen verknüpft werden. Sie mutieren in dieser alternativen Form zu Instrumenten der Kritik an der bestehenden Freihandelsordnung. In dieser Form sind sie oft auch Bestandteile gravierender Wir-Krisen. Daher soll der zwiespältige, dialektische und wandelbare Charakter von nationalen Wir-Bezügen in der Forschung Berücksichtigung finden. Drittens muss systematisch reflektiert werden, dass die Forscher selbst Bestandteil dieser Strukturen und dieses Bedeutungsgewebes sind.

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Machtprestige und Wirtschafts­ nationalismus – Überlegungen zur symbolischen Ökonomie von Staatseliten1 Klaus Kraemer In der Soziologie ist »Gesellschaft« noch bis weit in die 1990er Jahre implizit als nationale Gesellschaft beschrieben worden. Die Gleichsetzung von Ge­ sellschaft mit einem nationalen Ordnungsrahmen wird seitdem hinterfragt und der zugrunde liegende »methodologische Nationalismus« zurückgewie­ sen (Beck 2000; Chernilo 2006; 2011). Mit den Begriffen »Globalisierung« (Robertson 1992; Steger 2017) und »Transnationalisierung« (Robinson 1998; Pries 1999) ist aufgezeigt worden, dass sich nationale Containergesellschaf­ ten ökonomisch, politisch und kulturell nach außen sukzessive geöffnet ha­ ben. Oftmals wird sogar angenommen, dass Prozesse der Transnationalisie­ rung zu einer Erosion nationalstaatlicher Ordnungen führen. Vor diesem Problemhintergrund möchte ich das Verhältnis von globaler Ökonomie und nationalen Staatseliten in den Mittelpunkt rücken und diskutieren, inwie­ fern mit der Öffnung nationaler Gesellschaftsordnungen die Akkumulation und Reproduktion des »Machtprestiges« (Max Weber) von Staatseliten suk­ zessive »ökonomisiert« worden ist. Im Einzelnen soll der Wandel der internationalen Prestigeordnung na­ tionaler Staatseliten an ausgewählten Beispielen erörtert werden. Hierbei ist zu problematisieren, inwiefern die symbolische Wertigkeit nationaler Staatseliten im internationalen Statuswettbewerb von der Position im glo­ balen Wettbewerb um Marktchancen, Kapitalinvestitionen, Staatsgläubi­ ger und Rankingplatzierungen abhängt. Zugleich soll diskutiert werden, welche Bedeutung internationale Markterfolge der nationalen Ökonomie bei der Zuschreibung von politischem Machtprestige haben. Zu prüfen ist, ob ein Zusammenhang zwischen den globalen Marktchancen nationa­ ler Wirtschaftsakteure und den Prestigeprätentionen nationaler Staatseliten aufgezeigt werden kann. Schließlich wird gefragt, welche Bedeutung dem 1 Ich danke Dieter Reicher, Max Haller, Sascha Münnich, Jakob Gasser, Roland Reich­ wein, Norbert Mappes-Niediek und Stephan Stetter für die Kommentierung einer frü­ heren Fassung sowie den Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Kolloquiums des Insti­ tuts für Soziologie der TU Berlin für die weiterführenden Anregungen.

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Machtprestige von Staatseliten beim Zugang zu Rohstoffquellen und Ab­ satzmärkten, bei der Anerkennung von Eigentumsrechten und Technolo­ giestandards und bei der Durchsetzung transnationaler Handelsabkommen zukommt. Abschließend ist die Frage aufzuwerfen, ob zwischen unterschied­ lichen Spielarten zur Akkumulation und Bestandssicherung von Macht­ prestige unterschieden werden kann und welche Bedeutung »ökonomischer Nationalismus« zukommt. Hierbei sollen die Überlegungen Max Webers zur Soziologie politischer Gemeinschaften, Heinrich Popitz’ Soziologie der Macht sowie Pierre Bourdieus Staatssoziologie fruchtbar gemacht werden, um das Verhältnis von Ökonomie und den Prestigeprätentionen nationaler Staatseliten genauer zu bestimmen.

1. Ökonomie – Politik – Transnationalisierung In den Sozialwissenschaften ist die Bestimmung des Verhältnisses von Po­ litik und Ökonomie ein schwieriges Unterfangen, zumal dann, wenn nicht nur die Binnenbeziehungen nationaler Ordnungen, sondern ebenso die Au­ ßenbeziehungen zu anderen nationalen Ordnungen untersucht werden sol­ len. Zwei klassische Annahmen können unterschieden werden, um das Ver­ hältnis von Politik und Ökonomie zu bestimmen: die These vom Primat der Ökonomie und jene vom Primat der Politik. Die These vom Primat der Ökonomie ist vielfach vertreten worden, auch von völlig entgegengesetz­ ten Ansätzen (vgl. im Überblick Hirschman 1982). So argumentierte etwa der klassische Freihandelsliberalismus seit John Stuart Mill und Montesqui­ eu, dass der wirtschaftliche Handel die bilateralen Beziehungen von Staa­ ten »zivilisieren« würde. Schumpeter, Hayek und die neoklassische Han­ delstheorie behaupteten ganz ähnlich, dass der moderne Kapitalismus auf zwischenstaatliche Beziehungen »antiimperialistisch« wirken würde. In so­ ziologischen Modernisierungstheorien (van der Loo/van Reijen 1992; Knöbl 2001: 155ff.; Wagner 2008) ist diese Erwartung funktionalistisch begründet worden. Grob vereinfachend lautete das Argument, dass Märkte und libera­ le politische Ordnungen eine pazifizierende Wirkung auf die internationalen Beziehungen ausüben würden. Die These vom Primat der Ökonomie findet sich ebenfalls in klassischen Imperialismustheorien seit Hobson (»Überakku­ mulationskrise«, 1902), Luxemburg (»Äußere Landnahme«, 1913) und Lenin (1917), allerdings mit gänzlich umgekehrtem Vorzeichen (vgl. im Überblick



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Callinicos 2009). In dieser Theorietradition stehen auch WeltsystemtheorieAnsätze (Wallerstein 2003) und Vertreter der neueren Globalen Politischen Ökonomie, die eine »kapitalistische Geopolitik« (Harvey 2003) diagnosti­ zieren. Sowohl in neoklassischen als auch in neomarxistischen Ansätzen wird ein Primat der Politik kategorial ausgeschlossen. Stets schimmert ein latenter oder manifester Ökonomismus durch, der zuweilen mit einer linear-gerich­ teten Evolutionsannahme kombiniert wird. Entweder es wird angenommen, dass transnationale Märkte die nationale und internationale politische Ord­ nung zähmen würden. Politische Akteure würden über kurz oder lang die Erwartungen »der Märkte« antizipieren. Oder sie müssten sich der »Logik der Kapitalakkumulation« unterordnen. Auch wenn neoklassische und neo­ marxistische Ansätze noch so disparat sein mögen, so besteht ihre Gemein­ samkeit doch in der Annahme eines Primats des Ökonomischen. In Abgrenzung zu Ansätzen die ein Primat der Ökonomie unterstellen, ist im Forschungsfeld der Internationalen Beziehungen die These vom Primat der Politik seit jeher fest verankert. Ungeachtet einer vorsichtigen interdiszi­ plinären Öffnung gegenüber den ökonomischen und historischen Wissen­ schaften sowie der Psychologie und Anthropologie ist dieses Forschungsfeld noch immer eine Domäne der Politikwissenschaft (Art/Jervis 2006; Dunne u. a. 2013; Baylis u. a. 2014). An dieser Stelle kann der politikwissenschaftli­ che Forschungsstand nicht detailliert gesichtet werden. Für die hier verfolgte Fragestellung nach dem Verhältnis von Ökonomie und Machtprestige ist le­ diglich festzuhalten, dass den vorherrschenden politikwissenschaftlichen An­ sätzen essentialistische und »neorealistische« Vorstellungen des Politischen zugrunde liegen. Genauer betrachtet werden  – vor allem auch in Anleh­ nung an sozialwissenschaftliche Rational Choice- und Spieltheorien – die zu untersuchenden Akteure, die die internationalen Beziehungen maßgeblich prägen, als nationalstaatliche Entitäten konzeptionalisiert. In einigen For­ schungsfeldern der Soziologie werden seit den 1990er Jahren die neorealisti­ schen Grundannahmen der Politikwissenschaft hinterfragt. Zu nennen sind insbesondere organisationssoziologische Ansätze, die Neue Politische Sozio­ logie, die Weltgesellschaftsforschung sowie die Historische Soziologie (vgl. Buzan/Little 2000; Hobden/Hobson 2002; Buzan 2004; Lawson/Shilliam 2010; Stetter 2013; 2017). Bemängelt wird etwa die einseitige Fokussierung auf Staatsakteure als Untersuchungsentitäten. Auch ist auf die soziale Kon­ struiertheit nationaler und globaler Politiken (global governance) und insti­ tutionalisierter Praktiken (world polity) durch nationalstaatliche und trans­ nationale Akteursgruppen bzw. Organisationen im Feld der internationalen

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Beziehungen hingewiesen worden. Zudem ist problematisiert worden, dass internationale politische Beziehungen immer schon in einen umfassenderen gesellschaftlichen Referenzrahmen eingebettet sind, wobei vor allem histo­ risch-soziologische, institutionelle und kulturelle Erklärungsfaktoren zu be­ rücksichtigen seien. Zwar gibt es bis dato noch kein breit etabliertes For­ schungsfeld einer Soziologie der internationalen Beziehungen. Allerdings liegen inzwischen zahlreiche theoriegeleitete und empirische Arbeiten vor, die für die in diesem Artikel verfolgte Fragestellung nach der symbolischen Ökonomie nationaler Staatseliten im Feld der internationalen Beziehungen fruchtbar gemacht werden können. So haben zahlreiche Autoren Bourdieus Feldtheorie, die dieser für die Analyse der französischen Gesellschaft ent­ worfen hatte, weiterentwickelt, um die widersprüchliche Herausbildung in­ ter- und transnationaler »fields of power« in Relation zu solchen sozialen Machtfeldern zu untersuchen, die weitgehend nationalstaatlich konstituiert sind (Adler-Nissen 2011; Bigo 2011; Bigo/Madsen 2011; Cohen 2018; Kauppi 2018; Sapiro 2018). Im Gegensatz zu den essentialistischen und neorealisti­ schen politikwissenschaftlichen Ansätzen sowie populären Annahmen über die »Globalisierung der Welt« analysieren diese Autoren transnationale Prak­ tiken und Rivalitäten unterschiedlichster professioneller Akteure und Exper­ tengruppen (Governance, Recht, Bürokratie, Sicherheit), um die ungleiche Akkumulation und Legitimation symbolischer Macht in sich herausbilden­ den trans- oder supranationalen »fields of power« zu untersuchen. Die poli­ tisch-institutionelle Entwicklung der Europäischen Union bietet hierbei ein willkommenes empirisches Untersuchungsfeld, um die Leistungsfähigkeit einer Theorie transnationaler Machtfelder zu erproben (Kauppi 2013; Ge­ orgakakis/Rowell 2013; Kauppi/Madsen 2013; Adler-Nissen 2013; Vaudez 2015). Die beiden, bipolar formulierten Primatthesen sind soziologisch nicht sonderlich weiterführend, um das Verhältnis von Ökonomie und Macht­ prestige im Feld der internationalen Beziehungen wenigstens annäherungs­ weise umreißen zu können. Anders verhält es sich bei den neueren Arbeiten zur Internationalen Politischen Soziologie, die auf eine elaboriertere Unter­ suchung inter- oder »transnationaler sozialer Felder« abzielen. Diese Arbeiten sind deswegen vielversprechender, weil symbolische Praktiken in den Mittel­ punkt der Analyse internationaler oder transnationaler Machtbeziehungen gerückt werden. Einen solchen Forschungsansatz, der in Weiterentwicklung der Bourdieu’schen Feldtheorie an Prozessen der symbolischen Ordnungsund Machtbildung interessiert ist, möchte ich aufgreifen. Allerdings soll die



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soziologische Aufmerksamkeit nicht auf symbolische Praktiken und Macht­ verhältnisse von Eliten oder professionellen Experten in transnationalen Fel­ dern gerichtet werden. Auch ist den allzu pauschalierenden Annahmen über die Erosion nationalstaatlicher Ordnungen mit Skepsis zu begegnen (vgl. ähnlich Bigo 2011; Sapiro 2018; Schneikert 2018), die im Forschungsfeld der neueren Internationalen Politischen Soziologie durchaus anzutreffen sind. Stattdessen soll die offene Frage diskutiert werden, unter welchen Bedingun­ gen die symbolischen Kapitalien nationaler Staatseliten abgewertet oder aufgewertet werden.2 Ohne die folgende Argumentation vorwegnehmen zu wollen, sind zum besseren Verständnis bereits an dieser Stelle zwei knappe Anmerkungen zu machen: Zum einen werden Prozesse der symbolischen Ab- und Aufwer­ tung von Staatseliten nicht nur in allgemeiner theoretischer Hinsicht skiz­ ziert, sondern diese Prozesse vor dem Hintergrund der Inter- bzw. Transna­ tionalisierung ökonomischer Ordnungen diskutiert. Und zum anderen wird zwischen einem »inneren« und einem »äußeren« Bezugsrahmen von sym­ bolischen Abwertungen und Aufwertungen unterschieden. Der innere Be­ zugsrahmen verweist auf die nationalstaatliche Prestigeordnung, der äuße­ re Bezugsrahmen auf die Prestigeordnung der internationalen Beziehungen. Dieser doppelte Bezugsrahmen wird es erforderlich machen, auch Wech­ selwirkungen zwischen nationalen und internationalen Statushierachien des politischen Feldes stärker zu berücksichtigen. Hierbei soll an die Überlegung von Bigo und Madsen (2011: 220) angeknüpft werden, dass »strategies of in­ ternationalization most often correspond with national social hierarchies to the extent that such strategies are aiming for revalorization of the capitals of a national but cosmopolitan elite as a way of reproducing itself«. Es soll also um die alles andere als einfach zu beantwortende Frage gehen, inwiefern sich die vielfach beschriebenen Prozesse der »Globalisierung« oder »Transnatio­ nalisierung« ökonomischer Ordnungen auf die inneren und äußeren Presti­ geaspirationen nationaler Staatseliten auswirken.

2 Zu den symbolischen Auf- und Abwertungsprozessen, denen nationale »Containerbe­ wohner« vor dem Hintergrund einer »transnationalen« Öffnung nationaler Gesellschaf­ ten ausgesetzt sind vgl. Kraemer (2018).

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2. Machtprestige und Staatseliten Ich gehe von der Grundüberlegung aus, dass politische Ordnungen sowohl in ihren Binnenbeziehungen als auch in den Außenbeziehungen zu anderen nationalen Ordnungen als Statusordnungen zu begreifen sind. Statushierar­ chien sind in der Soziologie kein neues Untersuchungsfeld. Seit jeher werden sie erforscht. Es ist keine sonderlich spektakuläre Erkenntnis, dass in mehr oder weniger allen sozialen Ordnungen hierarchisch gestaffelte Positionen der Über- und Unterordnung (Simmel 1991: 160ff.; Popitz 1992; Sofsky/ Paris 1991) anzutreffen sind. Positionen der Über- und Unterordnung ste­ hen in einem relationalen Verhältnis zueinander. Sie bieten ungleiche soziale Chancen beim Zugang zu begehrten allokativen und autoritativen Ressour­ cen (Giddens 1984: 28ff.) wie Reichtum, Wissen, Rängen und selektiven As­ soziationen (Netzwerken) (Kreckel 2004: 52ff.). Je nach positionaler Lage können Akteure diesen Ressourcen unterschiedliche Wertigkeiten sozial zu­ schreiben. Mit Blick auf die in diesem Beitrag verfolgte Problemstellung ist hervorzuheben, dass über- und untergeordnete Positionen immer auch mit symbolischen Zuschreibungen verbunden sind. Die Inhaber der Positionen können in abgestufter Form erwarten, differenziert nach Ausprägung der re­ lativen Über- bzw. Unterordnungslage, sozial wertgeschätzt oder missachtet zu werden. Die soziologische Schichtungsforschung hat empirisch gezeigt, dass Statushierarchien die relationalen Beziehungen zwischen Individu­ en und Gruppen, Ständen und Kasten, Klassen und Milieus, Geschlech­ tern und Ethnien, Etablierten und Außenseitern, Inländern und Ausländern, Bildungsträgern und Bildungsabgehängten usw. in unterschiedlicher Weise symbolisch prägen. Ein breites Forschungsfeld tut sich auf: »Statuspaniken« (Geiger 1930) und »Statusinkonsistenzen« (Merton 1995) sind breit unter­ sucht worden, auch Statusaufstiege und Statusabstiege, etwa in Arbeitsmärk­ ten und Wohlfahrtssystemen (vgl. Kraemer 2010). In eigentlich allen Fel­ dern oder »Subsystemen« können Statusordnungen aufgespürt werden. Um ein Beispiel herauszugreifen: Die neuere wirtschaftssoziologische Forschung hat aufzeigen können, dass Märkte durch vielfältige »Statussignale« (Podolny 1993; Aspers 2008) sozial strukturiert werden. Seit jeher untersucht die Soziologie Statushierarchien und Statuszu­ schreibungen. Es fällt allerdings auf, dass superiore und inferiore Statusposi­ tionen innerhalb von nationalen politischen Ordnungen, also im politischen System selbst, kaum erforscht worden sind. Erst recht sind statusbezogene Über- und Unterordnungen im Feld der internationalen politischen Bezie­



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hungen, also zwischen Nationalstaaten, kaum untersucht worden. Auch ist die Frage unbeachtet geblieben, inwiefern sich Prozesse der Transnationali­ sierung oder Globalisierung auf Statusordnungen zwischen Nationalstaaten auswirken. Um in einer ersten theoretischen Annäherung die Statuslage po­ litischer Ordnungen abschätzen zu können, möchte ich Max Weber, Pierre Bourdieu und Heinrich Popitz fruchtbar machen. Weber ist ein zentraler Ankerautor, wenn ein nichtreduktionistischer Zu­ gang zur Statusrelevanz politischer Ordnungen erschlossen werden soll. In der Abhandlung »Politische Gemeinschaften« von Wirtschaft und Gesellschaft argumentiert Weber (alle Zitate 1980: 520), nicht zuletzt vor dem zeithisto­ rischen Erfahrungshintergrund der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, dass politische Ordnungen zunächst nichts als »Gewaltgebilde« seien. Diese würden sich allerdings nach »Art und Maß der Anwendung oder Androhung von Gewalt nach außen« unterscheiden. Für Weber können politische Gebil­ de nach außen – wie etwa die »neutralisierte[s]« Schweiz – »autonomistisch« oder – wie Großmächte – »expansiv« ausgerichtet sein. Des Weiteren postu­ liert Weber (ebd.: 514ff.), dass die Expansion großer politischer Ordnungen nach außen oftmals nicht primär ökonomisch motiviert sei. Schließlich seien sie mehr als »bloße Wirtschaftsgemeinschaft[en]«. Allerdings könne die Art der nach außen gerichteten Expansion durchaus wirtschaftsbedingt sein. We­ ber unterscheidet sodann zwischen »pazifistischen« und »imperialistischen« Wirtschaftsinteressen und benennt drei Akteursgruppen, um die wirtschaft­ liche Bedingtheit expansiver Bestrebungen zu plausibilisieren: Staatslieferan­ ten (Rüstungsindustrie), Staatsgläubiger (Finanzwirtschaft) und die Export­ industrie. Alle drei Akteursgruppen sind nach Weber an der Erschließung oder Erweiterung von Marktchancen interessiert. Gleichwohl wäre es kurz­ schlüssig, die wirtschaftliche Bedingtheit der nach außen gerichteten expan­ siven Bestrebungen politischer Ordnungen ökonomistisch zu deuten. Am Beispiel Frankreichs und Deutschlands vor dem Ersten Weltkrieg zeigt We­ ber, dass die Macht politischer Gebilde nach innen und außen in besonderer Weise von »Prestige-Prätentionen« abhängt, die die politischen Außenbezie­ hungen in »irrationaler« Weise prägen würden (ebd.: 520f.). Weber spricht in diesem Zusammenhang auch vom »ideellen Pathos des Macht-Prestiges«. Sodann unterscheidet er zwischen dem »Macht-« und »Kulturprestige« einer politischen Ordnung. Machtprestige sei kaum mehr als das »nackte Presti­ ge der Macht«. Zum Begriff »Kulturprestige« finden sich bei Weber (ebd.: 530) allerdings keine weiterführenden Erläuterungen. Offensichtlich soll da­ mit zum Ausdruck gebracht werden, dass »nationale« kulturelle Praktiken,

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Weltbilder oder Ideologien, sofern sie erfolgreich »exportiert« werden, die Prestigechancen einer politischen Gemeinschaft verbessern können. Beide Formen des Prestiges, Macht- und Kulturprestige, sind für Weber eng mit­ einander verwoben.3 Darüber hinaus betont Weber, dass Prestigeprätentio­ nen innerhalb einer politischen Gemeinschaft nicht frei zirkulieren, sondern an spezifische soziale Trägergruppen gebunden sind. Mit der Größe der po­ litischen Gemeinschaft würden die Prestigechancen der Trägergruppen stei­ gen. Webers Ausführungen zur Prestigeordnung politischer Gemeinschaften sind unabgeschlossen geblieben. Es finden sich in seinem Werk keine weiter­ führenden Überlegungen. Für die hier verfolgte Fragestellung sollen Webers Überlegungen fruchtbar gemacht werden, ohne allerdings die zeithistorisch bedingte Ausgangsprämisse, politische Ordnungen seien nichts als schiere Gewaltordnungen, übernehmen zu wollen. Zunächst ist davon auszugehen, dass die politische Ordnung eines Nati­ onalstaats eine symbolische Machtordnung ist, in der die dort gültige Wäh­ rung, mit Weber gesprochen, »Machtprestige«, von den Trägergruppen ak­ kumuliert und reproduziert wird. Die Trägergruppen des Machtprestige sind die Repräsentationen der staatlichen Ordnung, kurz: die Staatseliten.4 Die Prestigeprätentionen der Staatseliten sind allerdings kaum mehr als symbo­ lische Geltungsansprüche, die nicht unumstritten sein müssen. Sie müssen sich bewähren. Dies gilt ganz besonders in außeralltäglichen Krisenzeiten, in denen die Legitimität der staatlichen Ordnung grundsätzlich in Zweifel 3 »Kulturprestige« im Weber’schen Sinne wird akkumuliert, sobald »national« eingefärb­ te Praktiken der Hoch- und Popularkultur (z. B. Musik, Mode, Pizza&Pasta, Fastfood, Sushi) global nachgeahmt werden. Das gilt ebenso für weltweit diffundierende Narrati­ ve wie »Individualismus« oder »Kosmopolitismus«. Billig (1995: 11) bemerkt zutreffend, dass die Ausbreitung einer »global culture« auch eine »national dimension« hat. 4 Für Weber (1980: 520) sind die primären Träger von Machtprestige »moderne Offiziersoder Amtsbürokratien«. Über Weber hinaus werden unter dem Begriff »Staatselite« im Folgenden die Funktionseliten in Exekutive, Legislative und Judikative zusammenge­ fasst, die die Produktion bzw. Reproduktion der staatlichen Ordnung in institutionel­ ler und symbolischer Hinsicht zu gewährleisten versuchen. Staatseliten bilden allerdings keine geschlossene Einheit. Genauer betrachtet setzen sie sich aus »regierenden« und »oppositionellen« politischen Fraktionen bzw. Gruppierungen sowie unterschiedlichen Professionen und Expertengruppen zusammen, die vielfältige Konflikte um die institu­ tionelle Ausgestaltung und symbolische Ausdeutung der staatlichen Ordnung austra­ gen. Vgl. auch Bourdieus Überlegungen zum Staat als »Zentralbank des symbolischen Kapitals« (2014: 381) oder »Meta-Feld« (vgl. ebd.: 347), in dem soziale Kämpfe um legi­ time relationale Positionen der verschiedenen ökonomischen, politischen, wissenschaft­ lichen, intellektuellen usw. »Felder« zueinander ausgefochten werden. Auf die Probleme der Staatssoziologie Bourdieus wird sukzessive weiter unten eingegangen.



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gezogen werden kann. Normalerweise sind Prestigeprätentionen allerdings nur in außeralltäglichen Situationen echten Bewährungsproben ausgesetzt. In normalen Zeiten werden sie durch etwas stabilisiert, das Heinrich Popitz in Phänomene der Macht (1992: 221ff.) als den »Ordnungswert der Ord­ nung« eindrücklich beschrieben hat. Popitz hat den Begriff des »Ordnungs­ werts« nicht verwendet, um die Legitimationsgeltung politischer Ordnun­ gen zu untersuchen. Gleichwohl bietet sich der Begriff für unsere Zwecke an. Nach Popitz ist der »Ordnungswert« einer Ordnung eine maßgebliche Quelle für ihre »Basislegitimität«. Der Ordnungswert ist hoch, wenn die in­ ferioren Mitglieder einer Ordnung erwarten, dass diese selbst ihren Bestand aufrechterhalten kann; bzw. solange die Ordnung als eine Ordnung wahrge­ nommen wird, die mehr oder weniger erfolgreich »funktioniert«. Die Erwar­ tungsgewissheit in ein reibungsarmes Funktionieren einer Ordnung, muss jedoch, so Popitz, durch kulturell anerkannte Narrative oder »Legenden« wie Staatsbürgergleichheit, Chancen- und Leistungsgerechtigkeit unterfüt­ tert werden. Solange solche Narrative oder Legenden sozial breit akzeptiert würden, erscheine jede alternativ denkbare Ordnung als folgenlose Utopie. Ein typisches Beispiel für solche Legenden im Popitz’schen Sinne sind die Zukunftsversprechungen des »Neoliberalismus« der letzten 40 Jahre, die eine bestehende Ordnung solange legitimieren, wie sie mehr oder weniger als al­ ternativlose Erzählung akzeptiert werden (zur »promissory legitimacy« vgl. Beckert 2019). Zudem wird der Ordnungswert einer Ordnung durch etwas untermau­ ert, was Popitz (1992: 225) als »Investitionswert« bezeichnet. Der Investi­ tionswert einer bestehenden Ordnung besteht darin, dass seine inferioren Mitglieder, also die »Leute« (Vobruba 2009), glauben, dass ihre Bereitschaft zu ordnungskonformen Handlungen, ungeachtet aller Enttäuschungen und Ungleichheiten, unter dem Strich doch honoriert wird. Mit den Worten von Popitz (1992: 223) stiftet eine Ordnung immer dann »Ordnungssicherheit«, sobald die Beteiligten »ein sicheres Wissen haben, was sie und was andere tun dürfen und tun müssen; wenn sie eine Gewißheit entwickeln können, daß sich alle Beteiligten mit einiger Zuverläßigkeit auch wirklich so verhal­ ten, wie es von ihnen erwartet wird; wenn sie damit rechnen können, daß Übertretungen in aller Regel bestraft werden; wenn sie voraussehen kön­ nen, was man tun muß, um Vorteile zu erringen, Anerkennung zu finden. Man muß mit einem Wort wissen, woran man ist.« Selbst in Krisenzeiten bewährt sich ein solcher Ordnungswert, solange jedenfalls, um zu unserem Anwendungsfall zurückzukommen, die zentralen Leistungsfunktionen einer

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staatlichen Ordnung wie ein bestimmtes Maß an Sicherheit, Wohlfahrt und Teilhabe aufrechterhalten und allgemein gültige Gerechtigkeitserwartungen nicht fortlaufend enttäuscht werden. Man kann also schlussfolgern: Je grö­ ßer der (wahrgenommene) Ordnungswert einer staatlichen Ordnung ist, desto wahrscheinlich ist auch, dass die Prestigeprätentionen von Staatseliten nicht ins Leere laufen. Dementsprechend wäre auch zu vermuten, dass sich das Machtprestige von Staatseliten solange behaupten kann wie der (wahr­ genommene) Investitionswert der Ordnung nicht dauerhaft entwertet wird. Der Ordnungswert im Popitz’schen Sinne ist eine notwendige, aller­ dings keine hinreichende Bedingung für ihre Legitimationsgeltung staatli­ cher Ordnungen. Neben dem Ordnungswert bedarf eine staatliche Ordnung eine weitere Stütze der Legitimation, die Weber in der Abhandlung »Politi­ sche Gemeinschaften« (1980: 528) als »Staats-Idee« bezeichnet. Es ist wohl keine spekulative Annahme, wenn man davon ausgeht, dass eine Staatsidee unter den Trägern von Machtprestige, den Staatseliten, eine große Wert­ schätzung besitzt. Sie ist gewissermaßen eine ideelle Form der Selbstlegiti­ mation. In Zeiten, in denen der Ordnungs- und Investitionswert einer staat­ lichen Ordnung auf die Probe gestellt wird oder sogar in eine Bestandskrise schlittert, können sich Staatseliten rasch genötigt sehen, ihr Agieren gegen­ über dem Staatspublikum zu rechtfertigen. Eine verbreitete Form der Selbst­ legitimation ist es, dass eigene Agieren mit dem etatistischen Orientierungsund Handlungsprinzip der »Staatsräson« (national interest, raison d’État) zu rechtfertigen. Dieses Prinzip schöpft seine soziale Geltung daraus, dass es als etwas dargestellt wird, das allen anderen »partikularen« materiellen und ide­ ellen Interessen absieht. Eine Staatsidee ist eine Elitenidee, die als »gedachte Ordnung« (vgl. Lep­ sius 2009: 232ff.) das Handeln von Staatseliten selbstlegitimieren, mit an­ deren Worten Legitimationsgewissheit erzeugen soll. Wie mit Popitz gezeigt werden kann, muss sich eine Ordnungsidee allerdings institutionell und kul­ turell rechtfertigen. Ansonsten laufen die Trägergruppen von Machtprestige Gefahr, allgemeine soziale Geltungsansprüche zu gefährden. Institutionell gerechtfertigt wird eine solche Ordnungsidee etwa durch die Gewährung von Eigentums- und Positionsvorteilen für mehr oder weniger privilegierte Klassen, Professionen, Gruppen usw. Diese Vorteile können groß oder klein sein. Die »kleinen Vorteile« verweisen auf den von Popitz (1992: 225) be­ schriebenen Investitionswert einer sozialen Ordnung. Darüber hinaus wird eine gedachte Ordnungsidee durch »Unterlegenheitslegenden« (ebd.: 271) kulturell gerechtfertigt, aber auch durch Narrative, die die Gleichheit aller



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Staatsbürger, Chancengerechtigkeit oder Leistungsgerechtigkeit beschwö­ ren. Solche Narrative lassen jede alternativ gedachte politische Ordnung als fiktiv erscheinen, worauf Popitz hingewiesen hat. Ein weiterer Aspekt muss hinzukommen, den Weber beschrieben hat. Eine Staatsidee kann beim Staatspublikum erst dann soziale Geltung für sich reklamieren, wenn diese durch den »Glauben an den Bestand einer ›na­ tionalen‹ Gemeinsamkeit« (Weber 1980: 242) kulturell verankert ist. Mi­ chael Billig (1995) hat an vielen Beispielen gezeigt, dass ein nationaler, kul­ turell verankerter Gemeinsamkeitsglaube in den alltäglichsten Praktiken und Ereignissen in »banaler« Form aufscheinen kann (Wetterkarte, Ver­ kehrsbericht, Sportereignis, Biennale, Eurovision Song Contest) (vgl. Rei­ cher 2011). Empirisch kommt es allerdings von Fall zu Fall darauf an, ob ein nationaler Gemeinsamkeitsglaube auch vom Staatspublikum, also von den Staatsbürgern, vorbehaltlos geteilt wird. Wie schon Weber (alle Zitate 1980: 529) gezeigt hat, ist eher davon auszugehen, dass unter den Mitgliedern ei­ ner politischen Gemeinschaft der Glaube an die »Idee der ›Nation‹« sowie die spezifischen Glaubensgründe höchst verschieden ausgeprägt sein kön­ nen. Wahrscheinlicher als ein uniformes Glaubensbekenntnis ist eher eine Stufenfolge, die, wie Weber schreibt, von »emphatischer Bejahung« des na­ tionalen Gemeinsamkeitsglaubens über indifferente, »unerweckte« Haltun­ gen bis hin zu emphatischer Ablehnung »bei den sozialen Schichten auch innerhalb der einzelnen Gruppe« reichen kann. Zudem kann nach Weber die »Intensität« des nationalen »Solidaritätsgefühls« sehr verschieden aus­ geprägt und wandelbar sein (vgl. auch ebd.: 242). Folgt man Webers Ar­ gument, dann kann überdies aus der rechtlichen Zugehörigkeit zu einer politischen Gemeinschaft (Staatsbürgerschaft) kein kausal einheitliches Ge­ meinsamkeitshandeln abgeleitet werden. Nationale Zugehörigkeit basiert nach Weber (ebd.: 234ff.) auch nicht zwingend auf der Gemeinsamkeit einer Sprach- oder Konfessionszugehörigkeit, Erinnerungs- oder Blutsge­ meinschaft. Obendrein ist schon für Weber historisch kontingent gewesen, ob aus einem nationalen Gemeinsamkeitsglauben gemeinsam praktizierte kulturelle Konventionen (»Sitten«) abgeleitet werden können. In Abgren­ zung zum Primordialismus und in Vorwegnahme der modernen konstruk­ tivistischen Nationalismusforschung (zum Forschungsstand vgl. Eriksen 1993; Smith 2001; Salzborn 2011; zu Weber vgl. neuerdings Tada 2018) schlussfolgerte bereits Weber (1980: 529): »Das ›Nationalgefühl‹ […] funk­ tioniert nicht gleichartig.« Allerdings räumte Weber (alle Zitate ebd.: 530) ein, dass die Anhänger des nationalen Gemeinsamkeitsglaubens in »sehr in­

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timen Beziehungen« zu den »›Prestige‹-Interessen« der Staatseliten stehen. Der nationale Gemeinsamkeitsglaube werde durch die Vorstellung der »Ue­ berlegenheit oder doch die Unersetzlichkeit der nur kraft der Pflege der Ei­ genart zu bewahrenden und zu entwickelnden ›Kulturgüter‹« unterfüttert. »Kulturträger« wie etwa Intellektuelle seien, so Weber, dazu besonders »prä­ destiniert […], die ›nationale‹ Idee zu propagieren«.5 Pierre Bourdieu hat in den posthum veröffentlichten Vorlesungen Über den Staat (2014; vgl. O’Neill 2019) Webers Überlegungen zur Soziologie po­ litischer Gemeinschaften zwar nicht systematisch aufgegriffen. Allerdings schließt er explizit an Webers herrschaftssoziologische Charakterisierung des modernen Staates an, der die legitime physische Gewaltsamkeit nach innen und außen monopolisiert. Über Webers zeithistorische Einengung politi­ scher Gemeinschaften auf die Gewaltdimension hinaus gehend argumen­ tiert Bourdieu, dass moderne staatliche Ordnungen nicht nur physische Ge­ walt, sondern zugleich »symbolische Gewalt« (2014: 18) in legitimer Weise monopolisieren würden (vgl. bereits 2004). Für Bourdieu wird der Staat erst durch legitime autorisierte Handlungen oder Akte der Staatselite zu dem, was er repräsentiert. Der Nationalstaat sei kaum mehr als eine gemeinsam geteilte »Realitätskonstruktion«, die nach dem »Orthodoxieprinzip« (2014: 19f.) hergestellt werde und auf dem kollektiven »Glauben« (ebd.: 31) an seine Existenz basiere. Für Bourdieu ist die symbolische Macht der Staatselite eine »mysteriöse Realität«, die gleichwohl äußerst wirkmächtig sei. Die Argumente von Weber, Popitz und Bourdieu werde ich im Folgen­ den zusammenführen und weiterentwickeln, um einige Besonderheiten der symbolischen Ökonomie (Bourdieu) des nationalen Machtprestiges (Weber) moderner Staatseliten herauszuarbeiten. Hierbei gehe ich von zunächst drei Grundannahmen aus: Erstens sind Nationalstaaten politische Gemeinschaf­ ten (Weber), die durch Machtordnungen (vgl. Giddens 1985; Mann 1989: 13ff.) geprägt sind, welche wiederum von Staatseliten bzw. vom »Staatsadel« (Bourdieu 2004) dominiert werden. Diese Staatseliten können, differenziert nach dem jeweiligen Grad der »Stärke« oder »Schwäche« (Mann 2011: 81ff.) der nationalen staatlichen Ordnung, nach innen relativ bzw. graduell auto­ 5 An dieser Stelle bricht Webers Manuskript »Politische Gemeinschaften« ab. In einer Fußnote der von Johannes Winckelmann besorgten 5., revidierten Auflage von Wirt­ schaft und Gesellschaft befindet sich der Hinweis, dass Weber am Rande des Ma­ nuskriptblatts lediglich vermerkt hat: »Kultur-Prestige und Machtprestige sind eng verbündet« (Weber 1980: 530, FN 3). Eine weiterführende Diskussion beider Prestigedi­ mensionen, auch in ihrem Verhältnis zueinander, findet sich nicht im Werk Webers.



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nom handeln, im Falle einer ausgeprägten Machtpotenz, worauf noch weiter unten genauer einzugehen sein wird, sogar selbst gegenüber einflussreichen wirtschaftlichen Interessengruppen wie Kapitalinvestoren und Staatsgläu­ bigern. Das Ausmaß der graduellen Autonomie oder Abhängigkeit einer Staatselite, also ihre spezifische soziale Position, zeigt sich im »Machtpresti­ ge« (Weber) bzw. kommt im »symbolischen Kapital« (Bourdieu) zum Aus­ druck, das akkumuliert worden ist. Zweitens sind Prestigeansprüche labil, worauf bereits weiter oben kurz hingewiesen worden ist. Sie müssen sich bewähren, um dauerhaft Bestand zu haben, was von Weber und Bourdieu allerdings nicht eingehender prob­ lematisiert worden ist. Prestigeansprüche bewähren sich vor den Augen des Staatspublikums, den Staatsbürgern, solange die nationalstaatliche Ordnung zum einen Ordnungssicherheit stiftet, also der »Ordnungswert der Ord­ nung« (Popitz) hoch ist; und zum anderen die Ordnung vom Staatspubli­ kum als mehr oder weniger funktions- und leistungsfähig wahrgenommen wird, also die Erwartung des »Investitionswerts« (Popitz) einer Ordnung dauerhaft nicht enttäuscht wird. Machtprestige muss sich also – ganz im Sin­ ne Webers – nach innen bewähren (Binnenprestige). Nach innen bewährt es sich, solange eine akute Wirtschafts- und Finanzkrise sich nicht zu einer Legitimationskrise der politischen Ordnung auswächst, die in der Staatsver­ fassung kodifizierten demokratischen Entscheidungsverfahren respektiert, politische Wahlen transparent abgehalten werden, die Übertragung der »Re­ gierungsverantwortung« von den regierenden zu den oppositionellen Frakti­ onen der »politischen Klasse« gewaltfrei vollzogen wird, die staatstragenden politischen Strömungen nicht in verfeindete Lager zerfallen, Korruption in der öffentlichen Verwaltung skandalisierbar ist usw. Den Institutionen des Verfassungsstaats und seinen maßgeblichen Trägergruppen (exekutive, le­ gislative und judikative Experten) kommt hierbei eine wichtige autoritative Wächterfunktion bei der Gewährleistung rechtsstaatlicher und demokrati­ scher Entscheidungsprozesse zu. Und schließlich können Prestigeansprüche auch dann prekär werden, wenn die vorherrschenden Zukunftsversprechun­ gen sich erschöpfen (Beckert 2019) und konkurrierende Alternativerzäh­ lungen publikumswirksam werden, die glaubhaftere Wirtschafts- und Ord­ nungskompetenz für sich beanspruchen können. Drittens muss sich das Machtprestige einer Staatselite nicht nur nach innen (Binnenprestige), sondern auch nach außen bewähren (Außenpres­ tige), was von Weber und Bourdieu gleichermaßen unbeachtet geblieben ist. In diesem Falle müssen sich Prestigeprätentionen nicht nur vor dem

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Staatspublikum und der demokratischen Öffentlichkeit beweisen. Hinge­ gen werden die nach außen gerichteten sozialen Geltungsansprüche der na­ tionalen Staatselite an die »internationale Staatengemeinschaft« adressiert. Diese »Staatengemeinschaft« ist kein »anarchisches« Gebilde, wie in neore­ alistischen Ansätzen angenommen wird. Auch handelt es sich nicht, wie in idealistischen Ansätzen unterstellt wird, um eine »internationale Gemein­ schaft«, die auf der Grundlage normativ-politischer, regelgeleiteter Gel­ tungsansprüche Kooperation organisiert und Konflikte bearbeitet. Viel­ mehr handelt es sich um eine sozial konstruierte, hierarchisch abgestufte, multipolare Prestige- oder Rangordnung nationaler Staatseliten, die durch vielschichtige, aufeinander bezogene symbolische Formen der Superiorität und Inferiorität strukturiert ist. Selbst Staatseliten, die mit einem Prestige­ schisma belegt sind, stehen nicht außerhalb dieser Prestigeordnung (AdlerNissen 2013: 4). Die multipolare Prestige- oder Rangordnung ist seit dem Zweiten Welt­ krieg durch hegemoniale Positionen (USA) gekennzeichnet, die seit den 1990er Jahren schwächer geworden sind (Mann 2003; 2011) oder sich so­ gar im Niedergang befinden (Wallerstein 2003; Wallerstein u. a. 2013). Ne­ ben starken oder geschwächten hegemonialen Positionen sind zudem sol­ che anzutreffen, die sich seit den 1990er Jahren im Statusaufstieg befinden und inzwischen eine zunehmend rivalisierende Dominanzposition einzu­ nehmen versuchen (China). Von diesen ab- und aufsteigenden statusdomi­ nanten Positionen können wiederum statuslabile Positionen unterschieden werden, deren Statuslabilität – wie im Falle Russlands – aus einem Status­ kollaps (Auflösung der UdSSR) resultiert. Die Labilität solcher Positionen kann allerdings auch mit dem Streben nach Statussicherung und erneutem Statusaufstieg einhergehen (Russland). Die supranationale Europäische Uni­ on nimmt allein aufgrund ihrer politisch-institutionellen Heterogenität und internen Krisenanfälligkeit (Bach 2015; Berend 2017), horizontal segmen­ tierter nationaler Öffentlichkeiten (Lahusen 2019) sowie der defizitären bzw. »negativen Integration« (Scharpf 2015: 13) der einzelnen Mitgliedsstaaten eine eher statusindifferente Position in der internationalen Prestigeordnung ein. Hiervon sind wiederum statusmarginale und -irrelevante Positionen zu unterscheiden. Kleinstaaten sind hierunter zu fassen. Diesen kann es im Ein­ zelfall gelingen, die eigene subalterne Statusgeltung über die Zugehörigkeit zu supranationalen »Gemeinschaften« (EU) oder transnationalen Militär­ bündnissen (NATO) aufzuwerten, aber auch durch »gezielte Nichtmitglied­ schaft« (Geser 1992: 636), wie am Beispiel der statusneutralen Position der



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Schweiz gezeigt werden kann.6 Ganz unten in der Statushierarchie stehen schließlich international geächtete Paria-Staaten (Nordkorea, Iran, »Achse des Bösen«). Wie der Zusammenbruch der Sowjetunion, das Ende des »Kal­ ten Krieges« der Nachkriegszeit und der Aufstieg Chinas seit den 1990er Jah­ ren zeigen, ist die globale Statusordnung im stetigen Wandel begriffen. Wie jede Statusordnung ist auch die Statusordnung von Staatseliten nach innen und außen symbolisch umkämpft. Permanente Deutungskonflikte um die äußere Statusgeltung und das Statusstreben nationaler Staatseliten sind aus­ zumachen, wie die zahlreichen militärischen und geopolitischen Konflikte des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts illustrieren (z. B. Irak, Iran, Sy­ rien, Ukraine, Krim).

3. Machtprestige und ökonomische Ordnung Weber, Popitz und Bourdieu sind als Ankerautoren verwendet worden, um einen nichtreduktionistischen Zugang zur Analyse von Machtprestige na­ tionaler politischer Ordnungen zu erschließen. Im Folgenden ist die Frage nach der sozialen Reputationsgeltung nationaler Staatseliten vor dem Hin­ tergrund einer zunehmenden Transnationalisierung ökonomischer Ordnun­ gen aufzuwerfen. Mit anderen Worten: Kann ein Wandel der Akkumulation und Reproduktion von nationalem Machtprestige in Zeiten beobachtet wer­ den, in denen viele sozialwissenschaftliche Autoren eine »Ökonomisierung« (vgl. Mau 2017; Schimank/Volkmann 2017) und »Transnationalisierung« so­ zialer Ordnungen diagnostizieren? Um das Verhältnis von Ökonomie und Machtprestige zu bestimmen ist zunächst in Rechnung zu stellen, dass nationale Wohlfahrtsordnungen, vom Bildungssystem über soziale Sicherungssysteme bis hin zum Rechts­ system, am Tropf der Zahlungsfähigkeit des modernen »Steuerstaates« (Goldscheid 1976 [1917]) hängen. Der Steuerstaat kann nicht nach Belie­ ben sozial-räumliche infrastrukturelle Netze bzw. technische Systeme (Bar­ lösius 2019) aufbauen und modernisieren oder wohlfahrtsstaatliche Pro­ gramme auflegen. Das gesamte Aktivitätsspektrum des Steuerstaats steht 6 Vgl. auch das EU- und NATO-Mitgliedsland Luxemburg, das ein prestigeträchtiges eu­ ropäisches Finanzzentrum für Investmentfonds, Privatbanken und Rückversicherungs­ gesellschaften beherbergt.

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und fällt mit der Leistungsfähigkeit der wirtschaftlichen Ordnung (Pro­ duktivität, Marktinnovationen, Investitionstätigkeiten). Wie in der euro­ päischen »Staatsschuldenkrise« von 2010 deutlich geworden ist, steht und fällt der Ordnungs- und Investitionswert (Popitz) einer nationalstaatlichen Ordnung zugleich mit der Kreditbereitschaft internationaler Gläubiger (Streeck 2015). Die Zahlungsfähigkeit der wirtschaftlichen Akteure, ihre Steuerbereitschaft sowie die Kreditbereitschaft der Bondholder wirken sich unmittelbar auf staatliche Gestaltungsspielräume aus. In der OECD-Welt erbringen alle staatlichen Ordnungen eine Vielzahl von Steuerungs- (Ar­ beitsmarkt-, Bildungs-, Infrastrukturpolitik) und Redistributionsleistun­ gen (Sozialpolitik), die über die klassischen rechtsstaatlichen Aufgabenfel­ der eines »Nachtwächterstaates« zur Aufrechterhaltung einer marktliberalen Wirtschaftsordnung weit hinausreichen. Das geschieht unabhängig davon, wie das jeweilige Verhältnis von marktlicher oder staatlicher Koordination (Hall/Soskice 2001) im nationalstaatlichen Rahmen austariert ist. Die Ab­ hängigkeit aller »Felder« oder »Teilsysteme« vom Wirtschaftssystem zeigt sich vor allem dann, wenn die Zahlungsfähigkeit oder -bereitschaft der Wirtschafts- und Steuerbürger zum Problem für die staatliche Leistungser­ bringung wird (Schimank 2009; Beckert 2009). Vor diesem Hintergrund ist die Annahme naheliegend, dass politische Gestaltungsspielräume von den Zahlungsströmen der wirtschaftlichen Ordnung abhängen, die wieder­ um von den Rentabilitätschancen von Kapitalinvestoren und Bondholdern beeinflusst werden. Entscheidend für die Frage nach dem Verhältnis von Ökonomie und Machtprestige ist nun die Überlegung, dass nicht nur der Gestaltungsspiel­ raum einer politischen Ordnung von der Zahlungsfähigkeit bzw. Kreditwür­ digkeit ökonomischer Akteure abhängt, sondern auch die Prestigechancen einer Staatselite. Die Prestigechancen sind mit der Bestandssicherung und Leistungsfähigkeit der wirtschaftlichen Ordnung (Prosperität, Wohlfahrt und Sicherheit) eng verwoben. Der Legitimationsglauben der Leute (Ge­ meinwohl) wird dadurch unmittelbar beeinflusst. Politische Prestigechancen haben sich aber nicht nur nach innen (nationalstaatliche Ordnung), sondern auch nach außen (supranationale Ordnungen, internationale Beziehungen) zu bewähren. Hieraus wäre dann zu schlussfolgern, dass nicht nur die inne­ ren, sondern auch die äußeren Prestigechancen einer politischen Ordnung von ihrer ökonomischen Leistungsfähigkeit abhängen. Je nach Ausprägung der Leistungserbringung können die inneren und äußeren Prestigechancen aufgewertet oder abgewertet werden.



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Prestigechancen können durch »Erfolge« der ökonomischen Ordnung gesteigert werden, aber auch durch solche in den Feldern von Politik, Recht und Kulturproduktion. Im Feld der Ökonomie sind herausragende globale Markterfolge von Unternehmen mit nationalem Hauptquartier zu nennen, die selbst dann der nationalen Erfolgsbilanz (Nationale Champions) zuge­ rechnet werden, wenn die formale Eigentümerstruktur nicht mehr mehr­ heitlich von nationalen Ankeraktionären dominiert wird, sondern von glo­ bal agierenden Investmentfonds. Mindestens ebenso prestigeträchtig für die Statusgeltung nationaler Staatseliten ist eine auf einzelne Branchencluster bezogene technologische Innovationsführerschaft, wie am Beispiel der di­ gitalen Plattformökonomie (Silicon Valley), der global agierenden Finanz­ industrie (Wallstreet, City of London), exportstarker Automobil-, Chemieund Elektroindustrien oder einer innovativen KMU-Unternehmensstruktur (Hidden Champions) illustriert werden kann.7 Neben einschlägigen Erfolgs­ kennzahlen des nationalen »Wirtschaftsstandorts« (Bruttoinlandsprodukt, Export- oder Investitionsquote, Patentanmeldungen) ist der stabile Außen­ wert einer Währung oder das »Vertrauen« internationaler privater Gläubi­ ger in Staatsanleihen prestigeförderlich. Die Höhe der Staatsverschuldung in Relation zur wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit (vgl. OECD 2020) muss allerdings nicht zwingend die Reputation einer nationalen Staatselite beschä­ digen, wie am Beispiel der USA gezeigt werden kann. Wenn die nationale »Heimatwährung« als globale Leitwährung fungiert (zur globalen Bedeutung des Dollars vgl. weiter unten), sind selbst gravierende negative Außenbilanz­ salden für die internationale Statusposition einer nationalen Staatselite zu vernachlässigen. Weiter oben ist argumentiert worden, dass Prestigechancen von Staats­ eliten nicht ewigwährend sind. Sie sind permanenten Aufwertungs- und Abwertungsprozessen ausgesetzt, in denen sie sich zu bewähren haben. Die latente Labilität von Prestigechancen zeigt sich in Wirtschafts- und Fi­ nanzkrisen. Diese stellen eine besondere Bewährungsprobe für politisches Machtprestige dar. Im Regelfall erodiert Machtprestige allerdings nicht ab­ rupt, etwa wenn nationale Ordnungen durch exogene Schocks (vgl. Flig­ 7 In diesem Zusammenhang wäre das wechselseitige Verhältnis von Machtprestige und unterschiedlichen politikökonomischen Wachstumsmodellen (zur Varieties of Capita­ lism-Forschung vgl. Beyer 2017) und Wohlfahrtsregimen (zur Worlds of Welfare-For­ schung vgl. Deeming 2017) sowie der wachsende Einfluss von Finanzmärkten (zur Fi­ nanzialisierungsforschung vgl. Faust u. a. 2017; Beyer/Trampusch 2018) eingehender zu prüfen.

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stein/MacAdam 2012: 99ff.) wie globale Wirtschaftskrisen, aber auch infol­ ge kriegerischer Konflikte oder Naturkatastrophen in Bedrängnis geraten, sondern eher schleichend. Möglich ist zudem, dass die Träger von Macht­ prestige nach innen Prestigeansprüche wahren können, während diese in den internationalen Außenbeziehungen verweigert werden, wie am Grenzfall des Statusschismas von Paria-Staaten illustriert werden kann. Akkumuliertes Machtprestige kann allerdings erodieren, wenn sich beispielsweise nationale Staatseliten weigern, eine von maßgeblichen internationalen Leitinstitutio­ nen eingeforderte Austeritätspolitik umzusetzen, um eine marode und inef­ fiziente nationale ökonomische Ordnung zu »reformieren«. Im Regelfall sind Reputationseinbußen von Machtprestige immer dann wahrscheinlich, wenn wirtschaftliche Leistungskennzeichen (Wirtschaftswachstum, Investitions­ quote, Maastricht-Kriterien) fortlaufend verfehlt werden, Kapitalvermögen ins Ausland abfließt und das »Vertrauen« von einflussreichen Staatsgläubi­ gern dauerhaft beschädigt wird. Schon die Abwertung der Kreditwürdigkeit von Nationalstaaten durch Ratingagenturen (Espeland/Sauder 2007; Sin­ clair 2014; Cordes 2014; Crouch 2015) kann vor diesem Hintergrund als sichtbares numerisches Signal interpretiert werden, wie weit das Machtpres­ tige einer Staatselite an internationaler Reputation eingebüßt hat. In Finanzkrisen können sich Prestigeprätentionen aber auch erfolgreich bewähren, wenn es den Trägergruppen des Machtprestige gelingt, »ent­ schlossen« und wirkungsvoll im Finanz- und Bankensystem zu intervenie­ ren, um eine Kriseneskalation abzuwenden. So ergriff beispielsweise die USRegierung auf dem Höhepunkt der globalen Finanzkrise von 2008 massive Stützungsmaßnahmen von Banken und Versicherungskonzernen (Bail-out, Bad-Bank-Konzepte, Notverstaatlichungen) (FCIC 2011). Und die Mit­ gliedsländer der Europäischen Union legten allein zwischen 2008 und 2011 koordinierte Bankenrettungs- und Konjunkturprogramme im Volumen von 1,6 Billionen Euro auf, um einen akuten Kollaps des Bankensystems abzu­ wenden und die Folgen für die »Realökonomie« abzumildern, kurzum: um »Zeit zu kaufen« (Streeck 2015). Die in Folge sprunghaft angestiegene Staats­ verschuldungsquote erschütterte zwar das »Vertrauen« der privaten Gläubi­ ger in die Rückzahlungsfähigkeit der Schuldnerländer, was an rapide steigen­ den Zinssätzen für Staatsanleihen, insbesondere von Griechenland, Portugal und Italien, der sukzessiven Herabstufung der Bonitätsbewertung durch Ra­ tingagenturen, aber auch einer äußerst schleppenden Kreditvergabe in zahl­ reichen Ländern der EU abgelesen werden kann (Arestis/Sawyer 2012; Il­ ling 2017). Massive Interventionen der Europäischen Zentralbank (EZB),



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insbesondere der Kauf von Staatsanleihen notleidender Euroländer und die Vergabe von Notkrediten, sowie die koordinierten Maßnahmen der EU (Europäische Finanzstabilisierungsfazilität – EFSF 2010, Europäischer Sta­ bilitätsmechanismus – ESM 2012) zielten allesamt darauf ab, Gläubiger eu­ ropäischer Staatsanleihen zu beschwichtigen und aufkommende Zweifel zu zerstreuen, EZB und EU könnten im Falle einer Kriseneskalation eine mög­ liche Zahlungsunfähigkeit von europäischen Staaten und den Zusammen­ bruch des Bankensystems nicht abwenden. Wie schon Georg Simmel (1989 [1900]: 215) gezeigt hat, ist eine funktionierende monetäre Ordnung auf die Existenz einer stabilen politischen Zentralinstanz angewiesen. Mit Blick auf das Bewährungsproblem von Machtprestige in Krisenzeiten können die ko­ ordinierten Maßnahmen von EZB und EU auf dem Höhepunkt der Euro­ krise deswegen auch als Versuch interpretiert werden, das aufgekommene Misstrauen gegenüber den EU-Institutionen und ihren (nationalen und su­ pranationalen) Trägergruppen wenigstens einzudämmen, wenn nicht sogar zu zerstreuen. Solche Maßnahmen werden also nicht nur an Finanzmarktak­ teure adressiert, um erodiertes Gläubiger- oder Investorenvertrauen wieder­ herzustellen. Zugleich geht es immer auch darum, politisches Institutionen­ vertrauen zu erhalten. Von politischem Institutionenvertrauen hängen, so wäre zu schlussfolgern, auch die Machtprestigechancen politischer Eliten in einem ganz elementaren Sinne ab. Am Beispiel der Eurokrise ab 2010, die mit der Staatsschuldenkrise Grie­ chenlands 2015 ihren Höhepunkt erreichte, kann aber auch aufgezeigt wer­ den, wie stark die internationale Reputation nationaler politischer Eliten in Zweifel gezogen oder sogar dauerhaft beschädigt werden kann, wenn einer von internationalen Finanzinstitutionen und Gläubigergruppen propagier­ ten Austeritätspolitik nicht Folge geleistet wird. So erschütterte die sprung­ haft angestiegene Staatsverschuldungsquote nach 2008 das »Vertrauen« der privaten Gläubiger in die Rückzahlungsfähigkeit der Schuldnerländer, was an rapide steigenden Zinssätzen für Staatsanleihen, insbesondere von Grie­ chenland, Portugal und Italien, der sukzessiven Herabstufung der Bonitäts­ bewertung durch Ratingagenturen, aber auch einer äußerst schleppenden Kreditvergabe in zahlreichen Ländern der EU abgelesen werden konnte. Weiter oben ist bereits angemerkt worden, dass in Finanzkrisen die Pres­ tigechancen nicht nur von der absoluten Höhe der Staatsverschuldung in Relation zum Bruttoinlandsprodukt abhängen (OECD 2020; Scharpf 2011: 324f.). Der Vertrauensentzug der Gläubiger gegenüber einzelnen National­ staaten kann nicht allein darauf zurückgeführt werden, dass eine – »objek­

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tiv« bestimmbare – Schwelle der Staatsschuldenquote in Relation zum BIP überschritten wird. Gläubigermisstrauen kann auch durch stabile Wachs­ tumserwartungen der nationalen Ökonomien oder hohe Leistungsbilanz­ überschüsse eingedämmt werden. Weitere Faktoren sind zu berücksichtigen, etwa verbreitetes Misstrauen gegenüber der »Reformbereitschaft« der politi­ schen Eliten in den Schuldnerländern, den Staatshaushalt zu konsolidieren und die sozialen Sicherungssysteme zu »sanieren«. In solchen Fällen können Prestigeansprüche auch durch kulturelle Stereotype entwertet werden und in eine Statuskrise einmünden. So ist beispielsweise in den Nordländern der EU ein moralisierender öffentlicher Diskurs über Griechenland (»easy life on unearned income«, vgl. Streeck 2013: 618) geführt worden, als sich dort die politischen Eliten nicht umgehend dem »Troika-Diktat« fügen und »markt­ konforme Reformen« einleiten wollten. Eine Krise des äußeren Macht­ prestiges kann unter spezifischen Bedingungen auf das innere Machtpres­ tige zurückschlagen. So hat das Austeritätsregime der EU beispielsweise in Griechenland eine Legitimationskrise des politischen Systems und eine Kri­ se der sozialen Verhältnisse begünstigt, die unter anderem durch anhalten­ de wirtschaftliche Depressionen und soziale Polarisierungen gekennzeichnet gewesen ist. Wirtschaftliche und Finanzkrisen können also die Reputations­ geltung nationaler Staatseliten in unterschiedlicher Weise begünstigen oder beschädigen. Im Vorangegangenen ist ein positiver bzw. negativer Zusammenhang zwischen den Dimensionen Machtprestige und Ökonomie angenommen worden. Allerdings ist unwahrscheinlich, dass der angenommene Zusam­ menhang kausal-lineare Verlaufsmuster aufweist. Eher sind in beide Rich­ tungen Sättigungs- und Verzögerungseffekte bzw. Plateau- und Verpuffungs­ effekte in Rechnung zu stellen, was an dieser Stelle allerdings nicht genauer problematisiert werden kann. Wichtig ist lediglich die Grundüberlegung, dass stabile Wachstumsraten und innovative Industrien sich positiv auf die Ansprüche an Machtprestige auswirken. Im Umkehrschluss folgt hieraus, dass Machtprestige in Zeiten ökonomischer Rezessionen, Inflationen und Krisen auf dem Arbeitsmarkt unter Bewährungsdruck steht. Wie am Bei­ spiel der erfolgreichen Abwendung von Finanzkrisen illustriert worden ist, kann sich Machtprestige in Krisenzeiten bewähren. Hervorzuheben ist aller­ dings, dass nicht nur ökonomische Erfolge prestigeträchtig wirken. In ähnli­ cher Weise wirken wohl auch Erfolge nationaler Politiken in anderen Felder der gesellschaftlichen Ordnung, wie etwa Rechtsstaatlichkeit und Rechtssi­ cherheit, Bekämpfung von Korruption in der öffentlichen Verwaltung, oder



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der Modernisierung komplexer technischer Infrastruktursysteme (Kommu­ nikation, räumliche Mobilität, Energie). Ganz in diesem Sinne ist zudem zu vermuten, dass sich eine proaktive politische Gestaltungsmacht in den internationalen Beziehungen (multilaterale Verträge und Abkommen aller Art), die Sicherung und der Ausbau von nationalem Einfluss in multinatio­ nalen Organisationen (z. B. Stimmrechte und Finanzierungsanteile in UN, OECD oder IWF), aber auch ein »erfolgreiches Management« globaler Mi­ grationsbewegungen auf Machtprestigeerwartungen auswirken. Und auch soft power kann positive Prestigeeffekte haben, also wenn etwa ein innovati­ onsoffenes Bildungssystem mit »exzellenten« Eliteuniversitäten im »globalen Wettbewerb« um die »besten Köpfe« konkurrieren kann. Selbst Events von globaler Sichtbarkeit in Kulturproduktion (Film, Kunstmarkt) und Sport­ industrie (Olympische Spiele, Weltmeisterschaften) können dazu beitragen, das »Kulturprestige« (Weber) einer politischen Ordnung und ihrer maßgeb­ lichen Trägergruppen zu steigern. Die genannten ökonomischen, politischen und kulturellen Erfolgsfakto­ ren wären empirisch genauer zu prüfen, um die Akkumulation oder Erosion von Machtprestige genauer nachvollziehen zu können. Zu klären wären auch wechselseitige Abhängigkeiten zwischen diesen Faktoren bzw. etwaige Ver­ stärkungseffekte. Ein weiterer Einflussfaktor sollte allerdings nicht vernach­ lässigt werden, nämlich die Fähigkeit einer mächtigen Staatselite, nach au­ ßen glaubhaft drohen zu können, staatlich organisierte Gewalt anzuwenden. Natürlich kann auch eine Drohung, politische oder physische Zwangsmittel in den internationalen Beziehungen einzusetzen, um »nationale Interessen« zu wahren oder internationale Rechtsstandards zu verteidigen, einen entge­ gengesetzten Effekt auf das Machtprestige haben und es sogar beschädigen. Drohungen sind immer riskant, auch für das Machtprestige des Drohenden (vgl. Popitz 1992: 79ff.). Im Einzelfall kommt es wohl auf die jeweilige po­ litische Verfasstheit der internationalen Beziehungen und des Machtgefälles an, ob eine demonstrative Verteidigungs-, »Abschreckungs-« und Interven­ tionsfähigkeit (nuclear power, aircraft carrier) prestigeförderlich ist. Oder ob eher umgekehrt die Reputation nationaler Staatseliten steigt, wenn unilate­ rale Gewaltanwendungen zugunsten multilateraler Konfliktlösungen (UNFriedensmissionen) abgelehnt werden, »internationale Verantwortung« im Rahmen von UNO-Mandaten übernommen wird, Abrüstungsinitiativen er­ griffen bzw. »Verständigung« zwischen den Machtblöcken propagiert wird. So wie Machtprestige nicht nur durch ökonomische Erfolge gesteigert werden kann, so gilt auch umgekehrt, dass Machtprestige nicht nur durch

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wirtschaftliche Turbulenzen entwertet werden kann. Politische Ereignis­ se wie beispielsweise die »Unregierbarkeit« der demokratischen Ordnung, Staatskrisen oder eine nepotistische Staatsbürokratie können in vergleichba­ rer Weise auf die Reputationsgeltung von Prestigeprätentionen wirken. Ein weites Spektrum von »Misserfolgen« wäre im Hinblick auf negative Prestige­ effekte genauer in den Blick zu nehmen: Wirtschaftssanktionen, Eventboy­ kotte in den Feldern Kultur, Kunst und Sport sowie hintere Platzierungen in einschlägigen Rankings (PISA, HDI, Shanghai, Corruption PerceptionsIndex etc.). Vor diesem Hintergrund können extraterritoriale Wirtschafts­ sanktionen oder Eventboykotte auch als Strategien interpretiert werden, die adressierten Eliten nicht nur ökonomisch und politisch zu isolieren, sondern sie zugleich auch symbolisch zu stigmatisieren (Pariaprestige).

4. Fiktionalität von Prestigeerwartungen Im vorangegangenen Kapitel sind einige grundlegende Überlegungen zur Bedeutung der Ökonomie für die Akkumulation von politischem Macht­ prestige angestellt worden. Argumentiert wurde, dass ökonomische Erfolge oder Misserfolge Prestigeprätentionen nationaler Staatseliten stärken oder schwächen können. Zudem ist am Beispiel aktueller Wirtschafts- und Fi­ nanzkrisen exemplarisch illustriert worden, dass Ansprüche an Machtpres­ tige Bewährungsproben ausgesetzt sind. Ökonomische Krisen können – die inneren und äußeren – Prestigechancen beschädigen, aber auch untermau­ ern. Im Folgenden sind diese Überlegungen zu spezifizieren. In kritischer Abgrenzung zu ökonomistischen und »realistischen« Erklärungen des Politi­ schen soll gezeigt werden, dass es kurzschlüssig wäre, in einem allzu orthodo­ xen Sinne von einer »Ökonomisierung von Machtprestige« zu sprechen. Die These einer Ökonomisierung von Machtprestige würde im Kern darauf hin­ auslaufen, dass die Wertigkeit der inneren und äußeren Prestigechancen von ökonomisch-quantitativen Kennzahlen kausal beeinflusst werden könnte. Bereits weiter oben ist einschränkend argumentiert worden, dass politische Prestigechancen nicht nur anhand von Referenzwerten zur wirtschaftlichen Leistungs- und Innovationsfähigkeit beurteilt werden können. Nun könn­ te man einwenden, dass selbst nichtökonomische »Erfolge« in Bildung und Wissenschaft, Kunst- und Kulturproduktion nicht nur das »Kulturpresti­ ge« (Weber) mehren, sondern zunehmend unter Gesichtspunkten ökonomi­



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scher Output-Faktoren oder internationaler Rankingplatzierungen bewertet werden. So betrachtet könnte die These einer Ökonomisierung von Macht­ prestige noch radikalisiert werden: Die nationale Kulturproduktion würde dann für Zwecke der Steigerung der ökonomischen Performance mobilisiert, um den Prestigeansprüchen nationaler Staatseliten noch mehr Geltung zu verschaffen (zur Umstellung der Wertigkeit der nationalen Kulturprodukti­ on von ethnisch-kulturellen Differenz- auf »ökonomische« Erfolgskriterien vgl. Reicher 2013). Welche Argumente können nun allerdings gegen eine allzu simplifizie­ rende Ökonomisierungsthese angeführt werden? Erstens ist zunächst einzu­ wenden, dass der unterstellte Ökonomisierungsdruck auf die Prestigepräten­ tionen der Trägergruppen von Machtprestige nicht uniform wirkt, sondern je nach historisch-gesellschaftlichen Kontextbedingungen, die in diesem Bei­ trag vernachlässigt werden müssen, latente oder manifeste Formen anneh­ men kann. Noch wichtiger ist allerdings ein weiterer Aspekt, auf den bereits hingewiesen worden ist. Die angenommene Wirkungsrichtung von Öko­ nomie und Machtprestige (Markterfolge führen zu Prestigeerfolgen) kann zweitens auch umgekehrt verlaufen (Prestigeerfolge führen zu Markterfol­ gen), zumal dann, wenn nationale Machteliten eine superiore Prestigepo­ sition in den internationalen Beziehungen einnehmen oder sich gegenüber Prestigekonkurrenten durchsetzen können. Eine umgekehrte Wirkungs­ richtung ist dann anzunehmen, wenn nationale ökonomische Erfolge auf globalen Märkten (z. B. Marktanteile, Produktdiffusion, Innovationsfüh­ rerschaft) erst aufgrund der Mobilisierung von politischem Machtprestige erzielt werden können. In diesem Fall gerät Machtprestige nicht schlicht in den Sog »objektiver« ökonomischer Erfolge. Stattdessen verbessert Macht­ prestige die ökonomischen Chancen »nationaler« Unternehmen, etwa beim Zugang zu Rohstoffquellen und Absatzmärkten, bei der Vergabe von Groß­ aufträgen (z. B. GE versus Siemens beim Ausbau von Energienetzen), beim Zugang zu Bondmärkten, bei der internationalen Anerkennung von Eigen­ tumsrechten, bei der Durchsetzung von Vertragsnormen, Bilanzierungsre­ geln, Patentansprüchen und Technologiestandards; und nicht zuletzt beim Offenhalten von Handelswegen (z. B. Straße von Hormus), beim Abschluss internationaler Handelsverträge (z. B. GATT, GATS) oder bei der exterrito­ rialen Durchsetzung nationaler Rechtsnormen (Wirtschaftssanktionen). In all diesen Fällen sind statusdominante Staatseliten in der Lage, den »eige­ nen« Unternehmen (Exportindustrie) den Zugang zu ausländischen Märk­ ten zu erleichtern und die globalen Markt- und Expansionschancen natio­

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naler Branchen zu verbessern. Mit anderen Worten ordnen sich nationale politische Eliten also nicht einem unverfügbaren »Ökonomisierungsdruck« vorauseilend unter, um Prestigechancen zu wahren oder einen Prestigever­ fall abzuwenden. Vielmehr werden internationale Absatzchancen nationa­ ler Marktakteure durch Machtprestige proaktiv protegiert. Solange sie sich jedenfalls nicht in einer subalternen Prestigelage befinden, versuchen po­ tente Machteliten, nationale und internationale Prestigechancen zu steigern, in dem die Expansionsbestrebungen nationaler Unternehmen politisch flan­ kiert werden.8 Zu vermuten ist zudem, dass die jeweilige Wirkungsrichtung des Verhältnisses von ökonomischen Markterfolgen und politischen Presti­ geerwartungen kaum linear steigende (je größer Markterfolge desto größer Prestigeerfolge) oder fallende (je geringer Markterfolge desto geringer Pres­ tigeerfolge) Muster aufweist, sondern nicht-monotone Verläufe wohl eher anzutreffen sind. Politisch-institutionelle Ereignisse oder soziale Krisen sind unkalkulierbar. Sie wirken als Kausalitätsunterbrecher. Und natürlich hängt auch das jeweilige Verhältnis von Anpassung und Gestaltung von ökonomi­ schen Faktoren von der spezifischen Ausprägung der Prestigepotenz nationa­ ler Machteliten in den internationalen Beziehungen ab. Die Umkehrbarkeit der Wirkungsrichtung von ökonomischen Erfolgen und politischem Machtprestige, auf die soeben hingewiesen worden ist, ver­ weist auf einen weiteren, dritten Aspekt, der soziologisch besondere Beach­ tung verdient: Erfolge oder Misserfolge von Prestigeambitionen sind nicht schlicht das Resultat von metrisch messbaren, »objektiven« wirtschaftli­ chen Referenzdaten wie Marktanteilen, Produktivitätskennzahlen oder In­ vestitionsquoten der nationalen Ökonomie im globalen Maßstab. Es wäre ein rationalistischer Fehlschluss, davon auszugehen, die (interne und exter­ ne) Prestigelage nationaler Machteliten könne monokausal in Relation zu ökonomisch quantitativen Kennzahlen bestimmt werden. Aus den folgen­ den Gründen verbietet sich ein solcher Fehlschluss: Innovationen und In­ vestitionen sind zunächst nichts anderes als spekulative Wetten auf die er­ wartete Wahrscheinlichkeit, zukünftige Marktchancen zu realisieren. Zum 8 Dass Staatseliten nicht nur versuchen, die internationalen Marktchancen nationaler Un­ ternehmen zu wahren oder zu steigern, sondern auch den nationalen Einfluss in binatio­ nalen Holdinggesellschaften, zeigt ein Bericht in der Wirtschaftspresse (FAZ 28.2.2019) über die »Verstimmung« französischer Regierungsstellen anlässlich des »heimlichen« Er­ werbs eines größeren Aktienpakets von Air France-KLM durch die niederländische Re­ gierung, die damit einer weiteren Verlagerung von Flugverbindungen der Holding von Amsterdam nach Paris entgegenzuwirken versuchte.



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Zeitpunkt der Entscheidung, innovative Technologien zu entwickeln oder Zukunftsinvestitionen zu tätigen, ist ungewiss, ob die damit verbunde­ nen Erwartungen auch tatsächlich eintreten oder enttäuscht werden. Allein schon deswegen muss auch ungewiss bleiben, ob eine theoretisch unterstell­ te Unterordnung politischer Machteliten unter gegenwärtig wahrgenomme­ ne Marktzwänge oder die proaktive Erschließung neuer Marktchancen in Zukunft tatsächlich prestigemehrend wirken. Innovationen können in ei­ ner Sackgasse enden. Investitionen können sich als Fehlinvestitionen erwei­ sen. Das gleiche gilt für flankierende politische Maßnahmen, Innovationen und Investitionen zu stimulieren. Sie können erfolgreich sein, aber sie kön­ nen auch ins Leere laufen. Bei der Erwartung, dass ökonomische Innovati­ onen oder Investitionen Machtprestige steigern, handelt es sich deswegen immer auch um eine auf die Zukunft projizierte »fiktionale Erwartung« im Beckert’schen Sinne (2016). Selbst monetäre Ordnungen werden von fik­ tionalen Erwartungen beeinflusst, wie am Beispiel der öffentlichen Erklä­ rung der deutschen Kanzlerin Merkel und des Finanzministers Steinbrück im Oktober 2008 (»Die Spareinlagen sind sicher«) oder der Rede von EZBChef Mario Draghi im Juli 2012 (»Whatever it takes to preserve the Euro«) exemplarisch illustriert werden kann. Beide Erklärungen änderten zunächst nichts an den objektiven Rahmenbedingungen der Finanzmarktkrise, aber sie beeinflussten die Erwartungen der Investoren, die sich wiederum auf die Finanz- und Wirtschaftslage stabilisierend auswirkten (vgl. ebd.: 83f.). Denkbar ist also auch, dass ökonomische Erfolgserwartungen das Macht­ prestige nationaler Eliten steigern können.9 Hinzu kommt ein weiteres Prob­ lem: Selbst wenn Innovationen und Investitionen zu Markterfolgen führen, oder sich in einer angespannten Finanzkrise performatives Erwartungsma­ nagement (Merkel/Steinbrück, Draghi) tatsächlich beruhigend auf die Fi­ nanzmärkte auswirkt, stets muss ungewiss bleiben, ob diese »Erfolge« den Trägergruppen von Machtprestige im Nachgang auch tatsächlich kausal zu­ geschrieben werden. So wie ökonomische Markterwartungen haben politi­ sche Statuserwartungen immer auch eine fiktionale Komponente. Im Sinne der These vom relativen Primat der politischen Feldes wäre viertens genauer zu klären, inwiefern schieres Machtprestige, auch unabhän­ gig von objektiv bestimmbaren ökonomischen Erfolgsfaktoren, mobilisiert 9 An dieser Stelle muss die Frage ausgeblendet werden, ob die maßgeblichen Trägergrup­ pen von Machtprestige tatsächlich erwarten, dass ihre Reputation durch ökonomische Erfolgserwartungen gesteigert werden kann oder ob es zutreffender wäre, von einer AlsOb-Erwartung zu sprechen.

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werden kann, um darauf Einfluss zu nehmen oder sogar zu oktroyieren, wel­ che ökonomischen Kennzahlen in der internationalen politischen Prestige­ ordnung als reputabel gelten und welche nicht. So ist davon auszugehen, dass nicht nur  – im Sinne einer »Ökonomisierung« von Machtprestige  – wirtschaftliche Kennzahlen bei der Zuschreibung von politischer Statusgel­ tung maßgeblich sind. Zugleich sind wirtschaftliche Kennzahlen ein Resul­ tat performativer Zuschreibungen, und damit ein soziales Konstrukt. Die soziale Konstruiertheit ökonomischer Kennzahlen bietet allerlei Anlässe für Definitionskämpfe um die zugrunde liegenden Konstruktionslogiken sowie etwaige Auswirkungen auf die Statusgeltung von Machtprätentionen. Am Beispiel des Einflusses nationaler politischer Interessen auf makroökonomi­ sche Prognosen kann dieser Zusammenhang illustriert werden. So haben Dreher, Sturm und Vreeland (2013) für den Zeitraum 1992 bis 2008 auf­ zeigen können, dass die länderspezifischen Wirtschaftsprognosen des IWF umso vorteilhafter ausfallen, je politisch näher das Empfängerland von IWFKrediten den USA und anderen G7-Ländern steht. Auch kann es kein Zufall sein, dass diese Länder im IWF nicht nur über die größten Stimmanteile ver­ fügen, sondern diese auch in bezeichnender Weise gestaffelt sind (USA 16,52 Prozent, Japan 6,15 Prozent, China 6,09 Prozent, Deutschland 5,32 Prozent, Frankreich 4,03 Prozent, UK 4,03 Prozent, Italien 3,02 Prozent – alle An­ gaben für 2016: IMF 2019b). Übertragen auf die hier diskutierte Fragestel­ lung erscheint die Vermutung deswegen auch nicht sonderlich spekulativ zu sein, dass die soziale Konstruktion von Wirtschafts- und Wachstumsprogno­ sen von den Prestigeinteressen und dem Prestigemanagement einflussreicher Staatseliten abhängt. Zugleich ist davon auszugehen, dass Prognosen wie­ derum Statuspositionen beeinflussen. Eine solche rekursive Kopplung von (ökonomischer) Prognose und (politischen) Statusaspirationen bietet nicht nur allerlei Anlässe für soziale Konflikte auf der internationalen Prestigebüh­ ne um die Legitimität von Prognosen, sondern ebenso um Ansprüche auf darauf bezogene Statusgeltung. Es ist eine empirisch ungeklärte Frage, wel­ che staatlichen, suprastaatlichen und nichtstaatlichen (NGOs, professionelle Experten) Akteursgruppen auf die Konstruktion und Durchsetzung ökono­ mischer Rankings oder Ratings Einfluss nehmen und wie die ökonomischen Kennzahlen in legitimer Weise zu interpretieren sind. Eine detailliertere empirische Überprüfung des Verhältnisses von Öko­ nomie und Machtprestige kann an dieser Stelle nicht geleistet werden. Ich möchte lediglich eine weitere theoretische Anmerkung anfügen. Bei der Fra­ ge, wie die Regeln definiert werden, nach denen internationale ökonomi­



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sche Kennzahlen, Ratings und Prognosen in legitimer Weise konstruiert und interpretiert werden, bietet sich Bourdieus Feldtheorie an. Zwar ist Bour­ dieus Soziologie dem nationalen Container der französischen Gesellschaft verhaftet geblieben. Überträgt man jedoch einige Grundannahmen Bour­ dieus auf die hier verfolgte Fragestellung zur Produktion und Reproduktion der internationalen oder »transnationalen« Statusordnung (vgl. die konzep­ tionellen Vorschläge zur internationalen bzw. transnationalen Erweiterung Bourdieu’schen Feldtheorie von Bigo 2011; Cohen 2018; Kauppi 2018), dann ist zu vermuten, dass die Verteilung von »Benennungsmacht« (Bourdi­ eu 1985) gerade auch in inter- oder transnationalen Feldern alles andere als zufällig ist. Maßgeblich ist, welche Akteure bzw. Akteursgruppen über das nötige symbolische Kapital oder Machtprestige verfügen, um zu benennen und durchzusetzen, welche Formen der ökonomischen Repräsentation und Prognose – und damit zugleich welche Prestigeaspirationen – als legitim gel­ ten und welche mit einem Prestigeschisma belegt sind. Folgt man diesen allgemeinen Überlegungen zur latenten Fiktionalität von Prestigeerwartungen, dann wäre schließlich zu vermuten, dass auch die Zuschreibung oder Abwertung von »Kulturprestige« im Weber’schen Sin­ ne umstritten sein kann. Am Beispiel des Sports kann die soziale Konstru­ iertheit kultureller Prestigezuschreibungen illustriert werden: Die Wertigkeit globaler Sportereignisse (z. B. Fußballweltmeisterschaften) mag auf der in­ ternationalen Statusbühne unangefochten sein. Hieraus muss nun aber kei­ neswegs zwingend folgen, dass die inneren Prestigeprätentionen nationaler Staatseliten in Mitleidenschaft gezogen werden, wenn die eigene National­ mannschaft notorisch schlecht abschneidet oder sich für Sportevents von globaler Bedeutung erst gar nicht qualifiziert. So können die negativen Sta­ tuseffekte dauerhafter sportlicher Misserfolge in einer Wettkampfdisziplin durch »glorreiche« Erfolge in einer anderen Sportart relativiert oder sogar kompensiert werden, sobald diese, wie am Beispiel des alpinen Skisports in Österreich gezeigt werden könnte, für international bedeutend erklärt wird.

5. Machtprestige und Varianten von Wirtschaftsnationalismus Im Vorangegangenen ist argumentiert worden, dass politisches Machtpres­ tige nach innen und außen nicht nur von der Leistungsfähigkeit der natio­ nalen sozioökonomischen Ordnung abhängt, sondern auch von ihrer – er­

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folgreichen – Repräsentation. Ausgehend von einer solchen Unterscheidung zwischen der Faktizität und Geltung wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit wäre es sicherlich lohnend, den Einfluss von staatlichen, halbstaatlichen (IWF, OECD, Weltbank) und privaten (Ratingagenturen) Institutionen auf Pro­ zesse der performativen Herstellung von Repräsentanz zu untersuchen. Zu­ dem wäre zu prüfen, inwiefern eine institutionell orchestrierte »Politik der Erwartungen« (Beckert 2016) die Performance einer nationalen ökonomi­ schen Ordnung stimulieren kann. Dieses kann an dieser Stelle nicht geleistet werden. Stattdessen möchte ich abschließend auf einige Varianten zur Steige­ rung von Machtprestige hinweisen, die als Spielarten von »Wirtschaftsnatio­ nalismus« interpretiert werden können. Hierbei werde ich zwischen protek­ tionistischen, liberalen, geopolitischen und makroökonomischen Spielarten unterscheiden. Tabelle 1: Varianten des Wirtschaftsnationalismus

protektionistisch

Take-off, »nationale Champions«, Herkunftsbezeich­ nungen

liberal

Stärkung der nationalen Export- und Finanzindustrie durch offene Märkte

geopolitisch

extraterritoriale Wirtschaftssanktionen, Blockade des internationalen Zahlungsverkehrs, Zugangssperren zu »sicherheitssensiblen« Märkten und Technologien

makroökonomisch

Geld- und Währungspolitik, Leitwährungsprivileg

Quelle: Eigene Darstellung

Die erste Form von Wirtschaftsnationalismus zielt darauf ab, Unterneh­ men und Märkte des nationalen Wirtschaftsraums vor überlegender auslän­ discher Konkurrenz politisch zu schützen. Ganz im Sinne des klassischen, von Friedrich List (2012 [1845]) begründeten Wirtschaftsprotektionismus geht es darum, im internationalen Wettbewerb wirtschaftlich und techno­ logisch aufzuschließen, einen industriellen Take-off zu schaffen, »nationale Champions« aufzubauen oder dem Niedergang industrieller Sektoren ent­ gegenzuwirken (z. B. »America first«). Wie Sapiro (2018: 171ff.) zeigt, sind protektionistische Praktiken auch auf zahlreichen nationalen Märkten für symbolische Güter wie Musik, Film und Literatur anzutreffen, geht es doch mittels der Instrumente Kulturförderung, Subventionierung, Quotenrege­



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lungen und Preisbindung darum, die kulturelle oder linguistische Diversi­ tät der regionalen bzw. nationalen Kulturproduktion (small-scale) vor der standardisierten »large-scale production« einer zumeist global agierenden US-Kulturindustrie zu schützen. In die Kategorie des kulturell legitimierten Wirtschaftsprotektionismus, der durch internationale Rechtsnormen (com­ mon heritage of mankind, WTO/GATT) flankiert wird, fallen auch die di­ versen Bestimmungen der EU zum Schutz von Ursprungsbezeichnungen, geografischen Herkunftsangaben und traditionellen Herstellungsverfahren von Lebensmitteln (Nürnberger Lebkuchen) und landwirtschaftlichen Er­ zeugnissen (Feta, Parmigiano-Reggiano, Steirisches Kernöl, Camembert de Normandie, vgl. Boisard 2003). Vom protektionistischen ist zweitens der »liberale Wirtschaftsnationa­ lismus« (Helleiner 2002; Helleiner/Pickel 2005; Clift/Woll 2012; Harmes 2012) zu unterscheiden. Dieser errichtet nicht Barrieren für ausländische Unternehmen beim Zugang zu nationalen Märkten, um einen ökonomi­ schen Entwicklungsrückstand aufzuholen oder eine vorteilhafte Marktpo­ sition zu verteidigen. Vielmehr zielt diese Variante darauf ab, nationale Ex­ portindustrien und Kapitalinvestoren durch internationalen Freihandel und offene Märkte zu protegieren. Im Gegensatz zum protektionistischen Wirt­ schaftsnationalismus kombiniert die liberale Variante nationale Rechtferti­ gungsmuster (»Stärkung der nationalen Wirtschaft im internationalen Wett­ bewerb«) mit postnationalen Narrativen (»Globalisierung«) (Callaghan/ Hees 2017). Eine dritte Spielart von Wirtschaftsnationalismus ist (geo)politisch aus­ gerichtet. In diesem Falle sollen Zugangssperren zu »sicherheitssensiblen« Märkten oder Technologien errichtet oder nationales Wirtschaftsrecht, flan­ kiert durch eine politische Drohkulisse, extraterritorial durchgesetzt werden. Ein aktuelles Beispiel sind die von den USA angedrohten Wirtschaftssank­ tionen gegenüber europäischen Unternehmen, die sich an North Stream 2 beteiligen, um Flüssiggasexporte in die EU zu erzwingen und russische Erdgaslieferungen zu verdrängen. Dieses Beispiel zeigt, dass geopolitischer Wirtschaftsnationalismus ein exklusives Privileg ist und davon abhängt, ob Machtchancen global monopolisiert werden können. Dieses Privileg steht und fällt mit der Glaubwürdigkeit der Drohung, dass bei Zuwiderhandlun­ gen Sanktionen drohen. Drohungen sind, wie Popitz (1992: 79ff.) gezeigt hat, umso glaubwürdiger, wenn sie »gedehnt« werden. Drohungen können allerdings nur dann gedehnt werden, wenn zu erwarten ist, dass sie auch tat­ sächlich umsetzbar sind, also wenn etwa das internationale Swift-Zahlungs­

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systems vom Drohenden faktisch kontrolliert werden kann und obendrein die Bedrohten im Ungewissen darüber bleiben, ob die angedrohten Sankti­ onen auch tatsächlich »harte« – im Grenzfall militärische – Konsequenzen haben werden. Schließlich ist eine vierte Variante zu nennen, die als makroökonomi­ scher Wirtschaftsnationalismus bezeichnet werden kann und in dessen Mit­ telpunkt geld- und währungspolitische Maßnahmen stehen, um etwa Ex­ porte nationaler Unternehmen zu verbilligen, indem die eigene Währung abgewertet wird. Anzumerken ist allerdings, dass ein solcher Wirtschaftsna­ tionalismus nur dann verfolgt werden kann, wenn eine nationale Währungs­ souveränität gegeben ist. Unter den Bedingungen der gemeinsamen europäi­ schen Währungsordnung entfällt der Wechselkursmechanismus, sodass auch einzelne Mitgliedstaaten des Euroraums nicht mehr auf das Instrument der Währungsabwertung zurückgreifen können, um die internationalen Absatz­ chancen nationaler Unternehmen zu verbessern (Vobruba 2012: 83ff.). So­ lange jedoch die nationale Währungssouveränität unangefochten ist, kann makroökonomischer Wirtschaftsnationalismus betrieben werden. Ein pro­ minentes Beispiel ist der Dollar, der nicht nur die nationale Währung der USA ist, sondern zugleich in mehrerlei Hinsicht als – noch immer – unan­ gefochtene globale Leitwährung fungiert. Der globale Status des Dollars lässt sich daran ablesen, dass 2019 weltweit 88 Prozent aller Devisengeschäfte auf Dollar-Basis getätigt worden sind (BIS 2019: 12). Eine vergleichbare mo­ netäre Dominanz besitzt der Dollar auch bei der Abwicklung des globalen Handels mit Gütern und Dienstleistungen. Diese monetäre Dominanz setzt sich auf den globalen Märkten für Rohstoffe (Erdöl) und Edelmetalle (Gold) fort, auch wenn in den letzten Jahren diverse Vorstöße von Russland und China beobachtet werden können, den Handel mit Rohstoffen stattdessen über Rubel oder Renminbi abzurechnen. Zudem hat der Dollar auf den in­ ternationalen Vermögensmärkten allein schon deswegen eine Dominanzpo­ sition inne, weil US-amerikanische Staatsanleihen zu den lukrativsten, weil sichersten Anlageformen weltweit gehören. Und schließlich entfallen zwei Drittel der globalen Währungsreserven, die von nationalen Notenbanken gehalten werden, auf den Dollar (61,69 Prozent, Euro 20,69 Prozent, Br. Pfund 4,43 Prozent, Jap. Yen 5,20 Prozent, Chin. Renminbi 1,89 Prozent, alle Angaben für 2018, IMF 2019a). Kurzum, der Dollar ist nicht nur globale Transaktionswährung im Zahlungsverkehr zwischen den Währungsräumen, sondern zugleich Ankerwährung für viele nationale Währungen, insbeson­ dere außerhalb des Euro-Raums, und zudem in Krisenzeiten globale Flucht­



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währung. Demgegenüber sind beispielsweise Euro und Yen kaum über den Status einer Regionalwährung hinausgekommen. Die Erwartungen europäi­ scher politischer Eliten, mit dem Euro nicht nur »fears of a German Europe« (Streeck 2016: 171) zu bändigen, sondern auch eine Alternative zum Dollar zu etablieren, hat jedenfalls mit der Euro-Krise von 2010 einen Rückschlag erlitten. Eine Währung, die zugleich globale Leitwährung ist, bietet handfeste na­ tionale ökonomische Skalenvorteile: So sind die Wechselkurs-Unsicherhei­ ten für Unternehmen der »Heimatwährung« überschaubarer. Auch erübri­ gen sich kostspielige Absicherungsgeschäfte. Da der Dollar darüber hinaus eine lukrative, weil sichere Anlageform darstellt, sind die Zinssätze für ameri­ kanische Staatsanleihen im globalen Maßstab niedrig. Das hat zur Folge, dass der defizitäre Staatshaushalt der USA zu geringen Kosten refinanziert werden kann. Unter dem Strich subventionieren ausländische Investoren indirekt Staat, Unternehmen und private Haushalte in den USA. Dadurch können nach Schätzungen von Ökonomen die USA ein jährliches Leistungsbilanz­ defizit von etwa 500 Milliarden Dollar anhäufen. Man kann also festhalten: Eine nationale Währung, die zugleich globale Leitwährung ist, bietet erheb­ liche Vorteile für die Ökonomie der »Heimatwährung«, auch aufgrund von Netzwerkeffekten. Zugleich ist eine solche Leitwährung Symbol politischer Macht, mit dem die nationalen Amtsinhaber ihre Prestigeansprüche nach innen und außen unterstreichen können, was wiederum der Stabilisierung der »Heimatwährung« als globaler Leitwährung zu Gute kommt. So betrach­ tet kann Machtprestige durch makroökonomischen Nationalismus genährt werden und umgekehrt. Mit anderen Worten übersetzt der Dollar ökonomi­ sche Vorteile in äußeres Machtprestige, das wiederum in ökonomische und politische Prestigevorteile übersetzbar ist. Bereits jede der vier Varianten von Wirtschaftsnationalismus zeigt für sich, dass die populäre Entgegensetzung offene vs. geschlossene Märkte im Sinne der Differenz liberal/entbettet versus reguliert/eingebettet allzu sche­ matisch wäre (vgl. Clift/Woll 2012). Aber auch zwischen den vier Varianten sind vielfältige Kombinationen wahrscheinlich, sobald die empirische Frage nach der Umsetzbarkeit »großer« wirtschaftspolitischer Rechtfertigungsnar­ rative in pragmatische Entscheidungsprozesse aufgeworfen wird. So kann beispielsweise der geopolitische und mit makroökonomischen Wirtschafts­ nationalismus eine enge Verbindung eingehen. Wie am aktuellen Beispiel der USA demonstriert werden kann, sollen Wirtschaftssanktionen gegen Pa­ ria-Staaten (z. B. Iran) extraterritorial durchgesetzt werden. Zugleich müssen

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Finanzinstitute aus Nicht-Paria-Staaten fürchten, den Zugang zum eminent wichtigen US-Finanzmarkt zu riskieren, falls sie mit Unternehmen aus Pa­ ria-Staaten geschäftliche Beziehungen weiter eingehen und für diese Finanz­ dienstleistungen erbringen (z. B. Zahlungsverkehr, Kreditvergabe). Hierbei handelt es sich gewissermaßen um sekundär angedrohte Wirtschaftssank­ tionen. In diesem Fall wird das makroökonomische Leitwährungsprivileg für nationale geopolitische Zwecke instrumentalisiert. Auch können libe­ rale mit protektionistischen Praktiken des Wirtschaftsnationalismus vielfäl­ tig kombiniert werden. Selbst in der »neoliberalen« Reagan-Ära der 1980er Jahre dominierte keineswegs nur ein liberaler Wirtschaftsnationalismus. So wurden etwa protektionistische Maßnahmen ergriffen und Strafzölle auf Halbleiterprodukte oder Motorräder aus Japan erhoben, um beispielsweise Harley-Davidson zu protegieren (Kitano/Ohashi 2009; Irwin 2015: 192ff.). Kürzlich hat Ergen (2019) sogar erstaunliche wirtschaftspolitische Kontinu­ itäten zwischen der Reagan- und Trump-Administration (neoliberale Steu­ erreformen nach innen und selektiver Wirtschaftsprotektionismus nach au­ ßen) aufgezeigt.10 Nicht zuletzt können protektionistische mit geopolitischen Instrumen­ ten des Wirtschaftsnationalismus kombiniert werden. Eine solche Verbin­ dung ist dann der Fall, wenn nicht nur Zölle gegen ausländische Unter­ nehmen erlassen werden, um nationale Unternehmen zu schützen, sondern zudem der Zugang ausländischer Unternehmen zum Binnenmarkt aus geo­ strategischen Gründen untersagt werden soll. Ein Beispiel dafür sind Über­ nahmeverbote europäischer Hightech-Unternehmen (Robotik, Batteriezel­ len) durch chinesische Investoren, die als »sicherheitsrelevant« eingestuft werden. Auch der neue »Handelskrieg« zwischen USA und China seit 2018 kann angeführt werden. Zum einen drohen die USA, Importsteuern gegen­ über chinesischen Unternehmen zu erheben, um inländische Unternehmen vor chinesischen Marktkonkurrenten zu schützen, Handelsdefizite gegen­ über China abzubauen, den Marktzugang für US-Unternehmen auf dem chinesischen Markt zu erleichtern oder »geistiges Eigentum« wirkungsvol­ ler zu schützen. Zum anderen hat die US-Aufsichtsbehörde FCC beispiels­ weise chinesischen Netzwerkausrüstern wie Huawei und China Mobile den Zutritt zum nationalen Markt für 5G-Mobilfunknetze mit dem Argument verweigert, in großer Nähe zur chinesischen Regierung zu stehen, die digi­ 10 Vgl. auch die neueren Analysen von Crouch (2017) und Cozzolino (2018) zum »nationa­ listischen Neoliberalismus« der Trump-Administration.



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tale Infrastruktur der USA kontrollieren zu wollen, Geschäftsgeheimnisse auszuspähen und Spionage zu betreiben (vgl. FAZ 17.1.19). Kurzum, hinter dem neuen protektionistischen Handelskrieg zwischen den USA und China scheint ein geopolitischer Wettlauf um die Etablierung globaler Standards für digitale Technologien und Künstliche Intelligenz auf (Lee 2018). Um den Zusammenhang von Machtprestige und Wirtschaftsnationalis­ mus eingehender zu beschreiben, aber auch mögliche Grenzen und paradoxe Effekte zu identifizieren, wäre die Frage nach unterschiedlichen Spielarten von Machtprestige aufzuwerfen. Vor allem wäre eingehender zu untersu­ chen, welche Bedeutung geoökonomischen (Geld- und Währungspolitik), geopolitischen (hard power) und geokulturellen (soft power, global culture) Varianten von Wirtschaftsnationalismen bei der Konstruktion und Versteti­ gung von Machtprestigechancen zukommt. Auch wäre zu problematisieren, wann welche politischen Elitenfraktionen welche Varianten von Wirtschafts­ nationalismus zu mobilisieren versuchen, um ihre Machtprestigechancen zu stabilisieren, zu steigern oder einer drohenden Entwertung entgegenzuwir­ ken. In diesem Zusammenhang wäre zudem die Frage nach dem jeweili­ gen – historisch-soziologisch variablen – Verhältnis von geoökonomischen und geopolitischen Aspirationen zur Steigerung von Machtprestige aufzu­ werfen. Können spezifische soziale Muster identifiziert werden, um etwas besser zu erklären, unter welchen Bedingungen eine Hinwendung zu geo­ ökonomischen oder geopolitischen Aspirationen wahrscheinlich ist. Kann ein enger Zusammenhang in dem Sinne nachgewiesen werden, dass Macht­ prestige mit geoökonomischen »Erfolgen« zunimmt und umgekehrt entspre­ chende »Erfolge« mit Machtprestige einhergehen. Welche Argumente spre­ chen gegen ein wechselseitiges Steigerungsverhältnis von Geoökonomie und Machtprestige? In diesem Zusammenhang müssten unterschiedliche Pres­ tigeregime (USA versus China versus Russland versus EU) und Verlaufs­ formen (Auf- und Abwertungen von Machtprestige) unterschieden werden. Zudem wäre zu fragen, unter welchen ökonomischen und politischen Be­ dingungen die Träger von Machtprestige eine einmal eingenommene Sta­ tusposition behaupten können oder sich einer schleichenden Statuserosion ausgesetzt sehen. Wie weiter oben vorgeschlagen worden ist, wäre über Weber und Bour­ dieu hinausgehend zwischen inneren und äußeren Machtprestigechancen zu unterscheiden, wobei zu vermuten ist, dass das Binnen- und Außenpresti­ ge nicht in einem kausalen, monoton steigenden oder fallenden Verhältnis zueinanderstehen muss. Einerseits können die Statusaspirationen nationa­

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ler Prestigeträger auf der internationalen Ebene von Prestigesuperioren un­ ter Quarantäne (Westdeutschland bis 1990) gestellt werden, im Halbschritt aufsteigen (Deutschland ab Mitte der 1990er Jahre) oder unter Beobachtung (nationalkonservative Regierungen in Ungarn und Polen) stehen. Natürlich kann auch inneres und äußeres Machtprestige – ökonomisch unterfüttert – in großen Schritten aufsteigen (One Belt, One Road-Initiative Chinas). An­ dererseits kann Machtprestige von innen stabilisiert werden oder erodieren, je nachdem ob es den Prestigeträgern gelingt, Entscheidungen oder Ereignis­ se gleich welcher Art als »nationale Erfolge« in der Öffentlichkeit darzustel­ len und diese sich dem eigenen Tun zuzuschreiben. Auch ist es möglich, dass das Binnenprestige gerade deswegen gestärkt wird, weil das Außenprestige geschwächt wird, wie am Beispiel der jüngsten Wirtschaftssanktionen von USA und EU gegenüber Russland gezeigt werden kann. In solchen Fällen würde sich Simmels Erklärung, dass externe Konflikte die Binnensolidarität stärken können, auch für die Analyse geopolitischer Statuskonflikte anbieten (vgl. Collins 2002: 119). Weiter wäre die Frage nach der Akkumulation und Bändigung von nationalem Machtprestige unter Bedingungen von Trans­ nationalisierungsprozessen und einer engeren supranationalen Kooperati­ on (Europäische Union) zu erörtern. Und schließlich wäre aus demokratie­ theoretischer Perspektive die brisante Frage nach der Richtung des Wandels aufzuwerfen: Unter welchen Bedingungen können nationale Trägergruppen von Machtprestige durch deliberative Verfahren eingehegt oder durch demo­ kratische Öffentlichkeiten sogar »zivilisiert« werden?

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Wirtschaftsnationalismus im Vergleich

Konservativer Nationalstaat als Entwicklungsagentur – Ideenproduktion und Praxis in Polen, Ungarn und Russland1 Katharina Bluhm und Mihai Varga 1. Einleitung Anfang der 2000er Jahre formulierten Peter Hall und David Soskice (2001) ihr Konzept der Varianten des Kapitalismus (VoC), das über eine Dekade die Diskussion in der politischen Ökonomie prägte und auch in der Wirt­ schaftssoziologie breit rezipiert wurde. Die Kritik wurde im Verlaufe der Jah­ re immer grundsätzlicher. Zu deren zentralen Punkten gehörten seine Fo­ kussierung auf die nationale Ebene, die Betonung von Pfadabhängigkeit gegenüber institutionellen Brüchen, die verkürzte Sicht auf die Rolle des Staates in der Wirtschaft, etwa bei Innovationsprozessen, sowie die Gleich­ setzung von Marktwirtschaft und Kapitalismus. Die Übertragung des Ansatzes auf die Transformation und Westinte­ gration Mittel- und Osteuropas hat zudem die Debatte um die Konzen­ tration des VoC-Ansatzes auf die Institutionen der entwickelten kapitalis­ tischen Ökonomien verschärft. Kritiker der neoliberalen Schocktherapie (rasche Liberalisierung, Privatisierung und Austeritätspolitik), die in weiten Teilen des postkommunistischen Raums angewandt worden war, begannen Dependenz- und Weltsystemtheorien bei der Analyse der neuen Marktwirt­ schaft in Europa zu reaktivieren. So schlugen Andreas Nölke und Adrjan Vliegentharts (2009) eine Erweiterung des VoC-Ansatzes um eine »abhän­ gige Marktwirtschaft« vor, die im Wesentlichen die Bildung eines mitteleu­ ropäischen Automobilclusters reflektiert, bei der qualifizierte Industrie- und Ingenieurarbeit und kapitalintensive Produktion aus Kostengründen in die Region verlagert wurden, kaum aber die Innovationsprozesse der westlichen Hersteller. Dorothee Bohle und Béla Greskovits (2012) griffen auf Karl Pola­ nyis Entbettung- und (Wieder-)Einbettung zurück, um zu erklären, warum 1 Eine frühere Version des Aufsatzes wurde unter dem Titel »Conservative Developmen­ tal Statism in East Central Europe and Russia« in New Political Economy (Juli 2019) publiziert.

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Polen, Ungarn und Tschechien sehr viel mehr auf soziale Absicherung der Schocktherapie setzten als das Baltikum, ohne die liberale Reformrichtung grundsätzlich zu ändern. Der Erklärungsansatz des Kapitalismus von seinen Varianten her scheint seitdem obsolet. Große historische Entwicklungszyklen des Kapitalismus im Ganzen bestimmen die Forschungsperspektiven, während der Aufstieg Chi­ nas der Grundsatzdebatte um den Zusammenhang von Kapitalismus und Demokratie neue Nahrung gibt. Auch die für Mittel- und Osteuropa früher vorgeschlagenen Varianten können nicht oder genauer nicht ausreichend er­ klären, warum gerade zwei »Pioniere« der Demokratisierung und Westinte­ gration – Polen und Ungarn – eine autoritäre Kehrtwende vollzogen haben. Der inzwischen fast inflationär gebrauchte Begriff des Populismus hebt auf allgemeine Muster ab, die nur wenig Differenzierung erlauben. Die gegenwärtigen tektonischen Verschiebungen im internationalen Ord­ nungsgefüge lassen sich indes weder mit dem Begriff des Populismus noch als Zurückgleiten in Autoritarismus ausreichend deuten. Sie sind eine Folge der komplexen Krise der bestehenden Ordnung, auf die viele politische Akteure strategisch mit einer Rückbesinnung auf einen offenen Wirtschaftsnationalis­ mus reagieren. Dieser tritt allerdings in unterschiedlicher Weise und unter­ schiedlich stark in Erscheinung. Unsere erste These lautet, dass die gegenwär­ tige Reformulierung der wirtschafts- und sozialpolitischen Agenda in Polen und Ungarn eine spezifische Variante eines neuen Wirtschaftsnationalismus darstellt, der eng mit einem neuen illiberalen Konservatismus in diesen Län­ dern verknüpft ist (Bluhm/Varga 2019). Wir charakterisieren diese Variante als illiberalen, sozialkonservativen Entwicklungsetatismus, da sie das Setzen auf Staatsintervention mit einer dezidiert sozialkonservativen, aber redistributi­ ven Komponente verbindet. Sie beruht auf der Überzeugung, dass die Ergeb­ nisse der Transformation korrigiert werden müssen, dass man trotz Revoluti­ on wieder auf eine semi-peripheren Position in Europa festgelegt werde, die dem historischen Anspruch der Länder nicht entspricht. Diese Konfiguration von paradigmatischen Ideen und Programmen weist, so unsere zweite These, auffällige Ähnlichkeiten mit dem rechtskon­ servativen Wirtschaftsnationalismus in Russland auf. Nicht zufällig spielen Dependenz- und Weltsystemtheorie in allen drei Ländern eine prominente Rolle. Während Nölkes und Vliegenharts Begriff der »abhängigen Markt­ wirtschaft« Eingang in Polens konservative »Zirkel« gefunden hat (Jasiecki 2019), rebellieren die russischen illiberalen Konservativen gegen die Abhän­ gigkeit von globalen Finanz- und Ressourcenmärkten ihres Landes, auf die



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das gegenwärtige Regime nur eine unzureichende Antwort findet. In allen drei Fällen ist mit dem Optimismus eines zügigen Aufholens auch die Ge­ duld verschwunden, nicht nur weil, wie Piotr Stzompka (2000) konstatier­ te, das Ziel der Transformation sich immer weiter fortbewegt, sondern auch weil der Glaube verschwunden ist, dass der westliche Liberalismus für den postkommunistischen Raum ein erfolgreiches Wirtschaftsmodell bereithal­ te. Die Antwort wird allerdings nicht in einem ganz anderen Wirtschaftsmo­ dell gesucht, sondern in einer pro-kapitalistischen Korrektur. Die Gemeinsamkeiten dieser spezifischen Konfiguration eines neuen Wirtschaftsnationalismus werden im Folgenden genauer untersucht. Gleich­ zeitig bestehen gravierende Unterschiede zwischen Polen und Ungarn ei­ nerseits und Russland andererseits, die zumindest angedeutet werden sol­ len. Sie sind nicht nur allgemein von Geschichte und Größe der Länder geprägt, sondern auch von den postkommunistischen Varianten von Kapi­ talismus, welche sowohl die Problemdeutungen wie die Lösungsvorschläge konditionieren. Der Fokus unserer Analyse liegt auf der paradigmatischen und program­ matischen Ebene, ergänzt um die Frage, inwieweit die Ideen und Politikvor­ schläge praxisrelevant geworden sind. Wir können zeigen, dass es sich bei der nationalkonservativen Wende in Polen und Ungarn nicht um eine populis­ tische Ad-hoc-Politik handelt, die Ängste der Transformationsverlierer poli­ tisch ausbeutet, sondern dass hinter dieser Wende die intellektuelle Arbeit ei­ ner Reihe von konzeptionellen Ideologen und Think Tanks steht, die seit den 2000er Jahren an Einfluss gewonnen haben. Ähnliches gilt auch für Russ­ land. Während jedoch in Polen und Ungarn die Ideologen mit den Wahl­ gewinnen von PiS und Fidesz auch direkt politikgestaltend wirken konn­ ten, blieb den russischen konservativen Entwicklungsetatisten – trotz Putins konservativen Bekenntnissen ab 2011/12 – die Einnahme von Schlüsselpo­ sitionen in der Wirtschafts- und Sozialpolitik verwehrt. Mit dem Fokus auf die »Ideenproduzenten« (Bourdieu 1979) wenden wir uns gegen die in der Forschung über diese Länder verbreitete Top-down-Perspektive auf das Füh­ rungspersonal, deren Parteien und auf die engsten Elitezirkel. Wir behaup­ ten nicht, dass die Debatten um Populismus, das autoritäre Erbe oder dem »Mafia-Staat« bzw. die »Kleptokratie« (Dawisha 2015; Magyar 2016; Szanyi 2016) irrelevant sind. Diese Deutungen nehmen jedoch die Versuche der Formulierung einer neuen Agenda nicht ernst. Das Kapitel ist in drei Teile aufgebaut. Im ersten Teil stellen wir wich­ tige konzeptionelle Ideologen des konservativen Entwicklungsetatismus in

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den drei Ländern vor, anschließend analysieren wir den aus unserer Sicht ge­ meinsamen paradigmatischen Kern dieser Variante eines neuen Wirtschafts­ nationalismus und deuten einige wichtige Unterschiede an. Im dritten Teil werden wir die Übersetzung dieses Kerns in sozioökonomische Programme und deren praktische Relevanz skizzieren.

2. Das konservative Feld der Ideenproduktion in Polen, Ungarn und Russland In allen drei Ländern lässt sich die Entstehung intellektueller Milieus ei­ nes rechten, illiberalen Konservatismus als Gegenbewegung zum liberalen Mainstream bereits in den 1990er Jahren beobachten. In Polen und Ungarn ist dabei vor allem die Wahrnehmung unter Konservativen maßgebend, dass der Liberalismus den andauernden Einfluss der ehemaligen Kommunisten gewährleistet (Podgórecki 1995; Tellér 1999). Konservative Intellektuelle ar­ beiteten in Polen und Ungarn vor allem akademisch, übersetzten und popu­ larisierten westliches konservatives Denken und begannen die diversen Tra­ ditionslinien eines heimischen Konservatismus zu rekonstruieren. Die Identifikation von Fidesz mit konservativen Positionen und der Kri­ tik an der »Euro-atlantischen Integration« führte zu einer Annäherung der konservativen Intellektuellen Ungarns an Orbáns Partei, die mit den zuneh­ menden Erfolgen von Fidesz auch direkt in die Politik gingen (Gagyi 2016; Balázs 2014). Dazu zählt auch György Matolcsy, nach eigenem Verständnis ein »heterodoxer« Ökonom von »national-konservativer Überzeugung«, der wie kein anderer die Wirtschaftspolitik der Fidesz prägte, und zwar als Wirt­ schaftsminister zwischen 2000–2002 und 2010–2013, und seit 2013 als Chef der ungarischen Notenbank. Obgleich keineswegs ein Gegner der Markt­ wirtschaft, kritisierte er frühzeitig die liberale »Anbetung« des Individualis­ mus und die Unfähigkeit des Liberalismus, die Bedeutung der Nation für Entwicklung zu erkennen (Matolcsy 2004). Nach der Wahlniederlage von Fidesz 2002, distanzierten sich Partei und konservative Intellektuelle weiter vom liberalen Denken und positionierten sich um einen Moraldiskurs über die Vergangenheit und Zukunft der Na­ tion – ein Diskurs, der, so Zoltán Gábor Szűcz (2012), zu einem prägenden Merkmal eines »neuen Konservatismus« in Ungarn wurde. Als ein Zentrum der konservativen Ideologieproduktion hat sich der Századvég Think Tank



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herauskristallisiert, der ursprünglich von István Stumpf und später von An­ drás Lánczi geleitet wurde, Rektor der Corvinus-Universität und Autor des »Konservativen Manifests« von 2002. Századvég ist die bedeutendste poli­ tische Stiftung, die eng mit Fidesz assoziiert ist, seitdem die Partei besteht, und ein Hauptnutznießer von Beratungsverträgen mit der Orbán-Regierung seit 2010. Ursprünglich eher liberal ausgerichtet, definierte sich die Stiftung Ende der 2000er Jahre in eine »konservative« und »national orientierte« Or­ ganisation um und begann Schriften führender Ideologen der konservativen Rechten zu publizieren, darunter Stumpf, Lánczi und Attila Károly Molnár. Orbáns früherer Professor am Bibó Kollégium, Stumpf, gehörte von 1998 bis 2002 zur ersten Orbán-Regierung und trat 2010 als Vertreter von Fidesz dem ungarischen Verfassungsgericht bei (Buzogány/Varga 2018). Ein anderer Lei­ ter von Századvég, Balázs Orbán, nicht verwandt mit dem Premierminister, hat seit 2018 ein Regierungsamt inne. Seit 2018 fungiert Lászlo György, der Chefökonom des Századvég, als Staatssekretär für Wirtschaftsstrategie. Während die ungarischen Ideologen erst in die Politik wechselten, grün­ deten die polnischen Konservativen von Anfang an eigene, kleinere Parteien, die 2003 in PiS-Strukturen integriert wurden (Matyja 2015). Dies sicherte ihnen während der ersten PiS-Regierung 2005 bis 2007 wichtige Posten in der Regierung wie in den Medien und im Beraterteam des Präsidenten Lech Kaczyński. Vor dem zweiten und großen Wahlsieg von PiS 2015 nahmen sie an der Ausarbeitung des Parteiprogramms teil. Polnische Konservative finden ihre Heimat in Warschau und Krakau (Dąbrowska 2019). Während die Jagellonen-Universität in Krakau bereits im 19. Jahrhundert über eine starke Szene von konservativen Intellektuellen verfügt, wurde die Stadt nach 1989 erneut zu einem Zentrum konservativer Ideologieproduktion. Dazu gehörte das »Zentrum für politisches Denken« (Ośrodek Myśli Politycznej, OMP), das 1992 gegründet wurde und einige der einflussreichsten konservativen Intellektuellen und Politiker des Landes her­ vorgebracht hat. Zu den wichtigsten Namen gehören der Philosophieprofes­ sor Ryszard Legutko (Staatssekretär des inzwischen verstorbenen Präsiden­ ten Lech Kaczyński und Bildungsminister in der ersten PiS-Regierung), der Bremer Soziologe Zdzisław Krasnodębski (der das 2014 PiS-Wahlprogramm mitgeschrieben hat), und der Dissident Bronisław Wildstein (Leiter des öf­ fentlich-rechtlichen Fernsehens während der ersten PiS-Regierung). Zum OMP-Netzwerk gehören auch die in Warschau lebenden Philosophen Dar­ iusz Gawin and Marek Cichocki, die zusammen einen konservativen Think Tank in der Hauptstadt gründeten. Zu den frühen konservativen Denkfab­

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riken in Warschau zählen Ordo Iuris (lat. für Rechtsordnung), die 2016 eine Gesetzesinitiative für das vollständige Verbot von Abtreibungen auf den Weg brachte, das Instytut Wolności (Freiheitsinstitut) und das Institytut Sobieskiego (Sobieski-Institut) – zwei Think Tanks, die sich mit sozioökonomischen Fragen befassen und deren Experten Regierungs- oder Botschaftsämter nach dem Wahlsieg von PiS 2015 übernahmen (Ryszard Legutko, Zdzisław Krasnodębski). Krasnodębski fungierte bis Juli 2019 als Vizepräsident des Europaparlaments. Besonders einflussreich in der Wirtschafts- und Sozial­ politik der PiS ist der konservative Experte Pawel Szałamacha vom Sobie­ ski-Institut, der von November 2015 bis Oktober 2016 als PiS Finanzminis­ ter die Steuer- und Sozialpolitik maßgeblich prägte (ebd.) und seit Oktober 2016 als Vorstandsmitglied der polnischen Zentralbank fungiert. Anders als in Polen und Ungarn, wo die konzeptionellen Ideologen zu­ nächst eine politische Agenda besaßen, die erst in der Auseinandersetzung mit den ehemaligen Kommunisten und ihren liberalen »Verbündeten« wirt­ schaftspolitisch unterfüttert wurde, stand in Russland die Wirtschaftspolitik von Anfang an weit oben auf der Agenda der »Staats- und Nationalpatrio­ ten«. Die Loslösung vom Kommunismus erwies sich dabei als ein schwie­ riger Prozess, da die 1993 neu gegründete Kommunistischen Partei Russ­ lands (KPRF) nichts mehr mit einem marxistischen Universalismus zu tun hatte und mit den neuen Rechtskonservativen ein prekäres Bündnis gegen die neoliberalen Reformen bildete. Ein erster einflussreicher konservativer Think Tanks nannte sich Russisch-Amerikanische Universität2, deren Präsi­ dent, Aleksej Podberezkin kurze Zeit später die »Spiritual Heritage«-Bewe­ gung gründete und für die KPRF Partei- und Wahlprogramme verfasste. Erst im Kampf um El’cins (Jelzins) Nachfolge und durch die selektive Ko­ optation von »Staatspatrioten« in die neuen Machtzirkel um Vladimir Pu­ tin zerbrach die eigentümliche Symbiose von Kommunismus und Konserva­ tismus. Gleichzeitig meldete sich eine junge Generation von Intellektuellen zu Wort, die sich daranmachten, einen neuen russischen Konservatismus in Opposition zum westlichen Liberalismus und Kommunismus zu formulie­ ren (Bluhm 2016a; 2018). Die Russisch-Orthodoxe Kirche wie der Kreml förderten einen regelrechten Wettbewerb der »konservativen Manifeste« zwi­ schen 2003 und 2007, deren unmittelbarer Anlass die Suche nach einer poli­ tischen Identität der neuen »Partei der Macht« (Edinaja Rossija) als Partei der 2 Der Name ist insofern irreführend als die USA sich an der Gründung 1990 lediglich symbolisch beteiligte. Gespräche für eine engere Kooperation verliefen rasch im Sande.



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Mitte war. Obgleich sich die Partei ab 2009 als »konservativ« bezeichnete, fand keines der Manifeste Eingang in die offizielle Agenda. Mit Putins offenem Bekenntnis zum Konservatismus 2011/12 schien sich das Blatt zu wenden (Bluhm 2018). Sichtbare Anzeichen war die Übernah­ me von Ämtern in der Regierung, als Berater oder in den Massenmedien durch prominente »Staatspatrioten«. Hinzukam die Gründung eines »antiliberalen Super-Think Tank« 2012 (Bacon 2018; Laruelle 2016). Der Izborskij Klub bildet die virtuelle Plattform für bekannte Ideologen des russischen il­ liberalen Konservatismus, als deren einigendes Band sie selbst den »sozialen Konservatismus« nennen (Izborskij klub 2017). Zu den Gründungsmitglie­ dern gehören der Publizist Alexandr Prochanov, ein altbekannter Opponent El’cins, die Ökonomen Sergej Glaz’ev, Michail Deljagin und Michail Cha­ zin, sowie der Eurasier Aleksandr Dugin, der orthodoxe Philosoph Vitalij Aver’janov, der für den Klub sein »Institut für einen Dynamischen Kon­ servatismus« aufgab, sowie Vorstand des ultrakonservativen Sretenskij Klos­ ters in Moskau, Bestsellerautor und Vertrauter Putins, Bischof Tichon.3 Das Akademiemitglied Glaz’ev, der in der ersten Hälfte der 1990er Jahre zwei Mal Regierungsämter innehatte und dann zu einer der öffentlichen Galli­ onsfiguren gegen die Schocktherapie wurde, ist für die Wirtschaftskonzepti­ on des Klubs die zentrale Figur. Nach 2012 schien zunächst auch die Generation der neuen oder jungen Konservativen der 2000er Jahre wieder im Aufwind, der bereits ab 2016 ab­ flaute. So erhielt der Politikberater Michail Remizov und sein privater Think Tank »Institut für eine Nationale Strategie« 2014 öffentliche Förderung für eine Studie über den »Konservatismus als weiche Macht Russlands«, die eine wirtschaftsnationale Agenda entwarf und Russlands Rolle in einer neu­ en »Konservativen Internationale« begründen sollte (Remizov u. a. 2014). Trotz des Einflussgewinns der konservativen Nationalisten auf die russische Außen- und Innenpolitik in Putins dritter Amtszeit als Präsident, ist es ih­ nen nicht gelungen, in entscheidenden Fragen ihre Positionen in der Wirt­ schafts- und Sozialpolitik durchzusetzen. Glaz’evs Bewerbung auf den Pos­ ten des Zentralbankchefs (2013) scheiterte; 2019 fand auch seine langjährige Beratertätigkeit beim Präsidenten ein Ende. Dafür erhielt er das Amt eines Vorstandsmitgliedes mit Ministerrang der Eurasischen Wirtschaftskommis­ 3 Dem Klub schlossen sich auch Vertreter aus Wirtschaftsinstituten der Akademie der Wissenschaft und anderen wissenschaftlichen Einrichtungen an. Lange Zeit war die ehemalige Diplomatin und der Orthodoxie nahestehende Historikerin Natalija Naročnickaja das einzige weibliche Mitglied des Klubs.

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sion. Michail Remizov (2017) konstatiert ernüchtert: Russland wird von ei­ ner Allianz aus Monetarismus und Favoritismus regiert.

3. Triade des Wirtschaftsnationalismus Nach Eric Helleiner (2002) beruht Wirtschaftsnationalismus auf dem Impe­ rativ, dass Wirtschaft den nationalen Interessen bzw. der »Gemeinschaft« zu dienen habe. Diese lassen sich mit einer Vielzahl unterschiedlicher Politiken realisieren, die im hohen Maße zeit- und kontextabhängig sind. Sie können vom Protektionismus ganzer Branchen oder zumindest junger Industrien à la Friedrich List bis zur Verteidigung einer globalen Vormachtstellung durch Freihandel reichen. Wirtschaftsnationalismus und liberale Wirtschaftspo­ litik stehen damit nicht per se in Opposition. Auch der liberale Transfor­ mationskurs in Mittel- und Osteuropa hatte in den 1990ern Jahren einen Wettbewerb der Nationen um die knappe Ressource »Investoren« eingebaut. Gleichzeitig versuchten etwa Polen und Tschechien »national Champions« zu fördern (vgl. u. a. Bohle 2002; Orenstein 2001). Das Baltikum wiederum unternahm wenig, um die bestehende Industrie des sowjetischen »Kolonial­ herrn« vor der westlichen Konkurrenz zu retten (Bohle/Greskovits 2007; Ab­ delal 2001). Wirtschaftsnationales Denken war also in der liberalen Transfor­ mationsperiode keineswegs völlig abwesend. Die entscheidende Differenz zwischen Liberalismus und Wirtschaftsna­ tionalismus besteht darin, dass sich bei letzteren nicht nur die Nation als »vorgestellte Gemeinschaft« (Anderson 1983) zwischen dem einzelnen In­ dividuum und der gesamten Menschheit schiebt, sondern dass diese Ebe­ ne priorisiert wird, was zu latenten Spannungen zumindest zu bestimm­ ten Kapitalfraktionen führt (Helleiner 2002: 311; Woll/Clift 2013). Anders formuliert: Der per se transnationale Kapitalismus wird gleichsam national »eingebettet«, indem Einheit, Identität und Autonomie der Nation zu Leit­ vorstellung für Wirtschaftspolitik erhoben und liberaler Kosmopolitismus zurückgewiesen werden. Wirtschaftsnationalismus ist daher auch mehr als nur die Forderung nach einer stärkeren Rolle des Staates bei Regulierung, Umverteilung oder Investitionen. Die gegenwärtig weltweit zu beobachtende Rückkehr eines offen vorge­ tragenen Wirtschaftsnationalismus variiert mit den Varianten des Kapita­ lismus, ohne durch diese determiniert zu werden. Die konservativen Kräfte



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etwa, die den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union betrie­ ben haben, verbinden damit offenbar mehr Freihandel als der amerikani­ sche Präsident Donald Trump, der auf eine eigentümliche Weise die Wett­ bewerbsvorteile des liberalen Kapitalismus mit dessen Einschränkung zu kombinieren sucht, oder gar die französische Etatistin Marie Le Pen. Polens und Ungarns »abhängige Marktwirtschaften« haben für ihren Wirtschaftsna­ tionalismus andere institutionelle und sozioökonomische Voraussetzungen und Handlungsspielräume (innerhalb und selbst außerhalb der EU) als das räumlich auf zwei Kontinenten ausgedehnte Russland mit seinem stationä­ ren Staatskapitalismus, bei dem ausländisches Kapital eine deutlich geringe­ re Rolle spielt und dafür aber der Abhängigkeit der Volkswirtschaft von den globalen Rohstoff- und Finanzmärkten wenig entgegengesetzt wurde. Trotz dieser bedeutsamen Unterschiede lässt sich in den drei postkom­ munistischen Ländern ein ähnliches Korrekturprogramm der Ergebnisse der Transformation erkennen, dass wir auf einen sozialkonservativen Entwick­ lungsetatismus zuspitzen. Drei gemeinsame paradigmatische Bestandteile lassen sich dabei identifizieren: Die Rückkehr des intervenierenden Natio­ nalstaates als zentrale Entwicklungsagentur von Wirtschaft und Gesellschaft, die Dramatisierung einer gefährdeten nationalen Identität, die es zu behaup­ ten gelte, sowie Ideen eines sozialen Konservatismus, der eine deutliche re­ distributive Komponente hat und die Ungerechtigkeiten durch die Transfor­ mation korrigiert.

Abb. 1: Die Triade des Wirtschaftsnationalismus in Polen, Ungarn, und Russland Quelle: Eigene Darstellung

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3.1 Entwicklungsetatismus In allen drei Ländern lieferte die Finanzkrise 2007 bis 2009 den Konservati­ ven den endgültigen Beweis dafür, dass der neoliberale Modernisierungspfad gescheitert ist und die Welt vor einem Paradigmenwechsel steht. In Russland tobt der Kampf um diese Frage im Grunde seit Beginn der Schocktherapie Anfang der 1990er Jahre. In Polen und Ungarn hat die Enttäuschung über die Wohlstandseffekte des EU-Beitritts 2004 den Boden entsprechend berei­ tet. Dazu trug auch die Verlangsamung der ausländischen Direktinvestitio­ nen nach dem Beitritt bei (Appel/Orenstein 2018). In allen drei Ländern benennen die konzeptionellen Ideologen des neu­ en sozialkonservativen Entwicklungsetatismus den developmental state Ostasi­ ens als eine Inspirationsquelle, ohne dass man allerdings ein genaues Studium dieser Erfahrungen nachweisen kann. Häufig wird auch das Kontinentaleuro­ pa der Nachkriegszeit ins Feld geführt, vor allem de Gaulles 5. Republik mit ihrer Mischung aus indikativer Planung, Staatseigentum und Keynesianis­ mus. Doch ist für konservative Wirtschaftsnationalisten der Rekurs auf eige­ ne Traditionsbestände wichtig, von Józef Piłsudskis Sanacja-Regime während der 2. Polnischen Republik bis zu den positiven Referenzen zu István Szé­ chenyi, dem bedeutendsten ungarischen Staatsreformer des 19. Jahrhunderts, nach welchem die ungarischen Entwicklungspläne von Matolcsy benannt wurden. In Russland werden die Reformen unter Petr Stolypin im späten Za­ renreich, aber auch Elemente der stalinistischen Modernisierung vor allem im Hinblick auf die Organisation des wissenschaftlich-technischen Fortschritts positiv referiert, ohne dass man zur Planwirtschaft zurückkehren will. Von zentraler Bedeutung für den russischen Nationalismus ist die For­ derung nach (Wieder-)Herstellung »vollständiger« nationaler Souveränität. Putin, so der häufig vorgetragene Vorwurf gegen ihn, habe zwar nach rascher Rückzahlung der Auslandsschulden bis 2003 einen gewissen Grad an finan­ zieller Autonomie zurückgewonnen und spätestens ab 2014 die außenpoliti­ sche Souveränität Russlands bewiesen, doch bleibt das Land im hohen Maße vom Finanzmarkt abhängig (alle Versuche die Kapitalflucht zu beenden, gel­ ten als halbherzig) (Starikov 2011; Glaz’ev 2016). Die konservativen Intellek­ tuellen kritisieren vehement den gegenwärtigen Staatkapitalismus mit seinen Clanstrukturen, der sich als unfähig erweist, die Abhängigkeit vom Roh­ stoffexport substantiell zu verringern. Sie verbinden damit den Anspruch, dass Russland seinen Status als Großmacht nur dann festigen kann, wenn es selbst eine Makroregion bildet, die genug Arbeitskräfte, Märkte und Res­



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sourcen bereithält, um Russland wieder zu einem wirtschaftlichen Zentrum zu machen (Chazin 2018a; Glaz’ev 2016; Remizov u. a. 2014). Soweit gehen die polnischen und ungarischen Ambitionen nicht, ob­ gleich auch sie nach neuen Verbündeten jenseits der EU in China und im »globalen Süden« suchen. Dazu gehören die Idee einer Neuauflage des »Dreiseenbundes« oder die 16+1-Verhandlungen mit China. Bei dem Drei­ seenbund (auch Intermarium oder Międzymorze) handelt es sich um ein Pro­ jekt von Józef Piłsudskis aus den 1920er Jahren, der ein militärisches und politisches Bündnis der zwischen Ostsee, Schwarzem Meer und Adria gele­ genen Länder schmieden wollte. Souveränität ist auch für polnische und un­ garische Konservative ein Schlüsselbegriff, der die Wirtschaftsagenda leitet (Fodor/Lánczi 2012; Legutko 2014).4 Auch wenn das folgende Zitat von einem russischen Wirtschaftsnatio­ nalisten stammt, trifft es einen Kerngedanken in dem neuen konservativen Denken Ungarns und Polens. Remizov stellt mit Verweis auf Friedrich List fest: »Modernisierung der Wirtschaft und Gesellschaft hat sich niemals und wird sich niemals unter Bedingungen einer vollständigen wirtschaftlichen, politischen, sozialen und kulturellen Öffnung zu entwickelteren Märkten verwirklichen« (Remizov 2016b: 373). Das Konzept für eine souveräne Wirtschaftspolitik weist in allen drei Ländern ähnliche Elemente auf: Dazu gehört erstens ein Infragestellen der Neoklassik und des Moneta­ rismus zugunsten heterodoxer Wirtschaftstheorien. Im Zentrum steht eine Neudefinition der Rolle der Zentralbank, die sich vom Primat der Inflati­ onsbekämpfung mit den Mitteln der Geldpolitik zu verabschieden und als Entwicklungsbank über Kreditvergabe die heimische Realwirtschaft zu för­ dern habe.5 4 In beiden Ländern haben konservative Publikationen Sonderausgaben dem Thema »Souveränität« gewidmet; Századvégs Zeitschrift »Nationale Interessen« beansprucht in ihrer ersten Ausgabe sogar programmatisch, der »Souveränität« zu dienen, während in Polen Zdzisław Krasnodębski die Bedeutung des Themas unterstrich, indem er 2015 eine von Präsident Andrzej Duda initiierte Konferenz in Warschau mit dem Titel »Sou­ veränität, Solidarität, Sicherheit« leitete. 5 Zu den Referenzen gehören zeitgenössische Kritiker und Befürworter einer stärke­ ren Rolle des Staates vor allem bei dem Vorantreiben der Innovationen, wie etwa Ma­ riana Mazzucato, Justin Yifu Lin, Joseph Stiglitz und Dani Rodrik (im Falle Polens und Ungarns). Im Falle Russlands wird häufiger auf Friedrich List, John Maynard Keynes, James Tobin, Josef A. Schumpeter und vor allem auf den Exilrussen Nikolaj D. Kondrat’ev mit seinen langen Technologiezyklen zurückgegriffen (Glaz’ev 2017; 2018; Remizov u. a. 2014).

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Zweitens wird die Notwendigkeit eines zentralisierten Interventionsstaates mit dominanter Exekutive betont. Im Falle Russlands unterstützen die Ent­ wicklungsetatisten daher auch die von Putin geschaffene Machtvertikale, nur nutze er sie nicht, um die Wirtschaft entschlossen zu modernisieren. In Po­ len und Ungarn lautet die Formel: hard government instead of governance, da nur dadurch langfristige Entwicklungsprogramme verfolgt werden können, die von der Gewaltenteilung und häufigen Regierungswechseln nur behin­ dert werden (Fodor 2009; Fodor/Stumpf 2007). Drittens sollen Märkte stärker in den Dienst der Nation gestellt wer­ den, was eine selektive Renationalisierung von Schlüsselunternehmen etwa im Banken- oder Energiesektor einschließt; im Falle Russlands fordern die Entwicklungsetatisten ein Ende der privaten Rentenextraktion aus staatli­ chen Unternehmen durch die Machtelite, das heißt eine klare Trennung der Eigentumsformen bei deren gleichzeitiger Vielfalt (Memorandum des Is­ borsker Klubs in Aver’janov u. a. 2012a). Viertens verbinden die konzeptionellen Ideologen mit einer aktiven nati­ onalen Wirtschaftspolitik die Erwartung, dass ihre Nation aus der periphe­ ren oder semi-peripheren Sackgasse herauskommt, indem der Staat unglei­ che und unfaire Wettbewerbsbedingungen für die heimischen Unternehmen kompensiert, ohne sie von den internationalen Märkten abzukoppeln. Fünftens erfolgt eine Re-moralisierung der Wirtschaft, indem, grob ge­ sagt, zwischen verantwortungsbewußten heimischen Unternehmen, die sich auf das Gemeinwohl verpflichten lassen, und dem flüchtigen transnationa­ len Kapital und der transnationalen »kreativen Klasse« unterschieden wird. 3.2 Gefährdete nationale Identität Die Betonung eines starken und souveränen Nationalstaates als Entwick­ lungsagentur geht mit einem Rekurs auf nationale Identität einher, die die neuen illiberalen Konservative als gefährdet ansehen. Dabei spielt die Mi­ grationswelle von 2015 eher die Rolle eines Verstärkers, der das Scheitern des »Multikulturalismus« in Westeuropa belegt. Die Gefahrendiagnose ist noch grundsätzlicher und bezieht sich einerseits auf den vor allem seit 1968 aus Sicht der Konservativen übersteigerten Individualismus und Konsume­ rismus. Andererseits problematisiert sie den transnationalen Einfluss inter­ nationaler und europäischer Regelungen, Standards und Akteure (Glaz’ev 2016; Lánczi 2015; Remizov 2016a). Dieser reicht von den transnationalen Unternehmen, die von heimischen »Kompradoren« ihre Interessen vertreten



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ließen, bis zur Zurückweisung eines abstrakten liberalen Universalismus, wie er sich insbesondere in der Ausweitung der Menschenrechte zeige, bei der individuelle Rechte von Frauen, Kindern und Minderheiten über die Rech­ te der Mehrheit und der Gemeinschaft (Nation und Familie) gestellt werden (Bluhm/Brand 2019; Korolczuk/Graff 2018). Es geht folglich nicht nur um eine politische und ökonomische »Ent­ kolonialisierung«, sondern auch um eine kulturelle. Dies betrifft alle drei Länder, also auch Russland, wo konzeptionelle Ideologen die Förderung der »Russischen Idee« als »antikoloniale politische Praxis« ausgeben (Mar­ kov 2014: 41). Polnische und ungarische Konservative begreifen ihre Länder zwar, im Unterschied zu den russischen Konservativen, als historischen Teil der westlichen Welt oder Zivilisation. Sie sehen jedoch Polen und Ungarn einmal mehr als Opfer politischer Aktionen, die ihnen ihren angemessenen Platz in Europa verwehren (Krasnodębski 2006). Auch Polens und Ungarns illiberale Konservative formulieren massive Ressentiments gegenüber der gegenwärtigen westlichen Kultur, die zusammen mit dem politischen und ökonomischen Einfluss Westeuropas und der EU einer »militärisch-ideolo­ gischen Okkupation Osteuropas« nahekomme (Molnár 2010). Alle drei Län­ der verbinden mit der kulturellen Revolte gegen die westliche »Postmoder­ ne« eine Mission  – die Mission, Europa auf seine christlich-traditionellen Werte zurückzuführen. Das Konzept der Nation unterscheidet sich jedoch erheblich, woraus auch Unterschiede in der Thematisierung von Gefahren für die nationale Einheit erwachsen. Polnische und ungarische Konservative verfolgen eher ein ethnisch homogenes Konzept von Nation, das in beiden Ländern erst durch den Zweiten Weltkrieg und der anschließenden Neuaufteilung Eu­ ropas Realität wurde. Während für Ungarn das Trauma der Gebietsverlus­ te an die Nachbarländer im Zuge des Ersten Weltkrieges die nationale Ein­ heit nicht in Gefahr bringt, befürchten polnische Konservative eine Spaltung des Landes in ein entwickeltes Westpolen einerseits, wo sich nach 1990 der Großteil der deutschen Unternehmen – wieder – niedergelassen hat, und ein zurückbleibendes Ostpolen andererseits (Krasnodębski 2006). Für Russland ist der Zerfall der Sowjetunion und der drohende Separatismus in Russland von zentraler Bedeutung für das Verständnis von Staat und Nation. Da das imperial geprägte Russland eine schwache nationale Identität habe, verkör­ pere der Zentralstaat in besonderer Weise die »Einheit der Nation« als eigene multinationale Zivilisation, er ist zugleich ihr Garant wie der »höchste Wert« der russischen Kultur (Deljagin 2016: 261). Die nationale Identität Russlands

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als Vielvölkerstaat bleibt hingegen auch unter den Konservativen umstritten (Bluhm 2016b; Pavlov 2019). Ein weiterer wichtiger Unterschied besteht im Verhältnis zum Kommu­ nismus. Konservative in allen drei Ländern distanzieren sich vom (Neo-)Li­ beralismus und Kommunismus. Für Polen und Ungarn gehört dies zu den Narrativen ihrer Opfergeschichte. Liberalismus und Kommunismus sind für sie lediglich zwei der schlimmsten Manifestationen der Moderne, was sie mit entsprechendem Rekurs auf das konservative europäische Denken der 1920er und 30er Jahre eloquent begründen. Alle politischen Projekte im Namen von großen Ideologien – sei es die Sowjetunion oder die Euro­ päische Union – teilten dieselben universalistischen Illusionen, die den na­ tionalen Besonderheiten nicht gerecht würden (Lánczi 2015; Legutko 1994; 2016; Molnár 2010). Für russische Konservative ist die imperiale Sowjet­ union und die stalinistische Industrialisierung keineswegs nur ein totalitä­ res Erbe, sondern Beleg dafür, dass eine rasche nachholende Modernisierung und die Rückgewinnung eines Status als Großmacht möglich sind. Der rus­ sische Identitätsdiskurs erzeugt deshalb ein großes historisches Narrativ, das den Gulag nicht leugnet, aber herunterspielt und Resultate der nachholen­ den Modernisierung unter Stalin positiv besetzt, während gleichzeitig das re­ volutionäre Erbe der frühen Bolschewiki abgelehnt wird. 3.3 Redistributiver Konservatismus Der Schutz bzw. die Wiederherstellung nationaler Identität beruht auf ei­ nem konservativen Konzept von Tradition als ideeller und normativer Quelle nationaler Einheit, Solidarität und Entwicklung (Aver’janov 2006; Krasnodębski 2006; Remizov 2016b; Tellér 2014). Die illiberalen Konserva­ tiven in allen drei Ländern definieren sich als Sozialkonservative, die dabei programmatisch zwei große Themen verhandeln: Das betrifft erstens soziale Ungerechtigkeit infolge der Transformati­ on und insbesondere der Privatisierung. Auch wenn die soziale Ungleich­ heit zwischen den drei Ländern erheblich variiert, sind sie sich einig darin, die entstandene soziale Schichtung als illegitim und als ein Hindernis für Entwicklung anzusehen. Im Detail variiert die Argumentation: Ungarische und polnische Konservative verdammen die postkommunistischen neu­ en Reichen, weil ihr Reichtum nicht das Ergebnis eines »natürlichen Wett­ bewerbs«, sondern des illegitimen Kompromisses der Demokraten mit den Kommunisten am Beginn der Transformation gewesen sei, der es zugelassen



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habe, dass sich die alte Nomenklatura bei den postkommunistischen Refor­ men bereichert (Molnár 2010). Hier liegt ein zentraler Grund, warum diese Konservative das Ende des Kommunismus nicht 1989 datieren, sondern mit dem Machtantritt von Fidesz und PiS. Russische Konservative sehen eben­ falls die Konzentration des Eigentums infolge der Privatisierung äußerst kri­ tisch, wobei die krasse Ungleichheit und die Dominanz der Finanzoligarchie betont wird, die kein Interesse an einem, die heimische Industrie fördern­ den Wirtschaftsnationalismus habe. Auch wenn ihnen nach 20 Jahren eine grundlegende Änderung der Eigentumsstruktur unwahrscheinlich erscheint, sollen sich die Oligarchen durch Steuern, Kapitalkontrollen und Abgaben systematischer und vor allem geregelter als bisher an der Entwicklung des Landes beteiligen (Aver’janov u. a. 2012b; Deljagin 2016; Glaz’ev 2017; Cha­ zin 2018b; Kobjakov/Aver’janov 2005). Zweitens sind die Konservativen in Polen, Ungarn und Russland im ho­ hen Maße von der demographischen Entwicklung ihrer Länder nach 1990 und von der »Krise« der Institution Familie beunruhigt. Redistributive Sozi­ alpolitik fokussiert daher vor allem auf Familienpolitik, auf den Schutz der »traditionellen Familie« als Nukleus der Nation. Die Stärkung der Familien­ einkommen und -rechte, Erleichterung des Zugangs zu Krediten gehen da­ bei einher mit der Einschränkung von Abtreibung, Re-Kriminalisierung von Homosexualität und einer Werbung für eine kinderreiche Ehe als bevorzug­ tem Modell für die Lösung der demographischen Krise (Bluhm/Brand 2019; Grzebalska u. a. 2017; Wierzcholska 2019).

4. Sozioökonomische Programme Politische Ideen werden selten direkt in konkrete Politik umgesetzt. Das gilt auch für die drei Länder, die hier betrachtet werden. Dennoch lässt sich fest­ stellen, dass die Konservative Polens und Ungarns erfolgreicher in der Um­ setzung ihrer Ideen eines konservativen Entwicklungsetatismus waren. Eini­ ge wichtige Elemente sollen im Folgenden knapp skizziert werden.

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4.1 Wirtschaftspolitik Im Nachhinein erwies sich die Antrittsrede Matolcsys als neuer Chef der unga­ rischen Zentralbank 2012 als programmatisch. In ihr behauptet der neue No­ tenbankchef, eine »konservative Zentralbank«, das heißt eine »Zentralbank, die Teil des Nationalstaates ist« gründen zu wollen (Népszava 2013). Anders als die polnischen und russischen Entwicklungsetatisten konnte Matolcsy sei­ ne Reformvorstellungen weitgehend umsetzen. Matolcsy verschob die bisheri­ ge Fokussierung der Zentralbank auf Preis- und Währungsstabilität durch mo­ netaristische Politik hin zu einer weitaus komplexeren Rolle, wobei er auf die Rolle der US-amerikanischen Notenbank verwies, zu deren Parameter nicht nur die Inflation, sondern auch Wirtschaftswachstum und Beschäftigung ge­ hören. Darüber hinaus soll nach Matolcsy die Zentralbank auch direkt als Investmentbank für die heimische Wirtschaft fungieren (Sebők 2018) – eine Idee, die in Russland seit den 1990er Jahren hart umkämpft ist. Diese Inves­ titionstätigkeit erfolgt in Form des »Funding for Growth Program« von 2013, das Geld an inländische Geschäftsbanken weiterleitet, die es dann zu niedrigen Zinssätzen (2,5 Prozent) an lokale kleine und mittlere Unternehmen (KMU) verleihen (Johnson/Barnes 2015). Matolcsy verteidigte das Programm, und zwar aus der oben skizzierten, postkolonialen Perspektive: »Ungarische KMU erhalten, wenn möglich, Kredite zu einem Zinssatz, der drei- bis viermal höher ist als der Zinssatz ausländischer Unternehmen, die in Ungarn tätig sind. Wir halten das für inakzeptabel« (Eddy 2013). Darüber hinaus hat sich Ungarn auch aus der (EU-) Bankenunion zurückgezogen, und zwar zusammen mit Tschechien und Polen, um sich gegen die zunehmende europäische Finanzin­ tegration unter der Führung der Europäischen Zentralbank zu wehren (Mérő/ Piroska 2016). Verluste im Staatshaushalt kompensierte Ungarn durch die Ver­ staatlichung des obligatorischen privaten Rentenfonds (Naczyk/Domonkos 2016) und durch die Erhebung neuer Steuern, wie etwa der »Krisensteuern«. Diese Steuern, zwischen 2010–13 von Matolcsy (damals noch Finanzminister) eingeführt, zielten sowohl auf Finanztransaktionen als auch auf die Vermögen und Einnahmen der Banken ab (Johnson/Barnes 2015). Die intensive Kritik von Seiten der EU und des IWF und die Drohung der EU, ein Vertragsverlet­ zungsverfahren gegen Ungarn einzuleiten, stoppte die Transaktionssteuer, aber nicht die Steuer auf Einnahmen der meist aus dem Ausland stammenden Ban­ ken. Infolge dieser und anderer Maßnahmen reduzierte sich der Anteil der von ausländischen Banken gehaltenen Aktiva von 85 (2008) auf 59 Prozent (2013) (Cull u. a. 2017).



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Diese Schritte werden in der Literatur als Zeichen des Banknationalis­ mus oder des finanziellen Nationalismus gesehen (Johnson/Barnes 2015; Mérő/Piroska 2016). Der Begriff ist aber aus unserer Sicht zu eng gefasst. Das wird auch bei der Einführung einer »flachen« Einkommensteuer deut­ lich, die oft als Beleg genommen wird, dass sich Ungarn keineswegs von neoliberaler Wirtschaftspolitik verabschiedet habe. Matolcsy (2010) behaup­ tete allerdings schon bei der Einführung der flat tax, dass eine solche Steuer mit den konservativen Prinzipien seiner Partei übereinstimme: Zusammen mit anderen Fidesz-Politiken (wie etwa den »Krisensteuern«) stelle sie einen Bruch mit dem »neoliberalen Dogma« dar, das es seinem Land ermöglicht, das Steuersystem im Interesse der nationalen Akteure, insbesondere der Mit­ telschicht, zu reformieren. Gleichzeitig wurden einige Korrektive eingebaut. So wurden Geringverdiener für die Einkommensverluste durch die Erhö­ hung des Mindestlohns entschädigt (Matolcsy/Palotai 2014). Darüber hi­ naus bietet die ungarische flat tax weitere wichtige Steuererleichterungen für Familien, insbesondere für Familien mit mehreren Kindern. Matolcsy be­ tont deshalb, dass das sozioökonomische Programm von Fidesz, einschließ­ lich des Steuersystems, nicht für die »Märkte« bestimmt sei, sondern für die Verwirklichung höherer Ziele wie die »Verteidigung der Familie«. Politiken, die solche Ziele erreichen, bilden die Essenz der von der Fidesz eingeleiteten »bürgerlich-konservativen Revolution« (Matolcsy 2010). Wie in Ungarn lag auch in Polen der Schwerpunkt nach dem Wahler­ folg der »national-konservativen« PiS zunächst auf Steuerreformen und der Verbesserung der Staatsfinanzen, wobei eine Reformulierung der Rolle der Zentralbank nach ungarischem Modell nicht erfolgen konnte, da der PiS die entsprechende parlamentarische Mehrheit fehlte. Die Steuerreform wird dem konservativen Finanzminister des Sobieski-Instituts, Pawel Szałamacha zugeschrieben (Czupryn 2016; Dziennik 2016) und sah unter anderem die Besteuerung der von multinationalen Unternehmen dominierten Sektoren vor (Szczerbiak 2015), insbesondere Banken und Einzelhandel, etwa durch die 2016 verabschiedete »Bankensteuer« (Miszerak/Rohac 2017a). Darüber hinaus erweiterte der polnische Staat seine Kontrolle über den Bankensek­ tor, indem er Anteile an Privatbanken erwarb, was als Teil der PiS-Strate­ gie zur »Repolonisierung« der Wirtschaft dargestellt wurde (Miszerak/Rohac 2017b). 2018 betrug der Staatsanteil am Bankensektor laut OECD bereits 40 Prozent (von 22 in 2010). Die Bemühungen der Regierung, das Steuer­ aufkommen zu erhöhen, waren erfolgreich, indem sie Lücken bei der Mehr­ wertsteuer schloss und die Erhebung der Körperschaftssteuer verbesserte

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(Bershidsky 2017). Im Gegensatz zu Ungarn stand die flat tax nicht auf der PiS-Agenda, vor allem weil frühere Regierungen bereits zwischen 2007 und 2009 die Einkommensteuer auf ein zweistufiges, 17- und 32-prozentiges Sys­ tem reduziert hatten (Appel/Orenstein 2018). Die PiS-Reformer waren bei der flat tax stets weniger optimistisch als Fidesz. Sie forderten einerseits (zu­ mindest vor der Regierungsübernahme) die Einführung einer dritten Stufe von 39 Prozent für Superreiche (Cuciernik 2013) und verpflichteten sich, den steuerfreien Grundfreibetrag von 3.000 PLN (680 EUR) auf 8.000 PLN jährlich anzuheben (Gazeta Polska 2016). Ein weiterer Unterschied zu Ungarn besteht in der stärkeren Akzentu­ ierung einer Strategie der »Reindustrialisierung« in den programmatischen Dokumenten wie zum Beispiel dem »Responsible Development Plan« (auch bekannt als »Morawiecki-Plan«). Dies bedeutet zum Beispiel die Identifizie­ rung und Unterstützung von »Vorzeigeprojekten« (wie etwa Schiffbau), die Schaffung und Finanzierung staatlicher »Forschungs- und Entwicklungsein­ richtungen« und generell die Entwicklung wirksamer Strategien zur Förde­ rung von Innovationen anstelle des Imports von Technologien aus dem Wes­ ten (Mroczkowski/Miller 2017), sowie die Schaffung oder Erweiterung von Industrieclustern. Der Staat soll, so der Premierminister Morawiecki, eine führende Rolle bei der Förderung der »Reindustrialisierung« spielen: »Die Schwäche des letzten Vierteljahrhunderts bestand darin, die Rolle des Staa­ tes in der modernen Wirtschaft herunterzuspielen, eine Sünde und ein ab­ soluter Fehler« (Harper 2017). Diese Strategie schließt sowohl in Polen als auch in Ungarn die Ambition mit ein, durch die heimischen Standorte Tech­ nologieführerschaft auf einzelnen Feldern stärker nicht nur in das Produk­ tions- sondern auch in das Innovationscluster der transnationalen Konzerne einzubeziehen. Wieweit dies gelingt, lässt sich gegenwärtig noch nicht ab­ schätzen. Für Ungarn zumindest bestehen erhebliche Zweifel (Szanyi 2016; Bohle/Greskovits 2018; Scheiring 2019). Jedoch stiegen die Auslandsinves­ titionen seit der Machtübernahme von Fidesz und PiS in beiden Ländern weiter an, in Polen 2016 sogar um 74 Prozent im Vergleich zum Jahr davor. Diese Entwicklung beanspruchte der damalige Vizepremier Morawiecki als Erfolg seiner Regierung, führte sie aber nicht auf »investorenfreundliche« Maßnahmen zurück, sondern auf Sozialpolitik, Steuerreform, und »Respon­ sible Development Plan«, in welchen er einen faireren Umgang mit Arbeit­ gebern und -nehmern erkennt (Stec 2017). Besonders stark entwickelte sich unter der PiS die Finanzbranche in der Form der »business support services« (Unterstützung von Geschäftsprozessen), und zwar auch durch die Investiti­



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onen solcher Firmen wie Credit Suisse und JP Morgan Chase. Die gestiege­ ne staatliche Präsenz in dieser Branche (40 Prozent des Bankvermögens ge­ hörten 2019 dem polnischen Staat) schien internationale Investoren nicht zu stören, etwa 200.000 Arbeitsplätze gehen auf Auslandsinvestitionen zurück. Die Neudefinition der Rolle der Zentralbank gehört  – neben der Ver­ wendung der Revenues aus dem Energieexport – zu den zentralen Themen der russischen Entwicklungsetatisten (Bluhm 2018; Dąbrowska 2015). Seit den 1990er Jahren konzentriert sie sich auf die makroökonomische Stabili­ sierung, auf den Preis hoher Kapitalkosten im Inland. Laut Glaz’ev funk­ tionierte das russische Bankensystem in den letzten Jahrzehnten wie eine »Saugpumpe«, die die Einnahmen aus dem Öl- und Gasgeschäft aufnimmt und – anstatt in die heimische Realwirtschaft zu investieren – internationale Spekulationsgeschäfte speist. Russische Banken neigten dazu, an allem teil­ zunehmen, außer an Investitionen in die (heimische) Realwirtschaft (Glaz’ev 2017; Chazin 2018b). Russische konservative Entwicklungsetatisten fordern unter dem Stichwort »Finanzsouveränität« auch die Wiedereinführung ei­ ner strengen Kapitalkontrolle und die »Entdollarisierung« des internationa­ len Handels. Keine dieser Forderungen wurde bisher in die Tat umgesetzt. »Finanzielle Souveränität« meint in der offiziellen russischen Geldpolitik bis heute starke Zurückhaltung bei der staatlichen Neuverschuldung, vor allem im Ausland, die Bildung eines Reservefonds aus den Öl- und Gaseinnah­ men, um Krisen ausgleichen zu können, ein erhöhter Druck auf die De-Off­ shorisierung der Vermögen der russischen Oberschicht sowie der Aufbau ei­ ner eigenen Infrastruktur für Finanztransaktionen (so wurde eine heimische Alternative zum amerikanischen Swift-System entwickelt). Letzteres war aber in erster Linie eine Folge der amerikanischen Sanktionen und Drohun­ gen nach der Krim-Annexion durch Russland 2014 und weniger aufgrund eines ideologischen Paradigmenwechsels der Regierung. Stärker noch als ihre polnischen und ungarischen Mitstreiter, interes­ sieren sich Russlands konservative Befürworter des Entwicklungsstaats für Probleme von Innovation und Reindustrialisierung. Ausländische Direk­ tinvestitionen von westlichen Konzernen spielen dabei eine auffällig gerin­ ge Rolle. Die Industriepolitik sollte gemäß Remizov (Remizov 2016b: 107) streng »national« ausgerichtet sein: »Der nationale Egoismus der Industrie­ politik [ist] die Grundlage für das wirtschaftliche Wohlergehen« und Teil der »konservativen Mission«. Glaz’ev schlägt ein umfassendes korporatisti­ sches Innovationssystem vor, das vom russischen Präsidenten geleitet werden und von Grundlagen- und angewandten Forschungsinstituten über Unter­

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nehmen, regionalen Behörden bis hin zu Non-Profit-Organisationen (z. B. für den Verbraucherschutz) reichen soll. Es soll den Wettbewerb zwischen Unternehmen und Forschungsreinrichtungen ankurbeln und Preise überwa­ chen, was viele Beobachter an die Sowjetunion erinnert (Glaz’ev 2016: 414). Doch Glaz’ev verteidigt die »Harmonisierung zweier Prinzipien« – »indika­ tive Planung« und »Selbstorganisation des Marktes« – als mit der Marktwirt­ schaft vereinbar (Glaz’ev 2017). Obwohl die Ausarbeitung von »nationalen Programmen« seit 2006 eine etablierte offizielle Praxis ist, beschreiben Kon­ servative die Umsetzung langfristiger Entwicklungsstrategien und die bis­ herigen Strukturen und Investitionen in Forschung und Bildung der Regie­ rung als unzureichend. Lediglich im Rüstungssektor scheint eine staatlich gesteuerte Innovationsstrategie zu greifen (Hoppe/Rogova im Erscheinen). Schon Anfang der 2000er Jahre waren sich die russischen Konservativen über die Notwendigkeit eines »intelligenten Protektionismus« einig (Bluhm 2016a). Damit ist ein selektiver Protektionismus gemeint, der innovative In­ dustrien und die Industrien in Schutz nimmt, die für die nationale Sicherheit von entscheidender Bedeutung sind, wie etwa Landwirtschaft und Verteidi­ gung. Erst mit den russischen Gegensanktionen ab 2014 wurde jedoch das Mittel der Importsubstitution durch inländische Entwicklungsprogramme breiter eingesetzt. Die konservativen Wirtschaftsnationalisten sprachen sich auch gegen Russlands Beitritt zur WTO aus, der nach längerem Hin und Her im Jahre 2011 noch unter der Präsidentschaft Medvedevs erfolgte. Die kon­ servativen Entwicklungsetatisten favorisieren hingegen seit langem die Eura­ sische Integration und eine Hinwendung nach China. Das Akademiemitglied Glaz’ev, der wegen seiner Aktivitäten in der Ukraine seit 2014 auf der Sank­ tionsliste der Europäischen Union steht, wurde zunächst Sekretär der Eurasi­ schen Zollunion (2009) und war bis zu seinem Wechsel in den Vorstand 2019 als Berater des Präsidenten für die Eurasische Wirtschaftsunion tätig. Die Idee eines direkten Handelsprotektionismus kommt in Polen oder Ungarn hingegen nur selten vor, da die Handelspolitik dieser Länder durch den EU-Beitritt auf europäischer Ebene reguliert wird. Doch auch hier wur­ den erste Schritte zur Wiederbelebung Piłsudskis »Dreiseenbundes« (Intermarium oder Międzymorze) getan. Das von Think Tanks wie der Ośrodek Myśli Politycznej propagierte Projekt kam seiner Realisierung näher, als Polen und Kroatien 2016 die Gründung der »Three Seas Initiative« ankündigten. Sie umfasst die zehn ehemaligen kommunistischen Länder und Österreich, und zielt darauf ab, die Zusammenarbeit in den Bereichen Energie, Verkehr und Kommunikationsinfrastruktur zu fördern (Wiśniewski 2017; Kurečić 2017).



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4.2 Sozialpolitik Appel und Orenstein (2018: 167) betonen, dass Ungarn zunehmend Russ­ land ähnelt und einen »interventionistische[n] Staat aufbaut, der das inlän­ dische Kapital gegenüber dem ausländischen bevorzugt, und auf Zentrali­ sierung der Macht, begrenzten Arbeitsschutz und einen Mindestsozialstaat setzt«. Unsere Analyse zeichnet ein differenzierteres Bild, insbesondere in Be­ zug auf die Sozialpolitik. Der »soziale Konservatismus« in den drei Ländern verfolgt zwei große Anliegen: soziale Gerechtigkeit und die Verteidigung oder Wiederherstellung der (größeren) »traditionellen« Familie als Funda­ ment der Nation und Lösung ihrer demographischen Krise. Die Konservati­ ven fügen dem Entwicklungsstaat eine Wohlfahrtsstaatskomponente zu, die im russischen Fall im Gegensatz zum bestehenden minimalistischen Wohl­ fahrtsstaat steht. Die postkommunistische Transformation, allen voran der Zusammen­ bruch des sozialen Sicherheitsnetzes in den 1990er Jahren, sorgte dafür, dass alle Länder Osteuropas mit einer »demographischen Krise«, gemessen an einem dramatischen Rückgang der Geburtsraten, konfrontiert wurden (Philipov/Kohler 2001; Mishtal 2012). Konservative in Polen, Ungarn und Russland plädieren für eine ausgeprägte pro-natalistische Politik und eine normative Stärkung der »traditionellen« Institution der heterosexuellen Ehe und der Großfamilien als Lösung für die Krise. In Ungarn zielt dieser soziale Zusammenhalt vor allem auf die wirtschaftliche Stärkung der Mittelschicht ab. Eine solche Sozialpolitik, die den bürgerlichen Familien zugutekommt, ist ein Kernstück von Fidesz’ Ansatz und ein bestimmendes Merkmal des­ sen, was es bedeutet, »konservativ« zu sein, so Matolcsy (2010). Soweit sie für Familien bestimmt waren, bestanden diese Politiken hauptsächlich aus Steuererleichterungen für Familien mit mehreren Kindern und höheren Ein­ kommen, was in der Praxis eine Umverteilung in die Mitte und an die Spit­ ze der Gesellschaft bedeutete, und gingen einher mit einer massiven Zentra­ lisierung von Dienstleistungen wie Kinderbetreuung, der Verlängerung des Elternurlaubs – nicht aber der Kapazitäten von Kindertagesstätten (Scharle/ Szikra 2015). In den Augen der Konservativen ist die explizite Umverteilung durch Steuererleichterungen für Familien kein Element der Sozialstaatspo­ litik, sondern ein Beispiel dafür, wie Familien weniger von Sozialeinrich­ tungen abhängig gemacht werden können, da »es keinen Platz für den Staat in Familienbeziehungen gibt« (Matolcsy 2010). Politische Philosophen und Századvég-Experten begrüßten diesen Ansatz sehr: Sie lehnten zwar Wohl­ fahrtsideen ab, sprachen sich aber dennoch für die Idee der Umverteilung

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aus – soweit sie die richtigen Wählerkreise, in diesem Fall die Mittelschicht, begünstigt (György 2017; Molnár 2018). Im Gegensatz dazu gilt die Sorge polnischer und russischer Konserva­ tive – sowohl auf programmatischer als auch auf politischer Ebene – der Be­ völkerungsmehrheit, einschließlich der armen, insbesondere ärmeren (und größeren) Familien. Nach Morawieckis Worten entspricht dies dem »polni­ schen Traum«, »allen Menschen Zugang zu grundlegenden Gütern, Woh­ nungen und Arbeitsplätzen zu verschaffen« (Siennicki 2017). Repräsentativ sind hier die Revision der Rentenreform der Vorgängerregierung, die das Rentenalter erhöht hat, und das viel diskutierte Programm »500+« von 2016, das mit Hilfe von Szałamacha und als Teil des Wahlprogramms PiS 2015 er­ stellt wurde und Familien monatliche Zahlungen von 500 PLN (115 €) für jedes Kind nach dem ersten Jahr bis 18 Jahre anbietet, womit Polens Staats­ ausgaben für Familienpolitik, die noch 2015 gemessen am BIP deutlich un­ ter dem EU-Durchschnitt lagen, diesen in 2016 überstiegen (Goraus-Tańska 2017; Hagemejer 2017). Einige Stimmen im Westen haben Morawieckis Unterstützung für die Rückkehr des Sozialstaates, die Aussagen über den »Polnischen Traum« und das Programm 500+ als bloßen »Populismus« und sogar gefährlichen »sozialistischen« Etatismus abgelehnt. Ein solcher Etatis­ mus ist jedoch mit den Positionen der intellektuellen Konservativen in Po­ len vereinbar, die in der sozialen und regionalen Spaltung des Landes eine zentrale Gefahr für die Nation und ihre wirtschaftliche Entwicklung sehen (Krasnodębski 2006). Unter der Ablehnung von Milton Friedmans Staats­ kritik, befürworten sie staatliches Handeln insofern es die gerechte »morali­ sche Ordnung« verteidigt (Legutko 2006). Zu solchem legitimen staatlichen Handeln gehören auch die Versuche 2016, das ohnehin schon sehr strenge Anti-Abtreibungsgesetz auf Initiative von Teilen der konservativen Zivilge­ sellschaft zu verschärfen. Russische konservative Intellektuelle detaillieren ihre gesellschaftspoliti­ sche Agenda weniger genau, da ihr Fokus auf der Wirtschaftspolitik liegt. Dies schließt aber unter anderem eine Kritik an den zu geringen Löhnen und Gehältern sowie an der Verlängerung des Rentenalters von 2018 ein. Von Anfang an forderten die konservativen Intellektuellen niedrigere Hy­ pothekenzinsen für (größere) Familien und eine Rückkehr zur progressi­ ven Besteuerung, die die seit 2003 in Russland bestehende flat tax ersetzen soll. Während Putin vor der Präsidentschaftswahl 2018 Subventionen zur Entlastung der Familien eingeführt hat, lehnt er die Idee einer progressiven Einkommensteuer nach wie vor ab. Anstatt die Superreichen zu besteuern,



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drängen der Präsident und die Gouverneure der unterfinanzierten Regionen große russische Unternehmen dazu, prestigeträchtige Projekte und Sozialund Entwicklungsprogramme zu finanzieren, ohne jedoch zuverlässige Re­ geln festzulegen. Ein Haupttreiber für eine redistributive, konservative russische Sozi­ alpolitik mit dem Fokus auf der Familienpolitik sind Elternverbände und Aktivisten um die Russisch-Orthodoxe Kirche (Bluhm/Brand 2019).6 Ult­ rakonservative Gruppen haben trotz der Einführung einer steuerfreien Ein­ malzahlung an Mütter Anfang 2007, die von der Regierung ergriffenen Maß­ nahmen zur Förderung der Familie immer wieder als unzureichend kritisiert. Als ein gewisser Erfolg dieser Kampagnen kann die schrittweise Erhöhung des Mutterschaftskapitals (vermarktet als Familienkapital) gewertet werden. Im Jahre 2016 betrug die Summe ca. 6.145 Euro, während sich das Durch­ schnitteinkommen in Russland auf 434 Euro belief (Kuz’minov u. a. 2015: 52–59). Gleichzeitig bekannte sich Putin zum weiteren Ausbau der öffentli­ chen Kinderbetreuung, was unter den konservativen Aktivisten umstritten ist. Ebenfalls begrenzt erfolgreich waren die Konservativen bei der Verschär­ fung der immer noch vergleichsweise liberalen Abtreibungsvorschriften und der Einschränkung der Rechte von Homosexuellen. Im Verhältnis von Fami­ lie und Staat vertreten sie eine ambivalente Position: Einerseits wird der Staat für die Wiederherstellung der Familie als »soziale Institution« verantwortlich gemacht, der sie über individuelle Rechte stellen soll, andererseits soll er die »Autonomie der Familie« gegenüber staatlichen Eingriffen gewährleisten.

5. Fazit In Russland einerseits und Polen und Ungarn andererseits haben sich unter­ schiedliche Varianten des postkommunistischen Kapitalismus herausgebil­ det. Während die illiberalen Konservativen Polens und Ungarns ihre Länder auf eine »abhängige Marktwirtschaft« verwiesen sahen, aus deren Beschrän­ kungen auf mittlere Einkommen und einer semi-peripheren Position in Eu­ ropa, sie ausbrechen wollen, kämpfen die russischen Entwicklungsetatisten 6 Ihre Positionen werden innerhalb des Isborsker Klubs ebenfalls geteilt (Kobjakov/ Aver’janov 2005, Izborskij klub 2017); dazu ist auch das Programm der Organisati­ on Narodnyi Sobor (Nationalversammlung) relevant (Aver'yanov/Khomyakov 2010), das überwiegend von den Autoren Kobjakov und Aver’janov formuliert wurde (2005).

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mit einem stationären Staatskapitalismus, der von globalen Rohstoff- und Finanzmärkten abhängig ist – ein Kampf, den sie im Kernbereich der Wirt­ schaftspolitik bisher nicht zu gewinnen scheinen. Die sozioökonomischen, machtpolitischen und institutionellen Spielräume für alternative Politik un­ terscheiden sich erheblich, und zwar sowohl im Hinblick auf die Art und den Grad der Westintegration der drei Länder, als auch auf die unterschied­ liche Ressourcenausstattung, um nationale »Souveränität« auszuspielen. Der Anspruch der russischen Konservativen, Russland zum Zentrum einer eige­ nen ökonomischen, politischen und kulturellen Makroregion zu machen, ist mit der Suche nach neuen Allianzen (innerhalb und außerhalb der EU) in Polen und Ungarn nicht zu vergleichen. Es bedarf daher weiterer Forschung, um die Interaktion der jeweils spezifischen Varianten des Kapitalismus mit den Varianten des Nationalismus besser zu begreifen. Trotz dieser unterschiedlichen Ausgangsbedingungen sind die program­ matischen Gemeinsamkeiten erheblich, die wir als Kombination aus Ent­ wicklungsetatismus, nationalem Gefährdungsdiskurs und sozial-redistribu­ tivem Konservatismus bezeichnen. In dieser Programmatik zeigt sich eine spezifische Verarbeitung der Transformation zur Marktwirtschaft, des Mo­ dell- und Institutionentransfers aus dem Westen in den 1990er Jahren. Sie stellt einen Korrekturversuch des »Post-Kommunismus« dar, in dem der Rückzug des Staates aus der Wirtschaft und Gesellschaft propagiert wurde. Die Ablehnung eines »liberalen Nachtwächterstaates«, die Konzipierung des Staates, das heißt der Exekutive, als intervenierende Entwicklungsagentur in der Wirtschaft und deren Unterordnung unter die »Interessen der Na­ tion« gehören daher zu den Prämissen des neuen konservativen Entwick­ lungsetatismus. Das schließt eine Befürwortung staatlicher Industriepolitik ebenso ein wie die Korrektur einer vom liberalen Monetarismus geprägten Finanzpolitik. Konservative Ideologen in allen drei Ländern teilen dabei die Ablehnung des neoliberalen Paradigmas und die Präferenz für ein »hartes Durchgreifen« der Regierung, die die »Nation« eint. Der diesem wirtschafts­ politischen Ansatz innewohnende Zentralismus hat, im Gegensatz zu dem ostasiatischen Entwicklungsetatismus, wenig Sinn für regionale und lokale Experimente. Der skizzierte Wirtschaftsnationalismus ist Teil einer größeren konser­ vativen Agenda, mit der heute sowohl Sozialpolitik wie Identitätspolitik be­ trieben wird. Anders als in Westeuropa und den USA mit ihren etablierten konservativen Parteien, ist hier der Widerstand einer illiberalen Deutung des Konservatismus im konservativen Milieu gering. Die Neuerfindung des



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Konservatismus nach langem historischem Abbruch dient sowohl der Ab­ grenzung von den 1990er Jahren wie vom »postmodernen Westen«. Er gibt sich dezidiert als sozial (wenn auch nicht im Sinne der Verteidigung von Arbeitnehmerrechten) und redistributiv, um Korrekturen an den durch die Transformation entstandenen Ungerechtigkeiten vorzunehmen, die, wie ge­ zeigt, unterschiedlich gedeutet werden. Vor allem aber soll die demographi­ sche Krise als nationale Krise beendet werden. Der Rekurs auf den Konservatismus verleiht dem neuen Wirtschaftsna­ tionalismus eine universale (wenn auch nicht universalistische) Dimension und Mission. Die russischen Konservativen sehen in Russlands vermeintli­ cher Besinnung auf »traditionelle Werte« ein Vorbild für Europa, dem sie gern helfen würden, zu den eigenen Wurzeln zurückzufinden. Polnische und ungarische konservative Intellektuelle wollen die (semi-)periphere Position ihrer Länder auf dem europäischen Kontinent überwinden, gerade um ihre Zugehörigkeit zum »Westen« zu bekräftigen. Sie rufen dazu auf, die Prin­ zipien und Institutionen der Europäischen Union zu ignorieren oder sogar abzulehnen, tun dies aber im Namen einer »europäischen Zivilisation«, de­ ren Erneuerung sie sich auf die Fahnen schreiben. Verbündete werden dafür indes nicht in Russland, sondern unter west- und zentraleuropäischen Kon­ servativen gesucht.

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Die moralische Ökonomie des Schutzzolls: Der Fall der Solarindustrie Timur Ergen

1. Gesellschaftliche Legitimierungszwänge in der Handelspolitik Sozialwissenschaftliche Theorien von Handelsbeschränkungen sind traditi­ onell einfach. Von Adam Smiths Theorie natürlich zum Heimatmarkt nei­ gender Produzenten über Schattschneiders fighting legions hinter einmal eingeführten Schutzzöllen bis zu Olsons »Verteilungskoalitionen« werden Handelsschranken von unmittelbaren Profiteuren initiiert und von inter­ essenpolitisch belagerten Staaten eingerichtet (Olson 1971; Schattschneider 1974; Smith 1981: B. 4, Kap. 2). Materialistisch-pluralistische Beschreibun­ gen der Determinanten von Handelsbarrieren sind nicht bloß wissenschaft­ lich einflussreich, sie prägen die Gestaltung handelspolitischer Institutionen seit dem Zweiten Weltkrieg. Die institutionelle Gestaltung der europäischen Handelspolitik etwa ist als Prozess der weitgehenden Abschirmung handels­ relevanter Entscheidungsprozesse von gesellschaftlichen und politischen Einflüssen beschrieben worden (Meunier 2007). Ähnlich wurde die Ent­ wicklung der amerikanischen Handelspolitik charakterisiert. Ein vom Kon­ gress dominiertes und zum Protektionismus neigendes handelspolitisches Regime sei seit den 1970er Jahren durch von der Exekutive dominierte, tech­ nisch-ökonomische Verfahren abgelöst worden (Chorev 2007). Materialistische Theorien der Handelspolitik führen zu zwei proble­ matischen Annahmen. Erstens verleiten sie dazu, Handelspolitik als gesell­ schaftlich isoliertes Feld zu betrachten. Ergeben sich die Präferenzen, Inte­ ressen und Machtressourcen gesellschaftlicher Akteure aus ihrer jeweiligen strukturellen Position – etwa die United Steelworkers neigen natürlich zum amerikanischen Stahlzoll –, dann erklären sich handelspolitische Entschei­ dungen primär durch gesellschaftliche Kräfteverhältnisse und die Struktur handelspolitischer Institutionen. Mit dieser Engführung wird übergangen, dass wirtschaftliche Schließungsprozesse in der Regel von weiteren gesell­

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Timur Ergen

schaftlichen Dynamiken getrieben werden (Polanyi 2001). Wirtschaftliche Öffnungs- und Schließungsprozesse treten in kapitalistischen Gesellschaften charakteristisch »geklumpt« auf – in Wellen –, statt ungeordnet und struktu­ rell determiniert (Chase-Dunn u. a. 2000). Zweitens implizieren materialistische Theorien empirisch nicht tragba­ re Gegenüberstellungen zwischen um ihren kurzfristigen Vorteil bedachten Interessengruppen und idealistisch motivierten, langfristig rationalen Ver­ waltungsstellen. Die Geschichte der Handelspolitik ist gespickt mit Fällen, in denen Interessengruppen kurzfristige materielle Vorteile komplizierteren Kalkülen und normativen Erwägungen geopfert haben – zugunsten sowie zu ungunsten des globalen Freihandels. Ebenso wie andere wirtschaftliche Fel­ der wird Handelspolitik im Konfliktfeld einer moralischen Ökonomie aus­ gehandelt (Beckert 2011; Streeck 2011). Akteure positionieren sich regelmä­ ßig für oder gegen freien Handel auf Basis »nicht-rationaler« Kriterien wie Gerechtigkeit, Reziprozität und Solidarität. Und wenn es so ist, dass Inter­ essengruppen komplexere Akteure sind, die Wertentscheidungen zu treffen versuchen, sich um ihre langfristige Zukunft sorgen und unter Legitimie­ rungszwängen entscheiden, dann sind die politischen Determinanten von Handelsbarrieren ihrerseits komplexer. Das Argument meines Beitrags ist, dass Handelspolitik auch in den ge­ genwärtigen weitgehend technischen und institutionell-isolierten Regimen Europas und der Vereinigten Staaten von öffentlicher Legitimität abhängt und damit praktisch von »nicht-rationalen», nicht-ökonomischen und nor­ mativen Vorstellungen beeinflusst wird. Entsprechend sind handelspoliti­ sche Entscheidungen nicht ohne Blick auf weitere gesellschaftliche Prozesse zu verstehen. In der Handelspolitik spielt sich damit eine Dynamik ab, die in Marktgesellschaften weit verbreitet ist. Konstitutiv für die Allokation von Ressourcen durch Märkte ist die Bereitschaft von Gesellschaften, etablierte wirtschaftliche Strukturen im Wettbewerb untergehen zu lassen und abzu­ wickeln. Insoweit in modernen politisch-administrativen Systemen etliche »Hebel« existieren, um Wettbewerbsdynamiken zu blockieren – von Beihil­ fen über Regulierung bis zur Handelspolitik –, stellt sich die Frage, wann, wie und warum Gesellschaften von ihren wirtschaftlichen Schutzrepertoires ablassen. In diesem Sinn hat Arthur Stinchcombe angemerkt, dass es eines der wesentlichen Rätsel kapitalistischer Gesellschaften sei, wie sie es fertig­ bringen, ganze Firmen, Industrien und Regionen dem Markt zu opfern. Die Frage sei, wie die »moderne Gesellschaft eine so prekäre Legitimität für ei­ nen bestimmten Typ von Organisation geschaffen hat, dass die Arbeitsplät­



Die moralische Ökonomie des Schutzzolls

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ze, Profite oder gemeinschaftsdienlichen Leistungen ganzer Industrien zer­ stört werden konnten« (Stinchcombe 1997: 13 – Übersetzung TE). Meine Antwort auf diese Frage ist, dass die Ausgänge einer für kapita­ listische Gesellschaften typischen Form von moralischer Auseinandersetzung erklären, wann von Schutzmaßnahmen abgelassen wird. Von Wettbewerb betroffene Akteure setzen Politik und Verwaltung unter Druck, Opfer zu schützen und ihnen beizustehen, indem sie die Verantwortung für ihre Prob­ leme auf Konkurrenten, Dritte oder widrige Umstände abzuwälzen versu­ chen. Typische narrative Repertoires solcher Strategien bestehen in Verweisen auf »unfaire« Wettbewerbspraktiken, auf Einmischung ausländischer Staaten und auf andere »nicht durch Eigenleistung« erbrachte Konkurrenzvorteile. Gegner kollektiver Intervention versuchen die Verantwortung für wirtschaft­ liche Probleme auf die jeweiligen Opfer selbst zu schieben und die Kosten ungehemmter Konkurrenz mit ihren Vorteilen für Dritte aufzuwiegen, um Nichthandeln zu rechtfertigen. Es entsteht ein gesellschaftliches blame game um Ansprüche, Potenziale, Schuld, Verantwortung und Verdienst, das da­ rüber entscheidet, ob Staaten ein Unternehmen, eine Industrie oder eine Re­ gion ohne überbordende politische Kosten dem Markt darbieten können. Die Struktur derartiger blame games ist Gegenstand meines Kapitels. Ich führe dies anhand einer Fallstudie der Einführung amerikanischer und europäischer Schutzzölle für Solarmodule seit dem Jahr 2009 vor. Die amerikanische und europäische Solarindustrie war seit Beginn des Jahr­ zehnts mit beträchtlicher staatlicher Förderung als umwelt- und industrie­ politisches Leuchtturmprojekt aufgebaut worden. Seit dem Jahr 2009 wurde sie innerhalb weniger Jahre von ost-asiatischen Konkurrenten an den Rand des Ruins getrieben. Zuerst in den USA und dann in Europa setzte sie in der Folge Schutzzölle gegen ihre chinesische Konkurrenz durch. In beiden Ländern entspannte sich eine hitzige öffentliche Debatte um die Rechtferti­ gung von Handelsbarrieren und die Verantwortung für den Niedergang der Industrie. Das Kapitel besteht aus vier Teilen. Der folgende Abschnitt rekonstru­ iert die Versprechen der Solarpolitik seit Ende der 1990er Jahre und zeigt, wie diese Versprechen gesellschaftliche Gruppen für die Umweltpolitik zu gewinnen versuchten. Anschließend diskutiere ich den Konflikt um Schutz­ zölle für die Industrie in Deutschland und den USA und zeige, dass diese im Kern moralische Konflikte waren. Ein letzter Abschnitt verknüpft mein Ar­ gument mit größeren Debatten zur Evolution westlicher Handelspolitik und zur gesellschaftlichen Regelung von Konkurrenz.

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Timur Ergen

2. Die Versprechen der Solarpolitik bis 2009 Versprechen einer solaren Zukunft in der Energieversorgung sind sehr alt und trotz zahlloser technologischer Rückschläge außergewöhnlich resilient (Ergen 2015). Sie reichen bis in die Technikeuphorie des späten 19. Jahr­ hunderts zurück (Mener 2000). Die heutige Industrie für PhotovoltaikAnlagen – Anlagen, die Sonnenlicht unmittelbar in Elektrizität wandeln – ist aus größeren umweltpolitischen Förderprogrammen hervorgegangen. Aus kleineren Programmen in den 1990er Jahren in Deutschland, Japan und den USA haben sich seit dem Jahr 2000 gewaltige Förderstrukturen entwickelt, die beinahe ausnahmslos die Betreiber von Solaranlagen, statt ihre Hersteller subventionierten. Dabei existierte eine breite Vielfalt an staatlichen und »para-staatlichen« Förderinstrumenten  – von subventio­ nierten Krediten über Abschreibungsmöglichkeiten im Steuerrecht bis zu Einspeiseregeln, die Preise für erneuerbaren Strom gesetzlich vorschrieben. Insbesondere Einspeiseregeln, die nach kurzen Experimenten in den USA in den 1970er Jahren in erster Linie in Deutschland seit 1991 vorangetrie­ ben wurden, entwickelten sich zu extrem großzügigen Förderinstrumen­ ten. Das deutsche Erneuerbare Energien-Gesetz (EEG) von 2000 etwa, das »kostendeckende« technologiespezifische Preise für Einspeisungen vor­ schrieb, zahlte im Jahr 2013 jährlich beinahe 20 Milliarden Euro an Be­ treiber von Solar-, Wind-, Geothermie- und Biogasanlagen aus  – zu auf 20 Jahre gesetzlich garantierten Preisen. Wie konnten derart großzügige Fördersysteme durchgesetzt werden  – zumal im Zeitalter der Hegemonie neoliberaler Wirtschaftspolitik? Sagen nicht alle gängigen Theorien der Klimapolitik voraus, dass Staaten sich nie­ mals ohne transnationale Regelung auf die Bekämpfung des Klimawandels einlassen würden, da sie an »Kollektivgutproblemen« kranken (Dietz u. a. 2003; Stern 2008)? Ein großer Teil der Antwort ist, dass Förderprogramme für erneuerbare Energien so gut wie nie nur von umweltpolitischen Motiven getragen wurden, sondern zumeist prägend von industriepolitischen Hoff­ nungen. Seit den 1970er Jahren galt die künstliche »Ausweitung des Heimat­ marktes« für Solaranlagen als Instrument, Vorteile für die heimische Wirt­ schaft in globalen Zukunftsmärkten zu erlangen. Präziser bestand der Prozess, der Förderausweitungen unterlag, meistens darin, dass Staaten sich in industriepolitischen arms’ races verfingen. Auf Förderausweitung in den USA etwa reagierte man in Deutschland und Japan mit je eigenen Förderausweitungen, um nicht zurückzufallen – und umge­



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Die moralische Ökonomie des Schutzzolls

EEG-Auszahlungen/ EEG-Differenzkosten (Mio. Euro)

EEG-Erzeugung (GWh)

20.000

140.000

18.000 120.000 16.000 100.000

Auszahlungen

14.000 12.000

80.000

10.000 Erzeugung

60.000

8.000 6.000

40.000 Differenzkosten

4.000

20.000 2.000 0 13 20

11

12 20

20

09

10 20

20

07

08 20

20

05

06 20

04

20

20

02

03 20

20

01 20

20

00

0

Abb. 1: Jährliche Stromerzeugung, Auszahlungen und Differenzkosten dem ErneuerbareQuelle: Bundesverband der Energieund Wasserwirtschaft, 2013:nach Erneuerbare Energien Energien-Gesetz, 2000–2013 und das EEG: Zahlen, Fakten, Grafiken (2013). Berlin, 37–38. Quelle: Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft, 2013: 37–38. »Differenzkosten« sind der Anteil der Einspeisevergütungen, der nicht durch den Verkauf des eingespeisten Stroms eingeholt wurde und der deshalb durch die EEG-Umlage auf alle nicht-privilegierten Stromverbraucher umgelegt wurde. Der schnelle Anstieg seit 2009 erklärt sich sowohl durch die wachsende Menge wetterabhängig verfügbaren Stroms in der deutschen Ener­ giewirtschaft als auch durch eine gesetzliche Änderung zum Vertrieb des eingespeisten Stroms (siehe für Details Ergen 2015: Kap. 7).

kehrt. Der Verweis auf die internationale Konkurrenz wurde regelmäßig ins­ trumentalisiert, um politische Unterstützung zu mobilisieren. Als etwa Ende der 1980er Jahre versucht wurde, neue Fördermaßnahmen durch den ame­ rikanischen Kongress zu bekommen, warnten Industrievertreter vor dem VCR-Syndrome – der amerikanischen Tendenz, Technologien zu erfinden, dann aber nicht zu kommerzialisieren:

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»The years of 1989/1990 will determine whether the United States will have a dome­ stic solar energy industry or relinquish its technological leadership to our internati­ onal competitors. Our country faces the real possibility of importing solar techno­ logies in the years when they just become fully cost-competitive. […] [T]he United States has spent hundreds of millions of dollars to develop solar technologies that may be commercialized by our competitors who will reap billions of dollars and mil­ lions of jobs.« (US Congress 1989: 68, 74)

Die Verheißung von »Millionen« neuer Jobs ist für den Sektor nicht außer­ gewöhnlich großspurig. Im Gegenteil, genau diese Art von Großversprechen durchzog Debatten zur Förderung erneuerbarer Energien seit den 1970er Jahren. Ähnlich zur amerikanischen Debatte warnte man in Deutschland 1994 davor, dass »die deutschen Anbieter […] diesen weltweit zukunfts­ trächtigen Markt aufgrund fehlender öffentlicher Unterstützung […] an ja­ panische und amerikanische Unternehmen« verlieren würden (Deutscher Bundestag 1994: 1). Eine Milliarde Deutsche Mark Anschubfinanzierung, so etwa die zeitgenössischen Forderungen SPD-Bundestagsfraktion, sollten der Bundesrepublik »die dauerhafte Wettbewerbsfähigkeit auf einem der größ­ ten Halbleitermärkte der kommenden Jahrzehnte sichern« (Deutscher Bun­ destag 1996: 2). 1997 schätzte eine Studie des Fraunhofer Instituts für Solare Energiesysteme im Auftrag von Greenpeace Deutschland, dass ein Förder­ programm für Wind- und Solarenergie im Stromsektor, das 10 Deutsche Mark jährliche Mehrkosten für einen durchschnittlichen Vierpersonenhaus­ halt ausmachen würde, zu 17.000 bis 29.000 Vollzeitarbeitsplätzen führen würde (Hoffmann/Hille 1997). Mit derartigen Dynamiken lässt sich erklären, wie Deutschland, Japan und die USA über die 1990er Jahre kaskadenartig Förderprogramme für die Installation von Solarprogrammen erließen. Nach einem kurzen Aufschwung in den USA der 1970er Jahre erließ die Bundesrepublik 1990 ein sogenann­ tes 1.000-Dächerprogramm, worauf 1996 ein japanisches 70.000-Dächer­ programm und 1999 ein deutsches 100.000-Dächerprogramm folgten (ein unter Bill Clinton angestoßenes 1 Million-Dächerprogramm ist nicht voll­ umfänglich Realität geworden). Mit dem Regierungswechsel 1999 preschte der deutsche Staat vor und führte mit dem EEG die Grundlage eines rasan­ ten Aufstiegs der Solarindustrie ein. Das EEG hat die Preise für Photovolta­ ikstrom ungefähr verfünffacht und beinhaltete einen Einspeisevorrang sowie einen bundesweiten Wälzmechanismus (Beschberger 2000; Hirschl 2007: 142–150; Suck 2008). Abbildung 2 gibt einen Überblick, wie sich diese För­ derkaskade auf die Installationen von Solaranlagen auswirkte.



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Die moralische Ökonomie des Schutzzolls MWp 45.000

40.246

40.000

38.590

Deutschland USA Japan Frankreich Australien China Italien Andere

35.000 30.000 25.000

29.959 30.256

20.000 17.251

15.000 10.000

8.265 6.624

13

12

14 20

20

20

11 20

09

10 20

20

20

08

2.647

07

05

06 20

20

04

1.109 1.399 1.575

20

03

563

20

02

01 20

443

20

0

319

20

5.000

Abb. 2: Photovoltaikinstallationen ausgewählten Ländern, 2001–2014 Quelle: 2001–2003: berechnet in nach einer Zusammenstellung des Earth Policy Institute. 2004–2014: berechnet nach: BP Statistical Review of World Energy, June 2015, A5. Quelle: 2001–2003: berechnet nach einer Zusammenstellung des Earth Policy Institute. 2004–2014: berechnet nach: BP Statistical Review of World Energy, June 2015, A5.

Gleichzeitig siedelte sich eine durchaus ansehnliche Industrie in Deutsch­ land an  – nicht selten in industriellen Problemregionen. Angezogen von Strukturhilfen und entgegenkommenden Konditionen baute Shell eine So­ larzellenfabrik in Gelsenkirchen (Financial Times Deutschland 2002; Deut­ sche Shell AG 2000). Ein ursprünglich in Berlin und Brandenburg ansässi­ ges Ingenieurkollektiv gründete den Zellhersteller Q-Cells, der in Bitterfeld, dem ehemaligen Revier der AGFA und der DDR-Chemiekombinate, das Monika Maron »ein Synonym für marode Wirtschaft, vergiftete Luft und verseuchten Boden« genannt hat (Maron 2009: 28), für Erneuerungshoff­ nungen sorgte. In Arnstadt, Erfurt und Jena entstand ein Industriecluster für Siliziumverarbeitung und Zellherstellung. Um Freiberg und Dresden bil­

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dete sich ein Zentrum für Maschinenbau, Zell- und Modulherstellung. In Brandenburg ließen sich namhafte internationale Fertiger nieder. Zahlrei­ che baden-württembergische Maschinenbauer schafften sich mit der Belie­ ferung der wachsenden Solarindustrie ein weiteres Standbein. Zwischen den Jahren 2000 und 2008 wurden in Deutschland geschätzte 6,7 Milliarden Euro in Fertigungsstätten für Solaranlagen investiert (Bundesverband Solar­ wirtschaft 2010: 3). Im Jahr 2009 beschäftigte die Photovoltaikbranche ge­ schätzte 42.600 Personen in Deutschland, 35 Prozent davon in den Neuen Ländern (Wackerbauer u. a. 2009: 5). Gewerkschaften erkannten in der neu­ en Industrie die Chance auf einen neuen Schwerpunkt »industrieller Quali­ tätsproduktion« (Richter, Holst und Krippendorf 2008). Zusätzlich schaffte die Förderung von Installationen signifikante Unterstützung für die Indus­ trie im Süden Deutschlands. Nach Baden-Württemberg und Bayern flossen rund die Hälfte aller für die Photovoltaikförderung ausgegebenen Gelder, so dass auch konservative Politiker, Industrie- und Bauernverbände regelmäßig für das Förderregime eintraten. Eine spätere, wenn auch strukturell ähnliche Dynamik entstand in den USA. Generöse Förderung für Erneuerbare Energien existierte Anfang des Jahrzehnts vornehmlich auf der Ebene von Bundesstaaten. Mit einer Serie von Steuerreformen seit 2004 wurden zunehmend bundesstaatliche Förder­ maßnahmen ausgeweitet – insbesondere durch einen Investment Tax Cre­ dit, der eine bis zu dreißig-prozentige Gutschrift der Kosten von Wind- und Solaranlagen vorsah. Noch im Präsidentschaftswahlkampf 2008 verspra­ chen alle drei Kandidaten Millionen neuer Green-Collar Jobs, Barack Ob­ ama gar 5 Millionen durch ein Investitionsprogramm von 150 Milliarden US Dollar über 10 Jahre (Walsh 2008). Im Gefolge der Irritationen nach der Finanzkrise von 2008 experimentierte die Regierung Obamas mit groß­ spurigen Fördermaßnahmen für Hersteller von Solaranlagen. Der Fertiger von Dünnschichtzellen Solyndra allein kostete das Department of Energy nach seiner Pleite 2011 um die 500 Millionen US Dollar an fälligen Kredit­ garantien (US Congress 2012). Wie in Deutschland und anderen Ländern wurde Unterstützung für diese Maßnahmen mit Versprechen zukünftiger industrieller Chancen mobilisiert. Wie viele Präsidenten vor ihm präsentier­ te Obama die Förderung neuer Energietechnologien als vorwärtsgerichtete Reindustrialisierungspolitik: »We’ve got to go back to making things. We’ve got to go back to exports. We’ve got to go back to innovation […] There are factories like this being built in China, fac­ tories like this being built in Germany. Nobody is playing for second place. These



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countries recognize that the nation that leads the clean energy economy is likely to lead the global economy. And if we fail to recognize that same imperative, we risk falling behind.« (Obama 2010)

Diese und ähnliche rhetorische Darstellungen von Förderprogrammen wa­ ren nicht bloß den Präferenzen von Regierungen geschuldet. Sie waren die Basis, auf der sich Koalitionen für die Förderung erneuerbarer Energi­ en schmieden ließen. Industriepolitische Versprechen schafften prospektive Profiteure für äußerst kostenträchtige und vormals hoch-umstrittene poli­ tische Initiativen. Es waren allerdings auch genau diese prospektiven Profi­ teure, die in protektionistische Bewegungen umschlugen, als das Wachstum der Industrie stockte.

3. Die moralische Struktur einer handelspolitischen Gegenbewegung Kaum war aus der Solarindustrie eine ansehnliche Industrie geworden, ver­ fiel sie seit Ende 2008 in eine tiefe Überkapazitätskrise. Weltweit – und ins­ besondere in China  – hatten unzählige Neueintritte und Kapazitätserwei­ terungen rund doppelt so viel Fertigungskapazität entstehen lassen, wie die globalen Förderregime aufnehmen konnten. In der Folge verfielen Preise für Solarmodule drastisch und Insolvenzmeldungen westlicher Fertiger erschie­ nen beinahe im Monatstakt (siehe Abbildung 3 zur Dimension des Preisver­ falls und Tabelle 1 für eine Übersicht des Firmenscheiterns in Deutschland). Je länger die Überkapazitätskrise der Industrie anhielt, desto klarer wur­ de ersichtlich, dass sich die industriepolitischen Versprechen der Förderpro­ gramme in Luft auflösten. Unter diesen Bedingungen regten sich zuneh­ mend protektionistische Stimmen in der amerikanischen und deutschen Industrie. In Deutschland begannen Rufe nach einer für die heimische In­ dustrie vorteilhafteren Ausgestaltung des Fördersystems im Jahr 2009. Die Bundestagsfraktion der Linken brachte Anfang 2010 Forderungen aus den Neuen Ländern in den Deutschen Bundestag ein, die Installationsförderung an Qualitäts- und Recyclingstandards zu binden – ein Vorschlag, der in den Augen vieler Hersteller den Zufluss an ost-asiatischen Anlagen in das deut­ sche Fördersystem gebremst hätte (Deutscher Bundestag 2010; Thüringer Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Technologie und Thüringer Solar­ wirtschaft 2012).

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Timur Ergen Modulpreis in US-Dollar per Wp

Absatz in MWp und Umsatz in Mio. US-Dollar 40.000

4,0 Preis

35.000

3,5

30.000

3,0

25.000

2,5

20.000

2,0

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1,5

10.000

1,0

Umsatz

Absatz 0,5

5.000

0 13 20

12 20

11 20

10 20

09 20

08 20

07 20

06 20

05 20

04 20

03 20

02 20

20

01

0

Abb. 3: und Preis für Photovoltaikmodule, 2001–2013 UmsatzAbsatz aus Multiplikation von Preis und Menge. Quelle: SPV Market Research, 2013: US Market Development. IEA PVPS Task 1. September 30, Quelle: SPV Market Research, 2013: US Market Development. IEA PVPS Task 1. September 30, 2013. Presenta­ 2013. Presentation Slides. Paris: International Energy Agency. tion Slides. Paris: International Energy Agency. Umsatz aus Multiplikation von Preis und Menge.

Diese durchaus moderaten Einschränkungen der Offenheit des deut­ schen Fördersystems trafen auf breiten gesellschaftlichen Widerstand – nicht primär, weil der industriepolitische Sinn der Vorschläge angezweifelt wurde, sondern weil man meinte, dass sich die Fertigungsindustrie diesen Schutz nicht verdient hatte. Statt einer politischen oder ökonomischen entfachte sich eine moralische Kontroverse zwischen Befürwortern und Gegnern von Schutzmaßnahmen. Hermann Scheer, einer der Paten des EEG in der SPDBundestagsfraktion, feierte die wachsende Konkurrenz aus Ost-Asien, da erst sie Preise näher an tatsächliche Kosten bringen würde und damit ungerecht­ fertigte Profite von Herstellern mindere: »Die früheren Quasi-›PV-AnlagenZuteilungsstellen‹ der Unternehmen wurden zu Vertriebsabteilungen. Und zum ersten Mal ließen sich über den Preis für Module und Gesamtsysteme Rückschlüsse auf die Herstellungskosten ziehen« (Scheer 2010: 27). In den Jahren der Überschussnachfrage, so das Argument, hatten Hersteller Kos­



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Tab. 1: Firmenscheitern in der deutschen Solarindustrie

2010 Signet Solar (1) Sunfilm (1) 2011 Aurubis (S) BP Solar (S) Photowatt (1) PV Crystalox (R) Solar Millennium (1) Solon (1)

2012 Aleo Solar (R) Bosch Thin Film (S) Bosch CIS (S) First Solar (S) Malibu (S) Odersun (1) Q-Cells (1) Scheuten Solar (1) Schott Solar (S) Schott Solar Wafer (S) Schueco lnt. (E) SolarWorld (R) Solibro (T)

Solicio (1) Soltecture (1) Sovello (1) Schueco TF (S) Sunways (T) 2013 Avancis (S) Bosch Solar (S) Centrosolar (1) Conergy (1) Solland Solar Cells (1) Würth Solar (S)

Quellen: Verschiedene Veröffentlichungen. 1 =Insolvenz; S =Schließung oder Produktionsstopp; R = größeres Re­ strukturierungsprogramm; T = Übernahme.

tensenkungen nicht an ihre Kunden und damit an das staatliche Fördersys­ tem weitergegeben. Als Hersteller im Jahr 2010 versuchten, allzu harsche Förderkürzungen zu bekämpfen, die den durch gefallene Preise außer Kont­ rolle geratenen Zubau begrenzen sollten, bezichtigen Konsumentenvertreter die Industrie, »seit Jahren« Zubauschätzungen nach unten zu manipulieren (Krawinkel in Spiegel Online am 19. März 2010). Nach einer kurzen Beruhigung in der Industrie Anfang 2011 verschärften in Deutschland und den USA ansässige Fertiger Ende des Jahres ihre Strate­ gien und erwirkten ein amerikanisches Antidumping-Verfahren gegen chi­ nesische Importe. Oregons Senator Ron Wyden, in dessen Staat die größte amerikanische Fertigungsstätte des Zellherstellers Solarworld lag, setzte die Obama-Regierung öffentlich unter Druck, selbst tätig zu werden, da ameri­ kanische Hersteller Opfer »unfairer« Konkurrenz aus China seien: »Advanced producers, whether they are American, Japanese or European – are losing market share in almost every growing market to Chinese producers. Chinese imports of solar panels are surging and are on pace to increase 240 percent this year, compa­ red to 2010 […] We need only to look at the bankruptcies of major American inno­ vators and producers of solar panels to see the material injury these imports appear to be inflicting on our domestic industry. Unless the U.S. takes aggressive action to combat the import surge of Chinese solar panels and the unfair trade practices that China employs, our efforts to facilitate the creation of the new jobs our economy needs will be substantially undermined.« (Wyden 2011)

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Wydens Brief zeigt sehr klar, wie moralische Argumente strategisch in an­ sonsten hoch-technische Handelsverfahren einziehen. Moderne Antidum­ ping-Verfahren setzen für gewöhnlich voraus, dass Exporteure international Preise differenzieren, in Auslandsmärkten unter »normal value« verkaufen und eine ausländische Industrie substantiell »verletzt« haben.1 Festgestellt wird dies von technisch spezialisierten Bürokratien, die in teils mehrjährigen Prozessen Daten, Fakten und Stellungnahmen aus der betroffenen Industrie auswerten. Wyden verknüpfte die Feststellung der material injury mit einem Wink auf die Pleiten von »major American innovators« – und zwar eine Wo­ che nach der endgültigen Pleite von Solyndra, dem Vorzeigeprojekt der grü­ nen Industriepolitik der Regierung und aufziehenden Veruntreuungsskan­ dal. Er bot der Regierung damit ein Narrativ, das die Verantwortung für die Pleite auf »unfaire« Praktiken ausländischer Akteure schob. Obamas Ener­ gieminister, Steven Chu, ließ sich auf genau dieses Narrativ ein, als er vor dem Kongress zur Subventionierung Solyndras aussagen musste: »We are in a fierce global race to capture this market. In the past year and a half, the China Development Bank has offered more than $34 billion in credit lines to Chi­ na’s solar companies […] [T]he stakes could not be higher for our country. When it comes to the clean energy race, America faces a simple choice: compete or accept de­ feat. I believe we can and must compete.« (US Congress 2011: 19f.)

Da sich die Obama-Administration nicht für die regierungsseitige Einlei­ tung eines Verfahrens gegen China entschied, leitete der deutsch-amerika­ nische Fertiger Solarworld Ende 2011 Klage gegen chinesische Exporteure ein (Solarworld Industries America 2011). Gleichzeitig gründete man einen neuen Verband zur Durchsetzung des Verfahrens, die Coalition for Ameri­ can Solar Manufacturing (CASM). Auf die Einreichung der Klage reagier­ ten Profiteure chinesischer Importe ihrerseits mit der Gründung eines neuen Verbands, der Coalition for Affordable Solar Energy (CASE), die vornehm­ lich aus Händlern, Installateuren, Zulieferern und Projektplanern bestand. In einer chaotischen öffentlichen Schlacht debattierten die beiden Gruppen in der Folge das Für und Wider von Antidumping-Maßnahmen. Insbeson­ dere stritten sie darum, ob die chinesische Industrie der amerikanischen In­ dustrie und der amerikanischen Gesellschaft »geschadet« habe und wer ge­ nau die Verantwortung für die Probleme der amerikanischen Industrie trug. 1 Tillman (2012) bietet eine technische Übersicht zum Verfahren für Solarmodule. Irwin (2009) gibt eine historische Übersicht zu Antidumping-Verfahren in den Vereinigten Staaten.



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Die CASM behauptete, dass die gesamte amerikanische Solarindustrie ihren Handelsüberschuss nach China verloren habe, da chinesische Fertiger nicht »fair« konkurrierten, sondern einen Verdrängungswettbewerb führ­ ten, »the leading cause of this reversal is a massive surge in Chinese exports of dumped and subsidized solar cells and modules« (Coalition for Ameri­ can Solar Manufacturing 2011: 2). Als Beleg für ihre Anschuldigung führte CASM immer wieder Schätzungen zu staatlichen Hilfen für chinesische Fer­ tiger an, die es ihnen erlaubten, Preise unter ihren »tatsächlichen Kosten« an­ zubieten. Chinesische Fertiger hätten »cash grants; discounted inputs […]; discounted land, power and water, preferential loans and directed credit, in­ cluding multi-billion dollar loans and loan guarantees to individual Chine­ se solar manufacturers; tax-incentives and rebates; export-assistance grants; and many others« erhalten. »[Subsidies] have enabled China’s industry to ex­ port 95 percent of its production […] globally at below market prices«, be­ hauptete CASM (ebd.: 3). Derartige industriespezifische Vorwürfe wurden in der öffentlichen Debatte häufig in generellere Verurteilungen der chine­ sischen Wirtschaftspolitik eingebettet, um die Dringlichkeit des Verfahrens zu unterstreichen: »This latest case is part of a long trend of industries on the verge of being wiped out by Chinas predatory mercantilism. Our elected leaders seem to be afraid to do any­ thing because it would start a trade war. When are our leaders going to realize that we are already in a trade war, and China is winning? If China can defeat us in an eco­ nomic war and destroy the economy of the United States, they won’t have to fight us in a military war. It’s time for our elected to have the courage to stand up to China and address China’s ›dumping‹ and currency manipulation.« (Nash-Hoff 2012)

Im Gegenzug versuchte CASE den Preisverfall der Industrie auf die Situa­ tion der Industrie zu schieben und chinesische Fertiger vom Verdrängungs­ vorsatz zu befreien: »There is a difference […] between […] holding a fire sale to move inventory in an oversupplied market and dumping. Companies who had extra inventory, like the Chinese, said ›I need to get that cash back. I need to lower my prices to get more market share to sell product.‹ That’s not dumping. That’s just selling at a lower margin just like you do if you have extra furniture in your furniture store, you say ›Everything is 70 % off‹ to sell out inventory and get new stuff in. So China’s ba­ sically in a situation where they have no pricing power right now. Demand has all the power; supply has no power right now.« (Jigah Shah, zitiert in Kearny Alliance 2012: 17)

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Gleichzeitig beschuldigten sich die beiden Gruppen gegenseitig, weitere um­ welt- und beschäftigungspolitische Ziele zu unterwandern. Kurz nachdem die International Trade Commission Anfang 2012 vorläufig für Solarworlds Klage entschied, beklagte der Vorsitzende der CASE, dass »Today SolarWorld received one of its biggest subsidies yet – an average 31 percent tax on its competitors. What’s worse, it will ultimately come right out of the pay­ checks of American solar workers […] This decision will increase solar electricity prices in the U.S. precisely at the moment solar power is becoming competitive with fossil fuel generated electricity.« (Greentech Media 2012)

Die Behauptung, dass die chinesische Konkurrenz im Sinne amerikanischer »solar workers« sei, ging auf CASE’ wiederholte Hinweise zurück, dass ver­ fallende Preise für Solarmodule allen Segmenten der Industrie halfen, die nicht an der Produktion von Zellen und Modulen beteiligt waren. Für den ursprünglichen umweltpolitischen Zweck des Förderprogramms, so die Idee, war ruinöse Konkurrenz im Modulsegment äußerst zweckdienlich. CASM versuchte solchen Bestimmungen des Gemeininteresses an chinesischen Mo­ dulen mit eigenen Argumenten entgegenzuwirken, wonach heimische Fer­ tigungsleistung spill overs in die weitere Wirtschaft bedeuten würde: »It is well established that for every worker manufacturing employs, the equiva­ lent of several more jobs are created or supported« (Coalition for American Solar Manufacturing 2012). Mit einem ähnlichen Argument schlugen sich die United Steelworkers auf die Seite von CASM, die gerade selbst auf Maß­ nahmen gegen chinesische Exporte hinarbeiteten (Gerard 2011). Noch 2012 bestätigte die International Trade Commission die vorläufi­ gen Zölle, die mit Abwandlungen bis in die Gegenwart bestehen. Nach So­ lyndra, im Wahljahr 2012 und im Nachhall der Finanzkrise von 2008 fand die Maßnahme verhältnismäßig breite Unterstützung in der Regierung und in der Öffentlichkeit. Aus einer Situation, in der die verschiedensten Grup­ pen sich durch Versprechen für Förderprogramme gewinnen lassen konn­ ten, war eine Situation gesellschaftlicher Spaltung geworden, in der Befür­ worter von Schutzzöllen die Regierung unter moralischen Zugzwang setzen konnten. Nach dem Erfolg in den USA versuchten europäische Fertiger Ende des Jahres 2012 auch in der Europäischen Union auf Schutzzölle zu drängen. Wie in den Vereinigten Staaten gründeten europäische Interessengruppen gesonderte Verbände zur Beeinflussung der öffentlichen Debatte um das Antidumping-Verfahren. Befürworter und allen voran Solarworld versam­ melten sich in einem Verband namens EU ProSun; Gegner in einem Ver­



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band namens Alliance for Affordable Solar Energy (AFASE). Im Unterschied zum amerikanischen Verfahren waren in der deutschen Debatte Anschuldi­ gungen endemisch, die auf Verfehlungen der europäischen Industrie hin­ wiesen – ihr den moralischen Anspruch auf Unterstützung absprachen. Jus­ tus Haucap etwa, Vorsitzender der Monopolkommission, die die deutsche Solarpolitik bei jeder Gelegenheit kritisierte, argumentierte, internationaler Wettbewerb halte Unternehmen innovativ und »[in] der Solarindustrie hat man jahrelang einen Streichelzoo betrieben« (Frankfurter Allgemeine Zei­ tung, 5. Juni 2012: 11). Derartige Argumente machten sich auch AFASEVertreter zu eigen: »All experts emphasize that photovoltaics will exit from the current bust cycle by continued cost cutting through cost rationalizations and economies of scale thereby sustaining and increasing demand. We are convinced that it is precisely this inability to sufficiently cut costs at a crucial stage in the industry’s development which has in­ jured EU producers but it could also be the avenue forward for their success.« (Alli­ ance for Affordable Solar Energy 2013: 2)

Das Bundeswirtschaftsministerium kam zu einem ähnlichen Schluss und ar­ gumentierte, die europäische Industrie habe über Jahre zu wenig in For­ schung und Entwicklung investiert (Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie 2012). Staatssekretärin im Umweltministerium Kathari­ na Reiche fügte hinzu, dass die staatliche Förderung der Industrie Anreize zur Innovation gesenkt habe (Reiche 2012). In außergewöhnlicher Schär­ fe verurteilten die umweltpolitischen Unterstützer der Industrie das Anti­ dumping-Verfahren. Der Grüne Hans-Josef Fell etwa, einer der Urheber des EEG, warnte, »der von Solarworld und einigen anderen europäischen Solarfirmen angezettelte Handelskrieg« könne »unkontrollierbar ausufern« und »Sand ins Getriebe der globalen Energiewende bringen«; »[n]un liegt es an den europäischen Unternehmen die Klage zurückzuziehen, um weite­ ren Schaden von der Branche der Erneuerbaren Energien abzuhalten« (Fell 2012a). Wie in den USA geschehen, versuchte auch Fell den Klägern ihren Zusammenhang mit dem wirtschaftlichen Gemeinwohl abzusprechen: der »weitaus größte Teil der Arbeitsplätze in der Solarwirtschaft [ist] […] in den Bereichen der Projektierer und Installateure, die heimisch sind und faktisch nicht aus China importiert werden können« (Fell 2012b). Mit ähnlichen Ar­ gumenten wandten sich Zulieferer der Solarindustrie an die Öffentlichkeit. Dieter Manz etwa, Leiter eines größeren Maschinenbauers, bekannte 2011, dass »[die] sinkenden Preise […] das Geschäft ankurbeln [werden]« (Wirt­ schaftswoche 2011). 2013 befürwortete er die alten Vorschläge über Begren­

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zungen des Fördersystems, lehnte aber noch immer die Vorstöße für Schutz­ zölle ab (Stuttgarter Nachrichten 2013). Wie auch in den USA stritten sich Interessengruppen um die wahr­ scheinlichen Arbeitsplatzeffekte der Zölle. AFASE gab ein Gutachten der Prognos in Auftrag, das behauptete, Antidumping-Zölle würden zwischen 175.500 und 242.000 europäische Arbeitsplätze in drei Jahren gefährden (Prognos 2013). EU ProSun beauftragte PricewaterhouseCoopers mit einem Gegengutachten, das die Zahlen in Zweifel zog (PricewaterhouseCoopers 2013). Gleichzeitig intervenierten Repräsentanten anderer Wirtschaftssekto­ ren öffentlich. Peter Schwartze etwa, Vorsitzender des deutschen Gesamtver­ bands Textil und Mode behauptete, Zölle könnten den Niedergang der deut­ schen Solarindustrie nur hinauszögern (Schwartze 2012). Nach wiederholten Drohungen der chinesischen Regierung vor einem Handelskrieg einigte sich die europäische Kommission entgegen der Kritik wichtiger Mitgliedsstaaten auf einen (vergleichbar niedrigen) Mindestpreis für Importe und eine quan­ titative Importbeschränkung (Kohoutek 2013). Wie auch im amerikanischen Fall drehten sich die Debatten um die Schutzzölle äußerst selten um technische Details des Verfahrens. Vielmehr versuchten Befürworter und Gegner des Verfahrens Verantwortung, Schuld und Verdienst in dem Fall in ihrem Sinne darzustellen. Befürworter wie Gegner von schützenden Interventionen nahmen für sich in Anspruch, im Gemeininteresse zu handeln und die Grundlagen für eine prosperierende Solarindustrie zu schaffen.

4. Diskussion Es entspricht der Wahrheit, dass klassische parlamentsgetriebene Wellen pro­ tektionistischer Politik in westlichen Ländern institutionell überholt wurden. An ihrer Stelle existieren gegenwärtig oft verschachtelte Regime um Verfah­ renstypen wie Antidumping- und Antisubventionsverfahren. Nur weil die­ se Regime ihrer Gestaltung nach »unpolitisch« daherkommen, bedeutet das nicht, dass sie »unpolitische« Verfahren produzieren. Wie in diesem Kapitel vorgeführt, stehen insbesondere größere und öffentlichkeitswirksame han­ delspolitische Entscheidungen unter fallspezifischen Legitimierungszwän­ gen. Ein struktureller Grund dafür ist, dass auch institutionell isolierte han­ delspolitische Regime Vetomöglichkeiten für die Politik vorsehen.



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Die in diesem Kapitel vorgestellte Fallstudie zeigt, dass Akteure das Für und Wider ungehemmter Konkurrenz in den Kategorien Verdienst, Verant­ wortung und Gemeinwohl debattieren. Akzeptierte Antworten auf die Fra­ ge, ob die Solarindustrie Schutz verdiente oder man sie guten Gewissens ihren »natürlichen Gang« gehen lassen sollte, entstanden aus Konflikten zwi­ schen kontingenten Interpretationen der Vergangenheit und Zukunft der Industrie. Dabei positionierten sich Befürworter nach einer ganz bestimm­ ten Struktur. Schutzsuchende Akteure beschrieben ihr Schicksal mit Verweis auf frühere Prosperitätsversprechen und »unfaire« Praktiken ausländischer Regierungen und Wirtschaftsakteure. Gegner versuchten die bedrängten In­ dustriesegmente selbst für ihre Probleme verantwortlich zu machen. Dabei unterschieden sich die Koalitionen nicht grundsätzlich in ihren normativen Bezügen. Beide Koalitionen nahmen für sich in Anspruch im Interesse der Umwelt, im Interesse der Wirtschaft, im Interesse industrieller Entwicklung und im Interesse der jeweiligen Heimatbevölkerung zu handeln. Während Arbeiten zu modernen Rechtfertigungsordnungen damit helfen können, Ar­ gumente der Debatten zu klassifizieren und einzuordnen (Boltanski/Théve­ not 2006; Thévenot u. a. 2000), ergab sich die Struktur des Konflikts aus der gesellschaftlichen Position der Akteure. Die Tatsache, dass Handelspolitik in einer moralischen Ökonomie aus­ gehandelt wird, hat eine weitere Bedeutung für wirtschaftssoziologische For­ schung zur Konkurrenz. Klassische Argumente zur gesellschaftlichen Ein­ bettung von Konkurrenz haben argumentiert, dass moralische Strukturen Konkurrenz »einhegen« und »begrenzen« (Etzioni 1985). Ähnlich wie von Viviana Zelizer für Prozesse der Marktentstehung gezeigt (Zelizer 1978), ist das Verhältnis von Moral und Marktprozessen in der Handelspolitik ver­ schachtelter und weniger eindeutig. Insoweit sie dafür verantwortlich sind, dass staatliche Stellen auf ihre Schutzrepertoires ohne weitere politische Kos­ ten verzichten können, spielen moralische Überzeugungen und Diskurse eine konstitutive Rolle für Wettbewerb. Indem Opfern wirtschaftlicher Ent­ wicklung die Opferrolle sowie Gewinnern die Täterrolle abgesprochen wird, kann staatliches Nichthandeln als moralisch geboten und »richtig« legiti­ miert werden. Stinchcombes Frage, wie sich erklären lässt, dass Wirtschafts­ strukturen in kapitalistischen Gesellschaften sich verhältnismäßig reibungs­ los abwickeln lassen, hat damit auch eine Antwort in der Soziologie der Moral. Mit Leistungsideologien, Konventionen »guter« Unternehmensfüh­ rung und vielen anderen kulturellen Strukturen existieren in kapitalistischen Gesellschaften Repertoires, mit denen sich Wettbewerb rechtfertigen lässt.

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Zum Abschluss ist ein Kommentar zum größeren empirischen Zusam­ menhang der vorgestellten Fallstudie wichtig. Auf eine Art war der Tumult um die Solarindustrie Symptom eines breiteren Problems in der Förderung erneu­ erbarer Energien. Alle Staaten betrieben die Förderung neuer Energietechnolo­ gien mit ausdrücklichen oder impliziten industriepolitischen Hoffnungen – in einer Art arms’ race. Es war aber rechnerisch nie möglich, dass sie alle Nettoex­ porteure grüner Energietechnik werden würden. Es existiert mittlerweile eine bunte Vielfalt neo-merkantilistischer Vorkehrungen zur Förderung der je eige­ nen Industrie – von Forschungs- und Entwicklungshilfen über Schutzzölle bis zu versteckten Schutzmaßnahmen. Das Problem hinter diesem Wildwuchs ist, dass grüne Energietechnologien nirgendwo ohne Staatshilfen auskamen, Stan­ dards für »offene« oder »faire« Fördersysteme aber nicht existieren. Die meis­ ten handelspolitischen Institutionen gehen von einem Ideal »freier Märkte« aus, das im Energiesektor so gut wie nie greift. In diesem Sinn ist die Episode der Solarzölle lediglich ein Ausschnitt aus einem Prozess internationalen Expe­ rimentierens zu einer auskömmlichen Lasten- und Chancenverteilung in der Förderung grüner Energietechnologien.

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Alltagsnationalismus und Orthodoxie im zeitgenössischen Russland: Die Rolle der wirtschaftlichen Eliten Tobias Köllner 1. Einleitung In den letzten Jahren hat die orthodoxe Religion in Russland massiv an Be­ deutung gewonnen und das postsowjetische Russland gilt als eines der Para­ debeispiele für die De-Säkularisierungsthese (Casanova 2001; Pollack/Olson 2008). Seit dem Ende der Sowjetunion hat sich die Zahl der Gläubigen be­ trächtlich erhöht. Das gleiche gilt für die Anzahl der Klöster und Kirchen. Dennoch darf diese »religiöse Wiedergeburt« nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Verständnis der Religion divers ist und es unterschiedliche Zugänge gibt (Filatov/Lunkin 2006). Beispiele für das diverse Verständnis der Russi­ schen Orthodoxie beruhen auf der ethnischen Interpretation (Karpov u. a. 2012), berühren moralische Fragen (Zigon 2011; Steinberg/Wanner 2008; Benovska-Sabkova u. a. 2010) oder setzen Kultur und Religion gleich (Scher­ rer 2003). Es bleibt aber dennoch festzuhalten, dass ein allgemeiner Bedeu­ tungszuwachs nicht bestritten werden kann. Neben der Religion hat auch die Bedeutung privatwirtschaftlichen un­ ternehmerischen Handelns in den letzten Jahren einen Aufschwung erfahren (Köllner 2012). In diesem Kontext wird aber deutlich, dass die Privatwirt­ schaft bis heute von der Politik dominiert wird und klare Vorgaben erhält (Humphrey 2002). Aus diesem Grund können sich Unternehmer auch nicht entziehen, wenn von politischen Akteuren Mitwirkung und Unterstützung eingefordert wird. Teilweise gehen sie sogar noch weiter und entwickeln in vorauseilendem Gehorsam eigene Initiativen (Köllner 2012: 169–192; per­ sönliche Kommunikation mit Alexander Libman 2019). Ein wichtiges Pro­ jekt von politischen Akteuren in den letzten Jahren ist die Unterstützung der Orthodoxie, die als eine zentrale Stütze der Russischen Föderation verstan­ den wird und entsprechend wird das aktiv von russischen UnternehmerIn­ nen unterstützt (Köllner 2011; 2013a). Ein dritter wichtiger Ausgangspunkt für diesen Artikel ist die zunehmen­ de Bedeutung der Nationenbildung und des Nationalismus im Allgemei­

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nen. Obwohl es historische Kontinuitäten gibt (Verdery 1995; 1999) und das Phänomen damit nicht völlig neu ist, gewann es doch in den letzten Jahren an Bedeutung und wird von staatlichen Stellen eingefordert. Für die Russische Föderation gewann das seit den verschiedenen Farbigen Revolu­ tionen im Umfeld massiv an Bedeutung (Mitrofanova 2005; Laruelle 2009; 2012). Darüber hinaus zeigt sich aber auch, dass Nationalismus kein allei­ niges Phänomen der Eliten ist. Vielmehr wird deutlich, dass es, ähnlich wie in der Analyse von Norbert Elias in seinen Studien über die Deutschen (Eli­ as 2005: 193), viele Anhänger der unteren und mittleren Schichten gibt, die nicht bestehende soziale Ungleichheiten thematisieren, sondern sich mit den nationalistischen Diskursen identifizieren. Dies ist vor allem daher inte­ ressant, weil die massiven Einkommens- und Vermögensunterschiede nach dem Ende des Sozialismus durchaus Anlass für die Fokussierung darauf er­ möglicht hätten. Festzuhalten bleibt aber, dass es sich hier um einen allge­ meinen Trend handelt, dem sich auch der wirtschaftliche Bereich angepasst hat und daher wird auch von führenden wirtschaftlichen Akteuren erwartet, dass sie sich zum Wohle der Nation insgesamt einbringen. Darüber hinaus wird aber auch deutlich, dass die wirtschaftlichen Eliten bestimmte Diskur­ se über die Nation und die Nationenbildung selbst verinnerlicht haben und diese zurück in die Gesellschaft tragen. Das kann auch an ihrem Interesse daran liegen, dass die Nation thematisiert wird und nicht die sozialen Un­ gleichheiten. Besondere Bedeutung kommt in diesen Diskursen den eigenen Unternehmen zu, wo die neu entwickelte Perspektive aktiv an die Beschäf­ tigten vermittelt wird. Methodisch folgt diese Forschung einem qualitativen Ansatz, welcher der Theorieentwicklung und nicht der Hypothesenprüfung dienen soll. Ein wichtiger Beitrag dieses Artikels ist der Blick auf die regionale oder loka­ le Ebene, welche von vielen anderen Sozial- und Wirtschaftswissenschaften nur am Rande behandelt wird. Während diese Vorgehensweise in der Eth­ nologie weit verbreitet ist, bedarf das außerhalb dieser Fachdisziplin meist einer besonderen Begründung. Daher soll hier auf einige Überlegungen au­ ßerhalb der Ethnologie verwiesen werden, welche die Bedeutung der loka­ len Akteure und der alltäglichen Handlungen für ein besseres Verständnis unterstreichen. Zum einen ist das der Ansatz von Michael Lipsky (2010), welcher den Begriff der street-level bureaucracy einführte. Damit wies Lips­ ky darauf hin, dass trotz aller Hierarchien viele Dinge auf der lokalen Ebene entschieden und umgesetzt werden. Staatsbedienstete wie Polizisten, Lehrer oder die unteren Justizangestellten haben einen erheblichen Handlungsspiel­



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raum, da die Vorgaben meist konkrete Ausführungsanweisungen vermissen lassen (ebd.). Damit sind sie selbst nicht im engeren Sinne politisch tätig, üben aber einen nachhaltigen Einfluss auf die Umsetzung von politischen Entscheidungen aus. Daraus wird deutlich, dass »history is not produced by the dramatic actions and postures of leaders, but by complex combinations of large numbers of small actions by unimportant people« (March 2008). Im Resultat dieser Ansätze lässt sich damit festhalten, dass der lokalen Ebe­ ne und den Alltagsaktivitäten eine erhebliche Bedeutung zukommt. Häufig ist es eben nicht so, dass die Ideen und Anregungen der Mächtigen von der föderalen Ebene genau in dieser Form auf der lokalen Ebene umgesetzt wer­ den. Vielmehr zeigt sich, dass viele Handlungen »[are] born out of chance and naiveté« sind (Powell/Rerup 2017: 332). Im Konkreten beruht dieser Artikel auf zwei ethnographischen Feldfor­ schungen in der Russischen Föderation in den Jahren 2006 bis 2008 und 2013 bis 2016. Geholfen hat mir insbesondere ein Praktikum von mehr als acht Monaten in einem russischen Unternehmen, dessen Eigentümer Präsi­ dent einer Unternehmensvereinigung war. Das ermöglichte mir einen Zu­ gang aus erster Hand. Dadurch konnte ich teilnehmende Beobachtungen durchführen und bekam Zugang zu vielen UnternehmerInnen, die für semistrukturierte Interviews (rund 100 Stück) und weitere Gespräche, die nicht aufgezeichnet wurden, zur Verfügung standen. Die Durchführung der For­ schung orientierte sich am »ethnographic research cycle« (Spradley 1979; 1980), bei dem von einer breiten Fragestellung ausgegangen wird, die im Laufe der Forschung zunehmend präzisiert und fokussiert wird. Bei der Aus­ wertung kam vor allem die Methodik der »Grounded Theory« zum Einsatz, welche die Entwicklung von Mustern und Kategorien ermöglicht (Glaser/ Strauss 2009; Strauss/Corbin 1998; Przyborski/Wohlrab-Sahr 2010). Der Hauptort der Feldforschung ist Wladimir, eine Provinzhauptstadt mit rund 350.000 Einwohnern. Diese befindet sich rund 180 Kilometer öst­ lich von Moskau. Obwohl die Stadt selbst eine reiche Geschichte hat und im 13. Jahrhundert selbst Hauptstadt wurde, lassen sich doch Parallelen zu an­ deren Orten im von der Orthodoxie geprägten europäischen Teil Russlands ziehen. Darüber hinaus wurden weitere Orte und Städte in der Region Wla­ dimir in die Untersuchung einbezogen.

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2. Nation, Nationenbildung und Alltagsnationalismus Diskurse über einen zunehmenden Nationalismus in den postsowjetischen Staaten und insbesondere der Russischen Föderation sind weit verbreitet (Laruelle 2009; 2012; Tolz 1998). Häufig wird in diesen Diskussionen auf das Konzept von Benedict Anderson zurückgegriffen, welcher die Nation als ein Konstrukt, als eine imagined community verstand: »In der Tat sind alle Gemeinschaften, die größer sind als die dörflichen mit ihren Face-to-faceKontakten, vorgestellt Gemeinschaften« (2005: 16). Aus diesem Konzept lässt sich ableiten, dass die Nation nichts Gegebenes ist, sondern aktiv her­ gestellt und konstruiert werden muss. Das lässt sich für die Russische Föde­ ration zum Beispiel daran ablesen, dass bereits während der Präsidentschaft von Boris Jelzin erste Schritte hin zur Definition der Nation unternommen wurden. Ein Beispiel dafür ist ein Wettbewerb, den er 1996 ausrichten ließ, bei dem eine »Idee für Russland« geschaffen werden sollte und die Frage »Wer sind wir?« beantwortet werden sollte (Scherrer 2003: 165). Daher gibt es in den postsowjetischen Staaten allgemein und in der Russischen Födera­ tion im Speziellen eine verstärkte Auseinandersetzung mit der Nation, dem eigenen Erbe und der eigenen Identität (Pine u. a. 2004). Der Blick im zeit­ genössischen Russland ist also ganz eindeutig nach hinten in eine besonders positiv besetzte Zeit gerichtet und nicht nach vorn (vgl. dazu auch die Aus­ führungen zu Deutschland in Elias 2005: 198ff.).1 Zentrale Aspekte sind da­ bei die Definition der Ich-Identität im Sinne eines »Wer bin ich?«, eine De­ finition der eigenen Zugehörigkeit (Wie sehen mich die Anderen?) und eine bewusste Abgrenzung von weiteren Gruppen (Greverus 1995: insbesondere S. 28ff.; siehe auch Cohen 1996). Aufbauend auf den eingangs erwähnten drei Grundlagen, soll hier die Rolle der wirtschaftlichen Eliten herausgearbeitet werden. Wie sich zeigt, ist das Engagement dieser Eliten direkt mit der eigenen Suche nach einer Identität gekoppelt und wird dann an andere Personen weitergegeben. Da­ mit wird deutlich, dass Nationalismus nicht nur ein Projekt extremistischer Randgruppen der Gesellschaft ist. Vielmehr handelt es sich um ein Phäno­ men, dass stark in alltägliche Diskurse und Praktiken eingebettet ist, daher 1 Insbesondere die Ausführungen von Elias (2005: 198f.) zum Wandel von Begriffen wie »Kultur« oder »Zivilisation« sind hier wichtig, da es ähnliche Begriffsverschiebungen und Essentialisierungen auch im zeitgenössischen Russland zu beobachten gibt. Die rus­ sische Kultur wird damit immer stärker zu etwas Angeborenem, einem Ding, dass nicht verloren geht und was andere nicht erlangen können.



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meist nicht durch massive und besonders auffällige nationalistische Akti­ onen hervorsticht. Das lehnt sich an die Erkenntnisse von Michael Billig (1995) in seinem Konzept des banal nationalism an, welches er für die etab­ lierten Nationen des Westens erarbeitete. Die zentrale These lautet, dass der Nationalismus nicht einem Globalisierungsgedanken gewichen ist, sondern bis heute existiert; »there is a continual ›flagging‹, or reminding, of nation­ hood« (ebd.: 8). Allerdings fällt bei diesem Konzept auf, dass alltägliche For­ men des Nationalismus anderen Ausdrucksformen gegenübergestellt wer­ den. In der Praxis ist es aber vielmehr so, dass sich beide Formen ergänzen und vermischen, so dass eine einfache Unterscheidung zwischen »banalem« Nationalismus und »heißeren« Formen nicht zielführend ist (Jones/Merri­ man 2009: 165f.). Ferner wird kritisiert, dass im Konzept des banalen Nati­ onalismus das Handeln von lokalen Akteuren nur am Rande von Bedeutung ist, welches aber zentral für das Verständnis ist, da Nationalismus kein allei­ niges Phänomen der Eliten ist, sondern auch von unten reproduziert und in Interaktionen eingeflochten wird (Fox/Miller-Idriss 2008: 546). Daher soll hier auf das Konzept des Alltagsnationalismus (everyday na­ tionalism) aufgebaut werden (Goode/Stroup 2015; Goode 2019), da damit sowohl alltägliche als auch extremere Formen des Nationalismus erfasst wer­ den können. Des Weiteren erlaubt es eine bessere Fokussierung auf Indivi­ duen und ihr Handeln im Kontext, welches empirisch untersucht werden kann (Fox/Miller-Idriss 2008). Das ermöglicht einen Bottom-up-Zugang zu dem Phänomen des Nationalismus in seiner Aushandlung und Umsetzung bei lokalen Akteuren. Das lässt sich sehr gut an meinem ethnographischen Material belegen, wobei der Russischen Orthodoxie zunehmend eine wich­ tige Rolle zukommt und sie mehr und mehr zu einer Art nationalem MetaDiskurs wurde, der alles inkorporiert und der die historischen Wurzeln der Russischen Föderation fast ausschließlich auf sie zurückführt. Jutta Scherrer (2003: 80) führt dazu aus, dass »in der Orthodoxie [der] Kern der einheit­ lichen russischen Geschichte, Nationalkultur und Staatlichkeit und damit auch den wichtigsten Faktor für die ›Wiedergeburt‹ Rußlands« liegt. Damit wird die besonders enge Verbindung zwischen der Russischen Orthodoxie und der Politik deutlich, was als Verflechtung charakterisiert wird (Köllner 2019; 2020b). In diesem Kontext spielt die wirtschaftliche Elite eine immense Rolle und trägt massiv dazu bei, dass die Russische Orthodoxie verstärkt am öffentlichen Leben teilnimmt und im alltäglichen Handeln eine Rolle spielt. Das hängt si­ cherlich auch damit zusammen, dass die wirtschaftlichen Eliten einer Ideali­

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sierung der eigenen Gruppe schlecht widersprechen können und die Tendenz besteht, sich in der Lobpreisung der eigenen Gruppe im Wettbewerb mit an­ deren zu überbieten (vgl. zu dieser Idee auch Elias 2005: 220f.). So existieren zahlreiche Projekte, die von UnternehmerInnen arrangiert werden und wo ih­ nen eine Scharnierfunktion zwischen den gesellschaftlichen Eliten aus Religi­ on und Politik zukommt (vgl. auch Köllner 2013a). Beispielhaft dafür stehen die Errichtung von Kirchen (Köllner 2011; 2013b), die Einführung von neuen Feiertagen (Köllner 2020a) oder die Errichtung von religiösen Denkmälern, welche den Bezug der lokalen Gemeinschaft zur russischen Nation verdeutli­ chen (Köllner 2013a). Daher steht in diesem Beitrag die Rolle der Wirtschaft für die Entstehung und Förderung von Nationenbildung und Alltagsnationa­ lismus im zeitgenössischen Russland im Vordergrund. Klassische Themen des Wirtschaftsnationalismus, wo vor allem auf die Importsubstitution und die Schließung von Märkten für Teilnehmer aus anderen Staaten fokussiert wird, werden aus diesem Grund hier nicht behandelt.

3. Ethnographische Beispiele Im Folgenden sollen einige ethnographische Beispiele dargestellt werden, welche die Rolle der wirtschaftlichen Eliten beim Aufbau eines Nationalbe­ wusstseins und der Stärkung des Alltagsnationalismus im Detail analysiert. Konkret soll auf drei Beispiele eingegangen werden. Erstens, übernimmt die wirtschaftliche Elite eine führende Rolle bei der Verbreitung von National­ stolz und Nationalbewusstsein in der Bevölkerung. Häufig erfolgt das über eine aktive Auseinandersetzung mit der Russischen Orthodoxie in den Be­ trieben oder bei betrieblich organisierten Ausflügen zu religiösen Orten. Ein zweites Beispiel betrifft die Sanierungen von existierenden Kirchen und die Errichtung von neuen Kirchen, was in den letzten Jahren massiv an Bedeu­ tung gewonnen hat. Daher sind viele neue Kirchengebäude entstanden oder wieder zugänglich gemacht worden, so dass die religiöse Symbolik im zeit­ genössischen Russland eine wichtige Rolle innehat. Schlussendlich und drit­ tens, ist die Unterstützung der wirtschaftlichen Eliten für ein Wiedererstar­ ken der Russischen Orthodoxie in der Öffentlichkeit hervorzuheben. Dafür wird die Errichtung von neuen Denkmälern finanziell unterstützt. Ferner übernehmen Unternehmer eine aktive Rolle bei der Einführung und Ver­ breitung von neuen Feiertagen.



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3.1 Engagement der wirtschaftlichen und politischen Eliten: Governmentality Im Laufe der letzten Jahre ist zunehmend zu beobachten, dass die wirtschaftli­ che Elite – genau wie die politische Elite – sich stärker mit Fragen der eigenen Identität und Zugehörigkeit auseinandersetzt. Dabei spielt die Russische Or­ thodoxie eine zentrale Rolle und viele UnternehmerInnen beschäftigen sich in der ein oder anderen Form damit (zu Konversionsprozessen allgemein sie­ he Pelkmans 2009). Auf dieser Grundlage interessiert man sich dann für all­ gemeine gesellschaftliche Themen und bringt sich entsprechend mit aktiven Handlungen ein. Die Motivationen für diese Aktivitäten sind ambivalent und beinhalten neben breiteren gesellschaftlichen Normen und Werten auch in­ dividuelle Gewinnerzielungsabsichten. Charakteristisch für die Auseinander­ setzung der wirtschaftlichen Eliten mit moralischen und religiösen Themen ist daher eine Ambivalenz, die verschiedene Aspekte in sich vereint und deren Ausrichtung sich mit der Zeit massiv verändern kann. D.h., dass es durchaus möglich ist, Personen zu treffen, die früher keinen Bezug zur Russischen Or­ thodoxie hatten, diesen aber im Laufe ihres Lebens entwickelt haben. Einer der zentralen Trends im zeitgenössischen Russland ist das Wieder­ erstarken des Nationalismus (Tolz 1998; Laruelle 2009; 2012). Das zieht sich durch alle gesellschaftlichen Schichten und betrifft auch die wirtschaftliche Elite. Eine zentrale Erfahrung für viele Personen der Wirtschaft waren die 1990er Jahre, die von Rechtlosigkeit und Kriminalität geprägt waren (Volkov 1999). Gerade dieser Fakt und die eigene Verwicklung in diverse zumindest halblegale Aktivitäten sind den wirtschaftlichen Eliten bis heute im Bewusst­ sein (Ries 2002; Köllner 2012: 61ff.). Dabei zeigte sich auch, dass sich die Ausgangslage sehr schnell ändern kann und das eigene Vermögen nur be­ dingt vor dem Zugriff des Staates oder krimineller Gruppierungen geschützt werden kann. Das führte bei vielen Personen zu einem Umdenken und zu einer Rückbesinnung auf die Geschichte Russlands: Wann ging es Russland gut und woran könnte das gelegen haben? In vielen Fällen führte das zu einer stärkeren Beschäftigung mit der Russischen Orthodoxie, welche als die zen­ trale Grundlage des russischen Staates angesehen wird. Dieser Diskurs wird auch von offizieller staatlicher Seite unterstützt und genährt, so dass eine Auseinandersetzung mit der Russischen Orthodoxie häufig mit nationalisti­ schen und patriotischen Strömungen einhergeht. Bei diesen Auseinandersetzungen mit der eigenen Geschichte, der ei­ genen Religion und der Nation agieren diese wirtschaftlichen Eliten meist nicht nur auf einer individuellen Basis, sondern schließen ihre Angestell­

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ten ein. Dieses Muster hat sich auch im politischen Bereich entwickelt, wie mir das von dem Unternehmer Iwan berichtet wurde. Iwan war während meiner ersten Feldforschung in seinen Mittfünfzigern und führt ein Immo­ bilienunternehmen gemeinsam mit seiner Frau. Eigentlich hat Iwan eine hervorragende Ingenieursausbildung durchlaufen und hatte zu Zeiten der Sowjetunion eine führende Rolle als leitender Ingenieur bei der Raumfähre »Buran« inne. Nach dem Ende der Sowjetunion wurde das Raumfahrtpro­ gramm drastisch gekürzt, so dass Iwan sich neu orientieren musste und in den Immobilienbereich wechselte. Er unterhält aber weiterhin Kontakte zu hochrangigen Politikern auf der lokalen, regionalen und teilweise der föde­ ralen Ebene. Ich habe ihn während meines Praktikums in einem russischen Unternehmen kennengelernt, in dem er früher beschäftigt war und dem er bis heute freundschaftlich verbunden ist. Hier ist seine Beschreibung der Ereignisse: »Im Jahr 2002 half ich im Kaukasus, um die Folgen einer Flutkatastrophe zu besei­ tigen. Dabei waren auch Leute aus der höheren Verwaltung dabei – die Topmanager des Staates sozusagen. Diese Leute waren zwischen 45 und 55 Jahren alt und waren bis zur Perestroika überzeugte Kommunisten. Sie hatten in den besten Instituten ge­ lernt, waren Komosmol-Aktivisten, waren Anführer. Als sie aber das Land in dieser schwierigen Situation sahen: Chaos, Katastrophe, Krise und so weiter – begannen sie sich für die Geschichte Russlands zu interessieren und für die Russische Orthodoxie. Sie fragten sich, warum Russland damals so stark war und welche Rolle die RussischOrthodoxe Kirche dabei spielte. Sie beschäftigten sich intensiv mit der Orthodoxie. Dabei integrierten sie auch ihre Angestellten und wiesen sie an [Oni zastavliali svoikh podchinennykh], sich mit der Bibel und der Kirche zu beschäftigen. Sie schickten sie nach Sergiev Posad, Suzdal’ und zu ähnlichen [heiligen] Orten.«

Dieses Handlungsmuster übertrug sich im Folgenden auf die wirtschaftliche Elite. Diese begann zunehmend über die eigene Verantwortung zu reden. Das ist sicher zum einen dem Umstand geschuldet, dass dies als Erwartung direkt aus der Gesellschaft und aus dem politischen Bereich an sie herange­ tragen wurde. Anderseits zeigt sich aber auch ein eigenständiger Wille zur Auseinandersetzung mit den eigenen Wurzeln, der eigenen Identität und der eigenen Zugehörigkeit. Das führt häufig zur Annäherung an die Russische Orthodoxie und zu Auseinandersetzungen mit der eigenen Nation. Exemp­ larisch zu erkennen ist das am Beispiel von Artem. Als ich Artem 2007 ken­ nenlernte, war er um die 60 Jahre alt und leitete ein größeres Unternehmen mit rund 600 Angestellten. Zu Sowjetzeiten war er Mitglied der Kommunis­ tischen Partei und leitender Angestellter in einem Moskauer Kombinat. Das



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Kombinat hatte eine Außenstelle in der Region Vladimir, wo Artem öfters zu tun hatte. In der Zeit des Mangels am Ende der 1980er Jahre und am Anfang der 1990er Jahre nutzte er seine Reisen und seinen privilegierten Zugang zu Waren des täglichen Gebrauchs in Moskau, um diese in der Region Vladi­ mir zu verkaufen. Das brachte ihm erhebliche Gewinne und so expandierte dieses Unternehmen und umfasst heute mehrere Hotels, Werkstätten, Ver­ kaufsläden und weitere Geschäfte. Er beschreibt seine Erlebnisse wie folgt: »In den letzten 4 oder 5 Jahren begann ich zu fasten. Ich wandte mich der Ortho­ doxie zu, da ich jetzt die Aspekte von Religion und Moral besser verstehe. Und das sind keine Geschichten [ponaslyshki]. Ich kam zu Gott. Warum? Auf Grund unserer ›Pop‹ Moral [popsovaia moral’] – der Moral von Ksiusha Sobchak,2 NTV 3 und so weiter – das lässt stark zu wünschen übrig und ruiniert unsere Jugend. […] Woher das kommt? Selbstverständlich kommt das durch die Medien (SMI), die Drogen, Prostitution und viele andere Dinge verbreiten. Und welche Filme haben wir? War­ um sollten wir die gewalttätigen Filme aus Amerika schauen? […] Zhirinovskij3 hat Recht, wenn er sagt: wir haben unseren russischen Weg, unsere Mentalität. Daher versuche ich, auf der Grundlage meiner Firma etwas Neues zu entwickeln. […] In meiner Firma arbeiten mehr als 600 Angestellte. Und natürlich sorge ich mich um sie [zabotit’sia]. […] Wenn man es sich selbst überlässt [broshen na samotek], geht es schief. Aber ich bin da sensibel [sensornyi] und spüre, was die Leute benötigen, wel­ che Bedürfnisse sie haben.«

Am Beispiel von Artem wird deutlich, dass die Auseinandersetzung der wirt­ schaftlichen Elite mit Religion, Moral und der eigenen Geschichte nicht nur auf Druck von oben oder aus der Gesellschaft erfolgt, sondern auch eigenen Impulsen folgt. Dabei wird aber auch deutlich, dass nationalistische Unter­ töne und Akteure aus diesem Milieu (z. B. Zhirinovskij) eine große Rolle in diesen Diskursen spielen. Die Rückbesinnung auf die russische Orthodoxie ist aus diesem Grund nur schwer von einer Rückbesinnung auf die russische Nation zu trennen. Die Religion wird zum entscheidenden Gradmesser für die Abgrenzung zum Westen und das eigene Verständnis der Nation. Daher 2 Kseniia Sobchak ist die Tochter des Ex-Bürgermeisters von St. Petersburg Anatolij Sob­ chak. Lange war sie als Partygirl bekannt und hatte einen ähnlichen Ruf wie Paris Hil­ ton. In letzter Zeit fiel sie eher mit ihren politischen Ambitionen auf, bei denen sie sich als Opposition zu Präsident Wladimir Putin inszenierte. Allerdings wird sie bis heute sehr ambivalent bewertet und nur selten als ernsthafte politische Kraft wahrgenommen. 3 Wladimir Wol’fovich Zhirinovskij wurde 1946 in Alma-Ata (Kasachstan) geboren und führt die Liberaldemokratische Partei Russlands (LDPR) an. Er und die Partei werden dem nationalistischen Spektrum zugerechnet, da er schon mehrfach mit abfälligen Äu­ ßerungen über andere ethnische Gruppen in Erscheinung getreten ist und öffentlich für ein Russland in den Grenzen von 1917 aussprach.

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ist Artem einer der russischen Unternehmer, der Ausflüge und Pilgerfahrten für das gesamte Unternehmen mit all seinen Angestellten organisiert. Das folgt einem breiteren gesellschaftlichen Trend, bei dem Pilgerfahrten immer populärer wurden (Naletova 2010; Kormina 2010). Bei diesen Pilgerfahrten besucht Artem mit seiner Belegschaft Klöster und andere religiöse Orte, um den Beschäftigten die Bedeutung der russischen Orthodoxie zu vermitteln. Er zwingt sie dabei nicht zum Beten, will aber ganz klar Informationen über die russische Nation vermitteln und weitergeben. Ähnlich verfährt er bei an­ deren Ausflügen zu zentralen Orten in der Russischen Föderation, wie z. B. nach St. Petersburg oder Moskau. Es erfolgt also eine Erziehung zum natio­ nalen Gedanken. Ferner wird am Beispiel von Artem deutlich, was mit dem Konzept der governmentality beschrieben wurde. Alexei Yurchak (2002: 278) hat Fou­ caults Konzept für die wirtschaftliche Elite Russlands angewandt und be­ schreibt governmentality als »organizing and governing people, institutions, relations, objects, and ideas«. Noch deutlicher wird der Zusammenhang bei Michel Foucault selbst, der das Phänomen wie folgt beschreibt »a form of activity aiming to shape, guide or affect the conduct of some person or per­ sons« (Gordon 1991: 3). Genau das zeigt sich am Engagement von Artem und anderen Personen aus der wirtschaftlichen Elite sehr gut, die einen er­ heblichen Einfluss auf ihre Untergebenen im Unternehmen ausüben. Dieser Einfluss geht weit über die eigentliche Tätigkeit in der Firma hinaus und soll stärkere Spuren in der gesamten Gesellschaft hinterlassen. Das zeigt deutli­ che Parallelen zur sozialistischen Zeit, wo die Betriebe eine wichtige erzie­ herische Funktion übernahmen. Das geschah vor allem in den Arbeitskol­ lektiven, den sogenannten Brigaden. Es gab eine aktive Brigadearbeit und darüber wurde versucht, den neuen sozialistischen Menschen zu formen (Rottenburg 1992: 243; Müller 2002: 73). Die Brigade stellte die kleins­ te Einheit des sozialistischen Arbeitskollektivs (kollektiv) dar, welche eine »unique position to influence the beliefs and values of its members through peer pressure and other forms of group influence« innehatte (Slider 1987: 390). In ähnlicher Weise versucht die wirtschaftliche Elite in der heutigen Zeit, die Angestellten zu erziehen und stärker mit der Russischen Orthodo­ xie, der russischen Geschichte und der russischen Nation in Verbindung zu bringen. Beispielhaft dafür stehen Betriebsausflüge, die teilweise als Pilger­ fahrten bezeichnet werden.



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3.2 Kirchenneubauten und die Schaffung einer »authentischen Landschaft« Ein wichtiges Element zur Stärkung des Nationalbewusstseins sind religiö­ se Symbole und religiös aufgeladene Orte wie Kirchen, Klöster oder heilige Quellen. Diese nehmen eine wichtige Rolle ein und unterstützen die Schaf­ fung einer »authentischen Landschaft«. Damit ist gemeint, dass von der rus­ sischen Politik und auch von den wirtschaftlichen Eliten versucht wird, das Bild einer russischen Nation zu schaffen, welches die Rolle der Religion in der russischen Geschichte und für das zeitgenössische Russland besonders betont. Das geschieht meist, ohne die sozialistische Vergangenheit zu negie­ ren. Immerhin wird sie jedoch an den Rand gedrängt. Das wurde an ande­ rer Stelle als postsozialistischer »Palimpsest« bezeichnet (Köllner 2018: 1084). Dieses aus der Philologie stammende Konzept weist darauf hin, dass zwei Bedeutungen an derselben Stelle festgehalten werden (Park 1994: 198). Ent­ sprechend wurde die Landschaft als ein Skript interpretiert, in welches die neue religiöse Bedeutung eingebracht wird, ohne die alte sozialistische Inter­ pretation komplett zu verdrängen. Eine wichtige Grundlage für diese Ent­ wicklung ist der Erlass eines Gesetzes aus dem Jahr 2010, welcher die Rück­ gabe von Eigentum an religiöse Organisationen vorsieht, welches diese vor der Oktoberrevolution 1917 besaßen. Obwohl es bereits vorher Beispiele für Eigentumsrückübertragungen an religiöse Organisationen gab, erfolgte das meist als Einzelfallentscheidung (Knox/Mitrofanova 2014). Mit dem Gesetz existiert nun eine gesetzliche Grundlage – die zwar nicht immer komplett umgesetzt wird –, welche dem Prozess der Eigentumsrückübertragung aber eine neue Dynamik verliehen hat. Im Prozess der des Wiedererstarkens der Russischen Orthodoxie spielt die wirtschaftliche Elite eine zentrale Rolle, da sie die finanziellen Ressour­ cen für die Sanierung oder Errichtung von Kirchengebäuden zur Verfügung stellt. Die Motivationen für dieses Engagement sind vielfältig und umfas­ sen einerseits eigene religiöse Überzeugungen, da Spenden von Wohlhaben­ den an die Kirche in Russland seit langer Zeit von Bedeutung sind (Fedotov 1966: 80; Shakhmatov 1969: 202). Die Initiative für die Spenden kann auf religiöse Akteure (Priester, Beichtväter, Mönche und Nonnen) oder die Un­ ternehmerInnen selbst zurückgehen. In diesem Kontext wird die Spende für die Errichtung oder Sanierung einer Kirche als Akt der Buße verstanden. Ge­ rade in der Orthodoxie kommt der öffentlichen Buße eine besondere Rolle zu (Kharkhordin 1999: 61ff.). Damit wird deutlich, dass die Spende als Aus­

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druck einer tiefen Änderung der Persönlichkeit verstanden wird. Diese Pers­ pektive teilt auch Iwan, der bereits weiter vorn eingeführt wurde: »Einige dieser Personen, die besonders erfolgreich im Geschäft sind, waren vorher Kriminelle [kogda-to oni zanimalis’ kriminalom]. Und tatsächlich fanden einige von ihnen den richtigen Beichtvater und wollen der Kirche wirklich helfen, indem sie neue Kirchen bauen. Sie beschäftigen sich mit Wohltätigkeit [blagotvoritel’nost’]. Sie haben verstanden, dass dies notwendig ist, damit die Seele gerettet wird [vrode by i polet dushy byl]. Sie haben verstanden: ›Offensichtlich habe ich etwas falsch gemacht in meinem Leben‹ [Znachit, chto ia chto-to delal v zhizni ne tak].«

Zum Zweiten werden Spenden an die Russisch-Orthodoxe Kirche als Reakti­ on auf politischen Druck realisiert oder um eigene Ambitionen umzusetzen, da die Förderung der Russischen Orthodoxie auch ein politisches Projekt ist (Köllner 2011; 2012: 117–40; 2013b). Die Förderung der eigenen Nationenbil­ dung von politischer Seite fällt häufig mit den Überzeugungen der wirtschaft­ lichen Elite zusammen, welche die Wiederherstellung des eigenen religiösen Erbes und die Stärkung der Nation als wichtiges gesamtgesellschaftliches Pro­ jekt betrachtet. Daneben existiert ferner die Idee, dass sich mit den Spenden ei­ gene Vorteile realisieren lassen. Das kann zum Beispiel der Fall sein, wenn man mit diesen großzügigen Spenden Zugang zu neuen Netzwerken auf der regi­ onalen oder föderalen Ebene erhält oder damit auf der lokalen Ebene so be­ kannt wird, dass man ein politisches Amt erhält indem man Dinge umsetzen kann, die dem eigenen Unternehmen zu Gute kommen. Festzuhalten bleibt also, dass es neben der oben erwähnten religiösen Motivation auch noch den Aspekt der politischen Klugheit oder des politischen Drucks gibt. Erneut ist es der Unternehmer Iwan, der das gekonnt zusammenfasst und der hier auf die Erfordernisse für die politische und wirtschaftliche Elite hinweist: »Viele dieser UnternehmerInnen verstehen den Kern der Religion nicht und meinen, dass sie Politik machen müssen [u nikh poiavilas’ neobkhodimost’ delat’ politiku]. Damit folgen sie dem allgemeinen Trend [na volne politicheskikh deistvii] […] Wenn der Prä­ sident in die Kirche geht, dann heißt das für mich als Gouverneur, dass ich auch in die Kirche gehen muss. Das heißt, wenn der Präsident das so macht, wenn die Regierung das so macht, dann muss der Gouverneur das auch tun. Wenn aber der Gouverneur so handelt, dann kann ich als Bürgermeister dem nicht nachstehen und so weiter. Aus diesem Grund denke ich, dass nur wenige Menschen hier in Russland eine aufrichtige und ernsthafte Beziehung zur Kirche haben [iskrennoe, normal’noe otnoshenie k tserkvi]. […] Für uns Russen ist das so eine Mode [moda], könnte man sagen.«

Wie sich aus dem Interviewmitschnitt ablesen lässt, wirft Iwan Unternehme­ rInnen und PolitikerInnen vor, dass sie nur ein oberflächliches Verhältnis zur



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Religion haben. Soweit würde ich aber nicht gehen, da die Orthodoxie ein an­ deres Religionsverständnis als der Protestantismus besitzt. Entsprechend geht es nicht um eine verinnerlichte Religion, die sich auf klar verbalisierbare Glau­ bensinhalte zurückführen lässt, sondern um eine Mischung aus drei Aspek­ ten: dem richtigen Glauben, der richtigen religiösen Praxis und einer Gemein­ schaft der Gläubigen, was teilweise mit dem Begriff sobornost’ bezeichnet wird (Hann/Goltz 2010; Gurchiani 2017; Köllner 2020c). Gerade der letzte Aspekt ist hier besonders spannend, da er zu einer Gleichsetzung von Religion mit der Nation führt. In diesem Blickwinkel ist es möglich, dass auch Menschen ohne konkrete Glaubensvorstellungen und mit fehlender religiöser Praxis in die kul­ turelle Orthodoxie und damit in die Nation integriert werden. Daher verwundert es wenig, dass die Eigentumsrückübertragung die Russisch-Orthodoxe Kirche ganz klar bevorzugt und damit Kirchen zu zentralen Orten der Nation werden. Damit wird auch versucht, etwas zu schaffen, welches der Idee des ambient faith (Engelke 2012) ähnelt. Dieser ambient faith versucht nicht, besonders innige und tiefe religiöse Glaubens­ vorstellungen zu vermitteln. Vielmehr ist es so, dass auf dieser Grundlage ein diffuses Gefühl angeregt werden soll, welches ein Ambiente oder eine Atmo­ sphäre schafft, auf deren Basis eine Identifikation mit den gezeigten religi­ ösen Symbolen und den daran geknüpften Interpretationen möglich wird. Die dominierende Idee dahinter ist die russische Nation. Dabei werden die Unterscheidungen zwischen säkular und religiös sowie zwischen privat und öffentlich unscharf (ebd.: 155). Es ist nicht mehr eindeutig erkennbar, ob die religiöse Symbolik oder der säkulare Gedanke der russischen Nation domi­ niert. Doch genau diese Vermengung führt im Resultat zu einer Sakralisie­ rung der russischen Nation, die stark mit einer religiösen Symbolik assoziiert wird. Es kann also festgehalten werden, dass der ambient faith zwar nicht ge­ nuin religiös ist aber dennoch eine wichtige Grundlage für die Sakralisierung der Nation schafft: »A sensual invitation to ›do spiritual‹« (ebd.: 163). Es bleibt also festzuhalten, dass die Motivationen bei der wirtschaftlichen Elite sehr divers sind, die nationale Idee aber eine zentrale Rolle spielt. 3.3 Religion in der Öffentlichkeit: Denkmäler und Feiertage In der Sowjetunion wurde die Religion als »domestiziert« beschrieben (Dra­ gadze 1993). In dieser Lesart waren religiöser Glaube und religiöse Praxis nicht verschwunden, wurden jedoch soweit wie möglich aus dem öffent­ lichen Leben verdrängt und fanden nur im häuslichen und privaten Kon­

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text ihre Ausübung. Das änderte sich grundlegend in den 1980er Jahren als weite Bereiche des öffentlichen Lebens liberalisiert wurden. Eine freie Reli­ gionsausübung wurde zunehmend in der Öffentlichkeit möglich und vie­ le Bürger entwickelten ein Interesse daran.4 Häufig war das Interesse an der Religion verbunden mit der Suche nach den eigenen Wurzeln, der eigenen Kultur und der Geschichte der Nation. Aus diesem Grund wurde die Reli­ gion zunehmend bereits in den späten 1980er Jahren für die sozialistische Führung interessant, so dass Generalsekretär Michail Gorbatschow im April 1988 über das Parteiorgan Pravda eine Zusammenarbeit mit der Russischen Orthodoxie im Bereich der moralischen Erziehung vorschlug (zitiert in An­ derson 1994: 142). Eine wichtige Zäsur in diesem Kontext ist die 1000-JahrFeierlichkeit der Russisch-Orthodoxen Kirche im Juni 1988, bei der neben der sozialistischen Führung auch zahlreiche ausländische Gäste teilnahmen. Die Russische Orthodoxie wurde also bereits in den letzten Jahren der Sow­ jetunion wichtig als nationales Identifikationsmuster. Diese Funktion wurde in den Folgejahren zunehmend ausgebaut und heute ist die Russische Orthodoxie aus der Öffentlichkeit nicht mehr weg­ zudenken. Beispiele für die gestiegene Bedeutung der Russischen Orthodo­ xie in der Öffentlichkeit sind religiöse Prozessionen, die Einführung neuer Feiertage und die Errichtung neuer Denkmäler. Viele der neu eingeführten Feiertage haben zeitgleich eine religiöse und eine politische Bedeutung. Da­ mit ist gemeint, dass diese Feiertage zugleich an religiöse und politische Fi­ guren oder Ereignisse erinnern. Das ist zum Beispiel beim »Tag der Einheit des Volkes« am 4. November der Fall, der 2005 eingeführt wurde. Dieser Feiertag erinnert einerseits an die Eroberung Moskaus und die Vertreibung der Polen im Jahr 1612 (das Ende der »Zeit der Wirren«, smutnoe vremia). Andererseits ist dieser Tag aber auch der Gottesmutter von Kazan gewidmet, die eine Art Schutzheilige Russlands ist. An diesem Tag kommt es zu zahlrei­ chen Veranstaltungen, bei denen Parallelen zu den geschichtlichen Ereignis­ sen gezogen werden. Ähnlich wie bei den Kirchenneubauten oder -sanierun­ gen spielt auch hier die wirtschaftliche Elite eine zentrale Rolle, sie finanziert die Ausrichtung solcher Feiertage und nimmt aktiv Anteil daran. In Wladimir konnte ich an einer dieser Veranstaltungen am »Tag der Einheit des Volkes« teilnehmen. Dabei hielt neben dem Metropoliten und weiteren Würdenträgern aus der Politik auch der Unternehmer Jurij eine Rede. Jurij ist knapp 50 Jahre alt und führt gemeinsam mit seinem Bruder 4 Zu den Anfängen der Auseinandersetzung mit Religion siehe Köllner (2018: 1089f.).



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ein größeres Unternehmen in der Region. Außerdem ist er politisch aktiv und sitzt für die Partei »Einiges Russland« in der Duma, dem föderalen Par­ lament der Russischen Föderation. In seiner Rede ging er vor allem auf den Aspekt der kollektiven Identität ein, der die eigene Zugehörigkeit anspricht. Dabei beschrieb er die Einheit als einen zentralen Aspekt in schwierigen Zei­ ten und bezog sich auf den Slogan »Solang Russland vereint ist, ist es unbe­ siegbar« (Poka Rossiia edina – my nepobedimy). Das bezog er auf die ortho­ doxe Religion und die russische Nation. Im Anschluss zog er einen Vergleich zwischen Prinz Dmitrij Pozharskij, der im 17. Jahrhundert Moskau von den polnischen Besatzern befreite und an den mit diesem Feiertag erinnert wird, und Präsident Wladimir Putin »der, wie Prinz Dmitrij Pozharskij vor ihm, das Land in völliger Verzweiflung und im Chaos vorfand, es aber erfolgreich gegen alle inneren und äußeren Feinde vereinte«. An diesem Beispiel lässt sich sehr gut ablesen, wie aktuelle Entwicklungen und die Schwächung der Demokratie historisch gerahmt werden und in den Dienst einer einheitli­ chen Nationenbildung gestellt werden. Das Credo der Bezüge ist, dass Un­ einigkeit und Diskussionen Russland schwächen und den Einfluss auslän­ discher Aggressoren ermöglichen. Nur Einheit im Inneren und die Mithilfe der Russischen Orthodoxie können Schlimmeres verhindern und ermögli­ chen ein Aufblühen der Nation. Dass dies zu Lasten von Minderheiten geht, wird dabei außen vorgelassen. Ein weiteres Beispiel für einen neu eingeführten Feiertag ist der »Tag der Familie, Liebe und Treue«, der sich auf die beiden russischen Heiligen Peter und Fewronija aus Murom bezieht (siehe auch Köllner 2020a). Er wurde 2008 unter der Präsidentschaft von Dmitrij Medwedew eingeführt und bis heute spielt seine Frau eine entscheidende Rolle bei der Organisation und Umsetzung des Feiertags. Wie bereits am Beispiel des »Tags der Einheit des Volkes« zu erkennen, lässt sich auch hier wieder die Herstellung einer na­ tionalen Identität nach innen und einer Abgrenzung nach außen ablesen. Dabei wird versucht, die Diversität im Westen (Stichwort »Gayropa«) zu diskreditieren und diesen neuen Feiertag direkt als Gegenentwurf zum St. Valentinstag zu installieren. Damit wird die eigene Identität und Kultur es­ sentialisiert und klar abgegrenzt. So wurde das etwa vom Patriarchen Kirill (News.ru 2009) dargestellt: »Der Tag des St. Valentin stammt aus einem anderen kulturellen Kontext. Er bezieht sich vorrangig auf die Liebe, während der Tag von Peter und Fewronija auf den Wer­ ten der Familie beruht. Das sind sehr unterschiedliche Dinge. Während wir unter Liebe häufig eine Art der Entspannung [nekoe razvlechenie, was in Russland meist als

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Sex verstanden wird] verstehen, ist die Bedeutung des Tages von Peter und Fewronija eine andere. Hierbei geht es darum, den Sinn der Ehe und der echten Liebe zu ver­ stehen [raskryt’ smysl’ braka, istinnoi liubvi].«

Dieser Diskurs wird von anderen Personen aufgegriffen und noch stärker zugespitzt. Dann wird noch viel stärker auf die Abgrenzung nach außen ge­ drungen und die Besonderheiten der russischen Nation in den Vordergrund gerückt. So zum Beispiel von Vadim, einem Politiker von der Kommunisti­ schen Partei, der circa 30 Jahre alt ist: »Wenn ich von Russen spreche, meine ich nicht nur die Nationalität, sondern auch diejenigen mit einer russischen Seele. Diese Russen und Russischsprechenden im russischen spirituellen Raum können nicht getrennt werden. Das ist wirklich eine Einheit. Für sie ist die Liebe untrennbar mit dem Thema der Familie verbunden [tema liubvi, tema sem’i, oni neotdelimy]. Für uns hat das eine heilige Bedeutung [Dlia nas eto sviatye poniatiia]. Ja, die Familie ist etwas Heiliges. Wenn ich dann aber höre, entschuldigen sie, dass es im Westen homosexuelle Hochzeiten gibt, die von Pries­ tern geschlossen und damit gesegnet werden [ozviashchaiut], dann kommen mir viele Fragen. Leben wir wirklich auf einem Planeten? Leben wir in einer Sphäre? Für uns Russen ist das inakzeptabel, aber für diese Homosexuellen ist das auch Liebe – in ih­ rem Verständnis. Für uns ist das unmöglich zu verstehen und es ist kriminell, ja kri­ minell [prestupna]. Das wird sich hier niemals ändern. Niemals!«

Diese Darstellungen ignorieren auf vielfältige Weise die Praxis und den tat­ sächlichen Umgang zwischen den Geschlechtern im zeitgenössischen Russ­ land. Das lässt sich etwa an sehr hohen Scheidungsraten oder der weitver­ breiteten häuslichen Gewalt ablesen. Trotz dieser Fakten ist der Diskurs aber relativ erfolgreich und der neue Feiertag der »Familie, Liebe und Treue« er­ freut sich einer steigenden Beliebtheit, insbesondere bei jungen Paaren und Frischvermählten. Das führte auch dazu, dass heute der Valentinstag in Russland nicht mehr so populär ist, wie er das vor einigen Jahren noch war. Ähnliche nationale Diskurse gibt es bei der Errichtung von Denkmälern und Monumenten, wo die wirtschaftliche Elite erneut stark eingebunden ist. Hier gibt es eine aktive Bewegung welche die nationale Idee aufgreift und auf der lokalen Ebene umsetzt. Eingangs wurde zwischen eigenen religiösen Gefühlen, nationalen Überzeugungen, politischem Druck und eigenen Am­ bitionen unterschieden. Das zeigt sich sehr gut am Beispiel von Gennadij. Er ist knapp 50 Jahre alt und Bauunternehmer in Wladimir. Er finanzierte zwei Kirchenneubauten und zahlreiche andere Projekte. Eines dieser Pro­ jekte war die Errichtung eines Denkmals für den Gründer der Stadt, Prinz



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Wladimir, und den ersten lokalen Bischof Fjodor im Jahr 2007. Hier ist sei­ ne Erläuterung: »Vor einigen Tagen wurde ein Denkmal für den Gründer der Stadt eröffnet. Neben ihm läuft Vater Fjodor, der die lokale Bevölkerung taufte – unsere Vorfahren. Er war unser erster Priester. Diese Annahme des Christentums war sehr wichtig für Russ­ land, für die Rus’. All das passierte vor rund 1.000 Jahren. Ich weiß nicht, wie ich das erklären soll, aber das war eines der wichtigsten Ereignisse in unserer Geschichte. Es war so ein außergewöhnliches Ereignis! Die Religion machte aus uns Russen eine Nation. Aus den Stämmen, die hier vor 1.000 Jahren lebten, machte die Religion eine Nation [Iz tekh plemen, kotorye zdes’ zhili, tam 1,000 let nazad, imenno religiia, ona sdelala iz plemen natsiiu]. Das ist wirklich geschehen. Die Kirche ist untrennbar mit unserer Geschichte verknüpft [nerazryvno-sviazana s nashei istoriei].«

An diesem Interviewauszug zeigt sich wieder die Vielschichtigkeit der Aus­ einandersetzung mit der Russischen Orthodoxie innerhalb der wirtschaftli­ chen Elite. Einerseits wird deutlich, dass Gennadij selbst davon überzeugt ist, dass die Russische Orthodoxie eine zentrale Rolle bei der Entstehung der russischen Nation spielte. Deshalb engagiert er sich aktiv bei der Errichtung des Denkmals, indem er finanzielle Ressourcen bereitstellte und selbst an der Eröffnung teilnahm. Ihm ist das wichtig, da er in der Russischen Orthodo­ xie eine wichtige Grundlage für das zeitgenössische Russland sieht. Anderer­ seits ist Gennadij aber auch Mitglied des Landtages und hat eigene politi­ sche Ambitionen. Deshalb ist es ihm wichtig, dass sichtbar wird, was er für die Russische Orthodoxie leistet und wie stark er sich engagiert. Ferner soll darauf hingewiesen werden, dass die Russische Orthodoxie als untrennbar verbunden mit der russischen Nation und dem Prozess der Nationenbildung wahrgenommen wird. Gennadij ist hierbei keine Ausnahme, sondern spie­ gelt eine weit verbreitete Auffassung innerhalb des zeitgenössischen Russ­ land wider.

4. Resümee Nach dem Ende der Sowjetunion erlebte Russland eine tiefe ökonomische und politische Krise, welche die russische Nation selbst in eine tiefe Sinnkri­ se brachte. Alte Identifikationsmuster gingen verloren und nur langsam ge­ lang es, die Russische Orthodoxie als neuen zentralen Diskurs zu platzieren. Dabei kommt der neu erstarkten Zentralgewalt unter Präsident Wladimir

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Putin eine wichtige Rolle zu, der die Nationenbildung spätestens seit den Farbigen Revolutionen im Umfeld Russlands forcierte. Dennoch ist das nur ein Aspekt des Nationsbildungsprozesses. Auch auf der lokalen Ebene kam es zu einer Neuorientierung und einer steigenden Bedeutung des National­ gedankens. In diesem Artikel wurde dabei auf die besondere Rolle der wirt­ schaftlichen Eliten bei dem Aufbau eines Nationalbewusstseins und der Ver­ breitung der nationalen Idee hingewiesen. Es wurde versucht, dass mit dem Konzept des Alltagsnationalismus zu fassen, da viele dieser Nationalismen in den Alltag der Menschen integriert sind. Wichtig war in diesem Kontext die Rolle der Akteure und die unterschiedlichen Formen der Auseinander­ setzung mit dem Nationalgedanken. Konkret wurde auf die Schaffung einer »authentischen Landschaft« durch die Errichtung und Sanierung von Kir­ chen, die Förderung der russischen Orthodoxie in der Öffentlichkeit und die Einführung von Pilgerfahrten für die gesamte Belegschaft in den Betrie­ ben eingegangen. Das sind konkrete Beispiele, die belegen, dass der Prozess der Nationenbildung zwar einem Impuls aus dem föderalen Machtzentrum folgt, in seiner Ausgestaltung und Umsetzung aber ganz klar eigene Akzente setzt und eigene Ambitionen in den Blick nimmt. Daher ist dieser Prozess vielschichtiger und komplexer als es zunächst erscheint.

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Regionale Nationalismen als kollektives Kosten-Nutzenkalkül: Einflussfaktoren auf den Wahlerfolg regionalistischer Parteien in West-Europa Nico Tackner Aktuell ist das, was hier mit »regionaler Nationalismus« bezeichnet wird, breit in der medialen Öffentlichkeit diskutiert: Katalanen protestieren für die Unabhängigkeit von Spanien, die italienische LEGA-Partei ist in der Re­ gierung und Schottland will die Konsequenzen des Brexits nicht mittragen. Seit den 1990er-Jahren deutet sich in West-Europa ein erneutes Erstarken regional-nationalistischer Parteien an (Keating 1997: 17). Der Erfolg1 die­ ser Parteien ist jedoch im inter- und intranationalen Vergleich sehr unter­ schiedlich. So finden sich Länderunterschiede, aber auch Unterschiede zwi­ schen verschiedenen Regionen innerhalb eines Staates (z. B. Schottland und Wales). Ziel dieses Beitrages ist es, zu erklären worauf diese Unterschiede rückführbar sind. Dazu werden die drei Dimensionen Kultur, Wirtschaft und Institutionen untersucht, um wie Keating u. a. (2003: 3) meinen, nicht in die Gefahr von Kulturreduktionismus oder funktionalem Determinismus zu geraten.2 Im Gegensatz zur bisherigen Literatur (Fitjar 2013; Jolly 2015) wurden hier die Faktoren in Bezug auf konditionale Effekte untersucht. Hierzu werde ich erstens mit einer Schilderung und Definition des Phä­ nomens »regionale Nationalismen« beginnen. Zweitens erörtere ich die kau­ sale Erklärung der regionalen Nationalismen als Begleiterscheinung der Globalisierung und damit verbunden, warum das Phänomen länderüber­ greifend zeitgleich aufkommt. Daran schließe ich, drittens, mit einer Vor­ stellung des Modells, das gestützt auf Ableitungen aus der Literatur basiert. Daraufhin werde ich auf die drei Erklärungsdimensionen des Modells ku­ 1 In diesem Beitrag ist mit »Erfolg« der Wahlerfolg gemeint, Mazzoleni/Mueller (2016: 10ff.) unterscheiden nämlich drei Dimensionen des Erfolges regionalistischer Parteien: 1) »electoral success«, der oben genannte Wahlerfolg, 2) »office success«, der Erfolg sich an der Regierung zu beteiligen und parlamentarisch einzubringen und 3) »policy suc­ cess«, den Erfolg die eigenen Inhalte umzusetzen. 2 Keating und Wilson (2014: 842) erweitern dieses Schema um einen vierten Aspekt: »party politics«.

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mulativ eingehen, damit die Entwicklung des Modells nachvollziehbar wird. Wobei hier der Fokus ist die einzelnen Aspekte des Phänomens auch in Ver­ bindung zur soziologischen Theorie zu setzen: 1) Welche Rolle spielen kultu­ relle Gemeinsamkeiten für die Bildung einer regionalen Identität? 2) Unter welchen ökonomischen Bedingungen ist die Konstruktion und Mobilisie­ rung einer solchen Identität erfolgversprechend? 3) In welchen institutio­ nellen Rahmungen tritt dieses Kostenkalkül der Regionen auf? Im vierten Abschnitt komme ich zu den empirischen Befunden, bei dem ich 1) deskrip­ tiv die Wahlerfolge regional-nationalistischer Parteien darstelle, 2) zeige, wie diese Wahlerfolge auf das Vorhandensein kultureller Artefakte zurückführ­ bar sind und 3) wie Wirtschaft und Recht als Kontextfaktoren für diese kul­ turellen Gemeinsamkeiten wirken. Am Ende des Beitrages finden sich dann eine Zusammenfassung und ein Resümee über die methodologischen Impli­ kationen, die aus dieser Arbeit hervorgehen.

1. Regionale Nationalismen Im Feld der Regional-Studien findet sich eine Pluralität an Bezeichnungen für das hier untersuchte Phänomen: Ethno-Nationalismus, Sub-staatlicher Nationalismus, Regionalismus, Staatenloser Nationalismus, MinderheitenNationalismus und Ähnliches. Neben einer Vielzahl nahezu synonym ver­ wendeter Termini müssen die Unterschiede zwischen verschiedenen Phäno­ menen von Regionalismus berücksichtigt werden. In Tabelle 1 sind hierzu die sechs konzeptuellen Rahmungen nach Keating (2017) von den frühesten zu den neuesten Ansätzen chronologisch zusammengefasst. Diese kurze Ideengeschichte der Regional Studies – von den Raumpla­ nungsansätzen der 1960er Jahre bis zur heutigen Ansicht der Regionen als heterogene Orte des politischen Diskurses – stellt natürlich keine streng ge­ trennten Theoriegebäude dar, sondern kann meines Erachtens als kumulati­ ve Entwicklung betrachtet werden. Der von mir untersuchte regionale Nati­ onalismus stammt aus der oben genannten Identity Regionalism-Strömung, umfasst aber natürlich auch die Ideen von wirtschaftlicher Konkurrenz unter Regionen (Competitive Regionalism) und der Region als solidarischer Ein­ heit (Welfare Regionalism). Wie ich bereits eingangs erwähnte, werde ich später auch den Einfluss der institutionellen Rahmung beleuchten (Regions of Governance); den aktuellsten Ansatz, die Betrachtung, wie verschiedene



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Tabelle 1: Übersicht zur Entwicklung der Konzeptualisierung von Regionen nach Keating (2017)

Ansätze

Konzept der Regionen

Integrative Regionalism

Planungseinheiten der Nationalstaaten und Europäischen Union zur Raumentwicklung und Modernisierung

Competitive Regionalism

aktive ökonomische Einheiten, die seit der wirtschaft­ lichen Globalisierung in Konkurrenz zueinanderstehen

Welfare Regionalism

Solidareinheiten, die Transferleistungen aufgrund inter­ regionaler Unterschiede problematisieren

Identity Regionalism

Konstruierte Gemeinschaften, die sich auf das Recht nach Selbstbestimmung zur Erlangung von Autonomie stützen

Regions as Government

Politische Einheiten zur Umsetzung bürgernaher MultiLevel-Governance; Konkurrenz auch im Policy-Bereich

Regions and the Refraction of Interests

Arenen des Kampfes um soziale und wirtschaftliche Inter­ essen verschiedener Akteursgruppen

Quelle: Eigene Darstellung

Akteurskonstellationen die Region zur Interessensdurchsetzung instrumen­ talisieren (Regions and the Refraction of Interests) kann ich hier aufgrund des Umfangs nicht leisten  – dies wäre unterhalb der untersuchten Ebene (Analyseeinheit sind die einzelnen Regionen); im Allgemeinen herrschen bei diesem Ansatz jedoch qualitative Fallstudien vor, da eine quantitative Ope­ rationalisierung aufgrund der heterogenen Fälle nur begrenzt möglich ist.3 Ich habe mich jedenfalls explizit auf Michael Keatings (1988) »regional nationalism« als Gegenentwurf zum »state nationalism« bezogen. Dieser Be­ 3 Bei der Betrachtung regional-nationalistischer Parteien finden sich in Westeuropa be­ reits alle möglichen Arten an Koalitionen von Interessensgruppen: Allein der baskische Nationalismus hat sowohl eine linksextreme (EH Bildu) als auch eine konservative Strö­ mung (EAJ-PNV). Die wirtschaftsliberale italienische LEGA solidarisiert sich mit den kleinen lokalen Familienunternehmen, während die schottische SNP klassische Sozial­ demokratie betreibt. In Belgien vertritt die flämische Vlaams Belang einen völkisch-ras­ sistischen Standpunkt, wohingegen die walisische Plaid Cymru eine linksliberale Um­ weltpartei ist. Diese kurze Schilderung an verschiedenen Fällen soll nur andeuten, wie breit das Spektrum an regional-nationalistischen Parteien ist, so dass eine große An­ zahl an möglichen Interessenkonstellationen sich regional-nationalistischer Forderun­ gen bedienen kann. Dies verdeutlicht auch, warum der Refraction-of-Interests-Ansatz hauptsächlich in Fallstudien und nicht in vergleichenden Untersuchungen Anwendung findet.

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griff macht deutlich, dass es sich um eine Form des Nationalismus handelt, der den Gültigkeitsanspruch nicht auf einen bestehenden Wohlfahrtsstaat, sondern auf eine Region erhebt. Dies grenzt das Phänomen auch gegen par­ teiliche Vertretung von ethnischen Minderheiten ab, die zwar auch einen Anspruch auf Autonomie stellen, jedoch ohne sich auf ein Territorium zu beziehen. Wobei hier der Begriff der Region Offenheit für die Pluralität der realen Fällen bewahrt: Regionen können in einem Staat liegen (Galizien) oder über mehrere Staaten verteilt sein (Baskenland); Regionen können von vagen Vorstellungen (Padanien) bis zu institutionalisierten administrativen Ebenen (Katalonien) reichen; Regionen als Territorien können sich auch auf unterschiedliche Weisen von ihren Kernländern unterscheiden.4 Nachdem ich nun das Phänomen auf abstrakter Ebene umrissen habe, will ich, bevor ich mit der Schilderung einiger empirischer Fälle fortfahre, die angerissenen Konzepte zu einer Arbeitsdefinition zusammenführen: Re­ gionale Nationalismen sind dadurch gekennzeichnet, dass substaatliche Ter­ ritorien als vorgestellte Gemeinschaften zu Solidareinheiten konstruiert wer­ den, welche der Umverteilung von Ressourcen zwischen Teilgebieten ihres Kernstaates durch ein bestehendes Wohlfahrtssystem ablehnend gegenüber­ stehen und das Interesse der Nutzenmaximierung für die eigene Gemein­ schaft verfolgen. Mit der Explikation des Phänomens stellt sich berechtigterweise die Fra­ ge der zeitlichen Einbettung: Warum treten diese regionalen Nationalismen nun in unterschiedlichen Ländern Europas vermehrt auf? Diese leitende Fra­ ge versuche ich im folgenden Abschnitt mit der These einer Krise des natio­ nalstaatlichen Modells in Westeuropa zu erläutern.

2. Krise der Europäischen Nationalstaaten Angesichts der medialen Öffentlichkeit, die immer wieder auf das Wieder­ aufkeimen des Nationalismus und die Rückkehr in nationale Container hin­ weist, mag es geradezu eine provokative Antithese sein, von einer Krise des Nationalstaates zu sprechen. Aber die europäischen Nationalstaaten, als Ak­ 4 Neben dem klassischen Merkmal, Sprache, wird beispielsweise von der LEGA die Wirt­ schaftsethik der Norditaliener als ausschlaggebendes Kriterium instrumentalisiert, mit der sie, in Anlehnung an die Protestantismus-These von Max Weber, das wirtschaftliche Nord-Süd-Gefälle Italiens erklären (Dalle Mulle 2018: 97, 206).



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teure des 20. Jahrhunderts, stehen heute unter einem doppelten Rechtferti­ gungsimperativ, sowohl gegenüber supranationalen Organisationen, als auch subnationalen Regionen (Fitjar 2010: 522). Paasi (2009: 123) pointiert diese Situation der Nationalstaaten als »too small for global economic competiti­ on but while being too large and remote for cultural identification and par­ ticipatory and active citizenship«. Das Konzept der etablierten Nationalstaa­ ten wird durch »Universalisierung« und »Paritkularisierung«, als verbundene Prozesse, seit jeher herausgefordert (Schubert 1999: 12f.).5 Im Rahmen der Globalisierung – besser, der zunehmenden internationalen Arbeitsteilung – seien die Einführung supranationaler Standards (z. B. gemeinsame europäi­ sche Währung), aber auch vermeintlich gegenläufige Prozesse der Paritkula­ risierung (v. a. Standortspezialisierung) notwendig für die Staaten Europas, um am Weltmarkt aktiv gestaltend teilzunehmen. Ein anderer Erklärungs­ ansatz sieht die Ursache für diese Krise des Nationalstaates in der Europäi­ sche Integration anstelle der Globalisierung, zielt aber auf die selben volks­ wirtschaftlichen Notwendigkeiten ab (Keating 1995; Elias 2009; Jolly 2015). Diese Entwicklung, ungeachtet der Tatsache ob Globalisierung oder Euro­ päische Integration nun die treibende Ursache sind, liefert zwei grundle­ gende Implikationen für das Erstarken regional-nationalistischer Parteien: 1) Mit der Verlagerung zuvor nationaler Kompetenzen auf supranationale Organisationen sinken die Kosten, die zuvor mit der Forderung nach Sezes­ sion verbunden waren – wirtschaftliche Isolation und Ausgaben kleiner ei­ genständiger Staaten, wie u. a. die Kosten für die Unterhaltung eines eigenen Währungssystems, erübrigen sich beispielsweise aufgrund des Europäischen Binnenmarktes und der Euro-Währung.6 Der politische Diskurs regionalnationalistischer Bewegungen ist natürlich nicht rational auf diese Argumen­ te gestützt, allerdings bieten sie ein Druckmittel gegenüber den nationalen Zentralregierungen. 2) Verbleibende nationalstaatliche Kompetenzen gera­ ten unter dem Eindruck dieser Kompetenzumverteilung (Stichwort: Subsi­ diarität) unter einen Rechtfertigungsimperativ: Das Paradebeispiel stellt hier der keynesianische Wohlfahrtsstaat dar. Das »tägliche Plebiszit«, wie es Er­ 5 Sideri (1997: 43) spricht, in ähnlicher Weise, in seinem Aufsatz Globalisation and Regi­ onal Integration von dem »conflict between the fragmentation and the unification gene­ rated by globalization« und seinen Manifestationen, »the rapid homogenisation of mar­ kets and the rise of ethnic, cultural and regional identities, so that the conflict is then between economic integration and political separatism«. 6 Sambanis und Milanovic (2011: 2) betonen diesen »basic tradeoff between income and sovereignty« mit dem Befund, dass reichere Regionen und solche mit hoher Einwohner­ zahl oder eigenen Rohstoffen auch häufiger politische Autonomie anstreben.

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nest Renan in seiner Rede von 1882 nennt, wird unter dem Eindruck regi­ onal-nationalistischer Forderungen nicht mehr getragen. Die nationale So­ lidarität weicht einem Interessenkampf der Regionen innerhalb nationaler Container.7 Dieser Gegensatz von Solidarität und Interessen wird bei Isen­ see (2016: 12) deutlich: »Bloßes Interessenkalkül schafft nicht Solidarität, sondern Gegenseitigkeitsmentalität, wie sie die Europapolitik der britischen Premierministerin Thatcher prägte: ›I want my money back.‹ Für Interessen zahlt man einen Preis, aber für Interessen bringt man kein Opfer.« Die Ver­ lierer der Globalisierung plädieren demnach weiter für nationale Umvertei­ lung, während die erfolgreich angepassten Regionen nicht weiter bereit sind, mehr zu leisten, als sie im Gegenzug erhalten. Zusammengefasst, lässt sich diese Krise der europäischen Nationalstaaten im Rahmen der Globalisierung, in zwei, scheinbar konträren Entwicklungen der Integration (Verlagerung von Kompetenzen nach oben zu größeren Ein­ heiten) und Differenzierung (Verlagerung anderer Kompetenzen nach unten auf kleinere Einheiten) zusammenfassen. Regionen werden in diesem Zuge im Diskurs als überlebensfähige politische Einheiten betrachtet und lösen durch ihre Nähe zum Bürger größere Gebilde als solidarische Einheiten ab.

3. Einflussfaktoren für den Erfolg regional-nationalistischer Bewegungen Nachdem ich oben die zeitliche Einbettung in Prozesse der Makroebene er­ örtert habe, werde ich nun auf das Modell (siehe Abbildung 1) eingehen, mit dem Unterschied, dass im Erfolg regional-nationalistischer Partien durch kulturelle, ökonomische und institutionelle Rahmenbedingungen aufgeklärt werden. Zu beachten ist, wie bereits oben erwähnt, dass diese Faktoren bis­ her (Fitjar 2013; Jolly 2015) lediglich für klassische lineare Regressionsmo­ delle verwendet wurden und nun im Rahmen dieses Beitrages in sinnvolle Wirkungszusammenhänge gebracht werden sollen. 7 So schreibt auch Prisching (1996: 94): »Auch nationalistische und regionalistische Be­ strebungen sind nichts anderes als Versuche von solidaritätszeugenden Gruppenbildun­ gen durch die Abgrenzung nach außen. […] Dabei gilt, daß sich Gruppen- und Solida­ ritätsgrenzen besonders leicht verorten lassen, wo cleavages parallel laufen: wo sich die Trennlinie zwischen Gruppen gleichzeitig durch ökonomische, kulturelle, religiöse, po­ litische und andere Gegensätze bestimmen läßt.«



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+

Regionale Identität (kulturelle Artefakte) +

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Regionaler Nationalismus -/+/-

Institutionelle Autonomie

Wirtschaftliche Leistungsfähigkeit

Abb. 1: Schema des Interaktionsmodells zur Erklärung der Unterschiede im Erfolg regional-nationalistischer Parteien bei Regionalwahlen Quelle: Eigene Darstellung

Das Modell nimmt zunächst einen einfachen Zusammenhang regionaler Identität (dem Vorliegen von kulturellen Unterschieden zwischen Kern-Na­ tion und Region) und regionalem Nationalismus an. Erweitert wird dieser Zusammenhang um eine Moderation durch die wirtschaftliche Leistung der Region, d. h. je reicher eine Region im Vergleich zum nationalen Durch­ schnitt ist, desto stärker sollte sich das Vorliegen kultureller Artefakte auf die Bildung einer regional-nationalistischen Bewegung auswirken. Das Modell wird schließlich noch um einen Schritt komplexer: Die Moderation wird von einer weiteren Variable in einem U-förmigen Zusammenhang mode­ riert. Bei besonders geringen und besonders hohen Autonomie-Rechten der Region tritt dieser Effekt nicht auf, sondern nur bei Regionen mit Autono­ mie-Rechten, die ein mittleres Maß an Selbstbestimmung gewähren (d. h. nur zwischen den Polen von Zentralismus und Föderalismus). Wie hier deutlich wird und oben bereits erwähnt wurde, stellen Regio­ nen die Analyseeinheit dar, dies geschieht wie bei den Untersuchungen von Fitjar (2010) und Jolly (2015) aus pragmatischen Gründen aufgrund der Da­ tenlage, ist aber hier auch theoretisch begründet: Ziel war es, in der Tradition von Ludwig Gumplowicz (1905: 238ff.) ein soziales Phänomen jenseits des methodologischen Individualismus über »soziale Gruppen« zu untersuchen, die über gemeinsame Interessenslagen bestimmt werden. Regionen können als eine der zahlreichen sich überlappenden Interessensgruppen gesehen wer­ den. Individuelles Handeln, in diesem Fall die Wahl regional-nationalisti­ scher Parteien, ist nicht auf Basis individuellen Kosten-Nutzen-Kalküls zu argumentieren – der Nationalism of the Rich meint nicht die reichen Bür­ ger einer Region, sondern hier wird die Region als solidarische Einheit ins­

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trumentalisiert, die im nationalen Container als Regio Oeconomicus agiert und daher Vor- und Nachteile der Teilhabe am nationalen Wohlfahrtsstaat gegeneinander abwägt (Dalle Mulle 2018: 3). Eine große Stärke des konflikttheoretischen Ansatzes von Gumplowicz zeigt sich zudem in der Erklärung von Unterschieden im Erfolg verschiede­ ner Bewegungen, die sich in ihrem Ziel nicht unterscheiden, aber über un­ terschiedliche Positionen und Ressourcen verfügen. Im Folgenden werde ich dies an den Bausteinen meines Modells demonstrieren. 3.1 Kultur: Regionale Identität Regionale Identität bezieht sich hier nicht auf die individuell empfundene Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, sondern auf die Summe kultureller Artefakte, die es den Mitgliedern der Region erlaubt, sich von der Gesamt­ nation abzugrenzen. Kurz, was unterscheidet die Bewohner einer Region von ihrer Kern-Nation? Gumplowicz (1905: 239f.) zufolge hängt die Salienz dieser Merkmale für eine Gruppe von ihrer Quantität – wie viele Merkmale werden in einer Gruppe geteilt – und ihrer Exklusivität ab – die alteuropäi­ sche Sprache Euskara ist beispielsweise ein salienteres Merkmal für die Bas­ ken als der Katholizismus für Bayern. Das Vorhandensein dieser kulturellen Artefakte führt nicht automatisch zu einem gemeinsamen Bewusstsein (im Gegensatz zu objektivistischen Na­ tionalismus-Theorien wie u. a. Stalin 1994 [1913] eine solche vertritt) – sie sind lediglich notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für das Ent­ stehen regionaler Nationalismen.8 Ob und welche historische Vergangenheit und regionale Sprache momentan um die »Konstruktion« einer Gemein­ schaft bemüht werden ist kein determinierter Prozess, sondern im Sinne von Gumplowicz das Ergebnis des latenten Kampfes der verschiedenen Interes­ sensgruppen. Das Paradebeispiel stellt hier die multilinguale Schweiz dar, in der ein gemeinsames politisches Narrativ mehr Gewicht hat als die ethni­ schen Zugehörigkeiten.9 Das Ausmaß der Mobilisierung der Region ist, so

8 So schreibt auch Anthony Smith (2009: 28f.): »This means that, however they came into being in the first place, ethnic cores and ethnic cultures became necessary but not suf­ ficient conditions for further development towards political nationhood.« 9 Auch Max Weber (2009: 50f.) deutet bereits auf die Problematik des Determinismus hin, der objektivistischen Nationalismustheorien innewohnt, indem er darauf verweist, dass die Mehrzahl der Nationen Sprachgemeinschaften sind, die gemeinsame Sprache



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die These dieses Beitrages, abhängig von der Interessenslage der Region als sozialer Gruppe. Um dies nun in den aktuellen Diskurs der Nationalismus-Theorien ein­ zuordnen, so ist dieser Ansatz am ehesten mit dem Ethnosymbolismus von Anthony Smith (2016: 64f.) kompatibel, der sich als Modell zwischen den Paradigmen des Modernismus (Anderson, Gellner und Hobsbawm) und Primordialismus (Geertz und Shils) versteht.10 Smith (ebd.: 62) will vor al­ lem den hohen Stellenwert der Nation für ihre Mitglieder klären und ver­ weist hier auf die ethnischen Ursprünge von Nationen: »[…] influence of prior ethnic ties and […] the importance of shared symbols, values, myths and memories.« Diese kulturellen Elemente ethnischen Ursprunges erfüllen nach Smith (2009: 25) drei zentrale Funktionen: Sie sorgen für die Kohäsion einer Gemeinschaft, sichern die Abgrenzung dieser gegenüber anderen Ge­ meinschaften ab und vermitteln ein subjektives Empfinden der Kontinuität dieser Gemeinschaft. Zur Abgrenzung von Gumplowicz gegenüber den anderen beiden gro­ ßen Standpunkten der Nationalismusforschung, die oben erwähnt wurden, möchte ich hier noch die zentralen Widersprüche darstellen. Im Unterschied zum Primordialismus, der Idee, dass Nationen sehr alt (ursprünglich) seien, ist Gumplowicz’ Soziologie dahingehend ausgelegt, dass der gesamte (zirkuläre) geschichtliche Prozess davon bestimmt ist, dass eine Vielheit heterogener sozialer Gruppen ihre jeweiligen Partikularinteres­ sen verfolge. Erst durch die Bildung von Herrschaft, also der Unterwerfung von einzelnen Gruppen (beherrschte Mehrheit) unter eine andere Gruppe aber weder hinreichend (z. B. Irland) noch unbedingt notwendig für die Bildung einer Nation ist (z. B. Elsass in Frankreich). 10 Neben der Theorie steht auch die Methodologie des Artikels im Einklang mit den Grundannahmen des Ethnosymbolismus. Smith (1986: 3) schreibt zur Methodik: »While ›objective‹ factors like population size, economic resources, communication sys­ tems and bureaucratic centralization play an important role in creating the environment of nations (or, more usually states, which then help to mould nations), they tell us little about the distinctive qualities and character of the national community that emerges. For that we must turn to more ›subjective‹ factors: not the more ephemeral dimensions of collective will, attitude, even sentiment, but the more permanent cultural attributes of memory, value, myth and symbolism. For these are often recorded and immortalized in the arts languages, sciences and laws of the community.« In selber Manier werden in der Methodik dieses Artikels die Rolle objektiver Faktoren (hier: Wirtschaftsleistung und Autonomie) für die Auswirkung der betonten permanenten subjektiven Faktoren (hier: Sprache und Geschichte) analysiert. Jedoch bewusst nicht die flüchtige Dimension von individueller Verbundenheit mit der Region und Ähnlichem untersucht.

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(herrschende Minderheit) und der aus dieser verfestigten Ungleichheit fol­ genden Grundsteinlegung für die Bildung von Rechtsnormen seien komple­ xere differenzierte Gemeinschaften möglich. Daher ist in der Theorie von Gumplowicz auch keine primordiale Nation denkbar, da erst staatliche Or­ ganisation und das damit verbundene Amalgamieren der heterogenen sozi­ alen Elemente über die Schaffung gemeinsamer Normen zur Bildung eines universellen gemeinsamen Nationalbewusstseins führe könnte. Die zentrale Differenz zum Modernismus, also dem Konzept, dass Na­ tionen ein Phänomen der Moderne seien und rein auf sozialer Konstrukti­ on beruhen würden, liegt vor allem darin, dass Gumplowicz auf universelle Prozesse abzielt. Im Gegensatz dazu drängt der Modernismus auf eine sehr spezifische Definition von Nationalismus, wie auch Smith (ebd.: 29) hin­ weist, beschränke dieser sich auf »a very specific kind territorialised and au­ tonomous legal-political community in which the mass of the population participates as citizens, as occurred in the modern west«, dies ergebe funda­ mentale Mängel für das Verständnis nicht-westlicher und vormoderner Vari­ anten von Nationalismus. Wie Gumplowicz (1904) in seinem wissenssozio­ logischen Artikel Zur Psychologie der Geschichtsschreibung demonstriert, ist er natürlich nicht blind gegenüber Prozessen der sozialen Konstruktion, jedoch bezieht er diese auf die historischen Chroniken, die je nach Land und Zeit die geschichtlichen Tatsachen unterschiedlich darstellen, um die Interessen der jeweiligen Auftraggeber zu legitimieren.11 Dass aber Nationen nicht einfach in einem Top-Down-Prozess künstlich erfunden werden kön­ nen, zeigt sich beispielhaft am großen Reformator Kaiser Joseph II., der am Versuch Deutsch als gemeinsame Nationalsprache für die Habsburgermon­ archie zu etablieren scheiterte (vgl. Gumplowicz 1895: 9).12 11 Gumplowicz (1904) identifiziert unter anderem zwei häufige Techniken der Geschichts­ schreibung zur Legitimation von Fremdherrschaft: »Entweder sie sagt, daß jene Frem­ den Einheimische waren und sucht diese Behauptung so gut oder so schlecht es geht zu beweisen, oder sie dehnt durch irgend welche gelehrte anthropologische Konstruktion den Begriff der einheimischen Nationalität territorial soweit aus, daß er auch jene Frem­ den umfaßt und dieselben daher in den Kreis der Einheimischen einbezieht. Solche ge­ lehrte anthropologische Konstruktionen sind ja bekanntlich ins Unendliche dehnbar, wie der Gobineausche Begriff der ›weißen Rasse‹ und der allerneueste Begriff der ›Arier‹ beweist.« 12 In diesem Punkt ist die Konfliktsoziologie von Gumplowicz wieder auf Linie mit den Ethnosymbolisten: »The question for ethno-symbolists is rather how the nation is forged through the interplay of elite proposals and majority responses, which may accept, reject or reshape those projects. […] Contrary to those who claim that these traditions are ›in­ vented‹, ethno-symbolists argue that only those symbolic elements that have some prior



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3.2 Wirtschaft: »Nationalism of the Rich« Besonders deutlich wird die Bedeutung der empfundenen wirtschaftlichen Benachteiligung bei Dalle Mulle, der die Diskurse separatistischer Parteien in Flandern, Katalonien, Nord-Italien und Schottland untersucht: »If sub-state national cleavages coincide with economic imbalances such calls can be reinforced by cultural determinist explanations of socio-economic development war­ ranting the rejection of solidarity on widely accepted deservingness criteria of con­ trol, attitude and reciprocity embodying principles of meritocracy, trust and fair­ ness.« (Dalle Mulle 2018: 172)

Die wirtschaftliche Lage gewinnt also erst in Interaktion mit kulturellen Un­ terschieden zur Kern-Nation an Bedeutung. Die Operationalisierung über den Quotienten des regionalen BIP pro Kopf in Relation zum nationalen BIP pro Kopf greift natürlich in manchen Fällen zu kurz und ist nur eine Annäherung. Bornewasser und Wakenhut (1999: 58) präzisieren dies in der These: »Die Zusammenhänge werden offensichtlich moderiert von der wahrgenommenen relativen Benachteiligung der Region durch die überge­ ordnete politische Einheit bzw. den Nationalstaat.« Dies ermöglicht kon­ zeptionellen Raum für unter anderem auch »petroleum-based regionalism«, den Fitjar (2013: 137ff.) an den Beispielen Schottlands und Rogalands dar­ stellt. Die empfundene Benachteiligung muss also nicht unbedingt von der volkswirtschaftlichen Überlegenheit herrühren, sondern kann beispielsweise auf die Existenz von Erdölvorkommen und dem damit verbundenen poten­ tiellen Reichtum aus Renditen gestützt sein. In einer quantitativen Unter­ suchung können solche Momente aufgrund der kleinen Fallzahl leider kei­ ne Berücksichtigung finden. Dennoch ist die Reflexion dieser Phänomene unentbehrlich für die theoretische Konzeptualisierung empirisch geprüfter Modelle, die die komplexe Realität in vereinfachter Form wiedergeben und somit fassbar machen sollen. Auch bei der Betrachtung dieses ökonomischen Aspektes zeigt sich die Stärke des Ansatzes von Gumplowicz (1905: 265ff.), der als treibende Kraft des Handelns den »Syngenismus« bzw. »Sozialegoismus« sieht, der eine Mo­ tivationslage zwischen individueller Nutzenmaximierung und universellem Altruismus abbildet, »die aufopfernde liebevolle Hingabe an eine natürli­ che soziale Gemeinschaft.« Für Gumplowicz steht die Überwindung dieses resonance among a large section of the population (and especially of its dominant eth­ nie) will be able to furnish the concept of the proposed nation’s political culture.« (Smith 2009: 31)

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»Stammesbewußtseins« in Verbindung mit der fortschreitenden Rechtsbil­ dung und dem daraus entstehenden »Nationalbewußtsein«, d. h. die Über­ windung der Partikularinteressen: »Während die alte Moral nur eine Pflicht der Hingabe des einzelnen an seine engs­ te syngenetische Gruppe kannte: erzeugt die Tatsache der gemeinsamen Interessen der neuen Gesamtheit eine neue Moral, welche die unbedingte Hingabe des einzel­ nen für die ethnisch und sozial mannigfach zusammengesetzte Gesamtheit fordert.« (ebd.: 309)

Im Falle der regionalen Nationalismen ist diese »Tatsache der gemeinsamen Interessen« nun nicht mehr auf den bestehenden Staat bezogen, sondern auf die partikularen Interessen der wohlhabenden Region, diese bildet eine klei­ nere Gesamtheit, die an die Stelle des größeren Nationalstaates tritt. Dem­ nach sind auch diese Regionen eine Abstraktion von der anthropologischen Horde, jedoch eine exklusivere und daher kohäsivere Form der Projektion dieser »syngenetischen« Gefühle. Folglich steht bei der Emergenz regionaler Nationalismen weder der individuelle Profit, noch die unbegrenzte Solida­ rität im Vordergrund, sondern man ist solidarisch mit der eigenen Region und gleichzeitig nutzenmaximierend gegenüber anderen Regionen bzw. der Kernnation.13 Um dies zu verdeutlichen, ist es wahrscheinlich hilfreich, einen kurzen Exkurs in die Moralsoziologie von Gumplowicz (ebd.: 285–299) zu nehmen und diese mit der Idee des Wohlfahrtsstaates zu verbinden: Im Un­ terschied zu Durkheim (1973 [1925]), unterscheidet Gumplowicz von einer gesamten »Gesellschaftsmoral«, die das Wohl der Gesamtgruppe zum Ziel hat (in unserem Fall der nationalstaatliche Wohlfahrtsstaat), die »Gruppen­ moral« die jeweils das Wohl des einzelnen sozialen Elementes verfolgt (hier die jeweiligen Regionen). Konflikte zwischen diesen seien das Symptom ei­ ner nicht durchgesetzten »Staatsmoral«, die den Einzelnen von den Gefüh­ len zu den partikularen sozialen Gruppen, denen er angehört, abstrahieren lässt. Hier demonstriert sich auch die Eignung von Ludwig Gumplowicz Beobachtungen aus der Zeit der Habsburger-Monarchie für die Ana­lyse regionaler Nationalismen. Dieser Konflikt zwischen Gruppen- und Ge­ 13 Hier sei auf eine alternative Betrachtungsweise verwiesen: Marcel Mauss (2017) sieht die Nation als institutionalisierte Solidarität. In diesem Sinne argumentierte Nicola McEwen (2002), dass der britische Wohlfahrtsstaat eine Nationsbildungsfunktion für Schottland gehabt habe. Auch wenn diese top-down-Betrachtung der Identitätsbildung ebenfalls einen Einfluss zu haben scheint, ist sie in Anbetracht des untersuchten Phäno­ mens, nämlich, dass Personen diese institutionalisierte Solidarität aufheben möchten, weniger hilfreich zu Klärung.



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sellschaftsmoral zeigt sich exemplarisch an einem klassischen Beispiel, die norditalienische LEGA ist etwa nicht bereit den wirtschaftsschwächeren Sü­ den finanziell mitzutragen; und in anderer Weise bei der schottischen SNP, die nicht bereit ist die konservative englische Politik und allen voran den BREXIT mitzutragen. Meistens sind regionale Nationalismen dadurch ge­ prägt, dass sie entweder aufgrund ihrer wirtschaftlichen Stärke mehr leisten müssen, als andere Regionen der Gesamtheit, oder zumindest andere wirt­ schaftspolitische Agenden als der Gesamtstaat verfolgen. Dieser Interessenkampf spielt sich ab in und wirkt sich aus auf eine be­ stimmte institutionelle Rahmung, dem Staat bzw. dessen Verfassung. Die relativen Positionen in der staatlichen Ordnung sind gleichzeitig Thema des Interessenkampfes als auch Arena. 3.3 Institutionen: Subsidiarität oder zwischen Zentralismus und Föderalismus Die Allgemeine Staatslehre unterscheidet zwischen den Idealtypen des zen­ tralisiertem Einheitsstaates und des föderalistischen Bundesstaates (vgl. Schöbener/Knauff 2016: § 6A). Diese Formen können zudem als Pole eines Kontinuums gesehen werden, auf dem sich auch die Zwischenformen, wie der dezentralisierte Einheitsstaat, einordnen lassen. In Verbindung mit die­ ser Idee haben Hooghe u. a. (2010) den Regional Authority Index (RAI)14 entwickelt, der das Ausmaß der Selbstbestimmung substaatlicher Einhei­ ten misst.15 Die Operationalisierung des institutionellen Rahmens über den RAI, wie später in diesem Beitrag erörtert, ist natürlich wieder eine Reduk­ tion der realen Komplexität, weswegen ich hier kurz auf die zentralen Be­ funde der Regionalstudien zu dieser Thematik eingehen möchte, bevor ich dann erörtere, warum die Dezentralisierung als U-förmiger Einflussfaktor betrachtet werden muss. Brancati (2006) zeigte in ihrer international vergleichenden Studie, dass politische Dezentralisierung im Allgemeinen ethnische Konflikte entkräf­ tet; dieser Effekt wird jedoch von einer Drittvariable, der Existenz regiona­ ler Parteien, unterdrückt, dadurch, dass mit der Dezentralisierung auch ver­ 14 Zu einer allgemeinen Übersicht der Ansätze zur Operationalisierung politischer Dezen­ tralisierung siehe Ezcurra und Rodríguez-Pose (2013). 15 Neben tatsächlichen Regionen wird auch die Autonomie weiterer administrativer Ein­ heiten gemessen, beispielsweise österreichische Gemeinden oder die spanischen Exkla­ vestädte Melilla und Ceuta.

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mehrt regionale Parteien auftreten und diese wiederum ethnische Konflikte befördern. Anhand dieses Beispiels wird bereits deutlich, dass im Rahmen der institutionellen Gestaltung komplexe Interdependenzen auftreten. Elias (2016) erweitert die Betrachtung des (De-)Zentralisierung um drei weitere Aspekte: Wie ist der Parteienwettbewerb organisiert? Wie stark können sich die kleinen Regionalparteien bei Regierungsbeteiligungen profilieren? Wie sehr kommen parteiinterne Konflikte zwischen Pragmatikern und Idealisten zu tragen? Insbesondere die Frage, wie inklusiv Parteienwettbewerb organi­ siert ist (z. B. Rückerstattung von Wahlkampfkosten oder besondere recht­ liche Hürden für den Einzug in Vertretungen nach Wahlen) scheint eine wichtige Dimension zu sein, die zukünftig noch über Indexbildung operati­ onalisiert werden müsste. Um nun wieder auf die Dezentralisierung zurückzukommen, ist es wich­ tig zunächst das Narrativ von politischer Autonomie im Rahmen des euro­ päischen Subsidiaritätsprinzips kritisch zu hinterfragen, denn es zeigt sich ein eindeutiger Zusammenhang zwischen Dezentralisierung und regionalem Nationalismus (Jolly 2015). Und dies nicht in dem Sinne, dass im Rahmen der Dezentralisierung der Erfolg regionalistischer Parteien abnimmt (Ge­ währung der Forderung nach Selbstbestimmung), sondern im Gegenteil, entstehen durch die Schaffung einer dezentralisierten staatlichen Ordnung erst die Opportunitäten für regional-nationalistische Parteien, die beispiels­ weise in den Regionen des zentralistischen Frankreich, mit Ausnahme des korsischen Sonderstatuts wenig Erfolg haben.16 Die Staaten, welche den Weg der Dezentralisierung beschritten haben (darunter Italien und Spanien), aber auch das historisch asymmetrische Vereinigte Königreich, sind auch jene, welche für ihre regional-nationalistischen Bewegungen bekannt sind. Lediglich föderale Staaten, wie Deutschland und Österreich, sind frei von re­ gional-nationalistischen Bewegungen (mit eher erfolglosen Ausnahmen, vor allem die Bayern-Partei). Hier ist die regionale Selbstbestimmung bereits so groß, dass man sich auf keinen Fall »kolonialisiert« fühlt. Zusammengefasst, sollte beachtet werden, dass der regionale Nationalismus als kollektives Kos­ ten-Nutzenkalkül nur auf der Mitte des Spektrums zwischen Zentralismus und Föderalismus aufzutreten scheint, also wo genügend Möglichkeiten für 16 Nicht deswegen, weil Frankreich kulturell homogen wäre – man denke hier beispiels­ weise an Aquitanien, das Baskenland, das Elsass oder die Bretagne – sondern, weil die Zusammenlegung der französischen Regionalvertretungen zum Beispiel so ausgelegt ist, dass diese Regionen immer mit anderen zusammengelegt werden (eine Art »Gerryman­ dering« der Regionen).



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Selbstbestimmung vorherrschen, um am politischen Wettbewerb teilneh­ men können, und gleichzeitig genügend Mangel an Autonomie, um diese im Diskurs noch einfordern zu können.

4. Empirische Befunde 4.1 Deskriptive Analyse der Regionalwahlergebnisse Da es keine aktuellen Daten zum Erfolg regional-nationalistischer Partei­ en gab, mussten in einem ersten Schritt für 90 Regionen17 die letztgültigen Regionalwahlen (Stand: März 2018) erhoben werden. Danach wurden alle teilnehmenden Parteien nach Sichtung der Wahlkampfmaterialien danach klassifiziert, ob sie einem zuvor festgelegten Kriterienkatalog18 regional-nati­ onalistischer Parteien entsprechen oder nicht; für jede Region wurden dann die Stimmenanteile aller regional-nationalistischen Parteien kumuliert. Die Ergebnisse der Erhebung sind in Abbildung 2 dargestellt. Die Operationa­ lisierung des Phänomens über das manifeste Verhalten in Wahlen weist im Vergleich zu Survey-Daten 1) eine besonders hohe ökologische Validität auf und begegnet 2) dem Problem, dass unter »Region« in unterschiedlichen Sprachen von verschiedenen Personen meist etwas anderes verstanden wird. Deutlich werden hier in den Wahlergebnissen Muster, die sich den mit klassischen Beispielen im Text decken. Besonders hervorstechend (über 40 Prozent) sind in Spanien die Region Katalonien und das Baskenland, in Norditalien die Regionen Trient, Venetien sowie das Aosta-Tal und im Ver­ einigten Königreich Schottland und Nordirland. Bemerkenswert sind weiter (über 25 Prozent) in Italien die Lombardei (Heimat der LEGA-Bewegung) und Südtirol, die französische Insel Korsika und schließlich in Spanien Galizien, Kantabrien und das baskische Navarra. Dies veranschaulicht im Ländervergleich bereits deutliche Unterschiede: Im föderalen Deutschland findet sich keine einzige regional-nationalistische Partei, die über der Fünf 17 Und zwar zwölf britische regions, 16 deutsche Bundesländer, 22 französische régions, 20 italienische regioni, 17 spanische communidades autónomas und zwei spanische ciu­ dades autónomas. 18 Zumindest eines der Kriterien musste erfüllt sein: a) das Streben nach Autonomie der Region, b) die Abspaltung der Region als Ziel, c) die Forderung der Abhaltung eines Unabhängigkeitsreferendums oder d) die Vertretung einer kulturellen Minderheit (ge­ genüber nationaler Mehrheit) als einen zentralen Standpunkt der Partei.

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Abb. 2: Wahlerfolge regional-nationalistischer Parteien bei Regionalwahlen auf NUTS-2-Ebene Quelle: Dargestellt ist je Region der kumulierte Stimmenanteil aller als regional-nationalistisch klassifizierten Par­ teien. Je dunkler die Darstellung, desto höher der Stimmenanteil (Stand: März 2018; eigene Darstellung).

Prozent-Hürde liegt (die Bayern-Partei erreichte bspw. nur zwei Prozent). Im zentralistischen Frankreich sticht vor allem das mit einem Sonderstatut aus­ gestattete Korsika (28 Prozent) hervor. Daneben gibt es dann noch kleinere Erfolge (zwischen acht und 13 Prozent) im Elsass, in Languedoc-Roussillon und Midi-Pyrénées, sowie der Bretagne. Am wohl ausgeprägtesten scheint das Phänomen des regionalen Nationalismus im Vereinigten Königreich zu



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sein, da hier in sämtlichen nicht-englischen Regionen Wales (20 Prozent), Nord-Irland (40 Prozent) und Schottland (47 Prozent) hohe Wahlerfolge er­ zielen konnten. In Italien sticht besonders der Übergang vom reichen Nor­ den zum armen Süden (Mezzogiorno) hervor. Daneben ist in Italien, wie aber auch in Spanien, der Effekt der Insel-Nationalismen gut zu beobachten: Sizilien (20 Prozent), Sardinien (24 Prozent), die Balearen (24 Prozent) und die Kanaren (29 Prozent). Am spanischen Festland sind neben den oben be­ reits erwähnten Regionen auch das katalanisch geprägte Valencia (19 Pro­ zent) und in geringerem Ausmaß Asturien und Andalusien (jeweils acht Pro­ zent) betroffen. 4.2 Aufklärung der Wahlergebnisse durch kulturelle Artefakte Nachdem nun die Unterschiede im Wahlerfolg in den Regionen der fünf untersuchten Länder hinweg dargestellt wurden, geht es nun um die Aufklä­ rung dieser Unterschiede. Für diese und die folgenden multivariaten Ana­ lysen wurden aus inhaltlichen Überlegungen die fünf Hauptstadtregionen ausgeschlossen, um mögliche Verzerrungen zu umgehen.19 In einem ersten Analyseschritt soll geklärt werden, wie gut regional-nationalistische Bestre­ bungen auf das Vorliegen einer regionalen Identität zurückgeführt werden können. Wobei hier Identität nicht im subjektiv-psychologischen Sinne zu verstehen ist, sondern im Sinne einer soziologischen Gruppenidentität, wel­ che sich durch geteilte Merkmale definiert. Zur Operationalisierung der Identität durch vorliegen kultureller Gemein­ samkeiten, wurde der Datensatz um drei Indizes erweitert: 1) Gibt es eine regi­ onale Sprache, die sich von der nationalen Mehrheitssprache unterscheidet?20

19 Im Konkreten sind dies Berlin, Île-de-France, Madrid, Lazio und Greater London. Die Hauptstädte haben nämlich meist ebenfalls erhöhte Autonomierechte und zugleich auch ein überdurchschnittliches BIP pro Kopf. Im Unterschied zu den meist peripheren Regionen, in denen regional-nationalistische Parteien erfolgreich sind, verdanken die Hauptstadt-Regionen diese privilegierte Stellung meist dem Fakt, dass sie Hauptstadt eines großen Nationalstaates sind, weswegen zwar von außen ähnliche Charakteristi­ ka vorliegen (erhöhte Autonomie und überdurchschnittliche Wirtschaftsleistung) aber eben aufgrund und nicht trotz eines bestehenden größeren Staates. 20 Hierzu wurde der Index von Fitjar (2010) verwendet, den dieser auf Basis vergleichender linguistischer Literatur erstellte. Dieser vergibt zwischen null und drei Punkte, je nach­ dem, wie viele der drei Kriterien in der jeweiligen Region erfüllt werden: a) Gibt es eine autochthone regionale Sprache, die von der Mehrheitssprache des Staates abweicht? b)

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2) War die Region historisch ein unabhängiger Staat?21 3) Liegt die Region geographisch isoliert?22 Die drei Indizes sowie der relative Bevölkerungs- und Flächenanteil (als Kontrollvariablen) wurden in den Datensatz integriert und in Folge eine multiple lineare Regression zur Vorhersage der Wahlergebnisse berechnet (siehe Tabelle 2). Tab. 2: Multiple lineare Regression zum Einfluss kultureller Artefakte auf den Wahlerfolg regionalnationalistischer Parteien bei Regionalwahlen

B (SE)

β

p

  0.06 (0.02)

 0.34

.002

Geschichtea

  0.06 (0.03)

 0.28

.014

Geographie

  0.12 (0.07)

 0.18

.074

–0.01 (0.01)

–0.04

.723

Bevölkerungsanteil

–0.01 (0.01)

–0.06

.588

Konstante

  0.05 (0.03)

Sprachea

b

Flächenanteilc c

Anmerkungen: a Summenindizes nach Fitjar (2010), je höher, desto sprachlich bzw. geschicht­ lich unabhängiger von der Kernnation. b Dummy-Codierung zu Insellage der Region (0 = Festland; 1 = Insel). c Relative Fläche und Bevölkerung der Region im Verhältnis zum Gesamt­ staat als Kontrollvariablen (N = 85, ohne Hauptstädte; Stand: März 2018). Quelle: Integrierter Datensatz (eigene Erhebung, Indizes von Fitjar [2010] und Fläche bzw. Bevölkerung gemäß Weltbank).

Wird die regionale Sprache von mindestens der Hälfte der Bevölkerung der Region ge­ sprochen? c) Ist die Sprache keine Mehrheitssprache eines anderen Staates? 21 Zur Vergleichbarkeit, wurde auch hier auf den bereits von Fitjar (2010) erstellten In­ dex zur historischen Eigenständigkeit zurückgegriffen. Dieser ist ähnlich konzipiert und enthält auch drei Kriterien, für die bei Erfüllung ebenfalls je ein Punkt vergeben wird (allerdings erfüllt nur Kreta alle drei Kriterien, weswegen in unserem Sample maximal zwei Punkte erreicht wurden): a) Die Region war zur Staatsgründung noch nicht Teil des Staatsgebietes. b) Die Region war nicht durchgehend im 20. Jahrhundert Teil des derzeitigen Staates. c) Die Region war nach dem »Times Atlas of World History« bereits ein unabhängiger Staat. 22 Hier habe ich im Unterschied zu Fitjar (2010), nicht die Unterscheidung zwischen Zen­ trum und Peripherie getroffen (Regionen, die eine Grenze mit der Hauptstadtregion tei­ len versus jene die nicht an die Hauptstadtregion grenzen), sondern die Insellage als Kri­ terium gewählt; in Anlehnung an Hepburn/Elias (2011), die sich spezifisch mit »Island nationalism« beschäftigt haben.



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Das in Tabelle 2 dargestellte Modell erklärt 33.3 Prozent der Gesamtvarianz in den Wahlerfolgen (F(5) = 7.90, p < .001). Den gewichtigsten Faktor stellt die Sprache dar. Wie erwartet, gehen linguistische Unterschiede zwischen Regi­ on und Gesamtstaat mit erhöhten Wahlerfolgen der regional-nationalistischen Parteien einher. Auch bei der historischen Eigenständigkeit, trifft die Hypo­ these zu, dass Regionen, die in ihrer Geschichte auf eine Zeit der Unabhängig­ keit zurückblicken können, auch erhöhte Erfolge der Regional-Nationalisten in Regionalwahlen zu verzeichnen sind. Nur ein tendenzieller – in Anbetracht des hohen β-Wertes, nur aufgrund der geringen Fallzahl nicht signifikanter – Effekt zeigt sich für die geographische Lage: Regionen, die als Inseln vom Fest­ land ihres Kernstaates getrennt sind, weisen tendenziell auch höhere Erfolge regional-nationalistischer Parteien auf. Keinen Einfluss haben die beiden Kon­ trollvariablen, das heißt, der Erfolg regional-nationalistischer Parteien ist nicht abhängig davon, wie groß oder klein eine Region im Vergleich zum Gesamt­ staat ist, weder in Bezug auf die Einwohnerzahl noch auf die Fläche. 4.3 Kontextvariablen für den Erfolg regional-nationalistischer Parteien Während die erste Analyse an objektivistische Nationalismustheorien erin­ nert – immerhin wird ein Drittel der gesamten Unterschiede alleine durch die drei Indizes aufgeklärt, was für sozialwissenschaftliche Beispiele ein enormes Maß darstellt – steht dieser Beitrag in der Tradition von Ludwig Gumplowicz (1905) und legt daher den Fokus auf die gemeinsamen Inter­ essen der Region als »sozialer Gruppe«. Im Folgenden werden wir daher die vorhergesagten Wahlerfolge aus der ersten Regression verwenden und auf deren Basis regressionsanalytisch ein Moderationsmodell nach Hayes (2017) berechnen, bei dem wir das eingangs in Abbildung 1 dargestellte Modell (moderierte Moderation) für unsere Daten prüfen. Hierzu muss der Da­ tensatz der auf Basis regionaler Identität vorhergesagten Wahlergebnisse um weitere Daten ergänzt werden: 1) Die relative Wirtschaftsleistung (als das regionale Bruttoinlandsprodukt [BIP] pro Kopf im Verhältnis zum natio­ nalen BIP pro Kopf ) zur Modellierung der Moderation erster Ordnung. 2) Die institutionelle Autonomie über den Regional Authority Index (RAI) von Hooghe u. a. (2016). Zur Modellierung des U-förmigen Zusammenhangs wurden die Werte des RAI jedoch z-transformiert und in Folge quadriert.23 23 Dies ist notwendig, damit sehr geringe bzw. hohe Autonomie jeweils sehr hohe positive Werte erhalten und solche mit mittlerer Autonomie sehr geringe Werte nahe Null erhal­ ten; so kann der quadratische Zusammenhang linear angenähert werden.

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Der nicht transformierte RAI-Wert wurde natürlich als Kovariate berück­ sichtigt und kontrolliert. Die Zusammenfassung der Ergebnisse des Regres­ sionsmodells findet sich in Tabelle 3. Tab. 3: Regressionsmodell zur moderierten Moderation des Wahlerfolges regional-nationalistischer Parteien bei Regionalwahlen

B (SE)

p

Regionale Identität (X)a

  0.06 (0.01)

.001

Relative Wirtschaftsleistung (W)b

  0.24 (0.07)

.001

Interaktion 1 (X*W)c

  0.15 (0.09)

.091

RAI² (Z)

–0.10 (0.02)

.001

–0.01 (0.02)

.684

Interaktion 3 (W*Z)

–0.13 (0.08)

.089

Interaktion 4 (X*W*Z)e

  0.20 (0.10)

.046

RAI (Kovariate)

  0.01 (0.01)

.653

Konstante

  0.09 (0.04)

d

Interaktion 2 (X*Z)c c

f

Anmerkungen: a Auf Basis von kulturellen Artefakten im ersten Regressionsmodell vorhergesag­ te Werte. b Regionales BIP pro Kopf im Verhältnis zum nationalen BIP pro Kopf. c Interakti­ on 1, 2 und 3 sind lediglich zur Prüfung der Interaktion 4 im Modell, da die niederrangigen Interaktionsterme zur Prüfung des höherrangigen Termes kontrolliert werden müssen. d Die regionale Autonomie gemäß Regional Authority Index, hier wurden die Werte jedoch z-trans­ formiert und im Anschluss quadriert. e Dieser Interaktionsterm prüft die moderierte Modera­ tion. f Rohwerte des Regional Authority Index ohne Transformationen (N = 85, ohne Haupt­ städte; Stand: März 2018). Quelle: Integrierter Datensatz (eigene Erhebung, Regional Authority Index nach Hooghe u. a. [2016] und Brutto­ inlandsprodukt pro Kopf gemäß Weltbank).

Durch das Modell konnte die ohnehin hohe Erklärungskraft von 33 Prozent auf 65 Prozent gesteigert werden (F(8, 76) = 17.86, p < .001). Wie angenom­ men, zeigen sich nur die drei Haupteffekte und die quatrovariate Interaktion (moderierte Moderation) als signifikant. Im Detail zeigt sich: Je stärker die re­ gionale Identität, desto größer sind auch die Wahlerfolge der Regional-Natio­ nalisten. Je höher Wirtschaftsleistung der Region im Vergleich mit der natio­ nalen Wirtschaftsleistung ist, desto höher schneiden regional-nationalistische Parteien auch in Regionalwahlen ab. Zudem zeigt sich, dass regional-nationa­



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listische Parteien weniger erfolgreich sind, wenn eine Region über besonders niedrige oder besonders hohe Selbstbestimmung verfügt. Die Kontrollvariable zum linearen Effekt der regionalen Autonomie zeigte hingegen, wie erwartet, keinen Effekt auf den Wahlerfolg. Zur Veranschaulichung der konditionalen Effekte der moderierten Moderation wurden die Variablen in ihrer Komplexi­ tät des Skalenniveaus auf zwei- beziehungsweise dreistufige Ausprägungen re­ duziert und als Mittelwertvergleich in Abbildung 3 dargestellt.

Abb. 3: Mittelwertvergleich des Wahlerfolgs regional-nationalistischer Parteien in Regionalwahlen nach Vorliegen von Identitätsmerkmalen, dem Grad institutioneller Autonomie und wirtschaftlicher Performanz im Vergleich zum nationalen Durchschnitt Das Vorliegen von Identitätsmerkmalen wurde über die Kombination zweier Indizes zu Spra­ che und Geschichte (siehe Abschnitt: Methodik) angenähert. Der Grad der Autonomie wur­ de über den Regional Authority Index angenähert, der in drei Klassen zusammengefasst wurde: »zentralistisch« hierunter fällt die Mehrheit der französischen Regionen (ohne Sonderstatut), »dezentralisiert« umfasst die übrigen Regionen außer den deutschen Bundesländern, die in die Kategorie »föderalistisch«. Die wirtschaftliche Performanz der Regionen wurde in drei Katego­ rien zusammengefasst: »arm« (weniger als 88 Prozent des nationalen BIP pro Kopf bzw. Me­ dian der Stichprobe), »mittel« (zwischen 88 Prozent und 100 Prozent des n. BIP p. K.) und »reich« (mehr als 100 Prozent des n. BIP p. K.). (N = 85, ohne Hauptstädte; Stand: März 2018; Standardfehler wurden über ein Bootstrapping-Verfahren geschätzt, N = 5000.) Quelle: Integrierter Datensatz (eigene Erhebung, RAI von Hooghe u. a. [2016] und BIP pro Kopf gemäß Weltbank).

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Wie in der Abbildung ersichtlich, sind regional-nationalistische Parteien nur in Regionen, die institutionell weder niedrige noch hohe Selbstbestim­ mungsrechte haben, über der kritischen Fünf-Prozent-Hürde (ungefähr der Bereich, ab dem das Erlangen von Mandaten realistisch erscheint). Inner­ halb dieser Kategorie lässt sich nun beobachten, dass bei Regionen mit kul­ turellen Artefakten mit der relativen wirtschaftlichen Leistung auch der An­ teil der regional-nationalistischen Parteien wächst. Interessanterweise zeigt sich auch eine Gruppe von Regionen, die gemäß der Indizes keine kulturel­ len Artefakte aufweisen, aber dennoch ein moderates Ausmaß an Wahlerfol­ gen für die Regional-Nationalisten aufweisen.24 Dies mag neben der Annah­ me von modernistischer Nationalismus-Theorien (bspw. Anderson 2006), also, dass in diesen Regionen eine Nation als »imagined community« ein­ fach konstruiert wurde, aber auch an der Operationalisierung liegen: Ne­ ben Sprache, historischer Eigenständigkeit und Insel-Lage können natür­ lich weitaus mehr Merkmale eine ethnische Gruppe charakterisieren. Hierzu müsste also versucht werden über Index-Bildung mehr Aspekte von regiona­ ler Identität abzudecken.

5. Fazit Im Folgenden möchte ich kurz die zentralen Punkte des Beitrages zusam­ menfassen und dann mit einem Resümee zur Methode abschließen. Die Grundüberlegung, warum tritt das Phänomen des regionalen Nationalis­ mus länderübergreifend in West-Europa auf, lässt sich mit der These ei­ ner Krise der europäischen Nationalstaaten beantworten. Die Umvertei­ lung von Kompetenzen nach oben (zur Europäischen Union) und nach unten (im Sinne der Subsidiarität), um weiterhin  – so die Erzählung  – global bedeutsam bleiben zu können, stellt die Notwendigkeit des Nati­ onalstaates als Ebene zwischen EU und Region in Frage. Als Folge dieser Infragestellung im Angesicht der Prozesse von Integration und Differenzie­ rung wandeln sich die Nationen von solidarischen Einheiten zu nationa­ 24 Dieses Phänomen liegt bei Analyse der Daten an den mittelitalienischen Regionen, die zwar über eigene Dialekte verfügen, aber über keine eigene Sprache gemäß dem Index Fitjar (2010) haben; zudem waren diese Regionen vor der Gründung Italiens Teil des Kirchenstaates und daher auch nicht historisch eigenständig; zudem liegen sie zentral um die Hauptstadt Rom.



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len Containern, in denen einzelne Regionen um Interessen kämpfen. Zu Interessensgruppen werden die Regionen, in denen die Gemeinsamkeiten (z. B. Sprache, Geschichte […]) innerhalb der Region stärker sind als in­ nerhalb des Gesamtstaates. Jene Regionen, die sich als weniger erfolgreich im internationalen Wettbewerb herausstellen, und die Kernnationen plä­ dieren weiterhin für die Protektion durch den gemeinsamen keynesiani­ schen Wohlfahrtsstaat, um ihre Stellung zu erhalten; die peripheren Regi­ onen, die die wirtschaftlichen Zugpferde darstellen, wollen sich hingegen von den Belastungen der zentralstaatlichen Umverteilung befreien. Abhän­ gig von den politischen Rahmenbedingungen entwickeln sich diese Dy­ namiken unterschiedlich stark: Im Zentralismus fehlen Regionalparteien die Möglichkeiten, effektiv an der Politik teilzunehmen; im Föderalismus fehlt es an Forderungen die Regionalparteien noch stellen könnten. Erfolg­ reich sind regional-nationalistische Parteien daher nur im Mittelbereich des Spektrums zwischen diesen Idealtypen, insbesondere im Modell des dezentralisierten Einheitsstaates. Neben dieser inhaltlichen Erkenntnis ist es auch entscheidend die Me­ thodologie dieses Beitrages kurz zu beleuchten. Der Beitrag demonstriert zu­ nächst, wie mit wenigen Einflussfaktoren durch die Modellierung sinnvoller Wirkungszusammenhänge ein großer Teil sozialer Phänomene erklärt wer­ den kann. Meist wirken verschiedene Ursachen eben nicht unabhängig von­ einander, sondern bedingen einander. Neben dem Fokus auf Interaktionseffekte, ist aber auch die Analyse­ ebene von Bedeutung. Die dargestellten Dynamiken des politischen Prozesses verdeutlichen, wie Regionen als Akteure kollektiven Han­ delns betrachtet werden können, im Sinne einer »sozialen Gruppe« nach Gumplowicz (1905). Die Konfliktsoziologie Gumplowicz’ sieht eben sol­ che sozialen Gruppen als zentrale ontologische Einheit zur Untersuchung sozialer Erscheinungen. Diese sozialen Gruppen seien dadurch bestimmt, dass ihre Mitglieder durch geteilte Merkmale und daraus folgenden Inter­ essen, je nach Valenz und Zahl der geteilten Merkmale stärker oder schwä­ cher, miteinander verbunden sind. Wichtig ist aber wiederum, dass diese Gruppe sich in den einzelnen Individuen überlappen, weswegen die Unter­ suchung von Individuen mit Bezug auf einen Sachverhalt im Einzelfall je­ weils durch andere Gruppenmitgliedschaften (z. B. ökonomische Schicht, Geschlecht und Habitus) konfundiert wäre. Daher muss es für eine em­ pirische Interpretation Gumplowicz’ Konfliktsoziologie gelten, im jewei­ ligen Fall die entscheidenden Interessensgruppen zu identifizieren, ihre

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Charakteristika zu beschreiben, ihre Kohäsion zu operationalisieren und schließlich nach den Determinanten ihrer (Nicht-)Durchsetzungskraft zu suchen. In der hier untersuchten Fragestellung sind die entscheidenden In­ teressensgruppen institutionalisierte Regionen (also substaatliche territori­ ale Steuerungseinheiten), die durch Sprache und Geschichte als Charakte­ ristika miteinander verbunden sein können und deren Durchsetzung von den Unterschieden in der relativen Wirtschaftsleistung (zum Gesamtstaat) und den bestehenden Autonomierechten abhängt. Dass Gumplowicz eine Soziologie als Teil der Naturwissenschaften forderte, scheint angesichts der hier erreichten statistischen Kennwerte (R2 = .65), die normalerweise nur in den harten Wissenschaften wie der Biochemie erreicht werden, gar nicht so abwegig; ohne diese Grundsatzfrage aus der Entstehungszeit der So­ zialwissenschaften im 19. Jahrhundert wieder aufwerfen zu wollen, sollte zumindest deutlich werden, dass auch die Soziologie eine exakte Wissen­ schaft sein kann. Dies ist umso bemerkenswerter angesichts der Vernach­ lässigung aller möglichen individuellen/psychologischen Faktoren, die sonst für das Wahlverhalten herangezogen werden (etwa Vertrauen in po­ litische Institutionen, subjektive Zugehörigkeit zu einer ethnischen Grup­ pe, Nationalstolz, Politikverdrossenheit usw.). Allerdings ist die Idee der Nicht-Rückführbarkeit sozialer Phänomene auf die Individualebene ganz im Sinne Gumplowicz’, der zur Legitimation der Soziologie als eigenstän­ diger Disziplin die radikale These einer Eigendynamik sozialer Phänome­ ne vertrat: »Der größte Irrtum der individualistischen Psychologie ist die Annahme: der Mensch denke. […] was im Menschen denkt, das ist gar nicht er – sondern seine soziale Ge­ meinschaft, die Quelle seines Denkens liegt gar nicht in ihm, sondern in der sozia­ len Umwelt, in der er lebt, in der sozialen Atmosphäre, in der er atmet, und er kann nicht anders denken als so, wie es sich aus den in seinem Hirn sich konzentrieren­ den Einflüssen der ihn umgebenden sozialen Umwelt mit Notwendigkeit ergibt.« (Gumplowicz 1905: 268)

Zwar mag diese sozialdeterministische Extremposition zu weit gehen, aller­ dings zeigt dieser Beitrag, wie fruchtbar der soziologische Gruppismus, den Gumplowicz mit seiner Soziologie vertritt, für die heutige quantitative Sozi­ alforschung sein kann. Zwar kann mit den hier vorliegenden Aggregatdaten keine individuelle Wahlentscheidung erklärt werden, allerdings kann über Survey-Daten das kollektive Wahlverhalten auch nicht in diesem Ausmaß erklärt werden. Dieser Beitrag sollte zeigen, dass die Soziologie Gumplowicz’



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kein Fall für die Mottenkiste der Sozialtheorien ist, sondern durchaus Poten­ tial für das 21. Jahrhundert bietet.

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Globale Wirtschaftsordnung und Nationalismus

Ökonomischer Nationalismus als Determinante von Freihandel und Protektionismus1 Max Haller 1. Fragestellung Die Frage »Freihandel oder Protektionismus« wird in der Regel als ein öko­ nomisches Problem gesehen. Liberale mainstream-Ökonomen (aber auch manche Soziologen) betrachten den Freihandel prinzipiell als vorteilhaft für die wirtschaftliche Entwicklung, genauso wie die freie Marktwirtschaft innerhalb eines Landes. Der internationale Handel hat zweifellos wichtige Vorteile – allerdings ist er auch mit Problemen behaftet. Dies gilt vor allem dann, wenn es sich um wirtschaftliche Beziehungen zwischen sehr ungleich­ mäßig entwickelten Ländern handelt; bei solchen werden die stärkeren Part­ ner vermutlich mehr profitieren. Daher ist Freihandel auch in hohem Maße politisch umkämpft. In meinem Beitrag gehe ich von drei Grundannahmen bzw. Forschungsfragen aus: 1) Welche Bedeutung hat der Nationalstaat im Zeitalter der Globalisierung noch? Gibt es heute noch autarke Wirtschafts­ politik? 2) Was bedeutet Wirtschaftsnationalismus eigentlich? Wie verhält er sich zu Strategien der Öffnung und Schließung? Die These lautet, dass ent­ scheidend für den wirtschaftlichen Erfolg von Nationalstaaten ist, eine trag­ fähige Balance zwischen Freihandel und Protektionismus zu finden. 3) Was bringt bestimmte Länder dazu, sich nach außen zu öffnen und freien Han­ del zu befürworten, andere dagegen, sich mehr oder weniger abzuschließen? Hier wird diskutiert, welche erhofften bzw. befürchteten und welche fak­ tischen Folgen die Öffnung und Schließung der nationalen Wirtschaft für die sozioökonomische Entwicklung eines Landes hat. Hierbei werden fünf Strategien unterschieden: Wirtschaftsnationalismus a) im Interesse der Ent­ wicklung der Wirtschaft eines Landes; b) basierend auf nationalen Kapitalund Klasseninteressen; c) regionale Wirtschaftsassoziationen wie die EWG/ EU als Institutionen zur Sicherung der weltweiten Wettbewerbsfähigkeit; 1 Für wertvolle Hinweise zur Überarbeitung des Manuskripts danke ich den Herausge­ bern, ferner Karl Farmer vom Institut für Volkswirtschaftslehre der Universität Graz.

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d) wirtschaftliche Abschottung bzw. Öffnung als Strategien zur Sicherung der Herrschaft von politischen Eliten. Sodann wird noch eine andere, wich­ tige Fragestellung angesprochen, nämlich jene, inwieweit offene und faire internationale Wirtschaftsbeziehungen den Frieden fördern können. Diese Strategien werden illustriert bzw. untersucht anhand einer historisch-sozio­ logischen Analyse der folgenden Fälle: Großbritannien im 19. Jahrhundert; der Aufstieg Japans bzw. der südostasiatischen »Tigerstaaten« seit dem Zwei­ ten Weltkrieg; dem Verhalten der Großmächte (USA, Großbritannien) im 20. Jahrhundert; die europäische Integration seit 1957; und die Entwicklung der Sowjetunion bis zum Zusammenbruch 1989, sowie Chinas seit dieser Zeit.

2. Wer sind die Nutznießer und Verlierer des Freihandels? Kontroverse Argumente in Ökonomie und Soziologie Aus der Sicht der Ökonomie ist Freihandel, also die Existenz offener Wirt­ schafts- und Handelsbeziehungen zwischen verschiedenen Regionen und Staaten der Welt, eindeutig positiv zu sehen, er hat signifikante Wachstumsund Wohlfahrtseffekte (Lipsey 1972: 591; Kleinert 2004; Farmer/Vlk 2005; vgl. auch Haller 2009: 173). Schon Adam Smith (1933 [1776]: 226ff.) vertrat in seinem 1776 veröffentlichten Werk Über die Ursachen des Wohlstandes der Nationen die These, es sei für ein Land vorteilhafter, eine Ware aus einem anderen Land zu beziehen, wenn diese dort günstiger und/oder in besserer Qualität hergestellt werden könne als im eigenen.2 Allerdings benennt er vier Fälle, in denen die Einhebung von Zöllen auf ausländische Waren sinnvoll sei; es ist überraschend, wie aktuell manche davon heute wieder sind. Die vier Umstände sind: 1) wenn die Produkte eines Industriezweiges für die Ver­ teidigung des Landes notwendig sind; 2) wenn im Lande selbst auf bestimm­ te Produkte eine Steuer erhoben wird und damit die eingeführten Waren ei­ nen Preisvorteil hätten; 3) »Wiedervergeltungszölle« sind angebracht, wenn ein anderes Land die Einfuhr von Produkten des eigenen Landes durch seine Zölle behindert; 4) wenn bestimmte Wirtschaftszweige bisher durch hohe Zölle geschützt waren und die sofortige Beseitigung all dieser zu hoher Ar­ 2 Eine informative, konzise Darstellung der Thesen von Smith findet sich in Kurz und Sturn (2013: 137–148).



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beitslosigkeit führen würde. Die Grundthese von Smith wurde von seinem Nachfolger David Ricardo (1772–1823) zum bekannten Theorem der kom­ parativen Kostenvorteile ausgebaut und ist in dieser Form bis heute Credo der Ökonomie (vgl. dazu auch Nuscheler 2010: 182–201). Demnach ist es für ein Land günstiger, sich auf die Produktion und den (teilweisen) Export jener Güter zu konzentrieren, zu deren Produktion es durch seine Lage, sein Klima und seine natürlichen und sozialen Vorteile (insbesondere die Arbeits­ produktivität bei der Erstellung dieses Gutes) besser in der Lage ist als ande­ re Länder. Ja ein Austausch mit einem anderen Land kann sogar dann noch vorteilhaft sein, wenn seine eigenen Produktionskosten in allen getauschten Gütern höher sind als jene des Partnerlandes. Dazu schrieb Ricardo im typi­ schen Duktus der liberalen Ökonomie: »Bei einem System des vollkommen freien Handels wendet natürlich jedes Land sein Kapital und seine Arbeit solchen Zweigen zu, die für jedes am vorteilhaftesten sind. Dieses Verfolgen des individuellen Interesses ist bewundernswert mit dem allgemei­ nen Wohle des Ganzen verbunden. Durch Ansporn des Fleißes und Belohnung der Erfindungsgabe sowie durch die bestmögliche Ausnutzung der von der Natur verlie­ henen besonderen Fähigkeiten wird die Arbeit äußerst wirksam und sparsam verteilt, während allgemeiner Nutzen durch die Vermehrung der allgemeinen Produktenmas­ se verbreitet und durch ein gemeinsames Band des Interesses und des Verkehrs die weltweite Gesellschaft der Nationen der zivilisierten Welt verbunden wird.« (Ricardo 1994 [1817]: 114)

Ricardo selbst bekämpfte die Kornzölle, welche England nach dem Wiener Kongress und Aufhebung der napoleonischen Kontinentalsperre einführte, wissenschaftlich und auch politisch als Unterhausabgeordneter. Er argumen­ tiert, sie würden nur bestimmten Branchen nützen, der Wirtschaft insge­ samt aber schaden. Heute argumentieren die Ökonomen, dass der internati­ onale Handel genauso zu verstehen ist wie der innerstaatliche (Lipsey 1972: 589–600). Ohne Handel müsste jedes Land alles selbst herstellen und der Grad der Spezialisierung und Produktivität wäre weit geringer. Neuere Ar­ beiten finden eine Bestätigung für die klassische ökonomische These von der Relevanz des Freihandels im langen historischen Kontext (O’Rourke u. a. 2019). Aus dieser Sicht ist Offenheit nach außen vor allem für kleinere Län­ der wichtig, da sie sich intern weniger spezialisieren können und oft auch nicht über wichtige Rohstoffe verfügen (Breuss 1984: 345). Aber Freihandel wird seit jeher auch kontrovers diskutiert. Ein wichti­ ger und schon früh genannter Einwand dagegen ist das Argument, dass da­ durch wirtschaftlich starke Nationen, auch industrielle Vorreiter, bevorzugt

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werden, da sie viel mehr Güter günstiger erzeugen und bessere Chancen ha­ ben, diese den weniger entwickelten Ländern zu verkaufen als umgekehrt. Daher müssten Länder in der Phase der Frühindustrialisierung für jene In­ dustriezweige, die sich bei ihnen erst im Aufbau befinden, zeitlich begrenz­ te Schutzzölle einführen. Der klassische Vertreter dieses Arguments war der deutsche Ökonom Friedrich List (1789–1846): er hatte schon in seinem Exil in den USA und nach der Rückkehr nach Deutschland die Einführung ei­ nes »Erziehungszolls« für die US- bzw. deutsche Industrie vorgeschlagen. List ist für diese These bis heute bekannt und seine Werke wurden auch in den sich erst spät, dann aber höchst dynamisch industrialisierenden ostasi­ atischen »Tigerstaaten« studiert. List setzte sich auch bewusst ab von der These der liberalen englischen Ökonomen, dass ein offener Welthandel das Interesse aller einzelnen Wirtschaftsakteure am besten befriedige; dagegen unterschied er zwischen den Interessen und dem Wohl Einzelner und dem von Nationen als Ganzes. Für List fällt die Verfolgung der Einzelinteressen und des Gemeinwohls keineswegs in wundersamer Weise zusammen, wie es die berühmte Smith’sche Formel von der »unsichtbaren Hand« des Marktes suggeriert. Die beiden können oft in Konflikt, ja auch in Widerspruch zu­ einander geraten. Weniger bekannt – aufgrund der vorherigen Ausführun­ gen jedoch nicht überraschend – ist, dass das Hauptbemühen von List nicht die Aufstellung von Zollschranken war, sondern gerade deren Beseitigung.3 So geißelte er in einer von ihm verfassten Schrift beim Allgemeinen Deut­ schen Handels- und Gewerbeverein in Frankfurt die Unzahl von Zöllen und Mautbarrieren, welche den innerdeutschen Handel massiv behinderten. In diesem Sinne betätigte er sich auch als Pionier des Ausbaus der Eisenbah­ nen in Deutschland (in den USA gründete er selbst eine Eisenbahngesell­ schaft). Eisenbahnbau und Beseitigung der Zollschranken waren für ihn die siamesischen Zwillinge für die Entfaltung des innerdeutschen Handels und Wirtschaftswachstums. Die These von der fundamentalen Bedeutung des freien Handels für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung wurde in neuerer Zeit auch von Soziologen vertreten. Der französische Soziologe Jean Baechler hat sie zu einer Theorie ausgearbeitet, in welcher ein enger Zusammenhang zwi­ schen Außenhandel einerseits und der sozialen Struktur und den Institu­ tionen eines Staates bzw. einer Makroregion andererseits hergestellt wird. Seiner Meinung nach gilt: »Je intensiver der Austausch innerhalb einer Ge­ 3 Vgl. dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_List (Zugriff: 30.05.2018).



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sellschaft, desto stärker die Arbeitsteilung und desto effizienter die Gesell­ schaft« (Baechler 1975: 43; Übersetzung MH). In einer offenen Gesellschaft besteht grundsätzlich mehr Wettbewerb und Innovation, diese fördern wie­ derum die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung. Wir können uns hier auch auf Karl R. Popper beziehen, für den der Kern der offenen Gesellschaft die Freiheit des Individuums ist und zwar nicht nur in politi­ scher Hinsicht, sondern auch als Unternehmer, Arbeitnehmer und Konsu­ ment, erst dadurch ist die Möglichkeit zur Entfaltung aller schöpferischen Fähigkeiten aller Mitglieder einer Gesellschaft gegeben. Die institutionellen Garantien einer solchen Gesellschaft sind die freie Marktwirtschaft und die politische Demokratie (Popper 1958; Stelzer 2004). Besonders stark kann der Austausch innerhalb eines Landes werden, wenn der Staat nicht den größten Teil des wirtschaftlichen Surplus seines Landes abschöpft und zwischen Ländern, wenn sie der gleichen Entwick­ lungsstufe und Zivilisation angehören. Dies war der Fall in Europa bzw. im Westen, aber sonst nirgendwo auf der Welt. Seit dem frühen Mittelalter ist es in Europa keiner Macht gelungen, die Oberherrschaft zu erlangen und ein Empire zu errichten, wie es in Süd- und Ostasien durch Indien und Chi­ na zeitweise der Fall war. Durch die Vielzahl der bestehenden Staaten – eine Art politischer Anarchie – entstand innerhalb Europas ein intensiver Wett­ bewerb, der zu einer ungeheuren Entfaltung schöpferischer Kräfte in Kunst und Kultur, Wissenschaft und Technik, und auch in der Wirtschaft führte. Die früheste Entfaltung kapitalistischer Aktivitäten erfolgte in England, das durch weit weniger zentralisierte Machtstrukturen charakterisiert war als die Länder auf dem Kontinent. Es gibt auch weitere Argumente von Soziologen, die den weltweiten Frei­ handel letztlich als Win-win-Situation für alle Teilnehmer betrachten. Im Anschluss an Durkheims Theorie der Arbeitsteilung argumentiert Richard Münch in seinem Buch Das Regime des Freihandels (2011), dass sich seit dem Aufstieg der Globalisierung ein neues Weltregime herausgebildet habe; darin seien nicht nur weltumspannende ökonomische Beziehungen, sondern auch eine neue Ethik und Moral entwickelt worden. Die »Pioniere« dieser neuen Moral seien die multinationalen Konzerne (MNC’s). Wenn diese z. B. Arbeitsplätze von Deutschland nach Rumänien verlagern, verhelfen sie ei­ ner universelleren Moral zum Durchbruch als der partikularistischen Mo­ ral der alten Nationalstaaten; ein Mensch in Rumänien (oder Bangladesh) habe genauso ein Recht auf Arbeit wie einer in Deutschland. Stichwort der neuen Moral ist für Münch der Begriff der corporate social responsibility

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(CSR). Die CSR ist »Ausdruck der moralischen Überlegenheit des trans­ nationalen Unternehmens gegenüber der moralischen Rückständigkeit der alten Sozialpartner«, während die Gewerkschaften alte Privilegien ihrer Kli­ entel auf Kosten des wirtschaftlichen Strukturwandels und der Inklusions­ chancen der Outsider verteidigen. Die transnationalen Unternehmen haben sich den neuen sozialen Problemen zugewandt und sorgen sich weltweit um die Rechte der Arbeitnehmer in den Entwicklungs- und Schwellenländern. Man reibt sich angesichts solcher Aussagen geradezu die Augen, behaup­ ten doch linke Globalisierungskritiker das genaue Gegenteil, dass es nämlich gerade die multinationalen Konzerne sind, welche soziale und ethische Stan­ dards innerhalb der einzelnen Nationen und weltweit untergraben. In dem globalisierungskritischen Bestseller No Logo! von Naomi Klein (2005) wird ein nahezu konträres Bild der multinationalen Konzerne entwickelt, obwohl Klein eine ähnliche Intention verfolgt wie Münch, nämlich aufzuzeigen, dass sich eine starke Kritik der multinationalen Konzerne und das Aufdecken ih­ rer fragwürdigen Praktiken von Seiten einzelner Aktivisten, der NGOs und anderer entwickelt hat. Sie schreibt über eine Organisation von Aktivisten auf den Philippinen, die für die Rechte der Arbeiter kämpfen, diese sähe ihre Hauptaufgabe darin, die lokalen Arbeiter so stark und selbstbewusst zu ma­ chen, dass sie selbst um ihre Rechte kämpfen können. Klein schreibt weiter: »Wenn wir uns auf die Konzerne verlassen, damit sie unsere Arbeits- und Menschenrechte kodifizieren, haben wir das wichtigste Prinzip des mün­ digen Staatsbürgerschaftstums bereits aufgegeben: dass die Menschen sich selbst regieren sollen« (ebd.: 455). Die Betroffenen wüssten selbst besser, was ihre Probleme sind, und das Aufstellen von Verhaltenskodizes ohne ihre Mit­ wirkung würde wenig helfen. In gleichem Sinne sieht der Schweizer Sozio­ loge Jean Ziegler, langjähriger UNO-Sonderberichterstatter der UN-Men­ schenrechtskonvention für das Recht auf Nahrung und unerschrockener Kämpfer gegen illegale Machenschaften von Konzernen, in den multinatio­ nalen Weltkonzernen (MNC’s) die »neuen Feudalherren und Herrscher der Welt«; deren tägliche Praxis und Rechtfertigungsdiskurse stehe »in radikalem Widerspruch zu den Interessen der übergroßen Mehrheit der Erdbewohner« (Ziegler 2005: 12). Dem Staat und seinen Gesetzen begegnen die MNC’s überall auf der Welt »mit kalter Arroganz« (Ziegler 2008: 298). Ein kriti­ scher Journalist, Dieter Balkhausen (2007), spricht in diesem Zusammen­ hang von einem »Raubtierkapitalismus«; er hat die Banken- und Finanzkri­ se von 2008/09 genau vorhergesagt. Wohlbekannt ist inzwischen auch, wie gerade in den Arbeitsstätten der MNC’s (bzw. ihrer lokalen Kooperations­



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partner) im globalen Süden oft soziale Mindestnormen bezüglich Beschäf­ tigung und Arbeit, sowie Sicherheits- und Umweltstandards massiv verletzt werden, was immer wieder zu erschreckenden Unfällen mit Hunderten, ja Tausenden von Toten führt. Der US-Ökonom und ehemalige Staatssekre­ tär und Präsidentenberater Robert Reich (2008) spricht von einem »Super­ kapitalismus« der alle Bereiche des öffentlichen Lebens dominiere und die Demokratie untergrabe; ähnlich lautet die bekannte These von der »Postde­ mokratie« des englischen Politikwissenschaftlers Colin Crouch (2008). Der Soziologe Stephan Lessenich (2016) sieht einen systematischen Zusammen­ hang zwischen den erschreckenden Formen der Ausbeutung von Menschen und Natur im globalen Süden und dem Wohlstand und Luxus in unseren eigenen, hochentwickelten Gesellschaften; letztere erhalten ihren Wohlstand seiner Meinung nach durch Externalisierung aller harten und gefährlichen Produktions- und Arbeitsprozesse in den Süden, wo es auch viel weniger ge­ setzliche Auflagen bzw. staatliche Kontrolle im Hinblick auf Arbeitsplatzsi­ cherheit, Schutz vor gefährlichen Substanzen etc. gibt. Bekannt ist auch die Praxis der MNC’s, ihre Unternehmenszentralen in Niedrigsteuerländer bzw. Steueroasen zu verlegen, sodass sie in jenen Ländern, in denen sie Tausende Arbeitnehmer beschäftigen, überhaupt keine Steuern zahlen und ihre Ge­ winne in den Norden transferieren (vgl. dazu auch Christen u. a. 2017). Die Erkenntnis dieser fragwürdigen Praktiken ist inzwischen bis zu den politi­ schen Spitzenpolitikern der G8- bzw. G20-Großstaaten vorgedrungen und hat sie zum Nachdenken über Gegenmaßnahmen veranlasst. Aber auch hier ist die Situation nicht so simpel, wie es auf den ersten Blick scheinen mag: gewisse Formen von Kapital- und Gewinntransfers erscheinen auch aus ge­ samtwirtschaftlicher und globaler Sicht nicht immer als nachteilig (Egger u. a. 2013).4 Auch Münch ist sich der Probleme seiner so konzernfreundlichen Per­ spektive bewusst. Er führt jedoch zwei Argumente dafür an, warum die MNC’s plötzlich zu so humanistisch-sozialen Akteuren geworden seien. Zum einen, weil sie durch den Einsatz für soziale Rechte in Ländern des globalen Südens »Distinktionsgewinne« lukrieren und mit Hilfe von CSRZertifikaten ihr Prestige steigern können. Der Wettlauf der Unternehmen darum, wer das beste und humanste Bild in der Öffentlichkeit abgibt, wer­ de durch parallele weitere Entwicklungen im Rahmen der neuen Weltgesell­ 4 Vgl. dazu auch den Blog von Gerhard Keuschnigg »Steuerumgehung durch internatio­ nale Unternehmen« auf http://oekonomenstimme.org/a/548 (Zugriff: 13.06.2015).

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schaft gefördert. Eine davon ist der Aufbau internationaler Organisationen und Abkommen (Weltbank, IMF, WTO) zur Strukturierung, Öffnung und Humanisierung des Welthandels, die sich von rein neoliberal-ökonomischen Prinzipien abwenden und auch sozialpolitische Aspekte beachten. Gedrängt werden sie dazu von Organisationen wie der Internationalen Arbeitsorgani­ sation (ILO), den Entwicklungsinstitutionen der UNO und vor allem von den globalen sozialen Bewegungen (NGO’s). Unbeabsichtigt sind es gerade diese, welche durch die Anprangerung von Missständen und ihr Monitoring eine Weltöffentlichkeit erzeugen, durch welche es dann auch den Unterneh­ men möglich wird, mit Hilfe von CSR-Aktionen Distinktionsgewinne zu erzielen. Insofern sind die NGO’s »die Totengräber des sozialpartnerschaft­ lichen moralischen Partikularismus und die Geburtshelfer der neuen Moral des sozialverantwortlichen Unternehmertums« (Münch 2011: 97); sie sind geradezu die »Konsekrationsinstanzen«, die den multinationalen Unterneh­ men eine moralische Weihe verleihen. Argumente dieser Art werden sicher viele nicht teilen. So kommt Kath­ rin Hartmann (2018) in einem gut dokumentierten Buch zum Schluss, die bei den MNC’s zu beobachtende Bekehrung zu sozial- und umweltbewuss­ ten Akteuren sei nichts anderes als »greenwashing«, d. h. werde nur soweit betrieben, als es ihrem Image nützt. Ein gewichtiges Faktum, das schon an sich gegen diese optimistische Beurteilung der MNC’s durch Münch spricht, ist die Entwicklung weltweiter und einflussreicher kritischer Bewegungen, die explizit gegen eine durch wirtschaftliche Interessen und multinationale Konzerne forcierten Welthandel auftreten. So wurde insbesondere das ge­ plante Handels- und Investitionsabkommen zwischen den USA und der EU (TTIP) massiv und erfolgreich bekämpft ebenso wie das schon früher und noch geheimer ausverhandelte Multilaterale Abkommen über Investitionen (MAI; vgl. dazu König 1999: 158–166; Chomsky 1993). Dass ersteres mög­ licherweise überhaupt zu Grabe getragen werden wird, ist paradoxerweise dem US-Präsidenten Trump zu verdanken, der in seiner früheren Karriere das Paradebeispiel eines geld- und machthungrigen Spekulanten-Unterneh­ mers war, sich inzwischen aber zum weltweit führenden »Wirtschaftsnatio­ nalisten« entwickelt hat. Massive Proteste gab es auch gegen ein analoges Ab­ kommen zwischen der EU und Kanada (CETA), das inzwischen allerdings vom EU-Parlament 2016 und mehreren Mitgliedsstaaten (darunter auch Österreich, nicht jedoch von Deutschland) ratifiziert wurde. Dies erreichte man nicht zuletzt deshalb, weil wichtige Veränderungen (etwa im Hinblick auf die Transparenz der Verhandlungen, die Zusammensetzung von Schieds­



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gerichten) durchgesetzt wurden. Allerdings ist unbestreitbar, dass der Er­ folg der Gegner dieser internationalen (Frei-)Handelsabkommen in hohem Maße auf straffe Organisation, Planung von oben, einen medienwirksamen Aktionismus und oft auch einseitige (Des-)Information der Öffentlichkeit zurückzuführen war (Bauer 2017). Wenn man sich das Verhalten der verschiedenen Länder in Bezug auf den internationalen Handel ansieht, gibt es sehr große Differenzen sowohl zwischen diesen wie auch im Zeitablauf. Länder, die früher durch Jahrzehn­ te (wie China), wenn nicht Jahrhunderte (wie Japan) stark protektionistisch waren, haben sich geöffnet; andere, vormalige Vorreiter des freien Handels, werden stärker protektionistisch; die USA unter Trump sind hierfür das spektakulärste aktuelle Beispiel. Es gibt zahlreiche weitere – zutreffende und unzutreffende  – Einwände gegen das freihändlerische Basisaxiom von Ri­ cardo, etwa seine Vernachlässigung von Transportkosten, des Produktions­ faktors Kapital, der teilweisen Immobilität von Produktionsfaktoren (insbe­ sondere der Arbeitskraft). Aber auch eine Berücksichtigung dieser Faktoren kann die enorme historische und geographische Variation auf der Skala Frei­ handel versus Protektionismus nicht erklären; ebenso wenig die Tatsache, dass die Weltwirtschaft trotz Globalisierung noch weit entfernt ist von ei­ nem unbegrenzt offenen Weltmarkt. Es muss also auch starke außerökono­ mische Interessen und Kräfte geben, welche dahingehend wirken, dass das Ideal des Freihandels nicht als zentral, andere Aspekte dagegen als wichtiger angesehen werden. Diese zu thematisieren ist Aufgabe der Wirtschafts- bzw. politischen Soziologie. Im nächsten Abschnitt werde ich dazu fünf Thesen formulieren. Zuerst müssen wir uns jedoch mit der Frage befassen, welche Bedeutung Nationalstaaten heute überhaupt noch haben und was ökonomi­ scher Nationalismus früher und heute bedeutet hat bzw. bedeutet.

3. Warum ist der ökonomische Nationalismus weiterhin omnipräsent? Im Anschluss an die vorherige Kurzbesprechung der Thesen ausgewählter, namhafter Ökonomen und Soziologen zur Relevanz des Freihandels müs­ sen wir uns nun genauer überlegen, welche Bedeutung dem Nationalstaat im Zeitalter der Globalisierung noch zukommt und wann man von Wirt­ schaftsnationalismus sprechen kann.

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3.1 Nationalstaat und Globalisierung: Warum man das Kind nicht mit dem Bade ausschütten sollte Im Zeitalter der intensivierten Globalisierung seit Ende des 20. Jahrhunderts ist es Mode geworden, den Nationalstaat als Auslaufmodell zu betrachten. Diese These wird von Theoretikern unterschiedlichster Provenienz vertreten. Speziell in der deutschen Soziologie ist die These verbreitet, das »ContainerModell« des nach außen mehr oder weniger abgeschlossenen Nationalstaats sei überholt; Autoren, die ihn weiterhin als wichtig betrachten, werden als »Methologische Nationalisten« bezeichnet.5 Tatsächlich gibt es eine Reihe empirischer Indizien dafür. So besteht heute eine historisch noch nie da­ gewesene intensive wirtschaftliche Verflechtung zwischen den Ländern und Kontinenten der Erde; in Österreich machten die Einfuhren und Ausfuhren zusammen 1950 30 Prozent des BIP aus, 2017 unglaubliche 78 Prozent.6 In Deutschland betrug der Anteil sogar 84 Prozent;7 dies waren jeweils nahezu 40 Prozent des BIP. Da nicht wenige der neu entstandenen multinationalen und »globalen« Konzerne über höhere Budgets verfügen als zahlreiche klei­ ne und mittlere Staaten8 und die Schaffung von Arbeitsplätzen ein zentrales Ziel aller Politiker ist, können sie ganze Staaten unter erheblichen Druck set­ zen (siehe u. a. König 1999: 98–128). Neue Probleme – insbesondere jene der Umwelt und des Klimawandels – können durch Einzelstaaten allein nicht gelöst werden. So wird auch die europäische Integration als Reaktion auf die sich unaufhaltsam durchsetzende Globalisierung gesehen und als Modell da­ für, dass das Prinzip des Nationalstaats langfristig verschwinden wird (Alb­ row 1998; Beck/Grande 2004). Meiner Meinung unterstellt diese These aber ein irreführendes Bild von den Nationalstaaten und von der neuen Weltgesellschaft; sie schüttet das Kind mit dem Bade aus (Haller/Hadler 2004/05). Die verstärkte internati­ onale Verflechtung und natürlich auch die Möglichkeiten großer Konzerne, auf einzelne Regierungen Druck auszuüben, stehen außer Frage. Auch die zunehmende Anzahl internationaler Verträge und Organisationen, welche die autonome Handlungsfähigkeit von Nationalstaaten teilweise signifikant 5 Am einflussreichsten wurde diese von mehreren Autoren aufgestellte These von Ulrich Beck vertreten (vgl. z. B. Beck 2002: 70–94). 6 Vgl. http://wko.at/statistik/Extranet/Langzeit/Lang-AHquoten.pdf (Zugriff: 30.05.2018). 7 Vgl. https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Publikationen/Aussenwirtschaft/fakten-zumdeuschen-aussenhandel.pdf?__blob=publicationFile&v=20 (Zugriff: 30.05.2018). 8 Diese rein monetäre Größe unterschätzt allerdings, dass Staaten in viel mehr Bereichen Macht ausüben können als Unternehmen.



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einschränken, scheint für eine abnehmende Bedeutung des Nationalstaates zu sprechen. Eine Reihe von Fakten relativieren die These vom weitgehenden Bedeutungsverlust des Nationalstaates allerdings stark. So denken etwa die Großstaaten der Welt – von den USA über Russ­ land bis hin zu Indien und China – in keiner Weise daran, auch nur ein Jota ihrer politischen und militärischen Souveränität abzugeben, auch nicht dann, wenn sie sich an regionalen Wirtschaftsassoziationen (wie NAFTA) oder überregionalen Militärbündnissen (wie NATO) beteiligen. Die immer wieder aufgeworfene Idee eines europäischen Superstaates ist in das Reich naiver Utopien zu verweisen. Tatsächlich kann die europäische Integration auch als Strategie verstanden werden, einen gewissen Einfluss der zu Mittelmächten abgestiegenen europäischen Nationalstaaten auch in einer globalisierten, von wenigen Supermächten dominierten Welt zu be­ wahren (Milward 1992; Haller 2009). Auch aus einer weberianischen Per­ spektive ergibt sich, dass weder die europäische Integration noch globale Abkommen die Bedeutung des Staates unterminieren; sie etablieren ledig­ lich eine höhere Ebene, an der sich das Handeln der Staaten neben ande­ ren Aspekten heute eben auch orientieren muss oder kann (Anter 2014). Außerdem sind nicht wenige überregionale Handelsabkommen mehr oder weniger offen gegen die Dominanz bestimmter Großmächte in einer Welt­ region gerichtet, was die fortdauernde Bedeutung der letzteren indirekt genauso bestätigt. Sie haben sich etwa in ASEAN zehn kleinere südostasia­ tische Länder zusammengeschlossen um sich gegenüber China zu behaup­ ten (vgl. dazu auch Haller 2011). Von einem Verschwinden des Nationalstaates oder einer Einbuße der Attraktivität dieses Modells politischer Gemeinschaft kann auch deshalb nicht die Rede sein, weil sich die Anzahl der selbständigen Staaten im Laufe des 20. Jahrhunderts in Schüben massiv erhöht hat, von rund 40 um 1900 bis auf rund 200 heute (Bernauer 2000). Wenn diese auch vielfach klein sind, kann von einem generellen Verlust der Handlungsfähigkeit der Na­ tionalstaaten keine Rede sein; dies wird auch von Ökonomen immer stär­ ker betont (Weiss 1998; Bofinger2010; Mazzucato 2013; Mitchell/Fazi 2017; Schulmeister 2018). In ihrem eigenen Wirkungsbereich können selbst Klein­ staaten viel erreichen, sie sind weniger bürokratisiert und zentralisiert und bieten in vielerlei Hinsicht eine höhere Lebensqualität als Großstaaten (Kohr 1983). Kleine oder mittlere Staaten der Erde (wie die Schweiz, Schweden und die Niederlande) sind wissenschaftlich am produktivsten (vgl. dazu Hal­ ler u. a. 2002) und stehen an der Spitze von Rangreihungen aller Länder

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der Welt nach der Lebensqualität. Die Bevölkerung der fortgeschrittensten Kleinstaaten (etwa in Skandinavien) hat sehr positive Einstellungen zur In­ ternationalisierung (Hadler/Meyer 2009). Das größte Gewicht im zuneh­ menden internationalen Handel und der wirtschaftlichen Globalisierung be­ sitzen nicht die »Giganten« unter den multinationalen Konzernen, sondern die KMU’s, die kleinen und mittleren Unternehmen, wenngleich viele von ihnen eher in benachbarten Ländern als weltweit investieren (Bundeszentra­ le für politische Bildung 2005). Auch empirische Daten und Analysen über die tatsächliche Verflechtung der verschiedenen Weltregionen durch Kom­ munikationsprozesse und Handel widerlegen die These, es gäbe bereits eine Weltgesellschaft (Holzinger 2018). Auch aus der Sicht der Bürger bleibt der Nationalstaat weiterhin mit Abstand die wichtigste Ebene politischer Repräsentation und sozialer Ab­ sicherung. Aus dieser Perspektive ist es soziologisch unerlässlich, auch die symbolischen und emotionalen Komponenten von Staat und Nation zu be­ achten. Eine Nation kann definiert werden als ein Staat, dem sich die Bürger zugehörig fühlen. Er stellt viel mehr dar als nur eine rationale Organisation zur Sicherstellung von Interessen. Nationalstolz, nationale Erniedrigung und Scham können, auch wenn sie sich in verschiedenen Ländern aus ganz un­ terschiedlich Quellen speisen (Weber 1964: 316) enorm geschichtsmächtig werden; auch die Herrschenden bedienen sich ihrer immer wieder (Scheff 1994; Haller 1996). Man kann nicht, wie Abert Hirschman (1985) argumen­ tierte, Interessen als rational und langfristig orientiert den Leidenschaften als wankelhaft und kurzfristig gegenüberstellen; auch die letzteren können tief verwurzelt und persistent sein; »Patriotismus« als Werthaltung kann auch durchaus (wert-)rational begründet sein. Es gibt letztendlich auch eine überzeugende theoretische bzw. ethischnormative Begründung dafür, dass der Nationalstaat durch die Globalisie­ rung sich zwar in seinem Handeln neu orientieren muss, deswegen aber in keiner Weise obsolet wird. Über die Einstellung zum Krieg hat sich Geor­ ge H. Mead mit dieser Frage 1929 in einem Aufsatz mit dem Titel »Natio­ nale und internationalistische Gesinnung« befasst. Er argumentiert darin, dass der Krieg in gewisser Hinsicht tatsächlich ein »Lehrmeister« sei, da er die Menschen intensiv für das Gemeinwohl mobilisiere, nationale Begeis­ terung erwecke, Erweckung der Emotionen von Heldenmut und Treue, so­ wie Abbau sozialer Barrieren innerhalb einer Gesellschaft. Auf der anderen Seite würde, angesichts seiner Schrecken, niemand wegen dieser Aspekte ei­ nen Krieg befürworten. Man müsse an Stelle der Erfindung eines gemein­



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samen Feindes als Mittel zur Schaffung einer nationalen Gemeinschaft eine nationale Gesinnung entwickeln, welche die Gemeinsamkeit aller Nationen auch in ihrer Verschiedenartigkeit und angesichts ihrer unterschiedlichen Interessen sieht. Er schreibt dazu: »Das moralische Äquivalent des Krieges liegt in der Intelligenz und dem Willen, die gemeinschaftlichen Interessen zwischen den miteinander streitenden Nationen zu entdecken und sie zur Grundlage für die Lösung bestehender Differenzen sowie für ein gemein­ schaftliches Leben zu machen, das sie ermöglichen werden« (Mead 1983: 478). Es geht also darum, die gemeinschaftlichen Interessen aller Menschen herauszufinden; darin besteht geradezu der Prozess der Zivilisation, dass vordergründige Interessengegensätze als funktionale Unterschiede gesehen werden, hinter denen letztlich doch gemeinsame Werte stehen. Dafür muss die bisher mit dem Nationalismus verknüpfte Idee der Feindschaft und Kampfbereitschaft zwischen Nationen aufgegeben werden zugunsten einer Anerkennung gemeinsamer Interessen und Werte. Dabei weist Mead auf die Tatsache hin, dass »stabile Nationen« die Notwendigkeit einer Einigung durch Orientierung an einem Feind weniger stark verspüren als noch nicht gefestigte Nationen. So habe das junge Deutsche Reich und seine Einigung unter Blut und Eisen durch Bismarck eine große Rolle für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs gespielt: »Bismarcks stolzer Ausspruch – ›Wir Deut­ sche fürchten Gott, aber sonst nichts auf der Welt‹ – war die Kampfansa­ ge einer Nation, die nicht abzurüsten wagte, weil sie ihre innere Auflösung befürchtete. Bismarcks Gott war ein Mann des Krieges; er war die Wider­ spiegelung eines Minderwertigkeitskomplexes im Hinblick auf andere Na­ tionen« (ebd.: 480). 3.2 Was ist ökonomischer Nationalismus? Wenn die Bedeutung des Nationalstaates außer Frage steht, gilt dies auch für jene der staatlichen Wirtschaftspolitik und eo ipso für den Außenhandel, der seinerseits ein wichtiges Element der Wirtschaftspolitik darstellt. Geschlos­ sene Volkswirtschaften hat es kaum je gegeben. Schon die im 17./18. Jahr­ hundert entstehenden Nationalstaaten betrieben durch ihren Merkantilis­ mus eine Wirtschafts- und Handelspolitik, welche auf nationale Autarkie setzte (Bundeszentrale für politische Bildung 2005). Im 19. Jahrhundert ent­ faltete sich der Liberalismus, forciert durch die stärkste neu aufsteigende In­ dustriegesellschaft England; deren Beseitigung aller Zölle im Jahr 1860 läute­ te das »Goldene Zeitalter« des Freihandels ein, das mit dem Ersten Weltkrieg

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allerdings jäh unterbrochen wurde. In der Zwischenkriegszeit wurden allent­ halben neue Zollschranken errichtet, die nicht zuletzt wesentlich zum Aus­ bruch der Weltwirtschaftskrise 1929 beitrugen und bis Ende der 1930er Jah­ re anhielten. Aufgrund der Lehren aus dieser Krise wie dem darauffolgenden Weltkrieg setzte sich nach dessen Ende 1945 eine vollkommene Neuorien­ tierung durch. Der Marshallplan für Europa und das General Agreement on Tariffs and Trade (GATT) von 1948 läuteten einen neuerlichen Durchbruch des internationalen Handels ein. Im Laufe der folgenden GATT-Verhand­ lungen und dessen Ersetzung durch die World Trade Association (WTO) 1995 erfuhr der Welthandel eine immense Ausweitung. Er schloss nun zu­ nehmend auch Handel mit Dienstleistungen und Finanzkapital ein, wel­ che den Warenhandel durch internationale Verflechtungen und Wertschöp­ fungsketten unterstützen. Was bedeutet nun Wirtschaftsnationalismus bzw. Wirtschaftspatriotis­ mus – ein Begriff, der 2002 von Helleiner erstmals verwendet und 2005 vom französischen Ministerpräsident Dominique de Villepin aufgegriffen wurde? Welche Relevanz kann man ihm heute noch zusprechen? Im Anschluss an Ben Clift und Cornelia Woll (2012) bezieht sich der Begriff des ökonomi­ schem Nationalismus immer auf eine territoriale, möglichst auch kulturelle Einheit und die nationalen wirtschaftlichen Interessen werden als wichtiger betrachtet als jene von Individuen und Gruppen. Wirtschaftlicher Nationa­ lismus in diesem Sinne kann viele Formen annehmen: Etwa einem Appell von Politikern, nur nationale (deutsche, französische usw.) Waren zu kau­ fen, international agierende Fonds als Heuschrecken zu titulieren (SPD-Vor­ sitzender Franz Müntefering 2005), knappe Arbeitsplätze für Einheimische zu reservieren (»British Jobs for British Workers«, Premier Gordon Brown 2009). Bemerkenswerterweise waren es die USA, die hier am weitesten gin­ gen und zweimal, 1933 und 1983 einen Buy-American-Act verabschiede­ ten. Trumps Wirtschaftsnationalismus ist also überhaupt nichts Neues, von ihm Erfundenes (Katzenstein 2019). Trumps These »America First«, die eben auch tiefsitzende nationale Emotionen aktualisierte, war mit ausschlagge­ bend für seinen überraschenden Wahlsieg (vgl. dazu auch Farmer 2020). Eine klare Formulierung (und Rechtfertigung) dessen, was Wirtschaftsnati­ onalismus ist, gab Max Weber in seiner berühmten Freiburger Antrittsvorle­ sung; in der Zeit vor seiner Rede hatte sich – wie heute – der internationale Handel enorm ausgeweitet. Weber führte aus: »Die Volkswirtschaftspolitik eines deutschen Staatswesens ebenso wie der Wertmaß­ stab des deutschen volkswirtschaftlichen Theoretikers können deshalb nur deutsche



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sein. Ist dem vielleicht anders, seit die ökonomische Entwicklung über die natio­ nalen Grenzen hinaus eine umfassende Wirtschaftsgemeinschaft der Nationen her­ zustellen begann? […] Ist […] der ›Nationalegoismus‹ in der Volkswirtschaftspoli­ tik seitdem zum alten Eisen zu werfen? […] Wir wissen, es ist nicht der Fall: dieser Kampf hat andere Formen angenommen. So ist auch die volkswirtschaftliche Ge­ meinschaft nur eine andere Form des Ringens der Nationen miteinander […].« (We­ ber 1998 [1895]: 13f.)

Von einer notwendigen Verabschiedung des Staates als wirtschafts- und han­ delspolitischem Akteur kann auch heute keine Rede sein. Gerade die tiefe Banken- und Wirtschaftskrise 2008/09 hat die Bedeutung staatlicher und internationaler Regelungen von Marktprozessen wieder ins Bewusstsein ge­ rückt, wenngleich auch problematische staatliche Interventionen zur Krise beigetragen haben (Farmer 2014). Nahezu alle Länder, die USA eingeschlos­ sen, haben den neoliberalen Washington-Konsens aus den späten 1980er Jahren aufgegeben, der auf umfassende Liberalisierung, Deregulierung, Zu­ rückdrängung des Staates und Privatisierung aller wirtschaftlichen Aktivi­ täten abzielte. Sie alle haben massive staatliche Interventionen getätigt und neue (wenn auch vielfach noch unzureichende) Regelungen für Banken, Ka­ pitalgesellschaften und Finanzmärkte usw. erlassen. Hier ist jedoch eine wichtige definitorische Klarstellung zu machen. Sie betrifft die irreführende Gleichsetzung zwischen ökonomischem Nationa­ lismus und einer protektionistischen Wirtschaftspolitik (Helleiner 2002). Schon die eingangs angesprochene historische Entwicklung zeigt, dass of­ fene Märkt und Nationalstaaten keineswegs einen Gegensatz darstellen. Dies konstatiert Hans-Heinrich Nolte (2009) in seiner Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts auch kritisch. Bei der Etablierung eines globalen Systems des offenen (von den USA favorisierten und dominierten) Welthandels in der Nachkriegszeit durch internationale Handelsabkommen und Instituti­ onen, dem festen Wechselkurssystem von Bretton Woods 1944 mit Dollar als Leitwährung, dem International Monetary Fund (IMF), dem General Agreement on Tariffs and Trade (GATT) stand »die Forderung des Wes­ tens nach Freiheit für Waren, Informationen und Kapital auch ökonomisch im Widerspruch zur Festschreibung der Menschen in ihren Nationen (bzw. Unionen)« (ebd.: 233). Man könnte auch argumentieren, es liege im Inte­ resse der nationalen Wirtschaftspolitik, den internationalen Handel zu för­ dern. Helen Callaghan und Alexandra Hees (2017) haben, ausgehend von einer Kreuztabellierung der wirtschaftspolitischen Maßnahmendimension – Abschottung versus Öffnung – und ihrer Legitimationsgrundlage – Markt

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versus Staat – vier Typen von Politiken und ihren Begründungen unterschie­ den: den klassischen Wirtschaftsnationalismus (Protektionismus), einen protektionistischen und einen liberalen Wirtschaftsnationalismus und den klassischen Wirtschaftsliberalismus. Die Komplexität der Politik in Bezug auf die Alternative Liberalismus-Protektionismus wird noch dadurch erhöht, dass die aktuelle Politik in einer bestimmten Periode oft auch durch weit zu­ rückliegende Entscheidungen und Weichenstellungen mit beeinflusst wird. Da auch die Position einzelner Parteien sich im Laufe der Jahrzehnte oft um 180 Grad drehen kann (Goldstein 1993), stellt die aktuelle Politik eines Lan­ des ein vielfach heterogenes Konglomerat unterschiedlicher Ziele und Rege­ lungen dar.

4. Fünf Forschungsfragen bzw. Thesen zu den Strategien, Ursachen und Folgen des ökonomischen Nationalismus Auf der Grundlage der vorhergegangenen Überlegungen und begrifflichen Klärungen möchte ich nun in Thesenform einige allgemeine wirtschafts­ soziologische Forschungsfragen zu den Formen, Ursachen und Folgen des ökonomischen Nationalismus formulieren. Dabei wird insbesondere auf zwei Aspekte geachtet: die Interessen und Promotoren der eher zu Offenheit oder zu Schließung tendierenden gesellschaftlichen Gruppen, Klassen und Schichten einerseits, die institutionelle Einbettung der Wirtschaftspolitik, insbesondere der Typ des politischen Systems andererseits. Die fünf Kons­ tellationen bzw. Strategien, in welchen jeweils unterschiedliche Formen des ökonomischen Nationalismus zum Ausdruck kommen, lauten: der Staat als Entwicklungshelfer für eine nationale Wirtschaft; der Staat als Förderer na­ tionaler Kapital- und Klasseninteressen; die europäische Integration als Ge­ burtshelfer für den Aufbau global gewichtiger »europäischer Champions«; wirtschaftliche Abschottung oder Öffnung als Strategien zur Erhaltung ei­ nes politischen Systems und seiner herrschenden Eliten. Jede dieser Thesen soll durch historisch-soziologische Fallbeispiele konkretisiert werden, wobei diese natürlich nicht beanspruchen können, systematische historische Aufar­ beitungen der jeweiligen Prozesse darzustellen. In einem weiteren Abschnitt wird untersucht, inwieweit die These vom internationalen Handel als Frie­ densstifter Geltung beanspruchen kann; dabei wird insbesondere der Kampf



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zivilgesellschaftlicher Gruppen für egalitäre internationale Wirtschaftsbezie­ hungen thematisiert. a) Der Staat als Entwicklungshelfer für die nationale Wirtschaft: 1) Die Strategie der Öffnung Die Neigung zu Freihandel oder Protektionismus wird mitbestimmt durch die wirtschaftliche Lage und Entwicklungsperspektiven eines Landes bzw. ei­ ner Branche. Freihandel fördert, wie eingangs festgestellt, Wettbewerb und Innovation, schafft größere Märkte und verbessert damit durch economies of scale die Produktionsbedingungen und Absatzchancen für Unternehmen. Daher werden vor allem innovative, in zukunftsträchtigen Branchen tätige Unternehmen sowie wirtschaftlich aufsteigende Länder eher für Freihandel sein; dies gilt insbesondere für kleine Länder, die durch Öffnung nach außen Zugang zu größeren, vielfältigeren Märkten erhalten. Für Protektionismus sind eher etablierte Wirtschaftsbranchen; Klassen und Eliten, die sich auf traditionelle Einkommensquellen stützen (Bauern, Besitzer von Grund und Boden, Bezieher von Einkünften aus dem Staatsdienst). Für offene Handels­ beziehungen sollten aber auch breite Schichten der Bevölkerung sein, die von Wirtschaftswachstum, neuen Arbeitsplätzen, größerem und günstige­ rem Angebot von Waren profitieren. Der historische Paradefall für eine Entwicklung und Prozesse dieser Art ist Großbritannien, dem ersten Land der Welt, in welchen die industriellkapitalistische Revolution in der letzten Hälfte des 18. Jahrhunderts den Durchbruch erzielte. Dabei hatten bereits zu dieser Zeit die weltweiten Han­ dels- und Kolonialbeziehungen im britischen Empire zweifellos eine wich­ tige, wenn auch nicht die ausschlaggebende Rolle für den Aufstieg des Ka­ pitalismus gespielt.9 Um 1700 war der britische Handel der bedeutendste der Welt, bis Ende des Jahrhunderts stieg England zur größten Seemacht auf; die englische Gesellschaft war »das Ergebnis ständiger Wirtschaftsver­ flechtung der Insel mit der Welt draußen, wo überall handfeste Interessen unter Rückendeckung durch die heimische Regierung und das Parlament wahrgenommen wurden, damit Warenströme aus allen Erdteilen auf eng­ 9 Laut Weber (2011 [1919/20]: 338) – er betonte dies im Gegensatz zu Sombart – hat der Kolonialhandel für die Entwicklung des modernen Kapitalismus nur eine geringe Rolle gespielt; er habe zwar eine riesige Vermögensakkumulation in England ermöglicht, aber die spezifisch westliche Form der Arbeitsorganisation nicht gefördert, da er selbst nicht am Rentabilität und Marktchancen orientiert war, sondern am Beuteprinzip.

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lischen Schiffen importiert und re-exportiert werden konnten« (Rübberdt 1972: 12). Der weitere wirtschaftliche Aufstieg und Außenhandel des Landes wurde durch die Napoleonischen Kriege und die von Napoleon verhäng­ te Kontinentalsperre (1806–1813) behindert. Es wurde der gesamte Handel mit Großbritannien untersagt. Wie in vielen anderen historischen Fällen war auch dieser Protektionismus letztlich ein Misserfolg. Die Kontinentalsperre war nur mit militärischen Mitteln durchsetzbar, schadete der kontinentalen Wirtschaft mehr als der britischen, die auf Überseemärkten einen Ausgleich fand, und unterminierte die Akzeptanz der napoleonischen Hegemonie auf dem Kontinent. Die ebenfalls bereits angesprochenen Kornzölle wurden in Großbritanni­ en unmittelbar nach Ende der Napoleonischen Kriege eingeführt und stellten einen Bruch mit der früheren Offenheit dar. Die dafür und dagegen vorge­ brachten Argumente waren äußerst kontrovers und waren – wie viele spätere Kontroversen ähnlicher Art – vielfach nicht nur ökonomisch begründet, son­ dern tangierten auch zahlreiche andere gesellschaftliche und politische The­ men (Osterhammel 2018). Abgeordnete aus ländlichen Wahlkreisen argumen­ tierten, Großbritannien müsse sich wieder unabhängig von Getreideeinfuhren machen, um die Versorgungssicherheit der Bevölkerung zu garantieren; auch sei die britische Landwirtschaft nicht wie die Industrie durch Zölle geschützt und sie befinde sich in einem Wettbewerbsnachteil gegenüber der ausländi­ schen. Auch Landadelige unterstützten die Einführung von Zöllen, während Vertreter von Städten und Industrie eher dagegen waren.10 Die 1815 erlassenen Getreidezölle wurden jedoch schon ab 1820 in Frage gestellt und in der Folge gelockert. In Handelsverträgen mit mehreren Staaten 1924/25 nahm die Idee des freien Handels erste Formen an, 1846 wurden die Corn Laws endgültig ab­ geschafft. In der Folge schloss Großbritannien mit zahlreichen Ländern bilate­ rale Verträge zur Erleichterung des Handels ab. Diese »Freihandelsrevolution« (ebd.) fand ihren Abschluss 1860, als Großbritannien beschloss, von sich aus und einseitig alle Zölle abzuschaffen. England fühlte sich zu dieser Zeit stark genug, auch das Exportverbot für Maschinen (1815) und die Navigationsakte (1849) abzuschaffen, nach welcher nur englische Schiffe Waren nach England importieren durften. Der Grund für die Stärke Englands zu dieser Zeit war na­ 10 Bei diesen Ausführungen stütze ich mich auf die ausgezeichnete Arbeit von Henning Kulbarsch Der britische Freihandel im 19. Jahrhundert (2014); sie stützt sich auf eine ausgezeichnete Datenbasis (umfangreiche Protokolle von Parlamentsreden und Zei­ tungsartikeln) und es wird auch die umfangreiche Diskussion in der wissenschaftlichen Literatur zu den Kornzöllen dargestellt.



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türlich auch seine Beherrschung der Weltmeere durch die mit Abstand größte Kriegsflotte, die als Schutz für seinen weltweiten Handel mit Gütern operier­ te. Die Ähnlichkeiten mit der Situation seit 1945 – nun mit den USA an erster Stelle in der Welt – sind frappierend. Mitte des 19. Jahrhunderts bestanden die englischen Importe zu 64 Prozent aus Rohstoffen, die Exporte zu 85 Prozent aus Industriegütern (Bortis o. J.). Konnte sich Großbritannien als erste führende Industriemacht eine For­ cierung des freien Welthandels leisten, so fanden sich die ersten Nachzüg­ ler  – Deutschland, die Vereinigten Staaten von Amerika, Japan  – in einer völlig anderen Situation. Es ist nicht möglich, auch auf sie hier detailliert einzugehen; einige grundsätzlichen Bemerkungen scheinen jedoch ange­ bracht. Es scheint, dass die Entwicklung auch in diesen Ländern den hier vorgetragenen Thesen weitgehend entspricht. Die Tatsache, dass Deutsch­ land in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gemeinsam mit den Verei­ nigten Staaten zu den stärksten wirtschaftlichen Aufsteigern gehörte, hat­ te zweifellos damit zu tun, dass durch die Einigung Deutschland 1871 ein neuer, großer Markt entstand, der kulturell und wirtschaftlich bereits hoch­ entwickelte Länder vereinigte und damit allen gleichermaßen zugutekam. Aber der neue Staat trug auch selbst aktiv zur Steigerung der innerdeutschen Wirtschafts- und Handelsverflechtungen bei. So etwa durch die Verstaatli­ chung den folgenden Ausbau der Eisenbahnen, dem wichtigsten zeitgenös­ sischen Verkehrsmittel; um 1871 betrug das deutsche Eisenbahnnetz 19.500 Kilometer, 1890 bereits 43.000 Kilometer; damit nahm es eine Spitzenstel­ lung in Europa ein (Palmade 1974: 95). Ab 1870 erfolgte aber – und hierin war das Deutsche Reich auch ein Vorreiter in Europa – eine Hinwendung zum Protektionismus, sie wurde befürwortet durch die Kathedersozialisten, konservative Parteien und große Teile der Industrie. Diese Maßnahmen er­ möglichten es Deutschland, seine Industrieexporte zu steigern und im Aus­ land zu Dumpingpreisen abzusetzen (ebd.: 127). b) Der Staat als Entwicklungshelfer für die nationale Wirtschaft: 2) Die Strategie der selektiven Förderung und Abschließung Nachzügler im Prozess der industriellen Entwicklung haben den Vorteil, dass sie sich die Kosten der Entwicklung neuer Techniken und Produkte teilweise ersparen. Wenn sie jedoch auf Dauer zu einer eigenständigen Entwicklung kommen wollen, dürfen sie sich nicht nur auf Nachahmung von Produkten beschränken, die sie von anderen Staaten übernehmen, sondern müssen da­

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rauf achten, dass sie auch selbst eine innovative Industrie entwickeln. Da­ bei spielt staatliche Unterstützung in vielerlei Formen eine zentrale Rolle. Sie impliziert: 1) eine Stärkung der Binnennachfrage und Kaufkraft, etwa durch Beseitigung starker Ungleichheit, Förderung der Landwirtschaft; 2) selektiven Protektionismus in vielerlei Formen (nicht nur direkt durch Zöl­ le, sondern indirekt durch Normen, Qualitätsanforderungen usw.); 3) selek­ tive Förderung der eigenen Industrie und bestimmter technologischer Be­ reiche; 4) Ausbau des Bildungswesen und von Forschung und Technologie. Diese Muster können wir in allen Ländern beobachten, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts der Herausforderung durch Großbritannien, im Laufe des 20. Jahrhunderts durch jene Deutschlands, Amerikas und Japans stellen mussten. Dieses Muster sei hier stichwortartig am phänomenalen Aufstieg der ja­ panischen und südostasiatischen »Tigerstaaten« Industrie im 20. Jahrhun­ dert illustriert. Japan war Mitte des 19. Jahrhunderts noch ein stark agrarisch geprägtes, relativ armes Land. Es hatte sich gegenüber anderen Ländern, wie China und Indien, jedoch einen entscheidenden Startvorteil dadurch gesi­ chert, dass es sich nahezu zwei Jahrhunderte (1639–1854) lang völlig von der Außenwelt abgeschlossen und dadurch die Eroberung und Ausbeutung durch die europäischen Kolonialmächte vermieden hatte. Deren weitere Ex­ pansion im Laufe des 19. Jahrhunderts auch nach Ostasien weckte jedoch die Angst der Japaner, selbst zu einem ihrer Opfer zu werden und führte ab 1867 zu einer Revolution von oben (Menzel 1989; Röpke 1989; Van Wolfe­ ren 1989).11 In deren Folge man sich gegenüber Neuerungen aus dem Wes­ ten öffnete und systematisch Techniker, Ingenieure, Wissenschaftler, Juristen usw. aus dem Ausland holte bzw. junge Menschen ins Ausland schickte um dort zu studieren. Gleichzeitig war es ein erklärtes Ziel dieser Revolution, alte Werte, Institutionen und Lebensformen der japanischen Kultur und Ge­ sellschaft zu bewahren und mit den neuen Errungenschaften in Einklang zu bringen. Die vier südostasiatischen »Tigerstaaten« (Südkorea, Taiwan, Hong­ kong und Singapur) konnten Ende des 20. Jahrhunderts ein enormes Wirt­ schaftswachstum erzielen, das sie von stark agrarisch geprägten, sehr armen Gesellschaften in die Gruppe der wohlhabendsten Länder der Welt katapul­ tierte. Beispielsweise stieg das BIP pro Kopf in Korea von 2.600 US-Dollar (1953) auf 22.346 US-Dollar (2018).12 Mit eine Hauptursache dafür waren 11 Sie heißt offiziell »Meji Restauration«, weil sie (formal) die Herrschaft des Tenno gegen­ über dem mächtig und eigenherrlich gewordenen Adelsstand der samurai wiederherstellte. 12 Quelle: https://www.ceicdata.com/de/indicator/korea/gdp-per-capita (Zugriff: 20.09.2019).



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systematische und massive staatliche Maßnahmen; in der ersten Phase war dies eine Förderung importsubstituierender Leichtindustrieproduktion, bei der niedrige Löhne, Sozialleistungen usw. in Kauf genommen wurden; nach der Krise von 1990 ging man über zur Förderung einer autochthonen Indus­ trieproduktion, massivem Ausbau des Bildungs- und Hochschulsystems (die Akademikerquote Koreas liegt heute in der weltweit höchsten Gruppe), Öff­ nung für den Welthandel (Kirchberg 2007). Dass auch das Deutsche Reich Ende des 19. Jahrhunderts zu einer Politik des Protektionismus überging, wurde bereits oben festgestellt. Zuletzt stiegen auch die Löhne, die gewerk­ schaftliche Organisation und soziale Absicherung, sodass (wie in Japan) die Ungleichheit trotz hohen Wirtschaftswachstums nicht wesentlich stieg (vgl. dazu auch Haller/Eder 2016: 177–179). c)

Der Staat als Förderer nationaler Kapital- und Klasseninteressen

Ein zentrales Argument in der ökonomischen Theorie des Freihandels lautet, dass durch dichte internationale Wirtschaftsbeziehungen die Arbeitsteilung und Produktivität innerhalb eines Staates vorangetrieben und economies of scale zum Tragen kommen können. Durch den internationalen Handel und Austausch kann sich ein Land bzw. seine Unternehmen auf die Produktion bestimmte Güter und Dienste konzentrieren und diese damit in größerem Umfang und effizienter herstellen und zu günstigeren Preisen verkaufen. Aus dieser Sicht müssten vor allem Unternehmen, die sich an größeren Märkten orientieren, am Freihandel interessiert sein. Ein ähnliches Argument hatte schon Marx (1972 [1848]) vorgebracht, als er schrieb, der Freihandelssys­ tem nütze bestimmten, vom Staat unterstützten Branchen und wirke zer­ störerisch auf die Abschottung zwischen den Nationen, fördere jedoch den Gegensatz zwischen Proletariat und Bourgeoisie. Im Anschluss daran wür­ de ich argumentieren, dass Großunternehmen und multinationale Konzer­ ne nicht im luftleeren Raum agieren sondern sehr eng mit ihren jeweiligen Staaten bzw. Nationen verknüpft sind. Große Unternehmen sind prinzipi­ ell natürlich eher (wenn auch keineswegs immer) an Freihandel interessiert; sie können dieses Interesse aber nur durchsetzen, wenn es mit den politi­ schen Zielsetzungen und Aktionen ihrer Staaten bzw. den Interessen anderer einflussreicher Akteure innerhalb ihres Staates kompatibel ist. Diese These möchte ich hier an zwei Beispielen illustrieren: durch die Bemühungen um eine weltweite Etablierung des Freihandels nach dem Zweiten Weltkrieg und durch die europäische Integration seit 1956.

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Es ist hier nicht möglich, den Wandel der Wirtschaftspolitik im vergan­ genen halben Jahrhundert nachzuzeichnen. Es ist jedoch mehr als evident, dass vor allem die Großstaaten immer wieder massiv in die internationalen Handels- und Austauschbeziehungen eingegriffen haben, weil sie sich da­ von wirtschaftliche Vorteile versprachen. Die Durchsetzung der klassischliberalen Wirtschaftspolitik durch Margaret Thatcher (englische Premier­ ministerin 1979–1990) und Ronald Reagan (US-Präsident 1981–1989) war u. a. explizit gegen den offenkundig entwicklungshemmenden Protektionis­ mus in Lateinamerika und im sowjetischen COMECON-Block gerichtet, welche die Investitions- und folgenden Gewinnchancen westlich-kapitalis­ tischer Unternehmen blockierte. Tatsächlich erzielten österreichische, deut­ sche und andere westeuropäische Banken und Unternehmen nach 1990 in den mittel- und osteuropäischen Ländern enorme Renditen und auch bei Aufnahme von acht dieser Länder in die EU 2004 konnte man, etwa im Hinblick auf Firmenübernahmen, von einem regelrechten »Anschluss« spre­ chen (Haller 2009: 211–213). Zu den zentralen Zielen gehörte dabei – wie im 1990er Washington-Konsens von IMF und Weltbank – der Abbau staat­ licher Interventionen, Privatisierung, Deregulierung und Liberalisierung der nationalen Wirtschaftspolitiken und der weltweiten Handelsbeziehungen. Nachdem einige der negativen Folgen dieser Politik in der Wirtschaftskrise 2008/09 zutage getreten waren, wurde der Washington Konsens still und lei­ se zu Grabe getragen und an seine Stelle traten neue protektionistische Ten­ denzen. In den USA erfolgten sie vor allem wegen des steigenden negativen Handelsbilanzdefizits und dem auch durch Outsourcing sowie technischen Wandel erfolgten Niedergang ganzer Industriezweige als Folge davon. Sie er­ fuhren durch den 2016 gewählten US-Präsidenten Donald Trump eine für die ganze Welt überraschende und in seinen Folgen kaum absehbare Aus­ weitung. Schon seit zwei Jahrzehnten waren die USA der zweitwichtigste In­ itiator handelspolitischer Schutzmaßnahmen weltweit.13 2017–2019 leitete die Trump-Administration 165 Antidumping- und Antisubventionsuntersu­ chungen gegen 36 Länder ein; in 119 Fällen wurden handelspolitische Maß­ nahmen getroffen. China war am häufigsten betroffen, aber sie galten auch europäischen Ländern. 2018 wurden Zölle von 25 Prozent auf Stahl und 10 Prozent auf Aluminium eingeführt mit der Begründung »Gefährdung der nationalen Sicherheit«. Trotz dieser Maßnahmen stieg das US-Handelsbi­ 13 Quelle: https://bdi.eu/artikel/news/fairer-handel-oder-protektionismus-handelspolitischeschutzmassnahmen-der-usa/ (Zugriff: 19.09.2019).



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lanzdefizit gegenüber China von 2017 bis 2019 um 18 Prozent; es betrug in diesem Jahr gigantische 612 Milliarden Dollar.14 Gegen die amerikanischen Maßnahmen wurden von China und der EU Gegenmaßnahmen angedroht, sodass ein neuer, veritabler »Handelskrieg« droht. d) Regionale Wirtschaftsgemeinschaften als Instrumente des ökonomischen Nationalismus: Der Fall der EWG/EU Hier soll als Beispiel die europäische Integration untersucht werden. Dies mag auf den ersten Blick als überraschend erscheinen, ist jedoch darin be­ gründet, dass auch die EWG/EU sich in vielem in ihren außenwirtschaftli­ chen Beziehungen sich vielfach ähnlich wie Nationalstaaten verhält. Auch im Prozess der europäischen Integration hatten Großkonzerne einen massi­ ven Einfluss auf die Durchsetzung des – wenngleich regional begrenzten – Freihandels. Die europäische Integration wurde initiiert 1952 mit der Errich­ tung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) zwischen sechs Ländern. Sie wurde im Vertrag von Rom 1957 zur Europäischen Wirt­ schaftsgemeinschaft vertieft und in weiteren Verträgen zwischen 1986 (Ein­ heitliche Europäische Akte) und 2009 (Vertrag von Lissabon) institutionell ausgebaut und auf inzwischen 298 Mitglieder ausgeweitet (für einen kon­ zisen Überblick vgl. Immerfall 2018, S. 24). Nach Ansicht linksorientierter kritischer EU-Analytiker ist die europäische Integration ein Paradebeispiel dafür, dass zwar Staaten als Akteure auftreten, dahinter aber ökonomische Interessen stehen: »Primär werden nationale ökonomische Interessen ver­ handelt und abgetauscht. Die Nationalstaaten treten dabei vorwiegend als Vertreter der Interessen ihrer wichtigsten ökonomischen AkteurInnen auf (wie großer Unternehmen und der Landwirtschaft). Andere gesellschaftliche Interessen, etwa sozialpolitischer Natur, spielen bei den zentralen Entschei­ dungen kaum eine Rolle« (Attac 2006: 22; König 1999: 171ff.). Für Auto­ ren dieser Provenienz agiert die EU als treibende Kraft der Globalisierung. Die EU-Außenhandelspolitik wird gesehen als eine aggressive Verfechterin des globalen Freihandels, wobei allerdings Kapitalinteressen im Vordergrund stehen, nämlich der Ausbau einer starken Weltmarktposition der europäi­ schen Unternehmen, die Sicherung der Rohstoff- und Energieversorgung und die Öffnung staatlicher Ausschreibungen für private Bewerber sowie die 14 Vgl. https://www.zeit.de/wirtschaft/2019-03/importueberschuss-usa-handelsbilanzdefi­ zit-strafzoelle-anstieg-2018 (Zugriff: 20.09.2019).

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Absicherung der Auslandsinvestitionen europäischer Unternehmen (Strick­ ner 2009). Diese Argumente sind zu einem guten Teil zutreffend, aber auch ein­ seitig. Im Buch Europäische Integration als Elitenprozess. Das Ende eines Traums? wurde die Rolle der wirtschaftlichen Eliten bei diesem Prozess aus­ führlich untersucht (Haller 2009: 165–219). Es mag hier daher eine kurze Zusammenfassung genügen. Tatsächlich spielten schon bei der Vorläufer­ organisation der EU, der 1952 gegründeten Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) ökonomische Interessen eine wichtige (meist nicht gesehene) Rolle. Bemühungen zur Koordination der Kohle- und Stahlpro­ duktion gehen zurück auf das 1926 gegründete Internationale Stahlkartell; durch die nationalsozialistische Besetzung Belgiens und Frankreichs wurde eine enge Kooperation zwischen den Produzenten dieser Länder und eine Übernahme deutscher Organisationsformen etabliert. An sie anknüpfend, versuchte die EGKS, die ökonomische Effizienz der Industrieunternehmen durch Kooperation zu erhöhen; es stand hier also nicht nur die meist be­ mühte Idee der Friedenssicherung durch gemeinsame Kontrolle der für Rüs­ tungsproduktion wichtigen Industrien Pate. Die europäische Integration er­ hielt einen weiteren, massiven Schub durch die Aktivitäten des European Round Table of Industrialists (ERT), einer Gruppe von den Eigentümern und Spitzenmanagern der größten europäischen Unternehmen, geleitet vom schwedischen Volvo-CEO Pehr Gyllenhammar. In den frühen 1980er Jahren erarbeitete diese Gruppe ein Papier zur Etablierung eines voll integrierten europäischen Marktes und zur Entwicklung einer strategischen Industrieund Handelspolitik, in deren Rahmen die Herausbildung global agieren­ der »europäischer Champions« einen zentralen Stellenwert einnahmen (vgl. auch Strickner 2009). Dieses Papier lieferte die Blaupause für die Einheitli­ che Europäische Akte (1987) und den Vertrag von Maastricht (1992), durch welche die EU unter Führung von Jaques Delors entscheidende Integrations­ schritte vollzog. Begleitend zu diesen Verträgen wurden europäische Schlüs­ selindustrien teilweise von äußerem Wettbewerb abgeschirmt (etwa Autoin­ dustrie) oder durch hohe Subventionen gefördert (so die Mikroelektronik und Luftfahrtindustrie und natürlich die Landwirtschaft und Agroindust­ rie). Verstärkt wurden damit auch die Prozesse der Unternehmensfusionen. Hier zeigt die genauere Analyse jedoch, dass nicht wirklich »europäische« Firmen entstanden, sondern in erster Linie die großen nationalen Konzerne wuchsen und zwar vor allem durch Zusammenschlüsse mit anderen Unter­ nehmen ihres Landes (oder in Ländern gleicher Sprache) bzw. mit ausländi­



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schen Konzernen (Haller 2009: 180). Die meisten dieser neuen europäischen Champions befinden sich in Deutschland, Frankreich und Großbritanni­ en.15 Betrachtet man die Eigentümerstrukturen und die Herkunft und Kar­ rieren der Topmanager in diesem Firmen, so kann von der Entstehung einer neuen europäischen oder gar globalen Wirtschaftselite oder Kapitalistenklas­ se keine Rede sein (Hartmann 2008). Den Bürgern in der EU ist der über­ proportional starke Einfluss der Großunternehmen in der EU deutlich be­ wusst (Haller 2009: 194). Dies nicht zuletzt deshalb, weil es kein Geheimnis ist, dass in Brüssel inzwischen weit über 10.000 Lobbyisten vor allem im In­ teresse von Großkonzernen und Wirtschaftsverbänden tätig sind. Kann man die europäische Integration damit als gesteuert von ökono­ mischen Konzern- und Eliteinteressen und nicht von Nationalstaaten be­ trachten, wie es die eingangs zitierten EU-kritischen Autoren behaupten? Ich glaube, dies wäre eine verkürzte Sicht. Vielmehr kann die europäische Inte­ gration auch als spezifische Variante eines ökonomischen Nationalismus ge­ sehen werden. Für diese These möchte ich drei Gründe anführen. 1) Bereits erwähnt wurde, dass die europäische Integration nicht zur Entstehung euro­ päischer Multis geführt hat, sondern vor allem die europäischen Märkte für die bereits bestehenden starken nationalen Konzerne geöffnet und deren Ex­ pansion gefördert hat (sowohl innerhalb der EU wie auch weltweit). 2) Am Beginn der europäischen Einigung, aber auch später, spielte das Motiv der Sicherheit eine zentrale Rolle. In den 1950er Jahren war dies die Sicherheit Westeuropas vor einer weiteren Expansion des sowjetischen Machtbereichs; auch das Streben der postkommunistischen Länder Mittelosteuropas nach 1989, möglichst rasch Mitglied von NATO und EU zu werden, war dadurch bestimmt. Der Begriff der Sicherheit ist dabei weit zu fassen: Er inkludiert Sicherheit vor äußeren Bedrohungen durch aggressive Nachbarstaaten eben­ so wie innere Sicherheit (heute: Terrorismus), aber auch wirtschaftliche und politische Stabilität, d. h. Sicherheit vor antidemokratischen nationalen Um­ stürzen (etwa in Italien). So erscheint es nicht unplausibel, die Einführung der gemeinsamen Währung, des Euro, als Maßnahme zur Absicherung vor unkalkulierbaren Währungsrisiken zu verstehen (Schelkle 2017). An einer solchen Absicherung waren ja vor allem auch die wirtschaftlich schwäche­ ren Staaten (wie Frankreich und Italien) besonders interessiert. 3) Schließ­ 15 Von den 50 größten Unternehmen in Europa befanden sich laut der Zeitschrift Forbes im Jahre 2011 elf in Deutschland, acht in Frankreich, sechs in Großbritannien, sechs in der Schweiz, fünf in Italien und vier in Spanien, vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Lis­ te_der_gr%C3%B6%C3%9Ften_Unternehmen_in_Europa (Zugriff: 27.05.2018).

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lich spielt bei allen weniger entwickelten Länder in Süd- und Osteuropa das Streben nach Mitgliedschaft im Klub der reichsten Länder der Erde bzw. der Teilnahme an dem riesigen und prosperierenden Wirtschaftsraum der EU eine zentrale Rolle. Dass die damit verbundenen Erwartungen nur zum Teil erfüllt wurden und werden, hat zu einer starken Abkühlung des seinerzeiti­ gen EU-Enthusiasmus bei den politischen Eliten Mittelost- und Südeuro­ pas, wie auch beim Aufstieg rechter Parteien eine wesentliche Rolle gespielt. In der Bevölkerung konnte man ja – im Gegensatz zu den Eliten – seit jeher von keinem Enthusiasmus für die europäische Integration sprechen (aus­ führliche Belege dazu in Haller 2009: 23–62). Dass diese Ziele – Sicherheit, politische Stabilität und wirtschaftliche Prosperität – zentrale Zielsetzungen der europäischen Integration darstellen, zeigen sowohl eine Inhaltsanalyse des umfangreichen Vertrags von Lissabon wie auch Umfragen unter der Be­ völkerung im Hinblick auf die wichtigsten Ziele, welche die EU-Politik ver­ folgen sollte (ebd.: 348, 406). Mit dem Aspekt des ökonomischen Nationalismus verbunden war zum Teil auch der 2016 in einem Referendum von einer knappen Mehrheit der Engländer befürwortete Austritt Großbritanniens aus der EU. Das Hauptar­ gument der Brexit-Befürworter war die Erhaltung der politischen Souverä­ nität Großbritanniens, die Ablehnung von deren vielfach neoliberaler Wirt­ schaftspolitik, und der Wunsch, die Außenhandelspolitik und Kontrolle der Zuwanderung selbst zu bestimmen.16 Nahezu dieselben Argumente standen auch im Vordergrund, als die Franzosen und Niederländer die »Verfassung für Europa« 2005 mit deutlichen Mehrheiten ablehnten (ebd.: 24–33.). e) Wirtschaftliche Abschottung bzw. Öffnung als Strategien zur Sicherung politischer Herrschaft Die Entscheidung für Freihandel oder Protektionismus ist in starkem Maße abhängig vom jeweiligen politischen System und seinen Institutionen. Ge­ nerell kann man sagen, dass Demokratien grundsätzlich eher für offene Wirtschaftsbeziehungen sein werden, weil sie auf eine detaillierte Steuerung der Wirtschaft verzichten. In diesem unterliegen politische Entscheidungen 16 Vgl. Max Haller »Der Brexit – ein Abgesang auf die ›Vereinigten Staaten von Europa‹«, Standard Online, 29.08.2019; dieser Artikel ist eine Kurzfassung meines Vortrags »The dream of the United States of Europe. An ambitious scenario disproved by the Brexit« auf dem Kongress der European Sociological Association in Manchester, 22.08.2019.



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einem langen, komplexen Aushandlungsprozess, in dessen Rahmen massi­ ve protektionistische Maßnahmen kaum durchsetzbar sind. In autoritären Systemen fallen Entscheidungsprozesse schneller und es werden oft andere, nichtwirtschaftliche Ziele als so wichtig erachtet, dass die Nachteile von Ein­ schränkungen des Außenhandels bewusst in Kauf genommen werden. Bei solchen Systemen kann man drei Subtypen unterscheiden, in de­ nen jeweils andere wirtschaftspolitische bzw. -nationalistische Zielsetzungen und Strategien verfolgt werden: Faschistische Diktaturen legen das Haupt­ gewicht auf militärische Stärke und wirtschaftliche Autarkie im Falle eines Krieges. Sie haben zwar kein wirkliches Wirtschaftsprogramm (vgl. Mazo­ wer 1998: 132–136), sind im Extremfall aber bereit, mehr oder weniger to­ talen Protektionismus zu praktizieren (bzw. sind auch dazu gezwungen, da sie keine Waren mehr aus dem feindlichen Ausland erhalten). Kommunis­ tische Diktaturen, die ein nicht-marktwirtschaftliches System zentraler Pla­ nung etabliert haben, müssen auch den Außenhandel entsprechend kont­ rollieren und anpassen. Sie entwickelten daher ein differenziertes System des Protektionismus in bestimmten Bereichen und Branchen. Autoritäre Syste­ me mit demokratischen und populistischen Elementen (etwa China, Iran, Saudi-Arabien; zum Teil auch Staaten in Sub-Sahara Afrika) sind gegenüber dem Außenhandel prinzipiell offen – vor allem dann, wenn sie selbst Roh­ stoffe und Güter anzubieten haben, deren Absatz im Ausland ökonomische Vorteile bringt. Auch sie praktizieren jedoch in bestimmten Bereichen se­ lektiven Protektionismus (etwa im Banken-, Finanz- und Währungssystem). Hier möchte ich einen historischen Typus eines nichtdemokratischen Systems genauer betrachten, den Kommunismus in der Sowjetunion und seinen ökonomischen Vasallenstaaten im COMECON. Dazu möchte ich die These aufstellen, dass auch die Implementation und Entwicklung des »realen Sozialismus« 1917 in Russland und nach dem Zweiten Weltkrieg in China und in den mittelosteuropäischen Ländern unter dem Aspekt des ökonomischen Nationalismus gesehen werden muss. In diesem Falle muss man sagen, dass der Wirtschaftsnationalismus im Interesse der Systemerhal­ tung und insbesondere der Machtpositionen der herrschenden politischen Klasse fungierte. Dass das in der Sowjetunion errichtete kommunistische System untergegangen ist, während der Kommunismus in China weiterhin auf sehr stabilen Füßen steht, hat in hohem Maße mit der Schließung oder Öffnung der Wirtschaftsbeziehungen nach außen zu tun. Dieses wichtige Faktum wird in der Literatur kaum thematisiert.

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Die wirtschaftliche Abschottung der Sowjetunion bzw. des COMECON als wichtige Ursache für ihren Zerfall Der Kommunismus war angetreten mit der Losung der Internationalität: Die proletarische Revolution sollte weltweit erfolgen, aber zuerst in den in­ dustriell fortgeschrittensten Ländern, wie Großbritannien und Deutsch­ land. Dies war eine konsequente Folgerung aus der These von Marx und Engels, dass Revolutionen dort ausbrechen, wo die rückständigen Produkti­ onsverhältnisse den fortgeschrittenen Produktivkräften nicht mehr entspre­ chen. Mit dem Ausbruch der Revolution in Russland und der gewaltsamen Machtübernahme durch Lenin’s Bolschewiken wurde diese Theorie ideolo­ gisch über Bord geworfen. Während Lenin bis zu seinem Lebensende 1922 an der Doktrin des Internationalismus festhielt, argumentierte sein Nachfol­ ger Stalin, der Sozialismus müsse zuerst in einem Lande aufgebaut werden; 1926 wurde dies offizielle Doktrin. Die Opposition von Trotzki und anderen gegen diese These wurde gewaltsam unterdrückt. Natürlich vermieden es die kommunistischen Machthaber, ihre Länder als Nationalstaaten im westlichen Sinne zu deklarieren, stand dieses Prin­ zip doch in diametralem Gegensatz zum Prinzip des sozialistischen Inter­ nationalismus. De facto jedoch trat der russisch-nationalistische Aspekt be­ reits in den 1930er Jahren in den Vordergrund, als etwa zunehmend große Gestalten der russischen Geschichte (wie Peter der Große) an die Stelle von marxistisch-sozialistischen Persönlichkeiten in der Geschichtsdarstellung hervorgehoben wurden. Eine massive Aufwertung des russischen Nationalis­ mus brachte der ungeheuer entbehrungsreiche (Russland hatte die meisten Kriegsopfer zu beklagen), aber letztendlich siegreich beendete Zweite Welt­ krieg mit sich (Stölting 1990: 46). Die unterschwellige Gleichsetzung von Sowjetunion und russisch nahm vor allem unter den Eliten zu (Beyme 1994: 124). Unter der Schwelle der Förderung der vielen Nationalitäten des Groß­ reiches vollzog sich eine massive Russifizierung auf der Ebene der Eliten (Le­ onhard 1975: 191ff.; Haller 2015: 196ff.). Im Kalten Krieg konsolidierte sich der russische Großmachtnationalismus (Marshall 2015). Man kann die Fra­ ge, ob die junge Sowjetunion und später das kommunistische China sich als Nationalstaaten verstehen, aber auch – oder noch besser – anhand ihres in­ nen- und außenpolitischen Verhaltens beantworten. Es gibt drei Grundprin­ zipien, durch welche sich Nationalstaaten auszeichnen: das Bestreben, ihre Eigenständigkeit zu wahren bzw. herzustellen, falls sie noch nicht gegeben ist; im Innern möglichst hohe Einheitlichkeit, Homogenität und Zentrali­ sierung herbeizuführen und zu sichern; schließlich – im Falle von Großstaa­



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ten – territorial zu expandieren und sich benachbarte Staaten, wenn diese klein und schwach sind, zu unterwerfen und einzugliedern. Alle drei Phä­ nomene kann man im Falle der Sowjetunion und Chinas beobachten. Die Sowjetunion führte als Erstes einen Krieg gegen Feinde im Innern  – die Rote Armee gegen die Weiße Armee und die ukrainische Armee. Nach au­ ßen wurde eine Absicherungs- und Expansionspolitik verfolgt. 1940 wurden die baltischen Staaten und Moldawien erobert und der Sowjetunion einge­ gliedert; ab 1946 die mittelosteuropäischen Ländern zu Satellitenstaaten der UdSSR degradiert.17 Gesellschaftlich-kulturell erfolgte – bei oberflächlicher Bewahrung der multikulturellen Vielfalt – de facto »eine planmäßige Rus­ sifizierung der nichtrussischen Völkerschaften« (Leonhard 1975: 193), un­ ter anderem durch systematische Ansiedlung von Russen in nichtrussischen Unionsrepubliken (genau dasselbe verfolgt China bis heute). Noch 1993 be­ stand bei den sowjetischen Eliten eine »unterschwellige Gleichsetzung von ›Sowjetunion‹ und ›russisch‹« (Beyme 1994: 125). Diese Russifizierung war später auch einer der wesentlichen Faktoren für den Untergang der Sowjet­ union (Haller 2015: 196–207). Um die neue, von außen angefeindete Wirtschafts- und Gesellschafts­ form auf Dauer zu sichern, war es für die politische Führung der jungen So­ wjetunion geboten, auch die wirtschaftlichen Außenbeziehungen des Landes unter ihre strikte Obhut zu nehmen (vgl. auch Haumann 1977; Heubaum 2001). Schon 1917 argumentierte Lenin, dass ein Außenhandelsmonopol unabdingbares Erfordernis jeder planmäßigen gesellschaftlichen Produkti­ on sein müsse (Seifert 1988). So wurde in der Sowjetunion der Außenhandel von Anfang an in die Hände des Staates gelegt, zuerst durch ein Dekret von 1918, später durch die Einrichtung eines eigenen Ministeriums für Außen­ handel und weitere darauf bezogene Institutionen (ebd.). Die vier Grund­ prinzipien des staatlich regulierten Außenhandels waren (vgl. Bak 1990): 1) Diese Handelsbeziehungen erfolgen nur über die eigens dafür geschaffenen staatlichen Außenhandelsunternehmen mit genau umrissenen Kompeten­ zen; 2) sie müssen den Richtlinien der volkswirtschaftlichen Gesamtpläne entsprechen; 3) die finanzielle Verrechnung der Exporte und Importe erfolgt nach fixen (international gesehen unrealistischen) Binnenpreisen; 4) es gibt ein staatliches Valutenmonopol; die im Export erlösten Valuta sind an den Staatshaushalt abzuführen. Tatsächlich betrug der Außenhandel der neuen 17 Für das russische nationale Selbstverständnis und seine Politik in Bezug auf Europa nach 1990 (vgl. Peter 2006).

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Sowjetunion nur mehr einen Bruchteil dessen, den Russland vor 1914 auf­ gewiesen hatte.18 Davon war insbesondere Deutschland betroffen. Vor dem Ersten Weltkrieg war Russland Deutschlands zweitwichtigster Außenhan­ delspartner; rund 30 Prozent der russischen Ausfuhren gingen nach Deutsch­ land und 40 Prozent der russischen Einfuhren kamen aus Deutschland.19 Die Monopolisierung des Außenhandels bot der Sowjetunion gewisse Vorteile (Monopolgewinne und Umgehung des Groß- und Zwischenhan­ dels), war jedoch mit internationalen Handelsverträgen unvereinbar. Sie er­ forderte auch einen großen bürokratischen Aufwand, erzeugte neue Prob­ leme  – etwa in Bezug auf die Abstimmung mit dem Binnenhandel, dem Währungssystem usw. – und musste daher immer wieder umorganisiert wer­ den (Heubaum 2001). Versuche zur Stärkung der Exportorientierung der Wirtschaft waren wenig erfolgreich, weil die Regulierung durch die Zen­ tralplanung zu kurzsichtig und unelastisch erfolgte und die meisten selbst erzeugten Produkte von geringer Qualität waren. Der intensivierte Handel mit den mittelosteuropäischen Mitgliedsländern des COMECON (1949 bis 1991; vgl. dazu auch Haller 2011) in Osteuropa, die technisch höher entwi­ ckelt waren, konnte dies nicht kompensieren, weil auch diese vom Welt­ markt abgeschottet waren. Zahlreiche osteuropäische Ökonomen (Bak 1990; Weiß 1990) sahen in der schwachen Eingliederung der sowjetischen Volks­ wirtschaft in den Weltmarkt eine der größten Schwächen des Systems. Be­ sonders problematisch war die einseitige Rohstoff-Konzentration der Aus­ fuhren und die geringen Anteile von Maschinen und Anlagen. Die Ursachen für den geringen Handel waren zwar auch westliche Handelsbarrieren, pri­ mär aber interne Faktoren, wie die scharfe Trennung zwischen Firmen, die für den Export produzierten Waren und den übrigen, ein Mangel an Fach­ kräften und Informationen für den Außenhandel, ein Mangel an mittleren Führungskräften, welche die westliche Wirtschaftspraxis kannten (Pankov 1990: 78). Es waren die Probleme dieses auf unrealistischer Basis regulierten Außen­ handels, die ab Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre ständige Reformen notwendig machten. 1988 wurde ein Super-Ministerium für Außenhandel geschaffen und exportorientierte Unternehmen durften eigene Außenhan­ delsfirmen aufbauen. Da der Rubel jedoch nicht konvertierbar war, hatte man keine objektive Basis für Kalkulationen; auch besaßen die 40.000 Fir­ 18 Vgl. dazu auch den informativen Artikel »Sowjetisches Außenhandelsmonopol«, https:// de.wikipedia.org/wiki/Sowjetisches_Au%C3%9Fenhandelsmonopol (Zugriff: 17.05.2018). 19 Vgl. https://www.zeit.de/1955/27/handel-mit-der-sowjetunion (Zugriff: 19.02.2020).



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men, die 1990 selbständig Import-Export-Geschäfte durchführen durften, keine Erfahrungen in der Aushandlung von Krediten und Zahlungszielen mit den westlichen Partnern.20 Die Abschottung der Sowjetwirtschaft von der Weltwirtschaft, ihr nahe­ zu vollständig protektionistisches System kann somit als eine Hauptursache für ihre sich immer stärker vertiefende wirtschaftliche Krise und schlussend­ lich für ihren Untergang betrachtet werden. Dies aus zwei Gründen: Zum Ersten, weil Wirtschaft, Produktion und Austausch infolge der fehlenden Konkurrenz mit dem dynamischeren westlichen Ausland geringere Inno­ vations- und Wachstumsfähigkeit aufwiesen. Zum Zweiten, weil auch die Konsumenten mehr und mehr frustriert waren, da die Menge und Qualität der angebotenen Konsumgüter unzureichend und mangelhaft blieb (Erro 1963; Lewada 1992). Dieser Aspekt hat vor allem in den mittelosteuropä­ ischen Ländern eine wichtige Rolle gespielt, weil sie ja die westliche Viel­ falt an Konsumgütern direkt vor Augen hatten. Der Anstoß zum Zusam­ menbruch des Sowjetsystems ging aber von Ländern wie Polen und Ungarn aus. Bezeichnend ist, dass dieser Aspekt der internationalen Wirtschaftsbe­ ziehungen in den sozialwissenschaftlichen Analysen zum Systemwechsel in Osteuropa praktisch überhaupt nicht zur Sprache kommt.21 Die Außenhan­ delsbeziehungen kommen praktisch nicht vor. Diese Abschottung nach au­ ßen hat natürlich auch in eminentem Grade mit der Zentralisierung der politischen Herrschaft in der Nomenklatura zu tun, den in Listen festgehal­ tenen politisch verlässlichen Führungskadern in Politik, Wirtschaft, Wissen­ schaft und Militär (Vgl. dazu Voslensky 1980). An den personellen Wech­ seln der Führungsspitze der KPdSU ließ sich dies augenfällig nachvollziehen: erst als mit Gorbachev eine mit 54 Jahren relativ junge, noch nicht so starr im Apparat verhaftete Persönlichkeit an die Macht kam, wurde eine Wende möglich. Die existentielle Bedeutung der wirtschaftlichen Abschottung der Sowjetunion nach außen wird noch offenkundiger, wenn man die Entwick­ lung des Kommunismus in China betrachtet; hier führte ein ebenfalls stark ausgeprägter Wirtschaftsnationalismus zu einer völlig anderen Entwicklung.

20 Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Sowjetisches_Au%C3%9Fenhandelsmonopol (Zu­ griff: 21.05.2018). 21 Vgl. etwa die umfassende Studie von Klaus von Beyme (1994).

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Die wirtschaftliche Öffnung Chinas als Hauptursache für Entwicklung und Stabilität des Systems Die wirtschaftliche Entwicklung Chinas ist nicht nur ein welthistorisch ein­ maliger Prozess, sie stellt auch die Theorien von Revolutionen und System­ wandel auf einen neuen Prüfstein. Seit etwa 1990 hat China einen unvorher­ gesehenen, spektakulären wirtschaftlichen Entwicklungs- und Aufholprozess durchgemacht. Betrug das Bruttoinlandsprodukt (BIP) 2000 1.214 Milli­ arden US-Dollar, verzehnfachte es sich bis 2015 auf 11.181 Milliarden; pro Kopf stieg es von 959 US-Dollar auf 8.141 US-Dollar (in realer Kaufkraft von 2.915 auf 14.239 US-Dollar).22 Lag China um die Jahrhundertwende im Rahmen der Weltwirtschaft noch weit hinten (Anteil von 4 Prozent), holte es 2014 die USA ein (Anteil beider etwa 16 Prozent). Die Produkti­ on von PKWs und LKWs in China betrug 1999 1,8 Millionen Stück, 2017 18.9 Millionen. Zwischen 1997 und 2002 wuchs die Wirtschaft jährlich um 7 Prozent bis 9 Prozent, 2003 bis 2007 um 10 Prozent bis 14 Prozent; von 2008 bis 2017 sank sie von 9,6 auf 6,9 Prozent. Diese für China »mäßige« Wachstumsrate – deren Senkung auf ein niedrigeres Niveau auch von der Führung befürwortet wird – ist weltweit gesehen immer noch exzeptionell hoch. Noch stärker als das BIP insgesamt stieg der Außenhandel; betrug das Außenhandelsvolumen 1978 nur 20,6 Milliarden US-Dollar und der Anteil am Welthandel weniger als ein Prozent, stieg es bis 2010 auf 2.974 Billionen US-Dollar; Chinas Anteil am weltweiten Export betrug schon 2010 über 10 Prozent, am Import 9 Prozent; seit 2009 ist es Exportweltmeister.23 China ist heute für die größten Länder der Welt einer der wichtigsten Handelspartner; die Struktur der Exporte hat sich stark diversifiziert. Diese phänomenalen Wachstumsraten haben zweifellos in hohem Maße mit der Öffnung der chinesischen Wirtschaft für den Außenhandel zu tun. 1978 kam Deng Xiaoping an die Macht und mit ihm begann eine Liberalisie­ rung der chinesischen Wirtschaft im Innern und ihre Öffnung für einen inten­ siven Handel mit der restlichen Welt. So wurden 1979 die ersten Sonderwirt­ schaftszonen im östlichen Küstengebiet errichtet; 2001 trat China der WTO bei, das staatliche Außenhandelsmonopol wurde aufgehoben. In diesem Zeit­ raum explodierte auch der Außenhandel Chinas. Um die Jahrhundertwende wurden Waren und Dienstleistungen im Werte von 474 Milliarden US-Dollar 22 Daten des IMF https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/lp-china.pdf. 23 Vgl. dazu Bundeszentrale für politische Bildung (2018); umfangreiche (offizielle) Daten finden sich auch auf der Website German.China.org.cn.



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ein- und ausgeführt, um 2010 betrug der Wert 2.974 Milliarden US-Dollar. Im Jahr 2016 exportierte bzw. importierte China Güter und Dienstleistungen im Wert von 2.119 Milliarden US-Dollar bzw. 1.588 Milliarden US-Dollar, hatte also einen Handelsbilanzüberschuss von 530 Milliarden US-Dollar.24 Al­ lein mit den USA gab es einen Handelsbilanzüberschuss von 36 Milliarden US-Dollar. Diese Fakten sind natürlich Wasser auf die Mühlen von Strafzoll­ befürwortern in den USA, von Präsident Trump abwärts. Der Politikwissen­ schaftler Tobias ten Brink (2013: 181) schreibt in seinem umfassenden Werk China’s Kapitalismus von einem »exportistischen Regime«, das den Weg ei­ nes dynamisch-flexiblen staatlichen Protektionismus verfolge. In einer anderen Übersicht wird festgestellt, dass es aus der Sicht Pekings gelte, trotz Liberali­ sierung des Außenhandels »die gesamtwirtschaftlichen Steuerungs- und Ent­ wicklungsmöglichkeiten nicht aus der Hand zu geben. Hierzu gehören eine staatliche Unternehmens- sowie Investitionspolitik und außenwirtschaftliche Stellschrauben wie Wechselkurs- und Kapitalverkehrskontrollen« (Bundeszen­ trale für politische Bildung 2018). Die evidenteste Strategie des neuen ökonomischen Nationalismus von China  – man könnte cum grano salis auch von einem »neuen Imperialis­ mus« sprechen (Spörl 2019) – ist die Initiative der Neuen Seidenstraße (OneBelt-and-Road-Initiative), die ein immenses Investitionsprogramm zum Ausbau von neuen Verbindungen durch Eisenbahnen, Autobahnen, Schiffs­ wegen von China über den gesamten eurasischen Kontinent nach Westen bis Europa und nach Afrika beinhaltet. Durch sie soll der Warenverkehr von China mit mindestens 60 Ländern direkter und kostengünstiger erfolgen und die hohe Abhängigkeit vom Hochseeverkehr durch das Südchinesische Meer und über die lange und schmale Malakka-Straße, die den Indischen mit dem Pazifischen Ozean verbindet, verringert werden (Marshall 2015: 66–79). Parallel zum Ausbau von Land- und Seewegen werden Elektrizitäts­ leitungen und Pipelines gebaut, Anteile an Häfen in Europa erworben, diese ausgebaut und Investitionen in lokale Infrastrukturen, insbesondere in Af­ rika, getätigt. Institutionelle Einrichtungen, wie die Asian Infrastructure In­ vestment Bank und der Silk Road Fund, ja sogar eine University Alliance of the Silk Road, sollen das Projekt absichern. Es ist evident, dass dieses Projekt darauf angelegt ist, den globalen Einfluss der chinesischen Wirtschaft und Politik zu stärken; dementsprechend wird es von den USA und von der EU und ihren meisten Mitgliedsstaaten sehr kritisch gesehen. 24 https://de.wikipedia.org/wiki/Wirtschaft_der_Volksrepublik_China (Zugriff: 21.05.2018).

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Aufgrund dieser Daten ist es nicht verwunderlich, dass das politische System Chinas – im Unterschied zur Sowjetunion – offenkundig auf sehr stabilen Füßen steht  – trotz ab und zu aufflammender politischer Protes­ te und das Auftretens einzelner Regimekritiker (die in der Regel aber rasch mundtot gemacht werden). Wie war dieser Weg Chinas möglich, der vor allem im Kontrast zur Sowjetunion so einmalig erscheint? Ich denke, dass man hier zumindest fünf Faktoren benennen kann; die meisten davon ha­ ben mit dem Aspekt des ökonomischen Nationalismus zu tun (vgl. dazu auch Fischer 2005; Peters 2005; Brink 2013). 1) China ist ein sehr alter und ethnisch-kulturell vergleichsweise homogener Nationalstaat. Auch wenn es Hunderte von ethnischen Minderheiten gibt, die zusammen nahezu hundert Millionen Menschen ausmachen, stellt die Gruppe der Han-Chinesen doch die übergroße Mehrheit der Bevölkerung dar und im größten Teil des Lan­ des wird Standard-Mandarin gesprochen oder zumindest verstanden (Hal­ ler/Eder 2016: 191f.). Die chinesische Kultur hat in der im 5. Jahrhundert v. Chr. entwickelten konfuzianischen Ethik eine ideologische Basis, welche die Akzeptanz von Autorität im Familienkreis ebenso wie auf der Ebene des Staates als zentrale Tugend sieht. 2) Auch die politische Zentralisierung und eine effiziente staatliche Bürokratie weisen in China eine jahrtausendealte Tradition auf. Diese wurde aber seit jeher gemildert bzw. erhielt kreative Im­ pulse durch starke regionale Differenzierungen, Kompetenzen und Aktivitä­ ten. 3) Die Rolle der Auslandschinesen ist von hoher Bedeutung. Der größte Teil der Auslandsinvestitionen in China (2017 nicht weniger als 131 Milli­ arden US-Dollar) wird von den Chinesen getätigt, die in den umliegenden Stadtstaaten Hongkong und Singapur, aber auch in den weltweit verstreuten chinesischen Gemeinschaften leben. Diese Investoren werden als »patrioti­ sche ethnische Chinesen« bezeichnet (Brink 2013: 182). 4) Das erfolgreiche Beispiel der benachbarten Länder ist bedeutsam: Schon früh haben es Ja­ pan und in der Folge die vier südostasiatischen »Tigerstaaten« (Hongkong, Singapur, Taiwan und Südkorea) geschafft, sich erfolgreich in die Weltwirt­ schaft einzuklinken und ein enormes Wirtschaftswachstum zu erreichen. 5) Schließlich ist »die Macht der Geografie« (Marshall 2015) in Rechnung zu stellen: Drei große, schiffbare Flüsse ermöglichten schon früh die innere Aufschließung großer Teile des riesigen Landes; an der Küste25 und entlang dieser Flussregionen liegen die Gebiete mit der stärksten Wirtschaftskraft. 25 Interessanterweise erfolgte in historischer Zeit der wichtigste Binnenverkehr im Küsten­ bereich aber nicht über das Meer, sondern über den landesinneren »Kaiserkanal«, der ein ebenso imposantes, wenngleich viel weniger bekanntes Bauwerk darstellt wie die Chi­



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Ihre optimale Lage und Anbindung an den internationalen Seeverkehr för­ derte die rasante Entwicklung Chinas ohne Zweifel entscheidend. In dieser Hinsicht besteht etwa ein vollkommener Gegensatz zu Sub-Sahara Afrika, das riesige, dünn besiedelte Landesflächen, wenige große schiffbare Flüsse und wenig geeignete Buchten für große Seehäfen aufweist. Die Ausführungen in den einzelnen Teilen dieses Abschnittes befass­ ten sich mit Befürwortern und Gegnern des Freihandels, die dies vor allem deshalb waren bzw. sind, weil sie sich daraus individuellen oder kollektiven Nutzen versprechen. Es gibt jedoch ein Argument für den Freihandel, das nicht auf solchen Erwägungen aufbaut, sondern das allgemeine Interesse al­ ler Länder der Erde im Auge hat. Es ist dies die Frage, ob durch internatio­ nalen Handel auch der Friede in der Welt gefördert wird.

5. Freihandel als Förderer des Weltfriedens? Die These, dass freier Handel zwischen Ländern zur Sicherung des Friedens in der Welt beiträgt, ist schon alt. Der einflussreiche britische Mitbegründer der modernen Soziologie, Herbert Spencer (1820–1903) unterschied zwi­ schen zwei Typen von Gesellschaften, predatorisch-militanten, kriegerischen Gesellschaften auf der einen Seite, und industriellen Gesellschaften auf der anderen Seite; letztere sind durch hohe Berufsdifferenzierung und Arbeits­ teilung, Dezentralisierung und Demokratisierung politischer Institutionen, aber auch starke internationale Verflechtungen charakterisiert. Spencer sieht auch einen Trend von den ersteren zum letzteren Typ (Kruse 2017: 38–45). Eine ähnliche Idee entwickelte der Ökonom und Soziologe Joseph Schum­ peter (1918/19) in seinem Aufsatz »Zur Soziologie der Imperialismen«. Er wendet sich darin dezidiert gegen die Lenin’sche These vom Imperialismus als Fortentwicklung und »höchstem Stadium« des Kapitalismus. Für Schum­ peter waren die imperialistischen Kriege ein unzeitgemäßes Relikt aus der Zeit der absolutistischen Fürstenstaaten, in welchen das Führen von Kriegen für die Fürsten eine Notwendigkeit zur Sicherung ihres Ansehens und ihrer Herrschaft darstellte; der ökonomischen Nutzen aus territorialen Gewinnen sei vielfach in keinem Verhältnis zu den Kosten der Kriege gestanden. Der nesische Mauer: Er ist bis zu 40 Meter breit und verläuft mehr oder weniger parallel zur Küste über 1.800 Kilometer vom Mündungsgebiet des Jangtsekiang bis in den Norden.

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Kapitalismus selbst habe sowohl bei Unternehmern wie Arbeitnehmern eine antiimperialistische Haltung erzeugt, Schutzzölle schaden beiden. So sei zu erwarten, »dass sich antiimperialistische Tendenzen überall dort zeigen, wo der Kapitalismus in die Wirtschaft durch die Wirtschaft in die Psyche der modernen Völker eingedrungen ist […] In der Welt des Kapitalismus und unter den vom Kapitalismus geformten Elementen des sozialen Lebens ist überall eine prinzipielle Gegnerschaft gegen Krieg, Expansion, Kabinetts­ diplomatie, Rüstungen, Berufssoldatentum und dessen soziale Position ent­ standen« (ebd.: 287). Daher seien England und die USA, die Vorreiter der Industrialisierung, auch die ersten Anwälte für Abrüstung gewesen. In die­ sem Sinne schrieb kürzlich ein Autor dezidiert, der Staat sei heute als Frie­ densstifter zweitrangig geworden, er störe ihn eher: »Den Weltfrieden garan­ tierte der Welthandel und es gelingt ihm bisher wirksamer als Bündnis- und Nichtangriffspakten früherer Zeiten« (Sack 2011: 100). Für die These der friedensstiftenden Wirkung des internationalen Han­ dels sprechen zumindest vier gewichtige Argumente (McDonald 2004): das Kosten- oder Abschreckungsargument besagt, dass der Abbruch von Han­ delsbeziehungen durch einen Krieg hohe negative Folgen mit sich bringt; das Effizienzargument, dass die möglichen ökonomischen Gewinne durch einen Krieg viel geringer sind als durch Handel; ein soziologisches Argument lautet, dass Handelsbeziehungen auch vielfältige Kommunikations- und Vertrauensbeziehungen voraussetzen und selbst erzeugen; das Verhandlungs­ modell besagt, dass wirtschaftliche Verflechtungen mithelfen, Interessendi­ vergenzen ohne Krieg auszutragen. Wenn man die Frage beantworten will, ob internationaler Handel den Frieden fördert, darf man nicht auf der Ebene pauschaler »Nationalinteressen« stehen bleiben. Man muss konkret fragen, um welche Formen von Handel es geht und welche innerstaatlichen Inter­ essen damit verbunden sind. Sicher keine positiven Wirkungen entfalteten bzw. entfalten zumindest drei davon. 1.) Alle Formen von mehr oder weniger erzwungenem und von den westlichen Mächten bestimmten Formen des Handels unter kolonialistischen und imperialistischen Vorzeichen. Manche Wirtschaftshistoriker (z. B. Peter Cain, John Galbraith, Elie Halevy) sind der Meinung, dass die Etablie­ rung des Freihandels aus einer Kombination ökonomischer und imperia­ listischer Motive zu erklären ist. Dafür spricht auch, dass z. B. Großbritan­ nien noch im 19. und frühen 20. Jahrhundert nicht davor zurückscheute, zur Öffnung bzw. Sicherung von Handelsrouten militärische Gewalt ein­ zusetzen (wie in den Opiumkriegen gegen China 1839–42 und 1856–60).



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Dafür spricht vor allem die Beziehung Großbritanniens mit Indien, des­ sen einheimisches Handwerk und Industrie weitgehend zugunsten briti­ scher Importe zugrunde gerichtet wurden (Wendt 1978; umfassend dazu Tharon 2016). Der offene, militärisch abgesicherte Kolonialismus musste seit den 1960er Jahren zwar abdanken, Anklänge daran finden sich aber in den Wirtschaftsbeziehungen zwischen westlichen Großmächten und südlichen Ländern bis heute. Dies gilt vor allem für die Wirtschaftsbezie­ hungen von Europa mit Afrika, dem ökonomisch schwächsten Kontinent (Groth/Kneifel 2007). In diesem Zusammenhang ist auch an die über­ proportionalen Rüstungsausgaben der USA zu denken, die 2018 unglaub­ liche 650 Milliarden US-Dollar betrugen  – damit so viel, wie jene der nächsten acht Länder zusammen.26 Die massiven Militärkräfte der USA sind zu Lande, Wasser und Luft rund um die Erde stationiert und einsatz­ bereit. In ihren Beziehungen zu Lateinamerika schreckten die USA nicht vor Interventionen zurück, in deren Rahmen wiederholte, meist verdeck­ te Interventionen vorgenommen wurden, die bis zum Sturz von demo­ kratisch gewählten Regierungen führten; zu nennen sind auch die Krie­ ge der USA (aber auch Russlands) im Nahen Osten, die ohne Zweifel durch ökonomische Interessen mitbestimmt waren und die Hauptursa­ che der massiven Destabilisierung dieser ganzen Region waren (Choms­ ky 1993; Lüders 2015). Auch Aktionen von China müssen hier erwähnt werden, beginnend mit der völkerrechtswidrigen Besetzung des Tibet in den 1950er Jahren, der Sinifizierung der Provinz Xinjiang, in welcher die Uiguren und andere islamische Minderheiten massiv unterdrückt werden, bis hin zu den aktuellen aggressiven Ansprüchen Chinas auf Inseln im Südchinesischen Meer. Die Seidenstraßen-Initiative Chinas muss eben­ falls unter dem Aspekt eines scheinbar gewaltlosen »Neokolonialismus« gesehen werden; sie wird ja auch von einem zunehmenden militärischen Engagement Chinas in verschiedenen Weltregionen begleitet.27 2.) Bestimmte Industrien, die in hohem Maße von staatlicher Finanzierung abhängen bzw. von politischer Protektion profitieren. Hier sind zu aller­ erst die Rüstungs- und Waffenproduzenten zu nennen. Industrielle Inte­ ressen, etwa der deutschen Schwerindustrie, spielten schon bei der Pla­ nung und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs eine wesentliche Rolle, 26 Diese Zahlen sind wohlbekannt; vgl. z. B. https://de.statista.com/statistik/daten/stu­ die/157935/umfrage/laender-mit-den-hoechsten-militaerausgaben/ (Zugriff: 21.09.2019). 27 Vgl. dazu China, global peacemaker?, Center on US-China Relations, http://www.china­ file.com/reporting-opinion/viewpoint/china-global-peacemaker (Zugriff: 04.07.2019).

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wie Fritz Fischer (2013) in seinem viel diskutierten Werk Griff nach der Weltmacht nachzuweisen versuchte. Heute spielen diese Interessen vor allem im außenpolitischen Verhalten der USA eine immense Rolle, was vor allem Noam Chomsky in vielen Schriften anprangerte (z. B. Choms­ ky 1993).Eine massive Abrüstung der USA würde auch auf den Wider­ stand von Gewerkschaften und Abgeordneten all jener US-Staaten und Städte stoßen, deren Arbeitsplätze zu einem hohen Anteil auf Rüstungs­ produktion beruhen (Tharon 2016). Hier spielen aber nicht nur die USA und Russland eine unrühmliche Rolle. Zwar sind die USA heute (2018) mit Abstand der größte Waffenexporteur (36 Prozent aller Exporte), aber auch Russland (21 Prozent), Frankreich (7 Prozent) und Deutschland (6 Prozent) mischen kräftig mit. Als besonders problematisch erscheint, dass der größte Teil dieser Exporte in Weltregionen geht, in denen es ak­ tuelle kriegerische Auseinandersetzungen und Konflikte gibt (Naher Os­ ten, Südasien), und in solche, mit autoritären Regierungen (wie SaudiArabien, die Golfstaaten, Pakistan, Ägypten).28 3.) Höchst problematisch kann internationaler Handel auch dann werden, wenn es um Länder geht, die über wichtige Rohstoffe verfügen, jedoch autokratisch regiert werden. In diesem Falle kommt vielfach nicht nur die »holländische Krankheit« zum Zuge, die darin besteht, dass die ein­ seitige Konzentration auf Einnahmen aus einem Exportgut sich nachtei­ lig auf alle anderen eigenen Industrien auswirkt. Vor allem werden die Einnahmen aus diesen Exporten von den regierenden, vielfach korrupten Eliten nicht für die Entwicklung der nationalen Wirtschaft und Wohl­ fahrt eingesetzt, sondern für die eigene Bereicherung und für die Siche­ rung ihrer Herrschaft im Inland und gegenüber (vermuteten) externen Feinden. Hier ist vor allem der Nahe Osten, das Pulverfass der Welt, zu nennen, wo ungeheure Einnahmen aus dem Erdöl es den jeweiligen Po­ tentaten (etwa von Saudi Arabien oder der Öl-Scheichtümer am Arabi­ schen Golf ) ermöglichen, die einheimische Bevölkerung durch extensive Sozialleistungen »ruhig zu stellen«. In Sub-Sahara Afrika wurden Einnah­ men aus dem Export von Rohstoffen vielfach zur Aufrüstung von Regie­ rungen gegen innere Feinde bzw. von selbsternannten Rebellengruppen gegen Regierungen verwendet und lösten verheerende Bürgerkriege aus.

28 Diese Daten stammen vom schwedischen Friedensforschungsinstitut SIPRI und werden regelmäßig veröffentlicht unter https://www.sipri.org.



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Die These von der friedensfördernden Wirkung von internationalen Han­ delsbeziehungen wurde jüngst von einer Reihe von Ökonomen und Sozi­ alwissenschaftlern anhand umfangreicher Datensätze auch quantitativ un­ tersucht. Matthew O. Jackson und Stephen Nei (2015) konnten für einen langfristigen Zeitraum (1820 bis 2000), und Patrick McDonald (2004) für die Zeit seit dem Zweiten Weltkrieg zeigen, dass kriegerische Konflikte zwi­ schen Nationen signifikant seltener sind, wenn diese intensiven Handel mit­ einander treiben. Insbesondere seit 1950 ist die Zahl bewaffneter Kriege zwischen Staaten deutlich zurückgegangen. Eine wichtige intervenierende Variable hierbei war die Entstehung von regionalen Wirtschaftsassoziatio­ nen; starker Handel führt zur Bildung solcher Assoziationen, die ihrerseits militärische Auseinandersetzungen bremsen (Jackson/Nei 2004; vgl. auch Haller 2011). Ein empirisches Hauptargument gegen die These von der frie­ denssichernden Wirkung des internationalen Handels lautet, dass die erste, weltweit starke Zunahme der internationalen Handelbeziehungen zwischen 1870 und 1914 den Ausbruch des Ersten Weltkrieges nicht verhindern konn­ te. Gegen diesen Einwand wurde argumentiert, dass die damalige Zunah­ me vor allem auf die Verbesserung der Transportmöglichkeiten zurückging, dass in dieser Zeit jedoch gleichzeitig verschiedenste Zölle und Handelsein­ schränkungen eingeführt wurden (McDonald 2004). Außerdem hatten sich die Handelsbeziehungen aller Staaten in dieser Zeit in der Regel auf nur we­ nige Partnerländer konzentriert. Ein zentrales Argument dieses Beitrags lautet, dass bei den Debatten um den Freihandel innenpolitische Auseinandersetzungen und Interessengrup­ pen eine große Rolle spielen und dabei auch sozialpolitisch progressive Kräf­ te mitwirken können. Dies ergibt sich auch aus einer Analyse der Befürwor­ ter und Gegner der Corn laws und des Freihandels in Großbritannien im 19. Jahrhundert. Henning Kulbarsch (2014) entwickelte dazu anhand einer systematischen Auswertung von aussagekräftigen Quellen29 eine soziologisch sehr interessante Typologie. Er unterscheidet zwei Gruppen von Befürwor­ tern und vier Gruppen von Gegnern der Kornzölle. Die Befürworter der Zölle waren zum einen Teil die Chartistenbewegung, deren radikaldemokra­ tische und frühsozialistische Forderungen sich nicht mit den marktlibera­

29 Diese von Kulbarsch (2014) ausgewerteten Quellen waren sehr umfangreich und bein­ halteten etwa ein digitalisiertes Archiv sämtlicher Plenarprotokolle des britischen Parla­ ments seit 1803; eine fast vollständige Datenbank der britischen Zeitungen des 19. Jahr­ hunderts usw.

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len Anti-Corn Law League (ACCL) vertrug;30 zum anderen Adelige, welche landed interests vertraten und um ihre politische Dominanz im Parlament besorgt waren. Die Gegner der Zölle umfassten: 1) Industrielle und ihre Un­ terstützer, die sich Vorteile im innerbritischen Wettbewerb um Arbeitskräf­ te, stärkeren Absatz im Inland und bessere Ausgangspositionen im interna­ tionalen Handel versprachen; 2) altruistische Aktivisten, die sich u. a. dafür einsetzten, dass den ärmeren Schichten günstigeres Getreide zur Verfügung gestellt werden sollte. Dazu ist festzuhalten, dass eine Arbeiterfamilie zu die­ ser Zeit über die Hälfte bis zwei Drittel ihres Einkommens allein für Brot ausgab (ebd.: 24);31 3) Pazifisten, die sich vom Freihandel eine Verbesserung der Beziehungen zwischen Nationen und eine geringere Wahrscheinlichkeit von Kriegen versprachen; 4) Mittelklasseaktivisten, die sich durch Abschaf­ fung der Corn laws eine Schwächung des politisch dominanten Landadels und in der Folge bessere Teilhabechancen für die politisch unterrepräsentier­ ten Arbeiter, Mittelschichten und Industriellen erwarteten. Auch sozialpo­ litische Motive waren wichtig, da man in Großbritannien wusste, dass die Französische Revolution 1789 nicht zuletzt durch hohe Brotpreise ausgelöst worden war. Henning Kulbarsch kommt aufgrund seiner Daten zur bemer­ kenswerten Konklusion, dass eher die drei letzteren Gruppen den größten Einfluss auf die Aufhebung der corn laws hatten, darunter insbesondere die sozialpolitisch Orientierten und die Mittelklasseaktivisten, während die öko­ nomischen Interessen nur wenig Einfluss besaßen.

6. Zusammenfassung und Schlussbemerkungen Ausgangspunkt dieses Beitrages war die Frage, welchen Einfluss der ökono­ mische Nationalismus auf die Entscheidung von Staaten für Freihandel oder Protektionismus ausübt und welchen Effekt diese beiden Strategien ihrer­ seits auf die wirtschaftliche Entwicklung und Wohlfahrt eines Landes haben. Diese Frage wird seit jeher kontrovers diskutiert. Die klassischen liberalen 30 Neben der Beseitigung der Kornzölle waren Zielsetzungen der Chartisten die Zulassung von Gewerkschaften, die Verkürzung der Arbeitszeit auf 10 Stunden, die Erweiterung des Wahlrechts auf Arbeiter, und die Abschaffung weiblicher Fabriksarbeit. Vgl. https:// de.wikipedia.org/wiki/Chartisten (Zugriff: 27.05.2018). 31 So wurden die Kornzölle in Versammlungen des ACLL später auch als bread tax (Brot­ steuer) bezeichnet.



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Ökonomen begründeten die bis heute einflussreiche These, der Freihan­ del sei eine essentielle Basis für Wachstum und Wohlstand einer modernen Gesellschaft. Aber auch Soziologen vertreten das Argument, Offenheit zwi­ schen Ländern erhöhe Wettbewerb und Effizienz, und in den globalen Wirt­ schaftsbeziehungen kämen selbst multinationale Konzerne in ihrem eigenen wirtschaftlichen Interesse letztlich dazu, ethisch-soziale Standards in ihren Produktionsstätten im globalen Süden zu beachten. Demgegenüber gibt es eine Vielzahl von Autoren, die dem ungehemmten internationalen Handel kritisch gegenüberstehen, die Aktivitäten von multinationalen Konzernen primär als interessengetrieben und den Handel zwischen Nord und Süd ins­ gesamt als einen unfairen Tausch zwischen starken und schwachen Ländern sehen. Diese Arbeit ging von der These aus, dass es heute noch keine »Weltge­ sellschaft« gibt und Nationalstaaten noch immer die entscheidenden Akteu­ re sind, wenn es um internationale wirtschaftliche und andere Beziehungen geht. Demzufolge sind es in erster Linie diese Staaten (vor allem die gro­ ßen bzw. mächtigen unter ihnen), welche den Welthandel bestimmen. Aller­ dings, so die These, muss man vermeiden, wirtschaftlich und politisch-mi­ litärisch starken Staaten nur ein Interesse an Freihandel, kleineren, weniger entwickelten und schwächeren Staaten nur ein Interesse an Protektionismus zu unterstellen. Außerdem vertreten die Repräsentanten unterschiedlicher sozialer Klassen und Wirtschaftssektoren innerhalb eines Staates (Landwirt­ schaft, Industrie, Staatsbeamte, Politiker usw.) vielfach eigene Interessen, die dann oft vom Staat befördert werden. Daher können Staaten je nach den Umständen eine liberalistische oder protektionistische Haltung vertreten. Die zentrale Aufgabe der Wirtschaftssoziologie besteht darin, die Bedingun­ gen herauszuarbeiten, in denen entweder das eine oder andere der Fall ist. Fünf solcher Konstellationen bzw. Strategien wurden hierbei unterschie­ den: 1) Vorreiter der wirtschaftlichen Entwicklung werden an einem relativ offenen internationalen Handel interessiert sein, damit ihre Unternehmen neue Produkte auch außerhalb des eigenen Landes absetzen können; 2)wirt­ schaftliche Nachzügler werden an protektionistischen Maßnahmen interes­ siert sein, damit sich ihre eigenen Industrien entfalten können; 3) durch den Einfluss global aktiver Konzerne werden sich die Regierungen eines Staates als Förderer der Interessen ihrer großen Konzerne betätigen; 4) es können regionale wirtschaftliche Assoziationen gebildet werden, um die weltweiten Interessen ihrer Unternehmen zur Geltung zu bringen; 5) wirtschaftliche Schließung kann schließlich erfolgen, um in autokratischen Systemen die

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Herrschaft nationaler Eliten zu sichern. Diese Strategien wurden historischsoziologisch jeweils durch wichtige, historisch vielfach untersuchte Beispiele illustriert: Der Fall 1 durch das aufsteigende Großbritannien im 19. Jahrhun­ dert; der Fall 2 durch starke wirtschaftliche Nachzügler wie im letzten Drit­ tel des 19. Jahrhunderts Deutschland, im 20. Jahrhundert Japan und zuletzt die südostasiatischen »Tigerstaaten« und China; der Fall 3 durch die enge Verflechtung zwischen multinationalen Konzernen und der Wirtschafts-, Außen- und Militärpolitik der Vereinigten Staaten von Amerika; der Fall 4 durch die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft bzw. Union; der Fall 5 durch die Sowjetunion und China; dabei führte die wirtschaftliche Abschottung der Sowjetunion zu ihrem Untergang, wogegen die Öffnung Chinas nicht nur zu ihrem phänomenalen Aufstieg, sondern auch zur Machtsicherung der kommunistischen Partei beitrug. Analog wurde schließlich argumentiert, auch die alte These, wirtschaftliche Verflechtungen zwischen Staaten trügen zur Erhaltung des Friedens bei, gelte nur unter bestimmten Bedingungen; dazu gehören gleiche und faire Handelsbeziehungen, kein Austausch gesell­ schaftlich destruktiver Güter und Dienste (wie Rüstungen und Waffen), de­ mokratisch gewählte und verantwortliche Regierungen. Es scheint, dass all diese Fälle die Grundthesen dieses Beitrags wenn auch nicht definitiv bestätigt, so doch klar belegt haben. Die polar entgegenge­ setzten Strategien Freihandel versus Protektionismus können nicht eindeutig dem Verhalten bestimmter Staaten, Wirtschaftsinteressen oder sozioökono­ mischer Klassen zugeordnet werden. Auch die Effekte dieser beiden Strate­ gien sind je nach historisch-wirtschaftlichen und politischen Konstellatio­ nen unterschiedlich. Aufgabe zukünftiger Forschung wird es sein, die hier entwickelte Typologie zu verfeinern, die historisch-soziologischen Analysen zu vertiefen und durch weitere Fälle zu vervollständigen. Dementsprechend muss auch die Politik wegkommen von einer generellen Befürwortung oder Ablehnung des Freihandels, und sich je nach konjunkturellen Umständen und Phasen struktureller Wandlungsprozesse fragen, inwieweit und für wel­ che Wirtschaftsbranchen eher liberalistische oder protektionistische Schutz­ maßnahmen angebracht sind. Die negativen Folgen einer Öffnung für be­ stimmte Branchen können auch durch zeitlich begrenzte Anpassungshilfen ausgeglichen werden. Hierbei ist insbesondere auch in Rechnung zu stellen, dass durch die immens stark gewordenen Firmenverflechtungen ein großer Teil des Welthandels auf Wertschöpfungsketten innerhalb dieser Unterneh­ men zurückzuführen ist; weithin erkannt wurde auch, dass durch die Libe­ ralisierung und Deregulierung der Weltfinanzmärkte hohe Instabilitäten er­



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zeugt wurden, die mit zum historisch überproportional starken Einbruch des Welthandels nach der Wirtschaftskrise 2008 führten (Baldwin 2009).

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Widersprüche der Globalisierung: Der Aufstieg Chinas und der Wirtschaftskrieg mit den USA Stefan Schmalz 1. Einleitung: Die USA auf dem Weg zum Protektionismus?1 »I want tariffs. Bring me some tariffs«, so wurde Trump bei einem Treffen im engsten Beraterstab im August 2017 zitiert. Die Äußerung erfolgte vor dem Hintergrund von Trumps Ärger über die »Globalisten« in seiner Regierung und ihrer liberalen Haltung in der Handelspolitik. Trump rügte in dieser Sit­ zung verschiedene Kabinettsmitglieder und äußerte wiederholt, dass China über die USA lachen würde. Die Zurückhaltung in der Handelspolitik hat­ te schließlich im Frühjahr 2018 ein Ende. Nach einer Kabinettsrochade be­ gann eine folgenreiche außenwirtschaftliche Umorientierung. Seitdem über­ zog die US-amerikanische Regierung China mit Sanktionen und Strafzöllen, bereits zuvor brach sie verschiedene Verhandlungen über Freihandels- und Investitionsabkommen ab. Der Konflikt dauert auch noch Anfang 2020 an, allerdings wurde ein Zwischenabkommen angekündigt, um eine weitere Es­ kalation zu verhindern. Nimmt man frühere Ankündigungen ernst, kommt der Wirtschaftsnati­ onalismus der Regierung Trump wenig überraschend: Schon früh im Wahl­ kampf hatte Trump solche Ziele beschworen. Bereits bei einem Auftritt in der Stahlstadt Monessen in Pennsylvania im Juni 2016 brachte Trump Ein­ fuhrzölle für Aluminium und Stahl sowie Sanktionen gegen China ins Ge­ spräch. Auch einige seiner späteren Kabinetts- und Regierungsmitglieder wie Handelsminister Wilbur Ross oder der Direktor des National Trade Council Peter Navarro waren bereits im Wahlkampf als Berater tätig. Bereits sehr viel früher gab es konservative Mobilisierungen im Rahmen der Tea-Party-Be­ wegung, bei der heute auch zunehmend isolationistisch-protektionistische Tonlagen eine Rolle spielen. Schwierig erscheint jedoch die Bewertung die­ 1 Der Artikel wurde vor Beginn der Covid 19-Pandemie fertiggestellt. Aktuelle Entwick­ lungen im Rahmen der Corona-Krise wurden nicht mehr aufgenommen (vgl. hierzu Schmalz 2020).

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ser neuen Ausrichtung. Sind die Zölle Ausdruck einer Wende in der USWirtschaftspolitik hin zu einem neuen Protektionismus? Warum gilt gerade China als Hauptziel dieser Politik? Drohen weltweite Auswirkungen wie ein Wiedererstarken des Wirtschaftsnationalismus oder sogar ein Zerfall der ver­ flochtenen Weltwirtschaft in konkurrierende Blöcke? Der Beitrag widmet sich diesen Fragen, indem er sich dem Handels­ streit zwischen den USA und China aus einer makrosoziologischen Perspek­ tive annähert. Dabei wird die These vertreten, dass sich im Wirtschaftskrieg der Regierung Trump mit der Volksrepublik China die Widersprüche der Globalisierung entladen – mit schwer absehbaren Folgen. In einem ersten Argumentationsschritt werden die theoretischen Grundlagen mit Bezügen zu neueren Studien der Weltsystemtheorie und der Debatte um Transnati­ onalisierung gelegt. Im Folgeabschnitt wird dann dargestellt, wie sich Chi­ nas Aufstieg in der US-amerikanischen Weltordnung in dieses Bild einfügt. Danach wird der Einschnitt der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 auf die Wirtschaftsbeziehungen beschrieben. Es folgt daraufhin eine Darstellung des Handelskonflikts der Regierung Trump mit der Volksrepublik. Ich kom­ me zum Schluss, dass der Wirtschaftskrieg zwischen den USA und China weitreichende Folgen auf die Weltwirtschaftsordnung haben könnte und zu einer Blockbildung beitragen könnte.

2. Theoretische Vorüberlegungen: Machtverschiebungen im Weltsystem2 Der Aufstieg und Fall der großen Mächte (Kennedy 1989) beschäftigt die Sozi­ alwissenschaften schon seit langer Zeit. Einen soziologischen Beitrag zu die­ ser Debatte leisten Weltsystemansätze, indem sie analysieren, wie bei einem solchen Hegemoniewechsel (geo)ökonomische Prozesse mit (geo)politischen Veränderungen im Staatensystem interagieren (Hopkins/Wallerstein 1982: 104ff.; Arrighi 2003). Immanuel Wallerstein zu Folge neigt das kapitalisti­ sche Weltsystem, das mit der Kolonisierung Lateinamerikas im 16. Jahrhun­ 2 Die theoretischen Überlegungen sind – auch wie einige Gedanken zu den US-amerika­ nisch-chinesischen Wirtschaftsbeziehungen in den beiden folgenden Abschnitten – sehr viel detaillierter und ausführlicher in meiner überarbeiteten und aktualisierten Habilita­ tionsschrift zu finden (Schmalz 2018).



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dert entstanden ist, zur Expansion. Das System inkorporierte immer weitere Territorien. Diese Expansion erfolgte in Schüben. Ähnlich wie in der Wirt­ schaft beobachtete er im Staatensystem zyklische Bewegungen (Wallerstein 2000: 253ff.; Hopkins/Wallerstein 1982: 104ff.). Im modernen Weltsystem existierten Wallerstein zufolge vier Hegemoniezyklen, die jeweils von einer Ordnungsmacht strukturiert wurden (Habsburger, Niederlande, Großbri­ tannien und USA). Diese Staaten waren zeitweise in verschiedenen Berei­ chen (Produktion, Handel und Finanzen) vorherrschend, sodass sie einen Status der Hegemonie erreicht hatten: »Hegemony in the interstate system refers to that situation in which the ongoing rivalry between the so-called ›great powers‹ is so unbalanced that one power can largely impose its rules and its wishes […] in the economic, political, military, diplomatic, and even cultural arenas« (Wallerstein 2000: 253ff.). Wallerstein sieht demnach He­ gemoniezyklen als Prozesse, in denen Staaten zunächst ihre Vorherrschaft in Produktion und Handel aufbauen, nach einer militärischen Auseinan­ dersetzung eine kurze Phase der Hegemonie erleben und zuletzt nur noch die Vorherrschaft im Finanzsektor innehaben. Diese Überlegungen wurden oftmals als strukturfunktionalistisch kritisiert, insbesondere wurde bemän­ gelt, dass das Weltsystem nach Wallerstein übergeordneten Funktionslogi­ ken folgt und endogene Quellen für den systemischen Wandel unterbelich­ tet bleiben (Skocpol 1977). Ein Gegenentwurf wurde von Giovanni Arrighi und Beverly Silver for­ muliert (Arrighi 1994; Arrighi/Silver 1999): Arrighi spricht von systemischen Akkumulationszyklen, in denen sich Phasen, die durch die Expansion des Produktivkapitals gekennzeichnet sind, mit Perioden abwechseln, die durch eine Ausweitung des Finanzsektors charakterisiert sind. Historisch macht Arrighi  – ähnlich wie Wallerstein  – vier solcher Zyklen aus: einen genu­ esisch-iberischen Zyklus vom 15. bis 16. Jahrhundert; einen holländischen Zyklus vom 16. Jahrhundert bis Ende des 18. Jahrhunderts; einen britischen Zyklus von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zu Beginn des 20. Jahrhun­ derts und einen US-Zyklus, der im späten 19. Jahrhundert begonnen hat und derzeit in seiner finanziellen Expansionsphase ist (Arrighi 1994: 214ff.). Die finanzielle Ausweitung in einem hegemonialen Zentrum (z. B. England) geht dieser Lesart zufolge mit einer Expansion des Produktivkapitals in ei­ nem neuen Zentrum (z. B. USA) einher. Die Akkumulationszyklen sind in eine territoriale Logik eingebettet. KapitalistInnen nutzen Staaten im glo­ balen Konkurrenzkampf als »Machtcontainer« (Arrighi 2008: 296). StaatsUnternehmenskomplexe beherbergen die »Hauptquartiere« der mächtigsten

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Unternehmen und Regierungsinstitutionen. Arrighi beobachtet eine Aus­ dehnung dieser Komplexe »von einem Stadtstaat (Genua) […] bis hin zu einem Nationalstaat von Kontinentalgröße (den USA) und seinem weltum­ spannenden System transnationaler Konzerne, Militärstützpunkte und Ins­ titutionen der Weltregierung« (ebd.). Diese Sichtweise ist flexibler als jene Wallersteins: Die Zyklen werden als unabhängige Regime wahrgenommen, die durch endogene Faktoren geprägt werden. Soziale Auseinandersetzun­ gen verändern die Logik des Kapitalismus, in Anschluss an Antonio Grams­ ci (1991ff.) werden gesellschaftliche Blöcke dargestellt, die Hegemonie aus­ üben (Silver/Slater 1999). Hegemonie wird dabei nicht als reine Dominanz, sondern als eine Form von Herrschaft verstanden, bei der die Interessen der führenden Klassen verallgemeinert, mit Zwang abgestützt, aber auch mate­ rielle Zugeständnisse gemacht werden. Auf diese Weise werden globale sys­ temische Probleme (z. B. die soziale Frage im Industriezeitalter) gelöst und in jedem Zyklus neue soziale Gruppen (etwa Teile der Arbeiterschaft der westlichen Länder im Fordismus) in einen hegemonialen Block integriert. Große wirtschaftliche Krisenprozesse wie der Börsencrash 1929 sind nach Arrighis Interpretation als die Endkrisen einer Hegemonie zu beurteilen: Sie entstehen im aufgebähten Finanzsektor der Hegemonialmacht und lei­ ten den Untergang der Hegemonie ein. Allerdings ist auch diese Sichtweise kritikwürdig. Zugespitzt formuliert bemüht Arrighi einen Kapitalismusbe­ griff des 17. Jahrhunderts und einen Staatsbegriff des 19. Jahrhunderts, um die Veränderungen des 21. Jahrhunderts zu erklären. Arrighi bezieht sich auf den Kapitalismusbegriff von Fernand Braudel, nach dem Profite primär im Finanzgeschäft und im Fernhandel erwirtschaftet werden (Arrighi 1994: 10); Transnationalisierung bezieht sich aus seiner Sicht auf Unternehmen, aber nicht auf den Staat und Sozialstrukturen (Arrighi/Silver 1999: 278ff.). Im Folgenden werden Grundüberlegungen Arrighis übernommen. Die Doppellogik zwischen Geopolitik und Geoökonomie wird aber als offener wahrgenommen, indem sie als ein Zusammenspiel von globalen, staatlich fixierten Macht­ strukturen und weltweit expandierenden Kapitalkreisläu­ fen reinterpretiert wird. Damit wird eine Kritik an den Zyklenmodellen der Weltsystemanalyse aufgenommen (Mann 2014: 89ff.), neigen diese doch zu Vereinfachung geschichtlicher Abläufe. Die Machtstrukturen im globalen Raum, etwa die Produktions- und Finanzstruktur, werden durch die Ka­ pitalakkumulation reproduziert, während diese durch die Machtstrukturen abgesichert wird. Die geoökonomische Logik ist der dynamische Pol: Der globale Kapitalismus expandierte historisch in den Randregionen der Welt­



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wirtschaft (z. B. den USA des 19. Jahrhunderts), die sich dann langsam in den Mittelpunkt des Weltmarkts schoben. Sobald die räumliche Verlagerung der Kapitalakkumulation in Richtung eines neuen Zentrums fortgeschritten war, untergrub sie die tradierten Machtstrukturen in der Weltwirtschaft und -politik in Bereichen wie Finanzen, Produktion, Militär, Ressourcen und so­ gar Technologie und Wissenschaft. In solchen globalen Machtstrukturen, die auch Institutionen (z. B. das Wechselkurssystem von Bretton Woods mit IWF und Weltbank nach dem Zweiten Weltkrieg) umfassen, üben Staaten und Unternehmen unterschiedlichen Einfluss aus. Machtstrukturen bil­ den sich erst langsam durch die Anhäufung und Investition von Ressourcen in Militär, Finanzen und anderen Bereichen und folgen einer spezifischen Funktionslogik. In ihnen agieren Akteure »nicht als Exekutoren struktureller Imperative«, sondern sind auch »die Urheber von Normen und Spielregeln, durch die sie den gesellschaftlichen Verkehr lenken« (Offe 1977: 19), sie üb­ ten auf diese Weise »strukturelle Macht« (Strange 1988: 24ff.) aus. Die globalen Machtstrukturen werden am Anfang einer weltweiten He­ gemonie durch einen Hegemonialstaat (z. B. Großbritannien, USA) regu­ liert und geprägt, deren Volkswirtschaft zu Beginn dieser Epoche den Takt für die globale Kapitalakkumulation vorgibt. Andere Staaten können die in­ ternationale Machtkonfiguration und die Weltwirtschaft nur beschränkt be­ einflussen. Mit der Dezentrierung des Kapitalismus entstehen dann neue Zentren der Kapitalakkumulation in anderen Territorialstaaten. Die Hege­ monialmacht reagiert auf diese Veränderungen: Eine mögliche Reaktion – etwa nach dem Ende des Bretton-Woods-Systems 1971 – ist eine Aufwertung des Finanzsektors, die gleichsam ein »Zeichen des Herbsts« der Hegemonie (Braudel 1986: 246) darstellt; aber auch andere Reaktionen wie die militäri­ sche Aufrüstung, etwa der Flottenausbau in Großbritannien gegen Ende des 19. Jahrhunderts, kann eine Rolle spielen. Auf diese Weise gelingt es der He­ gemonialmacht, aufstrebende Konkurrenten in Schach zu halten und eine Phase der fragilen Stabilisierung der Machtstrukturen einzuleiten. Erst mit der Rezentrierung, also der eindeutigen Verlagerung des Schwerpunkts der Kapitalakkumulation in einen anderen Territorialstaat, ist die Möglichkeit eines Hegemoniewechsels angelegt. Große Krisen sind dabei durchaus An­ zeichen für eine Verlagerung des Schwerpunkts der Weltwirtschaft; aber es ist kein Automatismus eines Hegemoniewechsels damit verbunden. Dieser geschieht nur, wenn es einer aufstrebenden Macht gelingt, eigene Macht­ strukturen aufzubauen und neue Bündnissysteme und globale Regulierungs­ muster zu schaffen. Auf diese Weise wird das komplexe Zusammenspiel von

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geopolitischer und geoökonomischer Machtlogik auf eine neue Stufe ge­ hoben. Die Zyklen, die sowohl von Wallerstein und Arrighi identifiziert wurden, sind daher eher als Phasen zu verstehen: Das Zusammenspiel von kapitalistischer »Landnahme« (Dörre 2012) und territorial fixierten Macht­ strukturen führt immer wieder zu Konjunkturen der Dezentrierung (relative Stabilität bei Integration neuer Räume in Weltwirtschaft) und Rezentrierung (Aufstieg eines neuen wirtschaftlichen Zentrums). Nach dieser Interpretation waren die Phasen des »globalen Liberalis­ mus« (Wallerstein 1991: 45) mit einer klaren hegemonialen Struktur außer­ gewöhnlich und historisch begrenzt. Hegemoniale Phasen wie Mitte des 19. Jahrhunderts unter britischer oder in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhun­ derts unter amerikanischer Hegemonie waren oft nur für wenige Jahrzehn­ te stabil, in langen Zeiträumen herrschte keine Hegemonie, sondern Kon­ kurrenz, wirtschaftliche Krisen und Konflikt. Diese Überlegung ist für die aktuelle Krise der Globalisierung und den US-amerikanisch-chinesischen Wirtschaftskrieg von Bedeutung: Denn genau in den Epochen, in denen etablierte Machtstrukturen erodierten und durch alternative Machtzentren in Frage gestellt wurden, schlug die Stunde des Wirtschaftsnationalismus. Die »contender states« (Van der Pijl 1998: 79), Herausforderer der Hege­ monialmächte nutzten oft ein Arsenal von Schutzzöllen, Subventionen und Vorzügen für einheimische Unternehmen wie sie bereits Friedrich List (2008 [1841]) für Deutschland und Alexander Hamilton (1997 [1791]) für die Ver­ einigten Staaten beschrieben und empfohlen hatten (vgl. auch Chan 2003). In den meisten Staaten wurde das wachsende ökonomische Gewicht schließ­ lich auch in militärische Kapazitäten umgesetzt, im Gegenzug bedienten sich die etablierten Mächte ihrerseits wirtschaftsnationalistischer und impe­ rialistischer Praktiken in der Staatenkonkurrenz, um ihre Stellung zu vertei­ digen. Die Folge waren Staatenkonflikte und systemisches Chaos, es folgte schließlich der »hegemonic breakdown« (Arrighi/Silver 1999: 33). Zusam­ mengefasst: Der Wirtschaftsnationalismus gewann historisch in der Rezent­ rierungsphase an Bedeutung. Der Aufstieg Chinas als Wirtschaftsmacht erinnert an frühere hegemoni­ ale Übergänge. Auch heute schiebt sich mit China eine ehemalige Randre­ gion in den Mittelpunkt des globalen Kapitalismus, und die USA reagieren hierauf auf verschiedenen Ebenen – militärisch, wirtschaftlich und politisch. Doch die heutige Rezentrierung ist im historischen Vergleich qualitativ neu. Die Phase intensivierter Globalisierung seit den 1980er Jahren hat dazu bei­ getragen, dass die Weltwirtschaft stark transnationalisiert ist und ihre Integ­



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rationstiefe ein neues Niveau erreicht hat. Mit der Internationalisierung der Produktion setzte eine neue Entwicklung ein (Robinson 2004: 9ff.; Dicken 2007: 106ff.). Es kam nicht nur zum Aufstieg von transnationalen Konzer­ nen, die nationalen Wirtschaftskreisläufe wurden zunehmend von globalen als Referenzrahmen abgelöst. Heute wird etwa ein Drittel des Außenhandels innerhalb von Konzernen abgewickelt. Auch die räumlichen Maßstäbe staat­ licher Politik haben sich verändert. Die Bedeutung des Nationalstaats als zentraler Ort der Regulierung und Aushandlung von Interessenkonflikten wurde relativiert, die Ebenen oberhalb und unterhalb des Nationalstaats er­ hielten neue Regulierungskompetenzen (Bache/Flinders 2004; Pries 2008). In der gegenwärtigen soziologischen Diskussion wird zudem die Herausbil­ dung transnationaler Klassen diskutiert und ob diese weitgehend losgelöst von nationalen Referenzrahmen agieren (Sklair 2010; kritisch: Hartmann 2016). All dies hat dazu beigetragen, dass heute die beiden wichtigsten Volks­ wirtschaften, die USA und China, eng miteinander verflochten sind und da­ her Wirtschaftsnationalismus und verschärfte Staatenkonkurrenz unter an­ deren Vorzeichen heranreifen als in der Zwischenkriegsperiode der 1920er Jahre.

3. Die Chimerica-Konstellation Das chinesische Beispiel zeigt jedoch, dass enge transnationale wirtschaft­ liche Verflechtungen und nationale ökonomische Steuerungsfähigkeit kein unüberbrückbarer Widerspruch sind. Die Volksrepublik verfolgt ein staats­ geleitetes Wirtschaftsmodell. Der Staat verfügt über umfangreiche Planungs­ instrumente, insbesondere die detaillierten Fünfjahrespläne, mit denen stra­ tegische Leitsektoren wie grüne Technologien, künstliche Intelligenz und Biotechnologie gefördert werden. Dabei wirken die politischen Interessen des Parteistaats in die Regulierung der Ökonomie mit hinein: Der chinesi­ sche Kapitalismus ist dem, was Max Weber (2006 [1921/22]: 96) als politisch orientierten Kapitalismus bezeichnet hat, sehr nahe. Die Verwertungsinter­ essen der Unternehmen werden mitunter den machtpolitischen Interessen des Staates untergeordnet. In der wissenschaftlichen Literatur zu China ist deshalb auch oft von »state capitalism« (Naughton/Tsai 2015) oder »state permeated market-economies« (Nölke 2019) die Rede. Die staatliche Regu­ lierung und Durchdringung der Volkswirtschaft ist höher als in westlichen

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Marktökonomien: Der Staat steuert die Wirtschaft mittels ausgefeilter Fünf­ jahrespläne, reguliert Kapitalzuflüsse, verpachtet Grund und Boden, subven­ tioniert Privatunternehmen, vergibt Staatsaufträge an politisch gut vernetzte Wettbewerber und koordiniert Investitionen (z. B. Heilmann/Melton 2013). Diese Schlüsselrolle der »ruhelosen Hand« (Lu 2008) des chinesischen Staa­ tes blieb ungeachtet der Bedeutung von Privatinitiative und Wettbewerb (Nee/Opper 2012) und den einzelnen Reformphasen seit Beginn der Öff­ nungspolitik 1978, in denen das Verhältnis zwischen Markt und Staat neu geordnet wurde, im Prinzip bestehen. China trug also trotz des hohen Glo­ balisierungsgrads alle Merkmale eines contender state, bei dem staatliche Eli­ ten aktive Industrieförderung betreiben. Zum Verständnis ist ein Blick auf das chinesische Wirtschaftsmodell hilf­ reich. Dieses ist trotz der staatlichen Regulierung hochgradig transnationali­ siert und gilt ungeachtet aller Entwicklungserfolge als unausgewogen (Hung 2016). Neben der dynamischen Binnenwirtschaft haben der Export und der Zufluss von Direktinvestitionen seit den 1990er Jahren eine wichtige Rolle ge­ spielt: Hohe Exportüberschüsse trugen zu Erwirtschaftung von Devisen bei, Investitionszuflüsse konnten für den Transfer von Technologie genutzt werden. Der Exportsektor wird von ausländischen Konzernen dominiert. Ausgeführt werden vor allem zu Niedriglöhnen produzierte Industriegüter, die oftmals nur bloße Re-Exporte von eingeführten Komponenten oder Halbfertigwaren sind (export-processing-Produktion). Es herrscht ein Investitionsüberhang mit einem hohen Investitionsanteil von rund 40 Prozent des BIP. Oftmals wird auf industrielle Überkapazitäten, Verschuldung und Blasenbildungen im Immo­ biliensektor als Achillesverse des Modells hingewiesen (Schmalz 2018: 337ff.). Dennoch verfügt die Volksrepublik heute über einen dynamischen Hochtech­ nologiesektor in Bereichen wie der digitalen Plattformökonomie, 5G-Netz­ werktechnologie und E-Mobilität (zur digitalen Ökonomie: Scheuer 2018). Unternehmen wie der Netzwerkausrüster Huawei stehen mittlerweile an der Weltspitze, Digitalkonzerne wie der Internethändler Alibaba dominieren den Binnenmarkt. Gleichzeitig herrscht in der chinesischen Volkswirtschaft »struk­ turelle Heterogenität« (Cordova 1973), neben dem High-Tech-Sektor existie­ ren auch wenig entwickelte Produktionssektoren wie kleinere Werkstätten oder arbeitsintensive Industrieunternehmen. Die durchschnittliche Arbeits­ produktivität beträgt weniger als ein Viertel des US-Niveaus. Zugespitzt formuliert: Auch wenn das chinesische Modell unausgewogen war, wurde Chinas Aufstieg durch den hohen Transnationalisierungsgrad be­ fördert. Ausländische Investoren pumpten seit der Außenöffnung mehr als



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zwei Billionen US-Dollar in das Land, chinesische Fabriken exportieren nicht nur für den Weltmarkt, sondern chinesische Gläubiger und Investoren leg­ ten Billionen-Summen in ausländischen Staatsanleihen, Infrastruktur und Unternehmen an. Die Beziehungen zu den USA sind dabei von besonderer Bedeutung. Die Vernetzung der beiden Länder in den 2000er Jahren wurde von Niall Ferguson als »Chimerica« bezeichnet und hat unter diesem Namen Eingang in die öffentliche Diskussion gefunden (Ferguson 2009: 294ff.; vgl. etwa Lorenz 2010). Der Begriff impliziert eine »Symbiose« der US-amerikani­ schen und chinesischen Wirtschaftsmodelle, mit China als Exportnation und Werkbank der Welt einerseits und den USA als verschuldetem und defizitä­ rem »consumer of last resort« andererseits. China hat lange Zeit hohe Export­ überschüsse erwirtschaftet: Im Vorjahr der Krise betrugen sie 353,2 Milliarden US-Dollar, alleine 258,5 Milliarden US-Dollar mit den USA. Es bestand eine Abhängigkeit der chinesischen Exportindustrie vom US-Markt: Rund 36 Mil­ lionen Arbeiter und damit 4,5 Prozent aller chinesischen Lohnabhängigen ver­ dankt ihren Lebensunterhalt dem Export in die USA (Liew 2010: 665). Auch hatte die chinesische Notenbank einen systematischen Transfer von Exporterlösen in US-amerikanische Anlagepapiere gefördert, sodass die chi­ nesischen Exporte günstig auf dem US-Markt abgesetzt werden konnten (Brender/Pisani 2009). Im Jahr 2008 hielten chinesische Gläubiger rund 477,6 Milliarden US-Dollar an US Treasury Bonds, etwa ein Fünftel der Aus­ landsschulden des US-amerikanischen Zentralstaats. Die günstige Schulden­ aufnahme half, die Leitzinsen in den USA niedrig zu halten, was den Konsum und die Aufnahme von Privatschulden stimulierte. Die US-Haushalte hatten schon in den 1990er Jahren massive Schulden (darunter auch Immobilien­ hypotheken) angehäuft, um Reallohnverluste zu kompensieren (Stockham­ mer 2015). Die Privatverschuldung erreichte bereits 2005 rund 92 Prozent des BIP. Die US-Konsumenten wiederum konnten die günstigen Importe dafür nutzen, ihre Ausgaben niedrig zu halten. Schätzungen gehen davon aus, dass die durchschnittliche US-amerikanische Familie allein im Jahr 2004 rund 500 US-Dollar aufgrund chinesischer Importe gespart hatte (Palat 2010: 374). Das Chimerica-Modell stützte also die konsumorientierte und finanzi­ alisierte US-Wirtschaft (vgl. zur Finanzialisierung Krippner 2011); eine Kons­ tellation, die sich jedoch als sehr fragil erweisen sollte. Zusammengefasst: Die Wirtschaftsbeziehungen zwischen den USA und China sind als das Herzstück der Transnationalisierung globaler Kapitalkreisläufe seit den 1990er Jahren zu verstehen. Dabei entwickelte sich paradoxerweise der regulierte chinesi­ sche Staatskapitalismus in einem liberalen von den USA-dominierten Frei­

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handelsregime und profitierte von Kapitalzuflüssen in der globalen deregu­ lierten Finanzwelt. Wirtschaftsnationalismus und Globalisierung waren zu diesem Zeitpunkt – zumindest aus Sicht der chinesischen Staats- und Partei­ führung – kein Widerspruch. China profitierte vielmehr von dieser Konstel­ lation und entwickelte sich rasant; bis in die 2000er Jahre blieben jedoch die US-amerikanisch dominierten Machtstrukturen in der Weltwirtschaft und -politik intakt. Allerdings rief die langsame wirtschaftliche Schwerpunktver­ lagerung nach China große Ungleichgewichte im Außenhandel hervor.

4. Die Erschütterung: Auswirkungen der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 Die Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 erschütterte die Chimerica-Konstel­ lation und war letztlich das Vorspiel für die späteren Konflikte zwischen bei­ den Ländern. Die Widersprüche des US-amerikanischen Wirtschaftsmodells und der globalen Finanz- und Handelsbeziehungen verdichteten sich im Im­ mobiliensektor, auf den gewaltigen Hypothekenschulden der US-Haushalte hatte sich eine »umgekehrte Pyramide« (Gamble 2009: 21) von Verbriefun­ gen und Derivaten aufgetürmt. Der Finanzcrash war weltweit spürbar und traf über die sinkende Weltmarktnachfrage auch China. Die Folgen sind be­ kannt: Sowohl die Vereinigten Staaten als auch China legten gigantische Ret­ tungs- und Konjunkturprogramme auf, um die Weltwirtschaft zu stabilisie­ ren. Während die USA zunächst ein Bail-Out-Rettungsprogramm über 700 Milliarden US-Dollar auflegten und dann ein Konjunkturprogramm über 787 Milliarden US-Dollar verabschiedeten, setzte die chinesische Staatsund Parteiführung ebenfalls auf Konjunkturmaßnahmen im Wert von 586 Milliarden US-Dollar (Schmalz 2018: 236ff.).3 Die Maßnahmen waren dar­ in erfolgreich, den wirtschaftlichen Absturz aufzufangen und den Welthan­ del zu stabilisieren und zeugten von einem hohen Maß an wirtschaftlicher 3 Politischer Druck für ein Bailout-Programm in den USA wurde offensichtlich auch durch hohe chinesische Staatsfunktionäre ausgeübt: Der chinesische Staatsfonds SAFE und andere Finanzinstitutionen hatten bis zu 400 Milliarden US-Dollar in Fannie Mae und Freddie Mac investiert. Eine Pleite der Immobiliengiganten hätte zu gewaltigen Verlusten geführt. Die Verstaatlichung von Fannie Mae und Freddie Mac könnte also, etwas zugespitzt formuliert, als das Ergebnis eines »chinesischen Strukturanpassungs­ programms« bewertet werden.



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Transnationalisierung sowie der Koordinationsfähigkeit der G20-Staaten, ein Einbruch wie in der großen Krise 1929–1933 wurde verhindert (ebd.: 21ff.; Kindleberger 1979: 179ff.). Bereits zu diesem Zeitpunkt stellte die chinesische Staats- und Parteifüh­ rung die transnationalisierte Konstellation in Frage. Im Jahrzehnt nach der Krise trieb sie den ökonomischen Modellwandel voran. Es gehe darum »den Käfig zu leeren, dass sich neue Vögel niederlassen können« (Miller 2009), erklärte Wang Yang, der damalige Gouverneur der ökonomisch bedeuten­ den Provinz Guangdong. Die Maßnahmen zielten darauf, mittelfristig hö­ here Wertschöpfungsstufen anzusiedeln, die Industrieproduktion aufzuwer­ ten und das Exportregime mit seinen billigen Löhnen aufzubrechen (zur Diskussion: vgl. Ahuja u. a. 2013; Hung 2016). Es lassen sich heute einige Zeichen für einen Umbruch erkennen: Zunächst sind die Löhne seit unge­ fähr 2011 deutlich angestiegen, erstmals seit Jahren wächst der Konsum seit 2014 schneller als die Investitionen (Lardy 2019). Gründe hierfür sind unter anderen Engpässe auf dem Arbeitsmarkt, Streiks und auch die staatliche So­ zialpolitik (Schmalz u. a. 2017). Außerdem hat der Binnenmarkt gegenüber dem Außenhandel an Bedeutung gewonnen: Der Exportanteil sank von sehr hohen 36 Prozent am BIP (2007) auf 19,6 Prozent am BIP (2016). Vermehrt richten sich Produzenten (z. B. im Automobilsektor) am chinesischen Markt aus. Zudem haben sich in China große Einzelhandelsunternehmen wie der Elektrogerätehändler Suning herausgebildet. Die Bedeutung nationaler ge­ genüber transnationaler Wirtschaftskreisläufe wurde in China also bereits vor der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten gestärkt. Mit dem »Made in China 2025«-Plan werden heute zudem systematisch Schlüsseltechnologien wie High-End-Maschinen, Roboter oder Luftfahrt gefördert (Lüthje/Butollo 2017). Die Industrie soll so das Niveau Deutsch­ lands und Japans erreichen. Hinzu kommt, dass die chinesischen Anleger ihre Investitionen umschichteten, die Staatsanleihekäufe in den USA wur­ den seit Ende 2010 nur noch geringfügig aufgestockt. Vielmehr gingen zwi­ schen 2008 und 2017 chinesische Direktinvestitionen von rund 1,7 Billionen US-Dollar ins Ausland (AEI/Heritage Foundation 2018). Darunter fielen auch strategische Akquisitionen von Hochtechnologieunternehmen wie etwa die 5,5 Milliarden Euro schwere Übernahme des Augsburger Roboter­ herstellers KUKA durch den Haushaltsgerätesteller Midea veranschaulicht. Dennoch existieren Probleme und Krisentendenzen, wie die hohe Verschul­ dung der Kommunen und Unternehmen, die Blasenbildung auf den Immo­ bilienmärkten und die Überkapazitäten in der Industrie.

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Die Regierung Obama hinterfragte das Chimerica-Modell zunächst nicht (Solty 2019). Vielmehr blieb die finanzialisierte konsumgetriebene Wirtschaftsweise mit hohen Defiziten im Außenhandel bestehen, trotz eines soliden Beschäftigungswachstums wurden vor allem niedrig entlohnte Jobs geschaffen. Die Verlagerungen von Industriearbeitsplätzen ebbten ebenfalls nicht ab. Alleine zwischen 2000 und 2011 wurden laut Schätzungen über zwei Millionen Industriejobs ausgelagert (Acemoglu u. a. 2016). Die USA blieben der Schirmherr der internationalen Wirtschaftsordnung und stütz­ te weiterhin die Globalisierung. Allerdings wurde in der Post-Krisenphase deutlicher, dass die USA nicht mehr umstandslos die globalen Machtstruk­ turen beherrschten und China zunehmend die Rolle eines Herausforderers im kapitalistischen Weltsystem annahm: China fordert heute die USA im südchinesischen Meer militärisch hinaus. Große Investitionsprojekte wie das einer Seidenstraße (Belt and Road-Initiative) drohen asiatische Länder stär­ ker an China zu binden (Xing 2019). Mit der Asiatischen Infrastrukturin­ vestmentbank (AIIB) baut China sogar eine alternative Entwicklungsbank in der Region auf. Hinzu kam der rasante Aufstieg der chinesischen Techno­ logieunternehmen, der in einigen Bereichen wie der KI-Forschung oder der 5G-Technologie die US-amerikanische Position im globalen Innovations­ wettlauf relativieren. Die Finanzkrise kann also durchaus – wie in der Les­ art Arrighis  – als ein Ausdruck einer weitgehenden Umbruchssituation in der Weltwirtschaft gesehen werden, ja, sie beschleunigte den Aufstieg Chi­ nas und verschärfte die machtpolitischen Ambitionen der Volksrepublik. Es kam aber zu keinem unmittelbaren Großkonflikt oder einen Zusammen­ bruch der Ordnung. Zum Bruch kam es schließlich 2016. Die Infragestellung der intensivier­ ten Globalisierung und der Chimerica-Konstellation ging nun von den USA aus. Denn die Industrieverlagerungen schlugen wie ein Bumerang auf die US-Innenpolitik zurück: Unter dem Slogan »Make America Great Again« konnte Trump bei den Präsidentschaftswahlen Globalisierungsverlierer im deindustrialisierten Rust Belt in Bundesstaaten wie Wisconsin, Pennsyl­ vania, Ohio und Michigan mobilisieren (Fraser 2017). China »stehle«, so Trump, mit Subventionen und einer unterbewerteten Währung amerikani­ sche Jobs, das immense Handelsbilanzdefizit der USA gegenüber China sei das Ergebnis dieser Politik. Diese anti-chinesische Propaganda wurde zu ei­ nem Faktor in Trumps Wahlkampf, sie war wichtig um die Stimmen im de­ industrialisierten Rust Belt zu gewinnen. Das »boundary drawing« (Silver 2005: 20) der weißen Industriearbeiterschaft gegenüber Minderheiten wur­



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de im Wahlkampf also von dem Ruf nach einem wirtschaftsnationalistischen Kurs begleitet. Auf diese Weise bediente die Wahlkampfrhetorik die protek­ tionistischen und antichinesischen Stimmungen in den deindustrialisierten Bundesstaaten und konnte demokratische Stammwähler für sich gewinnen, die von der Freihandelspolitik der Vorgängerregierungen negativ betroffen waren (McQuarrie 2017). Diese Binnendynamik trug zur Verschärfung der Rivalität zwischen den USA und China bei, das »Globalisierungs-Paradox« (Rodrik 2012), bei dem weltwirtschaftliche Liberalisierungsschritte gleich­ zeitig zum »disembedding« des gesellschaftlichen Zusammenhalts beitragen, schlug nun auf die USA zurück.

5. Der US-amerikanisch-chinesische Wirtschaftskrieg Die Regierung Trump stellte bereits kurz nach Amtsbeginn die ChimericaKonstellation und Schritte zur Vertiefung der weltweiten Handels- und In­ vestitionsordnung in Frage. Die Vorgängerregierung Obama hatte eine an­ dere handelspolitische Ausrichtung verfolgt. Ihre Zielsetzung lässt sich als »T-Strategie« umschreiben (Daniljuk 2015). Die USA verhandelten verschie­ dene Handels- und Investitionsabkommen: Das Transatlantic Trade and In­ vestment Partnership (TTIP) mit 28 europäischen Ländern, das Trade in Services Agreement (TISA) mit 23 Staaten in Amerika, Europa, Ostasien und Ozeanien und das Trans-Pacific Partnership (TPP) mit elf Pazifikanrai­ nerstaaten hätten ein T-förmiges Handelsnetzwerk ergeben, das neben Ost­ asien Amerika und Europa umfasst hätte. Die Abkommen hätten zu einer Vertiefung des globalen Freihandelsregimes beigetragen, indem Bereiche wie Investitionsverkehr, Wettbewerbsmechanismen oder staatliche Güterver­ sorgung stärker liberalisiert worden wären (Schmalz 2018: 330ff.; Scherrer 2019). Sie hätten aber  – zumindest in Ostasien  – auch dazu beizutragen, die strukturelle Macht der USA über ihre Verbündeten zu erhöhen und den wirtschaftlichen Einfluss Chinas im Pazifikraum zurückzudrän­gen. Bereits kurz nach der Amtseinführung verließ die Regierung Trump die Verhandlungen zum TPP. Ziel war es nun, bestehende Abkommen wie die NAFTA mit Mexiko und Kanada neu auszuhandeln. Dabei gab es Ausein­ andersetzungen um die Ausrichtung in der Administration, in denen stark freihandelsaffine mit protektionistischen Kräften konkurrierten (Schmalz 2019). Die Neuorientierung wurde von unterschiedlichen Gruppen in der

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Regierung gestützt, darunter Vertreter des republikanischen Parteiestablish­ ments (z. B. Robert Lighthizer), die sich einen härteren Umgang mit China wünschten, oder auch Akteuren, die rechtsnationalistische und teils protek­ tionistische (wirtschafts)politische Vorstellungen einbrachten (Steve Ban­ non, Peter Navarro). Letztlich setzte sich ein Kurs durch, der nicht als per se protektionistisch bezeichnet werden kann. Es handelt sich eher um einen »li­ beralen ökonomischen Nationalismus« (Helleiner 2002: 319), bei dem Zöl­ le und Sanktionen dafür genutzt werden, um Freihandelsabkommen neu zu verhandeln und Märkte in anderen Ländern zu öffnen. Die Regierung Trump nimmt die internationale Wirtschaftsordnung daher – ähnlich wie von der realistischen Schule in der Internationalen Politischen Ökonomie betont (Gilpin 1987) – als ein Null-Summen-Spiel wahr, bei dem klare Ge­ winner und Verlierer existieren. Viele der Maßnahmen erinnern an die Poli­ tik der Regierung Reagan gegenüber Japan, das in den 1980er Jahren eben­ falls deutliche Überschüsse mit den USA erwirtschaftete und Fortschritte in der Hochtechnologie machte. Damals wurde mit Hilfe des Abschnitt 301 des Handelsgesetzes aus dem Jahr 1974 (Super 301) Importrestriktionen und hohe Zölle gegen Güter wie Autos und Motorräder verhängt (Gilpin 2000: 235f.; Brenner 2003: 93ff). Das Ergebnis war das Plaza-Abkommen im Jahr 1985, mit dem im Rahmen der G5 eine Aufwertung des Yen und auch der D-Mark durchgesetzt wurde. Hinzu kam eine gezielte Politik gegen den auf­ strebenden japanischen Halbleitersektor: Zölle im Wert von 300 Millionen US-Dollar im Jahr 1986 setzten die Halbleiterindustrie massiv unter Druck (Miller 2019). Im Ergebnis erreichten die USA zwar keine Korrektur der be­ reits damals negativen Handelsbilanz, aber rangen Japan signifikante Markt­ öffnungen ab und stabilisierten ihre Technologieführerschaft. Eine vergleichbare Handels- und Sanktionspolitik findet sich heute in offiziellen Dokumenten wie der »Trade Policy Agenda«. Zielsetzung ist die Marktöffnung für US-Konzerne und der Schutz geistigen Eigentums (Scher­ rer/Abernathy 2017). Durch Angriffszölle und Sanktionen soll China zum Einlenken gebracht werden. Die USA setzen erneut auf ihre verbliebene »strukturelle Macht« und damit die Fähigkeit, Spielregeln in der Weltwirt­ schaft zu gestalten und auszunutzen. Die Zielsetzung besteht also – wie in der Reagan-Zeit – nicht nur in einer Korrektur der Handelsbilanz oder einer Dynamisierung der heimischen Industrie, sondern auch darin, in Zukunfts­ branchen die Führungsrolle zu behalten. Die USA setzen auf Importzölle gegen chinesische Importe sowie Sanktionen und gehen mit Forderungen nach einer Marktöffnung für US-Exporte, dem Schutz intellektuellem Ei­



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gentum sowie einem staatlichen Förderungstopp von Zukunftsbranchen wie der Chipindustrie einher (Schmalz 2019). Letztlich richten sich diese Maß­ nahmen gegen die Funktionsweise des chinesischen Staatskapitalismus, der bisher mit Zöllen, Subventionen und Rahmenplänen erfolgreich zur tech­ nologischen Entwicklung des Landes beigetragen hatte. Zumindest einige dieser Maßnahmen erhalten heute auch in Teilen des demokratischen Lagers Unterstützung: Verschiedene demokratische Herausforderer in den Vorwah­ len für die Präsidentschaftswahlen 2020 wie Bernie Sanders oder Elizabeth Warren haben sich in unterschiedlicher Art und Weise chinakritisch geäu­ ßert und sehen Importzölle gegenüber China als legitimes politisches Mittel. Die Zölle, die zeitweise rund 70 Prozent der US-Importe aus China be­ trafen, wirkten sich nicht nur auf die Exporteure aus, die sich am US-Markt ausgerichtet haben. Auch Firmen, die von technologischen Inputs aus den USA abhängig sind, wurden stark in Mitleidenschaft gezogen. Neben ei­ nem Exporteinbruch entschieden gerade ausländische Konzerne, die China als verlängerte Werkbank genutzt hatten, Teile der Produktion auszulagern. Chinas Rolle als Exporteur und als Zulieferer für Firmen in US-zentrierten Produktionsnetzwerken wurde nun für das Land zum Problem (King 2019). Außerdem wurden gerade chinesische Tech-Firmen ins Visier genommen: Die US-Regierung lastete zunächst dem Telekommunikationsunternehmen ZTE und später Huawei einen Verstoß gegen die Irak-Sanktionen an. Da­ bei ging sie soweit, dass ZTE zeitweise seine Produktion einstellen musste, da der Konzern keine Halbleiter mehr beziehen konnte.4 Huawei wurde so­ gar auf eine schwarze Liste gesetzt, sodass das Unternehmen z. B. keine An­ droid-Apps von Google mehr auf Handys mitausliefern kann. Die Folgen für die chinesische Wirtschaft waren verheerend: Das Jahr 2019 wird mit großer Wahrscheinlichkeit das Jahr mit der niedrigsten BIP-Wachstumsra­ te seit drei Jahrzehnten sein. Hinzu kamen weitere Maßnahmen wie eine restriktivere Visa-Vergabe für chinesische Studenten und sogar Überlegun­ gen, die Börsennotierung von chinesischen Unternehmen in den USA ein­ zustellen (Bloomberg 2019; Rapeport/Swanson 2019). Der Druck auf die chinesische Regierung war also über verschiedene Machtstrukturen, insbe­ sondere in Produktion und Technologie hoch, aber die Machtmittel reichten nicht aus, um China zu einer weitgehenden Marktöffnung zu zwingen. Viel­ 4 Hierbei war bezeichnend, dass es parteiübergreifende Initiativen gab (u. a. unterstützt von dem republikanischen Senator Marco Rubio und der Demokratin Elizabeth War­ ren), die sogar über die Maßnahmen hinausgingen, die von der Regierung Trump un­ terstützt wurden.

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mehr geriet auch die Regierung Trump vor dem Hintergrund des anstehen­ den Wahlkampfs 2020 durch die chinesischen Gegenzölle (insbesondere auf landwirtschaftliche Produkte) unter Druck, sodass für Januar 2020 ein Zwi­ schenabkommen mit graduellen Zollerleichterungen anvisiert wurde. Aus makrosoziologischer Perspektive ist der Wirtschaftskrieg demnach eher als eine Auseinandersetzung um die Hegemonialmachtrolle im kapita­ listischen Weltsystem zu sehen: Anders als in militärischen Auseinanderset­ zungen in früheren hegemonialen Übergängen werden im US-amerikanischchinesischen Konflikt in der transnationalisierten Weltwirtschaft bisher vor allem technologische und wirtschaftliche Machtmittel mobilisiert. Eine Bi­ lanz des bisherigen Konflikts legt nahe, dass die Stellung der USA in den globalen Machtstrukturen nicht mehr ausreichend ist, um die chinesische Wirtschaftsmacht – ähnlich wie Japan in den 1980er Jahren – umstandslos zu disziplinieren.

6. Schlussfolgerung: Globalisierung unter Druck In dem Beitrag wurde aus einer makrosoziologischen Perspektive argumen­ tiert, dass sich historisch immer wieder das Zentrum der Weltwirtschaft ver­ schoben hat – mit weitreichenden Folgen. Denn die Phasen des globalen Li­ beralismus, in denen eine Ordnung mit offenen bzw. regulierten Märkten herrscht, wurden durch den Aufstieg von neuen Wirtschaftsmächten, die oft­ mals ein Arsenal von Zöllen und Subventionen zur Industrieförderung nutz­ ten, unter Druck gesetzt. Die Dynamik des Kapitalismus untergrub so die territoriale Ordnung. Die Folge waren oftmals Phasen der Staatenkonkur­ renz, in denen ökonomischer Nationalismus an Bedeutung gewann (ChaseDunn 2005). Heute gibt es Anzeichen dafür, dass der Aufstieg Chinas in der US-amerikanischen Ordnung vergleichbare Prozesse auslösen könnte, aller­ dings innerhalb einer stark transnationalisierten Wirtschaftsordnung. Der Handelskonflikt der Regierung Trump mit China ist aus dieser Lesart als ein hegemonialer Konflikt zu verstehen, indem es der US-amerikanischen Re­ gierung primär darum geht, die technologische und wirtschaftliche Vorherr­ schaft der USA abzusichern. Eine harte Haltung gegenüber China hat dabei mittlerweile auch im demokratischen Lager viele Anhänger, der Dissens ist eher in der Form und Reichweite der Maßnahmen (Einbindung von Alliier­ ten, Rolle von Schutzzöllen, etc.) zu finden.



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Eine einseitige Personalisierung von Trump als Initiator der Ausein­ andersetzung greift deshalb zu kurz. In dem Konflikt zwischen den USA und China entladen sich vielmehr die Widersprüche der Globalisierungs­ phase seit den 1980er Jahren. Die beiden Länder, die rund 40 Prozent des weltweiten BIP beitragen, haben eine Beziehung durchlaufen die zeitweise symbiotische Züge hatte: Die USA nahmen die Rolle eines consumer of last resort mit einer florierenden Finanzwirtschaft ein und lagerten indus­ trielle Kapazitäten nach China aus, während umgekehrt die Exportwirt­ schaft im chinesischen workshop of the world für den US-Markt produ­ zierte und große Mengen an Devisen auf den US-Anlagemärkten angelegt wurden. Diese Beziehung gleicht Dynamiken bei früheren Hegemonie­ wechseln, bei denen der Boom im Finanzsektor im alten hegemonialen Zentrum der dynamischen industriellen Entwicklung in neuen Zentren gegenüberstand (Arrighi 2008: 222ff.). Die Finanzkrise 2008 setzte die­ se Konstellation unter Druck und warf das Globalisierungsprojekt aus der Bahn: Nunmehr hinterfragten chinesische und später auch US-amerika­ nische Entscheidungsträger diese Konstellation. Dabei ging es nicht nur um wirtschaftliche Aspekte, sondern auch – wie erwähnt – um Macht und Kontrolle in der Weltwirtschaft und -politik. Mit dem US-chinesischen Konflikt seit 2018 werden nun die zentrale Grundlage des Geschäftsmo­ dells intensivierter Globalisierung seit den 1980er Jahren und die Interna­ tionalisierung der Produktion untergraben. Die Folge ist  – wie bisher oft angenommen  – kein klassischer Protek­ tionismus, sondern eher eine Tendenz zur Fragmentierung der Weltwirt­ schaftsordnung. Die hohen Zölle und Gegenzölle betreffen mittlerweile ein Handelsvolumen von über eine halbe Billion US-Dollar und stören globale Produktionsnetzwerke, hierdurch lassen sich Auswirkungen auf andere ex­ portabhängige Länder wie Deutschland beobachten. Hinzu kommen Nach­ ahmer: So hat Japan z. B. Korea aus politischen Gründen ebenfalls mit Zöl­ len für Halbleiter sanktioniert. Die Regierung Trump untergräbt zudem die Funktionsweise der Welthandelsorganisation WTO, indem sie wichtige Po­ sitionen in der Institution nicht mehr nachbesetzt. Vor dem Hintergrund des ohnehin stagnierenden Welthandels und Investitionsverkehrs scheint die Phase einer reibungslosen Globalisierung vorerst vorüber zu sein. Ob ein Re­ gierungswechsel in den USA nach den Präsidentschaftswahlen 2020 zu einer Trendumkehr führen wird, ist ungewiss. Es ist vielmehr absehbar, dass die Auseinandersetzungen zwischen den USA und China in anderen Formen weiterlaufen werden.

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Allerdings hat der Beitrag auch gezeigt, dass ungeachtet dieser Fragmen­ tierungen, Globalisierung und weitgehende nationalstaatliche Regulierungs­ befugnisse koexistieren können, wie dies im chinesischen Fall zu beobachten ist. Die Integration Chinas in die Weltwirtschaft hat zwar zu Ungleichge­ wichten und Krisentendenzen beigetragen, aber das chinesische Kapita­ lismusmodell erlaubt umfangreiche staatliche Interventionen in die Wirt­ schaft. Die verschärfte Konkurrenz mit chinesischen (Staats)Konzernen und der Handelskonflikt zwischen China und den USA könnten deshalb in west­ lichen Ländern Politikformen und institutionelle Regulierungen wieder sa­ lonfähig machen, die staatliche Regulierungsmuster aufwerten, ja, Elemente des »koordinierten Kapitalismus« wieder hoffähig machen (vgl. hierzu Nöl­ ke 2019). Hinzu kommt, dass Fragmentierungen und Protektionismus nicht zu einer Renationalisierung beitragen müssen, sondern es auch Formen von regionalen Blockbildungen in der Weltwirtschaft – z. B. ein westlich-japani­ sches Konglomerat versus ein chinesisch-russisch-zentralasiatischer Block – mit eng verflochtenen Wirtschaftskreisläufen, technologischen Innovations­ zentren und militärischen Bündnissystemen entstehen könnten. Die These eines Hegemoniewechsels der Weltsystemsoziologie könnte demnach relativiert oder sogar falsifiziert werden; zwar gibt es eine deutli­ che Verschiebung weltwirtschaftlicher Aktivitäten nach China, ohne jedoch, dass der chinesische Nationalstaat eine Hegemonialmachtrolle einnehmen würde: Vielmehr könnten Regulierungsmuster entstehen, die keine globa­ le Reichweite haben. Die Folge wäre eine Phase des Systemkonflikts zwi­ schen chinesischem Staats- und westlichen liberaleren Finanzmarktkapitalis­ men mit einer »chaotischen Melange« (McNally 2019) von institutionellen Regulierungen und Einflusssphären zwischen den USA und ihren traditio­ nellen Verbündeten sowie China und den Partnern der Volksrepublik im eu­ rasischen Raum.

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Die wirtschaftspolitischen Ideale der BrexitKampagne: Zwischen ökonomischem Nationalismus und globalem Freihandel Lisa Suckert 1. Einleitung Die Nacht vom 23. auf den 24. Juni 2016, in der sich der überraschende Ausgang des britischen EU-Referendums abzeichnete, wird vielen im Ver­ einigten Königreich, in Europa und darüber hinaus im Gedächtnis bleiben. Mit dem Brexit wurde eine gesellschaftliche Entwicklung deutlich, die auch die Wahl Donald Trumps und den Beinahe-Wahlsieg von Marine Le Pen ge­ prägt hat – und viele Demokratien weiterhin in Atem hält. Die Einordnung und Erklärung dieser politischen Verwerfungen stellt eine der dringlichsten sozialwissenschaftlichen Aufgaben dar. Um die Konfliktlinien zwischen den »neuen« Bewegungen und der »al­ ten« Welt- und Werteordnung zu beschreiben, greifen breite Teile des öf­ fentlichen und wissenschaftlichen Diskurses auf eine zentrale Dichotomie der Moderne zurück: Der neue Nationalismus wird als Gegenspieler zum vorherrschenden globalen Liberalismus verstanden. Basierend auf liberalen Werten, vor allem aber auf einer neoliberalen Form des Kapitalismus und der Öffnung nationaler Containergesellschaften, schien der globale Libe­ ralismus seit dem Zusammenbruch des Kommunismus weitestgehend un­ angefochten. Die aufkeimenden Bündnisse à la »Ukip«, »Front National« oder »Make America Great Again« werden nun, ganz im Polanyi’schen Sinne (1977: 172), als Gegenbewegungen verstanden (vgl. Bieling 2017). Je nach Perspektive als ewig Gestrige, die das Rad der Globalisierung zurückdrehen möchten; oder als ersehnte Hoffnungsträger, die gewillt sind, die Zeiten na­ tionalstaatlicher Souveränität zurückzubringen. In jedem Falle werden sie mit einer Abkehr von ökonomischen Globalisierungsprozessen und mit na­ tionalstaatlichen Schließungsbestrebungen in Verbindung gebracht. Der vorliegende Beitrag nimmt das britische EU-Referendum zum An­ lass, sich kritisch mit der Dichotomie »ökonomischer Nationalismus« ver­ sus »globaler Freihandel« auseinander zu setzen. Er geht der Frage nach, welche wirtschaftspolitischen Idealvorstellungen im Rahmen der Kampag­

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ne adressiert wurden. Entlang einer wirtschaftssoziologischen, diskursana­ lytischen Untersuchung von rund 400 Kampagnendokumenten wird de­ tailliert nachvollzogen, auf welch unterschiedliche Weise sich »Leave«- und »Remain«-Aktivisten im Rahmen der Kampagne auf ökonomische Narrative der Schließung und Öffnung bezogen haben. Im Anschluss an Eric Helleiner werden die vertretenen wirtschaftspolitischen Idealbilder sowohl anhand des adressierten Kollektivs (global vs. national) als auch anhand des bevorzugten Instrumentariums (liberal vs. interventionistisch) unterschieden. Die quali­ tative Analyse zeigt, dass sich insbesondere die Position der Brexit-Befürwor­ ter weder als ökonomischer Nationalismus noch als globaler Freihandel cha­ rakterisieren lässt, sondern stattdessen von der Integration gegensätzlicher wirtschaftspolitischer Traditionen geprägt war. Der Beitrag gliedert sich wie folgt: Ein erster Abschnitt setzt ökonomi­ schen Nationalismus und globalen Freihandel ins Verhältnis zueinander und ordnet ihre Bedeutung für die britische Wirtschaftsgeschichte ein. Aufbau­ end auf diesem theoretischen Rahmen wird zunächst ein kurzer Überblick zur Leave- und Remain-Kampagne, sowie zu Datenkorpus und methodi­ schem Vorgehen gegeben. Schließlich zeigen die Ergebnisse der Diskursana­ lyse, inwiefern im Rahmen der Brexit-Kampagne ökonomische Idealbilder verhandelt wurden und machen deutlich in welcher Weise die Argumen­ te beider Kampagnenlager durch nationalistische oder globalistische so­ wie durch interventionistische oder liberalistische Idealvorstellungen ge­ prägt wurden. Anhand zahlreicher Beispiele wird klar, dass eine einfache Zuordnung entlang des Gegensatzpaares ökonomischer Nationalismus ver­ sus globaler Freihandel die beiden Positionen nicht hinreichend akkurat be­ schreibt. Den Abschluss bilden eine kurze Einordnung und Diskussion der Ergebnisse.

2. Ökonomischer Nationalismus und globaler Freihandel: Zur Verortung einer wirtschaftspolitischen Opposition Ökonomischer Nationalismus und globaler Freihandel werden gemeinhin als gegensätzliche Wirtschaftsprogramme verstanden. Ein auf den Schutz na­ tionaler Industrien ausgerichteter Protektionismus im Sinne Friedrich Lists (1841) wird einem ökonomischen Liberalismus gegenübergestellt, der in der Tradition Adam Smiths (1776) staatliche Restriktionen ablehnt und den frei­



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en, grenzüberschreitenden ökonomischen Austausch als Garant für Effizienz und Weltfrieden sieht. Beide Ideologien haben seit dem 19. Jahrhundert die Unterstützung einflussreicher Proponenten erfahren, die sie in reale Wirt­ schaftspolitik umgesetzt haben. Im Sinne mächtiger economic imaginaries (Jessop 2013; Jessop/Oosterlynck 2008), haben sie die ökonomischen Ideal­ vorstellungen vieler Menschen geprägt und damit die Schaffung moderner ökonomischer Institutionengefüge angeleitet. Während das Verständnis von globalem Freihandel weitestgehend un­ problematisch erscheint, wird der Begriff des ökonomischen Nationalismus zunehmend kontrovers diskutiert. Autoren wie George Crane (1998), Rawi Abdelal (2001), Takeshi Nakano (2004) und insbesondere Eric Helleiner (2002; Helleiner/Pickel 2005) kritisieren, dass die nationalistische Kompo­ nente dieser Wirtschaftsideologie zu wenig Beachtung findet. Ökonomischer Nationalismus solle dementsprechend nicht voreilig mit Protektionismus gleichgesetzt, sondern stärker durch die Ausrichtung des wirtschaftspoliti­ schen Instrumentariums am »Wohle der Nation«1 definiert werden. Ökono­ mischer Nationalismus könne auch Wirtschaftspolitik umschreiben, die de­ zidiert (neo)liberale Elemente beinhaltet, dabei aber nationale Interessen in den Mittelpunkt stellt. Kritiker monieren an dieser weiten Lesart, dass eine Definition, die einzig auf die Reichweite des zu begünstigenden Kollektivs zielt, zu vage bleibt, um analytischen Mehrwert zu generieren. Im Extrem­ fall wäre eine Politik, die sämtliche (Grenz-)Kontrollen für Finanzkapital, Güter und Arbeitnehmer aufhebt und alle Staatsbetriebe international an den meist bietenden Investor versteigert, als ökonomischer Nationalismus zu betiteln, solange dies vorgeblich im Interesse der Nation geschieht (Pryke 2012). Historische Verschiebungen und Prozesse ökonomischer Globalisie­ rung lassen sich mit dieser Definition kaum mehr greifbar machen. Der vorliegende Beitrag folgt zwar nicht der von Helleiner und ande­ ren angestrebten Umdeutung des Begriffs »ökonomischer Nationalismus« 1 Die Literatur zum »ökonomischen Nationalismus« begreift die Nation meist unproble­ matisch, als kollektive, an einen Staat gebundene Entität die per se existiert. Demgegen­ über gehe ich stärker konstruktivistischen Ansätzen folgend durchaus davon aus, dass Nationen (bzw. die Vorstellung von deren Existenz) zunächst in nationalistischen Dis­ kursen und Institutionalisierungsprozessen konstruiert werden müssen. Dies schmälert selbstredend weder die Wirkmächtigkeit des Konzepts Nation noch die Möglichkeit, dieser »vorgestellten Gemeinschaft« (Anderson 2005) Interessen zuzuschreiben. Aller­ dings trägt aus dieser Perspektive auch Wirtschaftspolitik, die explizit auf nationale In­ teressen verweist, dazu bei, die Nation als Entität und eine entsprechende nationale öko­ nomische Identität zu konstruieren (vgl. Suckert 2019).

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nimmt jedoch das zugrundeliegende Plädoyer für eine differenziertere Ty­ pologie wirtschaftspolitischer Programme ernst. Der Mehrwert der Debatte liegt meines Erachtens in der Erkenntnis, dass sich ökonomischer Nationa­ lismus und globaler Freihandel bezüglich Zielen und Mitteln, d. h. entlang zweier Dimensionen unterscheiden lassen. Einerseits unterscheidet sich die Reichweite des jeweils zu begünstigenden Kollektivs. Beide Wirtschaftsideo­ logien zielen entweder auf Vorteile für nationale Interessengruppen oder ver­ sprechen Vorteile für ein Kollektiv, das über die vorgestellte Nation hinaus­ geht. Im Extremfall ist es die Menschheit per se, die von Effizienzzuwächsen oder Frieden profitieren soll (vgl. Zürn/Wilde 2016). Andererseits legen die beiden Programme verschiedene wirtschaftspolitische Instrumente nahe. Sie gehen entweder von einem negativen Freiheitsbegriff aus, der jegliche staat­ liche Interventionen ablehnt, auf die Abschaffung bestehender Handels­ hemmnisse und restriktiver Regulierung dringt und damit Instrumente der Deregulierung und Privatisierung befürwortet. Oder sie zielen auf die staat­ liche Einhegung globaler Märkte z. B. mittels Währungspolitik, Importkon­ trollen, Standards, Quoten, Zöllen, der Begrenzung von Arbeitsmigration, Subventionen für Leitindustrien oder Verstaatlichungen. Die beiden Gegensatzpaare Nationalismus und Globalismus sowie Li­ beralismus und Interventionismus können somit als zwei Dimensionen ei­ ner Vier-Felder-Tafel (Abb. 1) dienen, die es ermöglicht, verschiedene wirt­ schaftspolitische Idealtypen zu verorten.2 Entlang beider Dimensionen können Bestrebungen der ökonomischen Öffnung (hin zu Liberalismus bzw. Globalismus) und der ökonomischen Schließung (hin zu Interventio­ nismus bzw. Nationalismus) erfasst werden. Ausgehend von dieser Darstellung können ökonomischer Nationalis­ mus und globaler Freihandel tatsächlich als diametral entgegengesetzte Pro­ gramme bezeichnet werden. Unter ökonomischem Nationalismus wird im Folgenden Wirtschaftspolitik verstanden, die die Nation ins Zentrum ihres Interesses stellt und durch staatliche Interventionen auf eine zunehmende Schließung der nationalen Volkswirtschaft zielt. Demgegenüber soll der Be­ griff des globalen Freihandels ein wirtschaftspolitisches Programm beschrei­ ben, das ein Kollektiv jenseits der nationalstaatlichen Ebene adressiert und auf offene Märkte sowie den Rückbau staatlicher Restriktionen ausgerichtet ist. 2 Clift und Woll (2012) bieten eine ähnliche Tafel, die auf verschiedene Formen von öko­ nomischem Patriotismus abstellt.



Die wirtschaftspolitischen Ideale der Brexit-Kampagne

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Ziel: Reichweite des zu begünstigenden Kollektivs

Interventionismus Liberalismus

Wirtschaftspolitisches Instrumentarium

Mittel:

Nationalismus

Globalismus

ökonomischer

Global

Nationalismus

Governance

nationalistischer

globaler

Neoliberalismus

Freihandel

Abb. 1: Zwei Dimensionen wirtschaftspolitischer Idealvorstellungen Quelle: Eigene Darstellung

Beide idealtypische Wirtschaftsprogramme haben die Wirtschaftsgeschich­ te Großbritanniens und damit den britischen Fundus wirtschaftspolitischer Idealbilder und Traditionen geprägt. Die im kollektiven Gedächtnis als »gol­ denes Zeitalter« verankerte Phase des britischen Freihandels, die in etwa von der Aufhebung der Corn Laws 1846 bis zur seit den 1880er Jahren (vgl. Ze­ bel 1967) diskutierten und 1932 umgesetzten Tariff Reform andauerte, gilt als Idealtyp einer globalistischen und liberalistischen Wirtschaftspolitik; als realpolitische Umsetzung der maßgeblich durch britische Ökonomen ausge­ arbeiteten Idee des ökonomischen Liberalismus (Howe 1997; Pickering/Ty­ rell 2000). Das Ideal freier, vom Staat unbehelligter Märkte endete für die intellektuellen Vordenker explizit nicht an nationalen Grenzen. Sie gingen davon aus, das Freihandel für alle Beteiligten zutiefst vorteilhaft sei – entwe­ der aufgrund der generell gesteigerten Effizienz, wie Adam Smith (1776) und

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Lisa Suckert

David Ricardo (1821) schlossen, oder durch die wechselseitige Verflechtung und einhergehende Friedenssicherung, wie John Stuart Mill (1848) und Ri­ chard Cobden (Cain 1979) suggerierten. In der Tat zeigt Helleiner (2002) jedoch, dass diese Phase keinesfalls so globalistisch war, wie häufig angenom­ men. Vielmehr wurde das Ideal des Freihandels von Großbritannien primär aus nationalistischen Interessen verfolgt und weltweit mit Nachdruck durch­ gesetzt. Ein globales Freihandelssystem wurde zwar beschworen, hatte aber britischen Regeln zu folgen und britischen Interessen zu dienen. Die Phase des britischen Protektionismus, die durch die Abkehr vom Goldstandard und besagte Tariff Reform eingeleitet wurde und bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges andauerte wird hingegen häufig als ökonomischer Nationalismus im Sinne einer interventionistischen und nationalistischen Wirtschaftspolitik charakterisiert. Im kollektiven Gedächtnis ist diese Phase nicht zuletzt mit einer raschen Erholung von der Weltwirtschaftskrise ver­ bunden (Kitson/Solomou 1990). Abermals zeigt sich jedoch, dass diese Form des Protektionismus nur teilweise dem Idealtyp des ökonomischen Natio­ nalismus entspricht. So war die Idee der Tariff Reform aufs Engste mit dem Prinzip der Imperial Preference verbunden (Thompson 1997), das an die be­ kannte Buy Empire-Initiative des Empire Marketing Board anknüpfte (vgl. Thackeray/Toye 2018). Demnach sollte die britische Wirtschaft durch Zöl­ le vor »feindlichen« Importen geschützt, Handel mit dem britischen Com­ monwealth jedoch ausdrücklich befördert und durch entsprechende Zoller­ lässe begünstigt werden. Das Ideal des Freihandels und die Vorstellung eines globalen Großbritanniens, das den internationalen Austausch sucht, finden sich somit selbst im Rahmen dieser vermeintlich protektionistischen Phase. Dieser kurze wirtschaftshistorische Exkurs zeigt einerseits, dass Großbri­ tannien über vielfältige und teils konträre wirtschaftspolitische Traditionen und Idealbilder verfügt. Er zeigt andererseits, dass das konkrete wirtschafts­ politische Handeln und die Narrative, mit denen es legitimiert wird, nicht immer eindeutig den beiden Idealtypen zuzuordnen sind. Auch Abbildung 1 macht daher deutlich, dass jenseits der zwei Idealtypen ökonomischer Natio­ nalismus und globaler Freihandel weitere Ziel-Mittel-Kombinationen denk­ bar sind. Im rechten oberen Quadranten wären Programme auszumachen, die auf ökonomische Verbesserungen auf globaler Ebene zielen, jedoch auf parti­ elle Schließung und die stärkere Einhegung internationaler Märkte set­ zen. Hier sind etwa Entwürfe einer vielbeschworenen »Global Governance« (Zürn 1998) zu verorten, die globale Märkte durch supranationale Formen



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des Regierens oder einen sozial-demokratischen Multilateralismus (vgl. Har­ mes 2012) begrenzt sehen wollen. Auch die Idee eines »sozialen Europas« (Höpner 2016), das durch Interventionen auf europäischer Ebene versucht, der Integration der Märkte ein soziales Gegengewicht zu geben, wäre hier einzuordnen. Bemerkenswert scheint, dass sich in diesem Quadranten allen­ falls Programmentwürfe finden, die entweder nie umgesetzt wurden oder, wie das soziale Europa, als gescheitert gelten müssen (Scharpf 2009; Streeck 2018). Der linke untere Quadrant wird hingegen neuerdings bemüht, um die reale Wirtschaftspolitik aufstrebender (rechts-)populistischer3 Bewegun­ gen zu beschreiben. Mit Schlagworten wie »liberaler ökonomischer Natio­ nalismus« (Helleiner 2002), »liberaler ökonomischer Patriotismus« (Clift/ Woll 2012), »neoliberaler Nationalismus« (Harmes 2012) oder »nationalis­ tischer Neoliberalismus« (Cozzolino 2018) versuchen Wissenschaftler greif­ bar zu machen, dass diese Wirtschaftspolitik zwar maßgeblich auf neolibe­ ralen Instrumenten beruht, diese aber vehement mit nationalen Interessen gerechtfertigt werden. Die »Entfesslung der Märkte« geschieht hier im nati­ onalen Interesse, Deregulierung und Privatisierung erfolgen mit der Absicht, andere Nationen im freien Wettbewerb auszubooten. Bei genauerem Hinse­ hen zeigt sich aber, dass Programme wie »Make America Great Again« einen nach innen gerichteten Neoliberalismus mit protektionistischer Handelspo­ litik nach außen kombinieren (ebd.; Crouch 2017), also sowohl liberalistisch als auch protektionistisch sind. In jedem Fall erlaubt die Bezugnahme auf beide Dimensionen  – wirt­ schaftspolitisches Instrumentarium und zu begünstigendes Kollektiv – eine differenziertere Typologie wirtschaftspolitischer Programme. Beide Dimen­ sionen dienen daher als heuristischer Ausgangspunkt der nachfolgenden em­ pirischen Analyse der Brexit-Kampagne. Es wird so möglich, ökonomischen Nationalismus und globalen Freihandel konzeptuell greifbar zu machen, ohne den Analysehorizont voreilig auf diese beiden dichotomen Idealtypen zu verkürzen.

3 Zur politischen Aufladung des Begriffs »Rechtspopulismus« und der einhergehenden Problematik für den wissenschaftlichen Beobachter vgl. Kraemer (2018: 281f.).

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3. Die Brexit-Kampagne: Daten und Methode Das Versprechen David Camerons, im Falle eines Sieges bei den Parlaments­ wahlen ein Referendum über den Verbleib Großbritanniens in der EU ab­ zuhalten, gilt als parteipolitisch motiviert. Der Premierminister hoffte, eine weitere Wählerabwanderung zur UK Independence Party (UKIP) zu verhin­ dern, parteiinterne Euroskeptiker zu besänftigen und die konservative Partei zu einen – um damit die eigene Position zu sichern. Cameron ging davon aus, dass erfolgreiche Reformverhandlungen mit der EU, bei denen er sich substantielle Zugeständnisse für sein Land erwartete, die Mehrheit der Bri­ ten problemlos von einem Verbleib überzeugen würden. Dieses Kalkül muss in der Retrospektive als verhängnisvolle Fehleinschätzung gelten (Menon/ Fowler 2016). Diese bildet jedoch den Auftakt zu jener Kampagne, die hier im Zentrum der Analyse steht (Suckert 2019). Nachdem die konservativen Tories nach der Wahl 2015 weiterhin die Re­ gierung stellten, machte sich David Cameron an die »Nachverhandlungen« mit der EU. Unmittelbar nach dem Abschluss dieser Verhandlungen, die die Regierung als Erfolg für Großbritannien präsentierte, wurde am 23. Februar 2016 das Referendum für den Juni desselben Jahres angesetzt. Spätestens zu diesem Zeitpunkt intensivierte sich die öffentliche Debatte um den Brexit. Zahlreiche Bündnisse, die sich bereits zuvor gegründet hatten, um für den Austritt (»Leave«) oder den Verbleib (»Remain«) Großbritanniens aus bzw. in der EU zu werben, organisierten nun ihre Kampagnen. Tabelle 1 gibt ei­ nen Überblick aller im Rahmen der Diskursanalyse systematisch einbezoge­ nen Bündnisse. Sie bilden die wichtigsten Träger der Kampagne ab. Im Leave-Lager fand sich selbstredend die rechtpopulistische UKIP, die 1993 mit dem Ziel gegründet worden war, den Austritt Großbritanniens aus der EU zu befördern (vgl. Goodwin/Milazzo 2015). Darüber hinaus agier­ te ein verschachteltes Bündnis von EU-Kritikern, das so unterschiedliche Gruppierungen wie die gewerkschaftsnahe Trade Unions Against EU als auch die rechts-liberale Bruges Group vereinte. Wenngleich die Integration beider Extreme des politischen Spektrums ein besonderes Charakteristikum des Leave-Lagers darstellt, zeigten sich auch die Brexit-Gegner als hetero­ genes Bündnis. Insgesamt ist bemerkenswert, dass die Konfliktlinien wei­ testgehend quer zu etablierten Parteien und klassischen Rechts-Links-Zu­ ordnungen verliefen. So organisierten sich z. B. Torie-Mitglieder sowohl als EU-kritische Conservatives For Britain als auch als pro-europäische Conser­ vatives In; Linke Aktivisten engagierten sich als Lexit für einen Austritt, war­



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ben aber im Rahmen von Left Unity für den Verbleib in einer reformbedürf­ ten EU. Mitte April 2016 ernannte die Wahlkommission des Referendums die Bündnisse Vote Leave und Stronger In als offizielle lead campaigner, d. h. mit Privilegien und Finanzierung ausgestattete Repräsentanten der beiden Lager. Auf der Leave-Seite war dieser Entscheidung ein Konkurrenzkampf zwischen dem UKIP-nahen Grassroot Out Movement und dem Bündnis Vote Leave, in dem sich viele konservative Politiker engagierten, vorausge­ gangen (Armstrong 2017: 61f.). Die Zersplitterung erscheint jedoch retros­ pektiv nicht als Mangel, sondern ermöglichte den Brexiteers verschiedene Zielgruppen anzusprechen (vgl. Menon/Fowler 2016). Die Bündnisse beider Lager führten breite Kampagnen, die neben Stra­ ßen- und Häuserwahlkampf alle verfügbaren Medien nutzten. Insbesondere (sogenannte) soziale Medien spielten eine neue, zentrale Rolle, trugen aber zu verschärfter Polarisierung und der Verbreitung von Übertreibungen und Unwahrheiten bei (Del Vicario u. a. 2017). Davon unberührt waren die klas­ sischen Tageszeitungen wichtige Arenen für den Meinungskampf um den Brexit. Während sich viele »Qualitätsblätter«, wie etwa The Times, The Gu­ ardian oder The Financial Times hinter die EU-Befürworter stellten, gaben zahlreiche Boulevardblätter wie The Sun, Daily Mail oder Daily Express kla­ re Empfehlungen für ein Leave-Votum ab (Armstrong 2017: 68). Für die vorliegende Diskursanalyse (vgl. Suckert 2019) wurde ein Korpus generiert, das verschiedene Formate berücksichtigt. Um eine gewisse Ver­ gleichbarkeit zu gewährleisten, wurden »anzeigenähnliche« Dokumente be­ trachtet, d. h. schriftliche und bildliche Formate, die den Umfang von vier Seiten nicht überschreiten, direkt an potentielle Wähler gerichtet und ei­ nem oder mehreren Kampagnenbündnissen als Urheber zuzuordnen sind. Statements oder Posts von Einzelpersonen wurden nicht berücksichtigt. Das Analysekorpus enthält Anzeigen, die in Printmedien, online oder in sozialen Medien veröffentlicht wurden, aber z. B. auch Broschüren, Werbe-Banner, Poster, Inhalte von Internetseiten, Karikaturen und Info-Briefe. Die Daten­ bank der Bibliothek der London School of Economics zur Brexit-Kampagne (LSE 2019) bildete einen guten Ausgangspunkt, der um eigene Recherchen erweitert wurde.4 Internet-, Facebook- und teilweise Twitter-Auftritte aller in Tabelle 1 aufgeführten Bündnisse wurden systematisch durchsucht. Das Internetarchiv waybackmachine (http://archive.org) ermöglichte es, aktuell 4 Ich danke Isabelle Puccini für die Unterstützung beim Aufbau der Datenbank und ers­ ter Codierung des Korpus.

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Tabelle 1: Bündnisse und Anzahl analysierter Kampagnendokumente

Leave

156

BeLeave

Jugend-Kampagne von Vote Leave

13

Better Off Out

Kampagne der rechts-liberalen Freedom Association

21

The Bruges Group

Europakritische, rechts-liberale Vereini­ gung

7

Conservatives for Britain

Bündnis innerhalb der Conservative Partei

3

Grassroots Out

Parteiübergreifendes Sammelbündnis

3

Green Leaves

Bündnis innerhalb der grünen Partei

4

Labour Leave

Bündnis innerhalb der Labour Partei

3

The Leave Alliance

Sammelbündnis rechts-liberaler, europa­ kritischer Vereinigungen

3

Leave.EU

Parteiübergreifendes Sammelbündnis mit starker Bindung an UKIP, vormals »The Know«

38

Left Leave

Sammelbündnis linker EU-kritischer Ver­ einigungen

13

Lexit-Network

Internationales linkes Bündnis von EUKritikern

9

Trade Unionists Against the EU

Sammelbündnis EU-kritischer Gewerk­ schafter und linker Parteien

2

United Kingdom Independence Party (UKIP)

Partei für die Unabhängigkeit des Verei­ nigten Königreichs

14

Vote Leave

Parteiübergreifendes Sammelbündnis, of­ fizieller Kampagnenführer des Leave-La­ gers

26

Weitere:

2



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Remain

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224

Another Europe is Possible

Sammelbündnis linker pro-europäischer Vereinigungen, die auf Reform der EU zielen

5

Britain Stronger In Europe

Parteiübergreifendes Sammelbündnis, of­ fizieller Kampagnenführer des RemainLagers

43

British Influence

Wirtschafts-liberale, pro-europäische Ver­ einigung

2

CampaignToRemaIN

Social-Media Kampagne

25

Conservatives In

Offizielles Bündnis der Conservative Par­ tei

24

EU-UK

Von Künstlern initiierte Kampagne

12

Greens for Europe

Bündnis innerhalb der grünen Partei

28

Labour In for Britain

Offizielles Bündnis der Labour Partei

50

Left Unity

Sammelbündnis linker pro-europäischer Vereinigungen

12

Liberal Democrats

Kampagne der Liberal Democrats Partei

7

Weitere:

4

Quelle: Eigene Darstellung

nicht mehr abrufbare Inhalte der jeweiligen Seiten zugänglich zu machen und damit den vergangenen Zeitpunkt der Brexit-Kampagne abzubilden. Darüber hinaus wurde weiteres Material durch offene Internetsuchanfragen nach dem Schneeballprinzip generiert. Das so zusammengestellte Analyse­ korpus enthält 382 Dokumente, davon sind 156 der Leave- und 224 der Re­ main-Kampagne zuzuordnen (vgl. Tab. 1).5 Dieses Textkorpus wurde einer qualitativen Diskursanalyse unterzogen, die darauf zielt, wirtschaftspolitische Idealvorstellungen herauszuarbeiten. 5 Die Summe der in Tabelle 1 aufgezählten Dokumente weicht ab, da einige Anzeigen mehreren Bündnissen zuzuordnen sind.

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Die in Abschnitt 2 dargestellten Dimensionen – zu begünstigendes Kollektiv und wirtschaftspolitisches Instrumentarium – wurden als Heuristik genutzt. Die tatsächlichen Analysekategorien wurden induktiv entwickelt und in ei­ nem anschließenden Codierprozess von zwei Personen entsprechenden Text­ segmenten zugewiesen. Kategorienentwicklung und Codierung erfolgten unter Zuhilfenahme der QDA-Software Atlas.ti. Für die ersten rund hundert Dokumente erfolgte der Codierprozess konsensuell, d. h. Codier-Ergebnis­ se wurden zwischen den Beteiligten intensiv diskutiert, reflektiert und ent­ sprechend angepasst, um eine intersubjektive Zuordnung zu gewährleisten (Kuckartz 2016: 221f.). In einem anschließenden Durchgang des unabhängi­ gen Codierens konnte eine Intercoder-Übereinstimmung von 85 Prozent für die Dimension Globalismus versus Nationalismus sowie 77 Prozent für die Dimension Liberalismus versus Interventionismus erzielt werden, was ins­ gesamt einem Cohen’s-Kappa-Wert von 0,79 entspricht.6 Wenngleich der­ artige Messzahlen für die Güte qualitativer Analysen nur eingeschränkt aus­ sagekräftig sind (ebd.: 212ff.), erscheinen die Resultate des Codierprozesses hinreichend robust.7 Die Interpretation dieser Resultate erfolgte ebenfalls qualitativ im Sinne einer iterativen Auseinandersetzung mit dem Materi­ al und entsprechend codierten Segmenten. Allerdings wurden quantifizier­ te Auswertungen der Codier-Resultate genutzt (vgl. Hamann/Suckert 2018: 28ff.), um die im Kern qualitative Analyse zu »informieren« (Bubenhofer 2013) und einzuschätzen wie »typisch« einzelne, qualitativ gewonnene Er­ kenntnisse für das Gesamtkorpus sind. Die Ergebnisse der Diskursanalyse werden in den folgenden Abschnitten unter Rückgriff auf diese Häufigkeits­ auszählungen, vor allem aber anhand entsprechender Zitate aus dem Kam­ pagnenmaterial dargestellt.

6 Da die qualitativ zu codierenden Segmente von beiden Analystinnen als Sinneinheiten frei gewählt wurden, kann eine Übereinstimmung nicht segmentgenau bewertet wer­ den (vgl. Kuckartz 2016: 210f.). Als Übereinstimmung wurde gewertet, wenn ein Code einem Dokument von beiden Analystinnen zugewiesen wurde, wobei jedem Dokument mehrere Codes zugeordnet werden konnten. Für Berechnungen der zufälligen Überein­ stimmung wurde nach Brennan und Prediger (1981) die Formel »1/ Anzahl der Katego­ rien + 1« herangezogen. 7 Kappa-Werte gelten ab 0,6 als gut, ab 0,8 als sehr gut. Der sehr hohe erzielte Wert kann teilweise auf die großzügige Definition von »Übereinstimmung« zurückgeführt werden (vgl. Fußnote 6).



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4. Ökonomische Identität als zentrales Thema Im Ringen um die richtigen Schlussfolgerungen wird häufig postuliert, das Brexit-Referendum habe sich nicht an ökonomischen Fragen, sondern an den Themen nationalstaatliche Souveränität und Migration entschieden (vgl. z. B. Kaufmann 2016; Goodwin 2016; Curtice 2016). Die wachsende Furcht vor Fremdbestimmung und Überfremdung, also die Sorge um die Bewahrung britischer Identität, wären ausschlaggebend, um zu erklären, weshalb so viele Briten gegen die EU votiert hätten (vgl. kritisch zu diesen »identitären« Erklärungen Koppetsch 2019; Manow 2018; Kraemer 2018). Die Analyse des Kampagnenmaterials zeigt, dass Souveränität und Mig­ ration in der Tat wichtige Themen waren: Gefahren für die nationalstaatlichdemokratische Souveränität wurden in fast der Hälfte der analysierten Lea­ ve-Anzeigen (49 Prozent), Probleme von Migration in nahezu jeder dritten Anzeige (28 Prozent) adressiert. Jedoch wurden sowohl Souveränität als auch Migration in den allermeisten Fällen mit klaren Bezügen zu ökonomischen Fragen verhandelt (vgl. Suckert 2020). So warb etwa die UKIP mit einem auf den Betrachter gerichteten ausge­ streckten Zeigefinger und dem Statement »26 million people in Europe are looking for work. And whose jobs are they after?«. Dieses Plakat, das bereits für die Europawahl 2014 im Einsatz war, referenziert eindeutig auf den As­ pekt Migration. Es wurde jedoch nicht auf kulturelle oder staatsbürgerliche Bedenken, sondern auf die ökonomischen Folgen vermeintlich unregulierter Zuwanderung abgehoben. Selbstredend finden sich vereinzelt Anzeigen, die primär Angst vor kultureller Überfremdung schürten – das umstrittene, von Nigel Farage lancierte Breaking-Point-Plakat ist das bekannteste Beispiel. Die Abbildung einer langen Schlange von Menschen, die auf den Betrachter »zuströmen«, die meisten von ihnen Männer mit dunkler Hautfarbe,8 und der Slogan »Breaking Point. The EU has failed us all.« wurde gezielt ein­ gesetzt, um Ressentiments gegen »kulturell andere« nutzbar zu machen. In den meisten Fällen wurde Migration jedoch eher mit Arbeitsplatzverlusten, dem angespannten Wohnungsmarkt oder der ökonomischen Überlastung von Sozial- und Bildungssystemen, d. h. mit klar wirtschaftlichen Konse­ quenzen, in Verbindung gebracht. Die Bruges Group brachte dies exempla­ risch in einer Infobroschüre zum Ausdruck: »Immigration makes it harder 8 Tatsächlich handelt es sich bei dem Bild des Fotografen Jeff Mitchell um Flüchtende auf der »Westbalkanroute« in Slowenien.

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Abb. 2: Bedeutung ökonomischer Argumente für die Brexit-Kampagne – Anteil analysierter Anzeigen Quelle: Eigene Darstellung

to attend a good university, obtain a well-paid job, and secure affordable li­ ving accommodation.« In ähnlicher Weise finden sich auf der Leave-Seite zwar Anzeigen, in de­ nen der Verlust von Souveränität als Problem für die traditionsreiche parla­ mentarische Demokratie Großbritanniens behandelt wurde. »Britain’s con­ tinuing membership of the Community would mean the end of Britain as a completely self-governing nation« hieß es beispielsweise in einem Flyer der Green Leaves. Auch für das Thema Souveränität gilt jedoch, dass es in der Mehrheit der Anzeigen mit ökonomischen Aspekten in Verbindung ge­ bracht, d. h. primär als ökonomische Souveränität adressiert wurde. Vor der Abbildung eines Dyson-Staubsaugers, der einen scheinbar schon länger ver­ unreinigten Teppich säubert, warb z. B. das Vote Leave Bündnis mit dem Zi­ tat des Unternehmers und Erfinders Sir James Dyson: »We will create more wealth and more jobs by being outside the EU than we will within it and we will be in control of our destiny. And control, I think, is the most important thing in life and business.« Eine ähnliches, ökonomisch ausgerichtetes Ver­ ständnis von Souveränität zeigt auch Labour Leave in einer Infoborschüre: »The UK Parliament is not allowed to decide how best to support key sectors like manufacturing, farming & fishing.« Souveränität wurde hier vor allem



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als Möglichkeit verstanden, über den nationalen Wirtschaftsraum und die nationale Wirtschaftspolitik selbst zu bestimmen. Dass die Themen Migration und Souveränität als wichtige Argumente der Leave-Seite vor allem unter ökonomischen Gesichtspunkten verhandelt wurden, erscheint vor der Tatsache, dass es sich bei der EU primär um ein wirtschaftliches Bündnis handelt, wenig verwunderlich. Es verdeutlicht aber, dass ökonomische Faktoren zwar mit unterschiedlicher Akzentuierung, aber auf beiden Seiten der Kampagne eine zentrale Rolle gespielt haben. Insge­ samt beschäftigten sich, über beide Lager hinweg, zwei Drittel aller analy­ sierten Anzeigen mit wirtschaftlichen Themen im Haupt- oder Nebenargu­ ment. Wie Abbildung 2 zeigt, verändert sich dieses Muster nicht merklich, wenn man Leave- und Remain-Anzeigen getrennt betrachtet. Im Zweifelsfall müsste Leave und nicht etwa Remain als die stärker »ökonomisierte« Kam­ pagne gelten. Angesichts der Dominanz des Themas im Kampagnenmaterial scheint es sinnvoll, die ökonomischen Argumente beider Lager in den Fokus einer detaillierteren Analyse zu stellen. In den nachfolgenden beiden Abschnitten wird daher betrachtet, welche ökonomischen Ideologien im Rahmen der 251 Anzeigen, die wirtschaftliche Aspekte im Haupt- oder Nebenargument the­ matisieren, ins Spiel gebracht wurden.

5. Zwischen Interventionismus und Liberalismus Von welchen wirtschaftspolitischen Idealbildern wurden Leave- und Re­ main-Kampagne angeleitet? Lassen sich die jeweils propagierten Vorstellun­ gen als ökonomischer Nationalismus bzw. globaler Freihandel charakterisie­ ren? Zur Beantwortung dieser Fragen wird zunächst das als legitim erachtete wirtschaftspolitische Instrumentarium betrachtet. Grundlegend wurde zwi­ schen den Kategorien Interventionismus und Liberalismus unterschieden. Darauf aufbauend differenziert die Analyse jedoch zwischen Kampagnenin­ halten, die liberalistische bzw. interventionistische Instrumente befürworten und solchen, die lediglich die entgegengesetzte Wirtschaftspolitik ablehnen. Abbildung 3 bietet einen ersten quantifizierten Überblick der qualitati­ ven Diskursanalyse und gibt an, in wie vielen der untersuchten Kampagnen­ dokumente interventionistische bzw. liberalistische Argumente auftauchen. Es zeigt sich, dass die Remain-Seite tendenziell liberalistischer argumentiert,

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Abb. 3: Wirtschaftspolitisches Instrumentarium I: Liberalismus vs. Interventionismus – Anteil analysierter Anzeigen Quelle: Eigene Darstellung

Abb. 4: Wirtschaftspolitisches Instrumentarium II – Anteil analysierter Anzeigen Quelle: Eigene Darstellung



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während sich die Leave-Kampagne kaum einer der beiden Kategorien zuord­ nen lässt. Abbildung 4 zeigt zudem, dass die Leave-Seite eine stärker ableh­ nende Haltung einnahm und sich häufiger negativ auf wirtschaftspolitische Instrumente jeglicher Ausrichtung bezog. Die Anzeigen der EU-Befürworter argumentierten hingegen mehrheitlich (59 Prozent) für liberalistische Wirt­ schaftspolitik und nahmen, wenn auch weniger, positiv auf interventionisti­ sche Instrumente Bezug. In dieser quantifizierten Zusammenschau erscheint die Differenz zwi­ schen den beiden Kampagnen erkennbar, jedoch wenig ausgeprägt. Die­ ser Eindruck entsteht nicht zuletzt, da mehr als die Hälfte aller Anzeigen (53 Prozent) sowohl liberalistische als auch interventionistische Bezüge her­ stellten. Die Unterschiede werden deutlicher, wenn man die Vehemenz und die Stoßrichtung mit denen in den Kampagnendokumenten für die jeweili­ ge wirtschaftspolitische Ausrichtung geworben wurde, mit einbezieht. Dies kann jedoch nicht durch das reine Zählen der Anzeigen, sondern nur in der qualitativen Einzelschau, die dieser Analyse zugrunde liegt geleistet werden. Die Kampagne der EU-Befürworter sprach sich mehrheitlich für libera­ le Wirtschaftspolitik aus und betonte die Vorteile einer ökonomischen Ord­ nung, die keine nationalstaatlichen Grenzen oder Eingriffe kennt. Die EU wurde in diesen Anzeigen als Garant einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung gesehen, die sicherstellt, dass Arbeitnehmer, Waren und Kapital frei zirku­ lieren können. »Britons are free to live, work, do business, study or reti­ re anywhere they choose in Europe« beschrieb CampaignToRemaIN in ei­ ner Online-Anzeige die Vorzüge einer Mitgliedschaft und wandte sich damit gegen Zölle und Reiseverbote. Die EU-Befürworter betonten immer wie­ der die enorme Bedeutung von freien Märkten, Exporten und Importen für den britischen Wohlstand. Labour In warb etwa für Freihandel, indem der Abbildung eines lachenden Arbeiters im »Blaumann« die einfache Formel zur Seite gestellt wurde: »Jobs. Exports. Security. Don’t leave them behind. Don’t risk Britain’s future.« Ähnlich beschrieb Stronger In warum Großbri­ tannien am Freihandel festhalten solle: »Good for small business who are free to sell to 500 million people across the EU. Over 200,000 UK busi­ nesses trade goods with the EU, which creates more UK jobs.« Für das Re­ main-Lager sicherte ökonomisches Handeln, welches unbehelligt von staat­ lichen Eingriffen bleibt, Wachstum und Arbeitsplätze. Die zentrale Aussage der Remain-Kampagne, dass sich eine EU-Mitgliedschaft für Großbritanni­ en lohnt, wurde in den Anzeigen vehement mit dem Idealbild einer liberalen Wirtschaft verknüpft.

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Neben diesen liberalistischen Forderungen finden sich auf der RemainSeite, wenn auch deutlich weniger ausgeprägt, interventionistische Argu­ mentationslinien. In einigen Anzeigen wurde die EU nicht als Garant einer freien, sondern einer regulierten Wirtschaft dargestellt, als Schutzmacht gegen eine allzu starke liberale Öffnung. Dabei ging es einerseits um den Erhalt von Arbeitnehmerrechten und Umweltstandards, d. h. staatlichen Eingriffen in die Wirtschaft, die als gut erachtet wurden. Greens For Euro­ pe ließen etwa auf die von Monty Python inspirierte Frage »Yes, but what has the EU ever done for us?« eine lange Liste interventionistischer EUMaßnahmen folgen, die von banker’s bonus cap über restrict pesticides bis zu safer lorries reichte. In ähnlicher Weise wurde der öffentliche Sektor und hier allen voran der National Health Service (NHS) als schützenswert adressiert. Unter dem Slogan »Don’t Risk our NHS« suggerierten verschie­ dene Bündnisse, dass das staatliche Gesundheitsprogramm nur durch ei­ nen Verbleib in der EU erhalten und vor weiterer Privatisierung geschützt werden könne. Es gilt jedoch zu beachten, dass diese interventionistischen Elemente sich zwar in der Mehrheit der Remain-Kampagnendokumente finden lassen, oft jedoch nur als marginaler Zusatz fungierten, der ein im Kern liberalistisches Argument erweiterte und suggerierte, dass »ein klein wenig Staat« dennoch erwünscht sei. So ergänzten CampaignToRemaIN die liberalistische Darstellung einer Anzeige, die Binnenmarkt und Frei­ handel als Motor für individuellen Wohlstand preist, beispielsweise durch den schlichten Zusatz »and more money to pay for public services«. In der Gesamtschau erscheint die Kampagne der Brexit-Gegner liberalistisch und zeichnete mehrheitlich das Idealbild einer ökonomischen Ordnung, in der sich der Staat weitestgehend zurück hält. Der wirtschaftspolitische Standpunkt der EU-Skeptiker weicht hiervon ab und lässt sich nicht eindeutig als interventionistisch oder liberalistisch beschreiben. Viele Anzeigen sowohl rechter als auch linker Bündnisse for­ derten staatliche Eingriffe in die Wirtschaft und brandmarkten die EU als liberal bzw. neoliberal. »The EU is increasingly operating like a free market across Europe«, kritisierte etwa Vote Leave. Auch die Green Leaves hielten wenig von freien Märkten: »The EU is becoming a dictorial imposer of aus­ terity and deregulation, uncaring about its impacts on the wellbeing of peo­ ple and planet, and determined to derail any elected government that dares dissent from its neoliberal ideology.« Häufig wurde der Wunsch nach einer stärkeren Einhegung und Regulierung von Märkten in den Anzeigen der Leave-Kampagne in Zusammenhang mit dem Thema Arbeitnehmerfreizü­



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gigkeit artikuliert. Wenig verwunderlich sah vor allem die UKIP unregulier­ te Migration als ein zentrales Problem und illustrierte dies durch einen auf der Straße bettelnden Arbeiter mit Helm, Stiefeln und gelber Weste: »EU policy at work. British workers are hit hard by unlimited cheap labour.« Ähnlich kritisch äußerten sich jedoch gemäßigtere oder gar linke Bündnisse. Better Off Out betonte »The EU’s cherished freedom of movement for peo­ ple within its borders puts enormous strain on our NHS, our education and our housing«. Selbst die mit der kommunistischen Partei assozierten Trade Unionists Against The EU forderten »OUT of the single market and NO free movement of labour«. Ein Mehr an staatlichem Eingreifen wurde eben­ so verlangt, wenn es um Arbeitnehmerrechte und die Subvention einheimi­ scher Industrien ging, die ohne die EU endlich möglich wären, so das Credo der Brexit-Befürworter. »The UK Parliament is not allowed to decide how best to support key sectors like manufacturing, farming & fishing«, bemän­ gelte Labour Leave in einer Infobroschüre. Es wurde in diesen Anzeigen also für eine Einschränkung internationaler Märkte geworben, die nur außerhalb der EU für möglich erachtet wurde. Zu guter Letzt wurden staatliche Eingriffe auch durch eine Stärkung des öffentlichen Sektors beschworen. Der Ausbau der eigenen staatlicher Institution, »Our public services« (z. B. Labour Leave), wurde häufig in ei­ nen Zusammenhang mit den britischen Zahlungen an die EU gebracht, die als verschwendet gebrandmarkt wurden: »Stop the United Kingdom taxpayer from sending £350 million a week to Brussels – money we could spend on our own schools, hospitals, armed forces and police«, argumen­ tierte beispielsweise Grassroots Out. Die in der Debatte allgegenwärti­ gen, und augenscheinlich fehlerhaft berechneten 350 Millionen Pfund,9 wurden besonders häufig als Finanzierungsmöglichkeit für das staatliche Gesundheitssystem skizziert: »Let’s fund our NHS instead«, reklamierte Vote Leave auf zahlreichen Flyern, Plakaten, Online-Anzeigen und dem markanten roten Kampagnenbus. Gerade im Hinblick auf das sakrosank­ te NHS ging es den Brexit-Befürwortern aber nicht nur um den Ausbau, sondern um den Schutz vor einer als neoliberal erachteten EU: »The NHS deserves the very best! […] Outside the European Union, we can improve quality of care, reduce health tourism and ensure the NHS is not privatized under TTIP«, versprach Better Off Out. Leave-Kampagnen des gesamten 9 Zur Rolle des Post-Faktischen für den neuen Rechtspopulismus forschen u. a. Silke van Dyk (2017) und Jonathan Rose (2017).

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politischen Spektrums forderten damit entlang verschiedener Themen im­ mer wieder ein stärkeres Eingreifen des Staates, übten vor allem aber Kritik an allzu freien Märkten, Deregulierung und Privatisierung. Diese interven­ tionistische Stoßrichtung unterscheidet die Anzeigen klar von der Kampa­ gne der Brexit-Gegner. Davon unberührt wurden in den Anzeigen der Leave-Kampagne jedoch mit fast gleicher Vehemenz liberalistische Argumente verfolgt, d. h. die EU wurde als zu interventionistisch abgelehnt. Vor allem von rechts-liberalen Bündnissen wurde unter dem Stichwort Red Tape eine Überregulierung der britischen Wirtschaft angeprangert. »One of the biggest burdens on Britain’s economy of EU membership is the vast plethora of red tape. According to Open Europe, the think tank, just the top 100 EU regulations cost this coun­ try £33.3 billion in 2014«, kritisierten Better Off Out auf ihrer Internet­ seite. »The EU should not regulate your ride home«, urteilte auch die Ju­ gend-Kampagne BeLeave und spielte mit der Abbildung eines Autos und einer Smartphone-App auf umstrittene Dienste wie Uber an. Immer wieder wurden auch zu hohe Konsumenten- und insbesondere Lebensmittelpreise ins Feld geführt, um die interventionistische Wirtschaftspolitik der EU an­ zuprangern. Better Off Out erklärte beispielsweise in einer Infobroschüre: »Food in the UK is more expensive than it could be as a direct result of being in the European Union. […] A combination of quotas, taxes, subsidies and other policies all push up the prices that we pay for food.« Die Vorstellung einer EU, die als überbordende Staatsbürokratie die Wirtschaft erstickt und damit das britischen Anliegen des »Rolling back the State« gefährdet, lässt sich nicht zuletzt auf jene berüchtigte Rede zurück führen, die Margaret Thatcher 1988 in Brügge (»Bruges Speech«) zur Zukunft der EU hielt (vgl. Forster 2002). Auch die Bruges Group, die sich den EU-kritischen Inhalten dieser Rede verpflichtet sieht, lehnte die EU aus einem liberalistischen Argu­ ment heraus ab: »EU rules stifle competition and innovation.« Einhergehend mit der Ablehnung staatlicher Bürokratie wurde an die britische Tradition des Freihandels appelliert (Suckert 2020). In vielen Lea­ ve-Anzeigen wurden »Free Trade« und »Global Trade« als britische Errun­ genschaften und erstrebenswertes Ideal angepriesen. Eine Karikatur von The Know stellte David Cameron und seinen Koalitionspartner Nick Clegg bei­ spielsweise auf einem Tandem dar, welches trotz Anstrengung nicht vom Fleck kommt, da es einen großen grauen Elefanten mit EU-Trikot hinter sich herziehen muss. Das anzustrebende Ziel, welches mit diesem Ballast außer Reichweite liegt, wurde durch einen Wegweiser symbolisiert: »Global



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Trade«. Ähnlich argumentierte Better Off Out mit Verweis auf liberale Tra­ ditionen gegen die EU: »Yet that belies our history, it belies the facts of our global trade and it belies the strength of our country.« In der Zusammenschau finden sich in der Leave-Kampagne damit so­ wohl interventionistische als auch als liberalistische Argumente. Es wurde ein wirtschaftspolitisches Ideal skizziert, das sich sowohl gegen Deregulie­ rung und Privatisierung als auch gegen Überregulierung und Staatsbüro­ kratie wendete – und dies häufig innerhalb desselben Bündnisses oder in­ nerhalb derselben Anzeige. Die EU-Kritiker integrierten widersprüchliche wirtschaftspolitische Instrumente – und unterscheiden sich damit von der Remain-Kampagne, die in weiten Teilen klar liberalistisch argumentierte. Eine simple Dichotomie, bei der dem hegemonialen Liberalismus ein ein­ deutiger Interventionismus gegenübertritt, kann jedenfalls nicht konstatiert werden.

6. Zwischen Nationalismus und Globalismus Zur Bestimmung des wirtschaftspolitischen Standpunktes der beiden Kam­ pagnenlager gilt es in einem zweiten Schritt, nach dem zu begünstigenden Kollektiv zu fragen: Geht es primär um nationale Interessen, oder sollen auch andere Nationen bzw. andere Kollektive von der eingeschlagenen Wirt­ schaftspolitik profitieren? Nationalistische Ideologien grenzen jene Individuen, die als der Nation zugehörig gelten von jenen ab, die als außenstehend erachtet werden. Kons­ truktivistisch orientierten Ansätzen folgend, sind Nationen jedoch nicht als natürliche Entitäten (Gellner 1983: 48f.), sondern als »vorgestellte politische Gemeinschaften« (Anderson 2005: 15) zu verstehen, die in entsprechenden Diskursen und alltagsweltlicher Praxis stetig reaktualisiert werden müssen (Billig 1995). Die konstruierte Demarkationslinie zwischen »Innen« und »Außen« kann folglich unterschiedlich Gestalt annehmen (Salzborn 2011: 10). »Die Nation« und »die Anderen« können auf sehr verschiedene Weise ins Verhältnis gesetzt werden. Unterschiedlich »starke« oder »schwache« Na­ tionalismen sind die Folge. So lassen sich beispielsweise ethnischen Formen des Nationalismus, welche Individuen nur als zugehörig anerkennen, wenn sie von außen definierte ethnische Charakteristika erfüllen, von staatsbürger­ lichen Nationalismen unterschieden, die lediglich das Selbstbekenntnis der

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Individuen erfordern (Lepsius 1982; A. D. Smith 2009). Letztere sind we­ niger restriktiv. Ebenso kann Nationalismus primär auf die Integration des Kollektivs und eine entsprechende Identifikation ausgerichtet sein; oder stär­ ker chauvinistische Formen annehmen, d. h. einen Überlegenheitsanspruch gegenüber anderen formulieren (Bonikowski/DiMaggio 2016: 956f.). Dieser starke Nationalismus räumt nationalen Interessen Priorität ein und versteht »andere« explizit als Gegner (Riescher 2010). Diese grundlegende Idee aufgreifend, wurden für die Analyse der BrexitKampagne unterschiedlich starke Ausprägungen von Nationalismus und Glo­ balismus unterschieden, die »Innen« und »Außen« verschieden in Beziehung setzen: Als eher nationalistisch wurde eingestuft, wenn Großbritannien als kol­ lektive Entität aufgerufen wurde, um die Gültigkeit britischer Interessen zu betonen; als stärker nationalistisch, wenn britischen Interessen jenen anderer Kollektive übergeordnet wurden, d. h. die Bedürfnisse anderer als »gegnerisch« insinuiert wurden; als eher globalistisch wurde eingeordnet, wenn die Interes­ sen der britischen Nation als im Einklang mit den Interessen anderer Nationen dargestellt wurden; als stärker globalistisch, wenn es gar nicht mehr um briti­ sche Belange, sondern um jene anderer Kollektive oder Nationen ging. Abbildung 5 gibt einen quantifizierten Überblick über die Zuordnung der Kampagnendokumente zu den einzelnen Kategorien, der hilft die quali­ tativen Ergebnisse einzuordnen. Dabei fällt zunächst auf, dass sowohl für das Remain- als auch für das Leave-Lager die allermeisten, d. h. etwa 80 Prozent aller Anzeigen, britische Interessen ins Spiel brachten. Bedenkt man, dass es sich bei der analysierten Kampagne um einen dezidiert nationalen Wahl­ kampf handelte, der auf britische Bürger zielte, verwundert dies kaum. Nur wenige Anzeigen linker Bündnisse verzichteten ganz auf nationale Bezüge. Wenngleich nationale Interessen damit auf beiden Seiten eine zentrale Rolle spielten, unterscheiden sich die Lager jedoch darin, wie sie diese gegenüber den Interessen anderer Nationen verorteten. Auf Seiten des Remain-Lagers wurden britische Interessen nicht in Ab­ grenzung zu den Interessen anderer definiert.10 Stattdessen verwies mehr als die Hälfte der pro-EU-Anzeigen darauf, dass britische Belange mit den In­ teressen anderer Nationen im Einklang stehen. Der Wert von Zusammen­ arbeit, Austausch und Miteinander wurde betont. Dabei finden sich einer­ seits Verweise auf den gegenseitigen Nutzen ökonomischer Verflechtung. 10 Dies ist nur in drei Anzeigen der Fall, in denen der britischen Sonderstatus innerhalb der EU oder die Möglichkeiten EU-weiter Wirtschaftssanktionen gegen »feindliche« Staa­ ten (Iran, Russland), gepriesen werden.



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Abb. 5: Zu begünstigendes Kollektiv: Globalismus vs. Nationalismus – Anteil analysierter Anzeigen Quelle: Eigene Darstellung

»For every £1 we put into the EU, we get almost £10 back through increa­ sed trade, investment, jobs, growth and low prices«, versprach beispielswei­ se Stronger In und bekräftigte dies mit der Abbildung eines Münzstapels. Ähnlich argumentierte CampaignToRemaIN: »Britain is part of the world’s largest Single Market of half a billion consumers. The Single Market is our platform for trading with the rest of the world, creating more jobs, more prosperity and more money to pay for public services.« Die EU wurde aber auch als Rahmen verstanden, der es erlaubt, globalen Problemen wie Kli­ mawandel, Steuerflucht, Migration oder ausuferndem Neoliberalismus ge­ meinsam zu begegnen. Greens for Europe begründeten das Festhalten an

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der EU mit folgendem Hinweis: »With corporations operating across bor­ ders, we need international rules to keep them in check – on wage levels, working conditions, and environmental standards. EU rules are helping to close tax loopholes and clamp down tax dodging.« Internationale Zusam­ menarbeit wurde darüber hinaus als Quelle des Machterhalts ausgemacht: »The EU enhances Britain’s economic and diplomatic clout in the world. Because we are part of a powerful economic bloc we can insist on higher standards on issues that matter« argumentierte etwa CampaignToRemaIN. Auch Labour In for Britain knüpfte an Großbritanniens Tradition als Welt­ macht an und verkündete vor der Illustration des Union Jack : »Vote for Britain’s place as a world power. Being in Europe helps make Britain a more powerful country.« Schließlich findet sich bei den Befürwortern der EU auch ein knappes Viertel der Anzeigen, das nicht nur für Zusammenarbeit warb, sondern sich explizit für die Interessen eines Kollektivs einsetzte, das über Großbritanni­ en hinausgeht. Die zumeist linken Bündnisse verwiesen dabei z. B. auf die Rechte von Migranten oder präkarisierten Menschen, wie Greens For Eu­ rope betonte: »Working closely with other EU countries allows us to be­ gin tackling the huge inequalities across our continent.« Dabei wurde häu­ fig nicht auf einzelne Nationen, sondern den Kontinent Europa oder die Menschheit per se abgehoben: »Unity is strength and that means unity of working people, poor and exploited people, across borders.« (Left Unity) Für die Remain-Kampagne lässt sich damit festhalten, dass diese, wenn­ gleich es sich um eine national ausgerichtete Kampagne handelt, mehrheit­ lich internationalistisch oder globalistisch ausgerichtet war. Großbritannien wurde hier als Wirtschaftsnation gedacht, die mit anderen zusammenarbei­ tet um gemeinsame Interessen zu verwirklichen. Das von der Leave-Kampagne gezeichnete Ideal weicht hiervon ab. Wie bereits der quantifizierte Überblick in tab 5 zeigt, wurden britische Interessen sehr wohl in Abgrenzung zu anderen nationalen Interessen verstanden. Mehr als die Hälfte der untersuchten Leave-Anzeigen warb für ein Verständnis von nationaler Wirtschaftspolitik, bei dem es gilt, die Interessen des »Gegners« zurückzuweisen. Einerseits wurde die EU als Zusammenschluss von Län­ dern skizziert, die versuchen, Großbritannien zu benachteiligen und sich un­ gerechtfertigt am britischen Wohlstand zu bereichern. Die UKIP stellte z. B. dem Bild eines mit müden Arbeitnehmern voll besetzten britischen Busses jenes eines europäischen Bürokraten in edlem Anzug und dunkler Limousi­ ne gegenüber und titelte dazu »Your daily grind funds his celebrity lifestyle.



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The UK pays £55 million a day to the EU and its Eurocrats.« Labour Leave folgte dieser Argumentationslinie: »The UK gives Brussels £50 m every day – £350 m every week – £19bn every year. We get less than half back but Brus­ sels stops us spending on OUR priorities for jobs in manufacturing, energy, regeneration, agriculture or fisheries.« Darüber hinaus wurden die Bürger der übrigen 27 EU-Mitgliedsländer als potentielle Migranten und damit Konkurrenten dargestellt. »Whereas graduates were once competing against other UK graduates, they are now competing against applicants form the other 27 EU states«, argumentierte die sonst Wettbewerb durchaus gewoge­ ne Bruges Group. Neben der EU als Ganzes wurden immer wieder einzelne Länder als Kontrahenten adressiert. Einerseits wurde süd- und osteuropäi­ schen Ländern unterstellt, britischen Interessen entgegen zu stehen. Ein Vote Leave-Poster stellte z. B. die mit einem Schlagloch illustrierte Aussage »There are 35 milion potholes in Britain« einer Abbildung gegenüber, die scheinbar eine moderne griechische Brücke zeigte: »And your money is being spent on bridges like this in Greece«. Ähnliche Aussagen fanden sich auch wiederholt zu EU-Beitrittskandidaten wie Serbien, Mazedonien und Montenegro. An­ dererseits wurde häufig Kritik an Deutschland und den USA geübt, so wurde beispielsweise die EU als »deutsches« Projekt gebrandmarkt. Die Leave-Kampagne war damit von nationalistischen und teilweise xenophoben Tendenzen gekennzeichnet. Diese sind jedoch wenig überra­ schend und fügen sich in die Erzählung, die die Brexit-Bewegung als ökono­ mischen Nationalismus verstanden wissen will. Von dieser Deutung weichen jedoch überraschend viele Leave-Anzeigen ab, indem sie Großbritannien als Wirtschaftsnation darstellen, die mit anderen zusammenarbeiten soll. Von einigen eher linksgerichteten Befürwortern des Austritts wurde die EU als Hindernis für echten Internationalismus gesehen, einen »Internationalist Case Against the EU« wollte beispielsweise das Lexit Netzwerk vorbringen. Andere Anzeigen knüpften an die Tradition der britischen Weltmacht an und betonten, der Kontinent wäre zu klein gedacht, Großbritannien sol­ le sich lieber an der Welt als solche orientieren: »Outside the EU we will at last be able to do free trade deals with the US, with China, and the growth economies around the world. Let us lift our eyes to the horizon [...]«, warb BeLeave etwa mit einem Zitat von Boris Johnson. Wie in diesem Beispiel illustrierten die Brexit-Befürworter ihre globalistischen Argumente häufig mit Verweisen auf ehemalige Kolonien und Länder des Commonwealth, zu welchen im Falle eines Austritts die Beziehungen ausgebaut werden sollten. »The government would also be free to push for new global trade deals, and

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reinforce its links with the Commonwealth« beteuerte etwa Leave.EU. Das Commonwealth wurde in den Leave-Anzeigen immer wieder als Alternati­ ve zur EU, als »britische« Form des Internationalismus, ins Spiel gebracht. Zusätzlich finden sich einige Kampagnendokumente, die nicht nur Zusammenarbeit mit anderen Ländern, sondern direkt die Interessen von Nicht-Briten adressieren. Auch hier waren ehemalige Commonwealth-Län­ der zentral. Illustriert durch zwei Reisepässe argumentierte BeLeave etwa, dass Commenwealth-Bürger gegenüber EU-Bürgern benachteiligt würden: »Passport discrimination must end. Our friends in the commenwealth de­ serve equal opportunity.« In ähnlicher Weise setzten sich einige Anzeigen kritisch mit Migration auseinander, betonten dabei aber nicht die Risiken und Nachteile für Großbritannien, sondern jene, die den Herkunftsländern entstehen: »Depopulating Central, Southern and Eastern Europe of working age people is actually a lose/lose for them, as well as Britain, as they do not have the chance to build up their own countries economy.« (Bruges Group) In der Zusammenschau unterscheiden sich beide Lager im Hinblick auf das durch eine ideale Wirtschaftspolitik zu begünstigende Kollektiv. Remain erscheint deutlich globalistischer. Zwar geht es um britische Interessen, diese stehen aber im Einklang mit Interessen anderer. Es herrschte die Vorstellung, dass durch Zusammenarbeit »der Kuchen größer wird« und gemeinsame Inte­ ressen am besten gemeinsam gewahrt werden können. Auf der Seite des Leave Lagers wurde Wirtschaftspolitik hingegen als internationaler Verteilungskon­ flikt wahrgenommen. In einer Art Nullsummenspiel stehen britische Interes­ sen jenen anderer Nationen oder Kollektive potentiell entgegen. Davon unbe­ irrt vertrat Leave gleichzeitig auch das Ideal einer britischen Wirtschaftsnation, die weltoffen und Teil einer größeren Gemeinschaft sein sollte. Der Zusam­ menschluss mit »befreundeten« Nationen wurde – jenseits der EU – durchaus als erstrebenswert dargestellt. Ähnlich wie bereits im letzten Abschnitt, skiz­ zierte die Leave Kampagne damit eine britische Wirtschaftsnation die zugleich national und global, zugleich offen und geschlossen erscheint.

7. Fazit Seit dem Ausgang des Brexit-Referendums versuchen Sozialwissenschaft­ ler das Abstimmungsergebnis und die weiterreichenden Umbrüche, die vie­ le westliche Länder aktuell erschüttern zu verstehen. Der vorliegende Bei­



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trag fügt sich in diesen vielfältigen Forschungsstrang ein. Er nimmt nicht in Anspruch, die aktuellen Dynamiken alleinstehend erklären zu können, bietet jedoch ein weiteres Mosaiksteinchen zum Verständnis des Gesamtbil­ des. Insbesondere setzt er sich kritisch mit der These auseinander, die neu­ en populistischen Bewegungen stellten der dominanten Ideologie des globa­ len Freihandels das Leitbild des ökonomischen Nationalismus entgegen. Die Diskursanalyse des Kampagnen-Materials beider Lager macht deutlich, dass diese dichotome Gegenüberstellung zumindest für den Fall Brexit nicht hin­ reichend akkurat ist.11 Die Gegner des Brexit zeichneten, mit einigen Abstrichen, das Ideal einer liberal und global ausgerichteten Wirtschaftspolitik. Zwar appellierte auch Re­ main an die »Nation« als zentralen Adressaten, nationale Interessen wurden hier jedoch als im Einklang mit den Interessen anderer Kollektive dargestellt – solange diese über freie Märkte vermittelt werden. Die EU wurde von ihren Befürwortern als Garant dieses globalen Freihandels dargestellt. Die RemainKampagne wäre damit in Abbildung 1 im rechten unteren Quadranten zu ver­ orten. Die Leave-Kampagne lässt sich jedoch entlang dieser Dimensionen nur schwer einordnen. Zwar gab es, im Verhältnis zur Remain-Seite deutlich mehr interventionistische Argumente und die Kampagne hatte in weiten Teilen ei­ nen klar nationalistischen Charakter – gleichzeitig wurde aber auch hier der ökonomische Liberalismus als britisches Ideal herausgestellt und es gab zahlrei­ che Verweise auf eine britische Wirtschaftsnation, die als Teil einer größeren, internationalen Gemeinschaft verstanden sein will. Das gegenwärtig viel dis­ kutierte Konzept eines neoliberalen Nationalismus, das in Abbildung 1 im lin­ ken unteren Quadranten zu verorten wäre, beschreibt einen wesentlichen Teil der Leave-Kampagne, wird der Vielfalt und Widersprüchlichkeit jedoch nicht gerecht. Diese lässt sich am ehesten mit einem »sowohl als auch« oder, ins Ne­ gative gewendet, einem ablehnenden »weder noch« beschreiben. Die EU-Kri­ tiker zeichnen ein Bild, bei dem der Wunsch nach ökonomischer Schließung, nach mehr Kontrolle über den eigenen Wirtschaftsraum, mit dem Bedürf­ nis einhergeht, an der globalen ökonomischen Öffnung festzuhalten und Teil der globalen Wirtschaft zu bleiben. Die entgegensetzten Impulse von Öffnung und Schließung verbinden sich in dieser Darstellung oder werden zumindest als überlappend skizziert. Dass diese Position nicht nur ambivalent, sondern in weiten Teilen in­ kohärent ist, zeigt sich bei der schleppenden, schier unmöglichen Umset­ 11 Zu einem ähnlichen Schluss kommen auch Thackeray, Thompson und Toye (2018: 3f.).

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zung des Brexit. Die britische Politik kämpft auch damit, im Rahmen der Kampagne geäußerte Verheißungen nach zeitgleicher Schließung und Öff­ nung umzusetzen. In der wirtschaftspolitischen Realität scheinen sich kon­ träre ökonomische Ideologien nicht so mühelos ineinander zu fügen, wie in den untersuchten Kampagnendokumenten dargestellt. Späte Schadenfreude oder gar Häme sind jedoch fehl am Platz. Um den neuen populistischen Bewegungen zu begegnen gilt es, das in der Leave-Kam­ pagne adressierte ambivalente Bedürfnis nach Schließung bei zeitgleicher Öff­ nung ernst zu nehmen. Wie von Eric Helleiner und anderen gefordert, kann es dazu förderlich sein, sich von der festgefahrenen ideologischen Dichotomie, globaler Freihandel versus ökonomischer Nationalismus, zu lösen. Es erscheint bedenkenswert, dass sich viele der neuen rechtspopulistischen Bewegungen bereits von diesem Gegensatz verabschiedet haben: sie kombinieren munter liberalistische und interventionistische Instrumente, beschwören den Vorrang der Nation und wollen gleichzeitig von globalen Finanzmärkten profitieren. Konzepte wie jenes des »neoliberalen Nationalismus« beschreiben diese Am­ bivalenz allenfalls in Teilen. Progressive Gegenentwürfe, die ebenfalls versu­ chen dem ambivalenten Bedürfnis nach Schließung und Öffnung gerecht zu werden, sind hingegen rar und noch kaum für den Kontext der EU nutzbar gemacht. Es gilt daher, jenseits der beiden Schubladen des ökonomischen Na­ tionalismus und des globalen Freihandels nach neuen wirtschaftspolitischen Programmen und Organisationsformen Ausschau zu halten, um besser zwi­ schen Liberalismus und Interventionismus, zwischen nationalen Grenzen und ökonomischem Globalismus zu vermitteln.

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Wirtschaftliche Gesetzesbürokratie – Der missing link zwischen Globalisierung und Nationalismus Jürgen Schraten 1. Einleitung Das Risiko des Misserfolgs im marktwirtschaftlichen Wettbewerb bedarf der Regulierung.1 Bereits im aufkommenden Kapitalismus waren Fernhan­ del und koloniale Expansionsunternehmen in hohem Maße kreditfinanziert und versicherungsbedürftig. Folglich konnte das Scheitern einer Einzelun­ ternehmung zahlreiche indirekt Beteiligte und ganze Segmente der Gesell­ schaft in große Not bringen. Diese Tendenz durchdrang mit der Industriali­ sierung die Gesellschaften auch im Innern und erreichte mit der Etablierung des Konsumentenkredits im 20. Jahrhundert schließlich das Alltagsleben der Bürger. Im 21. Jahrhundert hat die Regulierungsnotwendigkeit durch die Fi­ nanzialisierung eine neue Dimension erreicht, weil zukünftige ökonomische Potenziale systematisch in gegenwärtige marktwirtschaftliche Austausch­ prozesse einbezogen werden (van der Zwan 2014). Die Nutzung der Ima­ ginationen von erwarteten Ressourcen als Grundlage gegenwärtigen wirt­ schaftlichen Handelns erhöht die Störanfälligkeit kapitalistischer Prozesse immens (Beckert 2016). Die permanente Krisenhaftigkeit ist nicht nur ein wirtschaftliches Problem, sondern stellt eine fortwährende Herausforderung für die staatliche Souveränität und die Infrastrukturen der Sicherheit dar (Langenohl 2020). Die Regulierung fehlgeschlagener Erwartungen ist nicht nur außeror­ dentlich konfliktträchtig, sondern hält auch für die soziologische Reflexion einigen Forschungsbedarf parat. Der vorliegende Beitrag zielt dabei auf eine gesellschaftliche Selbstverständlichkeit ab, die nicht einfach zu erklären ist: Wenn eine kreditfinanzierte Unternehmung oder verschuldete Privatperson in mittelfristige Zahlungsschwierigkeiten gerät, wird aus der ökonomischen 1 Die Forschung zu diesem Artikel ist Teil des Projekts »Eigentum und Vertrag in der Besicherung finanzialisierter Alltagsökonomie«, das von der Fritz Thyssen Stiftung, Az. 10.17.2.002SO, gefördert wird.

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Angelegenheit schnell eine juristische. Die monetär vermittelte Austausch­ beziehung wird suspendiert und durch eine administrativ-rechtliche überla­ gert oder sogar ersetzt, statt über Schulden wird dann die Schuld verhandelt (Graeber 2011). Unter der Leitfrage nach einem ökonomischen Nationalismus analysiert dieser Beitrag die Legitimation politischer Unterschiede in der Regulierung von Überschuldung durch Gesetzesbürokratien. Im konkreten Fall wurde der Versuch einer europäischen Harmonisierung von Insolvenzregeln2 mit dem Ziel verhandelt, existierende Wettbewerbsverzerrungen im europäi­ schen Binnenmarkt zu beseitigen. Diese Bestrebung der Europäischen Kom­ mission wurde 2017 vom Deutschen Bundesrat mit scharfen Worten zu­ rückgewiesen. In der Argumentation wurde der ökonomische Sachverhalt in einen gesellschaftspolitischen Konflikt transformiert. Während die EUKommission vorschlug, die Bedingungen für die Fortsetzung unternehmeri­ schen Handelns nach einer Insolvenz zu vereinheitlichen und zu verbessern, wies der Deutsche Bundesrat die Richtlinie mit dem Argument zurück, man müsse einen Grundpfeiler der bundesdeutschen Wirtschaftsordnung vertei­ digen, nämlich die Haftungsverwirklichung als Sanktionierung von über­ schuldeten Wirtschaftsakteuren. Um den paradoxen Kern dieser Auseinandersetzung zwischen einer öko­ nomischen Überwindung von Überschuldung einerseits und der rechtlichen Sanktionierung von zahlungsunfähigen Schuldnern andererseits zu verdeut­ lichen, wird eine fachjuristische Publikation herangezogen. Diese bestätigt zum einen die argumentative Linie des Deutschen Bundesrats in der Stel­ lungnahme gegenüber der EU-Kommission, andererseits spitzt sie deren ge­ sellschaftspolitische Konfliktlinie nochmals zu und transformiert sie in be­ merkenswerter Weise in eine kulturelle Auseinandersetzung zwischen einer deutschen und einer us-amerikanischen Wirtschaftsordnung. Im Ergebnis unterstützen nationalistische Argumente die Parteinahme in einem wirt­ schaftspolitischen Konflikt. In dieser Zuspitzung wird das Verbindungsglied zwischen der ökono­ mischen Auseinandersetzung um die Fortsetzung marktwirtschaftlicher Austauschprozesse nach dem Kollaps einzelwirtschaftlicher Unternehmun­ gen und der rechtlichen Sanktionierung von Fehlverhalten erkennbar, das 2 Die englisch-deutsche Übersetzung der Begriffe »Bankrott« und »Insolvenz« ist schwie­ rig. Im common law ist meist von »bankruptcy« die Rede, aber »Bankrott« bezeichnet im deutschen Recht eine Insolvenzstraftat und hat eine kriminelle Konnotation, daher wird im Folgenden der Begriff »Insolvenz« verwendet.



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auch die Ablehnung wirtschaftlicher Harmonisierungsbestrebungen der EU durch den Deutschen Bundesrat motivierte. Letztlich geht es um die kon­ krete gesellschaftliche Entfaltung des »Freiheitsparadoxes« (Luhmann 1995: 233–238) in der gesetzesbürokratischen Form einer spezifischen Eigentums­ ordnung. Das Paradox verlangt einerseits die rigorose Gleichbehandlung al­ ler Bestrebungen um wirtschaftlichen Erfolg im ökonomischen Wettbewerb, weil sich nur dann beste Lösungen gegenüber schwächeren Alternativen durchsetzen können. Andererseits muss die Rechtsordnung diese Gleichbe­ handlung aller Akteure dahingehend einschränken, dass es erworbenes Ei­ gentum als Erfolgsprämie und Nachweis einer besten Lösung schützt, womit es zur Grundlage fortgesetzten Wettbewerbs werden kann. Eigentum fun­ diert die Handlungsfreiheit (nicht nur) im ökonomischen Wettbewerb, aber es schließt auch alle anderen von seiner Nutzung aus (Singer 2000: 56–94). Deshalb führt akkumuliertes Eigentum zur erhöhten Handlungssouverän­ tität der Eigentümer bei gleichzeitiger Freiheitsbeschränkung aller anderen, was letztlich den Wettbewerb außer Kraft setzt. Das Kreditwesen steuert dieser tendenziellen Asymmetrie durch die zeitlich beschränkte Abtretung von Nutzungsrechten an Darlehensnehmer grundsätzlich entgegen. Kreditmärkte setzen aber die generelle Erwartbarkeit von Rückzahlungen und die Regulierung von Zahlungsunfähigkeit voraus. Im Falle der Überschuldung kann es zum vollständigen Zusammenbruch marktwirtschaftlicher Austauschprozesse und einer extremen Verschärfung der Asymmetrie kommen, wenn der Schutz des Eigentums der Kreditgeber durch den Entzug der vorübergehenden Nutzungsrechte durch Darlehens­ nehmer auch noch von überbordenden Forderungen nach Entschädigung des Eigentümers oder sogar dem rechtlichen Ausschluss der Schuldner aus Wirtschaftsprozessen begleitet wird. Genau eine solche Blockade der Marktwirtschaft beabsichtigte die EUKommission mit ihrem Richtlinienvorschlag zum Insolvenzrecht zu verhin­ dern, indem gleichwertige Standards für die Regulierung von Überschul­ dung in allen Mitgliedsstaaten etabliert werden. Diesem trat der Deutsche Bundesrat mit der Intention eines Schutzes von Eigentümerinteressen als Grundlage von Sicherheit und Handlungsfreiheit entgegen. In einer juristi­ schen Streitschrift wurde dieses Bestreben unterstützt, indem der Konflikt in eine kulturelle Auseinandersetzung zwischen deutscher und us-amerikani­ scher Wirtschaftsordnung übersetzt und die Initiative der EU-Kommission in einen verdeckten Übergriff einer »U.S.-amerikanischen Rechtshegemo­ nie« (Heese 2018b: 91–99) umgedeutet wurde. Damit wurde der Debatte

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eine dezidiert nationalistische Argumentationslinie hinzugefügt. Die wirt­ schaftliche Gesetzesbürokratie wird in der Untersuchung dieser gesellschafts­ politischen Auseinandersetzung als jenes Feld herausgestellt, in dem die Entfaltung des »Freiheitsparadoxes« erfolgt und die konkrete Konfliktaus­ tragung kanalisiert wird. Das erste Kapitel erläutert den Begriff der wirtschaftlichen Gesetzesbü­ rokratie. Die Unterscheidung von »teilbaren« und »unteilbaren« Konflikten durch Albert O. Hirschman dient der Identifizierung des normativ aufge­ ladenen Kernpunkts entstehender Konflikte. Das Konzept der »ruling re­ lations« von Dorothy E. Smith wird genutzt, um das komplexe Geflecht beobachtbar, empirisch beschreibbar und analysierbar zu machen. Die Aus­ tragung dieser Konflikte mit nationalistischen Argumenten wird durch die Heranziehung des Instrumentariums verschiedener »Codes« durch Bern­ hard Giesen einer Deutung zugeführt. Das Kapitel stellt die Regulierung von Überschuldung und Insolvenz als ein gesellschaftspolitisches Feld vor, in dem die wirtschaftlichen, rechtlichen, politischen und sozialen Konsequen­ zen der Finanzialisierung der Ökonomie verhandelt werden. Das zweite Kapitel stellt den Inhalt des Vorschlags der EU-Kommission zur Harmonisierung des Insolvenzrechts vor, mit einem besonderen Fokus auf die Praktiken der Entschuldung und jene Passagen, die zur harschen Ab­ lehnung des Vorschlags durch den Deutschen Bundesrat führten. Das dritte Kapitel dokumentiert die abwehrende Reaktion des Deut­ schen Bundesrats, und arbeitet die metaphorische Verschiebung der wirt­ schaftlichen in eine rechtliche Argumentation heraus. Im vierten Kapitel wird die Aufnahme und Bestätigung der Argumenta­ tion des Bundesrats in einer juristischen Streitschrift dokumentiert, die dem Konflikt eine weitere, kulturelle Dimension und einen weiteren Akteur – die »U.S.-amerikanische Rechtshegemonie« – hinzufügt. Dieser strategische ar­ gumentative Zug wird mit einer historisch-soziologischen Rekonstruktion der Entschuldungspraxis in den USA konfrontiert. Das Schlusskapitel arbeitet den eigentlichen Kernpunkt in der politi­ schen Auseinandersetzung um die Entfaltung des Freiheitsparadoxes heraus, um zu verdeutlichen, welcher Zusammenhang in der konkreten Ausgestal­ tung von wirtschaftlichen Gesetzesbürokratien verhandelt wird, und welche strategische Aufgabe nationalistischen Argumenten dabei zukommt.



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2. Die wirtschaftliche Gesetzesbürokratie als Feld gesellschaftlicher Auseinandersetzungen und soziologischer Reflexion Zunächst soll die Bedeutung der Gesetzesbürokratie erläutert, das spezifische Feld der Insolvenzgesetzgebung in seiner Bedeutung hervorgehoben und das konzeptionelle Instrumentarium zur Analyse nationalistischer Argumentati­ onen vorgestellt werden. Empirische Grundlage des Beitrags ist ein Konflikt über das europäi­ sche und das deutsche Insolvenzrecht. Das Insolvenzrecht ist als Untersu­ chungsgegenstand für gesellschaftstheoretische Arbeiten prädestiniert, weil Überschuldung einen bedeutsamen gesellschaftlichen Konflikt in Markt­ wirtschaften darstellt, in dem den Akteuren zwei fundamentale Ressourcen abhandenkommen, nämlich Zahlungsfähigkeit und Geschäftsfähigkeit. Da­ mit büßen Betroffene einen Großteil ihrer Autonomie ein. In der Regulie­ rung von Konflikten, die aus Überschuldung resultieren, stehen die Zumu­ tung von finanziellen Verlusten sowie die gesellschaftliche Integration von exkludierten Bürgern auf dem Spiel. Diese Konflikte changieren zwischen wirtschaftlichen, rechtlichen und politischen Argumentationen. Überschuldung bezeichnet die Situation, in der die Rückzahlungsver­ pflichtungen von Darlehensnehmern das verfügbare Einkommen auf abseh­ bare Zeit überschreiten, so dass ein mittelfristiger Anstieg der Verschuldung und eine abermalige Verschlechterung der Rückzahlungs-Einkommens-Re­ lation bevorsteht. Das heißt, Überschuldung signalisiert im Unterschied zu nur ansteigender Verschuldung einen sozialen Konflikt aufgrund der erwar­ teten Ausweglosigkeit der ökonomischen Entwicklung. Sozialwissenschaftlich wird meistens eine grundlegende Unterscheidung zwischen Unternehmensverschuldung und Konsumentenverschuldung vor­ genommen. Dies hat seine Berechtigung darin, dass es sich bei Unternehmen um Organisationen handelt, deren Existenz und Fortbestand nur indirekt an die Zahlungsfähigkeit gekoppelt ist, während Individuen in Marktwirtschaf­ ten ohne Zahlungsfähigkeit schlechterdings nicht handlungsfähig sind. Im Gegensatz zu Menschen lassen sich Unternehmen schadlos abwickeln. Den­ noch soll in diesem Artikel aus drei Gründen auf diese Unterscheidung ver­ zichtet werden: Erstens regeln sowohl die USA als auch die Bundesrepublik Deutschland die Insolvenz von Unternehmen und Bürgern jeweils in einem Gesetz, dem U.S. Code 11 bzw. der Insolvenzordnung (InsO). Zweitens dis­ kutiert der Artikel grundlegende ökonomische und normative Fragen von

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Schulden und Schuld, die beide Fälle betreffen, auch wenn diese rechtlich mitunter systematisch verschieden aufgelöst werden. Drittens nehmen die wirtschaftlichen Gesetzesbürokratien nicht durchgehend eindeutige Unter­ scheidungen vor, beispielsweise wenn persönlich haftende Kleinunterneh­ mer wie Konsumenten behandelt werden (White 2007). Soziologisch ist Überschuldung ein außerordentlich interessanter Aspekt, da er sich direkt an der Grenze zwischen »teilbaren« und »unteilbaren« Kon­ flikten im Sinne Albert O. Hirschmans (1994: 301) abspielt. Mit dieser Un­ terscheidung verwies Hirschman auf eine Grenze in der Wirkung sozialer Konflikte, die ja nicht nur dissoziativ, sondern mitunter auch vergesellschaf­ tend wirken (Simmel 1992 [1908]; Coser 1965). Hirschmans Argument lau­ tet, dass soziale Konflikte solange das Potenzial zur gesellschaftlich akzeptier­ ten Lösung, und damit zur Stiftung zusätzlicher sozialer Bindungen durch Übereinkünfte besäßen, wie es in ihnen um ein mehr oder weniger ginge. Diese Streitigkeiten kategorisierte er als teilbar, wohingegen sich unteilbare Konflikte in antagonistischen Auseinandersetzungen im Modus von entwe­ der–oder abspielten, die konsensuale Kompromisse unwahrscheinlich mach­ ten. Letztere verursachten gesellschaftliche Dauerkonflikte im Modus von Widersprüchen, die im extremsten Fall zu Bürgerkriegen führten. Überschuldung scheint nun genau auf dieser Grenze zu liegen, denn es geht einerseits nur um Geldzahlungen, die prinzipiell kompromissfähig sind, aber andererseits um die ultimative Frage, ob Vergebung gewährt werden soll oder nicht. Diese Frage ist von eminenter gesellschaftlicher Wichtigkeit, da fortbestehende Überschuldung die betroffenen Akteure nicht nur zah­ lungs- sondern auch vertragsunfähig hält, wodurch sie in arbeitsteiligen Ge­ sellschaften ihre autonome Handlungsfähigkeit einbüßen. Sie können zum hilflosen Sozialfall werden. Die Vergebung und Streichung von Schulden erfordert jedoch entweder einen Verzicht des Kreditgebers oder eine Zah­ lung durch Dritte. Damit sind elementare Gerechtigkeitsfragen aufgewor­ fen, weshalb Konflikte über Schulden nie nur ökonomisch, sondern immer auch rechtlich und politisch brisant sind (Graeber 2011). Die gesellschaftliche Regulierung dieses Konflikts erfolgt in Gegenwarts­ gesellschaften mit einem komplexen Geflecht von Gesetzen und Verordnun­ gen, Institutionen, Organisationen und normativen Ordnungen, für den ich hier den Begriff Gesetzesbürokratien verwende. Sie werden als »ruling rela­ tions« (Smith 1999: 73–95) verstanden, also als organisatorisch und insti­ tutionell abgesicherte und permanent verfügbare Handlungsdispositive. Sie bilden im Sinne des einleitend geschilderten Freiheitsparadoxes beschrän­



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kende und damit ermöglichende Korridore sozialer Interaktion, indem sie einerseits als legitim und anerkannt gekennzeichnete Optionen anbieten, und andererseits den Zugang zu gesellschaftlichen Sanktionierungen und Erzwingungspotenzialen in Aussicht stellen bzw. androhen, falls die Hand­ lungskorridore verlassen werden sollten. Nur wer die anerkannten Optio­ nen nutzt, kann im Konfliktfall gesellschaftliche Unterstützung reklamieren. Diese grundlegende konstruktivistische Vorstellung, die Berger und Luck­ mann (2009: 49–138) unter dem Begriffsdoppel Institutionalisierung und Legitimierung einführten, wird von Dorothy E. Smith (2001; 1999) durch die Science and Technology Studies informiert, beobachtbar und beschreib­ bar gemacht. Denn die »institutionell vorgeschriebenen Bahnen« (Berger/ Luckmann 2009: 67) bestehen aus so unterschiedlichen Formen wie gesetz­ lichen Regeln, ökonomischen Wegen des Kapitaltransfers, ökonometrischen Kalkulationen und Buchhaltungstechniken, nationalen und transnationalen Institutionen mit Erzwingungsmacht, subjektiven Rechten und Pflichten, benennbaren Organisationen und ihren Praktiken, sowie dem symbolischen Arsenal der Gesellschaft, das in diskursiven Konflikten mobilisiert werden kann, aber nicht allen in gleichem Maße zugänglich ist. Die Bahnen sind auch materiell gelegt und gestützt und in Netzwerke eingebunden sowie mit Übersetzungsschleusen versehen, an denen bestimmte Kommunikationsfor­ men konvertiert werden können. Beispielsweise bildet Überschuldung eine solche Schleuse, an der ein ökonomischer Vorgang (Verschuldung) in einen rechtlichen (Insolvenzverfahren) umgewandelt wird (Schraten 2020). Der nachfolgend analysierte Vorschlag der EU-Kommission zur Harmo­ nisierung der Insolvenzgesetzgebungen stellt den Vorschlag zur Änderung solcher »ruling relations« dar. Eine internationale politische Institution ruft nationale Gesetzgeber auf, legislative Änderungen vorzunehmen, die nicht nur die Handlungskorridore wirtschaftlicher Interaktionen ändern, sondern auch tief in die subjektiven Rechte und Pflichten gesellschaftlicher Akteure eingreifen. Die vom Vorschlag ausgelöste Debatte dokumentiert nicht nur die Komplexität der regulierten Verhältnisse, sondern mit ihrer politischen Schärfe auch, dass der empfindliche Verbindungspunkt von »teilbaren« und »unteilbaren« Konflikten getroffen worden ist. Der Ausgang des Konflikts wird darüber entscheiden, ob die Konversion eines unteilbaren in einen teil­ baren Konflikt gelingt oder nicht. Der Balancierung dieses empfindlichen symbolischen Arsenals der Ge­ sellschaft wird hier durch die Untersuchung der konkreten Ausformung von Eigentum im Insolvenzfall die Aufmerksamkeit geschenkt. Zuschreibun­

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gen von rechtlicher Legitimität und ökonomischer Rationalität werden zu kommunikativen Codes verdichtet, die hohen Wiedererkennungswert ha­ ben und in der Kommunikation leicht mobilisiert werden können. Bernhard Giesen (1999) hat herausgearbeitet, wie mithilfe dieser Codes Gemeinschaf­ ten konstruiert und hierarchisch strukturiert, Individuen und Handlungs­ formen abgewertet oder ausgeschlossen werden. In verdichteter Form kann daraus Nationalismus entstehen: »Ein solches gemeinsames Bewußtsein von struktureller Ordnung und Klassifikation kann die Gestalt sozialer Landkar­ ten annehmen, die getrennt und abgekoppelt von der direkten alltagsweltli­ chen Erfahrung verfügbar sind.« (ebd.: 27) Die Bedeutung der Überschuldungsregulierung durch Gesetzesbürokatien nimmt zu. Mit der expandierenden Finanzialisierung der Ökonomie seit den 1960er Jahren stieg auch das Ausmaß von Kreditfinanzierungen und nachfol­ gend von Überschuldung an (Heuer/Schraten 2015). Dies zog eine anhaltende Welle von Reformen der nationalstaatlichen Bankrott-, Konkurs- und Insol­ venzregelungen nach sich (Hiilamo 2018; Niemi u. a. 2009; Niemi-Kiesiläinen u. a. 2003; Carruthers/Halliday 2000). So erließen die USA 1978 einen neuen »Bankruptcy Code«, der zuletzt 2005 umfassend reformiert wurde (Kilborn 2007a: 52–62). Die Bundesrepublik beschloss 1994 nach langjähriger Diskus­ sion eine Insolvenzordnung, die erst nach fünfjähriger Übergangszeit in Kraft trat, und seither wiederholt Gegenstand von Reformen und Reformdiskussio­ nen war, zuletzt 2011. Die agonistische Qualität der deutschen Reformdiskus­ sion, die bereits 1978 begann, lässt sich schlagend an der fast 200-seitigen Be­ gründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung vom April 1992 ablesen, dessen parlamentarische Diskussion sich außergewöhnlich lang, nämlich zwei­ einhalb Jahre, hinzog (Deutscher Bundestag 1992: 71–269). Im Kern drehen sich all diese Konflikte um den Schuldenerlass, denn er berührt das Grundverständnis der Institution des Eigentums und seiner Ein­ schränkung. Die freiwillige Bereitschaft, Geld als Kredit zu verleihen, hängt an der verlässlichen Aufrechterhaltung des Eigentums an diesem Geld auch für den Fall des finanziellen Verlusts durch den vorübergehenden Besitzer. Zu­ gleich ist die dauerhafte Exklusion von Bürgern aufgrund einer anhaltenden Überschuldung für jede – nicht nur, aber erst recht für demokratische – Ge­ sellschaften, die auf autonomer Handlungsfähigkeit der Individuen basieren, nicht hinnehmbar.3 Deshalb ist Hirschman darin zuzustimmen, dass Über­ 3 Auf die fundamentale gesellschaftstheoretische Bedeutung des Insolvenzrechts weist der Umstand hin, dass auch nicht-demokratische Gesellschaften wie China (Zhang 2003) oder Russland (Kilborn 2016) an Regulierungen arbeiten.



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schuldungskonflikte unteilbar sind, weil ihre Lösung die Zuteilung von Zu­ mutungen erfordert, mit deren freiwilliger Übernahme nicht gerechnet wer­ den kann. Allerdings widerspreche ich seiner pessimistischen Prognose der Unlösbarkeit mit Verweis auf ein Argument Helmut Dubiels, wonach gerade die kollektive Überwindung eines unteilbaren Konflikts den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken kann (Schraten 2011; Dubiel 1999: 140–142). Aber die Diskussionen über Insolvenz und Entschuldung finden meist in politisch aufgeheiztem Klima statt. So dokumentieren Sullivan u. a. (1989: 5) in ihrer Studie über die Folgen des U.S. Bankruptcy Codes von 1978, dass Überschuldung von Vielen als »moral breakdown of society« diskutiert wur­ de. Und im nachfolgend diskutierten Streit über eine EU-Rahmenrichtlinie zur Harmonisierung von Insolvenzregeln versteigt sich ein deutscher Jurist zur Klage gegen die »Übernahme verfehlter Grundwertungen des us-ame­ rikanischen Wirtschaftsrechts« und fordert nicht weniger als das Ziehen ei­ ner »roten Linie, die der deutsche Gesetzgeber [...] verteidigen sollte« (Heese 2018b: 5). Dies bedeutet in den Begriffen von Bernhard Giesen (1999: 24–68), dass politische Fragen der Regulierung von Überschuldung mit »primordialen«, »traditionalen« und »universalistischen« Codes versehen werden. Primordi­ al sind Zuschreibungen, die einer natürlichen Verteilung unterliegen und als unveränderlich angesehen werden. Eine bedeutsame Strategie zu ihrer Durchsetzung besteht in der Dämonisierung von andersartigen Eigenschaf­ ten, die die eigene Gemeinschaft zu infiltrieren drohten. Traditional sind sol­ che Codes, in denen – häufig unbewusste – kollektive Praktiken als Grund­ lage des Gemeinschaftsverständnisses dienen. Diese Routinen werden durch ihre lange Dauer gerechtfertigt, was eine rationale Begründung dann häufig überflüssig zu machen scheint. Schließlich gibt es noch die universalistischen Codes, die durch ihre unumschränkte Gültigkeit auf eine rigorose und im Extremfall eliminatorische Durchsetzung drängen können. Giesen betont, dass gerade die Verflechtung dieser verschiedenen Codes zu einer Stabilisie­ rung von Innen-Außen-Grenzen führt. In gegenwärtigen nationalistischen Debatten kann beobachtet werden, dass diese Verflechtung auch den strate­ gischen Vorteil bietet, dass während der Diskussion die Argumentationsebe­ ne gewechselt werden kann. So weichen Gesetzgeber im vorliegenden Fall der kritischen Diskussion von rationalen Begründungen über die Vorteil­ haftigkeit bestimmter Insolvenzpraktiken genau dadurch aus, dass sie tradi­ tionale Codes aufrufen. Ein wissenschaftlicher Autor stützt dieses Verfahren dann durch eine dämonisierende Zuspitzung.

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3. Der Vorschlag marktwirtschaftsdienlicher Regulierung von Insolvenzen durch die EU-Kommission Am 22. November 2016 legte die Europäische Kommission einen Richtlini­ envorschlag für eine europaweite Reform der Insolvenzregelungen vor, die vom Deutschen Bundesrat in einer Beschlussfassung vom 10. März 2017 kri­ tisiert und in ihrer Kernforderung zurückgewiesen wurde (Deutscher Bun­ desrat 2017a; 2017b). Die Diskussion fand auch in juristischen Fachdebatten einen Niederschlag (Heese 2018a; Paulus 2019), wobei Heese (2018b) seinen Beitrag zu einer Monografie ausweitete, in der in scharfem Ton eine Ausein­ andersetzung zwischen deutschem Gläubigerschutz und us-amerikanischem Schuldnerschutz konstruiert wurde. Aber auch der Deutsche Bundesrat sah in der Initiative der EU-Kommission nichts weniger als einen »Paradigmen­ wechsel« (Deutscher Bundesrat Drucksache 2017a). In diesem Abschnitt soll zunächst der empirische Fall geschildert und dann geprüft werden, ob die rhetorische Schärfe auch der substanziellen Brisanz des EU-Richtlinienvor­ schlags entsprach. Auslöser war der Vorschlag der EU-Kommission, das EU-Parlament und den Rat der Europäischen Union eine Richtlinie beschließen zu lassen, in der eine Harmonisierung von ökonomischen Restrukturierungs-, Insolvenzund Entschuldungsverfahren innerhalb der Europäischen Union angestrebt wird. Der Kern dieses Vorschlags beinhaltete zwei Anforderungen an die je­ weiligen nationalen Gesetzgebungen. Zum einen wurde gefordert, dass zu­ künftig »rentable Unternehmen in finanziellen Schwierigkeiten Zugang zu wirksamen nationalen präventiven Restrukturierungsrahmen haben«, zum anderen sollte sichergestellt werden, »dass redliche überschuldete Unterneh­ mer im Anschluss an eine volle Entschuldung nach einer angemessenen Frist eine zweite Chance haben« (ebd.: 28). Der Vorschlag reklamierte, dem gesamtwirtschaftlichen Wohl der Eu­ ropäischen Union zu dienen, indem Investitionshemmnisse beseitigt, dem Verlust von Arbeitsplätzen durch Insolvenzen vorgebeugt und die Entste­ hung »notleidender Kredite«4 vermieden würden. Explizit bekräftigte der Vorschlag auch zwei einander gegenläufige Grundsätze der europäischen marktwirtschaftlichen Ordnung: »Im Restrukturierungsprozess sollten die 4 Dem eigentümlichen juristischen Sprachgebrauch, wonach nicht etwa Gläubiger oder Schuldner, sondern der Kredit höchstselbst Not leide, soll hier der Einfachheit halber gefolgt werden.



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Rechte aller Beteiligten geschützt werden. Gleichzeitig sollten unrentable Unternehmen ohne Überlebenschance so schnell wie möglich abgewickelt werden.« (ebd.: 29) Das heißt, die Harmonisierung zielte mitnichten auf eine Unternehmensrettung um jeden Preis ab, und die bestehenden Rechte von Gläubigern in den jeweiligen nationalen Gesetzgebungen wurden aus­ drücklich als schützenswürdig deklariert. Als bestehende Mängel, die den Vorschlag motivierten, führte der Richt­ linienvorschlag zum einen den zu späten Zugang zu Restrukturierungsmaß­ nahmen an. Unternehmen könnten sich mancherorts erst vor dem Drängen ihrer Gläubiger schützen, wenn sie bereits zahlungsunfähig seien. Zum an­ deren wurde die pikante Frage des Schuldenerlasses mit folgender Formulie­ rung adressiert: »Auch bei den nationalen Vorschriften, die Unternehmern eine zweite Chance bieten, vor allem indem ihnen die im Rahmen ihrer Ge­ schäftstätigkeit aufgelaufenen Schulden erlassen werden, bestehen zwischen den Mitgliedstaaten Unterschiede in der Länge der Entschuldungsfrist und den Bedingungen für die Gewährung einer Entschuldung.« (ebd.: 29) So­ fern diese Verfahren »mehr als drei Jahre« (ebd.) dauerten, würden Unter­ nehmen in unzumutbarer Weise von einer möglichen zweiten Chance abge­ halten. Mit dieser Angabe lieferte die EU-Kommission einen sehr präzisen Maßstab für ihre Kritik. Der Richtlinienvorschlag verwies darauf, dass Entschuldungsverfahren meist mit dem Verbot der wirtschaftlichen Weiterbetätigung einhergingen, was als »lange Berufsverbote« (ebd.) bezeichnet wurde. Diese bewirkten auch, dass Gläubiger aufgrund des Gewinnausfalls der Unternehmen letztlich mit geringeren Rückzahlungen für ihre Kredite rechnen müssten und andere Anle­ ger vom Einstieg in das Geschäftsfeld abgehalten würden. Das wirtschaftspoli­ tische Argument der EU-Kommission lautete somit, dass Insolvenzregeln sich negativ auf die ökonomische Prosperität auswirkten, sofern Unternehmen erst Zugang zu einer gesetzlich geschützten Restrukturierung bekämen, nachdem die wirtschaftlichen Schwierigkeiten sehr groß geworden seien, oder wenn die Genehmigungsverfahren hierfür länger als drei Jahre in Anspruch nähmen, oder wenn die Wiederaufnahme unternehmerischer Tätigkeit durch unvoll­ ständige Entschuldung behindert würde. Diese Hemmnisse, so die Kommis­ sion, wirkten sich nicht erst bei Eintritt einer Insolvenz, sondern bereits durch die Erwartung dieser Komplikationen negativ aus, weil Investitionen abge­ schreckt oder verzögert und Kredite unnötig verteuert würden. Diese Argumentation kann innerhalb des sehr heterogenen europäischen Binnenmarkts durchaus Plausibilität für sich beanspruchen, weil wirtschaftli­

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che Akteure die unterschiedlichen rechtlichen Bedingungen im angeblich ein­ heitlichen Binnenmarkt einkalkulieren müssen. Der Richtlinienvorschlag ver­ wies explizit auf die gängige Praxis von bankrottgegangenen Unternehmen, in anderen Mitgliedsstaaten der EU einen Neustart zu unternehmen, der ihnen im Land der Insolvenz vorübergehend oder ganz untersagt war (ebd.: 30). Die­ se Ausnutzung der jeweils günstigsten rechtlichen Regelungen werden im juris­ tischen Fachjargon »forum shopping« (Schacht 2017: Rn. 250–261) genannt. Die Initiative der EU-Kommission kann als legitim im Sinne des Ver­ tragswerks der Europäischen Union betrachtet werden, da fundamental di­ vergierende Insolvenzregelungen eine faktisch existente Einschränkung des Binnenmarkts darstellen. Staaten mit unnachgiebigeren Insolvenzregeln müssen die Abwanderung von Firmen in andere EU-Staaten befürchten, während zu nachgiebige Insolvenzregelungen zur Ursache wirtschaftlicher Instabilität werden können. Allerdings bedeuten unnachgiebige Insolvenzre­ geln auch einen Schutz der bereits etablierten Unternehmen mit starker Ei­ genkapitalbasis vor unliebsamer Konkurrenz. Als Gegenmaßnahme enthielt der EU-Rahmenrichtlinienentwurf im Wesentlichen drei vorgeschlagene Maßnahmen für alle Insolvenzgesetzge­ bungen, zu deren Umsetzung sich die Mitgliedstaaten der EU per Ratsbe­ schluss und EU-Parlamentsbeschluss verpflichten sollten: eine Restrukturie­ rungsphase mit Rückzahlungs-Moratorium als Ruhephase angeschlagener Unternehmen, eine zweite Chance durch Schuldenerlass insolventer Firmen und eine angemessene Länge des Betätigungsverbots im Falle einer Insolvenz. Artikel 4 enthielt den Vorschlag der Verfügbarmachung von präventiven Restrukturierungsmaßnahmen zur Vorbeugung einer Insolvenz. Die Wir­ kung solcher Verfahren bestünde in einem vorübergehenden Schutz der Un­ ternehmensleitungen vor Gläubigerforderungen, die ein finanziell bedräng­ tes Unternehmen weiter schwächen und eine Neuausrichtung verhindern würden (Deutscher Bundesrat 2017a: 46). Ein solches Rückzahlungs-Mo­ ratorium wäre auf die Dauer von maximal zwölf Monaten begrenzt und an die Vorlage eines schlüssigen Restrukturierungsplans gebunden, der mit den Gläubigern zu verhandeln war. Die Restrukturierungen sollten im Regelfall in Eigenverantwortung durchgeführt werden. Als kommender Streitpunkt mit dem Deutschen Bundesrat wichtig war der Teilvorschlag aus Artikel 7 (1), während des Moratoriums die Verpflich­ tung zur Stellung eines Insolvenzantrags ruhen zu lassen. Absatz 3 sah hier ausdrücklich die Möglichkeit einer Ausnahme vor, die den Mitgliedstaaten ermöglichte, auf umgehende Meldung einer Insolvenz zu bestehen, sofern si­



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chergestellt würde, dass die Restrukturierungen »nicht automatisch beendet werden«, sondern erst »nach Prüfung der Aussichten« (ebd.: 48). Ein weiterer wichtiger Bestandteil des Moratoriums war insbesondere Artikel 16 zur Absicherung von neu akquirierten Finanzmitteln. Diese dürf­ ten im Falle einer Insolvenz nicht als nichtig erklärt werden (ebd.: 54). Die­ se Bestimmung bezog sich auf die übliche Regelung in Insolvenzverfahren, die eine weitere Kreditaufnahme nach Verfahrenseröffnung untersagten und dennoch gewährte Darlehen für ungültig erklärten. Nach der Einleitung ei­ nes Insolvenzverfahrens ergibt ein Verbot der Anhäufung weiterer Schulden freilich Sinn. In einer präventiven Restrukturierung sollte Artikel 16 hinge­ gen die Möglichkeit von neuen Geldzuflüssen befördern, was der Zielsetzung einer effektiven Neuausrichtung des Unternehmens entsprach. Dies bedeu­ tete natürlich auch die Erhöhung der Verbindlichkeiten des Unternehmens. Die zweite Maßnahme des Vorschlags betraf die »zweite Chance« von insolvent gegangenen Unternehmern. Artikel 19 forderte hierzu die Einräu­ mung der Möglichkeit einer vollständigen Entschuldung nach einer Teil­ schuldzahlung (ebd.: 56). Eine solche Möglichkeit der Restschuldbefreiung bildete den Kernbestand aller Insolvenzrechts-Reformen seit den 1970er Jahren, auch der deutschen. Erstmals war dieses Prinzip im Chandler Act der USA im Jahre 1938 kodifiziert worden, als im Nachgang der Weltwirt­ schaftskrise von 1929 verhindert werden sollte, dass die Unternehmenszu­ sammenbrüche zu einer umfassenden Deindustrialisierung der USA führen, indem bankrotte Akteure zur vollständigen Liquidation aller Besitzstände verpflichtet würden. Der Ausweg wurde mit der befristeten Abzahlung von Teilschulden mit anschließender Restschuldbefreiung  – gewissermaßen als Risikobeteiligung der Gläubiger  – konzipiert. Auch Konsumenten wurde diese Möglichkeit eingeräumt, um den kompletten sozialen Abstieg im Falle der Überschuldung zu verhindern (Skeel 2001: 71–100). Die Forderung der EU-Kommission bestand somit in der Etablierung einer solchen Möglichkeit in allen EU-Staaten. Insbesondere in den ostund mitteleuropäischen Staaten waren entsprechende Reformen noch nicht überall umgesetzt. Dies stellte natürlich ein signifikantes Investitionshemm­ nis und einen Anreiz für forum shopping durch Unternehmen dieser natio­ nalstaatlichen Märkte dar. Das Fehlen einer Restschuldbefreiungsoption für Bürger hemmte den Konsumentenkreditmarkt dieser Länder.5 5 Mit dieser Feststellung soll keine normative Wertung verbunden sein. Weder foreign di­ rect investments noch schuldenfinanzierter Konsum haben per se ökonomisch förderli­ che Wirkungen.

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Bestandteil des Drängens war auch der dritte wichtige Maßnahmenvor­ schlag in Artikel 20, der eine Begrenzung der Entschuldungsfrist auf höchs­ tens drei Jahre vorschlug (Deutscher Bundesrat 2017a: 56). Zur Begründung hieß es in dem Vorschlag: »Zur Förderung des Unternehmertums sollen Un­ ternehmer und Führungskräfte nicht stigmatisiert werden, wenn redliche Geschäftspläne scheitern.« (ebd.: 7) Das heißt, dass eine mögliche Insolvenz als Risiko unternehmerischer Tätigkeit akzeptiert werden sollte. Der Rest der Vorschläge der EU-Kommission bezog sich auf die konkrete Ausgestaltung und das Monitoring der Entwicklung, auf die Rechtsgrundlagen und die möglichen Wege der Umsetzung. Mit diesem Vorschlag bezog die EU-Kommission eine klare Position zugunsten der marktwirtschaftskonformen Lösung des Konflikts über das Eigentum an verliehenem Geld. Das Interesse des Gläubigerschutzes fand diesem Vorschlag zufolge genau dort seine Grenze, wo es überschuldete Unternehmer länger als drei Jahre von einer zweiten Chance abhielt. Die Kommission verwies darauf, dass eine dauerhafte Unterbindung der wirt­ schaftlichen Aktivität von Schuldnern auch die Rückzahlungsaussichten der Gläubiger schmälerte. Die Gewährung einer Entschuldung knüpfte die EU-Kommission aber ausdrücklich an erwartbare Erfolgsaussichten einer Restrukturierung, und sie thematisierte nur die »zweite« Chance und da­ mit explizit nicht den mehrmaligen Wiederholungsfall. Eine grundsätzliche Aushebelung der Eigentumsrechte von Gläubigern fand sich in diesem Vor­ schlag also nicht.

4. Die Zurückweisung des Vorschlags durch den Deutschen Bundesrat als traditional motivierte Verteidigung einer Eigentumsordnung Dieser Abschnitt behandelt die Zurückweisung dieses Vorschlags durch den Deutschen Bundesrat und seine Argumentationsweise. Dabei werden Dis­ sonanzen erzeugt, einmal indem Ausführungen der EU-Kommission miss­ achtet oder gegenteilig ausgelegt, zum anderen indem andere Prioritäten­ setzungen  – Gläubigerschutz statt Restrukturierung, Marktausschluss statt zweiter Chance – propagiert und durch dezidiert traditionale Begründungen im Sinne Bernhard Giesens gerechtfertigt werden. Die Umwertung von Pri­



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oritäten nimmt dabei den Charakter einer metaphorischen Verschiebung an: der gleichbleibende Sachverhalt wird in anderen Konzepten zum Ausdruck gebracht, die dann auch zu anderen Konsequenzen führen. Aus einem öko­ nomischen Konflikt wird ein gesellschaftspolitisch-rechtlicher. Angesichts der im vorhergehenden Abschnitt dargestellten Substanz der Vorschläge muss zunächst die Schärfe der Zurückweisung durch den Deut­ schen Bundesrat überraschen. In dessen Beschluss wurde im ersten Satz noch konziliant die Zustimmung zum grundlegenden Ziel der EU-Kom­ mission nach frühzeitiger Umstrukturierung signalisiert, aber der zweite »kritisiert[e]« bereits die prognostizierte Wirkung, »das abgestimmte und gut funktionierende deutsche Insolvenzrecht außer Kraft« (Deutscher Bundesrat 2017b: 1) zu setzen. Mit Außerkraftsetzung war laut Beschlusstext gemeint, dass eine fort­ gesetzte Wertminderung von finanziell angeschlagenen Unternehmen diese soweit schwächen könnte, dass ein Insolvenzverfahren aufgrund von Masse­ mangel nicht mehr möglich wäre (ebd.: 1). Zu diesem Punkt muss man wis­ sen, dass nach deutschem Recht die Abweisung eines Insolvenzantrags nach § 26 (1) 1 InsO nur möglich ist, wenn die verbliebene Masse nicht einmal mehr zur Abdeckung der Verfahrenskosten ausreicht.6 Mit dieser Formulierung unterstellte der Bundesrat freilich, dass früh­ zeitige Umstrukturierungen nur zur Anhäufung weiterer Schulden führten, und die Option eines Erfolgs kaum enthielten. Zur Abschätzung und Mil­ derung dieses Risikos sah jedoch Artikel 9 (1) des Kommissions-Vorschlags explizit die Zustimmung der Gläubiger zum Restrukturierungsplan vor (Deutscher Bundesrat 2017a: 50), so dass die einseitige Skizzierung einer Außerkraftsetzung deutschen Insolvenzrechts als scharfe rhetorische Attacke gewertet werden muss. Der Bundesrat beklagte weiter, der Kommissionsvorschlag bewirke ei­ nen »Paradigmenwechsel« in Deutschland, er habe »überwiegend die In­ teressen des Schuldners im Blick; dies erfolgt zu Lasten der Gläubigerge­ samtheit« (Deutscher Bundesrat 2017b: 1). Das Schreckensszenario wurde abermals zugespitzt durch die Imagination von weiteren Zahlungsunfähig­ keiten: »Folgeinsolvenzen von Gläubigerunternehmen und damit enormer volkswirtschaftlicher Schaden sind gut vorstellbar.« (ebd.: 2)

6 Und selbst dann besteht noch die rechtliche Möglichkeit einer Stundung (§§ 26 (1) 2, 4a InsO).

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Damit hatte der Deutsche Bundesrat dem Vorschlag der EU-Kommissi­ on eine denkbar düstere Prognose entgegengesetzt. Der Aussicht auf zusätz­ liche Investitionen und vermiedene Arbeitsplatzverluste wurde ein Domino­ effekt von Insolvenzen entgegengehalten, garniert mit der sachlich falschen Behauptung, die vorgeschlagene Verfahrensänderung könne geltendes deut­ sches Recht »außer Kraft setz[en]«. Falsch war diese Behauptung, weil die Europäische Union kein überkommenes Recht der Mitgliedstaaten außer Kraft setzen kann und Harmonisierungen der Ratifizierung durch national­ staatliche Parlamente bedürfen. Im Bereich des Insolvenzrechts ist die Euro­ päischen Union auf Kooperation angewiesen, genau deswegen hatte sie ei­ nen Richtlinienvorschlag unterbreitet. Nach Art. 4 Abs. 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union gibt es eine »geteilte Zuständig­ keit« für den Binnenmarkt, allerdings sind vom Insolvenzrecht so grundle­ gende Institutionen wie das Eigentum und das Vertragsrecht betroffen, bei denen eine ausschließliche Zuständigkeit der Mitgliedstaaten angenommen werden muss. Folglich wird es sich bei europäischen Richtlinien um Kom­ promisse handeln müssen – diese werden jedoch nicht autoritär verordnet und setzen kein Recht außer Kraft. Dass der Bundesrat zur Stellungnahme aufgefordert war, kam dem faktischen Beweis gleich, dass hier keine oktroy­ ierte Außerkraftsetzung von Recht erfolgte. Verstärkt wurde der deutsche Einspruch durch weitere Zurückweisun­ gen. So behauptete die Stellungnahme des Bundesrats: »Der Richtlinienvor­ schlag erweckt den Eindruck, dass in jedem Fall eine präventive Restruktu­ rierung um jeden Preis durchgeführt werden soll.« (ebd.: 4) Diese doppelt betonte Aussage widersprach offenkundig dem Text des europäischen Vor­ schlags, der explizit unrentable Unternehmen von Restrukturierungsmaß­ nahmen ausschloss (Deutscher Bundesrat 2017a: 29). Die Frage der europäischen Zuständigkeit wurde im Kommissionsvor­ schlag damit begründet, dass infolge »eines zunehmend vernetzten Binnen­ markts mit einer immer stärkeren digitalen Dimension [...] nur sehr wenige Unternehmen rein national tätig« seien (ebd.: 2). Dem hielt der Bundes­ rat auf Antrag des Landes Baden-Württemberg entgegen, dass »angesichts der begrenzten Zahl grenzüberschreitender Insolvenzverfahren ganz über­ wiegend rein nationale Sachverhalte« betroffen seien und die EU folglich gar keine Zuständigkeit habe (Deutscher Bundesrat 2017b: 3). In diesem Kon­ text baute der Bundesrat sogar eine dezidiert widersprüchliche Argumentati­ on auf, als er zunächst betonte, dass »die EU im Bereich des Insolvenzrechts über keine umfassende Rechtsetzungs- und Harmonierungskompetenz ver­



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füge« (ebd.: 2), dann aber den »an verschiedenen Stellen vorgesehenen Er­ mächtigungen der Mitgliedstaaten zu abweichenden Regelungen« mit Be­ denken begegnete, da dies »den Insolvenztourismus fördert und zu einem race to the bottom führt« (ebd.: 5). Wer Abweichungen im Binnenmarkt verhindern will, kann sich nicht gleichzeitig für den Schutz nationaler Ei­ genheiten einsetzen. Erklärbar wird diese widersprüchliche Konstruktion von Aussagen beim Blick auf Ihre Gemeinsamkeit. Mit beiden Aussagen weist der Bundesrat die Priorität marktwirtschaftlicher Kontinuität gegenüber dem Schutz der Eigentumsrechte von Gläubigern zurück. Wenn die EU-Kommission den einheitlichen Binnenmarkt stärken will, wird ihre Zuständigkeit durch den Bundesrat in Frage gestellt. Wenn Gläubigerinteressen durch nationalstaat­ liche Rechtsunterschiede gefährdet sind, wird an die Regulierungsmacht der EU-Kommission appelliert. Dieser explizite Widerspruch leitete denn auch Ausführungen ein, die den politischen Kern des Gegenvorschlags des deut­ schen Föderalparlaments klar offenbarten: »Der Bundesrat regt daher an, die Harmonisierung stärker auf ein einheitliches Mindestschutzniveau zu Guns­ ten der Gläubiger anzuheben«. (ebd.) Die Frage, die deutsche Gesetzgeber umtrieb war also mitnichten das Ausmaß der europäischen Eingriffe in nationales Recht, sondern der mög­ lichst weitreichende Schutz der Eigentumsrechte von Gläubigern  – den wollte man europaweit ausgedehnt wissen. Zu diesem Zweck sollten Kom­ petenzen der EU sogar ausgeweitet werden: »Dazu sollten an verschiede­ nen Stellen die Abweichungsmöglichkeiten für die Mitgliedstaaten hinter­ fragt werden, die eine stärkere Beschränkung der Gläubigerrechte erlauben«. (ebd.) In den Detailvorschlägen tauchen nachfolgend wiederholt Maßnahmen zum Schutz des Eigentums der Gläubiger auf, wenn etwa deren Beteiligung an jedem Rückzahlungsmoratorium gefordert wird und »die wesentliche Haf­ tungsmasse im Unternehmen« (ebd.: 10) gesichert werden soll. Statt also vor­ handene Ressourcen zu einer Neuausrichtung strauchelnder Unternehmen zu verwenden, sollten diese unangetastet bleiben, damit Gläubiger gegebenenfalls ihre Rückforderungen daraus bedienen könnten. In diesem Sinne wurde vor Zugeständnissen gewarnt, die »missbräuchliche und die Masse aufzehrende Verhandlungs- und Beratungskosten gewähren« (ebd.: 19). Dieser Grundtenor wird gegenüber dem Vorschlag einer gemäßigten Verfahrensdauer beibehalten. »Allerdings ist eine Frist von drei Jahren für die Restschuldbefreiung als zu kurz anzusehen. Denn eine solche Restschuldbefreiung des Schuldners wird im­

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mer zu Lasten seiner Gläubiger gehen.« (ebd.: 21) Für die Gläubiger wird eine »Mindestbefriedigungsquote« (ebd.) eingefordert. Eine solche Quote wäre un­ vereinbar mit dem Ziel der Europäischen Kommission, in jedem Falle eine Restschuldbefreiung für die zweite Chance zu gewähren, die jenen Akteuren versagt bliebe, die die Mindestquote nicht erfüllen. Zur Untermauerung seiner Position attackierte der Bundesrat den Vor­ schlag präventiver Restrukturierungsmaßnahmen scharf, angeblich »um eine Übersanierung zur Optimierung des Geschäftsbetriebs zu vermeiden« (ebd.: 7). Der logische Sinn des Begriffs »Übersanierung« wurde nicht erläutert, aber er muss wohl in dem Verdacht bestehen, dass angeschlagene Unter­ nehmen sich während eines Moratoriums über Gebühr bereichern, also sich über die eigentliche Sanierung hinausgehend Mittel aneignen. Ein solcher Verdacht unterstellt auch, dass der Sanierungsprozess unkontrolliert abläuft. Hinsichtlich der Form präventiver Restrukturierungsmaßnahmen schlug der Deutsche Bundesrat einige Änderungen vor, die darauf hinausliefen, die freiwillige und frühzeitige Kurskorrektur durch einen Unternehmer faktisch in ein vorzeitiges Insolvenzverfahren umzuwandeln. So wurde etwa die Ei­ genverwaltung des Prozesses abgelehnt, und weiter: »Neben der Kontrolle durch einen Restrukturierungsverwalter erscheint es erwägenswert, während eines Moratoriums einen vom Gericht einzusetzenden Gläubigerausschuss einzurichten, der wichtigen Geschäftsmaßnahmen außerhalb des üblichen Geschäftsbetriebs zustimmen muss, insbesondere der Veräußerung von Be­ triebsvermögen und von Sachen, an denen Sicherheiten bestellt sind (zum Beispiel Warenlager oder Grundstücke).« (ebd.: 10) Dass auch dieser Ein­ wurf letztlich auf die Sicherung des Eigentums der Gläubiger hinauslief, of­ fenbarte der Folgesatz: »Hierdurch wird im Gegenzug für den gewährten Vollstreckungsschutz sichergestellt, dass die wesentliche Haftungsmasse im Unternehmen erhalten bleibt«. Zur Untermauerung seiner Kritik scheute der Bundesrat auch nicht da­ vor zurück, Anforderungen an die Tauglichkeit von Restrukturierungsplä­ nen zu stellen, die im Vorschlag der EU-Kommission bereits enthalten wa­ ren. So wurde in Punkt 22 der Entgegnung darauf bestanden, dass Schuldner auch im Falle eines Restrukturierungsplanes zur Meldung einer Zahlungsun­ fähigkeit verpflichtet blieben, wenn es im nationalen Recht vorgesehen sei (ebd.: 13) – obwohl dies, wie gezeigt, im Kommissionsvorschlag explizit so enthalten war. Gewissermaßen zur Krönung seiner Zurückweisung forderte der Bundes­ rat schließlich von Unternehmern im Restrukturierungsverfahren zusätzlich



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die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit – eine Vorgabe, die selbst in der gelten­ den deutschen Insolvenzordnung bisher der Verbraucherinsolvenz vorbehal­ ten war (§ 295 (I) 1 InsO). »Gleichzeitig sollte aufgenommen werden, dass bei einer Maßgeblichkeit der individuellen Einkommenssituation des Schuldners eine Obliegenheit für den Unternehmer besteht, eine angemessene Erwerbstä­ tigkeit auszuüben oder sich zumindest um eine solche zu bemühen.« (ebd.: 21) Statt in Eigenregie eine Neuausrichtung des Unternehmens zu versuchen, soll­ ten Kleinunternehmer also als Gegenleistung für den Aufschub der Insolvenz auf Arbeitssuche gehen. Dies würde den Kommissionsvorschlag von einer Er­ leichterung für finanziell angeschlagene Unternehmer in eine Zumutung ver­ wandeln, die nicht zuletzt den weiteren Geschäftserfolg gefährdete. Aufschlussreich für die politische Motivation des Deutschen Bundesrats ist schließlich die Stellungnahme zu berufsrechtlichen Sperren: »Solche Be­ rufsverbote dienen in der Regel einem besonderen Schutz des Geschäfts­ verkehrs vor unredlichen Personen und haben daneben auch einen Sank­ tionscharakter.« (ebd.: 22) Mit dieser Formulierung machen die deutschen Gesetzgeber deutlich, dass sie die Nichterfüllung einer Zahlungsverpflich­ tung durch Schuldner in erster Linie als schuldhaftes Verhalten betrachten, und nicht als zu akzeptierendes ökonomisches Risiko. Während der Vor­ schlag der EU-Kommission darauf abzielte, einmal ökonomisch gescheiter­ ten Unternehmen einen zweiten Versuch möglichst zu erleichtern, zielte der Deutsche Bundesrat auf einen Ausschluss dieser Akteure, weil Fehlversuche mit Unredlichkeit gleichzusetzen seien. Hier zeigte der Bundesrat im Jahre 2017, dass er in einer ungebrochenen Kontinuität zu nationalen Rechts- und Gesetzgebungstraditionen stand, die hinter wesentliche Etappen des europäischen Einigungsbestrebens zurück­ reichten. Schon bei der Einführung der deutschen Insolvenzordnung, die am 1. Januar 1999 nach über zwanzig Jahren politischen Ringens die 1877 erlas­ sene Konkursordnung abgelöst hatte, stand die Sorge vor der betrügerischen Fortführung eigentlich zahlungsunfähiger Unternehmen an erster Stelle. In der maßgeblichen Bundestags-Drucksache 12/2443, die im April 1992 vor­ gelegt wurde, also zwei Monate nach Unterzeichnung des ersten Vertrages über die Europäische Union in Maastricht, hieß es, das neue Gesetz ziele auf eine »marktkonforme Insolvenzbewältigung. [...] Es ist nicht die Aufga­ be der Reform, notleidende Unternehmen durch Eingriffe in die Rechte der Beteiligten vor der Zerschlagung zu retten.« (Deutscher Bundestag 1992: 77) Die ablehnende Haltung des deutschen Gesetzgebers von 1992 gegenüber der Grundintention des Rahmenrichtlinienvorschlags der EU-Kommission

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von 2016 war zweifelsfrei: »Es gibt wirtschaftspolitisch keine Gründe, die Sa­ nierung des Schuldners generell vor der übertragenden Sanierung des Un­ ternehmers zu bevorzugen oder auch nur irgendeine Art der Sanierung stets und überall der Zerschlagungsliquidation vorzuziehen.« (ebd.: 77f.) Damit wurde der Machtkonzentration wachsender Unternehmen gegenüber der wirtschaftspolitischen Förderung angeschlagener Konkurrenten und dem Erhalt von Arbeitsplätzen zumindest kein Widerstand entgegengesetzt. Klar wird damit auch, was in der Stellungnahme des Bundesrats von 2017 als Un­ redlichkeit verstanden wird: Unternehmer mit (teilweiser) Fremdfinanzie­ rung, die ihren Betrieb trotz Zahlungsschwierigkeiten fortsetzen, veruntreu­ en in dieser Sichtweise das geliehene Geld. Zwei Motive des deutschen Gesetzgebers stechen in der langen Begrün­ dung deutlich heraus. Erstens wird einer quasi-evolutionären Selektion stär­ kerer Unternehmen im marktwirtschaftlichen Wettbewerb geradezu em­ phatisch das Wort geredet: »Die marktwirtschaftliche Ordnung beweist im wirtschaftlichen Alltag, daß Wettbewerb und freie Verhandlungen zur Auf­ findung und Durchsetzung der besten Lösung führen.« (ebd.: 78) Zweitens wird dem Schutz bestehender Eigentumsverhältnisse klare Priorität einge­ räumt: »Ein marktkonformes Verfahren muss darauf verzichten, den Betei­ ligten Vermögensopfer abzunötigen. Zwangseingriffe in die private Güter­ ordnung mit der Folge von Vermögensverlagerungen sind ebenso als Mittel zur Eröffnung von Insolvenzverfahren wie als Hilfen zur Durchführung von Sanierungen zurückzuweisen.« (ebd.) Die freie Verhandlung des ers­ ten Grundsatzes wird durch das rigorose Eigentumsrecht des zweiten be­ schränkt. Das heißt konkret, dass der Besitz von geldwerten Ressourcen in der Form von Krediten oder Fremdfinanzierungen nur unangetastet bleibt, solange sich das Unternehmen als uneingeschränkt zahlungsfähig erweist. Die Sicherung der Eigentumsrechte an verliehenem oder investiertem Geld hat absolute Priorität, eine Risikobeteiligung der Kreditgeber auch im Kri­ senfall existiert nicht. Diese hätten zwar legitime Ansprüche an Gewinnbe­ teiligungen, aber keine Verpflichtung gegenüber etwaigen Verlusten. Somit handelt es sich bei der politischen Begründung der deutschen Insol­ venzregelung – die in juristischen Urteilsfindungen maßgebend sein kann – um eine vollständige Entfaltung des eingangs geschilderten Freiheitsparadoxes. Der Schutz des Eigentums begründet sowohl die uneingeschränkte Präferenz für ökonomischen Wettbewerb als auch für den absoluten Schutz des im Er­ folgsfall erworbenen Eigentums, obwohl die uneingeschränkte Akkumulie­ rung von Eigentum den Wettbewerb letztlich abwürgen muss (Weber 2009).



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Dadurch wird ersichtlich, dass die Motivation der Bundesregierung zur Ersetzung der Konkursordnung durch eine Insolvenzordnung im Jahre 1992 in dem Ansinnen der Regulierung und Beschleunigung der Liquidation un­ rentabler Unternehmen bestand, und nicht in der Schaffung eines Instru­ ments zur Neuausrichtung angeschlagener Firmen. Auch die Zurückweisung des Vorschlags der EU-Kommission durch den Deutschen Bundesrat 2017 war von dieser Vorstellung einer Insolvenz als Folge schuldhaften Verhaltens, das dem Eigentum des Gläubigers Schaden zufügt, geprägt.

5. Die Übertragung der Argumentation in einen deutschamerikanischen Konflikt Aus der Zurückweisung des Deutschen Bundesrats wird somit deutlich, dass er der Aufrechterhaltung des Schutzes von Gläubigerinteressen eine klare Priorität gegenüber einer Erweiterung marktwirtschaftlicher Dynamik ein­ räumt, selbst um den Preis einer inkonsistenten Argumentation. Unklar bleibt jedoch, worin diese Präferenz begründet liegt, zumal ihre Durchset­ zung mit unlauterer Argumentation gestützt wird. Diese Frage wird in die­ sem Abschnitt durch die Heranziehung der Vorgehensweise eines deutschen Juristen beantwortet, die eine abermalige Verschiebung und Zuspitzung der Argumentation betreibt. Durch diese Kontrastierung wird unter anderem deutlich, welche Erwartung hinsichtlich eines reformierten Insolvenzrechts in der Europäischen Union die scharfen Abwehrreaktionen hervorruft. Die Stellungnahme des Juristen Heese kann nicht nur als isolierter Diskus­ sionsbeitrag gewertet werden. Den Argumentationen von Fachjuristen kommt im kodifizierten Recht der Bundesrepublik Deutschland eine große Bedeu­ tung zu, da ihre Profession darin besteht, komplexe Rechtsquellen und -prin­ zipien systematisch und normativ zu ordnen – darin sind sich sogar die wissen­ schaftlichen Kontrahenten Luhmann (1995: 338–406) und Habermas (1998: 272–291) im Grunde einig.7 In der Bundesrepublik gibt es eine vergleichsweise starke wechselseitige Durchdringung von Recht und Politik (Luhmann 1995: 407–443; Habermas 1998: 167–187). Dies muss betont werden, da juristische 7 Juristen leisten unverzichtbare Zuarbeit für Parlamente, und dass viele Abgeordnete eine rechtswissenschaftliche Ausbildung haben, sollte nicht verwundern.

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Äußerungen häufig von einer übergeordneten, neutralen und/oder gesamtge­ sellschaftlichen Sprecherposition formuliert werden, als ob sie universale und geradezu unpolitische Gültigkeit besäßen (Latour 2010). Darüber hinaus zieht die an deutschen Universitäten vermittelte juristische Methodenlehre dezidiert politische Dokumente der Gesetzgeber heran, um die Bedeutung rechtlicher Begriffe und Sätze zu ermitteln, Irrtümer und Widersprüche aufzudecken und Gesetzeslücken zu identifizieren und zu füllen (Zippelius 2006: 42–85). Ge­ nau dieses beansprucht Michael Heese zu tun. Als unter anderem auf Insolvenzrecht spezialisierter Professor hat er einen Vortrag publiziert (Heese 2018a) und zu einer Monografie ausgebaut, die eine explizit politische Stoßrichtung aufweist, da sie sich auf den hier diskutier­ ten Richtlinienentwurf der EU-Kommission bezieht und – dem Untertitel der Monografie zufolge – »kritische Bemerkungen zur fortschreitenden Rezeption einer Sanierungskultur US-amerikanischer Provenienz« (Heese 2018b: 5) zu machen beabsichtigt. Diese juristische Fachmeinung kann somit fraglos als ge­ sellschaftspolitischer Kommentar mit der Intention zur Beeinflussung der hier thematisierten Debatte eingeordnet werden. Dabei sollen dem Autor keine po­ litischen Meinungen unterstellt, aber seine Aussagen hinsichtlich ihrer unwei­ gerlich politischen Wirkungen im Diskurs untersucht werden. Die Kerntendenz der Argumentation Heeses verschärft die dramatisie­ rende Rhetorik des Bundesrats abermals, indem die Debatte über rechtliche Harmonisierungen in der EU zu einer fundamentalen Auseinandersetzung um »Grundwertungen« (ebd.) gemacht wird. Sie expliziert den Befund Hee­ ses, dass die konkurrierenden Prinzipien der Debatte zwei sich ausschlie­ ßende Rechtstraditionen wirtschaftlicher Gesetzesbürokratie in Deutschland und den USA verhandeln, zwischen denen gewählt werden müsse. Inter­ essant sind seine Ausführungen, weil sie den Konflikt zuspitzen und das Angriffsziel verlagern. Zum einen wird aus der Debatte über eine mögli­ cherweise kompromissfähige, also im Sinne Hirschmans »teilbare«, rechtli­ che Harmonisierung in Europa, ein »unteilbarer« Konflikt über alternative Grundprinzipien gemacht. Zum anderen steht nun nicht mehr die EUKommission im Zentrum der Kritik, sondern die – als monolithische Ein­ heit skizzierte  – »U.S.-amerikanische Rechtstradition« (ebd.: 91–99).8 Ge­ 8 Daran ändern auch Beteuerungen nichts, dass dem Autor und seinen Mitstreitern An­ tiamerikanismus fern liege (Heese 2018b: 91). Diese Haltung soll hier nicht bestritten werden, aber die Aussagen wirken im Diskurs antiamerikanisch, weil sie eine Konfron­ tationslinie gegen die USA schaffen, die weder im EU-Kommissionsentwurf noch in der Reaktion des Bundesrats enthalten war.



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gen diese – so heißt es wörtlich auf der einleitenden Seite der Schrift – müsse »eine rote Linie [gezogen werden], die der deutsche Gesetzgeber […] vertei­ digen sollte.« (ebd.: 5). Durch die Behauptung einer solchen Verteidigungs­ notwendigkeit ändert sich die strategische Konfliktsituation des Diskurses: In ihr wird die Bundesrepublik Deutschland nicht mehr als Teil der Euro­ päischen Union behandelt, sondern als national allein gestelltes Kollektiv, dass sich gegen Bestrebungen der EU-Kommission und der »U.S.-ameri­ kanischen Rechtshegemonie« verteidigen müsse. Damit wird aus der tradi­ tional motivierten Argumentation des Deutschen Bundesrats für die Auf­ rechterhaltung des Bestehenden eine nationalistische Argumentation, weil die Bundesrepublik Deutschland in Konfrontation zu allen anderen politi­ schen Akteuren repräsentiert wird, ausgestattet mit einer überlegenen Res­ source, die attackiert werde und »verteidigt« werden müsse. Diese diskursive Konstruktion widerspricht der öffentlich erkennbaren politischen Konflikt­ situation in auffälliger Weise, denn erstens ist die Bundesrepublik in der EUKommission selbst vertreten (und aus eigenem politischen Entschluss ein Mitglied der EU), und zweitens gibt es für eine bewusste Adaption von usamerikanischen Rechtsprinzipien oder gar Einflussnahme der USA auf den Richtlinienvorschlag zur Harmonisierung der Insolvenzregelungen keine Anhaltspunkte. Die nachfolgende Analyse wird vielmehr zeigen, dass nicht einmal die Annahme eines entsprechenden monolithischen us-amerikani­ schen Rechtsprinzips aufrechterhalten werden kann. Und drittens handelt es sich beim Richtlinienvorschlag der EU-Kommission um eine politische Ver­ handlungsgrundlage, und nicht um einen Angriff. Seine argumentative Zuspitzung vollzieht Heese (ebd.: 14) in den Ein­ gangspassagen seiner Monografie mit einer unzweideutigen Identifikation des eigentlichen Gegners in der Debatte um den Vorschlag der EU-Kom­ mission: »Mit dem Richtlinienvorschlag steht nämlich nicht weniger zur Debatte als der Beginn der Verschiebung der Wertungskoordinaten unse­ res Wirtschaftssystems.« Eine Motivation der EU-Kommission durch Wett­ bewerbsverzerrungen auf dem Binnenmarkt aufgrund der Möglichkeit des forum shopping spiele »nur vordergründig eine entscheidende Rolle. Tat­ sächlich wird man aber der Bedeutung des Themas nur gerecht, wenn man erkennt, dass sich die Entwicklung in den europäischen Staaten im Kern am U.S.-amerikanischen Recht orientiert. [...] Die USA lehnen eine Stigmatisie­ rung des in finanzielle Not geratenen Schuldners traditionell ab und treten stattdessen für die Vorzüge einer rescue culture und eines wirtschaftlichen Neuanfangs, eines fresh starts, ein.« (ebd.)

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Er bestätigt diese Zuspitzung in einem späteren Kapitel, als er in einer seltsamen Mischung aus Vermutung und Festlegung behauptet, in der De­ batte um den Richtlinienvorschlag der EU-Kommission werde »ein ent­ scheidender Motor, der hinter dem Vorhang zu vermuten ist, vor dem der Harlekin binnenmarktfinaler Harmonisierung seine Sprünge macht, ver­ sehentlich oder vielleicht doch mehr bewusst übersehen: die U.S.-ame­ rikanische Rechtshegemonie« (ebd.: 91). Mit dem Begriff »U.S.-Rechts­ hegemonie« beruft er sich explizit auf ein politisches Argument und eine argumentative Vorgehensweise Rolf Stürners, der damit für eine traditional, normativ geordnete Wirtschaft gegen eine »Markt- und Wettbewerbsgesell­ schaft« (Stürner 2007) eintritt: »Es ist vor allem das Verdienst Rolf Stürners das Phänomen der U.S.-amerikanischen Rechtshegemonie aus dem Dunkel der politischen Entscheidungsprozesse herausgeholt, seine inneren Ursachen und Ausprägungen offengelegt und die Entwicklungen kritisch hinterfragt zu haben.« (Heese 2018b: 92) Heese figuriert auch sich selbst als Protagonisten eines »transatlantischen Ringens um das vorzugswürdige Wirtschafts- und Wertesystem« (ebd.: 15, 91–98). Er stützt diese Behauptung wiederholt in seinen Ausführungen, wenn er etwa von einer »Staatsphilosophie« (ebd.: 23) der USA in Bezug auf Restrukturierungsmaßnahmen spricht, oder von einer »U.S.-amerikani­ schen Rechtshegemonie« (ebd.: 94) im Prozess der Insolvenzrechts-Neurege­ lungen auf dem europäischen Kontinent. Diese Argumentation Heeses ist hochproblematisch. Zum einen treten in der vorliegenden Auseinandersetzung um das Insolvenzrecht in der EU die USA als Akteur gar nicht auf, weder als monolithische Einheit noch durch Einzelakteure vertreten. Auch die Begründung der EU-Kommission bezieht sich nirgends auf außereuropäische Wettbewerbssituationen, son­ dern allein  – und schlüssig, da empirisch belegbar  – auf innereuropäische Probleme. Von hegemonialen Bestrebungen der Staatsführung der USA in diesem Prozess kann daher nicht gut gesprochen werden. Zum anderen un­ terstellt diese Argumentation, dass zahlreiche europäische Gesetzgeber ihre Insolvenzregelungen nicht etwa reformiert hätten, um Probleme ihrer Öko­ nomien rational zu lösen, sondern weil sie einer ideologischen Beeinflussung durch die USA folgten. Wenn Heese von »einem Motor« spricht »der hinter dem Vorhang zu ver­ muten ist, vor dem der Harlekin binnenmarktfinaler Harmonisierung seine Sprünge macht«, und als diesen die «U.S.-amerikanische Rechtshegemonie« (ebd.: 91) benennt, bedeutet dies, dass er das öffentlich erkennbare Vorgehen



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der Europäischen Kommission, den legislativen Organen ihrer Mitgliedstaa­ ten einen Vorschlag zu unterbreiten, der auf die Lösung real existierender Wettbewerbsverzerrungen abzielt, zu einem Täuschungsmanöver (»Harle­ kin«) erklärt, das darauf hinarbeite (»Motor«), ein verdecktes Ziel (»hinter dem Vorhang«) zu erreichen. Den beobachtbaren politischen Vorgängen, die sich auf Dokumente mit nachprüfbaren Tatsachen stützen, wird ein alterna­ tives Deutungsmuster gegenübergestellt, dass sich allein auf Behauptungen und Vermutungen stützt, und für die es keine Belege oder Tatsachen gibt. Um es trotzdem aufrecht zu erhalten, beruft Heese sich auf Rolf Stürner, der dieses angebliche Wissen »aus dem Dunkel […] hervorgeholt« (ebd.: 192) habe, was bedeuten muss, dass es für andere Beobachter in der Dunkelheit nicht erkennbar sei, solange sie Heese und Stürner nicht folgten. Natürlich sind solche Äußerungen von der politischen Meinungsfreiheit gedeckt, aber sie verlassen den Boden wissenschaftlichen Wissens, der erfordert, dass man Belege und Tatsachen für die eigenen Behauptungen anführen kann. Der Hinweis, dass eine Einsicht nur für einen selbst und aufgrund von Dunkel­ heit für andere nicht erkennbar sei, disqualifiziert Behauptungen als wissen­ schaftliches Wissen (Anton u. a. 2014). Zusätzlich zur Zurückweisung dieser Argumentationsstrategie soll aber überprüft werden, was es mit der angeblichen »rescue culture« in den USA auf sich hat. Zur Frage der angeblich schuldnerfreundlichen »Staatsphilosophie« muss zunächst darauf verwiesen werden, dass die Insolvenzregelungen des fö­ deralen Bundesstaats USA stets umkämpft und wiederkehrenden Reformen unterworfen waren. Die einzelnen US-Bundesstaaten gingen aus britischen, französischen und spanischen Kolonien hervor, die jeweils souveräne Recht­ sprechungen entwickelt hatten. Die ersten Versuche der Vereinheitlichung von Insolvenzregeln durch den US-Kongress in den Jahren 1800, 1841 und 1867 scheiterten, weil verschiedenste Interessengruppen sich nicht auf gemeinsame Grundregeln einigen konnten und die gefunden Regelungen sich als derart wi­ dersprüchlich entpuppten, dass sie nach kurzer Zeit wieder aufgehoben wer­ den mussten (Coleman 1999: 16–31). Insbesondere im 19. Jahrhundert, als die USA ihre territoriale Expansion nach Westen betrieben und ihre ersten Ban­ kruptcy Acts erließen, gab es grundlegende Konflikte um die wirtschaftspoli­ tische Ausrichtung. Diese kristallisierten sich bereits vor dem Bürgerkrieg um die agrarischen Vorstellungen der Democratic-Republican Party, die unter an­ derem Thomas Jefferson und James Madison ins Leben gerufen hatten, und der handelsorientierten Ausrichtung der Federalist Party, die sich um Alexan­ der Hamilton, John Adams und anderen gebildet hatte.

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Das rasante Wachstum der US-Wirtschaft nach dem Bürgerkrieg führte zu einer massiven Ausweitung auch des Kreditwesens und bewirkte Diskus­ sionen um die Regulierung unbezahlter Schulden. Die von den Federalists vorangetriebene fresh start policy des Bankruptcy Acts von 1898 intendierte dabei eine Stärkung der Gläubiger- und keinesfalls der Schuldnerinteressen. In einer territorial rasant expandierenden Gesellschaft mit starker Binnenmi­ gration war es im Interesse von Kreditgebern, sich möglichst rasch und un­ kompliziert in den ausgleichenden Besitz der restlichen Habe eines geschei­ terten Schuldners zu bringen, bevor dieser weiterzog, um an einem neuen Ort sein Glück zu versuchen (Skeel 2001: 23–47; Nugent 2008). An einer längerfristigen Inhaftierung von dringend als Siedler benötigten Schuldnern konnten die Gesetzgeber auf keinen Fall Interesse haben, aber auch Kredit­ geber nicht, weil es ihre Aussichten auf Rückzahlung schmälerte (Coleman 1999: 9). Der Entschluss des US-Kongresses aus dem Jahre 1898, landesweit die rasche Entschuldung nach einer umgehenden Liquidation des verfügba­ ren Eigentums des Schuldners einzuführen, stellte somit einen marktkonfor­ men Kompromiss eines auf Wettbewerb setzenden Wirtschaftsliberalismus dar, der den raschen Ausschluss von gescheiterten Unternehmungen mit der Integration gescheiterter Investoren in einer fortgesetzten ökonomischen Ex­ pansion versöhnen wollte. Im Sinne Hirschmans wurde im Bankrupcty Act of 1898 die Schuldenlast geteilt, nachdem Schuldner den maximal verfügba­ ren Betrag umgehend beglichen hatten. Somit zielte auch die fresh start po­ licy auf eine Verteidigung des marktausschließenden Wettbewerbsprinzips, das Heese (2018b: 18) gegen die USA verteidigen möchte. Einen völlig anderen Ursprung, jedoch in derselben historischen Phase der U.S.-Geschichte, hatte die wirtschaftsrechtliche Praxis der Restrukturie­ rung angeschlagener Unternehmen, das »equity receivership« (Skeel 2001: 5). Zu dessen Verständnis ist es wichtig, die einflussreiche Rolle von An­ wälten und Richtern in der us-amerikanischen Variante des common law zu beachten. Durch deren Autonomie und aktive rechtsbildende Rolle im traditionsgebundenen »Richterrecht« (Luhmann 1995: 409) konnten sie die Praktiken der Restrukturierung fehlgeschlagener Unternehmungen durch Aushandlung zwischen den Beteiligten aktiv und auch substanziell entwi­ ckeln (Friedman/ Hayden 2017; Glenn 2010: 237–287). Historischer Anlass waren die großen Eisenbahnunternehmen, mit denen die amerikanische Ex­ pansion nach Westen durchgeführt wurde. Viele dieser Unternehmen waren finanziell defizitär, doch das politische Interesse an ihrem Fortbetrieb über­ wog die marktwirtschaftlichen Bedenken bei weitem. Skeel (2001: 48–70)



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führt hierzu aus, dass sich im Zuge des Prozesses insbesondere jene mächti­ gen Anwaltsvereinigungen bildeten, die auf die Aushandlung vertraglich ver­ einbarter Reorganisationen von Firmen spezialisiert waren und noch den Re­ formprozess des Insolvenzrechts von 1978 maßgeblich beeinflussten. Schließlich gibt es noch den Aspekt der administrativ dominierten Re­ strukturierung unter Anleitung eines externen Insolvenzverwalters. Auch ein solches Verfahren, wie es der Deutsche Bundesrat 2017 favorisierte, wurde mit Chandler Act of 1938 in Chapter X des U.S.-Rechts eingeführt. Die Auf­ sicht übte jeweils die mächtige Securities and Exchange Commission (SEC) aus. Dieses Verfahren war als Standard der Abwicklung von Unternehmen mit Fremdfinanzierung vorgesehen, und die selbstverwaltete Restrukturie­ rung nach Chapter XI sollte ursprünglich kleinen und mittleren Unterneh­ men in Eigenbesitz vorbehalten bleiben. Allerdings hatte der Gesetzgeber verpasst, eine klare Maßgabe zur Wahl der jeweiligen Insolvenzvariante zu bestimmen. Zunächst dominierten administrierte Insolvenzen nach Chapter X, weil hier einem Supreme Court-Urteil aus dem Jahre 1940 gefolgt wur­ de, doch ein anders argumentierendes Urteil des Bundesberufungsgerichts von 1964 öffnete den Weg für den Niedergang der administrierten Insolvenz (ebd.: 163–164). Um den wirtschaftspolitischen und rechtlichen Hintergrund eines poli­ tischen Wandels in den USA zu verstehen, der allmählich zu einer Präferenz der liberalen Restrukturierung insolventer Unternehmen im Unterschied zur zuvor skizzierten Intention der administrativen Verteidigung von Gläubi­ gerinteressen führte, lohnt sich eine Rekonstruktion der richterlichen Ar­ gumentationen dieses Konflikts. Dies dient vor allem dem Verständnis des Ursprungs vermeintlich traditional verankerter Grundwerte. Eine historischsoziologische Prüfung zeigt, dass es hier nicht um unwandelbare Prinzipien geht, sondern um pragmatische Konfliktregulierungen, die einem offenkun­ digen Wandel unterliegen und daher zur Konstruktion deutsch-amerikani­ scher Frontstellungen nicht taugen. Im Jahre 1964 landete der Einspruch der staatlichen SEC gegen eine be­ reits erzielte Übereinkunft zur Restrukturierung des Unternehmens Canan­ daigua Enterprises vor dem Bundesberufungsgericht der USA. In der Ent­ scheidung vom 18. November 1964 wurden die Akteure gezwungen, den Insolvenzfall unter den Regulierungen von Chapter X, und damit unter ad­ ministrierter Aufsicht neu zu verhandeln. Richter Henry Friendly begründe­ te seine Entscheidung zugunsten der administrierten Restrukturierung, zu der er sich aufgrund der geltenden Rechtslage gezwungen sah, mit ausdrück­

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lichem Missfallen: »We repeat our dislike at having to insist on a course which scarcely a creditor or stockholder has sought and which may lead to disaster. If we were holders of the debentures, we might well prefer an ar­ rangement that could be speedily carried out, even though not truly fair and equitable, to the risk that an endeavor to procure a better one might result in none at all.« (Securities and Exchange Commission v. Canandaigua Enter­ prises Corporation Securities and Exchange Commission, 339 F.2d 14 – 2d Circ. 1964) Die Unzufriedenheit des Richters speiste sich also aus seiner Ab­ sicht, die Gläubigerinteressen zu schützen. Seine Argumentation enthüllte die zugrunde liegenden Positionen des Konflikts: Die Supreme Court-Entscheidung von 1940 hatte »public policy« als Begründung dafür angeführt, dass Insolvenzfälle, in denen auch Ansprü­ che von Dritten betroffen sind, unter administrierter Aufsicht und Ausschluss der bisherigen Geschäftsleitung stattfinden müssen (Securities and Exchange Commission v. United States Realty & Improvement Co. 310 U.S. 434  – 1940). Das öffentliche Interesse wurde – wie schon bei den bankrotten Ei­ senbahnunternehmen des 19. Jahrhunderts  – zum Maßstab gemacht, aber dies war natürlich kein Rechtsprinzip, sondern eine politisch-ökonomische Erwägung. Richter Friendly folgte dieser Maßgabe zwar, machte aber deut­ lich, dass er damit eine bereits erzielte freiwillige Übereinkunft aller Akteu­ re aufhob. Er sah sich genötigt, ein staatlich autorisiertes Prinzip gegen eine autonome Entscheidung der Betroffenen zu erzwingen. Anders als die poli­ tischen Erwägungen konnten jene freiwilligen Übereinkünfte jedoch leicht mit fundamentalen demokratischen Rechtsprinzipien in Übereinstimmung gebracht werden. Sie waren auch bereits geltendes Recht im Chapter XI – standen aber in Konkurrenz zu Chapter X. Im Sinne eines widerspruchs­ freien Rechtssystems, das stets eindeutig zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden vermag, musste nun eine Modifikation der Rechtslage ein­ setzen – und zwar unabhängig von der zugrunde liegenden Rechtstradition (Luhmann 1995: 454). Entscheidend im nun folgerichtig einsetzenden Reformprozess, der zum neuen Bankruptcy Code of 1978 führen sollte, war, dass die Konkurrenz zwischen Insolvenzverwaltung und equity receivership eine Rechtsunsicher­ heit geschaffen hatte. Unternehmer klagten, dass bereits verhandelte frei­ willige Restrukturierungen von der staatlichen SEC unterbunden wurden, um einen administrierten Prozess einzuleiten. In diesem Klima hatte das Chapter X keine Überlebenschance. Im Bankruptcy Code of 1978, der in reformierter Form bis heute gültig ist, bestehen die Optionen des fresh start



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durch schnelle Gesamtliquidation nach Chapter 7, §§ 701–784 und durch Reorganisation, Teilzahlungsplan und Restschuldbefreiung nach Chapter 11, §§ 1101–1174 fort (Sullivan u. a. 1989: 15–45). Ein Chapter 10 findet sich im U.S. Code 11 hingegen nicht mehr. Mittlerweile wurde die Präferenz eines fresh start zugunsten der weitge­ henden Entschädigung der Gläubiger abgeschafft, denn seit 2005 besteht in den USA keine freie Wahlmöglichkeit zwischen den beiden Varianten mehr. Ein sogenannter means test ermittelt nun, ob Einkünfte vorhanden sind, die eine weitergehende Befriedigung von Gläubigerinteressen ermöglichen wür­ den als die Liquidation. Das heißt, dass Schuldner, die zahlen können, auch zurückzahlen müssen (Kilborn 2007a: 52–62; 2007b). Auch diese Reform belegt, dass es sich hier nicht um unwandelbare Traditionsbestände handelt, die das Herbeireden einer kulturellen Konfrontation rechtfertigten. Darüber hinaus bewegt sich das U.S.-Recht mit der Einführung des means test auf den deutschen Standard des Gläubigerschutzes zu. Als Ironie hinsichtlich des von Heese und Stürner konstruierten Kulturkampfs muss daher angemerkt werden, dass Jason Kilborn (2004) aufgrund der anstehenden Reformen des Jahres 2005 von einer Vorbildfunktion des deutschen Insolvenzrechts für die USA gesprochen hat. Vorbild klingt sehr viel freundlicher als Hegemonie. Die wesentliche Einsicht dieses Abschnitts besteht darin, dass in der scharfen Kontrastierung angeblicher »Grundwertungen« sichtbar wird, wo­ gegen sich der Deutsche Bundesrat, unterstützt vom Juristen Heese, wen­ det. Die Opposition von Gläubigerschutz in Deutschland versus Schuldner­ schutz in den USA lässt sich nicht aufrechterhalten. Vielmehr behandeln die Rechtskulturen die Regulierung von Überschuldung unterschiedlich. Wäh­ rend in Deutschland – aus einer Tradition, die mindestens bis zum Erlass der ersten Konkursordnung 1877 zurückreicht – das Eigentum auch die recht­ liche und politische Gewalt beim Eigentümer konzentriert, limitiert die usamerikanische Rechtsprechung diese Macht sukzessive auf die ökonomische Verfügungsgewalt. Im Falle einer Insolvenz sind alle us-amerikanischen Be­ teiligten aufgerufen, unter Einhaltung der Rechtsprinzipien von Gleichheit und Fairness eine gemeinsame Lösung zu vereinbaren. Diese Fokussierung auf eine Lösung zielt auf eine baldestmögliche Fortsetzung des kollektiven Marktprozesses ab. Im Unterschied dazu schützt das deutsche Recht nicht nur die rechtlichen und politischen Vorteile von Eigentümern, sondern lässt auch im Jahre 2017 noch nicht vom Bestreben der Bestrafung überschulde­ ter Darlehensnehmer ab. Mit der nationalistischen Argumentation wird also zur Verteidigung der umfassenden, weit über den ökonomischen Bereich hi­

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nausreichenden Macht der Gläubiger in der deutschen Eigentumsordnung aufgerufen. Abgewehrt werden soll die Mitsprache anderer Akteure und die Reduzierung des Sachverhalts auf einen ökonomischen, und damit prinzipi­ ell »teilbaren« Konflikt.

6. Eigentumsordnungen als Ursprung von Mitverantwortung oder Ausschluss von Mitspracherecht Die bisherigen Ausführungen schilderten einen politischen Konflikt zwi­ schen der EU-Kommission und dem Deutschen Bundesrat über einen Richt­ linienvorschlag zur Harmonisierung des europäischen Insolvenzrechts. Für ihren Vorschlag hatte die EU-Kommission eine Problemstellung und zwei Zielsetzungen angeführt. Die gegebenen Zustände bewirkten unterschiedli­ che nationalstaatliche Regelungen, so dass Unternehmen sich dort ansiedeln konnten, wo sie die günstigsten Restrukturierungs- und Entschuldungsbe­ dingungen vorfänden (forum shopping). Ein erstes Ziel der Harmonisie­ rung wäre, dass in finanzielle Bedrängnis geratene Unternehmen – inklusive der an ihnen hängenden Arbeitsplätze – nicht erst durch einen Insolvenzan­ trag die Möglichkeit erhielten, sich vor den Rückzahlungsforderungen ihrer Gläubiger zu schützen, sondern sich bereits vorher eine finanzielle Atempau­ se verschaffen können sollten, in der sie eine Neuausrichtung des Unterneh­ mens versuchen. Zweitens sprach sich die EU-Kommission dafür aus, das einmalige Scheitern einer Unternehmung als ein marktwirtschaftliches Ri­ siko zu akzeptieren, und die betroffenen Unternehmer nach Rückzahlungs­ fristen von maximal drei Jahren zu entschulden und zu einem zweiten Ver­ such zuzulassen. Der Deutsche Bundesrat lehnte dieses Vorhaben insgesamt ab. Seine Ar­ gumentation war dabei nicht ganz konsistent, aber sehr entschieden in der Verteidigung der Gläubigerinteressen. So verbat sich das Gremium zwar eu­ ropäisch initiierte Eingriffe in die eigene Regulierung der Eigentumsrechte von Kreditgebern, forderte aber zugleich genau solche Eingriffe in andere Gesetzgebungen, um eine einheitliche Mindestquote der Kreditrückzahlun­ gen zu erreichen, bevor Darlehensnehmern ein Schuldenerlass gewährt wer­ den könne. Damit war zwar das gesellschaftspolitische Ziel der Beschlussfas­ sung des Deutschen Bundesrats erkennbar, allerdings nicht die Motivation zu dieser ausgesprochen scharfen politischen Reaktion.



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Um die Beweggründe erkennbar zu machen, wurde eine abermals verschärf­ te Argumentationslinie herangezogen, in der der Jurist Heese die Beschlussfas­ sung des Deutschen Bundesrats dezidiert teilte, aber die Argumentation an­ ders rahmte und in eine nationalistische Auseinandersetzung transformierte. Nach seinem Dafürhalten standen sich zwei einander ausschließende »Grund­ wertungen« gegenüber, deren eine – der Gläubigerschutz – nur von der Bun­ desrepublik Deutschland gewährleistet werde, während die andere – eine abso­ lute Bevorzugung der Sanierung angeschlagener Unternehmen und der Schutz von Schuldnern  – von den USA ausgehend auch die restliche Europäische Kommission erfasst habe. Nationalistisch war diese Argumentation, weil die deutsche Position trotz der intensiven, demokratisch abgesicherten Verflech­ tung mit den Gremien der Europäischen Union dieser isoliert gegenüberge­ stellt und zur Verteidigung eigener Interessen aufgerufen wurde. Die daran anschließende Analyse zeigte zweierlei. Zum einen konnte sich die argumentative Konstruktion eines sich gegen alle anderen verteidigen­ den Deutschlands nicht auf Belege und Tatsachen gründen, und Versuche zur Entkräftung der Behauptung existierender Wettbewerbsverzerrungen durch die EU-Kommission wurden nicht unternommen. Regulierungsvor­ schläge zur Überprüfung der Erfolgsaussichten von Restrukturierungen in ihrem Vorschlag blieben unkommentiert. Zweitens konnte in einer histo­ risch-soziologischen Rekonstruktion gezeigt werden, dass sich in den USA die Bevorzugung von Unternehmens-Restrukturierungen als Alternative zur Abwicklung verschuldeter Unternehmen erst allmählich und in einem kon­ flikthaften Prozess herausgebildet hatte. Erst 1978 konnte es sich landesweit durchsetzen, und wurde spätestens 2005 auch bereits wieder eingeschränkt. In all diesen Phasen wurde der Gläubigerschutz explizit zur Rechtfertigung der jeweiligen Regulierung angeführt. Eine dichotome Entgegensetzung von deutschem Gläubigerschutz und us-amerikanischem Schuldnerschutz führ­ te somit in die Irre. Das volle Ausmaß des Konflikts – und damit die Ursache der diskursi­ ven Schärfe – offenbart sich nur, wenn in den Blick genommen wird, wie die jeweiligen wirtschaftlichen Gesetzesbürokratien das »Freiheitsparadox« von offenem ökonomischem Wettbewerb und Schutz des Eigentums regulieren. Eigentum bildet eine Schnittstelle von Recht und Ökonomie, weil es die abgesicherte (Ver)Handlungsfreiheit und wirtschaftliche Austauschprozesse gleichermaßen initiieren kann (Luhmann 1995: 444–468). In der deutschen Rechtstradition bleiben die rechtlichen, politischen und ökonomischen Konnotationen von Eigentum weitestgehend undiffe­

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renziert. Auch nach dem Übergang von einer Konkursordnung zu einer In­ solvenzordnung 1999 bleibt nicht nur das ökonomische Potenzial von Ei­ gentum stark geschützt, sondern auch die gesellschaftspolitische Stellung des Eigentümers. Zahlungsunfähig werdende Schuldner hingegen werden auch Schuldige; als Unternehmer müssen sie die Kontrolle abtreten und als Ver­ braucher eine disziplinierende »Wohlverhaltensperiode« durchlaufen. Die Auseinandersetzung zwischen Gläubigern und Schuldnern markiert einen »unteilbaren« Konflikt, der nicht vollständig abgegolten werden kann und nach rechtlicher Sanktionierung verlangt. In der us-amerikanischen Rechtsentwicklung erfolgte hingegen eine all­ mähliche Ausdifferenzierung der rechtlichen und politischen Konsequenzen des Eigentums einerseits, und der ökonomischen andererseits. Dabei blieb der ökonomische Schutz des Eigentums sehr wohl gewahrt. Zuletzt wurde 2005 eine Konditionierung der Entschuldung von Verbrauchern eingeführt, um dem Gläubigerschutz Nachdruck zu verleihen. Allerdings wurde die Reichwei­ te der sich aus Eigentum ergebenden Privilegierung eingeschränkt, indem die Marktprozesse ab 1978 endgültig in die Hände der wirtschaftlichen Akteure gelegt wurden, die am Vertragsschluss beteiligt waren. Bereits die Regelungen von 1898 und 1938 hielten die administrativen Instanzen dazu an, den Markt­ prozess möglichst bald wieder in Gang zu setzen. Eine solche Regulierung läuft darauf hinaus, den Gläubigern eine Risikobeteiligung an Krediten aufzutragen und die rechtliche und politische Autonomie von Schuldnern unangetastet zu lassen, auch wenn sie wirtschaftlich erfolglos sind. Die Entfaltung des »Freiheitsparadoxes« in den wirtschaftlichen Geset­ zesbürokratien ruft also grundlegende gesellschaftspolitische Machtverhält­ nisse auf. Konkret wird eine Grenzziehung zwischen der rechtlichen Verfü­ gungsgewalt des Eigentums und der ökonomischen Austauschfunktion des Eigentums vorgenommen. Erstere hat zwar einschränkende Wirkungen auf die Funktionsfähigkeit des ökonomischen Wettbewerbs, kann sich aber auf eine weitaus tiefere Verankerung in den sozialen Machtverhältnissen der Ge­ sellschaft stützen. Daher kann es letztlich nicht verwundern, dass der Ver­ such der EU-Kommission, eine Initiative zur Stärkung des wirtschaftlichen Wettbewerbs und zur Entstigmatisierung ökonomischen Misserfolgs zu star­ ten, Gegenreaktionen hervorrief, die strategisch argumentierten und dabei Verschiebungen in der diskursiven Konfliktstellung vornahmen. Der Wech­ sel von einer traditionalen Argumentation durch den Deutschen Bundes­ rat auf eine nationalistische Argumentation in einer juristischen Streitschrift ergab sich aus der strategischen Umkonfiguration des Diskurses. Aus der



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wirtschaftspolitischen und prinzipiell kompromissfähigen Frage, wie lange Schuldner sich um die Rückzahlung bemühen müssen, bis ihre rechtliche Gleichstellung wiederhergestellt wird, wurde ein »unteilbarer« Konflikt kon­ struiert, der mit der Frage von Insolvenz das ganze Bündel primordialer, traditionaler und universaler Codes aufrief, die sich in der Verteidigung ei­ ner deutschen Wirtschaftsordnung gegen den Rest der EU-Kommission und eine angebliche »U.S.-amerikanische Rechtshegemonie« mobilisieren ließen.

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Dank

Die Herausgeber möchten sich bei den Autorinnen und Autoren des Ban­ des für die gute Zusammenarbeit auch über das schwierige Jahr 2020 hin­ weg bedanken. Dank gilt weiterhin allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Konferenz »Wirtschaftsnationalismus«, die als Tagung der Sektion Wirt­ schaftssoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie im Juni 2018 an der Karl-Franzens-Universität Graz stattfand, sowie dem Campus Ver­ lag und Judith Wilke-Primavesi für die fortgesetzte Unterstützung und das diesem Unterfangen entgegengebrachte Interesse und Vertrauen. Besonderer Dank gilt schließlich Sabine List und Jakob Gasser vom Institut für Sozio­ logie der Universität Graz, die mit großem Engagement und beeindrucken­ der Kompetenz an der inhaltlichen und sprachlichen Editierung der Beiträ­ ge und des Gesamtbandes mitgewirkt haben. Ohne deren Engagement hätte dieses Buch niemals erscheinen können. Klaus Kraemer und Sascha Münnich im Dezember 2020

Autorinnen und Autoren

Katharina Bluhm, Professorin für Soziologie mit Schwerpunkt Osteuropa an der Freien Universität Berlin. Forschungsgebiete: Wirtschaftssoziologie, po­ litische Soziologie, Sozialpolitik. Timur Ergen, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Ge­ sellschaftsforschung in Köln. Forschungsgebiete: Wirtschaftssoziologie, De­ industrialisierung, Energiepolitik, Fiskalsoziologie, historische Forschungs­ methoden, Soziologie der Innovation. Max Haller, em. Professor für Soziologie der Universität Graz und Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften Wien (stellv. Leiter der Kommission Migration und Integration). Forschungsschwerpunkte: Ethni­ zität und Nationalismus, Migration, Soziologie der Wissenschaft, soziologi­ sche Theorie. Tobias Köllner, Senior Research Fellow am Wittener Institut für Familien­ unternehmen der Universität Witten/Herdecke. Forschungsgebiete: Wirt­ schafts-, Religions-, politische und Europasoziologie. Klaus Kraemer, Universitätsprofessor für Angewandte Soziologie: Wirtschaft, Organisation, soziale Probleme an der Karl-Franzens-Universität Graz. For­ schungsschwerpunkte: Wirtschaftssoziologie, Soziologie des Geldes und der Finanzmärkte, soziologische Kapitalismusanalyse. Sascha Münnich, Professor für die Soziologie der Wirtschaft an der EuropaUniversität Viadrina in Frankfurt (Oder). Forschungsschwerpunkte: Wirt­ schafts- und Finanzsoziologie, Institutionentheorie, Kapitalismustheorie, Vergleichende Politische Soziologie, Methoden des Gesellschaftsvergleichs, Historische Soziologie.

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Autorinnen und Autoren

Dieter Reicher, Assoz. Professor am Institut für Soziologie der Karl-FranzensUniversität Graz. Forschungsgebiete: Historische Soziologie, Nationalismus­ forschung, Staats- und Nationsbildungsprozesse, Filmsoziologie. Stefan Schmalz, Vertretungsprofessor für Soziologie am Lateinamerika-Insti­ tut der FU Berlin. Forschungsgebiete: Internationale Politische Ökonomie, Global Labor Studies, Entwicklungssoziologie. Jürgen Schraten, Privatdozent an der Universität Gießen. Forschungsgebiete: Wirtschaftssoziologie, Rechtssoziologie und Politische Soziologie. Lisa Suckert, Senior Researcher am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsfor­ schung in Köln. Forschungsgebiete: Wirtschafts- und Zeitsoziologie, politi­ sche Soziologie sowie Nachhaltigkeits- und Kapitalismusforschung. Nico Tackner, Studienassistent am Institut für Soziologie der Karl-Fran­ zens-Universität Graz. Forschungsgebiete: Quantitative Methoden, Ludwig Gumplowicz und Nationalismus. Mihai Varga, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Osteuropa-Institut der Frei­ en Universität Berlin. Forschungsgebiete: Wirtschaftssoziologie mit einem Fokus auf Marktreformen und ihre sozialökonomischen und politischen Folgen.